Julia Onken Die Kirschen in Nachbars Garten
Von den Ursachen fürs Fremdgehen und den Bedingungen fürs Daheimbleiben
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Julia Onken Die Kirschen in Nachbars Garten
Von den Ursachen fürs Fremdgehen und den Bedingungen fürs Daheimbleiben
Glaubt man den Statistiken, so ist der Seitensprung fester Bestandteil monogamer Beziehungen: In bis zu drei Vierteln aller Partnerschaften wird fremdgegangen – und nahezu »gleichberechtigt« von Frauen wie Männern. Doch die klassische Vorstellung von schuldigen Treuebrechern und betrogenen Opferlämmern greift zu kurz, so Julia Onken. Denn wer fremdgeht, hat immer einen Grund. Den einen dient der Seitensprung als Reparaturwerkstatt, um ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Die anderen haben durch Zwänge in der Partnerschaft das Gefühl dafür verloren, wer sie eigentlich sind. Sie gehen fremd, um sich selbst wiederzufinden. Mit viel Humor, Sachkenntnis und ohne falsche Moral klärt die Psychologin Julia Onken über die Hintergründe des menschlichen Hangs zur Untreue auf. Sie plädiert dafür, nach den wahren Ursachen des Fremdgehens zu forschen und in der Krise die Chance zu erkennen, mehr über sich selbst zu erfahren und das Verhältnis zum anderen von Grund auf zu klären, statt vorschnell einseitige Schuldzuweisungen auszusprechen.
Autorin
Julia Onken, geboren 1942, Psychologin und Therapeutin, ist Gründerin und Leiterin des »Frauenseminars Bodensee« und hat jahrelang Aus- und Weiterbildungskurse sowie Paar-Seminare geleitet. Bei Goldmann ist bereits erschienen: Spiegelbilder (12741)
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Vollständige Taschenbuchausgabe Juni 1999 Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH © 1997 C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München
I. Von Treueund anderen Brüchen
1 Wie ein Wolkenbruch vom Himmel fällt und Vergangenes freispült
Brand auf Schloß Ripsen: Das Feuer brach nach Mitternacht in der Kapelle aus, von wo es sich rasch zum angebauten Schloß ausbreitete, das bis auf die Grundmauern abbrannte. Obwohl die Feuerwehr sofort zur Stelle war, konnte sie des heftigen Unwetters wegen nichts retten. Der Schaden beläuft sich auf mehrere Millionen. Personen kamen nicht zu Schaden. Diese kurze Zeitungsmeldung trifft mich wie ein Schlag, als ob ich soeben erfahren hätte, daß einer mir sehr nahestehenden Person etwas Schreckliches zugestoßen sei. Da hier die deutschsprachigen Zeitungen stets mit großer Verspätung eintreffen, kann ich mir ausrechnen, daß das Unglück bereits vor einer Woche geschehen sein muß. Und das macht das Ganze noch schlimmer. Da liege ich also in heiterer Frühlingssonne, verschlinge ein Buch nach dem anderen, lese mich neugierig durch Frankreichs historische Liebesund Fremdgeh-Affären, schlendere genüßlich durch die Jahrhunderte, umringt von meiner inzwischen vierköpfigen Hundefamilie, und wähne mich rundum zufrieden. Meinen beiden Töchtern geht es gut, mir ebenfalls. Felix ist wie immer wohlauf und allzeit bereit, seinem losen Mundwerk freien Lauf zu lassen, was mich meist amüsiert, gelegentlich nervt und ganz selten in Rage bringt, zur großen Verwunderung einer meiner geschätzten Freundinnen, die jedesmal tief Luft
holt und ihren Blick zum Himmel richtet. Während Schloß Ripsen also lichterloh brennt und zugrunde geht, genieße ich ahnungslos das Leben. Zuerst rufe ich einige Freunde und Bekannte an, um Näheres zu erfahren. Niemand weiß Bescheid. Ich suche in alten Agenden nach der Telefonnummer des nahe gelegenen Gutsbetriebes. Die Nummer hat sich geändert. Neunstellig. Die französische Auskunft ist überfordert. Nach langem Hin und Her bekomme ich eine Verbindung. »Ja?« Wanda meldet sich leise, tonlos, unverändert. Als ich ihr meinen Namen sage, weiß ich nicht, ob sie sich an mich erinnert. Schließlich ist es schon einige Jahre her. Das Schloß sei tatsächlich bis auf die Grundmauern niedergebrannt, bestätigt sie knapp. Zwei große Nebengebäude, die früher als Stallungen dienten, und der Gutsbetrieb seien unbeschadet. »Und was ist mit den Menschen? Wo sind sie?« »Ich weiß nicht.« »Du weißt nicht, wo Raina und Hubertus sind? Schwester Antonia, Sophia und Laura? « »Ich habe keine Ahnung.« Dann ist die Leitung unterbrochen. Vielleicht hat Wanda einfach eingehängt. Felix geht schnell zur Tagesordnung über. Er will unbedingt in den nächsten Tagen das große, mit Rundbogen und imposanten Säulen gehaltene Kellergewölbe unter der Küche freischaufeln. Obwohl mehr als genügend Kellerräume zur Verfügung stehen, will er auch diesen zugänglich machen. Er hofft, jene
geheimnisvollen unterirdischen Gänge zu finden, die durch das ganze Dorf führen sollen und alle Häuser miteinander verbinden. Nicht zuletzt für heiße Tage, wie er sagt, um mit seinen Kumpanen einen zu saufen, oder um Musik zu hören, tiefgekühlt, im Sommer. Ich halte das Ganze für eine Schnapsidee. Während Felix herumhackt und schaufelt, versuche ich, an meiner psychologischen Studie weiterzuarbeiten, welche die Hintergründe von Treue und Untreue in der Partnerschaft aufzeigen soll. Daß Menschen fremdgehen, ist eine alte Kiste. Männer und Frauen fressen über den Hag, naschen an verbotenen Früchten, mehr als zwei Drittel der Männer springen regelmäßig in fremde Betten, Frauen haben seit der Erfindung der Pille in der Konsumierung aushäusiger Liebschaften gehörig zugelegt und sind nicht mehr weit von der in jeder Beziehung angestrebten Gleichstellung von Mann und Frau entfernt. Statistische Angaben übers Fremdgehen sind zwar nicht einheitlich, es finden sich Ergebnisse von harmloseren 38 Prozent bei Frauen, 42 Prozent bei Männern bis zu beunruhigenderen 64 Prozent beziehungsweise 73 Prozent. Dieses Gebiet statistisch zu erfassen, scheint nicht ganz einfach zu sein. Auch heute werden Seitensprünge verheimlicht, die Akteure sind im Schummeln geübt. Weshalb sollten sie auch bei einer Befragung für statistische Zwecke nun plötzlich die Wahrheit sagen. Ich will zwar keine repräsentative Umfrage machen und statistisch auswerten, aber ich versuche, mittels Interviews und einem Fragebogen den Gründen nachzugehen, die Menschen dazu veranlaßt fremdzugehen, welcher
Motor sie zum Auf- und Ausbruch aus Sicherheit und geordnetem Glück antreibt. Ebenso interessiert es mich zu erfahren, welche Gründe bei denjenigen mitspielen, die nicht fremdgehen, niemals auch nur im Traum daran denken, oder jenen, die sich per Phantasiereisen kleine imaginäre Sex-Delikatessen gönnen. Fremdgehen oder zu Hause bleiben, betrogen werden oder selbst betrügen: unterschiedliche Rollen, unterschiedliche Perspektiven. Jede Position spiegelt die Gegenposition. Klare sprachliche Verhältnisse: Opfer – Täter. Ich kenne mich in allen Rollen bestens aus, kenne die unterschiedlichen Phasen. Die eine Seite der dramaturgischen Abfolge zeigt die typische Ausweglosigkeit: Ahnungslos glücklich in der Beziehung – schleichende, böse Vermutungen – aus allen Wolken fallen – Auftakt zum großen Martyrium »Ich arme Betrogene« – sie oder ich – ich will ihm verzeihen und es nochmals versuchen – Teufelskreis: hoffen, enttäuscht werden, mißtrauen, hoffen ... – detektivisch nachspionieren, observieren, das Handtuch werfen. Die andere Seite nicht minder trostlos: Ein heimlicher Blick erhellt das Hausfrauendasein – Phantasien stürmen aus allen Ritzen – Endlich! – siebenter Himmel – sechster Himmel – fünfter – vierter – und so weiter ... Abgefahren in die Hölle. Bis auf wenige Ausnahmen. Ich bin froh, den Fragebogen meiner FremdgehUmfrage bald abzuschließen, die noch nächste Woche zum Versand kommen soll. Die Gedanken wollen mir nicht mehr richtig gehorchen, und ich kann an beinahe nichts anderes mehr denken: Schloß Ripsen ist abgebrannt. Weshalb erwischt mich
diese Nachricht mitten im Zentrum, dort wo der empfindlichste Nerv sitzt? Schließlich habe ich mit alledem nichts mehr zu tun! Habe mein Leben, meine Arbeit verändert, wohne seit langem in einem anderen Land. Und dennoch hat die Unglücksnachricht mitten im Wohnzimmer Platz genommen. Könnte ich, wie Felix, nach irgendeinem unterirdischen Gang fahnden, einer hirnverbrannten Idee nachrennen, etwas umhacken, ausbuddeln, zersägen oder so, wären die Brandbilder eventuell kleinzukriegen. Frauenmöglichkeiten indessen sind beschränkt: in die Stadt fahren, Schuhe kaufen, Seidenblusen und schöne schwingende Röcke in neuen Frühlingsfarben anprobieren, die mir wahrscheinlich alle zu eng sind, in Drogerien herumschleichen und nach neuen Schlankheits-Wunderkuren Umschau halten oder in einem Modeschmuckladen zuschlagen. Bewußtloskaufrausch. Vergessen. Nichtwissen. Nichts können. Nur sich schmücken. Und herausputzen. Gegen Abend wird mir klar, daß ich zum Unglücksort fahren muß, um mich mit meinen eigenen Augen davon zu überzeugen. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung. Der Schaden könnte wieder behoben werden, ja, vielleicht kann das historische Schloß nach altem Vorbild wieder aufgebaut werden. Noch schöner. Und vollkommener als vorher. Bauliche Mängel, die sich im Laufe der Nutzung als Tagungshotel herausgestellt hatten, könnten eliminiert werden: Seminarräume mit schalldichten Mauern und Türen, Trennwände für kleine Gruppenarbeiten, alle Zimmer komfortabler und mit sanitären Einrichtungen versehen.
Beim Nachtessen frage ich Felix: »Kommst du mit mir ans Ende der Welt? « »Selbstverständlich! Vor oder nach der Tagesschau? « »Ich will zum abgebrannten Schloß Ripsen fahren.« Am nächsten Morgen bringen wir unsere Schäferhunde zur Hundepension. Sie wedeln schon freudig in der Einfahrt. Dann springen sie zur Begrüßung an der zierlichen Madame hoch. Gut. Als wir dann gehen, wird heftig gebellt und gejault. Es regnet Bindfäden. Wasserfontänen spritzen. Felix schweigt. Er fährt konzentriert und ist damit beschäftigt, trotz des heftigen Regens zügig zu fahren. Seit mich die Unglücksnachricht erreicht hat, hängt sie als dunkle Gewitterwolke über allem. Die Vorbereitung für den überstürzten Aufbruch hatte mich noch etwas abgelenkt. Ebenso mit jenen Menschen zu sprechen, die sich während unserer Abwesenheit um das Haus kümmern. Erklärungen abgeben. Weshalb. Wohin. Der Hundeabschied, der jedesmal wieder neu unter die Haut fährt und die Emotionen in jene wehe Seelennische jagt, die im Moment ohnehin aufgeweicht ist. Aber dann, als wir fahren, droht sie, die ganze Landschaft zu überfluten. Augenverschluß. Alles dichtmachen. Atmen, soviel wie nötig, hören nur noch, weil Ohrmuscheln nicht abschließbar sind. Daß Menschen etwas zustoßen kann, sie plötzlich krank werden, einen Unfall haben oder sterben, damit rechnet man schließlich, sie sind wie Schiffe, immer unterwegs, immer in Gefahr. Sie bewegen sich von einem Ort zum anderen, keine Wurzeln, die sie tausendfach zusammenhalten, verankern, kein dickmauriges
Bollwerk, tief in der Erde eingegraben. Schloß Ripsen, nie habe ich damit gerechnet, daß es niederbrennt, einfach verschwindet, in ein großes gähnendes Loch fällt. Ich dachte, es sei ewig, ewig wie der liebe Gott — und beständig. Und dann überspült mich dieser verfluchte süßliche Herzschmerz, dieser verdammte Kitschstich mitten ins Herz, und ich beginne laut zu schluchzen. »Könntest du vielleicht deine Hysterie etwas zügeln? « fragt Felix sehr sachlich. Aus dieser Äußerung schließe ich, daß er vom Ausmaß meiner Betroffenheit nichts ahnt. Nicht daß Felix grundsätzlich gegen Tränen eingestellt wäre. Nein. Noch vor wenigen Wochen weinten wir gemeinsam. Wir mußten unseren Schäferhund Rony wegen einer Vergiftung in die Klinik einliefern. Und als wir ohne Hund zurückfuhren, heulten wir beide Rotz und Wasser. »Was ist der Unterschied zwischen einem Hund und einem alten Schloß?« will ich von ihm wissen. »Ein Schloß ist ein Haus, und ein Hund ist ein Tier«, antwortet er. »Und was ist der Unterschied zwischen einem Haus und einem Tier? « forsche ich, ohne eine bestimmte Absicht zu verfolgen, assoziativ weiter. Er läßt meine Frage in der Luft hängen, auch als ich nachhaken will, unterbricht er mich mit »Komm, laß das«. Die Fahrt dauert lange. Nachdem wir die Grenze passieren, rechne ich aus, daß wir in etwa vier Stunden dort sein werden. Je näher wir kommen, um so größer wird meine Aufregung. Und als wir dann den Berg hinauffahren, stockt mir der Atem.
Früher war nach der dritten Kurve von weitem die erste Turmspitze zu sehen. Und nun irrt der Blick suchend und verloren durch die Baumwipfel. Wir biegen in den Seitenpfad ein, der zum Schloß hinunterführt, fahren langsam das letzte Stück durch den Wald, das vom Regen aufgeweicht ist. Und dann stehen wir plötzlich vor der abgesperrten Unglücksstelle, vor dem schwarzen Kraterloch; alles ist verschwunden, einfach weg, große Steinstummel noch, verkohlte Balken, schwarze Dreckhaufen. Nur hinter der großen, wohl über hundertjährigen Tanne, ragt einsam der alte Fels zum Himmel hinauf, aus dem die Kapelle herausgehauen worden war. Angenagte Teile der vorderen Wand. Verloren. Bruchstückhafte Ahnung einer Fensternische. Ich stehe fassungslos wie am Grab eines mir über alles geliebten Menschen. Später gehen wir noch zum Gutsbetrieb hinüber. Kinder spielen auf dem Hof. Der Hund bellt. Wanda, hochschwanger, steht in der Küche und schabt an einer ziemlich vertrockneten Sellerieknolle herum. Sie unterbricht ihre Arbeit nicht, als wir eintreten. Wir stehen etwas unbeholfen da. Ich frage nochmals, will mehr erfahren. Sie habe keine Ahnung, wo sich die ehemaligen Bewohner des Anwesens aufhielten, auch wisse sie nicht, wie das alles geschehen konnte. Lediglich Thorwald, der Hausmeister, wohne vorläufig bei ihnen. Wanda war schon immer wortkarg. Trotz ihrer eher spröden und zugeknöpften Art pflegte sie eine herzliche und langjährige Freundschaft zu Raina, der Frau des Zentrumleiters. Dennoch ist von ihr nichts
zu erfahren. Wir übernachten bei Freunden, die in der Nähe wohnen und außer der Pressemeldung ebenfalls nichts Genaues wissen. »Wie kann denn mitten in einer steinernen Kapelle Feuer ausbrechen? « grüble ich. »Ganze Städte brennen ab. Das ist eben so«, erklärt Felix. »Nein. Das ist eben nicht einfach so. Wie ist es möglich, daß ein siebenhundert Jahre altes Steinschloß einfach brennt, bis nur noch Schutt und Asche übrigbleiben? « »Schatz, entlaß es aus deinem Hirn und vergiß es.« Ein guter Rat. Wie etwas aus sich herausbringen, das sich schon in jeder Zelle eingenistet hat. Schloß Ripsen hatte immerhin über lange Jahre eine Schlüsselstellung in meinem Leben eingenommen. Alle wichtigen Ereignisse hatten etwas mit diesem Ort zu tun. In meinen jungen Jahren verbrachte ich viele Wochenenden dort, in analytischen Selbsterfahrungsgruppen, schreienden Primärtherapiegruppen, Encountergruppen oder was sonst gerade in Mode war. Es war die Zeit der sexuellen Befreiung. Verbotstafeln wurden niedergemäht. Tabus beherzt abgesetzt. Wir rissen unbeeindruckt die Schleier wohlgehüteter Geheimnistuerei herunter, fegten alles Umhüllende weg und entblößten das Mysterium der Sexualität. Es war die Zeit, in der jeder und jede an jeder und jedem herumknabberte, saugte, lutschte, tätschelte, zupfte, kniff, streichelte, schnüffelte, roch, leckte und jeder
Mann jede körperliche Vertiefung als Aufforderung verstand, sich mittels seines Geschlechts luststöhnend hineinzubohren. Es war die große Zeit der Vereinigung körperlicher Säfte, Ausdünstungen, Ausscheidungen und Sekretvermischungen. Therapeuten fungierten nicht selten als die großen Gourmetköche, als Kenner erotisch-exotischer Kochkünste, ob der asiatischen oder irgendeiner anderen morgenländischen Küche. Sie schritten wacker voran und waren dann prompt auch die ersten, die unter ehelichen Blähungen und Partnerschaftsverstimmungen litten. Es war eine große Zeit. Wir waren voller Hoffnung. Wir wollten Berge versetzen und alle und alles lieben. Jene bedauerten wir zutiefst, die an völlig überalterten, lebens- und lusthindernden Begriffen wie etwa der Treue in Ehe und Partnerschaft festhielten. Dann lernte ich schließlich Sebastian kennen, das heißt, er schlug wie ein Blitz ein. Da ich gerade dabei war, in meinem ehelichen Dasein zu vertrocknen, brannte ich lichterloh. Und wie das so oft bei Menschen zu finden ist, die sich von Berufs wegen um die Psyche anderer Menschen kümmern, hatte auch ich keine Ahnung, was mit mir passierte. Wahrscheinlich hätte es mich einfach in die Luft gejagt, wäre explodiert, hätte ich nicht durch das Schreiben ein Ventil entdeckt, den seelischen Überdruck aus den Herzkammern abzulassen. Ich schrieb mich durch die Krise, hielt mich schreibend über Wasser; ich entdeckte das Schreiben als Selbsttherapie. Schließlich ist Schreiben die älteste Therapieform. Das von vielen belächelte Tagebuchschreiben ist nichts weiter als tägliche
Psychohygiene, wie Zähneputzen. Damit sich kein Belag auf der Seele bildet und die Fenster verdreckt. Nach Beendigung meiner psychologischen und psychotherapeutischen Ausbildung führte ich selbst Seminare durch, für Paare, die sich trennen, und solche, die es nochmals miteinander versuchen wollten. Später kamen noch Schreibseminare dazu. Ich versuchte zwei völlig unterschiedliche Ansätze miteinander zu verbinden, einen, der aus Elementen der Spracharbeit des Religionsphilosophen Herman Weidelener besteht, mit einem, der auf den Erkenntnissen aus der neueren Hirnforschung von Vera F. Birkenbihl aufgebaut ist. Dies ermöglicht zweierlei: erstens, Schreibblockaden zu lösen, und zweitens, einen direkten Zugang zu jenen psychischen Kellerräumen zu schaffen, wo Abgeschobenes und Ausgeschlossenes lagert. Oft genug entstanden dadurch nicht nur außergewöhnliche Texte, verdichtet und frei von persönlichen und individuellen Überlagerungen, sondern im Dialog mit sich selbst auch Therapeutisches, das Verborgenes freischaufelte und die Dinge beim Namen nannte. Schloß Ripsen war alles andere als komfortabel. Spartanisch eingerichtet, mit vielen Mängeln behaftet. Dennoch mein liebster Tagungsort. In meiner Erinnerung steht es unversehrt, groß und ernst und blickt auf eine schier unendliche Weite des Sees. Es gibt keinen Ort, wo der See so weit und geheimnisvoll ruht, den unendlichen Abgrund schweigend überdeckt. Wie eine uralte Seele liegt das große Wasser silbern schimmernd da, und die vergangene Zeit schaukelt ver-
träumt in den Wellen. Und die Schloßkapelle ruhte in ihren zwei Meter dicken Mauern. In die Kapelle zog es mich frühmorgens, manchmal um fünf oder noch früher. Dann saß ich da. In eine dicke Wolldecke gehüllt, überlegte dies und jenes. Und je nachdem, zufrieden, mit einer winzigen Spur von Dankbarkeit, was eher selten vorkam, oder gefangen in einer typisch weiblichen Krisengeschichte, hadernd, fordernd. penadelnd zwischen sich als Opfer fühlend und ungeduldig als Handelnde nach Auswegen suchend. Gelegentlich war die schwere Eichentüre zur Kapelle verschlossen. Obwohl ich mich immer wieder erkundigte, ab wann die Kapelle zugänglich sei, konnte ich nichts erfahren. Niemand wußte davon. Selbst der Hauswart behauptete, es gebe keinen Schlüssel. Trotzdem stand ich immer mal wieder vor verschlossener Tür.
2 Wie sich schiffbrüchige HelferInnen für Bruchbrüder
aufopfern
Am nächsten Tag fahren wir wieder nach Hause. Auf der Rückfahrt hätte ich um ein Haar den Großeinkauf im Bürocenter vergessen. Mir ist zwar nicht danach, aber Felix besteht darauf. Schließlich hätte ich ihn über Wochen damit genervt, daß ich mir endlich eine neue Hängeregistratur kaufen will. Als wir vor den 36 verschiedenen Modellen stehen, verläßt mich unverzüglich meine sonst stets bereite Einkaufslust für sämtliche Büroeinrichtungs- und Organisationsgegenstände. Auch finde ich den Zettel mit den genauen Maßen nicht mehr. Da die Registratur genau unter den Kamin in meinem Arbeitszimmer passen soll, kann ich den Kauf nicht tätigen. Felix war bereits verärgert, als ich den Kamin außer Betrieb setzte: »Wie kann man nur so blöd sein! « »In jedem Zimmer befindet sich einer, alle betriebsbereit. Davon werden höchstens drei in Funktion gesetzt. Und ich meine, das genügt.« Felix wirft mir weibliche Unlogik vor. Und ich ihm männliche Mega-Unlogik. Dann streiten wir darüber, wer von uns beiden in logischem Denken stärker behindert sei. Schließlich ziehe ich meinen Joker und werfe ihm vor, er sei ein seelischer Haudegen, Mitgefühl lasse grüßen: »Da komme ich fix und fertig von der Beerdigung meines allerbesten und wichtigsten Freundes, und du hast nichts anderes zu tun, als mich zusätzlich noch fertigzumachen.« »Madame schnappt wohl noch ganz über! Was sollen
die Menschen sagen, denen ihr gesamtes Hab und Gut zusammengebombt wurde! Du hingegen hast nicht eine Bleistiftspitze verloren, sondern lediglich das Bühnenbild deiner Erinnerungen! « Ein Verkäufer nähert sich und fragt in jenem wohlbekannt freundlichen Ton versteckter Nötigung, ob er uns behilflich sein könne. Bevor Felix, der bereits für einen gezielten Gegenschlag Luft geholt hat, ansetzen kann, sehe ich ein Sonderangebot von praktischen und stabilen, farbig beschilderten Archivschachteln. Ich schlage zu. 50 Stück. Felix staunt. Und ärgert sich wie üblich. Er kann sie kaum im Auto unterbrin- gen. Trotz allem fahre ich ziemlich aufgeräumt nach Hause; die 50 Archivschachteln im Auto geben mir das gute Gefühl, nicht nur die hoffentlich zahlreich beantworteten FremdgehFragebogen archivieren, sondern zudem alte Unterlagen endlich anständig ordnen zu können. Eigentlich wollten wir direkt auf dem Heimweg unsere Hunde in der Pension abholen. Wegen der Archivschachteln ist das aber nicht möglich, und wir landen wieder, wie schon oft, bei der Frage, ob wir uns nicht besser trennen sollten. Während ich die 50 Archivschachteln im Haus verschwinden lasse, fährt Felix nochmals alleine los. Zugegeben, weniger als die Hälfte hätte durchaus genügt. Aber da waren die schönen Farben. Das Sonderangebot. Ich versuche, die Archivschachteln in meinem Arbeitszimmer zu stapeln, was ziemlich schwierig ist. So schichte ich sie in den Kamin.
Ich wollte Felix' Rat folgen. Einen Schlußstrich unter die alte Geschichte ziehen. Doch ehe ich mich versah, packten mich die Ereignisse erneut beim Schopf und zogen mich in die Vergangenheit zurück. Ich geriet in ein Netz von Fragen, verfing mich darin, versuchte zu ordnen und Antworten zu finden. Während Felix sich immer tiefer in sein Kellerloch hineinbaggerte, geriet mein inzwischen geordnetes Leben aus den Fugen und schleuderte mich zurück. Jahrzehntedicker Bodensatz wurde aufgewirbelt, alte Bilder lebten auf und vermischten sich mit neuen Geschehnissen. Ich stolperte über Lebens-verstrickungen, über jene unterirdischen Gänge geheimer Liebesverbindungen, die mir meine psychologische Fremdgeh-Studie so farbig illustrierte, daß mich zuweilen die Geschichten stärker faszinierten als meine theoretische Arbeit. Die Sache mit dem abgebrannten Schloß hängt wie Nebel in großmaschigen Wollkleidern. Ich bemühe mich täglich, einen Schlußstrich darunter zu ziehen, nicht mehr daran zu denken. Theoretisch weiß ich selbstverständlich, daß es nicht funktionieren kann, nicht an einen rosaroten Elefanten zu denken, ohne dabei ständig an einen rosaroten Elefanten zu denken. Mit jedem Willensimpuls, einem ganz bestimmten Gedanken nicht nachzuhängen, muß zuerst das Erinnerungsprogramm »rosaroter Elefant« in Gang gesetzt werden. Dadurch wird das Unerwünschte intensiv belebt. Je mehr ich mich darum bemühe, nicht daran zu denken, um so deutlicher werden die Erinnerungsbilder.
Irgendwann wird mir klar, daß es wohl besser wäre, mich gezielt mit dem rosaroten Elefanten zu beschäftigen, mit einem Stapel rot etikettierter Archivschachteln in den Speicher zu gehen, um in den vielen alten Kartons, die ich beim letzten Umzug mit Schnüren zusammengebunden hatte, nach jener Zeit zu suchen, die irgendwo unter tausend anderen Unnützlichkeiten vergraben liegt. Ich will sämtliche Tagungs- und Seminarunterlagen, die vielen Texte aus den Schreibseminaren, die auf Schloß Ripsen entstanden sind, heraussuchen und datenmäßig ordnen. Vielleicht gelingt es mir. auf diese Art und Weise die Vergangenheit zu erledigen und damit loszuwerden. Ich bin in meinem Leben zwölfmal umgezogen. Verschiedene Vergangenheiten platzen aus den von Feuchtigkeit aufgeweichten Kartons und ergießen sich auf den staubigen Speicherboden. Zurückstauen. Zusammenschnüren. Dann nach jenen Kartons fahnden, in denen die alten Seminar- und Tagungsunterlagen untergebracht sind. Dabei kracht der eine oder andere Karton vollends auseinander. Und plötzlich liegen vier dicke Ordner halb geöffnet vor meinen Füßen. Ich erkenne sofort die zierliche, feingeschwungene Schrift von Sebastian. Es gibt nichts mehr zu ordnen, da schon alles fein säuberlich nach Datum eingereiht ist. Trotzdem nehme ich es und beginne darin zu lesen. Und eh ich mich versehe, bin ich mitten in der Vergangenheit angekommen, in der Schloß-RipsenZeit. Die Liebschaft mit Sebastian war eine Verrücktheit. Sie traf mich wie ein Hammerschlag. Vielleicht aber
brauchte es diesen gehörigen Stoß, der mein Leben verrückte, durcheinanderbrachte, aus den Angeln hob und mich aus einem festgefahrenen System heraussprengte. Es fing ganz harmlos mit einer Tagung an: »Eingeschlossen – Ausgeschlossen«. Randgruppen zu mobilisieren war damals der große Renner unter den helfenden Berufen. Ein Psychotherapeutenteam, ein Sozialarbeiterteam, ein Soziologenteam, ein Psychiaterteam, Pfarrersleut' und Ärzte, ein Großaufmarsch von Helfern, alle spezialisiert auf die Resozialisierung Straffälliger. Zahlreiche Vorbesprechungen, Endlossitzungen, ganze Projektwochenenden gingen voran. Dann war es soweit. Aus verschiedenen Nacherziehungs-, Umerziehungs- oder anderen Entzugsanstalten wurde die Klientel angekarrt. Für die Straffälligen bedeutete es, ein Wochenende außerhalb der Gefängnismauern zu verbringen, und sie nahmen dabei den »Resozialisierungszirkus« in Kauf. Sebastian nahm ebenfalls an der Tagung teil. Ich lernte ihn am Abend beim vergnüglichen Unterhaltungsteil kennen. Er verwickelte mich sofort in ein Gespräch, das er alleine bestritt. Er hielt weder etwas von dieser Tagung, noch von uns, die wir diese Tagung leiteten. Er hielt grundsätzlich von Psychologen, Psychiatern, psychotherapeutischen Ärzten, Theologen, Sozialarbeitern und -pädagogen nichts, rein gar nichts, wie er immer wieder versicherte. Diese hätten ja wohl den größten Sprung in der Schüssel — sonst hätten sie sich andere Berufe ausgesucht und wären entweder Piloten, Gärtner oder Krankenschwestern geworden. Da
ich nicht zu Wort kam, konnte ich ihm auch nicht bei gewissen Überlegungen zustimmen, was ich gerne getan hätte, besonders was den Knacks in der Schüssel betraf. Einige meiner Kollegen waren mir tatsächlich ebenfalls äußerst suspekt, und ich hätte sie nicht meinen ärgsten Feinden weiterempfohlen. Und auch an meinen eigenen Fähigkeiten zweifelte ich nicht selten. Die Tagung verlief mehr schlecht als recht. Aber wir Psychohelfer und -helferinnen waren stolz auf diese neue Art, Resozialisierung zu betreiben, und verbuchten bereits den windschiefen Versuch als Erfolg auf unserem narzißtischen Konto. Nach dieser Tagung wollte Sebastian in Therapie. Er brachte drei Therapeuten zur Strecke, sie warfen das Handtuch und gaben den Fall weiter. Dann landete er kurz vor seiner Entlassung bei mir. Er kam in die erste Stunde und brachte mir einen Kaffee mit: »So. Das hätten wir geschafft. Es war gar nicht so einfach, an die richtige Adresse zu gelangen! « Sebastian erschien in seinen Privatkleidern und nicht wie die anderen in der Anstaltskluft. Er sah aus, als ob er gerade in einem Tennismatch, aus dem er als Sieger hervorgehen würde, eine kurze Pause machte. Ich freute mich nicht nur über den Kaffee, sondern ebenso über diesen herrlichen Anblick, neben den anderen, die alle in diesen abscheulichen Anstaltstrainingsanzügen steckten. Es gibt wohl nichts Entwürdigenderes als einen Strampelanzug für erwachsene Männer. Wie kann ein Mensch ein einigermaßen klares Bewußtsein entwickeln, wenn äußerlich alles schlampt und lottert? Selbstverständlich wollte Sebastian keinerlei Hilfe:
»Wer soll mir helfen? Ich werde mit der stolzen Summe von 625 Franken entlassen! Damit läßt sich eine tolle Zukunft planen. Das einzige, was mir helfen könnte, wäre eine reiche Frau. Leider führt das ausgeklügelte sonderpädagogische Nacherziehungsprogramm nichts dergleichen in seinem Resozialisierungsangebot. Stimmt's? « Und dabei zwinkerte er mir zu. Er bestritt die übrigen drei Sitzungen. Im Alleingang. Wortgewandt. Sezierte und analysierte den Leerlauf im Anstaltsbetrieb, rechnete vor, daß jeder Gefängnisplatz pro Tag teurer sei als ein Tag auf der Intensivstation. Ebenso minutiös rechnete er vor, daß der Staat für dieses Geld jedem Strafgefangenen einen exquisiten Sex-Service bieten könnte. »Wenn schon Resozialisierung, dann bitte ganzheitlich! « Er malte sich und mir aus, wie jeden Nachmittag ein Stadtbus die Damen bringen würde. »Die Girls wären weg von der Straße. Saubere Arbeitsbedingungen. Bezahlung erfolgte direkt über die Staatskasse und nicht indirekt über gezinkte Spesenabrechnungen unserer Herren Politiker. Der Jahresumsatz für legale Prostitution in der Schweiz beträgt 2,7 Milliarden, die illegale wird auf das Dreifache geschätzt.« Ich kam so gut wie nie zu Wort. Er brachte mir zu jeder »Therapiestunde« einen Kaffee mit – im Zahnputzglas. Dann wurde er entlassen und verschwand aus meinem Leben. Vorläufig. Mein Leben verlief wie zuvor. Im ehelichen Arrangement, im freundlichen, aber freudlosen
Miteinander. Die Essenszeiten wurden noch eingehalten. Verwandtschaftsbesuche. Familienfeste. Die intimen Freuden indessen waren beiderseits ausgelagert. Nicht ohne daß ich mich vorher nach Frauenart bei Freundinnen als typisches Frauenopfer ausgiebig ausgekotzt, ausgeweint und emotional wieder vollgetankt hatte. Wie es eben Frauen so machen. Hätten wir nicht unsere Freundinnen, würden wir unsägliche Beziehungen früher aufgeben. Ich war mit Freundinnen und in Frauengruppen intensiv damit beschäftigt, für die einst so großzügig gutgeheißene und vertretene partnerschaftliche Freizügigkeit ein Mindestmaß an Verbindlichkeit zurückzufordern. Und plötzlich hörte ich mich selbst nach jenen mir vormals zutiefst verhaßten Eigenschaften wie Treue, Beständigkeit und Verläßlichkeit rufen, die ich immer bekämpft hatte. Ich war mir damals absolut sicher gewesen, niemals in die verhängnisvolle Rolle der verbitterten Ehefrau zu geraten. Bevor ich noch meine Gedanken zu Ende gedacht hatte, war ich selbst darin gelandet. Aber ich hatte meinen Beruf. Unterstützende, pflegende und fürsorgerische Berufe sind sehr beliebt, um eigene Defizite durch helfendes Tun am anderen auszugleichen. Gut. Man ist zwar nicht auf der Empfängerseite, wird weder umsorgt noch verhätschelt. Aber man ist wenigstens mit dabei. Wenn auch auf der Gegenseite. Irgendwann geht die Rechnung nicht mehr auf. Depressionen sind bei Menschen in helfenden Berufen deshalb oft anzutreffen. Meine depressiven Phasen kamen immer um Weihnachten. Das ist doch
klar, belehrte mich eine Bekannte, die sich mit Esoterik beschäftigte: Die Tage werden kürzer. Die Nacht länger. Da wird es in der Seele ebenfalls dunkler. Eine Psychokollegin hingegen meinte: Nichts weiter als graue Kindheitserinnerungen. Ein befreundeter Psychiater gestand, daß es ihm genauso ergehe. Er könne alles ertragen, nur nicht, wenn seine Praxis geschlossen sei: »Da fehlt mir der dankbare Glanz in den Augen meiner Patienten.« Mir fehlte er ebenfalls, und ich arbeitete deshalb besonders viel. Sondereinsätze zwischen Weihnachten und Neujahr gaben mir das wunderbare Gefühl zu existieren: Ich werde gebraucht, also bin ich. Seit Sebastian entlassen worden war, hatte er bereits dreimal privat bei mir angerufen. (Weiß der Teufel, woher er meine Telefonnummer hatte.) »SOS, ich brauche dringend einen Psychiater! « Auf diesen billigen Trick fiel ich natürlich nicht herein, wimmelte ihn ab und gab ihm Adressen von Kollegen, die er selbstverständlich nie aufsuchte. Obwohl ich nicht in den alten Briefen zu lesen beginne, sondern nur darin herumstöbere, steigt die Vergangenheit so lebendig vor mir auf, wie wenn sich alles gestern zugetragen hätte. Vor allem wird jene emotionale Landschaft wieder sichtbar, in der ich mich über Jahre versuchte, möglichst geschickt zu bewegen, um nicht in topographische Fallen hineinzugeraten. Ich sehe mich mit riesigen Schritten über den tiefverschneiten Gefängnishof vom Verwaltungsgebäude zum Zellentrakt hüpfen. Völlig unerwartet verhängte sich in den frühen Mittagsstunden der türkisblaue
Himmel mit dicken weißen Wolken und warf in großen Fetzen Unmengen Schnee herab. Drei Gefängnisinsassen waren damit beauftragt, den ganzen Nachmittag lang die Wege von den Schneemassen zu befreien. Trotzdem gelang es ihnen nicht, den Gehsteig schneefrei zu halten. Der kalte Schnee steigt über den Ausschnitt meiner Schuhe. Unterwegs treffe ich noch Max aus Zelle 14, bitte ihn, mir das dickste und wärmste Sockenpaar, das er besitze, in die abendliche Gruppensitzung mitzubringen, und außerdem Zeitungen für die Trockenlegung meiner Schuhe. Ich steige die kahle Treppe empor, den unendlich langen, schnurgeraden Zellengang entlang, jeder Schritt vom diskreten Seufzer meiner nassen Schuhe begleitet. Alle Gruppenteilnehmer sind bereits anwesend. Sie haben alles vorbereitet, Kerzen brennen, auf dem wackligen Tisch steht Kaffee zum Servieren bereit, in der Mitte harrt einladend eine mit bunten Servietten ausgelegte Schuhschachtel, randvoll angefüllt mit Weihnachtsplätzchen. Zorro hat sie von seiner Mutter geschenkt bekommen, obwohl er Süßigkeiten nicht ausstehen kann. Er gehört zu den wenigen, die keinen Weihnachtsurlaub bewilligt bekommen haben. Auf meinem Stuhl liegt ein dickes Paar grauer Anstaltssocken und eine Wolldecke. Nachdem ich meine Schuhe ausgestopft und in Rillen der Zentralheizung geklemmt habe, beginnen wir mit der Gruppensitzung. An diesem speziellen Abend als Weihnachtsfeier mit Gitarrenbegleitung. Da drückt es beim einen oder anderen in der Kehle, kitzelt in der Nasenwurzel. Hastig sich in der Schuhschachtel Hilfe holen. Schnell
in die Illusion einer heilen Zimtsternen-welt flüchten, Nachtspaziergang mit Mandelhonigmond und Puderzuckerwolken. dazwischen flitzen vanillageflügelte Engel, mit Pfeffernüssen und Koreanderkeksen bepackt. Das schummrige Licht verhüllt. Betroffenheit. Seelische Gleichgewichtsprobleme. Es gibt Situationen, die so trost- und freudlos sind, daß ein harmloses Wort jenen fraglichen, gut versteckten Knopf trifft, der eine Flutwelle auszulösen droht. Um zweiundzwanzig Uhr ist die Schuhschachtel leer gegessen, und meine Schuhe sind trocken. Der Gefängnishof ist wie ausgestorben, kein Mensch unterwegs. Die Lichter in den Zellen brennen. Spielzeughafte Lieblichkeit. Die klotzigen Gebäude der Gefängnisverwaltung, die schulhausähnlichen Häuser der sozialpädagogischen Wohngruppe, sogar der düstere Zellentrakt, der wie ein großes Kreuz im Schnee liegt, ja selbst die hohe Mauer, die das Ganze umschließt, muten weiß überpudert märchenhaft an. Dazwischen ragen die wenigen Bäume in die Nacht, in schneeglitzernde Abendkleider gehüllt, die mächtige Tanne eingangs des Zellentrakts mit weitausladenden Armen, Bilderbuch-mutter, die alle ihre verlorenen Söhne, was auch immer sie angestellt haben, aufnimmt. Mein Auto, das am Nachmittag unter einem großen Schneehaufen verschwunden war, ist freigeschaufelt. Unter dem Scheibenwischer steckt ein Zettel: Frohe Weihnachten. Vorsichtig fahre ich über vereiste und rutschige Straßen. Es folgten wie jedes Jahr stimmungstrübe Weihnachts-
vorbereitungen: Unterschwellig drückte die Depression. Dazwischen Kinderlachen. Blick aus dem Mausloch. Ferne Heiterkeit. Und dann. Plötzlich. Ein Brief. Im blauen Umschlag. »Hallo, Lena, hier bin ich wieder. Kaum draußen, schon wieder drinnen. Schreibst du mir? Bitte! Viele Grüße vom lieben Sebastian.« In den folgenden Wochen stürzte eine Briefflut über mein verheiratetes Dasein und schwemmte kurzerhand die Weihnachtsdepression hinweg. Ich blättere in den Briefen, erhasche einzelne Wortfetzen, atme den Duft der damaligen Zeit. Abenteuerliches Verführungsspiel. Verstandeskiller. Felix steht plötzlich unter der Tür. Er schreie sich heiser durch das ganze Haus, ich sei offenbar taub geworden. Inzwischen hat sich Felix auf dem Postamt erkundigt, wie teuer der Versand der Fremdgeh-Umfrage kommen werde. Obwohl er diese Information auch telefonisch hätte einholen können, zog er es vor, höchstpersönlich hinzufahren, an mindestens fünf anderen Poststellen vorbei, um zu jenem einen Postschalter zu eilen, hinter dem eine besonders attraktive und freundliche Dame sitzt. Normalerweise kehrt er beflügelt von einem solchen Postbesuch zurück, er summt vor sich hin, verhält sich mir gegenüber äußerst liebenswürdig und hilfsbereit, und mit den Hunden strotzt er vor Geduld. Seine ganze Haltung strahlt »Land in Sicht« aus und dauert mindestens einen halben Tag an. Diesmal scheint etwas schiefgelaufen zu sein. Er will mit mir zum Hundespaziergang. Und zwar
sofort. Ein tägliches Ritual. Morgens alleine, abends mit mir. Wir gehen nebeneinander. Ehepaartauglich, aufregungslos. Wir essen unterwegs, wie jeden Abend, eine Banane. Manchmal einen Apfel. Oder Mandarinen. Felix zeigt mir, was er den Hunden Neues beigebracht hat. Sie setzen sich vor einen liegenden Baumstamm. Wir gehen ein Stück weiter. Dann drehen wir uns um. Felix flüstert kaum hörbar »sitz«. Sie legen sich hin. Die Ohren gespitzt. Mit wunderbar hellwachen Augen warten sie auf den Befehl zu springen. Sie schießen synchron wie Raketen über das Hindernis. Hinterher Herumtollen in der Wiese. Jedesmal ein Fest. Sie wollen sich nochmals hinsetzen, sich hinlegen, auf Befehle warten, springen und gelobt werden. Das ist die heile Hundewelt. Pädagogische Inputs. Konditionierte Reize. Gefühle bei Fuß. Emotionen an der Leine. Überschaubar. Kein verwinkeltes Liebesleben. Und nur aufgrund eines kurzen menschlichen Versagens ist uns dieser reiche Hundesegen zuteil geworden. Alles fing harmlos mit einem einzigen Hund, dem Rüden Rony, an. Felix hatte ihn aus dem Tierheim geholt, wo er bereits seit zwei Jahren auf einen neuen Meister wartete, aber dank seiner starken Aggressivität niemanden für sich erwärmen konnte. Später kam Chypie dazu, ein acht Monate altes Schäferhundweibchen. Rony schmolz. Er überließ ihr sofort sein Kissen und drückte sich in das winzige Körbchen hinein, das wir für sie gerichtet hatten. Wonnetrunken legte er sich alsdann auf den Rücken ins Gras, und Chypie turnte und spielte auf ihm herum. Es dauerte nicht lange, und sie wurde läufig. Zuerst hatten wir
alles im Griff. Doch dann ein unbedachter Augenblick meinerseits. Ich rannte ihnen über den Hofplatz nach, stolperte und schlitterte bäuchlings über den Kies. Dennoch gelang es mir, Chypies linkes Hinterbein zu fassen, das ich nicht mehr losließ. Robbend machte ich mich zu ihrer Rettung auf. Ich trug sie auf dem Arm ins Haus. Rony, über mein Eingreifen erbost, wollte sie verständlicherweise zurückhaben. Ich sperrte Chypie in die Küche und ging ins Badezimmer, um meine aufgeschürften Hände und Knie zu verarzten. Als ich wieder in die Küche zurückkam, war Rony auch da. Er hatte sämtliche Türen eingedrückt. Nach 62 Tagen erblickten sieben kleine Schäferhündchen das Licht der Welt. Am Abend, der ereignislos wie immer in die Nacht schleicht, schrillt das Telefon wie eine Alarmglocke. Wanda. Atemlos. SOS. Ich soll so schnell wie möglich zu ihr fahren. Ich möchte den Grund erfahren. Sie kann das nicht am Telefon erklären.
3 Wie Bruch reden beim Talken unvermeidlich ist und wie hemmungs- und kabellos unter dem Hag durchgefressen wird
Wanda. Was geht sie mich an. Erneut aufbrechen? Mich verabschieden. Und nicht einmal wissen, wozu. Das Reiseleben hängt mir ohnehin zum Hals heraus. Koffer packen. Auspacken. Wieder einpacken. Ins Ungewisse starten. Dabei unbändig mich sehnen nach Beständigkeit. Neid auf alle Hausfrauen. Montags waschen, dienstags bügeln, mittwochs Wocheneinkauf, donnerstags Haare waschen, freitags Fisch, samstags Sex, sonntags Brunch. Inzwischen habe ich die Reiserei so erträglich wie möglich gestaltet. Im Auto Kassettenseminare hören: Amerikanisches Management, Personalführung und Lyrik. In Eisenbahn oder Flugzeug lesen. Lesen. Endlosstunden in Flughäfen, Wartehäfen. Zwischenzeiten. Wartezwischenzeiten, seelische Windstille, wo nichts geschieht und die Gedanken träg an der Wäscheleine baumeln. Ödes Gähnland. Kein landschaftliches Lächeln, alles in metallgrauem Beton klotzgegossen. Im Bus zum Flugzeug emigrantenfremd. Evakuierungsschicksal. Notschlachtviehtransport. Stehend. Und dicht. Das Handgepäck zwischen die Füße geklemmt. Mit der freien Hand sich festklammern, mit der anderen die Lächerlichkeit eines Handtäschchens an sich drücken. Und in luftzugiger Ungastlichkeit einem ungewissen Zeitplan ausgeliefert. Plötzlich, endlich geht die Fahrt los, taumelnd
balancieren zwischen Menschenwürde und einem Leben als Frachtstück. Oder zedernlang wurzelschwach schwanken. Nach meiner letzten Flugreise, die total danebenging, beschloß ich, mich wenigstens zu erkundigen, wie ein Flugschein zu erwerben sei. »Du bist verrückt«, meinte Felix, der mich sonst von nichts abhält. Diesmal aber machte er nicht mit, sagte, ich spinne, ich sei ohnehin zu alt, Gesundheitszustand zu schlecht, Sehvermögen zu schwach, Intelligenz für technische Belange nicht ausreichend. Und überhaupt. Früher hätte mich wahrscheinlich eine derartige Argumentation in die Knie gezwungen und mich davon abgehalten, weitere Schritte zu unternehmen. Diesmal ließ es mich kalt. Ich will es wissen. Ich will es genau wissen. Ob es geht. Oder nicht. Bei meiner letzten Flugpanne hatte ich mir geschworen, daß ich mich derartigem nicht mehr freiwillig aussetze. Ich sollte an einer Talkshow teilnehmen, was ohnehin ein äußerst fragwürdiges Unternehmen ist. Talk kommt wahrscheinlich von Teig. Man nehme genügend Backpulver. Gastgeber-Moderatorinnen gehen in ihrer Rolle auf. Für TV-Journalistinnen ist die eigene Show das Ende der Fahnenstange. Das Ziel ist erreicht, und die narzißtische Flagge wird gehißt, die fortan weht und plaudernd flattert. Viele Moderatorinnen führen Gespräche über Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Die Gäste werden in ausführlichen, telefonischen oder gar persönlichen Vorgesprächen mit zuständigen sachkundigen Redakteurinnen vorabgefragt und auf Herz und Nieren auf ihre
Fernsehtauglichkeit und ihren Unterhaltungswert geprüft. Von kompetenten Redakteurinnen ist in der Sendung nichts mehr zu sehen. Moderatorinnen galoppieren telegen gepudert über das Thema, das zur puren Nebensächlichkeit verkommt, werfen Zufallsfragen in die Arena, springen mal über dieses, mal über jenes Gästehindernis. Kopf einziehen und auf Knopfdruck Kurzformeln husten. Fachwissen als Werbespots. Schnellschuß feuern. Kreuzfeuer. Frauen werden doppelt so oft unterbrochen wie Männer und aus Gedankenschleifen abgeschossen. Mit vollen Champagnergläsern auf hohem Seil balancieren. Bei massiverem Angriff Absturz samt Gläsern. Danach Scherben einsammeln. Deshalb sitzt die Runde hinterher noch zusammen, ißt und trinkt und prostet sich zu, gegenseitig Anerkennendes versichernd und lobende Worte über unsägliche Peinlichkeiten anhäufend. Je nach Aufräumarbeit kurz oder bis in die frühen Morgenstunden hinein. Nur die Moderatorinnen sind meist gut gelaunt. Sie sind in Premierenfeierstimmung. Euphorisiert. Viele leiden an Größenphantasien, jenseits realistischer Beurteilung ihrer Person und ihrer Arbeit, entweder übermäßig von sich begeistert oder in übertriebener Kritikbesessenheit wegen eines unbedeutenden Furzes verfangen, was ebenfalls maßlose Selbstüberschätzung verrät. Die Talk-Gäste indes kramen ihre Spesenabrechnungen zusammen: 26 DM fürs Taxi, 83 DM das Bahnticket und 449 Kilometer Autofahrt, die sich leider nicht belegen lassen.
Meine letzte Reise zum Talk nach Hamburg. Kein Direktflug. Umsteigen in München. Abflug mit Verspätung. Beruhigende Lautsprecherworte: »Die Maschine in München wartet auf jeden Fall.« Hastig mit der Redaktion telefonieren. Seit neuestem mit Natel, dessen Benützer ich bis vor kurzem noch aus tiefstem Herzen verachtete. Wichtsäcke, Großkotzärsche, dachte ich unverhohlen, wenn ein Herr unmittelbar in meiner Nähe mit großer Stimme und breiter Geste Zahlen und Daten in den Nabel seiner kleinen Welt hineinflötete. Inzwischen sind mir erhebliche Unterschiede im Umgang mit kabelloser Telekommunikation aufgefallen. Da gibt es plötzlich andere Töne, eine andere Körperhaltung. Da neigt ein Herr sacht den Kopf leicht nach vorn, wandwärts, menschenabgewandt, das Gesicht etwas hinter dem spielzeuggroßen Telefon kaschiert, die freie Hand steckt in der Hosentasche, Blick nach unten gerichtet, mit leisem Lächeln flüstert, haucht er, nuschelt in die Minimuschel. So spricht kein Mann mit einem Geschäftspartner. Und auch nicht mit seiner Ehefrau! Hier huscht aushäusiges Liebesgeflüster durch den Äther. Das Natel hat eine große Erleichterung im organisatorischen Bereich von Liebschaften beschert. Zwei von drei Ehemännern gehen fremd. Statistisch gerechnet. Vielleicht sind es auch zweieinhalb. Zählspiel in der Flugwartehalle, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Die Art und Weise, wie ein Mann mit seinem aushäusigen Lustobjekt telefoniert, gibt zudem Auskunft über den Stand der Liebschaft. Befindet sich der Liebhaber in der Brunftphase, umwirbt er das
Weibchen, ist zwar der Kopf nach vorn geneigt, aber der hoffende Blick richtet sich beim Zuhören nach oben rechts in die Zukunftsecke. Ist die Angelegenheit so gut wie sicher und geht es nur um sachliche Abmachungen wie Ort und Zeit, hebt er den Kopf und blickt zielstrebig geradeaus. Hat er bereits ein aufregendes Treffen hinter sich und lechzt danach, es möglichst schnell zu wiederholen, neigt er Kopf und Blick zu Boden. Dann gibt es noch Situationen, in denen er abrupt die freie Hand aus der Hosentasche nimmt, entschlossene Worte ausstößt und dabei entschieden abwehrt, mit leichtem Linksdrall unverfroren geradeaus blickt, was soviel heißt wie: Ich wünsche absolut keine weiteren Treffen. In diesem Fall will die Geliebte mehr, als ihm lieb ist, droht vielleicht damit, die Ehefrau zu informieren. Dann klappt er verärgert den Bügel zu, nimmt eine Tageszeitung und liest. Das Natel hat den Ehefrauen ihrerseits neue Dimensionen eröffnet. Sie können jederzeit den Gemahl aufspüren und Zugriff auf sein Dasein ausüben. Zwar wissen sie nicht genau, wo und in welcher Gesellschaft er sich gerade befindet, aber immerhin sind sie mit seiner Stimme verbunden, können ihn über längere Zeit akustisch besetzen und seine Aktivitäten beeinflussen. Ein Manager erzählte mir von dem tiefgreifenden Einschnitt in seinen höchstpersönlichen Bereich, habe doch seine Angetraute stets den Braten gerochen und ausgerechnet immer in jenem — ohnehin für ihn äußerst kritischen — Moment angerufen, als er sich das Präservativ überrubbeln wollte. Die ersten zwei Male habe er geantwortet. Die detaillierte Schilderung familiärer
Alltagsunbill, wie etwa der verstopften Toilette, des unauffindbaren Schlüssels für das Kinderfahrrad und der anhaltenden Magenverstimmung von Möhrchen, der Katze, haben ihn derart aus dem Takt geworfen, daß er hinterher nur noch in der Lage war, sich der Peinlichkeit der Situation durch unverzügliches Einschlafen zu entziehen. Beim drittenmal ließ er das Telefon klingeln ... mit demselben Resultat. Offenbar gelten im Umgang mit der Lust dieselben Regeln wie in psychologischen Gesprächsgruppen: Störungen haben Vorrang. Felix hatte mir das Natel aufgeschwatzt. Nicht um mich zu kontrollieren. Er lebt diesbezüglich beneidenswert angstfrei. Wenn es denn sein müsse, dann könne er es auch nicht verhindern, so sei nun mal das Leben, und er habe keine Lust, sich um etwas zu sorgen, was er ohnehin nicht beeinflussen könne. Diese Gelassenheit übt eine derartige Faszination auf mich aus, daß ich wahrscheinlich schon deshalb nicht an andere Männer denke, sondern ausschließlich an ihn. Auf meinem Talkflug wurden nach langer, ungewisser Wartezeit die Fluggäste zum Ausgang gebeten, in den bereitstehenden Containerbus verladen und zum Flugzeug über die Piste gekarrt. In München wartete das Flugzeug tatsächlich. Es gibt Flughäfen, da werden Transitpassagiere zu Langstreckenläufern. Durch kilometerlange Glasgänge keuchen und zugleich versuchen, aus dem Labyrinth einer verwirren-den Anzahl von Ausgängen den richtigen zu erwischen. Am Ziel angekommen, dreieinhalb Kilometer Fußmarsch hinter mir, war die Maschine gerade am Starten.
Umbuchen. Warten. Maschine fällt aus. Nochmals umbuchen. Zurückhasten. Wäre ich noch jünger gewesen, hätte ich diesen Streß nicht überstanden. Das ist der große Vorteil des Älterwerdens, die Schuhe werden bequemer. Wieso also nicht selbst fliegen lernen? Was heißt hier zu alt? Zu ungesund? Zu fehlsichtig? Das ist doch die menschliche Situation! Altern. Sehschwach werden. Kränkeln. Soll uns das daran hindern, zwischen den Wolken durchzuflitzen? Den Winden nachzujagen? Sich ins Blaue hinaufzupfeilen, schnurgeradeaus dem lieben Gott entgegen. Näher mein Gott zu Dir. Im Alter wird es ohnehin Zeit, sich über den Weg nach Hause Gedanken zu machen. Eigentlich wollte ich diese Woche in die Flugschule fahren, um alles abzuklären. Und jetzt will Wanda, daß ich komme. Felix meint, ich solle unbedingt fahren. Wanda sei eine so blöde und kärgliche Frau, da müsse schon etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, sonst würde sie mich nicht bitten zu kommen. Bevor ich beginne, meine Sachen für die Reise zusammen zusuchen, will Felix nochmals die von ihm entworfenen Auswertungstabellen der FremdgehUmfrage mit mir durchsprechen, um ganz sicher zu sein, daß alle Antworten richtig erfaßt und ausgewertet werden können. Ich bin froh, daß er mir diese zeitraubende Arbeit abnehmen wird. Obwohl ich alles andere als Lust dazu habe, beginne ich meine Sachen zu packen. Ich rechne mit maximal drei bis vier Tagen. Es sollte sehr viel länger werden.
4 Wie Zeitbrüche Seitensprünge und Familienserien Bruchstellen kitten
begünstigen
Wanda steht in der Küche. Das kleinste Kind, 13 Monate alt, hat sie auf dem Arm, sie stützt es seitlich auf ihrem Hüftknochen ab, der schwangere Bauch ragt spitz und forsch über sie hinaus. Sie ist noch dünner geworden. Das feinknochige Gesicht ist wie von Pergamentpapier überzogen, ihr Haar hängt braun, müde und kraftlos. Zwei Kinder am Tisch. Sie versucht, einhändig ihre Teller mit Spaghetti zu füllen. Vera, das älteste Mädchen, etwa sechs, trocknet Salat in der Schleuder, was ihr nicht gelingen will. Ich helfe nach. Wanda nimmt mich kaum wahr. »Hallo, hier bin ich.« Sie schaut aus leerem Blick. Vera klettert flink auf einen Stuhl, holt noch einen weiteren Teller und stellt ihn auf den hellen naturfarbenen Holztisch. Der Platz für den Vater bleibt zunächst leer. Seine Abwesenheit scheint selbstverständlich. Als wir mit Essen beinahe fertig sind, kommt er, überrascht, mich hier zu sehen. Er ißt wortlos. Die Kinder sind ziemlich laut. Vera beruhigt, hilft, räumt den Tisch ab, übernimmt die Rolle der Mutter. Die Kinder werden zu Bett gebracht. Geschrei, wie in allen Familien. Die Kleinen stehen nochmals vier- bis fünfmal auf, dann wird es allmählich ruhiger. Wanda sitzt mir am Küchentisch gegenüber und schaut mich an.
Ich warte. Obwohl es etwas peinlich ist, möchte ich ihr keine Fragen stellen. Offenbar braucht sie Zeit. Sie steht nochmals auf, setzt Wasser für einen Tee auf, hantiert mit Tassen, fragt, Zucker oder Honig. Wir rühren in henkellosen Teetassen. Wanda hält inne, blickt flüchtig in meine Richtung und spricht wie zu sich selbst: »Es ist etwas Schreckliches geschehen. Hubertus wurde verhaftet. Die Polizei hat ihn abgeholt.« Was soll das? Hubertus, der Leiter des Tagungszentrums von Schloß Ripsen, hinter Schloß und Riegel? Wanda umschließt mit ihren schmalen Fingern den oberen Rand ihrer heißen Tasse, als ob sie sich daran wärmen wollte. Und während sie in die Tasse blickt, erfahre ich den Grund, weshalb sie mich gerufen hat: »Du hast doch im Strafvollzug gearbeitet und kennst dich da aus. Bitte sprich mit der Polizei, daß sie ihn wieder freilassen.« Etwas erschüttert über ihre kindliche Vorstellung, versuche ich ihr klarzumachen, daß ich absolut keine Möglichkeit habe, irgend etwas Hilfreiches zu unternehmen, zumal ich schon lange keinen Kontakt mehr zu diesen Institutionen habe. Sie hört nicht, was ich sage: »Bitte. Du mußt uns helfen.« In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Was geht mich das alles an! Und überhaupt. Wie kommt Wanda dazu, mich einzuschalten. Bereits vor acht Uhr ruft sie mich an: »Ich muß mit dir reden.« Als ich etwas später bei ihr bin, spricht sie nicht. Irgendwie kann sie nicht. Ich frage sie nach der Adresse von Raina und Hubertus. Wanda sagt sie mir
auswendig mit Telefonnummer, während sie in die Ferne blickt. Ich notiere. Dann will ich noch den Grund von Hubertus' Verhaftung erfahren: »Brandstiftung.« Ich fahre sofort zum Hotel. Telefonieren. Mit zehn verschiedenen Stellen. Mit zwanzig alten Kontaktadressen. Uralten Freunden. Kollegen. Dem ehemaligen Direktor einer Strafanstalt. Schließlich bekomme ich eine Besuchsbewilligung. Allerdings erst für nächste Woche. Raina erreiche ich nicht. Es meldet sich stets der Anrufbeantworter. Nach dem zehntenmal gebe ich auf. Es lohnt sich nicht, nach Hause zu fahren. Wanda bietet mir an, bei ihnen zu wohnen, was ich aber dankend ablehne. In dieser frostigen, ungeselligen Umgebung würde ich es nicht lange aushalten. Zudem befürchte ich, daß Wanda kurz vor der Niederkunft steht und ich dann für den Haushalt mitsamt der Kinderschar eingespannt werden könnte. Ich sehe mich schon auf den Knien die Holzböden schrubben und für den ganzen Verein Kartoffeln schälen. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich kann mir gut vorstellen, daß Wanda diesbezüglich keine Vorbereitungen getroffen hat. Sicher wird sie zu Hause entbinden wollen, auf die sanfte Art und so. Während alles andere drunter und drüber geht. Ernst, ihr Mann, würde das tun, was ihm möglich wäre. Es wäre sicher von großem Vorteil, wenn ich mich möglichst weit von ihnen entfernt einquartierte. Hotelwechsel. Direkt am See. Da ich nicht weiß, wie lange ich bleiben werde, will ich es mir so bequem wie möglich machen und miete ein Doppelzimmer. Mit
allem, was ein Mensch benötigt, um sich vor dem Asylantensyndrom zu schützen. Wenn schon nicht im eigenen Bett, in der gewohnten Umgebung, dann wenigstens die Grundbedürfnisse befriedigen, wie zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Tee, einen Kaffee trinken zu können. Nomadendasein bringt die gewohnte Lebensqualität zu Fall. Es scheint nicht im menschlichen Programm vorgesehen zu sein, daß wir unsere Körperlichkeit von A nach B und C und D verschieben wie eine Stecknadel auf der Landkarte. Die Entfernungen müssen um den Preis der Geschwindigkeit überwunden werden. »Alles ist Realeffekt, Effekt der Geschwindigkeit, alles, was erscheint, erscheint im Licht, und das heißt: in der Geschwindigkeit, jede Geschwindigkeit ist eine Belichtung der Welt. Die Menschen sind keine Stadtbewohner, sie sind Transitreisende.« Da helfen weder Luftpolster im Auto noch ein Gläschen Champagner in der Business Class. Das Lebenskontinuum bricht, der Lebensraum wird unterteilt, Zeit zerstückelt, die Verbindlichkeit unbedeutender Alltagskleinkrämereien fallen weg, Tagesordnungen geraten durcheinander, und plötzlich ist man ein anderer, eine andere, Erinnerungsfetzen an ein früheres Leben ziehen wie Nebelschwaden durch unbekannte Landschaften. »Unterwegs bin ich ein anderer«, gesteht ein Geschäftsmann, den ich für meine Fremdgeh-Recherchen interviewe, »ich bin meiner Frau treu, nur wenn ich verreise, gelten völlig andere Spielregeln.« Und ein frisch verheirateter Manager erzählt: »Auf meinen Auslandsreisen hört meine Ehe
auf zu existieren. Ich fühle mich wie in einem anderen Leben und genieße alle Freiheiten in vollen Zügen.« Ein Zimmer im Fünfsternehotel ist gerade noch das mindeste, was einem kurzfristig die Illusion einer vorübergehenden Beheimatung liefert. Ebenso die Fortsetzung einer Familiengeschichte im Fernsehen, die, so jämmerlich dumm und trivial sie auch sein mag, für Transitreisende einen familiär-verwandtschaftlichen Bezug leistet, der oft mehr Realität und Kontinuität in ein Leben bringt als die eigene Familie. Sie ersetzt auf unaufdringliche Weise die ganze Familie und Verwandtschaft samt Hund und Katz, bei Knopfdruck springen sie ins Hotelzimmer, und ebenso schnell wird man sie wieder los. Der reisende Mensch erschafft sich theoretische Beziehungen, er ist zugleich Regisseur, Held, Tragöde, Protagonist einer imaginären Welt – immer aber bleibt er als Verlierer im heimatlosen Niemandsland der Familienserien, Talkshows und Wetterkarten. Aber auch Menschen, die nicht verreisen müssen, sondern innere Transitreisende sind und wie gehetzte Hunde durch ihre Seelenräume jagen, unterhalten nicht selten kontinuierlichere Beziehungen zu Fernsehfiguren als zu den real vorhandenen Bezugspersonen. Viele Paare führen eine Ehe oder Partnerschaft mit televisionärem Anhang, der mit gruppendynamischer Kraft die intimsten Bereiche bestimmt. Welches Paar entscheidet noch selbst über den Zeitpunkt für Zärtlichkeiten und Sex? In den meisten Wohnungen steht der Fernseher mitten im Wohnzimmer, im Lebenszentrum. Und damit geben wir das Steuer aus
der Hand. Sind Kinder da, wird es noch problematischer, denn dieser Kasten greift drastisch in die Erziehung ein. So erziehen mindestens noch zehn weitere Personen mit völlig unterschiedlichen Lebensanschauungen und Erziehungsmethoden mit. Ich frage mich, weshalb Architekten nicht versuchen, wohntechnische Möglichkeiten zu schaffen, die dazu beitragen, die diktatorische Zentrale aus dem Herzstück der Wohnbereiche auf weniger zentral gelegene zu verlagern. Anstelle von Besen- und Putzkammern ein spezielles Fernsehräumchen. Winzig, da wir uns eh nicht darin bewegen und nur in Sesseln sitzen, fensterlos, da Licht ohnehin störende Reflexionen auf den Bildschirm wirft, lediglich mit einer automatischen Belüftung ausgestattet. Vielleicht hat deshalb der Begriff der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung eine so immense Bedeutung gewonnen, weil wir täglich erleben, wie wenig wir selbst über unser Leben bestimmen können. Sind diese Programme einmal installiert, benötigen wir viel Zeit und systematisches Umlernen, bis es uns gelingt, die Zügel für unseren sechsspännigen Lebenswagen wieder selbst in die Hand zu nehmen und die Richtung des Gefährts selbst zu bestimmen. Es ist ja nicht nur die Fernsehinstanz, die in unser Leben eingreift. Reale Figuren mischen ebenso mit, wie zum Beispiel die Elternfiguren – auch wenn sie schon längst tot sind. Ein großes Ärgernis für all jene, die nichts von psychologischen Zusammenhängen halten. Plötzlich müssen sie feststellen, ausgerechnet jene fraglichen elterlichen Programme übernommen zu
haben, die ihnen das Leben einst versalzten. Ich hatte ebenfalls über längere Zeit eine fest installierte Instanz, die es mir strengstens untersagte, mehr als nur das Nötigste für ein Hotelzimmer auszugeben. Felix unterstützte mich darin, das alte Frauenprogramm »Essteht-mir-im-Grunde-nicht-zu« umzuschreiben, das ich zweifellos von meiner Mutter übernommen hatte, und mit den neuen Daten »Nur-das-Beste-ist-gut-genug« zu füttern. Ich bin nicht unglücklich darüber, einige Tage länger als geplant hierzubleiben. Endlich könnte ich die Freunde besuchen, die ich jedesmal auf das nächste Mal vertröste. Zudem will ich mich unbedingt mit Raina treffen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in Urlaub gegangen ist, während ihr Mann verhaftet und in Untersuchungshaft genommen wurde. Wanda hat ebenfalls keine Ahnung, wo Raina sein könnte. Irgendwie würde ich mir die Zeit schon vertreiben. Wenn alle Stricke reißen sollten, hätte ich noch meinen Laptop dabei, ich könnte an verschiedenen Texten arbeiten. Eine Glosse beenden. Und wie wenn ich es geahnt hätte, hatte ich Felix im letzten Moment vor meiner Abreise noch gebeten, mir eine Archivschachtel, in die ich die vier Ordner mit Sebastians Briefen untergebracht hatte, in den Kofferraum zu tragen.
5 Wie Worte in eheliche Festungen einbrechen und Wortbrüche zur Wirkung gelangen
Wie immer telefoniere ich morgens und abends mit Felix. Er hält meinen Entschluß zu bleiben für richtig. Wanda ruft mich jeden Tag mindestens zweimal an. Ein Gespräch zwischen uns will nicht in Gang kommen. »Wie geht es dir? « »Nicht gut.« Und das ist es dann schon. Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, weshalb sich Wanda ausgerechnet für Hubertus einsetzt oder dafür sorgt, daß ich es tue. Gut. Sie ist mit Raina, Hubertus' Frau, sehr eng befreundet. Vielleicht setzt sie sich ihretwillen ein. Aber wo ist Raina? Ich nehme mir vor, mich möglichst wenig um logische Zusammenhänge zu kümmern oder irgend etwas verstehen zu wollen. Ich werde Hubertus besuchen. Mit ihm sprechen. Vielleicht kann ich etwas für ihn tun. Eventuell einen Anwalt besorgen. Und dann wieder abreisen. Bis dahin werde ich tagsüber an meinen Texten arbeiten und abends Freunde besuchen. Mit dem Arbeiten will es nicht so recht werden, bin unkonzentriert, ziellos. Irgendwann lege ich mich aufs Bett, blättere, ohne darin lesen zu wollen, in den mitgebrachten Ordnern mit Sebastians Briefen herum, aber da hüpfen schon seine Worte heraus, springen mich an und klammern sich wie kleine Kletteraffen an mir fest, fressen sich ins Hirn und wollen mich so
schnell nicht mehr loslassen. Sie ziehen mich in die alten, verstaubten Bilder einer unmöglichen Liebschaft. Da war der blaue Brief von Sebastian. Er flatterte damals mitten in meine eheliche Weihnachtsdepression hinein. »Hallo, Lena«, rief mir Sebastian in mein Felsspaltenloch zu. »Hallo hallo, Lena Lena«, gab das Echo zurück. Ich horchte auf, kletterte blitzschnell aus meinem Verlies, wollte die kühnen Schmetterlingsworte einfangen, ihnen nachjagen, über Stock und Stein. Und schon schlüpften sie durch das Netz und waren wieder verschwunden. ».. . hier bin ich wieder«, ein neckischer Sonnenstrahl, der über die vernebelte Bergspitze lugt, trübes Gedankenwerk überheitert. Vogelgezwitscher. Morgengesicht. »Kaum draußen, schon wieder drinnen.« Max und Moritz. Schneller als die Polizei erlaubt. Wieder was ausgefressen. Kaum auf freiem Fuß. »Schreibst Du mir?« Wechselbad. Wehschnell. Sachtes Anklopfen. Beinahe zärtlich. »Bitte!« Fordernd. Aufforderung zum Tanz. Wie aber kann eine Bitte mit einem Ausrufezeichen versehen werden? »Viele Grüße vom lieben Sebastian.« Und beinahe kindhaft schob sich dieser Mann unter mein Kopfkissen. Mit einem Schlag war ich die Depression los. Es schrieb tausend Antworten in meinem Kopf, es war ein Auftakt zum Schreiben. Zunächst von Hand, später auf einer uralten Kugelkopfschreibmaschine. Zehnfingersystem. Es war eine ganze Menge, die da
unter Kontrolle zu bringen war. Gelegentlich tanzte etwas aus der Reihe. Schöpfte unbemerkt Abgeschobenes aus der Tiefe. Da stand es dann, das gut Verdrängte. Schwarz auf weiß, daß ich in meiner Ehe im Grunde kreuzunglücklich war. Trotz theoretischer Auseinandersetzung mit den feministischen Forderungen nach gleichen Rechten – auch in der Liebe – zierte ich mich. Das alte Programm. Wie es sich gehört. Wie es sich für eine anständige Frau gehört. Schließlich ist das unser Kapital. Frauengut. Wo kämen wir denn hin, wenn wir die Dinge beim Namen nennten! Einfach so. Mir nichts. Dir nichts. Sich das zu nehmen, was uns zusteht. Noch weit davon entfernt, der ehelichen Unbill abzuschwören und das Unglück in die Nacht hinauszuschreien: Tausche Trauschein gegen kurzes Glück, im Herz, im Schritt oder wo auch immer. Sebastian schrieb täglich. Gelegentlich gar mehrmals. Ich schrieb ihm, zuerst getarnt, als Fachfrau. Fachlich. Sachlich. Hielt mir seine frechen Sprüche vom Leib. So gut es ging. Doch gab es einzelne Worte, die lösten sich wie abenteuerliche, von Lebensneugierde getriebene Kinder von der Wortgruppe ab, schlichen sich unbemerkt in mein Gemüt und ließen sich dort nieder. Und während sie nachts durch meine Träume schlenderten und immer mehr Gebiete besiedelten, wähnte ich mich tagsüber gesichert, im beruflichen Selbstverständnis. Nach Weihnachten nahm ich meine Arbeit im Gefängnis mit frischem Elan wieder auf. Es gab viel zu tun. Sie hatte mir in all den Jahren meiner Tätigkeit mit
Straffälligen meine Ideale gehörig zusammengestutzt. War ich zu Beginn noch voller Enthusiasmus und naiver Zuversicht, durch meine psychotherapeutische Arbeit dazu beizutragen, daß weniger Täter rückfällig würden, so hatte ich allmählich gelernt, unser Tun überhaupt in Frage zu stellen. Wir wollten mit filigranen Pinzetten Pflastersteine bewegen. 86 Prozent aller Straffälligen werden rückfällig. Dennoch halten wir an der Vorstellung fest, daß Besserung nur durch Bestrafung kombiniert mit Freiheitsentzug erzielt werden kann. »... was durch die Besserung schließlich wiederhergestellt werden soll, ist nicht so sehr das Rechtssubjekt, das in die fundamentalen Interessen des Gesellschaftsvertrags integriert ist, sondern das gehorchende Subjekt, das Individuum, das Gewohnheiten, Regeln, Ordnungen und einer Autorität unterworfen ist, die um es und über ihm stets ausgeübt wird und die es automatisch in sich selber wirken lassen soll.« »Bitte nicht stören«. Ich hänge das Schild an die Türe und bestelle beim Zimmerservice eine Literkanne Kaffee, ebenso erteile ich den Auftrag, keine Anrufe durchzustellen. Und ab geht die Reise in die alten Briefe. Und wieder erwischt es mich. Wieder lasse ich mir den Kopf verdrehen. Wieder sind da die Schmetterlinge im Bauch – mein Gott. Ist das alles, was ich in all den Jahren gelernt habe? Mir einfach von ein paar lächerlichen Worten den Kopf verdrehen lassen? Zu spät. Meinen halbherzigen Protest fege ich mit einem trotzigen Lächeln weg. Obwohl ich bereits tausendmal gedacht habe, daß alles nur eine Illusion
war, gehe ich Sebastians Worten erneut auf den Leim. Die Macht der Worte hält ungeschmälert an. Beinahe. Dennoch gibt es einen Unterschied. Irgendwo in meinem Kopf sitzt eine kleine Beobachtungsinstanz, die davor warnt, sich in den Strudel der Ereignisse hineinziehen zu lassen. Früher wurde ich flutwellenartig von Gefühlen überschwemmt, was jede Möglichkeit ertränkte, einen klaren Gedanken zu fassen, ich war den Emotionsströmungen ausgeliefert wie ein Schiff ohne Ruder. Der Zugang zum Beobachtungshochsitz war mir lange versperrt. Nun genieße ich den Luxus, eine Wahlmöglichkeit zu haben, eine Entscheidungsfreiheit, mich in der beobachtenden Vogelwarte einzunisten oder mich auf den Wellen der Vergangenheit einfach treiben zu lassen. Da ich jederzeit auf meinen Beobachtungsposten klettern kann, steigert es den Genuß, mich auf den Zauber von damals einzulassen. Ich brenne vor Neugier, ich will endlich wissen, weshalb es mich ausgerechnet mit Sebastian erwischt hat. Ich will erfahren, was geschieht eigentlich genau, wenn man sich verliebt? An welchen seelischen Knöpfen wird gedreht, daß es uns den Kopf verdreht? Und was ist mit der Sexualität? Wodurch wird sexuelles Begehren überhaupt ausgelöst? Welche Wellen schlagen an unser Hirn, damit in den Geschlechtsregionen die Post abgeht? Sind wir ehelich verankert, haben im Hafen der Ehe Anker geworfen, können folgende Phasen beobachtet werden. Die erste ist zweifellos die Illusionsphase, eine
kurzfristige Bestätigung romantischer Erwartungen. Statistischen Angaben zufolge dauert es nur wenige Jahre, bis das Schiff auf Grund läuft und Schlagseite bekommt. Festgefahren im ehelichen Verpflichtungspfuhl, wenn der Blick an einem gleichgültig vorbeistreift und sich kein Glanz in den Augen des Partners mehr einstellen will, sollen Frauen erstmals bereits nach drei Ehejahren für eine kurze Zwischenverpflegung aus dem Kahn springen, Männer nach vier Jahren. Es ist das alte Lied vom plötzlichen Wetterleuchten im Gesicht eines anderen, vom betörenden Lufthauch eines Wunders ergriffen zu werden, sich hinaufzuschwingen in üppige Wunschwelten, in denen es trotz allem einen einzigen Menschen gibt, der zu einem paßt wie der Deckel zum Topf. Der eheliche Alltagstrott eignet sich vorzüglich als Nährboden für aushäusige Illusionswelten. Flüchtiges Verstanden-werden wird zum großen Einverständnis. Spielerisch hingeworfene Aufmerksamkeit zum großen Erkanntwerden. Zufällige Gesten werden zur großen Einladung. Sebastian hatte leichtes Spiel mit mir. Mein persönliches Selbstwertgefühl war auf weit unter Null gesunken – typisch für alle Frauen, die ihr Selbstwertgefühl aus der Zuwendung des Partners beziehen. Wird diese im Lauf der Jahre weniger oder bleibt gar vollständig aus, ist es wie bei einem Luftballon, der allmählich zusammenschrumpft. Kommt einer und pustet hinein, sind wir nicht mehr zu halten und
fühlen uns prächtig. Diesen Zustand nennen wir Verliebtsein. Plötzlich werde ich aus meiner Reise in die Vergangenheit herausgerissen. Ein heftiges, drängendes Klopfen an meiner Zimmertür. Raina.
6 Wie sich ein alltäglicher Ehebruch verselbständigt und sich ein Nachspiel anbahnt
»Ich bin etwas heruntergekommen«, sagt sie, als könne sie meine Gedanken lesen. Sie lächelt, ein leiser Schalk. Noch die alte Raina. Wir umarmen uns. Sie kommt ins Zimmer, zieht die Schuhe aus, und wir setzen uns auf das große Doppelbett. Die eine am unteren, die andere am oberen Ende. Wie in alten Zeiten. Als wir es uns abends in ihrem Zimmer im Schloß Ripsen gemütlich machten und uns alles erzählten, was uns bewegte. Raina schießt sofort los. »Du hast es erfahren. Du weißt, was geschehen ist. Es ist alles schrecklich. Hubertus sitzt im Untersuchungsgefängnis. Ich bin beinahe durchgedreht. Wir wohnen jetzt in einer blödsinnigen Wohnung mitten in der Stadt. Gott sei Dank, die Kinder sind aus dem Haus. Das bleibt ihnen wenigstens erspart. Wie konnte uns Hubertus das nur antun! Er hat den Kopf verloren. Es dauert eben schon lange. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Zufällig habe ich es erfahren. Er hatte mir nichts davon erzählt. Das ist eigentlich das schlimmste. Und das geht schon seit Jahren. Und ich habe nichts davon gemerkt. So eine lange Liebschaft. Und zur Krönung auch noch das Kind. Ich bin ganz sicher, es ist von ihm. Die anderen Kinder vielleicht auch. Oder eines davon. Was weiß ich. Das hat ja schon vor Jahren begonnen! Stell dir das vor! Erinnerst du dich? Wenn du deine Seminare bei uns abhieltest, war Hubertus doch nie da! Er sei noch
im Büro, hat er jeweils gesagt. Oder nächtelang beim Meditieren! Er stand ja kurz vor der Heiligkeit! Dabei hat er frisch-fröhlich dieses elende Luder gebumst!!« Raina ist wütend und total durcheinander. Sie wiederholt sich. »Und was hat das alles mit dem Brand und Hubertus Verhaftung zu tun? « will ich wissen. »Was weiß denn ich! Er hat sich das alles eingebrockt. Nun muß er es eben auslöffeln. Ich kann ihm auch nicht helfen! « Sie weint. Später schläft sie auf einem Ordner mit Sebastians Briefen ein. Felix ruft mich an. » Schatz, wie geht es dir? « »Raina liegt bei mir im Bett und schläft«, erzähle ich. Er versteht die Welt nicht mehr. Und ich auch nicht. Mitten in der Nacht wacht sie auf und geht. Am nächsten Morgen steht Wanda vor meiner Türe. Sie habe mich telefonisch nicht erreichen können und befürchtete, ich sei abgereist. Ob ich nicht heute vorbeikommen könne. Ich verspreche, am Nachmittag zu kommen. Als ich gehen möchte, kommt bereits Raina wieder: »Mir fällt die Decke auf den Kopf.« Ich sage ihr, daß ich zu Wanda fahren will. »Du steckst also mit ihr unter einer Decke? « argwöhnt sie, sagt es aber mehr zu sich selbst als zu mir. Ich biete ihr an, in meinem Zimmer zu warten. Sie legt sich ins Bett, dreht den Fernseher an und schläft unverzüglich ein. Ich gehe. Ich erzähle Wanda, daß Raina bei mir sei. Sie reagiert nicht darauf. Ein schreiendes Kind mit aufgeschürftem Kinn stürmt herein, was bei ihr ebenfalls keine
Reaktion auslöst. Ich suche im Badezimmer nach irgendeinem Desinfektionsmittel, betupfe die Wunde. Das Kind schreit weiter. Wanda schaut aus dem Fenster. Nachdem wir wieder alleine sind, öffnet sie das Fenster. Sie blickt in die Weite. »Es ist ziemlich schwierig für mich«, eröffne ich einfühlsam das Gespräch, »wenn ich so wenig von dir erfahre.« »Ich kann nicht«, sagt sie. Dann schaut sie mich lange an. Scheiße. Denke ich. Der Karren ist festgefahren. Und ich kann ihn nicht aus dem Dreck ziehen. Seppli. der Berner Sennenhund, schnuppert an mir herum. Ich will ihn hinter den Ohren kraulen. Sein Fell ist verklebt und verknotet, und ich gebe schnell wieder auf. »Möchtest du, daß ich noch bleibe?« »Ja.« Wir sitzen stumm nebeneinander. Gegen Abend gehe ich. Schon auf dem Hotelflur höre ich Rainas Stimme. Sie telefoniert mit Felix. »Diese elende Schlampe«, höre ich sie rufen, »hatte nichts anderes im Kopf, als sich an Hubertus zu hängen. Dieser Idiot. Fällt auch prompt auf ihre Nummer rein. Die große Depressionsouvertüre. Er wollte sie heilen. Retten vor der gottverdammten Magersucht. Frißt alles in sich hinein und kotzt es hinterher wieder raus. Typisch. Heimlich fressen, heimlich kotzen und heimlich vögeln. Paßt alles wunderbar. Dazu den Heiligenschein! Diese gottverdammte Lügnerin. Und auch noch dieses ganze
Meditationsgesabber! Ausbildung zur Meditationslehrerin! Zusammen mit Hubertus! Mit ihm zum Seminar. Ungestört bumsen! Während ich ihre Kinder hütete. Und wenn sie jeweils zurückkamen! Heiligkeit läßt grüßen! Hubertus hätte am liebsten in der Kapelle übernachtet! Jetzt hat er die Strafe. Und sie auch. Geschieht ihnen ganz recht! « Als mich Raina sieht, übergibt sie mir den Telefonhörer. »Da hast du dich ja ganz schön in die Tinte gesetzt«, grinst Felix. »Wie schön. Du findest immer die passenden Worte«, ächze ich zurück. »Was soll ich tun? « »Ertragen, daß es Situationen gibt, in denen du hilflos bist.« Da sich Raina schon bei Felix ausgekotzt hat, redet sie nicht, sondern will von mir erfahren, was Wanda gesagt hat. Und jetzt wird es mir allmählich eng. »Frag sie doch selbst, was sie zu sagen hat.« Raina geht, ohne sich von mir zu verabschieden. Etwas ratlos bestelle ich mir ein Abendessen beim Zimmerservice. Etwas Süßes muß es sein. Apfelstrudel mit Vanillesauce. Ich esse im Bett. Dazu schaue ich fern. Irgend etwas. Hauptsache es flimmert. Es tut gut. Ein süßer Hauch, der sich schützend um meine aufgekratzte Seele legt. Morgen werde ich wieder etwas Süßes essen. Das Fernsehen kann mich auch nicht ablenken, also lese ich in Sebastians Briefen weiter. Wohl keine andere Lektüre könnte mich aus diesen Verstrickungen wegtragen. Warum nicht ein bißchen mit dem Feuer
spielen? Vielleicht springt ein Funke zu Felix über, ein Mix aus beiden Männern wäre nicht schlecht. Sebastians verbale Brunftrituale, virtuos hingeworfen, zupften haargenau an jenen defekten Stellen, die sprungbereit darauf warteten, endlich erlöst zu werden. Es gibt Männer, die spüren intuitiv, was Frauen hören wollen. Sie werfen ihre Sätze wie Köder an der Angel aus. Frau schnappt danach und bleibt am Haken hängen. Einmal gab er mir das Gefühl, eine wunderbare Frau zu sein: »Lena, Du bist einfach großartig! Bei Deinem Anblick geht bei jedem Mann die Sonne auf (in jeder Beziehung, haha!).« Das mußte man mir nicht zweimal sagen. Sexismus hin oder her. Ich definierte mich damals ganz und gar über mein Äußeres: Ich gefalle, also bin ich. Ich werde begehrt, also bin ich noch mehr. Aber das hätte noch nicht genügt: »Du bist das intelligenteste Wesen – zugleich weich und Weib.« Klüger – auch wenn total verlogen – hätte er es gar nicht anstellen können. Intelligenz allein hätte mir nicht genügt. Die Ankopplung an das Weibliche war wichtig. »Ich bin sicher, daß man mit Dir Pferde stehlen könnte. Lenchen, stell Dir vor, wir klauen uns zwei windschnelle Schimmel und galoppieren in den lachenden Morgenrachen!« Klar, sich wie zwei Kinder in verbotenen Spielen ergehen und sich vor Lachen den Bauch halten. Diese Vorstellung belebte mich. Psychologen würden von Größenphantasie und Realitätsverlust sprechen, was dem wunderbar prickelnden Gefühl freudvoller Lebendigkeit keinerlei Abbruch tun kann.
Aber das alles hätte nicht genügt, wenn er nicht auch mein auf Abruf lauerndes Hilfspotential in Bewegung gesetzt hätte: »Ich starre Löcher in die Decke, bis sich der Raum zu drehen beginnt und der Kalk durch die Hirnzellen rieselt. Die einzige Attraktion ist, den Flug einer Schmeißfliege zu beobachten, ihrem waghalsigen Landemanöver folgen. Und das Herz in die angehaltene Welt hinein pochen hören und nicht mehr wissen, ob es das eigene ist, oder ob ich mich schon in die Fliege verwandelt habe. Lena, ich brauche Dich! Bitte schreib mir! Schreib mir alles von Dir! Was Du denkst. Was Du machst. Wie Du lebst. Ich trinke jedes Wort von Dir in mich hinein, lagere es in meinem Keller wie kostbaren Champagner. Kurz vor dem Durchdrehen nehme ich einen kleinen, rettenden Schluck davon. Ohne Dich ist mein Leben leer.« Unverhoffte Töne in den Ohren einer verheirateten Frau. Und bald schrieb ich mir das Leben vom Leib. Von der Unsäglichkeit, neben einem Partner innerlich zu vereinsamen. Vom schrecklichen Versuch, Intimität über theoretische Konzepte herzustellen. Und von den tausend einsamen Nachtflügen über den Ozean. Gottvergessenmausallein. Von beunruhigenden ärztlichen Untersuchungen, die niemanden interessierten. Von meiner Operation, die keiner zur sorgenden Kenntnis nahm. Ich dachte damals, ich könnte sterben – und niemand würde es bemerken. Ich schrieb von meinen rührseligen Phantasien: Mich selbst in einer entlegenen Hütte in einen Sarg zu legen, mich nicht mehr zu ernähren, bis
lautlos das Licht ausging. Irgendwann würde ich vertrocknen und zu Staub zerfallen. Saubere Selbstentsorgung. Es gab kein Wort, das ihm entging. Er reagierte auf alles. Und es gab nichts, was ich nicht hätte erzählen können! Endlich erlaubte ich mir, in Sentimentalitäten zu baden und mir selbst unendlich leid zu tun, während ich mir vorstellte, in seinen tröstenden Armen zu liegen. Wir hatten die Rollen vertauscht. Er wurde zu meinem Therapeuten. »Laß Dein Zellenfenster immer einen kleinen Spalt geöffnet, damit ich zu Dir kommen kann«, flehte ich wie in einem Groschenroman. »Schlüpf unter meine Flügel – wann immer Du willst!« antwortete er. Dazwischen stritten wir heftig. Er wollte unbedingt, daß ich ihm ein Playboy-Heft schicke. Ich fand das eine derartige Geschmacklosigkeit, daß ich zuerst zwei Tage nicht schrieb und verstummte. Er hakte nach. Es seien vor allem die tollen Kochrezepte, die ihn interessierten. Daraufhin schickte ich ihm ein Kochbuch: »Viel Vergnügen beim Ausprobieren! « Er ließ nicht locker. »Himmelarsch! Was bist Du für eine prüde Tante! Frau Psychologin rümpft ihr properes Näschen und hat nichts als faule Sprüche wie »Ich-binokay-du-bist-okay« und anderen Psychoschrott auf Lager. Ach, ihr Weiber seid doch alle gleich! Wenn Mann die Augen euch verdreht, ein Sümmchen auf dem Konto steht, und euch den Himmel und das Glück verspricht, dann seid vor Liebe ihr verrückt. Folgt aber ein Mann seinen natürlichen Bedürfnissen und will sie einigermaßen menschlich befriedigen, dann fährt die
Moral jäh wie ein Blitz aus blanksauberem Himmel ins hehre Haupt und verkündet fromm und falsch.« Er hörte nicht auf, mich zu verhöhnen. Er hämmerte schlagfertig gegen meine Argumente. Irgendwann hatte ich es satt. Ich bestellte für ihn ein Jahresabonnement des Playboy. Prompt antwortete er: »Bravo. Was bist Du doch für ein vernünftiges Mädchen. Ich wußte, daß Du nicht nur eine völlig überflüssige psychologische Datenbank in Deinem Hirn herumschleppst, sondern daß Du auch in der Lage bist, eigenständig zu denken und Grundgesetze der menschlichen Existenz zu begreifen. Danke. Und eins noch. Ein Mann, der hinter Gittern steckt, bleibt dennoch ein Mann. Mit allem, was dazugehört. Und es gibt eben Momente, da zieht es die gesamte Hirnsubstanz aus dem Kopf in die Eier hinunter, sie sammelt sich mit dem ungeheuerlichen Druck eines sirenenheulenden Feuerwehrwagens und will nur eins: den Brand löschen. Hätte ich mich freiwillig für den Zölibat entschieden, würde ich vielleicht kämpfen, gegen den drängenden Aufrichteimpuls, gegen die schlafpralle Morgenlatte, die fordernd wie ein Hahn in die frühen Stunden pißt, gegen den hämmernden Herzschlag, gegen die anginapektorale Not in der Eichel, gegen das Abhandenkommen von Vernunft und gegen die Versklavung der Intelligenz. Vielleicht aber würde ich als Abbé Pierre verzweifelten Weiberherzen beistehen, von unten her Trost in sie hineinspritzen, bis sie vollgepumpt und gesättigt wären.
Sony. Lenchen. Nicht böse sein. Meine Phantasie zieht mehlfarbige Bahnen am Horizont wie die Flugstaffel der Trikolore.« Ich konnte ihn nicht als Sexisten abzutun. Ich entschuldigte ihn, ein echter Sexist wäre niemals in der Lage, über seine Haltung nachzudenken. Zudem überzeugten mich seine Argumente: »Entzieh einem Menschen das Essen, und er wird an nichts anderes mehr denken als ans Essen. Entzieh ihm die Möglichkeit sexueller Kontakte, und er wird an nichts anderes mehr denken können als an Sex. Verbiete einem Mann, kein anderes Weib als sein eigenes zu begehren, und es läuft ihm bei jeder Verkäuferin das Wasser im Mund zusammen! Die menschliche Hardware ist in ihrer Präzision nicht zu übertreffen. Jedes Verbot steigert das Verlangen.« Obwohl ich ihm recht geben mußte, wäre es mir äußerst peinlich gewesen, mit Frauen aus der Frauenbewegung darüber zu sprechen. Ihr Urteil wäre einstimmig gewesen. Ich genoß das Gefühl, endlich von einem Mann verstanden zu werden, und sein Werben beflügelte mich, meinen ehelichen Alltag über die Runden zu bringen: »Die Eiszeit ist um. Zehn Jahre Ehe genügen. Wach auf. Streck Dich und reck Dich! Gähn laut und vertreib die elenden Gespenster! Bin zwar kein Prinz, nur ein Vagant, kann jagen, wild reiten, fechten und streiten, rechten, schön fluchen,
rastlos Dich suchen in hintersten Ecken, geheimen Verstecken, bis ich Dich pack', Deine Seele auf knack'. Den Rest kannst Dir denken und wir uns beschenken. Herzlich – wie immer lachend – wie immer wütend – wie immer ratlos – wie immer Dein Wildschwein Sebastian«
Das verbotene abenteuerliche Liebesspiel mit Sebastian teilte ich mit Raina, der ich alles erzählte. Und Antonia las ich sogar aus den Briefen vor, auch ihr erzählte ich alles. Antonia war bereits als Novizin für den Haushalt des ganzen Schlosses zuständig. Sie hatte eine innere Größe, die grenzenlos schien. Ich konnte mit meinem ganzen Leben in sie einziehen und mich darin ausbreiten. Für sie gab es nichts. was es nicht gab. Sie habe mit dem lieben Gott ein Abkommen getroffen, scherzte sie. Sie wolle ihm niemals ins Handwerk pfuschen, sondern alles als Ausdruck der göttlichen Schöpfung entgegennehmen. Dies bewirkte tatsächlich, daß man sich in ihrer Nähe niemals abgewertet oder kritisiert fühlte. Alles ist so, wie es ist. Und das ist gut so. Ihr zierliches Äußeres stand im krassen Gegensatz zu ihrer seelischen Fülle. Körperlich lud sie nicht ein, sich an ihre schmale Brust zu werfen, um sich
auszuweinen. Aber ihre seelische Dimension überlagerte die Körperlichkeit. Und wahrscheinlich war gerade das ihr Geheimnis, daß man auch bei seelischer Intimität mit ihr stets unabhängig und eigenständig blieb. Ich liebte sie. Einmal schlich ich nachts mit einem besonders aufregenden Brief von Sebastian durch den Schloßgang in ihr Zimmer. Sie war schon im Bett, aber sie öffnete trotzdem die Tür. Sie trug zu meiner großen Verwunderung ein wunderschönes plissiertes, blaßgelbes Chiffonnachthemd, ihr dunkles schnittlauchgerades Haar rahmte das Gesicht ein, das nun einen ganz anderen Ausdruck erhielt. Die Schwesternhaube milderte ihre etwas kantigen Züge, besonders die Nase ruhte unauffällig in ihrem Gesicht. Durch die Einrahmung der dunklen Haare trat sie nun wie ein Felssprung hervor, der über einem unnennbaren, gefährlichen Abgrund abzustürzen drohte. Ihre Zehennägel waren tomatenrot lackiert, die Füße wirkten sehr unternehmungslustig. Die Schuhe, die sie sonst trug, verrieten bei genauem Hinsehen ihre modische Neigung. Zwar waren sie pechschwarz und geschnürt, aber so seidenweich und edel wie ein Abendschuh, die Sohle ebenfalls hauchdünn und biegsam, dazu ein zierlicher, beschwingter Absatz, der wohl ihrem Gang diese Leichtigkeit verlieh. Der ganze Schuh war schmal und verletzlich gearbeitet, bis zur neckischen Spitze. Später erfuhr ich von ihr, daß sie sich diese Schuhe nach einem eigenen Entwurf selbst machen ließ. Dies sei der einzige Luxus, den sie sich leiste, witzelte sie.
Den Kontakt zu Antonia hatte ich schon lange verloren. Früher mußte diese Beziehung nie gepflegt werden. Auch wenn wir über längere Zeit nichts voneinander gehört hatten, führten wir mühelos unsere Unterhaltung dort weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört hatten. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie nach dem Brand auf Schloß Ripsen einfach sangund klanglos in ihr Mutterhaus zog und aus dein Leben, das sie so liebte, verschwand, um sich irgendeiner Oberin unterzuordnen und sich strengen Ordensregeln zu unterwerfen. Sie führte den Haushalt des Schlosses seit vielen Jahren, empfing die Gäste für die Seminare, kümmerte sich um ihr Wohlbefinden, hatte ein Ohr für alle und jeden, und abends trank sie auch gerne ein Gläschen in netter Gesellschaft. Sie war von einer seltenen Heiterkeit, blitzschnell im Denken und Sprechen und stets für einen frechen Witz zu haben. Genauso virtuos stellte sie sich auf den Ernst des Lebens ein, verfügte über sämtliche Seelenschattierungen des Trübsinns, der Verzweiflung und Trauer. Sie begleitete die Menschen in sämtliche seelischen Landschaftsbilder. Dies machte sie zur begehrtesten Gesprächspartnerin auf Schloß Ripsen. Irgendwie wagte ich aber doch nicht, einfach im Kloster anzurufen und zu sagen, könnte ich mal mit Schwester Antonia sprechen. Es schien mir sehr unpassend zu sein, deshalb ließ ich es bleiben, obwohl mir beim Lesen von Sebastians Briefen Antonia mit ihren kessen Schühchen stets durch den Kopf flitzte. Während der folgenden Tage kam ich allerdings nicht mehr oft zum Lesen. Ich kümmerte mich um Raina, die
entweder wild fluchend um sich schlug und ausrastete oder weinend zusammenbrach und lange Predigten über die gerechte Strafe Gottes verkündete, daß Hubertus mit seiner elenden Schlampe nun für sein Unrecht büßen müßte. Sie kam jeweils derart in Fahrt, daß sie vor nichts haltmachte. Und wenn wir gerade im Restaurant miteinander saßen und ein emotionaler Schub sie überfiel und in Bewegung setzte, dann wurden die Gäste ebenfalls von dieser Dramatik erfaßt. Gelegentlich befürchtete ich sogar, ein beunruhigter Gast könnte die Polizei benachrichtigen, wahlweise auch einen Arzt oder den psychiatrischen Dienst. Je nachdem. Dazwischen verschwand sie. Da sie keine Telefonate mehr entgegennahm, wußte ich nicht, wo sie sich in der Zwischenzeit aufhielt. War ich nicht mit Raina beschäftigt, meldete sich Wanda. Aber ihre Not machte sie nicht gesprächsbereiter. Nachdem sie wußte, daß ich Raina getroffen hatte, gelang es ihr, noch einen Satz aus sich herauszuwürgen: »Nun weißt du alles über Hubertus und mich.« Im Grunde genommen wußte ich immer noch nicht viel. Hubertus und Wanda hatten offenbar ein heimliches Techtelmechtel. Seit Jahren. Irgendwann flog die Sache auf. Raina vermutet, Hubertus sei der Vater von Wandas Kind, das sie erwartete. Aber weshalb sollte ausgerechnet Hubertus das Schloß angezündet haben?
7 Wie sich außereheliches Fruchtwasser vorzeitig ergießt und die Vernunft davonschwimmt
Ich fahre früh los. Ich will rechtzeitig im Untersuchungsgefängnis sein. In der Stadt werde ich wahrscheinlich stundenlang nach einem Parkplatz suchen müssen. Besser wäre, das Auto am Stadtrand zu parken und dann die Trambahn zu nehmen, wie damals, als ich Sebastian zum erstenmal im Untersuchungsgefängnis besuchte. Da hatte mich der Untersuchungsrichter telefonisch darum gebeten, Sebastian einen Besuch abzustatten. Unser Briefwechsel lief gerade auf Hochtouren. Und mir war die ganze Angelegenheit unendlich peinlich. Ich wollte nicht. Schreiben, gut, das schon. Ihn aber auch noch besuchen. Ich log. Keine Zeit. Der Untersuchungsrichter rief ein zweites Mal an. Sebastian habe seine Zelle zusammengeschlagen, ich solle mich doch endlich – als seine ehemalige Psychotherapeutin! – um ihn kümmern. Ich wollte immer noch nicht. Als er zum drittenmal anrief und mir mitteilte, die Untersuchungen stockten, weil Sebastian jedes Gespräch verweigere und darauf bestehe, nur mit mir zu sprechen. Ich war wütend auf ihn, aber ich gab nach. Alles ist hier noch wie früher. Zuerst kommt man durch den steinernen Türbogen, dann führt der Weg über eine pfeilgerade Betonbrücke, die bei einer gläsernen Kommandozentrale endet. Dort werden die
Zulassungspapiere geprüft. Der Beamte meldet die Nummer des gewünschten Insassen per Funk an das Aufsichtspersonal: »Nummer 37 bitte.« Dann geht es durch die Schleuse. Ringe, Ketten und alles, was aus Metallist, auf einen Teller legen. Es pfeift. Nochmals zurück. Ach ja, die Ohrringe. Es pfeift nochmals. Irgendwo muß noch was sein. Witze. Pfeift da etwa meine Spirale? Oder Metallknöpfe am Blazer. Also ausziehen. Jetzt geht es. Bei meinen späteren Besuchen, als ich mich bereits in Sebastian verliebt hatte, schmuggelte ich kleine Überraschungsgeschenke für ihn ein. Ich steckte mir Metallfotorahmen als Brosche an, hing mir kleine Goldherzen, Elefanten oder Pillenboxen mit zusammengefalteten Geldscheinen und Briefmarken an eine Halskette oder bastelte daraus aufregende, exotische Ohrgehänge, zog sie aus, legte sie mit gelassener Miene in die Plastikschale, um sie hinter der Metallschranke unversehrt wieder in Empfang zu nehmen. Auch der Gesprächsraum für Besucher war unverändert: zwei auf zwei Meter, karamelcremefarbener Linoleumboden, vergitterte Fensterluken, in der Mitte ein Tisch, zwei Stühle auf jeder Seite, bei Untersuchungshäftlingen ein Stuhl für die Aufsichtsperson, diskret in der Ecke. Peinlich für alle. So oder so. Oder der winzige Raum ist durch eine Trennwand aus Glas halbiert. Damit nicht irgendein unstatthaftes Zettelchen mit Informationen oder Bestandteile eines zerlegten Revolvers transportiert werden können. Während meines ersten Besuchs bei Sebastian im Untersuchungsgefängnis saß auch ich
hinter einer Glasscheibe. Hermetisch abgeschirmt. Als er hereingeführt wurde, geriet mein Kontrollsystem aus den Fugen, und ich brannte wie ein hochsommerlich ausgetrockneter Heuhaufen lichterloh. Die Falle klappte hinter mir zu. Die kleine Räuberbraut aus dem Groschenroman hatte Angst um ihn und befürchtete, er könne ihr in seinem Übermut irgend etwas erzählen, was sich ungünstig auf ihn und das ausstehende Gerichtsurteil auswirken würde. Deshalb schrieb sie eilends mit mohnrotem Lippenstift auf ein handgesäumtes Spitzentaschentuch: »Achtung Tonband! « Er nickte, jonglierte sich mit verschlüsselten Worten in ihr verliebtes Ohr, während er sie mit den saphirgrünsten Augen der Welt umflunkerte. Hubertus wird hereingeführt. »Du bist sicher überrascht, daß ich dich besuche.« »Dein Besuch wurde mir schon vor Tagen angekündigt.« Wir setzen uns. In der Ecke der Aufsichtsbeamte. Er liest in einer Zeitung. »Wanda hat mich gerufen.« »Sag, wie geht es ihr? « »Nicht besonders gut.« Er schweigt. Meine Beziehung zu Hubertus war über all die Jahre immer sehr unproblematisch. Emotionslos. Sachbezogen. Wir planten Tagungen. Er übernahm die gesamte Organisation. Wir führten neue Themen ein. Im Anschluß werteten wir die Ergebnisse aus. Es geht. Es geht doch nicht. Seine unleidenschaftliche Art, mit Fehlern umzugehen, bot mir viel Raum für
Experimente. Wir kamen uns emotional nie sehr nahe. Aber wir respektierten uns. Hubertus ist auch in dieser neuen Situation nicht von Gefühlen aufgeweicht. Er freue sich zwar, daß ich ihn besuche, teilt er mir mit, aber es gebe nichts, was ich für ihn tun könnte. Der Haftbefehl gegen ihn wegen Brandstiftung sei einfach lächerlich. Aber das werde sich zweifellos aufklären. Es brauche lediglich etwas Geduld. Die aber könne nur er allein aufbringen. Ich frage nach seiner Rechtsvertretung. Etwas Derartiges brauche er nicht. Irgendwie bin ich ein Idiot, denke ich. Ich lasse mich auf etwas ein, das total verfahren ist. Außerdem rückt keiner mit der Sprache heraus. Die Wahrheit tröpfelt durch zufällige Kommunikationsfetzen, und ich steh' wie der Ochs vorm Berg. Ich erzähle Hubertus, daß ich auch Raina getroffen habe und daß sie ebenfalls ziemlich angeschlagen und recht verwirrt sei. An seiner Ehefrau Raina scheint sein Interesse völlig erloschen zu sein. »Wanda steht kurz vor der Niederkunft. Bitte benachrichtige mich.« Das ist alles, was er von mir will. Noch bevor die Sprechzeit um ist, verabschiede ich mich. Vorbei an der Kommandozentrale, über die Betonbrücke, unter dein steinernen Türbogen ins Freie. Die Sonne brennt ins Gesicht. Weshalb helfen wollen, obwohl es nichts zu tun gibt. Macht euren Dreck allein. Löffelt eure Suppe selbst aus. Was hab' ich mit all dem zu tun. Ich setze mich mitten in das Gewühl eines Straßencafés. Ein Herr mittleren Alters quatscht mich an. Ich schaue auf die andere Straßenseite. Einmal in
meinem Leben möchte ich den Mut aufbringen und einem dieser sabbernden Zufallsquassler, die hinter jedem Rock herjagen, eine Ohrfeige mitten ins Gesicht verpassen. Ohne vorherige Ankündigung. Affektlos. Kühl berechnend und absolut vorsätzlich. Ich bin wütend. Und weiß nicht einmal so recht, auf wen. Ich will nur eines, die Wut loswerden und dann endlich wieder heimfahren. Ich wende meinen alten Trick an, wenn ich mich von unangenehmen Gefühlen befreien will, und lege mir einfach eine andere Filmspule ins Hirn ein: Als die kleine Räuberbraut nach ihrem ersten Besuch bei Sebastian das Untersuchungsgefängnis verließ, bemerkte sie zuerst nicht, daß sie ihren Verstand verloren hatte. Sie irrte in den Straßen umher und fand ihr Auto nicht mehr. Dicke Tränen kullerten ihr über die rosig gepuderten Wangen und zogen feine wimperntuschschwarze Schneckenspuren übers Gesicht. Sie war verzweifelt. Einerseits saß der Liebespfeil genau an jener empfindlichen Stelle, wo es so verdammt schmerzt, andererseits konnte sie trotz heftigen Suchens in sämtlichen Straßen ihr Auto nicht mehr finden. Nachdem die Füße heftig zu brennen begannen, ging sie zur Polizei und meldete das Verschwinden des Autos. Bei der Protokollaufnahme fiel ihr schließlich ein, daß sie es am Stadtrand geparkt hatte. Nach diesem ersten Besuch bei Sebastian war sie nicht mehr zurechnungsfähig. Sie schwebte nicht nur wie auf Wolken, sie hatte auch plötzlich das eigenartige Gefühl, aus einem jahrelang tiefgefrorenen Zustand allmählich aufzutauen. Sebastian, dem es wohl nicht entgangen war, welchen Eindruck er auf sie gemacht
hatte, hakte gleich nach und jagte ihr Briefe mit heißen Villon-Versen hinterher: »Die Luft erbrach sich fast vor Fruchtbarkeit. Und unsereins hat Gott wer weiß wie lang nicht mehr sich in ein Weiber Fell hineingewühlt.«' Seine Briefe heizten ihr Verliebtsein täglich erneut an. Er streute gekonnt Villon-Zitate oder ganze Gedichte in seine Briefe, die sie alle auswendig lernte. Wenn sie sie vor sich hinsprach, fühlte sie sich auf eine wunderbare und erhabene literarische Art mit ihm aufs innigste verbunden. Gelegentlich aber konnte sie nicht mehr genau unterscheiden, wem ihre Gefühle galten, Sebastian oder François Villon. Die kleine Räuberbraut informierte ihren gesetzlich Angetrauten über ihre inneren Verhältnisse. Da dieser seinen emotionalen Haushalt längst aushäusig versorgte, vermochte diese Mitteilung keine großen Emotionen bei ihm auszulösen. Sie hatte also freie Fahrt. Sie steckte sich rote Rosen ins Haar, schrieb Briefe, was das Zeug hielt, und schlürfte Sebastians Worte wie köstliche Austern in sich hinein. Obwohl ich es aufrichtig bedauerte, daß Sebastian hinter Gittern saß, genoß ich vor allem den abstrakten Charakter dieser Liebe. Es findet ja ohnehin alles im Kopf statt, dachte ich. Es gibt ja nichts, was nicht zuerst im Gedanklichen herumspukt. War nicht im Anfang das Wort? Und nur das Wort? Gehen nicht vom Denken alle Dinge aus? War nicht alles denkgeboren, denkgefügt, wie Buddha schon vor Christus erkannt hatte? »Ohne das Wort ist nicht eines geworden, das geworden ist.« Sebastian existierte nur durch das Wort,
das täglich wie ein Wasserfall auf mein Nudeln kochendes Dasein prasselte. Da geriet manches durcheinander. Seine Zauberworte beflügelten mich und verliehen mir eine beinahe unbeschreibliche Hausfrauenleichtigkeit. Wurde die nackte Realität kurz eingeblendet, spielte sie sich nebenbei, auf einer anderen Etage ab: »Gestern habe ich den Strafantrag erhalten: 30 Monate. Und das bei einem dreimonatigen Aufenthalt unter freier Sonne! Wenn das so weitergeht, werde ich bei einer Lebensdauer von 65 Jahren noch weitere 34 Jahre einsitzen. Wie ich das errechnet habe? Ganz einfach. 65 Jahre = 780 Monate. 324 Monate habe ich hinter mir. Bleiben also noch 456. Davon ein Zehntel in Freiheit, der Rest hinter Gittern. Macht summa summarum: 34 Jahre im Knast.« Über seine Delikte schwieg er sich aus. »Nur soviel. Alles im absoluten Alleingang. Keine Gewalttat. Nichts gegen Leib und Leben. Nur mit dem Köpfchen gearbeitet. Zahlen verschoben. Das ist alles.« Seine erste Straftat hatte er sich als harmloser Kriegsdienstverweigerer, der zudem den Zivildienst verweigerte, geleistet. »Ich bin doch nicht blöd! Ich spiele im Krieg nicht mit. Aber beim Zusammenflicken bin ich wieder dabei.« Er setzte sich kurz entschlossen ins Ausland ab. Als er nach drei Jahren zurückkam, führten sie ihn bereits im Flughafen ab: »18 Monate, nackt auf den Arsch«, das heißt, unbedingt. Im Hotel überreicht man mir am Empfang eine Nachricht von Wanda. Sie bittet um sofortigen
Rückruf. Sie will von mir nur eines wissen, wie es Hubertus geht. Wann er freigelassen wird. Wie soll ich ihr klarmachen, daß mein Besuch völlig überflüssig gewesen ist? Daß Hubertus einfach auf seine Unschuld setzt, die sich, so rechnet er, zwangsläufig irgendwann herausstellen wird? Ich telefoniere mit Felix. Ich habe die Nase voll und will heim. Felix meint, ich sei es einfach nicht gewohnt, daß etwas nicht so gehe, wie ich es mir in den Kopf gesetzt habe. Er hat nicht unrecht. Aber irgendwie finde ich es auch albern, mich wie eine Marionette in ein Spiel einspannen zu lassen, in dem die Karten nicht offen auf den Tisch gelegt werden. »Ich will nicht als Wasserträgerin vom einen zum andern rennen, um hinterher festzustellen, daß ich nur leere Krüge transportiert habe. Ich packe die Koffer und fahre heim. Gleich morgen früh haue ich hier ab.« »Überleg es dir noch mal.« Am nächsten Morgen bin ich mit anderem beschäftigt. Nachts gegen drei Uhr werde ich von Wandas Ehemann gerufen. Die Wehen haben eingesetzt. Zwei Wochen vor dem errechneten Termin. Gestern abend platzte die Fruchtblase, und das Fruchtwasser ergoß sich auf den düsteren Holzboden des ehelichen Schlafzimmers. Trotzdem legte sich Wanda ins Bett, wie wenn nichts geschehen wäre. Wie ich vermutete, will sie zu Hause gebären. Auf die sanfte Art. In der Badewanne. Mit einer sanften Hebamme. Ernst hat von allem keine Ahnung und nimmt an, ich sei über alles informiert. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander. Gegen sieben Uhr ist das Kind da, ein 3,2 Kilo schweres Mädchen,
mit rötlichem Flaum auf dem Kopf. Hubertus' rotblondes Haar läßt grüßen. Wanda liegt im stummen Glück, kraftlos und erschöpft. Ernst steht unbeholfen daneben, in stellvertretender Vaterschaft, dann geht er in den Stall. Die Hebamme wirbelt mit tausend Handgriffen geschäftig herum, und ich kümmere mich automatisch um Kinder und Haushalt. Visionen, wie auch immer, haben die Tendenz, sich zu erfüllen! Da ich mich strikt weigere, dort zu schlafen, bin ich jeden Morgen mit einem unbeschreiblichen Chaos konfrontiert. Wanda ist derart schwach, daß sie kaum stillen kann. Das Kind schreit unentwegt. Die anderen ebenfalls. Dazwischen kochen – was ich noch nie konnte –, Wäsche waschen, putzen – alles Dinge, für die ich zu Hause jemanden engagiert habe. Vielleicht klappt Ernst auch noch zusammen, und ich melke auch noch dreißig Kühe um vier Uhr in der Frühe. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie ich abspringen könnte, suche nach einer Ausrede, hoffe, Felix rufe an, er sei plötzlich krank geworden, ich müsse sofort zurückkommen. Nichts geschieht in dieser Richtung. Meine Fingernägel sind vom Haushalten und Putzen abgebrochen, meine Haare, die ich jetzt aus Zeitgründen selbst wasche, sind spröd und matt. Wenn ich in die Hotelhalle komme, könnte ich eher für eine Küchenhilfe oder eine Putzfrau gehalten werden als für einen Gast. Ich trage Gammelhose und Gammel-TShirt, die Raina letztesmal bei mir vergessen hatte, als sie in meinem Bett einschlief und sich später den Hotelbademantel überwarf und nach Hause fuhr.
Wie konnte es mich derart erwischen! Felix, dieser Idiot, hat mir auch noch zugeraten, auf Wandas Anruf einzugehen und mich auf diese unsägliche Geschichte einzulassen. Ihm würde ja so etwas niemals passieren. Er grenzt sich ab.
8 Wie sich das Arbeitsende im Steinbruch ankündigt und ein Herzbruch zur Sprache kommt
Mein neuer Beruf als Bäuerin, Haushälterin, Putzfrau, Kinderbetreuerin und Pflegerin einer magersüchtigen Wöchnerin bringt es mit sich, daß ich mich jeden Morgen sehr früh aus den Federn erheben muß. Punkt sechs Uhr dreißig stehe ich gewaschen und gestriegelt an meinem Arbeitsplatz. Nun hat mich Ernst gebeten, noch etwas früher zu kommen, um vorher die Hühner zu füttern. An die Eier habe ich mich bereits gewöhnt. Als letzte Arbeit am Abend durchleuchte ich zwischen 240 und 260 Stück und packe sie in Schachteln ab. Abends komme ich selten vor neun Uhr ins Hotel. Entweder ruft Raina an oder liegt bereits auf meinem Bett. Sie fühlt sich von mir sträflich vernachlässigt. Macht mir größte Vorwürfe. Ich sei eine elende Verräterin, daß ich nun auch noch diese Schlampe pflege. Samt Kind von Hubertus! Sie wütet. Wiederholt ihre Anschuldigungen. Immer mit gleichem Text. Gelegentlich gewinne ich gar den Eindruck, sie verfange sich immer stärker in ihren Wahnvorstellungen. Wanda indessen liegt kraftlos in ihrem Wochenbettglück, sie ißt so gut wie nichts und ist bis auf Haut und Knochen abgemagert, während ich zweifellos drei Kilo zugenommen habe, die von Rainas figurlosen Schlabberhosen überspielt werden. Ich
gehöre zu jenen Unglücklichen, die in Streßsituationen an Gewicht zulegen. Das ohnehin volle Gesicht wird noch runder und rosiger und bekommt dieses schrecklich gesunde Aussehen. Ernst, sonst nicht gerade gesprächig, meint in einem kommunikativen Höhenflug, das Leben plus Bewegung auf dem Lande wirke sich gut auf mein Äußeres aus. »Es kommt darauf an, von welcher Seite man das Ganze sieht.« Wehmütig denke ich dabei an meinen neuen Jersey-Zweiteiler, bewußt etwas knapp gekauft, da dehnbar und zum Reisen sehr bequem. Den Reißverschluß des Rockes konnte ich schon vorher nicht bis zur Taille schließen. Nun werde ich den Rock, Dehnungsfaktor miteingerechnet, mit Sicherheit überhaupt nicht mehr anziehen können. Ich sehe mich schon in Rainas schrecklicher Hose irgendwann, vielleicht in Jahren, nach Hause fahren, mich an den Autobahnraststätten unbemerkt ins Gewühl der Touristen mischen, eintauchen in die Lumpen- und Fetzenkultur der Freizeit-und Urlaubsbekleidung des modernen Menschen im ausgehenden zweiten Jahrtausend. Nach drei Wochen liegt Wanda noch immer im Wochenbett, noch dünner, noch etwas weltentrückter. Nein. Sie will unter keinen Umständen einen Arzt. Allenfalls einen anthroposophischen Naturheilarzt. Diesen bestelle ich. Er weist mich an, Wandas Knochengerüst stündlich mit kaltgepreßtem Olivenöl einzureiben, das entsetzlich nach ranzigem Pommesfrites-Öl stinkt. Dazu stellt er mir für den systematischen Kräfteaufbau einen ausgeklügelten
Ernährungsplan zusammen. Allein diese Pflege, die Kocherei, vor allem die Gemüsezubereitung, die nur in mildem, vitaminschonendem Dampf erfolgen darf, hätte einen einzelnen Menschen arbeitsmäßig total ausgefüllt. Ich will Ernst für Wandas aufwendige Pflege gewinnen. Er schüttelt den Kopf: »Du hast tatsächlich von Landwirtschaft keine Ahnung«, und geht seiner Arbeit nach. Felix informiert mich über den Stand der FremdgehUrfrage. Er erhält bereits erste Antworten. Wenigstens diese Angelegenheit scheint reibungslos abzulaufen. Er empfiehlt mir, mich hier auf mein ursprüngliches Vorhaben zu konzentrieren, mit diesem ganzen verrückten Verein zuerst ein offenes Wort zu reden, mich dann konsequent zurückzuziehen und mich unter keinen Umständen weiter in ihr Alltagschaos einspannen zu lassen. Leichter gesagt als getan. Obwohl Wanda von mir erwartet, Hubertus nochmals zu besuchen, sehe ich darin keinen großen Sinn. Ich bete heimlich jeden Abend zum lieben Gott, ein schreckliches Grippevirus möge mich jäh befallen und ans Bett fesseln. Einmal nur, ein einziges Mal so unendlich erschöpft, ermattet und vor allem abgemagert daliegen wie Wanda! Es will mir nicht gelingen. Jeden Tag nehme ich mir vor, mit ihnen zu sprechen. Wenn ich dann aber dort bin, verblaßt mein Entschluß. Ich komme mir unheimlich egoistisch vor. Verwöhnt! Würde einfach lieber im Bett liegen und in der Vergangenheit und in Sebastians Briefen herumstrolchen. Ernst und Wanda scheinen mir aber nicht in der Lage zu sein, für sich
selbst zu sorgen und eine Hilfe zu organisieren. Wenn ich nun nicht mehr komme, wer wird sich um die Kinder kümmern? Wer pflegt Wanda und den Säugling? Wer macht den Haushalt? Wer durchleuchtet die Eier? Die Eierkartons sind schon zweimal in meinen Träumen erschienen. Einmal als Matratze mit grauen Saugnäpfen. Das andere Mal turmhoch ineinandergestapelt, in jeder Einbuchtung wuselten Familien durcheinander. Und ich hätte ausrechnen sollen, wieviel Impfstoff man für alle dort Wohnenden benötigt. Nachdem ich umsonst versucht habe, mich auf faire Weise abzusetzen, wendet sich unerwartet das Blatt. Eine Telefonnachricht, Antonia bittet um Rückruf. Es ist schon gegen 22 Uhr. Im Kloster anrufen? Um diese Zeit? Die freundliche Dame an der Rezeption klärt mich auf. Dies sei eine Privatnummer. Ich rufe zurück. Wie früher: Herzlichkeit von der ersten Sekunde an. Gegenprogramm zum Einsatz in Wandas wortkarger Wüste. »Woher weißt du, daß ich hier bin? « will ich wissen. Sie kümmere sich um Raina. Gestern, zufällig, habe sie es von ihr erfahren. Und jetzt werde ich erstmals wütend. Mir werden sämtliche Informationen vorenthalten. Alle geben vor, nichts voneinander zu wissen, nicht zu wissen, wo die anderen wohnen, was sie machen. Und ich durchleuchte jeden Tag wie blöd 260 idiotische Freilufteier von biologischen und glücklichen Hühnern! Von Antonia erfahre ich, sie sei nach dem katastrophalen Brand nur für wenige Tage ins
Mutterhaus zurückgekehrt. Dann habe sie durch Zufall von einer Stelle als Personalchefin in der größten chirurgischen Privatklinik gehört. Kurzentschlossen habe sie zugegriffen und sich bereits sehr gut eingelebt. Wir wollen uns so schnell wie möglich sehen. Anfang nächster Woche hat sie ihre freien Tage. Ich werde zu ihr fahren! Endlich habe ich einen guten und zwingenden Grund, mich abzusetzen. Und dazu noch fair. Wanda und Ernst haben Zeit und können sich um eine andere Hilfe bemühen. Später erfahre ich, daß die Gemeindehelferin, die über die familiäre Situation bestens Bescheid weiß, schon lange in den Startlöchern darauf wartet, aufgefordert zu werden. Der Tag mit Antonia entschädigt mich für alles. Sie ist noch eigenwilliger geworden. Ihre Schwesterntracht, die sie nur noch privat trägt, hat sie nach ihrem modischen Geschmack modifiziert. Sie kombiniert einen langen, faltenreichen schwarzen Rock aus fließendem Crepe-de-Chine, der ihre zarten Glieder wie eine Kostbarkeit umspielt, mit einem nachtblauen, halsfernen, kurzärmligen Seiden-T-Shirt, das über der Taille endet, darunter blitzt ein breiter Krokoledergürtel. Im androgynen Kurzhaarschnitt kommt ihr Gesicht noch klarer zur Geltung. »Man sollte alles nicht so eng sehen«, antwortet sie auf meinen erstaunten Blick. Wir umarmen uns. Lange. Und sehr herzlich. »Setz dich. Mach es dir bequem. Zieh die Schuhe aus.« Ich erzähle zuerst von meinem Unglück bei der magersüchtigen Wanda und daß ich wieder drei Kilo zugelegt habe. Alles sammle sich bei mir am Bauch,
der förmlich aufgehe, wie ein Hefeteig, der über den Schüsselrand quillt. Und dann habe ich nur noch einen einzigen Wunsch, ihr, dieser wundervollen Ästhetin, meinen häßlichen Bauch zu zeigen. »Darf ich?« frage ich. »Selbstverständlich.« Ich ziehe mich nackt aus und stelle mich vor sie hin. Sie schaut mich lange an: »Ja. So ist das eben.« Dann ziehe ich mich wieder an. Wir sprechen von all den anderen Dingen, den letzten Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben. Dann erzähle ich ihr, weshalb ich hier bin. Sie wird nachdenklich, holt tief Luft und sagt mehrere Male, wie zu sich selbst: »Das ist eine schwierige Sache.« Dann wendet sie sich zu mir: »Es mag verrückt klingen, aber irgendwie ist es gar nicht so schlecht, daß das Schloß abgebrannt ist und sich all die unsäglichen Beziehungen und Verstrickungen unter den Menschen auf einen Schlag aufgelöst haben.« Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Antonia, leicht verärgert: »Du hast uns alle idealisiert! Auf Schloß Ripsen, im Mitarbeiterinnenteam der kirchlichen Tagungsstätte für Erwachsenenbildung ging's drunter und drüber.« Ich bin verblüfft, weiß nicht, wie ich das verstehen soll. Und dann erzählt mir Antonia von ihrer Liebschaft mit dem hauseigenen Theologen, einem verheirateten Mann und Vater von vier Kindern. Er kam regelmäßig aus der benachbarten Gemeinde ins Tagungshaus, hielt den Gottesdienst in der Kapelle und führte Kurse für angehende Eheleute durch. Er war zwanzig Jahre älter
als sie. Er glühte. Sie glühte. Die Ehefrau zu Hause kränkelte vor sich hin und hatte keine Ahnung. Beide wurden gelegentlich von Gewissensbissen gepeinigt, wollten dann die Beziehung beenden, halbherzig zwar, aber mit jedem Mal des Zusammenseins wurde die Leidenschaft stärker. Er schlich nachts lautlos ins Schloß. Und sie erwartete ihn. Viele Nächte liebten sie sich. Er grub sich atemlos in ihren zarten Leib, und sie ließ sich von ihm ins Paradies hineintragen: »Meine Seele floß in die seine. Ich verschmolz mit ihm zu einem einzigen Pulsschlag, und nichts auf der Welt hätte mich daran hindern können. Er war in mir. Ich in ihm. Ach, wie mir dieses schreckliche Romantikvokabular >Du-mir-ich-dich< auf die Nerven geht! Wenn man liebt, läuft man immer Gefahr, vom Erhabenen ins absolut Lächerliche abzustürzen.« Dann wurde Antonia schwanger. Schwangerschaftsabbruch. Dann noch einmal. »Weshalb hat er sich nicht scheiden lassen? « Will ich wissen. Antonia, überrascht von dieser Frage: »Das hatten wir nicht nötig. Ich war doch seine Frau. Er mein Mann. Das war unsere innere Wirklichkeit. Die äußeren Gebundenheiten konnten uns nichts anhaben.« So dachte sie. Die ersten Jahre. Dann, plötzlich, eigentlich unerwartet, war es aus mit der Herrlichkeit. Antonia wollte mehr. Unersättlich. Heißhunger nach Tag-undNacht-Einssein. Nur halb sein ohne ihn. Wundschmerz beim Hälftigkeitsschnitt. Da habe ihr die geheime Gewißheit nicht mehr genügt. Sie suchte nach Beweisen. Sie wollte, daß er sich zu ihr bekannte. Trotz
allem. Sie hätte jederzeit Kopf und Kragen riskiert. Aber er? Besessen von der Idee, ihn für sich ganz und gar und rund um die Uhr zu haben, zu besitzen, rannte sie mit dem Schädel gegen die Wand. Da machte er schlapp. Brach von einer Stunde zur anderen die Beziehung ab. Er hielt weiter die Messe, führte seine Eheseminare im Schloß durch. Sie malte sich aus, ihn umzubringen. Zu vergiften. Zu erschießen oder eigenhändig zu erwürgen. »Oder ihn aus seiner erstarrten Haltung herauszerren, ihn anspringen, ihn ins Leben zurückküssen, ihn ins Leben zurückvögeln.« »Antonia! « »Ja! Nur keine Animositäten! Es gibt Menschen, die müssen über ihren Geschlechtsapparat zum Leben erweckt werden! « Daß sie es dennoch nicht getan hat, war weniger ihrer bewußten Zurückhaltung zuzuschreiben als einem unbändigen Haß auf ihn. »Mein Schmerz war so groß, daß ich ihn tatsächlich hätte umbringen können. Aber ich dachte mir etwas noch Schlimmeres aus. Soll er doch neben seiner unsäglichen halbtoten Ehefrau lebendigen Leibes vertrocknen und eingehen. Nun, inzwischen ist er Großvater geworden, alt, mausgrau, tattrig. Und das Schloß ist abgebrannt. Keine Außenstation mehr, um sich vom ehelichen Alltag zu erholen. Geschieht ihm recht. Aus und vorbei. Unsere Wege haben sich ganz natürlich getrennt.« Ich will mir meine Überraschung über Antonias Erzählung nicht anmerken lassen, ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Fähigkeit zu hassen verblüfft
mich. Als läse sie meine Gedanken, sagt sie beiläufig: »Es ist ein großer Unterschied, ob du aus einer unbeteiligten Position heraus etwas beurteilst und kluge Ratschläge erteilst, oder ob es dich selbst erwischt hat. Der Mensch scheint zwischen beiden Polen ausgespannt zu sein, mit dem Verstand etwas zu begreifen und dennoch genau das zu tun, was er gar nicht gutheißt. Die Kunst besteht darin zu verstehen, daß beides zusammengehört. Basta.« Ob ich noch mehr Geschichten hören wolle, fragt sie beiläufig, da wir doch gerade dabei sind? Wanda hat seit mindestens fünf Jahren ein Verhältnis mit Hubertus. Bevor sie dieses einging, war sie einige Jahre mit dem Verwalter liiert, während Ernst, ihr Mann, regelmäßig zu Laura, der Hausbeamtin, ins Bett stieg. Ernst wurde aber ziemlich bald abgeschrieben, da ein geistlicher Herr, der regelmäßig nach Schloß Ripsen zur Erholung kam, diese Partitur übernahm. Ernst drehte damals total durch und erzählte überall herum, er lasse den ganzen Verein auffliegen. Dann tröstete er sich schnell mit Sophia, die damals gerade neu ins Team kam. Frisch geschieden mit zwei Kindern, zog sie in Ripsen ein. Es ging jedoch nicht lange, da lernte Sophia einen sehr viel jüngeren Mann kennen und verliebte sich in ihn. Und Ernst saß wieder auf dem trockenen. Mir schwindelt, und ich möchte gehen. Antonia meint, ich sei selbst schuld, wenn ich mir unrealistische Bilder und Vorstellungen über Menschen zurechtzimmere. Und wenn diese dann einfach ihrer Natur gemäß leben, falle ich aus allen Wolken. Sie hat recht.
Schloß Ripsen war für mich eine heile Welt, in die ich fliehen konnte, wenn es mir draußen zu turbulent wurde. Die ganze Hausgemeinschaft, samt Gärtner und Putzfrau, traf sich morgens und abends zur besinnlichen Stunde. Sie lasen ein paar Stellen aus der Bibel und dachten in aller Stille darüber nach. Ich nahm, so oft ich konnte, daran teil, nicht wegen der Bibeltexte, sondern wegen des wunderbaren Gefühls, zu so einer wunderbaren, heilen Gemeinschaft dazuzugehören. Beim Abschied umarmen wir uns. Sie begleitet mich noch zum Auto. Beim Einsteigen sagt sie: »Übrigens, du mußt unbedingt abnehmen! Laura führt ganz tolle Diätkurse durch.« Das sitzt.
9 Wie ein Esel auf einer Bruchkante balanciert und ich versuche, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen
Im Hotel stelle ich mich sofort vor den Spiegel, kann jedoch in meinem Anblick nichts Beschwichtigendes oder Tröstliches finden. Was soll ich mit einem Diätkurs. Es gibt nichts, was ich nicht schon über Diäten wüßte. Je mehr Wissen ich mir aneigne, um so schlimmer wird es. Deshalb will ich von Diäten nichts mehr wissen. Auf alle Fälle will ich ab sofort täglich ins Hotelhallenbad zum Schwimmen gehen. Bewegung soll sehr viel wirksamer sein. Jetzt, da ich nicht mehr als Hilfskraft bei Wanda eingesetzt bin, habe ich ja Zeit genug. Bereits am nächsten Tag vor dem Frühstück will ich mit meinem Wasserfitneßtraining beginnen. Seit meinem Einsatz bei Wanda hat sich meine innere Uhr umgestellt, und ich wache nun jeden Morgen bereits vor sechs Uhr auf. Das paßt wunderbar in meine neuen Pläne fürs Schwimmtraining. In dieser Herrgottsfrühe ist keine Menschenseele im Schwimmbad. Ein leises, verlorenes Plätschern. Dazwischen schnurrt die Wasserpumpe. Ich drehe meine Runden. Zwanzigmal, so habe ich es mir vorgenommen, rund um das Becken. Die ersten drei Runden fühlen sich großartig an, bewegungsfroh strebe ich von einer geplättelten Ecke zur nächsten. Ach, wie gut Bewegung tut, da ist wahrlich etwas dran. Während der nächsten drei Runden befallen mich erste
Zweifel in puncto Nützlichkeit. Dann höre ich zu zählen auf und denke nur noch darüber nach, ob diese völlig hirnlähmende Bewegungsmotorik nicht weit unter der Würde eines menschlichen Wesens steht. Relativ rasch komme ich zu der Überzeugung, daß es so nicht geht, und ich höre mit diesem albernen Rundenschwimmen auf. Ich will gerade aus dem Bassin steigen, da sehe ich den ersten Badegast herannahen. Ich warte also ab. Schließlich habe ich keine Lust, mich mit meiner ganzen Überfülle vorzuführen. Der Badegast ist männlichen Geschlechts und bereits älteren Jahrgangs. Er trägt seinen Bauch mit größter Selbstverständlichkeit zur Schau, beinahe mit Stolz. Er strebt unverzüglich zur Unterwasserdüse, stellt sich mit dem Rücken gegen sie. Und während er sich unterwässerig massieren läßt, blickt er unternehmungsfreudig umher. Ich habe wohl so schnell keine Möglichkeit, unbeobachtet dem Wasser zu entkommen, und so muß ich wohl oder übel noch ein paar Runden schwimmen. Ewig wird er sich wohl nicht massieren lassen. Jedesmal, wenn ich an ihm vorbeischwimme, nickt er mir freundlich zu. Ich nicke zurück. Beim fünften Mal fragt er: »Rapunzel, bist du es? « Das kann nur ein ehemaliger Schulkollege sein. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer: Konrad. Wir schütteln uns die nassen Hände. Ich stelle mich ebenfalls vor eine Düse. Und während der Wasserstrahl richtige Dellen in Bauch und Schenkel hineindrückt, unterhalten wir uns über Gott und die Welt. Er ist inzwischen geschieden und zum zweiten
Mal frisch verheiratet. Die erste Frau reichte die Scheidung ein. Sie hat ihm oft außergewöhnlich häßliche Szenen gemacht und ihm laufend vorgeworfen, er gehe fremd. Jahrelange Streitereien habe er auf sich genommen, dabei sei er nur höchst selten fremdgegangen – und die -wenigen Male, die habe er sehr rücksichtsvoll an seiner Frau vorbeigeschleust, und ihr habe es an überhaupt nichts gemangelt. Unter Fremdgehen verstehe er schon etwas anderes! Nun hoffe er doch sehr, die zweite Frau sei vernünftiger und vor allem großzügiger. Er wohnt in der Nähe des Hotels und kommt jeden Morgen wegen Rückenproblemen zur Unterwassermassage. »Ja, wir sind eben nicht mehr die Jüngsten! « »Ja, ja«, antworte ich seufzend. Was war er doch früher für ein windschnittiges Bürschchen gewesen. Sportlich vom Scheitel bis zur Sohle. Er hatte als erster ein Rennrad, mit dem er zur Schule kam, weil er einen ziemlich weiten Schulweg hatte. Er lag stromlinienförmig auf seinem Renner, drehte gewagte Kurven, sauste pfeifend an uns vorbei, überholte uns wieselflink bergaufwärts, die wir unsere schwerfälligen Alteisenfahrräder vor uns herschoben. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, daß ein so beweglicher Sportheld jemals zu einem ungelenken, rückengeplagten, dickbauchigen älteren Herrn mutieren könnte. Inzwischen sind noch weitere Badegäste angekommen. Zwei junge Frauen, bildschönschlank. Und Konrad, dieser alte Esel, kann es nicht lassen, seinen Altherrenblick begehrlich auf sie zu richten. Er
kommentiert auch noch: »Nicht schlecht, beide haben ordentlich Holz vor der Hütte.« Und später, bei genauerem Hinsehen noch: »Die Dunklere würde mich mehr anmachen. Schau mal diesen hohen Wasserfall! Aufregend! « Ich denke ans Gehen. Konrad wird beschäftigt sein und mich nicht unter die Lupe nehmen. Bevor ich aber gehe, möchte ich ihm noch eine Lektion verpassen. Die alte Wut schäumt in mir auf. Männer dürfen aussehen, wie sie wollen, sie gehen in ihrer Phantasie immer davon aus, daß jede Frau ihnen zur Verfügung steht. Wir dagegen! Welche Fünfzigoder Sechzigjährige würde es auch nur klammheimlich wagen, einem leckeren Jüngling nachzuschmachten. Nicht einmal in ihrer Phantasie! Sie hat sich längst selbst abgeschrieben! Aus dem Verkehr gezogen. Pickt dankbar noch die wenigen Brotkrumen auf, die vom prallen Tisch der Lüste fallen. Der freundliche Blick des Bahnschaffners läßt sie schon in den siebten Himmel auffahren. Wir werden bescheiden. Mit zunehmendem Alter werden wir immer noch bescheidener. Während unsere gleichaltrigen männliclien Kollegen sich nach wie vor aus dem breitgefächerten Angebot sämtlicher Alters-, Bildungsund Schönheitskategorien mit größter Selbstverständlichkeit eine mögliche Partnerin heraussuchen. »Sag mir nur noch eines«, beginne ich im lockeren, aber vertraulichen Plauderton. »Es interessiert mich seit langem, und ich frage mich stets, wie ein Mann mit deiner Figur, also mit einem stattlichen Bauch ausgerüstet, es fertigbringt, einen Geschlechtsverkehr
ordentlich hinzukriegen.« Konrad hüstelt. Ich hake nach. »Der Bauch muß da ja irgendwie im Weg sein, also rein geographisch gesehen müßte ja dann der Penis um die Größe des Fettüberhangs verlängert werden, um einen Bogen um den Bauch unten herum zu machen [ich deute auf seinen Bauch und zeichne die Rundung etwas übertrieben nach], damit der Intimkontakt überhaupt zustande kommen kann.« Konrad hüstelt abermals. Ich setze noch eins drauf: »Zugegeben, ich habe wirklich keine Ahnung von derartigen Vorgän- gen. Es wäre mir einfach aus ästhetischen Gründen unvorstell- bar, mich mit einem Mann ins Bett zu legen, der nicht gertenschlank ist.« Konrad wirkt etwas verlegen. » Klar geht das ! « sagt er. » Aber klar, aber klar, das geht schon! « Und ich sehe mit größtem Vergnügen, wie er mit seiner Hand über seinen Bauch fährt, die Luft anhält, auf seinem Bauch kreisende Bewegungen durchführt, als ob er sich selbst sagen wollte, so schlimm ist es auch wieder nicht. In diesem Moment verabschiede ich mich schnell. Nun bin ich sicher, daß er mit sich genug zu tun hat, um mir nicht blöd hinterherzuschauen und mich unter die Lupe zu nehmen. Ein kurzer Blick zurück bestätigt meine Vermutung. Er ist ganz und gar damit beschäftigt, die Luft anzuhalten und den Bauch einzuziehen. Zweifellos wird er es nach wenigen Minuten wieder vergessen haben. Und wird wieder wie zuvor jungen Mädchen aus seinen alten Eselsaugen nachschielen. Selten habe ich mich so wohl gefühlt. Aus diesem
Geschlechterkampf gehe ich ausnahmsweise als Siegerin hervor. Ich lasse mir ein üppiges Frühstück aufs Zimmer bringen.
10 Wie ein junges Leben bricht und alte Spielregeln sich verfestigen
Ich will mich gerade über das köstliche Frühstück hermachen und mich darüber freuen, daß ich Konrad, diesem alten Esel, eins auswischen konnte. Ernst steht vor der Tür. »Das Baby ist tot.« Er spricht leise. »Wanda geht es sehr schlecht. Du mußt alle Hebel in Bewegung setzen, damit Hubertus aus der Untersuchungshaft raus kann. Wenigstens für die Beerdigung. In drei Tagen.« Das Baby ist tot. Dieses rosige Baby, friedlich lag es da, und nun ist es einfach gestorben. Mir nichts, dir nichts. Manchmal hören Kinder auf zu atmen. Als ob sie sagen wollten: »Nein danke.«. Als ob sie uns mitteilen wollten: »Ich habe es mir bei den Menschen anders vorgestellt. Ich gehe wieder und suche mir einen besseren Landeplatz.« Wandas Baby wurde zwar gefüttert, aber es bekam zweifellos zu wenig emotionale Nahrung. Wanda war selbst halb tot. Mich fröstelte ebenfalls in ihrer Nähe. Und so ein Kind. Noch schutzlos. Der Welt ausgeliefert. Wie soll ich das mit Hubertus machen? Ich habe keinerlei Einfluß. Ich kann nur tausend Telefonate starten, etwas in Institutionen herumrühren, wühlen, geschäftig und betroffen daherreden und mir selbst das Gefühl geben, nicht einfach hilflos dazusitzen. Alles
wird aber ohne Ergebnis bleiben. Ein Mensch wie ich bleibt einflußlos, da nützen auch gelegentliche öffentliche Auftritte in den Medien nichts. Wir sind nur das Beilagengemüse, die Garnitur, wir helfen höchstens mit, den Leuten etwas Sand in die Augen zu streuen. Unterhaltung ist gut, sie lenkt vom Denken ab, vom kritischen Nachdenken über dies und das. Wäre ich irgendwo auf einer politischen Bühne tätig, säße mitten im Wirtschaftspfuhl, wo es um die Wurst geht und Millionen hin und her geschoben werden, könnte ich zweifellos mehr Einfluß ausüben. Ja, wäre ich dazu noch ein Mann und zugleich in wirtschaftlichen Belangen verwaltungsrätlich tätig, hätte ein politisches Amt oder Ämtchen und zugleich im Militär ein gewichtiges Pöstchen, wäre zudem verkumpelt und verbrüdert mit Hans, dem Staatsanwalt, und Fritz, dem Vollzugsbeamten, und Franz, dem Oberrichter, und säße auch noch in irgendeiner Kommission, die seit Jahren über den Ausbau von Feldwegen diskutiert, dann könnte ich den Hans oder den Fritz oder den Franz anrufen und sagen: Du Hans oder Fritz oder Franz, kannst du mir mal eben einen Gefallen erweisen? Entweder würde der Hans oder der Fritz oder Franz sofort irgendeine Hintertür kennen, einen Schleichweg erkunden und unverzüglich alles in die Wege leiten, schließlich hätte ich doch auch dem Hans und dem Franz und dem Fritz, und der Franz hätte dem Fritz und der Fritz dem Hans, und umgekehrt, einmal einen kleineren oder größeren Dienst erwiesen. So wäscht die eine Männerhand die andere.
Zwar kenne auch ich einen Hans, einen Fritz und einen Franz, aber ich habe keinen für sie interessanten Gegenwert zu bieten. Nicht mehr. Bis kurz vor vierzig können wir noch erotische Versprechen in Aussicht stellen. Und da viele Männer darauf reagieren wie Frauen auf schöne Kleider oder Süßigkeiten, ist auf diesem Weg ein kleiner, allerdings zeitlich befristeter Einfluß geltend zu machen. Da nur ganz wenige Frauen in wichtigen Kaderpositionen sitzen und etwas zu sagen haben, funktioniert die »Basenwirtschaft« unter Frauen nicht. Die Chance, als Frau über Frauenfilz eigene Interessen zu verfolgen, ist sehr viel geringer, als auf einem Geschäftsausflug Filzläuse einzufangen. Haben die erotischen Trümpfe einer Frau ihr Verfalldatum überschritten, bleiben sämtliche Hintertüren verschlossen. Gut, resümiere ich, wenn's durch die Hintertüre nicht klappt, dann will ich es wenigstens durch das Hauptportal versuchen. Ich melde mich beim Untersuchungsrichter an und bekomme sofort einen Termin. Die Untersuchung gegen Hubertus R. sei soeben mangels Beweisen eingestellt worden, er werde heute um 14 Uhr entlassen. Ich lasse Hubertus über den Untersuchungsrichter ausrichten, daß ich ihn abhole. Ich sitze neben Hubertus im Auto. Bevor ich den Motor anlasse, sage ich: »Das Baby ist tot.« Hubertus starrt mich fassungslos an. »Was? « brüllt er laut. »Was ist mit dem Baby? « »Es ist tot.«
Dann weint er und kann beinahe nicht mehr aufhören. Er erholt sich nur langsam, schluchzt zurück, fällt erneut in eine Schmerzwelle, die ihn ins Uferlose hinauszutragen scheint, wo er beinahe zu ertrinken droht. Aber die Welle spült ihn wieder an Land. Die Intervalle werden kürzer. Er möchte, daß ich ihn schnellstmöglich zu Wanda fahre. Die Beerdigung des Babys wird von beinahe unerträglich heiterem Sonnenschein begleitet. Überall blüht und duftet es dem Sommer entgegen, Vögel zwitschern vergnügt, ein zitronengelber Schmetterling läßt sich zitternd auf dem kleinen Sarg nieder. Die Trauergemeinde schreitet zur allerletzten Segnung. Allen voran die Eltern des Kindes: Hubertus und Wanda. Es ist ihr Kind, das sie zu Grabe tragen. Wanda durchsichtig und schwach, von Hubertus gehalten, dahinter Ernst und die drei Kinder, die längst aufgehört haben, etwas verstehen zu wollen. Sie blicken unbeteiligt in die Gegend. In der Kirche beginnen die zwei Kleinen zu kichern, nur kurz allerdings, ihr Vater verpaßt ihnen unkompliziert eine Ohrfeige. Wanda dreht sich um und blickt mit strafend-leidendem Blick auf die Kinder, als ob sie sagen wollte: »Das dürft ihr mir jetzt nicht auch noch antun.« Die Kinder scheinen immunisiert gegen derartige Schuldzuschieberei und weichen kurzentschlossen und selbstverständlich dem mütterlichen Blick aus. Sie sind trainiert durch die chaotischen Wochen und Monate davor, wo ein Kind nur drei Möglichkeiten hat, entweder sich endgültig zu verabschieden wie das Baby, sich gegen sämtliche
äußeren Wirrnisse zu schützen und sich zu panzern oder einfach durchzudrehen. Auch Antonia ist zur Beerdigung gekommen. Obwohl es ihr größte Mühe macht, nicht in Ohnmacht zu fallen, als sie ihren ehemaligen Geliebten, den Pfarrer, wiedersieht, ihn, den sie so innig geliebt hat und der jetzt die Totenfeier zelebriert. Die Frau des Pfarrers ist ebenfalls anwesend, eine ältere, blasse, weißhaarige Frau. Ob sie etwas von der Geschichte mit Antonia ahnt? Sie gibt ihr liebevoll lächelnd die Hand und schaut Antonia lange an. Und Antonia hält ihrem Blick stolz stand. Raina hat zuerst nicht zur Beerdigung erscheinen wollen, kommt dann aber doch. Als ich ihr vom Tod des Babys erzählte, atmete sie auf und sagte: »Dieses Kind hatte kein Recht, auf die Welt zu kommen.« Sie hält es für Gerechtigkeit auf Erden, an der sie bis dahin zweifelte. Sie läßt sich von ihrem Wohlgefühl nichts anmerken, ignoriert Hubertus und seine Wanda und all die anderen ebenso. Auch redet sie mit mir kein einziges Wort, sondern steht wie ein Mahnmal, übergewichtig und unbeweglich, zwischen den Trauergästen. Der Pfarrer spricht tiefsinnige, aber etwas windschiefe Worte. Die Erwähnung der Elternschaft umschifft er geschickt, indem er stets von jener Gemeinschaft spricht, die einmal als Team auf Schloß Ripsen zusammenarbeitete. Es gebe zweifellos größere Zusammenhänge im Leben der Menschen, als die, die vordergründig zu sehen sind. Und manchmal führe einen der liebe Gott eben in Versuchung. Nicht aber, um an ihr vorbeizugehen, sondern um durch die Ver-
suchung hindurchzuschreiten und danach gestärkt, geläutert und gereinigt hervorzugehen. Wie bei einem Waschmaschinenvorgang, denke ich und schaue, ohne zu wollen, zu Antonia hinüber, die den Blick beinahe triumphierend zu Boden richtet. Beim Leichenschmaus kommt es noch mal zu einer kleinen Irritierung. Wanda bricht schluchzend am Tisch zusammen und klammert sich wie eine Ertrinkende an Hubertus. Diese Szene veranlaßt Raina dazu, geräuschvoll aus dem Saal zu stürzen und die Türe heftig hinter sich zuzuknallen. Antonia rennt ihr hinterher, als sie aber bei ihr keinen Trost ausrichten kann, kommt sie zurück und landet direkt in den Armen des Pfarrers, der gerade dabei ist, ebenfalls nach draußen zu gehen. Antonia gibt einen herben, kaum hörbaren Zischlaut von sich und stößt den Exgeliebten von sich. Erhobenen Hauptes schreitet sie zurück zur traurigen Gemeinde. Zudem haben sich zwei Polizisten diskret auf dem Flur des Restaurants aufgestellt. Sie wollen bis zum Ende der Trauerfeierlichkeit warten, um hinterher Ernst in Untersuchungshaft zu nehmen, auf den nun ein Haftbefehl wegen Brandstiftung ausgestellt ist. Die Atmosphäre ist gespannt und alles andere als geeignet, um Gespräche über vergangene Zeiten zu führen. Es wird denn auch kaum gesprochen. Lediglich die Kinder werden von Zeit zu Zeit von Ernst angeherrscht. Als er jedoch erfährt, daß er gleich nach der Trauerfeier wegen Verdachts auf Brandstiftung in Untersuchungshaft genommen werden soll, erlahmt sein Erziehungseifer sichtlich. Es sind dann nur noch die Kinder zu hören, die allmählich immer stärker
aufdrehen und aktiv werden. Sie spielen unbekümmert unter dem Tisch Fangspiele und springen zwischen den Erwachsenen herum. Zweimal fällt dabei ein Glas zu Boden, einmal leer, einmal mit Rotwein gefüllt, der über Lauras dunkles Seidenkostüm tröpfelt und ihre beige Bluse besprenkelt. Laura schrubbt auf der Toilette gerade an den Rotweinflecken und erzählt mir von ihren neuartigen Diätkursen, als sich Sophie durch die für sie etwas enge Tür hindurchquetscht. Ich will alles von Laura erfahren, wie sie das macht, und vor allem, um wie viele Kilos erleichtert man den Kurs verläßt. »In fünf Tagen fünf Kilo. In zehn Tagen zehn Kilo.« Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich kann es nicht glauben. Auch Sophie strahlt mit naiver Hoffnung auf ihrem runden Gesicht, wie das nur Dicke vermögen. Laura wiederholt selbstbewußt: »In fünf Tagen fünf Kilo. In zehn Tagen zehn Kilo.« Sophie schließt sich unverzüglich an. Auch sie will. Endlich. Wieder wie ein Mensch. Laura teilt uns mit, daß erst nächstes Jahr wieder ein Kurs vorgesehen sei. »So lange kann ich nicht warten«, sage ich entschieden, unterstützt von Sophie. Es ist mir nun unvorstellbar, auch nur einen einzigen Tag länger in meinem Übergewicht zu stecken. Laura klärt uns auf, daß wir mindestens fünf Teilnehmerinnen sein sollten. Sonst würde sich das Ganze nicht lohnen. Ich denke sofort an Raina, sie würde sicher auch mitmachen. Ich gehe sie draußen
suchen. Sie aber sitzt mit trübem Blick unter einer Trauerweide und will sich umbringen. Nein, nicht sofort, aber demnächst, läßt sie mich wissen. Es ist zweifellos nicht der richtige Moment, sie auf einen Diätkurs anzusprechen, vielleicht wird sie mir ins Gesicht springen. Aber ich bin von der Vorstellung derart angetan, daß ich es dennoch wage. Ich habe mich getäuscht. Die Depression ist wie weggeblasen. Selbstverständlich will sie. Sie habe ihr verdammtes Übergewicht schon lange satt, nein, es hänge ihr zum Hals heraus. »Lieber tot als dick! « ruft sie in den Spätnachmittag hinein. Und wiederholt es einige Male. Als sich die Trauergemeinde auflöst, tauschen Sophia, Laura und ich noch schnell unsere Adressen aus. Nächste Woche soll es losgehen. Während Ernst unauffällig von der Polizei abgeführt wird, steigt Wanda in Hubertus' Auto.
11 Wie die Leidenschaft zusammenbricht und zu neuen Lustquellen aufgebrochen wird
Nun sitzt Ernst in Untersuchungshaft. Hubertus wohnt bei Wanda. Eigentlich will ich mich von diesen ganzen Verflechtungen zurückziehen, als mich aber Hubertus und Wanda zum Essen einladen, nehme ich die Einladung an. Noch ein letztes Mal. Und in zehn Tagen werde ich um zehn Kilo leichter wieder nach Hause fahren. Wanda, noch immer überdünn und klapprig, aber immerhin so weit, daß sie aufstehen und herumgehen kann, ohne gestützt zu werden, kommt auf mich zu. Hubertus hat für uns gekocht. Die Kinder wurden zu einer Tante in Ferien geschickt. Und dann verbringe ich den langweiligsten Abend meines Lebens. Hubertus und Wanda hängen spannungslos und ohne gegenseitige hormonelle Vitalisierung ineinander. Die Luft ist draußen. Die Faszination erloschen. Die Verheimlichung trug wohl einen großen Teil dazu bei, Dynamik in das Verhältnis zu bringen und die Beziehung mit Spannung zu versorgen. Wanda kuschelt sich leidenschaftslos an ihn. Aber Hubertus' abfallende Schultern wollen nicht einmal mehr beheimaten. Was haben sie sich wohl bei ihren geheimen Treffen zugeflüstert? Welcher paradiesischen Vision folgten sie? Wir bringen weder ein reges
Gespräch noch sonst einen einigermaßen befriedigenden Austausch über dies und das zustande. Als ich mich auf die Toilette zurückziehen will, um mich etwas von der anstrengenden Spannungslosigkeit zu erholen, folgt mir Hubertus, und in der dunkelsten Ecke des Flurs flüstert er mir zu, er hätte nichts dagegen, wieder zu Raina zurückzukehren. Ob ich vielleicht gelegentlich ein gutes Wort für ihn einlegen könnte. Kurz darauf verabschiede ich mich. Ich bin wütend. Und dann heule ich im Auto ein paar Runden, mehr recht als schlecht, ein Trotzflennen, die Tränen kullern nicht wehmütig über die prallen Wangen, sondern springen wie kleine Funken aus dem Gesicht. Das ist also die große, die übergroße, einzige und einzigartige Liebe. Und dafür sind wir bereit, alles aufzugeben, was uns gut und teuer und bisher wichtig war. Wir sprengen unsere Familie einfach in die Luft, mir nichts, dir nichts, und pulverisieren das Familiengebilde. Schicken die Kinder zum Mond. Die Ehefrau/den Ehemann zum Teufel. Wenn's im Schritt kribbelt, knauft, stößt, juckt, zerrt, saust und braust, setzen wir Heimat und Frieden aufs Spiel, verlieren den Verstand und hecheln dem Glück hinterher, jagen über Stock und Stein, um die Illusion eines Liebesglücks beim Schopf zu packen. Kaum haben wir zugelangt, zerplatzt die Seifenblase. Im Hotel rufe ich Felix an. Ich bin gerade in Fahrt und will wissen, wie es eigentlich bei uns steht. Mit der Liebe. Und der Treue und so. Der ewigen. Der immerwährenden. Und überhaupt.
»Was soll schon sein? Es gibt Dinge, die sind größer, als du erfassen kannst«, philosophiert er ganz untypisch. »Wie meinst du das?« will ich wissen. »Wenn man von einer Rose fasziniert ist, und man pflückt sie auseinander, um hinter das Geheimnis ihrer Schönheit zu kommen, bleibt von der Schönheit nichts mehr übrig.« Dazu kaut er irgend etwas Hartes und ermahnt die Hunde, sich ruhig zu verhalten. Es ist wohl besser, über die Hunde zu sprechen. Oder über mein Vorhaben, eine Diätkur bei Laura zu machen. Felix unterstützt mich darin, was sehr verdächtig ist. Findet er mein Vorhaben gut, heißt das im Klartext, daß ich ihm nicht gefalle, so wie ich bin. Möchte er mich indessen davon abhalten, könnte ich ihm mangelndes Einfühlungsvermögen in meine Probleme vorwerfen. Felix sitzt so oder so in der Falle. Und so bleibt mir nur noch ein Problem, wo um Gottes willen kann ich noch mindestens zwei Teilnehmerinnen auftreiben. Ich erinnere mich, auf einer Frauentagung eine Autorin kennengelernt zu haben, die ein Erfolgsbuch zum Thema Abnehmen geschrieben hat und ebenfalls Diätkurse veranstaltet. Ich rufe sie an. Cornelia will zu meinem großen Erstaunen gleich selbst mitmachen. In zwei Wochen werde sie nämlich wieder einen ihrer sehr erfolgreichen Diätkurse »Spielend abnehmen« abhalten. Nur habe sie in den letzten Wochen derart an Gewicht zugelegt, daß sie sich unmöglich den Teilnehmerinnen des Kurses überzeugend als Vorbild präsentieren könne. Ihre eigene Methode wirke bei ihr nicht mehr.
Nun fehlt nur noch eine Teilnehmerin. Kurz entschlossen schlage ich Laura vor, sich doch nicht so kleinlich an die Teilnehmerinnenzahl zu halten, sondern einfach mal das Gesamtgewicht der teilnehmenden Frauen zusammenzuzählen. »Wir vier bringen ein Gewicht zusammen, da könnte man mindestens sechs bis acht schlanke Menschen daraus formen.« Das leuchtet ihr ein. Gleich Anfang der Woche soll es also losgehen. Freudig packe ich meine Siebensachen zusammen, alles vom Hotel frisch gewaschen und gebügelt. Dann fahre ich los. Ich habe einen Plan von Laura erhalten, mit genauer Reisebeschreibung. Mühelos finde ich den Weg. Das Haus befindet sich unweit vom schuhschachtelgroßen Häuschen, das ich damals für Sebastian und mich für unsere allererste Liebesnacht gemietet hatte. Nach zehn Monaten intensivstem Liebesgeflüster per Brief hatten wir 48 Stunden Zeit, all unsere Illusionen und Träume in die Realität herunterzuholen. Die kleine Räuberbraut hatte bereits seit drei Tagen nicht mehr schlafen können. Sie explodierte beinahe vor Aufregung. Vor allem beschäftigte sie Tag und Nacht die Frage, was sie anziehen wollte. Schließlich sollten es Kleidungsstücke sein, die sich nicht nur mühelos öffnen ließen, sondern auch noch möglichst verführerisch über die mit köstlichen Essenzen eingeriebene kurvenreiche, aber damals noch schlanke Körperlandschaft glitten, akustisch umrahmt von aufregendem Knistern fallender Textilhüllen. Sie stellte fest, daß es völlig unerotische
Stoffe gibt, die sie vor ein kaum überwindbares Problem stellten. Es war Herbst und im bergigen Engadin zweifellos schon sehr kalt. Sollte sie einfach warme Unterwäsche anziehen und sie dann kurz vorher klammheimlich auf dem Klo gegen Lieblicheres auswechseln? Oder bereits frierend die Reise antreten? Vielleicht würde ihr die Zeit fehlen, sich vorher umzuziehen. Schließlich hatte Sebastian angekündigt: »Ich werde Dich achtundvierzig Stunden lang auf Händen tragen! Mit kurzen Unterbrechungen allerdings. Und etwas längeren. Da werden wir auf Lustwogen ins offene Meer hinausfluten, auf dem gischtspritzenden Wellenkamm davonreiten, einmal Du oben, ich unten, dann wieder umgekehrt, einmal bin ich hinter Dir, um gleich wieder irgendwo wie ein kleiner Kobold zu verschwinden und mit dein nächsten Atemzug wieder unverhofft zwischen Deinen weißen, weit geöffneten Schenkeln aufzutauchen. Ach, Lenchen. Es werden unvergeßliche Stunden sein!« Er hatte recht. Nach 48 Stunden war die Herrlichkeit ausgetrunken. Ich brachte ihn zum Gefängnis zurück. Er verschwand hinter dem großen Eisentor. Dann ließ er nichts mehr von sich hören. Kein Brief. Nach elf bangen Tagen erhielt ich das erste Lebenszeichen. Ein Gedicht von Villon. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger: »Die Bäume standen alle grau und krank im Wald herum, weil in dem Bach der Tag ertrank. Du aber warfst die Kleider fort vom Leib und hast ein weißes Licht
mir angezündet, du, mein Abendweib, mit Wurzelhaar und Tiergewicht. Und immer werden meine Augen hell und weit, wenn in der Nacht mir solch ein Mond erscheint. Die Bäume wuchsen in den Mai hinein und wollten nicht mehr grau und einsam sein. Ich aber weiß nicht, wo du weilen magst, ich weiß nur, wie du hautnacktheiß Und über uns der Mond zog seinen Kreis die lange Nacht und hat mich still und hat mich krank gemacht. Ich bin nach deinem Muttermal so krank, das sich an meinem Blut betrank. Das werd' ich manche Nacht im Wald noch wissen ... du, noch einmal kehr zurück, im weißen Kleid. Bald bin ich alt und wie die Bäume krank und leer... Doch heute, in dem milden Licht, wie quält es mich nach Wurzelhaar und Tiergesicht.« Es dauerte nochmals zwölf endlose Tage, bis der erste kurze Brief kam. »Hallo, Du Wurzelweib! Der Nachtflug über den Ozean hat mich in die Knie gezwungen; Und sprachlos gemacht. Wollte Dir weder Melancholie in die Ohren plärren noch die kleinen Hörmuscheln mit Kummermüll vollstopfen. Deshalb die Verspätung. Bin inzwischen wieder an Land gerobbt und wohlauf. Und ganz der alte. Maulwurf läßt grüßen.« Das Diäthaus ist zwar größer als mein damaliges Liebesnest. Aber trotzdem für fünf Personen viel zu klein. Da sich aber Raina sofort mit Cornelia
anfreundet, und die beiden spontan darauf bestehen, zu zweit in einem Zimmer zu wohnen, ist das Problem gelöst. So bleibt für mich das kleine Dachzimmer, abgeschrägt und sehr gemütlich, das winzige Fenster gibt den Blick in die herrliche Landschaft frei, unter mir das ruhende Tal, dahinter Bergkulissen, die entschlossen den Horizont begrenzen, der Himmel stahlblau über mir, einige Sonnenstrahlen, die etwas verloren durch die mächtige Krone des Kastanienbaums vor dem Haus blinzeln, die unverhältnismäßig wuchtig beinahe über das ganze Hausdach reicht. Ein Raum, um sich wohl darin zu fühlen. Das Bett, wohlbehütet unter der Abschrägung, ein Stuhl ohne Lehne, ein kleines Gestell. Später bemerkte ich, daß die einzelnen Räume nur optisch voneinander getrennt sind. Das Haus ist ein Wunder an Hellhörigkeit. Jede hört alles von jeder. Wenn eine sich die Halskette umlegt, klirrt es durchs Haus. Jedes Öffnen oder Schließen eines Reißverschlusses erschüttert sämtliche Mitbewohner, von intimeren Verrichtungen ganz zu schweigen. Sophia leidet die ersten zwei Tage unter Totalverstopfung. Sie kann unmöglich, wenn alle ihr zuhören. Ich verrate ihr meinen eigenen Trick, den ich immer auf öffentlichen Toiletten anwende, die nur durch dünne Trennwände unterteilt sind und oben und unten offen sind: Ich halte mir einfach die Ohren zu. Dadurch bin ich sofort von der Außenwelt abgeschnitten, ich höre nur Geräusche aus meinen eigenen Eingeweiden und habe den Eindruck, allein auf der Welt zu sein. Wir besorgen uns Ohropax, um auch für
andere Aktivitäten die Illusion aufrechtzuerhalten, ungestört und allein zu sein. Laura, unsere Diätkursleiterin, ist in Hochform. Und sie hat guten Grund dazu. Schließlich ist sie als einzige mit ihrer Figur zufrieden. Äußerst zufrieden! Sie eröffnet den Kurs wie folgt: »Liebe Frauen, nehmt euch ein Beispiel an mir. Ich bin jetzt siebenundvierzig und wiege noch immer gleich viel wie mit siebzehn, nämlich achtundvierzig Kilo und kein Gramm darüber, und Willi hat mich noch nie mit einer anderen Frau betrogen, nicht einmal im Traum oder in der Phantasie, er hat ja schließlich auch keinen Grund. Zwei Schwangerschaften habe ich hinter mir. Bei der ersten habe ich nur zwei Kilo zugenommen, bei der zweiten sogar nur ein Kilo und neunhundert Gramm. Es gehörte zu meinem Ziel, niemals mehr als fünfzig Kilo zu wiegen, auch nicht während der Schwangerschaft. Das erste Kind wog drei Kilo hundertfünfzig, das zweite sogar drei Kilo vierhundert. Jetzt könnt ihr selbst ausrechnen. Und wie habe ich das erreicht? Es scheint eine echte Frage zu sein, denn sie blickt uns alle an und wartet. Wir sitzen ratlos da, mehr oder weniger eingeklemmt zwischen Eckbank und Eichentisch. Sophie hat den ungünstigsten Platz erwischt, ihr Bauch stößt direkt an die Tischplatte. Während wir überlegen, räkelt sich Laura auf ihrem Stuhl. Sie hat unter dem Tisch unendlich viel Platz, so daß sie die Beine locker übereinanderschlagen und sich seitlich hindrapieren kann, sich mit der einen Hand lässig auf der Sitzfläche abstützt, während sie mit der anderen sichtlich mit Genuß über den vorstehenden
Hüftknochen kreisende Streichbewegungen macht. Sie reckt ihren schmalen Hals kerzengerade in die Höhe: »Na, und? « Dabei schiebt sie ihre absolut doppelkinnfreie Kieferpartie nach vorn, richtet den ganzen Gesichtsausdruck himmelwärts, fest entschlossen, uns eine Antwort abzuringen. Neben dieser spannungsgeladenen Drahtbürste wirken wir alle wie formlose Säcke. Raina äfft sie genervt nach. »Na und? Ich nehme an, zwei Karotten, anderthalb Selleriestangen und vier Liter Wasser pro Tag.« Laura entzückt: »Nicht schlecht, gar nicht schlecht.« Dann schreitet sie zum ersten Grundsatz: Wenig essen, vor allem Ballaststoffe, und viel trinken. Nichts Neues, denke ich. Die Lektion geht weiter. »Aber das genügt noch lange nicht«, spricht Laura mit Nachdruck. »Wir müssen auch für eine gute Verbrennung besorgt sein. Und Verbrennung findet statt, wenn wir uns bewegen. Also müssen wir uns bewegen.« Auch dies ist nicht neu, und ich überlege kurz, ob uns Laura auf die Berge und wieder hinunter hetzen wird. Aber es kommt noch schlimmer. »Um sich zu bewegen, braucht man keine großen Wanderungen zu machen, das können wir an Ort und Stelle, ohne uns auch nur einen Meter fortzubewegen.« Sie springt flink von ihrem Stuhl auf und beginnt federleicht mit beinahe gestreckten Beinen zu hüpfen. Ohne aufzuhören. Nein, sie spricht dabei lächelnd weiter, hüpft und lächelt, sie steigert sich noch, indem sie nur auf einem Bein hüpft. Sophia wendet fast
angewidert den Kopf von diesem Schauspiel ab. Laura aber hüpft weiter und erzählt dabei ausführlich, wie sie selbst während ihrer Schwangerschaften nicht auf diese wohltuende, energieverbrennende Hüpfübung verzichtete und beim ersten Kind bis zwei Tage vor dem Geburtstermin, beim zweiten noch am Morgen der Geburt federnd vor sich hin hüpfte, ja, gewissermaßen in die Geburtswehen hineinhüpfte. Laura streicht sich nun, noch immer hüpfend, mit beiden Händen über ihre Hüftknochen, die unübersehbar sind und wohl den markantesten Punkt in ihrem Körper darstellen. Sophie ist sauer. »Mit mir nicht. Ich dachte, das sei etwas Vernünftiges zum Abnehmen. Und jetzt bietest du einen jämmerlichen Turnkurs an. Ohne mich! « Und nur der Tatsache, daß ihr Bauch hoffnungslos zwischen Eckbank und Tischkante eingequetscht ist, ist es zu verdanken, daß sie nicht unverzüglich aufspringt und geht. Laura referiert weiter: »Bis jetzt habe ich ja nichts Unbekanntes vorgebracht. Aber jetzt kommt die absolute Neuigkeit. Nach neuesten amerikanischen Forschungen ist es eindeutig erwiesen, daß der Stoffwechsel, also die Verbrennung, wesentlich verbessert wird, wenn zusätzlich zu der Bewegung alle fünfundzwanzig Minuten eine kleine Mahlzeit eingenommen wird.« Das kann sich hören lassen, und wir atmen alle fröhlich auf. »Tatsächlich alle fünfundzwanzig Minuten? « will ich mich vergewissern. »Ja, so ist es«, bestätigt Laura.
Alle 25 Minuten etwas essen können, einfach paradiesisch! Als dann aber Laura konkreter wird und uns feierlich mitteilt, daß wir pro Mahlzeit zwölf gekochte Reiskörner essen dürfen, gut eingespeichelt und fünfzigmal gekaut, möchte ich die Kur abbrechen. Ich rechne mir sofort die messerspitzgroße Portion aus. 25 Minuten hin oder her. Sophie bekommt einen hysterischen Lachanfall, Raina flucht, daß die Wände wackeln, nur Cornelia bleibt unbekümmert und unbeeindruckt. Seit neuestem hat sie ein rezeptpflichtiges Präparat gefunden, das den Appetit ziemlich zu zügeln vermag. Aber sie fühlt sich aufgedreht, angekurbelt und fahrig, gelegentlich auch allem etwas fern, und vor allem wiederholt sie jeden Satz mindestens dreimal. »Hör bloß mit diesem Zeug auf, du bist schon ziemlich am Verblöden mit deinen Wiederholungen«, meint Sophie unverblümt. »Ja, äh, ich weiß, äh, ich weiß, ich weiß.« Auch Raina wiederholt sich laufend. Hubertus. Dieser Hund. Wanda, die elende Schlampe. Gott sei Dank ist das Baby tot. Das ist wenigstens Gerechtigkeit.
12 Wie ein Treuebruch die Lust auf die eigene Frau stimuliert und eine systematische Willensschulung erfolgt
Laura hat nicht nur eine klare Vorstellung davon, wie sie uns den Speck vom Leib herunterholen will, sie ist auch davon überzeugt, daß übergewichtige Menschen einer gezielten Nacherziehung bedürfen. »Übergewicht entsteht durch zu viel Essen. Also muß man weniger essen. Und wer nicht weniger ißt, obwohl er es will, ist willensschwach. Das ist alles.« Mit ihrer Diätkur hat sie deshalb auch noch eine Willensschulung kombiniert. Und am besten, so Laura, kann man den Willen schulen, indem man lernt zu schweigen. Es gibt pro Tag eine Stunde der Geselligkeit, da wir miteinander sprechen dürfen. Sonst wird außerhalb der Gruppenstunden geschwiegen. Gleich am ersten Abend kommt dann aber noch die Hauptlektion: Sexualität. Laura meint, übergewichtige Menschen seien im Grunde genommen nicht fähig, eine normale Sexualität zu praktizieren. Die dicken Frauen mit ihren riesigen Bäuchen, Schenkeln und Ärschen, ohnehin für jeden Mann eine abscheuliche Zumutung, unappetitlich, unästhetisch, ungeheuerlich. Es gibt Frauen, die sehen nicht einmal mehr über den Bauch zu ihren Schamhaaren. Einmal hatte sie eine 52jährige Teilnehmerin in einem Diätkurs, die nicht einmal wußte, daß ihre Schamhaaare grau, absolut mausgrau
geworden waren. Und wenn wir meinen, damit noch einen Mann sexuell stimulieren zu können, hätten wir uns gehörig getäuscht. »Es gehört zur selbstverständlichen Pflege jeder Frau, sich auch um diese Gegend kosmetisch zu kümmern und nicht nur eine Haartönung auf dem Kopf vornehmen zu lassen, sondern auch unten wieder etwas Farbe mit ins Spiel zu bringen.« Auf jeden Fall hat sie für uns alle kleine Zahnbürsten und Joghurtgläser mit verschiedenen Tönungsshampoos bereitgestellt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn unsere Männer fremdgehen und sich bei einer ranken, schlanken Frau amüsieren und sexuell befriedigen. Aber die meisten Frauen kommen nicht einmal auf die Idee, den Fehler bei sich selbst zu suchen, sondern fallen immer nur über die Männer her und beschimpfen sie. Nun will sie einen Gesprächsabend einführen, an dem jede von uns in puncto Sexualität die Karten auf den Tisch legen soll. Nach dieser Einleitung schleicht Sophia aus dem Raum. Kurz darauf kommt sie, weiß wie ein Leintuch, zurück: »Ich habe mich mit Hilfe meines Spiegels informiert. Bei mir ist kein einziges graues Haar vorhanden. Es sind überhaupt fast keine mehr da!« Und dann heult sie los. Hemmungslos und herzerweichend. Laura eilt zu ihr, beruhigt sie einerseits, andererseits ermutigt sie sie, den Schmerz zuzulassen. Dann springt sie. in die Küche, holt ein Stück Gartenschlauch, drückt ihn Sophia in die Hand und fordert sie auf, auf einen Stapel Zeitungen, den sie sofort zurechtgerückt hatte, einzuschlagen und loszuschreien. Sophia will nicht. Laura wirft ihr vor, sie sei eigensinnig und wolle nichts lernen.
Dann fordert Laura uns auf, mit dem Schlauch auf die Zeitungen einzuschlagen, um unsere Wut loszuwerden. Ich bin nicht wütend, weiß im Moment gar nicht, weshalb ich wütend sein soll. Laura hilft nach, ich müsse mit diesem Übergewicht zweifellos große sexuelle Probleme haben und solle mich jetzt nicht so anstellen und so tun, als ob bei mir alles in Ordnung sei. Raina hingegen liefert die gewünschte Wutinszenierung. Sie kreischt, zetert, flucht und schreit, während sie mit dem Schlauch auf die Zeitungen eindrischt. »Du verdammtes Luder, du Hure, Scheißhure, verdammter Kotzbesen« und so weiter. »Na, siehst du! « Laura ist zufrieden. Cornelia macht nicht mit. Laura erklärt uns hinterher, daß sie diese Methode »Schlagen mit Schlauch auf Zeitungen« einmal in einem Trauerseminar kennengelernt habe. Sophia kommt noch kurz vor Schluß auf Touren und beschimpft Laura als »abgehalftertes Klappergestell«. Diese Aussage wird dann den Auftakt am nächsten Morgen bilden, weil Laura darauf beharrt, daß Sophie sich bei ihr entschuldigt. Sophie weigert sich. Da wir uns gemeinsam weigern, die Hüpfbewegungen auszuführen, ist Laura verärgert. Sie besteht darauf, daß wir wenigstens mit ihr auf der Wiese stehen und die frische Bergluft in unsere Lungen einströmen lassen, während sie unermüdlich in die Luft springt und motivierend lächelnd oder ziemlich säuerlich ihr tägliches Pensum demonstrativ absolviert. Wir stehen um sie herum und machen mit den Armen die
Hüpfbewegung mit, als ob wir fliegen wollten, das bringt Laura noch mehr in Schwung. Sophie meint, wir hüpften eben mental, und das sei doch in jedem Abmagerungsprogramm mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar am wichtigsten. Gegen Nachmittag, nach etwa der achtzehnten Mahlzeit, bekomme ich ein schreckliches Schädelbrummen und falle in einen der Bewußtlosigkeit ähnelnden Meeresschlaf. Kielwärts hängt schwer mein Bauch, mit tausend kleinen Muttersaugnäpfen parasitenübersät. Weniger ein Schiff als eine übergroße Müllschiffsdeponie. Nachtwanderung, durch Darmkanalisationen robben. Abtransport von Sondermüll. Trotz allem entschlossen, durch und durch. Alle Nachschubkanäle dichtgemacht. Nur zwölf halbstündlich verabreichte Reiskörner, ködernd am Fischhaken ins Wasser geworfen. Dazwischen auftauchen, den Kopf übers Wasser halten, Orientierung suchen. Wo sind die andern? Stimmen. Weit entfernt und dicht am Ohr. Raina und Cornelia. Im Zimmer nebenan. Schrill. Laut. Wo sind die Ohrstöpsel? Bleischwer das Gliedmaßenwasserwerk. Im Kopf tausend giftige Geigenvirtuosen. Raina läuft über. Sprudelt. Ohne Punkt und Komma. Hubertus, ach, ihr Liebgemahl, und Wanda, diese elende, abscheuliche Schlampe. Ihre einstige Freundin. Beste! Wohl dosierter Betrug. Über Jahresraten erschlichen. »Die Sache mit dem toten Baby geschieht ihr recht. Soll sich nicht in fremde Betten schleichen, kotz- und magersüchtig. Fressen ja! Aber nicht dazu stehen. Hubertus ist ein Idiot. Fiel prompt auf dieses
Weib herein. Dabei sind sie doch glücklich gewesen. Er. Und auch sie. Zwei Kinder. Wie kann das sein. Die Männer sind alle gleich! Er ist zwar glücklich verheiratet, steigt aber jedem Rock sofort nach, fährt sein Rohr aus und steckt es flugs in jede Rille, Ritze, Falte, bohrt in jedes Loch, drechselt in jede Vertiefung, schraubt in jede Windung, plumpst in jede Grube. Und ausgerechnet bei Wanda, dieser dummen Nuß produziert er Nachkommen! Nachkommen! Ich habe es seit einem Jahr gewußt. Die verdammte Heimlichkeit flog auf, plötzlich, aus heiterem Himmel. Ich kam zu früh von einer Reise zurück. Und da lag sie in unserem Ehebett. Er japste auf ihr wie ein Frosch. Sie, so klapprig dünn und mager, verschwand total unter dem schweinchenrosaroten Japsfrosch. Ich dachte, er sei krank, im Kopf, am Durchdrehen, faßte ihn bei den japsenden Wippschultern. Da sah er mich. Erstarrte. Bleich. Leichenbleich. Und da entdeckte ich diese elende Schlampe unter ihm, dünn wie ein Leintuch. Er in ihr. Ich riß ihn von ihr runter. Und dann habe ich sie verprügelt, bis sie winselnd wie ein Hund davonschlich, nicht ohne sich vorher noch ihre grießbreiweiße Baumwollunterhose anzuziehen. Hubertus blieb Herr der Lage. Ich soll nicht ausrasten. Es sei doch nichts dabei. Im Grunde liebe er nur mich. Das sagte er, als Wanda weg war. Ich heulte die ganze Nacht. Davor habe ich ihm noch seine Stereoanlage samt allen CDs ruinniert. Hubertus wollte das Verhältnis zu Wanda beenden. Doch dann legte sie sich ins Bett und hörte zu essen auf. Hubertus mußte jeden Tag an ihr Bett, sie zum Essen motivieren. >Ein
Löffelchen für Mama, eins für Papa und eins für mich.< Sobald er von ihrer Bildfläche verschwand, hörte sie sofort wieder auf. Und er, dieser Vollidiot, sprang sofort wieder auf diese Masche an. Diese miese Hexe hatte ihn ganz schön in der Zange. Unter seiner fürsorglichen Pflege genas sie erstaunlich schnell. Das Verhältnis ging weiter. Obwohl er mir versicherte, es sei aus. Aus und vorbei. Aber ich roch es, suchte nach Beweisen. Ich suchte. Ich wollte es genau wissen. Und da, da entdeckte ich das Liebesnest, eher zufällig als dedektivisch superschlau. Ich ging eines Abends noch in sein Büro, weil ich meine Agenda bei ihm vergessen hatte. Er saß noch an seinem Schreibtisch. Er hatte mich wohl nicht eintreten gehört und führte deshalb sein Telefongespräch weiter. »Also«, flüsterte er, »heute, um ein Uhr, in der Kapelle.« Gegen elf Uhr gingen wir ins Bett. Wie immer. Noch etwas lesen. »Schatz, schlaf gut.« Händchenhalten. Hänsel und Gretel. Und dann blieb ich wach. Mit Herzklopfen. Wie macht er das wohl? Wecker kann er nicht stellen. Wir lagen beide wach und warteten. Traumhaft schön, nicht wahr? Dann wurde mir klar, er wartet, bis er denkt, ich sei eingeschlafen. Dann atmete ich tief und schwer. Kaum zu glauben. Nach den ersten drei Atemzügen schlich er sich behende aus dem Bett, zog sich lautlos an und verschwand. Ich hinterher. Zuerst mußte ich mich noch anziehen. Und dann machte ich mich auf den Weg zur Kapelle. Es war kurz vor zwölf, und ich nahm nicht an, daß Wanda schon unterwegs oder bereits da war. Als ich jedoch die
Kapellentür aufmachen wollte, war sie verschlossen. Ich wartete hinter einem großen Blumenstock in der Fensternische. Und wartete. Es ging schon gegen ein Uhr. Keine Wanda weit und breit. Ich war viel zu dünn angezogen und fror jämmerlich. Aber ich hätte meinen Posten um nichts in der Welt aufgegeben. Um halb zwei war sie immer noch nicht da, und ich begann zu überlegen. Erst da begann ich zu vermuten, daß sie wohl schon lange vor Hubertus hineingegangen war, um auf ihn zu warten. Als er dann kam, schob er den Riegel vor, und die Tür war verschlossen. Wie blöd ich war. Ich hatte es mir so schön vorgestellt: Wanda würde leise mit ihrer mageren Pfote an die Tür klopfen, Hubertus würde eilends öffnen und sie zärtlich in seine verheirateten Arme schließen und zu sich in die Kapelle ziehen. Ich würde wie eine Rakete aus der Ecke springen, würde mich mit ihnen in die Kapelle drängen, mich breit in die vorderste Bank fläzen und sie auffordern: »Nur zu!« Ich würde aus vollem Halse schreien: »Nur keine Hemmungen. Vögelt, bis der Altar zusammenkracht. Fickt euch wund! Bumst euch zu Tode!« So hatte ich es mir ausgedacht, und ich muß zugeben, ich fühlte einen eigenartigen Schmerz, süßbitter, Wehwohl, der mich faszinierte. Gegen drei Uhr platzte ich fast vor Wut und ging nach Hause. Ich war total durchgefroren. Ich schlief sofort ein. Bleischwer. Gegen sieben weckte mich Hubertus, küßte mich mit absolut unverständlicher Leidenschaft, bestieg mich sofort und besorgte es mir einmal von vorne, einmal von hinten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber ich war zu müde und zu verwirrt, ihn
abzuwehren. Zudem, das gebe ich zu, triumphierte ich über diese Hexe und nahm mir vor, es ihr brühwarm zu erzählen. Ha, hast wohl mit deinem Knochengerüst doch nicht so viel Wonne ausgelöst, daß er sich noch in mein Übergewicht hineinbohrt. Ich fand heraus, daß sie sich jeden Donnerstag trafen. So wurde der Donnerstag zu meinem unglücklichen Feiertag, und ich versuchte stets, Hubertus von seinem Treffen abzuhalten. Ohne Erfolg. Jour fixe. Ich inszenierte kleine und größere Pannen, setzte Einladungen auf den Donnerstagabend an. Er fand immer das Zeitloch um ein Uhr, wo er einfach lautlos verschwand. Nichts konnte ihn abhalten.« Rainas Stimme dringt verzerrt zu mir ins Unterwasserreich, schlingt sich um tang- und algenübersäte Wrackteile, und ich irre orientierungslos zwischen den Geschichtsfetzen. Ratlos liege ich in meinem Bett, ein halb angefressener Mond hängt im Fenster, das gekippt (von wem?), einige Zentimeter blanker Nacht in mein Dasein strömen läßt. Und der angeknabberte Mond zieht seine Bahn, nagt am Gesicht und nestelt sich ins ungewaschene Haar. Da rücke ich ihm mein Kissen hin, damit er schlafen kann. Ich drehe mich ins Dunkle, falle aus mir heraus, hinab, hinab zum Wiesengrund, wo mich Sebastian in Empfang nimmt. Im Liebesland, wie zu alten Zeiten. Er flüstert mir Villons Worte in mein Ohr, die schönsten Mausworte, mein allerliebstes Mausgedicht: »Es schwamm der Mond in mein Gemach hinein, weil er da draußen so allein bei den entlaubten Bäumen stand.
Im milden Licht der Winternacht habe ich mich zu den Mäusen aufgemacht. Du fragst, warum denn nur? Hört zu, es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein.« Ich habe ihm ein Kissen hingerückt, damit er ruhen konnte, und er tat's beglückt sich untern Kopf. Ich legte ihm die Hand schnell auf die Augen, und da schlief er auch. Mich aber plagte schlechte Luft im Bauch. Sie plagte mich, bis eine Uhr schon zwölfe schlug. Da hatte ich verdammt genug und ließ sie ab, die Luft. Davon ist zwar der Mond nicht aufgewacht, doch in dem Fenstereck die Mäusefrau. Sie hat im ersten Schreck geboren, was noch gar nicht fällig war. Die kleinen rosa Schnauzen piepsten da so nett, daß ich sie zu mir nahm ins warme Bett.. Mein Gott, die lütten Dinger, noch ganz nackt und blind: Wie hat das Elend mich gepackt! Ich glaub, daß mir Nasses in die Augen kam. Dabei hat manches Mädchen schon von mir ein Kind gekriegt und starb vor Scham. Die armen Würmer aber kuschten sich in meine Hand, als wäre ich ihr Vater Mäuserich. Zuletzt war auch die Mäusefrau so zahm geworden, daß sie schwänzelnd zu mir kam. Die schwarzen Augen glänzten froh und groß in mein Gesicht hinein. Und plötzlich war ich auch so mäuseklein wie dieses Tier und nahm es in den Schoß. Ich habe wohl die ganze Nacht mit ihr verbracht und an kein andres Weib dabei gedacht.
Unbezähmbare Sehnsucht. Ich will zu Sebastian, zurücktauchen, zurück in seine aufregende Mäusewelt. Inzwischen hat sich der angenagte Mond aus dem Staub gemacht. Ich schließe das Fenster. Am nächsten Morgen um sechs Uhr fünfzehn dröhnt ein absolut penetrantes Violinkonzert durch das kleine Haus und schleudert uns aus den Federn.
13 Wie Brüche im Weltbild gekittet werden und sich der Verdacht, betrogen zu werden, nicht bestätigen lässt
Bei genauem Hinhören entpuppt sich die Penetranz darin, daß Laura sopranistisch zum Geigenkonzert mitträllert. Ihr Gesang ist unzumutbar. Laura ist total gut drauf. Die erste, schwierigste Hürde hätten wir alle mit Bravour genommen. Ich möchte mit den anderen zum »Frühstück« gehen. Aber als ich aus dem Bett steige, überfällt mich ein Schwindel und zieht mich spiralförmig bodenwärts, wo ich liegenbleibe und auch nach längerer Zeit keinerlei Lust verspüre, mich jemals wieder zu erheben und es eventuell noch einmal zu versuchen. Laura eilt herbei, macht mir kalte Umschläge auf Stirn und Unterarme, was ich als sehr wohltuend empfinde, wenngleich ich dabei keinerlei Impulse verspüre, mich aufzurichten. Ich werde ins Bett hochgestemmt, alle scheinen mitzuhelfen. Es ist mir alles scheißegal. Ich döse vor mich hin und will nur noch eins: meine Ruhe. Diese wird mir freundlicherweise gewährt. Ich bin ab sofort von allen Gruppenaktivitäten befreit, einschließlich der morgendlichen und abendlichen Hüpfübungen. Das Haus ist ohne Telefon, glücklicherweise, und so klingelt niemand dazwischen. Felix gehört zu einer anderen Welt, ist weit weg, lebt auf einem anderen Stern. Mein Natel liegt ausgeschaltet in der
Reisetasche. Ich hatte zwar versprochen, ihn gleich nach der Ankunft anzurufen. Aber, was soll's. Er wird es schon merken, wenn kein Anruf kommt. Allmählich kehrt die Erinnerung an die Geschichte von Raina zurück, die ich gestern nacht mitgehört hatte —ohne zu wollen. Und eine Frage beginnt mich nun immer stärker zu beschäftigen. Ist Hubertus ein exotischer Vogel, ein hochneurotischer und gestörter Mann, ein verantwortungsloser Bandit, ein Sexbesessener oder sonst ein hirnverbrannter Idiot? So viel ist mir klar. Hubertus scheint kein Einzelfall zu sein. Allein aus meinem persönlichen ganz intimen Repertoire fällt mir sofort eine ganze Reihe von Namen ein. Allen voran Sebastian. Wie hat er doch der kleinen Räuberbraut das Blaue vom Himmel heruntergequasselt. Welch liebestolle Symphonie ließ er erklingen! Und sie, GeierWalls vom Lande. Glückstrotzend und -strahlend. Als er entlassen wurde, folgten drei knappe heiße Wochen. Dann kühlte die Glut jäh ab. Bei ihm jedenfalls. Und er konnte sie erst wieder anfachen, wenn ihm eine hübsche Serviertante schöne Augen machte. Er fand nichts dabei. Auch nicht, wenn es nicht nur beim Augenschein blieb, sondern zu hand- und vor allem stichfesteren Kontakten kam. Er sei ein Jäger durch und durch. Archaisch, in jeder Zelle eingraviert, er müsse jagen, das Wild erlegen, und erst wenn es vor ihm liege, komme er kurzfristig zu einem Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit. Lang halte es nicht an. Bald müsse er sich wieder aufmachen, das Gewehr schultern und auf die Pirsch eilen. Ein absolut natürlicher Vorgang. Als Kind ist er auf Bäume geklettert, hat im Wald
Hütten gebaut und Räuber und Gendarm gespielt und abenteuerlich die Welt erkundet. Später hat sich dieses Grundpotential an Energie auf andere erkundbare Objekte verlagert. Die Energie ist dieselbe geblieben, nur die Ziele haben sich verschoben ... Sie stritten sich oft. Die kleine Räuberbraut wollte ihn für sich allein haben. Als sie begriff, daß dies nicht möglich war, wollte sie ihn nicht mehr. So nicht. Entweder ganz oder gar nicht. Einen, der stets anderen hinterherjagte und darüber hinaus behauptete, das sei alles sehr natürlich, so einen wollte sie nicht. Mein Dasein wird halbstündlich von zwölf Reiskörnern unterbrochen, dazwischen trinke ich gallonenweise Tee und robbe bodennah zur Toilette, um das seit Jahren angesammelte Gift herauszupinkeln. Die übrige Zeit döse ich vor mich hin, folge dem Herumschlendern der Gedanken beinahe interesselos. Dazwischen dringt Rainas Fortsetzungsgeschichte ins Zimmer: »Nichts konnte Hubertus davon abhalten, jeweils in der Nacht zum Freitag zum Kapellenstelldichein zu gehen. Ernst, Wandas Mann also, wußte zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon. Er wertete Hubertus' Engagement während Wandas Hungerstreik als besonderen Ausdruck von Männerfreundschaft. Ernst besuchte über längere Zeit einen Kurs für biologische Landwirtschaft, der immer donnerstags/freitags stattfand. Für mich war es eine beinahe unerträgliche Situation. Ich war ganz sicher, wenn ich Hubertus mit meiner Entdeckung konfrontierte, würde er es einfach abstreiten, und ich stünde als die Hysterische, die Blöde da, die sich
hoffnungslos in ein Hirngespinst verrannt hatte. Ich mußte sie unmittelbar dabei ertappen, ihn der Lüge überführen. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, es wollte mir einfach nicht gelingen. Einmal wollte ich besonders gerissen sein und kündigte schon Anfang der Woche an, daß ich am Donnerstag zu einer Freundin ginge und dort auch übernachtete. Dann wartete ich den ganzen Tag im Auto, nachts schlich ich mich dann in die Kapelle, versteckte mich und wartete. Es wurde ein Uhr. Dann zwei Uhr. Dann drei Uhr. Dann wurde mir klar, daß ich einen Denkfehler begangen hatte, daß sie sich nicht in der alten Kapelle, sondern in unserem warmen Ehebett vergnügten. Die Haustüre war von innen verschlossen, und ich konnte nicht ins Haus. Sollte ich läuten wie eine Fremde? Da dachte ich, am besten wäre wohl, eine Bombe zu zünden und alles in die Luft zu jagen. Ich verbrachte die Nacht im Auto und phantasierte dies und das. Ja. Ich war am Ende. Total.« Obwohl mir Laura versichert, daß ich das Anfangstief hinter mir hätte, macht es nicht diesen Anschein. Ich versinke immer wieder in bleischweren Schlaf, wate durch dunkle, noppenbehangene Darmfloralandschaftsgänge. In Nischen, mit dunkelrotem Samt ausgeschlagen, frönen Menschen unbekümmert ihrer Lust. Felix ist auch dabei. Er besteigt ein wunderschönes Mädchen und bohrt ihr mit spitzem Insektenrüssel in den Bauchnabel. Sie wippen auf und ab und stöhnen fürchterlich. Ich stehe vor der Nische, schaue zu und denke, so ist das also. Die anderen Herren in den anderen Nischen kenne ich nicht.
Jedesmal, wenn ich in Schlaf versinke, werde ich von schrecklichen Bildern gepeinigt, Felix also auch einer dieser elenden Hunde, die nichts anderes zu tun haben, als hinter anderen Weibern herzujagen. Zwischen halb wachem und halb schlafendem Bewußtsein pendeln, zwischen halbherziger Wut und halbherzigem Schmerz. Vielleicht zeigt der Traum eine Wahrheit, die ich sonst nicht wahrhaben will. Oder ich inszeniere im Traum meine Ängste. Oder Wünsche. Vielleicht bin ich Felix. Delegiere meine eigenen Fremdgehwünsche an ihn. Diese verdammte Fasterei bringt alles durcheinander. Erhitzt den Innenraum, bringt Zellformationen durcheinander. Später dann, Gott sei Dank, läßt der Sturm nach. Allmählich beruhigen sich die Bilder. Bis endlich alles still wird. Kein Windhauch, der durch die Seele weht. Urflutartig wie einst zu Beginn, als die Erde wüst und leer war und eine große Finsternis über dem Wasser lag. Ich bin Teil davon, schwebend, bewußtlos eingewoben, nur gelegentlich spült der Atem eine kleine Erkenntnis in das Gemüt, für den Bruchteil einer Sekunde, und ich fühle, daß ich bin. Nach einer zeitlosen Trübnis dringt ein schmales Morgenlicht durch eine Ritze in das Zimmer und mit ihm eine winzige Heiterkeit, die mir Lebensfreude einhaucht und mich aus dem Bett kriechen läßt. Ich öffne Fenster und Läden weit und lasse mich vom frischen Lichtquell erquicken. Die bleierne Körperschwere ist gewichen. Ein schmetterlingsleichtes Wonnegefühl durchflutet Körper und Geist.
Ich werde weiterhin regelmäßig mit Tee und Reiskörnern versorgt. Was will der Mensch mehr. Dazu Wohlgefühl. Und den Eindruck seltener Klarheit im Kopf. Der Postbote hat zum erstenmal etwas gebracht. Raina erhält einen Brief von Hubertus, den sie an sich reißt und damit verschwindet. Felix schickt mir einen dicken Umschlag mit ersten Auswertungen meiner FremdgehUmfrage. Dazu noch einen Brief, in dem er anfragt, ob ich schon derart vom Fleisch gefallen sei, daß ich nicht einmal das Telefon einschalten könne. Seine Vorwürfe halten sich in Grenzen. Felix hat – voreilig wie oft – eine Vorauswertung der beantworteten Fragebogen erstellt mit der Überschrift: »...und bin so klug als wie zuvor« . Dazu kommentiert er, offenbar hätte ich dicht am Thema vorbeigefragt. Den Gründen partnerschaftlicher Untreue hinterherzuschnüffeln sei einfach völlig uninteressant! »Und nur die Menschen nehmen's so genau. Der Schmetterling fragt nicht die Blume: hat schon ein anderer dich geküßt? Und diese fragt nicht: Hast du schon eine andere umflattert?« Aha, mein Traum mit dem Insektenrüssel! Er fährt belehrend fort: »Viel interessanter wäre zu erfahren, welche Bedeutung Sexualität im menschlichen Leben überhaupt hat, was Sexualität mit Liebe zu tun und welche Kraft sie hat, daß sie imstande ist, uns zu Handlungen zu motivieren, die wir bewußt nicht wollen.«
Die Äußerungen machen ihn sehr verdächtig. Felix hat es schon immer ausgezeichnet verstanden, von der eigenen Waschküche abzulenken, um sich grundsätzlich über die Funktion verschiedener Waschprogramme den Kopf zu zerbrechen. Um mich nicht, getrieben von rasender Eifersucht, ins Auto zu werfen, nach Hause zu fahren und zu überprüfen, ob am Insektenrüsseltraum nicht doch was Wahres dran ist, packe ich den mir zugeworfenen Gedankenknochen und nage an der Frage herum, was denn die Sexualität für eine Energie ist und was sie im menschlichen Leben bewirken soll. Eines ist klar: Wäre die Sexualität nicht eine gigantische Kraft, die sich immer wieder gegen alle Vernunft durchsetzt, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Die Schöpfungsintelligenz hat der Sexualität eine gehörige Durchsetzungskraft verliehen, als Gegenkraft zum menschlichen Willen. Zwei Schwergewichte, wie im chinesischen Ringen, schnaubende, kolossal überfette Kontrahenten, die gegeneinander antreten. Darüber hinaus ist die Sexualität mit umfangreichen Lustquellen ausgestattet, die die meisten Menschen möglichst oft bis hinauf ins hohe Alter genießen wollen. Sexuelles Triebkraftwerk als Urkraft. Urantriebskraft. Motor, der das Leben in Schwung bringt, den Verstand vernebelt, den Willen lähmt und, ob wir damit einverstanden sind oder nicht, Leben reproduziert. Mit dem Begriff »Libido« bezeichnet Sigmund Freud die dem Geschlechtstrieb innewohnende Energie als Grundantrieb im menschlichen Leben. Somit sind wir
ziemlich dicht beim Tierreich stationiert, mit dem kleinen Unterschied, daß die Lust bei Mensch und Tier einen unterschiedlichen Stellenwert hat. Das Lusterleben des Tieres liegt in der Auflösung eines Spannungszustandes, wie etwa beim Durstlöschen oder Hungerstillen. Mein koitierendes Hundepaar in der Küche machte nicht gerade einen überaus glücklichen Eindruck, es stöhnte weder vor Wonnegefühl, noch jauchzte es vor Glücksempfinden. Es war eher zu vergleichen mit dem wohltuenden Nachlassen eines unerträglichen Unwohlseins, wie zum Beispiel nach einer langen Wanderung, wenn die Füße aufschwellen und brennen und man die Schuhe endlich ausziehen kann. Der eigentliche Geschlechtsakt dauerte nur wenige Minuten, hinterher blieben die Hunde noch mindestens eine halbe Stunde – wenn nicht länger – ineinander hängen, was sie mit dem gleichgültigsten Blick der Welt auf sich nahmen. Gleichwohl ist die Antriebskraft ungeheuerlich. Der Hundesamen will zum Hundeei. Wie der Tag hell und die Nacht dunkel werden will. Als ich das Hundepaar in der Küche vorfand, war mir nicht klar, daß in diesem Moment eine aus sich selbst sich erzeugende Materialkette entstehen würde. Nach 62 Tagen waren sieben kleine Hunde zu je 450 Gramm entstanden. Nach weiteren 14 Tagen wogen sie bereits 800 bis 900 Gramm, zusammen sechs Kilo, und öffneten die Augen. Da blickten plötzlich 14 kleine Augen in die Welt. Augen, die in der Lage waren, zu sehen. Einfach so, aus diesem einen Küchenmoment entstanden. Dann setzte die Pelzproduktion schnell ein. Ebenso die Nagelproduktion,
sieben mal zwanzig sonnenblumen-kerngroße Schildpattkrallen. Nach vier Wochen bildeten sich schneeweiße Zähnchen. Pro Hund 24, insgesamt 168 perlmuttweiße Zähne, eine kleine Elfenbeinzahnfabrik. Und alles begann mit dem einen Urknall in der Küche, mit dem absolut unbeherrschten Hundedrängen, dem keine Tür zu dick und kein Fenster zu hoch war. »Beruhigen Sie sich«, sagte der Tierarzt, als ich ihm euphorisch die Vermehrung unserer Hunde zu schildern begann, »das ist die Natur.« C.G. Jung ist es zu verdanken, daß der Begriff »Libido« aus dem auschließlichen Verständnis rein sexueller Energie erlöst und erweitert wurde, so daß sich nicht nur das Tierreich, sondern auch die Menschen darin wiederfinden. Er sieht vom sexuellen Inhalt ab und betrachtet die Libido als allgemeine psychische Energie, die die Intensität aller, also auch der nicht sexuellen psychischen Vorgänge bestimmt, wie Lebenswille und Lebenskraft. Freud hat mit der Erfindung der Psychoanalyse zweifellos Geniales geschaffen. Sein Libido-Begriff und die Fixierung auf rein sexuelle Inhalte läßt vermuten, daß sein persönliches Verhältnis zum anderen Geschlecht problematisch war und sein Frauenbild ziemlich schief hing. Seine Frau Martha sah er, als er noch nicht mit ihr verheiratet war, als sein Prinzeßchen, das er zwar anbetete, über das er aber bestimmte, später dann, als sie seine Frau geworden war, als sich ihm Unterzuordnende, die sich ausschließlich um sein Wohl und das der Familie zu
kümmern hatte. Den Frauen, die mit ihm zusammenarbeiteten und wesentlich zur Psychoanalyse beitrugen, konnte er nicht auf einer symmetrischen Beziehungsebene begegnen, sondern wertete ihre Beiträge stets ab, um dann doch ihre Ergebnisse zu übernehmen. Von den Frauen um Freud waren einige auf ihre Väter fixiert. Sie waren es durchaus gewohnt, daß ihre Arbeiten denen des Vaters untergeordnet blieben. Außer Melanie Klein, und wohl auch Lou Andrea Salome, fraßen alle dem großen Meister aus der Hand. Melanie Klein war eine eigenständige Denkerin, gründete eine eigene Schule, was Freud zweifellos mißfiel. Durch die jüngste Tochter Freuds, Anna, die sich ebenfalls zur Analytikerin ausbilden ließ, erhält der Begriff Libido geradezu ein gespenstisches Ausmaß. Freud band seine Tochter in fast verbrecherischer Art und Weise an sich. Er bildete sie nicht nur zur Analytikerin aus, sondern übernahm auch noch ihre Analyse, was nicht nur für heutige Begriffe eine absolute Unmöglichkeit darstellte. Er hintertrieb sämtliche sich anbahnenden Beziehungen zu anderen Männern. So blieb die Tochter ihm erhalten. Anna praktizierte in eigener psychoanalytischer Praxis neben dem Therapieraum des Vaters, so war sie ihm nah, und er konnte jederzeit über sie verfügen. Als Freud wegen Kieferkrebs nicht mehr selbst öffentlich reden konnte, vertrat ihn seine Tochter. Sie pflegte ihn bis zu seinem Tod. Anna hat in ihrem Leben keine Sexualität gelebt. Woher kam aber der Grundantrieb in ihrem Leben, für ihre außergewöhnlichen Leistungen als Forscherin, für
ihren unermüdlichen Einsatz, die väterlichen Thesen zu vertreten? Der ohnehin zweifelhafte Begriff der Sublimierung, der als Abwehrmechanismus zur Bewältigung von Triebwünschen gilt, bringt keine Erklärung. Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die sich sexuell nicht betätigen, dabei überhaupt nichts vermissen, ein ausgesprochen zufriedenes Leben führen, mit sich einverstanden sind, aus dem vollen schöpfen und darüber hinaus Außergewöhnliches leisten. Mitten in diese Gedanken mischt sich ein eigenartiges Geräusch, das zunächst nicht einzuordnen ist.
II. Bruchstücke
Aufbruch Wenn alle Stricke reißen Raina liegt im Bett, weint und ist völlig aufgelöst. Inzwischen haben sich auch die anderen Frauen bei ihr eingefunden. Wir stehen alle ratlos da. Cornelia, die mit ihr das Zimmer teilt, versucht, etwas aus ihr herauszukriegen. Es scheint hoffnungslos. Der Brief, den sie von Hubertus erhalten hat, liegt durchnäßt und zerknittert neben ihr. Cornelia gibt nicht auf und redet auf sie ein, uns wenigstens zu sagen, was los sei und wie wir ihr helfen könnten. Raina schiebt kraftlos den Brief zu Cornelia, die ihn nimmt und leise vorliest, wie wenn sie zu sich selbst spräche: »Meine liebste Raina, ich habe mich endgültig von Wanda getrennt. Es gibt nichts, was mich noch mit ihr verbindet. Ich habe nur den einen Wunsch, wieder mit Dir zusammenzuleben. Ich will Dich — und nur Dich allein. Ich liebe Dich. Dein Hubertus PS: Gott sei Dank ist Ernst gestern mangels Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen worden.«
Ist es nicht das, wonach sich Raina jahrelang verzehrt und wofür sie unermüdlich gekämpft hat? Gut, der schnelle Kurswechsel von Hubertus ist zu hinterfragen, und daß Raina seinen Worten nicht ganz glauben will, ist verständlich. Dann aber wäre sie wohl eher verärgert und wütend, sie würde fluchend über ihn herfallen, wie sie das in der letzten Zeit oft und ausgiebig getan hat. Ihre Reaktion ist uns unerklärlich, und während wir uns noch um sie bemühen, schläft sie erschöpft ein. Und mit dem Schlaf kehrt augenblicklich eine totale Entkrampfung bei ihr ein. Sie liegt auf dem Rücken, entspannt, mit jedem Atemzug löst sich etwas in ihr. Der Schlaf ist eine tröstende Einrichtung. Wir werden einfach ans andere Ufer gespült und gleiten in eine andere Wirklichkeit. Was uns noch Minuten vorher vor Gram erschütterte, weicht, und wir landen auf einer blumigen Wiese. Ist es der Ort, von dem wir einst aufgebrochen sind? Oder liegt die Schlafwiese lediglich in derselben Richtung, grenzt an das Herkunftsland, das sie wie eine Schutzzone umschließt? Der Schlaf trägt uns zwar nicht ganz zum Ursprung zurück, wir wachen wieder auf, mit einem einzigen Lidschlag angelt uns das Leben zurück und schleudert uns in Raum und Zeit, ins Ackerland, in die Gesetzmäßigkeiten von Säen, Pflügen, Ernten. Die Schlafzone ist kein gesicherter Ort, der uns aufnimmt und für immer schützt. Während wir durch die Schlafpforte treten, geben wir unser
Bewußtsein wie eine Fahrkarte ab, das Unterbewußtsein rückt an seine Stelle und inszeniert mit Hilfe von Bildern, Symbolen, Mythen, Dämonen, Göttern und Göttinnen all die vergessenen, verdrängten, abgeschobenen und ausgegrenzten Wünsche, Ängste, Erwartungen und Geschichten. Jener erste und letzte Ort indessen, wo wir einst aufgehoben und beheimatet waren, bleibt uns bis zum letzten Atemzug verschlossen. Nur eine vage Erinnerung begleitet uns, wir folgen intuitiv jenen fragmentarischen Konturen, die wir nicht einmal genau benennen können. Wir bleiben lebenslang mit der unsichtbaren Nabelschnur unseres Herkunftslandes verbunden, und während die einen alles unternehmen, um die Verbindung abzuschütteln, suchen andere bewußt oder unbewußt bereits zu Lebzeiten wieder den Heimweg. Um Raina ist es ruhig geworden. Der Schlaf hat all ihre Verbitterung weggezaubert. Ein schneeverwehtes Seelenbild. Eine friedliche Frau, die da in den weißen Kissen liegt. Sie ist ausgesöhnt, einverstanden. Nirgends tritt die wahre Natur des menschlichen Wesens deutlicher zutage als im schlafenden Zustand. Wenn alle Stricke reißen, mit denen wir uns mühsam versuchten, an biographischen Ereignissen festzuzurren, fallen wir in unser Ursprungsland zurück. Im Schlaf eilen unsere Feen herbei, werfen jene feinen mit Silberfäden durchwirkten Netze und Schleier aus, um uns mit unserer Herkunft rückzubinden.
Raina wollte ihren Hubertus um jeden Preis zurückhaben. Ihre Strategien führten sie aber immer weiter von sich selbst weg, sie verstrickte sich in Haß und Hader, bis sie sich am Ende ganz abhanden gekommen war. Da blieb nichts mehr übrig von jener liebenswerten Frau von einst, von der witzigen, klugen Freundin, die ich gekannt hatte.
Aus trüben Pfützen zu klaren Quellen Für viele Menschen, vor allem im christlichen Abendland, ist es sehr schwierig, die Erinnerung an ihre Herkunft zu bewahren, überhaupt eine verläßliche Orientierung zu finden und Antwort auf die wichtigsten Fragen zu erhalten: Woher? Wohin? Wozu? Wir irren verloren durch das jahrmarkthektische Lebenslabyrinth, aus Lärmbuden hämmern rhythmische Hirnstöße: Vernetzung sämtlicher Kaffeemaschinen und Daten-Highways, Kreuzund QuerDatenüberfütterung. Technologieschrotthalden allerorten. Tiefgaragendschungel. Ausweglos. Atemlos. Zu vielen steht das Wasser bis zum Hals. Da können nur noch Kanonen Unterhaltung spenden, da bringen nur der Verdammungszenit trivialster Unterhaltung und Kadaver-Infos ein gelegentliches Kitzeln in die Herzklappen. Und mitten in diesem Gerangel ragen auf verlorenem Posten die Überreste eines verrosteten Eisengerüstes hervor, das fremd und untauglich geworden ist. Einst war es Leuchtturm für viele, die unterwegs in schicksalhaften Lebensstürmen
schiffbrüchig wurden und dringend der Orientierung bedurften. Heute sind die Lichter beinahe erloschen, gelegentlich blinkt es hier und da verloren. Eine Fata Morgana: Die Rede ist von den Kirchen. Täglich treten Menschen aus Überzeugung aus ihrer Glaubensinstitution aus. Sie verlassen das sinkende Kirchenschiff. Jeder normale Wirtschaftbetrieb würde bei solchen Anzeichen unverzüglich nach den Lecks suchen, um schnellstens Abhilfe zu schaffen. Im kirchlichen Fall aber rottet sich ein Häufchen Selbstgerechter auf der bereits schiefen Kapitänsbrücke zusammen. Sie blicken aufrecht mit prophetischer Miene, gütig, aber siegessicher, den Abtrünnigen nach, denn der Untergang ist ihnen gewiß. Es ist ein gespenstisches Schauspiel in einer verkehrten Welt. Viele, die aufbrechen, denen es ein echtes Anliegen ist, wieder in Kontakt mit jenem schöpferischen Ort zu treten, den sie als Urahnung in sich tragen, werden als glaubens- und gottlos bezeichnet. Die christliche Lehre verhält sich zum heutigen kirchlichen Religionsedikt wie die marxistischen Lehrsätze zum praktizierten Kommunismus. Sowohl Kirche als auch die großen kommunistischen Diktaturen liegen röchelnd in Agonie, mit vielen Infusionsschläuchen versorgt, deren Durchmesser viel zu gering ist, um lebenserhaltende Substanzen zu transportieren. Von den drei großen Weltreligionen hat sich zweifellos der Islam am effizientesten durchgesetzt, seine Ausbreitung schreitet systematisch fort und steht bereits in den Startlöchern, um
blitzschnell freigewordene Gebiete zu besetzen, zu kolonialisieren und zu besiedeln ... Der Buddhismus steht als unkriegerische und stille Kraft im Hintergrund, während die christliche Kirche allmählich auseinanderbricht. Die Religion sollte das Verhältnis der Menschen zu seiner Herkunft und Hinkunft regeln. Dieses Bedürfnis scheint grundsätzlich im Zentrum der menschlichen Existenz zu stehen, auch bei jenen, die sich für religiöse Zusammenhänge kaum interessieren. Unterschiedliche Religionskonzepte führten bis zum heutigen Tag zu den blutigsten und erbittertsten Kriegen. In keinem anderen Bereich findet sich ein derartig gigantisches Potential an Feindseligkeit, das gegenüber Menschen anderer Glaubenszugehörigkeit mobilisiert werden kann. Es gab Zeiten, da war die christliche Religion in der Lage, ihren Gläubigen umfassenden Halt und eine verläßliche Orientierung für ihr diesseitiges und jenseitiges Dasein zu vermitteln. Es gibt freilich noch einige wenige Religionsangehörige, denen es gelungen ist, trotz Beschneidung, Einengung und zum Teil schwerer Verfälschung der eigentlichen Lehre Christi durch diktatorische Kirchenfürsten und -hirten, ihre innere Glaubenswelt unversehrt zu bewahren. Sie besitzen eine Orientierung in ihrem Selbst, lassen sich weder vom Chaosmanagement noch von überdurchschnittlich unbegabten »Filialleitern« davon abhalten, ihrer inneren Kirche treu zu bleiben. Sie sind beinahe zu beneiden. Die anderen hingegen, denen die
Darstellung und Zelebrierung verfremdeter Inhalte und die totale Verleugnung menschlicher Bedürfnisse derart gegen den Strich gehen, daß sie sich angewidert abwenden, werden täglich mehr. Sie fragen sich, welche Gedankenakrobatik sie betreiben müßten, um die kirchlichen Glaubenssätze anzuerkennen. Eine Kirche, welche die volle Entfaltung und Ausschöpfung sämtlicher Manifestationen menschlichen Lebens nicht voll unterstützt, die Frau und Mann nicht als gleichwertig anerkennt, ist kein Ort des Glaubens, sondern eine Diktatur, in der, nach den individuellen Vorlieben und neurotischen Prägungen der jeweiligen Führerfiguren, Wertsysteme aufgestellt werden. Die Kirchenfürsten hatten seit jeher ein absolut gestörtes Verhältnis zum Aspekt des Weiblichen. Entweder führten sie, von ihrem verdrängten Geschlechtstrieb in die Knie gezwungen, ein Doppelleben, oder sie verbannten von vornherein die Frau als Trägerin des Sündhaften, als des Teufels Weib, aus ihrem Blickfeld und aus allen kirchlichen Ämtern. Frauen wurden als Hexen unter Mithilfe von Kirchenobrigkeiten gefoltert, gedemütigt und verbrannt – aber nicht ohne daß man sich vorher des Verschmähten heimlich bedient hätte. Rätselhaft, daß diesen Herren nicht irgendwann der Gedanke kam, nicht die Außenwelt für ihre verstohlene Begierde verantwortlich zu machen, sondern sich selbst unter die Lupe zu nehmen. Sie waren somit in ihrem Bewußtsein auf dem Niveau eines Dreijährigen, der an einen Stuhl stößt, sich dabei weh tut, gegen den Stuhl tritt und ruft: »Du böser Stuhl!« Da scheint mir der buddhistische Mönch in der folgenden Geschichte
schon sehr viel mehr von den Zusammenhängen der menschlichen Psyche zu verstehen: Zwei Mönche gehen bei Regenzeit durch ein Dorf. Die Straßen sind überschwemmt. Eine Frau versucht vergeblich, die Straße zu überqueren. Sie fragt die Mönche, ob sie ihr helfen könnten. Ohne zu zögern nimmt sie der jüngere auf den Arm, trägt sie über die Straße und stellt sie auf trockenem Boden ab. Der ältere rügt ihn: »Weißt du nicht, daß es einem Mönch verboten ist, eine Frau anzusehen, ganz zu schweigen davon, eine anzufassen?« Der jüngere antwortet: »Ich habe die Frau über die Straße getragen und sie dort wieder abgestellt, während du sie in deinen Gedanken noch immer mit dir trägst.« Die Frauenfeindlichkeit im kirchlichen Fundamentalismus hat mit dem eigentlichen Christentum nichts zu tun. Herman Weidelener hat in einem Vortragszyklus minutiös analysiert, welches Verhältnis Jesus zur Weiblichkeit hatte. Jesus war, im Gegensatz zu seinen selbsternannten Spätnachfolgern, ein völlig unneurotischer Mann. Er hatte keinerlei Berührungsängste. Er definierte sich nicht über seine Geschlechtlichkeit, sondern war Vertreter der Menschlichkeit – Geschlecht Nebensache. Je mehr ein Mann in seiner eigenen Geschlechtlichkeit verkettet ist und sein Triebbereich immer wieder danach drängt, die Führung zu übernehmen, um so radikaler muß er gegen das Weibliche angehen. Am effizientesten gelingt ihm das, indem er es in der festen Überzeugung ausgrenzt: aus den Augen, aus dem Sinn.
Für viele von uns – Männer und Frauen – bleiben die dringlichsten Fragen, Anliegen und Sehnsüchte auf der Strecke. Die christliche Kirche ist nicht in der Lage, sie zu beantworten. Da bleibt dem heutigen nach wahrer Religion und Rückbindung strebenden Menschen nur, sich einen eigenen Tempel zu errichten. Ohne beitragspflichtige Vereinszugehörigkeit. Ohne Pauken und Trompeten oder Schnellferienkurs zur Heiligkeit mit Surfen und Meditation. Sondern im ernsthaften, jahre- und jahrzehntelangen Bemühen, in sich jene Quelle zu erkunden, die kristallklar im Innersten sprudelt. In eigener Verantwortung und in aller Stille.
Von Bürgern zweier Welten Es gibt Fragen, die sich nur bruchstückhaft beantworten lassen, wenn nicht auch nach Herkunft, Ziel und Zweck des menschlichen Daseins gefragt wird. Sämtliche Untersuchungen, welche die Bedeutung der Sexualität und damit auch der Treue und Untreue in der Partnerschaft erforschen, ohne diese Grundfragen mit einzubeziehen, können uns keine auch nur einigermaßen befriedigenden Antworten liefern. Viele gehen davon aus, daß vor diesem Leben nichts war und hinterher ebenfalls nichts sein wird. Sie betrachten das gegenwärtige Leben als biologisches Zufallsprodukt, ausgelöst durch willkürliches Zusammentreffen zellularer Substanzen, die in chemischen Prozessen aufeinander reagieren, um in wahlloser Zufälligkeit als
Stein, als Dinosaurier, als Hund oder Mensch daraus hervorzugehen. Die Ansicht, die Welt sei nur aus ziellosen zufälligen Eruptionen entstanden, wird durch die täglichen Informationen durch die Medien erhärtet, wie zum Beispiel das Fernsehen, das mittlerweile zu einem dominierenden »Bildungsfaktor« geworden ist. Es demonstriert das Prinzip Ziellosigkeit und Zufälligkeit. Nur wenige Sendungen erwecken den Eindruck, ein sorgfältig durchdachtes Konzept liege ihnen zugrunde, das sich kompatibel zur menschlichen Intelligenz verhält. Die meisten Sendungen geistern in gespenstischer Windschlüpfrigkeit durchs Wohnzimmerherz: schrill, schnell, schrecklich. Der tägliche durchschnittliche Fernsehkonsum beträgt drei Stunden, das macht im Jahr tausend Stunden (den erhöhten Konsum an Sonn- und Feiertagen nicht eingerechnet), in zehn Jahren 10 000 Stunden. In fünfzig Jahren bringen wir es auf 50 000 Stunden. Das hinterläßt Spuren. Noch müssen wir uns nicht mit den Spätfolgen beschäftigen. Im Jahr 2010 wird es soweit sein: Die ersten Menschen, die eine Fernsehzeit von mindestens 50 000 Flugstunden hinter sich haben, sind ins Seniorenalter gekommen. Der Prozeß des Alterns, Reifens, des allmählichen Erkennens größerer Zusammenhänge, des Herauskelterns von Gesetzmäßigkeiten und Weisheiten des Lebens, die zu erweiterten Perspektiven führen, was sich wiederum auf die geistige Entwicklung jüngerer Menschen auswirkt, wird unterbrochen, verkürzt oder gar verhindert. Wenn ein großer Teil der Senioren sich seinen Reifungsprozeß durch tägliche Fernsehbüchsennahrung beeinträchtigen
läßt, werden gegen Ende des Lebens nicht gereifte Menschen mit reicher Lebenserfahrung dastehen, sondern menschliche Mülldeponien. Anstelle von Reife kindische Selbstbezogenheit, anstelle einer offenen Weitsicht ein verengter Panoramablick auf die dünne Ritze im Brett vor dem Kopf, anstelle von seelischer Dehnfähigkeit sklerotische Versteinerung und Erstarrung. Für viele beginnt das Leben erst bei Knopfdruck auf die Fernsehfernbedienung und endet wieder mit dem Ausschalten. Vorher war nichts. Hinterher ist nichts. Auch diese Erfahrung prägt. Bei der Frage nach der Herkunft menschlichen Lebens teilt sich das Lager. Während sich die einen auf eine rein zellular-materialistische Weltsicht berufen, sind andere davon überzeugt, daß der Mensch durch das geistige Element zum Leben gelange. Dazwischen tummelt sich ein Großangebot esoterischer und philosophischer Theorien aus Gemischtwarenhandlungen, wie sektiererischen Vereinen, spirituellen Clubs und geschlossenen Religionsgemeinschaften. Viele Suchende bleiben ohne Antwort auf der Strecke, kein Wunder bei diesem verwirrenden Oberangebot. Ich bin weit davon entfernt, mich darüber lustig zu machen, sondern verstehe dieses Suchen als ernsthaften Ausdruck, sich irgendwo beheimaten zu wollen, einen vollkommenen Ort zu finden, der uns eine innere Heimat gibt. Das zellular-mechanistisch-materialistische Menschenbild, das sich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts etablierte, geistert noch in vielen modernen Köpfen herum und findet im Bekenntnis »Ich-glaube-was-ich-sehe« Ausdruck. Herman Weidelener weist in seinen Vorträgen immer wieder darauf hin, daß selbst der eingeschworene Materialist ein unbewußtes Wissen seiner Unsterblichkeit in sich tragen müsse, andernfalls würde er niemals in ein Auto steigen und das große Risiko eingehen, bei einem Unfall für immer und ewig ausgelöscht zu werden. Zum mechanistischen Weltbild gesellt sich ganz unauffällig ein chemisches Menschenbild, das von der Medizin vertreten wird und sich einer großen Anhängerschaft erfreut. Der Mensch wird nicht nur durch chemische Mittel steuerbar, er kann auch selbst dem Tod ein Schnippchen schlagen — wenn auch nur vorübergehend. Jeder Versuch, den Menschen lediglich über seine Funktion, Struktur und Form zu definieren, kann letztlich das Wunder Mensch nicht erfassen. Wie etwa das zoologische Menschenbild, nach dem wir durch zufällige Mutation zum höchst entwickelten Säugetier wurden. Dieses Menschenbild wird gerne dann herbeigezogen, wenn es darum geht, zu erklären, weshalb viele nicht in der Lage sind, ihre Triebimpulse mit dem Willen zu steuern. Auch das biologische Menschenbild, wonach wir nichts als das Ergebnis unserer Erbmasse sind, ist nur dürftig. Ebenso wie das psychologische Menschenbild, das davon ausgeht, daß wir vor allem durch die Erziehung geformt werden. Aber auch das soziologische Menschenbild, das uns nur
als ein gesellschaftliches Produkt politischer Einflüsse und Herkunft versteht, erfaßt den Menschen nicht. Viktor E. Frankl spricht vom reduzierten Menschenbild, weil das Geistige als spezifisch menschliche Qualität darin vollkommen ausgeblendet ist. Es ist interessant zu sehen, daß die unterschiedlichen Standpunkte dennoch eine gemeinsame Ausgangsposition haben. Schließlich gehen doch alle davon aus, daß zunächst etwas Ganzes, Vollständiges vorhanden ist, entweder eine vollständige Zelle, die sich irgendwo durch die Begegnung mit einer anderen Zellsubstanz zu teilen beginnt, woraus sich Leben entwickelt, oder die Vorstellung eines vorgeburtlichen Heimatorts. Die Freiheit des Menschen liegt nun darin, daß jeder sich seine eigene Weltanschauung zimmert, mit der er umgehen kann und die ihm in seiner Lebensgestaltung hilft. Ich gehe davon aus, daß das menschliche Wesen kein Zufallsprodukt ist, sondern eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Die Existenz beginnt weder mit der Geburt, noch endet sie mit dem Tod. Wir sind Bürger und Bürgerinnen zweier Welten, sind von zweifacher Herkunft, einer biologischen und einer geistigen. Das geistige Herkunftsland, in dem sich alle möglichen menschlichen Tendenzen und Ausprägungen in einem großen Strom zusammenfinden, so wie sich unterschiedliche fließende Gewässer zu einem Fluß vereinen, ist nicht in vereinzelte Wasseradern unterteilt und abgegrenzt, sondern muß als überpersönliches Ganzes verstanden werden.
Eine einleuchtende Erklärung, weshalb sich einzelne Tendenzverbindungen aus dem Ganzen herauslösen, sich in einem Leib inkarnieren (verkörpern), lehrt der Buddhismus: Wir müssen so lange wiedergeboren werden, bis alles, was wir an negativen Gedanken, Worten und Werken in die Welt gesetzt haben, abgetragen ist. Aber nicht nur das Negative ist auszumerzen, auch das Anhaften am Schönen und Beglückenden in dieser Welt muß gelöst werden, damit man aus dem Rad der Wiedergeburt entlassen werden kann. Diese Karmalehre hilft, Handeln und Wiedergeburt in die eigene Verantwortung zu nehmen, weil alles auf einen selbst zurückgeworfen wird. Dies bedeutet, daß sogenannte Schicksalsschläge als letztlich selbst verursacht zu verstehen sind und präziser formuliert »Schaffsal« heißen sollten. Mich haben diese Überlegungen vor allem in jungen Jahren sehr beeinflußt und mir vorwiegend geholfen, mich nicht mehr einem launischen, ungerechten und völlig unberechenbaren Gott ausgeliefert zu fühlen, von dessen Gnadenakt ich abhängig war. Ich wußte mich nun vielmehr für mein Geschick selbst verantwortlich und lernte, die Zügel meines Lebenswagens selbst in die Hand zu nehmen. Erst viel später bemerkte ich, daß ich mit meiner Gottesvorstellung dem kirchlichen Dogma auf den Leim gegangen war, das dem alttestamentarischen Gott-Choleriker entspricht und überhaupt nichts mit dem von Jesus vermittelten Bild zu tun hat.
Bei der Zeugung eines Kindes geschieht zweierlei: Einmal wird beim Zeugungsakt als körperlichbiologische Manifestation die Zellteilung in Gang gesetzt, zum anderen löst sich ein Tendenzengefüge, eine Seele oder wie immer wir es benennen wollen, aus dem Ganzen heraus und zieht in das sich bildende Körperhaus ein. Unsere geistige Herkunft, unser geistiges Erbgut hat mit den körperlichen Eltern nichts zu tun. Für die körperliche Zeugung benötigen wir ein Elternpaar, von dem sich körperliche und auch charakterliche Wesensmerkmale vererben. Ihre Erziehungsmethode wird uns als individuelle Persönlichkeit prägen, und das soziale Umfeld wird auf uns einwirken. Im besten Fall kümmern sich die Eltern auch nach der Geburt um uns, sie sorgen für unser körperliches Wohl, nähren uns, schützen uns vor Gefahren, bringen uns die Spielregeln im sozialen Umgang mit anderen bei und führen uns allmählich ins Leben ein. Über das Auswahlverfahren der Eltern gibt es zahlreiche Spekulationen, ebenso über den Zusammenhang zwischen Schicksalserfahrungen und Selbstverursachtem. Ich halte sämtliche möglichen Erklärungsversuche für überflüssig. Es muß wohl einen Grund dafür geben, daß der Mensch nicht in der Lage ist, Kausalketten aufzuschlüsseln. Die Eins-zu-einsÜbersetzungen, wie sie oft betrieben werden, sind als unterhaltender Zeitvertreib zu werten, wie etwa das
Lösen von Kreuzworträtseln, oder werden gelegentlich, wie dies ein chronischer Seitenspringer machte, als lächerliche Entschuldigung eingesetzt: »Im letzten Leben lebte ich in einer anderen Kultur mit mehreren Frauen, nun habe ich mich noch nicht umgewöhnt.« Sich karmischen Spekulationen hinzugeben, wird zu keinen ernsthaften und weiterführenden Ergebnissen führen. Sowohl in der buddhistischen als auch in der christlichen Lehre finden wir deckungsgleiche Hinweise, in denen sich unkalkulierbare Dimensionen karmischer Verflechtungen abspielen. Buddha spricht zu seinen Jüngern über die Karmawirkung und erklärt, daß die gleiche Tat, die von unterschiedlichen Menschen verübt wird, zu unterschiedlicher karmischer Wirkung gelangt. Wenn einer einen Klumpen Salz in eine kleine Tasse voll Wasser wirft, hat dies eine andere Auswirkung, als wenn er ihn im Gangesstrom versenkt. »Ebenso (...) ist es mit einem, der nur ein kleines Vergehen verübt hat, und es bringt ihn zur Hölle. Und ein anderer hat eben dasselbe kleine Vergehen verübt, doch es reift noch bei Lebzeiten, und nicht einmal eine kleine Wirkung tut sich (später) kund, geschweige denn eine große.« Im Neuen Testament finden wir das Beispiel von Jesus und Maria Magdalena. Als Jesus darauf aufmerksam gemacht wird, daß die Frau, mit der er sich unterhält, nicht zu den Tugendhaftesten gehört, antwortet er: »Sie hat viel gesündigt. Und viel geliebt.«
Wenn wir uns fragen, weshalb haben wir uns gerade diese Eltern ausgesucht, schwingt nicht selten Unzufriedenheit mit. Vielleicht haben wir eine ganz andere Vorstellung davon, wie unsere Eltern sein sollten. Wir leiden an ihrer Unbeholfenheit, ihrer wirtschaftlichen Impotenz oder beklagen ein anderes Unvermögen. Jedenfalls, wir phantasieren sie uns klüger, reifer, weiser, schöner, reicher, gütiger, witziger, charmanter. Nicht selten wünschen sich Kinder, bei der Geburt in der Klinik verwechselt worden zu sein, um später herauszufinden, daß sie eigentlich höherer Abstammung seien. Sie phantasieren, wohlhabende, mächtige und gütige Eltern holten sie heim, oft geht die Phantasie noch weiter, beinahe wie im Märchen würden sie von einem König und einer Königin ins königliche Elternhaus zurückgeholt. Wenn Kinder darüber sprechen, werden diese Phantasien als kindliche Spinnerei abgetan. Wir können den Wunsch aber auch ernst nehmen und den Bildern folgen. Dann werden wir direkt in unser geistiges Herkunftsland geführt, das ein Königreich ist, mit einem königlichen Urelternpaar, jenseits von Zeit und Raum. In östlichen Kulturen wird von göttlicher Abstammung gesprochen, von Gottessöhnen und Gottestöchtern, was für viele befremdlich wirkt, obwohl auch das Christentum von Kindern Gottes spricht. Es handelt sich also um eine Urerinnerung an jenen Ort des Aufgehobenseins, in einem Ganzen und Vollständigen beheimatet und beschützt von einer umfassenden, königlichen Urelternschaft. Adalbert Stifter beschreibt seine Erfahrungen so: »Weit zurück
in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich ...« Die Urerinnerung an das große Aufgehobensein in etwas Umfassendem stiftet im Lauf eines Lebens oft Verwirrung, taucht in verschiedensten Kostümen verkleidet auf und treibt die Sehnsucht nach Beheimatung an. Das Interesse, das Familienmitglieder der Königshäuser in der Öffentlichkeit genießen, ist nur auf dem Hintergrund unbewußter Erinnerungen zu erklären. Die Faszination, die selbst die banalsten und unbedeutendsten Geschichten auslösen, ergreifen uns nur deshalb, weil archetypisches Bildmaterial Urerinnerungen an ein königliches Dasein vor der Geburt in uns abruft und belebt. Indem wir uns mit dem Klatsch über Königskinder beschäftigen, nehmen wir Fühlung mit unserer eigenen Herkunftsgeschichte auf. Die eine Geschichte spielt sich in der materiellen Wirklichkeit ab, die andere in der geistigen. Die Bilder bleiben dieselben. Früher haben Märchen diesen Part übernommen, heute sind es Märchenhochzeiten, Schicksalsverflechtungen wie aus dem Märchen, die uns mit der vergessenen Welt rückbinden. Wir sind Bürger zweier Welten, einer materiellen und einer geistigen. Die zweifache Herkunft macht die Aufgabe der körperlichen Eltern deutlich, die durch den Akt der Zeugung in die Verantwortung geraten, sich um das Gezeugte bis zur Eigenständigkeit zu kümmern. Gleichzeitig obliegt ihnen aber auch die stellvertretende
Elternschaft, die darin besteht, dafür zu sorgen, daß das geistige Erbgut zur Entfaltung kommen kann. So macht uns die zweifache Herkunft immer wieder zu schaffen, ungeachtet dessen, ob wir sie aus der Position des Kindes oder der Eltern erleben oder im sozialen Kontakt mit anderen. Da hält ein Engländer bei einem indischen Vater um die Hand seiner Tochter an. Der Inder bittet sich zwei Wochen Bedenkzeit aus. Nach dieser Zeit kommt der Engländer und möchte die Zusage, die ihm aber der Brautvater ausschlägt. Darüber ist der Engländer sehr erstaunt und will den Grund für die Absage erfahren. Der Inder antwortet: »Es geht nicht. Ich habe es mir gründlich überlegt, aber es geht wirklich nicht. Wir stammen von Göttern ab, Sie hingegen vom Affen.« Oft wissen wir nicht, welcher Welt wir uns mehr verpflichtet fühlen. Es scheint eine lebenslange Forderung zu bleiben, ausgespannt zwischen zwei Polen die Mitte zu finden und sich weder auf die eine noch die andere Seite zu schlagen. Oft benötigen wir heftige Krisen, Zusammenbrüche, Umbrüche, Aus- und Abbrüche, bis wir aus dem Hin- und Hergeworfenwerden herausfinden und genau an jenen Standort gelangen, wo wir alles Gegensätzliche als sinnvolle Ergänzung zu begreifen lernen.
Einbruch
Wie die sexuelle Energie die Führung übernimmt und die Sinnenwelt einengt Raina ist aufgewacht. Sie öffnet die Augen, schließt sie wieder, als ob sie noch einen Moment in der anderen Welt verweilen wollte. Dann aber schlüpft sie blitzschnell in die alte Rolle, und augenblicklich kehren Kummer und Gram wieder zurück. Sie springt auf. Sie will unverzüglich die Koffer packen und nach Hause fahren. Es gelingt uns, sie davon abzuhalten, da sie ziemlich durcheinander ist. Der Kurs ist ohnehin in zwei Tagen vorbei. Plötzlich steht Hubertus vor der Tür, steppenwolfverwittert, graue Bartstoppeln mit einigen rötlichen Haarflecken durchwachsen, sein Körper hängt verloren in einer weiten Manchesterhose. Raina fällt vollends zusammen, wird ohnmächtig und hört somit nicht, was Hubertus uns berichtet: Wanda hat einen Selbstmordversuch unternommen und liegt in der Klinik. Nachdem Hubertus sich von ihr getrennt hatte, verweigerte sie wieder jegliche Nahrungsaufnahme. Er
fühlte sich von ihr erpreßt und war nicht mehr in der Lage, sie zu füttern und fürsorgend auf sie einzugehen. Es war ein letzter Appell an ihn, den er aber unbeantwortet ließ. Da holte sie einen Strick und versuchte, sich in der Scheune aufzuhängen. Sie rutschte aus der Schlinge und krachte vom drei Meter hohen Balken herunter. Ernst fand sie mit mehreren Brüchen, nachdem er aus der Untersuchungshaft zurückgekehrt war. Die Polizei sucht weiter nach dem Brandstifter von Schloß Ripsen. An eine Fortführung unseres Kurses ist nicht mehr zu denken. Die Reiskörner hängen uns ohnehin zum Hals heraus. Die Nachricht von Wandas Selbstmordversuch reißt uns aus unserem Gewichtsdrama, das vor dieser tragischen Kulisse wie ein unwirkliches Phantom anmutet. Laura indessen will weitermachen und ist über Hubertus ziemlich verärgert, weil er einfach daherkommt und in den Kurs hereinplatzt. Der Schock sitzt tief bei Hubertus. Er macht ihn gesprächsoffen. Er redet ununterbrochen. Den ganzen Abend bis tief in die Nacht — während Raina schläft. Er erzählt von seiner Beziehung zu Wanda. Vom plötzlichen Ergriffenwerden, damals vor vier Jahren. Aus heiterem Himmel. An einem Sonntag. Sie half ihm in seinem Büro, das Jahresprogramm des Tagungszentrums einzupacken. Sie rührte ihn, weil sie so unbeholfen wirkte, so ungeschickt und zerbrechlich,
mädchenhaft. Neben ihr fühlte er sich plötzlich stark wie sonst nie. Bewundert habe sie ihn, zu ihm aufgeschaut, das habe ihn beflügelt. Zunächst wollte er sich nicht auf Wanda einlassen. Er kämpfte gegen den Sog an. Immer, wenn er ihr wieder begegnete, fühlte er sich wunderbar frei, vital und stark wie ein Mann. War er wieder mit Raina zusammen, sackte die Lebensfreude sofort zusammen. Es riß ihn hin und her, pendelnd zwischen Gefühlen, beschwingter Heiterkeit und lähmender Freudlosigkeit. Dann aber überkam ihn die Lust auf das Leben, ein unbändiger Wille, sich und seinem Lebensdrang treu zu sein. Es war Neuland für ihn, ein Hirnbrand. Nur noch eins wollen, nur dieses unbekannte Land der Freiheit erforschen, erobern. Phantasien von einem blendendweißen Schneefeld. Spurenlos. Wie ein unbeschriebenes Blatt. Wandas Geschichte wollte er schreiben, sie prägen, unvergeßlich werden wie Napoleon. Gleichzeitig wollte er versuchen auszusteigen. Ein letztes Hin- und Hergerissenwerden. Dann war die Falle zu. Der Zauber des Neuen ließ ihn nicht mehr los. Nicht nur bei Hubertus vermag die Begegnung mit einem anderen Menschen ein großes Potential einer beinahe kindlichen Lebensfreude freizusetzen. Vor allem dort, wo wir früh gelernt haben, diesen Quell schöpferischer Vitalität einzudämmen oder zu unterdrücken. Wird diese ausgegrenzte Energie durch einen anderen Menschen belebt und beatmet, verfügen wir plötzlich über ungeahnte Kräfte und wachsen über unsere sonst bekannten Schranken hinaus. Wir spüren, daß in uns etwas zum Leben erwacht, das wir vorher in
diesem Ausmaß nicht gefühlt und gelebt haben. Das Ausmaß an Wohlgefühl ist derart stark, daß es kaum durch vernunftmäßige Gründe eingedämmt werden kann. Wir halten die Person, die dieses Wohlgefühl in uns auszulösen vermag, als Träger/Trägerin dieser herrlichen Kräfte, an denen wir nun endlich teilhaben. Dabei sind sie nur Auslöser dafür, daß wir jene Tür aufstoßen, hinter der sich verloren Geglaubtes im Tiefschlaf befand. Das eigene Kind in sich wiederzuentdecken bedeutet, wieder aus dem vollen zu schöpfen und aus einer reichen Sinnlichkeit die Welt zu beleben. Als Kind schöpfen wir aus dem beinahe unerschöpflichen Reichtum sinnlicher Erfahrungen. Wir bringen ein offenes Empfangssystem mit, das feinste Eindrücke und Schwingungen aufzunehmen in der Lage ist, ungefiltert und unzensiert erreichen uns die verschiedensten Sinneseindrücke. Die kindliche Sinnenwelt übersteigt in ihrer Vielfalt und intensiver Ausgeprägtheit diejenige der Erwachsenenwelt bei weitem. Wenn wir uns nicht mehr an die eigene Kindheit zurückerinnern, vermittelt uns die Beobachtung kleiner Kinder eine Ahnung davon, mit welcher Intensität sie erleben und sich sinnlichen Erfahrungen genüßlich hingeben können. Ein Kind gerät über den Anblick einer Blume in begeistertes Staunen und läßt den herrlichen Duft genießerisch in sich einströmen, hört dem Gesang der Vögel entzückt zu, pult mit kleinen Fingern kaum sichtbare Reste seines Lieblingspuddings aus versteckten Windungen
des Schneebesens heraus und leckt sie lustvoll ab, streicht wohlig verträumt über das samtene Fell eines Kätzchens. Die Erlebnisfähigkeit eines Kindes ist um ein Vielfaches größer als die eines Erwachsenen. Die Möglichkeit des Kindes, sich der Sinnenwelt direkt auszusetzen, alle Eindrücke ungefiltert aufzunehmen, bildet zugleich auch die Kehrseite der Medaille. Kinder sind allen sinnlichen Einwirkungen ungeschützt ausgeliefert, sie verfügen nicht über die Fähigkeit, selektiv wahrzunehmen. Sowohl angenehme als auch bedrohliche Sinneseindrücke, wie etwa Gewaltszenen auf dem Bildschirm, dringen ungefiltert in das kindliche Gemüt.
Sigmund Freud ordnete die gesamte sinnliche Erlebniswelt des Kindes dem sexuellen Bereich zu und stellte die These auf, daß schon das Kind über sexuell getönte Lustempfindungen verfüge. Er unterstellte den gesamten Impulsbereich, der aus sinnlicher Wahrnehmung angekurbelt wird, dem Begriff Libido. Dies war allerdings eine überwiegend theoretische Behauptung, fehlte ihm doch selbst die Möglichkeit, die kindliche Entwicklung zu untersuchen. Seine eigenen Kinder sah er nur kurz bei Tisch, und seine Frau Martha war nicht bereit, Forschungsarbeit im Kinderzimmer zu betreiben. Später delegierte Freud die Arbeit und Erforschung der kindlichen Entwicklung an seine Schülerinnen, die, so Freud, für diese Arbeit biologisch viel geeigneter seien als ein Mann. Hermine Hug Hellmuth, Melanie Klein und seine Tochter Anna
belieferten ihn mit ihren Forschungsergebnissen. Da alle, außer Melanie Klein, in Abhängigkeit zu Freud standen, ist anzunehmen, daß sie dem Meister lieferten, was ihm gefiel. Einem Kind, das Berührungen am ganzen Körper, also auch an seinen Geschlechtsteilen, als angenehm und wohl empfindet, dies als sexuelles Lusterleben auszulegen, sagt mehr über den Interpreten aus als über das Kind. Manche Menschen sehen die Welt durch die Sexbrille und deuten alles, was sich abspielt, dahingehend. Weshalb aber sollte sich bei einem Kind, das freudig und mit großem Interesse mit seinen Geschlechtsteilen spielt, nicht die gleichen angenehmen Gefühle einstellen wie beim Spielen mit seinen Händen, Füßen und Fingern? Die Erektion eines kleinen Jungen wird oft als Beweis sexueller Lust angeführt, was völlig absurd ist. Zweifellos ist die Erektion ein körperlicher Ausdruck. Weshalb aber sollte er nicht auch beim Spielen mit seinen Geschlechtsteilen lächeln können, wenn ihm so wohl in seiner Haut ist? Ein Kind schöpft aus der Fülle sinnlicher Freude, es trennt nicht zwischen genitaler und ganzheitlicher Lust. Eine Trennung vollzieht sich klipp und klar in der Vorpubertät. Da zeigt sich unmißverständlich, daß sinnliches Lusterleben auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen Etagen erlebt wird. Durch den Einbruch sexueller Energien werden die Welten getrennt. Das heranwachsende Kind ist nicht mehr bereit, sich nackt zu zeigen und seinen ganzen Körper ungeniert den Bezugspersonen für Zärtlichkeiten zur
Verfügung zu stellen. Es setzt Grenzen. Es ist die Zeit, wenn es sich im Badezimmer einschließt und sich plötzlich sehr wählerisch in bezug auf seine Kleidung verhält. Diese Signale beachten nicht alle Eltern als Ausdruck dafür, daß sich der/die Pubertierende abgrenzen will, um den Intimbereich nach außen zu schützen. Dieses Verhalten wird gelegentlich als läppische Prüderie abgetan, besonders wenn die Eltern als möglichst fortschrittlich, freizügig und offen gelten wollen. Meist kapitulieren Eltern vor der großen und ernsten Kampfbereitschaft Jugendlicher, ihre Anliegen zu verteidigen, abgesehen von jenen Fällen, wo es zu sexuellen Übergriffen kommt. Die Schaffung eines geschützten Intimbereichs zeigt geradezu bildhaft, daß es diesen Bereich vorher in dieser Form noch gar nicht geben konnte, da die genitale Sexualität als Thema noch nicht existierte. Wozu soll ein zweijähriges, vierjähriges oder siebenjähriges Kind sexuell angeregt sein? Die Möglichkeit, sich sexuell zu betätigen, ist nicht vorhanden. Die körperliche Ausrüstung zur Ausübung ist noch nicht funktionsbereit. Wozu soll also Freude und Wohlsein als sexuelles Lustempfinden umgedeutet werden? Es ist ein theoretisches Konzept, das sich mit nichts belegen läßt. Mit dem Einbruch sexueller Energien kann beobachtet werden, wie sich Interessen verlagern. Nicht mehr der Anblick einer Blume bringt Begeisterung, Vogelgesang wird eher als störend empfunden, den versteckten Puddingresten im Schneebesen schenkt man kaum Beachtung, und das seidige Katzenfell vermag nicht
mehr das einstige Wohlgefühl auszulösen. Die sexuelle Energie drängt sich vehement in den Vordergrund, die anderen sinnlichen Möglichkeiten werden zurückgedrängt oder aber als Verstärkung sexuellen Erlebens eingesetzt. Das breite Spektrum der Sinnlichkeit verengt und konzentriert sich vorwiegend auf das Gebiet der Sexualität. Da wir Bürger zweier Welten sind, hat die Funktion der Sexualität auch eine zweifache Bedeutung, einmal für die zweckdienliche Arterhaltung, zum anderen als Antriebsmotor, sich immer wieder auf den Weg zu machen und dem Sehnen und Suchen nach der verlorenen Heimat nachzugehen. Die meisten Menschen projizieren die Urheimat auf einen Partner, er wird zum Stellvertreter. Bei ihm, bei ihr fühlen wir uns geborgen, finden ein Zuhause. Viele erleben bei einer Trennung das beinahe unerträgliche Gefühl, heimatlos geworden zu sein. Dies ist zweifellos ein Grund, weshalb wir oft länger in unzumutbaren Beziehungen ausharren. Junge Menschen werden von der Natur mit vielfältigsten Reizen ausgestattet, damit sie möglichst anziehend wirken. Das Gesicht eines jungen Menschen blüht, sein Gang ist aufrecht und unternehmungslustig, die üppige Haarpracht von Leben durchdrungen, selbst das freiwillig kahlgeschorene Haupt eines Jugendlichen pulsiert dem Leben entgegen und ist mit der entkräfteten Glatze eines alten Mannes nicht zu vergleichen. Zudem hilft der junge Mensch diesem Impuls nach, indem er alles daran setzt, für das
Geschlecht, dem sein Begehren gilt, so attraktiv wie möglich zu erscheinen. Hier führt die Biologie das Zepter. Beinahe unerbittlich peitscht es die jungen Menschen hinaus auf die freie Wildbahn. Dieses Spiel, das zweifellos von einem sexuellen Motor angetrieben wird, sollte jedoch nicht ausschließlich als Ziel zur Ausübung sexueller Aktivitäten verstanden werden, was ja oft von Erwachsenen mißverstanden wird. Für viele ist es ein Vorspiel, ähnlich dem Balztreiben in der Brunftzeit im Tierreich. Es ist die Ouvertüre zur großen Oper. Ich spreche ganz bewußt vom Einbruch der sexuellen Energien, da ich es als das Hereinbrechen einer Triebenergie in ein bisher harmloses und friedliches Sinnerleben werte. Was vorher noch möglich war, wird hinterher nicht mehr möglich sein. Von jenem Moment an, da sich sexuelle Triebkräfte melden, wird rezeptives Aufnehmen von Eindrücken gebrochen, und in den Vordergrund drängt sich forderndes, oft unerbittliches Begehren und Wollen, das, wie wir wissen, schwer zu steuern ist. Die sexuelle Begierde zwingt den breiten Strom sinnlicher Freuden in ein schmales Flußbett, wo die Energie der gesamten Sinnlichkeit sturzflutartig alles niederreißt, was nicht niet- und nagelfest ist. Diese gewaltige Kraft ist oft größer als jene, die an Willensaufwand entgegengesetzt werden kann. Dabei können erhebliche Verwüstungen und Schäden entstehen.
Auch Hubertus versuchte, durchaus seinem Drang etwas entgegenzusetzen. Die Sturzflut seiner befreiten Gefühle war indes viel stärker als die Willenskraft seiner Vernunft, die er zu mobilisieren vermochte. Wer kennt nicht den Kampf zwischen der Vernunft und einer Eigendynamik, die Handeln und Verhaltensweisen gegen den eigenen Willen entwickeln. Hubertus traf nicht nach reiflicher Überlegung die Entscheidung, sich in eine Beziehung mit Wanda einzulassen. Es geschah ihm. Viele Menschen, die in eine neue Partnerschaft oder eine Außenbeziehung hineintrudeln, geben eher das Bild eines steuerlosen Schiffs ab. Die Leidenschaft, die kaum mit logischen Erklärungen erfaßt werden kann, packt sie, wirft und schleudert sie im stürmischen Meer hin und her. Auch das Ende einer Affäre gleicht oft eher einer Naturkatastrophe und wirft die Beteiligten wie Schiffbrüchige umher. Hubertus hatte es unerwartet aus der Beziehung zu Wanda ins offene Meer hinausgeschleudert, er kämpfte gegen die tosende Flut, griff nach dem erstbesten Rettungsanker und klammerte sich an ein anderes Schiff ohne Steuer, das bereits in gefährlicher Schieflage im Wasser trieb. Raina wacht allmählich auf. Sie ist am Durchdrehen. Und niemand kann sie verstehen. Je mehr Hubertus auf sie einredet, um so schlimmer wird es. Fast gleichzeitig bricht nun auch Laura aus ihrer konservativen Disziplin aus. Obwohl sie von uns eiserne Telefonabstinenz fordert, erreicht sie ein Anruf einer Freundin, die sie aufklärt: Lauras Mann geht fremd. Eine schnelle Empörung. Ein böser Blick. Es
folgen strategische Überlegungen. Dann handelt sie. Zuerst telefoniert sie herum, um herauszufinden, wer die Geliebte ist, was sie arbeitet, wie sie aussieht und vor allem, was sie figürlich zu bieten hat. Sie erfährt, daß die Kontrahentin es in puncto Schlankheit nicht mit ihr aufnehmen kann. Da lächelt sie siegessicher. Nachdem sie alle übrigen Daten auch noch zusammengetragen hat, weicht ihre Zuversicht, und sie ist an der Weiterführung des Kurses nicht mehr interessiert. Sie packt ihre Sachen, gibt letzte Anweisungen, wie das Haus geputzt werden muß, und eilt zum Tatort. Hubertus reist mit der sich sträubenden Raina ebenfalls ab, er will mit ihr einen Psychiater aufsuchen. So bleiben noch Sophia, Claudia und ich – als Putzequipe. Wir bleiben noch eine Nacht, dann reisen auch wir ab. Sophia hat 800 Gramm abgenommen, Claudia 400. Und ich habe 200 Gramm zugenommen. Alles hat seinen Preis. Vor allem die Dummheit scheint unerbittlich ihren Tribut zu fordern. Inzwischen ist es beinahe Sommer geworden. Zu heiß für diese Jahreszeit, und es soll noch heißer werden. Felix empfängt mich freudig, die Hunde scheinen sich noch mehr als er über meine Rückkehr zu freuen. Ihre Begrüßung hinterläßt Spuren auf meiner Kleidung. Die Fremdgeh-Umfrage liegt ausgewertet auf meinem Schreibtisch. Daneben eine gelbe Rose.
Von den Folgen der Verdrängung
Noch bevor ich mich am nächsten Tag hinter die Ergebnisse meiner Fremdgeh-Auswertung machen kann, erfahre ich von Antonia per Fax-Mitteilung, daß sich Raina nicht in der Klapsmühle, sondern in Untersuchungshaft befindet: Verdacht auf Brandstiftung. Und dann habe ich nur noch eine einzige Möglichkeit, nicht unentwegt daran denken zu müssen und mich wie eine Maus in der Falle zu fühlen: Ich vergrabe mich in meiner Arbeit. Antonia wird sich um Raina kümmern. Es gibt für mich also diesbezüglich nichts zu tun. Ich zwinge mich, nicht nach ihr zu fragen, was mir nicht leicht fällt. Gelegentlich schleichen sich dennoch Bilder von ihr ein, und ich muß alles daran setzen, mich nicht noch mal auf die Reise zu machen. Gott sei Dank sind die Ergebnisse meiner Umfrage interessant genug und halten mich für die nächsten Wochen auf Trab. Ich bemühe mich, an nichts anderes zu denken als an meine Arbeit, unterstützt von Felix, der unermüdlich mit mir die Auswertungen diskutiert und interpretiert. Interessant ist die Feststellung, daß 74 Prozent der befragten Frauen und 76 Prozent der Männer, die fremdgehen, nicht etwa eine bewußte Entscheidung für
den Seitensprung fällen, sondern es dem Zufall überlassen, ob sich eine Außenbeziehung oder eine kurze oder auch länger andauernde Affäre entwickelt. Lediglich 9 Prozent Frauen und 17 Prozent Männer helfen etwas nach, um Bekanntschaften zu machen. Ich mache hier keinen Unterschied zwischen langjähriger Liaison und kurzem EinwegflaschenIntermezzo. Nach meinen Recherchen besteht für die Fremdgängerinnen kein Unterschied, was die Entscheidung für ein aushäusiges Techtelmechtel betrifft. Viele wollen lediglich eine kleine Zwischenverpflegung, einen schnellen One-NightStand, und sind, noch bevor sie wieder in die Unterhose gestiegen sind, in eine länger andauernde Geschichte hineingesegelt. Monika wollte nur rasch an der heimlichen Lust naschen und dann wieder als zuverlässige, fürsorgende Gemahlin an der Seite des Familienoberhauptes ihren Mutterpflichten nachkommen und den Hausfrauenjob verrichten. Das erste Mal mit Richard zog sogleich ein zweites Treffen nach sich. Und dann weitere Male. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Richard nicht mehr vorstellen. Drei Jahre Affäre. Gewissensbisse. Drei Jahre heimliches Verschwinden. Versuche auszusteigen. Geschichten erfinden. Innerlich hin- und hergerissen werden. Dem Ehemann Sand in die Augen streuen. Die Kinder beschäftigen. Auch als Richard längst nicht mehr wollte und sich bereits heftigst in eine andere Frau verliebt hatte, wollte sie nicht von ihm lassen. Obwohl sie bei ihrem Mann blieb, träumte sie
weiterhin sehnsüchtig vom verflossenen Liebhaber, bis sie schließlich eines Tages wieder einen neuen Richard fand. Auch Hans wollte nichts weiter als ein kurzes Abenteuer. Er hatte längst die Fünfzig überschritten und wurde als treusorgender Ehemann und dreifacher Vater geschätzt. Da packte ihn die Lust beim Schopf. Auf einem zweitägigen Betriebsausflug spazierte er nachts durch den Park und stieß auf eines der jungen Mädchen, die als Babysitter die Kinder der Angestellten hüteten. Sie habe älter als 17 ausgesehen, so Hans. Kaum drei Worte habe er mit ihr gesprochen. Da sei es über ihn gekommen, wie schon lange nicht mehr in den langen Ehejahren. Weshalb sollte er sich nicht wenigstens einmal ein kurzes Vergnügen erlauben, er, der sonst immer pflichtbewußt und über alle Maßen treu war, fragte er sich. Kurzes Ringen im Kopf und im Gewissen. Schon lag das Mädchen im Gras, öffnete einladend seine Schenkel, Hans folgte instinktiv seinem Drang, der ihn zwingend und überraschend schnell zum Ziel führte. Er habe es kaum richtig genießen können, es sei beinahe ohne ihn geschehen. Am nächsten Morgen hatte er die Sache schon wieder aus seinem Hirn gelöscht. Aber nach einigen Wochen kam die Vorankündigung einer hohen Rechnung, zu bezahlen in monatlichen Raten auf zwanzig Jahre hinaus. Obwohl wir ja diese einander bekämpfenden Kräfte aus eigenem Erleben kennen, sind wir in unserem Urteil über andere, denen die Vernunft unter die Räder gekommen ist, nicht sehr großzügig. Im Gegenteil. In der Beurteilung eigener Schwächen und Ausrutscher
sind wir eher nachsichtig und lassen uns einiges an entschuldigenden Erklärungen einfallen. Sitzen wir selbst in der Klemme, hat es uns irgendwie erwischt, sind wir sofort bereit, die gegensätzlichen Kräfte und divergierenden Mächte in der menschlichen Psyche vielfach zu bedenken und dafür verantwortlich zu machen. Betrifft es hingegen andere, fordern wir oft unerbittlich, Verstand und Wille sollten die Führung übernehmen. In der Beurteilung von Fremdgängerinnen fallen oft Vorwürfe wie Verantwortungslosigkeit, elender Egoismus, hemmungsloser Konsum sexueller Lüste und vieles andere mehr. Wenn es um Sexualität geht, scheint eine virtuose Verdrängungsarbeit am Werk zu sein. Die Vehemenz, mit der selbst heute, trotz allgemeiner sexueller Freizügigkeit, Seitenspringerinnen verurteilt werden, läßt eher Rückschlüsse auf den Verurteilenden als auf die Verurteilten zu. Hat man das Vergnügen, hinter die Kulissen zu blicken, so jemanden persönlich kennenzulernen, zeigt sich ungeschminkt das Auseinanderklaffen zwischen der Bewertung anderer und der eigenen Lebensführung. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, daß, wer sich für dieses Thema emotional und sehr kämpferisch engagiert, einen persönlichen Hintergrund haben muß. Wird ein Kampf vehement oder unter Einsatz der gesamten Kraft geführt, läßt sich daraus schließen, daß es sich um einen zweifach geleisteten Einsatz handelt. Einmal gegen die tatsächlich vorhandenen Gegner, zum anderen gegen eigene Fremdgeh-Sympathien, die
unterdrückt und ausgesperrt irgendwo hinter einer Kellertüre herumpoltern und verlangen, endlich freigelassen zu werden. Diejenigen, die sich gelegentlich einen Sprung in fremde Betten genehmigen, dies hinterher blitzschnell vergessen und so tun, als ob nichts geschehen sei, benötigen eine gehörige Portion Energie, um die Gefahr erfolgreich zu verdrängen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es zweifellos höchst interessant, das Leben unerbittlicher Abtreibungsgegner zu untersuchen, die sich nach außen hin durchaus als treusorgende Familienväter zeigen. Wenn zwei von drei Männern fremdgehen, müßten sich, rein statistisch gesehen, spannende Ergebnisse zeigen. Nach altem Klischee gelten besonders Frauen als klatsch- und intrigenfreudig. Wenn es aber darum geht, »la gloire« des Mannes aufrechtzuerhalten, ihn in seiner SelbstHerrlichkeit zu bestätigen, ist die Frau bereit, über seine großen Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und ihn nach außen zu schützen. Welche Frau würde öffentlich erzählen, daß sie als Geliebte eines angesehenen Politikers und entschiedenen Abtreibungsgegners auf sein Drängen hin einmal oder mehrere Male abgetrieben hat? Frauen schweigen und wirken dadurch am Mythos Mann mit: mächtig, stark, unfehlbar, mutig, gerecht und zuverlässig. Vielen Frauen liegt es näher, unermüdlich daran mitzuwirken, daß das Bild des Mannes rein bleibt, als es unter die Lupe zu nehmen, während sie ständig auf die Fehler – mögen sie noch so gering sein – ihrer Geschlechtsgenossinnen hinweisen. Solche Frauen dulden grundsätzlich keine Kritik am Mann. Sie
sind noch immer auf die untadelige Unfehlbarkeit ihres Gott-Vaters fixiert und setzen alles daran, die VaterStatue aus der Perspektive eines gutgläubigen, naiven und abhängigen Kindes zu betrachten. Solange wir Frauen nicht in der Lage sind, unsere Väter kritisch zu hinterfragen und die fehlerhaften Seiten aufzudecken, kann es uns nicht gelingen, unsere eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen und sie gezielt in eigenes Handeln umzusetzen. Solange wir unserem Frauenarzt noch immer aus der Hand fressen, wie kleine, artige Mädchen kritik- und gedankenlos seine Anweisungen befolgen und mit unübersehbarem Glanz in den Augen erzählen, welche Medikamente er uns verschrieben hat, werden wir niemals die uns zustehende halbe Welt zurückfordern können. Wir bleiben Teil eines großen Verdrängungsprozesses, der noch immer darauf abzielt, die Frau aus der Mitbestimmung in Wirtschaft, Politik und Kultur auszugrenzen. Ebenso folgenschwer zeigt sich der kollektive Verdrängungsmechanismus, wenn es um die Beurteilung von Sexualstraftätern geht. In der Extremsituation von Straftaten wird vieles noch deutlicher als im normalen Leben. Sexualstraftäter sind verabscheuungswürdige Unmenschen, in dieser Meinung finden sich viele wieder. Damit grenzen sie sich ganz entschieden gegen diese »Ungeheuer« ab und wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Diese Haltung ist deshalb verhängnisvoll, weil sie es unmöglich macht, präzise Analysen über die Entstehung solcher Verhaltensweisen zu gewinnen. Ganz zu schweigen
davon, Möglichkeiten zu erforschen, wie künftige Verbrechen zu verhindern sind. Ein Mensch, der sich sexuell an einem anderen vergangen hat, folgte – wenn auch nur kurzfristig – anderen Impulsen als denen, die von seiner Vernunft als richtig erkannt werden. Kein Sexualstraftäter plant sein Verbrechen strategisch und nüchtern am Schreibtisch! Kein Sexualstraftäter bewertet nach der Tat sein Verbrechen als etwas, das durchaus in Ordnung ist und leider nur von dieser Gesellschaft nicht akzeptiert wird, es sei denn, es fehlt ihm jegliches Rechtsempfinden, was in den seltensten Fällen vorkommt. Auch scheint es offenbar immer mehr Männer zu geben, die Sexualität mit Kindern, Jungen und Mädchen suchen. Jedes Jahr jetten etwa 300 000 deutsche Männer und 50 000 Schweizer nach Thailand, in das Lieblingsland der Sextouristen. Nach Recherchen der Sozialwissenschaftlerin Andrea Rothe sind die Sextouristen keineswegs alt, fett, häßlich, kontaktgestört und pervers, sondern rekrutieren sich aus einer ausgesprochen heterogenen Gruppe, Durchschnittsalter 35 bis 37 Jahre, wovon viele in ihren Heimatländern in festen Beziehungen leben oder verheiratet sind. Rothes Fazit: Die Vorstellung der Sextouristen, Sexualität mit einer thailändischen Prostituierten sei besonders leidenschaftlich, trifft nicht zu, die meisten Männer erlebten sie gar als langweilig bis abstoßend. Dennoch werden die Erlebnisse aus der zeitlichen Distanz heraus idealisiert, was zu einem neuen Sexurlaub führt.
Viele stehen besorgt vor einer derartigen Entwicklung. Vorbeugung ist gefragt. Wo aber beginnen, wenn die Hintergründe unklar sind? Haben diese Herren eventuell den typischen Webfehler im Hirn, wie viele Frauen ihn bei allen Männern ohnehin vermuten, oder zeigt sich durch dieses Verhalten etwas, das ernst zu nehmen ist? Bis jetzt haben sämtliche Versuche, diese Entwicklung zu verhindern, nichts gebracht. Ebenso ratlos stehen wir da, wenn es um die Verurteilung und Bestrafung von Sexualtätern geht. Der Schrei nach längeren Haftstrafen wird laut, nach chemischer Kastration, nach lebenslanger Verwahrung. Fordern solches Angehörige von Betroffenen, ist dies verständlich. Angesichts des großen Leides, das durch sexuellen Mißbrauch die Opfer selbst oder bei Tötung eines Kindes die Familien zu tragen haben, ist der Ruf nach exemplarischen Strafen durchaus nachvollziehbar. Werden hingegen solche Forderungen von Politikern und Politikerinnen vertreten, muß ernsthaft Eignung und politisches Verantwortungsbewußtsein dieser Personen in Frage gestellt werden, zeugt ihr Verhalten doch davon, daß sie von psychischen Gesetzmäßigkeiten keine Ahnung haben. Die Forderung nach längeren Strafen ist eine Milchmädchen- oder, besser gesagt, eine Zeitungsjungenrechnung. Wenn ein Straftäter nicht nach vier, sondern nach sieben Jahren entlassen wird, bedeutet dies lediglich, daß er nicht nach vier, sondern mit einer Garantie von 83 Prozent erst nach sieben Jahren rückfällig wird. Politiker vergessen oft, daß nach ihrer
Legislaturperiode die Welt weiter existiert. Es geht also nicht nur darum, mögliche Opfer vorübergehend zu schützen, um sie hinterher dem Schicksal zu überlassen. Ebenso blicken diejenigen in die falsche Richtung, die aufgrund ihres chemischen Menschenbildes über eine chemische Kastration eine Lösung sehen. Damit würde lediglich die geschlechtliche Funktion beeinträchtigt, während das aggressive Potential ungebrochen erhalten bliebe. Auch der Ruf nach lebenslanger Verwahrung führt in eine Sackgasse oder zurück in das vergangene Jahrhundert, wo Verbrecher und Geisteskranke an Ketten gefesselt in Kerkern »lebten«. Einführung der Todesstrafe? Ist das die Bankrotterklärung der modernen Intelligenz? Wir sind zwar in der Lage, hochkomplizierte unsichtbare elektronische Botschaften durch die Luft zu jagen, schrecken nicht vor kompliziertesten Operationen und Berechnungen aller Art zurück, nur vor der menschlichen Psyche kapitulieren wir, weil wir vorgeben, keine Ahnung von psychischen Gesetzen zu haben. Weshalb ist es so schwer, das Phänomen sexueller Straftaten zu erforschen? Die Gründe, weshalb viel zuwenig Forschung auf diesem Gebiet stattfindet, können nicht in der unendlichen Komplexität der menschlichen Psyche und den daraus resultierenden Verhaltensweisen liegen. Es liegt ganz einfach am Thema Sexualität. Die meisten Menschen kennen den Triebimpuls, der sich gegen alle Vernunft durchzusetzen vermag und diktatorisch die Richtung weist, aus eigener Erfahrung. Und viele kennen den völlig unkontrollierten Triebimpuls, auf jeden Fall alle,
die sich sexuell aushäusig verpflegen, alle Fremdgeher, -springer, -schleicher, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts.
Das eigene Tun bringt uns in die Nähe derer, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Wir grenzen uns entschieden von ihnen ab — allen voran die politische Klasse, die Forschungsgelder auftreiben sollte —, und deshalb müssen alle Versuche scheitern, sich mit dem Thema Therapie und Sexualstrafdelikt zielgerichtet und wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Zwischen einem Sexualstraftäter und demjenigen, der seinen sexuellen Impulsen und Wünschen ohne vernunftmäßige Abwägung und freie Entscheidungsmöglichkeit folgt, besteht letztlich nur ein gradueller Unterschied. Während beim einen sein gesamtes Sicherungssystem zusammenbricht und es zu Handlungen gegen Leib und Leben eines Dritten kommt, verfügt der andere noch über einige Alarmlampen, die ihm Grenzen setzen. Ein Zusammenbruch oder ein grundsätzliches Fehlen solcher Sicherungsmaßnahmen wurde stets als entweder vorübergehend krankhafter Ausnahmezustand oder als manifeste psychische Krankheit bewertet. Diese Krankheit muß genauso ernsthaft wie Krebs, Aids und andere Krankheiten erforscht werden. Meine persönlichen Recherchen, die ich im Laufe meiner über zehnjährigen Tätigkeit als Psycho-
therapeutin mit Straftätern gemacht habe, gehen dahin, daß es keine Zufallsdelikte gibt. Delikte sind immer als verschlüsselte Aussagen des Täters zu verstehen, die ihm meist selbst völlig unbekannt sind. Wir haben es in der Regel mit der bildhaften Darstellung des Unterbewußten zu tun, Komplexen, traumatischen Erlebnissen, die sich in dieser Form zu Wort melden. Die meisten Täter sind keine Wortmenschen; auch wenn sie gut reden können, sind sie oft nicht in der Lage, sich und ihre innere Welt mit Worten zu erfassen, geschweige denn zu erforschen. Das bedeutet, daß vieles niemals ins Bewußtsein zu dringen vermag, unterschwellig rumort und, wenn der Druck groß genug ist, sich einen Ausweg über die szenische Darstellung einer kriminellen Handlung sucht. Der Sexualtäter, ob als einer, der eine Tat verübt hat, oder als einer, der sich einfach via Kinderpornovideo sexuell stimuliert, versucht seine sexuelle Lust mit Hilfe eines Kindes zu steigern oder überhaupt erst zu erzeugen. Dies bedeutet, daß seine eigene sexuelle Sinnlichkeit auf ein derart unbefriedigendes Maß an Lust zusammengeschrumpft ist, daß kaum noch von Genuß gesprochen werden kann. Die Möglichkeit, den außersexuellen, sinnlichen Bereich als zusätzliche Unterstützung sexueller Lust zu erfahren, ist völlig verlorengegangen. So sucht er die weite Bandbreite sinnlicher Lust bei Kindern. Die fatale Hoffnung, über den sexuellen Kontakt zu einem Kind selbst wieder aus dem vollen schöpfen zu können, sich sinnlichem Entzücken wieder hinzugeben, ist neben anderen Motiven ein wichtiger Grund, der erwachsene Männer dazu treibt, Sexualität mit einem Kind erleben
zu wollen. Es ist die Suche nach dem verlorenen Kind in sich, nach der Möglichkeit, den Reichtum der Sinnenwelt in der kindlichen Intensität zu erleben. Die Lebensgeschichte von Sexualtätern zeigt oft eine äußerst karge Kindheit, in der die kindliche Seele schweren Verletzungen und Kränkungen ausgesetzt war, die sie sprachlos werden ließ und ihre Gefühlswahrnehmung betäubte. Das alles mag verdächtig nach Entschuldigung klingen, hat damit aber überhaupt nichts zu tun. Wenn wir den Mechanismus, der zu solchen Verbrechen geführt hat, nicht entschlüsseln, werden wir niemals eine Möglichkeit finden, Abhilfe zu schaffen, um mit allen Mitteln zu verhindern, daß es noch mehr Opfer geben wird. Den Beweggründen nachgehen heißt nicht, die Tat verharmlosen und via Verständnis den Täter zu entschuldigen. Je besser es uns gelingt, psychodynamische Mechanismen aufzuschlüsseln, um so größer ist die Chance, geeignete und immer dringender werdende Präventivmaßnahmen zu erarbeiten. Dies aber ist nur möglich, wenn wir auch wagen, zuerst in die eigene Seele und in die dort herrschenden Verhältnisse einen genauen Blick zu werfen. Wer sein eigenes Sumpfgebiet bewußt durchwatet hat, wer sich durch eigene Verwachsungen hindurchgearbeitet hat, wird irgendwann zu jener befreienden Tür vorstoßen, die den Ausblick auf die menschliche Existenz freigibt, und sich freudig Goethes Worten anschließen: »Nichts Menschliches ist mir fremd.« Und damit ist der Weg frei, die Hintergründe gezielt zu erforschen, die zu solchen ungeheuerlichen sexuellen Gewalttaten, vor
allem gegen Kinder, führen. Es müßte alles, aber wirklich alles unternommen werden, um unsere Kinder davor zu schützen! Wenn wir in uns selbst keine klare Sicht haben, werden wir auch nicht in der Lage sein, die psychischen Defekte eines Sexualstraftäters zu erforschen, sondern werden stets durch eine trübe Brille blicken. Wie ernst es uns ist mit dem Anliegen, Kinder vor Sexualstraftätern zu schützen, zeigt sich darin, wie ehrlich wir eigene Triebimpulse beobachten und analysieren können. Je mehr Einblick wir in psychische Zusammenhänge bekommen, um so eher wird es uns gelingen, auf abartige Entwicklungen therapeutisch einzuwirken. Wer nicht bereit ist, in die Tiefen seiner eigenen Seele hinunterzusteigen, die hintersten Nischen auszuleuchten, wird weder sich selbst noch andere verstehen können. Vom Zusammenhang zwischen Sexualität, Fremdgehen und Schuld Die Rose auf meinem Schreibtisch läßt den Kopf hängen. Obwohl ich ihr jeden Tag frisches Wasser gebe, will sie sich nicht mehr aufrichten. Ein müdes Samtblatt liegt schwerelos auf der Glasplatte meines Schreibtisches. Mitten in meine Überlegungen hinein meldet sich das Faxgerät: Raina hat bereits ein Geständnis
abgelegt. »Jawohl«, hat sie gesagt, es hinterher nochmals ausdrücklich bekräftigt und ihre Aussage unterschrieben: »Ich habe die Kapelle angezündet. Ich habe den Gedanken nicht mehr ertragen können, daß sich mein Mann dort mit seiner Geliebten trifft.« Viele Menschen, die den Begriff »Schuld« eigentlich ablehnen, sprechen ohne weiteres von »unschuldigen« Kindern. Die »unschuldigen« Kinder schleichen durch die Hintertüre ins Vokabular eines kritischen Menschen, unbemerkt von der bewußten Zensur. Irgendwann, in hitzigen Diskussionen, springt der Begriff aus dem Versteck und entlarvt ausgerechnet jene unbewußten moralischen Maßstäbe, von denen der Kritische sich ausdrücklich distanziert hat. Was aber führt dazu, daß wir ohne weiteres einem Kind das Prädikat der »Unschuld« zugestehen? Obwohl die meisten das Ausüben von Sexualität nicht als etwas »Schuldiges« ansehen, wird der erste sexuelle Verkehr mit einem Partner, einer Partnerin der verlorenen »Unschuld« gleichgesetzt. Worin besteht denn die Schuld? Bedeutet sexuelles Lustempfinden schuldig werden? An wem? Es scheint ein heimliches sprachliches Einverständnis in der Bewertung, ein Bindeglied zwischen Sexualität und Schuld zu geben, auch wenn unser Bewußtsein dies ablehnt. Kinder, die den Eltern auf der Seele herumhämmern, weil sie unbedingt ein Eis essen oder ein neues Fahrrad haben wollen, sind in keiner Weise mit Männern oder Frauen zu vergleichen, die von sexuellem Begehren gepackt sind und nur noch vom einen und einzigen
Wunsch getrieben werden, sich möglichst schnell mit dem Objekt ihrer Begierde geschlechtlich zu vereinen. Während das wünschende Kind durchaus in der Lage ist, mit einer Verweigerung, einer Ablehnung seines Wunsches zurechtzukommen und – wenn auch mit größtem Unwillen – Gegenargumente anzunehmen und sich zu fügen, ist der sexuell begierige Mensch für Gegenargumente kaum oder überhaupt nicht zu haben, sein ganzes Wollen ist erigiert. Fremdgänger und -gängerinnen riskieren nicht selten Kopf und Kragen, wenn sie der aushäusigen Lust nachjagen. Daß dabei die ganze Familienstruktur in die Luft gesprengt werden kann, wird im Moment des sexuellen Begehrens nicht mit ins Kalkül gezogen, wie ja überhaupt sämtliche vernunftmäßigen Überlegungen einfach wegfallen. Denkfähigkeit, die Möglichkeit, das Handeln abzuwägen, sowie die Entscheidungsfreiheit sind ausgeklickt. Die Kommandozentrale hat sich vom Haupt in den Schritt verlagert, die Führung ist unterleibszentriert. Und dabei gerät das Wohlergehen anderer Familienmitglieder, wie des Ehepartners, der Ehepartnerin und der Kinder, unter die Räder. Das Wohl der ganzen Familie ist vergessen. Dadurch entsteht für den Fremdgänger, die Fremdgängerin eine äußerst problematische Situation, und er/sie wird sich, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, schuldig fühlen. Nicht aber etwa, weil die Treue zum Ehepartner/ zur Ehepartnerin gebrochen wird. In meiner FremdgehUmfrage fühlen sich 53 Prozent der Fremdspringerinnen und 46 Prozent der
Fremdspringer mit ihrem Tun und Handeln total einverstanden, lediglich 7 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer möchten aushäusige Sexualkontakte zukünftig vermeiden und ihr Verhalten ändern. 36 Prozent der Frauen fühlen sich hinterher energiegeladen und gut, 34,5 Prozent der Männer zufrieden wie nach einem guten Essen, während sich nur 15 Prozent Frauen und 12 Prozent Männer nach einem aushäusigen sexuellen Verkehr nicht gut fühlen, was eventuell mit nagenden Schuldgefühlen zusammenhängen könnte. Für den größten Teil aber bezieht sich ein etwaiges Unbehagen einmal darauf, daß alle anderen verbindlichen Lebensbereiche aus dem Blickfeld in die Ferne gerückt oder völlig aus dem Bewußtsein ausgeblendet worden sind und auf nichts und niemand Rücksicht genommen wird. Schuldig aber im eigentlichen Sinne werden wir vor allem uns selbst gegenüber. Vom Augenblick an, wo wir verleugnen, daß wir Bürger zweier Welten sind und uns unter die alleinige Herrschaft der Triebwelt stellen, werden wir schuldig. Ein tiefer Bruch zwischen unserer geistigen und körperlichen Herkunft zeigt sich. Wie dies ja auch bei jenen Menschen der Fall ist, die sich ausschließlich auf die geistige Herkunft berufen, den sexuellen Triebbereich ausklammern und damit den ergänzenden Pol ausgrenzen. Jede ausschließliche Fixierung auf den einen Pol zieht die Verleugnung des anderen Pols nach sich. Die menschliche Existenz ist aber zwischen beiden Polen ausgespannt, und es scheint eine der schwierigsten Aufgaben zu sein, die
Balance zu halten, um nicht der zweifachen Herkunft untreu zu werden, einen der beiden Pole zu verleugnen und dadurch grundsätzlich an der Schöpfung schuldig zu werden. Glücklicherweise hat alles seine Zeit. Mit Beginn der Pubertät drängt sich vor allein die Triebkraft der Sexualität mit großer Vehemenz in den Vordergrund und übernimmt die Führung. Wie das Beispiel von Raina, Hubertus und Wanda illustriert, gerieten beide Familiensysteme durch das Verhältnis Wanda/Hubertus ins Wanken. Aber weder Wanda noch Hubertus verhielt sich verantwortungslos oder war etwa nicht zurechnungsfähig. Beiden lag, trotz allem, das Weiterbestehen ihrer Familie am Herzen, und sie dachten nicht daran, sich scheiden zu lassen. Auch wenn das Interesse am eigenen Ehepartner, der eigenen Ehepartnerin beinahe erloschen war, so wurde er/sie dennoch in seiner/ihrer Funktion benötigt, um das familiäre System zu komplettieren und aufrechtzuerhalten. Als individuelle Person hatten sie beinahe ausgespielt, als Träger einer Rolle im Theaterstück »Familie« wurden sie jedoch dringend benötigt, denn kein anderer, keine andere kennt den Text dieser Rolle besser und weiß über den täglichen Handlungsablauf besser Bescheid. Deshalb kommen sich Partnerinnen von Fremdgängerinnen oft mißbraucht vor, reduziert auf ihre Funktion in der Familie oder, noch schlimmer, auf ein Requisit. Hubertus legte stets größten Wert darauf, daß sich die gesamte Familie am Sonntag zum Frühstück versammelte. Als Raina einmal vergaß, die
speziellen Frischbackbrötchen fürs Familienfrühstück zu besorgen, gab es den größten Krach, und er warf ihr grobe Vernachlässigung vor. Von außen gesehen scheint Hubertus' Reaktion völlig übertrieben zu sein, aus seiner Sicht hingegen ist sie verständlich. Für ihn war die Familie, trotz seiner Beziehung zu Wanda, Heimat geblieben. Die Frischbackbrötchen sind als Ritual zu verstehen, das heimatliche Gefühle hervorruft. Fehlen die Brötchen, will sich das Heimatgefühl nicht einstellen. Da Raina für die Besorgung der Brötchen zuständig war, fiel die Schuld ihr zu. Auch Wanda legte größten Wert darauf, daß die Familie nach außen weiterhin so funktionierte wie bisher. Obwohl sie an Ernst als Ehemann kein großes Interesse mehr zeigte, war es ihr wichtig, daß sie ihren Hochzeitstag festlich feierten. Als Ernst in Anbetracht der Ereignisse und vor allem Wandas fortschreitender Schwangerschaft wegen davon Abstand nehmen wollte, machte sie ihm die größten Vorwürfe. Viele Seitenspringerinnen erachten es von ihren Partnerinnen als Pflicht, die offizielle Rolle weiterhin klaglos und perfekt zu spielen. Heimatlicher Boden will nicht so schnell aufgegeben werden. Da gibt es für Außenstehende viel zu rätseln. Es gibt wenige Paare, die sich beim ersten Auftauchen von Problemen schnell und ohne größere Komplikationen trennen, unbegreiflich für Freunde und Bekannte, daß nicht größere Anstrengungen für die Erhaltung der Beziehung unternommen wurden. Andere hingegen
bleiben, ebenfalls zur Verwunderung aller, als ein Paar zusammen und treten als solches nach außen hin in Erscheinung, obwohl er oder sie über Jahre eine Liebesbeziehung zu einer anderen Person unterhält. Oft werden die Kinder als Grund für das Zusammenbleiben angeführt, obwohl sie entweder längst ausgezogen oder gerade im Begriff sind, es zu tun. Da wird an einem Vorstellungsbild festgehalten, das es in der phantasierten Wunschform bereits nicht mehr gibt. Wer diese Verhaltensweisen verstehen will, bleibt mit seiner Logik auf der Strecke. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich erst dann auf, wenn der Bogen über den Einzelfall hinaus gespannt und nach kollektiven Grundbedürfnissen geforscht wird, die sich nicht nach logischen Gesichtspunkten regeln lassen.
Von der Erinnerung an das Ursprungsland und der statthalterischen Funktion des Partners/der Partnerin Wir bringen eine, wenn auch verblaßte Ahnung einer Urbeheimatung mit ins Leben. Beheimatung als Ursprung. als Aufgehobensein in etwas Vollständigem, Intaktem. Ganzem. Ob wir dies für ein Ereignis halten. in dem es sich lediglich um einen systematischen Vorgang der Zellteilung handelt, oder wir uns ein Bild über einen geographischen vorgeburtlichen Ort vorstellen, ist unbedeutend. Der Ausgangspunkt ist immer das Ganze. Vollkommene. Diese »Erinnerung« läuft als Sehnsucht wie ein roter Faden durch sämtliche
Lebensphasen, konstelliert sich immer wieder neu und zeigt sich in unterschiedlichen Signaturen. Durch die Zeugung wird der einstige Ort des Aufgehoben-seins aufgebrochen und verlassen, an Stelle des Ursprungsortes übernimmt die Gebärmutter während der Dauer der Schwangerschaft die Funktion, den Fötus zu versorgen und zu beherbergen. Er ist Teil des mütterlichen Organismus und etwas vollkommen Ganzes und Vollständiges. Nach der Geburt wird das Thema »Beheimatung« nochmals in der symbiotischen Beziehung Mutter—Kind wiederholt. Nach der symbiotischen Phase wächst das Kind allmählich in weitere familiäre Bezüge hinein, der Beziehungsradius erweitert sich, immer aber ist es ein vollständiges, ganzes System, in dem das Kind lebt und sich aufgehoben fühlt. Selbstverständlich erleben Kinder Einelternfamilien oder auch andere Lebensgemeinschaften als ein ganzes und intaktes Gefüge. Die Vorstellung, die in manchen konservativen Köpfen herumgeistert, das Gefühl einer vollständigen Familie sei nur dann gegeben und könne vom Kind als solches erlebt werden, wenn alle Rollen traditionell besetzt seien, ist falsch. Diese verhängnisvolle Meinung hat bei vielen Frauen dazu geführt, daß sie Ehen aufrechterhielten, die für alle Beteiligten absolut unzumutbar waren — ganz besonders aber für die Kinder. Gerade Kinder haben eine ausgeprägte Fähigkeit, alles, was als Mangel erlebt wird, imaginär zu ergänzen. Zudem sollten wir uns überlegen, warum wir Kindern eine Familie erhalten wollen, die lediglich als eine freudlose Interessengemeinschaft wie etwa eine
Aktiengesellschaft oder eine GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung!) betrieben wird. Ein nicht vorhandener Vater wird sich auf die Entwicklung der Kinder sehr viel günstiger auswirken als einer, der zwar körperlich anwesend ist, emotional aber abwesend. Vielen Söhnen wird ein absolut untaugliches Männerbild vorgelebt. Sie lernen von ihren Vätern, die ihnen als Vorbild dienen sollten, daß Männer emotional nicht ansprechbar und zu bewegen sind. Sie werden es ihnen gleichtun und ebenfalls in der wohlbekannten seelischen Impotenz landen. Töchter lernen mit dem Vater ihren ersten Dialog mit dem anderen Geschlecht. Ein seelisch nicht präsenter Vater läßt die Tochter ohne Resonanz, sie kann sich an ihm nicht orientieren. Diese Erfahrung nimmt sie in ihr späteres Leben mit, sie wird ihre Partnerbeziehungen entscheidend prägen. Mit einer solchen typisch weiblichen Vorgeschichte ist die Falle bereits zugeschnappt. Solche Frauen werden sich immer mit dem Phantomschmerz Vater herumschlagen, jagen ausgerechnet jenen seelisch impotenten Männern hinterher, die ihnen wiederum emotional nicht antworten. Zudem werden sie, sobald irgendein männliches Wesen aufkreuzt, unter mangelndem Selbstbewußtsein und fehlendem Selbstvertrauen leiden. Wen wunderes. Früh übt sich. Die anfängliche Lebensgemeinschaft, wie sie auch immer aussehen mag, wird vom Kind als vollständiges System wahrgenommen. Fehlendes, das als Mangel erlebt wird, wird dabei durch die Phantasie ergänzt. Allmählich dehnt sich das als familiäres System Erlebte auf weitere Personen aus, auf Verwandte und Freunde
des Hauses. Mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule werden die Grenzen auf Spielgefährtinnen und Schulfreundinnen weiter ausgedehnt. Mit dem Einbruch der sexuellen Energie wird das familiäre System gesprengt. Der junge Mensch drängt energisch hinaus, und nichts kann ihn zurückhalten. Er befindet sich einige Jahre lang in einem Zustand, in dem er weder völlig abgelöst seinen eigenen Weg suchen noch im heimatlichen Gefüge verharren kann. Es ist die Zeit, da kein Stein auf dem anderen liegenbleibt. In vielen Familien kehrt eine Unruhe ein, die mit nichts zu bekämpfen ist, und oft genug kapitulieren die Eltern vor der unbändigen Kraft der jugendlichen Eigenwilligkeit. Der junge Mensch wird nicht eher ruhen, bis er sich aus dem familiären System herausgelöst hat, ausgenommen jene Bedauernswerten, die von ihren mit Schuldgefühl operierenden Eltern nicht für ein eigenes Leben freigegeben werden. Die anderen aber machen sich aus dem Staub, lernen fliegen, nehmen die Zügel ihres Lebens selbst in die Hand, lösen sich aus dem Familiensystem heraus, um sich irgendwann als etwas Eigenes, aber doch letztlich wieder Unvollständiges, als angeknabberte Hälfte zu erleben. Bevor der junge Mensch die neue Freiheit richtig genießen kann, holt ihn die Urerinnerung an sein heimatliches Herkunftsland wieder ein. Die sexuelle Energie kurbelt das Suchen und Sehen nach der anderen, der ergänzenden Hälfte an, und er gibt nicht auf, bis er sie gefunden hat und sich mit ihr ergänzen und vervollständigen kann. Dann klingen die
heimatlichen Glocken, und das uralte Gefühl, wieder komplett und ganz zu sein, hält Einzug. So übernimmt der Partner lediglich eine stellvertretende Funktion, er steht in Statthalterschaft, spielt eine Ersatzrolle, mit deren Hilfe die Rückbindung an den Ursprung wieder gefunden wird. Haben wir uns mit einem Partner heimatlich eingerichtet, wird das Zusammenleben und die Gemeinschaft stets mit dem Heimatgefühl gleichgesetzt. Die äußeren Umstände können noch so mißlich sei, es gibt fast nichts, was zur Aufgabe und zum Verzicht der Heimat motivieren könnte – es sei denn, ein neues heimatliches Gefilde lockt oder liegt bereits zu unseren Füßen. Die innere Zerreißprobe, in die Menschen hineingeraten können, die oft nicht mehr ein noch aus wissen, wenn sie sich zwischen einer alten und einer neuen Heimat entscheiden sollen, ist nur vor diesem Hintergrund richtig einzuschätzen. Stellen sich bei einer aushäusigen Liebschaft keine heimatlichen Gefühle ein, sondern vor allem andere Aspekte wie sinnliche Vitalisierung, so ist durchaus zu verstehen, wenn die alte partnerschaftliche Heimat – wenn auch freudlos – aufrechterhalten und um nichts in der Welt aufgegeben wird. Meist dauert es ein ganzes Leben lang, bis wir den inneren Umbruch vollziehen und begreifen können, daß der Partner lediglich eine statthalterische Funktion ausübt und nicht die eigentliche Heimat ist. Wir tun uns schwer damit. Und es liegt uns oft näher, die Aufgabe der Beheimatung auf den Partner/ die Partnerin zu
übertragen, als diese innere Arbeit selbst zu leisten. Es ist um einiges einfacher, den Partner hoffnungslos zu überfordern, als die uns vom Leben zugedachte Herausforderung selbst anzunehmen. Die sexuelle Energie schiebt sich wie zufällig als treibende Kraft in das menschliche Leben. Sie aber ist es, die uns sehnend aufbrechen läßt, die uns zu Suchenden macht. Sie führt uns immer wieder zum Du, zur Stellvertretung der größeren Heimat. Sexualität kann auch als die dunkle Seite der Religiosität verstanden werden, als Antriebskraft, um die Rückbindung zum Herkunftsland wieder zu erlangen. Vielleicht liegt ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Zerbröseln religiöser Werte einerseits und dem gespenstischen Aufblasen sexueller Praktiken andererseits. Wem es nicht gelingen will, sich durch Besinnung auf den Herkunftsort rückzubinden, der wird wohl alles daran setzen, wenigstens körperlich das Gefühl zu erleben, endlich angekommen zu sein. Die Sexualität als Lückenbüßerin ist inzwischen unsäglich strapaziert. Die Fokussierung auf Sexualität hat indes nicht wenigen den Appetit beinahe restlos verdorben, und es bleibt das Suchen nach zusätzlichem Anreiz zur sexuellen Stimulierung. Die Flut pornographischer Erzeugnisse demonstriert eindrücklich, daß immer mehr Menschen eine solche Unterstützung benötigen. Die mannigfaltigen Angebote der Pornographiebranche mit ihren Raffinessen muten wie Reiseprospekte an. Wenn es uns nicht mehr gelingt, uns durch ein Gefühl tiefen Vertrauens in der schöpferischen Intelligenz
gehalten zu fühlen, uns in einem größeren Zusammenhang aufgehoben zu wissen, dann versuchen wir, den Weg zurück über die Sexualität zu finden — notfalls mit etwas Nachhilfe. Man kann sich über diese Auswüchse lustig machen, sich weit davon distanzieren und alles als abartig und des Menschen unwürdig bezeichnen. Ich persönlich ziehe es vor, jeden Ausdruck menschlichen Handelns, gerade dann, wenn er in Extreme auszuarten scheint, auf seinen tieferen Sinn zu untersuchen. Die verbissene Jagd nach sexueller Lust, die in orgiastischen Gefühlen gipfelt, beweist die große Sehnsucht nach ozeanischem Einswerden im Sinnlichen, im Erleben des Orgasmus. Ein körperlicher Höhepunkt dauert ein paar Atemzüge, mehr nicht, und die Sehnsucht nach Verschmelzen mit dem anderen endet, bevor wir uns richtig in den ersehnten Genuß einfinden und vertiefen können. Von Mystikern erfahren wir, wie es ihnen gelungen ist, sich ohne die Einschaltung eines Sexualpartners in ein ozeanisches Gefühl des Einssein mit der göttlichen Energie einzufinden: »0 Wunder über Wunder, wenn ich an die Vereinigung denke, die die Seele mit Gott hat: Er macht die Seele freudewonnig aus sich selber fließen, und alle nennbaren Dinge genügen ihr nicht mehr. Ja, sie genügt auch sich selbst nicht. Der göttliche Liebesquell strömt auf sie über und reißt sie aus sich selber hinüber in ihren ersten Ursprung, der Gott alleine ist. In ihm kommt die Seele zu ihrer höchsten Vollendung.«
Der Sexualität fällt eine wichtige Funktion zu. Sie schickt uns auf die Reise, aber nicht, um lebenslang an Ort und Stelle zu verharren, sondern um sie als Fahrzeug zu nutzen, das uns in das Herkunftsland zurückbringt. Herman Weidelener überträgt die sexuelle Entwicklung auf das Bild einer Bergbesteigung. Am Fuß des Berges befindet sich die Erosenergie, wir nehmen Anlauf, setzen den Motor in Gang, indem wir den Anlasser drücken und Liebe machen. Der Liebesschwung trägt uns höher hinauf in das Mittelfeld, wo bereits eine verfeinerte Liebesenergie die Philia, zu finden ist, die sich im freundschaftlichen Besorgtsein um den anderen äußert, im Wohlwollen für andere. Und diese Energie spendet uns die Kraft für den letzten Aufstieg auf den Gipfel, wo eine allumfassende Liebe, die Agape, wohnt. Diese Liebe schließt nichts und niemanden aus, sondern verströmt sich auf alle. Agape hat also nichts mit Sexualität zu tun, mit geschlechtlicher Vorzugsliebe, mit der eine/r unter vielen ausgewählt wird. Dieser Entwicklungsprozeß ist nicht als ein linearer Verlauf zu verstehen, sondern eher als eine rhythmische Auf- und Abbewegung. Gerade dieses Bild macht deutlich wie sehr die Anerkennung aller Bereiche eine Rolle spielt. Wie können wir jemals den Gipfel erklimmen, wenn wir niemals am Fuß des Berges gewandert sind! Alles gehört zusammen. Jede Ausgrenzung führt in eine Sackgasse. Ebenso muß der Versuch scheitern, einen allgemeingültigen Fahrplan zu erstellen, wonach alles in Altersphasen geregelt und eingeteilt ist. Es gibt Menschen, die auch im fortgesetzten Alter immer
wieder zum Fuß des Berges absteigen wollen, um erneut Schwung für den Aufstieg zu holen. Die Beurteilung, was richtig ist, kann nur jede/r ganz persönlich vornehmen. Nur, meine ich, daß ein mit allen Mitteln erzwungenes Festhalten am Fuß des Berges, das mit einem körperlichen Fitneßprogramm erwirtschaftet wird nicht Sinn der menschlichen Entwicklung sein kann.
Vom Unfug, gegen den Strom zu schwimmen Nicht nur Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes, sondern auch körperliches Unvermögen sowie Beweglichkeitseinbußen gehen mit dem Alterungsprozeß einher. Die Möglichkeit, andere mit äußeren Reizen sexuell zu stimulieren, geht nach der Lebensmitte (38 Jahre!) allmählich zurück. Dennoch bemühen sich sowohl Frauen als auch Männer in zunehmendem Maß, gerade die sexuelle Attraktivität um jeden Preis zu konservieren oder gar in den Vordergrund zu stellen. Dies erzeugt jene abschreckenden Bilder, wo ältere Menschen (mehrheitlich Frauen), nicht zu ihrem wahren Alter stehen, es verheimlichen, mogeln, peinlich herumschäkern und womöglich noch andere dazu auffordern, ihr Alter zu erraten. Dies ist eine Selbstentwürdigung höchsten
Grades, hier wollen Menschen in vergangenen Lebensphasen verharren, verweigern Wachstum, Veränderung und Entwicklung. An die Stelle von Reife, Weitsicht und Weisheit tritt sklerotische, engherzige Trotteligkeit. Wir wollen nicht sichtbar älter werden und scheuen weder Zeit, Kosten, noch freiwillige operative Torturen, um die Spuren des Älterwerdens zu eliminieren. Es ist ein Kampf gegen die Zeit, der bereits verloren ist, bevor er begonnen hat, eine bedenkliche Art, sich selbst und seiner Bestimmung untreu zu werden, um nicht vom Strom der Vergänglichkeit erfaßt zu werden, der uns in Neues hineinträgt. In diesem krampfhaften Festhalten verpulvert die gesamte Energie, und es ist nicht verwunderlich, wenn dabei das Leben immer ärmer und einsamer wird. Es gibt nichts Trostloseres, als sich mit einer 70jährigen ausschließlich über ihre neueste Frisur, über Kosmetik und Kleider zu unterhalten oder mit einem Mann dieser Altersklasse Gespräche über seine neuesten Errungenschaften in Sachen Liebe und Sex und seine tolle Fitneß und körperliche Leistungsfähigkeit zu führen. Mich beschleicht dabei jedesmal das ungute Gefühl. um das Wichtigste betrogen zu werden. Wer bereits sieben Jahrzehnte auf dieser Welt verbracht hat, könnte weit mehr zu bieten haben als Beiträge über Kosmetik. Mode und Fitneßprogramme. Wer wollte nicht am Reichtum der Erfahrung eines alten Menschen teilnehmen! Wer wollte nicht Zeuge davon sein, wenn Reife und Weisheit aus einem langen Leben resultieren und sich Gesetzmäßigkeiten zeigen! So gealterte Menschen müßten sich nicht über Einsamkeit beklagen,
sondern hätten alle Hände voll zu tun und könnten nur mit Mühe noch Zeit fürs Alleinsein finden. Sich dem Gesetz des Älterwerdens zu widersetzen, hat langfristig schwerwiegende Folgen: Vereinsamung, Verbitterung und Zurückfallen auf die Stufe eines fordernden, unvernünftigen, trotzenden Kindes. Wer in dieser Weise altert, ist mit einem Baum vergleichbar, der sich weigert Früchte zu tragen, und sich gleichzeitig darüber beklagt daß ihn niemand der schönen Früchte wegen bewundert. Alles hat seine Zeit. Und die Signaturen sind unübersehbar. Für uns Frauen sind die »Wechseljahre« eine große Orientierungshilfe. Die körperlichen und psychischen Zeichen zu entschlüsseln und ihre Aussage zu verstehen bedeutet, klare Hinweise für die Weiterentwicklung zu erhalten: Die körperliche Fruchtbarkeit ist beendet und wird auf der geistigen Ebene fortgeführt. Es ist eine Übergangszeit, die uns von der Zentrierung auf die Fortpflanzung und somit auf das Geschlechtliche in einen größeren und vor allem freien Raum der geistigen Entfaltung hinüberführt. Das allgemein Menschliche tritt in den Vordergrund und überlagert die Polarisierung auf der Geschlechtszugehörigkeit. C. G. Jung weist mit seinem Anima/Animus-Konzept darauf hin, daß Individuation die Erschließung der inneren Gegengeschlechtlichkeit meint. Entsprechend der menschlichen Biologie, wo die hormonelle Situation das Vorhandensein von männlichen und weiblichen Hormonen dokumentiert, ist auch in der Psyche jedes Mannes Weibliches, in
derjenigen der Frau Männliches vorhanden. Älterwerden ist darauf angelegt, sich selbst zu ergänzen und damit innerlich reicher, weiser und weiter zu werden. Wenn wir uns diesem natürlichen Prozeß widersetzen, uns stets auf frühere Lebensphasen fixieren, ist die Entfaltung des zu erschließenden Potentials nicht möglich. Die Kunst des Älterwerdens besteht darin, loszulassen, nicht um ärmer zu werden, sondern um neue Bereiche zu erschließen. Sinnliches Erleben wird nicht eingeengt, sondern verlagert. Ist hingegen die Vorstellung sinnlicher Freude ausschließlich mit sexuellem Erleben gekoppelt, werden sich früher oder später trotz eifrigem Fitneßtraining Mißerfolge einstellen. Wer auch beim Älterwerden den gesamten sinnlichen Bereich nur auf den schmalen Ausschnitt sexueller Aktivität reduziert, wird zwangsläufig mit jedem Jährchen eine deutliche Einbuße und die Schmälerung sinnlicher Lust erleben. Deshalb ist es jetzt wichtig, sich die einstige Bandbreite sinnlicher Vergnügen, die nicht an Sexualität gekoppelt sind, zurückzuerobern. Es gibt immer wieder ältere Menschen, die uns dies vorleben, und wenn wir ihnen aufmerksam zuhören, können wir etwas von jener weitgefächerten Erlebensfreude der Kindheit wiederfinden, jene breite Sinnlichkeit, frei von sexueller Bindung. Für Paare, die schon länger zusammenleben, ergibt sich oft eine neue Art von Intimität, die sich sehr viel stärker auf seelische und geistige Bereiche verlagert. Da kann das gemeinsame Erleben eines Spaziergangs zum Ausdruck tiefer, seelischer
Übereinstimmung werden, das gemeinsame Lauschen in die Stille einer schlaflosen Nacht zum Gefühl von ganz besonders tiefer Vertrautheit. Diese Nähe und Intimität breitet sich auf andere Bereiche aus und vermittelt ein Gefühl inniger Verbundenheit. Übrigens läßt sich diese Art von Intimität auch bereits bei Paaren entdecken, die noch mitten im Leben stehen, ja sich sogar noch vor der Lebensmitte befinden. Sie haben wenig Bedürfnis nach Sexualität und genießen einfach das Zusammensein mit dem Partner/der Partnerin. Gelegentlich werden solche Paare durch Berichte in den Medien verunsichert, die dahin zielen, den Gradmesser einer gut funktionierenden Partnerschaft in der sexuellen Frequenz zu sehen. Demnach sollten 2030jährige mindestens zwei bis drei Mal pro Woche Sex haben, 30-40jährige mindestens ein bis zwei Mal wöchentlich, ab 40, um sich möglichst fit zu halten, mindestens einmal wöchentlich, um dies dann hinauf bis ins hohe Rentenalter beizubehalten. Obwohl derartige Angaben mit der Realität nichts zu tun haben und in der Praxis ganz andere Vorstellungen und Meinungen anzutreffen sind, findet sich leider auch bei einigen Paartherapeuten und -therapeutinnen diese Sichtweise. Sie fragen nach der Häufigkeit gemeinsamer geschlechtlicher Aktivität und stellen eine entsprechende Diagnose. Diese Fragestellung ist aber grundsätzlich falsch und sollte dahingehend geändert werden, daß nach dem Erleben von Intimität und Nähe gefragt wird, ob in seelischer, geistiger, körperlicher oder ganz einfach alltäglicher häuslicher Art. Und die Gewichtung sollte den Paaren überlassen werden. So
gibt es Paare, die fühlen sich mit der Verlagerung sexueller Intimität auf seelische Bereiche rundum wohl, erfahren darin eine Vertiefung ihrer Beziehung, während andere oder lediglich einer/eine der beiden einen Mangel erleben. In meiner Fremdgeh-Umfrage geben 7 Prozent Männer und 9 Prozent Frauen die geschwisterliche Vertrautheit als Grund an, außerhalb der Partnerschaft sexuellen Kontakt zu einer anderen Person zu suchen. Die Bedeutung der Sexualität verändert sich für die meisten in den verschiedenen Lebensphasen. In der Altersgruppe 21-27 Jahre wird die Bedeutung am höchsten eingestuft, 42 Prozent bei den Frauen, 62 Prozent bei den Männern. Mit zunehmendem Alter sinkt die Bedeutung. Bei den 4955jährigen sind es noch 12 Prozent bei den Frauen, 15 Prozent bei den Männern, bei den 56-62jährigen 6 Prozent beziehungsweise 8 Prozent, und bei den älteren Jahrgängen sind es noch 2 Prozent beziehungsweise 5 Prozent. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, daß sich in der Partnerschaft im Laufe der Zeit neben der Sexualität auch noch andere Beziehungsqualitäten wie Freundschaft, Wohlwollen und Güte entwickeln. um allmählich die sexuelle Vorherrschaft abzulösen. Damit wir im Alter aus der Fülle zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten schöpfen können. Intimität und das damit einhergehende sinnliche Wohlgefühl hat viele Facetten. Ein 57jähriger Geschäftsmann, der seiner vielen Affären wegen von seinen Partnerinnen stets verlassen wurde, erzählte mir anläßlich eines Interviews über das Fremdgehen, wie
sich sein Leben allmählich zu verändern beginne: »Noch vor wenigen Jahren jagte ich jeder sich bietenden Möglichkeit von Sexualität mit einer Frau hinterher. Nun stelle ich fest, daß sich beim Anblick meines Hauses, das da so wunderschön in der Abendsonne steht und aus dessen Kamin der Rauch zum Himmel steigt, eine beinahe unbändige, fast kindliche Freude einstellt. Und wenn ich die Haustür öffne und mir der Duft von frischem Brot in die Nase steigt, könnte ich jubeln vor Glück, so wie damals, wenn ich als Kind vom langen Schulweg nach Hause kam und das Essen auf dem Tisch dampfte.« Mit dem Älterwerden reifen wir in jene Bereiche zurück, die wir einst aufgeben mußten, um die Welt, das Du, zu erforschen. Im Älterwerden rücken Anfang und Ende näher zusammen. »Wenn wir nicht wieder werden wie die Kinder ...«
Ausbruch
Von sieben guten Gründen zum Fremdgehen
Fremdgehen, untreu sein, wird gelegentlich mit Sünde gleichgesetzt. Es ist ein Unterschied, ob vom Fremdgehen oder von Treue- und Ehebruch die Rede ist. Während mit Fremdgehen, In-die-Fremde-Gehen
durchaus etwas Aktives. Unternehmerisches, beinahe spielerisch Neugieriges verbunden werden kann, haftet dem Begriff Treuebruch bereits ein schweres Vergehen an. Spätestens in der Wortwahl zeigt sich eine Beurteilung. und selbstverständlich kommt darüber hinaus das Menschheitsbild samt Lebensphilosophie zum Ausdruck. In der Wahl des Begriffs Fremdgehen rückt der Aspekt des Selbsthandelns und der Selbstverantwortung in den Vordergrund, schließlich geht jeder, der fremdgeht, selbst dorthin. Zudem steht die Selbstverantwortung im Zentrum. Im Wort selbst findet sich keine Bewertung. Hingegen sitzt bereits im Begriff des Treuebruchs ein Werturteil. Treue gilt in unserer Kultur als hoher ethischer Wert, die zu brechen unehrenhaft ist. Diese Bezeichnung stellt die menschliche Integrität in den Vordergrund und impliziert Werte wie Gehorsam, dem unter allen Umständen Folge geleistet werden muß. Sich fraglos einer Instanz zu unterwerfen knüpft an alttestamentarische Vorstellungen an. Demnach ist der Mensch grundsätzlich ein Monster, das möglichst in der Erziehung (nach den Methoden der »Schwarzen Pädagogik«) hart an die Kandare genommen werden muß, damit seine Triebe nicht auswuchern und entarten. Bei Ungehorsam folgen unerbittlich härteste Strafen. Kontrolle und Züchtigung stehen an oberster Stelle, weit davon entfernt, dem Menschen Selbstverantwortung und Selbstbestimmung einzuräumen und ihm einen Verstand zuzubilligen der durchaus
funktioniert, der aber auch gelegentlich durch die Dynamik der Triebimpulse aus dem Takt geworfen werden kann. Alttestamentarierinnen zeichnen sich im Urteil gegen andere als besonders hart und unerbittlich aus, während der Balken im eigenen Auge großzügig übersehen wird. Der Vorgang des Fremdgehens wird in verschiedenen Sprachbildern zum Ausdruck gebracht, die einen verharmlosen andere verschlimmern die Fakten. So heißt »Seitensprung« ja nichts weiter, als eben mal kurz zur Seite zu springen, und impliziert, hinterher wird wieder auf dem Hauptpfad weitergeschritten. Die Formulierung »nichts anbrennen lassen« verhindert gar, daß das Kochgut verkohlt, oder läßt Assoziationen an die rettende Feuerwehr aufsteigen. Die Franzosen gehen noch einen Schritt weiter in der Verharmlosung: »voir á töte«, was soviel heißt wie sich »etwas umsehen«, wie man sich etwa in einer Landschaft umschaut oder in einem Kaufhaus. Die in der Schweiz häufig anzutreffende Redewendung »unter oder über dem Hag durchfressen« besagt, hier handelt es sich nicht um das Hauptmenü, sondern es wird nur genascht, genestelt und gezupft, ist also nicht ganz und gar unstatthaft und verboten. Es rückt — wie auch die Phrase »die Kirschen in Nachbars Garten pflücken« - sehr nahe zum »Mundraub«, der in bestimmten Regionen wiederum nicht ausdrücklich als ein Vergehen gewertet wird. Andere Ausdrucksweisen wie jagen, Beute erlegen oder wildern verweisen auf eine Jägersprache (Jägerlatein) und verraten ebenfalls
das zugrundeliegende zoologisch-biologische Menschenbild. Der Vergleich mit dem Tierreich ist nicht zufällig. Hier stand der Affe zweifellos Pate. Konsequenterweise müßte die Bewertung derjenigen, die ständig einem Objekt ihres Begehrens nachjagen, entsprechend nachsichtig ausfallen und ihnen großzügig ein Jagdschein ausgestellt werden. Wie auch immer wir den Tatbestand einer aushäusigen Liebschaft oder sexuellen Kontaktnahme benennen wollen, kann das, was als ausschlaggebende Kraft dahintersteht, erst dann verstanden werden, wenn wir bereit sind, auf Bewertung oder gar Verurteilung zu verzichten. Wer begriffen hat, daß der Mensch die Spannung zwischen beiden Seiten seiner zweifachen Herkunft herzustellen hat, ohne sich ausschließlich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, wird immer mit größter Achtung, mit Respekt und Wertschätzung sämtlichen menschlichen Lebensäußerungen begegnen. Leben ist Leben. Leben heißt im Fluß sein. Mit allem, was dazugehört. Fremdgehen, die Treue brechen ist eine elementare Lebensmanifestation. Diese Verhaltensweisen als Defekt zu interpretieren, hinter dem sich gar eine böse Absicht verbirgt, ist ausgekochter Blödsinn. Wer die Mühe nicht scheut, seine eigene Seelenlandschaft zu erforschen, wird schnell begreifen, daß es sich um ein vielschichtiges und nuancenreiches Gelände handelt, das niemals mit einfachen, plakativen Bildern erfaßt werden kann. Wir entdecken vielleicht einen lieblichen
Teich mitten im Wald, umringt von zauberhaftesten Pflanzen, und schon wenige Schritte weiter stinkt ein Abfallhaufen übel zum Himmel. Während das Wasser bei starker Sonnenbestrahlung besonders diamanten zwischen den Ästen funkelt, gärt und fault es um so intensiver im Müll nebenan und verbreitet ätzenden, beinahe unerträglichen Geruch. Jeder Versuch, die Menschen in gute oder böse einzuteilen, muß scheitern. Wir haben eine weite Palette an Möglichkeiten in uns, die sowohl ins Positive als auch ins Negative hineinreicht. Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, suchen oft eine Lösung in psychologischen Theorien und landen nicht selten in einer Sackgasse. Sowohl das Psychogramm von typischen Fremdgängerinnen auseinanderzuschrauben und nach Defekten zu untersuchen, als auch sich in Selbstzweifel hineinzuspiralen und sich mit Vorwürfen zu quälen, bringt keine Lösung. Was nützt es, die zu starke Mutterbindung des Partners als maßgeblich verantwortlich für seine Treuebrüche zu diagnostizieren? Ein wenig Wut auf die Schwiegermutter wird eventuell guttun, den Partner in Therapie zu schicken etwas Genugtuung bringen. Ebensowenig bringt die selbstbezogene Pirouette steter Selbstentwertung, etwas falsch gemacht zu haben und damit die eigentliche Schuld für den Fremdgang des Partners/der Partnerin ausschließlich bei sich zu suchen. Eine in ihrem Beruf als Personalleiterin erfolgreiche 42jährige Frau erzählte
mir erfreut, daß sie endlich wisse, was sie in ihrer Partnerschaft falsch gemacht habe und was zweifellos auch verantwortlich für die Treulosigkeit des Partners sei, der sich vorwiegend auf junge Mädchen einließ, die zu ihm aufschauten. Sie habe ihn zuwenig bewundert, und das wolle sie ändern. Da er gerade mit seinem Unternehmen Pleite gemacht hatte und sie aber vor allem Menschen bewunderte, die beruflich etwas zu leisten imstande sind, war das nicht sehr einfach. Nach langem Grübeln fand sie schließlich etwas und brach dann jedesmal in einen Begeisterungssturm darüber aus, wie sachkundig, himmlisch und einfach wunderbar er das Auto in die Garage parkte. Als sie eines Abends nach einem besonders schönen Konzertbesuch heimkehrten und sie nicht aufhören konnte, ihn für sein großartiges Können über alle Maßen zu loben, setzte er sich genervt unverzüglich wieder ins Auto und fuhr zur Geliebten mit der Erklärung, er könne dieses alberne Geschwätz nicht mehr ertragen. Sie heulte, wartete auf ihn und beschuldigte sich erneut, alles falsch gemacht zu haben. Aus psychologischen Theorien allein verläßliche Erklärungen für die Untreue des Partners/der Partnerin zu finden, ist zudem eine unzulässige Einmischung. Die jeweilige Deutung und Interpretation kann nicht von Außenstehenden und auch nicht vom passiv Betroffenen erfolgen, sondern ausschließlich vom fremdgehenden Teil selbst. Nur die Seitenspringerinnen sind in der Lage, ihre eigenen Motive zu erforschen und gültige Aussagen darüber zu machen. Wer fremdgeht,
hat ein Motiv, und dieses Motiv kann in einem ganz persönlichen, nach außen nicht wahrnehmbaren Bereich liegen. Es kann aber auch durchaus zutreffen, daß die Fremdgängerinnen beim Partner/bei der Partnerin etwas vermissen, Verhaltensweisen des Partners/der Partnerin als äußerst störend bemängeln, die ihn/sie nerven,oder gar auf die Palme bringen. Meist reicht jedoch derartiges nicht aus. Die Wurzeln des Fremdgehens reichen tiefer hinunter, in archaische Gefilde. Fremdgehen kann nicht grundsätzlich als Störung, als ein Defekt abgetan werden. Es ist einmal ein Versuch, im seelischpsychischen Haushalt Defizite und Mängel auszugleichen, um ein biologisch-psychologisches Gleichgewicht zu erlangen und sich wohl zu fühlen. Wir verfügen nicht nur über Selbstheilungskräfte, sondern auch über ein äußerst gut funktionierendes Selbstregulierungssystem, das sich immer dann unbewußt einklickt, wenn es darum geht, übermäßige Spannungen abzubauen, schwer zu ertragende Belastungen zu verringern. Dabei werden die eventuell auftretenden Nebenwirkungen vom Unbewußten als kleineres Übel in Kauf genommen. Darüber hinaus steht als Ursache hinter dem Fremdgehen auch ein ehrliches Bedürfnis, dem Leben und letztlich sich selbst näherzukommen. Partnerinnen von Fremdgängerinnen geraten meist in eine große Krise, fühlen sich durch ihre Lebensgefährtlnnen zutiefst verletzt. Die meisten sind derart getroffen, daß es ihnen in ihrem Schmerz nicht möglich ist, im Verhalten des Partners/der Partnerin etwas anderes als ein schweres gegen sie gerichtetes
Vergehen zu sehen. Weder Männer noch Frauen planen wohlüberlegt aus langer Hand ihre Fremdgeh-Aktivitäten und machen sich außerdem noch Gedanken darüber, wie sie damit den Partner/die Partnerin kränken und ihm/ihr gar seelische Verletzungen zufügen werden. Es gibt keinen aus böser Absicht begangenen Seitensprung. Er ist letztlich immer als ein Versuch der Selbstregulierung in eigener Sache zu verstehen. Wenn wir die Hintergründe und den selbstregulierenden Charakter des Seitensprungs verstehen, wird klar, daß es für Partnerinnen von Fremdgängerinnen keinerlei Maßnahmen gibt, die den Seitensprung verhindern können. Es gibt lediglich Überlegungen, wie mit einer solchen Situation umgegangen werden kann, damit sich die Schwierigkeiten und Probleme nicht noch vergrößern. Und vor allem sollte darüber nachgedacht werden, wie sich diejenigen, deren Partnerin fremdgeht, davor schützen können, in die typische Sackgasse der sogenannten Betrogenen und Hintergangenen zu geraten. 1. Vom Jagdruf der Hormone Es scheint, daß vor allem jene Männer davon betroffen sind. die den Affen als ihren Vorfahren betrachten. Sie sind ganz Natur. Jeder Willensimpuls scheitert an der gigantischen Stoßkraft im Schritt. »Jeder Rock, der mir vor den Lauf gerät, muß erlegt werden.« »Die Katze
läßt das Mausen nicht, es sei denn, man schlägt sie tot.« Die Jagd gehört zu ihm. Er ist kaum von schlechtem Gewissen geplagt, wie sich auch ein Hund keine großen Sorgen darüber macht, wenn er einer Katze hinterherjagt. Immerhin sind es 15,5 Prozent der fremdgehenden Frauen und 29 Prozent der Männer, die im Falle einer aushäusigen Affäre ausschließlich an Sex interessiert sind. 45,5 Prozent Frauen und 31.5 Prozent Männer wünschen sich bei aushäusigen Beziehungen etwas mehr als nur sexuelle Kontakte. Nun gibt es Männer, die ihr gesamtes Dasein unter die Hormondiktatur stellen und ihre Identität davon ableiten. 18 Prozent der Männer machen den »natürlichen Jagdtrieb« für das Fremdgehen verantwortlich. Im Zentrum ihrer Interessen steht der sich stets wiederholende Kreislauf von jagen, erobern, erlegen, jagen … Und auch auf dem Sterbebett können sie es nicht lassen, der Schwester unter den Rock zu fassen. Ein 42jähriger Informatiker, der sich mehr in anderen als im eigenen Ehebett aufhielt, erklärte mir: »Männer, die hormonell überdotiert sind, haben es verdammt schwer. Es gibt nun mal >evergeile< Männer, die mit einer echten Hausmutter verheiratet sind. Wenn sie keine Außenstationen hätten, um den Überdruck loszuwerden, würden sie explodieren.« Um den sexuellen Überdruck zu regulieren, übernehmen, 36 Prozent Männer und 44,5 Prozent Frauen gezielt die Initiative, um regelmäßig mit einer anderen Person sexuellen Kontakt auszuüben. Ist auf freier Wildbahn nichts zu finden, helfen sich 11 Prozent
der Männer mit Prostituierten oder Callgirls aus. 26 Prozent suchen gelegentlich eine Prostituierte auf, 5 Prozent einmal wöchentlich, 6 Prozent einmal monatlich. Die Lebensmitte ist sowohl für die Frau als auch für den Mann eine krisenanfällige Zeit. Bei Männern kann beobachtet werden, daß sie bereits nach dem 40. Lebensjahr in ihrer sexuellen Aktivität merklich ruhiger werden. Bei anderen hingegen bricht der Jagdtrieb erst später aus, oft mit Beginn des fünften Jahrzehnts. Spätestens jetzt wird manifest, daß nicht nur die Frau, sondern auch der Mann der Vergänglichkeit unterworfen ist. Diese schmerzliche Tatsache wollen einige nicht wahrhaben. Alles bäumt sich dagegen auf das Hirn gerät in Turbulenzen und beruhigt sich erst wieder, wenn der Gegenbeweis erbracht wurde. Und da es doch nicht wenige sind, die ihre Fähigkeit zu sinnlichem Genuß ausschließlich auf der sexuellen Bühne erleben, werden alle existentiellen Probleme auch dort abgehandelt. Wenn die gleichaltrige Gattin den ehelichen Gemahl sexuell nicht mehr zu stimulieren vermag, wird er sich aushäusig umsehen und sein Jagdrevier verlagern. Und wenn er nicht gerade potthäßlich, strohdumm und ein absolutes Ekel ist, wird er bald fündig. Trophäe. Sieg über den Tod. Bei Frauen gibt es ähnliches, hier handelt es sich eher um Jagdinstinkt als um Jagdtrieb. Es geht nicht darum, sich jagen zu lassen, sondern selbst handelnd zu werden. Die Frau schüttelt die passive Wartehaltung ab und handelt. Sie trifft eine Auswahl, verfolgt ein Ziel.
Sich endlich Freiheiten wie ein Mann erlauben, einfach auswählen und herzhaft zulangen. Sich nicht mehr appetitanregend hindrapieren, hoffend, wartend, schmachtend, daß da einer kommen möge und einen erwählt. Zum Teufel mit dem Tanzschulsyndrom. Aber so schnell scheinen wir die Vergangenheit nicht loszuwerden. Im Strandbad zeigen oft auch durchaus emanzipierte Frauen Verhaltensweisen, über die sie sich sonst selbst am meisten wundern. Sie blicken wie einst ihre Mütter beim Promenieren durch die sich im Sand Sonnenden stur geradeaus ins Niemandsland. Kein Blick nach links oder rechts: Es gilt, den Bauch einzuziehen, sich kerzengerade zu halten und grazil und zugleich selbstbewußt wie eine Elfe durch die Menge zu schreiten. Ganz im Bewußtsein, von vielen Augen betastet und beurteilt zu werden. Ein Mann hingegen läßt sich keine Gelegenheit entgehen, überall die Herumliegenden mit allergrößtem Interesse zu begutachten. Diese unsägliche Frauenqual abzustreifen, sich nicht mehr wie eine Kuh auf dem Markt von anderen einschätzen zu lassen, sondern selbst begutachtend und handelnd zu werden, ist für einige Frauen wie eine Erlösung. Und sie genießen es in vollen Zügen, jagen, feuern ihre Schüsse ab und schleppen das erlegte Wild ins Bett. Solche Frauen müssen damit rechnen, daß sie als Schwerstgestörte eingeschätzt werden. Wenn zwei das gleiche tun ... Gleichstellung läßt grüßen. Selbstverständlich scheint auch ihnen der Aspekt der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen und spielt
eine große Rolle. Für viele ist es nicht leicht, älter zu werden. Vor allem für jene, die nach dem Strickmuster leben: Ich werde begehrt, also bin ich. Mit dem Älterwerden, und das fängt bereits in der Lebensmitte, also mit 38 Jahren an, machen sie die Erfahrung, weniger zu gefallen. Und bald heißt es für sie: Je weniger ich gefalle, um so weniger gibt es mich. Das ist eine der schmerzlichsten Lektionen, die Frauen zu lernen haben. Erst wenn es uns gelingt, den Weg zu uns selbstfreizuschaufeln erkennen wir darin auch eine Befreiung. Nicht mehr gefallen zu müssen setzt ungeahnte Energien frei, die bislang in den Tanz um das goldene Kalb investiert worden sind.
2. Vom Hunger nach Abwechslung Nur wenige sind mit dem Sexualleben, das sie in der Partnerschaft führen, durchweg zufrieden. In meiner Fremdgeh-Umfrage sind es 9 Prozent Frauen und 7,5 Prozent Männer, die in ihrer Beziehung ihre Sexualität als ihren Wünschen und Erwartungen entsprechend erleben. Vor allem werden sich jene schwerer damit tun, auf Dauer mit dem gleichen Partner/der gleichen Partnerin sexuelle Lust aufrechtzuerhalten, die grundsätzlich dem Innenleben sowohl dein eigenen als auch dem des Partners/der Partnerin wenig Interesse abgewinnen können. Irgendwann, wenn alles schon einmal ausprobiert worden ist, werden sie sich zu langweilen
beginnen. Einmal ist alles Neue erkundet und ausgekostet. »Schließlich kann man nicht jeden Tag das gleiche Menü essen, das gleiche Musikstück hören, durch die gleiche Landschaft fahren.« »Der Topf ist leer gefressen.« Der Partner/die Partnerin als unterhaltendes Genußmittel. als Kunstgenuß, als Naturereignis. Einer, der sich in seiner Partnerschaft sexuell chronisch langweilte, erzählte mir: »Eigentlich ist jeder Seitensprung — aus Gründen der Abwechslung — eine Illusion. War es mit der anderen Frau gut im Bett, will sie einen sofort möglichst oft wiedersehen oder eventuell gar heiraten wollen, und man muß schnellstens das Weite suchen. War die ganze Angelegenheit hingegen eher unbefriedigend, hätte ich genausogut zu Hause bleiben und mit der eigenen Frau die altbekannte, langweilige Nummer schieben können.« Und ein anderer: »Es gibt nur mißlungene Seitensprünge, sozusagen ein Sprung in den Straßengraben. Es ist absolut quälend. Auf der einen Seite lockt das Neue, Unbekannte. Zugleich steht man meist unter Zeitdruck. Allein bis ein kleines Zeitfenster gefunden ist und die Ehefrau ins Joga, ins Fitneßstudio oder in einen Kochkurs geht. Dann gibt es tausend Störfaktoren. Ist es dann endlich soweit, beginnen plötzlich die Kirchenglocken wie wild zu läuten und die Frau unter dir wird von heftigen Gewissensbissen geschüttelt und will unverzüglich zum Beichtstuhl eilen.« Trotz der negativen Schilderungen frönen beide Berichterstatter aus zwingenden Gründen der Abwechslung weiterhin dem Fremdgang. 19 Prozent Männer und 15 Prozent Frauen machen
grundsätzlich mangelnde sexuelle Anziehung fürs Fremdgehen verantwortlich. Dabei wäre zu bedenken, daß gerade in der heutigen Zeit völlig falsche Erwartungen geweckt werden. Schließlich hat alles seine Zeit – auch die Sexualität. 7 Prozent der Männer wollen durchs Fremdgehen den eigenen monotonen Beziehungsalltag beleben, was nicht unbedingt für langweilige Partnerinnen, sondern ebenso für die eigene Phantasielosigkeit spricht. Bei Frauen sehen die Hintergründe etwas anders aus. Es ist weniger der Hunger nach Abwechslung als der Wunsch nach mehr Zärtlichkeit in der Sexualität. Sie phantasieren, die sexuelle Befriedigung wäre mit einem anderen anders, besser, schöner, umfassender und herrlicher. Und da Frauen nicht einmal mit der besten Freundin über den in Liebesdingen ausgesprochen ungeschickten Partner sprechen, findet darüber praktisch kein Erfahrungsaustausch statt, der dahin zielen könnte zu erkennen, daß auch Männer durchaus lernfähige Wesen sind. Wir beißen unter einem unsensiblen, straffen Griff eher die Zähne zusammen, als daß wir zeigen, wie wir gerne angefaßt, gestreichelt und liebkost werden möchten. Wer sich jedesmal während des Geschlechtsakts fühlt, als sei sie in eine Drehmaschine geraten, wird früher oder später phantasieren, mit einem anderen wäre es schöner. Oder aber wir ziehen uns ganz von dieser Art des körperlichen Genusses zurück und verlagern unsere Interessen aufs Kindererziehen, Kochen, Handarbeiten und entschädigen uns für die verlorene Illusion mit dem
Konsum von romantischen Seifenopern. Wenigstens zuschauen. Sich identifizieren. Leben aus zweiter Hand.
3. Seitensprung als kreativer Kick Viele Künstler halten sich ihre Musen, die sie inspirieren, beflügeln, vitalisieren und ihre Kreativität in Gang setzen. Sie genießen in der Gesellschaft eine allgemein große Nachsicht, geht es doch schließlich um die Erschaffung eines Kunstwerks. Aber auch jene, die nur meinen, sie seien künstlerisch tätig, nehmen für sich in Anspruch, erst von einer weiblichen oder männlichen Muse für kreatives Schaffen in Stimmung versetzt zu werden. Wie weit der Seitensprung tatsächlich ermöglicht, kreatives Material freizusetzen, sei dahingestellt. Der Künstler scheint ihn zu brauchen. Vielleicht ist dieses Privileg ein Grund dafür, daß sich heute viele als Künstler und ihre Produkte als Kunst bezeichnen, was bei näherem Hinsehen keineswegs gerechtfertigt ist. Da gibt es »Künstler«, die nicht einmal einigermaßen in der Lage sind, die Werkzeuge zu bedienen, die sie zur Erstellung eines Werkes benötigen. Es gibt Maler, die nicht malen können, Musiker, die kein Instrument anständig spielen können, Sänger, die nicht singen können, Autoren, die nicht schreiben können. Wenn's aber um die Muse geht ...
Wir sollten die Musen nicht unnötig strapazieren und sie nur dann herbeirufen, wenn es tatsächlich um die Schaffung eines Kunstwerks geht. Oder aber wir betrachten die Bewältigung und Gestaltung eines Lebenslaufs schlechthin als Kunst. Die ersten Augenblicke in der Begegnung mit einem möglichen Liebespartner sind wohl die am meisten energetisch aufgeladenen. Da sprühen die Funken, und es geht in der Seele ein Feuerwerk los. Die Illusion blüht ungehindert, alles wird möglich. Wen wundert's, wenn uns da Flügel wachsen. Der begeisterte Blick übersieht alles Schwerfällige. Alltagsbeschwernisse weichen jäh, und wir sind plötzlich fähig, schwierigste Aufgaben beschwingt zu lösen. Durch den begeisterten, verliebten Blick eines anderen wird ein gigantisches Potential in Bewegung gesetzt, alles, was da vor sich im Halbschlaf hindämmerte, wacht auf, beginnt zu sprießen und zu blühen. Das ist der kreative Kick, von dem nicht nur Künstler profitieren wollen.
4. Vom Kampf der Platzhirsche und Prinzessinnen »Mit dem ersten Kind räumt der Gatte das emotionale Feld in Mutters Herzkammer und rückt auf Platz zwei.« So berichtet rückblickend ein 51jähriger Bankangestellter. »Sie hatte nur noch Augen für den
Säugling.« Den habe er zwar ebenfalls sehr niedlich gefunden, aber so ein Theater! Seine Frau sei vor Begeisterung über das Kind beinahe übergeschnappt, habe es ständig mit sich herumgetragen, gestillt und verhätschelt. Ihr Interesse an Sexualität sei nicht gerade erloschen, aber doch ziemlich auf Sparflamme zusammengesackt. Ein anderer Mann erzählt: »Sie war nach der Geburt unseres Kindes nicht mehr die gleiche. Aber wenn ich jetzt konkret beschreiben sollte, was sich geändert hat, dann kann ich das eigentlich gar nicht. Sie hatte nach wie vor Spaß am Sex. Nur bei mir hat sich das Interesse langsam verabschiedet.« Und in einem Nachsatz: »Ich war nicht mehr die Nummer eins für sie.« Es gibt Männer, die ertragen die Ankunft eines Kindes nicht sehr gut. Vor allem betrifft es jene, die den umfassenden Anspruch an die Partnerin stellen, von ihr emotional versorgt zu werden. Und da ein Säugling körperlich und seelisch vollständig von Erwachsenen abhängig ist, wird sich die Frau sehr viel mehr mit dem Kind beschäftigen müssen. Sie benötigte jetzt einen Partner, der mit ihr zusammen die Aufgabe übernimmt und die Verantwortung mitträgt. Bildlich gesprochen sollte er mit ihr gemeinsam den Karren ziehen, statt sich selbst hineinzusetzen, sich ziehen zu lassen und mit dem Kind um den Fensterplatz zu rivalisieren. Wenn Männer sich weigern, erwachsen zu werden, auch wenn sie beruflich durchaus sehr erfolgreich sind und größte Verantwortung tragen, stel-
len sie sich auf die gleiche Stufe wie das Kind, vergleichen sich mit ihm und stellen fest, daß der Säugling sehr viel mehr Zuwendung, Pflege und Aufmerksamkeit erhält als sie. Darüber hinaus wird er noch durch die Brust versorgt, während sie die Nahrung selbst zum Mund führen und auch noch kauen müssen. Aus diesem Gefühl der Zurücksetzung heraus wollen 9 Prozent der Männer ihren Marktwert überprüfen und suchen sich schnellstens eine neue Partnerin, bei der sie sich wieder auf dem ersten Herzensplatz wissen. Es kommen selbstverständlich nur Frauen ohne jeglichen Anhang in Frage, die sich völlig auf ihn und nur auf ihn allein ausrichten. Nistet sich der Mann wohlig in der neuen Situation ein und trennt sich von Frau und Familie, wird sich das gleiche Drama noch mal abspielen, falls es zu erneutem Nachwuchs kommt. Taler, Taler du mußt wandern ... Auf der weiblichen Seite spielt sich ein ähnlicher Konflikt ab. An die Stelle des Kindes tritt das Geschäft, ein Hobby oder politisches Engagement. Frauen, die den Anspruch haben, daß der Partner ihnen stets ungeteiltes Interesse entgegenbringen sollte, werden irgendwann enttäuscht auf der Strecke bleiben. Seine Hinwendung zu anderen Bereichen wird als Verrat verbucht. Sein Beruf wird zur Konkurrenz. Politische Interessen und engagierte Parteiaktivitäten werden als Vernachlässigung aufgefaßt. Die Zeit für Hobbys wird eifersüchtig überwacht. Welch eigenartige Einstellung. dem Partner nichts außer sich selbst zu gönnen! Sie ist Ausdruck für das Prinzessinnen-Syndrom, die
Forderung. stets im Mittelpunkt zu sein. 13 Prozent der Frauen erachten dies als den springenden Punkt, der sie zum Fremdgehen antreibt: Ich werde begehrt, also bin ich. 7 Prozent dagegen wollen einfach den Marktwert überprüfen. Dieses Verhalten zeigt derart viel kindlich Forderndes, daß es sich lohnt, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dahinter verbirgt sich oft eine alte Vernachlässigungsgeschichte väterlicher- oder mütterlicherseits. Das erlittene Defizit wird auf den Partner übertragen, der nun die alten Schulden begleichen soll. Der Hunger nach ungebrochener Zuwendung ist derart groß, daß die Partner dieser Frauen machen können, was sie wollen, es wird nie genügen.
5. Fremdgehen, um sich selbst zu finden Jeder Mensch birgt ein gigantisches Potential an Fähigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten in sich. Sein Lebensentwurf beschränkt sich nicht darauf, nur kärglich Gebrauch von seinen Möglichkeiten zu machen, sich selbst klein zu halten, unfähig und impotent vor sich hin zu vegetieren, sondern Fülle anzustreben und alles zur vollen Blüte zu bringen. Selbstentfaltung wird oft bekrittelt, als Egotrip belächelt, als egoistisch und deshalb Verwerfliches abgetan, als etwas, das sich absolut rücksichtslos gegen die Bedürfnisse anderer durchsetzt, verteufelt.
Selbstentfaltung ist Entfaltung des Selbst. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Da ist nichts darin von verbissenem Kampf, eigene Bedürfnisse durchzupauken, sich stets nur um den eigenen Vorteil zu kümmern, nichts Verbrecherisches, das über Leichen geht. Sie ist eine sanfte, aber stetige Kraft, die notfalls auch warten kann, die sich auch auf unwegsamen, steinigen Pfaden einen Weg sucht, gleich feinen Wurzeläderchen, die den Weg zum Wasser finden. Wie sich die Blüte einer Blume gelassen und selbstverständlich entfaltet, sich die Krone eines Baums entfaltet, ausspannt und zum Himmel hinauf wächst, so ist im Menschen angelegt, seine gesamten Fähigkeiten zu entfalten und auszuschöpfen. Aus Freude am Dasein. Zur Freude der Menschen. Und zum Wohlgefallen der Schöpfung: »Du bist ein Kind Gottes. Dein zögerliches Spiel dient der Welt nicht. Es wird nichts erhellt, wenn du dich kleiner machst.« Der Wunsch nach Selbstentfaltung ist im Menschen angelegt wie das körperliche Wachstum. Jedes Unterdrücken eigener Fähigkeiten. jeder Verzicht, sich selbst zur Blüte zu bringen, ist ein Gewaltakt gegen die Natur. Wir sind bereits in unseren frühen Entwicklungsstationen immer wieder gezwungen, uns aus beengenden Behausungen zu befreien, damit der
Weiterentwicklung nichts Hinderndes im Weg steht. Schon in der vorgeburtlichen Zeit müssen wir uns aus der Urheimat herauslösen. Zum Zeitpunkt der Geburt sprengen wir die Fruchtblase auf, um den Weg in die Welt anzutreten. Später wird auch die symbiotische Zeit mit der Mutter gesprengt. Danach folgt das familiäre System, das in der Ablösung von den Eltern gipfelt — eine viel zu sanfte und harmlose Beschreibung dieses Vorgangs, der eher mit einer hochexplosiven Sprengladung zu vergleichen ist. Alle diese Stationen müssen wieder verlassen werden. Der Wachstumsprozeß fordert unerbittlich sein Recht. Die Entfaltung der inneren Kräfte, Fähigkeiten und Talente benötigt Raum und Weite. Stehen wir zu dicht nebeneinander, engen wir uns gegenseitig ein, machen das Wachsen unmöglich und behindern unsere Entwicklung. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem Wunsch nach mehr persönlichem Freiraum umzugehen. Am sinnvollsten wäre wohl sich den Raum für die eigene Entwicklung und Entfaltung als Selbstverständlichkeit einfach zu nehmen und ihn dem/der Partnerin ebenso natürlich zuzugestehen. Vielen fällt es schwer, sich in der Partnerschaft auch als Einzelwesen zu sehen, das eigene Wünsche und einen eigenen Lebensplan zu erfüllen hat. Es ist nicht immer die Schuld des Partners, wenn zu wenig Eigenes gelebt wird. Oft schränken wir uns selbst ein. Zweifellos gibt es Beziehungen, in denen jede Eigendrehung des einen
Teils als Gefahr und Bedrohung für die Beziehung erlebt wird und in denen entsprechend versucht wird, jede Eigenständigkeit zu unterbinden oder gar erpresserisch abzuwürgen. Solche Beziehungen schrumpfen früher oder später auf eine verhängnisvolle Enge und Eintönigkeit zusammen, verbunden mit dem überdimensionierten Anspruch, vom Partner für das Geopferte umfassend entschädigt zu werden. »Wir genügen uns selbst. Wir brauchen keine Freunde« ist eine gefährliche Beziehungsphilosophie. Dass sich Paare in der Phase des Verliebtseins selbst genügen, ist durchaus sinnvoll. Gibt es doch vieles, was im anderen erforscht werden will, wobei andere Menschen eher störend wirken. Hält hingegen der Alltag Einzug, ist es sowohl für den einzelnen als auch für die Partnerschaft von grossem Vorteil, die Beziehung nach aussen zu öffnen, um Impulse und Anregungen aufzunehmen, die sich als Belebung in der Partnerschaft auswirken. Wird einer der beiden Partner um mehr Freiraum kämpfen, was unter Umständen nicht leicht ist, wird dies auf jeden Fall die Beziehung beleben und sie vor einem Schrumpfungsprozess bewahren. Letztlich werden beide Seiten davon profitieren:
»Aber laßt Raum zwischen euch. Und laßt die Winde des Himmels zwischen euch tanzen. Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur Fessel (…) Steht nicht zu nah beisammen, denn die Säulen des Tempels stehen für sich,
und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der andern.« Der Wunsch nach persönlichem Freiraum ist eine völlig natürliche Angelegenheit. Unterdrücken wir dieses legitime Bedürfnis, fühlen wir uns benachteiligt, und das Unbewusste wird dafür sorgen, dass diesem Naturgesetz zu seinem Recht verholfen wird. 10,5 Prozent Männer und 7,5 Prozent Frauen halten das Gefühl »Ich komme zu kurz« als ausschlaggebend für einen Seitensprung. Wie gesalbte Majestäten, ungesalbte grosse und kleinere Staatsmänner sowie Amtsinhaber regionaler Machtbereiche mit dem Drang nach persönlichem Freiraum umgehen, zeigt ihre langjährige Fremdgehtradition. Es gibt Länder, da gehören die Liaisons und Affären der Politspitze zum unantastbaren, fest einzuplanenden Bestandteil persönlicher Vorrechte, die immer und allüberall im Ablauf von Staatsbesuchen und -geschäften berücksichtigt werden, wie etwa die Möglichkeit, sich bei einer sportlichen Betätigung zu erholen. Das Privatleben des Staatsoberhaupts, des Politikers, dient indes weiterhin nach aussen als Vorbild für eine intakte Familie. Fotos für Werbezwecke: moderner Familienmythos. Da lächelt die Mutter mit dem Kleinsten auf dem Arm, das mittlere hält sich am Rockzipfel fest, während auf der Schulter des ältesten Kindes stolz Vaters Rechte ruht. Da läuft uns das
Wasser im Mund zusammen bei so viel Harmonie, so viel fürsorgender Mütterlichkeit und potenter staatsmännischer Vaterschaft. Und je nach Identifikationsperspektive möchte man oder frau gerne an der Stelle des kleinen Töchterleins sitzen, sohnhaft Vaters Stolz auf sich fühlen oder ehefraulich den Platz an der Seite des Göttergleichen einnehmen. Musterfamilien beleben jene Phantasien, die im eigenen Leben bereits Schlagseite erlitten haben. Diese Bilder ziehen magnetisch die verschütteten Wünsche aus den Ruinen, hissen die Fahnen und zeugen von Liebe, Glaube, Treue. Es ist beachtlich, wieviel Verdrängungsarbeit geleistet wird, damit diese Bilder möglichst lange unbesudelt bleiben. John F. Kennedy, obwohl längst als chronischer Fremdspringer bekannt, überlebte lange als treusorgender Ehemann mit weisser Weste in den Köpfen seiner Anhänger. François Mitterrand ging noch einen Schritt weiter und leistete sich souverän neben seiner ehelichen noch eine aussereheliche Familie. Die Journalisten hielten dicht, niemand war daran interessiert, Mitterrand als Fremdgänger zu entlarven. Bis kurz vor seinem Tod ein kleiner, indiskreter Pressemensch darüber berichtete. Die Nachricht schlug weder wie eine Bombe ein, noch löste sie weitere Recherchen und Aktionen aus. Der Präsident nahm es gelassen zur Kenntnis. Und die Franzosen ebenfalls. In der Schweiz scheint ein ungeschriebenes Pressegesetz zu herrschen. Es gibt keine Zeitung, die über irgendeinen fremdspringenden Politiker auch nur eine Zeile berichten würde.
In anderen Ländern gelangen nur jene Fremdgänger in die Schlagzeilen, deren Seitensprünge vom grössten Teil der Bevölkerung gutgeheissen werden, da die armen, bedauernswerten Männer schliesslich mit einer absolut ungeniessbaren Emanze verheiratet sind — unzumutbar für jeden anständigen Mann. Und ein Warnschuss für alle Frauen, die zuviel Selbstsicherheit und Selbständigkeit für sich beanspruchen. Die Exfrau des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder und Hillary Clinton dienen als abschreckende Beispiele. Die Ausübung eines politisch hochkarätigen Amtes erweckt offenbar den trügerischen Anschein, besonders viel sinnliche Freuden zu versprechen. Eine mit allen Mitteln angestrebte Machtposition zu halten, gewichtige, eventuell gar historisch bedeutende Entscheidungen zu fällen, die Geschichte zu prägen, gar in sie einzugehen, mag wohl ein paar Hirnzellen in aufregende Schwingungen zu versetzen, aber einen direkt erlebbaren sinnlichen Genuss vermögen diese Aktivitäten nicht in Gang zu setzen. Im Gegenteil. Da sich das meiste im Kopf abspielt, sowohl die Vorstellung eigener Grösse als auch die tatsächliche Demonstration eigener Macht und Herrlichkeit, bleibt für das Bedürfnis, sich geniesserisch der Lebensfülle zu bedienen, wohl nicht mehr viel übrig. Wenn sinnliches Vergnügen wie bei Helmut Kohl auf den Verzehr eines Saumagens zusammenschrumpft, muss ernsthaft nach anderen Defiziten gefragt und vor allem untersucht werden, auf welche Weise sie Ausgleich finden.
Phantasierte Höhenflüge von ruhmreicher Macht, von Entscheidungsgewalt als Motivation für manchen Politikereinsatz, der nicht selten einen gigantischen Kräfteeinsatz erfordert, enden schneller als erwartet in der Feststellung, dass die Lust auf der Strecke blieb. Und weil viele verlernt haben, sich mit der Offenheit eines Kindes allen sinnlichen Freuden hinzugeben, bleibt zuletzt nur noch die Sexualität. Sie ist die einfachste, billigste und zuverlässigste Art, sich etwas Vergnügliches zu gönnen, gespickt mit auserlesener Raffinesse, um einen möglichst hohen Genuss zu garantieren. John F. Kennedy, Willy Brandt, François Mitterrand und Bill Clinton waren und sind in diesen Dingen ausgesprochene Gourmets. In allen Berufen, die ein hohes Maß an Verantwortung verlangen und wenig spielerisch kreativen Freiraum für Experimente lassen, ist das Fremdgehen eine Antwort auf die Einschränkung des persönlichen Freiraums. Jede Einengung auf der einen Seite, jedes Eingespanntsein in Termine und Verantwortung erzeugt einen Gegendruck. Wer verlernt hat, wie ein Kind barfuss durch eine Wiese zu hüpfen, Schmetterlingen nachzujagen, wer sich nicht erlauben kann, in unlogischen Hirnschlaufen auf abenteuerlichen und abwegigen Gedankengängen herumzuschlendern, wer nicht wagt, die Sterne vom Himmel herunterzuphantasieren, sondern wie ein Bergsteiger pflichtbewusst einen Schritt vor den anderen setzt, der wird relativ schnell, von sinnlichen Mangelerscheinungen angetrieben, einen Ausgleich schaffen. Je mehr
Verantwortung ein Mann trägt, um so schmaler wird der Weg, auf dem seine spielerische Seite zum Einsatz kommen kann. Jeder falsche Schritt, jede Fehlentscheidung hat schwerwiegende Folgen. Ein 58jähriger Personalchef eines grossen Unternehmens erzählte mir im Rahmen meiner Fremdgeh-Interviews frisch und offen: »Wer beruflich in einer engen Jacke steckt, in der nur bestimmte Bewegungen möglich sind, braucht irgendwo einen Ort, wo er alles machen und die Sau rauslassen kann.« Bereits die Formulierung weist darauf hin, dass es sich um den sexuellen Bereich handelt, der automatsich mit >Sau rauslassen< gleichgesetzt wird. Schliesslich brauche jeder Mann, der derart in tausend Pflichten eingespannt sei, aus psychologischen Gründen die Möglichkeit, »über die Stränge zu schlagen«, » einfach einmal richtig auszuflippen«, um aus dem vollen zu schöpfen und sich ein Stück Leben zurückzuholen. Ein Politiker kleineren Kalibers erzählte, man könne Fremdgehen auch als eine Form der Persönlichkeitsentwicklung bewerten. Mann wolle schliesslich nicht nur im politischen und beruflichen Sektor etwas erreichen, sondern sich ebenso im Zwischenmenschlichen bewähren, etwaige Hemmungen loswerden, innere Hürden überspringen und gesteckte Ziele erreichen beziehungsweise Frauen erobern. Wir Frauen können nicht auf eine derart lange Fremdgehtradition zurückblicken. Vorbilder, die sich
souverän das holten, was ihnen guttat, die sich ihre in Schieflage geratene Bedürfniswelt mittels Fremdsprung selbst regulierten, gibt es auch in der Literatur nicht allzu viele. Inzwischen haben wir in Sachen Fremdgehen tüchtig aufgeholt, liegen nur um wenige Prozente hinter den Männern zurück. Extreme berufliche Belastung und Verantwortung mit wenig kreativem Spielraum erzeugen unweigerlich einen Gegendruck, der als Selbstregulierung sinnliche Defizite auszugleichen versucht. Davon sind Männer sehr viel stärker betroffen als Frauen. Noch sind es wenige Frauen, die sich in europäischen Ländern einen Kaderposten ergattern konnten, und nur fünf bis dreissig Prozent Frauen stehen in politischer Verantwortung. Dennoch gibt es auch für Frauen mannigfaltige, altbewährte Möglichkeiten, sich in ein zu enges Kostümchen hineinzuzwängen. Frauen sind ungleich stärker gesellschaftlichen Dogmen unterworfen, die sie derart verinnerlicht haben, dass die Einengung nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Noch immer geistert in einigen Köpfen Schillers Lied von der züchtigen Hausfrau, die behenden Schrittes und mit fleissigem Händchen putzt und fegt, während weisses Linnen im Winde fröhlich flattert. Übertrieben? Völlig veraltet? Welche Frau wagt es, zu ihrer Unfähigkeit, einen Haushalt zu führen, zu stehen: »Ich kann nicht kochen. Ich kann nicht bügeln. In allen häuslichen Dingen bin ich sehr ungeschickt.« Im Gegensatz dazu der Mann. Keinem fällt ein Stein aus der Krone, wenn er zugibt, dass er weder Kamine reinigen noch den Rasen mähen kann.
Ein Vater erzählt stolz, ihm sei seine Familie sehr wichtig. Leider habe er nicht viel Zeit. Immer aber, wenn er es einrichten könne, widme er sich den Kindern. Ein guter Vater! Welche Frau erhielte das Prädikat, eine gute Mutter zu sein, wenn sie berichtete, sie beschäftige sich immer dann mit ihren Kindern, wenn sie Zeit habe? Ein Mann, der ein schlechter Vater ist, ist ein Vater, der beruflich viel zu tun hat. Eine Mutter, die sich aus Gründen beruflicher Belastung nicht ständig um ihre Kinder kümmern kann, wird auch heute noch oft nicht nur als schlechte Mutter bezeichnet, sondern es werden ihr grundsätzlich sämtliche Muttergefühle abgesprochen: Sie ist überhaupt keine Mutter. In einem weiblichen Körperhaus zu wohnen, ist ohnehin eine schwierige, aufwendige und sehr anstrengende Angelegenheit. Da wir nicht in der Lage sind, unsere Haustüre zu verriegeln, kann jeder Idiot, wenn es ihn danach gelüstet, in uns eindringen, ob es uns passt oder nicht. Diese äusserst ungünstigen Wohnverhältnisse führen dazu, dass wir uns anpassen, uns mit unserem Nachbarn möglichst gut stellen, um ihn nicht unnötig zu reizen. Obwohl die heutigen Frauen bereits einen etwas grösseren Spielraum als ihre Mütter zur Verfügung haben, stecken sie noch immer in tausend Zwängen. Zuwiderhandelnde werden schnell als Schlampen, Vetteln oder liederliche Luder verurteilt. Trotzdem kann es geschehen, dass sich Frau Biedermann über alles hinwegzusetzen wagt, plötzlich über die Stränge
haut, ihr zu enges Korsett sprengt und sich das holt, was sie mit Leben gleichsetzt. Myrta, das rechtschaffene Weib eines Landwirts, das ununterbrochen schuftete, dem Gemahl unermüdlich zudiente, das auch noch den Posten des Gemeindeamtmanns versah und dazu sechs Kinder zu anständigen Menschen erzog, wurde einfach jäh und unverhofft eines Tages von der Lust auf Leben erfasst. Sie sprang auf die in ihr entflammte Lust, schnappte sich den zwanzig Jahre jüngeren Knecht, lockte ihn ins Heu, das ziemlich stachlig gewesen sei, und lebte all das aus, was ihr fehlte. Gut habe es ihr getan. Sie sei hinterher derart schwungvoll und kraftdurchdrungen an die Arbeit gegangen, dass sie dachte, es könne nichts Schlechtes gewesen sein und komme schließlich der ganzen Familie zugute. Und was einmal so guttat, konnte ein zweites Mal nur noch besser werden. Sie behielt diese Angewohnheit weiterhin bei.
Der Wunsch nach mehr Freiraum, nach mehr Kontakt zu sich und dem, was einem wichtig ist, äussert sich oft erst, wenn sich eine geeignete Trägerschaft anbietet. Wenn sich zufällig ein. anderer Mensch in der Nähe aufhält und die Phantasie geweckt wird, dass alles, was bisher abgeschoben und weggedrängt wurde, mit diesem Partner/dieser Partnerin endlich zum Leben erweckt werden könne, dann springt der Funke problemlos über und vitalisiert jene ausgeschlossenen Bereiche. Endlich können wir die Musik hören, die uns gefällt, und darüber hinaus den Genuss erleben, neue
Erfahrungen zu machen und Eindrücke auszutauschen. Niemand, der uns des schlechten Geschmacks wegen belächelt. Niemand, der uns umerziehen will. Während die einen den bremsenden und einengenden Partner so schnell als möglich loswerden wollen, um sich dem neuen zuzuwenden, führen die anderen ihre Partnerschaft mit den Einschränkungen weiter, unterlaufen aber die gesteckten Grenzen, gehen fremd und schaffen sich so den notwendigen Freiraum. Mit einer solchen Aussenstation gelingt es ihnen, alles, was ihnen wichtig ist, zu leben. Zu Hause finden sie den sicheren, wenn auch etwas eintönigen .Ehehafen, Sicherheit und das Gefühl, beheimatet zu sein. In der Aussenbeziehung werden all die anderen Register gezogen, die in der partnerschaftlichen Beziehung nicht gelebt werden dürfen oder gelebt werden können. Nicht wenige Fremdgängerinnen erleben diese menage a trois als ideale Ergänzung. Werden sie entweder von ihren Lebensgefährtlnnen oder von den Geliebten zu einer Entscheidung gedrängt, geht die Rechnung meist nicht auf. Der fehlende Bereich wird schnellstens wieder von einer neuen Person abgedeckt. So wird die Ehefrau, der es gelang, ihren Ehemann dazu zu bewegen, mit der Geliebten Schluss zu machen, eines Tages feststellen, dass er sich längst wieder eine neue zugelegt hat. Und auch für die Geliebte bedeutet es nicht selten ein bitteres Erwachen, wenn der Geliebte sich endlich scheiden lässt. Sobald sie versucht, ihn für sich allein zu beanspruchen, und er sich in seiner neuen Freiheit wiederum eingeengt fühlt, wird er die Grenzen
unauffällig sprengen. Wie gehabt. So wird das Fremdgehen zum Ausdruck, mehr von sich und seinen Möglichkeiten auszuschöpfen, alles in sich zur Entwicklung Angelegte zu erforschen und zur Entfaltung zu bringen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns selbst so viel Raum nehmen, damit unsere Fähigkeiten sich entfalten können, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einmal davon, wie wir es als Kind gelernt haben. Sind wir in einer Familie aufgewachsen mit strengen Verhaltensrichtlinien und Verboten, in der es wenig oder gar keine Möglichkeiten gab, Eigendrehungen zu machen, und haben wir uns schon früh an Einengung gewöhnt, werden wir wohl eher dazu neigen, wenig Anspruch auf Eigenes geltend zu machen. Es sei denn, wir hätten irgendwo in uns heimliche Nischen ausfindig gemacht, in die wir mit unseren Wünschen und Phantasien flüchten konnten und die wir später in unser reales Leben integrieren. Ebenso lernten wir bereits als Kind, ob in der Familie Impulse der Freude, des Vergnügens und der Begeisterung gelebt wurden, oder ob alles, was Spass machte, aushäusig abgehandelt oder durch andere importiert werden musste. Für diese Menschen ist es absolut klar, dass sie, wenn sich sexuelle Freuden innerhalb der Beziehung davongeschlichen haben, diese ausserhalb suchen und in den meisten Fällen auch finden. Selbstverständlich ist nicht nur unsere Kindheit dafür verantwortlich zu machen, wie wir als Erwachsene mit
Verboten umgehen. Wir bringen eine bestimmte Konstitution mit, die sich ebenfalls auswirkt, ob wir auf die Entfaltung des Eigenen verzichten oder ob sich der Wunsch nach eigenem Wachstum kraftvoll gegen alle Hindernisse durchzusetzen vermag.
6. Fremdgehen, um sich treu zu bleiben »Die Würde des Menschen bleibt unantastbar« steht im Grundgesetz. Darüber hinaus ist es offiziell als privates Gesetz unbewusst in uns verankert. Und doch wird es am häufigsten – völlig unauffällig und unspektakulär – übertreten und nicht beachtet. Nicht wenige pflegen mit sich selbst einen Umgang, als seien sie eine stinkende Müllgrube. Sie wollen nichts mit sich zu tun haben, möglichst wenig über sich wissen oder in Erfahrung bringen und machen stets einen grossen Bogen um sich selbst und ihre eigene Geschichte. Es findet eine ständige Selbstmissachtung statt, ein eigenartiges sich Abwenden von sich und seinen eigenen Belangen. Wie aber soll ein solcher Mensch, der nicht auf die einfachsten Anstandsregeln im Umgang mit sich selbst achtet, auf einen anderen Menschen mit Wertschätzung reagieren und ihm begegnen können? Kaum möglich. Es sei denn, es findet eine unrealistische, total übertriebene
Überhöhung und Überschätzung des anderen statt, die aber nicht über längere Zeit aufrechterhalten werden kann, irgendwann zusammenkracht, woraufhin die Idealisierten vom Sockel gestossen werden. Vielen fällt es leichter, spontan fünf schlechte Eigenschaften von sich selbst aufzuzählen, als fünf zusammenzusuchen, die positiv bewertet werden. Die negative Selbsteinschätzung macht leider auch vor dem anderen nicht halt. Gut, im ersten Wonnegefühl paradiesischen Verliebtseins wirkt alles überpudert wie eine liebliche Schneelandschaft. Und da wir uns ja ohnehin den Partner/die Partnerin nach dem Ergänzungsprinzip auswählen und der andere das hat, was uns selbst fehlt, erleben wir in der ersten Zeit einfach das wunderbare Gefühl, zusammen ein Ganzes zu bilden. Zuerst fühlen wir uns von den uns ergänzenden Eigenschaften angezogen. aber bereits nach kurzer Zeit gehen sie uns auf die Nerven, treiben uns beinahe zum Wahnsinn, und wir haben nur noch eines im Sinn, den Partner zu verändern. Hier gibt es eine interessante Schnittstelle, die zu beachten dazu beitragen kann, nicht in die Entwertungsfalle zu geraten. Zu Beginn einer Beziehung nehmen wir den anderen als ein Gegenüber, als ein von uns getrenntes Du wahr. Wir sind von ihm fasziniert, vom Andersartigen, vom Komplementären. Der Wunsch, sich mit dem anderen zu vervollständigen, eins zu werden, ineinander und miteinander zu verschmelzen, wie wir das in der Sexualität erleben, verknüpft sich wieder mit unserer Urerfahrung, irgendwann früher in
einem Ganzen aufgehoben gewesen zu sein. Gelingt es uns nicht rechtzeitig, diese Sehnsüchte richtig einzuordnen, werden wir die Ursehnsucht, sich zu beheimaten, auf der Bühne der Partnerschaft inszenieren und abhandeln. Die Dramaturgie verläuft nach einem immer gleichen Muster: Wir werden nicht eher ruhen, bis wir uns den Partner/die Partnerin seelisch einverleibt und als etwas zu uns Gehörendes eingeordnet haben. Wir tun so, als ob wir eins wären, was natürlich vollkommener Unsinn ist. Nicht einmal im körperlichen Bereich werden wir dieses Ziel je erreichen. In der Sexualität erhaschen wir lediglich einen kurzen Nasenstüber ozeanischen Einsseins. Ein paar Atemzüge lang. Aus der Traum. Dennoch gebärden wir uns in der Partnerschaft so, als ob wir ein unzertrennliches Ganzes bildeten, als ob der Partner/die Partnerin uns gehörte und wir über den anderen ebenso verfügen könnten wie über uns selbst. Als ob die Partnerschaft ein simples Eintopfgericht wäre! Die Ernüchterung folgt auf dem Fuss: Sobald wir den Respekt vor dem anderen, dem Andersartigen, verlieren, den anderen nicht mehr als eigenständige Person wertschätzen, fallen wir aus dem Zustand der Faszination und Begeisterung und werden aus dem Paradies vertrieben. Jeder Mensch ist aber in sich ein eigenes Universum: Er kommt allein auf diese Welt. Und tritt allein wieder ab. Der Zwischenraum von Kommen und Gehen ist dafür reserviert, sich selbst kennenzulernen, Bedingungen für die eigene Entwicklung zu schaffen, Wachstumshindernisse zu beseitigen und sich zur Blüte zu bringen. Jeder für sich.
Alle aber dürfen sich am Erblühten herzlich erfreuen. Wenn wir uns selbst entwerten, den Partner/die Partnerin in uns eingemeindet haben, wird er/sie automatisch ebenfalls einer Entwertung unterzogen. Der Verlust, den anderen als eigenständigen, selbsthandelnden und selbstbestimmenden Menschen anzuerkennen, zieht, im Zuge eigener Selbstentwertung, meist zwangsläufig auch eine Entwertung des Partners/der Partnerin nach sich. Und damit auch den Versuch, auf unliebsame Eigenheiten des Partners/der Partnerin einwirken zu wollen und ihn/sie zu Verhaltensänderungen zu motivieren. Jeder Ansatz aber, den anderen verändern zu wollen, ist ein Vergehen gegen das Grundgesetz: Es verletzt die menschliche Würde. Es gibt Paare, die ein jämmerliches Bild gegenseitiger Entwertungsgeschichte liefern. Wenig bis gar nichts ist mehr übriggeblieben von der einstigen Achtsamkeit, der einander bezeugten Faszination, dem Glauben an den anderen. Die einstige Zuneigung und Liebe ist heruntergewirtschaftet wie ein Betrieb, der allmählich in die roten Zahlen geriet und schliesslich im Konkurs endet. Verbringt man einen Abend mit einem solchen Paar, fühlt man sich hinterher hundsmiserabel, als ob die gesamte Negativität einem die Lebensfreude verdorben hätte. Und das ist denn auch das, worüber sich die Betroffenen am meisten beklagen: die Abwesenheit der Freude. Solange aber beide Partner die Gemeinschaft, sei sie auch noch so kriegerisch, als
heimatlichen Boden identifizieren, werden sie daran festhalten. Für Aussenstehende wäre es das Nächstliegende, dass ein sich gegenseitig entwertendes Paar, das ein Leben in der Hölle führt, sich möglichst schnell trennte, um dem Giftkrieg endlich ein Ende zu setzen. Wer nun aber meint, die Betroffenen möchten in einer solchen Situation schleunigst das Feld räumen, irrt gewaltig. Auch wenn man sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich vom kräfteverschleissenden Kampf erlöst zu sein, um freie Verfügung über seine Lebensgestaltung zu erhalten, ist es meist nicht möglich, die Beziehung zu beenden. Die Vorstellung, der andere/die andere könnte mit einem neuen Partner/einer neuen Partnerin ein neues Glück finden, macht eine solche Entscheidung unmöglich, und die Eifersucht bricht hemmungslos durch. »Ich trage eine Frau lieber zu Grabe, als sie mit einem anderen glücklich zu sehen«, gesteht Pablo Picasso unverhohlen. So liegt denn der phantasierte Tod des Partners/der Partnerin oft näher als eine Trennung. Da es die wenigsten wagen, sich solche Phantasien einzugestehen oder gar mit jemandem darüber zu sprechen, fühlen sie sich schuldig. Diese Schuldgefühle können sich gelegentlich in einem überdimensionierten Besorgtsein um die Gesundheit des Partners äussern, Angst, er könne bei einem Unfall ums Leben kommen. Kommt er/sie einmal eine halbe Stunde zu spät nach Hause, setzen sich unverzüglich diese (Wunsch-)Phantasien in Gang, und die Besorgten rufen sofort im nächsten
Krankenhaus und bei der Autobahnpolizei an. Sie haben zwar eine lebenshindernde Gemeinschaft, aber sie gilt immerhin stellvertretend als Heimat. Allein die Vorstellung, den ungeliebten Partner/die ungeliebte Partnerin an jemand anderen abzutreten, ihn zu »verlieren«, bringt das Blut in Wallung. Wendet sich der Partner ab und geht eine neue Beziehung ein, bekommt man das Gefühl, die Heimat verloren zu haben. Wenn der Partner hingegen stirbt, kehrt er in die Urgemeinschaft zurück, und die heimatliche Vision bleibt erhalten. Partnerschaftliche Verhaltensweisen sind oft unlogisch. Erst wenn wir sie vor dem Hintergrund betrachten, dass sowohl äusseres als auch inneres Wachstum zur menschlichen Existenz gehören, ergeben sie einen tieferen Sinn. Der Mensch verfügt über ein virtuoses Spektrum, um sein Leben zu gestalten. Grundsätzlich will jeder sein vielfältiges Energiepotential, alle seine Möglichkeiten und Fähigkeiten ins Leben einbringen und umsetzen. Er will sich die Erde fruchtbar machen, er will sie beackern, sie formen und dann ernten. Wir wissen aus neuesten Motivationsforschungen, dass der Mensch sein Bestes geben will, arbeiten möchte, Einsatz leisten und dabei Spass und Freude erleben will. Vor allem in sogenannten moderneren Betrieben wird versucht, Mitarbeiterinnen gezielt zur Arbeit zu motivieren. Dieses Vorhaben unterstellt den Mitarbeitern, dass sie eigentlich nicht die erwartete Leistung erbringen wollen und mit irgendwelchen
Tricks angekurbelt werden müssen. Ausgeklügelte Prämiensysteme wurden ausgetüftelt, Verhaltensregeln für Führungskräfte erdacht, spitzfindige Kontrollsysteme sowie Umsatzbilanzen erstellt, nur um die Mitarbeiterschaft zu motivieren. Dies beruht auf einem Menschenbild, das nur auf dem Mist von Selbstentwertern gewachsen sein kann. Menschen müssen nicht zur Arbeit motiviert werden, sie sind schon grundsätzlich motiviert! In der Wirtschaft lässt sich anhand von Zahlen leicht belegen, ob ein Betrieb in seiner Personal- und Führungspolitik erfolgreich arbeitet. Ständiger Personalwechsel, unzufriedene Mitarbeiter, schlechtes Arbeitsklima, Leistungsabfall und häufige Abwesenheit der Mitarbeiter sprechen für sich. Untersuchungen weisen nach, dass unzufriedene Mitarbeiter nicht etwa motiviert werden müssen, sondern dass lediglich nach den Gründen für die Unzufriedenheit geforscht werden sollte. Die Ergebnisse sind einleuchtend: Demotivation, Verdruss der Lebensfreude, der Spass an der Herausforderung lässt grüssen. An erster Stelle steht das demotivierende Verhalten des zuständigen Chefs, seine entwertende Haltung Mitarbeitern gegenüber, zu viele detaillierte Vorschriften und damit Beschneidung des eigenen kreativen Potentials, für Aufgaben eigene Lösungen zu erarbeiten. Engagierte Mitarbeiter sind immer solche, die ihre Ideen einbringen können, die in ihren Ressourcen gefordert sind, die auch in der Freizeit über die Lösung eines Problems spielerisch nachdenken. Wo der Arbeitsplatz zur Ausführung von Anweisungen verkommt, fehlt der Spass am Dasein, im
wahrsten Sinne des Wortes. Die Arbeitszeit wird abgesessen, Freude kommt erst wieder auf, wenn sie um ist. In einem solchen Zwangslager pfeift keiner beschwingt vor sich hin oder sprüht vor Heiterkeit und Lebensfreude. Da wird jeder Telefonanruf zu einer beinahe unzumutbaren Aufgabe, jeder Kunde, der das Geschäft betritt, stört. Führungspersonen, die sich selbst mißtrauen, trauen auch anderen nicht. Sie haben grundsätzlich eine schlechte Meinung von anderen Menschen (wie auch von sich selbst), und sie haben ein Menschenbild, das monsterhafte Züge trägt. Mit dieser Einstellung sind sie für ihre Mitarbeiter unzumutbar und sollten sich besser mit einer toten Materie beschäftigen, am besten als Totengräber. Das gleiche gilt natürlich auch für solche Pädagogen. Der Schaden, den sie anrichten, ist immens. Führungspersonen hingegen, die das Vertrauen eines Gärtners haben, der selbstverständlich davon ausgeht, dass Menschen wie Pflanzen eine Grundmotivation für Wachstum in sich tragen, werden sich dafür einsetzen, dass möglichst wenig die Entfaltung hindert. Vielleicht sollten sich Führungskräfte bei Schulungsprogrammen weniger dem blödsinnigen Auswendiglernen sinnentleerter Kommunikationsfloskeln widmen, als vielmehr Gärtnereien und Baumschulen besuchen, wo sie den respektvollen und wertschätzenden Umgang mit Pflanzen studieren können. Interesse am Menschen, Wertschätzung sind die stärksten Kräfte und wirken wie Humus.
Diese Betrachtungen stimmen mit den wissenschaftlichen Untersuchungen der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie über die Bedingungen eines therapeutischen Heilungsprozesses überein. Nicht das theoretische Wissen über die Bildung von neurotischen Störungen ist ausschlaggebend, sondern die Haltung des Therapeuten/der Therapeutin. Demotivierende Therapeuten/Therapeutinnen bewerten den Klienten/ Patienten, sie deuten an Aussagen herum, geben Ratschläge, ermahnen, belehren und schulmeistern. Sie können sich nicht in die Situation des anderen einfühlen und hören nicht genau zu. Therapeuten und Therapeutinnen hingegen, die zum Leben motivierend wirken sind wertschätzend und grundsätzlich wohlwollend, den anderen in seinem Sosein annehmend und können sich in seine Probleme und Lebenssituation einfühlen. Das ist der Boden, auf dem seelische Heilung erfolgen kann. In einem solchen Klima wird es dem Klienten/Patienten möglich sein, mit seinen ureigensten Kräften wieder in Kontakt zu kommen, die ihn zum Leben und zur Freude motivieren. Aber auch in der Partnerschaft ist das Erarbeiten einer solchen Grundhaltung für das Gelingen des Zusammenlebens unabdingbar. Auf die Partnerschaft übertragen bedeuten die Ausführungen über Personalführung, dass es Verhaltensweisen, Äusserungen dem Partner gegenüber gibt, die absolut demotivieren, die nicht zum Leben einladen, sondern das Leben vermiesen: Sie versalzen mit jedem Blick, verderben in jedem Wort, entwerten in jeder Geste den Partner/die Partnerin, sich
selbst und nicht selten grundsätzlich die ganze Welt. Die einstige Lebensfreude schleicht davon, die früher erhebende Heiterkeit liegt jetzt als drückender Bodennebel in der seelischen Landschaft. Da schrumpft alles, was nicht niet- und nagelfest als unantastbare Gewissheit in einem fest verankert ist, auf eine verschimmelte Kartoffel zusammen. Die gegenseitige Entwertung ist das stärkste Gift und killt jede Partnerschaft. Der andere wird zum Feind, misstrauisch wird jede Äusserung, jede Handlung auf Feindseligkeit untersucht. Im fortgeschrittenen Stadium wird alles dahin umgedeutet. Ein 52jähriger Bankangestellter fasste nach einem längeren Krankenhausaufenthalt einen ernsthaften Vorsatz und wollte nach bald zwanzig Jahren unerträglichen Entwertungskrieges mit seiner Angetrauten endlich friedlicheren Zeiten entgegensehen. Er überlegte gründlich, wie er vorgehen könnte. Er fasste sich ein Herz: »Anna«, sagte er, »ich würde so gerne wieder einmal mit dir einen Spaziergang machen und mit dir sprechen.« »Was fällt dir ein«, schrie sie ihn an, »zuerst kümmerst du dich überhaupt nicht um mich, und jetzt wäre ich dir wieder gut genug.« Nach einigen Tagen versuchte er es noch einmal, diesmal brachte er ihr Blumen mit und schrieb ein Zettelchen dazu: »ohne Worte« Sie nahm den Strauss und warf ihn in hohem Bogen zum Fenster hinaus: »Was soll ich mit Blumen? Ich möchte lieber mit dir über unsere Ehe sprechen.« Der Mann wusste nicht mehr weiter und dachte, er wolle es einfach mal
auf ganz direktem Weg versuchen. Er schlich sich von hinten an sie heran, wollte sie umarmen, was er aber nicht ganz vollziehen konnte, da sie sich blitzschnell umdrehte und ihm eine Ohrfeige verpasste: »Auch das noch!« Dann reichte sie die Scheidung ein. Entwertete Menschen sind zutiefst verletzt. In der Regel sind immer beide Partner davon betroffen. Nach Schuld zu fahnden ist völlig überflüssig. Dieses Beispiel zeigt, dass sich diese Frau schon derart entwertet fühlte, dass ihr Mann machen konnte, was er wollte: Es war immer falsch. Frauen reagieren besonders sensibel auf jede Äusserung, die fehlende Wertschätzung oder Interesse an ihrer Person bekunden. In meiner FremdgehUmfrage sehen 16,5 Prozent Frauen darin einen Grund fremdzugehen. Ebenso ist es für sie von grosser Bedeutung, mit dem Partner seelische Intimität zu erleben. Fehlt diese, suchen 15,5 Prozent Sexualität mit einem anderen Partner. Wer sich entwertet fühlt, wird sich seelisch dem Partner, auch wenn er bereit wäre, nicht öffnen können. Es gibt Menschen, die durch Entwertung und Entwürdigung sprachlos werden. Es ist beinahe unfassbar für sie und verschlägt ihnen die Sprache. Sie nehmen die Verletzung hin, fressen die tief empfundene Empörung in sich hinein und leiden stumm vor sich hin. Sie antworten mit Verweigerung, mit unausgesprochener Verachtung gegenüber den PartnerInnen. Es ist für sie gar nicht einfach, ihr Verhalten ebenfalls als Entwertung zu erkennen, da sie ja nach
aussen hin tatsächlich nicht in Erscheinung tritt. Unausgesprochenes, in Gedanken formuliertes oder hinter tausend Verbotstafeln verborgenes Negatives wird von partnerschaftlichen Antennen so subtil aufgefangen wie unsichtbare Radiowellen von einem Transistor. Der verstummte, nach aussen friedfertige Partner wird dann oft den Vorwurf hören müssen, er sei feindselig und äusserst aggressiv — was ihn noch sprachloser macht, seine stumme Empörung verstärkt und negative Wellen mobilisiert. Andere reagieren auf entwertende Handlungen oder Äusserungen des Partners/der Partnerin mit einem heftigen Entwertungsangriff. Wie du mir, so ich dir. Bei solchen Kämpfen gibt es keine Sieger, sondern nur Verlierer, die zutiefst in ihrer Würde verletzt sind. Die sich gegenseitig zugefügten Wunden verheilen unterschiedlich schnell, je nach Konstituion. Manche werden Kränkungen und Entwertungen lebenslang nicht mehr los und immer wieder Anlass dafür geben, erneut ein Kampf vom Zaun zu brechen. Gerade in der Partnerschaft sind wir hellhörig für die kleinsten Nuancen von Entwertung. Schliesslich steht uns dieser Mensch am nächsten, wir lassen ihn in unsere intimsten Seelenräume eintreten, gewähren ihm Einblick in unser Innerstes. »Er sollte mich doch besser kennen!« »Wie kann sie nur so schlecht von mir denken!« Dem Partner/der Partnerin mit Geringschätzung oder Entwertung zu begegnen, hinterlässt bei den Betroffenen über die Kränkung hinaus auch noch das Gefühl eines schwerwiegenden Verrats. Wir haben
unausgesprochen die Erwartung, dass gerade der Lebensgefährte/die Lebensgefährtin in der Lage ist, eine differenzierte Einschätzung unserer Person, unseres Charakters, unserer Verhaltensweisen vorzunehmen, die selbstverständlich zu unseren Gunsten ausfällt. Wir erwarten die Grossherzigkeit, die Weitsicht, die Toleranz eines wahrhaft Liebenden, der über Unebenheiten grosszügig und liebend hinwegsieht und sein Auge stets auf jene Stelle richtet, die absolut integer und heil ist. Diese Vorstellung verrät nochmals, in welche Gottesnähe wir den Partner/die Partnerin plaziert haben, und verweist auf seine stellvertretende Funktion. Der Gedanke, der Partner/ die Partnerin reagiere und antworte aus eigener Herabsetzung wiederum gekränkt mit Entwertung, huscht eventuell als kurze Erkenntnis in Sternstunden durchs Gemüt, versinkt aber sogleich wieder im Vergessen. Entwertung, Herabsetzung, Herabminderung in partnerschaftlichen Beziehungen sind oft für Drittpersonen kaum nachzuvollziehen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb auf eine harmlos anmutende Äusserung, auf eine kaum sichtbare Gestik oder einen Gesichtsausdruck eine derart heftige Reaktion folgt. In vielen winzigen Details wird Entwertendes vermutet, da wird bereits die vom Partner vergessene Besorgung als Ausdruck höchster Gleichgültigkeit gedeutet, ein langes Telefongespräch, das in die gemeinsam geplanten Abendstunden hineinplatzt, als tiefste Missachtung und als Ausdruck abgrundtiefer Geringschätzung verbucht.
Es ist durchaus möglich, dies als übertriebene, neurotische Reaktion, als Ausdruck eines gestörten Selbstbildes und narzisstischer Überbewertung der eigenen Person abzutun. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet mag dies durchaus zutreffen, trifft aber auch als psychologische Erklärung den Nagel nicht auf den Kopf und wird vor allem in keiner Weise dazu beitragen, die Kränkungen besser einordnen zu können und entsprechend förderlicher damit umzugehen. Selbstverständlich bringen wir alle eine Vorgeschichte mit. Ist diese gespickt mit negativen Erlebnissen, mit Zurücksetzung, mit Heruntermachen und Geringschätzung, werden wir möglicherweise sehr viel schneller und äusserst empfindlich auf tatsächliche wie auch auf vermeintliche Entwertungen reagieren. Wir wittern hinter jeder Bemerkung, hinter jeder Verhaltensäusserung eine Attacke gegen das eigene Selbstwertgefühl. Vielleicht haben wir uns aber gerade durch eine strapaziöse Vorgeschichte einen Panzer zugelegt, haben uns gegen das Gift der Geringschätzung imprägniert, so dass es uns relativ wenig anhaben kann. Vielleicht aber sind wir schlagfertig geworden, zahlen jeden Angriff, auch wenn er nur in unserer Vorstellung stattfindet, ohne Umschweife unverzüglich zurück, oder beherrschen die Entwertungstaktik durch Spötteln, zynisches und sarkastisches Herabmindern in ihrer virtuosen Maskierung. Die Empörung, die wir bei Geringschätzung, Entwertung und Entwürdigung empfinden, nährt sich
aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Einmal aus der ganz persönlichen gegenwärtigen Verletzung. Zudem übersteigt sie die Grenzen des individuellen Schrebergartens und sprengt den selbstbezogenen Charakter. Entwertung ist Entwürdigung. Ein Angriff auf die Würde zielt auf den wundesten Punkt im menschlichen Gefühlsgetriebe. Dort getroffen zu werden ist gleichbedeutend mit einem schweren Angriff auf Leib und Leben. Würde ist die Zusammenfassung, die Essenz der menschlichen Integrität. Wird diese verletzt, ist es nicht nur eine schwerwiegende und absolut frevelhafte Attacke gegen das Individuum, sondern auch gegen die Schöpfungsintelligenz, letztlich gegen Gott. Wenn gegen die Würde des Menschen angegangen wird, ist es immer gleichzeitig ein Vergehen gegen Gott. So wird jede Verletzung der menschlichen Würde zu einem zerstörerischen Akt an der baulichen Grundsubstanz, aus der das menschliche Wesen geformt ist. Diesen Vandalismus einfach hinzunehmen würde bedeuten, seine zweifache Herkunft zu verleugnen. Deshalb wird oft ein Kampf geführt, der stellvertretend die Menschenwürde aller verteidigt. Menschen, die in ihrer Würde verletzt worden sind, haben über ihr Selbstregulierungssystem mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, die verheerende Auswirkung möglichst klein zu halten: Verdrängung, aggressive Überreaktion, narzisstische Selbstüberhöhung als Schadensbekämpfung. Es findet eine Mobilisierung sämtlicher Kräfte statt, die schwere
Beleidigung an Mensch und Schöpfung nicht zuzulassen. Männer und Frauen, die in der Partnerschaft bis auf die Knochen herabgewürdigt worden sind, versuchen zu retten, was zu retten ist. Eine beliebte Reparaturwerkstätte für die verlorene Würde ist der Fremdsprung. Fremdgehen, um die Entwertung aufzuheben, rückgängig zu machen und erlittene Verletzungen zu kurieren. Die Standarderklärung vieler Fremdgänger und gängerinnen »Mein Partner/meine Partnerin versteht mich nicht« leuchtet selbst den härtesten Moralisten ein und wird als Entschuldigung akzeptiert. Vom Partner/von der Partnerin nicht verstanden zu werden wird automatisch mit Entwertung gleichgesetzt. Da mangelt es an Einfühlung, an Mitgefühl, ja letztlich an Interesse, sich auf die innere Welt des Partners/der Partnerin einzulassen. In einer Partnerschaft allein gelassen zu werden mit all seinen Sorgen, Ängsten und Nöten ist für viele schwerer zu ertragen, als auf sich gestellt zu sein, weil man eben allein lebt. »Ich fühle mich zwar wie eine Witwe, trotzdem vergällt der Ehemann gespenstisch mein Leben aus dem Hinterhalt, für mich als Mensch zeigt er keinerlei Interesse.« Am Anfang einer Beziehung steht immer ein hohes Mass an Wertschätzung, die eine ganz besonders grosse Anziehung ausübt und uns in dieser Zeit für andere Liebesabenteuer immunisiert. Fühlen wir uns später entwertet, sind wir für jedes anerkennende Augenzwinkern anfällig. Der Versuch, mittels einer aushäusigen Liebschaft,
einem kurzen Flirt oder einer länger dauernden Affäre das Selbstwertgefühl zurückzugewinnen, hat daher sehr viel mehr mit dem Wiederfinden der abhanden gekommenen Würde zu tun als mit der jeweiligen Person. Deshalb sind diese Flirts auch beliebig austauschbar, haben sie doch nur diese eine Funktion zu erfüllen. Unter diesem Gesichtspunkt kämpfen Fremdgänger und Fremdgängerinnen um sich selbst, ihre Würde, ihren Selbstwert. Es ist ein Versuch, sich und seiner eigenen Menschenwürde die Treue zu halten.
7 Das veiflixte siebte Jahr Paare fürchten das siebte Jahr wie die Pest. Ob es tatsächlich zutrifft, dass zahlreiche Beziehungen im siebten Jahr in Schwierigkeiten geraten oder auseinandergehen, oder ob es nur als düsteres Gerücht herumgeistert, sei dahingestellt. Jedenfalls steht die Zahl Sieben in alter Tradition: »Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an ihm hat Gott geruht von all seinem Werke, das er geschaffen und vollbracht hat.« In der christlichen Kultur ist der siebte Tag ebenfalls als Tag vorgesehen, an dem alle Geschäftigkeit ruhen soll. In der jüdischen Religion wird der Sabbat sehr ernst genommen. Kein Werkeln, keine körperlichen Aktivitäten. Es gibt aber nicht nur den Sabbattag, sondern auch das Sabbatjahr. Nur wenige allerdings
können es sich leisten, sich ein Jahr vom geschäftigen Leben zurückzuziehen und sich mehr den Innenräumen zuzuwenden. Die Tradition des siebten Tages scheint in einem krassen Widerspruch zum gefürchteten siebten Beziehungsjahr zu stehen. Auf der einen Seite dient es dem Innehalten und Zurückschauen, der Regenerierung der Kräfte, der Neuorientierung, und auf der anderen kündet es Stress oder gar die grosse Katastrophe an. Übertragen wir freilich die traditionelle Funktion und Bedeutung des siebten »Zeitabschnitts« auf Beziehungssysteme, wird genau der gleiche Aspekt sichtbar, nämlich der des Ausruhens, des Ausatmens und Loslassens. Und bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Beziehungskrise als absolute Notwendigkeit, sich auf sich und seine ganz persönliche Aufgabe, die jeder individuell zu erfüllen hat, wieder zurückzubesinnen. Wenigen gelingt es, in einer Beziehung sich selbst nicht abhanden zu kommen. Der Partner/die Partnerin steht im Zentrum, wir kreisen um ihn/sie herum wie die Erde um die Sonne. Wir erspüren, was sich der Partner wünscht, was für ihn gut wäre, wir übernehmen stellvertretend für ihn seinen Gefühlshaushalt, leiden für ihn, freuen uns für ihn, lachen für ihn. Dabei geht der Kontakt zu uns selbst verloren, und irgendwann wissen wir mehr über die Befindlichkeit des Partners als über die eigene. Dazu kommt noch, dass wir all das, was uns vielleicht einmal sehr wichtig war, was uns in
Begeisterung versetzte, unsere Kreativität und Leistungsfreude ankurbelte, zurücksteckten und uns ganz den Präferenzen des anderen unterordneten. So kommt die Freude an einer Sportart abhanden, Vorlieben für kulturelle Ereignisse und Veranstaltungen gehen verloren, langjährige Freundschaften versanden. Es kommt noch schlimmer. Nicht selten opfern wir etwas uns Wichtiges, von dem wir lediglich annehmen, es gefalle dem Partner nicht. Wenn Paare nicht in der Lage sind, darüber zu sprechen, sich über ihre Vermutungen gegenseitig auszutauschen, ist es durchaus möglich, dass sich beide für sie einst wichtige Dinge im Leben abschminken und zugunsten des anderen aufgeben. Das Opfer ist nicht nur völlig überflüssig, sondern darüber hinaus wird es sich ungünstig auswirken. Die Zeit der Anpassung, des Verzichts und der Selbstverleugnung ist selten ein ganzes Leben lang auszuhalten. Der Siebenjahresrhythmus, der eine Verschnaufpause im siebten Jahr vorsieht, hilft uns, nicht über die eigene Energie hinauszuwirtschaften. Nach sieben Jahren treten Ermüdungserscheinungen auf. Das Sabbatjahr in der Partnerschaft lässt uns innehalten, Zwischenbilanz ziehen, wieder Fühlung mit uns selbst aufnehmen, um eventuelle Korrekturen vorzunehmen und uns mehr Raum für die eigene Entwicklung zu verschaffen. Eine andere Möglichkeit ist es, den sich meldenden Drang nach mehr Selbstentfaltung noch für eine weitere
Runde zu unterdrücken. Beim nächsten Sabbatjahr wird er sich erneut melden, noch etwas vehementer als zuvor, und sich jedem rationalen Argument gegenüber absolut unzugänglich zeigen. Dann gibt es noch Menschen, die sich einfach mal aus dem ehelichen Beziehungssystem absetzen. Sie ziehen – ohne Groll – in eine andere Wohnung und wollen nichts anderes als Ruhe, um zu sich zu kommen. Es ist für sie eine Zeit, da sie wieder mit jenen abgeschobenen Wünschen und Gepflogenheiten aus früherer Zeit in Kontakt kommen und herausfinden wollen, für welche Bereiche, die ihnen sehr am Herzen liegen, auch künftig in der Beziehung ein Platz zu schaffen ist. Für viele ist es unvorstellbar, sich neben dem Partner/der Partnerin auch noch Freiraum für ganz persönliche Vorlieben zu schaffen. Unvorstellbar, etwas zu unternehmen, was »nur« einem selbst Freude macht. Wie viele geben ihre Vorliebe für eine bestimmte Musikrichtung auf und hören sich das an, was dem Partner/der Partnerin gefällt. Frauen in der Schweiz, deren Männer den alljährlichen Militärdienst absolvieren, blühen oft während seiner Abwesenheit auf. Endlich wieder Operettenmusik durchs Haus trällern lassen! Einen Theaterbesuch. Oder die Freundin besuchen, mit der sonst nur telefonisch Kontakt gehalten wird. Männer geniessen die Abwesenheit der Frau ebenfalls. Wochenbettzeit. Endlich wieder mal mit den alten Kollegen ohne schlechtes Gewissen ausgehen.
Oder bis tief in die Nacht Krimis im Fernsehen schauen, ungeniert in einem Herrenmagazin herumblättern. Oder, oder ... Wer immer zurücksteckt, wird sich eines Tages als zu kurz gekommen fühlen. Mangelerscheinungen zeigen sich. Es wären eigentlich kleine Bedürfnisse gewesen. Durch jahrelangen Verzicht aber schwillt der Mangel ins beinahe Unermessliche und vor allem ins Unkenntliche. Mit der Zeit wissen wir nicht mehr ganz genau, weshalb wir unzufrieden sind. Die ständige Anpassung klebt wie ein zu enges Kostüm an uns, verhindert freies Atmen und schränkt die Bewegungsfreiheit ein, und nur mit größter Anstrengung halten wir uns zurück, drosseln das menschliche Grundbedürfnis, aus dem vollen zu schöpfen. Wir verwenden viel Energie darauf, nicht einfach alles Einengende, alle Hindernisse zu sprengen und uns zu befreien. Das Sabbatjahr muss ja nicht genau das siebte Jahr sein. Einige halten noch länger durch, anderen bleibt die Puste schon vorher weg. Jetzt machen sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Wir sind nicht mehr in der Lage, diese immense Energie aufzubringen, um eigene Anliegen und Wünsche stets zu verleugnen. Der Hunger nach Freiheit, nach Leben, nach sich selbst quillt bei manchen gleichsam über Nacht aus allen Ritzen, bei anderen meldet er sich beinahe unmerklich, dennoch aber drängend, unaufhaltsam und letztlich unerbittlich. Oft wird das Bedürfnis nach mehr Freiraum, um vom
Partner/von der Partnerin unabhängig gelebten Interessen nachzugehen, in der Phantasie mit dem Wunsch nach einer kurzen Affäre als Verschnaufpause oder einer neuen Partnerschaft gleichgesetzt.
Umbruch Ruhe vor dem Sturm Ich habe meine Haushälterin gebeten, die abgefallenen Rosenblätter auf dem Schreibtisch nicht wegzunehmen. Inzwischen halten sich nur noch einige hauchdünne, hellgelbe Blütenblätter zu einem letzten Kelch zusammen und welken entkräftet ineinander hinein. Der spärliche Nachrichtenfluss, der mich von Antonia erreichte, verschaffte mir eine grosse Verschnaufpause, in der ich mich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigen konnte. Nun aber ist Raina inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen worden und wartet auf die Gerichtsverhandlung. Sie erhielt die Auflage, nicht ins Ausland zu verreisen, bis das Urteil gesprochen ist. Nun lebt sie mit Hubertus in ihrer Wohnung, sie versuchen zu klären, sich wieder näherzukommen, was ihnen aber nicht gelingen will. Es sei zu viel zwischen ihnen geschehen, sagt sie, sie finde weder einen Zugang zu ihm noch zu sich selbst.
Raina nimmt mich wieder voll in Anspruch, darüber bin ich erstaunlicherweise nicht einmal unglücklich. Sie ruft abends nach 22 Uhr zum verbilligten Tarif an, und dann wird es eine lange Nacht. Raina ist in ihren Äusserungen sehr klar und besonnen, so wie ich sie von früher her kenne. Nichts von den chaotischen Ausbrüchen ist übriggeblieben. Nur manchmal spricht sie schnell, macht eigenwillige, für mich schwer nachzuvollziehende Gedankensprünge. Auch sie will – wie damals Hubertus – keinen Rechtsbeistand hinzuziehen. Die Sache sei klar. Da gebe es nichts zu interpretieren. Sie habe das Feuer in der Kapelle gelegt. Sie stehe zu ihrer Tat. Voll und ganz. Und sie sei auch bereit, die Konsequenz zu tragen. Zudem würde sie in einer gleichen Situation wieder so handeln. Die vielen Befragungen und Verhöre während der Untersuchungshaft, die drei Wochen dauerten, haben ihre Lebensgeschichte aufgewühlt. Nun will sie noch mal gezielt alle Lebensstationen durchgehen, mit mir darüber sprechen, ohne sich unter Druck zu fühlen, zurückschauen, um zu ordnen und zu verstehen. Raina war das jüngste von vier Mädchen. Sie war mit fünf Jahren Altersunterschied zur nächstälteren Schwester das Nesthäkchen und Mutters Liebling. Der Vater, als Versicherungskaufmann viel unterwegs und sehr beansprucht, kümmerte sich vor allem am Wochenende um die Kinder, indem er sich sportlich mit ihnen betätigte. Er war ein hervorragender
Schwimmer, ein guter Tennisspieler und auch Ski laufen konnte er ausgezeichnet. Die drei älteren Geschwister wurden von ihm in die Sportarten eingeführt und sehr gefördert, während die kleinste bei der Mutter blieb, die keinerlei Gefallen am Sport hatte. Raina war über diese Einteilung nicht unglücklich, und sie vermisste nichts. Nach der Einschulung zeigte sich, dass sie im Vergleich zu den anderen Kindern überdurchschnittlich schnell lernte. Sie war sofort Klassenbeste. Auch war sie musikalisch sehr begabt und besuchte mit viel Freude den obligaten Blockflötenunterricht, darüber hinaus lernte sie Klavier spielen und nahm Geigenunterricht, wohin die Mutter sie stets begleitete. Den Vater beeindruckte sie mit ihren herausragenden Leistungen keineswegs, hingegen war die Mutter mächtig stolz auf ihre begabte Jüngste. Raina erinnerte sich, dass sie immer dann in grosse Schwierigkeiten geriet, wenn sie sich – auch nur für kurze Zeit – von der Mutter trennen musste, wie zum Beispiel für einen Schulausflug, der sie einen ganzen Tag von der Mutter fernhielt. Meistens wurde sie vorher krank und konnte zu Hause bleiben. Die Familie unterteilte sich in zwei Gruppen, die Sportgruppe, bestehend aus Vater und den drei älteren Schwestern, die viel gemeinsam unternahmen, und die Zweiergruppe Mutter – Tochter, die sich stärker auf musische und intellektuelle Werte stützte. Als Raina zehn Jahre alt war, erkrankte die Mutter plötzlich an Darmkrebs. Es folgten Operationen, Krankenhausaufenthalte, Kuraufenthalte. Raina litt
unter der Trennung sehr und setzte alles daran, dass ihre Mutter jeweils möglichst schnell wieder entlassen wurde und zu Hause eine umfassende Pflege erhielt, was damals nicht einfach war. Um die Mutter pflegerisch bestens zu versorgen, übernahm sie es selbst und weigerte sich, weiterhin die Schule zu besuchen, was ihr grösste Schwierigkeiten bescherte. Sie leistete einen Rund-um-die-Uhr-Einsatz. Als das alljährliche Dorffest stattfand, ging sie mit ihren Schwestern hin, um sich etwas Ablenkung zu verschaffen. Sie fühlte sich für Stunden von ihren Sorgen befreit und genoss es einfach, wieder einmal unter Leuten zu sein. Sie schloss sich einer Jugendgruppe an, die im nahe gelegenen Wald einen Feuerplatz hatte, um Würste zu braten. Johannes, ein vierzehnjähriger Junge aus ihrer Nachbarschaft, war sehr nett zu ihr, kümmerte sich um sie, scherzte mit ihr, und sie mochte ihn auf Anhieb, so dass sie die Zeit vergass. Sie kehrte erst nach Mitternacht zurück. Der Zustand der Mutter hatte sich in ihrer Abwesenheit sehr verschlechtert, sie sass die ganz Nacht mit schlechtem Gewissen an ihrem Bett. Seit diesem Vorfall ging es nur noch bergab. Schliesslich blieb ihr nur noch eines, als Zwölfjährige die geliebte Mutter in den Tod zu begleiten. Danach wurde es leer um sie, und sie hatte das Gefühl, vom wichtigsten Menschen verlassen worden zu sein. Die Schwestern waren mit sich selbst beschäftigt. Der Vater ebenfalls. Raina war wie betäubt und wollte unter keinen Umständen mehr zur Schule zurückkehren. Obwohl sich der Vater viel Zeit für sie nahm, gelang es ihm nicht, sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. In seiner
Ratlosigkeit brachte er sie in ein Internat, das bekannt dafür war, sich nicht nur um den Bildungsaspekt der Kinder zu kümmern, sondern ihnen in schwieriger Lebenssituation psychologische Unterstützung zu geben. Raina fühlte sich fremd dort, Pädagogen und Psychologen gegenüber empfand sie ein tiefes, unüberbrückbares Misstrauen. Nach zwei Monaten verliess sie bei Nacht und Nebel das Internat und trampte nach Hause. Die Familie war alles andere als erfreut, aber sie wurde nicht zurückgeschickt. Der Vater versuchte, sie zur Rückkehr in ihre alte Schule zu bewegen, was ihm schliesslich gelang. Ausserhalb der Schule blieb sie sich selbst überlassen. Der Vater blieb nicht lange allein, er lernte bald eine neue Frau kennen, eine ebenfalls begeisterte Sportlerin, und heiratete sie. Raina empfand die schnelle Heirat wie einen Verrat an der verstorbenen Mutter und fand zur neuen Frau des Vaters keinen Kontakt. Es war für sie nun äusserst quälend, eine fremde Frau im Bett ihrer verstorbenen Mutter zu wissen. Zudem hatte sie stets den Eindruck, die Frischvermählten in ihrem Glück zu stören. Obwohl sie regelmässig die Schule besuchte, blieben ihre Schulleistungen sehr schlecht, und sie wollte so schnell wie möglich von der Schule. Da lernte sie Hubertus kennen, der zwei Klassen über ihr zur Schule ging. Er kümmerte sich sehr um das traurige Mädchen, gab ihr auch noch Nachhilfestunden und ermunterte es zum Weitermachen, um wenigstens bis zum Abitur durchzuhalten. Hubertus hatte zu dieser Zeit seine von ihm sehr geliebte Grossmutter verloren. Er konnte sich also gut in Rainas Trauer einfühlen. An freien Nachmit-
tagen und an den Wochenenden besuchten sie zusammen die Gräber ihrer Lieben. Hubertus nahm in Rainas Seele bald den freigewordenen Platz ein, er wurde zu ihrem Vertrauten, mit dem sie alles besprechen konnte, und bald liebte sie ihn fast so innig wie ihre Mutter. Zudem wurde sie von Hubertus' Eltern herzlich aufgenommen. Und es dauerte nicht mehr lange, da zog sie aus dem elterlichen Haus aus und richtete sich in Hubertus' Familie häuslich ein. Es war ihre glücklichste Zeit seit dem Tod der Mutter. Sie fühlte sich in der neuen Familie zum erstenmal seit langem wieder geborgen. Raina wurde von allen geschätzt, besonders der Mutter fühlte sie sich sehr verbunden. Aber auch zum Vater hatte sie einen guten Kontakt, und sie wunderte sich manchmal darüber, dass sie ihren eigenen Vater so schnell vergessen konnte. Hubertus studierte Pädagogik, Raina besuchte die Schule für Sozialarbeit. Nach Abschluss der Ausbildung heirateten sie. Am liebsten hätte sie noch länger bei den Schwiegereltern gewohnt, doch bald folgte das erste Kind, und der Platz wurde zu eng. Dann kam das zweite und gleich darauf das dritte. Während dieser Zeit arbeitete Raina halbtags in einer Familien-Beratungsstelle, während Hubertus die Hälfte von Haushalt und Kinderbetreuung übernahm und zu Hause an einem Projekt für die Wiedereingliederung Alkoholabhängiger arbeitete. Später wurde Hubertus zum Leiter des Tagungshauses Schloss Ripsen gewählt, das damals noch über ein sehr spärliches Kursprogramm verfügte. Zusammen mit
Raina gelang es ihm, aus einem unscheinbaren Tagungshaus, das kaum regionale Beachtung fand, ein Tagungszentrum zu schaffen, das weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde. Raina und Hubertus galten als ideales Paar, sie ergänzten sich gleichermassen als Eltern und in beruflicher Hinsicht. Mitten in diesem wolkenlosen ungetrübten Ehehimmel brach das Gewitter los. Ohne Vorwarnung. Doch das stimmt nicht ganz. Ich erinnere mich sehr genau an Hubertus' Erzählung, damals, kurz nach Wandas Selbstmordversuch, als er in unseren Fastenkurs platzte. Er hatte die Vorzeichen gefühlt. Er hatte gespürt, was er nicht benennen konnte. Er sagte damals nicht etwa, er habe sich eingeengt gefühlt oder die Ehe mit Raina sei eintönig geworden, er sprach von: Alles wurde einerlei. »Wie meinst du das? « wollte ich wissen. »Ich weiss auch nicht genau. Irgendwie war alles einerlei.« Aus seiner Biographie weiss ich, dass er noch eine drei Jahre jüngere Schwester hatte, die geistig behindert war. Er war ihr sehr zugetan und liebte sie besonders, als sie noch ein kleines Kind war. Später wurde er zu ihrem Beschützer. Sie besuchte eine Sonderschule, zu der er sie jeden Morgen mit dem Fahrrad brachte. Auch zu seiner Mutter hatte er ein besonderes Schutzverhältnis. Da sich die Mutter von ihrem Mann gerade in ihrer Sorge um das behinderte Kind nicht verstanden fühlte, wandte sie sich an den Sohn. Je älter
er wurde, um so mehr nahm er die Rolle als ihr Vertrauter ein, mit dem sie alles besprechen konnte. Als er Raina kennenlernte, war er in der Rolle des Verstehenden, Tröstenden, Fürsorgenden schon bestens geübt und vorbereitet. Er fühlte sich nicht nur für das Wohl von Schwester und Mutter zuständig, sondern auch für das von Raina, später noch für die Kinder sowie für das Tagungshaus, das Personal und all die Tagungsteilnehmerinnen. Für sich beanspruchte er kaum etwas. Alle mochten ihn gern. Er gehörte zu den Menschen, die lieber im Hintergrund nach dem Rechten sehen, er blieb beinahe unsichtbar, in der persönlichen Begegnung war er eher farblos, hob sich weder durch besondere Liebenswürdigkeit hervor, noch bestach er durch eine starke Ausstrahlung. An ihm war alles irgendwie »einerlei«. Und so fühlte er sich auch.
Vorsturmwarnung Felix ist in die Stadt gefahren. Er wollte unbedingt allein gehen, um sich viel Zeit im Computerladen nehmen zu können. Es ist fast unerträglich heiss, die Sonne brennt gnadenlos in mein Arbeitszimmer. Ich vergass, Felix noch vor seiner Abfahrt zu bitten, mir die Fensterläden zu schliessen, die derart schwer sind, dass ich sie kaum bewegen kann. Das ärgert mich. Ich bin ungern abhängig, vor allem in belanglosen Alltagsdingen.
Gegen Abend ziehen Wolken auf, der Weiher vor meinem Fenster verändert die Farbe, schwefelgrau liegt er da. Die Hunde verkriechen sich in der Küche. Felix ist noch immer nicht zurückgekehrt, als die ersten grossen Tropfen auf die heissen Steine der Terrasse fallen und sofort verdampfen. Dann aber blitzt es mitten in die Tropfen hinein, es kracht fürchterlich. Solch heftige Gewitter gibt es nur in dieser Gegend, sonst allenfalls noch im Jüngsten Gericht. Die Elektrizität bricht bei jedem Blitz zusammen, Computerchips verrösten, Faxgeräte schmoren und gelegentlich schlägt einem der Blitz den Telefonhörer aus der Hand. Der Regen wird heftig und peitscht ausgerechnet von Süden an meine ungeschützten Fenster. Alle Fenster im Haus sind dicht — ausser die in meinem Arbeitszimmer. Wir hatten sie alle ersetzen lassen, durch Doppelglasfenster (ein Fremdwort hier), die ein deutscher Fensterbauer in die alten 300jährigen Eichenrahmen eingesetzt hat. Trotzdem ist ein heftiges Gewitter, das von Süden kommt, nicht trocken zu überstehen, ohne die Läden zu schliessen. Wasserbäche rinnen die Wände entlang und sammeln sich auf dem Boden zu grossen Pfützen. Meine Haushälterin und ich versuchen mit vereinten Kräften, die schweren, über drei Meter hohen Eichenläden zu schließen, was uns leider nicht gelingt. Von Felix fehlt jede Spur. Und ich bin stocksauer. Als er endlich kommt, hat sich das Gewitter längst verzogen, die Abendsonne versinkt friedlich hinter den Bäumen, und die Wasserlachen am Boden sind bereits wieder trocken.
Die Geschichte von Raina und Hubertus beschäftigt mich noch manche Abende bis in die Nacht hinein. Raina fragt mich stets, bevor sie zu sprechen beginnt, ob ich Zeit habe. Wozu soll Zeit sonst nützlich sein, wenn wir sie nicht dann haben, wenn es brennt, bei anderen, bei uns selbst. Bevor es zum grossen Eklat zwischen Raina und Hubertus kam, ereigneten sich sonderbare Zwischenfälle, die sie nicht einordnen konnte. Hubertus, sonst die Zuverlässigkeit in Person, hatte völlig vergessen, die Flüge für die drei Wochen dauernde Ferienreise nach Australien zu buchen. Sie hatten schon alles gepackt, erst als Raina sich erkundigte, fiel es ihm ein. Es gab einen Riesenkrach. Sie machte ihm heftige Vorwürfe, die Kinder, die sich ebenfalls auf die Reise gefreut hatten, waren enttäuscht, und er setzte sich ins Auto und fuhr davon. Über diese unangenehme Sache schwiegen sie sich aus, machten noch das Beste daraus, indem sie verschiedene Wanderungen unternahmen. Bald wuchs Gras darüber, und alle vermieden es, das Wort »Australien« in den Mund zu nehmen. Auch im beruflichen Bereich kam es zu Fehlleistungen. Hubertus plante an einem Wochenende die Tagungen doppelt. Es reisten statt sechzig einhundertzwanzig Menschen von überallher an. Es gab eine grosse Katastrophe. Obwohl alles versucht wurde, jene Teilnehmerinnen, die nicht am gleichen Tag wieder nach Hause zurückfahren konnten, wenigstens in einem Hotel in der Nähe unterzubringen. Einige wandten sich mit Klagen an den Vereinspräsidenten des Tagungszentrums. Hubertus wurde zu einem Gespräch
vor den ganzen Vorstand gebeten, wo er sich hätte erklären sollen. Und da entwich ihm jener verhängnisvolle Satz, der ihm Jahre später den Verdacht einbrachte, Feuer im Schloss gelegt zu haben: »Eines Tages sprenge ich den ganzen Laden in die Luft.« Noch einmal gingen sowohl Raina als auch Hubertus darüber hinweg, sie erklärten es sich damit, dass Hubertus dringend Urlaub benötigte. Eine weitere Urlaubsreise fiel ebenfalls ins Wasser, da er sich zwei Tage vorher ein Bein brach: Er war von seinem Bürostuhl gefallen. Innerlich stand ihm das Wasser bis zum Hals. Ihm wurde eng. Ein Mensch, der sich 42 Jahre lang immer nur um andere kümmert, bekommt irgendwann einmal die Rechnung präsentiert. Rückblickend war seine Ehe für ihn äusserst unbefriedigend. Es war eben alles einerlei. Raina sei ihm schon bald wie eine Schwester vertraut gewesen, und als sie endlich sexuell miteinander verkehrten, wogegen sich Raina lange gewehrt hatte, sei es nur noch ein Druckablassen für ihn gewesen. Die Sexualität führte bei diesem Paar ein Schattendasein. Nachts. Wenn alle Lichter gelöscht waren. Schnell und heimlich, eben einerlei sei es gewesen. Als er mit Wanda an jenem Sonntagnachmittag in seinem Büro die Jahresprogramme verpackte, hatte er eben wiedereinmal seine sexuelle Schnellabfertigung hinter sich und fühlte sich nicht gut in seiner Haut. Die unbeholfene Art von Wanda einerseits, andererseits aber ihr unverhohlen verführerisches Verhalten liessen
etwas in ihm anspringen, das er nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Nachdem er zum erstenmal sexuell mit ihr verkehrt hatte, gab es kein Zurück. Endlich war es ihm möglich, wie ein erwachsener Mann den Körper seiner Geliebten zu erforschen und spielerisch allen Impulsen zu folgen, ohne dass ihm Grenzen gesetzt wurden. So oft und so lange er wollte. Wie ein geschenktes Leben sei es für ihn gewesen, jeweils diese eine Nacht, donnerstags in der Kapelle. Er begann Raina abzulehnen, gelegentlich gar dafür zu hassen, dass er diese Wonne nicht mit ihr erleben konnte. Und er hätte um nichts in der Welt auf Wanda verzichtet. Gut, die Schwangerschaft war zunächst ein Schock, aber dann sah er auch darin eine Chance. Für Raina war Sexualität tatsächlich ein sehr heikles Thema. Sie war stark auf die Mutter fixiert, was ihr wenig Spielraum gab, sich auch auf andere Menschen einzulassen, zumal sowohl von den älteren Schwestern als auch vom Vater nichts unternommen wurde, dies zu ändern. Sie lebte zwar in einer Familie, doch war diese nochmals unterteilt, und sie lebte wie in einer Symbiose mit der Mutter, in der nur sie beide Platz hatten. Die Erkrankung der Mutter verband die beiden noch stärker, und sie übernahm die Sorge stellvertretend für die anderen, die zwar ebenfalls sehr beunruhigt waren, aber doch ihr Leben weiterführten. Für Raina war es unerträglich, von der Mutter getrennt zu sein, sie stellte ihr eigenes Leben zurück, beschloss, die Schule nicht mehr zu besuchen, um die Mutter zu pflegen. Dabei wäre es für sie entwicklungsmässig höchste Zeit
gewesen, sich allmählich abzulösen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse überhaupt erst einmal kennenzulernen und eigenen Interessen nachzugehen. Der Einbruch sexueller Energien stand vor der Tür, was sie hätte veranlassen sollen, sich neugierig auf die Welt einzulassen, sie zu erforschen und sich auf das andere Geschlecht zuzubewegen. Bis dahin hatte sie keinen Kontakt mit männlichen Menschen gehabt. Der Vater entzog sich weitgehend. Nun war sie aber gerade in dieser Zeit so stark mit der Sorge um die Mutter beschäftigt, dass es ihr beinahe unmöglich war, an irgend etwas anderes zu denken. Als es ihr endlich einmal für wenige Stunden gelang, sich von ihrem grossen Kummer etwas abzulenken, und sie zum erstenmal einem Jungen offener begegnete, folgte die Quittung auf dem Fuss: Der Mutter ging es augenblicklich schlechter, schlimmer noch, nach diesem Abend ging es sichtlich bergab. Raina verknüpfte unbewusst ihre vergnüglichen Stunden, die sehr harmlos waren, mit der Verschlimmerung von Mutters Zustand. Das erste zarte Erleben mit einem Jungen, wo sich bei ihr zweifellos erste erotische Gefühle meldeten, die sich später in Träumen bestätigten, wurde von Gefühlen schwerer Schuld überlagert. Raina rang um das Leben der Mutter, wie wenn es ihr eigenes gewesen wäre. Und es ging ja auch um ihr Leben. Starb die Mutter, hiess das für sie, dass sie sich schuldig gemacht hatte und deshalb die Mutter ihr Leben lassen musste. Überwand die Mutter die Krankheit und blieb am Leben, so hätte Raina die Zustimmung des Himmels für ihre vergnüglichen
Stunden erhalten und hätte sich dem Leben zuwenden können. Die Mutter aber starb. Und mit der Mutter Rainas Zukunft. Als sie Hubertus kennenlernte, liebte sie ihn unter Ausschluss jenes Bereiches, in dem sie sich der Mutter gegenüber schuldig fühlte. Und Hubertus war ein verständiger Mann, einfühlend und verstehend. Bis eines Tages die Rechnung nicht mehr aufging. Hubertus' inneres Gleichgewicht hatte längst Schlagseite bekommen. Seine Entwicklung ist ebenfalls dadurch gekennzeichnet, dass er sich abhanden gekommen war. Er funktionierte nur darin, anderen zu helfen, sie zu unterstützen, für sie zu sorgen, für sie zu organisieren. Die drei Warnschüsse hatte er nicht verstanden. Irgend etwas in ihm weigerte sich, die Ferienplanung für die ganze Familie zu übernehmen, und er vergass die Flugtickets zu bestellen. Er vergab das Tagungshaus für hundertzwanzig Personen statt für sechzig Leute und brachte damit seine Überforderung auch noch szenisch zum Ausdruck, nicht zu reden von dem Nachspiel vor der Vorstandskommission. Und dann fiel er auch noch vom Bürostuhl und brach sich das Sprunggelenk. Es gibt zweifellos wenige Menschen, die vom Bürostuhl stürzen, ohne hinterher wieder unversehrt aufzustehen. Hubertus schaffte es immerhin, so ungeschickt hinzufallen, dass ihm das Springen für die nächste Zeit unmöglich war. Der Gipsfuss hinderte ihn dann später allerdings nicht daran, in das Geschäft des Seitenspringens einzusteigen. Genaugenommen begünstigte er es sogar. Aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen
Mobilität beschloss Hubertus, den Sonntag im Büro zu verbringen und nicht mit Raina und den Kindern einen Ausflug zu machen. Und dann kam eben Wanda. Die Vorzeichen deuteten alle darauf hin, dass Hubertus die Verleugnung seiner eigentlichen Wünsche nicht weiterhin straffrei betreiben konnte. Der Begriff »Selbstverleugnung« wird gelegentlich in religiösen Schriften als ein lauteres Ziel menschlicher Entwicklung dargestellt und hat zweifellos dazu geführt, dass Menschen, die sich vorwiegend altruistischem Bemühen verschreiben, irgendwann an sich scheitern müssen. Wir können das Selbst nicht verleugnen. Wozu auch? Vielleicht aber verwechseln wir lediglich Selbstverleugnung mit Selbstaufgabe. Selbstaufgabe ist aber etwas ganz anderes und bedeutet, selbstische Bezogenheit aufzugeben, sich nicht stets als Nabel der Welt zu sehen und unermüdlich Pirouetten um die eigene Achse zu drehen. Zuerst aber muss ich mein Selbst entfalten, überhaupt ein Selbst besitzen, bevor ich es aufgeben kann. Ich muss doch wissen, was ich als Opfer darbringe. Alles, was in Richtung Verleugnung geht, widerspricht der Wahrheit, ist für die Entwicklung unbrauchbar und darüber hinaus sehr gefährlich. Wenn wir nicht in der Lage sind, in uns selbst Bedingungen zu schaffen, die uns Wachstum und Entfaltung unserer Fähigkeiten ermöglichen, werden wir damit rechnen müssen, dass das Leben irgendwann eine Korrektur vornimmt, die nicht mehr steuerbar ist.
Zusammenbruch
Und bist du nicht willig...
Gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Raina und Hubertus hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Für beide gab es keinen Grund, sich vertrauensvoll auf das Leben als einen sich ständig verändernden Prozess einzulassen. Beiden wurden früh die Flügel gestutzt. Sie lernten früh, was andere von ihnen erwarteten. Sie übernahmen schon als kleine Kinder Funktionen, die ihrem Alter nicht entsprachen. Sie hatten keine andere Wahl. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es ihnen besonders schwerfiel, sich auf eine Auseinandersetzung mit den eigenen Schwierigkeiten und ihrer Geschichte freiwillig einzulassen. Wenn wir nicht bereit sind, uns mit unserer Entwicklung auseinanderzusetzen, wird sie uns früher oder später irgendwann einholen. Zum unpassendsten Zeitpunkt. Es fühlt sich dann an, als ob wir seelisch in eine Waschmaschine geraten wären und so lange durchgewaschen, gerüttelt und ausgewrungen werden, bis der ganze fremde Dreck, der nicht zu uns gehört, herausgewaschen und ausgebleicht ist. Sich entwickeln heisst, sich aus Verwicklungen zu befreien. In leichteren Fällen des Festhaltens an alten Mustern genügt bereits der Schongang, bei. schwerem Starrsinn
wird das Intensivprogramm eingeschaltet. Gelegentlich ist sogar ein zweiter oder ein dritter Waschdurchgang nötig, bis alle Fremdstoffe ausgewaschen und entfernt sind und endlich das ursprüngliche Material zum Vorschein kommt. Als die Welt von Raina und Hubertus zusammenbrach, geriet Raina in tausend Höllen, während Hubertus in den Wolken schwebte und endlich erfahren konnte, wie es ist, wenn die viel zu engen Grenzen gesprengt sind. Bei Menschen, die sich auf eine Aussenbeziehung einlassen, steht dieses Gefühl der Befreiung als überwältigendes Erlebnis im Vordergrund, das alles andere überdeckt. Sich ohne hindernde Vorschriften und Fesseln frei zu fühlen ist für sie ein derart umwerfendes Erlebnis, dass es ihnen nicht in den Sinn kommt, sich deswegen auch noch schuldig zu fühlen. Aus meiner Fremdgeh-Umfrage geht hervor, dass 50 Prozent Frauen und 57 Prozent Männer kein zwingendes Bedürfnis verspüren, mit dem/ der Partnerin über die Liebschaft zu sprechen. 15 Prozent Frauen und 12,5 Prozent Männer sind dazu bereit, falls sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Dagegen haben nur 9 Prozent Männer das Bedürfnis, offen mit der Partnerin über die Affäre zu sprechen. Die mangelnde Bereitschaft ist durchaus als ein Zeichen dafür zu werten, dass zunächst das schlechte Gewissen gegen das grosse Gefühl, Eigendrehungen zu machen, eigenen Impulsen zu folgen und aus dem vollen zu schöpfen, keine Chance hat. Es ist eine derart grossartige Angelegenheit, dass es unter allen Umständen
geschützt und gegen alle möglichen Spielverderber abgeschottet wird. Dass viele, die fremdgehen, nicht mit ihrem/ihrer Partnerin darüber sprechen wollen, hat nichts mit einer grundsätzlichen Verlogenheit zu tun, wie ihnen gerne unterstellt wird, sondern mit dem heissen Begehren, die lustvolle Freiheit möglichst lange und umfassend geniessen zu können. Raina indessen durchschritt die Unterwelt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Unbekannte Gefühle brachen wie ein Vulkan in ihr aus. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Ihr Hass auf Hubertus und Wanda war abgrundtief, sie balancierte auf einem schmalen Grat zwischen Realitätsverlust und etwas Boden unter den Füssen. Der ungeheure Schmerz über die Trennung und letztlich den Verlust ihrer Mutter brach aus den Tiefen ihrer Seele hervor und vermischte sich mit der aktuellen Situation. Als die Mutter starb, hatte sie mit Depression reagiert, die aber nicht behandelt wurde. Dank Hubertus fand sie einigermassen wieder ins Leben zurück. Der Schmerz aber ruhte wie eine tickende Zeitbombe in ihr. Über die Sexualität hätte sie leicht gezündet werden können, hing doch das Thema Mutter — Tod — Schuld damit zusammen. Es gelang Raina aber, einen grossen Bogen darum herum zu machen, von Hubertus einfühlend begleitet. Sie erlebte in Hubertus sehr viel Mütterliches, Fürsorgliches. Er war ihre Heimat und schloss nahtlos an die Symbiose an, die sie mit ihrer Mutter gelebt hatte. Sie war weit davon entfernt, Hubertus als Mann zu sehen, der auch in seiner Männlichkeit beantwortet werden wollte, und sich als erwachsene Frau auf die Bühne der
Leidenschaftlichkeit zu wagen. Sie war noch immer wie ein Kind mit der Mutter verbunden. Der frühe Tod hatte nicht nur Gefühle der Schuld, sondern auch tiefer Verlassenheit ausgelöst. Das Scheitern ihrer Liebesbeziehung zu Hubertus belebte wieder ihre Erinnerung, von der wichtigsten Person verlassen zu werden. Sie kämpfte dagegen an. Diesmal fiel sie nicht wie damals in einen Zustand der Apathie, den sie im nachhinein als ein schreckliches Erleben von Todsein geschildert hatte, sondern sie flüchtete in das Gegenteil, dem sie nichts entgegensetzen konnte: Aktion, unermüdliches, hyperaktives Handeln, Beschimpfungen und Fluchen. Es habe sich angefühlt, wie wenn alles aus ihr herausfliessen würde, wie ein innerliches Ausbrennen, ohne dass ein Ende abzusehen war. Dann habe sie das Feuer gelegt. Noch bevor der Rauch in der Kapelle Hubertus und Wanda dazu trieb, durch die kleine Tür hinter der Orgel zu fliehen und via Wendeltreppe durch den Keller ins Freie zu gelangen, geriet Hubertus' Glück in grösste Schwierigkeiten. Wanda, als Kind vom ersten Tag an von der Mutter abgelehnt, war nicht nur körperlich magersüchtig, sondern auch seelisch am Verhungern. Die Mutter wollte sie nicht. Und auch die Grossmutter, bei der sie aufwuchs, nahm sie nur widerwillig auf. Nur der Grossvater hatte Freude an dem kleinen Mädchen. Als sie acht war, versuchte er allerdings, sich sexuell an ihr zu stimulieren. Sie wehrte ihn ab, so gut es ging, gleichzeitig aber wollte sie sich seine Liebe nicht verscherzen. Auch hatte sie nicht gewagt, mit der Grossmutter oder sonst mit jemandem darüber zu
sprechen. Ernst, ihr späterer Mann, verlor mit elf Jahren seine Eltern bei einem Autounfall. Er wuchs als Pflegekind ebenfalls bei Wandas Grosseltern auf, die ihm aber wenig Liebe entgegenbrachten und ihn wohl eher des Kostgeldes wegen aufnahmen. Es verband sie eine sprachlose Schicksalsgemeinschaft, ohne daß sie je über ihre Sorgen offen miteinander gesprochen hätten. Es lag irgendwie auf der Hand, dass sie später heirateten. Hubertus sprang wie auf Knopfdruck auf Wandas übergrosse Bedürftigkeit an. Er umsorgte sie. Löste ihre Zunge. Da er ein aussergewöhnlich guter und geduldiger Zuhörer war, begann sie allmählich über ihre Vergangenheit zu reden und befreite sich so allmählich aus ihrem Gefängnis. Er begleitete sie einfühlsam durch die Aufarbeitung ihrer schwierigen Jugend. Später entdeckte sie mit ihm die Sexualität, und er erhielt dadurch die Möglichkeit, endlich seine sexuellen Wünsche auszuleben. Später übernahm er noch die Rolle des Krankenpflegers für sie, fütterte sie behutsam, peppelte sie auf, engelsgeduldig. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt erneut mit seinen sexuellen Bedürfnissen auf dem trockenen sass. Da er ja noch immer mit Raina zusammenlebte und auch keineswegs daran dachte, sich von ihr zu trennen, bedeutete sie doch immer noch ein Stück Heimat. Er hatte also stets die Möglichkeit, sich den ständig wachsenden Forderungen, die Wanda an ihn stellte, zu entziehen. So gab ihm die Ehe Schutz vor Wandas Zugriff. Das ist sicher auch der Grund, weshalb sich das Verhältnis
über einige Jahre hinzog. Dann kam die Schwangerschaft. Der Brand. Die Verhaftung. Die Geburt. Der Tod des Kindes. In dem Moment, als sich Hubertus stärker auf Wanda konzentrierte und den Alltag mit ihr lebte, steckte sie ihm ihrerseits Grenzen, die im Vergleich zu der Beziehung mit Raina noch enger waren. Er versuchte sich bereits wieder wegzuschleichen und auf Raina zurückzugreifen, da setzte ihn Wanda nochmals gehörig unter Druck und hörte zu essen auf: Kümmere dich um mich! Es sei gewesen, wie wenn man ihn strangulieren wollte. Ein letzter Appell. Hubertus floh und rannte um sein Leben. Dann machte sie einen Selbstmordversuch.
Alle Systeme brachen zusammen.
Vom Verfallsdatum und der potenzierten Schubkraft Es ist durchaus möglich, über einen bestimmten Zeitraum einen gigantischen Energieaufwand zu betreiben, um anstehende Veränderungsprozesse nicht vollziehen zu müssen. Nun verhält es sich im seelischen Bereich ebenso wie in allen anderen materiell sichtbaren Belangen. Wird ein Garten nicht regelmässig gejätet, wird sich bald ein dichtes Netz von Unkraut über dem Boden bilden, die Wurzeln ineinander verschlungen und fest in der Erde verhakt.
Und es bedarf eines ungleich viel grösseren Zeitaufwands, um die Beete von überwucherndem Unkraut zu säubern. Raina und Hubertus hatten viel ihrer Lebenskraft darin investiert, in ihrer Beziehung nicht von unerwünschten Bedürfnissen gestört zu werden. Hubertus verzichtete auf Sexualität und Leidenschaft. Obwohl sie ihm sehr wichtig gewesen wäre. Er sagte sich, dass schliesslich nicht Sex allein ausschlaggebend für das Glück auf Erden sei. Er widmete sich ganz seinem Beruf, arbeitete oft bis in die Nacht hinein und übers Wochenende. Raina unterstützte ihn dabei sehr. Beide genossen den Erfolg ihrer Arbeit. Auch hielt er sich mit viel Phantasie über Wasser, besorgte sich in aller Heimlichkeit harmlose Sexheftchen, schaute sich auch gelegentlich ein Video an, um sich sexuell zu stimulieren und abzureagieren. Mit diesem Lösungsversuch ist Hubertus nicht allein. 24 Prozent Männer und 22,5 Prozent Frauen, die in einer Partnerschaft leben, regulieren ihre sexuellen Bedürfnisse mit Masturbation. Viele konzentrieren sich auf andere Genüsse und versuchen sich abzulenken. 15,5 Prozent Männer phantasieren ihre Wünsche mit einer anderen Partnerin. Das heisst also, der Partner/die Partnerin schwingt in seiner Häufigkeitsfrequenz anders, oder eine andere Art sexueller Befriedigung macht ihnen mehr Spass, und sie suchen eine für sie befriedigende Alternative, ohne fremdzugehen. 21 Prozent Frauen und 15,5 Prozent Männer suchen ein klärendes Gespräch mit ihrem Partner/ihrer Partnerin.
Alleinstehende phantasieren sich die Partnerschaft oft als sexuelles Schlaraffenland. Irrtum. Während sich jene ohne PartnerIn jederzeit unbekümmert in ihren vier Wänden selbst befriedigen können, flankiert von persönlich bevorzugter Stimulation, suchen in einer Partnerschaft Lebende krampfhaft nach irgendwelchen zeitlichen und geographischen Schlupflöchern, in denen sie sich ungestört das holen können, was ihnen mangelt. »Es ist zum Verzweifeln!« stöhnte eine 31jährige Telefonistin. »Ich muss mich bereits vor Krimiende aus dem Wohnzimmer schleichen, damit ich mich mit mir vergnügen kann. Ich fühle mich gehetzt. Mit einem Ohr lausche ich, ob mein Mann nicht ins Zimmer kommt. Dadurch reisst der stimulierende Phantasiefilm im Kopf immer wieder, und es dauert viel länger, bis ich zum Orgasmus komme. Wenn ich Pech habe und mein Mann früher ins Bett kommt, stürze ich jäh aus der Erregung wie ein abgeschossenes Flugzeug vom Himmel. Wut auf ihn. Auf mich. Und auf alle Alleinstehenden, die sich immer selbst befriedigen können, wenn sie Lust haben.« Und ein 48jähriger Unternehmer resigniert: »Schnell morgens unter der Dusche einen herunterholen. Das war's.« Trotzdem gelingt es vielen Paaren, sich mit diesen selbstregulierenden Massnahmen einen inneren Ausgleich zu verschaffen, ohne dass es irgendwann zu einem Zusammenbruch kommen muss. Der ausschlaggebende Faktor besteht darin, ob das empfundene Defizit durch solche Massnahmen ausgeglichen werden kann. Bei Hubertus kam noch ein sich
früh angeeigneter Verzicht auf Verwirklichung eigener Interessen dazu. Er war bereits als Kind in der Rolle des Fürsorgenden, er kümmerte sich um die behinderte Schwester, er funktionierte als Partnerersatz, stand der Mutter in allen Sorgen und Nöten bei. Da blieb wenig Spielraum für ihn selbst. Die Entfernung zu sich selbst war derart gross, dass es für Hubertus näherliegend war, Bedürfnisse anderer aufzunehmen als seine eigenen. In der Beziehung zu Raina wurde diese defizitäre Linie fortgesetzt. Bereits in seinen ersten Ehejahren traten kürzere Irritationen auf, wie zum Beispiel, dass er Rainas Geburtstag vergass. Er überging diese Zeichen und die späteren Warnschüsse ebenfalls. Auch bei. Raina gab es deutliche Hinweise, dass irgend etwas zu bearbeiten gewesen wäre. Sie verspürte manchmal ein derart starkes körperliches Ekelgefühl Hubertus gegenüber, dass sie sich einfach ins Auto setzen und stundenlang herumfahren musste, bis sich diese Abneigung wieder legte. Darüber hinaus litt sie an Angstzuständen, die sie aus heiterem Himmel überfielen und in Atem hielten. Raina und Hubertus mobilisierten all ihre Kraft, um ihre Beziehung zu schützen — längst über das Verfallsdatum hinaus. Wird ein längst fälliger Entwicklungsschritt verweigert, können wir früher oder später damit rechnen, dass eine gewaltige Schubkraft in Gang gesetzt wird, die den Wachstumsprozess vorantreibt und Stagniertes und Festgefahrenes aufbricht und in
Bewegung bringt. Je länger wir aufschieben, um so heftiger wird die Sturmbö über das Wasser fegen und die Boote, die festgezurrt zwischen Pfählen liegen, aus ihrer Verankerung reissen. Ein Schiff gehört aufs offene Wasser. Ein Mensch mitten ins Leben. Hubertus und Raina widersetzten sich, sie versuchten, so lange dem heftigen Sturmwind standzuhalten, bis eine tosende Flutwelle sie ergriff und weit hinaus in das tobende Wasser warf. Ruderlose Nussschalen auf haushohen Sturmwellen: »Ich fühle mich wie ein Segelschiff, mit gebrochenem Mast, die Segel hängen zerfetzt herunter. Alles droht unterzugehen«, so schildert Hubertus seine Situation. Raina fühlt sich noch elender, eher wie ein Schiff, das zertrümmert auf den Klippen liegt. »Es hat mich in tausend Stücke zerrissen. Nun muss ich mich wieder einsammeln und zusammenflicken.« Wenn die eigene Entwicklung ins Stocken geraten ist, wird sich der Drang nach Wachstum mit einem gehörigen Schicksalsschlag melden, damit der Entwicklungsprozess fortgesetzt werden kann. Bei einigen wenigen braucht es keine Erschütterungen. Sie folgen unauffällig dem Gesetz, sich im Laufe ihres Lebens zur Blüte zu bringen, und stellen sich freiwillig ihren Aufgaben. Andere besinnen sich erst, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Die meisten aber werden vom Schicksal so lange zurechtgemeisselt, bis die Kontur ihrer Lebensaufgabe deutlicher wird und sich die Bereitschaft zeigt, ihr zu folgen.
Heute kommt der Briefträger später. Ein gigantischer Regenguss hat die leicht ansteigende Strasse, die zu unserem Dorf führt, mit vom Wald heruntergespülten Ästen und Zweigen versperrt. Wir öffnen alle Fenster, um den Duft der nassen Bäume einströmen zu lassen. Als das gelbe Auto endlich kommt, stürzen unsere Hunde an das grosse Tor und bellen im Quartett. Ich nehme die Post durch die Gitterstäbe entgegen und erkenne sofort Rainas Schrift. Ich bin aufgeregt. Was soll das bedeuten? Wir telefonieren noch immer ganze Nächte lang. Ich reisse ihn auf: »Es ist soweit. Drück mir die Daumen. In wenigen Wochen findet die Gerichtsverhandlung statt. Der Antrag des Staatsanwalts lautet auf zwei Jahre Gefängnis.«
Abbruch
Entweder – Oder
Die Untreue des Partners/der Partnerin zu entdecken ist für die meisten ein schwerer Schock. Aber auch von einer eigenen Affäre elektrisch aufgeladen zu werden bedeutet nicht durchwegs eitel Freude, bedenkt man die Schwierigkeiten, die allein die Organisation einer aushäusigen Liebschaft mit sich bringt. So gerät einiges in Unordnung. Diese Ereignisse sind deshalb vor allem
hervorragend geeignet, verfestigte Strukturen, Entwicklungen, die ins Stocken geraten sind, wieder in Bewegung zu bringen. Um möglichst schnell aus dem Dilemma herauszukommen und dem unerträglichen Gedanken ein Ende zu setzen, dass der Partner/die Partnerin fremdgeht, reagieren viele so, dass sie den Partner/die Partnerin unter Druck setzen und zu einer klaren Entscheidung nötigen. Sie oder ich. Er oder sie. So einleuchtend diese Forderung auch sein mag, ist sie doch ein untaugliches Mittel, wie die Praxis zeigt. Wäre für den Fremdgänger/die Fremdgängerin die Sachlage klipp und klar, hätte er oder sie längst gehandelt. Da der/ die Lebenspartnerin oft für familiäre Zugehörigkeit, für Heimat steht, die aushäusige Liebschaft hingegen entweder für abenteuerliche Neuerkundung möglicher Freiräume oder für eigene ungelebte Anteile, für eine Vitalisierung des bisherigen Lebens und damit lediglich eine regulierende Funktion ausübt, ist eine Entscheidung zu treffen alles andere als einfach. Für die meisten Fremdspringerinnen ist es ausgesprochen schwierig, für sich eine Lösung zu finden, die einigermassen dem entspricht, was sie sich vorstellen. Sie fühlen sich, wie immer sie sich auch entscheiden, als VerliererInnen. In jeder Variante verlieren sie etwas, müssen sich von etwas trennen, das durch das Gewonnene nicht ersetzt werden kann. Eigentlich gibt es in dieser Situation keine Lösung, und jede Entscheidung ist falsch, es sei denn, es zeichnen sich ganz klare Präferenzen ab, dann aber muss nicht
mehr lange überlegt werden, sondern es wird gehandelt. Wenn nun auch noch Druck von aussen kommt, ob von Lebensgefährten oder Geliebten, die endlich wissen wollen, woran sie sind, kann eigentlich alles nur schieflaufen. Dies ist zweifellos auch ein Grund dafür, dass länger dauernde Affären sich oft über Jahre hinziehen, weil die Betroffenen, die sich entscheiden sollten, einfach keine Lösung finden, die einigermassen befriedigt. Wenn die Fremdspringerinnen zu keiner klaren Entscheidung kommen, und die Partnerinnen die für sie beinahe unerträgliche Situation nicht auszuhalten imstande sind, suchen sie eine Lösung, indem sie die Beziehung abbrechen. Laura, die schnittige Diätkursleiterin, wollte sich diesem Gefühlsterror nicht aussetzen, sondern unverzüglich klare Verhältnisse schaffen. Sie brach die Beziehung, bevor sie sich wie eine Maus in der Falle fühlte, auf der Stelle ab. Menschen, die eher dazu neigen, dem Leben ihre Vorstellung aufzuzwingen, notfalls mit eiserner Disziplin um deren Verwirklichung kämpfen, können sich kaum auf Prozesse einlassen, deren Ausgang sich nicht vorherbestimmen läßt. Es fällt ihnen aussergewöhnlich schwer, sich einfach auf die Wellenbewegung des Lebens vertrauensvoll zu verlassen, sie wollen alles selbst mit ihrem Kopf steuern. Gelegentlich werden aber auch typische Macherinnen in die Knie gezwungen, und zwar dann,
wenn sie durch die selbst vollzogene Trennung in seelische Turbulenzen geraten, die sich nicht mehr mit dem Kopf steuern lassen. Laura gab bereits nach drei Wochen auf. Die Trennung hatte sie weich geklopft. Ihre Disziplin war im Eimer. Nachdem sie nur noch weinte, im Bett blieb und sich mit grösster Anstrengung nicht mehr auf die Beine brachte, rief sie ihren Willi an: »Ich will nicht mehr! Komm!« Willi verstand. Und kam. Aber er musste die andere Frau opfern, das war Bedingung. Willi hat jetzt aber keine Lust mehr, mit seiner Laura sexuell zu verkehren. Sie hat ihn zum Arzt geschickt. Willi ging. Nun schluckt er Medikamente. Obwohl der Seitensprung in den meisten Fällen eine sehr leidvolle und für beide Seiten strapaziöse Angelegenheit ist, deren Aufarbeitung sich in der Regel in die Länge zieht, gibt es dennoch nur wenige, welche die Beziehung abbrechen und nicht mehr weiterführen wollen. 50 Prozent Frauen und Männer würden versuchen, die Situation zu klären, rund 20 Prozent der Männer und Frauen würden auf jeden Fall versuchen, ihre Partnerinnen zurückzugewinnen. Lediglich 5 Prozent Frauen und 6,5 Prozent Männer würden die Beziehung sofort abbrechen. Die Bereitschaft ist gross, sich grundsätzlich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen zu wollen und nicht sofort das Handtuch zu werfen. Die Anzahl derer, die sich paartherapeutisch helfen lassen, ist noch immer gering, lediglich 15,5 Prozent Frauen und 9,5 Prozent Männer würden sich paartherapeutisch Hilfe holen. Leider warten die Betroffenen oft viel zu lange, bis sie sich
fachliche Hilfe holen. Es ist dies eine eigenartige Einstellung zum seelischen Haushalt. Mit jedem Auto, das irgendein Zipperlein hat, fahren wir unverzüglich zur Werkstatt. Mit körperlichen Beschwerden eilen wir zum Arzt. Nur wenn es um die seelische Gesundheit geht, versuchen wir die Störung entweder zu ignorieren, hoffen, dass sie sich von alleine regelt, oder klempnern selbst mehr oder weniger halbherzig, ohne jegliche Fachkenntnisse an ihr herum.
Wenn der Partner/die Partnerin den Abbruch der Affäre erzwingt
Ein erzwungener Abbruch der Affäre wird die Chance für eine einigermassen gelungene Weiterführung der Partnerschaft keineswegs erhöhen. Im Gegenteil. Er wird zum Dauerbrenner für Unstimmigkeiten im besten Fall, im schlechtesten für Streit, Vorwürfe und Entwertung. Langfristig wird sich der/die Fremdgängerin um die Lebenschance, um Freiheit und Autonomie betrogen fühlen und dies dem anderen insgeheim vorwerfen. Es ist eine völlig andere Situation, wenn jemand aus reiflicher Überlegung zum Schluss kommt, die aushäusige Liebschaft zu beenden,
um die Partnerschaft weiterzuführen, als wenn jemand unter Druck gesetzt wurde. Gefühle können bekanntlich nicht einfach wie abgetragene Kleider weggeräumt werden. Gefühle sind da. Ob sie uns in den Kram passen oder nicht. Zudem haben sie die Tendenz, sich zu verstärken, sobald der Versuch unternommen wird, sie zu eliminieren und zum Verschwinden zu bringen. PartnerInnen von Fremdgängerinnen sollten sich darüber im klaren sein, dass alle ihre Bemühungen, die Aussenbeziehung zu unterbinden, die Leidenschaft zusätzlich beleben und anfeuern wird. Es scheint eine hoffnungslose Zwickmühle zu sein, die aber bei genauem Betrachten lediglich eine unerbittliche Lektion ist, dass der Partner/die Partnerin nicht unser Eigentum ist, über das zu bestimmen und zu verfügen wir berechtigt sind, sondern ein eigenständiger Mensch, der selbst Entscheidungen trifft und über sich selbst bestimmt.
Viele wollen dieses Lehrstück nicht absolvieren und halten verbissen an ihrer Forderung einer sofortigen Lösung fest. Entscheidet sich der unter Druck gesetzte Gefährte/die Gefährtin für die Partnerschaft, wird es kaum zu einer erfreulichen Weiterführung dieser Partnerschaft kommen können. Der Partner/die Partnerin des Fremdgängers/der Fremdgängerin wird mit Zweifeln zu kämpfen haben, kann er/sie doch nie mit Sicherheit wissen, ob die alte Beziehung aus Überzeugung und Liebe weitergeführt wird oder nur deshalb, weil keine
andere Möglichkeit zur freien Wahl stand. Es wird folglich unermüdlich nach Liebesbeweisen gefahndet werden, was der Beziehung zweifellos nicht gut bekommt und die etwaigen guten Vorsätze der FremdspringerInnen zunichte macht. Aber auch die Geliebten werden ihre blauen Wunder erleben, wenn sie versuchen, den/die Liebhaberin unter Druck zu setzen, sich endlich zu trennen oder gar sich scheiden zu lassen. Wanda setzte ihre Druckmöglichkeiten ein und verweigerte das Essen. Hubertus, in großer Sorge, war sofort zur Stelle und fütterte sie. Sechs Wochen löffelte er fleissig Brei, zerdrückte Bananen und gab Haferschleim ein. Sie genas. Hubertus atmete auf. Wanda wollte, dass er weiterhin rund um die Uhr an ihrem Bett sass und sie umsorgte. Ihm wurde eng. Er konnte sich vor ihren Forderungen nur noch in Sicherheit bringen, indem er mehr Zeit mit seiner Familie verbrachte. Da wurde sie schwanger und angelte Hubertus noch mal an seinem Pflichtgefühl. Dann kam der Brand. Hubertus sass drei Wochen in Untersuchungshaft, die ihm wenig anhaben konnten, fühlte er sich doch von sämtlichen Fesseln wie befreit. Und das hinter Gittern. Als er entlassen wurde, schnappte die Falle endgültig zu. Wanda wollte, dass er bei ihr wohnte. Für immer blieb. Ihm ging die Puste aus. Sie griff noch einmal zum altbewährten Mittel und hörte zu essen auf. Um nicht zu ersticken, ging er. Hubertus wollte nicht mehr. Nicht so. Dann folgte Wandas Selbstmordversuch.
Für die einen ist ein sofortiger Abbruch der Beziehung die einzige Möglichkeit, ihre Haut zu retten. Jede differenzierte Auseinandersetzung würde sie zu sehr in ihrem Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung gefährden. Felix kommt strahlend aus der Stadt. Er drängt und will heute früher zum abendlichen Hundespaziergang aufbrechen. Schnell umziehen. Wir gehen eine Stunde. Boote auf dem Fluss. Sie warten vor der Schleuse. Abendsonne funkelt zwischen den Birken. Wir suchen ein Plätzchen und legen uns ins warme Gras. Hechelnde Hundeschnauzen überm Gesicht. Ein kleines Paradies. Felix erzählt, was ihn so strahlend macht. Er war bei der Post. Eine lange Warteschlange und umständliches Ausfüllen unübersichtlicher Formulare erwarteten ihn. Es würde wohl Stunden dauern. Da entdeckte sie ihn, die altbekannte attraktive Postschalterdame, die heute im Hintergrund tätig war. Und sie eilte herbei, öffnete eigens für ihn einen geschlossenen Schalter. Das war alles. Aber, es hat ihm Flügel wachsen lassen. Ein sanfter Abendwind bläst ihm die Haare aus dem Gesicht, das in die untergehende Sonne hineinblüht. Moska, das kleine Schäferhundweibchen, kuschelt sich an ihn und leckt ihm die Hand.
Durchbruch Entwicklungsphasen in der Paarbeziehung
Noch vor wenigen Jahren wäre es mir nicht möglich gewesen, mich darüber herzlich zu freuen, wenn sich Felix an anderen Frauen erfreute und herumflirtete. Ich war ein gebranntes Kind. Alle meine Beziehungen zu Männern liefen schief. Sie gingen alle fremd. Allen voran mein Vater. Er hatte kein Interesse an mir. Dieses erste Beziehungsmuster zum anderen Geschlecht legte den Grundstein für spätere Beziehungen. Frauen, die diesen stets brennenden Phantomschmerz mangelnder Beantwortung durch den Vater in sich tragen, wiederholen später in ähnlicher Beziehungskonstellation die erste Enttäuschung. Ich wollte unbedingt einen Mann, der mich nicht betrügt und mir bis an mein Lebensende treu ist. Es war eine Illusion. Es hat mich durch sämtliche Waschmaschinenprogramme durchgeschleudert. Eine interessante Gesetzmässigkeit scheint dahingehend zu wirken, dass wir am Ende unseres Lebens über mehr Toleranz und Liebesfähigkeit verfügen sollen als zu Beginn. Eine Partnerschaft ist, wie alle anderen Stationen, ein Lehrgeld. Es ist nicht ihr Ziel, dass wir uns, einmal dort angekommen, in weich gepolsterte Sessel fläzen, um das Endlosglück einzuschlürfen. Das ganze Leben ist durchdrungen von Lernphasen, in denen Unterschiedliches gelernt werden muss, um die
angeeigneten Fähigkeiten für die Bewältigung der nächsten Phase einzubringen. Nicht immer gelingt es, den Knackpunkt zu erwischen, ihn zu verstehen und zur eigentlichen Essenz der gestellten Aufgabe durchzudringen. Wie auf jeder Wanderung kommen wir auch in inneren Prozessen in seelische Landschaftsbereiche, die besonders schön und erholsam sind und die uns verlockend zu einer Verschnaufpause einladen. Da kann es durchaus geschehen, dass wir uns niederlassen, uns der schönen Gegend erfreuen und uns am liebsten nicht mehr von der Stelle wegbewegen würden. Wir beginnen uns auf einem Rastplatz häuslich einzurichten und vergessen dabei, dass wir unterwegs sind und uns auf einer Wanderung befinden. Vielleicht denken wir irgendwann später wieder daran, rappeln uns auf, wollen aufbrechen und bemerken, dass es nicht einfach ist, den Weg wieder zu finden, der weiterführt, oder wir meinen erschreckt, gar den Anschluss verpasst zu haben. Die Phasen in der Paarbeziehung beinhalten ebenfalls Lektionen. Die Fallen sind reichhaltig ausgelegt, der Wunsch nach immerwährendem Glück macht begriffsstutzig und lernträge. Gerade aber in der Partnerschaft erleben wir ein hochsensibles, störanfälliges System, das sofort reagiert, wenn die Forderung nach Wachstum und Entwicklung nicht gestellt wird. Die Partnerbeziehung ist wie jeder lebendige Organismus darauf angewiesen, genährt und gepflegt zu werden, damit sie überhaupt leben kann. Jede Stagnation, jeder Versuch. alles beim alten zu lassen und möglichst keine Veränderungen zuzulassen, führt
zur Erstarrung und somit weg vom Leben. In einer Paarbeziehung ist die Versuchung gross, sich als feste Hälfte eines Ganzen zu sehen, die Hände in den Schoss zu legen und die Auseinandersetzung mit sich selbst einzustellen, denn schliesslich, so glauben nicht wenige, geht es um die Partnerschaft als Ganzes und nicht um ihre Teilbereiche. Wer den Blick ständig auf die Partnerschaft richtet, analysiert pausenlos das Verhalten des Partners/der Partnerin und vergisst dabei, sich selbst kritisch zu beobachten. Irgendwann müssen wir feststellen, dass die Partnerbeziehung nicht als von uns abgelöstes, eigenständiges System funktionieren kann, sondern aufs engste mit der Entwicklung der Beteiligten verknüpft ist. Wenn zwei Menschen zusammenfinden, die beide nicht über sich selbst nachdenken und ihre Verhaltensweisen nicht reflektieren, entsteht daraus nicht eine lebendige Beziehung, sondern ein starrres, in sich festgefahrenes System. Mit einem solchen Paar einige Stunden zu verbringen, hinterlässt den Wunsch, eher den eigenen Totenschein zu bestellen, als sich dem Leben zuwenden zu wollen. Kinder, auch Haustiere und Zimmerpflanzen, sind solchen Verhältnissen ungeschützt ausgeliefert. Wenn sich hingegen einer der beiden der Auseinandersetzung mit sich selbst stellt, bringt das unweigerlich wieder Bewegung in die Beziehung. Die Auseinandersetzung beginnt beim einzelnen und wird in die Beziehung eingebracht – und nicht umgekehrt. Es ist nicht möglich, mit sich selbst nichts zu tun haben zu wollen, um sich ausschliesslich auf die
Gemeinschaft zu konzentrieren. Was ich mir Gutes tue, das tue ich letztlich auch für die Partnerschaft. Wenn ich mich meiner Entwicklung stelle, mit mir im lebendigen Kontakt stehe, wird auch die Beziehung wichtige Impulse erhalten, was wiederum zur Entwicklung der Partnerschaft beitragen wird. Spätestens an dieser Stelle werden alle, die gelernt haben, sich selbst nicht »zu viel« Beachtung zu schenken, argumentieren, dass diese Haltung eine gefährliche sei und zu sehr bedenklichem Egoismus führe. Schliesslich gehe es in der Paarbeziehung doch um die Gemeinsamkeit, die Entwicklung müsse stets als Ganzes gesehen und das Individuelle zurückgesteckt werden. Es sei deshalb wichtig, dass sich beide Partner gleichermassen daran beteiligen. Dies ist ein grosser Irrtum. Beide Seiten liefern einzeln die bauliche Grundsubstanz, aus der eine lebendige Partnerschaft erwächst. Aus energielosem Material lässt sich nichts Energievolles zurechtzimmern. Zudem führt die Vorstellung, beide Partner müssten wie eineiige Zwillinge ihre Entwicklungsschritte synchron machen, zu einem weiteren unseligen Partnerschaftsmissstand. Da wird der eine Teil massiv unter Druck gesetzt, endlich auch etwas für die Beziehung zu tun, während der andere untätig darauf wartet und seine eigene Entwicklung aufschiebt. Mit Veränderung, Wachstum und Entwicklung muss sich jeder individuell auseinandersetzen, dies wird sich wiederum auf die Beziehung auswirken, ungeachtet dessen, ob sich auch der andere in einer Auseinandersetzung mit sich befindet oder nicht. Zudem ist es einfach eine
Anmassung ohnegleichen. Wie wollen wir von aussen beurteilen, was an innerer Arbeit vom Partner zu leisten ist! Entwicklungsschritte lassen sich nicht durch andere beurteilen, sondern können nur ausschliesslich selbst bewertet werden. Wanda beklagte sich oft, dass Ernst ein sehr einfaches Gemüt besitze. Er verzehre noch immer gedankenlos und frisch vergnügt Fleisch, während sie schon längst Vollvegetarierin geworden sei. Er besuche profane Kurse, gehe abends gerne Kartenspielen, während sie immerhin eine anspruchsvolle Ausbildung als Meditationslehrerin absolvierte. Wanda leitet aus diesen äusseren Fakten ab, dass sie in ihrer Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sei, im Gegensatz zu Ernst, der weder von Meditation noch von sonstigen spirituellen Tätigkeiten etwas wissen will. Er steht morgens um fünf auf, begrüsst jeden Morgen den Tag und die Sonne, und abends bedankt er sich. Das war's., sagt er und faltet die Hände, damit sie sich ausruhen können. Bis zum nächsten Tag. Er spricht mit Tieren und Pflanzen, er entschuldigt sich bei Bäumen, denen er einen Ast absägen muss, der ganzen Natur bringt er einen selbstverständlichen Respekt entgegen. Ohne grosse Worte. Einfach so, weil er gar nicht anders kann. Wer will da bewerten, wer von den beiden innerlich weiter gekommen ist? Eine Partnerschaft besteht aus zwei Menschen. Obwohl eine Beziehung sie miteinander verbindet, bleibt als Einzelwesen jeder für sich selbst
verantwortlich. Wir können nicht sagen: Jetzt, da wir ja ein Paar sind, wollen wir uns als Ganzes sehen. Der eine übernimmt die Verdauungsarbeit, der andere übernimmt die Entgiftungsarbeit der Leber. Wenn der eine zu hohe Cholesterinwerte hat und sich an eine Diät halten muss, wäre es doch ein ausgekochter Unsinn vom anderen, dessen Werte normal sind, zu erwarten, dass er/sie sich ebenfalls der Diät anschliesst. Jeder/jede ist für sich, seine körperliche und psychische Gesundheit, absolut selbst verantwortlich. Die Erwartung also, wenn ich mich mit einem Thema auseinandersetze, müsse der andere sich anschliessen, muss aufgegeben werden. Durch meine Entwicklung können sich Impulse für den anderen Partner ergeben. Wird er es für sich als wichtig erachten, kann er etwas davon aufnehmen, sich davon inspirieren lassen, wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Jede Phase, die wir in einer Beziehung als Individuum durchlaufen, können wir nur als Individuum bewältigen. Da es wohl nichts Verlockenderes gibt, als in einer Partnerschaft den anderen für das eigene Wohlbefinden verantwortlich zu machen, werden wir uns oft durch einige dunkle Tunnels durchrobben müssen, bis wir zum Durchbruch kommen, die Sicht klar wird und wir erkennen können, welche Aufgabe es zu bewältigen gilt.
Vom paradiesischen Einssein zur Erkenntnis: Ich bin
Die meisten erleben dieses Wunder: Wir treffen auf einen Menschen, wir verlieben uns und haben nur noch den einen Wunsch, uns nie mehr von ihm trennen zu müssen. Hans Jellouschek, ein erfahrener Paartherapeut, beschreibt fünf unterschiedliche Phasen in der Paarbeziehung, mit denen sich ein Paar auseinanderzusetzen hat. Dieser Entwicklungsprozess ist für den einzelnen eine grosse Herausforderung. Es werden vor allem drei typische Stationen deutlich, die individuell zu bewältigen sind. Diese Knotenpunkte können entweder aufgelöst werden und die eigene Entwicklung begünstigen oder unerlöst als Beziehungsgeist für Unruhe sorgen oder wie ein Einschlafmittel auf die Partnerschaft wirken, damit sie stagniert. Wie bereits beschrieben, wird in einer ersten Phase die Urerinnerung des Einsseins, des Sich-aufgehobenFühlens in etwas Ganzem geweckt, und ebenso wird die erste symbiotische Zeit, die wir mit der Mutter erlebten, wieder in Erinnerung gerufen. Es ist verständlich, dass wir möglichst lange in diesem Zustand des Aufgehobenseins verharren wollen, selbst wenn uns durchaus bewusst ist, dass wir diesen Zustand
nicht über längere Dauer aufrechterhalten können. Zugleich wird auch noch ein anderer, ein gegensätzlicher Impuls spürbar, der des WeitergehenWollens, des Nach-vorne-Drängens, des Frühlingshaftins-Leben-hinein-Spriessens. Früher oder später wird einer der beiden Verliebten das Bedürfnis verspüren, aus der Nähe zum anderen wieder auszubrechen, um seinen eigenen Impulsen mehr Raum zu geben. Somit gerät jener Teil, der lieber noch länger in symbiotischer Nähe zum anderen verblieben wäre, unweigerlich in eine schwierige Situation. Der Lernschritt heisst zu begreifen, dass der Partner mit dem Bedürfnis, etwas mehr Distanz zu halten, nicht etwa Böses und gegen den anderen/die andere Gerichtetes im Sinn hat, sondern lediglich seiner eigenen Entwicklung folgt. In dieser Phase sollte der Durchbruch zu der Erkenntnis erfolgen, dass eine Symbiose nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten ist. Sie ist dann förderlich, wenn sie dem natürlichen Rhythmus von Ein- und Ausatmen folgt. Sonst richtet sie sich gegen das Leben und ist letztlich für die Partnerschaft tödlich. Wir sollten auch wieder aus der Symbiose herausfinden und Distanz zum anderen einnehmen. Dies führt dazu, daß Eigenes wieder stärker in den Vordergrund gerät, Eigendrehungen erfolgen können, Autonomie gelebt wird und ein dem einzelnen gemässer Lebensplan entwickelt werden kann. Das Verharren in der Symbiose ist mit der Weigerung, sich als selbständiges und selbstverantwortliches Wesen zu erleben, gleichzusetzen und
führt zwangsläufig dazu, dass wir uns den anderen einverleiben und so tun, als sei er ein Teil von uns und gehöre uns. Das hat für die Beziehung verhängnisvolle Folgen. Sobald ich den anderen nicht mehr als ein anderes Individuum anerkenne, beginne ich über ihn zu verfügen, wie ich es über meine eigenen Belange zu tun gewöhnt bin. Ich gehe ohne anzuklopfen in die Innenräume des Partners, stelle alles um, was mir nicht gefällt, oder unternehme gar den Versuch, Dinge, die ich als störend empfinde, ganz zu eliminieren. Es ist zu vergleichen mit dem Besuch in einer fremden Wohnung. Nur mit dem Unterschied, dass wir da nicht einfach eintreten und ausrufen: »Was ist das für ein scheussliches Bild, das hänge ich jetzt gleich mal weg, und auch der Teppich zeugt von schlechtem Geschmack, ich rolle ihn zusammen!« Normalerweise gehen wir in einer entsprechenden Situation sehr viel sorgfältiger und respektvoller um. Alles, was uns nicht gefällt, nehmen wir einfach zur Kenntnis. Schliesslich ist es nicht unsere Wohnung. Wenn wir in die Falle geraten, uns den Partner einzuverleiben, gebärden wir uns in den Innenräumen des Partners, als ob sie unsere eigene Wohnung wären. Dieser Anspruch wird vom Partner als Mangel an Respekt und Wertschätzung empfunden. Und damit hat die Entwertungsspirale ihren Anfang genommen, die die Partnerbeziehung allmählich zersetzt, und wir landen in der nächsten Station.
Von der Vertreibung aus dem Paradies zur Selbstverantwortung im eigenen Garten Während wir in der ersten Zeit nur die sogenannten guten Eigenschaften des Partners sehen, landen wir in einer weiteren Phase in jener Perspektive, die das Licht vor allem auf die unliebsameren Bereiche wirft. Wir geraten in eine Ernüchterung und halten unsere jetzigen Wahrnehmungen für die einzig gültige Realität. Wir beginnen Eigenschaften und Verhaltensweisen des Partners aus einer neuen Sicht negativ zu sehen und machen ihm Vorwürfe. Interessant vor allem, dass wir nun dem Partner genau das vorwerfen, was uns zuerst angezogen hat. So wird sich eine Frau, die in erster Linie an das Wohl anderer denkt und gewohnt ist, eigene Wünsche in den Hintergrund zu stellen, besonders durch die autonome Art des Partners angezogen fühlen, wie er seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und dafür sorgt, dass sie befriedigt werden. Er wiederum wird vor allem das einfühlsame, gefühlsbezogene Wesen seiner Frau schätzen. Der eine hat das, was dem anderen fehlt. Die Faszination der Ergänzung und die Möglichkeit, vom anderen das zu lernen, was einem fehlt, funktioniert nur, solange wir uns den Partner nicht einverleiben. Sobald wir ihn als zu uns gehörend erleben, fallen wir aus der Ich-duSpannung heraus und lassen uns an einem Pol nieder, der uns nur eine einzige Perspektive gestattet. Um aber einen Menschen zu erfassen, genügt es nicht, ihn nur einpolig zu betrachten. Die menschliche Psyche ist mit einem Haus zu vergleichen, in dem es verschiedene
Stockwerke mit vielen Zimmern gibt. Wenn wir uns verlieben, sehen wir nur das schönste und das sonnigste Zimmer, es ist auch in uns selbst jenes, das wir als erstes dem anderen präsentieren. Weil wir uns aber nicht stets im gleichen Raum aufhalten können, lernen wir bereits nach kurzer Zeit auch noch andere kennen, die uns vielleicht nicht besonders gefallen. Wenn es uns gelingt, auf Distanz zu gehen und nicht an der Symbiose festzuhalten, werden wir etwas Wesentliches lernen können, was uns ganz neue Handlungsspielräume sowohl in der Beziehung als auch für die eigene Lebensgestaltung erschliesst. Die Beurteilung eines Menschen – auch des Partners! – führt immer zu einem Fehlurteil, wenn wir nur einen einzelnen Raum begutachten. Bei der Beurteilung eines Hauses ist es ganz klar, dass nicht alle Zimmer gegen Süden gerichtet sein können. In der Partnerschaft bedeutet dies, dass es im Partner, in der Partnerin Räume gibt, die mir weniger gefallen, einige liegen im Schatten, vielleicht gibt es sogar einige, die ich nicht betreten möchte, weil sie mich abstossen, und mit grösster Wahrscheinlichkeit gibt es Nischen und Ecken in diesem Haus, die ich niemals kennenlernen werde und die der Partner für sich allein beanspruchen und bewohnen möchte. In Beziehungskonstellationen gibt es oft gegensätzliche Bedürfnisse, was das Offenlegen geheimster Ecken voreinander betrifft. So gibt es Menschen, denen ausgesprochen wohl ist, wenn nichts Trennendes
zwischen ihnen und ihren Partnern/ Partnerinnen ist. Sie erwarten und bewerten es als Liebesbeweis, wenn der andere keine Geheimnisse für sich behält. Nun gibt es aber viele, die für sich einen Ort brauchen, wo sie ganz für sich allein sind, über den nur sie allein frei verfügen, wo sich niemand einmischt oder sogar nicht einmal davon Kenntnis hat. Sie benötigen diesen Schonraum wie die Luft zum Atmen, und jeder Versuch, da einzudringen, wird als ein schwerer Eingriff empfunden. Besonders Menschen, für die Distanzhalten eine wichtige Voraussetzung ist, um sich überhaupt auf andere einzulassen, erleben das Offenlegen sämtlicher Interessen und Lebensbereiche als Angriff gegen Leib und Leben. In dieser Phase werden schwierige Lektionen erteilt, die manchen unbeschreiblich schwerfallen. Erst nach mehreren Engpässen kommt man zu der Erkenntnis, dass jeder ein eigenständiger Mensch ist und bleibt – auch in der Partnerschaft. Jeder ist für sich und sein Glück selbst verantwortlich. Wir werden also ganz auf uns selbst zurückgeworfen. Obwohl jeder Versuch scheitert, den anderen verändern zu wollen statt sich selbst und die Verantwortung für das eigene Glück an den Partner zu delegieren, wollen wir nur mühsam lernen. Die Gefahr ist gross, sich in Spielen zu verirren, in denen alle Spieler zu Verlierern werden.
Vom Ende einer Buchführung Wenn Forderungen und Erwartungen nicht erfüllt werden, ist das immer mit einer Kränkung verbunden. Und weil wir üblicherweise in akuten Auseinandersetzungen in unseren eigenen Verletzungen verfangen sind, gelingt es uns kaum, Verständnis für die Situation des Partners/der Partnerin aufzubringen. Wir schaukeln uns gegenseitig mit Kränkungen hoch und sehen nur noch eine Lösung: mit einer gezielten Revanche den anderen zu verletzen und zu entwerten. Aus einem solchen Teufelskreis findet man schwer wieder heraus. Um diesem Kreislauf zu entrinnen, braucht es vor allem eine Rückbesinnung auf sich selbst. Der Partner muss einfach mal ausgeblendet werden, damit wir die Verantwortung wieder bei uns selbst ansiedeln können. Alle Lösungsversuche können nur in eine Richtung zielen, nämlich zu uns selbst hin. Und da können wir uns die zentralen Fragen stellen: Wie gehe ich mit Erwartungen um, die mein Partner nicht erfüllt? Wie gehe ich damit um, dass mein Partner sich nicht so verhält, wie ich mir das vorgestellt habe? Die Fragen werden also ganz aus dem Verantwortungsbereich der Partnerinnen herausgelöst, er wird als mögliche Lösungsinstanz ganz entlassen. Obwohl es durchaus verständlich ist, dass es vielen sehr viel näher liegt, die Forderung nach Veränderung an den/die Partnerin zu delegieren, als sie an sich selbst zu stellen. Der Weg zu sich selbst scheint eben doch ziemlich beschwerlich zu sein.
Der Durchbruch liegt in der zentralen Erkenntnis, dass ausschliesslich ich selbst es bin, der/die sich verändern kann. Über die Veränderungsmöglichkeiten meines Partners bin ich weder befugt zu urteilen, noch sollte ich gezielte Forderungen an ihn stellen. Die Partnerschaft bietet die einzigartige Möglichkeit, gerade dann, wenn es schwierig wird und der Partner/ die Partnerin sämtliche Ansprüche strikt zurückweist, auf mich selbst zurückgeworfen zu werden, um jene Eigenschaften zu entwickeln, die mit Liebe gleichgesetzt sind: Toleranz, Akzeptanz, Wertschätzung. Das sind grosse Töne. In meine heilige Morgenstille hämmert der Bass aus Felix' Stereoanlage. Obwohl ich es ihm schon hundertmal gesagt habe, wie sehr es mich nervt, scheint er es nicht begreifen zu wollen. Ich habe immer unter lauten Männern gelitten. Wie lange wohl noch?
III. Von brüchigen Partnerschaften zu stabilen Verhältnissen
Bilanz
Realitätsprüfung Wenn wir uns ein Haus wünschen, pinselt unsere Phantasie blitzschnell das Traummodell. Vielleicht träumten wir einst in jungen Jahren von einem Penthouse, einer italienischen Villa am Mittelmeer oder einem Schloss in Irland. Und dieser Traum stand wie ein Fixstern über uns und bewirkte, dass wir die Lehre, das Studium oder sonst eine schwierige Ausbildungssituation durchstanden und uns später dann bemühten, uns beruflich allmählich von Stufe zu Stufe hochzuarbeiten. Die Vision verlieh uns Kraft, die Zukunftsperspektive liess uns in eine bestimmte Richtung gehen. Wenn wir ein Haus bauen, befassen wir uns zunächst sowohl mit optischen als auch praktischen, statischen und bausubstanzlichen Belangen. Es findet ein sorgfältiges Abwägen und Prüfen der Vorstellungen einerseits und der Gegebenheiten andererseits statt, um eine Entscheidung treffen zu können, die beide Aspekte berücksichtigt. Bei der Umsetzung unserer Wünsche wird der Realität Grenzen gesetzt. Wir sind gezwungen, die spezielle Situation des Baugrundstücks und die statischen Erfordernisse zu berücksichtigen sowie unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Gut, zu einem Schloss hat es letztlich
nicht gereicht, aber immerhin zu einer schönen Eigentumswohnung mit herrlichem Blick auf den Stadtpark. Auch mit der Villa wollte es nicht gelingen, aber ein schönes Häuschen im Grünen ist entstanden. Der Traum vom grossen, prächtigen Haus ist ein archaisches Bild im Menschen, das die seelische Entwicklungsphantasie dahingehend stimuliert, möglichst viele grosse Räume in seinem Innern zu erschliessen und zu bewohnen. Wir brauchen grosse Träume, und sie können eigentlich nicht gross genug sein, damit sie unsere ganze Energie in Bewegung bringen und wir uns auf die Socken machen: Ein indianisches Sprichwort rät: »Träum deine Träume gross genug; sie werden eh kleiner, bis sie auf der Erde angekommen sind.« Wenn wir versuchen, grosse Träume umzusetzen, korrigiert die Realität, und sie schrumpfen auf das Machbare zusammen. Setzen wir sie bereits zu bescheiden und zu klein an, werden sie niemals die erforderliche Stosskraft in uns auslösen. Im Schrumpfungsprozess der Realisierung bleibt von kleinen Wünschen überhaupt nichts mehr übrig. Die meisten Menschen, erstaunlicherweise auch jene, die sich selbst als eher nüchtern bezeichnen, tragen einen romantischen Beziehungstraum in sich, in dem Liebe und bei vielen ebenso die Treue im Zentrum der Partnerschaft stehen. Dieser Traum nährt sich, wie wir gesehen haben, aus Erinnerungen an die einstige Beheimatung. Und auch der tiefe Wunsch nach Vereinigung von Mann und Frau ist als Ursehnsucht zu
verstehen, Männliches und Weibliches, alles, was einst in einem Umfassenden und Ganzen zusammengehörte, wieder zu vereinen. Es ist die Kraft dieser Phantasie, die das manchmal unerhört grosse Durchhaltevermögen schwierigster Durststrecken einer Partnerschaft ankurbelt. Bei der Umsetzung unserer Beziehungsträume werden wir mit einer Realität konfrontiert, die der Romantik nicht allzuviel Platz übriglässt. Dennoch sind viele nicht bereit, die faktischen Gegebenheiten zu akzeptieren, und weigern sich, eine partnerschaftliche Statikberechnung, eine Analyse der Bausubstanz sowie die Ermittlung wirtschaftlicher Faktoren vorzunehmen. Oft gleichen wir wohl eher absolut verrückten Bauunternehmerinnen, die versuchen, ein Haus auf Sand zu bauen. Wir halten eisern am Wunschbild fest, auch wenn alles dagegen spricht. Wie wäre es sonst möglich, das Phänomen zu erklären, dass wir beispielsweise das Wunschbild eines treuen Ehegefährten über einen Mann stülpen, der keinen Hehl aus seiner multiplen Neigung zum anderen Geschlecht macht? Eine 35jährige Apothekerin wollte sich umbringen. Sie ertrug es nicht mehr, dass ihr Mann sie laufend betrog. Er hatte sie schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hintergangen und machte zuerst einen kurzen Abstecher ins Bett ihrer älteren Schwester dann ihrer Freundinnen und anderer Frauen. Dennoch gelang es ihr, sich das innig gewünsche Bild vom Treuliebenden zu bewahren und eisern daran festzuhalten. Nach zehn Jahren drohte sich die Illusion allmählich zu verflüchtigen. Der Treugemahl genoss seine
Liebschaften vor ihren Augen. Auch dann zog sie es vor, lieber selbst zugrunde zu gehen, als ihre Idee sterben zu lassen. Gerade in bezug auf Treue wollen viele die Realität nicht sehen. Intellektuelle hirnakrobatische Endlosverrenkungen sollen die unumstösslichen Fakten etwas mildern. Nächtelang im Freundeskreis darüber diskutieren, was unter Treue zu verstehen sei. Ob körperlich. Oder seelisch. Das sei eben der grosse Unterschied, und wo denn der seelische Treuebruch aufhöre und der körperliche beginne. Bei diesen Fragen gibt es viel zu klären. Und während wir uns hektisch in begriffliche Kleinarbeit vertiefen, funkt es zwischen der besten Freundin und dem Ehemann heftig, und sie werden wohl viele Nächte entweder voneinander träumen oder versuchen, sich irgendwo ein heimliches Stelldichein zu geben. Vielleicht fühlt sich der eine oder die andere bereits beim Träumen schlecht und hat das Gefühl, untreu zu sein. Vielleicht braucht es auch eine eindeutige sexuelle Aktivität, um dieses subjektive Gefühl hervorzurufen. Es gibt immer wieder Frauen, die zusammenbrechen, wenn sie bei ihrem Partner »zufällig« unter den hintersten Hängeregistermappen Sexheftchen entdecken. »Mein Mann betrügt mich mit einem dieser billigen pummeligen Papierflittchen«, schluchzte ein 21jähriges busenloses, bildhübsches Model, Konfektionsgrösse 36. Sie wollte sich unverzüglich von ihm trennen. Sämtliche Beteuerungen seinerseits, dass er ihr doch absolut treu sei, vermochten sie kaum zu beruhigen. Treue scheint ein
sehr subjektiver Begriff zu sein. Jeder Versuch der Differenzierung, um eine möglichst allgemeingültige Bewertung vorzunehmen, scheitert und ist wohl eher als ein Versuch anzusehen, der Realität nicht ins Auge zu blicken. Die meisten haben irgendwann Phantasien und Wünsche, mit einer anderen Person sexuell zu verkehren. 30,5 Prozent Männer und 15,5 Prozent Frauen phantasieren oft ihre sexuellen Wünsche mit anderen Personen, 45,5 Prozent Männer und 38,5 Prozent Frauen tun es gelegentlich und nur 5 Prozent Männer haben keinerlei solche Phantasien. Ich denke nicht, dass sie alle einen psychischen Defekt haben, diese Phantasien scheinen vielmehr so selbstverständlich zum Leben zu gehören wie der Tod, der ja meist auch eher als Spielverderber gefürchtet ist und lieber aus dem Bewusstsein ausgeblendet wird. Sich sexuell zu betätigen ist, wie Geburt und Tod, eine menschliche Grundvariable. Bei den einen sitzt die Bereitschaft zu geschlechtlicher Aktivität stets sprungbereit auf der Lauer. es genügt die Ahnung eines Beins., ein knisternder Faltenwurf oder » (...) ein Duft kommt mit. Kaum Duft. Es ist nur eine süsse Vorwölbung der Luft gegen mein Gehirn (...) «. Oft ist nicht einmal ein äusserer Impuls nötig, es genügt der Anflug einer Erinnerung, ein Gedanke, und alles drängt schrittwärts. Obwohl sich rund 25 Prozent der Männer und Frauen ihr Bildmaterial für ihr Privatvideo mit Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis sowie aus dem näheren Lebensumfeld zusammenstellen, um
sich sexuell zu stimulieren, wird über diese Tatsache lieber hinweggesehen. 31 Prozent der Frauen arbeiten mit einem speziell entworfenen Phantasiebild: »Er ist immer für mich da. Ich nenne ihn Johannes. Ich weiss genau, wie er aussieht, eine Mischung zwischen Don Johnsen und Gary Cooper. Wenn ich mit meinem Partner im Bett liege, muss ich nur an ihn denken, und schon funktioniert bei mir die Sexualität wie auf Knopfdruck«, berichtete eine jung verheiratete Frau. Aber auch Männer, 18,5 Prozent, halten sich in ihrer Phantasie eine Traumfrau auf Lager, um mit ihr das erträumte Sexualleben zu geniessen. Ein gigantisches Fremdgehpotential lagert in Hüften und Lenden. Jederzeit könnte es aktiviert werden. Es erinnert an das Phänomen der Weizenkeimlinge, die wie winzige tickende Zeitbömbchen über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in Säcken schlummern. Nichts bewegt sich. Nimmt man auch nur einen dieser Winzlinge heraus, setzt ihn in die Erde und begiesst ihn, dann treibt bald ein Halm zum Himmel und bringt Korn zum Reifen. Die Sexualität ist stets in pulsierender Wachstumsbereitschaft. Den einen gelingt es, den Vorratssack verschlossen zu halten, ihn nur gelegentlich zu öffnen und einige wenige Keimlinge herauszulassen, bei anderen hingegen springen sie wie Flöhe unkontrolliert nach rechts, nach links und überallhin. Zweifellos ist das Zulassen dieser Aktivität eine ständige Möglichkeit, es für selbstregulierende Zwecke
einzusetzen. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn es für viele das Nächstliegende ist, etwaige innerbetriebliche Unebenheiten mit sexuellen Aktivitäten ausgleichen zu wollen. Wenn der psychisch-seelische Haushalt in Unordnung zu geraten droht, sorgen wir sofort für einen Ausgleich, wie etwa eine 45jährige Lehrerin und Mutter von drei Kindern, die ebenfalls mit einem Lehrer verheiratet war. Es gab besondere Stresszeiten, da fühlte sie sich in tausend Pflichten derart eingespannt, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch Luft zum Atmen zu haben. Die einzige Möglichkeit, wieder durchzuatmen und zu einer Verschnaufpause zu kommen, bestand darin, regelmässig fremdzugehen. »Hinterher fühle ich mich ausgeruht und wie neu geboren.« Für viele steht diese Art der Selbstregulierung nicht zur Diskussion. 15 Prozent Männer und Frauen haben eine feste moralische Überzeugung, dass Treue etwas Wichtiges für eine Partnerschaft ist. 18,5 Prozent Frauen und 22 Prozent Männer gehen nicht fremd, weil sie ihre Partnerinnen nicht verletzen wollen. 11 Prozent Frauen und 13 Prozent Männer haben Angst, ihre eigene Beziehung dadurch zu gefährden. Und nur 5 Prozent Frauen und 2 Prozent Männer haben Angst vor Aids. Eine andere unerbittliche Tatsache muss ebenfalls mit einbezogen werden, womit sich die meisten schwertun. Das Erleben sexueller Lust und Freude nimmt mit dem Älterwerden bei den meisten Menschen mehr oder weniger ab. Das gegenseitige Begehren geht im Laufe
des Zusammenlebens zurück. Obwohl sich viele Paare grösste Mühe geben, diesen Bereich intakt zu erhalten, und ihnen nichts zu mühsam ist, um ein Verflachen zu verhindern, geschieht es dennoch. Es gibt Paare, die sich mit anderen zusammentun, um mittels Partnerinnenaustausch den erlahmten Eifer aufzufrischen. Sie lesen Anleitungsbücher für sexuelle Praktiken, stimulieren sich zusätzlich künstlich auf jede nur erdenkliche Art und tun alles, um das Gespenst der Eintönigkeit zu verscheuchen. Es findet ein ähnlicher Wettlauf gegen die Zeit wie in der Schönheitschirurgie und dem Fitnessfirlefanz statt, um die Gesetzmässigkeit der Vergänglichkeit auszutricksen. Weshalb wollen wir nicht wahrhaben, dass alles seine Zeit hat? Weshalb fällt es uns so schwer, die Lektionen zu akzeptieren, die das Leben für uns bereithält? Die Schöpfungsintelligenz lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen, sie lässt sich weder täuschen noch manipulieren. Die Sexualität hat einmal den Zweck der Arterhaltung durch Reproduktion, zum anderen nährt sie die Sehnsucht, über den/die Partnerin die Rückbindung zum Herkunftsort zu suchen. Um dies nicht nur sicherzustellen, sondern uns auch noch schmackhaft zu machen, haben sich wohl Götter und Göttinnen beraten und entschieden, die .Ausübung sexueller Aktivitäten mit allergrösstem Lustempfinden und umfassender Freude zu belohnen. Damit jeder Mensch für seine geleistete Pflichterfüllung eine angemessene Entschädigung erhält.
Interessanterweise erleben rund ein Drittel der Männer und Frauen im Laufe ihrer Beziehung ein allmähliches Nachlassen der sexuellen Anziehung und machen den Alltagstrott dafür verantwortlich. 9,5 Prozent Frauen und 7 Prozent Männer empfinden nach der Geburt des ersten Kindes eine deutliche sexuelle Lusteinbusse. Nach meinen Recherchen hat das auf der Seite der Frau etwas damit zu tun, dass sie sich durch und durch liebend erlebt und deshalb weniger Lust dazu verspürt, »Liebe zu machen«. Beim Mann kann dieser Aspekt ebenso mitspielen, oft aber ist es lediglich eine Reaktion auf das Verhalten der Frau, die sich sexuell etwas zurückzieht. Den Gründen für das allmähliche Nachlassen sexueller Anziehung in der Partnerschaft nachjagen zu wollen, scheint mir genauso überflüssig zu sein, wie sich die Frage zu stellen, weshalb es nach den Sommermonaten wieder merklich kühler wird. Nicht nur das menschliche Leben ist dem Zeitfaktor unterworfen, sondern auch partnerschaftliche Beziehungen sind es. Die Vorstellung von immerwährender Leidenschaft und sexueller Anziehung ist nur schwer aufrechtzuerhalten und zielt haarscharf an der Realisierbarkeit vorbei. Wir rechnen bei einem neu gebauten Haus damit, dass wir die Läden nach einigen Jahren nachstreichen müssen. Küchengeräten und Haushaltsmaschinen räumt man eine realistische Lebensdauer von rund zehn Jahren ein. Nur wenn es um die Partnerschaft geht, haben wir unrealistische Vorstellungen. Wer hat schon
ein Paar, beide über siebzig oder achtzig Jahre alt, von ihrer überaus glücklichen und leidenschaftlichen Sexualität erzählen hören? Zweifellos ist es möglich, dass auch Paare im fortgeschrittenen Alter eine beglückende Sexualität miteinander erleben. Die Schwerpunkte gemeinsamer sinnlicher Freude sollten indessen über die Sexualität hinausgehen und die Ebenen der Begegnung erweitern. Paare, die bis in die reifen Jahre zusammenbleiben, sollten vor allem Freunde werden. Denn die Freundesliebe ist die grösste Kraft, die die Menschen auf Dauer miteinander verbindet. Das Thema Fremdgehen, in welcher Form auch immer, ist beim Bau einer stabilen Partnerschaft auf alle Fälle ein Faktor, der nicht aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden darf. Wenn wir uns ins Auto setzen, rechnen wir zwar nicht damit, dass wir in einen Unfall verwickelt werden, führen aber diese Möglichkeit mehr oder weniger immer in unseren Gedanken mit. Trotzdem machen wir uns auf die Reise und gehen dieses Risiko ein. Sich auf eine Partnerschaft einzulassen bedeutet schliesslich, sich wirklich allen Risiken, die damit verbunden sind, zu stellen und sich mit den Schwierigkeiten, die eventuell eintreten könnten, bereitwillig auseinanderzusetzen. Der Fremdgeh-Faktor ist grundsätzlich als eine mögliche Beziehungsgefährdung mit einzuplanen. Vor allem ist es absolut töricht, die eigene Partnerschaft davon ausschliessen zu wollen.
Vom Sinn selbstregulierender Maßnahmen
Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, bezeichnen das Aushalten dieser Situation als das Schwierigste überhaupt, nicht zu vergleichen damit, wenn der Lebensgefährte/die Lebensgefährtin stirbt. Den wenigsten gelingt es, sich noch während der akuten Kränkungsphase mit theoretischen Überlegungen auseinanderzusetzen und ihre Position zu reflektieren. Raina ist eine intelligente und kluge Frau. Es war ihr aber nicht möglich, sich mit der Liebschaft ihres Mannes auf eine Art und Weise zu befassen, die ihr mehr Einblick in ihr eigenes Wesen erschlossen hätte. »Dort, wo einst das Hirn in meinem Kopf logierte, hatten sich hundert zankende Gockel einquartiert. Hahnenkampf rund um die Uhr. Feuerhagel. Blut im Mund.« Jetzt, im nachhinein, beginnt sie allmählich die regulierende Funktion zu begreifen, die hinter der Affäre Wanda/ Hubertus stand. »Wahrscheinlich ist es zu spät«, meint Raina lakonisch. »Falls ich mich jemals wieder mit Hubertus zusammenraufe, wartet noch eine Freiheitsstrafe wegen Brandstiftung auf mich. Bis ich wieder auf freiem Fuss bin, hat sich längst Moos auf unserer Ehe angesetzt.« Eines aber ist ihr klargeworden: Hubertus kämpfte um sein Leben, indem er fremdging. »Kein böser Wille steht dahinter. Wer fremdgeht, reguliert ein Defizit,
gleicht einen Mangel aus. Das habe ich kapiert.« Es gibt viele Möglichkeiten der Selbstregulierung, und wir wählen jene, die für uns praktikabel sind. Raina hatte ihrerseits, längst bevor sie etwas von der Affäre zwischen Wanda und Hubertus wusste, versucht, ihr Wohlgefühl einigermassen zu regulieren. In einem schier unüberwindlichen Zwang kaufte sie Unterwäsche. Vieles war noch nicht einmal ausgepackt, sie hätte damit einen ganzen Damenturnverein einkleiden können. Die vollen Einkaufstüten verstaute sie in einem Mottenschrank. Unterwäsche zu kaufen gab ihr ein Gefühl von Luxus, sie wollte sich selbst verwöhnen. Zudem machte ihr in der letzten Zeit ihr Gewicht zu schaffen. Obwohl sie sich mit allen nur möglichen Diäten herumschlug, nahm sie unentwegt zu. »Ich habe mich sehr vernachlässigt, habe nicht dafür gesorgt, dass ich mich in meiner Haut wohl fühlte, da hat sich eben eine andere Intelligenz eingeschaltet und zu ihr gesagt: Komm, kauf dir was Schönes und iss, so oft du kannst.« So gelang es ihr endlich, sich dem Gefühl des Unwohlseins, der Unbehaglichkeit nicht auszusetzen, sondern ihm zu entrinnen. Hier bestimmte sie selbst. Die Nebenwirkung von Kaufzwang und Übergewicht schien das kleinere Übel zu sein und wurde von ihrer »Unterwasserzentrale« im Kauf genommen. Die Möglichkeiten, sich innerbetrieblich selbst zu regulieren, einen Druckausgleich zwischen Wohl- und Unwohlgefühl herzustellen, sind vielfältig. Die einen müssen sich drei Stunden oder noch länger pro Tag vom Fernsehkasten beflimmern lassen, um sich das
Gefühl der Sinn- und Erlebnislosigkeit, der inneren Leere und der Langeweile vom Leib zu halten. Die Nebenwirkung, viel unnützes Daten- und Bildmaterial in sich hineinzustopfen und herumzuschleppen, ohne über etwas fundiert informiert zu sein, und einen grossen Teil ihres Lebens in einen Kasten zu starren, erscheint weniger schlimm, als sich dem Gefühl auszusetzen, das Leben zu verpassen. Andere müssen kaufen. Männer kaufen. Frauen kaufen. Viel. Und oft völlig überflüssige Dinge. Männer springen eher auf technische und elektronische Produkte an, auf Stereoanlagen, Computer, Video- und Fotoapparate sowie auf Fachzeitschriften aller Art, Frauen auf Kleider, Schuhe und Kosmetik. Ein 42jähriger Unternehmer erzählte, er besitze mindestens achtzig bis hundert Handbücher für Computerprogramme. Die meisten ruhen noch in der verschweissten Plastikverpackung. Diese Tatsache hält ihn nicht davon ab, sich ständig über Neuerscheinungen zu informieren und möglichst viele zu kaufen. Die meisten Frauen besitzen viel zu viele Kleider. (Ich weiss, wovon ich spreche!) Kommen noch Gewichtsprobleme dazu, platzen die Kleiderschränke aus allen Fugen, schliesslich passt oft mehr als die Hälfte nicht mehr. Der finanzielle Aufwand und die Scham in Anbetracht einer übermässigen Materialansammlung scheinen dennoch das kleinere Übel zu sein im Vergleich zu dem schrecklichen Gefühl, im Leben grundsätzlich benachteiligt zu sein und mit leeren Händen dazustehen.
Raina und Hubertus verfügten auch als Paar über genügend selbstregulierende Ressourcen. Mit ihrem grossen Engagement gelang es ihnen, das Tagungshaus zum Erfolg zu führen, was ihnen von allen Seiten viel Anerkennung einbrachte und sie für ihre Beziehungsdefizite entschädigte. Wenigstens vorübergehend. Wer einen Fremdgänger/eine Fremdgängerin als Lebensgefährtin hat, wird irgendwann resigniert feststellen müssen, dass in dieses selbstregulierende System des Partners/der Partnerin nicht einzugreifen ist. Es läuft wie von selbst. Eine Einflussnahme durch aussenstehende Personen ist absolut nicht möglich. Und jeder Versuch, dem Beenden ein wenig nachzuhelfen, wie etwa mit neuer Reizwäsche aufzukreuzen und sich verführerisch hinzudrapieren, um den Abtrünnigen wieder zurückzugewinnen, kann nur peinlich wirken. Diese Tatsache ist vor allem für jene Menschen beinahe unerträglich, deren Wunsch es ist, stets möglichst nahe und symbiotisch mit dem Partner/der Partnerin verbunden zu sein und dem anderen/der anderen wenig eigene Impulse für seine Lebensgestaltung zuzugestehen. Obwohl diese Anspruchshaltung oft von einem sehr bescheidenen Auftreten überdeckt ist, wird das Leibeigenensyndrom durch den kommunikativen Umgang schnell hörbar. Solche Menschen äussern sich erstaunlich oft über das, was für den/die Partnerin wichtig, richtig und gesund ist, was er/sie zu tun und vor allem zu lassen hat. Sie machen vor nichts halt. Sie verfügen über ihren Besitz und fällen Entscheidungen über ihn/sie wie über ein Grundstück.
Wer alle Seiten, alle Stadien eines Seitensprungs kennengelernt hat, weiss, dass es ein steiniger Weg mit Fallen und Abgründen, Sackgassen und manchmal kaum zu bezwingenden Hürden ist. An der Seite eines/einer Seitenspringerin einigermassen unbeschadet zu überleben, erfordert ein hohes Mass an Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die verschiedenen Stationen führen durch die gesamte Gefühlspalette menschlichen Leides. Der Versuch, davon möglichst verschont zu bleiben, muss scheitern. Statt einen immensen Kraftaufwand zu betreiben und dagegen anzukämpfen, könnten wir uns auf die Schwierigkeiten einlassen und mit jeder Lektion, die wir begriffen haben, uns selbst näherkommen.
Überlebenskompaß für »Betrogene«
Den Partner loslassen und sich selbst finden
Bei den verschiedenen Stationen der Bewältigung einer Liebesaffäre des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin lernen wir die extremsten Gefühlsbereiche in uns kennen. Wir durchleben die unterschiedlichsten
seelenlandschaftlichen Verhältnisse, wie öde Wüsten, sumpfige Moorgebiete, auftauende Gletscher und eventuell gelegentlich gar ein sekundenschnelles Aufblinken frühlingssatter Wiesen. Es ist eine einzigartige Möglichkeit, umfassend Einblick in die Vielfalt menschlichen Fühlens und Erlebens zu gewinnen und die Situation der menschlichen Seele zu begreifen und zu lernen, nämlich, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Stecken wir mitten in diesem Prozess, werden wir von derartigen Überlegungen wohl nicht sehr begeistert sein, fordert doch das nackte Überleben unsere ganze Kraft. Auch in Phasen, in denen es wieder etwas ruhiger wird, können viele kaum zur Ruhe kommen. Wir kauen pausenlos an unverdauten Fragen herum, wie zum Beispiel, weshalb ausgerechnet wir das schwere Los eines/einer fremdspringenden Partners/Partnerin zu tragen haben. Wer sich in dieser Gedankenspirale verfängt, findet schlecht wieder heraus. Es gibt darauf keine Antwort. Auch mit psychologischen Erklärungen einer Ursache nachzuforschen, zeigt zwar Zusammenhänge auf, bringt aber meist für das direkte Erleben keinerlei Erleichterung. Im Gegenteil, wir verfangen uns in tausenderlei Begründungen, psychologischen Deutungen und Analysen, angefangen bei der lückenlosen Anamnese bis zur gezielten Traumaforschung des/der fremdspringenden Partners/Partnerin. Enttäuscht stellen wir fest, dass all dieses Wissen nicht dazu beiträgt, den unerträglichen
Schmerz über die Untreue des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin zu verringern. Die Beschäftigung mit der Psychologie des Partners/ der Partnerin ist eine Sackgasse. Sie führt uns weit von uns weg. Es gibt nur eines, um da wieder herauszukommen: umkehren. Es ist zu vergleichen mit dieser kleinen buddhistischen Geschichte: Ein Mann wurde von einem giftigen Pfeil getroffen. Er rennt sofort in die Richtung, woher der Pfeil kam, um herauszufinden, wer es auf sein Leben abgesehen hatte. Ein buddhistischer Mönch rät ihm, als allererstes den Pfeil schnell herauszuziehen und nicht noch lange erforschen zu wollen, woher das Geschoss abgefeuert wurde und wer dafür verantwortlich ist. Wenn der/die PartnerIn fremdgeht, sind wir zutiefst verletzt. Der erlebte Verrat breitet sich wie ein schleichendes Gift in uns aus. Wenn wir zu viel Zeit verlieren und uns mit Fragen und Begründungen herumschlagen, wird das Gift den ganzen Organismus schädigen. Wir dürfen uns deshalb nur eine einzige Frage stellen: Was kann ich anstellen, damit die giftige Substanz erst gar nicht in den Kreislauf eindringt? Deshalb müssen wir den Pfeil sofort herausziehen. Dies erfordert den klaren Entschluss, für sich und das eigene Wohlbefinden Verantwortung zu übernehmen. Viele wollen genau diesen Schritt in die Selbstverantwortung nicht tun. Sie weigern sich strikt, für das eigene Wohlbefinden selbst zu sorgen. Sie binden sich freiwillig wie ein Automaskottchen am Rückspiegel des Partners/der Partnerin an. Sie pochen
darauf, dass die Partnerschaft ein einziger, zusammengehörender Organismus sei, den die Lebensgefährten in der Rolle des Kapitäns verpflichten und somit für alles verantwortlich machen. Dadurch bleiben sie auf Gedeih und Verderb vom anderen abhängig. Wenn es uns gelingt, mit dem Partner gemeinsam in Ehetherapie zu gehen, ist das wunderbar, und wir können uns über diese Chance freuen. Die Ehetherapie hilft, die ineinander verwobenen Welten wieder auseinanderzutrennen und die dafür Zuständigen ausfindig zu machen. Zugleich ist es eine grosse Hilfe, die gemeinsamen Bereiche ebenfalls so aufzuteilen, dass beide für ihren Teil Verantwortung übernehmen. Was dabei herauskommt, ob das Paar sich endgültig trennt oder zusammenbleibt, werden die erarbeiteten Fakten zeigen. Jedenfalls ist es eine ehrliche Bilanz. Und die Zukunftsperspektiven, die sich daraus ergeben, sind realistisch. Oftmals ist es aber so, dass nur einer der beiden eine Ehetherapie wünscht. Diese Einseitigkeit erleben viele als ein Gefühl, dem Unglück tatenlos ausgeliefert zu sein, wie in einer Falle festzusitzen, warten und hoffen zu müssen, dass der andere Teil sich doch noch zu einer Zusammenarbeit bewegen lässt. Sie fühlen sich dazu verdammt, in einer Beziehung gestrandet zu sein wie ein Schiff und absolut nichts dagegen unternehmen zu können. Das ist ein grosser Irrtum. Auch wenn Menschen in einer festen Beziehung leben, bleiben sie zwei absolut getrennte Wesen. Jeder/jede ist ein
Individuum, ist eine eigene Person, mit eigenen Wünschen, Lebenszielen, Wertvorstellungen und Lebensprinzipien. Wir leben zwar in einem partnerschaftlichen und familiären System und nehmen darin eine bestimmte Rolle als Ehemann, Ehefrau, als Vater oder Mutter ein, die Teil eines Ganzen ist. Die Rolle verlangt bestimmte Funktionen und Verhaltensweisen, die nahtlos in das System integrierbar sind damit es funktionieren kann. Aber hinter der Rolle bleiben wir Einzelwesen, die letztlich für ihr persönliches Glück absolut selbst verantwortlich sind. Dazu gehört auch, dass wir lernen, den/die Partnerin aus der Fixierung auf seine Rolle zu entlassen, die ihm die gesamte Verantwortung zuschob. Das heisst, den/die PartnerIn loszulassen, damit wir die Hände freibekommen, um endlich die Zügel für unser eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die folgenden Impulse sollen dazu anregen, die eigenen Hoheitsgebiete wieder selbst zu besiedeln, darüber zu bestimmen und wieder voll die Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen also nicht warten, bis wir gemeinsam mit dem/der Partnerin beginnen können, unsere schwierige Situation zu klären, sondern wir können uns sofort selbst helfen. Die verschiedenen Stationen werfen uns alle auf uns selbst zurück. Das ist eigentlich das Beste, was uns zustossen kann. Falls dennoch die Möglichkeit einer Paartherapie besteht, kann bereits durch die Auseinandersetzung mit sich selbst und das Zurückholen der eigenen Belange
und Bedürfnisse in die Selbstverantwortung sehr viel Vorarbeit geleistet werden, die sich zweifellos sehr günstig auswirken wird.
Notausgänge Das Schlimmste, das einem Menschen zustossen kann, ist, sich einer Situation ausgeliefert zu fühlen, die nicht zu beeinflussen ist. Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, beschreiben dieses Gefühl als ein absolut schreckliches Erleben von Hilflosigkeit, die ihnen keinerlei Möglichkeit gibt, irgend etwas gegen die Unbill zu unternehmen: »Nachdem ich erfuhr, dass meine Frau einen Geliebten hat, war es wie eine Kriegserklärung. Ich fühlte mich von allen Seiten eingekesselt. Jederzeit konnte die Bombe hochgehen«, berichtete ein 33jähriger Lehrer. Und eine gleichaltrige Schauspielerin: »Ich versuchte mich mit der Tatsache, dass mein Partner immer wieder fremdging, zu arrangieren. Jedesmal aber, wenn ich direkt mit diesem Tatbestand konfrontiert wurde, brach mein mühsam zusammengebasteltes Selbstwertgefühl unverzüglich zusammen. Es konnte jederzeit geschehen. Ich hatte keinerlei Einfluss.« Wer in partnerschaftliche Fremdgeh-Verhältnisse hineingerät, sollte sich als erstes sagen: Es gibt nichts, was mich dazu zwingen könnte, alles zu ertragen und auszuhalten. Ich kann auch gehen. Wenn ich bleibe, dann bleibe ich, weil ich es ertragen kann. Auch Kinder
sind kein Grund, in einer unzumutbaren Situation auszuharren. Haben wir Kinder, können wir wahrscheinlich nicht einfach ausziehen und gehen. Aber wir können unserem Partner/unserer Partnerin sagen, dass er/sie die Koffer vorübergehend packen soll, bis wir etwas klarer sehen. Das heißt, wir sollten mit einem strengen Auge über unser Wohlbefinden wachen und uns nicht darin überschätzen, wieviel zu ertragen wir in der Lage sind. Grosse Herausforderungen stärken, Überforderungen hingegen schwächen. Einen fremdspringenden Partner, eine fremdspringende Partnerin zu verkraften heisst zunächst, aufs tiefste verletzt zu sein. Im Umgang mit körperlichen Verletzungen zeigen wir sehr viel mehr Verständnis und bringen alles nur erdenklich Mögliche an Sorgfalt auf, um unseren angeschlagenen Gesundheitszustand zu pflegen. Wir kämen wohl kaum auf die Idee, nach einem Beinbruch das Bein sofort wieder zu belasten, bevor der Bruch verheilt ist. Nach einer Operation werden die Fäden nicht gezogen, bevor die Wunde verheilt ist. Ganz anders bei seelischen Verletzungen. In diesen Belangen muten wir uns eine ganze Menge zu. Wir meinen, mit einem frischen Bruch eine Bergbesteigung machen zu können. Brechen wir zusammen, versuchen wir es am nächsten Tag gleich noch mal. Wir wundern uns und beklagen uns über unsere Unfähigkeit, das gesteckte Ziel zu erreichen. Nach schweren seelischen Operationen warten wir nicht ab, bis die Wunde verheilt ist, sondern
reissen sie immer wieder erneut auf. Manchmal gehen wir gar so weit, in noch offenen Wunden herumzustochern. Und dann beklagen wir uns, dass es immer noch verdammt schmerzt. Manchmal genügt allein die Begegnung mit den fremdspringenden Partnerinnen, auch ohne dass etwas Konkretes vorgefallen wäre, dass Verletzungen heftig zu bluten beginnen. Und wenn wir mit unserem Lebensgefährten/unserer Lebensgefährtin noch unter einem Dach wohnen und jedesmal den erwartungsfreudigen Schritt mit ansehen müssen, wenn er/sie sich für ein Stelldichein mit der/dem anderen von uns verabschiedet, hat die Wunde wenig Chance, zur Ruhe zu kommen und allmählich zu verheilen. Es bilden sich Verkrustungen, die das Ganze notdürftig zusammenhalten. Deshalb ist es nicht erstaunlich, wenn es Jahre später nochmals aufbricht und blutet und schmerzt wie am ersten Tag. Solche Rückfälle ereignen sich meist nicht in ohnehin unglücklichen Situationen, sondern eher in ausgesprochen entspannten, vielleicht sogar glücklichen Lebensphasen. So brechen wir vielleicht unerwartet in Tränen aus, wenn wir gerade ein neues Glück mit einem anderen Partner erleben. »Ich war bereits wieder verheiratet und fühlte mich mit meinem neuen Mann rundum glücklich. Er gab mir das Gefühl von Geborgenheit, und ich konnte ihm wirklich vertrauen. Da kam plötzlich die alte Geschichte mit meinem Exmann in meine Erinnerung, der mich über Jahre betrogen und mir immer eingeredet hatte, ich bilde mir das alles nur ein. Ich heulte nächtelang in den Armen meines zweiten Ehemanns. Und so konnte die
grosse Wunde allmählich verheilen.« Wundern wir uns nicht, wenn sich alte Erlebnisse erneut melden. Es gibt nichts, was exakter und gründlicher arbeitet als die Seele. Wir werden immer wieder neu aufgefordert, uns unerledigter Aufgaben anzunehmen, unerlöste Schmerzen zu stillen. Die Aufforderung kommt oft dann, wenn wir uns in einer Situation befinden, die uns Sicherheit gibt und erlaubt, uns auf schwierige Verhältnisse einzulassen und sie auszuheilen.
Unsere Seele ist nicht nur das Kostbarste, was wir haben, sondern – im Falle eines Weiterlebens – das einzige, was unsterblich ist. Es lohnt sich unter allen Umständen, auf ihre Impulse zu achten, sie ernst zu nehmen, mit größter Aufmerksamkeit für sie zu sorgen und ihr die beste und sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Muten wir ihr eine Erschütterung nach der anderen zu, reissen wir Wunden immer wieder auf. Anstelle von blühenden Wiesen wird eine schreckliche Kraterlandschaft entstehen. Achten wir hingegen darauf, dass sie gerade in schwierigen Situationen alle seelenlandschaftlichen Möglichkeiten ausschöpft, wird sie im Lauf des Lebens weite Gebiete aller Art eingemeinden, reifen und ihre ganze Schönheit zur Entfaltung bringen. Es gibt tatsächlich Menschen, die das Gefühl von Warmherzigkeit, tiefem Verständnis für die Probleme anderer wie eine nie versiegende Quelle in sich tragen. Güte und Liebe blühen aus einer unendlichen seelischen Weite, grenzenlos, umfassend. Wir fühlen uns auf eine ganz besondere Weise wohl
mit ihnen. Bei anderen hingegen kann es einem schon einmal eng ums Herz werden, oder, fast noch schlimmer, fahl und lau: Da baumelt die Seele überstrapaziert oder sinnentleert wie eine Wursthaut über einer Wäscheleine. Nun gibt es wichtige Hinweise, die uns anzeigen, ob wir unserer Seele zu viel zumuten oder ob sie sich durch die Herausforderung dehnt und dabei wächst und reicher wird: wenn wir etwa in besonders schwierigen Lebenssituationen die Fähigkeit, Freude zu empfinden, nicht verlieren, sondern immer wieder kleine Momentnischen erleben, in denen uns ganz leicht, wohlig und weit ums Herz wird, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Dann wird uns die zu meisternde Schwierigkeit mit Sicherheit stärken. Wenn wir aber feststellen, dass wir am Morgen den Gesang der Vögel nicht mehr hören, die aufgehende Sonne nicht mehr sehen, den Duft der nassen Bäume nach einem Regenguss nicht mehr riechen – dann ist es höchste Zeit, die Koffer zu packen und zu gehen. Die Freude ist die Trägerin, die uns Kraft verleiht, sie ist der Garant dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Schwindet sie, müssen wir sofort handeln. Somit bleibt immer ein Notausgang offen – gehen! Gehen heisst nicht, den einfacheren Weg zu nehmen, zu kapitulieren oder dergleichen. Gehen heisst, mir einen anderen Ort suchen, wo es mir wieder möglich wird, Freude in mich einströmen zu lassen, mich meiner Aufgabe zu stellen und sie zu bewältigen.
Achtung Falle: Verdacht und Spionage In der Regel beginnt der Stress, bevor wir realisieren, was eigentlich vor sich geht. Nur wenigen Fremdspringerinnen gelingt es, die Affäre am Partner/an der Partnerin völlig unbemerkt vorbeizuschleusen. Einige wiederum denken auch gar nicht daran, aus ihrer Neigung ein Geheimnis zu machen, PartnerIn hin oder her. Der Jäger hechelt im Beisein der Angetrauten hinter jedem verlockenden Braten her, der Platzhirsch geniesst unbekümmert seinen Status, und die Prinzessin sonnt und badet sich unverhohlen an der Seite ihres ehelichen Gemahls in den begehrlichen Blicken anderer Männer. Szenen der Eifersucht folgen, was ihrem Treiben keinerlei Abbruch tun wird. Das Argument heisst: Ich bin nun mal so. Der Vorteil dieser Variante besteht darin, dass die Partner-Innen bereits von Anfang an wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie wurden gewarnt und hätten die Chance gehabt, gar nicht erst über die ewige Treue und dergleichen ins Träumen zu geraten. Der Traum ist aus, bevor er begann. Dennoch schaffen es nicht wenige, sich immer wieder selbst zu besänftigen und sich zu sagen, dass sich diese Untugend mit der Zeit zweifellos auswachsen werde. Wenn wir erst einmal verheiratet
sind .:. Wenn wir erst einmal ein Kind haben, zwei Kinder haben ... Wenn wir erst im neuen Haus sind ... Sie trösten sich von Irrtum zu Irrtum und hoffen immer weiter. Eigentlich haben sie sich alles selbst eingebrockt, trotzdem machen sie dem Partner/der Partnerin bittere Vorwürfe: »Du hast mich getäuscht. Du tust mir Schlimmes an!« grollte aus tiefster Überzeugung Sandy, eine hübsche 28jährige Verkäuferin. Sie hatte sich mit grösster Anstrengung den DorfPlayboy, Besitzer des Damenfrisiersalons, geangelt. Obwohl er sich nicht in eine fest installierte Beziehung einlassen wollte, schaffte sie es, sich von ihm schwängern zu lassen. Er fand weiter nichts dabei, hatte er doch bereits zwei Frauen mit seiner Saat beglückt, die eine arbeitete bei ihm, die andere war die Frau des Dorfkneipenbesitzers. Sandy drohte mit Selbstmord. Da gab er ihr das Jawort. Sie war sicher, dass ein Baby ihn dazu veranlassen würde, abends zu Hause zu bleiben und von seinen Abenteuern Abstand zu nehmen. Er führte freilich unbeirrt das Leben weiter, das er schon immer geführt hatte. Selbstverständlich gibt es auch Partnerschaften, die zunächst in ruhigen Bahnen verlaufen, geregelt und ohne Abstecher. Die Jägerinnen-Natur meldet sich erst später, kommt mit aufbäumender Energie oft in der zweiten Lebenshälfte zur Blüte. Wechseljahre nennen wir es bei Frauen, Midlifecrisis bei Männern. Die Frage steht im Raum. Berufliche Bilanz: Was habe ich geleistet, was will ich noch leisten? Und im persönlichen Bereich: Wer bin ich eigentlich? Wenn einem dazu nichts einfällt, gerät man leicht in eine
Krise. Das nächstliegende ist, sich daran zu erinnern, wie man früher lebte. Man/frau schaut zurück und sieht sich nochmals als jung. Gut, resümiert das Unbewusste. Drehen wir das Rad der Zeit zurück und fangen noch mal von vorne an. Frauen rivalisieren mit der Tochter im Turnschuh-Leggins-RucksäckchenLook, noch einmal sich ganz jung fühlen und mit den Freunden und Kollegen des Sohnes flirten. Der Mann greift ebenfalls zurück auf den alten Film. Und weil da gerade eine zwanzigjährige Sekretärin den Kaffee serviert, versucht Mann mal sein Glück. Oft klappt es. Die Jüngere fühlt sich geschmeichelt. Der ältere Herr fühlt sich verjüngt. Dann muss nur noch die Ehefrau/der Ehemann ausgebremst werden. So einfach Ist das. Die Partnerinnen der Spätjägerinnen kommen im besten Fall aus dem Staunen und im schlimmsten aus dem Schrecken nicht mehr heraus. Was da einst traulich an ihrer Seite vor sich hinlebte und am Wochenende im Garten werkelte, entpuppt sich als heisshungriger, nimmermüder Abenteurer. Und die Frau, deren grösstes Glück es war, abends vor dem Fernseher an ihrer Häkelarbeit herumzunesteln, bekundet lauthals, dass sie endlich auch leben wolle, und richtet sich, jugendlich geschmückt, allabendlich zum Ausgang her. Die schlimmsten Fehler, die den Partnerinnen von Jäger-Innen unterlaufen können, sind folgende: zum einen Festhalten an der Illusion, den/die Partnerin zu einer Veränderung der Lebensführung zu veranlassen.
Zum anderen, ihm/ihr das Ultimatum zu stellen, sich entweder für die Partnerschaft oder die aushäusige Liebschaft zu entscheiden. Hier findet eine interessante Verlagerung der Verantwortungsbereiche statt, indem nun die Fremdgängerinnen dazu aufgefordert werden, eine Entscheidung zu treffen. Nicht aber die Fremdgängerinnen müssen sich entscheiden, sondern ihre Partner-Innen, ob sie mit ihnen eine solche Partnerschaft weiterführen wollen. Sie müssen sich selbst die Frage stellen, ob sie mit einem Menschen, der ihnen untreu ist und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch untreu bleiben wird, zukünftig zusammenbleiben wollen oder nicht. Mischrechnung anstellen: Wiegen die schönen Seiten die leidvollen auf? Dies ist eine sehr individuelle Angelegenheit und kann nur von jenen, die von der Untreue des Partners selbst betroffen sind, beantwortet werden. Das Gute in diesem Fall ist, dass Offenheit herrscht. Hier wird nicht im verborgenen geschummelt. Die Karten liegen offen auf dem Tisch. Im Gegensatz dazu steht die Affäre, die sich heimlich anbahnt. Zunächst sind da lediglich Vermutungen, Verdächtigungen oder aber ungute, quälende Vorahnungen, die nicht konkret in Worte gefasst werden können. Irgend etwas ist anders geworden. Der Partner/die Partnerin benimmt sich seltsam, unternimmt plötzlich allein etwas, kommt später als angekündigt nach Hause. Es wird möglichst vermieden, Urlaube, Feiertage und Wochenenden oder überhaupt längere Zeit zu zweit zu verbringen. Im Bett
herrscht meist reduzierter Winterdienst, obwohl immer wieder Versuche erfolgen, künstliche Nähe zu erzeugen: kameradschaftliches Händchenhalten, beim Abschied ein Küsschen auf Wange und Stirn, Rituale, die Nähe und Verbundenheit suggerieren, wie sich gegenseitig ins Bett zu bringen und oft stundenlange Gespräche über andere zu führen. Beliebte Gesprächsthemen sind eigene und fremde Kinder, Mitarbeiter, Hunde und Chefs sowie die Beziehungen von Freunden und Bekannten, die unter die Lupe genommen werden, um nach verdächtigen Beziehungslecks zu suchen. Diese Gesprächsthemen helfen, von sich abzulenken. Oft reagieren die nichtwissenden Partnerinnen auch mit körperlichen Beschwerden wie Migräne, häufiger Grippe oder sonstigen Unpässlichkeiten. Raina hatte, längst bevor sie vom Verhältnis Wanda/Hubertus wusste, regelmässig ihr »Krankenloch«, wie sie es nannte. Sie legte sich zwei Tage ins Bett, heulte ein wenig, fühlte sich seelisch durchgemangelt und körperlich vergrippt. Als die Affäre aufflog, drehte sie zwar total durch, war aber ab sofort von derartigen gesundheitlichen Irritationen befreit. Wandas Ehemann Ernst, der während der ersten Jahre ebenfalls keine Ahnung von der Affäre seiner Frau hatte, suchte mehrere Male einen Arzt wegen quälender Magenbeschwerden auf. Eine 44jährige Bildhauerin, deren Ehemann über Jahre ein Verhältnis mit ihrer Haushälterin unterhielt, berichtete, wie sie stets ein Drücken in der Kehle
verspürte und zunächst dachte, es handle sich um Halsweh. Irgendwann habe sie sich an den leisen Schmerz gewöhnt, und er gehörte fortan zu ihr. Dann ging es mit heftigen Unterleibskrämpfen los. Blutungen, die sich nicht stillen liessen. Am Muttermund herumschnipseln. Veröden. Verätzen. Und das Blut strömte wie aus hundert Leibern. Die Haushälterin pflegte und umsorgte sie. Und wenn sie einschlief, hatte das Liebespaar freie Fahrt. »Schluss jetzt«, sagte die Bildhauerin nach über sechs Monaten, »die Gebärmutter muss raus.« Nach der Operation wurde es immer noch nicht besser, und sie begann sich zu fragen, was sie sich wohl noch alles wegoperieren lassen sollte. Dann flog das Verhältnis auf. Ihr Mann verliess sie. Obwohl sie dachte, über den Schmerz nicht hinwegzukommen, waren ihre körperlichen Beschwerden wie weggeblasen. Tauchen erste konkrete Vermutungen und Verdächtigungen auf, wird die Sache zunächst nicht besser. Viele Frauen reagieren mit schleichendem Selbstwertverlust. Sie fühlen sich plötzlich potthässlich, zu dünn oder zu dick, zu flach- oder zu vollbusig, dumm und überhaupt minderwertig. Männer hingegen fragen sich eher, ob sie der Ehefrau eventuell finanziell zu wenig bieten. Frauen gehen zum Friseur, zur Kosmetikerin, ins Fitnesstraining; Männer belegen Kaderseminare, kämpfen um einen höheren Posten und wollen beruflich erfolgreicher werden. Zudem entsteht bei vielen ein kaum auszuhaltender Kreuzstich im Hirn. Sie gehen zwar ihrem Verdacht
nach, wollen endlich die Wahrheit in Erfahrung bringen und spionieren hinter den Lebensgefährten nach, um ihre Befürchtung zu bestätigen, was allein schon eine Unmöglichkeit darstellt. Denn einerseits wollen sie doch, dass sich der Verdacht nicht bestätigt. Dennoch entwickeln sie einen derart detektivischen und auf Erfolg ausgerichteten Eifer, gekoppelt mit einem süssen, wohlwehen Schmerz, dass sie beinahe enttäuscht sind, wenn sie nicht fündig werden. Tritt eine solche, ihren Verdacht entlastende Situation ein, spornt die Enttäuschung weitere spekulative Überlegungen an, die Observation des Partners/der Partnerin mit noch mehr Raffinesse weiterzuführen. Es folgen die allseits bekannten Testanrufe. Durchsuchung der Brief- oder Handtasche. Riechtest an Unterhosen. Raina operierte eines Nachts die schwere Tischplatte vom Schreibtisch ihres Ehemanns weg, um so wenigstens die oberste Schublade zu inspizieren. Und da lag die ersehnt-befürchtete Überraschung. Etwa fünfzig winzige, mit Bleistift bekritzelte Zettelchen »mit entsetzlichem Liebesgeflüster« von Wanda. Zudem ein kleines, in Geschenkpapier verpacktes Schächtelchen, das sie ebenfalls öffnete. Sie wurde beinahe vom Schlag getroffen. Vor wenigen Wochen hatte sie zum Geburtstag von Hubertus eine Kette mit einem Perlenanhänger geschenkt bekommen. In der Geschenkschachtel lag aber eine ganze Perlenkette. Sie musste ein kleines Vermögen gekostet haben. Sie rechnete sich aus, Wanda bekomme dieses grosszügige Geschenk wohl zur Geburt, was dann
auch prompt eintraf. Als Sonderüberraschung fand sie noch zwei Sexheftchen. Das ist eigentlich die grösste Falle, in die wir hineingeraten können: Spionage, Observation, Kontrolle. Diese Massnahmen sind Mittel, um einen verräterischen Staatsfeind zu überwachen, nicht aber, um sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen, den zu lieben wir vorgeben. Sobald wir dem/der Partnerin nachschnüffeln, befinden wir uns auf der Gegnerseite., und er/sie wird zum Feind, den wir endlich erwischen und des Hochverrats überführen wollen. Letztlich aber werden wir beide durch ein solches Eingreifen zutiefst gedemütigt, wir dringen unerlaubt in die intimsten Bereiche des Partners ein, die er ganz bewusst vor uns geheimhielt, und verletzen somit sein Hoheitsterritorium. Wer hinter dem/der Partnerin herspioniert, wird sich nicht sonderlich gut dabei fühlen. Wir brechen in für uns unbefugte Räume ein, und in diesem Tun entwürdigen wir uns selbst. Es ist kaum möglich, neben der Spionagetätigkeit dem/der Partnerin offen und wohlwollend begegnen zu können. So sind wir stets mit dem Hintergedanken ausgerüstet, ihn/sie zu ertappen, und zwar möglichst auf frischer Tat. Ebenso ungünstig werden sich Selbstvorwürfe auswirken. »Was habe ich nur falsch gemacht?« ist deshalb eine verhängnisvolle Frage, weil sie impliziert, dass lediglich herauszufinden ist, wie es »richtig« zu machen wäre, damit der/die Partnerin nicht fremdgeht.
Diese Einstellung führt erstens zu einer völlig falschen Einschätzung der eigenen Position, die jegliche Erkenntnismöglichkeit verbaut, sich auf sich selbst zurückzubesinnen. Zudem zeigt es eine ziemlich grosse Naivität, was die menschliche Psyche und ihre selbstregulierenden Massnahmen betrifft. Diese arbeitet absolut autonom und lässt sich von niemandem ins Handwerk pfuschen. Schweigen, alles in sich hineinfressen, ist ebenfalls falsch. Diesen Fehler hatte Raina gemacht. Sie sprach zunächst mit niemandem. Sich abkapseln bringt die Gefahr mit sich, dass wir uns in völlig realitätsfernen Vermutungen und Phantasien verrennen. Und genau dies ist Raina passiert. Sie jagte der Vorstellung nach, Wanda und Hubertus in flagranti ertappen zu müssen. Sie war besessen von dem Gedanken, durch die Steigerung ihres Schmerzes, die eine direkte Konfrontation zweifellos mit sich gebracht hätte, endlich von der unerträglichen Spannung erlöst zu werden. Zudem wollte sie sich rächen und die beiden der Scham des Ertapptwerdens aussetzen. Als es ihr nicht gelang, verstieg sie sich in immer gefährlichere Überlegungen, bis sie das Feuer legte. »Ich war von diesem Gedanken wie besessen: Der Rauch wird sie aus der Kapelle heraustreiben. und sie werden wie Ratten das sinkende Schiff verlassen.« Wenn Raina jemanden ins Vertrauen gezogen hätte, wäre allein durch das Aussprechen dieser Phantasie eine Korrektur erfolgt. Es gibt Dinge, die, einmal beim Namen genannt, nicht mehr in die Tat umgesetzt
werden müssen.
Was aber hilft? Die erste Adresse ist immer der/die Partnerin. Mit ihm/ihr sollten wir zuerst sprechen. Offen zu unseren Vermutungen und Befürchtungen stehen und darum bitten, die Wahrheit zu erfahren. Wenn es uns gelingt, in einem solchen Gespräch auf Anschuldigungen und Vorwürfe zu verzichten, ist die Chance um einiges grösser, der Wahrheit näher zu kommen. Der/die Partnerin ist kein Unmensch, auch wenn es uns in einer solchen Situation ziemlich schwerfällt, dies nicht zu glauben. Je ehrlicher wir ihm/ihr gegenüber sind, um so eher wird es möglich sein, dass auch er/sie den Schritt in die Wahrheit wagt. Wir sollten offen von unserem Verdacht sprechen, der Ungewissheit, die so schwer auszuhalten ist. Wir sollten uns im klaren darüber sein, dass die Wahrheit, vor allem wenn die Vermutungen zutreffen sollten, sehr schmerzlich sein wird, dass aber das Sich-stetsim-Kreis-Drehen ein viel grösserer Schmerz ist. Will jedoch der/die Partnerin nicht darüber reden, was trotz unserer Offenheit durchaus möglich ist, vor allem, wenn er/sie gerade ein heisses Eisen im Feuer am Schmelzen hat und durch die neue Liebschaft fiebrig glüht, wird wohl wenig Motivation für eine ehrliche Auseinandersetzung vorhanden sein. Statt
den/die Partnerin zu bedrängen, der/die überhaupt keine Lust dazu hat, sondern nur eines im Kopf, schnell zum/zur aushäusigen Geliebten zu eilen, sollten wir sofort kehrtmachen und uns auf direktem Weg einen Menschen suchen, mit dem wir offen über unseren tiefen Kummer reden können. Doch aufgepasst! Es eignen sich nicht alle für ein solches Gespräch. Wir sollten unsere Gesprächspartnerinnen sorgfältig auswählen. Sie müssen vor allem über die Eigenschaft verfügen, wertfrei zuhören zu können, das heisst, keinerlei negative Gefühle dem/der Partnerin gegenüber hegen und keine Schuldzuweisungen vornehmen. Alle chronischen Ölins-Feuer-Giesserinnen, die grundsätzlich über alle und auch über unsere Partner schlecht reden, kommen unter keinen Umständen in Frage. Ebenso Besserwisserinnen, Ratschlägerinnen, Moralistinnen, Nörglerinnen und Schwarzmalerinnen vom Dienst. Nur das Beste ist gut genug. Die Situation ist schwierig genug, deshalb müssen wir unser eigenes Wohlbefinden stets im Auge behalten, gut für uns sorgen und alles daran setzen, dass es uns bessergeht. Wir sollten uns täglich die Frage neu stellen, was uns jetzt besonders wohl tun könnte. Damit ist nicht nur gemeint, sich in ein wohliges Bad zu legen, sondern sich auch mit Aktivitäten zu beschäftigen, die besonders viel Freude machen. Vielleicht graben wir alte Hobbys aus, die uns früher mit Begeisterung erfüllten. Ebenso sollten wir tunlichst darauf achten, dass wir uns in dieser Zeit unter keinen Umständen mit
Menschen treffen, die uns bisher auch sonst nicht erfreuten. Es gibt eben Menschen, da fühlen wir uns nach einem Treffen mit ihnen schlechter als vorher. Sie entleeren unsere Energiebatterie. Andere hingegen bewirken das Gegenteil. Wir fühlen uns besser. Sie laden die Batterie auf. Und es gibt nun weiss Gott keinen Grund, weshalb wir uns ausgerechnet in einer Situation, die ohnehin sehr schwierig ist, auch noch mit Energiekillern umgeben, die uns den letzten Rest Lebenskraft aus den Adern saugen. Vorsicht vor Familien- und Verwandtentreffen!
Die Stunde der Wahrheit
Während sich die Verdachtsphase wie ein Endlosmarathon hinzieht, in dem das Ziel ständig nach hinten verschoben wird und wir mit hängender Zunge durch den Alltag hecheln, ist die Stunde, in der sich die Wahrheit enthüllt, mit einem heftigen Schlag vergleichbar, der sekundenschnell die ganze Welt zum Stillstand bringt. Nun liegen eindeutige Beweise vor. Der Verdacht bestätigt sich: Er/sie geht tatsächlich fremd. Entweder haben wir ihn/sie in
flagranti ertappt, eventuell gar im eigenen Ehebett, einen heissen Liebesbrief, ein entlarvendes Foto gefunden oder einem telefonischen Liebesgesäusel beigewohnt. Raina: »Mir war, wie wenn mir eine schwere Eisenplatte das Gehirn zerschmetterte.« Als Ernst von der Affäre Hubertus/Wanda erfuhr: » ...traf mich der Blitz aus heiterem Himmel.« Eine 24jährige Verkäuferin schildert ihre erste Reaktion: »Der Boden unter meinen Füssen klaffte auf, und ich drohte hinunterzustürzen.« »Mein Herz drohte aus dem Leib zu springen, und ich bekam keine Luft mehr zum Atmen. Hinterher habe ich das ganze Porzellan aus dem Fenster geschmissen«, erzählte eine 48jährige Ehefrau von dem Moment, als sie erfuhr, dass ihr Mann eine 18jährige geschwängert hatte. Ein 32jähriger Krankenpfleger: »Ich erstarrte, alles rückte weit von mir weg, und erst nach einigen Tagen begann ich allmählich zu begreifen, was wirklich geschehen war.« Laura versuchte, auf ihre Art damit fertig zu werden: »Ich wurde in der ersten Sekunde zwar beinahe ohnmächtig. Dann handelte ich und schickte ihn zum Teufel.« Wenn die Wahrheit zu bedrohlich ist, nehmen wir sie aus Selbstschutz einfach nicht zur Kenntnis. Ein 36jähriger Versicherungskaufmann: »Ich wollte von allem nichts wissen und ignorierte den eindeutigen Tatbestand. Ich arbeitete wie ein Wahnsinniger – nebenbei war ich in dieser Zeit sehr produktiv und erfolgreich.«
Und eine 56jährige Schriftstellerin erzählte: »Ich habe es verdrängt. Aber ich habe Bücher geschrieben, eines nach dem anderen, und mich intensiv in das Leben meiner Figuren hineingedacht.« Den einen zieht es den Boden unter den Füssen weg, andere schlagen alles kurz und klein. Auch bei jenen, die stets wohlüberlegt handeln, kann es zu Verhaltensweisen kommen, die sie selbst überraschen. Den meisten brennen sämtliche Sicherungen durch, nur ein Notstromaggregat bleibt intakt, das die wichtigsten Funktionen in Gang hält. Unbekannte, gegensätzliche Gefühle brechen aus, ein Gefühlschaos tobt wie ein rasender Sturm und fegt moralische und ethische Grundprinzipien kurzerhand weg. Alles wird möglich! Obwohl wir keiner Fliege etwas zuleide tun könnten und uns seit Jahren in der Friedensbewegung engagieren, ertappen wir uns plötzlich bei der Überlegung, auf welche Weise die Nebenbuhlerin, diese elende Schlampe, aus der Welt zu schaffen sei. Wir wünschen uns nichts sehnlicher als die Geliebte auf den Mond, ins Pfefferland, oder phantasieren ihr leiddurchtränktes Ableben. Tod als gerechte Strafe Gottes. Für sie. Bestrafung auch für ihn. Und für alle gemeinen und hinterhältigen Mitwisserinnen, die mithalfen, das Liebesverhältnis zu verheimlichen. Mordgedanken sind in dieser Phase an der Tagesordnung, darüber sollten wir nicht allzusehr erschrecken. Oder aber wir brechen in einen nie erlebten Schmerz ein, der uns beinahe den Verstand raubt. Wir wissen
nicht, ob wir je wieder zu weinen aufhören können, oder wir liegen apathisch, tränenlos im Bett und wollen nur noch eines: sterben. Solche Reaktionen. die wir vielleicht von uns nicht kennen, machen angst. Sind wir noch normal? Die Sorge um unsere geistige Gesundheit addiert sich zum anderen Gram dazu oder multipliziert ihn sogar und macht alles noch schlimmer und verworrener. Um es gleich vorwegzunehmen: Alle Gefühle, seien sie auch noch so fremd, sind in dieser Phase möglich. Sie sind weder abnorm noch Vorboten einer sich anbahnenden Geisteskrankheit. Hier gibt es keine Norm, an der wir uns messen könnten. Alle nur erdenklichen menschlichen Abgründe können aufklaffen. Gut, es gibt immer wieder Personen, die auch in dieser Zeit raten, sich möglichst unter Kontrolle zu halten, sich wie ein anständiger Mensch aufzuführen und gefälligst zusammenzunehmen. Solche Ratgeber sollten wir jetzt meiden wie die Pest. Sie haben vom Leben keine Ahnung! Wer begriffen hat, dass die Lebensgefährten eine statthalterische Funktion haben, nämlich wie eine Brücke die Verbindung zum Herkunftsland zu sichern, dem muss doch eine solche Reaktion bei einem drohenden Verlust einleuchten. Wir erleben das Gefühl, die Garantie zu verlieren, jemals wieder in unser Heimatland zurückzukehren. Es ist das Schlimmste, das uns zustossen kann! Schlimmer als der Tod. Dass wir in diesem absoluten Aufbruch der Gefühle kaum in der Lage sind, die Statthalterschaft des Partners als eine
vorübergehende und ohnehin befristete Regentschaft zu erkennen, ist verständlich. Der Partner/die Partnerin steht für Heimat. Mit seinem/ihrem Verlust scheint auch die Heimat verloren. In dieser Phase über die Einsicht rational Einfluss auf die eigene Befindlichkeit zu nehmen, ist für die meisten Menschen nicht möglich und nicht ratsam und stellt eine Überforderung ersten Ranges dar. Das einzige, was wirklich hilft und uns weiterbringt, ist, wenn wir unsere Gefühle zulassen und uns dadurch näherkommen. Schmerz, Trauer, Wut sind Gefühle, die uns wieder in Kontakt mit uns, mit unserer innersten Wahrheit bringen. Wut ist eine wichtige und tragende Energie. Sie lädt uns auf, reisst uns empor in eine aufrechte Haltung, in der wir wieder aktiv werden. Es ist kaum möglich, Empörung zu fühlen und gleichzeitig wie ein geknickter Gartenschlauch durchzuhängen. Trauer und Schmerz bringen uns zu uns selbst zurück, zum Ursprung. Und dabei bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, zu sich selbst zurückzukehren und in sich selbst etwas Heimat zu finden. Alles, was uns in dieser Phase mit uns selbst wieder in Kontakt bringt, hilft uns, Orientierung in unserem Leben zu finden. Hingegen wird es uns nicht helfen, mit unserer Aufmerksamkeit die Figur des Geliebten/der Geliebten stundenlang zu umkreisen, um uns zu überlegen, wie wir uns an dieser Unperson rächen und ihr eins auswischen könnten. »Ich habe die Geliebte meines
Mannes zur Schnecke gemacht, sie öffentlich beschimpft und im Geschäft dafür gesorgt, dass sie bei allen abgeschrieben war«, erzählt eine Frau, deren Ehemann mit seiner Sekretärin ein Verhältnis hatte, »und ich werde nicht eher ruhen, bis sie mit Schimpf und Schande aus dem Geschäft gejagt wird.« Frauen reden oft über ihren Mann, als ob es sich um ihren Leibeigenen, einen geistig Behinderten oder sonst einen nicht ganz Zurechnungsfähigen handelte. Sie überlegen sich, wie sie die Geliebte davon abhalten könnten, sich an ihrem Eigentum Ehemann zu vergreifen. »Die soll endlich die Finger von meinem Mann lassen.« »Sie hat die Initiative ergriffen und stieg meinem Mann hinterher«, argumentierte auch Raina. Damit machte sie Wanda zur Schuldigen, die den armen und absolut wehrlosen Hubertus verführte. Diese Verfälschung ist als Versuch zu verstehen, den eigenen Lebensgefährten zu entlasten. Daraus spricht aber auch eine grosse Respektlosigkeit. Wir degradieren den Partner, wenn wir ihm die Fähigkeit absprechen, eigene Entscheidungen zu fällen. Diese Haltung entlarvt die Beziehungsstruktur in peinlicher Deutlichkeit. Da in der Phase, in der die Wahrheit ans Licht kommt, tiefe Ängste aufbrechen und die Wahrscheinlichkeit, mit dem/der Partnerin darüber sprechen zu können, eher klein ist, sollten wir uns gerade in dieser gefährlichen Situation eine Vertrauensperson suchen, die uns durch die verschiedenen Stadien aussergewöhnlicher Gefühle begleitet. Es gelten die gleichen Regeln wie in der Verdachts- und
Spionagephase: Es kommen nur Menschen in Frage, die weder bewerten und verurteilen noch Ratschläge erteilen. Menschen also, die auch in heftigsten Wutgewittern nicht den moralischen Zeigefinger zücken und versuchen, Einhalt zu gebieten. Falls wir keine Vertrauensperson haben, sollten wir unbedingt fachliche Hilfe in Anspruch nehmen. Raina hätte dringend psychotherapeutischer Hilfe bedurft. Hätte ihr jemand dabei helfen können, ihren inneren Brand zu löschen, wäre sie nicht zur Brandstifterin geworden.
Damit die Welt nicht aus den Fugen kracht Nachdem wir von dem schwersten emotionalen Erdbeben heimgesucht wurden, stellen wir fest, dass der Hurrikan eine grosse Verwüstung angerichtet hat. Was gestern noch Gültigkeit hatte, stimmt heute nicht mehr. Sämtliche Vorstellungen von Ehe, Treue und Familie sind zerstört. Wir wissen nicht, wie wir uns im Alltag wieder zurechtfinden sollen, da nun alles anders geworden ist. Wenn wir mit dem/der Partnerin zusammen sind, wird es plötzlich in den Herzkammern zum Bersten eng, und wir müssen uns zusammen-
reissen, um nicht einfach loszuschreien. Wenn wir Verwandte und Freunde treffen, die uns nach unserem Befinden fragen, würden wir am liebsten im Erdboden versinken. Wenn wir abends die ahnungslosen Kinder ins Bett bringen, könnten wir losheulen. In der Stunde der Wahrheit stimmt die Welt nicht mehr. Wir wissen nicht, wo mit Aufräumen beginnen, vielleicht sind wir derart entmutigt, dass wir es uns nicht vorstellen können, jemals wieder einigermassen Ordnung in unsere Lebensverhältnisse zu bringen. Tatsächlich haben wir alle Hände voll zu tun, sind wir doch an mehreren Fronten gleichzeitig gefordert. Einmal müssen wir irgendwie im Alltag über die Runden kommen und eine provisorische Ordnung einrichten. Wir sind mit einem Schlag nicht mehr in unserer Hauptrolle als Partnerin, sondern in der verhassten Rolle des/der Hintergangenen/und Betrogenen. Abends, wenn wir mit dem/der PartnerIn vor dem Fernseher sitzen, sitzt in der Vorstellung der »Betrogenen« jetzt auch noch die Geliebte mit dabei. »Seit ich weiss, dass meine Frau einen Liebhaber hat, habe ich nie mehr das Gefühl, mit ihr allein zu sein. Im Bett höre ich manchmal, wie es aus den Wänden lacht. Es ist zum Verrücktwerden«, so ein 44jähriger Ingenieur. Es gibt aber auch auf einer anderen Ebene viel zu tun, die auf den ersten Blick nicht sofort erkennbar ist und dennoch sehr viel Kraft erfordert. Die meisten hatten eine Vorstellung ihrer Zukunft, in der sie
glücklich und zufrieden ihr Leben gestalten können. Die einen setzten Akzente auf berufliche Erfolge andere richteten ihre Ziele auch auf privates Wohlergehen aus und die meisten auf beide Bereiche zugleich. Zukunftsvisionen, in denen wir uns mit einem/einer LebensgefährtIn durchs Leben gehen sehen, implizieren meist gegenseitige Treue. Wir phantasierten in jungen Jahren nicht etwa: »Wenn ich erwachsen bin, werde ich eine liebe Frau/ einen lieben Mann heiraten, und er/sie wird mich möglichst oft mit einem/einer anderen betrügen.« Auch spätere Fremdspringerinnen träumen nicht bereits in der Kindheit vom fremdspringenden Erwachsenenleben. In der Phase, da kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, ist vor allem eine Anpassung an die neue Realität zu leisten. Wir müssen Korrekturen in unserem Weltbild vornehmen. Und das können wir nur, wenn wir uns von den Kinderträumen verabschieden, Phantasien loslassen und Platz schaffen für Neues. Eine grosse Hilfe ist es, wenn wir mit einer Vertrauensperson so lange über alles, was wir aufgeben müssen, sprechen können, bis der Schmerz über das Verlorene allmählich etwas kleiner wird. Diese Auseinandersetzung gelingt nicht von heute auf morgen. Auch Menschen, deren Haus niederbrannte und die ihr Hab und Gut von einer Stunde auf die andere verloren, brauchen viel Zeit, um sich an die neuen Gegebenheiten zu gewöhnen. Ziehen sie in eine neue Wohnung ein, tragen sie wahrscheinlich noch für geraume Zeit die Dimensionen des Verlorenen in sich. Auch in solchen Situationen hilft es, ganz bewusst von
einem Gegenstand, den wir einst besassen, Abschied zu nehmen und den Verlust zu betrauern, indem wir darüber sprechen. Wir müssen unsere Visionen, Wünsche und Vorstellungen begraben, damit neue entstehen können und eine Chance erhalten, Wirklichkeit zu werden. Ernst berichtete: »Ich habe während meiner ganzen, nicht sehr freudigen Kindheit nur einen einzigen Wunschtraum vor Augen gehabt, zu heiraten, Kinder zu haben, die sich abends mit den Eltern um den Tisch versammeln. Nachdem ich von der Liebschaft Wanda/Hubertus erfuhr, dazu auch noch, dass Wanda von Hubertus schwanger war, zerbrach dieser Kindheitstraum. Ich wollte überhaupt nichts mehr. Heute beginne ich allmählich zu verstehen, dass mir mein Kindheitstraum die Kraft gab und es mir ermöglichte zu überleben. Der Traum hat seinen Zweck erfüllt und ist hinfällig. Ich habe überlebt. Und jetzt bin ich bereit für den nächsten Schritt.« Ernsts Vision ging zunächst nur so weit, dass er unbedingt mit Wanda zusammenbleiben wollte. Dann veränderte sich sein Vorstellungsbild allmählich. Und nun sieht er nicht mehr nur seine eigene Familie am Tisch sitzen, sondern stellt sich vor, wie sie alle zusammen Blumen auf das Grab des verstorbenen Kindes bringen. Die gröbsten Fehler, die uns in dieser Phase unterlaufen können, sind vorschnelle Entscheidungen, wie etwa, unverzüglich den/die Partnerin zu verlassen oder ihm/ihr das Messer auf die Brust zu setzen: der/die andere oder ich. Ebenso ungünstig wirkt sich das
Festhalten an alten Visionen aus. Hatten wir einst eine romantische Vision von Liebe und Treue und sind nun nicht bereit, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen, wird dies unweigerlich dazu führen, dass wir bereits nach dem/der nächsten Kandidatln Ausschau halten, um mit dem oder der unsere Zukunftsvision zu erfüllen. Dies ist eine ziemlich gefährliche Sturheit. Sie macht uns unweigerlich für die nächste Misere anfällig, projizieren wir doch unsere Wünsche auf die nächstbeste geeignet erscheinende Figur. Es gibt tatsächlich Menschen, die lebenslang an derartigen Zukunftsvisionen festhalten und von einer Beziehungskatastrophe in die nächste geraten. Sie wundern sich über die Summe von Schicksalsschlägen, sind aber nicht bereit, ihre Vision allmählich der Realität anzupassen.
Weder Flüchten noch Standhalten
Durch die verschiedenen Stationen einer Auseinandersetzung mit dem/der fremdgehenden Lebensgefährtin geschleust zu werden ist eine sehr anstrengende und strapaziöse Angelegenheit. Einerseits zielt die Arbeit nach innen, wo sie in aller
Stille und Behutsamkeit vor sich geht, andererseits geraten wir immer wieder von neuem in seelischen Aufruhr, vor allem, wenn die Affäre beharrlich weitergeführt wird. Da schleudert es uns von einer Ecke in die andere, da gibt es Momente, in denen wir entschlossen sind, einfach alles hinzuschmeissen: »Soll er/sie nur schauen, wie lange er/sie ohne mich zurechtkommt! « Zugleich aber wollen wir die Beziehung, die Familie auf alle Fälle erhalten, koste es, was es wolle, und zudem wollen wir auch nicht kampflos das Feld dem/der NebenbuhlerIn überlassen, ausgerechnet jetzt, da wir eine geradezu unbeschreibliche Sehnsucht nach unserem/unserer PartnerIn verspüren. Haben wir uns einmal zu einem Entschluss durchgerungen, ihn/sie zu verlassen, und ihn überzeugt verkündet, kann es sein, dass uns jäh die Reue packt und wir alles wieder rückgängig machen, noch bevor wir den Satz ganz zu Ende gesprochen haben. Eine Situation zum Verzweifeln. Und wer es nicht selbst einmal erlebt hat, kann sich diese Hölle nur schwer vorstellen. Diese Phase ist gekennzeichnet durch ein ständiges Auf und Ab, ein Hin und Her. Es ist, als ob wir uns auf einer Reise befänden, bei der sich das Ziel ständig verändert. Und weil wir uns ohnehin in einem Wechselbad der Gefühle befinden, ist es nicht verwunderlich, wenn wir heute den einen Standort für den richtigen halten und morgen möglicherweise bereits den anderen. Wer nun aber versucht, eine Entscheidung zu fällen und an ihr festzuhalten, gerät unweigerlich in Teufels Küche. Dies ist denn auch
einer der Kardinalfehler, die uns unterlaufen können: Wir setzen uns selbst unter Druck und zwingen uns zu einem Entschluss. Sind wir darüber hinaus auch noch von Menschen umgeben, die ins gleiche Horn stossen und uns zu einer klaren Entscheidung drängen, wird es noch schlimmer. Zudem spielt auch eine Rolle, ob wir in dem Begriff des Flüchtens etwas Negatives, in dem des Standhaltens etwas Positives sehen, wie das in unserer Gesellschaft üblich ist. Dann wird uns diese Bewertung noch zusätzlich unter Druck setzen: »Die hat es sich leicht gemacht und hat sich getrennt.« Als ob eine Trennung etwas Leichtes wäre! Sind wir von solchen Ratgeberinnen umgeben, sollten wir sie tunlichst meiden. Es gibt Menschen, mit denen lässt sich wunderbar Tennis spielen, aber über Lebensprobleme sollten wir nicht mit ihnen sprechen. Sie sind absolut ungeeignet. Die gegensätzlichen Stossrichtungen von Flüchten und Standhalten auszukundschaften, könnte aber auch dazu beitragen, neue Perspektiven zu öffnen. Es ist ja grundsätzlich alles im Umbruch, und da sollte es möglich sein, auch die extremsten voneinander abweichenden Positionen auszuloten. Manchmal müssen wir in unserer Vorstellung gegensätzliche Standpunkte mehrere Male aufsuchen, um sie möglichst gründlich kennen- und besser einschätzen zu lernen, was für uns richtig ist. Beim Kauf eines Autos, wenn wir zwischen zwei total verschiedenen Modellen zu wählen haben, gestatten wir uns auch mehrere Probefahrten, um uns mit den jeweiligen
Unterschieden vertraut zu machen und eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen. Hier geht es aber nicht um ein Auto, sondern immerhin um Lebensplanung. Da dürfen wir uns ruhig Zeit lassen und gedanklich in verschiedenen Möglichkeiten herumspazieren. Es geht grundsätzlich nicht etwa darum, sich zwischen Flüchten oder Standhalten zu entscheiden; die ja die extremsten Positionen bezeichnen, sondern herauszufinden, welche massgeschneiderte Lösung sich als die für uns richtige erweist, mit sämtlichen Abstufungen und eventuellen vorübergehenden Zwischenlösungen. Da braucht es Zeit, die wir uns zugestehen sollten. Da kann es durchaus mal sinnvoll sein, sich einfach aus dem ganzen Beziehungsstress abzusetzen, zu verreisen, um einmal tief durchzuatmen und wieder etwas zur Ruhe zu kommen. Wir sollten uns in dieser Zeit vor allem mit Menschen umgeben, die bereit sind, uns auf diesen inneren Pendelbewegungen zu begleiten, ohne uns in eine Richtung zu stossen oder uns indirekt zu beeinflussen und ohne uns zur Eile anzutreiben. Menschen, die selbst ähnliche Durststrecken in ihrem Leben durchgestanden haben, sind oft sehr gute und kompetente BegleiterInnen. Sie wissen genau, dass die Betroffenen nur selbst das für sie Richtige herausfinden können und dass jede vorgefasste und konkrete Vorstellung, die von aussen vorgebracht wird, sich nur störend auswirkt. Wenn es uns gelingt, gerade in dieser turbulenten Phase mit unseren wechselhaften Stimmungen einen
freundschaftlichen Umgang zu pflegen, haben wir eine wichtige Lektion für die Gestaltung unseres künftigen Lebens gelernt.
Wie der Teufelskreis von Hoffnung – Enttäuschung – Mißtrauen aufgebrochen wird
Für die einen hat sich die ganze unselige Angelegenheit insofern geklärt, als sie bewusst einen Schlussstrich unter die Beziehungsrechnung gezogen haben, bevor sie in diese Phase hineingerieten. Sie haben die Trennung vom Partner, der Partnerin vollzogen. Damit hört aber die Auseinandersetzung keineswegs auf. Es wird auch nicht etwa einfacher. Wer sich zu diesem Entschluss durchgerungen hat, weil sich diese Entscheidung als die richtige herausgestellt hat, wird innerlich einen anderen Weg einschlagen und andere Hürden zu bewältigen haben als jene, die sich entschieden haben, trotz der Affäre die Beziehung weiterführen zu wollen. Der Antrieb, die Partnerschaft dennoch aufrechtzuerhalten, ist die Hoffnung. Wir hoffen, dass wir es doch noch hinkriegen. Wir hoffen, dass wir beide aus dem Vorfall etwas gelernt haben. Meist verspricht der/die Fremdgängerin, künftig auf die aushäusige
Liebschaft zu verzichten, bis auf eher seltenere Ausnahmen, bei denen er/sie auf die ungehinderte Weiterführung als klar gestellte Bedingung mit der Begründung besteht: »Ich liebe beide.« Wer sich darauf einlässt, weiss, was ihn/sie erwartet. Wird aber ein Abbruch der Affäre in Aussicht gestellt oder gar versprochen, so halten sich Partner von FremdspringerInnen daran wie an einem Strohhalm fest. Die Hoffnung trägt einen zunächst in die neue Vision einer neu erblühten Liebe. Bei den einen hält sie über Wochen an, bei anderen Tage, und bei einigen fällt sie bereits nach Stunden in sich zusammen. Anstelle von Hoffnung nagt Misstrauen. Spätestens aber, wenn der/die Partnerin einmal telefonisch nicht erreichbar ist, zwanzig Minuten später als vereinbart nach Hause kommt oder für mehrere Tage verreist. Hat das Misstrauen einmal Platz genommen, werden wir es so schnell nicht wieder los. Wir versuchen uns zwar auf die hoffnungsvollen Perspektiven zu konzentrieren, bauen auf das Versprechen des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin, aber der kleinste Windhauch bläst uns um, und wir landen im eigenen Misstrauen. Und plötzlich finden wir uns in einer Situation wieder, die derjenigen, die wir in der Phase des Verdachts bereits kennengelernt hatten, auffallend ähnelt. Das Verhalten des Partners/ der Partnerin wird unter die Lupe genommen und einer gezielten Kontrolle unterzogen, um möglichst handfeste Beweise von der versprochenen oder in Aussicht gestellten
Treue zu erhalten. Der/die observierte Partnerin, inzwischen auch nicht mehr ganz so naiv wie einst, wird mit grösster Wahrscheinlichkeit die Überwachung bemerken und genervt und sauer darauf reagieren. Dies wertet der/die Gefährtln unverzüglich als Beweis für erneute Untreue, macht grösste Vorhaltungen und stellt wiederum ein Ultimatum. Der/die Fremdspringerin fühlt sich einerseits derart unter Druck und empfindet die Verdächtigungen, besonders wenn sie unberechtigt sind, als schweren Vertrauensbruch und ist zutiefst gekränkt: »Wenn ich schon verdächtigt werde, dann kann ich ja zu Recht fremdgehen.« So oder so: Das Misstrauen wird immer bestätigt, gefolgt vom Trauermarsch der Enttäuschung, der ebenso sicher folgt wie das Amen in der Kirche. Das Schwierige daran ist, dass Verunsicherungen, Gefühle des Misstrauens vom Fremdspringenden/von der Fremdspringenden nicht durch lückenlose Beweisführung für Treue aufgelöst werden können. Es wird nie genug Beweise geben! Misstrauen ist wie ein gigantischer Moloch, der alles verschlingt und immer noch mehr will. Misstrauen kann nie durch Gewissheit beseitigt werden. Es kann nur am Entstehungsort, also in einem selbst, individuell aufgelöst werden, indem wir es nicht mehr mit negativen Gedanken füttern. Auf jede Verdächtigung des Partners/der Partnerin, jede unlautere Absicht, die wir ihm/ihr unterstellen, stürzt sich das Misstrauen freudig. So sind wir letztlich selbst dafür verantwortlich, wenn wir unter Misstrauen zu leiden haben, denn schliesslich erzeugen wir unsere
Gedanken selbst. Die Konsequenzen müssen nur wir tragen. Wenn wir die Entstehungsgeschichte des Misstrauens noch weiter zurückverfolgen, so stossen wir auf einen zusätzlichen sehr interessanten Hinweis. Misstrauen ist das Gegenteil von Vertrauen. Auch Vertrauen sprudelt wie ein Urquell in einem selbst und kann ebenfalls nicht von aussen erzeugt werden. Zweifellos spielt es eine Rolle, ob wir uns als Kind vertrauensvoll auf unsere Bezugsperson, in der Regel die Mutter, verlassen konnten. War dies nicht der Fall, so werden wir wahrscheinlich im Erwachsenenleben damit mehr Mühe haben. Auf alle Fälle sollten wir vermeiden, uns lebenslang auf Schuldige, auf ungünstige Verhältnisse zu beziehen und selbst nichts dagegen zu unternehmen, um etwaige Störungen, die uns daraus entstanden sind, zu beheben. Schliesslich ist die Sorge um sich selbst der Grundstein für das Gelingen der Beziehung zu einem anderen Menschen. Wenn ich mir selbst nicht vertrauen kann, wem soll ich denn sonst vertrauen können! So ist Misstrauen gegenüber anderen eine Spiegelung meiner eigenen inneren Situation und zeigt erschreckend deutlich die Geringschätzung, die ich mir selbst entgegenbringe. Der wichtigste Schritt in dieser Phase ist demnach, Vertrauen in uns selbst zu gewinnen. Wenn uns das schwerfällt, können uns Menschen helfen, die an uns glauben, die uns etwas zutrauen und wertschätzend mit uns umgehen. In sehr hartnäckigen Fällen müssen wir unbedingt therapeutische Hilfe suchen.
Vergeben und vergessen Wer die Partnerschaft trotz einem ein- oder mehrmaligen Fremdsprung des Partners/der Partnerin weiterführen will, muß die Bereitschaft aufbringen, die Gegenwart als einzig verbindlichen Ort der partnerschaftlichen Beziehung zu akzeptieren. Wer stets zurückschaut, dem/der Partnerin die in der Vergangenheit erlittenen Verletzungen unter die Nase reibt und auflistet.. sollte sich lieber trennen. »Was?« fauchte eine 54jährige Juristin, »zuerst macht er mich fix und fertig, betrügt mich nach Strich und Faden, und jetzt soll ich auch noch so tun, als ob alles nicht stattgefunden hätte. Nicht mit mir! « Und ein 37jähriger Mann klagte: »Ich werde ihr nie wieder vertrauen können, es sei denn, sie überzeugt mich davon, dass sie mich nicht mehr betrügt.« Schade. Auf diesem Boden wächst kein Grashalm mehr. Es nochmals miteinander versuchen heißt, das Wagnis einzugehen zu leben — und zwar mit allem, was dazugehört. Wer sich absichern möchte, sollte sich besser für den Rest seines Lebens ins Bett legen und eine Lebensversicherung abschliessen, als sich nochmals auf eine Beziehung einzulassen. Mit angezogenen Bremsen kommt man nicht vorwärts. Nun sind aber die seelischen Unwetter der Vergangenheit nicht spurlos an uns vorübergegangen,
und es bedarf jetzt einer speziellen Aufräumarbeit und darüber hinaus auch einer besonderen Pflege. Dabei ist darauf zu achten, dass wir die Arbeit selbst übernehmen und nicht davon ausgehen, der/ die Partnerin sei dafür zuständig. Das ist wahrscheinlich nicht einfach, empfinden wir doch gerade den/die Partnerin als Verursacherin des Schadens. Dies könnte dazu verführen, dem/der Partnerin das Büsserhemd überzuwerfen und ihn/sie die Schuld abtragen zu lassen, was sich wahrscheinlich nur wenige gefallen lassen würden. Für das Gelingen eines Neuanfangs in der Partnerschaft ist es absolut zwingend, nicht mehr in Schuldkategorien zu denken. Wer immer wieder andere für das eigene Unglück, gleich welcher Art, verantwortlich macht, kann niemals vergeben. Und wenn wir nicht vergeben, schleppen wir stets ein altes Sündenregister des/der anderen mit uns herum und plazieren es als richterliche Instanz zwischen uns. Und es wird mit Sicherheit dafür sorgen, dass wir einander nie mehr näherkommen. Die Fähigkeit, vergeben zu können, fällt uns nicht in den Schoss. Es ist vielmehr ein langwieriger Prozess, da sich möglicherweise alles in uns dagegen sträubt. Schliesslich fühlen wir uns doch im Recht — und meinen, der/die andere trage ja alle Schuld. Es ist eine grosse innere Steinhauerarbeit, bei der wir uns Millimeter für Millimeter mit jedem Schlag der ursprünglichen Form nähern, in der jeder und jede ein Einzelwesen ist und bleibt und deshalb die Verantwortung für sich und das eigene Glück selbst zu
tragen hat. Die Schuldzuweisungsmuster im eigenen Hirn zu löschen gelingt am besten, wenn wir in uns neue Denkwege anlegen und sie ganz bewusst so oft wie möglich abschreiten, bis wir sie in- und auswendig kennen und gar nicht mehr anders gehen können. Die einzelnen Stationen beim Bearbeiten der Schwierigkeiten, beim Überwinden des Schmerzes, wenn der Partner fremdgeht, kommen manchen wie ein Kreuzweg vor, sind aber eine geradezu ideale Schulung. Sie werfen uns immer wieder auf uns selbst zurück, fordern uns auf, jenen Ort in uns ausfindig zu machen, der letztlich als einzige Instanz zur Verbesserung der eigenen Situation beitragen kann. Die Schuldfrage in partnerschaftlichen Belangen als etwas völlig Überflüssiges zu betrachten, öffnet Tür und Tor: Alles wird möglich. Ist das Wort Schuld bedeutungslos geworden, erinnern wir uns nicht mehr daran, was wir vergeben sollten. »Ich habe mich zweimal scheiden lassen«, berichtete eine geistig überaus aktive 63jährige. »Aber ich kann mich nicht mehr an den Scheidungsgrund erinnern.« Sie hatte ihn vergessen. Und zweifellos grollte sie keinem der verflossenen Ehemänner. Irgendwann haben wir vergessen. Und dann ist es auch vergeben.
Ehrenkodex für Fremdspringerlinnen
Die Illusion vom perfekten Seitensprung
Obwohl sich wohl alle Fremdspringerinnen den perfekten Seitensprung wünschen und sehr viel an Phantasie und ausgeklügeltem Einfallsreichtum aufbringen, um ihn zu vertuschen, gibt es ihn ebensowenig wie den perfekten Mord. Letztendlich liegt immer eine Leiche im Keller, im günstigsten Fall mumifiziert, im ungünstigsten dringt der Verwesungsgeruch in die Beziehungsräume ein. Aber auch durch Affären gebeutelte Lebensgefährtlnnen von Fremdspringerinnen philosophieren darüber (falls sie dazu überhaupt noch in der Lage sind), wie die Fremdgeh-Angelegenheit einzurichten sei, um die Schmerzfrequenz möglichst niedrig zu halten. In solchen Diskussionen zeichnen sich gegensätzliche Richtungen ab: der Wunsch nach absoluter Diskretion, denn »was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss«, versus die Forderung nach totaler Offenheit. Dazwischen tummeln sich mannigfaltige Differenzierungen; da ist vom Einmalausrutscher, dem One-Night-Stand die Rede, der möglichst geheimgehalten werden solle, auch im Wiederholungsfall mit verschiedenen Partnerinnem handle es sich hin- gegen mehrmals um die gleiche Person sollte unbedingt darüber gesprochen werden, ganz besonders aber dann, wenn nicht nur der Geschlechtsapparat, sondern auch die Seele am Geschehnis beteiligt sei. In der akuten Phase dürfte es freilich ziemlich schwierig sein, das eine gegen das andere exakt abzugrenzen. Auch die Fremdspringerinnen selbst halten am Detail fest, krümeln Fakten auseinander und wollen darin
plausible Begründungen für ihre Verheimlichungstaktik finden, die sie entlasten. Die absolute Diskretion bringt zunächst für alle Beteiligten grosse Vorteile: Alles bleibt beim alten. Die eheliche Infrastruktur bleibt unangetastet, der Alltag läuft vordergründig störungsfrei weiter, die partnerschaftliche Kommunikation folgt weiterhin ungeschriebenen Gesetzen, gegenseitige Ansprüche, Forderungen und Wünsche sind in Spielregeln eingebunden und funktionieren mehr oder weniger reibungslos. Die Eheleute halten sich an ihre Textpassagen, die sie bereits auswendig hersagen können. Die Fremdspringerinnen achten in dieser Inszenierung besonders auf Präzision, sie scheuen keine Mühe, schliesslich hängt das Gelingen der Geheimhaltung davon ab. Es wird grössten Wert darauf gelegt, Absenzen glaubwürdig zu begründen. Die ausgeklügelten Geschichten sind gut durchdacht und mehrschichtig angelegt, so dass sie nicht gleich bei der erstbesten Panne auffliegen. Die Zeiteinheit, die der Affäre gewidmet wird, ist so kurz wie nötig und so lang wie möglich bemessen. Damit wird der Ehe- und Partnerbeziehung absolute Priorität eingeräumt: Sie ist vorrangig und steht unantastbar an erster Stelle, wie es etwa in Kulturen der Fall ist, in denen es Männern erlaubt ist, mehrere Frauen zu heiraten, wo eine Hauptfrau im Vordergrund steht und Nebenfrauen im Hinterzimmer sitzen oder liegen. Den schwierigsten Part müssen in dieser Konstellation die aushäusigen
Geliebten übernehmen und sich mit knappen Zeitlöchern fürs Liebesleben begnügen. Handelt es sich für sie um mehr als nur um ein kurzes sexuelles Abenteuer, reduziert sich ihr Leben auf die wenigen Stunden des Zusammenseins mit dem bereits gebundenen Geliebten. Vor allem an Wochenenden und Feiertagen ist dies sehr unangenehm, ebenso in schwierigen Lebenssituationen, in denen das verständliche Bedürfnis entsteht, sich mit dem Menschen, der einem am nächsten steht, auszutauschen, die geliebte Stimme zu hören oder sich ohne Vorabmachung spontan zu treffen. Frauen eignen sich besonders gut als Geliebte. Sie verzichten weitgehend auf ein eigenes Leben, um sich voll und ganz auf die wenigen Momente zu konzentrieren, in denen sich der Geliebte aus seinem Alltag wegstehlen kann. Sind noch zusätzlich unerwartete Zeitzwischenräume in Aussicht, die sich durch günstige Termine ergeben, wie etwa 20 Minuten vor einer Sitzung oder 35 Minuten zwischen zwei Verpflichtungen., werden sie auf alle Aktivitäten verzichten, um allzeit für ihn bereit zu sein. Sie zentrieren ihr Leben auf die rationierte Zeit mit ihm, um den grösstmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Andere freundschaftliche Kontakte werden eingeschränkt, es wird auf stundenlange Telefongespräche mit der besten Freundin verzichtet, um die Leitung für alle Fälle freizuhalten. Befindet sich die Waschmaschine ausserhalb der Wohnung, verzichten sie selbst auf den Gang zur Waschküche, um keinen Anruf von ihm zu verpassen, und ziehen es vor,
die Wäsche von Hand zu waschen. Diese Frauen stellen sich total auf die telefonische Einwegkommunikation ein, um immer für ihn erreichbar zu sein, unterlassen eigene Aktivitäten einer telefonischen Kontaktaufnahme und halten sich strikt an die Weisung, ausschliesslich dienstags und donnerstags zwischen 7 Uhr 35 und 7 Uhr 55 über Natel eine Verbindung zu suchen. Ausser jenem Teil, der sich in der Position der/des Geliebten befindet, ist mit einem solchen Diskretionsarrangement zunächst allen gedient. Und eigentlich könnten solche Beziehungen über Jahre und Jahrzehnte erfolgreich weitergeführt werden, solange die Geliebten mitspielen und nicht irgendwann mehr fordern. Antonia hätte wahrscheinlich ihre heimliche Liebesbeziehung mit ihrem Pfarrer bis an ihr Lebensende weiterführen können, hätte sie ihm nicht das Messer auf die Brust gesetzt und eine Entscheidung von ihm gefordert. Aber auch auf der Seite der Fremdgeherinnen hat die ganze Sache einen Haken. Auch bei ihnen scheint irgendwo in der hintersten Ecke ihres Unterbewusstseins ein stecknadelgrosses Bedürfnis zu existieren, lieber in der Wahrheit als in der Lüge zu leben. Obwohl fremdgehende Menschen oft durchaus überzeugend verkünden: »Ich habe damit überhaupt keine Probleme!«. dringen über ihre Verhaltensweisen verschlüsselte Botschaften ans Licht, die von etwas anderem berichten.
Hubertus hielt die Affäre mit Wanda strengstens geheim. Er belegte mit ihr einen Meditationskurs, um ihrem Zusammensein einen offiziellen Anstrich zu verleihen. Ebenso war das wöchentliche Stelldichein in der Kapelle gut getarnt. Dennoch unterliefen ihm einige Fehler, die nicht geschehen wären, wenn auch sein Unterbewusstsein an der Geheimhaltung interessiert gewesen wäre. Wie kommt ein intelligenter, erwachsener Mann dazu, während der Abwesenheit seiner Ehefrau, deren Rückkehr nur vage bekannt und die zudem mit dem Auto unterwegs war, also jederzeit zurückkehren konnte, sich mit der Geliebten im eigenen Ehebett zu tummeln? Als Raina später nach Beweisen suchte, fand sie sie auch relativ problemlos, weil Hubertus die »Liebeszettelchen« in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt hatte. Auch hier zeugte sein Verhalten nicht gerade von grosser Vorsicht. Im Gegenteil. Irgendetwas anderes als sein Verstand schien gelegentlich die Führung zu übernehmen und ihn diese Patzer machen zu lassen, die dann auch prompt Wirkung zeigten und die Sache zum Auffliegen brachten. Auch bei Raina muss etwas mit am Werk gewesen sein, dass sie es immerhin schaffte, über Jahre sämtliche Zeichen zu übersehen und unbeachtet links liegenzulassen, so dass sie sich nicht bemüssigt fühlte, sie zu dechiffrieren. Heute erinnert sie sich, dass sie mehrere Male Dinge gefunden hatte, die sie leicht auf die Spur hätten führen können. So fand sie in einer seiner Jackentaschen einen Ohrklipp, der Wanda gehörte, im Auto eine Haarspange von Wanda und in der
Kapelle ein Frotteehandtuch aus ihrem eigenen Haushalt. Sie ignorierte den Fund und warf alles bis auf ihr Handtuch in den Müll. Es scheint, dass sich bei einigen Paaren der Wunsch nach Diskretion zu einem Geheimbündnis verdichtet: »Ich weiss nichts, ich will nichts wissen, und ich tue so, als ob ich nichts wüsste«, lautet die Devise der einen Seite, während die Gegenseite ebenfalls mitspielt: »Ich tue so, als ob ich nicht wüsste, dass er/sie alles weiss.« Sofern die Leiche perfekt mumifiziert wurde, funktioniert dieses stille Abkommen. Geschah es jedoch mangelhaft, kommt es irgendwann dennoch zu einer bakteriellen Verseuchung, und die »Betrogenen« reagieren mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Spätestens jetzt sollten Fremdgängerinnen die Verantwortung voll und ganz übernehmen und dafür sorgen, dass unverzüglich die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit, ans Tageslicht kommt. Schliesslich weiss nur er/sie über die Hintergründe Bescheid, die eventuell zu einer gesundheitlichen Irritation des Partners/der Partnerin führten, und es sollte alles unternommen werden, damit die stinkende Leiche abtransportiert werden kann. Dazu bedarf es wahrscheinlich der Hilfe anderer, die sich beruflich mit der Entsorgung psychischer Alt- und Neulasten befassen. Der unschädlichste und auch perfekteste Seitensprung ist wahrscheinlich jener, der gar nie stattgefunden hat. Für diesen Fall sollte allerdings gewährleistet sein, dass die durch den Verzicht — ob freiwillig oder nicht —
bedingten Entzugserscheinungen in Grenzen gehalten oder auf andere Weise kompensiert werden können. Über die Selbstregulation müssen überdies andere Möglichkeiten eines Ausgleichs etwaiger Beziehungsdefizite gefunden werden.
Ein unlösbares Problem lösen Auch wenn Lebensgefährtlnnen nicht mit Krankheit auf das reagieren, was sie offiziell nicht wissen, bleibt die Frage, ob die Lebenspartnerinnen über die Liebschaft aufgeklärt werden sollten, ein Dauerbrenner. Man schiebt sie gleich einem Schneepflug vor sich her, angetrieben von der Hoffnung, sie werde sich wie Schnee an der Sonne von allein auflösen und beantworten. Die FremdgehpartnerInnen unterliegen nicht selten den gleichen Fehlern wie die »Betrogenen«: Sie richten den Scheinwerfer auf den anderen. So argumentieren Fremdgeherinnen häufig, sie könnten ihren Partnerinnen unmöglich die volle Wahrheit zumuten, da diese sie unter keinen Umständen ertrügen: Diese Begründung ist immer falsch. Die Verheimlichung findet deshalb statt, weil zutiefst befürchtet wird, dass die Partnerbeziehung in die Luft flöge. Na und? Es ist in den meisten Fällen ohnehin eine Frage der Zeit. Die Bombe tickt. Irgendwann geht sie los. Die Zeit der Verheimlichung verleiht ihr zusätzliche Sprengkraft. Und nicht selten ist es gerade die Verheimlichung, die
hinterher vom anderen Partner schlecht akzeptiert werden kann. Sie wird von den »Betrogenen« als doppelter Betrug erlebt, und nicht selten werden im Rückblick sämtliche Zeitstationen endlos durchgekaut und auf Lügengeschichten untersucht. FremdgängerInnen sollten wissen, dass es oft nicht das Fremdgehen an sich ist, sondern die aufgetischten Lügen, die hinterher genau zu dem führen, was befürchtet wurde: zum Abbruch der Beziehung. Ein junger Mediziner stand vor dem für ihn unüberwindlichen Hindernis, sich vorstellen zu müssen, dass seine Freundin ihn betrog und belog, während er mitten im Staatsexamensstress hing: »Dass sie mich betrog, damit werde ich fertig. Dass sie mich aber über die ganze Zeit meines Examens belogen hat, mir dennoch vordergründig schön ins Gesicht tat, das kann ich nicht verdauen.« Er trennte sich von ihr. Und eine 28jährige: »Während der ganzen Schwangerschaft hat er mich nicht nur betrogen, sondern auch täglich angelogen. Wenn ich zurückschaue, kann ich es drehen und wenden, wie ich will, ich fühle mich jämmerlich hintergangen.« Wer fremdgeht, spielt mit hohem Einsatz. Der Kunstgriff, die Partnerinnen zu PatientInnen zu machen, um derentwillen man sich grosse Sorgen macht und gar bereit ist, ihm/ihr zuliebe auf die Wahrheit zu verzichten, ist völlig überflüssig. Die wenigsten Menschen brechen zusammen und bringen sich um, weil sie von ihren LebensgefährtInnen erfahren, dass eine aushäusige Liebschaft besteht. Aber
nicht wenige haben irgendwelche Krankheiten produziert, sich Operationen unterzogen oder können sich in der Ungewissheit nicht mehr zurechtfinden und drehen beinahe durch. Den Partner/die Partnerin als schwach, labil und wenig in sich gefestigt hinzustellen, dient in den meisten Fällen vielmehr dazu, die eigene Schwäche zu verschleiern. Wer heimlich unter dem Hag durchfrisst, hat eindeutig zu wenig Mut, zu sich und zu seinen Schwierigkeiten und Bedürfnissen zu stehen. Da liegt es um einiges näher, sich vor sich selbst und anderen als die grossen Rücksichtsvollen hinzustellen, für die das Wohlergehen der Lebensgefährten an erster Stelle steht. Wäre dies aber tatsächlich der Fall, hätten sie sich schon viel früher Gedanken darüber gemacht und eventuell auf die aushäusige Liebschaft verzichtet und nach anderen Varianten selbstregulierender Massnahmen gegriffen. Aber wenn es darum geht, sich selbst in die Tasche zu lügen, ist uns nichts zu kompliziert. Auch scheint es viel einfacher zu sein, gedankliche Klimmzüge zu vollziehen und die absurdesten theoretischen Konzepte auszuhecken. In den 68ern gehörte die Philosophie des totalen ehelichen und partnerschaftlichen Freigangs zur alltäglichen Hirnakrobatik der Intellektuellen. In den 80ern folgten viele dem sexuellen Befreiungsruf eines Guru, der ihnen die Absolution für die multiplen Sexualvarianten erteilte. Sie eilten in Scharen herbei, vor allem die durch Erziehung Verklemmten und
Gehemmten mit tausend Verbotstafeln im Kopf. Gelegentlich sind auch heute noch Menschen anzutreffen, die unbeholfen in ihrem veralteten Oldtimer-Vokabular eine Gesinnung vertreten, die nicht mehr so richtig in die Zeit passen will: »Ich geniesse meine ganzheitliche sexuelle Freiheit (endlich!) in vollen Zügen und habe gleichzeitig mehrere Beziehungen. Bei den einen ist das erotische Moment mehr im Vordergrund, bei den anderen das rein sexuelle. Ich erlebe viele sehr tiefe, spirituelle, sexuelle Begegnungen, die auch für meine jeweiligen Beziehungsgefährtlnnen wunderbar bereichernd und extrem erfüllend sind. Ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen, vollsinnlich das ganze ganzheitliche Spektrum der Sexualität im Hier und Jetzt auszuleben.« Für diese Menschen wäre es zweifellos praktischer, die körperliche Geographie wäre umgekehrt angeordnet, das Geschlecht würde auf der Schulter sitzen und der Kopf hinge zwischen den Beinen. So könnten sie zum Beispiel unnötig vertane Zeit in Warteschlangen vor Kassen im Supermarkt dazu nutzen, frei von umständlichem Hantieren an Slips und anderen hinderlichen Wäscheteilen, sexuelle Schnellkontakte zu pflegen. Die gleichzeitig auf mehrere Personen ausgedehnte Beziehung galt damals als die Erlösung aus dem Fremdgeh-Dilemma. Viele atmeten auf. Das Problem schien mit einem einzigen Schlag gelöst. Doch bei den ausübenden PraktikerInnen schlichen sich rasch erste Betriebsstörungen ein. Da verspürten zwei das drängende Begehren, nicht zu dritt, sondern nur zu
zweit den Beischlaf zu vollziehen. Archaische Bilder vermasselten ihnen jäh den Traum von der friedlichen Dreierkonstellation, die sie sich als Vermehrung und Steigerung der Lust phantasiert hatten. Da sich aber die menschliche Beziehungssituation nach der einfachen mathematischen Formel geschlechtlicher Hälftigkeit abspielt, die dahin zielt, sich mit einer anderen, gegenoder gleichgeschlechtlichen Hälfte zu einem Ganzen zusammenzufinden, ging die Rechnung nicht auf. Es ist bedeutend schwieriger, aus drei Hälften ein Ganzes zu bilden. Eine der Hälften wird stets störend und überflüssig sein und letztlich ausgeschlossen werden – auch wenn der Ausschluss alternierend geschieht. Die totale Offenheitsdevise »Hauptsache: Die Wahrheit sagen, dann darf ich alles« scheint ebenfalls nicht reibungslos zu funktionieren. Die Chance ist gross, wieder sich selbst etwas vorzumachen und die Offenheit damit zu begründen, den Lebensgefährten/die Lebensgefährtin nicht dem Ungewissen auszusetzen. Es gibt Menschen, die darauf bestehen, jede kurze Zwischenverpflegung getreulich zu melden, dafür aber auch den Segen für den Freigang zu erhalten. So soll die Offenheit lediglich dazu dienen, dass die aushäusige Lust nicht durch etwaige störende Gewissensbisse beeinträchtigt wird. Als Gegenleistung wird den Gewährenden eine detaillierte Schilderung des Abenteuers in Aussicht gestellt mit gleichzeitiger Beteuerung, dass im Grunde genommen der Herzkern nur ihnen allein gehöre.
Die einzige Möglichkeit, sich beim Fremdgehen nicht in zusätzliche Probleme hineinzuwirtschaften, besteht darin, eine ehrliche Konfrontation mit sich und seiner eigenen Wahrheit zu suchen. Damit wir eine Ahnung bekommen, wer wir eigentlich sind. Damit wir uns und unseren Bedürfnissen und Verhaltensweisen nicht wie seelische Analphabeten gegenüberstehen. Und vor allem, damit wir unsere Partnerinnen nicht als Mülldeponie missbrauchen, in die wir alle unsere Schwierigkeiten und ungelösten Probleme hineinkippen.
Ich heiße Hans und gehe fremd
Eine grosse Gefahr beim Fremdgehen ist langfristig die oft virtuose Verdrängungsarbeit, die geleistet werden muss, um der eigenen Wahrheit nicht begegnen zu müssen. Allein ein mehrstöckiges Argumentationsgebäude zu unterhalten, in dem sich die einzelnen Fremdgeh-Begründungen nicht widersprechen, kostet eine immense Energie. Über Jahrzehnte eine solch perfekte akrobatische Verrenkungsleistung zu vollbringen, festigt zusehends Vermeidungsstrategien, die
helfen, den Blick nicht gezielt auf sich selbst richten zu müssen. Im fortgeschrittenen Alter bleiben noch ein paar abgegriffene Phrasen und Floskeln übrig, die sowohl für andere als auch für einen selbst eine gespenstische Leere erzeugen. Wer hingegen den Mut hat, sich selbst einmal ins Zentrum zu rücken, um etwas Ahnung von den eigenen Verhaltensweisen zu erhalten, wird unter keinen Umständen als Grund für die Verheimlichung der Affäre eine übergrosse Verletzlichkeit des Partners/der Partnerin angeben, sondern sich mit den eigenen Problemen konfrontiert sehen. Fremdgängerinnen, welche die Affäre verheimlichen, haben Angst. Angst, den/die PartnerIn, der/die noch immer stellvertretend für Heimat steht, aufgeben zu müssen und zu verlieren. Sie haben Angst, aus der Familie, in der sie sich heimatlich eingebettet fühlen, verstossen zu werden. Zudem haben sie Angst, aus dem Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis ausgeschlossen zu werden. Sie haben Angst, den Hund, die Katze, den Kanarienvogel aufgeben zu müssen. Sie haben Angst vor dem Ungewissen mit einem/einer neuen PartnerIn. Sie haben tausend Ängste, die sie alle nicht wahrhaben wollen, auf die Kurzformel reduziert: Es ist besser, die Affäre aus Rücksicht auf den/die PartnerIn zu verheimlichen. Und damit nehmen sie einen absolut unzulässigen Übergriff auf die individuelle Welt der Partnerinnen vor, machen sie zu Patientlnnen, zu psycho-
therapeutischen Sonderfällen oder gar zu psychiatrischen Notfällen. Das, was von den Fremdgängerinnen zu leisten wäre, nämlich sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen, wird auf die »Betrogenen« übertragen. Als ob sie das Problem stellvertretend lösen müssten! So wie die »Betrogenen« durch die Affäre auf sich selbst zurückgeworfen werden und die daraus entstandenen Probleme nur für sich persönlich lösen können, so werden auch die Fremdspringerinnen die Problemlösungsarbeit für sich allein bewältigen und sich zu ihrer eigenen Wahrhaftigkeit durcharbeiten müssen. Letztlich ermöglichen es beide Positionen, den Zugang zu sich selbst besser zu erschliessen, mehr über sich in Erfahrung zu bringen und eine grössere Seelenspannweite zu gewinnen. Probleme sind nur dann lösbar, wenn wir genau wissen, wo wir ansetzen müssen, und wenn sie am Konfliktort bearbeitet und nicht an den/die PartnerIn delegiert werden. Der erste Schritt ist derjenige, der mich meiner eigenen Wahrheit näher bringt. Nur in der Wahrheit ist es möglich, mit einer Fremdgeh-Geschichte verantwortungsbewusst um- zugehen und das Wohl des Partners/der Partnerin zu berück- sichtigen. Es gibt keine Patentrezepte. Wer sich selbst gegenüber nicht ehrlich sein kann, wird keinen Weg finden, der günstige Folgen nach sich zieht. Erst wenn es gelingt, sich ein möglichst klares Bild von der eigenen seelischen Situation zu machen, werden wir eine Entscheidung treffen können, ob der/die PartnerIn
über die Affäre aufgeklärt werden sollte oder lieber nicht. In diesem Zusammenhang ist für Fremdspringerinnen folgendes zu bedenken: 1 Nicht der/die PartnerIn ist das Problem. Sondern ich habe eines oder mehrere, die ich versuche, mit einer Affäre selbst zu regulieren. 2. Ich verheimliche die Affäre nicht vor meinem/meiner PartnerIn, weil er oder sie die Wahrheit nicht ertragen würde, sondern weil ich Angst vor den Konsequenzen habe. 3. Wenn der/die PartnerIn nach der Wahrheit verlangt, gehört es zur Grundhaltung von Wertschätzung dem/der anderen gegenüber, ihn/sie nicht zu belügen. 4. Wenn
der/die Partnerin mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, ob körperlicher oder psychischer Art, zu kämpfen hat, muss die Wahrheit unverzüglich auf den Tisch. 5. Wenn ich feststelle, dass ich das Interesse an meinem/meiner Partnerin verliere, sollte ich ihm/ihr nicht zumuten, noch länger mit mir zusammenzuleben.
Grundschritte im Pas de deux
Vom Denken gehen die Dinge aus Felix kann nicht tanzen. Ich hingegen tanze leidenschaftlich gern. Felix möchte schon seit Jahren eine Disko besuchen. Mir graut davor. Er liebt Aktion. Lärm und Unterhaltung, während ich mir nichts Schöneres vorstellen kann, als wenn alles um mich herum schweigt. Er liebt Filme, in denen es möglichst wild und heftig knallt und inhaltliche Verflechtungen kaum zu entwirren sind. Dazu quietscht er wie ein Kind vor Vergnügen und blättert gleichzeitig in einer Zeitung. Ich kann einem Inhalt nur folgen, wenn nicht geschossen wird.. alles verständlich und möglichst didaktisch aufgebaut ist, vor allem aber keine Nebengeräusche meine Konzentration stören. Er ist elf Jahre jünger und eher zu dünn. Ich bin eindeutig zu dick. Vieles können wir nicht gemeinsam unternehmen. Wir sind zu unterschiedlich. Eigentlich passen wir nicht zusammen. Trotzdem leben wir seit 15 Jahren miteinander. Am Anfang mehr schlecht als recht, wir hatten häufig Meinungsverschiedenheiten, kleinere und grössere Streitereien. Zweimal trennten wir uns. Das erste Mal nach drei Jahren für eine Woche, da ging ich fremd. Das zweite Mal nach neun Jahren für fünf Wochen, da ging er fremd – und ich auch. Die Trennung ging immer von mir aus. Ich hatte das Gefühl, grundsätzlich auf der Schattenseite des Lebens
zu stehen und stets die schrecklichsten Männer an Land zu ziehen. Ich fühlte mich zu wenig liebevoll behandelt. Ich hatte den Eindruck, immer die Gebende zu sein und dafür nie etwas zu bekommen. Bis ich ihm eines Tages einen Brief schrieb und ihm den Laufpass gab. Mit der Begründung: »Meine Vorräte sind alle aufgefressen. Die paar Brotkrumen, die noch übriggeblieben sind, behalte ich nun für mich.« Felix reagierte ziemlich betroffen und fand es vor allem jammerschade, dass ich mich künftig lediglich von vertrockneten Krümeln ernähren wollte. Er schlug vor, einige Kilo Vollkornmehl, Zucker, Butter sowie mehrere Dutzend Eier zu kaufen, um die leeren Küchenschränke wieder aufzufüllen. Beim Gedanken an eine derartige Überfülle machte ich die Trennung sofort rückgängig. Und alles ging im alten Trott weiter. Später fiel mir auf, dass ich die Begründung, stets in der Rolle der Gebenden gewesen zu sein und dafür nichts zurückbekommen zu haben, bereits mehrmals auch in früheren Beziehungen als Trennungsgrund aufgeführt hatte. Raina jammerte mir ebenfalls die Ohren voll, sie sei immer diejenige gewesen, die alles gegeben habe. Aber auch Hubertus wurde das Gefühl nicht los, dass die Rechnung von Soll und Haben zu seinen Ungunsten ausfiel, sowohl in der Beziehung mit Raina als auch mit Wanda. Das machte mich stutzig. Wenn beide alles, was sie an Zuneigung, Zärtlichkeit und Achtsamkeit aufbringen, dem anderen schenken,
müsste doch dieser zumindest das Gefühl haben, verwöhnt zu werden. Wohin aber floss das Kapital, wenn doch beide sich fühlen wie ausgenommene Weihnachtsgänse? Menschen, die sich grundsätzlich als Zukurzgekommene fühlen, haben eine genaue Buchführung über Heller und Pfennig. Dem buchhalterischen Auge entgeht nichts. Und weil bereits ein riesiges Soll mit in die Beziehung eingebracht wurde, kann der andere Teil liefern, so viel er will, die Zuschüsse sind immer zu gering. Nimmersatt verschlingt das grosse Defizit sämtliche Zuwendungen. Zusätzlich werden die Forderungen, vom Partner/von der Partnerin glücklich gemacht zu werden, mit mannigfachen Mitteln wie Erpressung, Trotz, Vorwürfen, Verweigerung und Wut ständig erhöht. Diese fordernde Haltung, über die Konten zu wachen und alles sofort zu verbuchen, macht uns beziehungsunfähig, da wir die Lebensgefährtlnnen als Mensch, der auch eigene Wünsche und Bedürfnisse hegt, völlig aus den Augen verlieren. Der Partner/die Partnerin wird zur spendenden Milchkuh degradiert, zum emotionalen Goldesel, zum sprühenden Zärtlichkeitsdispenser. Felix widersetzte sich sämtlichen Forderungen, mir mein Glück bescheren zu wollen. Er fühlte sich dazu nicht in der Lage. »Was soll ich mit einem Mann anfangen, der mich nicht glücklich machen kann? « fragte ich im Chor mit anderen Frauen. Wir einigten uns in Frauengruppen auf die Formel: »Ich hab' ein
Recht darauf, dass er mich glücklich macht.« Unter dieser Fahne rannte ich einige Jahre lang in die verkehrte Richtung. Die Forderung ist mindestens so falsch wie der Ruf nach der sogenannten sozialen Gerechtigkeit: weniger Arbeit, höhere Renten, bei Arbeitslosigkeit und Krankheit eingebettet im grossen staatlichen Kinderwagen. Woher die Mittel nehmen, wenn die Kassen leer sind? Der Staat soll bezahlen. Wir leben in einer Zeit, in der viele nicht erwachsen werden wollen. Vater Staat soll für uns aufkommen. Wer aber ist der Vater? Und wer das Kind? Wer sein Glück vom Partner/von der Partnerin fordert, begibt sich freiwillig in die Position eines hilflosen Kindes. Dabei haben viele Glück im Unglück: Die meisten Partnerinnen weigern sich strikt und widersetzen sich beharrlich sämtlicher Forderungen. Das ist die beste Lektion. Dadurch wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen und landet bei jener Instanz, die einzig für das Glück verantwortlich ist: bei sich selbst. Der erste Grundschritt im Pas de deux lautet daher: Wir können nur für uns allein den Tanz und die Schrittfolge lernen und nicht erwarten, dass der/die Partnerin für uns die Figuren auswendig lernt und die Schritte mitzählt. Dann geht es darum, die Choreographie einzuhalten. Schuldzuweisungen für selber verpatzte Figuren sind unzulässig. Zudem sollten wir darauf achten, dem anderen nicht auf die Füsse zu treten, und, falls es doch einmal passiert, uns dafür zu entschuldigen und nicht den/die Partnerin für das eigene Missgeschick verantwortlich zu machen. Falls der Partner lieber Walzer tanzt, wir aber einen anderen
Tanz bevorzugen, sollten wir ihn nicht des schlechten Geschmacks bezichtigen oder versuchen, ihn umzuerziehen. Freuen wir uns darüber, wenn er gelegentlich jemanden findet, der mit ihm seinen Lieblingstanz tanzt. Das Gelingen einer Partnerschaft hängt nicht davon ab, wie oft wir auf dem Parkett das Tanzbein gemeinsam schwingen, sondern wie viel Toleranz wir für die Vorlieben des anderen/der anderen aufbringen. Jeder/jede ist für sein Glück selbst verantwortlich. Schwierige Situationen fordern uns heraus, alles, was an verborgenen Fähigkeiten in uns steckt, zu mobilisieren, um die Hürden zu überspringen. Falls mir etwas nicht gefällt, liegt es an mir, mich so lange mit dem Hindernis zu beschäftigen, bis ich die Fähigkeit entwickelt habe, es zu überwinden. Ist die Latte zu hoch gesteckt, und ich kann das Hindernis trotz Mobilisierung all meiner Kräfte nicht überwinden, ist es besser, die ganze Übung abzubrechen und sich anderen, neuen Aufgaben zuzuwenden. Jedenfalls ist es absolute Energieverschwendung, den Partner/die Partnerin zu Veränderungen zu veranlassen, damit meine Herausforderung geringer wird und besser zu bewältigen ist. Fremdgehen ist ein mit besonderen Schwierigkeiten verbundenes Problem in der Partnerschaft. Deshalb fordert es uns bis an die Grenzen heraus, alles, was an Möglichkeiten in uns steckt, zu entfalten, um grössere seelische Gebiete in uns zu erschliessen. Diese Auseinandersetzung ist ein Schulungsweg. Sie ist ein lange dauernder Prozess, der wohl nie ganz beendet ist.
Wahrscheinlich wird die Erkenntnis der Möglichkeit einer Umsetzung im Alltag vorauseilen, und vielleicht sind wir enttäuscht, wenn wir zwar Zusammenhänge durchaus erkennen, aber nicht danach zu handeln vermögen. Diese Spannung auszuhalten ist nicht einfach. Vielleicht würden wir gelegentlich am liebsten das Handtuch werfen und sämtliche Bemühungen unverzüglich einstellen. Solche Verunsicherungen gehören dazu. Wir sind Bürger zweier Welten, und von jeder Seite geht ein starker Sog aus. Es geht aber nicht darum, uns für die eine oder andere Richtung zu entscheiden, sondern der inneren Spannung standzuhalten und uns möglichst weit auszudehnen. Damit wir unserer zweifachen Herkunft gerecht werden und die Treue halten. Diese Standfestigkeit ist nicht auf Anhieb zu erreichen. Wir benötigen zuerst Baupläne. Mit diesen Plänen entscheiden wir uns bewusst für die Forderung, uns zu entwickeln und uns auf eine Bewährungsprobe einzulassen. Bereits Buddha lehrte 500 v. Chr., dass alle Dinge vom Denken ausgehen. Und in der christlichen Kultur bestätigt das Johannes-Evangelium: »Im Anfang war das Wort ...« Bewährung
Raina hat gestern nacht noch einmal angerufen. Ab jetzt will sie bis zur Gerichtsverhandlung nichts mehr von sich hören lassen. Auf ihren Wunsch hin führten wir unsere nächtlichen Telefongespräche unter Ausschluss sämtlicher äusserer Fakten. Sie wollte sich im Rückblick auf das Geschehene nicht durch sachliche Dinge stören lassen. So hatte ich bislang weder eine Ahnung, wann die Verhandlung stattfinden soll, noch wusste ich, ob sie noch mit Hubertus zusammenlebte. Ich respektierte ihren Wunsch. »Ich habe so viel über mein Leben begriffen, dass ich beinahe ein wenig froh bin, dass alles so gekommen ist«, sagt sie. »Ich bin mir heute nicht mehr so fremd wie vorher.« Sie wirkt beinahe abgeklärt. Ich aber kann die ganze Nacht kein Auge zutun. Was wird geschehen, wenn sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird? Hat sie wohl einen guten Verteidiger? Sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die sie entlasten könnten, wie beispielsweise ein psychiatrisches Gutachten? Gegen drei Uhr halte ich es nicht mehr aus und wecke Felix. Er geht in die Küche, macht Kaffee und bringt ihn ans Bett. Wie sonst morgens. Einmal er, einmal ich. »Was ist los?« will er wissen. Ich kann es ihm auch nicht genau erklären. jedenfalls nur so viel, dass ich in grosser Aufregung wegen Rainas Gerichtsverhandlung bin. Dass mir Raina den genauen Termin nicht nennen wollte, heizt meine Aufregung noch zusätzlich an. Wir beraten, ob ich wohl nochmals zu ihr fahren soll. Aber alles in mir sträubt sich. Ich befürchte, wieder in Situationen hinein-
zugeraten, in denen ich wie ein störendes Möbelstück herumstehe. Hierbleiben kann ich auch nicht. Ich halte die Warterei nicht aus. Felix schlägt vor, in die entgegengesetzte Richtung an die Nordküste zu fahren und Antonia zu besuchen, die dort mit einer Freundin in einem Ferienhaus Urlaub macht. Eventuell können wir noch einige Tage auf meiner Lieblingsinsel verbringen, die dort in der Nähe windumweht im Atlantik ruht. Und auf dem Heimweg könnten wir zum Flughafen Rouen fahren, um endlich umfassend abzuklären, ob ich noch eine Chance habe, zu einem Flugschein zu kommen. Ich bin sofort einverstanden. Ich will aus der Zeit herausfallen, ich will nicht in die Ungewissheit hinein warten müssen. Sondern einfach das Hirn mit anderen Daten füttern, ihm andere Knochen hinwerfen und hoffen, dass es darauf anspringt. »Die Hunde gehen nicht ins Hundeheim, sondern bleiben hier«, entscheidet Felix. Seit wir in der letzten Zeit zweimal Einbrecher zu Besuch hatten, die von den Hunden aber zuverlässig vertrieben wurden, will er kein Risiko mehr eingehen. Nach diesen Vorfällen schaffte er sich zusätzlich noch Schusswaffen an. Für alle Fälle. Mich wollte er mit einer kleinen Damenpistole beruhigen, die mir aber derart Angst einjagte, dass ich sie hinter meinen viel zu engen Tennisröckchen und T-Shirts verstaute, damit ich sie nie zu Gesicht bekomme. Ich wollte Felix die Waffen ausreden. Er denkt nicht daran, sie wieder
abzuschaffen. Jetzt liegt immer mindestens eine aus seiner Sammlung schussbereit neben seinem Bett. Das erste Mal nach seiner Bewaffnung, es war November, als die Hunde nachts zu bellen begannen, sprang er unverzüglich aus den Federn, riss das Fenster sperrangelweit auf und stand da, splitterfasernackt, und inspizierte mit dem Infrarotsichtgerät am Gewehrlauf die ganze Umgebung, während ich schlotternd und frierend im Bett ausharrte. Felix schien den Feind ausfindig gemacht zu haben und freute sich bereits darauf, ein paar Warnschüsse in die Luft abzugeben, was aber aus technischen Gründen nicht funktionieren wollte. Da warf er sich, noch immer nackt, vor dem weit geöffneten Fenster zu Boden, hantierte an seinem Schiessgerät herum, während ich schrie, er solle das Fenster schliessen, was er aber nicht hörte. Da ich befürchtete, ein Schuss könnte sich ungewollt lösen und mich treffen, lag ich, vor Angst und Kälte zu Eis erstarrt, im Bett. Er hantierte noch lange. Ohne Erfolg. Da warf er das Schiesseisen wütend gegen das Bett, schlüpfte eilig in einen Trainingsanzug und eilte in den Park, um zusammen mit den Hunden nach den Einbrechern zu suchen. Ich lag noch lange bei offenem Fenster wach. Erwischt hat er keinen. Aber gesehen hat er einen. »Die kommen bestimmt wieder«, meinte er zuversichtlich. »Und dann werde ich ihnen eins überbraten.« Ich würde die Hunde lieber ins Hundeheim bringen, um sie vor etwaigen Gefahren zu schützen. Nachdem wir mehrere Male umsonst versucht haben,
Antonia telefonisch zu erreichen und unseren Besuch anzukündigen, fahren wir dennoch los. Falls wir sie nicht dort antreffen, werden wir unseren Aufenthalt auf der Insel etwas ausdehnen und auf der Durchreise nochmals bei ihr vorbeischauen, obwohl es nicht unser Stil ist, irgendwo unangemeldet hereinzuschneien. Wir fahren gemächlich durch die Lande. Ich rufe jeden Tag unsere Haushälterin an und erkundige mich, wie es den Hunden geht. Das Korn steht in voller Reife, die Felder sind ockergelb, weit und grenzenlos. Schon von weitem sehen wir das kleine Bretonenhäuschen mit dem Schieferdach. Es kauert verloren auf einer kleinen Anhöhe, die halb Felsenklippe, halb von spröden Wiesenbüscheln bewachsen ist. Es stinkt entsetzlich. Das ist die Ebbe, meint Felix, was ich ihm aber nicht glauben will. Es ist niemand da, obwohl alle Türen offenstehen. Weit draussen auf der Klippe entdeckt Felix zwei Gestalten, die näher kommen. Allmählich erkenne ich Antonia, sie ist nicht mit einer Freundin hier, sondern mit einem männlichen Begleiter. Sie schlendert barfuss, die Schuhe in der einen Hand, in der anderen die Hand des Pfarrers. Sie sind also wieder ein Paar, denke ich. »Jawohl«, sagt Antonia, als ob sie meine Gedanken lesen könnte, »so ist das eben.« Es folgt eine herzliche Begrüssung und ein schöner Abend, den wir auf der Terrasse verbringen. Antonias Pfarrer gibt sich eher zugeknöpft, was mich nicht stört und Felix dazu veranlasst, eher mehr zu erzählen, als er eigentlich will. Später treffe ich Antonia allein im Badezimmer. Ich
setze mich auf den Wannenrand, während sie mir kurz erzählt, was inzwischen vorgefallen ist. Nachdem sie ihren ehemaligen Geliebten auf der Beerdigung des Kindes von Hubertus und Wanda wieder getroffen hatte, flackerte die alte Liebesglut ungebremst wieder neu auf. Noch am selben Abend eilte er zu ihr. Und blieb. Bis in den frühen Morgen. Dann ging er nach Hause und erzählte alles seiner Frau. Es folgten einige Wochen der Hölle. Er will nun die Scheidung einreichen. Und sich einen anderen Job suchen. Als ich ins Schlafzimmer zurückkomme, ist Felix schon eingeschlafen. Am nächsten Tag brechen wir auf. Antonia möchte, dass wir bleiben. Der Pfarrer scheint erleichtert zu sein, dass wir weiterreisen wollen. Wir setzen gleich am Morgen mit der Fähre auf die Insel über. Die Fahrt dauert eineinhalb Stunden. Es ist beinahe zu kalt, um auf Deck zu bleiben. Vögel begleiten uns noch eine Weile. Dann ist nur noch der Himmel da. Die Wellen und der regelmässig stampfende Motor. Etwas fröstelnd kommen wir an. Die Insel ist dreissig Kilometer lang und fünf breit und hat zwei grosse Hotels. Felix hat ein Appartement mit Blick aufs Meer reservieren lassen, wo ich sofort einschlafe und erst wieder gegen Abend aufwache. Zum Diner gibt es fünf Gänge Fisch. Erste Vorspeise: Fischterrine, zweite Vorspeise: geräucherter Fisch, Hauptgericht: Fisch gegrillt, erstes Dessert: Fischmousse (anstelle von Käse), zweites Dessert: Fischpudding.
Anderntags stöbern wir auf der Insel herum, suchen altbekannte Orte auf, wie den Pinienhain der Sarah Bernhard. Wir erschauern vor der über 50 Meter hohen, in einen Felsen geschlagenen Rutschbahn, auf der sie 70jährig, beinamputiert in die Tiefe glitt. Der Wind peitscht die Gedanken aus dem Kopf. Salzig sei alles hier, heisst es, auch das Weideland, weshalb die geschlachteten Schafe beim Zubereiten nicht gesalzen werden müssen. Wir besuchen eine holprige Flugzeugpiste für kleine Maschinen, die Touristen die Insel aus der Vogelperspektive zeigen. Dicht neben der Piste steht eine kleine Bretterbude als Restaurant davor zwei runde rote Blechtische mit braunen Holzstühlen. Hinter der Theke ein Paar, mit dem wir sofort ins Gespräch kommen. Felix bestellt Kaffee. Der Mann, dunkelhaarig mit gemütlichem Schnauzbartgesicht, klein, etwas untersetzt, will wissen, ob wir einen Rundflug wünschen, während die Frau, etwa in meinem Alter und ebenfalls eher zu dick, uns den Kaffee serviert. Der Mann offeriert Felix einen Cognac und genehmigt sich selbst auch einen. Die Flugsaison sei schlecht in diesem Jahr, die Leute hätten kein Geld. Er fliegt seit vielen Jahren in den Sommermonaten Touristen herum. Daneben betreibt er das Restaurant und repariert die ziemlich heruntergekommenen Maschinen selbst. »Und im Winter? « will ich wissen. »Da haben wir noch die Schafe und unsere kleinen Geschäfte über die Grenze«, schmunzelt er. Wir bleiben fast zwei Wochen. Dann haben wir von den fünfgängigen Fischsoirees die Nase voll.
Ob wir auf der Rückreise nochmals bei Antonia vorbeischauen? Wir ziehen es vor, keinen Halt einzulegen. In Rouen gehen wir zur Flugschule. Sonntagsbetrieb. Viele sehr attraktive junge Männer, angehende Piloten, Fluglehrer und vorwiegend männliche Zuschauer. Felix wird gleich von einem freundlichen Lehrer zu einer Maschine geführt. Er klettert gelenkig und geschickt die wenigen Stufen hoch. Ich verzichte darauf, ihnen zu folgen, ich hätte nicht gewusst, wie ich hinauf- und vor allem wieder herunterkäme. Ich stehe unten und warte. Und es dauert lange, bis die beiden wieder heruntersteigen, die letzten zwei Meter überwinden sie mit einem grossen Sprung und landen direkt vor meinen Füssen. Ich versuche richtigzustellen, dass eigentlich ich diejenige bin, welche ... Aber der Fluglehrer unterbricht mich höflich und meint in sehr beruhigendem Ton, das sei meist so, dass die Mütter sich sorgen, wenn ihre Söhne fliegen lernen wollen. Im Auto sehe ich unauffällig in den Spiegel. Zu Hause ist alles in Ordnung. Die Hunde sind wohlauf. Auf meinem Schreibtisch häuft sich ein Stapel Post, den ich sogleich durchsehe. Und dann, ganz zufällig, entdecke ich eine kleine Zeitungsnotiz: Gestern fand die Gerichtsverhandlung gegen eine 42jährige Frau wegen Brandstiftung statt. Sie legte ein umfassendes Geständnis ab, in Schloß Ripsen Feuer gelegt zu haben. Sie hatte in einem Zustand totaler Unzurechnungsfähigkeit gehandelt. Tatmotiv
Eifersucht. Sie wurde zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Und jetzt will ich zum Hundespaziergang. Sofort! Felix ist gerade dabei, den ganzen Dreck, den es in unserer Abwesenheit durch heftige Regengüsse in seinen freigeschaufelten Keller gespült hatte, wieder herauszubaggern. Er wirft die Schaufel weit von sich. Die Hoffnung, unterirdische Gänge ausfindig zu machen, hatte er ohnehin längst aufgegeben. Diesmal schlendern wir nicht gemächlich nebeneinander auf unserem altbewährten Pfad. Wir laufen mit den Hunden querfeldein. Neugierig. Keuchend. Atemlos. Und mit einer unbändigen Lust auf Leben.
ENDE