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Die Jago-Mission DAN ABNETT Deutsche Erstausgabe Die Mächte des Chaos haben mit der Invasion der Galaxis begonnen und ziehen nun mit zerstörerischer Kraft von Planet zu Planet. Wird es General Gaunt und seinen Geisterkriegern gelingen, die übermächtig scheinende dunkle Armee zu besiegen? Auf dem Planeten Jago entscheidet sich ihr Schicksal … Nur im Tod endet die Pflicht. – altes imperiales Sprichwort »Im Jahre 778.M41, dem dreiundzwanzigsten Jahr des Sabbatwelten-Kreuzzugs, rückten Kriegsmeister Macaroths Hauptkampfgruppen zügig und durchschlagend in den CarcaradonSternhaufen vor und trieben die Heere des Erzfeinds unter Führung ihres ›Archon‹ Urlock Gaur vor sich her. Archon Gaurs Streitkräfte schienen unter den rasch aufeinander folgenden imperialen Angriffen zu zerbrechen, wenngleich es mittlerweile wahrscheinlich erscheint, dass sie sich tatsächlich zurückzogen, um einen Sperrgürtel in der Gruppe der Erinyen zu errichten. Kernwärts setzten die sekundären Kampfgruppen des Kreuzzugs – die Fünfte, Achte und Neunte Armee – den Kampf gegen die Legionen von Magister Anakwanar Sekfort, Gaurs fähigstem Unterführer. Die erklärte Absicht der Zweiten Front bestand darin, Seks Gesindel aus den Randzonen der Khan-Gruppe und von den zahlreichen Festungswelten des Cabal-Systems zu vertreiben. In dieser mörderischen Phase des Kreuzzugs fand ein besonders blutiger Säuberungsfeldzug auf der verfallenen Festungswelt Jagostatt …« – Aus Geschichte der Späten Imperialen Kreuzzüge
EINS DAS HAUS AM ENDE DER WELT
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778
I Auf dem Sechs-Tage-Marsch landeinwärts setzte irgendein Schlaukopf (und niemand fand je heraus, wer) ein Gerücht in die Welt, das die Runde durch das Regiment machte wie ein Darmvirus. Das Gerücht lautete, ein Trupp Gardisten, vielleicht eine Pionier-Einheit oder ein Spähtrupp, sei auf eine Schlucht in den Bergen gestoßen, die voll von Schädeln mit abgesägter Decke gewesen sei. Die Geister, alte wie neue, waren zähe Hunde, die in ihrem militärischen Leben schon weit Schlimmeres gesehen hatten als ein paar gebleichte Knochen, aber dieses Gerücht, dieses verdammte tratschige Gemunkel, hatte etwas an sich, das sich wie ein Splitter unter die Haut bohrte und dort einnistete, bis es schmerzte. Wie bei allen Gerüchten lag die Kunst im Detail. Die Schädel, so hieß es, seien menschlich und alt, richtig alt. Sie seien keine Überbleibsel des gegenwärtigen Krieges, nicht einmal das Ergebnis einer Gräueltat des Erzfeinds, der bis zum vergangenen Frühjahr der unumstrittene Herrscher über Jago gewesen war. Alt, alt, alt und staubig. Fossilien-alt, grabmal-alt. Verwittert, abgenutzt und gelb, Beleg für irgendein gottloses Verbrechen, das in längst vergangenen Zeiten in diesen wilden, einsamen Bergen verübt worden sei. Es rieche nach Ritual, nach Trophäensammeln, nach Gemetzel. Der Sinn sei längst vergessen, ausgelöscht von Zeit, Elementen und dem zersetzenden Staub, sodass keine klaren Einzelheiten mehr zu erkennen seien, was zur Folge hatte, dass in der Phantasie der marschierenden Truppen alle nur vorstellbaren Möglichkeiten hochkamen. Mehr als alles andere schien das Gerücht die trübe Meinung zu zementieren, die sich mittlerweile jeder über den Planeten gebildet hatte. Jago war ein schlimmer Steinbrocken, und diese einsamen Berge waren der schlimmste, trostloseste Abschnitt dieses schlimmen Felsens. Gaunt wollte nichts davon hören. Als ihm das Gerücht zu Ohren kam, versuchte er es rasch und gründlich auszumerzen, wie eine Wanze unter einem Stiefelabsatz. Er trug Hark und Ludd auf, sich jeden »zur Brust zu nehmen«, der beim Aussprechen der Wörter »verflucht« oder »Spuk« erwischt wurde. Er sagte, es solle bekannt gegeben werden, dass jeder Soldat, der bei der Verbreitung dieses Gerüchts erwischt werde, Strafdienst leisten müsse.
Hark und Ludd taten, wie ihnen geheißen, und der Klatsch verlor sich zu Gemurmel, weigerte sich aber, gänzlich aufzuhören. »Die Männer sind verschreckt«, sagte Viktor Hark. II Es half nicht, dass Jago so eine thronverlassene Arschritze war. Die Bergkette im Norden, ein achttausend Kilometer langes Gebirge aus zerklüfteten Hasenzähnen, wartete mit drei vorherrschenden Charakteristika auf: Wind, Staub und schroffe Höhe. Diese Bestandteile formten sich zu einer Umgebung, der jeder Geist sofort und ohne Bedauern mit Freuden Lebwohl gesagt hätte. Der Wind war kalt und schneidend und jagte durch die engen Täler und tiefen Schluchten wie querschießende Laserstrahlen. Er rieb bloße Haut wund und ließ Knöchel taub werden wie Eis. Er zupfte an Umhängen und riss Mützen weg. Er peitschte und nagte und biss und heulte beständig wie eine Sirene. Wie eine verdammte Sirene. Er hatte Äonen Zeit gehabt, seine Musik zu üben, und sang viel durchdringender für die Geister von Tanith, als dies ein Dudelsack oder eine Marschflöte je vermocht hätten. Er fand Ritzen, gespaltene Felsen, Klüfte, Risse und Abgründe und heulte hindurch. Er spielte auf den einsamen Hügeln wie auf Orgelpfeifen und nutzte sämtliche akustische Möglichkeiten des bergigen Geländes aus. Dann gab es den Staub. Der Staub stand nicht hinter dem singenden Wind zurück, kam überall hin. Er rieselte in Kragen, Ohren und Manschetten. Er drang in Gamaschen und Handschuhe. Er verstopfte Nasen, bis grauer Teer sie anschwellen ließ. Er fand seinen Weg in Rucksäcke und Waffen, in den Proviant und sogar in Unterwäsche, wo er kratzte wie Scheuerpulver. Auf dem Weg zu den schmalen Pässen spien die Geister graue Schleimklumpen aus und spülten sich mit Trinkwasser den Mund. Gewehre zeigten Ermüdungserscheinungen und versagten, polierter Stahl wurde matt und Mechanismen klemmten, bis Gaunt befahl, die Waffen in Schlechtwetterfutteralen zu tragen. »Voraus« wurde zu einem undurchsichtigen Nebel, »hinten« zu einer Linie aus Stiefelabdrücken, die binnen Sekunden ausgelöscht wurden. »Oben« war eine
vage Andeutung zerklüfteter Klippen. Und ständig waren sie vom unheimlichen Lied des kiesigen Windes umgeben. Es dauerte nicht lange, bis sie alle sehr dankbar für die Messingbrillen waren, die von den Helfern des Munitorums am Sammelpunkt Elikon ausgegeben worden waren. Vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal, denen man die Decke abgesägt hatte. »Das gibt noch Ärger«, sagte Elim Rawne. »Ärger ist unser Geschäft«, sagte Ibram Gaunt. III Ein Teil des Ärgers bestand darin, dass der Krieg anderswo stattfand. Er hätte ebenso gut in einem anderen Jahrhundert stattfinden können. In der Nacht, in den Intervallen, wenn sich der Wind ebenso legte wie die Staubwolken, konnten sie den Donner der Artillerie und der Panzerdivisionen südlich von Elikon hören. Manchmal sahen sie das Aufblitzen wie Wetterleuchten auf einem anderen Planeten, das wie das Leuchtfeuer eines weit entfernten Wachturms pulsierte. Ab und zu rasten Landungsboote über sie hinweg – Valkyrien und schwere Destriers –, die zu den ihnen zugewiesenen Einsatzgebieten unterwegs waren. Die Landungsboote wackelten der Schlange der Soldaten in den gewundenen Tälern höflich mit dem Schwanz zu. Jago war eine Festungswelt, eine der berüchtigten Festungswelten entlang der schwanzwärtigen Ausbuchtung des CabalSystems. Nahum Ludd hatte nicht gewusst, was ihn erwartete, also war seine Phantasie mit ihm und den Wörtern »Festung« und »Welt« durchgegangen. Er hatte sich einen Planeten wie eine Burg vorgestellt, mit haufenweise Schießscharten und Befestigungen, einen Planeten mit Bastionen und Wachtürmen, ein unwahrscheinliches, undurchdringliches Gebilde. Die Wahrheit sah ganz anders aus. Jago war schon lange vor der Zeit befestigt worden, in die das Gedächtnis der Menschheit reichte. Seine felsige, heulende, rauchende Kruste war ausgehöhlt und mit vielen tausend Kilometern Kasematten, Bunkern und befestigten Stellungen gespickt worden. Ludd fragte sich, was für ein lange vergessener Krieg diesen Ort so gründlich in Beschlag genommen hatte, dass derart gewaltige Schanzwerke nötig gewesen waren.
Wer waren die Verteidiger gewesen? Gegen wen hatten sie gekämpft? Wie konnte irgendjemand sagen, wo eine Festungslinie endete und die nächste begann? Elikon war eine verwirrende Matrix aus unterirdischen Festungsanlagen, ein Labyrinth aus Tunneln und Befestigungen, ein Irrgarten aus gepanzerten Stollen und Glockentürmen, die wie Pilze aus der Landschaft sprossen. »Also, wer hat hier gekämpft? Ursprünglich, meine ich«, fragte Ludd. »Warum ist all das Zeug hier angelegt worden?« »Spielt das eine Rolle?«, erwiderte Viktor Hark. »Fragt die Schädel, deren Decke abgesägt wurde«, murmelte Hlaine Larkin, der hinter ihnen durch die Rinne marschierte. IV Sie marschierten sechs Tage, in denen sie dem rauen Land hoch ins Gebirge folgten. Der Staub umwehte sie. General Van Voytz war in seinen Anweisungen sehr deutlich gewesen. In Elikon, während der Wind seine goldenen Tressen zerzauste, war er auf den breiten Rücken einer vernarbten Chimäre gestiegen, um eine Ansprache zu halten wie ein ernsthafter, aber wohlmeinender Freund. Er war gezwungen gewesen, die Stimme vor dem Motorenlärm eines vorbeifahrenden Konvois zu erheben: schwere Panzer, Truppentransporter, Kom-Hänger und die bewachten KäfigLaster mit den Kampfpsionikern, allesamt unterwegs zur Front. »Der Feind könnte hier versuchen, uns zu überflügeln«, hatte Van Voytz gesagt, dessen Stimme von der kiesigen Brise glattgewalzt wurde. »Ich bitte die Geister, unsere Ostflanke zu bewachen.« Bitte. Darüber hatte Gaunt gelächelt: ein trockenes Lächeln, denn auf Jago war kein anderes möglich. Sein alter Freund und manchmal auch Mentor Barthol Van Voytz war ein Experte darin, dem durchschnittlichen Mitglied der kämpfenden Truppe das Gefühl zu geben, ein Auftrag sei entweder seine eigene Idee oder ein Gefallen, den man dem Chef tat. Bitte. Zeig etwas Rückgrat, Barthol. Was du tust, nennt man befehlen. »Es gibt eine Festung namens Hinzerhaus am Ende des Befestigungswalls«, fuhr Van Voytz fort. »Sie liegt in den Banzie Altids auf einem Zacken des Hauptgebirges, acht Tage von hier.« Eher sechs, so, wie meine Geister marschieren, dachte Gaunt.
»Hinzerhaus ist Ihr Ziel. Finden Sie es«, sagte Van Voytz. »Finden Sie es, sichern Sie es, halten Sie es und vereiteln Sie jeden Versuch des Feindes, die Linie an dieser Stelle zu überschreiten. Der Imperator verlässt sich auf Sie.« Sie hatten alle das Zeichen des Adlers beschrieben. Sie hatten alle gedacht: Der verdammte Imperator kennt nicht mal meinen Namen. »Gefällt uns dieser Auftrag?«, fragte Braden Baskevyl. »Handzeichen?« »Spielt das eine Rolle?«, erwiderte Gol Kolea, als das Regiment damit begann, das Lager abzubrechen. »Habt ihr schon die Sache mit den Schädeln gehört? Den abgesägten Schädeln?«, fragte Ceglan Varl im Vorbeigehen. V Also waren sie an den Arsch von Nirgendwo gelatscht, in die vergessensten Gegenden des schlimmen Felsens namens Jago, in die Banzie Altids. Die Schluchten wurden tiefer, die Klippen steiler und der staubige Wind sang für sie aus vollem, trockenem Halse. »Das gibt noch Ärger«, sagte Elim Rawne und spie einen dicken Klumpen grauen Schleim aus. »Ach, verflucht! Das sagen Sie immer, junger Mann«, sagte Zweil, der alte Kaplan, neben ihm. VI Staub hing wie ein Gazeschleier in der Luft des tiefen Tals. Der Wind hatte vorübergehend nachgelassen und seinen Gesang eingestellt, eine unheimliche Unterbrechung. Gaunt hob die Hand. Die Finger seiner Handschuhe waren weiß von Staub. »Es dauert zu verdammt lange«, sagte Tona Criid. »Geben Sie ihnen noch eine Minute«, flüsterte Gaunt. Geister tauchten auf, geisterhafte Gestalten, die sich aus dem Staubschleier lösten: Mkoll, Bonin, Hwlan. Die Besten des Regiments. »Und?«, fragte Gaunt.
»Oh, die Festung ist da oben, keine Frage«, sagte Mkoll und spie aus, um seinen Mund zu säubern. Seine Messingbrille war mit feinem Pulver bestäubt, und er wischte sie mit den Fingern ab. »Wir haben sie gesehen«, sagte Bonin. »Und wie sieht sie aus?«, fragte Gaunt. »Wie das letzte Haus vor dem Ende der verdammten Welt«, sagte Mkoll. VII Sie standen auf und marschierten weiter: zweieinhalbtausend Soldaten in einer langen, weitläufigen Reihe. Der Wind fand seine Energie wieder und begann sein Lied von Neuem. Und so kam das Erste-und-Einzige Tanith nach Hinzerhaus, dem Haus am Ende der Welt. »Das gibt noch Ärger«, sagte Elim Rawne, als sie in dem stechenden Dunst zum Haupttor marschierten. »Wär’s wohl möglich«, fragte Hlaine Larkin, »wär’s wohl irgendwie möglich, dass Sie aufhören könnten, das zu sagen?« Der Wind heulte. Er klang wie die Schreie, die Schädel von sich geben würden, denen man die Decke abgesägt hatte.
ZWEI HIER EINTRETEN
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Das Wachhaus steht seit neunhundert Jahren leer. Es ist aus Stein, eng gesetzten Quadersteinen: Boden, Wände und Dach. Es ist groß. Es hat ein Echo, das lange nicht mehr bemüht worden ist. Die Lichter brennen noch. Lichtkugelfassungen hängen an uralten Rohren, matt und weiß wie ein Reptilienauge, halb unter einem Lid verborgen. Das Licht daraus pulsiert, grell, dann weich, im Takt zu einem langsamen Atemrhythmus. Der Puls von Hinzerhaus.
Auf dem Boden liegt ein Teppich. Die Ränder sind hochgeschlagen wie die trockenen Flügel einer toten Motte. An der Wand neben der Innenschleuse hängt ein Bild. Es hat einen schmucken Goldrahmen. Die Leinwand darin ist schmutzigschwarz. Was zeigt es? Ist es ein Gesicht, eine Hand? Draußen hinter den dicken Festungsmauern singt der Wind seine Sirenenmelodie. Jetzt ein Schaben. Schlurfen. Stimmen. Kratzen. Alte, ungeölte Riegel protestieren, als sie zurückgezwungen werden. Die Außenschleuse gleitet … II … auf. Die dicke Metallschleuse schwang ungefähr einen halben Meter auf und stockte dann. Kein noch so festes Schieben konnte sie veranlassen, sich noch weiter zu öffnen. Die Angeln waren in Staub und Dreck erstarrt. Mkoll glitt durch die schmale Öffnung hinein. Der Wind begleitete ihn, obwohl sein Lied gestört wurde, als das Wachhaus seinen Staub einatmete. Feines Pulver hing einen Moment lang in der reglosen Luft, als sei es überrascht, bevor es sich setzte. Der Teppich zuckte, als der Zug an ihm zupfte. Mkoll sah sich um und ließ dabei den Strahl seiner Taschenlampe umherwandern. »Und? Irgendwas? Hat’s dich erwischt oder was?«, rief Maggs, der hinter der Schleuse verborgen war. Mkoll würdigte die Frage keiner Antwort. Er ging geduckt weiter, die Waffe im Anschlag, während seine Taschenlampe alle Ecken und Schatten ausforschte. Die Schatten bewegten sich, wenn seine Lampe wanderte. Sie trippelten und fielen ab, sie änderten und verbogen sich. Die Luft war staubtrocken, ohne einen Anflug von Feuchtigkeit darin. In Mkolls Schläfe fing eine Ader an zu klopfen. »Chef? Ist alles klar?«, knisterte es im Kom. Diesmal war es Bonin, der draußen bei Maggs wartete. »Wartet …«, flüsterte Mkoll, dessen Ader immer noch poch, poch, poch machte. Er konnte förmlich spüren, wie sich seine Nerven spannten. Warum? Warum war er so unruhig? Normaler-
weise ließ ihn alles kalt. Warum hatte er böse Vorahnungen, was diesen Ort betraf? Warum hatte er plötzlich den unglaublich starken Eindruck, dass … das hier noch Ärger gibt … er beobachtet wurde? Links von ihm ein Alkoven. Ein Schatten. Nichts. Rechts von ihm ein Durchgang. Noch ein Schatten. Moment, kein Schatten, ein verdammter … Nein. Kommando zurück. Nichts. Nur seine Einbildung, die Formen und Gestalten in der Düsternis ausmachte, die tatsächlich nicht da waren. »Feth«, hauchte Mkoll, erstaunt über seine eigene Dummheit. »Wiederholen?«, knisterte es im Kom. »Nichts«, erwiderte Mkoll. In dem Durchgang, er hätte schwören können … er hätte schwören können … dass jemand dagestanden hatte. Genau da. Aber da war niemand. Nur ein Streich der Schatten. Nur seine Einbildung, die Überstunden machte. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Gespenster sehen? Beruhige dich. Beruhige dich endlich. Du hast das schon tausendmal gemacht. »Klar«, sendete er. Maggs quetschte sich hinter Mkoll um die Schleuse und ließ den Strahl seiner unter der Mündung befestigten Taschenlampe umherwandern. Insgeheim mochte Mkoll Wes Maggs: Ihm gefiel die forsche Art des Belladoners und sein Grips, und er bewunderte sein Geschick. Mkoll duldete Maggs’ großes Mundwerk um des soldatischen Geschicks willen, das er von ihm zurückbekam. Doch Maggs’ berühmtes Mundwerk war plötzlich ungewöhnlich still. Maggs war eingeschüchtert, das konnte Mkoll spüren. Es passte gut zu seiner eigenen Nervosität, weil er wusste, dass Maggs normalerweise auch nicht so war. Es bedurfte einer ganzen Menge, um Wes Maggs einzuschüchtern. Sechs Tage Marsch durch den kreischenden Staub, und … Vertrockneter Schädel in einem staubigen Tal. … das Gerücht würde dazu beigetragen haben. Dieser Raum, dieses ausgedörrte Wachhaus erledigte den Rest. »Wer …«, begann Maggs. »Wer legt einen Teppich in ein Wachhaus?« Mkoll schüttelte den Kopf.
»Und ein Bild?«, fügte Maggs hinzu, während er zu dem Rahmen an der Wand schlich. Der Lichtkegel seiner Lampe wackelte und schwang herum. Dann fuhr er plötzlich herum, die Waffe hart ans Schlüsselbein gedrückt, im Anschlag. »Richte das Ding irgendwo anders hin«, schlug Bonin vor, der sich hinter ihnen durch die Schleuse wand. »Was bist du, zwölf? Dämlich?« »Entschuldige«, sagte Maggs, indem er sein Gewehr senkte. »Du wusstest, dass ich hinter dir bin.« »Entschuldige.« »Du wusstest, dass ich nach dir reinkomme.« »Entschuldige, in Ordnung?« »Haltet die Klappe, beide«, sagte Mkoll. Das sieht uns gar nicht ähnlich. Wir sind streitlustig und viel zu angespannt. Wir sind Späher der Geister, um Feths willen. Wir sind die Besten, die es gibt. Bonin sah sich um und ließ den Strahl seiner Lampe über Wände und Decke wandern. »Wirklich anheimelnd«, murmelte er. Er wandte sich an Mkoll. »Soll ich den Rest der Vorhut reinholen?« Mkoll schüttelte den Kopf. »Nein.« »Äh, warum nicht?« »Seht euch das Bild an«, rief Maggs. Er war zu der Wand gegangen, wo der alte Rahmen hing, und hatte die Hand ausgestreckt, um die Leinwand zu berühren. Sein Handschuh war mit Staub bedeckt, der so weiß wie Asche war. »Was soll das Bild darstellen?«, fragte Maggs. »Eine Frau, nein … einen Mann … nein, eine Frau … ein Porträt …« »Lass es einfach in Ruhe, Maggs«, sagte Mkoll. »Ich frag ja nur«, sagte Maggs, während er mit dem Handschuh die Leinwand abrieb. Die Leinwand bebte in dem Rahmen. »Das ist eine Frau, richtig? Habe ich recht? Eine Frau in einem schwarzen Kleid?« Mkoll und Bonin schauten nicht hin. Sie starrten auf die herabhängenden Lampenfassungen und die sanft leuchtenden geliderten Reptilienaugen an den gebleichten Wänden. »Hier gibt es immer noch Saft«, sagte Bonin mit einigem Unbehagen. Mkoll nickte. »Wie ist das möglich? Nach so langer Zeit?«
Mkoll zuckte die Achseln. »Ich glaube, es sind chemische Lampen, die ganz langsam abbrennen und nicht an einen Generator oder eine Batterie angeschlossen sind. Jedenfalls sind sie fast am Ende.« Bonin atmete aus. »Bilde ich mir das nur ein, oder werden sie ab und zu heller?« Mkoll zuckte wieder die Achseln. »Du bildest es dir ein«, log er. »He, es ist tatsächlich eine Frau«, verkündete Maggs hinter ihnen. »Irgendeine alte Dame in einem schwarzen Spitzenkleid.« Mit dem Handschuh rieb er mehr Dreck weg. Mkoll und Bonin gingen zu ihm. Das blasse, ausdruckslose Gesicht starrte ihnen von der geschwärzten Leinwand entgegen. »Fantastisch«, sagte Mkoll. »Können wir jetzt weitergehen?« »Oh!«, rief Maggs. Er rieb wieder an dem Porträt, und plötzlich hatte sich die uralte Leinwand unter seinen beharrlichen Fingerspitzen aufgelöst. Sie zerbröselte wie Pulver und hinterließ ein Loch, wo ihnen zuvor das Gesicht der Frau entgegengestarrt hatte. Durch das Loch konnte Maggs die Steinwand sehen, an der das Gemälde hing. »Jetzt zufrieden?«, fragte Mkoll, indem er sich abwendete. Maggs riss plötzlich seine Waffe in den Anschlag und richtete sie auf das Bild. »Was hast du vor?«, fragte Bonin. Maggs wich einen Schritt zurück und nahm das Gewehr herunter. Er schüttelte bestürzt den Kopf. »Nichts«, sagte er, »nichts, tut mir leid. Albern von mir.« »Etwas mehr Konzentration auf den Einsatz, Maggs«, wies Mkoll an. Maggs nickte. »Natürlich. Auf jeden Fall, Chef.« Einen Moment, einen flüchtigen Moment hatte das sich auflösende Porträt ausgesehen, als blute es. Dunkle, klumpige Flüssigkeit war aus dem Loch gesickert wie schwarzes Blut aus einer Fleischwunde. Aber es war nur rieselnder Staub gewesen und Maggs’ Einbildung. Er kam sich dumm vor. Kein Blut. Absolut kein Blut. Nur Staub. Staub und Schatten und … Vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal, denen man die Decke abgesägt hatte … seine eigene dämliche Einbildung.
Mkoll und Bonin waren zur Innenschleuse gegangen. Sie zogen an den verzierten Messinghebeln. »Machen wir das Ding auf«, grunzte Mkoll. »Mhm. Machen wir«, sagte Wes Maggs, während er sich beeilte, den anderen zu helfen. III »Sie brauchen zu lange«, sagte Tona Criid. Das dünne Lied des Staubs umgab sie, und die Sichtweite betrug weniger als vier Meter. Die vordersten Kompanien hatten einen halben Kilometer vor Hinzerhaus Halt gemacht und warteten auf die Rückmeldung der Späher-Vorhut. Einen halben Kilometer, aber keiner von ihnen konnte das Haus tatsächlich sehen. »Warten wir einfach«, sagte Gaunt. »Soll ich einen Trupp zur Unterstützung losschicken, für alle Fälle?«, fragte Gol Kolea. Wie sie alle hatte er seinen Tarnumhang hochgezogen, um Mund und Nase zu schützen. »Warten Sie«, wiederholte Gaunt. Er fasste sich an seinen Ohrhörer, zog ihn heraus, prüfte ihn und sah dann seinen KomOffizier an. »Irgendwas, oder bin ich tot?«, fragte er. »Sie zeigen Leben, Herr Kommissar«, erwiderte Beltayn, während er die Messingregler an seinem schweren Kom-Gerät regulierte. »Immer noch nichts von der Vorhut.« Gaunt runzelte die Stirn. »Rufen Sie sie, bitte.« »Wird gemacht, Herr Kommissar.« Beltayn setzte sich den Kopfhörer auf, nahm das Messingmikro vom Halter, hielt es sich vor den Mund und schirmte es mit der darum gewölbten linken Hand vor dem wirbelnden Staub ab. »Geist-Geist Eins, GeistGeist Eins, hier Nalholz, hier Nalholz. Geist-Geist Eins, Kontrollruf, bitte kommen.« Beltayn schaute zu Gaunt hoch. »Nur Rauschen.« »Versuchen Sie’s weiter, Bel«, sagte Gaunt. »Geist-Geist Eins, Geist-Geist Eins, hier Nalholz, hier Nalholz …« Gaunt wandte sich an Kolea. »Gol, stellen Sie schon mal einen Trupp zusammen. Halten Sie ihn bereit, aber in Formation, bis ich das Startsignal gebe.« »Ja, Herr Kommissar.«
»Mkoll weiß, was er tut. Das ist nur ein Kom-Aussetzer, mehr nicht.« Kolea nickte und bahnte sich einen Weg zurück durch den treibenden Wind, der durch die Schlucht wehte. Sie hörten ihn Befehle brüllen und dann das Klappern der Männer, die sich fertig machten. »Das gibt noch Ärger«, knurrte Major Rawne. »Eli, hör endlich auf damit«, sagte Gaunt. Rawne zuckte die Achseln in einem Was soll’s, gehorchte aber. Gaunt wartete. Es zog sich in die Länge, wie das Warten auf seinen eigenen, unvermeidlichen Tod. Er marschierte auf und ab, den Kopf gesenkt, den Blick auf die Stiefel gerichtet, wie sie Vertiefungen in den Staub bohrten, um dann darüber zu staunen, dass sie sich gleich wieder füllten. Der Wind verwaltete Jago. Er hatte keinerlei Verlangen, dass sich etwas änderte. »Es gibt gewisse …« Gaunt drehte sich um. Ludd hatte zum Reden angesetzt und es sich dann aus irgendeinem Grund anders überlegt. »Was wollten Sie sagen, Nahum?«, fragte Gaunt. Ludd hustete, und seine Stimme wurde durch den Umhang vor seinem Mund gedämpft. »Nichts, Herr Kommissar. Gar nichts.« Gaunt lächelte. »Oh, jetzt will ich es wissen. Es gibt gewisse … was?« Ludd blickte zur Seite, auf die massige Gestalt von Viktor Hark neben sich. Hark nickte. »Spucken Sie’s aus, Ludd«, sagte er. Ludd schluckte schwer. Es lag nicht nur am Staub in seiner Kehle. »Z-zu Zeiten großer Belastung, Herr Kommissar, wollte ich sagen, gibt es gewisse Methoden, die man anwenden kann, um Nervosität zu dämpfen.« »Dann glauben Sie also, ich lasse Anzeichen von Nervosität erkennen, Ludd?«, fragte Gaunt. »Das ist eigentlich der Grund, warum ich mich unterbrochen habe. Mir war ziemlich abrupt aufgegangen, dass es mir nicht zusteht, so etwas öffentlich anzudeuten.« »Ach, verdammt noch mal, Ludd«, murmelte Hark. »Nun«, sagte Gaunt, »im Hinblick auf Moral und Respekt war es vermutlich richtig, dass Sie sich korrigiert haben. Es sieht nicht gut aus, wenn jemand niedrigeren Ranges seinem vorgesetzten Offizier gegenüber durchblicken lässt, er möge sich beruhigen.«
»Genau meine Ansicht«, sagte Ludd. »Ich bin nur zu spät dorthin gelangt.« »Lassen Sie die Methoden trotzdem hören«, sagte Gaunt, der in verspielter Stimmung war. »Vielleicht nützt es was. Habe ich recht, Eli?« Nicht weit entfernt neigte Rawne den Kopf langsam Richtung Gaunt. Die Augen hinter der Messingbrille waren sarkastisch zusammengekniffen. »S-soll ich wirklich …?«, stammelte Ludd. »Ach, Thron«, hauchte Hark. »Ja, Nahum. Ich finde, Sie sollten uns alles über diese Methoden erzählen.« Gaunt sah die anderen an. »Wer weiß? Vielleicht erweisen sie sich als nützlich.« »Könnte ich mich, na ja, nicht einfach erschießen?«, fragte Ludd. »Eine peinliche Situation zu überstehen, bildet den Charakter, Nahum«, sagte Gaunt. »Nun machen Sie schon. Fangen Sie damit an, dass Sie uns erzählen, wo diese Methoden ihren Ursprung haben.« Ludd schaute zu Boden. Er murmelte etwas. »Lauter, bitte.« »Meine Mutter hat sie mir beigebracht.« Tona Criid fing an zu gackern. Varl, Beltayn und unwillkürlich auch Rawne fielen ebenfalls ein, aber es war Tonas sprödes Gackern, das wirklich einschnitt. Es ließ Hark zusammenzucken. Er kannte das Geräusch: das falsche Lachen heruntergeschluckten Schmerzes. Gaunt hob die Hand, um den Chor verstummen zu lassen. »Nein, wirklich«, sagte er. »Lassen Sie Nahum fortfahren. Nahum?« »Ich würde lieber darauf verzichten, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Kommissar. Ich war vorlaut.« »Betrachten Sie es als Befehl.« »Ah. Also gut. Zu Befehl, Herr Kommissar. Tja, da war dieses Zählspiel, mit dem sie sich immer beruhigt hat. Man zählt einszwei-drei und so weiter und atmet tief zwischen jeder Zahl.« »In diesem Staub?«, schnaubte Criid. Sie zog den Saum ihres Umhangs herunter, räusperte sich und spie einen grauen Schleimklumpen aus.
Ludd sah Gaunt an und hob die Schultern. »Sie hat immer die Worte ›Thron Terras‹ zwischen den Zahlen gesprochen. Eins, Thron Terras … zwei, Thron Terras … drei …« »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Nahum?« »Gewiss, Herr Kommissar.« »War Ihre Mutter eine besonders besorgte Frau?« Ludd zuckte die Achseln. Dreckpartikel platzten von seinem Ledermantel ab. »Das nehme ich an. Sie war immer nervös, erinnere ich mich. Ihre Nerven haben ihr Sorgen bereitet. Sie war zerbrechlich. Tatsächlich weiß ich es nicht. Mit acht habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Ich wurde zur Schola gebracht. Ich glaube, mittlerweile ist sie tot.« Criid hörte abrupt auf zu glucksen. »Ich war auch noch jung, als ich meine Mutter verloren habe«, sagte Gaunt. Er mochte lügen, aber niemand konnte ihn widerlegen. »Nahum, sehe ich für sie wie eine besonders besorgte Frau aus?« »Natürlich nicht, Herr Kommissar?« »Natürlich nicht. Aber ich bin ein besonders besorgter Kommandant. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Zählspiel ihrer Mutter benutze?« »Nein, Herr Kommissar.« Gaunt drehte sich um und machte ein paar Schritte den Pass entlang in Richtung des unsichtbaren Hauses. »Eins, Thron Terras … Zwei, Thron Terras …«, begann er. Beim zehnten Thron Terras machte er kehrt und zählte sich zu ihnen zurück. Der Wind ließ nach, bis er nur noch ein leiser Hauch war. Der Staub legte sich. Die Sonne kam heraus. Eszrah ut Nach, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, legte seine hagere Hand auf Gaunts Arm und nickte in Richtung Pass. »Süh mol, Seele.« Ibram Gaunt drehte sich um. Sie sahen das Haus zum ersten Mal.
DREI GEISTER IM HAUS
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Ziel erreicht. Ziel wird bis Tagesanbruch gesichert. Gegenwärtig keinerlei Feindkontakt zu vermelden. Nalholz Ende. (Ende der Nachricht) -
Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I
In der anschließenden zehnminütigen staub- und liedlosen Stille war den Geistern ihr erster richtiger Blick auf den Ort vergönnt, der später von den Geräuschen ihres Todes widerhallen sollte. Hinzerhaus. Es gab nicht viel zu sehen: ein befestigtes Wachhaus im Fundament der hoch aufragenden Klippen und darüber mehrere Ränge gepanzerter Kasematten und Blockhäuser, die aus dem Kinn der Felswand ragten wie Theaterlogen. Hoch oben, entlang des Kamms der Klippe, gab es Anzeichen von gedeckten Dächern; von langen, miteinander verbundenen Hallen und klobigen Türmen. Beiderseits des eigentlichen Hauses war die Kammlinie von Glockentürmen und vergleichsweise bescheidenen Befestigungen durchbrochen, als brächen Warzen und Blasen aus runzliger Haut. Ein Festungshaus. Eine Hausfestung. Eine Bastion, die ins ungerührte Gebirge gehauen und gebohrt worden war. »Feth«, sagte Dalin Criid. »Ruhe im Glied!«, rief sein Kompanieoffizier. Dalin biss sich auf die Lippe. Jeder Mann um ihn hatte denselben simplen Gedanken, aber Dalin war der jüngste und neueste Geist und hatte den Gleichmut und Felddrill noch nicht gemeistert. Er errötete und kam sich wie ein totaler Idiot vor. Das Schlimmste war: Er wusste, dass sie ihn alle ansahen. Dalin nahm einen besonderen Platz im Regiment ein, auf dem er sich nicht hundertprozentig wohl fühlte. Prüfstein, Glücksbringer, frisches Blut. Er war der Junge, der es zu etwas gebracht hatte, der erste Sohn der Geister. Und der schlimme Felsen Jago war sein erstes Gefecht als Teil des Ersten-und-Einzigen Tanith, was es fast zu einem Initiations-
ritus machte. Dalin Criid musste ein großes Vermächtnis hochhalten. Eigentlich sogar zwei große Vermächtnisse: das des Regiments und das seines Vaters. Im Kom klickte es, als Signale von der Kommandogruppe kamen. Höhere Offiziere trabten zurück durch die Schlucht, um den wartenden Kompanien die Befehle verbal zu übermitteln. Dalin gehörte zur E-Kompanie, was ihn zu einem Teil von Hauptmann Meryns Haufen machte. Flyn Meryn war ein gutaussehender, harter Mann, einer der jüngsten Hauptmänner im Regiment und geborener Tanither. Es hieß, Meryn sei der nächste Rawne und orientiere sich an der boshaften Art der Nummer zwei des Regiments. Die Zeit, hatte man Dalin zuverlässig informiert, hatte Rawnes berüchtigt harte Kanten ein wenig abgerundet … nun, wenn nicht abgerundet, dann abgeschliffen. Meryn war hingegen beständig schärfer geworden, als habe er es auf den Preis für den größten Schweinehund abgesehen. Dalin hätte sich lieber einer anderen Kompanie als Meryns zuteilen lassen, sogar Rawnes, aber es ging auch um eine Verpflichtung. In der E-Kompanie gab es einen freien Posten, und nach Ansicht aller – mit Ausnahme von Dalin Criid selbst – konnte nur Dalin ihn einnehmen. Meryn kam die Linie entlang. »Vorrücken nach Kompanien!«, rief er, indem er den Singsang des Befehls kopierte, wie er ihn selbst gehört hatte. »EKompanie, aufstehen und antreten!« Die Kompanie erhob sich, in einer Reihe. Hinter ihnen kamen auch die Kompanien G und L hoch und schüttelten den Staub aus den Tarnumhängen, da ihre Offiziere ihnen den Befehl zum Antreten gaben. »Kompanie, Schutzhüllen abstreifen!«, befahl Meryn. Dalin zog das Schutzfutteral von seinem Lasergewehr. Er hatte es schon tausendmal gemacht, Drill um Drill, und war nicht langsamer als die Männer rechts und links neben ihm. Das Futteral fand seinen Platz zusammengerollt wie ein Strumpf in seinem Koppel. Er war von Lärm umgeben: den gebrüllten Anweisungen der Offiziere und dem Klappern der vorrückenden Soldaten. Zweieinhalbtausend Imperiale Gardisten erzeugten allein beim Marschieren erheblichen Lärm. »Nicht so laut!«, brüllte Meryn.
Mehr Lärm hallte durch die Schlucht. Die Kommandoabteilung begann mit Unterstützung der Kompanien A, B und D bereits ihren Vormarsch durch die Schlucht zum Wachhaus. »Kompanie, bereithalten zum Vorrücken!«, rief Meryn. »Rechnen wir mit so viel Ärger?«, flüsterte Cullwoe. Er stand rechts neben Dalin in der Reihe. Dalin schaute in die Richtung, die Cullwoes Kopfnicken ihm wies. Die Mannschaften mit den schweren Waffen gingen überall am Rand der Schlucht in Stellung und richteten ihre Waffen auf das Wachhaus. Verschlussklammern klackten und klirrten, als Mannschaftswaffen aufgestellt und rasch zusammengebaut wurden. »Das nehme ich an«, erwiderte Dalin. »Ich höre immer noch Gequatsche«, bellte Meryn, während er die Reihe entlang zurückmarschierte. Er näherte sich. »Waren Sie das, Criid?« Dalin sah keinen Sinn darin zu lügen. »Ja, Herr Hauptmann. Verzeihung, Herr Hauptmann.« Meryn funkelte ihn einen Moment an und … ach bitte, nicht, tu’s nicht … nickte. Dalin hasste das. Er hasste die Tatsache, dass Meryn Nachsicht zeigte aufgrund dessen, wer und was Dalin war. »Seien Sie leise, Dalin, in Ordnung?«, sagte Meryn in schmerzlich onkelhaftem Ton. »Zu Befehl, Herr Hauptmann.« Dreckschwein, Dreckschwein, Dreckschwein, behandle mich wie den Rest, behandle mich wie alle anderen, nicht wie einen … nicht so, als wäre ich Caffrans verdammter Geist … »Das muss ein erlesener Schmerz im Arsch sein, Meister«, flüsterte Cullwoe neben ihm. »Dass er das tut, meine ich.« Dalin grinste. Es war ein ständiger Witz zwischen ihnen. Khet Cullwoe war sein Kumpel. Sie hatten sich schnell verbrüdert, praktisch in dem Augenblick, als sich Dalin in der E-Kompanie wiedergefunden hatte. Cullwoe war ein Belladoner, ein knochiger, sommersprossiger rothaariger Bursche, nur vier Jahre älter als Dalin. Er hatte ein Grinsen, das unwillkürlich ansteckte. Cullwoe war Dalins Anker gegen den Wahnsinn. Khet Cullwoe war der Einzige, der es begriff, der begriff, in was für einer beschissenen Lage Dalin sich befand. »Erlesener Schmerz« in allen Variationen war ihr privater Witz. Das Entscheidende dabei war, dass der Satz
die Wörter »erlesen«, »Schmerz« und »Meister« enthalten musste. Links von Dalin stand Neskon, der Flammsoldat. In den letzten Wochen hatte er genug vom Cullwoe/Dalin-Wechselspiel mitbekommen, um es witzig zu finden. Neskon stank nach Prometheum, und der Geruch quoll aus seiner Schwarte wie ranziger, chemischer Schweiß. »Fertig, Junge?«, fragte er. Dalin nickte. Der grauhaarige Flammsoldat, dessen Gesicht und Hals infolge der professionellen Hitze, die er ausstrahlte, vorzeitig gealtert waren, ließ seine Tanks gurgeln und schaltete dann den Brenner ein. Er hustete und entflammte dann mit einem Fauchen. »Schöne Geräusche«, murmelte Neskon, während er die Brennstoffzufuhr regulierte. »Halt dich an mich, Junge. Ich bring dich schon durch.« Dalin nickte wieder. Er kam sich seltsam sicher und behütet vor: einen jungen Kumpel auf der einen Seite und einen freundlichen Feueroger auf der anderen, und beide passten auf ihn auf, weil er war, was er eben war: Caffrans Sohn. Criids und Caffrans Sohn, aus der Flammenhölle der Vervunmakropole gerettet, um anstelle seines Adoptivvaters ein Geist zu werden. Neskons Werfer rülpste Brennstoff und stotterte. Der Flammer justierte kundig nach und brachte den Brennkegel wieder auf ein flüssiges Tröpfeln zurück. »E-Kompanie! Bereitmachen zum Vorrücken!« Dalin spannte sich und wartete auf den Befehl, den Befehl, von dem er das Gefühl hatte, sein ganzes Leben darauf gewartet zu haben. »Ehrliches Silber!«, rief Meryn. Tu’s jetzt. Linke Hand ans Koppel, rausziehen, umdrehen, an den Gewehrlauf klemmen, klack-klack! Dreißig Zentimeter Kampfmesser waren an Ort und Stelle. Unter den Waffen das Markenzeichen der Geister von Tanith. Dalin Criid verspürte eine brennende Woge unbändigen Stolzes. Das Gewehr lag in seinen Händen. Er war ein Geist und hatte soeben Silber aufgepflanzt, ehrliches Silber, zum ersten Mal im Ernst. »Vorrücken!«, rief Meryn. »Dann komm, wenn du kommen willst«, sagte Neskon.
II Ehrliches Silber galt nicht für alle: Scharfschützen waren davon ausgenommen. Als der Befehl die Reihen der Kompanie durchlief, rührte Hlaine Larkin keinen Finger. Sein kostbares Präzisionsgewehr, auf wunderbare Weise aus den Sümpfen Gereons gerettet, lag bereits unter dem Kinn und war ausgerichtet. Larkin war alt. Mit Ausnahme von Zweil und Dorden war er wahrscheinlich der älteste Mann im Regiment und sein bester Schütze. War es verdammt noch mal immer noch. Larkin war mager und sehnig, das Gesicht ledrig wie ein gegerbtes Fell. Er hatte an jeder Schlacht der Geister teilgenommen und viele gute Freunde überlebt. Larkin wartete und schnüffelte. Sein Kopf war zur Abwechslung einmal klar, was selten genug vorkam: Er litt unter ständigen Migräneanfällen. Er bewegte sich unbehaglich. An den Fuß hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Er hatte sich für eine Prothese anstelle einer Augmetik entschieden, aber dadurch hinkte er jetzt. Eine hölzerne Fußprothese – Nalholz, vielen Dank –, und Thron wusste, an welchen Strippen der Chef gezogen hatte, um das möglich zu machen. Larkin glaubte, dass sich Gaunt wegen des Fußes schuldig fühlte. Natürlich hatte er das Richtige getan. Larkin wusste das, aber er konnte dem Chef nicht verdenken, dass dieser sich deswegen schuldig fühlte. Schließlich hatte er Larkin den Fuß mit seinem Schwert abgeschlagen. Fünfundsiebzig Meter, schwenken, entsichert. Larkin senkte das Zielrohr langsam. Er ignorierte das Durcheinander vorrückender Leiber im Vordergrund und fokussierte die Optik stattdessen auf das Relief der Festungsmauern und Fensterschlitze. Er war auf der Jagd nach Bewegung, mit geübtem Auge auf der Jagd nach Gefahr, auf der Jagd nach dem Ärger, von dem Major Rawne so verdammt sicher war, dass er sie dort oben erwartete. Larkins Atmung war sehr langsam. Tödlicher Schuss auf viertausend Meter. Er hatte das ein oder zwei Mal geschafft. Es war, als habe er einen ganz besonderen Schutzengel, der über ihn wachte und ihm beim Zielen half. Einen weiblichen Engel. Er hatte sie ein Mal gesehen.
Ein Mal war genug. Larkin glaubte immer, er habe nichts Echtes gesehen, wenn er es nicht durch sein Zielrohr sah. Während die Geister vorrückten, beobachtete er alles – nicht nur, um als Scharfschütze Feuerschutz zu geben, sondern auch, um festzustellen, was echt war. Da gingen sie … Daur, Kolea, Kamori, die ihre Männer durch das Tor trieben. Larkin ließ das Zielrohr wandern. Da war Caober. Und da waren Brostin und Varl. Da war der alte Pater Zweil, auf einem Felsen, den er wie eine Kanzel benutzte, um die vorbeimarschierenden Gardisten zu segnen. Larkin lächelte. Zweil war schon ein Schlawiner. Der älteste Mann, den er kannte, und trotzdem noch voll bei der Sache. Da waren Wheln und Melwid, da waren Veddekin, Derin, Harjeon und Burone. Tona Criid und Nahum Ludd. Lubba und Dremmond, Posetine und Nessa. Da waren Bragg und Noa Vadim und Bool. Vivvo und Lyse und die sexy Jessi Banda. Da waren … Augenblick. Halt mal! Zurück! Feth, Feth, Feth, nein … Mitten zwischen all diesen marschierenden Gestalten … Bragg? Nein, nur ein Fehler des Auges. Eine Lüge des Zielrohrs. Ein Aussetzer des Verstands. Nicht Bragg. Irgendein anderer Kerl. Ganz und gar nicht Bragg. Komm schon, wie dämlich war das denn? Larkin setzte seinen Schwenk mit klickendem Zielrohr fort. III Kommissar Viktor Hark hievte seine nicht unbeträchtliche Körperfülle durch die verkeilte Schleuse und betrat das alte Wachhaus. Männer versammelten sich drinnen, warteten, schauten sich um, unterhielten sich leise. Hauptmann Daur stand neben der Innenschleuse und schickte Männer aus der wartenden Masse in kleinen Gruppen ins Haupthaus. »Ruhe!«, sagte Hark. Das Gemurmel verschwand wie eine in die Scheide geschobene Klinge. »Nächster Trupp!«, rief Daur, indem er einen Stapel Papiere zu Rate zog, die er in seinem Brotbeutel bei sich trug.
Fünf Geister traten aus der versammelten Gruppe, Männer der C-Kompanie unter Derins Führung. »Vierzig Meter vorwärts, dann nach links. Verstärken Sie die Trupps in der Galerie und stoßen Sie weiter vor.« Daur zeigte durch die Innenschleuse, während er seine Anweisungen gab. »Verstanden«, sagte Derin. »Melden Sie alles«, sagte Daur. Derin nickte. Er sagte, »Zu Befehl«, aber der Ausdruck in seinem Gesicht zeigte nur den Wunsch, im Schutz von Mauern und aus dem staubigen Wind zu sein. »Melden Sie alles, Derin«, sagte Hark, der hinter die Männer trat. »Dieser Ort ist erst sicher, wenn der Chef uns sagt, dass er es ist.« Derin und seine Männer hatten plötzlich ihre ernstesten Mienen aufgesetzt. »Absolut, Herr Kommissar.« »Wenn Sie auch nur eine Maus furzen hören, melden Sie’s, Derin«, sagte Hark. »Sehen Sie sich vor, achten Sie auf Kleinigkeiten und melden Sie mir erst dann, dass etwas klar ist, wenn Sie es persönlich bei der makellosen Ehre Ihrer kleinen Schwester garantieren können.« Es gab Momente, in denen Derin dreist genug gewesen wäre, den Kommissar daran zu erinnern, dass jede kleine Schwester, die er einmal gehabt haben mochte, längst tot und in der Asche Taniths verbrannt war. Dies war kein solcher Moment. »Verstanden, Herr Kommissar.« »Ab mit Ihnen.« Derins Trupp marschierte durch die Innenschleuse. Hark hörte ihre Schritte auf dem Steinboden hallen. »Nächster Trupp!«, rief Daur. Mehr Männer lösten sich aus der Masse und traten vor. »Wie genau ist die Karte, was meinen Sie?«, fragte Hark Daur. Ban Daur rümpfte die Nase und schaute auf den Stapel Papiere in seinen Händen. Mehrere hochrangige Offiziere, darunter auch Hark, hatten Lagepläne des Ziels am Sammelpunkt Elikon bekommen. »Tja, sie sind alt und sehen aus, als wären sie aus dem Gedächtnis gezeichnet worden«, sagte Daur zweifelnd. »Oder von jemandem, der viel geraten hat. Also …«
Hark nickte. »Genau das denke ich auch. Wir werden hier auf Überraschungen stoßen.« Er setzte seine Mütze und die Messingbrille ab. Seine Augen waren wund. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Kommissar?«, fragte Daur. »Hm?« »Sie sehen müde aus, wenn ich das sagen darf.« »Ich habe nicht gut geschlafen. Schicken Sie den nächsten Trupp los. Wir geben Rückendeckung.« Immer mehr Soldaten strömten durch die Außenschleuse und versammelten sich im Wachhaus. Hark sah zu und wartete, während Daur drei weitere Trupps aufrief, ihnen Anweisungen gab und sie in das Haus schickte. Dabei holte Hark seinen eigenen Packen Papiere heraus und fand den Plan der zentralen Ebene. Ban Daurs Beschreibung der Kartografie war freundlich gewesen. »Ich will die Wasserversorgung des Hauses ausfindig machen«, sagte er zu Daur. »Den Brunnen?« »Ja.« »Unten in der zentralen Ebene, glaube ich. Da müsste er jedenfalls sein. Ich habe Varls Trupp dorthin geschickt.« Hark nickte. »Ich werde sie suchen. Sollte jemand nach mir fragen, bin ich dort.« »Ja, Kommissar.« Daur sah den massigen Mann an. »Wollen Sie eine Eskorte, Kommissar?« »Sehe ich aus, als brauchte ich eine, Hauptmann?«, fragte Hark. »Seit ich Sie kenne, haben Sie noch nie so ausgesehen, als brauchten Sie eine Eskorte, Kommissar«, sagte Daur. »Gute Antwort, Hauptmann. Wir sehen uns später.« Hark schritt durch die Innenschleuse. IV Ein breiter Korridor führte von der Innenschleuse des Wachhauses ins Herz des Hauses. Der Querschnitt des Korridors war achteckig und der Boden gepflastert. Wände und Decke waren mit einem dunklen, glänzenden Material getäfelt, das Hark für eine verwitterte Legierung oder für von der Zeit entfärbtes lackiertes Hartholz hielt. Jedenfalls hatte es eine glänzende, dunkelbraune
Farbe, wie ein polierter Schildkrötenpanzer oder Tabaksaft. In Schulterhöhe gab es schwache Anzeichen von Gravuren an den Wänden, aber nichts, was einem tatsächlich ins Auge fiel oder gar lesbar gewesen wäre. Hark folgte dem Korridor. Etwa alle zwanzig Meter hob eine kurze Steintreppe das Niveau des gesamten Tunnels um vielleicht einen Meter an, sodass es unmöglich war, durch die gesamte Länge des Korridors zu schauen. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich Hark richtig allein. Vielleicht sogar zum ersten Mal seit Jahren. Es gab keine Geräusche außer denen seines Atems und seiner Schritte sowie das leise Knarren seines Ledermantels. Keine Geräusche von Bewegungen und keine Stimmen, und er war so tief im Fels, dass das Lied des Windes draußen nicht mehr zu hören war. Die Lampen waren seltsam: mattweiße chemische Lichtkugeln hingen von dicken, verwitterten Rohren, die aussahen wie kranke Arterien. Das Licht kam und ging in langsamem Pulsschlag, greller, dann weicher. Entnervend. Die satinglänzenden braunen Wände schienen das Licht ebenfalls aufzusaugen, sodass der Korridor von einer warmen, weißen Düsternis erfüllt war, verschwommen und weich wie Sternenlicht an einem Sommerabend. Hark blieb stehen und beobachtete das träge Pulsieren des Lichts. Es erinnerte ihn an etwas anderes. Es erinnerte ihn an das bis ins Mark dringende, schwere Pulsieren von Schmerzen, worüber er in der Schlacht um Herodor vor fünf Jahren alles erfahren hatte. Vor fünf Jahren. Lag das wirklich schon so lange zurück? Hark ging auf, dass er schwitzte. Eine andere Erinnerung hatte sich soeben wieder bemerkbar gemacht, ungebeten und nicht zum ersten Mal. Es war nicht die Erinnerung an die extremen Schmerzen, unter denen er auf Herodor gelitten hatte, noch war es der nagende Phantomschmerz des Arms, den er dort verloren hatte. Doch sie war auch beides zugleich. Die Erinnerung war damit verbunden, von diesen angefacht. Sie war wie ein Traum, beim Aufwachen vergessen, der dann später ungebeten und formlos wiederkam. Ein Gefühl der Trauer, des Bedauerns und bleibender Schmerzen. O ja, auch die. V
Hark schluckte. Er wünschte wirklich, er könne das Gefühl festnageln, es identifizieren, es zur Abwechslung einmal klar wahrnehmen. Seit Monaten, vielleicht Jahren überkam es ihn, und das immer häufiger. Hauptsächlich in seinen Träumen, wo es ihn mit einem Schreck und einem Gefühl der Verwirrung weckte. Manchmal kam es auch, wenn er wach war, ein Juckreiz, den er nicht wegkratzen konnte, ein Geschmack im Mund, ein Geschmack im Geiste. Dorden, der alte Regimentsarzt, hatte ihm erklärt, ein ernsthaftes physisches Trauma der Art, wie Hark eines erlitten hatte, hinterlasse oft einen unauslöschlich bleibenden Eindruck beim Opfer. Er hatte nicht nur Phantomschmerzen gemeint, sondern vielmehr eine mentale Narbe, einen verbrannten Streifen aus Synapsen, die im Augenblick der Qual durchgeschmort waren. »Manche Patienten berichten von einem metallischen Geschmack, Viktor«, hatte Dorden gesagt. »Dann waren Sie in der Messe?« Dorden hatte gelächelt. »Von einem metallischen Geschmack. Manchmal ist es auch ein Geruch, die Erinnerung an einen Geruch, vielleicht aus der Kindheit. Seife. Das Lieblingsparfüm ihrer Mutter.« »Meine Mutter war Ringermeisterin bei den PVS«, hatte Hark erwidert. »Sie hielt nicht viel von Parfüm.« »Sie machen Witze«, hatte Dorden gesagt. »Ja.« »Machen Sie Witze, so viel Sie wollen, wenn Sie so damit zurechtkommen wollen. Jeder entwickelt seine eigenen Strategien, Viktor. Sie haben mich um Hilfe gebeten.« »Ich habe Sie um Ihre medizinische Meinung gebeten, Doktor«, hatte Hark gesagt. Dann hatte er gestutzt. »Verzeihung. Entschuldigen Sie, Doktor. Was wollten Sie sagen?« »Ist es ein Geschmack? Ein Geruch? Eine Erinnerung?« »Es ist … es ist ein Traum, Doktor. Nur das verhallte Echo eines Traums, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Er ist gerade außer Reichweite. Immer genau außerhalb meiner Fähigkeit, mich zu erinnern.« »Träumen Sie ihn tatsächlich? Ist es ein richtiger Traum oder nur das Gefühl eines erinnerten Traums?«
Hark hatte überlegt. »Ich träume im Moment eine ganze Menge, Doktor. Mein Schlaf ist unruhig und leicht, aber ich kann nicht sagen, wodurch.« »Es könnte mit der Zeit aufhören«, hatte Dorden ihm versichert. Das hatte es nicht. Hark wusste, dass es das auch in Zukunft nicht tun würde. Manchmal wachte er auf und biss sich auf die Lippe, um nicht laut zu schreien. Manchmal, wenn er hellwach war, überkam ihn das Gefühl: ein amorpher, unbegreiflicher Nebel aus Weichheit wie Rauch, wie ein weiches Kopfkissen, der sich auf ihn legte. Aber in dieser Weichheit war immer etwas Hartkantiges verborgen, das hinter den Kissen gegen ihn stieß. Die Lichter pulsierten, als atme das Haus so langsam wie ein Schläfer. Genau so, exakt so. War es das? Was in Throns Namen war … VI »Hark?« Hark fuhr herum, die gute Hand am Griff seiner gehalfterten Plasmapistole. Ein Trupp unter Führung von Ferdy Kolosim war hinter ihm aufgetaucht. Die Männer blieben zurück, während der belladoner Offizier mit gerunzelter Stirn vortrat. Schweiß am Haaransatz hatte Spuren im Staub auf Kolosims Stirn hinterlassen. »Warum stehen Sie nur so da?«, fragte Kolosim. »Ich, äh, ich wollte mich nur orientieren, Ferdy«, erwiderte Hark. Er holte seine Etagenpläne heraus und schüttelte sie aus. »Sind Sie sicher?« Kolosim war ein guter Mann, eine würdige Ergänzung für die Reihen des Ersten-und-Einzigen. »O ja«, sagte Hark, indem er ein Lächeln auf seine Lippen zwang. »Dieser Ort hier … schon komisch.« »Aber es tut gut, aus dem verdammten Wind raus zu sein, oder?« »Ich glaube, genau das ist es, Ferdy«, erwiderte Hark. »Es ist plötzlich so ruhig, ich kam mir richtig verloren vor.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Kolosim. Er senkte sein Gewehr und schaute zur Tunneldecke hoch. »Hier kommt es einem vor wie …«
»Sagen Sie’s nicht«, riet ihm Hark mit einem Grinsen. »Ich weiß. Ich weiß, was Gaunt befohlen hat. Aber es kommt einem so vor, oder?« Hark nickte. »Ein wenig, ja. Machen Sie weiter.« »Sicher?« »Weitermachen, Jungs.« Der Trupp marschierte an ihm vorbei und weiter den Korridor entlang. Hark schaute auf seine linke Hand. Die Haut am Gelenk unter dem schweren schwarzen Handschuh juckte wie verrückt. Er wollte den Handschuh abziehen und kratzen. Nur dass, wie er sehr wohl wusste, keine Haut darunter, nur augmetische Knochen und Sehnen, nur Drähte und Plastek und Magnetspulen. Hark drehte sich um, versuchte das Jucken zu ignorieren und ging weiter. VII Der lange Korridor führte in die Basiskammer des Hauses. Unterwegs hatten sich Seitengalerien nach links und rechts geöffnet, lange, zugige Tunnel, die zu den untersten Kasematten und Befestigungen führten. Der Wind blies hindurch, dünn und schwach, da er sich durch entfernte Schlitze und Öffnungen zwängte. Er konnte Staub riechen. Hark erreichte eine breite Treppe. Der Korridor verbreiterte sich zu einem Vestibül. Der Boden war nicht mehr gepflastert, sondern mit derselben glänzenden braunen Substanz gefliest, die auch die Wände bedeckte. Er klackerte unter seinen Stiefeln, weich und glänzend wie poliertes Leder. Die Treppe führte unter einem großen hölzernen Bogen voller Wurmlöcher durch. Der Bogen war mit Schnitzereien verziert gewesen wie die Altarrückwand eines Templums. Ineinander verschlungene Gestalten verdrehten sich zu sich wiederholenden Mustern, die alle von der Zeit bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschmirgelt worden waren. Die Basis war ein rundes Steingewölbe, fünfzig Meter im Durchmesser und vier Etagen hoch. Eine große hölzerne Wendeltreppe in der Mitte führte in die oberen Etagen des Hauses. Auf der untersten Etage und von jedem Treppenabsatz führten Gänge in Seitenbereiche. Auf allen Absätzen waren Wachen postiert worden. Die Lampen in der Basis hingen von Deckenrohren,
schlaff und schwer wie Augäpfel an Sehnerven. Sie pulsierten ebenfalls: langsam, ganz langsam. Der Wind war in der Basis, wehte durch die in jeder Etage offen stehenden Türen. Er gab der Luft einen trockenen, pulvrigen Geruch. »Woher kommt der Wind?«, fragte Hark. »Oben ist irgendwo eine … gn…gn… Klappe auf, Herr Kommissar«, erwiderte der Soldat, der den Treppenaufgang bewachte. Hark kannte die Stimme und das entstellte Gesicht. »Eine Klappe, Soldat Merrt?« Merrt nickte. Er nahm sich vor dem Kommissar in Acht. Hark hatte Merrt auf dem Flug von Ancreon Sextus zum Dienst in der BIN-Abteilung verdonnert, obwohl Merrt ihm das nicht verübelte. Merrt wusste, dass er es verdient hatte. Infolgedessen hatte Merrt die Befreiungsoffensive auf Gereon an ihrem schärfsten Ende erlebt. Rhen Merrt war früher Scharfschütze gewesen und hatte sich in punkto Können nur dem Irren Larkin beugen müssen. Ein Kopfschuss auf Monthax hatte dieser besonderen Begabung schon vor Jahren ein Ende bereitet. Merrt war jetzt stolzer Besitzer eines hässlichen augmetischen Kiefers, der ihn aussehen ließ wie ein grauenhafter Zusammenprall zwischen einem Servitor und einem menschlichen Schädel. Der Treffer hatte seine Zielfähigkeit ruiniert, und darunter hatte er gelitten. Er war wieder ganz unten angekommen und seine besondere Begabung nur noch ein entferntes Bedauern. »Eine gn… gn… Klappe, jawohl, Herr Kommissar.« Meistens hatte er mit seinem plumpen künstlichen Kiefer Artikulationsschwierigkeiten. Er redete langsam und manieriert. Hark nickte. »Darum müssen wir uns kümmern. Wenn irgendein Teil dieser Festung offen genug ist, um den Wind durchwehen zu lassen, weiß nur der Thron, was vielleicht sonst noch durchkommt.« Merrt nickte. Ein paar Trupps kamen in der Basis an und erklommen die Treppe. »Übrigens, es ist schön, dass Sie wieder da sind, Merrt«, sagte Hark leise. »Herr Kommissar?« »Hier gehören Sie hin. Ins Erste. Versuchen Sie, es sich nicht noch mal zu versauen.«
»Ich bin ein … gn… gn… geläuterter Mann, Kommissar.« »Das freut mich zu hören. Ich bin unterwegs zum Brunnen.« »Hintere Schleuse, Herr Kommissar«, erwiderte Merrt, indem er mit dem Daumen hinter sich zeigte. Hark ging hinter die mächtige Treppe. Dort war ein Loch im Boden, eine Messingluke war aufgestemmt worden. Hark blieb am Rand stehen und lugte nach unten. Dunkelheit. Auf dem Boden neben der Luke lagen Ausrüstungskisten der Garde. Hark ging hin, nahm sich eine Lampe und schaltete sie ein. Der Strahl war heiß und gelb und stand in starkem Kontrast zum milchigen Leuchten der Hauslampen. Er ging zurück zur Luke und hielt die Lampe hinein. Sie zeigte ihm eine baufällige eiserne Leiter. Hark ließ sich vorsichtig auf die erste Sprosse hinunter. VIII »Wenn man sie anschnippt, werden sie heller«, stellte Soldat Twenzet fest und schnippte eine der Lampen an der Wand an. »Lass das«, sagte Varl. »Warum?« »Weil … ich dich sonst erschieße«, sagte Varl. »Das reicht mir«, erwiderte Twenzet. Der Raum war klamm und kalt. Er war der tiefste Teil des Hauses, tief unter der Kruste, jedenfalls sagten das die Pläne. Varl hatte wenig Vertrauen in die Pläne. Er führte einen Trupp von sechs Männern der B-Kompanie, also Rawnes Jungens: Brostin, Laydly, Twenzet (der Lampenschnipper), Gonlevy, LaHurf und Cant. Der Befehl, von Gaunt persönlich ausgegeben, lautete, die Wasserversorgung des Ziels zu finden und zu sichern. Ceglan Varl war ein Tanither der alten Schule, einer der Ersten der Wenigen. Er war beliebt, weil er ein Schelm und Gaukler war, und komischerweise aus denselben Gründen unbeliebt. Varl war hager und drahtig wie ein straffes Seil. Die Männer bei ihm waren in der Hauptsache belladoner Neulinge mit Ausnahme von Brostin, dem Flammsoldat, der ebenfalls ein Tanither der alten Schule war, sogar der ganz alten Schule.
Brostin und Varl hatten gemeinsam Gereon erlebt, beim ersten Mal. Sie hatten die wahre Härte kennengelernt und ihr direkt ins Auge gespien. Die Befehle waren zusammen mit den Plänen gekommen, fadenscheinigen Dingern auf durchsichtigem Papier, was sie an die Stelle geführt hatte, die Brostin mit Wonne als »Arschlochende« des Hauses bezeichnet hatte. Tief unten, in den Fels gehauen, schluchtentief. Tau transpirierte von den rohen, gekalkten Wänden. Eine wacklige Eisenleiter hatte sie nach unten in dieses Loch geführt. Sie liefen herum und schwangen dabei ihre Taschenlampen in der Düsternis wie Lichtschwerter. Die Hauslampen waren hier unten im Brunnenraum sehr schwach. Der Raum war oval und in den tiefen Fels gehauen, der Boden mit dicken imprägnierten Planken ausgelegt. Eine große gusseiserne Wanne mit einem Messingdeckel stand in der Mitte der Kammer, und ein komplexes Kettensystem verlief vom Deckelmechanismus zu Flaschenzügen und Zahnrädern unter dem Dach. »Das ist also der Brunnen«, sagte Varl, indem er seine Lampe darauf richtete. »Na so was«, sagte Twenzet. »Für die Witze bin ich zuständig«, schnauzte Varl. »Ach ja, wieso eigentlich?«, fragte Laydly. »Weil … ich dich sonst erschieße«, sagte Varl. »Das reicht mir wieder«, erwiderte Twenzet. »Macht auf«, befahl Varl. Gonlevy und Cant machten sich an den Kurbeln auf dem Deckel zu schaffen. »Rührt sich nicht, Sergeant«, sagte Cant. »Warum nicht?« Cant stutzte. Er wusste ganz genau, was kam. »Ich … scheine nicht in der Lage zu sein, die Kurbeln zu drehen, Sergeant.« »Warum?«, fragte Varl. Cant murmelte irgendwas. »Wir können dich nicht hören«, sagte Varl. »Weil ich nicht kann, Sergeant«, sagte Cant. »Ach, du kannst also nicht, Cant?«, sagte Varl. Alle brachen in lautes Gelächter aus, schon wieder.
»Ja, ja«, sagte Cant, der schon lange nicht mehr wusste, was an diesem Witz lustig war. »Helfen Sie uns einfach bei …« »Tweenzy hat recht«, sagte Brostin von der anderen Seite des klammen Raums. »Bitte nenn mich nicht so«, sagte Twenzet. »Ich habe dich darum gebeten.« »Tweenzy hat vollkommen recht, Varl«, beharrte Brostin. Varl schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe, der Brostin erfasste. Der Flammsoldat hatte sich niedergekauert und schnippte eine der Wandlampen mit seinem klobigen Zeigefinger an. »Sie werden tatsächlich heller, wenn man sie anschnippt«, grinste Brostin. »Hör auf damit!«, fauchte Varl. »Ihr alle! Wir sollen hier …« »Halbwegs fähig sein?« Alle erstarrten. Kommissar Hark kletterte die letzten Sprossen hinunter und landete im Brunnenraum. »Herr Kommissar«, sagte Varl. »Ist das hier der Brunnen, Varl?« »Das ist er, Herr Kommissar.« »Haben Sie ihn geöffnet? Gesichert?« »Noch nicht, Herr Kommissar, Verzeihung.« »Öffnen Sie ihn.« »Ich wollte gerade sagen, dass die Kurbeln festgerostet sind, Herr Kommissar«, begann Cant. »Wir können nicht …« Viktor Hark streckte die linke Hand aus. Seine augmetischen Finger schlossen sich wie eine Schraubzwinge um die Kurbel. »Können nicht, Cant, oder wollen nicht?«, schnaubte Hark. »Ach, nicht Sie auch noch«, ächzte Cant. Harks Arm drehte sich. Mit kreischender, quietschender Beschwerde drehten sich die Zahnräder, und der Deckel öffnete sich langsam. Ketten klirrten in der Dunkelheit über ihnen. Ein fauler, trockener Gestank drang aus dem Brunnenschacht. »Warst du das, Brostin?«, fragte Varl. »Diesmal nicht«, ächzte Brostin, der sich die Nase zuhielt. Varl, Hark und Brostin gingen zum Brunnen und sahen hinein. Varl leuchtete mit seiner Lampe nach unten. Der Strahl leuchtete Moos und sirupartige schwarze Flechten an. Der Abwassergestank war unerträglich.
Brostin nahm einen überzähligen Siegelring, einen kleinen, gerändelten Gegenstand aus Messing, und warf ihn in den Brunnen. »Eins, Thron Terras … Zwei, Thron Terras … Drei, Thron Terras …«, begann Hark. Er kam bis sechzehn, Thron Terras. Es gab kein Platschen, nur eine trockene, klirrende Reihe von Aufschlägen, als der Ring unten ankam. Hark sah Varl an. »Sehen Sie«, sagte er, »genau das habe ich befürchtet.«
VIER IN STAUB GESCHRIEBEN
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I In Hinzerhaus gab es seltsame Echos, an die man sich erst gewöhnen musste. Allein in einem Raum mochte jemand die Schritte eines Kameraden zwei Etagen höher und hundert Meter weit weg hören. Die Geräusche trugen weit. Wenn der Wind je hier eindringt, überlegte Baskevyl, welches Lied wird er dann wohl singen? Er ging durch das Haus, auf der Suche nach dem Raum für die Stromerzeugung. Bei jeder Abzweigung – und Kreuzung konsultierte er ein Stück Papier. Mkoll hatte ihm eine Wegbeschreibung mitgegeben. Den Karten konnte man nicht vertrauen. Daur und Rawne hatten sich am Abend zuvor in die Wolle bekommen, und zwar wegen der Lage eines Raums, der »kleiner Saal« hieß. Es hatte nicht viel gefehlt, und es wäre unschön geworden – Baskevyl war sicher, dass Daur kurz davor gewesen war, Rawne zu schlagen –, bis Gaunt festgestellt hatte, dass zum einen Daurs und Rawnes Karte merklich unterschiedlich waren und sie sich zum anderen im kleinen Saal stritten. Im Rückblick, überlegte Baskevyl jetzt, gab Daurs Verhalten bei dieser Auseinandersetzung vielleicht den größten Anlass zur Sorge. Ban Daur, ordentlich frisiert und thronesfürchtig, war ein Paradeoffizier, die letzte Person, der man zutrauen würde, einen ranghöheren Offizier zu schlagen. Das liegt daran, dass wir verschreckt sind, jeder einzelne Mann. Manche geben es zu, andere nicht, aber wir sind alle verschreckt von diesem schlimmen Felsen und dem Labyrinthhaus. Hier liegt etwas in der Luft, irgend … welche vertrockneten Schädel in einem staubigen Tal … etwas Greifbares, eine einsickernde Spannung. Was es auch war, es war nicht im Wasser, weil es keines gab. Der Brunnen war tot. Sie lebten von ihren eigenen Flaschen, von Viertel-Rationen. Ludd war eingeteilt worden, alle Wasserflaschen mit einem Stück Kreide zu kennzeichnen und jeden Mann aufzuschreiben, der zu viel trank. Infolgedessen wurde Nahum Ludd von allen geliebt.
Baskevyls Mund war so trocken wie das Futter eines Sturmmantels, und seine Zunge fühlte sich an wie ein Fetzen von einem Koppel. Er hatte sich seit ihrem Einzug in das Haus zwei Stunden Schlaf gestohlen, und in sämtlichen hundertzwanzig Minuten hatte er von einer Quelle geträumt, aus der reine, helle Flüssigkeit sprudelte. Baskevyl warf wieder einen Blick auf sein zerknittertes Papier. Es forderte ihn auf, die nächste Treppe nach unten zu nehmen, und er gehorchte. Die Wände waren mit einem dunklen, glänzenden Material vertäfelt, das wiederum einen leichten Überzug aus fahlem Staub trug. Die weißen Wandlichter pulsierten langsam. Er hörte Schritte, die sich näherten, und blieb stehen, um festzustellen, wer hinter ihm die Treppe herunterkam. Niemand tauchte auf. Es war nur ein Echo, das durch den Irrgarten der Räume geleitet wurde. Auf seinem zehnminütigen Spaziergang von der Haupttreppe bis hierher hatte er alles mögliche gehört: Schritte, Stimmen, das Scharren und Krachen von Kisten, die verstaut wurden. Einmal hatte er sogar einen Gesprächsfetzen gehört, drei Männer, die sich über die Wasser-Rationierung beklagten. Die Stimmen waren gekommen und gegangen, als seien die Männer direkt an ihm vorbeispaziert. Am nächsten Treppenabsatz stieß er auf zwei Soldaten, die dort Wache standen, Tokar und Garond von der J-Kompanie. Beide erschraken sichtlich, als er in Sicht kam, und salutierten dann mit nervösem Lachen. »Nervös?«, fragte er. »Wir dachten, Sie wären auch nur ein Echo«, sagte Garrond. »Wir hören ständig Geräusche, und dann ist keiner da«, sagte Tokar. »Feth, Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt.« »Verzeihung, die Herren«, sagte Baskevyl. »Der Generatorraum?« »Da unten, Herr Major«, sagte Garond und zeigte auf eine schmale Treppe hinter sich. Baskevyl nickte. »Irgendwas zu melden? Außer den Geräuschen?« Tokar und Garond schüttelten den Kopf. Baskevyl nickte wieder und sah sich schnell auf dem Absatz um. »Was ist das?«, fragte er. »Was denn, Herr Major?«, fragte Tokar. Baskevyl zeigte auf die Wand gegenüber. »Das da.«
»Ich sehe nichts«, begann Tokar. »Im Staub«, beharrte Baskevyl. Die Soldaten blinzelten. »Oh!«, sagte Garond plötzlich. »Da ist etwas gemalt! Gak, das habe ich nicht gesehen. Du, Tokar?« »Ich seh’s zum ersten Mal.« »Hat das einer von Ihnen gemalt?«, fragte Baskevyl. »Nein«, antworteten beide wie aus einem Mund. Sie sagten offensichtlich die Wahrheit. Es war in den Staub auf der satinglänzenden braunen Wand gezeichnet worden, aber schon vor so langer Zeit, dass die gezeichneten Linien ihrerseits mit Staub bedeckt waren. Es war nur ein geisterhaftes Bild, ein menschliches Gesicht, weder spezifisch männlich noch weiblich, mit offenem Mund. Es gab keine Augen. Es war mit langsamen, trägen Fingerstrichen in den Staub gezeichnet worden. Irgendwie war Baskevyl sicher, dass sie langsam und träge gewesen waren. »Was zum Gak ist das?«, fragte Garond. Baskevyl starrte das Gesicht an. Es war beunruhigend. »Ich weiß es nicht.« »Warum?«, fragte Tokar plötzlich. »Warum ist es uns nicht aufgefallen? Wir stehen hier seit zwei Stunden.« »Ich weiß es nicht«, wiederholte Baskevyl. Er holte tief Luft. »Waschen Sie’s ab.« »Womit, Herr Major?«, fragte Garond. »Spucke?«, schlug Tokar vor. »Dann wischen Sie es weg. Nehmen Sie Ihre Umhänge.« Die Soldaten bewegten sich, um den Befehl auszuführen, und rafften ihren Tarnumhang zusammen. Baskevyl fiel auf, wie sie zögerten. Keiner wollte der Erste sein, der die Zeichnung berührte. II »Nicht hier, bitte«, sagte Dorden, als er den hohen Raum betrat. Gaunt verharrte in seiner Tätigkeit, eine beachtliche Menge Staub aus seinem Stiefel auf den Boden zu leeren. »Warum nicht? Gibt es einen medizinischen Grund?«
»Wenn das hier das Feldlazarett werden soll, dann muss ich es staubfrei halten«, sagte Dorden missbilligend und stellte einen Arm voll medizinische Kartons ab. »Das Feldlazarett?«, fragte Gaunt. »Ja«, sagte Dorden. Als Gaunt nicht antwortete, sah Dorden ihn an. Er sah die sarkastisch hochgezogene Augenbraue. Er sah den alten Ledersessel, auf dem Gaunt saß, den uralten Schreibtisch hinter ihm, die Kisten mit Ausrüstung und Munition. »Dann also nicht das Feldlazarett?«, fragte er. »Mein Büro, wie du wohl siehst.« »Aha.« »Das Feldlazarett ist drei Kammern weiter auf der rechten Seite.« Dorden schüttelte den Kopf. »Diese verdammten Karten. Gibt es jemanden, der was damit anfangen kann?« Gaunt schüttelte den Kopf. »Mir ist noch keiner begegnet.« Mit einiger Befriedigung ließ er den Staub in einem langen rauchenden Strom aus seinem Stiefel rieseln. Dorden sah sich um. Das Zimmer war dunkel und hoch, mitten im Herzen des Hauses. Schmutzige Umrisse an den glänzenden braunen Wänden zeigten, wo einmal Bilder gehangen hatten. Früher musste der Raum prachtvoll und beeindruckend gewesen sein, jetzt wirkte er im matten Schein der Lampen mehr wie eine Höhle. Mit einem leichten Zusammenfahren erkannte Dorden, dass sie nicht allein waren. Es war noch eine dritte Person da. Eszrah ut Nach saß in einer Ecke vor einer Wandlampe und las geduldig ein Buch. Seine Fingerspitze folgte dem Text und verharrte bei schwierigen Wörtern. Der Nachgahner hatte einen ziemlichen Wissensdurst entwickelt, und Gaunt hatte ihm das Lesen beigebracht. Dennoch hatte niemand Eszrah davon überzeugen können, dass das Tragen einer Sonnenbrille in geschlossenen Räumen keine gute Idee war. »Was liest du da, Eszrah?«, rief Dorden. Der alte Arzt konnte Eszrahs Namen immer noch nicht richtig aussprechen. Eszrah blickte auf. »Et het Der Spiegel aus Rauch«, erwiderte er.
»Ah«, sagte Dorden. Er warf einen Blick auf Gaunt, der damit beschäftigt war, auch aus seinem zweiten Stiefel den Dreck zu evakuieren. »Eins deiner Lieblingsbücher.« Gaunt nickte. »Ja, das ist es.« »Wie lautet noch dieses berühmte Zitat? ›Durch den Tod beenden wir unseren Dienst am Imperator‹? Oder so ähnlich?« »Ich glaube, du meinst ›Nur im Tod endet die Pflicht‹«, sagte Gaunt. Der Kommissar-Oberst starrte auf seine stiefellosen Füße. Die schmutzigen Zehen ragten aus Löchern in den Socken. Er bewegte sie. »Das meine ich«, sagte Dorden. »Natürlich stammt es ursprünglich nicht vom Autor«, sagte der mit seinen Füßen beschäftigte Gaunt. »Es ist ein altes Sprichwort.« Dorden nickte. »Und ziemlich entmutigend.« Gaunt sah ihn an. »Entmutigend? Hast du nicht die Absicht, im Dienst des Gott-Imperators zu sterben? Gibt es etwas, das du deinem Kommissar erzählen willst, Tolin?« Dorden gluckste. »Weißt du, wie alt ich bin, Ibram?« Gaunt zuckte die Achseln. »Tja«, sagte Dorden, »sagen wir mal so: Wenn ich mich dazu entschlossen hätte, meinen Altersabschied aus der Garde den Edikten gemäß zu nehmen, wäre ich jetzt seit dreizehn Jahren ein Mann im Ruhestand.« »Feth. Wirklich?« Tolin Dorden lächelte. »Der Altersabschied ist natürlich freiwillig. Außerdem, wohin sollte ich gehen?« Gaunt antwortete nicht. »Weißt du, wie ich mir das Ende meiner Tage vorstelle?«, fragte Dorden. »Dass ich als normaler Arzt arbeite. Als normaler Arzt in einer Hinterwäldlergemeinde auf irgendeiner Kolonialwelt. Das wäre für mich in Ordnung. Wenn der Tag kommt, an dem ich zu alt werde, und zu langsam, um das Tempo des Ersten Tanith mitgehen zu können, dann möchte ich es so enden lassen. Lass mich einfach irgendwo zurück, ja? Irgendwo, wo ich Verstauchungen behandeln kann und Grippe und Fieber und hier und da einen gebrochenen Knochen oder eine Säuglingskolik. An einem ruhigen Ort. Tust du das für mich, wenn der Tag kommt?« »Du wirst ewig bei uns bleiben«, erwiderte Gaunt. »Davor fürchte ich mich.«
Gaunt starrte ihn an. »Davor fürchtest du dich?« Dorden seufzte. »Wie lange noch, Ibram? Wie viele Jahre noch, wie viele Schlachten? Irgendwann sterben wir alle einmal. Ich habe meine Welt sterben sehen, und jetzt ziehe ich von Krieg zu Krieg und muss mit ansehen, wie die Letzten meines Volkes sterben, einer nach dem anderen. Ich will nicht der letzte Mann von Tanith sein, Ibram, und das Blut vom Operationstisch wischen, während sie den vorletzten Tanither in einem Leichensack rausfahren.« »So würde es nicht laufen …«, begann Gaunt. »Nein, würde es nicht«, stimmte Dorden zu. »Eines Tages würde ich einfach zu alt und tattrig sein, und du müsstest mich vom Dienst befreien.« »Kaum. Sieh dir Zweil an.« Dorden grinste. »Wenn der alte Trottel einen Fehler macht, stirbt niemand.« Gaunt stand auf. »Ich finde diese Kolonialwelt für dich, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte er. »Das ist ein Versprechen. Vielleicht wird es sogar die Welt, auf der sich die Tanither niederlassen. Die Belohnung für unsere Dienste.« »Ibram, glaubst du ehrlich, dass es dazu kommen wird?« Gaunt schwieg lange Zeit. »Nein«, sagte er schließlich. Kriegsmeister Slaydo hatte Gaunt als Belohnung nach Baihaut die Siedlungsrechte für die erste Welt versprochen, die er erobern würde. Gaunt hatte immer die Absicht gehabt, diese Belohnung mit den heimatlosen Tanithern zu teilen. »Irgendwie bezweifle ich, dass Macaroth zu einem unbedachten Versprechen seines Vorgängers stehen wird«, sagte Gaunt leise. »Falls er doch dazu steht«, sagte Dorden, »dann sorg einfach dafür, dass wir hier nicht gewinnen. Die Tanither hängen dich auf, wenn du diesen schlimmen Felsen für sie eroberst.« Dorden schaute auf die leeren Stellen an den Wänden. »Ich frage mich, was dort gehangen hat«, sagte er. »Tatsächlich?«, erwiderte Gaunt. »Ich kann mich nur fragen … wer hat sie abgenommen?« »Was ist mit dir?«, fragte Dorden. »Mit mir? Was soll mit mir sein?« »Wie stellst du dir dein Dienstende vor?« Gaunt seufzte und setzte sich wieder. »Tolin, wir wissen beide, wie mein Dienst enden wird, früher oder später.« Er starrte auf
seine Socken. »Hast du Nadel und Faden, die ich mir von dir borgen könnte? Natürlich hast du.« »Du kannst stopfen, nicht?«, fragte Dorden mit einem dünnen Lächeln. »Ich kann stopfen lernen. Das hier ist unziemlich für einen Mann meines Rangs.« »Hast du keine Reservesocken?« »Das sind meine Reservesocken.« »Dickerson.« »Was?« »Dickerson, ein großer Belladoner in Arcudas Haufen. Ich habe gehört, dass er für etwas Geld Socken stopft. Er ist gut. War früher mal Näher, vor der Garde. Wahrscheinlich stopft er deine umsonst.« »Danke für den Tipp.« Eszrah erhob sich plötzlich, den Regenbagen erhoben und angelegt. Gaunt und Dorden drehten sich um. Rawne trat ein. »Es ist nur Rawne«, sagte Gaunt zu Eszrah. Der Partisan nahm seinen Bagen nicht herunter. »Was liegt an?«, fragte Gaunt Rawne. »Criid meint, sie hat etwas gefunden«, sagte Rawne. III Der warme Gestank nach Energie begrüßte Baskevyl, als er den Generatorraum betrat. Die Kammer war lang und rechteckig und hatte eine schräge Decke. Sie wurde völlig von der Masse des Generators beherrscht, einem Eisenkessel von der Größe eines Landungsboots. Leitungen verbanden den Kessel mit einer immensen Buchse im Dach, und vergitterte Schlitze in den Seiten des Kessels pulsierten in einem trägen Schein, der dem sanften Rhythmus der Hausbeleuchtung entsprach. Baskevyl konnte die pulsierende Wärme spüren. Der Kessel arbeitete völlig lautlos. Welche Strom erzeugende Reaktion darin auch vorging, sie war auf jeden Fall sonderbar lautlos. Der Trupp, der mit der Bewachung des Generatorraums betraut war, hatte am Fuß der Einstiegstreppe Karten gespielt. Sie stan-
den auf, als er kam, aber er bedeutete ihnen mit einem Winken und Lächeln, ihr Spiel nicht zu unterbrechen. »Wie ist die Lage hier?«, fragte er Hauptmann Domor. Shoggy Domor hatte das Kommando über den Trupp. Er ging mit Baskevyl zu dem Kessel, während die Soldaten ihr leises Spiel fortsetzten. Seine augmetischen Glubschaugen surrten leise, als sie sich auf den Major fokussierten. »Das kann ich im Grunde nicht sagen, Herr Major.« »Soll heißen?« »Ich weiß nicht, was das hier ist. Es läuft einfach nur. Es läuft schon seit langer Zeit und läuft einfach weiter. Ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert.« »Keine Ahnung?« Baskevyl runzelte die Stirn. Wenn sich jemand von den Geistern mit technischen Systemen auskannte, war es Shoggy. »Ich glaube, es ist etwas Chemisches, aber ich bin nicht sicher.« Domor deutete mit einem Kopfnicken auf den pulsierenden leuchtenden Kessel vor ihnen. »Ich bezweifle, dass der Chef mir danken würde, wenn ich versuchte, das Ding zu öffnen, um es herauszufinden.« »Es wird nicht gespeist? Keine Brennstoffzuführung?«, fragte Baskevyl. »Keine, Herr Major.« »Wir brauchen einen Techie hier draußen, einen Techadepten«, murmelte Baskevyl. Er presste die Hände gegen den fetten Bauch des Kessels und nahm sie dann wieder weg. Das Eisen hatte unter seiner Berührung gepocht, als sei es lebendig. Er wandte sich Domor zu. »Bewachen Sie das Ding einfach dem Befehl entsprechend. Wir wissen vielleicht nicht, wie es funktioniert, aber wenigstens funktioniert es und gibt uns Licht. Ich schicke einen Trupp zur Ablösung in … sagen wir drei Stunden?« Domor nickte. »Was ist mit den, äh, Geräuschen, Herr Major?« »Sie auch, was?«, fragte Baskevyl. »Ich glaube, dieses Haus hier hat ein paar seltsame akustische Eigenschaften. Geräusche tragen. Lassen Sie sich davon nicht einschüchtern.« Domor schien nicht überzeugt zu sein. »Was noch?«, fragte Baskevyl. Domor neigte den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass sie ein Stück gehen sollten. Gemächlich umrundeten sie gemeinsam den pul-
sierenden Kessel und brachten ihn zwischen sich und den Soldaten am Fuß der Treppe. Domor senkte die Stimme, sodass ihn seine Jungs nicht hören konnten. »Schritte und Stimmen, richtig?«, fragte er leise. »Ich habe beides gehört. Wie ich schon sagte, ich glaube, dass Geräusche …« »Was ist mit dem anderen Geräusch?«, fragte Domor. »Welches andere Geräusch?« Domor zuckte die Achseln. »Es kommt und geht. Eine Art Knirschen oder Kratzen.« »Ich habe noch nichts dergleichen gehört«, sagte Baskevyl. »Kommen Sie mit«, sagte Domor leise. Er trat zur Seite und rief seinem Trupp zu: »Chiria? Du hast das Kommando. Ich zeige Major B. die Werkstätten.« »Verstanden, Shoggy«, rief sie zurück. In der Rückwand des Generatorraums war eine Tür. Domor zog die verrosteten Riegel zurück. Er führte Baskevyl in eine Reihe von vier kleinen steinernen Zimmern, die früher einmal Werkstätten gewesen waren. Hier war es viel kälter als im Hauptraum. Die Luft war kühl und schal wie in einer alten Speisekammer, morsche Holzbänke mit abgenutzter Oberfläche säumten die Wände. Regale hatten früher einmal Werkzeuge beherbergt, aber die Werkzeuge gab es schon lange nicht mehr. Die rußigen Umrisse von Sägen, Zangen und Schraubenschlüsseln zeichneten sich unter alten Haken ab. Baskevyl sah sich die Werkstatträume an. Sie waren durch steinerne Torbögen miteinander verbunden. Domor zog die Tür hinter ihnen zu. – »Lauschen Sie«, sagte er. »Ich höre nichts«, erwiderte Baskevyl. »Lauschen Sie«, beharrte Domor.
IV Gaunt folgte Rawne eine lange wacklige hölzerne Stiege zum Gipfel des Hauses hinauf. Sie landeten in einem Raum, der wie eine Glockenstube geformt war: eine kreisrunde Kuppelkammer, in die der Wind durch teilweise geöffnete Metallklappen kreischte. Der Wind heulte wie … vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal … ein geprügelter Hund. »Können wir die nicht schließen?«, fragte Gaunt, der die Stimme heben musste, um das Geräusch zu übertönen. »Nein«, rief Criid zurück. »Der Mechanismus klemmt.« Gaunt sah sich um. Rings um den Ansatz des Kuppeldachs waren acht große Klappen angebracht, die durch Messingkurbeln bewegt werden konnten. Eine Ewigkeit voller Staub hatte die Mechanismen verklemmt. Die Klappen waren in verschiedenen Stellungen erstarrt wie die halb geschlossenen Augenlider von Sterbenden. Staub wallte und wirbelte um die Fensterbänke und bedeckte den Boden wie pulverisierter Schnee. »Was ist das hier?«, rief Gaunt. »Criid hat es eine Windkate genannt«, rief Rawne zurück. »Hier.« Die Mitte der Kammer wurde von einer großen Sitzstange beherrscht: ein verrosteter Metallbaum aus dicken Eisenstangen, wo einst Wesen gehockt hatten. Auf dem Boden lagen Vogeldung und die Reste von Futterkörben. »Ich glaube, sie haben hier Vögel gehalten, Herr Kommissar«, rief Criid, die sich ihren Umhang vor Mund und Nase hielt. »Botenvögel. Sie wissen schon, zum Überbringen von Nachrichten.« »Ich verstehe das Konzept durchaus«, sagte Gaunt. Er betrachtete die Klappen und stellte sich die Fensteröffnungen vor, wenn sie vollständig geöffnet wären. »Große Vögel«, murmelte er. Er ging zur nächsten Klappe, bückte sich und versuchte durch den offenen Schlitz zu schauen. Staub wehte ihm ins Gesicht. Hustend zog er sich zurück. »Das wäre ein hervorragender Ausguck, wenn der verdammte Wind nicht wäre.« Rawne nickte. Er hatte dasselbe gedacht. »Das wollte ich Ihnen nicht zeigen«, rief Criid ihnen zu. »Was dann?«
Sie deutete nach oben. Etwas hing am obersten Eisen der Sitzstange. »Das«, rief Criid. Es war eine schwarze eiserne Gesichtsmaske, die an den Kopfriemen im heulenden Wind schwang. Die Maske hatte eine Hakennase und einen zähnefletschenden Ausdruck. Es war eine Gesichtsmaske des Blutpakts. Gaunt sagte etwas. »Was?«, fragte Rawne gegen das Geheul des Windes an. »Ich sagte, da ist der Ärger, über den du ständig geunkt hast«, sagte Gaunt. V Baskevyl drehte sich langsam im Kreis und starrte zur Decke der Werkstatt empor. »Sie haben das gehört, oder?«, flüsterte Domor. Baskevyl nickte. Sein Mund war trocken, und das lag nicht nur am rationierten Wasser. Er hatte das Geräusch ganz deutlich vernommen, ein knirschendes Kratzen, genau so, wie Shoggy Domor es beschrieben hatte. Es hatte sich angehört wie … nun, Baskevyl war nicht sicher, ob er ehrlich sagen konnte, wie es sich angehört hatte, aber als er es hörte, hatte er plötzlich ein Bild vor Augen gehabt, ein Bild, auf das er auch hätte verzichten können. Es war das Bild von etwas Großem, Klammem, Schlangengleichem, ganz nasse Knochen und gleißendes Gewebe, als kratze und gleite eine riesige Wirbelsäule durch einen großen, groben, in den Fels gehauenen Tunnel tief unter ihnen wie von einem Dämonenwurm in der Erde. Lucien Wilder hatte in längst vergangenen Zeiten immer gesagt, Baskevyl sei mit einer Vorstellungskraft geboren worden, ohne die er besser dran wäre. »Wonach hört sich das für Sie an?«, fragte Domor leise. Baskevyl antwortete nicht. Er versuchte angestrengt, sich das Bild aus dem Kopf zu schlagen. Er ging durch den Torbogen in die nächste Werkstatt und dann in die nächste, bis er in der letzten Kammer stand. Die Wände waren wie überall mit dem satinglänzenden braunen Material vertäfelt.
Das Geräusch kam wieder. Knorrige, in graue Sehnen gehüllte Wirbelkörper schleiften über zerklüfteten Fels. Das Ding glitt schnell und flüssig dahin wie eine Wüstenschlange. Baskevyl hörte lose Kiesel und Erdbrocken in seinem Kielwasser holpern. Auf seinem Rücken stand kalter Schweiß. Das Geräusch verstummte. »Und?«, fragte Domor. »Ungeziefer?«, fragte Baskevyl. Domor starrte ihn an. Seine augmetischen Augen surrten und klickten, als weiteten sie sich vor Spott. »Ungeziefer?«, erwiderte er. »Haben Sie hier schon irgendwelches Ungeziefer gesehen?« Baskevyl schüttelte den Kopf. »Diese Anlage ist vertrocknet und tot«, sagte Domor. »Hier gibt es kein Ungeziefer, keine Insekten, keine Essensreste. Falls es hier jemals Ungeziefer gegeben hat, Major B. hat es diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen.« Er hatte recht. Baskevyl kam sich albern vor, es überhaupt vorgebracht zu haben. Es hatte keinen Sinn, gescheite Männer wie Shoggy Domor mit offensichtlich an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen abzuspeisen. Er hörte das Geräusch wieder, kurz, ein schlängelndes Kratzen, das beinahe sofort wieder verstummte. Baskevyl ging zur Wand und streckte die Hand aus. Die satinglänzende braune Wandvertäfelung fühlte sich warm und organisch an. Er klopfte dagegen und hörte zunächst die tote Antwort der Steinmauer dahinter. Dann, als er die Hand weiter bewegte, bekam er einen hohlen Ton. Er drehte sich zu Domor um, der ihn beobachtete. »Hinter diesem Paneel ist nichts«, sagte er. »Was?« »Hinter diesem Paneel ist nichts. Hören Sie hin.« Er klopfte wieder. Eine dumpfe Hohlheit. »Holen Sie Ihren Trupp her«, begann Baskevyl. Das Geräusch ertönte wieder. Baskevyl versteifte sich. Thron, aber er stellte sich unwillkürlich dieses furchtbare klamme Schlangenbiest vor, wie es durch die Dunkelheit glitt. »Shoggy, würden S…«, begann er. Plötzlich hörte er ein anderes Geräusch: ein kurzes, bleiernes Pop, als knacke jemand mit dem Knöchel. Wie seltsam. Baskevyl
schaute hin und her und studierte die glänzende braune Patina der Wandvertäfelung. Genau rechts von ihm, in Brusthöhe, war ein Loch in der Wand, das gerade ganz sicher noch nicht dagewesen war. Die Ränder des Lochs rauchten leicht. »Shoggy?«, sagte er und registrierte dann einen jähen, scharfen Schmerz. Er schaute auf seinen rechten Arm. Eine Fleischwunde zog sich über die Außenseite seines Oberarms. Sie hatte sich durch seine Jacke und sein Hemd in die Haut darunter gebrannt und eine Furche aus erhitztem schwarzen Blut hinterlassen. »Ach du Scheiße!«, rief er, indem er zurückwich. »Shoggy! Ich glaube, wir sind gerade beschossen worden.« Er drehte sich um, leicht schwindlig vom Schock. Der Laserschuss hatte die Wand durchbohrt, ihm dann eine Furche seitlich über den rechten Arm gezogen und … Domor lehnte in einer etwas unbeholfenen Pose an der Werkbank hinter ihnen. Er starrte Baskevyl mit seinen großen, künstlichen Augen an, die surrten und sich drehten, da sie sich nicht fokussieren konnten. Er versuchte etwas zu sagen, schaffte aber nur, Blut auszuhauchen. Mitten auf seiner Brust war ein schwarzes, blutiges Loch. »Ach, Thron. Shoggy?«, rief Baskevyl und stolperte auf ihn zu. Während Domor schlaff und wie in Zeitlupe seitlich wegglitt, gelang es ihm schließlich, ein Wort zu finden und es auszusprechen. Das Wort lautete »runter«. Es kam ihm in einem grässlichen Blutnebel über die Lippen. Baskevyl fing Domor auf und ließ ihn vorsichtig auf den Werkstattboden gleiten. Eine Sekunde später tauchten mehr Löcher in der braunen Wandvertäfelung auf: zwei, drei, ein Dutzend, zwanzig, vierzig. Auf der anderen Seite schoss jemand mit einer auf Dauerfeuer gestellten Laserwaffe.
FÜNF UNGEZIEFER
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Feindkontakt! Wiederhole, haben gegenwärtig Feindkontakt! Nalholz Ende. (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I Plötzlich wurde es in der Tat sehr laut in der winzigen Endwerkstatt. Grelle Dolche aus Laserfeuer durchschlugen die Wandvertäfelung, zischten durch den Raum und trafen die Wand gegenüber, wo sie die leeren Regale auseinandersprengten und die verschmutzten Umrisse der ehemals dort aufgehängten Werkzeuge für immer auslöschten. Baskevyl versuchte Domor unter die schwere Werkbank zu ziehen. Er tastete nach seiner Laserpistole. Sein Arm brannte wie Feuer. Domor war schlaff, totenschlaff. »Shoggy!«, rief Baskevyl. Mehr Schüsse fegten durch die Wand, fegten Löcher durch die Ränder vorheriger Löcher und erfüllten den kleinen Raum mit dem Gestank nach Laserfeuer und versengten Fasern. Baskevyl erwiderte das Feuer, einhändig, da sein anderer Arm an Domors totem Gewicht zerrte. Er fragte sich, ob er das Risiko eingehen und versuchen sollte, nach Domors Lasergewehr zu greifen, das nicht weit entfernt auf dem Boden lag. Schlechte Idee, entschied er. Er schoss wieder und bohrte seine eigenen Löcher in die Wand. »Kontakt! Kontakt! Feinde!«, brüllte er in sein Kom. Das Interkom drehte durch, als hektische Stimmen ertönten und einander überschrien. Die Außentür zu den Werkstätten flog auf, und Domors Trupp unter Führung der Respekt gebietenden Korporal Chiria stürmte herein. Die alten Gefechtsnarben in ihrem Gesicht hatten schon vor langer Zeit jeden Stolz auf ihr Aussehen zunichte gemacht, aber jetzt sah sie besonders wenig liebreizend aus. Überraschung und Beunruhigung hatten zu gleichen Teilen ihre Züge zu einer rosa Grimasse verzerrt. »Was zum …«, begann sie.
»Helfen Sie mir!«, schrie Baskevyl sie an. Er wollte, dass sie zu ihm kam und ihm half, Domor in Sicherheit zu bringen. Chiria hatte andere Vorstellungen. Sie riss ihr Lasergewehr an die Schulter und deckte die Wand mit Schüssen ein, sodass die Düsternis mit vollautomatisch abgefeuerten Nadeln aus Laserlicht gespickt wurde. »Holt Shoggy. Bringt ihn zurück!«, rief sie, während sie feuerte. Domor war tot, das war ihr klar. Ein Blick, mehr hatte sie nicht gebraucht, um das zu erkennen. Ein Treffer in den Körper, Herzschuss. Diese Hunde würden büßen. Ezlan war neben ihr, Nehn und Brennan auch. Ihre vier Lasergewehre schossen in die zerfetzte Wandvertäfelung, was das Zeug hielt. Jeder Schuss erzeugte ein mattes, hallendes Knacken, als werde eine Holzlatte auf einen Steinboden gehauen. »Aufhören, aufhören! Feuer einstellen!«, brüllte Chiria. Die Geister ihres Trupps hörten auf zu schießen. »Was ist denn?«, fragte Nehn. »Wartet …«, sagte Chiria. Nichts, keine Erwiderung des Feuers, nur ein böiges Ächzen von Wind, der durch die vielen hundert Löcher in der rauchenden, zerschossenen Wandvertäfelung fegte. »Helfen Sie mir mit ihm«, sagte Baskevyl in dem Bemühen, sich zu erheben und Domor mitzuziehen. Nehn und Chiria eilten zu ihm. Ezlan und Brennan hielten die Waffe auf die perforierte Wand gerichtet. Baskevyls Hände waren glitschig von Domors Blut. Er hatte versucht, die Wunde zusammenzupressen. »Bewachen Sie das hier«, sagte er zu Chiria. »Wenn sich irgendwas rührt, machen Sie kurzen Prozess. Ich trage Shoggy …« »Sie bewachen das hier«, sagte Chiria energisch. »Ich trage Shoggy. Nehn, schnapp dir seine Füße.« Sie reichte Baskevyl ihr Lasergewehr. Er widersprach nicht. Manchmal war Major Baskevyl klug genug, etwas anzuerkennen: Wenn es um Loyalität und Freundschaft ging, brachten Befehle mehr, wenn sie der Rangordnung zuwiderliefen. Es war richtig, dass Chiria Shoggy Domor trug. Mit raschen Bewegungen trugen Chiria und Nehn den schlaffen Domor aus der Werkstatt. Baskevyl passte den Gurt von Chirias Waffe an und prüfte das Magazin. Die Luft war voller Staub, voller
versengtem, verbranntem Staub. Die Wand war ein zerfetztes Durcheinander aus Löchern und sah aus wie eine Zielscheibe am Ende eines Schießstands. Baskevyl wandte sich an Ezlan und Brennan. »Hat einer von Ihnen eine Granate? Vielleicht einen Sprengsatz?« »Warum?«, fragte Ezlan nervös. »Ich frage ja nur«, sagte Baskevyl. II »Hier. Hierher. Legt ihn ab!«, rief Ana Curth. Der tumultartige Lärm hatte sie gerade rechtzeitig aus dem Feldlazarett gelockt, um Chiria und Nehn mit dem anscheinend toten Shoggy Domor in die Kellerkammer schwanken zu sehen. Chiria und Nehn legten Domor wie angewiesen vor der Treppe auf den Boden. Curth kniete sich neben ihn. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen, während sie Domors Hemd und Jacke mit einer Schere aus ihrem Feldtornister aufschnitt. »Feindkontakt«, erwiderte Chiria, die sich schwer keuchend auf das Treppengeländer stützte. Sie hatte ihren Hauptmann ein ganzes Stück getragen, und zwar schnell. Sie konnte kaum sprechen. »Vernünftige Auskünfte, bitte«, schnauzte Curth. »Von Anfang an, Korporal.« »Sie waren in den Wänden«, erwiderte Chiria keuchend und mit heiserer Stimme. »In den Wänden wie Ungeziefer.« Sie sah Curth an. »Er ist tot, oder nicht?« Curth war zu beschäftigt, um zu antworten. In Abwesenheit einer Knochensäge hatte sie hochgegriffen und sich Nehns Kampfmesser ausgeliehen. Nehn hatte keine Zeit gehabt zu widersprechen. Er zuckte zusammen, als er sah, wie Curth Domor mit seiner Klinge bearbeitete. Curths Hände waren glitschig vom Blut. Ein hässliches Knacken ertönte, als sie das Brustbein durchtrennte. »Chayker! Lesp! Wo seid ihr?«, brüllte sie. »Wir müssen ihn sofort ins Feldlazarett bringen!« Chayker und Lesp, die Sanitäter, kamen mit einer Trage und chirurgischer Ausrüstung in die Kellerkammer gerannt. Dorden tauchte hinter ihnen auf, verwirrt und schläfrig.
»Was ist denn los?«, fragte Dorden benommen. Er wurde sehr schnell wach. »Heiliger Feth, ist das Shoggy?« »Oberkörperdurchschuss«, erwiderte Curth, die hektisch arbeitete, da sie Nehns Kampfmesser wegwarf und versuchte, die Rippenspreizer aus der Ausrüstung einzusetzen, die Lesp ihr gereicht hatte. »Tupfer! Vergesst die Trage. Ich brauche Tupfer. Viele!«, rief sie. Dorden drängte sich neben Curth und sank auf die Knie. »Oh, das sieht schlimm aus …« »Du kannst das mit den Fingern zuhalten oder mir aus dem Weg gehen!«, blaffte Curth, während sie in aller Eile den Gewebeschweißer aus der Ausrüstung vorbereitete. Dorden streifte sich einen Handschuh über, griff hinein und drückte. »Da ist noch ein Loch in der Aorta«, stellte er fest, als er hineinschaute. »Danke für die Feststellung des Offensichtlichen«, erwiderte Curth, während sie eine Packung mit Tupfern aufriss. »Die reichen nicht!« Sie blickte auf. »Ich sagte, ich brauche mehr! Mehr! Und Antiseptikum!« Lesp eilte wieder ins Feldlazarett. »Wir verlieren ihn«, murmelte Dorden. »Ich hab’s gleich!«, fauchte Curth, während sie versuchte, mit dem Gewebeschweißer zu zielen. »Flick ihn hier. Hier, Frau!«, schnauzte Dorden. »Dann beweg deine Finger!« Curth beugte sich mit dem summenden chirurgischen Instrument über die blutige Brusthöhle. Während Curth die Löcher verschweißte, hielt Dorden ruhig Domors kaum noch schlagendes Herz zusammen und sprach Chiria an. »Wie ist das passiert?« »Wir hatten Feindkontakt«, sagte Chiria. »Wo?«, fragte eine trockene Stimme hinter ihnen. Chiria drehte sich um. Larkin hinkte in Begleitung von Raess, Nessa Bourah und Jessi Banda durch die Basis zu ihnen. Alle vier hatten ihre langen Präzisionsgewehre über die Schulter geworfen. Die Scharfschützen hatten einen Rundgang durch das Haus gemacht und nach anständigen Aussichtspunkten und, besser noch, Zielen Ausschau gehalten. »Unter dem Generatorraum«, sagte Chiria.
Larkin nahm sein Gewehr von der Schulter und schaltete es ein. Er drehte sich zu den anderen Scharfschützen um. »Lasst uns was schießen gehen, ja?« Die anderen Scharfschützen nickten. Larkin warf einen Blick auf Curth. Einen flüchtigen Moment schaute sie von ihrer blutigen Arbeit auf und bemerkte seinen Blick. Hlaine Larkin hatte geglaubt, sein kostbares Präzisionsgewehr sei im Zuge der grimmigen Gereon-Mission für immer verloren gegangen. Doch im vergangenen Jahr hatte er zu der Einsatzmannschaft gehört, die Curth schließlich aus der Unbebau von Gereon gerettet hatte. Zu seinem Erstaunen und Entzücken hatte er herausgefunden, dass sie sein geliebtes Präzisionsgewehr in der Hoffnung auf seine Rückkehr die ganze Zeit für ihn aufbewahrt hatte. Larkin bedachte sie mit einem kurzen Nicken, das besagte, er werde dafür sorgen, dass sich ihre fürsorgliche Obhut des antiken Stücks auszahlen werde. Schritte polterten über die Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend, kam Gaunt mit Rawne, Criid und einem Trupp von Criids P-Kompanie im Schlepptau die Treppe hinunter. »Meldung!«, befahl Gaunt. Dorden zeigte mit einem Kopfnicken auf den am Boden liegenden Shoggy Domor. »Wir wurden angegriffen«, sagte er. Gaunt starrte auf den daliegenden Domor. Er konnte das Herz des Mannes sehen, das schlug wie eine rote Lederpumpe, während Dorden und Curth an ihm arbeiteten. »Wird er es überleben?«, fragte er. »Das sollten Sie besser glauben«, erwiderte Curth. »Zwirn. Zügig, Chayker!« Gaunt holte tief Luft. »Ich will von jemandem hören, was genau passiert ist.« »Feindkontakt in den Werkstätten unter dem Generatorraum, Herr Kommissar«, sagte Chiria, indem sie vortrat. »Major Baskevyl ist an Ort und Stelle.« »Führen Sie uns hin! Vorwärts!«, befahl Gaunt. Rawne, Criid und deren Männer waren bereits unterwegs. Gaunt zögerte und drehte sich noch einmal zu Curth um. Sie hatte das während ihres Aufenthalts auf Gereon verlorene Körpergewicht nie wieder richtig zugelegt. Sie war spindeldürr und zerbrechlich, und ihre Wangenknochen standen vor.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er. »Auf mich wurde nicht geschossen«, sagte sie in ätzendem Ton und zu beschäftigt, um aufzublicken. Gaunt stutzte, nickte und folgte dann Rawne und Criid. III Chiria ging voran. Ihre Hände waren fleckig vom Blut ihres Kompanieoffiziers. »Der Generatorraum«, wiederholte sie. »Vorwärts!« »Wartet! Wartet!«, rief Larkin. Alle blieben stehen und lauschten schweigend. »Was?«, fragte Gaunt. »Larks?«, drängte Rawne. Larkin schüttelte den Kopf und hob einen Finger, um weiterhin Schweigen zu gebieten. Dann hörten Sie es: das entfernt Knack-Zischen von Laserfeuer. »Das kommt nicht aus dem Generatorraum«, sagte Larkin. »Das kommt von irgendwo über uns.« IV Der lange zugige Korridor hatte leer ausgesehen. Er zog sich, so weit das Auge reichte: ein breiter, braun vertäfelter Gang, dessen Dach in regelmäßigen Abständen durch die Kuppeln von Befestigungsglocken unterbrochen wurde. Der Trupp der E-Kompanie war hoch oben im Haus unterwegs, direkt unter dem Grat des Gebirgskamms, wo der Wind durch kalte, leere Gänge pfiff. Jeder Glockenturm, den sie passierten, war eine Kuppel aus totem Eisen. Die schmuckvollen Handkurbeln an den Wänden waren von Dreck und Alter gezeichnet. Keine noch so großen Anstrengungen konnten sie dazu veranlassen, sich zu drehen und die Klappen über ihren Köpfen zu öffnen. Der Trupp hatte unter jeder Glockenkuppel Halt gemacht, zu den verklemmten Klappen emporgeschaut, die Lampen umherwandern lassen und Vorschläge gemacht, die zu nichts führten. Meryn hatte alle Kurbeln, die sie passierten, sorgfältig inspiziert. »Sie müssen sich öffnen lassen«, verkündete er schließlich. »Die-
se Kurbeln sollen die Klappen öffnen, damit Schützen auf die verdammte Brustwehr treten und nach draußen zielen können.« Er lehnte sich auf eine Messingkurbel, die sich standhaft weigerte nachzugeben. »Feth! Warum lassen sie sich nicht drehen?« »Weil sie klemmen«, sagte Fargher, Meryns Adjutant. Es war nicht die klügste Feststellung, die Fargher je gemacht hatte, aber sie entsprach seinem Durchschnitt. Es war die letzte müßige Vermutung, die er je von sich geben würde. »Vielen Dank, Herr Schlaukopf«, erwiderte Meryn. »Das sehe ich auch. Warum sollte jemand eine Festung auf diese Weise bauen, in diesem Staub?« Er drehte sich zu seinem Trupp um. Einer seiner Männer hatte etwas gemurmelt. »Was war das? War das eine Bemerkung von Ihnen, Soldat Cullwoe?« »Nein, Herr Hauptmann«, sagte Dalin, »das war ich. Ich sagte, vielleicht ist das hier gebaut worden, bevor es den Staub gab.« »Das ist doch bloß dämliches Gerede!«, schniefte Fargher. »Nein, der Junge könnte recht haben«, sagte Meryn mit einem wehmütigen Blick zu den verkalkten Öffnungsmechanismen in der Glocke über ihnen. »Keiner, der noch ganz richtig im Kopf ist, würde eine Festung mit Kurbelklappen in einer verdammten Staubschüssel anlegen.« »Wir könnten die Gestänge ölen«, schlug Neskon vor. »Ich habe Prom-Gelee. Das ist schön fettig.« Meryn dachte darüber nach. »Vielleicht …«, begann er. Und dann, einfach so, wie durch einen Zaubertrick, war der Korridor vor ihnen plötzlich nicht mehr leer. Dalin blinzelte. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, ein Phänomen, das Kommissar Hark einmal »Kampfzeit« genannt hatte. Die kalte Luft war plötzlich erfüllt von Schüssen: Laserstrahlen und feste Geschosse pfiffen an ihnen vorbei wie Feuerwerk. Swaythe grunzte und wurde zur Seite geschleudert, als er einen Treffer in den Arm bekam. Fargher gab einen leisen, traurigen Seufzer von sich, als er auf den Rücken knallte. Als der Adjutant mit zuckenden Gliedern landete, sah Dalin, dass Farghers vorderer Schädel in dicken weißen Splittern durch seinen rasierten Hinterkopf getrieben worden war. Auf der grässlich schlaffen Haut von Farghers Stirn war eine schwarze Brandwunde zu sehen, wo der tödliche Schuss eingedrungen war. Dalin erwiderte das Feuer schon mehrere Sekunden, bevor Meryn den Befehl dazu gab. Cullwoe folgte seinem Beispiel.
Meryns eigenes Lasergewehr spie Feuer. Die anderen sechs Männer im Trupp schossen ebenfalls, alle bis auf Neskon, der hektisch seinen Flammenwerfer bereit machte. Es gab keine Deckung, nicht die geringste. Schüsse zischten rechts und links an ihnen vorbei. Cardy fiel mit einem trockenen Husten auf den Rücken, als ein Laserstrahl seinen Hals explodieren ließ. Seerk kreischte, als er zwei Mal in den Bauch getroffen wurde. Er fiel auf Hände und Knie, und sein schrilles Gekreisch verstummte abrupt, als ihm ein weiterer Schuss die Schädeldecke wegsprengte. »Heilige verdammte Scheiße!«, brüllte Meryn. »Macht sie kalt! Macht sie kalt! Haltet drauf!« Sie konnten nicht einmal sehen, was sie kaltmachen sollten. Vor ihnen war es nur dunkel und leer, unheilvoll dunkel und leer, abgesehen von dem leuchtenden Gewehrfeuer, das ihnen entgegenschlug. Dalin Criid kauerte sich nieder und tat, was Ausbilder Kexie ihnen im BIN beigebracht hatte. Er folgte den Schüssen zu ihrem Ursprung zurück, den Mündungsblitzen, und gab Schuss um Schuss ab. Wandpaneele explodierten beiderseits von ihm. Venklin wich langsam zu einer Wand zurück und glitt daran herunter, während Blut und Rauch aus seinem überrascht aufgerissenen Mund leckten. »Zurück! Flammen, Flammen!«, schrie Neskon, der nach vorn eilte, da sein Werfer endlich bereit und erhoben war. »Ducken und schützen!«, befahl Meryn. »Werfer los!« Sie ließen die Waffen fallen und vergruben das Gesicht in den Händen. Neskons Flammenwerfer hustete eine Sekunde, bevor er loslegte, bevor er aufheulte. Brutales Feuer wogte in einem grellen, leckenden Kegel durch den Korridor. Dalin war sicher, dass er Schreie hörte. Als das Feuer erlosch und von den versengten Wandpaneelen tropfte und zischelte, herrschte Stille. »Feth …«, sagte Meryn. Er sah sich um. Cardy war tot, ebenso wie sein Adjutant Fargher, Venklin und Seerk. Swaythe war ziemlich schwer verwundet. »Kontakt, Kontakt, Kontakt!«, stammelte Meryn hektisch in sein Kom. »Feinde, Feinde, Korridor … wo sind wir hier, verdammt? Fargher?« »Der ist tot, Herr Hauptmann«, sagte Cullwoe.
Dalin bückte sich und zog die gebündelten Pläne aus Farghers Tasche. Der demontierte Kopf des Adjutanten schwankte unangenehm hin und her, als Dalin die Pläne herausriss. »Dalin? Los doch!«, drängte Meryn. Dalin drehte die Papiere hin und her und versuchte, schlau daraus zu werden. »Korridor …oberer Westen sechzehn, Herr Hauptmann.« »Oberer Westen sechzehn? Bestimmt?« »Ja, Herr Hauptmann.« »Feinde, Kontakt, Korridor oberer Westen sechzehn«, berichtete Meryn seinem Kom. »Fordern sofortige Unterstützung an!« Meryn schaute auf die Reste seines Trupps. »Unterstützung ist unterwegs«, sagte er. »Was machen wir jetzt, Herr Hauptmann?«, fragte Cullwoe, während er mit zitternden Händen sein Magazin wechselte. Meryn zögerte. Seine Truppstärke war in weniger als fünfzig Sekunden praktisch halbiert worden. Er blinzelte stark, und um die Pupillen war ein wenig zu viel Weiß zu sehen. Bevor ihm etwas einfiel, hörten sie Schritte hinter sich und fuhren mit der Waffe im Anschlag herum. Das Echo eines halben Dutzend Stiefelpaaren im Laufschritt hallte ihnen entgegen. Sie warteten. Niemand kam in Sicht. Die Schritte schienen direkt an ihnen vorbeizueilen und verloren sich dann. »Was ist denn jetzt los?«, murmelte Neskon. »Unter uns«, flüsterte Dalin. »Das muss unter uns gewesen sein, in einer tieferen Etage.« Meryn nickte. »Ja, ja. Unter uns. Das war es.« Neskon hob eine schmutzige Hand. »Hört mal.« Mehr Schritte, weiter weg, kamen und gingen. »Diesmal war es direkt über uns«, sagte Cullwoe. »Ja, bloß gibt es über uns nichts«, erwiderte Dalin leise. »Meryn?«, sagte eine Stimme. Alle schraken zusammen wie Idioten. Hauptmann Obel stand direkt hinter ihnen an der Spitze eines Unterstützungstrupps, dessen sich nähernde Schritte überhaupt nicht gehallt oder getragen hatten. Obel und seine sieben Soldaten waren einfach hinter ihnen heranmarschiert, ohne dass es einer von Meryns Männern bemerkt hatte. »Wo kommt ihr denn her?«, schnauzte Meryn.
Obel warf unsicher einen Blick zurück über die Schulter, als argwöhne er eine Fangfrage. Der offene Korridor hinter ihnen war lang und sichtlich leer. »Wir sind zur Unterstützung gekommen«, sagte er. Obel betrachtete die zerschossenen Wände und die Leichen der gefallenen Geister mit unsentimentaler Nüchternheit. »Haben Sie beschlossen, den Krieg ohne uns anzufangen, Meryn?«, fragte er. »Was ist hier passiert?« Meryns Kopf ruckte zum Korridor vor ihnen. »Die sind passiert«, bemerkte er sarkastisch. »Sehen wir mal nach«, entschied Obel. Er gab flinke, gewandte Handzeichen. Vorrücken, vorsichtig. Er ließ einen seiner Männer zurück, der sich um Swaythe kümmerte und dessen Wunde versorgte. Der Rest rückte mit Obel und Meryn an der Spitze vor. Der Korridor war ebenso leer wie zuvor. Ein leiser Wind sang durch eine halb geschlossene Klappe. Er seufzte leise. Staub wirbelte über den nackten Boden. Sie konnten einen schwarzen Rand aus Brandrückständen an den Wänden und unter dem Dach erkennen, wo Neskons Flammenwerfer einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. »Sie haben auf euch geschossen?«, fragte Obel. »Feth, ja«, antwortete Meryn. »Und ihr habt zurückgeschossen, richtig?«, fragte Obel leise. »Natürlich haben wir!«, erwiderte Meryn. »Wo sind dann die Leichen?«, fragte Obel.
SECHS AUF SCHATTEN SCHIESSEN
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Gaunt nahm die Nachrichtenfolie, die Beltayn ihm reichte, las sie rasch und gab sie zurück. Er setzte seinen Weg in die Kellerkammer zu dem Korridor fort, der zum kleinen Saal führte. In der Kellerkammer herrschte reges Treiben. Daur und Kolosim koordinierten frische Truppenabkommandierungen zu den äußeren Korridorflügeln. Männer wankten aus den leeren Seitenkammern, die als Quartier eingerichtet worden waren. Sie waren rotäugig von zu wenig Schlaf und Wasser. Gaunt nickte einigen im Vorbeigehen zu. Viele schleppten Holzbretter und Wandpaneele aus unbenutzten Räumen, um beim Aufbau der Barrikaden in den Außenflügeln zu helfen. Andere Abteilungen kamen vom Wachhaus mit Brotbeuteln und Säcken herein, die sie draußen voll Staub geschaufelt hatten, um sie als Sandsäcke zu benutzen. Die Sandsack-Abteilungen waren von Kopf bis Fuß weiß eingestaubt, und der Stapel, den sie im unteren Etagenbereich errichteten, sah aus wie die Verladebucht einer Getreidemühle.
Die hochrangigen Offiziere erwarteten ihn im kleinen Saal. Es war ein dunkler, hohler Raum, dessen durchhängende Deckenpaneele von sechs massigen Holzpfeilern gestützt wurden. Irgendwann war einmal etwas in der Mitte auf dem Boden befestigt gewesen, aber es ließ sich nicht mehr sagen, was es gewesen sein mochte. Rawne hatte in der Nacht zuvor einen Tisch hineingetragen, damit sie einen Platz hatten, wo sie Einsatzbesprechungen abhalten konnten, aber der Tisch war schon wieder verschwunden, für eine Barrikade irgendwo requiriert. Die Offiziere standen unbehaglich im Kreis beieinander. Gaunt betrachtete sie: Rawne, Hark, Kolea, Mkoll, Baskevyl, Kamori und Theiss. Alle anderen Offiziere hatten Pflichten, die sie anderswo in Anspruch nahmen. Dies musste reichen. Gaunt baute darauf, dass die Anwesenden alle anderen Offiziere des Regiments über die Ergebnisse dieser Besprechung informieren würden. »Nachricht von Elikon«, begann Gaunt ohne Vorrede. »Man hat uns einen Wassertransport in den nächsten zwanzig Stunden zugesagt. Die genauen Anweisungen gibt es kurz vor der Zeit.« »Was ist mit Verstärkung?«, fragte Theiss. Gaunt schniefte. »Nichts bestätigt. Das Signal war sehr knapp. Ich glaube, dass sich die Lage anderswo zugespitzt hat. Beltayn hört viele Gefechtsmeldungen, und es hat ein paar größere Panzerschlachten in der Hauptzone gegeben. Elikon verlangt von uns eine vollständige Gefahreneinschätzung, bevor sie die Aussendung von Verstärkungen in Erwägung ziehen.« »Das könnte Tage dauern«, sagte Rawne, »sogar Wochen. Verstehen sie denn nicht, dass wir nicht einmal sehen, wogegen wir kämpfen?« »Heute Nachmittag habe ich einen Termin für ein direktes Gespräch mit Van Voytz«, erwiderte Gaunt. »Da werde ich versuchen, ihm die Situation zu erklären.« »Ich rede mit ihm, wenn du willst«, murmelte Rawne. Mehrere Offiziere lachten leise. »Ich will unsere Situation verbessern«, sagte Gaunt, »nicht verschlechtern. Wie geht es Domor?« »Sein Zustand ist stabil«, erwiderte Baskevyl. »Und Swaythe?« »Ein gebrochener Arm, Gewebeschäden, aber sonst geht es ihm gut.«
»Wie macht Ihr Arm?« Baskevyls Arm war versorgt worden, aber er hatte eine Schlinge abgelehnt. »Es ist nichts.« »Gibt es irgendwelche Hinweise hinsichtlich der Feindeinheit, die Meryns Trupp überrascht hat?«, fragte Gaunt. »Keine Spur«, erwiderte Kolea. »Meryns Jungens müssen irgendwas getroffen haben bei dem Feuerzauber, den sie veranstaltet haben, aber wir haben nichts gefunden, nicht einmal Blutflecken vom Abtransport eventuell Getöteter oder Verwundeter. Ich habe persönlich einen Trupp in den Korridor geführt. Wäre da nicht die Tatsache, dass sie zusammengeschossen wurden, hätte ich gesagt, sie haben auf Schatten geschossen.« »Wo endet oberer Westen sechzehn?«, fragte Gaunt. »Er endet in einer Kasematte«, sagte Kolea, »etwa einen halben Kilometer vom Ort des Angriffs entfernt.« »Irgendwelche Zugänge auf diesem Stück?«, fragte Kamori. »Zwei Leitern und eine Treppe nach unten zu unterer sechzehn sowie eine Rampe weiter nach unten zu unterer vierzehn«, erwiderte Kolea. »Aber überall waren Männer stationiert, als der Angriff auf Meryns Trupp erfolgte. Alle in dieser Richtung fliehenden Feinde wären bemerkt worden.« »Dann bewegen sie sich zwischen den Wänden«, sagte Baskevyl mit ernster Gewissheit. »Falsche Paneele, Verbindungsgänge.« »Wir konnten keine finden«, sagte Mkoll. »Und wir haben gesucht. Das war der erste Gedanke, der mir nach Ihrem Scharmützel im Generatorraum gekommen ist. Aber meine Späher können ganz einfach keine falschen Paneele oder Ausfalltore irgendwo in Hinzerhaus finden.« »Sie schauen besser noch mal nach«, sagte Gaunt. Es gab eine Pause. Es schien undenkbar, dass Gaunt die Arbeit seines obersten Spähers infrage stellte. Mkoll nickte jedoch. Wenn es keine Geheimtüren und Zwischengänge gab, bestand die einzige Alternative in etwas, worüber zu reden ihnen Gaunt verboten hatte. »Was ist mit dem Generatorraum?«, fragte Gaunt. »Criid wartet darauf, dass Sie einen Blick darauf werfen«, sagte Hark. II
Die P-Kompanie hatte mehrere Stunden damit verbracht, das Werkstattende des Generatorraums zu verbarrikadieren. Sie hatten Doppelreihen mit Sandsäcken und Brettern errichtet, eine, um den Zugang zu den Werkstätten abzudecken, die andere, um den Generatorkessel zu schützen. Zwei schwere Mannschaftswaffen, Autokanonen Kaliber .30 auf einem Eisenstativ, bewachten die Tür. Die diensthabenden Geister salutierten, als Gaunt, Mkoll, Kolea und Baskevyl den Generatorraum betraten. »Criid?«, fragte Gaunt. Einer der Männer zeigte auf die Werkstatttür. »Da drinnen, Herr Kommissar.« Baskevyl ging mit einem Gefühl der Beklemmung voran. Er traute den Wänden nicht mehr, keiner einzigen. Er rechnete beständig damit, das kratzende, gleitende Geräusch wieder zu hören. In den kleinen Werkstatträumen war es kalt und zugig. In der dritten Werkstatt war eine weitere bemannte Barrikade errichtet worden, mit Blick auf den Durchgang zur vierten und letzten Kammer. Criid und einige ihrer Männer erwarteten sie dort. Baskevyl versteifte sich. Im nächsten Moment sah er nur noch das Gewitter der Schüsse, das ihm und Domor durch die Wandpaneele entgegengeschlagen war. Dann war das andere Bild wieder da, die grässliche, gleißende Schlange des Dämonenwurms, der in der Dunkelheit über trockene Felsen glitt. »Alles in Ordnung?«, fragte Kolea. »Ja«, sagte Baskevyl. Die durchlöcherten Wandpaneele waren weggestemmt worden, und in der Felswand dahinter war eine schwarze Höhlung sichtbar geworden. Das Loch hatte ungefähr die Größe einer Türschleuse, und kalte Luft wehte durch es herein. Sandsäcke waren aufgestapelt worden und versperrten es halb. Das Loch schien nicht gegraben oder geschnitten worden, sondern eine durch natürliche Erosion entstandene Aushöhlung im Fels zu sein. »Sie haben einfach geklopft und es gefunden?«, fragte Mkoll. Baskevyl nickte. »Die Wand war hohl. Sie klang hohl.« Mkoll sah Gaunt an. »Wir haben keine andere Stelle im ganzen Haus gefunden, die hohl klingt«, sagte er. »Überall sonst ist alles solide. Glauben Sie mir, ich habe es selbst versucht.« »War schon jemand da drin?«, fragte Gaunt Criid.
Hwlan, der Späher von Criids Kompanie, nickte. »Ich war mit Febreen drin, Herr Kommissar. Nicht weit, nur ein kleines Stück.« »Und?« »Sehr uneben, ziemlich niedrig, verläuft geradewegs nach Westen.« »Keine Abzweigungen? Nebengänge?« »Wir konnten keine entdecken, aber wir hielten es nicht für klug, zu weit hineinzugehen.« Hwlan überlegte kurz. »Da kommt eine starke Brise durch«, fügte er hinzu. »Ich glaube, der Gang führt an die Oberfläche.« Mkoll nahm sein Gewehr in beide Hände. »Finden wir es heraus«, sagte er. III Gol Kolea folgte Mkoll in das Loch. Gaunt glitt hinter ihnen hinein. »Herr Kommissar«, begann Criid. »Ich sehe mich nur mal um«, sagte er. Baskevyl zögerte. Er hatte absolut nicht den Wunsch, in diese dunkle Höhlung zu steigen. Er hatte gehört, was dort unten war, das grunzende, kratzende Ding in der Dunkelheit. Er schwankte. »Bask?«, rief Gaunt. »Herr Kommissar?« »Bleiben Sie hier, und bleiben Sie wachsam«, sagte Gaunt, als er verschwand. Baskevyl stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte in seiner ganzen Laufbahn noch keinen Befehl verweigert, aber er wusste nicht, was er getan haben würde, wenn Gaunt ihm befohlen hätte zu folgen. Wie Hwlan beschrieben hatte, war der Tunnel niedrig und uneben. Er wirkte unnatürlich dunkel. Gaunt ging tief geduckt, und seine Stiefel suchten kratzend Halt auf einem trockenen Boden mit viel losem Geröll. Seine Fingerspitzen ließen Staub und Kiesel aus den Tunnelwänden rieseln, als sie nach Halt tasteten. Ein kalter Luftstrom wehte aus den Tiefen vor ihnen heran und berührte sein Gesicht. Mkoll und Kolea schalteten ihre Taschenlampen ein. Zwei Fäden aus gelbem Licht erfassten den vor Gaunt in der Luft schwebenden Staub.
»Hier fällt es ab«, zischte Mkoll nach hinten. »Gut aufpassen.« Gaunt hörte kleine Lawinen aus abwärts rieselndem Geröll, als Mkoll und Kolea den Abhang angingen. Er war tatsächlich steil. Gaunt verlor beinahe den Halt, als er ihnen behutsam nach unten folgte. Am Fuß des Abhangs drehte sich Kolea um und leuchtete Gaunt vor die Füße. »Alles in Ordnung, Herr Kommissar?« »Bestens.« Kolea hielt inne und ließ dann seinen Lampenstrahl den Abhang entlang über die Wände wandern. »Was ist los?«, fragte Gaunt. »Das ist hier ausgeschachtet worden«, sagte Kolea. »Ausgeschachtet? Sie meinen gegraben?« »Ja«, sagte Kolea. Er streckte die Hand aus und strich über einen Teil der bröckelnden, körnigen Wand. »Das sind Spuren von Spitzhacken.« »Sie müssen es ja wissen«, sagte Gaunt. Kolea nickte. »Ja, das muss ich. Sehen Sie hier.« Am unteren Rand der Wand erfasste der Strahl seiner Lampe etwas Metallisches, dann noch einen identischen Gegenstand weiter oben. Es waren Eisennägel mit Ösen am Ende. Sie steckten in regelmäßigen Abständen längs des Abhangs in der Wand. »Die haben sie unterwegs eingeschlagen«, sagte Kolea. »Und zweifellos eine Schnur oder ein Seil durch die Ösen gezogen, um ihnen das Erklimmen des Abhangs zu erleichtern.« Sie drehten sich um und folgten Mkoll. Der Tunnel wurde ebener und verlief vielleicht noch zehn Meter so weiter. Er blieb niedrig, sodass sie ständig geduckt gehen mussten. »Hier heißt es aufpassen«, verkündete Mkoll, als sie ihn einholten. Ein Teil des Tunnelbodens und der Wand hatte nachgegeben und so eine tiefe, nicht begehbare Kluft erzeugt. Um hineinzukommen, hätte man mit dem Kopf voran hineinkriechen müssen. »Das ist tief«, sagte Kolea. »Das kann ich riechen. Ein natürlicher Spalt, der eingebrochen ist, als das hier gegraben wurde.« Sie umgingen die Kluft vorsichtig. »Das lässt vermuten, dass dieser Fels nicht sonderlich stabil ist«, sagte Mkoll. »Das ist er ganz gewiss nicht«, erwiderte Kolea. »Am liebsten würde ich die Mannschaften herausholen und alle Arbeiten einstellen, bis alles sorgfältig abgestützt und gesichert wäre.«
Irgendwo klapperte etwas. Etwas kratzte und schabte in der Dunkelheit. »Was war das?«, fragte Gaunt. IV Baskevyl hatte vor dem Loch gelauscht. Er zuckte abrupt zurück. »Was ist los?«, fragte ihn Criid. »Nichts«, sagte Baskevyl. Er log. Er hatte es gerade wieder gehört. V Hark hatte einen Spaziergang gemacht, um das Wachhaus zu inspizieren. Im langen Korridor von der Basis dorthin passierte er Männer, die mit staubgefüllten Säcken in die andere Richtung unterwegs waren. Er wechselte ein paar aufmunternde Worte mit ihnen. Die meisten gehörten zu Arcudas Kompanie, die abgestellt worden war, um zu graben und die Säcke zu füllen. Von ihrer Arbeit draußen im Wind waren sie weiß bestäubt. Der Boden des Wachhauses und das Ende des Korridors dorthin war mit weißen Fußspuren und staubigen Schleifspuren bedeckt. Hark konnte den Wind draußen vor der offenen Schleuse schrillen hören. Arcudas Männer hatten die Schleuse ausgegraben, um sie weiter öffnen zu können, aber das hatte dem Staub ermöglicht, noch gründlicher hineinzuwehen. Ein Vorhang aus Tarnumhängen war rings um die Schleuse als Staubschutz errichtet worden. »Ihre Idee?«, fragte Hark Maggs, dem die Schleusensicherheit unterstand. »Es hieß entweder das oder in dem Zeug begraben zu werden«, sagte Maggs. Der Vorhang teilte sich, als mehrere Geister mit Säcken auf den Schultern eintraten. Arcuda war einer von ihnen. »Ich weiß nicht, wie lange wir das noch machen können«, sagte er. »Ohne Wasser …« »Ich weiß«, sagte Hark. Er suchte in Gedanken nach etwas Aufmunterndem, das er hinzufügen konnte.
»Feth!«, sagte Maggs plötzlich. Hark und Arcuda drehten sich um. Der Späher war mit erhobener Waffe unterwegs zur verhangenen Schleuse. »Maggs?«, rief Hark. »Was ist denn los?« Der Belladoner antwortete nicht. Er schlug den wehenden Vorhang zurück und verschwand nach draußen. Hark und Arcuda sahen einander an und folgten ihm. Draußen herrschte ein höllischer Staubnebel. Sie beeilten sich, ihre Brillen aufzusetzen. Der sandige Wind umwehte sie, und obwohl es strahlend hell war, konnten sie kaum ein Dutzend Meter weit sehen. Hark konnte die Gestalten der Männer erkennen, die sich abmühten, in dem Bereich vor dem Wachhaus Säcke mit Staub zu füllen. Hätte es keinen dringenden Bedarf für Sandsäcke gegeben, wäre es eine wahnsinnige Aktivität gewesen, die Laune eines sadistischen Kommandanten, der ihnen eine die Seele zerstörende Strafarbeit aufgehalst hatte. »Heiliges Terra«, murmelte Hark, indem er eine Hand hob, um den Wind abzulenken. Maggs war mit erhobenem Lasergewehr ins Freie getreten. Er war auf der Jagd nach irgendetwas. »Maggs? Maggs?« Maggs sank auf die Knie und inspizierte den Boden, als wolle er Spuren oder eine Fährte untersuchen. »Maggs? Was machen Sie denn da, um Feths willen?«, rief Hark, als sie ihn erreichten. »Ich habe etwas gesehen«, rief Maggs zurück. Er sah sich immer noch um. »Was haben Sie denn gesehen?«, fragte Arcuda, der die Stimme heben musste, um den heulenden Wind zu übertönen. Maggs erwiderte etwas, das klang wie: Sie ist hier hergegangen. »Sie?«, brüllte Hark. Maggs erhob sich und legte die Hände um den Mund, damit sie ihn hören konnten. »Jemand, den ich nicht kenne«, brüllte er. »Sie sind vom Wachhaus hier entlanggegangen.« Hark schüttelte den Kopf. Er hatte niemanden gesehen. Warum war er so sicher, dass Maggs sie ist gesagt hatte? »Maggs?« Wes Maggs antwortete nicht. Er kam sich außerordentlich albern vor, und ihm war peinlich, dass Arcuda und der Kommissar Zeu-
gen seines augenscheinlich irrationalen Verhaltens geworden waren. Er konnte ihnen kaum die Wahrheit sagen. Er wusste, sie würden ihm nicht glauben. Aber er hatte die stumme Gestalt in Schwarz nicht zum ersten Mal erblickt und das unangenehme Gefühl, dass er sie schon bald wiedersehen würde. VI Eszrah ut Nach betrat den kleinen Saal, sah sich kurz mit angelegtem Regenbagen um und verließ ihn wieder. Nahum Ludd kauerte in einer Ecke des Saals und überprüfte Ablösungspläne auf seiner Datentafel, um zu vergessen, wie durstig er war. »Eszrah?«, rief er. Ludd stand auf und eilte zur Tür, wo er Eszrah gerade noch in einem nach Osten verlaufenden Korridor verschwinden sah. »Eszrah? Warte!« Ayatani Zweil kam aus Gaunts Zimmer und wäre beinahe mit Ludd zusammengestoßen. »Was ist denn mit Eszrah los, Pater?«, fragte Ludd. »Das möchte ich auch gern wissen, junger Mann«, erwiderte Zweil. »Wir haben ganz friedlich gelesen. Ich habe ihm das Plusquamperfekt beigebracht. Dann ist er aufgesprungen, hat seinen ordinären Bogen vom Tisch genommen und ist nach draußen gelaufen.« »Bleiben Sie hier, Pater«, sagte Ludd und machte sich an die Verfolgung des Partisanen. »Ich werde nicht einfach hier stehen bleiben …«, begann Zweil. »Dann halten Sie Schritt!«, rief Ludd über die Schulter. Zweil seufzte und blieb stehen. »Aha. Jetzt haben Sie mich erwischt.« »Suchen Sie jemanden und erzählen Sie, was los ist!« »Wen denn?« »Jemand Nützlichen!«, rief Ludd. Eszrah hatte einen ordentlichen Vorsprung auf den Kadett und bewegte sich mit der typischen Schnelligkeit und Verstohlenheit des Nachgahners. Ludd ging auf, dass es keinen Sinn hatte, ihm
hinterherzurufen. Er rannte weiter und holte auf, hauptsächlich deshalb, weil Eszrah stehen geblieben war, um eine Seitenkammer zu inspizieren. Kurz nachdem Eszrah daran vorbei war, tauchte Varl daraus auf. »Was ist denn mit Ez los?«, fragte Varl, als Ludd ihn erreichte. »Er ist reingestürmt, hat seinen Bogen auf uns gerichtet, frech wie Rotz, und ist dann wieder verschwunden.« Varls Kompanie war in dem Nebenraum einquartiert. Mehrere Männer schälten sich gerade verwirrt aus ihren Schlafsäcken. »Er hat etwas gesehen«, sagte Ludd. »Oder gehört, ich weiß es nicht.« Varl schnappte sich seine Waffe und folgte Ludd. Er rief seiner Kompanie zu, ein Trupp solle im Laufschritt folgen. Ludd hörte Stiefelgetrappel hinter ihnen. Sie erreichten eine Kreuzung. Der Hauptkorridor verlief weiter nach Osten, ein Seitengang zweigte nach Süden ab, eine Treppe führte zu den oberen Galerien. Varl und Ludd blieben stehen. »Wo ist er hin?«, fragte Ludd. Varl schüttelte den Kopf. Der Trupp – Twenzet, Kabry, Cant, Cordrun und Lukos – kam hinter ihnen angelaufen. Varl schaltete sein Kom ein. »Achtung, Posten auf den oberen West-Galerien und im Hauptkorridor Ost. Hat jemand was gesehen? Hat jemand den Schlafwandler gesehen?« Im Kom knisterten negative Antworten. »Vielleicht hatte er nur eine seltsame Anwandlung«, mutmaßte Twenzet. »Nein«, erwiderte Varl entschieden. »Warum nicht?« »Weil … ich dich sonst erschieße«, sagte Varl. »Ach du heiliger Feth!«, rief Lukos plötzlich. Eszrah war lautlos und ohne Vorwarnung aus dem nach Süden führenden Nebenkorridor aufgetaucht. Er betrachtete sie einen Moment durch seine Sonnenbrille, den Regenbagen vor der Brust. »Eszrah?«, fragte Ludd. Ohne zu antworten, drehte sich der Nachgahner um und lief die Treppe zu den oberen Galerien empor. »Folgt ihm!«, befahl Varl. In der seltsamen weißen Düsternis rannten sie vier Treppen empor. Der Partisan verließ oben die Treppe und wandte sich nach Osten in den oberen Osten zwölf, einen der am besten befestigten Korridore auf dieser Seite des Hauses. Der Gang wies in
regelmäßigen Abständen Kasematten-Blockhäuser und die Dachkuppeln der gepanzerten Glocken auf. Sie spürten eine Brise von irgendwoher. Mit lautem Stiefelgetrappel gesellte sich ein zweiter Trupp aus Westen zu ihnen. Sechs Männer, geführt von Rawne. »Der alte Zweil sagte, Eszrah ist aktiv geworden«, sagte Rawne ohne Umschweife. Ludd nickte. »Er ist da entlang.« Der Schlafwandler war beinahe nicht mehr zu sehen. Die beiden Trupps setzten sich in Bewegung und trabten durch den Korridor. Rawne schaltete sein Kom ein und befahl anderen Trupps, von den oberen Galerien zu kommen und den Korridor an der nächsten Treppenkreuzung zu sperren. »Wo ist er hin?«, fragte Varl. »Ich kann ihn nicht mehr sehen.« Sie verlangsamten ihr Tempo. »Er kann nicht an uns vorbeigekommen sein«, sagte Ludd. »Oder an denen.« Er deutete voraus. Dreißig Meter entfernt näherte sich ihnen eine Gruppe von Gestalten, augenscheinlich noch ein Trupp, der von oben und von Westen über eine der anderen Treppen gekommen war. »Wo ist er dann aber geblieben?«, fragte Varl. »Vergesst den verdammten Nachgahner«, knurrte Rawne. »Das sind keine von uns.« VII Die Dunkelheit schmolz dahin. Grobes Licht sickerte in die Düsternis. Gaunt konnte raue, kalte Luft riechen und spürte, wie Partikel sein Gesicht pieksten. Der Tunnel wurde im Auslauf breiter. In der Schwärze voraus war eine zerklüftete, vertikale weiße Narbe zu sehen. »Führt direkt nach draußen ins Freie«, sagte Mkoll. Sie näherten sich der unregelmäßigen Öffnung, überwanden eine Steigung mit einem Gewirr aus Felsbrocken und trockener, abblätternden Erde. Der Wind erzeugte ein leises, unheimliches Seufzen, als er in die Höhle blies. Mkoll erreichte die Mündung der Höhle und lehnte sich zurück, um Kolea und Gaunt hochzuhelfen. Sie befanden sich jetzt im
Tageslicht. Ein schmaler Grat lag unter wehendem Staub im Eingang, und Dreckfontänen wurden um die Ränder und Kanten des Felsens geweht. Sie kletterten nach draußen. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Brillen gerichtet hatten und sich umschauten. Sie waren durch die steile Klippenwand auf der anderen Seite des Bergs herausgekommen, in dem sich Hinzerhaus befand. Vor ihnen fiel das Gelände steil in eine breite Schlucht ab, die voller Felsbrocken und Geröll war. Dahinter konnten sie durch den Staubnebel eine ausgedehntere Prärie mit unebenem Boden ausmachen. Gaunt drehte sich um, sah nach oben und betrachtete die Nordwand des Festungsbergs. Die Klippe verlief nach Osten und Westen, so unüberwindlich wie ein Wall um eine Stadt. Er konnte Glockentürme und Kasematten auf den Spitzen der Klippen hundert Meter höher erkennen. Der Maßstab war riesig, viel größer und überwältigender als auf der Südseite, als sie sich dem Wachhaus genähert hatten. Der große Felskamm der Banzie Altids fiel wie eine gigantische Stufe in das feindliche Flachland dahinter ab. Flachland – wohl eher Ödland, Ödland auf einem schlimmen Felsen. Gaunt fühlte sich winzig, verkleinert. Die drei Geister waren nur winzige Staubkörnchen am Fuße der in den Himmel ragenden staubigen Strebe. Gaunt hörte einen Hund im Wind bellen, irgendwo weit entfernt. Er wollte gerade eine diesbezügliche Bemerkung machen, als ihm aufging, dass es kein Hund sein konnte und auch kein Hund war. Es war das jaulende Gebell einer schweren Waffe. Schüsse schlugen über ihnen in die Klippenwand und erzeugten dabei das spröde Geräusch eines Gesteinsbohrers. »Runter!«, rief Mkoll, doch Gaunt brauchte er das nicht mehr zu sagen.
SIEBEN DER ERSTE ANGRIFF
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Erbitten sofortige Unterstützung. Vielfach-Angriff, unbekannte Stärke. Dieses
Ziel kann nicht als sicher betrachtet werden. Wiederhole, erbitten sofortige Unterstützung. Nalholz Ende. (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I Die Salven, welche die Felswand hinter ihnen trafen, waren massiv und langanhaltend. Die zerklüftete steinerne Oberfläche überzog sich mit schwarzen Löchern, die so schnell wieder verschwanden, wie sie auftauchten, da der wirbelnde Staub sie retuschierte. Gaunt, Mkoll und Kolea lagen hinter einem Stapel aus losen Felsen und Geröll. Ab und zu fiel das feindliche Feuer ein wenig tiefer, und dann krachten explosive Einschläge in den Haufen und sprengten Steine in Stücke. »Jetzt sind wir hier festgenagelt«, ächzte Kolea. Mkoll huschte auf Händen und Knien vorwärts, auf der Suche nach einer Rückzugsmöglichkeit. »Nichts«, meldete er. Gaunt hatte seine Boltpistole gezogen. Er hob die Hand über den Kopf und gab ein paar blinde Schüsse ab. Das Feindfeuer verstummte. Gaunt sah Kolea an. Kolea zuckte die Achseln. Eine Sekunde später zuckten beide zusammen, als der Feind den Beschuss fortsetzte, heftiger als zuvor. »Toll«, murmelte Gaunt. »Ich habe sie wütend gemacht.« Er schaltete sein Kom ein. »Baskevyl? Wir haben heißen Kontakt. Unterstützung, bitte, wenn Sie so nett wären!« II Baskevyl warf einen Blick auf Criid. Sie starrte ihn an. »Verstanden, Herr Kommissar. Wo sind Sie?«, fragte Baskevyl ins Kom. »Der Tunnel führt bis an die Oberfläche«, zischte der Stöpsel in seinem Ohr. »Wir sind im Freien überrascht worden. Wir brauchen Feuerschutz aus der Höhleneinmündung, wenn wir wieder zurückwollen.« »Verstanden.«
»Und seien Sie vorsichtig«, warnte Gaunts Stimme. »Verstanden.« Criid starrte Baskevyl immer noch an. »Und«, fragte sie, »worauf warten Sie noch?« Worauf warte ich?, fragte sich Baskevyl. Worauf warte ich? Auf irgendeine Ausrede, um nicht in dieses verdammte Loch kriechen zu müssen. Darauf. Criid schüttelte verblüfft den Kopf und ging selbst zum Loch, das Lasergewehr fest an den Körper gepresst. »Ihr sechs, mit mir!«, befahl sie. »Halt, halt, warten Sie!«, rief Baskevyl. Er zog seine Pistole und drängte sich an die Spitze des sich formierenden Trupps. »Folgen Sie mir«, sagte er. Er wartete einen Moment, eine Hand um den unebenen Rand des Lochs geklammert. Dunkelheit gähnte vor ihm. Er holte tief Luft und beruhigte seinen Atem. »Vorwärts«, sagte er und schwang sich in die Schwärze. III Rawne hatte recht. Dreißig Meter weiter im düsteren Korridor blieben die auf sie vorrückenden Gestalten stehen. Es waren nur Schatten, ein halbes Dutzend Silhouetten, beinahe unstofflich. Aber sie waren keine Geister. Das spürte Ludd als absolute Gewissheit tief im Bauch. Sie waren definitiv kein anderer Trupp, der auf Rawnes Befehl reagiert hatte. Rawne und Varl eröffneten ohne Zögern das Feuer. Ihre Laserstrahlen flogen durch den Korridor. Die Geister rechts und links neben ihnen fingen ebenfalls an zu schießen. Die Salve war ohrenbetäubend und ließ Blitze und Sterne vor Ludds Augen auftauchen. Er stützte sich an der Wand ab und fummelte an seinem Halfter herum, um seine Pistole zu ziehen. Er konnte die Gestalten nicht mehr sehen. Es war, als seien sie verschwunden, als hätten sie sich in Rauch aufgelöst. Das hatten sie nicht. Gegenfeuer schlug den Geistern entgegen. Jemand schrie auf, als er getroffen wurde. Kugeln und Laserstrahlen bohrten sich in Decke und Wände, manche prallten unberechenbar ab und jaul-
ten beinahe komisch durch den engen Korridor wie wütende Insekten, die zu fliehen versuchten. Eine Wandlampe platzte in einem Schauer aus weißen Funken. »Feindkontakt!«, brüllte Rawne. »Feindkontakt oberer Osten zwölf!« IV Im mörderischen Wind vor dem Tor ruckte Harks Kopf scharf herum. »Wiederholen! Wiederholen!«, brüllte er. Das Signal in seinem Ohr war kaum mehr als ein auf- und abschwellendes statisches Rauschen. »Kontakt im Haus!«, rief Arcuda und eilte in Richtung Schleuse. Hark drehte sich zu den Arbeitsmannschaften um. »Hört auf zu arbeiten! Hört auf zu arbeiten! Zurück ins Wachhaus!« Die Männer konnten ihn im heulenden Wind kaum verstehen. Einige blickten verwirrt auf, Säcke und Grabwerkzeuge gesenkt. Hark schwenkte die Arme, während er zu ihnen lief. »Vorwärts! Lasst alles stehen und liegen und kommt mit zurück!« Einige setzten sich in Bewegung, als sie seine Worte schließlich verstanden. Sie nahmen ihre Werkzeuge und Säcke und eilten in Richtung Wachhaus. Einer fiel um. »Aufstehen! Los, aufstehen!«, brüllte Hark, als er den Mann erreichte. Fünf Meter entfernt fing Wes Maggs an zu schießen. »Maggs? Was haben Sie …« Hark betrachtete den gefallenen Mann und verstand, was Maggs bereits begriffen hatte. Der Gefallene war mit weißem Staub bedeckt, aber der Wind hatte die nasse rote Schweinerei im Rücken des Mannes noch nicht zugedeckt. »Kontakt!«, brüllte Hark. »Kontakt am Haupttor!« V Baskevyl konnte das Kratzen im Dunkeln hören. Er konnte das Gleiten knotiger Haut und verdrehter Knochen hören, die über die Felsen schabten.
»Können Sie nicht schneller gehen?«, beschwerte sich Criid hinter ihm. Nein, das konnte er nicht. Baskevyl hatte die größte Mühe, sich daran zu hindern, umzukehren und sie aus dem Weg zu fegen, hektisch bemüht, in die Werkstätten zurückzukehren. Er sagte sich, dass es Einbildung war. Er sagte sich, dass es der Wind sein musste oder das seltsam entstellte Echo des Geschützfeuers draußen, oder das Schaben seiner Stiefel, das in diesem klaustrophobisch kleinen Tunnel, durch den er sich zwängte, sonderbar verstärkt wurde. Doch wenn es Stiefel, der Wind oder Geschützfeuer war, warum konnte er dann Schnaufen hören? Warum konnte er das glitschige, schleimige Geräusch nassen Gewebes auf trockenem Fels hören? Warum – im Namen des Imperators – konnte er Atmen hören? »Sie werden immer langsamer. Um Feths willen!«, rief Criid. »Schon gut, schon gut!«, erwiderte Baskevyl. Er schob sich wieder etwas schneller vorwärts. Er würde dem Dämonenwurm früher oder später begegnen, sagte er sich. Er würde ihn schließlich finden und wenn es so war, tja, dann war es das. Er konnte es ebenso gut hinter sich bringen. VI Hark zog seine Plasmawaffe, als er zu Maggs rannte. »Wo?« »Überall!«, erwiderte Maggs. »Bei diesem Wind höre ich keine Schüsse, und in dem Staub sehe ich auch keine Mündungsblitze … ich sehe gar nichts. Aber sie sind da, das ist sicher!« »Zurück. Sofort!«, befahl Hark. »Wir haben hier keine Deckung!« Sie liefen los. Seltsame, verstümmelte Geräusche überholten sie: verirrte, vorbeisausende Schüsse, die sie nur einen Sekundenbruchteil hören konnten. Hark erblickte die helle Lanze eines Laserstrahls, als dieser den staubigen Boden vor ihnen explodieren ließ. Die meisten Männer der Sandsack-Abteilung hatten das Wachhaus erreicht und sich in Sicherheit gebracht, aber das feindliche
Feuer hatte dabei zwei weitere erwischt. Arcuda und Bonin standen vor dem Vorhang und schossen in den Wind. Maggs und Hark warfen sich neben sie. Der Torbogen der Schleuse bot ihnen zumindest etwas mehr Deckung. »Haben Sie irgendwas gesehen?«, wollte Hark wissen. »Nichts das Geringste«, erwiderte Bonin mit einem Kopfschütteln. »Ich glaube, es sind Heckenschützen, oben in den Felsen.« »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Hark. »Durch die Art, wie unsere Leute gefallen sind«, erwiderte Bonin schlicht. »Wie sie getroffen wurden und gefallen sind … die Schüsse kamen von einer höheren Stellung.« »Ich habe Scharfschützen angefordert«, sagte Arcuda. »Larkin ist unterwegs.« »Er wird auch nichts sehen können!«, beschwerte sich Maggs. »Manchmal muss er das auch gar nicht«, erwiderte Hark. »Sind alle unsere Jungs im Wachhaus?«, fragte Bonin. »Ja«, erwiderte Arcuda. »Wer ist dann das?«, fragte Bonin. Fünfzig Meter vor dem Tor tauchten Gestalten aus dem Staubnebel auf, die sich so schnell sie konnten über die dicken, lockeren Staubdünen bewegten. Dutzende Gestalten, die heranstürmten und dabei brüllten. Hark hörte die wilden Schlachtrufe blutgieriger Stimmen und das harsche Plärren von Kriegshörnern. »Wir werden einen geschäftigen Tag haben«, sagte er. VII Das Feuergefecht in oberer Osten zwölf war eine kurze, aberwitzige Angelegenheit. Hinterher fragte sich Ludd, warum nicht alle binnen einer Sekunde getötet worden waren. Schüsse flogen in alle Richtungen, eine tödliche Kombination aus gezieltem Feuer und hoffnungslosen Querschlägern. Rauch wirbelte umher, konnte nicht abziehen. Mündungsfeuer ließ Licht und Schatten flackern und huschen. Es herrschte ein einförmiger hallender Krach, wie man ihn hören würde, wenn man den Kopf in eine Trommel steckte, während jemand einen schnellen Wirbel darauf schlug. Rawne brüllte Befehle, als könne eine Situation wie diese durch Befehle abgemildert oder kontrolliert werden. »Einstellen! Feuer einstellen!«, rief Varl.
Sie hörten auf zu schießen. Die Geister hatten sich entweder an die Korridorwände gepresst oder lagen flach auf dem Boden und schossen im Liegen. Rauchwolken wallten träge durch die jähe Stille. »Entweder wir haben sie getötet …«, flüsterte Varl. »Oder sie sind geflohen«, beendete Rawne den Satz. Über Kom rief er die anderen Trupps auf oberer Osten zwölf und warnte sie vor Feinden auf dem Weg nach Osten. Drei Trupps bestätigten in rascher Folge. »Ehrliches Silber«, befahl Rawne. Sie befestigten die Klingen an den Halterungen unter den heißen Gewehrläufen. Zwei Mann aus Rawnes Trupp waren tot, einer aus Varls Trupp – Twenzet – verwundet. »Helfen Sie ihm«, sagte Rawne zu Ludd. Twenzet war in die Rippen getroffen worden, ein Streifschuss, der aber stark blutete. Er grinste verlegen, als Ludd ihn stützte, aber sein tapferes Grinsen wurde immer wieder von schmerzhaftem Zusammenzucken unterbrochen. Auf ein Winken Rawnes rückte der Trupp vor. »Schau, schau, schau«, flüsterte Varl. Jetzt gab es Leichen. Im Gegensatz zu Meryns ähnlich kurzer und brutaler Begegnung in der Nacht zuvor waren die Toten des Feindes diesmal nicht verschwunden. Vier Leichen lagen schlaff und verdreht fünfundzwanzig Meter entfernt auf dem Korridorboden. Jeder Tote trug verdreckten, nicht zusammenpassenden Drillich und Koppel der Garde. Jedes Gesicht war hinter einer grinsenden schwarzen Metallmaske verborgen. Blutpakt. »Vier«, murmelte Cant. »Ich habe mehr gezählt.« »Ich auch«, sagte Varl. Rawne schaltete sein Kom ein und wiederholte die Warnung für die anderen Trupps im Korridor. Er wartete ihre Antworten ab und wandte sich dann an Varl. »Der nächste Trupp östlich von uns ist Caobers am Ende der nächsten Treppe. Zwischen ihm und uns gibt es keine Ausgänge oder Treppenhäuser, also haben wir sie zwischen uns.« Varl hatte auf sein eigenes Kom gelauscht. »Major, da ist … Ich höre, da ist noch ein anderer Angriff im Gange, auf das Wachhaus. Ein richtiger Sturmangriff.«
Rawne verzog das Gesicht, die Lippen gekräuselt. »Feth! Tja, jemand anders wird wohl ein großer Junge sein und das regeln müssen. Wir sind hier beschäftigt.« Varl nickte. »Enge Formation«, sagte er zu den Männern. »Langsam vorrücken.« Rawne rief noch einmal Caobers Trupp, um ihn zu warnen, dass sie kamen. »Schön langsam«, wiederholte Varl im Flüsterton. »Wenn wir sie finden, wird es ziemlich plötzlich blutig zugehen.« »Bleiben Sie hinter uns«, sagte Rawne zu Ludd. Ludd versuchte seinen Griff um Twenzet zu verändern, um ihn besser und bequemer stützen zu können. »Nehmen Sie mein Gewehr«, flüsterte Twenzet ihm zu. »Nein, ich …« »Nehmen Sie mein Gewehr. Ich kann es nicht einhändig abfeuern, und Ihre Erbsenpistole ist einen Scheiß wert, wenn es ernst wird. Sie haben Varl gehört. Wir haben sie in die Enge getrieben, und es wird blutig.« Widerstrebend halfterte Ludd seine Pistole und hing sich Twenzets Gewehr über die linke Schulter. »Blut«, meldete Cant. Tropfen auf dem Boden. Eine Spur, die sich von ihnen entfernte. »Können nicht mehr weit sein«, flüsterte Varl. »Warum können wir sie nicht sehen?« Rawne schaltete sein Kom ein. »Caober? Irgendwas?« »Negativ, Herr Major.« Varl hob eine Hand. Sie blieben stehen. »Vierzig Meter«, zischte Varl, den Kopf gesenkt. »Ich sehe Bewegung.« Er hob sein Gewehr an die Schulter und zielte. »Feuer bei drei.« Die Geister hoben die Waffen und zielten. »Drei, zwei …« »Halt!«, sagte Rawne. »Was ist denn los?«, flüsterte Varl. Rawne rief: »Caober?« Voraus war eine Bewegung zu sehen. »Major?«, antwortete eine Stimme. »Thron, wir hätten beinahe auf Caobers Haufen geschossen!«, sagte Kabry.
»Aber wo sind sie dann geblieben?«, fragte Rawne. »Ich meine, wo bei Feth sind sie fethnochmal geblieben?« VIII Baskevyl spürte einen Luftzug und hörte das Knattern von Gewehrfeuer aus der Nähe. Es übertönte beinahe, aber doch nicht ganz, das schabende Gleiten des Dings, das in der Dunkelheit auf ihn wartete. »Fertig machen«, hörte er Criid zu den Männern hinter ihnen sagen. Baskevyl schluckte schwer. Die Taschenlampe zitterte in seiner Hand. Er zog seine Laserpistole. Mit vorsichtigen Schritten über die grobe schwarze Erde des Tunnelbodens, einer trügerischen und im Dunkeln beinahe unsichtbaren Oberfläche, schlich er weiter. Der Tunnel fiel noch ein wenig mehr ab und wurde dann breiter. Und er konnte ihn endlich sehen. Er atmete in ganz schwachen Zügen. Er war direkt vor ihm und bäumte sich in der Düsternis auf: eine riesige verdrehte Säule aus weißen Knochen und Knorpeln, die sich aus einem sich windenden Berg auf dem Boden entrollte. Seine knotigen Körpersegmente – räudige, glänzende Haut von der Farbe bleichen Fetts – schabten über die trockenen schwarzen Felsen und verschmierten Staub und Schimmel. Er gab ein trockenes, knochiges Klappern von sich, wie eine Perle in einem Kästchen. Baskevyl spürte, wie sein Wurm-Atem sein Gesicht traf, eine Wolke aus kaltem Ammoniakdampf. »Major?«, rief Criid und stieß ihn an. Warum konnte sie ihn nicht sehen? Warum schoss sie nicht auf ihn? War es nur ein Dämonengespenst, nur für ihn bestimmt? »Major Baskevyl!«, rief Criid. Und ganz plötzlich, einfach so, war kein Dämonenwurm mehr da: kein Dämonenwurm, keine sich aufbäumende Säule aus grässlichem weißen Fleisch wie eine gigantische animierte Wirbelsäule. Da war lediglich eine Öffnung nach draußen, ein zerklüfteter vertikaler Schlitz aus weißem Tageslicht vor dem schwarzen Höhlenschatten.
»Der Verstand«, flüsterte Baskevyl. »Er spielt einem solche Streiche.« »Was?«, fragte Criid. Er antwortete nicht. Er lief dem Schlitz Tageslicht entgegen. »In Zweiergruppen näher kommen«, rief er. »Bereitmachen, um Feuerschutz zu geben. Folgen Sie mir.« Baskevyl duckte sich in den Höhleneingang und lugte hinaus. Die Helligkeit draußen war ein tanzender Nebel aus weißem Staub, aber er konnte auf die Felsbrocken und das Geröll vor der Höhle schauen. »Eins, hier Drei. Kommen«, sagte er in sein Kom. »Drei, Eins. Schön, von Ihnen zu hören. Position?« »Höhleneinmündung, also über Ihnen, würde ich meinen.« »Drei, wir sind unter ihnen und etwas nach links versetzt.« »Da«, sagte Criid, die neben Baskevyl kroch und nach unten zeigte. Gaunt, Kolea und Mkoll waren hinter einem Steinhaufen ungefähr zwanzig Meter tiefer und links von der Spalte festgenagelt. Feurige Streifen – Leuchtspurgeschosse und Laserstrahlen – zischten horizontal aus der felsigen Ebene weiter draußen und trafen die Klippenwand mit einem Geräusch wie ein Klatschen auf Fleisch. Baskevyl schaute sich um. Zwei große Felsen sorgten für Deckung direkt vor der Höhle. Er musste so viele Gewehre wie möglich nach draußen und ins Gefecht bekommen. Die Höhleneinmündung war nur breit genug für zwei Schützen nebeneinander. Er wollte aber alle acht schießen lassen, wenn es menschenmöglich war. »Gehen Sie dahin, rechts von dem großen Felsen«, sagte er zu Criid. »Nehmen Sie Kazel und Vivvo mit. Schießen sie erst, wenn ich den Befehl gebe.« Criid nickte und robbte ihren langen, hageren Körper von ihm weg. Wie eine Schlange, dachte er und schob den Gedanken rasch beiseite. Vivvo und Kazel folgten ihr. Baskevyl wies Starck und Orrin an, die Lücke zwischen den beiden Felsen zu nehmen. Er schaute zu Pabst und Mkteal und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Baskevyl kroch auf die linke Seite des Felsens zur Linken. Der Aussichtspunkt war besser – jetzt konnte er sehen, womit sie es zu tun hatten. Große Mündungsblitze von einem schweren Ge-
schütz, irgendetwas auf einem Stativ, nahm er an, zuckten vielleicht hundert Meter hinter der Position des Chefs. Feuerstöße von zwischen den Felsen verteilten Schützen verliehen dem Beschuss zusätzliches Gewicht. »Schweres MG, einhundert links und außen«, sendete er leise. »Ich sehe ihn«, erwiderte Criid. »Da war noch ein anderes, fünfzig rechts davon. Es hat jetzt aufgehört zu schießen. Munitionstrommeln oder Läufe wechseln, würde ich sagen.« »Fünfzehn … nein, sechzehn … andere Gewehre«, meldete Vivvo. »Achtzehn«, ertönte Mkolls Stimme im Kom. »Ich habe zugehört. Zwei Schützen rechts von mir haben vor fünf Minuten das Feuer eingestellt. Passt auf sie auf, sie versuchen wahrscheinlich, uns zu umgehen und von der Seite anzugreifen.« »Das ist Ihre Aufgabe für heute, Criid«, sendete Baskevyl. »Wir nehmen uns das Geschütz vor. Starck, Orrin? Sorgen Sie dafür, dass alle anderen den Kopf einziehen, bitte.« »Verstanden«, kam die Antwort über Kom. »Erstes und einziges«, sagte Baskevyl. Alle eröffneten das Feuer. Baskevyl, Pabst und Mkteal richteten ihre Schüsse direkt auf die Quelle des schweren Feuers und beharkten die Felsen rings um die heftigen Mündungsblitze. Starck und Orrin deckten die ganze Gegend mit heftigem Schnellfeuer ein. Baskevyl sah, wie eine Gestalt hochkam, sich verdrehte und fiel. Ein Abschuss zumindest, wahrscheinlich Orrins. Criid, Vivvo und Kazel gaben spekulative Einzelschüsse auf den Geröllhang rechter Hand ab, um dort etwas aufzuscheuchen. Nach etwa einer Minute anhaltenden Feuers von Baskevyls Gruppe stellte das schwere Geschütz das Feuer ein. Die sporadischen Schüsse aus der Felsenwüste ringsumher wurden jetzt auf die beiden großen Felsen gerichtet, hinter denen sich die Neuankömmlinge versteckten. »Hallo«, sagte Pabst und gab schnell zwei Schüsse hintereinander ab. »Tja, dann ist er wohl erledigt«, stellte er fest. Ein paar Sekunden später gelang Orrin noch ein Abschuss. Dann hagelte es plötzlich neue Schüsse von rechts. Criid duckte sich tief und suchte die Mündungsblitze. Zwei Schützen im Bett der Schlucht. Sie grinste. Mkoll hatte recht gehabt, wie üblich. Sie zielte sorgfältig und wartete. Ein Mündungsblitz, ein Rülpser
brennenden Gases. Das legte Ort und Entfernung fest. Ein zweiter zur Bestätigung. Eine Kugel pfiff an ihrem Ohr vorbei. Ein dritter. »Peng«, sagte sie und gab rasch hintereinander sechs Laserschüsse ab, die den Schützen aus seiner Deckung fegten und rücklings und reglos auf dem Felsgeröll zurückließen. Sofort wälzte sie sich herum, um zu verhindern, dass der Partner des Schützen denselben Trick mit ihr versuchte. Zwei Laserstrahlen prallten von dem Felsen ab, hinter den sie sich gerade geduckt hatte. »Seid vorsichtig«, sendete sie. »Die sind gut.« »Vielleicht, aber jetzt sind sie einer weniger«, sendete Starck infolge eines eigenen Abschusses sehr lebhaft zurück. »Werden Sie nicht zu selbstsicher«, warf Gaunt ein. »Ach, als ob«, erwiderte Criid, bereits wieder auf der Suche nach den verräterischen Mündungsblitzen des anderen Schützen. Das zweite schwere Geschütz eröffnete abrupt das Feuer und nahm den Felsen aufs Korn, hinter dem sich Baskevyl, Pabst und Mkteal verbargen, was sie zwang, sich dahinter zu ducken. Hustende Fontänen aus Staub und Steinsplittern rasten über den Felsen und in gerade Linie weiter die Klippe über der Höhleneinmündung empor, da das Ziel zu stark korrigiert wurde. Der Hauptteil des feindlichen Feuers galt jetzt dem Bereich um die Höhleneinmündung. »Sollen wir?«, fragte Kolea Gaunt, als er die unverkennbare Veränderung im Knattern des Geschützfeuers hörte. »Natürlich.« Sie robbten den Steinhaufen empor, auf dem Bauch, und schossen, Boltpistole und Lasergewehr Seite an Seite. Gaunt sah dunkle Gestalten, die sich zwischen den Felsen bewegten, und wechselte das Ziel. Er schoss wieder und sah eine rot-schwarze Gestalt rückwärts vor einen Felsen prallen und zusammenbrechen. »Äh, wann hast du Mkoll zuletzt gesehen?«, fragte Kolea plötzlich. Gaunt lächelte und schoss weiter. IX Wie heulende Bestien griff der Blutpakt aus dem Staub das Wachhaus von Hinzerhaus an.
»Wir brauchen hier Unterstützung«, sendete Hark über Kom. »So viel wie möglich.« Seine Plasmapistole feuerte durch die Schleuse und äscherte schnell hintereinander Rumpf und Kopf von drei heranstürmenden Sturmtruppen ein. Ihre verbrannten Leichname fielen wie Säcke in den Staub. Neben Hark gaben Maggs, Arcuda und Bonin knisternde Feuerstöße mit ihren Lasergewehren ab. »Dieser schlimme Felsen«, beklagte sich Arcuda. »Liebe die Garde, und sie liebt dich auch«, schimpfte Bonin. Maggs war seltsam still, als sei er untypischerweise eingeschüchtert. »Unterstützung! Unterstützung zur Hauptschleuse, um der Liebe des Throns willen!«, brüllte Arcuda ungeduldig in sein Kom. Der Blutpakt brandete an wie eine Flutwelle auf einen Strand. Als sie sich aus der weichen weißen Decke des Staubsturms lösten, wirkten sie schockierend schwarz und zerlumpt, als seien sie aus einer dunklen, schmutzigen Materie gehauen, die Jago feindlich gesonnen war, wo der ewige Staub alles weiß färbte. Sie schrien, kreischten und brüllten durch die Mundschlitze ihrer grässlichen Eisenmasken. Abgerissene Fetzen aus Stoff, Leder und Kettenpanzer wehten hinter ihren dahinstolpernden Gestalten her. Mehrere trugen üble Standarten: obszöne geschnitzte Totems oder gemalte Banner auf langen Stangen, geschmückt mit langen schwarzen Flaggenschößen, die im Wind flatterten. Andere bliesen raue Töne auf großen Messingtrompeten, die sich um ihren Körper wanden. Manche schwangen Piken oder Hellebarden oder Grabenäxte. Wieder andere schleppten schwere Flammenwerfer mit langen Lanzen. Die Mehrheit schoss beim Vorrücken mit Gewehren. »Wisst ihr«, murmelte Hark ziemlich kategorisch, »wir könnten eine Menge von diesen Heiden lernen.« »Inwiefern?«, sagte Arcuda schnippisch, während er Dauerfeuer gab. »Ach, in punkto Grauen erregen.« »Da habe ich schon mehr gelernt, als ich brauche«, sagte Bonin, während er schnell zwei Schüsse hintereinander abgab, die einen anstürmenden Standartenträger fällten. Wes Maggs sagte gar nichts. Er zielte und schoss, zielte und schoss mit mechanischer Effizienz. Er hielt in den feindlichen Reihen Ausschau nach ihr, da er sicher war, dass sie da sein würde,
die alte Dame in dem schwarzen Spitzenkleid. Er kannte sie, oh, er kannte sie ganz genau. Er kannte ihr Gewerbe, das älteste Gewerbe von allen. Sie würde kommen, daran zweifelte er nicht. Sie lungerte ohnehin in diesem Rattenloch herum – er hatte sie seit ihrer Ankunft kommen und gehen sehen, immer im Augenwinkel. Eine solche Gelegenheit würde sie nicht verpassen. Sie würde kommen, und dann würden sie alle … vertrocknete Schädel mit abgesägter Decke … nur noch Staub sein wie all die anderen armen Schweine, die im Lauf der Jahrhunderte versucht hatten, auf dem schlimmen Felsen Jago am Leben zu bleiben, und gescheitert waren. Es sei denn, Maggs sah sie zuerst. Es sei denn, er sah sie kommen und hatte genug Zeit und Schneid, ihr einen Laserstrahl durch ihr entsetzliches Fleischwunden-Gesicht zu jagen. Neben ihm schoss Hark wieder und verdampfte die Beine eines Trompetenspielers. Der Mann fiel, während seine Trompete immer noch misstönenden Lärm von sich gab wie die Schmerzensschreie eines Tiers. Der Vorhang hinter ihnen wurde so fest zurückgeschlagen, dass er von seinen Befestigungshaken abriss. Geister strömten nach draußen. »Endlich. Bildet eine Linie!«, befahl Arcuda. »Ausschwärmen!« Gardisten, deren Gewehre beim Laufen in Schussposition genommen wurden, schwärmten aus, um der anbrandenden Flut zu begegnen. »Macht Platz«, brüllte Seena, als sie und Arilla ihr Kaliber .30 durch die Schleuse trugen. Maggs half ihnen beim Befestigen des Stativs im Staub. »Wir können es schaffen«, sagte Arilla scharf, während sie mit sicheren Bewegungen die erste Munitionstrommel in den Behälter einsetzte. »Dann ist es ja gut«, erwiderte Maggs, während er sich wieder umdrehte, um weiterzuschießen. »Aber sorg dafür, dass du sie erschießt, wenn du sie siehst.« »Wen denn?«, fragte Arilla, indem sie den Deckel des Munitionsbehälters zuschlug. Maggs antwortete nicht. Er war an seinen Platz zurückgekehrt und schoss wieder, und es war ohnehin viel zu laut für lockeres Geplauder. Die Welle der Angreifer war jetzt nah, noch zehn Meter entfernt. Hark wusste, dass es trotz der großen Zahl, die von den Geistern
bereits erledigt worden war, jeden Moment hart auf hart kommen würde. Arcuda wusste es auch. »Ehrliches Silber!«, befahl er. Das Kaliber .30 eröffnete das Feuer. Es gab ein surrendes Klackern von sich, wie eine monströse Nähmaschine. Sein knatternder Kugelhagel fegte eine Schneise durch die vorderste Reihe des anstürmenden Feindes. Während Arilla die Munition zuführte, ließ Seena die schwere Kanone geschickt hin und her wandern. Sie mähte den Blutpakt nieder. Sie fetzte sie auseinander, verstümmeltes Glied um verstümmeltes Glied. Hark seufzte. Kampfzeit. Sie waren schließlich wieder auf Kampfzeit. Er hatte damit gerechnet. Er hatte auf ihren Anfang gewartet. Alles in der Welt schien sich zu verlangsamen. Laserstrahlen zitterten wie brennende Blätter und schienen reglos in der Luft zu hängen. Blutpaktkrieger, von Seenas Feuer getroffen, fielen ganz langsam zu Boden, die Arme weit ausgebreitet und die Finger in die Luft gekrallt, als wollten sie sich daran festhalten. Blut blühte wie Blumen, die sich langsam in der Sonne öffneten. Eine von einem Gesicht abgerissene Maske drehte sich in der Luft wie ein schwerfälliger Asteroid. Sogar der wirbelnde Staub schien sich zu verlangsamen und zu stagnieren. Hark wappnete sich. Er fühlte sich sonderbar zufrieden, als benehme sich die Galaxis trotz der Situation endlich so, wie sie sich benehmen sollte. Am Rande der Linie, jenseits des Feuerkegels des Kaliber .30, traf die anstürmende Flut des Blutpakts schließlich frontal auf die Geister. Jetzt ging es hart auf hart. Dies war der Punkt, an dem der anstürmende Feind nicht mehr nur durch Schusswaffen abgewehrt werden konnte. Dies war der Punkt des Einschlags, Mann gegen Mann, Masse gegen Masse. Die Welle traf die Linie der Geister. Es gab einen greifbaren schaudernden Krach. Ehrliches Silber begegnete Kettenpanzern, Grabenäxte und Speere begegneten gegossenen Rüstungen. Klingen stießen, bohrten und stachen. Leiber wurden aufgespießt, niedergehackt oder durch die Wucht der Kollisionen zurückgeschleudert. Nicht jeder fallende Körper gehörte einem Krieger des Blutpakts.
Bonin fand sich im dicksten Getümmel wieder. Er spießte einen Blutpaktsoldaten mit seinem Silber auf und war dann gezwungen, den nächsten totzutreten, weil seine Klinge in der Wirbelsäule des ersten feststeckte. Als er sie schließlich herausreißen konnte, schwang er sie kraftvoll und durchschnitt eine Luftröhre. Heißes Blut spritzte in sein Gesicht. Er fuhr herum und entging um Haaresbreite einem zustoßenden Speer. Er tauchte ab, wälzte sich herum und zerschoss Knie und Schienbeine mit einem Feuerstoß. Hark schmolz eine Gesichtsmaske – und den Schädel dahinter – mit einem einzigen Schuss seiner starken Energiewaffe. Die Spitze einer Lanze bohrte sich durch seinen linken Arm, aber er empfand keinen Schmerz, spannte den augmetischen Arm abrupt an und zerbrach den Speerschaft. Er fuhr herum und beendete die Angelegenheit mit einem Schuss. Einen Moment lang, mitten im Getümmel, glaubte er plötzlich, eine entfernte Melodie auszumachen, als spiele eine Flöte oder ein Dudelsack. Irgendeine Kampfmelodie des Feindes, entschied er, während er einem Mann mit einem Schlag seines linken Arms das Genick brach. Aber das stimmte nicht. Es war ein altes Lied, eine imperiale Hymne. Nein, nein, ein tanithisches Lied … Was zum Henker … Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein Schwall erhitzter, gemarterter Luft wehte ihm ins Gesicht, und die beiden Geister neben ihm gingen in Feuerbälle auf und kreischten jämmerlich, während sie starben. Hark fiel zu Boden, während Flammen über Schöße und Rücken seines Sturmmantels leckten. »Flammenwerfer! Flammenwerfer!«, brüllte jemand. Hark wälzte sich hektisch im Staub und versuchte, die Flammen zu löschen. Jemand landete auf ihm und schlug das Feuer aus. Es war Arcuda. »Stehen Sie auf, Kommissar! Sie sind mit ihren Flammenwerfern in Reichweite!« Arcuda hievte Hark auf die Beine. Der Kommissar war benommen. Die Kampfzeit hatte plötzlich einen eigenartigen, unwillkommenen Beigeschmack. Er fühlte sich desorientiert, nicht bereit. Sein Rücken pochte. Er war verwundet. Ihm ging auf, dass er unter Schock stand. Hlaine Larkin hinkte durch den zerrissenen Vorhang vor der Schleuse und nahm sich einen Moment, das schiere Chaos vor
sich zu begutachten. Dann kniete er nieder und klemmte sich sein Präzisionsgewehr unter das Kinn, wo es hingehörte. Durch das Zielrohr betrachtete er die Nahkämpfe direkt vor sich. »Flammenwerfer!«, brüllte jemand. Ja, da war einer, der mit seiner langen Werferlanze Feuer auf die Reihen der Geister spritzte. Larkin zielte. Das Gewehr schlug gegen seine Schulter. »Eins«, murmelte Larkin. Er wechselte das Magazin, ein Hochenergiemagazin gegen ein anderes, und schwenkte die Waffe, bis er noch einen langen, brennenden Stab sah. Er zielte. Kopfschuss. Peng. »Zwei.« Er lud durch, schwenkte, suchte nach einem dritten Werfer. »Tankschuss«, hauchte er. Peng. Zwanzig Meter entfernt wurde der Brennstofftank eines Kriegers durchbohrt und explodierte, sodass der Blutpakt ringsumher mit entzündetem Prometheum besprengt wurde. Blutpakt-Soldaten fielen, kreischend und sich windend, in einen Feuerkokon gehüllt. »Drei.« Larkin lud nach, schwenkte und zielte. »Trompete«, entschied er und schoss. Ein Trompeter zuckte, als ihm die obere Kopfhälfte weggesprengt wurde. Er fiel. Seine Trompete machte ein seltsames Geräusch. Nichts war so befriedigend, wie einen Flammenwerfer auszuschalten, entschied Larkin, und widmete sich wieder dieser Betätigung. Nachladen, zielen, schießen. Fünf. Nachladen, zielen, schießen. Sechs. »Nur weiter so, Larks«, sagte eine Stimme neben ihm. Larkins Blick irrte zum Sprecher. Gleich Nochmal Bragg lächelte seinem alten Freund beruhigend zu. »Nur zu, immer weiter so«, sagte Bragg. »Nachladen, zielen, schießen. Du kennst doch die Routine.« Larkin spürte, wie sich seine Eingeweide vor Angst verkrampften. Er zwang sich, den Blick von dem freundlichen, lächelnden Gesicht abzuwenden und wieder durch sein Zielrohr zu schauen. »Nicht jetzt«, hauchte er. »Bitte, nicht jetzt.«
X »Niemand ist hierher gekommen?«, fragte Rawne. »Niemand, Herr Major«, erwiderte Caober. »Das verstehe ich nicht«, sagte Rawne. Ein dünner, scharfer Wind wehte durch oberer Osten zwölf. Die Wandlichter verdunkelten sich etwas und wurden dann wieder heller. »Gehen Sie zurück«, sagte Rawne zu Caober. »Gehen Sie bis zur nächsten Treppe zurück. Wir kehren auf dem Weg zurück, auf dem wir gekommen sind. Feth, sie müssen irgendwo sein.« »Was ist mit …«, begann Caober. »Was ist womit?« »Die Hauptschleuse wird angegriffen. Nach allem, was ich im Kom höre, ist es ziemlich wild.« Rawne starrte Caober an. »Späher, wenn die Möglichkeit besteht, auch nur die geringste Möglichkeit, dass der Blutpakt magisch in dieses Haus eindringen kann, dann wird die Verteidigung der Hauptschleuse ein ziemlich sekundäres Ziel, oder nicht?« Caober nickte. »So gesehen, ja, Major Rawne.« »Machen wir also weiter«, sagte Rawne. Mit Varl neben und dem Rest des Trupps hinter sich ging Rawne durch den zugigen Korridor zurück. Ludd, der Twenzet immer noch stützte, bildete die Nachhut. Hinter ihnen kehrte Caobers Trupp ebenfalls um. Sie waren ein paar Minuten marschiert, als Varl plötzlich stöhnte. »Was ist denn?«, fragte Rawne. »Wo sind sie?«, fragte Varl. »Wo ist wer?« Varl zeigte auf den Boden. »Die vier toten Schweine, die hier gelegen haben«, sagte er. Rawne starrte auf den leeren Boden. Es bestand kein Zweifel an ihrer Position, aber von den feindlichen Leichen, die sie zurückgelassen hatten, war nichts zu sehen. »Das pisst mich langsam an«, sagte Rawne. Am Ende der Gruppe stieß Twenzet Ludd an. »Was ist das für ein Geruch?«, fragte er.
»Geruch?«, erwiderte Ludd, dem es zunehmend schwerer fiel, den Verwundeten aufrecht zu halten. Ludd wusste nicht einmal, ob Twenzet überhaupt aufrecht stehen sollte. »Es riecht nach … Blut. Riechen Sie das nicht?«, fragte Twenzet. Ludd zögerte. Er wollte nicht darauf hinweisen, dass Twenzet die wahrscheinlichste Ursache für den Geruch war. »Ich …«, begann er. Der Blutpakt-Krieger machte ein schnaufendes Geräusch, als er ihn aus dem Schatten angriff. Seine Grabenaxt sauste Ludd entgegen, aber Ludd ließ Twenzet los und sich selbst fallen, und die gezackte Klinge verfehlte sein Ohr um eine Winzigkeit. Ludd krabbelte hektisch los, um sich zu schützen, und griff nach Twenzets Lasergewehr, das unbequem über seiner Schulter hing. Er riss es hoch, um sich zu verteidigen. Der Blutpakt-Krieger sprang vor und bohrte sich das erhobene ehrliche Silber in den Hals. Seine Grabenaxt fiel mit lautem Krach zu Boden. Er gurgelte und fiel auf die Seite. Sein Körpergewicht riss Ludd das Lasergewehr aus den Händen. Twenzet lag noch da, wo Ludd ihn fallen gelassen hatte, und stöhnte vor Schmerzen. Ludd kroch zu ihm und sah sich verblüfft um, weil er sich nicht erklären konnte, warum ihnen niemand zu Hilfe kam. Ihm ging auf, dass alle anderen zu beschäftigt mit ihren eigenen Problemen waren. Acht Blutpakt-Krieger hatten den Trupp überfallen und waren mit Äxten und Prügeln auf sie losgegangen. Alles hatte sich in ein Chaos aus Bewegung verwandelt, das ihm gleichzeitig seltsam gemächlich vorkam. Wie hatte Kommissar Hark das noch genannt?, überlegte Ludd, während er Twenzet erreichte. Ja, Kampfzeit. Rawne gab einen überraschten Stoßseufzer von sich, als die erste Maske aus der Dunkelheit neben ihm auftauchte. Nur seine Kampfinstinkte ermöglichten ihm, ihr mit dem Gewehr zu begegnen, und die aufgepflanzte Klinge wurde von dem verzerrten Mund der Eisenmaske verschluckt. Rawne setzte nach, bis der Hinterkopf des Feindes gegen die Korridorwand schlug. Varl, der so schnell reagierte wie eh und je, duckte sich unter einem schwingenden Morgenstern durch und gab zwei Schüsse aus nächster Nähe auf den Bauch seines Besitzers ab. Der Feind ging zu Boden.
Varl fing an zu brüllen. »Sie greifen uns an! Sie greifen uns an!« Er drehte sich um, aber viel zu langsam, um die Klinge zu parieren, die zu seinem Nacken unterwegs war. Ein Geräusch ertönte. Ein Ffatt! Der Krieger mit der Klinge taumelte plötzlich mit einem eisernen Bolzen im linken Augenschlitz rückwärts. Er drehte sich halb um und fiel dann zu Boden wie ein gefällter Baumstamm. Das Geräusch wiederholte sich. Ffatt! Ffatt! Ffatt! Der Blutpakt-Angreifer, der es auf Kabry abgesehen hatte, krümmte sich plötzlich um einen dicken Bolzen im Bauch. Cant zuckte zusammen, nicht in der Lage, noch rechtzeitig zu reagieren, und sah dann die auf sein Gesicht zielende Keule zu Boden fallen, als der sie schwingende Blutpakt-Krieger einen Bolzen in den Hals bekam. Cordrun spürte, wie sich eine Grabenaxt in die Rüstung in seinem Rücken bohrte, bevor sie abrupt wieder herausgerissen wurde, als ihr Besitzer von einem Bolzen mitten in die Stirn der Eisenmaske zurückgeschleudert wurde. Rawne und Varl töteten rasch die beiden verbliebenen Feinde mit brutalen Gewehrsalven, die ihre Ziele über die Korridorwand verschmierten. »Was beim heiligen Gak war das?«, ächzte Varl. Eszrah ut Nach tauchte aus dem Nichts mitten zwischen ihnen auf. Er hielt seinen Regenbagen. »Wo kommst du denn her?«, wollte Rawne wissen. Eszrah zeigte auf die Glockenkuppel über ihnen, als erkläre das alles. »Vun do, Seele«, sagte er. XI Mkoll duckte sich hinter den beiden Blutpakt-Kriegern, welche die schwere Kanone bemannten. Einer fütterte die Waffe eifrig mit Munitionsgurten, während der andere mit der antiken Waffe zielte und schoss. Mkoll beobachtete sie eine Weile und bewunderte ihre Technik und Disziplin, während er dicht hinter ihnen kniete wie ein drittes Mitglied der Geschützmannschaft. Dann tötete er sie, und die Waffe verstummte. Der Meister der Späher wartete einen Moment tief geduckt zwischen den Geröllbrocken. Das Geräusch gutturaler Stimmen erreichte ihn. Ein Blutpakt-Krieger, dessen schmutzige Uniform
nach frischem Schweiß und dem schalen Blut alter Rituale stank, kroch auf Händen und Knien durch eine Rinne, um nachzusehen, warum die Kanone nicht mehr schoss. Mkoll tötete ihn. Er tötete den zweiten Mann, der kam, um nachzusehen, was aus dem ersten geworden war. Dann entnahm er seinem Brotbeutel vorsichtig eine Granate, zog den Zündstreifen und warf sie in die Richtung der anderen Kanone, die wieder schoss. Die Druckwelle der Explosion erreichte ihn zusammen mit einer Handvoll loser Kiesel, die aus der Luft regneten. Stille trat ein, die mindestens eine Minute anhielt, in der nur der Wind Staub umherwehte. Mkoll schaltete sein Kom ein. »Ich glaube, wir sind hier fertig«, sagte er. Gaunt und Kolea eilten den Hang zur Höhleneinmündung empor, wo Baskevyl, Criid und der Trupp hinter zwei Felsen auf sie warteten. »Vielen Dank dafür«, sagte Gaunt. Baskevyl nickte. »Tut mir leid, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, aber an der Hauptschleuse ist die Hölle los«, sagte er. »Die Hölle?«, fragte Kolea. »Ich kriege es gerade erst herein. Ein Frontalangriff.« Sowohl Kolea als auch Gaunt prüften ihre Ohrstecker und lauschten. »Feth«, murmelte Gaunt. »Also können sie uns von beiden Seiten angreifen? In was für eine Art Rattenfalle hat Van Voytz uns geschickt?« »In die schlimmste«, schlug Criid vor. »Gibt es noch andere?«, fragte Mkoll, der den Hang zu ihnen emporkam. »Gute Arbeit«, sagte Gaunt. »Das war doch nichts, Herr Kommissar«, erwiderte Mkoll. Er log. Es war alles. Seit dem Augenblick seines Eindringens in das Wachhaus vor zwei Tagen war Mkoll extrem nervös. Ein Dämon hatte ihn beschlichen, ein Dämon aus Furcht und Unsicherheit, zwei Dinge, die Mkoll generell fremd waren. Er hatte begonnen, sich unfähig zu fühlen. Er hatte tatsächlich angefangen, seinen
eigenen Fähigkeiten zu misstrauen. Es war gut gewesen, nach draußen zu kommen und sich zu testen. »Gehen wir wieder hinein«, sagte Gaunt. »Und legen Sprengladungen in dieser Höhle, um sie zu sperren?«, fragte Kolea. »Aber selbstverständlich«, erwiderte Gaunt. XII Am Ende schien es keine Klarheit oder Entschlossenheit zu geben, kein Gewinnen oder Verlieren. Die heulende Welle des Blutpakts brach sich und zog sich wieder in die Staubwolken zurück, die sie ausgespien hatten. Und das war es. Hark japste schwer, die Plasmapistole schlaff in der rechten Hand. Er war erschöpft. Die Kampfzeit ging wieder in die Normalzeit über, und das war immer hart, vor allem, wenn die Normalzeit wie jetzt Schmerzen von Verbrennungen mit sich brachte. Die Dünen vor dem Wachhaus waren mit Leichen übersät. Einer groben Schätzung nach waren fünf Sechstel davon feindliche Leichen. Hark sah sich um und erkannte ein paar alte Kameraden unter den Toten. Er wusste nicht, was schlimmer war – den Leichnam eines Mannes zu sehen, den man namentlich kannte, oder einen derartig verstümmelten Leichnam zu sehen, dass man ihn nicht identifizieren konnte. Vor der Schleuse von Hinzerhaus lagen beide Sorten. Vierzig Geister waren tot, mindestens. Für ein Scharmützel war es ein höllischer Kampf gewesen, und tief im Herzen wusste Viktor Hark, dass es eben nur ein Scharmützel gewesen war: ein Eröffnungsscharmützel, ein Geplänkel, ein Vorspiel. Hinzerhaus würde ihr aller Tod sein. Wenn sie hier blieben, würden sie alle enden als … vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal denen man die Decke abgesägt hatte … durchgestrichene Namen in den Annalen des Imperiums. Er schauderte. »Viktor?« Er drehte sich um. Curth stand neben ihm. Die Sanitäter trafen ein, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Lesp und Chayker liefen mit einem Mann auf einer Trage vorbei.
»Viktor, Sie sind verwundet. Verbrannt«, sagte Curth. Er nickte. »Nur einen Moment. Arcuda?« Arcuda blickte von dem Geist auf, dem er Erste Hilfe leistete. »Was denn, Herr Kommissar?« »Hat jemand Dudelsack gespielt?« »Was?« »Hat jemand Dudelsack gespielt, Arcuda? Bei dem Angriff. Ein tanithisches Lied?« »Bei dem Angriff?« »Ja.« »Ich glaube nicht, Herr Kommissar?« Hark wandte sich an Curth. »Vielleicht werde ich wahnsinnig«, sagte er zu ihr. »Können Sie das behandeln?« »Lassen Sie mich zuerst Ihre Wunden verarzten«, sagte sie und führte ihn zur Schleuse. Als er durch den blutbesprenkelten Staub zurückging, während Curths dünne Hand an seiner dicken Pranke zog, fing Viktor Hark an zu zittern. Der Wind frischte auf und trieb ihnen den Staub entgegen. »Ist schon gut«, sagte Curth. »Das wird schon wieder.« Hark sah Larkin neben der Schleuse kauern, das Präzisionsgewehr vor der Brust, die Augen unter der Brille weit aufgerissen. Hark sah Wes Maggs, der kampfbereit und nervös mit dem Gewehr in den Händen dastand, als halte er nach irgendwas Ausschau. »Nein, Ana«, sagte Hark. »Nein, das wird es nicht.«
ACHT SCHLECHTE LUFT Sind wir die Letzten, die noch leben? Sind wir das? Kann jemand antworten, bitte, irgendjemand? Sind wir die Letzten? Ist noch jemand da draußen? Sind wir die Letzten, die noch leben? (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778
I Die Stimme kommt aus dem Nichts. Sie verrät keine Herkunft, keinen Ursprung. Sie ist nur ein Flüstern, ein trockenes Zischen, das so alt zu sein scheint wie das Haus. Sie klingt, als sei sie lange Zeit stumm gewesen und habe sich gerade erst wieder erinnert, wie man spricht. Woher kommt sie? Ist sie im Gestein des Bauwerks? Ist sie im Gefüge des Hauses verankert? Hat der Kontakt sie gestört, geweckt, sie veranlasst, sich abzuspielen wie eine alte Aufzeichnung? Oder leckt sie von irgendwo anders ins Korn? Aus der Vergangenheit? Der Gegenwart? Der Zukunft? Wessen Zukunft? Es ist ein statisches Murmeln, ein wisperndes Echo am hinteren Ende des Frequenzbands. Es verliert sich, kommt wieder, verliert sich wieder, unzusammenhängend. Es verliert sich und kommt wieder im Takt mit dem grell-weichen Pulsieren der Hausbeleuchtung. Es pulsiert im Einklang mit einem langsamen Atemrhythmus, dem Puls von Hinzerhaus. Sind es Worte oder nur Geräusche? Wenn es Worte sind, was sagen sie dann? An wen sind sie gerichtet? Erzählt die Stimme Lügen oder eine schreckliche, bedeutsame Wahrheit? Die Frequenz ändert sich, springt von Kanal zu Kanal in einem Ächzen von Geräuschen und Nachrichtenfetzen. Eine Hand greift zum Regler und schaltet das Kom … II … aus. Beltayn legte die Kopfhörer beiseite und lehnte sich zurück. Er schluckte. »Was soll das?«, flüsterte er. Er beugte sich wieder vor und schaltete das Gerät erneut ein. Er hielt sich eine Muschel des Kopfhörers ans rechte Ohr und lauschte, während er am Frequenzregler drehte. »Hallo? Wer ist da? Wer benutzt diese Frequenz?« Nichts. Nur unterschwellige Statik und wildes Rauschen. »Ist irgendwas faul?«, fragte Gaunt, indem er Beltayn auf die Schulter tippte. Beltayn erschreckte sich zu Tode.
»Tut mir leid«, sagte Gaunt, aufrichtig überrascht ob der Reaktion seines Adjutanten. »Beruhigen Sie sich, Bel. Was hat Sie denn so erschreckt?« Beltay atmete aus. »Herr Kommissar, ist schon in Ordnung. Nichts. Nur … eine Störung.« »Was für eine Störung?« Beltayn zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts, Herr Kommissar. Nur schlechte Wellen. Ich bekomme eine Geisterstimme auf der Elikon-Frequenz herein.« »Was für eine Geisterstimme?«, hakte Gaunt nach. »Eine Stimme eben. Sie kommt und geht. Sie bittet … bittet um Hilfe.« »Woher kommt sie?« »Keine Standort- oder Status-Meldung. Ich glaube, es ist ein Kom-Echo.« »Ein Kom-Echo?« »So etwas gibt es von Zeit zu Zeit, Herr Kommissar. Ein altes Signal, das von etwas abprallt.« Gaunt stutzte. »Alt oder nicht, was sagt es?« Beltayn stieß einen Seufzer aus. »Es sagt immer wieder: ›Sind wir die Letzten, die noch leben?‹ Mit Variationen dieses Themas. Es wird ständig wiederholt.« »Aber es ist nicht Elikon?« »Nein, Herr Kommissar. Die Elikon-Signale liegen darüber. Dieses ist im Hintergrund. Ich musste das Kom auf SandpapierWellenlängen einstellen, um es richtig zu hören.« Gaunt runzelte die Stirn. »Tja, machen Sie weiter und halten Sie mich über Ihre Erkenntnisse auf dem Laufenden. Aber jetzt brauche ich meine vereinbarte Verbindung mit Van Voytz.« »Ich stelle sie her und lege sie in Ihr Büro, Herr Kommissar.« Gaunt marschierte durch die Basis, während sich Beltayn an den Knöpfen und Reglern seines Kom-Geräts zu schaffen machte. Die Stimmung im Haus war grimmig. Es war ein schlimmer Tag gewesen, und Gaunt verfluchte sich dafür, das Schlimmste verpasst zu haben. Vierzig Männer vor der Schleuse gefallen, Arcudas Bericht zufolge, und zwölf verwundet, darunter auch Hark. Das Regiment befand sich in permanentem Alarmzustand der höchsten Stufe. Varl erwartete ihn vor der Tür zu seinem Büro. Der Sergeant salutierte, als sich Gaunt näherte.
»Major Rawnes Empfehlungen, Herr Kommissar«, sagte Varl. »Er ersucht um Ihre umgehende Anwesenheit in oberer Osten zwölf.« »Sagen Sie ihm, ich bin in dreißig Minuten da, Varl«, sagte Gaunt. »Ich bin gerade erst wieder hereingekommen. Ich muss mich um diese Schweinerei kümmern und habe einen Termin für ein Kom-Gespräch mit dem General.« Varl nickte. »Ich sage es ihm, Herr Kommissar. Aber es ist wichtig. Ich soll absolut keinen Zweifel daran lassen.« »Betrachten Sie mich als informiert«, sagte Gaunt. »Oberer Osten zwölf? Sie hatten dort ein Gefecht, nicht wahr?« »Haben einen Infiltrationsversuch abgewehrt«, sagte Varl. »Wir glauben zu wissen, wie sie reinkommen.« »Wirklich?« Gaunt zögerte. »Hören Sie, ich muss dieses Gespräch führen. Ich komme zu Ihnen, so schnell ich kann.« Varl salutierte wieder und eilte davon. Gaunt ging in sein Büro. Von Eszrah war nichts zu sehen. Der Raum war kalt und leer. Die Lichter verblassten langsam und wurden wieder heller. Gaunt wünschte sich mit jeder Faser seines Wesens, sie würden damit aufhören. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hörte einen Mann vor Schmerzen schreien, einen der Verwundeten im Feldlazarett. Gaunt sah das rote Licht am Kom-Gerät auf seinem Schreibtisch blinken. Er stand auf, ging wieder zu seiner Bürotür und schloss sie, sodass die Schreie verstummten. Dann ging er wieder zum Schreibtisch, nahm Platz und setzte den Kopfhörer auf. Er drückte die Verbindungstaste. »Herr Kommissar, ich habe den General für Sie«, sagte Beltayn, eine unscharfe Verzerrung im Ohr. »Vielen Dank. Stellen Sie ihn durch«, sagte Gaunt in das verchromte Mikrofon, das er sich nah vor den Mund hielt. »Hallo Elikon, hallo Elikon? Ja, Herr General, hier spricht Gaunt. Ja, ich kann Sie gut verstehen …« III »Kommt er wieder auf die Beine?«, fragte Ludd.
Dorden schaute zu dem Junior-Kommissar auf und lächelte beruhigend. Das Lächeln ließ die Altersfalten um die Augen des alten Arztes deutlich hervortreten. »Natürlich«, sagte Dorden. Soldat Twenzet lag auf der Pritsche zwischen ihnen, bis zur Taille nackt, die Rippen verbunden. Dorden hatte Twenzet eine Spritze gegeben, und jetzt war der Soldat benebelt und lächelte. »Danke, Freund«, sagte er zu Ludd. »Ist schon gut.« »Trotzdem danke, dass Sie auf mich aufgepasst haben. Danke. Sie sind in Ordnung, ja, das sind Sie.« »Ein paar Tage Bettruhe, und Herr Twenzet hier wird wieder ganz der Alte sein«, sagte Dorden zu Ludd. »In der Zwischenzeit mache ich ihn pharmazeutisch glücklich und schmerzfrei.« »Das Zeug ist toll«, sagte Twenzet. »Ich fühle mich wunderbar. Das sollten Sie auch mal versuchen, Freund.« »Das dient nicht zur Erholung, Twenzet«, sagte Dorden. »Hoffen wir, dass Herr Ludd nicht in die Lage kommt, es versuchen zu müssen.« »‘türlich nicht, ‘türlich nicht«, nickte Twenzet. »Jedenfalls danke. Danke, Freund. Sie sind in Ordnung.« »Ich habe Ihre Waffe ins Magazin gebracht«, sagte Ludd zu dem Belladoner. »Da können Sie sie abholen, wenn Sie wieder diensttauglich geschrieben werden.« »Nein, nein, behalten Sie sie«, beharrte Twenzet. »Bitte, Freund, behalten Sie sie. Sie brauchen vielleicht was mit einem ordentlichen Bums, wenn Sie das hier überstehen wollen.« Ludd lächelte in dem Glauben, ein Lächeln würde die Sache erledigen. »Aber ich sollte Sie nicht Freund nennen, oder?«, plapperte Twenzet plötzlich besorgt weiter. »Verzeihung, Verzeihung, ich wollte nicht respektlos sein, wo Sie doch zum Kommissariat gehören und alles. Das Zeug, was der Dok mir gegeben hat, macht mich ganz wirr und fröhlich. Ich sollte Ihnen gegenüber Respekt zeigen. Thron, ich hoffe, Sie bringen mich nicht vors Kriegsgericht, weil ich zu vertraulich war.« »Twenzet«, sagte Ludd, »ruhen Sie sich aus, ich sehe später noch mal nach Ihnen, wie wäre das?« »Das wäre nett, Freund. Ich meine, Herr Kommissar. Ich meine …« »Nahum. Ich heiße Nahum.«
»Tatsächlich? Ich bin Zak. Wie ein Laserschuss, hat mein alter Herr immer gesagt. Zak. Wie ein Laserschuss.« »Ich habe gehört, dass die Männer Ihres Trupps Sie Tweenzy nennen«, sagte Ludd. Twenzet runzelte die Stirn. »Zak«, sagte er. »Ich hasse es, wenn sie mich Tweenzy nennen.« »Dann also Zak. Gute Besserung. Ich komme zurück und sehe nach Ihnen.« Ludd entfernte sich von Twenzets Pritsche. Im Feldlazarett ging es geschäftig zu. Über ein Dutzend Männer lagen auf improvisierten Pritschen, bis auf Zak Twenzet allesamt Opfer der Schlacht vor dem Wachhaus. Dorden war gegangen, um bei der Behandlung eines Mannes zu helfen, der schrie und vor Schmerzen um sich schlug. Der Mann hatte ein Bein verloren. Der Stumpf zuckte umher, als wolle er einen Fuß aufsetzen, der nicht mehr da war. Ludd schaute weg. Er sah Hark. Der bullige Kommissar lag bäuchlings auf einer Pritsche in der anderen Ecke des Raums. Er war bis auf die Unterwäsche ausgezogen, und Ana Curth versorgte die Brandwunden im Rücken und auf den Beinen mit feuchten Kompressen. Seine Haut war unnatürlich blass. Ludd ging zu ihm. »Stehen Sie mir nicht im Licht«, sagte Curth. Ludd trat beiseite. Hark schien nur halb bei Bewusstsein zu sein. Ohne Kleidung war seine Augmetik deutlich zu sehen. Ludd schrak ein wenig vor dem Anblick zurück, dem klobigen schwarzen Stahlglied, das in Harks Schulterstumpf eingesetzt worden war. Entblößte Servos jaulten und surrten, als sich die künstliche Hand ballte und entspannte. Ludd hatte immer wissen wollen, wie Hark den Arm verloren hatte. Er hatte bisher nie den Mumm aufgebracht, ihn danach zu fragen. »Wie geht es ihm?«, fragte er leise. »Wie sieht er denn aus?«, erwiderte Curth beschäftigt. »Nicht so toll«, sagte Ludd. »Ich habe um eine medizinische Diagnose gebeten.« Curth sah zu ihm auf. Ihre Augen waren hart. »Er wurde von einem Flammenwerfer erwischt. Dreißig Prozent Verbrennungen auf dem Rücken und an den Beinen. Er hat starke Schmerzen. Ich
hoffe, wir können die Haut retten, ohne dass Transplantationen nötig werden.« »Warum?« »Weil ich hier in diesem Umfeld keine Transplantationen vornehmen kann. Sollte sich herausstellen, dass Viktor eine Transplantation braucht, müssen wir ihn nach Elikon bringen, sonst stirbt er. Reicht das als Diagnose?« »Prima«, erwiderte Ludd. »Dürfte ich wohl darauf hinweisen, dass Ihre Bettmanieren einiges zu wünschen übrig lassen, Doktor?« »Pfft«, machte Curth und widmete sich wieder ihren Kompressen. »Noch eins«, ächzte Hark. »›Er‹ kann hören, was Sie sagen.« »Herr Kommissar?« Hark winkte Ludd näher. »Ludd?« »Ja, Herr Kommissar?« Hark verpasste Ludd eine Ohrfeige. »Erstens tut unsere Frau Doktor, was sie kann, also belästigen Sie sie nicht.« »Verstanden, Herr Kommissar«, antwortete Ludd, indem er sich die Wange rieb. »Ludd?« Ludd beugte sich wieder hinunter. Hark gab ihm eine zweite Ohrfeige. »Freunden Sie sich nicht mit den Mannschaften an, um Feths willen. Verbrüdern Sie sich nicht mit Leuten wie Twenzet. Er ist ein gemeiner Soldat, und Sie gehören zum Kommissariat. Da gibt es keine Verbrüderungen. Machen Sie ihn nicht zu Ihrem neuen besten Freund. Sie müssen die Distanz der Autorität wahren.« »Zu Befehl, Herr Kommissar. Das wollte ich auch gar nicht, ich habe nur …« Hark gab ihm die dritte Ohrfeige. »Ich habe mitgehört. Sie haben sich mit Vornamen angeredet. Er ist ein gemeiner Soldat, und Sie sind das moralische Rückgrat der Truppe. Er ist nicht Ihr Freund. Keiner von ihnen ist Ihr Freund. Sie sind Soldaten, und Sie sind Ihr Kommissar. Sie müssen Sie vollständig respektieren.« »Ich … verstehe, Herr Kommissar.« »Ich nicht«, sagte Curth, während sie die Schutzfolie von einer weiteren Kompresse abriss. »Warum darf sich der Junge nicht
anfreunden? Freundschaft, Kameradschaft, das verbindet Ihresgleichen doch, oder nicht?« »Ihresgleichen?« Hark gluckste. »Sie sind jetzt schon so lange bei der Garde, Ana, und Sie begreifen es immer noch nicht.« »Dann klären Sie mich mal auf«, erwiderte sie gereizt. »Nahum ist Kommissar. Er muss vollständige und totale Autorität gebieten. Er kann sich den Luxus von Freundschaft und Begünstigung nicht leisten.« »Tatsächlich, Herr Kommissar«, sagte Ludd, »bin ich nur JuniorKommissar, also … au!« Hark hatte ihm noch eine Ohrfeige gegeben. »Ludd«, sagte Hark, »sehe ich aus, als würde ich schnell irgendwohin gehen? Curth verpflastert meinen Arsch mit Kompressen und Verbänden, und es könnte sein, dass ich sterbe.« »Nun machen Sie aber einen Punkt!«, protestierte Curth. »Halten Sie die Klappe, Ana. Ich bin außer Gefecht, Nahum. Das Regiment ist ohne funktionierenden Polit-Offizier. Das ist Ihr Moment in der Sonne, mein Junge. Beförderung im Feld, unmittelbar in Kraft. Sie sind jetzt der Kommissar der Geister, Ludd. Sie müssen sie bei der Stange halten. Ich kann das nicht aus dem Krankenbett.« »Oh«, sagte Ludd. »Ich verlasse mich auf Sie. Verbocken Sie’s nicht.« »Das werde ich nicht, Herr Kommissar.« »Das will ich Ihnen auch geraten haben.« Curth riss sich ihre blutigen Handschuhe ab und warf sie in einen Abfalleimer. »Ich bin fertig«, verkündete sie. »In vier Stunden komme ich wieder, um die Verbände zu wechseln.« Sie wandte sich an Ludd. »Meinen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung, Kommissar. Ich hoffe, Sie werden mit der Verantwortung fertig.« Ohne viel Federlesen stach sie Hark eine Spritze mit einem schmerzstillenden Mittel in die linke Pobacke. »Da, das hilft Ihnen beim Schlafen.« »Aua«, sagte Hark. »Sie kümmern sich doch gut um ihn, nicht wahr?«, fragte Ludd Curth, als sie sich abwendete. Curth drehte sich mit verkniffener Miene zu ihm um, die besagte: Wollen Sie damit andeuten, ich kümmere mich nicht gut um meine Schützlinge?
»Oh. Natürlich tun Sie das«, sagte Ludd. »Ludd?« »Herr Kommissar?« »Machen Sie’s richtig, ja?« »Ich werde mein Bestes tun, Herr Kommissar«, sagte Ludd. Hark glitt in dieselbe glückliche Leere, die auch Twenzet überkommen hatte. »Ludd?«, fragte er undeutlich. »Herr Kommissar?« »Dudelsäcke.« »Wie bitte, Herr Kommissar?« »Dudelsäcke. Tanithische Dudelsäcke. Achten Sie darauf.« »Die Tanither haben keine Dudelsackpfeifer mehr, Herr Kommissar, nicht mehr.« »Achten Sie auf die Dudelsäcke, Ludd … achten Sie auf … die Dudelsäcke, das ist das Zeichen, das Zeichen …« »Herr Kommissar?« Hark war weggetreten. Ludd stand auf und verließ das Feldlazarett. Hinter ihm schrie der Mann ohne Bein immer noch. IV »Ich bitte um Verzeihung?«, sagte Dalin. »Ich sagte, ich brauche einen Adjutant, einen fähigen Mann, jetzt, wo Fargher tot ist«, sagte Meryn. »Ich brauche einen gewitzten Mann als meine rechte Hand. Sie haben gestern diese Karten im oberen West sechzehn gelesen und herausgefunden, wo wir waren.« »Herr Hauptmann, ich …« »Geben Sie mir einen Korb, Dalin?« »Nein, Herr Hauptmann.« »Das brächte eine Solderhöhung mit sich, Soldat.« »Herr Hauptmann, das ist nicht der Grund, warum ich zögere. Ich bin das jüngste und grünste Mitglied Ihrer Kompanie. Ich bin ein Grünschnabel verglichen mit dem Rest. Warum nicht Neskon oder Harjeon? Oder Wheln?« »Neskon ist ein Flammer. Das sind alles Irre mit Glubschaugen, das wissen Sie auch. Harjeon traue ich nicht. War in der Miliz der Vervunmakropole, der hat einen Stock im Hintern. Wheln gehört
auch zur alten Schule, aber … Feth, er hat zu viel steifes Nalholz in sich. Er ist kein Adjutanten-Material und wird es trotz seines Veteranen-Status auch nie sein. Sie, Sie kennen sich aus. Sie sind gewitzt. Darum frage ich Sie, Dalin.« Dalin zuckte die Achseln. Und mein Vater war Caffran, und meine Mutter ist Criid, und mich zum Adjutanten zu machen, bringt dir Punkte im Regiment, richtig? »Hier geht es ganz sicher nicht darum, wer Ihr Vater war«, sagte Meryn. »Ich meine, schlagen Sie sich diese Vorstellung sofort aus dem Kopf. Mir ist völlig egal, wer Ihr verdammter Vater war oder wer zufällig Ihre verdammte Mutter ist. Ich will Sie, weil Sie die beste Wahl sind.« »Ich hoffe nur, die Entscheidung verfolgt Sie nicht und beißt Sie in den Hintern«, sagte Dalin. Meryn grinste. »Dann sorgen Sie dafür, dass es nicht so weit kommt, Adjutant«, sagte er. V »Dieses Ziel …«, wiederholte Gaunt. »Ibram, hören Sie mich an«, antwortete ihm das Kom. »Ich verlange lediglich von Ihnen, dass Sie unsere Ostflanke bewachen.« »Barthol, bitte verstehen Sie mich doch. Dieses Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. Der Blutpakt hat die Festungsmauer bereits erklommen. Wir haben gerade einen Angriff auf die Hauptschleuse abgewehrt. Auf das Haupttor im Süden.« Es gab eine Pause. »Bitte bestätigen Sie Ihre letzte Bemerkung.« »Ich sagte, wir sind gerade auf der Südseite des Ziels angegriffen worden. Der Feind umzingelt uns. Wir halten ein Ziel, das bereits kompromittiert ist.« Im Kom herrschte einen langen Moment Stille. Zu hören war nur das Pfeifen toter Wellen. »Sind Sie noch da?«, fragte Gaunt. »Elikon, sind Sie noch da?« »Verzeihung, Ibram, ich habe mich mit den Taktik-Offizieren beraten. Hören Sie, dieser Befreiungsfeldzug läuft nicht gut. Die Schweine halten ihre Linie mit deprimierendem Erfolg. Wir ma-
chen ordentlich Druck von hier, aber die Front verbreitert sich, und sie scheinen nicht brechen zu wollen.« »Das sind schlechte Nachrichten, Herr Kommissar«, sagte Gaunt ins Mikrofon, »aber das ist nicht das Problem, mit dem ich es hier zu tun habe. Die Informationen, auf denen unsere Befehle beruhen, müssen ungenau oder überholt gewesen sein. Die Linie im Osten ist bereits porös. Der Blutpakt war bereits in den Bergen, lange, bevor wir das Ziel sichern konnten. Ich glaube nicht, dass der Feind schon in großer Zahl hier ist, aber es wird nicht mehr lange dauern. Eine Woche oder zwei, dann stoßen sie nach Westen und greifen Sie in der Flanke an, und diese Festung ist nicht das Instrument, sie aufzuhalten.« »Ich verstehe Ihre Notlage, Ibram. Um ganz offen zu sein, ich hatte es befürchtet.« Gaunt antwortete nicht. Du wusstest, dass du uns praktisch in den Tod schickst, Barthol. Ist es nicht so, du Schwein? Die Informationen waren nicht ungenau oder überholt. Du wusstest Bescheid. »Ibram? Steht die Verbindung noch? Bitte bestätigen.« »Ich bin noch da, Herr General. Wie lauten Ihre Befehle? Haben wir Ihre Erlaubnis zum Rückzug?« »Äh, negativ dazu, Ibram. Ich kann es einfach nicht auf mein Gewissen nehmen, die Ostflanke ungedeckt zu lassen.« »Wir sind nur ein kleines Regiment, Barthol …« »Zugestanden. Ich besorge Ihnen Unterstützung.« »Bitte erläutern Sie das.« »Das kann ich nicht. Die Verbindung ist nicht sicher, und wir haben schon viel zu viel gesagt. Halten Sie zunächst die Stellung. Betrachten Sie Ihr Missionsprofil als geändert. Erkunden Sie alle Möglichkeiten, die Ihnen Hinzerhaus und die umliegende Geografie bieten, um den Feind zu stören und aufzuhalten.« »Sie wollen, dass wir sie … beschäftigen?« »So gut Sie können. Ich erbitte mir das als persönlichen Gefallen, Ibram. Beschäftigen Sie sie. Halten Sie sie auf.« »Und mehr können Sie mir nicht sagen?« »Nicht über diese Verbindung.« »Verstanden. Aber ich brauche einiges, wenn wir überleben sollen.« »Definieren Sie einiges.«
»Wasser. Und Unterstützung, wie ich schon sagte. Massive Unterstützung.« »Ich habe einen Wassertransport für Sie organisiert, entweder heute Nacht oder morgen. Weitere Informationen kommen dann.« »Nun gut. Meine Männer werden zumindest dankbar für das Wasser sein.« »Ich muss gehen, Ibram. Der Imperator beschützt Sie. Halten Sie die Schweine auf Trab.« »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, sagte Gaunt. Doch die Leitung war bereits tot. VI In oberer Osten zwölf war es kalt und zugig, und es stank nach Laserfeuer, unterlegt mit einer organischen Ausdünstung, die Gaunt infolge seiner langen Erfahrung mühelos als verbranntes Blut identifizierte. Während er unter den Glockenkuppeln der nutzlosen Abwehrvorrichtungen unter der Decke durch den Korridor ging, sah Gaunt die Brandspuren und Wandnarben des jüngsten Feuergefechts. Ludd und Baskevyl begleiteten ihn. Ihre Schritte hallten matt durch die Abschnitte mit flachem Dach und überrollten sie mit einem schärferen Geräusch, wenn sie eine Glocke passierten. »Offizier im Anmarsch!«, rief Baskevyl. Voraus drehte sich ein wartender Trupp zu ihnen um und begrüßte sie: Rawne mit Varl, Mkoll und einem Dutzend Gardisten. »Dann schickt Barthol uns seine wärmsten Empfehlungen?«, fragte Rawne. »Ich setze Sie später in Kenntnis«, erwiderte Gaunt. »Was wollten Sie mir zeigen?« »Wir haben herausgefunden, wie der Feind herein und wieder herauskommt«, sagte Mkoll. »Wandpaneele, richtig?«, fragte Baskevyl. »Ich wusste es. Ich wusste, es sind Wandpaneele.« »Es sind keine Wandpaneele«, sagte Rawne. »Klopfen Sie die Wände ab, wenn Sie wollen«, bot ihm Mkoll an. Es war die sarkastischste Bemerkung, die man je von ihm gehört hatte. Das sah Mkoll gar nicht ähnlich, überlegte Gaunt. Ganz und
gar nicht. Wenn Oan Mkoll die Fassung verliert, schieben wir uns besser jetzt den Lauf unserer Pistole in den Mund und sagen auf Wiedersehen. »Dann sind es also nicht die Wände?«, fragte Gaunt. »Was dann?« Mkoll verdrehte die Augen zur Glocke über ihnen. Der Wind wehte Staub durch die Schlitze der beinahe, aber nicht ganz geschlossenen Gefechtsluken. »Es ist so schrecklich offensichtlich, dass es nicht mehr lustig ist«, sagte der Anführer der Späher ruhig. »Nur, dass man lachen muss, oder?«, sagte Varl. Niemand schien es zu tun. »Oder auch nicht«, fügte er düster hinzu. »Man hat mir gesagt, die Klappen würden nicht funktionieren«, sagte Gaunt. »Ich habe Meryns Bericht gelesen. Die Kurbelmechanismen sind verkalkt.« »Die Kurbelmechanismen sind verkalkt«, sagte Mkoll. »Das ist nicht dasselbe. Ich zeige es Ihnen. Rawne, helfen Sie mir hoch.« »Natürlich«, sagte Rawne, ohne sich zu rühren. »Varl?« Varl seufzte, schlang sich das Gewehr über die Schulter und bückte sich, um die Hände zu einer Räuberleiter zu verschränken. Mkoll stellte einen Fuß auf Varls Hände und hievte sich in die Kuppel der Glocke. Er griff über den Kopf und drückte mit den Händen gegen die nächste Klappen-Abdeckung. Sie schwang ohne Protest nach außen. Mkoll hielt sich am Rahmen fest, zog sich hoch und durch die Öffnung. Die Klappe schwang wieder zu. »Heiliger Thron«, murmelte Gaunt. »Ist es wirklich so verdammt einfach?« Rawne nickte. »Die Kurbeln sind verklemmt, sehen Sie?«, sagte Varl, indem er auf eine Kurbel am Umfassungsring der Glocke zeigte. »Aber sie sind von den Klappen getrennt worden. Die Klappen selbst sind frei beweglich.« »Alle?«, fragte Baskevyl. »Nein«, erwiderte Varl. »Nicht annähernd alle und auch nicht alle in jeder Glocke, aber es sind doch einige allein hier in diesem Korridor. Und wahrscheinlich auch in den anderen befestigten Korridoren.« »Wir haben bereits Trupps auf die Überprüfung angesetzt«, sagte Rawne.
»Sie waren hier drin und haben systematisch die Klappen von den Kurbeln getrennt, um sich Ein- und Ausgänge zu schaffen?«, fragte Gaunt mit weit aufgerissenen Augen. »Sie müssen Wochen, vielleicht sogar Monate hier gewesen sein«, sagte Varl. »Um die Kurbeln zu sabotieren und herumzupfuschen.« »Bin ich der Einzige, der sich beunruhigt fragt, woran sie wohl sonst noch ›herumgepfuscht‹ haben könnten?«, fragte Baskevyl. »Sind Sie nicht«, sagte Gaunt. Er schüttelte den Kopf. »Diese Festung ist wie ein Sieb. Ein Sieb wäre leichter zu verteidigen. Thron der Erde, und ich habe unsere Aufgabe auch so schon für schlimm genug gehalten. Wie um Feths willen sollen wir Barthol Van Bastard Voytz’ Ansicht nach …« »Sollen wir was?«, fragte Rawne. »Schon gut. Wie wurde das hier entdeckt?« »Im Zuge unseres jüngsten Gefechts gegen den Blutpakt hier oben«, sagte Rawne. »Ach, sagen Sie dem Mann ruhig die Wahrheit!«, schnaubte Varl. Rawne funkelte Varl an. »Eszrah ist dahinter gekommen«, sagte Varl zu Gaunt. »Eszrah?« »Ja«, sagte Rawne. »Er hatte plötzlich Ameisen in der Unterhose und ist nach hier oben gegangen. Wir sind ihm gefolgt.« »Ich bin ihm gefolgt«, sagte Ludd leise. Niemand schenkte ihm sonderlich Beachtung. »Ich glaube, Ez hat etwas gehört«, sagte Varl. »Sie wissen schon, dieser fünfte Sinn der Schlafwandler.« »Der fünfte, Varl? Wie viele Sinne haben Sie?«, fragte Gaunt. »Äh, ich meine, sein sechster Sinn, richtig?« »Das will ich verdammt nochmal hoffen«, sagte Rawne. »Jedenfalls wurden wir überfallen«, fuhr Varl fort. »Der Blutpakt stürzte sich auf uns wie ein Tarnnetz. Dann taucht plötzlich Ez aus dem Nichts auf wie … tja, wie ein Nachgahner eben. Hat mit seinem Regenbagen ihre Ärsche an die Wand genagelt.« »Er war durch eine Klappe nach draußen gegangen?«, fragte Gaunt. »Er hatte es sich gedacht«, sagte Rawne widerstrebend. »Und dann ist er auf demselben Weg zurückgekehrt wie sie. Hat die Überrumpler überrumpelt.«
Gaunt lächelte. Neben ihm trat Ludd vor und starrte zur Kuppel empor. »Das war’s also?«, fragte er. »Mir war vorher immer noch nicht klar, woher Eszrah so plötzlich gekommen war.« Er sah Gaunt an. »Wenn sie hier drinnen waren, der Blutpakt, meine ich«, begann er, »wenn sie die ganze Zeit hier waren, warum haben sie das Haus dann nicht in Besitz genommen?« »Was?«, fragte Rawne spöttisch. »Warum haben sie sich hier nicht eingenistet?«, fragte Ludd, indem er sich zu dem Major umdrehte. »Sie hatten alle Zeit der Welt. Warum haben sie Hinzerhaus nicht gesichert und besetzt? Wir wären dann vor drei Tagen aus dem Tal marschiert und hätten Hinzerhaus besetzt und verteidigt vorgefunden.« »Ich weiß nicht.« »Ludd hat nicht ganz unrecht«, sagte Gaunt. »Vielleicht wollten sie mit uns spielen?«, mutmaßte Varl. »Vielleicht ist hier drinnen etwas, das ihnen nicht gefällt«, sagte Baskevyl. »Vielleicht gibt es hier etwas, vor dem sie Angst haben.« »Das ist doch Blödsinn«, sagte Rawne. Baskevyl zuckte die Achseln. »Wenn es hier etwas gibt, wovor der Blutpakt Angst hat«, sagte Varl, »sind wir total im Arsch.« Gaunt schaute zur Kuppel hoch. »Ich will es mir ansehen. Ich will sehen, wohin Mkoll gegangen ist.« »Ich glaube nicht …«, begann Ludd. »Das war ein Befehl, kein müßiges Überlegen.« Rawne schaltete sein Kom ein. »Mkoll? Der Boss will es sich selbst ansehen.« »Das habe ich mir gedacht«, kam es aus dem Kom zurück. »Also gut. Alles klar hier draußen. Brille, keine Mütze.« Gaunt nahm seine Mütze ab und reichte sie Ludd. Er setzte die Messingbrille auf, die Baskevyl ihm reichte. »Rawne? Helfen Sie mir hoch«, sagte er. »Natürlich«, sagte Rawne. »Varl?« Varl seufzte, schlang sich das Gewehr über die Schulter und bückte sich, die Hände verschränkt. »Major Rawne«, sagte Gaunt. »Helfen Sie mir hoch.« Varl richtete sich wieder auf und verbarg sein Grinsen. Mit Böswilligkeit im Blick bückte sich Rawne und verschränkte die Hände. »Danke, Eli«, sagte Gaunt und hievte sich hoch.
VII Die Jalousie schlug zu, und Gaunt war verschwunden. Sie standen unter der Kuppel und warteten. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie der geschäftsführende Kommissar sind, jetzt, wo Hark verwundet ist«, sagte Baskevyl im Konversationston zu Ludd. »Äh, ja, das stimmt, Major Baskevyl.« Längere Zeit herrschte Stille. »Das kann nicht leicht sein«, sagte Baskevyl. »Nein, Herr Major«, erwiderte Ludd. Der Wind heulte. »Also, äh, sollten Ihre Männer sich von nun an besser gut benehmen«, fügte Ludd hinzu. Varl fing an zu zucken, als unterdrücke er einen Reizhusten oder einen Juckreiz. Es dauerte ungefähr zehn Sekunden, bis das Zucken in ein ausgewachsenes Gackern überging. Aus dem Gackern wurde Gelächter. Die Gardisten hinter Varl fielen ebenfalls ein. »Soll ich sie erschießen«, fragte Rawne honigsüß, »aus Gründen der Disziplin?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Ludd und wendete sich ab. VIII Wenn es eine Ewigkeit auf dem schlimmen Felsen Jago gab, konnte man sie von dort sehen. Gaunt kam auf die Beine. Der Wind, als habe er seinen Auftritt erwartet, hatte sich zu einem Wispern gelegt. Der Staubnebel hatte sich verzogen. Im Westen, entlang des dornigen Rückgrats der Banzie Altids, ging ein grotesker Mond auf. Der Himmel hatte eine schmutzig gelbe Farbe wie nasses Pech. Im Norden sammelten sich Wolken wie Baiser-Gebäck. Unterhalb der riesigen Klippe des Gebirges deckten weiße Nebelschwaden die Landschaft zu. »Achten Sie auf jeden Schritt«, sagte Mkoll, der neben Gaunt auftauchte und ihm eine stützende Hand auf den Arm legte. »Wenn Sie das hier sehen wollen, dann zu meinen Bedingungen.«
»Verstanden.« Auf vorangegangenen Exkursionen durch die Klappen hatte Mkoll ein Kabelnetz rings um die Glocke angebracht. Er befestigte eine Sicherheitsleine an Gaunts Gürtel. Mkoll selbst war ebenfalls durch eine gesichert. »Es geht tief nach unten«, sagte er. »Ja, das tut es wirklich.« Sie standen einen Moment da und blickten über die Schlucht hinter dem Gebirgskamm auf das staubneblige Ödland. »Man muss irgendwie ihren Mumm bewundern«, sagte Mkoll. »Ja«, sagte Gaunt. »Wir haben Spuren von Kletterausrüstung gefunden, nichts Großartiges, aber im Wesentlichen sind sie nur mit Fingerspitzen und Schweiß hier raufgeklettert.« »Aha.« »Das spricht für unmenschliche Muskelkraft.« »Unbedingt.« Es ging steil nach unten. Gaunt schaute in die Tiefe. Die Entfernung war gewaltig und schwindelerregend. Nur ein paar Stunden zuvor hatte er sich am unteren Ende dieser Wand befunden, festgenagelt mit Kolea und Mkoll. Er erinnerte sich, nach oben geschaut zu haben. Hätte er versucht, Hinzerhaus von Norden einzunehmen, wäre das Erklimmen dieser Klippe der letzte Vorschlag gewesen, den er seinen Männern unterbreitet hätte. Er hätte nicht einmal von ihnen erwartet, darüber nachzudenken, ganz zu schweigen davon, es tatsächlich zu versuchen. Die Kühnheit des Blutpakts war exemplarisch. Sie hatten keine Furcht, und ihre Ausdauer kannte keine Grenzen. Wie sollen wir sie also aufhalten? Oder auch nur ihren Vormarsch verzögern? Er blickte nach rechts. Die Spitze des scharfen Kamms schraubte sich etwas nach Norden und dann schräg nach Südwesten. Er war mit Glockentürmen und Kasematten gespickt, eisernen Kuppeln und Bunkern, die mindestens zwei Kilometer weit reichten. Von außen waren die Glockentürme so wie der, auf dem er gerade stand, matt, verwittert und rau durch den ständigen Wind und Staub. Gaunt blickte nach links. Dort erhob sich der Kamm zu einem Gipfel. Glockentürme und Kasematten zogen sich den Hang zum Gipfel empor und auf der anderen Seite wieder hinunter. Im
Scheitelpunkt sah er die Windkate von außen, eine Messingkuppel und der Gipfelpunkt von Hinzerhaus. Die Windkate stützte eine zerbrochene Kreuzblume aus Metall. Dort hatte einmal eine stolze Flagge oder Standarte geweht, überlegte Gaunt. »Dir gefällt es hier nicht, Oan, richtig?«, fragte Gaunt Mkoll. Mkoll seufzte. »Absolut nicht. Ich kann mir ehrlich gesagt nichts vorstellen, was ich weniger gern verteidigen würde. Hinzerhaus hat etwas an sich.« »Und dieses Etwas macht dir zu schaffen?« »Das ist dir aufgefallen? Ja, diese verdammte Festung macht mich nervös, ich weiß nicht, warum. Mir ist noch kein Ort so unter die Haut gegangen wie dieser. Ich hätte nicht gedacht, dass ich zur schreckhaften Sorte gehöre. Jetzt bin ich schreckhaft, und das weckt Selbstzweifel in mir.« »Ich weiß.« Mkoll sah Gaunt an. »Ich fühle mich schlampig und außer Form. Ich stelle mich ständig infrage und erschrecke bei jeder Kleinigkeit. Das hasse ich. Ich kann mir selbst nicht mehr trauen. Dieser Ort hier macht einen Narren aus mir. Und Narren sterben schneller als andere.« Gaunt nickte. »Wenn es dir hilft: Du bist nicht der Einzige. Alle spüren es. Vielleicht alle außer Rawne, weil der überhaupt nichts spürt.« Mkoll lächelte. »Hinzerhaus hat irgendwas an sich«, fuhr Gaunt fort, »und das zerrt an unseren Nerven. Wir müssen lernen, es zu ignorieren. Es ist nur eine alte Festung am Arsch von nirgendwo.« »Vielleicht«, sagte Mkoll. »Ich wünschte nur, ich könnte das Gefühl abschütteln, dass keiner von uns hier lebend rauskommt.« »Würde es dich beunruhigen zu wissen, dass ich dasselbe Gefühl habe, Oan?« »Das würde es, Herr Kommissar, also sagen Sie es mir besser nicht.« IX Sie hörten einen Ruf wie einen Vogelschrei, und einen Moment lang glaubte Gaunt, die Bewohner der Windkate könnten zurückgekehrt sein.
Aber es war eine menschliche Stimme, vom Wind ausgehöhlt. Drei Gestalten tauchten neben einer Glocke hundert Meter westlich von ihnen auf. Gaunt blinzelte. »Unsere?« »Ja«, sagte Mkoll. »Ich lasse die Außenseite der Kammlinie absuchen und alle Kletterhilfen des Blutpakts beseitigen.« Sie lösten ihre Sicherheitsleinen und tasteten sich die natürliche Schanze des Felsens entlang den anderen entgegen. Jedes Mal, wenn sie eine Glocke oder Geschützplattform erreichten, wo sie sich festhalten konnten und einen Moment sicheren Halt hatten, verspürte Gaunt Erleichterung. Der alarmierende Blick in bodenlose Tiefen zu weit entfernten Wolken erinnerte ihn an Phantine und den Blick nach unten in die Brühe. Trotz der Kälte schwitzte er. Er wollte nicht hier sein, vor allem nicht ungesichert, wenn der Wind wieder auffrischte. Lange fünf Minuten konzentrierter Anstrengung brachten sie zu den anderen. Die Späher Caober und Jajjo nickten grüßend, als Mkoll und Gaunt sich zu ihnen gesellten. Hinter den beiden wartete schweigend Eszrah ut Nach. »Viel entdeckt?«, fragte Gaunt. Jajjo zeigte nach Westen. »Ein ganzes Netz aus Strickleitern und Sicherheitsleinen, ungefähr einen halben Kilometer in diese Richtung. Bonin und Hwlan sind dabei, alles zu zerstören.« »Die Frage bleibt, was wir mit diesen Befestigungen anfangen«, sagte Caober. »Ich meine, sie sind Schwachstellen, solange wir sie nicht bemannen.« »Wir könnten versuchen, sie zu sperren«, schlug Jajjo vor. »Wir bemannen sie«, sagte Gaunt. »Wenn das hier eine Festung ist, sollten wir sie auch als solche besetzen. Bemannen wir die Abwehrvorrichtungen. Wenn der Feind wieder hierher schleicht, erwartet ihn eine Überraschung.« Gaunt wandte sich an Eszrah. Der Partisan trug die Sonnenbrille, die Varl ihm vor langer Zeit geschenkt hatte, und starrte zum böswilligen gelben Mond empor. »Das war gute Arbeit«, sagte Gaunt. »Seele?« »Gute Arbeit, das mit den Klappen herauszufinden. Und ich glaube, Rawnes Trupp steht auch in deiner Schuld.« Eszrah zuckte kaum merklich die Achseln.
»Da war noch etwas anderes, Herr Kommissar«, sagte Caober. Er führte sie um den staubpolierten Rand der Glocke zur Südseite der Bergschanze. Sie schauten nun auf das, was Gaunt bei sich als die Vorderseite von Hinzerhaus betrachtete. Es gab einen schmalen Pass, der zum Wachhaus führte, obwohl das Wachhaus auf diese Entfernung kaum auszumachen war. Unmittelbar unter ihnen wuchsen die Hauptabschnitte von Hinzerhaus aus der steil abfallenden Bergwand: Abschnitte mit den alten gedeckten Dächern der in die Klippen gebauten Kasematten und kleine Türme. »Da, Herr Kommissar«, sagte Caober, indem er in eine Richtung zeigte. Gaunt sah etwas weiter unten am Hang, im untersten Bereich der Südseite des Hauses. Es sah aus wie ein großes, rechteckiges Dach, das von anderen rot gedeckten Dächern auf zwei Seiten und Felsen auf den beiden anderen umgeben war. »Sehen Sie es?«, fragte Caober. Gaunt nahm sein Fernglas und schaute hindurch, um es besser erkennen zu können. Es war überhaupt kein Dach. Es war ein gepflasterter Hof, nach oben hin offen. Gaunt senkte sein Fernglas. »Hat bis jetzt irgendjemand die Entdeckung eines Hofes gemeldet?« »Nein«, erwiderte Mkoll. »Also gibt es mitten in den unteren südlichen Ebenen einen Hof, und wir wissen nichts davon?« Gaunt überlegte kurz. »Das heißt, es gibt an diesem verdammten Ort immer noch Bereiche, die wir noch nicht einmal entdeckt haben.«
NEUN 571RB
- Feldtagebuch, N. L. für V. H. fünfter Monat, 778 I Der Wind pfiff um die Schießscharten von Ausguck sechs. Larkin hatte die Hauptklappe mit einem Holzklotz abgestützt, sodass sie offen stand. Mit der Brille vor den Augen und dem Tarnumhang vor Mund und Nase richtete er sein Zielrohr nach draußen in den Staubsturm. »Siehst du irgendwas?«, fragte Banda höhnisch. Sie hatte ihren Posten aufgegeben und sich in den hinteren Teil der Kasematte zurückgezogen, um ihr Zielrohr vom Staub zu säubern. Ihr Präzisionsgewehr lehnte an der Steinmauer hinter ihr. Es war kalt in dem Bunker, vor allem infolge der geöffneten Klappe; Staub wehte hinein und durchsetzte die Luft mit feinem Pulver. Banda schauderte. Sie trank einen Schluck Sacra aus ihrer Feldflasche. Viele Geister hatten damit angefangen, ihre leeren Feldflaschen mit Schnaps aus Schmuggelvorräten zu füllen. Etwas zu trinken
war besser als nichts, jetzt, wo das Wasser so gut wie aufgebraucht war. »Willst du auch was?«, fragte sie Larkin, indem sie ihm die Flasche hinhielt. Larkin schüttelte den Kopf. »Das Zeug macht dich nur noch durstiger«, sagte er gedämpft durch seinen Umhang. »Schlägt dir aufs Hirn, wenn du dehydrierst und es dann weitersäufst.« »Ja, und?«, sagte Banda achselzuckend und trank noch einen Schluck. »Und du triffst auch nichts mehr.« »Willst du mich anschwärzen, Herr Meisterschütze? Hm? Willst du mich melden?« Larkin antwortete nicht. Ihn störte es nicht besonders, wenn Jessi Banda verrückt wurde, weil sie Schnaps trank. Jedenfalls wollte er sich ganz sicher nicht die Mühe machen, sie anzuschwärzen. Was würde das bringen? Ausguck sechs war einer der Hauptkasemattentürme über dem Wachhaus im Südhang von Hinzerhaus. Wenn sich der Staub legte, hatte man von dort eine hervorragende, scharfschützenfreundliche Sichtlinie hinunter in den Pass. Wenn der Staub aufgewirbelt wurde, hatte man Feth. Kolea kam durch die Luke. Banda steckte eiligst ihre Feldfalsche ein. »Larks?« »Hallo Gol.« »Irgendwas?« Larkin zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich habe gerade etwas Staub gesehen.« Kolea zwang sich zu einem Lächeln. Wie bei den meisten waren seine Lippen aufgesprungen und seine Augen infolge einer Staubinfektion gerötet. Es gab nicht genug Flüssigkeit, um eine antiseptische Augenspülung für die Männer zu mischen. »Beltayn hat gerade was im Kom aufgeschnappt. Wir glauben, es könnte dieser mystische Wassertransport sein, aber er kann das Signal nicht fixieren.« »Da kann ich auch nicht helfen«, sagte Larkin. »Tut mir leid.« Kolea nickte und wandte sich zum Gehen. »Überarbeiten Sie sich bloß nicht, Banda«, bemerkte er im Vorbeigehen. Kaum war er außer Sicht, als Banda ihm die Klatsche zeigte, eine Geste, die
bei desillusionierten Verghastiten beliebt war, wenn ihnen die Worte fehlten. »He«, sagte Larkin plötzlich. Er schaute noch einmal durch sein Zielrohr und fokussierte es. »He, Gol! Gol!« Kolea kam wieder zurückgelaufen. Banda war aufgestanden. »Was ist denn?«, fragte Kolea. »Der Wind ist gerade eingeschlafen«, sagte Larkin. »Wir haben eine Flaute. Die Luft wird schnell klar. Ich dachte, ich hätte … Moment …« Sein Zielrohr surrte. »Ja«, sagte Larkin mit Wonne. »Zwei Kontakte, in der Luft, ungefähr acht Kilometer entfernt, im Anflug aus Südwesten.« II »Hier Nalholz, hier Nalholz. Wiederholen, Ende.« Beltayn lauschte angestrengt dem Knistern und Summen in seinem Kom. Gaunt, Daur, Criid und Kolosim standen wartend hinter ihm. Mannschaften, insgesamt vierzig, bewaffnet und zum Ausrücken bereit, versammelten sich unter ihnen in der untersten Etage der Basis. »Nalholz, hier spricht Nalholz. Bitte noch einmal senden«, sagte Beltayn. Das Kom schnaufte wie ein schnarchender Säugling in einem Kinderwagen. Kolea kam die Haupttreppe heruntergepoltert und lief zu Gaunt. »Wir haben Sichtkontakt. Transporter auf dem Weg zu uns.« Gaunt nickte. »Bel, können Sie …« Beltayn blickte nicht auf, sondern hob scharf die Hand, um Ruhe zu gebieten. Eine Stimme knisterte aus dem Hauptlautsprechergitter des Korns. »Nalholz, Nalholz, hier spricht Transporter K862, unterwegs zu Ihnen. Schätze, vier Minuten entfernt. Wassertransport wie angefordert, Ende.« Von den unten versammelten Geistern drang rauer Jubel zu ihnen empor. Gaunt und seine Offiziere lächelten einander zu. Beltayn justierte sein Kom. »K862, K862, hier Nalholz, hier Nalholz. Schön, Sie zu hören, Ende.« »Hallo Nalholz. Sie müssen die LZ festlegen. Bitte um Anweisung. Setzen Sie ein Rauchsignal oder eine Magnetboje, Ende.«
Beltayn blickte zu Gaunt. »Was soll ich ihm sagen?« »Ich habe Rauch und eine Magnetboje bereit«, sagte Ban Daur. »Wie sieht’s da draußen aus?« »Der Wind ist eingeschlafen. Wir haben ein klares Fenster«, sagte Kolea. »Lasst uns keine Zeit vergeuden. Wir lassen sie vor dem Haupttor landen und bringen das Wasser im Laufschritt ins Haus.« Gaunt nickte. »Grünes Licht«, sagte er. Kolea, Criid, Daur und Kolosim liefen nach unten zu den wartenden Mannschaften und riefen Befehle. Die Männer machten sich auf den Weg zum Wachhaus. »K862, K862, wir setzen Rauchsignal wie gewünscht«, sagte Beltayn ins Mikrofon. »Halten Sie am Ende des Passes danach Ausschau. Die LZ ist ein ebener Platz vor dem Wachhaus, wiederhole, ebener Platz vor dem Wachhaus, Ende.« »Danke, Nalholz. Sind im Anflug, Ende.« Gaunt schaltete sein Helmkom ein. »An alle Abteilungen, hier Eins. Transporter im Anflug, Haupttor. Vollalarm, volle Deckung. Die Aktion wird nicht unbemerkt bleiben. Feuererlaubnis beim geringsten Anzeichen für Feindkontakt.« Ein Trupp unter Führung von Korporal Chiria öffnete gerade die Außenschleuse, als Daur mit den anderen eintraf. »Abteilungen eins und zwei, Sie sind als Träger eingeteilt«, rief Daur. »Drei und vier, Ausschwärmen und Feuerschutz nach Anweisung.« Daur trat durch die Schleuse und rannte ins Freie. Das Sonnenlicht war blass und grell, und nur eine ganz leichte Brise kräuselte den Staub am Boden. Seine Absätze wirbelten beim Laufen kleine Wölkchen auf. Er kam sich entsetzlich exponiert vor. Vom Tag zuvor lagen noch Rüstungsteile und Waffen des Blutpakts im Staub, obwohl der Feind im Schutz der Nacht seine Toten geborgen hatte. Er rannte direkt ins Freie. Die beigen Klippen und Vorsprünge des Passes ragten vor ihm auf. In seiner Phantasie waren sie voll von feindlichen Plänklern, die gerade auf ihn anlegten. Daur hatte das unangenehme Gefühl, dass seine Phantasie nicht so weit daneben lag.
Er konnte die Transporter nicht sehen, hörte aber das pulsierende Geheul von Triebwerken, das zwischen den Bergspitzen hin und her geworfen wurde. Fünfzig Meter vor dem Tor fiel er auf die Knie und riss sich den Tornister von den Schultern. Er zog das Metallrohr der Magnetboje heraus, drehte den knotigen Griff und schaltete sie damit ein. Sie sendete jetzt ein sich regelmäßig wiederholendes Signal, und ein kleines Licht auf ihrer Oberfläche blinkte. Daur bohrte sie aufrecht in den Staub. Dann holte er die Rauchfackeln aus dem Tornister und zog bei einer nach der anderen den Zündstreifen ab, um dann die Rauch verströmenden Behälter in einem ungefähren Kreis auf dem Boden auszulegen. Der Rauch wallte in hellgrünen Wolken in die Höhe und entfernte sich dabei ein wenig vom Tor. »Ban, sie kommen«, sendete Criid. Daur machte kehrt und lief zur Schleuse zurück. Der Triebswerkslärm wurde lauter. Zwei Flugmaschinen kamen plötzlich in Sicht, als sie die Bergspitzen überflogen. Ihre harten Schatten schossen über das weiße Becken vor dem Tor. Sie schwenkten nach Osten und um das Hinzerhaus, verschwanden für einen Moment außer Sicht und wendeten dann wieder in enger Formation, wobei sie rasch Höhe und Geschwindigkeit verloren. Die größere Maschine war ein riesiger Destrier, ein schwerer Transporter, in schmutzigem Cremeweiß lackiert und mit der Kennzeichnung »K862« auf die Flanke gestempelt. Seine heulenden Triebwerke erzeugten den Großteil des Lärms, während der Pilot die Maschine in eine schwerfällige Kurve legte. Der andere Flieger war ein Transporter vom Typ Valkyrie, eine hakennasige Maschine von einem Drittel der Größe des Destriers. Die Valkyrie war khakifarben lackiert und hatte einen cremefarbenen Bauch. Die Schwanzflosse war mit roten Winkeln gestreift und trug den Stempel »CADOGUS 52«. »Aufstehen und fertigmachen!«, rief Daur den wartenden Männern durch die Schleuse zu. Der Abwind der Flieger erzeugte einen Staubsturm vor dem Schleusenbereich, und der grüne Rauch wurde in einer seltsam geometrischen Spirale nach oben in die Luft gezwängt. Die Valkyrie schwebte in etwa dreißig Metern Höhe in der Luft und ließ den Destrier zuerst landen. Die Maschine sank langsam
und setzte in einem furiosen Staubwirbel auf. Sofort öffneten sich die Frachtluken mit einem schrillen hydraulischen Summen. »Los! Los!«, rief Daur. Die von Daur und Kolea geführten Abteilungen rannten mit eingezogenem Kopf aus dem Wachhaus zu dem großen Transporter. Sie trugen ihre Lasergewehre auf den Rücken geschnallt. Die anderen beiden Abteilungen unter Criid und Kolosim schwärmten gleichzeitig über die Ränder des Landeplatzes aus, die Waffen in der Hand, und hielten in den Felsen nach Bewegungen und Angreifern Ausschau. Daur erreichte den Transporter als Erster. Das im Leerlauf arbeitende Triebwerk wirbelte eine Unmenge Staub auf, und es stank nach heißem Metall und Abgasen. Drei Munitorum-Offiziere standen im Ausladebereich und bugsierten die erste von mehreren beladenen Paletten durch die Frachtluke. Daur winkte ihnen zu. »Wie viele?«, brüllte er. »Ein Dutzend«, rief einer der Munitorumsleute zurück. Die Paletten waren dicke Flakbrettplatten, die dicht bepackt waren mit Reihen schwerer Wasserfässer, zwanzig Fässer pro Palette. »Haben Sie keinen Stapler?«, rief der Mann. Daur schüttelte den Kopf. »Wir müssen die Fässer per Hand transportieren!«, rief er zurück. Daur zückte sein Kampfmesser und schnitt das Plastekband durch, das die Fässer der ersten Palette zusammenhielt. Seine Männer kamen angelaufen, und jeder schnappte sich so viele der schweren Fässer, wie er tragen konnte, und eilte damit zur Schleuse. Die meisten konnten zwei tragen, eins in jeder Hand. Einige der Größten wie Brostin schafften drei. Es war ein Kampf. Alle wussten, dass Tempo Not tat. »Weiter! Die zweite Palette!«, brüllte Daur. Er und Kolea räumten die erste leere Palette weg, während die Munitorumsleute die nächste durch die Luke wuchteten. Zu langsam, zu langsam, dachte Daur. Die ersten Soldaten mit Fässern hatten gerade erst das Wachhaus erreicht. Das schiere Gewicht der Fässer in Verbindung mit dem weichen Staub auf dem Boden machte den Ausladevorgang wirklich zu einer Qual. Männer kamen mit leeren Händen vom Tor zurück, um die nächste Ladung in Empfang zu nehmen. Sie waren bereits außer Atem und spannten angestrengte und müde Arme.
»Los doch!«, rief Kolea, der die Fässer nahm, die Daur ihm gab, und sie an die Männer weiterreichte. Nachdem der Destrier gelandet war, setzte die Valkyrie links neben ihm auf. Sie landete mit aufheulenden Triebwerken in Criids Zuständigkeitsbereich. »Derin! Pass auf diese Felsen auf!«, rief Criid und rannte zu der Staubwolke, in der die Valkyrie verschwunden war. Ein Besatzungsmitglied hatte die schwere Seitentür der Passagierkabine geöffnet, und zwei Männer waren unter der abgewinkelten Tragfläche der Maschine in den Staub gesprungen. Sie traten geduckt vor, die Hände schützend vor den Augen. Einer trug Khaki, der andere Schwarz. Der Mann in Schwarz trug eine schwere Tasche. »Hier entlang!«, rief Criid gestikulierend. Sie eilten zu ihr. Als sie sich näherten, hob Criid die Arme und gab dem Piloten der Valkyrie ein Zeichen. Sie sah ihn in seiner Kanzel, als der hell lackierte Helm ihr zunickte. Die Valkyrie hob wieder ab, und die Triebwerke heulten wie vor Schmerzen. Sie stieg rasch und schwenkte dann in dreihundert Metern Höhe mit abwärts gerichteter Nase herum. Criid salutierte den Männern, als sie vor ihr stehen blieben. Der in Khaki war klein, schmächtig und blond. Einen schrecklichen Moment lang glaubte Criid, es sei Caffran, von den Toten auferstanden. »Major Berenson, zweiundfünfzigstes Cadogus«, überschrie er den Lärm. »Das ist mein taktischer Berater. Meine besten Empfehlungen an Ihren Kommandanten, mit der Bitte um eine Audienz.« »Criid, Erstes-und-Einziges«, erwiderte sie, indem sie ihm die Hand schüttelte. »Folgen Sie mir, Herr Major. Hier draußen sind wir ein wenig exponiert.« Sie drehte sich um und lief zum Tor. Die beiden Männer rannten ihr hinterher. III Sie waren bei der dritten Palette. Die Munitorumsleute schoben sie durch die Frachtluke. Daur warf einen Blick auf seinen Chrono. Vier Minuten. Zu langsam, immer noch zu langsam. Die Männer,
die zurückgelaufen kamen, um die nächste Ladung Fässer in Empfang zu nehmen, japsten bereits und waren erschöpft. Kolea durchschnitt das Plastekband und fing an, die schweren, unhandlichen Fässer weiterzugeben. »Los, los, los!«, drängte er lautstark über den Triebwerkslärm des Destrier hinweg. Daur drehte sich um. »Was war das?«, fragte er. »Was denn?«, schrie Kolea zurück, der immer noch Fässer an die Kette der Männer weitergab. »Ich habe ein Geräusch gehört!«, brüllte Daur. Es war ein dünnes Klacken gewesen, ein Einschlag. »Feth«, murmelte Daur. »Wir haben hier ein Leck!« Wasser, hell und klar, lief aus einem der Fässer auf der dritten Palette und plätscherte wie ein Strahl aus einem Springbrunnen in Mengen in den Sand. »Wir haben ein verdammtes Leck!«, rief er noch einmal, indem er nach dem Fass griff und versuchte, das Loch mit dem Finger zu stopfen. Es klackte wieder. Einen Meter rechts von Daur spritzte plötzlich eine Fontäne aus einem anderen Fass. Aus einem Einschlagsloch in der Seite. Daur fuhr zu Kolea herum. »Wir werden …«, schrie er. Ein Laserstrahl prallte von der Umrandung der Frachtluke ab. Zwei weitere schlugen in die Seite des Destrier. Einer der Munitorum-Offiziere schaukelte auf den Füßen, während hinter seinem Rücken ein roter Nebel aufstob. Er fiel hart, schlug auf die Palette und glitt von dort in den Staub. Ein Geist, ein Wasserfass in jeder Hand, drehte sich halb um und fiel auf die Seite, da ihm eine Gesichtshälfte fehlte. »Kontakt!«, brüllte Kolea. »Kontakt! Kontakt!« IV Rhen Merrt drehte sich um. Irgendwas war im Busch. Er gehörte zu Criids Abteilung, die rings um den Vorplatz ausgeschwärmt war. Der Transporter hinter ihm machte einen Höllenlärm. »Was war das?«, brüllte er Luhan zu. »Was?«, rief Luhan zurück. »Kolea hat irgendwas gn… gn… gn… gebrüllt!«
»Ich weiß nicht«, kam es von Luhan zurück. Merrt sah Funken in den Felsen vor sich. Er wusste, was das war. Sie bekamen Feuer von den Felsen im Pass. Wegen des Triebwerkslärms konnten sie das Knacken der Entladungen nicht hören. »Kontakt!«, brüllte Merrt. Er hob sein Gewehr und schoss auf den Berghang. Nichts geschah. Sein Lasergewehr hatte Ladehemmung. Schüsse peitschten rings um sie heran. Der Feind zielte nicht auf Merrt und dessen Abteilung. Sie nahmen den schweren Transporter unter Beschuss. Merrt sah Laserstrahlen und Leuchtspurgeschosse über sich hinwegfegen. Er mühte sich, die Ladehemmung zu beseitigen. Merrts Lasergewehr war ein besonders ramponiertes und unzuverlässiges Teil. Er hatte es im Zuge eines brutalen Straßenkampfes auf Gereon bekommen, nachdem er sein eigenes verloren hatte. Es war ziemlich abgenutzt und trug einen verblassten gelben Munitorumsstempel auf dem Kolben. Die Waffe war ursprünglich von der Garde ausgegeben worden, aber Merrt hatte den heimlichen Verdacht, dass sie eine Zeit lang vom Feind benutzt worden war. Ein erbeutetes, zurückerbeutetes Teil, und nicht in sonderlich gutem Zustand. Er hasste es. Merrt stellte sich manchmal vor, dass die Zeit, die es in feindlicher Hand verbracht hatte, buchstäblich einen Fluch darauf hinterlassen hatte. Es waren vier Kilo Pech an einem Schulterriemen. Er wusste, er hätte es im Munitorum-Magazin für eine neue Waffe eintauschen müssen. Er hätte den Magazinverwaltern die Geschichte der Waffe schildern und sie zerstören lassen müssen. Aber er hatte es nicht getan, und auf direktes Befragen hätte er nicht einmal sagen können, warum nicht. Tief unten schwamm ein unausgegorener Gedanke, dass er und das Gewehr einander irgendwie verdienten, ein Unglücksgewehr für einen verdammt unglücklichen Mann. Er mühte sich, die Ladehemmung zu beseitigen. Es schien zu kooperieren. Merrt legte an und schoss. Es gab einen Blitz. Das Lasergewehr leerte seine gesamte Ladung in einem verheerenden Energierülpser. Die Entladung schleuderte Merrt auf den Rücken. Der Energieball traf zwanzig Meter entfernte Felsen und explodierte wie eine Sprengladung, sodass ein Gemenge aus Erde, Staub und Kies in die Luft geschleudert wurde.
Merrt wälzte sich herum und sah sich benommen um. Er sah einen Geist zu Boden gehen, einen der Wasserträger, die zwischen dem Tor und dem Transporter hin und her pendelten. Volle, schwere Wasserfässer landeten hart und schräg links und rechts neben dem Leichnam. Ein weiterer Wasserträger fiel nach einem Streifschuss, stand auf und fiel erneut, als ein zweiter Schuss eines der Fässer, die er trug, durchbohrte und in seine Hüfte drang. Merrt rappelte sich auf und nahm sein Gewehr. Er warf das Magazin aus und rammte ein neues in die Waffe. »Funktioniere!«, fauchte er. »Gn… gn… gn… funktioniere!« V Feindfeuer schlug rings um sie ein. Die Frachtluke war stark verbeult, und die dritte Wasserpalette, halb ausgeladen, verspritzte ihren Inhalt durch Dutzende Einschusslöcher. »Wir können nicht bleiben!«, rief einer der zwei verblieben Munitorumsmänner Daur zu. »Sie müssen! Wir brauchen dieses Wasser!« Der Offizier schüttelte den Kopf. »Tut mir leid! Der Pilot sagt, er startet! Treten Sie zurück!« »Nein!«, schrie Daur, der den Halt verlor. Der Munitorumsmann schob die dritte Palette aus der Frachtluke und zog sich in den Transporter zurück. Die Luke schloss sich jaulend, und der Destrier hob in einem Staubsturm ab, während Schüsse in seinen Rumpf schlugen. »Nein! Kommt zurück, ihr Schweine!«, heulte Daur. »Ban! Vergiss es!«, sagte Kolea zu ihm, indem er seinen Arm packte und ihn hochzog. »Hier draußen sind wir tot! Zurück zum Tor!« Daur rannte los, Kolea dicht hinter sich. Die Wasserträger und die Wachabteilungen eilten von Schüssen verfolgt ebenfalls zum Tor zurück. Über ihnen hatten die Kasematten und Geschützstellungen auf der Südseite von Hinzerhaus ebenfalls das Feuer eröffnet. Schwerer Beschuss drang aus den geöffneten Jalousien und pflügte durch die Geröllhalden der Böschung. Daur erreichte die Schleuse. »Wie viel haben wir?«, keuchte er. »Wie viel?«
»Zweieinhalb Paletten«, erwiderte Kolosim. »Von einem Dutzend?«, schnauzte Daur. »Das reicht nicht, um Feths willen! Wir haben eine halbe verdammte Palette da draußen im Staub gelassen!« »Und da wird sie auch bleiben, Ban«, sagte Kolea ruhig. »Wir haben keine andere Wahl. Nun geh endlich rein, wir müssen die Schleuse schließen.« VI »K862, K862, wir brauchen die Ladung, Ende«, sagte Beltayn ins Kom. »Das ist mir klar, Nalholz, aber die LZ ist nicht sicher. Ich kreise.« Beltayn sah Gaunt an. Gaunt streckte die Hand aus, und Beltayn drückte das Mikrofon hinein. »Destrier K862, hier spricht Kommissar-Oberst Gaunt, Kommandierender dieser Stellung, Ende.« »Ich höre Sie, Kommissar-Oberst, Ende.« »Wir haben kein Wasser mehr und brauchen Ihre Ladung, Ende.« »Daran zweifle ich nicht, Kommissar-Oberst, aber die Landezone war kompromittiert. Schweres Feuer. Es hat mich ein Besatzungsmitglied gekostet. Weitere dreißig Sekunden, und ich hätte einen Triebwerkstreffer bekommen. Ich konnte nicht am Boden bleiben, Ende.« »Wir brauchen das Wasser, K862, Ende.« »Schlage vor, wir versuchen es mit einer anderen Landezone, Kommissar-Oberst, Ende.« Gaunt sah Beltayn an. »Auf der Rückseite, Herr Kommissar? Durch den Tunnel hinter den Werkstätten am Generatorraum?« »Den haben wir letzte Nacht versiegelt«, sagte Gaunt. Er sprach ins Mikrofon: »Warten Sie einen Moment, K862.« »Kreisen weiter, Nalholz. Gebe zu bedenken, dass ich nur noch für sechs Minuten Aufenthalt Treibstoff habe. Danach müssen wir zurück, Ende.« »Was ist mit diesem Hof?«, fragte Beltayn.
Gaunt hob das Mikrofon. »K862, K862, schlage vor, Sie versuchen einen Hof tief unten in der Südwand. Von da oben sehen Sie ihn besser als wir, Ende.« »Schwenken ein, Nalholz. Der Staub wird gerade wieder hochgewirbelt.« »K862?« »Augenblick, Nalholz, hier weht es plötzlich wieder sehr stark. Alles klar, wir sehen ihn. Fliegen hin, Ende.« »Danke, K862, Ende.« Sie warteten. Wind kam auf und wehte durch die Basis. »Nalholz, wir haben Ihren Hof im Blick. Zu klein für eine Landung, Ende.« »K862, können Sie die Ladung abwerfen, Ende?«, fragte Gaunt. »Nicht ideal, aber wir versuchen es, Nalholz. Bitte warten, Ende.« Gaunt sah Beltayn an. Beide warteten schweigend. Es dauerte ewig. »Eins, Thron Terras … Zwei, Thron Terras …«, begann Gaunt zu flüstern. Das Kom hustete. »Nalholz. Nalholz, hier K862, hier K862. Wir haben die Ladung abgeworfen. Von hier oben sieht es aus, als wären ein paar Fässer geplatzt. Haben unser Bestes getan, Ende.« »Danke, K862. Fliegen Sie nach Hause, Ende.« »Verstanden, Kommissar-Oberst. Ich hoffe, es geht gut für Sie aus. K862 Ende und aus.« Gaunt gab Beltayn das Mikrofon zurück. »Also … jetzt müssen wir nur noch diesen verdammten Hof finden«, sagte er. VII »Ich bin gerade etwas beschäftigt«, sagte Beltayn. »Was wollten Sie noch gleich?« Beltayn war auf dem Weg aus der Basis gewesen, um in Gaunts Büro an Karten zu arbeiten, als Dalin Criid ihn aufgehalten hatte. Dalin winkte ab. »Nichts, Herr Adjutant. Ich wollte nur Ihren Rat einholen.« »Weil?«
»Weil Hauptmann Meryn mich zu seinem Adjutanten ernannt hat und ich nicht weiß, was ich da eigentlich zu tun habe. Ich dachte, ich könnte Sie um Rat fragen.« Beltayn schüttelte den Kopf. »Meryn hat Sie zu seinem Adjutanten gemacht? Sie armer Hund. Was ist mit Fargher?« »Er ist gefallen«, sagte Dalin. »Ach ja. Richtig. Das habe ich gehört.« Beltayn betrachtete Dalin nachdenklich von oben bis unten. »Kann ich Sie etwas fragen, Dalin?« »Natürlich.« »Glauben Sie, Meryn hat Sie deswegen gefragt, weil Sie sind, was Sie sind?« »Machen Sie Witze? Ich würde sagen, man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass das sein erster Gedanke war.« »Und ist Ihnen das egal?« »Es stört mich. Es stört mich, dass niemand mit mir reden kann, ohne im Hinterkopf zu haben, wer ich bin. Andererseits würde ich an Erschöpfung sterben, wenn ich dagegen ankämpfte, also lebe ich damit.« »Also gut«, sagte Beltayn. »Und abgesehen davon – was meinen Sie, warum Meryn Sie sonst noch als Adjutanten haben will?« »Weil er weiß, dass ich clever bin. Weil er weiß, dass ich ihn gut aussehen lassen kann. Weil ich eine Karte verdammt viel besser lesen kann als er«, erwiderte Dalin. »Sie können also eine Karte lesen, hm?« Beltayn dachte darüber nach. »Sie sind gut mit Karten?«, fragte er. »Folgen Sie mir.« VIII Merrt sank zwischen den anderen Männern seiner Abteilung zu Boden. Alle vier Abteilungen waren vom Wachhaus zurück in die Basis beordert worden. Die, die das Wassertragen übernommen hatten, brachen mehr oder weniger erschöpft zusammen. Einige mussten Platz machen, als Verwundete auf Tragen vorbeigebracht wurden. Aus den oberen Etagen des Festungshauses konnten sie das dumpfe Krachen und Knacken anhaltenden Geschützfeuers aus den Kasematten hören. Merrt setzte sich und starrte wütend auf sein Gewehr. Das elende Mistding hatte zwei Mal im
Laufe des Feuergefechts Ladehemmung gehabt. Es war verflucht, und es verhexte ihn. Er wollte es unbedingt loswerden, aber er wusste, dass er es nicht konnte. Er musste den oberen Rängen, also Männern wie Hark, noch viel beweisen. Merrt war inoffiziell auf Bewährung, und er war entschlossen, es nicht zu vermasseln. Er hatte es Hark versprochen. Wenn Leute wie Hark, Gaunt oder Rawne herausfanden, dass er eine Waffe trug, die den Makel der Berührung durch den Erzfeind in sich hatte, wenn er es zugab und sie merkten, dass er die ganze Zeit von der zweifelhaften Abstammung der Waffe gewusst hatte, war es das. Dann könnte er von Glück sagen, wenn er es überhaupt noch ins Strafbataillon schaffte. Und Rhen Merrt hatte einfach kein Glück. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst vor dem Gewehr und war überzeugt, dass es seine Angst genoss. Sei nicht dumm, es ist nur eine Knarre. Er rieb am halb verblichenen gelben Munitorum-Stempel am Kolben. Er hatte ihm zuvor keine Beachtung geschenkt. Es war nur eine Seriennummer des Munitorums, halb verblichen. Nur, dass es keine war. Da stand »STIRB«. Merrt blinzelte. Er spürte, wie ihm Angst in die ausgedörrte Kehle stieg wie eine Stange aus Eis. »STIRB«. Da stand tatsächlich »STIRB«. Da … Nein, es war doch nur eine Seriennummer: 571RB. Halb abgeblättert, las sich die Nummer »STIRB«. Merrt schloss die Augen und lehnte den Kopf an die kalte Wand. Du dämlicher Idiot. »STIRB«. Du Idiot, dir selbst einen Schreck einzujagen. Du musst das abschütteln. Du musst diesen Unsinn vergessen, dass das Gewehr verflucht ist. Es ist nur ein Gewehr. Es ist nur ein wertloses Stück Schrott. Merrt hörte Stimmen und blickte auf. »Gute Arbeit, Jungs«, sagte Hauptmann Daur, der die Reihe abschritt. »Gute Arbeit. Das war knapp, aber ihr habt Eure Sache gut gemacht. Man hat mir gerade gesagt, dass der Rest der Wasserladung geliefert worden ist. Ich gebe einen aus.« Merrt ignorierte den unerträglich gut aussehenden Daur und legte sein nicht vertrauenswürdiges Gewehr neben sich auf den Boden. Er sah es wachsam an, von der Seite, als sei es eine Giftschlange.
Wir werden sehen, 571RB, wir werden sehen. Ich schlage deinen Fluch und breche deinen Willen. Ich werde dich meistern und mich beweisen. Oder du wirst mein Tod, und ich sterbe. IX »Herr Kommissar, das ist Major Berenson«, sagte Criid, »und das ist Taktik-Offizier Karples.« »Willkommen im Vergnügen«, sagte Gaunt. Er schüttelte Berenson die Hand und nahm einen raschen Salut von dessen Adjutant entgegen. »Reden wir in meinem Büro. Danke, Criid, das ist alles.« Criid nickte und sah zu, wie die drei Männer die Basis verließen und in einen der Verbindungskorridore gingen. In der Nähe sah sie Kolea, der ihnen ebenfalls hinterherstarrte. »Unheimlich, nicht?«, fragte sie. »Entschuldige, Tona, was meinst du?« »Dieser Berenson. Ist Caff wie aus dem Gesicht geschnitten, findest du nicht?« Kolea hob die Augenbrauen. »Gak, das ist es! Ich konnte nicht den Finger darauf legen, warum er mir so unheimlich war.« »Wie aus dem Gesicht geschnitten. Könnte ein Bruder sein.« Kolea sah sie an. »Alles in Ordnung mit dir?« »Mit mir ist immer alles in Ordnung«, erwiderte sie. »Wo ist denn jetzt dieses Wasser?« »Wir arbeiten daran«, sagte Kolea. »Ich habe nicht mit einer Überstellung von Personal gerechnet«, sagte Gaunt, als er Berenson und den taktischen Adjutant in sein Büro führte. In einer Ecke des Raums arbeitete Beltayn an einem Stapel Karten, die auf einem kleinen Tisch ausgebreitet waren. Dalin, Rerval, Fapes und Bonin umringten ihn. »Brauchen Sie den Raum, Herr Kommissar?«, fragte Bonin. »Bitte«, sagte Gaunt. Die Gruppe sammelte ihre Karten und Wachsstifte ein und verließ das Büro. Dalin warf beim Hinausgehen einen seltsam verweilenden Blick auf Berenson. Gaunt führte Berenson und den Taktik-Offizier zu seinem Schreibtisch und bot ihnen einen Platz an. Berenson und der Tak-
tische setzten sich auf zwei nicht zueinander passende Holzstühle. Gaunt hockte sich auf die Kante seines Schreibtisches. »Wir können Ihnen wahrscheinlich in einer Weile einen Kaffein anbieten, sobald wir etwas gefunden haben, womit wir ihn kochen können.« »Das geht schon in Ordnung, Kommissar-Oberst«, sagte Berenson. Er setzte seine Mütze ab und wischte sich den Staub aus den Haaren. Gaunt verstand plötzlich Dalins Faszination. Der Mann hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Caffran. »Wie ich schon sagte, ich habe nicht mit einer Überstellung von Personal gerechnet.« »Das wurde in letzter Minute entschieden«, erklärte Berenson. Seine Stimme trug die Spuren eines unterdrückten Akzents. »Dem Oberkommando in Elikon war es zu riskant, Sie über Kom zu informieren.« »Unsere Verschlüsselung ist geknackt worden«, sagte der Taktik-Offizier unverblümt. »Es wurde vereinbart, dass ich den Wasserabwurf begleite und Sie persönlich in Kenntnis setze«, fuhr Berenson fort. »Ich weiß das zu schätzen. Wir fühlen uns hier ziemlich abgeschnitten.« »Ich kann verstehen, warum«, sagte Berenson mit der Andeutung eines Lächelns. Er sah sich um. »Das ist ein sonderbares Loch, dieses Hinzerhaus. Ich muss sagen, es hat eine höchst eigenartige Atmosphäre. Nicht wirklich angenehm. Irgendwie … bedrohlich.« »Es ist ein schlimmer Ort auf einem schlimmen Felsen«, sagte Gaunt. »Ich nehme an, Van Voytz hat Sie informiert.« Berenson nickte. »Er ist sich Ihrer Notlage vollkommen bewusst, Kommissar-Oberst. Vollkommen. Er lässt sein Bedauern ausrichten. Tatsächlich hat er diesbezüglich keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Die taktische Zusammenfassung ließ einiges zu wünschen übrig.« »Die feindlichen Dispositionen sind schwer zu lesen«, warf der Taktik-Offizier unbehaglich ein. »Wir revidieren unsere Einschätzung gerade.« »Karples glaubt, wir rücken seiner Abteilung aufs Dach, weil sie schlecht gearbeitet hat«, lächelte Berenson. »Ich sage ihm ständig, dass es eigentlich nicht die Schuld der Taktischen war. Der
Feind hat uns alle überrascht. Sie haben massive Truppenkonzentrationen entlang des Kehulg-Beckens verborgen.« »Zeigen Sie es mir«, sagte Gaunt. Karples stand auf und holte einen hololithischen Projektor aus seiner Tasche. Er stellte ihn auf den Schreibtisch und richtete die Projektionslinse auf die Rückwand des Büros. Das Gerät summte und projizierte eine trübe dreidimensionale Grafik in die Luft. Kaples marschierte hinein und zeigte auf verschiedene Stellen. »Die Hauptelemente unserer Opposition wurden bei frühen Überflügen und durch Abtastungen hier im Jaagen-Tiefland und hier in den unteren Provinzen ausgemacht. Elikon wurde als optimaler Brückenkopf für Landung und Aufmarsch ausgewählt. Heftige Kämpfe auf Panzerbrigaden-Ebene haben hier stattgefunden, und auch hier, bis hinein ins Tiefland. Es gab einige Besorgnis, feindliche Elemente könnten nach Osten schwenken und einen Durchbruch durch die Banzie Altids versuchen, was der Grund ist, warum der General sie hier stationiert hat.« Gaunt nickte. »Aber so entwickelt es sich nicht, richtig? Das haben wir schon selbst bemerkt.« Karples sah Gaunt an, das verkniffene Nagergesicht von Streifen farbigen Lichts aus dem Projektor überlagert. »Nein, das tut es nicht, Kommissar-Oberst. Unentdeckt von den Abtasterdrohnen hatte der Feind hier, hier und hier beträchtliche Truppen vor unserer Landung massiert, vor allem im KehulgBecken. Diese Truppen haben ihre Deckung verlassen und in einer Zangenbewegung die Elikon-Front eingeschlossen.« »Das sind extrem schlechte Nachrichten, Kommissar-Oberst«, warf Berenson ein. »Die Kämpfe entlang dieser Linie sind äußerst heftig. Seien Sie dankbar, dass Sie hier draußen sind.« »So dankbar bin ich gar nicht«, sagte Gaunt. »Der Feind ist auch hier.« Karples nickte. »Viel weiter vorgerückt, als wir vermutet haben. Wir glauben jetzt, dass sie dies seit Monaten geplant haben. Aufeinanderfolgende Überraschungsangriffe entlang unserer Ostflanke waren tatsächlich die Grundlage ihrer Strategie. Hinzerhaus ist der weiteste Überhang ihrer Angriffsbewegung, aber entscheidend. Sie versuchen hier keinen Gegenschlag, Kommissar-Oberst. Dies ist der Weg, den ihre Hauptoffensive nimmt.« »Stellen Sie sich vor, wie erfreut ich darüber bin«, sagte Gaunt, indem er sich auf seinen Stuhl setzte.
»Wir haben eindeutig sehr schlecht disponiert und uns dementsprechend katastrophal positioniert«, sagte Berenson. »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass das hier nicht mehr viel länger Ihr Problem sein wird.« »Tatsächlich?« Berenson lächelte. Ganz wie Caff, dachte Gaunt. »Das Zweiundfünfzigste Cadogus ist in voller Stärke aufmarschiert. Zwanzigtausend Mann plus Panzer und Artillerie sowie Gefechtspsioniker. Wie es der Zufall wollte, wurden wir im Transit aufgehalten, andernfalls wären wir in der Jaagen-Zone stationiert worden. Thron sei Dank sind wir das nicht. Das gibt unserer Seite eine gewisse taktische Flexibilität. Mein Regiment ist einsatzbereit und rückt rasch aus Elikon in Richtung Osten vor, in der Absicht, der feindlichen Offensive frontal zu begegnen. Zeigen Sie es ihm, Karples.« »Hier, außerdem hier, hier und hier«, sagte der Taktik-Adjutant, indem er auf das dreidimensionale Licht zeigte. »Die Hauptkämpfe werden wahrscheinlich im Banziepass ausgetragen«, sagte Berenson, »aber wir können Hinzerhaus und dessen Umgebung nicht ignorieren. Fünf Kompanien Panzergrenadiere treffen in den nächsten drei Tagen ein. Volle Unterstützung. Dann übernehmen wir von Ihnen. Wir nehmen sie in Empfang und hauen ihnen ordentlich auf den Kopf. Ihre … Geister, werden sie, glaube ich, genannt … Ihre Geister müssen diese Stellung nur bis dahin halten und den Feind in Schach halten und beschäftigen.« Gaunt nickte. »Und ich bin hier, um Ihnen dabei zu helfen«, sagte Berenson strahlend. »Dann hoffe ich, dass Sie schießen können«, sagte Gaunt.
ZEHN FÜNF UHR SIEBENUNDREISSIG
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Es war früh, sehr früh. Im Haus war es kalt, und das Lampenlicht war besonders trübe. Draußen murmelte der Wind. Die alte Dame im schwarzen Spitzenkleid, die mit dem madigen Fleischwundengesicht, war wieder unterwegs. Maggs konnte ihre Schritte hören und ihre Kälte spüren. Thron, wie sehr sie ihren Tod wollte, ihrer aller Tod. Das war ihr Anliegen. Wenn er die Augen schloss, konnte er ihr Gesicht sehen, ein Gesicht, das keins mehr war. In den letzten Nachtstunden hatte Maggs in einer Geschützstellung in oberer Westen fünfzehn Wache. Zuerst hatten die SechsMann-Trupps abwechselnd die Klappen bewacht, während die
anderen schliefen, aber draußen war nur Staub zu sehen, also hatten sie es aufgegeben. Sie hatten die Klappen geschlossen und Stolperdrähte angebracht, sodass sie wissen würden, wenn jemand versuchte, sie von außen zu öffnen. Schritte hallten hinter ihnen durch den stillen Korridor. Langsam schlurfende Schritte. Maggs blickte auf und hob sein Gewehr. »Was ist denn los?«, fragte ihn Gansky. »Nichts«, sagte Maggs. Er konnte die Schritte nicht mehr hören. Er stand auf und überprüfte die Stolperdrähte. »Wie spät ist es?«, fragte er. »Fünf Uhr zweiundzwanzig«, sagte Lizarre mit einem schläfrigen Blick auf den Chrono. Maggs ging durch den Korridor und sah sich um. Nichts, keine Spur von irgendwem. Aber das war schon in Ordnung. Eigentlich wollte er ihr nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen. Ganz und gar nicht. II Baskevyl erwachte und wälzte sich ächzend auf die Seite. Der Boden unter seinem Schlafsack war hart und unnachgiebig. Ihm fiel ein, wo er war. Baskevyl richtete sich auf. Er wusste, dass ihn etwas geweckt hatte: ein Geräusch. Er wusste nicht genau, ob das Geräusch in seinem Traum ertönt oder echt war. Er stand auf und verließ den Quartierraum. Ein paar Geister murmelten im Schlaf, als er an ihnen vorbeiging. Hier schliefen noch sechzig andere Männer, und er wusste, dass sie alle Ruhe brauchten, die sie bekommen konnten. Draußen im Korridor lehnte er sich an die satinglänzende braune Wand und nahm seine Feldflasche. Das bei der abgebrochenen Übernahme durch das Tor gebrachte Wasser war sorgfältig rationiert und verteilt worden. Es hatte wunderbar geschmeckt, aber jetzt war nicht mehr viel in seiner Flasche. Eine weitere Ration sollte zum Frühstück ausgegeben werden. Die Schätzungen variierten, aber allgemein ging man davon aus, dass ihre gegenwärtigen Wasservorräte bei strikter Rationierung vier Tage reichen würden. Niemandem war es gelungen, die abgeworfenen Paletten zu finden, und auch nicht den Hof, wo sie lagen. Gaunt hatte be-
reits eine Anforderung zusätzlicher Nachschublieferungen nach Elikon gesendet, eine Nachricht, die nicht beantwortet worden war. Der Schein der Wandlampen verblasste langsam. Es schien lange zu dauern, bis er wieder heller wurde. Baskevyl beobachtete die Lampen fasziniert. Nachts wurde der Rhythmus des Pulsierens langsamer, als atme das Haus gemächlicher, weil es schlief. Irgendetwas schlief nicht. Er hörte ein Geräusch und wusste, dass ihn genau das geweckt hatte. Er lauschte und hörte, aus weiter Ferne, ein Kratzen, ein weiches, nasses, gleitendes Geräusch aus den Tiefen der Erde. Er war immer noch da unten, der Dämonenwurm. Er war immer noch da unten, und er schnüffelte herum und versuchte Baskevyls Witterung aufzunehmen. III »Sind wir …«, begann die Frage im Kom, und dann wurden die Worte von einer Flut lauter Nebengeräusche verschluckt. Beltayn justierte seine Regler, die Kopfhörer an den schweißnassen Kopf gepappt. »Wiederholen, Sender?« Rauschen. Ein treibendes Summen. Beltayn versuchte es noch einmal, geduldig. »Elikon, Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Erbitten Antwort auf frühere Sendung bezüglich zukünftiger Wasserlieferungen, Ende.« Mehr Rauschen. Wenn der Staub nachts hochgewirbelt wurde, störte er die Kom-Verbindungen ganz empfindlich. Beltayn lehnte sich zurück und setzte seine Kopfhörer ab. Es war fünf Uhr dreiundzwanzig. Er hatte Gaunt versprochen, früh aufzustehen und nach dem Kom zu sehen. Die große Basis war leer und ruhig. Er konnte nur die Schritte eines Wachpostens hören, der sich auf einem der Treppenabsätze weiter oben bewegte. Leise, schlurfend. Der arme Hund ist müde, dachte Beltayn. Wir sind alle müde. Er schaute ständig auf seine Feldflasche. Die Hälfte seiner kostbaren Abendration war noch darin. Er riss sich zusammen. »Adjutant?« Beltayn blickte sich um und sah Dalin gähnend eintreten. Dalin hielt ein Bündel Karten in den Händen.
»Warum bist du schon so früh auf?« »Ich konnte nicht schlafen«, sagte Dalin, indem er sich neben ihn setzte. »Ich habe die ganze Nacht über diese Karten nachgedacht.« »Ach, lass das lieber«, sagte Beltayn. Die Frustration ihrer Bemühungen des vergangenen Abends hatte Beltayn beinahe die Beherrschung verlieren lassen. Mit Dalin, Bonin und einigen der fähigsten Adjutanten und Spähern hatte er alle ans Regiment ausgegebenen Karten von Hinzerhaus eingesammelt und war sie Abschnitt für Abschnitt auf der Suche nach dem sagenhaften Hof durchgegangen. So nannten sie ihn mittlerweile. Der sagenhafte Hof. Das wahre Ausmaß des Unsinns der Karten war rasch offensichtlich geworden. Keine war wie die andere. Manche sahen aus, als gehörten sie zu einem ganz anderen Festungskomplex. Beltayn fragte sich, was sich die Taktische dabei gedacht hatte. Wie konnten sie ein Dutzend verschiedene Pläne von ein und demselben Objekt ausgeben? War ihnen das nicht aufgefallen? Beltayns Mannschaft hatte Stunden daran gearbeitet. Manchmal waren sie die Korridore abgeschritten, nur um damit zu enden, ziellos im Kreis gelaufen zu sein. Mkoll hatte sich ihnen angeschlossen und versucht, den unergründlichen tanithischen Orientierungssinn einzubringen. Sie wussten, wo der sagenhafte Hof sein sollte. Sie wussten, wo er sein musste, wenn man bedachte, dass die Späher ihn vor zwei Tagen gesehen hatten. Aber sie konnten den verdammten sagenhaften Hof einfach nicht finden, nicht einmal die Spur eines Korridors oder Seitengangs, der zu ihm führen mochte. Schließlich überwältigte sie die Müdigkeit, und sie hatten aufgegeben. »Das Wasser läuft uns nicht weg«, hatte Mkoll stoisch gesagt. »Nehmen wir eine Mütze voll Schlaf.« Beltayn hatte Mkolls Art besonders entwaffnend gefunden. Ihm war aufgegangen, dass der Chef der Späher es ganz einfach hasste, unnütz zu sein, und seit wann war Mkoll nicht mehr in der Lage, etwas zu finden? Es war, als verberge das Haus den Hof absichtlich vor ihnen. Das war natürlich völliger Unsinn, denn um das zu glauben, hätte man auch glauben müssen, dass das Haus irgendwie … lebendig war.
Dalin breitete einige der Karten auf dem Boden neben Beltayns Kom-Gerät aus. »Ich hatte eine Idee«, sagte er. »Was, wenn sie alle stimmen?« »Was? Du brauchst Schlaf, mein Junge.« »Nein, nein, hören Sie zu. Was, wenn sie alle stimmen? Ich meine, wenn alle zum Teil stimmen, wie sie auch Sachen zeigen, die falsch sind. Wir sollten uns die Teile ansehen, die übereinstimmen und die mit der tatsächlichen Anlage der Festung abgleichen.« »Das haben wir versucht«, sagte Beltayn. »Weißt du noch?« Er war nicht in der Stimmung für diesen Unsinn. Der Junge gab sich alle Mühe zu beeindrucken, und zumindest das musste Beltayn ihm lassen, aber Dalin verschwendete seine Zeit. »Hören Sie mich an«, beharrte Dalin. »Das hat mich wach gehalten. Wie stark die Karten auch voneinander abweichen, sie haben auch gewisse Dinge gemeinsam. Gaunts Karte zeigt die Basis und die Korridore in diesem Bereich richtig, und Rawnes Karte auch. Harks hat sie ebenfalls, aber nicht den kleinen Saal und auch nicht diese Galerien hier. Auf Koleas Karte sind überall Galerien, die auf keiner anderen Karte zu finden sind. Auf allen ist der Brunnen eingezeichnet, und auf sechs von ihnen der Generatorraum, obwohl …« »Du warst fleißig.« »Danke. Daurs Karte zeigt den Generatorraum auf der falschen Etage, aber das ist die einzige Karte, auf der ein Bereich eingezeichnet ist, bei dem es sich um den Hof handeln könnte.« »Der sagenhafte Hof. Dalin, wir haben letzte Nacht schon herausgefunden, dass Daurs Karte die verrückteste von allen ist. Von ein paar Einzelheiten abgesehen, könnte sie vollkommen frei erfunden sein. Sie könnte sogar eine ganz andere Anlage zeigen.« »Ja, ich weiß, aber was ist, wenn sie alle stimmen?« Beltayn seufzte. »Das sagst du ständig. Aber wie meinst du das?« »Wie alt ist diese Festung?« »Ich weiß es nicht.« »Aber alt, richtig? Wirklich alt?« »Ja«, räumte Beltayn ein. »Wahrscheinlich ist sie oft verändert und umgebaut worden. Nehmen wir einfach mal an, dass alle diese Karten einmal richtig und akkurat waren … als sie gezeichnet wurden.«
»Ich glau … Was?« Dalin grinste. »Vielleicht sind diese Karten alle ein genaues Abbild dieser Festung zu der Zeit, als sie angefertigt wurden. Vielleicht ist diese …« Dalin hob wahllos eine Karte hoch. »Vielleicht ist diese zweihundert Jahre alt, und diese fünfhundert. Wer weiß? Jedenfalls zeigt keine von ihnen, wie es jetzt ist, nur wie alles aussah, als die jeweilige Karte gezeichnet wurde.« Beltayn zögerte. »Das ist tatsächlich nicht das Verrückteste, was ich je gehört habe«, begann er. »Ja, Dalin ist da auf etwas gestoßen«, sagte Mkoll. Beltayn und Dalin erschraken. Sie hatten ihn nicht kommen gehört. »Feth, du hast mich erschreckt!«, rief Beltayn. Mkoll nickte. »Gut. Dann habe ich es noch nicht ganz verlernt.« Er setzte sich zu ihnen. Sein Gesicht war blass und hager, als habe er seit Monaten nicht mehr geschlafen. Er streckte die Hand aus und hob einige von Dalins Karten auf. »Du willst also sagen, dass die Karten zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Perioden angefertigt wurden? Eine Galerie auf dieser Karte könnte zum Beispiel gebaut worden sein, nachdem diese andere Karte hier gezeichnet worden war?« Dalin nickte. »Das war meine Überlegung. Hier und da wird etwas gebaut oder eingerissen und versiegelt. Räume kommen dazu oder werden verändert. Und natürlich kann es auch richtige Fehler geben. Sie sind von Hand gezeichnet.« »Das ist gut überlegt«, sagte Mkoll. »Der Junge ist clever«, sagte Beltayn. »Kommt ganz nach seinem Vater«, sagte Mkoll. »Aber es erklärt nicht, warum wir sie bekommen haben«, sagte Dalin. Beltayn zuckte die Achseln. »Ein Fehler beim Archivieren? Die Taktische hat Karten von Hinzerhaus für uns angefordert, und irgendjemand hat die falsche Schlüsselnummer eingegeben, sodass wir eine Geschichte der Festung in Kartenform bekommen haben, statt ein Dutzend Kopien der aktuellsten Version.« Mkoll nickte. »Das klingt plausibel – es klingt richtig, praktisch, nicht unheimlich. Feth, aber ich bin froh, dass langsam überhaupt irgendwas in diesem verdammten Grab sinnvoll klingt.« »Sag nicht Grab«, sagte Beltayn. »Tut mir leid.«
»Also … können wir damit etwas anfangen?«, fragte Dalin. »Ich meine, können wir praktischen Nutzen daraus ziehen?« »Ja«, sagte Mkoll. »Dalin, geh und weck Bonin. Er soll eine Abteilung Späher zusammenstellen.« Dalin stutzte. »Ich soll Bonin wecken?« »Stimmt genau.« Dalin schluckte. Die Vorstellung, einen tanithischen Späher aus dem Schlaf zu reißen, hatte etwas vage Selbstmörderisches. »Also schön, ich mache es selbst«, sagte Mkoll. Er stand auf. »Wir treffen uns in fünf Minuten in Westen vier. Bringt die Karten mit.« Er verließ die Basis. Beltayn sah Dalin an. »Das war gut, Dalin. Mkoll ist beeindruckt.« »Ist er das? Gezeigt hat er es aber nicht.« »Machst du Witze? Der Chef war praktisch kurz davor, laut zu jubeln und dir auf die Schulter zu klopfen. Merk dir meine Worte, du hast einen guten Eindruck gemacht.« Dalin grinste. Beltayn stand auf. »Na, dann komm. Nimm diese Karten mit.« Dalin sammelte die entfalteten Blätter ein. Beltayn wandte sich seinem Kom-Gerät zu. Er sah, dass die Nadel eines Eingangsmessers zitterte. Er nahm seinen Kopfhörer und wendete sich ab. »Was ist denn?«, fragte Dalin. »Ich habe endlich etwas hereinbekommen. Ein Signal«, sagte Beltayn, indem er an einem Regler drehte. Er lauschte. »Sind wir die Letzten, die noch am Leben sind?«, flüsterte ihm das Kom ins Ohr. Beltayn erstarrte. »Wer sind Sie, Sender? Wer sind Sie?« »Sind wir das? Sind wir die Letzten, die noch am Leben sind?« »Antworten Sie! Bitte antworten Sie!« Die Stimme verlor sich. Beltayn setzte seinen Kopfhörer ab. »Haben Sie etwas empfangen?«, fragte Dalin. »Nein«, sagte Beltayn. »Nichts Wichtiges.«
IV 571RB schaute ihm ins Gesicht, ins hässliche Gesicht. Merrt stand auf und packte sein Lasergewehr. Es war noch früh, fünf Uhr fünfundzwanzig. Im Haus war es so still wie auf einem Friedhof, aber es lag etwas in der Luft. Merrt hatte ein Bauchgefühl, ein vages Aufglimmen der alten Kampfinstinkte, auf die er einmal so stolz gewesen war. Nur der Schatten dieses verlorenen Instinkts ließ sein Herz singen. Er war Stunden wach gewesen und hatte in der Düsternis des Quartierraums auf den 571RB-Stempel gestarrt. Er ging hinaus in den Korridor und wartete. Eine Gestalt wuchs aus dem Schatten zu seiner Linken und bewegte sich mit leisen, beinahe lautlosen Schritten. Es war der Nachgahner. Er näherte sich, den Regenbagen schussbereit in den Händen. Eszrah betrachtete Merrt durch seine Sonnenbrille. »Du auch, was?«, fragte Merrt. Eszrah nickte. »Gn… gn… gn… also los«, flüsterte Merrt. Eszrah nickte wieder, aber eigentlich hatte Merrt mit seinem Gewehr gesprochen. V Während der Nacht hatte Bragg eine Stunde oder zwei bei ihm gesessen, wie er es immer getan hatte, wenn die beiden Nachtwache gehabt hatten. Bragg hatte nichts gesagt, und Larkin hatte ihn nicht angesprochen. Larkin hatte ihn nicht einmal angesehen. Larkin hatte einfach nur dagesessen, in Ausguck sechs, und die Klappen beobachtet, während der Wind draußen an ihnen zupfte, und war sich Braggs Anwesenheit hinter sich bewusst gewesen. Sein Rücken war durch den Schweiß kalt geworden. Er hatte Banda hinten im Raum schnarchen gehört, ebenso wie seinen eigenen verstärkten Puls, und als drittes ein Atemgeräusch, langsam und ruhig, behaglich. Bragg. Eindeutig und unverwechselbar Bragg. Larkin hatte seinen Geruch erkannt, den Sacra in seinem Schweiß, die besondere
Ausdünstung seines Körpers. Es war so lange her, seit er seinen besten Freund zuletzt gesehen hatte, dass ein Teil von ihm sich umdrehen und ihn begrüßen, ihn umarmen und fragen wollte, wo er gewesen sei. Aber Larkin wusste, wo Bragg gewesen war, und er wagte nicht, sich umzudrehen, aus Angst vor dem, was er sehen könnte. Bragg war seit Phantine tot, getötet von einer Ratte von einem Ungeheuer, das Larkin schließlich auf Herodor mit seinem Gewehr erledigt hatte. Bragg konnte ganz einfach nicht hinter ihm in dem Ausguck sitzen. Er sollte nicht. Es war gegen alle Gesetze der Vernunft, aber Larkin konnte ihn trotzdem riechen und seinen Atem hören. Larkin hatte seinen alten Freund über die Jahre mehr vermisst, als er sagen konnte. Die Vorstellung, ihn wiederzutreffen, war wunderbar. Aber nicht so. Nicht so, bitte, Thron, nein. Nicht so. Um kurz vor fünf hatte Larkin gehört, wie Bragg mit einem Grunzen aufgestanden und nach draußen gegangen war. Larkin hatte noch eine Weile gewartet und sich dann langsam umgedreht. Da war Banda, die in der Ecke schlief. Sonst niemand. Larkin stand auf und entspannte seinen Beinstumpf. Er hatte viel zu lange gesessen, durch Furcht festgenagelt. Er sah die Flasche. Sie stand auf dem kiesigen Boden der Kasematte, ein paar Meter hinter ihm. Er humpelte hin, hob sie auf, entkorkte sie. Sacra. Mild und wunderbar, der allerbeste. Seit Jahren hatte niemand mehr im Regiment so guten Sacra gebrannt. Larkin wusste, was es war: ein Geschenk. »Danke«, sagte er und trank einen kleinen Schluck. Thron, aber der war gut. Banda wachte auf und sah ihn an. »Was ist denn los?«, murmelte sie. »Ist das deine?«, fragte Larkin und zeigte ihr die Flasche. »Nein.« »Das dachte ich mir. Schlaf weiter.« Das tat sie. Sie war müde und verkatert. Sie fing wieder an zu schnarchen. Larkin trank einen letzten Schluck, dann verkorkte er die Flasche und schob sie in seinen Brotbeutel. Er setzte sich wieder.
Dann warf er einen Blick auf seinen Chrono. Fünf Uhr sechsundzwanzig. Jemand lehnte sich hinter ihm in die Kasematte und rief: »Alles fertigmachen!« Larkin schaute sich um. Da war niemand, aber die Stimme kannte er. Klamme Furcht glitt ihm das Rückgrat rauf und runter. In seinem ganzen Leben hatte er nur eine einzige Person gekannt, die um fünf Uhr sechsundzwanzig am Morgen schon so fröhlich und hellwach gewesen war, nur eine Person, die aufstand, um die Runde zu machen und nach den Posten zu sehen. Nur eine Person mit dieser Stimme. Der Name dieser Person lautete Colm Corbec. VI »Wie spät ist es?«, fragte Hark. »Es ist … es ist fünf Minuten später als bei Ihrer letzten Frage«, erwiderte Ludd. »Fünf Uhr siebenundzwanzig.« »Oh«, sagte Hark. Im Feldlazarett war es still. Die anderen Verwundeten schliefen entweder natürlich oder waren gnädigerweise gegen die Schmerzen betäubt. Von seinem Platz auf Harks Bettkante konnte Ludd einen der Assistenzärzte sehen, Lesp, der auf einem Stuhl schlief. Ludd wusste, dass das medizinische Personal den größten Teil der Nacht wach gewesen war. »Hören Sie, das ist viel zu früh«, sagte Ludd. »Sie müssten eigentlich schlafen. Ich komme besser in einer Stunde noch mal wieder.« »Nein, nein, bleiben Sie«, erwiderte Hark. »Ich habe nur gefragt, weil hier drin die Zeit so langsam vergeht. Sie bewegt sich wie ein Gletscher. Ich freue mich über die Gesellschaft. Ich schlafe ohnehin nicht viel.« »Also gut.« Hark lag bäuchlings im Bett, ein dünnes Laken mehr schlecht als recht über Rücken und Beine, um etwas Wärme zu spenden. Ludd sah die Umrisse dunkler, fleckiger Verbände durch das Laken und roch Bradsalbe und verkohltes Fleisch. »Beenden Sie Ihren Bericht, Ludd.«
»Da gibt es nicht viel zu berichten. Niemand wurde gemeldet, und die allgemeine Disziplin ist gut, trotz der Lage.« »Machen sie Ihnen das Leben schwer?« »Was? Nein, Herr Kommissar.« »Liegt das daran, dass Sie sich nicht in eine Lage begeben, wo sie Ihnen das Leben schwer machen könnten?« Ludd antwortete nicht sofort. »Sie dürfen nicht schwach sein, Ludd. Sie müssen ihnen ins Gesicht sehen und sie bei der Stange halten.« »Das ist … das ist meine Absicht, Kommissar.« »Wenn Sie das nicht tun, fahren sie mit Ihnen Schlitten«, sagte Hark. »Und das meine ich so, wie ich es sage. Sie fahren mit Ihnen Schlitten. Sie müssen ihnen zeigen, wer das Sagen hat.« Ludd nickte. »Was?« »Nichts, Herr Kommissar.« »Ach, geben Sie mir was, worüber ich nachdenken kann, Feth noch mal!«, explodierte Hark. »Nennen Sie mir ein Problem, das ich lösen kann, solange ich hier bin!« Curth betrat das Feldlazarett und sah Ludd missbilligend an. Ludd hob eine Hand zum Gruß und lächelte. Sie runzelte die Stirn und ging wieder. »Sie stören die anderen«, flüsterte Ludd. »Dann reden Sie mit mir.« Ludd seufzte. »Sie sagten, ich müsste ihnen zeigen, wer das Sagen hat. Tja, Gaunt hat das Sagen … Rawne … Kolea … ich nicht.« »Die Offiziere werden ihren Kommissar unterstützen«, sagte Hark. »Die Offiziere halten mich für einen dummen Jungen. Sie lachen über mich.« »Wer lacht?« Ludd zuckte die Achseln. »Rawne?« »Ja, und er ist hinterlistig. Die anderen, selbst Gaunt, da glaube ich nicht, dass es respektlos gemeint ist, aber sie können einfach nicht anders. Ich habe keine Autorität.« Hark bewegte sich auf seiner Pritsche und verzog schmerzlich das Gesicht. »Das ist doch bloß schwaches Gerede, JuniorKommissar. Geben Sie mir Papier und etwas zu schreiben.«
»Herr Kommissar?« »Geben Sie mir ein Blatt und einen Stift und irgendetwas als Unterlage.« Ludd reichte Hark das Gewünschte. Er gab ihm das Feldtagebuch als Unterlage. Hark lag auf dem Bauch und schrieb eifrig auf dem Stück Papier, wobei er ob der Anstrengung laut grunzte. Ludd sah rote Brandwunden auf Harks entblößtem organischen Arm. »Was schreiben Sie da, Herr Kommissar? Darf ich fragen?« »Halten Sie den Mund.« Hark schrieb zu Ende, faltete das Papier zusammen und gab es Ludd zusammen mit dem Stift zurück. »Wenn Sie sich das nächste Mal nicht in der Lage sehen, von Ihrer Autorität Gebrauch zu machen, geben Sie das Gaunt.« »Darf ich es lesen?« »Nein. Geben Sie es ihm einfach.« Ludd verstaute das Papier und den Stift in seiner Jackentasche. »Nehmen Sie das auch mit«, sagte Hark, indem er das Feldtagebuch zur Seite warf. »Ach, deswegen wollte ich Sie noch etwas fragen, Herr Kommissar«, sagte Ludd. »Weswegen?« »Wegen des Feldtagebuchs. Ich habe versucht, es weiterzuführen, wie angewiesen.« »Und?« Ludd schluckte. »Ich habe natürlich zurückgeblättert und die anderen Einträge gelesen, um mich mit Ihrer Methode und Ihren Inhalten vertraut zu machen. Mir ist aufgefallen … wie soll ich es ausdrücken?« »Bald?«, schlug Hark vor. »Mir sind durchgestrichene Passagen aufgefallen. Einige Veränderungen, wo Sie etwas geschrieben und dann die Formulierung anschließend verändert haben.« »Es ist ein Tagebuch, Ludd«, sagte Hark, »da läuft das so. Der Schlussbericht wird noch mal ins Reine geschrieben.« »Aber ich bin nicht umhin gekommen … einige der Dinge zu lesen, die Sie durchgestrichen haben. Die Worte waren leserlich. Über Ihre Träume, Herr Kommissar.« »Das waren private Anmerkungen, die ich gestrichen habe, weil sie in den Aufzeichnungen nichts zu suchen haben.«
»Aber sie beunruhigen mich trotzdem. Ihre Bemerkungen über die Träume und Ihre Unruhe. Sie sagten, Sie könnten nicht schlafen, und …« »Das reicht, Ludd. Vergessen Sie, was Sie gelesen haben. Das geht Sie nichts an.« Ludd stand auf, salutierte, setzte seine Mütze auf und wandte sich zum Gehen. Dann setzte er sich wieder. »Wissen Sie was? Ich nehme Ihren Rat an. Doch, es geht mich etwas an. Es geht mich als amtierenden Polit-Offizier etwas an, dass Ihre Träume Sie so sehr beunruhigen, dass Sie keine Ruhe finden. Zum Wohl des Regiments verlange ich von Ihnen, dass Sie sich erklären.« Längere Zeit herrschte Stille. »Fertig?«, fragte Hark. »Ja.« »Gehen Sie.« »Nein, ich glaube nicht, dass ich gehen werde.« Ludd beugte sich vor, und seine Stimme war ein hartes Flüstern. »Was geht da vor, Hark? Was beunruhigt Sie so, und sogar schon, bevor wir hier angekommen sind?« »Sie haben kein Recht zu fragen …« »Ich habe Autorität, Hark. Über Sie. Sie haben sie mir verliehen, wissen Sie noch? Und jetzt fangen Sie an zu reden!« Hark fing an zu lachen. »Das ist gut. Das ist tatsächlich richtig gut, Nahum. Ich bin beeindruckt. So werden Sie vor Rawne und den anderen bestehen.« »Danke. Ich warte.« Hark verstummte. »Muss ich Sie melden?«, fragte Ludd. Hark drehte den Kopf und schaute Ludd von der Seite an. Seine dunklen Augen waren durch den Schlafmangel und noch etwas anderes noch dunkler. »Ich habe seit Jahren nicht mehr gut geschlafen, Nahum. Mit Unterbrechungen schon seit mindestens fünf Jahren nicht. Träume begleiten mich und stören meinen Schlaf.« »Albträume?« »Nein, nichts so Grandioses oder Offensichtliches. Nur ein schlechtes Gefühl. Das Muster hat sich verändert. Es hat Perioden ohne sie gegeben – wunderbare, klare Perioden, die manchmal Monate dauerten. Aber in letzter Zeit waren sie wieder da, in diesen letzten Monaten, und es ist schlimmer geworden, seit wir auf
Jago sind, und noch schlimmer, seit wir hier sind, an diesem verdammten Ort.« »Nur weiter. Können Sie sich an irgendetwas aus den Träumen erinnern?« »Nein«, sagte Hark und schloss die Augen. »Es ist so … als wenn Sie sich Stunden nach dem Aufwachen an einen Traum erinnern.« »Ich kenne das Gefühl.« Hark nickte. »So in etwa. Eine jähe Erinnerung an Trauer und Schmerz.« »Haben Sie es jemandem erzählt?« »Ich habe mit Dorden geredet. Er hält es für einen TraumaEffekt infolge des Verlusts meines Arms.« »Wie ist das passiert?« Hark öffnete die Augen und starrte Ludd wieder an. In seinen Pupillen stand brütendes Elend. »Bei der Schlacht um Herodor, im Kampf an der Seite der Heiligen. Wir wurden von Loxatl-Söldnern angegriffen. Sie haben ihn weggeschossen.« »Oh.« »Sie haben mich noch nie danach gefragt, Nahum.« »Ich hatte nie den Wunsch, Herr Kommissar.« Hark bewegte sich auf dem Bauch und schaute weg. »Na, jedenfalls, das ist es nicht. Es ist nicht der Arm. Ich wünschte, er wäre es. Es ist etwas anderes. Manchmal, häufiger in diesen letzten Wochen, überkommt es mich auch, wenn ich wach bin. Aus dem Nichts, wenn ich wach bin. Dann höre ich …« »Tanithische Dudelsäcke?«, fragte Ludd. »Sie sind clever, Ludd. Habe ich Ihnen das schon erzählt?« »Als Sie unter Schmerzmittel standen, Herr Kommissar.« »Tanithische Dudelsäcke«, seufzte Hark. »Ich höre sie, und wenn ich sie höre, weiß ich, dass gleich das Töten anfängt.« Stille kehrte ein. Einer der Verwundeten im Lazarett wachte auf und fing an zu stöhnen. »Wie spät ist es, Ludd?«, fragte Hark. »Fünf Uhr einunddreißig«, sagte Ludd. »Gehen Sie und machen Sie Ihre Runde.« Ludd stand auf. »Bevor Sie gehen«, sagte Hark. »Geben Sie mir das Blatt zurück.« Ludd holte es aus der Tasche, entfaltete es und las es.
In krakeliger Handschrift stand darauf: »An Kommissar-Oberst Gaunt. Wenn Nahum Ludd Ihnen diesen Zettel gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass er hoffnungslos unfähig ist, seine Pflichten als Ihr Regimentskommissar zu erfüllen. Bitte schießen Sie dem traurigen Armleuchter eine Kugel in den Kopf und werfen Sie seinen erbärmlichen Kadaver nach draußen und den Aasvögeln zum Fraß vor. Ihr V. H.« »Das ist witzig«, sagte Ludd. »Ich habe es ernst gemeint«, erwiderte Hark. »Deswegen ist es ja witzig.« »Geben Sie es mir.« »O nein«, sagte Ludd. »Ich will nicht, dass Sie es jemand anders geben. Ich glaube, ich behalte es. Und vielleicht, nur vielleicht, werde ich Sie dafür nicht melden.« Ludd konnte sehen, dass Hark lachte, obwohl sein Kopf abgewandt war. »Ich werde Ihnen einen Befehl geben«, sagte Ludd, indem er sich über Hark beugte. »Ach, wirklich?« »Ja. Bei meiner Autorität als Regimentskommissar befehle ich Ihnen, hier zu bleiben. Glauben Sie, Sie schaffen das?« Hark erklärte Ludd sehr genau, wo er sich seinen Befehl hinschieben könne. Ludd lächelte. »Gut. Ich glaube, wir wissen beide, wo wir stehen«, sagte er und verließ das Lazarett. VII Der Stolperdraht zog sich einen Moment stramm und erschlaffte dann wieder. Er zog sich noch einmal stramm. Wes Maggs drehte sich, um einen bequemeren Teil der Wand zu finden, an die gelehnt er schlief. VIII Mkoll hob die Lampe und leuchtete ihnen voraus. Die Wandlampen in diesem Abschnitt des Hauses schienen vollkommen erloschen zu sein.
»Nun?«, fragte er. Dalin und Beltayn sahen die Karten im Licht der Taschenlampe durch, die Dalin in der Hand hielt. »Warte«, sagte Beltayn. »Irgendwas ist hier faul.« »Schon wieder?«, fragte Bonin, indem er ein Gähnen unterdrückte. »Dafür habt ihr mich geweckt?« »Warte einfach«, sagte Mkoll zu ihm. Der Fünf-Mann-Trupp Späher, der von Hwlan angeführt wurde, tauchte wieder vor ihnen im Korridor auf. »Da ist nichts, Chef«, sagte Hwlan müde. »Aber auf der Karte …«, begann Beltayn. »Vielleicht ist es versteckt, eine Geheimtür«, sagte Dalin. »Wir könnten die Wände abklopfen.« »Nicht du auch noch«, sagte Mkoll. »Du bist genauso schlimm wie Baskevyl.« »Halt, halt, halt!«, sagte Beltayn. »Das hier ist Osten acht zentral, richtig?« »Osten neun zentral«, sagte Bonin. »Nein, Osten acht«, widersprach Hwlan. »Seid still, seid still!«, warf Beltayn ein. »Seht mal her, legt diese beiden übereinander.« Er hielt die beiden Karten hoch, damit sie einen Blick darauf werfen konnten. »Hier müsste eine Kreuzung sein, und zwar nach Süden.« »Hier ist aber nichts«, knurrte Mkoll. Dalin zuckte zusammen. Er hasste die Vorstellung, die besten Späher zu verärgern, und das Ganze war seine Idee gewesen. »Nichts!«, blaffte Mkoll erneut und schlug mit der Faust vor ein satinglänzendes braunes Paneel. »Seht ihr?« »Äh, Chef?«, fragte Bonin. Mkoll drehte sich langsam um und klopfte noch einmal vor das Wandpaneel. Ein hohles Geräusch ertönte. »Ach du Heiliger Thron«, sagte Mkoll und schluckte schwer. »Ich glaube es nicht.« »Brecheisen!« rief Bonin. »Brecheisen, sofort!« IX
Fünf Uhr dreiunddreißig. Larkin ging zu den Klappen von Ausguck sechs und hob eine davon. Draußen hatte sich der Wind zu einem vagen Säuseln gelegt. Der Staub war verschwunden. Er ließ sein Zielrohr wandern. Er konnte nach unten schauen und hatte den Pass klar im Blick, da die Klippen im Widerschein einer kalten aufgehenden Sonne erstrahlten. Alles harte Schatten und so still wie Eis. Da unten, irgendwas … Nein, nur die Überreste des Wassertransports vom Tag zuvor, die noch im Freien lagen. Und ein paar Leichen, die gefrorenen sterblichen Hüllen von Freunden und Kameraden. Larkin humpelte zum Eingang der Kasematte zurück und schaute nach rechts und links. Ein leerer Korridor, in dem sanft das Licht pulsierte. Kein Bragg. Kein Colm Corbec. Überhaupt keine Geister. Er nahm sein Gewehr, setzte das Zielrohr ein und trat Banda. Sie rührte sich. »Steh auf«, sagte er. »Verpiss dich.« »Steh verdammt noch mal auf. Sie kommen. Ich kann es spüren.« »Aha, dann spür mal weiter.« Larkin zückte seine Feldflasche und schwenkte den Rest seiner Ration vom vergangenen Abend darin. Er warf sie ihr zu. »Trink das, um Feths willen. Du brauchst Wasser. Du musst auf Draht sein.« Sie trank die Flasche leer und stand auf. Larkin war bereits an der Klappe. Banda schob ihr Gewehr neben seines und öffnete die Abdeckung des Zielrohrs. »Was hast du gesehen?«, fragte sie heiser. »Noch nichts. Pass einfach weiter auf.« X Westen drei zentral gleich an der Basis war ruhig. Merrt schlich weiter durch den Korridor zur Kreuzung, 571RB in den Händen. Es zuckte plötzlich. Merrt fuhr scharf herum und zielte aus der Schulter.
»Gah!«, rief Ludd, der um die Ecke bog und jäh und erschrocken stehen blieb. »Was haben Sie denn vor?« Merrts klobiger augmetischer Kiefer erzeugte einen gutturalen Laut, als er die Waffe rasch zur Seite schwang. »Gn… gn… gn… Verzeihung, Kommissar.« Ludd trat blinzelnd einen Schritt zurück. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Soldat. Was haben Sie sich dabei gedacht?« »Ich gn… gn… gn… habe etwas gehört.« »Ja, mich«, schnauzte Ludd, indem er sich mit dem Zeigefinger vor die Brust tippte. »Soldat, wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, mit einem Lasergewehr … einem scharfen Lasergewehr, stelle ich fest … bei Tagesanbruch durch die Korridore zu schleichen?« »Ich habe etwas gehört«, erwiderte Merrt. »Da müssen Sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen«, rief Ludd. »Sie hätten mich erschießen können.« Merrt wusste, dass er das gekonnt hätte. Oder wenigstens 571RB. »Ich war besorgt, dass es gn… gn… gn… Aktivität gibt. Dem wollte ich nachgehen.« »Und Sie haben nicht daran gedacht, es gleich zu melden?« Merrt nahm Haltung an und ließ die Waffe zur Seite sinken. Sie zuckte wieder. »Nein. Das war nachlässig von mir, wird mir klar.« »Soldat Merrt, richtig?«, fragte Ludd. Er wusste ganz genau, wer Merrt war. Der hässlichste Hund im ganzen Regiment, mit dem Kiefer. Auf der Fahrt zur Befreiung Gereons hatte Ludd mit Kommissar Hark daran gearbeitet, Merrt vor Schwierigkeiten zu bewahren, die er sich im Hexenkessel des Truppentransporters beim Glücksspiel eingehandelt hatte. Als Resultat davon war Merrt in der BIN-Abteilung gelandet. Merrt hatte Ludd immer leidgetan, leid wegen seiner Verwundung, leid wegen seines Pechs, wegen der BIN-Abteilung und den unflexiblen Verordnungen des Kommissariats, die diese Bestrafung verlangten. Jetzt tat er Ludd nicht mehr so sonderlich leid. »Ich könnte Sie dafür disziplinarisch bestrafen, Merrt«, sagte er, wobei er sich bemühte, seine Stimme mit der Kraft der Verärgerung zu unterlegen. »Das könnte ich, summarische Bestrafung.« Merrt starrte ihn an. »Ja, klar.« »Ich bin amtierender Kommissar, Merrt! Sie werden mich korrekt und mit Respekt anreden!«
»Ach, sei doch still, du bist doch nur ein gn… gn… gn… Junge.« Außerordentliche Wut stieg in Ludd hoch. Er hatte Hark mit lebhaftem Selbstvertrauen verlassen. Merrt hatte sich den falschen Moment ausgesucht, um ihm respektlos daherzukommen. Hätte Ludd darüber nachgedacht, wäre ihm die Ironie von Merrts unfehlbarem Pech dabei aufgegangen. Doch Ludd dachte nicht mehr nach. Er war in Fahrt. Er zog seine Pistole. »Zurück an die Wand, Soldat!« Merrt rührte sich nicht. Ludd richtete die Pistole auf ihn. Was hatte Hark gesagt? Er sollte stark sein? Seine Autorität ausüben und betonen? Sie müssen ihnen ins Gesicht sehen und sie bei der Stange halten. Als Kommissar hatte er das Recht, den Mann auf der Stelle zu erschießen. Die Liste der Vergehen war lang genug: Respektlosigkeit gegenüber einem vorgesetzten Offizier. Verweigerung eines direkten Befehls. Verunglimpfung eines vorgesetzten Offiziers. Bedrohung eines vorgesetzten Offiziers mit einer entsicherten Waffe. Tragen einer ungesicherten Waffe im Quartier ohne ausdrückliche Erlaubnis. Unterlassung der Anzeige eines mutmaßlichen Alarms … mehr als genug. Aber … »Du wirst mich nicht gn… gn… gn… erschießen, Junge.« Das letzte »Junge« gab den Ausschlag. In Ludd riss etwas. »Bei der Autorität des Heiligen Throns …«, begann Ludd. Eszrah glitt hinter Ludd aus dem Schatten und nagelte ihn an die Wand. Ludd wand sich, aber Eszrah gelang es irgendwie, ihm die Pistole aus der Hand zu reißen. »Au! Au!«, rief Ludd. »Sie rohig, Seele«, sagte Eszrah. »Hür doch …« XI Baskevyl drehte sich um und ging durch den Korridor zurück. Das schlurfende Kratzen wurde lauter. Er kam, wühlte sich unter ihm nach oben. Der Wurm in der Dunkelheit, der … Sei still!, zwang sich Baskevyl. Er zog trotzdem seine Laserpistole.
XII »Kannst du sie jetzt sehen?«, sagte Larkin, während er durch sein Zielrohr blinzelte. »O ja«, erwiderte Banda. »Wilderer eins, Wilderer eins«, sagte Larkin in sein Kom. »Wilderer eins an alle Wachen. Kontakt Haupttor. Es ist fünf Uhr siebenunddreißig. Bewegt eure Ärsche.« Er sah Banda an. »Wollen wir? Bei drei?« XIII Der Stolperdraht zog sich stramm, und die Glockenklappe hob sich ganz langsam, da sie von außen angehoben wurde. Ein Gesicht lugte zu ihnen herein. Einen Moment sah es aus wie das Fleischwundengesicht der alten Dame in dem schwarzen Spitzenkleid. Aber das war es nicht. Es war die grausame, funkelnde eiserne Gesichtsmaske eines Blutpakt-Kriegers. Wes Maggs schoss trotzdem. Das Gesicht explodierte. XIV Mkoll schritt über die Fetzen der braunen Paneele hinweg und schaute in das Loch. »Ich rieche Luft«, sagte er. »Und? Los, vorwärts«, sagte Beltayn. »Er gibt hier die Befehle, Bel«, sagte Bonin zu dem Adjutanten. »Es ist frische Luft«, fuhr Mkoll fort. »Staub.« Er sah Dalin an. »Du könntest den Hof gefunden haben, mein Junge.« Dalin lächelte. Seine Hochstimmung war kurzlebig. Mkoll riss plötzlich sein Lasergewehr an die Brust und schaute zum Dach. »Das waren Laserschüsse«, sagte er. »O ja, ohne jeden Zweifel«, sagte Bonin. »Bewegt euch!«, rief Mkoll. XV
»Da kommen sie«, murmelte Larkin, während er sich auf seinen ersten Schuss vorbereitete. »Ach, Thron, das sind aber verdammt viele!«, ächzte Banda. »Erschieß sie einfach einen nach dem anderen«, erwiderte Larkin und schoss.
ELF DER ZWEITE ANGRIFF
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Im kalten Licht des frühen Morgens griff der Blutpakt das Haus am Ende der Welt an zwei Fronten an. Eine Streitmacht von über dreitausend Männern strömte aus den Felsen beiderseits des Passes und bestürmte massiert das Wachhaus und den Südhang. Gleichzeitig griff ein mindestens vierhundert Mann starker Sturmtrupp die Glocken und Kasematten der Gipfelgalerien von der Nordseite an, nachdem er die steilen Klippen hinter Hinzerhaus erklommen hatte. Gaunt erwachte schlagartig aus leichtem Schlaf, zog seinen Sturmmantel an und machte sich so schnell ein Bild über die Lage, wie Koleas Adjutant Rerval ihn mit Informationen versorgen konnte.
»C-Kompanie vorwärts zum Tor«, befahl Gaunt. »H und J zur oberen West-Linie. Alle überzähligen schweren Waffen zu den Kasematten im Süden.« Rerval gab die Befehle rasch mit seinem Kom-Gerät weiter. Ströme rennender Gardisten donnerten durch die Basis, zu den unteren und oberen Ebenen. Das Haus erwachte schlagartig. Es gab viel Geschrei. Draußen und oben wurde viel geschossen. »Wetterbedingungen?«, fragte Gaunt. »Klar, Herr Kommissar. Der Staub hat sich kurz vor Beginn des Angriffs gelegt«, erwiderte Rerval. »Warum haben sie gewartet, bis es aufklart?«, fragte Gaunt laut. »Der Staub ist ihr Hauptvorteil. Sie hätten in seiner Deckung vorrücken und uns überrumpeln können.« »Ich glaube, das könnte auch ihre Absicht gewesen sein, Kommissar-Oberst«, sagte Karples, der gerade mit Berenson in der Basis eintraf. »Könnten Sie das näher erläutern?« »Der Hauptangriff auf das Tor sollte wahrscheinlich erst beginnen, nachdem die Elemente in der Nordwand signalisiert hätten, dass sie in Stellung und bereit sind«, sagte der Taktik-Offizier in wegwerfendem Ton. »Das Erklimmen der Klippen könnte aber länger gedauert haben als erwartet, nachdem Ihre Späher die Kletterhilfen beseitigt haben. Als diese Elemente endlich in Stellung waren, war die Sonne aufgegangen und der Staub hatte sich gelegt. Offensichtlich haben sie sich entschlossen, trotzdem anzugreifen.« »Hoffen wir, dass sie dieser Kompromiss teuer zu stehen kommt«, grinste Berenson. Er hielt ein nagelneues kurzes Lasergewehr mit Bullpupgriff in der Hand. »Wo wollen Sie mich einsetzen?« »Wo ich Sie sehen kann«, erwiderte Gaunt geistesabwesend. »Kolea?« »Schon unterwegs!«, rief Kolea aus der Basis zurück. »Rawne?« »Einheiten sind unterwegs auf Station!«, erwiderte Rawne von der Haupttreppe. »Du hast den Vordereingang, Eli!«, rief Gaunt. »Ich übernehme die Dachstube!«
»Ewiges Leben!«, rief Rawne zurück und verschwand dann mit seinen Männern die Treppe empor. Rerval packte sein Kom-Gerät zusammen, um Kolea zu folgen. »Wo ist Beltayn?«, fragte ihn Gaunt. »Ich weiß es nicht, Herr Kommissar. Aber sein Kom-Gerät ist noch hier, wo er es aufgestellt hat.« »Ich brauche ein Kom-Gerät bei mir«, sagte Gaunt aufgebracht. »Das kann ich übernehmen«, sagte Karples. »Gut. Schnappen Sie sich das Gerät und begleiten Sie mich. Criid!« »Herr Kommissar!« »Nehmen Sie Ihre Kompanie und folgen Sie mir nach oben!« II Tief im Herzen des Hauses hörte Mkoll auf zu laufen und drehte sich um. »Zurück«, sagte er. »Gaunt braucht mich«, widersprach Beltayn. »Ich kläre das mit Gaunt«, sagte Mkoll. »Was da auch vorgeht, wir brauchen das Wasser. Nehmen Sie Dalin und finden Sie diesen verdammten Hof, während wir uns um den Rest kümmern. Bonin, Sie gehen mit. Hwlan, Coir, Sie auch.« Beltayn und Dalin machten mit den drei Spähern kehrt und eilten den Weg zurück. »Legen wir einen Zahn zu!«, sagte Mkoll zum Rest des Trupps. Sie erreichten eine Treppe und erklommen zwei Etagen. Auf dem zweiten Absatz wurde das Krachen und Knattern des Schusslärms von oben beunruhigend laut. »Oberer Westen«, sagte Mkoll. »Dachetagen.« Sie liefen weiter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Als sie den Absatz erreichten, der zu Westen drei zentral führte, begegneten sie der L-Kompanie, die auf dem Weg nach oben war. Sie traten beiseite, um die Einheit durchzulassen. Mkoll sah Ludd, Merrt und den Nachgahner, die der Einheit folgten. »Kommissar!«, rief er. Ludd rannte herüber, wobei er beständig den ihm entgegenkommenden Leuten auswich. »Ja?«
»Ich gehe nach oben«, sagte Mkoll. »Beltayn hat vielleicht die Ladung Wasser gefunden, die wir gesucht haben. Dürfte ich vorschlagen, dass Sie ihn unterstützen und sich vergewissern?« »Selbstverständlich«, sagte Ludd. Insgeheim freute es ihn, dass der ranghöchste Späher ihm mit dem angemessenen Respekt begegnete. Nichts an Mkoll brachte etwas anderes zum Ausdruck als die Tatsache, dass Ludd der Regimentskommissar war. »Wo ist er?« »Mklane!«, rief Mkoll einem seiner Späher zu. »Chef!« »Zeigen Sie dem Kommissar den Weg.« »Wird gemacht, Chef!« »Wir brauchen dieses Wasser«, sagte Mkoll leise zu Ludd. »Männer können nicht kämpfen, ohne etwas zu trinken.« »Ich verstehe«, sagte Ludd. »Ausgezeichnete Neuigkeiten.« Ludd lächelte und eilte Mklane hinterher. Mkoll nickte Eszrah zu, als der Nachgahner an ihm vorbeihuschte. »Pass auf Ludd auf«, zischte Mkoll. »Awer gewet, Seele«, hauchte Eszrah mit einem Ausdruck gegenseitigen Verständnisses. Mkoll drehte sich um und bedeutete seinen verbliebenen Spähern, der Kompanie nach oben zu folgen. »Wohin soll ich gn… gn… gn… gehen, Chef?«, fragte eine Stimme. Mkoll blickte über die Schulter. Er sah Merrt. Mkoll zuckte die Achseln. Seiner Erfahrung nach war der arme Hund dieser Tage zu nicht mehr viel nütze. »Bleiben Sie beim Kommissar. Wahrscheinlich braucht er ein paar starke Arme, die Wasserfässer tragen.« »Zu Befehl, Chef«, erwiderte Merrt. Merrt machte kehrt. Mkoll und die Späher waren bereits auf der Treppe verschwunden, und die letzten Nachzügler der LKompanie folgten ihnen. Er war allein. Die Geräusche entfernter Feuergefechte hallten durch den leeren Korridor. Merrt hob sein Gewehr und folgte Ludd die Treppe hinunter. III
Die südlichen Kasematten und Türme von Hinzerhaus waren in ein Chaos aus Entladungsblitzen gehüllt. Konzentrierte Schüsse hagelten aus den Schießscharten der Befestigungen in der Felswand herab und hämmerten auf die angreifenden Reihen der Infanterie ein. Die Geister forderten den Preis für den Überraschungsangriff. In den ersten vier Minuten des Gefechts hielten die in den Abwehrstellungen positionierten Scharfschützen und Geschützmannschaften in die Angreifer und mähten sie reihenweise nieder. Viele hundert Soldaten des Erzfeinds fielen. Schwere Waffen knatterten und spien Kugeln aus den Kasematten, die ganze feindliche Trupps erledigten. Leiber fielen und blieben im weißen Staub liegen. Werfer spien kreischende Raketen in die Angriffswellen, und diese Raketen schleuderten bei jedem Einschlag brennende Gestalten in die Luft. Die Hochenergieschüsse der Scharfschützen trafen das anstürmende Heer und schalteten gezielt einen Krieger nach dem anderen aus, indem sie die rennenden Gestalten förmlich zerrissen. Etwa zehn Minuten lang spielte die Festung Hinzerhaus ihre Rolle auf bewundernswerte Weise. In der Sicherheit der alten Kasematten machten die verteidigenden Geister das Gebiet vor dem Haupttor zu einer Todeszone und schlachteten jede Welle ab, die angestürmt kam. »Ich bin draußen!«, rief Banda, indem sie sich von der Schießscharte wegrollte. »Keine Muni!« »Nimm meine!«, erwiderte Larkin, während er sich ebenfalls wegrollte. Sein Gewehr hatte sich soeben geweigert zu schießen. Zeit für einen Wechsel des Laufs. Banda griff sich vier von Larkins Magazinen und rammte das erste hinein. Sie nahm wieder ihre Feuerstellung ein und schoss. »Scheiße!«, sagte sie. »Daneben?«, fragte Larkin, während er in seiner Feldtasche nach einem frischen Lauf suchte. »Konzentrier dich, du dämliches Miststück. Und merk dir … trink nicht auf Wache.« »Halt einfach die Klappe!«, rief Banda, wobei sie das nächste Hochenergiemagazin einlegte. Sie schoss noch einmal. »Ach, Scheiße! Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
»Du verschwendest Muni«, fauchte Larkin, der gerade einen frischen Lauf einsetzte. Er drehte ihn fest. »Sei nicht so nutzlos, sonst bist du dein Abzeichen los.« »Gak dich ins Knie, Larks«, erwiderte sie, während sie zum nächsten Magazin griff. »Ich kann das hier.« »Dann zeig’s mir«, sagte Larkin. Er prüfte seine Waffe. Schussbereit. »Muni hierher!«, rief er. »Und Läufe! Bewegung!« Er lud eines von den paar Hochenergiemagazinen, die ihnen noch blieben, und wälzte sich vor die Schießscharte. Er zielte und verlangsamte seinen Atemrhythmus. Das Gewehr ruckte gegen seine Schulter. Tief unter ihm wurde ein heulender Standartenträger nach hinten geschleudert und blieb auf dem Rücken im Staub liegen. »Das hat ihm das Maul gestopft.« »Peng!«, verkündete Banda neben ihm. Sie schob ihre Waffe wieder durch den Schlitz und strahlte Larkin an. »Hast du gesehen? Hast du das gesehen? Sauber erledigt.« Beide luden nach. Soldat Ventnor, der als Munitionsgänger auf Ebene sechs fungierte, platzte durch die Luke hinter ihnen in den Ausguck. Er war völlig außer Atem und deponierte keuchend einen schweren Beutel auf dem Boden. »Magazine!«, verkündete er. »Und Läufe?«, fragte Larkin, ohne sich umzudrehen, da er gerade zielte. »Nein«, erwiderte Ventnor. »Ich brauche Läufe! Bewegung!«, befahl Larlin. Krach. Wieder ein sauberer Kopfschuss. »Pass bloß auf, dass sie dich nicht auf dem falschen Fuß erwischen«, fauchte Ventnor aufgebracht und verschwand wieder. »Peng!«, sagte Banda mit großer Zufriedenheit. »Hast du das gesehen? Hast du ihn umfallen sehen?« »Ja«, erwiderte Larkin, während er das nächste Magazin einlegte und mit dem Zielrohr nach weiteren Opfern suchte. »Gut.« »Gak. Mein Lauf hat den Geist aufgegeben«, verkündete Banda, indem sie sich wieder von der Scharte wegrollte. »In der Tasche da sind noch zwei. Hol dir einen«, erwiderte Larkin. Krach. Ein Blutpakt-Offizier fiel um, mitten im Schreien und mit erhobenem Schwert. Diese eiserne Maske würde sich auch mit noch so viel Arbeit nicht wieder zusammensetzen lassen.
Banda kniete sich hin und mühte sich, ihren ausgebrannten Lauf abzuschrauben. »Beeil dich«, rief Larkin, während er den nächsten Schuss setzte. Zu tief. Er hatte sich verschätzt. Ein Blutpakt-Krieger verlor seine Hüfte anstelle des Kopfes. Trotzdem. »Gak!« »Was?« »Er hat sich verklemmt! Er lässt sich nicht mehr abnehmen!« Larkin wendete sich von der Schießscharte ab, um Banda zu helfen. Ihr auswechselbarer Lauf war tatsächlich verbraucht und das Karbongewinde an der Waffe festgebacken. Sie kämpften damit, bis sich der Lauf endlich löste. Banda schraubte einen neuen Lauf ein. »Muni und Läufe!«, rief Larkin. »Ventnor? Wir sind beim letzten angekommen!« Banda und Larkin legten gleichzeitig ein neues Magazin ein und wälzten sich wieder vor die Schießscharte. Larkin suchte ein Ziel. »Peng!«, freute sich Banda. Krach machte Larkins Gewehr. Der Munitionsgänger platzte hinter ihnen wieder in den Ausguck. »Läufe!«, brüllte er. »Endlich«, sagte Larkin. »Runter«, fügte der Munitionsgänger hinzu. Larkin drehte sich um. »Was?«, begann er. Seine Stimme verlor sich. Colm Corbec grinste ihn an. »Runter mit dir, Larks. Und nimm das nette Mädchen mit, in Ordnung?« »Ach, Feth«, ächzte Larkin. Er warf sich auf Banda und schleuderte sich mit ihr von der Schießscharte weg. »He! Au!«, beklagte sich Banda bei der Landung. Eine Sekunde später bekam das Dach der Kasematte direkt über der Schießscharte die volle Wucht der ersten Artilleriegranate ab. IV Unter dem Festungsdach, entlang der Glocken und Kasemattenkuppeln der Kammlinie, verlief die Schlacht sehr viel knapper.
Die Blutpakt-Angreifer hatten zuerst versucht, leise durch die Klappen einzudringen, wie sie es in den vergangenen Tagen öfter getan hatten. Sie fanden die Glocken bemannt, bewaffnet und bereit vor. Die wartenden Gardisten zögerten nicht. Als sich die Klappen öffneten, blitzte Gewehrfeuer auf, das die ersten Angreifer aus nächster Nähe erledigte. Ohne Fluchtmöglichkeit und nur mit einem steilen Abgrund im Rücken versuchte der Feind die Kuppeln zu stürmen und sie durch das schiere Gewicht ihrer überlegenen Zahl zu erdrücken. In den befestigten Stellungen waren Lärm und Rauch höllisch. Die Geister hatten in der Nacht in aller Hast Laufgänge angelegt, meistens aus Flakbrettern, die auf Sandsäcken lagen, sodass sich ihnen die Klappen in Kopfhöhe präsentierten. Die Offiziere der Einheiten hatten schlechte Sicht und waren gezwungen, sich auf die Kom-Kommentare der Männer zu verlassen, die hektisch durch die aufgerissenen Klappen feuerten. Die Offiziere versuchten Feuerzonen zwischen angrenzenden Glocken und Kasematten zu schaffen, um den Angriff abzuwehren, aber die meisten Stellungen, vor allem die in den oberen westlichen Etagen erstickten rasch in einer Flut aus BlutpaktKriegern und Leichenbergen. Wo die Abwehranlagen des Kamms terrassenförmig angeordnet waren, sodass an manchen Stellen drei Reihen Glocken übereinanderlagen, versuchten die Männer in den höheren Etagen ihr Feuer auf jene zu richten, die die unteren Stellungen angriffen. Es gab jedoch kaum Gelegenheit für sauberes, gezieltes Feuer. Der Kampf unter dem Dach war hektisch: ein Chaos aus verzweifeltem Schießen und hastigem Nachladen. Ungefähr sieben Minuten nach Beginn der brutalen Konfrontation gelang dem Feind ein Durchbruch. Ein bereits verwundeter Blutpakt-Krieger sprang hinter einem Leichenhaufen vor einer Glocke in oberer Westen sechzehn hervor und schaffte es, auf die Kuppel zu klettern. Er robbte auf seinem blutigen Bauch vorwärts und warf ein Bündel Granaten durch die nächste Klappe. Die Explosion tötete alle acht Geister in der Kuppel. Bevor sich der dichte, süßliche Fyzelenrauch auch nur ansatzweise verziehen konnte, strömten die Angreifer des Erzfeinds bereits durch die geschwärzten Klappen und überfluteten den Korridor. In der allgemeinen Verwirrung nahmen sie die nächste Glocke im Korridor, indem sie deren Besatzung auf dem Laufgang von hinten niedermähten. Infolgedessen wurde ein zweiter Durchbruch geschaffen.
Zwei Minuten später wurde eine Granate unglücklich durch eine Klappe auf oberer Westen vierzehn abgelenkt und sprengte die Verteidiger von der Plattform. Wieder beeilte sich der Feind, die Kuppel zu stürmen, und schlachtete die Geister ab, die durch die Explosion verstümmelt und benommen waren. Heftige Kämpfe, viele davon blutige Nahkämpfe Mann gegen Mann, tobten jetzt in zwei separaten Korridoren der Dachgalerien. Als Gaunt die oberen Etagen des Hauses erreichte, hatte der Blutpakt die Zähne hineingeschlagen und biss bereits kräftig zu. Gaunt eilte mit Criids Kompanie durch oberer Westen sechzehn und verstärkte unterwegs jede Kuppel mit Männern aus Criids Kompanie. Er musste brüllen, um sich verständlich zu machen. Der Schussregen, der den Deckel jeder Kuppel traf, klang wie Hagel auf einem Blechdach. In den alten Korridoren wallten Mündungsrauchschwaden. Alle paar Sekunden ertönte das trockene, erdige Krachen einer Granatexplosion, und heiße Luft fegte vom Überdruck getrieben durch die engen Räumlichkeiten. Männerstimmen, die vor Bestürzung, Verwirrung oder Schmerzen schrien, waren ebenso laut wie das Gewehrfeuer. »Haben Sie das gehört?«, brüllte Berenson. Gaunt sah ihn an und verzog das Gesicht ob der Vorstellung, von etwas anderem als totalem Lärm umgeben zu sein. Berensons Augen waren weit aufgerissen. »Hören Sie doch!«, rief er. Gaunt hörte sie. Entfernte Geräusche, die Kontrapunkte zum unablässigen Getöse des Krieges neben ihnen setzten: Von der Südwand des Hauses drang ein Pfeifen an ihre Ohren, gefolgt von einem Krachen – dem unverwechselbaren Kennzeichen von Artilleriebeschuss. Augenblicklich war das Kom erfüllt von Geschrei und Meldungen. »Rawne?«, rief Gaunt drängend in sein Helmkom. »Rawne! Zwo, Zwo, hier Eins, hier Eins.« »… Artilleriebeschuss!«, antwortete Rawne, dessen Signal durch Verzerrungen gestört war. »Wir werden aus dem Pass von Artillerie beschossen. Wiederhole, wir werden aus …« »Zwo? Zwo? Wiederholen!« »… setzen uns schwer zu. Richtig schwer! Feth, wir …«
Die Verbindung war plötzlich tot, vollkommen tot, kein Signal mehr. Gaunt hörte, wie die andere Seite der Festung von mehr Granaten getroffen wurde. Diesmal spürte er den Boden leicht erbeben. »Heiliger Thron«, sagte Karples. »Das ist Wahnsinn …« Er redete weiter, aber Gaunt konnte ihn nicht mehr verstehen, weil Criid, Berenson und einige der sie begleitenden Soldaten das Feuer eröffneten. Mit ihren unreinen Kriegsrufen auf den Lippen, stürmten ihnen Krieger des Blutpakts durch den verräucherten Korridor entgegen. Gaunt zog sein Schwert, das Schwert Heironymo Sondars. Es war ihm nach der erfolgreichen Abwehr einer anderen blutigen Belagerung geschenkt worden: der Belagerung der Vervunmakropole. »Männer von Tanith!«, brüllte er. Es blieb keine Zeit mehr, noch etwas zu sagen. Mit Grabenäxten, Brecheisen, Bajonetten und Pistolen griff der Feind an. V Dalin konnte frische Luft riechen. Außerdem hörte er das Heulen und Krachen von Artilleriegranaten sehr viel deutlicher, als Gaunt es vermochte. »Sie machen uns ganz schön die Hölle heiß«, sagte er. »Hört sich so an«, erwiderte Beltayn. »Nur weiter.« Dalin warf einen Blick auf Bonin, Coir und Hwlan. Die drei Späher, die Mkoll ihnen dagelassen hatte, wechselten unbehagliche Blicke. Dalin wusste, dass sie sich nichts lieber wünschten, als woanders zu sein, wo sie sich nützlich machen konnten. Sie waren drei der besten Soldaten des Regiments und verpassten ein Gefecht, um etwas zum Abschluss zu bringen, bei dem es sich im Wesentlichen um ein Versorgungsunternehmen handelte. »Warum geht ihr nicht?«, schlug Dalin vor. »Was?«, fragte Bonin. »Beltayn und ich können die Wasserladung auch allein finden. Warum geht ihr nicht?« »Mkoll hat uns einen Befehl erteilt«, sagte Coir. »Aber …«
»Mkoll hat uns einen Befehl erteilt«, sagte Bonin. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Sie waren durch das Loch gegangen, das sie zuvor in die Wandpaneele gestemmt hatten, und hatten einen Korridor betreten, der seit sehr langer Zeit kein Leben mehr gesehen hatte. Er war trocken, und der polierte Boden war mit einer dicken, makellosen Staubschicht bedeckt. Die Wandlampen in diesem Abschnitt hatten etwas Seltsames an sich. Sie waren von derselben Art wie die Wandlampen in anderen Teilen des Hauses und auch genauso angeordnet, beinahe organisch an ihren dicken Schläuchen an den Wandpaneelen befestigt, aber sie leuchteten in einem durchgängigen Bernstein, ohne zu verblassen und aufzuleuchten. Sie brannten wie alte Lampen, die am Ende ihres Dochts angelangt waren. »Ratet mal, wie wenig mir das gefällt«, murmelte Beltayn. »Rate mal, wie wenig mich das interessiert«, erwiderte Bonin. Sie marschierten langsam vorwärts und ließen dabei fünf Paar Abdrücke im Staub hinter sich zurück. Die Luft bewegte sich wie ein kalter Atemzug. Irgendwo voraus hörten sie den vollen, hallenden Donner herunterkommender Artilleriegranaten. Die Geräusche wurden nicht durch dazwischen liegende Wände oder Türen gedämpft. »Entspricht das irgendeiner Darstellung auf den Karten?«, fragte Hwlan. Dalin studierte die Kartenansammlung, die er trug. »Schwer zu sagen …«, begann er. Hwlan funkelte ihn an. »Tut mir leid«, sagte Dalin. »Tut mir leid reicht nicht«, sagte Hwlan. Der Korridor bog vor ihnen nach links ab und verbreiterte sich ein wenig. Sie gingen eine kleine Treppe hinunter. Die Wände waren mit denselben satinglänzenden braunen Paneelen verkleidet wie alle anderen Wände des Hauses, aber es gab mehr Markierungen und Gravuren auf den Streifen in Schulterhöhe. Beltayn ließ den Strahl seiner Taschenlampe darüber wandern. Keine der Verzierungen ergab irgendeinen Sinn. »Ich wünschte, ich wüsste, was die bedeuten«, sagte er. »Ich wünschte auch, du wüsstest, was die bedeuten«, sagte Bonin. »Türen«, sagte Hwlan.
Voraus, am Rande der Reichweite ihrer Taschenlampen, waren zwei Türen, je eine auf jeder Seite des Korridors. »Sehen wir nach«, sagte Bonin im Flüsterton. Sie näherten sich der Tür zur Linken. Sie war solide und aus Holz. Bonin ging zuerst, das Lasergewehr in einer Hand haltend, da die andere zur Messingklinke tastete. Coir war rechts von ihm, die eigene Waffe im Anschlag. Hwlan blieb hinter Bonin, eine Granate in der Hand. Bonin stieß die Tür auf und hechtete hindurch. Coir glitt hinter ihm hinein, das Gewehr schussbereit. Hwlan gab ihnen Rückendeckung. »Feth!«, murmelte Bonin, indem er sich erhob und sein Gewehr herunternahm. »Seht euch das an! Bel?« Beltayn und Dalin huschten an den Spähern vorbei. »Du meine Güte«, ächzte Beltayn. Der Raum war lang und hoch und in der Mitte leicht nach Süden geneigt. Er wurde vom steten Schein der Wandlampen erleuchtet. Vom Boden bis zum Dach war der Raum mit Regalen vollgestellt, Regalen voller staubiger Bücher, Manuskripte und Wälzer. Durch die Mitte des Zimmers zog sich eine Reihe Lesepulte. »Das … das ist eine Bibliothek«, sagte Beltayn. Sie traten ein, sahen sich um, ließen den Strahl ihrer Lampen in die schattigen Ecken der Decke wandern, wohin das bernsteinfarbene Licht nicht reichte. Träger Staub wallte und glitzerte in den Strahlen. Tausende Bücher, Tafeln und Manuskriptrollen stapelten sich auf den durchhängenden Regalbrettern. »Also kein Hof?«, fragte Bonin. »Nein, aber trotzdem eine bedeutende Entdeckung«, sagte Beltayn, der sich die Buchrücken auf dem nächsten Regal ansah. »Wir müssen …« »Wir müssen das Wasser finden«, sagte Bonin. »Augenblick mal«, sagte Beltayn. »Das hier ist …« »Wir müssen das Wasser finden, Bel«, sagte Bonin wieder. »Bücher sind Bücher sind Bücher. Die sind auch noch hier, wenn die Kämpfe zu Ende sind.« Beltayn warf Dalin einen finsteren Blick zu. »Seht euch da hinten um«, gab Bonin Anweisung, und Coir und Hwlan gingen rechts und links von den Pulten durch den Raum und hielten nach Türen Ausschau.
»Sackgasse«, rief Hwlan zurück. »Es gibt keinen zweiten Ausgang«, stimmte Coir zu. »Also gut, dann die andere Tür«, befahl Bonin, und Coir und Hwlan kehrten zum Ausgang zurück. »Wir sollten uns wirklich diese Bücher ansehen«, begann Dalin. »Warum?« »Wir erfahren vielleicht etwas über diese Festung«, sagte Dalin. Bonin lächelte ihn an. Es war kein sonderlich freundliches Lächeln. »Wir haben alles erfahren, was wir wissen müssen. Dieses verdammte Haus ist eine Todesfalle, und wir werden alle hier sterben, wenn es uns nicht gelingt, das Wasser zu finden und eine vernünftige Rundum-Verteidigung aufzuziehen. Informieren wir uns also später über die Geschichte dieser Festung, Soldat Criid, wenn uns nicht gerade der Arsch weggeschossen wird.« »Aber …« »Ach, komm mir nicht wieder mit ›aber‹, sonst verpass ich dir eine.« Dalin verstummte sofort. »Der Junge hat recht«, sagte Beltayn. »Das gilt auch für dich, Bel«, sagte Bonin. »Hwlan?« »Fertig, Mach.« Hwlan und Coir hatten beiderseits der anderen Tür Stellung bezogen. »Nimm sie«, sagte Bonin mit einem Nicken. Hwlan platzte durch die zweite Tür, Coir dicht hinter sich. »Feth! Das ist eine Rüstkammer, Mach.« »Eine was?« »Eine Rüstkammer. Komm und sieh selbst.« Bonin ging mit Dalin und Beltayn im Schlepptau über den Flur und betrat den zweiten Raum hinter Coir und Hwlan. Das lange Magazin wurde von demselben bernsteinfarbenen Schein erleuchtet, hatte eine hohe Decke und war voller Gestelle und Halterungen. Reihen mit alten Waffen, die meisten davon riesig, etwa in der Größe von Kaliber .50, warteten aufrecht in den Holzgestellen auf längst gestorbene Krieger, die nie mehr kommen und sie benutzen würden. Die Mitte des Raums wurde von gepanzerten Bunkern eingenommen. Hwlan nahm eine der alten Waffen und grunzte unter ihrem Gewicht. »Was ist das?«, fragte er. »Ein Lasergewehr?«, fragte Bonin zurück.
»Ja. Ich glaube schon«, erwiderte Hwlan, indem er die Waffe aufklappte. »Einzelschussmagazine nach alter Art wie bei einem Laserwerfer. Feth, dieses Ding ist schwer.« »Mauerbüchsen«, sagte Coir. »Was?«, fragte Bonin. »Mauerbüchsen«, wiederholte Coir, der selbst eine von einem Gestell nahm. Dec Coir war im ganzen Regiment für sein Wissen über antike Feuerwaffen bekannt. Er trug eine Laserwerferpistole als Reservewaffe, die nur Einzelschüsse abgab. »Hm. Groß und plump. Eindeutig Mauerbüchsen«, sagte er, während er die Waffe untersuchte. »Ein anderer Name für sie ist Schanzbüchse. Das sind große, weitreichende Dinger, die zur Verteidigung von Schanzwerken benutzt wurden.« »Das klingt sinnig«, sagte Dalin. »Ich meine, wenn man bedenkt, wo wir sind.« Coir nickte. »Die Kasematten wurden für das Abfeuern dieser Dinger gebaut. Die Erbauer haben sie für eine Armee errichtet, die mit diesen Dingern bewaffnet war. Ich meine, so ist die Festung hier angelegt.« »Um sich wogegen zu verteidigen?«, fragte Bonin. »Ich kann es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen«, sagte Coir. Er betrachtete neugierig die schwere Waffe in seinen Händen. »Thron, die müssen einen unglaublichen Rückschlag haben. Und Durchschlagskraft. Langsame Feuergeschwindigkeit, wohlgemerkt, aber die Durchschlagskraft …« »Muni?«, fragte Bonin. Hwlan hatte einen der Bunker geöffnet. Er war voller Kiesel, braune, seidig glänzende Kiesel von der Größe eines menschlichen Augapfels. »Ist das die Muni?«, fragte er. »Ja, das ist sie«, sagte Coir, der beinahe traurig in den offenen Bunker starrte. »Aber sie sieht tot aus, untätig. Zu lange in der Kiste, schätze ich.« Dalin nahm einen der Kiesel heraus. Er war schwer. Während er ihn hielt, fing er schwach an zu leuchten. »Feth!«, rief er. »Die Wärme deiner Hand heizt den entzündlichen Kern auf«, sagte Coir. »Legen Sie das bitte wieder weg, Soldat Criid.« Dalin legte den Kiesel zurück in den Bunker, und das Licht darin erlosch sofort. »Das ist immer noch nicht das Wasser«, sagte Bonin.
»Ja, aber …«, begann Coir. »Ja, aber nichts«, sagte Bonin. »Stell das weg. Wir gehen weiter.« Widerstrebend stellte Coir die Schanzbüchse wieder in das Gestell. Hwlan folgte seinem Beispiel. Bonin schnaufte. »Folgen wir der frischen Luft«, schlug er vor. VI Heftige Blutpakt-Artillerie schlug Hinzerhaus fest ins Gesicht. Orange Feuerblitze, heiß und krachend, erleuchteten die Südklippen, da Granaten trafen und explodierten. Felsgestein wurde weggesprengt, sodass die Verankerungen der darin versenkten Kasematten entblößt wurden. Zwei Stellungen nahmen direkte Treffer, und ihre verstärkten Betonrahmen barsten. Die Wut des Beschusses zwang viele verteidigende Geister weg von den Schießscharten und in Deckung. Plötzlich ging nur noch spärliches Abwehrfeuer auf den feindlichen Infanteriesturm vor dem Haupttor nieder. Der Feind nutzte das sofort aus. Die erste Welle des Blutpakts erreichte schließlich das Wachhaus. Eine zweite Welle folgte der ersten und machte sich daran, die tiefer gelegenen Befestigungen der Südwand des Hauses zu erklimmen. Eine dritte Welle kam, mehrere Dutzend Männer, die einen gewaltigen Rammbock aus Eisen durch den Staub schleiften. Sie richteten ihn auf die Hauptschleuse aus, an vierzig Männern gebunden, und schwangen ihn hin und her. Die Treffer hallten wie die Schläge einer Katastrophenglocke. Im Wachhaus und im langen Eingangskorridor, der zur Basis führte, warteten Abteilungen der Geister gegen die Wände gekauert, das Gewehr im Anschlag, und zuckten bei jedem neuen Schlag zusammen. Kolea, Baskevyl und die anderen Kompanieführer versuchten, die Männer bei der Stange zu halten. »Bleibt ruhig«, überbrüllte Kolea die tiefen, hallenden Schläge. »Bleibt ruhig. An uns kommen sie nicht vorbei.« »Die Schleuse wird halten, oder nicht?«, fragte Derin. »Natürlich wird sie das.« Krach! Krach! Krach!
Kolea sah Baskevyl an. »Bringen Sie die Flammer nach vorne«, sagte er. Baskevyl nickte und gehorchte. Sie spürten die Erschütterungen der Granaten, die das Haus über ihnen trafen. Staub und Dreck rieselten bei jeder gedämpften Explosion von der Decke. Einige Männer ächzten beunruhigt, wenn übermäßig viel Erde herabrieselte. Dachpaneele barsten oder lösten sich an den Ecken, als stehe die Klippe über ihnen kurz vor dem Einsturz. »Reißt euch zusammen!«, brüllte Kolea. Der Beschuss hörte auf. Die dicht gedrängt kauernden Männer im Korridor wechselten erstaunte Blicke. Kein Geräusch war zu hören, abgesehen vom Rieseln der Erde und dem Krach! Krach! Krach! der Ramme an der Außenschleuse. »Rawne?«, fragte Kolea in sein Kom. »Rawne? Passen Sie da oben gut auf. Rawne?« VII Major Rawne konnte ihn nicht hören. Einer der ersten Granateinschläge in die Südwand hatte ihn von den Beinen geschleudert und sein Helmkom zerstört. »Ich brauche ein Kom! Ich brauche sofort ein Kom!«, hatte er gerufen, sobald er sich wieder aufgerappelt hatte, um dann in den nächsten Minuten blind von Kasematte zu Kasematte zu laufen. Alles war voller Rauch, und alle paar Sekunden schlugen Granaten ein. Rawne traf auf panische Gardisten im stickigen Dunkel und versuchte sie aufzurichten. Er stolperte durch eine Tür und sah eine Kasematte, die aufgesprengt und nach oben hin offen war, sodass sie eine geborstene schwarze Höhle mit menschlichen Leichenteilen bildete. Eine weitere Granate schlug ganz in der Nähe ein, und Rawne taumelte zurück, während Dreckfontänen auf ihn niedergingen. »Hoch mit euch!«, brüllte er. »Zurück an die Schießscharten!« »Sie beschießen uns mit Granaten, Herr Major!«, protestierte ein Soldat. »Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Sie Idiot! Zurück auf Ihren Posten!«
Er kletterte in einen anderen Ausguck. Das Dach über der Kasematte hing durch, und durch den geborstenen Beton waren die Stahlträger zu sehen. Rauch wirbelte durch die Enge der angeschlagenen Geschützstellung. »Larks?« »Ich lebe noch!«, rief Larkin zurück. Er schleppte Bandas schlaffen Körper durch die Kasematte zum Ausgang. »Feth! Ist sie …?«, begann Rawne. »Betäubt. Nur betäubt. Die kommt schon wieder in Ordnung.« »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte Rawne, indem er Larkin am Arm festhielt und ihm dann half, Banda zu tragen. Aus einer Kopfwunde lief Larkin Blut ins Gesicht. »Ja, ist es.« Larkin sah Rawne an. »Wir werden sterben, oder?«, fragte er. »Dagegen können wir uns nicht wehren.« Sie duckten sich, als noch eine Granate heranheulte und gefährlich nah explodierte. »Vergiss die verdammten Granaten«, sagte Rawne. »Wir müssen uns um die Infanterie kümmern.« »Ach, richtig«, sagte Larkin beinahe lachend. Rawne lief zur beschädigten Schießscharte und lugte hinaus. »Glaubst du, ich mache Witze?«, fragte er. Der Granatbeschuss hörte plötzlich auf. Larkin gesellte sich zu Rawne an der Schießscharte und blickte nach draußen. »Ach, Feth«, sagte er. VIII Der Feind schwärmte wie Ameisen über die Südwand von Hinzerhaus. Die entfernte Artillerie hatte das Feuer eingestellt, um nicht die eigenen Truppen auszulöschen. Die Blutpakt-Angreifer waren mit stachelbewehrten Faltleitern wie Stacheldrahtrollen ausgerüstet, die sie beim Laufen vor sich ausschüttelten. Die dünnen Verankerungszähne der Leitern verbissen sich in die kahle Felswand des Hauses und hielten. Wenn eine Leiter an Ort und Stelle war, erklommen sie rot gekleidete Angreifer grunzend auf dem Weg zu den untersten Kasematten und Schießscharten. Die Leitern quietschten und klapperten, da sie sich unter dem Gewicht der Männer ins Gestein gruben.
Blutpakt-Krieger kletterten zu den ersten Kasematten empor und stürmten sie. Ihre Sägezahn-Äxte und Macheten machten kurzen Prozess mit den wenigen benommenen Geistern, die sie darin vorfanden. Mit bluttriefenden Waffen stürmten die Angreifer durch die unteren Kasematten-Korridore. Anfänglich infolge des Beschusses taub und desorientiert, reagierten die Geister rasch auf das Eindringen. Feuergefechte nahmen in den unteren Korridoren ihren Anfang, als empörte Geister auf die Anwesenheit der maskierten Mörder in ihrer Mitte reagierten. Daurs Kompanie fand sich im dicksten Getümmel des brutalen Nahkampfs wieder und tötete die Angreifer, sobald sie aus dem Rauch auftauchten, um sie wieder durch die Schießscharten nach draußen zu drängen. »Kontakt und Einbruch!«, rief Daur in sein Kom. »Kontakt und Einbruch, Ebene vier!« Er eilte hustend durch den Nachschubtunnel, während er Blut und Laserrauch roch. Er war halb blind. Seine Augen tränten vom Fyzelengestank. »Los, Männer, vorwärts!«, blaffte er die Gestalten rings um sich an. Es waren nicht nur Geister. Eine finstere Gesichtsmaske stürmte ihm aus dem Dunst entgegen, und eine Axt hieb nach seinem Hals. IX Rawne lugte durch die Schießscharte nach unten. Durch die grauen Rauchwolken konnte er die rot gekleideten Gestalten sehen, welche die mit Widerhaken versehenen Leitern zu ihm emporstürmten. Er griff nach draußen und versuchte eine der Leitern wegzustoßen. Die Haken hatten sich zu tief eingegraben, und das Gewicht der emporstürmenden Leiber hielt sie an Ort und Stelle. Vertikal in die Höhe geschossene Laserstrahlen zischten an ihm vorbei. »Larks!«, rief er. Larkin tauchte neben ihm auf und lehnte sich mit dem Oberkörper durch die beschädigte Schießscharte. Larkin zielte mit seinem Gewehr nach unten und schoss. Der Laserstrahl bohrte sich durch die Brust des auf ihn zukletternden Blutpakt-Kriegers, und der Leichnam fiel nach unten und riss dabei zwei andere Soldaten des Erzfeinds mit sich. Larkin lud nach und schoss wieder, halb aus
der Scharte gelehnt. Er hatte seinen zweiten Hochenergieschuss auf die Leiter abgegeben und mehrere Sprossen und eine der Längsstreben durchtrennt. Die andere Strebe brach unter der Spannung mit einem lauten Fing, und ein größerer Abschnitt der Leiter riss sich aus der Wand. Acht Angreifer fielen in den Rauch. Larkin hatte sich zu weit nach draußen gelehnt. Mit rudernden Armen kam er ins Rutschen. »Halt mich fest! Halt mich fest, um Feths willen!«, rief er. »Ich hab dich«, sagte Banda, die ihre Arme um seine Beine schlang und ihn durch die Schießscharte wieder in die Kasematte zog. »Da sind noch mehr!«, rief Larkin. »Ich weiß«, erwiderte Rawne, der mit einer Granate in der Hand zur Schießscharte kam. Er lehnte sich hinaus und zog den Zündstreifen ab. »Danke für den Besuch!«, rief er und tauchte wieder zurück in Deckung, als die Granate fiel. Sie traf den Helm des obersten Blutpakt-Kriegers auf der zweiten Sturmleiter, prallte ab und explodierte in Höhe seiner Schultern. Die sengende Explosion tötete drei der heraufkletternden Angreifer sofort und riss die Leiter auseinander, sodass sie durchbrach und wie ein gelöstes Seil nach unten fiel. Dabei riss sie ein weiteres Dutzend Angreifer mit in den Tod. Rawne wandte sich an Larkin. »Funktioniert dein Kom?« »Ich glaube schon.« »Dann sende für mich. Autorität Zwo/Rawne. Erledigt die Leitern. Höchste Priorität.« Larkin schaltete sein Kom ein. »Hört mal her, Leute …«, begann er. X Oberer Westen sechzehn. Der Name sollte später der Liste der härtesten Gefechte der Geister hinzugefügt werden und seinen Platz neben solchen wie Veyveyrtor, Ouranberg oder Fünftes Abteil einnehmen, um von den Nachfolgenden geehrt zu werden. Gaunt befand sich mitten im dicksten Getümmel. Der Tunnelkrieg war die schlimmste Disziplin, die ein Soldat kennenlernen konnte. Er war klaustrophobisch, wahnsinnig, kompromisslos. Die Enge trieb die Feinde aufeinander, ob sie wollten oder nicht. Re-
aktionszeiten sanken auf winzigste Sekundenbruchteile. Alles hing von Instinkten und Reflexen ab, und wenn man von den einen oder den anderen im Stich gelassen wurde, starb man. So einfach war das. Es gab keinen Spielraum für Irrtümer, keinen Platz, um sie zu korrigieren oder es noch einmal zu versuchen. Mehr als ein Mal sah Gaunt, wie ein Geist mit seinem ersten Schuss oder Hieb einen Feindsoldat verfehlte und starb, bevor ihm ein zweiter gelang. Es gab keine zweiten Gelegenheiten. Das Kämpfen in dieser Enge hatte seine ganz eigenen Tücken. Nicht nur wurde geschossen, es gab auch Abpraller. Querschläger tanzten tödlich hin und her, oft durch Nervenzuckungen eines Sterbenden ausgelöst, der noch im Fallen schoss. Ihrer eigenen okkulten Dynamik gehorchend, folgten Schüsse auch den Wänden und bogen um Ecken, allen Gesetzen der Ballistik zum Trotz. Gaunts Boltpistole hatte große Durchschlagskraft, und er machte den größtmöglichen Gebrauch davon. Die Angreifer, welche auf ihn losgingen, wurden von den Geschossen rückwärts geschleudert und wie Kegel umgeworfen. Wo der Kampf auf sein barbarischstes Niveau sank, der Ebene des ehrlichen Silbers und der Grabenaxt, durchschnitt sein Energieschwert Arme, Klingen, Helme und Masken. Seine Geister hatten einen Vorteil. Der Feind war an zwei Stellen in die Galerie eingedrungen, was bedeutete, das er auf allen Seiten von Geistern eingeschlossen war. So gut er es angesichts der chaotischen Umstände vermochte, trieb Gaunt seine Verteidiger an, um die Eindringlinge zurückzuwerfen. Die Aufgabe überstieg die Kapazitäten seines Helmkoms, aber Karples gab seine Befehle mit Beltayns leistungsstarkem Gerät weiter. Nicht, dass viel Zeit oder Gelegenheit für Befehle gewesen wäre. Gaunt erinnerte sich, dass Hark früher einmal ein Phänomen beobachtet hatte, das er Kampfzeit nannte. Dieser Zustand herrschte jetzt. Gaunt schoss, rückte vor, schlug mit seiner Klinge zu und ermöglichte anderen, mit ihm vorzurücken und auf die Feinde zu schießen, während er nachlud. Kampfzeit war unerbittlich und atemlos und ließ einem kaum Zeit, um nachzudenken oder sich bewusst zu bewegen, aber sie war auch langsam, wie das Abspielen einer Bild-/Ton-Aufnahme in Zeitlupe. Sie war beinahe hypnotisch. Gaunt sah Laserstrahlen an sich vorbeigleiten wie Papierflieger. Er sah arterielle Blutfontä-
nen in welligen Tropfen in der Luft hängen. Es gab keine Geräusche mehr, nur noch das Schlagen des eigenen Herzens. Er spürte, wie ein Laserstrahl seinen linken Arm ankratzte. Er beobachtete, wie ein Jahrhunderte zuvor von ihm abgefeuertes Geschoss eine Maske zwischen die Augen traf und sie zusammenfaltete wie ein sich schließendes Buch, Fleisch zermatschte und Knochen pulverisierte, während sich all das um sie entfaltete wie die Blüten einer grässlichen rosa Blume. Er sah, wie ein Laserstrahl von einem auf den Rücken fallenden Mann abgeschossen wurde, von der Decke abprallte und wieder zum Boden zuckte, um so im Zickzack zwischen Decke und Boden durch den Korridor zu wandern wie ein ruckelnder Zeiger auf einem Cogitatorschirm, bis er sich schließlich in den Hals eines Angreifers bohrte. Blutrote Bestien, die nach Blut stanken, rannten auf ihn zu, schwerfällig langsam, so schien es, während sich nasse Zungen durch feucht grinsende Metalllippen bohrten und Klingen in der feurigen Düsternis blitzten. Mit dem Schwert hieb er einen Kopf entzwei und schoss einem anderen Angreifer in die Brust. Dann ging ihm auf, durchaus gelassen, dass er so sterben würde. XI Tona Criid hatte ihren Kommandant aus den Augen verloren. Der Kampf hatte sich zu einem solchen Sturm der Verwirrung entwickelt, dass sie kaum noch eine Ahnung hatte, in welche Richtung sie gerade schaute. »Gaunt? Wo ist Gaunt?«, brüllte sie. Der Soldat neben ihr lächelte sie an und antwortete nicht. »Wo ist Gaunt?« Immer noch lächelnd, sackte der Soldat gegen sie, während sein Körper aufklaffte, wo er von einer Kampfaxt gespalten worden war. Sie stolperte rückwärts und schoss dabei mit dem Lasergewehr auf zwei Angreifer, die plötzlich aus dem Nichts vor ihr auftauchten. Sie ruckten mit rudernden Armen zurück und gingen zu Boden. Geister stürmten an ihr vorbei. Sie schaute auf den toten Gardisten am Boden und wünschte, sie hätte sich an seinen Namen erinnern können. »Vorwärts! Vorwärts!«, brüllte sie die Männer an, die sich um sie drängten, und schaltete dann ihr Helmkom ein. »Hier Criid!
Wo ist der Kommandant? Wir müssen den Kommandanten schützen!« Es war sinnlos. Es war unmöglich, diesem Wahnsinn Ordnung aufzudrücken. Die beiden Geister vor ihr brachen zusammen und fielen nach vorn, so schnell getötet, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen waren, noch zu schreien oder ein Wort von sich zu geben. Criid sah nur noch die Maske auf sich zukommen, die Machete erhoben. Sie riss das Gewehr hoch und spießte den Angreifer auf ihr ehrliches Silber. Der Angreifer brauchte einen rudernden, zuckenden Moment, um zu sterben, und zog ihr Gewehr mit seinem Gewicht nach unten. Criid stemmte den linken Fuß gegen ihn und versuchte die Klinge herauszureißen. Etwas traf sie seitlich am Kopf. Es traf sie so hart, dass sie gegen die Korridorwand geschleudert wurde und von der blutbesprenkelten braunen Vertäfelung abprallte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie schmeckte Eisen, hörte hektische, gedämpfte Geräusche, wusste, dass sie auf dem Boden lag, aber … »Steh auf!« »Was?«, murmelte sie. »Steh auf, Mädchen! Steh auf! Sie sind überall!« »Was?« Tona konnte immer noch nichts sehen. Sie wusste, dass sie sich bewegen musste, aber sie hatte vergessen, wie ihre Beine funktionierten. »Ach, komm schon!«, brüllte die Stimme. »Kämpft so ein Bandenmädchen aus der Vervunmakropole? Steh auf!« Ihr Sehvermögen kehrte zurück. Die Seite ihres Kopfes fühlte sich klebrig an. Sie hörte das Knattern eines Lasergewehrs auf Dauerfeuer. Caffran stand vor ihr, beschützte sie, pumpte aus der Hüfte Laserstrahlen auf den Feind. Mit perfekter Zielsicherheit erledigte er die letzten beiden und beugte sich über sie. »Tona? Mein Liebling?« »Caff …« »Das kommt wieder in Ordnung, Mädchen. Du hast da ganz schön was abgekriegt.« »Caff?«
Sie schaute ihm in die Augen. Sie waren so freundlich, wie sie sie in Erinnerung hatte, wie sie gewesen waren, als sie sie vor all den Jahren zum ersten Mal auf Verghast gesehen hatte. »Du bist gestorben«, sagte sie schlicht. »Wie geht es Dalin?«, fragte er. »Ich habe ihn vermisst. Was macht Yoncy?« »Du bist gestorben«, beharrte sie. »Sergeant? Sergeant Criid?« »Caff?« Berenson beugte sich über sie. »Alles in Ordnung? Können Sie mich hören?« »Major?« »Ich sagte, Sie haben ganz schön was abgekriegt. Sie sind benommen. Ziehen Sie sich zurück.« »Ich habe Caff gesehen«, sagte sie. »Wer ist Caff?«, fragte er. »Hören Sie, ziehen Sie sich zurück. Gehen Sie zum Feldlazarett. Criid? Criid?« Berenson sah sich um. »Soldat! Irgendjemand! Helfen Sie mir hier!« XII »Hier unten!«, rief Dalin. Er lief die kleine Treppe zum Schein morgendlichen Lichts hinunter. Starke Hände packten ihn von hinten. »Lauf nicht einfach nach draußen, du kleiner Trottel!«, zischte Bonin ihm ins Ohr. »Tut mir leid«, erwiderte Dalin. »Waffen?«, fragte Bonin. »Klar«, sagte Hwlan. »Klar«, sagte Coir. »Äh, klar«, fügte Dalin hinzu. Die drei Späher beachteten ihn nicht. »Dann los, meine Herren«, lud Bonin ein. Dalin warf einen Blick auf Beltayn. »Folge ihnen«, wies Beltayn ihn an. Von der alten abgenutzten Treppe traten sie unter den geschnitzten Holzbogen des Durchgangs und ins Freie. Der Hof war mit grauen Steinen gepflastert und auf zwei Seiten von Flügeln des Hauses umgeben. Die anderen beiden Seiten des Hofs bilde-
ten die Klippenwand. Der Durchgang, in dem sie standen, war in die Klippe eingelassen. Das blecherne Jaulen und Knattern von Gefechten hallten durchs Freie. Dennoch war es in dem Hof beinahe beschaulich. »Feth und zurück«, lächelte Bonin. »Seht ihr das?« Sie hatten es alle gesehen. Neun Paletten mit Wasserfässern lagen mitten auf dem Hof. Sie waren nicht sauber abgeladen worden. Spuren auf dem Ziegeldach gegenüber ließen darauf schließen, dass die schwere Ladung wenigstens ein Mal auf dem Weg nach unten angeeckt war. Einige Fässer im unteren Bereich waren bei der Landung geplatzt, und der Hof war nass. »Die sind größtenteils intakt«, rief Beltayn. »Thron sei Dank«, sagte Bonin. Er lief zu dem Palettenhaufen, zog ein Fass heraus und schraubte den Deckel ab. »Die Getränke gehen auf mich«, grinste er. Alle traten vor. »Feldtassen, einer nach dem anderen, los«, sagte Bonin. Alle hielten ihm ihre Blechtassen hin und Bonin füllte sie, sorgsam darauf bedacht, nicht einen Tropfen aus dem schweren Fass zu verschütten. Das Wasser war das Köstlichste, was Dalin je getrunken hatte. Er trank seine Tasse viel zu schnell aus. »Nicht mehr«, sagte Bonin zu ihm. »Wir waren schon so lange auf gekürzter Ration, wenn ich dich jetzt noch mehr trinken lasse, scheißt du dich heute Abend blöd.« »Außerdem«, sagte Hwlan, »muss das hier gerecht verteilt werden.« »Natürlich muss es das«, lächelte Beltayn, der sein Wasser genoss. »Gute Arbeit, ihr zwei«, sagte Bonin zu Beltayn und Dalin. Dann fiel er um. Er fiel aufs Gesicht und landete unsanft auf dem Haufen mit Wasserfässern. Er blieb still liegen. »Bonin?«, fragte Dalin völlig verwirrt. Der zweite Schuss fegte Dalin die Blechtasse aus der Hand. Der dritte durchbohrte ein Fass neben Hwlan. »Kontakt!«, rief Coir und hob seine Waffe. Er hatte das Gewehr beinahe an der Schulter, als er abrupt rückwärts geschleudert wurde und fiel. Dalin blickte auf, die Hand bereits am Gewehr.
Blutpakt-Angreifer huschten über die rot gefliesten Dächer in Richtung Hof. Einige richteten sich auf, um zu schießen. Laserstrahlen zuckten ihnen entgegen. Dalin hörte das matte Takk, als weitere Wasserfässer durchbohrt wurden. »O nein, nicht mit uns«, knurrte er und erwiderte das Feuer.
ZWÖLF DIE LETZTEN BLUTIGEN MINUTEN
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Die Ramme schlug gegen die Außenschleuse, schwer und unerbittlich. Im Wachhaus und im Zugangstunnel warteten die versammelten Geister. Es gab kein Gerede, kein Geflüster. Die Männer saßen in kaltem Schweigen da, und alle zuckten bei jedem Schlag, der gegen das Tor hallte, leicht zusammen. Die Hausbeleuchtung verblasste und kam wieder, verblasste und kam wieder. Baskevyl ging auf, dass sie es im Rhythmus der Schläge der Ramme tat. Der Granatbeschuss hatte zwar aufgehört, dennoch
rieselte an manchen Stellen weiterhin Staub und Dreck von der Decke, was leise schabende Kratzgeräusche verursachte, die Baskevyl unangenehm vertraut waren. Eine leise Stimme im Hinterkopf erklärte ihm, dass es keine Ramme sei, die gegen das Tor schlug, sondern der Wurm, der sich spannte und mit seinem riesigen gepanzerten Kopf vor das Tor stieß, um sich in die Festung zu graben. Kolea hatte die Flammer nach vorn geholt. Das Wachhaus stank nach Prometheum. Die kleinen blauen Zünderflammen an der Mündung jeder Waffe zischten schlangengleich. Baskevyl konnte die Anspannung der Flammer sehen, das leichte Zucken und Schaudern ihrer Glieder. Die Ramme schlug wieder zu. »Der Rahmen gibt nach!«, rief jemand von vorne. »Formation halten!«, rief Kolea. »Haltet die Linie und macht euch bereit!« »Er gibt ganz klar nach!« Baskevyl sah Kolea an. »Lass sie nicht an dir vorbei«, sagte er leise. »Werde ich nicht, wenn du sie auch nicht vorbeilässt«, erwiderte Kolea. II Daurs Waffe war leer geschossen. Er hatte das gesamte Magazin in einem einzigen langen Feuerstoß geleert. Außer ihm lebte niemand mehr im Tunnel. Die Leichen der Angreifer umringten ihn, darunter auch die des Schweinehunds, der Daur beinahe den Kopf abgeschlagen hätte. Er hatte gerade die fünfzehn intensivsten Sekunden seines Lebens hinter sich. Er schüttelte sich aus seiner Benommenheit, warf das Magazin aus und rammte ein neues in die Waffe. Schüsse knatterten und zischten in angrenzenden Sälen und Kammern. Er setzte sich in Bewegung. Der Tunnel mündete in einen Hauptkorridor. Auch der war mit Leichen übersät und voller Rauch. Die hässlichen, verstümmelten Leichen waren Geister und Blutpakt, Seite an Seite im Tod. Nur im Tod, dachte Daur.
Er fuhr herum, als Gestalten auftauchten. Er sah Meryn mit Männern seiner eigenen Kompanie und einigen von Daurs den Saal betreten. »Daur!« »Wie ist die Lage?« »Das wollte ich Sie gerade fragen«, schnauzte Meryn. Er war verdreckt, und seine Wange war blutverschmiert. »Wo waren Sie?« »Beschäftigt«, erwiderte Daur. »Sie klettern die verdammten Mauern hoch«, sagte Meryn. »Rawne will jeden verfügbaren Mann in den Kasematten sehen, um sie abzuwehren. Wir haben gerade unterer acht und neun gesäubert.« »Schön. Machen Sie in die Richtung weiter. Ich nehme die Männer von der G-Kompanie mit und gehe zu Osten sieben zurück.« Meryn nickte. »Wir sehen uns in einer besseren Welt, Daur.« Daur ging mit seinen Männern durch den Tunnel nach unten. Hinter sich hörten sie Schnellfeuer. Meryns Gruppe war auf etwas gestoßen, das in die andere Richtung unterwegs war. Haller sah Daur an. Sie kannten einander ein Leben lang, seit ihrer gemeinsamen Zeit in den Reihen der Vervunwehr. Daur verstand, was der Blick bedeutete. »Wir gehen weiter«, sagte er zu Haller. »Sie müssen damit fertigwerden.« Sie kamen auf unterer sieben an, ein Stück Korridor, das eine Reihe Ausguck-Kasematten miteinander verband. Aus jeder Kasemattenluke drang Schusslärm. Als Daur in die erste lugte, sah er Geister an der Schießscharte, die in steilem Winkel nach unten feuerten. »Ausschwärmen«, sagte er zu seinen Männern. »Geht dahin, wo sie euch brauchen. Haltet sie draußen.« III »Kann ich einfach nur sagen, wie sehr mir das nicht gefällt?«, bemerkte Larkin. »Nein«, sagte Rawne. Gemeinsam mit Banda hielten sie den Ausguck seit vollen zehn Minuten, seit die Leitern das erste Mal hochgekommen waren. Es
war schlimm. Sie mussten sich aus der Schießscharte lehnen, um auf die Angreifer zu schießen oder Leitern mit Granaten abzusprengen. Wenn man sich nach draußen lehnte, war man verwundbar. Vom Fuß der Klippe zischten immer wieder Schüsse zu ihnen empor. Larkin war zwei Mal gestreift worden, und Rawne hatte einen Abpraller mitten auf den Brustpanzer bekommen, der die Platte geteilt hatte. In den letzten Minuten hatten sich zwei von Rawnes Männern und ein Belladoner aus Slomans Kompanie zu ihnen gesellt. Das ermöglichte ihnen, an der Schießscharte zu rotieren und nachzuladen, ohne an Druck zu verlieren. »Ich glaube, sie verlieren den Schwung«, sagte Rawne. »Du glaubst?«, erwiderte Larkin. »Ein Sturmangriff braucht Schwung, sonst verläuft er sich einfach. Wenn sie uns in den ersten Minuten überrannt hätten, wären sie jetzt schon Herren der Lage, aber das haben sie nicht.« »Für mich sieht es aus, als würden sie sich immer noch alle Mühe geben«, warf Banda ein, die gerade nachlud. »Wir brauchen mehr Muni. Die Tasche ist fast leer.« Larkin hinkte zur Tür der Kasematte. In den letzten zehn Minuten hatte er zwei Mal nach einem Munitionsgänger gerufen, aber von Ventnor oder sonst jemandem war keine Spur zu sehen. Alle anderen Ausgucke und Kasematten auf ihrer Ebene waren voller Geister, die aus den Schießscharten feuerten, was das Zeug hielt, und der Munitionsverbrauch war beträchtlich. »Ventnor?«, rief er. »Munition hierher! Munitionsgänger!« Er wartete einen Moment, dann tauchte Ventnor mit einem schweren Leinensack auf. »Was braucht ihr?« »Normale und besondere und ein paar Läufe.« »Keine Läufe«, erwiderte Ventnor, indem er ein paar normale Magazine aus seinem Sack holte. »Ich habe Vadim vor zehn Minuten nach unten ins Magazin geschickt, um Läufe zu holen, aber er ist noch nicht wieder da. Unten wird viel gekämpft. Die Schweine sind eingedrungen.« Larkin nickte. »Ich nehme an, wir haben sie wieder rausgeworfen?« »Wir sind noch dabei«, erwiderte Ventnor. »Was ist oben los?«
Ventnor zuckte die Achseln. »Ich hab nichts gehört, nur dass es die Hölle auf Beinen ist. Jemand hat gesagt …« »Jemand hat was gesagt?« »Nichts, Larks.« »Jemand hat was gesagt?« Ventnor seufzte. »Keine Ahnung. Jemand hat gesagt, es hätte Gaunt erwischt.« »Soll das ein Witz sein?« »Nein. In oberer Westen sechzehn ist es wohl drunter und drüber gegangen, habe ich gehört. Gaunt war natürlich mittendrin, wie üblich. Und, tja, er ist nicht wiedergekommen.« »Wo hast du das gehört?« »Ein Munigänger auf acht, den ich kenne, hat’s von einem gehört, der’s von einem gehört hat, der oben Tragendienst hatte und runtergekommen ist. Einer der Verwundeten hatte es ihm erzählt, und …« Larkin hob die Hand. »Also so eine Geschichte, was? Erzähl sie nicht rum, Ventnor. Sie ist falsch, und sie ist schlecht für die Männer. Jetzt mach hin. Die anderen rufen nach dir.« Ventnor nickte. »Keine Läufe?«, fragte Larkin noch einmal, als sich Ventnor entfernte. »Tut mir leid.« »Dann suchst du mir besser irgendwas, womit ich schießen kann!«, rief Larkin ihm hinterher. Mit den Magazinen im Arm machte er kehrt, um in den Ausguck zurückzukehren. »Er ist tot«, sagte eine Stimme. Larkin erstarrte. Er kannte die Stimme, und sie ließ ihn vor Furcht schlucken. Er vergaß, wie man atmete. Er schloss die Augen. »Gaunt – der ist tot«, fuhr die Stimme leise fort. »Wir wissen das, weil wir geschickt wurden, um ihn zu holen. So sicher wie sicher.« Larkin öffnete die Augen. Da war niemand. Zitternd wich er in den Ausguck zurück. IV Dorden nahm sich eine Sekunde, um tief durchzuatmen. Das Feldlazarett befand sich in einem Zustand des Pandämoniums.
Die Menge der einströmenden Verwundeten überstieg ihre Kapazität. Es brach ihm das Herz, diese gebrochenen Männer zu sehen, die letzten ihrer und seiner Art, die zusammen mit den Kameraden hereingetragen wurden, die sie in den Jahren nach Tanith gefunden hatten. Foskins letzte Schätzung lautete zweihundertzweiundsiebzig Verwundete, achtunddreißig davon kritisch. Die Zahl stieg mit jeder verstreichenden Minute. Männer würden sterben, weil Dorden ihnen nicht schnell genug helfen konnte. Sie hatten bereits einen zweiten Raum öffnen müssen, um die wartenden Verwundeten unterzubringen, und einen dritten für die Toten. Ich bin zu alt, um mir so etwas noch anzusehen, dachte Dorden, so alt, dass es zu schmerzlich ist, um es zu ertragen. Ich hätte schon vor Jahren sterben sollen, mit Mikal, meinem lieben Sohn. Das hätte den Schmerzen ein Ende bereitet, bevor sie mich überkommen konnten. Eine Trage traf vor ihm ein, und Dorden schob seine Qual beiseite. »Wo soll ich sie hinbringen, Doktor?«, fragte einer der Träger, die vor Anstrengung schwitzten und keuchten. Dorden schaute nach unten. Tona Criid lag bewusstlos auf der Trage, eine Seite ihres Kopfes mit Blut verklebt. »Ach, Thron«, sagte Dorden. »Hierher, gleich hier drüben!« Die Träger verfrachteten Criid auf eine Pritsche und eilten mit zusammengerollter Trage davon. Um mehr zu holen, dachte Dorden. Er sah sich die Seite von Criids Kopf vorsichtig an. Es war nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hatte, dem Schicksal sei Dank. Sie würde wieder in Ordnung kommen, wenn die Wunde gereinigt und anständig versorgt wurde. »Tolin! Ich brauche dich hier!«, rief Curth hektisch von der anderen Seite des Lazaretts. Ein Mann stieß einen tiefen, entsetzlichen Schmerzensschrei aus. »Augenblick!« »Jetzt, Dorden!« »Kann ich helfen?«, fragte eine Stimme neben ihm. Dorden sah sich um. Zweil stand da. Wie die Ärzte war auch der alte Ayatani im Lazarett, um seinen üblichen Pflichten nachzugehen. Er hatte eine Flasche mit gesegnetem Wasser in den dünnen Händen, und ein Ausdruck des Kummers trübte seine Augen.
»Hier sind Männer, die Ihre Riten brauchen, Zweil«, sagte Dorden. »Die Toten bleiben tot, bis ich zu ihnen komme. Die Lebenden brauchen dringender Hilfe. Kann ich irgendwas tun?« Dorden nickte. »Nehmen Sie das und das hier. Säubern Sie die Wunde und entfernen Sie Blut und Dreck. Machen Sie es sanft, und benutzen Sie das Zeug hier nur sparsam. Wir sind an knapp an Flüssigkeit.« »Was Sie nicht sagen. Ich bin ziemlich ausgedörrt.« Dorden lief davon. Zweil kniete sich neben die Pritsche begann mit der Reinigung von Criids Kopfwunde. Sie regte sich. »Alles wird gut, Tona. Alles wird gut«, gurrte Zweil. »Er ist tot«, murmelte sie. »Wer?« »Er ist tot.« »Wer ist tot?« »Gaunt«, hauchte sie. »Was hat sie gesagt?«, rief der Soldat auf der nächsten Pritsche. »Was hat sie gesagt, Pater?« »Sie ist im Delirium, Twenzet, beruhigen Sie sich.« »Sie hat Ihnen gerade gesagt, dass Gaunt tot ist, nicht?«, rief Twenzet. Der Lärm im Lazarett flaute ab. Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Gemurmel setzte ein. »Achten Sie nicht darauf!«, knurrte Zweil. »Sie ist im Delirium.« Die allgemeine Aktivität setzte wieder ein, aber es gab eine Unterströmung, die vorher nicht dagewesen war. »Wie viel Delirium ist im Delirium?«, fragte Hark. Zweil blickte auf. Hark stand hinter ihm, in ein Laken gewickelt. Er stand nicht sicher auf den Beinen. »Ich bin kein Arzt«, erwiderte Zweil. »Dürfen Sie überhaupt aufstehen?« »Sie sind kein Arzt«, sagte Hark. »Sie hat gesagt, Gaunt ist tot«, sagte Twenzet. »Sie können die Klappe halten«, sagte Hark zu ihm. Zweil kam steif auf die Beine und sah Hark in die Augen. »Sie ist im Delirium«, sagte er leise, »aber wenn sie außerdem noch recht hat, tja, Viktor, wir wussten, dass dieser Tag kommen würde. Wir werden es schaffen. Wir werden damit zurechtkommen.
Wir haben ein Jahr oder noch länger geglaubt, dass Ibram auf Gereon gestorben ist, aber er ist zurückgekommen. Er ist schwer umzubringen.« »Aber nicht unsterblich.« Zweil nickte. »Dann überlegen Sie sich besser, was Sie den Männern sagen.« Hark atmete schwer. »Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte. Sie haben recht. Wir haben geglaubt, dass er auf Gereon gefallen ist, und das Regiment hat getrauert und dann weitergemacht. Ein zweites Mal wird es nicht so leicht. Nicht, wenn …« »Wenn was?« »Wenn es eine Leiche gibt.« »Aha«, sagte Zweil. »Vermisst und wahrscheinlich auf Gereon gestorben war eine Sache. Es gab immer noch Hoffnung, und diese Hoffnung hat sich erfüllt. Aber hier …« Zweil sah ihn an. »Wir werden daran zerbrechen, oder?« »Wir werden daran zerbrechen«, sagte Hark, »und wir werden sterben.« V Maggs konnte sie sehen, wie sie sich zwischen den BlutpaktAngreifern am anderen Ende des Korridors bewegte und ihre langen schwarzen Röcke durch den Rauch wirbelten. Die alte Dame mit dem Fleischwundengesicht war zu ihnen gekommen. Sie war gekommen, um jemanden zu holen. Maggs betete, dass es nicht er selbst war. Das Feuergefecht im Glockentunnel war frenetisch und schnell. Maggs hatte kaum noch Muni und war gezwungen gewesen, von seiner bevorzugten vollautomatischen Einstellung auf Einzelschuss zu wechseln, um Munition zu sparen. Er schmiegte sich ans Ende einer kurzen Treppe und schoss auf Sturmtruppen des Blutpakts in zehn Meter Entfernung, die teilweise durch treibende Rauchschwaden verborgen waren. Er erledigte einen, das war sicher, vielleicht einen zweiten. Seine Haut kribbelte. Er hatte die alte Dame in dem schwarzen Spitzenkleid aus den Augen verloren, konnte aber immer noch
ihre Schritte inmitten der Schüsse hören und die Kühle ihres Atems spüren. Leyr tauchte plötzlich neben ihm auf und fing an zu schießen. »Wie viele?«, fragte Leyr. »Ich habe acht gezählt, aber du kannst deinen Arsch darauf verwetten, dass es mehr sind«, erwiderte Maggs. »Hast du’s schon gehört?« »Was denn?« »Vor zehn Minuten in oberer Westen sechzehn. Gaunt.« »Was ist mit ihm?« »Sie haben ihn erwischt, Wes.« »Scheiße, bist du sicher?« »Ich hab’s jedenfalls gehört«, sagte Leyr. »Es war mörderisch da oben, und er war mittendrin.« »Wer hat es gesehen?« Leyr zuckte die Achseln. »Es stimmt nicht«, sagte Maggs. »Sie irren sich.« Sie fingen wieder an zu schießen. Sie haben ihn erwischt. Leyrs Worte gingen Maggs im Kopf herum. Nein, sie haben ihn nicht erwischt. Die alte Dame in Schwarz. Deswegen war sie hier. Sie kommt nur, wenn das Ende eines wahrhaft großen Mannes bevorstand. Die alte Dame mit dem Fleischwundengesicht hat ihre Beute erlegt, und als Konsequenz werden wir alle leiden. VI Dalin warf sich hinter dem Palettenstapel der Wasserladung in Deckung. Er hasste es, weil es das Feuer auf die Fässer ziehen würde, aber sonst konnte er nirgendwohin. Er erwiderte das Feuer auf die roten Angreifer, die über die Dächer huschten. Er verfehlte sie ständig. Er zielte zu hastig. Coir war tot, lag auf dem Rücken, mit einer schwarzen Blutlache um den Kopf wie ein Halo. Bonin war auch tot. Hwlan und Beltayn hatten sich mit Dalin hinter die Wasserfässer geworfen und schossen, was das Zeug hielt. Das Schlimmste von allem war das Plätschern des aus den durchlöcherten Fässern laufenden Wassers.
Hwlan erhob sich ein wenig, zielte vernünftig und holte zwei der Angreifer mit kurzen Feuerstößen vom Dach. Ein anderer drehte sich um, ohne Deckung, und Dalin erwischte ihn mit einer Serie von drei Schüssen. Es gab einen lauten Knall. Dalin blickte sich um und fragte sich, woher der Krach gekommen war. Er sah ein rauchendes Loch im gedeckten Dach in der Südostecke der Hofgebäude. Blutpaktkrieger sprangen hinein. Sie hatten das Dach mit Granaten gesprengt, um sich Zugang zu verschaffen. Sie waren jetzt in den Gebäuden. »Aufpassen!«, rief Dalin. »Sie sind drin! Sie werden jetzt jeden Moment auch durch die Türen zum Hof kommen!« »Ich hab’s gesehen!«, rief Hwlan zurück. Fünf Blutpakt-Angreifer rannten schießend durch die Tür in der Ecke des Hofs ins Freie. Ihre Schüsse zwangen Dalin, Beltayn und Hwlan, sich zu ducken. Sie trafen die Fässer mit der kostbaren Wasserladung. Wasser plätscherte. Schüsse trafen die Angreifer von der Seite und fällten drei von ihnen. Ludd, Eszrah und der Späher Mklane tauchten im hinteren Durchgang auf und schossen, was ihre Waffen hergaben. Einer von Eszrahs Regenbagenbolzen holte einen Angreifer direkt von den Beinen. Hwlan, Beltayn und Dalin fielen aus ihrer Deckung hinter den Wasserfässern ein. Ein heftiges Feuergefecht zwischen den beiden Gruppen der Geister und dem Blutpakt entspann sich. Laserstrahlen zuckten durch den Hof und wurden über die Mauern abgelenkt. »Können wir sie irgendwie überrennen?«, fragte Ludd Mklane im Schatten des Durchgangs. »Sie überrennen? Und seit wann sind Sie schon wahnsinnig?« »Dieses Wasser ist lebenswichtig!«, protestierte Ludd. Er stutzte. »Wo ist Eszrah?«, rief er. Der Nachgahner war ins Freie gelaufen. Er ignorierte die ihm entgegenzischenden Laserstrahlen, rannte zu einer Mauer und erklomm sie, Hand über Hand, da Finger und Zehen sich an den Kanten der Mauersteine festkrallten. Er zog sich auf das Dach und rannte direkt auf den Feind zu. Die Blutpakt-Soldaten schossen auf ihn, durch seine Bemühungen und sein ungewöhnliches Aussehen aus der Fassung gebracht.
Immer noch im vollen Lauf auf sicheren Beinen über die Dachziegel, riss Eszrah seinen Regenbagen hoch und schoss. Ein Angreifer ging zu Boden und fiel unbeholfen vom Dach. Eszrah lud nach, ohne innezuhalten, und schoss wieder. Der nächste Angreifer krümmte sich und kippte nach hinten. Eszrah erschoss noch zwei weitere, bevor er das Loch im Dach erreichte. »Er lässt uns unnütz aussehen!«, brüllte Hwlane und erhob sich, während er den Feind mit Laserstrahlen eindeckte. Dalin folgte seinem Beispiel, und zusammen erschossen sie drei weitere der Blutpakt-Angreifer auf dem Dach. Mittlerweile war Eszrah in das Loch gesprungen. »Los, vorwärts!«, rief Hwlan. Sie verließen ihre Deckung und sprinteten zur entfernten Ecke des Hofs. Ludd und Mklane gaben ihre Position im Eingang auf und kamen mit ihnen. Im Durchgang in der Ecke trafen sie auf zwei Feindsoldaten, aber Mklane und Hwlan erledigten sie rasch. »Bleibt zurück!«, befahl Hwlan Dalin, Ludd und Beltayn. »Bewacht das Wasser!« »Aber …« »Bewacht das Wasser!« »Darf ich Sie daran erinnern …«, knurrte Ludd. »Nein, dürfen Sie nicht!«, erwiderte Mklane. Ludd ließ den Kopf sinken. »Dann gehen Sie«, sagte er verbittert. Hwlan und Mklane eilten weiter. Dalin, Ludd und Beltayn kehrten zu den Wasserfässern zurück. Bonin rappelte sich plötzlich auf. »Was habe ich verpasst?«, fragte er. Sie starrten ihn an. »Was?«, fragte er, indem er sich nach hinten in den Nacken griff. Als er die Hand wieder wegnahm, waren seine Fingerspitzen blutig. »Oh. Ich bin getroffen worden, oder?«, fragte er und setzte sich wieder schwer auf den Hosenboden. Dalin lief zu ihm und nahm ein Päckchen mit Feldverbänden aus seinem Koppel. »Das sieht schlimm aus. Warum bist du nicht tot?« »Weiß ich nicht, mein Junge. Glück?«, mutmaßte Bonin und verlor das Bewusstsein. Dalin versuchte, ihn in eine bequemere Stellung zu bringen.
»Was ist mit Coir?«, rief er. Ludd hatte sich über den anderen Späher gebeugt und schüttelte den Kopf. »Er ist tot. Armer Hund.« »Da ist etwas faul«, verkündete Beltayn hinter ihnen. »Was ist los, Beltayn?«, fragte Ludd, der Coirs Taschen nach dessen Hundemarke durchsuchte. »Bewegung!«, brüllte Beltayn. »In Deckung!« Dalin und Ludd fuhren herum und bemühten sich, auf die Beine zu kommen. Vier Blutpakt-Krieger stürmten über den Hof auf sie zu und brüllten dabei Kampfrufe in ihrer widerlichen fremden Sprache. Es waren allesamt große, massige Scheusale, deren schäbige Kleider mit Blut besudelt und deren Masken zu einem grausamen Grinsen erstarrt waren. Sie schossen bereits. Ludd spürte den ultraheißen Schock eines Laserstrahls, der an seiner Wange vorbeizischte. Er tastete nach seiner Waffe. Beltayn blieb trotzig stehen und schoss mit seiner Autopistole auf die heranstürmenden Angreifer, anscheinend ohne den Hagel von Laserstrahlen zur Kenntnis zu nehmen, der ihn wunderbarerweise rechts und links passierte. Dalin sah, wie der Adjutant einen der Angreifer tötete, und wusste mit trauriger Gewissheit, dass dies das Letzte war, was Beltayn je tun würde. Dalin versuchte einen Feuerstoß abzugeben, wurde aber mit brutaler Gewalt seitwärts geschleudert, als ein Laserstrahl von seinem Brustpanzer abprallte. Die Trefferwucht holte ihn von den Beinen und raubte ihm den Atem. Er lag auf dem Rücken und schaute in den konturlosen Himmel. Laserstrahlen zuckten über ihn hinweg. Als er sich keuchend herumwälzte, hörte er das spröde Knistern automatischen Laserfeuers, das von einem Schmerzensschrei begleitet wurde. Damit war Beltayn wohl erledigt, und Ludd würde jeden Moment folgen. Dalin versuchte sich aufzurappeln, während er mühevoll darum rang, Luft in seinen ramponierten Körper zu saugen. Ihm war klar, dass ihn die tödlichen Schüsse jeden Moment treffen würden, und er wollte sich irgendwie wappnen. Er kam gerade noch rechtzeitig hoch, um einen der Angreifer mit einem Loch in der Brust auf den Rücken fallen zu sehen. Ein zweiter lag bereits am Boden und trommelte spastisch mit den Fersen auf die Bodenplatten, während das Leben ihn verließ. Der verbliebene Angreifer drehte sich im richtigen Moment, um einem grellen Laserstrahl frontal zu begegnen. Sein Kopf flog in
einer Wolke aus Blut und Metall auseinander, und sein Körper sackte zusammen. »Noch jemand ohne gn… gn… gn… Fahrschein?«, erkundigte sich Merrt, der mit 571RB in den Händen aus dem Eingang trat. Ludd nickte ihm zu. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal freuen würde, Sie zu sehen, Soldat«, sagte er, die Augen weit aufgerissen und blass vom Schock. »Das tut niemand«, erwiderte Merrt. »Meiner gn… gn… gn… Erfahrung nach.« »Du alter Bastard«, gluckste Beltayn, der langsam seine Pistole sinken ließ und benommen und ungläubig blinzelte, als ihm aufging, dass er nicht einmal einen Streifschuss abbekommen hatte. »Gutes Timing, Merrt«, sagte Dalin mit einem breiten Grinsen der Erleichterung. Merrt nickte und tätschelte den Schaft seiner Waffe. »Das ist schon besser«, flüsterte er. VII Sie waren alle tot. Jeder Blutpakt-Soldat, den Hwlan und Mklane fanden, war mausetot und hatte einen kruden eisernen Bolzen im Leib stecken. Während die beiden Späher durch diesen unerforschten Teil des alten Hauses schlichen, zählten sie dreizehn Tote. »Vor dem Nachgahner kann man nur den Hut ziehen«, sagte Hwlan. »Das kann man wohl«, stimmte Mklane zu. Ein Schatten zuckte vor ihnen. Hwlan und Mklane rissen die Waffe hoch. Es war Eszrah. »Freden, Seelen«, sagte er. »Et is vörbi.« VIII Die Ramme traf die Außenschleuse wie ein Hammer einen Amboss. Dann herrschte Stille.
Die im Wachhaus wartenden Geister traten nervös von einem Fuß auf den anderen. »Nicht nachlassen, nicht nachlassen«, flüsterte Kolea ihnen zu. Er wartete. Sämtlicher Lärm war verebbt, sogar das entfernte Knattern von Schüssen. Das gespannte Atmen der versammelten Männer wurde zum vorherrschenden Geräusch, wie das leise Rascheln gleitenden Materials, als streiche ein Spitzenkleid über den Boden. Nichts geschah. Gol Kolea wartete noch einen Moment, bis wiederum eindeutig nichts geschehen war. Er sah Baskevyl an und hob die Augenbrauen. Baskevyl schaltete sein Kom ein. »Hier Haupttor. Kann ich jemanden in einem Ausguck sprechen?« »Hier Daur, Ausguck neun, ich höre.« »Wir sind hier unten blind, Ban. Was können Sie sehen?« Es gab eine kurze Pause. »Nicht viel, Haupttor. Plötzlich kommt ziemlich viel Staub auf. Aber sie lassen sich in Massen zurückfallen. Wiederhole, der Feind wurde vertrieben.« »Verstanden, gute Neuigkeiten. Danke.« Baskevyl wandte sich wieder an Kolea. »Ich glaube, wir sind noch mal davongekommen«, sagte er.
DREIZEHN TOTE UND STERBENDE
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I »Dieser Bereich ist nicht sicher!«, rief Varaine. Überall husteten Männer im Rauch oder stöhnten und weinten, wo sie gerade lagen. »Sehen Sie sich mein Gesicht an«, sagte Dorden zu Varaine, als er an ihm vorbeiging. »Doktor!« »Sie haben ihn gehört, Varaine«, knurrte Rawne, der Dorden durch die Ruinen des Korridors folgte. Die Nacht, die Nacht des zehnten Tages, brach herein, und draußen wirbelte der Staub. Der Wind umspielte die Glockenkuppeln und heulte durch die Schlitze hastig verschlossener Klappen. Nachdem sie die Klappen im Dach geschlossen hatten, waren sie mit dem Nachgestank der Schlacht eingesperrt, einem Gestank, der sich in den gepanzerten Korridoren rasch sammelte und sich aus Blut, Rauch, Fyzelendunst, Pisse und verbranntem Fleisch zusammensetzte. Rawne rümpfte die Nase und zog seinen
Umhang hoch. Dorden zog sich eine Chirurgenmaske über Nase und Mund, ohne seinen Schritt zu unterbrechen. Der Arzt ging schnell, erstaunlich schnell für einen so alten Mann. »Sie müssen das nicht machen«, sagte Rawne. »Ich glaube schon. Ich bin Oberstabsarzt und damit der ranghöchste medizinische Offizier.« »Dann gehen Sie langsamer«, sagte Rawne. »Ich glaube nicht, dass ich das tun werde«, erwiderte Dorden. »Dann tun Sie’s für mich«, beklagte sich Zweil, der Mühe hatte, Schritt zu halten. Dorden blieb stehen und wartete, bis der alte Priester zu ihnen aufgeschlossen hatte. Der alte Mann nahm den Arm des älteren Mannes. »Er wird lachen, wenn er unsere Gesichter sieht«, sagte Zweil. »Natürlich wird er das«, erwiderte Dorden, dessen Miene unter der Maske verborgen war. II Die Ebenen unter dem Dach der Festung waren völlig verwüstet. Männer aus fünf Kompanien der Geister ignorierten den immer stärker werdenden Wind und versuchten, die Ebenen zu räumen und zu sichern. Die Angreifer waren nach brutalsten Kämpfen vertrieben worden, aber vereinzelte Taschen blieben. Entferntes sporadisches Gewehrfeuer hallte scharf durch die Korridore. Die glänzenden braunen Wandpaneele waren verschrammt und versengt. Manche waren weggesprengt worden, und darunter war das nackte Gestein zu sehen. Die Hälfte der Lampen war zerschossen. Überall lagen Leichen, an manchen Stellen hoch aufgestapelt. Sanitäter bargen die eigenen Toten und die wenigen noch nicht versorgten Verwundeten. Bewaffnete Geister mit Taschenlampen durchkämmten die verwüsteten Korridore und töteten alles, was sich bewegte und kein Geist war, mit raschen, sicheren Schüssen ihrer Laserpistolen. Der Rauch bildete Formen in den Strahlen der Taschenlampen aus. Kondensat, rosa gefärbt, tropfte von den dampfenden Deckenplatten. Blut gerann in Lachen am Fuß von Treppen oder trocknete schwarz, während es langsam die Wandpaneele herunterrann.
»Wie viele, was meinen Sie?«, fragte Zweil. Rawne zuckte die Achseln. »Wenn wir vierhundert verloren haben, können wir uns glücklich schätzen.« »Ohne Wasser und bessere medizinische Versorgung verlieren wir noch mal die Hälfte«, sagte Dorden im Gehen. »Die Verwundeten werden rasch sterben. Zählen Sie die zu Ihrer Liste hinzu.« »Ich habe die Liste nicht angefangen, Dorden«, erwiderte Rawne. Dorden antwortete nicht. Er ging weiter. III Maggs hörte langsame, schlurfende Schritte, die sich durch den Korridor näherten. Seine Augen waren vom Rauch gerötet. Sein Herz schmerzte. Dann komm, wenn du kommen musst. »Nehmen Sie das weg, Maggs«, sagte Rawne. »Verzeihung, Herr Major. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Wir glauben, wir haben sie alle vertrieben, aber vielleicht gibt es doch noch Überlebende.« »Verstanden. Ist hier oberer Westen sechzehn?« »Ja, Herr Major. Hier ist … hier ist ein Chaos.« »Davon wollen wir uns selbst ein Bild machen, mein Junge«, sagte Dorden zu Maggs, wobei er ihm im Vorbeigehen den Arm tätschelte. IV Berühmte Schlachten hinterlassen keine würdigen Überreste. Das war schon immer Tolin Dordens Erfahrung gewesen. Schlachten waren immer und unter allen Umständen brutale, zerstörerische Mechanismen, die wahllos Leiber zerfetzten und für Männer wie ihn ein unheiliges Chaos hinterließen, das sie dann aufräumen durften. Die Art Schlachten, die sich einen Platz in den Annalen verdienten – berühmte Schlachten –, waren dabei die schlimmsten. Dorden hatte zu seiner Bestürzung festgestellt, dass jeder Kampf, der dazu bestimmt war, gefeiert und gedacht zu werden, in seinem Kielwasser die grausamsten Überreste von allen hinterließ.
Die Gerüchte kursierten bereits: oberer Westen sechzehn, der Heldenkorridor, der härteste Kampf überhaupt, in der Enge der Tunnel, Mann gegen Mann, Klinge gegen Klinge. Dorden wusste, dass es später noch mehr Geschichten geben würde und vielleicht auch Auszeichnungen, um ihre Authentizität zu zementieren. Oberer Westen sechzehn war eine Sternstunde der Geister gewesen, ein Kampf auf Biegen und Brechen, dem man die Ehre erweisen würde, solange das Regiment existierte. Die Szene, die ihn begrüßte, hatte nichts Heroisches an sich. Dieser Abschnitt des Korridors war ein Schlachthaus. Es sah aus, als habe sich ein sezierwütiger Irrer ans Werk gemacht und dann alle seine Funde verbrannt. Die Luft war mit Dampf und Rauch geschwängert. Der Rauch stammte von den brennenden Leichen, der Dampf von der Nässe. Der Boden war mit einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Blut und zermatschtem Gewebe bedeckt. Dorden nahm Rawne die Taschenlampe ab. Zweil ächzte und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Der Lampenstrahl wanderte. Es gab nicht einen einzigen intakten Leichnam. Leiber lagen schwarz verbrannt da und grinsten mit geschwärzten, von der Hitze steifen Gesichtern. Leichen waren aufgeplatzt wie Fleischsäcke, deren gelbe Gedärme über den nassen Boden verteilt waren. Überall lagen abgetrennte Körperteile herum: eine Hand, ein Fuß in einem Stiefel, ein Stück Fleisch, die Seite eines Gesichts, eine halbe Maske. »Feth hole euch und euren Krieg«, flüsterte Dorden. »Es ist nicht mein Krieg«, begann Rawne. »Ich habe nicht Sie gemeint.« Flammsoldaten waren aktiv gewesen, am Ende. Teile des Korridors waren bis auf das Gestein schwarz verbrannt, und Blut war stellenweise zu einem klebrigen Sirup verkocht. Ihre Stiefelsohlen blieben unangenehm daran haften, als sie weitergingen. Geister waren zwischen den Toten unterwegs, ließen ihre Taschenlampen wandern und gaben ab und zu einen Schuss ab. Dorden war ziemlich sicher, dass es nicht nur Soldaten des Blutpakts waren, denen sie den Gnadenschuss gaben. Gnade ist Gnade, sagte er sich. »Können Sie mir helfen?«, fragte eine Stimme. Es war Major Berenson. Ihm war durch die rechte Schulter geschossen worden, und sein Arm hing schlaff herab.
Dorden ging zu ihm. »Lassen Sie mal sehen …« »Nicht mir, Doktor. Ihm.« Berenson zeigte mit einem Kopfnicken auf den Mann, der neben ihm zusammengesunken auf einem Haufen Leichen lag. Der Mann hatte beide Beine durch ein Kettenschwert oder eine ähnliche Waffe verloren. Die explodierten Überreste eines Kom-Geräts waren noch auf seinem Rücken befestigt. Dorden bückte sich. »Ausrüstung!«, brüllte er. »Aderpressen!« »Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit, Doktor«, flüsterte Karples, dem Blut aus dem Mund lief. »Ich weiß, dass ich erledigt bin.« »Lassen Sie mich das beurteilen«, erwiderte Dorden, der nach dem medizinischen Koffer griff, den Rawne ihm reichte. »Ich bin kein dummer Mann«, ächzte Karples. »Ich weiß, dass ich nicht mehr zu retten bin. Gibt es hier einen Offizier? Einen tanithischen Offizier?« Rawne kniete nieder und beugte sich näher. »Ich bin ein Tanither.« »Er hat einen Orden verdient.« »Wer?« »Ihr – ahh! Ihr Kommissar-Oberst«, gurgelte Karples. »Er ist vorangegangen, den ganzen Weg. So etwas habe ich noch nie gesehen, so viel …« »So viel was?« Karples öffnete den Mund. Blut quoll heraus wie Lava aus einem Vulkan. »Karples!«, rief Berenson. »Schande«, stotterte Karples. »Schande, einen Orden posthum zu verleihen.« »Was wollen Sie damit sagen?«, rief Rawne. Karples antwortete nicht. Er war tot. V Maggs führte sie im Licht der unter seinem Gewehrlauf befestigten Taschenlampe weiter. Sie wanderten an verzweifelten und weinenden Geistern vorbei, während sie nach Spuren von Leben suchten. Eine Gestalt bewegte sich in der Dunkelheit unter einer Glockenkuppel vor ihnen. Maggs erschrak und hob die Waffe. Er sah ein Fleischwundengesicht und ein schwarzes Spitzenkleid.
Er wollte gerade schießen, als Zweil sein Gewehr beiseiteschlug. »Idiot!«, brüllte Zweil. »Das ist Varl!« VI »Das war der reine Wahnsinn«, sagte Varl. Er war so vollkommen mit Blut besudelt, dass es aussah, als habe er sich absichtlich bemalt. Das Weiß seiner Augen sah vor dem Rot sehr weiß aus, die Pupillen sehr schwarz. Er zitterte. Dorden half ihm, sich zu setzen. »Wo sind Sie getroffen?«, fragte Dorden. »Ich glaube, nirgendwo«, sagte Varl. Seine Stimme war merkwürdig ruhig. Er blickte auf und sah Rawne an. »Eines Tages musste es passieren, oder?«, fragte er. Rawne gab keine Antwort. »Was ist denn passiert?«, fragte Zweil. »Mein Sohn?« Varl zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht als zusammenhängende Geschichte erzählen. Alles war so verrückt und passierte gleichzeitig. Ich weiß, dass er getroffen wurde. Er war neben mir und wurde getroffen. Ich hörte ihn aufschreien. Er sagte mir, ich solle weitermachen. Dann … dann weiß ich als Nächstes nur noch, dass er zu Boden ging. Ich versuchte ihn zu schützen, wurde aber von den nachdrängenden Feinden zurückgedrängt.« Varl wischte sich über den Mund. »Als wir den verlorenen Boden wieder gutgemacht hatten, war er nicht mehr da. Es war ein ziemliches Durcheinander, aber dann habe ich ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen. Der Feind hatte ihn. Sechs von ihnen haben ihn weggetragen. Ich nehme an, sie haben seine Rangabzeichen gesehen und entschieden, eine Trophäe mitzunehmen. Das habe ich an der Stelle gedacht.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das konnte ich nicht zulassen. Das konnte ich fethnochmal nicht zulassen. Also ging ich auf sie los, ich mit ein paar von den Jungs. Wir haben uns richtig reingekniet. Eine Weile war alles nur verschwommen. Dann sah ich ihn wieder. Sie hievten ihn gerade durch eine der Klappen nach draußen.« Varl verstummte. »Erzähl es zu Ende«, sagte Rawne mit einer Stimme, die so alt und müde klang wie das Haus.
»Ich bin ihnen gefolgt«, sagte Varl erbittert. »Ich habe mich durchgekämpft und bin ihnen durch die Klappe nach draußen gefolgt. Es war staubig. Zuerst konnte ich kaum etwas sehen. In und um die Glocken wurde noch gekämpft. Sie schleppten ihn zu ihren Kletterseilen, um ihn über die Klippe nach unten abzuseilen. Und da habe ich dann auch gesehen, warum. Er war noch am Leben. Er war immer noch am Leben. Er hat mich gesehen. Ich versuchte, mich zu ihm durchzuschlagen, aber es waren zu viele. Sie hatten ein Seil um ihn gewickelt und kletterten mit ihm nach unten. Ich glaube, er wusste, was los war. Ich glaube, er wusste, welches Schicksal ihn erwartete, wenn sie ihn mitnahmen.« Varl blickte zu den Männern auf, die ihm zuhörten. »Er hat mir etwas zugerufen. Ich weiß nicht, was er sagte. Er hatte immer noch sein Schwert. Irgendwie hatte er es immer noch. Er hat damit einen von ihnen getötet, aber sie waren überall. Also … hat er sein Schwert genommen und die Seile durchtrennt.« Niemand sprach. »Das ist alles«, sagte Varl. »Die ganze Meute ist einfach abgestürzt. Er hat sie alle mitgenommen. Sie fielen einfach über die Klippe, und das war’s.« »Bist du sicher?«, fragte Rawne. »Bist du sicher, dass er es war?« Varl hob etwas auf. Sie hatten alle angenommen, er habe sein Lasergewehr getragen, aber das war es nicht. Es war Heironymo Sondars Energieschwert. »Das lag auf dem Sims, direkt am Klippenrand«, sagte Varl. Tränen liefen ihm über das Gesicht und hinterließen Spuren aus weißer Haut im Blutfilm. »Gaunt ist tot.«
VIERZEHN TOTENLIEDER
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Melden Verlust des kommandierenden Offiziers. Wiederhole, kommandierender Offizier des Regiments ist im Kampf gefallen. Ziel ist zu diesem Zeitpunkt sicher.
Nalholz Ende. (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I Es dauerte noch weitere vier Stunden, Hinzerhaus wieder sicher zu machen. Eine versprengte Handvoll Blutpaktsoldaten, die sich nicht mit der Hauptstreitmacht hatten zurückziehen können, hatten sich in tief gelegenen Kammern und an den dunklen Enden einsamer Galerien verkrochen und lieferten den Suchtrupps, die sie entdeckten, einen höllischen Kampf. Niemand von ihnen starb ohne blutige Gegenwehr. Das waren die grausamsten Verluste der Geister, fand Rawne. Die Schlacht war geschlagen, und trotzdem starben seine Männer immer noch. Seine Männer. Bei dem Gedanken wurde ihm schwindlig. Nach so langer Zeit waren sie jetzt seine Männer. II Nachdem die Nacht hereingebrochen war, pfiffen Jagos heftige Winde durch das Haus und entfesselten den schlimmsten Staubsturm, den ihnen der schlimme Felsen bis jetzt bereitet hatte. Staub drang durch die vielen defekten und beschädigten Klappen, trotz ihrer Bemühungen, sie zu versiegeln. Der Wind ächzte durch die Korridore und Galerien, zerstreute den Rauch und ließ Männer schaudern. Es klang wie Kummer, wie das Ächzen der Verzweiflung einer Witwe oder einer Waisen. Irgendwo in dem Lärm, spät in der Nacht, erklangen tanithische Dudelsäcke. Hark hörte sie, flehentlich und klar. Sein Bett war in eine Seitenkammer verlegt worden, als sich das Feldlazarett gefüllt hatte. Schmerzen hatten ihn überwältigt, er hatte zu lange gestanden. Sein Rücken tuckerte und pochte. Als er die Dudelsäcke hörte, versuchte er aufzustehen. Eine Hand berührte sanft seine Schulter, und eine Stimme drängte ihn, liegen zu bleiben. »Ich kann die Musik hören«, sagte er. »Das ist Caober«, sagte Ana Curth.
»Caober spielt nicht«, sagte Hark. »Niemand von den Tanithern spielt mehr.« »Caober hat noch einen alten Dudelsack«, sagte sie, »und auf dem spielt er jetzt.« Hark hörte genauer hin. Ihm ging auf, dass es nicht dieselbe Musik war, die ihn verfolgte. Sie war nicht besonders gut. Es gab falsche Noten und verpasste Griffwechsel. Sie war das Werk von jemandem, der lange nicht mehr Dudelsack gespielt hatte. Er spielte das alte Lied, das alte tanithische Marschlied, aber er spielte es so langsam, dass es eine Elegie war, ein Klagelied. »Alle wissen es«, sagte Hark. »Jeder weiß es«, sagte Curth. III Rawne ging in den Raum, der Gaunt als Büro gedient hatte. Auf dem Schreibtisch lagen Karten, und Gaunts Rucksack lehnte an der Wand. Ein paar persönliche Gegenstände lagen herum: eine Datentafel, eine Knopfbürste, eine Dose mit Metallpolitur, eine Blechtasse. Ein Schlafsack war ordentlich auf dem kleinen Bettgestell ausgerollt. Unter dem Bettgestell, neben einem der Beine, lag ein Paar Socken, das dringend gestopft werden musste. Rawne legte das Energieschwert auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich schwer. Er nahm die Blechtasse, zückte seine Wasserflasche, schraubte sie auf und füllte die Tasse halb. Sie hatten jetzt Wasser, ein winzig kleiner Erfolg, der in der Katastrophe des Tages beinahe untergegangen war. Ludd und Beltayn waren so stolz auf ihre Leistung gewesen. Rawne hatte es keinen Spaß gemacht, ihnen das Lächeln vom Gesicht und den Triumph aus dem Herzen zu fegen. Trupps der Geister hatten drei Stunden damit zugebracht, die Wasserfässer aus dem Hof ins Haus zu schleppen. Eine Menge war verloren gegangen, aber es blieb genug für volle Rationen, genug, um Wunden und sich selbst zu säubern, genug, um Augentropfen herzustellen, um Rötungen und Staubblindheit zu behandeln. Rawne trank einen Schluck. Das Wasser schmeckte nach Desinfektionsmittel, nach Munitorum-Fässern, nach nichts. Es klopfte.
»Herein.« Baskevyl streckte den Kopf hinein. »Die Kompanieberichte kommen langsam herein«, sagte er. »Verlustlisten und Gefechtsberichte.« »Sichten Sie sie für mich, bitte«, sagte Rawne. »Sammeln Sie alle ein und erstatten Sie mir dann Bericht.« Baskevyl nickte. Er hatte die ganze Nacht kein Wort über Gaunt verloren und auch keine Bemerkung zu Rawnes Beförderung zum Kommandanten gemacht. Unter anderen Umständen hätte Baskevyl vielleicht jedes Recht gehabt, in Erwägung gezogen zu werden. Doch Rawne wusste, dass Baskevyl verstand, dass er es sein musste. Es musste ein Tanither sein. »Berenson würde Sie gern sprechen«, sagte Baskevyl. »Bitten Sie ihn zu warten.« »Kommandant.« Baskevyl schloss die Tür hinter sich. Rawne trank noch einen Schluck Wasser. Er war wie betäubt und sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte. Das Nachdenken war schwer. »Danke vielmals«, sagte er zu dem Energieschwert auf dem Schreibtisch, so, als sei es Gaunt. »Danke vielmals, dass du es mir überlässt, mich um diese Scheiße zu kümmern.« Rawne rechnete nicht mehr mit einem glücklichen Ende. Noch ein Angriff wie der, den sie gerade abgewehrt hatten, würde sie wahrscheinlich erledigen. Gaunt hatte Rawne von Van Voytz’ Anweisungen in Kenntnis gesetzt. Beschäftigen Sie sie. Das lief auf Bleiben Sie da und sterben Sie hinaus. Es klopfte wieder. »Verschwinden Sie!«, brüllte Rawne. Hlaine Larkin humpelte in die Kammer und schloss die Tür hinter sich. »Bist du taub?«, knurrte Rawne. Larkin schüttelte den Kopf. »Nur ungehorsam«, erwiderte er. Er kam zum Schreibtisch und setzte sich Rawne gegenüber. Seine Prothese hatte offenbar den Stumpf wundgerieben, weil er bei jedem Schritt zusammenzuckte, und seufzte, als er sich setzte. »Trink dein Wasser aus«, sagte er. Rawne zögerte kurz und trank dann den Rest. »Gibt es einen Grund, dass du hier bist?«, fragte Rawne. »Einen Grund? Nein. Einen Engel, der dafür verantwortlich ist? Das würde ich meinen. Du und ich, Eli. Jetzt sind nicht mehr viele
von uns übrig. Und es werden mit jedem Tag weniger. Erinnerst du dich noch an das Gründungsfeld vor Tanith Magna?« »Ja.« »Das scheint schon so lange her zu sein«, sagte Larkin, während er eine Blechtasse aus der Tasche holte. »Es ist lange her, du verdammter Idiot.« Larkin gluckste. »Diese Zeltreihe. Da waren ich und Bragg und du, Feygor, Corbec. Alle bereit für ein Leben in der Garde, das waren wir. Jung, dumm und Flausen im Kopf und Schwung in den Beinen. Bereit, die Galaxis in Brand zu setzen.« Rawne lächelte dünn. »Bereit, die Galaxis in Brand zu setzen und einem FremdweltlerWichser namens Gaunt in den Krieg zu folgen. Und was ist aus uns geworden? Bragg ist schon lange tot, Feygor, der gute alte Corbec, der immer den Eindruck machte, als würde er ewig leben. Feth, nicht mal ich bin noch so vollständig da, wie mir lieb wäre.« Rawnes Lächeln wurde breiter. »Nur diese kleine Zeltreihe«, fuhr Larkin fort, während er noch etwas aus der Jackentasche holte, »und wir sind alles, was davon noch übrig ist. Heißt das, wir haben Glück gehabt oder das größte Pech von allen?« »Ich würde auf Letzteres wetten«, sagte Rawne. Larkin nickte und öffnete die alte Flasche, die er aus der Tasche geholt hatte. Er goss einen Schluck in die beiden Blechtassen. »Was ist das?«, fragte Rawne. »Der richtig gute Stoff«, erwiderte Larkin. Rawne hob seine Tasse und beschnüffelte sie zweifelnd. »Das ist Sacra«, sagte er. »Das ist nicht einfach nur Sacra«, erwiderte Larkin. »Probier mal.« Rawne nippte daran. Ein ungläubiges Lächeln nistete sich in seine Züge ein. »Du alter Bastard«, sagte er. »Du hast die ganze Zeit eine Flasche von Braggs Bestem aufgehoben.« »Nein«, sagte Larkin, »aber wenn ich dir sagte, woher die Flasche wirklich stammt, würdest du mir nicht glauben.« Er nippte ebenfalls. »Das ist ganz besonderer Stoff für ganz besondere Gelegenheiten.« »Worauf trinken wir?«, fragte Rawne, indem er sich mit der Tasse in der Hand erhob.
Larkin stand ebenfalls auf. Ein traditioneller tanithischer Trinkspruch bestand aus drei Teilen. »Alte Geister«, sagte Larkin. Sie stießen die Tassen zusammen und tranken. »Am Leben zu bleiben«, sagte Rawne, und sie stießen wieder an. Der Schnaps lief die Kehle herunter wie Samt und flüssiges Eis. Larkin und Rawne sahen einander an. »Ibram Gaunt«, sagten beide gleichzeitig. »Möge der Imperator seine sterbliche Seele beschützen«, fügte Larkin hinzu. Sie stießen noch einmal an und leerten ihre Tassen. IV Rawne schlief auf der Pritsche, die Gaunt gehört hatte. Er rührte sich nicht, als Eszrah in den Raum glitt. Der Nachgahner ging zum Schreibtisch und setzte sich. Er starrte auf das Energieschwert, das auf dem Tisch lag. Es war die dunkelste Zeit kurz vor Morgengrauen. Der Wind wehte um die Festung. Nahum Ludd hatte Eszrah erklärt, was passiert war, und dabei alle Brocken der alten Sprache der Partisanen benutzt, die er mittlerweile gelernt hatte. Ludds Augen waren rot und tränennass gewesen. Eszrah hatte nur genickt und sonst nicht reagiert. Er war leise gegangen und hatte Ludd seinem Elend überlassen. Schlafwandler zeigten keine Gefühle. Es gehörte zu ihrer Lebensart. Für einen Nachgahner von Gereon gab es kein Weinen, keinen Kummer und keine Trauer. Derartiges Verhalten war Zeitverschwendung. Eszrah ut Nach begriff, dass er versagt hatte. Er hatte es nicht geschafft, den letzten Befehl seines Vaters zu erfüllen. Der Mann, dem sein Vater ihn gegeben hatte, war tot, weil Eszrah die Pflicht vernachlässigt hatte, ihn zu beschützen. Damit war auch Eszrah ein toter Mann, ein in Schande Ausgestoßener, entehrt. Eszrah wusste nicht, warum überhaupt noch Geister mit ihm redeten oder seine Anwesenheit zur Kenntnis nahmen. Ihnen musste sein Zustand der Schande doch bewusst sein, sie mussten doch wissen, dass Eszrah jetzt nur noch der
Dodenweg blieb, die Straße der Leichen. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr, abgesehen davon, dass er für das Unrecht Buße tun sollte, das er zugelassen hatte. Eszrah strich mit den Fingern über die Klinge des Energieschwerts. Er wusste, was er zu tun hatte: den Leichnam zur Bestattung zurückholen und den Tod zehnfach rächen. Er setzte die Sonnenbrille ab, die Varl ihm vor so vielen Monaten geschenkt hatte, und legte sie auf den Schreibtisch. Er würde nun sehen müssen wie eine Raubkatze im Dunkeln. Er nahm seinen Regenbagen und nach kurzem Innehalten auch das Energieschwert. Eszrah war kein Schwertkämpfer, aber das Wesen und das wahre Besitztum dieser Waffe waren wichtig für das Ritual. Es musste die Waffe des Toten sein. Rawne schnarchte im Schlaf und drehte sich um. Er blickte blinzelnd auf. Er war allein im Zimmer. V »Ich bitte dich nur um eins«, sagte Dalin in leisem Flüsterton. »Stirb nicht auch noch. Bitte stirb nicht auch noch.« Er saß an Tona Criids Bett, den Kopf an ihren gedrückt. Sie bewegte sich nicht. »Komm zu mir zurück. Caff ist für immer weg, das weiß ich, aber du kannst es. Du kannst es, verdammt.« Tona lag, wie sie lag, mit schlaffem Mund. Geräusche störten das Feldlazarett. Die Ärzte waren immer noch bei der Arbeit und behandelten die letzten und leichtesten Wunden. Sanitäter eilten mit Hilfsmitteln, frischen Verbänden und Schüsseln mit Wasser hin und her. »Sie kommt schon wieder in Ordnung, Dalin«, sagte ein Mann. »Sie kommt wieder in Ordnung.« Dalin blickte auf und sah Major Kolea neben sich stehen. »Herr Major«, sagte Dalin und machte Anstalten, Haltung anzunehmen. »Weitermachen, mein Junge«, sagte Kolea. Dalin wusste, dass der Major Caff und seiner Mutter nahe gestanden hatte. Major Kolea hatte etwas an sich, das beruhigend und zugleich alarmierend war. Kolea behandelte Dalin seltsam, nicht wie Meryn und die anderen Arschlöcher mit übermäßigem
Respekt vor Caffrans Andenken. Kolea war anders. Er erinnerte Dalin an jemanden, den er einmal vor langer Zeit auf Verghast vor dem Krieg gekannt hatte, vielleicht einen Onkel oder einen Freund der Familie. »Hat meine Mutter Sie gekannt, Herr Major?«, fragte er. »Was?« »Meine leibliche Mutter, nicht Tona, damals in der Vervunmakropole, bei meiner Geburt. Sie sind ein Verghastit. Kannten Sie meine Familie?« Kolea zuckte die Achseln. »Ja.« »Wirklich?« »Ich kannte sie sehr gut.« »Warum haben Sie bis jetzt noch nicht mit mir über sie geredet, Herr Major? Meine Erinnerung an diese Zeit ist nur sehr lückenhaft, aber wenn Sie sie gekannt haben …« »Das ist lange her, Dalin«, sagte Kolea mit belegter Stimme. »Tona ist schon so lange Ihre Mutter, wie es zählt.« »Das weiß ich«, sagte Dalin, »aber … wie waren sie so, meine Mutter und mein Vater? Sie kannten sie. Wie waren sie so?« Kolea wendete sich ab. Er blieb stehen. »Sie haben Sie geliebt«, sagte er. »Sie und Yoncy, sehr sogar. Und sie wären stolz, wenn sie wüssten, dass eine Frau wie Tona Sie beide aufgenommen und beschützt hat.« »Sie sind im Krieg gestorben, nicht wahr? Meine Eltern. Sie sind im Vervunmakropolkrieg gestorben?«, fragte Dalin. »Sie sind im Krieg gestorben«, sagte Kolea. VI Der elfte Morgen graute, ohne sich durch ein sichtbares Zeichen zu verraten. Der Staubsturm draußen war so heftig, dass er das Tageslicht auslöschte und die Nacht verlängerte. Das surrende, beinahe summende Ächzen des Windes und des wehenden Staubs dröhnte durch die Korridore. »Na, wenigstens greifen sie uns bei diesem Wetter nicht an«, bemerkte Berenson, während er eine Tasse Kaffein von Baskevyl entgegennahm. »Weil?«, fragte Baskevyl.
Berenson zuckte die Achseln, wobei er für den Augenblick vergaß, dass er einen Arm in der Schlinge hatte, und zusammenzuckte. »Null Sicht? Sie müssten wahnsinnig sein, um es zu versuchen.« »Haben Sie schon gegen den Blutpakt gekämpft, Major?«, fragte Baskevyl und nippte dann an seiner Tasse, während er ein paar Niederschriften durchsah, die sein Adjutant ihm gebracht hatte. »Gestern war mein erstes Mal«, gab Berenson zu. »Und haben Sie gestern etwas gesehen, das auch nur im Entferntesten andeuten würde, dass sich der Blutpakt geistiger Gesundheit erfreut?« Berenson schwieg. »Sie könnten jederzeit angreifen, Sturm oder nicht, Staub oder kein Staub«, sagte Baskevyl. »Sie lassen sich durch nichts aufhalten, anders als unsere Truppen.« »Was meinen Sie damit?«, fragte Berenson. »Er meint, dass unsere Verstärkung in den nächsten zwei Tagen eintreffen soll«, sagte Rawne, der die Basis betreten hatte und sich zu ihnen gesellte. »Dieser Sturm wird sie mit Sicherheit aufhalten.« Berenson runzelte die Stirn. Seine Miene hatte eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der, die Caffran aufgesetzt hatte, wenn er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte. »Ach, entspannen Sie sich«, sagte Rawne, während er sich einen Kaffein einschenkte. »Das war keine Anspielung auf den Ruf oder die Tüchtigkeit Ihres Regiments. Dieser Staubsturm wird jede motorisierte Einheit auf Schneckentempo verlangsamen. Kein Kommandant der Garde würde bei solchem Wetter blindlings vorstoßen. Sie müssten wahnsinnig sein.« »Ich verweise auf meine vorherige Bemerkung«, sagte Baskevyl zu Berenson. Kolea, Mkoll, Daur, Theiss und Kolosim trafen in der Basis ein, kurz darauf auch Sloman, Kamori und Meryn. Rawne wartete noch ein paar Minuten, bis sich alle Kompanieoffiziere um ihn versammelt hatten. »Fangen wir an«, sagte er. »Munitionsstatus?« »Nicht berauschend, Herr Major«, sagte Arcuda. »Wir sind auf etwa achtundvierzig Prozent des Ausgangswerts herunter. Einstweilen haben wir noch keine Probleme bei den normalen Magazinen und können auch welche kochen, falls es nötig werden sollte.
Aber wir haben feste Munition, Granaten und Werferraketen verbraucht, wie es gestern noch niemand für möglich gehalten hätte.« »Außerdem haben wir kaum noch Läufe für die langen Gewehre«, warf Larkin ein. »Fordern Sie einen Nachschubtransport an«, sagte Rawne zu Beltayn, der sich Notizen machte. »Listen Sie im Detail auf, was wir brauchen.« »Bei diesem Wetter wird uns kein Nachschubtransporter finden«, sagte Kamori finster. »Und wenn doch …«, begann Kolea. »Und wenn doch, was?«, fragte Rawne. Kolea verzog das Gesicht. »Wasser in diesen Hof abzuwerfen, war eine Sache. Aber Munition? Granaten und Sprengstoff? Das könnte sich als verdammt schlechte Idee erweisen.« »Das gilt aber auch fürs Herumsitzen ohne Hilfsmittel und schwere Waffen«, sagte Rawne, »und genau dazu wird es kommen, wenn wir noch so einen Angriff wie den von gestern erleben. Gewehre und Messer werden keine ausreichende Abschreckung gegen einen weiteren Sturmangriff sein.« »Vielleicht finden wir eine andere LZ?«, schlug Daur vor. »Immer vorausgesetzt natürlich, der Sturm lässt nach.« »Beginnen Sie mit der Ausarbeitung alternativer Pläne für den sicheren Empfang eines Munitionstransports«, sagte Rawne. »Beltayn, fordern Sie den Abwurf trotzdem an.« »Zu Befehl, Herr Major.« »Wie sieht die Kom-Verbindung übrigens aus?« Beltayn schüttelte den Kopf. »Wir können im Augenblick Elikon und … und auch sonst niemanden erreichen, Herr Major, die atmosphärischen Störungen sind zu stark. Ich versuche es weiter.« »Tun Sie das«, sagte Rawne, »und versuchen Sie auch, Major Berensons motorisierte Einheit zu erreichen. Eine geschätzte Ankunftszeit wäre sehr willkommen.« »Verstanden.« Rawne trank noch einen Schluck Kaffein und genoss das ungewohnte Erlebnis eines warmen Getränks. Er räusperte sich. »Sichern und halten lautet der Tagesbefehl. Äußerste Wachsamkeit ist vorrangig. Sie kennen alle Ihren Platz und ihren Einsatzbereich. Ich will, dass jedes Rattenloch, jede Klappe und jeder Kellerraum in diesem verdammten Bauwerk fest unter Verschluss
gehalten wird. Jeder Kontakt, jeder Versuch des Eindringens muss mit dem für uns typischen Mangel an Toleranz zurückgeschlagen werden. Noch ein Großangriff wäre schlimm genug, aber ich habe so eine Ahnung, dass sie es noch einmal mit Verstohlenheit versuchen könnten.« Die Offiziere nickten. »Sagen Sie es den Männern, machen Sie es ihnen klar«, sagte Rawne. »Ich weiß, dass die Stimmung trostlos ist, aber wir müssen jetzt doppelt so hart sein. Ich will keine Ausreden hören. Machen Sie den Männern klar, dass jeder Fehler von nun an bedeutet, dass Gaunt umsonst gestorben ist.« Eine unangenehme Pause trat ein. Varl sog missbilligend Luft durch die Zähne. »Sie halten das für abgebrüht?«, fragte Rawne. »Dann kennt mich keiner von Ihnen sonderlich gut. Ich tändele nicht herum, weil sie nicht herumtändeln. Und bevor Sie fragen – so hätte er es gewollt.« Mkoll nickte. »Das bezweifle ich keinen Augenblick«, sagte er. »Gut«, sagte Rawne. »Wer sichert den neuen Bereich?« »Die Zweite Kompanie unter mir«, sagte Baskevyl. »In drei Stunden will ich ihn sauber und abgeriegelt haben«, sagte Rawne. »Es sei denn, wir finden noch mehr neue Bereiche dahinter«, erwiderte Baskevyl. »Zugegeben. Nehmen Sie Beltayn mit. Einen vollständigen Bericht über diese Bibliothek und Rüstkammer, bitte.« Baskevyl nickte. »Dann gehen wir’s an«, sagte Rawne. Die Offiziere zögerten. Rawne starrte sie an und seufzte dann. »Ach, und der Imperator beschützt, und Sie werden alle ewig leben und so weiter …«, sagte er mit einem Winken. »Ich habe es nicht so mit erhebenden Sprüchen. Gehen Sie’s einfach an.« Die Männer wandten sich zum Gehen. »Eines noch, bevor ich es vergesse«, fügte Rawne hinzu, sodass sie sich wieder zu ihm umdrehten. »Letzte Nacht hat jemand Gaunts Schwert aus meinem Büro entwendet. Ein Andenkenjäger, vermute ich, oder ein sentimentaler Schwachkopf. Ich will es zurück. Keine Ausflüchte. Und der Dieb wird streng bestraft.« »Das regle ich, Major«, sagte Hark. Irgendwann im Laufe der Einsatzbesprechung hatte er sich der Gruppe angeschlossen. Er
war vollständig angekleidet und trug seinen Sturmmantel, und er stützte sich auf einer Krücke, die aus der Griffstange einer Trage gefertigt war. Er sah blass und krank aus. »Sollten Sie auf sein?«, fragte Rawne. »Nein«, sagte Hark, »aber ich bin es trotzdem. Die Situation wird nicht auf meine Genesung warten. Curth hat mir so viele Schmerzmittel verabreicht, dass Sie alle wie ein Haufen reizender, grinsender Leute aussehen. Ich bin sicher, das gibt sich schnell. Erwarten Sie auch von mir keine erhebenden Ansprachen, aber Major Rawne hat vollkommen recht. Wir müssen heute alles richtig machen und auch morgen und übermorgen, ohne dass wir uns dabei selbst leidtun. Gaunt würde es verabscheuen, wenn wir jetzt auseinanderbrächen. Alles, woran er sein Leben lang gearbeitet hat, wäre vergeudet.« »Haben das alle verstanden?«, fragte Rawne. »Gut. Weitermachen.«
FÜNFZEHN NACH DEM STURM, DER STURM
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Durch den Sturm belagert, bedeckte das Haus Augen und Mund und wartete. Erschütternde Wellen aus braunem Dreck und lockerem weißen Staubdampf brandeten gegen die Schanzen und schliffen die metallenen Kasematten. Klappen flatterten und klapperten, und einige mussten von innen festgebunden werden. Im Wachhaus war der Wind als tiefes, raues Heulen zu hören, während er durch den Pass herandonnerte. In der Basis jaulten und kreischten die Kom-Geräte auf ihrer Jagd nach einem Signal wie verwundete Tiere. II
Meryn rief sie. Dalin und Cullwoe beendeten die Überprüfung der Kammer mit ihren Taschenlampen und kehrten in den Korridor zurück. »Irgendwas?«, fragte Meryn. »Leer, Herr Hauptmann.« »Dann weiter. Und Beeilung, wenn ich bitten darf.« »Zu Befehl, Herr Hauptmann«, sagte Dalin. Er führte Cullwoe zur nächsten Tür. Meryn entfernte sich, um sich ein Bild von den Fortschritten des Rests seiner Kompanie zu machen, die sich in Paare aufgeteilt hatte, um die neu entdeckten Bereiche des Hauses jenseits des Innenhofs zu erforschen und zu sichern. Er rief einige Anweisungen. »Hauptmann?« Baskevyl tauchte hinter ihm auf. »Herr Major?« »Irgendwas gefunden?« Meryn schüttelte den Kopf. »Wir haben bisher acht oder neun Räume identifiziert, von denen die meisten von diesem Korridor abzweigen. Slomans Männer melden, dass in der Richtung noch mehr sind. Wir passen unterwegs die Karten an.« »Leer?« »Alles ist leer«, nickte Meryn. »Es gibt nicht einmal Mobiliar.« »Dieser Bereich ist wohl aufgegeben worden«, sagte Baskevyl. »Ich meine, Mkoll musste durch eine Wand brechen, um ihn zu finden.« Meryn warf ihm einen Blick zu. »Oder verborgen«, sagte er. »Absichtlich verborgen. Es gibt die Bibliothek und das Waffenlager. Warum sollte man das aufgeben?« »Ich wünschte, ich hätte darauf eine Antwort, Meryn«, sagte Baskevyl. »Schon irgendein Gefühl für die Grenzen dieses Bereichs?« »Nein, Herr Major. Aber hier ist es irgendwie anders, oder?«, sagte Meryn. »Inwiefern anders?« Meryn zeigte auf die nächste Wandlampe. »Das Licht ist dunkelgelb, nicht weiß. Es brennt mit niedrigerer Intensität, pulsiert aber nicht. So als wäre es an einen anderen Generator angeschlossen als der Rest.« »Oder auf irgendein Notfallprogramm zurückgefahren, um Energie zu sparen«, sagte Baskevyl. »Genau.«
Baskevyl schlang sich seinen Tarnumhang um die Schultern. »Ich gehe zur Bibliothek zurück. Machen Sie hier weiter und melden Sie sofort, falls Sie irgendwas finden.« »Lassen Sie sich nicht wegwehen«, sagte Meryn, als er sich zum Gehen wandte. Baskevyl schnaubte, als er den Weg in die entgegengesetzte Richtung einschlug. Um zur Bibliothek und zur Rüstkammer und von dort in den Rest des Hauses zurückzukehren, musste man den Innenhof durchqueren. Bei diesem Sturm war das kein reines Vergnügen. Baskevyl setzte die Brille auf und trat nach draußen in die Wut des Sturms. Der Staub griff mit winzigen Krallen und Nadeln nach ihm. Er musste sich an der Mauer festhalten und vorantasten. Der Wind machte ein sonderbares scharrendes, kratzendes Geräusch, während er im Hof einen Strudel bildete. Es klang wie … Nein, tut es nicht, sagte er sich. Er blickte auf. Die meisten Staubstürme, die sie seit ihrer Ankunft auf Jago erlebt hatten, waren mit dichtem Staubnebel verbunden: blendende Schwaden aus ascheweißem Staub, denen der Sonnenschein einen grellen Glanz verlieh. Dieser war anders und war schon anders gewesen, als er in der Nacht zuvor aufgekommen war. Er war eine grobe Dunkelheit, da der Staub schwarzbraun und giftig war, und es steckte kein Licht dahinter, kein Versprechen von Sonne. Hoch oben schien der Himmel eine teerbraune Leere zu sein, über die sich strahlende Streifen aus Dunkelheit zogen. Obwohl er lichtlos war, schienen leuchtende Funken darin zu tanzen. Blitze, nahm Baskevyl an, elektrische Entladungen. Der Wind machte so viel Lärm, dass er nicht sagen konnte, ob er Donner hörte oder nicht. Lass es nur nicht Artillerie sein, dachte er. Er schaffte es auf die andere Seite des Hofs und stolperte zwischen den beiden dort postierten Geistern durch. »Bleiben Sie wachsam«, sagte er. Dann erklomm er die Treppe in Richtung Bibliothek und Rüstkammer, wobei er seine Brille abnahm und den Staub aus seinem Umhang schüttelte. III
Als Baskevyl die Waffenkammer betrat, waren Larkin und Maggs damit beschäftigt, einige der großen antiken Waffen im weichen bernsteinfarbenen Licht zu begutachten. »Wenn wir doch nur Muni hätten«, sagte Larkin gerade. »Haben wir«, sagte Bonin, der mit verschränkten Armen an einem Wandregal lehnte. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die gepanzerten Bunker in der Mitte. »Wenn wir doch nur brauchbare Muni hätten«, korrigierte sich Larkin. »Tja, da ist wohl was dran«, stimmte Bonin zu. Sein Nacken und die linke Seite seines Halses waren dick verbunden. Die Schmerzen seiner jüngsten Verwundung schienen ihn nicht zu stören. Baskevyl kniete sich hin und hob den Deckel von einem der Bunker. Er betrachtete den Haufen brauner, glänzender Kiesel darin. »Glauben Sie, sie haben sie aufgeladen?«, fragte er. »Glauben Sie, sie sind wiederaufladbar?« »Coir meinte, sie wären schon zu lange in den Kisten, möge der Thron ihm ewige Ruhe geben«, erwiderte Bonin. »Ich meine, wir könnten ziemlich schnell den Löffel abgeben, wenn wir mit alter, exotischer Munition rumhantieren.« »Trotzdem«, sagte Larkin, wobei er einen der braunen Kiesel aufhob und in der Hand hielt, bis er zu leuchten anfing. »Larks …«, warnte Bonin, indem er sich von der Wand abstieß und sich aufrichtete. Baskevyl hob eine Hand. Larkin öffnete das schwere mechanische Schloss der Schanzbüchse in seiner Hand, ließ den leuchtenden Kiesel hineinfallen und schloss die Waffe. Er spannte die Hand um den übergroßen Schaft und zielte auf die leere Wand am Ende der Rüstkammer. »Das ist keine gute Idee«, sagte Bonin. »Auf diesen schlimmen Felsen zu kommen, war von Anfang an keine gute Idee«, erwiderte Larkin. Er korrigierte seine Handhaltung, um das beträchtliche Gewicht der Mauerbüchse besser auszubalancieren. Er drückte ab. Es gab ein oberflächliches Ffttppp! und ein enttäuschendes Aufblinken um die fette Mündung der Waffe. Larkin klappte das Gewehr auf und schaute auf den toten braunen Kiesel darin.
»Tja, den Versuch war es wert«, sagte Larkin und senkte die massive Feuerwaffe. »Außerdem braucht man ein Stativ, um mit diesen Bestien vernünftig zu schießen.« »Wie diese hier?«, fragte Maggs. Die Regale unter den Hauptgewehrständern waren mit schlanken Messingrohren gefüllt. Er nahm eines heraus. Es ließ sich teleskopartig zu einer schulterhohen Stange mit einer gegabelten Stütze am Ende ausziehen. »Genau so«, sagte Larkin. »Haben wir alles da«, sagte Maggs. »Außer Munition, was bedeutet, dass wir gar nichts haben«, sagte Bonin. »Sind Sie so ein Typ, für den das Glas immer halb leer ist, Mach?«, fragte Baskevyl. »Tatsächlich bin ich so ein Typ, für den das Glas immer halb zerbrochen ist und im Gesicht von jemand anders steckt«, sagte Bonin. »Gut zu wissen«, sagte Baskevyl. »Schauen Sie sich weiter um und sehen Sie mal, was Sie sonst noch finden.« »He«, sagte Maggs. Er hatte noch einmal an der Messingstütze des Stativs gezogen, und weitere fünfzig Zentimeter waren ausgefahren. »Warum sollte man es so hoch haben wollen?«, fragte er. »Um nach oben zu zielen?«, mutmaßte Baskevyl mit einem Achselzucken, als er die Kammer verließ. »Weitermachen.« IV Baskevyl durchquerte den Korridor zur Bibliothek, wo Beltayn, Fapes und zwei andere Adjutanten bei der Arbeit waren. Beltayn schaute von dem Stapel Bücher auf, den er auf den Lesepulten studierte. Baskevyl gefiel sein Gesichtsausdruck ganz und gar nicht. »Wir prüfen jedes Buch, aber die Schrift ist entweder überholt, nicht-menschlich oder verschlüsselt.« »In allen Büchern?« Beltayn tätschelte den Stapel auf dem Pult vor sich und verdrehte dann vielsagend die Augen mit Blick auf die vielen tausend Bücher und Schriftrollen in den Regalen.
Baskevyl nickte. »In Ordnung. Das war eine dumme Frage. Sie haben gerade erst angefangen.« »Warum helfen Sie uns nicht?«, fragte der Adjutant. Baskevyl stand einen Moment da und lauschte dem schabenden Kratzen des Windes draußen, einem Geräusch, das irgendwie von unten zu kommen schien. Alles, um sich davon abzulenken. Er ging eine der Wände entlang und fuhr dabei mit den Fingerspitzen über den Rand des schulterhohen Regals. Eine feine Staubwolke wallte träge hinter seinem Finger auf. Die Bücher waren eine bunte Mischung, die Rücken ausgefranst, abgenutzt und alt. In einigen Fällen deuteten eingebrochene Blätterstapel zwischen den Büchern darauf hin, dass sich ganze Einbände aufgelöst hatten. Einige der Bände trugen geprägte Titel auf dem Rücken, doch Baskevyl konnte keinen lesen. Andere schienen mit Emblemen oder Ziermotiven geschmückt zu sein. Er sah sich wahllos nach einem Buch um, mit dem er anfangen konnte. »Ist alles in Ordnung, Herr Major?«, fragte ihn Fapes. »Ja. Warum?« »Nichts, Herr Major. Sie haben nur gerade einen Laut von sich gegeben, als seien Sie überrascht über etwas.« »Ich habe mich nur geräuspert, Fapes. Dieser Staub.« Zur Hölle mit dem Staub, Staub hatte nichts damit zu tun. Nichts zu tun mit dem schockierten Ächzen, das er nicht hatte unterdrücken können. Baskevyl schluckte und schaute wieder auf das Regal. Es war nicht nur das Emblem, worauf sein Blick gerade gefallen war, es war auch die Tatsache, dass er aufs Geratewohl – aufs Geratewohl! – ausgewählt hatte, und es hatte tatsächlich auf ihn gewartet. Er starrte auf den Buchrücken. Es war in etwas gebunden, das wie schwarzes Leder aussah, glänzend und glatt wie … Hör auf. Zu spät, um damit aufzuhören. Zu spät, um seine Gedanken noch daran zu hindern, sich zu überschlagen. Das Emblem, silbern in den Rücken geprägt, funkelte ihn an. Eine Schlange, ein Wurm, der lange segmentierte Körper zu einem Kreis zusammengerollt, sodass die Kiefer in die Schwanzspitze bissen, um einen Reifen zu bilden. Er schluckte wieder und streckte die Hand aus, um das Buch aus dem Regal zu nehmen. In den hintersten Winkeln seines Bewusstseins hörte er, wie das Kratzen lauter wurde: Das grunzen-
de Schaben unter seinen Füßen, unter dem Boden, unter dem Berg selbst, nahm zu, als sich der Dämonenwurm vor Entzücken und Vorfreude wand. Baskevyls Hand verharrte ein paar Zentimeter vor dem Buchrücken. Nimm es. Nimm es. Nimm es heraus. Sieh es dir an. Seine Finger berührten den schwarzen Einband aus Schlangenhaut über dem silbernen Motiv. »Herr Major?« Baskevyl riss seine Finger weg. »Beltayn? Was wollen Sie?« Beltayn hatte einen dicken, in Leder gebundenen Folianten auf dem Lesepult aufgeschlagen. »Das sollten Sie sich ansehen, Herr Major«, sagte er, während er ein paar Seiten umblätterte. Froh über den Vorwand, das Schlangenhautbuch zu lassen, wo es war, trat Baskevyl um das Pult hinter Beltayn. Der Foliant, den Beltayn gefunden hatte, war groß und enthielt lose, brüchige Blätter, die beinahe einen halben Quadratmeter maßen. Manche enthielten Absätze mit kommentiertem Text: schwarze Abschnitte einer fremden Schrift, die mit verblasster Kalligrafie verziert und dadurch noch unleserlicher war. Der Rest waren Bildtafeln. Sie waren gut gemacht, aber die Farben der handgemalten Tafeln waren nur noch Schatten ihrer ehemaligen Leuchtkraft. Die Bildtafeln waren Diagramme von Festungsmauern, Bastionen, Stellungen, Kasematten-Linien, Grabensystemen, GlockenGruppierungen. »Feth«, sagte Baskevyl. »Ist das … hier?« Beltayn nickte. »Ich glaube schon. Tatsächlich glaube ich, das könnte ein Archiv von Jago sein. Das … das sieht wie Elikon aus, oder nicht?« »Ja, das stimmt.« »Und das … das ist viel zu groß für Hinzerhaus. Das … tja, es sieht mindestens hundert Kilometer lang aus.« »Mindestens.« Baskevyl atmete tief durch. »Ein Archiv der Festungswelt mit alten Aufzeichnungen. Ich frage mich, wie genau sie sind.« »Besser als unsere, möchte ich wetten«, sagte Fapes, der ihnen über die Schulter sah. »Thron segne Sie, Bel«, sagte Baskevyl, indem er ihm auf die Schulter klopfte. »Sie haben vielleicht etwas gefunden, das wirk-
lich wichtig für diesen Krieg sein könnte. Wie viele Bände wie diesen gibt es insgesamt?« »Äh … vier, sechs … acht …«, fing Fapes an zu zählen. »Dreiundzwanzig in diesem Regal. Vielleicht gibt es noch andere.« »Scheiße«, sagte Baskevyl. »Damit liegen Sie nicht ganz falsch«, sagte Beltayn. »Sehen Sie.« Er blätterte zu einer anderen Bildtafel um. Dies war kein Diagramm, sondern eine Illustration. Es war ein Schnittbild im antiken Stil, das gerüstete Männer zeigte, die in irgendeinem Gefecht eine Kasematte verteidigten. Sternförmige Raketen wie alte Darstellungen von Kometen schossen auf sie nieder. Am unteren Bildrand lagen einige tot auf der Seite, und deren Maßstab und Ausrichtung stimmte perspektivisch nicht mit dem Rest des Bildes überein. Die Männer in der Kasematte waren ganz eindeutig mit Schanzbüchsen bewaffnet, die identisch mit den keine zwanzig Meter entfernt verstauten Waffen waren. »Kämpfende Menschen an einer Schießscharte«, sagte Baskevyl. Beltayn blätterte um und enthüllte ein anderes, ähnliches Bild, und ein drittes. Dann ein viertes, das zeigte, wie die Krieger die Klappen zum Schießen aufkurbelten. Die komplizierten Öffnungsmechanismen wurden eindeutig gezeigt. »Sind sie welche?«, fragte Beltayn. »Sind sie was?« »Menschen«, sagte Beltayn. »Sehen Sie genau hin.« Baskevyl betrachtete das Bild eingehender. Beltayn hatte recht. Die Krieger auf den Bildern waren humanoid, aber von Kopf bis Fuß in kunstvolle Rüstungen gehüllt. Ihre Gesichter waren hinter komplizierten Visieren verborgen. »Vielleicht sind das gar keine Menschen«, sagte Beltayn. »Sehen Sie nur, wie groß sie im Vergleich zu den Schießscharten in den Kasematten sind.« »Das können Sie nicht sagen. Es gibt keine Perspektive, keinen Maßstab«, sagte Baskevyl. »Dann vergleichen Sie sie mit den Gewehren«, sagte Fapes. In den Illustrationen hielten die Krieger an den Schießscharten die Schanzbüchsen wie Lasergewehre. Einige benutzten Stative, aber dennoch …
Baskevyl musste daran denken, wie Maggs die letzten fünfzig Zentimeter Teleskopstange ausgezogen hatte. »Ach du heiliger Thron«, murmelte er. »Was ist denn los, Major?«, fragte Fapes. »Sie scheinen heute außerordentlich schreckhaft zu sein.« Baskevyl schaltete sein Helmkom ein. »Herr Major, hier spricht Baskevyl.« »Ich höre«, erwiderte Rawnes Stimme. »Können Sie nach unten in die Bibliothek kommen, die wir gefunden haben? Ich würde Ihnen gern etwas zeigen.« »Zehn Minuten, Baskevyl. Kann es so lange warten?« »Es hat schon ich weiß nicht wie viele Jahrhunderte gewartet. Ich bin sicher, zehn Minuten mehr machen keinen Unterschied.« V Viele hundert Schritte hallten durch das Haus. Die Wachen wechselten. Der heulende Sturm draußen hatte die Nacht überdauert und auch die erste Wache des Tages. Mkoll folgte einem von der Basis ausgehenden Korridor, um nach den Wachablösungen der Späher zu sehen. Er kam an der Tür zu Gaunts Raum vorbei. Sie war angelehnt. Nicht Gaunts, sagte er sich. Nicht mehr. Rawnes. Er blieb stehen und ging ein, zwei Schritte zurück, bis er durch die offene Tür schauen konnte. Oan Mkoll war ein harter Mann, ein Mann, der nicht dazu neigte, Emotionen zu zeigen. Er hätte niemals irgendjemandem gegenüber zugegeben, wie verloren er sich ohne Gaunt fühlte. Sie fühlten es alle, das wusste er. Jeder von ihnen spürte den Verlust, und es hatte keinen Sinn, dieses Elend noch zu verstärken. Er wollte ganz sicher nicht, dass ihn jemand bedauerte. Aber das Zentrum seines Universums war verschwunden, einfach so, obwohl er immer gewusst hatte, dass es eines Tages vermutlich so kommen würde. Er hätte sein Leben für den Dienst am Ersten Tanith gegeben und, was noch wichtiger war, für Ibram Gaunt. Für Mkoll war der Krieg mehr als eine flüchtige Bekanntschaft. Angesichts seiner besonderen Rolle war Mkoll immer davon ausgegangen, dass er lange vor Gaunt sterben würde.
Nun, da Gaunt ihm auf dem Weg in eine bessere Welt zuvorgekommen war, schien nichts mehr wichtig zu sein. Er hasste sich dafür, so zu empfinden. Er verübelte Gaunt sein Dahinscheiden. Es war nicht richtig. Zu Gaunts Lebzeiten hatte das Dasein einen Sinn gehabt, diese endlose Aneinanderreihung von Kriegsschauplätzen und Schlachten. Es hatte Hoffnung gegeben, eine … Bestimmung. Mkoll stieß die Tür auf und betrat den Raum. Er atmete ein. Er konnte Gaunt riechen, seinen Geist. Er konnte Gaunts Rasierwasser riechen, die gestärkte Uniform, die Reste seines Körpergeruchs. Rawnes Habseligkeiten waren unordentlich im Raum verstreut. Mkoll ging zum Schreibtisch. Rawnes Enthüllung, dass Gaunts Schwert entwendet worden sei, hatte Mkoll mit tiefem Zorn erfüllt. Was für eine abscheuliche, unehrenhafte Tat. Das Schwert eines Toten zu stehlen. Das war niederträchtig. Mkoll starrte auf den Schreibtisch. Ein paar persönliche Gegenstände lagen darauf: eine Datentafel, eine Knopfbürste, eine Büchse mit Metallpolitur, eine Blechtasse. Von dem Augenblick, als Mkoll das Wachhaus von Hinzerhaus betreten hatte, war er nicht mehr er selbst gewesen. Er war schreckhaft gewesen, angespannt und voller Angst, dass er seinen Biss verloren habe. Er hatte es Gaunt an jenem Abend draußen auf der Klippe erzählt. Gaunt hatte versucht, ihn aufzumuntern, aber Mkoll hatte sie weiter empfunden: die Schlampigkeit, die Zweifel. Ich kann mir selbst nicht trauen. Dieser Ort macht einen Narren aus mir. Und Narren sterben schneller als andere. Das hatte er gesagt. Gaunt wäre noch am Leben, wenn Mkoll in Form gewesen wäre – da war er sicher, schmerzlich sicher. Mkoll wäre in oberer Westen sechzehn gewesen und vorangegangen und hätte so dafür gesorgt, dass Gaunt nicht hätte vorangehen müssen. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte wissen müssen, woher die eigentliche Gefahr kam. Ich hätte dort sein und Ibram retten müssen, auch wenn es mich dann selbst erwischt hätte. Mkoll seufzte. Ich habe versagt. Es tut mir so leid.
Er schaute wieder auf den Schreibtisch. Feth hole Hark und seine Vorschriften. Ich finde den Dreckskerl, der Gaunts Schwert gestohlen hat, und dann … Mkoll sah die Sonnenbrille. Er nahm sie und drehte sie in den Händen. Es war ein billiges Ding, in irgendeiner Plastekfabrik auf Urdesh oder Rydol maschinell gestanzt. Er erinnerte sich daran, wie Varl damit auf Herodor posiert und damit die Lacher auf seiner Seite gehabt hatte. Am deutlichsten erinnerte er sich aber an die Tatsache, dass der Nachgahner die Sonnenbrille nicht ein Mal abgesetzt hatte seit dem Moment, als Varl sie Eszrah auf Gereon geschenkt hatte. »Ach, du dämlicher Feth«, murmelte Mkoll bei sich. »Was hast du jetzt angestellt?« VI Rawne betrat die Bibliothek. »Das ist hoffentlich meine Zeit wert«, sagte er. »Oh, das ist es«, erwiderte Baskevyl. »Sehen Sie sich das hier an.« »Was denn?«, fragte Hark, der hinter Rawne in den Raum humpelte. »Ich …«, begann Baskevyl. Er stutzte und sah Hark an. »Kommissar? Was ist los?« Hark hatte plötzlich die Stirn gerunzelt, als höre er etwas. Als er antwortete, waren seine Worte nur ein knappes Bellen. »Wappnen Sie sich!« Sie spürten das Beben der ersten auf das Haus fallenden Granaten. Eine Salve, noch eine. Ein paar Explosionen in der Nähe ließen den Boden vibrieren und Staub von der Decke rieseln. »Der Sturm tobt immer noch!«, beschwerte sich Beltayn. »Wie können sie uns anvisieren?« »Sie hatten uns gestern im Visier. Die Werte haben sich nicht geändert«, konterte Rawne. »Auch wenn sie blind schießen!« »Aber …«, begann Beltayn. Die nächste Salve schien direkt über ihnen einzuschlagen. Brocken aus Stuck und glänzende braune Paneele fielen von der Decke. Die Lampen flackerten.
Rawnes Augen verengten sich. Wie kämpfen wir gegen einen Feind, den wir nicht sehen und nicht erreichen können? Wie kämpfen wir gegen einen Feind, der uns Stück für Stück auseinandernimmt? VII Der Beschuss hielt zehn Minuten an und ließ dann nach. Nach weiteren zehn Minzten begann er wieder, wie ein Sommergewitter, das mit den einander jagenden Wolken kommt und geht. Das Haus bebte in seinen felsigen Grundfesten. Mehrere Ausguck-Kasematten erlitten direkte Treffer und wurden zerstört, aber es gab nur wenige Opfer, da sich die Geister ins befestigte Herz des Hauses zurückgezogen hatten. Die Granateinschläge übertönten das heulende Dröhnen des Windes, schrill und heiser wie das Blöken von Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank. Zweil hatte einen Gottesdienst in der Basis abgehalten, als die ersten Granaten einschlugen. Als die Männer konsterniert aufblickten, mahnte er sie zur Ruhe und setzte seine Lesung fort, als sei nichts geschehen. Nicht weit entfernt, auf einem niedriger gelegenen Absatz derselben Kammer, arbeiteten Rerval, Rafflan und andere KomOffiziere weiter mit ihren Geräten, und ihr beständiges Gemurmel wurde zu einem liturgischen Chor für Zweils sichere Stimme. Daur hatte das Kommando über die Wache im Wachhaus. Er wusste, was sie hörten – und spürten –, war bestenfalls Störfeuer, ein beständiges leichtes Einhämmern, um ihre Moral zu unterminieren. Niemand, nicht einmal der chaotische Feind, setzte Artillerie bei einem Wirbelsturm ein und rechnete mit akkuraten, produktiven Resultaten. Es war ein Wunder, dass überhaupt etwas das Haus traf. Aber schon das Jaulen über sie hinwegfliegender Granaten oder das Donnern von Treffern in Hörweite reichte, um eingegrabene Truppen zu beunruhigen. Sie fühlten sich hilflos und noch verwundbarer als sonst. Es zehrte an ihrer Hoffnung und fraß an ihrem Selbstbewusstsein. Daur marschierte durch die Reihen murmelnder wachsamer Männer im Wachhaus und blieb vor der Hauptschleuse stehen. Seine Finger strichen über die leichte Vorwölbung im Saum, wo
die Ramme am Tag zuvor ihr Werk verrichtet hatte. Viel war nicht mehr nötig, um die Schleuse aufzubrechen. Er legte die Handfläche auf das Metall der Schleuse und spürte eine leichte, beständige Vibration unter seiner Berührung. War das der Druck des Sturms von der anderen Seite? Der Beschuss dauerte noch eine halbe Stunde und hörte dann wieder auf. Der Sturm hingegen ließ nicht nach. Hoch im Haus, in den obersten Kammern und Galerien, verursachten die heftigen Winde und der Staub draußen Geräusche auf den Metallkuppeln der Glocken wie Krallen auf Glas. Hastig zugebundene oder verdrahtete Klappen bebten in ihren Halterungen. Wachtrupps warteten voller Unbehagen, lauschten, unterhielten sich leise, spielten Karten oder Würfel oder knabberten Trockenproviant. Mkoll machte die Runde durch die oberen Galerien und sah nach den Wachtrupps. Die Männer waren froh, ihn zu sehen. Mkoll war eine beruhigende Gestalt. Während der Beschuss kam und ging, sagte er ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen und Klappen und Stolperdrähte nicht aus den Augen lassen. Mehr als einmal, wie im Vorbeigehen, fragte er beiläufig: »Hat einer von euch den Nachgahner heute schon gesehen?« VIII »Weißt du, was das ist?« »Ein erlesener Schmerz, Meister?« antwortete Cullwoe. »Feth, ja«, lächelte Dalin, obwohl sein Lächeln nicht zuversichtlich war. Die neu entdeckten Bereiche des Hauses zu erforschen und zu sichern, dauerte länger als erwartet: Leere Räume öffneten sich unerwartet in andere leere Räume und dann in noch mehr daneben, wenn sie damit rechneten, in einer Sackgasse oder vor einer Außenwand zu landen. Das Krachen und Scheppern einschlagender Granaten sorgte für zusätzliche nervöse Anspannung. Taschenlampen, an den Halterungen unter dem Lauf ihrer Waffen befestigt, jagten in die bernsteinfarbene Düsternis. Das Kommen und Gehen des weichen weißen Lichts im Rest des Hauses, ein an und für sich schon beunruhigender Umstand, war dem düsteren, stetigen orangen Schein der Wandlampen im neuen Bereich unendlich vorzuziehen.
In ihrem Helmkom klickte es. »Klicken bestätigen«, sprach Dalin in sein Mikrofon. Atmosphärische Störungen sorgten schon den ganzen Tag für falsche Signale im Interkom. »Bestätigt«, sagte Wheln. »Könnt ihr hierherkommen?« Sie folgten seinem Signal durch einen beengten Korridor, der im rechten Winkel in einen größeren mündete. »Hier unten!«, rief Wheln, als er das Licht ihrer Taschenlampen sah. Der robuste ältere Tanither erwartete sie am Südende des Korridors. Sein Suchpartner Melwid war bei ihm. »Was habt ihr gefunden?«, fragte Dalin. »Sieh selbst, Adjutant«, sagte Wheln. Es war so merkwürdig. Wheln schien wie viele andere Dalins neue Rolle trotz ihres Altersunterschieds ohne jedes Zögern zu akzeptieren. Der Korridor öffnete sich zu einer breiten Treppe, acht Stufen hoch, die auf den braun glänzenden Boden einer rechteckigen Kammer führte. Es gab keine anderen Türen oder Verbindungsgänge. Es war eine Sackgasse. Bernsteinfarbene Wandlampen leuchteten an den Seitenwänden, aber die Wand gegenüber der Treppe bestand nur aus leeren Paneelen. »Ende der Fahnenstange«, sagte Cullwoe. »Vielleicht. Seht euch das an«, erwiderte Wheln. Er hob die Hand und zeigte auf den Türbogen aus geschnitztem Holz über der Treppe. Er war schon in prähistorischen Zeiten von Würmern zerfressen worden, und die geschnitzten Zeichen waren unleserlich. »Na und?«, fragte Cullwoe. »Machen wir jetzt Vermerke über interessante architektonische Gegebenheiten?« Melwid schüttelte den Kopf. Wheln ignorierte Cullwoe und wandte sich direkt an Dalin. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte er. Dalin nickte. »Zwei Mal«, erwiderte er. »Eins ist am Ende des Gangs zwischen der Hauptschleuse und der Basis.« »Und das andere auf dem Weg in diesen Teil des Hauses, kurz bevor man in den Hof gelangt«, stimmte Wheln zu. Cullwoe zuckte die Achseln. »Und?« »Halt mal kurz die Klappe, Khet«, sagte Dalin. »Aber …«
»Verstehst du denn nicht?«, fragte Dalin. »Die anderen beiden Bögen wie dieser hier bezeichnen Eingänge.« Dalin ging zur Wand am Ende der Kammer und fuhr mit der Hand über die glänzenden braunen Paneele. Dann klopfte er dagegen. Das Geräusch war matt. »Kein Echo«, sagte Melwid. »Trotzdem«, sagte Dalin und schaltete sein Helmkom ein. »Hauptmann Meryn? Hier Criid …« IX In der Windkate waren keine Wachen postiert. Der Glockenturm war von allen, Mkoll eingeschlossen, als zu unzugänglich für einen Angriff von außen erachtet worden. Die Klappen waren festgebunden und gesichert worden. Er war ein leerer, düsterer Vogelkäfig mit Schlitzen und Löchern, durch die der Wind pfiff. Eszrah ut Nach saß mit dem Rücken zum Metallbaum auf dem Boden und trug behutsam wode auf sein Gesicht auf. Als er mit dem Aufschmieren der grauen Paste fertig war, die er mit kundigen Bewegungen auf seiner Haut verteilte, ohne einen Spiegel zu benötigen, holte er eine andere kleine Kürbisflasche aus seiner Jackentasche und schraubte den Deckel ab. Einen nach dem anderen nahm er die eisernen Bolzen, die neben ihm auf dem Boden lagen, und tauchte die Spitzen in die Flasche, sodass sie mit dem tödlichen Mottengift der Unbebau getränkt wurden. Dann verstaute er die Bolzen wieder in seinem Köcher, steckte die Flasche weg und saß eine Weile stumm da. Vier Gegenstände lagen vor ihm auf dem Boden: eine Seilrolle, eine Tasche mit Kletterhaken und Gesteinsnägeln, sein Regenbagen und Gaunts Schwert. Das Ächzen des Windes draußen ließ ein wenig nach, als verliere der gigantische Sturm endlich an Schwung. Eszrah ignorierte das sporadische Krachen explodierender Granaten, das von der Südwand des Hauses hinter ihm herüberhallte. Er erhob sich mit einem geschmeidigen Entfalten seiner Beine. Er schnallte sich das Schwert auf den Rücken und band den Regenbagen darüber, kreuzweise, um das Gewicht auszubalancieren. Den Umhängeriemen der Tasche streifte er sich über den Kopf, sodass sie auf der linken Hüfte ruhte. Er schob den rechten Arm durch die Seilrolle.
Der lose Staub in der Luft der Windkate setzte sich langsam. Nach mehreren Minuten zeigte sich eine unmerkliche Andeutung von fahlem Tageslicht rings um die Ränder der Messingluken. Eszrah ging zur nach Norden weisenden Luke, entfernte den Draht und öffnete sie. Er schaute ins kalte Dämmerlicht, einen violetten Himmel, mit Wolken verschmiert, der über einer dicken gelben Decke aus einem sich langsam setzenden Staubnebel hing, welcher den Berghang unter ihm verdeckte und sich über die unendliche Weite des Ödlands nach Norden erstreckte. Der Sturm war vorbei. Tageslicht kämpfte darum, seinen Platz einzunehmen. Eszrah glitt ohne Zögern durch die Klappe und ließ sie hinter sich zuschlagen. X »Der Sturm hat nachgelassen«, wurde Daur informiert. »Hier Schleuse«, aktivierte er sein Interkom. »Ausguck? Irgendwas?« Hoch oben im Haus kehrten die Ausgucke auf ihre Posten zurück und öffneten die Klappen, die sie vor dem Sturm geschlossen hatten, um durch das Dämmerlicht auf die Landschaft zu schauen, die ihre Formen noch nicht wiedererlangt hatte. »Nichts, Schleuse. Halten Sie auf dem Laufenden.« Daur trank einen Schluck Wasser. »Das gefällt mir nicht«, hörte er einen der Soldaten in der Nähe murmeln. Ich weiß, was mir nicht gefällt, dachte Daur. Mir gefällt nicht, dass im Augenblick des Abflauens des Sturms der Granatbeschuss zum Erliegen gekommen ist. In der Basis drehte Rerval an einem Regler und sagte zum zigsten Mal: »SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz, können Sie mich hören, Ende?« »Nalholz, hier Elikon, hier Elikon«, erwiderte das Kom-Gerät. Rerval klatschte in die Hände. »Jemand soll Rawne verständigen!«, rief er. »Wir haben eine Verbindung!« XI
Splitternd und berstend lösten sich die alten braunen Paneele. Wheln und Dalin arbeiteten mit den Brecheisen, die Meryn mitgebracht hatte. Die Leere hinter den Paneelen war mit Staub und Dreck gefüllt, und alle husteten und zogen sich den Umhang über Mund und Nase. »Das ist nur nackter Felsen«, knurrte Meryn. »Es war das Nachsehen wert, Dalin, aber …« Wheln griff in den Raum hinter den teilweise eingerissenen Paneelen. Er zog einen großen, schmutzigen Steinbrocken heraus. »Das ist kein nackter Felsen«, sagte er. »Es ist loses Gestein. Abraum, der hier aufgeschüttet wurde.« »Räumen«, befahl Meryn. Sie mussten nicht viel wegschaffen, um zu sehen, was dahinter lag. Hinter der Wand befand sich eine Metallschleuse, mit Erde und Staub verkrustet, eine Schleuse, die in Größe und Form praktisch mit derjenigen im Wachhaus identisch war. »Ein zweites Tor«, sagte Dalin. »Ja, aber versiegelt«, sagte Meryn. »Auf dieser Seite, Herr Hauptmann«, sagte Dalin. »Wir wussten nicht, dass es hier mehr als ein Tor gibt«, sagte Meryn. »Warum sollte der Feind es besser wissen?« »Weil er viel mehr über diesen Ort zu wissen scheint als wir«, sagte Dalin. »Der Junge hat recht«, sagte Rawne, der hinter ihnen im Korridor auftauchte. »Also müssen wir uns vergewissern. Hauptmann, lassen Sie drei Trupps hier antreten, drei Trupps mit mindestens einem Flammer.« »Zu Befehl.« »Im Laufschritt, Meryn. Ich will diese Schleuse öffnen.« Alle sahen Rawne an. »Weiß jemand einen anderen Weg herauszufinden, was dahinter liegt?«, fragte Rawne. XII Hark stieß einen leisen Pfiff aus, während er langsam in dem Folianten blätterte. »Wichtig, richtig?«, fragte Baskevyl.
Hark nickte. »Rawne schien nicht so beeindruckt zu sein«, fügte Baskevyl hinzu. »Er hat dringlichere Probleme«, sagte Hark. Die Bilder, die er betrachtete, waren so erstaunlich, dass er das Pochen des Schmerzes in seinem Rücken beinahe vergessen hatte. Er blickte zu Baskevyl und Berenson auf. »Diese Bücher müssen so schnell wie möglich zur SP Elikon gebracht werden.« »Ja, Kommissar«, erwiderte Berenson. »Ich halte das auch für extrem wichtig.« »Gebracht werden?«, sagte Baskevyl. »Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Hark. »Wir können sie nicht übertragen.« »Gibt es keine Möglichkeit, sie zu konvertieren?«, fragte Berenson. »Wir haben ein paar Bildleser, aber es würde Wochen dauern, alle Bücher einzulesen. Und die Qualität wäre schlecht.« Hark seufzte. »Außerdem ist unsere Verbindung nicht sicher genug, um sie zu senden, nicht in dieser Menge. Nein, meine Herren, die hier müssen auf die altmodische Art nach Elikon gebracht werden.« »Das wird Rawne nicht gefallen«, sagte Baskevyl. »Major Rawne wird sich damit abfinden müssen«, sagte Hark. XIII Mkoll schlich die Holztreppe zur Windkate empor. Seine scharfen Sinne irrten sich nicht. Der Nachgahner war da oben gewesen. Der Kuppelraum war leer. Mkoll sah sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Eine der Messingklappen rappelte in ihrem Rahmen, wenn der Wind dagegenblies. Er sah einen kleinen grauen Fleck auf dem Boden. Er bückte sich, berührte ihn und roch an seiner Fingerspitze. Wode, der Geruch der tiefsten Unbebau. Er erhob sich und ging zu der rappelnden Klappe. Der Haltedraht war aufgebunden worden. Er stand lange Zeit tief in Gedanken versunken da.
XIV »Bitte warten, Tor«, tönte es aus dem Kom in Daurs Ohr. »Nun mach schon«, murmelte Daur nervös. »Es ist immer noch viel Staub in der Luft«, sagte der Ausguck. »Das Gelände ist noch verdeckt.« »Aber Sie glaubten, Sie hätten etwas gesehen?« »Das kann ich nicht bestätigen. Warten Sie bitte.« Daur atmete aus. Er wollte gerade wieder etwas sagen, als die Schleuse hinter ihm erbebte. Ein tiefes, dröhnendes Krachen hallte durch das Wachhaus. »Schon gut, Ausguck«, sagte Daur grimmig. »Aufstehen und antreten!«, brüllte er den Männern zu. Die Ramme nahm ihren steten Rhythmus auf der anderen Seite wieder auf.
SECHZEHN DER DRITTE ANGRIFF
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Erbitte dringend Versorgung mit Munition. Erbitte dringend direktes Kom-Gespräch mit Feldkommandant zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Bitte um baldige Antwort. Nalholz Ende. (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I »Räumen Sie das da weg! Da!«, rief Rawne. »Nein, die Steine. Sie verklemmen die Angeln!« Melwid kroch in das Loch und schaufelte mit beiden Händen die Steinbrocken durch die Beine nach hinten wie ein grabendes Tier. »Gut!«, rief Rawne. »Und jetzt ziehen!« Die trockenen Metallangeln der Schleuse ächzten protestierend ob des Ansinnens, sich nach so langer Zeit wieder zu bewegen.
Ein Schaft aus grauem Tageslicht fiel durch den Spalt ein, und weißer Staub wurde hereingeweht. »Trupps, Bereitschaft!«, befahl Rawne. »Fertigmachen!«, gab Meryn weiter. Die Schleuse öffnete sich etwa einen halben Meter weit, und das kalte Licht von draußen leckte hinein. »Genug!«, rief Rawne. Er hob die Hand, um Ruhe anzuordnen. Niemand rührte sich. Niemand sprach. Die einzigen Geräusche waren das Rieseln gestörter Erde, das leise Summen des Windes draußen und das Zischen von Neskons wartendem Flammenwerfer. Mit Gesten zog Rawne Wheln, Melwid und Dalin von der Schleuse zurück und beließ Cullwoe und Harjeon hinter ihr, um sie jeden Moment wieder zuschlagen zu können. Von draußen kam nichts, keine Bewegungsgeräusche, keine Schüsse. Rawne sah Bonin an und nickte. Bonin setzte sich in Bewegung, gefolgt von seinen Späherkollegen Livara und Jajjo. Sie erreichten den Spalt. Bonin warf einen raschen Blick mit Hilfe des kleinen improvisierten Stabspiegels nach draußen, den Mkvenner entwickelt hatte. Er gab das Zeichen für klar. Jajjo glitt an ihm vorbei, dann Livara. Bonin folgte ihnen. Rawne war der vierte Mann in der Schleuse. Er wollte den Spähern nach draußen folgen, als Meryn ihm eine Hand auf den Arm legte. »Herr Major, ich glaube nicht …«, flüsterte Meryn. »Nicht jetzt, Meryn.« »Wir können es uns nicht leisen, zwei kommandierende Offiziere in ebenso vielen Tagen zu verlieren.« Rawne begegnete einen Moment Meryns Blick, dann glitt er trotzdem durch die Schleuse. Draußen war es trostlos. Die Luft war durch aufgewehten Staub vernebelt, und der Himmel hoch über ihnen hatte die Farbe eines alten Blutergusses. Die Schleuse öffnete sich in einen Graben, eine Schlucht mit hohen Seiten und Hängen aus losem Geröll und Felsbrocken, die Jahrhunderte von Stürmen den Berghang heruntergeholt hatten. Rawne ging vorsichtig nach unten zum Boden des Grabens. Er konnte die drei Späher vor sich sehen, die sich tief geduckt und
sehr vorsichtig bewegten. Er drehte sich langsam um. Er sah die zerklüfteten Bänke des Hauses und die sich hinter ihm erhebende Klippenwand über der Schleuse. Die eigentliche Schleuse war halb im Geröll begraben. Vor dem Öffnen der Schleuse würde es keinen offensichtlichen Hinweis gegeben haben, dass es hier überhaupt einen Zugang gab. Der Graben war an der Einmündung ziemlich breit und lag augenscheinlich abseits des Hauptpasses zum Wachhaus und daneben: ein Seiteneingang, ein zweites Tor. Der Feind wusste ganz eindeutig nichts davon, sonst hätte er ihn bei seinem letzten Angriff benutzt, anstatt über die Dächer zu klettern. Rawnes Kom klickte. Er ging durch den Graben zur Einmündung, wo die Späher warteten. Er hatte sie beinahe erreicht, als das Kom in seinem Ohr rief: »Kontakt! Haupttor!« Rawne antwortete nicht. Er rannte los und gesellte sich zu den Spähern. Sie lagen auf dem Bauch zwischen dem Geröll am Ende des Grabens und schauten nach rechts. Rawne legte sich zu ihnen. Bonin reichte ihm ein Fernglas. Wie Rawne angenommen hatte, öffnete sich der Graben zur Ostseite der Staubschüssel vor dem Haupttor. Der Zugangspass, grimmig und mit hohen Seiten, lag zu ihrer Linken. Das Wachhaus lag etwa fünfhundert Meter westlich von ihnen. Es wurde angegriffen. Trotz des schluchzenden Ächzen des Windes und der kuriosen Akustik des Passes hatte Rawne den Lärm des Angriffs von dem Augenblick hören können, als er das Ende des Grabens erreicht hatte: den steten, gong-artigen Rhythmus einer Ramme auf Metall, der wie Glockengeläut klang, das Geschrei und Gebrüll von Männern, das Schlagen von Trommeln. Mehr als hundert Blutpaktkrieger hatten sich um das Haupttor versammelt und skandierten und brüllten, während die Mannschaft an der Ramme ihr schweres Instrument hin und her schwang. Banner flatterten in der Bergluft. Zusätzliche Rudel feindlicher Krieger kamen durch die Staubschüssel, um sich der Masse anzuschließen. Rawne konnte die mit Widerhaken versehenen Leitern sehen, die sie trugen oder durch den Staub schleiften. Sie bereiteten sich auf einen neuerlichen Sturmangriff vor.
Rawne schaltete sein Kom ein. »Hier Rawne. Kontaktmeldungen von den obersten Galerien? Irgendwas aus dem Norden?« »Negativ, Herr Major. Da oben ist alles ruhig.« »Bleiben Sie wachsam. Vollalarm. Sie können jederzeit kommen. Ich setze Sie davon in Kenntnis, dass der Feind an der Südwand soeben einen Großangriff startet. Für alle Männer gilt der Befehl, das Feuer nur zu eröffnen, wenn sie ein klares Ziel auf der Mauer haben. Keine Munitionsverschwendung.« »Zu Befehl, Herr Major.« »Ich meine es ernst.« »Verstanden.« Rawne hielt kurz inne. »Noch mal Rawne. Wer hat das Kommando am Tor?« »Hauptmann Daur, Herr Major.« »Besorgen Sie ihm Unterstützung, mindestens noch eine Kompanie. Ich glaube, er wird sie brauchen.« Rawne sah seine drei Späher an. »Wir könnten sie umgehen?«, sagte Bonin. »Nur weiter.« Bonin zeigte durch den Graben zurück auf das neue Tor. »Wenn wir ein, zwei Kompanien auf diesem Weg rausbringen, können wir sie aus der rechten Flanke angreifen, bevor sie merken, was los ist, und eine Menge Schaden anrichten.« Rawne nickte. »Nun?«, fragte Bonin. Rawne holte tief Luft. Die Idee war außerordentlich verführerisch. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Schaden ein überraschender Gegenangriff anrichten würde. »Nein«, sagte er. »Nein, Herr Major?« »Nein, Bonin. Wenn wir sie auf diese Art angreifen, werden sie wissen, dass wir noch einen anderen Ausgang gefunden haben. Sie werden unseren Weg zurückverfolgen und das andere Tor finden.« »Aber …« »Dieses zweite Tor ist unser kleines Geheimnis. Es ist ein Vorteil, von dem wir bisher nichts wussten, aber wir können ihn uns nur einmal zunutze machen, also muss dieses eine Mal wirklich zählen. Wir müssen ihn ihm richtigen Moment einsetzen, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.«
»Ist das jetzt nicht der richtige Moment, mit Verlaub gefragt?«, sagte Jajjo. »Feth, ich wünschte, er wäre es«, sagte Rawne. »Ich würde mein Silber heute gern anfeuchten. Aber ich glaube, wir müssen es uns aufsparen. Taktisch könnte dieser Ausgang später noch sehr viel wichtiger werden.« Die drei Späher nickten, schienen aber nicht überzeugt zu sein. »Gaunt würde es genauso gemacht haben«, sagte Rawne. »Wirklich?«, fragte Bonin skeptisch. »Wie können Sie da so sicher sein?« »Wenn er jetzt hier wäre, würde er sagen, dass wir noch warten sollen, und ich wäre derjenige, der sagen würde, dass er ein verdammter Idiot ist.« Vom Haupttor drang plötzlich jäher Lärm zu ihnen. Die ersten Leitern hatten sich in die Wände verhakt, und der Blutpakt, der sie emporstürmte, war mit Gewehrfeuer aus den Kasematten und Ausgucken begrüßt worden. Laserstrahlen zuckten aus den Schießscharten herunter wie leuchtender Regen, und viele rot gekleidete Gestalten zuckten und fielen auf die Klippen zurück, wo sie aufprallten und sich schlaff überschlugen. Explosionen erblühten wie Wüstenblumen, kurze Feuerfontänen, denen schwarze, in den Himmel steigende Rauchfahnen folgten, wenn sie erloschen waren. Zwei mit feindlichen Soldaten beladene Leitern rissen von der Wand und rutschten und polterten die steile Böschung des unteren Hauses herab. Rawne hörte Geschrei und Gebrüll, Stimmen, die Schmerzensschreie und Kriegsrufe von sich gaben. Das Feuergefecht wurde intensiver. Raketen starteten vom Boden vor dem Tor und trafen die oberen Kasematten. Mannschaften des Blutpakts mit Mörsern und Granatwerfern hatten ihre Waffen vor dem Wachhaus aufgebaut und benutzten sie jetzt, um Sprengstoff über die Mauern zu befördern. Flammen und Schrapnelle flogen über die Klippen zurück. »Gehen wir zurück und sichern wir das neue Tor«, sagte Rawne. »Wir halten es offen und unter Beobachtung, damit wir sehen können, was hier draußen vorgeht, und es schließen können, wenn wir müssen.« »Ich bleibe hier«, sagte Bonin. »Wir könnten einen Beobachter brauchen. Beim ersten Anzeichen von Ärger kann ich zum Tor zurücklaufen und es schließen lassen.« »Aber bleiben Sie außer Sicht«, sagte Rawne.
Er ging mit Livara und Jajjo durch den Graben zurück. Hinter sich konnte er das unverkennbare Klang! Klang! Klang! der eisernen Ramme hören, wenn sie das Haupttor traf. II »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Hark. Er humpelte auf seiner Krücke durch den Korridor zum Haupttor und bewegte sich gerade durch das Schwanzende von Daurs Männern. Sie waren aufgeregt, und einige hatten sich erhoben, statt an den Wänden zu kauern wie befohlen. »Ducken Sie sich wieder und warten Sie ab!«, befahl Hark im Vorbeihumpeln. Das monotone Krachen der Ramme voraus war grässlich und erschreckend, und er konnte nachempfinden, warum die Nerven der Männer kurz vor dem Zerreißen waren. Hark verstand ihre Furcht, aber er konnte ihnen den Mangel an Formationsdisziplin einfach nicht durchgehen lassen. Er zog seine Pistole. »Macht euch bereit! Und zwar jetzt! Pracht von Tanith! Mut von Verghast! Wut von Belladon! Sie werden auf uns losgehen, und wir werden ihnen den Tod geben! Was geben wir ihnen?« »Den Tod!«, antwortete ihm der Chor. »Das ist schon besser!« Einige der Männer jubelten. Andere schüttelten sich und umklammerten ihre Waffen fester. Hark ging auf, dass er sich wünschte, hoffte, flehte, das Haupttor möge endlich nachgeben, damit es ein Ende hatte. Die Warterei war das Schlimmste. Gib den Geistern einen Kampf, dann würde keiner von ihnen Zeit haben, an Flucht zu denken. Brutale Kämpfe waren bereits im Gange. Von oben, durch den dicken Fels der Decke, hörten sie die gedämpften Geräusche frenetischen Laserfeuers und das Krachen von Explosionen, den Lärm des Kletterangriffs. Ab und zu bebte der Boden, und Staub rieselte aus den Rissen und Sprüngen in der Decke. Hark erreichte den Tunnel zum Wachhaus. Die Männer waren an der Wand aufgereiht. Er sah Ban Daur kampfbereit an der Tunneleinmündung stehen. Daur hatte vier Flammer hinter sich, aber vor ihm waren noch über ein Dutzend Soldaten rings um die Tun-
neltreppe und die Innenschleuse postiert. Daur hatte alle Männer aus der Wachhauskammer abgezogen. »Hauptmann?«, fragte Hark. »Kommissar.« »Warum sind Sie aus dem Wachhaus abgerückt, Daur?«, flüsterte Hark ihm ins Ohr. »Warum sind Ihre Flammer nicht vorne und in der Mitte?« »Wer kommandiert diese Stellung, Kommissar?«, fragte Daur. »Na, Sie natürlich.« »Danke. Ich weiß, was ich tue. Die Männer wissen, was von ihnen verlangt wird. Unterstützen Sie mich. Stellen Sie mich nicht infrage.« Hark hatte Daur noch nie so standhaft erlebt, so verdammt entschlossen. »Absolut«, sagte er mit einem höflichen Nicken. Die Außenschleuse war stark verformt. Mit jedem Schlag der Ramme wurde sie weiter ausgebeult und löste sie sich mehr aus dem Rahmen. Sie konnten das Geschrei und Gebrüll des Feindes draußen mittlerweile recht deutlich hören, der es nicht mehr erwarten konnte, durch die Schleuse zu stürmen. Klang! Die Schleuse bog sich. Klang! Der Rand beulte sich nach innen. Klang! Eine Angel riss ein. Klang! Die Mitte der Schleuse dehnte sich wie der Bauch eines Übergewichtigen. »Wenn wir die Außenschleuse halten, töten wir ein paar von ihnen«, flüsterte Daur Hark zu. »Ich will aber eine Menge von ihnen töten. Die Schleusenkammer ist die Todeszone. Sie zwängt sie zusammen und präsentiert sie uns zum Abschlachten.« Hark nickte. Er verstand. »Sie können der Kompanie sagen, dass sie aufpflanzen soll, Kommissar«, sagte Daur. »G-Kompanie!«, brüllte Hark, indem er sich nach hinten umdrehte. »Ehrliches Silber!« Ein Klackern einrastender Klingen antwortete ihm. »Aufgepflanzt und bereit!«, rief Haller zurück. »Aufgepflanzt und bereit, Hauptmann«, sagte Hark. »Jeden Moment jetzt!«, rief Daur. »Denkt daran, wer ihr seid! Und denkt an Ibram Gaunt!« Die Kompanie brüllte wie ein Mann ihre Zustimmung. Der Lärm übertönte den Schlag der Ramme. Der Lärm übertönte auch das metallische Kreischen, als die Schleuse schließlich nachgab.
Mit einem Geschrei, als seien wilde Gespenster aus den Tiefen des Warps losgelassen worden, stürmte der Blutpakt das Wachhaus. Das Schleusentor war nur teilweise nach innen gefallen, und sie strömten über und um das Tor herein, so kam es Hark vor, wie Ratten, wie ein Schwarm Ungeziefer, der aus einem Schacht im Laderaum eines Transporters wie eine Flutwelle über alle Hindernisse hinwegbrandete. Grimmige Gestalten in Rot, deren schmutzige Uniformen mit Ketten aus Fingerknochen und Menschenzähnen geschmückt waren, kletterten durch die Öffnung und heulten dabei aus den Mundschlitzen ihrer schwarzen Eisenmasken, während ihre Augen vor bestialischer Lust hell glänzten. Einige schossen, andere schwangen Grabenäxte und Schlegel. Der von ihnen ausgehende Gestank und Lärm war entsetzlich. Die ersten ihrer ungezielten Schüsse trafen den Boden, das Dach und den Rahmen der Innenschleuse. Ein Geist in der vordersten Reihe kippte um. »Feuer!«, brüllte Daur. Das Dutzend Geister, das um die Innenschleuse kauerte, eröffnete das Feuer auf die ihnen entgegenbrandende Flut. Feindliche Krieger bockten und fielen oder stolperten verwundet und wurden sofort von den brutalen Nachrückern hinter ihnen umgestoßen und zu Tode getrampelt. Plötzlich stank es nach Blut und verbranntem Fleisch. Die Geister schossen weiter. Daur schoss ebenfalls. Hark hob seine Pistole und feuerte Energiestrahlen in die antürmende Masse, äscherte einige ein und enthauptete andere. Sekunden später waren die führenden Reihen der Sturmtruppe tot, nur noch Leichen, die durch den Druck der Leiber von hinten vorwärts gedrängt wurden. Die Flut geriet ein wenig ins Stocken. Die Blutpaktkrieger mühten sich, über die Gefallenen hinwegzuklettern, um zu ihren Feinden zu gelangen. Manche stolperten und fielen. Laserstrahlen holten andere von den Beinen. Die Enge der Schleusenkammer verkam zu einem Durcheinander aus Leibern, Gebrüll, Bewegung und Schüssen, das in seiner gewalttätigen Konfusion beinahe unverständlich war. In den ersten Sekunden nach dem Fall der Schleuse verlor der Blutpakt vierzig Krieger in der Schleusenkammer für den Preis von nur zwei Geistern. Daurs Todeszone war gut angelegt worden.
Aber Ban Daurs Ambitionen waren größer. Als sich die Schleusenkammer mit hereinstürmenden Feindsoldaten gefüllt hatte und von hinten immer mehr nachdrängten, da die vorderste Linie des Angriffs beinahe die Innenschleuse erreicht hatte, drehte sich Daur um. »Wechseln! Jetzt!«, überschrie er das Getöse. Die Geister an der Schleuse, die den Feind mit ihren Gewehren in Schach gehalten hatten, ließen sich schießend zurückfallen. Daur zog Hark beiseite. Die Flammer traten in einer Reihe vor und stellten sich dem Ansturm. »Flammen, Flammen!«, rief Brostin. Er zündete seinen Brenner. Lubba, Dremmond und Lyse taten es ihm nach. Das Ergebnis war verheerend. Eine Hitzewelle schoss durch den Tunnel zurück und ließ Daur, Hark und die Geister rings um sie schlucken und ihr Gesicht bedecken. Die vier Flammer standen Seite an Seite in der Innenschleuse und verströmten flüssiges Feuer in die Schleusenkammer des Wachhauses. Es gab keine Flucht- oder Versteckmöglichkeit. Vor den Flammen gab es kein Entrinnen. Das brodelnde Inferno fegte durch die Kammer bis zur Schleuse und dann weiter ins Freie in die eisenmaskierten Gesichter der feindlichen Krieger, die sich vor der Schleuse drängten. In der Esse der Schleusenkammer wurde die monströse Zerstörung durch Granaten und Munition unterstützt, die durch die Hitze hochgingen. Stolpernde, brennende Gestalten, von Kopf bis Fuß in Flammen gehüllt, flogen auseinander, als Granaten in ihren Rucksäcken und Brotbeuteln explodierten. Das Feuer erzeugte ein heulendes, klagendes Geräusch, als es durch die Kammer toste und sich dabei in die Höhe schraubte und das Dach versengte. Es leckte, sprang und wogte, als sei es lebendig. Es war beinahe zu hell, um es anzusehen, und die sich windenden schwarzen Gestalten darin fast zu schrecklich, um es zu ertragen. Der Schrei des Feuers erinnerte Hark an das Kreischen des Windes, der Jago Tag und Nacht heimsuchte, ewiglich, urtümlich und hungrig. Die Brandwunden auf seinem Rücken schmerzten aus Sympathie. Es war ein gutes Gefühl, die Schmerzen mit Flammen heimzuzahlen.
III Der Geist an der Schießscharte links von Kolea machte plötzlich drei schnelle Schritte rückwärts, schwankte und fiel auf den Rücken. »Sani!«, brüllte Kolea, der weiter durch die Schießscharte auf die feindlichen Gestalten in der Wand unter ihm schoss. Sein Ausguck war nicht der einzige, in dem jemand nach den Sanis rief. Kolea hatte den Kampf mit fünf Männern im Ausguck begonnen, und jetzt standen nur noch Derin und Obels Adjutant Dafelbe aufrecht. »Sani!«, brüllte Kolea wieder. »Sanitäter, hierher!« Er zielte nach draußen, sah eine Gestalt durch den Rauch klettern und gab zwei Schüsse ab. Der feindliche Krieger krümmte sich und fiel halb, hielt sich aber mit einem Arm an einem Holm der Sturmleiter fest, die er erklommen hatte. Derart eingehakt, kämpfte der Krieger um Halt. Bevor Kolea noch einen Schuss abgeben konnte, hatten die eigenen Kameraden den Krieger von der Leiter und aus dem Weg gezerrt. Er fiel in den Rauch. Derin jagte einen Schuss direkt durch das Gesicht des ersten Mannes hinter ihm. »Ich brauche Muni«, knurrte Derin. »Ich weiß«, sagte Kolea. »Bald«, fügte Derin hinzu. Eine Rakete traf die Oberkante ihrer Schießscharte und überschüttete sie mit Dreck, als sie explodierte. »Zu knapp«, hustete Dafelbe. Kolea schaute wieder nach draußen, während Schüsse an ihm vorbeizischten. Die Blutpaktsoldaten auf der nächsten Leiter reichten eine zusammengerollte Sturmleiter von unten herauf und machten sich bereit, sie den nächsten Mauerabschnitt emporzuwerfen. Kolea schoss auf sie. Darauf bedacht, die Leiterträger unter sich zu schützen, zog der Krieger ganz oben auf der Leiter eine Granate ab und holte aus, um sie durch die Schießscharte zu werfen. »Wohl kaum«, sagte Kolea und gab aufs Geratewohl einen Schuss ab.
Der Krieger fiel von der Leiter und seine Granate zwischen die Männer gleich unter ihm. Die Explosion riss die Leiter in einer Wolke aus Rauch und Funken von der Felswand. Kolea hatte keine Zeit für Zufriedenheit. Von rechts kam schwerer Beschuss. Den Angreifern war es gelungen, noch eine Sturmleiter genau unter dem Ausguck neben ihnen anzulegen. Die Blutpaktkrieger ganz oben auf der Leiter kämpften bereits von Angesicht zu Angesicht mit den Männern an der Schießscharte, um sich Zugang zu verschaffen. Jene weiter unten auf der schwankenden Leiter schossen seitlich auf Koleas Stellung. »Feth!«, sagte Kolea, während er das Feuer zu erwidern versuchte. Der Winkel war schlecht. »Derin! Tun Sie, was Sie können!«, rief Kolea und wich von der Schießscharte zurück. »Wohin gehen Sie?« »Tun Sie’s einfach!« Kolea rannte aus dem Ausguck, durch den Verbindungskorridor und in die angrenzende Kasematte. Die Schießscharte war voller hackender, rudernder Gliedmaßen und Zähne fletschender Gesichtsmasken. Pabst, Vadim und Zayber kämpften, um sie draußen zu halten, aber Pabst war am Arm verwundet, und Vadim konnte kaum noch etwas sehen, so viel Blut lief ihm das Gesicht herunter. »Erschießt sie!«, rief Kolea, als er von hinten heranlief. »Keine Muni!«, schrie Vadim. Eine Grabenaxt bohrte sich in Zaybers Hals, und er taumelte Blut verspritzend nach hinten. Kolea schaltete seinen Karabiner auf Dauerfeuer. »Geister auf den Boden!«, rief er. Vadim warf sich zur Seite und riss Pabst mit. Kolea beharkte die Schießscharte mit automatischem Laserfeuer und sprengte Klumpen und kleine Brocken aus dem Beton des Fenstersimses. Die feindlichen Krieger in der Scharte schrien und zuckten, als sie von den Strahlen getroffen wurden. Einige kippten nach hinten und verschwanden sofort, andere heulten und hielten sich fest, klammerten sich aus Leibeskräften an den Sims, während die Toten und Verwundeten an ihnen zerrten. »Lauf! Besorg Muni!«, rief Kolea Pabst zu. Er schoss weiter, trennte Finger und Hände ab, löste Griffe. Ein Blutpaktkrieger versuchte sich durch die Schießscharte zu werfen, und Kolea zer-
fetzte ihm die Schulter und warf seinen Leichnam auf den Laufgang vor der Schießscharte. Kolea lief zum Gang und holte zwei Granaten aus dem Koppel des Leichnams. Er riss die Pinne heraus und ließ sie durch den Schlitz nach unten fallen. Es gab einen fleischigen Doppelknall. Pabst kam mit einem Beutel Magazine zurückgelaufen. Merrt, Vivvo und Tokar waren dicht hinter ihm. »Was seid ihr?«, fragte sie Kolea. »Gn… gn… gn… Verstärkungen«, sagte Merrt. »Rawne hat eine Kompanie von oben zur Verstärkung geschickt«, sagte Vivvo. »Geht an die Schießscharte. Schön, euch zu sehen«, nickte Kolea. Er kehrte in den Korridor zurück und ging durch die Reihen der frischen Soldaten, die auf der Ebene der Ausgucke ankamen. »Ausschwärmen! Füllt die Lücken!«, hörte er Korporal Chiria durch den verräucherten Korridor brüllen. Er kehrte zu seiner ursprünglichen Stellung zurück und stellte fest, dass Derin und Dafelbe durch zwei Geister verstärkt worden waren. Einer war Kaydey, ein Belladoner Scharfschütze, der ein Präzisionsgewehr hatte. Der andere war Tona Criid. Die Seite ihres Kopfes war verbunden. Mit grimmiger Konzentration gab sie aus der Ecke der Schießscharte Einzelschüsse ab. »Willkommen zurück im Krieg des Imperators, Sergeant«, sagte Kolea, als er an seinen Platz zurückkehrte. »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, hier zu sein«, erwiderte sie sarkastisch. Kolea riskierte einen Blick nach draußen, während die anderen rechts und links von ihm schossen. Keine neuen Leitern waren angelehnt worden, und die feindlichen Truppen wuselten in desorganisiertem Chaos und in Rauch gehüllt am Fuß der Kasemattenschanze herum und begnügten sich damit, auf die Ausgucke zu schießen. Ein dicker Schwall aus schmutzig schwarzem Rauch wallte tief unter ihnen aus dem Wachhaus. »Ich glaube, Daur hat sein Tagewerk vollbracht«, murmelte Dafelbe. »Sieht so aus«, stimmte Kolea zu. »Entweder das, oder die verdammte Festung steht in Flammen«, fügte Derin hinzu, der niemals einem positiven Anschein vertraute. »Sie lassen sich zurückfallen!«, rief Criid.
Es war schwierig, durch den dichten Rauch etwas zu sehen, der sich an der Südwand des Hauses sammelte, aber der Feind schien sich tatsächlich auf dem Rückzug zu befinden. Die Ausgucke bekamen immer noch Feuer von Gewehren und Raketen, obwohl es weniger wurde. Kolea sah Gruppen entfernter Gestalten, die durch die Staubschüssel in die Einmündung des Passes flohen. Die letzten Schüsse wurden gewechselt. »Hier Kolea«, sprach Kolea in sein Helmkom. »Meldung – haben wir das Tor gehalten?« Eine verstümmelte Antwort kam herein. »Wiederholen, bitte«, sagte Kolea. »Ausguck, hier Daur. Wir haben das Tor gehalten.« Kolea wechselte einen Blick mit Derin, und beide gestatteten sich ein müdes Grinsen, das über ihre schmutzigen, unrasierten Gesichter huschte. »Herr Major!«, rief Dafelbe. Kolea drehte sich um. Dafelbe hatte sich über Tona Criid gebeugt. Sie war lautlos in der Ecke zusammengesackt, wo sie gestanden hatte. Kolea eilte zu ihr. »Wurde sie getroffen?«, fragte er. »Glaube ich nicht«, antwortete Dafelbe. »Ich glaube, sie hat einfach nur das Bewusstsein verloren.« Tona rührte sich. »Ich bin wohlauf«, murmelte sie. »Und bald auch auf den Beinen«, sagte Kolea. »Hoch mit dir.« Sie antwortete nicht. Sie hatte wieder das Bewusstsein verloren.
SIEBZEHN DIE GEISTER
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I Die Geister kommen näher. Sie waren schon immer hier, luminale Wesen, an diesen Ort gekettet, eben außer Sicht. Jetzt treten sie näher, leise wie ein Wispern, flüchtig wie Stimmenfragmente in einem instabilen Kom-Kanal, sanft wie das Streichen schwarzer Spitze über einen Steinboden. Sie sind ganz nah. Sie sind nicht eingeladen. Sie sind gesandt. Sie riechen die Gedanken der verlorenen Seelen im Haus am Ende der Welt und stoßen herab wie geflügelte Wesen, die in die Windkate zurückkehren. Sie sind der Staub auf den glänzenden braunen Wänden, das Aufleuchten und Verblassen der Lampen, das Kratzen und Schaben von etwas unter der Erde Begrabenem. Sie sind die dunkelste Ecke der Nacht, die kältesten Atome im Kosmos, das Ächzen des Windes. Sie sind Musik, halb gehört. Sie sind vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal.
Die Geister kommen näher. Nur im Tod können sie sich so frei bewegen. Nur in Gegenwart und in der Stunde des Todes können sie so nah kommen. Sie spüren es. Das Ende kommt: das Ende von Hinzerhaus und allen innerhalb seiner Mauern. Sie versammeln sich in den leeren Hallen und kalten Galerien. Langsam, ganz langsam, greifen sie … II … aus. Das Licht erlosch. Rawne fluchte und schaltete die Taschenlampe auf seinem Schreibtisch ein. Er war sicher, dass die Batterie neu war, aber die Lampe blieb dunkel. »Rerval!« Sein Adjutant erschien in der Tür. »Herr Major?« »Holen Sie mir eine verdammte Taschenlampe, ja?« »Jawohl, Herr Major.« Rawne lehnte sich zurück. Er war müde. Er hatte einige der alten Bücher studiert, die aus der Bibliothek nach oben gebracht worden waren. Im an- und abschwellenden Schein der Wandlampen zu arbeiten, bereitete ihm Kopfschmerzen, also hatte er eine Taschenlampe auf die Seiten gerichtet. Die Bücher interessierten Rawne nicht besonders. Er hatte noch nie viel Zeit für Geschichte gehabt. Geschichte war tot, und Rawne war sehr viel mehr daran interessiert, am Leben zu sein. Aber Leute wie Hark und Baskevyl hielten die Bücher für wichtig, also machte er sich die Mühe. Außerdem gab es ihm eine Beschäftigung. Der Tag war langsam vergangen, vielleicht am langsamsten bisher. Da sie jeden Moment mit einem Angriff rechneten, waren sie alle ständig auf dem Sprung. Das erschöpfte. Wie Hark so oft gesagt hatte, das Warten war das Schlimmste. Die Bücher mit ihren langsam zerfallenden losen Blättern waren Ablenkung genug gewesen. Die meisten Bilder ergaben keinen Sinn, und Rawne konnte nicht wissen, wie akkurat die Diagramme waren. Aber er sah genug, um zu erkennen, dass Hark recht hatte. Die Bücher mussten jemandem gezeigt werden, der ihren tatsächli-
chen Wert einschätzen konnte. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass sie waren, was sie zu sein schienen, konnten sie den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen. Eine jähe Kühle strich durch den Raum, Zug von irgendwoher. Jemand war hereingekommen und hatte die Tür dabei ganz leise geöffnet. »Haben Sie die verdammte Taschenlampe?«, fragte Rawne, als er aufblickte. »Ein letzter Kampf«, sagte Colm Corbec mit einem traurigen Lächeln. Rawne sprang so schnell auf, dass sein Stuhl mit einem Krach hintenüber fiel. Er blinzelte ein paarmal. Da war niemand. Rawne drehte sich abrupt um, zitternd, und dann wieder zurück. Der Raum war leer. »Feth!«, zischte er. »Was zur Hölle …« »Haben Sie Ihren Stuhl umgeworfen, Herr Major?«, fragte Rerval beiläufig, als er mit einer neuen Taschenlampe in der Hand den Raum betrat. Rawne schritt an ihm vorbei zur Tür und schaute nach links und rechts in den Korridor. »Herr Major?« »Fand das irgendjemand witzig?«, fauchte Rawne. »Was denn, Herr Major?«, fragte Rerval verwirrt. »Das! Der … der …« Rawne verstummte. Keiner der Männer hätte das abziehen können. Nur seine eigenen Gedanken hatten ihm so einen Streich spielen können. Er war müde. Daran lag es, nur Erschöpfung. »Alles in Ordnung, Herr Major?«, fragte Rerval. Rawne ging zu seinem Schreibtisch und richtete den Stuhl auf. »Ja. Ja … nur etwas schreckhaft.« Rerval hielt Rawne die Lampe hin. Er nahm sie. »Danke.« Rerval nickte. »Beltayn sagt, die Verbindung müsste in der nächsten halben Stunde zustande kommen.« »Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie steht. Ich erledige das dann von hier.« »Zu Befehl, Herr Major.«
Rerval verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Rawne setzte sich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Foliant, nachdem er die Taschenlampe eingeschaltet hatte. Während er blätterte, behielt er die Tür im Auge. III In dieser Nacht wirkte das Haus nach Einbruch der Dunkelheit besonders luftlos, obwohl sich das Wetter nicht verändert hatte. Die Luft war trocken und unbewegt, und die Schatten schienen mehrere Schichten zu haben, als seien sie übereinandergestapelt wie mehrere Lagen feine schwarze Spitze. Hark humpelte einen der unteren Korridore entlang und stützte sich dabei schwer auf seinen Stock. Sein Rücken schmerzte. Er wusste, dass er sich überanstrengte, und die Schmerzen höhlten langsam das Gefühl des Wohlbefindens aus, das Curths Medikamente ihm kurzfristig vermittelt hatten. Seine Verbrennungen verheilten nicht. Sie waren noch nass und wund, und die Bewegung machte es schlimmer. Er erreichte eine kleine Treppe und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Nur eine Minute sitzen, dachte er, nur ein, zwei Minuten. Seine Haut war blass und klamm, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er atmete schwer. Er hörte die Schritte einer sich nähernden Streife. Hark hatte nicht den Wunsch, dass ihn Männer in seinem geschwächten Zustand sahen. Er zog seine Waffe. Das Magazin seiner Plasmapistole war fast verbraucht, also hatte er einen Ersatz aus seinem Seesack mitgenommen – eine hübsche, beinahe zierliche Boltpistole aus gebürstetem Stahl mit einem geriffelten Kolben und gravierten Schiebern. Er machte sich an das Entladen und Laden der Waffe. Als die Streife vorbeikam, nickten die Männer ihm zu, und er erwiderte das Nicken. Nur Kommissar Hark, der sich um seine Waffe kümmerte. Er wartete, bis sie weg waren. Es schien sehr lange zu dauern, weil anscheinend noch mehrere Minuten, nachdem die Männer verschwunden waren, Phantomschritte über den glänzenden braunen Boden hallten. »Ist da jemand?«, rief Hark. Die Schritte verstummten.
Hark schüttelte den Kopf. Seit sie in Hinzerhaus Quartier bezogen hatten, waren ihm unendlich viele Berichte über herrenlose Schritte zu Ohren gekommen. »Thron hole diesen Ort«, murmelte er. Er steckte seine Pistole weg, wobei er zur Kenntnis nahm, wie seine echte Hand zitterte, aber nicht aus Furcht. Die Schmerzen richteten das an, die Schmerzen, die langsam seine Kraft aufzehrten. Er stand auf und erklomm die Treppe wie ein alter Mann. Das Quartier der Späher befand sich ein kleines Stück weiter entlang der nächsten Galerie. Livara stand an der Tür, als sich Hark näherte. Er nickte dem Kommissar zu. Hark ging hinein. Die meisten anwesenden Späher – Hwlan, Leyr, Caober und Mklane – ruhten. Preed spielte für sich allein Karten auf einer umgedrehten Kiste. Bonin saß in der Ecke und reinigte sein Lasergewehr mit einem Poliertuch vom Staub. Er sah Hark, legte Waffe und Lappen beiseite, und stand auf. Die Haut von Bonins Gesicht war rot, wie von einem Sonnenbrand. Sie hatten seit der Entdeckung des neuen Tors einen Späher am Ende des Grabens auf Wache, und Bonin hatte persönlich drei der Schichten übernommen. Der Staub hatte ihn unablässig geschmirgelt. »Sie wollten mich sprechen?«, fragte Hark, als Bonin zu ihm trat. »In welcher Angelegenheit?« Bonin ruckte mit dem Kopf in Richtung Korridor, und sie gingen nach draußen, weg von den anderen. Sie liefen ein Stück, bis sie außer Hörweite waren. »Sind Sie ein Ehrenmann?«, fragte Bonin. »Das habe ich jedenfalls immer angenommen.« »Das möchte ich meinen«, sagte Hark. »Ich muss etwas melden. Ich muss es Ihnen als Ehrenmann melden, nicht als Kommissar.« »Die beiden sind nicht voneinander getrennt«, sagte Hark. Bonin schniefte. »Verstehen Sie, was ich sage? Ich will nicht, dass Sie wie ein Kommissar auf das anspringen, was ich Ihnen jetzt erzähle.« »Diese Beurteilung muss ich vornehmen«, erwiderte Hark.
Bonin dachte kurz nach. Dann sagte er: »Ich höre, Sie suchen Mkoll.« »Sie haben richtig gehört.« Als bereite es ihm großes Unbehagen, schob Bonin die rechte Hand in seine schmuddlige Jacke und holte ein zerknittertes Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander und starrte einen Moment darauf. »Das habe ich heute Abend in meinem Schlafsack gefunden. Keine Ahnung, wie lange es schon dort gelegen hat. Einen Tag, vielleicht zwei.« Er reichte Hark den Zettel. Es war eine handschriftliche kurze Nachricht. Sie lautete: Mach, eine Sache muss erledigt werden, eine Frage der Ehre für das Regiment. Ich meine das Schwert. Es muss zurückgebracht werden. Ich gehe, um es zu holen. Ich weiß, dass ich keinen Befehl dazu habe, aber ich habe eine moralische Verpflichtung. Guten Gewissens kann ich nicht ohne ein Wort verschwinden. Ich bitte dich, ihnen zu sagen, wohin ich gegangen bin und was ich vorhabe. Ich hoffe, sie werden den Sinn meiner Handlungen verstehen. Der Imperator beschütze dich. Dein Freund Oan. Hark las die Nachricht zwei Mal. »Wie lange haben Sie den Zettel wirklich, Bonin?«, fragte er. Bonin antwortete nicht. »Wissen Sie, wohin er gegangen ist?« »Das steht da.« »Ich meine, wie und in welche Richtung.« Bonin zuckte die Achseln. »Im Magazin haben Kletterausrüstung und Nägel gefehlt. Nach Norden, würde ich meinen.« »Warum glauben Sie nach Norden?«, fragte Hark. Wieder antwortete Bonin nicht. »Er ist hinter dem Schwert her«, sagte Hark, »und das Schwert ist nicht von allein gegangen.« »Da steht nicht, wer es genommen hat«, sagte Bonin.
»Nein«, stimmte Hark zu, »aber Mkoll ist nicht der Einzige, der vermisst wird.« Bonin sah den Kommissar scharf an. Eine längere Stille trat ein. »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Bonin. Hark faltete den Zettel zusammen und schob ihn in seine Jackentasche. »Das muss ich noch entscheiden. Die Angelegenheit ist äußerst bestürzend. Seinem eigenen Eingeständnis zufolge hat Mkoll seinen Posten und seine Pflicht im Stich gelassen. Er hat sein Regiment ohne Befehl oder Erlaubnis verlassen. Das nennt man Desertion.« »Feth!«, fauchte Bonin. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie ein Ehrenmann sind! Ich hätte ihnen das hier nicht erzählen müssen!« »O doch, eigentlich schon.« Bonin starrte Hark an. »Nicht seine Pflicht.« »Was?« »Sie sagten, er hat seine Pflicht im Stich gelassen. Das hat er nicht.« Hark seufzte. »Ich weiß sehr wohl, dass niemand Gaunt treuer ergeben war als Mkoll, aber wir können es uns nicht leisten, sentimental zu sein. Gaunt ist tot, sein Schwert verschwunden, und wir brauchen Mkoll dringend, sehr dringend hier und nicht irgendwo auf einer idealistischen Mission.« Bonin schüttelte traurig den Kopf. »Sie kennen den Alten nicht so wie ich. Seit unserer Ankunft hier ist er nicht er selbst. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat es gehasst, schlampig und unfähig zu sein. Als … als Gaunt gestorben ist, hat er es persönlich genommen. Ein persönliches Versagen. Er glaubt nicht, dass er uns hier von Nutzen sein kann, nicht mehr. Er sieht sich mehr als Belastung. Das ist seine Art, Zugeständnisse zu machen.« »Ich werde sorgfältig darüber nachdenken und dann entscheiden, was unternommen werden muss«, sagte Hark. »Ohne pessimistisch klingen zu wollen, es könnte ziemlich akademisch sein. Wenn Mkoll nach Norden gegangen ist, allein, werden wir ihn wahrscheinlich nie Wiedersehen. In diesem Fall werde ich sein Andenken nicht beflecken, indem ich das hier publik mache. Aber ich muss es Rawne sagen. Ich kann mir vorstellen, dass er Ihnen das Kommando über die Späher übertragen will. Wahrscheinlich lässt er sie noch rufen, bevor die Nacht vorbei ist.« »Ja, Herr Kommissar.« Hark schien plötzlich aufzumerken.
»Was?«, fragte Bonin. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört …«, begann Hark. »Nein, mein Fehler.« Er sah wieder Bonin an. »Weitermachen«, sagte er und humpelte davon. IV Einen Würgegriff hätte er zuletzt erwartet. Der stickigen Luft im geschlossenen Ausguck überdrüssig, ließ Larkin Banda allein auf Wache und trat nach draußen in den Verbindungskorridor. Dort war es nicht besser. Die Luft war kühl, aber unbewegt, obwohl draußen der Wind ächzte. Schatten klebten an den Wänden, und die böswilligen weißen Lichter schwollen in trägem Rhythmus an und ab. Larkin marschierte auf und ab und rieb sich die Hände. Er trank einen Schluck Wasser aus der Feldflasche und wollte sie gerade wieder verstauen, als sich ein Arm um seinen Hals legte. »Du bist tot, Tanither«, sagte ihm eine Stimme ins Ohr. Larkin wehrte sich, aber der Griff lockerte sich nicht. Er versuchte zu sprechen. Wer …? »Du weißt, wer ich bin, Tanither«, flüsterte die Stimme. »So sicher wie sicher.« Etwas Kaltes, Scharfes presste sich gegen Larkins Kehle. »Wir haben Gaunt erwischt, das haben wir. Jetzt kann ich mit dir abrechnen.« Larkin knurrte und warf sich rückwärts gegen die Korridorwand, um die Gestalt in seinem Rücken vor die glänzenden braunen Wandpaneele zu rammen. Er landete auf dem Boden. »Was machst du denn da, Tanither?«, wollte Banda wissen, die gerade in der Tür des Ausgucks auftauchte. Larkin blickte sich um. Er war allein. Neben ihm auf dem Boden lag seine unverschlossene Feldflasche, aus der langsam ihr Inhalt gluckerte. »Muss ausgerutscht sein«, sagte er. So sicher wie sicher. Banda schüttelte den Kopf und ging wieder auf ihren Posten. Larkin rappelte sich mühsam auf. Eine starke Hand half ihm. »Ich kann nicht ständig auf dich aufpassen«, sagte Bragg.
Larkin drehte sich um. Bragg stand da, groß wie das Leben. In seinen liebenswürdigen Augen stand große Trauer. Mit seinen großen, sanften Händen bürstete er Larkin den Staub von Schultern und Ärmeln. »Ich kann nicht ständig auf dich aufpassen«, wiederholte er. »Du musst vorsichtig sein, weißt du? Sei vorsichtig, Larks, sonst kriegt dich der Wichser.« »Bragg«, flüsterte Larkin. Er streckte die Hand aus, aber da war nichts, was er berühren konnte. Bragg war verschwunden, als sei eine Seifenblase geplatzt, als habe sich Staub gelegt, nachdem ein Sturm auf diesem schlimmen Felsen abgeflaut war. Larkin beugte sich nach vorn, die Fäuste gegen die Stirn gepresst. »Nein, nein, nein, NEIN!« Er konnte die Kopfschmerzen und die Übelkeit noch nicht spüren, wusste aber, dass sie im Anmarsch waren. Es war die einzige Erklärung, jedenfalls die einzige, die Larkin tolerieren konnte. V »Muss ich hierbleiben?«, fragte Criid, während sie an ihrem Kopfverband herumtastete. »Das haben Sie gestern schon gefragt«, erwiderte Dorden, indem er die Blutdruckmanschette von ihrem nackten Arm löste, »und sehen Sie, was passiert ist, als ich Ihnen erlaubt habe, herumzulaufen.« Criid zuckte die Achseln und setzte sich wieder auf ihr Feldbett. Im Lazarett war es ruhig. Viel zu viele Geister lagen still und gebrochen auf den Feldbetten links und rechts von ihr. »Was sagen Sie mir nicht?«, fragte sie. »Es ist eine Gehirnerschütterung«, sagte Dorden. »Und?« »Nur eine Gehirnerschütterung. Aber sie ist schlimm, und wenn sie herumlaufen, wird Ihnen schlecht, und Sie verlieren das Bewusstsein. Also bleiben Sie bitte hier, bis ich Ihnen etwas anderes sage.« »Wirklich? Das ist alles?«
Dorden setzte sich auf ihr Bett. »Ich würde Sie nicht anlügen, Tona. Wenn wir in einer richtigen medizinischen Anlage mit anständiger Ausrüstung wären, würde ich mir Ihr Gehirn genauer auf Ödeme, Blutungen und Schädelknochen ansehen. Die vielleicht auf Ihr Gehirn drücken könnten, nur um ganz sicherzugehen. Aber das sind wir nicht, also kann ich es nicht. Und ich bin sehr zuversichtlich, was meine Diagnose angeht: Gehirnerschütterung. Haben Sie noch Schmerzen?« »Sie kommen und gehen.« »Auch jetzt?« Sie nickte. »Ich hole Ihnen etwas«, sagte er. Dorden ging durch das Feldlazarett und durch den Korridor in den Nebenraum, wo sie Medikamente und Verbandszeug untergebracht hatten. Er war düster und schlecht beleuchtet. Er nahm die Taschenlampe, die bei sich zu tragen er sich angewöhnt hatte, und schaltete sie ein. Das Licht ging an und verblasste dann, als sei die Batterie leer. Er schaltete sie ein und aus. »Lesp!«, rief er. Er fing an, in einem der Kartons herumzuwühlen, auf der Suche nach einem hochdosierten Gemisch aus Beruhigungsmittel und Entzündungshemmer. Er hörte etwas tropfen. »Lesp! Kommen Sie her! Bringen Sie Licht mit!« Lesp erschien mit einer brennenden Taschenlampe in der Tür. »Doktor?« »Leuchten Sie hierher, ich kann nichts sehen.« Lesp richtete seine Lampe gehorsam nach unten. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er einen Moment später. Er wendete den Lichtstrahl ab. »Um Feths willen, Lesp! Ich kann nichts sehen!« »Doktor!«, murmelte Lesp. »Sehen Sie doch!« Dorden blickte auf. Der Strahl aus Lesps Lampe beleuchtete die Rückwand des kleinen Raums. An der Wand lief Blut herunter. Es glänzte schwärzlich in dem harschen Licht. »Was im Namen …«, stammelte Dorden. »Wer war das? Welcher verdammte Idiot dachte, es wäre komisch, kostbare Blutkonserven zu verschwenden?« »Es kommt aus der Wand«, sagte Lesp. »Das ist lächerlich! Es …«
Dorden schaute genauer hin. Das Blut quoll ganz offensichtlich zwischen den glänzenden braunen Wandpaneelen durch. »Geben Sie mir ein Stemmeisen«, sagte Dorden. »Was?« »Ein Stemmeisen! Ein Stemmeisen!« »Was ist denn hier los?«, schnaubte Zweil, der hinter ihnen den Raum betrat. »Sie wecken die Patienten auf. Ist das gute medizinische Praxis? Das glaube ich kaum …« »Raus mit Ihnen, Zweil!« »Ich gehe nicht!« »Pater, verlassen Sie sofort diesen Raum!« »Was starren Sie da an?«, fragte Zweil, indem er sich an ihnen vorbeidrängte. »Das Blut!«, plapperte Lesp. »Das Blut an der Wand!« »Welches Blut?«, fragte der alte Ayatani, indem er die Wand berührte. »Das ist nur Staub.« Dorden riss die Taschenlampe aus Lesps zitternder Hand und trat näher. Er konnte es deutlich sehen. Es war kein Blut, was die Wand herunterrieselte, es war Staub, feiner Staub, der durch die Fugen zwischen den Paneelen quoll. »Thron schütze uns vor alten Narren«, murmelte Dorden. Er drehte sich zu Lesp um und schlug ihm auf den Arm. »Und vor jungen.« »Es hat wie Blut ausgesehen«, sagte Lesp kläglich. Das hatte es wirklich. »Ziehen Sie zehn Milligramm Axotynid auf und seien Sie still«, erwiderte Dorden. Er ging wieder ins Feldlazarett, wobei ihm sehr wohl bewusst war, dass sein Puls immer noch raste. Criids Bett war leer. »Wo ist sie?«, fragte er, während er sich umsah. »Sie war gerade noch hier. Wo ist sie?« In einem Feldbett in der Nähe zuckte Twenzet die Achseln. »Sie ist einfach aufgestanden und rausgegangen. Ich sagte ihr, dass sie hier bleiben soll. Sie hat gesagt …« »Was hat sie gesagt, Soldat?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Twenzet. »Was hat sie gesagt?«, fauchte Dorden.
Twenzets Augen weiteten sich. »Ich … ich glaube, sie hat so etwas gesagt wie: ›Er ruft mich.‹ Ich dachte, sie meint ihren Jungen.« Dorden glaubte das keinen Moment. Er eilte zurück in den Korridor. »Tona!«, rief er. »Tona!« VI Ludd beschleunigte seinen Schritt in dem Moment, als er wütende Stimmen voraus hörte. Dann hörte er das Knattern von Schüssen und rannte los. Er platzte in den Quartiersaal und mitten in ein Chaos. Auf allen Seiten schrien Soldaten, wichen zurück, wedelten mit den Händen. Wes Maggs stand mit dem Lasergewehr in der Hand in der Mitte des Raums. Er zitterte, die Augen geweitet, die Zähne zusammengebissen. Verbrannte Löcher in den Wandpaneelen voraus zeigten, wohin seine Schüsse gegangen waren. »Gib mir das Gewehr, Wes«, sagte Varl ganz ruhig, indem er mit ausgestreckten Händen vortrat, bis er Maggs gegenüberstand. »Sie war genau da! Genau da! Ihr habt sie alle gesehen, nicht?« »Gib mir die verdammte Waffe, Wes!«, befahl Varl. »Sie war genau da!«, brüllte Maggs. »Genau vor mir! Ich muss sie getroffen haben!« »Das reicht«, sagte Ludd. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. »Ich sagte, das reicht!«, bellte Ludd. »Gib mir das Gewehr!«, wiederholte Varl, der Maggs niederstarrte. »Treten Sie zurück, Sergeant«, sagte Ludd in dem Versuch, sich zwischen die beiden zu stellen. »Gehen Sie aus dem Weg«, warnte ihn Varl. »So wird das nichts«, erwiderte Ludd. »Sie war genau da!«, beharrte Maggs mit vor Anspannung erstickter Stimme. Varl sprang Maggs an. »Nicht!«, rief Ludd.
Varl bekam die Hände um Maggs’ Waffe, und sie rangen miteinander. Varls augmetische Kraft zwang den Lauf nach oben. Eine ganze Salve wurde in die Decke gefeuert. Nahum Ludd war weder besonders groß noch besonders stark, aber das Kommissariat hatte ihn in den Methoden der Selbstverteidigung und Entwaffnung gut ausgebildet. Seine Ausbildung kam durch. Er sprang vor und trat Varl die Beine weg. Gleichzeitig packte er Maggs’ Waffe mit der linken Hand und versetzte Maggs einen Schlag mit der Kante der rechten vor den Hals. Varl fiel links von Ludd auf den Rücken, und Maggs ging keuchend zu seiner Rechten zu Boden. Ludd blieb zwischen ihnen stehen, Maggs’ Lasergewehr in der Hand. Er schwang es geschickt herum und richtete es auf Maggs. »Bleiben Sie unten!«, wies er ihn an. »Ich habe doch nichts …« »Bleiben Sie unten! Varl, denken Sie nicht einmal daran, diese Rauferei fortzusetzen.« »He«, sagte Varl, der mit erhobenen Händen aufstand. »Ich wollte doch nur helfen.« Er sah Ludd beeindruckt an. »Das war ziemlich gut, Ludd.« »Kommissar Ludd.« Varl nickte grinsend. »Verdammt gut, was?« Er sah sich um. Die Geister ringsumher fingen an zu johlen und zu klatschen. »Danke, aber jetzt halten Sie die Klappe«, sagte Ludd. »Melyr, Garond. Nehmen Sie Soldat Maggs die restlichen Waffen ab und richten sie ihn auf.« »Sie war genau da!«, protestierte Maggs, als ihn die beiden Geister aufhoben und ihm sein Kampfmesser und die Pistole abnahmen. »Ich habe nur versucht, uns alle zu beschützen!« »Wovor?«, fragte Ludd. »Vor der alten Dame! Der alten Dame!«, rief Maggs verbittert. Ein bewaffneter Trupp stürmte hinter ihnen ins Quartier, angeführt von Kolea. Sie hatten ihre Waffen im Anschlag. »Schüsse gemeldet«, grollte Kolea, der Ludd und die anderen über den Lauf seines Karabiners betrachtete. »Haben wir Kontakt?« »Falscher Alarm, Major«, sagte Ludd. »Nur ein kleiner hausgemachter Zwischenfall.«
Kolea nahm sein Gewehr herunter und schaltete sein Kom ein. »Kolea an alle Stationen. Kommando zurück, Kommando zurück. Falscher Kontakt.« Er wandte sich wieder an Ludd. »Was ist passiert?« »Nichts, was ich nicht regeln könnte«, sagte Ludd. »Haben wir einen Ort, wo wir Maggs einstweilen sicher unterbringen können?« Kolea runzelte die Stirn. »Sie meinen einsperren?« Ludd nickte. »Hat er etwas verbrochen?« »Ich glaube, diese Frage lässt sich getrost mit ja beantworten«, sagte Ludd. Kolea pfiff durch die Zähne. »Ich habe nur versucht, uns alle zu beschützen«, sagte Maggs, der jetzt ruhiger und leiser war. »Sie haben sie doch auch gesehen, Gol, oder nicht?« »Wovon redet er?«, fragte Kolea. »Wer weiß das schon?«, erwiderte Varl. VII Er hatte nicht schlafen können, die Luft war so still. In seinem Schlafsack hatte er das Gefühl zu ersticken. Er stand auf und lief herum, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Das war eine Lüge. Ganz und gar kein bestimmtes Ziel. Das Kratzen unter dem Boden wusste, dass er log. Baskevyl wanderte müßig durch die unteren Ebenen des Hauses, nickte Postengruppen zu und schaute im Vorbeigehen in einige Stellungen, wo er ein paar Worte wechselte. Die ganze Zeit konnte er das Schaben unter der Erde hören, das scheckige, glitschige Wirbelding, das sich unter ihm durch den Fels bewegte und ihm folgte, ihm folgte. Nein, nicht folgte, ihn führte. Baskevyl ging weiter, eine Wendeltreppe hinunter, und passierte dabei Lampen, die aufglühten und wieder verblassten, aufglühten und wieder verblassten, und zwar im Rhythmus mit dem entsetzlichen Schabegeräusch da unten.
Er erreichte das Eintrittsloch, das in den neuen Bereich führte. Die herausgebrochenen Wandpaneele waren verschwunden und zu Feuerholz verarbeitet worden. Drei Soldaten bewachten den Zugang: Karsk, Gunsfeld und Merrt. »Ruhige Nacht, Herr Major?«, fragte Gunsfeld. »So lala.« »Wir haben gehört, dass in einem der Quartiersäle irgendwas los war«, sagte Karsk. »Kein Grund zur Beunruhigung.« »Wir dachten, das könnte der Anfang eines neuen Angriffs sein.« »War es aber nicht«, sagte Baskevyl. »Sie können sich entspannen. Nicht zu sehr, wohlgemerkt. In Ordnung, wenn ich durchgehe?« Gunsfeld führte ihn hinein. »Bedienen Sie sich, Herr Major.« Baskevyl lächelte ein Dankeschön und trat durch das Loch ins bernsteinfarbene Licht des neuen Bereichs. Er war noch nicht weit gekommen, als er hinter sich eine Stimme rufen hörte. Soldat Merrt war ihm in den Tunnel gefolgt. »Was liegt an, Merrt?« »Ich wollte Sie gn… gn… gn… nur etwas fragen, Herr Major«, sagte Merrt. Er schaute verlegen drein, als sei es ihm furchtbar peinlich. »In Ordnung.« Merrt hielt ihm seine Waffe hin. »Was lesen Sie daraus, Herr Major?« Baskevyl schaute auf die Waffe. »Da steht … glaube ich …äh, ›571RB‹.« Merrt nickte. »Genau. Gn… gn… gn… danke, Herr Major.« »War es das?« »Ja, Herr Major.« »Dann machen Sie weiter.« Merrt wartete, bis Baskevyl außer Sicht war, dann betrachtete er selbst sein Gewehr. 571RB. Das hatte auch Gunsfeld gesagt, als Merrt ihn gefragt hatte. Gunsfeld hatte ebenso perplex ob der Frage dreingeschaut wie Baskevyl eben. Das Problem war nur, dass sie sich irrten. Merrt konnte das verstehen, weil er auch 571RB gesehen hatte, und zwar lange Zeit. Aber je mehr er die Seriennummer studierte, desto überzeugter war er, dass er die ganze Zeit recht gehabt hatte.
Da stand STIRB. Da stand absolut und eindeutig STIRB. Er glitt unter ihm dahin, so dicht unter der Oberfläche, dass sich einige der glänzenden braunen Paneele ganz leicht zu heben und wieder abzusacken schienen, wenn er vorbei war. Er hörte ihn kratzen und schaben, feuchte Haut und Knochen aus Gestein. »Also gut«, flüsterte er. »Ich mache es.« Das Kratzen verstummte. Baskevyl betrat die Bibliothek. Er ging die Regale entlang, bis er vor dem Buch stand. Es war in schwarzes Leder gebunden, glatt und glänzend, und in den Rücken war ein Emblem in Silber eingeprägt – ein Wurm, dessen langer segmentierter Leib zu einem Kreis zusammengerollt war, sodass er sich in die Schwanzspitze biss und einen Ring bildete. Er streckte die Hand danach aus. Seine Finger zitterten. Er nahm das Buch aus dem Regal. VIII »Wie meinen Sie das, Sie wissen nicht, wo sie ist?«, fragte Dalin. »Sie hat einen Spaziergang gemacht«, sagte Curth. »Wir suchen sie.« Dalin drehte sich zu Cullwoe um. »Sie kommt schon zurecht«, sagte Cullwoe. »Sie ist zäh.« Dalin wendete sich ab und ging zu Meryn, der an der Tür zum Quartier stand. »Bitte um Erlaubnis, bei der Suche nach Sergeant Criid helfen zu dürfen, Herr Hauptmann«, sagte er. »Zwei Trupps zu mir«, rief Meryn über die Schulter. »So schnell wie möglich.« Er drehte sich wieder zu Dalin um. »Wir helfen suchen, Adjutant.« IX »Dann stimmt es also, Vawne?«, knisterte Van Voytz’ Stimme durch die schlechte Verbindung.
»Ich heiße Rawne, Herr General. Ja, es stimmt.« Statik zischte und summte. »Ich verliere Sie, General«, sagte Rawne, indem er das Mikrofon näher zu sich zog. »Ich sagte, das ist ein verdammte Schande, Rawne. Er war ein guter Mann, einer der besten. Ich kenne Ibram seit Jahren. Ein guter, wirklich guter Offizier. Ich werde ihn vermissen. Wie kommen Sie zurecht?« »Die Umstände hier sind nicht gut. Wir brauchen dringend Hilfe. Hauptsächlich Munition, aber Verstärkung wären auch sehr willkommen.« »Die ist unterwegs, Rawne«, sagte die Stimme im Kom. »Halten Sie durch. Ich versuche, einen Munitionstransport für Sie zu arrangieren.« »Herr General, ich habe Ihnen Details geschickt. Munitionsanforderungen und einen Plan für das Absetzen.« Statik jaulte und ächzte einen Moment. »… direkt vor mir.« »Bitte wiederholen, Elikon.« »Ich sagte, Ihre Anforderung liegt direkt vor mir, Rawne. Sieht machbar aus. Sind Sie sicher, was den Ort des Absetzens betrifft?« »Bestätigt, General.« »Und Sie wollen auch, dass etwas herausgeholt wird?« »Ja, General. Wenn Sie meine Nachricht lesen, werden Sie sehen, warum.« Rawne wartete. Der Kom gurgelte und knisterte wie eine Blindgänger-Granate. Die Signalstärkeanzeigen fielen immer wieder auf null zurück. »Haben Sie mich verstanden, Nalholz? Nalholz?« »Hier, General.« »Ich sagte, ich sehe es mir an und versuche mir etwas einfallen zu lassen. Ich werde Gaunts Jungs nicht hängen lassen. Erwarten Sie Kontakt mit mir gegen Tagesanbruch.« »Vielen Dank, General.« »Ech’kkah.« Rawne stutzte. »Elikon, Elikon, wiederholen. Elikon, Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz.« Das Kom grunzte und knisterte und gab dann ein scharf ansteigendes Heulen von sich, das Rawne zusammenzucken und sich den Kopfhörer wegreißen ließ. Das Signal dröhnte weiter aus den Lautsprechern.
»… ech’rakah koh’thet magir shett gohrr! Gohrr! GOOOOHHRRR! ECH’KHETT FF’TEH GOOOOHRRR ANARCH!« Die Verbindung war plötzlich tot, so kalt und tot wie harter Fels. »Beltayn!«, rief Rawne und sprang auf. »Was war das denn, verdammt?« Fünfzig Meter entfernt in der Basis justierte Beltayn hektisch sein Kom-Gerät, einen Hörer ans Ohr gepresst. »Frequenz-Interferenzen, Herr Major!«, rief er zurück. »Ich versuche, das Signal von Elikon wieder hereinzubekommen!« Rerval beugte sich zu Beltayn vor. »Versuchs mit 3:33 …« »Danke, aber das tue ich gerade.« »Das klang wie …« »Ich weiß, wie es verdammt noch mal klang, Rerval!«, schnauzte Beltayn. Rerval wurde blass. »Glaubst du … wenn wir sie hören können … können sie uns dann auch hören?« Beltayn hörte ihm nicht zu. Er drehte einen Regler und legte zwei Schalter um. »Ich glaube, ich hab’s … ich glaube, ich habe es wiedergefunden. Sauberes Signal.« Beltayn lehnte sich plötzlich von seinem Kom weg. »Feth«, sagte er. »Bel?«, fragte Rerval. Beltayn reichte ihm den Kopfhörer. Rerval drückte ihn sich ans Ohr. Er hörte die Stimme, weit weg, aber klar. Sie sagte: »Sind wir die Letzten, die noch leben? Sind wir das? Ist da jemand, irgendjemand, bitte? Sind wir die Letzten? Ist jemand da draußen? Sind wir die Letzten, die noch leben?« Rerval fing an zu zittern. »Bel«, sagte er. »Das ist deine Stimme.« »Ich weiß«, sagte Beltayn. X Der Rückweg durch die Basis kam ihm sehr lang vor. Hark wollte sich hinlegen. Mehr noch als das wollte er Schmerzmittel. Und mehr als die wollte er schlafen. Er humpelte durch den Korridor im Mittelbereich des Hauses auf der Südseite. Einzelne, in die Mauern eingelassene Schießschar-
ten bildeten eine Reihe von Fenstern mit Blick auf den Pass. Er setzte sich auf den Laufgang unter einem davon, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht zurückzulehnen. Als er sich umdrehte, gelang es ihm, nach draußen in die Dunkelheit zu starren. Es war weit nach Mitternacht, Ortszeit. Die Nacht war buchstäblich ruhig und sehr klar. Er konnte die schwarzen Wände des Passes vor dem kastanienfarbenen Himmel sehen, und auch den kleinen hellen Mond über ihnen. Der Mondschein beleuchtete die tieferen Hänge des Hauses und ließ die Staubschüssel vor dem Tor leuchten wie ein Schneefeld. Er sah zu, wie der Wind Zephire aus Staub über die leuchtenden Dünen jagte. Er hörte sich nähernde Schritte. Er zog seine Pistole und tat wieder so, als lade er sie. Jemand ging an ihm vorbei und verwirbelte die Luft. Er blickte auf, aber da war niemand. Hark spannte sich. Plötzlich war es sehr kalt. Die Schmerzen in seinem Rücken flackerten auf, und ihm wurde klar, dass er praktisch unfähig war aufzustehen. Er hörte eindeutig tanithische Dudelsäcke spielen. Kribbelnde Furcht überkam ihn. Tona Criid tauchte auf, barfuß. Sie sah aus wie eine Schlafwandlerin. »Tona?« Sie drehte den Kopf ein wenig, schien ihn aber nicht zu erkennen. »Tona, können Sie mir helfen?« Sie ging weiter, und ihre Füße verursachten dabei ein leises Klatschen auf dem braunen Satinboden. »Sergeant Criid, bitte«, ächzte er. »Ich kann nicht aufstehen, und hier stimmt irgendwas nicht, und zwar ganz gewaltig.« Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich zu Hark um. »Er ist hier«, sagte sie. »Er ist hier.« »Wer?« »Caff«, sagte sie. »Sehen Sie doch.« Sie zeigte vor sich. Weiter den Korridor entlang war ein Licht in der Dunkelheit aufgetaucht. Zuerst war es nur winzig, aber dann wurde es heller, bis es eine sich windende, springende, flackernde Schlange aus intensiver, böswilliger Leuchtkraft geworden war. Es tanzte und knisterte. Hark spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, und roch Ozon. Er wusste, was es war: Elmsfeuer.
»Tona, kommen Sie zurück«, sagte er, während er aufzustehen versuchte, aber seine Beine waren zu schwach. »Tona Criid, kommen Sie sofort zurück!« »Sehen Sie doch«, sagte sie lächelnd. Das Licht war kein Licht mehr. Es war eine Gestalt, eine menschliche Gestalt, die von innen heraus leuchtete. Tona fing an zu weinen. Tränen liefen ihr über die hageren Wangen. »Caff«, schluchzte sie. »Das ist nicht Caffran!«, rief Hark. Er versuchte, seine Boltpistole durchzuladen. Sie klemmte. Er kämpfte mit dem Schieber, drückte und zog abwechselnd. »Tona!« Die Gestalt drehte sich langsam zu ihnen um. Sie war groß. Ihre Kleidung war zerrissen und blutgetränkt. Sie war ziemlich tot, das sah Hark sofort. Geronnenes Blut verklebte ihr Gesicht und die kurzen blonden Haare. Es war Ibram Gaunt. Criid stieß einen Schrei des Schmerzes und der Ungläubigkeit aus. Sie sprang vorwärts und schlug Gaunt mit den Fäusten auf die Brust. »Du bist tot! Du bist tot!«, heulte sie, während sie auf ihn einschlug. »Wo ist Caff? Du bist tot! Du bist verdammt noch mal tot!« Die blutige Gestalt streckte die Arme aus, um sie zu umarmen. Sie wich entsetzt zurück. Hark hatte seine Pistole endlich durchgeladen. Er fand schließlich die Kraft, sich zu erheben, und trat einen Schritt vor. »Er ist tot!«, schrie Criid. »Ich weiß«, sagte Hark. Er hielt sie am Arm fest und zog sie hinter sich. Sie wehrte sich nicht. Er blieb vor der Gestalt stehen und hob die Pistole. »Ich weiß nicht, was du bist«, sagte er. »Ich weiß, wofür wir dich halten sollen. Lass uns in Ruhe.« Die Gestalt öffnete den Mund, wie um zu antworten, aber der Mund hörte nicht auf, sich zu öffnen. Die Kiefer klafften immer weiter und weiter in einem höllischen, lautlosen Schrei, und widerliches Licht leuchtete aus dem Hals. Die Haut, die blutigen Lippen, bleckten sich weg von dem sich verbreiternden Maul und enthüllten Zähne, enthüllten Schädel. Haut und Fleisch wich zurück, wie säurezerfressener Stoff, sodass Gesicht, Kopfhaut und Hals zunächst zu Muskeln und Sehnen und dann zu nacktem Kno-
chen reduziert wurden. Kleidung verrottete in einem Sekundenbruchteil, zersetzte sich zu Staub, bis nur noch ein Skelett vor ihnen stand, hager und kahl. Sein Mund war immer noch weit zu jenem lautlosen, endlosen Schrei geöffnet. Die Arme waren noch ausgebreitet, und die letzten Tropfen verflüssigten Fleisches und Stofffetzen fielen zu Boden. Dann, und erst dann, schrie es laut. Das Geräusch fegte ihren Verstand leer und ließ ihre Organe erbeben. Es war ein Geräusch, das keiner von ihnen je wieder vergessen würde. Hark ließ seine Pistole sinken und zog Criid an sich, um sie mit seiner Körperfülle zu schützen. Das schreiende Skelett explodierte. Sie spürten, wie die Druckwelle sie erbeben ließ. Sie rochen Staub und verbrannte Knochen und, am schlimmsten von allem, Gaunts Rasierwasser. Jede Wandlampe im Korridor platzte, und das Licht erlosch. Hark ließ Criid los. Sie blinzelten in die Dunkelheit. Sie hörten Schritte durch das Haus zu ihnen laufen. »Was war das?«, ächzte Hark. Draußen wurde es plötzlich hell. Lautes Krachen hallte durch den Pass, die Geräusche der grenzenlosen Wut eines martialischen Gottes. Hark humpelte zum nächsten Fenster. Artilleriefeuer hatte den Himmel hinter dem Pass erhellt und machten ihn zu einer zerklüfteten Silhouette, Blitz um Blitz. »Was war das?«, fragte Criid ihn. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Hark leise, während er beobachtete, wie die gigantischen Lichtblitze die Dunkelheit fraßen. »Aber ich glaube, es bedeutet unser Ende.«
ACHTZEHN DIE LETZTE HOFFNUNG
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778 I »Dann sind das Ihre Leute?«, fragte Rawne, während er das Lichtgewitter am entfernten Morgenhimmel jenseits des Passes beobachtete. »Ja«, sagte Berenson. »Es wurde bestätigt, obwohl kaum Einzelheiten vorliegen. Die Kom-Verbindungen sind schlecht. Aber, ja. Seit Mitternacht Ortszeit kämpfen die vorrückenden Elemente des Zweiundfünfzigsten Cadogus gegen die feindliche Hauptstreitmacht. Tatsächlich sogar im Banziepass, wie vorhergesagt.« »Thron segne die Tacticae«, sagte Kolea.
Die drei standen vor einer Glocke auf der Kammlinie des Hauses und schauten durch ihre Feldstecher nach Süden. Der Tag war hell und verblüffend klar. Die Glockenkuppeln auf dem Kamm rechts und links von ihnen leuchteten golden wie Tempelkuppeln. Der Himmel war tiefblau. Weit entfernt, jenseits der Klippen und des Westarms der Altids, bebte und bockte dieses Blau wie Seide im Wind. Sie konnten das Wumm Wumm Wumm schwerer Geschütze hören. Es hätte wie ein sich näherndes Gewitter geklungen, wäre das Donnern nicht zu regelmäßig gewesen. »Konsequenzen für uns?«, fragte Rawne, indem er seinen Feldstecher absetzte. »Endlich Aussicht auf Entsatz«, sagte Berenson. »Wenn die Hauptstreitmacht des Cadogus den Banziepass erreicht hat, müssen die Verstärkungskompanien nah sein.« »Genau pünktlich«, murmelte Rawne. »Drei Tage, sagten Sie.« »Ja, genau«, nickte Berenson. »So leicht wird es nicht«, sagte Kolea. »Sie werden uns nicht so leicht entwischen lassen.« »Warum nicht?«, fragte Berenson. »Weil wir ihnen wehgetan haben«, sagte Kolea. »Wir haben sie tagelang abgewehrt. Sie wollten diese Festung einnehmen, um den Pass hier sichern zu können. Aber das ist zweitrangig. Sie werden uns büßen lassen wollen.« »Dann können Sie ihre Gedanken lesen, Major?«, spöttelte Berenson. »Ich habe schon öfter gegen sie gekämpft«, sagte Kolea. »Sind wir in der Lage, jetzt gegen sie zu kämpfen?«, fragte Berenson. »Nein«, erwiderte Rawne, »aber vielleicht sind wir es in ein paar Stunden. Ich habe einen Munitionstransport bestellt. Wir können unsere Vorräte auffrischen und noch etwas länger aushalten. So lange, wie wir müssen.« »Wann soll er erfolgen?«, fragte Kolea. »Ich warte noch auf die Zeit«, sagte Rawne. »Bis zum Mittag, hoffe ich.« »Hoffen wir, dass es uns gegen Mittag noch gibt«, sagte Kolea. Rawne sah ihn an. »Was soll das denn bedeuten, Kolea?« »Sie waren letzte Nacht auch hier, oder nicht? Sie haben auch gesehen, was passiert ist. Sie werden immer schlimmer, diese …«
»Werden wir das Wort je benutzen?«, fragte Rawne. »Spukerscheinungen?« »Also gut, Spukerscheinungen«, sagte Kolea. »Es gibt sie seit dem Tag unserer Ankunft, aber sie werden schlimmer. Und nur weil die Sonne aufgegangen ist, sind wir noch lange nicht sicher.« II Zweil legte seinen Psalter weg, befeuchtete Daumen und Zeigefinger und löschte die Votivkerze. »Was soll ich tun?«, fragte er. Hark saß ihm gegenüber in dem kleinen Zimmer, das Zweil zu seiner Zuflucht gemacht hatte. »Sie haben mich genau verstanden, Pater.« »Einen Exorzismus? Ich bin ein Ayatani-Priester, kein Zauberer, Sie Idiot.« Hark holte tief Luft. »Also schön, lassen wir mal die Tatsache außer Acht, dass Sie mich eben Idiot genannt haben – das sollten Sie wirklich nicht tun, Pater, und zwar eingedenk der Tatsache, dass ich eine Pistole habe –, ich weiß, dass ich etwas Extremes verlange. Aber Sie haben ja gesehen, was los ist.« Zweil nickte. Seine runzligen, leberfleckigen Hände griffen nach oben, nahmen die Zeremonien-Stola, die um seinen Hals lag, falteten sie zusammen und verstauten sie in seinem Tornister. »Ich habe es gesehen«, sagte er. »Ich habe gesehen, was ich immer sehe. Männer in einer schlimmen Lage. Männer, die sich fürchten. Männer, die sterben. Männer, die sich davor fürchten zu sterben. Anspannung, Stress, Erschöpfung …« »Es ist mehr als das.« »Quatsch. Das ist hier ein grässlicher Ort, die Kämpfe sind miserabel verlaufen, und wir haben einen Haufen Leute verloren. Das Schlimmste ist, alle haben das Gefühl, dass wir eingesperrt sind. Gefangen, wie in einem Käfig. Als wäre dieses Haus hier unser Käfig.« »Pater …« Zweil sah Hark an. »Hier gibt es keine bösen Geister, Viktor. Nur verängstigte Soldaten unter extremen Umständen. Der menschliche Geist erledigt den Rest. Letzte Nacht hat Dorden – ein Mann, der so nüchtern und vernünftig ist wie Dorden, Viktor –
geglaubt, er sieht Blut eine Wand herunterlaufen. Es war kein Blut. Es war Staub.« Hark fuhr sich mit der Hand über den Mund und erzählte dem alten Priester dann zögerlich, was er und Criid in der vergangenen Nacht erlebt hatten. Zweil schwieg eine Weile, nachdem Hark geendet hatte. »Und, war das meine Einbildung, Pater?«, fragte Hark. »Es wird eine rationale Erklärung geben«, erwiderte Zweil. Hark schüttelte den Kopf und erhob sich. Dazu musste er sich schwer auf die Krücke stützen. »Nehmen wir mal an, dass Sie recht haben, Pater, und alles spielt sich nur in unseren Köpfen ab. Ein Schutzsegen von Ihnen würde dann doch zumindest psychologisch helfen?« »Ich führe keine Zaubertricks vor«, sagte Zweil. »Ich werde den Imperialen Glauben nicht durch hohle Theatralik entweihen.« Hark wandte sich ab und humpelte zur Tür. »Ihre Skepsis enttäuscht mich, Pater Ayatani. Es ist besonders enttäuschend, sie bei einem Mann zu erleben, der die Heilige mit eigenen Augen gesehen und geglaubt hat.« »Das war etwas anderes«, sagte Zweil. »Nur, weil Sie damals glauben wollten«, sagte Hark. »An das hier wollen Sie aber nicht glauben, oder?« III Baskevyls Hände hatten gezittert, als er das Buch zum ersten Mal öffnete. Jetzt, als er es wieder schloss, kam er sich wie ein verdammter Idiot vor. Seine Dienstpistole, die er gezogen und auf den Tisch neben das Buch gelegt hatte, bevor er es aufschlug, unterstrich diese Idiotie noch. Was hatte er eigentlich erwartet? Dass ihn etwas aus den Seiten anspringen würde? Hatte er tatsächlich gedacht, er müsse das Buch eventuell erschießen? Idiot, Idiot, Idiot … Das Buch war nichts, ein fremdartiges Ding, so unverständlich wie einige der anderen Texte, die Beltayn zur Ansicht aus den Regalen geholt hatte, eine Enttäuschung. Es gab viele Seiten eng beschriebenen Textes, den er nicht lesen konnte, und Illustrationen, bei denen es sich um eine Mischung aus obskuren Diagrammen, primitiven astrologischen
Tierkreisen und Tabellen zu handeln schien. Beim Blättern hatte Baskevyl das Buch mehrmals umgedreht, da er unsicher war, welches Ende vorn und welches hinten war. Keine Richtung war überzeugend. Baskevyl hatte sich Rawnes Büro für eine Stunde ausgeborgt, während der Kommandant seine morgendliche Runde durch das Haus machte. Draußen wachte das Haus langsam auf. Männer latschten vorbei. Baskevyl hörte mürrische Morgenstimmen, die Stimmen von Männern, welche nach viel zu wenig Schlaf geweckt worden waren und sich mit den Stimmen jener mischten, welche die letzten Nachtstunden rotäugig auf Wache verbracht hatten. Er roch Metallbüchsen, die auf dem Rost in der Basis erhitzt wurden, und Kaffein, der in Metallkannen dampfte. Er stand auf und reckte sich. Vielleicht würde ein Frühstück … Es klopfte an die Tür, und Fapes kam herein. Eilig, verlegen. Baskevyl deckte Buch und Pistole mit seiner Jacke zu. »Ich dachte, Sie mögen vielleicht eine Tasse, Herr Major«, sagte der Adjutant, indem er ihm eine Blechtasse Kaffein hinhielt. »Ich muss Sie bei den Schwarzen Schiffen melden, Fapes«, lächelte Baskevyl. »Verzeihung, Herr Major?« »Sie sind ein Gedankenleser.« Fapes grinste und brachte die Tasse zum Schreibtisch. »Letzte Nacht, Herr Major«, sagte er. »Was war da eigentlich los?« »Sie meinen den Beschuss?« Fapes zuckte die Achseln. »Den auch, ja. Aber mehr den Rest. Ich habe gehört, dass Wes Maggs ausgerastet ist, und alle möglichen Geschichten machen die Runde.« »Geschichten?« »Gerüchte, nehme ich an, Herr Major.« »Sie kennen den Standpunkt des Regiments, was die Gerüchte angeht, Fapes.« Fapes nickte. Baskevyl nahm die Tasse und nippte vorsichtig. »Trotzdem«, sagte er, »ganz unter uns?« Fapes lächelte wieder. »Es heißt, hier, Sie wissen schon …« »Spukt es, Fapes?« »Ich möchte mich dazu nicht äußern, Herr Major, aber das wird schon seit unserer Ankunft hier gemunkelt. Letzte Nacht, Feth,
Schritte, Licht, Geflüster. Bool schwört, er hätte eine alte Frau ohne Gesicht gesehen.« »Was hat er gesehen?« »Oben in Westen sechs, Herr Major. Er hat es mir selbst erzählt. Eine alte Schachtel in einem langen schwarzen Kleid.« »Ohne Gesicht?« »Genau.« Baskevyl nahm noch einen Schluck. »Wie lange beaufsichtigt Bool schon die Sacra-Vorräte des Regiments, Fapes?« Fapes schnaubte, aber Baskevyl konnte erkennen, dass er beunruhigt war. Die unbeschwerte, lockere Art war Fapes’ Methode, damit umzugehen. Er war auf der Suche nach Beruhigung. Baskevyl hatte die entsetzliche Befürchtung, dem Adjutanten in dieser Hinsicht nicht weiterhelfen zu können. »Glauben Sie«, begann Fapes, »dass es hier wirklich Geister gibt, Herr Major?« »Außer uns? Natürlich nicht, Fapes.« Fapes nickte. »Wenn es doch welche gäbe, Herr Major, wenn es doch welche gäbe … könnten sie uns töten?« Baskevyl blinzelte. Er wollte herausbrüllen: Unter dem Fels hier ist etwas, direkt unter uns, das uns alle in einem Augenblick töten würde. Doch stattdessen gelang ihm ein schlichtes »Nein«. »Das hat Ludd auch gesagt, Herr Major. Er hat gesagt, es wäre nur unsere Einbildung, die uns zu schaffen macht.« Fapes sah nicht so aus, als sei er von der Erklärung überzeugt. »Ludd hat recht, Fapes«, sagte Baskevyl. »Aber eins noch …« »Herr Major?« »Es heißt Kommissar Ludd.« »Ja, Herr Major. Natürlich.« Es gab eine kleine verlegene Pause. »Major Rawne hat eine Kommandeursbesprechung in einer halben Stunde anberaumt«, sagte Fapes. »Hier?« »Ja, Herr Major.« »Dann räume ich besser meine Sachen weg. Gehen Sie und holen Sie eine Kanne von diesem Zeug, und Tassen. Die Offiziere werden es brauchen.« Fapes nickte und verließ den Raum.
Baskevyl trank seinen Kaffein und nahm mit der freien Hand seine Jacke vom Tisch. Der Ärmel blieb am Einband des Buchs hängen und schlug es auf. Baskevyl stellte seine Tasse ab und zog die Jacke an. Ein Luftzug blätterte die Seiten langsam um wie trockenes Laub. Baskevyl nahm seine Pistole und halfterte sie. Er stutzte und griff rasch nach dem Buch. Was hatte er gerade gesehen? Er blätterte zurück und machte die Arbeit des Luftzugs rückgängig. Wo war es? Er hatte es sich doch nicht eingebildet … Er fand die Illustration. Baskevyl glättete die Seite mit der Hand und starrte darauf. Es war die Zeichnung eines Wurms. Die Risszeichnung eines Wurms, der wie bei dem silbernen Emblem, das in den Buchrücken gestanzt war, seinen Schwanz im Maul hatte, um mit seinem hageren, gliedlosen Leib einen Ring zu bilden. Der Wurmkreis war von konzentrischen Ringen in einem gewissen Muster umgeben, und von verschiedenen Seiten kamen Linien, welche die Außenkreise schnitten. Was ist das, bei Feth? Baskevyl blätterte um und sah noch eine Illustration. Sie schien eine Art Stift oder Bolzen im Querschnitt zu zeigen, obwohl es sich auch um eine Art Wappen handeln mochte. Weitere Diagramme zeigten noch mehr Ringe und Linien in einem rechtwinkligen Gitter mit Anmerkungen. Er blätterte weiter. Dort war ein Diagramm, das wie ein zusammengekniffenes Reptilienauge aussah. Aber es war keins. Baskevyl holte tief Luft. Er wusste genau, was es darstellte. IV Eine halbe Stunde später, während immer noch der ominöse Donner des entfernten Bombardements im Hintergrund dröhnte, betrat Rawne den Raum. Hark, Ludd und alle Kompanieoffiziere, die überlebt hatten und noch stehen konnten, warteten auf ihn. »Kommandierender Offizier!«, blaffte Ludd. Alle salutierten ohne Zögern. Alle teilten die grimmige Ahnung, dies könne das letzte Mal sein, dass sich die Offiziere des Ersten Tanith zu einer Besprechung versammelten.
Rawne bestätigte den allgemeinen Salut mit einem Nicken. Berenson war bei ihm, und Rawne hatte außerdem die dienstältesten Adjutanten bestellt. »Der Donner, den Sie seit Mitternacht hören«, begann er, »ist der Geschützlärm des Zweiundfünfzigsten Cadogus, das dem Erzfeind im Banziepass die Hölle heiß macht.« Es gab allgemeine Zufriedenheitsbekundungen. »Damit bleibt uns nur noch auszuhalten«, sagte Rawne. »Auszuhalten und dieses verdammte Haus zu halten, bis sie zu uns durchdringen.« »Wie lange wird das dauern?«, fragte Kamori. Rawne warf einen Blick auf Berenson. »So kurz, wie es ihnen möglich ist«, sagte Berenson. Mehrere Offiziere stöhnten. »Wie oft haben wir das im Laufe der Jahre gehört?«, fragte Obel. »Zu oft«, sagte Rawne. »Und es hat immer gestimmt.« Er ließ den Blick über alle wandern. »Wir verlieren nicht den Kopf und tun, was wir am besten können, dann kommen wir auch noch aus diesem Loch raus. Das ist mein Versprechen an Sie, und Sie wissen, dass ich nicht viele Versprechen gebe.« »Hängt das Einhalten des Versprechens nicht davon ab, ob der Blutpakt mitspielt?«, fragte Kamori und erntete damit ein wenig finsteres Gelächter. »Nein«, sagte Rawne. »Bewahren Sie Disziplin und seien Sie wachsam. Machen Sie sich zum Kampf bereit, und wenn Sie müssen, kämpfen Sie wie die Schweinehunde. Der Blutpakt kann uns mal.« Larkin hob eine Hand. »Geht es um die Munition, Larks?«, fragte Rawne. »Jawoll«, nickte Larkin, indem er die Hand herunternahm. »Dann habe ich gute Neuigkeiten. Beltayn?« Der dienstälteste Adjutant trat vor. »Vor zwanzig Minuten haben wir die Bestätigung von SP Elikon bekommen. In genau zwei Stunden bekommen wir eine Munitionslieferung.« Beltayns Ankündigung sorgte für eine Menge Gerede und Lärm. »Ruhe, bitte«, sagte Rawne. »Wie soll das funktionieren?«, fragte Daur. »Wenn irgendwas im Bereich der Schleuse landet, fällt der Feind binnen Minuten über
uns her. Sie wissen, was beim Wassertransport passiert ist. Ich würde unter Beschuss keine Munition ins Haus schleppen wollen.« »Wir werden den Bereich der Schleuse nicht benutzen, Daur«, sagte Rawne. Er warf Bonin einen Blick zu. Der neue Anführer der Späher runzelte die Stirn und nickte dann zögernd, als er begriff. »Das ist der ›richtige Augenblick‹, von dem Sie gesprochen haben, nicht?«, fragte Bonin. »Das ist er«, bestätigte Rawne. »Der Transporter wurde angewiesen, im Graben vor dem zweiten Tor zu landen. Soweit wir wissen, weiß der Feind nichts davon, und der Graben gibt uns anständige Deckung. Der Transporter kann landen und wir können ihn durch das zweite Tor ausladen, bevor der Feind merkt, was los ist.« Bonin nickte. »Das ist gut«, sagte er. »Es wird trotzdem eng«, sagte Kolosim. »Natürlich«, erwiderte Rawne, »aber es ist unsere beste Hoffnung, und wir werden dafür sorgen, dass es funktioniert. Ich will Freiwillige. Zwei Kompanien, eine zum Entladen, die andere, um ihr Feuerschutz zu geben und den Graben zu verteidigen.« Praktisch alle Hände hoben sich. Rawne sah sich um. »Danke sehr. Hauptmann Meryn, Ihre Jungs übernehmen den Feuerschutz. Hauptmann Varaine, die LKompanie lädt aus. Alle anderen besetzen in voller Stärke jede Schanze, jeden Ausguck und jede Kasematte im Norden und Süden. Kolosim, Obel? Diesmal gehört die Hauptschleuse Ihnen. Reden Sie mit Daur, er weiß, wie man ein verdammtes Tor hält. Kolea, sie bekommen den Befehl über den Südhang. Baskevyl, die oberen Galerien und den Norden. Daur, Sloman, Chiria, Ihre Kompanien müssen mobil sein und bereit, kurzfristig in jeden Teil des Hauses einzurücken, der Unterstützung braucht.« Die drei nickten. Chiria, jetzt im Titularrang eines Hauptmanns, hatte in Domors Abwesenheit den Befehl über die K-Kompanie übernommen. Sie nahm ihre Pflichten sehr ernst. Sie war entschlossen, ihren geliebten Hauptmann nicht im Stich zu lassen. »Noch eine letzte Sache«, sagte Rawne. Er sah Hark an. »Das Zeug, was wir in der Bibliothek gefunden haben.« »Das Zeug, was Beltayn gefunden hat«, korrigierte Hark, der sich dabei unbehaglich auf seine Krücke stützte. »In der Tat. Ehre, wem Ehre gebührt. Das müssen alle begreifen. Das Zeug rauszuschaffen ist genauso wichtig, wie die Muniti-
on reinzubringen. Es kommen zwei Transporter, nicht einer. Der erste Vogel ist leer und bereit, eine Gruppe auszufliegen, die so viele der verdammten Bücher trägt, wie sie kann. Rein, raus, schnelle Aktion. Dann kommt der Munitionstransporter, und wir sind an der Reihe. Der Graben ist nur breit genug für einen Transporter.« »Das wird uns das Element der Überraschung verderben«, sagte Bonin. »Ja, etwas, aber das müssen wir in Kauf nehmen. Die Bücher sind zu wichtig«, sagte Rawne. »Ich weiß das, weil Hark und Bask es mir gesagt haben.« »Wer übernimmt den Flug nach draußen?«, fragte Meryn. »Ich habe bereits eine Gruppe ausgewählt«, sagte Rawne, »und darüber gibt es keine Diskussionen. Hark.« Hark runzelte die Stirn. »Ich will bleiben, Major.« »Ich sagte: keine Diskussionen. Ich brauche jemanden mit Autorität, der dafür sorgt, dass die Bücher auch zu den Leuten gelangen, die etwas damit anfangen können. Hark, Sie leiden. Dorden sagt, Sie brauchen dringend Hauttransplantationen. Schaffen Sie die Bücher nach Elikon, da bekommen Sie dann auch die Behandlung, die Sie brauchen.« »Dann ist das ein Befehl?«, fragte Hark mürrisch. »So entschieden wie noch nie«, sagte Rawne. Hark schüttelte traurig den Kopf. »Ich werde nicht so tun, als ob er mir gefiele.« »Major Berenson begleitet Sie. Ich brauche ihn, damit er die Verbindung zum Oberkommando herstellt und den Stab informiert. Criid, Sie gehen auch.« Tona Criid funkelte ihn an. »Auf keinen Fall, ich …« »Habe ich es mir nur eingebildet, oder sagte ich laut und deutlich ›keine Diskussionen‹?«, fragte Rawne. »Dorden rät auch bei Ihnen zu eingehender Behandlung, wie bei Hark, also übernehmen Sie Kurierdienste.« »Es gibt Dutzende Geister im Feldlazarett, die dringender Behandlung in einer anständigen medizinischen Einrichtung bedürfen«, sagte Criid freimütig. »Denen will ich nicht vorgezogen werden.« »Ach, Thron«, sagte Rawne. »Ich hasse es, von so vielen verdammten Helden umgeben zu sein. Sie gehen, Criid. Die armen Schweine im Lazarett werden noch früh genug evakuiert.«
»Wer noch?«, fragte Hark. »Twenzet, Klydo und Swaythe. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Sie sind alle verwundet, aber schon in der Lage, Sachen zu tragen. Ich schicke lieber Männer mit leichten Wunden, als Soldaten aus der aktiven Linie abzuziehen.« Hark nickte. »Klingt vernünftig. Also schön.« »Dann machen Sie sich fertig. Beltayn, helfen Sie Kommissar Hark dabei, die Bücher in Seesäcke zu packen. Und sehen Sie sich noch mal in der Bücherei um, ob wir auch nichts Wichtiges vergessen haben.« »Zu Befehl, Herr Major«, nickte Beltayn. »Ludd?«, sagte Rawne. »Ja, Herr Major?« »Wenn Hark weg ist, sind Sie mehr als geschäftsführender Kommissar. Sie sind dann Kommissar, schlicht und einfach. Sind Sie dem gewachsen?« Ludd nickte. Rawne wandte sich an die anderen. »Ludd steht eine schwere Schlacht bevor. Helfen Sie ihm. Stützen Sie seine Anweisungen und seine Autorität. Wenn Sie sehen, dass ein Soldat, irgendein Soldat, sich über ihn lustig macht oder ihn ignoriert, kommen Sie über ihn wie eine Tremorgranate, sonst komme ich wie eine Tremorgranate über Sie. Haben wir uns verstanden?« »Ja«, sagten die anwesenden Offiziere. Rawne lächelte und runzelte dann die Stirn. »Ich glaube, ich habe hier das Kommando. Ich habe doch das Kommando, Bel, oder nicht?« »Soviel ich weiß, ja, Herr Major«, sagte Beltayn. »Also?«, fragte Rawne und ließ das Wort in der Luft hängen. »Ja, Kommandant«, sagten die Offiziere. »Schon besser«, sagte Rawne. »Jetzt setzen Sie Ihre Ärsche in Bewegung und lassen Sie uns dem verfluchten Schwein von einem Feind zeigen, wie man einen Krieg führt.« V Die Offiziere verließen den Raum, um ihre Kompanien zu versammeln. Rawne zog Ludd auf die Seite. »Ja, Herr Major?«
»Holen Sie Maggs aus der Haft. Wir brauchen jeden Mann, den wir kriegen können. Sagen Sie ihm, er wäre ein Idiot, und sagen Sie ihm, wenn er das noch mal macht, spüre ich ihn auf und weide ihn aus wie ein Larisel.« »Wird gemacht, Herr Major.« »Sonst noch etwas, Ludd?« Nahum Ludd zuckte die Achseln. »Was ist ein Larisel, Herr Major?« »Spielt das eine Rolle, Ludd? Ich glaube, der Vergleich spricht für sich.« »Ja, Herr Major. Danke für …« Rawne hatte sich bereits abgewandt. »Danke wofür, Ludd?« »Für ihre warmen Worte zu meiner Unterstützung, Herr Major.« »Tun Sie einfach Ihre verdammte Arbeit und machen Sie mir keine Schande, Ludd. Dann muss ich Sie auch nicht ausweiden wie ein Larisel.« Rawne entfernte sich durch den vollen Korridor. Er betrat die Basis. Darin wimmelte es von Soldaten, die zu ihren Stellungen unterwegs waren. Die letzte Munition wurde ausgegeben. »Das war’s«, hörte Rawne Ventnor rufen. »Mehr ist nicht da! Jetzt habe ich nur noch Gebete und guten Willen!« Berenson stand auf der Hauptebene. Er hielt Rawne die linke Hand hin, da seine rechte noch in der Schlinge steckte. Rawne nahm sie. »Später habe ich vielleicht keine Gelegenheit mehr«, sagte Berenson. »Viel Glück. Nicht, dass Sie es brauchen würden.« »Oh, wir werden alles Glück brauchen, das wir kriegen können«, sagte Rawne. VI Baskevyl betrat das Feldlazarett. Er blickte sich um und ging dann zu Shoggy Domors Bett. Domor war nur ein blasser Abglanz seines alten Ichs, dünn und ausgemergelt infolge der Wundschmerzen und der traumatischen Operation, die er durchgemacht hatte. Die weiße Haut seines Kinns und seiner Wangen war mit schwarzen Stoppeln bedeckt. Er sah aus, als schlafe er. Nein, er sah tot aus, tot und gestorben. Baskevyl zögerte.
»Brauchen Sie irgendwas, Major?«, fragte Curth im Vorbeigehen. »Nein, danke. Ich schaue nur rein«, erwiderte Baskevyl. Als sie weg war, blieb Baskevyl noch einen Moment länger und starrte Domor an. Er wandte sich ab. »Major?«, sagte eine dünne, trockene Stimme. Baskevyl schaute zurück. Domors Augen waren offen, zumindest halb. »Hallo Shoggy. Ich wollte Sie nicht wecken.« »Ich dachte mir, dass Sie es sind.« Domors Stimme war sehr dünn und leise, und seine Atmung erzeugte ein furchtbares zischendes Geräusch wie eine Schlange. Baskevyl zog sich einen wackligen Holzstuhl heran und setzte sich neben das Bett. »Wie sieht es aus?«, fragte Domor, dessen Atem ein und aus zischte, als kratze und pumpe ein alter, vertrockneter, durchlöcherter Blasebalg. Zisch-rassel. Zisch-rassel. »Ganz gut. Wir sind noch da.« »Keiner erzählt mir irgendwas. Sie sagen immer nur, ich soll mir keine Sorgen machen.« Zisch-rassel. Zisch-rassel. »Tja, damit haben sie auch recht. Wir verschwinden bald von hier. Vertrauen Sie mir.« »Glaubt Gaunt das auch?«, flüsterte Domor. Zischrassel Zischrassel. Baskevyl biss sich auf die Lippe. »Ja«, nickte er. »Der Kommandant glaubt das auch.« Domor schloss einen Moment die Augen und lächelte. Zischrassel Zisch-rassel. »Shoggy?« Domor öffnete die Augen. »Ja, Major?« Zisch-rassel Zisch-rassel. »Ob Sie wohl in der Lage sind, sich etwas für mich anzusehen?« Domor beschrieb eine leicht zuckende Bewegung, bei der es sich um ein Achselzucken handeln mochte. »Was zum Beispiel?« Baskevyl zog das schwarz eingebundene Buch aus der Jackentasche und öffnete es. Er blätterte darin bis zu den von ihm markierten Seiten. »Was ist das?«, fragte Domor. Zisch-rassel Zisch-rassel.
»Wenn wir so etwas wie einen Ingenieur haben, sind Sie das, Shoggy, nicht wahr?« »Das nehme ich an.« »Dann sagen Sie mir bitte«, sagte Baskevyl, indem er das Buch so hielt, dass Domor die aufgeschlagenen Seiten sehen konnte, »wofür Sie das halten?« VII Im Kom klickte es. »Transporter im Anflug. Zwei Minuten«, sagte Beltayn. Im Tor der zweiten Schleuse sah Varaine Meryn an. »Zeit zu gehen«, sagte er. Meryn nickte. Er schaute nach hinten durch das geöffnete Tor. »E-Kompanie, fertigmachen!«, rief er. Hinter ihm gab Dalin den Befehl weiter. Meryn schaute den Graben entlang. Der Tag war immer noch klar und frei, der Himmel blau und strahlend. Am Ende des Grabens konnte Meryn Preed und Caober sehen, die Späher, die Wache hielten. »Hier Meryn«, sagte er. »Alles klar?« »Jederzeit«, antwortete Caober. »E-Kompanie, los!«, rief Meryn. Die Geister unter seinem Kommando strömten aus der Schleuse und trabten durch den Graben zu ihren vorher vereinbarten Stellungen. Sie schmiegten sich an die Westseite der Rinne, und einige von ihnen erklommen die steinige Böschung, um auf dem Bauch liegend in Schussposition zu gehen. Meryn schüttelte Varaines Hand und beeilte sich, ihnen zu folgen. »E-Kompanie ist in Stellung«, sendete Varaine. Er drehte sich um und schaute zurück. »L-Kompanie, fertigmachen. Kommissar?« Hark trat vor und ins Tageslicht. Er humpelte auf seiner Krücke, einen schweren Seesack über die Schulter geworfen. Criid folgte ihm, dann kamen Berenson, Twenzet, Klydo und Swathe, die mit ihren eigenen Seesäcken beladen waren. Es gab keinen Staub, aber alle trugen eine Messingbrille. Hark sah Varaine an.
»Jeden Moment, Kommissar«, sagte Varaine. »Wir sehen uns in Elikon, Hauptmann«, erwiderte Hark mit einem dünnen Lächeln. »Ja, Herr Kommissar.« Kom-Klick. »Da kommt sie«, rief Caober. Eine Sekunde später hörten sie das kehlige Triebwerksheulen. Eine einsame Valkyrie schoss im Tiefflug über die Klippen des Passes hinweg. Hark sah, dass ihre Seitentüren bereits geöffnet waren. Sie drehte nicht und machte auch keinen vorbereitenden Überflug wie der Wassertransporter fünf Tage zuvor. Die exakten Landekoordinaten waren fest eingegeben, und die Valkyrie zierte sich nicht. Hark konnte das Bestreben des Piloten beinahe schmecken, nicht länger als nötig an Ort und Stelle zu bleiben. Mitten im Graben wurde eine Magnetboje gesetzt, die mit der Aussendung ihres Signals begann. Die Valkyrie kam herein und schwenkte dann beinahe auf der Stelle schwebend herum. In den Klippen auf der anderen Seite der Staubschüssel wurde es hell. Die meisten Blitze stammten vom Mündungsfeuer kleiner Waffen, aber es gab auch Raketen. Ein Geschosshagel stob in den Himmel. »Sie haben sie gesehen«, sagte Varaine. »Natürlich haben sie«, erwiderte Hark. Die Valkyrie ging mit heulenden Turbinen tiefer. Sogar auf diese Entfernung konnten sie alle die vereinzelten Schüsse hören, die von ihr abprallten. »Feth!«, sagte Varaine. Hark schaltete sein Kom ein. »Rawne, vielleicht …« »Schon passiert«, erwiderte Rawne. Die Geister in den südlichen Kasematten und Ausgucken des Hauses eröffneten das Feuer und gaben massiven Feuerschutz in Richtung der Klippen. Hark hörte Hochenergieschüsse und das Knattern von Kaliber .50Geschützen. So eine Munitionsverschwendung. Das Feindfeuer ließ nach, als der Gegenbeschuss den Feind zwang, Deckung zu suchen. Das Haus feuerte weiterhin auf die Klippen. Die Valkyrie korrigierte mit gesenkter Nase und kam herunter, ihr Fallwind wirbelte Staub aus dem Graben auf. Die Düsen fingen an zu kreischen, als sie in der Luft hielt und die Landekrallen aus-
gefahren wurden. Heulend wie der Wind auf Jago setzte sie im Graben auf. Varaine zuckte zusammen. Die Spitzen der Stummelflügel schienen die Geröllhänge auf beiden Seiten zu streifen. Der Graben hatte groß ausgesehen, bis jemand eine Valkyrie darin parkte. »Los, los, los!«, brüllte Varaine. Hark, Criid und die anderen stolperten mit ihren Seesäcken zur wartenden Valkyrie. Der Frachtoffizier, dessen Kopf dank der Kombination aus Helm, Brille und Kopfhörern winzig aussah, zog einen nach dem anderen durch die Seitenluke und nahm ihnen die schweren Säcke ab. »Hark ist drin«, sendete Varaine. »Gut. Sie kommen«, sendete Meryn zurück. Trotz der Kanonade, die ihnen aus den Kasematten entgegenschlug, strömten Scharen von Blutpaktsoldaten aus den Klippen durch die Staubschüssel zum Tor und zum weiter entfernten Graben. »Feth«, sendete Meryn. »Das sind Tausende!« »Erst schießen, wenn es zählt«, sendete Varaine zurück, während er seiner eigenen Kompanie Befehl gab, sich bereit zu machen. »Ich weiß, was ich zu tun habe.« Meryns Antwort klang gereizt. Der Frachtoffizier winkte Varaine zu. Varaine winkte zurück. Mit einem dringlichen Signal für den Pilot zog sich der Frachtoffizier aus der Luke in die Valkyrie zurück. Mit einem Aufbrüllen der Schubdüsen sprang die Valkyrie förmlich aus dem Graben und wirbelte dabei eine gigantische Staubwolke auf. Sie erhob und drehte sich. Feindfeuer traf sie und prallte jaulend von ihr ab. Sie stieg höher und legte sich in eine enge Kurve, um an den steilen Schanzen von Hinzerhaus vorbeizukommen. Unten in der Staubschüssel eilte ein Heer von Feindkriegern vorwärts wie Insekten aus einem Nest, und noch mehr stürmten dem Graben entgegen. Der Beschuss aus dem Haus fällte Dutzende, aber sie liefen dennoch weiter. »Ab dafür«, sendete Meryn. »Jetzt legen wir los.« Varaine blickte auf. Ein neuer, schwerer Ton ließ die Luft vibrieren. Der Destrier tauchte auf, etwas neben der Spur, und raste mit flammenden Triebwerken den Pass entlang. »K862, K862, im Anflug«, hörten sie den Pilot im Kom.
»Hallo K862. Schön, Sie wiederzusehen«, antwortete Beltayn. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen«, erwiderte der Pilot des schweren Transporters, dessen Stimme durch die Empfangsstörungen abgehackt klang. Die Valkyrie stieg und vollendete den Schwenk, die Düsen von einem Halo aus weißem Feuer umgeben, da sie um Auftrieb und Geschwindigkeit kämpfte. Darunter kam der Destrier herein, langsamer, lauter und schwerfälliger. Die Masse der Blutpaktkrieger, die das freie Feld überquerten, nahm ihn wie wild unter Beschuss. Der große Transporter musste mehrere schwere und viele leichte Treffer hinnehmen. Der Destrier ging tiefer und korrigierte seine Flugbahn, während das Triebwerkstosen immer lauter wurde, je tiefer er sank und je langsamer er wurde. Er sah riesig aus. Sein Schatten bedeckte den gesamten Graben. »Feth, das wird niemals passen!«, ächzte Varaine. Er wusste, er musste darauf vertrauen, dass es das doch tat. Er schaute wieder hinter sich. »Los, ihr fröhlichen Hunde!«, überschrie er den Düsenlärm. »Macht euch bereit, das verdammte Ding auszuladen!« Die Männer liefen mit gesenkten Köpfen zum Schutz vor dem heftigen Fallwind nach draußen. »Landung in fünf«, sendete der Pilot. »Achtung. Drei, zwei, eins …« Eine Boden-Luft-Rakete traf es in den Bauch und sprengte dem Destrier in einem sengenden Ball aus weißen Flammen den Brustkasten auf. »Ach du Scheiße!«, brüllte Varaine. »Zurück! Zurück! Alles wieder ins Haus!« Seine Männer machten kehrt. Sie rannten los. Varaine lief bereits. Der Destrier erbebte und bockte, während Flammen und Rauch aus seinem Bauch strömten. Er setzte zu einer Drehung an, mühte sich zu steigen, die Landung abzubrechen. Die Triebwerke flammten ohrenbetäubend auf. Dann fiel er. Er fiel mit einem widerlichen Weltuntergangsknirschen, schlug in einem gewaltigen Sprühregen aus Geröll auf die Westböschung des Grabens auf und zerquetschte und tötete dabei mehr als ein Dutzend von Meryns Männern. Immer noch in Bewegung, rutschend und schleudernd, gab er ein langgezogenes, gequältes
metallisches Kreischen von sich, da er sich auf den Felsen die Unterseite aufriss, und kippte in den Graben. »Scheiße. Wir sind tot«, hörte Varaine den Pilot über Kom flüstern. Keine Macht in der Galaxis hätte die tödliche Rutschpartie des Destrier aufhalten können. Ein angestrengt arbeitendes Triebwerk brannte aus und spie dabei Rauch und Funken in die Luft. Er kam wie eine Dampfwalze, wie ein Rammbock, und zermalmte und zerstörte alles in einem tödlichen Wirbelsturm aus fliegenden Steinen und splitterndem Metall, achtzig Tonnen Stahl, die mit beinahe vierzig Stundenkilometern heranrauschten. Geröll jaulte hinter ihm in einem gigantischen, dreckigen, scheppernden Kielwasser davon, Tonnen losen Gerölls, das aufgewirbelt und in einem Fächer davongeschleudert wurde. »Rein mit euch! Rein mit euch!«, brüllte Varaine seinen Männern zu. Er drehte sich um. Die dahinpflügende Masse des Destrier quetschte ihn zu Brei. Eine Sekunde später rammte die gewaltige brennende Maschine frontal das zweite Tor. Metall barst. Treibstoffleitungen rissen. Streben brachen. Die Nase des Transporters faltete sich zusammen und zermalmte die Pilotenkanzel. Der Transporter schauderte noch ein letztes Mal und kam zum Stillstand. Dann explodierte die Munitionsladung in seinem Bauch. VIII Rawne wich einen Schritt von der Schießscharte in der Kasematte zurück, als sei er geschlagen worden. Er ließ den Feldstecher von seinen weit aufgerissenen Augen sinken. Er brauchte ihn nicht, um die immense Pilzwolke aus Feuer zu sehen, die sich aus dem Graben in die Höhe schraubte. Sie hatten den Schlag alle gespürt. Er hatte die Steinmauern und Schwellen des Hauses erschüttert. »Ach du heiliger Thron«, flüsterte er. Das feindliche Heer unter ihm gab ein gewaltiges, überschwängliches Brüllen von sich. Es fing an zu regnen. Die Regentropfen
waren Steine und Mikrotrümmer, die aus dem trockenen Himmel fielen. Neben Rawne schüttelte Kolea ungläubig den Kopf. »Wir waren so nah dran«, sagte er. »Feth!«, brüllte Rawne und warf seinen Feldstecher voller Wut vor die Kasemattenwand. »Feth! Feth! Feth!« Er sah Kolea mit wild funkelnden Augen an. »So kann es nicht enden«, sagte Kolea. »Das wird es nicht«, knurrte Rawne. »Das wird es verdammt noch mal nicht. Ich lasse es nicht zu!« Kolea hielt zögerlich inne. »Wir könnten …«, begann er. »Wir kämpfen weiter mit allem, was wir haben«, schnitt Rawne Kolea das Wort ab. »Wir kämpfen mit allem, was wir noch haben, und dann kämpfen wir mit Fäusten und Klingen weiter. Wir töten jeden verdammten Schweinehund von ihnen, den wir töten können, und halten dieses verdammte Haus, bis wir alle tot sind!« Kolea nickte. »Das ist im Wesentlichen das, was ich auch sagen wollte«, erwiderte er. »Sorg dafür, dass es die Runde macht, Gol«, sagte Rawne, indem er sein Lasergewehr nahm. »Dass es verdammt noch mal alle hören. Sorg dafür, dass es jeder versteht. Kein Pardon, kein Rückzug, keine Kapitulation.« Ein letzter Kampf. Das hatte Corbec zu ihm gesagt. Ein letzter Kampf. Kolea nickte wieder. »Und schick Daurs Kompanie zu den Überresten des zweiten Tors«, fügte Rawne hinzu. »Wenn das aufgesprengt worden ist, kommen die Schweine dadurch ins Haus, bevor wir es wissen.« Kolea wandte sich zum Gehen. Ringsumher knatterten Schüsse durch das Haus und rannten Trupps auf ihre Positionen. Männer brüllten. Manche ächzten in lauter Bestürzung, da sie gerade ihre letzte Hoffnung in einem Feuerball hatten aufgehen sehen. »Was ist mit …«, sagte Kolea. »Was ist womit?«, fragte Rawne. »Mit den Männern, die noch draußen sind. Meryns Kompanie?« Rawne sah weg. »Der Imperator beschützt«, sagte er. IX
Einen bestürzenden Moment lang konnte er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Seine Lunge war voll Rauch, sein Mund voller Staub. Er erwachte mit einem heftigen Ruck und hustete Blut und staubigen grauen Schleim. Geräusche stürmten auf ihn ein, als das Klingeln in seinen Ohren nachließ. Aus der Nähe kam das Geräusch knisternder Flammen und das Geschrei Verwundeter. Aus weiterer Ferne kam das anschwellende Tosen eines animalischen Heulens. Dalin stand auf. Das Nordende des Grabens war ein Krater und mit brennenden Trümmerfetzen und Maschinenteilen übersät. Vom Tor war keine Spur mehr zu sehen. Die Explosion des Destrier hatte eine gigantische Narbe in den Boden gesprengt und das entblößte Gestein pechschwarz gefärbt. Dichter Rauch quoll aus dem Herzen des Explosionsherds und bildete eine Kilometer hohe Säule. Dalin hustete, da sich ihm ob des Gestanks nach Fyzelendämpfen und verbrannten Treibmitteln die Kehle zuschnürte. Der Todesrutsch des Transporters hatte eine tiefe Furche über und durch den Graben gezogen. Abgerissene Rumpfteile und Verkleidungen sprenkelten die Furche zusammen mit verstümmelten Leichen. Der Transporter hatte mehr als ein Dutzend Männer aus Meryns Kompanie getötet. Viele Dutzend mehr waren durch die Explosion getötet oder verwundet worden. Jene Geister, die wie Dalin das Glück gehabt hatten zu überleben, kamen langsam auf die Beine, stolperten benommen umher, riefen andere oder versuchten, Verwundete zu verbinden. Glück. Das schien im Grunde nicht das richtige Wort zu sein. Dalin hob sein Gewehr auf und kletterte mühsam bis zur Kuppe des Geröllhangs empor. Er konnte die feindliche Streitmacht durch den Rauch sehen. Trotz des massiven Beschusses, der dem Heer des Blutpakts aus den Schanzen des Hauses entgegenschlug, stürmte es immer noch dem Graben entgegen. Die Krieger waren bei der Explosion ins Stocken geraten, doch nun kamen sie wieder in Gang und strömten brüllend vorwärts. »Steht auf! Hoch mit euch!«, schrie Dalin die verwirrten Soldaten rings um sich an. »Kommt hoch und geht in Stellung! Sie sind gleich da! Sie sind verdammt noch mal gleich da!« Ein paar Männer stolperten vorwärts, ließen sich auf der Kuppe auf den Bauch fallen und legten das Gewehr an.
»Los, vorwärts! Bewegt euch!«, brüllte Dalin. »Bildet eine Linie! Bildet eine verdammte Linie!« Die ersten Schüsse aus der anstürmenden Masse pfiffen über sie hinweg. Die Reste der E-Kompanie antworteten mit Einzelschüssen. »Etwas mehr Ernst!«, brüllte Dalin. »Ihr Männer! Kommt hier rauf! Sucht euch einen Platz! Bewegt eure Ärsche!« »Ihr habt ihn gehört!«, rief Caober, der vom Südende durch den Graben gelaufen kam. Er schob Männer die Böschung empor und trat einigen in den Hintern. »Bildet eine Linie oder sterbt! Bewegt euch!« Dalins und Caobers Blicke begegneten sich. Sie starrten einander noch eine Sekunde an. Es war keine Zeit – und hatte keinen Sinn –, taktische Optionen durchzusprechen. Sie wussten beide, dass ihnen nur noch eines blieb. »Auf die Kuppe!«, brüllte Caober die verwirrten Männer an, die sich jetzt mühten, ihm zu gehorchen. »Auf die Kuppe! Feuererlaubnis!« Dalin suchte bei einigen daliegenden Geistern nach Lebenszeichen. Es gelang ihm, Luhan aufzuwecken, den eine Kopfverletzung vorübergehend ausgeschaltet hatte. »Geh auf die Kuppe«, drängte ihn Dalin. »Stell keine Fragen, schieß einfach.« Dalin sah Meryn, der unten im Graben auf dem Bauch lag, wo die Explosion ihn hingeschleudert hatte. Er sprang nach unten und schüttelte Meryn grob. »Aufstehen! Aufstehen!« Meryn rührte sich und starrte Dalin mit leerem Blick an. »Stehen Sie auf, Herr Hauptmann! Sie fallen jeden Moment über uns her!« Meryn blinzelte. »Autsch«, sagte er. Dalin sah seine Verletzung. Ein Metallstab von einem halben Meter Länge, ein Stück von einer der vielen Kom-Antennen des Destrier, hatte Meryns linken Oberschenkel durchbohrt. »Ach, Feth«, flüsterte Meryn, als er nach unten schaute und die Wunde sah. »Ich suche einen Sanitäter«, sagte Dalin. »Vergiss es. Hilf mir nur auf. Hilf mir, nach da oben zu kommen.«
Dalin zog Meryn auf die Beine. Meryn fluchte vor Schmerzen. Dalin zog ihn die Böschung hinauf und rutschte dabei auf dem losen Geröll ständig hin und her. Sie erreichten die Kuppe. Massiertes Feuer des anstürmenden Feindes schlug ihnen entgegen und flog über sie hinweg oder fegte Steine auf der Kuppe beiseite. »Dafür hast du mich geweckt?«, ächzte Meryn. Sie fingen beide an zu schießen. Entlang der Kuppe feuerte der Rest der E-Kompanie, was ihre Munition noch hergab. Der Feind war eine wogende Wand aus Staub mit anstürmenden roten Gestalten darin. Banner und Standarten flatterten wie Treibgut auf dem Kamm eines Brechers. Waffen blitzten und krachten. Der Blutpakt heulte einen Siegeschor, als er sich dem Graben näherte, obwohl ständig maskierte Krieger zuckten und sich verdrehten, wenn sie von den Schüssen der E-Kompanie getroffen wurden. Sie fielen und wurden niedergetrampelt, ihre Leichen im wirbelnden Staub zurückgelassen. »Dauerfeuer«, sagte Meryn. »Dauerfeuer!«, brüllte Dalin der Kompanie zu. »Ehrliches Silber«, sagte Meryn. »Ehrliches Silber!«, rief Dalin aus Leibeskräften. Meryn zielte. »Zeit, wie Männer zu sterben«, sagte er. X »Haben Sie das gesehen?«, übertönte Hark das Heulen der Triebwerke der Valkyrie. »Haben Sie das gesehen?« »Bleiben Sie bitte sitzen!«, rief der Frachtoffizier zurück. Hark fummelte an seinen Gurten herum. Der Transporter legte sich auf seinem Steigflug in eine enge Kurve und bebte heftig, während seine Turbinen kreischten. Wind fegte durch die offenen Seitenluken herein. Der Boden unter ihnen erstrahlte in weißem Glanz. Twenzet und die anderen angeschnallten Soldaten sahen sich beunruhigt um. »Dieser Blitz!«, rief Hark. »Das war eine Explosion! Das war der verdammte Transporter!« »Gehen Sie auf Ihren Sitz zurück!«, blaffte der Frachtoffizier.
»Hark! Hören Sie auf damit!«, rief Criid. Sie saß auf dem Sitz neben Hark und mühte sich, seine Hände vom Gurtschloss fernzuhalten. »Hören Sie um Feths willen auf damit!« »Setzen Sie sich, Hark!«, rief Berenson von seinem Platz. »Das war der verdammte Transporter!«, brüllte Hark zurück. »Sie haben ihn erwischt! Die Schweine haben den verdammten Transporter erwischt!« Criid umschloss Harks Kinn mit der Hand und knallte seinen Kopf gegen die Sitzlehne. »Setzen Sie sich! Sie können nichts tun!« Der Frachtoffizier öffnete seinen Gurt und stand auf. Er hielt sich an einem Geländer an der Decke fest und schaute nach vorn. Sie konnten alle das Stakkato-Geschnatter des Piloten im Kom hören. Die Valkyrie drehte sich langsam, bis sie waagerecht lag, obwohl sie in den Turbulenzen immer noch bockte und sich schüttelte. Eine Alarmsirene ertönte, und an der Decke fing ein rotes Licht an zu blinken. »Was ist los?«, fragte Swaythe. »Was ist das, verdammt?«, wollte Twenzet wissen. Der Frachtoffizier drehte sich um. Criid sah Furcht in den Augen hinter dem großen getönten Visier. »Wir …«, begann er. Es gab einen lauten, betäubenden Schlag. Die Valkyrie ruckte und fiel abrupt. Ein Teil des Laderaumbodens wölbte sich nach innen, und Funken stoben. Das Jaulen der Alarmsirene wurde schriller. »Festhalten!«, rief der Frachtoffizier. Eine zweite Explosion erschütterte den Transporter, ein heftiger Krach, der sie einen Moment lang blendete. Heiße Metallsplitter fegten durch den Laderaum. Ein Klumpen durchschlug sauber die Brust des Frachtoffiziers. Er ließ das Geländer los und fiel durch die Luke. Sein schlaffer Körper wurde sofort vom heftigen Fahrtwind erfasst und weggerissen. Rauch erfüllte den Laderaum und fegte durch die Luken nach draußen. Jemand schrie. Der Alarm kreischte. Die Valkyrie fing an zu vibrieren. Die Triebwerke gaben ein furchtbares, überlastet klingendes Geräusch von sich. Die Nase
kippte nach unten, und die Valkyrie ging in einen steilen Sturzflug über, einen Sturzflug, den sie nie mehr abfangen würde.
NEUNZEHN DER DODENWEG
- Persönliche Korrespondenz, 1. Tanith, fünfter Monat, 778 I Nördlich der Banzie Altids und des Felsenvorhangs, der Hinzerhaus einhüllte, erstreckte sich das Ödland eine Million Quadratkilometer weit. Das Ödland war eine konturlose Brache, ein Mosaik aus unfruchtbarem Gelände: Staubzonen, windige Ebenen voller Geröll und Felstrümmer, ausgedörrte Salzlecken und glitzernde Becken aus sandbestrahltem Kalkspat, der knochenweiß in der Sonne leuchtete. In freiem Gelände hatte der Staub große Meere voller krauser, grauer Dünen gebildet, aus denen alle paar Kilometer zerklüftete Klippen ragten und einsame Auswüchse und Tafelberge bildeten, die von einem Gewirr aus steinernen Inseln umgeben waren.
Es war eine Gegend, in der man sich verirren konnte. Trotz der Wanderschaft der Sonne und der Ausrichtung des Landes schien es keine zuverlässigen Richtungen zu geben. Es war die Landschaft einer ausgedörrten Hölle, die vom beständigen, wütenden Wind gepeitscht und durch das harte Licht gebleicht wurde. Mkoll erwachte. Zwei Tage in der Wüste hatten ihn gelehrt, dass die Mittagszeit des Tages ungeeignet war, um sich im Ödland zu bewegen, also hatte er diese Zeitspanne als Ruheperiode ausgewählt und sich im Windschatten eines größeren Felsens zusammengerollt. Der frühe Morgen, der späte Nachmittag und die Nacht waren die besten Marschzeiten. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Mit dem Gewehr im Anschlag sah er sich rasch zwischen den Felsen um, da er befürchtete, von einer vorbeiziehenden Patrouille oder einem Spähtrupp entdeckt worden zu sein. In der Klippe war nichts zu sehen, keine Spur von Aktivität auszumachen. Die Dünen jenseits des Felsens waren leer. Er blickte nach Süden. Trotz des Staubdunstes konnte Mkoll die sägezahnartigen Schanzen der Banzie Altids ein Dutzend Kilometer hinter sich sehen. Eine dunkle Rauchwolke stieg aus den Bergen auf, die Folgeerscheinung irgendeiner katastrophalen Explosion. Mkoll wandte sich ab. Er trank einen Schluck Wasser, aß einen halben Proviantriegel und versuchte nicht zu überlegen, was den Rauch wohl erzeugt haben mochte. Er hatte gelernt, konzentriert zu bleiben. Die Entscheidungen, die er getroffen hatte, der Weg, den er eingeschlagen hatte – es war nicht leicht, sich damit abzufinden. Mkoll war ein Mann von unendlicher und ehrlicher Loyalität. Er wusste, in dem Augenblick, wo er anfing, an die Kameraden zu denken, die er zurückgelassen hatte, würde er umkehren und den langen Rückweg zu ihnen in Angriff nehmen. Also sperrte er sich gegen alle derartigen Überlegungen. Das war nicht allzu schwer. Hier draußen im Ödland floss jeder Fetzen Aufmerksamkeit in das Überleben. Man musste jeden Schritt sorgfältig setzen, um Sandfallen und Staublöcher zu vermeiden. An manchen Stellen war die Oberfläche so weich und pudrig, dass der Staub einen binnen Sekunden verschlingen konnte. Man musste die losen Felsen in den Geröllfeldern richtig lesen, um sich nicht den Knöchel zu verdrehen oder zu brechen.
Man musste auf den Wind achten und die Zeichen richtig deuten, um Deckung suchen zu können, bevor er auffrischte und einen wie ein welkes Blatt mitriss oder einem mit einem Staubsturm das Fleisch von den Knochen schmirgelte. Man musste seinen Wasserverbrauch einteilen und darauf achten, der harten Sonne so wenig wie möglich ausgesetzt zu sein. Jeder wache Moment war mit überlegter, berechnender Aktivität ausgefüllt. Es gab auch lebende Gefahren. Der Blutpakt war hier draußen im Ödland in Massen unterwegs. Mkoll ging in Deckung, wenn das Tuckern motorisierter Patrouillen in der Ferne zu hören war. Zwei Mal hatte er sich auf dem Gipfel eines Tafelbergs versteckt und zugesehen, wie eine gemischte Einheit aus Infanterie und Panzer vorbeigerollt war. Der Blutpakt marschierte in beträchtlicher Zahl südwärts. Es würde nicht lange dauern, bis Hinzerhaus mit dem nächsten Angriff auf seine Nordschanzen konfrontiert würde. Mkoll prüfte seine Ausrüstung, zog die Schutzhülle über sein Lasergewehr und machte sich zum Weitermarsch bereit. Er hätte sich lieber noch ein, zwei Stunden ausgeruht, aber am Osthorizont war ein schwacher Schmier zu sehen, ein Fleck, der sich wie Hitzeflimmern kräuselte. Das war der nächste Staubsturm, der im tiefen Herzen des Ödlands entstand. Mkoll schätzte, dass ihm etwa neunzig Minuten blieben, bis er ihn erreicht haben würde, und in neunzig Minuten konnte er den nächsten einsamen Tafelberg erreichen, der im Nordwesten gerade noch zu sehen war. Er setzte sich in Marsch und suchte sich vorsichtig einen Weg durch die losen weißen Felsen am Fuß der Klippe. Seine Stiefel wirbelten Staub auf, als er das Felsengebiet verließ und sich an die Durchquerung der Staubwüste machte. Ein leichter Wind wehte, und kleine Staubwirbel tanzten über die welligen Dünen. Er schaute hinter sich und sah, dass die Abdrücke, die er im Sand hinterließ, sich bereits füllten und verschwanden. Das erinnerte ihn unangenehm daran, dass es noch etwas anderes gab, worüber er nicht nachzudenken versuchte.
II Er hatte sich verschätzt. Nur um ein paar Minuten, aber das reichte, um sein Schicksal zu besiegeln. Der Staubsturm, das dunkle Band einer rasenden Wolke, holte ihn ein, als er noch einen guten halben Kilometer vom Tafelberg entfernt war. Die ersten Böen zerrten an ihm und ließen ihn schwanken. Die Kraft des Windes war gewaltig. Er fing an zu laufen, aber der Wind blies ihn ein paarmal um und wälzte ihn über die Dünen. Als der Sturm heftiger wurde, versuchte er auf Händen und Knien weiterzukriechen. Der Wind zerrte an seiner Kleidung. Die Staubpartikel fanden seine bloße Haut und schmirgelten sie, bis sie zu bluten anfing. Das Licht erlosch, als die brodelnde Staubmasse, zwei Kilometer hoch, die Sonne auslöschte. Er konnte den Tafelberg nicht mehr erreichen. Er konnte den Tafelberg nicht einmal mehr sehen. Er konnte kaum noch atmen, so viel Staub war in Mund und Nasenlöchern. Er verstopfte seine Ohren, bis er nur noch ein dumpfes Ächzen hörte. Mkoll krallte sich weiter auf die Leeseite einer großen Düne und grub mit den Händen eine Senke, in die er sich ziehen und wo er sich zusammenrollen konnte. Mit seinem Körpergewicht nagelte er seinen Tarnumhang in der Vertiefung fest und zog dann die lose flatternde Seite herum, um sich darin einzuhüllen wie in einen Kokon. Das hielt den Staub ab und bildete ein kleines, luftloses Zelt wie eine Gebärmutter, wo er nur noch das Heulen des Sturms und das hektische Keuchen seines eigenen Atems hören konnte. Dort eingesperrt, blind und halb vergraben, begann er über die Dinge nachzudenken, die er zuvor aus seinen Gedanken verbannt hatte. Da war eine Sache, die ihm keine Ruhe ließ. Oan Mkoll, Meister der Späher, war der beste Spurenleser im Regiment. Seine Fähigkeiten, was Spuren und Fährten betraf, waren legendär. Niemand konnte einer Spur besser folgen als Mkoll, und niemand hatte einen ausgeprägteren natürlichen Orientierungssinn. Seine Fähigkeiten auf diesen Gebieten, die meisten davon selbst beigebrachte Techniken, kamen vielen seiner Kameraden beinahe übernatürlich vor. Mkoll hatte keine Ahnung, wie er dem Nachgahner auf der Spur blieb. Er wusste, dass es so war, und er hatte den starken Ein-
druck, dass er ihm langsam näher kam, aber er hatte keine Ahnung, wie das möglich war. Das erschreckte ihn. Jago war der Albtraum jedes Spurenlesers. Die Kombination aus Staub und Wind löschte alle Spuren aus. Sie ließ keine Fußabdrücke zu, keine Fährte, und es gab kein Unterholz, in dem etwas zurückbleiben konnte. Geruch war manchmal ein nützliches Hilfsmittel, aber auf Jago zerstob der Wind auch den. Mkoll wusste nicht, wem oder was genau er eigentlich folgte. Er wusste nur, irgendwie, wusste es so sicher, wie er die Nacht vom Tag unterscheiden konnte, dass seine Richtung stimmte. Es war, als gebe es eine Straße, eine klar definierte Route extra für ihn, der er folgen konnte. Es war, als führe ihn jemand oder etwas. In den zwei Tagen seit seinem Aufbruch hatte er dies nicht einen Moment infrage gestellt, weil er nicht darüber nachdenken wollte. Er war die nördliche Festungsklippe herabgeklettert und hatte sich auf den Weg gemacht ohne einen Moment des Nachdenkens, wohin Eszrah wohl gegangen sein mochte. Gefangen auf der Leeseite der Düne, während der Sand ihn langsam begrub, hatte er keine andere Wahl, als darüber nachzudenken. Der Gedanke, dass ihn etwas Unsichtbares leiten mochte, ängstigte Mkoll mehr als die Aussicht auf seinen Erstickungstod. III Der Sturm legte sich nach einer Stunde, und zwar so schnell, wie er aufgezogen war. Das Licht kehrte zurück, während sich der Staub setzte und der graue Film langsam aus der Luft sickerte. Was blieb, war eine Landschaft aus neu gestalteten, umgeformten Dünen und einer schmerzhaften, öden Stille. Ein Loch bildete sich im Hang einer Düne, als weicher Staub in eine Höhlung rieselte wie Sand in ein Stundenglas. Das Loch wurde breiter. Eine Hand tastete sich hinaus in die trockene Luft. Mkoll erhob sich aus seinem flachen Grab, und der Staub floss von ihm ab und dampfte in der Brise wie Rauch davon. Er schüt-
telte sich die klebrigen Partikel aus Drillich und Manschetten und schlug seinen Umhang aus. Es dauerte ein paar Minuten, die Messingbrille zu reinigen und sich Mund und Nase auszuwaschen. Seine Kehle war trocken. Seine Nasenhöhlen fühlten sich zusammengepresst an. Seine Sicht war verschwommen, als sei die Hornhaut abgeschmirgelt worden. Er setzte sich und leerte seine Stiefel aus. Der Tafelberg, den er angesteuert hatte, ein krummer, abgeplatteter Fels, der von Steininseln umgeben war, schien lächerlich nah. Mkoll verschnürte seine Stiefel wieder und war dankbar für seine Entscheidung, das Gewehr in der Hülle verstaut zu haben. Er schaute wieder nach Süden. Die Rauchwolke war zwar kleiner, aber immer noch deutlich zu sehen. Er hörte ein Plopp. Er fuhr herum und hörte zwei weitere. Plopp plopp, nur kleine Geräusche, die der Wind mitbrachte. Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Tafelberg. Mehr Ploppgeräusche erreichten ihn. Sie kamen von der anderen Seite der Erhebung. Er wurde langsamer und packte sein Gewehr aus. Er witterte. Motorenöl, warmes Metall, ungewaschene Leiber. Mkoll stopfte die Hülle in seinen Rucksack und lief geduckt in das Geröllfeld. Er bewegte sich von Fels zu Fels, hielt sich tief dabei und lauschte und witterte. Plopp. Plopp plopp. Plopp. Plopp plopp plopp. Gewehrschüsse, vom Wind ausgehöhlt. Er überprüfte sein Magazin und entsicherte die Waffe. Es dauerte fünf vorsichtige Minuten, bis er den Tafelberg umrundet hatte und auf der Nordseite angekommen war. Die Sonne stand nicht mehr hoch über ihm, und es gab Schatten, mit denen er arbeiten konnte, harte Schatten, die von der Klippe und den Felsen geworfen wurden. Er duckte sich beim ersten Anzeichen von Bewegung, den Rücken einem großen Felsen zugewandt. Er zückte seinen Stabspiegel und brachte ihn in die richtige Stellung, um einen Blick zu werfen, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass keine Sonnenstrahlen auf den Spiegel fielen. Er sah einen Blutpaktkrieger durch die Felsen klettern, ein Gewehr in der Hand. Der Soldat keuchte und schwitzte so stark, dass seine fleckige Jacke dunkle Halbmonde unter den Achseln
aufwies. Mkoll konnte ihn riechen, so nah war er. Er konnte seinen ranzigen Schweiß riechen und den schalen Blutdreck, mit dem der Krieger seine Jacke gefärbt hatte. Wie viele waren es? Er hielt weiter Ausschau. Der Krieger blieb stehen und rief etwas. Ein Ruf antwortete ihm. Der Krieger hob sein Gewehr und gab zwei Schüsse auf die überhängende Klippe ab. Mkoll zog sein Kampfmesser. Der Blutpaktkrieger kletterte auf einen großen Felsen und schaute sich um. Vier seiner Kameraden arbeiteten sich in breit gefächerter Linie unter ihm den Geröllhang empor. Hinter ihnen, draußen in den Dünen, stand ein verrostetes Halbkettenfahrzeug mit laufendem Motor. Eine Patrouille auf Routine-Streife. »Voi shett! K’heg ar rath gfo!«, rief der Krieger auf dem Felsen. Drei weitere Krieger sprangen von dem Halbkettenfahrzeug, einer von ihnen ein Offizier mit einer vergoldeten Gesichtsmaske. »Borr ko’dah, voi!«, brüllte der Offizier und schwenkte dabei seine Pistole. Das Trio lief zu den Felsen und folgte den anderen Soldaten auf die Hänge unter der Klippe. Ein Soldat blieb mit dem Fahrer an Bord des Halbkettenfahrzeugs hinter einer Autokanone zurück. Der Krieger in Mkolls Nähe sprang vom Felsen und hielt nach einem leichten Weg nach oben durch das Geröll Ausschau. Eine Hand legte sich von hinten um seine Kehle, und eine Klinge glitt unter seinem Schulterblatt hindurch in sein Herz. Er starb ohne einen Laut. Mkoll ließ den Leichnam lautlos zu Boden gleiten. Er wischte die Klinge an der Jacke des Kriegers ab und nahm die Reservemagazine im Koppel des Kriegers. Er hörte den Offizier von unten brüllen. Mkoll flitzte geduckt durch die Felsen. Er hörte das Knirschen von Stiefeln in der Nähe und erstarrte. Ein anderer Krieger kletterte an ihm vorbei, nur ein paar Meter entfernt, und rief etwas. Mkoll schlich vorwärts und erledigte den Krieger so rasch und klinisch wie den anderen zuvor. Ein Lasergewehr fing an zu schießen, und Mkoll warf sich zu Boden, da er befürchtete, entdeckt worden zu sein. Aber die Schüsse jagten die Klippe empor und stanzten Staubwolken über das nackte Gestein.
Ein Schmerzensschrei ertönte, und das Feuer wurde abrupt eingestellt. Mkoll lugte hervor und versuchte auszumachen, was los war. Der Trupp Blutpaktkrieger lief jetzt angetrieben von dem Offizier schneller durch die Felsen, und alle hatten angefangen, auf die Klippe zu schießen. Mkoll steckte sein Messer weg. Für Raffinesse war keine Zeit mehr. Er legte das Gewehr auf einen schrägen Felsen und zielte. Ein Blutpaktsoldat kam in Sicht, der von Felsen zu Felsen sprang. Er erhob sich, um zu schießen, und Mkoll erledigte ihn mit dem ersten Schuss. Der Soldat kippte rückwärts vom Felsen. Verwirrung überkam den feindlichen Trupp. Alle hatten den Schuss gehört und den Kamerad fallen gesehen. Sie schrien einander an und feuerten wahllos. Mkoll drehte sich von seiner Schussposition weg, kletterte nach unten in die Lücke zwischen zwei größeren Steinblöcken und legte wieder an. Er bekam einen der verbliebenen Feindsoldaten anständig ins Visier, aber der Mann tauchte in dem Augenblick außer Sicht, als Mkoll feuerte, und der Schuss ging daneben. Plötzlich trafen Laserstrahlen Mkolls Deckung und nagelten ihn darin fest. Sie nahmen ihn von zwei Seiten aufs Korn. Er glitt nach unten in den Schatten und fing an zu kriechen. Schüsse trafen die Felsen über ihm und prallten ab. Ein abgelenkter Laserstrahl zischte an seinem Gesicht vorbei. Mkoll schaltete sein Interkom ein und drehte am Frequenzregler. Er brauchte ungefähr dreißig Sekunden, um die Frequenz des Blutpakts zu finden. Das heisere Gebell des Offiziers erfüllte seine Ohren. Er übersetzte langsam. Mittlerweile beherrschte er die Sprache des Erzfeinds nicht mehr so fließend wie in der Zeit seines langen Aufenthalts auf Gereon. Etwas wie »… mehr als ein Flüchtling. Findet sie beide oder ich …« Irgendeine lebhafte Drohung folgte, auf deren Übersetzung Mkoll mit Freuden verzichtete, da sie Grabenäxte und Finger beinhaltete. »Voi shett d’kha jehlna, dooktath!«, sendete Mkoll und erhob sich. Der Offizier und die drei anderen Soldaten schauten alle in die andere Richtung. Nicht weiter überraschend, wenn man berücksichtigte, dass ihnen gerade jemand gesagt hatte: »Passt auf,
jemand ist hinter euch, ihr ignoranten Rekta!« – wenn auch sehr viel umgangssprachlicher formuliert. Mkoll schoss dem Offizier in den Hinterkopf, zielte neu und tötete auch noch einen der Soldaten, bevor der Offizier auf dem Boden lag. Die anderen beiden fuhren herum und eröffneten das Feuer. Einer fiel rätselhafterweise von ganz allein, als sei er ausgerutscht. Mkoll erledigte den letzten mit einer Salve. Die Autokanone eröffnete das Feuer auf die Felsen. Der Motor des Halbkettenfahrzeugs drehte hoch, und schwarze Abgase quollen aus den Auspuffrohren, als habe es der Fahrer eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Mkoll zielte. Die Entfernung war nicht gut, aber er hielt nichts von halben Sachen. Er drückte ab, hielt den Finger am Abzug und gab so rasch hintereinander ein halbes Dutzend Schüsse auf das Halbkettenfahrzeug ab. Die ersten trafen die Karosserie und verbogen die kleine Panzerplatte rings um das Gehäuse der Kanone. Der fünfte oder sechste Schuss traf den Kanonier in den Kopf und schleuderte ihn aus dem Vehikel. Das Halbkettenfahrzeug ruckte an, und seine Ketten wirbelten reichlich Staub auf, als es wendete. Mkoll erhob sich und beharkte die Fahrertür und die Windschutzscheibe mit Schüssen. Das Vehikel ruckte vorwärts und schlingerte ein Stück weit, bevor es anhielt. Der Motor heulte laut auf, als laste totes Gewicht auf dem Gas. Dann soff der Motor mit ungesundem Scheppern ab. Stille. Mkoll ging durch die Felsen, sah nach den Leichen des Blutpakts und nahm ihnen die Munition ab. Er fand einen, den er nicht getötet hatte, obwohl die Art seines Todes ziemlich offensichtlich war. Mkoll blieb stehen. Langsam hob er die Hände. Er wusste instinktiv, dass jemand mit einer Waffe auf seinen Rücken zielte. »Eszrah?«, flüsterte er. »Wat makst du hier, Spuk?«, fragte die Stimme hinter ihm. IV Mkoll drehte sich langsam um. Eszrah ut Nach stand mit seinem Regenbagen im Anschlag hinter ihm.
Der Nachgahner hatte die Farbe Jagos angenommen. Seine Kleidung und das Wode auf seinem Gesicht hatten das blasse Grau des schlimmen Steinbrockens irgendwie absorbiert. Eszrah hatte irgendeine Tarntechnik angewandt, die zu lernen Mkoll Geld bezahlt hätte. »Ich bin’s«, sagte Mkoll. »Ich grüß di.« Eszrah nickte. »Ick grüß di, Spuk«, antwortete er. Sein Regenbagen blieb auf Mkoll gerichtet. »Du hast mich schon immer so genannt«, sagte Mkoll. »Ich verstehe deine Sprache nicht so gut wie Ven. Was heißt das?« »Geist«, erwiderte Eszrah. Mkoll lächelte. »Du brauchst das nicht auf mich zu richten, Seele«, sagte er. »Du büst komen, Eszrah trüch to bringen«, erwiderte Eszrah, ohne die Waffe zu bewegen. »Nein«, sagte Mkoll. »Spuk komen, Eszrah to hool’n op Rawne sien Woord.« »Für Rawne? Du glaubst, er hat mir befohlen zu kommen und dich zu holen?« Mkoll schüttelte den Kopf. »Nein, Seele, nein, nein. Ich bin nicht deswegen hier.« »Nee?«, wiederholte Eszrah. »Nee, seggst du?« »Ich bin wegen dem Schwert hier«, sagte Mkoll, indem er bedächtig auf die Waffe zeigte, die sich der Partisan auf den Rücken geschnallt hatte. »Es stand dir nicht zu, es zu nehmen, mein Freund. Es gehört dem Regiment.« Eszrah ließ den Regenbagen langsam sinken. »Et is Eszrahs.« »Nein, ist es nicht.« »Et is Eszrahs«, beharrte der Nachgahner. »Seele Gaunt is doot. Also goh ick den Dodenweg, Blottoll to maken.« »Blutzoll? Du meinst Vergeltung?« Eszrah zuckte die Achseln. »Ick kenn dien Woord nich, Seele.« »Rache? Heimzahlung? Abrechnung? Genugtuung? Du willst Leben nehmen für Gaunts Leben?« »Leven för Gaunt sein Leven, also Blottoll«, nickte Eszrah. Eine längere Stille trat ein, die nur durch das klagende Lied des Wüstenwinds gestört wurde. Mkoll empfand einen jähen, unermesslichen Kummer: wegen des Partisanen, wegen Gaunt, seinetwegen. So würde alles enden, und was für ein armseliges, blutiges Ende es war. Loyalität und Ergebenheit, Pflichterfüllung
und Liebe, alles gedehnt und verformt, bis sie unkenntlich und besudelt waren. »Du glaubst, du hast ihn im Stich gelassen, nicht wahr?«, fragte Mkoll leise. »Du seggst wohr, Seele Spuk.« Mkoll nickte. »Ich weiß. So empfinde ich auch. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte da sein müssen und …« Seine Stimme verlor sich. »Feth!«, sagte er. »Thron, wie er uns auslachen würde!« Eszrah runzelte die Stirn. »Gaunt wöörde lachen?« »Ja, über uns! Zwei Idioten mitten im Nirgendwo, die beide denken, dass sie das Richtige tun! Es kümmert ihn nicht! Jetzt nicht mehr! Er ist tot, und wir haben uns zum Narren gemacht!« Eszrahs Stirn war immer noch gerunzelt. »Der Dodenweg is de lesde Weg.« »Welcher Weg? Was ist der Dodenweg?« Eszrah dachte einen Moment nach und suchte die richtigen Worte. »Leichen. Tote«, sagte er. »Und wohin führt er?«, fragte Mkoll. Eszrah zeigte auf das Dünenmeer vor ihnen. »Nach da?«, fragte Mkoll, indem er sich umschaute. »Ewig?« Der Partisan schüttelte den Kopf. »Is nich mihr wiet, Seele Spuk. Blottoll tobet.« Mkoll sah Eszrah an. »Lässt du mich das Schwert zurückbringen? Lässt du mich Gaunts Schwert zum Haus zurückbringen? « Der Nachgahner schüttelte den Kopf. »Et muss …«, begann er, da er wieder mit den Worten rang. »… et muss sein Schwert sein. Seine Waffe. Für den Blottoll.« Mkoll seufzte. Er hatte nicht den Wunsch, gegen Eszrah ut Nach zu kämpfen. Er war nicht völlig sicher, dass er den Kampf gewinnen würde. »Also schön. Lässt du mich dann den Dodenweg mit dir gehen? Lässt du mich dir helfen, den Blutzoll zu machen?« Eszrah nickte. »Gut.« Seite an Seite kletterten sie durch die Felsen nach unten auf den Wüstenboden. »Wie viele müssen wir töten?«, fragte Mkoll. »Um den Blutzoll zu machen, meine ich?« Eszrah grinste. »Alle, Seele«, sagte er.
ZWANZIG DIE VERLORENEN
- Feldtagebuch, N. L. für V. H. fünfter Monat, 778
I Während der dreizehnte Tag dem Ende zuging, stürzten sie sich ins Feuer ohne jede Hoffnung oder Erwartung, einen weiteren Sonnenaufgang zu überleben. Der Himmel war dunkel vom Rauch. Sogar in den Tiefen des Hauses gab es kein Entkommen vom beständigen Waffendonner und Stimmengeheul. Der Erzfeind war mit einer über zehntausend Mann starken Streitmacht über Hinzerhaus gekommen. In einer schmutzig roten Masse, die aussah wie ein riesiger alter Blutfleck, schwärmten sie aus Klippen und Pass in die Staubschüssel, um das Haupttor und die südlichen Befestigungen zu bestürmen. Sie brachten viele hundert leichte Feldgeschütze und Mörser mit und bombardierten die bröckelnden Betonbollwerke mit Granaten und Raketen. Eine große Angriffsstreitmacht unter Führung von Kriegern mit langen Stabflammenwerfern ging gegen das Haupttor vor. Hakenleitern und ausfahrende Kletterstangen krachten gegen die unteren Schanzwerke, und die Angreifer begannen mit dem Erklimmen der Mauern. Einige, die stachelige Streitkolben in beiden Händen und Kletterhaken an den Füßen trugen, kamen auch ohne Leitern die Wände hoch und hackten und krallten sich wie menschliche Spinnen in die Mauern. Die Trommeln und Hörner im Heer machten einen Lärm, der durch den Pass hallte. Für die Geister gab es keinen Mangel an Zielen. Die Männer und Frauen des Ersten Tanith schossen aus Kasematten, Ausgucken und Schanzen und töteten Hunderte, doch der Blutpakt ließ sich nicht beirren. Eidverschworene Krieger von Archon Gaur, die Elite-Sturmtruppen des Erzfeinds, waren zu sehr in ihre Blutgier versunken, um sich noch um einzelne Leben zu kümmern. Ihre Sirdar-Kommandeure hatten sie zu Berserkerwut angestachelt, bis sie einen fiebrigen Zustand fanatischer Ergebenheit und wilder Häme erreicht hatten. Gol Kolea hatte vollkommen recht gehabt – der Blutpakt beabsichtigte, die imperialen Truppen für ihren Trotz büßen zu lassen. Einige der Angreifer hatten ihren Helm und die groteske Maske weggeworfen, um die rituellen Narben in Gesicht und Kopfhaut zu enthüllen. Sie wollten, dass die Zeichen ihrer Hingabe für den Archon für ihre Opfer vollkommen offensichtlich waren.
»Genau, du verrückter Wichser«, murmelte Larkin, »nimm ruhig deinen glänzenden Helm ab. Das macht es mir leichter.« Rechts und links neben ihm im Ausguck erreichten auch Banda und Nessa seine Feuergeschwindigkeit. Banda hatte bereits auf ein normales Lasergewehr wechseln müssen. Es gab keine frischen Läufe mehr für die längeren Präzisionsgewehre. Ihre Munitionstaschen waren ebenfalls alarmierend leer. Draußen im Flur hinter den Ausgucken hatten Ventnor und die anderen Munitionsgänger Kochgerätschaften aufgebaut, um den verbrauchten Magazinen neues Leben einzuhauchen. Die Arbeit war riskant, und sie konnten nicht darauf hoffen, rechtzeitig damit fertig zu werden. Kolea hatte einen Großteil der Flammer in den untersten Schanzen stationiert, sodass ihre Waffen, deren Reichweite äußerst begrenzt war, die Erzfeinde braten konnten, welche die Mauer erklommen. In einer Kasematte, wo die Luft so stark mit Prometheumdämpfen geschwängert war, dass einem die Augen brannten, jagte Brostin Flammenstrahlen durch die Schießscharte, während Lyse gerade einen frischen Tank an ihren Werfer koppelte. Brostin wich von der Schießscharte nach innen zurück, als Laserstrahlen in die Umrandung schlugen. »Sie scheinen ziemlich versessen darauf zu sein, Herrn Gelb guten Tag zu sagen«, sagte er. Lyse beantwortete sein Grinsen mit einem dünnen Lächeln. »Was ist denn los?«, fragte Brostin. »Das war der letzte Tank«, erwiderte sie. Vier Etagen höher rannte Kolea durch einen überfüllten, verräucherten Verbindungsgang, um die Abwehrschlacht zu koordinieren. Eine Mörsergranate hatte soeben eine der Kasematten auf sieben zerstört und die fünf Geister darin getötet. Handgranaten hatten eine andere Kasematte erledigt, wenn auch dankbarerweise ohne Verluste für die Geister. Ihre Verteidiger feuerten jetzt aus der Deckung eines geborstenen Betonfundaments. Der Lärm der gegen die Außenmauer prallenden Schüsse klang wie eine Kreissäge beim Zerteilen eines Baumstamms. Sanitäter eilten mit Verwundeten vorbei. Kolea sah Ludd. »Hält das Tor?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Ludd benommen. Kolea sah den betäubten Ausdruck in Ludds Augen. Alle rings um ihn sahen mittlerweile so aus. Es lag am langsam einsickernden LärmTrauma, an der unvermeidlichen Zerrüttung der Nerven und aller Konzentration durch dieses akustische Inferno. »Reißen Sie sich zusammen«, zischte Kolea Ludd zu. »Sie nützen den Männern nichts, wenn Sie nicht richtig beieinander sind.« Ludd blinzelte. »Ja, ja, natürlich.« »Sie wissen, wie Sie sich fühlen?«, fragte Kolea. »Jeder fühlt sich so. Sie müssen ihnen dabei helfen, es zu vergessen, es auszusperren, sonst wird dieses Fiasko sehr viel früher enden, als es enden muss.« Ludd mobilisierte sämtliche Reserven seiner Willenskraft. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr er sich hängen ließ. »Verzeihung, Major.« »Entschuldigen Sie sich nicht«, erwiderte Kolea. »Hat Hark Ihnen denn gar nichts beigebracht? Kommissare entschuldigen sich niemals. Deswegen hassen wir sie so.« Ludd lachte. Es war das letzte Lachen, das Kolea an diesem Tag hören sollte. Ein Teil von Chirias Kompanie wollte durch den Korridor, um die Kasematten zu verstärken. Ludd entfernte sich mit neuer Tatkraft, um ihre Verteilung zu beaufsichtigen. Plötzlich klickte es im Interkom. »Kontakt! Kontakt! In den oberen Galerien!« Also kommen sie auch von der Nordseite, dachte Kolea. Einfach phantastisch. II »Sucht euch ein Ziel aus!«, rief Varl, während er durch einen Glockenschlitz feuerte. »Geht sparsam mit eurer verdammten Munition um, sonst können wir auch gleich die Klappen offen halten und sie zu uns einladen!« Die ersten Gesichtsmasken des Blutpakts waren vor etwa zwei Minuten über dem Klippenrand erschienen. Jetzt schossen alle Glocken und Kasematten entlang oberer Osten sechzehn, Osten fünfzehn und Westen sechzehn auf die Angreifer, die in Massen über den Klippenrand schwärmten.
»Ist fast ein wenig schade«, bemerkte Maggs, während er einen Schuss abgab, der einen Blutpakt-Krieger zwanzig Meter entfernt von der Klippe schleuderte. »Die armen Schweine sind so weit geklettert.« »Mir blutet das Herz«, erwiderte Varl. Er sprang von der Stufe nach unten und brüllte durch den Korridor: »Bleibt wachsam! Gebt ihnen keine Gelegenheit, sich irgendwo einzunisten!« Kamori tauchte an der Spitze von zwanzig Männern im Korridor auf. »Varl! Wo ist Baskevyl?« Varl zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht gesehen, Herr Hauptmann.« »Aber er hat das Kommando über diese Etagen!«, rief Kamori. »Vielleicht hat er ein besseres Angebot bekommen«, spekulierte Varl. Kamori war nicht eben für seinen Humor bekannt. Varl wendete sich rasch ab. »Cant! Mach dich auf die Suche nach Major Baskevyl!« »Wo kann er denn sein?«, fragte Cant, als er von der Feuerstufe sprang. »Wenn ich das wüsste, müsste er nicht gesucht werden, oder?«, erwiderte Varl. Cant lief los. »Und komm erst wieder, wenn du kein Idiot mehr bist!«, rief Varl ihm nach. »Wie sieht’s aus?«, fragte ihn Kamori. »Sonnig, ein paar Wolken«, sagte Varl. Kamoris Augen verengten sich. Varl seufzte. »Ach, kommen Sie, Vigo. Wenn Sie im Angesicht des sicheren Todes keinen Witz machen können, was dann?«, fragte er. »Ihnen ins Angesicht schlagen«, schlug Kamori vor und drängte sich an Varl vorbei zum Laufgang. Er stieg hinauf und schaute nach draußen. Maggs und die anderen Männer in der Glocke feuerten sporadisch, aber das Prasseln der Treffer, die von der Glockenkuppel abprallten, wurde ständig beharrlicher. »Sie sind auf den Klippen direkt unter uns«, sagte Maggs. »Sie können darauf wetten, dass sie in Massen gekommen sind. Zwar kommen immer nur wenige zugleich über die Klippe, aber sie brauchen nur einen glücklichen Zufall.« »Oder einen lausigen Fehler«, erwiderte Kamori. Er sprang vom Gang herunter und schaltete sein Kom ein. »Kommandant? Hier Kamori, von oben. Noch halten wir, aber es wird ständig heißer.«
»Wie sieht Baskevyl die Lage?«, antwortete Rawne. »Wir können ihn tatsächlich im Moment nicht ausfindig machen.« »Wiederholen, Kamori. Einen Moment lang haben Sie sich angehört wie ein verdammter Schwachkopf.« »Ich sagte, wir können Major Baskevyl gegenwärtig nicht ausfindig machen, Kommandant«, stellte Kamori kategorisch fest, während er eine Grimasse in Varls Richtung schnitt. »Nicht gerade das, was ich hören wollte, Kamori«, erwiderte Rawne. »Übernehmen Sie da oben das Kommando, und halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Dann sieht es so aus, als würden Sie jetzt das Brüllen übernehmen«, sagte Varl zu Kamori. Kamori nickte. Er wandte sich an die Männer, die er mitgebracht hatte. »Füllt ein paar Lücken! Los, los, bewegt euch! Sonorote, sorgen Sie dafür, dass jede Glocke auf dieser und der Ebene unter uns einen Lagebericht abgibt. Und beeilen Sie sich, Mann.« Cant tauchte wieder auf. Er schaute missmutig drein. »Ich kann Major Baskevyl nicht finden, Sergeant.« »Ach, kannst du nicht, Cant, oder kannst du doch?«, fragte Varl. »Leck mich doch, Varl!«, schnauzte Cant. »Halten Sie den Mund, Sie beide!«, fauchte Kamori. »Gehen Sie zu irgendeinem Loch und fangen Sie an, nach draußen zu schießen!« Eine kernige Explosion fegte durch den Korridor, als Granaten des Blutpakts eine offene Schießscharte in einer nicht weit entfernten Glocke fanden. »Bewegung!«, brüllte Kamori. »Haltet die Front und lasst sie nicht eindringen!« III »Ludd! Ludd!«, rief Rawne, während er durch den Rauch in unterer Osten sechs schritt. »Ja, Kommandant?« »Major Baskevyl ist von seinem Posten desertiert.« »Wie bitte?« »Sie haben mich verstanden, Ludd!«, schnauzte Rawne.
»Kommandant, ich bin sicher, es gibt eine Erklärung. Major Baskevyl ist …« »Sieht das für Sie noch wie ein Spiel aus, Ludd?«, brüllte Rawne. »Ich will keine Ausflüchte von Ihnen hören! Ich will nur ein Kopfnicken sehen! Schaffen Sie das?« Ludd nickte. »Gut. Major Baskevyl ist von seinem Posten desertiert. Kümmern Sie sich darum.« Ludd nickte. IV Baskevyl blieb am Ende der Treppe stehen, um eine Geschützmannschaft vorbeizulassen, die im Laufschritt zu den oberen Etagen unterwegs war. Während er wartete, stellte er die schwere Tasche ab. Er wollte gerade weitergehen, als der nächste Trupp die Treppe herauf geeilt kam. »Ich brauche einen Ihrer Männer«, sagte Baskevyl zu Posetine, dem Truppführer. »Wir sind alle nach oben befohlen worden, Herr Major«, sagte Posetine entschuldigend. »Befehl des Kommandanten.« »Das ist mir schon klar, aber das ist jetzt ein Befehl von mir. Ich brauche die Hilfe von einem Ihrer Männer.« Posetine schaute unglücklich drein, aber er ging davon aus, dass er Schwierigkeiten bekommen würde, wenn er versuchte, mit dem ranghöheren belladoner Offizier zu streiten. Er drehte sich widerstrebend zu seinen Männern um. »Merrt, treten Sie aus der Reihe und begleiten Sie Major Baskevyl.« Merrt verzog das Gesicht und trat beiseite. Er wusste, dass Posetine ihn ausgesucht hatte, weil er zu nichts nütze war. »Danke, Posetine«, sagte Baskevyl. Er nahm seine Tasche und lief an den Soldaten vorbei die Treppe hinunter. »Folgen Sie mir, Merrt.« »Herr Major!«, rief Posetine ihnen hinterher. »Herr Major, wissen Sie, dass man versucht, Sie über Kom zu erreichen? Schon seit ein paar Minuten.«
»Ich weiß!«, rief Baskevyl zurück. Er hatte das Gerät abgesetzt und in eine Jackentasche gestopft, eben um das Summen des Interkoms nicht mehr zu hören. »Weitermachen, Posetine!« »Aber …«, begann Posetine. Baskevyl war bereits verschwunden. »Weiter«, sagte Posetine zu seinen Männern, die sich wieder in Bewegung setzten. Posetine schaltete sein Kom ein. »Trupp acht sechs, unterwegs zu Westen fünf. Falls Sie Major Baskevyl suchen, wir haben ihn gerade auf dem Weg in die Untergeschosse gesehen.« »Was gn… gn… gn… haben wir vor?«, fragte Merrt, der einen leichten Trab angeschlagen hatte, um mit Baskevyl Schritt zu halten. »Das erkläre ich Ihnen, wenn wir da sind.« »Was ist das für ein Buch?« »Folgen Sie mir einfach, Merrt.« Merrt zögerte. »Hier geht es nach unten in den gn… gn… gn… Generatorraum«, sagte er zweifelnd. »Nun kommen Sie schon, Mann!« Niemand war zur Bewachung des Generatorraums zurückgelassen worden. Die Kammer war noch so, wie Baskevyl sie in Erinnerung hatte. Er konnte Energie riechen und den langsamen Puls des leuchtenden eisernen Generators spüren. Baskevyl stellte seine Tasche ab, trat ein paar Schritte vor und berührte das warme Metall. »Herr Major?« »Warten Sie«, sagte Baskevyl, indem er eine Hand hob. Er zog das schwarz eingebundene Buch unter dem Arm hervor, legte es auf den Boden, kniete sich davor und blätterte darin. Er blickte abrupt auf. Das Kratzen war ziemlich laut. Es kam von direkt unter ihnen und durch die Wände. »Merrt?«, flüsterte Baskevyl. »Hören Sie das?« »Ja«, erwiderte Merrt. »Sehen Sie das?« Er zeigte auf etwas. Baskevyl sah die Gesichter, die in den Staub auf den Wänden gemalt waren, augenlose Gesichter mit offenen Mündern. Er wusste, dass sie noch nicht da gewesen waren, als er und Merrt den Raum betreten hatten. »Dieses Haus ist verflucht«, sagte er.
»Das weiß ich«, erwiderte Merrt. »Hier ist etwas. Es ist schon seit ewigen Zeiten hier. Es hat uns hier eingesperrt.« »Es will unseren Tod«, sagte Merrt. Baskevyl schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es will, dass wir bleiben. Ich glaube, es will Gesellschaft.« »Für immer?«, fragte Merrt. »Ja.« »Ist das dann gn… gn… gn… nicht dasselbe?« V Sie stand auf dem Klippenrand, mitten im Freien, und starrte auf die Glockenluken. Der Wüstenwind zerrte an ihren schwarzen Spitzenröcken. Maggs schoss auf die nächsten paar Blutpaktkrieger, die die Kuppel zu stürmen versuchten. »Warum nimmst du sie nicht stattdessen?«, brüllte er die alte Dame durch die Schießscharte an. »Wen brüllst du da an, Maggs?«, rief Varl von der benachbarten Schießscharte. »Sie«, erwiderte Maggs. »Ach, fang nicht schon wieder damit …«, begann Varl. Er verstummte. »Feth, Wes.« »Kannst du sie sehen?« »Scheiße, ja.« »Dann muss es so weit sein. Thron, das muss es jetzt sein.« Maggs beugte sich vor und brüllte die dunkle Gestalt an, die stumm am Klippenrand wartete. »Ist es das, du alte Hexe? Ist es so weit? Ist das das Ende? Ja?« Sehr langsam nickte das furchtbare Fleischwundengesicht. VI Als Nessa einen Treffer in die Schulter bekam, zerrte Banda sie nach draußen auf den Korridor, um einen Sanitäter für sie zu finden, und ließ Larkin allein im Ausguck. Sein Präzisionsgewehr hatte schließlich versagt, und er benutzte ein ganz normales La-
sergewehr. Als er durch die Schießscharte blickte, nahm er mit Bestürzung zur Kenntnis, wie weit der Blutpakt an den Außenwänden und Schanzen emporgeklettert war. Sie griffen die unteren Kasematten an. Larkin hörte Granaten und das bittere Sirren von Nagelbomben. In wenigen Minuten würde der Feind ins Haus eindringen, wenn er es nicht bereits geschafft hatte. Er beharkte alle in Reichweite mit Schüssen. »Feuerunterstützung hierher!«, rief er. »Ich brauche Schützen an dieser Schießscharte!« »Du bist allein, Tanither«, sagte die Stimme. Larkin drehte sich um. Er wusste, was er sehen würde. Lijah Cuu stand ihm in der Tür des Ausgucks gegenüber. Sein dünnes, vernarbtes Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Seine Uniform war verdreckt und mit Fäulnis und verschmierter Erde besudelt. Cuu hielt sein Kampfmesser in der Hand. »Ganz allein, so sicher wie sicher.« Larkin schauderte. Reif kroch an den Innenwänden des Ausgucks empor und knackte wie Glas unter Spannung. Larkin nahm einen durchdringenden Geruch nach Fäulnis und Verwesung wahr. »Ich habe dich einmal umgelegt, du Hurensohn«, flüsterte Larkin. »Ich kann es noch mal.« »So läuft das nicht, Tanither«, sagte Cuu. »Diesmal nicht.« »Ich sage dir, wie es läuft«, erwiderte Larkin. »Du bist nur ein Phantom aus meinem verrückten alten Hirn. Du bist nicht echt, also halt dich verdammt noch mal fern von mir! Ich bin beschäftigt!« Er kehrte Cuu den Rücken und schoss wieder nach draußen. Langsam, stetig, kamen die Schritte hinter ihm näher. VII Zweil humpelte ins Lazarett. Merkwürdige Geräusche hatten ihn von seinen Gebeten abgehalten, Geräusche, die mehr waren als das übliche Ächzen und Stöhnen Verwundeter. Im Lazarettraum war vorübergehend alles zum Stillstand gekommen. Die Verwundeten auf ihren Pritschen glotzten verblüfft. Sanitäter und Bahrenträger, die gerade die jüngsten Opfer des Angriffs brachten, waren ebenfalls wie angewurzelt stehen geblie-
ben und gafften mit offenem Mund. Einige beschrieben das Zeichen des Aquila. Andere waren auf die Knie gefallen. Zweil spürte, wie seine Eingeweide zu Eis wurden. Die Toten waren zu ihnen zurückgekehrt. Die Verlorenen waren überall, dünne graue Gestalten, Schatten aus Staub, transparente Phantomgestalten aus Dämmerlicht. Sie lungerten neben den Betten herum oder schwebten im Mittelgang wie stumme Trauernde, die sich zu einer Beerdigung versammelt hatten. Einige Männer redeten laut mit ihnen, stießen Rufe der Furcht oder Verwunderung aus, begrüßten alte Freunde und gefallene Kameraden, weinten beim Anblick längst verstorbener geliebter Personen. Für sie waren die vagen Gestalten Ehefrauen und Geliebte, Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, Krieger von Tanith, Verghast und Belladon, die auf dem langen Marsch zu dieser entsetzlichen letzten Schlacht gefallen waren. Zweil sah, wie Männer die Augen schlossen oder die Gesichter mit den Armen bedeckten, sah andere die Arme weit zu Umarmungen ausbreiten, die nie erwidert würden. Einige der Verwundeten versuchten aufzustehen, um die Schatten zu erreichen, die sie umgaben. »Nein«, flüsterte Zweil. »Nein, nein, nein …« Dorden war neben ihm, und die Tränen strömten ihm nur so über die Wangen. Er umklammerte Zweils Arm. »Mein Sohn«, keuchte er. »Mikal, mein Sohn.« Dorden zeigte auf etwas. Zweil sah nur einen Schatten, der nicht hätte dort sein dürfen. Er trat vor und riss sich von dem alten Arzt los, hob seinen Stab und hielt den schweren Silberadler in die Höhe, den er an einer Kette um seinen dürren Hals trug. »Ich entsage euch«, begann er. »Ich befehle euch, gehet von hinnen und gehet in Frieden …« Stimmen erhoben sich protestierend, nannten ihn töricht und aufdringlich und flehten ihn an aufzuhören. »Ich entsage euch jetzt, beim Licht, das da der Goldene Thron von Terra ist«, rief Zweil. »Es ist mein Sohn!«, rief Dorden. »Nein, ist es nicht«, sagte Zweil entschlossen. Hark hatte recht gehabt, bei Feth, und Zweil war ein Narr gewesen, ihm keine Beachtung zu schenken. Hinzerhaus war ein Ort der verdammten Seelen, wo sich die Toten versammelten, um die Lebenden nach unten zu den lichtlosen Orten zu ziehen. »Ich befehle euch, Dämonen, gehet von hinnen!«
Dorden griff nach Zweil, und der alte Priester schob ihn weg. Jemand schrie. Die Schatten wurden dichter und dunkler. Blut, kein Staub, lief die Lazarettwände hinunter. VIII Sie verteidigten den Kamm des Grabens seit fünfzehn Minuten, eine Zeitspanne, die ihnen wie Jahrhunderte vorgekommen war. Nur achtzehn Angehörige der E-Kompanie waren noch übrig, und die meisten waren verwundet. Nicht in der Lage, eine stabile Linie zu bilden, hatten sich die Überlebenden in den Graben zurückgezogen, bis sie im Wrack des abgestürzten Transporters gelandet waren. Dalin war bei seinem letzten Magazin angelangt. Er schoss einhändig mit seinem Gewehr, während er Meryn mit der anderen Hand aufrecht hielt. Infolge des Blutverlusts war Meryn beinahe komatös. Er zog den Hauptmann über das Geröll, während rings um ihn Schüsse durch die Luft zischten. Der Blutpakt strömte über den Kamm und rutschte und polterte in Massen die Böschung aus losem Gestein hinunter. Die Krieger stießen laute Kriegsrufe aus und schwangen Piken und Äxte. Cullwoe tauchte neben Dalin auf und gab dabei Feuerstöße aus der Hüfte ab. Er erwischte zwei der anstürmenden Krieger, die daraufhin den Geröllhang auf dem Bauch herunterrutschten. »Du weißt, was das ist, oder?«, rief Cullwoe. Dalin hatte keine Zeit zu antworten. Der Strahl eines Laserwerfers sprengte Khet Cullwoes Leibesmitte. Er brach in einer Fontäne seines eigenen Bluts zusammen. Aus seinem rauchenden Unterleib ragten Rippen. »Ich weiß genau, was das ist«, fauchte Neskon. »Es ist eine verdammt beschissene Art zu sterben!« Sein Flammenwerfer toste und hüllte sechs Feindsoldaten in eine weißglühende Flammenhölle. Sie gingen in Flammen auf, schlugen um sich, fielen. Einer wanderte noch längere Zeit brennend umher, bevor er zu Boden sank.
»Komm schon, Junge!«, rief Neskon, während er den nächsten Feuerkegel entfachte. Sein Werfer fing an zu stottern, da der Tank praktisch leer war. Dalin leerte sein letztes Magazin und warf sein Gewehr weg. Ohne Meryn loszulassen, bückte er sich und hob Cullwoes Gewehr und dessen letztes Magazin auf, das er sich in den Gürtel geschoben hatte. »Mach schon, verdammt!«, brüllte Neskon. Der Flammenstrom aus seinem Werfer versiegte. Er pumpte und bearbeitete die Zuführung, aber der Werfer war tot. »Hilf mir mit dem Hauptmann!«, rief Dalin. Neskon drehte sich um, streifte die Tanks ab und ließ sie scheppernd fallen. Ein Laserstrahl traf ihn in der Hüfte. »Verdammte Hölle!«, bellte er. Neskon fiel nicht. Er zog seine Dienstpistole und erwies sich als verdammt guter Schütze mit einer normalen Schusswaffe. Niemand erwartete jemals Raffinesse von einem Flammer. Neskon gab zwei Schüsse ab und warf damit einen Krieger mit einer Pike auf den Rücken. Neskon packte Meryn und warf ihn sich über die Schulter. »Zurück zum Tor!«, sagte er mit vor Schmerzen heiserer Stimme. »Es gibt kein Tor, Nesk!« »Ach, wir können so tun, als ob«, riet Neskon ihm. Gemeinsam zogen sie sich durch das brennende Wrack des Destrier zurück und schossen dabei auf die anstürmende Linie der Angreifer. »Du kannst es schaffen«, sagte Caffran. Dalin schaute sich um. Sein Vater lächelte und nickte ihm zu. Dann war er nicht mehr da, und Caober, Preed und Wheln waren neben ihm und unterstützten ihren hoffnungslosen Rückzug mit ihrer Feuerkraft. »Erstes-und-Einziges!«, brüllte Wheln. Alle vier beantworteten den Ruf und jagten ihre letzten Laserstrahlen in den Feind. Angesichts der Lautstärke und der Wut dahinter kam es Dalin vor, als sei das ganze Regiment bei ihnen und brülle den Kriegsruf aus vollem Halse. »Macht schon! Zum Tor! Zum Tor!« Dalin schaute sich um. Er sah Ban Daur und eine schreckliche Menge Geister hinter sich. »Heilger Feth!«, flüsterte er ungläubig.
»Los doch!«, rief Daur ihnen zu. »Muss ich kommen und euch holen?« Der Blutpakt stürmte durch den Graben. Die G-Kompanie kam aus dem zweiten Tor gelaufen und wartete dort mit erhobenen Waffen, um ihn in Empfang zu nehmen. IX Baskevyl versuchte den Reif zu ignorieren, der langsam die Wände des Generatorraums überzog, das Kratzen unter dem Boden und auch das Elmsfeuer, das über die Decke huschte, während er sich mühte, den Deckel vom Generator zu heben. »Da ist eine gn… gn… gn…«, sagte Merrt. »Eine was? Was, verdammt? Spucken Sie’s aus, Mann!« »Eine Verriegelung! Da!« »Ja, schon gut. Ich hab sie. Jetzt heben Sie mit an.« Der Deckel löste sich. Er war schwer, und sie rangen mit ihm, als sie ihn herunterhoben. Heiße, stinkende Luft, so muffig wie … vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal … aus der ödesten, von der Sonne gebackenen Wüste wallte aus dem Kessel. »Was nun?«, fragte Merrt. Baskevyl schaute in den Kessel. Er war eine tiefe, hemisphärische Höhlung, mit einer Staubschicht bedeckt, die wie Kesselstein aussah oder wie eine mineralische Ablagerung, die alchimistisch tief unter der Erde hergestellt worden war. Der Wurm war in dem Kessel. Er war ein kreisförmiges Band aus Maschinerie, etwa zwei Meter im Durchmesser, segmentiert wie der schuppige Leib einer Schlange. Es saß innerhalb der Höhlung, drehte sich sehr langsam, zögernd und mit ruckartigen Pausen und strahlte einen matten Schein aus. Jedes Zögern und Rucken fiel mit einem Nachlassen der Helligkeit der Wandlampen zusammen. Baskevyl starrte darauf. Wo der segmentierte Ring befestigt war, gab es eine Metallklammer, die wirklich aussah, als beiße sich eine Schlange in die eigene Schwanzspitze. Das Bild entsprach exakt dem Emblem, das in den Buchrücken gestanzt war.
Baskevyl griff in den Kessel und spürte, wie der sich langsam drehende Reifen seine Fingerspitzen berührte. »Er ist trocken«, sagte er. »Dieser ganze verdammte schlimme Felsen ist gn… gn… gn… trocken«, erwiderte Merrt. »Nein, der Kessel ist trocken. Nach Jahrhunderten des Betriebs hat er seinen … ich weiß nicht … Treibstoff aufgebraucht. Er läuft auf der allerletzten Reserve.« »Woher wissen Sie das alles?«, fragte Merrt. »Ich weiß es nicht«, sagte Baskevyl, »aber Domor, der kann Pläne lesen. Offenbar ist das hier im Prinzip ein kaltes Fusionskraftwerk.« »Was ist das?«, fragte Merrt. »Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß.« Baskevyl ging zu seiner Tasche. »Helfen Sie mir«, sagte er. »Wobei?« Baskevyl fing an, Feldflaschen aus der Tasche zu packen. Merrt kam zu ihm. »Was ist in den Flaschen?«, fragte er. »Wasser«, sagte Baskevyl. Sie hörten ein Geräusch hinter sich und drehten sich um. Ludd kam die Treppe herunter, betrat den Generatorraum und richtete seine Pistole auf Baskevyl. »Major Baskevyl«, begann er, »ich stelle fest, dass Sie Ihren Posten verlassen und den ausdrücklichen Befehlen des Kommandanten zuwider gehandelt haben …«
EINUNDZWANZIG DER WURM DREHT SICH
SP Elikon, SP Elikon, hier Nalholz, hier Nalholz. Bitte antworten. Bitte antworten. Wir werden massiv und anhaltend angegriffen. Können uns nicht mehr lange halten. Hohe Verluste. Munition verbraucht. Bitte, Elikon, können Sie uns hören? Nalholz Ende. (Ende der Nachricht)
- Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I Es war tatsächlich ein Lager. Im schwindenden Tageslicht, während der malvenfarbene Schimmer des Abends den Himmel bedeckte und die Schatten länger wurden, beobachteten sie die flackernden Feuer aus der Deckung einer Salzlecke aus dreiviertel Kilometern Entfernung. »Ich sehe Zelte, Fertigbauten«, sagte Mkoll, der seinen Feldstecher langsam wandern ließ, »etwa fünfzehn Fahrzeuge. Da müssen, keine Ahnung, hundert oder mehr von den Schweinen sein.« »Ick hew noch twintig Bagenschötte«, erwiderte Eszrah. »Dann kannst du es dir ja selbst ausrechnen.« »Wenn de all op sünd, hew ick dat Swort.« Mkoll schüttelte den Kopf und lachte. »Glaubst du, wir können es mit ihnen aufnehmen? Ich bewundere deine Zuversicht, Eszrah.« »Wat hest du seggt, Seele Spuk?« Mkoll schaute wieder durch seinen Feldstecher. »Warte mal«, murmelte er, während er den Feldstecher wieder wandern ließ. »Das da ist ein Kom-Mast. Starke Sendeleistung. Die braucht man nur, wenn man Befehle sendet, über große Entfernung. Das hier muss ein Kommandostand sein. Jemand, der wichtig ist, vielleicht ein Sirdar. Oder sogar ein Etogaur.« »Wat hest du seggt?« Mkoll sah Eszrah an. »Du willst deine Vergeltung, oder?« Eszrah nickte. »Ver-gel-tung.« Er lächelte. »Und ich will einfach noch etwas Nützliches tun, bevor ich sterbe.« Mkoll streifte seinen Rucksack ab und sah den Inhalt durch. Zwei Magazine, vier Sprengsätze, ein kleines Reservemagazin für seine Pistole, eine Rolle Zündstreifen, eine Granate. Er verstaute die Gegenstände einen nach dem anderen in seinem Koppel und dessen Beutel, um schnelleren Zugriff zu haben. Eszrah beobachtete ihn eingehend, neugierig. Mkoll nahm eine Handvoll Staub vom Rand der Salzlecke und wischte sich damit über Stirn und Wangen. Eszrah lachte und kramte eine Kürbisflasche hervor. »Kannst du es besser?«, fragte Mkoll.
Bedächtig, rituell, schmierte der Nachgahner graue Paste auf Mkolls hageres, schmutziges Gesicht. Dann nickte er. »Sind wir fertig?« Eszrah zeigte auf Mkolls Kampfmesser und streckte fordernd die Hand aus. Mkoll gab ihm das Messer. Eszrah strich konzentriertes Mottengift über die Schneiden der dreißig Zentimeter langen silbernen Klinge. »Ferdig«, sagte er, indem er ihm das Messer zurückgab. »Dann lass es uns tun«, sagte Mkoll. Er streckte die Hand aus. Eszrah betrachtete die dargebotene Hand und nahm sie, versonnen. »Es ist schön, dich kennengelernt zu haben, Eszrah ut Nach«, sagte Mkoll. »Du seggst wohr, Seele.« Sie standen auf und schlichen geduckt durch den Staub, den entfernten Feuern entgegen. II Die Valkyrie brannte. Sie war nur noch eine Hülle, ein Käfig aus schwarzem Metall in einem Chaos aus Feuer. Hark kam auf die Beine. Er nahm an, dass er beim Aufprall aus dem Wrack geschleudert worden war. In diesem Fall hatte ihn der Staub, der gottverlassene Staub des schlimmen Felsens Jago, gerettet. Er erinnerte sich, sich in dem dicken, weichen Kissen der Staubdecke überschlagen zu haben. Aber er war nicht ganz intakt. Sein Rücken pochte gnadenlos, und er spürte, dass ihm Blut die Beine entlanglief. Sein Kopf war verschrammt. Irgendwas, Hark hatte keine Ahnung, was, hatte ihm den augmetischen Arm am Ellbogen abgetrennt und nur einen Funken sprühenden Stumpf zurückgelassen, aus dem Schmiermittel statt Blut tropfte. Er humpelte zum Wrack. Mehrere Büchertaschen waren herausgefallen. Zwei waren aufgeplatzt, und uralte Blätter flatterten im Wind davon. Er kniete nieder und versuchte sie einzusammeln. »Brauchen Sie eine helfende Hand?« Hark blickte auf. Twenzet stand hinter ihm, das Gesicht blutverschmiert. Als Twenzet den Stumpf von Harks mechanischem Arm sah, schrak er zusammen.
»Ich habe mir ehrlich nichts dabei gedacht, Herr Kommissar«, sagte er. »Das habe ich auch keine Sekunde angenommen, Soldat«, sagte Hark. »Helfen Sie mir.« Twenzet sank auf die Knie und fing an, die losen Blätter einzusammeln und zurück in die Taschen zu stopfen. »Herausgeschleudert?«, fragte ihn Hark. Twenzet zuckte die Achseln. »Ich bin da drüben aufgewacht, falls Sie das meinen«, sagte er. Er sah Hark an. »Wo sind wir?« »Kann ich nicht sagen.« »Sind die anderen tot?« Hark richtete sich auf, hockte sich auf die Fersen und betrachtete das brennende Wrack. Von den Flammen steif gebrannte schwarze Silhouetten saßen in ihren Gurten im Herzen des Feuers. Hark schaute weg. »Ja«, sagte er. »Nicht alle«, sagte Tona Criid, die hinkend hinter ihnen auftauchte. Mit der linken Hand hielt sie ein Lasergewehr vor dem Bauch. Der rechte Arm hing schlaff und verstümmelt herab. Der größte Teil ihrer rechten Hand fehlte. Blut tropfte in den Staub. »Es war eine harte Landung«, sagte sie. »Daran kann ich mich noch erinnern«, sagte Hark. »Ich habe Sie nach draußen geworfen«, sagte sie zu Twenzet. »Dann wollte ich zurück, um Swaythe und Klydo zu holen, aber …« Ihr versagte die Stimme. Sie sank auf die Knie. Hark erhob sich. Sie befanden sich in einem breiten Tal, einem Pass, der von hochaufragenden Klippen umgeben war. Die Nacht brach herein und hüllte alles in einen violetten Schein. »Hören Sie doch«, sagte Twenzet. Zuerst hörte Hark nichts, dann machte er ein Geräusch wie das Summen eines Kom-Geräts in Bereitschaft aus. Das Summen wurde zum Grollen eines weit entfernten Donners, dann wurde aus dem Donner das Grollen von Turbinen. Lichter näherten sich der Rinne des Passes. Große Scheinwerferlampen leuchteten in der Dämmerung. »Nehmen Sie die Taschen«, sagte er. »Herr Kommissar?«, sagte Twenzet. »Nehmen Sie die Taschen und bewegen Sie sich«, grollte Hark. Twenzet wuchtete sich die Taschen auf den Rücken. Hark half Criid auf die Beine. Sie umrundeten das brennende Wrack des
Transporters und folgten der leichten Steigung voller Geröll und Staub nach oben. »Wohin gehen wir?«, fragte Twenzet, der beim Tragen der Taschen keuchte. »Weg von dem Wrack«, erwiderte Hark. Der Lärm hinter ihnen wurde lauter. Sie konnten das scheppernde Rattern von Kettenfahrzeugen hören. »Hier rauf«, sagte Hark. Sie hatten sich ein anständiges Stück von der Absturzstelle entfernt. Auf sein Drängen kletterten sie auf einen flachen Felsvorsprung und legten sich auf den Bauch. Unter ihnen rollten zwei Leman-Russ-Kampfpanzer mit flammenden Scheinwerfern in Sicht. Staub stob von ihren wühlenden Ketten. Hinter ihnen kam ein Hydra-Flakpanzer scheppernd zum Stillstand, das Quartett seiner langen Autokanonen in den Himmel gereckt. Gestalten bewegten sich durch den Staub, Infanteristen, welche die Panzer zu Fuß eskortierten. »Zweiundfünfzig«, sagte Twenzet. »Sehen Sie doch, auf dem Rumpf! Zweiundfünfzig. Das ist das Cadogus-Regiment. Thron sei Dank!« Er machte Anstalten, sich zu erheben. Hark zog ihn wieder herunter. »Sehen Sie genauer hin«, flüsterte er. Die Rumpfpanzerung der beiden großen Panzer war stellenweise versengt und eingebeult. Kein Fahrzeug schien sich in gutem Zustand zu befinden, und am Bug waren offenbar Taschen oder Säcke festgebunden. Twenzet schaute genauer hin. Die Gegenstände waren keine Taschen. Es waren misshandelte Leichen von Männern in khakifarbenem Drillich, die wie Trophäen mit Stacheldraht an den Panzern befestigt waren. Die Leichen schaukelten und ruckten hin und her, als die Panzer ebenfalls zum Stillstand kamen. Die Infanterie marschierte weiter, an den wartenden Panzern vorbei und zum brennenden Wrack der Valkyrie. Im Licht der Dämmerung sahen ihre langen Mäntel und Drillichjacken malvenfarben aus. Twenzet sah die Eisenmasken, die ihre Gesichter bedeckten.
III Die G-Kompanie hielt zehn Minuten stand, bis der durch den Graben vorrückende Blutpakt die Vergeblichkeit dieser Sturmtaktik einsah. Die Krieger wichen langsam zurück und bezogen feste Stellungen in der Absicht, Daurs Männer durch konzentrierten und anhaltenden Beschuss auszuschalten. Sie ließen Dutzende Kameraden tot im Graben und auf den Böschungen liegen. Kaum ließ der Druck der Angriffswellen nach, als Daur seiner Kompanie befahl, sich unter Sperrfeuer zum Tor zurückzuziehen. Das Tor hatte den Absturz des Destrier nicht überlebt, und die Öffnung war unter Gesteinstrümmern begraben. Daurs Männer hatten den Weg freigeräumt, um nach draußen zu gelangen, und nun hatte Daur die Absicht, den Zugang wieder zu verschütten. »Es gibt kein Tor, das wir ihnen vor der Nase zuschlagen könnten«, sagte er zu Caober, als sie durch die Ruinen des Eingangs kletterten, »und wir haben nicht die Munition, um sie noch viel länger aufzuhalten.« Vivvo, Haller und Vadim brachten emsig Sprengsätze am Wachhaus an. Sanitäter hatten Meryn bereits weggebracht, und Neskon war irgendwohin verschwunden. Dalin kam sich verloren und ziellos vor. Er sah sich ständig nach Cullwoe um, da er immer wieder vergaß, dass er nicht mehr da war. Dalin war erschöpft. Seine Hände zitterten, und er musste gegen den Drang ankämpfen, sich in eine Ecke zu begeben und dort einfach zusammenzuklappen. Die letzten Männer der G-Kompanie kamen durch das Tor. Schweres Feuer verfolgte sie. Der Blutpakt draußen rückte wieder vor, und sie hatten die Zeit gehabt, schwere Waffen heranzuschaffen. Autokanonen beharkten den Eingang mit Explosivgeschosse, die einen Nebel aus pulverisiertem Gestein erzeugten. Der Feind verbrauchte Munitionstrommel um Munitionstrommel. Er war offensichtlich nicht knapp an Nachschub. »Fertig!«, rief Vivvo. »Die Kammer räumen!«, befahl Daur. »Mindestens drei Kammern weit zurückfallen lassen! Es geht da entlang! Vorwärts!« Die Nachhut, die ein beständiges Sperrfeuer im Eingang aufrechthielt, um den Feind zurückzuhalten, rappelte sich auf und rannte zu den inneren Räumen. Daur blieb, bis alle in Bewegung waren. »Auf demselben Weg zurück!«, brüllte er, während er wiederholt den Arm schwenkte.
Daur schaltete sein Kom ein. »Kommandant, versiegeln gerade das zweite Tor«, meldete er. »Verstanden«, antwortete Rawne. Daur ging in Deckung und nickte Vivvo zu, der den Zünder in der Hand hielt. Gewehrfeuer drang durch den Eingang, massiert und anhaltend. Einen Moment später stürmten die ersten Blutpaktkrieger herein und begutachteten die leere Kammer mit der Waffe im Anschlag. Die Welt explodierte unter ihnen im aufblitzenden Licht einer Supernova, und der Berg fiel ihnen auf den Kopf. IV »Stecken Sie das weg«, sagte Baskevyl leise. »An die Wand. Schusswaffe ablegen«, sagte Ludd. »Sie auch, Merrt.« Er nahm seine Pistole nicht herunter. »Ich bewundere Ihre Hingabe, Ludd«, sagte Baskevyl, der standhaft still hielt, »und ich weiß, dass Sie eine Pflicht zu erfüllen und eine Menge zu beweisen haben, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt.« »Das reicht!«, sagte Ludd. »Sie haben Ihren Posten verlassen, Baskevyl. Sie haben einen direkten Befehl missachtet! Mitten in diesem Scheißeregen!« »Hören Sie mir zu«, sagte Baskevyl entschlossen, »wir werden verlieren. Wir werden hier sterben, wenn nicht ein verdammtes Wunder geschieht.« »Und deswegen sind Sie nach hier unten gekommen? Um ein Wunder zu finden?« »Mag sein«, sagte Baskevyl. »Vielleicht kein Wunder, aber zumindest etwas sehr Unwahrscheinliches. Eine Hoffnung.« »Gn… gn… gn… hören Sie ihm zu!«, knurrte Merrt. »Das reicht«, sagte Ludd. »Sehen Sie sich das Buch an, Ludd. Das Buch da drüben.« Baskevyl zeigte darauf. »Ich habe es in der Bibliothek entdeckt. Dann habe ich es Domor gezeigt, und er ist meiner Meinung. Es sind Pläne. Es ist die Gebrauchsanleitung für den Generator des Hauses.« Ludd warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden lag. »Das ist Kauderwelsch«, sagte er.
»Der Text schon. Aber das Wesentliche sind die Zeichnungen. Schauen Sie … lassen Sie es mich Ihnen zeigen.« Ludd zögerte und gestikulierte dann mit seiner Pistole. »Sie haben eine Minute.« Baskevyl bückte sich und hob das Buch auf. Er streckte es aus, um es Ludd zu zeigen. »Schauen Sie, hier. Das ist der Generator. Sehen Sie? Das ist ganz eindeutig dieser Kessel hier. Und hier, das ist ein Diagramm vom Verschlussmechanismus, der den Deckel festhält.« Er blätterte um. »Das ist ein Plan der Lichtverkabelungssysteme. Das ist eine Wandlampe, sehen Sie? Die ist unverwechselbar.« »Was wollten Sie … unternehmen?«, fragte Ludd. »Den Generator wieder in Betrieb nehmen«, sagte Baskevyl. »Wenn ich kann. Er läuft auf den allerletzten Tropfen der allerletzten Reserve. Ich glaube, die meisten Systeme haben sich längst ausgeschaltet oder sind ausgefallen. Der Beleuchtungsring läuft auf niedrigstem Notstrom.« »Aber wie wollten Sie ihn wieder in Betrieb nehmen?«, fragte Ludd. »Es ist ein kalter Fusionsreaktor. Er ist praktisch erschöpft. Ich wollte diese Feldflaschen in ihn ausleeren, ihm etwas geben, um die Reaktion wieder in Gang zu setzen.« Ludd starrte ihn an. Er ging langsam zu dem offenen Kessel und schaute hinein und auf die schleppende Rotation des Reifens. Er halfterte seine Pistole. »Tun Sie’s«, sagte er. »Sie sind noch nicht rehabilitiert, Baskevyl, aber Sie haben recht. Es ist einen Versuch wert.« Baskevyl und Merrt eilten zur Tasche und sammelten Feldflaschen auf. Ludd sah ihnen einen Moment zu und half ihnen dann. Baskevyl leerte die erste Feldflasche in die trockene Höhlung des offenen Kessels und warf die Flasche weg. Merrt reichte ihm die nächste, bereits entstöpselte. Der Kessel fasste eine enorme Menge, ohne sich sichtbar zu füllen. Acht Flaschen, und am Boden des Beckens war nur eine flache Pfütze zu sehen. »Immer weiter«, sagte Baskevyl. Baskevyl hatte insgesamt dreißig Feldflaschen mitgebracht. Wahrscheinlich drohte ihm eine Strafe wegen Verschwendung
einer derartigen Menge kostbaren Wassers. Er leerte die letzte in den Kessel. Das Becken war kaum ein Viertel voll. »Besser als nichts«, sagte Baskevyl. »Ja, und passieren tut gar nichts«, sagte Merrt. Baskevyl lugte wieder hinein. Tatsächlich schien der Ring sich noch langsamer zu drehen. »Zeigen Sie mir noch mal das Buch«, sagte er. Ludd reichte ihm das schwarz eingebundene Buch. »Also gut«, sagte Baskevyl nach kurzem Studium der Seiten. »Domor sagte, wir müssten damit rechnen. Wahrscheinlich ist der Reaktor auf irgendein Sparprogramm gestellt worden oder hat sich selbsttätig so eingestellt. Da ist ein …« Er hielt inne und drehte das Buch auf die Seite, um dem Diagramm zu folgen. »Ja, da.« Baskevyl griff wieder in den Kessel und drehte an einem Einstellrad auf dem Kopf der Schlange. Der Reifen hörte auf, sich zu drehen. »Nein«, hauchte Baskevyl. »Nein, nein, komm schon …« Sie starrten den Ring an. Der Ring bebte leicht. Mechanismen tief im Sockel des Kessels und in den angrenzenden Apparaten surrten und klickten. Sie verursachten knirschende, kratzende Geräusche, die Baskevyl nur zu gut kannte. Der Reifen setzte sich wieder in Bewegung, drehte sich aber nun in die entgegengesetzte Richtung. Diesmal waren seine Rotationen stetig, und er nahm Fahrt auf, bis er sich drehte wie ein Glücksrad. Das Wasser auf dem Boden des Beckens schäumte und gurgelte, dann wurde es milchig weiß und begann zu leuchten. »Lebendiger Thron«, murmelte Ludd. »Der Deckel«, sagte Baskevyl. »Helfen Sie mir, den Deckel aufzusetzen.« Die drei wuchteten den Deckel wieder an Ort und Stelle und schlossen die Verriegelung. Der Kessel summte ziemlich laut, und durch die Gitterschlitze in den Seiten drang grellweißes Licht. »Was nun?«, fragte Ludd. »Tja, jetzt kommt der Teil des Plans, der wirklich ein Akt des Glaubens ist. Folgen Sie mir.« Er hielt inne. »Ist das in Ordnung, Kommissar? Lassen Sie mich noch ein letztes Mal gewähren? Oder wollen Sie mich jetzt einfach erschießen?«
V Sie rannten die Treppe vom Generatorraum empor und folgten den Innenkorridoren in Richtung der später entdeckten Teile des Hauses. Draußen und über ihnen tobte unüberhörbar das Chaos der wilden Schlacht. Baskevyl zögerte einen Moment und schaute nach oben. »Feth, Sie haben recht, Ludd. Hören Sie sich das an. Ich hätte meinen Posten niemals verlassen dürfen. Ich war so … besessen. Ich …« Ludd hob die Hand. »Sehen Sie«, sagte er. »Sehen Sie sich das an!« Das langsame, hypnotische Pulsieren der Wandlampen hatte aufgehört. Im gesamten Korridor, so weit das Auge reichte, wurden die an der Wand befestigten Lampen beständig heller, sodass die glänzend braune Düsternis einem kühlen, hellen Schein wich. Merrt gab einen seltsamen Laut von sich. Ludd und Baskevyl ging auf, dass er lachte. Baskevyl lief los, und sie rannten ihm hinterher. Als sie in den neuen Bereich des Hauses eindrangen, begegnete ihnen Daurs Kompanie, die sich zurückzog. Daur hatte fünf Trupps gebildet, um den anfälligen Hof zu bewachen, und war dabei, den Rest zu den wichtigsten Kasematten im Süden zu schicken. Daurs Gesicht war hager und ausgemergelt. »Sie sind drinnen«, sagte er zu Baskevyl. »Ich habe es gerade im Kom gehört. Sie sind durch das Haupttor eingedrungen und durch einige der unteren Ebenen. Jetzt geht es Mann gegen Mann weiter. Rawne sagt, alle Munition ist praktisch verbraucht.« Baskevyl nickte. Er holte sein Kom aus der Tasche und stöpselte es wieder ein. »Hat Rawne sonst noch etwas gesagt?« »Er hat uns befohlen, Silber aufzupflanzen und Geister zu werden, Geister des Hauses. Die Schatten zu suchen und so viele von den Schweinen zu töten, wie wir können.« »Welche Schatten, Hauptmann?«, fragte Ludd.
Daur war so müde, so zermürbt durch die Erschöpfung und die Aussicht auf die letzte blutige Tretmühle, dass er die Lampen noch gar nicht bemerkt hatte. Der zuvor bernsteinfarbene Schein im neuen Bereich war einem gleichmäßigen, hellen Weiß gewichen. »Was … was geht hier vor?«, fragte Daur. Baskevyl drängte an ihm vorbei und betrat die Rüstkammer. Er öffnete den Deckel eines der Bunker in der Mitte der Kammer. Alle Kiesel darin leuchteten strahlend hell, wie winzige Sterne. Er schaltete sein Kom ein. »Hier Baskevyl«, sagte er. »Daur, bringen Sie die Männer hierher.« VI Larkins Gewehr klickte nur noch. Das Magazin war leer. Er warf die unnütze Waffe weg, erhob sich von der Schießscharte und zog seine Klinge. Kaum zehn Meter unter dem Ausguck waren Sturmleitern, gegen die er nichts mehr unternehmen konnte, außer auf sie zu spucken. Der Schlachtenlärm hatte sich verändert. Larkin ging auf, dass er praktisch keine Schüsse mehr aus den Kasematten hörte. Alles kam zu ihnen. Er drehte sich um. Da war kein Cuu. Die Präsenz war noch einige Minuten hinter Larkin geblieben, in denen er seine letzten Schüsse abgegeben hatte, nicht gewillt oder in der Lage, die Drohung wahr zu machen und zuzuschlagen. Da war kein Cuu, aber Larkin spürte ihn trotzdem, seine elende Essenz, die ihn umgab wie ein Nebel. »Du machst mir keine Angst mehr«, sagte er laut. »Hast du gehört? Ich habe keine Angst vor dir. Du bist nur ein Geist. So sicher wie verdammt sicher. Wenn du mich umlegen willst, musst du dich hinten anstellen, weil ein ganzer Haufen Dreckschweine auf mein Blut aus ist.« Es gab keine Antwort. Larkin hatte den Eindruck, dass es plötzlich viel heller war. Er humpelte zur Tür. »Komm mir nicht in die Quere, Cuu«, fauchte er die Luft an. »Ich muss jetzt gehen und mit den echten Geistern sterben.«
VII Die Blutpakt-Krieger tummelten sich rings um die brennende Valkyrie. Einige von ihnen schwärmten aus, um die unmittelbare Umgebung zu durchkämmen. Ein Offizier erhob sich auf dem Turm eines der erbeuteten Panzer und brüllte ein paar Befehle. »Unten bleiben«, flüsterte Hark den anderen zu. Sie lagen flach auf dem Bauch, das Gesicht auf den Felsen gedrückt. Hark griff langsam nach seiner Boltpistole. Ein gegabelter Blitz zuckte durch den Purpurhimmel über dem Pass. Langsamer Donner grollte, als rieben sich die Berge aneinander. Weiter unten gerieten die feindlichen Soldaten plötzlich in Aufruhr. Sie schrien einander an. Die Lufttemperatur war um mehrere Grad gesunken. Twenzet wimmerte. »W-was ist das?«, flüsterte er. Hark antwortete nicht. Er konnte es ebenfalls spüren, eine schleichende Furcht, unergründlich und unbenennbar, die ihm Gänsehaut verursachte und seinen zerschundenen Rücken bluten ließ. Etwas Furchtbares, ein unaussprechliches Grauen näherte sich.
ZWEIUNDZWANZIG NUR IM TOD
I Der Kom-Mast ragte in den enormen Nachthimmel und sendete eine Aneinanderreihung von Klicken und Summen in die Dunkelheit wie ein zappelndes Nachtinsekt. Die staubdichten Zelte, in
einem weiten Ring aufgestellt, waren von innen durch Öllampen und kleine tragbare Laternen erhellt, sodass sie wie goldene Papierlaternen leuchteten. Am Außenrand des Lagers waren Brenner aufgestellt, und an Pfählen hingen Sturmlaternen aus Messing. Gestalten bewegten sich in den vom Feuer erleuchteten Örtlichkeiten des inneren Lagers. Stimmen drangen zusammen mit Kochgerüchen durch die Nacht. Zwei Wachen blieben kurz stehen, als sich ihre Patrouillenkreise kreuzten, um ein paar Worte zu wechseln, dann setzten sie ihre Wege fort und entfernten sich voneinander. Einer blieb stehen und drehte sich um. Von seinem Kameraden war nichts zu sehen. Die graue Wüste erstreckte sich flach und leer in die Nacht. Er ging zurück und wollte gerade einen Ruf ausstoßen, und das wurde die letzte Aktion seines Lebens: ein Fuß, zu einem Schritt erhoben, den Mund geöffnet, um einen Namen zu rufen. Mkoll ließ den Leichnam in den Staub sinken und wischte sein Messer ab. Er nickte ein Mal, obwohl sein Miteindringling für ihn unsichtbar war. Tief geduckt huschte Mkoll vorwärts, um das letzte Stück, das im Lampenschein lag, auf dem Bauch kriechend zurückzulegen. Im Schutz des Staubschleiers eines Zelts erhob sich Mkoll und schritt sorgfältig über die Haltedrähte hinweg. Er wartete, während zwei ungeschlachte Männer mit vernarbten Gesichtern vorbeigingen. Sie unterhielten sich. Einer hatte eine Flasche mit langem Hals in der Hand. Als sie weg waren, glitt er zwischen zwei anderen Zelten durch und gelangte in einen dunkleren Bereich, wo die Fahrzeuge geparkt waren. Halbkettenfahrzeuge und Lastwagen erzeugten eckige blaue Schatten vor dem Himmel. Mkoll legte sich auf den Bauch, kroch unter das erste Fahrzeug und machte sich an die Arbeit. Er kam sich blind vor, als er nach der Treibstoffleitung tastete und sie dann mit seinem Kampfmesser aufschlitzte. Weniger als drei Minuten später hatten zwei andere Fahrzeuge dieselbe Behandlung erfahren, und nun gluckerte ihr Treibstoff langsam und leise in den Staub unter ihnen. Mkoll schraubte den Tankdeckel von einem der so behandelten Laster und stopfte Streifen in den Einfüllstutzen, die er von seinem Tarnumhang abgerissen hatte. Dann bohrte er mit den Fingern einen Zünder in die Stofffetzen.
Er fragte sich, wie weit Eszrah gekommen war. Mkoll befestigte das Kampfmesser unter dem Lauf seines Lasergewehrs und riss den Zündstreifen ab. II Ein klammes Gefühl des Bösen hüllte ihn ein. Die Nachtluft schien davon zu strotzen, als sei sie statisch aufgeladen. Twenzet fing an zu stöhnen, aber Criid hielt ihm mit ihrer unverletzten Hand den Mund zu. Sie sah Hark an. Seine Augen waren weit aufgerissen. In seiner Schläfe pochte eine Ader. Unter ihnen hatte sich der Aufruhr unter den Kriegern des Blutpakts gelegt. Sie standen stocksteif da und starrten mit den Gewehren in den Händen in die Ferne. Sie spürten es ebenfalls. Kein Geräusch war zu hören, nur das Tuckern der leerlaufenden Panzermotoren und das langsam nachlassende Knistern der Flammen der ausbrennenden Valkyrie. Der Nachtwind frischte auf. Der Boden, die Luft, die gesamte Welt schien einen Moment lang zu zittern. Sie hörten ein Heulen. Es war ein jämmerliches Jaulen, als leide ein Tier unter großen Schmerzen, und es schien von überall zu kommen. Die Blutpakt-Krieger schraken zusammen und versuchten offenbar, den Ursprung ausfindig zu machen. Sie fingen wieder an zu schreien, als ihnen aufging, dass das Geheul seinen Ursprung bei einem von ihnen hatte. Der betroffene Krieger riss sich den Helm und die Gesichtsmaske ab. Er zitterte, wie in den anfänglichen Zuckungen eines Krampfanfalls. Zwei seiner Kameraden machten Anstalten, ihm zu helfen. Er tötete sie. Sein Autogewehr bellte ein hartes Knallen in die Nachtluft. Er schoss immer weiter und mähte noch zwei Männer nieder, die vor ihm zurückwichen und protestierend mit den Armen wedelten. Verirrte Schüsse prallten vom nächsten Panzer ab. Dessen Kommandant brüllte vor Wut, erhob sich aus seinem Turmluk und erschoss den heulenden Wahnsinnigen. Der Mann fiel um und starb mit im Krampf durchgebogenem Rücken. Der Offizier brüllte weiter, während er von seinem Panzer kletterte. Krieger, die zu Beginn der Schießerei Deckung gesucht hatten, erhoben sich langsam. Der Offizier ging zum Leichnam des
Irren und wies dabei im Vorbeigehen lautstark jeden zaghaften Soldat zurecht. Er blieb vor dem Leichnam stehen und gab noch vier Schüsse auf ihn ab. Eine gegabelte elektrische Entladung sprang aus dem Leichnam und traf die Pistole des Offiziers in einem Funkenregen. Der gewaltige elektrische Schlag schleuderte ihn rückwärts durch die Luft. Er prallte mit derartiger Wucht vor den Kettenschutz seines Panzers, dass sein Rückgrat brach. Die elektrische Entladung, blauweiß wie Eis und so grell wie ein Laserstrahl, beleuchtete den Rumpf des Panzers in einem knisternden, blitzenden Schauspiel rohen Starkstroms. Dann sprang sie weiter und traf den nächsten Krieger im Gesicht. Der Krieger bockte und zuckte, als der Strom sein zentrales Nervensystem überlud. Die Energie ließ von ihm ab, und noch bevor sein schlaffer Leichnam die Zeit zum Umfallen gefunden hatte, war der blaue Gabelblitz bereits zum nächsten Opfer übergesprungen, dann zum nächsten und wieder zum nächsten. Alle starben, die letzten Sekunden als krampfhaft zuckende Marionetten tanzend. Der Kommandant des zweiten Panzers tauchte in seiner Luke auf und brüllte dem Rest seiner Infanteristen zu, sich zurückfallen zu lassen. In der allgemeinen Panik bemerkte niemand, wie sich die vier langen Läufe der Hydra-Batterie langsam in die Horizontale senkten. Der Flakpanzer eröffnete das Feuer unter ohrenbetäubendem Lärm. Seine vier Autokanonen waren als Luftabwehrgeschütze konzipiert und verschossen Sprenggranaten mit extrem hoher Feuergeschwindigkeit. Alle vier Kanonen trafen das Heck des nächsten Panzers aus einer Entfernung von vielleicht zehn Metern. Trotz seiner massiven Panzerung und der monumentalen Stärke seines Fahrgestells wurde der größere Panzer zerfetzt. Sein Rumpf riss auf wie nasses Papier, und eine Milliarde Metallsplitter stoben in einem tödlichen Hagelsturm davon. Weniger als eine Sekunde nach Beginn der Auflösung des Panzers fanden Sprenggranaten dessen Magazin. Die Sonne ging auf, und alles starb.
Der Überdruck der gigantischen Explosion schleuderte Hark und Twenzet von dem Felsen. Criid gelang es, sich festzuhalten. Ein sich ausdehnender Feuerball entstand und versengte die Luft über ihr, und eine Staubwand flog vor der Druckwelle her nach außen. Kleine Trümmerstücke und Gesteinsbrocken regneten aus dem Nachthimmel nieder. Criid erhob sich. Die Gegend unter ihr war ein Chaos aus Flammen. Alle drei Panzerfahrzeuge waren ausgelöscht worden. »Hark?«, rief sie. »Hark?« Er war unter ihr im Schatten der Klippe. Twenzet lag neben ihm auf dem Boden. Hark rappelte sich langsam auf. »Alles in Ordnung?«, rief er zu ihr hoch. »Ich kann Lichter sehen!«, rief sie zurück, wobei sie nach Süden zeigte. »Ich kann Lichter sehen, die hierher unterwegs sind!« Hark stieg auf einen Felsen und hielt Ausschau. Fahrzeuge näherten sich rasch, deren Scheinwerfer schaukelten, da sie auf ihren Ketten über die Dünen und das Geröll rumpelten. »Thron helfe uns«, murmelte Hark und fragte sich, ob sein Kom wohl noch funktionierte. III Rawne hörte das kreischende Tosen der Flammenwerfer vom Haupttor durch den Korridor hallen. Geister, viele davon verwundet, strömten überall durch den Tunnel in die Basiskammer. »Obel!« Obel hinkte die Treppe zum ersten Absatz empor, wo Rawne stand. »Das Haupttor ist erledigt. Alles war gut und schön, solange wir Muni hatten, aber …« Er zuckte die Achseln und sah Rawne an. »Sie haben Flammer an der Spitze, Kommandant. Uns blieb keine andere Wahl als der Rückzug.« Rawne nickte. Er hatte noch ein Magazin für seine Pistole und hielt bereits sein Kampfmesser in der Hand. »Jeder, der noch Muni hat, soll zum Lazarett und es so lange wie möglich verteidigen. Da sind Männer, die nicht transportfähig sind. Alle anderen gehen in den Untergrund. Die Männer sollen ausschwärmen und sich verstecken, egal wo, in einer Ecke oder
Nische oder auch nur im Schatten, und warten, bis irgendwas zu ihnen kommt, das sie töten können.« Obel salutierte und wandte sich seinen Männern zu, um die Anweisungen weiterzugeben. »Beltayn!«, rief Rawne. Unter ihm packten die Kom-Offiziere gerade die letzten Kom-Geräte zusammen. »Schaffen Sie sie raus, sofort!«, brüllte Rawne. »Zu Befehl, Kommandant!« »Kolea?« »Rawne?«, antwortete Kolea über Kom. Sein Signal war gestört und von reichlich Hintergrundlärm überlagert. »Wie steht es?« »Wir haben Osten vier, fünf und sieben verloren. In den Korridoren heißt es Mann gegen Mann, und es wird schlimmer. Sie strömen herein. Irgendwas von oben?« »Negativ«, sagte Rawne. Seit sechs Minuten waren die Meldungen von Kamori und den anderen Offizieren an der Klippenfront ominöserweise verstummt. Rawne warf einen Blick auf das tiefe Steingewölbe der Basiskammer und die große Holztreppe, die sich wie ein ausgewachsener Nalbaum in ihrer Mitte erhob und deren Absätze auf jeder Ebene wie Zweige in die angrenzenden Korridore führten. Geister liefen in alle Richtungen, flohen ins Haus, trugen Nachschub, Kom-Geräte und verwundete Kameraden. Sie waren unterwegs zu Schlupflöchern, in Keller und Dachstuben, in Korridore und Treppenhäuser, um ihr letztes Gefecht auszutragen, allein oder in kleinen Gruppen, in dem sie mit ihrem ehrlichen Silber trotzig auf den Tod einstechen würden, der das Haus am Ende der Welt überrannte. In welche Ecken von Hinzerhaus sie auch liefen, Rawne hoffte, sie würden ihr jeweiliges Ende ebenso schnell finden, wie sie tapfer waren. Eines war sicher: Für keinen würde es ein Entkommen geben. Es blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken. Allein das laute Gebrüll des Feindes draußen drohte, das Haus zum Einsturz zu bringen. Aus dem Tunnel schossen Flammen in die Basiskammer. Auf den untersten Stufen wurden Mkfeyd, Mosark und Vril erfasst und eingehüllt. Ihre um sich schlagenden Gestalten fielen rückwärts die Treppe hinunter. Flammen leckten nach der Holztreppe und
versengten die fleckigen braunen Bodenfliesen. Ein herrenloses Kom-Gerät wurde erfasst und explodierte. »Bewegung!«, rief Rawne. »Bewegung!« Ein weiterer Flammenstrahl fegte in die Basiskammer. Dann tauchten die ersten Feindsoldaten auf, rußige Teufel in schweren Kitteln mit langen Feuerlanzen. Sturmtrupps folgten ihnen auf dem Fuß und gaben Schüsse auf die Treppenabsätze ab. Holzstufen splitterten. Geländer explodierten wie Reisig. Von Laserstrahlen durchbohrt, fiel ein Geist von einem der oberen Treppenabsätze nach unten. Rawne drehte sich um und schoss auf die eindringenden Gestalten. Die letzten Soldaten bei ihm, darunter auch Beltayn, eröffneten das Feuer mit ihren Pistolen, während sie sich über die Treppe nach oben zurückzogen. Rawnes erste Schüsse trafen einen Flammer, der zu Boden ging, während sein Werfer unkontrolliert hin und her schwenkte wie ein Feuerdrache, mehrere Krieger versengte und sie zurückdrängte. Gewehrfeuer des Blutpakts erfüllte den Raum mit Bändern aus Licht. Tokar, der direkt neben Rawne stand, fiel nach hinten, als ihm die Schädeldecke weggesprengt wurde. Folore brach auf dem ersten Absatz zusammen, durch automatisches Feuer beinahe entzweigeschnitten. Pabst wurde so schwer getroffen, dass er rückwärts durch das Geländer geschleudert wurde und nach unten fiel. »Zurück! Zurück!«, rief Rawne. Er rannte zum zweiten Absatz empor und schob dabei die Männer vor sich her. »Raus hier! Nichts wie raus hier!« Creach fiel auf Hände und Knie, während ihm das Blut aus dem Mund schoss. Beltayn versuchte ihn aufzuheben und weiterzutragen. Ein Schusshagel mähte sie beide nieder. »Schweine!«, brüllte Rawne und schoss nach unten auf die vorrückenden Angreifer. Er erreichte Beltayn und Creach. Letzterer war tot. Beltayn hatte Treffer in die Seite und den Oberschenkel abbekommen, und seine Uniform war voller Blut. Er blinzelte zu Rawne hoch, das Gesicht mit Blutspritzern gesprenkelt. »Irgendwas ist faul«, sagte er. »Sie sind angeschossen worden, Sie dämlicher Hund«, sagte Rawne. Er hievte sich Beltayn über die Schulter. »Herr Major!«, rief Rattundo ihm ein paar Stufen höher zu. Der Belladoner schoss über Rawnes Kopf hinweg.
Rawne fuhr mit Beltayn auf der Schulter herum und sah die Sturmtruppen des Blutpakts hinter sich die Treppe emporstampfen. Er schoss dem ersten in den Bauch und dem zweiten in Hand und Stirn. Der dritte feuerte mit seinem Karabiner aus der Hüfte. Der Schuss streifte Rawnes Wange mit betäubender Gewalt. Hinter ihm bekam Rattundo die volle Wucht des Schusses ab und wurde gegen das Treppengeländer geschleudert. Rawne schoss wieder, aber seine Pistole war leer. Mit wütendem Brüllen warf er sie nach dem Soldaten, und die schwere Pistole traf den Mann mit genügend Kraft im Gesicht, um ihn umzuwerfen. Hände packten Rawne und Beltayn von hinten. Rerval, Nehn und Garond zogen sie die Treppe empor auf den dritten Absatz. Bonin und Leyr hatten Laserpistolen in beiden Händen und jagten Schüsse die Treppe hinunter, um ihnen bei ihrem Rückzug Feuerschutz zu geben. Sie schafften es in einen Seitengang und schlugen die Richtung zum Lazarett ein. Nehn und Rerval hatten Rawne Beltayn abgenommen und trugen ihn gemeinsam. Das Knattern der Schusswaffen folgte ihnen, vom lauten Krachen der Granaten und dem heiseren Tosen der Flammenwerfer untermalt. Brandgestank mischte sich in die Luft. Sie werden alles rings um uns abfackeln, dachte Rawne, und uns einfach wie Ratten verbrennen. Und von uns werden nur vertrocknete Schädel in einem staubigen Tal übrig bleiben. »Immer weiter«, sagte Corbec. Rawne blieb stehen und drehte sich um. »Weiter, Major!«, rief Bonin. »Worauf warten Sie denn?« Rawne starrte in Corbecs funkelnde Augen. »Du bist nur ein Geist«, sagte er. »So was wie nur ein Geist gibt es nicht«, erwiderte Corbec. Dann war Corbec nicht mehr da. Laserstrahlen peitschten durch den Korridor an Rawne vorbei. Er lief hinter den anderen her. Sturmtruppen des Blutpakts donnerten brüllend und schießend durch den Korridor hinter ihm her. Rawne sah Daur, Haller und Caober vor sich. Sie standen mitten im Korridor und versperrten ihn. »Zurück!«, brüllte Rawne, als er sich ihnen näherte. »Kehren Sie um!« »Runter auf den Boden«, erwiderte Daur.
IV Die am Rand des Lagers geparkten Fahrzeuge gingen in einem zufriedenstellend dramatischen Wuusch hoch. In den anschließenden Sekunden wurde es im Lager hektisch. Feindsoldaten und Versorgungspersonal liefen wild schreiend durcheinander und brachten Löschwerkzeuge. Der Feuerschein der brennenden Fahrzeuge erleuchtete das gesamte Lager und warf lange, tanzende Schatten. Ein viertes Fahrzeug fing Feuer, da die Flammen durch den mit Treibstoff getränkten Staub rasten. In dem ganzen Aufruhr bemerkte kaum einer der umhereilenden Feinde, dass einige von ihnen einfach umfielen. Eisenbolzen schossen lautlos aus der Dunkelheit heran. Ein Soldat fiel auf den Bauch. Ein Mechaniker mit einem Schlauch kippte auf die Seite. Ein Unteroffizier lief gegen ein Zelt und blieb liegen. Eszrah blieb in Bewegung. Er arbeitete sich weiter von Deckung zu Deckung, schoss einen Bolzen nach dem anderen ab und sorgte dafür, dass jeder traf. Wenn möglich, sammelte er seine verschossenen Bolzen wieder ein, indem er sie aus dem toten Fleisch drehte, um seinen Regenbagen noch einmal mit ihnen zu laden. Er lief an einem großen Zelt vorbei und verharrte kurz, um zwei Bolzen durch die Leinwand zu schießen. Die Silhouetten der Männer darin zuckten, fielen zu Boden und blieben still liegen. Im Vorbeilaufen trat Eszrah Brenner um und rollte die Funken sprühenden, zischenden Behälter auf Bodenplanen und an Zeltwände heran, wo die verschütteten Kohlen die Leinwand entzündeten. Ein Krieger mit einer Grabenaxt kam aus einem Zelt gestürmt und ging mit der Waffe auf den Nachgahner los. Eszrah jagte ihm aus nächster Nähe einen Bolzen ins Brustbein. Eszrah lief weiter. Hinter ihm hallte eine weitere Explosion durch die Nacht. Mkoll setzte seinen ersten Sprengsatz ein. Mit ihm zerstörte er ein Vorratszelt und lief dann weiter in Richtung Kom-Mast. Wenn ihm ein Feind über den Weg lief, mähte er ihn mit Schüssen aus der Hüfte nieder. Ein paar Schüsse schlugen ihm entgegen, als sich der Feind langsam besann. Mkoll duckte sich hinter eine Reihe von Zelten. Bei jedem schlitzte er die Rückwand mit seinem Bajonett auf und schoss auf
alles, was sich darin befand. Etwa auf halbem Weg tauchten Blutpaktkrieger am anderen Ende der Reihe auf und schossen auf ihn. Laserstrahlen zischten an ihm vorbei. Mkoll sprang durch den Schlitz in das Zelt, den er soeben geschnitten hatte. Drinnen griff ein Offizier mit einer grässlichen Masse aus Narbengewebe als Gesicht nach seiner Boltpistole. Mkoll brach ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel und rannte weiter. Mehr Laserstrahlen fegten blindlings und wahllos durch die hinter ihm flatternde Zeltleinwand. Er verließ das Zelt durch den Vordereingang. Eine Kugel traf ihn in die linke Schulter und warf ihn um. Mkoll rollte sich ab und gab einen raschen Feuerstoß ab, der die beiden auf ihn einstürmenden Feindsoldaten erledigte. Er stand wieder auf. Mehrere Zelte standen in Flammen. Willkürliche Schüsse und Gewehrsalven hallten durch das Lager. Hinter sich hörte er Verfolger durch das Zelt preschen und warf seine Granate hinein. Es gab einen Blitz, und die Seiten des Zelts wölbten sich nach außen und rissen. Rauch wallte durch die Risse. Er hatte noch drei Sprengsätze übrig. Genug für den Kom-Mast, dachte er. Die Hauptgebäude des Lagers, zwei große Fertigbauten, standen nah beim Mast, der auf der Plattform eines Feldtransporters errichtet war. Mkoll folgerte, solange er noch am Leben war, könne er sowohl den Mast als auch das Schwein zum Schweigen bringen, das seine Befehle durch ihn gab. Er lief weiter zu den Fertigbauten. Im Laufen erkannte er ohne einen Funken des Zweifels, dass ihn noch immer etwas vorwärts trieb. Irgendwas verriet ihm, dass die Fertigbauten wichtiger waren als alles andere. Eszrah hatte keine Bolzen mehr. Sein letzter Schuss hatte einen großen Mechaniker erwischt, der ihn mit einem Vorschlaghammer angriff. Eszrah ließ den Regenbagen fallen und zog Gaunts Schwert. Es fühlte sich klobig und unvertraut an. Schwerter hatten nie zu seinem Waffenarsenal gehört. Immer noch laufend, schaltete er die Klinge ein und spürte, wie sie vor Energie pulsierte. Ein Feindsoldat kam aus einem brennenden Zelt, und Eszrah mähte ihn nieder, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Die Klinge durchschnitt sauber den Rumpf des Mannes. Zwei weitere Soldaten tauchten auf, und einer sah den Partisan gerade noch rechtzeitig, um einen Schuss abgeben zu können. Er durchbohrte
Eszrahs linke Seite knapp über der Hüfte. Bevor einer der beiden einen zweiten Schuss abgeben konnte, hatte er sie erreicht und schwang die leuchtende Klinge. Der erste Hieb schnitt ein Gewehr entzwei, der zweite enthauptete seinen Besitzer. Eszrahs Schulter rammte den anderen Mann zu Boden, dann durchbohrte er ihn mit der Klinge. Als Schwertkämpfer machte er mit Effizienz wett, was ihm an Finesse fehlte. Schüsse fegten an ihm vorbei. Alles war voller Rauch. Eszrah schlitzte die Seite eines Zelts auf, lief hinein und schnitt sich auf der anderen Seite einen Weg nach draußen. Der voll bewaffnete Krieger auf der anderen Seite drehte sich überrascht um, und Eszrah ließ die Klinge auf seinen Helm niedersausen. Die Klinge durchschnitt ihn mühelos. Der bis zum Brustbein gespaltene Krieger sank in sich zusammen. Einer mehr für den Blottoll. Eszrah sah einen großen Fertigbau vor sich. Die Wunde in seiner Seite blutete stark. Er wurde nicht langsamer. Dadurch hätte er dem Feind nur ein besseres Ziel geboten. Er stürmte in den Fertigbau. Es war eine lange Hütte, die Kommandozentrale, voller Kisten, Klappstühle und Kartentische. Messinglampen hingen an Stützstreben. Ein Unteroffizier des Blutpakts im Eingang fuhr überrascht herum, um dem Eindringling den Weg zu versperren, und zog dabei seine Pistole. Eszrah verpasste ihm einen beidhändig geführten Sensenhieb, der den Offizier rückwärts schleuderte, bis er über eine Kiste fiel. Ein zweiter Unteroffizier ging mit einem Ausruf der Bestürzung und einem Dolch auf Eszrah los und spießte sich auf dessen Klinge auf. Der Kommandant des Lagers stand im hohen Rang eines Damogaur. Er hatte die absolute Kontrolle über acht Sirdar-Brigaden und war nur dem Etogaur seiner übergeordneten Einheit und dem Gaur verantwortlich, der über sie alle herrschte. Er war von massiger Statur. Im Blutpakt stieg man nur auf, wenn man fähig war, sich etwaiger Rivalen zu erwehren. Er erhob sich von seinem Platz am anderen Ende der Hütte und trat Eszrah entgegen. Seine rote Kampfuniform war mit Stahlplatten verstärkt sowie mit Goldbesatz und Hunderten geplünderten und verunstalteten Imperiumsorden geschmückt. Das Gesicht war hinter einer grinsenden Maske aus Silber verborgen.
Der Damogaur griff nach der nächsten Waffe, einem großen, beidhändig zu führenden Kettenschwert eines Typs, der in der Garde allgemein unter dem Namen »Ausweider« bekannt war. Der Damogaur aktivierte seine Waffe und stürmte mit dem Kampfruf seiner Einheit auf den Lippen durch die Hütte. Eszrah wich nicht und hob das Energieschwert zu seiner Verteidigung. Sekunden später hatte der Partisan erkannt, dass ein gutes Schwert zwar gut schneiden, aber ein Mann ohne richtige Ausbildung im Schwertkampf niemals hoffen konnte, einen geübten Schwertkämpfer zu besiegen. Eszrah ut Nach hatte das Ende seines Dodenwegs erreicht. V Die ersten Fahrzeuge des motorisierten Zweiundfünfzigsten Cadogus kamen schaukelnd und mit laufendem Motor zum Stillstand. Staub wallte und leuchtete im Licht der Scheinwerfer wie Rauch. Ein Offizier sprang vom Trittbrett eines SalamanderKommandofahrzeugs und lief vorwärts. »Kommissar Hark?« »Ja«, rief Hark zurück, während er ins Licht der Scheinwerfer trat und dabei seine Augen abschirmte. Er konnte erkennen, dass die führenden Fahrzeuge nur die Spitze einer umfangreichen gepanzerten Kolonne bildeten. »Oberst Bacler, dritte Panzergrenadier, Zweiundfünfzigstes Cadogus. Ich hätte nicht gedacht, dass wir Sie lebend antreffen würden.« »Sie haben mich gesucht?«, fragte Hark. »Wir bekamen Nachricht, Ihr Vogel wäre hier in der Nähe abgestürzt, Kommissar. Das Oberkommando in Elikon hat uns einen Umweg hierher befohlen, in der Hoffnung, Überlebende zu finden.« »Ich habe Verwundete bei mir«, sagte Hark. »Sanitäter an die Front!«, rief Bacler in sein Kom. »Elikon hat nicht gehofft, dass Sie Überlebende finden würden, Oberst«, sagte Hark. »Wir haben kritische Dokumente in Papierform bei uns.« »Das habe ich mitbekommen, Kommissar«, sagte Bacler. »Hat etwas von dem Material den Absturz überlebt?«
Sanitätstrupps kamen angelaufen, um Criid und Twenzet zu helfen. »Diese Seesäcke bei meinen Leuten«, sagte Hark. »Es ist uns gelungen, noch einiges aus dem Wrack zu retten.« »Meine Befehle lauten, das Material so schnell wie möglich nach Elikon zu schaffen.« »Nur zu«, sagte Hark. Bacler befahl einigen Soldaten, die Seesäcke einzusammeln. »Wie ist der Stand der Dinge, Oberst?«, fragte Hark. Bacler zuckte die Achseln. »In der Schwebe. Das Cadogus ist durch den Pass gerauscht und hat dem Feind in drei Zonen den Weg versperrt. In allen drei Zonen steht es auf des Messers Schneide. Zehn Kilometer nördlich von uns findet eine ziemlich heftige Panzerschlacht statt. Dorthin waren wir unterwegs, als wir den Befehl bekamen, den Umweg zu machen. Dieses ganze Tal ist voll von irregulären Feindeinheiten, die sich von der Hauptfront abgesetzt haben. Wie Sie selbst herausgefunden haben.« »Wie stark sind Sie?«, fragte Hark. »Vierzig normale, fünfundzwanzig leichte plus tausend Mann in Transportern und sanktionierte Unterstützung. Ihnen ist wahrscheinlich klar, dass es die sanktionierte Unterstützung war, die Sie gerettet hat?« »Ja«, sagte Hark. »Irgendwann ist mir klar geworden, was es war.« »Ich teile die Gruppe auf und schicke den Großteil durch das Tal an die Front«, fuhr Bacler fort. »Eine schnelle leichte Einheit unter meinem persönlichen Kommando wird Sie und Ihre Dokumente nach Elikon bringen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Hark. »Was ist mit Hinzerhaus?« »Es tut mir leid, Kommissar, aber darüber weiß ich nichts. Ich glaube, dass Verstärkung dorthin unterwegs ist, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.« Hark blieb eine Weile stumm. Ihm war ein wenig schwindlig, und er fühlte sich unwürdig. Plötzlich waren die Aussichten nicht schlecht, dass er lebend aus dieser Gefechtszone herauskommen würde. Das kam ihm falsch vor, jedenfalls wenn die Geister … das nicht würden. »Alles in Ordnung, Kommissar?«, fragte Bacler stirnrunzelnd. »Ja. Mir ist nur gerade etwas eingefallen. Zu meinem Bedauern muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Major Berenson in Ausübung seiner Pflicht getötet wurde.«
»Ja, das war eine verdammte Schande«, erwiderte Bacler. Hark zeigte mit einem Kopfnicken auf das ausgebrannte Wrack der Valkyrie auf dem Hang hinter ihnen. »Ich wollte ihn herausholen, aber es war zu spät«, sagte er. Bacler sah ihn seltsam an. »Habe ich etwas Falsches gesagt, Oberst?« »Major Berenson ist gefallen, als seine Valkyrie vor fünf Tagen auf dem Weg nach Hinzerhaus abgeschossen wurde«, sagte Bacler. VI Daur, Haller und Caober hoben die schweren, antiken Waffen und zielten. Rawne warf sich zur Seite und presste sich flach an die Korridorwand. Die drei Männer schossen. Die Schanzbüchsen machten ein Geräusch wie der elektrisch verstärkte Schrei eines Adlers. Jede spie einen dicken, beständigen Strom aus weißem sengenden Licht. Am anderen Ende des Korridors trafen die Strahlen die Blutpaktsoldaten, die ihnen auf den Fersen waren. Die feindlichen Gestalten wurden nicht einfach getroffen, sie wurden vernichtet. Leiber verdampften in Wolken aus atomisiertem Gewebe. Der Strahlenstrom fegte durch die vorderste Reihe, ließ sie explodieren und atomisierte die Reihe dahinter. Die drei Männer hörten auf zu schießen, und die Strahlen erloschen. »Nachladen!«, brüllte Daur. Sie öffneten die schweren Schlösser der alten Waffen, warfen die verbrauchten schwarzen Kiesel darin aus und legten leuchtend weiße Klumpen ein, die sie aus ihrer Tasche holten. Die Schlösser schnappten zu. Rawne war mittlerweile hinter den drei Männern angelangt. »Was ist denn jetzt los?«, stammelte er. Nach einem Moment der Benommenheit angesichts der Wut des ihnen entgegenschlagenden Feuers setzte der Blutpakt nun den Angriff fort und strömte unkontrolliert feuernd durch den Korridor vorwärts. »Feuer!«, befahl Daur.
Die Schanzbüchsen kreischten erneut. Helle Strahlen blitzten durch den Korridor, und Leiber lösten sich in Wolken feuchter Materie auf. Der Korridor war plötzlich von einem Nebel aus Blutpartikeln erfüllt. Rawne lehnte sich schwer atmend an die braun glänzende Korridorwand. Hinter der Feuerlinie sah er Dutzende anderer Geister aus der G-Kompanie mit Schanzbüchsen kommen. Andere Soldaten hatten aus ihren Tarnumhängen Schlingen geformt und trugen paarweise vier oder fünf der Schanzbüchsen gleichzeitig wie auf Sanitätstragen zum nächsten Treppenhaus. Gardisten mit Wasserkanistern und Kochtöpfen folgten ihnen. Die Gefäße waren mit leuchtend weißen Kieseln gefüllt. »Wie haben Sie hingekriegt, dass sie funktionieren?«, fragte Rawne. Daur trat aus der Linie und bedeutete dem nächsten Soldaten, seinen Platz einzunehmen. Merrt eilte vorwärts. 571RB hing an seinem Riemen über Merrts Schulter. Er stellte sich neben Caober und hob die massige Schanzbüchse. Merrt drückte ab und spürte den wohltuend massiven Rückschlag der alten Waffe zum ersten Mal. »Baskevyl war es«, sagte Daur, als er sich neben Rawne duckte. Er hielt seine Schanzbüchse senkrecht, sodass der Kolben auf dem Boden ruhte. »Er hat das System hochgefahren.« »Heiliger Thron«, murmelte Rawne. »Ich versuche, sie im ganzen Haus zu verteilen. Auch Munition. Baskevyl führt Slomans Kompanie nach oben, um die Männer dort zu bewaffnen. Chiria versucht auf Ebene acht auf die Südseite zu kommen, um den Männern dort den Rücken zu stärken. Es ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich eher ein Hinrichtungsaufschub als eine Begnadigung, aber wir können etwas daraus machen. Wir können den Schweinen noch eine verdammt gute Show bieten, bevor wir abtreten.« »Ban«, sagte Rawne. »Ja, Major?« »Ich will auch eins von diesen Dingern.« »Das dachte ich mir«, sagte Daur. Die Verteidigungslinie aus Glockenkuppeln und Kasematten auf dem Dach des Hauses brannte. Mehrere Kuppeln waren vollkom-
men aufgesprengt worden, und Flammen und Funken stoben in den kalten Nachthimmel. Die Kompanien H und B hatten den Feind so lange wie möglich zurückgehalten, aber nach dem Verlust der ersten Kuppel und dem Eindringen der ersten BlutpaktSoldaten war es rasch bergab gegangen. Bei den Angreifern herrschte kein Mangel an Granaten. Sie hatten sogar Flammer die steile Nordwand emporgezogen, und sie zeigten keine Anzeichen von Erschöpfung nach der anstrengenden Kletterpartie. Varl hatte den Verdacht, dass sie dafür viel zu erfüllt waren von Blutgier und künstlichen Stimuli. Vigo Kamori wurde fünf Minuten, bevor das letzte Gewehrmagazin den Geist aufgab, in oberer Westen sechzehn von einer Nagelbombe getötet. Er starb nicht weit von der Stelle, wo Gaunt gefallen war. Varl kam es vor, als wiederhole sich ein Fluch. Er hatte beide Tode miterlebt. Er versuchte Rawne über Kom zu erreichen, aber der Interkom war bereits seit einiger Zeit tot. Kamori hatte ohne jedes Zaudern und Zagen seine Pflicht erfüllt. Er hatte beständig von vorn befehligt, auch als die Abwehrschlacht in den brennenden Korridoren in einen bestialischen Kampf Mann gegen Mann übergegangen war. Varl, der gezwungen war, auf seine Dienstpistole zurückzugreifen, hatte festgestellt, dass die Männer auf ihn als ihren neuen Anführer schauten. »Kamori ist tot! Kamori ist tot!«, schrie Cant. »Was machen wir jetzt?« »Aufzuhören, mir ins Ohr zu brüllen, wäre schon mal ein Anfang«, knurrte Varl, indem er einen Schuss abgab, um einen mit erhobener Axt heranstürmenden Blutpakt-Soldaten aufzuhalten. »Vielleicht können wir sie in der nächsten Galerie aufhalten«, schlug Maggs vor. »Ja, gut«, sagte Varl. »Zusammenrücken!«, brüllte er. »Zusammenrücken und zurückfallen lassen! Ruhig und geordnet! Habt ihr verstanden?« Mit Pistolen schießend oder mit munitionslosen Gewehren mit aufgepflanzter Klinge in den Händen, brüllten die Männer rings um ihn ihre Zustimmung heraus. »Schießt einfach weiter«, rief Varl. »Sucht euch ein Ziel und schießt immer weiter. Das kannst du doch, Cant, oder nicht?« Cant sah ihn an. »Sie können mir ja dabei zusehen«, erwiderte er. »Das höre ich gern«, grinste Varl.
»Ihr habt den Sergeant gehört!«, brüllte Maggs. »Wenn sie uns will, kann sie verdammt noch mal noch auf uns warten!« Und sie wollte sie. Schüsse trafen sie. Rechts und links von Varl und Maggs fielen Männer und starben. Jemand bekam einen Treffer in den Mund, der ihm den Hinterkopf wegsprengte. Fenix verlor einen Arm und ein Ohr an eine Reihe Leuchtspurgeschosse und verblutete, bevor jemand zu ihm gelangte. Ezlan wurde von einem Schuss in den Bauch nach hinten geschleudert. Als Gunsfeld bei ihm ankam, um ihm zu helfen, stellte er fest, dass Ezlan eine scharfe Minirakete in der Bauchdecke stecken hatte. Ezlan heulte vor Schmerzen. »Es ist ein Blindgänger! Ezlan, es ist ein Blindgänger«, rief Gunsfeld ihm zu. »Sie ist nicht explodiert!« »Hol sie raus! Hol sie raus!«, schrie Ezlan. Gunsfeld packte das Geschoss und zog. Es war kein Blindgänger. Die Explosion tötete Ezlan, Gunsfeld und Destra sofort und blendete Dickerson, den berühmten Sockenstopfer. Varls Pistole klickte leer. Er suchte in seinen Taschen, da er sicher war, noch ein letztes Magazin zu haben. Er behielt immer eins »für den Notfall« übrig, was übersetzt ein Kopfschuss für sich selbst war, sollte die Lage jemals zu schlimm werden. Wie jetzt, dachte er. Seine Taschen waren verdächtig leer. In dem Chaos hatte er jedes Magazin benutzt. Er griff in seinen Hüftbeutel und holte die alte Autopistole heraus, die er als allerletztes Mittel bei sich trug. Er lud durch. Neun Patronen plus eine im Lauf. »Macht schon, zurück! Zurück!«, schrie Varl. Er schoss mit der Pistole. Die Kugel prallte von der Gesichtsmaske eines vorrückenden Blutpaktlers ab. »Du unnützes verfluchtes Ding!«, schrie Varl seine Waffe an. Cant prallte gegen Varl und stieß ihn gegen die Korridorwand. »Was machst du denn?«, rief Varl. Etwas kreischte, als schreie ein Adler. Ein greller Energiestrahl brannte sich durch den Korridor an ihm vorbei und verwandelte zwei Sturmtruppen des Blutpakts in wirbelnde Wolken aus organischen Trümmern. Weitere Strahlen folgten und ließen Feindsoldaten platzen wie reife Ploinfrüchte unter Einwirkung von Sprengsätzen.
Verstärkung war das Letzte, womit Varl gerechnet hatte. Baskevyl stürmte an ihm vorbei, ein langes Gewehr in den Händen. Andere, ähnlich bewaffnete Männer folgten ihm. Einer davon war Dalin Criid mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf seinem jungen Gesicht. Sie blieben stehen und sandten weitere Strahlen durch den Tunnel. »Varl?« Ludd tauchte auf, der eine zweite Gruppe von Männern anführte, die alle mit den antiken Gewehren bewaffnet waren. Ludd trug seine Pistole. »Kommissar.« »Ziehen Sie Ihre Männer zurück, so gut Sie können, und zwar ins Treppenhaus auf Ebene vierzehn. Dort wartet Preed mit Waffen zur Ausgabe.« »Das höre ich gern«, sagte Varl. Ludd drehte sich um und hob seine Stimme. »Männer von Tanith!«, brüllte er. »Wollt ihr ewig leben?« VII Eszrah taumelte zurück. Er hatte Schrammen im rechten Arm, im linken Oberschenkel und in der linken Schulter. So viel Blut war in seine graue Kleidung gesickert, dass man ihn leicht mit einem Soldaten des Blutpakts hätte verwechseln können. Er versuchte das Energieschwert zu schwingen. Der Damogaur fegte die Klinge mit seinem surrenden Kettenschwert beiseite und rammte Eszrah dann die Klinge seitlich gegen den Kopf. Der Nachgahner wurde zur Seite geschleudert und zerbrach einen Kartentisch. Der Damogaur hielt den langen Griff des Kettenschwerts mit beiden Händen umklammert und trat einen Schritt vor. Er kicherte tief und kehlig. Er spielte mit Eszrah. Er hatte ihn mit der Flachseite seiner Klinge niedergeschlagen. Eszrah streckte die Hand nach dem Griff des Energieschwerts aus, doch der Damogaur stellte einen Fuß auf Eszrahs Unterarm. Knochen knirschten. Eszrah ächzte vor Schmerzen. Der Damogaur, des Spiels nun überdrüssig, hob den Ausweider zum tödlichen Hieb. Die Zähne der Klinge surrten.
Eine winzige silberne Spitze, nicht größer als ein Fingernagel, trat aus dem Adamsapfel des Damogaur aus. Ein einzelner Blutstropfen glitzerte darauf. Der Damogaur kippte nach vorn und gab den Blick auf Mkoll frei, der die Zähne zusammengebissen und beide Fäuste um das Heft des Kampfmessers geschlossen hatte, das er dem Damogaur in den Nacken gerammt hatte. »Wat seggst du nu, Seele?«, fragte Mkoll. Eszrah gelang ein schwaches, schmerzverzerrtes Grinsen. »Ick segg, heiliger Feth«, flüsterte er. Mkoll riss sein ehrliches Silber aus der Leiche. »Ich habe Sprengsätze am Mast befestigt«, sagte er zu Eszrah, während er ihm aufhalf. »Wir haben vier Minuten.« Eszrah nickte und hob sein Schwert auf. »Wir können immer noch von hier verschwinden«, sagte Mkoll. »Uns in die Wüste absetzen, während das Lager verbrennt und alle nur darauf bedacht sind, den eigenen Arsch zu retten.« Eszrah schüttelte den Kopf. Er hob das Schwert und zeigte damit auf die Rückseite des Fertigbaus, wo es durch eine Zeltleinwand in den angrenzenden Bau ging. Mkoll wusste, was er meinte. Er empfand dasselbe, denselben Drang. Sie gingen durch den Fertigbau. Mkoll hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und hielt es schussbereit in den Händen. Nah bei der Tür kauerte ein Mann im Schatten. Er war eine plumpe, jämmerliche Gestalt mit einem vernarbten, aufgequollenen Gesicht und trug eine stinkende Lederschürze, die mit altem und frischem Blut verschmiert war. Seine Hände steckten in groben Lederfäustlingen. Er sah aus wie ein Arbeiter aus einer Fleischfabrik, wie der Bewohner eines infernalischen Schlachthauses. Als sie sich näherten, wimmerte er und hielt ihnen einen dreckigen Stachelstab entgegen, um sie zu bedrohen. Mkoll schoss ihm in den Kopf. Sie gingen an seinem zuckenden Leichnam vorbei, zogen die Leinwand beiseite und rochen Blut. VIII
Der schaukelnde Salamander raste an der Cadogus-Kolonne vorbei und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Hark saß gedankenverloren auf einem Klappsitz in der Kabine. Criid und Twenzet folgten in einem zweiten Salamander. Bacler, der neben Hark in der Kabine saß, hatte ihnen erzählt, dass sie ihre Eskorte am Ende der Kolonne in Empfang nehmen würde. Bacler war mit dem Kom-Gerät der Kabine beschäftigt und gab den Offizieren Anweisung, die nach seiner Abfahrt das Kommando über die motorisierte Abteilung übernehmen würden. In der Ferne war das Leuchten der Mündungsblitze des Artillerieduells zehn Kilometer nördlich am Nachthimmel zu sehen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge rauschten an ihnen vorbei, als sie an den vorrückenden Linien von Baclers Bataillon vorbeifuhren. Hark nahm die vorbeigleitenden Vehikel und Männer gar nicht zur Kenntnis. Schmerzen und Erschöpfung hatten ihn buchstäblich erledigt. Er schwankte auf seinem Sitz, ausgebrannt und verloren, verloren wie das Erste Tanith. Sein abgebrochener Maschinenarm schmerzte, und er fand den Schmerz einigermaßen lächerlich. Tief in seinem Kopf fingen die Dudelsäcke an zu spielen. Es waren tanithische Dudelsäcke, und sie spielten so, wie nur Brin Milo sie spielen konnte. Sie spielten so, wie sie in seinen gespenstischen Träumen in jenen letzten paar Jahren oft gespielt hatten. Er stand auf und streckte sich. »Kommissar?«, fragte Bacler. »Irgendwas wird passieren«, sagte Hark. »Was?« »Sagen Sie dem Fahrer, er soll anhalten«, sagte Hark. »Irgendwas wird passieren. Wenn die Dudelsäcke spielen, ist das immer ein Zeichen.« »Kommissar, Sie sind müde. Sie haben eine Menge durchgemacht …« »Halten Sie an! Ich höre die Dudelsäcke spielen.« Bacler lächelte verlegen. »Da spielen keine Dudelsäcke, Kommissar. Ich höre nichts.« Hark sah ihn an. »Das sollen Sie auch nicht, Oberst. Ich glaube, das Spiel war immer nur für mich bestimmt. Sagen Sie dem Fahrer bitte, dass er anhalten soll.«
»Halten Sie an«, rief Bacler in die Fahrerkabine. Der Kommissar war eindeutig verwirrt, aber das war kaum eine Überraschung. Es konnte nicht schaden, für ein, zwei Minuten auf ihn einzugehen. Der Salamander hielt an und schaukelte auf seinen Ketten nach. Criids Fahrzeug hielt dahinter mit ungeduldig aufheulendem Motor. »Alles in Ordnung, Herr Oberst?«, sendete der Offizier an Bord des zweiten Salamander zackig über Kom. »Warten Sie einen Moment, Leyden«, sprach Bacler in sein Kom. Hark stieg aus, sprang in den Staub. Er ging ein paar Schritte. Die Melodie hing in der Luft oder in seinem Kopf, er konnte sich nicht entscheiden, wo. Er empfand ein jähes, furchtbares Gefühl der Trauer und des Bedauerns. Es war, als werde ihm ein Traum gewahr, ein begrabener Traum, an den er sich endlich erinnern konnte. Er drehte sich zu dem anderen Salamander um. Criid und Twenzet waren ausgestiegen und starrten ihn an. »Hark?«, rief Criid. »Nur … nur eine Minute, Tona«, rief er zurück. Er setzte sich wieder in Bewegung, schritt die Reihe der Kolonne ab, an Panzern vorbei, deren Motoren im Leerlauf tuckerten, und an CadogusSoldaten, die bequem oben auf ihren Transportern saßen. Sie beobachteten ihn, wie er an ihnen vorbeiging, amüsiert über den Anblick des ramponierten, einarmigen Kommissars mit dem hoffnungslosen Gesichtsausdruck. Hark. Hark ging weiter und schritt immer schneller aus, vorbei an den Panzern und Transportern und weiter zum nächsten Abschnitt der wartenden Kolonne. Er ging zwischen zwei Reihen von TrojanZugmaschinen durch, die Tieflader mit Treibstofftanks zogen. Ihre Motoren röhrten, übertönten aber nicht die dünne, treibende Melodie. Hark. Die Fahrer der Zugmaschinen, deren Oberkörper aus den Dachluken ragten, sahen ihm dabei zu, wie er durch den Staub an ihnen vorbeischritt. Hinter den Tankern standen noch mehr Trojans in einer Reihe. Die Maschinen waren schwarz lackiert und hatten eine weitaus heiklere Fracht auf ihren Anhängern. Eine Gruppe von Männern in Umhängen und schwarzen Ledermänteln
trat vor Hark. Sie waren Kommissare, die das SonderabteilungsEmblem auf ihren Kragen und Epauletten trugen. »Lassen Sie mich passieren«, sagte Hark. Sie zögerten und traten dann beiseite. Helfen Sie mir. Massive Käfige mit dicken Eisenstangen standen auf Hängern, die von den ominösen schwarzen Trojans gezogen wurden. Dunkle, lahme Gestalten lauerten hinter den Gitterstäben, in Handund Fußschellen und an die nackten Metallrahmen in der Mitte eines jeden Käfigs gekettet. Einige der Käfige waren mit Stacheln und Dornen versehen, die nach innen zeigten. Trotz des Abgasgestanks, der von den Zugmaschinen herüberwehte, konnte Hark die Schmerzen riechen. Blut, Schweiß, Fäkalien, Wundbrand und der elende Geruch nach Statik erfüllten die Nachtluft. Die Dudelsäcke wurden lauter. Jeder Käfig wurde von stummen, dunklen Gestalten beaufsichtigt. Kommissare der Sonderabteilung, Servitoren, bewaffnete Wächter in schwarzer Uniform mit sonderbar dicken Vollhelmen, deren Visier geschlossen war, Männer und Frauen in dunklen Gewändern, die mit Schockstäben und Viehstangen bewaffnet waren. Bleiche, grimmige Gesichter und geschlossene Visiere folgten ihm, als er die Reihe abschritt. Helfen Sie mir, Hark. Hark blieb stehen. Ihm ging auf, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Die Traurigkeit, die schon seit Jahren an ihm fraß, war endlich durchgebrochen und hatte die gefrorene Oberfläche seiner emotionalen Reserviertheit geknackt. Sein Blick richtete sich auf den Käfig vor ihm. Die nach innen gerichteten Stacheln waren dunkel von getrocknetem Blut. Ein buckliger Mann in schwarzem Leder kam und baute sich vor Hark auf. »Sie dürfen sich dem Käfig nicht nähern«, zischte er durch verfaulte Zähne. »Leck mich«, sagte Hark. Eine Frau trat vor und stellte sich neben den Buckligen. Sie war alt und steif, und das dünne Gesicht war durch ein großes rotes Geburtsmal entstellt. Sie trug ein langes, strenges Kleid aus schwarzer Spitze, das im Wüstenwind raschelte. »Wärter Culcus hat vollkommen recht«, sagte sie. »Sie dürfen sich weder dem Käfig noch dem Exemplar nähern. So lauten die Regeln der Sanktionierten Division. Das ist nur zu Ihrer eigenen
Sicherheit, Kommissar. Psioniker, auch sanktionierte, sind gefährliche Tiere.« »Gehen Sie mir aus dem Weg«, sagte Hark. »Lassen Sie ihn passieren.« Hark sah sich um. Bacler war ihm die Reihe der Fahrzeuge entlang gefolgt, die humpelnde Criid neben sich. Criid standen Tränen in den Augen. Wahrscheinlich kann sie die zerbrechliche, klagende Musik auch hören, dachte Hark. »Lassen Sie ihn passieren«, wiederholte Bacler. Die alte Dame in dem schwarzen Spitzenkleid nickte, wich zurück und zog den Buckligen mit beiseite. Hark kletterte auf die schmierige Ladefläche des Hängers. Er kniete sich vor den Käfig, und seine Hände umschlossen die schmutzigen Gitterstäbe. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Das Ding im Käfig rührte sich. Es war nur ein Sack Fleisch, vermodert und eingefallen. Massive Schellen fesselten seine ausgemergelten Glieder an den Käfigrahmen. Hark konnte erkennen, dass es massiven chirurgischen Eingriffen unterzogen worden war. Nähnarben zogen sich kreuz und quer über seine schmutzige Kopfhaut, und augmetische Vorrichtungen waren in Nacken, Brust und Kehle implantiert worden. Die Ohrmuscheln waren mit einer Schere abgeschnitten und die Augen zugenäht worden. Es kauerte nackt in einer Lache seines eigenen Unrats. Offene, nässende Wundstellen bedeckten seinen Rumpf. Ist schon gut. »Nein«, sagte Hark. »Ist es nicht.« Das ist jetzt mein Leben. »Das ist kein Leben«, sagte Hark. Das Ding im Käfig bewegte sich. Die Ketten, die seinen ausgezehrten Leib hielten, klirrten. Ich habe Sie hier gespürt. »Ich weiß. Das ist mir jetzt klar.« Ich habe Ihre Nähe gespürt. Von euch allen. Von meinen Freunden. Meinen alten Freunden. Ich habe versucht, sie zu erreichen. »Ich fürchte, Sie haben uns wehgetan. Wir haben es nicht verstanden.« Es tut mir leid, Hark. Ich wollte nur helfen. Ihnen helfen zu überleben. »Ich weiß.« Ich wollte nur, dass Sie mich hören.
»Ich habe Sie gehört. Wir alle haben Sie gehört, in unseren Träumen, in den Dingen, die uns heimgesucht haben.« Hark putzte sich an seiner Manschette die Nase. Ich wollte nur, dass Sie mich hören. Ich wollte Ihnen nur helfen. Sie waren so weit weg und in so großer Gefahr, aber ich konnte Sie spüren. Ich habe versucht, Sie zu erreichen … »Sie haben uns erreicht«, sagte Hark. Das Ding im Käfig schauderte. Es gurgelte. Schleim troff aus dem Schlitz, der früher sein Mund gewesen war. Es lachte. Es ist keine präzise Kunst, das, was ich mache. Nicht so schablonenhaft und ordentlich wie die Arbeit in der Schmelzhütte oder das Soldatentum. Ich vermisse meine beiden alten Berufe. Was ich tue, ist nicht präzise, Hark. Sie waren so weit weg, ich konnte Sie nur über Ihre Erinnerungen erreichen. »Sie haben uns erreicht«, wiederholte Hark. Donner grollte. Reif hatte sich auf den Gitterstäben gebildet. »Das reicht jetzt!«, rief die alte Dame im schwarzen Spitzenkleid. Bacler legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihr etwas zu. Sie verstummte. Meine Wärter sind unruhig. Sie glauben, ich könnte etwas tun, jetzt, wo Sie hier sind. Sie glauben, Ihre Anwesenheit könnte mich provozieren. Sie glauben, ich könnte sie töten. »Ich weiß, dass Sie das nicht tun werden«, sagte Hark. »Obwohl ich es Ihnen nicht verdenken könnte, wenn Sie es täten.« Ich wollte Ihnen nur helfen. »Ich weiß.« Ich wollte nur, dass Sie mir helfen. Helfen Sie mir. Bitte, Hark, helfen Sie mir. Ich kann das hier nicht mehr ertragen. Das Ding im Käfig rasselte wieder mit den Ketten. Eiszapfen hingen von den Gitterstäben des Dachs herunter. »Ich helfe Ihnen«, flüsterte Hark, indem er das Gesicht an die Gitterstäbe drückte. Aber es muss richtig aussehen, Hark. Nach Kommissarsart, wissen Sie? Andernfalls wird man Sie aller möglichen Verbrechen anklagen. Sie werden Sie auseinandernehmen. »Ich weiß, was zu tun ist. Vertrauen Sie mir. Und verzeihen Sie mir.« Es gibt nichts zu verzeihen. Nur helfen Sie mir. Hark erhob sich. Er zog seine Boltpistole und lud sie durch.
»Durch die Gnade des Imperators!«, verkündete er so laut, dass die Wärter ihn hören konnten. »Du bist tot, und ich kann das nicht länger dulden. Du tötest meine Männer mit deinen Geistern.« Er entsicherte die Waffe und zielte durch die Gitterstäbe. »Das kann er nicht machen!«, rief die alte Dame. »Doch, das kann er verdammt wohl«, fauchte Criid hinter ihr. »Wollen Sie mir sonst noch irgendetwas sagen?«, flüsterte Hark. Seine Hand zitterte. Nur das, was ich in den letzten Tagen zu sagen versucht habe. »Und das wäre?« Er lebt. Er hat furchtbare Schmerzen, aber er lebt. Hark stutzte kurz. »Ruhe in Frieden«, sagte er. Das erbärmliche Ding, das früher einmal Agun Soric genannt worden war, schaute ihn mit seinen zugenähten Augen durch die Käfigstäbe an. Hark schoss. Er sprang vom Hänger. Die Dudelsäcke waren verstummt, für immer. Hark verspürte Übelkeit. »Was haben Sie getan?«, schrie ihn die alte Dame an. Hark schob sie beiseite. »Ich habe ihm gegeben, was erbrauchte.« »Sie haben ihn umgebracht!«, stammelte der Bucklige empört. »Nur im Tod endet die Pflicht«, erwiderte Hark, »und er hatte seine Pflicht tausendfach erfüllt.« Er entfernte sich von dem Hänger, die Boltpistole schlaff in seiner Hand. Hinter ihm stritten sich Bacler und Criid mit den Wärtern. Harks Fuß stieß gegen etwas, das im Staub lag. Er bückte sich. Es war ein Nachrichtenzylinder aus Messing. Hark hob ihn auf und schraubte ihn auf. Er war leer. IX
Mkoll und der Partisan betraten den zweiten Fertigbau. Der saure, metallische Geruch nach Blut lag in der Luft. Ein Dutzend Gefangene waren an primitive Holzrahmen gefesselt. Es war offensichtlich, dass sie einem intensiven Verhör unter Folter unterzogen worden waren. Sogar für einen abgebrühten Veteran wie Mkoll war der Anblick entsetzlich. Er blieb schwer atmend wie angewurzelt stehen. Die schlaffen, nackten Leiber, die an den Gestellen hingen, waren glitschig von Blut und mit schwarz verkrusteten Wunden bedeckt. Die Folter war von Rachsucht bestimmt, grausam und absolut typisch für die Methoden des Blutpakts gewesen. Einigen der Gefangenen hatte man Glieder amputiert oder Organe entnommen. Andere waren mit ihrem weichen Gewebe an das Gestell genagelt worden. Die grässlichen Werkzeuge des Foltergeschäfts, Stachelstöcke, Nägel und Spieße, lagen auf blutverschmierten Tabletts überall im Raum herum. Brandeisen lagen in qualmenden Brennern. Mkoll schritt die Reihe der Gefangene ab und erlöste jeden rasch und gnädig von seinem Elend. Der extreme Drang, den er empfunden hatte, hierher zu kommen und diesen Fertigbau zu betreten, war ebenso plötzlich und mysteriös verschwunden, wie er gekommen war. Er wollte nur raus und verschwinden. Aber er würde nicht gehen, bevor er diesen jämmerlichen Wesen weitere Qualen erspart hatte. Es war ganz einfach. Er brauchte nur seine vergiftete Klinge in eine offene Wunde zu drücken, um die Giftstoffe in den Blutkreislauf eindringen zu lassen. Das hatte einen schnellen, betäubenden Tod zur Folge, ohne die Notwendigkeit für Schüsse oder weitere Verwundungen. Er drückte seine Klinge auf eine offene Wunde im Bauch eines stämmigen Mannes, der teilweise gehäutet worden war. Der Mann öffnete kurz die Augen. Er lächelte Mkoll an, als er starb. Mkoll fühlte sich wie ein Ayatani-Priester, der eine letzte tröstende Berührung und einen Segen austeilte. Er ging zum nächsten Baumelnden und streckte seine salbende Klinge aus. Eszrah hielt seinen Arm fest und zog ihn zurück. »Was ist denn?«, fragte Mkoll. »Ihn nicht«, sagte Eszrah.
Mkoll sah zu dem hängenden Körper hoch. Der Mann war mehrfach ausgepeitscht worden. An manchen Stellen hing ihm die Haut in Fetzen herunter. Sein herabgesunkenes Gesicht war blutverschmiert. Die Schnüre, die ihn auf dem Gestell hielten, schnitten tief in Knöchel und Handgelenke. »Ich muss ihm helfen«, sagte Mkoll. »Ich muss seinen Qualen ein Ende bereiten.« Eszrah schüttelte den Kopf. Mkoll betrachtete den Verstümmelten genauer. Er sah die alten tiefen Narben auf dem Bauch, die Hinterlassenschaft einer vor vielen Jahren erlittenen Kettenschwertwunde. »Ach, Feth«, murmelte er. Sie schnitten ihn rasch ab und nahmen seinen schlaffen Körper herunter. Seine Augen öffneten sich. Er schaute sie an, während ihm Blut aus dem Mundwinkel lief. Mkoll ging auf, dass er geblendet worden war. »Sind wir die Letzten, die noch leben?«, fragte er, indem er den Kopf zu den Geräuschen drehte, die sie verursachten. »Sind wir das? Kann jemand antworten, bitte, irgendjemand? Sind wir die Letzten? Ist noch jemand da draußen? Sind wir die Letzten, die noch leben?«
DREIUNDZWANZIG DAS ENDE DER WELT IM HAUS Nalholz, Nalholz, hier SP Elikon, hier SP Elikon. Bitte antworten Sie. Bitte antworten Sie. Hören Sie, Nalholz? Wie ist Ihr Status? Bitte antworten Sie. SP Elikon Ende. (Ende der Nachricht) - Niederschrift einer Kom-Nachricht, fünfter Monat, 778 I
Spät am vierzehnten Tag kämpfte sich die motorisierte Einheit, die Berenson oder irgendein Warpflüstern, das sie als Berenson gekannt hatten, versprochen hatte, schließlich durch den Pass nach Hinzerhaus. Zwanzig Panzereinheiten mit Infanterieunterstützung und Luftunterstützung in Form einer ganzen Reihe von Kampfschiffen des Typs Vulture fuhren von hinten zwischen das Blutpakt-Heer, welches das Haus belagerte, und versprengten es in einer Schlacht, die achtundfünfzig Minuten dauerte. Die letzten zwanzig Minuten waren kaum mehr als ein Massaker. Der Blutpakt floh in die Felsspalten in den Bergen und ließ über viertausend Tote in der Staubschüssel und auf den unteren Hängen des Hauses zurück. Hinzerhaus selbst war eine entsetzliche Ruine. Dichter Rauch schraubte sich von hundert Brandherden in den Wüstenhimmel. Ausgucke und Kasematten waren gesprengt und zerstört worden. Mehrere Abschnitte der Südwand waren eingestürzt, sodass die darin begrabenen Betonbunker offen lagen. Die Mauern waren von hunderttausenden Einschüssen pockennarbig und abgesplittert. Das Wachhaus am Haupttor war vollkommen demoliert. Die oberen Schanzen entlang der Klippe lagen in Trümmern, jede Glockenkuppel war geborsten und aufgesprengt. Aus den Schießscharten der unteren Kasematten loderten beständig ungezügelte Flammen. Die Klippenwände wiesen Krater und die versengten Einschlaglöcher schweren Granatbeschusses auf. Major Kallard, der Kommandant des Entsatzheers, stieg vor dem Tor aus seinem Fahrzeug und starrte auf die Ruine. Die Vulture heulten über ihn hinweg, da sie noch einen abschließenden Überflug machten, bevor sie davonrasten, um flüchtende Feindeinheiten in den höchsten Höhen des Gebirges zu jagen. »Heiliger Thron«, murmelte Kallard, während er das brennende Bauwerk begutachtete. Er blickte sich nach seinem Adjutanten um, einem milchgesichtigen Mann namens Seevan. »Irgendwas?«, fragte er. Seevan versuchte es wieder mit seinem Kom und blickte dann mit einem Kopfschütteln zu Kallard hoch. »Nichts. Die Verbindung ist tot.« Kallard murmelte einen Fluch. Er winkte die erste Abteilung seiner Infanterie nach vorn und in die Ruine, in der Gewissheit, bereits zu wissen, was sie finden würden.
»Sehen Sie mal da, Herr Major!«, rief einer der vordersten Männer. Kallard drehte sich um. Gestalten tauchten aus der demolierten Ruine des Wachhauses auf. Ihre dunklen Uniformen hingen in Fetzen herab, und ihre Gesichter waren dreckverschmiert. Sie trugen fremdartig aussehende schwere Gewehre, die manche wie ein Joch quer auf den Schultern trugen. Sie marschierten ihm durch den Staub entgegen. Er sah ihnen zu und setzte dabei seine Mütze gerade. Sie hatten etwas an sich, das Respekt gebot. Sie blieben vor ihm stehen. »Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand am Leben ist«, entfuhr es Kallard. »Für mich ist es auch eher eine Überraschung«, erwiderte der hagere, dunkelhaarige Mann vor ihm. »Major Kallard, Zweiundfünfzigstes Cadogus, Mechanisierte Infanterie«, sagte Kallard, indem er das Zeichen des Aquila beschrieb. Der Wind seufzte. »Major Rawne, Kommandant, Erstes-und-Einziges«, erwiderte der Mann mit einem halbherzigen Salut. »Das sind meine Männer … Kolea, Larkin, Daur, Kommissar Ludd, Baskevyl, Bonin.« Die Männer hinter ihm nickten jeweils und machten keine Anstalten, ihre schweren antiken Waffen zu senken. »Wie … wie ist es Ihnen gelungen, so lange durchzuhalten?«, fragte Kallard. Rawne zuckte die Achseln. »Wir haben einfach beschlossen, nicht zu sterben«, erwiderte er. Kallard riss sich zusammen. »Wie hoch sind Ihre Verluste, Major?« »Siebenundvierzig Prozent tot. Achtzehn Prozent verwundet«, sagte Rawne. »Ich habe zwei Ärzte da drin, die alles tun, um die Verwundeten zu versorgen.« »Ärzte und Sanitäter, vorwärts und hinein!«, rief Kallard mit einem Winken. Sie eilten an ihm vorbei ins Haus. »Dürfte ich fragen, was das für Waffen sind?«, fragte Kallard. Rawne nahm die Schanzbüchse von seiner Schulter und hielt sie Kallard zur eingehenden Betrachtung hin. »Die haben uns am Leben gehalten. Ich habe so ein Gefühl, dass der Ordo Xenos einen Blick darauf werfen will.«
»Das könnte durchaus sein«, sagte Kallard. Er drehte sich um, wobei der Staub unter ihm knirschte, und zeigte auf die Fahrzeugkolonne. »Ich habe Transporter, die darauf warten, sie zu evakuieren«, sagte er. »Wenn Sie mir folgen wollen?« Rawne drehte sich zu Kolea und Daur um. »Gehen Sie schon vor. Na los. Ich gehe erst, wenn der letzte Mann das Haus verlassen hat.« Hinter Rawne brach ein Stück der südlichen Klippe ab und krachte mit einem Aufwallen von Staub zu Boden. »Gehen Sie.« Rawne drehte sich um und ging wieder ins Haus. Ludd folgte ihm. »Sie können jetzt gehen, Ludd«, sagte Rawne. »Ich gehe, wenn meine Pflicht getan ist, Major«, erwiderte Ludd. »Holen wir die Männer nach draußen.« II Sie marschierten durch den ausgebrannten Korridor, der die Basiskammer mit dem Wachhaus verband. Ein Mann nach dem anderen, und sie trugen die Verwundeten. Curth und Dorden begleiteten die Prozession und kümmerten sich um die am schwersten Verletzten. In der Basiskammer segnete Zweil noch ein letztes Mal die Wände und machte dann kehrt, um aus dem Haus zu humpeln. Merrt war einer der letzten Soldaten, der es verließ. Er ließ 571RB in der Basiskammer an eine Wand gelehnt stehen. »Willst du das nicht mitnehmen?«, fragte Dalin. »Es gehört mir nicht«, erwiderte Merrt. III »Major! Major Rawne!«, rief Kallard, der durch den Pass zu der Reihe der Chimären gelaufen kam. Rawne drehte sich um. »Verzeihung, Major, das habe ich ganz vergessen. Ich habe eine Nachricht für Sie, von Van Voytz in Elikon.« Kallard reichte Rawne das Blatt Papier.
Rawne las es. Er drehte sich zu den Geistern um, die überall im Pass in die Transporter stiegen. »Gaunt lebt!«, rief Rawne ihnen zu. »Er ist verdammt noch mal am Leben!« Einer nach dem anderen jubelten sie los.
EPILOG ELIKON I Mehrere Stiefelpaare marschierten durch den Steinflur. Posten präsentierten ihre Waffen, als die Gestalten passierten. Die Stiefel verharrten vor einem Krankenzimmer. Die Dienst habenden Ärzte salutierten und öffneten die Tür. »Sind Sie das, Barthol?«, fragte der Mann im Bett, wobei er den Kopf von einer Seite zur anderen drehte. Seine Augen waren verbunden. »Woher wussten Sie das, Ibram?«, fragte General Barthol Van Voytz, indem er sich neben das Bett auf einen Stuhl setzte. »Ich konnte akzeptable Verluste riechen.« »Äh«, erwiderte Van Voytz. Er warf einen Blick über die Schulter auf Biota und die Wacheskorte. »Raus«, sagte er. Sie machten sich rar. Die Tür hinter ihnen schloss sich. »Ich bin froh, dass Sie noch am Leben sind, Ibram«, sagte Van Voytz. »Nach allem, was ich gehört habe, verdanke ich das Mkoll, Eszrah und einer fünfstündigen Fahrt in einem erbeuteten feindlichen Halbkettenfahrzeug durch die Wüste.« »Wenn man sich mit guten Leuten umgibt, passieren gute Sachen«, sagte der General. Gaunt lehnte sich in die Kissen zurück. In den nächsten Monaten würden viele Hautverpflanzungen nötig sein, um seinen Körper wiederherzustellen. »Ich habe mich immer mit guten Leuten umgeben, Barthol. Was glauben Sie, warum ich so alt geworden bin?« Van Voytz gluckste leise.
»Sie haben mich ans Ende der Welt geschickt, Barthol. Sie haben mich in eine Todesfalle geschickt«, sagte Gaunt. »Mich und alle meine Männer. Kaum die Hälfte von ihnen hat überlebt.« »Es tut mir leid, Ibram«, sagte Van Voytz. »Hören Sie, wir haben keine Kosten und Mühen gescheut. Ihre neuen Augen werden die besten Imp …« »Meine Geister, Barthol. Meine Geister, und Sie haben es für richtig befunden, die Hälfte von ihnen sterben zu lassen.« »So war es nicht, Ibram. Es war lebenswichtig, den Feind so lange wie möglich aufzuhalten. Ein Aufschub war wes …« »Ich sage Ihnen, was ich von Ihnen erwarte, Barthol. Verlangen Sie so etwas nie wieder von mir und meinen Männern.« II Weit weg verfällt das Haus am Ende der Welt. Der Wurm hört mit seinem unterirdischen Kratzen auf. Die alte Dame stellt ihre verdrossenen Wanderungen durch die leeren Korridore ein, bei denen ihr schwarzes Spitzenkleid über die braun glänzenden Bodenplatten streicht, und wartet ab. Ein gewöhnliches Infanteriegewehr, Seriennummer 571RB, steht in der Ecke eines rauchgeschwärzten Raums und rostet. Hinzerhaus verstummt. Die Wandlampen flackern und trüben sich ein, werden schließlich dunkel. Im Tod schläft das Haus, wartet auf die nächsten Soldaten, die aus Wind und Staub eintreffen, und auf den Beginn der nächsten Schlacht, eines Tages, in zukünftigen Zeitaltern.
- Feldtagebuch, V. H. fünfter Monat, 778