Mike McQuay
Die Klapperschlange Flucht aus New York
April 2008 Version 1.0
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Mike McQuay
Die Klapperschlange Flucht aus New York
April 2008 Version 1.0
1 BANK DER VEREINIGTEN STAATEN COLORADO FEDERAL RESERVE 23. Oktober 1997 15.35 Uhr Er war eine Katze, eine Eisenstange in der Faust eines zu allem entschlossenen Killers. Er war rauh wie ein Meißel und gnadenlos wie ein Preßlufthammer. Er hieß Snake Plissken, und er legte ein mörderisches Tempo vor. Vor ihm schien sich der dunkle Korridor endlos in die Länge zu ziehen; wie Spinnweben bedeckten komplexe Muster aus Neonzeichen die Wände. Muster des Wahnsinns, Symptome des Nervengases, das sich von Zeit zu Zeit aus dem Himmel über die Menschen senkte und in ihre Gehirne eindrang. Aber Plissken war nicht verrückt. Er wußte genau, was er tat. Laut dröhnten seine Schritte auf dem Boden aus imitiertem Marmor, und die Wände warfen dumpf das Echo zurück. Plissken drückte die blaue Tasche, die er trug, enger an die Brust. Nur noch ein paar Minuten, und dann würde er in Sicherheit sein. In seinem kranken Auge, das von einer schwarzglänzenden Augenklappe bedeckt wurde, klopfte es heftig; wie glühende Nadeln durchbohrte der Schmerz seinen Kopf, verwandelte Gehirn und Rückgrat in eine Säule aus Feuer. Aber das war nicht weiter schlimm; er hatte sich an den Schmerz gewöhnt.
Er war immer da, er sorgte dafür, daß er nicht vergaß, und verzerrte sein noch immer jugendliches Gesicht zu einer schmallippigen Grimasse, die die meisten Menschen veranlaßte, ihn zu meiden. Snake Plissken war das nur recht. Plötzlich gabelte sich der Korridor wie ein ›T‹. Plissken lief mit hochgerissenen Armen vor die nackte Wand, sprang zurück und wandte sich nach rechts. Als er von irgendwoher Geräusche vernahm, wurde er augenblicklich langsamer und sah sich nach Deckung um. Die Geräusche kamen näher, und Plissken blieb abrupt stehen. Mit seinem gesunden Auge versuchte er, die Dunkelheit des Korridors zu durchdringen, und entdeckte schließlich ungefähr zehn Schritte vor sich einen offenstehenden Eingang. So vorsichtig wie möglich schlich er darauf zu. Er ließ einige Sekunden verstreichen, um sich zu vergewissern, daß sich niemand in dem dahinterliegenden Raum aufhielt, und als er keine menschlichen Stimmen hörte, duckte er sich hinein. Es war ein Computerraum, in dem Neonlampen verrückte Muster auf Wände, Decke und Boden zeichneten. Zirpende und klappernde Maschinen standen überall herum und machten den Raum zu einem Irrgarten. Sie surrten und tickten wie besessen. Plissken kam sich vor wie in einem Mausoleum. Alles lief hier automatisch, Menschen waren hier völlig überflüssig. Die Computerbank kümmerte sich weder um das Gas noch um den Krieg, geschweige denn um Snake Plissken. Sie lief einfach weiter, während um sie herum alles einstürzte. Es störte sie nicht. Es war ihr völlig gleichgültig. Die Geräusche draußen im Korridor waren jetzt sehr nahe. Plissken ging hinter einem Fernschreiber für Börsennotierungen in Deckung und hielt den Atem an. Seine braune Dienstuniform, auf deren Brusttasche Colorado Solar gestickt war, schien sich um seinen Hals zusammenzuziehen,
und Plissken riß die obersten Verschlüsse auf. Das Geräusch war jetzt unmittelbar neben ihm. Er glaubte, ein Quietschen zu hören, und merkte dann zu seiner Erleichterung, daß es sich wieder von ihm entfernte. Plissken preßte sich so dicht wie möglich gegen die Maschine, und erst als das Geräusch sich wieder ein gutes Stück von ihm entfernt hatte, riskierte er einen Blick. Es handelte sich um einen Minikarren aus rostfreiem Stahl, an dessen Seitenwänden Lautsprecher montiert waren. Plötzlich begann er zu sprechen: »Achtung! Hiermit sind die Bankstunden beendet. Der Schließvorgang beginnt in dreißig Sekunden. Das Personal ist angewiesen, die blauen Zonen augenblicklich zu verlassen. Danke.« Plissken stand auf, die Tasche fest an seine Brust gepreßt, und sah zu, wie die kleine Maschine den Gang hinunter rollte und durch eine Tür verschwand. Das Ding hatte eine angenehme weibliche Stimme. Richtig sexy. Er winkte ihm nach, als es davonschnurrte. Die Mitteilung ignorierte er; sie war nicht für ihn bestimmt. Plissken strich das Haar zurück, das unter der Dienstmütze, die zu seiner Tarnung gehörte, hervorquoll, und folgte dem Karren mit schnellen Schritten. Er durchquerte den Computerraum und gelangte wieder in den Korridor. Plissken fand, daß es langsam an der Zeit war, von hier zu verduften. Also begann er, sich nach einem Schlüssel zur Freiheit, einem Weg nach draußen umzusehen. Er lief durch die Gänge, bis er schließlich am Ende eines Korridors auf einen der Ausgänge, eine Tür aus kaltem Stahl, stieß. Plissken ließ seine Tasche fallen, beugte sich vor und blickte mit seinem gesunden Auge in den Identitätsschlitz. Aus der Tasche seiner Uniform zog er einen kleinen Schraubenzieher mit jener verlängerten Spitze heraus, für den Bill Taylor eine ziemlich obszöne Bezeichnung erfunden hatte. Während er den Korridor im Auge behielt, ließ er den
Schraubenzieher in den Schlitz gleiten, worauf die Tür aufsprang. Plissken trat ein und fand sich in einer kleinen Kabine wieder. Hinter ihm schlug die Tür zu, und er stellte fest, daß auf dieser Seite der Schlitz fehlte. Er drehte sich der anderen Wand zu, in der sich eine zweite Tür befand. Spannung baute sich in ihm auf, ein immenser Druck, während er mit dem Schraubenzieher herumtastete, aber das störte ihn nicht, denn es bewies ihm nur, daß er noch existierte. Vater Staat hatte damals, in Leningrad, dafür gesorgt, daß er erfuhr, wie dieser Druck aussah, und seitdem hatte er Freon in den Adern. Freon und Frostschutzmittel. In seinem Innern brannte ein tiefes ewiges Feuer aus leidenschaftlichem Haß, das ihn vorwärtstrieb, das jene Druckskala in den Rotbereich hochjagte und das ihn ständig zu verzehren drohte. Endlich stieß der Schraubenzieher auf den Kontakt, und die Tür öffnete sich. Plissken blieb nur so lange stehen, bis er sich vergewissert hatte, daß der Flur leer war, dann lief er los. Die winzige, in der Wand eingebaute Kamera, die jeder seiner Bewegungen wie ein Mungo einer Kobra folgte, bemerkte er dabei nicht. Er rannte sehr schnell, bemühte sich aber, gleichmäßig zu atmen und sich nicht ganz zu verausgaben. Am Ende des Korridors schimmerte Licht. Es war das verschwommene Licht der Haupthalle, die ihn zu den Aufzügen und von dort aus hinauf auf das Dach und in die Freiheit führen würde. Plissken hetzte vorwärts. Und dann, ganz plötzlich, schien sich die Welt um ihn herum aus den Angeln zu heben. Das Licht nahm die Farbe von dunkelrotem Blut an und pulsierte in Einklang mit seinem kranken Auge. Die Alarmanlagen begannen zu heulen und verwandelten den Gang in ein lärmendes Irrenhaus, das die Sinne betäubte. Plissken rannte weiter. Er hatte jetzt das Ziel vor Augen, hielt
genau auf das Licht zu und wünschte sich vergeblich, daß er nicht in dieser unförmigen Uniform steckte, die ihm bei jedem Schritt hinderlich war. Der Gang begann sich mit feinem blauen Nebel zu füllen, der vom Boden her aufstieg. Gas, immer wieder Gas. Plissken hielt sich Mund und Nase zu und lief auf das Licht zu. Die Alarmglocken hämmerten in seinen Ohren und drohten, ihn zu überwältigen und sein Denkvermögen zu lähmen. Aber er war Snake Plissken, und es bedurfte mehr als ein paar Geräusche und das bißchen Nervengas, um ihn zu stoppen. Da mußte schon irgendein mieses Schwein mit einem Schrotgewehr kommen und ihm die Knarre direkt in den Bauch drücken. Der Gang mündete in die Halle, ein kalter, toter Kokon aus glattem Stahl und Glas, der sich über zwei Stockwerke erstreckte. Überall waren Kameras angebracht, die ihm nachschwenkten, um ihn zu beobachten, während er durch ihr Reich hetzte – der stahlharte Mann mit nur einem Auge, genau wie sie. Plissken hastete auf die Aufzüge am anderen Ende der Halle zu, wobei er an den Verschlüssen seines Tarnoveralls zerrte. Sein Auge schmerzte höllisch, und sein Kopf, in dem der Alarm dröhnte, schien zu platzen. Mit zusammengebissenen Zähnen erreichte er die Aufzüge und stürzte auf den zu, der auf der Anzeigetafel die Aufschrift ›Dachausgang‹ trug. Er drückte den Türöffner und warf die Tasche hinein, als die Tür zurückglitt. Dann sprang er selbst hinterher, die Uniform schon halb über die Schultern gestreift. Hinter ihm schloß sich die Tür und dämpfte gleichzeitig das Schrillen der Alarmanlage auf ein ersticktes Summen. Plissken drückte den Dachknopf, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Keuchend zerrte er sich den Rest der Uniform vom Körper, warf sie achtlos auf den Boden und riß dann die Mütze vom Kopf. Sie gab eine dunkle Haarmähne frei, die bis auf die
Schultern herabfiel. Viel zu langsam stiegen die Lichter der Anzeigetafel nach oben. Das Warten zerrte an seinen Nerven, aber Plissken wußte, daß er die Zeit brauchte, um wieder halbwegs zu Atem zu kommen. Er bemühte sich, langsamer und tiefer zu atmen, bückte sich, um seine Tasche aufzuheben, und klemmte sie fest unter den Arm. Mit einem Ruck kam der Aufzug zum Stehen. Eine Sekunde lang geschah nichts. Dann glitt die Tür auf, und – grelles Licht blendete ihn! Blinzelnd stürmte er durch die Öffnung hinaus ins Freie. Kaum hatte er die schützende Aufzugskabine verlassen, als ihn auch schon die erste Hitzewelle traf. Vorsichtig öffnete er sein Auge ganz. Um ihn herum dehnte sich die Wüste von Colorado bis an den fernen Horizont aus; gelber Sand, der die Nachmittagshitze reflektierte und sich bis zu den als dunkler Strich sichtbaren Bergen hinzog. Das Geräusch der Aufzugtüren, die hinter ihm zusammenschlugen, schreckte ihn aus seinen Gedanken auf und ließ ihn blitzschnell herumfahren. Nein, keine Spur von den Schwarzröcken. Ausgezeichnet. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Die Transferstation befand sich links von ihm, und der Betonbunker, der hinunterführte, flirrte in der Hitze. Die Sonne brannte heute ziemlich stark und gab der mit Gas angefüllten Atmosphäre die blaßlila Farbe von Lavendel. Plissken steuerte auf die Station zu, den Schraubenzieher in der Hand. Er lief mit hohen, großen Schritten und hatte Mühe, auf dem unebenen Boden nicht zu stolpern, während seine Füße bei jedem Tritt feine Staubwolken aufwirbelten. Flüchtig warf er einen Blick zurück auf den Aufzugkasten hinter ihm, den einzigen Hinweis auf das darunterliegende Bankgebäude, das die Wüste verbarg. Noch waren keine Verfolger zu sehen; er mußte es schaffen.
Er erreichte die massive Bunkertür und stieß den Schraubenzieher in den Identitätsschlitz. Keine Reaktion. »Scheiße«, zischte Plissken. Er zerrte ihn wieder heraus, steckte ihn erneut in den Schlitz und drehte den Griff hin und her, nichts passierte. »Na komm schon, Schätzchen«, bat er einschmeichelnd. »Tu's für mich.« Er blickte zurück zum Aufzug, dessen Außentüren langsam aufglitten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Schlitz zu. Plissken ging einen Schritt zurück, holte tief Luft und trat mit dem Absatz seines Kampfstiefels voll zu. Bis zum Griff fuhr der Schraubenzieher in den Schlitzmechanismus. Funken sprühten, und dann öffnete sich der Bunker mit einem hydraulischen Summen. Plissken sprang hinein, und gerade, als der erste Schwarzrock in der Aufzugtür auftauchte, gelang es ihm, die Bunkertür zu schließen. In den Spalt zwischen Tür und Rahmen rammte er den Schraubenzieher, um so den Eingang zu blockieren. In Sicherheit … zumindest für eine Weile. Im Innern der Transferstation war es dunkel und kühl. Ein mattblau erleuchteter Pfeil deutete die Treppen hinunter zur Station. Plissken hastete die Stufen hinab, die von eingebauten Orientierungslampen schwach erleuchtet wurden. Unten angekommen hörte er, wie die Schwarzröcke oben gegen die Bunkertür hämmerten. Irgendwann würden sie den Eingang aufgebrochen haben, aber das dauerte seine Zeit. Transferbunker waren so angelegt, daß sie Angriffen durchaus standhalten konnten. Der Bahnsteig war ruhig und verlassen. Er wurde von einem schwachen gelben Licht erhellt und schien sich endlos hinzuziehen. Leichtfüßig eilte Plissken über den Betonboden auf die Zieltafel zu. Sie befand sich in einer Nische in der Nähe der Treppe.
Plissken stellte sich vor die große Tafel und überprüfte die Anzeige. Nacheinander leuchteten kleine Lichter innerhalb des Stationsnetzes auf und zeigten die nächstgelegenen Züge sowie deren Bestimmungsorte. Ein Zug, dessen Ziel Eugene, Oregon, war, würde die Station bald erreicht haben. Plissken drückte die entsprechenden Koordinaten und schob dann die Kreditkarte eines gewissen George Moropy in den Schlitz. Er hatte nicht die Absicht, den Zug nach Eugene zu nehmen, aber er hatte dieses Ziel angegeben, weil sie genau das von ihm erwarteten. Im Westen wurde noch immer schwer gekämpft, und es war das ideale Gebiet für Leute wie Plissken, die untertauchen mußten. Er würde dorthin gehen, aber nicht auf dem direkten Weg. Nachdem ein grünes Licht auf dem Schirm sein Ziel bestätigt hatte, drückte Plissken die Koordinaten für Atlanta und benutzte diesmal die Karte einer Lynda Millford. In Atlanta wartete Bill Taylor auf ihn, der sich um die Verbindungen nach Westen kümmern würde. Plissken ging zurück auf den Bahnsteig und wartete vor der Röhre nach Osten. Die Röhren bestanden aus einem dicken, fast undurchsichtigen Plastikmaterial. Hin und wieder wischte ein Zug vorbei, der durch die Innenringe der Röhre raste und von außen nur als verwischtes Lichtband zu erkennen war. Die Röhren waren ein Transportmittel der Reichen, und dieser exklusive Kreis wurde sehr schnell immer kleiner. Entsprechend selten kamen Züge vorbei. Auf der anderen Seite des Bahnsteigs, die nach Westen führte, kam kreischend ein Zug zum Stehen. Es war der Eugene-Expreß. Plissken drehte sich um und betrachtete ihn müßig. Ein Teil der Röhre glitt zurück, worauf eine angenehme, aber autoritäre Stimme erklang: »Eugene, Portland, Salem und weitere Westziele. Alles einsteigen, bitte.« Für einen Moment herrschte Schweigen, dann wurde die Ansage wiederholt. Der Zug blieb noch eine kurze Zeit stehen.
Schließlich schlossen sich die Türen, und er brauste davon. Plissken war sich ziemlich sicher, daß die Schwarzröcke diese Spur verfolgen würden. Es blieb ihm nur zu hoffen, daß sie den nächsten in Ruhe ließen. Keine fünf Minuten später traf der Atlanta-Expreß ein. Erleichtert stieg Plissken ein und ließ sich in den weichgepolsterten, weißen ›G‹-Sessel fallen. Er reiste immer erster Klasse. Lynda Millford konnte es sich mit Sicherheit leisten. Von irgendwoher ertönte leise Musik, und dann meldete sich der Computer. »Sie fahren nach Atlanta?« fragte er. »Ja«, antwortete Plissken, während er es sich in dem Sessel bequem machte und den Kopf zurücklehnte. »Nach Atlanta.« »Schnallen Sie sich bitte an.« Plissken legte den Gurt an, achtete aber darauf, daß er ziemlich locker saß. »He, was ist denn das«, ließ sich die Maschine vernehmen. »Sie können es sicher besser.« Plissken konnte es tatsächlich besser. »So ist es gut. Wir fahren in wenigen Sekunden ab. Möchten Sie nach der Beschleunigungsphase vielleicht einen Drink?« Snake Plissken sah zu, wie sich die Wand um ihn herum schloß. »Warum nicht«, meinte er dann. »Ein Drink wäre jetzt gar nicht so übel. Aber wenn schon, dann auch gleich einen doppelten.«
2 UNTERWEGS 21. Oktober 22.07 Uhr Plissken hatte seinen Spitznamen ›Snake‹ in der Armee bekommen und war unter diesem Namen so bekannt geworden, daß jetzt niemand mehr seinen richtigen Vornamen kannte. Er war ein As auf dem College gewesen, bevor er dann als Lieutenant eingezogen und an die russische Front geschickt wurde. Der Ausbruch des Krieges war von den meisten Leuten mit großer Begeisterung aufgenommen worden, denn immerhin lag der letzte echte Konflikt schon ziemlich lange zurück, und alle drängte es, die Muskeln ihres Egos endlich einmal wieder zu strecken. Der Krieg hatte als kleine Auseinandersetzung irgendwo im Nahen Osten begonnen und sich langsam ausgeweitet, ohne daß allerdings Atomwaffen eingesetzt wurden. Ganz am Anfang war in Stockholm eine Konferenz der führenden Nationen einberufen worden, auf der man sich darauf geeinigt hatte, im Hinblick auf die blockfreien Staaten der Welt auf Atomwaffen zu verzichten. Das Ganze war natürlich nur ein Tarnmanöver, denn in Wirklichkeit sah es einfach so aus, daß alle eine Heidenangst vor der Atombombe hatten. Man entschied sich also für etwas anderes, für eine Waffe, die sich eigentlich recht harmlos und gleichzeitig supermodern anhörte. Man griff zu chemischen Kampfmitteln. Plissken mußte bei diesem Gedanken grinsen, während er zusah, wie die Kontaktpunkte an seinem Fenster vorbeiglitten. Verbissen
versuchte er, den bohrenden Schmerz in seinem kranken Auge zu ignorieren. Chemische Waffen waren eine ganz häßliche Sache. Natürlich gibt es keine Art des Tötens, die nicht im Grunde häßlich und gemein ist, überlegte er, aber die chemischen Wolken, die in der Atmosphäre herumtreiben, töten im Zeitlupentempo. Niemand kann sich ihrer Wirkung entziehen. Geruch- und geschmacklos senken sie sich unbemerkt über die Menschen und fressen die Gehirnzellen und das Nervensystem an. Chemische Waffen machen die Leute erst verrückt, bevor sie sie endgültig umbringen. Überall laufen Verrückte herum. Haufenweise. Millionen. »Wir erreichen Atlanta in fünf Minuten«, meldete sich der Computer. In einer Anwandlung von Ordnung strich er sich das Haar zurück und sah auf die Uhr. Der Zug war etwas zu früh. Plissken blickte auf die Tasche, die auf seinem Schoß lag. Sie nannten ihn Snake – die Schlange –, weil er ein besonderes Geschick dafür zu haben schien, sich aus allen brenzlichen Situationen irgendwie wieder herauszuschlängeln. Er hatte ein Sonderkommando angeführt, das die höchste Erfolgsquote im ganzen russischen Feldzug aufzuweisen hatte. Niemand konnte verstehen, warum Snake so erfolgreich war, nur Snake wußte es. Manche konnten mit ihren Händen Dinge bauen. Andere konnten wundervolle Musik komponieren oder waren gut im Rechnen. Und Snake Plissken hatte eben ein Talent für den Krieg. Es lag ihm einfach im Blut. »Atlanta«, erklang die Stimme. »Wir danken Ihnen für Ihre Mitreise.« Um ihn herum dröhnte es auf, und durch das Bremsmanöver wurde er nach vorn in die Gurte gepreßt. Mit einem leichten Ruck kam der Zug zum Stehen, und noch bevor sich die Röhre öffnete, hatte sich Plissken schon aus den Gurten befreit und
stand vor dem Ausgang. Sobald die Wand zurückgeglitten war, sprang er hinaus auf den Bahnsteig und sah sich nach allen Seiten um. Nein, keiner zu sehen. Auch keine Schwarzröcke. Nichts, gar nichts. Es war ihm nicht aufgefallen, daß er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, und er merkte es erst, als er ausatmen mußte. Lächelnd machte er sich auf die Suche nach Taylor. Taylor war an jenem Morgen mit ihm zusammen im Büro des Kommandanten gewesen, wo sie zum ersten Mal etwas über den sogenannten ›Leningrad-Trick‹ gehört hatten. Es war Anfang Herbst gewesen, und aus den grauen, mit Gas gesättigten Wolken fiel ein todbringender Säureregen auf die Erde, die ohnehin schon von schwebenden Giftstoffen kahl und abgestorben war. Wochenlang konnten sie sich nur in ihren Gasanzügen bewegen und sich über die in ihren Masken eingebauten Mikrofone verständigen. An jenem Morgen also standen sie in einem winzigen Büro vor einem gewissen Captain Berrigan. Zumindest nannte er sich so. Die ganze Zeit über behielt er seine Maske auf, selbst in jenem verhältnismäßig sicheren Schutzbunker. Plissken tat es heute noch leid, daß er nie das Gesicht dieses Mannes von der Abteilung für Sondereinsätze gesehen hatte, denn lange Zeit hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als Captain Berrigan aufzuspüren und ihm ein Messer zwischen die Rippen zu jagen. Mit großen Schritten eilte er durch den verlassenen Bahnhof, bis er endlich auf Menschen stieß. Es waren nicht viele, aber ihre Nähe reichte aus, um ihm ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Mit einem Aufzug fuhr er zur Eingangshalle hinunter, wo sich die meisten der ankommenden und abreisenden Passagiere aufhielten. In der Menge fühlte er sich endlich völlig sicher. Er entdeckte zwar ein paar Sicherheitsleute in den Fernsehräumen und in der Nähe der Lebensmittel- und Getränkeapparate, aber
ihre Aufgabe bestand nur darin, Eigentum zu beschützen und nicht, Schicksal zu spielen. Plissken gab sich unbeschwert, einer unter vielen. Sein Blick fiel auf eine Aufschrift an einer Betonwand, die Pacific Express lautete. Plissken folgte dem Pfeil, der einen Gang hinunter zeigte. Irgendwo am Ende wartete Taylor auf ihn. Captain Berrigan hatte sie davon unterrichtet, daß einer der Topagenten der Alliierten von den Russen gefangengenommen worden war und in Leningrad festgehalten wurde. Er gab ihnen den Auftrag, den Mann herauszuholen, bevor er Geheimnisse preisgab, die den Ausgang des Krieges entscheiden konnten. Plisskens Kommando war aufgrund seiner hohen Erfolgsquote extra für diesen Einsatz ausgewählt worden. Weder er noch Taylor waren begeistert von dem Plan; er klang zu sehr nach einem Selbstmordkommando. Aber Pflicht war Pflicht. Also überflogen sie am nächsten Morgen in aller Frühe auf niedrigem Kurs die Ostsee und erreichten Leningrad bei Sonnenaufgang. Zu fünfzig Mann flogen sie in ihren Gulffire-Seglern knapp über den Dächern in die Stadt ein, während Unterstützung aus der Luft im Osten das Feuer auf sich zog. Leningrad war der Versorgungsstützpunkt der Russen und entsprechend die am heftigsten verteidigte Stadt in Westrußland. Plissken und seine Männer schienen geradewegs in die Hölle zu fliegen, eine Hölle, die schlimmer war, als der menschliche Verstand sich ausmalen konnte. Wenn Plissken daran zurückdachte, hatte er hauptsächlich brennende Gebäude vor Augen, ein Chaos aus grell leuchtenden, orangefarbenen Feuerblumen. Erfolg war ein Ding der Unmöglichkeit, und mit dem Überleben sah es nicht viel anders aus. Als Plissken klar wurde, daß sie den Mann unmöglich herausholen konnten,
sprengten sie das Gebäude, in dem er gefangengehalten wurde, in die Luft und begruben ihn unter fünfhundert Tonnen Gestein und Mörtel. Irgendwann während des Kampfgewühls hatte sich dann ein Splitter in Plisskens linken Augapfel gebohrt, und das Gas begann seine Arbeit. Mit letzter Kraft gelang es ihm, den Rückzug anzuordnen und zur Basis zurückzukehren. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf ein glühender Ball, in dem ständig grelle, orange Feuer explodierten. Als die Gleiter wieder zu Boden gingen, waren noch zwei von ihnen übrig. Nur zwei. Er verbrachte einen Monat im Krankenhaus, bevor sie Taylor endlich zu ihm vorließen. Er ging auf Krücken; sein rechtes Knie war bei einer Bruchlandung auf dem Rückflug nach Helsinki zerschmettert worden. Er war bleich wie ein Albino, als er hereinkam, und seine Augen waren ebenso rot. »Es war nur ein Täuschungsmanöver«, hatte er Plissken in jenem sterilen Krankenzimmer aufgeklärt. »Ein hinterhältiges, mieses Täuschungsmanöver.« Es stellte sich heraus, daß der angebliche Topagent in Wirklichkeit ein verkappter Corporal war, der sich von den Russen hatte schnappen lassen, um ihnen falsche Informationen zu liefern. Plisskens Kommando war nur losgeschickt worden, um dem Ganzen den Anstrich von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zu allem kam noch, daß das Manöver fehlgeschlagen war. Der Mann hatte die andere Seite nicht einen Augenblick lang täuschen können. Und genau in jenem Moment war eine entscheidende Veränderung in Snake Plisskens Leben eingetreten. Dieser Teil der Station, der zum Pacific Express führte, war völlig verlassen, denn niemand, der noch halbwegs vernünftig denken konnte, wollte nach Westen. Plissken entdeckte den Aufzug zur Untergrundstation und fuhr hinunter.
Unten herrschte Halbdunkel. Ganz in der Nähe, fast direkt vor sich, sah er Taylor, der vor der Wand kauerte. Lautlos näherte sich Plissken dem kleinen Mann mit den flinken Augen und dem weichen Gesicht. Doch der äußere Eindruck täuschte; Taylor war ganz gewiß nicht weich. Er trug eine Mütze und eine Arbeitsjacke, auf deren Ärmel noch die Einstiche zu sehen waren, wo früher die Rangabzeichen eines Sergeants angenäht gewesen waren. Seine Hände waren bis zu den Handgelenken in einem Anschlußkasten verschwunden, der in die Wand eingebaut war. Der andere zeigte keine Spur von Überraschung. »Wie schon«, brummelte er. »Man schlägt sich halt durch.« Er wandte den Kopf und sah Plissken an. Dann wanderte sein Blick zu der Tasche in dessen Hand. Neben ihm stand eine zweite, identische Tasche auf dem Boden. »Du bist früh dran«, meinte der kleine Mann. »Sie sind mir auf den Fersen.« Taylor nickte und wandte sich wieder dem Kasten zu, wobei er leise vor sich hin fluchte. Er arbeitete schnell und geschickt, und schließlich setzte er sich mit einem zufriedenen Brummen zurück. »Das war's«, stellte er fest. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie auch schon das Geräusch einer herankommenden Untergrundbahn hörten, die direkt neben ihnen mit einem Zischen zum Stillstand kam. »Dann nichts wie los«, ließ sich Plissken vernehmen und ging auf den Zug zu. Taylor stand auf und folgte ihm leicht hinkend mit seinem kaputten Bein. Sie schafften es gerade noch, einzusteigen, bevor sich die Türen schlossen. Es war ein alter Wagen, und das grelle Neonlicht verlieh den verschlissenen Sitzen und den dreckigen, beschädigten Wänden eine seltsame Art von Sterilität. Mit einem lauten Kreischen setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Plissken und Taylor griffen haltsuchend in die Polster, um sich gegen die Beschleunigung abzustützen. Snake
grinste, als die Geschwindigkeit zunahm. Sie hatten es geschafft. »Wohin geht der Wagen? Nach Seattle?« fragte er. Taylor verzog den Mund. »Vielleicht«, antwortete er. »Vielleicht nach Seattle, vielleicht auch nach San Francisco oder nach Barstow.« Er zuckte die Achseln. »Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Diese verdammten Schaltkreise sind so klein.« Plissken warf Taylor die Tasche zu und ließ sich in einen Sitz fallen. Sein Blick wanderte zum Fenster, während sich die Erschöpfung in seinem Körper ausbreitete wie die Leichenstarre bei einem Toten. Als er den Kopf drehte, sah er, daß Taylor gerade dabei war, den Reißverschluß der Tasche zu öffnen. »Meinen Glückwunsch«, sagte Plissken und nickte ihm zu. »Du bist jetzt Milliardär.« Die Tasche war nun offen, und Taylor zog eine Handvoll weißer Plastikkreditkarten heraus. »Himmel, Snake.« Dann begann er, laut vorzulesen: »Master, US National Bank. Master, US Port Authority. Master, US Tobacco Reserve.« Er hielt Plissken die offene Tasche unter die Nase. »Möchtest du dir das nicht einmal ansehen?« Plissken faltete die Hände und lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Mach du's für mich. Ich bin hundemüde.« »Komm schon. Wir müssen es doch aufteilen.« »Ich trau' dir.« Er sah zu, wie Taylor die andere Tasche öffnete und daranging, die Kreditkarten umzufüllen. Dann schloß er die Augen und schlief fast augenblicklich ein. Er träumte davon, daß sein Kopf brannte, von einem orangefarbenen Feuer verzehrt wurde. Ein Traum, den er Nacht für Nacht hatte. Plissken erwachte, als Taylor ihn sanft am Ärmel zerrte. »Wach auf, Snake. Wir sind da.« Wie ein Tier war er sofort hellwach und in Alarmbereitschaft. Er setzte sich auf und musterte seine
Umgebung. Sein Kopf war völlig klar – mit Ausnahme des Schmerzes, der immer da war. »Was?« war sein erstes Wort. Taylor war ein paar Schritte zurückgewichen. Er kannte Plissken lange genug, um zu wissen, daß Snake manchmal in Abwehrstellung erwachte und gewalttätig wurde. Es hatte irgend etwas mit seinem Auge zu tun. »Der Zug wird langsamer, Lieutenant. Wir sind da.« »Da? Wo da?« »Irgendwo.« Plissken streckte sich hastig und beobachtete, wie der Zug in die Station einfuhr. Alle Stationen sahen gleich aus, und der Anblick allein konnte einem nicht sagen, wo man gerade war. Er stand auf, als der Zug zum Stehen kam. Taylor war schon an der Tür, die sich jetzt öffnete. »Willkommen in San Francisco«, erklang eine Computerstimme. »Bitte, halten Sie sich rechts.« Als brave Bürger stiegen Plissken und Taylor aus und schlenderten unauffällig auf die Rolltreppen rechts von ihnen zu. »Seattle war's also nicht«, runzelte Taylor die Stirn. »Aber zumindest sind wir nahe dran.« »Nahe genug, um für die Regierung arbeiten zu können«, erwiderte Plissken. Taylor dachte einen Moment über diese Bemerkung nach, dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht. »San Francisco ist ganz okay. Eine Milliarde kann ich bestimmt auch hier ausgeben.« Sie hatten inzwischen die Rolltreppen erreicht und fuhren hinauf. »San Francisco«, wiederholte Taylor und schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank. In Barstow hätte ich sie sicher nicht ausgeben können.« »Mmmh«, machte Plissken, der mit den Gedanken woanders war. Er fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Irgend
etwas war hier faul. Als sich die Stufen, auf denen sie standen, der oberen Halle näherten, begann Plissken, seinen Kopf zu verdrehen, um sich zu vergewissern, daß sein ungutes Gefühl unbegründet war. »Was gibt's?« erkundigte sich Taylor. Mit zusammengepreßten Lippen schüttelte Plissken den Kopf. »Ich weiß nicht. Irgend etwas …« begann er und brach dann ab. Sie verließen die Rolltreppe und betraten die Halle, die völlig verlassen vor ihnen lag. Ganz anders als die Haupthalle in Atlanta. Noch nicht einmal Sicherheitsleute waren zu sehen. Plissken blickte sich vorsichtig um, während sie weitergingen. Taylor klopfte ihm auf die Schulter. »Immer ruhig, alter Junge«, meinte er. »Es ist vier Uhr früh. Hör endlich auf, überall Gespenster zu sehen. Wir haben es geschafft, Snake.« Plissken blieb kaum eine Sekunde, um zu dem Schluß zu kommen, wie recht Taylor doch im Grunde hatte, als die Luft um sie herum zu explodieren schien. Maschinengewehre ratterten los, und plötzlich warf es Taylor herum. Schreiend fiel er zu Boden, der von den Kugeln aufgerissen und förmlich zerfetzt wurde. Plissken konnte den kleinen Mann gerade noch auffangen und ließ sich mit ihm zu Boden gleiten. Taylors linker Arm war von Kugeln durchsiebt. Durch zusammengebissene Zähne stieß er einen Fluch aus, während sich auf seiner Arbeitsjacke ein großer roter Fleck bildete, von dem dunkle Tropfen auf den Zementboden fielen und sich dort zu einer immer größer werdenden Pfütze sammelten. »O Gott, Snake«, preßte er hervor. »Oh Gott … Scheiße!« Plissken versuchte, ihn auf die Füße zu ziehen. »Komm schon, hoch mit dir!« Er blickte auf die Rolltreppen vor ihnen, am anderen Ende der Halle, über die jetzt die Schwarzröcke hinunterstürmten, die eine Etage höher Stellung bezogen hatten. Es waren Killer, Verrückte, die im Auftrag des Staates
mordeten. Sie waren mit AR-15ern bewaffnet, die sie entsichert auf die beiden Männer vor ihnen angelegt hatten. Ihre Köpfe waren unter schwarzen Schutzhelmen mit dunkel getönten Visieren versteckt. Sechs Teufel ganz in Schwarz. »Komm schon!« Es gelang ihm, Taylor auf die Füße zu stellen, aber es hatte ihn ziemlich böse erwischt. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Resignation, den Plissken noch nie bei ihm gesehen hatte, noch nicht einmal damals in Leningrad. Sie liefen den Weg zurück, den sie gekommen waren, und hinter ihnen ratterten die Gewehre wieder los. Taylor blieb zurück, der Blutverlust und das steife Bein forderten ihren Tribut. Plissken stürzte die Rolltreppe hinunter und rannte in großen Sätzen den Bahnsteig entlang. Im Laufen wandte er den Kopf, um sich zu vergewissern, daß Taylor noch hinter ihm war, doch der kleine Mann war nirgends zu sehen. Plissken wurde langsamer und blieb dann stehen. Suchend sah er sich nach Taylor um, und als er ihn nicht finden konnte, drehte er sich wieder um und starrte den Bahnsteig hinunter, der seine Rettung bedeuten konnte. »Taylor!« rief er zurück. »Taylor!« Aber Taylor würde nicht kommen, das wußte er. Und er wußte auch, daß er ihm nicht würde helfen können. Noch einmal sah er den Bahnsteig hinunter. Sein Verstand drängte ihn, weiterzulaufen. Aber Taylor war alles, was er noch hatte. Sie waren alle tot, sie alle, die Snake Plissken als Mensch gekannt hatten. Keiner von seinen Gefährten war noch am Leben. Er seufzte, trottete zurück zur Rolltreppe und fuhr wieder hinauf. Taylor lag bäuchlings auf dem Boden und kroch wie im Zeitlupentempo vorwärts, wobei er eine Blutspur wie die Schleimspur einer Schnecke hinter sich ließ. Die Schwarzröcke näherten sich ihm absichtlich langsam, die schußbereiten
Waffen auf ihn gerichtet. Sie zogen es in die Länge, kosteten es bis zum Letzten aus, den Mann vor ihnen zu quälen und ihm noch einen letzten Blick auf das Tageslicht zu gönnen. Plissken spürte, wie sich seine Magenmuskeln zusammenzogen. Er haßte die Schwarzröcke, haßte den Gestank des Todes, der von ihnen ausging wie Nebel von einer Moorlandschaft. Vorsichtig ließ er die Tasche fallen und hob die Hände. Sofort war er von Gewehrmündungen umgeben. »Laß die Tasche los, Taylor«, wandte er sich an den kleinen Mann. Der hob den Kopf und sah Plissken mit einem flehenden Blick an, der sich wie ein Messer in seinen Körper zu bohren schien. Dann preßte er die Tasche fester an sich und kroch weiter durch sein eigenes Blut. »Nicht aufgeben, Lieutenant«, keuchte er, und seine Stimme klang wie die eines alten Mannes. »Nicht aufgeben.« Plissken sah zwischen Taylor und den Schwarzröcken hin und her. Er konnte merken, wie sie zitterten. Sie hatten Blut gerochen und wollten mehr. Langsam und darauf bedacht, nur ja keine falsche Bewegung zu machen, sprach er wieder auf Taylor ein, wobei er jedes Wort betonte. »Laß die Tasche los, Taylor.« Der andere öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er kam nicht mehr dazu. Einer der Killer eröffnete das Feuer auf den kleinen Mann, und die übrigen fielen augenblicklich ein. Taylors Körper zuckte und wand sich in einem wahnsinnigen Todestanz, als die schwarzen Teufel einer nach dem anderen ihre Gewehre auf ihn leerten. Es war ein grandioses Schauspiel, und es machte ihnen einen Heidenspaß. Plissken blieb reglos stehen, als sie auf ihn zukamen, um ihn zu ergreifen. Als Taylor starb, nahm er einen Teil von Snake Plissken mit. Er war jetzt allein, und zum ersten Mal gab es etwas, das den Schmerz in seinem Auge verdrängen konnte … die Trauer um seinen Freund.
Sie packten ihn und drehten ihm die Arme unbarmherzig auf den Rücken, aber er ertrug die Schmerzen gleichgültig. Es gab viel Schlimmeres.
3 MANHATTAN ISLAND 23. Oktober 1997 19.30 Uhr Bob Hauk überließ sich dem hypnotisierenden Geräusch der Rotorblätter, während er durch die Glaskuppel hinunter auf das aufgepeitschte Wasser des Hudsons starrte. Es würde bald zu regnen beginnen; man konnte förmlich das Gas riechen, das in den Wolken hing, obwohl es die Meteorologen hartnäckig leugneten und einen sauberen Regen angesagt hatten. Die Leute im Wetteramt waren notorische Lügner. Früher, in der Armee, hatten sie ihn Big Bob genannt, aber das war zu einer Zeit gewesen, als noch ein Lebensfunke in ihm gebrannt hatte und die Leute noch bei Sinnen gewesen waren. Heute hieß er nur noch Hauk, und das war genau der richtige Name für ihn. Früher einmal hatte er Leute geführt, die Menschen geliebt und an Ideale geglaubt. Heute herrschte er über das größte Getto in der Geschichte der Menschheit. Heute saß er in einem Sessel und verbrachte seine Zeit damit, die Tage bis zu seinem Tod abzuzählen. Es war nicht besser oder schlechter als jeder andere Job auch. Früher einmal war er zäh und hager gewesen, aber inzwischen hatte er Fett angesetzt. Nur seine Augen hatten sich nicht verändert. Augen von eiskaltem Blau und so durchdringend wie Pfeile, in denen noch immer der alte, befehlsgewohnte Ausdruck lag. Neben ihm begann das Funkgerät zu quäken. Hauk fuhr
zusammen und starrte den Apparat verstört an, während der Pilot die Hand ausstreckte und die Frequenz einstellte. »Ich höre«, sagte er. »Gotham 4. Hier spricht die Kontrollstation. Verstehen Sie mich? Over.« »Ich habe Sie auf dem Empfänger. Sprechen Sie. Over.« Hauk starrte weiter auf das Gerät, fast so, als wäre es ein Wesen aus Fleisch und Blut, das da im blaßroten Licht der Instrumente zu ihm sprach. Er schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Vielleicht machte sich auch bei ihm langsam die Wirkung des Gases bemerkbar. »Wir haben ein Signal auf dem Radarschirm, und zwar in der North Bay, Abschnitt siebzehn. Das Objekt bewegt sich auf die Jersey-Mauer zu. Können Sie es überprüfen? Over.« »Unmöglich, Kontrollstation«, meldete sich der Pilot mit monotoner Stimme. Das Visier seines schwarzen Helmes war hochgeklappt und ließ sein Gesicht erkennen. Direkt vor seinem Mund befand sich das kleine Mikrofon, das in einem Halbbogen am Helm befestigt war. »Ich habe Commissioner Hauk an Bord. Wir befinden uns auf dem Weg zum Hauptquartier.« Ohne den Blick vom Fenster zu wenden, hob Hauk die Hand und gab dem Piloten ein Zeichen. »Kontrollstation. Hier ist noch mal Gotham 4«, begann er, und diesmal schwang in seiner Stimme ein Unterton von Erregung mit, der Hauk fast den Magen umdrehte. »Der Commissioner hat gerade seine Zustimmung gegeben. Ich nehme die Verfolgung auf. Over.« Die Maschine schwenkte um fünfundvierzig Grad, um Kurs zurück auf die Straße zu nehmen, und sekundenlang starrte Hauk genau ins Zentrum jener niedrighängenden Wolkenbank, von der die Lügner im Wetteramt behaupteten, sie enthielte kein Gas. Dann gingen sie tiefer und überflogen in Höhe der Wolkenkratzer die Ruinen des westlichen Stadtteils am Battery
Park. Früher einmal hatte dieses Gebiet den Namen New York City getragen, aber das war lange her. Heute war es das New York Maximum Security Penitentiary, das größte und sicherste Zuchthaus der Vereinigten Staaten, in dem drei Millionen Mörder, Räuber, Diebe und Verrückte lebten. Und Bob Hauk oblag die Verantwortung über dieses Irrenhaus. Er ließ den Blick über die tote Stadt schweifen. Sie war eine geschwärzte Patronenhülse, ein Betonwald aus hochaufragenden Baumruinen. Wie gewaltige Grabsteine ragten die verlassenen Gebäude in die Schwärze der Nacht. Von Zeit zu Zeit flackerten unter ihm Lichter auf; die Tiere, die jetzt die toten Straßen kontrollierten, spielten das Spiel des Wahnsinns, das ihnen ihr kranker Geist diktierte. Aber der Winter stand vor der Tür, und er würde ihre Zahl schon um ein Beträchtliches reduzieren. Und das ist ganz gut so, dachte Hauk. New York City war während des Krieges das erste Ziel des Angriffs auf Nordamerika gewesen. Volle drei Wochen hatte die Stadt unter Beschuß gestanden und war mit Brandbomben und Gas bombardiert worden. Als es vorbei war, waren jene, die überlebt hatten, verrückt geworden. In großen Banden streiften sie durch die Straßen und zerstückelten oder aßen alle Toten, die sie finden konnten. Was übrigblieb, wurde entlang der Wall Street aufgestapelt, und seitdem trug dieser Teil der Stadt den Namen ›Friedhof‹. Hauk sah zu seinem Piloten hinüber. Der Mann starrte aufmerksam auf seinen kleinen Radarschirm, und seine Kiefer mahlten vor Spannung. Plötzlich tauchte ein winziges Licht auf dem Schirm auf, das bei jedem Positionswechsel hell aufflackerte. »Da hätten wir’s ja«, seufzte der Pilot mit tiefer männlicher Stimme. Sein Atem ging schwer, und mit der
Zunge fuhr er sich aufgeregt über die trockenen Lippen. Hauk wandte sich ab und blickte wieder hinunter auf die Stadt. Er haßte den Anblick, er haßte alles, was mit dieser Betonwüste zu tun hatte. Aber am meisten haßte er das Schicksal, das ihn dorthin gebracht hatte. Der Krieg ging weiter, und mit dem Gas war es nicht anders. Mit den Jahren brach dann die amerikanische Wirtschaft zusammen. Es gab eine ganze Menge armer Leute, die durch das Nervengas langsam aber sicher verrückt wurden. Um überhaupt überleben zu können, wurden sie zu Kriminellen. Die Verbrechensrate stieg sprunghaft an, verdoppelte sich zuerst und ging dann um ein Vierfaches in die Höhe, als die Verrückten plündernd und sengend durch die Straßen zogen und alles zerstörten, was ihnen in den Weg kam. Als sich der Krieg dann in Übersee fortsetzte, wurden auch die Soldaten langsam verrückt. Aber die Armee hatte gelernt, den Wahnsinn in Kampfbegeisterung umzulenken. Das Dumme war nur, daß die Jungs, wenn sie schließlich nach einigen Jahren von der Front nach Hause zurückkehrten, nicht wußten, wohin mit ihrem Wahnsinn. Dann kam jemand auf eine glänzende Idee. Man gründete die United States Police Force, die Polizei von Amerika, und füllte ihre Reihen ausschließlich mit Kriegveteranen, die eine Vorliebe für Blut hatten. Die Uniformen, die sie trugen, waren so schwarz wie ihr Geist, und ihre Form von Justiz war kurz und bündig. Erfahren im Kampfgemetzel, schwärmten sie durch die Straßen und bekämpften die innerstädtischen Kleinkriege mit unbarmherziger militärischer Präzision. Als sie fertig waren, blieben Millionen Tote zurück. Jene Unglücklichen, die das Pech hatten zu überleben, wurden zusammengetrieben und nach Manhattan Island verfrachtet. Es war groß genug, wurde nur von Verrückten bewohnt, und seine Flüsse bildeten eine
natürliche Barrikade. Sie waren wieder über dem schäumenden Wasser. Der Pilot flog ziemlich niedrig und mußte jetzt, dem Blinksignal auf dem Radarschirm nach zu urteilen, das gesuchte Objekt erreicht haben. »North Bay, Abschnitt sieben«, meldete er in sein Helmmikrofon. »Verfolgtes Objekt direkt vor uns.« Instinktiv sah Hauk hinunter auf den Fluß und begann, die Wasseroberfläche abzusuchen. Der Helikopter verlor an Höhe und flog in einer großen Spirale immer tiefer. Der Pilot schaltete einen Suchscheinwerfer ein, und augenblicklich erhellte ein blauer Lichtfinger das Dunkel der Nacht. Hauk sah das gesuchte Objekt auf dem Wasser als erster, aber er sagte nichts. Es war sowieso egal. Der Suchstrahl hatte das Objekt ziemlich bald erfaßt. Es war ein roh gezimmertes Floß aus zusammengebundenen Planken und Telefonmasten, auf dem zwei abgemagerte, zerlumpte Gefangene hockten. Verzweifelt paddelten sie auf die JerseyMauer zu. Als der Lichtstrahl sie entdeckte, hielten sie einen Augenblick inne und sahen erschrocken nach oben, paddelten dann aber um so heftiger weiter. Der Pilot griff nach dem Abschußknopf und strich fast zärtlich mit seiner behandschuhten Hand über ihn. »Hab' euch«, flüsterte er heiser. »Ihr seid schon so gut wie tot.« Hauk beugte sich vor und berührte die Hand auf dem Abschußknopf. Der Mann fuhr herum, und in seinem Gesicht spiegelte sich Verärgerung wider. Hauk hielt seinem zornigen Blick stand. »Eine Warnung«, verlangte er. »Geben Sie ihnen zuerst eine Warnung.« Der Pilot preßte die Lippen zusammen, verbiß sich aber eine heftige Erwiderung. Gehorsam nahm er die Hand vom Knopf
und schaltete die Lautsprecher ein. »Sie haben zehn Sekunden Zeit, umzukehren«, donnerte seine Stimme durch die Lautsprecher. Natürlich ignorierten die Gefangenen die Warnung. Hauk hatte es nicht anders erwartet. Schließlich waren sie verrückt. Der Pilot legte die Hand zurück auf den Knopf, der die Raketen auslöste, und sah Hauk fragend an. Der holte tief Luft und nickte dann, worauf das Grinsen in das Gesicht des anderen zurückkehrte. Es war nicht schwer, ihn zufriedenzustellen. Man mußte ihm nur etwas zu töten geben. Er zog den Helikopter unmittelbar über das Floß und drückte den Knopf. Ein zischendes Geräusch erfüllte die Kanzel, und die Maschine erzitterte. Hauk verfolgte die Bahn der beiden Raketen, die in einem Zickzackkurs auf das Wasser zusteuerten. Die Explosion zerriß das Dunkel der Nacht, zerfetzte den Vorhang der Finsternis und gab den Blick auf die schwärende Hitze unter ihnen frei. Als die grellen, sengenden Blitze verblaßten, war von den beiden Männern und ihrem Floß nichts mehr zu sehen. Nur das aufgewühlte Wasser erinnerte noch an die Explosion, die hier vor wenigen Sekunden stattgefunden hatte. »Ein guter Schuß«, kommentierte Hauk, aber es klang nicht gerade überzeugt. Der Pilot nickte stolz und nahm Kurs auf Liberty Island. »Kontrollstation«, sagte er in sein Helmmikrofon, bemüht, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Habe Ausbruchversuch zweier Gefangener verhindert. Over.« Aus dem Empfänger erklang eine aufgeregte Stimme. »Saubere Arbeit, Gotham 4. Bist du das, Charlie? Over.« »Ja, ich bin's«, antwortete der Pilot. »Damit wären es bis jetzt siebzehn. Nächsten Monat habe ich meinen Goldstreifen.« »Ich denke, es sind achtzehn, Charlie.« Die aufgeregte Stimme erfüllte die Kanzel. »Du mußt dich verzählt haben.«
»Ich glaube, du hast recht. Es müssen tatsächlich achtzehn sein.« »Dann meinen herzlichsten Glückwunsch. Und mach weiter so. Over and out.« Sie näherten sich jetzt der Freiheitsstatue, der Kommandozentrale für die USPF-Überwachung des Zuchthauses von Manhattan. Die gesamte Insel war mit Geschützen und großen Steinbunkern befestigt, über die zur zusätzlichen Sicherung ringsherum Stacheldrahtrollen liefen. Sie flogen in nächster Nähe am Gesicht der großen Dame vorbei. Das Innere der Krone war hell erleuchtet, und hinter den Fenstern konnte Hauk Bewegungen sehen. Von hier aus wurde Manhattan überwacht, und eine umfangreiche technische Ausrüstung half dabei, jeden Ausbruchversuch zu vereiteln. Sie blieben unter dem Strahl der starken Suchscheinwerfer, die auf der Spitze der Fackel montiert waren und in einem breiten Winkel auf die Wasseroberfläche trafen. Die Landfläche befand sich auf der nach Jersey gerichteten Seite der Statue, unmittelbar neben der gewaltigen Mauer, die Liberty Island mit der Küste von New Jersey verband. Die Mauer schien riesenhafte Ausmaße anzunehmen, als sie neben ihr auf das große gelbe ›X‹ der Landefläche hinunterschwebten. Sie ragte hoch in den Himmel und war mit einer langen Reihe roter Lichter besetzt, die in einem gleichmäßigen, pulsierenden Rhythmus aufflackerten. In der Mauerbasis befanden sich Bunker für die Einsatzmannschaften, und beim Näherkommen konnte er schwarzgekleidete Polizisten sehen, die ein- und ausgingen. Hauk haßte das Gefängnis, und er haßte auch die Mörder, die sich Polizisten nannten. Er kam nie hierher, außer, er hatte einen verdammt guten Grund dafür. Und heute hatte er einen Grund. Einen sehr guten sogar. Er war heute hierhergekommen, um jemand ganz besonderen zu treffen. Und dieser Jemand hieß Snake Plissken.
4 AUF HALBEM WEG ZUR HÖLLE LIBERTY ISLAND 23. Oktober 19.45 Uhr Im Innern des Wagens war es dunkel wie in einer Höhle, und kalter, glatter Stahl schloß ihn ein. Es würde bald regnen; Plissken konnte es in seinem Auge fühlen. Aber das war auch alles, was er wußte, denn er war völlig isoliert von der Außenwelt – ohne Licht, ohne Wärme, nur mit der Luft, die hier mit ihm zusammen eingeschlossen war. Sie waren schon ziemlich lange unterwegs, und die Federung des Kastenwagens war so schlecht, daß Plissken von den Stößen am ganzen Körper blaue Flecke hatte. Er hätte gern ein bißchen geschlafen, denn er brauchte unbedingt Ruhe, aber die holprige Fahrt und die schweren Ketten, die man ihm angelegt hatte, machten es unmöglich. Sie hatten ihn aus der San Francisco Station hinausgeführt und die Leiche Taylors einfach ihrem Schicksal überlassen. Die Schwarzröcke hatten kein Wort mit ihm gesprochen, nur ab und zu hieb ihm einer von ihnen den Gewehrkolben über den Kopf oder in den Rücken. Es ließ ihn jedoch ziemlich gleichgültig, da er wußte, daß es nichts war im Vergleich zu dem, was ihn noch erwartete. Sie setzten ihn in einen Zug, und er fuhr den ganzen Weg zurück nach New Jersey, diesmal allerdings nicht erster Klasse. Dann hatten sie ihn in einen Wagen gesteckt, und hier saß er
nun. Niemand wollte ihn auch nur eine Sekunde länger als nötig haben, denn Snake Plissken war als aalglatt und gerissen bekannt. Es wäre sicher am einfachsten gewesen, wenn sie mit ihm wie mit Taylor verfahren wären, aber den meistgesuchten Verbrecher im ganzen Land lebend zu fangen, das kam allen Betroffenen wie ein Wunder vor. Sie waren überglücklich, daß sie Snake endlich hatten, aber genauso versessen waren sie darauf, ihn möglichst schnell wieder loszuwerden. Natürlich gab es keine Verhandlung. Die USPF kam auch ohne Gerichtsverhandlungen aus. Bei so vielen Verbrechen und so wenig Geld verfügte das Land weder über die Mittel noch über die Lust, sich auch noch mit einem Rechtssystem herumzuplagen. Die Schwarzröcke waren das Rechtssystem – sie waren gleichzeitig Richter, Geschworene und in vielen Fällen auch Vollstrecker. Man schickte ihn nach New York. Er war sich dessen sicher, als sie in San Francisco die Koordinaten für New Jersey gedrückt hatten. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Plissken kam langsam auf die Füße, wobei er darauf achten mußte, daß er sich nicht in den Ketten verfing, die von seinen Handgelenken bis zu den Knöcheln liefen. Die Decke des Transporters war so niedrig, daß er nur gebückt stehen konnte. Er stellte sich nahe an die Tür, bereit, sich den Weg freizutreten, falls sich die Gelegenheit bieten sollte. Draußen hörte er Stimmen, aber durch die Wände des Wagens war es unmöglich zu verstehen, was sie sagten. Dann wurde die Tür geöffnet. Plissken sah sich Wachen gegenüber, die alle Gewehre in den Händen hielten. Und die Gewehre zeigten genau auf ihn. »Kennt ihr den, wo ein Handelsvertreter …« begann er, und dann waren sie auch schon heran, zerrten ihn an den Armen und zogen ihn durch die Tür hinaus, wo sie ihn einfach zu Boden fallen ließen.
Plissken stürzte schwer, und das gab ihm den Rest. Schwerfällig rollte er sich auf den Rücken und starrte reglos in die dunklen Wolken am nächtlichen Himmel. Direkt über ihm flog gerade ein Helikopter vorbei, der keine hundert Fuß von ihm entfernt auf einer Landefläche niederging. Die Schwarzröcke zogen ihn hoch und führten ihn auf die Bunker in der großen Mauer zu. Hinter ihm stand düster und unerschütterlich die Statue, die schweigend Wache über die Festung New York hielt und deren Suchstrahlen in langen, melancholisch stimmenden Lichtstreifen die Nacht durchbrachen. Die Bunker waren nackt und einfallslos und erstreckten sich über die ganze Länge der Mauer. Auf den Dächern drehten sich langsam Radarschirme. Plissken wurde zu einer Tür gebracht, über der ein Schild mit der Aufschrift: Liberty Island Sicherheitskontrolle angebracht war. Sie schoben ihn durch die Tür, hinter der ein langer Korridor begann. An den Wänden hingen weitere Schilder von wesentlich größeren Ausmaßen als das draußen über der Tür. Gefangene: Sprechen verboten Rauchen verboten Folgen Sie der roten Linie Die rote Linie war, nicht gerade sehr ordentlich, auf den Fußboden vor ihm gemalt. »Na los«, fuhr ihn eine Stimme von hinten an, und dann wurde er vorwärtsgestoßen. Plissken folgte gehorsam der roten Linie. Vielleicht würde an ihrem Ende ein Goldschatz auf ihn warten. Doch statt dessen führte sie zu einer Wachstation. Ein Sergeant vom Dienst mit einem schlaffen Gesicht und wulstigen Fleischfalten da, wo bei einem normalen Menschen die Augen saßen, blickte zu ihm
auf. »Bleib stehen«, befahl er, während seine Augen über seinen mit Akten überhäuften Schreibtisch schweiften. Plissken gehorchte, während ein Ausdruck des Ekels auf seinem Gesicht erschien. Er befand sich mitten im Schwarzrockhimmel und fühlte sich entsprechend beschissen. Der Sergeant vom Dienst blätterte flüchtig einen Stapel Aktenordner durch, wobei sein Mund unhörbare Worte formte. Dann fand er endlich, was er gesucht hatte. »Mister Snake Plissken«, stellte er scheinbar gleichgültig fest. Plötzlich kam in die übrigen Wachhabenden Leben, und mit weit aufgerissenen Augen starrten sie Plissken an. Hastig entsicherten sie ihre Gewehre und hielten sie etwas fester, wurden etwas vorsichtiger. Snake schüttelte den Kopf. Er hatte nicht vor zu fliehen. Zumindest nicht sofort. »Na, wie geht's uns denn heute abend, Plissken?« wollte der Mann mit dem Ordner wissen. »Prächtig, prächtig«, erwiderte Plissken, aber die Worte waren so tot wie Bill Taylor. Der Mann grinste, wobei er eine Reihe fauler Zähne entblößte. »Aber nicht mehr lange«, schnurrte er behaglich. Ein Gewehr bohrte sich in Plisskens Rücken und schob ihn weiter den Gang entlang. Er stolperte vorwärts. Bei jedem Schritt, den er machte, klirrten die Ketten auf dem Fußboden. Man trieb ihn auf einen Eingang zu, einen Eingang, der direkt in die Hölle führen konnte. Darüber entdeckte Plissken ein Schild, auf dem in sauber gedruckten, blutroten Buchstaben stand: Good bye, Charlie Und denk daran, wie schön es war Er zögerte nur kurz, bevor sie ihn in die Dunkelheit schoben.
Hauk kannte Snake Plissken nicht persönlich, aber er hatte schon viel von ihm gehört. Damals war er noch Lieutenant Plissken gewesen. Doch Namen paßten sich den Umständen an. Hauk war damals noch Big Hauk gewesen, und manchmal auch Colonel Hauk. Er teilte ein gemeinsames Erbe mit Plissken. Ein Erbe, das Leningrad hieß. Als Plisskens Männer an jenem kalten, häßlichen Morgen in ihren Seglern die Stadt stürmten, hatte Hauk eine Fliegerstaffel im Osten gegen das Industriegebiet Leningrads angeführt. Sie sollten das Feuer auf sich lenken. Und das hatten sie getan. Sie waren so unter Beschuß genommen worden, als gälte es, die ganze Welt zu vernichten. Im rechten Ohr trug Hauk einen kleinen goldenen Ohrring. In früheren Jahrhunderten bekamen Seeleute solche Ohrringe, wenn sie einen Schiffbruch überlebt hatten. Und genau das war Leningrad für Colonel Bob Hauk. Jetzt wollte er Plissken treffen, nur ein einziges Mal. Wollte ihm sagen, daß er ihn verstand. Der Helikopter setzte auf der Landefläche auf, während Hauk beobachtete, wie ein paar Polizisten einen Mann in Ketten an ihm vorbei auf die Bunker zu führten. Er sah der Gestalt einen Augenblick nach, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen. Jemand kam auf ihn zugerannt. Es war Rehme, der Kommandant der Einheit. Ohne noch ein Wort an den Piloten zu verschwenden, kletterte Hauk aus dem Helikopter. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, dessen Farbe genau zu seiner Stimmung paßte. Die nickelüberzogene 38er mit dem Perlmuttgriff rieb bei jedem Schritt beruhigend über seine Hüfte. Er kam nie ohne eine Waffe nach New York. Nie. Gebückt stand Hauk unter den pfeifenden Rotorblättern, während ihm der von ihnen erzeugte Wind durch Gesicht und
Haare peitschte. Rehme lief mit eingezogenem Kopf auf ihn zu und begann zu sprechen, doch durch den Lärm der laufenden Maschine konnte Hauk kein Wort verstehen von dem, was der andere sagte. Er winkte mit der Hand und deutete auf sein Ohr. Rehme nickte verstehend, und die beiden Männer entfernten sich vom Helikopter, der wieder startete, sobald sie weit genug weg waren. Charlie konnte es kaum erwarten, in die Luft zu kommen. Schließlich ging es ja um einen goldenen Streifen. »Was gibt's?« fragte Hauk, als das Geräusch der Rotorblätter in der Ferne verklang. Rehme war außer Atem und keuchte heftig. In seiner blauen Uniform sah der Sergeant aus wie ein Gorilla in einem Konfektionsanzug. »Wir haben da einen kleinen Jet, bei dem es anscheinend Schwierigkeiten gibt«, stieß er zwischen zwei Atemzügen hervor. »Ausgerechnet im gesperrten Luftraum.« Hauk sah ihn scharf an. »Sagten Sie ein Jet?« Der Mann nickte. »Wo ist er jetzt?« Rehmes Augen schweiften zum Himmel, als suchte er irgendwo dort oben das Flugzeug. »Ungefähr sieben Meilen von hier. Er hat Kurs auf uns.« Sie hatten inzwischen den Bunker erreicht, in dem sich die Flugsicherungszentrale befand. Rehme eilte hinein, und Hauk wollte ihm gerade folgen, blieb dann aber noch einen Augenblick stehen, um wie vorher der Sergeant zum Himmel hinauf zuschauen. Dann trat er hinter Rehme durch die Tür. Sie führte zu einer Treppe, die ziemlich steil in die Tiefe ging und deren Stufen nur schwach erleuchtet waren. Rehme ging voraus. »Wir kommen nicht durch«, erklärte er über seine Schulter hinweg. »Vor rund zehn Minuten erreichte uns ein Funkspruch. Der Jet gab sich als ›David Vierzehn‹ zu erkennen, aber dann brach plötzlich die Verbindung ab.« »Und? Haben Sie danach noch etwas von der Maschine gehört?«
»Kein Wort.« Die Stufen endeten im Luftsicherungsbunker. Der Raum wurde von einem schwachen Licht erhellt, das hauptsächlich von dem blaugrünen Leuchten der ganzen Instrumente herrührte, die alle vier Wände, vom Boden bis zur Decke, einnahmen. Beim Eintreten fiel Hauks Blick auf eine Gruppe von Technikern, die sich um einen einzelnen Radarschirm drängte. Er brauchte nicht lange zu fragen, wo der Düsenjet entdeckt worden war, und kam näher, um einen Blick über die Schulter der Männer zu werfen. Ein kleines Blinkzeichen bewegte sich quer über den Schirm, der in Sektionen eingeteilt war. Vor dem Pult saß ein Mann, der in ein Mikrofon sprach. »David Vierzehn, können Sie mich hören? Over.« Rehme stellte sich mit düsterem Gesicht neben Hauk, der genau wußte, daß der Sergeant sich jetzt fragte, warum das ausgerechnet in seiner Schicht passieren mußte. Aus dem kleinen Lautsprecher war eine entfernte Stimme zu hören, die allerdings so verzerrt war, daß die einzelnen Worte nicht zu verstehen waren. Wieder sprach der Mann vor dem Pult in das Mikrofon. »David Vierzehn, ich informiere die Flugrettung. Schalten Sie auf Frequenz 749 und bleiben Sie auf Empfang.« Mit einem resignierenden Blick wandte er sich an Hauk und Rehme. »Noch immer keine Antwort«, stellte er fest und schüttelte den Kopf. Rehme nickte und deutete dann auf einen Schalter am Pult, den der Techniker daraufhin umlegte. »Bayonne, ich habe einen Notruf über dem gesperrten Luftraum.« Im Empfänger krachte und knisterte es, und augenblicklich kam die Antwort. »New York, ich habe ihn auf dem Schirm«, war eine dünne Stimme zu hören. »Dreizehn Grad Ost. Die Maschine verliert sehr schnell an Höhe.«
»Was für ein Jet ist es?« Hauk hatte sich zu Rehme umgedreht und starrte ihn durchbohrend an. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Sergeant knapp. Seine Antwort war nicht gerade aufschlußreich. »Sie haben doch den Code.« Der andere kräuselte die Lippen und holte tief Luft. Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. »Der Computer kennt keinen David Vierzehn«, meinte er dann leise. »Eine nichtregistrierte Maschine?« Rehme wurde zusehends nervöser und fuhr sich mit der Hand durch das hagere Gesicht. »Der Code ist nicht registriert. Wir mußten eine Anfrage nach Washington durchgeben.« Hauk starrte den Mann unverwandt an. Der Jet konnte alles mögliche sein, und er würde ihnen direkt in den Schoß fallen. Solche Entscheidungen wie diese gefielen ihm nicht; sie hatten ihm noch nie gefallen. Einen Augenblick herrschte Schweigen, bis es plötzlich laut im Empfänger knisterte und alle Anwesenden zusammenzuckten. Eine Stimme war zu hören, die aufgrund atmosphärischer Störungen nur bruchstückhaft zu ihnen durchkam. Der Techniker drehte am Tuner, um den Empfang zu verbessern. »Ich glaube, ich hab' sie jetzt«, wandte er sich schließlich an Rehme. Sie konnten jetzt alle die Stimme verstehen, während Hauk sich verzweifelt wünschte, sie würde wieder verschwinden. »…es ist zu spät, ihr Arschlöcher! Eure ganzen imperialistischen Lügen und Waffen können ihm jetzt nicht mehr helfen. Wir stürzen ab. Wir …« Die Stimme wurde wieder von atmosphärischen Störungen überlagert, und aus dem Gerät kam nur noch ein Krachen. Hauk fühlte, wie sich sein Inneres verkrampfte und sich eine glühende Faust in seinem Magen zu bilden schien, während der Techniker verzweifelt in das Mikrofon sprach.
»David Vierzehn, können Sie mich hören? Hören Sie mich, David Vierzehn?« Ein Mann rief vom Computer zu ihnen herüber. »Gerade kommt der Code herein«, meldete er aufgeregt. Die Worte des Technikers vor dem Radarschirm noch im Ohr, eilten Hauk und Rehme zum Computer. Sie hatten den Schirm gerade erreicht, als die Meldung ausgedruckt wurde. Flugzeug identifiziert Code: David 14 Decoding: Air Force One Die Maschine des Präsidenten! Genau in diesem Augenblick wünschte Bob Hauk, er wäre in Leningrad gefallen.
5 AIR FORCE ONE 23. Oktober 19.35 Uhr Leisetreter, so hatten sie ihn genannt, als er noch ein einfacher Abgeordneter im Kongreß gewesen war. Leisetreter oder Duckmäuser. Der Senator des Staates Alabama hatte ihn sogar noch mit wesentlich häßlicheren Namen bedacht. Doch das war jetzt längst nicht mehr wichtig. Heute mußten ihn alle mit Mister President anreden, und nach seiner Wahl hatte er als erstes einige sehr wichtige Wasserprojekte im Staat Alabama gestrichen. Einige Zeit später verschwand dann der Senator auf rätselhafte Weise bei einer Angeltour und tauchte nie wieder auf. Er starrte aus dem Flugzeugfenster hinaus in die Wolkenbank, die sie gerade durchflogen, und war froh, daß er hier in der Sicherheit der Maschine saß. Einmal gerieten sie in eine kleine Turbulenz, die das Flugzeug leicht durchschüttelte, während er nachdenklich sein Spiegelbild im Fenster betrachtete. Duckmäuser. »Präsident Harker«, holte ihn eine Stimme neben ihm zurück in die Wirklichkeit. Verwirrt blickte er auf. Die Stewardeß beugte sich gerade zu ihm vor. Ihre dunkelblaue Uniform schmiegte sich eng an ihren Körper, und ihr Haar roch schwach nach Jasmin. »Ja, meine Liebe?« fragte er mit einer sanften, entwaffnenden Stimme. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.«
In den Augen der Frau lag ein rätselhafter, beunruhigender Ausdruck. Harker musterte sie aufmerksam, und es wollte ihm ganz und gar nicht gefallen, was er sah. Jemand hatte einmal gesagt, daß ein Politiker lieber aus dem Geschäft aussteigen sollte, wenn er nicht beim Anblick eines Menschen augenblicklich sagen konnte, ob er sein Freund oder sein Feind war. Diese Frau mochte ihn nicht. Warum war sie dann aber hier mit ihm zusammen an Bord der Maschine? Das Gesicht der Stewardeß verzog sich zu einem Lächeln, wie man es für einen Fotografen aufsetzt, und dann verschwand sie in Richtung Cockpit. Gelangweilt sah Harker sich in der luxuriösen Kabine um. Die Männer vom Geheimdienst saßen an dem großen Tisch aus imitiertem Holz und pokerten um Munition. Sie sprachen kurz und abgehackt, während ihre Augen ständig in Bewegung waren. Die beiden anwesenden Ärzte, deren Namen er nicht kannte und auch gar nicht erst wissen wollte, soffen sich an der kleinen Bar stillschweigend einen an. Keinem von ihnen schien etwas Verdächtiges an der Stewardeß aufgefallen zu sein, also beschloß er, sein ungutes Gefühl zu ignorieren. Mehr gelangweilt als müde streckte er sich und legte die Hand auf den Aktenkoffer, der auf dem Sitz neben ihm stand. Lächelnd wandte er den Kopf und betrachtete den Koffer sekundenlang. Es war im Grunde albern, daß er nur wegen einer kleinen Kassette eine so große Tasche mit sich herumschleppen mußte, aber was sollte er machen, wenn es die Sicherheitsvorschriften so forderten. Bomben. Er hatte keine blasse Ahnung von Bomben, doch seine Leute hatten ihm gesagt, sie hätten eine. Den Superblitz, so nannten sie das Ding. Mit dieser neuartigen thermonuklearen Waffe konnten sie Iwan und die Schlitzaugen spurlos vom Erdboden verschwinden lassen, ohne daß auch nur die geringste Strahlung in der Atmosphäre übrigblieb. Er war auf dem Weg zum Gipfeltreffen in Hartford, wo er
den Delegierten aus Rußland und China ein Informationsband vorspielen würde. Dann wollte er ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit geben, sich zu ergeben, sonst würde er die gesamte östliche Welt in ein gigantisches Feuerwerk verwandeln. Es gab sicher einige, die es als Erpressung bezeichnen würden, aber Harker zog vor, es als einen Kompromiß zu betrachten. Und in Kompromissen kannte Harker sich aus. Auf diese Weise hatte er es auch geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden, obwohl niemand gedacht hätte, daß er es schaffen würde. Man hielt ihn allgemein für einen Liberalen; er ging auf die gleiche zurückhaltende und doch gewinnende Intellektuellentour vor, wie sie typisch für sein Idol aus Jugendtagen, Adlai Stevenson, gewesen war. So etwas kam gut an in New York. Natürlich teilte er nicht dessen Schwäche, sein leidenschaftliches Streben nach Idealen. Ideale erwiesen sich nämlich oft als störend, wenn es um wirklich wichtige Dinge ging, zum Beispiel um die Wiederwahl. So verbrachte er also leise und unbemerkt als ›Duckmäuser‹ seine Zeit im Kongreß. Er sparte sich seine politischen Bons auf und schärfte seine Pfeile, und als die Zeit reif war, da handelte er. Der Krieg hatte alles in ein einziges Chaos verwandelt, und das Land, zumindest das, was noch von ihm übrig war, suchte eine neue Führung. Harker zog seine Netze ein, inszenierte ein paar Staatsstreiche gegen seine Feinde, und als das Blutvergießen endlich vorbei war, stand er an der Spitze. Er war jetzt der erste – er war der Mann. Und es gefiel ihm. Er liebte seine Position. Die Macht einer ganzen Nation stand hinter ihm. Er war die Macht einer ganzen Nation. Er war nicht mehr der Duckmäuser, der Leisetreter. Und der große Staat von Alabama mußte zusehen, wie er ohne seine Wasserprojekte fertig wurde. Jetzt hatte er eine Bombe, mit deren Hilfe er Präsident der
ganzen Welt werden konnte. Er würde nach Hartford gehen, seine Botschaft überbringen und sich bis zur endgültigen Antwort der Gegenseite in die Schutzbunker von Camp David zurückziehen. Vielleicht würde er diese Stewardeß mitnehmen und sie nicht eher wieder aus dem Bett lassen, bis der Haß aus ihren Augen verschwunden war. Der Gedanke erregte ihn und munterte ihn wieder etwas auf. Das Flugzeug sackte plötzlich durch, und der Ruck hätte Harker fast aus seinem Sitz geschleudert. Er drehte den Kopf in Richtung Cockpit, von wo durch die Tür erstickte Laute an sein Ohr drangen. »Was zum Teufel geht hier vor?« Die ruckartige Bewegung hatte alle anderen zu Boden stürzen lassen. Die Geheimdienstleute waren als erste wieder auf den Beinen und näherten sich dem Cockpit. Es herrschte allgemeine Verwirrung, als das Flugzeug jetzt hin und her schaukelte. Irgend etwas stimmte nicht. Verdammt, etwas war doch faul hier! »Hilfe«, rief Harker. »Gott, hilf mir doch.« Die Ärzte dachten, er hätte sie gemeint, und liefen zu ihm hin, während die Agenten versuchten, die Cockpittür zu öffnen, die aber offensichtlich von innen verschlossen war. Die Maschine flog jetzt ruhiger, doch es ließ sich nicht verheimlichen, daß sie immer tiefer sank. Die Ärzte waren mittlerweile bei ihm und überprüften, die Blicke auf die Cockpittür gerichtet, seinen Puls. Einer der Geheimdienstleute hieb vergeblich mit dem Gewehrkolben auf die terroristensichere Tür aus Stahl und Holz ein. Plötzlich wurden die Kabinenlautsprecher eingeschaltet. Irgend jemand mußte wohl zufällig den Knopf betätigt haben, und die Männer in der Kabine erstarrten mitten in ihren Bewegungen wie zu einer eingefrorenen Szene. »… und Waffen können ihm jetzt nicht mehr helfen. Wir stürzen ab. Wir werden alle krepieren.«
Also doch. Diese verfluchte Stewardeß. Er wußte, daß er ihr nicht hätte vertrauen sollen. Ausgerechnet eine Anarchistin. Solche Leute waren doch verrückt. Sie waren zu allem fähig. Harkers Puls raste. Das konnten sie nicht mit ihm machen! Sie durften es einfach nicht. Er mußte versuchen, sich zu retten. Die Stimme war noch immer zu hören, während sich die Agenten zu zweit gleichzeitig gegen die Tür warfen. »Auch mit all euren Gewehren, euren Spionen und euren Computern könnt ihr die gerechte Rache des Volkes nicht stoppen. Genausowenig wie ihr mich aufhalten könnt!« Ihre Stimme wurde schrill und klang fast hysterisch. »Sagt das den Arbeitern, wenn sie euch fragen, wo euer Führer geblieben ist!« Für einen Augenblick herrschte Schweigen, und Harker nutzte die Gelegenheit, um die Ärzte von sich zu schieben. Sie hatten sowieso die Hosen so voll, daß sie im Moment zu nichts zu gebrauchen waren. Die Rettungskapsel. Sie war genau das, was ihm jetzt noch helfen konnte. Harker tastete nach dem Revolver in seiner Jackentasche. Er würde die Rettungskapsel nehmen, und wenn es sein mußte, sie auch verteidigen. Die Frau begann wieder zu sprechen, aber diesmal kamen die Worte langsamer; offensichtlich las sie von einem Blatt ab. Ihre Stimme zitterte vor Wahnsinn. Harker wußte, daß sie tatsächlich die Absicht hatte, die Maschine auf die Erde stürzen zu lassen und dabei ihr Leben zu opfern. »Wir, die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront von Amerika, haben im Namen der Arbeiter und aller, die in diesem imperialistischen Staat unterdrückt werden, diesen entscheidenden Schlag gegen den rassistischen Polizeistaat inszeniert.« Zwei der Geheimdienstleute kamen zu Harker zurückgelaufen, während die anderen weiter gegen die Tür trommelten. »Sir, wir schaffen es nicht …«
»Himmel, dann schießen Sie doch das Schloß heraus!« schrie Harker. »Unmöglich.« Sie schüttelten keuchend den Kopf. »Sie hat die Kabine unter Druck gesetzt!« »Brechen Sie die Tür aus den Angeln!« Einer der Männer machte Anstalten, Harker hochzuziehen. »Wir müssen Sie zur Kapsel bringen, Sir.« »Ja. Ja. Unter allen Umständen.« Er war unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, und in seinem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Er versuchte, sich zu bewegen, zu gehen, aber die Männer behinderten ihn, weil sie die Kette dieses verdammten Aktenkoffers um sein Handgelenk schlossen. Die Tasche war so ungefähr das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Sie zogen ihn vorwärts, während seine Linke nach dem Revolver griff. Nur vorsichtshalber. Die Männer brachten ihn zum rückwärtigen Teil der Kabine, und einer von ihnen war bereits damit beschäftigt, das Schloß im Boden zu öffnen, das zur Kapsel führte. Harker drehte sich noch einmal zum Cockpit um. Die Männer an der Tür schienen endlich Glück zu haben. »Die Tür …« begann er. »Wir haben keine Zeit mehr.« Sie schoben ihn in die Kapsel, deren Deckel jetzt aufgeschraubt war. Sie war klein und eng – beängstigend eng. Der schmale, gepolsterte Sessel war von ebenfalls gepolsterten Wänden umgeben. Als einzige technische Ausrüstung war ein Computerschirm eingebaut, der sich unmittelbar vor seinem Sessel befand. Hände legten ihm den Sicherheitsgurt um, und jemand ließ ein Aluminiumarmband um sein Handgelenk zusammenschnappen, worauf sich augenblicklich der Computerschirm erhellte und bewegliche Lichtsignale seine Lebensfunktionen anzeigten: Blutdruck, Herzschlag und
Körpertemperatur. Harker mußte daran denken, wie idiotisch es doch war, sich von einer Maschine sagen zu lassen, wann man starb. Er sah noch einmal auf und blickte in die Gesichter über ihm, die auf ihn hinunterstarrten. Jeder von ihnen hätte jetzt am liebsten an seiner Stelle hier in der Kapsel gesessen. Unwillkürlich umklammerte er den Griff seiner Pistole noch ein bißchen fester. Dann schlossen sie die Luke über ihm, und Harker war allein in der Dunkelheit, mit einer blinkenden Computeranzeige als einzigem Begleiter, einer Art perversem Spiegel. Und plötzlich … Bewegung … Rehme, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte, zitterte am ganzen Körper. »O Gott«, stöhnte er. »O Gott, bitte nicht.« Hauk ignorierte ihn einfach. Er starrte auf den Radarschirm, während sich seine Gedanken zu überschlagen schienen und er verzweifelt nach Alternativen suchte. Das rote Blinkzeichen auf dem Bildschirm bewegte sich jetzt bereits in der hellerleuchteten Gefahrenzone – über New York City. Er sah hinüber zum Techniker. Der Mann war kalkweiß im Gesicht, und seine Lippen formten lautlose Worte. Keiner der Anwesenden sprach ein Wort; sie alle beobachteten hilflos das Blinksignal. Aus dem Lautsprecher drang wieder ein Krachen, dann ertönte von neuem jene Frauenstimme: »Gibt es ein besseres revolutionäres Exempel, als ihren Präsidenten in der unmenschlichen Hölle seines eigenen imperialistischen Gefängnisses umkommen zu lassen?« Hauk verließ den Schirm, verließ die Gruppe von Männern, die sich um ihn scharten. Dann blieb er, den Rücken ihnen zugewandt, stehen und starrte vor sich hin. Die verrückte Frau
sprach immer noch: »Die Anführer des rassistischen, diskriminierenden Polizeistaates werden vor der kollektiven Gewalt der gerechten Rache der Arbeiter erzittern!« Hauk fuhr sich mit der Hand durch das Haar und versuchte, sich zu beruhigen. »Arbeiter der Welt, seht hinauf zum Himmel! Wir haben einen großen Sieg errungen.« Aus dem Lautsprecher ertönte ein krachendes Geräusch. Die Frau schrie, dann hörten sie ein ersticktes Keuchen: »Biest!« Es folgte mehrmals hintereinander ein dumpfes Plopp. Schüsse, dachte Hauk. Hastig drehte er sich wieder zum Schirm um. Vielleicht hatten sie es doch geschafft, die Frau zu überwältigen. Ein unheimliches Ächzen drang aus dem Empfänger, gefolgt von einem schrillen, langgezogenen Kreischen, und dann … Stille. Nur das leise, statische Knistern kam noch aus dem Gerät. Einen Augenblick sagte niemand der Anwesenden etwas, bis schließlich der Techniker aussprach, was jetzt ohnehin alle wußten: »Er ist unten.« Bevor er wußte, was er tat, war Hauk schon aus der Tür zum Kontrollraum. Die Zentrale befand sich am anderen Ende des Ganges; dort würde man ihm sagen können, wo genau der Jet hinuntergegangen war. Er drehte sich um, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Es war Rehme, der ihm unmittelbar folgte. »Nehmen Sie sich zusammen!« herrschte Hauk ihn an. »Ich brauche Sie noch!« In der Zentrale hatte sich schon hektische Betriebsamkeit breit gemacht, als sie eintrafen. Auch hier hatte man verfolgt, wie die Maschine zu Boden gegangen war. Überall rannten Schwarzröcke herum, die sich auf einen Einsatz vorbereiteten. »Commissioner«, rief ihn jemand heran, sobald er durch die Tür trat, und Hauk eilte zu ihm hinüber. Es war eine Bohnenstange von einem Mann, der nur aus
Knien und Ellbogen zu bestehen schien. Er war ziemlich aufgeregt und deutete auf einen Schirm. »Was ist los?« bellte Hauk. »Der Lebensfunktionsmonitor«, stieß der Mann hervor. »Er hat sich eingeschaltet, kurz bevor die Maschine abgestürzt ist.« Hauk sah Rehme an, der sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte. »Die Rettungskapsel«, überlegte er. »Es muß ihnen gelungen sein, ihn abzuwerfen, bevor …« Hauks Blick wanderte zum Schirm. Sämtliche Lebenssignale waren in Tätigkeit, der Pulsschlag schien leicht erhöht. »Er lebt noch!« stellte Hauk fest. »Aber wo zum Teufel steckt er?« »Hier«, meldete sich Rehme zu Wort, in dessen Stimme steigende Erregung mitschwang. »Genau hier.« Hauk ging zu ihm hinüber. Rehme stand vor einer Reihe grünlich leuchtender Apparaturen, und der Commissioner konnte sehen, wie seine Hand zitterte, als er auf einen Schemaschirm zeigte. Es war ein geometrisches, dreidimensionales Bild von der Air Force One, das der Computer nach Radarinformationen formte. Das Flugzeug zog eine Bahn am Himmel. Dann kam das dreidimensionale Bild eines Wolkenkratzers ins Blickfeld, mit dem die Maschine geräuschlos und scheinbar unwirklich kollidierte, worauf alles in hübsche, symmetrische Formen auseinanderbrach. Unmittelbar vor dem Zusammenstoß löste sich vom rückwärtigen Teil des Flugzeugs ein roter Punkt, der sich in einem Bogen langsam vom Rumpf entfernte. »Die Rettungskapsel«, kommentierte Hauk heiser. Rehme hatte einen Taschencomputer in der Hand, und seine Finger flogen jetzt über die Tastatur. »Vierzig Grad«, meinte er dann. Der Blickwinkel auf dem Schirm wurde größer, und der rote Punkt beschrieb einen parabolischen Bogen, der ihn vom Flugzeugrumpf bis auf Straßenebene hinunterbrachte.
»Die Entfernung von der Absturzstelle beträgt fünfzig Yards«, ließ sich Rehme vernehmen. Hauk wandte sich zur Tür. Jetzt war keine Zeit für lange Entscheidungen; es galt, sofort zu handeln. »Ich fliege hin. Lokalisieren Sie die Absturzstelle, und geben Sie sie mir hinauf zum Startplatz.« Dann war er auch schon zur Tür hinaus. Es würde eine lange Nacht werden.
6 ALARMSTUFE ROT 20.30 Uhr Noch hatte es nicht angefangen zu regnen. Die Feuchtigkeit sammelte sich in den dunklen Wolken, die sich vollsogen wie ein Wattebausch. Aber Bob Hauk dachte jetzt nicht über Regen nach. Er dachte an Krieg. Auf dem großen Startplatz vor ihm zog sich eine endlose Reihe von Helikoptern hin, deren wirbelnde Rotorblätter die Luft durchschnitten und dabei mißtönende, böse Geräusche verursachten. Es waren zwanzig Maschinen, die rundum schwarz gestrichen waren. Sie ratterten wütend und zerrten wild an den Halteleinen, während ihre Blätter die Luft durchfetzten. Der Geruch von Blut schien selbst Maschinen verrückt zu machen. Hauk hatte den Luftsicherungsbunker verlassen und ging auf die Helikopter zu. »Tornister!« rief er dem ersten Schwarzrock zu, der ihm über den Weg lief. Mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht blieb der Mann stehen. »Den Tornister!« brüllte Hauk noch einmal so laut er konnte, um das schreckliche Heulen zu übertönen, das die Luft erfüllte. Erklärend deutete er auf seinen Rücken. Der andere nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte, hob die Hand mit dem ausgestreckten Daumen und lief los. Hauk ging weiter auf die Maschinen zu. Er hatte die Nase voll vom Krieg; er war ein für alle Male fertig damit. Aus und vorbei. Und diese Sache hier roch verdammt nach Krieg. Leningrad hatte ihm den Rest gegeben. Er hatte daraufhin vorzeitig um seine Entlassung gebeten, und seltsamerweise
hatte er vergessen, seine Medaillen mitzunehmen, als er seine Siebensachen gepackt hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Für einen Augenblick mußte er an Snake Plissken denken. Fast hätte er endlich den Mann persönlich kennengelernt, der die USPF fast fünf Jahre lang an der Nase herumgeführt hatte. Jetzt würde er vielleicht nie mehr die Gelegenheit dazu bekommen. Wenn man erst mal in der Stadt drin war, war man verloren. Rettungslos verloren. Bob Hauk wußte das aus eigener Erfahrung. Der Schwarzrock kam mit dem Tornister zurück, und Hauk nahm ihm den schwarzen Segeltuchsack mit einem wortlosen Nicken ab. Der Mann verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, und seine Augen funkelten vor Erregung. Mit zusammengepreßten Lippen setzte Hauk seinen Weg fort. Er befand sich jetzt in Reichweite der Helikopter. Um ihn herum zerrten und sogen die Luftwirbel an ihm, die die wischenden Rotorblätter entstehen ließen. Hauk wollte sich geistig von der ganzen Sache zurückziehen, doch es gelang ihm nicht. Er war zu lange in der Armee gewesen, hatte zu lange Befehle gegeben und befolgt. Er würde tun, was von ihm erwartet wurde. Er würde es immer tun. Schwarze Gestalten hasteten an ihm vorbei, Soldaten in vollem Kampfanzug: Tornister mit der Überlebensausrüstung, Helme, Waffen und Infrarotbrillen. Sie schrien, aber Hauk konnte durch den Lärm der startbereiten Helikopter nicht versehen, was sie sagten. Er schlüpfte aus seiner Jacke, ließ sie zu Boden fallen und legte den Tornister an, dessen Schulterriemen er straff anzog. Hauk hielt sich so gut es ging aus der Sache heraus, versuchte, ein unbeteiligter Beobachter am Rande zu bleiben. Aber er war Soldat, Berufssoldat, und die Aussicht auf Kampf lockte ihn wie eine schöne Frau. Er konnte sich nicht dagegen wehren, sondern mußte mitansehen, wie er hilflos in den Sog geriet.
Er marschierte weiter, bis er den Führungshelikopter entdeckt hatte, der in leuchtend goldenen Buchstaben das Zeichen der USPF trug. Im Zentrum war das Profil eines stilisierten Adlers zu sehen, dessen Auge den Betrachter böse anstarrte; seine Klauen umschlossen ein Stück Stacheldraht. Darunter stand in fein säuberlicher Schrift das Wort Commissioner. Hauk öffnete die Tür und schwang sich in die große Maschine. Es dauerte eine Weile, bis er sich in seinem Sitz zurechtgesetzt hatte, da ihn der unhandliche Tornister auf seinem Rücken behinderte. Er hätte lieber auf ihn verzichtet, aber vor einiger Zeit war von oben eine Anweisung gekommen, die verlangte, daß jeder, der sich in das Gefängnis begab, eine Überlebensausrüstung tragen mußte. Es war seine eigene Anweisung gewesen. Als er endlich halbwegs bequem saß, schloß er die Tür, die den Lärm von draußen auf ein erträgliches Maß reduzierte. Aus dem Empfänger vor ihm waren Geräusche zu hören. »Die Kontrollstation?« fragte er laut den Piloten neben ihm. »Ja«, schrie der Mann. »Rehme ist dran.« Auf dem Instrumentenbord vor ihm lag ein Kopfhörer mit einem Mikrofon. Hauk nahm ihn, setzte ihn auf und schaltete auf Empfang. »Rehme … hier spricht Hauk. Hören Sie mich? Over.« Die Stimme, die ihn über die Kopfhörer erreichte, klang sicher und ruhig. »Ja, ich höre Sie.« »Haben Sie inzwischen die Position festgestellt? Over.« »Ja … es muß irgendwo im Süden von Manhattan sein. Irgendwo in der Kante um Beaver und … ähm … Nassau.« So gut kannte Hauk die Stadt nicht. »Jetzt hören Sie mal zu. Wo zum Teufel soll denn …« »Wissen Sie, wo der Battery Park liegt?« »Sicher.« »Dann fliegen Sie einfach zum Battery Park und halten von
dort aus Ausschau nach Rauchwolken.« »Kapiert.« Hauk wollte schon abschalten, überlegte es sich aber dann anders. »Ist er … was sagt der Monitor?« »Die Lebenssignale sind noch immer positiv«, ertönte Rehmes verzerrte Stimme. »Er lebt also noch. Viel Glück.« »Ich kann's gebrauchen.« Hauk nickte dem Piloten zu und streckte den Daumen hoch. Augenblicklich hoben sie ab und schlugen einen Kurs nach Nordosten ein. Die übrigen Helikopter stiegen ebenfalls auf. Die Luft war von einem wilden Kreischen erfüllt, und Hauk kam sich vor wie mitten in einem Schwarm von hungrigen Aasgeiern. Alt und müde war Bob Hauk aus dem Krieg zurückgekehrt, um festzustellen, daß er in der Zwischenzeit seine Familie verloren hatte. Seine Frau war einfach verschwunden, und es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, was geschehen war. Der eine seiner beiden erwachsenen Söhne, Walt, starb bei der Bombardierung von Los Angeles; der andere, Jerry, wurde dabei überrascht, wie er einen Supermarkt in Chicago plünderte. Man erklärte ihn für verrückt und steckte ihn ins Gefängnis. Ins Gefängnis von New York. Hauk fühlte sich leer und ausgebrannt. Er kam sich vor wie eine Kürbislaterne zu Sankt Martin, die man ausgehöhlt und in die man dann eine Kerze hineingesteckt hatte, damit es so aussah, als lebte das Ding. Er hatte nach Manhattan gewollt, um Jerry zu suchen, aber man hatte ihn nicht hineingelassen. Also hatte er sich als Soldat für die Wachmannschaft beworben, doch als man herausfand, wer er war, boten sie ihm die Stelle des Commissioners an. Niemand sonst hatte den Job haben wollen. Hauk wollte ihn im Grunde auch nicht, aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, wie er sonst seinen Sohn hätte finden sollen. Ein paar Jahre lang nutzte er jede Gelegenheit, die sich bot, um in die Stadt zu kommen, doch schließlich erkannte er,
daß es zwecklos war. Man kümmerte sich nur um die Gefangenen, bis sie nach Manhattan abgeschoben wurden. Erst einmal in der Stadt, waren sie auf sich allein gestellt – lebenslang. In dem Chaos der Stadt war es mehr als sinnlos zu versuchen, irgend etwas herauszufinden – es war einfach Wahnsinn. Hauk war so oft gegen die Mauer aus Schweigen gerannt, daß er die Narben ein Leben lang spüren würde. Und dann stellte er eines Tages seine Suche einfach ein. Der Lebensfunke, der noch in ihm gesteckt hatte, war unwiderruflich erloschen, und zurück blieb nur eine ausgebrannte Hülle. Das war vor einem Jahr gewesen, und seitdem war er nicht mehr in die Nähe der Stadt gekommen. Der Pilot deutete auf den Uferstreifen. »Da vorn, das ist der Park«, sagte er laut. Hauk folgte dem ausgestreckten Finger, der auf eine dunkle, weite Fläche ohne Gebäude wies. In der Nacht sah sie irgendwie besser aus als am Tage. Die Dunkelheit verbarg nämlich die tote Erde und die Skelette der Bäume, die einst grün und lebendig gewesen waren. Er schaltete das Funkgerät ein. »Hier spricht Hauk. Sind jetzt über dem Park und gehen runter.« Der Commissioner wies den Piloten an, bis auf die Höhe der Gebäude herunterzugehen. Direkt vor sich konnte er eine riesige Rauchwolke sehen, die vom Boden her beleuchtet wurde. Luftdruck und Feuchtigkeit drückten die Wolke tiefer und preßten sie zusammen. Sie schien einfach über dem Boden zu schweben, vergessen in Raum und Zeit. Hauk sprach wieder in das Mikrofon. »Die Absturzstelle liegt direkt vor uns, Rehme.« »Roger«, kam die Antwort. »Ich habe Sie auf dem Schirm.« »Wir gehen jetzt runter.« Sie landeten mitten im Netz der tödlichen Straße, einer modernen Vision von der Hölle. Es war ein Tal, umgeben von
Gebirgen aus Stein. Die Straßen waren dunkel und verwüstet, und überall sahen sie die Zeichen des inneren Verfalls. Ausgebrannte, tote Autowracks säumten die Fahrbahnen. Sie ruhten nur noch auf verrosteten Achsen; die Reifen waren längst als gutes Brennmaterial verschwunden. Die Straße, in der sie gelandet waren, füllte sich mit Rauch und bildete eine surreale Landschaft in den niederen Regionen der Hölle. Und inmitten des Rauchs brannte ein Feuer. Ein helles, knisterndes Feuer, das dem Rauch Nahrung gab und die Straße in einen flackernden Alptraum verwandelte. »Lassen Sie die Maschinen laufen«, wies Hauk den Piloten an und öffnete die Tür. Die dunklen Schlünde der anderen Helikopter standen schon offen und spuckten Schwarzröcke mit langen, glänzenden Gewehren und rotschimmernden Infrarotbrillen aus. Die Männer schalteten ihre Stablampen ein, deren dünne, symmetrische Strahlen wie Finger in die Dunkelheit vorstießen. Der Rauch tauchte in den Lichtbereich und verlieh den Lichtfingern Substanz und Festigkeit. Er tanzte im Schein der Lampen, wodurch er das Ganze zu einer bitterbösen Farce zu machen schien. Die Schwarzröcke formten dichte Verteidigungslinien und begannen, vorzugehen. Bei jedem Schritt hüpften die Strahlen der Lampen im Rauch hin und her. Hauk blinzelte und versuchte, in dem ganzen Durcheinander noch etwas zu erkennen. Langsam und vorsichtig rückten sie vor. Die Männer gaben ihm Anlaß zur Besorgnis. Sie waren überdreht, bereit zu töten, und wenn es dazu kommen sollte, würde er mit Sicherheit Schwierigkeiten haben, sie unter Kontrolle zu halten. »Commissioner!« rief jemand. Hauk trat aus der Linie vor und ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Unfähig, ihre Position auszumachen, watete Hauk wie blind durch den Rauch.
»Wo sind Sie?« schrie er. »Hier, Sir. Hier vorn!« Durch den Nebel schob sich der Strahl einer Stablampe. Hauk ging darauf zu und verfolgte ihn wie eine Rettungsleine zurück. Am anderen Ende befand sich ein Polizist in der Uniform eines Captains. »Was gibt's?« fragte Hauk, als er sich dem Mann näherte. »Sehen Sie hier … da ist etwas.« Er schwenkte den Strahl in die andere Richtung. Im Licht der Lampe blähte sich etwas so hell und orange wie ein Benzinfeuer auf. »Der Fallschirm«, stellte Hauk fest. Sie setzten sich in Bewegung, um sich den Fund, der etwa zwanzig Yards von ihnen entfernt war, näher anzusehen. Der Stoff war drauf und dran, in dem natürlichen Auftrieb zwischen den Gebäuden aufzusteigen, wurde aber immer wieder heruntergedrückt. Vom Fallschirm aus verfolgten Hauk und der Captain die Leinen noch einmal ungefähr dreißig Fuß zurück und stießen dann auf die Kapsel. Sie hatte die Form und Größe eines Wetterballons und war fest in die Seite des Gebäudes verkantet, aus dem sie vielleicht zur Hälfte herausragte. Hauk lief auf sie zu. Die Luke stand bereits offen. »Verdammt.« Er beugte sich über die Öffnung und blickte ins Innere. Der Monitorschirm piepste begeistert vor sich hin, doch die Kapsel war leer. Die Lebenssignale des Präsidenten waren da, während er selbst verschwunden war. Der Captain hatte ihn jetzt erreicht. »Sehen Sie mal da.« Hauk sah in die Richtung, in die der andere wies. Aus dem Rauch und der Dunkelheit schälte sich eine Gestalt, die langsam auf sie zugeschlurft kam. Der Captain riß sein Gewehr hoch, doch Hauk schob es beiseite. Hinter sich konnte er hören, wie seine Männer ihre Waffen entsicherten.
»Nicht schießen!« bellte er in den Rauch hinein. Die zerbrechliche, fast ätherische Gestalt kam näher. Es war ein Mann, oder zumindest war sie früher einmal einer gewesen. Hauk ging ihm entgegen. Der Mann war dünn wie das Eis auf dem Hudson, so blaß und flüchtig wie der Rauch um ihn herum, und die zerlumpte Kleidung schlotterte um seinen ausgemergelten Körper. Er war ein lebender Toter, ein wandelnder Leichnam. »Ich bin Romero«, krächzte er. Ein fauliger Geruch drang aus seinem geöffneten Mund, und Hauk, der ziemlich dicht vor ihm stand, hielt unwillkürlich den Atem an. »Ich bin Hauk.« »Ich weiß.« Romero lächelte, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Sämtliche Zähne waren zu kleinen, messerscharfen Spitzen abgefeilt. Er sprach sehr langsam, als bereitete ihm jedes Wort große Schmerzen. »Wenn Sie mich anfassen«, sagte er heiser, »stirbt er. Wenn Sie nicht in dreißig Sekunden wieder in der Luft sind, stirbt er. Wenn Sie zurückkommen, stirbt er.« Hauk starrte ihn an, unfähig, etwas zu erwidern, und versuchte, in den toten, eingesunkenen Augen zu lesen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. »Ich habe hier etwas für Sie«, fuhr Romero fort und streckte die Hand aus. Ohne den Blick von ihm zu nehmen, griff Hauk danach, und Romero ließ es in seine Handfläche fallen, geschüttelt von lautlosem Lachen. Als der Commissioner den Kopf senkte, sah er ein kleines, zusammengerolltes Tuch. An einigen Stellen war Blut durchgesickert. Hauk blickte noch einmal auf Romeros entblößte Zähne und wickelte dann das Paket aus. Es enthielt einen Finger, der am dritten Glied abgetrennt worden war – das Siegel des Präsidenten. Wieder sah er Romero an.
»Zwanzig Sekunden«, sagte der Mann. »Ich bin bereit zu verhandeln.« »Neunzehn. Achtzehn.« »Was wollen Sie?« Romero grinste nur – ein todbringender, grinsender Dämon in der Verkleidung eines Menschen. »Siebzehn. Sechzehn.« Hauk erkannte, daß der Mann keine Ahnung hatte, was er überhaupt wollte. Er zog sich zurück, ließ Romero dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Dann hob er die Hand und winkte. »Wir rücken ab. Zurück in die Maschinen!« In der allgemeinen Verwirrung, die ausbrach, wurden Rufe laut. Die Spannung wurde immer größer und verlangte nach einem Ventil. Irgendwo im Rauch löste sich ein Schuß. Hauk schrie jetzt und versuchte, die Männer durch seinen offensichtlichen Zorn unter Kontrolle zu halten. »Verdammt noch mal, nicht schießen! Nicht schießen, habe ich gesagt!« »Fünfzehn. Vierzehn.« Hauk drehte Romero den Rücken zu und lief zu seinen Leuten. Wen er erwischen konnte, griff er und schob ihn auf die ein gutes Stück von ihnen entfernten Helikopter zu. »Wir ziehen ab«, schrie er. »Zu den Maschinen! Sofort!« Zögernd drehten sich die Männer um und machten sich auf den Rückweg. »Schneller, verflucht noch mal! Bewegt euch!« Nur widerwillig gehorchten sie und schoben ihrer Mordlust zwangsläufig noch einmal einen Riegel vor. Hauk vergewisserte sich, daß auch alle zu ihren Helikoptern unterwegs waren. Dann drehte er sich zu Romero um, aber der Mann war verschwunden. Hauk hetzte zu seiner Maschine zurück, und sobald er eingestiegen war, befahl er dem Piloten, abzuheben. Die Nerven in seinem Innern schienen bloßzuliegen, waren bis zum
Zerreißen gespannt. Sie hatten ihn. Die Verrückten hatten den Präsidenten, und der Himmel mochte wissen, was sie mit ihm vorhatten. Endlich begann es zu regnen.
7 LIBERTY ISLAND KONFERENZRAUM DES AUSSENMINISTERS 20.53 Uhr Hauk ging allein den dunklen Korridor entlang. Überall standen die Türen offen, und aus einigen fielen Neonlichtkleckse wie weiße Wehen aus Pulverschnee hinaus auf den Flur. Es war lange her, daß Hauk eine andere Farbe außer schmutzigem Graubraun zu Gesicht bekommen hatte. Der Außenminister erwartete ihn im Konferenzraum. Er hatte in einem anderen Flugzeug gesessen, das der Maschine des Präsidenten gefolgt war. Auf diese Weise wollte man vermeiden, daß bei einem möglichen Unglück zu viele wichtige Personen ums Leben kamen. Er würde fragen, wie sie weiter vorzugehen gedachten. Hauk hatte zu diesem Problem seine eigene, ganz persönliche Meinung. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten sie sich einfach einen neuen Präsidenten besorgt. Natürlich würde er das nicht zu dem Außenminister sagen, denn dafür war er ein zu guter Soldat. Vor der Tür zum Konferenzraum blieb er sekundenlang stehen. Er sah aus, als wäre er unter die Räuber gefallen. Sein Gesicht und seine Kleider waren schmutzig und rochen nach Rauch. Die Augen brannten, und sein ausgedörrter Mund schmeckte nach verbranntem Plastik. Zudem hatte er irgendwo draußen auf dem Landeplatz seinen Mantel verloren. Der Minister war ein Mann, der gewohnt war, Befehle
entgegenzunehmen, nicht aber, sie selbst zu geben. Demnach würde er versuchen, Hauk so viel Verantwortung wie möglich zuzuschieben für das, was immer passieren würde. Der Gedanke daran gefiel Hauk ganz und gar nicht, aber er sah keine Möglichkeit, es zu umgehen. Schließlich öffnete er die Tür. In dem Raum war es auffallend hell. Der Außenminister hatte alle vorhandenen Lampen eingeschaltet, fast als fürchte er sich vor dunklen Ecken. Die Fenster waren fest verschlossen, damit kein Gas eindringen konnte, das ja, wie versprochen, nicht mit dem leichten Regen niederging. Es war entsprechend stickig in dem Raum, und in trägen Wölkchen schob sich der Zigarettenqualm unter der Decke entlang. Der Minister saß an dem großen Konferenztisch aus Nußbaumholz, ein rotes Telefon auf der einen und einen überquellenden Aschenbecher auf der anderen Seite. Er war ziemlich schmal und trug einen grauen Anzug. Sein Blick war auf die große Karte der Stadt gerichtet, die die gesamte Wand vor ihm einnahm, aber er schien sie nicht wahrzunehmen. Das unter normalen Umständen wahrscheinlich freundliche Gesicht hatte sich vor Sorgen zu einer häßlichen Maske verzogen. Er schien, wie es bei Politikern in solchen Situationen nicht selten vorkam, am Rande eines Zusammenbruchs zu stehen, und nur ein äußerer Rahmen aus Verzweiflung hielt ihn noch zusammen. Hauk haßte die Aussicht, mit diesem Mann zusammenarbeiten zu müssen. Politiker waren Leute, die immer für die Abwarten-und-Teetrinken-Strategie waren. Sie waren es nicht gewohnt, wirkliche Entscheidungen zu treffen, sondern hielten sich an das Motto: Sehen wir erst mal, was bei einer Meinungsumfrage herauskommt, und dann können wir immer noch einen Kompromiß schließen. Der Mann sprang auf, als Hauk eintrat, und seine Stimmung besserte sich sichtlich, als könnte er im wahrsten Sinne des
Wortes die Last der Verantwortung jetzt auf den Commissioner abwälzen. »Mister Secretary.« Hauk nickte ihm zu. Der Außenminister kam um den Tisch herum und schüttelte Hauk erleichtert die Hand. Damit wußte er wenigstens etwas anzufangen. »Bill Prather«, erwiderte er, während er Hauk mit professionellem Blick musterte. »Freut mich, daß Sie da sind.« Hauk sah sich sein Gegenüber etwas genauer an. Er hatte volles, silbriges Haar, was allerdings nicht bedeuten mußte, daß er schon älter war. Sein genaues Alter war schwer zu schätzen; es mußte irgendwo zwischen vierzig und sechzig liegen. Beim Sprechen ließ er eine gleichmäßige Reihe von Zähnen sehen, und sein Gesicht war das leicht zugängliche Gesicht eines Lieblingsonkels von damals, als man noch Onkel hatte, die nicht verrückt waren. »Bob Hauk«, stellte er sich vor und entzog seine Hand dem festen Griff des Ministers. »Wie sieht's aus?« wollte Prather wissen. »Leider gar nicht gut«, antwortete Hauk. Der Außenminister ging zurück zum Konferenztisch und nahm sich eine Zigarette aus dem Päckchen, obwohl noch eine andere in dem Glasaschenbecher glühte. Seine Hand zitterte sichtbar, als er versuchte, die Zigarette anzuzünden. »Erzählen Sie schon«, murmelte er zwischen zwei Zügen. Hauk begab sich ans andere Ende des Tisches und legte die Hände auf die Platte. »Der Präsident befindet sich im Gefängnis«, erklärte er. Dann ging er zu der großen Karte an der Wand hinüber. Er deutete auf den Battery Park. »Ungefähr hier ist die Rettungskapsel niedergegangen. Wir haben sofort ein Kommando an die Unglücksstelle geschickt, aber es war zu spät. Sie hatten ihn schon.« Der Minister blies eine Rauchwolke in die Luft. »Sie?« »Die Gefangenen«, entgegnete Hauk.
Prather zuckte gleichmütig die Achseln. »Nun, Commissioner, dann gehen Sie eben hin und holen ihn da raus.« Hauk wanderte zurück zum Tisch. »So einfach geht das nicht«, antwortete er gelassen. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Diese Leute sind sehr gefährlich. Ich …« »Na, kommen Sie, Hauk«, meinte Prather ein wenig herablassend. »Das ist doch schließlich Ihr Gefängnis. Haben Sie denn noch nicht einmal Ihr eigenes Gefängnis unter Kontrolle?« Hauk fühlte Ärger in sich aufsteigen. Er griff in seine Tasche und zog den in das Tuch eingewickelten Finger heraus, den er auf den Tisch warf. Dabei öffnete sich der Lappen. »Nein, Sir«, entgegnete er. »Das habe ich nicht.« Prathers Mund klappte herunter, als er den Finger sah. Sein Körper begann zu zucken, und angeekelt wandte er sich ab. »Hauk«, würgte er. »Nehmen Sie ihn weg. Bitte.« Hauk steckte den Finger zurück in seine Tasche. »Diese Leute leben ihr eigenes Leben, Mister Secretary. Wir hindern sie lediglich daran, auszubrechen.« Schwer atmend drehte sich der Außenminister um. Die vorgetäuschte Gelassenheit war verschwunden; vor Hauk stand jetzt nur noch ein zu Tode erschrockener kleiner Bürokrat, der bis zum Hals in einer Sache steckte, der er nicht gewachsen war. »Wie konnte denn eine solche Situation …« Hauk brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen. »Hören Sie mir jetzt mal gut zu«, fuhr er ihn an. »Sie haben doch dieses Scheißsystem ausgeknobelt, nicht ich.« »Ich glaube nicht, daß Ihr Ton hier angebracht ist.« Hauk streckte sich. »Alles klar«, erwiderte er und wandte sich zur Tür. »Dann sehen Sie zu, wie Sie allein fertig werden. Ich für meinen Teil gehe jetzt nach Hause und hau' mich aufs Ohr.«
Er schritt zur Tür und wünschte sich verzweifelt, daß Prather ihn wirklich gehen ließ, obwohl er genau wußte, daß dies nicht der Fall sein würde. »Nein«, stoppte ihn die Stimme des Außenministers, noch bevor er die Hälfte des Raumes durchquert hatte. Er drehte sich um. »B-bitte«, stammelte Prather. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich werde mit einer solchen Sache nicht allein fertig.« »Kann ich mir vorstellen.« Resignierend kehrte Hauk zum Konferenztisch zurück und nahm dem Minister gegenüber Platz. Prather zog nervös an seiner Zigarette. Er bot dem Commissioner allerdings keine an, also langte Hauk über den Tisch und bediente sich selbst. »Was machen wir?« begann Prather. Hauk steckte sich die Zigarette an und inhalierte tief. Der Glimmstengel schmeckte muffig. »Uns bleiben zwei Möglichkeiten«, setzte er dem Minister auseinander. »Einmal können wir versuchen, hineinzugehen und den Präsidenten zu befreien, oder wir warten ab, welche Bedingungen die Gefangenen stellen. Sie halten ihn aus irgendeinem Grund fest; wahrscheinlich wollen sie ihn gegen etwas eintauschen. Sobald sie sich darüber im klaren sind, was sie wollen, werden sie versuchen zu verhandeln.« Er setzte sich zurück und betrachtete die glühende Spitze seiner Zigarette, an der sich langsam Asche bildete. »Es ist eine ziemlich große Stadt, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Ich bezweifle stark, daß wir ihn überhaupt finden könnten, wenn wir einfach hineinmarschieren, zumindest nicht lebend. Ich schlage also vor, daß wir abwarten, bis eine Lösegeldforderung eintrifft.« »Unmöglich«, antwortete Prather leise. »Was meinen Sie damit: unmöglich?« Prather verzog den Mund, während sein Blick zu der großen
Karte schweifte. »John Harker befindet sich nämlich auf einer äußerst wichtigen Mission. Er war unterwegs zu einem Gipfeltreffen in Hartford, das aller Wahrscheinlichkeit nach den endgültigen Ausgang des Krieges bestimmen wird.« Hauk schloß die Augen. Er wollte nicht hören, was jetzt kam. »Um was für eine Art von Mission handelt es sich?« Prather blickte sich nach allen Seiten um, als befürchte er, es könne jemand unerlaubt mithören. Dann senkte er seine vor Nervosität zitternde Stimme. »Um sein Handgelenk ist ein Aktenkoffer geschlossen, in dem sich eine Kassette befindet. Dieses Band enthält Informationen über eine völlig neue Bombe, eine Fusionsbombe, die …« »Vergessen Sie's«, fuhr Hauk ihn an. »Das ist jetzt unwichtig. Wieviel Zeit bleibt uns also noch?« »Ungefähr vierundzwanzig Stunden«, erklärte Prather. »Dann werden die Russen und Chinesen wieder nach Hause gehen, und dann wird der Teufel los sein. Wir haben Jahre gebraucht, um dieses Treffen zustande zu bringen, und ich glaube kaum, daß wir noch eine zweite Chance bekommen würden.« Hauk stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wer trifft jetzt die Entscheidungen da oben?« fragte er nach kurzem Schweigen. »Der Vizepräsident«, klärte ihn Prather auf, dessen Hand nun auf dem roten Telefon ruhte. »Er wartet am anderen Ende dieser Leitung auf Neuigkeiten von uns.« »Glauben Sie, er wird mit uns zusammenarbeiten?« »Was haben Sie vor?« Hauk blieb stehen und starrte auf die Stadtkarte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Wir können keine Truppen einsetzen. Wir würden in diesem Fall noch nicht einmal genug von ihm finden, um ihm ein anständiges Begräbnis zukommen zu lassen.« »Also? Was schlagen Sie vor?«
»Ein einzelner könnte hineinkommen«, ließ sich Hauk vernehmen., »Einer allein könnte sich unbemerkt dort bewegen.« »Denken Sie da an jemand bestimmten?« Hauk drehte sich herum, nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sie auf den Boden. »Vielleicht«, wich er aus und trat die glühende Kippe mit dem Absatz eines Schuhs aus. Dann ging er hinüber zu einem Telefon neben der Karte, nahm den Hörer auf und sprach, als am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde. »Cronenberg«, war alles, was er sagte. Er wartete schweigend, während aus dem Hörer ein Summen an sein Ohr drang. Schließlich meldete sich eine schroffe Stimme. »Medizinische«, sagte jemand. »Cronenberg, hier ist Hauk.« »Hallo, Commissioner. Hab' ja schon eine Ewigkeit nichts mehr …« »Habt ihr zufällig einen Gefangenen namens Plissken bei euch?« »Ähm, ja, er ist …« »Ich habe keine Zeit, Doc. Hören Sie mir genau zu. Halten Sie Plissken noch zurück. Er soll noch nicht eingeliefert werden. Ich hab' da nämlich unter Umständen was für ihn. Ist das möglich?« »Nun, ja, ich …« »Keine Zeit, Doc. Arbeiten Sie noch immer an diesem Stinger-Projekt?« »Ist so gut wie abgeschlossen.« »Und? Funktioniert es?« »Theoretisch ja.« »Dann bereiten Sie alles für einen Testversuch vor.« »Sie meinen … an einem Menschen?« »Ja. Ich bin gerade im Konferenzraum. Sehen Sie zu, was sich machen läßt, und kommen Sie schnellstens her.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf und wandte sich an Prather. »Mein Plan sieht folgendermaßen aus: Wir haben einen Gefangenen hier, einen Mann namens Plissken. Er ist einer von diesen Typen, die überall mit heiler Haut wieder herauskommen. Ich schlage also vor, wir bieten ihm Straffreiheit an und geben ihm vierundzwanzig Stunden, um als Gegenleistung den Präsidenten da unten herauszuholen. Er ist ziemlich gerissen und gehört zu ihnen. Er könnte es vielleicht schaffen.« »Glauben Sie wirklich, das klappt?« Hauk stellte sich vor ihn und starrte auf ihn hinunter. »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er. »Aber es ist unsere einzige Chance.« »Und Sie glauben, er hält seinen Teil der Abmachung ein?« Hauk lächelte, aber sein Gesicht glich eher einer Grimasse. »Ich habe noch ein As im Ärmel.« Er nahm wieder Platz. »Ich schlage jetzt vor, daß Sie sofort den Vizepräsidenten an den Apparat holen.« Prather nahm den Hörer auf und wartete auf die Verbindung. Hauk dachte nach, und auf einmal wurde ihm bewußt, daß er noch nicht einmal den Namen des Vizepräsidenten kannte. Lebte er denn wirklich hinter dem Mond? Er wandte sich ab und ging hinüber zu der Wandkarte. Prather hatte seine Verbindung mittlerweile bekommen und sprach mit jemandem, aber Hauk stand zu weit von ihm weg, um verstehen zu können, was er sagte. Die Karte stammte noch aus der Zeit vor dem Krieg. Der Bereich des Battery Parks war blaßgrün gefärbt, und Hauk überlegte, daß man dieses Gebiet heute wohl in einem düsteren Braun einzeichnen mußte, wenn man eine neue Karte anfertigte. Sein Blick wanderte die Straßen entlang, Straßen, durch die er zum großen Teil schon selbst gegangen war, damals, auf der Suche nach Jerry. Er lauschte dem dumpfen, unverständlichen Klang von
Prathers Stimme. »Ich bin überzeugt, daß es da keinen Zusammenhang gibt, Sir. Die Gefangenen wissen nichts von der Entführung. Für sie war es lediglich ein Unglück … ja, Sir. Er steht hier neben mir.« Prather verzog das Gesicht. »Ich gebe Ihnen Bob Hauk«, schloß er und reichte den roten Hörer über den Tisch, der noch warm von seiner Hand war. Hauk stand da und ließ ergeben über sich ergehen, was der Vizepräsident ihm zu sagen hatte, ohne wirklich zuzuhören. Es war im Grunde ja doch nur das gleiche, was er schon vorher von Prather erfahren hatte. »Das ist unmöglich«, warf er zum passenden Zeitpunkt ein. »Wenn wir mit den Maschinen da unten landen, bringen sie ihn um. Wir können sowieso von Glück sagen, daß er im Augenblick noch lebt.« »Was fordern sie?« fragte die Stimme, und auch sie klang müde. »Noch wissen sie nicht, was sie wollen, und bis sie sich endlich entschieden haben, ist es zu spät.« Prather zupfte an seinem Ärmel. »Sagen Sie ihm, daß wir Ihren Plan sofort in die Tat umsetzen müssen!« Der Vizepräsident sagte gerade etwas von morgen. Offensichtlich wollte auch er sich davor drücken, Entscheidungen zu treffen. »Wir können nicht bis morgen warten. Wenn wir in das Gefängnis vorrücken und es einnehmen, dann wirklich nur, weil es nicht mehr anders geht. Es ist jetzt fünf nach neun. Ich brauche sofort Ihre Erlaubnis, die Rettungsmaßnahmen in die Wege zu leiten.« Am anderen Ende der Leitung herrschte sekundenlang Schweigen, dann vernahm Hauk erneut die Stimme des Vizepräsidenten: »Also gut. Versuchen Sie es auf Ihre Weise. Aber ich warne Sie …« »Ich weiß«, unterbrach ihn Hauk. »Wenn es schiefgeht, bin ich derjenige, der seinen Kopf dafür hinhalten muß.«
Er hängte ein und sah Prather an, aus dessem Gesicht etwas von der Spannung gewichen zu sein schien. Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief Prather. Es war Cronenberg. Er war ein großer, etwas gebeugt gehender Mann, und mit seiner Haltung und seinem weißen Laborkittel ähnelte er ein bißchen einem Kranich. Sein faltiges, freundliches Gesicht ließ erkennen, daß er nicht mehr der jüngste war, aber für sein Alter sah er noch wohlauf und munter aus. »Ist alles fertig?« wollte Hauk wissen. Der Mann sah ihn mit einem kalten Ausdruck an. »Ja, aber ich kann nicht garantieren …« »Wie lange dauert es?« »Ein paar Sekunden. Aber ich bin dagegen, es zu benutzen.« Hauk schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich habe entsprechende Anweisungen von Washington.« Cronenberg ging auf ihn zu, und es war nicht zu übersehen, daß er innerlich kochte und sich nur mit Mühe beherrschen konnte. »Das Ganze ist nur ein Experiment«, meinte er langsam. »Ich habe es bisher noch nicht an Menschen ausprobiert. Hauk, ich kenne Sie nicht wieder.« Hauk hatte keine Zeit für lange Erklärungen. »Dann probieren Sie es eben jetzt aus.« Ein schwarzgekleideter, übergewichtiger Sergeant steckte den Kopf durch die Tür. Sein Blick streifte Hauk, um dann an Cronenberg hängenzubleiben. »Sie haben ihn gerade in Quarantäne gebracht«, meldete er. »Bringen Sie ihn in mein Büro«, befahl Hauk und wandte sich an Cronenberg, nachdem der Sergeant den Raum wieder verlassen hatte. »Halten Sie alles bereit, Doc.« Cronenberg schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen, erwiderte allerdings nichts, sondern drehte sich um und verließ den Raum. Minutenlang war es still, dann ergriff Prather noch einmal das Wort.
»Übrigens, da ist noch etwas, Hauk«, begann er. »Der Präsident ist selbstverständlich von großer Wichtigkeit für uns … aber der Aktenkoffer – die Tasche ist im Augenblick noch wichtiger.« »Verstehe«, erwiderte Hauk. »Wäre ich von selbst nie drauf gekommen.«
8 KURZ VOR TORSCHLUSS 9.00 Uhr Sie brachten Plissken in den Sterilisationsraum, wo sie ihm eine Weile Zeit ließen, nachzudenken. Es gab nichts Lustiges oder Wissenschaftliches am Sterilisationsraum. Es war einfach ein kleines, weißes Zimmer, in dem man nackt auf einen Stahltisch geschnallt wurde und einen Apparat von der Größe einer Schreibmaschine über die Hüften gesetzt bekam. Und der hatte dann nichts Besseres zu tun, als einem schnell und sauber die Eier abzuschneiden. Ein Schwarzrock namens Duggan mußte auf ihn aufpassen. Dieser Duggan war der verrückteste Hund, der Plissken je über den Weg gelaufen war, und wenn jemand hier auf den Tisch gehörte, dann war es mit Sicherheit Duggan. Der Schwarzrock hoppelte auf allen vieren durch den Raum und machte ein vom Gas benommenes Kaninchen nach, das er einmal gesehen hatte. Während er sich setzte, nahm Plissken ein Stück von seiner Kette in die Hand und legte es zu einer Schleife. Wenn es ihm gelingen würde, nahe genug an Duggan heranzukommen, konnte er sie dem Mann um den Hals legen, und mit ein bißchen Glück würde er dann mit dessen Gewehr seine Ketten abschießen können. »Und dann … und dann …« Duggan war außer Atem, hatte die Augen weit aufgerissen und konnte sich vor Lachen kaum noch halten. »Und dann, dann ist es einfach plumps umgefallen.« Er warf sich mit einem großen Satz zur Seite, übersah aber dabei einen kleinen Tisch mit Instrumenten und Mullbinden,
der in seiner Bahn stand. Mit lautem Gepolter fiel der Tisch um, und sämtliche Instrumente klirrten zu Boden. Duggan sprang auf und fuhr blitzschnell herum. Sein wabbeliges Affengesicht schien zu einer Maske zu erstarren, auf der ein perverser Ausdruck lag. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er seinen 45er aus dem Gürtel gerissen und hielt ihn auf Snake Plissken gerichtet, wobei seine Hände vor Wut zitterten. »Das hast du fein hingekriegt«, sagte er mit bebender Stimme. »Sieh nur, was du angerichtet hast, du hirnloser Bastard.« Er deutete mit dem Kopf auf die über den ganzen Boden verstreuten Instrumente. Plissken verzog keine Miene, während er die Kette fester packte. Er wartete jetzt auf seine Chance. »Weißt du, was du jetzt tun wirst, mein Sohn?« Duggan grinste schadenfroh. »Du gehst jetzt runter auf die Knie und hebst das ganze Zeug schön brav wieder auf.« »Einen Scheißdreck werd' ich tun.« Duggan begann, am ganzen Körper zu zittern. Er legte den Finger fester um den Abzug seines Gewehres und zielte mit bebendem Arm genau auf Plisskens Kopf. Als er versuchte zu sprechen, schienen ihm die Worte im Hals stecken bleiben zu wollen. »Runter … hab' ich gesagt … auf den … Boden mit dir. Sofort!« Plissken erhob sich von der Bank, auf der er gesessen hatte, wobei sich seine Kette wieder voll in die Länge zog. Bedächtig stellte er den Tisch wieder auf und machte sich dann daran, die Metallklemmen und Mullbinden aufzusammeln, während Duggan ihn nicht aus den Augen ließ und darauf achtete, immer eine Armlänge von dem Mann auf dem Boden entfernt zu bleiben. Plissken, der zu seinem Wächter aufsah, bemerkte, daß sich dessen Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzogen hatte. Gleichgültig machte er sich wieder an seine Arbeit, aber
plötzlich stand Duggan direkt neben ihm. Plissken hatte den Kopf gerade so weit gedreht, daß er sehen konnte, wie der mit einer Stahlkappe verstärkte Stiefel auf seine ungeschützte Seite zuflog. Der Tritt kam blitzschnell und mit fachmännischer Präzision. Er erwischte Plissken unterhalb der letzten Rippe und warf ihn herum. Seine ganze Seite schien zu explodieren. Er krachte gegen den Tisch, der unter der Wucht seines Anpralls erneut umfiel und seine vorangegangene Arbeit zunichte machte. Plissken prallte hart gegen die Wand dahinter, überschlug sich und rutschte der Länge nach ein Stück über den Boden. Augenblicklich war Duggan über ihm. Plissken konnte seinen stinkenden Atem riechen und fühlte, wie sich der Lauf einer Waffe tief in seinen Hals bohrte und drohte, ihm die Luft abzuschneiden. »Ohhh, Snakey«, krächzte der Schwarzrock. »Jetzt wird's erst richtig gemütlich.« Genüßlich stieß er Plissken mit dem Stiefel in die Seite. »Ich werde nämlich jetzt dafür sorgen, daß keine kleinen Snakeys auf dieser schönen Welt herumkriechen werden. Jaaa.« Zwischen den wahnsinnigen Schmerzen und der drohenden Ohnmacht schaffte es Plissken irgendwie, nach seiner Kette zu greifen und sie festzuhalten. Er schlang sie einmal um seine Hände und zielte nach Duggans Hals. Von der Tür her ertönte plötzlich eine Stimme. »Was zum Teufel …« Noch immer am ganzen Körper bebend, sprang Duggan auf, sichtbar bemüht, seine Beherrschung wiederzufinden. Von seiner Position auf dem Boden warf Plissken einen Blick durch den Raum und erkannte den fetten Sergeanten vom Dienst von vorhin. »Er hat … er wollte fliehen«, suchte Duggan verzweifelt nach einer Erklärung, während er mit der Hand über sein wirres Haar strich. »Ganz genau. Ich habe einen Fluchtversuch
des Gefangenen verhindert.« Der Sergeant sah Duggan an, dann wanderte sein Blick zu dem auf dem Boden liegenden Plissken. »Befehl von oben. Cronenberg hat angeordnet, seine Einlieferung zu stoppen, bis wir wieder von ihm hören.« »Was soll denn das nun schon wieder?« Mühsam richtete sich Plissken auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Seine Seite war ziemlich schlimm zugerichtet, doch er bezweifelte, daß er irgendwelche dauerhaften Verletzungen davongetragen hatte. »Ich tue nur, was mir von oben aufgetragen worden ist«, erwiderte der Sergeant und blickte erneut auf Plissken. »Sind Sie okay?« »Ich könnte einen ganzen Wald ausreißen«, ließ sich Plissken vernehmen, während er sich langsam aufrappelte. Der Sergeant stellte sich vor Duggan hin. »Sie lassen jetzt die Finger von ihm, verstanden? Sie schlagen ihn nicht, Sie treten ihn nicht und Sie versuchen auch nicht, ihn zu erschießen. Sie lassen ihn schön brav in Ruhe und passen einfach nur auf ihn auf, bis Sie wieder von mir hören. Kapiert?« »Klar, Sergeant«, nickte Duggan, der inzwischen seine Waffe wieder zurück in den Gürtel gesteckt hatte. »Sie können sich auf mich verlassen.« Der Sergeant blicke ihn zweifelnd an, seufzte tief und stapfte dann aus dem Raum. Mit haßerfülltem Gesicht fuhr Duggan zu Plissken herum. »Du Mistkerl«, zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Da ist man ein bißchen nett zu euch Arschlöchern, und ihr spuckt einem ins Gesicht. Aber damit ist jetzt ein für alle mal Schluß! Los, setz dich dahin und rühr dich nicht vom Fleck!« Plissken stolperte zurück zur Bank und nahm wieder Platz. Irgend etwas war im Busch, und er hatte keine Ahnung, um was es dabei ging. Im Augenblick allerdings war sein
vorrangigstes Problem, lange genug am Leben zu bleiben, um herauszufinden, was die da oben mit ihm vorhatten. Aufmerksam beobachtete er Duggan, bereit, sich jederzeit zu verteidigen, falls der Schwarzrock wieder durchdrehen sollte. Der war jedoch zunächst damit beschäftigt, ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hemdtasche hervorzukramen. Nachdem er sich ein Stäbchen in den Mund gesteckt hatte, wandte er sich lächelnd an Plissken. »Na, magst du auch eine?« bot er ihm an. Sein Gegenüber schwieg. »Komm schon, Snake. Begraben wir das Kriegsbeil.« Duggan beugte sich zu ihm vor und streckte ihm das Päckchen entgegen. Als Plissken allerdings zögernd danach griff, zog er es ihm in letzter Sekunde wieder weg. »Ich kann verstehen, wenn du sie nicht willst«, grinste er. »Sie schmecken wie der letzte Dreck.« »Sie sind der letzte Dreck.« Duggan steckte sich seine Zigarette an und nahm einen tiefen, genüßlichen Zug. »Warte nur, bis du erst da drüben auf dem Tisch liegst, Snakey Boy. Wauuu, das bringt Stimmung. Weißt du, sie hacken dir deine Klötze einfach ab. Zack, und fertig. Ohne Betäubung. Tja, mein Lieber, so ist das. Stundenlang höre ich sie manchmal hinterher noch schreien.« »Noch ist es nicht soweit«, erwiderte Plissken ruhig. Duggan lachte und hielt die brennende Zigarettenspitze genau vor das Gesicht seines Gefangenen. »Stell dir nur mal vor, Snakey: nie mehr 'nen Steifen. Nie mehr 'ne hübsche Puppe aufspießen. O Mann! Ich sag' dir: Lieber schieß' ich mir das Gehirn aus dem Kopf, als ohne Eier rumzulaufen.« »Gehirn? Welches Gehirn?« fragte Plissken und bereute augenblicklich seine Worte. Duggans Augen wurden groß, während er nach seiner Revolvertasche griff. »Denk dran, was dir dein Kollege gesagt hat«, erinnerte ihn Plissken.
Der Schwarzrock runzelte die Stirn, wich dann bebend ein paar Schritte zurück und begann, hastig an seiner Zigarette zu ziehen, um sich zu beruhigen. »Ich werde dabei sein, wenn sie dich auf den Tisch da legen. Ich werde ganz nah bei dir sein und dir hübsche Sachen ins Ohr flüstern, während sie dir die Eier abschneiden. Ja, Snakey, das werde ich.« Einen Moment starrte er nachdenklich vor sich hin, dann verzog sich sein Mund wieder zu jenem irren Lächeln. Duggan ging hinüber zum Tisch, kletterte hinauf und tat dann so, als würde er festgeschnallt. Schließlich begann er, gellend zu schreien und um Gnade zu winseln, als der unsichtbare Apparat über ihm seine Arbeit begann. Und genau in diesem Augenblick kehrte der diensthabende Sergeant zurück. »Lieber Himmel, runter da von dem Tisch«, befahl er mit angeekeltem Gesicht. Duggan war mit einem Satz wieder auf den Füßen. »Äh, Sarge, ich wollte gerade …« »Ich weiß genau, was Sie gerade wollten«, antwortete der andere. »Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber die Vorführung fällt heute aus.« »Was?« »Hauk will ihn sehen.« »A-aber, Sarge. Das hier ist Snake Plissken.« Um die Mundwinkel des Sergeanten spielte die Andeutung eines Lächelns. »Und es sieht ganz so aus, als ob es ihm wieder einmal gelungen ist, sich herauszuschlängeln. Gehen wir, Plissken.« Lächelnd stand Snake auf. »Deine Vorführung war große Klasse, Duggan«, meinte er. »Nur schade, daß es nicht echt war.« Das reichte, um Duggan vollends die Kontrolle verlieren zu lassen. Er ballte die Hände zu Fäusten und tat damit genau das, was Plissken wollte. Snake wandte sich halb von dem Mann ab, wirbelte plötzlich wieder herum und begrub seine gefesselten Hände in dessen Leistengegend.
Duggan stieß einen Laut aus, der wie das Pfeifen eines Teekessels klang und klappte dann wie ein Taschenmesser zusammen. Plissken griff ihn bei den Haaren im Nacken und zog mit voller Wucht sein Knie hoch. Mit einem hörbaren Krachen brach Duggans Nasenbein, dann fiel er vor Plisskens Augen zusammengekrümmt zu Boden. »Von mir aus können wir gehen«, meinte Snake zu dem Sergeanten. Der seufzte nur und führte ihn hinaus auf den Gang, wo ihn schon ein ganzer Truppe bewaffneter Wachen erwartete. »Schön ruhig«, raunte ihm der Sergeant zu, dessen dicker Bauch weit über den Hosengürtel hing. »Keine falschen Bewegungen, und es kann dir gar nichts passieren.« »Ich werde brav sein wie ein Lamm«, versprach Plissken. Und das war er auch. Sie brachten ihn hinaus in den Regen. Es nieselte zwar nur, aber er hielt unwillkürlich den Atem an, als er ins Freie trat, da er keine Lust hatte, mehr Gas als unbedingt nötig aufzunehmen. Das Landefeld, das vorhin leer gewesen war, als sie ihn hergebracht hatten, wimmelte jetzt vor Helikoptern. Plissken wollte stehenbleiben, um einen Blick auf die Maschinen zu werfen, doch seine Wächter schoben ihn weiter. Ihr Ziel war ein anderer Bunker neben der Statue. Sie traten ein, stiegen ein paar Stufen hoch, und dann ging es einen dunklen Flur entlang. Vor einer Tür mit der Aufschrift Commissioner blieben sie stehen, und der Sergeant klopfte an. Von jenseits der Tür war eine gedämpfte Stimme zu hören, die etwas grunzte, worauf der Sergeant den Türknopf drehte. »Denk an deine gute Kinderstube«, flüsterte er Plissken zu, bevor er die Tür aufdrückte. Snake ging als erster hinein, die Wachen folgten ihm unmittelbar. Es war ein Büro, das aussah, als würde es nie benutzt. Die Wände waren kahl: keine Bilder, keine Urkunden,
keine Sprüche. Der Schreibtisch mit den Ablagen für Ein- und Ausgänge war leer. Keine Fotos, noch nicht einmal ein Ordner. Nur ein einsames Telefon. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, der früher einmal hart und muskulös gewesen sein mußte, jetzt aber langsam verweichlichte. Auf seinem Gesicht lag ein gespannter, verbissener Ausdruck. Man hätte mit Sicherheit ausgeprägte, charakteristische Züge in diesem Gesicht finden können, wenn Plissken sich die Mühe gemacht hätte, danach zu suchen. Aber er war im Augenblick mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Das einzige, wonach er suchte, war ein Ausweg aus seiner jetzigen Situation. »Nehmen Sie ihm die Fußeisen ab«, befahl der Mann hinter dem Schreibtisch. Der Sergeant runzelte die Stirn, gehorchte aber widerspruchslos. Plissken mußte über sein unerwartetes Glück lächeln und ging sofort hinüber zum Schreibtisch, wo er sich auf einen Stuhl fallen ließ und die Beine übereinanderschlug. Auf dem Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch lag jetzt fast ein Lächeln. »Sie können gehen«, nickte er den Wachen zu. Der Sergeant kam zögernd einen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Aber Sir, er ist gefährlich.« »Ich weiß«, erwiderte der andere und zog wie zur Beruhigung einen mit Perlmutt besetzten Revolver aus dem Gürtel, den er entsicherte. »Aber Sie können jetzt trotzdem gehen.« Der Sergeant zuckte die Achseln und bedeutete seinen Leuten, den Raum zu verlassen. Dann folgte er ihnen und zog die Tür hinter sich zu. Plissken starrte ihnen einen Moment nach. Besser hätte es überhaupt nicht kommen können, als hier mit einem alten Trottel alleingelassen zu werden. Mit einem breiten Lächeln wandte er sich dem Mann zu, wobei er seine gefesselten Hände hochhielt.
Mit ausdruckslosem Gesicht schüttelte der Mann den Kopf. »Eins wollen wir mal von Anfang an klarstellen, Plissken«, sagte er. »Ich bin nicht der Dummkopf, für den Sie mich wahrscheinlich halten.« »Nennen Sie mich Snake«, lächelte Plissken. Der Mann verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. Plissken konnte sehen, daß ihm irgend etwas große Sorgen zu machen schien. Sein Gegenüber legte seine Waffe vorsichtig vor sich auf den Schreibtisch, griff in die oberste Schublade und zog einen breiten Aktenordner heraus, den er aufschlug. Dann begann er zu lesen: »Plissken. Amerikaner. Lieutenant im Sonderkommando ›Black Light‹. Zwei Verwundetenabzeichen in Leningrad und Sibirien. Jüngster vom Präsidenten dekorierter Mann in der Armee.« Einen Moment lang ruhte sein Blick auf Plissken, dann fuhr er fort: »Einbruch in die Zentralbank. Lebenslänglich im Gefängnis von New York.« Mit gerunzelter Stirn blickte er auf. »Das wäre also das Ende Ihrer Karriere, Sie Kriegsheld.« Plissken zog die Brauen zusammen. Er konnte einfach nicht recht schlau werden aus diesem Mann. Irgendwie war er anders als die anderen. »Wer sind Sie?« wollte er wissen. »Hauk«, erwiderte der Mann vor ihm. »Police Commissioner.« »Bob Hauk?« Hauk lächelte. »Sie erinnern sich also noch? Sonderkommando ›Texas Thunder‹. Wir haben damals eine ganze Menge über Sie gehört.« Plissken wußte es noch, als wäre es gestern gewesen. Hauk hatte die Deckung aus der Luft über Leningrad angeführt. Auch er hatte dabei ziemlich viele Männer verloren. Und jetzt, wer saß jetzt auf der anderen Seite des Schreibtisches? »Sie sind also dabeigeblieben. Nicht wahr … Schwarzrock?« Hauks Stimme klang wütend. »Hören Sie auf. Sie haben ja keine Ahnung, wie es war.«
Eine Wand aus Schweigen schien sie zu trennen. »Warum haben Sie mich herkommen lassen?« ergriff Plissken schließlich das Wort. »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen«, erwiderte Hauk mit unpersönlicher Stimme. »Als Gegenleistung versprechen wir Ihnen Straferlaß für alle Verbrechen, die Sie in den Vereinigten Staaten begangen haben.« Hauk blätterte den Ordner durch, fand endlich, was er suchte, und hielt ein Blatt Papier hoch. Plissken hatte noch nie zuvor eine Begnadigungsurkunde gesehen, aber das da vor ihm sah sicher genauso aus. Zweifelnd starrte er Hauk an. Er traute ihm nicht, er wollte niemandem trauen, der in Leningrad mit dabeigewesen war, ohne dadurch verändert worden zu sein. Hauk stand auf und kam um den Tisch herum. Plissken war überrascht, wie schmutzig der Mann war. Auf Armlänge blieb er vor dem Gefangenen stehen. »Vor ungefähr einer Stunde ist ein Unfall passiert«, erklärte Hauk. »Ein kleiner Jet ist mitten in New York City abgestürzt. Er hatte den Präsidenten an Bord.« »Welchen Präsidenten?« fragte Plissken, bereit, sich auf Hauk zu stürzen, sobald sich die Gelegenheit bot. »Das ist überhaupt nicht witzig, Plissken. Sie sollen den Präsidenten finden und ihn innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder herausholen – und dann sind Sie ein freier Mann.« Plissken wartete gespannt auf die Pointe, aber sie schien nicht zu kommen. »Wollen Sie mich verarschen?« »Ich mache Ihnen ein Angebot.« »Ach, hören Sie doch auf.« »Ehrlich. Es ist so, wie ich Ihnen sage.« Plissken lehnte sich zurück. So schnell ließ er sich nicht für dumm verkaufen. »Ich werde darüber nachdenken«, gab er zurück. Hauk holte tief Luft, aber sein Gesicht blieb todernst. »Keine
Zeit. Ich brauche sofort eine Antwort.« »Okay«, erwiderte Plissken. »Suchen Sie sich einen neuen Präsidenten.« Er beobachtete, wie sich Hauks Kiefer verkrampften, doch der Mann hatte sich gut unter Kontrolle. Vielleicht war er doch nicht verrückt. »Wir sind immer noch im Krieg, Plissken. Deshalb brauchen wir ihn lebend.« »Mich interessiert weder Ihr Scheißkrieg noch der Präsident«, meinte Snake. »Ist das Ihre endgültige Antwort?« Plissken warf die Hände hoch. »Ich werde über Ihr Angebot nachdenken«, gab er kurz zurück. Wieder sah er Hauk an, und langsam begann er tatsächlich zu glauben, daß er den Mann falsch eingeschätzt hatte. Plötzlich mußte er an Duggan und den Sterilisationsraum denken. »Und warum ausgerechnet ich?« fragte er. »Sie haben die Gulffire über Leningrad geflogen«, erwiderte der Commissioner schnell. »Sie wissen, wie man unbemerkt hineinkommt.« Er kehrte Plissken den Rücken zu und durchschritt das Zimmer. Als er sich wieder umdrehte, war ein fast entspannter Zug in seinem Gesicht getreten. »Sie sind meine letzte Hoffnung«, sagte er ruhig. Irgendwie hatte Plissken das dumpfe Gefühl, daß die Sache mehr Haken als eine ganze Kompanie Angler hatte, doch er schüttelte die ungute Vorahnung entschlossen ab. Zum Teufel damit, dachte er und zuckte die Achseln. »Tja … rein muß ich ja doch, so oder so. Also warum nicht auf Ihre Weise. Geben Sie mir die Papiere.« Hastig griff er danach, doch Hauk schüttelte den Kopf und zog sie zurück. »Wenn Sie zurück sind«, entgegnete er, und diesmal lächelte er wirklich. »Nein, vorher.« »Ich sagte, ich bin kein Dummkopf, Plissken.« Plissken musterte ihn aus kalten Reptilaugen. »Snake«, meinte er schließlich zuckersüß. »Nennen Sie mich Snake.«
9 DER HAKEN 22.24 Uhr Plissken ging zwischen Hauk und Rehme. Es war nicht zu übersehen, daß sie sich in seiner Gesellschaft äußerst unwohl fühlten, da sie ihm die Fesseln abgenommen hatten. Und genauso offensichtlich war es, wie sehr er es haßte, daß ausgerechnet er hier und jetzt zwischen diesen beiden Männern ging. Er haßte Hauk, haßte ihn genauso, wie er jeden Schwarzrock haßte. O ja, der Mann trug einen Anzug und redete über Dinge wie Straferlaß, und doch blieb er der Oberkiller in einer Gesellschaft von Killern – der Anführer der Hexenjagd. Das würde er ihm nie vergeben. Vergeben war ein Wort, das es nicht gab unter den zahllosen Scherben des zerbrochenen Spiegels, der einmal Plisskens Seele gewesen war. »Hier hinein«, hörte er Rehme sagen. Durch eine Tür mit dem Schild Materialausgabe betraten sie einen Raum, der in der grauen Farbe eines Schlachtschiffes angestrichen war. Über seine ganze Breite verlief eine Art Theke, hinter der sich ein Drahtkäfig befand, der vom Boden bis zur Decke reichte. In diesem Käfig sah Plissken ordentlich übereinandergereihte Regale mit Ausrüstungsgegenständen, die sich weit nach hinten ins Dunkle zogen. Hauk betätigte einen Schalter neben der Tür, worauf nacheinander eine Reihe von Neonröhren aufflackerten und den Lagerraum erhellten. Rehme tauchte die Hand in seine Tasche und brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein. Dann ging er um die Theke
herum und begann, einen Schlüssel nach dem anderen in dem Käfigschloß zu probieren. Er steckte einen hinein, rüttelte an dem Schloß, bis der ganze Käfig wackelte, fluchte leise und versuchte es dann mit dem nächsten. »Ich habe schon eine ganze Weile nichts mehr zwischen die Zähne bekommen«, bemerkte Plissken. »Seit wann?« fragte Hauk und fuhr, zu Rehme gewandt, fort: »Beeilen Sie sich ein bißchen. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« »Diese verfluchten Scheißdinger sind nicht markiert«, verteidigte sich Rehme mit einer Stimme, in der eine Spur von Resignation mitschwang. »Immer mit der Ruhe.« »Seit gestern«, meldete sich Plissken. »Verdammter Scheißdreck«, murmelte Rehme. »Sie machen mir aber nicht den Eindruck, als wenn Sie unterernährt wären«, gab Hauk zurück. »Das ist Ihr Bier«, zuckte Snake die Achseln. »Ich meine nur, wenn ich Sie wäre, würde ich jedenfalls kein Risiko eingehen. Bestimmt würde ich nicht einen halb verhungerten Mann …« »Okay, der Punkt geht an Sie«, unterbrach ihn Hauk. »Wir werden uns darum kümmern.« »Jippi!« schrie Rehme. »Hätte ich mir doch denken können, daß es ausgerechnet der letzte dieser Mistdinger ist.« Hauk musterte Plissken, dann wandte er den Kopf und starrte in den Käfig, um zu sehen, wo der andere geblieben war. »Wissen Sie«, begann er leise, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Rehme nicht in der Nähe war, »es steht mir nicht zu, Sie um einen Gefallen zu bitten … aber … ein Verwandter von mir ist da drinnen.« Seine Stimme wurde heiser. »Sie haben einen wichtigen Auftrag, ich weiß, aber wenn Sie vielleicht… ich meine, vielleicht könnten Sie nach ihm Ausschau halten.« »Was zum Teufel erwarten Sie denn von mir, Hauk? Soll ich
etwa drei Millionen Verrückte nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen?« Der andere winkte ab. »Natürlich nicht. Ich will nur wissen, ob er noch da ist.« Er hob eine geballte Faust hoch. »Er hat eine Tätowierung.« Hauk deutete auf seine vier Finger unmittelbar unter den Knöcheln. »Es sind die Buchstaben H-AU-K – auf jedem Finger einen.« Plissken runzelte die Stirn. Es würde schon am Äquator Schnee fallen müssen, bevor er Hauk einen Gefallen tat. »Na schön, wenn ich ihn sehe, dann sage ich ihm, er soll Ihnen doch mal schreiben.« Sekundenlang blitzte es in Hauks Augen auf, aber er verbiß sich eine Erwiderung. »Das hätten wir«, ließ sich Rehme vernehmen, der gerade aus dem Käfig gekommen war und jetzt die Tür hinter sich abschloß. Er blieb auf der anderen Seite der Theke stehen und ließ die Halfter auf die Platte fallen. Es war ein breites Band zum Umlegen, das wie der Gürtel eines Elektrikers unterteilt war und eine ganze Menge fassen konnte. Snakes Blick fiel sofort auf die Schußwaffen. Es waren zwei Selbstlader, eine Handwaffe und ein zerlegbares Gewehr. Plissken hatte seit Leningrad keine Waffe mehr in den Händen gehabt. Fast wehmütig streckte er die Hand nach ihnen aus und fuhr zärtlich über jede Waffe. Sie waren glatt und kalt. Tödlich. Snake Plissken mit einer Waffe war wie Samson mit schulterlangem Haar. »Die Kugeln sind mit einer Ladung versehen«, erklärte Hauk, »die beim Aufprall explodiert. Sie brauchen also kein Meisterschütze zu sein. Es reicht, wenn Sie treffen.« »Keine Angst, das werde ich.« Dann sah er sich die anderen Gegenstände an: eine Leuchtpistole, Lebensmittelrationen, ein großer Kristallklumpen, der vermutlich Benzedrin war, eine Infrarotbrille und ein kleines Zweiwegfunkgerät. Den
Abschluß bildete ein großer Metallsporn mit vier Spitzen, der ziemlich scharf aussah und im Nahkampf sicher tödlich war. Plissken ließ den Blick über seine Kampfausrüstung schweifen und suchte dann wieder die Waffen. »Verdoppeln Sie seine Ration«, wies Hauk den überraschten Rehme an. »Er ist ein großer Junge und sehr hungrig.« Rehme kehrte in den Drahtverschlag zurück. Diesmal fand er auf Anhieb den richtigen Schlüssel. »Ich brauche auch zusätzliche Ladestreifen«, sagte Plissken, unfähig, den Blick von den Waffen zu lösen. Hauk bemerkte sein Interesse. »Können Sie damit umgehen?« »Meine Großmutter hat mir's früher mal gezeigt.« Rehme, der gerade zurückkam, warf ein paar braungrüne Blechdosen auf die Theke. »Extraration«, brummte er. »Und noch ein paar Ladestreifen«, verlangte Plissken, während er eine Dose mit Preßkuchen aufriß. Rehme zwinkerte, griff in seine Jackentasche und warf mehrere gefüllte Streifen auf die Tischplatte. Zufrieden nickend stopfte sich Plissken das ganze Stück Kuchen auf einmal in den Mund. »Da drinnen ist es wie in einer ganz anderen Welt«, begann Rehme. »Es haben sich verschiedene Gruppen gebildet, und alle wollen sie nur das eine: überleben.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke auf und sah Plissken mit ernstem Gesicht an. Snake lächelte zurück, so gut es sein vollgestopfter Mund zuließ. »Sie sind nach Rassen und ethnischen Gesichtspunkten aufgeteilt. Weiße, Schwarze, Mexikaner, Amerikaner, Inder, Orientalen, Europäer und so weiter.« Er holte tief Atem. »Die Trennung geht sogar noch weiter: Frauen, Homosexuelle, religiöse und alte Menschen … und die Verrückten. Einige von ihnen besitzen auch Autos. Sie haben sich irgendwelche alten Schlitten gesucht, die zurückgelassen worden sind, und sie auf
Dampf umgestellt. Wir nehmen an, daß sie möglicherweise auch über eine Benzinquelle und sogar über Strom verfügen. Gott weiß, wie sie das alles geschafft haben.« »Weiß er das?« fragte Plissken und schluckte das trockene Stück Kuchen. »Wer?« »Gott.« Rehme verzog das Gesicht und begann, weiterzusprechen. Plissken hörte ihm mit halbem Ohr zu, während er sich eine Büchse Pfirsiche schnappte. Da dachten sie doch wirklich, sie könnten ihm noch etwas erzählen, dabei hatte er mehr gesehen und erlebt als die ganze Armee zusammen. »Sie haben Treibhäuser und wiederhergerichtete Generatoren. In manchen Bezirken funktioniert sogar noch die Straßenbeleuchtung. Die Verrückten leben im unterirdischen Tunnelsystem und in der Kanalisation. Sie kontrollieren das Untergrundsystem.« Er brach ab, weil Plissken geräuschvoll den Pfirsichsaft aus der Dose schlürfte. Schließlich setzte Snake die Büchse ab und sah Rehme über den Rand hinweg an. »Die Verrückten«, fuhr er fort, »gehen nachts auf die Jagd.« Plissken setzte die Dose auf die Theke ab und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Mund ab. Noch einmal fuhr sein Blick abschätzend über die Ausrüstung vor ihm und blieb an einem seltsamen, runden Gegenstand mit eingebauter Drucktaste hängen. Nachdenklich hob er ihn hoch. »Wozu ist das hier gut?« »Das ist ein Sender«, erklärte Hauk. »Er gibt fünfzehn Minuten lang ein Peilsignal ab. Wenn Sie ihn einschalten, können wir Ihre Spur auf dem Radarschirm verfolgen.« Plissken hielt das Gerät prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger. »Solche Dinger hatten wir in der Armee auch.« »Das hier ist anders«, widersprach Hauk und nahm es Plissken aus der Hand. Er drehte es hart gegeneinander, worauf sich das halbe Band umdrehte. »Es hat nämlich eine
Sicherung.« »Hübsches Spielzeug«, entgegnete Plissken, griff nach der Pfirsichbüchse und trank den Rest des Saftes aus. »Wir könnten Ihnen tagelang zeigen …« begann Rehme. Snake musterte ihn wie ein Spieler einen Steuerprüfer. »Ich glaube, das reicht vorläufig, was?« »Jetzt hören Sie mal …« »Er hat genug, Rehme«, unterbrach ihn Hauk mit hartem Gesicht. »Verstehen Sie? Nehmen Sie Ihr Zeug, Soldat, und auf geht's.« Plissken machte sich daran, die Ausrüstung zurück in die Gürtelhalfter zu stecken. »Ja, ich könnte jetzt ein bißchen frische Luft gebrauchen.« Nachdem er alles verstaut hatte, schnallte er sich das Band um die Hüften. Hauk wartete schon draußen vor der Tür auf ihn. Plissken folgte ihm, ging aber so langsam, daß Hauk schließlich gezwungen war, mitten im Gang stehenzubleiben, bis Snake nachgekommen war. »Sie sprachen von der Gulffire«, meinte Plissken. »Wo soll ich mit dem Ding denn überhaupt landen?« »Auf dem World Trade Center«, gab Hauk zurück, ohne eine Miene zu verziehen. »Einfach so«, spottete Plissken. »Sie sind doch schließlich Snake Plissken?« konterte Hauk. »Und außerdem ist es der einzige Platz, auf dem Sie landen können.« Er setzte sich wieder in Bewegung. »Niemand wird Sie da oben bemerken, und wenn Sie Ihren Auftrag erledigt haben, können Sie von dort aus in freiem Fall wieder starten.« Plissken ließ ein leises Lachen hören. »Glauben Sie im Ernst, daß ich es schaffe?« Hauk ignorierte seine Bemerkung und sprach weiter. »Sie können den Präsidenten anhand seines Lebenssignalarmbands ausfindig machen. Es sendet einen Synchronimpuls aus.
Nehmen Sie das hier.« Aus seiner Tasche fischte Hauk einen kleinen, runden Gegenstand heraus, den er Plissken reichte. Er sah aus wie ein Miniaturkompaß. »Es ist ein Peilgerät, das Richtung und Distanz angibt.« Plissken musterte es flüchtig und steckte es dann in seinen Gürtel zu den übrigen Dingen. Sie erreichten eine Treppe, die sie hinaufstiegen. Langsam kam Plissken die Umgebung wieder vertraut vor. Sie hatten einen unterirdischen Weg genommen und kamen nun in den Bunkern heraus, wohin man ihn ursprünglich gebracht hatte. Er konnte nicht glauben, daß Hauk ihm einfach eine Gulffire anvertrauen und ihn dann auf gut Glück losschicken würde. Bei genau kalkuliertem Einsatz der Jets und einem Experten am Ruder hatte die Gulffire eine praktisch unbegrenzte Reichweite. Und Plissken war ein Experte. Hauk führte ihn in einen kleinen Untersuchungsraum, der sich neben einer nur schwach erleuchteten, völlig leeren Wachstube befand. In seinem Auge klopfte es stärker als gewöhnlich, aber er wußte, daß es mit dem Regen und der ständigen Gegenwart dieses schwarzgekleideten Ungeziefers zu tun hatte. Die Schmerzen in der Seite waren zu einem dumpfen Stechen zurückgegangen, und morgen würde dort eine häßliche Prellung zu sehen sein – falls er überhaupt so lang lebte. Der Untersuchungsraum war ungefähr so groß wie das Sterilisationszimmer. Nur war hier der Tisch gepolstert und mit einem gestärkten weißen Tuch überzogen. In einer Ecke stand ein verschließbarer Glasschrank, der mit kleinen Gläsern gefüllt war, in denen sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand. Daneben sah Plissken auf einem Tisch ein Gerät. Es war nicht übermäßig groß, aber mit Skalen und Meßanzeigen im wahrsten Sinne des Wortes übersät. Nicht weit davon entfernt war ein alter Mann mit faltigem
Gesicht damit beschäftigt, eine Spritze aus einer der Medizinflaschen aufzuziehen. Er kam Plissken irgendwie verstört vor, was durch das Schweigen noch verstärkt wurde, das bei ihrem Eintritt herrschte. »Ist alles fertig?« fragte Hauk, ohne den alten Mann zu begrüßen. Der warf dem Commissioner einen flüchtigen Seitenblick zu. »Ja«, meinte er dann einsilbig. Er ging hinüber zu Plissken, der den Eindruck hatte, daß der alte Mann sich fürchtete, ihm in die Augen zu sehen – daß er ihn ansehen und gleichzeitig doch nicht ansehen wollte. Der alte Mann hatte die Nadel jetzt ganz aufgezogen und blieb mit ihr in der Hand stehen wie ein Jäger mit seinem Gewehr, der darauf wartete, daß ihm etwas vor die Büchse läuft. Plissken schluckte und versuchte, das komische Gefühl in seinem Magen zu ignorieren. Er hatte eine Abneigung gegen Spritzen und den damit verbundenen Schmerz, wenn er ihn schon vorher auf sich zukommen sah. »Ist das etwa für mich?« fragte er überflüssigerweise. »Es ist ein starkes Antitoxin«, klärte ihn Hauk auf. »Das Mittel stoppt für vierundzwanzig Stunden Bakterien und Infektionen.« »Ziehen Sie Ihre Jacke aus«, wies ihn der Mann mit der Nadel an. »Und dann rollen Sie den Ärmel hoch.« Plissken verschränkte die Arme vor der Brust. »Schon gut«, sagte er. »Ich komme auch ohne das Zeug aus. Wirklich, ich brauche es nicht.« »Na kommen Sie schon, Plissken«, beruhigte ihn Hauk. »Aber ich mag keine Spritzen.« »Plissken …« Snake seufzte ergeben, schlüpfte aus seiner Jacke und ließ sie zu Boden fallen. Er schlenderte hinüber zum Untersuchungstisch und schwang sich auf die Unterlage.
Gehorsam rollte er den Ärmel seines Khakihemdes auf, während der Mann mit der Nadel auf ihn zukam. Um sich abzulenken, sah Plissken Hauk zu, der hinüber zu dem Gerät mit den Meßanzeigen gegangen war und ein paar Schalter ausprobierte. Auf dem Apparat leuchtete eine Zahl auf: 23:00:05. Er runzelte die Brauen, als er plötzlich den schmerzhaften Einstich der Nadel in seinem Arm spürte, und verzog das Gesicht. »Ist gleich vorbei«, redete Cronenberg väterlich auf ihn ein. Aus einem kleinen Schrank neben dem Computergerät holte Hauk eine Armbanduhr heraus. Während er zu Plissken ging, stellte er sie ein. »Das war's schon«, sagte Cronenberg und zog die Spritze wieder aus Plisskens Arm. »War doch nicht schlimm, oder?« »Dann setzen Sie sich mal hierhin, und ich spiele den Doktor«, erwiderte Snake. Er war gerade damit beschäftigt, den Ärmel wieder herunterzurollen, als Hauk ihm die Uhr umband. Sie besaß eine Digitalanzeige wie die des Gerätes auf dem Tisch und begann jetzt zu blinken. 23:00:01. 23:00:00. 22:59:59. Hauk betrachtete ein paar Sekunden lang die Anzeige und sah dann zu Plissken auf. »Zweiundzwanzig Stunden, neunundfünfzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden.« Snake vergaß für einen Augenblick die Uhr – eine Countdownuhr, wie er sofort bemerkt hatte – und musterte Hauk gespannt. »Wir sprachen von vierundzwanzig Stunden«, wandte er ein. Hauk warf Cronenberg einen Blick zu. Es war ein Blick von der Sorte: Sieh zu, daß du dich schnellstens aus dem Staub machst und mir nicht mehr unter die Augen kommst. Wie auf Kommando begab sich der Mann augenblicklich ans andere Ende des Raumes und begann, an dem Gerät herumzuhantieren.
Mit eisigem Blick konzentrierte sich Hauk wieder auf Plissken. »In zweiundzwanzig Stunden wird die Hartford Gipfelkonferenz zu Ende sein, und die Chinesen und die Sowjets werden nach Hause zurückkehren.« Plissken beobachtete Cronenberg mit seinem gesunden Auge. Der Arzt hatte zwei lange Gummischläuche aus der Rückseite des Apparates gezogen und machte sich jetzt an ihnen zu schaffen. »Der Präsident war auf dem Weg zu dieser Gipfelkonferenz, als sein Flugzeug abstürzte«, fuhr Hauk fort. »Er trägt einen Aktenkoffer um sein Handgelenk. Die Bandaufnahme, die sich in der Tasche befindet, muß Hartford in zweiundzwanzig Stunden erreicht haben.« »Was ist denn drauf?« wollte Plissken wissen. Hauk kaute auf seiner Unterlippe. »Verstehen Sie was von Kernfusion?« Snake nahm die Hände hoch. »Vergessen Sie's«, wehrte er ab. »Ich will es gar nicht wissen.« Der Doktor kehrte zurück zum Tisch, auf dem Plissken saß und stellte sich hinter ihn. In den Händen hielt er die Schläuche, die an dem Anzeigegerät angeschlossen waren und sich wie riesige Gummis dehnten. »Wir reden hier vom Überleben der Menschheit«, versuchte Hauk sein Gegenüber zu belehren, doch seiner Stimme fehlte die Überzeugung. »Etwas, um das Sie sich einen Dreck kümmern.« Hinter seinem Rücken hörte Plissken Cronenberg etwas sagen. »Ich werde Ihnen jetzt noch eine Injektion geben«, meinte dieser trocken. »Es wird ein bißchen stechen.« Plissken hatte keine Zeit mehr, etwas dagegen einzuwenden oder den Doktor zu fragen, was aus diesen beiden Gummischläuchen herauskommen würde. Cronenberg setzte sie ohne ein weiteres Wort schnell an beiden Halsseiten an und drückte einen Knopf. Die Schläuche waren Druckluftpistolen.
Plissken fühlte einen Stich, und dann dachte er für einen Augenblick, jemand bohrte ihm zwei glühende Messer in den Hals. So plötzlich, wie der Schmerz gekommen war, hörte er auch auf. Als Cronenberg die Schläuche abgenommen hatte, betastete Plissken vorsichtig die Einstichstellen, die bei der Berührung leicht zu brennen begannen. Vor sich hörte er Hauk seufzen und blickte auf. Das Gesicht des Commissioners hatte sich etwas entspannt, als wäre gerade etwas Beruhigendes passiert. »Das war's dann, Plissken.« »Sagen Sie's ihm«, fuhr Cronenbergs Stimme plötzlich eisig durch den Raum. »Mir sagen? Was?« zischte Plissken. Hauk wich zurück, als müßte er vor den nächsten Worten eine gewisse Distanz zwischen sich und Plissken bringen. »Über mein ungutes Gefühl, daß Sie die Gulffire um 180 Grad umdrehen und versuchen könnten, nach Kanada zu entkommen.« Plisskens Kopf fuhr herum. Cronenberg war blaß wie der Tod, und unter dem scharten Blick begannen seine Augen zu zucken. »Was habt ihr mit mir gemacht?« wollte er wissen. »Es war meine Idee«, erklang Hauks Stimme von der anderen Seite des kleinen Raums. Er hatte sich in die Brust geworfen und versuchte, eindrucksvoll und niederträchtig auszusehen, doch es mißlang kläglich. Er war aus der Übung. »Wir experimentieren schon eine ganze Weile damit herum. In Ihren Halsschlagadern sitzen jetzt zwei mikroskopisch kleine Kapseln, die schon dabei sind, sich aufzulösen.« Er wandte sich ab und durchschritt in einem engen Kreis seine Ecke. »In zweiundzwanzig Stunden werden sie sich ganz aufgelöst haben. Die Kapseln enthalten wärmeempfindliche Sprengladungen. Sie sind nicht groß, etwa von der Größe eines Stecknadelknopfes, aber die Ladung reicht aus, um Ihre beiden Schlagadern zu zerfetzen.« Hauk blieb stehen, drehte sich um und fixierte Plissken. »Ich
würde sagen, Sie sind dann nach zehn bis fünfzehn Sekunden tot.« Eine Schmerzwelle schoß durch Plisskens Auge. In Sekundenschnelle war er vom Tisch herunter, sprang Hauk an und umklammerte mit einem tödlichen Griff dessen Kehle. Die Wucht des Aufpralls warf beide gegen die Betonwand und ließ Hauk aufstöhnen. »Nehmen Sie sie raus!« schrie Plissken und drückte noch fester zu. Vor Hauks Augen tanzten rote Kreise, und die Augen schienen ihm aus den Höhlen treten zu wollen. Mit letzter Anstrengung griff er nach seiner Pistole und rammte sie Plissken in den Bauch. Den konnte er damit jedoch nicht mehr beeindrucken. Es war ihm völlig egal, wenn er jetzt draufging, Hauptsache, er konnte Bob Hauk mitnehmen. Im Unterbewußtsein nahm er Doktor Cronenberg neben sich wahr. Er bebte am ganzen Körper und bewegte den Mund. Offensichtlich sagte er etwas. Plissken hörte zuerst nur mit halbem Ohr, dann aber voller Konzentration zu. »Sie sind durch die Kapseln geschützt!« schrie Cronenberg. »Aber fünfzehn Minuten, bevor sie völlig geschmolzen sind, können wir die Ladungen mit Röntgenstrahlen neutralisieren.« Seine Hände lagen jetzt auf Snakes Arm und schüttelten ihn sanft, ganz sanft. »Wir können Sie retten, Snake. Wir können Sie retten!« Plissken blickte von dem halb erwürgten Hauk auf Cronenberg, in dessen Augen ein tief besorgter Ausdruck zu erkennen war. Endlich gab er Hauk frei. Aus der Kehle des Commissioners drangen tiefe, heisere Laute, als er von der grauen Wand nach vorn stolperte und seine Kehle massierte. Plissken bemühte sich, die Wut zu unterdrücken, die wie kochendes Wasser in ihm aufgestiegen war, und sah zu, wie Hauk seine Waffe wieder in den Gürtel steckte. Dann blickte er auf seine Uhr. Sie zeigte 22:47:01 an.
Mit tiefen Atemzügen versuchte der Commissioner, sich zu beruhigen, doch seine Stimme klang immer noch rauh, als er sich an Plissken wandte. »Wir werden die Sprengsätze zerstören … sobald Sie den Präsidenten zurückgebracht haben.« Plissken funkelte ihn an. »Was ist, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe?« Hauk rückte seine Krawatte zurecht. »Dann wird es keine Hartford-Konferenz mehr geben. Und auch keinen Snake Plissken mehr.« Plissken bückte sich, hob seine Lederjacke auf und warf sie sich über den Arm. Er hatte sich jetzt wieder gefangen und überlegte kühl und berechnend. Noch einmal sah er Hauk mit funkelndem Blick an. »Wenn ich zurückkomme«, versprach er, »dann bringe ich Sie um.« Der Commissioner hörte sich Snakes Worte mit unbewegter Miene an. Er lächelte sogar: »Die Gulffire wartet«, erwiderte er dann.
10 COUNTDOWN FÜR DIE GULFFIRE 22:13:36, :35, :34 … Der Regen hatte sich in jenen feinen Nieselregen verwandelt, den man erst fühlt, wenn man sich mit den Händen durch das Haar fährt und merkt, daß sie feucht sind. Es war kühl, herbstlich kühl, und der Regen ließ die Kälte bis auf die Knochen durchdringen. Plissken ging allein über die verlassene Rollbahn zum Hangar hinüber, dessen Lichter sich in den Pfützen zu seinen Füßen spiegelten. Nicht ein einziger Schwarzrock war zu sehen. Unter normalen Umständen hätte er sich darüber gefreut, aber die Tatsache, daß man ihn ohne Wachen gehen ließ, gab ihm das Gefühl, sie hielten ihn jetzt für einen der ihren. Plissken konnte sich nichts Schlimmeres und Abstoßenderes auf der ganzen Welt vorstellen. Zudem unterstützte es Hauks Behauptung, daß man ihm tatsächlich Bomben injiziert hatte. Da zog er, Snake Plissken, also wieder einmal in den Krieg. Eigentlich hatte der Krieg für ihn nie aufgehört. Jede Stunde seines Lebens focht Snake Plissken seine Kämpfe aus, manchmal in seinem Innern und manchmal nach außen, wild und um seine Freiheit, wie zum Beispiel in der Zentralbank. Aber große Unterschiede gab es da keine. Es war ihm alles ziemlich gleichgültig. Was bedeutete schon ein Präsident mehr oder weniger? Was bedeutete schon eine Gipfelkonferenz? Es war ein Präsident gewesen, der ihm nach Leningrad einen Orden verliehen hatte, ein Präsident, der geglaubt hatte, er könnte sich seine Zuneigung und Loyalität
mit einem billigen Stück Bronze und einem genauso billigen bunten Band erkaufen. Das alles bedeutete ihm nichts. Noch weniger als nichts. Natürlich war es jetzt ein anderer Präsident. Wie viele Präsidenten mochten es seitdem wohl gewesen sein – vier, fünf? Es war egal; wo sie herkamen, gab es noch genügend andere. Als er sich mit den Orden nicht hatte kaufen lassen, boten sie ihm einen hohen Posten in der gerade gegründeten USPF an. Als auch das nicht zog, sagten sie sich einfach von ihm los, drückten ihm seine Entlassungspapiere in die Hand und schickten ihn nach Hause. Nach Hause. Ein orangefarbenes Feuerwerk. Er fühlte, wie Zorn in ihm aufstieg und kämpfte mit aller Macht dagegen an. Plissken wußte, daß er jetzt kühlen Kopf bewahren mußte. Er erreichte den Hangar, schob das riesige Wellblechtor auf und trat ein. Manchmal kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht genauso verrückt war wie alle anderen. Obwohl sie verrückt waren, schienen sie sich dessen nicht bewußt zu sein. Sie hielten alles für völlig logisch und natürlich. Und das war das einzige Argument, das dafür sprach, daß es bei ihm noch richtig tickte. Wenn er sich umsah, dann wußte er, und er wußte es wirklich, welches Chaos herrschte. Das Innere des Hangars war von dieser Neonkrankheit erhellt, die sich Licht schimpfte. Der Segler stand allein mitten in dem gewaltigen Hangar. Plissken schritt über den Zementfußboden, und jeder Tritt hallte laut wider. Unter der Maschine hockten zwei Polizisten, die damit beschäftigt waren, die Blöcke vor den Rädern wegzunehmen. Als Plissken neben dem Gleiter stand, spürte er, wie eine Welle der Erregung durch sein Inneres raste. Es weckte alte Erinnerungen in ihm. Die Gulffire war schlank und geschmeidig. In ihrem lackschwarzen Anstrich spiegelte sich
das Neonlicht, das ihre Konturen als Schattenumrisse auf den Boden zeichnete. Die Flügel des Seglers waren stummelartig, und der Hilfsmotor, der etwas über den Schwanz hinausragte, erinnerte an eine Art Bienenkorb aus Metall. Die Pilotenkanzel war schwarz und undurchsichtig und erlaubte keine Sicht nach draußen. Das übernahmen alles die Instrumente. Plissken war erstaunt, daß ihn die Aussicht, wieder zu fliegen, so erregte. Er hatte immer gedacht, damit wäre es aus und vorbei. Aber alte Soldaten sterben nie … »Sind Sie Plissken?« ertönte eine Stimme von irgendwo unter dem Gleiter. Sie wurde von den Wänden zurückgeworfen und erreichte Plissken als vielstimmiges Echo, so daß es sich anhörte, als hätte eine ganze Kompanie nach ihm gerufen. »Ich wüßte nicht, was dich das angeht«, gab Plissken so leise zurück, daß er ein Echo vermied. Der Schwarzrock war unter der Maschine hervorgekommen und stand jetzt neben ihm, während ein zweiter Kopf auf der anderen Seite zum Vorschein kam. Plissken starrte den Mann mit seinem gesunden Auge an. Es war ein Blick, in dem sein ganzer Haß und wahrscheinlich mehr als nur ein bißchen von seinen Schmerzen lag. Das Gesicht des Schwarzrocks glättete sich, und er wandte sich an seinen Kameraden. »Sehen wir zu, daß wir das Ding rauskriegen.« Sie rollten die Maschine auf die große Tür zu. Plissken begleitete sie, eine Hand auf den glänzenden Rumpf gelegt, und versuchte, wieder das Gefühl für die Gulffire zu bekommen. Er machte sich allerdings keine großen Gedanken darüber. Es war wahrscheinlich genau wie beim Sex: Wenn man einmal den Rhythmus im Blut hatte, dann vergaß man ihn nie wieder. Die Schwarzröcke schoben den Gleiter aus dem Hangar und ließen Plissken allein, um nach dem Schlepper und dem Zugseil zu sehen. Er wartete, bis sie weit genug weg waren,
sprang dann auf den Flügel und öffnete die Kanzel. Sofort ließ er sich ins Innere gleiten und zog die Haube über seinem Kopf zu. Einen Moment lang herrschte völlige Dunkelheit um ihn herum, bis die Kontrollampen und die Meßanzeigen aufleuchteten. Er konnte das Zischen der Luft hören, als er die grünen und roten Lichter überprüfte, die auf dem Instrumentenbord vor ihm aufblinkten, und bereits nach wenigen Sekunden wurde es in der Kanzel durch die eingeschlossene Luft kalt. Eiskalt, wie in einem Grab. Plissken blieb unbeweglich sitzen und ließ die sterile Kälte in seinen Körper kriechen, ließ sie ein Teil von sich selbst werden. Es war tatsächlich wie im Grab, wie das Beste an einem Grab – der Frieden. Fast beneidete er in diesem Moment den guten alten Bill Taylor. Schließlich begann er, mit den Apparaturen vor sich zu spielen. Um ihn herum leuchteten Panoramaschirme auf und erfüllten das Cockpit mit einem unheimlichen blauen Schein, der an den Außenrändern einen grünlichen Ton annahm. Plissken legte weitere Schalter um, worauf auf den Schirmen die Konturen der Startbahn und das umliegende Gebiet sichtbar wurden. Er beobachtete auf dem Schirm, wie die Umrisse des Lastwagens auf der Startbahn auftauchten, und dann sah er die unwirklich anmutenden, vereinfachten Gestalten der Schwarzröcke, die hinzusprangen, um das Zugseil einzuhaken. Plissken konnte spüren, wie sich die Vibrationen durch den Segler fortsetzten, als die Männer die Seilkrampe gegen den Rumpf der Maschine schlugen. Mit ihren stockförmigen Armen winkten sie in falscher Freundlichkeit zum Cockpit hinauf. Okay, dachte er. Jetzt immer schön ruhig. Dann schaltete er das Mikrofon ein. »Ich bin soweit«, gab er durch. Hauks Stimme kam unmittelbar darauf zurück.
»Einundzwanzig Stunden«, tönte es aus dem Empfänger. »Glauben Sie, Sie müßten mich ständig daran erinnern?« fauchte Plissken und fuhr dann fort: »Angenommen, er ist tot? Zerstören Sie diese Dinger in meinem Hals auch, wenn ich ohne ihn zurückkomme?« Einen Augenblick lang klang aus dem Empfänger nur Krachen, dann war wieder Hauks Stimme zu hören, diesmal mit einem seltsamen Unterton. »Wenn Sie mit dem Aktenkoffer zurückkommen …« Die Worte trafen ihn wie eine Abbruchkugel eine Gebäudewand. »Der Mann ist für euch wohl nicht wichtig?« »Bringen Sie sie beide zurück, Plissken.« »Bin schon dabei.« Das Funkgerät des Schleppers war auf ihre Frequenz eingestellt, und als Plissken sein Okay für den Start durchgab, setzte er sich unverzüglich in Bewegung und zog die Gulffire die Startbahn entlang. Er beobachtete, wie die Geschwindigkeit auf der Anzeige anstieg, und mit der Beschleunigung hob sich auch seine eigene Stimmung. Plissken legte die Hand um den Steuerknüppel und fühlte die Vibrationen, als der Gleiter die Schwerkraft überwand, die ihn an den Boden ketten wollte. Sie stiegen auf, und er lockerte seinen Griff und lehnte sich zurück, um zu verfolgen, wie die Konturen auf den Schirmen nach unten wegtauchten und verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Er war oben; er war endlich frei. Es drängte ihn, den Hilfsmotor einzuschalten und eine möglichst große Distanz zwischen sich und Hauk zu bringen, fast, als könnte er die Verrücktheit bezwingen, wenn er nur ihren Ursprung hinter sich zurückließ. Aber natürlich würde er es nicht tun. Plissken schwenkte die Maschine um vierzig Grad und nahm Kurs auf Manhattan Island. Fast augenblicklich tauchten auf den Schirmen die Umrisse
der Stadt auf – zwar weit entfernt, aber doch nicht weit genug. Er nutzte einen Aufwind aus, um an Höhe zu gewinnen. Vor sich konnte er jetzt die Spitzen der Gebäude erkennen, denen er sich schnell näherte. Auf dem Dach eines der Umrisse tauchte ein rotes Blinksignal auf, das in kurzen Abständen aufflackerte. Unvermittelt durchbrach Hauks Stimme die faszinierende Stille. »Sehen Sie das Zielzeichen?« »Bin genau auf Kurs.« Lautlos glitt er auf die verlassenen Türme zu und näherte sich der Stadt des Todes. Er zog an der Zigarette, die er sich kurz zuvor angezündet hatte. Die Gebäude befanden sich jetzt direkt vor ihm. Er ging auf ihre Höhe herunter und begann, sich zwischen ihnen durchzuschlängeln, um seine Reflexe zu testen. »Wie ist Ihre Höhe?« quäkte Hauks Stimme. Plissken zog den Empfänger eine Grimasse. »Wenn Sie höher steigen müssen, benutzen Sie den Hilfsmotor«, wies ihn der Commissioner an. Plissken seufzte. Konnte ihn der Mann denn einfach nicht in Ruhe lassen? »Zu laut«, erwiderte er. Mit seinem gesunden Auge sah er auf den großen Schirm und schien zu erstarren. Die riesenhaften Konturen eines Gebäudes rasten auf ihn zu. Es lag genau auf Kurs, unmittelbar vor ihm. »Scheiße!« Mit einem Ruck zog er an dem Steuerknüppel, ging in Schräglage und drehte sich dabei fast um seine eigene Achse. Noch immer füllte das Gebäude den Schirm aus, kippte dann seitlich um und war endlich verschwunden. Plissken setzte sich aufstöhnend zurück und nahm die Zigarette aus dem Mund, die er fast durchgebissen hatte. »Bin wohl ein bißchen aus der Übung«, murmelte er. »Was? Plissken, was ist los?« wollte Hauk wissen. »Nichts«, gab Plissken zurück. Er überprüfte die Instrumentenanzeigen, nahm eine
geringfügige Kurskorrektur vor, und wieder tauchte das Blinksignal auf dem Schirm vor ihm auf. Er ging auf die entsprechende Höhe und hielt dann genau darauf zu. Der Aufwind zwischen den Gebäuden ließ die Maschine tanzen. Der Steuerknüppel begann in seiner Hand zu vibrieren, und Plissken mußte ihn schließlich mit beiden Händen festhalten. Der Segler wurde durchgeschüttelt, so daß die Instrumente vor ihm zu zittern anfingen und die Lichter der Anzeigen unscharf wurden. Plissken spürte es zuerst durch seine Füße, die auf dem Boden standen, dann setzte es sich durch seinen ganzen Körper fort. Die Maschine ruckte hin und her und zitterte, als würde sie jeden Augenblick auseinanderbrechen. Plissken spürte, wie sich seine Magennerven verkrampften und der Schmerz wie ein roter Feuerball durch seinen Kopf schoß. Das Blinkzeichen kam näher, wurde auf den vibrierenden Schirmen immer größer. Da war wieder Hauks Stimme. »Plissken …« Der Segler krachte und schaukelte, und es schien, als würde er es keine Minuter länger machen. Und das Signal vor ihm wurde größer und größer. »Plissken …« Er war eins mit den Vibrationen der Maschine. Er war das schlagende Herz des lebendig gewordenen Seglers. Das Blinksignal füllte die Schirme aus, wuchs über sie hinaus und ergoß bläuliches Licht über seinen Körper. »Plissken, was machen Sie?« Seine Zähne schlugen so stark aufeinander, daß er kaum sprechen konnte. »Ich hol' mir gerade einen runter. Oder was dachten Sie! Ich bin auf Anflug!« Ein Summton zeigte an, daß er in unmittelbarer Nähe seines Zielpunktes war. Plissken drückte den Knüppel mit aller Kraft nach vorn, worauf sich augenblicklich die Nase des Seglers senkte. Er setzte hart auf dem Dach des unerschütterlichen
Gebäudes auf und holperte vorwärts. Auf den Schirmen vor ihm dehnte sich die große Landefläche aus. Er war zu schnell, viel zu schnell. Plissken preßte die Füße gegen den Boden und hörte, wie die blockierenden Räder aufkreischten, als sie versuchten, auf dem Pflaster Halt zu finden. Er drückte den Knopf für die Bremsklappen, die sich sofort aufstellten und den Luftwiderstand vergrößerten. Dann verlor er die Kontrolle über die Maschine. Er drehte sich, wirbelte herum und ließ den nutzlos gewordenen Steuerknüppel los. Statt dessen warf er nun den Anker aus. Er wußte nicht, ob es helfen würde, aber es war die einzige Möglichkeit, die ihm noch blieb. Der Segler erbebte, als der Anker aus dem Schwanzteil fuhr, während sich Plissken mit zusammengebissenen Zähnen festhielt. Der Anker bohrte sich in den Zement. Dann ging ein gewaltiger Ruck durch die Maschine, als sich das Halteseil spannte. Um ihn herum knirschte und kreischte es, und obwohl er darauf vorbereitet war, wurde Plissken nach vorn geworfen. Resignierend wartete er auf den Absturz, doch der blieb aus. Es war plötzlich totenstill, und Plissken wagte nicht, sich zu bewegen. Er saß nur da und lauschte dem Hämmern seines Herzens. »Plissken …« Aber irgend etwas stimmte nicht. Er saß nicht waagerecht, sondern schräg, denn die Nase des Seglers war aufwärts gerichtet. Und jedesmal, wenn er sich bewegte, wackelte die Maschine. Er würde beim Aussteigen besser äußerst vorsichtig sein. »Plissken …« Bedächtig streckte er die Hand nach den Schaltern aus und legte sie einen nach dem anderen um. Die Schirme wurden dunkel. Dann schnallte er sich ganz langsam, wie im Zeitlupentempo, los. »Plissken?«
Nachdem er den Verschluß der Cockpithaube geöffnet hatte, drückte er sie langsam auf. Über sich sah er die Regenwolken, die mehr Gas als Regen enthielten. Plissken stand auf und sah sich um. Der gesamte Schwanzteil und ein Flügel hingen über den Rand des Daches hinaus und schwebten über dem gähnenden Abgrund. Nur das am Anker befestigte Seil verhinderte, daß der Segler abstürzte. »Plissken, melden Sie sich.« Zentimeterweise arbeitete er sich aus der Pilotenkanzel heraus, und jede unbedachte Bewegung ließ die Gulffire erzittern. Endlich stand er mit einem Fuß auf dem Flügel; dabei wäre er fast ausgerutscht. Langsam folgte das zweite Bein. Plissken griff hinter sich, um die Kanzel zu schließen und damit Hauk zum Schweigen zu bringen – wenigstens einmal hatte er jetzt das letzte Wort. Vorsichtig ließ er sich auf Hände und Knie nieder und tastete sich über den rutschigen Flügel vorwärts, wobei sich die Gulffire bewegte und unter seinem Gewicht leicht nach unten neigte. Als er das sichere Dach unter sich wußte, rollte er sich vom Flügel hinunter auf den Betonboden, während die Gulffire in ihre alte Position, halb über dem Abgrund, zurückfederte. Der Wind blies hier oben ziemlich stark, und Plissken hatte ein Gefühl, als schwankte das ganze Gebäude. Er stand auf, schob sich in die fauchenden Böen vor und kämpfte sich auf die Dachtür zu. Um ihn herum erstreckte sich die Stadt des Todes: dunkle Türme, zahlreiche Ruinen, Lichtflecken, von denen feine, grauweiße Rauchstreifen in den weinenden Himmel aufstiegen. Und dann die Geräusche. Es waren nicht die Geräusche, die man gewöhnlich mit einer Stadt verbindet. Tierische Laute drangen zu Plissken hinauf, Todesschreie, dumpfes Geheul und Dschungeltrommeln, die in einem irren Rhythmus durch die Nacht dröhnten. Instinktiv griff Plissken nach seiner Halfter, und die Nähe der Waffen beruhigte ihn.
Er kam an den Überresten einer alten Flugbaracke für Helikoptersicherung vorbei, deren Fenster längst zerbrochen waren. Sie war völlig geplündert und demoliert. Rund fünfzig Fuß hinter dem Landefeld befand sich das Türhäuschen, auf das Plissken nun zulief. Die Tür war teilweise zerstört und hing nur noch lose in den Angeln. Plissken trat einen Schritt zurück, dann stieß er mit dem Fuß einmal kräftig dagegen. Durch die Wucht wurde sie ganz aus den Angeln gerissen, fiel polternd nach innen und rutschte die Treppe hinunter, bis sie gegen die Bodentür prallte und dort aufgehalten wurde. Plissken folgte ihr etwas langsamer … hinunter in das Tollhaus.
11 WORLD TRADE CENTER 19:22:45, :44, :43 … Der Gang vor ihm war lang und dunkel, und Plissken fuhr mit dem Strahl seiner Taschenlampe über den Boden, bevor er weiterging. Abgesehen vom Stöhnen des Windes, der durch die verlassene Flugbaracke pfiff, waren keine Geräusche zu hören. Plissken fühlte sich hier oben relativ sicher. Er war weit über hundert Stockwerke hoch, und kaum jemand, selbst wenn er verrückt war, würde sich die Zeit damit vertreiben, die vielen Stufen hinaufzusteigen. So schön war die Aussicht nun auch wieder nicht. Es war vermutlich an der Zeit, daß er wieder Kontakt mit Hauk aufnahm und den Mann damit vor einem Herzschlag bewahrte. Rechts von sich entdeckte er einen Eingang; vorsichtig spähte er hinein und suchte mit seiner Taschenlampe alle verborgenen Winkel ab, bevor er eintrat. Es war ein ehemaliges Büro, in dem es aussah wie auf einem Schlachtfeld. Die Fenster waren nur noch leere Höhlen, und überall verstreut lagen große Glasscherben. Das Mobiliar war umgeworfen und in einer Weise zerfetzt worden, auf die ein vernünftig denkender Mensch nie gekommen wäre. Schrill blies der Wind durch die leeren Fenster. In der Mitte des Raumes lag ein umgekippter Schreibtisch, den Plissken wieder aufrichtete. Er hockte sich auf eine Kante und ließ die Beine baumeln. Nachdem er die Taschenlampe mit dem Strahl auf die Wand gerichtet, neben sich gelegt hatte, holte er den kleinen Taschensender aus dem Gürtelhalfter und zog die Antenne heraus.
Stirnrunzelnd schaltete er das Gerät ein. »Ich bin jetzt im World Trade Center«, meldete er. »Genau wie Leningrad, Hauk.« Hauks Stimme plärrte so laut und schrill aus dem Empfänger, daß Plissken den Sender auf Armlänge von sich entfernt halten mußte. »Ist der Segler beschädigt?« Plissken zog das Gerät zu sich heran und begann, am Lautstärkeregler zu drehen, doch der Knopf schien nur als Verzierung gedacht zu sein, denn er ließ sich mühelos hin- und herdrehen. »Er ist okay; glaube ich jedenfalls«, gab er zurück, während er immer noch am Knopf drehte. »Aber das mit dem Starten, das können Sie vergessen. Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen müssen.« Hauks Stimme mußte bis ans Ende des Ganges zu hören sein. »Sie werden die Haupttreppe benutzen müssen. Es wird eine ganze Weile dauern, bis Sie unten sind. Melden Sie sich dann wieder …« Plissken schaltete das Gerät aus, damit endlich dieses schreckliche Plärren aufhörte. Kein besonders ruhiger Einstand, den er da gegeben hatte. Man hätte fast annehmen können, Hauk habe ihm mit Absicht dieses Gerät gegeben. Plissken schüttelte solche Gedanken ab und sprang vom Schreibtisch. Mit Hauk würde er später abrechnen. Er steckte den Apparat wieder weg und wühlte in seinen Taschen herum, bis er ein in Folie eingewickeltes Päckchen von der Größe eines Golfballes zutage förderte. Ohne Eile wickelte er es aus. Es enthielt einen Klumpen kristallförmigen Metamphetamins, der aussah wie ein großes Stück Kandiszucker. Plissken schlug es mehrmals auf die Kante des Schreibtisches, bis der Klumpen in mehrere kleine Stücke zerbrach. Das größte steckte er sich in den Mund und schluckte es trocken. Es schmeckte bitter wie Galle und hinterließ einen äußerst unangenehmen Geschmack auf der Zunge und im Hals. Er war zwar noch nicht müde, aber er brauchte das
Aufputschmittel, um die Stufen schnell bewältigen zu können. Den Rest des Amphetamins verstaute er wieder in seinem Halfter und kehrte dann vorsichtig in den Gang zurück. Im Schein der Taschenlampe entdeckte er am anderen Ende das Schild Ausgang. Das Treppenhaus. Während er näher kam, glaubte er, vor sich einen huschenden Schatten zu erkennen, aber als er die Stelle erreicht hatte, war nichts zu sehen. Die Tür zum Treppenhaus war nicht mehr da, und so konnte er sich ungehindert an den Abstieg machen. Es war ein verflucht langer Weg. Nach sechs Stockwerken begann das Aufputschmittel zu wirken und drängte seinen Körper in einen neuen metabolischen Rhythmus, dem er sich bereitwillig anpaßte. Die Treppen endeten in jedem Stockwerk auf einem großen Absatz und führten dann weiter hinunter zur nächsten Etage. Jeder Treppenabsatz war eine Welt für sich. Plissken stieß auf Leichen, die sich in den verschiedensten Stadien der Verwesung befanden. Einige besaßen keine Köpfe mehr, von anderen waren nur noch die Köpfe da. An manchen Stellen sah Plissken die Überreste von längst erloschenen Lagerfeuern, in deren Asche haufenweise Tierknochen verstreut lagen, die, wie er annahm, von Hunden und Katzen stammten. Überall war der Geruch ziemlich schlimm, und manchmal nahm er Snake fast den Atem. In seiner Überlebensausrüstung fand er schließlich eine Mullbinde, die er sich mehrmals um Mund und Nase wickelte, um den Gestank zu mildern. Es half allerdings nicht viel. Der Abstieg dauerte länger, als Plissken sich hätte träumen lassen. Trotz des Metamphetamins kam es ihm so vor, als müßte er den Rest seines Lebens damit verbringen, Treppen hinunterzusteigen. Irgendwann hörten die Stufen dann doch auf. Sie endeten in einem schmalen Flur. Plissken nahm die Mullbinde ab und warf sie beiseite. Ganz langsam und vorsichtig arbeitete er sich Schritt für Schritt vor.
Er war jetzt in Höhe der Straßen, genau mitten drin. Der Gang mündete in die große Eingangshalle des Gebäudes. Snake blieb am Eingang stehen und ließ den Blick über das Bild der Verwüstung schweifen, das sich ihm im Halbdunkel bot. Er wagte es nicht, die Taschenlampe einzuschalten. In dem schwachen Licht, das von draußen hereinfiel, konnte er die unförmigen Umrisse von zerstörtem oder umgeworfenem Mobiliar ausmachen. An der am weitesten von ihm entfernten Wand bemerkte er einen orangefarbenen, flackernden Schein, der hochzuklettern schien und seltsame, hüpfende Schatten formte. Da ein verwüsteter Informationstisch den Blick auf die Lichtquelle verhinderte, machte sich Plissken daran, auf sie zuzukriechen. Zuerst fiel ihm der Geruch auf – ein Geruch durchsetzt von kochendem Essen und Fleisch, mit dem Geruch von verbranntem Holz. Flink wie eine Katze bewegte Snake sich durch das heillose Durcheinander, das in dem Raum herrschte. Sein Auge schmerzte, es schmerzte eigentlich immer, aber irgendwie schien das Aufputschmittel wenigstens die Schmerzen in seiner Seite betäubt zu haben. In der Deckung des Informationstisches kam Plissken langsam hoch und spähte über den Rand der Platte. Drei Männer saßen mit gekreuzten Beinen um ein kleines Feuer herum. Sie brieten eine Katze, die sie auf einen Schirmstock gespießt hatten, und unterhielten sich angeregt, aber so leise, daß Plissken sie nicht verstehen konnte. Sie waren bis zur Taille nackt, und Brust und Gesicht waren mit etwas beschmiert, das die Farbe von Rost hatte. Das hüftlange Haar wurde von Haarbändern zurückgehalten. Einer von ihnen hatte sich grüne und gelbe Papageienfedern in sein Band gesteckt und sah wie ein Indianer mit traurigem Kopfschmuck aus. Ihre Waffen lagen griffbereit neben ihnen, lange, im Schein des Feuers glänzende Messer, handgefertigte Bogen und
Köcher mit Pfeilen, die aus Angelruten geschnitzt und deren Spitzen mit langen Nägeln bewehrt waren. An der Wand lehnte eine lange Stange. Zuerst hielt Plissken die Dinger, die von ihr herabbaumelten, für Tierfelle. Dann erkannte er, was sie wirklich waren – menschliche Skalps. Er war gerade auf dem Rückzug, als er das Krachen von Holz hörte. Plissken fuhr herum. In einen der Schatten, die den Raum erfüllten, war Bewegung gekommen, und dieser Schatten flog durch die Luft auf ihn zu. Plissken blieb keine Zeit zu reagieren – plötzlich war ein schreiender Indianer über ihm. Sein unmenschliches Gebrüll hallte von den Wänden wider, und sein wilder, funkelnder Blick bohrte sich begierig; in das vermeintliche Opfer. Plissken wich unter dem Anprall zurück, fiel aber nicht hin. Der Indianer hatte die Hände hochgerissen, in denen er einen gespannten Klavierdraht hielt. Sein Ziel war Plisskens ungeschützter Hals. Undeutlich nahm Plissken wahr, daß der summende Draht auf ihn zukam, und erst in letzter Sekunde riß er gedankenschnell die Hände hoch, um sich zu schützen. Der Draht legte sich um seine Hand und schnitt tief in die Seite der Handfläche. Die Arme, die an der Schlinge zerrten, waren unglaublich stark – soviel Kraft konnte nur ein Verrückter aufbringen. Snake wurde zurückgezogen und gab widerstandslos nach. Sobald er in Berührung mit dem Körper des anderen kam, rammte er den Ellbogen rückwärts und stieß ihn tief in die Magengegend seines Gegners. Die Schreie des Indianers verwandelten sich in ein ersticktes Keuchen. Er klappte zusammen und lockerte den Griff um die Klaviersaite. Instinktiv fuhr Plissken mit hochgerissenem Arm herum und schmetterte die Handkante wie einen Eisenhammer in den ungeschützten Nacken des anderen. Das Keuchen verstummte, als der Verrückte auf dem demolierten Boden in sich zusammenfiel, als hätte ihm jemand die Sehnen
durchtrennt. Plissken machte sich schleunigst aus dem Staub und nahm den ersten Korridor, den er sah. Die Schreie der anderen Indianer hallten von den Wänden wider und erfüllten den Gang mit einer schrillen Kakophonie. Sie waren ihm dicht auf den Fersen. Ohne sich umzudrehen und zurückzuschauen, griff Plissken in seine Halfter und fand den breiten Lauf einer Leuchtpistole. Im Laufen zog er sie heraus und spannte den Hahn. Dann fuhr er herum, blieb stehen und feuerte. Seine Angreifer waren keine zwanzig Fuß hinter ihm. Die Phosphorkugel zischte aus dem Lauf und explodierte im Gang mit einem grellen Licht. Sie traf mit lautem Knall auf dem Boden auf, und Fäden aus weißglühenden Lichtfunken zerplatzten wie eine Neujahrsrakete in der Luft. Die Indianer, die von der Leuchtkugel aus der Dunkelheit gerissen wurden, suchten entsetzt Deckung. Und Plissken nutzte die Gelegenheit, um sich wieder aus dem Staub zu machen und weiterzulaufen. Der Gang endete vor einer Metalltür, die den Eindruck machte, als wäre sie noch nie geöffnet worden. Plissken lief auf sie zu, während er erneut den Hahn seiner Pistole spannte. Da ihm kein anderer Ausweg blieb, feuerte er. Die Tür zerschmolz förmlich in ihrem Rahmen und gab den Weg frei. Dahinter erwartete Plissken das Dunkel der Nacht. Er lief durch den Eingang, der auf eine schmale Gasse hinausführte. Ohne lange zu überlegen, schlug er die erstbeste Richtung ein und rannte vorwärts – frei und ungehindert, zumindest für den Augenblick. Als er das Ende der Gasse erreicht hatte, wandte er sich in den Betondschungel der Stadt. Plissken lief noch zwei Blocks weiter, bis er sicher war, daß ihm niemand mehr folgte. Dann stieg er die rissigen, teilweise herausgerissenen Stufen eines ehemals vornehmen Gebäudes hinauf und kauerte sich im
Schatten seines Eingangs hin. Das erste Stockwerk des Hauses war noch intakt, aber von da ab war es nur noch ein heilloses Durcheinander aus Steinen und freiliegenden Stahlträgern. Der größte Teil dieses Blocks war in ähnlicher Weise ausgebombt. Es sah aus wie ein Friedhof, zu dem alle alten Gebäude kamen, um zu sterben. Plissken bemühte sich, flach zu atmen, und suchte die verlassenen Straßen nach möglichen Angreifern ab. Es war wirklich ein Dschungel, und er war gleichzeitig Jäger wie auch Gejagter im Kampf ums Überleben. Hier kannte man keinen Ehrenkodex, keine Moral oder ethischen Grundsätze. Hier gab es nur eins: überleben oder sterben. Plissken wischte sich mit dem Handrücken über sein schweißüberströmtes Gesicht, dann griff er in seine Halfter. Er holte sein Gewehr heraus, das in zwei Teile zerlegt war, und setzte es blind zusammen; sein gesundes Auge war auf die Straßen gerichtet. Mit einem harten Klicken schnappten die beiden Teile zusammen, und einen Moment strich Plissken über die Umrisse der Waffe, bevor er einen Ladestreifen aus der Tasche holte. Mit einer fast schon sinnlich wirkenden Langsamkeit glitt der Streifen in die Waffe und rastete ein. Während Plissken aufstand, entsicherte er das Gewehr. Dann klemmte er es unter den Arm und stieg entschlossen die Stufen hinunter. Wenn er schon als ein Tier hier überleben sollte, dann wollte er wenigstens ein Löwe sein. Auf der Straße drehte er sich einmal um seine eigene Achse und entdeckte, daß ein Stück weiter die Sicht durch große Rauchwolken verdeckt wurde. Das Flugzeug. Vorsichtig und immer auf der Hut vor Angreifern ging er darauf zu. Autowracks versperrten die Straße. Plissken umrundete langsam die Wagen, innerlich jedesmal auf einen Überraschungsangriff vorbereitet. Als er endlich vor der Wand aus Rauch stand, setzte er die Infrarotbrille auf, und
augenblicklich wurde die Szenerie vor ihm geisterhaft; wie im Traum huschten Bilder an ihm vorbei. Er fühlte sich von seinem Körper losgelölst, wie ein Geist, der eine unwirkliche Landschaft betrachtet. Aus der Tasche zog er den kleinen Peilsender, der auf das Armband des Präsidenten eingestellt war, aber das Gerät sprach nicht an. Er war also dem Ziel noch nicht nahe genug. Plissken watete durch den Rauch, bis er vor sich den schwachen Schein eines erlöschenden Feuers sah. Langsam näherte er sich der Absturzstelle. Zuerst stieß er auf verdrehte und halb verbrannte Metallfetzen. Ein Stück weiter lag ein Rad. Dann fand er einen Sitz – er stand aufrecht mitten auf der Straße und tat so, als wäre nichts passiert. In den Sicherheitsgurten hing noch etwas: ein unförmiger, feucht schimmernder Klumpen. Plissken mußte annehmen, daß er einmal ein Mensch gewesen war, denn er konnte sich nicht vorstellen, was man sonst in einen solchen Sitz schnallen konnte. Er arbeitete sich weiter vor. Das Flugzeug war zum größten Teil noch in einem Stück. Es war gegen ein Gebäude geprallt und dann an der Seite abgestürzt, wobei es große Brocken Beton und Stahl mit in die Tiefe gerissen hatte. Die Maschine war wenigstens einmal explodiert, und dort, wo früher der Schwanz gewesen war, gähnte jetzt nur noch ein schwarzes Loch. Ein Teil der Kabine war unbeschädigt, und aus ihrem Innern kam auch der weiße Feuerschein. Plissken blickte durch eins der kleinen Fenster. Das gesamte Innere der Kabine war schwarz verkohlt; offensichtlich waren die Flammen durch die sauerstoffreiche Atmosphäre geschlagen und hatten alle in Sekundenschnelle verbrannt. Die Körper waren starre, schwarze Klumpen. Das Feuer, das immer noch in der Kabine brannte, war elektrischen Ursprungs und wurde durch die Leitungen der Leselampen verursacht, die
defekt waren und ständig Kurzschlüsse hervorriefen. Plissken wandte sich vom Fenster ab und nahm die Brille herunter. Sein gesundes Auge nahm eine Bewegung wahr, und er fuhr herum. Eine bucklige Gestalt, die in ihren Lumpen an eine Vogelscheuche erinnerte, kam hinter einem Teil des Schwanzes hervorgehinkt und schlurfte eilig davon, um in den Schatten Deckung zu suchen. Plissken sah dem Leichenfledderer nach. Wahrscheinlich würde er später zurückkommen, um seinen Hunger an den Toten in der Kabine zu stillen. Snake hockte sich auf ein verdrehtes Stück eines Flügels, zog den Sender heraus und schaltete ihn ein. »Ich bin jetzt beim Flugzeug«, gab er leise durch, ohne seine Umgebung aus den Augen zu lassen. »Keiner hat den Absturz überlebt.« Ein Piepton ließ ihn auffahren. »Moment mal«, flüsterte er, während er auf das Peilgerät blickte. Auf der Anzeige blinkte ein kleines rotes Signal in nordöstlicher Richtung auf. Plissken rutschte vom Flügel hinunter. Noch einmal sah er auf die Anzeige, dann wanderte sein Blick in die angegebene Richtung. Vor ihm lag eine schmale, mit Rauch erfüllte Gasse, der er jetzt folgte, zuerst langsam und dann immer schneller. Im Gehen nahm er das Funkgerät vor den Mund. »Ich empfange sein Signal«, meldete er. »Irgendwo vor mir. Es bewegt sich … nach Nordwesten.« Hauks Stimme dröhnte aus dem Empfänger. »Sie müssen sich beeilen, Plissken …« »Scheiße!« Plissken drehte ihm den Ton ab und blickte sich um. Eilig ging er weiter und warf dabei einen Blick auf seine Lebensuhr. Sie zeigte 18:20:23 an und sprang dann auf 18:30:22 um.
12 EIN ABEND IN DER OPER 18:17:34, :33, :32 … Das einzige Gebäude des Blocks, in dem Licht brannte, war ein altes Theater, dessen Vordach heruntergekommen und zertrümmert war und damit den Stand und die Bedeutung der Kunst reflektierte. Plissken näherte sich vorsichtig dem Gebäude, wobei er die Deckung der verrosteten Autos am Straßenrand ausnutzte. Die Front, deren Glas längst herausgebrochen war, war zum Schutz vor den Elementen mit Brettern vernagelt. Durch die Ritzen drang grelles gelbes Licht nach draußen und durchschnitt mit dünnen Fingern die Nacht. Plissken sah auf sein Peilgerät. Das pulsierende Signal wies direkt auf das Theater. Geduckt verließ er den schützenden Schatten der Autos und lief auf die ebenfalls vernagelte Kasse zu. Aus dem Innern des Theaters erklangen gedämpfte Geräusche, die sich wie Musik anhörten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war, huschte Plissken aus der Deckung der Kasse zu der ehemaligen Glasfront und lauschte. Musik drang an sein Ohr … und Gelächter. Die Laute waren kaum zu hören und schienen ziemlich weit entfernt zu sein, aber sie kamen mit Sicherheit aus dem Innern des Theaters. Plissken beugte sich vor und wollte gerade durch die Ritzen spähen, als unmittelbar neben ihm eine Brettertür aufflog, die er nicht gesehen hatte. Blitzschnell drückte er sich in den Schatten der Bretterwand und umklammerte die schußbereite Waffe, aber seine Vorsicht
war unnötig; der Mann, der durch die Tür ins Freie getreten war, entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. Er trug einen verschlissenen Zylinder auf dem Kopf und hatte sich einen Frack über den nackten Oberkörper gestreift. Seine Hose war ab Kniehöhe zerrissen und schlotterte in langen Fetzen um seine Beine. Der Mann hinkte beim Gehen und murmelte ständig vor sich hin. Bevor die Tür, die er weit aufgerissen hatte, wieder zuschlagen konnte, schnappte sie Plissken und schlich sich, das Gewehr hinter dem Rücken versteckt, hinein. Er betrat die Vorhalle eines alten Kinopalastes, der früher einmal ein Juwel gewesen sein mußte. Heute war er nur noch ein billiger Rheinkiesel. Der rote Teppich war ausgeblichen und stellenweise verdorben; der Konfektstand war zerstört und schon vor langer Zeit geplündert worden. Die Aquatintapete wurde von großen braunen Wasserflecken und hingeschmierten Obszönitäten verunstaltet. Ein düsteres Licht erhellte den Raum; der gasähnliche Geruch von Kerosinlampen, in den sich der Geruch nach muffigen, verfaulten Teppichen mischte, erinnerte Plissken an einen schwelligen Sumpf. Auf einem hohen Stuhl neben dem Eingang hockte ein kleiner Mann in einem schmutzigen Einteiler – der Kartenkontrolleur. Sein kleiner runder Kopf war auf seine Brust gefallen, und aus dem Mund des Mannes kamen leise, schnarchende Laute. Plissken grüßte ihn schweigend und schlich sich an ihm vorbei in die Richtung, aus der er die Geräusche vernahm. Er durchquerte die Halle, an deren Ende zerlumpte Vorhänge zum Zuschauerraum führten, der Hunderten von Menschen Platz bot. An den Wänden zogen sich Fackeln entlang. Sie verbreiteten einen tanzenden orangefarbenen Schein, und von ihren brennenden Spitzen kräuselte sich häßlicher schwarzer Rauch in die Luft. Durch die Decke war ein Loch ins Freie gestoßen worden, damit der Qualm abziehen konnte, der an der
Decke entlangrollte und sich durch die Öffnung den Weg nach draußen suchte. Plissken starrte auf die Bühne, auf eine Gruppe grauhaariger Männer, die in häßlichen Frauenkleidern tanzten. Sie hatten sich bei ihren Nachbarn untergehakt und stießen die Beine hoch in die Luft, während sie sangen: »Freut euch des Lebens, Weil noch das Lämpchen glüht.« Im Orchestergraben spielte die Band: ein verstimmtes Klavier, ein paar Maultrommeln und eine Reihe roh zusammengezimmerter Saiteninstrumente, die in dem allgemeinen Lärm den Ton angaben. Es wurde ohne Noten und ohne Dirigent gespielt, und doch war es Musik. Sie füllte den Raum und bildete den Hintergrund für den Chor, der seinem Gesang durch das Stampfen der Füße auf dem Holzboden zusätzlich Nachdruck verlieh. »Freut euheuch des Leeebens, eh ehes verglüüüüht!« Plissken ließ den Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen. Es waren ungefähr zwanzig Leute anwesend – die meisten von ihnen ziemlich alt. Vielleicht die Hälfte schlief, die Köpfe zur Seite gerollt und die Füße auf die Sitze vor ihnen gestützt. Sie machten einen zufriedenen Eindruck und sahen aus, als wären sie in ihren Sitzen geboren und aufgewachsen. Die übrigen riefen zu den Männern auf der Bühne hinauf und lachten, wenn einer von ihnen ausrutschte und hinfiel. Ihre Stimmen verzerrten den Gesang und übertönten ihn mit ihrem eigenen Rhythmus. Hier war der Präsident jedenfalls nicht. Plissken sah sich weiter um. Nicht weit von ihm, den Rücken ihm zugewandt, hockte ein Mann auf dem Boden, der ganz in das Geschehen auf der Bühne vertieft war und mit dem Fuß den Takt mitklopfte. Als hätte er das Brennen von Plisskens Blick in seinem Nacken gespürt, drehte er sich plötzlich um. Er hatte ein großes, breitflächiges Gesicht und kaum noch
Haare. Offensichtlich lebte er in besseren Verhältnissen als die anderen, denn er war nicht halb so abgezehrt und schmutzig wie sie. Aber es war eigentlich etwas anderes, was Plissken besonders an ihm auffiel. Als ihn der Mann nämlich ansah, glaubte Snake, einen Ausdruck des Erkennens in seinem Gesicht zu entdecken. Eine Art Vertrautheit. Um die Mundwinkel des Mannes zuckte ein schwaches Lächeln. Plissken grinste zurück und wollte gerade auf ihn zugehen, als ihn ein harter Schlag traf und ein heftiger Schmerz durch seine Schulter jagte. Der Hieb ließ ihn in die Knie gehen, aber er brach nicht zusammen. So hart war er nun doch wieder nicht gewesen. Langsam und mit verzerrtem Gesicht drehte er sich herum, wobei er allerdings das Gewehr hinter sich versteckt hielt. Vor ihm stand ein großer Kerl mit einem Kopf wie eine Billardkugel, der direkt auf dem Rumpf zu sitzen schien und völlig kahl war. In seinen Augen lag ein stumpfsinniger Ausdruck, und seine dicken Lippen zuckten ununterbrochen. Er hielt eine große, knorrige Keule in der Hand, mit der er herausfordernd in seine andere Hand klatschte. Platsch. Platsch. Neben ihm stand der kleine Mann vom Eingang, der jetzt sehr erschrocken aussah. Offenbar hatte er mehr Angst vor dem Ungetüm mit der Keule als vor Plissken. »Wie bist du reingekommen?« fragte der Riese mit Augen, die an zwei Urinlöcher in einer Schneewehe erinnerten. Plissken bewegte seine Schulter und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. »Durch die Tür«, antwortete er gehorsam. Der große Mann wandte sich an den Kartenkontrolleur neben ihm, wobei er seinen ganzen Körper herumdrehte, als wäre es ihm aufgrund des fehlenden Nackens unmöglich, allein den Kopf zu bewegen. Der Kleine zitterte inzwischen wie Espenlaub. »Was zum Teufel macht der Typ hier, Boyle?«
Boyle schluckte, rollte wild mit den Augen und suchte verzweifelt nach einer Erklärung. »Muß wohl reingeschlüpft sein«, meinte der dann, weil ihm nichts Besseres einfiel. Der Mann mit der Keule schüttelte den Kopf, worauf sein ganzer Körper zu wackeln begann. Ohne Vorwarnung schwenkte er plötzlich seine Keule und ließ sie auf den Kleinen heruntersausen. »Okay, okay«, jammerte der Kontrolleur, der unter der Wucht des Schlags zusammengebrochen war und nun schützend die Arme vor sein Gesicht hielt. »Marsch, zurück auf deinen Platz«, brüllte der Große, während der Kleine auf allen vieren in die Halle kroch. »Glaub ja nicht, daß du unersetzlich bist«, schrie er ihm nach. Dann drehte er sich zu Plissken um und ließ erneut seine Keule in die Hand klatschen. »Zwei Dosen für die Show«, verkündete er. »Drei für einen Sitzplatz. Und noch eine dazu, wenn du hier übernachten willst.« Er streckte eine riesige Pranke aus und hob mit der anderen die Keule hoch. »Herumlungern gibt's bei mir nicht.« Plissken hörte den Piepton des Peilgeräts und senkte den Blick. Das Signal war immer noch da; es befand sich jetzt genau im Zentrum der Anzeigeskala. Entschlossen zog er sein Gewehr hinter dem Rücken hervor und rammte es dem Riesen in den Magen. »Bitte entschuldige mich«, meinte er lakonisch. Der Mann erstarrte mit hoch erhobener Keule, wie eine Gruselgestalt in einem Wachsfigurenkabinett. Mister Steinzeitmensch. Die Augen waren das einzige an ihm, was sich noch bewegte, und sie ließen den Gewehrlauf keinen Augenblick los. Plissken verzog den Mund zu einem flüchtigen Grinsen. Ohne den Blick von dem Riesen zu wenden, huschte er in den Schatten entlang der Seite des Zuschauerraums und eilte auf die Bühne zu.
Es widersprach jeder logischen Überlegung, daß der Präsident hier gefangengehalten wurde, aber der Peilsender war offenbar anderer Meinung. Als Snake die Bühne erreicht hatte, drehte er kurz den Kopf zur Seite. Als er zurücksah, war der große Mann verschwunden, doch das war jetzt nicht weiter wichtig. Leise nahm er die Stufen zum Außenrand der Bühne. Die alten Männer boten jetzt nacheinander einen gekonnten Striptease zu den nervenzermürbenden Klängen der Maultrommeln. Mit todernsten Gesichtern gingen sie an diese Aufgabe heran, bemüht, sie nach besten Kräften zu erfüllen. Plissken schlüpfte durch die fadenscheinigen Vorhänge aus braunem Samt hinter die Bühne. Hier war es stockdunkel. Er holte seine Lampe aus dem Gürtel, schaltete sie ein und sah sich um. Vor ihm breitete sich ein nackter Fußboden aus, der vor einer Wand aus roten Ziegelsteinen endete. In der Nähe der Wand war eine Treppe in den Boden eingelassen, die vermutlich hinunter in den Keller führte. Als Plissken darauf zuging, vernahm er leise Stimmen. Von unten schien ein schwaches Licht heraus. Also schaltete er seine Taschenlampe aus und machte sich daran, die steilen Metallstufen hinunterzusteigen, wobei er ständig den Peilsender beobachtete. Wenn das Ding recht hatte, dann mußte sich der Präsident hier unten befinden. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn mit schußbereiter Waffe herumfahren. Auf der obersten Stufe stand der Mann aus dem Zuschauerraum und starrte auf ihn hinunter. Dabei grinste er die ganze Zeit, ohne daß Plissken hätte sagen können, ob sein Grinsen freundlich oder sadistisch war. »Du bist Snake Plissken, hab' ich recht?« fragte er unvermittelt. Plissken sah ihn an und versuchte, ihn mit seinem gesunden Auge zu durchbohren, doch der Mann grinste unbewegt weiter und entblößte dabei ein Gebiß, in dem schon einige Zähne
fehlten. Er benahm sich wie ein Kind, das vor dem Weihnachtsbaum steht. »Was willst du?« erwiderte Plissken mit monotoner Stimme. Der Mann zuckte die Achseln und verzog sein breites, häßliches Gesicht. »Nichts«, sagte er. Dann runzelte er die Stirn. »Ich dachte, du wärst tot.« Snake ließ ihn stehen und setzte seinen Weg die Stufen hinunter fort. Es drängte ihn, möglichst schnell Distanz zwischen sich und den grinsenden Mann zu bringen. »He«, rief ihm der andere jedoch leise nach. »Geh da besser nicht runter, Snake.« Plissken überhörte die Warnung. Der Keller war feucht, und Snake fror durch seine Jacke. Ein paar einsame Fackeln warfen ihr Licht gegen die Wände aus Löschstein. Der ganze Raum war vollgestopft mit Bühnenutensilien: Pferdeköpfe aus Pappmache, Stangen mit Kostümen und Teile von Bühnenbildern – die traurige Wirklichkeit einer Traumwelt. Im hinteren Teil des großen Raumes standen vier Männer, verhinderte Rocker in Lederkleidung, gefangen in der Phantasiewelt eines längst vergessenen Traumes. Dies war ihre Welt, genau der richtige Ort für sie. Die vier waren glattrasiert, und große Sonnenbrillen verbargen den Wahnsinn in ihren Augen. In ihrem Lederzeug und den hohen Stiefeln sahen sie aus wie Zwillinge, die irgendwo in einem Schrank groß geworden waren. Beim Sprechen hüpften selbstgedrehte Zigaretten zwischen ihren Lippen auf und ab und erfüllten den Keller mit grauen Rauchschwaden. Sie tranken eine trübe Flüssigkeit aus durchsichtigen Flaschen. Plissken fiel auf, wie verkrampft und hektisch ihre Bewegungen waren. So geräuschlos wie möglich näherte er sich ihnen. Erst jetzt entdeckte er die Frau in ihrer Mitte, die ebenfalls von der Flüssigkeit trinken mußte. Ihr Haar stand wild zu Berge, und ihre Kleider waren zerrissen und schmutzig. Sie mochte früher einmal hübsch gewesen sein, aber davon war jetzt unter der
Maske des Wahnsinns nicht mehr viel zu erkennen. Plissken pirschte sich näher heran, um verstehen zu können, was sie sprachen. »Aber er ist der King. Was ihr sagt, ist mir schnuppe.« »Kapier doch, er ist tot. Mausetot.« »Überleg dir besser, was du sagst. Der King stirbt nicht. Er hat sich bloß auf irgendso'ne Südseeinsel verzogen, das ist es.« »Er ist an 'ner Überdosis krepiert, 'ner Überdosis LSD.« »Hast du etwa das Grab gesehen? Na? Hast du ihn mit eigenen Augen da unten liegen sehen?« »Hmmmm, nein, verdammt … ich …« »Dann laß mich endlich mit deinem dämlichen Gequatsche in Ruhe.« Die Frau kicherte hysterisch, als habe sie heute zum ersten Mal Drogen genommen, und amüsierte sich dabei königlich. Die Rocker machten sich einen Spaß daraus, sie sich gegenseitig zuzuschieben, worauf ihr Gekicher noch lauter wurde. Dann rissen sie an ihren Kleidern, während sie von einem zum anderen flog. »Uh, Baby«, schnalzten sie und stießen die Frau mit den Hüften von sich, aber das alles war nur ein Spiel im Keller des alten Theaters. Es war eine Szene, eingefroren in Raum und Zeit; Verrückte, die sich so benahmen, wie sich ihrer Meinung nach die Menschen in der Realität benahmen. Plissken setzte sich wieder in Bewegung; sein Ziel war eine Tür hinter ihnen. Als die vier ihn sahen, schienen sie zu erstarren und musterten ihn verständnislos, während die Frau, die nicht bemerkt hatte, daß das Spiel zu Ende war, weiter von einem zum anderen taumelte und sich selbst ihre Sachen vom Körper riß. Einer der Rocker stellte sich Plissken in den Weg. Er griff nach seinem Gürtel und zog eine Scherenhälfte hervor. Snake holte tief Luft. »Ein andermal«, wehrte er ab.
Der andere betrachtete ihn mit unbewegter Miene. Sein Gesicht war eine starre und leblose Maske aus Wachs. »Nein, jetzt«, zischte er, ohne die Lippen zu bewegen. Plissken schob den Mann beiseite und nahm aus den Augenwinkeln heraus wahr, wie der Arm mit dem Scherenblatt auf ihn zufuhr. Gedankenschnell wich er dem Hieb aus und schlug mit dem Metallkolben seiner Waffe hart zu. Er erwischte den Mann seitlich am Kopf und schickte ihn auf den Zementboden. Dabei verlor der andere seine Brille, die über den Boden rutschte, bis sie außer Reichweite war. Die taumelnde Frau stolperte über den Rocker und fiel lachend der Länge nach über ihn. Die übrigen zogen sich in die Dunkelheit zurück. Sie hatten nicht die Absicht, das Drama bis zu einem logischen Schluß vorzuführen. »Meine Brille«, wimmerte der am Boden liegende Angreifer. »Wo ist meine Brille?« Plissken hockte sich hin und blickte ihm in die Augen. »Er ist tatsächlich tot«, sagte er leise und richtete sich dann wieder auf. Die Tür führte in den Heizungsraum. Es war so dunkel, daß Plissken fast über eine auf dem Boden kauernde Gestalt gestolpert wäre. Es war ein alter Säufer, der seinem Aussehen nach schon ein Säufer gewesen sein mußte, als die Stadt noch eine richtige Stadt war. Er war ein Profi, das erkannte Plissken auf den ersten Blick. Der Mann trug einen langen Wollmantel und einen ramponierten Hut. Plissken holte ihn aus jenem wer weiß welchem Zustand heraus, in dem sich alte Säufer befinden, wenn sie auf dem Boden von Heizungsräumen hocken. »Hallo, Chef!« lallte der alte Mann. »Hübscher Abend, nicht?« Plissken wandte sich ab und untersuchte den Raum mit seiner Taschenlampe, während der Alte anfing, seine Stiefel mit dem Ärmel seines Mantels zu polieren.
»Hübsche Stiefel hast du da, Chef«, murmelte er. »Wirklich hübsch. Hast du vielleicht was zu essen für mich da, Chef? Eine einzige kleine Büchse …« Der Strahl der Lampe riß andere Gesichter aus der Dunkelheit. Es waren alles Säufer, ein ganzer Trupp alter Männer, die dort hausten, wo gerade Platz war. Sie kamen auf Plissken zu und wollten nach ihm greifen. Dann sah er es – das Funkeln eines Messers. Snake wirbelte herum, das Gewehr auf die Männer vor ihm gerichtet. Augenblicklich wichen sie zurück; es verlangte sie nicht danach, sich mit einem überlegenen Tier anzulegen. Der Säufer auf dem Boden erstarrte, als seine Augen dem haßerfüllten Blick von Plissken begegneten. Das Gewehr senkte sich langsam und zeigte genau auf ihn. »Ruhig, Chef, meinte er beschwichtigend. »Nur ruhig. Ich geh' ja schon.« Wie auf ein stummes Signal hin huschten jetzt alle wieder zurück in die Dunkelheit. Plissken ging weiter. Er haßte das alles. Er war ein Besucher im Land der Toten, ein einäugiger Dante in den niederen Ebenen der Hölle. Es drängte ihn, zurück zu seiner Gulffire zu laufen und hinaus in Richtung Meer zu fliegen, wo die Sonne ihre funkelnden Strahlen auf sauberem und klarem Wasser tanzen ließ. Aber er mußte weiter. Der Heizkessel, ein großer, silbrigschimmernder Zylinder, nahm die gesamte Mitte des Raumes ein. Plissken umrundete ihn vorsichtig und hörte erstickte Geräusche. Der Strahl der Lampe fiel auf einen Mann in einer Ecke, der von einem Säufertyp in einem Regenmantel zusammengeschlagen wurde. Das Opfer trug einen nagelneuen Kammgarnmantel. Plissken konnte zwar nicht erkennen, wie der Mann aussah, weil er von dem Angreifer verdeckt wurde und sich das Ganze zudem im Dunkeln abspielte, aber sein Arm war weit zur Seite
ausgestreckt. Er trug – den Sender. Snake riß den Angreifer beiseite und schlug voll zu. Der Säufer fiel grunzend zu Boden und krabbelte davon. Plissken rollte den Mann herum. »Mister President …« begann er. Dann fiel der Schein der Taschenlampe auf das Gesicht des Überfallenen. Es war ein zahnloser Landstreicher mit mehr Runzeln als das Knie eines Elefanten. Er lächelte Snake blöde an und hielt ihm aus Dankbarkeit eine durchsichtige Flasche mit einer dottergelben Flüssigkeit hin. Snake Plissken erhob sich langsam. Wenn dieser Mann der Präsident war, dann befand sich das Land in einem schlimmeren Zustand, als er angenommen hatte.
13 DER HEIZUNGSRAUM 17:54:47, :46, :45 … Der Mann grinste ihn an. »Ich bin der Präsident«, brabbelte er glücklich. »Bestimmt, ich bin der Präsident.« Mühsam deutete er auf das Armband an seinem Handgelenk. »Ich wußte, daß ich der Präsident bin, als ich das Ding da bekommen habe.« Plissken schnappte ihn bei den Revers und schüttelte ihn. »Woher hast du das?« »He, so spricht man nicht mit seinem Präsidenten«, beschwerte sich der andere beleidigt. »Woher hast du das?« Der Säufer versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. »Ich hab' die Augen aufgemacht, und dann war es einfach da«, erklärte er. »Es ist … wie ein Wunder.« Sein Blick verschleierte sich. Plissken hatte das Gefühl, vor Wut aus der Haut fahren zu müssen. Er packte den Arm mit dem Signalband und schlug ihn gegen die Wand, bis das Armband auseinanderbrach. »Heißt das etwa, daß ich jetzt nicht mehr Präsident bin?« lallte der Säufer enttäuscht. Bob Hauk nippte an dem Pappbecher mit Kaffee, und die Flüssigkeit traf seinen unvorbereiteten und ohnehin schon überreizten Magen wie glühende Lava. Er vertrug Kaffee nicht besonders; es war ihm dann jedesmal so, als schlösse sich eine Faust um sein Herz. Aber das Gebräu hielt ihn wach und stärkte seine Sinne. Angewidert verzog er das Gesicht und nahm einen weiteren Schluck.
Die Sache mit Plissken war leider nicht so gelaufen, wie er sich anfänglich erhofft hatte, aber das war etwas, womit sie beide leben mußten. Der Mann hätte so oder so ins Gefängnis gemußt. Warum sollte er mehr erwarten, als ihm zustand? Er blickte auf die Reihen der Apparate, die ihn hier im Bunker umgaben, und lauschte dem Zirpen und Klappern ihrer eigenen Computersprache. Was mochten die Apparate wohl von all dem halten, und unterhielten sie sich vielleicht sogar darüber? Als er jetzt Prathers Stimme hinter sich vernahm, glaubte er, das Blut müßte ihm in den Adern erstarren. »O Gott …« stöhnte der Mann gerade. Hauk drehte sich so schnell zum Monitor herum, daß er dabei einen großen Teil des Kaffees verschüttete. Vor ihm versperrten schon andere die Sicht, und er mußte sich einen Weg durch die Ansammlung zum Schirm hin bahnen. Die Lebenssignale des Präsidenten flatterten in verzerrten Mustern über den Monitor, bis sie plötzlich in einer explosionsartigen Störung verschwanden und dabei einen weißen Lichtstreifen hinter sich herzogen. Im Raum war es totenstill. Doktor Cronenberg verzog die faltigen Lippen. »Möglicherweise liegt ein Defekt im Mechanismus vor«, suchte er nach einer Erklärung, aber es hörte sich nicht so an, als glaubte er ernstlich an eine solche Möglichkeit. Dann ertönte ein Knistern aus dem Empfänger, und eine Stimme war zu hören. Plissken! »Hauk!« dröhnte es wütend. Hauk warf den Schalter am Funkgerät um. »Ich höre, Plissken.« »Ich weiß nicht, wonach ihr Vollidioten sucht«, fuhr die Stimme fort, »aber es ist auf keinen Fall der Präsident.« Er starrte auf das Mikrofon und drehte sich herum, um in die verständnislosen Gesichter der Männer zu blicken. Plötzlich kam wieder eine Stimme, eine andere diesmal, durch den
Sender, die lauthals sang: »Es blüüüüht ein Blümchen irgendwo, in eiheinem stillen Tal.« Hauk drehte den Empfänger leiser und wandte sich an Prather. Egal, wie durcheinander oder bestürzt er war, der Mann sah immer aus, als wäre er gerade einem Modemagazin entstiegen. »Und jetzt?« fragte Hauk. Der Minister verzog keine Miene. »Ihrem Mann bleibt ja noch Zeit, nicht wahr?« erwiderte er. »Sagen Sie ihm, er soll weitersuchen.« »Es ist eine große Stadt, Mister Secretary.« Statt der Stimme des Sängers war jetzt wieder Plissken zu hören. »Das war's dann ja wohl. Machen Sie Ihre Maschine klar. Ich komm' nach Hause!« Hauk holte tief Luft. Er sah Prather an, der ernst und bestimmt nickte. Dann legte er wieder den Schalter des Senders um. »Achtzehn Stunden, Plissken.« »Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Hauk«, durchschnitt die Stimme den Raum. »Der Präsident ist tot. Irgend jemand hat ihn zum Abendessen verspeist. Das war's.« Hauk biß die Zähne zusammen und sagte, was er sagen mußte. »Wenn Sie in Ihrem Gleiter zurückkommen, schieße ich Sie ab. Wenn Sie herausklettern, schieße ich Sie von der Mauer herunter.« Er blickte auf den stummen Empfänger. »Verstehen Sie mich, Plissken?« Die Antwort kam leise und klang fast bittend. »Kennen Sie denn niemals Erbarmen?« Hauk hatte das Gefühl, als würde ihm der Kaffee ein Loch in den Magen brennen. Sein Herz schien in Flammen zu stehen, schien Risse zu bekommen und langsam zu zerbröckeln. »Plissken«, antwortete er. »Ja?« »Suchen Sie weiter.«
Sehr langsam und umständlich schob Plissken die Antenne wieder in das Gerät zurück. Heftige Schmerzen rasten durch sein Auge, doch er ignorierte sie. Während er den Sender in seiner Halfter verstaute, merkte er, daß der Mann im Mantel des Präsidenten im Begriff war, davonzukrabbeln. Als er sicher war, daß Plissken keine Anstalten machte, ihn aufzuhalten, nahm er das als ein gutes Zeichen und machte sich schleunigst aus dem Staub. »Danke«, murmelte er noch. »Vielen Dank.« Dann war er verschwunden und ließ Plissken allein mit dem hohlen, funktionsuntüchtigen Heizkessel. So also sah es aus. Daher wehte der Wind. Er hatte knapp achtzehn Stunden Zeit, einen Mann in der größten Stadt Amerikas mit nur läppischen drei Millionen gefährlicher Verrückter zu finden. Ein Kinderspiel. Verzweifelt schlug er mit der geballten Hand gegen den Kessel. Ein tiefes, blechernes Echo kam zurück. So, wie es jetzt in seinem Innern aussah, konnte er wahrscheinlich ohne weiteres etwas von dem Feuer in ihm nehmen, es in den Kessel vor ihm legen und damit das ganze Gebäude heizen. Sie hatten ihn nach Hause geschickt, ein Zuhause, das es nicht mehr gab. Ein paar Verrückte hatten das Haus seiner Eltern überfallen und sie als Geiseln festgehalten. Der USPF war das herzlich egal gewesen; sie waren einfach mit ihren Flammenwerfern hineinmarschiert und hatten alle herausgeholt. Man begrub seine Eltern zusammen in einem Armengrab, und dann nahm der Staat ihre sämtlichen Ersparnisse weg. Sie wurden einfach mit den Kriminellen in einen Topf geworfen, und es hieß, daß ihr Geld zu ›Entschädigungszwecken‹ verwendet werden sollte. An demselben Tag, als Snake Plissken nach Hause kam, sprengte er ein Regierungsfahrzeug mit einem MolotowCocktail in die Luft. Danach fühlte er sich etwas besser. Und seit damals war kein Tag vergangen, an dem er nicht etwas
Ähnliches gemacht hatte. Plissken streifte durch den Kellerraum, bis er auf einen Ausgang stieß. Er war jetzt völlig ruhig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Vielleicht war das der Anfang des Wahnsinns. Draußen war es nachtkühl geworden. Sein Körper reagierte unter dem Einfluß des Aufputschmittels wie eine Marionette. Plissken griff in seine Tasche und holte zwei weitere Brocken heraus, die er beide schluckte. Hier gab es keine Wirklichkeitsmaßstäbe, die man hätte anwenden können, aber vielleicht würde das Metamphetomin alles logisch erscheinen lassen, so ungefähr wie wenn sich jemand wieder nüchtern trank. Er beschloß, vom Planquadrat eins aus vorzugehen. Also verfolgte er seinen Weg vom Theater zurück zum Flugzeug. Der Rauch hatte sich größtenteils verzogen, und der Jet, der von herabgefallenen Gebäudeteilen bedeckt war, sah fast schon aus, als gehörte er in das Bild. Irgend jemand hatte den Sitz mit dem angeschnallten Toten weggeholt, und Plisskens Verstand weigerte sich, weiter darüber nachzudenken. In der Nähe entdeckte er die Rettungskapsel und verließ das Flugzeug, um sie sich noch einmal anzusehen. Sie war in der kurzen Zeit völlig geplündert worden. Der Fallschirm war verschwunden, das Innere total zerstört, und nur die Metallhülle war noch übriggeblieben. Snake Plissken wandte sich von der Kugel ab, um die Umgebung in sich aufzunehmen. In verschiedenen Richtungen zweigten Straßen ab, die alle gleich verwüstet waren und durch die der Herbstwind pfiff, der nasse Kälte mitbrachte. Die Straßen waren vollgestopft mit ausgeschlachteten Autowracks, Wunder ohne Räder. Wahllos suchte er sich eine Richtung aus und marschierte los. Die Straßen waren still und verlassen. Im Augenblick
streiften offensichtlich keine Leichenfledderer umher. Die Ruhe machte Plissken argwöhnisch. Irgend etwas schien nicht zu stimmen, denn selbst der Dschungel hatte seine Nachtjäger. Snake wurde noch vorsichtiger und klemmte sich das Gewehr fester unter den Arm. Irgendwo erklang plötzlich ein Geräusch, als wenn Metall auf Metall geschlagen wird. Plissken blieb stehen, um zu lauschen, und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob es echt gewesen oder nur der Wirkung des Metamphetamins zuzuschreiben war, das seine Sinne hochpeitschte. Aber da war es wieder. Langsam, die Nerven bis zum Zerreißen angespannt, drehte er sich um. Keine zehn Fuß von ihm entfernt hob sich ein Schachtdeckel in der Straße millimeterweise hoch, bis er unvermittelt aus der Öffnung flog wie der Stopfen aus einer mit Gas gefüllten Flasche. Ein Kopf tauchte aus dem Loch auf – oder besser, das Zerrbild eines Kopfes. Das dunkle Gesicht mit dem stumpfsinnigen Ausdruck schien unfähig, Regungen widerzuspiegeln, und sah aus wie eine Maske aus Menschenhaut. Es war ein dreckiger, verlauster Kopf, und das schmuddelige Haar starrte so von feuchtem Schmutz, daß es unmöglich zu sagen war, wo das Haar aufhörte und der Dreck anfing. Die großen Augen glotzten ausdruckslos in die Umgebung. Gleichzeitig mit dem Kopf stieg Dunst aus dem Schacht – und Schwaden giftiger Gase, die wie Kartoffelfäule rochen. Plissken spürte, wie sein Magen revoltierte, als dem Kopf der Rest des Körpers folgte, aus dem Kanal glitt und über das rissige Straßenpflaster zu kriechen begann. Die Gestalt war nackt und nur mit einer glitschigen Schlammschicht überzogen. Der Gestank, den sie ausströmte, war ekelerregend und so überwältigend, daß Plissken nur mit Mühe den Brechreiz unterdrücken konnte.
Ein zweiter Ghoul folgte dem ersten, dann kroch auch schon der nächste heraus und der übernächste. Einige von ihnen waren nackt, andere nur mit Lumpen bekleidet, aber alle waren sie mit Schlamm und eitrigen Wunden bedeckt. Die Verrückten. Dämonen mit glasigem Blick, den giftigen Sümpfen der Hölle entstiegen und auf die Erdoberfläche gekommen, um dem Wort Mensch zu spotten. Sie bewegten sich die Straßenmitte entlang, wobei keuchende, rasselnde Laute aus ihren aufgerissenen Mündern drangen. Knurren. Sie bildeten die Grenze, die Unterwelt zwischen Leben und – was? Dem Tod? Der Tod wäre wahrscheinlich eine Erlösung für diese Kreaturen. Sie waren hungrig und gierten nach frischem Fleisch. Plissken versuchte sich zu bewegen, Distanz zwischen sich und den alptraumgleichen Teufelsreigen zu bringen, der über die Straßen tanzte. Aber sie kamen, immer mehr und von allen Seiten. Seine Beine gehorchten nicht. Er konzentrierte sich nur auf die Bewegung und bemühte sich, den wirklich gewordenen Alptraum aus seinen Gedanken zu verdrängen. Doch sie kamen, eine ganze Armee dieser Wesen. Der Gestank stieg in fast greifbaren Schwaden von den Straßen auf, um den donnernden Himmel auszulachen. Endlich bewegten sich seine Beine. Zuerst langsam und zögernd, wie ein Kind, das gerade gehen lernt, dann immer schneller und sicherer. Schließlich gelang es Plissken, den Kopf ganz von dem gräßlichen Schauspiel vor ihm zu wenden. Wie vom Teufel gejagt rannte er durch die langgezogenen Schatten auf die zweifelhafte Sicherheit der Gebäude zu. Sie waren überall und erfüllten die Straßen mit unmenschlichen Lauten. Snake erreichte einen Kaffeeshop, der zwischen den anderen, zerstörten Gebäuden noch verhältnismäßig intakt aussah. Die Tür fehlte, aus den Fenstern war das Glas verschwunden. Ohne lange zu überlegen, hastete
Plissken hinein. Im Innern war es dunkel, aber er wagte nicht, die Taschenlampe einzuschalten. Der Shop war leer bis auf die Theke im Hintergrund, die unversehrt war. Vorsichtig ging er darauf zu, stoppte jedoch unvermittelt, als der Fliesenboden unter seinen Füßen zu knirschen begann. Plissken senkte den Kopf. Der größte Teil der Fliesen war herausgerissen, die Holzdielen verfault, einige fehlten sogar ganz. Darunter gähnende Dunkelheit, als blickte er in ein tiefes Loch. Vorsichtig und bemüht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, arbeitete er sich auf den rückwärtigen Teil des Gebäudes zu. Von draußen drangen Geräusche herein, und er blieb ruckartig stehen, als wäre er plötzlich erstarrt. Die Verrückten huschten als undeutliche Schatten außen an den leeren Fensterhöhlen vorbei, getrieben von einem inneren Rhythmus, einem perversen Bedürfnis. Plissken hörte, wie ihre nackten Füße über den Beton tappten. Seine tastenden Hände berührten eine Wand, gegen die er sich schwer atmend drückte – schwer atmend, aber nicht vor Anstrengung. Draußen liefen noch mehr Schatten vorbei – sie erschienen auf den Wänden, und es schien, als wären selbst die Schatten ihrer realen Gestalt bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Und plötzlich waren sie verschwunden. Alles war wieder still, aber selbst die Ruhe konnte das Entsetzen nicht verdrängen. »Bist du 'n Bulle?« flüsterte eine Stimme. Plissken zuckte zusammen und wirbelte herum, wobei er gleichzeitig das Gewehr hochriß und mit bebendem Arm in die Dunkelheit zielte. Im Schatten vor ihm hockte eine Frau und starrte zu ihm hinauf. »Nein«, flüsterte er genauso leise zurück.
Sie war noch ziemlich jung und sauberer als die anderen, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte. Sie war früher einmal sehr hübsch gewesen, sie war es auch heute noch, aber jetzt beherrschten die Augen ihr Gesicht. Sie waren groß und tiefliegend, Augen, die zuviel gesehen und alles Elend der Welt erlebt hatten. Plissken konnte die Frau nicht ansehen, ohne von dem Schmerz, der in diesen Augen lag, gebannt zu werden. »Du hast 'ne Knarre«, stellte sie fest. Immer neue Schatten flogen vorbei, und bei den Geräuschen ruckte Plisskens Kopf herum. »Hast du vielleicht 'ne Kippe?« fragte sie. Ärgerlich fuhr er herum. »Würdest du bitte still sein«, flüsterte er eindringlich. »Sie werden's nicht sehen«, gab sie zurück. »Wir müssen uns nur ruhig verhalten.« Plissken sah die Frau an und schaute dann wieder nach draußen. Schließlich schlich er zu ihr hin, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und reichte sie ihr. Mit einer Hand wühlte er anschließend weiter in der Tasche, bis er ein Feuerzeug gefunden hatte, das er ihr ebenfalls gab. Die Frau nickte ihm dankend zu, und als sie die Zigarette anzündete, drehte sie sich zur Seite, um den Lichtschein mit ihrem Körper abzudecken. Sie inhalierte tief und hielt Plissken das Feuerzeug hin. »He, das ist ja sogar 'ne echte!« Mit jenen großen schmerzerfüllten Augen musterte sie den Mann vor ihr. »Du bist wohl gerade erst reingekommen.« Er hockte sich zu ihr auf den Boden, damit er leise sprechen konnte. »Was geht da draußen vor?« Genüßlich zog sie an ihrer Zigarette, offensichtlich froh darüber, daß sie sich endlich einmal in Gesellschaft von jemandem befand, der sie nicht fressen wollte. »Verrückte«, erklärte sie. »Es geht auf Monatsende zu, und dann haben sie nichts mehr zu beißen.«
Wieder zog sie an der Zigarette. Plissken starrte auf die glühende Spitze. »Halt deine Hand davor!« wies er sie barsch an. Sie gehorchte. »Ich heiße Maureen«, begann sie, als wären sie Fremde in einem Zug, die irgendwohin in Urlaub fuhren. »Die Dunkelheit hat mich draußen auf der Straße überrascht, und jetzt sitze ich hier fest.« Plissken sah abwechselnd auf ihre Zigarette und auf die zerbrochenen Fenster. »Ein Flugzeugabsturz«, flüsterte er und sprach abgehackt, sooft er den Kopf wieder zu ihr wandte. »Vor acht Stunden. In der Nähe der Achten. Ein Jet ist dort runtergegangen. Hast du was gesehen?« Völlig desinteressiert schüttelte sie den Kopf. »Nein.« Plissken sackte innerlich zusammen und stieß die Luft aus. Schon wieder eine Sackgasse, und der Himmel mochte wissen, wie lange er sich hier noch verstecken mußte. »Du bist doch ein Bulle«, stellte sie fest. »Ich bin ein Arschloch«, widersprach er. »Aber mit einem Gewehr«, meinte sie hartnäckig und verzog das Gesicht. »Wer bist du?« »Snake Plissken«, antwortete er, ohne sie anzusehen. Sie schien überrascht. »Du bist Snake Plissken?« »Ja.« »Ich dachte, du wärst tot.« Er streckte die Hand aus und legte ihre Hände um die Zigarette. »Das bin ich auch.« Sie hielt ihre Zigarette einfach in der Hand und schien sie völlig vergessen zu haben. »Und was machst du hier drin mit einem Gewehr?« Er beobachtete, wie die Asche an der Zigarettenspitze immer länger wurde. Es war einfach unglaublich, daß sie so lang werden konnte, ohne abzufallen. »Ich suche jemanden«, antwortete er. »Wen?«
Endlich fiel die Asche ab und schwebte in feinen Teilchen auf den Fußboden. »Den Präsidenten«, gab er zurück, und als er aufblickte, stellte er fest, daß sie ihn anstarrte. »Unseren Präsidenten.« Maureen, die von der Dunkelheit überrascht worden war, schüttelte den Kopf. Es gab Dinge, die selbst ein Gefangener im New Yorker Zuchthaus nicht glauben konnte. »Ach, komm schon.« Plissken zuckte die Achseln. Im Grunde scherte es ihn den Teufel, ob sie ihm glaubte oder nicht. »Es stimmt.« »Ist er tatsächlich hier?« Mit dem Arm machte er eine ausladende Bewegung. »Ja, hier irgendwo.« Maureen rutschte näher zu ihm heran, bis ihr Körper den seinen berührte und sie von der Schulter bis zum Knöchel an ihm lehnte. Es gefiel Plissken; es war ein angenehmes Gefühl. Es gab sicher Schlimmeres als mit ihr die Nacht zu verbringen, schlimmere Leute als diese Frau, Leute, die man um nichts in der Welt anfassen würde. Sie kuschelte sich eng an ihn und legte die Hand auf seinen Arm. »Und wenn du ihn gefunden hast, bringst du ihn dann raus?« »Ja«, nickte er. Ganz sanft und zärtlich berührte sie sein Bein. Unbewußt ging sie nach jenem alten, längst vergessenen Ritual vor, das aus einer Zeit stammte, als es noch Rituale gab, damals, vor einer Million Jahren, vor einer Million Menschenalter. Mit den Fingerspitzen fuhr sie langsam über sein Bein. »Nimmst du mich mit raus?« hauchte sie in sein Ohr. Er spielte das Spiel mit, spielte für kurze Zeit wieder ein menschliches Wesen. »Wenn du mir einen Grund dazu gibst.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn innig! Die Lippen waren da, und die Zunge, aber es fehlte die Leidenschaft, die in dem Chaos, das sie gesehen hatte, verlorengegangen war. »Ich weiß eine ganze Menge Gründe«,
flüsterte sie, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte. Plötzlich richtete sie sich auf, steif wie ein Stock, und ihre schreckerfüllten Augen rollten wie die eines Tieres. Dann horchte sie unbeweglich in die Dunkelheit. Auch Plissken hörte es – ein schwaches Rascheln und Scharren, das von irgendwo unter dem Fußboden kam. »Mach sie aus«, flüsterte er Maureen zu. Hastig drückte sie die Zigarette an der Wand aus. Unter ihnen krachte es erneut. Maureen sprang auf und eilte auf die Küchentür zu. »Bleib stehen!« rief Plissken heiser. Ein lautes Brechen war zu hören, und plötzlich gaben die Bodendielen nach. Eine glitschige, knorrige Hand schoß von unten durch die Lücke. Der Geruch. Der Geruch! Schreiend stolperte Maureen auf die Küche zu. Der Fußboden um sie herum krachte, als die morschen Bretter unter ihrem Gewicht nachgaben. Mit einem Schreckenslaut fiel sie direkt durch den Boden und verschwand bis zur Taille in der Dunkelheit darunter. Ihr Gesicht war eine starre Maske aus Angst, und verzweifelt krallte sie die Finger in die Bohlen, um sich hochzuziehen. Plissken kam ihr zu Hilfe. »Gib mir deine Hand!« schrie er und versuchte, mit dem Klang seiner Stimme die graue Wand niederzureißen, zu der ihr Gesicht geworden war. »Gib mir deine Hand!« Er streckte die Hand aus und griff nach ihr. Der ganze Boden um sie herum brach jetzt zusammen. Gekrümmte, gierige Hände tauchten aus dem Dunkel auf, widerliche Klauen mit langen Fingernägeln. Sie griffen nach ihr und hinterließen lange, schleimige Schmutzspuren auf ihren Kleidern. Plissken begann, mit dem Kolben seines Gewehres nach ihnen zu schlagen, aber es war sinnlos. Mit einem Aufschrei verschwand Maureen in dem Loch zwischen den Brettern, wurde hinuntergezerrt von den Bewohnern des Untergrunds. Zurück blieb eine lange
Kratzspur im Holz, in das sie mit letzter Verzweiflung auf der Suche nach einem Halt die Nägel gekrallt hatte. Immer noch griffen Klauen in die Luft. Schreie erstarben zu einem Röcheln. Geräusche hinter ihm ließen Plissken herumschnellen. Eine der Gestalten hatte sich durch die Bretter gezogen und starrte ihn jetzt aus stumpfen, tierischen Augen an, die Gesichtszüge unkenntlich unter der dicken, verkrusteten Schmutzschicht. Von dem langen, strähnigen Haar fielen dunkle Tropfen, und von dem fauligen, gräßlichen Körper ging ein unbeschreiblicher Gestank aus. Das Monster hielt etwas in der Hand – einen langen, glänzenden Eispickel.
14 DIE VERRÜCKTEN 17:29:55, :54, :53 … Der Ekel drohte, seinen Körper zu paralysieren, doch sein Überlebenstrieb half ihm. Plissken biß die Zähne zusammen, legte das Gewehr an und ging langsam rückwärts. Da, wieder ein Geräusch. Er wirbelte herum. Durch das Loch hinter ihm, in dem Maureen verschwunden war, hatte sich ein anderer Verrückter hochgearbeitet. Ein dritter folgte. Plissken handelte, ohne zu überlegen, war mit einem Satz über der Theke, vorbei an dem großen Loch und stürzte auf die Küche zu, während ihm die Angreifer brüllend folgten. Plissken durchquerte die dunkle, ausgeplünderte Küche, stieß auf einen dahinterliegenden Flur und rannte so schnell er konnte weiter. Die Tür am Ende des Ganges wurde aufgeschlagen, und eine große Gruppe Verrückter strömte hinein; Schatten in der Dunkelheit, die ihm den Weg abschneiden wollten. Instinktiv drehte er sich herum und stürzte mit der Schulter voran durch eine Tür im Gang. Die Verrückten waren ihm auf den Fersen; er konnte ihren stinkenden Atem im Nacken spüren und fühlte den Luftzug der Hände, die nach ihm griffen. Er befand sich in einem Lagerraum. Durch ein glasloses Fenster am anderen Ende drang ein schwacher Lichtschein herein. Plissken hastete auf die Öffnung zu und sprang ins Freie. Auch auf den Straßen waren die Verrückten, auf der Jagd nach Beute. Die Feuertreppe befand sich direkt neben dem Fenster, eine verrostete Eisenleiter, die nach oben führte. Plissken schwang
sich auf die unterste Stufe und begann, hochzuklettern. Die Verrückten waren unmittelbar hinter ihm; sie hatten Blut gerochen und wollten sich die Beute nicht entgehen lassen. Gierig griffen sie nach seinen Beinen, als er die Leiter hinaufstieg, aber heftige Fußtritte warfen sie zurück. Als er den ersten Absatz erreicht hatte, tauchte er durch ein Fenster neben der Treppe, wobei er das Glas, das sich noch im Rahmen befand, zersplitterte. Hinter ihm drängten sich jetzt die Verrückten hinauf; sie waren da, sie waren überall. Plissken entdeckte eine alte Kommode, die er vor die Fensteröffnung schob. Mit einem Bettrahmen, den er unter den Türgriff klemmte, blockierte er dann den Eingang. Doch es schien wenig zu nutzen. In der grauschwarzen Dunkelheit begann die Kommode, vor und zurück zu schaukeln. Ihre Füße tanzten über den Boden, und sie rutschte ein Stück nach vorn. Hinter ihr tauchte eine Hand auf, die auf der Suche nach einem Halt an der Wand entlangtastete. Plissken riß die Waffe hoch und zog den Abzug durch. Ein grellweißer Strahl riß den Raum aus der Dunkelheit. Snake feuerte zwei-, dreimal, und die Hand an der Wand explodierte in einem Alptraum aus Blut und Feuer. Sie war am Handgelenk abgetrennt und klebte durch ihr eigenes Blut noch an der Wand. Plisskens Augen wurden plötzlich groß. Auf den Fingern der Hand, unmittelbar unterhalb der Knöchel, waren die Buchstaben H-A-U-K tätowiert. Entsetzt sah er zu, wie sie jetzt langsam herabrutschte. Mit einem lauten, langanhaltenden Krachen zersplitterte die Tür hinter ihm. Plissken fuhr herum. Polternd fiel nun auch die Kommode vor dem Fenster um. Er zuckte zurück, als ein Verrückter durch das Zimmer hechtete. Plissken griff an und schlug den Gewehrkolben mit voller Wucht auf den Kopf des Angreifers, der daraufhin zusammenfiel. Sein Körper zappelte auf dem Boden herum wie
ein Fisch auf dem Trockenen. Augenblicklich war schon der nächste am Fenster. Hinter Plissken brach die Tür völlig aus den Angeln. Sie krachte nach innen und riß dabei das Bettgestell mit um. Dahinter standen vier Verrückte. Sie kreisten ihn ein, kamen durch Fenster und Tür – er war von Händen, Armen und schmutzigverzerrten Gesichtern umzingelt. Der Gestank war überwältigend, drohte ihm die Luft zu nehmen. Plissken wirbelte um seine eigene Achse und benutzte den Gewehrkolben als Keule. Die unheimlichen Gestalten stießen schrille, tierische Schreie aus, während sie versuchten, ihn zu ergreifen. Die Dunkelheit schloß ihn ein. Sie waren die Dunkelheit. Durch das Wirrwarr der Arme sah er links von sich eine Tür. Seine Hände umklammerten das Gewehr, der Finger spannte sich um den Abzug, und er schoß. Schoß wieder und wieder. Er bekam Luft, als ein Teil der Unheimlichen getroffen und betäubt vom Schmerz zu Boden fiel. Plissken kämpfte sich frei und stürzte sich auf die Tür. Dahinter lag ein Badezimmer. Er stürmte hinein, warf die Tür hinter sich zu und verschloß sie gerade noch rechtzeitig, bevor von draußen dagegen gehämmert wurde. Unter der Wucht des Ansturms erzitterte sie in ihren Fugen. Plissken wußte, daß sie nicht lange halten würde. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. In seiner Verzweiflung drehte sich Snake Plissken zu der gekachelten Wand der Tür gegenüber um, legte das blutverkrustete Gewehr an und leerte das ganze Magazin, wobei er im Einklang mit dem Rattern der Waffe seine ganze hilflose Wut herausschrie. Holz und Kachelstücke flogen ihm entgegen, und eine weiße Staubwolke aus Mörtel und Putz erfüllte den winzigen Raum. Noch immer wurde gegen die Tür geschlagen; das Hämmern formte sich zusammen mit dem Lärm der explodierenden Wand zu einer Symphonie des Schreckens.
Plissken verfeuerte das ganze Magazin und wartete dann, bis sich der Staub gelegt hatte. In der Wand gähnte jetzt ein Loch, das in die Nachbarwohnung führte. Er schaute zurück zur Tür, die mittlerweile Risse zeigte und jeden Augenblick auseinanderbrechen würde. »Mistbrut.« Plissken ließ das leere Magazin herausspringen, warf es in das Chaos auf den Boden und schob ein neues ein. In der Bewegung feuerte er noch eine Salve auf die Tür ab und sprang schließlich durch die Öffnung, die er sich freigeschossen hatte. Blind rannte er durch den angrenzenden Raum, der mit Trümmern von Bombenangriffen übersät war, bis er vor sich ein Fenster sah, das noch unversehrt war. Ohne zu zögern sprang er durch das Glas, das unter seinem Anprall in tausend Stücke zersplitterte, und fiel hinunter in die Dunkelheit. Es war eine Etage bis zum Boden, den Plissken gleichzeitig mit den Glasscherben erreichte. Er schlug hart auf, rollte sich ab und sprang wieder auf die Füße. Das Entsetzen, das ihm im Nacken saß, ließ ihn erst gar nicht an die Schmerzen denken, die er möglicherweise bei seinem Aufprall erlitten hatte. Er befand sich in einer schmalen Gasse, deren Asphaltbelag vom Regen naß und rutschig war. Vor sich, am Ende der Gasse, entdeckte Plissken eine hohe Ziegelsteinmauer, ein neues Hindernis, doch er zögerte keinen Moment. Hinter ihm gellten Schreie. Plissken hetzte vorwärts; die Wand kam immer näher, schien immer höher zu werden. Vor ihr hörte die Straße auf. Er hatte keine Wahl: Er mußte versuchen, über die Mauer zu klettern. Mit einem Satz sprang er an ihr hoch, während er die Hände nach einem Halt ausstreckte. Er fand ihn auf der Mauerkrone, zog sich hoch und riskierte einen Blick zurück. Die Verrückten waren immer noch hinter ihm her, drängten sich aus dem Gebäude und ergossen sich in
die Gasse. Plissken wollte sich gerade auf der anderen Seite herunterlassen, als sein Blick auf einen Gegenstand auf dem Boden fiel, der genau dort lag, wo er abgesprungen war. Es war sein Funkgerät, das sich offensichtlich beim Hinaufklettern aus seiner Halfter gelöst hatte. Plissken sah sofort, daß es nicht mehr zu retten war. Er sprang auf der anderen Seite der Wand hinunter und rannte weiter; bei jedem Schritt spritzte das schmutzige Regenwasser in den Pfützen an ihm hoch und hinterließ nasse Spuren an seinen Hosenbeinen. Nach zwei Blocks wagte Plissken, sich umzusehen. Die Verrückten hatten die Mauer erklettert und hangelten sich hinüber; offensichtlich verlieh ihnen der Wahnsinn genausoviel Kraft wie ihm das Aufputschmittel. Vor ihm, einen halben Block entfernt, lag das Ende der Gasse. Plissken lief darauf zu, bemüht, einen ruhigen und gleichmäßigen Schritt beizubehalten. Plötzlich hörte er Geräusche; sie waren ziemlich weit weg, wurden aber schnell lauter. Musik. Es war Musik, die offensichtlich aus Lautsprechern kam und schrill durch die Nacht plärrte. Er konnte jetzt auch Worte verstehen, die aus einem alten Schlagertext stammten. »Du hast so wunderschöne blaue Augen, Wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin …« Etwas glitt heran, um die Gasse zu blockieren. Ein Auto. Genauer, ein Taxi, ein gelbes Taxi. Plissken versuchte, seinen Lauf abzubremsen, trotzdem konnte er es nicht verhindern, daß er gegen die Seite des Wagens prallte. Die Musik kam aus dem Innern, wie er jetzt unschwer hörte. »… wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin. In deinen wunderschönen blauen Augen, Da liegt der ganze Sinn des Lebens drin.« Aus dem Wagenfenster schob sich ein Kopf, ein breites häßliches Gesicht mit einem unverschämt grinsenden Mund. Es
war der Mann aus dem Theater. »Na, wohin so eilig, mein Junge?« Plissken musterte den Fahrer prüfend, dann blickte er zurück auf die Gasse, durch die die Verrückten herangestürmt kamen. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit zum Überlegen, ob er dem Mann trauen konnte oder nicht. Hastig tastete er nach dem Griff und riß dann die Tür auf. Das Taxi war ziemlich angeschlagen und verbeult. Es sah so aus, als hätte es jemand aus dem zehnten Stock eines Hochhauses herunterfallen lassen und anschließend wieder halbwegs in seine ursprüngliche Form gehämmert. Die Scheinwerfer waren am Kühlergrill festgebunden, die Fenster, in denen das Glas fehlte, mit dicken Eisenstäben verrammelt. Der verblichene, ehemals gelbe Lack war teilweise abgesprungen und wurde von tiefen Kratzern verunziert, die von Krallenhänden stammen mußten. Phantastisch. Seufzend ließ sich Snake auf den Rücksitz fallen. Der Taxifahrer drehte sich zu ihm um und grinste ihn wieder an. »Schlechte Gegend hast du dir da ausgesucht, Snake«, meinte er, griff auf den Beifahrersitz und angelte sich eine Mütze, die er aufsetzte. Plissken sah hinter sich auf die Gasse. Die Verrückten kamen immer näher. »Wenn andere auch nicht zur Treue taugen, So will ich doch nicht von dir gehn. Ich schau in deine blauen Augen, Und möcht' mit dir durchs Leben gehn.« »In dieser Gegend geht man abends besser nicht spazieren«, sagte der Taxifahrer. »Neeeh, Mister.« Auf der Sonnenblende klebte das Foto des Mannes, das ausgeblichen und bis zur Unkenntlichkeit zerknittert war. Am Armaturenbrett war ein Taxameter befestigt, und neben dem Fahrer, auf dem Vordersitz, standen eine Reihe von durchsichtigen Flaschen, die mit einer bernsteinfarbenen
Flüssigkeit gefüllt und mit Stopfen aus Lumpen verschlossen waren. Cocktails. Aber mit Sicherheit keine Martinis. Die Verrückten waren jetzt nur noch einen halben Block von ihnen entfernt, und ihre Schreie übertönten fast die Musik. Der Mann zündete sich eine Zigarette an und zog genüßlich und zufrieden an dem Stäbchen. »Ich fahre jetzt schon dreißig Jahre die Yellow Cabs, oder von mir aus auch Taxis, und laß dir von einem erfahrenen Cabbie das eine gesagt sein: Wer hier herumspaziert, der bekommt keine Zeit mehr, seiner Oma zu erzählen, was in der Gegend so alles los ist.« Er schüttelte den häßlichen Kopf und runzelte die Stirn. »Glaub mir, Mister, die drehen dir hier den Hals um, und zehn Sekunden später ist von dir nur noch das Skelett übrig. Mich findest du in dieser Gegend normalerweise auch nicht. Aber heute abend wollte ich die Show sehen.« Plissken umklammerte die Schulter des Mannes. Die Verrückten hatten sie jetzt fast erreicht. »Los, weg von hier«, zischte er. Grinsend nahm der Cabbie eine der Flaschen, die auf dem Sitz standen. Er hielt das Ende seiner Zigarette an den Stopfen aus Lumpen, der daraufhin sofort Feuer fing und Schatten über die Decke des Wagens warf. Während er die Flasche kräftig schüttelte, hielt er sie Plissken hin. »Das Zeug ist hier Gold wert, mein Junge«, erklärte er. In vollem Lauf prallten die Verrückten gegen das Taxi, begannen, es hin und her zu schütteln und griffen nach den beiden Insassen. Wie beiläufig warf der Cabbie die Flasche aus dem Fenster, die genau in ihrer Mitte mit einem grellen Schein explodierte. Die vorderen Reihen der Angreifer fingen Feuer, und der Gestank nach verbranntem Fleisch übertraf noch ihren eigenen, widerlichen Geruch. Der Cabbie preßte den Fuß auf das Gaspedal, und mit quietschenden Reifen schoß der Wagen aus der Mitte der Verrückten heraus und raste die Straße hinunter.
Plissken beobachtete durch das glaslose Rückfenster, wie der orange Schein hinter ihnen immer kleiner wurde, und ließ sich dann erleichtert zurücksinken. Sobald er sich entspannte, fühlte er, wie Müdigkeit und Schmerzen in seinem Körper hochkrochen. Also nahm er ein weiteres Stück des Aufputschmittels aus seiner Tasche und steckte es in den Mund. Das Taxi fuhr mit Höchstgeschwindigkeit durch die verlassenen Straßen, und offensichtlich genoß der Fahrer in vollen Zügen, das zu tun, was er nie hatte tun dürfen, als die Stadt noch eine richtige Stadt gewesen war. Die Gebäude, an denen sie vorbeikamen, waren nur noch Ruinen, verfallene und zerbombte Häuserskelette. »Wann bist du reingekommen, Snake?« fragte der Cabbie über seine Schulter. »Ich hatte keine Ahnung, daß sie dich geschnappt haben.« Er nahm eine Kurve zu schnell, und Plissken wurde in dem quietschenden Fahrzeug hin und her geschleudert. Es traf ihn unvorbereitet, und er flog halb über den Vordersitz. Inzwischen hatte er die Verrückten schon fast vergessen und mußte nun daran denken, wie knapp seine restliche Zeit auf der guten alten Erde bemessen sein wüde, wenn es ihm nicht gelang, den Präsidenten zu finden. Der Fahrer redete immer noch. »Snake Plissken in meinem Taxi«, tönte er stolz. »Das muß ich Eddie erzählen.« Mit einem flüchtigen Grinsen drehte er sich um. »Paß auf, Snake!« Wild kurbelte er an seinem Lenkrad, und sie bogen so scharf in eine Gasse ein, daß der Wagen nur noch auf zwei Rädern fuhr und fast umgekippt wäre. Der Cabbie lachte lauthals; offensichtlich amüsierte er sich königlich. Sinnloserweise fragte sich Plissken, ob er mit den Verrückten nicht besser bedient wäre als mit diesem seltsamen Typen vor ihm. »Ich muß 'ne Abkürzung nehmen, um hier rauszukommen«,
plapperte der Mann weiter. »Du kannst hier auf den Straßen echt Ärger bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Nacht vor 'nem Lebensmittelabwurf ist immer besonders schlimm! Das kannst du vergessen.« Wieder begann er zu lachen. »He, Snake. Halt' dich fest!« Sie rasten durch die Gasse und bogen dann wieder scharf nach rechts ein, wobei Plissken hart gegen eine Seite geschleudert wurde. Von seiner Dankbarkeit über die unverhoffte Rettung war mittlerweile nicht mehr viel übrig. Das Taxi brachte sie durch leere Straßen, vorbei an dunklen Türmen aus Glas und Stein. »Hast du gesehen, wie meine Kleine die Kurven genommen hat?« fragte der Cabbie mit schriller Stimme, erregt und hochgepeitscht durch vermehrte Adrenalinstöße. »Ach, weißt du, ich hatte dieses Yellow Cab schon, bevor sie mich ins Kittchen steckten. Ich hab' meine Kleine versteckt, bevor sie uns eingemauert haben. Als sie mich dann wieder zurückgeschickt haben, ist mein Schnuckelchen sofort angesprungen und losgefahren, als wäre nichts passiert.« »Du hast so wunderschöne blaue Augen, Wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin. In deinen wunderschönen blauen Augen, Da liegt der ganze Sinn des Lebens drin.« »Drei Jahre«, fuhr er fort. »Drei verflucht lange Jahre, und sie ist gleich angesprungen. Sie ist eine Schönheit, meine Kleine.« Plissken platzte langsam der Kragen. Er hatte keine Zeit, sich stundenlang das Geschwätz des Verrückten vor ihm anzuhören. »He«, fuhr er den Cabbie an. Der zuckte erschrocken zusammen, als hätte er seinen Fahrgast völlig vergessen. »Was wolltest du eigentlich bei den Verrückten, Snake?« »Ich habe jemanden gesucht«, erwiderte Plissken mit kalter Stimme.
»Hättest mich fragen sollen, Snake«, meinte der Fahrer. »Ich kenne jeden in der Stadt. Ich fahre jetzt schon dreißig Jahre Taxi. Und immer noch dasselbe wie damals. Hab' ich dir schon gesagt, daß sie sofort angesprungen ist? Nach drei Jahren ist sie gleich …« Plissken rammte dem Cabbie sein Gewehr in den Nacken. »Jetzt halt' mal für eine Minute die Klappe, Freundchen«, fuhr er ihn wütend an. »Ich werde dich jetzt was fragen, und du hast genau eine Sekunde Zeit zu antworten.« Er holte tief Luft. »Wo ist der Präsident?« »Der Duke hat ihn«, antwortete der andere, als sei es das Natürlichste auf der Welt. »Das weiß doch jeder. Wirklich, der Duke hat ihn. Himmel, Snake, deshalb brauchst du mir doch kein Gewehr in den Nacken zu halten. Das sage ich dir auch so.« »Wer ist der Duke?« Der Cabbie drehte den Kopf zur Seite, die Augenbrauen vor Erstaunen hochgezogen. »Der Duke von New York!« erklärte er. »Der Big Boß. Die Nummer eins, das ist der Duke.« »Bring mich zu diesem Duke.« Der Cabbie gluckste vor sich hin. »Du kannst nicht einfach zum Duke gehen. Bist du denn völlig verrückt? Keiner geht einfach zum Duke hin. Er ist der Größte. Du triffst ihn einmal, und dann bist du tot.« Plissken verstärkte den Druck seiner Waffe im Nacken des Mannes. »Wie kann ich ihn finden?« Der Taxifahrer zuckte die Achseln und nahm dabei die Hände vom Lenkrad. »Hmmm, ich kenne da jemanden, der könnte dir vielleicht weiterhelfen. Aber er ist ein bißchen komisch.« Er brach ab, um an seiner Zigarette zu ziehen. »Himmel«, begann er schließlich. »Bei mir brauchst du das Ding da doch nicht. Ich sage dir auch so, was du wissen willst.« »Noch etwas«, unterbrach ihn Shake.
»Ja?« »Würdest du bitte mit dieser Scheißkarre etwas langsamer fahren?«
15 150TH. ST. MEMORIAL LIBRARY 17:10:19, :18, :17 … Plissken betrachtete die Straßen, durch die sie fuhren. Der Cabbie leierte unterdessen weiter bedeutungsloses Zeug vor sich hin und hielt seinem Fahrgast ausführliche Vorträge über das Abschmieren und über Ölwechsel. Die Straßen schienen nicht enden zu wollen, verschmolzen zu einem Irrgarten. Verflochtene Steinpfade, die sich durch einen versteinerten Wald wanden. Eine ganze Armee, nein hundert Armeen konnten sich in diesen hohlen Bäumen verstecken. Sie bogen in eine schmale Gasse ein, und im Licht der Scheinwerfer huschten magere Ratten verschreckt über das Pflaster. Ungefähr auf halbem Wege durch die dunkle Gasse hielt der Fahrer dann seinen Wagen an. »Tja, da wären wir«, stellte der Cabbie fest. »Wo?« »Na hier. Komm mit.« Der Mann wuchtete seine Tür auf und hievte sich aus dem verschlissenen Sitz, in dem er jetzt schon seit dreißig Jahren durch die Landschaft schaukelte. Dann musterte er die Umgebung und zog schließlich grinsend seine ölverschmierte Hose hoch. »Eigentlich kann ich mein Goldstück nicht einfach allein lassen«, sagte er. »Normalerweise lasse ich sie nie allein. Aber du bist ja etwas Besonderes, Snake.« Plissken kletterte vorsichtig nach draußen und folgte dem Cabbie die Gasse hindurch bis ans Ende. Sie erreichten die Querstraße und gingen auf ein gewaltiges Steingebäude zu, das
verhältnismäßig gut erhalten war. Eine breite Steintreppe führte zu den großen Eisentüren hinauf. Zu beiden Seiten der Stufen kauerten steinerne Löwen, die diesen Steinpalast im Betondschungel bewachten. Langsam stiegen sie die Stufen hoch. Es war ein öffentliches Gebäude, erkannte Plissken, eine Bücherei. »Schon gut, Snake«, beruhigte ihn der Cabbie. »Die Gegend hier ist besser. Du kannst dich ruhig entspannen.« Plissken mußte an die Zeitbomben denken, die in seinen Halsschlagadern steckten. »Nein danke«, erwiderte er. Als sie vor den Türen standen, schlug der Taxifahrer mit der flachen Hand gegen das Eisen. Es gab ein hohles Echo, als hätte er auf einen riesigen Gong geschlagen. Er wartete ein paar Sekunden und schlug dann nochmals gegen die Tür. Aus zusammengekniffenen Augen sah er Plissken an und grinste breit. »Tolles Ding haben sie hier. Wie eine richtige Festung.« »Sie?« wunderte sich Snake. Von der anderen Seite der Türen erklang eine Frauenstimme. »Wer ist da?« Der Cabbie verdrehte die Augen und klopfte mit dem Finger gegen das Eisen. »Ich bin's«, brüllte er so laut, daß er damit Tote hätte aufwecken können – oder wenigstens die lebenden Toten. »Wer ist ich?« wollte die gedämpfte Stimme wissen. »Cabbie!« »Was willst du?« »Da ist jemand, der möchte zu Brain«, meinte er eifrig. »Es ist wichtig.« »Verschwinde«, erwiderte die Stimme. Plissken schnitt eine Grimasse und begann, sich nach zugänglichen Fenstern umzusehen. »Es ist Snake Plissken«, wandte der Cabbie ein und zwinkerte Plissken zu.
Auf der anderen Seite herrschte einen Augenblick Schweigen. Die Zauberworte, der Schlüssel zum Refugium. Durch die Tür drangen scharrende Geräusche. Sie hörten, wie Riegel zurückgeschoben wurden, und dann wurde eine Türhälfte einen Spalt geöffnet. Ein Auge spähte durch den Schlitz. »Bist du Plissken?« erklang die Stimme, die zu diesem Auge gehörte. »Er will Brain sehen«, erwiderte der Cabbie. »Warum?« Plissken schob den Cabbie zur Seite und stellte sich so vor den Türschlitz, daß er genau in das Auge dahinter sah. »Ich will den Duke sprechen.« Das Auge starrte Plissken einen Augenblick reglos an; es schien ihn zu mustern. Dann schloß sich die Tür leise, und sie konnten das Rasseln von Ketten hören. Schließlich glitt die große Tür geräuschlos auf. Plissken trat ein. Vor ihm stand eine Frau, die erstaunlicherweise von Kopf bis Fuß sauber war: ein sauberes Gesicht, saubere Kleider, saubere Fingernägel. Die Kleider sahen neu aus und schmiegten sich um ihre wohlgerundeten Formen, als wären sie extra für sie angefertigt worden. Sie hatte dunkles Haar, das Haar einer Mittdreißigerin, aber ihre Augen waren jünger. Plissken versank förmlich in diesen feuchtschimmernden und neugierigen Augen, die mehr als nur ein bißchen mutwillig ihr Gegenüber musterten. Und er konnte noch nicht einmal eine Spur von Verrücktheit in ihnen entdecken. Nun, vielleicht doch eine ganz kleine. Auch sie sah ihn genau an, und als sie ihre Musterung beendet hatte, verzog sie die Mundwinkel. Wie zu einem Lächeln. Oder einem spöttischen Grinsen. Sie deutete mit der Hand auf eine Treppe, die hinunter zur großen Halle des Gebäudes führte. Cabbie nickte, und sie stiegen die Stufen herunter, während die Frau zurückblieb, um
die Tür wieder zu verschließen. Der Raum war riesig und erinnerte Snake an eine tote Höhle. Die Decken waren so hoch, daß sie von der Dunkelheit völlig geschluckt wurden. An den Wänden brannten ein paar Fackeln, die versuchten, dem kalten, fahlen Marmor etwas Wärme zu verleihen, der in diesem Raum eine gruftähnliche Kälte bewirkte. Am Ende der Stufen blieben sie stehen. Cabbie legte Plissken einen Arm um die Schultern, doch der schüttelte ihn mit einer kurzen Bewegung ab. »Brain ist der Größte«, erklärte der Cabbie. »Mister Superhirn. Der Duke liebt ihn.« Beim Klang von Schritten hinter ihm drehte sich Plissken um. Mit einer flackernden Fackel in der Hand kam die Frau die Treppe hinunter, und Snake sah zu, wie das gelbe Licht ihren Körper liebkoste. »Wer ist das?« flüsterte er dem Cabbie zu. »Maggie«, antwortete der Gefragte. »Brains Schnuckelchen.« Die Frau hatte sie jetzt fast erreicht, und der Taxifahrer beugte sich zu Snake herüber, damit sie ihn nicht hörte. »Der Duke hat sie Brain gegeben, um ihn bei Laune zu halten.« Das konnte Plissken nur zu gut verstehen. Maggie stand jetzt vor ihnen und musterte Plissken im Licht der Fackel noch einmal, aber diesmal war der Blick in ihren Augen wirklich mutwillig. »Ich hörte, du wärst tot.« Sie funkelte Snake an. Er runzelte die Stirn. Vielleicht wußten alle anderen etwas, das er nicht wußte. Die Frau führte sie durch die Halle. Durch einen mit Ornamenten eingefaßten Türbogen gelangten sie in einen großen Raum, der von wohlplazierten, flackernden Laternen ausreichend erhellt wurde. Nachdem Maggie die Fackel in einen Halter neben dem Bogen gesteckt hatte, führte sie die beiden Besucher in den
Raum. Es war das Lesezimmer der Bibliothek, und mit Büchern vollgestopfte Regale bedeckten die Wände vom Fußboden bis zur Decke. Auch auf dem Boden stapelten sich die Bücher, die alle mit einer dicken, grauweißen Staubschicht bedeckt waren. Als sie weiter in das Zimmer hineingingen, konnte Snake ein Geräusch hören, das von einem Generator stammen mußte und das immer lauter wurde, je weiter sie vordrangen. Hinter einer Reihe von Regalen entdeckte Plissken schließlich die Ursache des Lärms. Vor ihm, mitten im Raum, war ein Generator aufgestellt, der über einen Riemenantrieb mit einer Pumpe verbunden war. Der Schaft dieser Pumpe bewegte sich in einem Loch im Fußboden auf und ab – eine eigene Ölquelle. Vermutlich saugten sie mit der Pumpe Gas oder Rohöl direkt aus einem alten Lagertank irgendwo unter der Erde. Plissken beugte sich gerade über den Schacht, als sein Blick auf eine Wand fiel, auf die eine große Karte von Manhattan geheftet war. Vor der Karte stand eine Gestalt, wie Maggie gut gekleidet, die sich jetzt herumdrehte. Es war ein schmächtiger, aber gutgenährter Mann mit einem langen, ungepflegten Bart, der ein seltsames Kindergesicht bedeckte. Er starrte Plissken an und fuhr sich dann mit der schmalen Zunge über die trockenen Lippen. »Ich hab' hier jemanden, der dich sprechen möchte, Brain«, begann der Cabbie. Plissken musterte den Mann im Dämmerlicht, das in dem Zimmer herrschte. In seinem kranken Auge begann es unter der Klappe zu pochen, es versuchte, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Snake dachte sich den Bart des Mannes weg, und plötzlich verzog sich sein Mund zu einem dünnen Lächeln. »Harold Hellman«, stieß er leise und drohend hervor. Die Augen des anderen weiteten sich. »Snake?« »Harold?« echote Maggie erstaunt. Plissken umklammerte seine Waffe fester, und sein Finger
näherte sich dem Abzug. »Na, wie geht's uns denn so?« erkundigte er sich mit falscher Freundlichkeit. »Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« »Du hast mir nie gesagt, daß du Snake Plissken kennst«, beschwerte sich Maggie offensichtlich beeindruckt, während sich Plissken fragte, was er denn nur an sich hatte, daß ihn die Leute immer für etwas Besonderes hielten. Der Cabbie schien sich wieder einmal köstlich zu amüsieren, denn er lachte lauthals los. »Ist das nicht einfach großartig!« japste er und klatschte die Hände ineinander. »Weißt du, Brain, wenn du nur ein bißchen mehr Sprit für mich übrig hättest, dann würde ich doch glatt …« In Sekundenschnelle hatte Snake die Distanz zu Brain überwunden und drückte ihm den Lauf seines Gewehrs in den Mund, so daß der andere fast daran erstickte. Maggie machte Anstalten, ihren Freund zu verteidigen. »Komm keinen Schritt näher, oder ich blase ihn an die Wand«, drohte Plissken, ohne die Augen von seinem Opfer zu nehmen. Mit angespannten Muskeln blieb die Frau stehen. Hinter ihm fing der Cabbie an zu stottern. Zweifellos dachte er gerade darüber nach, von wem er demnächst sein Benzin beziehen sollte. Snake näherte sich Hellman, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von dem seines Gegenübers entfernt war. »Es freut mich, daß du dich an mich erinnerst, Harold«, fuhr er in demselben, gefährlich leisen Ton fort. »Ein Mann sollte seine Vergangenheit nie vergessen, findest du nicht auch? Erinnerst du dich noch an Kansas City? Vor vier Jahren? Hmmm?« Er drückte das Gewehr noch tiefer und drohte den anderen zu ersticken. »Du hast mich damals im Stich gelassen. Hast mich einfach sitzenlassen.« Langsam zog er das Gewehr aus Hellmans Mund und bedeutete ihm mit dem Lauf, sich in einen Sessel in der Nähe zu setzen. Furcht flackerte in den Augen des Mannes auf,
während er widerspruchslos gehorchte. »Wir waren Kumpel, Harold«, zischte Plissken. »Du, ich und Eresno Bob. Weißt du, was sie mit Bob gemacht haben?« Das Feuer, das in Plisskens Innerem schwelte, drohte ihn zu verzehren. Das Leben war ein Krieg, und Hellman war ein Verräter. Snake hob den Fuß und pflanzte ihn Hellman auf die Brust. Dann trat er voll zu, schleuderte den Sessel rückwärts und sah zu, wie er gegen die Wandkarte prallte. Hellman krachte mit einem Aufstöhnen zu Boden und blieb dort lang ausgestreckt liegen. »Bring mich nicht um, Snake«, wimmerte er. »Wo ist er?« fauchte ihn Plissken an. »Wer?« »Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen!« Hellman rollte sich mit zitternden Lippen und bebendem Bart herum. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Himmel, Snake. Ich weiß es ehrlich nicht!« Plissken hockte sich vor ihn. »Wo ist er?« Die Augen des Mannes waren flehend auf Snake gerichtet, doch sie sahen eine Mauer aus Stein. »Warum? Warum willst du es wissen?« »Ich will ihn haben, Harold.« »Die Bullen haben ihn reingeschickt, Brain«, fuhr Maggie mit einer Stimme dazwischen, die so scharf war wie eine Rasierklinge. Hellman rang nach Fassung und versuchte, sich aufzusetzen. »So«, meinte er. »Du arbeitest jetzt also für die Bullen?« »Nun mach aber mal halblang«, warf der Cabbie zu Plisskens Verteidigung ein, da auch für ihn einiges auf dem Spiel stand. »Snake arbeitet nicht für die Bullen …« »Mach schon den Mund auf, Harold!« Hellman kam langsam hoch, den Rücken gegen die Wand gestützt. »Nein«, schüttelte er den Kopf, wobei er sich an die selbstbewußten Worte der Frau klammerte. »Und wenn du
mich umbringst, wirst du es nie erfahren.« Snake lächelte ihn wieder an. »Das zieht bei mir nicht, Harold.« Er warf einen flüchtigen Blick auf Maggie und stellte fest, daß die Schärfe in ihrer Stimme nichts war im Vergleich zu der Mordlust, die jetzt in ihren Augen funkelte. Plissken hätte ihr gerne zugezwinkert, nur leider hatte er nicht so viele Augen. »Dann werde ich es eben aus deiner kleinen Freundin herausprügeln«, fuhr er fort und konnte beobachten, wie sich ihr Gesicht vor Haß verzerrte. Hellman sprach jetzt schneller, bemüht, Snake mit schlagkräftigen Argumenten zu überzeugen. »Maggie weiß nicht genau, wo er sich aufhält, und wenn du nicht genau, ganz genau weißt, wo er ist, wirst du ihn nie finden.« Da hatte er nicht unrecht, mußte Snake zugeben. Er hatte ja inzwischen mit eigenen Augen gesehen, wie es in der Stadt aussah. Vielleicht war es jetzt an der Zeit zu verhandeln. Also nahm er die Waffen herunter. »Lebt er noch?« Der Cabbie lachte laut auf, und seine Miene erhellte sich. »Gesund und munter wie ein Fisch im Wasser ist er.« »Halt die Klappe«, schnauzte ihn Hellman an. Plissken ging hinüber zu einem Sessel, und ließ sich hineinfallen. Die anderen standen unbeweglich da, starrten ihn sekundenlang schweigend an und setzten sich dann ebenfalls. »Okay«, schlug er vor. »Ich habe einen Jet-Gleiter. Nicht weit von hier. Ihr sollt mir den Mann nur bringen.« Maggie und Brain sahen sich an. Langsam verschwand der Haß aus ihren Augen, während ihr Verstand die einzelnen Möglichkeiten ausrechnete. Der Cabbie war aufgesprungen und wanderte nun aufgeregt hin und her. Schließlich blickte er auf Plissken, während er sich mit der Hand durch das Gesicht fuhr. »Du machst keinen Quatsch, oder? Meinst du es wirklich ehrlich? Du nimmst mich auch mit, ja?«
Plissken warf ihm einen Warum-nicht-Blick zu. Es war sowieso egal, denn in seinem Gleiter war nur Platz für zwei. Hellman, der noch immer nicht begriffen hatte, warum sein Gegenüber so verzweifelt war, musterte Snake kalt. »Wir verhandeln noch an anderer Stelle«, erklärte er. Wieder drohte das innere Feuer, Plissken zu überwältigen. »Also kein Gleiter«, stellte er fest. »Wir haben den Präsidenten«, fiel Maggie tonlos ein. »Und der Duke wird uns alle hier rausholen.« »Darauf könnt ihr lange warten«, gab Plissken zurück. »Ich weiß nämlich etwas, das ihr und der Duke nicht wißt. Es dauert nicht mehr lange, und dann ist euer Mister President keinen Pfifferling mehr wert.« »Quatsch«, konterte Hellman, aber dann runzelte er nachdenklich die Stirn. »Wie lange?« Plissken legte das Gewehr auf seine Beine und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wollt ihr mir helfen?« »Du lügst«, sagte Brain. Maggie, deren Gesicht verriet, daß sie im Kampf mit sich selbst lag, blickte Snake an. Auch sie wollte überleben. »Vielleicht nicht«, wandte sie ein. Hellman stand auf und winkte ab. »Ich kenne ihn«, entgegnete er und drehte sich zu der Karte um. »Du brauchst dir nur sein Gesicht anzusehen, um zu wissen, daß er lügt.« Irgendwie war es Plissken gar nicht so unrecht. Er mußte Hellman sowieso aus dem Weg räumen, denn die Strafe für Verrat lautete auf Tod. Langsam hob er das Gewehr und zielte auf die Beine des Mannes. Wenn er ihn schon umbrachte, dann konnte er es auch so langsam tun, daß er noch etwas Spaß dabei hatte. »Ich glaube, ich werde dich jetzt umlegen und dann selbst weitersuchen.« Hellman drehte sich um, und sein Bart zitterte wieder. »Himmel, Snake. Das wirst du doch nicht tun. Komm schon, mach keinen Quatsch!«
Snake legte die Waffe an und drückte sie an seine Wange. Dann krümmte er ganz langsam den Finger um den Abzug. »Brain!« schrie Maggie. »Versuch du's mal, Baby«, flüsterte Plissken und legte den Finger noch fester um den Abzug. »Er bringt uns beide um, wenn du es ihm nicht sagst.« »Du mußt es ihm sagen«, drängte der Cabbie. »Du mußt!« Brain Hellman sah tief in Plisskens Auge und glaubte ihm. Er schien in dem Feuer, das ihn aus dessen Blick traf, einzuschrumpfen. Dann fällte Hellman seine Entscheidung und wußte sofort, daß sie falsch war. Verzweifelt drehte er sich herum und schlug mit der Faust auf die Karte. »In Ordnung«, krächzte er. »In Ordnung!« wiederholte er lauter. Fast mit Bedauern nahm Plissken den Finger vom Abzug und senkte die Waffe, während der Schmerz in seinem Auge etwas nachließ. »Ich wußte doch, daß du ein kluger Junge bist, Harold.« Hellman fuhr herum und blitzte Plissken an. »Eins wollen wir gleich klarstellen«, zischte er so selbstsicher wie möglich. »Nenn mich nicht Harold.«
16 ZIGEUNER DER STRASSEN 16:45:21, :20, :19 … Plissken traute Brain Hellman so wenig über den Weg wie einem Geldschrankknacker vor seinem Minisafe. Das heißt, wenn er einen besessen hätte. Der Mann war glitschig wie Vaseline und so ehrlich wie ein Blindenhund in einer Würstchenfabrik. Er war eine Zeitlang mit Hellman zusammen gewesen, aber er hatte ihm nie so recht getraut. Mit dem Mund konnte Hellman alles, aber wenn es darum ging, es auch in die Tat umzusetzen, dann kniff er. Damals in Kansas City war er einfach in dem Fluchtauto davongefahren und hatte Plissken und Fresno Bob allein in der Bank zurückgelassen. Snake gelang es, wie üblich, herauszuschlüpfen, aber Fresno Bob hatte weniger Glück. Die Schwarzröcke schnappten ihn und zogen ihm bei lebendigem Leib die Haut vom Körper. »Ich habe den besten Motor, den du hier auftreiben kannst«, erzählte Cabbie, während sie draußen auf Hellman warteten, der das Gebäude verschloß. »Ich bin überall rumgelaufen und habe sämtliche Autofriedhöfe und Ersatzteillager abgeklappert. Für meine Kleine ist nur das Beste gut genug.« Seine Augen funkelten, als er sich zu Plissken vorbeugte und ihn vertraulich in die Seite stieß. »Wie weit müssen wir?« fragte Plissken ihn. Brain drehte sich um. Er hatte jetzt wieder sein übliches Pokergesicht aufgesetzt, unergründlich und ausdruckslos. »Es gibt in dieser Stadt nichts, das weit weg wäre«, sagte er. »Weißt du es noch nicht: Wir sind hier auf einer Insel.«
Maggie stand neben Hellman oben auf der Treppe und hielt den Blick ständig auf die Straßen gerichtet, wie es ihr Überlebenstrieb verlangte. Hin und wieder drehte sie sich für einen kurzen Moment zu Brain um, der eine schwere Eisenkette durch die verzierten Türgriffe zog. In ihren Augen lag dabei ein Ausdruck der Bewunderung, den man fast als Liebe hätte interpretieren können. Snake wurde nicht schlau aus der Frau. Vielleicht war sie doch nicht so normal, wie er zuerst angenommen hatte. Vielleicht aber auch behandelte Brain Hellman, der sonst ein übler Bursche sein mochte, seine Frauen sehr freundlich. »Die Feineinstellung habe ich mit Juwelierwerkzeugen gemacht«, plapperte Cabbie weiter und drehte dabei seine Finger hin und her, als hielte er einen kleinen Schraubenzieher in der Hand. »Fertig«, verkündete Hellman, nachdem er das letzte Vorhängeschloß endlich eingehängt hatte. »Geh'n wir«, drängte Plissken. Er wartete, bis die anderen vor ihm waren, und ging dann als letzter die Stufen hinunter. Denn ihm war klar, daß er vorsichtig sein mußte. »Arbeitest du für diesen Duke?« wollte er von Brain wissen. Hellman antwortete ihm, ohne sich umzudrehen. »Ich mache das Benzin für ihn«, erklärte er, als hätte er es einstudiert. Offenbar wollte er noch immer nicht so recht mit der Sprache heraus. »Ich knoble Sachen für ihn aus.« »Zum Beispiel?« Diesmal drehte Brain sich doch um. Plissken mußte grinsen. Er hatte nicht die Absicht, es diesem Mistkerl so einfach zu machen. »Zum Beispiel, wie man über die Fifth Nine Street Bridge kommen kann«, gab Hellman schließlich klein bei und stellte sich dabei so an, als holte ihm Plissken die Wörter mit einem Brecheisen aus dem Mund. »Sie ist vermint, aber ich glaube, ich weiß, wo sich die Minen befinden.«
Maggie, die offensichtlich bereit war, zu sprechen, solange auch Hellman redete, meldete sich jetzt ebenfalls. »Wir haben einen Plan von einem Typen, der es rüber geschafft hat, bis sie das arme Schwein dann einfach abgeknallt haben.« Hellman warf ihr zuerst einen bösen Blick zu, gab aber dann seufzend nach. »Sie arbeiten da jetzt«, fügte er hinzu. »Sie sind dabei, die erste Barrikade aus dem Weg zu räumen.« »Was für ein Anblick, Snake!« rief Cabbie, der sich endlich aus seinen Phantastereien über sein Auto losgerissen hatte. Er streckte beide Arme aus und begann, sie wie die Wellen des Ozeans auf- und abzubewegen. »Die ganze Stadt würde über die Brücke rollen. Und Mister President marschierte vorneweg.« Dann ließ er die Arme traurig sinken. »Es wäre so schön gewesen.« »Wäre?« fragte Maggie. Cabbie warf ihr einen bösen Blick zu und meinte beleidigt: »Wir gehören doch jetzt zu Snake.« »Wartet mal«, unterbrach ihn Plissken mit gespitzten Ohren. »Hört ihr das?« Alle schwiegen und lauschten. Motorengeräusche. Und sie kamen näher. »Das ist der Duke!« kreischte Cabbie. »Ich kenne die Geräusche seiner Wagen.« »Los, in die Gasse«, befahl Plissken. Sie hetzten die restlichen Stufen hinunter und verschwanden um die Ecke des Gebäudes, wobei sie sich eng im Schatten der Mauern hielten. Plissken wandte den Kopf. Das Taxi stand rund fünfzig Schritte die Gasse hinunter. Hastig drehte er sich wieder um und riskierte einen Blick um die Ecke der Bücherei. Ein Konvoi aus uralten Autos und Lastwagen stotterte durch die Straßen, und stieß dabei graue und schwarze Rauchwolken aus. Die Wagen erzitterten unter Rückstößen und wackelten ratternd hin und her. Der Konvoi mußte zwischen zehn und zwanzig Fahrzeuge umfassen, die
ohne Ausnahme so aussahen, als wären sie auf dem Weg zum Autofriedhof. Kein einziges besaß einen Stoßdämpfer, und entsprechend laut dröhnten sie durch die Stille der Nacht. Der Führungswagen, ein alter Cadillac mit abgeschnittenem Dach, kam jetzt an der Einmündung der Gasse vorbei. Auf dem Beifahrersitz konnte Plissken einen großen, glatzköpfigen Mann ausmachen, über dessen eine Gesichtshälfte drei Narben liefen, die an die Spuren von Krallen erinnerten. »Der Duke«, flüsterte Maggie. Er hatte eine Zigarre im Mund, und seine Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt, die mit weißem Heftpflaster zusammengeklebt war. Auf dem blankpolierten Kopf saß ein blaßlila, fast purpurner Filzhut, der affig über ein Auge heruntergeklappt war. Die anderen Fahrgäste waren offensichtlich seine Leibwache. Sie waren wie der Duke dunkelhäutig und trugen herabhängende Schnurrbärte. Um die Köpfe hatten sie bunte Stirnbänder geschlungen, und in den Ohren steckten große goldene Ohrringe. Die Leibwächter trugen dunkle Anzüge mit dunklen Hemden. Plissken sah die harten grausamen Linien, die sich durch ihre Gesichter zogen. Zigeuner. Der Wagen an der Spitze passierte die Gasse, während ihm die übrigen Fahrzeuge folgten. Ihre Auspuffgase drangen bis zu Plissken vor, der sich gewohnheitsmäßig die Hand vor Mund und Nase hielt. Wie eine Leichenprozession rumpelte der Konvoi langsam vorbei. »Komm dem Duke nicht in die Quere«, warnte der Cabbie kopfschüttelnd. »Halt die Klappe. Das wäre tödlich«, zischte Plissken heiser. Hart packte er Hellman bei der Schulter und zwang den Mann, ihn anzusehen. »Ist der Präsident bei ihnen?« »Nein«, antwortete der Gefragte, dessen eiskalter Blick seine wirklichen Gedanken verbarg. »Er wird beim Duke versteckt.«
Die Karawane hielt vor der Bibliothek an, allerdings mit laufenden Motoren, und das wahrscheinlich aus gutem Grund. Plissken beobachtete, wie ein Mann mit einem Totengesicht und abgefeilten Zähnen aus dem Wagen des Dukes sprang und die Stufen hinauf zur Bücherei lief, wobei er immer zwei auf einmal nahm. »Er will zu dir, Brain«, sagte Maggie, als der Mann begann, wie vorher Cabbie gegen die Tür zu klopfen. »Was will er?« wollte Plissken wissen. »Meinen Plan von der Brücke«, erwiderte Hellman. »Wenn er mich mit dir zusammen sieht, dann legt er mich um. Verdammt, Snake, ich wußte, daß ich nicht mit dir …« »Wir müssen den Präsidenten jetzt befreien«, fuhr Plissken dazwischen, »während der Duke beschäftigt ist.« Hellman schüttelte resignierend den Kopf. »Vergiß es«, entgegnete er. »Er ist auf der anderen Seite der Stadt, und wir haben keinen Wagen.« »Haben wir doch«, widersprach Maggie. »Cabbies.« Sie drehten sich zu Cabbie um, aber der war plötzlich verschwunden. Sein Taxi war schon so weit entfernt, daß sie es nicht mehr einholen konnten. Es raste die Gasse hinunter, und sein Motorengeräusch ging im unglaublichen Rattern des Konvois unter. Der Wagen erreichte rasch das Ende der Gasse und bog mit quietschenden Reifen in die Hauptstraße ein. »Mist«, murmelte die Frau, und zum zweiten Mal in dieser Nacht erlebte Plissken, wie sehr sich ihr Gesicht unter dem Einfluß extremster Emotionen verwandeln konnte. »Tja, das war's dann wohl«, ließ sich Hellman vernehmen und atmete tief ein. »Damit wäre unsere Abmachung also beendet.« »Immer langsam«, wandte sich Plissken an ihn. Langsam erhob er das Gewehr, um Hellman wissen zu lassen, daß dies keine Wiederholung von Kansas City werden würde. Der letzte Wagen im Konvoi hielt genau vor der Gasse. Es
war ein alter Kombi, dessen Fenster wie die des Taxis mit Eisenstangen vergittert waren. Er stand da und zitterte, als wäre ihm kalt. Einer seiner Scheinwerfer hatte sich aus der Halterung gelöst und baumelte dicht über dem Boden. Der Mann auf dem Beifahrersitz kam heraus, fluchte vor sich hin und ging um den Wagen herum, um den Schaden zu beheben. »Wartet hier«, befahl Plissken, und sein Tonfall ließ erkennen, daß er nicht mit sich spaßen ließ. Vorsichtig schlich er durch die Gasse, wobei er sich ständig im Schatten hielt. Als er den Wagen fast erreicht hatte, schlenderte er das letzte Stück lässig heran. Der Fahrer drehte sich um und blickte ihn an, aber alles, was er tatsächlich zu sehen bekam, war der Stahlschaft von Plisskens Automatik. Und auch den sah er für höchstens eine Sekunde. Präzise fuhr der Schaft über Nase und Jochbein des Mannes, der sich daraufhin ohne einen Laut schlafen legte. Plissken riß die Tür auf, schob den Bewußtlosen auf den Beifahrersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad. Der andere Zigeuner hockte vor dem Wagen und fummelte immer noch an dem Scheinwerfer herum. Snake schlug die Tür zu, dann kauerte er sich tief in den Sitz. Er konnte hören, wie der Mann vor dem Auto einen Namen rief. Langsam schob sich sein Schatten über die Windschutzscheibe. Plötzlich stand er vor dem Fenster und beugte sich nach vorn, um durch die Gitterstangen ins Innere zu spähen. Bevor er noch so recht begriff, was mit ihm passierte, war Snake schon hochgeflogen und hieb den Gewehrschaft senkrecht durch die Stäbe. Er traf den Zigeuner voll an Mund und Kinn. Der Getroffene riß die Hände vor das Gesicht und taumelte rückwärts auf die Gasse zu. Maggie tauchte aus der Dunkelheit auf, schob den Mann noch ein Stück weiter zurück und knallte dann seinen Kopf gegen die Hauswand. Bewußtlos sackte er in einer Pfütze zusammen und wurde von Maggie und Hellman in
die Gasse geschleift. Plissken deponierte seine Waffe auf dem bewußtlosen Mann neben ihm, schaltete den Rückwärtsgang ein und fuhr so weit zurück, daß die Schnauze des Wagens in die Gasse zeigte. Vor Hellman und Maggie kam er mit einem harten Ruck zum Stehen. Brain öffnete die Tür und zog den Zigeuner, den Snake zuerst unschädlich gemacht hatte, zu seinem Kameraden auf dem Boden heraus. Plissken konnte gerade noch sein Gewehr schnappen, bevor der Mann vom Sitz glitt. Hellman kletterte auf den Beifahrersitz, Maggie auf den Rücksitz, und mit kreischenden Reifen fuhr Plissken los. »Scheiße«, schimpfte Hellman. »Was ist?« »Ich habe mich in etwas … Nasses gesetzt.« Hellman hob sich hoch und sah auf seine Hose. Der Beifahrersitz war blutdurchtränkt. »Scheiße«, wiederholte er wütend. Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sagte er es noch ein drittes Mal. »Scheiße.« »Wohin?« fragte Plissken, als sie die Gasse verlassen hatten und in eine breite Avenue einbogen. »Tja, ähm … es ist noch ein ziemliches Stück von hier«, stotterte Hellman. »Du steckst mit drin«, erinnerte ihn Plissken durch zusammengebissene Zähne. »Bis zum Ende, Harold.« Mit eisigem Blick starrte er den anderen an, ein Blick, der Bände darüber erzählte, wie es in seinem Innern aussah. »Wir sind jetzt wie siamesische Zwillinge.« »Grand Central Station«, sagte Hellman ruhig. »Sie halten ihn im Bahnhof fest.« »Welche Richtung?« Brain deutete geradeaus. »Du bist richtig … nein, warte.« Er streckte die Hand aus. »Biege hier links ab.« Plissken drückte auf die Bremse und nahm die scharfe Kurve. Sie befanden sich jetzt auf einer sehr breiten Straße.
»Wart mal, Brain«, meldete sich Maggie. »Das ist doch der Broadway.« »Weiß ich selbst«, brummte Hellman düster. »Der Duke wird die Seventh Avenue nehmen. Über den Broadway sind wir fünf Minuten früher da als er.« Plissken wandte sich zu der Frau um. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Angst, ein Ausdruck, den er bei ihr noch nicht gesehen hatte. »Lieber nicht, Brain.« Hellman verzog das Gesicht. »Fahr weiter«, wies er Snake an. »Wenn die Sache klappen soll, dann bleibt uns nichts anderes übrig.« »Was ist denn mit dem Broadway?« erkundigte sich Plissken. »Fahr ruhig weiter.« Wieder wandte er sich zu der Frau um. »Was ist mit dem Broadway?« »Voodoo«, antwortete Maggie nur, während sie sich in den Sitz zurückfallen ließ und offensichtlich zu keinen weiteren Erklärungen bereit war. Plissken beobachtete weiterhin wachsam seine Umgebung. Zuerst konnte er nichts Verdächtiges bemerken, doch plötzlich tauchten vor ihnen Feuer auf, kleine, vereinzelte Feuer. Dann hörten sie auch die Trommeln und den Gesang, das todgeweihte Stöhnen von Stimmen. »Was um alles in der Welt …« Die Feuer häuften sich. Offensichtlich waren chemische Mittel hinzugefügt worden, um dem Rauch, der von ihnen aufstieg, verschiedene Farben zu verleihen. Gelbe, rosa und leuchtend blaue Wolken trieben durch die Straße und wurden vom Geruch nach verbranntem Gummi begleitet. Geisterhafte Gestalten huschten durch die Rauchwolken – umherflatternd, ätherisch, ständig in Bewegung und unmöglich zu unterscheiden. Die Trommeln wurden lauter, dröhnten in Plisskens Ohren und warfen ihn förmlich in seinem Sitz hin
und her. Der Gesang glich Sirenenklängen, undefinierbar und von magnetischer Anziehungskraft. Parkuhren säumten in langen Reihen den Straßenrand, und auf ihre Zeitanzeigen war etwas aufgespießt – Köpfe. Menschenköpfe mit weit aufgerissenen, wie schreienden Mündern. Plötzlich waren überall Leute, stöhnende Gestalten aus Rauch, die sich langsam auf den Wagen zubewegten. Plissken spürte, wie sich seine Magenmuskeln verkrampften. »Na komm schon, Baby«, klopfte er aufmunternd auf das Lenkrad und fuhr so schnell, wie es auf der von Qualm erfüllten Straße möglich war, durch das Gewimmel von Gestalten, das immer größer wurde. Päng! Ein Stein traf das Autodach, dann ein weiterer. »Mein Gott«, flüsterte Hellman. Und plötzlich prasselten von allen Seiten Steine wie ein Hagelschauer auf das Fahrzeug. Einer drang durch das Fenster und traf Plissken im Gesicht. Der Wagen begann zu schlenkern, während er versuchte, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Rückfenster zersplitterte, und Maggie schrie laut auf. Größere Steine trafen das Auto, dann wurden sie auf einmal mit Feuer attackiert. Eine Fackel flog gegen die Windschutzscheibe, rollte auf die Motorhaube und fiel schließlich zu Boden, als Plissken das Lenkrad herumriß. Vor ihnen war die Straße mit Leuten verstopft, die mit Steinen und Keulen auf das Auto einschlugen, Schwarze mit angemalten Gesichtern, die lautlos angriffen. Plissken riß die Pistole aus seiner Halfter und hielt sie Hellman hin. Mit verminderter Geschwindigkeit näherte er sich der Menschenansammlung. Der Steinhagel hatte inzwischen aufgehört. Brain Hellman starrte die Waffe an, ohne sich zu rühren. »Du hast dir den Falschen dafür ausgesucht«, ließ Maggie den irritierten Plissken wissen.
Snake nahm Hellman die Waffe vom Schoß und reichte sie der Frau. »Auf geht's.« Er tauchte in den Mob ein. Überall waren Leute, die sich an den Wagen hängten, mit Fäusten dagegenschlugen und ihre Gesichter gegen die Fenster preßten. Sie schwärmten über die Motorhaube, tanzten auf dem Dach, schaukelten den Wagen hin und her und versuchten, ihn auseinanderzureißen. Plissken konnte nichts mehr sehen. Er griff nach dem Gewehr, legte an und feuerte auf den Kopf eines wild angemalten Mannes, der auf der Windschutzscheibe lag. Der Körper zuckte zusammen und fiel herunter. Weitere Leute drängten sich auf die Motorhaube. Snake versuchte, sich freie Sicht zu verschaffen, indem er auf sie schoß. Explodierende Kugeln blitzten durch die Nacht und fegten Körper von dem Wagen. Hinter ihm schrie Maggie auf. Einer der Angreifer war auf den Kofferdeckel gesprungen und griff durch die zersplitterte Heckscheibe nach der Frau. Verzweifelt riß sie die Pistole hoch und feuerte auf den Mann, der heruntergeschleudert wurde. Immer weiter schoben sie sich durch den Mob vor und drängten ihn auseinander. »Nicht schlecht, Schätzchen«, rief Plissken über seine Schulter. »Danke für das Kompliment«, gab sie zurück. »Snake!« schrie Hellman und deutete auf die durchlöcherte Windschutzscheibe. Plissken riß die Augen auf. Die Scheinwerfer hatten etwas ergriffen, etwas vor ihnen, das sehr massiv aussah. Als sie näherkamen, mußten sie feststellen, daß eine fünf Fuß hohe Barrikade die gesamte Straße versperrte. Es war eine starre Masse aus Autos, Briefkästen, Telefonzellen und Straßenlaternen, die fest ineinandergerammt waren. Plissken trat voll auf die Bremse und musterte das Hindernis abschätzend. »Sie kommen!« rief ihm Maggie warnend zu. Plissken mußte
sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wie aussichtslos ihre Lage war. Es gab nur einen Weg, den Weg nach vorn, genau wie in der Armee. »Haltet euch fest!« rief er. Dann trat er das Gaspedal durch. Er hatte gedacht, sie würden es schaffen, das Hindernis zu durchstoßen, doch es erwies sich als zu stabil. In vollem Tempo streiften sie die Wand. Metall schrammte mit ohrenbetäubendem Kreischen über Metall. Plissken preßte sich gegen seinen Sitz und umklammerte mit steifen Armen das Lenkrad. Und plötzlich waren sie in der Luft; ihre Geschwindigkeit schleuderte sie über die Barrikade. Das Gefühl zu fliegen dauerte kaum eine Sekunde, dann krachten sie hart auf. Wieder kreischte mißhandeltes Metall, Funken stoben, und Plissken glaubte, seine Wirbelsäule würde sich durch seine Schädeldecke bohren. Dann war es ruhig. Sie sahen sich an. Plissken zuckte die Achseln, schaltete die Zündung aus und wieder ein. Der Motor beschwerte sich zwar, sprang aber schließlich doch an. Snake zuckte nochmals die Achseln, legte den ersten Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen bewegte sich, zwar ruckweise und heulend, aber er bewegte sich. »Wahnsinn«, stöhnte Hellman auf. Plissken war ganz seiner Meinung.
17 GRAND CENTRAL STATION 15:53:39, :38, :37 … Der Bahnhof war schon sehr lange alt. Er hatte angefangen, alt und überholt zu sein, als Mister Ford seine Montagestraße eingeführt hatte und der Luftverkehr immer ausgedehnter und zu einer stillen Bedrohung geworden war. Dann kamen die Kriege, schreckliche Kriege, und er wurde noch älter. Es war eine riesige, zugige Halle, die in Aufbau und Aussehen die einfachen Philosophien der Technokraten des neunzehnten Jahrhunderts widerspiegelten. Die Station war veraltet, sobald die Technologie zu etwas Düsterem und Kompliziertem wurde, etwas, das man fürchten mußte und das den Menschen kontrollierte. Und jetzt war der Bahnhof wirklich ganz alt. Der Wagen würde nicht mehr lange mitmachen. Irgendwie mußte bei dem waghalsigen Fluchtversuch die Ölwanne beschädigt worden sein. Schwer angeschlagen rumpelte er die unbefestigte Straße entlang, die zur Rückseite der Grand Central Station führte, während unter ihm grauschwarze Rauchwolken ausströmten. Die schlammige Straße war mit Unkraut zugewachsen. Sie verlief neben den Gleisen, die früher einmal Menschen und Güter befördert und das Herzblut der Stadt in die ganze Nation gepumpt hatten. Jetzt war die Stadt tot, ihre Blutbahnen verwahrlost und zusammengebrochen. »Er ist da unten«, sagte Hellman und zeigte auf einen ausgebrannten Zug, der auf einem Gleis nicht weit von ihnen stand.
Kleine Lagerfeuer erleuchteten den Bereich um den Bahnhof und um die Bahnsteige herum. Auch aus dem noch entfernten, zerbröckelten Monument der Vergangenheit flackerte Licht hinaus in eine Welt, die es nicht mehr gab. Um die Feuer bewegten sich Gestalten, Silhouetten, deren einzige Arbeit es war zu überleben. Plissken beobachtete die ganze Szenerie ununterbrochen, um nicht plötzlich eine böse Überraschung erleben zu müssen. Hellman hatte die Hand noch immer ausgestreckt. »Er ist im dritten Wagen, der in der Nähe des Lagerfeuers.« Der Zug stand genau vor ihnen. Es war eine ungeschlachte Ruine, Tonnen von nutzlosem Metall. Plissken fuhr langsam und vorsichtig darauf zu. Als er in der Ferne Geräusche hörte, drehte er sich um. Es war Motorenlärm. Sie spähten durch das Unkraut auf die hinter den eingestürzten Gebäuden liegenden Straßen. Irgendwo, noch ziemlich weit entfernt, rumpelte die Karawane des Duke heimwärts, auf den Bahnhof zu. »Es ist schon in Ordnung«, meinte Hellman, doch seine Stimme strafte seine Worte Lügen. »Duke fährt vorne herum. Er wird uns nicht erwischen.« Plissken brummte und sah den Mann an. »Wenn du am Zug bist, dann versuche, möglichst schnell und viel zu reden, verstanden?« wies er Brain an. Die unbefestigte Straße hörte vor dem bröckeligen Bahnsteig auf. Der Wagen holperte auf den rissigen Beton und tuckerte auf das entfernte Feuer zu. »Dann haben wir eben alle Pech.« Snake grinste und drückte Hellman das Gewehr in die Rippen. »Nicht wahr, Harold?« Hellman blickte ihn stirnrunzelnd an. »Halt hier an«, forderte er Plissken auf. Der mußte das Bremspedal bis auf das Bodenblech durchdrücken, um den Wagen zum Stehen zu bringen, der schließlich ungefähr zwanzig Schritte vom Feuer anhielt.
Neben ihnen lauerte schweigend der Zug wie das Gerippe eines monströsen, prähistorischen Tieres. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Plissken leise und drückte sich tief in seinen Sitz. Hellman blieb einfach sitzen, den Blick auf die durchlöcherte Windschutzscheibe gerichtet. »Komm schon, bringen wir es hinter uns«, seufzte Maggie und öffnete ihre Tür. Endlich kam auch in Hellman Bewegung. Die beiden stiegen aus, während Snake sich so weit in seinem Sitz aufrichtete, daß er durch die Windschutzscheibe sehen konnte. Sieben Männer standen um das Lagerfeuer und starrten die beiden Neuankömmlinge an. Das hier war der Teil des Plans, der am wenigsten gefiel, nämlich die Tatsache, daß er Hellman jetzt vertrauen mußte. Er rutschte über den Sitz, öffnete geräuschlos die Tür und schob sich auf der Zugseite aus dem Wagen. Mit dem Fahrzeug als Schutz rollte er sich über den Boden und schließlich vom Bahnsteig bis unmittelbar an den Zug. Snake kroch vorsichtig unter den Waggon und zog sich an dem Güterwagen hoch, um über die Männer zu gelangen. Unter dem Einfluß des Aufputschmittels waren seine Bewegungen schnell und präzise. Nachdem er das Waggondach erreicht hatte, robbte er sich vorwärts auf den Wagen zu, in dem sich nach Hellmans Aussage der Präsident aufhalten sollte. So leise wie nur eben möglich überquerte er die Brücke zum nächsten Waggon, während unter ihm Hellman inzwischen am Feuer war. »He«, begrüßte er die Männer mit einem breiten Lächeln. »Wie geht's euch Jungs denn so? Wie stehen die Aktien?« Ein kleinerer Mann löste sich aus der Gruppe und kam um das Feuer herum. Es war ein stämmiger, untersetzter Typ, der ein rot und gelb getupftes Stirnband trug und offensichtlich den Anführer spielte. »Was willst du, Brain?« fragte er argwöhnisch.
Hellman zögerte, während sein Blick hinauf zu Plissken schweifte. Snake hielt seine Waffe hoch, so daß der andere ihren Schatten in der Dunkelheit erkennen konnte. »Nun, tja …« Er holte tief Luft. »Der Duke hat uns herbestellt«, erklärte er schließlich. »Er ist unterwegs hierher.« Der Mann kam einen Schritt auf ihn zu. »Davon hat er uns aber nichts gesagt.« Plissken schlich sich an den Gestalten vorbei auf den nächsten Wagen zu. »Du kennst doch den Duke«, suchte Hellman nach einer Ausrede. »Er redet doch sowieso nicht viel. Manchmal muß man einfach raten, was er denkt.« Plissken glitt zwischen den Wagen herunter und hangelte sich durch die Tür des rostigen Personenwaggons, in dem sich der Präsident befand. Lautlos schlich er ins Innere, wobei er sich immer im Schatten hielt. Vor sich, ungefähr in der Mitte des Wagens, sah er den Präsidenten in einem Sitz. Er war schmutzig, seine Kleidung war zerrissen und hing teilweise nur noch in Fetzen an seinem Körper. Das blutleere, wächserne Gesicht schimmerte im Schein einer Lampe leicht gelblich. Um seine Hand war ein Tuch gewickelt, dort, wo eigentlich ein Finger hätte sein sollen, der aber nicht da war. Der Mann starrte genau in Plisskens Richtung. Neben ihm, das Gesicht abgewandt, versuchte ein Zigeuner, mit einer Eisensäge die Titaniumkette durchzusägen, die die Aktentasche mit dem Handgelenk des Präsidenten verband. Ein zweiter, mit rotem Bart und zahlreichen Narben im Gesicht, stand ganz in Plisskens Nähe und starrte durch das glaslose Fenster auf die diskutierende Gruppe am Lagerfeuer. Der Mann am Fenster begann, leise zu lachen. »Dieser Brain kann einem ganz schön auf den Keks gehen. Immer schnüffelt er herum. Wie ein Hund.« Lautlos sprang Plissken aus dem Schatten vor, hinter den
Zigeuner am Fenster. Blitzschnell hatte er eine Hand auf dem Mund des Mannes gepreßt, während er mit der anderen seinen Hinterkopf umklammerte. Dann drehte er. »Er ist genauso schlimm wie das Gas«, erwiderte der Zigeuner, der mit den Handschellen beschäftigt war, ohne sich umzudrehen. Mit aller Kraft drehte Plissken den Kopf seines Opfers herum, bis ein hörbarer Knacks durch dessen Nacken fuhr und sein Körper plötzlich erschlaffte. Er ließ den Mann in den Sitz fallen und wandte sich dann dem anderen zu. Die Augen des Präsidenten waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Der andere Zigeuner bemerkte jetzt den veränderten Ausdruck. »He, was ist denn los mit dir?« Seine Instinkte waren die eines wilden Tieres im Dschungel. Er fuhr herum und riß eine Armbrust hoch, während Snake hastig den Metallsporn aus seinem Gürtel riß, den Rehme hineingesteckt hatte. Der Zigeuner schoß, und der Pfeil bohrte sich tief in Plisskens Oberschenkel. Der Schmerz warf ihn zurück, fraß sich in pulsierenden Wellen durch seinen Körper, und doch gelang es ihm trotz der Schmerzen, die ihn zu überwältigen drohten, irgendwie, seinen Sporn herumzuwirbeln. Er traf den Mann mit einem schmatzenden Geräusch genau gegen die Stirn. Der Zigeuner taumelte rückwärts auf die Tür zu und fiel dabei gegen eine Sitzbank. Er versuchte, zu schreien und nach Hilfe zu rufen, aber die Worte erstickten in den Blutblasen, die aus seinem Mund kamen. Plissken sah zu, wie er sich auf die andere Tür zukämpfte und sich dabei an den Sitzen entlangzog. Schließlich hatte er den Türgriff erreicht und wollte ihn herunterdrücken, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Auf dem letzten Sitz fiel er zusammen und starb auf der Stelle. Einen Augenblick lang sackte Plissken in einen Sitz neben
ihm. Er konnte kaum denken durch den Schleier aus Schmerzen, aber es war ja auch nicht nötig, daß er jetzt viel dachte. Mühsam riß er sich zusammen und humpelte auf den Präsidenten zu, während sein ganzes Denken darauf konzentriert war, den Mann zu befreien. Harkers Augen waren noch immer weit aufgerissen, und sein Mund bewegte sich lautlos wie der des Zigeuners mit dem Loch im Kopf. Als Plissken endlich bei ihm war, merkte er, daß ihn seine Kräfte verließen wie Fett, das aus einer Fettpistole gepreßt wird. Mit plötzlich gefühllosen Fingern machte er sich daran, die Fesseln des Präsidenten zu lösen. »Kommen Sie von draußen?« flüsterte Harker. »Hören Sie auf zu zittern«, fuhr ihn Plissken heiser an, als ihm die Knoten immer wieder aus den Fingern rutschten. »Ich kann nicht«, stöhnte der Mann schwach. »O Gott, wer sind Sie?« »Hauk hat mich reingeschickt«, erklärte ihm Snake, bevor ihm einfiel, daß der Präsident wahrscheinlich keine Ahnung hatte, wer Hauk war. Jammerschade, daß er es wußte. »Wir werden laufen müssen.« Endlich lösten sich die Knoten in seinen Fingern, und die Fesseln fielen ab. »Ich werde laufen«, entgegnete der Präsident aufgeregt und schwer keuchend. »Sie haben verdammt recht: Wir müssen laufen.« Plötzlich verstand Plissken, wieso John Harker Präsident der Vereinigten Staaten und ihrer Außenbesitztümer war. Der Präsident zerrte die letzten Fesseln selbst ab und stand auf. »Los, kommen Sie«, herrschte ihn Snake an. Sie hasteten durch den Wagen und kletterten auf der dem Feuer abgewandten Seite heraus. Plisskens Bein war jetzt völlig taub, ein nutzloses Gewicht, das ihn behinderte. Aus der Wunde strömte Blut, das am Pfeilschaft herunterlief und eine rote Spur
auf dem Boden zurückließ. Zwei Wagen von ihnen entfernt, hinter der Lok, stiegen Hellman und Maggie auf der gleichen Seite aus dem Zug. Hellman winkte ihnen schnell zu. Plissken eilte mit dem Präsidenten im Schlepp auf die beiden Gestalten zu. Hätte sich Snake nicht so angestrengt auf das Laufen konzentriert, dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß Hellman sich schleunigst wieder in die Dunkelheit zurückzog, nachdem er ihnen zugewunken hatte. Sie waren noch einen Wagen von der Lok entfernt, als aus der Tür der erste Zigeuner auf sie zuflog. Plissken fiel mit dem Mann zu Boden, und als er das Auge nach oben drehte, sah er, daß weitere vom Dach des Waggons heruntersprangen. Der Präsident schrie auf und wirbelte wie wild seinen Aktenkoffer herum. Es gelang ihm, einen der Angreifer mit einem Volltreffer in die Leisten außer Gefecht zu setzen, aber die Übermacht war zu groß. Die Zigeuner waren überall, griffen nach ihnen und schlugen auf sie ein. Und währenddessen war das einzige, woran Plissken denken konnte, Hellman. Hellman tot. Hellman mit einem Schienennagel, bis zum Kopf in seine Stirn getrieben. Hellman in Flammen. Hellman ohne Kopf … Fäuste prasselten auf ihn herunter, aber er war weit davon entfernt, noch Schmerzen zu spüren. Er hatte zuviel durchgemacht, und das Aufputschmittel tat ein übriges. Wie jede zu hohe Dosis einer Droge wirkte auch das Metamphetamin betäubend und ließ Snake seine Umgebung wie in einem Traum sehen. Durch den Schleier vor seinen Augen nahm er wahr, daß sein eigenes Gewehr auf seinen Kopf gerichtet wurde, und er mußte lachen bei dem Gedanken, daß Hauk jetzt um das Vergnügen gebracht wurde, ihn in die Luft zu jagen. Wahrscheinlich würden die Bomben so oder so explodieren, wie es ihre Pflicht war, und die Überreste eines schon toten Körpers verstümmeln.
Hände zerrten an seinem Gürtel und rissen ihn ab. »Hört auf!« Es war eine autoritäre, befehlsgewohnte Stimme, die diese Worte ausgestoßen hatte. Die Gestalten wichen zurück. Der Schwarze mit dem Filzhut kam auf ihn zu und blieb nur für einen kurzen Augenblick stehen, um Hellman einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. »Bring ihn lieber gleich um«, flüsterte Hellman. »Er ist gerissen wie ein Fuchs.« Der Angesprochene ignorierte ihn und ging weiter. Plissken, der die Augen weit aufgerissen hatte, schleuderte ihm einen haßerfüllten Blick entgegen. Ein Gefühl, das sie teilen konnten. In der Nähe war ein Geräusch zu hören, ein Knirschen. Der Duke drehte sich herum und sah, daß der Präsident versuchte, zwischen den Waggons zu entkommen. »Keinen Schritt weiter, Mistkerl«, befahl er und wandte augenblicklich seine Aufmerksamkeit wieder Plissken zu. Die beiden starrten einander an. »Wer bist du?« wollte der Kleiderschrank wissen. Snake beachtete ihn nicht. Wenn er schon sterben mußte, dann so, wie er gelebt hatte. In totaler Mißachtung. Der Duke verzog den Mund und legte die Hand um den Pfeil in Plisskens Bein. Langsam schob er ihn tiefer in die Wunde. Wieder schoß ein glühender Schmerz durch Snakes Hirn, der drohte, ihn in Bewußtlosigkeit versinken zu lassen. »Er ist Snake Plissken«, antwortete Hellman an seiner Stelle. »Von draußen. Er hatte eine Waffe, Duke. Was blieb mir da anders übrig.« Mühsam drehte Plissken den Kopf, um noch einmal einen Blick auf Hellman zu werfen. Hinter ihm stand Maggie, die ihm jetzt etwas zusteckte, das er unbemerkt unter seinem Mantel verschwinden ließ. Der Duke ließ den Pfeil wieder los. Dann richtete er sich auf und fuhr mit den Fingerspitzen leicht über die Naben, die sich
wie Furchen durch sein Gesicht zogen. »Snake Plissken«, drang seine Stimme wie durch Watte an Plisskens Ohr. »Ich habe von dir gehört.« Breitbeinig stellte er sich über den am Boden liegenden Snake. In seiner Hand war plötzlich ein Brecheisen. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das krumme Zähne sehen ließ, und wie in Zeitlupe nahm Plissken wahr, wie sich die Eisenstange auf ihn zusenkte. Sie landete auf seinem Kopf, doch er spürte sie nicht mehr. Sein Geist trieb einfach davon in die Schwärze der Nacht. Das letzte, was er hörte, bevor ihn die Dunkelheit des Vergessens einhüllte, war die Stimme des Duke, die aus einer anderen Welt zu kommen schien. »Ich hörte, du wärst tot.«
18 DIE MAUER Hauk stand auf der großen Mauer und sah hinüber auf die riesigen Konturen des World Trade Centers jenseits der Bucht. Wie ein Ertrinkender an den Rettungsringen, so klammerte er sich an das Fernglas, das um seinen Hals hing. Der neue Morgen brach in leuchtend orangen und purpurnen Farben an, und die verschmutzte Atmosphäre verwandelte das frühe Sonnenlicht in wundervolle Regenbogentöne, die sich in nicht endenwollenden, schimmernden Strahlen über die ganze Stadt ergossen. Doch Bob Hauk hatte keinen Blick für den Himmel übrig. Er beobachtete den winzigen Fleck über dem Rand des hohen Gebäudes. Es konnte ein Segler sein. Vielleicht war es aber auch nur ein Schatten. »Plissken«, flüsterte er heiser, als erwartete er eine Antwort, die wie ein Echo auf seinen Ruf zurückhallte. »Plissken.« Es war jetzt mehr als sechs Stunden her, seit er sich zum letzten Mal gemeldet hatte. Plissken konnte tot sein. In sechs Stunden konnte er gestorben und schon steif sein, und Hauk würde sich umsonst Sorgen machen. Er konnte auch einfach unter der Belastung durchgedreht sein, den Gleiter genommen und versucht haben, eine möglichst große Distanz zwischen sich und das Gefängnis zu bringen in der Hoffnung, daß die Mordbomben in seinen Schlagadern durch die Entfernung unwirksam würden. Bob Hauk wollte allerdings an keine dieser Möglichkeiten glauben. Er kannte Plissken, kannte diesen Typ Mann. Deshalb hatte er ihn auch für diesen Job ausgesucht. Er wußte, daß Plissken irgendwo dort drüben herumlief und kämpfte, und er
hätte alles darum gegeben, wenn er hätte hineingehen und ihm helfen können. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. »Plissken.« Die Luft war kühl, herbstlich kühl. In sanften Brisen zog sie durch die Straßen und brachte das Licht des neuen Morgens mit. Maggie mochte den Morgen. Er gab ihr das Gefühl, daß ein neuer Anfang und viele andere Dinge möglich waren. Es hatte nie etwas in ihrem Leben gegeben, das ihr dieses Gefühl vermittelt hätte, aber sie lebte. Und Leben bedeutete Hoffnung. Tief atmete sie die Morgenluft ein, die durchsetzt war mit dem Geruch nach gebratenem Hundefleisch. Es war ein grauer Morgen, wie alle Morgen. Der Duke hatte sie und Brain nicht gehen lassen, nachdem er Snake geschnappt hatte. Er dachte über sie nach, er überlegte, ob er sie töten sollte oder nicht. Im Gegensatz zu Brain machte sie sich keine Sorgen, wie seine Entscheidung ausfallen würde. Der Duke brauchte Benzin, und Brain war der einzige, der es ihm beschaffen konnte. Der Duke hatte alles in der Hand, weil er schlau war wie ein wildes Tier; er wußte, was er zum Überleben brauchte. Nein. Er konnte es sich nicht leisten, Brain loszuwerden. Die Zigeuner starrten sie an und ließen ihre Blicke über ihren Körper wandern. Einige von ihnen waren kastriert, andere nicht. Sie konnte es immer in ihren Augen erkennen. Die Normalen wollten sie haben, wollten sie auf dem Beton oder über einen Waggonpuffer gebeugt nehmen. Diese Tatsache konnte sie verstehen und mit ihr fertig werden. Die anderen, die Neutren, wollten ihren Tod. Sie wollten jeden töten, der sie an ihr früheres Leben und an die Dinge, die sie nicht mehr haben konnten, erinnerte. Sie wollten sie verstümmeln, das konnte sie in ihren Gesichtern lesen. Sie trug eine lange Nadel in ihrem offenen Haar, deren einzige Bestimmung die Augen der Tiere waren, die nichts als
den Durst nach Blut kannten. Sie blieb nahe bei Brain, so nahe, daß jeder wußte, sie gehörte zu ihm. Brain wiederum blieb, wie gewöhnlich, nahe beim Duke. Vor ihnen erstreckten sich endlos die Bahnsteige und die unzähligen Feuer der Zigeunerhorde, die nach dem morgendlichen Mahl langsam verlöschten. Die Aufregung, die heute im Lager herrschte, war größer als üblich. Es war Essenstag im Central Park, das Ende des monatlichen Abwurfs. Und es war auch der Tag, an dem sie ihre letzten Entscheidungen bezüglich des Präsidenten treffen würden. Duke und Brain waren hinüber zu dem Kombi gegangen, in dem sie in der vergangenen Nacht hergekommen waren. Im Tageslicht sah er katastrophal aus, so, als wäre er schon jahrelang nicht mehr gefahren worden. Er war böse verbeult und zerschrammt und im Innern blutverschmiert. Der Duke band den Präsidenten an den Kotflügel des Schrottautos und plazierte den Aktenkoffer mit ausgestreckter Kette auf die Motorhaube. Er hatte Plisskens Gewehr in der Hand. Maggie stand nicht weit von ihnen und beobachtete sie. Sie glaubte, daß Brain einen Fehler begangen hatte, als er Snake an den Duke auslieferte. Snake hatte irgend etwas an sich, das sie veranlaßte, ihm zu trauen. Er war zu verzweifelt und zu entschlossen, um sich für etwas anderes auszugeben als das, was er wirklich war. Brain aber dachte nicht an so etwas. Er hatte viel zuviel Angst vor dem Duke, um überhaupt logisch über etwas nachdenken zu können. Seine Feigheit hatte ihn schon mehr als einmal in böse Geschichten verwickelt. Sie wußte ja, daß er nichts dafür konnte. Es gab eine ganze Menge Dinge an Brain, die ihr nicht gefielen, die sie ändern würde, wenn es in ihrer Macht stünde, aber es war alles, was sie hatte, und deshalb würde sie bei ihm bleiben. Er gab ihr einen gewissen Halt im Leben, und Maggie wußte, daß nur
dieser Halt sie vor dem Wahnsinn bewahren konnte. Brain und der Duke kamen vom Wagen zu ihr zurück. Sie unterhielten sich über etwas. »Es ist mir egal«, sagte der Duke gerade. »Ich will diesen Plan, Brain.« »Aber Plissken hat etwas von einem Zeitlimit gesagt.« Neben Maggie blieben sie stehen. Brain griff nach ihrem Arm und drückte ihn beruhigend. Als sie ihn flüchtig umarmte, konnte sie unter seinem Mantel das harte Metall der Pistole spüren, die sie ihm zugesteckt hatte. »Was für ein Zeitlimit?« fragte der Duke. Er hob die Waffe an seine Wange und richtete den Lauf auf den Präsidenten. »Für ihn da«, erwiderte Brain, der auf den Wagen zeigte. Der Duke feuerte, und die Kugel schlug neben dem Kopf des Präsidenten im Kotflügel ein. Der Mann bebte mit weit aufgerissenem Mund am ganzen Leib. »Halt still, du alte Memme!« schrie ihn der Duke an und legte wieder an. »Du erzählst mir da lauter schwachsinniges Zeug«, widersprach er Brain. »Er ist ja schließlich der Präsident.« Wieder feuerte er, und diesmal schlug die Kugel in die Motorhaube neben der Aktentasche ein. »Du bist doch der Präsident, oder?« brüllte er. Der Gefragte nickte heftig. »Er ist der wichtigste Mann da draußen, nach mir natürlich«, stellte der Duke fest und verzog seine Lippen zu schmalen Strichen. »Stimmt's?« schrie er. »Ja«, schrie der Präsident mit brüchiger Stimme zurück. »Was hast du gelernt?« Die Lippen des Gefesselten bewegten sich unhörbar, bis er schließlich die befohlenen Worte aussprach. »Sie sind der Duke von New York«, sagte er. »Die Nummer eins.« Der Duke lächelte schwach. »Ich kann dich nicht verstehen.« Der Präsident schrie jetzt mit schriller, sich überschlagender Stimme: »Sie sind der Duke von New York! Sie sind die
Nummer eins!« Der Duke wandte sich an Brain. »Hol mir den Plan«, verlangte er leise. Brain sah Maggie an, die ihm beruhigend zunickte. Sie hatte die ganze Nacht über versucht, ihm das Geschäft mit Snake Plissken schmackhaft zu machen und ihn davon zu überzeugen, daß er sie nicht belogen hatte. Weiter, bedeuteten ihm ihre Lippen lautlos. »Du kannst Plissken nicht umbringen, Duke«, drängte er. »Wir brauchen ihn.« »Letzte Nacht warst du da aber ganz anderer Meinung.« Wieder schaute Brain zu Maggie, die ihm erneut zunickte und stolz darauf war, daß er es wagte, gegen den Duke aufzubegehren. »Das war letzte Nacht«, erwiderte Brain. Der Duke runzelte die Stirn und richtete das Gewehr auf Brain. »Los, setz dich in Bewegung«, zischte er. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ keine Zweifel daran, daß es ihm todernst war. Brain schluckte und ging langsam rückwärts, während der Duke herumfuhr und erneut auf den Präsidenten schoß. Die Kugel traf das Schloß am Aktenkoffer und sprengte den Schließmechanismus. Die Tasche sprang auf, und der Inhalt aus Heften und Papieren ergoß sich auf den Boden. Mit einem breiten Grinsen schlenderte der Duke zum Wagen hinüber. Seine Männer waren ungeduldiger und rannten ungestüm darauf zu. »Verschwinden wir«, flüsterte Brain seiner Freundin zu. »Warte«, gab sie zurück. »Nur eine Sekunde.« Sie blieb stehen, da sie den Inhalt der Aktentasche sehen wollte. Es war noch nicht zu spät, sich etwas anderes einfallen zu lassen, wenn sich ihr Gefühl bewahrheiten sollte. Dieser verfluchte Plissken. Es gab doch keinen Grund für ihn, allein in die Stadt zu kommen, es sei denn, er hatte ein wichtiges Motiv.
Ein lebenswichtiges. Die Zigeuner durchstöberten ausgelassen den Aktenkoffer. Ein paar von ihnen banden den Präsidenten los und führten ihn weg. Maggie beobachtete alles genau. Sie sah, wie Romero sich bückte und etwas vom Boden aufhob, eine Tondbandkassette oder so etwas ähnliches, das er schnell in seiner Tasche verschwinden ließ. Außer ihr hatte offensichtlich niemand etwas von dem Zwischenfall bemerkt. »Von mir aus können wir jetzt«, nickte sie Brain zu. »Laß uns schleunigst verschwinden.«
19 CENTRAL PARK 15.30 Uhr Der Minister hatte sich die ganze Zeit über mit Hauks Plan beschäftigt. Die Lage sah nicht gerade rosig aus, und deshalb wollte er doppelt sichergehen, daß er alle Schuld auf die Schultern des Polizeichefs abwälzen konnte. Denn das war die Grundregel einer jeden Politik: Halte immer deine eigene Weste sauber. Hauk mußte bei diesem Gedanken lächeln; es interessierte ihn mittlerweile nämlich herzlich wenig, wem die Schuld für was in die Schuhe geschoben wurde. Und das wirklich Witzige an der Sache war die Tatsache, daß Prathers Leute in Washington trotzdem dem Minister die Schuld an allem geben würden, denn als Bundesbeamter war er der Verantwortliche. Über seinem Kopf schlugen die Rotorblätter des Helikopters ihren unbarmherzigen Rhythmus, und das diesige Tageslicht malte schimmernde Muster auf die durchsichtige Kabine. Sie näherten sich dem Central Park. Lebensmittelabwurf. Hauk hatte schon lange keinen Lebensmittelabwurf mehr mitgemacht. Früher war er alle zwei Wochen mitgeflogen, um in den Menschenmengen nach Jerry Ausschau zu halten, aber nach einiger Zeit hatte er es aufgegeben. Und jetzt kam er zurück, wieder auf der Suche nach jemandem, mit dem er sich untrennbar verbunden fühlte und den er verstand. Jemand, der versprochen hatte, ihn bei der erstbesten Gelegenheit zu töten. Vor ihm dehnte sich der Park aus – kalte, nackte Erde mit nackten Bäumen. Tausende von Gefangenen drängten sich um
den Rand des Parks, aber aus Gewohnheit und gegenseitigem Übereinkommen kam niemand hinein. Sie jubelten; sie begrüßten die Lebensmittel. Sie waren jetzt über dem Park, und die beiden anderen Maschinen schlossen auf, um hinunterzugehen. Nur zwei der Helikopter hatten Lebensmittel an Bord. Hauks Maschine hielt eine andere Überraschung bereit. Blaue Bohnen – nur für den Fall. Langsam stiegen sie hinunter. Hauks Pilot deutete aus dem Fenster. »Sehen Sie mal.« Der Commissioner starrte angestrengt durch das Glas. Unter ihnen, auf dem Boden, war ein großes, weißes X, um das sich ein Spalier von Gefangenen gebildet hatte. Zigeuner. Die Leute des Duke. »Gehen Sie runter!« rief Hauk dem Piloten über den Motorenlärm zu. Sie brachen aus der Reihe aus und schwebten auf die markierte Stelle zu. Hauk nahm das Mikrofon und legte den Schalter um, damit er zu den Mannschaften in den nachfolgenden Helikoptern sprechen konnte. »Wir gehen runter«, meldete er. »Da unten ist irgend etwas im Gange. Haltet euch bereit, aber schießt erst, wenn ich es befehle. Ist das klar? Ich werde mit eigenen Händen demjenigen den Hals umdrehen, der seine Waffe als erster ohne ausdrückliche Erlaubnis von mir benutzt.« Er steckte das Mikrofon wieder in seine Halterung zurück. Es würde keine Wiederholungen der Szene am abgestürzten Flugzeug geben. Sie landeten auf dem X. Volltreffer. Die Zigeuner zogen sich in den Schutz der Bäume zurück, während Hauk hinüber zu den anderen Helikoptern blickte. Sie schwebten knapp über der Erde, und ihre Bäuche öffneten sich jetzt, um eine Reihe von Kisten auszuspucken. Dies war der erste Abwurf an diesem Tag; viele weitere würden noch folgen. Eine ungeheure Menschenmasse tauchte über den Kisten zusammen, stürmte über die kahle Erde und winkte mit den Armen. Die Helikopter
hoben ab, und die Lebensmittel, die sie abgeworfen hatten, verschwanden völlig in dem Gedränge der Gefangenen. Hauks Maschine stand jetzt auf dem Boden. Die Zigeuner waren weg, ausnahmslos verschwunden. Augenblicklich sprang die Besatzung heraus und bildete eine Schutzlinie um den Helikopter. Nicht weit von ihnen weg lag etwas. Von seinem Sitz aus beobachtete Hauk, wie einer seiner Leute darauf zurannte und es aufhob. Die Hand, die den Gegenstand umklammerte, hoch in die Luft gestreckt, lief er auf den Commissioner zu. Es war ein Aktenkoffer. Es war der Aktenkoffer. Früher hatte das Geräusch der Ölpumpe Maggie fast wahnsinnig gemacht; ihr ständiges Dum-dadum ging zu schnell und zwang so den menschlichen Körper, sich rascher zu bewegen als normal. Aber Brain hatte ihr beigebracht, wie man sich von dem Geräusch distanzierte, und heute bemerkte sie noch nicht einmal mehr, daß sie überhaupt Lärm machte. Brain überlegte, er versuchte, sich über Plisskens Absichten Klarheit zu verschaffen, und Maggie half so gut sie konnte nach, zwar sanft, aber doch bestimmt. Es war nötig, seine Überlegungen in die richtigen Bahnen zu lenken. »Da muß doch irgend etwas dran sein, Brain«, redete sie auf ihn ein. »Du hast mir selbst gesagt, wie sehr er die Bullen haßt. Glaubst du, er würde so ohne weiteres mit ihnen zusammenarbeiten?« Brain stand mit dem Rücken zu ihr und studierte die Karte an der Wand. »Weißt du, ich werde einfach nicht schlau daraus. Ich kriege es nicht in meinen Kopf.« Sie hielt Plisskens Pistole in den Händen und drehte sie herum. Es war ein kaltes, graues Standardmodell der Armee. Sie zog das Magazin heraus, sah es sich genau an und versuchte, festzustellen, wie viele Kugeln noch übrig waren.
Schließlich schob sie es zurück in die Waffe. »Es klingt zu verrückt für eine Lüge«, überlegte sie. »Ich glaube ihm.« »Meine Güte«, stöhnte Brain, während er mit den Fingerspitzen über die Karte fuhr. »Was ist, wenn er nun doch die Wahrheit sagt?« Er drehte sich um und schüttelte den bärtigen Kopf. »Ich kann diesen Kerl auf den Tod nicht ausstehen.« Einen langen Augenblick betrachtete er sie, und Maggie wußte, daß er das Problem endlich gelöst hatte. »Es gibt nur ein paar Stellen, an denen er mit einem Segler landen kann«, meinte er langsam, und in seinen Augen zeigte sich jener entrückte Ausdruck, den sie immer annahmen, wenn er nachdachte. »Auf dem Gebäude der Hafenbehörden.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu niedrig.« Nachdenklich strich er durch seinen struppigen Bart. »Im Park?« Er drehte sich wieder zu der Karte um, und seine Finger huschten über sie hinweg. Im Süden, in der Nähe der Bucht, verweilten sie. Dann tippte Brain heftig und erregt mit dem Finger auf die Stelle. »Auf dem World Trade Center. Das muß es sein!« Maggie lächelte ihm zu. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie Brain Hellman fast liebte. »Und weiter?« wollte sie wissen. Die Anspannung war zu groß. Hauk betrachtete den Kontrollbunker und warf den Aktenkoffer auf den Tisch. Rehme wurde blaß, und selbst Prather schien plötzlich ein bißchen die Fassung zu verlieren. Hauk sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete; wahrscheinlich suchte er schon nach Mitteln und Wegen, wie er das Lob für die Entdeckung kassieren konnte. Prather hätte sich das Gesicht des Commissioners genauer ansehen sollen. Keiner von ihnen faßte die Tasche an. Keiner konnte diese zusätzliche Belastung ertragen. Bob Hauk runzelte die Stirn; also würde ihm nichts weiter übrig bleiben, als es selbst zu tun.
Kein Wort war zwischen ihnen gewechselt worden. Hauk seufzte tief und griff in die Tasche, aus der er ein Blatt Papier herausholte. Dann setzte er sich auf die Kante des Tisches und begann, laut vorzulesen: »Amnestie für alle Gefangenen von New York im Tausch gegen den Präsidenten. Fifty Ninth Street Bridge. Morgen. Zwölf Uhr mittags. Keine krummen Sachen, oder er ist ein toter Mann.« »Wo ist das Band?« meldete sich Prather zu Wort und kam damit gleich zum Kern der Sache. Hauk bedachte ihn mit einem kalten Blick. »Hier jedenfalls nicht.« »Nun, dann …« »Da ist noch etwas«, unterbrach ihn Hauk, griff erneut in den Koffer und zog eine Infrarotbrille heraus, die er auf den Tisch warf. Durch jede Linse war ein langer Nagel gebohrt. Hauk hatte das Gefühl, als würde er diese Brille tragen. »Sie gehört Plissken«, erklärte Rehme leise. Augenblicklich zog sich Prather in seine harte Schale des Politikers zurück. Seine Stimme klang gebieterisch und haßerfüllt. »Soviel also zu Ihrem Mann, Hauk.« Hauk hätte ihn sich am liebsten geschnappt, ihn quer über den Tisch geworfen und ihm seine messerscharfe Zunge aus dem widerlichen Mund gerissen. Wahrscheinlich hätte es ihm niemand übelgenommen, aber er tat es nicht, denn damit wäre er nicht besser als die anderen Verrückten in Uniform gewesen. Statt dessen meinte er: »Macht die Maschinen startklar. Wir fliegen hinein.« Er sah zu, wie Rehme aus der Tür schoß. Er sah zu, wie der ganze Bunker auf diesen einen Befehl hin plötzlich zu Leben erwachte. Hauk fühlte sich seltsam in seinem Innern. Tot.
20 EIN SPORTLICHER HÖHEPUNKT FRÜHER ABEND Plissken sah sich selbst auf dem Boden eines tiefen, ausgetrockneten Brunnens – um ihn herum tiefste Dunkelheit, nur von oben schien ein schwacher Lichtschimmer auf ihn herab. Er glaubte, eine Stimme zu hören, die von irgendwoher über ihm kam und ihn aufforderte, herauszuklettern. Als er die Arme ausstreckte, konnte er auf beiden Seiten die Brunnenwände ertasten. Sie waren glitschig und von nassem Schlamm überzogen. Es schien viel einfacher und bequemer, einfach dort zu bleiben, wo er saß. Wieder rief ihn die Stimme. Aus reiner Neugier entschloß er sich, nachzusehen. Das Seil für den Eimer hing über seinem Kopf und baumelte genau in der Mitte des Schachtes hin und her. Er griff nach ihm und fand es auf Anhieb. Dann holte er tief Luft und sprang so hoch er konnte. Er fand einen Halt und stützte sich mit den Füßen an der Wand ab. Es war die reinste Hölle, und mehr als einmal wollte er aufgeben und sich zurück auf seinen Ruheplatz setzen, aber die Stimme wurde immer lauter und drängender. Er zog und zog, und endlich hatte er das Ende erreicht. Das Licht war grell und blendete ihn. Sein gesundes Auge schmerzte, während sein krankes unkontrolliert zu pochen begann und sich sein Kopf in einen Feuerball verwandelte. Mühsam konzentrierte er sich. Ein häßliches Gesicht mit Hakennase und einem Atem, der nach Kerosin stank, füllte sein gesamtes Blickfeld aus. »Komm schon, Snake, gehen wir«, sagte es mit einem
hinterhältigen Lächeln. Er schüttelte den Kopf und blickte sich um. Er lag auf einem Tisch in einem großen, verwüsteten Speisesaal. Der Raum war früher einmal wie ein Pfefferkuchenhaus dekoriert gewesen, aber der Pfefferkuchen aus früheren Zeiten war trocken geworden und abgebröckelt. Zigeuner standen um ihn herum. Sie grinsten hämisch und schüttelten die verwahrlosten Gesichter mit den struppigen Schnurrbärten. Plissken versuchte, sich aufzurichten, doch der Schmerz in seinem Kopf drohte, ihn wieder bewußtlos werden zu lassen. Er schloß sein Auge so fest es ging, öffnete es wieder und ließ die Schmerzen einsinken. Als er auf sein Bein sah, stellte er fest, daß der Pfeil nicht mehr da war. Jemand hatte statt dessen einen schmutzigen Lumpen um die Wunde gewickelt. Seine Hose war blutdurchtränkt. Das Blut war bereits getrocknet, also mußte er schon ziemlich lange hier liegen. Auch das Hemd hatte man ihm abgenommen. Er fror. »Na komm schon«, wiederholte der Mann, der ihn geweckt hatte. Die Zigeuner hatten ihre Bogen auf ihn gerichtet; offensichtlich fürchteten sie ihn selbst in diesem Zustand noch. Vermutlich ein Achtungsbeweis. Jemand stieß ihn mit dem Stiel einer Axt an. Plissken fühlte sich sterbensschwach und konnte sich kaum aufrecht halten. Mühsam hob er die Hände hoch, um die Männer abzuwehren, und plötzlich bemerkte er, daß die Countdownuhr von seinem Arm verschwunden war. »Steh auf!« fuhr ihn der Mann an. Sie zogen ihn auf die Füße, aber er hatte das Gefühl, als ginge er wie in einem Traum, einem verschwommenen, schmerzhaften Traum. Abgesehen von der Gehirnerschütterung, die er sich mit Sicherheit zugezogen hatte, mußte er soviel Blut verloren haben, daß er wahrscheinlich mit einem Rabatt beim Auftanken in der
Spenderbank rechnen konnte. Unnachgiebig schoben sie ihn in Richtung Tür. Plissken humpelte durch die Tür. Sein Bein schmerzte stark, aber er konnte es etwas belasten, wenn er sich ausschließlich auf die wahnsinnigen Schmerzen in seinem Kopf konzentrierte. Ein schwacher Trost. Sie befanden sich in einem langen, dunklen Gang. Er war verwüstet und voller Gerümpel und ungefähr in demselben Stil gehalten wie der Speisesaal. In der Ferne vernahm Snake dumpfe Geräusche, die er jedoch nicht recht ausmachen konnte. Eine Hand drückte ihn erbarmungslos weiter. Er wollte sich umdrehen, um Feuer zu schnauben, als er etwas sah, das ihm die Worte im Hals ersticken ließ. Aus der entgegengesetzten Richtung kam etwas auf sie zu. Zwei Zigeuner, die eine Bahre trugen. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, warf Plissken einen flüchtigen Blick darauf. Die beiden Zigeuner trugen einen Mann, fein säuberlich in Stücke zerlegt. Es hatte den Anschein, als wäre er im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen worden. Wieder hörte er jenes Geräusch. Es klang wie Jubel. Durch winzige Oberlichter in der Decke sickerte schwaches Tageslicht herein, aber Plissken konnte nicht sagen, wie spät es war. »Was sagt denn die Uhr?« murmelte er zu seinen Bewachern. Sie lachten. »Zeit zum Sterben«, antwortete einer von ihnen. Die Geräusche wurden lauter, je weiter sie in den Gang vordrangen. Schließlich erreichten sie das Ende des Flures, bogen um eine Kurve und bewegten sich direkt auf eine überlaute Geräuschwand zu. Der Jubel dröhnte aus tausenden von Kehlen. Sie waren plötzlich in der riesigen Halle der Grand Central Station, deren hohe Decke sich weit über ihnen wölbte. Der Raum war mit Stühlen besetzt, und sämtliche Stühle waren wiederum von
einem groben Abklatsch der Menschheit besetzt, die schrien und mit den Füßen auf den Boden stampften. Es waren nicht nur Zigeuner, die Low Riders, die Kraken, die Puppen, sie alle waren da. Der Jubel verstärkte sich zu einem wahren Orkan, als immer mehr der Anwesenden Plissken erblickten, der gerade die Halle betrat. Der Lärm stieg hinauf bis zur Decke, von wo er wieder herabregnete. Snake hatte den Eindruck, als befände er sich im Innern einer Glocke. Sie schoben ihn weiter durch die begeisterte Menge. Von überall tauchten Hände auf, die versuchten, ihn zu berühren und festzuhalten, doch seine Wachen bewahrten ihn davor, in diese Hände zu fallen. Offensichtlich hatte man etwas viel Amüsanteres mit ihm vor. Der Geruch in der Halle war schlecht; die Luft war erfüllt von Schweiß und Bauchgasen, dem Großvater aller Umkleideräume. Plissken bemühte sich, durch den Mund zu atmen. Die Zigeuner drängten ihn auf die Mitte der Halle zu. Dort war etwas, das von Fackeln erleuchtet wurde. Er war jetzt nahe genug, um es erkennen zu können. Es handelte sich um einen Ring, genauer gesagt, um einen Boxring. Als er jetzt neben ihm stand, stellte er fest, daß die Bodenplane völlig mit Blut getränkt war. Hände schoben ihn durch die hart gespannten Seile in das Innere des Ringes. Um sich herum starrten unzählige Gesichter schadenfroh zu ihm herauf – nicht in einem einzigen entdeckte er eine Spur von Sympathie. Sein Name hatte anscheinend seinen Zauber verloren. Der Duke saß in einer eigens für ihn errichteten Loge, umgeben von seinen Leibwächtern. Über dem Rücken trug er Plisskens Gewehr, und sein Mund war zu einem breiten, zufriedenen Grinsen verzogen. Hinter sich hörte er Geräusche. Es wurde noch jemand anders in den Ring geführt, und bei seinem Erscheinen schwoll der Jubel erneut an. Unvermittelt ging er in einen Sprechgesang
über, in dem immer wieder ein Name gerufen wurde. »Slag. Slag. Slag.« Der andere kletterte durch die Seile. Er war riesig, der größte Mann, den Snake je gesehen hatte, ein Muskelpaket, dessen eingefettete Haut im Schein der Fackeln glänzte. Er war ein Bulle, eine Maschine. Nicht ein einziges Gramm Fett war an seinem Körper. Der Riese trug schwarze kurze Hosen und glänzende Schnürstiefel, die bis knapp unter die Knie reichten. Snake wich zurück und lehnte sich gegen einen Eckpfosten. Sein Blick fiel auf den Arm des Mannes; er trug Plisskens Uhr. Blinzelnd drehte Snake den Kopf, um die Zeit auf der Anzeige lesen zu können. 4:02:15. Er musterte Slags Gesicht. Sein Gegenüber grinste ihn boshaft an – fast so, als wüßte er Bescheid. Hauk saß im Sicherungsbunker, ein ruhender Pol inmitten der hektischen Betriebsamkeit. Sein Blick war auf die Außenmonitore gerichtet. Die Maschinen wurden gerade auf den Landeflächen aufgewärmt. Alle, ohne Ausnahme. Diesmal würde es kein Halten geben, keine Befehle, abzuwarten. Keine vorsichtige Zurückhaltung. Es war nicht mehr zu kontrollieren. Diesmal würden die Schwarzröcke mit brüllenden Gewehren hineingehen, und sie würden nicht eher aufhören zu feuern, bis ihnen die Munition ausging. Einmal losgelassen, würden die schwarzgekleideten Killer nicht eher zu stoppen sein, bis sie alles zerstört hatten, was ihnen in die Hände fiel. Natürlich würden sie damit den Präsidenten nicht zurückbekommen. Es würde nichts mehr an dem Ausgang der Hartford-Gipfelkonferenz ändern, und es würde auch nicht helfen, Plissken zu finden. Es war ganz einfach die Lust am Töten … Und er würde den Einsatzbefehl geben. Vor ihm steckte das Mikrofon in seiner Halterung. Er nahm
es auf, wie er es schon oft in den vergangenen Stunden getan hatte. Ruhig, fast spöttisch starrte er es an. Seine Rettungslinie nach draußen. Langsam schaltete er es ein. »Plissken«, flüsterte er heiser. Es klang wie ein Aufstöhnen. »Plissken …« Die Regeln waren ganz einfach: es gab nämlich keine. Plissken drehte den Kopf hin und her, um einen Ausweg zu finden, doch die Zigeuner, mit langen Messern und Bogen bewaffnet, hatten einen engen Kreis um den Ring gebildet, um ihm jeden Fluchtweg abzuschneiden. Slag war damit beschäftigt, seine gewaltigen Fäuste zu öffnen und zu schließen. Niemand mußte Plissken lange erklären, daß es ein Kampf auf Leben und Tod werden würde, denn das war nicht schwer zu erraten. Der Duke hielt gerade eine Ansprache. Durch die Schmerzen, die Spannung und den Lärm versuchte Plissken, sich darauf zu konzentrieren, was der Schwarze zu sagen hatte. »… Und dann haben sie ihren besten Mann rein geschickt. Wenn wir morgen die Fifth Nine Street Bridge entlangrollen, auf unserem Weg in die Freiheit, wird ihr bester Mann uns anführen … vom Hals an aufwärts, auf der Motorhaube meines Wagens!« Wieder brach Jubel aus, der von lautem Applaus begleitet wurde. Die Halle drohte im Lärm zu ertrinken. Der Duke hob die Hände hoch, um Stille zu gebieten, und augenblicklich erstarb das Gebrüll zu einem dumpfen Grollen. »Auf geht's!« schrie er, wobei er die Hände zur Verstärkung an den Mund legte. Erneut schwoll der Lärm an. Ein Zigeuner mit zwei Baseballschlägern in den Händen kletterte durch die Seile. Einen reichte er Slag, mit dem anderen kam er zu Plissken, wobei er so breit grinste, daß sein Mund wie eine tiefe Spalte in seinem Gesicht klaffte. Plissken nahm den Schläger, während der Zigeuner wie ein geölter Blitz den Ring verließ. Schade, daß er sich diesen
Luxus nicht auch erlauben konnte. Ein Mann mit einer grotesken Karnevalsmaske, die wahrscheinlich besser aussah als sein richtiges Gesicht, stand mit einem Hammer neben dem Ring. Sobald der Schlägerknabe aus der Bahn war, schlug er die Glocke. Der Kampf hatte begonnen. Das Gesicht des Gegners hing wie ein fülliger Fleischsack herunter, als wären seine Muskeln so weit oben einfach müde geworden und würden jetzt von der Schwerkraft nach unten gezogen. Slag ordnete die wabbelnde Fleischmasse zu einem strengen Stirnrunzeln und stapfte auf Plissken zu. Der sprang vor dem Angreifer so weit weg, wie es der Ring zuließ. Slag näherte sich ihm mit hoch erhobener Keule. Plissken konzentrierte sich voll auf den Fleischberg vor ihm und schaffte es, den Lärm um ihn herum zu ignorieren. Nur Slag existierte noch. Sie waren das ganze Universum, und einer von ihnen würde sterben müssen. Unwillkürlich mußte Plissken daran denken, daß ihm noch immer vier Stunden blieben. Slag pirschte sich an ihn heran, wobei sich sein Körper wie in einem unhörbaren Rhythmus vor und zurück wiegte, und Snake, das Reptil, bemühte sich, nicht den Blickkontakt zu verlieren. Slag sprang vorwärts, doch seine Augen verrieten Plissken, was er vorhatte. Der Schläger sauste genau in dem Augenblick durch die Luft, als Snake sich duckte, und zischte ins Leere. Schneller, als Plissken es für möglich gehalten hätte, fuhr die Keule in einem Bogen in die entgegengesetzte Richtung. Gleichzeitig mit den Schlag hechtete er auf die klebrige Bodenplane, und mit einemmal waren alle Schmerzen vergessen in dem geistigen Druck, zu überleben. Der Riese war jetzt genau über ihm. Plissken versuchte, aufzustehen, aber plötzlich war der Schläger da. Er traf ihn hart an der Schulter, hob ihn vom Boden auf und schleuderte ihn in die Seile.
Er fiel nach vorn, und wieder war der Schläger da, der jetzt genau auf ihn zusauste. Geistesgegenwärtig rollte sich Plissken herum. Der Knüppel traf den Boden und ließ den ganzen Ring erzittern. »Bist du sicher, daß er hier ist?« fragte Brain nervös, als sie den dunklen Gang zum Lagerraum entlangeilten. Maggie legte beruhigend, aber gleichzeitig drängend einen Arm um seine Hüfte. »Sie haben es jedenfalls gesagt. Ich habe es doch mit eigenen Ohren gehört. Entspanne dich, hörst du? Du wirst sehen, es ist ein Kinderspiel.« Maggie beruhigte ihn ununterbrochen und trieb ihn vorwärts. Sie war davon überzeugt, daß dies der einzige Weg war, herauszukommen, und sie würde auf keinen Fall zulassen, daß Brain jetzt so kurz vor dem Ziel aufgab. Die gedämpften Jubelrufe waren hier kaum noch zu hören, aber sie wollten ihr einfach nicht aus den Ohren gehen. Es war Plissken, dem das Geschrei galt. Er war da drinnen, um sich von Slag den Kopf abschlagen zu lassen. Schade! Er hätte ihnen eine große Hilfe sein können. So würden sie alles allein tun müssen – falls Brain nicht vorher schlapp machte. »Ich wünschte, Snake wäre bei uns«, seufzte er. »Das ist das erste Mal, daß du so etwas sagst«, erwiderte sie und mußte lächeln, als sein Kopf ruckartig herumfuhr. Er lächelte zurück, aber es war ein nervöses, ängstliches Lächeln. Sie hatten die Tür zum Lagerraum erreicht. Brain blieb unentschlossen stehen und starrte sie an, doch Maggie übernahm die Initiative und klopfte, bevor er es sich anders überlegen konnte. Die Tür ging auf, und Romero steckte seinen Kopf heraus. Er fletschte die spitzen, abgefeilten Zähne, wobei sich die Haut über seinem Totenkopfgesicht wie die Bespannung einer Trommel dehnte. Er trug Cabbies Mütze, die seitlich auf seinem Kopf saß.
»Woher hast du denn die?« wollte Brain wissen. »Ich hab' sie von Cabbie«, antwortete Romero flüsternd. »Hab' mit ihm getauscht.« Brain trat von einem Fuß auf den anderen und zupfte nervös am Revers seines Jacketts. »Für was?« fragte er. Maggie kniff ihn in sein Gesäß, damit er endlich ruhig stehenblieb. Er würde den ganzen Plan noch vermasseln. »Warum bist du denn so nervös?« krächzte Romero und funkelte ihn aus tiefliegenden Augen an. »Ich muß zum Präsidenten«, platzte Brain heraus. »Wer sagt das?« »Der Duke«, behauptete Brain und nickte zur Bekräftigung, während er sich umschaute. Er wollte Romeros Blick nicht begegnen. Maggie griff unter ihre Jacke und umklammerte die Automatik. »Nein, glaub' ich nicht«, widersprach Romero mit einer Stimme, die rauh wie Schmirgelpapier war. »Das werde ich ihm erzählen«, drohte Brain mit gespielter Überzeugung. »Komm, wir gehen wieder«, wandte er sich barsch an Maggie und machte kehrt. »Nein, warte doch«, rief ihm Romero nach. Brain blieb stehen, den Rücken zur Tür gewandt. Maggie sah zu ihm hoch. Er zuckte mit den Augenbrauen, und Maggie mußte voll Stolz lächeln. »Warum?« fragte Romero. Sie drehten sich um. »Er soll etwas in seinem Kragen versteckt haben«, entgegnete Brain. »Im Saum. Der Duke will es haben.« Langsam kehrten sie zu Romero zurück. »Was?« Der Mann stand noch immer im Türrahmen und blockierte den Durchgang. Brain zuckte die Achseln. »Zyanidkapseln«, erklärte er. »Der Duke kann keinen toten Präsidenten gebrauchen. Plissken hat es ihm verraten.« Widerwillig und mit mißtrauischem Blick gab Romero die
Tür endlich frei. Maggie versetzte Brain einen ordentlichen Schubs und betrat hinter ihm den Raum. Außer Romero lungerten noch drei weitere Wächter herum. Der Präsident hockte wie eine leblose Schaufensterpuppe in einer Ecke. »Zyanid?« echote Romero mit schriller Stimme. Brain ging auf den Präsidenten zu und zog ein Messer aus seinem Jackett, während Maggie sich unauffällig in die Mitte des Raumes begab. Ihre Hand schloß sich fester um die Pistole. »Vielleicht will er es morgen selbst mal versuchen«, sagte Brain. Der Zigeuner stemmte die Hände in die Hüften. »Warum sollte er das wohl tun?« Brain stand vor dem Präsidenten und begann, an seinem Kragen herumzufummeln. Der Mann erwachte aus seiner stumpfsinnigen Betäubung und starrte ihn an. Seine Augen wurden groß, als er das Messer sah. Maggie ließ Romero nicht aus den Augen, während sie vorsichtig die Pistole aus dem Gürtel zog. Der Zigeuner ging langsam auf Brain zu. »Du tischst mir hier lauter Märchen auf«, meinte er gefährlich leise. »Du darfst überhaupt nicht hier sein, Brain …« Brain fuhr mit dem Messer in der Hand herum und stieß es bis zum Heft in Romeros Bauch. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Zigeuners blieb unverändert. Es war ohnehin ein Totengesicht, und aus dieser Abstrahierung wurde jetzt nur Wirklichkeit. Langsam sank er zu Boden. Maggie hielt die Pistole in der Hand und feuerte, bevor sie überhaupt richtig begriff, was sie tat. Der Raum war klein, die Ziele um so größer. Zwei der Wachen fegte sie zu Boden, noch ehe sie aufgesprungen waren. Der dritte schaffte es noch, sich zu erheben, aber dann spuckte die Pistole wieder Blei und riß ihm förmlich den Kopf von den Schultern. Maggie blickte Brain an.
Sie lächelte.
21 RUNDE ZWEI 3:58:53, :52, :51 … Plissken überhörte die Glocke, denn er war zu sehr damit beschäftigt, sich unter den Schlägen über das blutige Segeltuch abzurollen und zu versuchen, am Leben zu bleiben. Aber Slag hörte sie. Der Fleischberg stoppte augenblicklich wie ein dressierter Seehund und ließ den Schläger fallen. Dann stampfte er wie ein artiger Junge hinüber in seine Ecke. Snake kämpfte sich hoch und stolperte in die erste freie Ecke, die er sah. Sein Körper war eine einzige große Beule. Wahrscheinlich war er mit blauen Flecken übersät, aber sie wurden von dem Blut verdeckt, das von seinen stürmischen Umarmungen mit der Bodenplane überall an ihm klebte. Plissken ließ den Kopf im Nacken kreisen und beobachtete die Menge. Die schreienden und schwitzenden Zuschauer wurden langsam warm und begannen, um Dosen mit Tomatensuppe zu wetten. Plötzlich fiel Snakes Blick auf etwas Glitzerndes. Neben dem Mann, der die Glocke schlug, stand ein Zigeuner mit einem roten Stirnband, der ein Medaillon an einer Kette um den Hals trug. Plissken blinzelte. Er kannte das Medaillon. Es war der Peilsender, den Hauk ihm gegeben hatte. Der Ringrichter kam zurück in den Ring und sammelte die Schläger ein, die er bei dem Mann mit dem roten Stirnband gegen etwas anderes eintauschte. Dann ging er zurück zu den Kämpfern und reichte ihnen ihre neuen Waffen: einen Mülltonnendeckel und einen Schläger. Aber diesmal waren es
ganz besondere Schläger. Ein langer Nagel ragte nämlich aus dem Kopf jeder Keule heraus. Die Menge war jetzt aufgesprungen und hüpfte vor Begeisterung und Gier nach Blut auf dem Boden herum. Plissken verdrängte sie aus seinen Gedanken. Das Funkgerät war hartnäckig; es wollte einfach nicht antworten. Hauk zog die Riemen seines Tornisters an und wünschte sich, er läge jetzt irgendwo und schlief, zusammengerollt wie ein großer Hund in der warmen Sonne. Leider sah die Wirklichkeit anders aus. Aus alter Gewohnheit zog er seinen Revolver mit dem Perlmuttgriff aus dem Holster, ließ die Trommel aufschnappen und überprüfte die Kammern. Er drückte sie gerade wieder zurück, als Rehme in den Bunker kam. »Sie sind startklar«, meldete er. »Ja.« »Geht es jetzt los?« Hauk sah das verdammte Funkgerät an, das schweigend zurückstarrte. »Ja«, meinte er schließlich und ließ sich von Rehme aus dem Raum führen. Diesmal hörte Plissken die Glocke, lauschte ihrem Klang, denn es war durchaus möglich, daß es für ihn die letzte war. Er humpelte in die Mitte des Ringes und wartete auf seinen Gegner. Er brauchte nicht lange zu warten. Lauernd kam Slag auf ihn zu. Der Fleischberg sah aus wie ein verrückter römischer Gladiator. Sein Gegner schien den Sieg zu riechen, denn er griff Plissken sofort an, ohne Täuschungsmanöver oder Paraden. Laut grollend ließ er die Keule auf Plissken heruntersausen. Snake riß das Schild hoch, doch die Wucht des Schlages warf ihn fast um. Seine Reflexe ließen merklich nach; viel länger würde er nicht mehr durchhalten können.
Wieder drosch der Schläger auf Plissken ein und trieb ihn auf die Knie. Wenn er noch so lange leben wollte, bis die Minibomben ihm seine Schlagadern zerfetzten, dann mußte er bald etwas unternehmen. Der Fleischberg hatte den Schläger wieder hochgerissen und konzentrierte sich auf den nächsten, den entscheidenden Schlag. Plissken sah plötzlich eine Chance. Slags Beine waren ungeschützt. Von seiner günstigen Position auf dem Boden holte Snake hart aus und schlug zu. Er besaß nicht mehr viel Kraft, aber was er aufbringen konnte, steckte er in diesen Schlag. Die Keule erwischte Slag voll am Schienbein, und der Nagel drang durch den Stiefel tief ins rechte Bein des Mannes ein. Slag heulte auf und beugte sich herunter, um an sein Bein zu fassen. Plissken sprang hoch und riß seinen Schläger zurück, wobei ein ordentlicher Fetzen Fleisch mitkam. Vergeblich versuchte der Riese, seinen Gegner durch den Nebel von Schmerzen zu greifen, doch Snake gelang es, sich ihm zu entwinden. Hinter Slag tauchte er wieder auf. Jetzt oder nie. Bevor der Fleischberg sich zu ihm umdrehen konnte, holte Plissken mit seinem Schläger so weit wie möglich aus und schlug mit aller Kraft zu. Er traf Slag im Nacken, genau in die Wirbelsäule, und der Nagel bohrte sich bis zum polierten Holz der Keule in das Fleisch. Plissken wich zurück; seinem Schläger schien es offensichtlich bei Slag zu gefallen, denn er blieb in dessen Nacken stecken. Der Riese konnte sich nicht bewegen; anscheinend hatte ihn der Treffer paralysiert. Unbeweglich blieb er stehen, während gurgelnde Laute aus seinem weit aufgerissenen Mund drangen. Sein Körper begann, hin und her zu schwanken wie ein Fähnchen im Wind. Und plötzlich fiel er einfach um, steif wie ein gestärkter Hemdkragen.
Plissken ging um ihn herum, während die Erschöpfung ihn zu überwältigen drohte. Jetzt, da der Kampf vorbei war, verließ ihn auch rasch seine Willenskraft. Die Menge jubelte noch immer, nur jubelte sie diesmal ihm zu. Dem König des Dschungels. Er taumelte in die Seile und versuchte, hindurchzuklettern, doch irgend jemand stürzte herbei, um ihn zu halten. Plissken sah den Mann durch einen blutroten Nebel und konzentrierte sich auf die Farbe. Rot. Ein rotes Stirnband. Es erinnerte ihn an etwas. Ja. Dieser Mann trug seinen Peilsender um den Hals. Er ließ sich zwischen die Seile fallen, und wie erwartet beeilte sich der Zigeuner, ihn hochzudrücken. Als er ihn griff, streckte Plissken die Hand nach dem Sender aus, drehte den Sicherheitsverschluß herum und drückte den Knopf. Dann verließen ihn seine Kräfte. Die Maschinen dröhnten und durchschnitten mit ihren Rotoren die Luft. Es war soweit. Hauk setzte sich die Kopfhörer auf und machte alles für den Startbefehl klar. Prather, der am Rande der Landefläche stand, beobachtete sie aufmerksam. Mehr als alles in der Welt wünschte sich Hauk, er könnte jetzt diesen Mann zwingen, ihn in die Stadt zu begleiten, ihn dazu zwingen, nur für eine kurze Zeit diese Hölle zu erleben, die die Wirklichkeit ihrer aller Leben darstellte. Hauk wollte gerade den Startbefehl geben, als sein Blick auf Rehme fiel. Fast hätte er ihn nicht weiter beachtet, aber der Mann kam angerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her und schwenkte wie wild die Arme. Hauk zögerte einen Augenblick, dann nahm er die Kopfhörer ab. Rehme war jetzt auf Prathers Höhe, blieb aber nicht stehen, sondern hielt auf Hauks Maschine zu. Als er sie außer Atem erreicht hatte, fing er an, wie ein Verrückter auf die Tür zu hämmern.
Der Commissioner stieß sie auf und beugte sich nach draußen. »Was ist los?« rief er. Rehme schnappte keuchend nach Luft und brachte kein vernünftiges Wort zustande. »Was gibt's denn?« »Plissken …« brachte er mühsam heraus. »Was ist mit …« »Plisskens Sender.« Hauk fuhr herum und schnappte sich seinen Piloten an dessen Uniform. »Ich übertrage Ihnen die Verantwortung«, erklärte er barsch. »Sorgen Sie dafür, daß sie unten bleiben. Keiner rührt sich. Keiner, habe ich gesagt!« Mit einer heftigen Bewegung riß er dem Mann die Brille von der Nase und fixierte ihn scharf. »Haben Sie verstanden?« fragte er drohend. Der Mann nickte heftig und schluckte. Hauk riß ihn los. Dann kletterte er aus dem Helikopter. Seine Ausrüstung blieb in der Maschine zurück. Hauk spürte nichts, während er vorwärts rannte, sein ganzes Denken kreiste um das, was Rehme ihm soeben mitgeteilt hatte, und seine Augen waren auf den Bunker vor ihm gerichtet. Plissken musterte Slags reglose Gestalt auf dem Boden. Er hatte keine Ahnung, ob der Mann tot war oder nicht. Er lag einfach da und starrte mit verdrehten Augen hinauf zur Decke. Die Menge hatte wieder einen Sprechgesang angestimmt, aber diesmal waren es andere Worte: »Snake! Snake! Snake!« Er stolperte hinüber zu der am Boden liegenden Gestalt und kniete sich neben sie. Seine Countdownuhr befand sich noch an dem starren Handgelenk des Mannes. »Entschuldige«, sagte Plissken zu ihm und zog ihm die Uhr ab. Bevor er sie selbst anlegte, sah er auf die Anzeige. 3:39:22. Dann kam er langsam und schmerzhaft wieder hoch. Er riß
die Arme mit den geballten Fäusten hoch und verharrte in dieser Siegerpose. Herausfordernd blickte er auf die Loge des Dukes, doch der Schwarze beachtete ihn nicht. Statt dessen hörte er aufmerksam einem seiner Männer zu, und seinem Gesicht nach zu urteilen war es bestimmt nichts Erfreuliches, was der andere ihm gerade mitteilte. Plissken behielt sie im Auge, auch als er die Ehrerbietungen der Menge erwiderte. Etwas war im Gange. Etwas Bedeutendes. Als der Zigeuner zu Ende gesprochen hatte, sprang der Duke auf und rannte aus seiner Loge. Seine Leute folgten ihm eilig. Der Mann, der die Botschaft überbracht hatte, blieb noch stehen und gebot jetzt der Menge, zu schweigen. Es dauerte eine Zeit, bis ihn jeder wahrgenommen hatte, aber schließlich trat doch Stille ein. Der Lärm im Raum erstarb. Plissken wollte kaum seinen Ohren trauen. In der riesigen Halle herrschte jetzt völliges Schweigen. Leise stand die Menge auf, um den Worten des Zigeuners zu lauschen. Der Mann sprach so laut, daß seine Worte auch bis in den letzten Winkel drangen. »Der Präsident ist verschwunden!« schrie er. »Brain hat ihn befreit!« Es war wie Feuer in einem Irrenhaus. In der Halle brach ein unglaublicher Tumult aus; Leute schrien, rannten in allen Richtungen auseinander. Stühle wurden umgeworfen oder flogen durch die Luft. Diese Leute hatten ein Mittel besessen, ihre Freiheit wiederzuerlangen, und plötzlich war es ihnen entrissen worden. Damit waren sie nun ganz und gar nicht einverstanden. Plissken war vergessen. Er war unbedeutend geworden. Jetzt zählte plötzlich nur noch Brain. Sie wollten Brain. Mühsam kletterte Snake durch die Seile aus dem Ring und humpelte mit der Menge hinaus. Auch er wollte Brain. Und er konnte sich schon denken, wo er ihn finden würde.
Der Peilsender strahlte einen gleichmäßigen, schrillen Ton aus, das unangenehmste und gleichzeitig schönste Geräusch, das Hauk je gehört hatte. Ungeduldig sah er zu, wie Rehme versuchte, das Signal auf den Computertisch im Bunker zu lokalisieren. Er hantierte mit den Anzeigen herum und murmelte ständig vor sich hin. »Nun machen Sie schon«, drängte Hauk, weil ihm nichts Besseres einfallen wollte. Der Minister war nach ihnen hereingekommen und stand nun etwas abseits, rückte seine Krawatte zurecht und wartete ab, wie sich die Sache weiter entwickeln würde, bevor er sich endgültig festlegte. »Da«, zeigte Rehme auf den Schirm, wo ein schwach leuchtender Punkt aufgetaucht war. »Grand Central Station.« Überglücklich schlug Hauk mit der Faust auf die Tischplatte. »Wußte ich doch, daß dieser Teufelskerl uns noch nicht verlassen hat!« Plötzlich wurde das Signal schwächer und begann zu stocken. Dann verschwand es ganz. »Es ist nicht mehr da«, stellte der Minister mit einer Stimme fest, die fast zufrieden klang. »Das Signal wird nur fünfzehn Minuten gesendet«, erklärte ihm Hauk und wandte sich an Rehme. »Die Helikopter sollen weiter bereitgehalten werden. Wir müssen jederzeit starten können.« Rehme hob die Hand mit dem gestreckten Daumen hoch und schlug Hauk auf die Schulter, als er an ihm vorbei nach draußen eilte. »Ist das ratsam?« wandte der Minister ein, der neben Hauk getreten war. »Jeder könnte doch den Auslöser gedrückt haben.« Hauk fand einen Stuhl und setzte sich umständlich hin. »Nur
Plissken kannte das Sicherungssystem«, gab er zurück, während er versuchte, sich zu entspannen. Er hätte jetzt liebend gern die Augen geschlossen, aber dann hätten sie sich wahrscheinlich für eine ganze Weile nicht mehr öffnen lassen. Entschlossen richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. »Wir geben ihm noch etwas Zeit, nur um sicherzugehen.« Plissken fand seine Lederjacke im Speisesaal wieder. Es gelang ihm nur mit Anstrengung, sie überzustreifen, denn die Schmerzen in seinem Oberkörper behinderten ihn. Schließlich fand er einen Ausgang und humpelte hinaus in die langsam einsetzende Dunkelheit. Auf den Straßen war der Teufel los. Überall waren Leute, die hin und her eilten; ziellos und ohne zu überlegen streiften sie umher, teils zu Fuß, teils mit dem Auto. Es war eine aussichtslose Suche, eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Mission. Plissken grinste. Er wußte nur zu gut, wie sie sich fühlten. Plissken zog den Reißverschluß seiner Jacke bis zur Hälfte zu und schlug den Kragen hoch, »Das machst du nicht noch einmal mit mir, Harold. Das verspreche ich dir.« Unauffällig schlenderte er den Bürgersteig entlang, bis er auf ein kleines, rostrot angestrichenes Auto stieß. Ein Zigeuner war gerade dabei, die Tür zu öffnen, um einzusteigen. Plissken war mit einem Satz bei ihm, griff in sein langes Haar und schleuderte ihn mit einem Ruck ein gutes Stück vom Auto weg auf den Boden. »In ein paar Minuten kommt der nächste Bus«, vertröstete er den Mann. Er sprang in den Wagen, schloß die Zündung kurz und brauste augenblicklich davon. Er hatte eine Verabredung mit einem Segler. Hauk saß auf seinem Stuhl und sah zu, wie der Minister mit langen Schritten den Raum durchmaß, als ginge er auf
Patrouille. Der Mann war zornig, und seine Fassade bröckelte langsam ab. Gut so. »Sie haben es versaut, Hauk«, schimpfte Prather. »Wir müssen hinein. Sofort!« Hauk bedachte ihn mit einem Lächeln. »Ein bißchen spät, die Sache jetzt erst in die Hand zu nehmen, finden Sie nicht, Mister Secretary?« Der Minister versuchte, ihn mit einem vernichtenden Blick aus der Fassung zu bringen, doch Hauk war einfach große Klasse, was Zweikämpfe in vernichtenden Blicken betraf. »Fliegen Sie sofort hinein!« brüllte der Minister außer sich. Hauk stand auf und streckte sich. »Wir warten«, widersprach er. Sein Gegenüber lief knallrot an. »Sie widersetzen sich meinen Anordnungen!« Hauk setzte ihm den Zeigefinger auf die Brust und schob ihn rückwärts. »Das ist immer noch mein Gefängnis«, entgegnete er ruhig. »Und ich gebe hier die Befehle.« »Darüber werde ich mich hinwegsetzen.« Hauk stemmte die Hände in die Hüften, wobei seine Rechte mit voller Absicht auf seiner Pistole ruhte. »Versuchen Sie es ruhig.« »Sie wollten mich sprechen?« erklang eine Stimme vom Eingang her. Beide drehten sich um und sahen sich Dr. Cronenberg gegenüber, der langsam auf sie zukam, die Hände tief in den Taschen seines weißen Laborkittels vergraben. Hauk drängte sich an Prather vorbei. »Wo ist Ihr Apparat?« fragte er. »Draußen am Landestreifen«, erwiderte der alte Mann, dessen Mund sich angesichts der Auseinandersetzung, deren Zeuge er eben geworden war, zu einem schwachen Lächeln verzogen hatte. Er war klug genug, kein Wort über den Zwischenfall zu verlieren. »Wie lange würde es dauern, den Apparat hierher zu holen?«
Cronenberg stand jetzt in der Mitte des Raumes und nickte Prather grüßend zu. »Zwanzig Minuten, schätze ich. Aber er wird doch mit dem Segler kommen, oder nicht?« »Wenn er kann«, antwortete Hauk. Er ging hinüber zur Instrumententafel und nahm ein Funkgerät, das er Cronenberg reichte. »Nehmen Sie das Funkgerät und setzen Sie sich mit mir in Verbindung, sobald Sie dort sind.« Der Doktor steckte den schwarzen Apparat unbesehen in eine Tasche seines Kittels. Dann fixierte er Hauk und lächelte seltsam. »Irgendwie habe ich den Eindruck, daß Ihnen dieser Mister Plissken sehr ans Herz gewachsen ist.« »Ich liebe ihn.« Hauk schnitt eine Grimasse. »Wenn ich ihn sehe, dann werde ich ihm einen dicken, feuchten Kuß auf die Lippen drücken.«
22 INTERMEZZO MIT GLEITERN 2:05:34, :33, :32 … Ungefähr einen Block vom World Trade Center entfernt gab der Wagen seinen Geist auf. Plissken sprang heraus und humpelte den Rest der Strecke zu Fuß weiter. Er fühlte sich hundeelend, aber er zwang sich dazu, weiterzugehen und nicht daran zu denken. Eilig nahm er die beschädigten Treppen und lief in das Gebäude, ohne sich nach eventuellen Angreifern umzusehen. Für Vorsichtsmaßnahmen war jetzt keine Zeit. Er schlug den Weg auf das Treppenhaus zu ein, blieb aber einen Augenblick lang stehen, als er ein zerbeultes Dampfauto bemerkte, das genau in der Mitte der großen Halle stand. Es war noch nicht hiergewesen, als er sich mit den Indianern herumgeschlagen hatte. Der Aufstieg war eine einzige Strapaze, und es schien Plissken, als wollten die Stufen niemals enden. Sein verletztes Bein wurde zu einem Spiegelbild seines kranken Auges, und bei jedem Schritt schoß eine Welle von Schmerz durch seinen Körper. Er schleppte sich in völliger Finsternis die endlosen Stufen hinauf, holte keuchend Atem und atmete dabei die stinkende Luft ein, er stieg über verwesende Körper, aber er nahm das alles gar nicht richtig wahr. Über dieses Stadium war er hinaus. Das Entsetzen hatte in seinem Geist feste Formen angenommen und war zur Norm geworden. Irgendwie würde er es schaffen, auf das Dach zu kommen. Immer schneller verlor er die Kontrolle über seinen Körper,
und sein Atem ging flach und stoßweise. Der Schlag auf seinen Kopf machte sich immer noch bemerkbar. Er schob sich durch die Tür des Treppenhauses und betrat den langen Gang. Plissken versuchte, weiterzugehen, doch seine Beine wollten nicht so, wie er wollte. Dunkle Wände schienen über ihm zusammenzustürzen, um ihn aufzuhalten. Er stolperte und fiel hin. Mehr als einmal. Vom Boden her starrte er den Gang entlang. Es kam ihm so vor, als schaukelte er wie das Deck eines Schiffes bei hohem Seegang. Er wollte schlafen, sich nur ein wenig ausruhen, doch die Harpyie an seinem Arm drängte ihn, weiterzugehen. Plissken stand auf und setzte sich wieder in Bewegung, aber er konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten. Wieder fiel er hin. Und stand wieder auf. Er benutzte eine Wand als Stütze, drückte sich ab und schaffte es bis zur anderen Wand. Dann drückte er sich wieder ab und taumelte zur anderen Seite. Auf diese Weise gelangte er an das Ende des Ganges. Vor die letzte Treppe. Die einfache hinauf zum Dach. Plissken öffnete die Tür, umrundete die zweite, die er oben eingetreten hatte und machte sich an den Aufstieg. Langsam kletterte er die Stufen hinauf, wobei er sich am Treppengeländer hochzog. Plötzlich vernahm er Schüsse. Snake blieb stehen, atmete tief ein und versuchte noch einmal, alle Reserven zu mobilisieren. Es war noch nicht vorbei. Seine Hände fühlten sich wie Gummi an, als er sich durch das Gesicht wischte. In seinem Gesicht dagegen hatte er überhaupt kein Gefühl. Endlich hatte er die letzte Stufe erreicht und spähte hinaus. Maggie, Hellman und der Präsident saßen in der Flugbaracke fest. Sie waren von Indianern in voller Kriegsbemalung umzingelt. Die Sonne war inzwischen fast ganz am Horizont verschwunden, und nur ein rötlicher Lichtstreifen war noch zu
sehen, der als waagerechtes Band am Himmel stand. Maggie hielt die Angreifer mit der Pistole auf Abstand. Sie feuerte allerdings nur, wenn die Indianer zu nahe kamen. Die Rothäute liefen schreiend um die Baracke herum und bewarfen sie mit Gegenständen. Einen kurzen Moment sah er ihnen zu, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von dem Gleiter angezogen. Ein paar der Gefangenen waren auf den Flügel geklettert und sprangen wie auf einer Wippe auf und ab. Die Maschine rutschte dabei dem Abgrund immer näher. Andere bearbeiteten das Ankerseil mit einer Axt. Ohne weiter zu überlegen, trat Plissken aus der Tür und marschierte resolut auf sie zu. Die Irren wollten den Segler hinunterstürzen. Entschlossen ging er weiter. Die Axt schlug jetzt durch das Seil. Snake begann zu laufen. »Nein«, schrie er. »Nein!« Mit einem triumphierenden Aufschrei versetzten sie der Maschine einen letzten Stoß. Der Segler glitt lautlos über den Rand des Gebäudes und begann seinen unglaublichen Sturz hinunter auf das Straßenpflaster, das so tief unter ihnen lag. Er fiel so tief, daß sie noch nicht einmal den Aufprall hören würden. Plissken blieb stehen, alles schien stehenzubleiben. Der Segler war also verloren. Und ebenso Snake Plissken – oder jedenfalls fast. Die Indianer standen wie erstarrt und sahen ihn an. Plissken lächelte. Dann humpelte er auf sie zu. Selbst für sie, die sie sicher einiges gewohnt waren, mußte er einen entsetzlichen Anblick bieten. Sie pirschten sich heran, Keulen und Steine wurfbereit in den Händen. Snake zuckte die Achseln und bohrte dann einen Zeigefinger in seine Wange. Und plötzlich schoß er los! An ihnen vorbei, mitten durch die fehlende Tür der Baracke. Die Attacke begann augenblicklich von neuem, und
Zementbrocken und andere Trümmer wurden durch die glaslosen Fenster geschleudert. Maggie feuerte, während Brain sie mit schriller Stimme beschimpfte und drohend die Faust ballte. »Verdammte Rothäute«, brüllte er. »Wilde!« Maggies Augen suchten Plisskens. Schweigend sahen sie sich an, dann lächelte sie. »Ich glaube, das ist deine«, meinte sie und gab ihm die Pistole. Er ging in die Hocke und nahm sie entgegen. »Seid ihr soweit?« fragte er. Brain erwiderte seinen Blick gelassen. »Ja«, antwortete er. Plissken sah zum Präsidenten hinüber, der sich flach gegen eine Wand gepreßt hatte. Tränen liefen seine Wangen hinunter. »Mister President?« »Ja«, sagte er mit geschlossenen Augen. »Ja, ja. Was Sie wollen.« »Okay, dann los«, gab Plissken den Befehl und sprang auf. Er wirbelte zum Fenster herum und feuerte dreimal. Drei der Angreifer sackten zusammen. Die anderen gingen in Deckung. »Los, raus jetzt!« rief Plisken, packte den Präsidenten am Arm, und zusammen liefen sie hinaus. Maggie folgte ihnen auf den Fersen. Auch Brain schloß sich an. Sie erreichten die Treppe, bevor die Indianer begriffen, was sie vorhatten. Die Vier hasteten die Stufen hinunter und schlugen die Bodentür hinter sich zu. »Haltet sie auf«, wies Plissken die anderen an, die sich jetzt mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür stemmten. Er selbst rannte den Gang entlang. Ein Stück vor ihm lag ein umgekippter Schreibtisch. Plissken umrundete ihn, drückte mit aller Kraft dagegen und schob ihn so über den Steinfußboden. Draußen trommelten die Wilden gegen die Tür. »Helft mir«, sagte er. »Aus dem Weg.« Sie faßten mit an, und mit vereinten Kräften schoben sie den
Schreibtisch so vor die Tür, daß er auf einer Seite gegen eine Wand verkantet war. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, die Tür von außen zu öffnen. »Das wär' geschafft«, stellte Hellman gelassen fest. »Ja, das war's«, entgegnete Plissken. Mit einem Griff hatte er Hellman bei der Kehle gepackt und stieß ihn gegen eine Wand. Unbarmherzig stieß er ihm die Automatik gegen die Stirn. »Ist das dein Wagen unten in der Halle?« fragte er höflich. Hellman bekam kaum Luft unter dem würgenden Griff. »Uhhuh«, brachte er nur heraus. »Die Schlüssel!« Hellman, dessen Augen wie Pingpongbälle aus den Höhlen zu treten drohten, kramte in seiner Hosentasche herum und fischte die Schlüssel schließlich heraus. Sobald er sie herausgezogen hatte, ließ Snake ihn los und nahm sie ihm ab. »Äh … Snake, hör zu …« stotterte Hellman. Plissken streckte die Hand aus zum Zeichen, daß er keine Lust hatte, sich Brains Erklärungen anzuhören. »Den Plan von der Brücke.« »Warte eine Sekunde, Snake.« »Klappe, Harold«, unterbrach ihn Plissken. »Du willst ja einfach nicht begreifen, wenn einer es gut mit dir meint.« Mit der freien Hand griff er in Hellmans Mantel. In einer Innentasche fand er den Plan. »Tja, das war's dann.« Er ließ Hellman stehen, faßte den verwirrten Präsidenten am Arm und zog ihn entschlossen den dunklen Gang entlang. Als er an Maggie vorbeikam, starrte sie ihn schweigend an. In ihrem Gesicht konnte er lesen, daß sie sich mit den Entscheidungen abgefunden hatte, die sie getroffen hatte. »Du hast dir den Falschen ausgesucht«, sagte er, ohne stehenzubleiben. Brain war plötzlich hinter ihm. Er hielt Maggie an der Hand. »Bei Gott, Snake. Ich habe gedacht, du wärst tot.«
»Du und jeder andere«, erwiderte Plissken über seine Schulter. »Ich kann dir mit dem Plan helfen.« Hellman war hartnäckig. »Du kannst nicht lesen und gleichzeitig fahren.« »Verschwinde endlich.« Sie näherten sich dem Ende des Ganges. Wieder diese verdammten Stufen. Brain war immer noch da und winselte wie ein junger Hund. »Du mußt uns mitnehmen.« »Du hättest mich nicht wieder reinlegen sollen, Brain«, erwiderte er, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Er hielt das Handgelenk des Präsidenten hoch und starrte auf die Handschelle. Der Aktenkoffer war verschwunden. Sprachlos blickte er Harker an. »Er hat ihn abgeschossen«, erklärte der Präsident hilflos. »Und das Band?« Harker schüttelte seinen kleinen runden Kopf. »Weg«, grinste er albern. »Ich weiß nicht, wo es ist.« »Aber ich«, warf Maggie ein. Snake fuhr herum und musterte sie scharf. »Du lügst«, fauchte er sie an. Brain sprang dazwischen und legte die Hände auf Plisskens Arm. »Nein, Snake. Es ist keine Lüge! Ich kann dich hinbringen.« Plissken befreite sich mit einem Ruck aus Hellmans Griff. »Ich würde dir auch nicht raten, mich noch einmal zu belügen«, zischte er nur. Dann machte er sich an den Abstieg. Snake Plissken konnte später nicht sagen, wie er die Stufen bewältigt hatte. Er hatte seine physische Belastungsgrenze überschritten und bewegte sich jetzt wie ein Roboter. Es kam ihm so vor, als hätten sein Geist und sein Körper eine Abmachung hinsichtlich der Countdownuhr getroffen. Sie lautete: Wenn du uns die Schmerzen vergessen läßt, dann treiben wir dich vielleicht noch eine Stunde vorwärts. Snake
fand dieses Geschäft durchaus fair, besonders im Hinblick auf die Alternativen. Als sie schließlich die Halle erreicht hatten, schienen alle anderen in noch schlechterer Verfassung als er zu sein. Hellman keuchte unkontrolliert und konnte offensichtlich nicht wieder zu Atem kommen. »Mist«, japste er. »O Mist, verfluchter …« »Sprich nicht«, ermahnte ihn Maggie, die ihn stützte. »Versuch lieber, normal zu atmen.« Plissken sah auf seine Uhr. Sie zeigte 1:00:20 an. Sein Körper erinnerte sein Gehirn daran, daß ihnen immer noch etwas Zeit blieb. »Das tue ich ja«, entgegnete Hellman, doch er keuchte trotzdem weiter. Der Präsident war überhaupt nicht erschöpft. Offensichtlich wußte er es zu schätzen, mit heiler Haut davonzukommen. »Weiter«, drängte er. »Wir verschwenden nur Zeit.« Plissken war schon am Wagen. Er warf sich eilig hinter das Lenkrad und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Nichts. Noch nicht einmal ein müdes Husten. »Die Karre können wir vergessen«, teilte er den anderen mit, die inzwischen am Wagenfenster standen. Plissken stieg aus, während Brain zur Motorhaube lief und sie aufriß. Ein Zigeuner mit dem Bogen in der Hand schnellte darunter hervor wie ein Schachtelmännchen. Der gesamte Motor war verschwunden. »Probleme mit dem Wagen?« erklang eine Stimme. Sie wandten sich um und starrten in die Dunkelheit, die plötzlich von Fackeln erhellt wurde. Nicht weit von ihnen saß der Duke und lächelte sie an. Er hockte auf der Dampfmaschine, die einmal unter der Motorhaube gesteckt hatte. Der Schwarze tätschelte den Motor und ließ die Finger mit einem widerlichen Grinsen über das Dampfauslaßventil gleiten, bevor er sie wieder auf das Gewehr auf seinem Schoß
legte. »Man kann diesen Dampfmaschinen einfach nicht trauen«, meinte er. »Sie lassen einen immer in den ungünstigsten Momenten im Stich. Stimmt's nicht, Brain?« Hellman ging einen Schritt auf ihn zu, während Plissken die Hand in die Tasche gleiten ließ, in der sich seine Pistole befand. Fast als hätte er es gespürt, blieb Brain unentschlossen auf halbem Wege stehen. »Das war nicht meine Idee, Duke«, verteidigte er sich. Der Duke sah ihn mitfühlend an. »Ich weiß, Brain. Ich verstehe schon.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Plissken zu und schüttelte den Kopf. »Ich habe deinen Segler auf der Straßen liegen sehen. Man ist sich ja seines Lebens nicht mehr sicher, wo heutzutage so viele Flugzeuge einfach vom Himmel fallen.« Der Schwarze stieg von der Maschine herunter, richtete sich auf und nahm das Gewehr hoch. »Tja, damit muß ich eure Freundschaft leider beenden, Snake«, sagte er wie beiläufig. »Du und Brain, ihr sagt euch jetzt schön auf Wiedersehen. Und ihr beiden da, Mister President und die bezaubernde Dame, ihr geht brav aus dem Weg.« Er legte das Gewehr an und kniff ein Auge zu, um zu zielen, doch in diesem Augenblick kam Bewegung in Plissken. Blitzschnell riß er die Automatik aus der Tasche und feuerte zweimal kurz hintereinander aus der Hüfte. Die Kugeln schlugen unmittelbar neben dem Duke im Motorblock ein. Eine traf das Dampfventil, und eine heiße Dampffontäne spritzte mitten in das Gesicht des Schwarzen. Der Duke schrie auf und ließ das Gewehr fallen, um sein Gesicht zu schützen. Der ausströmende Dampf hüllte schnell alle Zigeuner in eine Dunstwolke ein. Maggie flog herum und schlug die Motorhaube mit voller Wucht auf den darunterhockenden Mann. Der stöhnte laut auf, sackte zusammen, und die vier suchten ihr Heil in der Flucht.
Sie rannten hinaus, doch die Zigeuner hatten sich schnell wieder gefangen und folgten ihnen. Die vier hetzten auf die dunkle Straße und wollten weiterlaufen, als Plissken plötzlich einen vertrauten, plärrenden Klang hörte: »Du hast so wunderschöne blaue Augen, Wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin …« Mit kreischenden Reifen und grellen Scheinwerfern kam Cabbie im rasantem Tempo um die Ecke geschossen, das Gesicht zu einem verrückten Grinsen verzogen. Direkt neben ihnen kam er mit einem harten Ruck zum Stehen. Die Zigeuner stürmten gerade durch die Tür, und Plissken sah, daß das Gesicht des Duke vom heißen Dampf verbrannt und blutig war. Sie stürzten in das Taxi. Plissken schob Cabbie beiseite, um selbst das Steuer zu übernehmen. Auch Hellman stieg vorne ein. Snake fuhr so scharf an, daß die Reifen auf dem Beton quietschend durchdrehten, bevor sie endlich Boden griffen und anzogen. Plissken blickte zurück und stellte fest, daß ihnen vier Paar Scheinwerfer folgten. Hellman war damit beschäftigt, den Plan aus Plisskens Tasche zu zerren. Während er ihn mit einer Hand auseinanderfaltete, schaltete er mit der anderen die Innenbeleuchtung ein. Dann beugte er sich über Cabbie und hielt ihn Plissken vor die Nase. »Du hast so wunderschöne blaue Augen, Wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin …« »Ich konnte dich doch nicht im Stich lassen, Snake«, plapperte Cabbie gerade und schüttelte den Kopf. »Ich mußte einfach zurückkommen. Ich mußte es.« »Sie holen auf«, meldete sich Maggie von hinten. Hellman redete immer weiter und hielt Snake diesen verdammten Fetzen Papier vors Gesicht, während der versuchte, über den Rand des Plans zu schauen, um zu sehen, wohin er fuhr.
»Hier, siehst du. Da sind drei Minen. Und dann ein paar Yards weiter noch einmal drei …« Plissken schlug die Hand weg und zog dann die Kassette aus dem Rekorder. Achtlos ließ er sie zu Boden fallen. »Hey«, beschwerte sich Cabbie. »Die ist teuer.« »Es sind jedesmal drei«, fuhr Brain fort. Plissken starrte ihn wütend an. »Wo ist das Band, Brain?« Hellman lächelte unsicher. »Das … Band. Ach das.« »Wo ist es?« »Was denn für ein Band?« wollte Cabbie wissen. Maggie beugte sich nach vorn und legte eine Hand auf Cabbies Schulter. »Das Band, für das du Romero deine Mütze gegeben hast.« »Aus dem Aktenkoffer«, rief der Präsident. Cabbies Miene erhellte sich, und seine Mundwinkel versuchten, sich mit seinen Ohrläppchen anzufreunden. »Ach so«, meinte er wie ein indischer Guru. »Das Band.« Er griff in seine Kassettenbox und gab es Plissken. »Da hast du es. Ich habe schon gedacht, Romero hat mich übers Ohr gehauen, als ich versucht habe …« Plissken steckte das Band in den Rekorder und lauschte. Eine Männerstimme begann zu sprechen. »Die Entdeckung, daß Tritium nur ein Millionstel des biologischen Schadens von Jod 131 anrichtet, macht es jetzt möglich, die thermonukleare Fusion …« Snake nahm die Kassette aus dem Rekorder und steckte sie in seine Tasche. Das war alles, was denen da oben noch einfiel – Radioaktivität, und das als erstes in der Reihe ihrer ganzen Probleme. Der Präsident steckte den Kopf nach vorn. »Ich werde das jetzt besser nehmen«, sagte er und streckte die Hand aus. Plissken blickte auf seine Uhr. Es blieb ihm genau noch eine halbe Stunde auf der guten alten Erde. »Noch nicht«, schüttelte er den Kopf. »Noch ein kleines bißchen Geduld.«
23 DIE BRÜCKE 0:23:24, :23, :22 … Sie erreichten die Brücke auf einer Straße, die unter ihr herlief. Sie überquerte in einem Gewimmel aus Trägern und Pfeilern den East River Drive, bevor sie sich dann weiter über den Fluß spannte. Sie bogen von der Straße ab, und Plissken hielt genau auf das Zentrum des Gitters aus Trägern zu. Auf der anderen Seite von ein paar schweren Stützen hielt er an und schaltete die Beleuchtung des Wagens aus. »Weiter«, drängte der Präsident. »Nun fahren Sie schon!« »Immer mit der Ruhe, Mister President«, gab Plissken zurück, ohne den Mann anzusehen. »Sie haben es doch nicht etwa eilig, oder?« Sie entdeckten jetzt auch die Scheinwerfer der Verfolgungsfahrzeuge, und wenig später hörten sie das Dröhnen der Motoren. Sie rasten ebenfalls durch den Trägerwald. Snake wartete, bis das Führungsfahrzeug, der Cadillac des Duke, genau auf sie zukam. Dann schaltete er die Scheinwerfer ein und lehnte sich auf die Hupe. Der Wagen machte eine Vollbremsung, und das nachfolgende Fahrzeug fuhr voll auf. Metall kreischte aneinander, als der dritte Wagen in voller Fahrt auf den zweiten prallte. Der vierte brach hinten aus und machte unbeabsichtigt Bekanntschaft mit einem schweren Träger. Eine Begegnung, bei der Funken sprühten. Plissken ließ die Kupplung kommen und trat gleichzeitig das Gaspedal durch. Das Taxi schoß wie eine Rakete vorwärts. Sie würden Katz und Maus in diesem Trägerwald spielen müssen.
Aber Plissken fiel noch etwas Besseres ein. Er überprüfte, wie es hinter ihnen aussah. Der Cadillac des Duke und der letzte Wagen waren inzwischen freigekommen und hatten die Verfolgung wieder aufgenommen. Die beiden anderen waren aus dem Rennen. Hinter einer anderen Trägergruppe hielt Snake erneut an, während der Wagen des Duke näher kam, diesmal allerdings vorsichtiger. Das zweite Fahrzeug folgte ihm unmittelbar. Plissken wartete, bis der Duke vorbei war. Dann gab er Gas und rammte das Vorderteil des nachfolgenden Wagens, der durch die Wucht des Stoßes gegen die Pfeiler geschleudert wurde. Aber noch war der Duke im Spiel. Und nicht umsonst war er der Duke von New York. Er wirbelte seinen Wagen herum und war ihnen wieder auf den Fersen, halb eingehüllt in eine Staubwolke. Plissken setzte alles auf eine Karte. In vollem Tempo nahm er eine Kurve und raste durch mehrere Barrikaden, wobei ein Schauer von Holz und Splittern auf die Windschutzscheibe prasselte. Er fuhr jetzt die Unterführung entlang genau auf die Brücke zu. Der Duke war nicht abzuschütteln, und als Plissken den Anfang der Brücke erreichte, konnte er sehen, wie die Scheinwerfer des Verfolgungsfahrzeugs die Auffahrt hinaufkamen. Snake hielt an und blickte auf das Gebilde aus Stahl und Beton, das sich vor ihm ausdehnte. Es wurde teilweise von den Suchscheinwerfern erhellt, die in die gewaltige Mauer auf der anderen Seite eingelassen waren und grellweiße Lichtstrahlen in die Nacht warfen. Die Brücke selbst war das reinste Schlachtfeld, verbrannt und geschwärzt von früheren Fluchtversuchen her. Sie war übersät mit Betonbrocken und den ausgebrannten Wracks der Autos, die es nicht durch das Minenfeld geschafft hatten.
Große Metallnägel waren in Reihen über die gesamte Länge der Fahrbahn ausgelegt, spitze Stahlzähne im Mund des Verderbens. Ein großer Erdwall, alles, was von der ersten Barrikade übrig geblieben war, versperrte den Weg. Plissken holte tief Luft. Hinter sich hörte er das Motorengeräusch des Cadillacs, das immer näher kam. Entschlossen umklammerte er das Lenkrad und gab Gas. »Vorsichtig!« schrie Cabbie. »Mein Taxi.« Schliddernd fuhr der Wagen an. Plissken drückte das Gaspedal bis an den Anschlag durch, und in vollem Tempo nahmen sie das Hindernis, um auf der anderen Seite hart wieder aufzuschlagen. Alle stöhnten unter dem Aufprall: Cabbie begann, leise vor sich hin zu seufzen. Jetzt ging es um alles. Die Brücke war ein wahrer Alptraum an Hindernissen. Plissken fuhr so schnell, wie er es nur wagen konnte, und steuerte um Autowracks und Steinbrocken herum, die ihm den Weg versperrten. Zuerst war es nicht weiter schwierig, da die Minenfelder von den ausgebrannten Wagen markiert wurden, die mit untrüglichem Spürsinn die gefährlichen Stellen rasch entdeckt hatten. Doch je weiter sie vorstießen, desto riskanter wurde es. Hinter ihnen vernahmen sie plötzlich ein dumpfes Geräusch. Der Duke hatte die Barrikade jetzt ebenfalls genommen und setzte alles daran, sie einzuholen. Hellman hielt Snake den Plan vor das Gesicht und fuhr verzweifelt mit dem Finger über die Skizze. »Du mußt langsamer fahren, Snake«, jammerte Cabbie. »Tu meinem Baby nicht weh.« Hellman zeigte wie verrückt auf die Skizze. »Ich glaube, vor uns liegen drei Minen …« »Du glaubst?« unterbrach ihn Maggie vom Rücksitz her. Brain bedeutete ihr, zu schweigen. »Halte dich immer links, und dann fahr nach rechts.« Es blieb ihnen wenig Platz. Stützpfeiler und Gitterstreben,
die zum Teil schon zerstört waren, grenzten die Außenseiten ab. Plissken hielt sich so weit links wie möglich und fuhr haarscharf am Rand des Betonstreifens vorbei, wobei er immer wieder Steinbrocken löste, die hinunter in die Tiefe polterten. Cabbie griff nach dem Steuer und versuchte, es zu übernehmen. »Du behandelst sie zu hart!« schrie er. Plissken schob ihn zurück und warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. Es blieben ihm noch zehn Minuten bis zu seiner Verabredung mit dem Sensenmann. Die Autowracks hatten sie mittlerweile alle hinter sich gelassen und drangen nun in jungfräuliches Gebiet vor. Es gab weniger Löcher im Beton, dafür aber um so mehr Nägel. Hellman war damit beschäftigt, Cabbie zurückzuhalten und gleichzeitig den Plan zu lesen. »Okay«, sagte er schnell. »Jetzt heißt's aufgepaßt.« Die Scheinwerfer rissen Reihen von Nägeln und einen umgestürzten Mast aus der Dunkelheit, die genau auf sie zukamen. Plissken trat auf die Bremse und manövrierte das Taxi um die Hindernisse herum, während neben ihm Cabbie wie am Spieß schrie. Plötzlich – ein Höllenlärm. Das Taxi wurde von hinten mit einer ungeheuren Wucht in die Luft geschleudert. Plissken verlor die Kontrolle über den Wagen. Sie wurden gegen den Rand der Brücke gedrückt, prallten wieder ab und drehten sich mehrmals im Kreis herum. Endlich kamen sie ruckartig zum Stehen. Das Taxi konnten sie vergessen. »Aus dem Wagen!« rief Snake, während die anderen schon dabei waren, die Türen zu öffnen. »Ich habe doch gesagt, fahr nach rechts« sagte Hellman vorwurfsvoll. Cabbie wollte nicht aussteigen. Plissken beugte sich zu ihm ins Wageninnere. Der Taxifahrer saß tot in seinem Sitz, den Mund zu einem breiten Lächeln verzogen. Snake konnte keine Spur von einer Verletzung an ihm feststellen.
Das Taxi war sein ein und alles gewesen, das einzige, was er hatte. Als es seinen Geist aufgegeben hatte, mußte er beschlossen haben, mit ihm zu gehen. Plissken fuhr Cabbie durch das Haar und ließ ihn dann nach vorn gegen das Armaturenbrett sinken. Es war der beste Sarg, den der Tote hätte bekommen können. Plissken drehte sich um und sah zurück. Die Scheinwerfer des Cadillacs kamen unaufhaltsam immer näher. Ohne auf die Schmerzen in seinem Bein zu achten, rannte er los. »Hier!« schrie Rehme, »hier drüben.« Hauk und der Minister eilten durch den Bunker und blieben neben ihm stehen. Rehme starrte auf die in Planquadrate unterteilte Wandkarte, auf der ein Lichtsignal aufflackerte. Er hielt einen Kopfhörer in der erhobenen Hand, vergaß jedoch völlig, ihn aufzusetzen. »Es ist der Mauerabschnitt neunzehn«, erklärte er. »Sie haben zwei Wagen auf der Fifty Ninth Street Bridge ausgemacht.« Hauk blickte auf das Licht, das die entsprechende Sektion markierte. »Ist es Plissken?« fragte er. Rehme zuckte mit müden Augen die Achseln. »Ein Taxi und ein Cadillac«, erwiderte er und bemühte sich, seine Stimme gelassen klingen zu lassen. »Das Taxi ist auf eine Mine gefahren. Vier Personen sind jetzt zu Fuß unterwegs.« Hauk sah Prather an, nur um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu lesen. »Zehn Minuten«, stellte der Minister fest, ohne daß Hauk hätte sagen können, ob es positiv oder negativ gemeint war. Er wandte sich wieder an Rehme. »Schicken Sie einen Jeep mit einer Winde hin, aber schnell.« Während er zu der Stelle zurücklief, wo er vorher gestanden hatte, schaltete er sein Funkgerät ein und bellte: »Cronenberg. Sehen Sie zu, daß Sie zur Mauersektion neunzehn kommen. Sie kommen über die Brücke.«
Hauk stellte das Gerät hin und merkte, wie sich sein Magen vor Aufregung verkrampfte. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Ohne einen weiteren Gedanken lief er zur Tür hinaus und eilte zu den Helikoptern. Sie taten das einzige, was ihnen jetzt noch blieb. Sie rannten. Sie rannten vor dem Duke davon, vor seiner wimmernden Maschine, die sie verschlingen wollte. Sie rannten vor der Stadt des Todes davon. Hinter sich hörte Plissken plötzlich ein Donnern. Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um mitanzusehen, wie Brain Hellman durch die Luft flog, emporgeschleudert durch die Gewalt der Mine, die unter seinen Füßen explodiert war. Kein Laut drang aus seinem Mund. Er war ein toter Gegenstand, der bei den übrigen toten und sterbenden Dingen zurückbleiben würde. Plissken blieb stehen. Hellmans Körper schlug ungefähr zehn Fuß von der Stelle entfernt wieder auf, an der er auf die Mine getreten war. Maggie war von der Wucht der Explosion zu Boden geworfen worden und krabbelte jetzt auf allen vieren auf Brains Leiche zu. Weit hinten konnte er noch immer die Überreste des gelben Taxis mit dem grinsenden Mann auf dem Beifahrersitz sehen. Leningrad. Es war genau wie in Leningrad, und er rettete einen Mann, der im Grunde allen gleichgültig war, und das aus Gründen, die keinen logischen Sinn ergaben. Der Präsident rannte immer weiter, während der Duke aufholte. Plissken rief zu der Frau hinüber: »Maggie! Komm weiter!« Doch er konnte sehen, daß sie ihn nicht hörte, nicht hören wollte. Sie hatte jetzt ihre Prioritäten gesetzt. Er blickte auf seine Lebensuhr – 0:07:49, :48, :47 … Maggie kroch zu Brain hinüber. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, als schliefe er. Auf seinem Gesicht war keine Furcht mehr. Sie war einem Ausdruck des Friedens
gewichen, einer Zufriedenheit, die sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sie umarmte die leblose Gestalt. »O Brain«, flüsterte sie in sein Ohr, das sie nicht mehr hören konnte. »Du hast vielleicht viele Fehler gehabt, aber du warst der einzige, der sich um mich gekümmert hat. Das weiß ich.« Sie küßte den kalten, blutigen Mund. »Ich werde dich nicht allein lassen«, versprach sie. Im Unterbewußtsein vernahm sie ein Geräusch. Motorenlärm. Maggie blickte auf. Es war der Wagen des Duke, der genau auf sie zukam. Noch einmal umarmte sie Brain. »Ich werde gleich bei dir sein.« Dann stand sie langsam auf und sah in die näherkommenden Scheinwerfer. »Komm schon!« rief eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Es war Snake. Sie hätte jetzt zu ihm gehen und mit ihm weiterlaufen können; das wäre wahrscheinlich das einzig Richtige gewesen. Aber irgendwie schien ihr das nicht mehr wichtig. Vielleicht war überleben nicht alles. Sie lächelte und winkte ihm zu. Er nickte verstehend. Snake wußte, was in ihr vorging. Er griff in seine Jacke und zog die Pistole heraus, die er ihr zuwarf. Mit zusammengepreßten Lippen drehte er sich dann um und lief weiter. Langsam wandte sich Maggie um und starrte auf den Wagen des Duke. Früher, vor langer Zeit, hatte sie einmal zu ihm gehört, doch er hatte sie an einen anderen verschenkt, weil sie ihm weniger als nichts bedeutet hatte. Mit steifen Armen hob sie die Pistole hoch und begann mechanisch zu feuern. Wie in einem Traum kamen die Scheinwerfer immer näher, wurden immer größer und der Abstand zwischen ihnen immer breiter. Sie sah nur diese Lichter, das letzte, was sie in ihrem Leben zu sehen bekam. Sie ahnte den Tod eher, als daß sie ihn spürte. Sie sah vor sich, sah auf, und dann zermalmten riesige, schwere Räder
ihren Körper unter sich. Sie sah hinaus in die tief schwarze Nacht. Sie suchte Brain. Plissken hörte das Quietschen von Reifen und fuhr herum. Der Duke hatte nach dem Zusammenstoß mit Maggie die Kontrolle über seinen Wagen verloren und prallte so hart gegen die Seite der Brücke, daß er fast durch die Verstrebungen in den Fluß tief unter ihnen gestürzt wäre. Aber nur fast. Snake blieb stehen und beobachtete, was weiter geschah. Einen Augenblick herrschte Stille, dann wurde die Fahrertür aufgestoßen und der Duke stieg mit dem Gewehr in der Hand aus. Snake wirbelte herum und rannte auf die Lichter der Mauer weit vor ihm zu. Diesmal aus freiem Willen in die Arme der Polizei. Am Ende der Brücke türmte sich eine Barriere auf. Hinter alten, aufeinandergestapelten Autowracks war als zusätzliches Hindernis unmittelbar vor der Mauer eine große Barrikade aus Beton errichtet worden, die sich, soweit er sehen konnte, zu beiden Seiten ausdehnte. Plissken hetzte voran, den Präsidenten immer ein gutes Stück vor sich. Der Jeep mit der Winde befand sich bereits an der Mauer, als Hauk ein Stück dahinter in seinem Hubschrauber landete. Kaum hatte die Maschine aufgesetzt, als er auch schon heraussprang und auf die Mauer zulief. »Werft das Seil über die Mauer«, schrie er durch die hohlen Hände. »Los, bewegt euch!« Einer der Schwarzröcke rannte zum Seil und warf es auf die Mauer, wo weitere Männer bereitstanden. Einer von ihnen fing es auf, dann machten sie sich daran, einen Flaschenzug auf der Mauer selbst zu befestigen. Keuchend erreichte Hauk seine Leute. Er mußte Plissken zurückbekommen. Es war lebenswichtig für ihn geworden, obwohl er das Warum und Wieso weder verstehen noch
erklären konnte. »Komm schon«, flüsterte er drängend. »Beeil dich.« Sie hatten die Mauer aus Autos überwunden und sprangen nun an der Betonwand hoch, um sich hinaufzuziehen. Als er oben war, sah Plissken zurück. Der Duke war keine fünfzig Schritte hinter ihnen und bahnte sich einen Weg durch die aufgestapelten Wagen. Direkt vor ihnen, in Reichweite, ragte die große Mauer auf. Ein Seil glitt an ihr herunter, ein Seil, das für sie bestimmt war und das über quietschende Rollen lief. Sie streckten die Hände aus und griffen nach ihm. Plissken wandte der Mauer den Rücken zu, um den Duke im Auge zu behalten, während sich der Präsident das Seil um die Hände schlang. »Auf!« schrie Plissken, und mit einem Ruck setzte es sich in Bewegung. Quietschend wurde es nach oben gezogen und nahm den Präsidenten mit. Plissken sah wieder auf seine Lebensuhr. 0:01:33, 32, 31. Er hob den Kopf. Das Seil hatte jetzt die Mauerkrone erreicht. Hände halfen Harker das letzte Stück hinauf. Dann wurde das Seil wieder heruntergelassen. Ein plötzlicher Blitz ließ Plissken herumfahren. Es war der Duke. Er stand mitten im Gewirr der Autowracks, hatte das Gewehr hochgerissen und feuerte. Kugeln schlugen um Plissken herum ein; er duckte sich, sprang auf die Brücke hinunter und versteckte sich hinter einem Auto. Der Duke zielte jetzt auf die Schwarzröcke auf der Mauerkrone. Der Präsident ließ sich fallen und preßte sich flach auf die Mauer. Einer der Männer stellte sich schützend vor ihn, wurde aber fast augenblicklich von einer Kugel getroffen und stürzte fünfzig Fuß tief auf die unter ihm liegende Brücke. Die anderen sahen zu, daß sie davonkamen, und verschwanden auf der anderen Seite. Der Duke sah das baumelnde Seil und rannte darauf zu. Plissken stand auf und wartete, bis der Duke eine für ihn
günstige Angriffsposition erreicht hatte. Dann sprang er auf die Motorhaube des Fords, hinter dem er in Deckung gegangen war und stürzte sich von hinten auf den Schwarzen. Sie fielen hart zu Boden, wobei der Duke das Gewehr verlor, das ein gutes Stück über den Beton rutschte. Plissken war über ihm, während sein Gegner noch mit seiner Benommenheit kämpfte. Er umklammerte den Kopf des Mannes und schlug seine Stirn mit aller Kraft auf den harten Beton. Ein erstickter Schrei rang sich aus der Kehle des Schwarzen. Die Zeit drängte. Plissken löste sich von dem Mann und sprang zurück auf die Betonwand. Mit einem Satz hatte er sich abgestoßen, griff nach dem Seil und bekam es ein gutes Stück aufwärts zu fassen. Über sich konnte er den Präsidenten rufen hören. »Ziehen Sie hoch«, schrie er. »Beeilen Sie sich doch.« Plissken konnte den Ruck spüren, der durch das Seil ging, als es sich nach oben in Bewegung setzte. Der Duke hatte sich auf Hände und Knie hochgekämpft und kroch mit blutüberströmtem Gesicht auf sein Gewehr zu. Plissken sah hoch. Es war ein ganz schönes Stück bis hinauf. Dann blickte er wieder hinunter. Der Duke hatte das Gewehr aufgehoben und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, damit er etwas sehen konnte. Sein Ziel war diesmal nicht zu verfehlen. Plissken würde ein leichtes Opfer werden. Snakes Blick wanderte wieder hinauf. Der Präsident, dessen Gesicht zu einer Grimasse verzerrt war, lehnte sich über den Rand der Mauer vor. Er hielt ein Gewehr in der Hand, das er einem der Schwarzröcke abgenommen haben mußte. Harker zog den Abzug der Automatik durch und feuerte wie ein Besessener. Der Boden um den Duke herum wurde unter dem Kugelhagel aufgerissen, und er selbst begann, an mindestens zwanzig Stellen seines massigen Körpers zu bluten. Er war schon tot, als die Kugeln noch immer in ihn einschlugen und
ihn in einem wilden Todestanz hin- und herschleuderten. Schließlich wurde er auf einem Fuß herumgewirbelt und sackte auf dem blutigen Boden in sich zusammen. Das Seil hatte endlich die Mauerkrone erreicht. Der Präsident half Plissken persönlich hinauf. »Danke«, brachte Snake heiser hervor und begab sich dann, das Seil noch immer in der Hand, auf die andere Seite der Mauer, von wo aus er den Männern an der Winde ein Zeichen machte, ihn herunterzulassen. Während er dem Boden entgegenschwebte, sah er Hauk, der zu ihm hinauf schaute. Dann fiel sein Blick auf einen Jeep, der den alten Doktor mitsamt seinem Apparat mitbrachte und mit einem harten Ruck neben dem Commissioner zum Stehen kam. Cronenberg war mit einem Satz aus dem Fahrzeug und lief nach hinten zu seinem Apparat, aus dem er jene langen Gummischläuche herauszog, mit denen er Plissken die Minibomben eingepflanzt hatte. Zehn Fuß über dem Boden ließ Snake das Seil los. Er fiel das letzte Stück hinunter und kam hart auf seinem verletzten Bein auf, das sofort einknickte. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. Plissken sah auf seine Uhr. 0:0:14, 13, 12 … Mühsam richtete er sich auf und schleppte sich auf das lebensrettende Gerät zu. Er stolperte, fiel hin und zog sich mit der Kraft, die ihm noch geblieben war, mit den Armen vorwärts. Vor dem Jeep kämpfte er sich auf die Beine. Haltsuchend taumelte er gegen das Fahrzeug. Hauk kam dazu, um ihm zu helfen, doch er schob ihn von sich. Cronenberg hatte Schalter umgelegt und streckte die Gummischläuche aus. »Schalten Sie den Strom ein«, wies er einen der Schwarzröcke an. Plissken merkte, wie alles vor seinen Augen verschwamm und er ohnmächtig zu werden drohte. Im Unterbewußtsein vernahm er das Geräusch eines laufenden Generators. Der Apparat vor ihm begann, lebendig zu werden. Irgendwie schaffte es Plissken, bis zu Cronenberg zu kommen. Der
Doktor lächelte ihn an und hielt ihm die Schläuche entgegen. Doch plötzlich tauchte eine Hand auf, die sie beiseite schob. Hauks Stimme erklang. »Das Band, Plissken.« Plissken griff in seine Tasche, suchte darin herum und versuchte, das Verlangte zu finden. Seine Hände wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er konnte einfach nichts fühlen. »Guter Gott!« stöhnte Cronenberg. »Noch fünf Sekunden, vier, drei …« Er zog die Hand aus der Tasche, und da war es, da lag es in seinen zitternden Händen. Hauk schnappte es und gab dann den Weg frei. Plötzlich lagen Cronenbergs Schläuche an seinem Hals, und in dem faltigen Gesicht des alten Mannes konnte Plissken echte Besorgnis lesen. Der Apparat summte laut, dann herrschte Stille. Er hatte sich abgeschaltet. Plisskens Blick wanderte zu seiner Uhr. Nur Nullen waren auf der Anzeige zu sehen. Alles schien zu erstarren. Sie alle sahen einander an – und warteten. Warteten. Warteten. »Das war's dann«, meinte Cronenberg schließlich.
24 DIE STUNDE DER ABRECHNUNG SPÄTER ABEND Sie brachten ihn zu den Bunkern und säuberten und verbanden seine Wunden. Sie gaben ihm eine Tasse Kaffee, seine Amnestiepapiere und ein Päckchen Zigaretten; und dann hatte er das Gefühl, daß sie nichts sehnlicher wünschten, als daß er sich unter den Stein zurückschlängelte, unter dem er hervorgekrochen war. Aber so einfach ließ Snake Plissken sich nicht abschieben. Er hatte sich nach Hauk umgesehen, doch der Commissioner war unmittelbar nach seiner Rettung verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Snake mußte lächeln bei dem Gedanken, daß der Mann vielleicht Angst vor ihm hatte, daß er sich vor seiner Morddrohung fürchtete. Doch irgendwie wollte er nicht so recht daran glauben. Es war jetzt sowieso nicht mehr wichtig. Ein großer Teil seines Zorns war in der Zwischenzeit einfach aus ihm gewichen. Plissken ging durch die kühle Abendluft, rauchte eine Zigarette nach der anderen und überlegte, was er jetzt anfangen würde, nachdem er die Hölle überlebt hatte. Der Präsident hockte, in eine Decke vermummt, neben einem mobilen Funkwagen. Neben ihm stand ein Arzt für den Fall, daß er nach einem verlangte. Hauks Mann, Rehme, war mit einem Kassettenrekorder beschäftigt, der sich außen an dem Wagen befand. Aus Neugierde schlenderte Snake hinüber. Rehme sagte gerade etwas zum Präsidenten, der nur mit halbem Ohr
zuhörte. »Wir haben schon eine Meldung über Funk durchgegeben, Sir«, erklärte er. »Sie sind über die Situation unterrichtet und warten auf Ihre Übertragung.« Plissken trat näher an die beiden heran. Die Geheimagenten, die plötzlich praktisch aus dem Nichts auftauchten, hatten warnend die Hände in die Sportjacketts gesteckt. »Schon gut«, beruhigte sie der Präsident, während er Snakes Blick begegnete. Plissken brauchte Ruhe, und er brauchte Schlaf. Aber zuerst wollte er seine Zigarette genießen und das Spiel bis zum Ende spielen. »Ich möchte Ihnen danken«, sagte der Präsident. »Nennen Sie einen Wunsch, und ich werde dafür sorgen, daß er Ihnen erfüllt wird.« »Einen Augenblick Ihrer Zeit«, erwiderte Snake. Harker drehte den Kopf langsam herum und blickte zu Rehme auf. »Noch dreißig Sekunden, Sir«, antwortete er. Harker zuckte die Achseln. »Also?« Plissken nahm einen tiefen Zug und blies langsam den Rauch aus. »Wir haben einige Leute auf der Brücke verloren«, begann er, und es gelang ihm nicht, New York von Leningrad zu trennen. Die beiden Begriffe hatten sich in seinen Gedanken zu einem schrecklichen, gestaltlosen Ganzen verbunden. »Sie sind bei dem Versuch, Sie zu retten, gestorben. Ich … Ich wüßte nur zu gern, was Sie dabei empfinden.« Die Antwort des Präsidenten kam sofort und klang wie einstudiert. »Natürlich bin ich Ihnen sehr dankbar.« Plissken hatte keine Ahnung, was er eigentlich hören wollte, aber das wahrscheinlich nicht. Er spürte eine Lücke, ein Vakuum, das er unbedingt ausfüllen mußte, wenn er auch nur im entferntesten weiterleben wollte. »Ist das alles?« bohrte er weiter.
Wieder antwortete der Präsident mechanisch, als läse er eine Rede ab. »Die Nation wird Ihr Opfer zu würdigen wissen.« Sprachlos starrte Plissken ihn an. Der Mann hatte das Ganze schon vergessen, hatte es in irgendeine verstaubte Ecke seines Gehirns verdrängt, aus der er es nie wieder hervorholen und anschauen mußte. »Es tut mir wirklich leid«, meinte er mit einem Blick auf den Kassettenrekorder. »Aber ich muß jetzt gehen.« Snake wußte, daß die Sache damit für Harker erledigt war. Er nickte nur und humpelte davon. Dann fiel sein Blick auf Hauk, der in der Nähe des Bunkers stand. Ihre Blicke trafen sich, und Plissken ging zum Commissioner hinüber. »Werden Sie mich jetzt umbringen, Snake?« fragte er. »Ich bin zu müde«, entgegnete Plissken. »Vielleicht später.« Der Ausdruck in den Augen des Commissioners wurde weicher, wie Eis, das in der warmen Sommersonne zu schmelzen beginnt. »Haben Sie … haben Sie ihn gesehen …« Während er nach Worten suchte, wanderten Snakes Gedanken zurück zu einem Verrückten in einem alten, dunklen Gebäude. »Ja, habe ich«, antwortete Plissken. Er setzte an, um alles zu erzählen, um ihm die Wahrheit zu sagen, aber irgendwie brachte er es nicht fertig. Es waren schon zu viele Morde geschehen, sowohl psychisch als auch physisch. »Es geht ihm gut«, log er. »Er ist … glücklich, da, wo er ist. Es fehlt ihm nichts.« Wie er Hauk einschätzte, konnte der Mann ihm nicht glauben. Aber er wollte ihm glauben. Er wollte es. Plissken sah, wie Jahre der Spannung aus dem Gesicht des Commissioners verschwanden. Er nickte kurz, dankbar, und damit war diese Sache erledigt. »Ich habe Ihnen ein anderes Geschäft vorzuschlagen«, begann er. Snake fixierte ihn mit seinem gesunden Auge, während die Schmerzen in dem anderen, dem kranken, unerklärlicherweise
nachließen. Hauk holte Luft und fuhr dann fort: »Ich möchte, daß Sie darüber nachdenken, während Sie sich ausruhen. Ich … ich biete Ihnen einen Job an.« Die Zigarette in Plisskens Mund schmeckte plötzlich schal. Er warf sie weg und zündete sich eine neue an. Snake wußte nicht, was er noch vom Leben erwartete, aber auf keinen Fall war es etwas, das mit Bob Hauk oder dem New Yorker Gefängnis zu tun hatte. »Wir würden ein Klasseteam sein, Snake«, versuchte Hauk, ihn zu überreden. »Ich heiße Plissken«, erwiderte er ruhig. Dann wandte er sich ab und humpelte an der langen Reihe von Bunkern entlang. Er drehte sich nicht mehr um. Als er sich entfernte, konnte er die Stimme des Präsidenten hören, die aus den auf dem Dach des Funkwagens montierten Lautsprechern kam. »… und obwohl es mir leider nicht möglich ist, dieser historischen Gipfelkonferenz beizuwohnen, möchte ich Ihnen dieses Band vorspielen in der Hoffnung, daß unsere Nationen in Zukunft in Frieden zusammenleben werden.« Snake mußte unwillkürlich grinsen, als er die vertrauten Klänge von Cabbies Kassette hörte, die jetzt über die Lautsprecher plärrten. Du hast so wunderschöne blaue Augen, Wenn du mich damit ansiehst, bin ich hin. In deinen wunderschönen blauen Augen, Da liegt der ganze Sinn des Lebens drin. Aus seiner Jackentasche zog Plissken die andere Kassette hervor. Er spulte ein langes Stück des Bandes aus dem Plastikgehäuse und hielt die glühende Spitze seiner Zigarette an das Kunststoffband. Es zischte und verging in einer kleinen Flamme. Dann warf er die brennende Kassette achtlos weg und
ging mit einem Gefühl der Befriedigung hinaus in die kalte, dunkle Nacht. Sein krankes Auge schmerzte jetzt nicht mehr.
ENDE