Endlich ist es soweit: Mary Minor „Harry" Haristeen heiratet nach langem Zaudern und Zögern ihren Exehemann Fair noch e...
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Endlich ist es soweit: Mary Minor „Harry" Haristeen heiratet nach langem Zaudern und Zögern ihren Exehemann Fair noch einmal. Natürlich sind Mrs. Murphy, Pewter und Tucker bei der Trauung dabei. Sie beobachten das Spektakel von der Empore aus, obwohl sie überhaupt nicht verstehen können, was das alles eigentlich soll!! Können die zwei sich nicht einfach paaren - und gut ist es?? Doch die Feierlichkeiten werden überschattet vom Mord an Professor Vincent Forland, dem weltberühmten Experten für Weinreben und deren Kultivierung. Forland war in der Stadt, um sich in den umliegenden Weinbergen umzusehen und Vorträge zu halten, denn die Bewohner von Crozet hatten den Weinbau für sich entdeckt. Sogar Harry und Fair hatten auf einem Viertelhektar Weinstöcke angepflanzt. Wein war DAS Thema im Städtchen, denn konnte es etwas Verlockenderes geben als eine eigene Weinmarke?? Doch irgendjemand wollte diese neu entdeckte Einnahmequelle torpedieren und hatte den Weinexperten ins Jenseits befördert — und ihm dazu auch noch den Kopf abgetrennt. Schnell gehen die Verdächtigungen unter den Weinbauern los. Und als dann noch eine weitere Leiche im Weinberg gefunden wird, sind Mrs. Murphy und ihre tierischen Freunde gefragt: Denn die Menschen bekommen wie immer ihre Problemfälle nicht in den Griff... Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Anglistik und Kinematographie und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Roman „Rubinroter Dschungel" und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin.
Rita Mae Brown & Sneaky Pie Brown
DIE KLUGE KATZE BAUT VOR Ein Fall für Mrs. Murphy Roman
Titel der amerikanischen Originalausgabe: SOUR PUSS Für Patricia Kluge und Bill Moses, deren grenzenlose Großzügigkeit auf einmalige Weise mit Verstand und Liebenswürdigkeit gepaart ist.
Personen der Handlung Mary Minor Haristeen (Harry) ist neugierig, fleißig, logisch und geht auf die vierzig zu. Sie hat ihren sicheren Job im Postamt von Crozet gekündigt und fängt mit Anpflanzungen etwas Neues an. Fair Haristeen, ein auf Pferdefortpflanzung spezialisierter Tierarzt, hat seine Ex-Frau endlich zurückerobert. Er ist rechtschaffen, sieht unheimlich gut aus und ist in vieler Hinsicht emotional reifer als Harry.
Susan Tucker kennt als Harrys beste Freundin deren sämtliche Fehler und liebt sie trotzdem oder gerade deswegen. Die zwei sind Freundinnen von Kindesbeinen an und haben gemeinsam viel durchgestanden. Ned Tucker, Susans Ehemann, dient der Legislative des Staates, seit er letzten November gewählt wurde. Er arbeitet sich ein und ist öfter in Richmond, als es Susan lieb ist, aber sie wird sich damit abfinden. Olivia Craycroft (BoomBoom) ist einfach umwerfend. Auch sie ist seit Kindertagen mit Harry befreundet, allerdings waren sie eine Zeit lang auch verfeindet. Sie ist eine gute Geschäftsfrau, leitet ein Zementwerk und beobachtet jetzt fasziniert Harrys Rückkehr zum Landbau. Alicia Palmer, in den siebziger und achtziger Jahren ein großer Filmstar, ist letztes Jahr heimgekehrt, endlich frei, sie selbst zu sein. Sie hat ein Jahr gebraucht, um sich von Hollywood zu entwöhnen. Miranda Hogendobber, Harrys ehemalige Arbeitskollegin im Postamt, ist Ende sechzig. Sie ist sehr fromm, 3
hat sich aber von den radikaleren Elementen ihrer Kirche zum Heiligen Licht distanziert. Sie wird mit Harry zusammenarbeiten, sobald die Saat aufgeht. Marilyn Sanburne (Big Mim) ist eine unermesslich reiche, sehr kluge, zuweilen herrische Frau, die Crozet mit eiserner Hand im Samthandschuh regiert. Sie hat ein gutes Herz, sofern man es erträgt, herumkommandiert zu werden. Marilyn Sanburne junior (Little Mim) ist endlich aus dem Schatten ihrer Mutter getreten und ein eigenständiger Mensch geworden. Ihr Wendepunkt kam, als sie Vizebürgermeisterin (Republikanerin) von Crozet wurde. Jim Sanburne, Big Mims Ehemann und Little Mims Vater, ist der Bürgermeister von Crozet und Demokrat. Das sorgt mit Sicherheit für spannende Familiendiskussionen. Deputy Cynthia Cooper ist wachsam, intelligent, liebt den Polizeidienst und wird in der Gemeinde geachtet. Sie ist ihrem Vorgesetzten eine gute Partnerin. Sheriff Rick Shaw bemüht sich, nicht zynisch zu werden. Cooper tut ihm gut, seine Camel-Zigaretten tun ihm gar nicht gut. Er hat die Hoffnung, mit dem Rauchen aufhören zu können, längst aufgegeben. Es gibt Zeiten, da könnte er Harry erwürgen, weil sie ihm im Weg ist. Reverend Herbert C. Jones, dieser warmherzige, kluge und fürsorgliche Mann ist nicht nur für die Mitglieder seiner St. Lukasgemeinde da, sondern für alle, die Hilfe brauchen. Er praktiziert Christentum und geht Dogmen aus dem Weg. Rollie Barnes ist aggressiv, ehrgeizig, führt einen übertriebenen Konkurrenzkampf, hat an der Börse einen Haufen Geld verdient, sich nach Crozet »abgesetzt« und das Weingut Spring Hill Vineyards gegründet. 3
Chauntal Barnes ist viel jünger als Rollie. Sie verfügt über die Sensibilität und das Taktgefühl, die ihrem Mann fehlen. Arch Saunders ist versessen darauf, Wein zu produzieren. Er hat an der Technischen Hochschule von Virginia studiert, zwei Jahre unterrichtet, dann einen Job in Napa Valley angenommen, um so viel zu lernen, wie er konnte. Als sich ihm die Chance bot, mit Hilfe von Rollies Geldmitteln eine eigene Weinsorte zu entwickeln, ist er nach Virginia zurückgekehrt. Er hatte eine Affäre mit Harry, als sie irisch geschieden war. Toby Pittman ist ebenfalls Absolvent der Technischen Hochschule mit einem glänzenden Examen. Er hat das Weingut Rockland Vineyards aufgebaut, mit vollem Erfolg. Er ist über jedes Konkurrenzdenken erhaben und vermutlich wahnsinnig. Aber verdammt schlau. Hy Mandant ist ein Franzose mittleren Alters, der das Weingut White Vineyards gründete. Er bringt sowohl die Unbekümmertheit als auch das fundierte Wissen des Franzosen über die alles entscheidende Rebsorte in seine Arbeit ein. Toby hasst ihn unverhohlen. Professor Vincent Forland, ein kleiner Mann, der jederzeit bereit ist, aus dem Stegreif einen Vortrag zu halten. Er war sowohl Archs als auch Tobys Lehrer. Wie so viele Akademiker ist er eine Koryphäe in seinem Fach und ansonsten zu fast nichts zu gebrauchen. 4
Die wirklich bedeutenden Figuren Mrs. Murphy, Harrys getigerte Katze, beobachtet alles und jeden. Sie ist klug, aber vor allem kritisch angesichts dessen, wie oft ihr Mensch sich in Schwierigkeiten bringt. Mrs. Murphy ist vernünftig und hat einen wachen Verstand. Pewter, Harrys graue Katze, hat Gewichtsprobleme und kann es gar nicht leiden, daran erinnert zu werden. Sie schließt sich - oft murrend - Mrs. Murphy an, weil sie in der Angst lebt, etwas zu verpassen. Tee Tucker, der tapferste Corgi der Welt, erträgt Pewters Quengeleien. Sie und Mrs. Murphy sind ein gutes Gespann. Sie hat auch Pewter gern, wenn Pewter nur mal den Mund halten würde. Owen, Tuckers Bruder, ist Susans Hund. Er besitzt sämtliche Corgi-Eigenschaften wie Verstand, Freundlichkeit, Ausdauer und die Bereitschaft, alles zu hüten. Plattgesicht, die große Ohreule, wohnt in der Kuppel von Harrys Stall. Sie betrachtet die Vierbeiner ein bisschen von oben herab, weiß aber, sie sind ihre Familie, so armselig sie auch sein mögen. Ein Leben ohne Flügel muss schlimm sein. Simon, ein Opossum, dem nie etwas Glänzendes vor die Augen kam, das ihm nicht gefiel, nimmt sich alles, was kaputtgegangen ist oder liegen gelassen wurde. Er ist schüchtern, zeigt den anderen Tieren aber gerne seine Schätze. Matilda, eine alte, riesengroße Kletternatter, hat niemanden richtig gern, erduldet jedoch die anderen. Ihr Kommen
und Gehen wird von der Temperatur bestimmt; das Geschwätz der warmblütigen Lebewesen ist ihr oft lästig. Wie Plattgesicht und die Katzen vernichtet sie Ungeziefer und ist daher auf einer Farm von großem Nutzen. Jed, Tobys Esel, hat nicht viel zwischen den langen Ohren. Er ist vielleicht das einzige Geschöpf, das Toby liebt und dem er vertraut. Der grässliche Blauhäher, dieser verschlagene, schöne Vogel, schreit gern mit seiner äußerst unmelodischen Stimme und betrachtet es als seine Lebensaufgabe, die Katzen zu quälen. Er wirft auch Steine auf anderer Vögel Eier. Er ist ein Tunichtgut durch und durch. Harrys Jagdpferde und Zuchtstuten wurden, da Frühling ist, ins Freie gebracht, weshalb sie diesmal in der Geschichte keine Rolle spielen. Die Fohlen sind gesund und munter. Mrs. Murphy mag Pferde besonders gern. Pewter würde sie lieber mögen, wenn sie Thunfisch oder sogar Hühnchen fräßen, weil sie oft was von ihrem Fressen runterfallen lassen. Sie lässt sich nicht herab, Heu oder Quetschhafer zu essen.
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M
ary Minor, willst du diesen Mann zu deinem angetrauten Manne nehmen,
um gemäß Gottes Sakrament im heiligen Stande der Ehe zu leben? Willst du ihn lieben, unterstützen, ehren, in Gesundheit und Krankheit zu ihm halten und, allen anderen entsagend, dich nur für ihn bewahren, bis dass der Tod euch scheidet?« »Ja, das will ich«, antwortete Harry mit klarer Stimme. Darauf fragte Reverend Herbert Jones mit seiner sonoren Stimme: »Wer gibt diese Frau diesem Manne zur Ehe?« Susan Tucker, die neben Harry stand, antwortete: »Ich.« Fair wiederholte lächelnd, was er auswendig gelernt hatte: »Ich, Pharamond Haristeen, nehme dich, Mary Minor, zu meinem angetrauten Weibe, um von diesem Tage an zu dir zu stehen, im Guten wie im Schlechten, in Reichtum und Armut, in Krankheit und Gesundheit, dich zu lieben und hochzuhalten, bis dass der Tod uns scheidet, gemäß Gottes heiligem Sakrament; und so gelobe ich dir ewige Treue.« Harrys Tigerkatze Mrs. Murphy und die pummelige graue Katze Pewter hockten auf dem Sims der Empore und hörten aufmerksam zu. Die Corgihündin Tucker saß neben Mildred, der Organistin, auf einer Bank. »Endlich«, seufzte der Hund. »Sie sind füreinander bestimmt.« Mrs. Murphy besaß Katzenintuition für derlei Angelegenheiten. »Sie haben's schon ein Mal versucht, beim zweiten Mal sollte der Zauber greifen.« Pewter wünschte, die Zeremonie ginge schneller vonstatten; denn sie wollte schleunigst auf den Empfang. Sie fand ausgefallene Speisen viel aufregender als die Teilnahme an Menschenritualen.
»Wenn ihr denkt, die Farm läuft jetzt schon wie geschmiert, dann wartet erst, bis Fair sich ins Zeug legt. Er ist stark wie ein Ochse.« Tucker hatte den eins neunzig großen Tierarzt immer geliebt. Diese Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. »Können wir etwa jetzt nicht mehr mit im Bett schlafen? Müssen wir uns damit abfinden, dass sie sich dauernd hin und her werfen und ächzen und stöhnen?« Schlafen liebte Pewter fast so sehr wie essen. »Warum sollte sich da was ändern, Pewts? Lass dich ans Fußende vom Bett fallen, und wenn sie fertig sind, gehst du hin und schläfst auf dem Kissen«, entgegnete Mrs. Murphy. »Naja, wenn sie verheiratet sind, machen sie's vielleicht öfter, meinst du nicht?« Die körperlichen Intimitäten der Menschen verstörten Pewter. Dann kicherte sie. »Oder seltener.« »Nichts wird sich ändern, bloß, dass er entspannter sein wird. Er hat so hart gekämpft, um sie zurückzuerobern. Er wird glücklich sein. Harry ist nun mal seine große Leidenschaft.« Mrs. Murphy sah zu, als Herb die Ringe segnete. »Ist Fair ihre große Leidenschaft?« Pewter legte den Kopf schief. Mrs. Murphy und Tucker sagten nichts. Nach langem Nachdenken meinte Tucker schließlich: »Die Frage ist schwer zu beantworten.« »Ich glaub nämlich nicht, dass er ihre große Leidenschaft ist, obwohl sie ihn heiratet«, sagte Pewter unverblümt. »Guckt euch Miranda und Tracy an. Er ist verrückt nach ihr, und sie gerät jedes Mal in Verzückung, wenn sie ihn anguckt. Oder BoomBoom und Alicia, die sind voneinander betört. Kuhaugen, versteht ihr. Aber bei Harry hob ich so was nie gesehn.« »Zu vernünftig.« Tucker verstand, was Pewter meinte. »Oh, wir haben alle erlebt, wie Harry die Vernunft zum Teufel gejagt hat. Nicht oft, zugegeben, aber sie kann mal die Beherrschung verlieren oder sich von ihrer Neugierde mitreißen lassen. Dann fliegt ihre Urteilskraft zum Fenster raus.« Auch Mrs. Murphy dachte über Pewters Bemerkung nach. »Sie liebt ihn. Sie würde nicht in 6
dem hübschen Kleid da vorne stehen, wenn sie ihn nicht liebte. Sie ist«, Mrs. Murphy hielt kurz inne, »gehemmt. Unsere liebe Mutter begeistert sich mehr für Ideen, für den Bau eines neuen Schuppens oder das Pflanzen von rot blühendem Klee als für Menschen. Sie mag die Menschen sehr, das schon, und wie gesagt, sie liebt Fair aufrichtig, aber ihre Leidenschaften gelten nicht Menschen. Das weiß er auch. Er weiß genau, was er kriegt.« » Vermutlich. Sie kannten sich schon, als sie noch nicht in den Kindergarten gingen.« Tucker sah, dass Miranda sich mit einem belgischen Spitzentaschentuch die Augen abtupfte. Sie sah auch, dass Paul de Silva Tazio Chappars Hand hielt. Er war unverkennbar in die begabte junge Architektin verknallt. Alicia und BoomBoom hielten sich nicht an den Händen, aber Tucker sah, dass Alicia BoomBoom ein Taschentuch reichte; denn auch die üppige Blondine weinte. »Komisch, dass BoomBoom weint; schließlich haben alle ihr die Schuld gegeben, dass Harrys Ehe in die Brüche ging, auch wenn sie sich bereits getrennt hatten«, merkte Tucker an. »Keine Frau kann einen Mann verführen, der nicht verführt werden will. Fair hat unrecht getan und seine Strafe bezahlt. Ich sage, vergessen wir die ganze Geschichte. Hat Harry schließlich auch
getan.« Mrs. Murphy war froh, dass zwischen Harry und Boom-Boom aus schmerzlichen Umständen eine Freundschaft erwachsen war. »BoomBoom und Alicia können wohl nicht heiraten, hä?« Pewter zuckte mit dem Schwanz, weil ihr Magen knurrte und infolgedessen eine gewaltige Langeweile einsetzte. »Können sie schon, gewissermaßen, wird aber vom Staat nicht anerkannt.« Tucker verlagerte ihr Gewicht auf der Bank, woraufhin Mildred Potter, die Organistin, ihr den Kopf tätschelte. »Warum heiraten die Menschen? Wir tun das nicht. Es ist so ein Aufwand, eine große öffentliche Zurschaustellung, und kostet ein Vermögen. Können sie sich nicht einfach paaren und fertig? Denkt bloß mal, wie viel Huhn und Lachs und Thunfisch und Katzenminze man für das Geld kaufen könnte.« Pewter war wieder bei ihrem Lieblingsthema. 7
»Diese Hochzeit ist nicht so teuer, weil es eine Wiederheirat ist.« Tucker bekam selbst langsam Hunger. »Ha. Der Empfang kostet so um die sechstausend Dollar, Getränke nicht mitgerechnet. Dafür gab s Unmengen Thunfisch«, sagte Pewter. »Für die Menschen geht's um mehr als Thunfisch. Die Ehe begründet Vaterschaft., und ein Mann darf seine Münze nicht in einen fremden Schlitz stecken.« Mrs. Murphy lachte. »Freilich, heute kann man eine Vaterschaft mit DNA exakt nachweisen, sicher nicht zur Freude aller Männer. Wer spielt, der blecht. Sie können nicht mehr behaupten, das Kind sei nicht von ihnen.« Sie machte eine Pause. »Die Heiraterei mit allem Drum und Dran ist so in der Gesellschaft verankert, dass sie gar nicht drauf verzichten können. Ob sie Kinder haben oder nicht, spielt keine Rolle. Es gehört einfach dazu.« Pewter kicherte. » Wie Tod und Steuern.« »Seid ihr nicht froh, dass euch dieses ganze Brimborium erspart bleibt?« Tucker seufzte. »Ich freu mich, dass Harry und Fair heiraten, aber es ist anstrengend.« »Wer will schon ein Mensch sein? Wenn es Reinkarnation gibt, komm ich als ich selbst wieder.« Pewter warf sich in die graue Brust. »Meine Güte, da ist aber eine mächtig von sich überzeugt.« Mrs. Murphy schlug hinterhältig nach Pewter. »Ach, und du möchtest wohl als Raupe wiederkommen?«, erwiderte Pewter frech. Mrs. Murphy holte zu einem richtigen Hieb aus. Pewter schlug zurück. »Hey, hey, ihr zwei!«, warnte Mildred die beiden, denn es wäre ein tiefer Sturz hinunter in die Gemeinde. Gerade als Herb sprach, »die Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, wurde den unten Versammelten ein Fauchanfall in solcher Lautstärke geboten, dass etliche Köpfe sich rückwärts neigten und aufwärts blickten. Harry erfasste das Schauspiel, wie Pewter Mrs. Murphy einen solchen Schlag versetzte, dass die Tigerkatze über die Brüstung der Empore rutschte. Da hing sie nun und hielt sich mit den Krallen fest. i7
»Lieber Gott«, seufzte Harry. »Kleine Heiden«, flüsterte Herb, was Fair zum Lachen brachte. Mit heldenhafter Anstrengung wuchtete Mrs. Murphy sich auf das Emporengeländer. Pewter flitzte von der Brüstung, schlug mit allen vier Pfoten auf der Organistenbank auf, nahm eine Ermahnung von Mildred und ein Kläffen von Tucker in Kauf, als sie auf die Tasten sprang, was in der herrlichen Lutherischen St. Lukaskirche eine Reihe von dissonanten Tönen erschallen ließ. Sodann schoss sie von der Orgel, und Mrs. Murphy, die sie verfolgte, kam näher. Hoch ging's zur letzten Reihe der Empore, hin zum Ausgang, die teppichbelegte Treppe runter; Pewter schlitterte über den gewienerten Boden des Vestibüls und stieß das Pult mit dem rotledernen aufgeschlagenen Gästebuch um. Das Buch fiel zu Boden. Mrs. Murphy huschte über das Buch und hinterließ ein paar Pfotenabdrücke. Sodann vollführte Pewter eine Neunzig-Grad-Wende und schoss durch den Mittelgang der Kirche. BoomBoom wollte sie sich greifen, aber Pewter wich der beringten Hand aus, Mrs. Murphy ebenso. Die zwei durchgedrehten Katzen steuerten direkt auf das Brautpaar zu. Tucker war so vernünftig, die Katzen nicht aufzuhalten. Sie und Mildred sahen fasziniert zu. »Braves Hündchen«, gurrte Mildred lachend. »O ja, das bin ich.« »Ich mach dich kalt. An Harrys Hochzeitstag mach ich dich kalt!«, rief Mrs. Murphy. »Erst musst du mich mal kriegen.« Pewter, die merkte, dass alle Aufmerksamkeit ihr galt, genoss das Rampenlicht, ohne an die Bestrafung zu denken, die möglicherweise folgen würde. Herb fuhr tapfer fort, und als er Fair und Harry zu Mann und Frau erklärte, verdrehte er die Augen himmelwärts und bat den Herrn inständig, diese zwei Menschen zu segnen, aber den zwei Katzen einen Segen ganz anderer Art zu erteilen. Pewter duckte sich unter Harrys Schleppe. Mrs. Murphy witschte ebenfalls darunter. Darauf tauchte Pewter mit solcher 8
Wucht wieder hervor, dass Fair Harry festhalten musste, während Herb die Schlussworte der Zeremonie sprach: »... auf dass euch in der zukünftigen Welt das ewige Leben beschieden sein möge. Amen.« Bevor Fair seine Braut küsste, sahen beide Pewter auf dem Altar landen. Sie kauerte sich hinter das große goldene Kreuz. Mrs. Murphy landete ebenfalls auf dem Altar. Die zwei hohen Blumenarrangements beiderseits des Kreuzes schwankten bedenklich. Die Katzen kämpften auf beiden Seiten des Kreuzes miteinander. »Harry, lass mich dich küssen, bevor sie alles verwüsten«, flüsterte Fair.
Sie küssten sich, und nach dem Kuss lachten sie, bis ihnen die Tränen kamen. Inzwischen waren alle wie gebannt, und es dämmerte Pewter, dass sie möglicherweise schwer würde büßen müssen, sosehr sie es auch genoss, aller Augen auf sich gerichtet zu sehen. »Sie hat angefangen!«, brüllte Pewter. »Gar nicht wahr, du fette Wasserratte!« Mrs. Murphy landete einen präzisen Hieb auf dem Kreuz. Von hinten kamen Herbs Katzen Eloquenz, Cazenovia und Lucy Für zum Altar gelaufen. »Was macht ihr da?«, rief Cazenovia den kämpfenden Katzen zu. »Hört auf, sonst gibt es Mord und Totschlag«, mahnte Lucy Für, ein vernünftiges Wesen. »Ich mach sie kalt, das ist mal sicher!«, wiederholte Mrs. Murphy fuchsteufelswild ihre Morddrohung. Die drei Kirchenkatzen nahmen vor dem Altar Aufstellung. Eloquenz flehte mit sehr süßer Stimme: »Wenn ihr nicht aufhört, wird Poppy schrecklich böse. Na kommt.« Sie liebte Herb. Mrs. Murphy, die der Versammlung den Rücken zukehrte, drehte sich nach den drei Katzen um. Dann sah sie die vielen Menschen. Die hatte sie ganz vergessen. »Heilige Scheiße!« Sie sprang herunter. 9
»Seht ihr, sie hat nicht bloß angefangen, sie ist auch eine Gotteslästerin.« Pewter sonnte sich in diesem Augenblick. Mit drei Schritten seiner langen Beine war Fair oben und nahm Mrs. Murphy, die ihre Ohren flach an den Kopf gelegt hatte, auf den Arm. »Pewter, du kommst sofort hinter dem Kreuz vor«, befahl Fair. Harry hob ihre Schleppe an und trat zu ihrem Mann. »Pewter, na los. Wir verzeihen dir, wenn du vom Altar kommst. Du weißt ja, verzeihen ist christlich.« »Mach schon«, schloss Cazenovia sich Harrys Bitte an. Pewter schlich hinter dem Kreuz hervor. »Ich bin unschuldig.« »Das sagen alle.« Fair lachte, als hätte er Pewters Miauen verstanden. Braut und Bräutigam schritten mit je einer ungemein ungezogenen Katze beladen den Mittelgang entlang, und Mildred hieb in die Tasten. Miranda, die Vorsängerin im Chor der charismatischen Kirche zum Heiligen Licht, sagte, als Braut und Bräutigam an ihr vorbeigingen: »Ich liebe den Herrn; denn er hat mein lautes Flehen gehört und sein Ohr mir zugeneigt.« »Froh, dass sie endlich verheiratet sind, Knuddel?« Tracy hielt ihre Hand. »Ja, aber gebetet hab ich, dass die zwei schlimmen Katzen eingefangen werden«, antwortete Miranda. Der Empfang auf der Farm übertraf alle Erwartungen an einen perfekten Apriltag. Die kleinen unter den Bäumen aufgestellten Tische waren mit hübschen Frühlingsblumenbouquets geschmückt. Das Essen war vorzüglich; Patricia Kluge
und Bill Moses hatten Wein von ihrem Weingut Kluge Estate beigesteuert. Mehr als zweihundert Gäste kamen, um diesen herrlichen Tag zu begehen. Sogar Mrs. Murphy und Pewter wurde vergeben, und Harry fütterte sie mit Truthahn-, Schinken-, Schweinebraten- und Lachsstückchen. Zu Fair sagte sie: »Unseren Hochzeitstag wird keiner vergessen.« 20
Er hatte Tucker gerade eine ganze Süßkartoffel gegeben. Die Menschen tranken auf das Wohl von Bräutigam und Braut. »Ich ganz bestimmt nicht.« Alles war scheinbar perfekt.
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ie Wärme und der Sonnenschein, die der Himmel am Sonntag, dem 16. April,
Harrys und Fairs Hochzeitstag, geschickt hatte, schwanden am 17. April: Eine Kaltfront zog von Kanada herüber und brachte einen düsteren Himmel, einen Temperatursturz und kalte Regenschauer mit sich. T. S. Eliot schrieb einmal: »April ist der grausamste Monat.« Es darf bezweifelt werden, dass er die Landwirtschaft im Sinn hatte, als er diese unsterbliche Zeile niederschrieb, den Anfang eines der berühmtesten Gedichte in englischer Sprache, aber jeder Farmer in Virginia kann einem bestätigen, dass Eliot recht hatte. Auf einen zwanzig Grad warmen Tag kann ein Schneesturm folgen. Auch wenn an diesem Montag kein Schneesturmwetter war, erwies er sich als kalt genug für Schal, Handschuhe, Barbourmantel und gefütterte Arbeitsstiefel. Das alles hatte Harry an, als sie nach den Stuten und den Fohlen sah. Die Stuten, die ihr und Fair von einer unerwartet früh verstorbenen Freundin hinterlassen worden waren, hatten hübsche Fohlen geboren. Harry hätte sich die Decktaxe nie leisten können. Sie bewunderte die Makellosigkeit der drei Stutfohlen und des Hengstfohlens, als sie sich an ihre jeweiligen Mütter schmiegten. Die meisten Paare heiraten im Juni; der Oktober ist der zweitbeliebteste Monat, und auch in der Weihnachtszeit wird gerne geheiratet. Da Harry die Farm bewirtschaftete und Fair ein auf Pferdefortpflanzung spezialisierter Tierarzt war, war der April die beste Wahl. Der Stress, um zwei Uhr morgens Fohlen auf die Welt zu helfen, ließ nach, die Farm machte weniger Arbeit. Harry schritt den Zaun der Pferdekoppel ab. Viele Verletzungen bei Pferden stammen von Zäunen. Die Zäune täglich zu kontrollieren gehörte zu Harrys Routine. Die Gesundheit ihrer Tiere stand an erster Stelle. Tucker zockelte hinter Harry drein. Mrs. Murphy und Pewter waren unter dem Vorwand, die Mäusepopulation sei ins Uferlose explodiert, im Stall geblieben. Die Wahrheit war, dass Pewter Kälte nicht mochte und Mrs. Murphy Lust auf ein Schwätzchen mit Simon hatte, dem Opossum, das auf dem Heuboden wohnte. Auf dem Heuboden wohnten auch Plattgesicht, eine große Ohreule, und Matilda, eine riesige verschlafene Kletternatter.
Eins muss zu Pewters Verteidigung gesagt werden - sie hockte sich tatsächlich in der beheizten Sattelkammer auf die Satteltruhe und blickte zu dem geschickt verborgenen Mäuseloch hinter der Truhe hinunter. Ihre Schnurrhaare schnellten in Erwartung eines auftauchenden Mäuseschnäuzchens nach vorn. Die Mäuse, die Pewter witterten, hielten es vorerst für geraten zu bleiben, wo sie waren. Auf dem Heuboden zeigte Simon, ein Kleptomane, Mrs. Murphy seinen neuesten Schatz. »Funkelt herrlich, nicht?« Stolz schob er ein Röhrchen mit schillerndem Sonnenöl nach vorn. »Wo hast du das denn gefunden?« »In dem alten Eimer mit den Naturschwämmen.« »Hmm, hat Harry wohl letzten Sommer fallen lassen. Sie benutzt selten Sonnenöl. Sollte sie zwar, aber sie hat so viel zu tun, da vergisst sie so was.« »Wie war die Hochzeit?« Mrs. Murphy hütete sich, ihren Auftritt bei der Zeremonie zu schildern. »Harry war eine schöne Braut. Allein schon, sie in einem Kleid zu sehen war eine Reise wert, und Fair hatte einen Stresemann an, darin sah er noch besser aus als sonst, sofern das überhaupt möglich ist.« »Er sieht gut aus. Warum machen sie keine Flitterwochen?« »Haha«, lachte Mrs. Murphy. »Harry hat zu Fair gesagt, jeder Tag mit ihm ist wie Flitterwochen, außerdem waren sie ja schon mal verheiratet, warum also nicht einfach weitermachen? Ich glaube, im Sommer machen sie ein bisschen Urlaub. Jedenfalls, Simon, es war sehr schön. Es wundert mich, dass du gestern bei der Feier nicht rausgekommen bist. Jede Menge kleine Leckerbissen im Gras.« »Zu viele Leute. Und viele Menschen fürchten sich vor Opossums. Sie finden mich hässlich.« »Nee«, log Mrs. Murphy. Sie fand, Simon sah so aus, wie er sollte. »Ist draußen denn noch was übrig?« »Mit Tucker und Pewter auf Patrouille?« Sie lachte. »Klappe halten!«, tönte eine Stentorstimme aus der Kuppel. » tschuldigung, Plattgesicht.« Die Rieseneule plusterte sich auf und sah hinunter. »Plappermäuler. Ich bin nie zwei Kreaturen begegnet, die ihre großen Quasselzungen so schnell bewegen wie ihr beide. Ich hatte eine anstrengende Nacht.« »Okay.« Simon wollte es sich mit seiner furchterregenden Mitbewohnerin nicht verderben. »Wenn sie kleine Eulenkinder hätte, wäre sie netter«, flüsterte Mrs. Murphy. Ihre grünen Augen strahlten. Simon flüsterte zurück: »Wenn sie Eulenkinder hätte, dann hätten wir's auch noch mit dem Daddy zu tun. Sie ziehen sie nämlich zusammen auf. Eine Eule ist schlimm genug. Wenigstens ist sie eine große Ohreule, und sie singt so schön.« »Stimmt.« Mrs. Murphy bewunderte Plattgesichts melodische tiefe Altstimme. »Ist Harry glücklich, was meinst du?«
»Ja. Sie hat sich all die Jahre so abgerackert, bloß um über die Runden zu kommen, und jetzt hat sie seine Hilfe. Sie haben Blairs zweihundertdreißig Morgen gekauft, und das sind richtig gute Weiden; außerdem lässt sie den alten Alverta-Pfirsichhain wieder aufleben. Reverend Jones hat das Haus und zehn Morgen Grund gekauft, so hat sich alles gut ergeben. Blairs Farm hatte ursprünglich den Jones' gehört, weißt du? Harry und Susan pflanzen Bäume auf Susans Grund, dem ehemaligen Bland-Wade-Land. Sie hat eine 12
Genehmigung dafür, und die Mädels haben mit dem Anpflanzen von Sonnenblumen begonnen. Sie wollen auch eine kleine Baumschule gründen.« »Und was ist mit den Weinstöcken?« »Also«, Mrs. Murphy senkte die Stimme, weil sie merkte, dass sie wieder zur normalen Lautstärke angeschwollen war, »sie hat einen Viertelmorgen Petit Manseng angebaut. Eine weiße Sorte. Es dauert etwa drei Jahre, bis die Stöcke richtig tragen. Sie ist vorsichtig. Zu vorsichtig, finde ich.« Bei all den Hochzeitsvorbereitungen hatten Mrs. Murphy und Simon wochenlang nicht mehr ausgiebig geplaudert. »Ist doch sicher ganz leicht anzubauen«, bemerkte Simon. »Du weißt ja, als Harry letzten Herbst in einer schrecklichen Krise steckte, weil sie nicht wusste, was sie anfangen sollte, nachdem sie beim Postamt aufgehört hatte ...« Ehe Mrs. Murphy zu Ende sprechen konnte, drang ein grauenhafter Triumphschrei aus dem Tiertürchen der geschlossenen Sattelkammer. Simon, nicht der mutigsten einer, verzog sich in sein Nest in den Heuballen. »Ein Drache!« »Ein grauer.« Mrs. Murphy, die mutigste aller Tigerkatzen, sprang an den Rand des Heubodens und kletterte die Leiter hinunter, die flach an der Wand befestigt war. Sie sauste durch das Tiertürchen und erblickte Pewter mit einer Maus zwischen den Pfoten. »Triumph!«, brüllte Pewter mit weit geöffnetem Maul und wildem Blick. »Brutal!« Die Maus war nicht gewillt, sich kampflos zu ergeben. »Pewter, wie hast du sie gekriegt?« »Sie hat betrogen, sie hat gelogen!«, beschuldigte die kleine Maus Martha die Katze, in deren Vorderpfoten sie sicher verwahrt war. »Unsinn!« Pewter zog sie auf Augenhöhe hoch. »Du hast dich nicht an die Abmachung gehalten!«, hielt Mrs. Murphy der Maus vor. »Also hat sie ein Recht dazu, dir den Hals umzudrehen.« 12
» Wir halten uns an die Abmachung!«, wehrte sich Martha. »Warum ist dann da hinten so viel Lärm, und warum rennt ihr alle durcheinander?« Mrs. Murphy betrachtete kühl die Rückseite der Satteltruhe. Viele kleine Nasen lugten aus dem ziemlich eindrucksvollen Eingang zu ihrer Behausung. »Zuckerrausch«, entgegnete Martha standhaft. »Ach komm, hier drin sind nicht mehr viele Süßigkeiten«, sagte Pewter zweifelnd.
»Stimmt. Es ist das Essen von dem Hochzeitsempfang. Erstens, die vielen Vorbereitungen, ja? Und dann sind nach dem Empfang und dem Essen Leckerlis dageblieben; habt ihr eine Ahnung, wie viel wir gegessen haben? Drum hast du mich erwischt, Pewter, ich kann mich ja kaum bewegen.« »Wohl wahr, wohl wahr«, ertönte es im Chor hinter der Truhe. »Hmmm.« Mrs. Murphy sann über das Gesagte nach. Die Katzen hörten ein Stimmengewirr. Nach einer Minute kamen zehn kleine Mäuslein hinter der Satteltruhe hervor, angeführt von Arthur, Marthas Gefährten. »Hier« - der kräftige Arthur wies auf seinen Bauch. »Glasur von der Hochzeitstorte. Wir sind so voll mit Zucker, und wenn Pewter Martha fressen würde, hätte sie auch einen Zuckerrausch, und wenn ich mich recht erinnere, mögen Katzen keinen Zucker.« »Stimmt.« Mrs. Murphy neigte den Kopf Richtung Pewter. »Ich hob nicht gesagt, dass ich sie fresse. Ich hab gesagt, ich dreh ihr den Hals um. Knacks!«, drohte Pewter munter. »Pewter, ich denke, sie sagen die Wahrheit.« Simon spähte durch das Tiertürchen. Die Klappe thronte lustig auf seinem Kopf. »Kein Blutvergießen. Bitte.« »Ach Simon, um Gottes willen.« Angeekelt ließ Pewter Martha los. Anders als zu erwarten gewesen wäre, huschte Martha nicht schleunigst davon. Sie hob vielmehr die kleine Pfote, deren schwarze Krallen glänzten - sie war eine sehr gepflegte Maus -, und tätschelte Pewters Pfote. »Wir würden nie gegen die Abmachung mit dir und Mrs. Murphy verstoßen. Es ist eine gute Vereinbarung, und wir Mäuse achten eine gute Vereinbarung.« »Ja!«, stimmten die anderen Mäuse zu. »Na gut.« Pewter, unendlich erfreut, dass Mrs. Murphy und Simon Zeugen ihrer Tapferkeit geworden waren, war jetzt großmütig. Als die Mäuse in ihre Behausung zurückkehrten, hörten Simon und die Katzen Harry in den Stall kommen. Just in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Harry lief schnell in die Sattelkammer und nahm den Hörer ab. »Hallo.« »Harry, ich bin Mutter.« BoomBoom Craycroft lachte. »Keepsake hat ein Maultier geboren.« »Nein!« »Dein Mann hat eben ein Maultier auf die Welt geholt. Ich hatte ja gehofft, als Keepsake voriges Jahr über die Koppel gesprungen ist, sie wäre zur Smallwood Farm gelaufen und von dem Sohn von Castle Magic gedeckt worden, aber nein, wie ich befürchtet hatte, hat sie den Esel zwei Farmen weiter die Straße runter besucht. O je.« »Maultiere sind sehr klug.« »Ich weiß. Sie können auch springen, drum werd ich mit meinem kleinen Kerl trainieren, und eines schönen Tages ist er bei der Jagd dabei. Meinst du nicht, dass Big Mim dann einen Anfall kriegt?« BoomBoom sprach von der Queen von Crozet, einer herausragenden Reiterin, passionierten Fuchsjägerin und Züchterin siegreicher Jagdpferde. Zudem war sie reich wie Krösus.
Mim konnte gebieterisch sein. »Sie wird's überleben.« Harry mochte die Sechzigjährige, und ganz besonders mochte sie Mims Tante Tally, die auf die hundert zuging. Die Urquharts, Mims Familie, lebten anscheinend ewig. »Ist Alicia da?« »Nein, sie kommt zum Essen rüber. Dann wird sie den Burschen sehen.« »We soll er heißen?« 14
»Ich möchte ihn Burly nennen; denn er hat eine Farbe wie ein helles Burlytabakblatt. Kurz Burl.« »Schöner Name. Namen sind wichtig. Ich wundere mich über Frauen, die Candy oder Tiffany heißen. Schwer vorstellbar, eine über Achtzigjährige Candy zu rufen. Freilich wird es noch eine Weile dauern, bis die Candys und Tiffanys auf der Welt die achtzig erreichen.« »Komm rüber und sieh dir Burly an, wann du kannst. Oh, fast hätte ich's vergessen, ich hab italienische Sonnenblumensamen bestellt. Du müsstest sie in ein paar Tagen haben. Hab mir gedacht, du möchtest vielleicht verschiedene Sorten ausprobieren.« »Prima.« Als Harry aufgelegt hatte, sang und pfiff sie vor sich hin. In den meisten Ställen plärren Radios, doch Harry liebte die Stille, die sie gelegentlich mit ihrem Gesang unterbrach. Das Radio schaltete sie nur ein, um die Nachrichten oder, wichtiger noch, den Wetterbericht zu hören. Ehrlich gesagt, bekam Harry furchtbare Kopfschmerzen von Schlagermusik, egal ob aus den 1920er Jahren oder von heute. Als sie und Fair an diesem Abend ihr erstes stilles Mahl als erneuertes Ehepaar einnahmen, erzählten sie sich gegenseitig die Vorkommnisse des Tages. »Er ist ein Prachtkerl.« Lächelnd schilderte Fair Burlys Eintritt in die Welt. »Eine richtige kleine Schönheit.« »Ich guck morgen mal vorbei.« Die zwei Katzen und der Hund hatten gefressen und sich in das Schaffellbett in der Küche gekuschelt. Tucker hatte nichts dagegen, sich an die Katzen zu schmiegen, aber sie hatte nun wirklich genug gehört von Martha und von Pewters Größe. Fair, der eine Tasse heißen grünen Tee trank, hatte die Zeitung rechts von sich aufgeschlagen. Er sah genauer hin. »Das dürfte aufregend sein.« »Was, Schatz?« Er reichte ihr die Zeitung mit dem aufgeschlagenen Virginiateil und wies auf eine Spalte mit einem Foto. Harry las laut: »Professor Vincent Forland von der Techni 14
schen Hochschule Virginias, weltbekannter Experte für verschiedene Pilze, insbesondere Schwarzfäule, Guignardia bidwellii, einen Pilz, der für Weinbauern verheerend ist, wird an einem Podiumsgespräch über Agroterrorismus teilnehmen.« Sie hielt inne. »Der Ärmste, er sieht aus wie ein Wurm mit Brille.«
»Du solltest mal das ganze Material sehen, das ich in puncto Sicherheitsvorkehrungen in tiermedizinischen bakteriologischen Laboratorien kriege. Der andere Gesprächsteilnehmer ist ein Fachmann für Anthrax. Lass uns hingehen.« Er ließ sich die Zeitung zurückgeben und sah sich das Foto noch einmal an. »Forland hat tatsächlich was von einem Wurm mit Brille.«
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ie es der Zufall wollte, sollte Fair Professor Forland vor der
Abendveranstaltung kennenlernen. Er war bei Kluge Estate gewesen, um nach einer Stute zu sehen, und Patricia Kluge und ihr Mann Bill Moses hatten ihn gebeten, zu dem kleinen Mittagessen zu bleiben, bei dem auch der Professor und einige hiesige Winzer zugegen sein würden. Uber die mintgrüne Tischdecke gebeugt, schlug Professor Forland bei dem zwanglosen Mittagessen die Gäste in seinen Bann. »Wir wissen, dass Mykotoxine im Krieg verwendet wurden und vermutlich heute noch benutzt werden. Dies zu erhärten erweist sich als schwierig, weil politisch sehr viel auf dem Spiel steht.« »Was? Sie meinen, das Volk könnte wach gerüttelt werden?«, fragte Hy Maudant, ein hierher verpflanzter Franzose, dessen Englisch von einem reizvollen Akzent belebt war. »Nicht nur die Vereinigten Staaten. Der Nachweis von Angriffen mit chemischen Waffen bringt ein ganzes Geflecht internationaler Beziehungen ins Spiel. Da sind diejenigen, die leugnen, dass der Irak solche Waffen benutzt hat, und diejeni
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gen, die sich einfach neutral verhalten. Und wenn alles gelöst ist, will der Neutrale natürlich das beste Öl-Abkommen, und er will den Irak wieder aufbauen.« Bill Moses war nicht zynisch, lediglich realistisch. »Aber hat Saddam Mykotoxine benutzt?«, fragte Toby Pitt-man ernst, ein ehemaliger Student von Professor Forland und heutiger Besitzer von Rockland Vineyards. »Ich glaube, ja.« Der kleine Professor schob seine dicke Brille weiter die Nase hinauf, weil sie ihm immer wieder herunterrutschte. »Ich glaube, am 19. Januar 1991, während des Golfkriegs, hat ein irakisches Flugzeug unsere Abwehr durchdrungen und unweit des Hafens Al Jubayl in Saudi-Arabien Marinesoldaten und das 24. Bauregiment der Marine mit Aflatoxin besprüht.« Als Student am Technical College hatte Toby sich als dermaßen brillant erwiesen, dass er sich als Examensstudent eines Lehrstuhls sicher wähnte. Sein Doktorvater war Professor Forland. Als er das Doktorat in der Tasche hatte, nahm Toby an, er würde als Lehrbeauftragter für Studienanfänger beginnen. Sein Kommilitone Arch Saunders, nach Tobys Einschätzung nicht so begabt wie er, bekam ebenfalls den Doktortitel zuerkannt.
Als kein Angebot einging, am Technical College zu bleiben, wandte Toby sich an seinen Doktorvater, der ihm wahrheitsgemäß sagte, es habe eine Etatkürzung gegeben. Professor Forland sagte ihm allerdings nicht, dass er nach dreijähriger enger Zusammenarbeit mit Toby den Eindruck hatte, der junge Mann sei psychisch labil. Als Toby wenige Tage, nachdem er seine Sachen gepackt hatte, erfuhr, dass man Arch Saunders die Stelle angeboten hatte, war er außer sich. Zwei Jahre später verließ Arch das College, um auf einem großen Weingut in Napa Valley zu arbeiten. Das war für Toby ein weiterer Schlag ins Gesicht: Arch hatte das zurückgewiesen, was er, Toby, begehrte. Auf sich selbst gestellt, schuftete Toby wie ein Hund, um sein Weingut zum Erfolg zu führen. Er fragte sich oft, wie sein 3°
Leben gewesen wäre, wenn er den Lehrauftrag am Technical College mit einem regelmäßigen Gehalt bekommen hätte. »Ich erspare Ihnen die Dementis und anschließenden Erklärungen unserer Regierung.« Professor Forland blieb hartnäckig bei seinem Thema. »Was unsere Regierung an diesem Vorfall irritiert und zu Dementis geführt hat, war vielleicht der Umstand, dass unsere Geheimdiensdeute noch auf dem Senfgas oder Anthrax stand chemischer Kriegführung waren. Wie konnten sie zugeben, dass sie nicht Schritt gehalten hatten mit dem, was Saddam tatsächlich machte, nämlich verschiedene toxische Substanzen in schwindelerregender Menge entwickeln?« Professor Forland zuckte mit den Schultern und fuhr dann fort: »Aber Tatsache bleibt, dass Schimmelpilzgifte leichter zu erzeugen sind, als man sich vorstellen kann, ohne depressiv zu werden.« »Wie leicht?« Der reiche, aggressive Rollie Barnes war wegen seiner großen Pläne für das Weingut Spring Hills Vineyards zu der kleinen Zusammenkunft eingeladen worden. Seine Nervosität verriet sich dadurch, dass er unter dem Tisch mit den Fingerknöcheln knackte. Rollie wurde von seinem jüngst eingestellten Weingutverwalter und Partner Arch Saunders begleitet. Für Toby sah es so aus, als sei Arch aus Kalifornien zurückgekehrt, um ihn zu verhöhnen. Fair war höflich zu Arch und umgekehrt, aber keiner konnte sich für den anderen erwärmen. Als Harry und Fair geschieden waren, hatte sie eine kurze Affäre mit dem geselligen, gut aussehenden Arch gehabt. Er war über beide Ohren verknallt gewesen. Sie nicht. Arch hatte viel Sprit verbraucht, weil er immer zwischen Blacksburg und Crozet pendelte. Als Harry die Affäre beendete, gab er seine Stelle auf und verbrauchte noch mehr Sprit für die Fahrt nach Kalifornien. Dort war er erfolgreich, lernte noch mehr über Bodenbeschaffenheit, Rebstöcke, Sonnenschein und Regen sowie über deren Zusammenwirken, damit am Ende Magie im Glas herauskommt. Arch ging Komplikationen aus dem
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Weg, was vermutlich gut war, weil er so viel in sich aufnehmen musste. Er war erst vor zwei Wochen nach Crozet zurückgekehrt. »Ein intelligenter Chemie- oder Agrikulturstudent könnte das hinbekommen. Was allerdings bedeutet, man müsste ein Laboratorium bereitstellen, um die Mykotoxine zu erzeugen. Dennoch, ein guter Student wird die Zusammenhänge durchaus erfassen.« Die buschigen Augenbrauen von Professor Forland hoben sich. »Trichothecene Mykotoxine sind Schimmelpilzgifte. Die Schimmelpilze befallen Mais, Gerste, Roggen, Hafer, Hirse, sogar Stroh und Heu. Wenn ein intelligenter Mensch Zugang zu Laborgeräten hätte oder das Geld und die Entschlossenheit, sich ein eigenes Labor einzurichten, könnte er die Mykotoxine aus dem Schimmelpilz herausdestillieren. Als tödliche Dosis für einen Menschen genügen drei bis fünfunddreißig Milligramm, je nach Stärke des Giftes. T-2 ist zum Beispiel das wirksamste. Eine lächerlich geringe Dosis wäre für einen Menschen tödlich. Leider nicht ohne ein langes Martyrium.« »Wurde es schon mal angewendet?« Fair fand es empörend, dass so viel menschliche Intelligenz dafür eingesetzt wurde, Schmerzen zu erzeugen statt zu lindern. »Ich glaube ja. Man kann Wissen nicht einsperren. Man hat es im Laufe der Jahrhunderte versucht, aber früher oder später sickert es durch.« Professor Forland lehnte sich zurück, weil der Nachtisch aufgetragen wurde. »Kann ich beweisen, dass andere Staaten in den letzten zwanzig Jahren biologische Waffen eingesetzt haben? Nicht schlüssig. Glaube ich, dass Saddam sie eingesetzt hat, als er an der Macht war? Glaube ich, dass die ehemalige Sowjetunion in Tschetschenien chemische Waffen eingesetzt hat? Ja.« Der Professor presste die schmalen Lippen zusammen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Toby Pittman meldete sich zu Wort, erpicht darauf, zu glänzen, zumal Arch zugegen war. »1944 gab es einen Fall, als dreißig Prozent der Einwohner im Gebiet von Orenburg, nicht weit von Sibirien, erkrankten, weil sie verdorbene Speisen ge17
gessen hatten. Das war kein biologischer Kampfstoff, nur schimmeliges Getreide. Ich glaube, es war alimentäre toxische Aleukie, kurz ATA.« Professor Forland lächelte Toby nachsichtig an. »Sehr lobenswert, dass Sie das nach so langer Zeit behalten haben.« Hy Maudant, der weder den heftigen Toby noch den umgänglicheren Arch besonders leiden konnte, ergriff das Wort. »Ah, ich sehe schon, Sie haben in Ihren Seminaren ein weites Feld beackert.« »O ja, und da Sie gelegentlich meine Monographien angefordert haben, Mr. Maudant«, Professor Forland deutete gutmütig mit dem Finger auf Hy, »wissen Sie ja, dass die Erforschung von Pilzen und Insekten ein Teil unserer Kriegsvorbereitungen für die Gesundheit des Weinstocks ist.«
»Was uns zu unserem ursprünglichen Tischgespräch zurückfuhrt, der Gesundheit des Weinstocks«, drängte Bill freundlich, obwohl auch er von der Diskussion über biologische Waffen fasziniert war. »Ehe wir darauf zurückkommen, Herr Professor, wie viele Länder haben biologische Waffen auf Pilzbasis entwickelt?« Rollie war geradezu krankhaft neugierig. »Offensichtlich der Irak, aber er hat von den Arbeiten der ehemaligen Sowjetunion profitiert, mit denen in den 1930er Jahren begonnen wurde. Es ist einleuchtend und wird eines Tages unanfechtbar bewiesen werden, dass alle Vasallenstaaten der Sowjetunion Zugang zu der Materie hatten und sogar zu den Wissenschaftlern, die sie erzeugten. Das bedeutet, dass die kommunistischen Streitkräfte in Vietnam, Laos und Kambodscha und auch in Afghanistan sie bei Aufständen einsetzten. Letzten Endes wird sich alles wenden, wie man so sagt, aber die Opfer bleiben Opfer, und die Toten bleiben mausetot.« »Und wir?« Fair hob skeptisch eine Augenbraue. »Wie meinen Sie das?« Rollie war argwöhnisch gegenüber Fair, weil der blond und gut aussehend war; Rollie war weder das eine noch das andere. Arch verhielt sich wohlweislich still und ließ Rollie reden. Er 18 warf einmal einen Blick auf seinen alten Kommilitonen Toby, weil Toby die Augen verdrehte. Für Toby war Rollie ein ausgemachtes Arschloch und Arch ein Dummkopf, weil er sich geschäftlich mit ihm eingelassen hatte. »Und was haben wir entwickelt?«, erwiderte Fair. »Wir haben sicher nicht nur Däumchen gedreht.« »Wir sind in diesen Dingen fortgeschritten, üben aber Zurückhaltung. Das ist die Taktik.« Professor Forland klang nicht überzeugend. »Heißt das, wir haben in Al-Sowieso keine Mykotoxine gesprüht?« Fair dachte an die Tiere, die unter diesen tödlichen Kampfstoffen litten, und wünschte inständig, die Anführer, die so grausam gegen Mensch und Tier sein konnten, würden selbst besprüht. »Nein, wir haben Zurückhaltung geübt«, wiederholte Professor Forland. »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Mir scheint, wenn die Menschen ein Spielzeug haben, eine Waffe, müssen sie sie früher oder später gebrauchen.« Patricia, die alles stumm in sich aufgenommen hatte, meldete sich endlich zu Wort. »Die Geschichte dürfte Ihnen recht geben.« Der Professor lächelte seine Gastgeberin freundlich an. »Gibt es keinen Impfstoff gegen Biowaffen?«, fragte Bill. »Es gibt keinen Impfstoff gegen Mykotoxine. Es gibt einen Impfstoff gegen Anthrax und bakterielle Lebensmittelvergiftung, aber nicht gegen Mykotoxine.« Professor Forland griff nach dem Wein, einem Pinot Gris mit sieben Prozent Rieslinganteil, einem Erzeugnis von Hys Weingut. Er kostete und strahlte. »Zum Glück werden unsere Trauben nicht solchen schändlichen Zwecken zugeführt.«
»Aber wäre es machbar? Könnten Pilze, die Reben befallen, für biologische Kriegführung benutzt werden?«, erkundigte sich Fair. »Ja. Jeder Pilz könnte eine todbringende Verwendung finden, wenn er auf seine wirksamste Form reduziert würde, aber die Schimmelpilze, die Getreide befallen, sind verfügbar, die Methode gibt es seit Jahrzehnten. Es ist nicht nötig, unsere 19
schönen Rebstöcke, unseren blühenden Weinbau durch einen so entsetzlichen Missbrauch unseres Wissens zu beschmutzen.« »Apropos, Herr Professor, wie steht es um die Gesundheit unserer Weinstöcke?« Bill war entschlossen, die Leute wieder auf das ursprüngliche Thema zu bringen. »So weit, so gut.« Der Professor hob sein Glas und nickte Hy zu. »Sehr gut, darf ich hinzufügen.« »Ein bescheidener Versuch.« Hy lächelte. »Ich lege großen Wert auf Ihr Urteil« - er ließ den Blick in die Runde schweifen und forderte die anderen auf, ebenfalls ihr Urteil abzugeben - »über meine Gutsmischung, wie Fiona und ich sie nennen.« Er sprach von seiner Frau, die er innig liebte, ohne das Gefühl zu haben, ihr treu sein zu müssen. »Wir lassen ihn in französischen Eichenfässern reifen. Das ist mein Baby.« Er atmete tief ein, dann lächelte er Patricia wieder an. »Sie waren mit Ihrem Simply Red erfolgreich.« »Cabernet Sauvignon, Merlot und Cabernet Franc.« Bill gab nur zu gern Auskunft. »Wir hatten überlegt, Fässer aus Ungarn zu benutzen, haben uns dann aber dagegen entschieden.« Patricia hatte die Eigenschaften der verschiedenen Eichen und sogar Hickorybäume aus aller Welt ausgiebig geprüft. Arch hörte nachdenklich zu und sagte dann: »Ich habe letzte Woche einen alten Freund in North Carolina besucht, der an Concord-Reben festhält« - das brachte die anderen zum Lächeln, da sie die Concord für minderwertig hielten -, »er schwört, Zwergzikaden werden allmählich kälteresistent.« »Das werden wir sehen!« Bei der Erwähnung der Insektenplage war Professor Forland einen Moment der Mund zugeklappt. »Das wäre für Reben wie die Beulenpest.« Er runzelte die Stirn. »In den dreißiger Jahren hat die Zwergzikade die Weinstöcke ganzer Staaten vernichtet. Ein sehr übler Zeitgenosse.« Toby, der Arch mit Freuden widersprach, meinte jedoch abschätzig: »Das kann nicht passieren. Sie müsste mutieren.« »Oder genetisch verändert werden.« Professor Forland 19
schaute in sein Weinglas. »Dazu bedürfte es eines anomalen Genies.« »Wir wollen doch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, meine Herrschaften.« Bill drückte sich etwas blumig aus. »Später Frost macht mir mehr Angst als die Insekten.« »Allerdings«, pflichtete Hy ihm bei. Patricia munterte die Anwesenden auf. »Wissen Sie, neulich habe ich von Resveratrol gelesen, das ist ein Antioxydans zur Vorbeugung von Herzinfarkten
und auch Krebs. Rotwein ist die beste Medizin. Pinot Noir enthält 5,01 Milligramm pro Liter. Wir sollten unsere Weine mit dieser Information als kleinen medizinischen Anstoß vermarkten.« »Ah.« Hy gefiel das. »Wie steht's mit Beaujolais?« »Der hat 3,55 Milligramm pro Liter«, antwortete Patricia prompt. »Sie lesen genau.« Professor Forland war beeindruckt. »Cabernet Sauvignon aus Chile enthält 1,56 Milligramm Resveratrol pro Liter, aber Cabernet Sauvignon aus Kalifornien enthält nur 0,99 Milligramm. Das Gemisch - die Magie aus Bodenbeschaffenheit, Sonne, Temperatur, Höhenlage, Entwässerung und Geschick des Winzers - lässt sich nicht quantitativ bestimmen.« »Aber wir können es schmecken«, erklärte Arch. »Allerdings.« Hy klang selbstzufrieden. »Auf den Wein.« Der Professor prostete allen zu.
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» ... Übertragung.« Professor Sidneyjenkins war mit seinen Bemerkungen zu bakteriologischen Kampfstoffen via Rindvieh zu Ende. Er sprach nach Professor Forland, der mit großem Interesse zuhörte. »Darf ich Sie etwas fragen, bevor die Zuhörer Fragen stellen. Sie haben detailliert geschildert, wie Bakterien und Vi 20
ren in Labors entwickelt werden und sogar, wie sie übertragen werden können. Aber was meinen Sie, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass unser Vieh infiziert wird?« Professor Jenkins, ein Mann in den Vierzigern, neigte den schütteren Schädel und sagte: »Äußerst gering. Terroristen können mehr Angst und Verstörung verbreiten, wenn sie direkt auf Menschen zielen.« Rita Nicolas, die ehemalige Vorsitzende des Viehwirtschaftsverbandes Virginia Angus Association, hob die Hand und bekam das Wort erteilt. »Ich stimme Ihnen zwar zu, Herr Professor Jenkins, aber die Infektion von ein paar tausend Rindern würde für Viehzüchter auf der Stelle ein negatives ökonomisches Klima schaffen.« »Ja, und das ist eines ihrer Ziele - nicht nur Viehzüchter schädigen, sondern uns sozusagen auszubluten.« Professor Jenkins nickte. Das Publikum, für das es nur Stehplätze gab, setzte sich aus Sojabohnenfarmern, Viehzüchtern, Geflügelzüchtern und anderen interessierten Parteien zusammen. Auch Arzte und Krankenschwestern aus der Umgebung waren in großer Zahl erschienen. Sämtliche großen Weingüter waren vertreten: Kluge Estate, White Hall, Prince Michel, Veritas, King Family, Mountain Cove, Rockland, White, Spring Hill und viele andere. Dr. Donald Richardson, ein führender Züchter von Herefordrindern, einer herrlichen hornlosen Rinderart, fragte: »Gibt es schriftliche Anweisungen für den Fall, dass es beim Vieh zu einem Ausbruch kommt?«
»Ja, Dr. Richardson«, erklärte Professor Jenkins dem Dermatologen, mit dem er auf diversen Herefordkonferenzen und -auktionen schon so manch interessante Stunde verbracht hatte, »das Problem ist nur, wir wissen nicht, wie wirksam sie sind, bevor wir unter Belagerung stehen.« »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Reben vergiftet werden?«, wollte eine kleine Frau von Professor Forland wissen. »Ich würde meinen, Terroristen wären viel erfolgreicher, wenn sie Hopfen vernichten würden«, erwiderte er. 21
Das rief beim Publikum Gelächter hervor, weil es landesweit viel mehr Bier- als Weintrinker gab. Arch Saunders, dessen hochgewachsene Gestalt den Ansatz eines Schmerbauchs zeigte, stand auf und sagte: »Herr Professor Forland, Sie haben über Pilze und Viren als Kampfstoffe gesprochen. Gibt es noch andere Methoden, um Getreide, Getreide jeder Art außer den Sorten, die Sie erwähnt haben, zu vernichten?« Professor Forland schob sein großes schwarzes Brillengestell auf die kurze Nase. »Ja. Ich möchte hinzufügen, das ist nicht mein Fachgebiet, doch zufällig erlangte Kenntnisse führen mich zu der Annahme, dass unsere Feinde Zugang zu Agent Orange und anderen diversen Entlaubungsmitteln haben. Wie Herr Professor Jenkins uns noch einmal dargelegt hat, ist nicht der Zugang zu diesen Stoffen das eigentliche Thema. Finden Sie sich damit ab, sie haben sie. Das eigentliche Thema ist, können sie diese Kampfstoffe dort anwenden, wo sie den größten Schaden anrichten? Anders als Herr Professor Jenkins meine ich, sie können es. Lassen Sie mich das modifizieren. Ich denke, sie können in der Vegetation, auf den Getreidefeldern Chaos anrichten. Vielleicht ist es schwieriger, genügend Vieh zu infizieren oder zu töten. Das dürfte Herr Professor Jenkins besser wissen als ich, aber im Hinblick auf, sagen wir, Mais, ist es nicht unmöglich oder gar undenkbar, wenn man entschlossene, gut ausgebildete Leute hat. Wir haben uns auf Mykotoxine konzentriert, aber werfen wir einen Blick auf unsere Geschichte: den Baumwollkapselkäfer.« Er hielt inne. Seine Zuhörer standen reglos da. »Insekten sind leicht zu verbreiten; weil sie sich mit rasender Geschwindigkeit vermehren, verbreiten sie sich auch mit rasender Geschwindigkeit.« Hy Maudant ergriff rasch das Wort. »Sicher, Herr Professor, aber jedes Insekt hat eine Achillesferse. Wie Sie wissen, kann die Zwergzikade«, er bezog sich auf den schrecklichen Schädling für südlich von Virginia angebaute Reben, »keinen Frost vertragen. Deswegen kann man in South Carolina nicht dieselben Rebsorten anbauen wie hier bei uns in Virginia. Wir 21
sind außer Gefahr. Jedes Insekt, das losgelassen würde, könnte ganz schnell unschädlich gemacht werden, sobald seine Achillesferse identifiziert ist.«
»Sehr richtig.« Professor Forland schürzte die Lippen. »Es sei denn, Monsieur«, er spielte zum Vergnügen des Publikums auf Hys Herkunft an, »das Insekt wurde genetisch verändert.« »Das ist nicht machbar«, rief Toby Pittman. Professor Forland erwiderte: »Wenn nicht heute, dann eines nicht allzu fernen Tages.« »Wir wissen, dass Insekten wie Viren sich anpassen können«, griff Professor Jenkins das Thema auf. »Sehen Sie nur, wie die Proteinhülle des AIDS-Virus mutiert. Und es wurde ein noch widerstandsfähigerer AIDS-Stamm entdeckt, was vermutlich auf die Medikamente zurückzuführen ist. Das ist bis heute mit ein Grund, warum noch kein wirksamer Impfstoff entwickelt wurde. Man kann heute nur versuchen, das Virus einzugrenzen, sobald ein Mensch infiziert ist.« »Was wollen Sie genau damit sagen?« Big Mim wollte das klar ausgedrückt hören, obwohl sie in der Lage war, das Gesagte zu verstehen. Sie wusste auch, dass es manchen Leuten peinlich wäre, das zu fragen. Sie war über Peinlichkeit erhaben. »Ich will damit sagen, dass es möglich ist, ein Supervirus zu erzeugen. Es ist möglich, einen Erreger zu erzeugen, der gegen herkömmliche Behandlungen resistent ist. Es ist auch möglich, ein Superinsekt zu erzeugen.« Professor Jenkins fuhr sich mit der Hand über den Schädel. »Ist das geschehen?« Fair sagte endlich etwas. »In der Natur geschieht es bereits«, erklärte Professor Jenkins knapp. Emily Schilling, die sich auf die Zucht exotischen Geflügels spezialisiert hatte, hob die Hand, bekam das Wort erteilt und sagte lediglich: »Vogelgrippe.« Professor Jenkins atmete hörbar aus. »H5N1. Julie Gerberding, die Direktorin der Seuchenbehörde in Atlanta, sagte 2005, es bestehe ein großes Risiko, dass sich die aviäre Influenza, die Vogelgrippe, zu einer weltweiten Bedrohung aus 22
weitet, vergleichbar mit der großen Grippeepidemie im Jahre 1918, der zwanzig bis vierzig Millionen Menschen zum Opfer fielen.« Alle Zuhörer hielten den Atem an. Professor Forland fuhr fort: »Ich meine, die Äußerungen von Shigeru Ome, dem Bezirksdirektor der Weltgesundheitsorganisation, waren noch deprimierender. Und sofern wir überhaupt etwas von Viren wissen, dann wissen wir, dass H5N1 sich ebenfalls entwickeln wird. Es könnte durchaus H5N2 geben und so weiter.« Professor Jenkins nickte zustimmend. »Im ländlichen Südostasien fehlen die Mittel, um die mögliche Bedrohung aufzuhalten. Sie verbreitet sich durch Geflügelhändler und wurde unglücklicherweise bei Wildvögeln in China festgestellt. Betrachten Sie folgende Umstände unabhängig von der durch Kriege, Flutwellen, die Roten Khmer und so weiter hervorgerufenen gesellschaftlichen Desorganisation. Der erste Umstand ist, Geflügel ist auf dem Land in Kambodscha für viele Menschen die Währung schlechthin. Der zweite Umstand
ist, Geflügel bildet eine ihrer wenigen erschwinglichen Proteinquellen. Der dritte und beunruhigendste Umstand ist, mit H5N1 infizierte Hühner sterben daran. Wasservögel nicht. Enten gehen in aller Ruhe ihrem Tagwerk nach; sie sind scheinbar nicht infiziert, verbreiten aber das Virus durch ihre Ausscheidungen.« Jim Sanburne, der Bürgermeister von Crozet, fragte: »Und was löst dann eine Epidemie aus?« Professor Jenkins und Professor Forland antworteten gleichzeitig: »Gelegenheit.« Die beiden Herren sahen sich an, lächelten, dann ging Professor Jenkins näher darauf ein. »Bislang waren Menschen, die an H5N1 starben, mit infizierten oder toten Hühnern oder mit toten Menschen in Berührung gekommen. Innerhalb weniger Tage nach dem Kontakt bekommen die Personen Fieber und heftigen Husten. Sie sterben binnen etwa zehn Tagen. Der Prozentsatz derjenigen, die nach einer Infektion sterben, ist sehr hoch, zweiundsiebzig Prozent.« 23
Ein weiteres allgemeines Atemanhalten veranlasste Professor Forland, die Ausführungen von Professor Jenkins beschwichtigend zu ergänzen. »Aber das Virus überträgt sich nicht ohne Weiteres von Vögeln auf Menschen oder von Menschen auf Menschen. Dazu braucht es den unmittelbaren körperlichen Kontakt.« »Richtig«, bestätigte Professor Jenkins, dann lieferte er eine weitere bedrückende Information: »Aber jedes Mal, wenn H5N1 einen menschlichen Wirt findet, hat es Gelegenheit, sich zu einer besser übertragbaren Krankheit zu entwickeln.« »Gibt es einen Impfstoff?«, fragte Big Mim scharfsinnig. »Die Franzosen haben einen Impfstoff entwickelt. Er wird von der Firma Sanofi-Aventis hergestellt. Wir testen ihn hier. Die Engländer halten Tamiflu vorrätig. Das hat sich als wirksam erwiesen.« »Das Aufspüren von Fällen bei Menschen hat eindeutig Vorrang, aber die Gebiete, wo die Ausbrüche erfolgten, machen das äußerst schwierig«, schloss Professor Jenkins. »Könnten Terroristen sich H5N1 nutzbar machen?«, fragte Fair. »Ich denke, das könnten sie, sofern es sich zu einer besser übertragbaren Krankheit entwickelt. Die Verbreitung wäre einfach. Man schickt infizierte Menschen in Großstädte, bevor diese Menschen Anzeichen der Krankheit aufweisen. Das gibt ihnen eine Spanne von vielleicht zwei Tagen.« Professor Jenkins faltete die Hände. »Das ist ungeheuerlich!«, entfuhr es Hy. »Sie würden einen Mann oder eine Frau absichtlich infizieren und nach Paris, London oder New York schicken!« »Hy«, erwiderte Professor Forland ruhig, »sie fliegen entführte Verkehrsflugzeuge ins Pentagon und in die Twin Towers. Sie haben Menschen in Londons Untergrundbahn und auch in einem Bus getötet. Die Terroristen betrachteten sich als heilige Selbstmörder. Wieso sollten menschliche Zeitbomben, falls Sie mir die Bezeichnung gestatten, anders empfinden? Sie würden mit Freuden an der asiatischen Vogelgrippe sterben.« 23
»Dann sollten wir am besten auch Grippeimpfstoffe vorrätig haben.« Jim dachte an seine Verantwortung für Crozet. »Erinnern Sie sich an den jüngsten Mangel an Grippeimpfstoff, 2004?« Harry war so unbehaglich zumute wie allen anderen. »Ja«, antwortete Professor Forland grimmig. Professor Jenkins rutschte auf seinem Sitz herum. »Bedenken wir, dass wir biologische Kriegführung seit den Belagerungskriegen kennen. Die Belagerer haben verweste Leichen über die Stadtmauern geworfen in der Hoffnung, Gift zu verbreiten oder den Wasservorrat zu verpesten.« »Und vergessen wir nicht, dass Lord Amherst, nach dem das Amherst College benannt ist, an die Indianer Decken ausgab, die das Pockenvirus enthielten, gegen die sie keine Widerstandskraft hatten.« Professor Forland schüttelte in resigniertem Abscheu den Kopf. »Pocken und Anthrax sind immer eine Gefahr.« »Sie sagen also, Terroristen können in Labors einbrechen und unsere Entwicklungen gegen uns benutzen, genau so, wie sie Verkehrsflugzeuge benutzt haben.« Harry brachte es auf den Punkt. »Es ist möglich«, räumte Professor Jenkins ein, »aber warum sollen sie in unsere Labors einbrechen, wenn sie eigene benutzen können? Und die haben sie.« Professor Forland warf rasch ein: »Unsere Labors, die gegenwärtig derlei Möglichkeiten untersuchen, sind gesichert. Problematisch wird es, wenn ein Arzt oder ein Techniker selbstständig vorgeht, ein Agrikultur-Unabomber. So einer könnte beträchtliches Leid auslösen, weil es für uns unvorstellbar ist, dass einer von uns so etwas tut.« »Er hat recht. Unser Augenmerk richtet sich dank der Medien auf muslimische Terroristen, auf Bomben, Strahlungen, Anthrax. Die sind unmittelbar verständlich und vermutlich in gewisser Weise aufregend. Agrikultur ist nur für Farmer aufregend. Seien wir ehrlich, Stadtbewohner würden einen Baumwollkapselkäfer nicht erkennen, wenn ihnen einer vor die Augen käme, und die meisten wüssten den Unterschied zwischen 24
Zeltraupen und der Raupe des gelben Schwalbenschwanzes nicht zu benennen. Wir sind nicht auf ihrem Radarschirm, aber alle wollen billige Nahrung«, sagte Pittman sarkastisch. »Was es umso gefährlicher macht, weil sie nicht vorbereitet sind«, meldete sich Tante Tally mit kräftiger, klarer Stimme. »Hm - ja«, stimmte Professor Jenkins zu. »Viele von Ihnen werden sich erinnern, als das Ulmensterben die Ostküste heimsuchte. Die Menschen in den Großstädten sahen die Bäume sterben, aber es war ihnen in keiner Weise bewusst, dass dadurch die Versorgung mit Sauerstoff gefährdet war. Bedenken Sie, wenn so viele Bäume in so kurzer Zeit sterben, findet weniger Photosynthese statt. Es wird weniger Sauerstoff erzeugt. Deswegen ist die Luftverschmutzung in den Großstädten ausgeprägter. Diese grundlegenden Tatsachen kommen Menschen nicht in den
Sinn, die in Gebäuden arbeiten, wo die Fenster sich nicht öffnen lassen.« Er sagte dies mit einem halben Lächeln, aber es war unverkennbar, dass die Unwissenheit der Menschen ihn deprimierte. »Sie haben auch keine neuen Bäume gepflanzt. Während Industrie und Autos die Umwelt verschmutzen, wird das Problem durch die Abnahme des Baumbestandes verschlimmert.« »Meint jemand von Ihnen, wir sind mehr durch einen amerikanischen Spinner gefährdet als durch einen echten Terroristen?«, fragte Tracy Raz, ein ehemaliger Army- und CIA-Angehöriger. »Wer weiß?« Professor Jenkins hob die Hände. »Ich möchte darauf eingehen.« Professor Forland wurde lebhaft. »Wir sind durch ausländische Terroristen weit mehr gefährdet als durch einheimische. Erstens sind sie gut ausgebildet, politisch und religiös motiviert und verfügen über genügend Geld. Amerikaner mögen gut ausgebildet und von einer grauenhaften Motivation beseelt sein, die für sie vollkommen plausibel ist. Bislang haben wir ein paar einzelne Spinner erduldet. Es ist nicht unvorstellbar, dass irgendwann in der Zukunft: eine extreme religiöse oder politische Organisation solche Aktivitäten finanziert. Im Augenblick ist das unwahrscheinlich. Aber ich meine, es ist viel schwieriger, sich vor 25
einem gewalttätigen Einzelgänger zu hüten als vor einer gut organisierten Gruppe mit einer erklärten Absicht.« Die Diskussion glitt dahin. Jim Sanburne könnte die Zeit addieren, die er im Laufe der Jahre auf Versammlungen, Konferenzen und Vorlesungen verbracht hatte. Er war seit 1964 Bürgermeister von Crozet. Er flüsterte seiner Tochter zu: »So was hab ich noch nie erlebt.« Little Mims Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Ist es nicht großartig, wie die Leute sich engagieren?« »Früher oder später wacht auch der faulste Saukerl auf, wenn der Yankee-Soldat durch sein Kartoffelfeld trampelt.« Jim kicherte leise. »Daddy.« Sie kniff ihn in den Arm. Blair Bainbridge, der im Norden geboren und aufgewachsen war, beugte sich an seiner Verlobten vorbei, sah seinen zukünftigen Schwiegervater an und flüsterte: »Und wer hat den Krieg gewonnen?« »Keiner. Die im Norden denken, sie haben gewonnen, aber es ist das Schlimmste, was diesem Land je passiert ist.« Hy Maudant, ein eifriger Erforscher der weltweiten Geschichte des Weines, drehte sich um und flüsterte den Sanburnes zu: »Der Krieg hat die aufkommende Weinproduktion im Süden zum Stillstand gebracht.« »Wenn Sie ein Agroterrorist wären, welche Getreideart würden Sie dann attackieren?«, fragte Jim den Franzosen scharfsinnig. »Weizen.« Jim nickte. »Ah.«
»Und Sie?«, fragte Hy. »Da Sie Weizen genommen habe, nehme ich Mais.« Jim lächelte liebenswürdig. Die Diskussion war noch nicht zu Ende, als diejenigen, die sich um die Babysitter sorgten, zögernd nach Hause aufbrachen. Erst um halb elf hatte sich der Raum geleert. Auf der Heimfahrt in Harrys Transporter ließen sie und Fair den Abend Revue passieren. 26 »Bist du nicht froh, dass Pferde nicht auf der Liste von Terroristenzielen stehen?« Fair legte den Arm um Harrys breite Schultern. »Ich werde nachts besser schlafen.« »Du schläfst nachts besser, weil ich neben dir bin.« Er lachte. »Weißt du, Schatz, das ist wirklich wahr. Nichts gibt mir so ein sicheres Gefühl, wie mit deinen starken Armen um mich einzuschlafen.« »Gleichfalls, wenn du außen liegst, meine ich«, sagte er. »Wirklich? Du fühlst dich in meinen Armen sicher?« »Aber natürlich, Schatz. In der Liebe geht es nicht nur darum sein Herz zu öffnen, sie ist eine Rüstung gegen die Welt.« Fair drückte ihre Schulter. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Aber stark bin ich«, prahlte sie. »Ja, das bist du.« Vor ihnen leuchteten die Rücklichter von Tante Tallys Wagen auf. Sie wurde von Blair und Little Mim gefahren. Da ihre Farm nur gut zwei Kilometer von Harrys und Fairs entfernt war, überholten oder folgten sie sich oft auf dieser Straße. »Sie quatscht ihnen die Ohren voll.« »Das Letzte, was an Tante Tally stirbt, wird ihr Mundwerk sein«, meinte Fair lakonisch. Harry lachte und fügte hinzu: »Ich bin wirklich beruhigt, dass Pferde keine Zielscheibe sind.« »Terroristen werden sich nicht um Pferde bekümmern. Pferde bleiben nachts wach und überlegen sich, wie sie sich wehtun können.« Nach einer kurzen Pause lächelte Harry, die wusste, dass nur zu wahr war, was er sagte. »Baby, dir wird die Arbeit nie ausgehen.« 26
5 »... enttäuscht.« Susan Tucker, Harrys beste Freundin, atmete aus. Die Katzen sowie Tucker und Owen, Susans Corgi, trotteten hinter ihnen drein, als sie den steilen Weg an dem Berghang hinunterliefen, der zu dem Bland-Wade-Land gehörte. »Was wollte Ned?« Harry erkundigte sich nach den von Ned befürworteten Ausschuss-Anträgen. Er war als Senator für den siebten Bezirk des Staates vereidigt worden. »Er wollte Mittel und Wege. Weil die Republikaner die ganze Legislative in der Hand haben, fühlt er sich ins Abseits gedrängt.«
»Er wird das Beste draus machen. Ned ist klug«, fuhr Harry fort. »Susan, die Agrikultur ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht im Staat Virginia. Sie bringt 2,4 Milliarden Dollar ein, und weißt du was? Eine Milliarde davon ist dem Pferdegeschäft zu verdanken. Und diese Einkünfte würden sich verdoppeln, wenn die verdammte Legislative Rennen aller Art fördern würde. Wir verdienen das Geld trotz Richmond. Ned sollte froh sein, dass er in so einem Ausschuss sitzt.« »Das hab ich auch gesagt. Er sagt, er versteht nichts von Agrikultur, und genau deswegen haben sie ihn in diesen Ausschuss gesteckt.« »Ich kann mich ihm als Praxis-Expertin zur Verfügung stellen.« Harry strahlte. Sie hatte recht. Sie war auf der Farm geboren, auf der sie lebte. Sie hatte ihr Leben lang auf der Farm gearbeitet, mit Ausnahme der vier Jahre am Smith College, wo sie Kunstgeschichte als Hauptfach belegt hatte. Sie hatte sich gedacht, das würde die einzige Zeit in ihrem Leben sein, wo sie nicht rücksichtslos praktisch sein musste. Ihr Vater fand ihre Einstellung richtig. Ihre Mutter nicht. Am Ende fand Mrs. Minor sich mit der »Leichtfertigkeit« -ihre Meinung zu Harrys Hauptfach - ihrer Tochter ab. Sie meinte, man sollte studieren, was Geld einbringen würde. 27
Was Mrs. Minor nicht begriff, war, dass Harry zum ersten Mal in ihrem Leben aus dem Süden verpflanzt wurde, weit fort von Blutsbanden und der eng verbundenen Gemeinschaft von Crozet, hinein in eine Welt von klugen, ehrgeizigen Frauen. An den Wochenenden konnte sie mit klugen, ehrgeizigen Männern von Amherst, Yale, Dartmouth, Colgate, Cornell und dem einen oder anderen von Harvard zusammen sein. Sie entdeckte, dass sie sich behaupten konnte, sobald man sich an ihren weichen Virginia-Akzent gewöhnt hatte. Die vier Jahre im kalten Massachusetts halfen ihr, ihren Glauben an ihre Klugheit, an ihre Urteilskraft zu festigen. Sich über Gefühlsregungen klar zu werden erwies sich als schwieriger als die Beherrschung komplexer Stoffe. Das trifft vielleicht auf viele Menschen zu, nicht nur auf Harry. Susan dagegen besaß einen überragenden emotionalen Spürsinn. Sie scherzten miteinander, dass sie zusammen ein einziges Genie darstellten. Der Kälteeinbruch, der am Montag eingesetzt hatte, hielt an. Die Hände in die Taschen geschoben, marschierten die zwei Freundinnen zu dem soliden kleinen Jeep Wrangler, den Ned seiner Frau gekauft hatte, um sie über seine langen Abwesenheitszeiten hinwegzutrösten. Susan brauchte ein robustes Fahrzeug, um das Bland-Wade-Land, das ihr Großonkel ihr vermacht hatte, zu hegen, weil es auf dem 1500 Morgen großen Gebiet nur unbenutzte Farmstraßen gab. Dieses außergewöhnliche Stück Land umfasste die ganze Strecke von Tally Urquharts Rose-Hill-Farm bis hinter Harrys Farm. Die zwei Freundinnen waren fast bis auf den Kamm des letzten Hügels vor dem Blue-Ridge-Gebirge gestiegen, um nach einem Bestand mit Schwarzen Walnussbäumen, Hickorybäumen,
Robinien und Sumpfeichen zu sehen. Im ganzen Gebiet verstreut standen Virginiakiefern. »Wir sollten die Kiefern ausdünnen. Die Virginiakiefer lebt höchstens fünfundzwanzig bis dreißig Jahre, dann fällt sie einfach um und fault.« Susan, die eigentlich nicht viel von Hölzern wusste, hatte sich mit Feuereifer in das Thema Nutzholzwirtschaft eingelesen. 28
»Ein einziger Blitzschlag wird das Thema Kiefern erledigen«, bemerkte Pewter, die sich vorwärts schleppte und die scharfe Luft spürte. »Der Kahlschlag der Natur«, pflichtete Tucker ihr bei. »Hats hier lange Zeit nicht gegeben. Wir hatten die letzten Jahre so viel Regen«, bemerkte Owen, der, wie alle Tiere, jede Nuance des Wetters registrierte. »Hey.« Tucker blieb stehen und senkte die Nase zum Boden. Die anderen drei gingen zu ihr und senkten ebenfalls die Nasen. »Bär«, sagte Owen nur. »Vielleicht vor einer Stunde.« »Gibt alle möglichen großen Pelztiere hier oben.« Pewter plusterte ihr Fell auf. »Wir mögen zwar kleine Pelztiere sein, aber wir können auf uns aufpassen.« Mrs. Murphy plusterte ihren Schwanz auf. »Wie oft hab ich dich schon rausgerissen?«, fragte Pewter. »Du? Ich helfe dir öfter aus der Patsche als du mir.« Mrs. Murphy konnte Pewters Selbstüberschätzung nicht fassen. »Ha!« Pewter flitzte vor die Menschen, angetrieben von ihrer eigenen Meinung über ihre Kräfte. Susan fiel das auf. »Ich hab Pewter noch nie so lebhaft gesehen.« Harry sah Pewter zu, die ihrer Geschwindigkeitsanwandlung eine halbmeterhohe Baumbesteigung und einen Absprung folgen ließ. »Sie hat manchmal so Anfälle.« Sie kehrte zum eigentlichen Thema zurück. »Es wird nicht leicht sein, eine Bauholzfirma zu finden, die einen so kleinen Auftrag annimmt. Du sprichst von zirka sechzig Morgen, das ist nichts für die großen Bosse. Und wir brauchen jemanden, der zuverlässig ist. Im Augenblick sind die Preise niedrig für Faserholz, und das ist Virginiakiefer.« »Wenn wir warten, fallen sie bloß noch tiefer.« »Kann sein, kann auch nicht sein. Wir haben ein, zwei Jahre.« Harry stieg ein und machte die Tür des limonengrünen Wrangler zu, froh, der Kälte zu entrinnen. Tucker setzte sich auf ihren Schoß und Owen, Tuckers Bruder, setzte sich auf Susans Schoß. Sie verfrachtete ihn nach hinten zu Mrs. Murphy 28
und Pewter, die es sich schon in Owens kleinem Schaffell-Lager gemütlich gemacht hatten. »Ich habe sämtliche Aufzeichnungen von G-Onkel Thomas.« Susan nannte ihn G-Onkel, für Großonkel. »Die Kiefern wurden 1981 gepflanzt. Eine lange Regenzeit, mehrere starke Winde, und sie krachen zusammen.«
»Das kommt von den spärlichen Wurzeln. Man sollte nicht meinen, dass so hohe Bäume so kleine Wurzeln haben.« Harry schaltete die Heizung ein. »Okay?« »Klar, ich bin durchfroren bis auf die Knochen. Komm, wir fahren in die Stadt und trinken einen schönen heißen Kakao. Ich muss sowieso meine Post abholen.« »Okay.« Sie rumpelten über die alten ausgefahrenen Straßen. Harry stieg am Tor zu ihrer hinteren Weide aus und öffnete es. Susan fuhr durch, Harry schloss das Tor und stieg wieder ein. Sie fuhren am Stall vorbei und den langen Weg entlang zu der gepflasterten Staatsstraße. »Sonst noch irgendwelche Ideen?«, fragte Susan. »Ja, allerdings. Wenn wir einen Vertrag mit einer guten Nutzholzfirma abschließen - keinen Verwaltungsvertrag, bloß nicht, nur einen Abholz- Vertrag -, für sagen wir, fünf Jahre, sind wir vielleicht für ein solideres Unternehmen attraktiv. Dass jemand hier raufkommt, sich das gute Holz schnappt und auf dem ganzen Gelände Holzabfall zurücklässt, das ist das Letzte, was wir wollen.« »Du willst, dass sie Gruben ausheben und ihn verbrennen?« »Nein, ich möchte die Reste zu Abfallhaufen zusammenschieben, vielleicht anderthalb bis zwei Meter hoch. Die lassen wir verrotten. Das wird eine Heimat für alle möglichen Lebewesen werden. Ich weiß, warum die Leute das Zeug verbrennen, aber das ist Verschwendung. Holzabfall bietet Unterschlupf, und für Tiere und Pflanzen fängt der Erneuerungskreislauf von vorne an.« »Was meinst du, wie viel wir an dem Kiefernholz verdienen können?« »Hm, schön wäre es, wenn wir mindestens tausend Dollar 29
pro Morgen rausschlagen könnten, aber der Markt ist so schwankend. Für Schwarzes Walnussholz war der Markt dagegen richtig gut. Hohe Preise.« »Wir haben da oben zwei Morgen Schwarze Walnuss.« »Mir macht noch was anderes Sorgen. Lassen wir die falschen Leute hin, wird ein Teil des enormen Profits einfach verschwinden. Die klauen uns das Walnussholz.« »Das würden wir doch merken.« »Das möchte ich gern denken, aber es wäre trotzdem ein Riesenschlamassel.« »Erst mal Kakao. Den hab ich jetzt nötig.« Susan führ auf den Parkplatz des früheren Bankgebäudes, das jetzt Tracy Raz gehörte. Das Erdgeschoss des Gebäudes beherbergte ein anständiges, schlichtes Bistro. Als sie sich in eine Nische fallen ließen, begrüßte sie Kyle Davidson, der Inhaber, und nahm ihre Bestellung auf. »Susan, was ich mir überlegt habe, seit wir die Bodenproben analysiert haben, warum pflanzen wir nicht auf dem tiefer gelegenen Gelände, wo der Boden fruchtbarer ist, Zuckerahorn, Rotahorn, Robinien, immergrünen Weißdorn, alles Bäume, die wir an Baumschulen verkaufen können, wenn sie drei, vier Jahre alt sind? Wr können unseren Bestand aus unseren eigenen Ablegern fortlaufend erneuern und das Land effektiv nutzen. Mit Baumschulbeständen erzielen wir
einen viel schnelleren Umsatz als mit Nutzholz. Wir würden drei Jahre keine große Vergütung haben, aber es lohnt sich, die Virginiakiefern und die alten Weihrauchkiefern abzuholzen. Der Boden mag säurehaltig sein, aber die meisten Kiefernbestände sind weiter oben. Mit dem Geld von den Kiefern können wir auf dem tiefer gelegenen Land mit den Anpflanzungen für den Baumschulbestand beginnen. Der Knackpunkt ist die Bewässerung. Wenn eine Dürre kommt, müssen wir die Schösslinge bewässern.« Harry hatte dies schon laut zu ihren Tieren geäußert, weil sie oft besser laut denken konnte. Aber Susan hatte sie bis jetzt noch nichts davon gesagt. Susan leerte ihren Becher und strahlte. »Ein Wasserbüffel.« 5°
Sie meinte einen Tank, der gewöhnlich von einem offenen Lieferwagen oder einem Traktor gezogen wurde. Kleinere Tanks konnten auf der Ladefläche des Lieferwagens befördert werden, aber das war schlecht für die Stoßdämpfer. »Das sind eine Menge Arbeitsstunden.« Harry lehnte sich auf der Bank zurück. »Aber es ist immerhin ein Anfang. Vorerst können wir uns unmöglich ein Bewässerungssystem leisten. Perlschlauchbewässerung ist noch teurer, deswegen ist ein Wasserbüffel am vernünftigsten.« »Was ist mit deinen Sonnenblumen. Wirst du die nicht bewässern?« »Doch, ich werde alles bewässern - die Luzerne, die Obstwiesen, die Sonnenblumen und meine Viertelmorgenreihe Petit-Manseng-Reben. Mit dem Traktor ziehe ich einen Beregner. Wir haben den großen Traktor, den Fair und ich Blair abgekauft haben. Achtzig PS. Ideal! Dasselbe System können wir für den Baumschulbestand benutzen.« »Würdest du es vermieten?« »Quatsch, Susan, wir sind Partnerinnen, klar?« »Schon, aber es geht um die Abnutzung deiner Maschinen. Ich muss dafür was bieten.« »Du hast 1500 Morgen geboten.« »Auch wieder wahr, hm?« Sie lachte. Laute Stimmen an der Bar ließen sie aufmerken. »Das ist eine verdammt unverantwortliche Behauptung.« Toby Pittman hatte sich vor Hy Maudant aufgebaut, der auf einem Barhocker saß. »Nein, ist es nicht. Was ich sage, ist keine Kritik an Professor Forland. Sie halten die Regierung immer für den Feind. Los, zeigen Sie mir Ihre moralische Überlegenheit. Dann können Sie sich auf Ihren Hintern setzen und sich ausruhen.« »Ich sollte Ihren dicken Arsch vom Hocker schubsen.« Kyle kam ruhig um den Tresen herum. »Tragen Sie das draußen aus.« »Schon gut. Ich gehe. Ich mag sowieso nicht mit diesem französischen Faschisten in einem Raum sein.« Toby sah Hy finster an, ging und knallte absichtsvoll die Tür zu. 5i
Hy drehte sich auf dem Hocker herum und bemerkte Susan und Harry. »Unterhaltsam, was?« Sein leichter französischer Akzent ließ alles, was er sagte, musikalisch klingen. So war es auch bei Paul de Silva, Big Mims jungem Stallmeister, der mit einem schönen spanischen Akzent sprach. »Was hatte Toby denn zu meckern?«, fragte Harry frei heraus, als Hy mit seiner Tasse in der Hand zu ihnen herüberkam. »Setzen Sie sich doch, Hy.« Susan rückte ein Stück, weil Hy viel Platz brauchte. Seine Blicke sprangen munter von einer hübschen Dame zur anderen. »Ach, Sie wissen ja, wie überempfindlich er ist. Als er im März die Rebstöcke auf Rockland Vineyards beschnitt, habe ich die Vermutung erwähnt, angedeutet, ja kaum gehaucht, er möge doch vielleicht ein bisschen dynamischer vorgehen, um das Wachstum zu fördern. Er hat mich rausgeworfen! Ich habe geschworen, das war das letzte Mal, dass ich versucht habe, ihm zu helfen. Mit dem kann kein Mensch arbeiten.« Er hob die Hand, mit der Handfläche nach außen. »Ich widme mich weiter der Wederbelebung des Weinbaus in Virginia, die dank den genialen Bemühungen von Felicia Rogan von Oakencraft Vineyards ihren Anfang nahm, aber ich werde keinen Finger rühren, nicht mal den kleinen, um diesem unerträglichen Meckerfritzen zu helfen. Wenn seine Stöcke mit Anthraknose infiziert würden und ich die letzte Tonne Schwefelkalk im Lande hätte, würde ich sie ihm nicht verkaufen.« »Liegt in der Familie. Alle Pittmans sind schwierig.« Harry ertrug Toby, ging ihm aber aus dem Weg. »Was ist Anthraknose?«, fragte Susan. »Das ist ein Pilz auf den Blättern, der wie das Auge eines Vogels aussieht. Heikel. Die Reben wirken gesund, aber die Blätter welken. Zwei, drei Jahre vergehen, und alles scheint in Ordnung zu sein. Aber am Ende greift die Infektion auf die Frucht über, und man bekommt missgebildete Trauben.« »Es gibt doch sicher vieles, was Reben angreift.« »Es gibt keine rundum resistente Pflanze.« 52
»Doch, Unkraut.« Susan stützte den Kopf in die Hand. Harry lachte. »Ich denke, wenn Leute von einem naturbelassenen Garten sprechen, meinen sie Unkraut.« Sie wandte sich wieder Hy zu. »Bis ich meine kleinen Rebstöcke mit allen Mitteln behandelt haben werde, bleibt mir kein Penny Profit.« Er lächelte. »Dafür sind Sie zu klug.« Er klopfte an seine dicke Tasse und führ fort. »Man düngt oder spritzt nur, wenn es nötig ist, oder zum richtigen Zeitpunkt zur Vorbeugung. Wir hier haben bisher Glück gehabt. Es ist uns gelungen, die Stöcke gesund zu erhalten.« »Ausdauer.« Sie machte eine Pause, dann lächelte sie zaghaft. »Und Ego.« »Man braucht ein starkes Ego, um alles gut zu machen«, stimmte er zu. »Ein gargantueskes Ego. Pantagruel. Ja, den Pantagruel des Egos. Das ist Toby. Ich
habe ein Ego. Felicia hat ein Ego. Patricia hat ein Ego, aber wir haben auch Vernunft. Toby nicht.« Er setzte voraus, dass die Damen Rabelais kannten, und da sie gut gebildet waren, waren sie mit den Werken vertraut, die der größte französische humoristische Schriftsteller in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts geschrieben hatte. »Kann man überhaupt Winzer sein, ohne ein großes Ego zu haben?« Susan staunte über die Vielschichtigkeit dieser Arbeit. Man musste die richtige Rebsorte für den Boden wählen, sie hegen, ernten, dann verkaufen oder selbst Wein daraus machen. Es blieb eine Wissenschaft und eine Kunst, die richtige Mischung zu erzeugen, um einem verwöhnten Gaumen gerecht zu werden. Harry, eine Fuchsjägerin, bewies selbst etwas von der Schlauheit des Fuchses. »Hy, Toby hat Ihnen doch sicher nicht wegen des Beschneidens von Reben gedroht, Sie vom Hocker zu schubsen. Welchen blank liegenden Nerv haben Sie heute getroffen?« Sie lächelte kokett, da Hy von sich glaubte, für alle Frauen weltweit attraktiv zu sein. »Ah, ja.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Vincent Forland. Ich habe gesagt, die zwei Männer auf dem Podium ha 32
ben allen eine Anleitung zum Bioterrorismus an die Hand gegeben. Unverantwortlich!« »Hy, das ist mir neulich nicht in den Sinn gekommen. Es war so faszinierend, aber wissen Sie, da ist was dran«, sagte Harry. Er hob die Schultern auf diese unnachahmliche französische Art, oft kopiert und nie erreicht von denen, die nicht im erhabenen Frankreich geboren sind. »Denken Sie an meine Worte, meine Damen. Es wird alles ein böses Ende nehmen.« »Wieso hat das Toby so aufgebracht?« Susan wusste, dass Toby leicht die Sicherungen durchbrannten, aber diesmal wirkte er besonders aufgewühlt. »Ah, Toby, der moralisch überlegene Toby. Als ich die Vermutung äußerte, Professor Forland und Professor Jenkins könnten ebenso gut für die Terroristen arbeiten, angesichts dessen, dass sie uns zu viel gesagt hatten, hat er mich beschimpft und erklärt, das sei lächerlich. Ich sagte, nein, schlau. Die zwei Experten warnen uns wahrscheinlich, aber sie machen den Menschen Angst. Pflanzen als tödliche Kampfstoffe, ganz gewöhnliche Pflanzen, solche Sachen kann auch jemand destillieren, der weniger weiß als Professor Forland.« »Toby hat anscheinend eine unstete Beziehung zu Professor Forland«, vermutete Susan. »Toby mag ihn, aber ich glaube, er ist nie richtig darüber weggekommen, dass ihm das Technical College keinen Lehrstuhl angeboten hat«, bemerkte Harry. Es war typisch für sie anzunehmen, dass Archs Rückkehr keine emotionale Auswirkungen auf ihr Leben haben würde. »Er nimmt alles so persönlich«, sagte Susan mitfühlend.
»Und jetzt ist Arch hier, Rollie Barnes' Partner. Das kratzt an Tobys reizbarer Natur«, meinte Harry. Hy nickte ernst. »So ist es. Sie haben ein großes Herz, Susan. Zuerst hat Toby die Beherrschung verloren, als ich die Vermutung äußerte, sein geschätzter Professor Forland könnte ebenso gut Terroristen eine Anleitung geben, falls er nicht schon ihn ihren Diensten steht. Als ich dann sagte, Professor Forland könnte ebenso gut für den staatlichen Heimatschutz 33
dienst oder eine andere Behörde arbeiten, ist er explodiert. Er hat mir gedroht und erklärt, Professor Forland würde sich niemals herablassen, mit unserer rechtslastigen Regierung zusammenzuarbeiten.« »So hat er unsere Regierung genannt?« Susans Wangen wurden rot. »Leider ja, Madam.« »Toby ist ein ausgemachter Anarchist.« Harry spürte die Wärme ihres Bechers an den Händen. »Aber wissen Sie, so sehr er einen mit dergleichen verärgern kann, es ist gut, dass wir es zu hören kriegen. Sonst wären wir bloß ein Haufen Schafe.« »Aber kann ein Mann nicht trotzdem amüsant sein?« Hy hob verblüfft die Hände.
6
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as Rollie Barnes in Angriff nahm, gelang. Seine hinreißende Frau, zwanzig
Jahre jünger als er, hielt ihm gegenüber mit ihrer Intelligenz wohlweislich hinterm Berg, weil er sich in Gegenwart von imponierenden Frauen unbehaglich fühlte. Rollie besaß Verstand, war aber emotional schwach. Das wiederum machte ihn aggressiv, eine Eigenschaft, die man in ihrer unverhohlenen Form im Süden nicht schätzte. In ärmlichen Verhältnissen in Stamford, Connecticut, geboren, hatte Rollie sich durch das staatliche College gebissen. Doch sobald sich seine Begabung herausstellte, machte er löblicherweise das Beste daraus. »Periostale Elevation», stellte Rollie mit Entschiedenheit fest. Fair, der das Fohlen geholt hatte, verkniff sich ein Lächeln. »Ein Ausweichverfahren, Mr. Barnes. Der Kleine braucht keine P&E.« Er benutzte die Abkürzung für das unter Pferdeleuten bekannte Verfahren. 33
Mim hätte sofort gewusst, wovon Fair sprach - eine Operation am Knie des Vorderbeins. »Ich will ein Fohlen mit geraden Beinen.« Mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen stand Rollie unter einem im Stall total überflüssigen Kronleuchter. »Schatz, er mag mich.« Chauntal senkte den blonden Kopf zu dem Hengstfohlen, das sich an sie schmiegte, während seine Mutter zusah.
Fair lächelte. Er mochte Chauntal. Er beneidete sie nicht. Es ist leichter, Geld zu verdienen als Geld zu heiraten. »Mr. Barnes, das Fohlen hat Carpal valgus, X-Beine. Ich denke, das gibt sich mit der Zeit. Vorerst würde ich da nichts unternehmen. Ich würde nicht mal schienen; denn so schlimm ist es nicht.« Fair sagte nicht, dass eine P&E falsch wäre; denn er, ein sensibler Mensch, wollte Rollie nicht kränken. »Für mich sieht es aber schlimm aus.« Rollie schob die Unterlippe vor. »Das glaube ich gern, aber es ist ein leichter Fall. Mal ehrlich, Sie wollen doch kein Pferd mit kerzengeraden Beinen haben. Ein richtig gerades Bein fördert Knieprobleme.« »Ich habe aber gelesen, dass dieser Schnitt bei x-beinigen Fohlen angewendet wird.« »Einige Tierärzte machen das wohl, aber ich würde P&E nur bei einem Fesselproblem oder bei schlimmen O-Beinen anwenden. Es wird bestimmt von selbst weggehen. Der Kleine wird ein Prachtkerl.« Chauntal konnte die Finger nicht von dem süßen braunen Fohlen lassen. »Dr. Haristeen, was ist ein Periostal-schnitt?« »Das ist ganz interessant, Ma'am. Man macht einen kleinen Schnitt in Form eines umgekehrten T durch die Knochenhaut unmittelbar oberhalb der Wachstumsplatte. Man hebt die Ränder der Knochenhaut an, und bei den meisten jungen Fohlen wächst das Bein nach vier bis sechs Wochen gerade. Die Operation bewirkt, dass die langsamer wachsende Seite des Beines aufholt. Der Schnitt löst die Spannungen der Membran, die die Wachstumsplatte bedeckt - diese Membran 34
nennt man Periost, Knochenhaut. Das hätte ich wohl gleich sagen sollen.« Er lächelte gewinnend. »Nun, ich werde Dan Flynn fragen.« Rollie sprach von einem landesweit bekannten Pferdearzt, der in Albemarle County lebte. »Sir, einen besseren werden Sie nicht finden. Sie können sich auch bei Reynolds Coles oder Anne Bonda oder Greg Schmidt erkundigen. Das sind alles ausgezeichnete Tiermediziner. Dan ist, wie Sie vermutlich wissen, so bekannt, dass er überall gefragt ist. Es wundert mich, dass noch kein Saudi-Prinz Dan und Ginger« - er sprach von Dans Frau, einer Kleintierärztin - »eine Million geboten hat, um in Dubai zu praktizieren.« Dass Fair nicht gekränkt war, verwunderte Rollie, der jeden Austausch mit einem anderen Mann als einen Wettstreit von Willen, Witz und natürlich Geld ansah. Chauntal, der Rollies Verhalten oft peinlich war, bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. In Armut in Mississippi geboren, war sie von Menschen mit guten Manieren aufgezogen worden, die andere Menschen achteten. Ihre Eltern und ihre Schwester waren nicht erfreut über Rollies Reichtum. Sie fanden den Mann ungehobelt und gefühllos. Sie beteten, dass ihr hübsches Mädchen ein gutes Leben haben möge. Dass ihr Mann sie achten möge. Nicht, dass sie sich Rollie
gegenüber anders als liebenswürdig verhalten hätten. Sein Angebot, ihnen dies und das zu kaufen, schlugen sie aus. Rollie verstand nur die Sprache des Geldes. Er war trotz seines Reichtums ein armer Mensch. »Sagen Sie mir, was Sie möchten, Mr. Barnes, und wenn Sie die Operation wünschen, werde ich für einen anderen Tierarzt beiseite treten oder ihm assistieren, wenn Ihnen das lieb wäre. Wie gesagt, all diese Leute sind hervorragend. Sie können keinen Besseren finden.« »Ich lasse Sie von meiner Sekretärin anrufen, wenn Dr. Flynn sich das Fohlen angeschaut hat.« »Schön.« Fair tätschelte das Fohlen. Der Kleine hatte wunderschöne Augen. 35
»Wie ich höre, hat BoomBoom einen Maulesel bekommen.« Rollie feixte. »Maulesel sind brave Tiere.« »Will sie ihn wirklich ausbilden, wie Paul gesagt hat?« Chauntal war verblüfft. »Wann hast du Paul gesehen?«, fragte Rollie sie streng; denn Paul de Silva sah gut aus und war sexy. »Als ich bei Tazio war, um zu sehen, wie weit sie mit den Plänen für dein Kelterhaus ist.« Das freute ihn. »Ah, ja, die Pläne.« Zu Fair sagte er: »Sie ist sehr umgänglich, und weil sie erst am Anfang ihrer Laufbahn steht, komme ich preiswert an gute Arbeit.« Fair hielt große Stücke auf die junge Architektin. »Sie haben eine kluge Wahl getroffen.« Darauf blähte Rollie sich vor Stolz. Seine rotblonden Haare, die oben am Kopf bereits schütter wurden, hatten ihre Farbe behalten. Der etwas schmächtige Mann wies wenigstens keinen Schmerbauch auf wie Hy Maudant. Als Rollie sein erstes Geld verdient hatte, engagierte er Berater, die ihm beibrachten, wie er sich kleiden musste, Berater, die ihm beibrachten, welche Gabel und welches Messer man wozu benutzte. Diese Schwierigkeiten hatte er gemeistert. Als sie aus dem Stallgebäude traten, das in einem zarten Pfirsichton mit weißer Umrandung gestrichen war, mit dunkelgrünen Blendläden an den Bürofenstern, zerzauste der Wind Fairs dichtes Haar. Chauntal hakte sich tänzelnd bei Rollie ein. »Schatz, zeig ihm deine neueste Errungenschaft.« Rollie deutete auf die Südseite des Gutes. »Merlot.« Man konnte Arch durch die geraden Rebstockreihen gehen sehen. »Wie ich höre, haben Sie sie im November gepflanzt.« »Zwanzig Morgen Merlot. Fünfzehn mit Pinot Gris. Und das ist erst der Anfang.« »Arch wird genau wissen, was zu tun ist«, bemerkte Fair. »Auf Veritas Vineyards wollten sie ihn haben, aber ich habe ihm eine Partnerschaft angeboten, und damit war der Handel
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besiegelt. Er ist vierunddreißig, hat also die besten Jahre noch vor sich.« Rollie grinste. Fair biss sich auf die Zunge, dann erwiderte er: »Arch hat viel praktisches Wissen, und er hat Ehrgeiz. Während der Jahre in Napa Valley hat er eine Menge Erfahrung gesammelt.« »Chauntal und ich beabsichtigen, den besten Rotwein in Virginia zu erzeugen. Mit einem toll gestalteten Etikett. Freilich befinden wir uns noch im Kreativstadium.« Er zog Zeichnungen aus seiner Tasche. Sie waren hübsch. Fair dachte an Hy Maudants weißes quadratisches Etikett mit der goldenen Lilie unter dem schlichten Logo »White Vineyards«. Er sagte murmelnd etwas über die Farben. »Dr. Haristeen, können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten, oder vielleicht ein Sandwich? Sie hatten sicher einen langen Vormittag.« »Nein, danke, Mrs. Barnes. Ich muss gleich anschließend nach St. James.« »Alicia Palmer.« Rollies Augen weiteten sich. »Ich habe sie gesehen, aber ich bin ihr nie persönlich begegnet.« »Sie liebt ihre Abgeschiedenheit, ihre Pferde und ihren Gordon Setter Max. Sie ist ein Gedankenmensch.« Fair lag nichts an Klatsch. Ehe Rollie den Mund aufmachen und hinsichtlich der legendären Alicia ins Fettnäpfchen treten konnte, sagte Chauntal: »Ich gratuliere Ihnen zur Heirat.« Sie hatte gehört, dass Harry und Arch einmal eine Affäre hatten, aber das würde Chauntal niemals erwähnen - nicht einmal gegenüber Rollie. Irgendwann würde er es von irgendwem hören. Dann wollte sie überrascht tun, was ihn freuen würde. Außerdem, je länger Rollie es nicht wusste, desto mehr Zeit verging, ohne dass ihm irgendwas Ungehöriges entschlüpfte. »Ich bin ein Glückspilz.« Fairs Augen blitzten. Während er durch die lange, mit blühenden Birnbäumen gesäumte Zufahrt fuhr, dachte er, wie glücklich er wahrhaftig war, wie herrlich der Frühling in Mittelvirginia sein konnte, drei Monate Farben und kühle Frische, die schließlich der Wärme des Sommers wich. 36
Er dachte auch, dass Rollie Barnes am Ende von Crozet enttäuscht sein würde. In ihrem ersten Jahr hatten die Barnes' es geschafft, auf die großen Feste eingeladen zu werden, waren aber noch nicht zu den kleineren, intimeren Zusammenkünften gebeten worden, die viel wichtiger waren. Die Leute mochten Chauntal. Rollie zu mögen fiel ihnen schwerer. Wenigstens führte sein neues Interesse an der Weinproduktion ihn mit den Großmächtigen im Lande zusammen. Fair bog auf der Route 810 rechts ab und führ Richtung Crozet. St. James lag etwas näher an der Stadt.
7
C
arter's Ridge verläuft wie eine dünne Fischgräte vom Blue-Ridge-Gebirge aus,
von dem es sich im Laufe der Jahrtausende abgelöst hat, von Nordwesten nach Südwesten. Der Eppes Creek mündet in die Nordgabelung des Hardware River nahe dem nordöstlichen Kamm vom Cater's Ridge. Die alte Brücke, viele Male unterspült, seit die Europäer so weit in Virginias Westen vordrangen, war durch eine Pfahlbrücke ersetzt worden, nur einen Steinwurf weit von dem Zusammenfluss. Die Route 20, eine gewundene, gefährliche Straße, führte über die Brücke. Wenn man in südlicher Richtung auf der Route 20 fuhr und bei der Carter's Brücke links abbog, waren Landsitze wie Red Mountain vor den Blicken verborgen. Nach zweieinhalb Kilometern öffnete sich das Land und dem Betrachter bot sich ein schönes Tal. James Monroe hatte an dieser Straße gewohnt, in Ash Lawn, einem schlichten, gelb getünchten, anmutigen, in konventionellem Stil erbauten Haus am Ende der gewundenen, von Bäumen gesäumten Zufahrt. Auch Morven, wo einstmals Vollblutpferde und jene, die sie liebten, zu Hause waren, lag an der Nordseite der Straße, ebenso Albemarle House, das Zentrum von Kluge Estate Winery and Vineyard, das 1999 gegründet wurde. 6o
Professor Forland genoss den Luxus der großzügigen Gastfreundschaft von Patricia Kluge und ihrem Mann Bill Moses. Tagsüber wurde er in Patricias Range Rover chauffiert, um ihre Chardonnay-Reben sowie die Reihen mit Sauvignon, Merlot und Cabernet Franc zu begutachten. Er riet ihr dazu, drei Schösslinge vom Hauptstamm zu nehmen, obgleich sie mit zweien auf der sichereren Seite wäre. »Der dritte ist Ihre Versicherungspolice«, erklärte er. Wie es ihrer legendären Großzügigkeit entsprach, sorgte Patricia dafür, dass Professor Forland Gelegenheit bekam, auch andere zu besuchen, die sich der hohen Kunst des Weinbaus verschrieben hatten. Ihrer und Bills Meinung nach war es nicht genug, dass sie oder Felicia Rogan mit Oakencroft Vineyards florierten; alle sollten florieren. Während der Woche fuhr sie ihn persönlich zu den Weingütern von Hy Maudant, Rollie Barnes und Arch Saunders. Sie fuhr auch kleinere Anwesen an, wo Farmer kaum einen Morgen bebauten. Patricia vertrat die Theorie, dass man einem Menschen einen Fisch schenken oder ihm das Fischen beibringen konnte. Sie meinte, jemandem das Fischen beizubringen sei von weitaus größerem Nutzen. Der gute Professor gab viele Empfehlungen, und die Empfänger waren entsprechend begeistert. Keiner war begeisterter als Toby Pittman. Toby brüstete sich mit den Rebsorten, die er anbaute. Eine, Barbera, eine rote aus der Region Piemont in Italien, gedieh im Piedmontgebiet Virginias, am Fuße des Gebirges also, recht gut. Toby betrieb den Anbau der Rebe mit Verve. Auf dem Weingut Barboursville wurde die Barbera ebenfalls angebaut. Toby zufolge
forcierten die Italiener ihre Erträge, was einen Qualitätsverlust zur Folge habe. Er behauptete, es besser zu machen. Als Professor Forland von einem von Tobys Fässern kostete, stimmte er mit Vorbehalt zu. »Hüten Sie sich vor zu viel Würze, Toby.« Professor Forland spuckte die Kostprobe auf den Boden, was geboten war, sonst würde der kleine Mann am Ende des Tages sturzbesoffen sein. »Nichts für ungut, am besten bin ich unter freiem 6]
Himmel«, womit er auf seine Sachkenntnis im direkten Anbau anspielte, »aber ich habe einen geschulten Gaumen.« Toby wartete, bis Patricia seinen Wein gekostet hatte. »Mittlerer Körper und eine angenehm leichte Tabaknote. Sie sind ein Künstler, Toby.« Ihr Lächeln verwirrte ihn. Diese Wirkung hatte Patricia auf Männer. »Wie gesagt, hüten Sie sich vor der Würze.« Sodann kostete Professor Forland Tobys neuere Rebsorte, einen Petit Verdot. »Hmm, ja. Ich nehme an, den werden Sie mit Cabernet Sauvignon mischen, wenn alles so weit ist. Die Rebsorte bauen Sie auch an, nicht?« »Nein. Ich hab's versucht. Ich war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Ich kaufe sie bei Dinny Ostermann, wenn ich kann. Er bebaut in Crozet fünf Morgen Cabernet Sauvignon. Genau die richtige Verbindung von Sonne, Regen und Boden.« »All unseren Untersuchungen zum Trotz glaube ich manchmal, Dionysus lächelt auf den einen Mann herab und auf den anderen nicht, obwohl die Voraussetzungen dieselben sind.« Er strahlte seine Gastgeberin an. »Wir wissen, dass die Götter auf Sie herablächeln, aber keine hat mehr gelächelt als Aphrodite.« »Herr Professor, Sie sind sehr liebenswürdig.« Toby, der nicht gewandt genug war, um an die Erwähnung von Aphrodite zu denken, machte ein finsteres Gesicht. »Wissen Sie, wie ich merke, dass ich Erfolg habe?« »Ihr Wein sagt es Ihnen«, antwortete Professor Forland. »Schon, aber wirklich merke ich es daran, dass Arch ein Kaufangebot für Rockland gemacht hat. Natürlich, es ist Rollies Geld.« Er lachte. »Wenn Rollie und Arch Rockland in die Hände bekämen, würde es Hy Maudants letzte missgebildete Gehirnzelle zerstören. Sie können sich gegenseitig überbieten. Ich verkaufe nicht einen Morgen. Ich weiß, was ich habe.« Am Abend wurde ein außergewöhnliches Essen gegeben, bei dem Bill klugerweise Politiker aus allen Regierungsebenen, die den hiesigen Weinbau unterstützen konnten oder sollten, unter die Gäste mischte. Professor Forland, der von Natur aus 38
stets besorgt war, hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass die Winzer Virginias die schweren Jahre endlich hinter sich hatten.
In der Pause zwischen Nachtisch und Kartenspiel ging er hinaus, um sich den Garten anzuschauen, der sich auf den Frühling einstimmte. Auf dem Hügel erblickte er eine winkende Statue, einen Blickfang. Wohin er auch sah, überall lockte ihn ein machtvolles ästhetisches Feingefühl. Bill, eine Zigarre in der Hand, trat zu ihm. »Cohiba? Ich brauche eine Atempause.« Er bot ihm aus einem ledernen Taschenetui eine Zigarre an. »Ich rauche nicht mehr«, sagte Professor Forland. Bill steckte die überzählige Zigarre in seine Tasche - eine schöne dicke, die einen köstlich milden Zug haben würde. »Danke, dass Sie sich für das Podiumsgespräch zur Verfügung gestellt haben«, sagte Bill freundlich. »In Virginia gibt es zweihundertfünfzig Weingüter. Die können Sie nicht alle besuchen, aber es freut mich, dass Sie die hiesigen besucht haben.« Professor Forland atmete den aromatischen Duft der Zigarre ein, die Bill für sich präparierte. »Ich widerrufe, wie Galileo.« »Ah.« Lächelnd entnahm Bill seiner Blazertasche die Zigarre und schnitt für den Professor das Ende mit einem scharfen Perlmutt-Zigarrenabschneider ab. Dann hielt er die Flamme vorsichtig etwas von der Spitze entfernt, so dass der Professor die Kostbarkeit anzünden konnte. »Ein Stückchen vom Himmel, nicht wahr?« »Nikotin dient einem Zweck«, bemerkte Professor Forland gutmütig. »Übrigens, als Ihre Frau und ich heute unterwegs waren, haben wir den Betrieb von Toby besichtigt.« »Ein sehr eigenwilliger Mensch.« »Es gibt schlimmere Charakteristika, doch ja, er kann schwierig sein. Aber ich war überrascht von seiner Idee für einen Wein, den er dieses Jahr abzufüllen hofft. Er kauft den Cabernet Sauvignon bei - lassen Sie mich überlegen ...« »Dinny Ostermann.« Bill nickte bewundernd. »Er gehört 39
zu den Leuten, die aus einem Kieselstein einen Diamanten schleifen können.« »Die übliche Mischung von Petit Verdot, und Toby hat auch einen guten Verdot, aber die übliche Mischung ist achtzig Prozent Verdot mit zwanzig Prozent Cabernet Sauvignon. Der Petit Verdot spielt die dominierende Rolle. Er möchte das umkehren.« »Auf Linden Vineyards Aeneus 2001 machen sie das auch.« Bills Forschungen trugen Früchte, wenngleich er kein angeberischer Typ war. Andererseits, wer einen großen Fisch fängt, geht gewöhnlich nicht durch verschwiegene Gassen nach Hause. »Jaja, ich weiß, aber was mich wirklich überrascht hat, war Tobys Aggressivität. Er sagt, er kann es besser.« Bill lachte. »Er ist auf seine Weise so arrogant wie Rollie Barnes. Was halten Sie übrigens von seinem Verfahren?«
»Das lässt sich noch nicht sagen. Verbraucht irrsinnig viel Geld. Arch Saunders war mein Schüler. Er hat sogar zwei Jahre unterrichtet. Er war im Hörsaal nicht so brillant wie Toby, aber ausgeglichener. Und offenbar kauft oder pachtet Rollie jedes Land mit der richtigen Bodenbeschaffenheit und der richtigen Dränage. Sehr darauf bedacht, die Konkurrenz zu überflügeln. Arch auch. Die werden den Leuten zu schaffen machen, die zwei.« Professor Forland tat einen tiefen Zug an der himmlischen Zigarre. »Trotz der Geselligkeit beim Abendessen wirft Toby ab und zu einen finsteren Blick auf Arch und Rollie. Toby hat so hart gearbeitet, ganz allein, und dann kommt Arch aus Kalifornien zurück und schnappt sich eine tolle Partnerschaft.« »Ich habe gehört, Rollie baut eine eigene Abfüllanlage. Dabei ist die erste Traube noch nicht mal am Stock erschienen.« Bill, der eine blaue Rauchfahne ausstieß, verschob den Brennpunkt des Gesprächs. »Optimismus.« »Mmm.« Bill zuckte mit den Schultern. Er ertrug Rollie, mehr nicht. Bill war ein gesetzter Mann mit einem übersprudelnden Hu 40
mor. Seine ruhige Zuversicht und mehr noch seine geschliffenen Umgangsformen machten Rollie wütend, weil er sich daneben schwerfällig vorkam. »Wussten Sie, dass Hy Maudant eine mobile Abfüllanlage gekauft hat?« Professor Forland schloss die Augen und tat einen tiefen Zug; die Spitze der Zigarre glühte orangerot auf. »Wann?« »Heute. Wir waren als Erstes auf White Vineyards.« »Patricia und ich hatten noch keine Minute Zeit, um uns über das Neueste zu informieren. Ich bin gespannt, was er sagt. Diese Anlagen kosten 350000 Dollar. Hy ist ein guter Geschäftsmann, das sagt man ja den Franzosen im Allgemeinen nach. Statt sein ganzes Geld in eine eigene Abfüllanlage zu stecken, kauft er eine mobile. Den starken Traktor, um sie zu ziehen, hat er bereits. Er wird sie selbst benutzen und dann an andere Winzer vermieten. Schlau.« Bill fand es erstaunlich, dass Hy, der heute Abend auch zu Gast war, nicht mit seiner Anschaffung angegeben hatte. »Sehr schlau, solange man jemanden hat, der sie bedienen kann.« Bill drehte sich um, weil er Patricia drinnen rufen hörte. »Bin gleich da.« Zu Professor Forland sagte er: »Hy hat bestimmt jemanden, der damit umgehen kann. Ich kenne Hy. Hören Sie, ich stelle Ihnen ein Kistchen verschiedene Zigarren für zu Hause zusammen. Oder haben Sie eine Lieblingssorte?« »Ah, Ihre Auswahl wird mir mehr über Sie erzählen als mein bescheidener Geschmack.« Er hielt kurz inne. »Aber ich muss sagen, die beste Zigarre, die ich in meinem Leben geraucht habe, war eine kubanische Diplomaticos.« »Ja. Die kubanischen mag ich sehr, neige allerdings mehr zu Cohibas, zumindest nach dem Essen. Romeo & Julia und Dunhill sind gute Zigarren, auch wenn der
Tabak nicht aus Kuba ist. Aber die Kubaner haben wirklich die perfekten Bedingungen für Zigarrentabak. Komisch, nicht, Zigarren sind so einmalig wie Wein und genauso schwer zu erzeugen. Auch eine hohe Kunst.« Er seufzte. »Scheiß-Embargo. Verdammt, 41
als das Embargo verkündet wurde, hatte Präsident Kennedy mit kubanischen Zigarren vollgestopfte Humidore. Das treibt mehr als alles andere meinen Blutdruck in die Höhe - Heuchelei.« »Der Heuchler ehrt die Moral oder das Gesetz, indem er vorgibt zu gehorchen.« Bill lachte anerkennend über die feine Pointe. »Noch einen Brandy?« Bill legte seinen Arm um die schmalen Schultern des Professors, und sie gingen hinein. »Ich habe Patricia geheiratet, aber wissen Sie, wann ich gemerkt habe, dass ich die Frau komplett, total, ewig hebe? Als sie mich in unserem ersten Jahr wochenlang morgens um halb fünf aus dem Bett zerrte, um die Trauben zu pflücken. Sie hat mir nichts erspart. Wir haben einen Großteil der Arbeit selbst erledigt, dabei bin ich kein Frühaufsteher. Aber ihr glückliches Gesicht, das gemeinsame Ziel - zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Drei-hundertsechzig-Grad-Beziehung mit einer Frau, der bemerkenswertesten Frau, die ich je gekannt habe.« »Sie sind ein Glückspilz; denn sie ist eine der schönsten Frauen auf der Welt.« Bill paffte seinen letzten Zug. »Schönheit mag einen zu einer Frau hinziehen, aber sie hält einen nicht. Schönheit muss von innen kommen.« »Ah, wie der Weinstock. Auch der muss die Schönheit von innen ausdrücken.« »Poetisch.« Bill lächelte, als sie zu den Gästen im Salon traten, wo eine lebhafte Diskussion über den geistigen Unterschied zwischen Baseball, Football und Basketball im Gange war. Professor Forland war in Sachen Sport nicht sehr bewandert, aber der Anblick von Frauen, die so sportbegeistert waren wie die Männer, war ihm nicht fremd. In Blacksburg war Football eine Religion, der offenbar beide Geschlechter gleichermaßen verfallen waren. Die eigentliche Leistung des Technical College von Virginia lag in dem ungemein aktiven Gesellschaftsleben. Eine Zeitschrift schrieb einmal anlässlich einer Bewertung der geselligs 41
ten Schulen Amerikas, Technical Colleges dürften nicht mitgezählt werden. Es sei unfair, Profis gegen Amateure antreten zu lassen. Als die Gäste aufbrachen, fielen Toby und Arch etliche Schritte hinter Rollie und Chauntal zurück. Am Fuße der geschweiften Außentreppe fragte Toby unvermittelt: »Warum hast du das College verlassen und bist nach Kalifornien gegangen? Professor ist ein ruhiger Job, ein guter Job.« »Wegen der Praxis. Der Hörsaal ist nichts für mich, aber das wusste ich erst, als ich zwei Jahre unterrichtet hatte.«
»Dann hatte es nichts mit Mary Minor zu tun?« Toby benutzte Harrys richtigen Taufhamen und ihren Mädchennamen. Sie gelangten zu Tobys Wagen, der weit unterhalb des großen Hauses parkte. »Ein bisschen schon.« Toby lehnte sich gegen die Autotür und verschränkte die Arme. »We war die Arbeit in Napa Valley?« »Eine andere Welt, eine vollkommen andere Welt. Aber die Leute, die bei den Reichen angestellt waren, bei den Filmstars und so, die Italiener und Franzosen, die eigentlichen Betreiber der Weingüter, das sind tolle Typen. Sie mussten sich an ein anderes Klima gewöhnen, an andere Böden, an Regenfälle und eine total andere Lebensart, aber Mann, sieh nur, was die auf die Beine stellen.« Er hielt kurz inne. »So gut und so schön das ist, es sind zu viele Menschen in Kalifornien, auch in Napa Valley. Sie sind wie Heuschrecken, die alles auffressen.« »Das kann hier nicht passieren.« »Ach nein? Toby, Charlottesville ist neuerdings der beliebteste Ort zum Leben in Amerika.« »Ach, das ist bloß eine Meinungsumfrage. Der Rest des Landes, ich meine jenseits des Südens, hält uns doch für eine Horde dummer Hinterwäldler.« Arch lachte. »Hoffentlich.« Toby lachte auch, eine Seltenheit bei ihm. »Ja, die sollen bloß wegbleiben. Hey, willst du sehen, was ich mir gekauft habe?« 42
»Klar.« Er öffnete die Autotür und zog die hochgeklappte mittlere Konsole, die zugleich als Armstütze diente, herunter. Er klappte den Deckel auf und entnahm eine Pistole. »Na, ist das was? Nagelneu. Eine Ruger P95PR. Ich hab auch zwei Magazine für zehn Schuss Munition gekauft.« »Hey, das ist 'ne Neun-Millimeter. Willst du damit auf Scheiben schießen?« »Ab und zu.« »Teure Munition. Zum Üben nehme ich eine Zweiundzwanziger.« »Ja, aber die hier liegt gut in der Hand.« Toby reichte Arch die Waffe. Arch wusste, dass sie nicht geladen war. Toby war nicht blöd. »Fühlt sich ausbalanciert an.« Er gab sie zurück. »Ich weiß, die ist teuer.« »Ich bewahr sie hier im Wagen auf. Man weiß ja nie, wann ich sie mal brauche.« Eine Atemwolke entströmte seinem Mund; denn es war ziemlich kalt. »War Forland nicht sauer, als du vom College weggegangen bist?« »Nein, er hat verstanden, dass ich mich draußen behaupten musste. Ihm liegt nur daran, dass seine Schüler sich einen Namen machen.« »Dickes Ego«, meinte Toby lakonisch. »Das steht ihm zu.« »Hat er mal erwähnt, warum er mir den Job nicht gegeben hat?«
»Vielleicht meinte er, du wärst außerhalb des Lehrbetriebs besser aufgehoben.« »Das glaub ich nicht.« »Ich weiß es nicht.« »Bestimmt wissen es alle in Blacksburg, nur ich nicht. In Universitätsstädten gibt es mehr Klatschmäuler als Studenten.« »Keine Ahnung.« Arch wich dem Thema aus. »Ihr haltet mich alle für plemplem. Ich weiß, dass alle denken, ich bin überspannt. Bloß, weil ich sage, was ich denke, 43
wenn ich es denke. Ihr denkt alle, ich bin übergeschnappt. Knacks.« »Toby, du wirst dich nie ändern.« Archs Stimme blieb ruhig. »Danke, dass du mir die Ruger gezeigt hast.« Er ging auf sein Auto zu. »Ich werd's euch allen zeigen. Wart's nur ab. Ich werde den besten Wein in Virginia machen und Geld obendrein.« Arch konnte es sich nicht verkneifen: »Nicht, wenn ich dir zuvorkomme.« »Versuch's doch!« Toby wurde rot im Gesicht. »Ich werde dich schlagen. Ich werde Professor Forland zeigen, wer der Beste ist.« »Okay.« Arch ging weiter, während Toby unentwegt seine zukünftige Größe prophezeite. Früh am nächsten Morgen fuhr Professor Forland nach ausgiebigem Abschiednehmen in seinem Scion die lange gewundene, zur Gänze gepflasterte Zufahrt entlang und zum Tor hinaus. Er bog rechts ab, kam auf dem Weg zur Carter's Brücke an der Keelona Farm vorbei. Dann verschwand er einfach.
8
S
cheißdreck.« Tante Tally klopfte heftig mit ihrem Stock auf den
Aubussonteppich, was den Kraftausdruck ein bisschen dämpfte. Das Licht spielte auf den vornehmen silbergrauen Koteletten und Schläfen von Ned Tucker, als er sich vor der fabelhaft gekleideten über Neunzigjährigen verbeugte, die in Big Mims Wohnzimmer auf dem Sofa hockte. »Da haben Sie recht.« Tante Tally benutzte ihren mit einem silbernen Jagdhundkopf gekrönten Stock sowohl zur Unterstreichung ihrer Worte wie auch als Gehhilfe. Ausgesprochen rüstig für ihr Alter, war sie doch hin und wieder auf unebenem Boden nicht mehr so sicher auf den Beinen wie einst.
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Big Mim, ebenso gut gekleidet, rückte neben ihre Tante. »Fluchst du schon wieder?« »Ja. Ich finde, Scheißdreck ist viel kräftiger als Scheiße. Und wenn ich Zeit hätte, würde ich mir was Kreativeres einfallen lassen als Scheißdreck, aber was Ned mir eben erzählt hat, macht mich wütend, und da muss ich sofort reagieren. Scheißdreck, sage ich, purer, unverfälschter Scheißdreck.«
Die kleine Gesellschaft in Mims schönem Haus, das letzten Winter von dem eleganten Inneneinrichtungshaus Parish-Hadley umgestaltet worden war »aufgefrischt«, wie Mim gerne sagte -, umringte die alte Dame. Big Mim gab an diesem Samstag zu Ehren von Harry und Fair einen kleinen Mittagsimbiss. Der Imbiss war einem Jagdfrühstück ebenbürtig, das heißt, er war überaus üppig. Sie war mit Harrys Mutter eng befreundet gewesen, ebenso Miranda Hogendobber, die früher mit Harry im Postamt gearbeitet hatte. Als Harry während ihres Studiums auf dem Smith College beide Eltern verlor, taten die zwei Frauen ihr Bestes, um sich ihrer anzunehmen. Big Mims Tochter Little Mim, ein Jahr jünger als Harry, hat ihrer Mutter diese Zuwendung, die sie allein verdient zu haben glaubte, nie ganz verziehen. Mit den Jahren gelang es der jungen Marilyn, mit Harry auszukommen. Schließlich konnte Harry nichts dafür, dass ihre Eltern im Abstand von wenigen Monaten gestorben waren. Es war nur so, dass Little Mim sogar jetzt noch die Verbindung zwischen ihrer Mutter und dieser armen - zumindest ehemals armen - Landmaus manchmal gegen den Strich ging. Harry, eine überragende Sportlerin, hatte mit Big Mim die Liebe zur Jagd, zu Tennis und Tontaubenschießen gemeinsam. Auch BoomBoom, eins achtzig groß und eine blendende Erscheinung, war eine geborene Sportlerin. Pech für den Mann, der sie zum Golfspielen einlud, nur um ihre tolle Figur zu bewundern, wenn sie zum Abschlag ausholte. Sie wettete auf jedes Loch und nahm den Kerl aus. BoomBoom hatte den Geldwert exzellenter körperlicher Eigenschaften begriffen. Eigentlich waren sie alle gute Sportlerinnen, nur Little Mim 44
nicht. Immerhin konnte sie reiten, dank der Tausende von Dollar, die sie für Reitstunden ausgab, gepaart mit ihrer Courage. Kein Geld der Welt gibt einem den Mut, ein großes Hindernis zu nehmen. Little Mim nahm Hindernisse, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Mittagsimbiss sagte Little Mim zu, weil ihre Mutter es nicht übertrieben hatte. Sie wollte, dass ihre Hochzeitsfeier im Juni alles überschattete, was für Harry und Fair oder sonst jemanden im Bezirk veranstaltet werden konnte. Miranda und Susan traten hinzu, mit Ned in ihrer Mitte. Jim, der Gastgeber, achtete darauf, wem nachgeschenkt werden musste. Außerdem waren Tazio Chappars, Paul de Silva, Tracy Raz, BoomBoom, Alicia sowie Hy und Fiona Maudant um Tante Tally versammelt. »Na, Tante Tally, du stehst mal wieder im Mittelpunkt. Vielleicht möchtest du dein Gespräch mit Ned kurz zusammenfassen?«, schlug Big Mim vor. »Ned, fangen Sie an.« Tally beugte sich vor, beide Hände auf dem Griff ihres Stocks. »Wie einige von Ihnen wissen, hat man mich in den Agrikultur-Ausschuss berufen. Ich habe dem Vorsitzenden einen Höflichkeitsbesuch abgestattet, und er hat wortwörtlich zu mir gesagt, >Ned, mein Junge, wenn Sie es in der Regierung zu
was bringen wollen, fahren Sie kein ausländisches Auto. Kaufen Sie sich einen guten amerikanischen Gebrauchtwagens Ich hatte gedacht, wir würden über den Maisüberschuss vom letzten Jahr sprechen - der Durchschnittspreis betrug 1,95 Dollar pro Scheffel -, und er sagt zu mir, ich soll den Audi Kombi loswerden, der gar nicht mir gehört, sondern Susan. Ich hatte ihn mir geliehen, um ein paar Sachen in die Wohnung zu transportieren.« Er sah Tante Tally an. »Darauf hab ich Scheißdreck gesagt.« Tante Tally hob eine Augenbraue. »Kann ich mir denken«, meinte Tracy Raz lachend. »Ist ja wahr, aber er hat nicht ganz unrecht. Die äußere Erscheinung zählt in der Politik mehr als die Realität. So war es 7i
immer und wird es immer bleiben«, warf Jim ein, Bürgermeister von Crozet und Demokrat. Letzteres gab Anlass zu Reibungen in der Familie, weil Little Mim, Republikanerin, Vizebürgermeisterin war. Sie hatte Ehrgeiz. Ihr Vater nicht. Er wollte nur dem Wohl Crozets dienen; denn er liebte die Stadt und die umliegenden Farmen. »Ich bin so und so unten durch, weil ich noch meinen alten 1998er 540i fahre«, sagte Ned wehmütig. »Kaufen Sie nicht wieder einen BMW, bevor die sich nicht von dem lächerlichen i-Drive und dem hässlichen Auswuchs am Kofferraum trennen.« BoomBoom liebte Autos und las vier Automobil-Magazine. »Unter diesen Umständen würde ich sagen, einen BMW zu fahren wäre politischer Selbstmord.« Ned lachte matt. »In Anbetracht dessen, dass die deutsche Regierung unsere Pläne im Nahen Osten kritisiert hat, haben Sie in zweierlei Hinsicht recht.« Tracy Raz verfolgte die Außenpolitik mit großem Eifer. »Kaufen Sie sich einen Transporter«, empfahl BoomBoom. »Schon, aber Boom, Sie können sich, verflixt noch mal, einen Bentley kaufen, wenn Sie wollen.« Ned war ein bisschen frustriert. »Ich liebe meinen Bentley.« Big Mim straffte die Schultern. Es muss gesagt werden, dass Big Mim mehr Geld hatte als Gott, wohingegen BoomBoom nur genug für einen Erzengel hatte. »Ihr Bentley GT ist ein schönes Auto. Aber ich hatte immer Transporter wegen des Geschäfts, und der ist jetzt mein Wagen. Ich habe meinen Mercedes vor zwei Monaten verkauft. Ich weiß nicht, warum ich so lange gewartet habe, um nur einen einzigen fahrbaren Untersatz zu haben. Das ist weiß Gott einfacher.« BoomBoom sah zu Alicia hinüber, deren lavendelblaue Augen schimmerten, ein Merkmal, das in ihrer weit zurückliegenden Filmkarriere von der Kamera unterstrichen worden war. »Der Cadillac Escalade ist nicht übel.« Paul de Silva, Anfang 7^
dreißig, mochte den großen Geländewagen, der in seiner Generation sehr beliebt war. »Er kann keinen Cadillac fahren, wenn er über seinen augenblicklichen Posten hinaus will.« Tante Tally hegte Pläne für Ned. »Ich weiß, das ist alles läppisch, aber wenn Ned unser nächster Gouverneur werden soll, muss er in diesen Dingen geschickt sein.« »Ich dachte, ich werde Gouverneur«, platzte Little Mim heraus. »Wirst du auch, Liebes, so die Götter wollen, aber du bist jünger als Ned. Lass ihm den Vortritt. Wie für uns alle hier ist die Partei nebensächlich. Es kommt allein darauf an, was für Crozet dabei herauskommt. Ned, ich nehme an, Sie möchten Gouverneur werden?«, fragte Big Mim. »Äh ...« Susan meinte vergnügt: »Habt ihr je erlebt, dass mein Mann sich einem unentgeltlichen Fall, einer Ehrung oder Mehrarbeit entzogen hat?« »Bin ich so durchschaubar?« Er war erschüttert. »Nein.« Miranda tätschelte seinen Arm. »Aber Politik ist die äußerste Versuchung. Man glaubt tatsächlich, etwas zu erreichen. Wahre Macht kommt nicht durch einen Wählerauftrag. >Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.< Wenn Sie das befolgen, Ned, werden Sie erreichen, was nötig ist.« Miranda hatte aus dem Philipperbrief 4. Kapitel, Vers 13 zitiert. »Miranda, ich dachte, Sie sind keine fromme Eule mehr.« Tante Tally nahm kein Blatt vor den Mund. »Und wo du gerade stehst, Jim, noch einen Martini.« »Du hast genug getrunken.« Big Mim sah die kleine Dame auf dem Sofa finster an. »Papperlapapp, Mimsy. Ich kann keine verbotenen Affären mehr haben. Alle Männer meiner Generation sind tot, und ein junger Mann von siebzig Jahren würde mich nicht beachten. Ich kann nicht im Herrensitz reiten, deshalb fahre ich den verdammten Kutschwagen. Wer kann ohne Pferde leben? Ich kann kaum tanzen. Du bist unbarmherzig. Gin ist mein Trost. 46
Und ich habe Miranda nicht beleidigt; ich weiß ja, dass du deshalb jetzt über mir kreist wie eine Schmeißfliege.« Sie stieß wieder mit dem Stock auf den Teppich. »Ich hol dir noch was zu trinken.« Little Mim lächelte ihrer Mutter boshaft zu. Sie konnte es sich nicht verkneifen. »Meine Schöne hier ist keine fromme Eule, Tante Tally, aber Sie wissen doch, wie sehr sie die Heilige Schrift liebt.« Tracy betete Miranda an. »Sie hat sie fast ganz auswendig gelernt. Wie macht sie das nur?« »Sie hat sie fast ganz auswendig gelernt, weil sie in den vielen Jahren im Postamt ohne eine geistige Aufgabe den Verstand verloren hätte.« Tante Tallys Blick richtete sich auf Harry. »Und Sie sind ausgestiegen, solange Sie noch was anderes anfangen können, junge Frau.« Big Mims Springerspaniel kam herein, stellte fest, dass hier nichts Essbares auf den Boden fallen würde wie vorhin vom Esstisch, und tappte wieder hinaus.
Little Mim kam mit einem frischen Martini für Tante Tally wieder, und Blair, ihr Verlobter, brachte ein kleines Kristallglas mit Oliven für den Fall, dass Tante Tally davon naschen wollte. Er hatte sie an kleinen silbernen Schwertern aufgespießt. »Wr sind vom Thema abgekommen.« Alicia brachte sie freundlich auf Neds Dilemma zurück. »Ned, Sie haben mich nicht nach meiner Meinung gefragt, aber in diesem Kreis fühle ich mich ermuntert, sie zu äußern. Kaufen Sie sich einen Kleinlaster. Kaufen Sie einen Dreivierteltonner, Chevy, Ford, Dodge, ganz egal, welcher Ihnen zusagt.« »Warum keinen Halbtonner?«, fragte Harry. »Der ist leichter zu fahren und billiger im Verbrauch.« Harry konzentrierte sich immer auf das Wesentliche, eine gute Angewohnheit aus den Jahrzehnten, in denen sie sich nach der Decke strecken musste. »Er ist im Agrikultur-Ausschuss. Ein Halbtonner wird heutzutage regelrecht verklärt, er ist das Protzgefährt der Stadtbewohner.« Alicia ließ den Scharfblick erkennen, der sie befähigt hatte, die Schleudern und Pfeile - öfter noch die Messer im 47
Rücken - zu überleben, die in ihrem früheren Schauspielerberuf gang und gäbe waren. »Bedenken Sie, wenn er einen Dreivierteltonner fährt, hinten einen Haken montiert und eine Anhängerkupplung, Positionslampen und ein Trittbrett, dann ist das ein richtiger Farmlaster. Und da Susan ja jetzt ins Baumschulen- und Bauholzgeschäft eingestiegen ist, mag er zwar nicht direkt ein Farmer sein, aber er ist mit einer Farmerin verheiratet.« »Raffiniert!« BoomBoom verschränkte die Hände. Tante Tally zwinkerte dem Filmstar zu. »Sie haben hundertprozentig recht, Schätzchen.« »Muss ich den 540i in Zahlung geben?« Neds Stimme klang betrübt. »Nein. Fahr nur nicht damit nach Richmond oder in die Umgebung.« Fair, der die ganze Zeit zugehört hatte, gab seinen Senf dazu. »Und verzeiht, wenn ich das Thema wechsle, habt ihr in der Richmonder Zeitung gelesen, dass Virginia Kalifornien bei einer Reihe von Weinproben geschlagen hat? Ich denke, ich habe das richtig verstanden. Werden jetzt alle Leute in Virginia Weinbauern?« Big Mims Augenbrauen schnellten nach oben. »Jim, hast du das gewusst?« »Schätzelchen.« Das war sein Kosename für sie. »Nein, das wusste ich nicht. Ned, sieht so aus, als seien Sie in den Honigtopf gefallen, oder sollte ich sagen, in den Weinbottich? Sie sind zur richtigen Zeit im richtigen Ausschuss.« »Machen Sie das Beste draus, Ned«, forderte Tante Tally. »Man braucht so viel Geld, um ein Weingut zu gründen«, bemerkte BoomBoom. »Zwischen zwölf- und achtzehntausend Dollar pro Morgen.« »Entweder man hat eine gute Ernte oder nicht. Eine Art russisches Roulette.« Little Mim steuerte endlich auch etwas bei, nachdem der Blick ihrer Mutter milder
geworden war, weil Big Mim eingesehen hatte, dass Tante Tally ihren Martini so oder so bekommen hätte. »Diese neu zugezogenen Leute können alles über Reben lesen, sie können einsehen, dass sie vor dem vierten oder fünf 48
ten Jahr, je nach Rebsorte und Wetter, keine guten Erträge bekommen. Aber es sind keine Landmenschen. Ich weiß nicht, ob sie die nötige Ausdauer mitbringen. Deswegen bin ich von Rollie Barnes beeindruckt. Trotz seines gigantischen Egos, trotz seiner Aggressivität war er so vernünftig zu erkennen, dass er jemanden wie Arch Saunders braucht«, merkte Ned an. Hierauf erhob sich gemurmelte Zustimmung. »Das ist das Verrückte daran, wenn man Farmer ist, oder?«, klagte Harry. »Man hat eine Rekordernte, und die Preise sausen in den Keller. Man durchleidet schwache Ernten, und die Preise schießen in die Höhe. Ich weiß, ich weiß, das richtet sich nach Angebot und Nachfrage, aber wenn man Mutter Natur als Geschäftspartnerin hat, dann ist nichts sicher.« »Außer der Unsicherheit.« Alicia lächelte. Sie hörten die Haustür aufgehen. »Jemand zu Hause?«, rief eine tiefe, volltönende Stimme. Jim lief in die Diele, und Sekunden später betrat Reverend Jones das Zimmer, Lucy Für unter den Arm geklemmt wie einen Brotlaib. Was ihr nicht besonders behagte. »Lucy Für.« Harry war mit den Tieren der Leute vertrauter als mit den Leuten selbst. Die kerngesunde Katze wand sich aus Herbs Arm und lief zu Harry, die sie ächzend aufhob. »Sie hat nicht viele Mahlzeiten ausgelassen, als sie bei meiner Schwester zu Besuch war.« Herb lachte. »Tut mir leid, dass ich den Imbiss verpasst habe, aber ich musste die Katze bei Marty abholen.« Er sprach von der Tierärztin am Ort. »War Zeit für die Impfauffrischung.« »Ich mach Ihnen gern einen Teller zurecht, Herb.« Big Mim führte eine gute Küche. »Ich würde Ihre Gastfreundschaft niemals ausschlagen.« Er zwinkerte ihr zu. Alle begaben sich wieder in den hellen Innenhof, der als Speiseraum diente. Sie waren gerne mit Herb zusammen und erlagen der Versuchung, sich eine zweite Portion Nachtisch zu gönnen. Alicia, BoomBoom und Harry brachten die Kraft auf, zu 48
widerstehen, indem sie heißen Constant Comment Tee tranken. Während Herb sein kleines mit Wildreis gefülltes Rebhuhn aufschnitt, das die Köchin auf dem Teller angerichtet und kunstvoll mit Gemüse umlegt hatte, war eine lebhafte Unterhaltung im Gange.
Lucy Für stellte sich auf dem Boden auf die Hinterbeine, hob eine Pfote und platzierte sie auf Herbs Schenkel. Er schnitt ihr ein Stückchen Rebhuhn ab, legte es auf einen kleinen Teller und stellte ihn ihr hin. Niemand verlor ein Wort darüber, weil jeder hier es genauso gemacht hätte. Der Springerspaniel kam wieder, als er den Teller auf dem Fußboden schaben hörte. Diese Leute waren tierliebe Menschen. Die Unterschiede zwischen ihnen lagen im Einkommen, Alter, Geschlecht und in den Geheimnissen der Persönlichkeit. Aber wenn es um Tiere ging, waren sie ein Herz und eine Seele. Jeder Einzelne von ihnen, auch Tazio, die erst seit kurzem Tierbesitzerin war, hegte eine große Achtung vor allen Lebewesen. »Die Baseballsaison ist so frisch wie ein neugeborenes Baby.« Jim liebte die Philadelphia Phillies. »Blair und ich wollen uns die neue Mannschaft von Washington ansehen.« »Ja, die möchte ich auch spielen sehen«, erklärte Fair, ebenfalls ein Baseball-Fan. »Orioles, immer und ewig.« Harry legte die Hand aufs Herz. »Das wird nicht ihr Jahr. Es wird jahrelang nicht ihr Jahr werden.« Blair, der kein Orioles-Fan war, machte es Spaß, seine frühere Nachbarin zu triezen. »Ha, abwarten«, erwiderte Harry trotzig. »Also ich glaube, die Kansas City Royals werden alle überraschen«, erklärte Tracy. »Ja, indem sie ganz unten auf der Tabelle landen.« Herb machte zwischen den Bissen eine Pause. »Das sind kämpferische Worte, Reverend.« Tracy hob den Zeigefinger. »Dodgers.« Alicia hatte jahrelang Dauerkarten gehabt und 49
war mit Gary Grant zu den Spielen gegangen. Das sagte sie nicht, weil es als Angeberei aufgefasst worden wäre. Sie hatte Grant sehr gemocht, unter anderem deswegen, weil er Baseball verstehen gelernt hatte, nicht leicht für einen Engländer. Er hatte es auch auf sich genommen, ihr Kricket beizubringen, und sie hatte festgestellt, dass es ihr Spaß machte. »Die könnten eine Rolle spielen«, sagte Jim bedachtsam. Sobald auch Herb beim Nachtisch angelangt war, drehte sich die Unterhaltung um das Podiumsgespräch und den Terrorismus im Allgemeinen, und sie diskutierten ausführlich darüber. »Man stelle sich vor, die würden die Wasserspeicher vergiften, die New York City versorgen. Sie könnten zwischen neun Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags womöglich zweiundzwanzig Millionen Menschen treffen.« »Die Ziele sind zu nahe liegend«, bemerkte Alicia. »Sie werden da zuschlagen, wo wir es nicht erwarten.« »Genau«, stimmte Big Mim zu. »Stellt euch vor, Biowaffenspezialisten entdecken, wie man einen Pilz freisetzt, der uns krank machen kann? Nicht einen, der augenblicklich tötet, sondern einen, der die Menschen krank macht. Das würde die
Kranken hilflos machen, diejenigen aus dem Verkehr ziehen, die sie pflegen, und es würde der Wirtschaft schaden.« Harry steuerte ihren Senf bei: »Das war ja so faszinierend an dem Podiumsgespräch: wie alltäglich die Pilzarten sind, die Weizen, Mais und sogar Weinreben befallen. Die könnten die sich alle zunutze machen.« Tazio machte große Augen. »Terroristen würden sich Reben zunutze machen?« »Nein, aber sagen wir mal, Weizen wird vergiftet. Das greift auf Menschen über. Dies wäre eine Eins-zu-eins-Übertragung. Aber nehmen wir mal an, unsere Feinde sind viel raffinierter. Sagen wir, sie infizieren Gras, Feldfrüchte. Das Rindvieh frisst sie. Das Fleisch wird gefährlich, und die Amerikaner essen Rindfleisch in rauen Mengen. Unterdessen fressen Tausende und Abertausende Rinder vergiftetes Gras, ehe die Krankheit bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden kann.« Jim atmete 50
tief durch. »Jetzt sind Menschen, Rindvieh, Mediziner und Feldfrüchte vernichtet oder für eine Weile nutzlos gemacht. So muss man sich das vorstellen.« »O ja. Werdet Vegetarier.« Damit durchbrach Susan die ängstliche Stimmung. »Genau. Trinkt Wein, nicht Wasser.« Blair hob sein Glas.
9
A
ls Harry nach dem Mittagsimbiss wieder auf der Farm war, schritt sie den
Viertelmorgen ab, den sie mit Petit Manseng bepflanzt hatte, einer Rebe, die in Jurançon verwendet wurde, vielleicht der berühmteste der Weißweine von Südwestfrankreich. Sie hatte die Stöcke im November gesetzt, so dass die Wurzeln den Winter über wachsen konnten. Sie hatte die nackten Wurzeln im Abstand von zweieinhalb Metern gepflanzt, und die Reihen hatten denselben Abstand. Ob sie für die Rebstöcke den richtigen Abstand gewählt hatte, würde sie aber erst wissen, wenn im Frühling der Wachstumsschub einsetzte. Sie hielt sich beim Rebenabstand an den goldenen Mittelweg und hoffte, dass sie es mit dem Petit Manseng richtig machte. Da dies ihr erstes Jahr war, hegte sie natürlich keine großen Erwartungen. Auf Anraten von Patricia und Bill sowie Felicia Rogan hatte sie sich auf Petit Manseng verlegt, weil die kleinen weißen Trauben länger am Stock blieben als die meisten anderen Sorten. Das erhöhte den Zuckergehalt und senkte zugleich den Säuregehalt. In Jurançon, am Fuße der Pyrenäen gelegen, herrschen ähnliche Verhältnisse wie im Westen von Albemarle County. Das half Harry bei ihrer Entscheidung. Wenn die Reben erst mal trugen, könnte sie auf einem Viertelmorgen eine Tonne Trauben erzeugen, was fünfzig Kisten oder sechshundert Flaschen ergäbe. Ein Eichenfass ergibt fünfundzwanzig Kisten. 50
Die Bebauung eines Viertelmorgens hatte Harry, die jeden Cent dreimal umdrehte, fünftausend Dollar gekostet. Sie betete, dass alles gut ging; denn für sie war das eine große Ausgabe. Sie hatte Patricia Kluge alte Eichenfässer abgeluchst. Eine der sichersten Methoden, minderwertig schmeckenden Wein zu erzeugen, war zu viel Eichenholz. Wiewohl keine Winzerin, war Harry ein Kind vom Land und lernte schnell. Sie liebte die Agrikultur. Der Anbau von Wein machte ihr Freude, aber die Kosten standen mit ihrer angeborenen Sparsamkeit auf Kriegsfuß. Die Wiederbelebung des Alverta-Pfirsichhains verschaffte ihr eine solide Grundlage. Und sie hielt die Pippinapfelwiese ihrer Mutter in Schuss. Glücklicherweise gedeihen Äpfel und Wein auf demselben Boden, mit demselben Wasser, denselben Sonnenverhältnissen. Tucker, Mrs. Murphy und Pewter folgten ihr, während sie sich bückte, um nach den Schösslingen zu sehen, die aus den Stämmen sprossen. Ein paar warme Wochen, wenn die Luft schwer war vom Duft der Apfelbäume, der Schneeballund verschiedenen anderen Sträucher, und diese Babys - für sie waren es Babys würden mit ihrem kräftigen Wachstum alle überraschen. Sie stand auf und ließ den Blick über die Farm schweifen. Auf den Koppeln dösten die Fohlen - echte Babys -, und Harrys Herz schmolz jedes Mal dahin, wenn sie die Pferde sah. Das Futtergras spitzte hervor, frühlingsgrün, eine zarte Farbe, die Leben und Nahrung verhieß. Ihre zwei Morgen mit verschiedenen Sonnenblumenarten schimmerten ebenfalls frühlingsgrün, ausgenommen die italienischen Sonnenblumen, die sie eben erst gepflanzt hatte. Die Sonne erwärmte den Nachmittag auf dreizehn Grad. Harrys uralter Kaschmirpullover mit dem runden Ausschnitt und den gestopften Stellen leistete ihr gute Dienste. Harry konnte nichts wegwerfen, das womöglich vielleicht noch einen Tag länger nützlich sein könnte. 51
Einmal jährlich fielen Susan, Miranda und BoomBoom bei ihr ein, um ramponierte Sachen wegzuwerfen. Allein für ihre Sockenschublade brauchten sie eine halbe Stunde. Sie hatte versucht, einen fadenscheinigen Socken zu retten, indem sie erklärte, sie könnte ihn mit Katzenminze füllen. Den Katzen war es egal, wie sie ihre Katzenminze bekamen, solange sie nur kam. Ein Auto bog in die Farmstraße ein. Tucker bellte: »Eindringling!« Bo Newell fuhr vor, ein kraushaariger, extrovertierter Mann. »Harry, ich bin gleich wieder weg.« Er sah auf die Uhr. »Es ist halb drei, um Viertel vor bin ich draußen.« Er lachte. »Meint ihr, er hat Miss Prissy im Auto?« Pewter konnte Bos betagte Katze, die Reisen und Streit liebte, nicht leiden.
»Sie hat die Lederpolster in Nancys Thunderbird zerfetzt. Sie hat Fahrverbot.« Mrs. Murphy erzählte dies mit unverhohlener Schadenfreude; denn Miss Prissy hatte Mrs. Newells neuen Sportwagen ruiniert. »Verdammt, warum stirbt sie nicht einfach, wo sie so alt ist?« »Tucker, warum stirbt Tante Tally nicht? Sie sind zu boshaft.« Pewter kicherte. »Was gibt's?«, fragte Harry den muskulösen Grundstücksmakler. »Ich habe Kunden aus Belgien. Sie suchen eine Farm mit einem für Weinreben geeigneten Boden. Ich sage Ihnen, ich kann Land, auf dem Wein gedeiht, gar nicht schnell genug verkaufen. Die Weinproduktion von Virginia hat sich herumgesprochen. Offenbar gehen die besten Stücke oft unter Freunden weg. Ich versuche, Rollie Barnes einen Schritt voraus zu sein.« Er rieb sich die Hände. »Sie haben nicht gehört, dass was zum Verkauf steht, nein?« »Nein.« »Was ist mit Tante Tally? Sie sitzt auf Rose Hills auf neunhundert Morgen. In manchen Nebengebäuden fehlen die Fenster. Sicher, die Bauten sind aus Stein, sie werden uns alle überdauern, genau wie Tante Tally.« »Sie sehen blind aus, diese Gebäude.« Harry beugte sich 52
über die Kühlerhaube seines Autos. »Sie wird sich von keinem einzigen Morgen trennen. Sie wissen doch, die Urquharts kaufen Land und verkaufen es nie. Und jetzt, wo Little Mim und Blair nach ihrer Heirat dort leben werden, wird sie erst recht keinen Zentimeter abgeben.« »Würde ich auch nicht.« Er atmete durch die Nase aus. »Das junge Paar hat auch massenhaft Moneten.« »Ich schnüffele mal rum.« »Sie haben einen guten Riecher.« Die hellen Augen machten Bos hübsches Gesicht noch hübscher. »Wie finden Sie das, dass Arch Spring Hill Vineyards übernommen hat?« »Hm.« Sie dachte über diese Frage nach, eine Frage, die Fair ihr wohlweislich nicht gestellt hatte. »Wenn Rollie ihn gewähren lässt, wird er es zu einem der besten Weingüter Virginias machen, das steht mal fest. Arch ist ehrgeizig.« »Rollie auch.« »Ja, aber ich weiß nicht, ob er so vernünftig ist, die Leute machen zu lassen, was sie am besten machen. Manche Leute können es nicht lassen, sich einzumischen.« »Big Mim.« Er lächelte müde. »Obwohl, das muss ich ihr lassen, meistens verbessert sie die Situation.« »Und sie schenkt uns Plätzchen.« Tucker schätzte Big Mims Großzügigkeit gegenüber Hunden. »Keinen Thunfisch.« Pewter rümpfte die Nase. Ehe sie weiterjammern konnte, breitete der Blauhäher, der auf der Stallkuppel gehockt hatte, seine schönen Schwingen aus, erhob sich und stieß im Sturzflug
direkt zu Pewter herab. Er schwirrte wenige Zentimeter an Pewters breitem gewölbtem Schädel vorbei. »Fettarsch!«, schrie er laut krächzend. »Herrgott im Himmel.« Bo fuhr zusammen. Harry erschrak ebenfalls. »Dieser aufgeblasene Blauhäher. Er ärgert die Katzen.« »Katzen? Was ist mit mir?« Bo sah zum Himmel. Pewter rannte unter dem Schatten des Vogels, der an Höhe gewann. Mrs. Murphy rannte auch. »Ich bring dich um!«, wütete Pewter. 53
Der freche Kerl beschrieb einen anmutigen Bogen, schwirrte dann auf die zwei Katzen zu, die sich duckten. Klugerweise kam er nicht so tief wie bei seinem ersten Überraschungsangriff. Die Katzen sprangen in die Luft, Mrs. Murphy höher als Pewter. »Nutzlos. Nutzlos wie Zitzen an 'nem Eber.« Darauf nahm er seinen Platz auf der Kuppel wieder ein, wo er laut in die Welt hinein sang. »Ich bin der mächtigste Vogel im Reich, im Universum. Ich fürchte niemand.« Harry und Bo sahen zu ihm hoch. Seine Brust war aufgeplustert, der Schnabel offen. Er lärmte und sang. Ein tiefes Huhuhu hätte ihn warnen sollen, aber sein Stolz und seine Lautstärke ließen Plattgesichts Unmutsäußerung nicht zu ihm dringen. Von seinem Gesang geweckt, der in ihren musikalischen Ohren schrillte, sträubte Plattgesicht ihr Gefieder. Sie schlief immer in der Kuppel. Die hatte Harry so hergerichtet, dass Plattgesicht sich da oben einnisten konnte. Sie konnte durch die obere Hälfte der quergeteilten Stalltür fliegen, die Harry immer einen Spalt offen ließ, auch im Winter. Überdies war eine Seite der Kuppel weit genug offen, dass sie hinein- und hinauskonnte. Schweigsamkeit, große Klauen, ein furchterregender Schnabel und eine beachtliche Intelligenz sind die Waffen aller Eulen, aber bei der großen Ohreule sind sie besonders scharf. Plattgesicht flog erzürnt von der Kuppel. Der Blauhäher hörte sie erst, als sie dicht über ihm war und ihn mit ihren Klauen packte. »Lass ihn auf mich fallen«, quiekte Pewter aufgeregt. »Ach du Scheiße.« Bo war fasziniert. »Plattgesicht wohnt in der Kuppel. Ich glaube, er hat ihr den letzten Nerv geraubt.« Harry schaute dem Drama atemlos zu. Plattgesicht breitete die Schwingen weit aus und ließ den Blauhäher ungefähr zwei Meter über Pewters Kopf fallen. Mrs. Murphy tanzte auf den Hinterbeinen. Der Blauhäher stürzte mit fallenden Federn auf die zwei wartenden Katzen zu. Es gelang ihm, die Flügel auszubreiten 53
und den freien Fall aufzuhalten, just als Pewter nach ihm schnappte.
Ihr Lohn waren ein paar hübsche Schwanzfedern. Der Blauhäher enteilte, und Plattgesicht flog in ihr Reich zurück. »Das wird ihm den Schnabel stopfen«, sagte sie, als sie sich in ihre Kuppel kuschelte. Simon, der von der Heubodentür aus zugeschaut hatte, rief hinauf: »Jetzt hast dus ihm aber gezeigt.« Matilda, die Kletternatter, kam aus ihrem Nest in den hinteren Heuballen - sie hatte Eier in eine Vertiefung neben ihrem Nest gelegt. Sie warf einen funkelnden Blick auf Plattgesicht und einen auf Simon, ehe sie an ihren Platz zurückkehrte. Sie war alt und entsprechend groß und so dick wie das Handgelenk eines stämmigen Mannes. Da sie ein Reptil war, fehlte es ihr an dem Bedürfnis nach Geselligkeit. Es fehlte ihr jedoch nicht an Reißzähnen, und war sie auch nicht giftig, so konnte doch ein tiefer Biss von ihr einem Menschen einen Schock versetzen. Dank Matilda und Plattgesicht piepste auf dem Heuboden nicht eine einzige Maus. Zwar hatten die Katzen mit den Sattelkammer-Mäusen ein Abkommen getroffen, doch für Matilda und Plattgesicht entsprach eine Maus einem Hors d'oeuvre. Matilda sagte immerhin: »Gute Arbeit.« Plattgesicht verdrehte den Kopf, so dass das Obere fast unten war, und zwinkerte. Draußen sprachen Menschen, Katzen und Hund noch über die wohlverdiente Strafe des Blauhähers. »Eine Todeserfahrung.« Harry war auf der Seite ihrer Katzen. »Ich kenne einige Leute, die eine Lebenserfahrung nötig hätten.« Bo kicherte. »Toby Pittman zum Beispiel. Ein verrückter Kauz.« »Vielleicht trägt er seine Verrücktheit auf der Außenseite. Der Rest von uns trägt sie auf der Innenseite.« »Ich hoffe, das heißt, Sie sind pervers.« »Bo, Sie denken immer nur an das eine.« Harry lachte über ihn. »Kennen Sie noch was anderes, das so viel Spaß macht?« »Mmm. Darüber muss ich gründlich nachdenken.« Sie war «5
tete einen Moment. »Wie finden Sie das, dass Arch aus Kalifornien hierher gekommen ist?« »Ein Mordsding, in seinem Alter für einen großen Betrieb verantwortlich zu sein. Aber ich glaube, er ist auch Ihretwegen zurückgekommen.« Harry erschrak. »Warum? Vorbei ist vorbei.« »Für einige Leute ja, für andere nicht«, entgegnete Bo klug. »Er hat ja nicht gewusst, dass Sie wieder heiraten würden. Jemand hätte ihm vielleicht eine E-Mail schicken sollen.« »Vielleicht.« Harry überlegte eine ganze Weile. »Aber nach meiner Erfahrung halten die Männer mit Beziehungen nicht Schritt. Archs einziger Freund hier, falls man ihn so nennen kann, ist Toby. Alle seine alten Kumpels sind in Blacksburg oder in Chatham, wo er aufgewachsen ist.«
Bo sah auf die Uhr. »Ich hab geschwindelt. Ich war länger als fünfzehn Minuten hier. Muss an der Gesellschaft liegen.« Er stieg wieder in seinen schweren Geländewagen, der ideal war, um Kunden Landgüter zu zeigen. »Denken Sie an mich, falls Sie was hören.« Er machte die Tür zu, ließ den Motor an, kurbelte das Fenster herunter. »So ein verdammter Vogel, diese Eule. Aber ist das nicht der Lauf der Dinge? Ich meine, etwas trifft einen wie ein Blitz aus heiterem Himmel?«
10 Am späten Nachmittag bekam Deputy Cynthia Cooper an ihrem Schreibtisch einen Anruf von Cory Sullivan, einer Bekannten, die in der Sheriffdienststelle in Blacksburg arbeitete. Viele Frauen im Gesetzesvollzug verbindet eine besondere Beziehung, weil es dort immer noch Männer gibt, die ihre Hingabe an diesen Beruf nicht ganz ernst nehmen. »Kooperation.« Cory sprach es »Kooperation« aus, Betonung auf Kooper, so dass es wie Cynthias Nachname klang. 55
»Cory, was liegt an?« »Drei Verkehrsunfälle. Keine Toten. Ein Einbruch in einem Lebensmittelgeschäft, Täter auf Drogen. Ein Vermisster, und deswegen ruf ich an.« »Wieder ein paradiesischer Tag.« Cooper nahm ihren gelben Bleistift zur Hand. »Ja.« »Wer wird vermisst?« »Professor Vincent Forland.« Während Cooper den Namen notierte, vergewisserte sie sich: »Der Weinbauexperte?« »Woher kennen Sie ihn?« »Er hat hier vor ein paar Tagen auf einer Podiumsdiskussion gesprochen. Erzählen Sie mir, was Sie haben.« »Seine Haushälterin hat um halb drei angerufen, sie hat sich Sorgen gemacht, weil er nicht aus Charlottesville zurückgekommen war. Sie sagt, er ist äußerst pünktlich, und er hat zu Mrs. Burrows, das ist die Haushälterin, gesagt, er würde gegen Mittag zu Hause sein.« »Zweieinhalb Stunden. Bisschen voreilig.« »Ihr zufolge nicht. Sie hat bei Kluge Vineyards angerufen, und dort sagte man ihr, er ist heute Morgen um sieben losgefahren.« »Er hat ihnen wohl seinen Routenplan nicht genannt?« »Nein. Er hat nur zu Patricia Kluge gesagt, er wollte unterwegs noch ein paar Besuche machen.« »Sonst noch was?« »Der Mann war nicht ganz normal. Nie eine Anzeige wegen Geschwindigkeitsübertretung oder Falschparkens.« »Das ist unnatürlich.« Cooper lachte. »Mrs. Burrows ist ganz außer sich, also sehen Sie zu, was Sie rauskriegen können.« »Klar. Kommen Sie mich irgendwann besuchen.«
»Gleichfalls. Ich habe Karten für das Footballspiel des Technical College im Herbst, aber hey, warten Sie nicht so lange.« Als Coop aufgelegt hatte, überprüfte sie alle Unfallmeldungen im Bezirk, die seit sieben Uhr morgens eingegangen waren. 56
Sie erkundigte sich bei der Staatspolizei, ob es auf der I- 64 oder 1-81, den Straßen, auf denen Professor Forland vermutlich gefahren war, einen Unfall gegeben hatte. Es gab keinen, an dem er beteiligt war. Dann rief sie die Abschleppdienste an für den Fall, dass er eine Autopanne hatte. Er könnte an einer Tankstelle oder im Servicezentrum eines Autohändlers sitzen. Vielleicht war er zu aufgeregt oder zu beschäftigt, um Mrs. Burrows Bescheid zu sagen, aber das war nicht Coopers Sache. Ihre Sache war es, ihn aufzuspüren. Beim vierten Abschleppdienst namens Big Jake's landete sie einen Volltreffer. Big Jake hatte einen Scion mit Professor Forlands Nummernschildern aus der Tiefgarage am Queen Charlotte Square abgeschleppt, weil er an einem reservierten Platz parkte. Dessen Inhaberin hatte beinahe einen Tobsuchtsanfall gekriegt, als sie zur Arbeit kam und ihren Parkplatz besetzt fand. Big Jake, dessen Name ihm alle Ehre machte, führte Cooper in den mit einem Maschendrahtzaun abgeteilten Bereich, wo falsch geparkte Autos abgestellt wurden, bis ihre Besitzer das Geld herausrückten, um sie auszulösen. Big Jake händigte ihr die Schlüssel aus. »Sie waren aber schnell hier.« »Hab einfach das Blaulicht eingeschaltet.« Sie lächelte ihn an. »Wo haben Sie die Schlüssel gefunden?« »Hinter der Sonnenblende.« »Haben Sie den Kofferraum geöffnet?« »Nein.« Sie trat an den Kofferraum. »Big Jake, ich weiß nicht, was da drin ist, drum seien Sie gewarnt.« Er nickte und trat zur Seite. Sie ließ den Deckel aufschnappen. Ein Archivkarton mit Aufzeichnungen, eine Taschenlampe und ein Erste-Hilfe-Kasten - eine spärliche Ausbeute. Sie streifte dünne Latexhandschuhe über, öffnete die Wagentür und untersuchte Handschuhfach und Ablagen. Der Tag, bisher frisch, wurde kalt, die übliche April-Unbeständigkeit. Sie klappte die Sonnenblende herunter. 56
»Rechnen Sie mit Unannehmlichkeiten?« »Ich weiß nicht. Ich will's nicht hoffen.« Sie ging in die Hocke, um unter den Sitzen nachzusehen. Unter dem Fahrersitz zog sie Professor Forlands dickes, eckiges schwarzes Brillengestell hervor. Dann legte sie es genau wieder dahin, wo es gewesen war. »Wer kommt hier rein und raus?« »Ich, Fatty Hazlette, Kerry, der andere Fahrer.« »Hat jemand diesen Wagen angerührt?« »Nein, nur ich. Ich habe ihn hierher geschleppt.«
»Danke.« Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und rief Rick an. »Chef, ich glaube, wir haben ein dickes Problem.«
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E
ine altersschwache Zaunlatte war infolge zu viel Zuwendung seitens einer
ungestümen Stute durchgebrochen. Mit ihrem großen Hammer stemmte Harry das obere und das untere Ende ab und trug die zwei Teile zu dem Abfallhaufen hinter dem großen Werkzeugschuppen. Die Sonne ging unter, und sie beeilte sich, um fertig zu werden. Der Haufen, der für Holzabfälle diente, würde sortiert werden. Das eine oder andere Holzstück kann oft nützlich sein, und wie es Harrys Art war, verschwendete sie ausgesprochen wenig. Gegen Ende des Herbstes, wenn die Erde noch weich war, schaufelte sie, was übrig geblieben war, mit dem großen Schaufellader heraus. Das wurde in einer Grube verbrannt und dann zugedeckt. Zum Spaß gab sie ein paar in Alufolie gewickelte Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln dazu. Die zog sie später mit dem Rechen heraus und verzehrte sie zum Abendessen. Heute bestand der Haufen aus drei, vier Holzstücken und einem kleinen Rollwagen ohne Räder. Zu Beginn des Frühjahrs war der Abfallhaufen noch spärlich. Wegen Feuergefahr befand sich der Abfallhaufen gute zehn Meter von dem Werkzeugschuppen entfernt auf niedrigerem
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Grund. Man konnte ihn nur sehen, wenn man hinter den Schuppen ging und hinunterblickte. Harry war genau so ordentlich wie Fair, was gut war, weil es die Kleinigkeiten an einem anderen Menschen sind, die einen die Wände hochgehen lassen. Eine Tiefladerfuhre getrocknete Zaunlatten war an der linken Seite des großen Schuppens auf Paletten gestapelt. Sie hievte eine Latte auf die Schulter und ging wieder zur Koppel. Sie nagelte die Latte an, wobei sie sich der Hilfsbereitschaft von Stuten und Fohlen erfreute. Sie wollte die Latte am frühen Abend streichen, wenn die Pferde im Stall waren. Sonst würde sie zebragestreifte Fohlen haben. Mrs. Murphy, die auf dem Heuboden döste, hob den Kopf. Ein Auto bog von der Staatsstraße ab, achthundert Meter entfernt. Sie hörte die Reifen auf dem blaugrauen Sandstein knirschen. Tucker, die pflichtbewusst neben Harry stand, spitzte die Ohren. »Cooper.« Sie erkannte das Reifengeräusch. Pewter, die auf der Satteltruhe schlief und von dem heutigen Abenteuer träumte, hörte nichts. Immer, wenn sie ausatmete, schwebten Staubteilchen in die Luft. Martha saß da und wartete, in den Pfoten ein winziges Pfefferminzstückchen, das sie auf dem Boden gefunden hatte. Die Fohlen mochten Pfefferminz. Harry hatte
eins fallen lassen und war draufgetreten. Sie wollte es aufkehren, wenn sie später wieder hereinkam. Bis Harrys Ohren - für einen Menschen hatte sie ein gutes Gehör - das Geräusch wahrnahmen, war Cooper vierhundert Meter von dem Schuppen entfernt. Das Geräusch war surrend klar an diesem klaren Tag. Sie klopfte den letzten Nagel ein. Später wollte sie einen Tupfer Holzleim draufgeben. Sie hatte die kleinen Nagelköpfe versenkt und wollte nicht, dass man die Vertiefung sah. Sie benutzte keine Nägel mit großen flachen Köpfen, weil sich die spielenden Pferde die Gesichter daran zerkratzen könnten. Wie alle jungen Säugetiere konnten Fohlen nicht immer zwischen Spiel und möglicherweise gefährlichem Spiel unterscheiden. »Hey, Mädel.« Coop machte die Tür des Streifenwagens zu. 58
»Bin gleich bei dir.« Harry steckte den Hammer in ihren Gürtel. »Ich hab gefüllte Eier. Ich hab noch nie erlebt, dass du dir was zu essen entgehen lässt.« Cooper lachte. »Da ist 'ne Spur Wahrheit drin.« »Aber du hast keine Spur von Bauch. Hältst dich gut in Form«, schmeichelte Harry ihr, während sie die Fliegentür aufstießen. »Mit Volleyball und Laufen.« Mrs. Murphy, die jetzt auf den Beinen war, steckte den Kopf aus der offenen Heubodentür. Harry würde die Tür bei Einbruch der Dunkelheit schließen, aber auch dann weit genug offen lassen, dass die Luft zirkulieren konnte. Wenn dann die Nächte wärmer wurden, würde sie sie am Ende ganz offen lassen. Stickige Ställe machten Pferde krank. Simon, eine kaputte Kinnkette in den Pfoten, lag in tiefem Schlaf. Mrs. Murphy wunderte sich über seine Vorliebe für alles, was glänzte. Er hatte bereits eine kaputte Kinnkette, aber die hier fand er noch schöner. Sie schüttelte das Heu ab und guckte nach unten. Zu tief. Sie zockelte zur Leiter, flitzte hinunter und sauste in die Küche, gerade als Harry die gefüllten Eier, Butter, kaltes Fleisch, Käse, Salatblätter, Tomatenscheiben sowie ein Glas Mayonnaise hinstellte. Ein Laib Vollkornbrot lag auf dem dicken Schneidbrett, daneben ein Brotmesser. »Miranda?« »Ihr neuestes. Sie sagt, es ist Siebenkornbrot. Hast du schon mal Brotteig geknetet?« »Nein.« Coop schnitt zwei Scheiben für Harry ab und zwei für sich. »Das kräftigt Hände und Unterarme. Denk mal an die Wäscherinnen im Laufe der Jahrhunderte. Mein Gott, die müssen dickere Unterarme gehabt haben als Bodybuilder.« »Wenn man's recht bedenkt, ist unser Leben ganz schön verweichlicht.« 9i
»Allerdings.« Harry, gertenschlank, war sich bewusst, dass ihr bei aller schweren Farmarbeit Elektrizität, Zentralheizung, die beste Zahnvorsorge der Welt und alle möglichen Impfungen zur Krankheitsvorbeugung zuteil wurden. »Truthahn«, informierte Tucker Mrs. Murphy, die es in der Sekunde roch, als sie sich durch das Katzentürchen in die Küche schob. »Wenn wir brav sind, wird eine von ihnen uns was abgeben.« Mrs. Murphy setzte sich an Harrys rechte, Tucker an ihre linke Seite. »Ich bin dienstlich hier.« Cooper griff nach dem Mayonnaiseglas. »Was hab ich denn jetzt schon wieder angestellt? Oder ist es vielleicht wegen dieser zwei Bettlerinnen?« Harry sah zu den aufmerksamen Tieren hinunter. »Wo ist Dickarsch?« »Pennt in der Sattelkammer«, teilte Mrs. Murphy ihr mit. Tucker kicherte. »Wenn sie rauskriegt, dass es Truthahn gab, wird sie stinksauer.« Eiswürfel klirrten in den hohen Gläsern. Harry stellte sie auf den Tisch, dazu zwei Cola. Endlich setzte sie sich. »Danke.« Coop schenkte sich ihre Cola ein, die Bläschen sprudelten hoch. »Professor Forland war heute nicht hier, oder?« »Nein, warum?« »Sein Wagen wurde heute aus der Queen-Charlotte-Tiefgarage abgeschleppt, aber von Professor Forland keine Spur.« »Eigenartig.« »Er hatte auf einem reservierten Platz geparkt. Ich sollte lieber sagen, das Auto war auf einem reservierten Platz geparkt. Big Jake hat ihn abgeschleppt, und bislang hat der Professor nicht nach seinem Wagen gefragt. Und seine Haushälterin hat angerufen. Er hatte ihr gesagt, er käme nach Hause, und sie sagt, er ist sehr pünktlich.« »Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt oder so was.« »Ich hab bei allen Krankenhäusern, Rettungsdiensten und bei der Staatspolizei angerufen. Nichts.« Sie bemerkte, wie hübsch das Paprikapulver auf der gelben 59
Eimasse aussah. »Also, irgendwas stimmt da nicht. War er während seines Besuchs mal bei dir?« »Er hat sich meine Petit Manseng angeschaut.« Sie sprach den französischen Namen perfekt aus. Ein gequältes Lächeln erschien flüchtig auf Coopers Lippen. »Gott, bald wuselst du so rum wie alle anderen.« »Nein, bestimmt nicht.« »Das hier schmeckt lecker.« »Hey, Miranda hat einen Käsekuchen mit Schokoladenteig unten drunter und Himbeersoße oben drauf vorbeigebracht, aus französischen Himbeeren. Sie sagt, auf dem Markt herrscht eine stürmische Nachfrage nach Erdbeeren und Himbeeren aus Florida und Georgia.«
»Der Frühling kommt dort viel früher als hier.« Harry stand auf und holte den Käsekuchen. Dann stand sie erneut auf. »Was machst du jetzt?« »Cola passt nicht zu Käsekuchen. Ich mach Tee.« »Okay«, stimmte Cooper fröhlich zu. »Und was ist passiert, als Professor Forland nach deinen Reben sah?« »Nichts. Er hat gesagt, sie sind gesund und mir Glück gewünscht.« »Hmm.« »Ist dir schon mal aufgefallen, dass er wie ein Wurm aussieht?« Cooper überlegte. »Stimmt.« Nach einem langen Donnerstagvormittag kehrte Fair in dem kleinen Bistro in Crozet ein. Die unglaublich hektischen Tage waren wie im Flug vergangen. Ihm war, als habe er mit Harry am Samstag die Zäune überprüft, und plötzlich sei Donnerstag. Bevor er die Tasse an die Lippen führte, um
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sich den dringend nötigen Koffeinstoß zu verpassen, schob Rollie Barnes sich durch die Tür. Als er Fair am Tresen sah, setzte er sich zu ihm. »Hallo, Rollie, wie geht's Ihnen heute?« »Mir ist kalt. Ich dachte, Virginia ist der Süden«, grummelte Rollie. »Schon, aber wir sind dicht am Blue-Ridge-Gebirge.« »Kyle, ich brauch 'nen Doppelten«, rief Rollie dem Inhaber zu, dann drehte er sich auf seinem Hocker zu Fair hin. »Niedriger Blutdruck.« »Tja, ich weiß, ich sollte nicht so viel Kaffee trinken. Ich kriege später das Zittern, aber ich bin seit halb vier morgens auf den Beinen und ziemlich erledigt.« Fair meinte das weniger als Klage denn als Feststellung. »Ist viel los?« »Zu viele Leute bringen ihre Pferde auf fette Weiden. Wenn die Leute im Frühjahr nicht auf ihre Pferde aufpassen, können sie lahmen. Und ich hole Fohlen auf die Welt, die keine Vollblüter sind. Verspätete.« »Sie haben sicher bereits gehört, dass Professor Forland vermisst wird?« »Harry hat es mir erzählt, als ich gestern Abend nach Hause kam.« Rollie griff gierig nach dem großen Becher, den Kyle ihm hinschob. »Danke.« »Ist mir unbegreiflich. Er scheint mir nicht der Typ zu sein, der auf Sauftour geht.« »Man kann nicht in die Menschen reingucken. Jeder hat seine Geheimnisse.« Rollie hörte sich an, als spräche er aus Erfahrung. Fairs Worte waren Musik in Rollies Ohren. »Sie haben recht.« Kyle, der in den Nachrichten Theorien über das Verschwinden des Professors gehört hatte, sagte: »Unglaublich, was man so alles hört.« Er hielt inne. »Er wurde von Al-Qaida gefangen genommen. Er ist Al-Qaida. Er ist mit Dinny Ostermanns Frau durchgebrannt. Und so weiter.« 60
»Die Leute reden eben.« Rollie deutete mit dem Finger auf die Tür. »Wer weiß, was da draußen vorgeht?« Fair tippte sich an den Kopf. »Wer weiß, was hier drinnen vorgeht?« »Ein Spinner?« Kyle legte die Stirn in Falten. »Der Professor?« Rollie stützte den Ellbogen auf den Tresen. Kyle beugte sich über den Tresen. »Oder der ihn sich geschnappt hat.« Fair, der das Leben immer von der heiteren Seite nahm, meinte: »Oh, der kann wieder auftauchen. Steckt vielleicht in Schwierigkeiten.« Die Tür ging in regelmäßigen Abständen auf. Der Mittagsbetrieb setzte um elf ein und flaute nicht vor zwei ab. Kyle war froh über die vielen Mittagsgäste. Fair schob sein Geld über den Tresen. Rollie schob es ihm wieder hin. »Ich bin Ihnen eine Tasse Kaffee schuldig. Sie hatten recht mit dem Hengstfohlen.« »Wie macht sich das Kerlchen?« Fair strahlte. Er liebte Babys. »Ganz gut. Natürlich, meine Frau beschäftigt sich mein- mit ihm als mit mir. Sie ist so weichherzig.« »Deshalb hat sie Sie geheiratet«, neckte Fair ihn gutmütig. Rollie dachte kurz darüber nach. »Könnte stimmen. Wissen Sie, manchmal frage ich mich, wie die Welt ohne Frauen wäre. Außer fade, meine ich.« »Wir würden uns gegenseitig umbringen«, stellte Fair lakonisch fest. »Ist dies eine Diskussion über die Frau als ausgleichende Kraft?«, witzelte Kyle. Er gab seinem Bedienungspersonal ein Zeichen, Tempo zu machen. »Das sind sie.« Rollie legte einen knisternden Zehndollarschein auf den blank gewienerten Tresen. Kyle, der seine Probleme mit Frauen gehabt hatte, grummelte: »Was wollen die, verflucht noch mal? Vielleicht machen sie die Welt ja freundlicher, ich weiß nicht, aber ich komm nicht dahinter, was sie wollen.« 61
»Alles, was sie Ihnen sagen«, riet ihm Fair, der an Harrys Offenheit gewöhnt war. »Sie sagen heute dies und morgen das.« Kyle stemmte die Hand auf die Hüfte. »Das treibt mich zum Wahnsinn.« »Jeder Mensch, Mann oder Frau, möchte das Gefühl haben, was Besonderes zu sein«, sagte Fair. »Man muss erst herausfinden, was die betreffende Person wirklich braucht, und danach muss man rausfinden, was sie will. Beides ist nicht immer dasselbe, müssen Sie wissen.« Rollie musterte Fair, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Sie wissen es vermutlich.« »Meine Erfahrung, wie man eine Frau glücklich macht -und glauben Sie mir, beim ersten Mal hab ich's nicht gewusst, ich hab Lehrgeld gezahlt, indem ich die beste Frau verlor, die ich mir je erhoffen konnte -, ist die: ihr geben, was sie will. So einfach ist das.« »Das Tatsch Mahal.« Kyle schnitt eine Grimasse.
»Ach Kyle, Sie wissen, was ich meine.« Fair beugte sich herunter, weil er inzwischen aufgestanden war, und senkte die Stimme. »Geben Sie ihr im Bett, was sie will. Lassen Sie sich Zeit. Zählen Sie von hundert rückwärts, wenn es sein muss, aber lassen Sie sich Zeit. Bringen Sie ihr Blumen mit, einfach so. Tragen Sie den Müll raus. Waschen und wachsen Sie ihr Auto. Machen Sie Gewese um sie. Sagen Sie ihr, sie sieht hübsch aus.« »Das machen Sie alles?« Rollie wirkte verwundert. »Aber sicher. Harry ist ein Mädchen vom Land. Was macht sie glücklich? Ein Paar neue Arbeitsstiefel, die ihren Füßen nicht wehtun. Und ein paar Blümchen zu den Stiefeln sind nicht verkehrt. Eine andere Frau hätte vielleicht gern Geld für ein neues Kleid oder so was, aber bei Harry kommt das Praktische zuerst.« »Wann haben Sie gemerkt, dass Sie sie zurückerobert haben?« Rollie war jetzt sehr interessiert. »Das fing vor zwei Jahren an, als ich den Kombi gekauft habe. Vielmehr, ich habe ihr beim Kauf geholfen, und Art Bushey, der damalige Fordhändler, hat mir geholfen. Aber ich 62
wusste, dass ich den Ball im Tor hatte, als ich das Hengstfohlen von Fred Astaire kaufte. Er war damals ein Jährling, ohne Makel im Aufbau und Betragen. Harry ist dahingeschmolzen. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit.« »Zwei Jahre«, stellte Kyle nüchtern fest. »Sie haben das noch ganze zwei Jahre ausgehalten?«, entfuhr es Rollie. »Ich habe sie immer wieder gebeten, mich zu heiraten. Ich wusste, am Ende würde sie Ja sagen. Niemand wird sie jemals so lieben wie ich, und ich habe meine Lektion gelernt. Das weiß sie.« »Ich weiß nicht, ob ich die Ausdauer habe«, erklärte Kyle. »Dann lieben Sie sie nicht genug«, erwiderte Fair schroff, was, da es von ihm kam, überraschend war. »Da könnte er recht haben«, bestärkte Rollie Fair. »Ich bin noch keinem Mann begegnet, der nicht durch Feuerreifen springen muss. Hat man das erst getan, hat man bestanden. Aber ich meine, sie jagen einen durchs Feuer.« »Ich sehe da einfach keinen Sinn drin.« Kyle war laut geworden, und einige Gäste drehten sich nach ihm um. »Weil Sie ein Mann sind«, sagte Fair. »Hören Sie auf mich. Sie müssen keinen Sinn darin sehen. Sie müssen nur tun, was getan werden muss.« »Ja, wenn Sie versuchen, eine Frau zu verstehen, kommen Sie nie ans Ziel. Einige Dinge können Sie verstehen, aber andere, so lächerlich sie sind, sind den Frauen wirklich wichtig. Also machen Sie's wie der Mann hier, und tun Sie was sie sagen«, empfahl Rollie kichernd. Er und Fair gingen zusammen hinaus. »Ich hab heute was über Sie gelernt«, sagte Fair herzlich. »Sie hören zu.« »Manchmal.«
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Langsam«, murrte Pewter, die hinter Mrs. Murphy her rannte. »Nein!« Vor ihnen nahm ein Hasenbaby vor den scharfen Krallen der Tigerkatze Reißaus. Der Kleine schaffte es gerade bis in sein Gehege und zu seiner tröstenden Mutter, bevor die Katze zu ihrem letzten mächtigen Sprung ansetzte. »Bestie!«, schalt die Hasenmutter Mrs. Murphy. »Verflucht!« Die Tigerkatze setzte sich ab und senkte den Kopf, um das große Wildkaninchen, das sie böse anfunkelte, besser ins Auge fassen zu können. Pewter blieb keuchend neben Mrs. Murphy stehen. »Hätte ihn fast erwischt.« »Dann hätten wir unseren eigenen Osterhasen.« Mrs. Murphy sagte es laut genug, um Mutter Hase noch mehr zu erzürnen. »Vielleicht humpelt der Osterhase ja«, bemerkte Pewter hoffnungsvoll. Hieraufbrachen Mrs. Murphy und Pewter in Lachen aus. »Ihr Katzen haltet euch für überlegen«, sagte die Hasenmutter naserümpfend. »Mal sehen, wie überlegen ihr seid, wenn der Rotluchs euch erwischt.« »Hast du ihn gesehen?« Pewter fürchtete sich vor dem mittelgroßen Raubtier. »Er kommt ab und zu vorbei. Ein Mörder ist er, und eines Tages hat er euch im Maul.« »Hübscher Gedanke«, erwiderte Mrs. Murphy keck, drehte sich um und zockelte über die grünenden Weiden zurück. »Ich hasse den Kerl.« Pewter lief neben ihrer besten Freundin her. »Der hat mich zweimal fast ins Jenseits befördert. Gott sei gedankt für den Rotfuchs. Er hat mich beim ersten Mal gerettet. Und Tucker beim zweiten Mal, als der Teufelsich an mich rangeschlichen hat.« »Du hättest ihn eigentlich riechen müssen. Er riecht stark.«
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»Es war starker Gegenwind. Ich hab nichts gemerkt, bis ich einen Zweig knacken hörte.« Mrs. Murphys Fell sträubte sich, dann legte es sich flach. »Ich bin gesaust wie der Wind und konnte trotzdem nicht genug Abstand zwischen uns bringen. Er ist unglaublich schnell. Und grausam.« »Warum hat der Fuchs dir geholfen?« »Weil ich ihm mal geholfen habe. Außerdem sag ich den Füchsen immer Bescheid, wann die Jagdhunde hierher kommen werden. Und seit das Bland- Wade-Land zum Jagdrevier dazugekommen ist, werden sie kommenden Herbst wenigstens ein Mal im Monat hier sein.« »Du nimmst mich nie mit, wenn du die Füchse besuchst.« »Pewter, du legst dich im Stall oder auf dem Sofa aufs Ohr und magst deinen Dickarsch nicht bewegen.« »Gar nicht wahr. Du bist egoistisch.« »Oho!«, warf Mrs. Murphy ein und ließ die Schnurrhaare nach vorn schnellen. »Hör auf, Pewter.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen!« Pewter trat auf eine dösende Klapperschlange, eine große. Das Häutchen über den Augen der Schlange schob sich zurück, sie ringelte sich zusammen, schlug mit dem Schwanz hin und her, ein lautes, furchterregendes Geräusch. Die zwei Katzen sprangen zur Seite, als sie zuschlug, die weißen Fangzähne bereit zur Tat. Dann rannten sie wie der Blitz. Die Klapperschlange, die trotz ihrer Schlängelbewegung für einen kurzen Spurt schnell sein konnte, hatte nicht den Wunsch, die Katzen zu töten. Sie blickte um sich, schnüffelte, denn sie hatte einen stark ausgeprägten Geruchssinn, suchte dann einen flachen Stein auf und beschloss, an diesem herrlichen, wärmenden Nachmittag weiterzudösen. Die Katzen rannten und rannten; schließlich blieben sie unterhalb eines kleinen, schönen Pfirsichhains auf der Südwestseite des früheren Jones-Besitzes stehen, achthundert Meter vom Haus entfernt. Herb hatte ein hübsches Schild gefertigt, auf dem »Heimkehr« stand. Weiter westlich auf einer höheren Erhebung verliehen die IOO
Blüten einer kleinen Obstwiese mit Pippinäpfeln den letzten Apriltagen ihren Duft. Die zwei Katzen verschnauften. »Komisch. Schlangen«, meinte Mrs. Murphy nachdenklich. »An Schlangen ist nichts Komisches.« Pewter verabscheute die Reptilien. »Kaltes Blut. Sie konnte sich schnell bewegen, weil sie in der Sonne gelegen hat, und es sind vielleicht zwanzig Grad oder mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, kaltblütig zu sein.« »Meinen die Menschen das, wenn sie sagen, jemand ist kaltblütig? Dass er ein Reptil ist?« »Vielleicht. Vielleicht hat es damit angefangen.« Das liebliche Gezwitscher von Purpurfinken unterstrich ihre Worte. »Für sie ist kaltblütig sein schrecklich. Ich meine, sie können verstehen, wenn jemand im Zorn oder aus Leidenschaft tötet, aber nicht, wenn es überlegt, geplant geschieht. Daher nennen sie es kaltblütig.« Mrs. Murphy sah einem herabwirbelnden Pfirsichblütenblatt zu. Durch den Kälteeinbruch hatte sich alles verzögert, aber sobald es warm wurde, blühten die Pfirsiche zur selben Zeit wie die Judasbäume und der gelbe Hartriegel. Bis alle Apfelbäume blühten und die Hügel, die sich zum Blue-Ridge-Gebirge zogen, in Weiß tauchten, würde es noch eine oder, je nach Temperatur, gar zwei Wochen dauern, wiewohl die Knospen bereits schwollen. »Hey.« Pewter war etwas aufgefallen. Mrs. Murphy ging zu der festgestampften Erde, um es sich genauer anzusehen. Sie blähte die Nasenlöcher und machte auch den Mund auf. »Hier hat wer aufgegraben und wieder zugemacht. Guck mal, wie sorgfältig man sich bemüht hat, das Gras unberührt aussehen zu lassen.« »Sieht nach 'ner Menge Arbeit aus.« »Harry war das nicht. Wir wären ja bei ihr gewesen.« Mrs. Murphy suchte nach Fußabdrücken. »Sie haben ihre Spuren beseitigt.«
»Man kann nicht graben und die Erde wieder so festgestampft kriegen. Wer das gemacht hat, muss irgendwo Erde abgeladen haben.« Sie suchten, fanden aber nichts. IOI
»Sie hätten sie mit einem Laster abtransportieren können.« Mrs. Murphy fand das Ganze beunruhigend. Pewter, die sich eifrig aufs Suchen verlegte, bemerkte den großen Bussard hoch oben auf einer alten Pappel nicht. Der Bussard, der Sinn für Humor hatte, breitete das Gefieder aus, um ein Sonnenbad zu nehmen, und rief herunter: »Mittagessen.« Nachdem sie heute Nachmittag zweimal in Angst und Schrecken versetzt worden war, hatte Pewter genug. Sie lief in östlicher Richtung zu Harrys Farm. Die Entfernung zwischen den zwei Häusern, in gerader Linie über dem tinebenen Grund gemessen, betrug gut 1600 Meter. Wenn sie rannte, konnte eine Katze binnen vier Minuten nach Hause sausen, doch wenn der Bach Hochwasser hatte wie jetzt, stellte er ein Hindernis dar. Mrs. Murphy blieb kurz an dem schönen, von einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Familienfriedhof stehen, auf dem eine mächtige Eiche stand. »Ich bleib nicht stehen. Und überhaupt, warum machen die Menschen Zäune um Friedhöfe? Denken sie, die Toten klettern raus?« Pewter schnaufte schwer. »Ich denke, es ist eine Sache der Ästhetik.« Mrs. Murphy hatte nie darüber nachgedacht, warum Tote so oft eingefriedet wurden. »Ich will nicht eines Tages was Schauerliches um mich haben. Die Klapperschlange hat mir gereicht.« »Pewter, der Tod erwartet uns alle.« »Tja, dann wird er noch eine ganz Weile auf mich warten müssen.« Sie sollte recht haben, gottlob. Aber der Tod wartete, kein Zweifel.
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A
m Montag, dem 1. Mai, kamen Harry und Susan mit Harrys 1978er
Ford-Transporter von der Baumschule Mosdy Maples, die an Wiederverkäufer lieferte. Harry bremste heftig, was Mrs. Murphy, Pewter und Tucker auf den Boden warf. 65
»Herrgott noch mal!«, rief sie laut. Weil Harry selten fluchte, kletterten die Tiere wieder auf die Rückbank, ohne sich zu beschweren. Auch sie hatten Toby Pittman im Affenzahn vorbeirasen sehen. »Was ist bloß los mit dem Mann?«, fragte Susan empört. »Er ist in letzter Zeit ausgesprochen labil.« »Herrgott, Susan, er war nie besonders gefestigt. Professor Forlands Verschwinden hat ihm den Rest gegeben.« »Das kommt davon, wenn man allein lebt.« »Ich muss doch sehr bitten.« Harry sah umsichtig nach rechts und links, bevor sie links in die Route 240 Richtung Crozet abbog. »Ich hab jahrelang allein gelebt.«
»Ja, aber du hast ein geselliges Leben. Du hast viele Freunde, und du hast natürlich Mrs. Murphy, Tucker und Pewter, das Dickerchen.« »Ich bin nicht dick. Ich bin vollschlank.« Da sie so dicht beieinander waren, zogen Mrs. Murphy und Tucker es vor, Pewters Illusion nicht zu widersprechen. Es ist schwierig, sich im Auto zu kabbeln. »Toby hat Jed, seinen Esel, aber das ist auch alles. Seine Schwester hat seit acht Jahren nicht mit ihm gesprochen. Vielleicht sogar noch länger.« Susan wechselte das Thema. »Wir haben unseren ersten Auftrag!« Sie verdrehte den Kopf, um sich die vor der Tierklinik Crozet Vet parkenden Autos anzusehen. »Bo Newell ist da. Ich wusste gar nicht, dass Bo mit Miss Prissy zu Marty geht.« Sie sprach von der Besitzerin und Cheftierärztin der Klinik. »Die Katze ist der heilige Horror. Bo ist vielleicht dort, um zu hören, ob Marty was über Land weiß, das zu verkaufen ist. Rebenland, Grapeland.« Sie kicherte ein bisschen. »Wenn Elvis Wein angebaut hätte, hätte er auf Grapeland leben können statt auf Graceland.« »Harry, du spinnst.« »Ja, aber ich bin lustig.« »Ich brauche einen Kakao, um dein humorvolles, wunderbares Ich besser schätzen zu können.« »Susan, was hast du bloß neuerdings immer mit Kakao?« 66
»Ich weiß nicht, aber ich möchte einen großen Becher Kakao mit einem Berg Schlagsahne.« »Und du bist diejenige, die in Panik gerät wegen ihres Gewichts?« Susan lachte. »Das ist es ja eben. Ich hab rausgefunden, wenn ich einen großen Becher Kakao trinke, hab ich nicht so viel Hunger. Und noch was, wenn ich ein paar Hand voll Virginia-Erdnüsse knabbere, kann ich stundenlang durchhalten, bevor ich was zu essen brauche.« »Virginia-Erdnüsse, die besten Erdnüsse der Welt.« Crozet lag jedoch zu weit westlich und nördlich im Staat Virginia, um die berühmten Nüsse zu erzeugen. »Hast du gewusst, dass die Engländer, als sie im siebzehnten Jahrhundert hierher kamen, Erdnüsse an ihre Kühe und Pferde verfüttert haben? Sie dachten nicht, dass sie sich als Nahrungsmittel für Menschen eigneten.« »Wer hat dir denn das erzählt?« Harry hob eine Augenbraue. Sie konnte nicht glauben, dass Menschen so dumm waren, sich eine reiche Proteinquelle entgehen zu lassen. »Barbara Dixon. Ich war neulich in Dillwyn und hab bei Barbara und Gene reingeschaut. Du weißt ja, sie beschäftigt sich ausgiebig mit Geschichte.« Susan sprach von einem zu den Fuchsjägern gehörenden Ehepaar, das sie beide mochten und das gerade dabei war, ein Haus mit Stallungen aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert instand zu setzen. »Sie ist aus San Antonio. Sie hat sich einfach von Virginia verführen lassen.«
»Ach, und ich dachte, sie hat sich von Gene verführen lassen.« Sie lachten, dann kam Harry auf die Erdnüsse zurück. »Also echt, die wollten sie nicht essen?« »Nein. Auch keine Tomaten. Sie dachten, die sind giftig.« »Man hätte sich doch bloß eine in den Mund stecken müssen und fertig«, sagte Harry. »Hättest du dich das getraut?« »Ah, hm, vielleicht doch lieber nicht.« Sie fuhren weiter, in bester Laune wegen ihres ersten Auftrags und weil nun wirklich Frühling war. Frühlingsgefühle. 67
»Wann haben die Menschen wohl gemerkt, dass sie Erdnüsse und Tomaten essen konnten?«, überlegte Susan. »Das wäre doch ein Projekt für dich.« Als sie in Crozet einfahren, verlangsamte Harry auf fünfundfünfzig Stundenkilometer. »Ich geb's an Barbara weiter. Du kennst sie ja, wenn ich sie frage, wird sie nicht ruhen, bis sie die Antwort findet.« »Sue Satterfield ist genauso.« Harry sprach von einer Freundin, die Lehrerin gewesen und eine gute Freundin der Dixons war. »Vielleicht sollte ich der einen die Tomatenfrage und der anderen die Erdnussfrage stellen.« Susan tippte Harry an die Schulter. »Hey, vergiss meinen Kakao nicht.« »Mist.« Harry war auf den Postamt-Parkplatz gefahren. Sie wendete und wartete, bis die Straße frei war. »Vermisst du es?« »Manchmal. Ich vermisse die Leute. Aber die Arbeit und die Dienstvorschriften vermisse ich nicht. Susan, das klingt unfein, aber ich kann es nicht anders sagen: Wir sind an einem Punkt angelangt, wo man sich nicht mal den Arsch abwischen kann, ohne dass die Regierung einem sagt, wann, wie und wo es zu geschehen hat.« Susan brüllte vor Lachen. »Das erzähl ich Ned.« »Weil ich gerade beim Thema wischen bin, sag ihm doch, er soll neunzig Prozent der Gesetze von der Tafel wischen. Sie sind nutzlos, hinderlich und kosten uns darüber hinaus viel zu viel Geld. Man soll einfach nur die Straßen instand halten, Geschäfte und Agrikultur fördern, die Staatspolizei in Form und sich aus unser aller Leben raushalten.« »Das sag ich ihm bestimmt. Könnte seine Antrittsrede werden. Das dürfte schwer einschlagen bei einer Personengruppe, deren sicherer Job davon abhängt, dass noch mehr Gesetze gemacht werden.« »Aber was hat er dann da zu suchen?« Sie sah immer noch nach rechts und links. »Wo kommen bloß die vielen Leute her?« »Von nördlich der Mason-Dixon-Grenze«, meinte Susan nachdenklich. 67
»Können wir sie nicht zurückschicken?« Harry lächelte, sah dann auf die Uhr am Armaturenbrett, die nach etlichen Jahrzehnten immer noch funktionierte. »Mittag. Hab die Zeit ganz vergessen.« »Dann bring mich bloß ins Bistro, bevor sich alle reinsetzen. Sonst krieg ich meinen Kakao nie.« »Wir können uns an den Tresen setzen. Während ich warte, bis die Yankees vorbei sind, hast du Zeit >sterbe ohne Kakao< zu schreiben und dir an die Bluse zu heften. Der Notizblock ist in der Türtasche.« »Und uns im Auto lassen? Unfair!«, tönte es im Chor. »Ruhe da hinten. Na endlich.« Harry fuhr an, bog links ab, dann gleich wieder rechts auf den alten Bank-Parkplatz. »Wir hätten beim langen Warten in die Wechseljahre kommen können.« »Das Wort will ich nicht mal geflüstert hören.« Susan schnitt eine Grimasse. Sie hielt den Notizblock in der Hand, hatte aber nichts geschrieben. »Wir sind noch weit davon weg.« »Vielleicht, aber Mannomann, meine Mutter hat drunter gelitten, und es heißt, das ist erblich.« »Ich kauf dir 'nen Hut mit 'nem eingebauten kleinen Ventilator. Ich persönlich werde nichts dergleichen durchmachen.« »Ach ja?« Susan öffnete das Fenster so weit, dass genug Luft hereinkam. Harry machte dasselbe auf ihrer Seite. »Wir bleiben nicht lange weg.« »Das sagst du immer.« Mrs. Murphy ließ die Ohren ein kleines bisschen hängen. »Ja, und dann kommt wer rein, und schon quatscht ihr über Gott und die Welt.« Tucker wusste schließlich, wie's im Süden zuging: Man tauschte Neuigkeiten aus, das hieß, für Männer waren es Neuigkeiten, für Frauen war es Klatsch und Tratsch, wiewohl der Inhalt natürlich derselbe war. »Ja, unfair. Wir könnten hierdrin an Hitzschlag sterben.« Pewter versuchte es mit der medizinischen Schiene, was nicht überzeugend war, weil die Außentemperatur nur elf Grad be 68
trug. Im Auto mit den einen Spaltbreit geöffneten Fenstern würde sie auf höchstens fünfzehn Grad steigen. »Sie werden uns verlassen! Wie die Kinder in den Slums von Rio de Janeiro.« Mrs. Murphy klang wehmütig. »Die erschießen sie dort.« Pewter leckte sich die Lippen, nicht so sehr aus Übermut als vielmehr aus Stolz, weil sie eine erschütternde Mitteilung zu machen hatte. »Ist nicht wahr.« Tucker war entsetzt. »Doch. Ich hab gehört, wie Fair nach den Nachrichten mit Harry darüber gesprochen hat. Ihr habt geschlafen. Sie erschießen sie, weil die Kinder kriminell sind. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie stehlen oder sich verstümmeln, ihr vielleicht?«, erwiderte Pewter sarkastisch. Die Tiere verfielen in eine hitzige Diskussion, warum Menschen ihre Jungen töten im Gegensatz dazu, warum und wann Tiere ihre Jungen töten.
Als Harry und Susan losgingen, drehte Harry sich um. »Was ist bloß in sie gefahren?« »Sie werden sich schon wieder beruhigen.« »Wenn nicht, werde ich den Sitz neu polstern müssen.« »Deinem Wagen passiert schon nichts.« Kleine Steinchen, die sich durch den bröckelnden alten Schotterbelag stießen, knirschten beim Darübergehen. »Hey, hab ich dir schon erzählt, dass Fair mir neue Wolverine-Stiefel und zwei Dutzend rosa Tulpen gekauft hat? Er ist so süß.« »Ja, das ist er wirklich. Wann bist du zu Wolverine gewechselt?« »Als es mit Timberland bergab ging. Die Stiefel von denen sind jetzt so billig verarbeitet. Ich hab noch die, die ich 1982 gekauft habe ...« »Die, wo dein alter Schäferhund die Hacke abgebissen hat?« »Ja, aber ich hab mir ein neues Stück Leder draufsetzen lassen, mit einem Wulst für meine Achillessehne. Hat funktioniert.« »Und das über zwanzig Jahre. Ich würde sagen, du solltest mit Timberland im Geschäft bleiben ...« »Das ist es ja eben. Ich war bei A&N und hab mehrere Paare 69
Arbeitsstiefel anprobiert, und Susan, die sind nicht mehr, was sie mal waren. Ich war so enttäuscht. Darauf hab ich bei Rockfish Gap in Waynesboro welche von Montrail probiert, und die sind richtig gut, aber sauteuer. Da musste ich passen. Danach war ich in Augusta bei Coop und hab die von Wolverine anprobiert. Verflixt gut und erschwinglich, nur war ich so fertig vom Anprobieren der vielen Arbeitsstiefel, dass ich aufgegeben habe. Aber ich hab's Fair erzählt.« »Harry, nur du kannst wegen Arbeitsstiefeln panisch werden. Es ist nicht der Preis, du bist besessen.« »Kann schon sein.« Harry wurde lebhaft. Das Thema Geld wirkte sich meistens so auf sie aus. »Die von Montrail haben hundertdreißig Dollar gekostet. Die von Wolverine waren nicht viel billiger, vielleicht um dreißig Dollar, aber ich fand, das war eine Menge Stiefel für das Geld. »Natürlich weiß ich das erst, wenn ich sie bei der Arbeit anhabe. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen. Schlechte Arbeitsstiefel tun's einfach nicht oder welche, die sich von Pferdepisse und Kot und Traktorenöl in ihre Bestandteile auflösen. Ich hab allen Grund, in Panik zu geraten.« »Hast ja recht.« Zustimmen war einfacher. Sie stießen die Tür auf. Die Stammgäste saßen auf den Barhockern am Tresen, wo Hy Karen Osborne unterhielt. Dass sie mit Pete verheiratet war, schreckte Hy kein bisschen ab. Harry setzte sich neben Karen, Susan auf die andere Seite von Hy, weil das die einzigen freien Barhocker waren. Susan bat Kyle um einen Kakao. Aber bitte fix. »Karen, wie geht's den Pferden?« »Gut. Im Frühling wollen alle Gäste ausreiten. Ich genieße meine Mittagspause.« Sie lächelte.
»Kann ich mir denken. Ich verstehe nicht, wie man einen Reitstall führen kann. Dazu muss man schon besonders veranlagt sein. Ich könnte nicht mit Leuten umgehen, die nichts von Pferden verstehen, aber reiten wollen.« »Nur gut, dass ich gute Pferde habe.« Susan rief zu Karen hinüber: »Wie wahr. Meine Mutter hat immer gesagt, >mit einem zweitklassigen Pferd wird man ein 70
zweitklassiger Reiter<, und das lässt sich ganz bestimmt bei der Jagd beobachten.« Hy, in seinem Element, weil er von Frauen umgeben war, schmeichelte ihnen: »Ich verstehe nicht, wie ihr Mädels über die hohen Hindernisse springen könnt.« »Tun wir gar nicht, das machen die Pferde«, erwiderte Harry. Sie hielt den Zeigefinger in die Höhe, was bedeutete, eine Tasse Orange Pekoe Tee. Kyle nickte, zugleich schäumte er die Sahne auf Susans Kakao auf, weil sie vor lauter Gier vor seinen Augen verging. Die Tür flog auf, und Toby kam hereingestampft. »Hy, was hatten Sie heute auf meinem Weingut zu suchen?« Hy drehte sich überrascht auf seinem Barhocker herum. »Ich war nicht dort.« »Von wegen. Ich hab Ihren weißen Wagen gesehen. Niemand sonst hat eine goldene Lilie an seinem Wagen.« »Toby, wenn ich Ihr Weingut besuchen wollte, würde ich Sie vorher anrufen. Ich war nicht dort.« »Es war Ihr Wagen.« Tobys Gesicht rötete sich. »Die Lilie ist klein. Sind Sie dicht an das Auto herangefahren, das angeblich meins ist?« »Nein, ich hab's aus der Entfernung gesehen, aber ich kenne Ihren Wagen.« »Und aus der Entfernung wollen Sie erkannt haben, dass es mein Auto war?« »Lügen Sie nicht! Es war Ihr Wagen. Sie waren auf meinem Grund und Boden, und ich will verdammt noch mal wissen, warum!« Aus Rücksichtnahme auf die Damen stand Hy auf und entfernte sich vom Tresen. Alles hielt den Atem an. »Ich hab doch gesagt, ich war nicht auf Ihrem Gut. Ich glaube nicht, dass jemand, der bei mir arbeitet, auf Ihrem Gut war, aber ich prüfe das nach, sobald ich zu Hause bin. Falls doch jemand dort war, werde ich Sie augenblicklich davon in Kenntnis setzen und Ihnen auch sagen, warum. Geben Sie mir Ihre Handy-Nummer.« »Was ich Ihnen gebe, ist eine ernste Warnung. Wenn Sie 70
auch nur einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzen, erschieße ich Sie. Ich weiß, warum Sie dort waren. Sie wollen meine Rebstöcke ruinieren. Sie ertragen es nicht, dass meine Trauben besser sind als Ihre. Bleiben Sie von meinem Land weg, sonst bring ich Sie unter die Erde!« »Sie sind ja völlig übergeschnappt.« Ein gespannter Ausdruck trat in Hys Gesicht.
Toby riss die rechte Faust zurück und knallte sie Hy ans Kinn. Hy hatte ein Kinn aus Glas. Bewusstlos geschlagen, fiel er zu Boden wie ein Stein. Kyle kam um die Ecke geflogen, aber ebenso schnell rannte Toby zur Tür hinaus. »Verdammter Mist!«, fluchte Kyle. »Ich kümmere mich um ihn.« Karen bat einen Kellner um ein sauberes Handtuch. Sie goss ihr Wasser darüber, kniete sich hin und legte Hy das nasse Handtuch auf die Stirn. Harry und Susan knieten sich mit ihr hin. Kyle rief den Sheriff an. Deputy Cooper war zufällig in der Nähe vom Postamt. Sie machte eine Dreihundertsechzig-Grad-Wende, schaltete die Sirene und die Lichter ein, um die Straße zu überqueren, ohne das Ende des endlosen Verkehrs abwarten zu müssen. Als sie die Tür öffnete, kam Hy gerade zu sich. Blut sickerte aus seinem Mund; denn er hatte er sich auf die Zunge gebissen, als der Hieb ihn traf. »Hy, Hy, können Sie mich hören?« Cynthia beugte sich von vorn über ihn. »Jaha«, antwortete er schwach. Sie bewegte ihre Hand an ihren Augen vorbei. »Folgen Sie meiner Hand.« Sein Blick folgte der Bewegung ihrer Hand. Im Bistro redeten alle auf einmal. »Kommen Sie, Hy, wir legen Sie auf eine Bank.« Kyle suchte nach einer freien Nische. Weil keine frei war, wollte er schon Gäste bitten, sich woanders hinzusetzen, doch da stand Hy schwankend auf. »Geht schon wieder. Tut weh, aber es geht schon.« 71
»Lassen Sie mich Ihre Zunge anschauen.« Karen wollte ihm den Kiefer aufhalten, als wäre er ein Pferd. Er ersparte ihr die Mühe, indem er die Zunge herausstreckte. »Nicht so schlimm«, bemerkte Susan, und Karen stimmte zu. »Ist Ihnen schwindlig?«, fragte Coop. Sie wollte sichergehen, dass er keine Gehirnerschütterung hatte. »Nein.« »Haben Sie Kopfschmerzen?« »Nein. Was ich habe« - er betupfte seine blutende Zunge -, »ist eine Stinkwut.« »Möchten Sie Anzeige erstatten?« Coop setzte nie etwas voraus. »Ja. Die Höchststrafe soll er kriegen, der Scheißkerl.« Sein Gesicht wurde flammend rot. »Ich schlage vor, wir gehen nach draußen an die frische Luft. Sie können sich in mein Auto setzen, bei offenen Fenstern. Wir gehen alles durch.« Dann sagte Coop zu Harry, Susan, Karen und Kyle, ihre Aussagen würde sie später aufnehmen. Sie brauchten nicht hierzubleiben. Sie würde sie aufsuchen. Als sie ihre Hand unter Hys Unterarm legte, sagte er lauter, als ihm bewusst war: »Er ist wütend auf mich, weil mein Wein im vergangenen Jahr den ersten Preis in der Kategorie der neuen Weine gewonnen hat. Das erträgt er nicht.«
Coop ging mit Hy zur Tür. »Wollen Sie wirklich kein Handtuch mit Eis?« »Nein«, murrte er. »Toby ist gefährlich. Ich will, dass er hinter Schloss und Riegel kommt.« »Hy, das ist leichter gesagt als getan, aber kommen Sie raus an die frische Luft. Ich werde tun, was ich kann.« »Warum ist das schwierig? Angriff und Körperverletzung. Schlicht und einfach.« »Toby ist gerissen.« Dabei Heß Coop es bewenden, als sie die Tür öffnete. Harry hoffte noch mehr von dem Gespräch mitzubekommen, aber die Tür ging zu. Karen Osborne zuckte mit den Schultern. »Reif für die Klapsmühle.« Sie sagte nicht, ob sie Toby für verrückt hielt oder Hy oder beide.
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»... warme Winter.« BoomBoom lehnte über dem Zaun der Koppel, wo Keepsake Burly säugte. »1990 bis 1995 waren sie besonders warm. Wir hatten aber auch Dürrejahre.« Fair, der von Big Mim zu BoomBoom gekommen war, rieb seine Bartstoppeln. Sein Bart ärgerte ihn, weil er so schnell wuchs. Er hatte einen Elektrorasierer im Wagen, um einigermaßen mit dem Rasieren nachzukommen. Wenn er Zeit hatte, rasierte er sich morgens nass und dann noch einmal, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Er fand, seine Frau habe am Abend Anspruch auf ein glattes Gesicht. »Andererseits ist es seit 2000 nicht mehr so kalt gewesen. Wir hatten viel Schnee und Eis, aber keine langen Kälteperioden. Eigenartig.« »Wahrscheinlich stimmt das ja mit der globalen Erwärmung. Ich weiß nicht, ob es in The Wallstreet Journal oder The London Financial Times stand, es war ein Artikel über Hybridfahrzeuge. Da hieß es, die Abgase wären genauso gefährlich wie bei Benzin.« »Weil man aber mehr Kilometer mit einer Tankfüllung fahren kann, verlangsamt sich die globale Erwärmung vielleicht«, meinte BoomBoom, die von Motoren ganz besessen war. Fair lächelte, als Burly sich von Keepsake löste, ein paarmal im Kreis lief, bockte, stehen blieb, um die zwei Menschen zu beäugen, dann die Prozedur wiederholte. »Eine Persönlichkeit.« »Aufgedreht.« Sie lachte. »Ich bin ganz verliebt in den kleinen Kerl, und es ist mir egal, ob er große Ohren hat.« »Clark Gable war es auch egal.« Fair lachte. »Die viele Rumfahrerei gibt mir Zeit zum Nachdenken. Ich meine, uns bleibt keine andere Wahl, als uns vom Verbrennungsmotor zu verabschieden.« »Gott, die schönen Motoren.« BoomBooms Hand fuhr unwillkürlich an ihre Brust. Sie hatte es nicht weit. »Ich liebe Motoren.« Sie seufzte. »Aber wir können ja deswegen nicht gut unseren Planeten zerstören.« »Das ist so ähnlich, als wenn Präsident Rutherford B. Hayes erklärt hätte, Amerikas Zukunft liege im Walfang, wegen der Walfischtranlampen. Ich denke, dass der Verbrennungsmotor durch eine technische Neuerung ersetzt werden wird, aber
ich kann mir nicht vorstellen, was für eine, oder ob es noch zu meiner Zeit sein wird. Weißt du, BoomBoom, ich glaube, die Ausbreitung bestimmter Pferdekrankheiten, die es heutzutage gibt, ist eine Folge der Erwärmung.« »Du meinst West Nile?« Sie sprach von einer oft tödlichen Krankheit, die Pferde und Menschen befiel. »Genau. Uns bleibt ein bisschen Spielraum, weil das Virus erst von der Krähe auf das Opossum - meistens ist es ein Opussum - übergehen muss und dann aufs Pferd. Menschen können es direkt von Krähen bekommen, aber nicht von Pferden. Zum Glück ist die Übertragung des Virus so diffizil, dass wir, wenn wir den Zyklus in einem einzigen Übersprung zwischen den Arten unterbrechen, in der Lage sein sollten, es auszuschalten. Aber mir scheint, jeden Tag kommt was Neues daher.« Er schüttelte den Kopf. »Auch eigenartig, dass so viele von diesen neuen Krankheiten - oder die auf unserer Halbkugel zumindest neu zu sein scheinen - sich so schnell entwickeln.« BoomBoom, eine hochintelligente Frau, las querbeet und viel. Er nickte. »AIDS schießt hierbei den Vogel ab. Aber die alten Standardkrankheiten kehren wieder. Tuberkulose, Syphilis, sogar Masern. Sie kommen resistenter gegen Medikamente zurück.« »Man kann Tieren nicht die Schuld an diesen Krankheiten geben. Es ist eine Übertragung von Mensch zu Mensch.« »Es gibt überhaupt nicht viel, das Tieren angelastet werden 73
kann, weil in den Industrienationen so wenige Menschen auf engem Raum mit ihnen leben. In Asien, Afrika und Teilen Südamerikas ist das freilich anders. Ich muss jedes Mal lachen, wenn eine neue Krankheit am Horizont auftaucht, weil die Medizin es so eilig hat, sie auf einen Affen oder eine Schnecke oder einen Halbaffen zurückzuführen. Es ist, als könnten die Menschen sich immer noch nicht damit abfinden, dass wir unter bestimmten Umständen ideale Krankheitsüberträger sind.« Er schaute auf die Uhr. »Ich hatte gar nicht vor, dich so lange aufzuhalten.« »Ich habe noch nie eine Minute in deiner Gegenwart nicht genossen.« Er lächelte. »Davon weiß ich nichts, aber es ist nett, dass du das sagst.« »Wie sieht es dieses Jahr mit Mims Nachwuchs aus?« »Lauter Schönheiten. Sie hat ihre Stuten von Polish Navy, Mineshaft, Yankee Victor und Buddha decken lassen.« »Mim hat ein Händchen fürs Züchten. Alicia meint, weil Mim und Mary Pat solche Konkurrentinnen waren, haben sie sich gegenseitig nach oben geschoben.« BoomBoom sprach von der verstorbenen Mary Pat Reines, einer ausgezeichneten Pferdekennerin. »Das vorige Jahr war ein gutes Jahr für sie. Um ein Haar hätte sie den Colonial Cup gewonnen.« Fair meinte ein berühmtes Hindernisrennen. »Das Hengstfohlen von
Polish Navy ist bildschön, ein kräftiges Kerlchen. Sie sagt, der wird ihr Jagdpferd fürs hohe Alter.« »Hat sie zufällig auch gesagt, wann das hohe Alter einsetzt?« »Kommenden Donnerstag.« Beide brachen in Lachen aus. Als BoomBoom zu lachen aufhörte, sagte sie: »Die globale Erwärmung - ich hab mich gefragt, ob sie Infektionen aller Art beschleunigen wird, bei Tieren und Pflanzen. Ich habe ein Buch über den Schwarzen Tod gelesen, die Idealtemperatur für das Gedeihen des Bazillus liegt zwischen zehn und einundzwanzig Grad.« »So ziemlich dieselbe wie die Idealtemperatur beim Menschen.« 74
»Nun nimmt man an, dass nicht nur Rattenflöhe die Pest übertragen können, sondern auch Menschenflöhe. So ungefähr zweiunddreißig Floharten können die Pest übertragen. Ich hoffe, ich hab mir das richtig gemerkt.« »Die Erwärmung mag die Ausbreitung von Krankheiten beschleunigen, aber ich denke, mehr als alles andere braucht es den richtigen Wirt und das Tempo der Luftfahrt.« »Wie meinst du das, >den richtigen Wirt « »Eine große Bevölkerung, ein Leben in Schmutz und Elend, schlechte Wasserversorgung, unzulängliche Ernährung - das macht den perfekten Wirt aus. Es braucht nur einen Besucher aus einer Industrienation, der körperlich prädestiniert ist, die Pest aufzuschnappen, egal, ob Virus oder Bazillus; er steigt ins Flugzeug und verlässt es in Berlin, Paris, London, New York, ganz egal.« »Eine erschreckende Aussicht.« Sie hielt inne. »Die Podiumsdiskussion mit Professor Jenkins und Professor Forland hat mich zum Nachdenken gebracht könnten Feinde die Pest wieder aufleben lassen?« »Die müssen sie nicht Wiederaufleben lassen, Boom, sie ist da. Zum Glück haben wir gute Hygieneverhältnisse, aber bei einer großen Katastrophe wie dem Erdbeben in San Francisco kommen die Ratten aus ihren Löchern. Von diesen Ratten werden einige die Pest in sich tragen. Das glaube ich zumindest.« »Gibt's was Neues von Professor Forland?«, fragte Boom-Boom. »Nein. Man weiß gar nicht, was man denken soll.« »Er ist tot. Das steht für mich jedenfalls fest.« »Gott, das will ich nicht hoffen.« Er atmete ein und wieder aus. »Warum? Klar, das ist mir auch durch den Kopf gegangen, aber ich kann mir nicht denken, warum jemand ihn hätte ermorden wollen.« Ein leichter Wind zerzauste BoomBooms lange blonde Haare. »Es gibt immer Gründe, jemanden umzubringen, Fair. Habgier. Eifersucht. Rache. Profitgier. Religion. Politik. Sex. Sogar schiere Unachtsamkeit. Man tötet jemanden durch Zu"74 fall, will die Konsequenzen nicht tragen und lässt deshalb die Leiche verschwinden.« »Schon möglich. Ziemlich düster.« »Die Geschichte der Menschheit ist düster, mit wenigen hellen Ausnahmen.«
»Das sehe ich genau andersrum. Wir haben auf allen Gebieten Fortschritte gemacht. Es gibt Zeiten des Rückfalls und Stillstands, aber man kann den Fortschritt nicht lange aufhalten.« »Darüber könnte man lange diskutieren.« Sie hielt inne. »Um noch mal auf Professor Forland zurückzukommen, in den Nachrichten hieß es, man hat seinen Wagen in der Parkgarage am Queen Charlotte Square gefunden. Es gibt dort Geschäfte und Firmen. Die Anwaltskanzlei McGuire Woods hat dort ihre Büros. Da stehen Wohnhäuser. Er hätte guten Grund gehabt haben können, dort zu sein.« »Wenn Rick und Coop den Grund nur finden.« »Oder Harry.« Sie lächelte. »Sag das nicht!« Er drohte mit dem Zeigefinger. »Setz ihr bloß keine Flausen in den Kopf.« »Ich? Sie ist neugierig wie eine Katze. Sie wird nicht widerstehen können und versuchen herauszufinden, was mit Professor Forland passiert ist.« Seufzend stützte er sich mit beiden Ellbogen auf den Zaun. »Du hast recht. Keiner kann aus seiner Haut.« Eigenartigerweise benutzte Arch Saunders dieselbe Redensart beim Gespräch mit Harry, die er beim Abholen der Post getroffen hatte. Sie hatten sich seit Archs Rückkehr nicht allein gesehen. Da er noch keinen ganzen Monat in Crozet war, war das nicht weiter verwunderlich, zumal er in der kurzen Zeit viel zu tun gehabt hatte. Auch Harry war sehr beschäftigt gewesen. Anfangs war ihr Gespräch höflich, nicht zu persönlich. Dann fragte Arch sie, warum sie Fair wieder geheiratet hatte. Sie antwortete, dass sie ihn liebte und er sehr erwachsen geworden war. »Keiner kann aus seiner Haut«, sagte Arch mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. Sie kniff die Lippen zusammen, wechselte dann das Thema. »Wie gefällt es dir auf Spring Hill?« »Ich werde es zu einem der besten Weingüter Virginias machen.« Er fügte hinzu: »Ist aber eine Menge Arbeit. Heute Morgen hab ich zum Beispiel Mehltau auf mehreren Rebstöcken gefunden, die Rollie im Herbst gekauft hat. Der Zustand des Wurzelstocks hat mir nicht gefallen. Rollie war nicht erfahren genug, um die Stöcke auf Mehltau zu untersuchen.« »Kannst du das beheben?« »Ich kann's eingrenzen. Ich kann Ridomil sprühen. Ich muss jeden Rebstock alle einundzwanzig Tage besprühen, und das kommt teuer. Aber es ist die einzige Möglichkeit.« »Viel Glück.« Sie öffnete die Tür des alten F-150; Katzen und Hund saßen auf der Rückbank. »Hallo, Mrs. Murphy, Tucker und Pewter.« »Hallöchen«, antworteten sie. Sie verabschiedeten sich, Harry fuhr los, und Arch sah ihr nach. Er fand, sie war noch hübscher geworden, seit sie damals zusammen gewesen waren.
Am selben Nachmittag rief Hy Maudant Toby Pittman an. »Toby, einer von meinen Leuten, Concho, ein Neuer, war auf Ihrem Gelände. Als er niemanden antraf, ist er wieder gegangen.« »Warum haben Sie ihn geschickt?«, fragte Toby zornig. »Hab ich nicht. Er ist neu, wie gesagt. Er ist Mexikaner, sein Englisch ist ein bisschen holprig. Er hat die Weingüter besucht, um einen Plan für die Benutzung meiner mobilen Anlage aufzustellen.« »Bis dahin ist es noch ein halbes Jahr hin«, sagte Toby. »Deswegen mache ich jetzt den Plan. Im Herbst ist es zu spät.« »Sie sagten doch, er spricht schlecht Englisch. Wieso haben Sie da ausgerechnet ihn geschickt?« Hy, der langsam wütend wurde, brauste auf: »Weil ich ein 76
Formular entwickelt habe. Concho brauchte nichts weiter zu tun, als es einem potenziellen Kunden auszuhändigen. Und außerdem habe ich gesagt, sein Englisch ist holprig, nicht so schlecht, dass er nichts versteht. Es wird mit jedem Tag besser.« »Warum haben Sie ihn hierher geschickt?« »Er ist neu! Er weiß nicht, dass Sie und ich nicht klarkommen. Er ist nur von einem Weingut zum anderen gefahren, wie ich es ihm gesagt habe.« »Sie haben ihn geschickt, um mich auszuspionieren.« »Sie sind ja verrückt.« Hy war bald mit seiner Geduld am Ende. »Und Sie sind ein Mörder«, beschuldigte Toby ihn laut. »Was?« »Sie haben Professor Forland umgebracht, das steht für mich fest.« »Sie sind wirklich nicht ganz bei Trost. Außerdem, er wird vermisst. Das heißt nicht, dass er tot ist.« »Er ist tot, ganz sicher. Ich kenne ihn. Er würde nie für ein paar Tage verschwinden. Sie haben ihn umgebracht, weil Sie ein eifersüchtiger, intriganter Schweinehund sind und gewusst haben, dass er mit mir zusammengearbeitet hat. Sie können es nicht ertragen, dass ich besser bin als Sie. Dass ...« »Er hat alle aufgesucht. Es hat keinen Sinn, das Gespräch fortzusetzen.« Hy knallte den Hörer auf. Fiona kam aus dem Zimmer nebenan in die Bibliothek. »Was ist denn los?« »Er ist verrückt. Komplett plemplem.« Er fuchtelte mit den Armen. »Toby Pittman hat mich beschuldigt, Professor Forland ermordet zu haben. Der gehört eingesperrt.« Das Telefon klingelte. Fiona nahm ab. Ehe sie »hallo« sagen konnte, brüllte Toby: »Wenn Sie oder wer von Ihren Leuten meinen Grund und Boden betreten, bring ich Sie um.« »Ich bin's, Fiona.« Pause in der Leitung. »Sie bring ich nicht um, Fiona, aber Sie müssen rotzdumm sein, dass Sie mit dem niederträchtigen Mistkerl verheiratet bleiben.«
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Jetzt knallte sie den Hörer hin. »Er hat gesagt, ich bin rotzdumm.« Hys Wangen liefen rot an. Er steuerte auf die Tür zu. »Dich wird keiner beleidigen. Ich bring ihn um, bevor er mich umbringt.« Sie hielt ihn fest. »Hy, beruhige dich. Ich glaube, er wird wirklich versuchen, dich umzubringen.« »Ich bring ihn zuerst um.« »Er ist die Aufregung nicht wert.« Hy schlug sich mit der Faust in die Hand. »Ich lasse es mir nicht gefallen, dass er meine Frau beleidigt.« »Er ist übergeschnappt. Geisteskranke sind gefährlicher als geistig Gesunde.« Und die Gesunden sind schlimm genug.
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iese verfluchten rotzigen Virginier. Die wollen mich scheitern sehen. Auf
diese Genugtuung können sie lange warten, die Schweinehunde!« Rollie trat gegen seinen teuren Designer-Papierkorb aus Drahtgeflecht, so dass sich weiße, blaue und grüne Papierschnipsel über den ganzen marineblauen alten chinesischen Teppich verteilten. Arch atmete tief durch, so erleichtert war er, weil Rollie nicht wütend auf ihn war. »Spring Hill wird nicht scheitern. Erstens, ich hab's rechtzeitig entdeckt. Zweitens, da wir Land kaufen oder pachten, werden wir verschiedene Rebsorten anbauen. Damit sind wir auf der sicheren Seite. Wenn eine Sorte ein schlechtes Jahr hat, sollten die anderen das ausgleichen. Ähnlich wie die Balance zwischen Aktien und festverzinslichen Wertpapieren.« Er bemühte sich um Formulierungen, die Rollie verstand. Er war erstaunt, wie vernünftig dieser reizbare Mensch war, wenn man bedachte, was er ihm soeben mitgeteilt hatte. Rol 77
lie gab keine Schuldzuweisung. Er schien nach und nach zu begreifen, dass die Natur ihren eigenen Ablauf hatte. »Ist das Zeug bestellt?« »Dürfte morgen Vormittag hier sein.« »Weiß noch jemand davon?« Rollie hob eine Augenbraue. »Ich habe Hy Maudant angerufen.« »Warum ausgerechnet ihn?« »Er kennt sich sehr gut aus. Er ist auf Weingütern in Frankreich aufgewachsen und hat dort die Landwirtschaftsschule besucht. Außerdem ist er hier bekannt und kann mir sagen, wie ich am besten mit anderen Weingütern Verbindung aufnehme: einen Besuch machen, anrufen oder eine E-Mail schreiben. Er ist sehr hilfreich.« Seine Stimme hob sich leicht am Ende des Satzes, die traditionelle englische Art, wenn man eine Frage stellte oder sich nicht ganz sicher war. »Und?«
»Er hat keinen Mehltaubefall, aber er hat in einem tiefer gelegenen Abschnitt seines Weinguts beginnende Schwarzfäule entdeckt. Nicht stark, sagt er, aber er hat die betroffenen Rebstöcke bereits ausgerissen und mit dem Spritzen angefangen. Allerdings würde er sowieso spritzen.« »Warum reißt er sie aus?« »Er will kein Risiko eingehen, und ist die Pflanze einmal befallen, bleibt sie es immer.« »Aber wenn man es unter Kontrolle hält, können die Stöcke dann keine annehmbaren Früchte tragen?« »Doch. Hängt davon ab, wann man den Pilz entdeckt, aber, Chef, warum das Risiko eingehen? Diese Stöcke werden im Laufe der Jahre nicht so produktiv sein wie unbefallene. Vernichten Sie sie.« »Verdammt viel Geld.« »Der Anbau der perfekten Rebe ist nichts für Zaghafte.« Arch nahm kein Blatt vor den Mund. Rollie beugte sich über seinen Schreibtisch, das Gewicht auf die Knöchel gestützt. »Zu Ihrer Information, ich hab zwei richtige Eier im Sack. Glauben Sie, ich lege wegen ein paar dämlichen Sporen die Hände in den Schoß?« 78
»Nein.« Arch wägte seine Worte. »Die Natur ist manchmal ein grausamer Geschäftspartner. Deswegen meine ich, Risikoverteilung ist der richtige Weg. Je mehr Land Sie zur Verfugung haben, desto besser sind Sie dran.« »Hrnmm, ich kaufe Land, wenn nötig, aber ich würde lieber die Erträge der anderen aufkaufen. Sie die Arbeit machen lassen.« »So eine Art Portefeuille, man muss es ausgleichen.« Arch nickte. »Ridomil sollte es bringen, aber ich muss es ungefähr alle einundzwanzig Tage anwenden, je nach Niederschlagsmenge.« Rollie ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen; das Leder quietschte. Er wollte Arch gerade entlassen und sich wieder an die Arbeit machen, als ihm ein widerwärtiger Gedanke in den überhitzten Kopf schoss. »Könnte jemand uns das antun?« »Unsere Reben infizieren?« »Ja.« »Warum sollte jemand das wollen?« »Konkurrenz. Um mich runterzudrücken oder zu vertreiben.« »Ich glaube nicht, dass andere das tun würden; denn es besteht die Gefahr, dass die Sporen auf ihre eigenen Reben übergreifen. In der Zeit, in der sie freigesetzt werden, können sie vom Wind getragen werden.« »Es könnte jemand sein, der keinen Wein macht, aber mich hasst wie die Pest.« »Der wäre bald ein toter Mann. Er müsste ja strohdumm sein; schließlich würden die anderen Weinbauern bald dahinterkommen.« »Aber ist es möglich, die Rebstöcke oder die Erträge anderer zu infizieren?«
Arch rieb sich das Kinn. »Ja. Ich meine nicht, dass Mehltau die Methode wäre, aber wenn einer fest entschlossen ist, ja, ich denke, man könnte Rebstöcke oder eigentlich alle angebauten Pflanzen infizieren. Wenn ein Angestellter verärgert ist, könnte er Wasser sprühen, ohne es mit Ridomil zu mischen. Das wäre eine Möglichkeit. Man denkt, die Stöcke sind geschützt, dabei sind sie anfällig.« 79 »Ein Gauner könnte infizierte Stöcke verkaufen«, sagte Rollie. Arch verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Es gibt alle möglichen Methoden, jemanden reinzulegen.« Rollie drehte die Daumen. »Professor Forland hat nicht gesagt, dass er was gesehen hätte.« »Es war noch nicht genug Laub dran, als er hier war. Irgendwas ist immer bereit, die Reben anzugreifen. Auch Vögel, Hirsche, Füchse. Die Füchse fressen wenigstens nur die unteren Teile ab. Vögel und Hirsche können alles kahl fressen.« »Können wir die Trauben nicht bedecken, wenn sie wachsen?« »Nein.« Arch schüttelte den Kopf. »Man muss sie unter freiem Himmel halten, und man muss immerfort spritzen. Die Hirsche erschießen oder Schutzzäune errichten. Anders geht es nicht.« »Na gut.« Rollie entließ Arch abrupt mit einer Handbewegung, als das Telefon klingelte. Arch trat hinaus in das goldene Licht der hochstehenden Frühnachmittagssonne. Es hätte schlimmer kommen können. Vielleicht lernte Rollie ja, ihm ein bisschen zu vertrauen. Das war nur eine geringe Entschädigung für die Traurigkeit, den Zorn, den Neid, die ihn befallen hatten, als Harry davongefahren war. Sie machte ihn zornig, weil sie partout nicht über ihre Affäre sprechen wollte. Typisch Harry, die Gefühle einfach wegzustecken. Und sie machte ihn traurig, weil er wusste, eine Frau wie Harry würde er nie wieder finden.
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iefe stahlblaue Wolken wälzten sich über das Blue-Ridge-Gebirge. Die
Temperatur sank, und die Feuchtigkeit drang bis in die Knochen. Der Ausflug von Mrs. Murphy, Pewter und Tucker hatte ganz harmlos begonnen. Harry untersuchte ihre neuen Weinstöcke, weil sich der Mehltaubefall rasch unter den Weinbauern herumgesprochen hatte. Alles sah gut aus, die Knospen wurden flaumig und hellgrün. Anschließend nahm sie die diversen Sonnenblumenarten in Augenschein, deren erster großer Wachstumsschub gerade einsetzte. Danach sah sie nach ihrem Futtergras und einer Weide mit Luzerne. Sie sprang über den Bach, um die Felder auf dem ehemaligen Jones-Besitz zu inspizieren. Diese Weiden waren angereichert worden durch die Rinder, die Blair gehalten hatte. Harry hatte dort Wesen-Knäuelgras und gemischte
Luzernenarten gesät. Sie pfiff bei der Arbeit. Überall war junges, gesundes Leben. Sie war auf dem Weg zum Pfirsichhain und hoffte, dass dort alles in Ordnung war. So sehr die Tiere Harry liebten, ihre Leidenschaft für Feldfrüchte teilten sie nicht. Obst- und Blumenpflanzungen waren interessanter. Die Tiere freuten sich auf die reifen Sonnenblumen, weil dann die Bienen und die Vögel kamen. Pewter hatte sich eine Ecke auf dem Abschnitt mit italienischen Sonnenblumen reserviert. Sie war sicher, ihre Nemesis, den Blauhäher, dorthin locken zu können. So weit war es noch nicht, doch Pewter plante im Voraus. Unterdessen stieß der Vogel ungestraft auf sie herab. Von Harrys bukolischer Verzückung gelangweilt, gingen sie zum Bach und stromaufwärts zur Grenze des Bland-Wade-Landes. Der Potlicker Creek durchfloss das Gebiet; das klare Süßwasser war stellenweise tief. Eine Hirschkuh sprang hervor. Sie jagten ihr hinterher, wobei ihr Ego ihre Fähigkeiten überstieg. Erschöpft setzten die drei sich zum Verschnaufen unter eine hohe Platane. Der Boden war mit kleinen Maiäpfeln übersät. »Meint ihr, eine Katze hat schon mal einen Hirsch getötet?«, fragte Pewter. »Halte ich für möglich«, sagte Mrs. Murphy. »Niemals.« Tucker keuchte immer noch. »Und warum nicht, du Zwerghund?«, fragte Pewter. »Hirsche sind zu groß und zu schnell.« 80
»Ich kann so schnell laufen wie ein Hirsch.« Das Fell an Mrs. Murphys Rückgrat stellte sich auf. »Kurze Zeit schon, aber ein Hirsch kann meilenweit laufen. Du bist gebaut, um richtig schnell zu rennen und dann im Hundertachtzig-Grad- Winkel die Kurve zu kratzen. Du kannst Rückwärtssaltos über deinen Verfolger machen, wenn du willst. Das können Hirsche nicht.« Tucker hielt es für das Beste, ihr zu schmeicheln. »Schon mal gemerkt, dass wir auf dieselbe Weise jagen wie Füchse? Ducken, stillstehen, dann zuschlagen«, sagte Pewter. »Weil wir dieselbe Beute jagen.« Mrs. Murphy respektierte Füchse, ungeachtet dessen, dass sie sich bekanntlich mit einigen lautstark stritt. Tucker hob die feine Nase. »Unwetter im Anzug.« Pewter atmete tief ein. »Schnell.« »Lasst uns nach Hause gehen.« Mrs. Murphy setzte sich in südlicher Richtung hügelab in Bewegung. Die anderen schlossen sich an. Als sie aus der Deckung brachen, erblickten sie die drohenden Wolken, die die Berge krönten. »Verdammt!« Pewter konnte Gewitter nicht ausstehen, und das nicht besonders weit entfernte Grollen ließ sie erschauern. Sie rasten über die Wildblumenwiese, hinein in den Wald auf der anderen Seite. Sie waren gut drei Kilometer von zu Hause entfernt, aber das Gewitter zog schnell
heran. Der Wind raste urplötzlich mit zwanzig Knoten daher. Wumm, schon schwankten die Bäume. Schweigend rannten sie nach Leibeskräften. Sie sausten an dem alten Schwarzbirkenhain vorbei - Weißbirken gediehen so weit südlich nicht -, flitzten dann über eine Wiese, die in einer Mulde lag. Mrs. Murphy blieb schlitternd stehen. »Halt!« »Ich denk ja nicht dran.« Pewter rannte weiter, wandte den Kopf und sah, dass Tucker stehen geblieben war, die Nase ins hohe Unkraut und Gras gesenkt. »Pewter, such eine Höhle oder so was. Wir schaffen es nicht rechtzeitig nach Hause«, wies Tucker die Katze an, deren Pupillen sich weiteten. 81
Pewter protestierte nicht. Sie wollte sich unterstellen. Sie sauste an den Rand der Wiesenmulde und umrundete sie in der Hoffnung, eine alte Höhle zu finden. »Nichts«, rief sie. »Wir sollten uns sputen, Tucker. In dem großen Felsvorsprung vierhundert Meter weiter ist eine Höhle. Das ist unsere einzige Chance«, rief Mrs. Murphy laut, um den Wind zu übertönen. »Dann los!« Pewter war angst und bange zumute. Die drei rannten. Dicke Regentropfen platschten in frisch aufgesprungene Knospen. So weit oben zog der Frühling später ein. Blätter boten keinen Schutz. Die Regentropfen prallten auf die Erde wie nasse Gewehrpatronen. Sie gelangten zu den Felsvorsprüngen, die jetzt schwarz und glitschig waren. Sie flitzten in die Höhle. »Nein!« Pewter plusterte sich auf, dass sie aussah wie ein Kugelfisch. Mrs. Murphy und Tucker blieben wie angewurzelt stehen; draußen prasselte der Regen wie eine Feuersalve. Zu verblüfft, um zu sprechen, rempelten sie ineinander, als sie die Bremsen anzogen. Da saß ein vierhundert Pfund schweres Bärenweibchen auf den Hinterbacken und säugte zwei Junge, ganz so, wie Menschenfrauen ihre Babys stillen. Mit ihrem schwach ausgeprägten Sehvermögen konnte sie die drei kleinen Eindringlinge ausmachen. Ihr Geruchssinn verriet ihr, dass es zwei Katzen und ein Hund waren. Pewter zitterte. Was war schlimmer, das Unwetter oder der Bär? Als die Jungen im Januar geboren wurden, waren sie so groß gewesen wie Ratten. Dank ihrem erstaunlichen Wachstum sahen sie jetzt aus wie Teddybären. Blinzelnd versuchten sie, die kleinen Besucher zu erkennen. Die tapfere Mrs. Murphy wich nicht von der Stelle. Ihr war klar, dass die säugende Mutter sie nicht anspringen konnte, und Bären waren ohnehin eher gemächlich. Sie konnten sich nur tapsend oder trottend fortbewegen. Die Katze stellte fest, dass sie Zeit zum Reden hatte, und sollte das Gespräch sich als ver I81 drießlich erweisen, würde sie dem Blitz Konkurrenz und sich schleunigst aus dem Staub machen.
»Entschuldige bitte. Das Unwetter hat uns überrascht.« Ein sengender Blitzstrahl unterstrich ihre Worte. »Das sehe ich.« Die raue Stimme ließ keinen Grimm erkennen. »Bären fressen kleine Säugetiere«, platzte Pewter ungeschickterweise heraus und wich dabei zurück. »Viel lieber mag ich Beeren und Honig. Sagt mal, ihr wisst nicht zufällig, wo es Bienennester gibt? Hier in der Nähe. Mit den Kindern kann ich nicht allzu weit streifen, obwohl sie wachsen wie Unkraut.« »Da wo der Potlicker Creek in Harrys Creek mündet - so nenn ich ihren Bach -, steht gleich an der Ecke eine tote Eiche, sehr hoch, da sind die Spechte dran gewesen. Riesige Bienennester.« »Super.« Die Bärin lächelte und ließ dabei die furchterregenden Zähne sehen. »Wildbienen sind so aggressiv. Stechen sie dich nicht?« Mrs. Murphy hielt es für geraten, sie in Themen zu verwickeln, die für sie interessant waren. »Sie können mich nicht stechen. Und ich weiß, wie ich Nase und Augen schütze. Habt ihr gewusst, dass der Honig von Wildbienen viel kräftiger ist als der von gezüchteten Bienen? Na, ich mag ja beide, sag ich euch, aber der Wildbienenhonig hat einen mächtig süßen Geschmack.« »Wie war's beim Fischen?« Die unerschrockene Tigerkatze erinnerte sich, dass Bären gerne fischten. »Gut. Die Flusskrebse waren auch nicht übel. Schmecken manchmal wie Nüsse. Die mag ich zu gern. Ich esse einfach gern.« »Ich auch.« Pewter entspannte sich ein bisschen, hielt aber ein Ohr gespitzt, in der Hoffnung, dass das Unwetter nachließ. »Das sehe ich.« Die Bärin lachte. »Hast du in letzter Zeit was Ungewöhnliches gesehen oder gewittert?«, fragte Tucker, um das Gespräch in Gang zu halten. »Vor ein paar Nächten hab ich im Pfirsichhain einen Menschen gewittert. Die haben so einen ranzigen Geruch, die Ärmsten. Ganz leicht aufzuspüren und zu erlegen. Nicht, dass ich Menschen töten 82
und essen will, bewahre; selbst wenn ich es wollte, denkt doch nur mal an die Chemikalien. An das viele behandelte Zeug, das sie essen. Die sind ein echtes Gesundheitsrisiko.« Sie legte den Arm um einen Zwilling, der zu nuckeln aufgehört hatte und an ihrer Brust eingeschlafen war. »Ich hab nichts gegen Menschen. Lassen sie mich in Ruhe, lass ich sie in Ruhe. Die Welt ist groß genug für alle.« Es regnete immer noch, aber Blitz und Donner zogen über den Hügelkamm. »Kriegst du jedes Jahr Zwillinge?«, fragte Tucker. Sie lachte. »Nein, ich hab nur alle zwei Jahre einen Wurf. Öfter, oje, da würde ich mir ja einen Bärendienst erweisen.« Sie lachte über ihr Wortspiel. »Muttersein macht schrecklich viel Arbeit.« Der Regen ließ ein bisschen nach. »Hast du gesehen, was der Mensch neulich nachts im Pfirsichhain gemacht hat?«, fragte Tucker.
»Einen anderen Menschen verscharrt«, sagte die Bärin schlicht. Es ging sie nichts ah. Die drei Haustiere sahen sich an, sagten aber nichts. »So, wir machen uns wieder auf den Weg. Danke für den Unterschlupf«, sagte Mrs. Murphy höflich. »Ja, danke schön.« Pewter und Tucker besannen sich auf ihre Manieren. »War mir ein Vergnügen. Ich liebe meine Babys, aber sie plappern ja bloß. Unsere Unterhaltung hat mich gefreut.« Die drei stürmten hinaus und rannten den ganzen Weg bis zum Stall. Obwohl völlig durchnässt, waren sie ungemein heiter, als sie in den Mittelgang huschten. »Wir müssen in den Pfirsichhain«, sagte Mrs. Murphy. »Aber nicht bei diesem Regen«, widersprach Pewter. »Sie hat recht, Murphy«, pflichtete Tucker bei. Harry kam von der anderen Seite angestapft, das Wasser lief an ihrem verlässlichen alten Barbourmantel herunter. »Wo wart ihr? Ich hab euch überall gesucht. Ich hatte eine Heidenangst.« Tucker lief zu ihr, setzte sich und sah Harry treuherzig an. »Mom, wir müssen zum Pfirsichhain, wenn es mal aufhört zu regnen.« 83
»Ihr seht aus wie gebadete Mäuse.« Harry zog den Mantel aus und hängte ihn zum Abtropfen an einen Sattelhaken. Sie nahm ein dickes Stallhandtuch und rieb Tucker damit ab. Sie warf es in den Plastikwäschekorb, holte ein anderes und säuberte damit die beiden Katzen. Während sie Mrs. Murphy abrieb, beugte Simon sich über den Heuboden. »So ein Schmutz.« »Danke«, murrte Pewter. Sie setzte sich aufs Hinterteil, streckte ein Hinterbein und fuhr die Krallen aus. »Den Matsch krieg ich nie mehr raus.«
18
D
er nächste Tag war strahlend, als hätten die dunkelgrauen Gewitterwolken
gleich riesigen Topfkratzern alles sauber geschrubbt. Die Felder glitzerten, der späte Hartriegel blühte, während der Blumenhartriegel bereits am Verblühen war. Der Flieder blühte auf. Frische Luft füllte die Lungen und belebte alle. Harry, die seit halb fünf auf den Beinen war, hatte bis zum Mittag ihre Haus- und Stallarbeit erledigt. Sie stieg in ihren 1978er Ford und fuhr zu Alicia, um zu sehen, wie der Fohlennachwuchs sich machte. Als sie die lange, geschwungene Zufahrt entlangfuhr, die von mächtigen Bäumen beherrscht wurde, sah sie vorne auf der Weide die Jährlinge herumtollen. Die Vollblüter vom letzten Jahr sahen sehr vielversprechend aus. Harry war gespannt, wie sich die zwei und drei Monate alten Fohlen entwickelten. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, Besuche zu machen; aber wenigstens hatte sie es geschafft, Burly zu besuchen. Es war lustig anzusehen, wie das
langohrige kleine Maultier an Keepsake saugte, einer edlen Vollblutstute. Falls Keepsake sich ihres Abkömmlings schämte, Heß sie es sich nicht anmerken. Alicias Farben, Grün und Gold, waren als Banderole um die 84
Mitte der weißen Torpfosten des Stalls gemalt. An dem eleganten, mit weißen Schindeln verkleideten Stallgebäude verliefen die Farben als schmales Band um die Pfosten, die den gut zwei Meter hohen Dachvorsprung stützten. Der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaute Stall strahlte den Charme vom Amerika vor dem Ersten Weltkrieg aus. »Da ist Max.« Tucker stellte sich erfreut auf die Hinterbeine, als Alicias geliebter, imposanter Gordon Setter erschien. Anders als irische und englische Setter hütete Max seinen Menschen resolut. Er jagte auch freudig, aber in gemächlicherem Tempo als sein temperamentvoller irischer oder sein stattlicher englischer Vetter. Mrs. Murphy und Pewter mochten Max zwar ganz gern, aber ihnen stand der Sinn mehr danach, aus dem Auto zu stürmen und die Rauchschwalben zu jagen, die zum Stall hinein-und hinausflogen. Harry sah, dass Toby Pittmans und Arch Saunders' Lieferwagen auf dem schönen großen Platz vor dem Stall parkten. »Was die wohl hier wollen«, wunderte sie sich laut. »Ja, von denen will doch keiner Vollblüter. Arch kann gar nicht reiten.« Mrs. Murphy wartete ungeduldig, dass Harry den Motor abstellte. In dem Moment, als der Motor verstummte, machte Harry die Fahrertür auf. Ehe sie das Bein draußen hatte, sprangen die Katzen auf ihren Schoß und dann auf das Kopfsteinpflaster. Sie flitzten in den Stall, bevor Max überhaupt merkte, dass sie da waren. »Gar nicht beachten.« Tucker wollte aus dem Auto gehoben werden. »In Ordnung«, antwortete Max, der herankam, um Tucker zu begrüßen. Harry, die Alicia vorher angerufen hatte, sah sich draußen um, dann ging sie in den Stall. Sie trat ins Büro, dessen getäfelte Wände bedeckt waren mit Fotos von Mary Pat Reines in Goldrahmen - auf der Jagd, über Hindernisse setzend bei diversen Reit- und Springturnieren -, von ihren Pferden, die bei den Stuten-, Hengst- und Jährlingsparaden siegten, von ihren 84
Jagdpferden im Siegerkreis. Ein Foto zeigte die zweiundzwanzigjährige Alicia in zwangloser Kleidung bei der Fuchsjagd. Arch Saunders und Toby Pittman saßen auf dem frisch bezogenen Sofa, Alicia saß ihnen gegenüber in einem Clubsessel. Zwischen ihnen stand ein ramponierter Couchtisch. »Alicia, ich kann später wiederkommen.« Harry dachte sich, dass dies eine Stippvisite sein musste; denn Alicia hatte gesagt, sie sei allein. Als Harry anrief, hatte Alicia von einem Hengstfohlen geschwärmt, das sie von Distinctive Pro
hatte, einem New Yorker Zuchthengst, und einem Stutfohlen von More Than Ready, der im Gestüt Vinery Stud in Kentucky stand. »Kommen Sie nur rein.« Die Männer standen auf, als Harry eintrat, und nahmen wieder Platz, sobald sie sich in den anderen Clubsessel gesetzt hatte. Toby griff sein Thema wieder auf. »Er will mich vernichten. Uns alle.« Arch schnitt eine Grimasse, hielt aber den Mund. »Haben Sie mit Sheriff Shaw gesprochen?«, fragte Alicia ruhig. »Er hört nicht auf mich. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Auf Sie hören alle, und auf Big Mim. Aber Big Mim ist wütend auf mich. Sprechen Sie mit dem Sheriff. Veranlassen Sie ihn, Ermittlungen aufzunehmen.« »Warum ist Big Mim wütend auf Sie?«, fragte Alicia. Toby klopfte aufgewühlt mit dem Zeigefinger auf sein Knie. »Ich habe ihr gesagt, sie macht einen großen Fehler, wenn sie nicht einen Teil ihres Landes für den Weinbau verwendet. Und ich habe gesagt, bei ihrem Reichtum könnte sie bald zu den ganz Großen gehören.« »Und?« Alicia wusste, an der Geschichte musste noch mehr dran sein. »Ich habe ihr gesagt, Patricia und Bill sind so mächtig, dass sie bald wie Nelson Bunker sein werden, als er versuchte, den Silbermarkt aufzukaufen. Sie sagte, Patricia und Bill sind nicht so. Sonst hätten sie Professor Forland nicht chauffiert, um andere Weingüter zu besichtigen.« 85
»Da hat sie recht, Toby.« Alicia fragte sich, warum Toby auch nicht die Spur von Diplomatie beherzigen konnte. »Bis dahin lief alles gut. Ich habe ihr meine Theorie über Professor Forlands Verschwinden dargelegt. Sie sagte, ich soll vorsichtig sein mit falschen Beschuldigungen, und ich habe sie eine reiche Zicke genannt.« »Harry, Toby denkt, Hy will ihm seine Weinstöcke ruinieren. Er sagt, Hy hat Concho geschickt, um bei ihm zu spionieren.« »Hy kennt sich aus. Er ist schlau genug, um seine Spuren zu verwischen. Er will das beste Weingut in Virginia haben, indem er uns alle ruiniert!« »Arch, Sie haben noch gar nichts gesagt.« Alicia lächelte ihn an. »Hy kennt sich sehr gut aus.« Arch blieb unverbindlich. Harry fragte sich, was Arch hier mit Toby wollte. »Verzeihen Sie, ich verstehe nicht viel vom Weinbau. Wenn Hy Ihre Rebstöcke schädigen wollte, wie würde er da vorgehen?« »Ganz einfach!« Tobys Augen glühten. »Er würde sich in die Reihen schleichen, einen Stock ausgraben und einen infizierten einpflanzen. Der könnte mit irgendwas infiziert sein. Es sind weiß Gott genug Krankheiten im Umlauf. Er braucht nur einen einzigen kranken Stock einzusetzen. Bei Arch ist ja bereits Mehltau aufgetreten.«
»Hy hat Rebstöcke mit Schwarzfäule ausgerissen.« Arch gedachte dies als Gegengewicht zu Toby ins Spiel zu bringen. Aber Toby, der zu aufgeregt war, um das zu erkennen, sprang vom Sofa. »Ha! Die hat er selbst angeschleppt, um uns auszuschalten!« »Verstehe.« Alicia bewahrte einen ruhigen Ton. Als Toby sich so heftig aufs Sofa fallen ließ, dass Arch ein wenig in die Höhe federte, sprach Arch wieder. »Es ist böses Blut zwischen Hy und Toby. Hy könnte infizierte Rebstöcke oder Insekten einschleppen, aber ich glaube, das würde er nicht tun, weil der Schuss nach hinten losgehen könnte.« *3*
»Was heißt nach hinten losgehen? Er würde mich erledigen.« Toby packte eine Ecke des Sofakissens. »Er könnte sich obendrein selbst erledigen.« Arch hielt seinen Blick auf Alicia gerichtet. »Hy weiß, ein einziger Fehler, eine Spore auf seinem Hosenbein, und er setzt seine eigenen Rebstöcke aufs Spiel. Deswegen denke ich, seine Rache - falls er tatsächlich so was vorhat - wird anders aussehen.« »Und wie zum Beispiel, verdammt und zugenäht!« Toby hatte die Stimme gehoben, jetzt senkte er sie wieder. »Verzeihung, meine Damen.« »Schon gut, Toby. Eine beunruhigende Sache. Immerhin könnte Ihr Lebensunterhalt in Gefahr sein.« »Inwiefern?« Toby bemühte sich, vernünftig zu klingen. »Hm«, Arch wog seine Worte, »Toby, du kannst nichts anderes tun, als dich wegen Hy sorgen, so sieht es zumindest für mich aus. So wie ich das sehe, gewinnt er. Dein Verstand ist nicht, wo er hingehört - bei deinen Rebstöcken, bei deinem Geschäft.« »Schwierig, sich nicht zu sorgen, wenn er Professor Forland ermordet hat.« »Toby, das ist nicht Ihr Ernst«, entfuhr es Alicia. »Doch. Professor Forland war Hy auf der Spur. Er wusste, dass er vorhatte, mich zu ruinieren.« Toby gab keine Erklärung, woher Professor Forland das wissen konnte, aber Toby, der offenbar nicht ganz bei Sinnen war, wurde auch um keine gebeten. Die Menschen schwiegen einen Moment, weil niemand etwas zu dieser absurden Anschuldigung zu sagen wusste. Während die Menschen sich unterhielten, liefen Mrs. Murphy und Pewter im Stall hin und her, sprangen nach den Rauchschwalben, die herabstießen, um sie zu triezen. Das machte zwar großen Spaß, war aber anstrengend. Die zwei Katzen verzogen sich nach draußen, um ein Sonnenbad zu nehmen. Das Thermometer zeigte achtzehn Grad, und kein Windhauch war zu spüren. Der wanderdrosseleier-blaue Himmel wölbte sich über einem wunderschönen Frühlingstag. 86
»Guck dir diese dämlichen Hunde an«, sagte Pewter hochnäsig.
»Hoffentlich ist es ein abgelegter Schuh, sonst wird es jemand büßen müssen.« Mrs. Murphy fragte sich, wie irgendein Lebewesen, das etwas auf sich hielt, seine Kauwerkzeuge in ein Ende eines Schuhs versenken und daran zerren konnte, während der andere Hund dasselbe mit dem anderen Ende machte. Das Knurren hörte sich grimmig an. »Ha!« Pewter lachte, weil Max Tucker, die sich weigerte loszulassen, über den Kopfsteinweg gezogen hatte. Mrs. Murphy, die nie lange faulenzte, stand auf, streckte und schüttelte sich. Sie schlenderte zu Archs Lieferwagen; das Fenster war offen, aber zu weit oben, so hoch wollte sie nicht springen. Sie könnte es, wenn sie in Bedrängnis wäre, aber niemand verfolgte sie, es war auch niemand da, vor dem sie angeben konnte. Deshalb hüpfte sie auf die Kühlerhaube und spähte in den Innenraum. Von da aus sprang sie auf das Dach der Fahrerkabine und beugte sich herüber, um durch das offene Fenster zu schlüpfen. Kompliziert, aber für sie kein Problem. Der schwenkbare Fahrersitz war leer. Auf dem Armaturenbrett lag eine hübsche Sonnenbrille. Der Beifahrersitz quoll über von Notizbüchern, Bodenkarten, einem Blechbehälter mit kleinen Phiolen für Bodenproben, einem laminierten Blatt Papier mit Abbildungen von Insekten. Eine abgetragene, mit Fleece gefütterte Lederweste war auf den Boden gerutscht. Nichts davon interessierte Mrs. Murphy, weswegen sie wieder auf die Kühlerhaube sprang, von da auf die Erde, und dann auf Tobys neuen grünen Dodge, um durch die Windschutzscheibe zu spähen. Der Innenraum, pieksauber bis auf ein bisschen Schmutz auf dem Boden auf der Fahrerseite, bot keine Leckerbissen. Sie hatte auf Maischips oder gar ein Sandwich gehofft. Die mittlere Armstütze war heruntergeklappt. Murphy wiederholte ihr Kunststück, vom Dach der Fahrerkabine in das weit offene Fenster zu schlüpfen. Pewter hob den Kopf und sah zu. Neugierig geworden, setzte sie sich auf. J87 »Hey«, rief Mrs. Murphy, »komm mal her.« Sie hatte den Deckel der Armstütze hochgeklappt. Pewter ging zu ihr. »Was?« »Das musst du dir angucken.« Pewter schätzte die Entfernung bis zur Kühlerhaube ab. Sie dachte an ihre Körperfülle. Sie könnte auf die hintere Stoßstange hüpfen, sich auf die Ladefläche hieven, dann auf die Haube springen. Wenig verlockend, das alles. »Mach die Tür auf.« Die Tür eines Lieferwagens zu öffnen war für eine geschickte Katze eine Kleinigkeit. Mrs. Murphy schob den Türöffner nach vorn, stieß dann die Tür auf. Das Signal, das anzeigte, dass die Tür offen war, während der Schlüssel im Zündschloss steckte, ging los. »Ich könnte dem verdammten Dings die Drähte abklemmen. Wie kann jemand so blöd sein und nicht merken, dass seine Autotür offen ist?« Mrs. Murphy hasste das Geräusch. »Pewter, guck mal, hier.«
Pewter schaute in die Ablage der Armstütze. Drinnen lag eine nagelneue Ruger P95PR neun Millimeter. Der blaue Stahl unterstrich das funktionelle Design der kraftvollen Waffe. Mehrere Magazine für zehn Patronen waren auch vorhanden. »Donnerwetter!«, rief Pewter. »Die könnte jemandem ein schlimmes Loch verpassen.« Mrs. Murphy war unbehaglich zumute, nicht wegen der 445 Dollar teuren Waffe, sondern wegen Tobys Geisteszustand. Die Tiere witterten Angst und Erregtheit, wenn sie in seiner Nähe waren. »Nichts wie weg!« Pewter hörte und sah Harry aus dem Haupteingang kommen, gefolgt von den anderen Menschen. Die zwei Katzen schössen vom Sitz, duckten sich unter den Wagen und sausten hinten hinaus. Sie kamen bei den Hunden an, ehe die Menschen sie bemerkten. »Ich hatte die Tür zugemacht, das weiß ich genau.« Toby wollte gerade die Tür zuschlagen, da sah er, dass die Mittelkonsole offen war. »Hey, hey, da ist ja meine neue Pistole. Ich dachte, ich hätte sie verloren. Wie kann sie hierher geraten sein?« 88
»Koboldstreich«, meinte Arch. Er hütete sich, sich über Tobys Geistesverfassung lustig zu machen. Alicia und Harry traten hinzu, als Toby die schöne Pistole herausnahm. »In meinem Wagen.« Alicia, die seine Launen fürchtete, lächelte. »Ich finde dauernd Sachen. Ich schwöre, in Virginia leben kleine Kobolde.« Seine Augen traten einen Moment lang hervor. Er wollte etwas sagen, als Arch einschritt. »Ein Glück für dich, dass du sie gefunden hast. Ein schönes Stück.« Toby betrachtete den blauen Stahl, den strukturierten rutschfesten Griff. »Stellt euch vor, das Beschaffungsamt der Streitkräfte hat fünftausend Stück hiervon für den Kampfeinsatz bestellt. Unter dem Lauf ist sogar eine Picatinny-Schiene, an der ich eine Waffenlampe montieren kann.« »Toll.« Harry hatte was übrig für gutes Gerät. »So, meine Damen, die Arbeit ruft.« Arch lächelte ihnen zu und stieg in seinen Wagen. Toby, der sich wegen seiner P95PR immer noch den Kopf zerbrach, stieg in seinen Lieferwagen, legte die Waffe in die Mittelkonsole und klappte den Deckel herunter. Als die Männer weg waren, zeigte Alicia Harry ihre Babys, und Harry fand, sie waren all das, was Alicia von ihnen gesagt hatte. »Wer ist denn das elegante Kerlchen?« »Ah, der ist von Lycius, der von Mr. Prospector und von Lypatia abstammt, die, wie Ihnen bekannt ist, von Lyphard war. Sie wissen ja, wie sehr ich das Lyphard-Blut schätze. Er hat ein langes, nutzreiches Leben gehabt, dieser Hengst.« »Wer ist die Stute?« »Party Girl. Als Sie ein Kind waren, hat Mary Pat die herrliche irische Stute Peat's Girl herübergeholt, erinnern Sie sich? Sie wollte mit ihr jagen, aber die Stute hatte
auf der Weide einen Unfall und sich das Sprungbein gebrochen. Nicht richtig gebrochen, mehr gesplittert. Jedenfalls wollte Mary Pat sie nicht rannehmen, auch nicht, als sie genesen war, deshalb machte sie sie zur Zuchtstute. Das hier ist die vierte Generation.« 89
Harry war beeindruckt. »Warum jagen Sie nicht mit ihr?« »Sie wurde ja nie dazu gemacht.« Mit »gemacht« meinte Alicia, die Stute wurde nicht ausgebildet. »Und ich bin noch nicht lange genug wieder hier, um alles in den Griff zu bekommen. Drum dachte ich, ich lasse sie decken und gehe diesen Herbst mit einem ausgebildeten Pferd jagen. Freilich, wenn ich mich nach einem umsehe, wird der Preis sich verdreifachen.« »Lassen Sie mich das in die Hand nehmen«, bot Harry ihr an. »Gerne. Sie sind beauftragt, mir ein mutiges, phantastisches Jagdpferd zu besorgen. Ich mag es nicht zu den Hindernissen treiben müssen. Besorgen Sie mir ein bereitwilliges Pferd. Und wenn Sie gerne mit Drei- oder Vierjährigen arbeiten möchten, sagen Sie es mir.« »Mach ich.« Harry lächelte, denn sie liebte derlei Herausforderungen. Auf dem Weg zum Stall und einer Tasse Tee bemerkte Harry: »Toby hat nicht alle Tassen im Schrank.« »Das scheint mir allerdings der Fall zu sein.« »Alicia, Toby muss ganz glitschige Schuhsohlen haben.« Alicia lachte ihr silberhelles Lachen. »Weil er dauernd ins Fettnäpfchen tritt.« Harry öffnete die Stalltür; ihr Ehering warf das Sonnenlicht zurück. Sie lächelte. »Werden Sie mit Rick sprechen?« »Ja, aber ich denke, unser Sheriff weiß, dass Toby an irgendeiner Form von mentaler Bedrückung leidet.« Alicia trat in das geräumige Büro, um eine Kanne Tee zu kochen. »Warum war Arch hier?« Harry setzte sich an den Couchtisch. »Toby wollte einen Zeugen, der kein Freund ist, aber auch kein Feind. So hat er es ausgedrückt. Höchst seltsam.« »Es war nett von Arch herzukommen.« »Ich nehme an, Arch weiß, dass Toby übergeschnappt ist. Seine Anwesenheit hat Toby ein bisschen beruhigt.« Sie hielt inne; ihr schönes Gesicht war reizend anzusehen. »We ist das für Sie, Arch in Crozet zu haben?« Harry, die bei Alicia ganz unbefangen war, erzählte es ihr: *89 »Es war komisch. Er ist zwei Wochen vor meiner Heirat aufgekreuzt. Kein Mensch wusste, dass er mit Rollie eine Abmachung hatte. Woher sollten wir auch? Er lebte am anderen Ende des Landes und hatte mit niemandem in Crozet Kontakt - von der alten Truppe, meine ich.
Mim hat es natürlich als Erste erfahren. Sie hat mich angerufen. Dann hab ich Susan angerufen.« Harry zuckte mit den Schultern. »Schien mir keine große Sache zu sein.« Alicia lächelte. »Gut, aber Susan wollte es bestimmt haarklein wissen.« Harry hob eine Hand. »Mädchengeschwätz. Susan liebt es. Ich kann es nicht ausstehen. Komisch, sie ist meine beste Freundin. Dabei sind wir so verschieden.« »Vielleicht sind Sie gerade deshalb beste Freundinnen.« »Kann sein. Fair hat mich gestern Abend gefragt, ob sich durch Archs Rückkehr was geändert hätte. Wieso?« Jetzt hob Harry beide Hände. »Harry, für eine kluge Frau können Sie ganz schön dumm sein.« Alicia sagte dies ausgesprochen wohlwollend. »Ich weiß.« Sie wusste es wirklich. »Ich habe ihm gesagt, es hat Spaß gemacht, solange es lief, aber damals war damals und heute ist heute. Ich habe das Thema BoomBoom nicht angeschnitten. Das haben wir längst hinter uns.« Harry hielt inne, schluckte. »Gott, hab ich jetzt ins Fettnäpfchen getreten?« »Natürlich nicht. Kein Mensch tritt ohne Geschichte in das Leben eines anderen.« »Uff.« »Und Fair ist göttlich attraktiv.« Alicias Augen blitzten. »BoomBoom auch. Sie ist so ... weiblich. Ich hatte nie das Gefühl, ihr gewachsen zu sein. Ich habe mich immer gefragt, ob ich wirklich eine Frau bin.« »Harry.« Alicia war überrascht. »Na ja, ich bin nicht sehr feminin.« »Natürlich sind Sie das. Sie sind ein Naturmensch, halten sich gern im Freien auf.« Alicia trank einen Schluck Tee, dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Feminin und maskulin sind Ge 90
sellschaftskonstrukte. Männlich und weiblich sind physische Realitäten. Solange ein Mensch sich grämt, ob er feminin oder maskulin genug ist, wird er immer jemandes Opfer sein.« »Wie meinen Sie das?« »Ein unsicherer Mensch sucht nach einem anderen Menschen oder einem Verband, der ihn bestätigt. Meine Branche«, Alicia meinte ihre Filmkarriere, »ist voll von großartigen Menschen, die tief im Innern nicht an sich glauben.« »Sie haben an sich geglaubt.« »Ja.« »Wie haben Sie das geschafft?« »Ich hatte den großen Vorteil, als junger Mensch auf dem Land gelebt zu haben. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes geerdet. Und ich hatte Mary Pat, die mich durch eine kritische Phase meines Lebens geleitet hat.« Sie beugte sich vor. »Harry, ich halte mich nicht für besonders feminin, meiner Rolle in der Öffentlichkeit zum Trotz. Und es ist mir egal. Ich bin im Innern glücklich. Wenn die Welt mich als mittelaltrige Sexbombe sieht« - sie lachte schallend -, »ist das ihr Problem.« »Alicia, ich wünschte, ich wäre mehr wie Sie.«
»Harry, seien Sie mehr wie Sie.« Alicia berührte ihre Hand. »Es gibt nur eine Harry Haristeen. Seien Sie dieser wunderbare Mensch.« Als Harry schließlich durch St. James zurückfuhr, dachte sie daran, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie nicht sofort erreichte, was sie wollte. »Gottes Aufschub ist nicht Gottes Weigerung.« »Hmm«, brummte sie vor sich hin. Sie war lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass Freunde und sogar Fremde einem ganz unerwartet großartige Geschenke machen und Einsichten schenken. »Fängt sie an zu summen? Das will ich nicht hoffen.« Pewter rutschte auf ihrem Sitz herum. »Kinder, ich vermisse meine Mutter«, sagte Harry sentimental. J91
19 Zecke.« Pewter versenkte hämisch eine Kralle in Tuckers Fell. »Autsch.« Tucker spürte, wie sich die Spitze unter ihre Haut bohrte. »Da.« Pewter schnippte das lästige Insekt auf den Küchenboden, wo sie es freudig aufspießte; schwärzlich-rote Pampe spritzte heraus. »Ich dachte, Fair hat dir das Zeug auf den Hals geschmiert.« Wie alle Katzen, konnte Mrs. Murphy sich leichter von Zecken befreien als ein Hund. »Ist rausgewaschen, als wir in das Gewitter geraten sind.« Tucker hasste Zecken. »Er hat es am Monatsersten aufgetragen, und das war erst einen Tag vorher.« »Es ist immer noch kühl und feucht. Das lieben sie. Du wirst verseucht, wenn du an die falschen Orte gehst.« Mrs. Murphy sorgte sich um ihre Freundin. »Ja, wie die Welt.« Pewter pikste die Zecke noch einmal. »Ein erhebender Gedanke«, knurrte Tucker. »Was ist mit der Pistole in Tobys Wagen? Kommt dir da kein erhebender Gedanke?«, fragte Mrs. Murphy den Corgi, dem sie und Pewter von der P95PR erzählt hatten. »Ich bin erstaunt, dass Harry nicht wie aus der Pistole geschossen - verzeiht den Scherz - vermutet hat, er wollte Hy erschießen - oder vielleicht sich selbst. Sie liest immer noch über Sachen, die ihre Weinstöcke angreifen können. Sie ist beschäftigt und bringt sich nicht in Gefahr«, antwortete Tucker. In der Küche trat Harry auf die blutende Zecke und rutschte aus. »Was zum ...« Sie sah nach unten. »Die Geißel der Erde.« »Tucker hatte die Zecke. Hatte vermutlich Borreliose in sich.« Pewter war ein Ausbund an Optimismus. »Halt die Klappe.« Der Corgi legte die Ohren an. »Mir ist bange. Ich könnte schlottern vor Angst«, sagte Pewter. »Das tust du nur auf dem Weg zum Tierarzt«, schoss Tucker zurück. 91
»Gar nicht wahr«, schnaubte Pewter.
»Erstaunlich, dass keine von uns geschlottert hat, als wir in die Bärenhöhle gelaufen sind.« Mrs. Murphy dankte ihren Sternen, dass die Mutter den Bauch voll hatte und die Jungen säugte. » Wir haben Glück gehabt. Aber sie sagte ja, sie isst lieber Beeren, Honig und Süßigkeiten. Maden mag sie auch. Wie kann ein Tier nur fette weiße Maden fressen?« Pewter schnitt eine Grimasse. »Hühner mögen auch gern Maden.« Tucker mochte Hühner, obwohl das Gackern ihr manchmal auf die Nerven ging. »Ob Harry sich wohl wieder Hühner anschafft? Die letzte Henne war so alt wie Methusalem. Das war bestimmt das älteste Rhode-Island-Red-Huhn der Welt.« Pewter erinnerte sich zärtlich an die uralte Henne, die bis zum letzten Tag ihres ereignislosen Lebens munter gegackert hatte. »Wenn Harry den Hühnerstall mit Stroh auslegt, können wir sicher mit Hühnern rechnen.« Tucker sah zu, wie Harry die Zeckenpampe wegwischte. »So, ihr drei. Ich wärme jetzt Mirandas Maisbrot auf. Schade, dass wir sie verpasst haben.« Miranda war vorbeigekommen, als Harry in St. James war. Weil sie niemanden angetroffen hatte, hatte sie auf der umzäunten Veranda einen großen Behälter mit Maisbrot und einen Zettel hinterlassen. »Susan!«, bellte Tucker, als sie Susans Audi Kombi von der Staatsstraße in die Farmstraße einbiegen hörte. Harry sah auf die alte Bahnhofsuhr an der Wand. Es war zu früh für Fair, aber sie setzte Kaffee auf, weil jemand kam. Sie verließ sich auf Tucker. Minuten später platzte Susan mit einem Krug Tulpen zur Tür herein. »Sind diese Farben zu fassen?« Harry betrachtete die gelben Tulpen mit tiefroten Kelchen, von denen sich rote Linien bis ans Ende der Blütenblätter zogen. »Sie sind unglaublich.« »Aus meinem Garten«, prahlte Susan. »Für dich.« »Danke.« Harry küsste sie auf die Wange. »Kaffee, Tee, Coke, was möchtest du?« »Frischen Kaffee.« 92
»Läuft grade durch.« »Ich kann einen gebrauchen. Wenn's nicht Kaffee ist, dann ist es mein Kakao.« »Der hier wird dir schmecken. Javatra von der Rösterei Shenandoah Joe.« »Was trinkst du?« »Coke. Möchtest du Maisbrot?« »Ah ...« Susan schwankte. »Mirandas Maisbrot.« »Ja«, kam die entschiedene Antwort. Die beiden saßen zufrieden da, bestrichen Brote mit Butter und Marmelade und tranken ihre Getränke, während die Katzen zum Fenster über der Spüle sprangen und sich dort niederließen. Tucker zog sich an ihren Schlafplatz zurück.
»Ich hab All's Fair geritten.« Harry sprach von dem vier Jahre alten Wallach von Fred Astaire, den Fair ihr als Jährling geschenkt hatte. »Er hat sich voriges Jahr gut gemacht, als ich ihn nur im Schritt gehen ließ. Ich mag meine Pferde langsam schulen, aber er hat so ein gutes Gemüt.« »Das war ein wunderbares Geschenk von deinem Mann. Ich vergesse immer, dass Tomahawk und Gin Fizz langsam alt werden.« »Ich vergesse, dass ich langsam alt werde.« »Jetzt übertreib mal nicht. Wir sind noch keine vierzig.« »Aber nicht mehr weit davon weg, Herzchen.« »Übrigens, ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass Weinbauern 'nen Dachschaden haben. Willst du diese Pet-Dingsda wirklich anbauen?« »Was ist denn jetzt passiert?« »Als ich bei Amoco getankt habe ...« Harry fiel ihr ins Wort, was sie selten tat. »Habt ihr eine neue Hypothek auf euer Haus aufgenommen?« Susan lachte trocken. »Ha. Die Benzinpreise sind so hoch, dass Ned und ich uns neulich abends überlegt haben, ob wir mit einem Auto auskommen, aber das geht einfach nicht. Seine Fahrten nach Richmond verschlingen das ganze Budget. Er hat den BMW übrigens verkauft, in Richmond natürlich.« Sie hielt 93
inne. »Wie ich den Wagen volltanke, höre ich Stimmen. Hy und Arch. Nicht zornig, aber sie wurden immer lauter. Hy war aufgebracht, weil Toby, ich weiß nicht wann, hörte sich an, als wär's eben erst gewesen, am Telefon fies zu Fiona war.« »Toby ist echt durchgeknallt«, warf Harry ein. »Arch hat zu Hy gesagt, dass Toby wegen der Sache mit Forland außer sich ist und er ihn in Ruhe lassen soll. Hy hat gesagt, Toby ist unverschämt und unzurechnungsfähig, und alle lassen ihm das durchgehen. Er wird sich nichts von ihm gefallen lassen. Als Hy anrief, um zu erklären, warum Concho auf Tobys Gut war, ist Toby explodiert. Dann hat er zurückgerufen und Fiona beschimpft. Das ist jedenfalls Hys Version, und Hy sagte, wir alle zusammen müssen Toby streng in die Schranken weisen.« »Was hat Arch gesagt?« »Er hat versucht, Hy zu beschwichtigen. Es war kein richtiger Streit. Eher eine Meinungsverschiedenheit. Arch sagte, er kommt auch nicht besonders gut mit Toby aus, findet es aber sinnlos, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen.« Das Telefon klingelte. »Verflucht.« Harry stand auf und ging zu dem alten Wandtelefon. »Hallo. Hi, Schatz, wo bist du?« »Auf dem Weg zu Toby Pittman«, antwortete Fair. »Es dauert hoffentlich nicht lange, und dann komm ich direkt nach Hause.« »Was ist los bei Toby?«
»Sein Esel Jed hat sich am Hinterbein geschnitten. Toby klingt hysterisch. Ich nähe das geschwind und dann bin ich wieder weg.« »Susan lässt grüßen. Beeil dich.« »Mach ich.« Sie legte auf und gab das Gehörte an Susan weiter. »Hoffentlich kommt Fair nicht in den Genuss, sich einen Vortrag von Toby anhören zu müssen.« »Ich hab neulich den Vortrag über Andrew Estave gehört.« »Andrew, wie?« »Andrew Estave wurde 1769 vom Unterhaus als Weinbauer J94 und -produzent für die Kolonie Virginia eingestellt. Die Virginier haben 1609 unsere ersten Rebstöcke gepflanzt, aber wir hatten massenhaft Probleme. Jedenfalls, der Franzose kommt rüber, aber mit den europäischen Rebstöcken wollte es nichts werden, und da kam er zu einem wichtigen Schluss, und zwar dass Virginier heimische Reben nehmen müssen.« »Und was dann?« »Mit Toby oder den Reben?« Susan lachte. »Den Reben.« »Jefferson, der Mann mit den unzähligen Interessen, holte Philip Mazzei herüber, einen italienischen Weinhändler, und er machte gute Arbeit, aber der Unabhängigkeitskrieg hat alles zunichte gemacht. Ich sag dir, wenn Toby bei diesem Thema in Fahrt kommt, ist er nicht zu bremsen. Du hättest ihn heute bei Alicia erleben sollen. Er hat Hy beschuldigt, die Erträge von uns allen vernichten zu wollen. Er hat ihn beschuldigt, Professor Forland ermordet zu haben!« »Wieso bringt er die Anschuldigungen bei Alicia vor?« »Er wollte, dass sie mit Rick spricht. Er sagte, der Sheriff würde nicht auf ihn hören. Arch war auch da. Alicia war ganz gelassen, wie nicht anders zu erwarten.« »Sie hat in Hollywood vermutlich die heftigsten Wutanfälle miterlebt.« »Sie spricht selten über ihre Filmkarriere. Ich wüsste gern, wie Ava Gardner war und Glenn Ford und ...« »Falsche Generation. Sie ist in den Siebzigern und Achtzigern groß rausgekommen.« »Aber da gab es diese Schauspieler noch. Die interessieren mich viel mehr.« »Warum?« Harry zuckte mit den Schultern. »Weiß ich selbst nicht so genau.« »Aber ich. Die Stoffe waren besser. Damals war das Studiosystem noch stark; die Studios haben die Schauspieler gefördert, die Stars hatten bessere Drehbücher. Da hatten die Stars noch keine eigenen Produktionsfirmen wie heute. Ich sehe ja ein, warum sie das machen, aber meistens dienen die Stoffe, 94
die sie auswählen, nur dazu, den Star herauszustellen. Langweilig. Mir ist es egal, wie hübsch oder schön oder sogar begabt diese Leute sind; wenn sie in jeder
Einstellung vorkommen, wenn es keine starken Nebenrollen gibt, langweilt es mich zu Tode.« »Vermutlich gehen wir deswegen nicht ins Kino.« Harry erwähnte nicht, dass sie keine Zeit hatte. »Du hast dich für Film interessiert, seit wir Kinder waren. Manchmal frag ich mich, warum du da nicht eingestiegen bist.« »Eine Filmschönheit, das bin ich«, scherzte Susan. »Du bist hübsch. Aber warum bist du nicht in irgendeinen Zweig der Filmbranche gegangen?« »Ich war mit Danny schwanger.« Harry schlug die Beine übereinander. »Hey, wir sind die Generation, der gesagt wurde, wir könnten alles haben, Mutterschaft, Karriere, tiefe innere Erfüllung.« »Das war gelogen.« Das Telefon klingelte. Harry stand auf. »Ist bestimmt komplizierter, als er dachte. Oder es ist Mim. Oder Miranda.« Sie sah auf die Uhr, es war fünf nach fünf. »Hallo.« Hierauf folgte ein langes Schweigen, wobei sie die Schultern straffte und die Augen weit aufriss. Tucker, die die Veränderung witterte, das Bangen, kam von ihrem Schlafplatz geschlichen und setzte sich neben Harry. Die Katzen am Fenster drehten sich um. Susan stellte ihre Kaffeetasse hin. Dann sagte Harry: »Kann ich irgendwas tun?« Darauf folgte wieder Schweigen. »Schatz, ich kann das nicht glauben.« Neuerliches Schweigen, während sie aufmerksam zuhörte. »Ich versprech's. Komm nach Hause, sobald du kannst. Ich liebe dich. Tschüss.« Aschfahl im Gesicht, legte sie auf. »Was ist?« »Fair konnte Toby im Stall nicht finden. Er ist aufs Weingut rausgegangen. Er hörte einen Automotor starten und sah Hy wegfahren - rasen.« Susans Augenbrauen zuckten in die Höhe. »Und?« »Toby ist tot. Mit mehreren Schüssen getötet.« 95
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E
in sanfter Wind blies über Rockland Vineyards; die jungen Blätter wehten
sachte, ebenso die Haare auf Tobys Kopf. Mit den weit offenen Augen, dem leicht geöffneten Mund schien er zu leben, bis man den sich immer mehr ausbreitenden Flecken von dem Blut sah, das aus seiner Brust sickerte, und einen zweiten auf seinem Bauch. Er war gegen einen seiner Rebstöcke gesackt. Fair überblickte die Lage. Toby schien ein paar Schritte rückwärts gemacht zu haben, nachdem er erschossen wurde; denn ein paar Blutstropfen sprenkelten das Gras. Er war so frisch tot, wie er nur sein konnte, es sei denn, Fair hätte ihn erschossen - dann wäre Toby erst ein paar Sekunden tot statt ein paar Minuten.
Rick und Coop trafen nach zehn Minuten ein, das gab Fair zehn Minuten Zeit, Toby weiterhin zu betrachten und sich über die Plötzlichkeit des Todes Gedanken zu machen. Er hatte auf seinem Handy den Sheriff angerufen und erwähnt, dass Hy von hier davongerast war; er wisse aber nicht, ob er am Eingang zu Rockland Vineyards von der Staatsstraße nach links oder nach rechts abgebogen war. In weiter Ferne hörte er Sirenen; er vermutete, dass Beamte Hy verfolgten. Als Rick und Coop zu der Leiche kamen, suchten sie den Boden ab. »Haben Sie Schüsse gehört?«, fragte Rick Fair. »Nein. Ich bin vom Stall gekommen. Ich war höchstens zweihundert Meter entfernt. Es geht ein bisschen bergauf, aber ich habe Hy wegfahren sehen, als ich auf ungefähr hundertfünfzig Meter heran war.« »Haben Sie Hy herfahren gehört?« »Nein«, antwortete Fair. »Aber ich war ja im Stall, um nach Jed zu sehen.« Bei dem Namen guckten sie fragend, und er erklärte: »Tobys Esel. Ich hätte Geräusche, Automotoren, sogar Rufe überhören können. Sobald ich aus dem Stall war, habe ich sehr gut gehört.« 96
Coop hockte sich neben die Ruger-Pistole in Tobys Hand. Sie fasste sie nicht an, schnupperte aber am Lauf. »Abgefeuert.« »Was hat Sie hierher geführt?«, fragte Rick. »Toby hatte mich angerufen. Er sagte, Jed hat sich ins Hinterbein geschnitten, und ich müsse sofort kommen. Er blute stark.« »Kein Esel da?« Rick rieb sich das Kinn. »Nein.« »Um wie viel Uhr sind Sie am Stall angekommen?« »Halb fünf, eine Minute früher oder später.« »Um wie viel Uhr sind Sie dann hier gewesen?« »Vier Uhr zweiundvierzig. In dem Moment, wo ich ihn zusammengebrochen daliegen sah, habe ich auf die Uhr geschaut.« »Haben Sie ihn berührt?« »Ja. Hätte er ein Lebenszeichen von sich gegeben, hätte ich mein Bestes getan. Ein Tier ist ein Tier, doch auch wenn ich Tierarzt bin, kann ich einem Menschen in einer kritischen Situation beistehen.« »Mmm.« Rick nickte. Coop rutschte hinter Tobys Leichnam. »Ein Steckschuss, ein Durchschuss«, sagte sie. »Sehen Sie zu, ob Sie die Patronen finden. Wenn ja, markieren Sie die Stelle.« Während Coop suchte, heulten die Sirenen des Rettungsdienstes. »Verdammte Geschichte«, meinte Fair. Er war nicht wegen der Leiche erschüttert. Er war schließlich Mediziner, aber dass er auf einen Menschen gestoßen war, der erst vor wenigen Augenblicken ermordet wurde, das war beunruhigend. So aufbrausend Toby gewesen war, Fair hatte ihm keinesfalls den Tod gewünscht.
Ricks Telefon klingelte. »Ja.« Er hörte aufmerksam zu. »Okay. Zugriff.« In dem Moment, als er abschaltete, rief Coop: »Hab sie gefunden.« »Gut. Sie haben Hy. Er hat versucht zu entkommen, aber als er sah, dass er einen Streifenwagen hinter sich hatte und ein zweiter die Straße vor ihm blockierte, hat er aufgegeben.« 97
»Hatte er eine Waffe bei sich?« »Nein.« Rick sah die Chance, dass dies ein klarer Fall sein würde, rapide schwinden. Coop betrachtete Toby, seufzte und ging zu Fair. »Alles okay?« »Ja. Er tut mir leid.« Coop fand, dass das eine Art Trost verdiente. »Es ging ganz schnell.« Rick notierte sich ein paar Einzelheiten. »Brauchen Sie mich noch?« »Falls ja, weiß ich, wo Sie zu finden sind. Warum?«, erwiderte Rick. »Ich möchte Jed suchen und die Wunde nähen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn der arme kleine Kerl verbluten würde.« »Gehen Sie nur«, sagte Rick. Als Fair sich wieder zum Stall begab, schlug Coop ihr Notizbuch auf. »Was meinen Sie?« Rick zuckte mit den Schultern. Er hörte den Rettungswagen in das Gut einbiegen. »Hy Maudant wird sich den besten Anwalt im Land nehmen.« »Bestimmt. Noch was?« Er sah sie an. »Ich möchte nicht unbetrauert sterben.«
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rozet war erschüttert, als hätte es im Blue-Ridge-Gebirge mal wieder ein
kleineres Erdbeben gegeben. Die Nachricht von Tobys Ableben war in aller Munde. Wie die Menschen nun mal sind, scheinen sie sich an Schreckensmeldungen gewisser Art zu delektieren. Die Einzelheiten über das Wo und Wie des Auffindens der Leiche verliehen der traurigen Geschichte zusätzlichen Reiz. Am folgenden Morgen war Fair in seiner Praxis. Er rief She
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riff Shaw an und fragte ihn, ob Harry Jed suchen gehen könne. Er wollte, dass BoomBoom sie begleitete. Er wollte entschieden nicht, dass seine Frau allein da draußen war. Das Thermometer zeigte um acht Uhr morgens zwölf Grad; der leichte Wind gab der Temperatur eine kühle Schärfe. Harry war froh, dass BoomBoom, die eins achtzig groß war und stark, sich bereit erklärt hatte, mitzukommen. Beide Frauen trugen eine 3 8er mit sich, um Jeds Leiden ein humanes Ende zu bereiten, falls er in einem schlimmen Zustand gefunden würde. Fair hatte Harry erzählt, dass Toby sehr aufgeregt gewesen war und ständig wiederholt hatte, Jed habe sich einen tiefen Schnitt im Hinterbein zugezogen.
Die zwei Frauen gingen durch Tobys kleinen Stall. Harry bemerkte die blauen Punkte im Mittelgang. »Die blauen Kügelchen töten zwar Fliegen, aber sie knirschen.« »Ich mag da nicht drauftreten«, erklärte Mrs. Murphy. »Hast du mal die Hängelaternen ausprobiert, die mit dieser tödlichen Flüssigkeit gefüllt sind«?, fragte BoomBoom. »Der Gestank tötet dich obendrein.« Harry sah sich noch einmal um. »Keine Fliegen hier und kein Jed.« »Grabesstille«, meinte Boom. Tucker, die auf den Fersen hockte, schauderte. »Ich wollte, du hättest das nicht gesagt.« »Ich hatte gehofft, Jed würde in seine Box zurückkommen. Also, ich schlage vor, wir arbeiten uns kreisförmig rund um den Stall vor. Wenn wir uns nicht sehen können, kommen wir wieder hierher und gehen nach Plan B vor.« »Klingt gut«, stimmte BoomBoom zu. Sie trat in die Futter-und Vorratskammer. »Toby war gut auf den Sommer vorbereitet. Ich habe noch nie so viele Fliegenfänger oder Blaukristallköder gesehen.« Harry steckte den Kopf durch die Tür. »Ein einziger Esel, und Toby war auf Myriaden Fliegen vorbereitet.« Nachdem sie eine Stunde lang in den Weinfeldern und rund ums Haus gesucht hatten, kamen sie am Stall wieder zusammen. »Harry, es ist besser, wenn wir in Viertelsegmenten arbeiten. 98
Wir müssen noch so viel absuchen, und wir werden uns dabei nicht sehen können«, schlug BoomBoom vor, logisch wie immer. »In verschiedenen Segmenten, oder zusammen?« »Zusammen. Lass uns zusammenbleiben.« »Sicher ist sicher«, stimmte Harry zu. »Ich geh zum Auto.« Pewter hatte schon genug von der Suche, und sie hatte Lust auf ihr Vormittagsnickerchen. Als weder Mrs. Murphy noch Tucker sie aufzog, überlegte sie es sich anders. Schließlich könnte sie was verpassen, und dann müsste sie sich das permanent von ihnen anhören. BoomBoom zog den Reißverschluss ihrer Barbourjacke bis zum Hals zu, weil der Wind stärker wurde. »Ganz schön ungemütlich. Im Mai sollte es eigentlich wärmer sein.« »Ja. Die nächste Farm mit Pferden ist die alte Berryhill-Farm. Lass uns zuerst dahin gehen. Wenn sie dort eine brünstige Stute haben - und jetzt ist genau die Zeit dafür -, wird das Kerlchen den Geruch aufgenommen haben, lange bevor wir ihn wahrnehmen.« »So ein Geruch kann an einem klaren Tag meilenweit tragen«, bestätigte Tucker, die Geruchsexpertin.
»Was mir merkwürdig vorkommt, Harry, wir haben nicht einen einzigen Hufabdruck gesehen.« »Tja.« Harry ging neben der groß gewachsenen Frau her. »Aber auf den Farmstraßen war so viel Verkehr, da würden Hufabdrücke ausgelöscht - die meisten jedenfalls. Und Jed ist nicht beschlagen, deshalb sind seine Abdrücke nicht tief. Aber wenn da Hufabdrücke gewesen wären, dann hätte Fair sie bemerkt.« »Jed ist vielleicht auf Gras gegangen.« »Dann hätte er über Zäune springen müssen«, entgegnete Harry. »Er kann springen.« Boom lächelte. Sie untersuchten sorgfältig den Boden nordwestlich vom Stall, indem sie sich gleichmäßig in dieser Richtung bewegten. »Weißt du noch, als wir Kinder waren, wie Grandpa Berryhill alte Farmgeräte gesammelt hat? Alle dachten, er ist nicht 99
ganz dicht. Das Zeug wäre heute ein Vermögen wert.« Harry mochte praktische Dinge und hatte an Mr. Berryhills Demonstrationen von hölzernen Apfelpressen, Krempelgeräten und Butterfässern ihre Freude gehabt. »Die Familie ist ganz ausgestorben. Es gibt keine Berryhills mehr.« »Eigentlich grausam. Sie waren so erfolgreich, und dann senkte sich eine dunkle Wolke über sie, und es hat nur noch Trübsal geregnet.« »Man ist nie gefeit.« »Nein.« Harry stapfte über eine weiche, wogende Wiese, die zu einer niederen Waldung führte. Ein solider Bretterzaun trennte das offene Gelände vom Wald. Harry fasste nach dem Zaun, weil man in dem noch glitschigen Gras leicht ausrutschen konnte. »Ich frag mich immer wieder, ob Hy was mit Professor Forlands Verschwinden zu tun hatte, weil Toby ja bei Forland studiert hat und wohl immer noch irgendwie in seinem Bann stand.« »Nee. Das ergibt keinen Sinn.« BoomBoom stützte sich mit der linken Hand auf das obere Brett, stieß sich ab und setzte elegant über den Zaun. Harry stand ihr nicht nach und machte es genauso. »Nichts ergibt Sinn, solange man die Verbindungen nicht findet.« Pewter huschte unter dem untersten Brett durch, Mrs. Murphy und Tucker hinterdrein. Die Waldung, kühl und feucht, hallte wider von den Rufen der Vögel, die die Grenzen ihres Reviers kundtaten. Die meisten Tagvögel hatten bereits Eier in den Nestern. Manche Vögel sangen aus purer Lebenslust. »Großmäuler«, murrte Pewter. Ein durchdringender Schrei über ihnen machte Mrs. Murphy auf das Rotschwanzbussardweibchen aufmerksam. »Sie mag ein Großmaul sein, aber beleidige sie nicht. Sie kennt keine Furcht.« Pewter hatte Respekt vor großen Vögeln. »Gefährlicher Schnabel.« »Ist euch schon mal aufgefallen, dass jeder Vogel den richtigen
Schnabel für die Nahrung hat, die er zu sich nimmt?« Tucker fand Vögel faszinierend. »Ist sicher hart, ein Mensch zu sein, mit dem flachen Mund«, meinte Pewter. »Sie können nicht vom Boden essen. Sie können nicht ohne ihre Hände essen; das heißt, sie könnten vielleicht schon, aber das gäbe eine Riesensauerei. Ihre Kiefer mahlen auf und ab, und damit hat sich 's auch schon.« »Stimmt, aber sie sind Allesfresser, das ist ein großer Vorteil für sie. Sie können Getreide und Gemüse essen, Obst und Fleisch. Katzen sind zwangsläufig Fleischfresser. Wir müssen frisches Fleisch essen oder gekochtes oder gebratenes. Ich beneide die Menschen um ihre große Auswahl an Ess-Sachen, weites ihnen dadurch möglich ist, so gut wie überall zu überleben«, sagte Mrs. Murphy. »Egal, wo sie leben, sie können nicht ohne uns leben. Wir töten das Ungeziefer«, prahlte Pewter, dann maulte sie: »Hier ist es nass. Ich hab klatschnasse Pfoten.« »Armer Liebling«, bemerkte Mrs. Murphy sarkastisch. »Pewter, du bist durch ein Gewitter gelaufen«, erinnerte Tucker die dicke graue Katze. »Das war was anderes. Ich hatte keine Wahl.« Pewter kletterte auf einen umgestürzten Baumstamm. »Heb mich hoch! Harry, komm her und heb mich hoch!« »Was soll das Geschrei?« Harry drehte sich um und sah Pewter wie ausgesetzt auf dem Baumstamm verharren. Hinterlistig platschte Mrs. Murphy an Pewter vorbei, so dass Pfützenwasser auf ihr makelloses graues Fell spritzte. »Ich hasse dich, Murphy.« »Wen juckt's?« Die Tigerkatze lief BoomBoom voraus. Harry, die besorgt war, dass sie vielleicht auf einem anderen Weg zurückkommen würden, ging zu Pewter und hob sie auf. »Herrje, Pewts, mach mal eine Diät.« Tucker murmelte: »So ein Gezicke.« »Das hab ich gehört.« Pewter legte die Pfoten um Harrys Hals, und ihr Mensch kämpfte sich durch das Matschgebiet. Nachdem sie zehn Minuten durch die Niederung gestapft waren, vorbei an Kobralilien am Rande des Sumpfgebiets, und 100
Bodennister im Sumpfgras gehört hatten, kamen sie an der Grenze des alten Berryhill-Besitzes heraus. »Ich kann mich nicht erinnern, dass es hier mal so gut ausgesehen hat«, bemerkte BoomBoom beim Anblick des renovierten Farmhauses. Die frisch gestrichene weiße Schindelverkleidung glänzte mit den neuen Anbauten um die Wette. »Die Hahns haben in einem Jahr eine Menge getan.« Harry beugte sich vor, froh, Pewter absetzen zu können. Pewter stellte sich auf die Hinterpfoten, so dass sie an Harrys Knie heranreichte. »Ich bin traumatisiert. Trag mich noch ein bisschen.« »Ich kotz gleich das dickste Haarknäuel aus.« Mrs. Murphy tat, als müsste sie würgen. »Ha! Du kotzt höchstens Würmer«, gab Pewter frech zurück. Sie folgte jetzt Harry, die nicht auf ihren Trick hereingefallen war. »Wir werden einmal im Monat entwurmt, schon vergessen?«
»Wirkt nicht bei dir. Wirkt nur bei Tucker und mir«, erklärte Pewter frech. Sie gingen über die frisch gedüngten Weiden zum Stall, einem schmucken quadratischen Boxenbau, der zu dem im neoklassizistischen Stil gehaltenen Haus passte. »Schauen wir erst mal hier rein, bevor wir anklopfen.« Harry ging in den sauberen Stall. Drei Pferde räkelten sich zufrieden in ihren Boxen. An jeder Tür war ein Namensschild angebracht. In einer Box, deren Tür offen stand, mampfte Jed vor sich hin. »Bingo!«, rief BoomBoom, die ihn zuerst entdeckte. Harry lief hin, und sie schlossen die Boxentür. »Er ist vollkommen gesund.« »Tatsächlich.« »Nicht der kleinste Kratzer.« Harrys Magen krampfte sich zusammen. Geistesgegenwärtig fragte Mrs. Murphy den munteren kleinen Kerl: »Hast du dir gestern ins Bein geschnitten?« »Nein«, bekam sie einsilbig zur Antwort. Nie hatte jemand Jed hoher Intelligenz bezichtigt. *101 »Wer hat dich rausgelassen?«, setzte Tucker die Befragung fort. »Keiner.« »Wie bist du hierher gekommen?«, beteiligte sich Pewter an der Befragung. »Übern Zaun gesprungen.« »Jed, hast du auf eurer Farm jemand anders außer Toby gesehen?«, fragte Mrs. Murphy weiter. Jed lachte. »Nein, hab niemand gesehen. Hab zwei Autos gehört. Ich wusste, Toby hatte zu tun, da bin ich losgezockelt.« »Warum bist du übern Zaun ausgebüchst?« Tucker setzte sich hin. »Weiß nicht. Gutes Gefühl.« Harry und BoomBoom tasteten seine Beine ab. Jed zuckte mit keinem Eselsohr. Mrs. Murphy sah zuerst Tucker, dann Pewter an. Schließlich sagte sie: »Jed, Toby ist tot.« Jeds Unterlippe sackte nach unten. »Häh?« »Er wurde gestern ermordet.« Zwei dicke Tränen traten in Jeds hübsche große Augen. Er stieß einen Schrei aus, der Harry und BoomBoom erschreckte. »Ich hatte Toby lieb.« »Es tut mir leid, Jed. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.« Mrs. Murphy war mitfühlend. »Harry bringt dich nach Hause, und alles wird sich finden, Jed. Mach dir keine Sorgen wegen ... weißt schon.« Pewter wollte lieber nicht aussprechen, was mit einem Tier geschehen könnte, das keiner haben wollte oder schlimmer noch, das jemand vorgeblich wollte. So mancher Abdecker gab vor, einem pensionierten oder obdachlosen Vierfüßler ein gutes Zuhause zu bieten, nur um dann das Tier ins Schlachthaus zu befördern und achtzig Cent bis einen Dollar pro Pfund zu kassieren. Es ist schlimm genug, ein Tier ins Schlachthaus zu bringen. Und es ist eine schlimme Sünde, Leute, die einem vertrauen, vorsätzlich anzulügen. Harry klopfte ihn auf den Hals. »Armer Jed. Es ist, als ob er's wüsste.«
»Komm, wir gucken mal, ob Christy da ist.« BoomBoom *102 trocknete Jed mit einem Taschentuch aus ihrer Jackentasche die Tränen. Sie verließen den Stall und klopften an die Hintertür des Farmhauses. »Momentchen.« Sie hörten Schritte, dann öffnete die hübsche Christy Hahn die Tür. Sie war dreiundvierzig, gepflegt und besaß ein übersprudelndes Temperament. »Kommt rein, Harry, BoomBoom. So eine nette Überraschung.« »Eigentlich, Christy, müssen wir wieder zu Pittmans Farm. Jed war vermisst, wir dachten, er könnte hierher gekommen sein, und tatsächlich, er ist hier. Wann ist er aufgekreuzt?« »Was?« »Er ist in eurem Stall, die Boxentür war offen. Wir haben sie zugemacht.« »Dann ist er bestimmt in Hookies Box. Ich habe Hookie zeitig nach draußen gebracht.« Christy überlegte kurz. »Ist er gesund?« »Fit wie 'n Turnschuh.« Harry lächelte. »Kommt doch rein, Mädels. Ist ungemütlich da draußen heute.« Christy zog sie nach drinnen. Auch die drei Tiere gingen rein, mit schlammigen Pfoten und schmutzig, wie sie waren. Sie mussten im Abstellraum bleiben. Harry und BoomBoom waren geblendet von der von einem New Yorker Einrichtungshaus komplett umgestalteten Küche. »Ist die schön. Die Holzarbeiten wirken so ursprünglich.« BoomBoom waren die Tischlerarbeiten aus weißer Eiche aufgefallen. »Ja, nicht wahr. Die sind aus England gekommen.« Christy freute sich über das Kompliment. Harry hatte anderes im Sinn. »Entschuldigt mich, ich möchte den Sheriff und dann Fair anrufen, ja?« Während Harry Rick die Einzelheiten durchgab und anschließend Fair anrief, zeigte Christy BoomBoom das untere Stockwerk des Hauses. Die gesamte Einrichtung war im englischen Landhausstil gehalten. Die Fußböden waren abge 102
schliffen und gestrichen worden. Die Wände schimmerten in dezenten Farben. Die Patina auf den Möbeln flüsterte »Geld«. BoomBoom konnte es nicht erwarten, es Alicia zu erzählen. Die zwei Frauen gingen wieder in die Küche. »Genau zur rechten Zeit.« Harry lächelte. »Der Sheriff meint, ich soll Jed mit zu mir nehmen. Ich geh den Karren holen.« »Harry, wie wär's, wenn ich Jed mitnehme? Deine Pferde sind es nicht gewöhnt, einen Esel zu sehen oder zu riechen. Meine haben sich immerhin an Burly gewöhnt.« »Was wird nun aus Jed?« Christy verschränkte die Hände.
»Keine Ahnung. Toby hat eine Schwester in Charlottesville, aber sie sind nicht gut miteinander ausgekommen. Sie will Jed bestimmt nicht haben. Wir werden eine Lösung finden. Es wird ihm an nichts fehlen.« »Es ist beunruhigend.« Christy schauderte unwillkürlich. »Der schreckliche Mord nebenan.« »Sie haben sich gehasst. So ein trauriges Ende.« »Macht uns allen Angst«, erwiderte BoomBoom. »Ich werde etwa anderthalb Stunden brauchen. Bist du dann noch hier?«, fragte Harry. »Ja, ich bin da.« Harry und BoomBoom öffneten die Hintertür zum Abstellraum. »Ich fahr euch zu Pittman rüber«, erbot sich Christy. »Wir gehen lieber zu Fuß, weil wir die Katzen und den Hund dabeihaben. Schlammpfoten«, sagte Harry. »Dafür gibt es Kombifahrzeuge.« Christy lächelte, schnappte sich eine dicke karierte Jacke vom Haken an der Hintertür, ging hinaus und öffnete den Kofferraumdeckel ihres roten Volvo XC70. Wenige Minuten später waren sie auf Pittmans Gut. »Danke, Christy«, sagte Harry. »Ich komm später mal nach euch sehen.« Als sie fortgefahren war, fragte BoomBoom Harry: »Warum hat Ted bloß wegen Jed gelogen?« Ja, warum? J103
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air war um vier Uhr morgens aus dem Haus gegangen, ohne eine Tasse Kaffee.
Er hatte an der Route 810 ein gesundes Fohlen geholt und fuhr jetzt frohgemut auf den Bistro-Parkplatz. Drei Männer stiegen gleichzeitig aus ihren Fahrzeugen. Bo Newell warf einen Blick auf Arch, dann auf Fair. »Sie erbärmlicher Mistkerl!«, brummte Bo. »Was hab ich denn getan?« Fair behielt einen kühlen Kopf. »Nicht Sie. Arch.« Bo trat vor Fair und ging auf Arch zu, der sich klugerweise neben Fair stellte. »Bo, das war nicht meine Idee.« »Arch, Sie sind das rivalisierendste Stück Scheiße, das ich kenne. Sie kaschieren es bloß. Dabei sind Sie schlimmer als Ihr gottverdammter arroganter idiotischer Chef!« »Bo, sagen Sie uns, was Sie wirklich bedrückt.« Fair versuchte die Situation zu entschärfen. Sein Sinn für Humor ließ Bo selten im Stich, selbst dann nicht, wenn er wütend war. »Schon gut, Sie haben ja recht.« Er holte tief Luft. »Warum haben Sie das getan?«
»Wie ich Ihnen sagte, Bo, Rollie hat mich gestern zu Tobys Schwester geschickt. Sie ist in einer verdammt üblen Verfassung.« »Wegen Toby?« Fairs Neugierde wuchs von Satz zu Satz. »Himmel, nein. Sie hat ihn gehasst wie die Pest. Er war derjenige, der ihr gesagt hat, sie ist manisch-depressiv und braucht hochwirksame Beruhigungsmittel.« »Ist sie ja auch. Alle Pittmans sind verrückt«, sagte Fair. »Stimmt, die ganze gottverdammte Familie ist plemplem. Die waren schon vor dem Unabhängigkeitskrieg plemplem. Wenn irgendeine Familie sich für das Recht auf kostenlose Abtreibung eingesetzt hat, dann die Pittmans«, gab Bo seinen Senf dazu. »Ich nehme nicht an, dass einer von Ihnen mir sagen möchte, warum Sie dauernd fluchen?« 104
»Er flucht, ich nicht«, gab Arch Fair zur Antwort. Freilich hatte er »verdammt« gesagt, aber das hatte er wohl verdrängt. »Arch ist zu Tabitha gefahren - wie ist ihr Ehename doch gleich? Sie ist mit diesem Spinner verheiratet.« »Martin. Ich weiß nicht, ob er ein Spinner ist, aber versponnen ist er auf jeden Fall.« »Vielleicht sind sie zusammen in Behandlung«, scherzte Fair. »Und wissen Sie was? Die Behandlung schlägt nicht an.« Arch bewies einen Anflug von Humor. »Also, es ist so gelaufen: Rollie hat ungefähr zehn Minuten gewartet. Er meinte, mehr sei unter diesen Umständen nicht nötig. Darauf habe ich Tabitha angeboten, Tobys Farm zu kaufen, sobald der Nachlass geregelt ist.« »Und?« »Sie sagte, es würde ein Jahr dauern, bis alles geregelt ist.« »Bis dahin sind die Rebstöcke ruiniert. Jemand muss sie pflegen und ernten. Die viele Arbeit.« Bos Wangen röteten sich. »Das hab ich ihr gesagt. Nach einer langwierigen Verhandlung, während der ich alles zu hören kriegte, was sie an ihrem Bruder verabscheut hat, bot ich ihr an, das Gut zu pachten. Wenn der Nachlass geregelt ist, wird Spring Hill es kaufen.« »Hat sie einen Vertrag unterschrieben?« Bo, dem der Buchstabe des Gesetzes heilig war, beugte sich vor. »Ja. Schauen Sie, Bo, Sie haben das belgische Ehepaar an der Hand, das für den Weinbau geeignetes Land sucht. Tobys Gut ist ideal. Die Rebstöcke sind bereits vorhanden; der Boden entwässert schnell. Er hat Geräte angeschafft. Einfach ideal. Rollie mag kein Gespür für den richtigen Zeitpunkt gehabt haben, aber wenn wir nicht zugegriffen hätten, dann hätten Sie oder jemand anders es getan.« Er hielt kurz inne. »Die Wahrheit ist, Bo, wir haben Sie um eine Länge geschlagen.« Bo verzog das Gesicht, antwortete aber nicht. »Konkurrenz ist der Lebensnerv des Handels.« Arch lächelte zögernd. Fair stimmte ihm zu, dann fragte er: »Arch, wie denken Sie über den Mord an Toby?«
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»Überrascht mich nicht.« Arch verschränkte die Arme vor der Brust. »Toby hat Hy provoziert, und da ist Hy vermutlich ausgerastet.« »Blicken Sie zum Himmel und sagen >Toby ruht jetzt in Frieden?« »Ich nicht«, sagte Arch. »Da tun Sie gut daran«, meinte Bo. Die drei gingen hinein und setzten sich in eine Nische. Bo nahm eine doppelte Portion Waffeln, mit in dieser Gegend erzeugtem Honig übergössen; Arch und Fair aßen Eier mit Speck. Dem folgte ein Augenblick zufriedenen Schweigens, wie oft nach dem Essen. Die Welt wird lieblich, wenn man den Bauch voll hat. Schließlich fragte Bo Fair: »Hat man schon was von Hy gehört?« »Nein. Und Fiona spricht mit niemand außer ihrem Anwalt. Sie hat McGuire Woods engagiert.« »Schlau von ihr.« Arch stellte seine dicke weiße Kaffeetasse hin. McGuire Woods, eine große, angesehene Kanzlei, war in allen Rechtssachen versiert, mit denen man es zu tun bekommen konnte. »Schlau. Sehen Sie, genau da renne ich gegen eine Wand.« Bo lehnte sich zurück. »Hy ist verdammt schlau. Warum sollte er so unglaublich dämlich sein?« »Vielleicht war an der Sache mehr dran, als wir wissen. Ich meine das böse Blut zwischen Hy und Toby«, mutmaßte Fair. Bo schüttelte den Kopf. »Trotzdem, Hy hat sich benommen wie ein Vollidiot. Das passt einfach nicht zu ihm.« »Vermutlich haben wir Hy nicht richtig gekannt.« Fair ließ sich von der Kellnerin Kaffee nachschenken. »Kennt irgendwer irgendwen richtig?« Bo liebte philosophische Gespräche. »Kennt man sich selbst?« Fair lächelte. »Ich betrachte die Welt so: Taten, nicht Worte. Ich beobachte, was Menschen tun und höre nicht so sehr auf das, was sie sagen.« »Guter Ansatz«, stimmte Arch zu. 105
»Verdammt, was haben Sie bei Toby gemacht?«, fragte Bo Fair frei heraus. »Er hatte ganz aufgeregt angerufen und gesagt, ich muss schleunigst kommen, Jed hätte sich am Hinterbein geschnitten. Als ich hinkam, konnte ich Jed nicht finden. Dafür habe ich Toby gefunden.« »Wo ist Jed? Ist er wieder da?«, fragte Arch. »Gucken Sie die Morgennachrichten nicht?«, fragte Bo. »Ich bin um sechs draußen auf den Feldern«, antwortete Arch. »In den Sieben-Uhr-Nachrichten haben sie gemeldet, dass man Jed gestern auf der alten Berryhill-Farm gefunden hat. Mit Jed ist alles in Ordnung, nehme ich an.« Bo zuckte mit den Schultern. »Was ist mit seinem Bein?«, erkundigte sich Arch bei Fair. »Nicht ein Kratzer.« »Häh?« Bo ließ die Arme sinken.
Arch starrte sekundenlang auf die Tischplatte. »Der Ärmste. Toby hat wirklich den Verstand verloren.« »Was? Hatte Toby Halluzinationen?«, fragte Bo streng. »Wer weiß? Aber so seltsam er sein konnte, in normalem Zustand hätte Toby keine Wunde gesehen, die nicht da war.« Arch hob die Stimme. »Es ist unheimlich. Es ist, als hätte Forlands Verschwinden einen losen Faden herausgezogen, und das ganze Gewebe wäre aufgeräufelt.« »Die Pittmans sind eigentümlich, wie wir gemerkt haben«, fügte Fair hinzu. »Um Himmels willen, jede einzelne Familie in Virginia ist eigentümlich. Sie alle haben doch Ihre Eigentümlichkeiten seit 1607 genährt.« Bo stupste die beiden Virginier gutmütig mit dem Finger an. »Hey, Sie sind kein geborener Virginier, sind aber hergekommen, so schnell Sie konnten«, versetzte Fair. »Das geschieht mir recht.« Bo lächelte. »So, ich weiß nicht, wie das mit Ihnen ist, aber ich muss Geld verdienen gehen.« Während Arch die Rechnung bezahlte, um Bo zu besänftigen - er bezahlte großzügigerweise auch Fairs -, bat Bo Fair, 106
ihn anzurufen, wenn etwas Passendes für das belgische Ehepaar zu haben war. Die drei Männer fuhren in verschiedenen Richtungen davon. Unterdessen durchkämmten Rick, Coop und ein ganzes Team Tobys Haus. Das Computer-Genie vom Dienst beugte sich über den neuen Rechner, den Toby im Winter gekauft hatte. Toby hatte mit der ASUS-Hauptplatine geprahlt. Bislang hatte alles, was im Computer, auf dem Schreibtisch und in den Bücherregalen zum Vorschein kam, ausschließlich mit Weinbau und Agrikultur zu tun. Toby besaß alles, was Professor Forland veröffentlicht hatte, außerdem unveröffentlichtes Material, angefangene Arbeiten. Um die Werke des verschwundenen Professors zu lesen, musste man in organischer Chemie bewandert sein. Toby war es. Das Computer-Genie war es nicht. Toby Pittmans gesamte eingeschränkte Existenz - ganz wie die seines Lehrers, der einen etwas weiteren Horizont hatte -war den Trauben gewidmet, der Weinerzeugung. In vino veritas.
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m Mittwoch kehrte Hy Maudant nach White Vineyards zurück. Die Kaution
war auf eine Million Dollar festgesetzt worden. Da Hys Anwalt die Summe, ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlte, staunte ganz Crozet, ja ganz Albe-marle County, wie reich der Mann sein musste. Hy schlenderte als fast freier Mann aus dem Gefängnis. Die Zahlung der Kaution war seine Art, allen den Stinkefinger zu zeigen. Dass er kein Wort über den
Geldwert verlor, sondern die Summe gelassen hinblätterte, ließ ihn richtig reich, mächtig und selbstsicher erscheinen. Er wollte, dass die Leute das dachten. Kaum war er wieder zu Hause, da brach innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine neue Krise herein: sehr später Frühjahrsfrost. 107
Gewöhnlich zieht sich der Frost Mitte April zurück und kehrt nicht vor Mitte Oktober wieder. In jüngster Zeit lag Virginia einmal sehr spät, an einem 22. Mai, unter einer Frostdecke. Doch gewöhnlich atmeten Farmer und Weinbauern nach dem gefürchteten 15. April - dem Steuertermin - erleichtert auf. An diesem 11. Mai fanden Mensch und Tier beim Erwachen silbrig glänzende Weiden vor. Hy beorderte unverzüglich zehn große Hubschrauber, die in fünfunddreißig Meter Höhe über den Weingärten schwebten. Die Bodentemperatur betrug zwei Grad minus. Er bestellte die Maschinen eine Stunde vor Tagesanbruch. Wäre der Frost vorhergesagt worden, hätte er sie bereits am Vorabend kommen lassen. Väterchen Frost beschlich jeden, besonders aber den Mann vom Wetterdienst. Die Hubschrauber, von denen jeder fünfhundert Dollar pro Stunde kostete, drückten wärmere Luft zum Boden. Vier Stunden später stieg die Temperatur mit Hilfe der Helikopter und des Sonnenscheins, der Hügel und Täler überflutete, auf etwas über vier Grad. Hy hatte seine Reben gerettet. Ob er sich selbst retten konnte, blieb abzuwarten. Keine fünf Kilometer entfernt hatte Arch Saunders arge Mühe, Hubschrauber zu mieten, weil die Weingüter Kluge Estate, White, Oakencroft und King in einem dreistündigen Flugradius von Albemarle County alles angemietet hatten. Es gelang ihm schließlich, vier Hubschrauber zu je sechshundertfunfzig Dollar pro Stunde zu beschaffen. Bis die lärmenden Maschinen losflogen wie Riesenlibellen, hatte Arch sich ausgerechnet, dass sie zehn bis dreißig Prozent der Ernte verloren hatten. Rollie war wütend. Tags darauf, am 12. Mai, leuchtete die Landschaft bei einer Temperatur von zwanzig Grad. Harry verfügte nicht über Hubschrauber, aber ihr Petit Man-seng erwies sich als robust. Die Rebe hatte jahrhundertelang 107
überlebt, nicht nur dank sorgfältiger Pflege, sondern auch dank ihrer Widerstandsfähigkeit. Petit Manseng war wahrhaftig so alt, dass schon Heinrich IV. von Frankreich im Jahre 1553 damit getauft worden war. Am frühen Abend des 12. Mai hatte Harry dank der Uhrenumstellung auf Sommerzeit genug Licht, um weiterzuarbeiten. Die verschiedenen Sonnenblumen-, Rotklee- und Luzernensorten, die sie ausgewählt hatte, waren entweder in dieser Gegend heimisch oder besonders robust. Das Wetter in West-Virginia konnte sowohl mit kalten Wintern als auch mit glühendheißen Sommern aufwarten. Eine unsichere Angelegenheit.
Als Harry fertig war und wieder in den Stall ging, um nach den Pferden zu sehen, dachte sie daran, was für eine Erschütterung die ersten englischen Siedler im ersten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts erlitten haben mussten. Das amerikanische Klima war rauer, die Einheimischen waren so ganz anders als die Europäer. Die wildlebenden Tiere und wildwachsenden Pflanzen waren größtenteils neu für sie. »Fair.« Tucker hörte seinen Wagen. »Er hat so hart gearbeitet. Er sollte jetzt mal kürzer treten«, bemerkte Mrs. Murphy. Pewter kam in den Stall geschlendert. »Ich bin da.« »Ach ja?« Die Tigerkatze machte die Augen halb zu. »Wollt ihr nicht wissen, wo ich war?« »Im Haus, schlafen.« Tucker trabte zur offenen Stalltür, um Fairs Ankunft zu erwarten. »Wenn das meine Begrüßung ist, behalte ich die Neuigkeit für mich.« Pewter ging hinaus, blieb der Wirkung halber einen Moment stehen und machte sich dann auf zur hinteren Verandatür, wobei ihr Schwabbelbauch hin und her wackelte. »Wenn sie denkt, dass ich sie anbetteln werde, hat sie sich geirrt.« Mrs. Murphy beobachtete die graue Katze. »Schon, aber wenn sie nun wirklich was weiß?« Tucker fiel oft auf Pewters Tricks herein. Mrs. Murphy zog dies in Erwägung, vergaß es aber, als Fair vorfuhr. 108
Die zwei Tiere liefen ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Er kniete sich hin und war ausgiebig mit ihnen beschäftigt, als Harry in das schwindende Sonnenlicht trat. »Krieg ich auch 'nen Kuss?« »Mit Vergnügen.« Er kraulte Tuckers Ohren, fuhr mit dem Zeigefinger über Mrs. Murphys Wange und stand dann auf, um seine Frau zu umarmen. »Langen Tag gehabt?« »Ja, aber der Frost hat uns nicht geschadet, Gott sei Dank.« »Ein paar andere hat er erwischt.« Als sie in die Küche traten, klingelte das Telefon. Fair nahm ab; beim Zuhören straffte er die Schultern, dann sagte er: »Wedersehen.« »Wer war das?« »Hy Maudant.« Fair nahm sich Käseecken aus dem Kühlschrank. »Was wollte er denn?« »Er sagt, er hat mich den Hügel raufgehen sehen, als er wegfuhr. Es tut ihm leid, dass er nicht angehalten hat, aber er war, mit seinen Worten, nicht ganz im Besitz seiner selbst. Er sagt, der Anblick von Toby hat ihn so durcheinandergebracht, dass er weggerannt ist.« »Wie ungemein zweckmäßig, dass Toby seine eigene Pistole in der Hand hatte.« Fair biss ein großes Stück von der Käseecke ab und gab seiner Frau auch was. »Allerdings. Neulich hab ich Bo Newell und Arch im Bistro getroffen. Zu guter Letzt hab ich mit ihnen gefrühstückt, nachdem sie ihren Zoff beigelegt hatten, und
Arch hat für alle bezahlt. Ich hatte mir gedacht, dass er Bo einladen würde, aber nicht mich. Er wird es mir nie verzeihen, dass ich dich zurückerobert habe.« »Schatz, das ist Jahre her, Archs und meine gemeinsame Zeit. Erzähl mir, was los war.« »Oh, Bo hat gesagt, so dämlich würde Hy nicht sein.« »Schwer zu glauben, dass er es nicht war. Er hat Toby ermordet und ihm die eigene Waffe in die Hand gelegt. Was ist daran so schwer zu glauben?« Sie spielte den Advocatus Diaboli, weil sie selbst zu zweifeln begonnen hatte. 109
»Da ist was dran, aber es ist kein so abwegiger Gedanke, dass jemand durchdreht, wenn er auf einen frisch ermordeten Menschen stößt. Und noch was macht mir zu schaffen. Ich hätte die Schüsse hören müssen. Ich hab aber nichts gehört.« »Hinzu kommt, Toby hat wegen Jed angerufen, und Jed fehlt nichts. Wie schnell warst du dort, nachdem Toby dich angerufen hat?« »Können keine zehn Minuten gewesen sein. Ich war nicht weit weg und hab das Gaspedal durchgetreten.« »Was meinst du, wie lange Toby bereits tot war?« »Minuten. Wortwörtlich Minuten. Er muss erschossen worden sein, kurz bevor ich zum Stall gekommen bin.« Er holte tief Luft. »Ich hacke auf dir rum, wenn die Neugierde mit dir durchgeht. Jetzt geht sie mit mir durch.« »Ich bin so froh, dass du das einsiehst«, sagte sie mit einer ganz kleinen Spur Häme. »Irgendwas fehlt.« »Professor Forland.« »Die zwei Fälle hängen nicht zusammen.« »Das wissen wir nicht.« Harry nahm sich noch Käse. »Stimmt, aber sagen wir mal, Tobys Ermordung ist genau, was sie zu sein scheint: das Resultat einer anhaltenden Fehde, einer Abneigung. Dann bleibt immer noch was, was wir nicht wissen.« »Das ist nicht tröstlich.« »Nein.« Pewter, die jedes Wort in sich aufgesogen hatte, wandte sich wieder Mrs. Murphy und Tucker zu. » Wollt ihr nicht wissen, wo ich war?« »Oh, Pewter«, wimmelte Mrs. Murphy sie ab. »Na schön.« So verstimmt sie war, Pewter machte ein Gesicht, als hätte sie beim Katz- und Mausspiel gewonnen. 109
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I
ch weiß nicht.« Big Mim stand mitten auf dem quadratischen Platz vor ihrem
alten Stall, Baujahr 1802. Der im Bau befindliche neue Stall, dessen Rückseite nach Norden ausgerichtet war, stand im rechten Winkel zu dem alten.
Tazio Chappars hatte den neuen Stall so konzipiert, dass er mit dem alten harmonierte, in denselben eleganten Proportionen und mit derselben Dachneigung. Der Bau aus dem Jahre 1802 aus weiß gestrichenen Backsteinen gab Zeugnis von der Haltbarkeit des Materials und der Zeitlosigkeit der Gestaltung. Beide Ställe hatten ein vorzügliches Entwässerungssystem. Unter dem neuen Stall führten Rohre in zwei riesige unterirdische Vorratstanks, die je fünfzehntausend Liter fassten. Im neuen Stall hatten alle Abflussrinnen einen perforierten Deckel. Das hielt viel Abfall zurück; die Stallburschen konnten den Deckel anheben und die Rinne mit einer Abfluss-Spirale reinigen. Im neuen Stall gab es keinen Kabelsalat; eine kleine nach Süden ausgerichtete Schüssel ermöglichte es Paul de Silva, ohne Strom am Computer zu arbeiten. Ein isolierter Raum beherbergte einen Ersatzgenerator, und hier war auch eine große Heißwasserheizung installiert. Eine kleine Wärmepumpe fürs Büro würde draußen hinter dem Büroraum versteckt sein, wenn der Bau fertig war und Sträucher gepflanzt werden konnten. Der Arbeitsbereich hatte eingelassene Lampen, einige davon waren Wärmelampen, die mit einem Extraschalter bedient wurden. Die geniale Gestaltung war nicht aufdringlich. Der Frieden, den der Stall ausstrahlte, würde noch von der Landschaft unterstrichen werden, wenn der letzte Lastwagen abgezogen war. Harry stand neben Mim und bewunderte Violet Hill, das von Mim geliebte vierjährige braune Vollblutpferd. röy
»Sie wissen, was Sie tatsächlich möchten.« Die junge Stute war für Harry ein Pferd mit der schönsten Aktion, wie sie es je gesehen hatte. »Mom wird Big Mim raten zu tun, was sie selber will«, bemerkte Mrs. Murphy, die unter den Dachtraufen des alten Stalles ruhte, zu Press Man, dem Springerspaniel-Welpen, den Mim gekauft hatte, um ihren alten, viel geliebten Springerspaniel, der gerade im Haus schlief, aufzumuntern. Der kleine Kerl, ganze fünf Monate alt, himmelte Mrs. Murphy an, weil sie mit ihm sprach. Mims Stallkatzen fauchten Press an und schlugen nach ihm. Tucker beobachtete Paul, der jetzt neben Violet Hill lief und das schöne Pferd anfeuerte, schneller zu traben, was es auch brav tat. Pewter, die ebenfalls unter den Dachtraufen saß, behielt die Purpurfinken im Auge, die Fenchelsamen aus einem Futterhäuschen pickten, das unweit vom Stall aufgehängt war. »Danke, Paul. Noch ein paarmal, und der Marathonlauf ist komplett.« Die elegante ältere Dame lachte. »Möchten Sie noch mehr sehen, Senora?« »Nein, danke.«
Der gut aussehende, muskulöse, leichtfüßige junge Trainer brachte Violet in den alten Stall zurück. Er würde sie abreiben und dann nach draußen bringen. Genau wie Harry, fand Mim, dass Pferde ins Freie gehörten. »Ich kann mich nicht entscheiden.« Big Mim verschränkte die Arme vor ihrer frischen weißen Baumwollbluse. »Wenn Sie sie rausschicken« - Harry meinte auf die Hindernisrennbahn -, »kann sie sich sehr gut machen. Der Brustumfang, die großen Nüstern und die breite Kehle erleichtern die Aufnahme der Luft in die Lungen. Ist aber gefährlich fürs Gemüt.« »Ja.« »Vielleicht mag sie ja Hindernisrennen, man kann nie wissen.« »Ja.« »Aber, wie Sie besser wissen als ich, es kann den Charakter eines Pferdes für immer verändern. Manche können nach Be 111
endigung ihrer Rennkarriere als Jagdpferde dienen. Andere nicht.« »Sie könnte immer Zuchtstute sein. Es gibt ja nicht so viel Wolfblut da draußen.« Big Mim sprach von ihrem Zuchthengst, einem Import aus Argentinien. »Sie würden bei der Jagd fabelhaft aussehen auf einem braunen Vollblut.« In Mims Augen flackerte es hell auf. »Stellen Sie sich vor, ich hatte nie eins. In all den Jahren nicht.« »Braune Vollblüter sind selten. Sie ist ein echtes braunes Vollblut.« Ein langer, glücklicher Seufzer entschlüpfte Mim. »Ich werde mit ihr jagen. Sie hat die niedrigen Zäune hier mutig genommen. Sie ist gerne im Freien, und wir kommen gut miteinander aus. Herrlich ruhige Gangart. Das tot den alten Knochen gut.« »Dann haben Sie sie geritten?« Harry dachte sich, wie tief die Bindung zwischen einem echten Pferdeliebhaber und einem Pferd war. »Mit Paul auf Toodles. Der brave alte Toodles ist so ruhig. Ich glaube, er spricht mit ihr. Sie nimmt alles wahr, aber das ist bei reinrassigen Pferden ja immer so. Bei Reitpferden auch. Sie sind so intelligent. Ich kann nicht glauben, dass manche Leute anders denken.« Mim hielt kurz inne. »Sie hat nicht mal gescheut, als ein großer Rotschulterbussard tief hier rübergeflogen ist. Mir hat er Angst eingejagt. Sie ist stehen geblieben und dann reingegangen. Ich bin ganz vernarrt in dieses Pferd.« »Wäre ich auch«, erwiderte Harry aufrichtig. »Ich freue mich so, dass Sie vorbeigekommen sind. Ich hatte mir gewünscht, dass Sie sie wieder einmal sehen. Fair ist sehr angetan von ihr.« »Ich weiß. Das ist mit ein Grund, weshalb ich gekommen bin. Er hat so viel von Violet Hill gesprochen, dass ich sie einfach sehen musste. Ich habe sie ja nicht oft gesehen, seit sie ein Jährling war. Wie Sie wissen, ist Fair einer von ihren - und Ihren - größten Bewunderern.« Harry folgte Big Mim zum alten Stall. Mim freute sich über Harrys Worte, weil sie wusste, dass sie ehrlich gemeint waren. 16g
Eine schmiedeeiserne Bank mit Mims Stallfarben Rot und Gold in einem Ornament in der Mitte lud zum Sitzen ein. Mim setzte sich auf das lange Polster, Harry nahm neben ihr Platz. »Nun?« Harry lachte. Big Mim kannte sie schließlich vom Mutterleib an. Sie legte gleich los: »Toby Pittman wurde mit seiner eigenen Waffe erschossen.« »Ja.« Mim wusste von Rick und auch von ihrem Mann vom Zustand der Leiche. »Fair hat die Schüsse nicht gehört. Er hätte sie aber hören müssen.« »Sicher, aber er ist vielleicht erst gekommen, kurz nachdem Hy Toby getötet hat.« Mims Logik war zwingend.« Der Gerichtsmediziner hat die Leiche untersucht und Anzeichen von einem Kampf gefunden. Striemen an Tobys Handgelenk. Einen zertrümmerten Finger, als wäre er am Boden festgehalten worden und seine Hand hätte auf die Erde getrommelt. Ein Backenknochen war auch gebrochen.« »Wieso hat Fair das übersehen? Ihm entgeht doch selten etwas.« »Toby hatte ein langärmeliges Hemd an. Und Rick zufolge war sein Gesicht nicht eingefallen. Es hat vielleicht wie ein roter Striemen ausgesehen, wo er getroffen wurde. Und noch etwas: Es wurden drei Schüsse abgegeben.« »Ah.« Harry stellte die Füße kreuzweise übereinander. »Vielleicht konnte er einen Schuss auf Hy abgeben.« »Man hat die Kugel nicht gefunden. Weder auf dem Gut noch in Hys Wagen. Es wäre hilfreich, wenn die dritte Kugel gefunden würde.« »Glauben Sie, Hy hat Toby getötet?« »Ja.« Die dritte Kugel Heß Harry keine Ruhe. Sie wollte sie finden. Als sie sie schließlich fand, hätte es sie beinahe das Leben gekostet. 112
Während die Menschen sich unterhielten, kam auch Mrs. Murphy, von Vogelgezwitscher angelockt, auf den Rasen hinaus. »Ich war zuerst hier.« Pewter beanspruchte Gebietshoheit. »Ich darf die Vögel genauso beobachten wie du.« Auf dem Vogelhäuschen beäugten die Purpurfinken, denen sich Goldfinken zugesellt hatten, die heranschleichenden Katzen. »Wollt ihr wegfliegen?«, fragte der schlaueste Purpurfink die anderen. »Die können uns nicht kriegen«, antwortete ein Goldfink. »Ich weiß. Aber wir könnten auf sie draufkacken.« Der schlaue Purpurfink knackte einen Fenchelsamen. »Jaul«, antworteten die anderen, erhoben sich in die Lüfte, als hätten sie Angst vor den Katzen, drehten eine Runde, flogen dann über sie und ließen ihre Hinterlassenschaft fallen. »So was Gemeines.« Pewter stürmte zurück unter die Dachtraufen. Die zwei Hunde lachten, was Mrs. Murphys Laune nicht verbesserte, da sie einen Treffer abbekommen hatte.
Auf der Heimfahrt hörten die drei Tiere Radio. Mrs. Murphy putzte sich murrend wie wild. »Direkt mitten auf den Rücken. Da ist schwer ranzukommen«, meinte Tucker mitleidig. »Finken sagt man ja nach, dass sie gemein sind.« Pewter war mit einem Spritzer auf der Pfote glimpflich davongekommen. Den hatte sie schon abgeputzt. »Vögel sind Vögel«, sagte die angewiderte Mrs. Murphy, dann klagte sie weiter: »Ich wünschte, sie würde die Countrymusik abstellen. Ich kann den Mist nicht ausstehen.« »Sie singt auch noch mit, dabei mag sie sie auch nicht besonders. Sie muss gut aufgelegt sein. Da kannst du nicht gegen an.« Pewter bekam volkstümliche Musik so selten zu hören, dass sie ihr noch nicht zum Hals raushing. »Nehme an, ihr wollt immer noch nicht wissen, wo ich war.« Aufgebracht verengte Mrs. Murphy ihre Pupillen. »Wir sterben vor Neugierde.« 113
»Du bist sarkastisch. Ich rede nicht mit dir, wenn du so bist.« »Ich möchte es wirklich gerne wissen.« Tucker hatte keine Lust auf Katzbalgereien. Mit großer Genugtuung sagte Pewter: »Tarnkappenbomber.«
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Die waren vorher nicht hier.« Pewter deutete auf mehrere klebrige Streifen, altmodische Fliegenfänger, die spiralförmig an niedrigeren Zweigen hingen. »Sind dir vielleicht nicht aufgefallen.« In der Sekunde, als es ihrer Schnauze entfuhr, wusste Tucker, dass sie das nicht hätte sagen sollen. »Ich seh alles!« Pewters Pupillen wurden sekundenlang zu Schlitzen. »Ich bin kein Mensch. Die sehen nicht mal die Nase in ihrem Gesicht.« Mrs. Murphy atmete den Duft des vernachlässigten Alverta-Pfirsichhains ein, den Harry wieder aufleben ließ. Der intensive Geruch der Baumrinde, das anhaltende Aroma der winzigen Punkte, wo die Blüten gewesen waren und die köstliche Frucht reifen konnte, all das beseelte sie. Dieser kleine Obstgarten, prallvoll mit Leben, war verlockend. Es gab nur noch wenige Menschen, die Alverta-Pfirsiche anbauten. Harry wusste von der Notwendigkeit der wechselnden Felderbewirtschaftung. Die Erzeugung von Agrarprodukten wurde jedoch immer mehr zur Monokultur, eine genetisch gefährliche Entwicklung. »Du bist schweigsam wie ein Grab«, sagte Pewter frech. »Ich sehe die Tarnkappenbomber.« Mrs. Murphy bemerkte die Insekten mit den durchsichtigen Flügeln, die wie der berühmte Kampfflieger aussahen. »Einige sind an den klebrigen Streifen gestorben.« Tucker staunte, wie viele kleine Leichname da waren. »Gemeinsam mit Fliegen aller Art.« Pewter konnte Fliegen 113
nicht ausstehen. Sie versuchten immer, winzige weiße Eier in ihren Thunfisch zu legen. Mrs. Murphy fragte die graue Katze: »Fußabdrücke, gestern?«
»Glaub ich nicht.« In Wahrheit hatte Pewter nichts bemerkt. »Heute schon.« Tucker senkte die feine Nase auf die großen Trittspuren von Arbeitsstiefeln. »Reifenspuren?«, fragte Mrs. Murphy Pewter. »Nein.« »Jeder könnte hinter dem Werkzeugschuppen parken und zu Fuß hierher gehen. Wir würden es nicht merken. Zu weit weg.« Mrs. Murphy saß da, betrachtete die Insekten an den klebrigen Streifen und lauschte auf die unterschiedlichen fliegenden Insekten. »Ein seltsamer Käfer.« Eine Scharlachtangare setzte sich zwitschernd auf einen weiter entfernten Ast in der Obstbaumreihe. »Alles, was sechs Beine hat, ist seltsam.« Pewter erkannte den Zusammenhang nicht. Tucker ging in den Obstgarten, gefolgt von Mrs. Murphy. Der Obstgarten war nach Süden ausgerichtet, um Wärme und Licht aufzunehmen. Eine Ausrichtung nach Norden wäre auf dieser Höhe zu grimmig. Eine Anhöhe hinter dem kleinen Obstgarten schützte die Pfirsiche vor dem Nordwind. Pfirsiche konnten in Mittelvirginia gedeihen, aber der Farmer musste die Bäume viel besser schützen als Apfelbäume. Tucker kam zu der aufgewühlten Erde. Mrs. Murphy setzte sich an den Rand des festgestampften Lehms. Pewter hockte sich auf ihr Hinterteil, grämte sich, schloss sich dann Mrs. Murphy an und fragte: »Was? Was ist auffällig?« »Diese grabgroße leichte Vertiefung.« Die Tigerkatze schritt die zwei Meter lange Längsseite der Vertiefung ab. »Das hatte die Bärin gesagt.« Pewter dachte an den unbeabsichtigten Besuch zurück. »Ich hab ihr halb geglaubt und halb nicht.« Tucker schnüffelte weiter an der Erde. »Bären flunkern gerne.« »Ich hab ihr geglaubt. Ich wusste nicht, wie wir Harry hierher J114 kriegen können, und dann ist so viel anderes passiert.« Airs. Murphy senkte die Nase, dann fragte sie Tucker: »Kannst du eine Leiche riechen?« »Wenn sie weniger als zwei Meter tief liegt, dann schon. Weiter unten kann ich 's nicht. Wenn hier eine Leiche liegt, hat derjenige, der sie verscharrt hat, tief gebuddelt.« » Wir müssen Harry holen.« Mrs. Murphy machte sich auf den Heimweg. Die Tiere trabten über die abfallende Weide, überquerten die ausgefahrene Lehmstraße, krochen unter dem alten Zaun durch, der von Robinienholzpfosten gestützt wurde. Tucker fing an zu rennen. Die Katzen folgten ihrer Führung über noch eine Weide, dann unter einem weiteren alten Zaun durch. Unten zu ihrer Rechten sahen sie den Friedhof der Jones' liegen. Gewöhnlich verweilten sie dort einen Augenblick, weil
es so friedlich war und auch oft wilde Tiere anzutreffen waren, so dass sie ein Schwätzchen halten konnten. Heute jedoch nicht. An Harrys Bach angekommen, stürzte Tucker sich ins Wasser. Sie schwamm gerne. Mrs. Murphy folgte ihr, obwohl sie sich ungern nass machte. Pewter zögerte kurz, öffnete den Mund, um zu jammern, wobei sich ihre dunkelrosa Zunge leuchtend von ihrem grauen Fell abhob. Ihre zwei Freundinnen erreichten das Ufer. »Was soll's«, murmelte sie vor sich hin, sprang hinein, paddelte mit aller Kraft, die Ohren flach an den hochgehaltenen Kopf angelegt. Oben an der Böschung angekommen, drehte Mrs. Murphy sich um. Als sie sich überzeugt hatte, dass Pewter nicht ertrinken würde, gab sie kräftig Gas, um Tucker einzuholen, die nach Hause hetzte. Corgis sind schnell und können auch in einem engen Radius wenden. Mrs. Murphy jagte neben dem entschlossenen Hund her. Die nasse Pewter war, zischend vor Zorn, fünfzig Meter zurückgefallen. Wasserperlen sprühten von ihrem Fell und verwandelten sich in winzig kleine Regenbögen. 115
Keine zwei Minuten, nachdem sie den achthundert Meter entfernten Bach überquert hatten, schlitterten die zwei Schnellläuferinnen in den Stall. Harry musste im Stall oder im Haus sein, weil sie sie draußen nicht witterten oder sahen. Und richtig, Harry war auf allen vieren in der Waschbox. Der Abflussdeckel war entfernt und lag auf dem Boden, und Harry schrubbte mit einer langen, schmalen harten Bürste innen in dem zwanzig Zentimeter breiten Rohr herum. Der Abfluss verstopfte selten, weil sie diese Prozedur einmal wöchentlich wiederholte, und weil sie, als sie Vorjahren den Stall sanierte, große Rohre installiert hatte. »Komm mit mir!«, bellte Tucker. Pewter bildete die Nachhut. »Pewter, du siehst ja aus wie eine gebadete Maus!« Harry musste lachen. Pewter ließ sich von Harrys Spöttelei nicht beirren. »Das ist nicht lustig. Lass die Arbeit sein und komm mit uns.« »Sie hat recht, Mom. Lass einfach alles stehen und liegen. Du kannst das auf später verschieben.« Mrs. Murphy sprang auf Harrys Schultern. »Murphy.« Harry spürte Wassertropfen in ihr weißes T-Shirt sickern. Pfotenabdrücke zierten ihre Schultern. »Na so was.« Sie tätschelte ihre Freundin. Mrs. Murphy leckte ihr die Hand, und Pewter bedrängte Harry unentwegt, aufzustehen und zu gehen. »Komm schon. Mir nach«, bat Tucker. Harry legte den Abflussdeckel wieder auf. Mrs. Murphy grub sich in Harrys Schultern, um sich festzuhalten. »Die Krallen tun mir weh.« »Du kannst von Glück sagen, dass ich sie nicht richtig benutze.«
Pewter ermunterte Tucker:» Versuch 's mit der Weglaufen-und-Zurückkommen-Masche. Die wirkt meistens bei ihr.« Tucker bellte laut, raste den Mittelgang hinunter, kam zurück, bellte wieder. Das wiederholte sie, bis Harry Mrs. Murphy sanft auf den Boden setzte. »Na gut.« 116
»Auf geht's!« Als Tucker zur offenen Tür hinausstürmte, strömte Licht herein. Harry war auf dieser Farm aufgewachsen. Sie war immer von Tieren umgeben gewesen. Für einen im Vergleich zu Tieren doch recht beschränkten Menschen spürte sie sehr genau, dass die drei aufgeregt waren und sie auf sie eingehen musste. Erst auf halbem Weg zum Bach merkte sie, dass dies in eine Wanderung ausarten würde. Doch ihre beharrlichen Freundinnen trieben sie an. Als sie an dem vom Frühjahrsregen angeschwollenen Bach zögerte, zwickte Tucker sie beherzt in die Fersen. »Tucker, ich hab schon kapiert. Wag es bloß nicht, meine neuen Arbeitsstiefel zu zerfetzen, hast du mich verstanden?« »Komm, komm. Ist gar nicht so schlimm. Wir zeigen dir die beste Stelle«, lockte der kräftige Hund. Zwar war die Furt die beste Stelle, aber die Böschungen waren steil. Ohne einen Blick zurück, stieß Tucker sich vom Ufer ab. Harry sah Tuckers schwanzlosen Rumpf im Wasser verschwinden. Nachdem Mrs. Murphy ihrem Beispiel folgte, lief Harry ungefähr zwanzig Meter zurück, nahm Anlauf und stieß sich vom Ufer ab. Sie schaffte es auf die andere Seite, hörte was vom Uferrand ins Wasser plumpsen. »Ich geh hier nicht wieder rein!«, jammerte Pewter. Mrs. Murphy und Tucker beachteten die graue Katze nicht. Harry blickte über den Bach. »Pewter, geh in den Stall zurück.« »Trag mich!«, wimmerte Pewter herzzerreißend. »Lieber Gott, schenk mir Geduld«, murmelte Harry, taxierte die Entfernung, ging diesmal dreißig Meter zurück, nahm Anlauf und schaffte es spielend hinüber. Sie hob Pewter auf, die gleich schnurrte, und setzte sie sich auf die Schultern. »Halt dich fest.« Auf Harrys breiten Schultern kauernd, die Krallen versenkt, schwärmte Pewter: »Ich liebe dich.« Unter Berücksichtigung ihrer kätzischen Last düste Harry los und schaffte es, allerdings blieb ihr rechter Fuß in der auf 116
geweichten Erde am Ufer stecken, Harry taumelte vorwärts, und Pewter sprang ab. Als Harry sich aufrichtete, musste sie lachen; denn die graue Katze besaß den Anstand, auf sie zu warten, obwohl sie hätte losrennen können. Mrs. Murphy und Tucker warteten ungeduldig, bis Harry und Pewter näher kamen. Dann übernahmen sie wieder die Führung.
Schweiß rann an Harrys Stirn herunter, als sie am Pfirsichhain ankam. Die hochstehende Sonne tränkte die winzigen ersten Fruchtknoten mit goldenem Licht; die dunkle Rinde stand an den Rändern der eingekerbten schmalen horizontalen Linien etwas ab. Die zwei Katzen und der Hund flitzten in die Pfirsichbaumreihen. Achselzuckend folgte Harry gehorsam. Tucker und Mrs. Murphy blieben stehen. Von dem schnellen Lauf waren sie fast trocken geworden. Pewter war vollkommen trocken. Beim Anblick der klebrigen Streifen blinzelte Harry. Sie untersuchte einen. Sie ging zum nächsten und sah ihn sich genau an. Als sie die Tarnkappenbomberkäfer bemerkte, die sich stark von den anderen Insekten unterschieden, blieb sie fast mit der Nase an dem gelben Streifen kleben. »Was ist denn hier los, verflixt?«, rief sie aus. Tucker bellte: »Komm her.« Harry ging hin. Sie erblickte die Erde, und ihr Herz sank tiefer als der eingesunkene Lehm.
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us Rücksicht auf die Pfirsichbäume rückte der Sheriff nicht mit einem
Bulldozer an. Zwei Männer gruben im Takt den nicht ganz einfach zu bewältigenden Lehm aus. Hätte es in der letzten Woche geregnet, wäre es ein leichteres 117
Unterfangen gewesen, aber wenigstens war die Erde nicht hart. Coop und Rick waren eine halbe Stunde nach Harrys Anruf bei ihr. Fair auch. Seinen letzten Termin - Hufe röntgen für eine Untersuchung vor einem Kauf hatte er abgesagt. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker saßen bei Harry und Fair, obwohl der angenehme Verwesungsgeruch, der aufstieg, als die Männer tiefer gruben, Tucker reizte. Die Menschen konnten ihn nicht wahrnehmen, bis der Spaten eines Mannes auf einen Brustkorb traf. Der Mann wich mit tränenden Augen zurück. Rick und Cooper traten an den Rand der Grube. Der andere Gräber hielt ebenfalls inne. Es war Zeit für die Spurensicherung. Am frühen Abend wussten sie, dass sie Professor Forland gefunden hatten. Harry und Fair waren entsetzt, aber nicht vollkommen überrascht gewesen, als feststand, dass es sich um menschliche Überreste handelte. Coop war vorbeigekommen, um es ihnen zu sagen. »Weiß man schon, wie er umgebracht wurde?«, fragte Harry.
»Es wurde auf ihn geschossen, was aber nicht heißt, dass ihn das getötet hat. Der Gerichtsmediziner wird es uns bald sagen können.« Sie wandte sich an Fair: »Du hast Toby gefunden, und wir haben Professor Forland auf deinem Besitz gefunden.« »Dann stehe ich unter Verdacht?« »Ja.« Sie hatte Fair gern, aber sie war auch eine sehr gewissenhafte Polizistin. »Willst du ihn verhaften?« Harrys Hände zitterten. »Nein. Ich informiere euch nur über den Stand der Dinge, und« - sie machte eine Pause - »es tut mir leid.« Als Cooper weg war, rief Fair Ned an. »Ned, ich brauche dich.« Nachdem Ned sich bereit erklärt hatte, Fair zu vertreten, rief Harry Patricia Kluge und Bill Moses an, weil sie die Letzten waren, die Professor Forland lebend gesehen hatten, wenn man von dem Mörder absah. Harry fragte Bill, ob sie 118
ihm einen Fliegenfänger mit dem seltsamen Insekt vorbeibringen könne. Falls Bill nicht wusste, was es war, würde er es schnell herausfinden, weil er alles Erdenkliche, das sich mit Weinbau beschäftigte, auf seinen Computer geladen hatte. Danach saßen Harry, Fair, Mrs. Murphy, Pewter und Tucker bedrückt im Wohnzimmer. Schließlich sagte Harry: »Wir werden der Sache auf den Grund gehen.« »Das will ich hoffen, Schatz. Versteckte Anspielungen können einem den Ruf ruinieren. Manchmal denke ich, die Tatsachen spielen keine Rolle mehr, wenn einen die Medien erst im Griff haben.« »Wir stehen das durch.« Sie nahm seine Hand. »Unterdessen machen wir weiter wie bisher.« Er war froh, dass sie auf seiner Seite war. »Genau.« Pewter, die hinter Fair auf der Rückenlehne der Couch saß, sah Mrs. Murphy an, die hinter Harry saß. Tucker hatte sich an einem Ende der Couch zusammengerollt. »Mir ist was eingefallen«, meldete sich Pewter. »Was?« Mrs. Murphys Schwanz bewegte sich leicht hin und her. »Jed hat zwei Autos gehört.« Tucker hob den Kopf. »Hys und Fairs.« »Er kann Fairs nicht gehört haben. Jed war da bereits über den Zaun gesprungen und über alle Berge. Deswegen konnte Fair ihn nicht finden.« Pewter setzte sich auf. Mrs. Murphy sah Pewter und dann Tucker an. »Sie hat recht.« 118
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S
ie kappt die Wasserversorgung, unterbindet den Fluss der Nährstoffe durch
das Xylem, das entspricht unseren Adern.« Bill Moses betrachtete die Zikade auf seinem Computerbildschirm. Harry hatte Bill und Patricia die Streifen gebracht. Hy Maudant kannte die Zikade mit den durchsichtigen Flügeln wohl auch, aber Harry hatte seine und ihre Situation bedacht. Zudem würden Patricia und Bill im Notfall rasch Hilfe zur Verfügung haben. Das konnte Hy im Augenblick nicht. Patricia lehnte sich über die Schulter ihres Mannes, der ein Bild von dem eigenartig aussehenden Insekt aufrief. »Wie lange braucht es, um sich einzunisten?« »Das ist es ja eben.« Bill beugte sich vor und rief weitere Informationen auf. »Diese Zikade dürfte überhaupt nicht hier sein. Wir sind zu weit nördlich.« »Sie ist aber hier.« Harry spürte wachsende Besorgnis. »Es ergibt einfach keinen Sinn.« Sodann antwortete Bill auf die Frage seiner Frau. »Wenn das Insekt einen Rebstock mit Erregern infiziert, kann es in ein, zwei Jahren sämtliche Stöcke vernichten. Hier steht, manche Stöcke können vielleicht fünf Jahre überleben, aber Zwergzikaden dürften nicht imstande sein, Frost zu überleben.« »Was haben die Zwergzikaden in meinem Pfirsichhain gemacht?«, fragte Harry. »Der Erreger kann Pfirsiche, Pflaumen, Mandeln und auch Reben befallen. Er nistet sich vielleicht nicht in Ihrem Obstgarten ein, aber Sie werden nicht warten wollen, bis Sie es herausfinden.« »Nein.« Harry war zornig, ihr Herz schlug schneller. »Nein. Und warum sollte jemand meine Pfirsiche schädigen wollen? Es gibt kaum noch Alverta-Pfirsiche. Schlimm genug, dass die Leiche von Professor Forland dort war. Ich kann's kaum glauben.« »Im Augenblick scheinen Ihre Alverta-Pfirsiche das Böse 119
anzulocken.« Patricia legte ihren Arm um Harrys Schulter, dann fragte sie ihren Mann: »Bill, wie verbreitet sich die Krankheit? Ich weiß, die Zikade überträgt sie, aber wie schnell kann sie sich verbreiten?« Bill rief weitere Informationen auf. »Hmm, eine Zwergzikade kann vierhundert Meter weit fliegen. Hat sie sich erst eingenistet, explodiert die Insektenpopulation. Und der Erreger kann binnen einstündiger Aufnahme auf den Wirt übertragen werden.« »Das ist eine lange Inkubationszeit«, scherzte Harry müde. »Und weiter?« Patricia ließ Harry los und beugte sich wieder über Bill. »Was Positives: Nicht alle Zikaden sind infiziert.« »Dann sind diese Insekten vielleicht ungefährlich?«, fragte Harry hoffnungsvoll. »Wir sollten das Landwirtschaftsministerium verständigen.« »Ja. Ein paar von diesen Streifen müssen wir auch ans Technical College von Virginia schicken. Die arbeiten schnell.« Bill schaute wieder auf den Bildschirm.
»Heute. Wir müssen es noch heute tun. In den 1880er Jahren haben die Zikaden in Südkalifornien fünfunddreißigtausend Morgen Rebstöcke vernichtet. Als die Zikade nach fünf außergewöhnlich warmen Wintern nach Hill Country in Texas gewandert ist, hat sie jeden einzelnen Rebstock auf jedem Weingut vernichtet, und das war nach 1995.« »Meine Rebstöcke sind fast zwei Kilometer vom Pfirsichhain entfernt.« Verzweiflung wallte in Harry auf. »Kann ich denn gar nichts tun, um meine Pfirsiche oder meine Reben zu schützen?« »Hängen Sie Fliegenfänger auf, um Ihre Insektenpopulation im Auge zu behalten. Es gibt kein erprobtes Gegenmittel.« Er stand auf. »Ich bringe die Streifen nach Blacksburg.« Blacksburg, wo das Technical College beheimatet war, lag im Shenandoah-Tal, gut zweieinhalb Stunden entfernt. »Und ich bringe ein paar ins Büro des Landwirtschaftsministeriums«, sagte Patricia. Die Behörde unterhielt in Albemarle County unweit vom Beckmar Drive eine kleine Dienststelle. 120
»Ich geh wieder in meinen Pfirsichhain. Vielleicht erwische ich ja den, der das tut. Mit einem Fliegenfänger für Menschen sozusagen.« »Tun Sie das nicht, Harry«, riet Bill ihr dringend ab. »Das ist mein Ernst. Man weiß nicht, wer das tut. In Anbetracht all dessen, was passiert ist, könnte es gefährlich sein.« »Ermordet wegen einem Pfirsich.« Harry verdrehte die Augen. Bill hob die Augenbrauen. »Menschen haben schon für weniger getötet. Solange wir nicht sicher wissen, wer Professor Forland ermordet hat, sollten wir vor Menschen genauso auf der Hut sein wie vor diesen Zikaden.« Patricia drückte auf ihrem Handy eine Taste für eine gespeicherte Nummer. Während sie wartete, fragte sie Harry: »Fahren Sie direkt nach Hause?« »Ja.« »Vierundsechzig?« Patricia meinte die Schnellstraße. »Ja.« Patricia wandte sich von Harry ab. »Hallo, Patricia Kluge hier. Ist Deputy Cooper da?« Sekunden später war Cooper am Apparat. »Deputy Cooper.« »Coop, können Sie Harry in einer halben Stunde auf ihrer Farm treffen? Abgesehen von der grausigen Entdeckung gestern Abend, hat jemand sich an ihrem Pfirsichhain zu schaffen gemacht, und das könnte für viele von uns katastrophale Folgen haben. Sie erklärt es Ihnen, wenn Sie dort sind.« »Ich komme.« »Harry, fahren Sie los.« Bill küsste sie auf die Wange. Beim Hinausfahren fiel Harry auf, dass Kluge Estate auf derselben Höhe lag wie ihre Farm, auf zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter. Diese Höhe war ideal für Äpfel und bestimmte Rebsorten.
Virginia stand beim nationalen Apfelanbau an sechster Stelle, und die Anzahl von Weinbauern im Staat stieg stetig an. Als Harry nach Hause kam, wurde sie von zwei beleidigten Katzen und einem fröhlichen Hund begrüßt. 121
»Du bist ohne mich weggegangen.« Pewter nahm Harrys Liebkosung kühl entgegen. Mit Mrs. Murphy erging es ihr nicht viel besser. » Wir sollten immerzu bei dir sein!« »Hi, Mom. Hi, Mom.« Tucker lief im Kreis herum. »Wie kriecherisch sie ist«, bemerkte Pewter. »Hunde ...« Mrs. Murphy sprach nicht zu Ende, weil sie den Streifenwagen in der Zufahrt hörte. Sobald Cooper anhielt, sprang Harry mitsamt ihren drei Tieren in den Streifenwagen. Unterwegs erzählte sie Coop von der Zikade. Sie mussten ein Stück zurück, auf der Staatsstraße rechts abbiegen und gut anderthalb Kilometer bis zur Zufahrt zu dem alten Jones-Besitz fahren. »Willst du diesen Grund mieten?«, fragte Coop. Die grauen Kieselsteine prallten vom Unterboden ab. »Hängt von Herb ab. Ihm gehören zehn Morgen und das Haus.« »Wann zieht er um?« »Tja, das ist es ja eben. Er schwört, dass er sich nächstes Jahr zur Ruhe setzt, aber wir wissen alle, er wird es nicht tun.« »Meinst du, er würde es mir vermieten?« »Eine gute Idee!« Harrys Miene hellte sich auf, so froh war sie, von den Ereignissen abgelenkt zu sein, wenn auch nur für einen Moment. »Frag ihn.« »Mach ich.« Sie fuhren am Haus vorbei und bogen bei den Viehställen links ab. Der Straßenstaub wirbelte hinter ihnen auf, dass es aussah wie ein Hahnenkamm. »Kaum zu fassen, dass die Straße nach dem vielen Regen in diesem Frühjahr so trocken ist.« »Typisch Mittelvirginia, nicht? Du gehst zehn Schritte und stehst auf einem völlig anderen Boden. Die eine Sorte absorbiert gut, die andere nicht.« »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich für so was interessierst«, sagte Harry. »Ich bin keine Farmerin, aber ich beobachte genau. Gehört 121
zu meinem Job.« Sie lächelte, hielt an. »Ich wollte, die Streifenwagen hätten Vierradantrieb. War aber nicht so gut bei einer Verfolgungsjagd, nehm ich mal an.« Sie stiegen aus und gingen den restlichen Weg zum Obstgarten zu Fuß. Die Grabstätte war mit Absperrband gesichert. Es würde entfernt und das Loch wieder zugeschaufelt werden, sobald Rick sichergehen konnte, dass sie nichts übersehen hatten. »Was sagtest du, wie viele Streifen ursprünglich da waren?«
»Zwanzig.« Harry fasste Cooper am Arm. »Coop, du weißt, ich bin eigentlich kein Hasenfuß.« »Du kannst von Glück sagen, dass du nicht Katzenfuß gesagt hast. Du bist zäh wie Juchtenleder.« »Ich hab Angst.« Cooper hielt einen Streifen vorsichtig am unteren Ende und betrachtete die Zikade. »Jemand hat sich auf deinen Grund und Boden geschlichen. Vielleicht zwei Jemande, einer hat die Leiche verscharrt, der andere hat die Insekten ausgesetzt.« »Ich hab das Gefühl, die kennen meinen Tagesablauf. Und Fairs auch.« Cooper dachte darüber nach. »Möglich, aber dein Haus und dein Stall liegen gut drei Kilometer Luftlinie auseinander. Und man kann den Pfirsichhain nicht sehen. Nicht mal von dem alten Jones-Haus aus.« »Ich weiß.« Sie verschränkte die Finger. »Ich hab das Gefühl, ich werde reingelegt.« »Fair«, erwiderte Cooper. »Ich glaube eher, dass Fair reingelegt wird.«
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I
m Frühjahr hielt die Dämmerung lange an. Die Stunde des von herrlichen
Sonnenuntergängen begleiteten Zwielichts lockte viele Virginier ins Freie, um das Schauspiel zu betrachten. Die wie mit einem flachen Pinsel in Aufwärtsschwüngen 122
gemalten Wolkenfetzen färbten sich weiß, dann golden. Nach zehn Minuten wurde die Horizontlinie über den ferneren Bergen dunkler, aber über dem Blue-Ridge-Gebirge umriss eine strahlend türkisgrüne Linie die Berge, die einst als die höchsten der Welt galten. Als Fair mit Harry vom Stall ins Haus ging, sah er den Himmel, die schillernden Streifen in mit Gold und Kupfer gemischtem Scharlachrot. »Gott, ist das schön.« Harry sah hoch. »O ja.« »Wenn die Sonne untergeht, wird es schnell kühl, nicht?. Das verblüfft mich immer wieder.« »Ja, aber dann kommt der Sommer, und die Abende sind lau. Ich liebe die warmen Nächte, wenn ein leichter Wind geht, der die Insekten fernhält.« »Schatz, du hast nur noch Insekten im Kopf.« Er legte seine Arme um ihre Taille, während sie den Himmel betrachteten. »Allerdings, Fair. Ich bin verwirrt. Und ich muss immer denken, zwei Männer sind tot, und beide wussten eine Menge über Schädlinge, über Schwarzfäule, über Reben.« »Ich sehe immer noch nicht, wie die Morde zusammenhängen.« »Wenn Professor Forland von Insekten übertragene Krankheiten studiert hat, könnte er Toby davon erzählt haben.« »Hat er vermutlich. Aber alle Weingutbesitzer oder ihre Verwalter sind in gewisser Weise Wissenschaftler. Hy, Arch, Bill und Patricia können unter dem Mikroskop
krankes Gewebe erkennen, und dann wissen sie, mit welchen Chemikalien der verantwortliche Pilz getötet werden kann.« »Ja, du hast recht.« Fair wechselte das Thema. »Ist das nicht ein starkes Stück, dass Tobys Schwester sich weigert, seinen Leichnam einzufordern? Was ist bloß los mit den Menschen? Es spielt keine Rolle, ob sie sich gut verstanden haben. Er ist nun mal ihr Bruder.« »Vielleicht hat sie ihn umgebracht«, erwiderte Harry respektlos. »Wie die Dinge hegen, Schatz, bin ich geneigt, alles zu glauben.« 123
»Ein großes, intensiv bewirtschaftetes Weingut zu erben ist kein geringes Motiv.« Harry sah ein großes Graureiherweibchen über ihnen krächzend zu seinem Nest fliegen. »So eine grässliche Stimme. Sie sollte lieber den Schnabel halten«, fand Pewter. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass hässliche Menschen oft eitler sind als gut aussehende? Vielleicht ist es bei Vögeln genauso. Sie bildet sich ein, sie hat eine liebliche Stimme«, bemerkte Tucker. »Mir wäre wohler, wenn ich nicht glaubte, dass die zwei Morde zusammenhängen.« Harry ließ sich nicht von diesem Gedanken abbringen. »Angenommen, es geht um Bioterrorismus: Wäre es nicht einfacher, Anthrax zu verschicken?« Sie schlug den Mantelkragen hoch. »Du hast Seminare zu diesem Thema besucht. Professor Forland hat bei dem Podiumsgespräch wahrhaftig die Leute aufgeschreckt. Vielleicht hat er für unsere Regierung gearbeitet.« Fair überlegte eine Weile, dann nahm er im schwindenden Zwielicht ihre Hand, und sie gingen zum warmen Haus zurück. »Anthrax kann man sich durch einen Schnitt zuziehen. Das Bakterium gelangt in die Haut. Wenn ich ein kontaminiertes Fell anfasse - nicht mal das Tier selbst - und einen Riss in der Haut habe, kann ich mir Anthrax zuziehen. Man kann es einatmen, und man kann es von kontaminiertem Fleisch bekommen.« »Was sind die Anzeichen?« »Muss ich mir das anhören?« Pewter rümpfte die Nase. »Wenn ein Mensch das Bakterium aufnimmt, kommt es zu einer akuten Entzündung des Verdauungssystems. Erbrechen und Fieber treten auf, gefolgt von Bluterbrechen und schwerem Durchfall. Und eine solche Infektion führt in einer sehr hohen Anzahl, nämlich fünfundzwanzig bis sechzig Prozent der Fälle zum Tode.« »Das ist sehr viel.« »Ja.« Er öffnete die Verandatür just in dem Augenblick, als Plattgesicht zur nächtlichen Jagd aus dem Stall flog. »Aber man muss den Gesundheitszustand desjenigen, der sich die Krankheit zuzieht, und das Niveau der Gesundheitsfürsorge 123
berücksichtigen. Wer im Sudan Anthrax aufnimmt, wird eine viel schwerere Zeit durchmachen als jemand, der sich in Kanada infiziert. Offenbar ist das Infektionsrisiko in Kanada nahezu gleich null.« »Und bei einem Hautriss?« »Eine juckende Erhebung wie bei einem Mückenstich. Ein, zwei Tage später bildet sich an der Stelle eine schmerzlose Geschwulst mit einem brandigen Hautstück in der Mitte. Die Lymphdrüsen schwellen an. Etwa zwanzig Prozent der Infizierten sterben. Der letzte Fall von Hautanthrax ist bei uns im Land allerdings 1992 aufgetreten. Man findet es in den Entwicklungsländern. Das eigentliche Problem ist die Übertragung durch die Luft.« Er stellte die Flamme unter dem Wasserkessel an. »Wenn du das Zeug einatmest, rast das Bakterium durch deine Lungen und gerät so in den Kreislauf. Es kommt rasch zu einer tödlichen Blutvergiftung. Die Inkubationszeit beträgt ein bis sechs Tage.« »Wäre das als Bioterrorismus-Waffe nicht sinnvoller als aus Pilzen gewonnener Stoff?« Sie setzte einen Topf mit Wasser auf. Dies war der richtige Abend für Spaghetti. »Scheint mir auch so, zumal die Anthraxsporen gegen Umweltverschmutzung resistent sind. Aber das Heikle bei der Erzeugung von Anthrax, das große Teile der Bevölkerung töten kann, ist die Größe der Sporen. Der Chemiker muss die feuchte Bakterienkultur in trockene Sporenklumpen umwandeln. Wenn die Sporen getrocknet sind, ballen sie sich zu größeren Klumpen zusammen und haben eine statische elektrische Aufladung, weshalb sie an Oberflächen haften bleiben, ganz so wie Wäsche mit statischer Haftung. Wenn die Sporen das machen, schweben sie nicht durch die Luft.« »Könnte ein gewiefter Einzelgänger das rauskriegen?« »Die Methode, die Sporen auf die optimale Größe zu reduzieren, damit sie von der statischen Aufladung befreit in die menschliche Lunge eindringen, wurde von der ehemaligen Sowjetunion wie auch von unserer Regierung streng gehütet.« »Aber das Geheimnis ist längst gelüftet, oder?« »Ja.« Er reichte ihr eine Packung Spaghetti. »Eine Mög124
lichkeit, herauszufinden, wer das Geheimnis kennt, ist Anthrax sicherzustellen, das bei einem Anschlag verwendet wurde. Dann könnte man sagen, wie stark der Stoff genetisch der Waffenart ähnelt, die unsere Regierung vor 1969 hergestellt hat.« »Warum 1969?« »Wir sind damals übereingekommen, unsere biologischen Waffenlager zu vernichten. Schatz, damals wurden in einer Fabrik in Arkansas neunhundert Kilo trockenes Anthrax pro Jahr für unser Land hergestellt. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass etwas davon aufbewahrt wurde, als angeblich alles vernichtet wurde.« »Und es ist möglich, dass etwas gestohlen wurde, nicht?«
»Ja, und im Laufe der Zeit haben sich die Sporen geteilt. Bedenke, es sind Lebewesen, also teilen sie sich. Und denk an das viele Anthrax, das die Sowjetunion produziert hat. Auch das ist nicht alles verschwunden.« »Ich krieg 'ne Gänsehaut.« »Jeder einzelne Amerikaner sollte eine Gänsehaut kriegen.« Er hielt inne. »Was hältst du davon, wenn ich zuerst Tee mache und dann eine Muschelsoße?« »Okay. Möchtest du Gemüse?« »Du willst doch auf irgendwas hinaus. Raus mit der Sprache.« Er goss Wasser in die Teetassen. »Nein, ich möchte kein Gemüse, aber Salat nehm ich gern.« »Ich glaube nicht, dass die Morde was mit Bioterrorismus zu tun haben, und mit Anthrax ist es auch deshalb leichter, weil es verfugbar ist. Ich wollte nur die Einzelheiten hören. Um von meiner Richtung überzeugter zu sein.« »Innere Intuition?«, fragte er sie schlicht. »Kann sein, dass Professor Forlands fundiertes Fachwissen bei seiner Ermordung mitgespielt hat - bei Tobys vielleicht auch -, aber das ist nicht das Grundlegende bei der Geschichte. Wenn ich doch nur das Motiv finden könnte.« »Nicht wissen ist immer schlimmer als wissen. Um das Thema zu wechseln, welche Kleidervorschrift ist für Mims Party morgen angesagt?« 125
»Sie möchte nicht, dass wir es Party nennen. Sie sagt, es ist eine zwanglose Zusammenkunft von Freunden zur Feier der Judasbäume.« Er lächelte. »Na dann. Wir kennen ja Mim.« »Jackett und Schlips.« »Du auch?« »Vermutlich besser als in dem alten Nachmittagskleid anzurücken.« »Du ziehst das Jackett an und ich das Kleid.« »Fair, es gibt keine Damenkleidung, die für dich groß genug ist.« Sie stellte ihn sich in einem Kleid vor, ein lustiges Bild. »Wie kommen dann die Transvestiten an ihre Kleider?« »Du bist bekloppt.« Sie schlug mit dem Löffel auf seine Hand. »Deswegen hast du mich geheiratet.« Er küsste sie. »Ich hab eine Überraschung für dich. Ich hab dir eine neue Krawatte gekauft.« Er lachte. »Dann ist es keine Überraschung, oder? Du hast es mir gerade verraten.« Sie lachten beide.
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U
nd das ist der Unterschied zwischen Rot- und Weißwein«, erklärte Arch
Miranda auf Mims Judasbaum-Party. Zur Feier der in voller Blüte stehenden Judasbäume veranstaltete Mim jedes Jahr eine »improvisierte« Zusammenkunft oder vielmehr das, was Mim unter »improvisiert« verstand. Dank der sprunghaften
Temperaturschwankungen hatten sich die kirschroten Blüten der herrlichen Bäume erst jetzt geöffnet. »Das habe ich nicht gewusst. Das Pigment der Schale wird beim Prozess der Weinbereitung extrahiert?« Miranda, die keinen Alkohol trank, war dennoch interessiert. Sie war soeben von einem Besuch in Greenville, South Carolina, zurückgekehrt. 126
Arch paffte seine Dunhill-Pfeife; dem kräftigen, in der Mitte bauchigen Pfeifenkopf entstieg mit dem aromatischen Tabakduft ein Hauch von Würze. Er empfand eine Pfeife am Abend als sehr entspannend. »Man braucht die richtige Rebsorte für die betreffende Region, aber die Alterung ist genauso wichtig. Die fruchtigen Roten, die so sehr in Mode gekommen sind«, er zuckte mit den Schultern, »die mag ich nicht. Ein Wein mit Tiefe und Komplexität spricht für das Können des Kellermeisters und die Qualität des Terrors. In der Traube, im Wein kommt die Vielfalt des Terrors zum Ausdruck. Amerikaner verstehen das nicht. Wir reden immer nur von der Sorte, dem Körper, der topographischen Beschaffenheit, dem Klima. Die Menschen verwechseln Boden mit Terror. Terror ist die Seele. Der Wein - rot, weiß, rose - kündet von der Seele des Ortes. Das habe ich von den Italienern und Franzosen gelernt, mit denen ich in Kalifornien gearbeitet habe.« Harry und Susan tranken an der Bar Jims Spezial-Limonade. »Na, geht's dir wieder besser?«, fragte Susan, obwohl sie erst am Morgen mit Harry gesprochen hatte. »Ein bisschen, aber die ganze Geschichte ist mir unheimlich.« Ein Stückchen Zitronenfruchtfleisch war ihr zwischen den Zähnen stecken geblieben. »Das würde jeden beunruhigen.« Susan deutete mit dem Zeigefinger auf ihren eigenen Zahn, um Harry auf das Zitronenstückchen aufmerksam zu machen. Harry entfernte es. »Denk bloß mal daran, wie fertig Christy war, als Toby ermordet aufgefunden wurde, und das war nicht mal auf ihrem Grundstück. Alle sind furchtbar nervös.« »Wenn so was passiert, kommen auch andere Sachen an die Oberfläche, ist dir das schon mal aufgefallen?« »Ja.« Susan lächelte, weil Reverend Jones zu ihnen trat. »Bald Zeit, fischen zu gehen, Herbie.« »O ja.« Er strahlte. »Wissen Sie was, ich glaube, Jesus hat furchtbar gern gefischt. Schließlich ist er rausgegangen, als die Männer die Netze auswarfen.« »Und wenn ich mich recht entsinne, kam ein heftiges Unwetter auf«, sagte Harry. 126
»Und er beruhigte das Wasser.« Herb sah hinaus, weil in diesem Moment eine steife Brise durch die Zimmer fuhr. »Und ich denke, er dürfte erwägen, das hier zu beruhigen. Schauen Sie.« Die zwei Frauen sahen tintenschwarze Wolken von Westen heranziehen.
»Wissen Sie was, ich glaube, ich habe mich geirrt. Jesus war nicht beim Fischen, als das Unwetter aufkam. Er ist nach dem Predigen hinausgegangen. Miranda wird es wissen.« »Sie kann die Heilige Schrift besser zitieren als ich«, meinte Herb lächelnd, dabei kannte er diese Geschichte auswendig. »Miranda, wir brauchen Sie.« Miranda verließ Arch und trat zu ihnen. »Ich bin so froh, aus South Carolina zurück zu sein, auch wenn wir gleich von der Landkarte gefegt werden.« »Sie haben uns gefehlt«, sagte Susan aufrichtig. »Okay, wie geht die Geschichte, als Jesus bei einem Unwetter das Meer beruhigt?« Harry beharrte wie immer auf dem, was sie gerade im Sinn hatte. »Ah, ja, Matthäus, achtes Kapitel, Vers dreiundzwanzig bis siebenundzwanzig. Dieselbe Geschichte steht auch bei Markus und bei Lukas. Bei Johannes ist sie nicht erwähnt, aber er erwähnt ja vieles nicht.« Sie zuckte zusammen, als ein gewaltiger Donnerschlag das Porzellan klappern ließ. »Das muss direkt über dem Postamt sein und ist sicher bald hier.« »Aber nicht ein Regentropfen - noch nicht.« Herb sah, dass Blair die Türen absperrte, und aus dem Augenwinkel sah er Arch und Fair am Couchtisch im Gespräch. »Entschuldigen Sie mich, meine Damen. Ich helfe das Haus verschließen, bevor wir ins Jenseits gepustet werden.« »Wolken so schwarz wie des Teufels Augenbrauen.« Ein Schauder überlief Miranda. >»Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?<«, zitierte Harry die berühmteste Zeile dieser Geschichte. »Nanu, Harry Haristeen, ich bin beeindruckt.« Miranda lächelte. »Ich kann auch den Treueschwur aufsagen, aber das ist auch 127
schon alles.« Harry hörte den ersten lauten Platscher, als pflaumengroße Regentropfen an die Fenster schlugen. »Gut, dass Paul die Pferde reingebracht hat.« »Sind Ihre drinnen?« »Hab alle reingeholt, damit sie sich ein bisschen voneinander erholen.« Ungefähr achthundert Meter entfernt schlug ein greller Blitz ein. Die Lichter flackerten und gingen aus. Sekunden später traf der nächste Blitz einen alleinstehenden Schuppen auf einer großen Weide. Die Farbe war blassrosa, und Harry sah Flecken, als der gewaltige Blitz in den Blitzableiter fuhr. »Mein Gott«, entfuhr es Susan; denn es war pechschwarz bis auf die Blitzstrahlen. »Kerzen«, rief Big Mim. Little Mim und Gretchen, Mims Haushälterin, gehorchten, allseits unterstützt von angezündeten Streichhölzern und angeknipsten Feuerzeugen. Fünf Minuten später leuchteten in den Zimmern im Erdgeschoss Bienenwachskerzen in Sturmlampen. »Sie ist jederzeit vorbereitet.« Miranda bewunderte ihre Freundin aus Kindertagen.
Doch nicht einmal Big Mim war vorbereitet auf das Krachen, als Fair rückwärts gegen den Couchtisch flog. Getränke spritzten ringsum auf den Boden, eine Kerze fiel um, die Jim geschwind aufhob, ehe etwas in Brand geraten konnte. Arch drehte sich wortlos auf dem Absatz um, durchschritt die Diele, öffnete die Tür und ging in das Unwetter hinaus. Fair folgte, ebenfalls wortlos. Harry stellte ihre Limonade hin und spurtete hinter ihnen her. »Ade, Frisur«, brummelte Harry in sich hinein; denn sie war binnen Sekunden durchnässt. Susan stand in der Tür, durch die der Regen hineinpeitschte, und rief: »Harry, komm wieder rein. Lass sie das allein regeln.« Darauf lief sie zum Schrank und suchte nach einem Regenmantel oder Schirm. Harry verschwendete keine Energie damit, den Männern »Aufhören!« zuzuschreien. Ihre Schuhe sanken in die Erde 128
ein; der Regen kam von der Seite. Sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen. »Sie Widerling!« Fair versetzte Arch einen Schlag. Die zwei Männer, beide im besten Mannesalter, taten sich gegenseitig weh, wenn sie einen Schlag landeten, was nicht so oft gelang, wie ihnen lieb gewesen wäre, weil der Untergrund glitschig war. Sie fielen hin, rappelten sich wieder hoch, tauschten Schläge und rutschten erneut auf dem Gras aus. Fair, der kräftiger, größer, etwas besser in Form war und eine längere Reichweite hatte, traf Arch öfter als der ihn. Die anderen Männer zogen Regenmäntel an, rannten hinter Susan aus dem Haus, deren Regenschirm gleich vom Wind umgeknickt wurde. Ned machte seine Autotür auf und schaltete die Scheinwerfer ein, denn es war stockfinster. Die Scheinwerfer schufen in dem unablässigen Regen eine gespenstische Szenerie. Blair, auch er groß und stark, packte Fair; Jim und Ned zogen Arch fort, über dessen linkem Auge Blut strömte, das sofort vom Regen weggewaschen wurde. Harry und Susan traten an Fairs andere Seite, Blair öffnete die Beifahrertür von Harrys Transporter, und Fair stieg ein. »Danke, Blair«, sagte Harry schlicht und kletterte auf den Fahrersitz. »Alles okay?« Harry, der kalt war, zitterte, als sie den Motor anließ. Sie winkte Susan zu, die den anderen zurück in Mims Haus folgte. Ned und Jim aber gingen mit Arch in den Stall, zweifellos, um ihn zu säubern. Zudem wirkte der erzwungene Marsch beruhigend auf Arch. »Mein Absatz ist abgebrochen.« Harry grinste, von ihrem nassen Kopf lief ihr das Wasser ins Gesicht. »Eine wahre Tragödie.« Sie nahm Fairs geschwollene Hand. »Tut's weh?« Sie sah, dass auch seine linke Wange knallrot war. »Ich packe sie in Eis, wenn wir nach Hause kommen.« Er sah an seinem Anzug herunter. »Mein neuer Schlips ist ruiniert.«
»Das kann ich beheben, sobald er trocken ist.« Sie fragte ihn wohlweislich nicht, worum es bei dem Streit gegangen war, 129
denn das würde ihn nur von neuem wütend machen. Mit der Zeit würde er sich beruhigen, und sie würde es erfahren. In der Fahrerkabine war es jetzt warm, weil der Motor lief. Harry, die wegen des unverminderten Regens langsam fuhr, schaffte es in einer halben Stunde nach Hause. Gewöhnlich dauerte es zehn Minuten. Sie zogen sich auf der umzäunten Veranda aus; der Schieferboden unter ihren Füßen war kalt. Zitternd hängte Harry Fairs durchnässte Krawatte an einen Haken. Dann stürmten sie in die Küche. »Wie zwei gebadete Mäuse.« Pewter schlug auf ihrem Lager ein Auge auf. Fair sauste ins Badezimmer und kam mit zwei großen Badehandtüchern zurück. Er wickelte eins um Harry und eins um sich. Harry sagte übermütig: »Schatz, dein Teil sieht irgendwie eingelaufen aus.« Zähneklappernd brachte er hervor: »In der Kälte ziehen Sachen sich eben zusammen.« »Das kann ich beheben.« Lachend machte sie den Kühlschrank auf, holte Eis heraus und gab es in eine Schüssel. »Zuerst kümmern wir uns mal um deine Hand.«
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as Unwetter hatte die Luft gereinigt. Bei Sonnenaufgang färbten die Berge
sich rot, dann rosa und schließlich golden. Die Bäume auf den Gipfeln schlugen aus. Der Frühling schritt voran. Auch Mrs. Murphy schritt voran. Sie ging gern allein auf die Jagd. Pewter maulte, je weiter sie sich vom Haus entfernten, deswegen stürzte sich die Tigerkatze auf Feldmäuse, ohne dass diese durch die greinende Graue vor kätzischer Anwesenheit gewarnt wurden. J129
Sie gelangte an den Zusammenfluss der zwei Bäche, Potlicker Creek und Harrys Bach. Eine von einem Bären aufgeschlitzte Eiche diente als gesplitterter Wachtposten. Der starke Regen hatte Blüten von Bäumen und Sträuchern gefegt, aber auch die Kiefernpollen heruntergeworfen, eine Erleichterung für alle, die an Frühjahrsallergien litten. Mrs. Murphy sah gelbe Pollenklumpen im Bach treiben. Sie spähte zu einer tiefen Stelle hinunter, wo das von dem starken Regen angeschwollene Wasser dem Ufer gefährlich nahe kam. Sie hätte gern Fische, Schildkröten und Krebse beobachtet, doch die Strömung und der Schlick verhinderten es.
Sie lief am Ostufer entlang. Trotz der Biberdämme und -baue, die teils von dem im Wasser treibenden Schutt zerstört waren, konnte sie den Bach nicht überqueren. Machte aber nichts. Auf dieser Seite des Baches gab es Beute satt. Uber ihr flogen zwei Trauertauben. Die Sonne stieg höher. Plattgesicht, die große Ohreule, schwebte leise zum Stall. Der mächtige Vogel senkte kurz die Schwingen zum Gruß, als Mrs. Murphy zu ihr hochsah, und setzte ihren Weg fort. Mrs. Murphy achtete Plattgesicht wegen ihres jägerischen Geschicks und ihres Verstandes. Gute Jäger hatten gewöhnlich Respekt voreinander, Menschen eingeschlossen. Die schlechten schadeten leider dem Ruf aller. Eine kleine Welle platschte krachend ans Ufer. Die Katze sprang hoch, kehrte um und trabte weg vom Bach. Sich auf Weiden und durchweichter Erde die Pfoten nass machen ging ja noch an, aber vom Bach nass gespritzt werden, das wollte sie nun doch nicht. Als sie zu den hinteren Weiden der Farm wanderte, glaubte sie auf der anderen Bachseite einen Motor zu hören. Das Wasser dämpfte das Geräusch. Sie blieb stehen, lauschte, spurtete dann direkt zu dem alten Hickorybaum in der Mitte der hinteren Weide. Sie sprang an der schrundigen Rinde hoch, senkte die Krallen hinein und kletterte geschwind nach oben. Sie strengte sich an, um etwas zu hören. Die Erhebung am Westufer versperrte den Blick auf die Farmstraße. Was sie hörte, war ein Transporter, ganz bestimmt. Sie war enttäuscht, 130
als der Motor abgestellt wurde. Nach zehn Minuten wurde er wieder angelassen, und der Wagen fuhr in einem niedrigen Gang davon. Wer auch immer auf dem Jones-Land gewesen war, er hatte sich nicht lange aufgehalten. Mrs. Murphy kletterte den Hickorybaum wieder herunter. Im Stall stieg sie auf den Heuboden, wo Simon schlief. Aus seiner langen Nase kam leises Schnarchen. Sie sah, dass die Kinnkette auffällig präsentiert war. Simon liebte seine gestohlenen Schätze über alles. Sie tappte über den Boden, der zur Hälfte frei und sauber gefegt war; die andere Hälfte nahm eine hochwertige Mischung aus Luzerne und Obstwiesengras ein. Harry hielt hier oben immer gutes Futter vorrätig für den Fall, dass ein Tier in der Box bleiben musste. Zum Glück waren alle Pferde unkompliziert und brauchten keine ausgefallenen Kommixturen. Ein, zwei Kellen Presshafer, mit melassehaltigem Zusatzfutter vermengt, stellte alle zufrieden. Simon mochte Hafer auch gern und futterte eifrig, was die Pferde mitsamt getrockneten Melassebröckchen fallen ließen. Nachdem Harry sich die Hand nass gemacht hatte, warf sie eine kleine Handvoll Melasse hin, falls ein Tier mäkelig war. Das kam immer gut an. Mrs. Murphy atmete den scharfen Geruch eines Arbeitsschuppens ein, den besten Duft der großen Welt. Sie kam an Matilda vorbei, der gewaltigen Kletternatter, die
sich in ihrem Loch in einem Heuballen zusammengeringelt hatte. Mrs. Murphy machte einen großen Bogen um Matilda und ihren Heuballen. Dieses Jahr schienen ihre Eier neben ihrer eigenen Schlangenbehausung dicker zu sein als voriges Jahr. Wie die meisten Farmer wusste Harry, dass, von den Haustieren abgesehen, Eulen, Kletternattern, Fledermäuse, Honigbienen, Gottesanbeterinnen, die meisten Spinnenarten, Schwalbenschwänze und Purpurschwalben ihre besten Freunde waren. Diese Geschöpfe befreiten das Gelände von Ungeziefer, seien es kleine Nagetiere oder Insekten. Die Bienen dienten der Befruchtung. Vielfalt beruht auf Bienenflügeln. 131
Mrs. Murphy kam mit den meisten dieser Geschöpfe gut aus, aber Matilda war ihr unheimlich. Sie sprang von einem Heuballen zum anderen, bis sie ganz oben auf dem sorgfältig aufgetürmten, süß duftenden Stapel war. »Schläfst du schon?« »Wie denn, bei deinem lauten Mundwerk.« Plattgesicht schaute grimmig zu ihr hinunter. »Hast du Eier da oben?« Mrs. Murphy liebte Eulenkinder. »Nein. Ich kann mehr als einmal im Jahr Babys haben. Ich werde eine wilde Brut aufziehen, wenn ich so weit bin.« »Richtig, diese Dinge soll man planen«, pflichtete Mrs. Murphy ihr bei. Sie hütete ein großes Geheimnis: Als Harry sie vor ein paar Jahren fortbrachte, um ihr die Eierstöcke entfernen zu lassen, hatte die Tierärztin - natürlich nicht Marty - die falsche Katze behandelt. Aber man hatte ihr den Bauch rasiert, bevor die Patienten verwechselt wurden, beides Tigerkatzen. »Das ganze Zeug, das Harry angepflanzt hat, wird fliegendes und krabbelndes Ungeziefer von weither anlocken. Allein die Trauben werden die Tagvögelmästen. Und warte erst, bis die Sonnenblumen die schweren Köpfe heben; ist zwar noch 'ne Weile hin, aber die Kerne locken Insekten und böse Vögel an. Wir beide wissen, wer die bösen Vögel sind. Da wird es viel zu tun geben.« Plattgesicht hatte das Thema Nachwuchs vergessen. »Ich dachte, du gehst nachts auf die Jagd.« »Wenn tagsüber was Appetitliches auftaucht, lass ich mich gern wecken.« Sie lachte ihr tiefes »Huhuhuhu«. »Die Krähen werden uns zu schaffen machen.« »Du und Pewter werdet wissen, was ihr da zu tun habt. Sie sind sehr intelligent. Das muss man ihnen lassen.« Mrs. Murphy meinte naserümpfend: »Pewter hat ein Durchhaltevermögen wie eine Mücke. Schlimmer noch, sie ist von dem Blauhäher besessen.« »Ein eingebildeter Vogel, der berauscht ist von seinem Gefieder und seinem Schopf.« Plattgesicht seufzte, dann wechselte sie das Thema. »Ich gedachte heute früh was Delikates aufzupicken, sobald das Unwetter vorbei war, aber meine Proteinquellen halten sich noch versteckt.« 131
Mrs. Murphy schnitt das Thema an, das sie unbedingt besprechen wollte. »Du bist nicht zufällig über den Pfirsich garten geflogen?« »Doch.« »Ich hab einen Wagen gehört, etwa fünf Minuten, bevor ich dich gesehen habe. Hast du den gesehen? Oder wer drin saß?« » Weißer Transporter mit einer aufgemalten goldenen Lilie.« »Hy Maudant!«, rief Mrs. Murphy aus. Am selben Tag landeten die endlich ausgedruckten Daten von Tobys Computer mit einem Plumps auf Rick Shaws Schreibtisch. Cooper sah auf. »Können Sie sich vorstellen, wie viele Bäume dafür sterben mussten?« »Sehr komisch.« Rick seufzte und zündete sich eine Camel an, ungeachtet der »Rauchen verboten«-Schilder, die sich die Bezirksregierung gezwungen sah, in jedem Bezirksregierungsgebäude anzubringen. »Ich helfe Ihnen.« Cooper rollte ihren Stuhl neben seinen. Sie fingen an zu lesen. »Lauter chemische Gleichungen«, murmelte Rick. »Bodenzusammensetzung, Zuckergehalt der Trauben und so weiter.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Rick erstaunt. »Hatte organische Chemie auf dem College belegt.« »Warum?« Er war fassungslos. »Hat mir gefallen.« »Ich dachte, so was belegt man nur bei Todesstrafe oder um Medizin zu studieren.« »Ich hab immer gewusst, dass ich in diesen Beruf wollte. Ich dachte, es würde mir helfen, toxikologische Berichte und dergleichen zu verstehen. Tut's auch.« »Irgendwas Ungewöhnliches?« »Eigentlich das, was man sich von Toby erwartet hätte.« Der unverwechselbare, verlockende Tabakduft verleitete sie, eine Camel von Rick zu schnorren. Ricks Telefon klingelte, er nahm ab, hörte zu, legte auf. »Die 132
Ballistik. Die Kugel in Professor Forland wurde aus Tobys Pistole abgefeuert.« Cooper war einen Augenblick verblüfft, dann sagte sie: »Tja, eigentlich nicht das, was man sich von Toby erwartet hätte.«
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ags darauf wehte der Wind von Nordwesten, und es kühlte erheblich ab.
Morgens um halb elf zeigte das Thermometer neun Grad. Harry und BoomBoom spazierten durch die kleinen Sonnenblumenschösslinge, die Rebstöcke, an denen sich winzige Punkte zeigten, und die Heuwiesen. Beide Frauen trugen Segeltuchjacken. BoomBoom drehte dem Wind den Rücken zu. »Mai.« »Wenigstens sind wir nicht in Utah. Da schneit's.« Harry war froh, dass sie Handschuhe angezogen hatte. Tucker trottete mit, aber die Katzen hielten die mollig warme Küche für den einzig wahren Aufenthaltsort.
Prachtvolle, gigantische Kumuluswolken wälzten sich majestätisch am Himmel. Von weiß über cremefarben bis taubengrau, mit Schiefergrau durchzogen, reichte ihre Farbskala. »Sieht ganz danach aus, dass es später regnen wird.« Boom-Boom schlug ihren Jackenkragen hoch. »Wer gern das Wetter beobachtet, dem wird es in Mittelvirginia bestimmt nicht langweilig.« Sie ging weiter die Reihe mit italienischen Sonnenblumen entlang. »Die kleinen Schösslinge halten die Kälte aus. Sonnenblumen sind widerstandsfähig.« »Wir auch.« Harry lächelte. »Schade, dass du nicht auf Mims Party warst.« »Find ich auch. Alicia und ich waren in Richmond auf einer Benefizveranstaltung für den Pferdezuchtverein.« Sie holte ihre Handschuhe heraus, weil der Wind stärker wurde. »Spendensammeln ist das Zweitälteste Gewerbe.« 133 »Ohne die Freuden des ältesten.« Harry trat übermütig gegen einen kleinen Erdklumpen. »Meinst du, die haben da wirklich Spaß dran?« Harry zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Job. Ich nehme an, es gibt hier und da erfreuliche Momente. Die Menschen bleiben gewöhnlich nicht bei einer Tätigkeit, die sie hassen.« »Ich weiß nicht. Ich fälle kein Urteil, bewahre, aber ich weiß nicht. Vermutlich besteht eine gewisse Macht über Männer, aber auch Widerwillen. Ihre Gier ist so zügellos; die Männer sind so verrückt danach.« »Ja. Aber ich glaube, wir haben dasselbe Bedürfnis nach Sex, bloß wird uns beigebracht, es zu unterdrücken.« »Manche Frauen unterdrücken es so stark, dass es verschwindet.« BoomBoom fuhr mit der Hand durch die Luft. »Je älter ich werde, Harry, desto mehr weiß ich über manche Dinge Bescheid und desto weniger über andere. Wenigstens habe ich gelernt, keine großen Ergüsse von mir zu geben, außer wenn es um Pferde geht.« »Ich höre.« »Immer wenn ich bezweifle, dass es einen Gott gibt, schaue ich Pferde an.« BoomBoom blickte auf ihre Fohlen mit ihren Müttern. Harry strahlte. »Corgis nicht zu vergessen.« Lachend gingen die zwei Frauen zum Stall. Die Aste an den Bäumen wiegten sich im Wind, die Vögel wagten sich nicht weit fort. »Dann hast du ja noch gar nicht gehört, was auf der Judasbaum-Party passiert ist?« Harry genoss es, BoomBoom auf die Folter zu spannen. »Nein.« BoomBoom blieb stehen und sah Harry an. »Was hab ich verpasst?« »Hier kommt die Schlag-auf-Schlag-Schilderung.« Harry lachte über ihre Formulierung, dann legte sie los. Als sie fertig war, sagte BoomBoom mit leicht erhobener Stimme: »Du bist gemein. Du hättest es mir sofort erzählen können, als ich aus dem Wagen gestiegen bin.« 133
»Warten macht viel mehr Spaß. Ich wusste, dass niemand mit dir gesprochen hatte, sonst hättest du was gesagt.« »Muss ich betteln, um zu erfahren, worum es bei der Schlägerei ging?« »Nein. Ich musste bis heute Morgen warten. Fair wird nicht oft wütend, aber wenn, dann braucht er eine Weile, bis er sich beruhigt. Wie es so weit kam mit den beiden, weiß ich nicht. Fair sagt nur, dass Arch zu ihm gesagt hat, er hat mich nicht verdient. Fair hat ihm zugestimmt. Dann hat Arch gesagt, Fair würde mich wieder betrügen, und die Redensart wiederholt, die wir alle kennen: >Keiner kann aus seiner Haut.< Fair hat gesagt, das kommt nie wieder vor. Arch hat was Schlimmeres gesagt. Was, weiß ich nicht, aber Fair hat gesagt, >Fick dich doch selbst, denn meine Frau wirst du nicht ficken.«< BoomBoom stieß erstaunt hervor: »Das hat Fair gesagt? Sieht ihm gar nicht ähnlich.« »Ich war auch schockiert.« »Kann ich mir denken.« »Ziemlich peinlich, das alles. Fair ist gestern Morgen früh weggegangen, um Big Mim zu besuchen. Er hat auch einen großen Blumenstrauß geschickt. Hinterher hat er mich angerufen. Mim war natürlich die Liebenswürdigkeit selbst. Tante Tally war noch da. Sie ist bei dem schrecklichen Regenwetter nicht nach Hause gefahren. Sie hat Fair einen Kuss gegeben und gesagt, sie hätte sich seit Jahren nicht so amüsiert, und es sei vollkommen richtig von ihm gewesen, die Ehre seiner Frau zu verteidigen.« »Was hat Arch denn gesagt?« »Das wollte Fair mir nicht erzählen, aber ich hab Tante Tally heute Morgen auf ihrem Handy angerufen. Von Bo, der beim Couchtisch stand, als alles anfing, hat sie gehört, dass Arch gesagt hat« - Harry hielt inne, die Röte stieg ihr in die Wangen -, »ich war die Beste, die er je im Bett hatte. Fair hätte mich nicht verdient.« »Das hat er gesagt?« BoomBooms Augenbrauen schnellten aufwärts. Harry zuckte mit den Schultern. »Muss wohl.« 134 Sie schwiegen eine Weile, als sie sich dem Stall näherten. »Und, bist du's? Die Beste im Bett?« »Boom, das weiß ich nicht.« »Was ich alles über dich erfahre.« »Und du bist natürlich eine Heilige.« »Das hab ich nicht gesagt«, erwiderte die große Blondine. Harry lachte laut los. BoomBoom lachte auch. »Weißt du was, es ist nicht der Sex mit Männern, der mich langweilt. Es ist ihre ständige Sorge deswegen. Das finde ich anstrengend und ermüdend.« »Ja, aber sie können den Schwengel nicht immer kontrollieren. Der steht im falschen Moment, fällt im falschen Moment. Sogar wenn ein Mann endlich die Frau seiner Träume kriegt, ist auf sein Ding nicht hundertprozentig Verlass.« »Na und?« BoomBoom hatte kein Mitgefühl.
»Hey, stell dir mal vor, deine Brüste würden sich manchmal mit deinem Willen, manchmal gegen deinen Willen aufstellen und absacken.« BoomBoom blickte auf ihr prachtvolles Zubehör. »Lieber Gott, eine grässliche Vorstellung.« »Ständige Sorge. Ich schließe den Beweisvortrag ab.« Harry grinste triumphierend. BoomBoom lachte. »Bin ich froh, dass wir lachen können, trotz allem, was zurzeit los ist.« Sie atmete tief durch. »Hast du noch mal mit Bill Moses gesprochen, wegen der Zwergzikaden?« »Ja. Er sagt, das ist abstrus. Sie können einen Winter in Virginia nicht überleben. Und, ich zitiere, >sollten sie Ihre Rebstöcke infizieren, wird der Schaden minimal sein, weil sie beim ersten Frost absterben werden.< Ich hab ihn nach dem Vaskularschaden gefragt - ich hoffe, das ist das richtige Wort, also das sind die kleinen Pflanzenadern, die die Nährstoffe transportieren. Bill hat erklärt, die Zikaden können in dem kurzen Sommer, den sie leben, keinen großen Schaden anrichten. Ich hoffe nur, dass er recht hat. Und er hat mich daran erinnert, dass nicht alle Zwergzikaden infiziert sind.« »Wir haben heute keine an deinen Stöcken gesehen.« 135
»Der Wind weht alles weg. Ich bin ein bisschen besorgt. Auch wegen meiner Alverta-Pfirsiche.« »Alle anderen konzentrieren sich auf Reben«, erwiderte BoomBoom. »Hey, wenn ich Onologie sage, wenn es Vitikultur heißen muss, gucken die alten Kenner mich scheel an.« Harry lächelte matt. »Erklär's mir. Ich sollte es wissen, weiß es aber nicht«, bat BoomBoom. »Vitikultur ist der Rebenanbau. Onologie ist die Weinbaukunde. Die sollen sich nicht so anstellen, verdammt und zugenäht.« Harry hob die Hände. »Eindringling!«, warnte Tucker. Die Frauen kamen gleichzeitig mit Arch beim Stall an. Er stellte den Dieselmotor seines Dodge ab und stieg aus. »Harry, BoomBoom, hi.« Er pflanzte sich breitbeinig vor ihnen auf, die Schäfte seiner alten Cowboystiefel warfen Falten. »Harry, ich entschuldige mich. Ich hab mich bei Fair entschuldigt. Ich war vollkommen von der Rolle. Ich rechtfertige mich nicht, aber«, er schüttelte den Kopf, sein Gesicht drückte Verwirrung aus, »ich hatte wohl gedacht, ich wäre über dich hinweg. Aber als ich dich nach vier Jahren wiedersah, na ja, es ist wohl doch noch viel Gefühl übrig, und da hab ich's an Fair ausgelassen. Es tut mir echt leid.« »So was ist nicht leicht.« Harry nahm seine Entschuldigung stillschweigend an. Er atmete durch die Nase aus. »Ich muss zurück. Rollie hält mich an der kurzen Leine.« Er lächelte wehmütig. »Er hat von den Zwergzikaden gehört, daraufhin haben wir jedes einzelne Blatt untersucht... und das war auch richtig so.« BoomBoom fragte: »Meinen Sie, die können hier großen Schaden anrichten?«
»Keine Ahnung. Ich will's nicht hoffen. Schwierigkeiten in der Branche sind das Letzte, was wir gebrauchen können, gerade jetzt, wo der Erfolg sich einstellt. Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist, ob sie wegen der zunehmenden Erderwärmung mutiert sind, oder ob sie weiterziehen.« Er stieg in die hohe Fahrerkabine, schloss die Tür, lehnte sich aus dem Fens 136
ter. »Ich werd's wieder gutmachen, Harry. Oh, du hast die Zwergzikaden an deinen Pfirsichen gefunden, stimmt's?« Sie nickte, und er fragte: »Alles in Ordnung?« »Ich denke schon.« »Schön.« Er winkte und fuhr los. Als er durch die Zufahrt zurückfuhr, betrachtete Harry die Abgase, die seinem Auspuffrohr entströmten. »Ganz schön mutig, hier aufzukreuzen.« In der Sattelkammer angekommen, setzte BoomBoom sich hin. »Ich dachte, Toby war übergeschnappt. Jetzt frag ich mich, was mit Arch los ist. Nicht, dass er sich nicht hätte entschuldigen sollen.« »Zittrig. Nervös. Alle sind aus dem Gleichgewicht.« Tucker ließ sich wie ein Stein auf die alte Pferdedecke auf dem Boden fallen, die eigens für sie da lag. »Er hat Angst. Ich rieche es.« Harry deutete das Kläffen als Bitte um ein Leckerli und gab Tucker eine gedrehte Kaurolle. Danach ließ sie sich Boom-Boom gegenüber auf den Regiestuhl fallen. »Dass es nicht gut steht, merke ich auch daran, dass Coop sich kaum noch blicken lässt. Sie macht Überstunden und sagt nicht viel. Ich melde mich jeden Tag bei ihr.« »Hat sie mit Herb gesprochen?« Harrys Miene hellte sich auf. »Ja. Hab vergessen, es dir zu erzählen. Er hat ja gesagt. Sie zieht ein, sobald sie einen Tag freikriegen kann. Da gibt es ja so viel Kleinkram zu erledigen -Strom, Telefon ummelden, der ganze Mist.« »Eines Tages werden wir keine Kabel mehr brauchen. Wir haben eine einzige Telefonnummer, und daran ist alles angeschlossen«, prophezeite BoomBoom. »Meinst du?« »Ja.« Sie fing unversehens zu singen an: »I've got your number.« »Du bist genauso plemplem wie die anderen.« Harry lachte ein echtes tiefes Stressablade-Lachen. »Ich bin nicht verrückt, Schätzchen, nur abgehoben. Kann ich in schwierigen Zeiten wärmstens empfehlen.« 136
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echte Schläfe. Sauber getroffen. Kein Abschiedsbrief.« Rick informierte
Cooper, als sie die Tinsley-Straßenkreuzung knapp fünf Kilometer von White Vineyards entfernt erreichten.
Sie ging zu dem Wagen. Hy saß aufrecht hinterm Steuer, sein Kopf war weit nach hinten gesackt, der Adamsapfel stand vor, die 22er-Pistole lag in seiner rechten Hand. Von dem Pulverbrand an der rechten Schläfe ging ein Geruch nach versengtem Fleisch und Haar aus, aber der Einschuss war relativ sauber. Der Austritt war grauslicher, auf dem Sitz waren Gehirnfetzen und pulverisierte Knochenteilchen zu erkennen. Mehrere Flecken klebten am Fenster auf der Beifahrerseite, aber der Anblick war nicht abstoßend. Coop hatte schon richtig groteske Leichen gesehen. Sie ging um den Lieferwagen herum. Auf der Ladefläche lagen eine kleine Schachtel mit Kordel und eine kleine Schachtel mit Fliegenfängern. In einem Taschenbuch über Insekten war eine Seite umgeknickt. Coop schlug die Seite mit der Klinge ihres Taschenmessers auf. Es war die Fotografie einer Zwergzikade. Coop kniete sich hin, drehte sich auf den Rücken und schob sich hinter den Wagen. Als sie wieder hervorkroch, war ihr feuchter Rücken mit den zerstoßenen Steinen des Straßenbelags gesprenkelt. Die Straßenbettung war noch feucht von dem heftigen Unwetter am Sonntag. Cooper ging wieder zu Rick. »Wie lange kann es dauern, bis die Fingerabdruckleute hier sind?« »Fünfzehn Minuten. Ich habe sie vor einer halben Stunde angerufen. Im Augenblick herrscht reger Verkehr.« Er wischte ihr den Rücken ab. »Er ist nicht in tiefem Matsch gefahren, es ist aber Matsch am Unterboden.« Dann fragte sie: »War der Motor abgestellt?« »Ja. Sieht alles wohlüberlegt aus.« Rick zündete eine Zigarette an und reichte sie Coop, um ihr den ersten Zug zu gönnen. 137
»Danke.« Sie inhalierte und gab sie ihrem Chef zurück. »Wer hat ihn gefunden?« »Bo Newell. Er hat die Belgier herumgefahren. Vermute, die werden hier nichts kaufen. Ich hab sie weggeschickt. Mit Bo unterhalte ich mich später.« »Körpertemperatur?« »Im Moment um die fünfunddreißig, bisschen drüber oder drunter.« Gleich als Rick hinkam, hatte er Latexhandschuhe angezogen und den Puls gefühlt. »Die meisten Leute werden dies als Beweis seiner Schuld sehen.« Rick sah einem blauen Rauchkringel zu, der leicht aufstieg und sich dann flachlegte, was erkennen ließ, dass der Luftdruck sank und es später vermutlich regnen würde. »Ich bemühe mich, nicht zu lachen, wenn ich den Klatsch höre. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie verzweifelt die Menschen glauben wollen, wie dringend sie eine Antwort wollen, dass sie aber nichts dafür tun wollen?« »Deswegen werden wir vom Bezirk bezahlt. Wir müssen was dafür tun. Unterdessen können die sich zurechtlegen, was sie wollen. Sie werden nicht verantwortlich gemacht.« »Meinen Sie, er war verantwortlich?« Coop nickte kurz zu Hy hinüber.
»Selbstmord? Ob er auf diese Weise dafür geradegestanden hat?« Rick verschränkte die Arme. »Wäre logisch.« »Wollen Sie diesen Fall als Selbstmord behandeln?«, fragte Coop. Er erwiderte mit hochgezogenen Augenbrauen: »Was meinen Sie?« Sie wartete, sah zu Hy, dann wieder zu Rick. »Nee.« »Verdammt richtig. Ich behandle den Fall als ungeklärte Todesursache.« »Zu viele Verdächtige, zu große Nähe.« »Ich höre, wie die Rädchen sich drehen.« Rick wies mit dem Zeigefinger auf sie. »Tun sie, Chef, aber ich brauche einen Anstoß.« »Eins wissen wir: Jeder, der Professor Forland oder Toby umgebracht haben könnte, hat kein hieb- und stichfestes Alibi.« Er 138
tappte mit der Schuhspitze auf den Straßenbelag. »Fair hat für Forland ein Alibi. Er lag im Bett und schlief. Harry kann das bezeugen. Toby und Arch haben oder hatten niemand, der sie bezüglich ihres Aufenthalts mitten in der Nacht entlasten könnte. Rollie hat Chauntal. Allerdings, um ihre Männer zu schützen, können Ehefrauen natürlich lügen und tun es auch. Was Tobys Ermordung angeht, sprechen alle Anzeichen für Hy, aber wir können Fair nicht ganz ausschließen.« »Ich glaube, Fair war vor Ort, weil Toby wegen Jed angerufen hatte. Hier fehlt uns ein dicker Brocken.« »Ja, ich weiß. Und jetzt die Zikaden.« Er nickte zum Wagen hinüber. »Die Fliegenfänger?« »Coop, wir sind bei diesem Mann nahe dran. Richtig nahe, wenn wir nur das richtige Puzzleteil finden.« »Rechtzeitig«, antwortete sie grimmig. »Daran hab ich auch gedacht.« »Ein Anstoß.«
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iona hatte sich tapfer gehalten, als ihr Mann des Mordes bezichtigt wurde. Jetzt
beugte sie die drückende Last seines Todes. Rick schilderte umsichtig das Geschehen und die Tatsache, dass der Pistolenschuss womöglich selbst beigebracht worden war. Cooper stand, wie es ihre Gewohnheit war, still neben Rick, machte sich aber im Geiste Notizen. Sobald sie wieder im Streifenwagen saß, würde sie alles aufschreiben. Gewöhnlich hatte sie ihren Block bei sich, aber unter diesen Umständen hätte es kaltblütig ausgesehen. »Hy hätte nie Selbstmord begangen. Er ist katholisch.« Schluchzend hielt Fiona das bestickte Taschentuch an die überfließenden Augen. 138
Viele Katholiken hatten sich im Laufe von zwei Jahrtausenden umgebracht, aber weder Rick noch Cooper hielt es für klug, das zu erwähnen.
Dass Fiona nicht zusammengebrochen war, beeindruckte die zwei Gesetzeshüter. Infolge der Ereignisse hatte sie ein paar Pfund abgenommen, aber ihr hageres Gesicht hatte Spuren einer reifen Schönheit bewahrt. »Ist Ihnen die letzten Tage etwas Außergewöhnliches aufgefallen?« Rick seufzte. »Sie und Hy standen unter einem zermürbenden Druck.« Ihre blutunterlaufenen Augen suchten seinen Blick. »Glauben Sie immer noch, Hy hat Toby umgebracht?« »Ich muss mich an die Tatsachen halten. Hy war beim Tod von Toby Pittman unser Hauptverdächtiger.« Coop warf ein: »Etwas Schreckliches geht vor, und aus welchem Grund auch immer, es geschieht unter denjenigen, die über hochspezifische Kenntnisse bezüglich Krankheiten bei Wein und anderen Pflanzen verfügen.« Fiona wischte sich die Augen, holte tief Luft. »Die Weinproduktion war seine Leidenschaft. Er hat sich gestern im Coop mit Rollie Barnes über den Einsatz von Maschinen zur Entstielung der Trauben gestritten. Sie hatten sich zufällig in der Cafeteria getroffen. Die Leute, auch Rollie, haben uns geschnitten, daher war Hy besonders empfindlich. Ich weiß nicht mal, wie sie ins Reden gekommen sind, aber Hy hat die Beherrschung verloren und erklärt, die einzig wahre Methode wäre, die Trauben von Hand zu entstielen. Keine einzige schlechte Traube dürfe in den Korb fallen. Das geschieht aber bei maschineller Entstielung. Hy ist fuchsteufelswild nach Hause gekommen, weil es offensichtlich in eine richtige Anbrüllerei ausgeartet ist. Er denkt, alle sind gegen ihn.« Es folgte eine lange Pause. »Waren sie auch.« »Es tut mir schrecklich leid, Fiona«, sagte Coop besänftigend. »Sheriff, Deputy, ich weiß, dass mein Mann Toby Pittman nicht umgebracht hat. Sicher, eine Ehefrau gilt unter diesen Umständen nicht als gute Advokatin, aber das Letzte, was ich 139
für Hy tun kann«, es schnürte ihr die Kehle zu, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt, »ist, seinen Namen reinzuwaschen, und bei Gott, das werde ich.« »Wollen wir nicht warten, bis Alicia kommt?«, schlug Puck vor; denn er wollte sie nicht allein lassen. Weil sie wusste, dass die Maudants keine Kinder hatten und relativ neu in Crozet waren, hatte Coop auf dem Weg zu White Vineyards vorsorglich Alicia angerufen. Alicia und Fiona waren befreundet. Alicia ließ alles stehen und liegen, und Rick und Coop erwarteten sie jeden Moment. Beim Geräusch des Land Cruisers in der Zufahrt durchlief Cooper eine Welle der Erleichterung. Alicia würde wissen, was zu tun war. Bevor die schöne Frau zur Tür hereinkam, fragte Fiona: »Wann kann ich seinen Leichnam haben?« Rick sagte mit leiser Stimme: »Ich lasse die Autopsie noch heute vornehmen. Ich rufe Sie an, sobald es erledigt ist. Sie verstehen doch, dass das sein muss?«
»Ja, das verstehe ich.« Sie setzte sich aufrecht hin, sprach bedachtsam: »Ich möchte Ihnen beiden versichern, dass mein Mann nicht Selbstmord begangen hat.« Alicia kam, ohne anzuklopfen, herein, grüßte den Sheriff und die Polizistin im Vorbeigehen und trat zu Fiona. Sie beugte sich zu ihrer Freundin herunter und umarmte sie, und da brach Fiona zusammen. Als Fionas Schluchzen nachließ, setzte Rick Alicia von der Verfügung über den Leichnam ins Bild. Alicia hielt Fionas Hand. »Ich kümmere mich um alles Nötige.« »Fiona, bitte verzeihen Sie, dass ich Sie bedränge, aber es ist unerlässlich. Wir müssen Hys Papiere und die Daten in seinem Computer durchsehen.« »Muss das jetzt sein?«, fragte Alicia für ihre Freundin. »Ja. Alicia, wenn es kein Selbstmord war, sind vielleicht andere in Gefahr«, erklärte Rick. Fiona gab nickend ihre Zustimmung. »Ist sie in Gefahr?«, fragte Alicia. 2IO
»Und wenn schon, es ist mir egal«, brauste Fiona auf. »Sollen sie kommen und mich umbringen. Ich will nicht ohne Hy leben. Es ist mir egal!« »Sie müssen so lange leben, bis Sie seinen Namen reingewaschen haben«, erinnerte Coop sie ruhig. Fiona blinzelte, nickte und sagte: »Sie haben recht.«
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n Hy Maudants Trauerfeier an diesem Freitag, einer nüchternen
Angelegenheit, nahmen fünfundzwanzig Personen teil. Die St. Lukaskirche wirkte wie eine große Höhle, mit so wenigen Trauernden in den Bänken, doch Reverend Jones zeigte sich der Lage gewachsen. Er wollte einem Mörder kein Loblied singen, ihn aber auch nicht verdammen. Zwar wusste Herb nicht bestimmt, ob Hy Toby umgebracht hatte, aber er fand die Beweise gegen ihn erdrückend. Wie auch immer, der christliche Gott ist ein barmherziger Gott, und Herb wollte Fiona trösten und dem Verstorbenen einen Schimmer von Würde lassen. Immer, wenn er vor einem verzwickten Problem stand, nahm Herb Zuflucht zu den Psalmen. Er las aus dem 25. Psalm: »Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich aus meinen Nöten. Sieh an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden.« Als der Gottesdienst zu Ende war, wurde der Sarg von vier Männern des Beerdigungsinstituts sowie von Fair Haristeen und Jim Sanburne hinausgetragen. Von Alicia und BoomBoom gestützt, folgte Fiona dem Sarg ihres Mannes zu dem glänzenden schwarzen Katafalk. Weil sie sich bewusst war, dass aller Blicke auf ihr waren, hielt sie den Kopf hoch.
Abgesehen von den Sargträgern, wohnten acht Personen der Beerdigung bei: Harry, BoomBoom, Alicia, Susan, Miranda, Tracy, Little Mim und Tante Tally. Auf dem Weg zum traditionellen Beisammensein in Fionas Haus wartete Tante Tally auf Harry, um mit ihr zusammen zu gehen. »Tante Tally.« Harry hakte die alte Dame an ihrem freien Arm unter. Mit der anderen Hand hielt Tally ihren Stock. »Wr hätten es besser machen können«, murmelte die bald Hundertjährige vor sich hin. »We bitte?« Harry neigte ihr Ohr näher zu Tante Tally hin. »Crozet hätte sich Fiona gegenüber besser benehmen sollen. Was Hy getan hat, ist mit ihm begraben. Kein Grund, seine Witwe zu bestrafen.« »Sie haben recht.« Harry machte kleinere Schritte. »Ich habe ein schreckliches Gefühl, Tante Tally.« »Haben wir alle, meine Liebe.« »Nicht nur wegen Hys Tod. Wegen allem hier. Normalerweise kann ich die Dinge zusammenfügen. Auch wenn ich nicht das ganze Puzzle zusammenkriege, bin ich doch nahe dran und habe am Ende eine Lösung. Aber diesmal bin ich blind.« »Ein unbehagliches Gefühl.« Tante Tally nickte. »Ich glaube, so geht es uns allen, Harry. Es ist nicht nur die Erschütterung über seinen Tod oder die instinktive Ablehnung der anderen, es ist, weil wir nicht begreifen, warum.« Sie blieb stehen, löste ihren Arm von Harrys, um beide Hände auf den silbernen Jagdhundkopf ihres Ebenholzstocks zu legen. »Merken Sie sich das, Harry, ich bin fast hundert, und ich sage Ihnen aus der Fülle meiner Jahre: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Wir haben neue Techniken, aber nichts ist neu in der Natur des Tieres namens Mensch.« »Das glaube ich«, warf Harry ein, während Tante Tally tief Atem holte. »Sie haben einen Knobelverstand - ich meine, Sie können Dinge oft ergründen, weil Sie nicht dadurch behindert sind, dass Sie die Dinge so sehen, wie Sie sie sehen wollen. Das ist eine große Gabe. Ihr Großvater hatte sie ganz entschieden, was mit dazu beitrug, warum ich mich in ihn verliebt habe.
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Ihre Mutter hatte sie auch, und Menschen mit dieser Gabe kommen oft mit denen in Konflikt, die die Welt durch eine rosarote Brille sehen wollen. Benutzen Sie Ihren scharfen Verstand, um zu fragen: >Warum töten Menschen?«< »Aus Liebe, Geld, Macht.« »Genau. Ich fuge noch Rache hinzu, und um sich selbst zu schützen.« Als sie ihren Weg zu dem eleganten Haus fortsetzten, flüsterte Harry wie im Selbstgespräch vor sich hin: »Die Weingüter. Wie hängen die Weingüter mit Liebe oder Rache zusammen?«
Tante Tally, die noch gute Ohren, wenn auch keine guten Gelenke mehr hatte, erwiderte: »Geld. Es ist eine Menge Geld im Spiel, wenn man sich erst durchgesetzt hat.« »Genug, um dafür zu morden?« Harry hob die Schultern. »In den Großstädten ermorden sich Menschen gegenseitig für teure Turnschuhe, für Drogen, für verflucht irrelevante Dinge.« »Das ist wahr«, antwortete Harry leise. »Eine der großen Vorzüge des Altwerdens ist, dass ich reichlich Zeit habe, das Studium der menschlichen Natur zu bedenken und fortzusetzen. Die Menschen nennen die Ökonomie Volkswirtschaft. Der Meinung bin ich nicht. Ökonomie ist das Studium der menschlichen Natur. Jahrtausende überlieferte Geschichte, und wir haben nichts gelernt. Mistwirtschaft.« Das ließ sich ähnlich auch von der kleinen Zusammenkunft auf White Vineyards sagen. Einer nach dem anderen gingen die Leute, bis nur noch Fiona, Alicia und BoomBoom da waren und über die welligen Hügel blickten, die mit an Drähten kletternden Weinreben geschmückt waren. Unter anderen Umständen würde dies von Hoffnung künden. Heute verkörperte es Verlust. Harry fuhr in ihrem alten F-150 zur Farm zurück; weil Fair seine Patienten besuchen musste, war er in seinem eigenen Wagen zur Beerdigung gekommen. Er nannte die Pferde seine Patienten. Er konnte gut mit Kranken umgehen. 2I3 Harry beschloss, ein Auge auf Fiona zu haben - das hätte sie ohnehin getan. Sie wollte auch herausfinden, wer mit dem Scheckbuch in der Hand vorsprach, wie lange es dauerte, bis die Leute sich an der Tür einfanden. Konnte es sein, dass jemand versuchte, ein Monopol auf hiesige Weingüter zu schaffen? Aber deswegen morden - das beunruhigte sie. Der bloße Gedanke daran machte sie wütend, verlieh ihr Energie. Und sie dachte immerzu: »Kann jemand so gierig sein? So dumm?« Sie beschloss, die hiesigen Weingüter zu besuchen. Das war ein Fehler.
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ostet fünfundzwanzig Dollar pro Pflanze. Verdammt besser als
tausendfünfhundert Dollar.« Dinny Ostermann schob seine schweißfleckige Ballonmütze zurück, während er eine neue Methode zur Identifizierung von sechs gängigen Virusinfektionen erklärte. »Wir befinden uns im Wandel.« »Wie meinen Sie das?« Harry hatte bei Dinnys kleinem Weingut in Crozet vorbeigeschaut. Dinny füllte keinen Wein in Flaschen ab. Er pflückte seine Trauben und verkaufte sie alljährlich an den Meistbietenden. Weil er einen hervorragenden Cabernet
Sauvignon anbaute, eine rote Bordeaux-Variante, durfte er sich während der Erntezeit der Besuche von diversen Weinherstellern erfreuen. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker schnüffelten herum. Dinny, der Tiere liebte, lachte, als Mrs. Murphy hochsprang und versuchte, einen gelben Schwalbenschwanz aus der Luft zu fangen. Der schöne Schmetterling schwebte davon; die Facettenaugen nahmen auch die kleinste Bewegung wahr. »Von Kanada bis Chile werden sich die Leute bewusst, welcher Profit mit Wein zu erzielen ist. Der Weinkonsum wird in unserem Land eines Tages den Bierkonsum überholen.« Er hakte die Daumen in seine verdreckte Jeans. 143
»Sie glauben wirklich, Wein wird Bier überholen?« »Ist viel gesünder, und wer kriegt schon eine Weinwampe?« Er lachte. »Ich hatte gedacht, Sie würden zu Hys Begräbnis kommen.« »Nein. Hy und ich konnten nicht gut miteinander.« »Glauben Sie, er hat Toby umgebracht?« »Ja. Sie haben sich gehasst.« »Ich habe so viele Weingüter in Albemarle und Nelson County besucht, wie ich konnte. Ich wollte hören, ob jemand Zwergzikaden gesehen hat. Bislang niemand. Und Sie?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, wie ich hörte, haben Sie sie an Fliegenfängern in Ihrem Pfirsichhain gefunden, aber an den Blättern Ihrer Rebstöcke haben Sie keine gesehen, stimmt das?« »Ja. Aber ich denke, es ist kühl, mal regnet's, mal nicht, und es geht ein kräftiger Wind. Vielleicht tauchen sie auf, wenn es windstill und wärmer ist.« »Das wollen wir nicht hoffen.« Dinnys schwarze Haare ringelten sich unter seiner Mütze hervor. »Verflixt eigenartig.« »Es macht mich wütend, dass jemand meinen Pfirsichhain für sein Experiment benutzt hat.« »Ich wäre auch wütend.« Er setzte seine Mütze ab und hielt sie über die Augen, um zur Sonne zu blicken. »Bis morgen dürfte alles trocken sein.« Er lachte. »Die Stiefel werden schwer mit dem Matsch, der sich in den Profilen festsetzt.« »Wem sagen Sie das.« »Hey, das kräftigt unsere Beine. Wir beide werden in Badeklamotten gut aussehen.« Er lächelte. »Ein erfreulicher Gedanke.« Sie hob Tucker hoch und setzte den schweren Corgi in die Fahrerkabine. »Dinny, mir ist ein seltsamer Gedanke gekommen.« »Nur einer?« »Nur einer, den ich mitteilen kann.« Mrs. Murphy und Pewter sprangen in die Fahrerkabine, Harry schloss die Tür und lehnte sich dagegen. »Sie kennen fast alle Weinbauern 143
und -Hersteller. Abgesehen von Hy und Toby, gibt es böses Blut unter ihnen?«
Er dachte darüber nach. »Ich weiß nicht, ob ich es böses Blut nennen würde, aber wenn dies ein Froschhüpfwettstreit wäre, würde ich meinen Frosch im Auge behalten, weil ich damit rechnen würde, dass ihm jemand Luftgewehrkugeln in den Hals jagt.« »Sie meinen, jemand ist so auf Erfolg fixiert, dass er die Ernte der anderen vernichtet? Etwa mit Schwarzfäule oder einem Mehltaupilz oder mit Zwergzikaden?« Er rieb sich das rasierte Kinn. »Das müsste doch auf denjenigen zurückfallen.« »Und wenn er etwas ausbringt, auf das er vorbereitet ist? Etwa falschen Mehltau. Verzeihen Sie, Dinny, ich kenne diese Krankheiten und Schädlinge nicht so gut wie Sie, aber wenn Sporen über die Reben von jemand anderem geweht würden, könnte der Täter seine eigenen gespritzt haben.« »Er müsste reich sein.« »Warum?« »Weil man die Sprühgeräte gebrauchsbereit da haben müsste, bevor man die Sporen oder Schädlinge aussetzt. Man könnte sie nicht mieten. Zu auffällig.« »Haben denn nicht alle großen Weingüter diese Geräte?« Er nickte, fügte jedoch hinzu: »Es gibt viele kleine Weinbauern mit vielleicht ein, zwei bestellten Morgen. Sie mieten die Geräte.« »Meine Fragen scheinen Sie nicht zu überraschen.« »Harry, Sie und die zwei Katzen gehören zusammen. Neugierig.« »Muss wohl. Mir ist bange, weil ich versuche dahinterzukommen, wer wen hasst. Ich möchte wissen, ob das Morden vorbei ist.« »Ich nehme an, die sich gegenseitig gehasst haben, sind tot.« Er hob die Augenbrauen und stieg auf seinen kleinen Traktor. »Sicher haben Sie gehört, dass Tabitha Martin Tobys Leiche - besser gesagt Leichentote - der Anatomie vermacht hat.« »Feine Schwester.« 144
»Ja. Ich sehe es von der positiven Seite. Toby dient der Wissenschaft. Er hat die Wissenschaft geliebt.« »Er war an was dran, Dinny.« Harry fuhr an Rockland Vineyards vorbei, erspähte Rollie Barnes' Lieferwagen und daneben einen nicht für den Straßenverkehr zugelassenen Farmtransporter. Sie bog in die Zufahrt zu Tobys Gut ein, hielt neben den zwei Fahrzeugen und stellte den Motor ab. »Hallo, Harry«, begrüßten sie Rollie Barnes und Arch Saunders. »Wie geht's?«, fragte sie. Die Katzen legten die Pfoten ins Fenster, das Harry heruntergekurbelt hatte. Tucker steckte den Kopf heraus. »Wenn das Wetter mitspielt, wird dies Tobys bislang beste Ernte. Ein echter Tribut an ihn.« Rollie wies mit der rechten Hand auf die Rebstöcke.
»Ich habe bei Dinny Ostermann reingeschaut, da sieht es auch gut aus. Er hat mir von einer neuen Methode namens RT-PCR erzählt, mit der man sechs verschiedene Viren, die Rebstöcke infizieren, ermitteln kann.« »Reverse Transkriptase Polymerase Kettenreaktion«, rasselte Arch herunter. »Der reinste Bandwurm.« Harry lächelte. »Grenzt an ein Wunder. Billig und schnell. Mit der alten Methode konnte die Identifizierung von Korkrindenkrankheit und Blattrollvirus bis zu drei Jahren dauern.« Arch gab gerne vor seinem Chef mit seinem Wissen an. »Und kostet dazu ein Vermögen. RT-PCR kostet nur fünfundzwanzig Dollar pro Pflanze.« »Ja, das hat Dinny auch gesagt. Ich habe euch beide nicht bei Hys Beerdigung gesehen ...« Arch unterbrach sie: »Harry, ich bin nicht so scheinheilig.« »Hab ich auch nicht angenommen, aber wir haben uns alle gefragt, was Fiona jetzt tun wird. Vielleicht kann sie es allein weiterführen. Eine Menge Arbeit.« Harrys Stimme enthielt keine Spur von Vorwurf. 145
»Ich habe ihr einen sehr guten Preis geboten.« Rollie hörte sich an wie ein Wohltäter. »Nach der Beerdigung?« Diesmal verriet Harrys Stimme ihre Verwunderung. »Jemand muss der Erste in der Reihe sein, und der bin ich«, erklärte Rollie. »Kann ich mir denken. Ich hatte angenommen, die Belgier würden schleunigst zum Dulles-Flughafen fahren, nachdem sie Hy an der Tinsley-Kreuzung gefunden haben«, meinte Harry. »Ich habe Bo angerufen, um zu hören, wie es ihm geht, nachdem er Hy gefunden hat. Er sagt, die Belgier sind immer noch auf der Suche, und ihm geht's gut.« »Ist vermutlich viel aufregender hier als in Belgien.« Rollie musste unwillkürlich lächeln. »Die Geschichte wird Bo den Rest seines Lebens erzählen.« »Es wird ein langes Leben sein. Nur die Guten sterben jung.« Harry mochte Bo, wie so viele Frauen. Sie neckte ihn gern. »Gibt es eine Rebsorte, die gegen die Zwergzikade resistent ist?« »Die Lake-Emerald-Rebe. Wurde in Florida entwickelt. Wird meistens als Pfropf unterlage verwendet. Sehr viel in der Gegend um Leesburg, Florida.« »Sind wir zu weit nördlich?«, fragte Harry. »Ja, aber diese Rebsorte wollen wir hier eh nicht anbauen.« Arch ließ es hierbei bewenden. »Ihr zwei müsst wieder an die Arbeit und ich auch. Aber ich hatte eure Autos gesehen und dachte, ich sag mal Hallo.« »Hey, wo ist der Esel?«, fragte Arch. »BoomBoom hat ihn aufgenommen.« »Hier ist es richtig einsam ohne Jed«, sagte Arch. »Darf ich mal in den Stall gucken? Ich glaube, ich hab mein Taschenmesser da drin verloren, als ich Jed gesucht habe.«
»Nur zu. Ich glaube, da ist nicht viel drin«, antwortete Rollie. »Ich hab kein Messer gesehen«, erklärte Arch. Im Stall ging Harry schnurstracks in die Vorratskammer. Die Schachteln mit den Fliegenfängern waren noch da. Sie 146
dachte, dass vielleicht Toby die Zwergzikaden in ihrem Pfirsichhain ausgesetzt hatte. Es wäre plausibler gewesen, sie in ihren Rebstöcken oder denen von jemand anderen auszusetzen, wenn er gehofft hatte, ihren Betrieb zu vernichten. Aber Toby konnte gerissen sein. Vielleicht machte er einen Versuch, um zu sehen, ob die Zikaden überleben würden. Harry war der einzige Mensch, der regelmäßig in den Pfirsichhain ging, und die meisten Freunde und Nachbarn in Crozet kannten ihre Gewohnheiten und ihren Tagesablauf. Sie sah sich nach Gefäßen um, nach irgendeinem Hinweis, wie er die Insekten am Leben erhalten hatte. Es fand sich nichts. Die Unmenge Fliegenfänger konnte sie sich nur so erklären, dass es vielleicht ein Schnäppchen war. Das war nichts Ungewöhnliches. Sie ging so unwissend, wie sie gekommen war.
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ch hab Coop erzählt, dass ich in Tobys Stall rumgeschnüffelt habe.« Harry und
Fair spielten mit den Fohlen, nachdem Fair von seinen Besuchen nach Hause gekommen war. Es war zwar Samstag, aber Pferde nahmen keine Rücksicht auf das Wochenende. Je mehr man sich mit ihnen beschäftigte, desto besser entwickelten sich die Babys. »So klein sie sind, die Racker können einem ganz schön weh tun«, bemerkte Mrs. Murphy, die auf einem Zaunpfahl saß. »Weil sie zu fest zubeißen.« Pewter blieb den Fohlen fern. »Sie sind klug. Sie werden es schon lernen, und Harry und Fair bringen es ihnen spielend bei.« Tucker sah zu. » Und die Mütter mögen die Menschen, das hilft.« Mrs. Murphy sah Hunderte von winzigen grünen Gottesanbeterinnen, die aus ihrer Puppe geschlüpft waren. »Mann, bin ich froh, dass ich die Familie nicht ernähren muss.« 146 Tucker blinzelte, denn die Neugeborenen krabbelten auf der Glyzine, die sich über die kleine Pergola am Eingang zu Harrys Blumengarten rankte. »Ich kann nicht so weit gucken.« »Du kannst sowieso nicht gut sehen.« Pewter fühlte sich sehr überlegen. »Ich kann besser sehen, als du denkst. Ich kann auch Farben sehen, dabei haben die Menschen immer gedacht, Hunde können das nicht, und außerdem, Miss Rotzfrech, sehe ich im Dunkeln besser als Menschen.« »Aber nicht so gut wie ich«, meinte Pewter gehässig. »Hab ich auch nicht behauptet.« Tucker lächelte, als das hellbraune Fohlen das Maul an Harrys Wange rieb.
»Komisch, wie Menschen sich irren«, sagte Mrs. Murphy nachdenklich. »Das ganze Getue von wegen Hunde sehen schwarzweiß, und jetzt haben Forschungen das Gegenteil bewiesen. Forschung kann was Gutes sein, aber warum verlassen sie sich nicht auf ihre eigenen Sinne?« »Der sechste Sinn ist der, auf den es ankommt.« Pewter verlagerte ihr Gewicht auf dem Zaunpfahl, der ein bisschen klein für ihren dicken Hintern war. »Wissen ohne zu wissen. Ja, sie sollten darauf hören,« stimmte Tucker zu. Fair holte getrocknete Apfelstückchen als Leckerbissen für die geduldigen Mütter aus seiner Tasche. »Hat Coop was gesagt?« »Nicht viel. Ich hab ihr erzählt, dass ich Rebenkrankheiten recherchiere. Sie hat's auch getan. Stell dir vor, als ich die Namen ausgedruckt habe, nur Namen von Zeug, das Reben angreifen kann, hatte ich vier Seiten, zweispaltig, einzeilig. Jetzt frag ich mich, wie Trauben überhaupt reif werden.« »Dasselbe könnte man von allem sagen, das angepflanzt wird.« Er spürte ein weiches Maul in seiner Hand. »In der Praxis habe ich heute gelesen, wo in Georgia der asiatische Sojabohnenrost aufgetreten ist. Und das ist eine von den Krankheiten, die durch die Luft übertragen werden. Nach allem, was passiert ist, bin ich aufmerksamer.« »Sporen?« »Ja. Ein Pilz, so bösartig, dass er Pflanzen innerhalb eines Monats vernichten kann, wenn sie nicht behandelt werden.« »Verdammt abscheulich.« Harry überlegte. »Was können die Farmer machen?« »Spritzen, aber das ist teuer. Die Chemikalien, die den asiatischen Rostpilz töten können, kosten achtzehn Dollar für einen Morgen. Das ist nicht billig.« »Ist er mit dem Flugzeug hierher gelangt - du weißt schon, Sporen an jemandes Hose?« Harry war neugierig. »Nein. Es ist verteufelt. Der Hurrikan Iwan hat ihn innerhalb von ein paar Wochen hierher getragen. Er ist langsam durch Asien, dann durch Afrika und dann nach Südamerika gewandert - langsam im Laufe von Jahrzehnten -, und dann brauchte es nur einen starken Hurrikan, um die Sporen übers Meer zu tragen.« »Aber Hurrikan Iwan, der war vor zwei Jahren.« »Er hat Florida schwer heimgesucht, und dort hat man den Pilz zuerst entdeckt, an Kudzu.« »Gott, Kudzu wird das Universum überrollen.« Harry verschlug es den Atem. »Von Universum weiß ich nichts, aber die Sporen haben es geschafft, mit unziemlicher Geschwindigkeit von Kudzu in Florida auf die Sojabohnen in Georgia überzugreifen.« Er teilte die letzten Apfelleckerbissen aus. »Ich habe Ned eine E-Mail geschickt, und er hat zurückgemailt. Ich wusste nicht, dass Sojabohnen sechzehn Prozent der Landwirtschafserzeugnisse unseres Landes ausmachen. Sojabohnen bilden zwölf Prozent des U. S.-Exports. Ich sag dir was - erstens hat mich das beeindruckt, und zweitens ist Ned total auf dem Laufenden.« Auf dem Rückweg zum Haus sagte Harry leise: »Du bist von dieser Mordgeschichte genauso gefangen wie ich.«
»Ich bin doch derjenige, der dir sagt, halt dich da raus, steck deine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten.« Er putzte sich die Stiefel an dem Igelkratzer vor der Fliegentür ab. »Aber ich komme immer wieder auf Weingüter und eine Art Rache zurück.« »Und auf die Tatsache, dass Weinbau und -produktion sich zu einem dicken Geschäft auswachsen. Da sind Millionen zu verdienen.« »Aber zuerst muss man Millionen ausgeben. Das ist ein Reiche-Leute-Spiel. Leute wie Dinny Ostermann profitieren davon, und ich hoffe, wir auch, aber Millionen werden wir nicht verdienen.« »Was hast du sonst noch am Computer gemacht?« Pewter rieb sich an ihrem Bein, als sie in die Küche ging. »Thunfisch!« »Pewter, lass mich erst Tee machen. Ich brauche eine Stärkung. Deinen Thunfisch kriegst du früh genug.« Fair lächelte. »Woher wissen wir, dass sie nicht >Rib Eye Steak blutig< gesagt hat?« »Ja!« Pewter stellte sich auf die Hinterbeine. Mrs. Murphy und Tucker tappten in die Küche. »Eine Ballerina. Unsere Spitzentänzerin.« » Wenn wir Steak kriegen, dann habt ihr das mir zu verdanken«, prahlte Pewter. »Steak!« Tuckers Ohren stellten sich gerade nach vorn. Zufällig hatte Fair beschlossen, Steaks zu grillen. Harry mischte sich wohlweislich nicht in seine Kocherei ein, aber hinter seinem Rücken musste sie darüber lachen, wie die »Jungs« rücksichtslos in Grillmethoden konkurrierten. Ned, Jim, Blair, sogar Paul de Silva hatten Gartengrills. Sie wusste nicht, was er da draußen machte, wenn er, die Schürze umgebunden, eine gefährlich lange Gabel und ein Messer schwang. Als Fair mit den Steaks hereinkam, verbreitete sich der Duft in der Küche. Während sie aßen und den Tieren kleine Steakhäppchen abgaben, gingen sie die Ereignisse durch. Harry stand auf, um das Küchenfenster zu schließen. »Wenn die Sonne untergeht, wird es schnell kühl. Dies ist der kälteste Mai, an den ich mich erinnern kann.« »Stimmt.« »Ich hoffe, du hast morgen keine Notfälle.« »Ich auch. Was hast du vor?« Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf. »Herb sagt, Coop kann 148
einziehen, wenn sie bereit ist. Wollen wir da nicht den Pferdeanhänger nehmen und ihre Sachen aufladen? Mit einer Fuhre ist es getan. Sie hat nicht viel.« Das war nicht der Sonntag, den er sich erhofft hatte, aber er rechnete sich im Stillen aus, dass sie es mit seiner Muskelkraft und Harrys Organisationstalent schaffen sollten, das Ganze in drei konzentrierten Stunden durchzuziehen. »Klar. Sie wird eine gute Nachbarin sein.« »Ich werd's dir lohnen.« Harry lächelte.
»Auch wenn du's nicht tust, es ist schwer für einen Mann zu siegen, wenn zwei Frauen sich gegen ihn zusammentun, und die eine seine schöne Ehefrau ist.« »Du Schmeichler.« Aber es freute sie.
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arry hatte eine Landkarte auf der Motorhaube ihres Transporters
ausgebreitet und deutete auf Anbaugebiete, die sie mit verschiedenfarbigen Stiften schraffiert hatte. Susan sah sie sich an, während die Autos auf dem für Crozet etwas zu groß geratenen Parkplatz des Postamts ein- und wieder ausparkten. »Das ist Carter's Mountain«, sagte Harry. Die zwei Katzen und der Hund beobachteten die Leute, die, beladen mit Post, Rechnungen und Illustrierten, kamen und gingen. »Harry«, Susan legte ihre Hand auf Harrys Schulter, »ich kann Karten lesen.« »Verzeihung. Also, dies ist jedenfalls Patricias und Bills Besitz. Das hier unten gehört Hy und Fiona - vielmehr nur Fiona. White Vineyards, etwa dreihundert Morgen. Hier drüben ist Tobys Gut, knapp unter zweihundert Morgen, und hier haben wir Rollie. Spring Hill von Arch und Rollie, der Hauptteil, ist auch zweihundert Morgen groß - nein, zweihundertzwanzig. Das ist heutzutage eine Menge für Crozet. Okay, das
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apfelgrün Schattierte sind kleine Weinbauern, die an die großen verkaufen.« »Was ist das rosa Markierte?« »Das sind kleine Güter, die Rollie und Arch aufgekauft haben. Wenn man Rockland - Tobys - dazu nimmt, verfügt Spring Hill über knapp fünfhundert Morgen.« Genau in diesem Moment hielt Arch auf dem Parkplatz. Er stieg aus. »Kommst du wieder hier arbeiten?« Harry lächelte. »Nein.« »Ohne dich und Miranda ist es nicht mehr wie früher. Sicher, das große Gebäude und die zusätzlichen Postfächer sind ein Plus, aber uns ist was verloren gegangen.« Er trat zu ihnen. »Na, was seht ihr euch da an?« »Weingüter. Wer was besitzt, wer worüber verfügt, und ihr steht an oberster Stelle.« Er lächelte übers ganze Gesicht. »Gut für Spring Hill. Harry, noch mehr Zwergzikaden?« »Nein. Bis jetzt jedenfalls.« »Man weiß ja nie. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht an die Höhe und die warmen Winter akklimatisieren. Wenn doch, haben wir ein großes Problem. So, ich muss meine Post abholen. War nett, euch zu sehen.« Er drehte sich um, blieb dann stehen. »Wollt ihr weitere Rebflächen anlegen?« »Noch nicht«, antwortete Harry.
»Kauft Land, solange ihr könnt. Es wird so weit kommen, dass es in Albemarle County nur noch ganz Reiche und ganz Arme gibt.« »Ich glaube nicht, dass ich jemals zu den ganz Reichen zählen werde«, meinte Harry lachend. »Ich auch nicht«, erklärte Susan. »Ach was. Wenn ihr das Land, das ihr geerbt habt, verkauft, verdient ihr Millionen. Sagt mir Bescheid. Rollie hat ein dickes Konto.« »Arch, wenn ich mein Land verkaufe, verkaufe ich mein Geburtsrecht«, erklärte Harry. »Ich auch. Das Bland-Wade-Land ist seit kurz nach dem Unabhängigkeitskrieg in unserer Familie.« 150 »Schön und gut, aber wenn die Grundsteuern weiter steigen, und das werden sie, und wenn euer Baumschulgeschäft aus irgendeinem Grund nicht genug abwirft, dann endet ihr in Armut, todsicher.« »Irgendwie halten wir durch, Arch. Das Land, das sind wir.« Harry sprach für sich und für Susan. »Schön, überlegt es euch. Man kann nie wissen. Und ihr seid beide sehr kluge Frauen.« Er lächelte und ging. »Vermutlich sind wir auf dem Papier schon Millionäre, wenn man den Landwert zugrunde legt«, meinte Susan. »Echt?« Das war Harry nie in den Sinn gekommen. »Ziemlich sicher. Es war unser Glück, dass unsere Familien ihr Land nie verkauft haben, egal, wie schlecht die Zeiten waren. Wie sie es durch das Auf und Ab des neunzehnten Jahrhunderts, trotz Krieg, der schrecklichen Nachwirkungen und dann des Zusammenbruchs in den dreißiger Jahren zusammengehalten haben, das beweist, wie sehr sie dieses Land geliebt und an die Zukunft geglaubt haben.« »Ja, das ist wahr«, erwiderte Harry ernst. »Wir tun unsere Schuldigkeit, egal was kommt.« Arch kam aus dem Postamt, das Handy am Ohr, und winkte den Damen zu. Indem er langsam an ihnen vorbeifuhr, sagte er: »Rollie zahlt zwanzig Prozent mehr als der augenblickliche Marktwert. Er ist am Zug.« »Im vergangenen Monat ist viel Land erschlossen worden«, sprudelte Harry heraus. »Mir scheint, ihr zwei seid immer vorneweg.« Arch hielt kurz an. »Man kann bestehende Weinpflanzungen nicht zugrunde gehen lassen. Die Weinproduktion ist in Virginia zu weit gediehen, versteht ihr?« »Fiona schreitet voran«, sagte Susan. Arch runzelte kurz die Stirn. »Das verschafft ihr mehr Macht, aber sie ist auch so eine, die ihren Besitz versilbern und als reiche Frau fortgehen könnte.« »Reich ist sie schon, außerdem kriegt sie die Million von Hys Kaution zurück. Stell dir bloß das ganze Geld auf einem Haufen vor. Berauschend.« Harrys Augen leuchteten auf. 150
»Bis dann, die Damen.« Arch winkte und fuhr weiter. »Was machst du jetzt?«, fragte Harry Susan. »Ich wollte mal sehen, ob ich Schösslinge vom grünen Weißdorn auftreiben kann, Bäumchen, die wir im Herbst pflanzen. Ich hab Zuckerahorne bestellt, hab ich dir das gesagt?« Susan hatte festgestellt, dass es ihr Freude machte, sich über Baumarten zu informieren und sie dann aufzutreiben. »Nein.« »Sie werden Ende September geliefert. Menschenskind, ich bin's nicht gewöhnt, so weit vorauszudenken. Ich bin an Schulkalender gewöhnt.« Sie seufzte. »Wo ist die Zeit geblieben? Danny absolviert sein letztes Jahr in Cornell und Brook geht im Herbst nach Duke auf die Uni.« »Die Zeit vergeht wie im Flug«, stimmte Harry zu. »Ich fahr nach Hause. Mal sehen, ob ich den Beregner an den Traktor kriege. Hab noch nie einen benutzt. Vielleicht warte ich aber noch und mähe stattdessen die Wiese. Ich werde Fair bitten, mir mit dem Beregner zu helfen.« »Viel Glück damit.« Susan gab Harry einen Kuss auf die Wange, stieg in ihren Audi und fuhr los. Zwei Stunden später hockte Harry fröhlich auf dem gepolsterten Traktorsitz und mähte den hinteren Bereich; es war ihr Obstwiesengras mit gewöhnlicher Luzerne. Diese Mischung war bei Pferdebesitzern behebt. Das Feld mit dürreresistenter Luzerne wollte sie später mähen. Sie musste es zeitlich genau abstimmen und die Reihen vollkommen trocken werden lassen. Kein Wunder, dass Farmer zwanghaft das Wetter beobachteten. Wenn Harry den Blasenkäfern keine Zeit ließ, das trocknende Gras zu verlassen, würde nichts Gutes herauskommen. Beim Mähen ließ sie die Tiere im Stall zurück. Die Katzen dösten auf der Satteltruhe im Mittelgang, der Tag war so schön. Tucker streckte mitten im Gang alle viere von sich. Traktorfahren machte Harry immer nachdenklich. Der Dieselmotor knatterte, und das frisch gemähte Gras hatte etwas Hypnotisches. Die Gleichförmigkeit behagte ihr. Der Geruch berauschte sie. Sie ruckelte vorwärts und summte vor sich hin. 151
Als sie die letzte Reihe gemäht hatte, montierte sie die Schneiden ab und rumpelte langsam in den Schuppen. Während sie die Gerätschaften säuberte, fingen die winzigen Wassertropfen die Sonne ein und ergossen sich dann auf den grün gestrichenen John-Deere-Traktor. Zufrieden, weil sie gute Arbeit geleistet hatte, ging sie in ihr kleines Weinfeld und schritt die kurzen Reihen ab, die den Viertelmorgen einnahmen. Keine Zwergzikade in Sicht. Pfeifend ging sie in die Sattelkammer, setzte sich an das schwere alte Lehrerpult und rief Rollie Barnes an. Sie hatte Glück. Er war in seinem Büro. »Rollie, Harry Haristeen hier. Hätten Sie eine Minute Zeit für mich?« »Was kann ich für Sie tun?« Rollie gefiel es, wenn eine Frau ihn um Rat fragte.
»Wie Sie wissen, habe ich einen lumpigen Viertelmorgen mit Petit Manseng. Ich habe den Fall vor dem Obersten Gericht verfolgt, der die Versendung von Wein außerhalb unseres Staates behandelt. Worum geht es da wirklich?« »Lassen Sie mich Ihnen zuerst versichern, dass ich die Gesetze unseres Staates großenteils respektiere, aber wenn er sich in die uneingeschränkte Belieferung mit Waren und Dienstleistungen einmischt, finde ich, es muss ein einheitliches Bundesgesetz geben.« Er hörte sich an wie ein Politiker. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Das war sie in der Tat. »Viele Staaten verbieten die direkte Lieferung von Wein an die Verbraucher. Klar, dass das den Gewinn erheblich schmälert.« »Wenn also jemand aus Missouri bei Kluge Vineyards eine Kiste Wein bestellt, darf Kluge sie nicht an einen Privatkunden schicken?«, fragte Harry. »Genau. Eine Unverschämtheit.« Er hob die Stimme. »Wir können natürlich nicht wissen, wie das Gericht entscheiden wird, aber der Fall steht bald zur Verhandlung an. Wenn entschieden wird, dass das Verbot des Direktversands verfassungswidrig ist, wird das ein großer Sieg für alle Weinproduzenten hier im Land sein. Es ist auch ein Sieg für die Verbraucher. Statt 152
über einen Zwischenhändler, der einen Kalkulationsaufschlag erhebt, können wir den Kunden direkt beliefern.« »Haben Sie eine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird?« »Nein.« Er senkte die Stimme, die Tonlage wurde nüchterner. »Das Oberste Gericht ist unberechenbar. Aber ich bin kein Jurist, Gott sei Dank. Ich muss praktisch denken, sonst geht mein Geschäft baden.« Harry lachte. »Danke, Rollie. Ich wusste, dass Sie sich auskennen. Ich nehme an, eine Entscheidung zugunsten des Direktversands bedeutet, dass die Geschäfte florieren und die Grundstückspreise weiter in die Höhe schießen werden.« Seine Stimme schnurrte vor Behagen. »O ja.« »Sie sitzen auf dem Spottdrosselplatz.« »Ist das gut?« Sie lachte. »Na klar. Haben Sie schon mal an einem Baum raufgeguckt und gesehen, wo die Spottdrossel sitzt? Der beste Platz, und keiner kann an sie ran.« »Tja, dann haben Sie recht.« Nach ein paar weiteren Nettigkeiten legte Harry auf, dann rief sie Cooper an. »Hey.« »Hier auch Hey«, antwortete Cooper im Streifenwagen. »Brauchst du noch Hilfe im Haus? Ich kann heute Abend rüberkommen und morgen auch. Fair macht heute Abend Spätbesuche.« »Er muss einen Partner reinnehmen oder sogar zwei.« »Ja, wir sprechen darüber, wenn wir Ende Juli im Urlaub sind.« »Wer's glaubt, wird selig.«
»Nein, wir fahren wirklich. BoomBoom versorgt die Pferde und Paul de Silva hat gesagt, er will auch mithelfen. Mrs. Murphy, Tucker und Pewter kommen natürlich mit uns.« Beim Klang ihrer Namen machten die zwei Katzen die Augen auf. »Urlaub?«, murmelte Pewter. »Wo?« Die Tigerkatze drehte sich auf die Seite. »Kentucky. Sie wollen auf einen Pferdemarkt, um sich Pferde anzusehen.« 153
»Das wird schön.« Pewter bemerkte neben der Satteltruhe ein Bröckchen von einem Pfefferminzbonbon. »Meinst du, in Kentucky gibt es guten Thunfisch?« »Pewter, im ganzen Land gibt es gutes Katzenfutter.« Airs. Murphy hob den Kopf, um Harry zuzuhören. »Coop, ich hab über die zwei Morde und Hys Selbstmord nachgedacht. Ich weiß, Rick denkt, ich komme euch in die Quere ...« Coop unterbrach sie: »Sagen wir einfach, da du keine Polizeivorschriften einhalten musst, kannst du Dinge aufdecken, die für uns brenzlig sind, aber du kannst dich auch in Gefahr bringen. Außerdem, Harry, kannst du Beweise gefährden.« »Ich weiß, ich weiß. Aber bei den Rebenmorden - so nenne ich sie - bin ich euch nicht in die Quere gekommen.« »Weil du dich noch von deiner Wiederheirat erholst. Offenbar kehrst du langsam in die Realität zurück.« Coop lachte. »Nicht, dass mit Fair verheiratet sein nicht wunderbar ist.« Harry lachte über sich selbst. »Gott, merkt man mir das so deutlich an?« »Ja.« Coop bog hinter White Vineyards von der Straße ab. »Weshalb hast du angerufen?« »In der Vorratskammer von Tobys Stall liegt eine ungewöhnlich große Menge Fliegenfänger.« »Es sah nach sehr viel aus, aber er war wohl einer, der Riesenmengen einkauft. Er hatte genug Pappteller, Klopapier, Stifte und Aspirin für ein ganzes Jahr.« Coop und Rick hatten Tobys Besitz durchkämmt. »Und bei Hy Maudant zu Hause? Habt ihr da Schachteln mit Fliegenfängern gefunden?« »Nein. Ich bin jetzt übrigens auf der Lehmstraße hinter White Vineyards. Harry, die meisten Leute, die Pferde oder Vieh im Stall halten, benutzen Fliegenfänger.« Cooper war amüsiert. »Du hast vor, an die Hinterseite der Rebstockreihen zu gehen, stimmt's?« Es folgte eine Pause. Dann: »Ja. Du wirst jetzt richtig wach, wie?« 153
»Auf der Suche nach Zwergzikaden?« »Ja.« Cooper wusste, dass es sinnlos war, Harry zu belügen. »Sonst noch was? Schwarzfäule vielleicht?« »Ich bin nicht besonders versiert in diesen Dingen, aber wenn die Reben krank oder die jungen Blätter fleckig sind, werde ich herausfinden, was los ist.«
»Aber wenn etwas nicht stimmt, würden Arch und Rollie es wissen.« »Und Maßnahmen treffen. Sie sind viel drüben.« »Als ihr Tobys und Hys Unterlagen gesichtet habt, war da Material über die Zwergzikade dabei?« »Bei Hy nicht. Ein laminiertes Blatt Papier mit Fotos, das war alles. Tobys Computer war vollgestopft mit Informationen über jeden möglichen Feind seiner Reben.« »Hm, war besonders viel über die Zikaden dabei?« »Das Problem ist, ich weiß nicht, was >besonders viel< ist, nachdem er eine Riesenmenge Informationen über alles hatte. Und mit alles meine ich alles.« »Und die Daten von Professor Forland?« »Wir haben mit den Behörden in Blacksburg zusammengearbeitet. Professor Forland hatte genau wie Toby zu allem die neuesten Forschungsergebnisse.« »Ich frage mich, hat Professor Forland heimlich an einer Mutation gearbeitet? Nicht, um unseren Pflanzungen zu schaden, sondern für den Fall, dass unsere Regierung biologische Waffen gegen jemand anwenden wollte?« »Nein.« Coops Stimme war fest. »Er hat nicht für unsere Regierung gearbeitet. Er wurde von den Weinleuten als Experte hinzugezogen, um vor den Unterausschüssen von Parlament und Senat auszusagen.« »Ah.« »Harry?« »Ich denke, es geht um Rache. Ich weiß nicht, wer zuerst wen zu vernichten versucht hat, Hy oder Toby. Es ist eskaliert. Vielleicht ist Professor Forland hinter Tobys Vorhaben gekommen, das allen geschadet hätte, und da hat Toby ihn umgebracht. Hy hat Toby später erwischt oder hat es rausge 23i
kriegt. Hy kannte sich aus. Er hat den großen Fehler gemacht, sich Toby entgegenzustellen.« »Und schließlich von seiner Tat erdrückt, erschießt Hy sich? Alles plausibel, Harry, aber nicht bewiesen.« »Aber ihr habt auch daran gedacht?« »Ja.« »Habt ihr euch darüber Gedanken gemacht, warum die Zwergzikaden in meinem Pfirsichhain waren?« »Ja.« »Und?« »Es war beabsichtigt, dass du sie findest und eine Warnung aussprichst - glaube ich. Ist aber bloße Vermutung.« »Hat nicht funktioniert. Die Panikmache. Niemand hat deswegen sein Weingut verkauft, allerdings hat das Spiel erst begonnen.« »Ja, aber Harry, es war ein Ablenkungsmanöver. Meine ich zumindest. Beim Recherchieren entdeckt man, dass Zwergzikaden, die kleinen Tarnkappenbomber, hier unmöglich leben können. Ein echter Winzer würde deshalb nicht in Panik
geraten und verkaufen, aber Neulinge in der Weinproduktion könnten so reagieren.« »Die Zwergzikaden wurden von weiter südlich hierher gebracht.« Harry hielt inne. »Anders können sie nicht hergekommen sein.« »Schlau.« »Irgendwie komm ich immer wieder darauf zurück. Ich weiß nicht warum.« Harrys Frust steigerte sich. »Was weißt du, was ich nicht weiß? Was macht dich zur Zielscheibe, nachdem drei Männer tot sind, einer anscheinend durch eigene Hand?« »Weiß ich nicht. Du hast >anscheinend< gesagt.« »Bei der Spurenuntersuchung bleibt ein kleines Fragezeichen wegen des Pulverbrands. Es war Hys Pistole. Auf seinen Namen registriert. Wie gesagt, es ist nur ein kleines Fragezeichen. Wir sprechen noch nicht von einer ungeklärten Todesursache, aber der Leichenbeschauer hat seine Fotografien nach Richmond geschickt, um eine zweite Meinung einzuho 155 len.« Coop hatte ihr Fenster unten und atmete den Erdgeruch ein. »Ich komme immer wieder auf die verflixten Zwergzikaden zurück.« »Okay, hör mir zu. Es besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass du ganz am Rande ... verwickelt ist das falsche Wort, aber du weißt, was ich meine. Wenn die Taktik einfach die war, anderen Weinbauern Angst einzujagen, wäre es doch wohl logischer gewesen, die Zikaden in deren Weinpflanzungen auszusetzen. Allerdings konnte man sicher sein, dass du dich kundig machen würdest, was die Zwergzikaden für ein Ungeziefer sind, und du so an die richtigen Leute geraten würdest. Das ist ein bisschen raffinierter, als sie beispielsweise in White Vineyards auszusetzen.« »Vielleicht war mein Pfirsichhain der Test. Sie wollten nicht eigene Weinpflanzungen oder Pfirsichhaine dafür benutzen, sofern sie welche haben. Und vielleicht bin ich einen Tag zu früh drauf gestoßen. Ich weiß nicht. Ich versuche alles zu bedenken.« »Ich hab den Tarnkappenbomber gefunden.« Pewter setzte sich auf. »Stimmt«, unterstützte Mrs. Murphy Pewter, was der grauen Katze große Befriedigung verschaffte. Harry und Coop wälzten Ideen hin und her, was lediglich dazu führte, dass ihnen schwindlig wurde. Ideen sind nicht beweiskräftig. Nach dieser Diskussion ging Harry in den Mittelgang. Ihr Blick fing eine Bewegung auf, sie sah hoch und entdeckte Matilda, die an einem Dachsparren hing; Kletternattern machen ihrem Namen alle Ehre. Matilda jagte Harry einen kurzen Schrecken ein. »Ich wünschte, sie würde das lassen.« 155
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as kräftige Aroma von Shenandoah Joe's Kaffee stieg Fair in die Nase. Er
seufzte, atmete tief ein, schlug dann die Augen auf. Er war auf der Couch eingeschlafen, aber seine Stiefel standen ordentlich nebeneinander auf dem Fußboden, unter seinem blonden Schopf lag ein Kissen, über ihm eine Decke. Pewter, die es sich auf seiner Brust bequem gemacht hatte, schlug gleichzeitig mit ihm die Augen auf. »Guten Morgen. Frühstück!« »Pewter, du wiegst mindestens zwanzig Pfund.« Die graue Kanonenkugel auf seiner Brust verlagerte das Gewicht. »Gar nicht wahr. Ich hab schwere Knochen.« Mrs. Murphy rief aus der Küche: »Ha!« »Sei bloß still. Du hast die Schönheit auch nicht gepachtet.« »Mag ja sein, aber ich bin wenigstens gut in Form.« Tucker, die geduldig vor ihrem Keramik-Futternapf wartete, stöhnte. »Bloß kein Streit vorm Frühstück.« »Geh runter, Pewts, ich muss aufstehen.« Unter heftigem Schwanzschlagen räumte Pewter murrend das Feld. Fair setzte sich auf, rieb sich die Augen und ging ins Bad. Als er in die Küche kam, hatte Harry ihm bereits ein Käse-Omelette mit viel Kapern gemacht, daneben lagen Tomatenscheiben, besprenkelt mit Olivenöl und gehackter frischer Petersilie, die wie grünes Konfetti aussah. »Guten Morgen.« Lächelnd stellte sie den Teller auf den Tisch, dazu ein warmes Hefebrötchen. »Danke. Wann bist du nach Hause gekommen?« »Halb neun. Du warst völlig weggetreten.« Sie setzte sich zu ihm. Harry hatte ein baumwollenes Unterhemd an, so ein Trägerhemd von der Sorte, wie sie von tyrannischen Ehemännern in Film und Fernsehen gerne getragen werden, und dünne 2 34 Baumwoll-Boxershorts. Sobald der schlimmste Winter vorbei war, mochte sie keinen Morgenrock mehr anziehen. »Ich kann mich an nichts erinnern. Gott, muss ich müde gewesen sein. Ich hab deine Nachricht auf der Tafel gelesen, ein Tonicwasser getrunken und mich hingesetzt, um die Zeitung zu lesen.« Er sah auf seinen Kaffee, als er die Sahne umrührte. »Wie läuft's bei Coop?« »Sie hat es schlau angefangen. Sie hat zuerst die Küche ausgepackt. Da das die schlimmste Arbeit ist, ist alles, was danach kommt, ein Klacks. Ich muss dran denken, ihr Blumen vorbeizubringen, damit es heimelig aussieht.« Sie stand auf, griff nach einem kleinen Notizbuch auf der Anrichte unter dem Telefon und schrieb »Blumen« auf. »Fällt dir ein passendes Einweihungsgeschenk ein?« »Hat sie eine Kaffeemühle?«
»Nein. Perfekt.« Triumphierend notierte sie »Kaffeemühle«. »Siehst du, wie schlau ich bin?« »Ich weiß. Du hast mich geheiratet.« Sie vertilgte ihr Omelett. »Geht's dem Pferd gut?« »Ja. Er wird durchkommen. Ich hatte gehofft, ihn in die Klinik des Technical College verfrachten zu können, aber das hätte er wohl nicht gepackt; er hat viel Blut verloren. Wir haben Plastikplanen ausgelegt, ihn gesäubert und ruhig gestellt, und er ist auf die Plane gesunken. Wir haben ihn an Ort und Stelle operiert. Ich weiß nicht, ob er wieder jagen kann, aber ein gemächlicher Ausritt dürfte kein Problem sein. Der Fesselträger ist gerissen, und er hat tiefe Risswunden in der rechten Schulter. Die musste ich nähen, aber das eigentliche Problem ist der Fesselträger.« Er bezeichnete einen Bänderriss im Vorderbein. »Mandy wird ihn gut pflegen, und sie wird sich nie von ihm trennen.« Harry sprach von der Besitzerin, einer liebenswerten Frau um die fünfzig. »Alles steht und fällt mit dem Besitzer.« »Ich hab über Jed nachgedacht.« »Beim Thema Risse ist er dir eingefallen? Er hat's jetzt gut. 157
Er hat sich bei BoomBoom mit den anderen Pferden angefreundet.« »Eigentlich denke ich die ganze Zeit an Jed, seit ich gestern mit Coop gesprochen habe, und wie wir dann das Haus eingerichtet haben, haben wir weitergeredet.« »Kann ich mir denken.« Fair grinste, stand dann auf, um Kaffee nachzuschenken. »Möchtest du noch heißes Wasser für deinen Tee?« »Nein danke.« »Also, was ist mit Jed?« »Er war gesund.« »Richtig.« »Warum hat Toby dich dann hinbestellt?« »Ich denke, das haben wir bereits besprochen.« »Schon, und du hast erwähnt, als du Arch und Bo zufällig beim Mittagessen getroffen hast, da meinte Arch, Toby hätte den Verstand verloren.« »Stimmt. Und du hast gesagt, Toby war unzurechnungsfähig, als du ihn bei Alicia gesehen hast«, erwiderte Fair. »War er auch. Alicia, Arch und ich waren Zeugen. Er war kein schöner Anblick. Aber Coop sagt, hinter Hys Selbstmord steht ein kleines Fragezeichen. Der Leichenbeschauer hat die Fotos nach Richmond geschickt.« »Und was hat das mit Toby zu tun?« »Nur so viel: Was, wenn es so aussehen sollte, dass du Tobys Mörder bist? Wenn Hy nun die Wahrheit gesagt hat? Er hat Toby nicht umgebracht. Als er die Leiche sah, hat er Panik gekriegt und ist getürmt. Und wie es halt so kommt - der Mörder hat alles genau geplant, und dann passiert was Unvorhergesehenes. So ist nun mal das Leben, nicht? Eine unvorhergesehene Sache nach der anderen.«
»Wohl wahr.« Die Kaffeetasse in den Händen, dachte Fair nach. »Warum ich? Ich kann mir niemand denken, der wütend auf mich ist.« »Ich auch nicht.« »Und ich hab nichts mit Weinbau zu tun. Ich nehme an, das ist die Verbindung der Weinbau.« 158
»Ich habe einen Viertelmorgen.« »Du ja, aber das ist nicht mein Wein. Sicher, ich geh dir zur Hand, aber niemand wird mich je für einen Winzer halten.« »Denk mal gründlich nach.« Er überlegte hin und her, aber ein Feind wollte ihm nicht einfallen. Ihm fielen Leute ein, bei denen er nicht obenan auf der Beliebtheitsskala stand, aber ein ausgesprochener Feind, nein. Zwei Stunden, nachdem Fair zur Klinik gefahren war, arbeitete Harry mit den Babys. Sie hatte sie bereits ans Halfter gewöhnt; jetzt gewöhnte sie sie mit Hilfe ihrer Mütter an den Führstrick. Tucker sah von der Mitte der Koppel aus zu, und die Katzen saßen jede auf einem Zaunpfahl. Harry trabte mit einem kleinen Kerl. Plötzlich blieb sie stehen. »Mein Gott, ich war blind wie ein Maulwurf!«
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omisch, wenn ein Mensch etwas erkennt, ist es oft so, dass ein anderer zur
gleichen Zeit denselben Gedanken hat. Harry nahm dem Fohlen den Führstrick ab, tätschelte das Kerlchen und ging dann ruhig mit ihm zum Stall. Hastige Bewegungen, Gefühlsausbrüche in unmittelbarer Nähe von Pferden, besonders Fohlen, regen sie auf. Ungeachtet ihres Geistesblitzes war Harry in erster Linie auf ihre Pferde bedacht. Ihr Handy, das in ihrer Gesäßtasche steckte, störte sie. Sie zog es heraus und hielt das kleine Gerät in der Hand, während sie das Holztor zur Koppel öffnete und wieder schloss. Dann spurtete sie zum Stall, dicht gefolgt von Tucker. Sie hörten einen schweren Dieselmotor in der Zufahrt knattern. »Eindringling!«, warnte Tucker Harry, die es auch hörte. 158 »Ich geh kein Risiko ein, Tucker. Wir wissen nicht, wessen Fahrzeug das ist. Du bleibst in der Sattelkammer.« Harry schlitterte in den Mittelgang, griff nach der fest montierten Leiter zum Heuboden und kletterte, zwei Sprossen auf einmal nehmend, hinauf. Sie hatte das Handy wieder in die Gesäßtasche gesteckt. Auf der obersten Sprosse angekommen, hielt sie sich an den Leiterholmen fest, die einen knappen Meter über die oberste Sprosse hinausragten. Sie schwang sich mit solchem Elan auf den
Heuboden, dass ihr das Handy aus der Tasche fiel, ohne dass sie es merkte, als sie zu der offenen Heubodentür rannte. Mrs. Murphy, die mit Pewter in der Sattelkammer döste, wachte ruckartig auf. Sie sprang von der Decke, die über dem Sattel lag, flitzte aus der offenen Sattelkammertür und kletterte Harry hinterher. Tucker setzte sich in den Mittelgang und guckte nach oben. Pewter, die auf einem zweiten Sattel ruhte - Fairs, weil der eine größere Sitzfläche hatte -, schlug ein Auge auf. Sie machte es zu und gleich wieder auf, als sie hörte, wie die Wagentür zuschlug, während der Motor weiterdröhnte. Harry lief an Simon vorbei, der mit seiner Kinnkette spielte, versteckte sich hinter dem höchsten Heuballenstapel und überlegte, was sie tun sollte. Sie war drei Heuballen von Matilda entfernt, der das Stampfen auf dem Heuboden missfiel. Warum konnte Harry nicht normal gehen? In der Vertiefung neben Matilda schlugen ihre Eier leise aneinander. Simon legte die Kinnkette weg. Das Handy fesselte ihn. So ein herrliches Spielzeug. Er huschte hin, nahm es an sich und beförderte es in sein Nest. Er zog die Antenne heraus und drückte unabsichtlich auf Tasten, bis das kleine Gerät leuchtete. Dies war sein bislang schönster Fund. Harry klappte ihr Taschenmesser auf. Sie hatte immer eins bei sich, wie die meisten Leute auf dem Land. Die zehn Zentimeter lange Klinge war scharf. Besser als nichts, dachte sie zuversichtlich. Das war die einzige Zuversicht, die sie im Moment hatte. »Harry«, rief Arch. Als er keine Antwort erhielt, stellte er 159
den lauten Motor ab. Er sah ihren Transporter. Er ging zur hinteren Verandatür und klopfte. Keine Antwort. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Felder, da Harry gewöhnlich dort draußen oder im Stall arbeitete. Als Nächstes steuerte er den Stall an. Als er Tucker sah, wusste er, dass Harry hier sein musste. Er sah in der Sattelkammer nach. Schaute in alle Boxen und in die Futterkammer. Er verschwendete keine Energie mit Rufen. Er wusste jetzt, dass sie Bescheid wusste, und er wusste, dass sie sich versteckte. Man musste kein Genie sein, um das zu erkennen. Arch war kein Genie, aber überaus gerissen. Auf dem Handy kam ein Anruf. Simon erschrak dermaßen, dass er das Telefon in die Luft katapultierte. Es fiel mit einem Plumps herunter. Das Klingeln hallte auf dem Holzboden, was Plattgesicht veranlasste, die Augen aufzumachen. Sie war noch verstimmter als Matilda. Mrs. Murphy lag flach auf einem Ballen links von Harry, die hinter den Heuballen kauerte. Sie wünschte, sie hätte ihr Telefon nicht verloren; denn dann hätte sie Coop angerufen. Zu spät. Harrys einzige Hoffnung war Überrumpelung. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie meinte, Arch könnte es hören.
Er schwang sich oben von der Leiter, seine Arbeitsstiefel stampften auf dem Boden auf. Er überblickte den Heuboden, dann ging er das Handy aufheben. Er warf es wieder hin, und es rutschte zu Simon, der mit seinen schwarzen glänzenden Augen zuguckte. Sein Nest lag abgekehrt von Arch, aber der kräftige Mann stieg darüber, die Stiefel schlugen fest auf den Brettern auf. Plattgesichts Wut steigerte sich entsprechend. Der verängstigte Simon ließ sich auf die Seite plumpsen und stellte sich tot. Arch trat gegen das Handy, als er an Simon vorbei zu den höheren Heustapeln ging. Simon, unbeweglich wie ein Leichnam, machte dennoch die Augen auf, dann zuckte er mit der Nase. Erleichterung überkam ihn, weil Arch ein leicht übergewichtiges Opossum piepegal war. »Ich hatte vergessen, wie schlau du bist.« Arch ging jetzt mit 160
zielstrebigen Schritten. »Allerdings kannst du so schlau nun auch wieder nicht sein, Harry. Du hast den fremdgängerischen Kerl wieder geheiratet.« Mrs. Murphy machte sich so flach, wie sie nur konnte. Sie atmete kaum. Tucker raste wie wild unter der Leiter hin und her. »Pewter, tu was! Kletter die Leiter rauf.« Bei aller Nörgelei und allen Divenallüren bewährte Pewter sich in Krisensituationen. Sie schnellte vom Sattel, schoss an Tucker vorbei und blieb dann kurz stehen. »Bleib an der Seite von der Leiter. Wenn er runterkommt, beiß feste zu. Lauf im Kreis um ihn herum und hör nicht auf zu beißen. Schmerzmaximum.« Pewter hievte sich die Leiter hoch, dabei rief sie über die Schulter: »Sei still. Er soll nicht wissen, wo du bist, wenn er runterkommt.« Tucker hörte sofort zu bellen auf und kauerte sich neben die Leiter. Pewter kam in dem Moment oben an, als Arch Harry entdeckte, die heraussprang wie ein Kastenteufel. Sie rammte ihn mit der gesenkten Schulter und versetzte ihm so einen kräftigen Stoß, dass Arch zwei Schritte rückwärts taumelte. Sein Absatz zermatschte Matildas Eier. Sie schlug derart geschwind zu, dass Harry nur einen schwarzen Schemen sah. Matilda erwischte ihn über dem rechten Fußgelenk, versenkte ihre Zähne in voller Länge hinein, ließ los und glitt mit erstaunlicher Geschwindigkeit hinter die Heuballen. Mrs. Murphy sprang von ihrem Ballen, als Arch vor Schmerzen aufschrie. Sie landete auf seinem Kopf, wäre fast abgerutscht, grub ihre Krallen in sein Gesicht, um sich festzuhalten. Arch senkte den Kopf. Harry erkannte ihre Chance und stieß ihm ihr Messer, so fest sie konnte, unters Kinn. Sie stach schräg zu. Sie wendete dabei so viel Kraft an, dass die Klinge in seinem Kiefer stecken blieb. Sie konnte es nicht herausziehen. Sie stand zu dicht bei ihm. Arch konnte ausgreifen, obwohl die Tigerkatze biss und kratzte, was das Zeug hielt. Er packte Harry am Handgelenk und verdrehte ihr den Arm. Sie brüllte vor Schmerz. 160
Pewter, die der Anblick rasend machte, kletterte an Archs Bein hoch. Er hielt sich nicht damit auf, sie abzuschütteln. Arch war darauf fixiert, Harry zu töten. Pewter kletterte an seinem Oberkörper hoch, versenkte ihre gefährlichen Krallen in seiner Schulter und hielt sich fest, glitt dann Zentimeter für Zentimeter an seinem rechten Arm herunter. Bei seiner Hand angekommen, biss sie nach Leibeskräften zu. Aufheulend ließ er Harry los. Vielleicht hätte Harry wegrennen sollen, aber rasende Wut durchfuhr sie. Sie senkte die Schulter wieder und rammte sie, so fest sie konnte, in seinen Bauch. Weil sein Bein von Matildas tiefer Wunde schmerzlich pulsierte und er wegen des Bluts, das ihm in die Augen lief, kaum sehen konnte, schlug er diesmal mit den Knien auf dem Boden auf. Aber er stieß sich nach vorn und umklammerte Harrys Fußgelenk wie ein Schraubstock. Die Katzen sprangen ab, als Arch in die Knie ging. Simon schaute mit Entsetzen zu. Er war ein kleiner Feigling, und sein erster Instinkt war, sich tiefer in seinem Nest zu verkriechen. Alle Lebewesen erkennen ihresgleichen, sie merken sich, wer für sie sorgt, und das gewann die Oberhand über seine natürliche Ängstlichkeit. Simon watschelte nach vorn, während Harry Arch einen Schlag nach dem anderen versetzte, immer auf den herausstehenden Griff des Taschenmessers gezielt, so dass jeder Hieb einen brennenden Schmerz verursachte. Aber Arch zog sie herunter. Als er ihre Kehle mit beiden Händen umfasste - aus seiner rechten Hand und unter seinem Kinn strömte jetzt Blut hervor -, schlug sie wieder zu, so fest, dass das Messer am Griff abbrach. Die Katzen, die wussten, dass er trotz allem stark genug war, um Harry zu erwürgen, gingen auf seine Augen los. Als Pewter ihre Krallen in seinen linken Augapfel senkte, sickerte durchsichtige Gallertmasse heraus. Da wusste sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Der Schmerz brannte. Noch nie im Leben hatte Arch solche Schmerzen gefühlt. Er Heß los. Harry rappelte sich hoch. Vier große Schritte, und 161
sie war bei ihrem Handy. Arch hielt sich brüllend die Hände vors Gesicht. Sie betete, dass ihr Handy funktionierte, und sie wurde erhört. Sie drückte die Taste für Coops gespeicherte Nummer. Unterdessen gelang es Arch, wieder auf die Füße zu kommen. Harry konnte die Leiter nicht erreichen, weil er zwischen ihr und dem Fluchtweg stand. »Hallo.« »Coop. Hilfe. Zu Hause.« Mehr sagte sie nicht. Er stolperte wieder hinter ihr her mit der Kraft desjenigen, den es nicht mehr kümmert, ob er lebt oder stirbt. Harry ging langsam rückwärts und warf ihr Handy nach ihm. Die Katzen gingen mit ihr zurück. Simon schlich sich verstohlen hinter Arch. »Huhuhuhu.« Plattgesicht hatte genug gesehen. Sie stellte sich an den Rand ihres Nestes, breitete die großen Schwingen aus und hob lautlos ab.
Mit übermenschlicher Anstrengung unterdrückte Arch seine Schmerzen und lief wieder auf Harry zu. Sie machte zwei hastige Schritte rückwärts und wich dann nach links aus. Sein Vorwärtsschub und die Schwellung in seinem Bein hinderten ihn, so geschwind auszuweichen wie Harry. Vor ihm gähnte die offene Heubodentür, aber er blieb direkt am Rand stehen, um nicht zu fallen. Sein Stillstand ermöglichte es Simon, hinter ihm heranzuhuschen und ihn oberhalb des Fußgelenks zu beißen. Die kleinen scharfen Zähne konnten nicht so viel Schaden anrichten wie die von Matilda oder den Katzen, aber sie fügten dennoch Schmerz zu. Arch rang nach Luft, dann spürte er einen gewaltigen Schlag auf dem Kopf. Plattgesicht griff ihn mit geballten Klauen an. Er kippte vornüber, suchte wild fuchtelnd wieder ins Gleichgewicht zu kommen, stürzte aber vom Heuboden und brach sich beim Aufprall beide Beine. Harry lief gerade rechtzeitig zur offenen Tür, um Tucker aus dem Stall stürmen und Arch an der Kehle packen zu sehen. »Lass los, Tucker, lass los.« Sie war schweißgebadet, ihr 162 Handgelenk tat höllisch weh, wo er ihr den Arm verdreht hatte, und sie rang würgend nach Luft. »Ich schlitz ihm die Kehle auf.« Der kräftige kleine Hund war sich so hilflos vorgekommen, als er den schrecklichen Kampf auf dem Heuboden hörte. »Tucker, nein, aus.« Harry kämpfte gegen aufkommendes Schwindelgefühl. »Wir brauchen ein Geständnis!«, rief Mrs. Murphy. Der wutentbrannte Hund verstand. Tucker ließ von der Kehle ab, aber nicht ohne Arch etliche Wunden beizubringen. Sie behielt ihn im Auge, bereit, wieder zuzubeißen. »Dem Herrn sei Dank, Tucker ist ein Corgi«, entfuhr es Pewter, die selbst ganz außer sich war. »Schlau wie eine Katze.« Harry setzte sich hin, ließ den Kopf zwischen die Knie sinken. Plattgesicht, die zur Heubodentür herausgeflogen war, als Arch hinunterstürzte, kam wieder hereingeflogen. Sie stieß herab, so dass sie dicht über Harry war und ihr mit den Schwingen frische Luft zufächelte; dann schwebte sie hinauf zu ihrem Nest. »Danke«, rief Mrs. Murphy zu ihr nach oben. »War mir ein Vergnügen«, rief sie herunter. »Geschieht ihm recht.« Mrs. Murphy, Pewter und Simon quetschten sich neben Harry. Alle drei leckten ihr die Hände. Dann stellte Mrs. Murphy sich auf die Hinterbeine und leckte ihr das Gesicht. Arch heulte und schluchzte. Der schlimmste Schmerz war das Auge. Die gebrochenen Beine, der Schlangenbiss, die Bisse von Hund, Katzen und Opussum taten weh, aber das blinde Auge schmerzte unerträglich. Die Tiere hörten Cooper früher als Harry, aber kurz darauf hörte auch sie die Sirene des Streifenwagens und dann die von den Reifen weggeschleuderten Steine, als ihre Freundin in die Zufahrt brauste. Weitere Sirenen folgten.
Harry holte tief Luft und wischte sich die stummen Tränen fort. Sie weinte nicht aus Angst, sondern aus Dankbarkeit. Diesen kleinen Freunden und ihrem eigenen grimmigen Kampfesmut verdankte sie ihr Leben. 163
Sie stand auf, schüttelte den Kopf, kniete sich dann hin. Sie küsste Mrs. Murphy und Pewter. Simon konnte den Kuss eines Menschen nicht ertragen, darum strich sie ihm mit dem Zeigefinger über den Kopf. Sodann ging sie zur Leiter. Sie bückte sich, hob das Handy auf, besann sich anders und legte es auf den Boden. »Ein Geschenk von mir, Simon. Danke.« Freundschaft ist ein Extrakt der Süße des Lebens. Mrs. Murphy lauschte, als unter ihr die Freunde mehr über die Geschehnisse erfuhren. Sie lag bäuchlings auf einem breiten, niedrigen Ast des Walnussbaumes, ihre Beine hingen rechts und links herunter. Pewter posierte nahebei malerisch auf dem Picknicktisch, putzte sich und war so voll der Milch der frommen Denkungsart, dass sie beinahe muhte. Niemand nahm ihr das ab, aber sie fütterten sie trotzdem mit Bröckchen von gebratenem Huhn, Klümpchen von in Butter getränkten Brokkoliröschen und saftigen Häppchen von honiggeräuchertem Schinken. Tucker, die sich nicht ganz so theatralisch in Szene setzte, warf schmachtende Blicke um sich, als sie reihum hinter BoomBoom, Alicia, Big Mim, Miranda, Cooper, Susan, Fair und Harry trat. »Du wirst noch ganz schlapp, wenn du immer so von einem zum anderen gehst«, rief Mrs. Murphy zu ihr herunter. »Ich verbrenne Kalorien durch Bewegung.« »Olala!« Die Tigerkatze lachte, als der Hund einen großen Hühnerfleischbissen aus Big Mims Hand verschlang. Simon saß an der offenen Heubodentür und hörte mit halbem Ohr auf das Geplauder in Harrys Hof ihm gegenüber. Vornehmlich kaute er einen großen Himbeerlutscher, den Harry ihm geschenkt hatte. Süßigkeiten waren Simons Verderben.
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163 Zwei Tage waren seit Harrys Kampf mit Arch vergangen. Das verbundene Handgelenk tat weh, aber nicht so sehr, dass es sie gebremst hätte. »Dann war es am Ende kein volles Geständnis?« Big Mim, die Neuigkeiten immer gern als Erste erfuhr, kannte bislang nur Bruchstücke. Als Cooper zu Harry gekommen war, hatte sie als Erstes, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Harry nichts weiter fehlte, einen Krankenwagen rufen müssen. Es dauerte noch einen Tag, bis Arch in der Lage und gewillt war zu sprechen. »Er behauptet, ja.« Cooper reichte eine Platte mit Maisbrot weiter. »Rache. Gebrochenes Herz. Das gebrochene Herz kauf ich ihm nicht ab.« Susan schob mit der rechten Hand die glatten kurz geschnittenen Haare zurück. »Er war vier Jahre ohne Harry, und sie hat nie gesagt, dass mehr draus werden würde.« »Männer hören, was sie hören wollen«, sagte Alicia. »Verzeihung, Fair.«
»Ist sicher was Wahres dran.« Er war schwer erschüttert über Harrys Handgemenge und wütend auf sich, weil er die eigentliche Gefahr nicht erkannt hatte. »Er war so liebenswert.« Miranda suchte stets das Beste im Menschen. Sie seufzte. »Und werdet eurer Sünde innewerden, so sie euch finden wird«, zitierte sie aus dem 4. Buch Mose, 32. Kapitel, Vers 23, und fügte dann hinzu: »Man kann dem Herrn nicht davonlaufen. Meistens kann man auch dem Gesetz nicht davonlaufen.« »Hattet ihr eine Ahnung, du und Rick, dass es Arch war?«, fragte BoomBoom Cooper geradeheraus. »Unsere Hauptverdächtigen waren Toby, Rollie, Hy. Arch bildete das Schlusslicht. Toby war ursprünglich der Spitzenkandidat, wegen seiner hartnäckigen Feindseligkeit den anderen gegenüber, seinem irrsinnigen Konkurrenzdenken. Ich betone irrsinnig. Arch hat gestanden, Toby und Hy umgebracht zu haben, aber er schwört, dass er Professor Forland nicht getötet hat.« »Dann war es Toby?«, fragte Susan. 164
»Ich denke, ja. Die Kugel kam aus Tobys Pistole«, antwortete Cooper. »Er ist in der Stadt herumgefahren und hat mit seiner neuen Pistole angegeben. Er muss wahnsinnig gewesen sein«, sagte BoomBoom. Sie hatte von Alicia gehört, dass Toby seine verlegte Pistole in seinem Wagen gefunden hatte. »Er hatte nicht gedacht, dass wir die Leiche finden würden.« Cooper trank die beste Limonade ihres Lebens. »Als wir sie dann fanden - oh, wir sind gerade beim Essen. Jedenfalls hat der Gerichtsmediziner die Kugel entfernt. Es hat dann ein Weilchen gedauert, bis wir wussten, woher sie stammte.« »Er hat eine nagelneue registrierte Waffe benutzt«, bemerkte Fair, »eine richtig schöne Waffe. Er war entweder verrückt oder überheblich. Er hat die Grube im Pfirsichhain getarnt, aber früher oder später hebt oder senkt sich Erde nun mal.« »Was war das für eine Geschichte, dass Toby seine Waffe verloren hatte?« Alicia war Zeugin seiner Überraschung gewesen, als er die Pistole fand. »Wer weiß? Vermutlich hat er sie tatsächlich verloren oder aber vergessen, wo er sie gelassen hatte. Toby hatte ein Motiv, Professor Forland umzubringen. Er hat nie erfahren, warum er keinen Lehrstuhl am Technical College bekam, bis Arch es ihm quasi erzählt hat. Sagt Arch jedenfalls. Er sagt, er wusste, dass Toby es aus ihrer Unterhaltung auf Patricias und Bills Party heraushören konnte. Darauf sind bei Toby in seinem bedenklichen Zustand die Sicherungen durchgebrannt. Wir werden es nie genau wissen, aber vermutlich hat er Professor Forland gebeten, auf seinem Weg aus der Stadt einen kleinen Umweg zu machen und bei ihm vorbeizuschauen, oder sich irgendwo mit ihm zu treffen. Wir wissen nicht, warum er Forland in deinem Pfirsichhain verscharrt hat. Ich nehme an, er hat ihn in der Nähe umgebracht und ist in den Obstgarten gegangen, um zu sehen, ob du da irgendwo bist. Aber auch das werden wir nie genau wissen. Er war so klug, ihn
nicht auf Rockland Vineyards zu töten. Über die anderen zwei Morde wissen wir genau Bescheid.« »Aber es läuft eindeutig auf Toby hinaus.« Fair würde den 165
Anblick des Ermordeten nie vergessen. Es war weniger entsetzlich gewesen als unerwartet und auch traurig, wenn man Tobys gestörten Zustand bedachte. »Ja. Als Toby im Netz herumgesurft hat, ist er schnell dahintergekommen, dass die Zwergzikaden absichtlich in Harrys Pfirsichhain ausgesetzt worden waren. Seine erste Reaktion war, das sei ein Komplott, um seine Reben zu ruinieren. Immer ging es um seine Reben. Dann dachte er an die anderen Weingüter. Je mehr er sich damit beschäftigte, desto klarer wurde ihm, dass die Zwergzikaden, obwohl sie ausgesetzt worden waren, in einem Sommer keinen so großen Schaden anrichten konnten, um die Reben zu gefährden.« »Warum hat das zu seiner Ermordung geführt?« Boom-Boom war sehr neugierig. »Er hat sich an Arch gewendet. Sie standen nicht auf bestem Fuß. Aber immer noch besser als Toby und Hy. Toby hat Arch beschuldigt, die Zwergzikaden aus North Carolina geholt zu haben, um den Leuten Angst zu machen, in der Hoffnung, einige würden aussteigen. Er dachte, Arch und Rollie wollten den Markt aufkaufen und die Preise kontrollieren. Bevor Rollie sich hierher zurückzog >zurückzog< im lockeren Sinn -, pflegte er skrupellose Geschäftspraktiken. Er hat sein Vermögen mit der Übervorteilung anderer verdient. Arch hat das vor Toby bestritten. Es war aber die Wahrheit.« »Warum hat Arch ihn nicht einfach ignoriert?«, fragte Big Mim. »Er wusste, wie hochgradig intelligent Toby war. Toby würde früher oder später dahinterkommen, dass die Zwergzikaden für die Alverta-Pfirsiche bestimmt waren. Nein, sie konnten den Obstgarten nicht vernichten, aber sie hätten immerhin in dieser Saison einen geringfügigen Schaden angerichtet und wären dann bei Frost eingegangen. Er wusste, wie viel es Harry bedeutete, die alte Sorte zu erhalten. Mit der Zeit hätte er an anderen Pflanzen mit anderen Mitteln mehr Schaden angerichtet.« »Dann hat er Toby mit Tobys Waffe erschossen?«, fragte Fair. 165
»Ja, aber er hat Toby die Pistole an den Kopf gesetzt und ihn gezwungen, dich anzurufen. Archs Wut war eskaliert, von Pfirsichen auf dich. Er sagt, immer wenn er dich sah, hat er dich mit jedem Mal mehr gehasst. Du hättest Harry nicht verdient.« Fair legte seinen Arm um die Taille seiner Frau. »Da könnte er recht haben.« Harry wurde rot. »Schatz, lass die Schmeicheleien.« »Mein Herz, du bist das Beste, was mir je passiert ist, und ich hab dich früher schon einmal im Stich gelassen und jetzt wieder. Ich habe das mit Arch nicht kommen sehen.«
»Fair, keiner von uns hat das kommen sehen.« BoomBoom hatte schon immer viel für Fair übrig gehabt. »Sie hat recht. Arch hätte für seine Vorstellung einen Oscar gewinnen können.« Alicias Armband rutschte an ihrem Arm hoch, als sie zur Unterstreichung die Hand hob. »Sie müssen's ja wissen.« Big Mim lächelte. »Wir waren alle auf der falschen Spur. Auf die Weingüter und ihre Besitzer konzentriert.« Susan fand jedes Detail fesselnder und zugleich abscheulicher als das vorige. »Aber warum hat er Hy umgebracht? Das hat er doch gestanden, nicht?« BoomBoom war erleichtert, dass Fiona das Stigma des mutmaßlichen Selbstmords ihres Mannes nicht mehr tragen musste. Dergleichen sollte nicht an Familie und Freunden haften, aber in Sachen Selbstmord waren die Menschen offenbar starrsinnig. »Hy, ebenfalls auf Draht, wenn es um Schutzmaßnahmen vor Parasiten und Pilzen ging, hatte sich über die Zwergzikaden kundig gemacht, sobald er davon hörte. Laut Arch war es seine Sorge, dass sie sich dank der globalen Erwärmung weiter nach Norden verbreiteten.« »Der Baumwollkapselkäfer.« Miranda kannte sich mit Schädlingen aus. »Und der Parasit, der Honigbienen tötet und 1980 bis weit hierher in den Norden gelangt ist und Verwüstung anrichtet? Das hat bestimmt was mit dieser Erwärmungsgeschichte zu tun.« Dies machte Harry Sorgen, wie allen Farmern. 166
»Hy ist zu deinem Pfirsichhain gefahren, um selbst nachzusehen«, fuhr Cooper mit Archs Geständnis fort. »Er war wie Toby überzeugt, dass die Zwergzikaden dort ausgesetzt worden waren. Er dachte, sie konnten nicht hingeflogen sein, denn dann wären sie auch in andere Obstgärten und Weinpflanzungen zwischen hier und North Carolina eingefallen. Er wusste genau, dass die Zwergzikaden ausgesetzt worden waren. Er wollte rauskriegen, warum. Es war Hy offenbar unmöglich, sich mit Toby über irgendetwas auszutauschen. Arch war dank seiner umfassenden Kenntnisse natürlich derjenige, mit dem Hy darüber sprach. Das erwies sich als fataler Fehler.« »Hy hat das nicht mit Rache an Fair und Harry in Verbindung gebracht, nicht?« Susan dachte, dass drei Leben sinnlos weggeworfen worden waren. »Arch ist kein Risiko eingegangen. Er hat sich die Sache mit den Zwergzikaden zusammengereimt. Und er war entsetzt, dass, nachdem er soeben Toby erschossen hatte, Hy vor Fair angefahren kam. Archs Plan schlug fehl, ausgesprochenes Pech. Er ist hinten rausgefahren, als er Hys Wagen vorne reinkommen hörte. Wegen des Hügels dort konnte er ihn nicht sehen, und er nahm an, es sei Fair. Fair wäre für lange Zeit in der Strafanstalt verschwunden, oder die Anwaltsgebühren hätten ihn zugrunde gerichtet, egal wie die Sache ausgegangen wäre. Arch war fassungslos, als er erfuhr, dass wir Hy verhaftet hatten. Er hatte gedacht, wenn Fair ins Gefängnis
käme, könnte er Harry zurückerobern. Falls Fair davonkäme und sie bankrott wären, schön, dann hätte er sie mit Freuden leiden sehen, weil sie bei Fair blieb.« »Plattgesicht ist über Hy drübergeflogen, als er in den Pfirsichhain fuhr«, brachte Mrs. Murphy Pewter und Tucker beiläufig in Erinnerung. »Es gab keine Möglichkeit, Harry zu verständigen.« Pewter rülpste. »Pewter, benimm dich«, sagte Harry. »Du rülpst wohl nie«, gab Pewter frech zurück. »Könnte schlimmer sein. Hätte am andern Ende rauskommen können.« Tucker kicherte. 167
»Ich gehe.« Pewter sprang beleidigt von der Sitzbank, sprang aber gleich wieder drauf. »Ha! An dem Tag, -wenn du von Fressalien weggehst, geht die Sonne im Westen auf.« Mrs. Murphy schlug heftig mit dem Schwanz. »Dann wurde Arch klar, dass Harry auch dahinterkommen würde. Es würde bei ihr vielleicht etwas länger dauern, weil sie sich gegen den Gedanken sträuben würde. Dominosteine.« Cooper hatte ihr Schinkensandwich aufgegessen und schaute sehnsüchtig auf die Kirschpastete. Sie beherrschte sich aber tapfer, bis alle zu Ende gegessen hatten, ehe sie sich auf den Nachtisch stürzte. »Ohne Mrs. Murphy, Pewter und Tucker wäre Arch womöglich davongekommen.« Harry sah zu Mrs. Murphy hoch, die sich in dem Lob sonnte. »Er wäre nicht davongekommen, Harry. Er hätte dich vielleicht umgebracht, Gott verhüte, aber wir hätten ihn geschnappt«, sagte Cooper bestimmt. »Wo bleibt Rollie dabei?«, fragte Fair. »Er war erschüttert. Chauntal auch. Ich musste Rollie sagen, dass er ein Verdächtiger war und warum. Er war darüber nicht gerade erbaut, aber er hat zugegeben, dass er, mit seinen Worten, >in Geschäften maßlos aggressiv< war. Seine nächste Sorge war, dass er womöglich angeklagt werden würde. Arch ist sein Geschäftspartner. Ich sagte ihm, er wäre nicht der Erste, der einen Geschäftspartner im Gefängnis hat. Ich habe ihm auch gesagt«, Cooper sah Harry und dann Fair an, »dass es nicht eure Art ist, so zu handeln.« »Danke«, erwiderte Fair schlicht. »Ich sollte mich wohl auch bei Matilda, Plattgesicht und dem kleinen Simon bedanken. Ich hab euch ja schon erzählt, was sie gemacht haben.« Harry lächelte. »Matilda hat es nicht getan, weil sie dich gern hat. Sie war sauer, weil Arch ihre Eier zermatscht hat.« »Das weißt du nicht.« Tucker wischte sich mit der Pfote über die Barthaare. 167 »Schlangen legen ihre Eier und vergessen sie. Sie sorgen sich nicht um ihre Babys«, verkündete Pewter mit Bestimmtheit. »Möglich, dass Matilda anders ist.« Tucker nahm die Kletternatter in Schutz, obwohl sie sie nicht besonders mochte.
»Sie ist allerdings anders. Sie arbeitet daran, die größte Kletternatter in Amerika zu werden.« Mrs. Murphy atmete die reine Luft ein. Eine leichte Strömung wirbelte von der Ostseite des Blue-Ridge-Gebirges herab. »Das kann man wohl sagen!«, sagte Pewter in einem Anflug von Lebhaftigkeit. »Ihr Biss hat bestimmt so wehgetan, dass Arch in einer Minute ein einstündiges Feuerwerk gesehen hat.« »Plattgesicht hat mitgeholfen.« Tucker lächelte. »Sie meckert über uns, schimpft uns Erdlinge, aber sie leistet ihren Anteil. Sie kann bloß nicht zugeben, dass wir alle zusammengehören.« Pewter warf sich in die Brust. Als Mrs. Murphy Pewters geblähte Brust sah, fragte sie: »Musst du wieder rülpsen?« »Nein«, lautete die prompte, empörte Antwort. Mrs. Murphy senkte die Stimme. »Wird es schlimmer?« »Ich muss nicht kotzen. So viel hab ich nicht gegessen. Ich war ausgesprochen vernünftig.« Diese unverschämte Lüge machte Mrs. Murphy und Tucker sprachlos. Mrs. Murphy setzte sich auf, streckte sich und sah zu Simon hinüber. »Er hat den Himbeerlutscher gegessen. Jetzt spielt er mit dem Handy.« »Wartet, bis Harry die Rechnung für die Anrufe nach Rio de Janeiro kriegt.« Pewters gute Laune war wiederhergestellt, indem sie sich ausmalte, wie jemand sich ärgerte. »Er kann das Telefon nicht benutzen. Dafür ist Simon nicht intelligent genug«, sagte Tucker. »Ich meine das nicht böse, aber er ist wirklich nicht der Hellste.« »Er kann auf die Tasten drücken. Er weiß vielleicht nicht, was er tut, aber irgendwas löst er sicher aus. Er hat die Antenne rausgezogen.« Pewter fand das zum Piepen. »Harry wird das Telefon bei ihrem Anbieter abmelden. Sie braucht vielleicht einen Tag, bis es ihr einfallt, aber sie wird sich ein neues Telefon besorgen und die Nummer übertragen. Allerdings, wer weiß? 168 Bis dahin hat er vielleicht schon einen Anruf getätigt.« Mrs. Murphy ließ sich mitreißen. »Und wenn die Musiktöne kommen, wirft er das Handy in die Luft und rennt quiekend in sein Nest.« Pewter lachte laut. Die Menschen, die in die Unterhaltung der Tiere nicht eingebunden waren, hatten darüber gesprochen, warum jemand mordete, besonders jemand wie Arch, weil es doch aussichtslos war. Wie hatte er davon träumen können, Harry zurückzuerobern, indem er Fair schadete? Natürlich war es Arch nicht in den Sinn gekommen, dass ihr sein Vorhaben, Fair reinzulegen, bewusst geworden war. »Am Ende ist er durchgedreht und dachte, wenn er Harry nicht haben konnte, sollte keiner sie haben.« BoomBoom nannte das Kind beim Namen. »>Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes<.« Miranda zitierte aus dem Römerbrief, 12. Kapitel, Vers 19. »Die Früchte des Zorns!«, meldete sich Pewter. »Ach, Pewter.« Mrs. Murphy rümpfte die Nase. »Du bist ja bloß neidisch, weil dir das nicht eingefallen ist.« Pewter warf sich wieder in die flaumige Brust. »Miesmachermieze.«
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Liebe Leserinnen und Leser, die vielen Untersuchungen über Reben und Trauben haben mich interessiert, weil Vögel an Trauben gehen. Aber eigentlich hätte ich lieber ein Buch über den Anbau von Katzenminze geschrieben. Mutter meinte, das hätte die Akzeptanz stark eingeschränkt. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich gebe meine Katzenminze-Idee nicht auf. Früher oder später werde ich mich durchsetzen. Erst mal habe ich ihre Lieblingssocken versteckt. Billige Rache, sagen Sie. Ha. Imelda Marcos hat Schuhe, Mutter hat Socken. Die sind jedenfalls erschwinglicher als ein Schrank voll Schuhe. Wenn sie auf meine Linie einschwenkt, hol ich die Socken wieder raus. Am 6. Mai 2005 hat der Oberste Gerichtshof der USA entschieden, dass Gesetze, die den Direktversand von Wein an Verbraucher in anderen Staaten verbieten, verfassungswidrig sind. In ganz Virginia wurde gefeiert. Ich vermerke hier, dass Virginier jeden Vorwand für eine Feier nutzen, sie sind ausgesprochen gesellig. Hier läuft alles bestens. Ich hoffe, es gibt in eurem Leben genügend Feldmäuse, Maulwürfe, Wühlmäuse, Schmetterlinge und den ein oder anderen unachtsamen Vogel. Mit freundlichen Katzengrüßen Sneaky Pie 169
Liebe Leserinnen und Leser,
eben habe ich die Korrekturen von »Personen der Handlung« gelesen und musste feststellen, dass meine Ko-Autorin etwas angefügt und die Tiere als die wichtigsten Charaktere herausgestellt hat. Ihr Ego ist gasförmig, es dehnt sich immer weiter aus. Aber ich muss die zweite Heumahd erledigen, weil es heute Nachmittag höchstwahrscheinlich ein Gewitter gibt. Ja doch, man macht Heu, wenn die Sonne scheint. Mir bleibt keine Zeit, den Text umzuschreiben, er muss zu Danielle Perez, meiner wunderbaren, mit einem sarkastischen Humor gesegneten Lektorin. Falls Sneaky sich noch mehr herausgenommen hat, sehe ich es erst, wenn ich das gebundene Leseexemplar in der Hand halte. Dann ist es zu spät. Sie müssen wissen, es ist die Hölle, mit einer Katze zusammenzuarbeiten. Katzen sind wirklich schlauer als wir. Haben Sie schon mal jemanden gehabt, der Sie füttert, Ihre Rechnungen bezahlt, Ihnen den besten Sessel überlässt, Ihnen sagt, wie schön Sie sind und Sie täglich bürstet? Ich auch nicht. Ihre Rita Mae Brown 169
Danksagung Ruth Dalsky lud bei mir einen Karton voll Informationen ab über Krankheiten, die Rebstöcke befallen. Dies ist das einzige Mal in meinem Leben, dass ich bedaure,
auf dem College nicht organische Chemie belegt zu haben. Ruth erwies sich als ein regelrechter Wirbelwind im Recherchieren und als hoch geschätzte Freundin. Meine Nachbarin Lynn Stevenson besuchte die Weingüter in unserer Umgebung. Sie telefonierte zudem mit zahlreichen Winzern, um bestimmte Informationen zu erhalten. Sie war in ihrem Element, weil sie und Gib, ihr Mann, guten Wein schätzen, und weil Lynn nicht glücklich ist, wenn sie nicht etwas lernen oder etwas Produktives leisten kann. Gott verhüte, dass sie mal stillsitzt. Und dabei hat sie keinen Cent für ihre beträchtlichen Mühen genommen. Kay Pfaltz, ein Experte auf diesem Gebiet, hat für Lynn einen Karton mit Rot- und Weißwein zusammengestellt. Weil Lynn fand, das sei zu viel, schrieb sie dem Jagdverein einen Scheck für meine Jagdhunde aus. Lynn, du bist das Geld/den Wein echt wert! (Und du bist ein Original.) Kristin Moses vom Weingut Kluge Estate Winery and Vineyard sowie David King von King Vineyards unterstützten Lynn bei ihren Bemühungen. Auch die Leute bei Veritas Vineyards und White Hall Vineyards haben Fragen beantwortet. Sie, die jeden Schritt des mühseligen Prozesses vom Weinstock bis zur Flasche gehen, teilen ihr Wissen bereitwillig mit. Es ist wahrlich eine große Leidenschaft. Kaiser Bill, ein Polopferd im Ruhestand, ist überzeugt, dass Lynn Stevenson ihre Wunder ohne seine Mitwirkung nicht hätte vollbringen können. Dank »Mom« Lynn lebt das Pferd wie ein König. Ein einzigartiges Erlebnis bei den Vorbereitungen für dieses Buch war der Besuch auf Chellowe, einem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gegründeten Landsitz in der Nähe der heutigen Route 15 in Buckingham County, Virginia. Dieses außergewöhnliche Anwesen im Besitz von Mr. und Mrs. Gene Dixon wird derzeit unter Verwendung der ursprüng170
lichen Methoden und weit möglichst des ursprünglichen Materials originalgetreu restauriert. Die Restaurierungsarbeiten sind seit Jahren im Gang und werden bis zum Abschluss noch etliche Jahre dauern. Chellowe war das erste Anwesen in Virginia, dem die Lizenz zum Anpflanzen von Rebstöcken erteilt wurde. Mr. Bollin, der ursprüngliche Besitzer, war auch ein Dichter. Vielleicht hat der Wein die Musen inspiriert. Mr. Lucius Bracey junior antwortete prompt auf meine Fragen nach Sicherheitsleistungen. In mehr als dreißig Jahren war Lucius immer erfolgreich. Falls Sie sich für irgendeins der oben genannten Weingüter interessieren: Einige sind gelegentlich, andere ganzjährig für das Publikum geöffnet. Mehr über diese und andere Weingüter in Virginia erfahren Sie unter: Ich sollte an dieser Stelle gestehen, dass ich keinen Wein trinke. Ich trinke nicht, Punktum. Ich bin keine Ex-Alkoholikerin, die alkoholische Getränke meiden muss. Ich habe den Geschmack nie mögen gelernt, und als Jugendliche, die der Universitätsmannschaft angehörte, wollte ich den Zorn des Trainers nicht riskieren, den ich mir durch Alkoholgenuss unweigerlich zugezogen hätte.
Aber Landwirtschaft, in die ich hineingeboren bin, betreibe ich bis heute, und das Studium der Methoden zur Kultivierung der verschiedenen Rebsorten, des geeigneten Bodens, der Sonnen- und Höhenbedingungen erzeugte eine tiefe Bewunderung für die Leute, die Weinbau betreiben. Landwirtschaft ist ohnehin nichts für Schwächlinge, aber die Bewirtschaftung eines Weinguts ist besonders arbeitsintensiv, sie erfordert Intelligenz und harte Anstrengungen, um über die Runden zu kommen. Wenn Sie das nächste Mal einen guten Jahrgang trinken, sprechen Sie ein Gebet für den Menschen draußen auf den Feldern, der das alles bewerkstelligt hat. Immer und ewig, R. M. B.