Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 11
Die Kathedrale von Rhoarx von Michael Marcus Thurner
Die Ereignisse in der geh...
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Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 11
Die Kathedrale von Rhoarx von Michael Marcus Thurner
Die Ereignisse in der geheimnisvollen Intrawelt treiben ihrem Höhepunkt entgegen: Atlan hat diese gigantische Hohlwelt letztlich nur betreten, um den so genannten Flammenstaub zu finden. Bei diesem handelt es sich angeblich um eine mächtige Waffe, mit denen sich gegen die unheimlichen Lordrichter und deren Truppen vorgehen lässt. Hinter dem unsterblichen Arkoniden liegt eine aufreibende Odyssee: Während die Varganin Kythara seine Rückkehr erwartet, muss er sich einem Diener der Chaotarchen stellen – und verliert diesen Kampf. Peonu raubt ihm einen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beider Schicksale aneinander. Als Atlan von den Erbauern der Intrawelt, den mysteriösen Rhoarxi, die Erlaubnis erhält, sich den Flammenstaub anzueignen, ist Peonu bereits zur Stelle. Er zwingt den Arkoniden, ihn als dessen Freund und Partner vorzustellen. Gemeinsam reisen die ungleichen Partner nun in DIE KATHEDRALE DER RHOARX …
Die Kathedrale von Rhoarx
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide betritt eine Kathedrale und erfährt die eigene Bedeutungslosigkeit. Tuxit - Der Oberste Brüter weist Atlan den Weg zum Flammenstaub. Jolo - Das Echsenwesen begleitet seinen Herrn auf einer gefährlichen Reise. Peonu - Der Lutvenide sieht sich dank Atlan am Ziel seiner Wünsche.
Wie ein Uhrwerk dreht und bewegt es sich. Seit Urgedenken. Doch nichts ist perfekt, nichts ist für die Ewigkeiten aller Zeiten gut genug. Es scheuert. Trotz der guten, ja eigentlich perfekten … Lagerung gibt es Abrieb.
1. Aus dem Großen Und Wahrhaften Gekecker, Elfter Pieps: Wir waren weit umhergeflogen. Hatten vielerlei Wunder der Galaxis besucht und bestaunt, kosmische Rätsel gelöst, Schlachten geschlagen, in die wir hineingeraten waren, und uns schlussendlich in die Heimatgalaxis zurückgezogen. Dwingeloo war damals ein von Leben berstender Horst. Unzählige Völker stritten sich um die Vorherrschaft. Um Titel. Um Besitztümer, Einfluss, Macht und Ruhm. Um all die Dinge, die uns kurzlebigen und merkwürdigen Vögeln von Belang schienen und die, während sich das Universum unberührt von all den lächerlichen Spielereien weiterdrehte, mit dem nächsten kosmischen Atemzug in Vergessenheit gerieten. Oh, wir beteiligten uns mit Inbrunst und lautem Geschrill an den Positionskämpfen. Man könnte sogar sagen, dass wir mit aller Verve dahinterstanden. Mit hochweiß geschwollenem Kamm eroberten und errichteten die Rhoarxi ein Sternenreich, wie es in Dwingeloo noch nie eines gegeben hatte. Denn wir waren gewiefte Taktiker und gefürchtete Krieger. Nichts konnte uns aufhalten oder gar zurückdrängen. So dachten wir zumindest – bis sich die Togronen auf jenen Ästen niederließen, die
wir als unser Eigentum betrachteten. Sie waren uns vielleicht sogar überlegen. Dutzende so genannte Entscheidungsschlachten wurden geschlagen. Weder Rhoarxi noch Togronen kehrten als Sieger aus diesen Kriegen zurück, die ganze Sternenarme in Mitleidenschaft zogen. Unsere Feinde erwiesen sich irgendwann als klüger – oder einsichtiger. Die Togronen, die sich jahrhundertelang ausgebreitet hatten, zogen sich wieder in ihr ursprüngliches Herrschaftsgebiet zurück. Sie taten dies in dem Bewusstsein, ebenbürtig zu sein, den Kampf aber nicht mehr notwendig zu haben. Sie gingen erhobenen Kammes und ließen uns beschämt zurück. Beschämt, aber nicht vernünftiger. Denn die Kampfeslust, die wir bislang nach außen getragen hatten, dröhnte in uns nach. Sie brachte unsere Blümchen zum Glühen, färbte unsere Hälse schwarz vor unterdrücktem Zorn und ließ die Schnäbel unkontrolliert klappern. Zu wahren Monstern hatten wir uns entwickelt in den Zeiten des Krieges. Und all die unbefriedigte Erregung, die in unseren Leibern nachhallte, richtete sich nunmehr gegen uns selbst. Mit flammenden Schwertern kamen wir einmal mehr über die Galaxis Dwingeloo. Wir vernichteten die Befestigungen unserer brüderlichen Nomadenstämme auf ungezählten Planeten, kochten und verschnäbelten ihre Eier. Der Blutrausch, in den wir uns fallen ließen, übertraf alles bislang Geschehene. Mehr als die Hälfte der Rhoarxi-Stämme wurden in diesen Kriegen ausgerottet. Völker, die für diesen oder jenen Hort Stellung bezogen – oder in deren Frondienst gezwungen worden waren –, ereilte dasselbe Schicksal. Nur jene Sternenbereiche, in denen wir die Togronen wussten, sparten wir
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Michael Marcus Thurner
von unserer Wut aus. Das Blut der Rhoarxi dünnte immer weiter aus, ohne dass wir es wahrnahmen. Bis nur noch sieben Stämme übrig geblieben waren – die in einem einzigen schrecklichen Gemetzel auf vier reduziert wurden. Die Rettung kam nicht aus uns. Ein äußerer Einfluss verhinderte die völlige Ausrottung der Rhoarxi. Es war Lae. Jenes ätherische Wesen, das gottgleich zwischen uns trat und seinen Worten nach das Positive repräsentierte. Es sorgte für den großen Umschwung.
2. Atlan »Dieser hier«, presste ich schmerzerfüllt hervor, »ist mein … Freund Peonu.« Mein Dhedeen übersetzte die Worte, die an Tuxit gerichtet waren. Jener Vogel an meiner Schulter, der wie ein Übersetzer innerhalb des babylonischen Sprachwirrwarrs der Intrawelt war, konnte meine gequält ausgestoßenen Worte nicht interpretieren. Er würde Tuxit nicht erkennen lassen, dass ich log. Dass ich lügen musste. »Es freut mich sehr, dich wiederzusehen, mein lieber Atlan«, flüsterte Peonu. Seine Zunge, jenes schwarze, lange und leicht behaarte Ding, fuhr in der breiten Mundöffnung hin und her, als besäße sie eigenständiges Leben. Sie war es gewesen, die mich zum Sklaven ihres Herrn gemacht hatte. Peonu hatte mich abgeleckt und einen Teil dessen, was mich als Arkoniden ausmachte, auf unerklärliche Art und Weise erspürt. Manche nennen es Seele, manche ÜBSEF-Konstante. Jede Sprache des bekannten Universums kannte einen Namen dafür. Religiöse Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler aus Myriaden von Völkern beschäftigten sich seit Anbeginn aller Zeiten mit diesem unbegreifbaren Wunder der Natur – und bissen sich am Gegenstand ihrer Forschung die Zähne oder Kauleisten aus
oder hieben sich die Schnäbel stumpf. Der Körper bildete die leicht vergängliche Hülle eines Wesens. Der Geist hingegen, der ihn beseelte und zum Funktionieren brachte, entsprach unserem ureigensten Ich. Nach Ansicht vieler Wesen, die um vieles schlauer als ich selbst waren, haftete der Seele Unsterblichkeit an. Und nun, nach mehrtausendfachen Lebensjahren, war ich einem Wesen begegnet, das gottgleich Einfluss auf sie nehmen konnte. Ehrfurcht ist nicht angebracht, mahnte mich der Extrasinn. Er hatte Recht, wie so oft. Peonu war ein Wesen, das Moral keinesfalls würdigte und das selbst kein bisschen anbetungswürdig schien. »Sag ihm, warum ich hier bin!«, forderte mich der Lutvenide auf und deutete mit seiner seltsam schlaksig wirkenden Rechten auf Tuxit. Der Druck auf mein Inneres erhöhte sich um eine weitere Nuance. Falsch. Ich verspürte keinen Druck, sondern vielmehr das Gegenteil; eine schmerzhafte Leere. Melancholie. Beklemmung. Angst, ja aufkeimende Panik! »Peonu ist mein Partner«, flüsterte ich, während ich mich mühte, meine Trauer in den Griff zu bekommen. »Getrennt voneinander durchwanderten wir die Intrawelt auf der Suche nach dem Flammenstaub. Nun, da ich auf dich traf und in Erfahrung brachte, dass du dieses geheimnisvolle Mittel in dir trägst, verständigte ich Peonu.« »Wie soll dies vor sich gegangen sein?«, fragte mich Tuxit. Sein Hals schwoll gelb vor Misstrauen an. »Wir sind so etwas Ähnliches wie … Seelenverwandte, die einander über weite Distanzen zu spüren vermögen.« Ich blieb so nahe wie möglich an der Wahrheit. Vielleicht, so hoffte ich, würde der Rhoarxi trotz aller Fremdartigkeit bemerken, dass an meiner Geschichte etwas nicht stimmte.
Die Kathedrale von Rhoarx »Du hast mir niemals von einem Seelenpartner erzählt«, bohrte Tuxit nach. »Es war nicht notwendig – oder?« Der Rhoarxi klapperte unsicher mit dem hornigen Schnabel und wandte sich schließlich von mir ab. Meine Auskünfte genügten ihm vorerst. Er blickte nach Westen. Dorthin, wo sich die Reste der Stadt Aspoghie unter einer größer werdenden Staubwolke ausbreiteten. Ich leistete mir den Luxus, die von Peonu aufgezwungenen Seelenschmerzen für den Augenblick zu ignorieren, und gesellte mich zu Tuxit. Sein ohnehin räudiges Gefieder wirkte zerzaust; feinste Federn ragten nach allen Seiten weg. Der allgegenwärtige Sand verklebte die teilweise blutverkrustete Haut. »Musste dieser Kampf wirklich sein?«, fragte ich so ruhig und leise wie möglich. Der Rhoarxi schwieg lange. Er antwortete selten sofort. Es schien mir, als würde er jedes Wort genau abwägen. »Die Auseinandersetzung war unvermeidlich«, keckerte er schließlich und ließ seine Schnabelhälften dreimal bedauernd aufeinander klappern. »Ich wusste allerdings nicht, welch fatale Folgen sie zeitigen würde.« »Was ist nun mit dem Flammenstaub?«, ließ sich Peonu vernehmen, der zu uns getreten war. Sein facettenäugiger Kopf bildete irritierende Bilder aus weißen und schwarzen Rauten. Die helleren waren Sehwerkzeuge, während die dunkleren als Riechknöpfe dienten oder den Schall einfingen. Jene Flüssigkeit, die aus unsichtbaren Drüsen strömte und ihm stetig über die Schulter tropfte, ergänzte ein Bild, das ihn mir weitaus fremdartiger erscheinen ließ als zum Beispiel den vogelähnlichen Rhoarxi. »Du magst Atlans Seelenfreund sein«, sagte Tuxit nach der bereits gewohnten Pause, »aber du bist nicht der meine. Also halt dich gefälligst im Hintergrund, bis ich mich mit dir beschäftigen will.« Da klang eine kräftige Portion überhebliches Selbstverständnis mit. Der Rhoarxi wirkte in diesen Momenten keinesfalls sym-
5 pathisch. Seine Landsleute der Wanderstadt Aspoghie waren wahrscheinlich zu Tausenden im Staub der zerberstenden Stadt ums Leben gekommen. Er schien keinerlei Mitleid oder Bestürzung zu fühlen; bestenfalls eine gewisse … Nachdenklichkeit. Peonu streckte, ohne dass es Tuxit bemerkte, begehrlich seine Arme nach dem Rhoarxi aus. Als wollte er sich, noch bevor ich reagieren konnte, zornentbrannt auf ihn stürzen und ihn zu einem weiteren seiner Opfer machen. Doch er schreckte im letzten Moment zurück. Offensichtlich schien ihm die Situation zu verworren, um sich Tuxit bereits jetzt Untertan zu machen. »Ich muss mich um die Lebenden kümmern und die Toten betrauern«, klapperte Tuxit und marschierte davon. »Ich bin nun der Oberste Brüter«, fügte er wie im Selbstgespräch hinzu. Er ließ uns zurück. Uquart lag neben mir im Staub. Sein Cueromb hatte noch immer die scharfe Klinge ausgeformt, mit der er sich selbst das Leben genommen hatte. Weit aufgerissene Augen, von weichem Federflaum eingerahmt, blickten mich wie anklagend an. Jolo, auf den ich während der letzten Minuten kaum geachtet hatte, ringelte sich währenddessen mit seinem biegsamen Körper wie hilfesuchend um meine Beine. Sein Leib zitterte. Peonu indes blieb ruhig stehen. Niemand konnte sagen, wohin er sah, was er dachte, was er vorhatte. Ich fühlte mich schrecklich allein.
3. Tuxit Es war die Pflicht des Obersten Brüters, seine Überlegenheit deutlich zur Schau zu stellen. Auf Fremdwesen, so wusste er, würde diese Haltung selbstgerecht, arrogant und anmaßend wirken. Tuxit war seit wenigen Augenblicken allein dem Wandervolk der Aspoghie verpflichtet. Er musste sich dringend darum
6 kümmern, dass die Dinge wieder ins Lot kamen. Er ließ Atlan und diesen Peonu in der Wüste stehen. Um deren Anliegen würde er sich zu gegebener Zeit kümmern. Das Potista, geformt vom Willen der Rhoarxi und konsequenterweise während deren Verwirrung im Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt zerstört, bildete die irrwitzigsten Formen aus. Da waberte Masse vor sich hin, bildete fladenförmige Körper. Dort bewegten sich blubbernde Flecken unter konvulsivischen Zuckungen über Felsgestein hinweg und vereinigten sich zu größeren Einheiten. Dinge, die einmal Wohnungseinrichtungen, Forschungslabors, Haltestangen, Scharrhöfe, Kinderhorste oder Geckpaläste gewesen waren, stellten nunmehr riesige Haufen verblichen wirkenden Abfalls dar. Vielerorts lagen Rhoarxi inmitten des seltsamen Materials, aus dem Aspoghie errichtet war. Sie starben. Tuxit begann zu brummen und zu keckern. Er stimmte einen alten Gesang an, der ihn an unbeschwerte Jugendtage in den hellen Höfen der Stadt erinnerte. An die wenigen schönen Momente, die er hier erlebt hatte, bevor die strenge Ausbildung zum Obersten Brüter begonnen hatte. Seine Stimme, während der langen Sklavenjahre nur unzureichend trainiert, hörte sich wie ein ungereinigtes Abflussrohr an, durch das verschmutztes Potista strömte. Tuxit wurde leiser, blieb inmitten des Chaos stehen und setzte von neuem an. Er konnte nur hoffen, dass die Erinnerungen an all das Erlernte so rasch wie möglich zurückströmten. Sonst war der Kampf vergeblich gewesen. Sonst hatte er sein Volk tatsächlich in den Tod geführt. Sein Trillern wurde leichter und bestimmter, je weniger er darüber nachdachte. Er ließ es einfach kommen, ließ es geschehen. Kleinste Wolken des Flammenstaubs schoben sich aus dem Gefieder, erreichten lichte Höhen, senkten sich wie beschützend über
Michael Marcus Thurner die umliegenden Ruinen. Da war Gesang, da war andererseits tiefe, innere Ruhe. Eine Stimme, brummig und ungeschult, fiel ein. Dann eine weitere. Die eines Halbwüchsigen, gefolgt vom Gepiepse eines Kleinkindes. Sein Herz, es fühlte sich beschwingt und beschwingter an, je mehr Rhoarxi seinem Aufruf gehorchten. Sie alle beruhigten sich, vergaßen ihre Schmerzen. Manche von ihnen würden singend in den Tod gehen. Andere würde er heilen, ihnen die Lebenskraft zurückgeben. Denn sie fühlten, dass wieder ein Oberster Brüter in der Stadt war. In der Stadt? Ja. Denn Tuxit begann, Aspoghie kraft seines Willens erneut aufzubauen.
* Es war keineswegs der Gesang, der den Rhoarxi half, wieder zueinander zu finden. Seine Landsleute spürten vielmehr, dass es nur noch einen gab, der sie leiten und anführen wollte. Uquarts Stimme war für immer verstummt. Zwistigkeiten, die die Kraft des Flammenstaubs mit sich gebracht hatte, waren somit bedeutungslos geworden. Tuxit schritt durch die Potista-Ruinen. Er sprach den Verletzten Mut zu, half den Desorientierten und scharte jene um sich, die so wirkten, als hätten sie nach den Ereignissen der vergangenen Stunden ihren Verstand beisammengehalten. Es waren wenige, sehr wenige, die mit der Errichtung einer neuen Wanderstadt namens Aspoghie begannen. Sie alle wirkten schwach und ausgezehrt, wie auch Tuxit selbst sich müde und noch älter als sonst fühlte. Er fühlte das Potista, spürte die müde Konsistenz des Silizium-Materials. Es war den Rhoarxi seit jeher gegeben, damit zu arbeiten. Kraft ihres Geistes, der von einem Führer mit Flammenstaub verstärkt wurde, zwangen sie die Ursubstanz zur vermehrten Zellteilung, zur Mitose. Da und dort zerfie-
Die Kathedrale von Rhoarx len noch funktionsfähige Potista-Flecken in kleinere Einheiten, die sich leichter paaren ließen. Tuxit befahl ihnen eine Konjugation, einen Austausch des Genmaterials der Silikaten Einzeller. Vor seinen Augen verinnerlichte er, wie sich die Zellen samt ihren Schalen aneinander legten und eine gemeinsame Cytoplasmabrücke bildeten. In wenigen Augenblicken vermehrte sich das Potista, wobei es notwendige Grundnahrung aus dem Boden oder bereits abgestorbener Substanz zu sich nahm. Es war ein Wunder, dessen Größe ihm niemals zuvor bewusst geworden war. Wahrscheinlich hatte er die vielen Jahre der Wanderschaft benötigt, um erfassen zu können, welch beeindruckende Großartigkeit in der Lebensweise der Rhoarxi steckte. Eine Schutzmauer entstand, vielleicht eine Körperlänge hoch und nicht viel länger als zehn Schritte lang. Abschreckende Stacheln, die nach außen hin gerichtet waren, wuchsen daraus hervor. Eigentlich war dies eine Spielerei, ein Nichts. Doch jene Rhoarxi, die Tuxit um sich versammelt hatte, stießen ein zufriedenes Keckern aus. Die psychologische Wirkung war unbeschreiblich. Kinder, Frauen und Männer beruhigten sich, stimmten ein zufriedenes Gurren an und zeigten mit ihren Halskrausen die grüne Farbe der Zuversicht. Tuxit ließ die Wehr immer weiter in die Höhe und die Breite wachsen. Therabols, jene Wüstenskorpione, die bislang in unmittelbarer Nähe abwartend gelauert hatten, zogen sich allmählich zurück. Dann und wann stießen sie grelle, durchdringende Schreie aus, in denen ihre Enttäuschung spürbar wurde. »Sammelt das Volk hinter dieser Mauer!«, rief Tuxit seinen ersten Helfern zu. »Ich möchte jedermann so schnell wie möglich hier sehen. Aspoghie wird wieder entstehen, das garantiere ich euch! Schöner, prächtiger und stärker als jemals zuvor!« Er breitete die Flügel so weit wie möglich aus, flatterte mit ihnen aufgeregt umher. Aus dem Cueromb dröhnte Gluckern, das em-
7 bryonale Laute der Rhoarxi imitierte und überaus beruhigend wirkte. Sie stoben auseinander. Vierzig, fünfzig Jünger, die seinen Befehlen voll Leidenschaft nachgehen würden. Tuxit besaß Macht über die AspoghieRhoarxi. Seine ganze Erziehung war auf diesen einen Moment, da er die Macht übernehmen würde, ausgerichtet gewesen. Nun, 30.000 Tage nach dem geplanten Zeitpunkt, war es endlich so weit. Er akzeptierte endgültig seine Rolle als Oberster Brüter.
* Ein ganzer Tag verging wie im Flug. Vergessen war all das Leid, das er verursacht hatte. Niemand zweifelte seine Autorität und seine Herrschaft mehr an. Dann und wann erhob ein Mitglied des Mobs das Wort, oder ein Impostor keckerte heiser einen Protest. Doch weder die Zunftvertreter noch die Lebensformer, die in normalen Zeiten für die Zufriedenheit der Rhoarxi sorgten, besaßen die mentale Stärke, Tuxit Widerstand entgegenzusetzen. Er wertete dies als gutes Zeichen. Einerseits schien er alles richtig zu machen. Andererseits überstieg seine mentale Größe, die vom Flammenstaub in ihm potenziert würde, die seiner Landsleute um ein Vielfaches. Er befahl, delegierte, erließ neue Gesetze. Praktisch rund um die Uhr lebte er für Aspoghie. So, wie es immer geplant gewesen war. »Uquarts Leichnam erhält einen Ehrenkäfig!«, befahl er dem Mob-Vertreter der Todesscharrer. »Seine moralische Erhabenheit lässt meine eigene klein und unwichtig wirken.« »Die Genlabors müssen so rasch wie möglich wieder aufgebaut werden. Ich brauche die Wissenschaftler; sie müssen mir neue Pläne entwickeln. Wir haben in der Gestaltung mancher Völker schwere Fehler begangen, die wir mit der nächsten Generation korrigieren werden.« »Rupft die Toten und verbrennt ihre Hals-
8 federn, wie es die Traditionen erfordern. Doch macht schnell in eurer Trauer! Die Toten haben es bereits hinter sich; in den nächsten Tagen geht es viel mehr um die Kranken und Siechen. Ihnen gebührt unsere Aufmerksamkeit in höchstem Maße.« »Bringt die drei Fremden zu mir. Es wird Zeit, dass ich eine Entscheidung treffe, denn ich stehe einem von ihnen im Wort.« Ohne Pause gab Tuxit seine Anweisungen, während um ihn ein beachtlicher Horst in die Höhe wuchs. Er zeigte wesentlich weniger spielerische Ausformungen als jener seines … Vorgängers. Kein Wunder, entsprach das Bauwerk doch Tuxits Charakter, der seit jeher klare Linien und architektonische Wucht bevorzugt hatte. Es war nicht mehr notwendig, dass er seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Stimmungssteuerung der Rhoarxi konzentrierte. Mit zunehmender Routine fiel es ihm leichter und leichter, sich um mehrere Dinge gleichzeitig zu kümmern. »Hier sind die Fremden, Oberster!« »Hm?« Er schreckte aus seiner Konzentration hoch. Atlan, der Mann mit den weißen und dünnen Langfedern, kam in den Horst hereingestampft und starrte ihn prüfend an. Er mochte den Blick nicht. Dies waren die Augen eines Wesens, das viel zu viel gesehen und erlebt hatte. Andererseits – nur ein Nicht-Rhoarxi wie der Arkonide konnte den Flammenstaub ausreichend lange in sich tragen, um eine Aufgabe zu erfüllen. Er würde alles unternehmen, um sein Ziel zu erreichen – bevor er ausgezehrt und leer starb. »Ich verdanke dir viel«, begann Tuxit und hüpfte von der Sitzstange. Der Weißfedrige verdiente die Wahrheit. »Du allein hast mich mit deinem Schwung und deinem Tatendrang aus meiner Lethargie gerissen.« Atlan erwiderte nichts darauf. Ruhig blieb er stehen, mit verschränkten Armen, und starrte ihn weiterhin an. Die beiden anderen Wesen – der lustige und dennoch traurige Jolo sowie der so genannte Freund des Arkoniden – besaßen in seinen Überlegungen
Michael Marcus Thurner keinerlei Bedeutung. »Du hast sicherlich eine Menge Fragen.« Er gockelte nachdenklich mit kurzen, federnden Schrittsprüngen auf seiner schmalen Balustrade vor und zurück. Dann drehte er sich zu den Beratern des Mobs um und hieß sie, ihn mit den Fremden allein zu lassen. Das, was nun erzählt werden musste, sollte kein Rhoarxi zu hören bekommen. Zögernd und mit ärgerlichen Seitenblicken auf Atlan und die anderen beiden Wesen zogen sich die sieben MobMitglieder zurück. Binnen kurzem hatte er sie in seinen Bann geschlagen. Sie liebten es, sich in seiner Gegenwart zu sonnen. »Ich war jung und unerfahren«, fing Tuxit schließlich an. »Noch nicht einmal den zehntausendsten Tag hatte ich erreicht, als der Oberste Brüter Aspoghies von seiner Schlafstange stürzte und sich den Hals brach. Seit meiner frühen Jugend war ich auf diesen Augenblick vorbereitet worden, da ich sein Amt übernehmen sollte. Und dennoch kam es für mich überraschend. Ich hatte soeben einen Brutstand gegründet, mich mit einer wunderhübschen Henne eingelassen und eine erste Eierbrut legen lassen, als ich berufen wurde.« Tuxit seufzte und verlangsamte seinen Hüpfschritt. »Alles brach über mich herein, alles wurde zu viel. Der Flammenstaub wurde mir in einer überstürzten Zeremonie in der Kathedrale von Rhoarx überreicht; gleich danach sollte ich mein Amt antreten. Jegliche Chance auf ein paar tausend Tage normalen Lebens war dahin. Ich würde meine Brütlinge nur während kurzer Perioden aufwachsen sehen; mein schwieriges Amt schloss ein intensives Familienleben von vorneherein aus.« Er sprang ächzend von der Balustrade, begab sich auf Augenhöhe zu Atlan und Peonu. »Du musst verstehen: Ich konnte nie etwas für meine Begabung. Jedermann sagte mir, dass mich mein Auftreten und meine Selbstsicherheit für die Arbeit als Oberster Brüter prädestinieren würden. Ha!« Er
Die Kathedrale von Rhoarx keckerte traurig. »Die Alten hatten ja keine Ahnung, wie es in mir wirklich aussah; wie unsicher ich mich fühlte, wie sehr mich meine Nachdenklichkeit lähmte. Denn ich spürte, dass sich die Wanderstadt Aspoghie auf einen falschen Weg begeben hatte. Schließlich lenken wir gemeinsam mit den beiden anderen Stämmen Zirnatim und Benenses die Geschicke der Intrawelt. Und ich ahnte damals, dass die Sache allmählich aus dem Gefieder lief. Gerade jetzt, da die Bauarbeiten an diesem wunderlichen Bauwerk zu einem Ende kommen sollten, schlichen sich Fehler in unsere Überlegungen ein, die jenes Utopia, das wir geplant hatten, ad absurdum führen würden.« Tuxit reckte den Hals und spie den abgelutschten Kropfstein in eine bereitstehende Potista-Wanne, bevor er fortfuhr. »Der Druck, den ich mir selbst auferlegte – er war zu viel. In einem Moment des Irrsinns rannte ich davon, ließ alles hinter mir. Als ich wieder zu Verstand kam, war es zu spät. Ich befand mich in irgendeiner Parzelle, weitab von den drei Wanderstädten. Ich lebte unter fremden Wesen, die teilweise aus Rhoarxi-Fertigung stammten und deren Grundstruktur ich vom ersten Bestandteilchen an kannte.« Er lachte, laut und unsicher. »Mein Leben war von diesem Moment an verschenkt. In einem einzigen Augenblick hatte ich alles verspielt, alles falsch gemacht, jedermann in Aspoghie enttäuscht und ins Unglück gestürzt. Es verging eine ach so lange Zeit, bis ich überhaupt erfasste, was ich angerichtet hatte.« Leise trippelte Tuxit zum Wasserspender und gurgelte kräftig. Die Städtebecken waren bereits ausreichend gefüllt. Artesische Brunnen, die unterhalb der Sandfläche angebohrt worden waren, stellten ausreichende Mengen des kühlen Nasses für eine Grundversorgung der Rhoarxi zur Verfügung. Erst wenn die Kavernen bis zum Rand gefüllt waren, würden sie weiterziehen. »Ich wollte mich selbst kasteien. Vergessen, dass ich mein elterliches Haus und das
9 meiner Henne zur Ausrottung verurteilt hatte. Ignorieren, dass ich die Existenz der gesamten Wanderstadt aufs Spiel gesetzt hatte. Und unter keinen Umständen mehr daran denken, was für ein grenzenloser Feigling ich geworden war.« »Das ist eine ganz reizende Geschichte«, fiel ihm Peonu ins Wort, »aber sie bringt uns keinen Schritt weiter. Was ist nun mit dem Flammenstaub?« Das Zischeln seiner langen Zunge erzeugte ein widerliches Geräusch. Tuxits Brustgefieder sträubte sich. »Halt dich gefälligst zurück!«, schnappte er empört. »Ich erzähle euch dies alles nur, damit ihr versteht, was der Flammenstaub selbst mit einem Rhoarxi, der zeit seines Lebens auf seine Nutzung hin getrimmt wird, anstellen kann. Diese unüberlegte Reaktion, diese Flucht – sie entsprach keinesfalls meinem Naturell. Sie wurde durch die Aufnahme des verfluchten Staubs in der Kathedrale bewirkt oder beschleunigt.« »Und wo ist diese Kathedrale?«, setzte Peonu nach. Er beugte seinen schlanken Oberkörper vor. Einige Tropfen jener Flüssigkeit, die er beständig absonderte, platschten schwer zu Boden. »Das werde ich euch zu gegebener Zeit sagen.« Tuxit schwang sich hoch zur Balustrade und hockte sich wieder bequem auf die Sitzstange. »Ich muss mich heute und morgen noch um mein Volk kümmern. Die Toten beweinen und den Lebenden eine neue Perspektive liefern. Dann werde ich euch, wenn ihr es wollt, zur Kathedrale von Rhoarx bringen. Und Atlan eine Portion des Flammenstaubs überreichen.« Er blickte auf das verwirrende, gesichtslose Etwas, das auf Peonus Hals saß. »Und damit wir uns richtig verstehen: Der Flammenstaub gebührt ihm allein.«
4. Aus dem Großen Und Wahrhaften Gekecker, Fünfzehnter Pieps: Lae behauptete, ein Freund der Rhoarxi
10 zu sein. Er bot uns den Flammenstaub an. Ein Zaubermittel, das helfen würde, all unsere Aggressionen zu bändigen, und uns wieder zu dem machen würde, was wir bereits einmal gewesen waren: Anhänger und Vertreter der Stabilität und des Friedens. Aber wir lachten Lae aus, verhöhnten ihn, wollten ihn und sein kobaltblaues Schiff aus unserem Herrschaftsgebiet vertreiben. Doch mit elementarer Leichtigkeit widerstand die Technik seines Raumers unseren energischen Angriffen. Erneut, als wäre nichts geschehen, offerierte er uns den Flammenstaub. Die Alten, sie zögerten nach wie vor. Sie zweifelten an der Ehrlichkeit des seltsamen Wesens. Denn wer gab bereitwillig etwas her, ohne eine Gegenleistung zu fordern? Natürlich verlangte er etwas von uns. Wir sollten, wenn wir auf Laes Vorschlag eingingen, im Sinne des Lebens wirken, nicht mehr als Krieger zum Selbstzweck, sondern für die Ordnung des Universums. Positiv auf unser Umfeld abstrahlen. Dies war ein kleiner, ja ein unbedeutender Widerhaken an dem Köder, der leicht zu schlucken war. Aber noch zweifelten wir, wollten es nicht glauben. Es bedurfte langer Überredungsarbeit des sonderbaren Wesens, bis sich die Stammesanführer einverstanden erklärten, einen Versuch zu wagen. Lae nahm sie mit sich zum so genannten Ort zwischen den Orten, der heutzutage Kathedrale genannt wird. Vier Rhoarxi taten diese Reise. Die mächtigsten, gemeinsten und brutalsten Kriegsherren ihrer Zeit, die sich am liebsten gegenseitig die Kehlen aufgeschlitzt hätten. Als sie zurückkehrten, waren sie geläutert. Nicht nur das: Die Wirkung strahlte augenblicklich auf die Mitglieder aller Stämme aus! Es war jenes dringend benötigte Wunder, das die Rhoarxi vor dem Untergang rettete. Gerne stellten wir uns daraufhin in die Dienste der »Kosmokraten«, wie sich unsere Auftraggeber nannten. Mit Stolz akzeptier-
Michael Marcus Thurner ten die vier Stämme, ein Hilfsvolk unter vielen zu sein, das im Guten für ein wachsendes und blühendes Universum einstand. Unsere geläuterten Anführer leisteten Unwahrscheinliches; alle Rhoarxi, vom Brüterich bis zum Tatterhahn, trugen das ihre dazu bei, Dwingeloo und andere Galaxien zu besseren Orten zu machen. Erst nach langen Jahren ergaben sich Disharmonien. Die Generation der ersten Flammenstaubträger starb aus. Die Helden ihrer jeweiligen Stämme mussten zu Grabe getragen werden – und augenblicklich machte sich wieder Unruhe unter den Völkern breit. Als die Situation zu kippen schien, der uns angeborene Aggressions- und Expansionstrieb wieder Überhand nahm, tauchte Lae ein weiteres Mal auf und führte neue Stammesführer, die ab diesem Zeitpunkt Oberste Brüter genannt wurden, in die Kathedrale. Und der Kreislauf der Glückseligkeit begann von vorne.
5. Atlan Die Stunden vergingen, eine neue Nacht brach an. Am Morgen, so hatte es Tuxit angekündigt, würde er mich zur Kathedrale von Rhoarx bringen und mir zu einer Portion Flammenstaub verhelfen. Alle weiteren Fragen über das Wie und Warum hatte er abgeblockt. Geheimnisse, so wusste ich aus meinem langen Leben, wurden von ihren Bewahrern nur äußerst ungern entmystifiziert. Ich würde mich wohl gedulden müssen. Ich wich Peonu so weit wie möglich aus. Der Lutvenide erhielt in der neu entstehenden Wanderstadt einen schmalen Wohntrakt unmittelbar neben dem meinen. Das Heranwachsen Aspoghies war ein Wunder, wie ich es niemals zuvor gesehen hatte. Befanden sich unsere Horste, wie die Räumlichkeiten hier genannt wurden, in der ersten Nacht knapp oberhalb des Bodenniveaus der Parzelle, so blickten wir am nächsten Morgen aus einer Höhe von mehr als fünf
Die Kathedrale von Rhoarx Meter auf breite Gehwege, einen großzügig bemessenen Korso und vielfältig verwinkelte Höfe, in denen sich die Jüngsten der Rhoarxi laut schnatternd vergnügten. Ohne Ansatz zu irgendeiner Form von Weinerlichkeit oder Trauer zu zeigen, wurden die mehr als 3000 Toten begraben. Ganz im Gegenteil: Es herrschte ausgezeichnete Laune. Aufbruchsstimmung und Enthusiasmus wurden hinter allem und jedem spürbar. Tuxit leistete binnen kürzester Zeit Fantastisches. Es ist der Flammenstaub, der ihn dazu befähigt. Ich weiß, gab ich dem Extrasinn zur »Antwort«. Allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, was dieses Zeugs bewirken kann. Das Rätsel, was er eigentlich ist, wird allerdings nicht kleiner. Jolo blieb meist in meiner Nähe, während ich durch die wachsende Stadt wanderte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte mein eigenes Erstaunen und meine Neugierde wider. Nicht nur die Substanz Aspoghies war eine gänzlich andere geworden als jene, die ich vor zwei Tagen bewundert hatte; auch die Rhoarxi vermittelten trotz aller Ereignisse der letzten Tage Optimismus und Zufriedenheit. »Wir müssen Peonu loswerden«, quäkte Jolo mit einem Mal und zog eine Mitleid erregende Schnute. »Er tut uns nicht gut, er tut uns gar nicht gut!« »Du hast Recht«, erwiderte ich. Allein die Erwähnung des Namens erzeugte Schauder und Schmerzen in meinem Inneren. »Aber er hat mich am Gängelband. Selbst wenn ich wollte – ich könnte ihm derzeit nicht entkommen.« »Derzeit?« Große, neugierige Augen starrten mich an. »Auch ein Wesen wie Peonu kann nicht rund um die Uhr aufmerksam bleiben. Ich muss lediglich den richtigen Moment abwarten, dann …« Ich ließ den Rest offen. Mein Optimismus war gespielt. Ich hatte nicht den blassesten
11 Schimmer, wie ich dem Seelenhaken des Lutveniden entkommen konnte. Distanz spielte, wie ich mittlerweile wusste, nicht unbedingt eine Rolle bei der Verbindung zwischen uns beiden. »Und was ist mit dir?«, fragte ich den Kleinen, um ihn von meinem wunden Punkt abzulenken. »Du könntest jederzeit davonspazieren. Nichts hält dich hier. Keine Verpflichtung, keine seelische Gefangenschaft …« »Ich bin dein Freund!« In einer durchaus menschlichen Geste stemmte Jolo die beiden lächerlich dünnen Ärmchen in die Seiten. »Ich werde dich nicht in den Stunden der Not verlassen. Was wäre ohne mich aus dir geworden, wie hättest du die Abenteuer der letzten Tage überlebt?« »Du beschämst mich mit deiner treuen Ergebenheit.« Ich schmunzelte. »Deine Zuneigung hat sicherlich nichts mit deinem zweifellos gewachsenen Wanst zu tun, den du dir während unserer gemeinsamen Tage angefressen hast?« »Wo denkst du hin!« Angesichts seines Possenspiels hätte ich ihm fast geglaubt. Fast. »Zugegeben«, piepste er, »der eine oder andere Krümel ist in deiner Nähe für mich abgefallen – aber das allein ist nicht ausschlaggebend …« »Oder war es der leichte Druck, den ich auf dich ausübte?« »Wo denkst du hin! Ein Jolo macht lediglich das, was ein Jolo will. Nicht mehr und nicht weniger.« »Und du bist auch nicht auf dasselbe Ziel wie ich aus? Würdest du den Flammenstaub nicht ebenfalls gerne in Empfang nehmen? Hast du niemals überlegt, was ein Jolo mit Kräften adäquat jenen eines Rhoarxi bewirken könnte?« »Hinfort mit dir, elendiger Riesenwurm der Versuchung! Nie und nimmer kam mir dieser Gedanke, bevor du soeben davon anfingst. Wie kannst du deinen besten Kumpel nur derart verkennen! Ich bin entsetzt, ja nachgerade entgeistert, wenn nicht sogar be-
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leidigt!« Mein Dhedeen kam angesichts der Nuancen, die er zu übersetzen hatte, gehörig ins Stottern. Erstmals seit langem spürte ich sein Gewicht auf der Schulter und das zaghafte Saugen an meinem Blut. Jolos Mimikry-Gesicht wandelte sich mittlerweile im Sekundentakt. Verzweiflung, Traurigkeit, Empörung und sanfte Resignation wechselten einander ab. Ich grinste ihn an. Sicherlich verstand er meinen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Es war ein Spiel, um Zeit und Ängste zu vertreiben. Das Ende des gemeinsamen Weges nahte. Keiner wusste, was die nächsten Stunden oder Tage bringen würden. Wir trieben Scherze über Nebensächlichkeiten und schwiegen über das Wichtigste. Ich fand nicht den Mut, Jolo die eine entscheidende Frage zu stellen. Denn ich hatte keine Ahnung, ob auch er Peonus Zwängen unterlag. Ich musste daran denken, dass ausgerechnet er mich zur Hütte des Lutveniden in der Parzelle Karaporum geführt hatte. War er wie ich ein so genanntes Seelenhäppchen? Musste ich auf ihn achten? Nun, was konnte der kleine Feigling schon anstellen? Das wahre Kaliber, dem ich mich irgendwann stellen musste, war Peonu selbst. Und dem fühlte ich mich keineswegs gewappnet. Unterschätze Jolo nicht!, mahnte mich der Extrasinn. Seine Stärke ist nicht der offene Kampf, sondern die Hinterlist. Ich bewahrte den Gedanken im Hinterkopf und widmete mich wieder den Wundern der Wanderstadt Aspoghie. Ein domähnliches Gebäude wuchs soeben in die Höhe. Von seiner Spitze tschilpte eine Art Priester unmelodiöse Reime herab, während eine erste Gondel ihren Fahrbetrieb zwischen zwei Wohntürmen aufnahm. Tuxits Arbeitstempo war schlichtweg erschreckend.
* Eine weitere Nacht kam und ging. Peonu
blieb schmerzhaft oft in meiner Nähe und erzählte mir Bruchteile seiner Lebensgeschichte. Sie ähnelte der meinen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – und sie ging weit darüber hinaus. Als Ritter der Tiefe war ich zwar ein Streiter der Kosmokraten gewesen, doch an echten Team-Einsätzen in einem Maßstab wie Peonu hatte ich nie teilnehmen müssen. Ich war fast immer eigenverantwortlich tätig geworden, sobald mein Auftrag einmal umrissen war. Gut – gegängelt hatte ich mich dennoch gefühlt, vor allem, weil ich nie sämtliche Informationen bekommen hatte, die es mir leichter gemacht hätten, aber verglichen mit der Schule, durch die Peonu gegangen war, durfte ich mich prächtig behandelt fühlen. Als Peonu erstmals den Namen Xpomul erwähnte, spürte ich einen Schauder; Xpomul war der einzige mir namentlich bekannte Chaotarch. Niemand von uns Wesen der »Niederungen« wusste zu sagen, an wie vielen Fäden er insgeheim oder offen zog. Wenn man es so wollte, war Peonu dank seiner Seelenfängerei eine auf unsere Daseinsebene zurechtgestutzte Metapher des Chaotarchen. Der Lutvenide erregte Ekel – und faszinierte gleichermaßen. Er war ein Kämpfer, ein Stratege, ein Wesen mit besonderer Bestimmung. Nur allzu gerne hätte ich mich mit ihm ungezwungen, ohne seelische Beeinflussung, unterhalten. Wobei ich ihm zugute halten musste, dass er während unseres Gesprächs so etwas wie … Gleichberechtigung herstellte und seine Trumpfkarte bewusst nicht ausspielte. Wahrscheinlich war er ebenso von mir fasziniert wie ich von ihm. Es herrschte eine ähnliche Stimmung, wie sie unter Kriegsherren üblich war, die sich auf dem Höhepunkt einer Schlacht auf eine Tasse Tee verabredeten und in aller Gemütsruhe über das Wetter diskutierten. Ich kannte solche Situationen, hatte sie oft genug erlebt. Man entdeckt eine verblüffende Vielzahl an Gemeinsamkeiten – und weiß den-
Die Kathedrale von Rhoarx noch, dass man niemals zueinander finden kann. Es sind, wie gesagt, die Vorzeichen und der Druck von außen, die alles ausschließen, was über einen Smalltalk hinausgeht. Wir waren, so empfand ich es zumindest, zwei Schachfiguren, die ihre vorherbestimmten Züge machen mussten. Irgendwann endete die Unterhaltung. Peonu hatte über mein ambivalentes Verhältnis zu den Kosmokraten erfahren, ich über seines zu Xpomul und Konsorten. Wir standen auf, blickten einander an – und wurden wieder zu jenen natürlichen Feinden, die ob ihrer Einstellung bis zum Tod des jeweils anderen gegeneinander kämpfen würden. Würde ich jemals die Gelegenheit erhalten, ihm in einer fair geführten Auseinandersetzung gegenüberzustehen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Truppen und Knechte der Chaotarchen waren nicht eben dafür bekannt, sich an irgendwelche Regeln zu halten, wie sie einem Vertreter der Ordnung normal erschienen wären. Peonu ließ mich und Jolo in weiterer Folge in Ruhe. Ich beobachtete ihn mehr oder weniger offen und versuchte, irgendwelche Schwächen an ihm auszumachen. Er schlich in der Wanderstadt umher, schnüffelte in neu gebildeten Labors, zeigte mehrmals einen unerklärlichen Hass auf die vielfach umherflatternden Dhedeens, die er liebend gerne zerquetschte, bevor sie sich auf seine Schulter niederlassen konnten. Er wurde von den Rhoarxi gerade noch geduldet. Wenn ich ihre Körpersprache richtig deutete, mochten sie ihn nicht, ganz und gar nicht. Meine Schadenfreude war groß, als ich mit ansehen durfte, wie er sich an einem von ihnen die Zähne ausbiss. Es gelang Peonu trotz persönlichen Kontakts nicht, sich einen Halbwüchsigen untertan zu machen. Der Jugendliche beantwortete die Annäherung mit seiner langen, schlabbrigen Zunge mit einem Fausthieb in Peonus Magen und einer gehässigen Bemerkung über »diesen Sabberkram«. Der Feststellung des Extrasinns hatte ich
13 nichts hinzuzufügen: Die Rhoarxi sind offenbar immun gegen den Seelendiebstahl! Es musste niederschmetternd für den Lutveniden sein, und dennoch zeigte er keinerlei Reaktionen. Lediglich der Druck, den er auf mich ausübte, schwoll ein wenig an. Als wollte er mich für die Limitierung seiner Fähigkeiten büßen lassen. Ich nahm's so gelassen wie möglich hin – und freute mich innerlich. »Wir werden noch heute abreisen.« Ich schreckte hoch. Tuxit war neben mir aufgetaucht und glotzte mich aus blutunterlaufenen Augen an. Ich spürte die Erschöpfung, die ihn beinahe körperlich greifbar umgab. »Wollen wir nicht bis morgen warten?«, erhob ich zögerlich Einspruch. »Du solltest dir ein wenig Ruhe gönnen.« »Ich habe mich ein Leben lang ausgeruht«, erwiderte der Rhoarxi ernst. »Nur jetzt bietet sich die Gelegenheit, meinen Stamm für wenige Tage allein zu lassen. Ich habe ihnen neuen Lebensmut eingeimpft. Der Neuaufbau Aspoghies wird sie von meiner Abwesenheit ablenken. Würde ich hingegen länger warten, so gewöhnten sie sich zu sehr an meine Präsenz. Wenn du nach wie vor darauf bestehst, den Flammenstaub zu erhalten, dann müssen wir so rasch wie möglich aufbrechen.« Ich nickte zögernd. Die Situation erschien mir nach wie vor zu verwirrend, lediglich von Halbwissen und Vermutungen geprägt. Ich musste mich darauf verlassen, dass Tuxit wusste, was er tat. »Dann brechen wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf«, sagte der Rhoarxi und drehte sich mit einer raschen, seltsam anmutenden Bewegung um. Seine Blume, jenes bürzelähnliche Gefieder, leuchtete hell im Sonnenschein. Tuxit wirkte gepflegt und … in sich ruhend. Wenn ich ihn mit jenem Erzählsklaven verglich, den ich vor wenigen Wochen aus seinem Elend befreit hatte, so schien die Wandlung kaum glaublich. »Sammle deine Kräfte!«, riet er mir, während er meinen Horst verließ. »Du wirst sie
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benötigen. Solltest du an irgendwelche Götter glauben, dann beginne jetzt zu beten.«
6. Tuxit Noch bevor sie aufbrachen, kam es zu einer Begegnung, die Tuxits Herz wie das eines Jungpiepsers hüpfen ließ. Ein altes Weib, zerzaust und von Dutzenden Pickparasiten umflattert, wurde ihm vorgeführt. Sie taumelte und schien nicht mehr ganz bei Trost zu sein. Wahrscheinlich hatte sie der Zusammenbruch Aspoghies in den Wahnsinn getrieben. »Das Fledderweiblein will dich seit deinem … Amtsantritt unbedingt sprechen«, sagte ein Mitglied des Mobs und schob die Alte weiter in den Raum hinein. »Sie lässt sich einfach nicht davon abbringen, dir persönlich etwas zu übergeben.« Die Frau kam auf schwachen Beinen näher. Mit den ausgefransten Resten ihrer Flügel hielt sie ein intarsienbesetztes Holzkästlein krampfhaft fest. Der Oberleib schunkelte währenddessen hin und her, hin und her, als hörte sie eine Melodie aus einer anderen Welt. Schließlich stoppte sie die Bewegungen und krächzte: »Die da sollen rausgehen! Demio will allein mit dir sprechen!« Tuxit überlegte kurz. Hier in der neuen Stadt Aspoghie drohte ihm keinerlei Gefahr. Selbst Geisteskranke und vom Schock des Zusammenbruchs Gezeichnete würden ihn nicht attackieren. Schließlich trug er den Flammenstaub in sich, war der Oberste Brüter und wirkte beruhigend auf seine Landsleute ein. »Geht hinaus!«, wies er die MobMitglieder und einen der Impostoren an. Zögernd gehorchten sie. Manch einer schüttelte seinen Schorfkamm, als verstünde er Tuxits Entscheidungen nicht. »Was willst du nun, Alte?«, fragte er schließlich, als der Horstraum geräumt war. Er bot ihr ein niedrig hängendes Gestänge an. Mühsam hockte sie sich nieder. »Ich bin Demio«, murmelte das Weiblein
schließlich. Sie blickte ihn erwartungsvoll an, als sei damit alles gesagt. »Und?« »Du erinnerst dich nicht mehr an mich?« Sie hustete trocken. »Sollte ich denn?« »Die arme alte Demio wird von niemandem mehr erkannt. So alt ist sie, so alt und gebrechlich. Keiner will etwas mit ihr zu tun haben …« Sie wurde leiser, verlor sich in sinnlosem Gebrabbel. »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Es tut mir Leid. Wenn du nun gehen würdest – ich habe dringende Sachen zu erledigen …« »Nicht einmal ihr kleiner Kükerich erinnert sich an die treue Hausglucke, chch! Dabei hat sie ihm vom ersten Tag an die Federn hochgebürstet; ihn gewaschen, nachdem er Körnchen hochgewürgt hatte; sein Blümchengefieder gereinigt und geputzt; ihn am stolzen Kamm gekitzelt, bis all sein Zorn vergangen war, wenn er mal nicht die leckeren Süßhölzer knabbern durfte …« Demio … Demio … Etwas schlug in Tuxit an. Da war eine Erinnerung, seit vielen Jahren im Hinterkopf verborgen und vergraben. »Unser Hausmädchen!«, sagte er schließlich zögernd. »Meine Ammenglucke.« »Jaja, Demio ist die arme Alte, die viele zehntausend Tage lang im Dienst deiner Eltern stand und die du schließlich in den neu gegründeten Haushalt übernommen hast.« Ergriffen beugte Tuxit das Haupt, rieb seinen Schnabel ehrerbietig an dem ihren. Der Geruch, den sie verströmte, war ranzig und vom Odeur zahlloser Schädlinge durchsetzt. Und dennoch erfasste er jenen Hauch von Wärme und parfümierter Seife, der ihr seit jeher angehaftet hatte. »Es ist schön, dich wiederzusehen«, gurrte er. »Ich dachte, dass alle Angehörigen meines Hauses dem Tod überlassen wurden?« »Die alte Demio war in den Augen der Oberen nie viel wert«, keckerte die ehemalige Glucke. »Ausgelacht hat man sie, ihre kleinen Spinnereien für Wahnsinn angese-
Die Kathedrale von Rhoarx hen, sie nicht ernst genommen. Deswegen verschonte man sie, ließ sie leben und in düsteren Horsten Brosamen picken.« »Ja.« Tuxit musste lächeln. Demio hatte stets als eigentümlich gegolten. Als Frau, die mit ihren Narreteien an der Kippe zum Wahnsinn stand. Aber ihr Herz war groß. Sie hatte ihm vielleicht mehr Liebe und Fürsorge gegeben als seine leibliche Mutter. »Du sollst es gut haben für den Rest deines Lebens«, versprach er ihr. »Die beste Pflege soll dir zuteil werden, und alle Rhoarxi werden voll Hochachtung von Demio, der treuen Seele, sprechen.« »Plapperlagick!« Sie schnalzte mit der Zunge und hustete erneut. »Demio hat ihren alten, hinfälligen Körper nicht so lange am Leben erhalten, um irgendwelche Narren vor sich kriechen zu sehen. Auf Ruhm und Ehre legt sie keinen Wert. Sie hat ihre Aufgabe für Tuxit erfüllt und will nun bald in Frieden sterben.« »Welche Aufgabe?« Der Oberste Brüter sprang auf. »Ich kann mich nicht erinnern, dir irgendetwas befohlen zu haben, bevor ich Aspoghie verließ.« »Man muss Demio nichts befehlen. Viele Dinge versteht sie, viele Dinge sieht sie. Also habe ich dir dies hier bewahrt.« Sie hielt ihm mit zitternden Flügeln die alte Schatulle entgegen. »Was ist das?«, wunderte Tuxit sich. »Hausrat? Oder Spielzeug, das mir einmal lieb und wert war? Ein Erinnerungsstück an meine Jugend?« »Es ist mehr, mein Junge.« Sie flüsterte nun. »Es ist ein Schatz, wie ihn dir nicht einmal die Götter der Altvorderenzeit machen können.« Was wollte ihm die alte, hinfällige Zauselin zum Geschenk machen? Er hatte sie, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, das letzte Mal am Tag seiner Flucht aus Aspoghie gesehen, als sie sich mit der ihr angeborenen Hingabe um seine liebe Frau Evzita gekümmert hatte … Vorsichtig nahm er die Schatulle entgegen, fuhr mit dem Öffner seines Cuerombs
15 über den Öffnungsmechanismus. Quietschend sprang der Deckel auf. Tuxit blickte auf … Potista. Alte, graue und kaum noch lebende Siliziummasse. »Du musst darunter blicken«, sagte Demio leise. Sie hatte wieder zu summen begonnen. Vorsichtig fuhr er mit den empfindlichen Flügelfedern hinein. Er spürte … Wärme. Sanfte, vibrierende Hitze. »Die alte Demio ist klüger, als viele glauben. Sie wusste, was geschehen würde, als ihren kleinen Kükerich die Angst packte und er davonlief. Chch, ich urteile nicht über dich. Du warst und bist schließlich ein von den Hohen Mächten geküsster und geschnäbelter Rhoarxi. Ein Wunder der Natur, vielfach begnadet. Die alte Demio hat immer gewusst, dass du als Ausgleich für all deine Gaben überaus sensibel warst. Also war sie vorbereitet, als der Mob kam, als die Impostoren die Vaterfamilie und Evzita gemeinsam mit ihrer Brut aus Aspoghie verbannten. Oh, Demio hat Verbotenes getan! Sie hat, bevor all das Schreckliche geschah, eines der Eier ihrer Herrin gestohlen und an ihrem Leib gepresst in Sicherheit gebracht. Sie hat den Brüterich warm gehalten, ihn mit Potista geschützt. Demio ist heute die glücklichste Rhoarxi der Wanderstadt; denn sie kann Tuxit, ihrem ehemaligen Kükerich, eine Zukunft schenken. Du hältst deine Tochter oder deinen Sohn in Händen …«
* Sie brachen wie vereinbart auf, bevor sich die Sonne ausschaltete. Rötliches Glimmen der Dämmerung überzog den weiten Horizont, während sie sich auf einem PotistaFlugteppich der nächsten Gondel-Bodenstation näherten. Es handelte sich um dieselbe, an der sie vor wenigen Tagen angedockt hatten. Der Maulspindler, ein recht mutloses Exemplar seiner Gattung, erwies ihnen atemlosen Respekt. Die Präsenz Tuxits schien ihn zu lähmen.
16 In der nächtlichen Kühle des Grenzgebietes der Wüstenparzelle Nabuzym betraten der Rhoarxi, Atlan, Peonu und Jolo die Gondel. Tuxit empfand diese Art zu reisen als die einzig sinnvolle. Sie vermittelte das Gefühl der Geschwindigkeit und ließ einem dennoch genug Zeit, um über Pläne und Wünsche zu reflektieren. Ein besonders einfallsreicher Federkopf seiner Wanderstadt hatte dieses System recht bald nach der Ankunft der Rhoarxi in der Intrawelt entwickelt. Nur bedurften die Maulspindler, so sinnierte Tuxit, nach Jahrhunderttausenden gleichbleibender Gestaltung einer genetischen Überarbeitung. »Warum gebt ihr ihnen nicht mehr Recht auf Selbstbestimmung?«, fragte Atlan. Seine Körperhaltung zeigte wieder einmal jenes Unverständnis über die Experimentierfreudigkeit mit anderen Wesen, die den Rhoarxi nun einmal innewohnte. »Die Maulspindler würden es euch sicherlich danken«, fügte er leise hinzu. »Freier Wille ist keineswegs immer erstrebenswert!«, gab Tuxit zur Antwort. »Denk nur, wenn ihn jeder benutzen würde! Er sät Unzufriedenheit in die Herzen der Völker, und er erschwert das Funktionieren der Intrawelt. Warum, meinst du, sollten sich die Maulspindler in ihrer jetzigen Situation unglücklich fühlen? Sie glauben ohnehin, ihre Arbeit aus freiem Antrieb zu tun. Neben einer gehörigen Portion Pflichtbewusstsein haben wir ihnen diese Vorstellung eingepflanzt. Sie haben ein Ziel – einmal, im Alter, an einem Ultrafaden Dienst tun zu dürfen –, und sie wissen, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist. Mehr kann man, so denke ich, eigentlich gar nicht erwarten.« »Ihr täuscht und belügt sie!«, widersprach der Arkonide einmal mehr. Er zeigte mühsam unterdrückte Aggressivität. Peonu hingegen bog seinen Leib wie unter großer Lust vor und zurück. Tuxit stieß eine leichte Wolke des Flammenstaubs aus, wollte seine Begleiter damit beruhigen. Zu seinem Bedauern musste er zur Kenntnis nehmen, dass die Kraft haupt-
Michael Marcus Thurner sächlich auf seine Landsleute kalibriert war und die beiden Fremdwesen – der kleine Echsische hielt sich ohnehin aus dem Streitgespräch heraus – nur in geringem Maße zu beeinflussen waren. »Maße dir nicht an, über uns zu richten, Arkonide!«, sagte Tuxit laut und möglichst bestimmend. »Wir sind ein altes Volk, und wir haben viel gesehen. Wir wissen sehr wohl, welche Wege für uns die richtigen sind. Ist dir schon jemals der Gedanke gekommen, dass auch du nicht Herr über deine Taten sein könntest? Dass auch dein Schicksal in irgendeiner Form vorherbestimmt sein könnte, von anderen Wesen gesteuert?« Das saß. Atlan senkte den Kopf, seine Körperspannung ließ sichtlich nach. Während der nächtlichen Reise sagte er kein Wort mehr, genauso wenig wie der Lutvenide. Lediglich Jolo quengelte von Zeit zu Zeit über das mangelnde Speisenangebot an Bord der Gondel. Tuxit und seine Begleiter erreichten eine Flachstation, die den wenig prosaischen Namen ZER-95 trug. Wie erwartet – und genetisch programmiert – fielen auch hier die Maulspindler buchstäblich aus allen Wolken, als sie seiner ansichtig wurden und den Flammenstaub spürten. Mit unterwürfig eingeknickten Beinen warteten sie auf Befehle. Stumm deutete er auf den Faden, der weiter hinaufführte, zur Hochstation OB-66. Sie erschlugen sich beinahe vor Begeisterung, während sie eine wartende Gluckmutter aus der Parzelle Neu-Isgord samt ihrer Knospenbrut vertrieben, die Gondel bereitstellten und die bereits darin gebunkerten Larvenschnitten entfernten. Stepokkende Karinenser, ein Zwillingsstamm miteinander ästelnder Bulchen, pastös dahingleitende Sevarinen, laut sirenende Spucknattern und ein Knäuel Spintaniger bildeten eine staunende Menge, während Tuxit und die Gefährten einen Imbiss in der hiesigen Kantine zu sich nahmen. Auch wenn er bereits jetzt die heimatliche Wanderstadt mehr vermisste, als er es je-
Die Kathedrale von Rhoarx mals für möglich gehalten hätte, so wusste Tuxit den Nutzen dieses öffentlichen Auftritts wohl zu schätzen. Gerüchte würden sich verbreiten. Gerüchte, dass einer der legendären Erbauer der Intrawelt gesichtet worden war. Dass sie noch existierten und keineswegs einen Mythos darstellten. Tuxit gedachte, die Rhoarxi aller Wanderstädte in die Neugestaltung dieser wunderbaren Welt mit einzubeziehen. Ja – Aspoghie stand seit seiner schändlichen Flucht in der Schuld von Benenses und Zirnatim, die entscheidenden Anteil am Neuaufbau seiner Heimatstadt vor 30.000 Tagen genommen hatten. Nein – er würde sich von den Obersten Brütern der beiden Schwesterstädte keinesfalls zusätzliche Schuldgefühle aufhalsen lassen. Sein Leben würde nicht mehr allzu lange dauern. Es galt, in der kurzen Zeit, die ihm bleiben würde, einen geeigneten Nachfolger zu finden, aufzubauen und gewisse Dinge in Bewegung zu setzen. Und zwar derart, dass eine Rückkehr zu den alten, seit Jahrhunderttausenden eingefahrenen Schienen nicht mehr so leicht möglich sein würde. Am liebsten hätte er den ganzen Laden umgekrempelt und … und … »Die Gondel ist bereit, Höchstedler.« Ein flach auf dem Boden liegender Maulspindler, dessen Oberflächenzeichnung von seltsamen Symbolen beherrscht wurde, riss Tuxit aus seinen Gedanken. »Wir brechen sofort auf!«, befahl der Rhoarxi und erhob sich vom unbequem breiten Sitz. Atlan und Jolo folgten augenblicklich, während sich Peonu provokant Zeit ließ. Das seltsame Wesen war so ganz anders als Atlan. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Tuxit vertraute den Worten des Arkoniden, was dessen freundschaftliche Gefühle betraf. Er musste ihm vertrauen. Wenn jemand in all den Jahren, die er die Intrawelt durchstreift hatte, den Begriff »Ehrlichkeit« auf seine Brust geheftet hatte, dann war es der weißfedrige Mann. Sie betraten die Gondel. Ein Maulspindler
17 namens Zarotiakk drückte sich in eine Ecke und achtete darauf, möglichst nicht in Kontakt mit seinen Gästen zu geraten. Die Fahrt verlief ereignislos. Sie saßen einander gegenüber, blickten dann und wann aus den breiten Fenstern in die Leere der Hohlwelt und schwiegen. Tuxit wusste nicht, ob er die richtige Entscheidung traf, indem er Atlan Zugang zur Kathedrale von Rhoarx gewährte. Noch niemals zuvor war Derartiges vorgekommen, und er allein würde die Verantwortung tragen, wenn etwas schief ging. Tuxit spürte das altbekannte Flügelflattern. Er hatte Angst. Aber ein einziger Gedanke beruhigte ihn: Er hatte nicht umsonst gelebt. Ein gesundes Küken, sein Küken, wuchs im von einer Ammenglucke behüteten Ei heran. Es schien unvorstellbar – und dennoch hatte dank der schützenden Potista-Schicht ein Brutkind die 30.000 Tage seiner Flucht überstanden. Sein Herz wollte ihm schier vor Glück bersten, wenn er nur daran dachte …
7. Aus dem Großen Und Wahrhaften Gekecker, Achtzehnter Pieps: Über viele Generationen hinweg wurden mögliche Oberste Brüter einer strengen Selektion unterzogen. Sie mussten höchsten ethischen und moralischen Ansprüchen genügen und die notwendige Nervenkraft besitzen, um den Flammenstaub in sich ertragen zu können. Nicht immer gelang es. Die Liste der Namen gescheiterter Rhoarxi-Anführer wurde rasch länger. Und dennoch erlebten wir glorreiche Zeiten. Über Tausende Sternenjahre hinweg wirkten die Angehörigen unseres Volkes für die Hohen Mächte. Überall wurden die Namen der rhoarxischen Stammesführer mit Ehrfurcht – oder mit Angst – ausgesprochen. Ein einziger dunkler Fleck lastete auf unseren Seelen. Denn sobald der Flammenstaub erlosch, also einer der Obersten Brüter starb, fielen wir in alte Gewohnheiten und
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aggressives Geflatter zurück. Es schien dann wie ein Rausch, dem wir erlagen. Wir brauchten, wir benötigten immer wieder einen starken Flügel, der uns den Weg wies. Wenn man es negativ ausdrücken wollte, so waren wir … süchtig nach der besänftigenden Wirkung des Flammenstaubs geworden. Ob dies die Hohen Mächte, die Kosmokraten, in all ihre Überlegungen mit einbezogen hatten? Niemand konnte diese Frage beantworten. Wie wir mittlerweile wissen, ist die Auffassung eines normalen Lebewesens von Moral gänzlich anders als jene einer Superintelligenz oder einer noch weiter entwickelten Wesenheit. Sie scheren sich nicht viel um unsere Bedürfnisse. Sie besitzen diesen Blick für das große Ganze – und verlieren dabei die so genannten Kleinigkeiten aus den Augen. Entsprechend brutal wurden wir Rhoarxi auf den Scharrboden der Realität zurückgerufen. Die Besuche Laes wurden seltener – und blieben schließlich für lange Zeit zur Gänze aus.
8. Atlan Ich kannte die Hochstation OB-66 bereits. Von hier waren wir den umgekehrten Weg hinab zur Wanderstadt Aspoghie gereist. Mittlerweile hatte ich mich längst an die Gondeln, an diese seltsamen Reisemittel und ihre ebenso merkwürdigen Bahnhöfe, die gut verspannt in der Luft hingen, gewöhnt. Ich achtete jedoch tunlichst darauf, mir das System der kreuz und quer reichenden Spindelfäden nicht allzu plastisch vorzustellen. Es beunruhigte meinen Geist. Ich war zwar allerhand gewohnt; aber die Vorstellung, dass ein einziger Verbindungsfaden riss und in der Folge das gesamte System zusammenbrach, erschien mir nicht besonders erbauend. Man brachte Tuxit die bereits bekannte Hochachtung entgegen. Der Flammenstaub, der ihn von Zeit zu Zeit umflirrte, wirkte auf die Maulspindler und Angehörige vieler an-
derer Völker wie ein Zaubermittel. Peonu, Jolo und ich bildeten nichts anders als die Staffage für den reisenden Rhoarxi. Man behandelte uns mit neutraler Reserviertheit, aber offensichtlich als Teil von Tuxits Equipage. »Wohin jetzt?«, fragte ich ihn. »Nach links, rechts, oben oder unten? In eine besondere Gondelstation, in eine andere Parzelle? Würdest du uns endlich einmal verraten, wo eure Kathedrale zu finden ist?« Ich war mit meiner Geduld ziemlich am Ende. Peonu wohl ebenfalls. Sein Seelendruck lastete immer öfter und drängender auf mir. »Geduld«, mahnte mich der Oberste Brüter. »Es ist nicht mehr weit. Wir müssen allerdings weiter nach oben.« Er deutete auf einen besonderen Faden, den ich schon bei meiner Herreise bestaunt hatte. Er wirkte stärker und glitzerte silbern in der Sonne. Es handelte sich um einen so genannten Ultrafaden. »Wir müssen zur Ultrastation«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Dort oben ist das Ziel nahe.« »Wie nahe?«, mischte sich Peonu ein. Er vergrub sich währenddessen richtiggehend in mir, ließ mich all die Gier, die in ihm steckte, fühlen. Seine Begehrlichkeit wurde zu meiner – und erzeugte in mir ein umso größeres Verlangen, endlich wieder Herr über meinen Geist zu sein. Oh, wie ich ihn hasste! »Alles zu seiner Zeit«, wich Tuxit einmal mehr aus. Er wandte sich von uns ab und begann ein gezwitschertes Gespräch mit dem hiesigen Hochwärter, dem Anführer der Maulspindler. »Sorg dafür, dass dieser Tuxit endlich den Schnabel aufmacht!«, zischte mir Peonu unbemerkt von allen anderen zu. »Ich habe es satt, von diesem schrägen Vogel gegängelt zu werden.« Er saugte an mir, ließ mich den Verlust meiner Seele überdeutlich spüren. Tränen tropften ohne mein Dazutun aus den Augenwinkeln.
Die Kathedrale von Rhoarx »Warum redest du nicht selbst mit ihm?«, brachte ich leise und unter Krämpfen hervor. »Hast du etwa … Angst vor ihm?« Der Lutvenide lachte rollend. Die Zunge hing ihm währenddessen fast bis zur Brust herab, die Rauten seines Kopfes bildeten ein wirres Muster. »Deine Versuche, mich zu provozieren oder gar zu einer unüberlegten Handlung hinzureißen, sind äußerst plump, Arkonide. Man merkt, dass du nicht unbedingt mit allen Wassern gewaschen bist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dich in deiner Heimat für deine psychologischen Fähigkeiten oder dein Planungsgeschick bewundert.« Er wollte mich beleidigen und weiter verunsichern. Als ob er das notwendig gehabt hätte! Ich fühlte mich ohnehin wie seine Marionette. »Ein Ultrawächter wurde auf mein Geheiß von der Flachstation aus benachrichtigt«, unterbrach Tuxit unser Gespräch. »Er wird in den frühen Morgenstunden hier sein. Bis dahin müssen wir uns gedulden.« Fast entschuldigend fügte er hinzu: »Das System hat auch manch schwache Seite. Wenn man es besonders eilig hat, sind die Gondeln meist anderweitig eingesetzt.«
19 Wären wir nicht mit dem Rhoarxi unterwegs gewesen, hätten wir niemals die Erlaubnis erhalten, den so genannten Ultrafaden zu nutzen. Mühsam stemmte ich mich hoch. Der Zellaktivator sandte belebende Impulse aus und ließ mich eine Zeit lang meine Schmerzen vergessen, die durch Peonu verursacht wurden. Ein Knacksen ertönte; wenig später schlich sich rötlich gleißendes Licht durch die schmalen Sichtluken unseres Nachtlagers. Tuxit war binnen kurzem auf den Beinen und hetzte uns mit hektischem Flügelschlag zur Gondelstation des Ultrafadens. »Beeilt euch gefälligst, ihr Weicheier! Von nun an müssen wir einen genauen Zeitplan einhalten. Die Reise in die Kathedrale bedarf präziser Planung.« Widerspruchslos gehorchte ich dem Rhoarxi, während meine beiden Begleiter wesentlich mehr Schwierigkeiten hatten, seinen Befehlen Folge zu leisten. Der eine aus purem Widerwillen, der andere, weil ihm sichtlich die Müdigkeit in den Gelenken steckte. Doch der Anblick der Ultragondel sorgte dafür, dass Peonu und Jolo von einer Sekunde zur nächsten wach wurden.
* Noch bevor sich die namenlose Kunstsonne wieder einschaltete, wurden wir von einem mürrischen Maulspindler geweckt. Er wirkte alt; die Halsfalten rund um seinen klein geratenen Kopf waren besonders runzlig und die ledrige Haut von vielen weißen Flecken verunstaltet. »Bewegt euch gefälligst!«, herrschte er uns an. »Ich habe nicht den ganzen Tag lang Zeit.« Mein Dhedeen fügte seinen Worten ein »ungeduldig, quengelig« hinzu. Er humpelte auf fünf Beinen weiter und klopfte zögerlich an die Tür jenes Raums, in dem Tuxit Ruhe gefunden hatte. Erneut stellte ich fest, dass wir nichts anderes als geduldete Anhängsel des Rhoarxi waren.
9. Tuxit Der alte Maulspindler namens Joshenbonk war ein wahrer Griesgram. Seine schlechte Laune machte selbst vor dem Träger des Flammenstaubs nicht Halt. Tuxit kümmerte sich nicht weiter um die geringe Ehrerbietung, die ihm entgegengebracht wurde. Er war selbst viel zu lange als Wesen niederer Ordnung, als Sklave, behandelt worden. Der Rhoarxi bat Atlan, Peonu und Jolo in die Ultragondel. Ihre windschlüpfrige Zigarrenform glitzerte in der grellen, kräftiger scheinenden Sonne. Die rund gebogenen Panoramafenster erhellten sich auf einen Befehl Joshenbonks hin. Der bläuliche Schutz-
20 schirm erlosch. Ätherische Musik, eine Art multidissonantes Pfeifen, empfing sie. »Diese Gondel ist wesentlich luxuriöser ausgestattet als die anderen«, sagte Atlan. »Vor allem sehe ich das erste Mal in der Intrawelt High-Tech-Gerätschaften.« »Sie sind notwendig.« Tuxit marschierte an Bord und scharrte wohlig über den Sandboden, der ihn erwartete. Die Ultragondel war auf die Bedürfnisse der Rhoarxi ausgerichtet. Er hatte niemals zuvor gehört, dass ein Anderswesen zu einer Ultrastation mitgenommen worden war. Er brach ein weiteres Tabu – wie er schon so viele während seines langen Lebens zerstört hatte. »Unser Ziel ist Station D-1. Sie liegt bereits sehr nahe an der Kunstsonne. Dort herrschen Bedingungen, die wir selbst mit unserem bautechnischen Genius nicht mehr abmildern konnten.« Er sagte dies mit einer Selbstverständlichkeit, die jeglichen Dünkel übertünchte. »D-1 befindet sich in einer lichten Höhe von knapp 140.000 Kilometern über dem Erd- und Scharrboden. Wir reisen mit nahezu 3000 Stundenkilometern, geschützt von Prallfeldern, Schutzschirmen, isolierenden Elementen und strahlenfilterndem Glas.« »Das bedeutet, dass die Distanz zur Kunstsonne von der Station aus lediglich ein paar tausend Kilometer beträgt«, hauchte der Arkonide, blass geworden. »So ist es.« »Wie … warum …« »Ich möchte es nicht erklären«, unterbrach ihn Tuxit. »Ich will es dir zeigen. Für manche Dinge reichen keine Worte. Man muss sie mit allen Sinnen erfahren.« »Ist diese Ultrastation etwa mit der Kathedrale gleichzusetzen?«, fragte Peonu, dessen Mundgeruch ihn an wurmverfaulte Pickkörner erinnerte. Tuxit keckerte belustigt. »Nein. Das wäre zu … profan, findest du nicht?« Er hockte sich auf eine Stange, die Gefieder und Blümchen mit einem sanften Windhauch aus einem Ventilator massierte. »Geduldet euch noch ein wenig«, seufzte er wohlig. »Umso
Michael Marcus Thurner größer, umso schöner wird dann die Überraschung sein.«
* Die Hochstation verschwand in Blitzgeschwindigkeit aus ihrem Gesichtsfeld. Ihre Gondel zischte auf und davon. Binnen kurzem war einfache Schallgeschwindigkeit erreicht, und das Beschleunigungselement hielt nach wie vor an. Die dicke Luftsuppe erzeugte enorme Turbulenzen, gegen die ihr Gefährt scheinbar mit aller Kraft ankämpfen musste. Die Gondel und die sie umgebende Atmosphäre erhitzten über alle Maßen. Angst erregendes Glühen umwaberte sie, wurde zur langgezogenen Lohe. »Wir verwenden auch hier eine PotistaVerbindung«, bemerkte Tuxit, während seine Gäste ehrfurchtsvoll – und ängstlich – durch die Panoramafenster auf das feurige Schauspiel gafften. »Eine dünne, nahezu unsichtbare Potista-Schicht, die stetig von der Spitze der Gondel ausgestoßen wird, dient als Filmkühlung. Die Hitze frisst beständig jene Feuchtigkeit, die in ihr gebunden ist. Diese … hm … Schweißschicht hält hohe Temperaturen vom Gondelkörper fern. Zur weiteren Sicherheit existiert ein energetischer Schutzschirm, den wir allerdings derzeit nicht aktiviert haben. Im Falle des Falles würde er sofort anspringen.« »Warum ist er nicht aktiviert, bei allen dreifach verdammten Nahrungsmittelzusätzen?«, jammerte Jolo. »Willst du etwa, dass ich nicht wie die Höchsten meines Volkes an Überfraß sterbe, sondern an Angstzuständen?« Er schluckte heftig und schob den Kopf unter dem biegsamen Leib zwischen seine Beine. Es sah so aus, als wollte er vor Angst in den eigenen Hintern kriechen. »Wir sind ein sehr altes Volk, kleiner Echsischer. Die meisten Geheimnisse des Lebens sind für uns längst keine mehr. Um uns daran zu erinnern, woher wir kommen, und um uns eine Neugierde zu bewahren, greifen wir in vielen Sachen auf die Grundlagen unserer technischen Entwicklung zu-
Die Kathedrale von Rhoarx rück. Du magst es nostalgische Narretei nennen – für uns sind Kleinigkeiten wie diese Gondeln der Flügelschlag unseres Lebens.« »Pah!« Jolo richtete sich tapfer auf und zeigte ein empörtes Gesicht. »Warum hüpft ihr nicht gleich aus den Gondeln und denkt während des stundenlangen Sturzes hinab zur Oberfläche der Intrawelt darüber nach, wozu ihr eure Flügel besitzt? Das wäre noch mehr retro.« »Du wirst es nicht glauben – aber einer meiner Vorfahren hat auch dies ausprobiert und …« »Genug!« Jolo hielt sich die Hände vor den Mund und hetzte mit lächerlich weiten Sprüngen durch den Sand in Richtung der Hygienezelle. »Du musst unseren kleinen Freund entschuldigen«, sagte Atlan lächelnd in Tuxits Richtung. »Er versteht deine Art von Humor offensichtlich nicht.« Der Arkonide hielt sich krampfhaft an einer Sitzstange fest. Das Gerüttel der Gondel, das in Tuxit ein angenehmes – natürliches und urtümliches – Gefühl auslöste, behagte ihm wohl ebenso wenig. Peonu blieb ruhig stehen. Sein Körper wirkte angespannt wie eine Feder. Irgendetwas arbeitete in ihm. Joshenbonk, der Maulspindler, saß ungerührt in seiner Ecke. Vielleicht war es sein Alter, vielleicht aber auch ein gewisser Grad an Senilität, der ihn die Dinge vollkommen ungerührt nehmen ließ. Flammendes Rot verdeckte für lange Zeit die Sicht auf das Außen. Irgendwann gewöhnten sich Atlan und selbst Jolo an das ungewohnte Bild und das heftige Gerüttel. Mit dreifacher Schallgeschwindigkeit rasten sie nach oben, der Kunstsonne immer näher kommend. Noch änderten sich die Temperaturen nicht sonderlich, wie Tuxit anhand der außen angebrachten Messsensoren feststellen konnte. Das würde sich bald ändern. Sie waren der Kathedrale von Rhoarx nahe.
10.
21 Aus dem Großen Und Wahrhaften Gekecker, Dreiundzwanzigster Pieps: Die Hohen Mächte ließen uns lange Zeit flügelwärts sitzen. Wir litten wie räudige Flatternattern unter der führerlosen Zeit, hockten auf unseren Heimatplaneten und zerfleischten uns beinahe gegenseitig. Wir wussten, wo sich die Kathedrale von Rhoarx befand. Zweifellos hätten wir auch die beiden Membranschichten, von denen sie geschützt wurde, durchdringen können. Aber etwas, das in uns steckte, hinderte uns daran, diesen Weg zu gehen. Ohne Laes Hilfe waren wir nichts, nichts, nichts. Und wir brauchten den Flammenstaub so dringend, benötigten einen Obersten Brüter, der die Stämme besänftigte, der uns sagte, was wir zu tun hatten, wie wir weitermachen sollten – ach, es war eine Qual sondergleichen! Irgendwann, als wir bereits auf den letzten Schwanzfedern daherhopsten, tauchte der Bote Lae endlich auf. Strahlend trat er aus seinem kobaltblauen Schiff und entbot uns Grüße der Hohen Mächte. Er meinte, dass die Zusammenarbeit mit diesen Mächten nunmehr eine »neue Qualität« erreicht hätte. Wenn wir weiterhin Zugang zum Flammenstaub haben wollten, dann mussten wir auch Aufträge annehmen, die in den Augen mancher als zweifelhaft angesehen werden würden. Ach – er redete und redete, während die Stämme alles verpfändet hätten, um wieder Oberste Brüter zu bekommen. Bereitwillig und ohne zu zögern, stimmten wir zu, als Lae – weiterhin impertinent ob unserer Schwäche und Unruhe lächelnd – offensive Kriegshandlungen von uns forderte. Im Namen der Kosmokraten, so lauteten die Grundbedingungen des neuen Pakts, würden wir von nun an präventive Kriege führen. Ohne das Warum und Wieso zu hinterfragen. Ohne irgendwelche moralischen Bedenken zu äußern. Ohne auch nur einen Augenblick lang an der Richtigkeit unserer Aufgaben zu zweifeln. Drei Stämme stimmten zu. Die beiden
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Membranwände waren nunmehr für uns wieder zu durchdringen. Kobaltblaue Walzenraumschiffe verblieben in der Nähe der Kathedrale von Rhoarx und vertrieben ungebetene Gäste. Der vierte Stamm, die Anarii, verweigerte allerdings jedwede Zusammenarbeit und verließ die Gemeinschaft. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir vermuten, dass jene Rhoarxi elend an den Entzugserscheinungen zugrunde gegangen sind.
* Wir hatten in unserer wechselhaften Geschichte viel Höhe- und Tiefpunkte. Immer wieder erreichten wir die höchsten Gipfel und flatterten danach hinab ins Tal. Auf den Sieg folgte stets die Niederlage. Niemals, so schien es uns, würde es uns erlaubt sein, andere Sphären zu erreichen. War es jene kriegerische Natur, die in unseren Genen steckte und an einer Bewusstseinserweiterung hinderte? Oder Einflüsse von außen? Lange Zeit stritten sich die Gelehrten, bis sie irgendwann resignierten. Unser holpriger Weg, so schien es, war schicksalsbestimmt. Wir hörten auf, nach Höherem zu streben, und trachteten danach, die Rhythmusschwankungen möglichst weit zu strecken. Es galt, Wissen und Erfahrung, die wir in den Hohen Zeiten gewonnen hatten, über düstere Tage hinwegzuretten. Erfahrung und Beobachtungen auf vielen Planeten lehrten uns, dass es den wenigsten Völkern gelang, aus diesen Zyklusschwankungen auszubrechen. Sie bauten auf, verloren meist – selbst verschuldet – alles wieder und begannen von neuem, ohne auch nur einen Flügelbreit an Weisheit gewonnen zu haben. Wir, die Rhoarxi, trafen Vorkehrungen für den nächsten zu erwartenden zyklischen Absturz. Gleichzeitig kamen wir im Dienste der Kosmokraten mit unseren gewaltigen Kriegsschiffen über Planeten und ganze Sternenarme. Es traf uns trotz aller Vorbereitungen
gänzlich überraschend, als uns die Hohen Mächte vor ungefähr 1,2 Millionen Jahren endgültig ihre Gunst entzogen.
11. Atlan Das Gerüttel wollte einfach kein Ende nehmen, und der Blick auf das Draußen wirkte auch nicht gerade beruhigend auf mein Nervenkostüm. Allerdings änderte sich das Farbenspiel allmählich. Das Rot der verbrennenden Luftmassen wurde durch ein Blauviolett ersetzt. Offensichtlich wurde so weit oben und so nahe dem absoluten Zentrum der Intrawelt die Atmosphäre doch dünner. Die Rhoarxi waren in der Tat seltsame Vögel. Sie verzichteten bewusst auf viele Bequemlichkeiten. Es kam mir vor, als stellte das Gondelsystem im Prinzip eine Staffage ohne besonderen Zweck dar. Für große Waren- und Personenbewegungen durch die Weiten der Intrawelt reichte es bei weitem nicht. Lediglich wenige Auserwählte bestimmter Völker oder Stämme erhielten die Erlaubnis, damit zu reisen. Nach welchem Ausleseverfahren die Genehmigungen erteilt wurden, entzog sich nach wie vor meiner Kenntnis. Ich selbst hatte mir den Passierknoten lediglich kraft meines Auftretens erschummelt. »Wir werden langsamer«, sagte Tuxit schließlich und deutete auf einen mechanischen Tachometer, dessen Zeiger in Form eines Federkiels gegossen war. Wenn ich dem Gerät trauen konnte, reisten wir »nur« noch mit halber Geschwindigkeit, also mit knapp 1500 Stundenkilometern. Das Blauviolett verging. Es machte einem grellen, alles beherrschenden Weiß Platz. Tuxit verdunkelte mit einer Bewegung seines Cuerombs die Fenster. Einmal mehr irritierte mich diese seltsame Diskrepanz zwischen den technischen Möglichkeiten, die die Rhoarxi besaßen, und dem, was sie tatsächlich anwandten. Nimm es einfach hin, riet mir der Extra-
Die Kathedrale von Rhoarx sinn. Welche wunderlichen Gedanken müssen zum Beispiel Außerarkonidischen kommen, wenn sie auf das Dreiplanetensystem unserer Heimat stoßen und trotz aller technischen Brillanz mit einem jahrtausendealten Feudalsystem konfrontiert werden? Ja – auch darüber durfte man nicht lange nachdenken. Jedes ältere Volk verzeichnete in seiner Geschichte Entwicklungsstränge, die so hanebüchen unlogisch verliefen, dass mein stiller Begleiter schlichtweg verzweifelte. »Die Ultrastation ist bereits in Sichtweite«, piepste Tuxit. Mit seinem schroff geformten Schnabel deutete er nach vorne. Ein kleiner schwarzer Fleck wurde im Rund der alles beherrschenden Kunstsonne sichtbar. »Und die Kathedrale ist wo?«, probierte es Peonu zum wiederholten Male. Vor Stunden schon hatte er sich in den Hintergrund der sandbedeckten Gondel zurückgezogen und spielte seitdem mit seinen seltsam steifen Fingern. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Der Lutvenide wollte einfach nicht verstehen, dass Tuxit nicht bereit war, seine Geheimnisse vorzeitig auszuplaud… »Sie hängt an einem weiteren Faden unweit von hier«, gab Tuxit bekannt.
* Ich erhob mich gespannt von meiner schmalen und unbequemen Sitzsprosse. Mehrere Bildschirme, die offensichtlich auf Aufnahmegeräte der unmittelbaren Umgebung zugriffen, fingen die Ultrastation von mehreren Seiten ein. Sie besaß eine ovale Grundform. Die meist turmartigen Aufbauten waren durch mehrere Seile oder Spindeltaue miteinander verbunden. Derzeit war niemand an der Oberfläche der Gebäude zu sehen. Kein Wunder; Strahlungsdichte und Hitze, die die Kunstsonne aussandte, erlaubten es wohl kaum einem Lebewesen, selbst in einem Schutzanzug irgendwelche Tätigkeiten während der Tagesstunden zu erledigen.
23 Rot leuchtende Korpuskularstrahlen unbekannter Art drangen aus mächtigen Düsen auf der Unterseite des Bauwerks. Sie verloschen in der extrem dünnen Atmosphäre, kehrten nach kurzer Zeit wieder. »Die zwölf Ultrastationen balancieren das labile Gleichgewicht des gesamten Gondelnetzes aus«, erklärte Tuxit. »Durch präzise Zug- und Druckmanöver, die synchron aufeinander abgestimmt sind, sorgen sie dafür, dass die Spannungen im Netz auf ein Minimum reduziert werden.« Er wirkte plötzlich wie ausgewechselt. Redselig wie selten zuvor erklärte er uns D1, während wir uns mit langsamer werdender Geschwindigkeit auf unser Ziel zubewegten. »Diese Turmaufbauten dienen der Beobachtung der Kunstsonne. Die hier ansässigen Maulspindler besitzen kleinere Steuerungsmöglichkeiten, um das Ökosystem der Intrawelt innerhalb passabler Werte stabil zu halten.« Er seufzte. »Früher einmal waren andere dafür zuständig. Das fünfte Urvolk, das mit uns vor langer Zeit hierher gezogen ist. Aber es hat sich von seinen Pflichten abgewandt und eigene Wege beschritten …« Tuxit unterbrach seinen Redeschwall, wirkte plötzlich in sich gekehrt. Ich überlegte, ob ich nachbohren sollte. Auch wenn die Beantwortung mancher Fragen nichts mit meiner Suche nach dem Flammenstaub zu tun hatte – diesem riesigen Kunstkörper hafteten mehr Geheimnisse an, als ich in tausend Jahren würde lüften können. »Nur auserwählte Maulspindler werden eingeladen, hier ihren Dienst zu tun«, fuhr der Rhoarxi schließlich fort. »Sie betrachten es als Ehre und als Höhepunkt ihres Lebens. Nicht wahr, Joshenbonk?« Der Maulspindler hauchte ein mürrisches »Ja«. Seine hauchdünnen Glieder zitterten schwer. Feinste Härchen an der Unterkante seines Leibes richteten sich kurz auf, bevor sie sich wieder eng an die ledrige Haut schmiegten. »Gibt es Angehörige anderer Völker, die auf der Ultrastation Dienst tun?«, fragte ich.
24 »Ihr seid wahrscheinlich die ersten Fremden seit mehreren hundert Jahren, die hierher gelangt sind«, gab der Rhoarxi zur Antwort. Mit seinem Schnabel pickte er sanft auf einen Bildschirm. Ein vergrößerter Ausschnitt sprang uns augenblicklich ins Auge. »An diesen drei Fäden hängt die Ultrastation. Sie können nur während der Nachtstunden und unter besonderen Voraussetzungen gewartet werden.« »Wir müssen also einen der beiden anderen hinabreisen, um zum Lager des Flammenstaubs zu gelangen«, flüsterte mir Peonu mit obszön herausgestreckter Zunge zu. Tuxit kümmerte sich nicht weiter um unsere stetig wachsende Ungeduld. Er fuhr fort, uns Details zu Größe und Funktion der Gondelstation zu liefern, beschrieb logistische Probleme, erzählte Anekdoten und Geschichten und langweilte uns schließlich mit technischen Daten. Ich registrierte seine Worte nur am Rande. Warum, bei den Sternengöttern, warf er uns kleine Appetithäppchen zum Flammenstaub hin, um dann wieder abzuschweifen und uns mit nichtssagenden Informationen in die Irre zu führen? »Wir legen an«, keckerte er nach einiger Zeit fast fröhlich. Unsere Gondel glitt schmatzend in die vorbereitete Halteklammer an einer angeschrägten Seite der Station. Augenblicklich umgab uns Dunkelheit. Künstliches Licht flammte in der Kabine auf. Das erste Mal seit geschätzt eineinhalb Tagen fühlte ich, wie sich der Boden unter meinen Füßen beruhigte. Welch eine Erleichterung! Tuxit wartete geduldig, während der zittrige Joshenbonk mehrere Sicherheitschecks vornahm. Nach wenigen Minuten ertönte ein leises Knacksen, das mich an jenes der Kunstsonne erinnerte, wenn sie sich ausschaltete. Es dürfte sich generell um ein akustisches Signal handeln, mit dem die Maulspindler das Ende irgendeiner Aktivität signalisieren, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Das Knacksen, das man hört, wenn die Sonne
Michael Marcus Thurner anspringt oder sich ausschaltet, besitzt hier offensichtlich eine gänzlich andere Qualität. Das mochte schon sein … Diese Erkenntnis erklärte aber keineswegs, wie der Schall de facto in Nullzeit von der Sonne bis zum Boden der Intrawelt geleitet wurde. Beschäftige dich nicht mit Nebensächlichkeiten, mahnte mich mein interner Quälgeist – obwohl er mir selbst den Grund für meine Grübeleien geliefert hatte. Die Tür öffnete sich zischend. Joshenbonk verließ die Gondel, dicht gefolgt von Tuxit. Ich humpelte ihnen hinterher. Jolo hielt sich – wie so oft während der letzten Tage – um mein rechtes Bein geklammert. »Ganz schön heiß hier oben«, sagte Peonu, der als Letzter ausstieg. »Die Ultrastation wird in ihrem Inneren gerade so weit abgekühlt, dass die Maulspindler ihren Dienst ohne gesundheitliche Gefährdung erledigen können«, beantwortete Tuxit die unausgesprochene Frage, bevor er sich Joshenbonk widmete. »Bei dir ist es wohl bald so weit?«, fragte er das seltsame Wesen und streichelte ihm mit dem Flügelstumpf beiläufig über den erschreckend menschenähnlichen Kopf. »Ja, ja«, antwortete der Maulspindler. »Bald, bald, bald …« Mit ungelenken Bewegungen trippelte er voraus, eine schmale Rampe hinauf. Alles hier wirkte steril und peinlich sauber. An trübe gescheuerten Oberflächen erkannte ich dennoch, dass diese Anlage alt sein musste. Ich öffnete den Oberteil meines einfachen Overalls und fächelte mir ein wenig Luft zu. Die Hitze war wirklich bedrückend. Mit jedem Atemzug sog ich heiße, schwüle und verbrauchte Luft ein. Dies war keineswegs ein Ort, an dem ich mich wohl fühlen würde. »Wie sieht es mit unserer Weiterreise aus?«, fragte Tuxit den Maulspindler. »Alles in bester Ordnung«, gab Joshenbonk einsilbig zur Antwort. »Gut. Ich möchte, wenn die Zeit bleibt, die diensthabende Mannschaft begrüßen.« Der Maulspindler blieb abrupt stehen.
Die Kathedrale von Rhoarx »Das ist … ungewöhnlich«, murmelte er. »Während jener zehntausend Tage, die ich auf D-1 Dienst tue, waren lediglich zwei weitere deiner Art hier, um die technischen Anlagen zu kontrollieren. Keiner von ihnen hat sich für uns interessiert.« »Ich tue es«, sagte Tuxit betont. »Mag sein, dass sich manche Dinge in der Intrawelt ändern werden.« »Änderungen sind stets ein Fluch«, wagte Joshenbonk einen überraschenden Einspruch. »Das ist eine Fehleinschätzung, mein lieber Freund. Ohne Wandlung gibt es keinen Fortschritt.« Der Maulspindler schwieg daraufhin und tapste mühsam die Rampe hinauf. Wir mussten auf sein geringes Tempo Rücksicht nehmen. Möglicherweise litt er an einer Art Gliederrheuma. Seine Bewegungen erschienen mir ruckartig und wie unter Schmerzen getan. Zudem sonderte sein Spindelaufsatz von Zeit zu Zeit leichten Schleim ab, der wahrscheinlich jene Grundsubstanz darstellte, mit der die Maulspindler ihre Seile ausbildeten. Ein Tor öffnete sich vor uns. Weitere der seltsamen Wärter des Gondelsystems wurden im künstlichen Licht sichtbar. Sie alle wirkten alt, gebrechlich, hinfällig. »Es freut mich, dich an Bord der Ultrastation D-1 begrüßen zu dürfen«, sagte der Vorderste von ihnen. Der orangegelbe Dhedeen, der auf seinem eingefallenen Leib saß, zitterte wie sein Besitzer. Auch er schien am Ende seiner Lebensspanne angelangt zu sein. Tuxit marschierte grußlos an ihm und seinen Kumpanen vorbei. Langsam und erschüttert folgte ich dem Rhoarxi. Dies waren ausnahmslos vom Tod gezeichnete Maulspindler. Und wenn ich die Zeichen richtig deutete, litten sie Höllenqualen.
12. Tuxit Er erlaubte sich kein Mitleid. Es hätte ihm
25 schlimmstenfalls jene Qualen bereitet, derentwegen er bereits einmal aus seiner Pflicht geflüchtet war. Er, Tuxit, trug einen guten Teil der Verantwortung für diese armseligen Lebewesen. Er spürte Atlans Blick auf seinem Gefieder. Die Vorwürfe des Arkoniden waren in vielerlei Hinsicht berechtigt. Doch er war nicht bereit, dies zuzugeben. Die Rhoarxi waren stets ein stolzes Volk gewesen. Nur dieser Hochmut und ihre Unbeugsamkeit hatten sie vor der Ausrottung bewahrt. Es blieb ein wenig Zeit, um sich über die Zustände auf D-1 ein Bild zu machen. Er konnte sich diesen armen Kreaturen widmen, die ihr qualvolles Leben als Belohnung für treue Dienste unter grausigen Umständen beschlossen. Er musste etwas ändern. Dieses Muss begann an der Basis; bei der genetischen Programmierung der Maulspindler. Joshenbonk sorgte dafür, dass Atlan und seinen Begleitern eine Führung durch die Station geboten wurde. Aggregate und technische Geheimnisse würden ihren Blicken verborgen bleiben. Sie sollten lediglich ein Gefühl für das Genie des so primitiv wirkenden und dennoch so ausgeklügelten Systems bekommen. Er zwängte sich auf eine schmale Notsprosse, die für die seltenen Aufenthalte eines Rhoarxi vorbereitet war. »Rede!«, forderte er schließlich den Anführer der Maulspindler mit Namen Bejbal auf. »Was willst du wissen?«, fragte Bejbal. Unruhig trippelte er hin und her. »Bist du mit den Zuständen hier zufrieden?« »Es ist das Höchste für einen Maulspindler, sein Leben an Bord einer Ultrastation beenden zu dürfen«, betete der Gefragte das auswendig Gelernte herunter. »Fühlst du dich wohl? Kann man auf der Station etwas verbessern? Haben du oder deine Artgenossen Beschwerden vorzubringen?« »Ich … verstehe nicht.« Es schien sinnlos. Die Maulspindler würden unter keinen Um-
26 ständen irgendein Gegenwort wagen und schon gar keine Kritik in Gegenwart eines Rhoarxi. Ihre Programmierung machte es ihnen schlichtweg unmöglich. Tuxit schloss die Augen. Er dachte an andere Völker, die sozusagen auf dem Reißbrett entworfen worden waren. All das Schlechte und moralisch Zweifelhafte im Gedankengut seiner Landsleute hatte damals die Panikattacke ausgelöst und ihn in die Bedeutungslosigkeit flüchten lassen. Er musste sich selbst eingestehen, dass er … entartet war, denn er litt unter Gewissensbissen. Alle anderen Rhoarxi hatten keinerlei Probleme, mit den von ihnen gestalteten Wesen umzugehen. Wenn sie einen Maulspindler oder einen Wächter wie Teph anblickten, sahen sie Grundsubstanzen, ein genetisches Formelwerk und die notwendigen Arbeitsschritte, die zu ihrer Belebung geführt hatten. Und niemals die Lebewesen, die dahintersteckten. Selbst die Drieten, Nomaden und Anstizen benutzten seine Landsleute seit Jahrhunderttausenden. Ausgesetzt hatten sie sie auf Planeten, ihnen ihre Geschichten und Sagen geschrieben, ihnen falsche Erinnerungen an den Einzug in die Intrawelt eingepflanzt. Es war notwendig gewesen, um diesen drei so wichtigen Völkern jenen Hauch von Selbstbewusstsein zu geben, den sie für die schöpferische Gestaltung oder Wartung der Hohlwelt so dringend benötigten. Was für schändliche Taten hatten die Rhoarxi begangen, um in all ihrer Selbstsüchtigkeit ein Ziel zu erreichen! Niemand vermochte mehr zu sagen, wann diese grundlegende moralische Veränderung in ihrer Sichtweise eingetreten war. Tuxit konnte sich allerdings sehr gut vorstellen, dass die Kosmokraten sie auch in dieser Hinsicht verdorben hatten. Oder war er selbst der Verdorbene? Zeigte er einen zu großen Grad, einen an Lächerlichkeit gemahnenden Grad von Gewissensbissen? Nein. Tuxit spürte, dass er Recht hatte. Die Gespräche mit Atlan – und selbst jene mit dem
Michael Marcus Thurner kleinen, so selbstsüchtigen Jolo – hatten ihn endgültig davon überzeugt, dass sein Weg der richtige war. »Führe mich zu den anderen«, seufzte er schnäbelnd. Er sah, dass er bei diesen alten und halb toten … Werkzeugen ihrer Macht nichts erreichen würde. »Es wird Zeit, dass meine Begleiter die Wahrheit erfahren.« Er würde ihnen die Reime des Großen Gekeckers vortragen.
13. Aus dem Großen Und Wahrhaften Gekecker, Sechsundzwanzigster Pieps: Die Kosmokraten entpuppten sich – zumindest für uns Rhoarxi – als Fluch. Über Ewigkeiten hinweg hatten sie uns Körner gestreut, uns am Gängelband gehalten, uns als ihre Favoriten aufgebaut. Von einem Tag auf den anderen wurde alles anders. Vielleicht gab es ein anderes Volk, das sie für ihre … Handlangertätigkeiten heranzogen. Vielleicht war der Sternensektor, in dem wir tätig gewesen waren, nunmehr in ihrem Sinne geordnet. Oder aber vielleicht hatten sie das Interesse an ihrem kleinen Spielchen verloren, dessen Regelwerk wohl nur sie selbst durchschauten. Fakt war, dass sie uns mit hängenden Flügeln im Wind stehen ließen. Und nicht nur das: Der Flammenstaub, der unseren Obersten Brütern anhaftete, jenes Sucht erzeugende Zeug, lag in der Kathedrale von Rhoarx nun gänzlich unbewacht. Jedermann, der über ein gewisses technisches Geschick verfügte und in der Lage war, hyperenergetische Effekte zumindest zu durchschauen, besaß die Chance, die beiden Membranschichten zu durchdringen. Ruhelos – und verwirrt – zogen die Stämme Aspoghie, Benenses und Zirnatim durch Dwingeloo. Verzweiflung trug uns vorwärts. Wir suchten nach … Seelenfrieden. Nach einer Bestimmung, die uns mit dem Rückzug der Kosmokraten abhanden gekommen war. Nach nahezu 300.000 Jahren in Diensten höherer Mächte benötigten wir ein neues Ziel.
Die Kathedrale von Rhoarx Für eine kurze Zeitspanne beruhigten wir die zerrütteten Sinne, indem wir unseren … Hobbys frönten. Wir bauten und bauten, beschäftigten uns mit genetischen Experimenten, fingen sogar nochmals flatternden Streit mit den Togronen an. All dies dämpfte unsere Unruhe und Ängste nicht. Die Kosmokraten hatten uns aus ihren Diensten verabschiedet. Der Fluch des Flammenstaubs, den sie zurückgelassen hatten, bedurfte eines besonderen Schutzes. Sonst, so war den Rhoarxi der drei letzten Stämme klar, würden eines Tages negative Kräfte auftauchen und sich dieser überaus mächtigen Waffe bedienen. Bei allem Schrecklichen, das wir im Dienste der Kosmokraten getan hatten – wir glaubten, zumindest auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Mehr als diese Hoffnung war uns ohnehin nicht mehr geblieben … Es waren die besten Obersten Brüter ihrer Generation, die sich schließlich mit der Errichtung der Intrawelt auseinander setzten. Diese Stätte sollte ein in sich geschlossenes Universum sein, das die Kathedrale von Rhoarx umfasste, die beiden Membranschichten beinhaltete und gegen herkömmliche Waffensysteme ausreichenden Schutz versprach. Die beste Verteidigung gegen ein mögliches Vordringen negativer Kräfte würden jedoch die Rhoarxi selbst sein. Jene Generation beschloss, dass wir uns dem Universum auf lange Sicht entziehen mussten. Der Flammenstaub und wir hatten im Normaluniversum nichts mehr verloren.
* Wenn die Rhoarxi etwas anfangen, tun sie es richtig. Wir begannen, unsere genetischen Experimente auf bestimmte Stoßrichtungen zu konzentrieren. Wir benötigten Heerscharen, die uns die »Drecksarbeit« abnahmen und uns mit möglichst fantasievoller Gestaltung der Intrawelt den Aufenthalt versüßen würden. Also entstanden die Anstizen als technisches Arbeitervolk, die Drieten als
27 kreative Gestalter, die Nomaden als Kundschafter und die … Nun, das tut hier nichts zur Sache. Von riesigen, hauptsächlich autonom wirkenden Robotraumern ließen wir die kosmische Umgebung der Kathedrale von Rhoarx abklappern. Alte Sonnen wurden überhitzt, zur Explosion gebracht, der universelle Lebenskreislauf von Neuem in die Wege geleitet. Eine Sternengeburtsstätte errichteten wir, die die meisten Neugierigen abschrecken würde – und unserer Ernte-Armada zugleich als Rohstofflieferant diente. Nur das Beste vom Besten war uns gut genug. Wir griffen auf Pläne und Unterlagen Dutzender Völker zurück, beriefen uns auf Erkenntnisse, die wir im Laufe der letzten Jahrhunderttausende in unzähligen Galaxien gewonnen hatten. Unsere Überlegungen liefen dahingehend, dass die Intrawelt so einfach wie möglich funktionieren sollte. Unter keinen Umständen wollten wir hochgestochene Technik oder hyperphysikalische Tricks zur Anwendung bringen. Lediglich in den kritischen Steuerungs- und Entwicklungsbereichen der metallenen Hülle ließen wir den Anstizen gemäß ihren genetisch errungenen Fähigkeiten freie Hand. Der Grund für diese Vorsicht ist einfach erklärt: Wir waren uns der Aufs und Abs unserer Entwicklungszyklen durchaus bewusst und wollten sichergestellt wissen, dass wir die Technik jederzeit in den Krallen haben würden. Die Jahre vergingen. Ein metallenes Gerüst entstand. Es wurde dank der wechselgeschlechtlichen Drieten mit Leben erfüllt. Die drei Stämme siedelten sich schließlich an. Heimlich, still und leise landeten wir auf bereits fertig gestellten Parzellen und bedienten uns des Potistas. Es half uns enorm, denn das Nomadentum würden wir wohl niemals mehr ablegen können. Nur noch selten begaben wir uns nach draußen. Uns Rhoarxi, die wir von den Kosmokraten und vom Flammenstaub gebrandmarkt waren, gelang dieser Wechsel zurück ins Normaluniversum
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noch. Mit den mühselig herangezüchteten Teph-Wächtermodellen verhinderten wir, dass andere, die nach und nach in der Intrawelt heimisch wurden, zurückreisen konnten. In der Galaxis Dwingeloo geschahen mittlerweile seltsame Dinge, die uns umso mehr bewogen, in aller Eile jeglichen Kontakt mit der Umwelt abzubrechen. Wesen, die sich Varganen nannten und ebenso selbstherrlich wie wir früher Sternengötter spielten, siedelten sich da und dort an. Wir mieden den Kontakt mit ihnen und spielten tote Mauser. Die Rhoarxi förderten jegliche Legendenbildung, die unser Aussterben betraf. Umso leichter konnten wir in aller Ruhe unserer Aufgabe nachgehen: die Intrawelt fertig zu stellen. Vielerlei Probleme tauchten auf; die Rohstoffbeschaffung erwies sich während unruhiger Perioden in Dwingeloo als mühsam. Maschinen versagten und wurden neu konzipiert. Auch erlebten wir einige der vorhergesehenen zivilisatorischen Talfahrten und konnten uns kaum um mehr als um uns selbst kümmern. Während mancher Epochen varganischer Experimentalphasen mussten wir den Weiterbau zur Gänze ruhen lassen. Derart schob sich die Fertigstellung der Intrawelt immer weiter hinaus. Wir leben in einer Epoche, in der das Erreichen unseres Ziels in unmittelbare Reichweite gerückt ist. Im Vergleich zur bereits verschwendeten Zeit handelt es sich bestenfalls um ein Augenzwinkern, das wir noch abwarten müssen. Dann entsagen wir dem Multiversum entgültig und nehmen das verfluchte Erbe der Kosmokraten, den Flammenstaub, mit in unser selbst gescharrtes … Grab.
14. Atlan Tuxit beendete seinen Sprechgesang. Der Dhedeen auf seiner Schulter kuschelte sich erschöpft an seinen Herrn und tat einen tiefen Schluck vom Blut des Rhoarxi.
Abgesehen vom Inhaltlichen, das mich sicherlich einige Stunden lang zum Nachdenken anregen würde, war die Art des Vortrags berührend und beeindruckend gewesen. Die Reimform und der Singsang, der immer wieder in ein tiefes Gurren hinabgeglitten war, hatten besondere Seiten in mir angesprochen. Die überzeugende Wirkung des Flammenstaubs, jene erste Gabe der Rhoarxi, hatte offensichtlich voll durchgeschlagen. Über Hunderte Strophen hinweg hatte der Übersetzervogel den Sinn und die Kraft des Gekeckers nur ungenügend wiedergeben können. Selbst Peonu zeigte sich beeindruckt, während Jolo dicke, fette Tränen in den großen Äuglein stehen hatte. Die Kosmokraten. Wieder einmal. Ich gestand ihnen nach wie vor gute Absichten zu. Doch auch in der Galaxis Dwingeloo hatten sie ihr Unverständnis für »normale« Lebewesen gezeigt. Eine Kommunikation mit Wesenheiten, die derart weit über uns Arkoniden, Menschen oder Rhoarxi standen, würde wohl niemals zur Zufriedenheit beider Seiten funktionieren. »Der Flammenstaub wird also von zwei Membranschichten geschützt«, sagte ich vorsichtig zu Tuxit, der müde und ausgebrannt wirkte. »Eine ist mit der äußeren Schale der Intrawelt identisch, nicht wahr?« Der Rhoarxi bestätigte mit einem abrupten Nicken. »Aber wo ist der zweite Schutzwall?«, fragte ich ungeduldig nach. Tuxit drehte den Kopf überrascht; seine Halskrause wurde blassgelb, zur Farbe der Verwunderung. »Ich dachte, dass das nach meiner Erzählung klar wäre …« »Gar nichts ist klar!«, fiel ihm Peonu ins Wort. Er war aufgestanden. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig und rasch. Nervosität – und Gier – waren ihm anzumerken. »Jetzt sag endlich, was du weißt!« Ich hielt den Atem an und achtete nicht weiter auf die Schmerzen in meinem Oberkörper. Es war dies unter Garantie die falsche Methode, dem Rhoarxi Wissen zu
Die Kathedrale von Rhoarx entlocken. Tuxit ließ sich Zeit, viel Zeit. Er blickte nach oben an die Decke und hob die Flügelstummel leicht an. Als wolle er sich bei einer höheren Macht für die ungeduldigen Deppen entschuldigen, mit denen er reiste. Oder war dies etwa seine Form der Antwort? Meinte er …? Konnte es sein, dass …? »Ist der Flammenstaub etwa in der Kunstsonne verborgen?«, fragte ich. »Ist dieser künstliche Himmelskörper die Kathedrale von Rhoarx?« Tuxit blickte zu mir und keckerte ein leises »Ja. Gewissermaßen.«
* Es gibt nicht vieles, über das ich mich nach einem langen Leben noch wundern kann. Doch dieser Moment, erschreckend und süß zugleich, bewies mir einmal mehr, dass die Mysterien niemals ein Ende finden würden. »In der … Sonne?«, echote Peonu und taumelte scheinbar entsetzt einen Schritt zurück. »Man könnte so sagen«, bestätigte der Rhoarxi einmal mehr. »Physikalisch gesehen sieht es ein wenig anders aus. Aber das werde ich euch erklären, sobald wir den Urfaden benutzen können. Wir müssen ein wenig warten, bis die Gondel hergerichtet ist und die Dunkelheit hereinbricht.« Wir hatten die Kathedrale von Rhoarx stets vor Augen, monierte ein hörbar fassungsloser Extrasinn. Das Wissen allein hätte uns nichts genutzt. Wir hätten in jedem Fall die Hilfe eines Rhoarxi benötigt, um hierher und weiter zu gelangen. Was für eine verkehrte Welt. Ich musste den Logiksektor beruhigen …
* Tuxit spielte dasselbe Spielchen wie zuvor. Er weigerte sich beharrlich, weitere
29 Auskünfte über die Kathedrale zu geben. »Alles zu seiner Zeit«, mummelte sein Dhedeen erschöpft, »alles zu seiner Zeit.« Die Rhoarxi sind es nicht gewohnt, jemandem Rechenschaft abzulegen, bemerkte der Extrasinn nach einer kurzen Schweigepause. Seit Ewigkeiten sind sie niemandem mehr verantwortlich. Sieh das nur nicht als Selbstherrlichkeit an; sie sind nun mal so. Dies war mir selbstverständlich klar. Trotzdem wollte ich schier aus der Haut fahren. Tuxit verfuhr mit Auskünften, wie es ihm gerade beliebte. In der blutigsten Anarchie des hinterletzten Planeten würde der Informationsfluss besser als hier in der Intrawelt funktionieren. Besagter Tuxit riss mich aus meinen düsteren Gedanken. »Wir können nun weiter«, piepste er und wies mir mit einem Flügelflattern den Weg. Achselzuckend folgte ich ihm. Peonu und Jolo trippelten hinterher. Das Weiß der Kunstsonne – oder sollte ich sagen: der Kathedrale – begleitete uns. Auf unzähligen Bildschirmen und Holoprojektionen wurde das riesige Rund dargestellt. Ein Countdown in einem mir nicht bekannten Ziffernsystem lief nebenbei. Es handelte sich wohl nur noch um Minuten, bis sich die Sonne ausschalten würde. Wir wurden von zittrigen Maulspindlern in einen abgedunkelten Raum geleitet, in dem es seltsamerweise nach Schweiß und ungewaschenen Füßen stank. Eine armselig wirkende und bloß dürftig beleuchtete Gondel wartete im Mittelpunkt des kleinen Saales. Zwei ausgefranste Fäden nahmen in wuchtigen Arretierungen ihren Anfang. Diese beiden zusammen mussten den so genannten Urfaden bilden. Ich löste mich aus der im Gänsemarsch dahintrippelnden Gruppe und begutachtete eines der armdicken Kabel aus der Nähe. Es wirkte schlichtweg … angsterregend. Waren die von Maulspindlern erzeugten Fäden bislang immer glatt und makellos gewesen, so hatte ich bei diesem Monstrum die Befürchtung, dass es sich jeden Moment
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aufspleißen würde. Vorsichtig berührte ich es. Es fühlte sich heiß an. »Beeil dich gefälligst!«, pfiff mich Tuxit an. »Nur keine Angst; es kann nichts passieren.« Das Gondelsystem funktioniert seit Ewigkeiten, sagte der Extrasinn. Vertrau dem Rhoarxi. Ja, ja, die Stimme der Vernunft … Aber ich konnte nicht gegen meine Ängste an. Sie befielen selbst einen Unsterblichen unter gewissen Umständen. Zögernd betrat ich die leicht wippende Gondel. Auch in deren Innerem stank es erbärmlich. Neben meinen altbekannten Begleitern hatten sich drei Maulspindler in den vorderen Bereich des zigarrenförmigen Gefährts gequetscht. Der Gestank ging von ihnen aus. Das bereits bekannte Knacken ertönte, unmenschlich laut. Die Gondeltür verschloss sich mit einem Schmatzen. Eine rumpelnde Mechanik setzte sich in Bewegung. Die Gondel fuhr für wenige Meter in der Waagerechten an, fädelte sich an vorderem sowie hinterem Gehänge über die Kupplungen ein und ruckte schließlich in einem absurden Winkel in die Höhe. Gravitationsregler sprangen eine Zehntelsekunde zu spät an. Das Gefühl, nach »oben« zu fahren, verursachte kurzfristig Übelkeit, bis sich meine Sinne auf den abrupt veränderten Flugvektor einstellten. Wir steuerten mit stetig wachsender Geschwindigkeit auf die riesige, nunmehr dunkelrote Sonnenscheibe zu. Hier, aus der Nähe, wirkte sie fleckig und ausgefranst. Diese Reise war schlichtweg Wahnsinn.
* Die drei Maulspindler begannen eine Art Sprechgesang, während wir der Dunkelheit der Sonnenscheibe immer näher rückten. Mein Dhedeen sah sich außerstande, die archaisch wirkenden Wortfetzen zu übersetzen. Er schmiegte sich stattdessen eng an meine Schulter und fiel in eine Art Halb-
schlaf. »Wir sind im Zeitplan«, musste er wenige Sekunden später die Worte Tuxits dolmetschen. »Binnen kurzem durchdringen wir die zweite Membran. Der Vorgang wirkt ein wenig unangenehm; als würde man keine Atemluft mehr bekommen. Aber keine Angst, das Gefühl verschwindet bald wieder.« Ich bemühte mich, meinen Puls zu beruhigen. Mit annähernd 3000 Stundenkilometern rasten wir auf die »ausgeschaltete« Photosphärenschicht der Sonne zu. Da und dort verpufften schwache Flares. Wohin würden wir geraten? Was erwartete uns in den inneren Schichten des Sterns? Wirkte die Membran in den so genannten Nachtstunden als kühlend und wurde während der 16 »Tagstunden« durchlässig? Tuxit, der verfluchte Rhoarxi-Hahn, schwieg sich weiterhin aus. Ich musste ihm vertrauen, und es fiel mir schwerer als jemals zuvor. Die Gondel durchbrach ungebremst die neblige Schwärze der Photosphäre. Mehrere Messinstrumente, deren Sinn ich nicht durchschaute, spielten verrückt. Ich drohte plötzlich zu ersticken. Es war, als würde mir jedes Quäntchen Sauerstoff aus inneren Organen und Blutbahnen abgezogen werden. Ruhig bleiben!, mahnte der Extrasinn. Es verläuft genau so, wie Tuxit es angekündigt hat. Seine Rede verwirrte sich, ergab plötzlich keinen Sinn mehr. Offensichtlich erfasste die Sauerstoffarmut auch meine Gehirnzellen. Ich … Das Gefühl verging so schnell, wie es gekommen war. Ich hockte atemlos auf dem Boden, riss den Mund weit auf, schnappte gierig nach Luft. Mühsam unterdrückte Panik trieb mir den Schweiß auf die Stirn, und Sterne tanzten vor meinen Augen. Ich atmete dreimal tief durch, sortierte meine Gedanken und blickte mich um. Tuxit war ungerührt auf den Beinen geblieben. Sein Federkleid wirkte ein wenig
Die Kathedrale von Rhoarx unsortiert, doch sonst schien ihm das Durchdringen der Membran nicht geschadet haben. Jolo hingegen lag flach neben mir am Boden und hechelte wie ein junger Hund. Aus Peonus Schädel spritzte Flüssigkeit im Übermaß. Seine Glieder, die jeweils ein zusätzliches Beugeelement besaßen, waren seltsam ineinander verknotet. Er stieß ein Wort aus, das mein Dhedeen mit »Fluch, unglaublich schrecklich!« übersetzte. Der Lutvenide wirkte desorientiert. Jetzt!, befahl mir mein Logiksektor. Schlag zu! Es musste mit dem ersten Hieb gelingen; noch bevor Peonu ahnte, was ich vorhatte, musste ich ihn bewusstlos schlagen. Ich tat eine erste Bewegung, wollte meinen wie von einem Muskelkater geplagten Körper hochbringen. Ein einziger, wuchtig geführter Schlag mochte ausreichen; wenn ich Glück hatte und ein Nervenzentrum des Lutveniden traf, würde auch ein simpler Dagor-Griff genügen. Ich schaffte es nicht, aufzustehen. Sosehr ich mich auch abmühte – meine Glieder wogen Tonnen, und sie zitterten unmotiviert. Die Schwäche verging nur allmählich – und meine Chance zum Angriff war dahin. Peonu schaffte es früher als ich, auf die Beine zu kommen. Als ich mich endlich wieder einsatzbereit fühlte, war er bereits mit seltsam anmutenden Gymnastikübungen beschäftigt. Seine körperliche Konstitution war wohl um einiges besser als meine. Leicht irisierender Nebel umgab uns. Wir bewegten uns durch ein Gebiet physikalischer Unmöglichkeiten. Mein derzeit völlig überforderter Extrasinn wollte mich mit Detailwissen zu Teilchendichte, Temperaturaufbau, Konvektionsmechanismen, Absorptionswirkungen und Granulation zuschütten. Ich hörte nicht weiter auf sein Geflüster. Wir stoppten. »Was ist los?«, fragte Jolo fiepsend. Er kletterte panisch an mir hoch, saugte sich mit einer Vorderpfote an meiner Nase fest. »Es ist doch gar nicht Vesperzeit! Noch nie-
31 mals zuvor habe ich so wenig Lust zum Essen verspürt wie jetzt!« »Keine Angst, Freund.« Tuxit keckerte halb ernst, halb belustigt. »Es handelt sich um einen geplanten Zwischenstopp, der nichts mit euch zu tun hat.« »Mit wem dann?«, fragte Peonu misstrauisch. Seine Gelenke knackten beunruhigend laut. »Unsere Freunde gehen hier von Bord.« Der Rhoarxi deutete auf die drei Maulspindler. Sie torkelten eng aneinander geklammert zur Tür, wisperten weiterhin ihre unverständlichen Litaneien. »Ich werde euch nicht vergessen«, sagte Tuxit leise und berührte jeden Einzelnen der drei kurz am »Kopf«. »Eure Opfer sind nicht umsonst.« Opfer? Was hatten sie vor? Du weißt es, aber du willst es nicht verstehen, flüsterte mir der Extrasinn zu. Ich wollte nach dem Knäuel der Maulspindler greifen, sie aufhalten; aber meine Arme versagten. Ich konnte und durfte nicht in Dinge eingreifen, die sich meinem Verständnis entzogen. Die Gondeltür schob sich beiseite. Ein energetischer Vorhang schützte uns vor dem Draußen. Die Maulspindler, den hier herrschenden Bedingungen schutzlos ausgesetzt, kletterten mit einer Behändigkeit, die ich ihnen niemals mehr zugetraut hätte, auf das Dach. Sekunden später sah ich sie hinabflitzen, hinein in den Nebel. Sie zogen einen weißen, dicken Strich hinterher, der sich wie Klebstoff um den Urfaden wickelte. »Es sind ihre Bestimmung und ihr höchstes Ziel«, sagte Tuxit. »Jeder Maulspindler träumt im Inneren seines Herzens davon, eines Tages sein Leben geben zu dürfen, um den Urfaden vor den Unbilden der hiesigen Verhältnisse zu schützen.« »Interessant, diese Opferbereitschaft«, sagte Peonu in einem lüstern klingenden Tonfall. »Es ist nicht ihre Bestimmung«, sagte ich. »Sie tun lediglich das, was ihnen die Rhoar-
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xi genetisch programmiert haben.« Ich wandte mich ab und nahm Jolo von meinem Oberkörper. Tuxit widerte mich an. Diese ganze Welt widerte mich an.
* Schweigend ging die Reise weiter. Nach einer Minute langsamer Fahrt verließen wir die Photosphärenschicht, in der die zweite Membran der Kosmokraten eingebacken war. Die Leere eines absoluten Vakuums erwartete uns. Lichtfinger mächtiger Scheinwerfer unserer Gondel strahlten voraus. Sie beleuchteten als Einziges den Urfaden, den wir entlangrasten, inmitten eines Nichts. »In einer Stunde sind wir in der wirklichen Kathedrale«, sagte Tuxit einsilbig. Er hatte meine Kritik weggesteckt, als bedeutete sie nichts. Doch wenn ich den alten Vogel richtig einschätzte, arbeiteten meine Worte in ihm nach. »Warum erzählst du uns währenddessen nichts über sie?«, fragte Jolo. Lustlos mummelte er an einem undefinierbaren Gemüsestiel. »Weil … weil ich nicht viel über die Kathedrale sagen kann«, antwortete der Rhoarxi. »Ich dachte, du wärest schon einmal hier gewesen?« »So ist es auch.« Er nahm gerade ebenfalls breiartige Nahrung zu sich und warf einen Verdauungsstein hinterher, den er in wenigen Minuten wieder ausspucken würde. »Allerdings ändern sich die Verhältnisse in der Kathedrale von Mal zu Mal. Als ich vor über 30.000 Tagen ankam, um zum Obersten Brüter geweiht zu werden, da erwartete uns eine prachtvolle Käfigburg. Herrlich leuchtete sie in den Lichtern unserer Scheinwerfer. Filigrane Sprossen, bequeme Einpeckpunkte, atemberaubende Hochstände und saubere Nistwinkel erzeugten den Eindruck von Glanz und Glorie. Es war so, wie ich es mir immer erträumt hatte.«
Ein schwärmerischer Ausdruck erschien in Tuxits Augen. »Meine Wünsche schienen wahr geworden zu sein – zumindest was das Äußere betraf.« Er hielt inne und drehte sich rasch im Kreis. »Als ich die Kathedrale mit meinen Begleitern wieder verließ, wirkte sie düster und abweisend. Jene Schönheit, die ich gesehen hatte, war einem formgewordenen Moloch aus Angst und Schrecken gewichen. Die Rückreise erschien mir wie ein einziger Nachtalb …« »Du meinst, dass sich die Kathedrale deinen Empfindungen angepasst hat?«, hakte ich wissbegierig nach. »Nicht nur den meinen. Mein Begleitkonvoi sah es ebenfalls, und alle interpretierten diese Änderungen als schlechte Zeichen – was sich am Ende als richtig herausstellte.« Peonu zog sich soeben in jene Ecke zurück, in der die Maulspindler ihre letzten Stunden verbracht hatten. Als er glaubte, unbeobachtet zu sein, leckte er mit seiner langen Zunge über den Boden. Fühlte er etwa den Spuren ihrer Sterbensangst nach? Ich traute es ihm zu; sowohl in seinen Fähigkeiten als auch in seiner perversen Ansicht von Freude. »Dort vorne ist die Kathedrale«, sagte Tuxit rascher, als ich es für möglich gehalten hätte. War die eine Stunde wirklich derart schnell vergangen? Mit dem linken Flügelrest deutete er nach vorne. Ein kleiner Lichtreflex leuchtete in der Düsternis auf. Der Fleck vergrößerte sich rasend schnell, wurde zu einem wuchtigen Gebäude. »Ein simpler grauer Quader mit abgerundeten Kanten«, sagte Peonu, enttäuscht wirkend. »Es scheint mir, dass sich unser aller Erwartungshaltungen an die Kathedrale in irgendeiner Form die Waage halten«, keckerte Tuxit. »Die Kathedrale präsentiert sich … neutral. Nicht schwarz, nicht weiß. Nicht rund, nicht eckig. Nicht gut, nicht böse.« Er warf uns nacheinander bezeichnende Blicke zu – zumindest wollte ich es derart interpretieren. Er musste, was das Verhältnis zwischen Peonu und mir betraf, bitte schön
Die Kathedrale von Rhoarx endlich etwas ahnen! Wir rasten mit überhöhter Geschwindigkeit auf den wuchtigen grauen Block zu. Ich ballte die Hände, spannte die Muskeln an, wartete auf den Aufprall, der uns zerschmettern wurde. Dieser Ritt, ein simples Halteund Stützseil entlang und durch ein mir unbekanntes Kontinuum – er belastete meine ohnedies überreizten Sinne aufs Äußerste. Wenige Meter vor der Wandung eines primitiv angepfropften Zusatzgebäudes bremsten wir ab. Von vielleicht tausend Stundenkilometern auf null, innerhalb weniger Sekunden. Was für eine Wahnsinnstat! Oft genug war mir Ähnliches an Bord von Raumschiffen untergekommen, die über ausgezeichnete Antigravs verfügt hatten, und stets hatte ich die Manöver, ohne mit den Wimpern zu zucken, beobachtet. Doch die scheinbare Primitivität der sichtbaren Technik an Bord unserer Gondel provozierte ungewohnte Angstgefühle in mir. »Wir sind angekommen«, bemerkte Tuxit unnötigerweise. Mit geringer Restgeschwindigkeit rollten wir auf das hässliche Zusatzgebäude zu. In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit hätte man es als Kabuff oder Schuppen bezeichnet. Es sah schäbig und abgenutzt aus. Möglicherweise war es der einzige Teil der Kathedrale, der immer die gleiche Form behielt, während sich das Hauptgebäude auf unerklärliche Art und Weise den Wünschen und Erwartungen seiner Gäste anpasste. Ich wollte gar nicht lange darüber grübeln. Mich hatte nur der Flammenstaub zu interessieren. Du entwickelst eine Art … Manie für dieses scheinbare Zaubermittel, mahnte der Extrasinn. Kein Wunder, hielt ich ihm entgegen. Peonu steuert mein Verlangen in gewisser Weise mit. Seine Gier wird zu meiner Gier. Flügeltore öffneten sich langsam in dem armseligen Gebäude. Langsam glitten wir hinein. Seltsame Leuchtstreifen, die an den Innenwänden links und rechts angebracht waren, flammten stockend auf.
33 »Die Beleuchtungsriemen entsprechen älterer Technik der Rhoarxi«, bemerkte Tuxit unaufgefordert. »Sie sind wahrscheinlich mehr als 300.000 Jahre alt – und immer noch funktionstüchtig.« Das uns bereits wohl bekannte Knacksen ertönte. Das Gondeltor schwang beiseite – und wir atmeten die trockene Luft des Kabuffs. Tuxit gockelte uns voran und hüpfte leichtfüßig aus der Kabine. Mit weit nach links und rechts wiegenden Bewegungen drückte er Vorsicht und vielleicht auch ein wenig Beklemmung aus. Er marschierte um den Gondelvorderteil herum und verschwand aus meinem Gesichtsfeld. Ich blickte meine beiden Begleiter nacheinander an, bevor ich dem Rhoarxi folgte. Nun galt es. Wir hatten unser Ziel erreicht.
15. Tuxit Das Tor zur eigentlichen Kathedrale öffnete sich lautlos. Irgendwann einmal, als das Gondelsystem in Betrieb genommen worden war, hatten es seine Vorfahren unter größten Mühen in die Außenwandung gepasst. Es wirkte wie ein Provisorium, und wenn Tuxit den alten Überlieferungen glauben konnte, dann war es immer ein solches gewesen. Die Kathedrale war ein Bauwerk jenseits vorstellbarer Architektur. Bauliche Eingriffe in dieses Kunstwerk trugen unkalkulierbare Risiken in sich. Zum großen Glück der Rhoarxi hatte sich dieser winzige Zubau nicht negativ ausgewirkt. Noch nicht. Denn wer wusste schon, was in zehn Tagen oder einer Million Jahren in der Kathedrale passieren würde? Dieses Gebäude, so viel spürte er, war bar jeglicher Zeit. Es umhüllte jenen einen Raum, in dem alles möglich war. »Es sieht ein wenig düster aus«, sagte Atlan leise. Er zögerte sichtlich, gab sich aber schließlich doch einen Ruck und trat durch das Tor ins Innere der Kathedrale. Bunte Lichtkegel, die von irgendwo aus-
34 gingen, tanzten durch den Ort, dessen Ausmaße tatsächlich an eine Kathedrale gemahnten. Immer wieder huschten die Spots dort überraschend über Wände, wo man hohen Raum erwartet hätte. Es schien Tuxit, als hingen Mauern willkürlich und ohne Abstützung in der Luft. Irgendwo, in weiter Ferne, tropfte Flüssigkeit zäh zu Boden. Sie erzeugte ein unheimliches Geräusch, so dass ihm die Kammfedern zu Berge standen. Platsch, platsch, platsch. »Es sah damals anders aus«, sagte er zu Atlan. »… aus … aus … aus …« Ein Echo antwortete ihm, das in immer kürzer werdenden Abständen reflektiert wurde, dessen Stimmlage höher und drängender wurde, dessen Lautstärke penetrant zunahm. Tuxit und die anderen duckten sich instinktiv, als müssten sie vor den Geräuschen in Deckung gehen. Der Ton wurde zum irren Kreischen – und verstummte schließlich abrupt. »Wir unterhalten uns am besten nur noch flüsternd«, murmelte Atlan und richtete sich als Erster wieder auf. »Kannst du uns wenigstens sagen, wo wir nun hinmüssen?« Er blickte Tuxit an. Seine roten Augen brannten Löcher in die Dunkelheit. Sie erschreckten den Rhoarxi, denn bislang unbekannte Gier glänzte in ihnen. Das erste Mal überkamen ihn wirkliche Zweifel, ob er gut daran tat, dem Arkoniden zum Flammenstaub zu verhelfen. »Leider nein«, antwortete er zögerlich gicksend. »Es heißt, dass die Kammer denjenigen findet, der ihrer würdig ist, und nicht umgekehrt. Ich persönlich halte dies für einen Aberglauben, der von Oberstem Brüter zu Oberstem Brüter weitererzählt wird, aber …« »Die Kammer?«, unterbrachen ihn Peonu und Atlan wie aus einem Mund. »Dies ist … der eigentliche Raum, in dem sich der Flammenstaub ansammelt.« »Wäre es zu viel verlangt, wenn du endlich einmal Klartext reden würdest?«, fuhr ihn Atlan wütend an. »… ürdest … ürdest … ürdest …«
Michael Marcus Thurner Neuerlich brandete das seltsame Echo auf, neuerlich verstärkte es sich; bis es wie eine gewaltige Woge über ihnen zusammenzubrechen drohte – und sich im Nichts auflöste. »Bitte mach das nicht noch einmal«, fiepte Jolo. Mit leisen Ploppgeräuschen löste er die saugnapfbewehrten Handinnenflächen von seinen Ohrmuscheln. »Entschuldigt«, murmelte der Arkonide und knirschte mit den Zähnen. Tuxit sah ihm an, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Dennoch war er nicht bereit, auch nur ein Wort zu früh zu verraten. Worte waren für dieses größte Wunder des Universums schlichtweg zu wenig. Man musste es gesehen haben, um es ausreichend würdigen zu können. »Bei meinem ersten Besuch war alles ganz anders – und dennoch ähnlich unserer jetzigen Situation«, keckerte er leise. »Niemand wusste, was uns erwarten würde. Wir mussten uns zuallererst mit dem Gebäude auseinander setzen. Es verstehen. Akzeptieren, dass wir hier außerhalb jeglicher Regeln standen. Wir sind derart nahe am Ursprung allen Lebens, dass nur Demut und die Anerkennung der Bedeutungslosigkeit unserer Existenz weiterhelfen.« »Demut!«, sagte Peonu verächtlich. Er verlor einen langen Speichelfaden, der sich von seiner langen Zunge nach oben zog und irgendwann gegen die Decke platschte. Eine bunte Feuerblume entstand dort, stürzte auf sie zurück, wurde zu herabnieselndem, nach Firniskraut stinkendem Pulver. »Ja – Demut«, wiederholte Tuxit verärgert, während er sich das Zeugs aus den Federn schüttelte. »Es wäre vielleicht besser, wenn du und der Echsische hier warteten …« »Besser … nicht«, ächzte Atlan leise. Er wand sich wie unter argen Schmerzen. »Vielleicht kommt der Augenblick, da ich mich auf … jemanden verlassen muss. Und dann hätte ich Peonu … gerne an meiner Seite.« Sein Gesicht wurde im fahlen Licht,
Die Kathedrale von Rhoarx das aus der angepfropften Gondelstation in die Kathedrale strahlte, noch ein wenig blasser. »Geht es dir nicht gut?« »Es ist alles in Ordnung mit ihm«, antwortete Peonu rasch an Atlans Stelle. »Die Seelenverwandtschaft, die wir beide pflegen, kann von Zeit zu Zeit ein wenig schmerzhaft sein.« Abrupt kehrte er zum eigentlichen Thema zurück. »Du redetest also von Demut?« »Ja«, keckerte Tuxit verwirrt. Die Beziehung zwischen den beiden so unterschiedlichen Wesen schien ihm in der Tat etwas merkwürdig zu sein. Aber das war nicht sein Problem. »Es geht darum, zu akzeptieren, was in der Kathedrale vorgeht. Dazu bedarf es Kraft, die weit über die physische hinausgeht. Atlan muss seinen eigenen Stellenwert erkennen und jede Form von übertriebenem Selbstwertgefühl ablegen.« »Dies ist … keine leichte Aufgabe für mich«, flüsterte Atlan und lächelte, soweit es Tuxit deuten konnte, gequält. »Ich wurde erzogen und ausgebildet, um zu herrschen.« »Mir erging es ebenso«, erwiderte Tuxit unbeeindruckt. »Und ich war mir meiner Verantwortung ebenso bewusst wie du. Doch Stolz ist der falsche Ratgeber an diesem Ort, wie du bald sehen wirst.« »Na schön.« Der Arkonide hob seine Schultern, die lächerlich schmal im Vergleich zu denen eines Rhoarxi wirkten. »Dann begeben wir uns auf die Suche nach dieser Kammer … und nach Demut.«
* Eine Zeit lang passierte nichts. Sie spazierten einfach drauflos, eine Richtung war so gut wie die andere. Atlan machte den Anführer. Er führte sie durch die Dunkelheit, die nach wie vor von plötzlich aufflammenden Lichtspots durchbrochen wurde, ins Innere der Kathedrale. Die seltsamen Echo-Effekte hatten mittlerweile aufgehört. Sie konnten sich problemlos unterhalten –
35 und taten dies auch ausgiebig. Atlan und vor allem Jolo hielten pausenlos den Schnabel offen, während sich Peonu auf wenige zynische Kommentare über ihren scheinbar sinnlosen Marsch durch die Schwärze beschränkte. Tuxit selbst blickte sich um, sobald einmal einer der Lichtreflexe in ihre Nähe geriet. Verzweifelt versuchte er, irgendwelche Ähnlichkeiten zu jenem Ort, den er vor 30.000 Tagen vorgefunden hatte, zu sichten. Ohne Erfolg. Das Platschgeräusch, das dem Rhoarxi bereits beim Betreten der Kathedrale aufgefallen war, wurde lauter. Atlan steuerte darauf zu. Immer wieder wurden sie von plötzlich auftauchendem Mauerwerk in ihrer Marschrichtung abgelenkt. Es war dies kein richtiges Labyrinth, dazu blieben die Räumlichkeiten zu groß. Vielmehr ähnelte die Kathedrale einem alten Gebäude, das aus Hunderten Zimmerfluchten bestand, die auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander verbunden waren. Zeit verging. Stunden, Tage – wer wusste das schon? Hier, so ahnte er, versagte jegliche Zeitmessung und Technik. Der Cueromb hing wie ein plumper Fremdkörper von seinem rechten Flügel herab. Das Teil war in der Kathedrale für nichts gut und behinderte ihn lediglich. »Was passiert eigentlich, wenn die Kunstsonne der Intrawelt wieder ›anspringt‹?«, fragte Atlan. »Schließlich befinden wir uns … hm … in ihrem Inneren.« »Nur unserem Verstand nach«, antwortete Tuxit. »In Wahrheit sind wir am Ort zwischen den Orten.« »Du meinst – wir haben deine Heimat verlassen und dies hier ist so etwas wie eine Hyperraumblase?« »Worte reichen nicht dafür aus, dies hier zu beschreiben«, wich Tuxit aus. Wie sollte er etwas erklären, was sich seinem Verstand entzog? Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Die Beine begannen zu schmerzen. Hunger
36 nagte in den Eingeweiden der Rhoarxi, vom Durst ganz zu schweigen. Das Platschgeräusch kam näher, entfernte sich dann wieder. Mit jedem Mal stiegen Enttäuschung und Wut in ihm. Atlan schien ähnlich zu empfinden. Immer wieder stieß er Verwünschungen aus, deren steigende Qualität Peonu mehrmals zu trockenem Lachen hinriss. »Ich kann nicht mehr«, jammerte Jolo. Er weigerte sich trotz guten Zuredens Atlans, einen einzigen Schritt weiterzugehen. Schließlich hob der Arkonide das Echsenwesen auf, schulterte es und trug es von nun an. Allmählich begann sich Tuxit zu sorgen. Die seltsame Prüfung, die ihnen – besser gesagt: Atlan! – auferlegt wurde, schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Kathedrale war selbstverständlich kein schöpferisches Wesen, das sich irgendwelche Gemeinheiten ausdachte. Wenn Tuxit mit seinen Vermutungen richtig lag, dann suchten fünfdimensional gesteuerte Mechanismen nach Schwächen seiner Besucher – und projizierten sie erbarmungslos. Andererseits hatte Fünfdimensionalität in der Kathedrale keinerlei Bedeutung. Dies hier war der Ort zwischen den Orten. Der Platz ohne Naturgesetze, in dem sich alles um die Vorgänge in der Kammer drehte – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Tuxit konnte bloß hoffen, dass Atlan endlich seine kleine Ansprache verinnerlichte. Der Arkonide durfte sich nicht darauf verlassen, durch persönliche Stärke, Durchsetzungsvermögen oder Starrsinn sein Ziel zu erreichen. Dieser Ansatz war schlichtweg falsch. Er musste sich dem Gedanken hingeben, angesichts der Größe der Kathedrale ein Nichts zu sein. Nicht er hatte hier zu bestimmen. Der Rhoarxi hatte versucht, seinem Begleiter diese Tatsachen begreiflich zu machen. Er konnte lediglich hoffen, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis er dies verinnerlicht hatte. Müde setzte er ein Bein vor das andere,
Michael Marcus Thurner immer hinter dem Arkoniden her. Schauergeschichten, mit denen er bereits als kleines Kind erschreckt worden war, fielen ihm ein. Sagen und Märchen über Rhoarxi, die Oberster Brüter hatten werden wollen und angeblich jahrzehntelang in der Kathedrale verschollen gewesen waren, bis sie, alt und schwach geworden, wieder aufgetaucht seien. Jahrzehnte … Die stets präsenten Platschgeräusche wurden in seiner Phantasie zu Strömen von Wasser, die durch ein breites Kieselbett einen links und rechts herrlich bewaldeten Hang hinabstürzten. Fische sprangen munter drauflos, kämpften gegen die Strömung an. Ein wachsam um sich blickendes Raubtier löschte am Pool des kleinen Wasserfalls seinen Durst. Es trank und trank und trank, schmatzte zufrieden, leckte sich schließlich über die kralligen Pfoten und stürzte sich mit zwei Schritten Anlauf ins kühle Nass. Es ließ sich treiben, gab wohlige Laute von sich, während es im Wasser tollte. Im herrlich kalten Wasser … Tuxit schluckte trocken, öffnete die Augen und musste sich der Realität stellen. Atlan war wie er stehen geblieben und drehte sich mit stierem Blick um seine eigene Achse. Von weit oben sandte eine unbekannte Quelle düsteres violettes Licht herab. Es zeichnete die Umrisse hoher, fugenloser Mauern um sie, mehrere Meter hoch, über die glühend heiße Luft hinweg auf sie zuwehte. »Wie ein Wüstenwind«, murmelte Atlan. Seine Lippen waren rissig und spröde, das blasse Gesicht von tief liegenden Falten gezeichnet. Es schien, als sei er binnen kurzer Zeit um Jahre gealtert. »Es hängt alles nur von dir ab«, sagte Tuxit müde. »Mir scheint, dass du keinerlei Bereitschaft zeigst, dich an die hiesigen Verhältnisse anzupassen.« »Wie soll ich das denn auch?«, brauste der Arkonide auf. »Ich habe keine Ahnung, was von mir verlangt wird. Beziehungsweise
Die Kathedrale von Rhoarx wer etwas von mir verlangt.« Seine Oberlippe riss; ein dünner Blutfaden zog sich aus einem Mundwinkel hinab zum Kinn. »Unbekannte Mächte spielen ein dreckiges Spielchen mit uns; so, wie ich es schon oft genug mitmachen musste. Ich habe es satt, mich immer wieder den Forderungen anderer anzupassen!« Er keuchte schwer, holte Jolo von seinen Schultern und setzte sich neben dem schlafenden Echsenwesen zu Boden. »Ich hatte ein langes, ereignisreiches und manchmal auch hartes Leben. Ich stand Wesen gegenüber, von deren Existenz selbst du, Tuxit, keine Ahnung hast. Ich habe sie erhobenen Hauptes angeblickt und mich niemals amoralischen Vorstellungen gebeugt, mit denen ich mich nicht identifizieren konnte …« »Niemals?«, fragte Peonu. Der Kopf des Lutveniden war trocken. Auch er wirkte erschöpft. »Ich habe manchmal nachgegeben, um schließlich doch das zu erreichen, was ich wollte«, erwiderte der Arkonide heftig an die Adresse seines Seelenpartners, um sich schließlich wieder Tuxit zuzuwenden. »Immer schaffte ich es, mich aus eigener Kraft aus der Bredouille zu retten. Ich war von niemandem abhängig, gestaltete mein Leben ganz allein. Und diesen Gedanken soll ich nun ganz einfach aufgeben? Mein Leben damit ad absurdum führen?« »Du belügst dich doch nur selbst«, zwitscherte Tuxit so sanft wie möglich. »Du tust so, als wärest du das Ei der Welt, um das sich alles dreht. Auch wenn du unsterblich sein magst und viele Wunder des Universums selbst gesehen hast – allein hättest du es nie geschafft.« »Mag schon sein – aber ich bin stets vorangeschritten, wenn es darum ging, neues Terrain zu erobern. Ich habe mich niemals hinter anderen versteckt.« »Das hat auch niemand behauptet.« »Worüber reden wir dann, verdammt noch einmal?«, schrie Atlan. »Soll ich mich in eine Ecke verkriechen und mich meinem Selbstmitleid hingeben? Ist es das, was hier
37 von irgendwelchen Prüfungsmaschinerien verlangt wird? Nur, damit ich den Flammenstaub aufnehmen kann, der mich angeblich ohnehin töten wird? Ich will dieses Zeugs haben, damit ich das Böse aus dem Universum jagen darf – also gebt es mir gefälligst!« Die letzten Worte brüllte der Arkonide gegen die Mauern, während er mit kraftlosen Fäusten dagegen trommelte. »Du bist blind und ein Egozentriker«, sagte Tuxit, während Atlan an der Wand nach unten rutschte. »Du willst jene Aufgabe, die dir die Kathedrale stellt, gar nicht lösen, nicht wahr? In Wirklichkeit suchst du nach einem Schlupfloch. Nach einer List, wie du an das Ziel kommst, ohne dafür zu zahlen.« »Es gibt immer einen anderen Weg.« Die roten Augen des Arkoniden glühten im seltsamen Licht inmitten dieses ummauerten Gefängnisses noch intensiver als sonst. »Du als Rhoarxi bist auch nicht gerade pflegeleicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du voll Demut in die Kathedrale hineingeflattert bist und sofort den Flammenstaub erhalten hast.« »Und doch war es so.« Tuxit keckerte leise. »Jene Überheblichkeit, die du mir ankreidest, habe ich mir erst später angeeignet. Zuerst musste ich hier mit meinem Ego flach auf den Brustfedern vor diesem Wunder der Schöpfung liegen, bevor ich mir erlauben konnte, wieder aufzustehen und zu meinem Volk zu sagen: ›Seht her – ich bin von nun an der Oberste Brüter! Ich wurde für geeignet befunden, euer Anführer zu sein!‹« »Das hört sich nicht sehr glaubwürdig an.« »Du diskutierst mit mir über Überheblichkeit und Glaubwürdigkeit, während wichtige Dinge um dich passieren. Du bist so sehr von deinen Problemen eingenommen, dass du das Wesentliche nicht einmal wahrnimmst.« »Und das wäre?« »Jolo. Dein Freund und Begleiter. Er stirbt.«
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16. Atlan Ich erwachte aus einem Albtraum – nur um festzustellen, dass das wirkliche Leben noch viel schlimmer war. Ich konnte es einfach nicht glauben. Jolo, der mich seit meinen ersten Schritten auf der Intrawelt begleitete, lag wie schlaffes Gewebe über meine Arme gebreitet. Seine Saugnäpfe an Händen und Füßen wirkten … vergilbt, die Haut verschrumpelt. Er musste schrecklich unter dem Feuchtigkeitsentzug leiden. Ich hatte es vor endlos langer Zeit als einen Akt der Nächstenliebe angesehen, ihn nach seinem Zusammenbruch auf meine Schultern zu heben. Wie selbstverständlich hatte ich die sinnlose Suche nach der Quelle des merkwürdigen Platschgeräusches fortgesetzt. Stattdessen hätte ich umkehren müssen. Zurück zur Gondel, wo ich ausreichend Wasser und Nahrung wusste und meinen Echsenfreund hätte zurücklassen können. Ich trachtete danach, Jolos Kreislauf mit ein paar Bewegungen im Gang zu halten. Müde schnappte er nach Luft und wimmerte dabei leise. Er befand sich wohl im Delirium; jenem Übergang ins düstere Schattenreich des Todes. Höchstwahrscheinlich hatte ich ihn mit meinem Eigensinn, den ich eigentlich als meine größte charakterliche Stärke betrachtete, dorthin getrieben. Weil ich … weil ich so sehr mit meiner Suche und meinen Problemen beschäftigt gewesen war, dass ich nicht einmal in Betracht gezogen hatte, dass es Schwächere als mich gab. Schöne Worte, dachte der Extrasinn, aber sie kommen leider zu spät. Mit aller Gewalt drückte ich ihn weit weg von mir. Ich hatte keine Lust, mich auch noch mit seinen wenig hilfreichen Einflüsterungen auseinander zu setzen. Zumal sie von einem Geist stammten, der mich auf einem logischen, von Gefühlen befreiten Weg halten sollte und solche Begriffe wie »Mitleid« oder »Nächstenliebe« bestenfalls als Stör-
faktoren betrachtete. Jolos Herz pumpte rasend schnell. Schwach wälzte er sich hin und her. Meine Gedanken verwirrten sich zunehmend. Ich fühlte mich müde und ausgebrannt, ebenfalls vom Wassermangel gezeichnet. Denk nach, Arkonide, denk nach!, feuerte ich mich an. Was konnte ich bloß tun? Wenn ich ihm Urin einflößte? Es war eine Überlegung wert; auch wenn die Folgen für Jolos Metabolismus nicht absehbar waren. Möglicherweise erkaufte ich ihm dadurch wertvolle Zeit, in der ich mich damit auseinander setzen würde, wie wir aus dieser Mausefalle ausbrechen konnten. Jolo röchelte. Seine Mimik, die er sonst so meisterhaft beherrschte, drückte nichts aus. Gar nichts. Bestenfalls das Verlangen, dass es endlich zu Ende sei. »Es tut mir so Leid«, krächzte ich mit zunehmend versagenden Stimmbändern. Mühsam hob ich den eigentlich so leichten Körper hoch, legte ihn mir wie ein kleines Baby über die Schulter, so dass sein überdimensionierter Kopf in meiner Halsbeuge zum Ruhen kam. »Ich bin ein solcher Narr! Ich habe bloß das große Ziel vor Augen gehabt, und dabei das Naheliegende vergessen!« Der Körper wurde kälter. So, wie es Jolo immer gehasst hatte. Er liebte eigentlich Hitze und Wärme, wie sie hier zwischen den Wänden unseres Gefängnisses herrschte. Tränen tropften aus meinen geschlossenen Augen, fielen auf seinen Hinterkopf. Entstanden sie als Zeichen meiner Erregung, oder …? Ein stärker werdender Luftzug umfächelte mich. Tuxit oder der verfluchte Lutvenide mussten näher getreten sein. Sie sollten weggehen! Dies war mein Moment der Trauer; ich wollte mit dem Sterbenden allein bleiben. Platsch. Platsch. Platsch. Wie zum Hohn erklang das Tropfgeräusch, dem ich die ganze Zeit gefolgt war, plötzlich um einiges lauter. Es war zum Verzweifeln …
Die Kathedrale von Rhoarx »Die Mauern …«, krächzte Tuxit. »Sie sind weg, Atlan! Und dort vorne …« Ich öffnete die Augen. Und sah eine strahlend helle Lichtung inmitten eines uralten Eichenwaldes, in dessen Mittelpunkt sich ein kleines Gewässer befand. Ich konnte trotz der großen Entfernung jedes Blatt, jedes Wiesengrün, jeden im Licht treibenden Samenfaden wie durch eine Lupe erkennen. Ein schmaler, fast ausgetrockneter Zufluss endete, aus dem Wald kommend, vielleicht einen halben Meter oberhalb des Teichs. Wasser sammelte sich dort. Ein Tropfen schien zu zögern, wurde immer schwerer, blähte sich auf, bevor er perlend herabfiel und satt auf einem riesigen Farnblatt aufplatschte. Platsch. Platsch. Platsch. Ich mühte mich hoch, Jolo nach wie vor wie ein Kleinkind gepackt, und lief auf dieses Wunder zu. Es war mir egal, ob mir meine Sinne etwas vorgaukelten oder nicht. Ich musste diese Chance ergreifen und den kleinen Echsenmann retten; komme, was wolle. Ich war es ihm einfach schuldig. Die Lichtung zerplatzte nicht wie eine Fata Morgana, und das Wasser wurde zur herrlichen Wirklichkeit.
* »Es sieht so aus, als hättest du im letzten Augenblick dein Ziel gefunden«, sagte Tuxit nach langer Zeit. Ich nickte und achtete nicht weiter auf ihn. Jolo, der Beweis meiner großen Schuld, widmete sich währenddessen im Gras laut schnarchend seinem Gesundungsschlaf. Wohlig eingerollt kuschelte er sich unter eine Blätterdecke. Tiere hatte ich hier keine zu Gesicht bekommen, also auch kein Ungeziefer, das ihn plagen konnte. Die Lichtung war ein Kunstobjekt, keine Frage. Aber sie existierte. Wir alle konnten sie mit unseren doch sehr unterschiedlichen Sinnen klar und deutlich erkennen, fühlen, riechen, schmecken.
39 Mein Extrasinn beharrte indes darauf, dass wir einer gemeinsamen Halluzination erlagen. Das kleine Waldstück, das den winzigen Teich umrahmte und von rötlichem Sonnenlicht beleuchtet wurde, lag inmitten eines riesigen leeren Raumes. Die Mauern, die uns – mich! – umschlossen hatten, waren nirgends mehr zu sehen. Sosehr ich mich auch bemühte: Ich konnte, wenn ich von der Lichtung hinausblickte, kein Ende, keinen Horizont erkennen. Mir schien, als wäre ich Darsteller einer billigen Schmierenkomödie, die irgendein mäßig begabter Bühnenregisseur in Szene setzte. Irgendwo dort hinten, in der Dunkelheit, wartete er darauf, dass wir weiter nach seinen groben Vorgaben spielten und improvisierten. Hier gibt es niemanden, widersprach mir der Extrasinn. Zumindest, wenn man den Worten Tuxits vertraut. Es ist die Kathedrale an sich, die alles möglich macht. Ja. Alles ist möglich, wiederholte ich. »Du musst weiter!«, forderte mich Peonu auf. Er ließ mich schmerzhaft spüren, dass er die Suche fortsetzen wollte. »Ja … du hast Recht«, sagte ich kurzatmig und erhob mich. Ich ließ Jolo in seinen Blättern eingewickelt, benetzte seine Lippen einmal mehr mit Wasser und hob ihn schließlich erneut auf meine Schultern. »Ich nehme an, du weißt nicht, wohin wir nun müssen?«, fragte ich Tuxit. »Das Ziel ist nahe«, antwortete der Rhoarxi kryptisch. »Du kannst es nicht mehr verfehlen.« Ich hatte keine vernünftigere Entgegnung erwartet. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, an dem ich mich orientieren konnte. Nichts. Die bereits gewohnte Dunkelheit umfing mich. Sie drückte aufs Gemüt, machte mich klein und kleiner. »Dorthin!«, bestimmte ich und deutete in die Schwärze. »Was soll das?«, fragte Peonu mit ver-
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wundert klingender Stimme. »Das ist die Richtung, aus der wir kamen.« »Woher willst du das wissen, … Partner?« Ich lächelte. »Der Weg ist das Ziel. Wenn das Ziel fern ist, ist der Weg lang.« Ein asiatischer Philosoph hatte diese Worte vor Urgedenken geprägt – wiewohl sie in ähnlicher Weise im Sprachschatz vieler Völker vorkamen. Niemals zuvor hatte ich sie als so zutreffend empfunden wie heute.
* Im Gänsemarsch trippelten wir erneut durch die Dunkelheit. Doch diesmal war ich frei von jeglicher Anspannung. Selbst der übliche Seelendruck Peonus störte mich in diesen Minuten nicht sonderlich. Die Lichtung hinter uns verschwand von einem Moment zum anderen, und dennoch wurde es nicht vollends finster. Denn links und rechts von uns glühten Bilder auf. Ja – glühten! Wie Glimmerlichter beleuchteten sie Szenen aus dem altarkonidischen Alltag, wie ich sie aus meiner frühesten Jugend kannte. Märkte sah ich und festliche Veranstaltungen. Meine Heimat in Glanz und Glorie. Da! Vater Mascudar in stolzer Pracht am Hofe Arkons, seine Gattin Yagthara, meine Mutter, in all ihrer kühl zur Schau getragenen Schönheit. Mein verschlagener Oheim Veloz, von allen nur »Der Fette« gerufen, später berüchtigt unter dem Herrschernamen Orbanaschol. Überlebensgroß tauchten diese drei Arkoniden, die meine frühen Jahre bestimmt hatten, in den Streiflichtern auf. Die Bilder mussten aus meinem Gedächtnis stammen. Aus dem eines Vierjährigen, der bald nach dem schändlichen Tod des Vaters von Fartuloon, dem Bauchaufschneider, in Sicherheit gebracht wurde. »Für Atlan und Arkon – auf Leben und Tod!«, schallte mir in einem weiteren Diorama der begeisterte Ruf meiner Freunde und Kampfesgefährten entgegen, als wir die Truppen Orbanaschols, des Brudermörders
und Verräters, durch die Milchstraße jagten. Ra, den dunkelhäutigen Barbaren, sah ich, dessen barbarischer Kampfstil sich mir für alle Zeiten eingeprägt hatte. Farnathia, meine Jugendliebe; Corpkor, den Kopfjäger; Morvoner Sprangk, den erfahrenen Raumsoldaten und für lange Jahre zwischen den Dimensionen verschwunden … Vorsicht!, mahnte mich der Extrasinn eindringlich. Die Erinnerungen werden zu stark, sie kommen über uns … Unter größter Anstrengung ging ich auf Distanz zu den Bildern, die links und rechts von mir aufflammten. Möglichst nüchtern betrachtete ich sie; als gälten sie einem anderen Mann und nicht mir. »Was ist das alles?«, fragte mich eine schwache, piepsige Stimme. »Du siehst es auch, Jolo?« Der Echsenmann war aus seinem Schlaf erwacht. Er richtete sich an meinem Oberkörper auf und blickte interessiert um sich. »Sollte ich etwa nicht?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. »Mir scheint, ich habe während meiner Ruhepause ein paar Dinge versäumt?« Ich ging nicht näher auf seine Frage ein. Einerseits schämte ich mich noch zu sehr für mein Versagen, andererseits war ich von den Bildern fasziniert, die mein langes Leben nachzeichneten. Da, der Absturz der LEKADisk über Larsaf III, jenem Planeten, dem seine Bewohner die etwas banale Bezeichnung »Erde« gaben. Der Tod meines letzten arkonidischen Begleiters, Leutnant Cunor … Ich setzte Jolo auf sein Verlangen hin ab und wanderte weiter. Voll Schmerz und gleichzeitig Sehnsucht betrachtete ich die vielen Bilder und Erlebnisse meiner Zeit der Verbannung auf der Erde. Meine vergeblichen Versuche, den Weg nach Hause zu finden. Unzählige Abenteuer voll Drama, Liebe, Hass und Sehnsucht. Ich wurde zerrissen zwischen der Verlockung, mich den Erinnerungen mit aller Leidenschaft hinzugeben, und meiner Begierde, das Ende des Weges endlich zu erreichen. Denn, wie ich wusste, erwartete mich
Die Kathedrale von Rhoarx etwas Neues, noch nie Gesehenes. »Ein sehr intensives Leben, das du geführt hast, Arkonide«, durchbrach die ölige Stimme Peonus meine Gedanken. Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Der Lutvenide marschierte knapp hinter mir. Einmal mehr empfand ich ihm gegenüber hilflose Hassgefühle. Er, Jolo und Tuxit bekamen die Gelegenheit, an den intimsten und wichtigsten Augenblicken meines Daseins teilzuhaben. Den Rhoarxi und meinen Echsenfreund beeindruckten die Szenen sicherlich; der Dieb meiner Seele mochte, so ahnte ich, weitere Vorteile aus seinem neu gewonnenen Wissen ziehen. Die Bilder wurden dichter, vermengten sich miteinander. Ich sah Perry Rhodan auftauchen; unser erstes Duell auf dem Planeten Hellgate, das in einem Zweikampf des Willens mündete. Unweigerlich kamen mir Verse über die Lippen. Unsäglich doofe, nichtssagende Worte, mit denen ich beinahe den Sieg über den Terraner davongetragen hätte. »Das Wasser ist kühl, kühl ist das Nass«, summte ich leise, »ich schwimme in einem ganzen Fass, denn heute ist das Wasser nass …« Das Dunkel ringsum wurde immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Ich marschierte mit meinen Gefährten durch den Film meines eigenen Lebens. Sah mich einige wenige Freunde fürs Leben finden – und viele andere sterben. Der Fluch der Unsterblichkeit kam immer wieder mit voller Wucht über mich. Im Jahr 2405 altterranischer Zeitrechnung warf ich diesen einen verfluchten Holzspeer. Wahrscheinlich rettete ich damit zwei Galaxien vor dem Untergang – und verlor die Frau meines Lebens, Mirona Thetin. Sa-gen-haft, monierte der Extrasinn. Das Duell auf dem Planeten Tamanium ist zweitausend lange Jahre passe, und immer noch weinst du diesem Monster in Frauengestalt nach … Ich ließ mich nicht ablenken, sondern schritt in der Folge eine Reihe von Gefähr-
41 tinnen ab, die mich kürzer oder länger durchs Leben begleitet hatten. Cyriell da Gliermo-Zoltral. Merceile. Iruna von BasTeth. Theta da Ariga. Li da Zoltral. Eine prachtvoller und atemberaubender als die andere, jede für sich ein strahlendes Juwel. Und dennoch würde über ihnen allen immer die Frage schweben: »Was wäre gewesen, wenn ich Mirona nicht getötet hätte …« Das Ende meines Weges war fast erreicht. Ich sah mich aus der Obsidian-Schlucht zurückkehren, den scheinbar so aussichtslosen Kampf gegen die Lordrichter aufnehmen. Da leuchtete die prachtvolle Sternenstadt VARXODON auf, dort trat ich die Reise nach Dwingeloo mit Kythara an meiner Seite an. Die Schlacht um den Dunkelstern begann. Wir drangen in die Sternengeburtswolke SET-3 vor, begegneten Teph, dem Wächter … »Wirklich sehr aufschlussreich«, flüsterte mir Peonu ins Ohr. »In dieser Milchstraße ist eine Menge los. Das freut einen wie mich ganz besonders. Vielleicht werde ich mich bald einmal dorthin bewegen und deinen Freund Perry Rhodan aufsuchen. Meinst du, dass er mir … schmeckt?« Ich ballte die Hände, wollte ihm die Fäuste ins seltsame Gesicht treiben – allein ich konnte nicht. Die Arme fühlten sich wie Pudding an. Mutlos und schwach war ich in seiner Gegenwart. Nicht in der Lage, irgendein Widerwort zu wagen. Und dennoch durfte ich hoffen, denn gleich, gleich würden die Bilder die Wahrheit präsentieren; das, was ich Tuxit nicht sagen durfte und konnte … Die letzten Eindrücke zeigten mich die Intrawelt durchwandern. Meine Begegnung mit Jolo, schemenhaft und bloß für wenige Augenblicke erkennbar. Die Durchquerung des Grenzflusses zwischen den Parzellen Poricium und Karaporum. Und jetzt … oh – verflucht! Ausgerechnet meine Begegnung mit Peonu fehlte! War denn diese Auseinandersetzung meinem Unterbewusstsein nichts wert, dass es auf eine Spiegelung der Situation verzichtete? Ich mochte es einfach nicht glauben! Ei-
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ne weitere Hoffnung, Tuxit auf meine Zwangslage aufmerksam zu machen, war dahin. Ich beobachtete mich an der Seite Albias und Tuxits, sah mich die Wanderstadt Aspoghie betreten – und in einem letzten, eingefrorenen Bild vor einem riesigen, dunklen Tor stehen. Der Atlan meiner Erinnerungen löste sich in einer hell leuchtenden Kaskade auf. Das Tor, das ich bislang noch niemals erblickt hatte, blieb hingegen stabil. Ich begriff. Die Geschichte hatte die Wirklichkeit eingeholt. Das riesige Tor, weit über 50 Meter hoch, war real. Es stellte die wohl letzte Hürde vor der so genannten Kammer dar. Dahinter wartete der Flammenstaub auf mich.
17. Tuxit Die Vita des Arkoniden war überaus eindrucksvoll. Immer wieder keckerte Tuxit verdutzt. Dieses Leben musste in der Tat über Jahrtausende reichen! Sein Volk hatte bereits vor längerer Zeit freiwillig auf die Nutzung lebensverlängernder Methoden verzichtet. Ein solches Vorgehen hatte stets zu mehr Schmerz und weniger Lust am Leben geführt. »Dies ist dein Tor zur Kammer des Flammenstaubs«, piepste er schließlich. Bewundernd betrachtete er das von vielerlei Schnitzverzierungen und Intarsien geprägte Tor. Vorsichtig fuhr er mit dem Schnabel darüber hinweg und fühlte die alterslose Kraft, die dem schweren Holz innewohnte. »Mein persönlicher Zugang damals war ein schlichtes Metallgitter, zwischen dessen Stäben sich rauchige Geruchsbeize zeigte.« Atlan blieb zurückhaltend, misstrauisch wie eh und je. Peonu hingegen, sein Seelenfreund, stemmte sich ungeniert gegen die prachtvolle Pforte. Umsonst. Jolo versuchte sich als Nächster. Mit Hilfe seiner Saugnäpfe versuchte er, weiter hin-
aufzuklettern und wohl so etwas wie einen Öffnungsmechanismus zu finden. Am kleinsten Vorsprung hielt er sich fest, gelangte mit kükenartiger Geschwindigkeit mehrere Mannshöhen hinauf – um ganz plötzlich wie ein Sack Körner hinabzurutschen. »Das vermaledeite Ding hat mich abgeworfen!«, piepste der Echsenmann empört. »Ich konnte spüren, wie mir auf einmal der Halt unter den Saugglocken verloren ging. Als hätte mir jemand Schleimcreme auf die Finger geschmiert. Na warte …!« Er versuchte es erneut, scheiterte ein weiteres Mal kläglich. »Dieser Eingang kann nur durch eine einzige Person geöffnet werden«, erklärte Tuxit, während sich Jolo in Schimpftiraden erging. Der Rhoarxi blickte Atlan an und forderte ihn mit einem Schnabelwink auf, endlich ebenfalls sein Glück zu versuchen. Der Arkonide, der bislang mit verschränkten Armen abgewartet hatte, legte den Kopf wie so oft schief und stieß schließlich mit der Rechten leicht gegen das Holz. Es knarrte, laut und ächzend; der eine Flügel schwang nach innen auf. Nebelschwaden waberten hervor und versperrten jegliche Sicht auf das Dahinter. »Tretet bitte zurück!« Tuxit schob Peonu und Jolo beiseite und trippelte zum Arkoniden. »Dies ist die Kammer; ich bin mir ganz sicher. Du, Atlan, und ich gehen nun hinein, während unsere Freunde hier warten sollten. Der neue Träger des Flammenstaubs wird nach unseren altüberlieferten Ritualen von einem bereits Auserwählten begleitet. Als ich erstmals hier war, führte mich der Oberste Brüter der Wanderstadt Benenses.« »Ist es denn notwendig, dass du mitkommst?«, fragte der Arkonide argwöhnisch. »Es nimmt dir vielleicht ein wenig die Angst und die Ehrfurcht.« »Ich spüre weder das eine noch das andere. Momentan fühle ich mich lediglich ein wenig müde.« Er verzog seinen Mund und fügte hinzu: »Darüber hinaus habe ich schlechte Laune nach all diesen Mysterien,
Die Kathedrale von Rhoarx die wir durchwandert haben, und deiner Geheimniskrämerei.« »Sollte ich dich irgendwie in deiner Ehre beschnitten haben, so tut es mir Leid«, sagte Tuxit. »Bedenke nur eines: Hätte ich dich irgendwie auf die Geschehnisse in der Kathedrale vorbereitet, hättest du weder deinen Stolz wirklich abgelegt, noch wäre die Durchwanderung deiner Lebensgeschichte mit der notwendigen Aufmerksamkeit vor sich gegangen. Dieser Gang war notwendig, damit du dir deiner Ausnahmestellung als Individuum erneut bewusst wurdest. Bislang waren nur Rhoarxi in der Kammer. Nach wie vor bin ich im Zweifel, ob es richtig war, dich hierher zu bringen …« »Zuerst wurde ich also untergebuttert, um anschließend wieder aufgerichtet zu werden«, unterbrach ihn Atlan rüde. »So kann man es sehen«, keckerte Tuxit irritiert. Die Umgangsformen des weißfedrigen Gockels erschienen ihm manchmal schrecklich. Der Arkonide atmete einmal, zweimal tief durch. »Dann lass es uns endlich hinter uns bringen!«, sagte er. »Du kannst mich doch nicht allein lassen!«, jammerte Jolo. Er wieselte zwischen seinen Füßen hin und her, rüttelte verzweifelt an seinem Beinkleid. »Nicht mit ihm!« »Peonu wird dir nichts tun«, sagte Atlan stockend. »Er ist schließlich mein … Freund!« Tuxit interessierte der Dialog nicht weiter. Er wollte hinein, wollte es endlich zu einem Ende führen. Ungeduldig deutete er Atlan mit dem Schnabel, ihm zu folgen. »Kommt heil wieder zurück!«, rief ihnen der Lutvenide hinterher, als sie in die seltsame Nebelbank eintauchten. »Ich benötige den Unsterblichen noch!« Die beklemmend feuchte Luft verschluckte allmählich seine hässliche Stimme. Tuxit würde niemals verstehen, warum sich Atlan ausgerechnet mit diesem zweifelhaft wirkenden Individuum so gut verstand.
18.
43 Atlan Was war es für eine Erleichterung, Peonu wenigstens für ein paar Augenblicke loszuwerden! Je länger ich mich durch diesen seltsamen Nebel bewegte, desto geringer erschien mir sein Einfluss auf mein Inneres. Konnte es sein, dass jenes unsichtbare Band, das uns aneinander fesselte, hier keine Gültigkeit besaß? Konnte ich mich endlich dem Rhoarxi mitteilen? »Tuxit – ich muss dir etwas erklären«, begann ich zögernd. »Ja?« Mein Begleiter flatterte überrascht mit seinen eng an den Körper gezogenen Rumpfflügeln. »Peonu und ich … es ist so, dass … wir beide haben …« Ich strengte mich an, so gut es ging. Der Extrasinn unterstützte meine Bemühungen, während ich die sorgsam zurechtgelegten Worte aus dem Mund zu pressen versuchte. Umsonst. Ich hechelte, am ganzen Körper zitternd. Mein Herz raste hinter der Brustplatte wie wahnsinnig. Ich konnte dem Lutveniden einfach nicht entkommen! Auch wenn er meilenweit entfernt schien, so existierte nach wie vor jene unzerreißbare Fessel, die er mir mit einem einzigen Kuss angelegt hatte. »Bist du krank?«, fragte Tuxit. Er legte seinen beunruhigend harten Schnabel von oben herab gegen meine Stirn. Sein Geruch, der mich in diesen Augenblicken erstaunlicherweise an den von Meerschweinchen in einem schlecht gepflegten Käfig erinnerte, lenkte mich für einen Moment von meiner gedanklichen Sperre ab. »Fein … de!«, würgte ich hervor. Ein Stich durchbohrte meinen Leib, zwang mich zu Boden. Ich riss den Mund weit auf, würgte, spie helles Blut aus. Mein Magen verkrampfte, die Sicht verschwamm. »Beruhige dich!« Tuxit beugte sich besorgt über mich. »Mir erging es ähnlich, als ich vor langer Zeit erstmals die Kammer betrat. Nervosität und Ehrfurcht lassen sich nun mal nicht verleugnen angesichts der Größe dieses Moments. Atme tief durch;
44 niemand hier ist dein Feind. Die Kathedrale von Rhoarx betrachtet dich als geeignet, den Flammenstaub aufzunehmen.« Dieses verfluchte Federvieh! Wie konnte es nur so hirnverbrannt, so blöde sein, nicht die Wahrheit zu erkennen! Du bist für ihn lediglich ein Fremdwesen mit seltsamen Marotten, dozierte der Extrasinn. Auch dir ist es öfters schon ähnlich gegangen, dass du deine eigenen Verhaltensmuster auf jene eines Aliens übertrugst und schlussendlich feststellen musstest, dass sie überhaupt nicht mit den deinen übereinstimmten. Tuxit legt diesen Anfall so aus, wie er ihn bei einem seines Volkes interpretieren würde. Ich saß auf allen vieren und atmete nach wie vor rasch. Zu rasch. Allmählich verschwanden die Sternchen vor meinen Augen. Der Boden fühlte sich unangenehm kalt an. Ich zwang mich dazu, ihn näher zu betrachten, um mich von den Schmerzen abzulenken. Er bestand aus einer Reihe massiver, breiter Holzbohlen, deren Fugen mit grobkörnigem Sand gefüllt waren. Die Oberfläche der Hölzer war von einer Art glitschigem Moos bewachsen, das jeden Schritt zur Gefahr werden ließ. Die Hölzer, auf denen ich kniete, waren alt und abgenutzt; wie Ausschussware, die man für den ursprünglichen Zweck nicht mehr verwenden mochte. Dazu kam dieser grüne Schlick … Vorsichtig und gegen die Schwäche kämpfend, richtete ich mich wieder auf. Tuxit stützte mich mit seinem Schnabel ab, bis ich endlich wieder Kraft und Halt gefunden hatte. »Wie weit noch?«, fragte ich, unendlich müde und erschöpft. »Kannst du es nicht hören?« Seine Halskrause hatte sich gelblich verfärbt, das Brustgefieder war erwartungsvoll nach vorne gereckt, als er in unsere Marschrichtung deutete. Da war etwas. Ein leises Schmirgelgeräusch. So sanft, so … beiläufig, dass man
Michael Marcus Thurner es für Einbildung halten konnte. Wie der stete Windzug über eine Ebene, den man erst registrierte, wenn er verstummte. »Was ist das?« »Der Ursprung des Flammenstaubs«, sagte Tuxit, kryptisch wie eh und je. Abrupt setzte er sich in Bewegung, marschierte stolz vorneweg. Mit keinem Wort mehr erwähnte er meine Schwäche. Er hing wohl mit seiner gesamten Gedankenwelt am Flammenstaub, der auf uns – auf mich! – wartete. »Das Universum ist keinesfalls perfekt«, fing er einen seltsamen Singsang an. »Nein, beileibe nicht! Jeden Moment passieren merkwürdige Sachen, die die Hohen Mächte nicht auf ihrer Rechnung haben. Wie könnten sie dies auch? Schließlich erzeugt jede Aktion, die gesetzt wird – und sei es von einem Intelligenzwesen, einem Tier, einer Pflanze oder auch nur einem Staubkorn –, eine Reaktion.« Er pfiff eine Melodie, die ihm wohl selbst Mut machen sollte, während er mit seiner Rede fortsetzte. Ich glitt über den Glitschboden hinweg hinter ihm her, schwieg und konzentrierte mich auf seine Geschichte. »Du kennst sicherlich das lustige ›Was-wäre-wenn-Spielchen‹, nicht wahr? ›Hätte ich damals nicht diese oder jene Henne getroffen, so wäre ich heute ein freier Junggesellengockel, der sich nicht Tag für Tag mit seiner Brut abplagen müsste.‹ Du verstehst den Gedanken?« Er ließ mir keine Zeit zu antworten. Wie aufgedreht wirkte er nun; als müsse er mir, während das sanfte Geräusch immer lauter, immer deutlicher wurde, unbedingt jenes Maß an Informationen übermitteln, das er während unserer gesamten Reise zurückgehalten hatte. »Selbstverständlich kennst du ihn. Ich habe in den Bildern deines Lebens gesehen, dass du mehr als einmal mit Zeitmanipulationen zu tun hattest. Eine böse Geschichte, so etwas, das kannst du mir glauben. Und eigentlich nur eine Abart dieses Spielchens.« Er holte rasselnd Luft. Plötzlich vermoch-
Die Kathedrale von Rhoarx te ich zu spüren, wie alt und verbraucht Tuxit eigentlich war. »Trotz unserer Wünsche bewegen wir uns körperlich durch eine stabile Welt. Eine gerade Linie entlang. Während der Geist, jenes wundersame Ding, stets damit beschäftigt ist, Variablen auszuarbeiten. Er plant im Voraus und überdenkt die Weichen, die sich vor ihm auftun. Tag für Tag, Augenblick für Augenblick. Er macht nichts anderes, als unsere Möglichkeiten abzuschätzen. Ist uns dies möglich und dies nicht? Sollen wir – ja oder nein? Trauen wir uns oder bleiben wir feige?« Tuxit reckte den Hals in den von diffusen Nebelschwaden verhangenen »Himmel« und grunzte. Dies entsprach, wie ich wusste, einer Art Seufzen. »Jeden Moment tun sich uns unendlich viele Möglichkeiten auf. Genauso wie jedem anderen Lebewesen, dem wir über den Weg laufen. Man könnte auch sagen: Erst dadurch, dass wir interagieren, erschaffen wir die Gegenwart.« »Eine interessante Sichtweise«, sagte ich diplomatisch. »Die einzig richtige.« Er sah mich unvermittelt an. »Wir tragen unsere Zukunft stets mit uns, indem wir Entscheidungen treffen. Ebenso wird sie natürlich von anderen Personen und anderen Umständen beeinflusst. So werden wir mal hierhin, mal dahin getrieben.« Ich nickte unter seinen prüfenden Blicken. »Das Universum ist, weil wir sind«, fuhr er fort. »Andersherum gesagt: Wir gehen eine Straße entlang. Und weil wir um uns blicken, sehen und registrieren wir die Welt. Würden wir nicht Bewusstseine in uns tragen, so gäbe es den Raum um uns gar nicht.« »Auf Arkon kennen wir diese Sicht der Dinge seit Tausenden Jahren …« »Unterbrich mich jetzt nicht, Atlan!« Sein Gefieder sträubte sich. Es war deutlich, dass er keine weitere Unterbrechung duldete. »Ich rede gerade von der Unendlichkeit und den Wahrscheinlichkeiten. Von Welten, die
45 parallel zueinander existieren. Ich spreche keineswegs von naturwissenschaftlichen Gegebenheiten, Hyperdimensionalität oder noch höherdimensional liegenden Räumen. Es geht um die Spuren, die wir im Universum hinterlassen. So klein sie insgesamt auch sein mögen – sie sind von Bedeutung. Dies ist die Quintessenz der Bilder, die dir die Kathedrale von Rhoarx vorgespiegelt hat.« Ich schwieg. Noch konnte ich mir nicht zusammenreimen, worauf er hinauswollte. Ermöglichte mir der Flammenstaub vielleicht beliebige Zeitreisen? Konnte ich mich damit sozusagen quer durch die vierte Dimension bewegen? »Unendlich viele Wesen erzeugen unendlich viele Wahrscheinlichkeiten. Jeden Moment unseres Daseins verabschieden wir uns von beliebig vielen von ihnen, indem wir eine bestimmte Zeitlinie entlangschreiten. Wir streifen mögliche Entwicklungen ab wie dünne Häute, ohne uns dessen bewusst zu sein.« Erneut seufzte er. »Die Schöpfung begann, uralten Mythen nach, an einem Berg. Vielleicht sind wir gar Mikroben im Reagenzglas eines verrückten Wissenschaftlers, die interagieren – wer weiß das schon?« Er deutete nach vorne. Schemenhaft schob sich ein runder Körper in unser Blickfeld, vielleicht zwei mal zwei Meter groß. »Die Wahrscheinlichkeiten, die wir mit uns tragen, folgen uns überallhin. Es gibt nur verschwindend wenige Ausnahmen im Multiversum, darunter dieser Ort. Das, was du hier siehst, ist der Ort zwischen den Orten. Ein winzig kleiner Punkt, an dem alles eins ist. Zumindest fühlt es sich für uns normale Lebewesen so an. Hier gibt es keine Wahrscheinlichkeiten, sondern nur einen Zustand, der bis in alle Ewigkeiten gleich bleiben wird. Dies ist eine Achse, die den Eindruck vermittelt, dass sich alles um sie dreht. Sie bewegt sich und bewegt sich, umkreist von allen Universen, die du dir nur vorstellen kannst. Seit Anbeginn der Zeiten, bis zum Ende aller Tage. Und wo es sich dreht und reibt, da entsteht – im übertrage-
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nen Sinne – Staub. Feinster Abrieb. Hier findest du den Flammenstaub. Das Abfallprodukt universeller Geschichte. Jenes unheilvolle, verfluchte, verderbliche Mittel, das alle Wahrscheinlichkeiten, die du dir nur vorstellen kannst, erzeugt.«
* Ich blieb stehen und schwieg bestürzt. Eine absolut perfekt wirkende Kugel drehte sich vor meinen Augen mit rasender Geschwindigkeit. Weiße Schlieren zogen darüber hinweg. Sie bildeten verwirrende Muster, die es mir nicht erlaubten, länger als ein paar Sekunden darauf zu starren. »Dies ist eine … Achse?«, fragte ich in der Hoffnung, meinen Begleiter falsch verstanden zu haben. Ich wollte und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich unser Universum um dieses mechanische Ding bewegte. »Ja. Im übertragenen Sinne. Zumindest nehmen wir den Ort zwischen den Orten so wahr. Dieser … Gelenkpunkt ist keineswegs bloß mechanistisch ein stabiler Fixpunkt in einem sich stets ändernden und ausdehnenden Multiversum. Vielmehr stellt diese Kugel eine Art Portal dar, durch das man in jede mögliche und unmögliche Wahrscheinlichkeit gelangt.« Ich dachte augenblicklich an fremde Universen wie das der Druuf oder an Tarkan, die ich von hier aus erreichen könnte. An die Welten von Anti-ES. Und an … an … »Du meinst, dass man, wenn man es will, mit einem einzigen Schritt auch an den Ort jenseits der Materiequellen spaziert? Ins Reich der Kosmokraten?« »Ich bin mir sicher, Atlan. Auch die Hohen Mächte sind an Raum oder Konsistenzen gebunden, die mit unserem Normaluniversum zumindest durch eine dünne Nabelschnur verbunden sind.« Wenn ich also wollte, könnte ich hier und jetzt aussteigen! Durch die Kugel marschieren und mir Universen ansehen, die noch niemals erblickt worden waren. Peonu ent-
kommen. Den Widrigkeiten meines langen Lebens, dem armseligen Kampf gegen Windmühlen kosmischen Ausmaßes ade sagen … »Die Versuchung ist groß – nicht wahr?« Tuxit hielt den Schnabel zu einem angedeuteten Lächeln geöffnet. »Ich nehme an, dass allein aus diesem Grund ein Adept für den Flammenstaub einen Begleiter wie mich zur Seite gestellt bekommt. Man benötigt jemanden, der einen auf den Boden der Tatsachen zurückholt – und ihn an seine Pflichten erinnert. Du erinnerst dich, warum du unbedingt hierher wolltest?« Selbstverständlich tat ich das. Die Truppen der Lordrichter, ihre Herrscher und schlussendlich das Schwert der Ordnung warteten darauf, in ihre Schranken gewiesen zu werden. »Das alles hier ist so … trivial«, sagte ich mit plötzlich erwachendem Misstrauen. Der Extrasinn stupste mich innerlich an. Für ihn bestand das Leben meist aus Gleichungen, die aufgehen mussten, und jener kosmischen Ordnung, auf der die so genannten Naturgesetze beruhten. »Das Wort trivial klingt ein wenig … billig. Findest du nicht? Ich würde eher meinen, dass die Struktur des Multiversums bar jeglichen Firlefanzes einfach ist. Was glaubst du denn, wo wir Rhoarxi unser Streben nach möglichst unkompliziertem Leben herhaben?« Mit einem Flügelstumpf deutete er auf die Kugel, in der ich glaubte, Galaxien entstehen und vergehen zu sehen. »Hier haben wir unsere Anleihen genommen.« Tuxit umrundete das seltsame Ding in einem Respektabstand von mehreren Metern, während er weiterredete. »Es gibt eine Formel – besser gesagt: einen komplexen philomathischen Ansatz –, die dieses Meisterwerk in Worte und Zahlen fasst. Die Berechnungen sind der ganze Stolz meines Volkes; glaubten meine Landsleute doch, damit eines der größten Geheimnisse des Universums entschlüsselt zu haben. Aber ich sage dir: Das Werk ist die Fo-
Die Kathedrale von Rhoarx lien nicht wert, auf denen es niedergeschrieben ist. Denn es zergliedert und zerfasert dieses Wunder so lange, bis nichts mehr von der Substanz greifbar ist, die es ausmacht.« Verächtlich wackelte er mit seinem Blümchen. »Wenn ich das richtig verstehe, ist dies hier ein existenzieller Angelpunkt allen Seins.« Ich zögerte. Mir fehlten schlichtweg Worte und Begriffe, um dem Ort zwischen den Orten gerecht zu werden. »Und hier entsteht eine Art Abrieb. Der Flammenstaub.« »Zumindest stellt es sich unseren Augen so dar. Höchstwahrscheinlich sind die Vorgänge in diesem Nicht-Ort ganz anders. Wahrscheinlich können unsere Sinne die Eindrücke gar nicht richtig verarbeiten. Sie bieten uns also etwas, das sich erfassen lässt. Die einfachste und vielleicht perfekteste Form. Eine Kugel. Sie erzeugt übrigens auch Dinge, die wir für die Intrawelt in geringem Ausmaß nutzen. So sorgen wir tagtäglich dafür, dass Licht und Wärme irgendeiner unbekannten Sonne irgendeines unbekannten Universums von hier aus über die innere Membranschicht reflektiert werden.« Ich achtete nicht weiter auf seine Erklärungen. »Wo finde ich den Flammenstaub, und was bewirkt er?« Mein Extrasinn schrie und tobte lautlos vor sich hin. Er warnte mich eindringlich, den nächsten Schritt zu tun. Fakten und Daten gingen ihm schmerzhaft ab. »Streichle ganz sanft über die Oberfläche der Kugel«, schnatterte Tuxit. »Nach ein paar Momenten wird sich schwarze, ölige Substanz an deinen Fingerfedern sammeln. Führe sie zu deiner Zunge. Schlecke sie auf oder ziehe sie durch dein Riechorgan hoch.« Er keckerte laut und warnend, bevor ich meinen Arm ausstrecken konnte. »Es ist meine Pflicht, dich ein letztes Mal zu warnen. Der Flammenstaub wird in dich eindringen, Bestandteil deiner selbst werden. Sobald du die Intrawelt verlassen hast, also die kosmokratischen Schutzmembranen durchdringst, wirst du seine Beherrschung
47 lernen …« »Was bewirkt er?«, wiederholte ich ungeduldig meine Frage. »Wie ich bereits sagte: Er befähigt dich, jedwede Wahrscheinlichkeit zu erzeugen, die du willst. Mit ihm nimmst du eine winzig kleine Portion dieses Ortes zwischen den Orten mit dir.« »Ich könnte also alle Dinge, die mir nicht gefallen, ungeschehen machen?« »Du willst mich nicht richtig verstehen!« Tuxit schnaufte mich empört an. »Du veränderst nicht die Vergangenheit, sondern alle zukünftigen Zeitlinien.« »Bloß auf meinen Wunsch hin?« »Bloß auf deinen Wunsch hin. Nun verstehst du hoffentlich, warum wir die Intrawelt errichteten. In der Hand eines einzigen verantwortungslosen Wesens würde der Flammenstaub die Existenz allen Seins in Frage stellen.« »Ich könnte das Universum zerstören und neu erschaffen.« Noch wusste ich nicht, wie ich mit Tuxits Informationen umgehen sollte. All dies war einfach zu groß für mich. Ich musste darüber nachdenken. »Ja, das könntest du.« Er zögerte. »Wenn dir ausreichend Zeit dazu bleibt. Denn vom ersten Moment im Normaluniversum an nagt der Flammenstaub an dir. Normale Wesen sind nicht dazu geschaffen, diesen Stoff in sich zu tragen. Sie krepieren daran. Der Flammenstaub löst sich anschließend von ihrem Körper und diffundiert innerhalb einer Zeitspanne von maximal einhundert Minuten. Wenn er nicht in diesem Zeitraum von jemand anderem aufgenommen wird …« »Vielleicht unterschätzt du mich und meine Fähigkeiten?« Reflexartig wehrte ich mich gegen Tuxits Worte. Ich war kein »normales Wesen«! »Ich habe nichts in deiner Biographie gesehen, was dich befähigen würde, gegen die Wirkungen des Flammenstaubs gefeit zu sein.« »Und du? Was ist mit dem Volk der Rhoarxi? Warum macht er ausgerechnet euch nichts aus? Was macht euch zu etwas
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Michael Marcus Thurner
Besonderem?« Das Vogelwesen hob den Schnabel weit in die Höhe und gackerte. Es war ein bitteres, schrilles Lachen. »Darüber gibt es keine gesicherten Informationen. Vieles verliert sich in der Zeit, in einer erlebten Geschichte von mehr als eineinhalb Millionen Jahren. Die einleuchtendste Theorie über unsere Resistenz dem Flammenstaub gegenüber ist leider ein ganz besonderer Treppenwitz der Geschichte.« Er sah mich todtraurig an. »Du bist über unser Geschick im Umgang mit der Biogenetik informiert. Du kennst unsere Fähigkeiten. Die guten und die schlechten Seiten. Du weißt, wie wir sind und was wir repräsentieren. Nur bei den Rhoarxi offenbart sich eine zweite Fähigkeit des Flammenstaubs. Der Oberste Brüter ist mit seiner Hilfe in der Lage, einen Stamm damit zu lenken und zu beruhigen. Wenn du willst, könnte man unsere bedingte Resistenz gegen seine Gefährlichkeit gar als dritte Begabung bezeichnen.« Ich nickte zustimmend – und verwirrt. Worauf wollte Tuxit hinaus? »Nun – wir können davon ausgehen, dass wir von den Kosmokraten oder einem ihrer Hilfsvölker zu einem Zweck geschaffen wurden. Dazu, den Flammenstaub in uns zu bändigen.«
* Hoppla. Nun verstand ich jenen melancholischen Anstrich, der meinen ehemaligen Reisepartner immer wieder befallen hatte, ein wenig besser. Wahrscheinlich waren seine Vorfahren sozusagen in Reagenzgläsern zusammengebraut worden. Mit genau definierten Eigenschaften, die sie bemächtigten, eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Um ihrer genetischen Programmierung gerecht zu werden und den Flammenstaub im Sinne ihrer Erzeuger vom restlichen Universum fern zu halten, hatten sie die Intrawelt errichtet – und dabei selbst biogenetische Experimente
in Gang gebracht. Nur hatten sie aus gutem Grund ihren »Produkten« verschwiegen, was sie eigentlich waren. Ein weiteres Rätsel, das die Existenz der Rhoarxi aufgeworfen hatte, löste sich damit auf. Nun – die Varganen und Rhoarxi konnten sich in Bezug auf unverantwortliche Experimente die Hände reichen. Gottgleich hatten sie Leben geschaffen, ohne großartig auf die Befindlichkeiten ihrer Erzeugnisse Rücksicht zu nehmen. »Greifst du nun zu oder nicht?«, fragte Tuxit. Nach einem kurzen Moment des offensichtlichen Schmerzens hatte er sich wieder vollends im Griff. Tu's nicht!, warnte mich der Extrasinn eindringlich. Wir müssen erst alles durchdenken. Der Rhoarxi hat sehr allgemein gesprochen. Nach einer ausführlichen Befragung können wir vielleicht daran denken, eine kleine Prise des Flammenstaubs zu uns zu nehmen. Impulsiv streckte ich die Hand aus, achtete nicht weiter auf die wohlgemeinten Ratschläge des Logiksektors. Leicht zitternd bewegte ich sie über die sich mit rasender Geschwindigkeit drehende Kugel. Es gelang mir weiterhin nicht, die dunkle Oberfläche länger als ein paar Augenblicke zu betrachten. Also schloss ich die Augen, senkte die Rechte ein weiteres Stückchen ab. Ich spürte einen leichten Windzug und schließlich eine seltsame Wärme unter den Fingern. Angstschweiß stand mir plötzlich auf der Stirn, ohne dass ich es mir erklären konnte. Mein Handballen schmirgelte über die Kugel. Ich fühlte geringste Unreinheiten auf der an sich so glatten und angenehmen Oberfläche. Versuchsweise drückte ich die Hand tiefer … »Lass es besser bleiben!«, warnte Tuxit, der mich wohl genau beobachtete. »Wenn du noch tiefer in den Ort zwischen den Orten vordringst, verschlingt er dich zur Gänze. Du wärst dann zwischen den Universen verschollen – und würdest nie mehr den Weg hierher zurückfinden.« Ich zog die Hand zurück, bis ich wieder
Die Kathedrale von Rhoarx die Oberfläche der Kugel sanft unter meiner Haut fühlte. »Das dürfte reichen«, meinte Tuxit nach einer Weile. Ich drehte die Handfläche um und blickte sie an. Schwarz war sie, von einer sämigen, dickflüssigen Substanz bedeckt. »Abschlecken, sagtest du?« »Oder durch die Nase hochziehen. Wie der Flammenstaub in deinen Körper gelangt, bleibt letztlich egal.« Mit spitzer Zunge fuhr ich über das seltsame Zeug. Es schmeckte nach rein gar nichts – und blieb wie Klebstoff an meinem Speichel hängen. Hastig schob ich die Hand weg von meinem Gesicht. Sie war sauber. Das schwarze Zeugs hing, so leicht wie das Netz einer Spinne, an meiner Zunge. Ich schüttelte reflexhaft den Kopf hin und her, um es wieder loszuwerden. Vergeblich. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, saugte sich der Flammenstaub in die Feuchte meines Mundes ein. Ein verblüffender und zugleich erschreckender Vorgang, dem ich hilflos gegenüberstand. »Es ist vollbracht«, sagte Tuxit nüchtern. »Und jetzt? Ich spüre rein gar nichts.« »Hier in der Intrawelt wirst du ohnehin keine Wirkung bemerken. Und wenn du sie fühlst, wird es bereits zu spät sein.« Ich hasste jene Bestimmtheit, mit der mich der Rhoarxi als Todgeweihten abstempelte.
* Fast fluchtartig verließen wir den Ort zwischen den Orten. Hunderte Fragen brannten mir auf der Zunge, und dennoch bekam ich den Mund nicht auf. Die Aufnahme des Flammenstaubs in meinen Körper war im Grunde genommen so banal gewesen, dass all die Abenteuer, die ich während des letzten Monats erlebt hatte, ihren Sinn verloren. Ich spürte ungewohnte Unsicherheit – und Angst. Ich musste zurück in die äußere Ka-
49 thedrale und Peonu entgegentreten. Er würde mich zwingen, ihm alles zu erzählen, was hier passiert war. Wie würde er dann weiter vorgehen? Würde er sich selbst in diese Kammer hineinwagen? Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er mit seiner langen, hässlichen Zunge über den Flammenstaub leckte. Doch würde er dasselbe Risiko wie ich eingehen? Schließlich drohte ihm dann, ebenso wie mir, ein möglicher Tod. Ich folgte Tuxit, der mit dem Orientierungssinn einer Brieftaube zielbewusst durch den Nebel watschelte. Vor uns wurde es hell. Trüber Lichtschein kennzeichnete das große Portal, hinter dem die Entscheidung fallen musste. Ich konzentrierte mich auf mein Inneres, schaltete jeglichen Gedanken an den Flammenstaub weg. Noch war keine Wirkung zu spüren. So, wie Tuxit es prophezeit hatte. Nun galt es. Peonu wartete dort draußen auf mich. Er ahnte nicht, dass wir auf dem Weg zurück waren, was mir einen gewissen Vorteil verschaffte. Der Nebel wirkte sich, wie ich bereits beim Betreten der Kammer bemerkt hatte, dämpfend auf unsere seelische Verbindung aus. »Was ist mit dir?«, fragte der Rhoarxi. Unruhig hüpfte er auf und nieder und taxierte mich mit prüfendem Blick. Lass dich ja nicht ablenken!, riet mir der Extrasinn. Du musst Peonu überraschen, und du musst es jetzt tun. Es gab nur diese eine Chance. Hier, jenseits des Portals, musste ich Anlauf nehmen, all meine Willenskraft zusammenfassen und … und … den Kampf gegen mich selbst beginnen.
* Ich stürmte drauflos. Schaltete jeden bewussten Gedanken an Peonu so weit wie möglich aus. Ich durchdrang den Nebelvorhang, stürzte durch das Tor. Ein Schemen, den ich ausgemacht hatte, wurde zu meinem Widersacher,
50 zu meinem Besitzer. Ich fühlte den dringenden Wunsch, abzubremsen oder die Richtung zu ändern. Schmerzimpulse trafen mich. Sie manifestierten sich als große Leere in mir, wollten mich in die Knie zwingen. Doch das beschleunigende Moment, das ich meinem Körper aufgezwungen hatte, war schlichtweg zu groß. Ich rannte Peonu mit voller Wucht über den Haufen, riss ihn zu Boden, stolperte über ihn. Ausgezeichnet!, lobte der Extrasinn. Er spürte wie ich die Irritation, die den Lutveniden befiel. Der Seelenstrang wurde dünner, weniger peinvoll. Ja, es ging! Ich stand auf, trat Peonu vor den Kopf, lud meine ganze Wut an ihm ab. Dies war nicht der Augenblick zu vernunftbestimmtem Handeln. Ich musste meinen Widersacher davon abhalten, zu sich zu kommen und seine heimtückische Waffe einzusetzen. Der Lutvenide war schnell, und er erholte sich noch schneller. Meine ersten beiden Fußtritte trafen gegen Schulter und Brust. Der dritte fuhr bereits ins Leere. Er rollte sich seitlich ab, wollte mich mit einer wuchtig geführten Beinschere von den Füßen holen. Ich wich kurz zurück, sprang gleich wieder vor. So ist es gut!, feuerte mich der Extrasinn an. Er darf nicht dazu kommen, seine Fähigkeiten bewusst einzusetzen. Peonus instinktiv gesetzte Attacken gegen meine Seele reichten ohnehin vollends. Mit jedem Atemzug hätte ich vor Schmerz brüllen können. Jedes Mal, wenn ich ihn traf, verstärkte sich die Pein in mir. Ich stürzte mich blindlings auf ihn, riss ihn neuerlich zu Boden. Ich überließ meinen Instinkten die Steuerung. Überlegungen und Taktiken hatten in diesem Kampf keine Berechtigung. Je länger der Lutvenide bei Bewusstsein blieb, desto größer wurden seine Chancen, mich zu beeinflussen. Ich schlug zu, traf sein Gesicht, die Schultern, den Oberkörper. Ich kratzte über seinen
Michael Marcus Thurner Leib, biss, zerrte, gab mich meiner Wut und dem Frust hin, der mich seit Wochen beherrschte. Peonu gab keinen Ton von sich. Er rollte hin und her, wollte meiner Beinklammer entkommen, während ich weiter auf ihn eindrosch. Ein entsetztes Quieken und ein Trällern hinter meinem Rücken irritierten mich. Ich hatte es vermeiden wollen – und dennoch konnte ich nicht anders: Ich drehte mich um, erfasste mit einem Blick, was da geschah. Jolo, der kleine Echsenmann, war über den völlig überraschten Tuxit hergefallen. Er kletterte mit affenartiger Geschwindigkeit über dessen Körper hinweg, fügte ihm kleine und große Wunden zu. Nicht darüber nachdenken!, beschwor mich der Extrasinn. Kümmere dich ausschließlich um deinen eigenen Kampf! Jolo hatte mich verraten! Ich wollte es einfach nicht glauben. Er kämpfte an Peonus Seite, war ebenfalls zu einem seiner Seelenhäppchen geworden. Es schien mir einerlei, ob ihn der Lutvenide eben erst in seinen Bann gezogen oder ob er schon seit Beginn unseres gemeinsamen Marsches für den Chaotarchenknecht gewirkt hatte … Ich schlug weiterhin auf meinen Feind ein, ließ die Fülle meiner Emotionen aus mir heraus. Da war keine Rede von überlegten und genau gesetzten Dagor-Hieben; dies war Straßenkampf pur. Ein roter Schleier machte sich vor mir breit. Ich konnte kaum noch sehen, wo und was ich traf. Einerlei. Mit einem halben Ohr achtete ich auf die Auseinandersetzung hinter mir – Fehler! Fehler!, kreischte dazu mein Extrasinn –, während ich den Körper leer pumpte, auf meinen Feind eindrosch, ihn für all das bezahlen lassen wollte, was er mir weggenommen hatte. Meine Selbstachtung. Meinen Stolz. Mein Innerstes. Ich fühlte, wie ich schwächer wurde, das wilde Tempo meiner Schlagfrequenz nicht mehr weiter durchhielt. Dennoch machte ich weiter, pumpte alles aus mir heraus, wollte das sattsam bekannte Grinsen, das den form-
Die Kathedrale von Rhoarx losen Kopf des Lutveniden beherrschte, endgültig zerstören. Ja – ich wollte ihn töten. Mit meinen bloßen Händen erschlagen oder erwürgen. Es war mir einerlei. Hauptsache, diese Leere in mir würde endlich verschwinden. Es wurde ruhig hinter mir. Mach weiter!, forderte mich der Logiksektor fast panisch auf. Nur Peonu hat dich zu interessieren. Erschöpft ließ ich nach, schloss die Augen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich pumpte dringend benötigten Sauerstoff durch meine Lungen und sehnte die dringend benötigte Unterstützung des Zellaktivators herbei. Ich fühlte mich derart ausgelaugt, dass ich mich am liebsten nach hinten hätte sinken lassen. Egal, was nun kam. Der Körper unter mir bewegte sich nicht. Hatte ich ihn besiegt? Aber der Schmerz in mir war noch immer da … Allmählich verzog sich der rote Schleier; ich konnte wieder sehen. Ich starrte auf Peonu, dessen Hände locker zur Doppeldeckung erhoben waren. Er atmete kaum schneller, und der starre, halbkreisförmige Mund an seinem Kinn war genau zu jenem scheinbaren Grinsen verzogen, das ich so an ihm hasste. Zwei blutrote Zahnreihen leuchteten auf. Die überdimensionierte breite Zunge leckte über die Nässe seines Kopfes. »War das alles, was du zu bieten hattest?«, fragte er mich. Ich fühlte seine Körperanspannung zunehmen. Ruckartig schüttelte er mich ab, schleuderte mich meterweit beiseite. Dorthin, wo ein weiterer massiver Körper lag. Peonu stand auf, starrte auf mich herab. »Ich bin enttäuscht von dir, Arkonide. Ich hätte mir wesentlich mehr Kampfkraft und Konzentration erwartet. Das bisschen Seelendruck, dem ich dich aussetzte, reichte vollends, um deine Hiebe unkoordiniert und kraftlos werden zu lassen.« Er lachte mich aus. Flüssigkeit tropfte währenddessen von seinem Kopf auf meine Beine.
51 »Ich hatte es nicht einmal notwendig, mit der ganzen Wucht meiner Seelenkraft auf dich einzuwirken, mein Lieber. Jolo, mein treuer Freund, hingegen erfüllte seine Aufgabe viel besser. Er hat Tuxit, diesen naiven Narren, fast allein zur Strecke gebracht. Mit allem, was in ihm steckte, ging er ans Werk. Hut ab, mein kleiner Echsling.« Er drehte sich um, blickte irgendwohin. Mein Bewusstsein schwand, während Peonu mit seinen Sinnen in meinen Eingeweiden bohrte. Genüsslich ließ er mich den Schmerz spüren, während er weiterredete. »Du wirst verzeihen, wenn ich dich nun allein lasse. Hier drin wartet etwas auf mich. Ich werde es mir holen. Aber erst wirst du mir erzählen, was es mit dem Flammenstaub eigentlich auf sich hat, nicht wahr?« Ich brüllte auf, als er an mir zog und zerrte. Ich fühlte mich dem Wahnsinn nahe. Er würde mich zum Ghul, zum seelenlosen Wesen machen, wenn er weiter so fortfuhr! Ich erzählte ihm alles, was er wollte. Schilderte ihm den Zweck des Flammenstaubs. Seine Anwendungen und die Risiken dabei. Währenddessen wühlte er weiter in mir, gefiel sich in immer weiteren Steigerungen der Gewalt. Ich weinte, ich küsste ihm die Füße, ich bettelte um Gnade. Dann wusste ich nichts mehr.
* Ich erwachte. Stunden mussten vergangen sein. Das Portal war um ein Stückchen weiter geöffnet als zuvor. Mit diesem kleinen Hinweis wollte mir der Lutvenide offenbar mitteilen, dass er sich seinen Anteil am Flammenstaub geholt hatte. Tuxit lag flach atmend neben mir. Zerkratzt und zerschunden, aber am Leben. Jolo saß halb aufgerichtet an das Tor zur Kammer gelehnt, mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte einen Gesichtsausdruck inneren Friedens aufgesetzt. Das sonst so typische Mienenspiel war verschwunden. Er glotzte in meine Rich-
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tung. Der kleine, verräterische, arme und … tote Jolo. Ich ließ den Kopf hängen. Was sollte nun werden? Wie konnte ich Peonu, diesen Boten der Chaotarchen, aufhalten, bevor er die Intrawelt verließ und Tod und Verderben über das Universum brachte? Du solltest dir eigentlich eine andere Fra-
ge stellen, bemerkte der Extrasinn lapidar. Denk darüber nach, warum er dich hat leben lassen. ENDE
ENDE
Bote des Flammenstaubs von Leo Lukas Die Ereignisse in der Kathedrale der Rhoarx markieren vorerst den Höhepunkt – und vielleicht auch das Ende? – der Odyssee, die Atlan durch die Weiten der Intrawelt hinter sich gebracht hat. Der Chaotarchen-Diener Peonu muss nun aber gestoppt werden, bevor er das Unheil aus der Intrawelt hinausträgt und über die Welten der Galaxis Dwingeloo bringt. Wie sich die Ereignisse weiter entwickeln und ob Atlan zusätzliche Verluste hinnehmen muss, das schildert Leo Lukas im Abschlussband des INTRAWELT-Zyklus!