GG13 - Die Künstlichen Beliebter Menschenersatz - entartet zum wahren Horrortrip! von Wilfried Hary
ISBN: 3-8328-1237-7
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Einführung
2. April 2453 (ab Band 12) = Eine unheilvolle Krise breitet sich auf der Erde aus, ohne daß die Bevölkerung etwas ahnt. Dreh- und Angelpunkt sind die sogenannten Puppen = Androiden als Kinderersatz. Auch eine Frau namens Judy Hamilton ahnt es nicht. Sie erfährt soeben, daß sie keine Kinder haben darf - und hoffentlich wählt sie nicht die "Alternative" namens Puppen...
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1
Wie aus weiter Ferne hörte Judy: »Das Gesetz bestimmt, daß unfruchtbare Frauen auch unfruchtbar bleiben! Eine Ausnahme ist nicht möglich. Es gibt dennoch genügend Frauen, die fruchtbar sind - und das auch ohne entsprechenden Eingriff!« »Aber warum kann ich nicht einfach ein Kind adoptieren?« schrie Judy Hamilton auf. »Auch die sogenannten Adoptivmütter werden untersucht. Gelten sie als fruchtbar, stärkt das ihr Selbstbewußtsein in der Rolle als Mutter. Möglich, daß sie sich vormachen, das Kind sei ihr eigenes Fleisch und Blut. Stellt es sich heraus, daß sie nicht fruchtbar sind, gelten sie als psychisch labil. Kann man ihnen unter diesen Umständen überhaupt ein Kind anvertrauen?« Die ganze Verzweiflung brach in Judy wieder durch. »Warum werden sie dann überhaupt untersucht? Das ist doch Wahnsinn. Sie würden es nie erfahren und wären psychologisch gefestigt.« »Ich wiederhole: Es gibt genügend Fruchtbare! Man sollte sich in erster Linie auf deren Rechte konzentrieren und sie nicht durch Schaffung einer neuen Scheingerechtigkeit weiter beschneiden.« Es klang hart aus dem Munde der Krankenschwester. »Bei all diesen Maßnahmen grenzt es an ein Wunder, daß überhaupt so viele Menschen auf der Erde herumlaufen, daß der Planet nicht endlich von seiner Bevölkerung verliert.« Ellen nickte. »Auch dafür gibt es eine Begründung. Als unsere Städte gebaut wurden, steckte die Geburtenkontrolle noch in den Kinderschuhen und war aus politischen Gründen nur bedingt durchsetzbar. Jetzt sind die Wohnsilos vollautomatisiert und erhalten sich selbst. Sie sind in sich weitgehend autark und werden durch ein enges, weltweites Netz von Verbindungen zu einer Einheit verwoben. Niemand vermag es mehr, drastische Änderungen vorzunehmen oder die Städte gar abzuschaffen - allein schon wegen der Computer, die die wichtigsten und kompliziertesten Arbeiten erledigen und von den Menschen lediglich überwacht werden, damit sie auch in ihrem Sinne handeln. Man kann sie nicht mehr umprogrammieren, weil das ein vorübergehendes Abschalten notwendig machen würde. Dabei würde Chaos ausbrechen. Die gesamte Organisation wäre gefährdet. Niemals darf die Bevölkerung wesentlich unter die jetzige Marke sinken, denn alle sind Konsumenten - auch, wie schon erwähnt, diejenigen, die keine Arbeit haben und somit von der Allgemeinheit praktisch ernährt werden. Eine Verminderung der Kopfzahl würde das ökonomische Gleichgewicht empfindlich stören. Wir werden auch nicht weniger, denn trotz aller Maßnahmen reichen die Geburten - zumal das Kolonisationsprogramm zur Zeit eingefroren ist -, und die Lebenserwartung ist enorm hoch.« »Kolonisationsprogramm?« echote Judy. Sie schüttelte den Kopf. Nein, selbst diese Hoffnung gab es nicht mehr... »Nun, wenn mehr Menschen bereit gewesen wären, den Kolonistenstreß auf sich zu nehmen, hätte das Programm vielleicht eine spürbarere Wirkung gezeitigt. Viele Millionen Menschen sind ausgewandert, aber im Zeichen der irdischen Bevölkerungsexplosion dennoch eine vergleichsweise bescheidene Zahl, denn was sind Millionen schon angesichts dieser Milliardenbevölkerung...?« »Ein Teufelskreis also - sowieso?« »Ja, ein Teufelskreis, in dem wir uns befinden und aus dem es kein Entrinnen gibt!« Copyright 2001 by readersplanet
Judy Hamilton mußte sich irgendwo festhalten. »Falls ich jemals an der Notwendigkeit Ihrer Tätigkeit hier gezweifelt habe - jetzt muß ich mich für diesen Zweifel entschuldigen«, murmelte sie tonlos. »Die notwendigen Kinder dürfen nur Eltern haben, die eine im hohen Maße saubere Erbanlage besitzen. Würde man mich durch eine Operation fruchtbar machen, wäre das ein Eingriff in die Natur. Oder soll ich sagen, die Zucht würde gefährdet werden?« »Diese Zucht, wie Sie es abfällig nennen, ist erforderlich. Andere Menschen als solche, die geboren werden, könnten dieses Leben gar nicht ertragen. Davon sind wir überzeugt!« Judy nickte. Es kam ihr zu Bewußtsein, wie nichtig im Grunde genommen all ihre Ängste, Träume, Vorstellungen und Wünsche gewesen waren. Es war alles bedeutungslos, denn sie durfte kein Kind haben. Ellen klopfte der gebrochenen Frau kameradschaftlich auf die Schulter. »Sie werden es überwinden - wie schon Milliarden vor Ihnen, Mrs. Hamilton. Es gibt immer noch die Möglichkeit, eine der sogenannten Puppen zu übernehmen. Sie sind ganz harmlos, wie echte Kinder, überhaupt nicht von diesen zu unterscheiden.« »Bis sie dann ein bestimmtes Alter erreicht haben und sterben«, sagte Judy monoton. Es klang, als spreche sie einen Psalm. »Ihr Gewebe beginnt zu verfallen. Von einem Pseudobestattungsinstitut werden sie abtransportiert und zur FEDERAL PUPPET zurückgebracht, damit dort eventuell das komplizierte und sehr teure biotronische Gehirn wiederverwendet werden kann. Sonst wären die Puppen unerschwinglich. Für mich ist das der größte Wahnsinn von allem!« Sie löste sich aus dem Griff der Schwester und wandte den Kopf ab. Ellen zuckte die Schultern. »Es war nur ein Vorschlag. Die Entscheidung liegt selbstverständlich bei Ihnen!« Bei sich dachte sie: Und ich weiß, daß auch diese Frau eine Puppe haben wird - so wie all die anderen vor ihr. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
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2
Jan Holleway kam sich ein wenig überflüssig vor. Er versah in einer Stadt des Gebiets Schweden seinen langweiligen Dienst. Natürlich waren die Polizeiorgane meist Roboter. Aber noch war man auf die Hilfe und Mitwirkung von Menschen angewiesen. Bei der gegenwärtigen Stagnation der Wissenschaft und Technik würde sich das auch nicht so schnell ändern lassen. Jan saß vor dem gigantischen Schaltpult mit seinen tickenden Relais, summenden Anzeigen und flackernden Bildschirmen. Letztere waren von ständigem Leben erfüllt. Jede Sekunde ein anderes Bild. Aus den Informationsausgaben ratterten kleine Papierfahnen - in unregelmäßigen Abständen. Jan warf einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte Stadtzeit. Seit zwei Stunden saß er hier. Nichts hatte sich ereignet, und doch war da ein unruhiges Gefühl in seiner Brust, das er sich selber nicht recht erklären konnte. Es schien, als hätte er den sechsten Sinn, der ihm Dinge verriet, die nicht einmal die Computerüberwachung erfaßte. Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Dann sprang er entschlossen auf. In nicht vorgeschriebenem Rhythmus - der sich lediglich nach dem anfallenden Arbeitsaufwand richtete - war er gehalten, die lange Front der Schaltwand abzuschreiten und die Papierfahnen zu kontrollieren. Das tat er jetzt. Er nahm jede in die Hand und las die Hieroglyphen, die nur einem Experten wie ihm etwas bedeuteten. Alles Bagatellfälle, die der Computer ohne menschliches Zutun erledigen konnte. Sämtliche Stockwerke wurden von der Zentrale hier kontrolliert. Mobile Einheiten waren unterwegs, gesteuert von den künstlichen Gehirnen. Der Rundgang nahm zehn Minuten in Anspruch. Danach kehrte der Captain zu seinem zentralen Sitzplatz zurück. Sein drehbarer Sessel stand inmitten einer halbrunden Miniaturausgabe der großen Schaltwand. Mühelos konnte Jan darüber hinwegblicken. Überlegend kratzte er sich am Kinn. Dann drückte er eine Kombination in die Tastaturen des Videophons. Er wollte sich ablenken, der Langeweile entfliehen, die ihm mehr zusetzte als sonst. Vielleicht gab es in der medizinischen Zentrale etwas Neues? Sekunden später flammte der Bildschirm auf. Eine ungemein hübsche Blondine erschien. Sie blickte auf und runzelte dabei unwillig die Stirn. »Ach, du bist es, Jan.« Sie wurde gleich versöhnlicher. »Scheint ja viel Betrieb zu sein bei dir, Conny.« Hinter der Blondine war der Ausschnitt einer Schaltwand zu sehen. Conny Egerbladh war der ironische Unterton in Jans Stimme nicht entgangen. »Im Gegensatz zu dem, was bei euch so passiert - ja!« entgegnete sie schnippisch. »Nun hör mal, Conny. Du machst dich wirklich verrückt. Der Computer ist doch gut programmiert - deiner so wie meiner. Kann mir einfach nicht vorstellen, daß in der Medizinischen mehr los sein soll als bei der Polizei.« »Es ist aber so!« trumpfte Conny auf. »Die scheinen alle zu wissen, wann ich Dienst habe. Darauf lauern sie bloß. Und sobald ich hier bin, brechen wahre Epidemien aus.« Jan Holleway lachte, doch klang es irgendwie unecht. Da war wieder jene Ahnung, die ihm zu schaffen machte und gegen die er nicht recht ankam. Copyright 2001 by readersplanet
»Sag mal, Conny, gibt es tatsächlich Außergewöhnliches - äh, ich meine, ist doch alles Routine, oder?« Sie bedachte ihn mit einem erstaunten Blick. Ihre Lider flatterten auf einmal. »Sei nicht so neugierig!« stieß sie hervor, und Jan bildete sich ein, daß die attraktive Blondine blaß geworden war. Verheimlichte sie etwas? Wenn ja - warum ? Jan schluckte den imaginären Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Er schalt sich einen Narren und sagte leichthin: »Na gut, ich sehe schon, es hat wenig Sinn. Ich störe. Wenn dich einmal Langeweile überkommen sollte, weißt du, wie ich zu erreichen bin.« »So schön möchte ich es auch einmal haben«, kommentierte Conny. Dann unterbrach sie die Verbindung. Jan Holleway blieb bewegungslos sitzen. Er starrte auf den erloschenen Bildschirm direkt vor ihm. »Es liegt etwas in der Luft!« murmelte er bedeutungsvoll. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich durch das widerborstige Haar. Dann hatte er sich zu etwas entschlossen. Zum zweiten Mal begab er sich auf seinen Rundgang und kontrollierte die Computerausdrucke. Hatte er zunächst gehofft, durch den Anruf Erleichterung zu finden, so mußte er sich nun eingestehen, daß seine Nervosität sogar noch gewachsen war. Jan ging sogar einen Schritt weiter. Er begnügte sich nicht allein mit der Kontrolle der Druckfahnen, sondern holte darüber hinaus die einzelnen Sektoren - vorzugsweise die mit den Civitanoj, die als besonders gefährdet galten - per Bildschirm zu sich herein. Keinerlei Ergebnis. Er sollte anscheinend auch weiterhin seine Ruhe haben. Wie die Ruhe vor dem Sturm kam es ihm vor. Jan Holleway schickte sich an, die Zentrale zu verlassen. Auf dem Gang draußen stand ein Kaffeeautomat. Der war sein Ziel. Als Captain verdiente man recht gut - genug, um sich neben der Grundnahrung auch ein paar Luxusgüter zu leisten. Er zückte eine der vor einiger Zeit wieder in Mode gekommenen Münzen, nachdem die Tür in die Wand geglitten war, und trat hinaus. Das Geldstück wirbelte durch die Luft. Jan fing es geschickt auf. Kopf! Also leistete er sich einen Becher Synthokaffee! Jan Holleway verfuhr meistens so. Hätte das Geldstück die Zahl gezeigt, hätte er auf den Genuß verzichtet. Er warf ein und wartete. Lange dauerte es nicht. Der Automat arbeitete. Wenig später schon öffnete sich eine Klappe. Aromatischer Duft verbreitete sich. Jan Holleway schnupperte genießerisch. Er mochte den Kaffee besonders pechschwarz, bitter und heiß. Voller Vorfreude griff er nach dem Becher. Sogleich verzog er das Gesicht. Dieser Kaffee war so temperiert, daß man sich daran die Finger verbrennen konnte. Jan holte den Becher aus der Ausgabe und wechselte ihn von einer Hand in die andere. Dabei blies er kräftig. Nach dem ersten vorsichtigen Nippen fing Jan an zu fluchen. Er würde wohl noch verzichten müssen, bis das Zeug abgekühlt war. Rasch kehrte er zu seinem Platz zurück. Dabei brachte er das Kunststück fertig, nicht einen einzigen Tropfen zu verschütten. Jan stellte den vollen Becher ab und schlenkerte die Hände. Ärgerlich betrachtete er die schwarze Flüssigkeit. Es half alles nichts. Er angelte sich die Packung Synthozigaretten und schnippte eine heraus. Jan sog am Filterende, wobei das Stäbchen sich selbständig entzündete. Genießerisch paffend legte der Mann die Füße auf die Kante des Schaltpults und lehnte sich bequem zurück. Fast war er versucht, wieder in der medizinischen Zentrale anzurufen - diesmal allerdings nicht, weil er sich sorgte, sondern nur, um zu fragen, ob Conny noch immer keine Zeit für ihn hatte. Allmählich kehrte seine gewohnte innere Ruhe wieder ein.
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Das Rufzeichen der Videoanlage ertönte. Es schrillte in Jans Ohren wie ein Alarmsignal. War das etwa Conny Egerbladh? Aber es konnte auch ein Gespräch von außerhalb sein - ein Privatanschluß. Privilegiertere Laboristoj, die Hilfe brauchten, durften sich direkt an ihn wenden. Auf jeden Fall gab es Abwechslung, und Jan Holleway konnte das nur begrüßen, zumal er keine Ahnung hatte, was wirklich auf ihn zukommen würde. Er tastete die Bestätigung. Die Verbindung stand. Eigentlich hatte der Captain vorgehabt, sich mit der üblichen Routineformel zu melden, aber als er sah, in welcher Verfassung sich die Anruferin befand, verschluckte er sich am Rauch und hustete sich fast die Lunge aus dem Hals. Die Frau schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Ihr Gesicht zeigte tiefe Kratzspuren. Heller Wahnsinn flackerte in ihren Augen. »Bitte - bitte, kommen Sie!« stammelte sie. »Mein - mein Mann - tot - glaube ich - tot - die Kinder - meine Kinder - er ist tot - ermordet - haben ihn umgebracht - einfach umgebracht!« Sie brach mit einem lauten Schluchzen ab und barg ihr Gesicht in der Armbeuge. Der Captain war fassungslos. Er hatte in seiner Laufbahn schon eine Menge Dinge erlebt, aber dieser Fall hier versprach in jeder Hinsicht außergewöhnlich zu sein. Und damit lag er genau richtig! Für einen Augenblick sah Jan kleine Schatten im Hintergrund hin und her huschen. Er konnte es nicht genau erkennen, und bevor er sich darauf konzentriert hatte, richtete sich die Frau wieder auf. »Hilfe!« kreischte sie verzweifelt. Sie kam der Aufnahmelinse des Geräts noch näher. Jetzt konnte Jan überhaupt nicht mehr sehen, was hinter der Frau los war. »Von wo rufen Sie an?« fragte er barsch. Er tat dies, obwohl ihm das seine Anlage sowieso mitteilen würde, wenn er jetzt den entsprechenden Schalter umlegte - und absichtlich in einem solchen Ton, um die Anruferin wieder zur Vernunft zu bringen. Eine helle Kinderstimme sang einen Spielreim - einen, den Jan noch nie zuvor in seinem Leben gehört hatte: »Vater, Mutter tot Sie gaben uns kein Brot. Schlag alle tot, schlag alle tot Sie gaben uns kein Brot!« Irgend etwas zersplitterte krachend. Die Augen der Frau weiteten sich unnatürlich. Es hatte den Anschein, als wolle sie über den Bildschirm zu Jan Holleway kommen, was natürlich unmöglich war. Der Frau schien das gar nicht bewußt zu werden. »Hilfe!« gurgelte sie. »Sie wollen auch mich!« Jan Holleway spürte eine Gänsehaut. Er machte schon eine ganze Reihe von Jahren hier Dienst und hatte die unmöglichsten Sachen gesehen. Das hier überforderte ihn im Moment. Er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Kichernde Kinder. Wirklich Kinder? Eine rasche Bewegung. Die Frau schrie gellend. Und dann tauchte sie plötzlich aus dem Bild, als habe sie etwas mit gewaltiger Kraft weggerissen. Jan Holleway sah das ganze Ausmaß der Verwüstung, die in der Wohnung stattgefunden hatte. Eine Kinderhand wischte kurz über die Aufnahmelinse und hinterließ eine rote Spur. Es war die letzte Übermittlung. Das Bild auf dem Schirm erlosch. Die Verbindung bestand nicht mehr. Copyright 2001 by readersplanet
Jan Holleway war wie zur Salzsäule erstarrt. Fassungslos blickte er auf das Gerät. »Der reinste Horror!« brach es aus ihm hervor. Erst danach war er zu einem vernünftigen Gedanken fähig. Unterbewußt hatte er einen Schalter umgelegt. Es war während des Gesprächs geschehen. Das hatte er tun müssen, denn damit setzte man den Mechanismus in Gang, der es ermöglichte, die Wohnung zu orten, von der aus angerufen worden war. Jan Holleway hatte in alter Routine gehandelt. Das Schlimme war, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wann er den Schalter betätigt hatte. War es rechtzeitig genug geschehen? Blitzschnell tastete er den Kontakt zum Computer. Negativ! Er war zu langsam gewesen. Die betreffende Wohnung war nicht mit Sicherheit zu ermitteln. Diese verdammte Schutzsphäre der privilegierten Laboristoj! Ohne diese wäre die Anruferermittlung automatisch erfolgt... In ohnmächtigem Zorn ballte Jan die Hände zu Fäusten. Wenn er bloß gewußt hätte, was wirklich passiert war. Kurzentschlossen sprang er auf und drückte den roten Knopf für den Alarm dritten Grades. Augenblicklich meldeten sich die Einsatzstreifenleiter. Auf jedem der zahllosen Bildschirme erschien ein anderes Gesicht. Man sah Jan überrascht an. Egal, auch wenn es sich als Fehlalarm herausstellen sollte, dachte der Captain grimmig, ich muß handeln. Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Eben kam ein Hilferuf. Wohnung konnte nicht genau herausgefunden werden. Alles bereithalten! Computer stellt noch Berechnungen an.« Das genügte. Jan Holleway unterbrach. Jeder der Polizisten wußte nun, was es mit dem Alarm dritten Grades auf sich hatte. Die ersten Männer und Frauen von der Freischicht meldeten sich. »Bereithalten!« befahl er knapp. Normalerweise hätte Jan Holleway jetzt seine direkten Vorgesetzten in Kenntnis setzen müssen, aber dazu fehlte ihm einfach die Zeit. Er war ununterbrochen damit beschäftigt, Zurückmeldungen entgegenzunehmen. Außerdem arbeitete der Computer daran, nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit wenigstens die ungefähre Stelle herauszufinden, an der sich die entsprechende Wohnung befand. Für Jan verging die Zeit extrem schnell. Endlich meldete der Computer positiv. Die Lokalisierung war so exakt, daß nur etwa hundert Wohnungen durchsucht zu werden brauchten. Jan zögerte nun nicht mehr. Er betätigte die Konferenzschaltung. Dabei blieben die Bildschirme bei ihm zwar dunkel, aber jeder konnte ihn sehen. Kurz gab er die Koordinaten bekannt. »Mithin ist Gruppe zwei zuständig!« schloß er. Sofort setzten sich die Leute in Marsch. Zu jeder Streife gehörte nur ein einziger Mensch. Der Rest bestand aus speziell programmierten Robotern, die darüber hinaus mit dem Polizeicomputer in Verbindung standen. Unbemerkt blieb die Aktion nicht. Die Köpfe der Menschen auf den Rollstraßen ruckten hoch, als die kleinen, einsitzigen Helicars, begleitet von mobilen Roboteinheiten, über sie hinwegrasten. Sämtliche in Frage kommenden Wohnungen wurden durchsucht. Die Streifen wußten genau, worauf sie achten mußten. Und dann hatten sie endlich gefunden, was sie suchten.
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Unterdessen hatte Jan Holleway vorsichtshalber seine Vorgesetzten über die laufende Aktion informiert.
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3
»FEDERAL PUPPET - Direktion« stand auf dem großen Schild an der Tür. Olivia Missouri drückte den Rufknopf. Eine Weile tat sich nichts. Bestimmt wurde die Besucherin jetzt von verborgenen Kameras beobachtet und von Sensoren überprüft. Eine Stimme klang auf. Es war die eines Biotrongehirns. Kurz dachte Olivia an die Ghreekhoj, die in den absoluten Ballungszentren kaum eine Bedeutung hatten. Der Platz war so schon beengt genug. Kein Mensch wollte ihn auch noch mit Ghreekhoj teilen. Höchstens mit künstlichen Kindern, sogenannten Puppen! dachte sie in einem Anflug von Sarkasmus. Ja, allgegenwärtig waren die Ghreekhoj, jene halbintelligenten Pflanzenwesen, die eine PSI-Symbiose mit Menschen eingehen konnten, nur an Bord von Raumschiffen und in den großzügigen villenähnlichen Gebäuden der sogenannten Eigenheimstädte, die es auf der ganzen Welt verteilt gab. Darin wohnten nur höchstprivilegierte Laboristoj, zu denen sie eigentlich als Wissenschaftlerin längst gehören sollte, hätte sie sich nicht für ihre Agententätigkeit entschieden... Nun, auch die Managerklasse des Planeten wohnte in solchen Häusern mit automatischem Service, einschließlich persönlichem Ghreekho. Die Managerklasse, die sogenannten Impresarioj... Die wichtigsten, weil einflußreichsten, reichsten und mächtigsten Impresarioj hatten die Erde rechtzeitig vor der Katastrophe verlassen, ohne auch nur die geringste Warnung durchsickern zu lassen, was der Erde eigentlich bevorstand. Nicht einmal Geheimdienstler wie sie, Olivia, hatten davon auch nur etwas geahnt... Olivia ließ die übliche Frage über sich ergehen. Dann schob sie ihre Erkennungsmarke in einen Schlitz. Die Marke wies sie als berechtigt aus, sich in dieser Firma zu bewegen. Außerdem war der Computer auf ihr Kommen vorbereitet. Die Tür öffnete sich. Olivia nahm die Kennmarke wieder in Empfang und betrat einen großzügig ausgestatteten Raum. Die hübsche junge Dame hinter dem Schreibtisch stand lächelnd auf. »Direktor Maaya Porfirijs erwartet Sie bereits«, erklärte sie und deutete auf eine Tür, die sanft zur Seite glitt. Olivia war einen Augenblick erstaunt über die Tatsache, daß sich Porfirijs eine menschliche Sekretärin leisten konnte. Das war eine ausgesprochene Seltenheit. Andererseits war es verständlich, wenn man bedachte, daß der Direktor zu den einflußreichsten Persönlichkeiten des Planeten zählte - nachdem ihm sein Vorgänger alles überlassen hatte, in der Hoffnung, ihn eigentlich dadurch für immer los zu werden. Olivia kannte ihn nicht und war gespannt, was der Direktor einer solchen Firma wohl für ein Mensch war - in der neuen Zeit. Ihre Gedanken kreisten ständig um die Frage, welches Motiv dieser Porfirijs hatte, sie zu sich zu rufen, was er im Schilde führte. Ob er Verdacht geschöpft hatte? Sie betrat das Büro des gegenwärtigen allmächtigen Herrschers von FEDERAL PUPPET, das in seiner Einrichtung unwillkürlich an einen mittelalterlichen Thronsaal erinnerte. Maaya Porfirijs sprang hinter seinem Schreibtisch auf, als er Olivias ansichtig wurde, und eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Es freut mich, meine Liebe, daß es so schnell gegangen ist. Ich war wirklich neugierig auf Sie.« Copyright 2001 by readersplanet
Olivia nickte etwas unsicher. Die Reaktion und das Gebaren des Mannes überraschten sie. Porfirijs legte kameradschaftlich einen Arm um ihre Schultern und führte sie zur Besucherecke. »Bitte, so nehmen Sie doch Platz!« Er wartete, bis das geschehen war. »Verlangen Sie zu rauchen? Möchten Sie einen Drink?« Olivia nahm beides dankend an. Der Direktor drückte ein paar Tasten an der Unterseite des Tisches. Leise summend schob sich eine kleine Plattform heraus und präsentierte das Verlangte. Olivia bediente sich. Sie beobachtete Porfirijs, der sich ebenfalls setzte. »Wie ich hörte, sind Sie eine ausgezeichnete Psychologin.« »Haben Sie mich deshalb zu sich kommen lassen?« erkundigte sich Olivia, kühler, als sie beabsichtigt hatte. Er musterte sie aus eisgrauen Augen. Keine Regung war darin zu erkennen. »Nein, natürlich nicht, und da Sie diese Feststellung gemacht haben, wächst noch mein Respekt vor Ihnen.« Olivia Missouri überlegte einen Moment. Dann stellte sie ihr Glas hart auf die Tischplatte zurück. Sie hatte beschlossen, ohne große Umwege genau auf das Ziel zuzusteuern. »Nun, nachdem Sie mich begrüßt und mir Komplimente gemacht haben - wofür ich mich bedanken möchte -, sollten Sie mir sagen, was eigentlich los ist. Es kommt nicht alle Tage vor, daß ein mächtiger Mann wie Sie eine seiner Angestellten rufen läßt. Ich bin doch nur ein Rädchen im mächtigen Getriebe. Wem bin ich aufgefallen und in welcher Weise?« Es entging ihr nicht, daß der Direktor verärgert die buschigen Augenbrauen zusammenzog. Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. »Gut, da Sie so offen zu mir sind, will ich es auch sein.« Seine Stimme klang neutral, als unterhielten sie sich über das Wetter. »Seit drei Monaten sind Sie bei uns. Sehr erfolgreich arbeiten Sie an den Sichtprogrammen. Vielleicht wollte ich Sie einmal persönlich kennenlernen - einfach so?« Olivia lächelte entwaffnend. »Der Whisky ist ausgezeichnet - nur müßte nach meinem Geschmack mehr Soda hinein. Außerdem ist mir die Zigarette zu schwarz.« Sie drückte sie in den Ascher. Sofort wurde sie von dem eingebauten Desintegrator zerstrahlt. Porfirijs' Oberkörper schnellte vor - wie ein Raubvogel, der sich auf die Beute stürzt. »Ich glaube, daß Sie ein Mitglied der Weltsicherheitsbehörde sind!« Olivia verlor ihr Lächeln nicht. Sie nickte. »Das war zu erwarten. Was wollen Sie jetzt von mir hören?« Porfirijs wirkte fassungslos. Er lehnte sich wieder zurück. »Ich...« Er brach ab und fixierte die junge, attraktive Frau. »Ich wollte wissen, was es bei uns zu bespitzeln gibt.« Schlagartig wurde sie ernst. »Das war deutlich genug!« Sie schickte sich an, aufzustehen. Porfirijs war schneller. Er sprang um den Tisch herum und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Hören Sie, Miß Missouri, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich wollte nur Gewißheit haben.« Olivia streifte seine Hand ab und erhob sich. »Schon verstanden, Sinjoro Porfirijs. Aber ich bin kein Spitzel, wie Sie das meinen. Ich bin Wissenschaftlerin. Meine Tätigkeit bei der Wespe hat damit nicht unbedingt etwas zu tun.« Copyright 2001 by readersplanet
»Dann wollen Sie nicht unsere Arbeit überprüfen?« Olivia lachte etwas verkrampft. »Ich möchte wissen, wie Sie sich das vorstellen. Die FEDERAL PUPPET steht unter der Oberaufsicht meiner Behörde. Das hat logische Gründe. Schließlich dürfen die Puppen nicht zu einem Sicherheitsrisiko werden. Ist es da nicht natürlich, daß Mitglieder der Wespe hier beschäftigt sind? Das war auch schon vorher so, als es die Schwarzen Garden der alten Prägung noch gab. Ich verstehe also Ihre Empfindlichkeit nicht, und wie sie gerade auf mich gekommen sind, will ich schon gar nicht erfragen, weil ich annehmen will, daß Sie darauf sowieso nicht wahrheitsgemäß antworten würden.« Porfirijs hob beschwichtigend die Hände. »Ich bitte Sie, Fraulino Olivia, jetzt ziehen Sie um Himmels willen keine falschen Schlußfolgerungen. Ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Ohne Namen zu nennen: Es sind ein paar Mitarbeiter bei mir vorstellig geworden und haben sich darüber beschwert, daß Sie hier sind. Es ging den Betreffenden nicht um Ihre Person oder Ihre Fähigkeiten.« »Kann ich mir denken.« Olivia Missouri war wütend und machte keinen Hehl daraus. »Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen, Sinjoro Porfirijs: Sie suchten mehrere Monate lang eine Fachkraft und bekamen nicht das, was Sie sich wünschten. Das ist belegt. Also kam meine vorgesetzte Dienstbehörde auf die Idee, mich herzuschicken. Das ist das ganze Geheimnis. Sobald Sie einen Ersatz für mich gefunden haben, ist meine Quasi-Hilfsaktion beendet. Zufrieden?« Der Direktor schüttelte den Kopf. »Es tut mir entsetzlich leid, daß Sie das gesagt haben. Sie haben jetzt wirklich den Eindruck, als hätte ich etwas gegen Sie. Bitte, versprechen Sie, mir eine Chance zu geben! Wir bleiben in Verbindung. Ich werde Ihnen beweisen, daß ich nicht das Ungeheuer bin, als das ich Ihnen zwangsläufig erscheinen muß.« Olivia brachte wieder ein Lächeln zustande. »Einverstanden!« erwiderte sie knapp. Er atmete sichtlich auf. »Ich danke Ihnen!« Olivia wandte sich zum Gehen. Der Direktor begleitete sie zur Tür. Wenig später stand die Diplompsychologin draußen auf dem Flur. Ihre Gedanken marschierten auf wie eine Gruppe disziplinierter Soldaten. Sie bewegten sich alle in eine Richtung: Hier stimmt etwas nicht! Aber dann kamen Olivia Zweifel. Was, wenn sie sich irrte? War das Verhalten von Porfirijs nicht verständlich? Auf jeden Fall war es ihre Pflicht, die kurze Unterredung zu melden. Ihr Mißtrauen schwand mehr und mehr. Bewies die Offenheit des Direktors nicht eher, daß er ein reines Gewissen hatte? Aber da gab es einen bestimmten Bereich innerhalb der weitläufigen Anlagen, den niemand unberechtigterweise betreten durfte. Was hatte es damit auf sich? Olivia hatte unauffällig, wie sie glaubte, Fragen gestellt. Schließlich war sie seit einem Vierteljahr hier. Möglicherweise hatte sie durch ihre Neugierde auf sich aufmerksam gemacht? Sie verließ den Direktionstrakt. Die Anlagen der Firma FEDERAL PUPPET bildeten in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Es gab einzelne, kleinere Gebäude, allesamt überirdisch gelegen. Nur wenige Stockwerke verbargen sich unter der Erde. Zwischen den Dächern spannte sich ein gigantisches, größtenteils durchsichtiges Zelt aus Spezialplastik. Hier war man dem Wechsel von Tag und Nacht unterworfen. Zwischen den Gebäuden gab es Rollstraßen. Copyright 2001 by readersplanet
Olivia betrat eine davon. Das Gedränge hielt sich in Grenzen, wenn man verglich, was sich innerhalb einer Stadt abspielte. So gesehen, konnte man sich hier recht wohl fühlen. Olivias Gedanken kehrten unterwegs immer wieder zu dem Gebäudetrakt zurück, der recht aufwendig bewacht wurde. Obwohl es im Norden zu dieser Jahreszeit ziemlich kühl war, spürte man unter dem Zeltdach nichts davon. Endlich erreichte Olivia Missouri das Haus, in dem sich ein Teil der Unterkünfte befand. Hier hatte die Agentin Quartier bezogen. Sie hoffte, bald Gelegenheit zu bekommen, ohne Aufsehen mit ihrer vorgesetzten Dienstbehörde zu sprechen.
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Die freudige Erwartung des Mannes wich rasch, als er das tränenüberströmte Gesicht seiner Frau sah. Judy blieb stehen. Die Tür schloß sich automatisch hinter ihr. »Oh, Ken!« sagte die zierliche, hübsche Frau mit bebender Stimme. »Erzähle!« forderte Ken Hamilton tonlos. Judy schüttelte den Kopf. »Ich - ich kann nicht«, murmelte sie. Plötzlich schluchzte sie auf. Ken zog seine Frau zu sich heran und strich ihr sanft über das Haar. Diese Geste tat gut, und langsam beruhigte sich Judy wieder. »Sie - sie behaupten, ich könnte kein Kind bekommen!« sagte sie schließlich und blickte fast ängstlich zu ihm auf. »Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl«, behauptete Ken. Sie befreite sich halb aus seinem Griff und sah ihren Mann an. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte sie. »Es hat keinen Sinn, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen oder sich in Selbstmitleid zu ergeben. Wir gehören zusammen und haben alles auch gemeinsam zu tragen!« Er nahm sie in den Arm und ging gemeinsam mit ihr ins Wohnzimmer. Dort setzten sie sich nebeneinander auf die Pneumocouch. »Es gibt einen Ausweg«, murmelte Judy. Ken betrachtete sie von der Seite. »Einen Ausweg?« Er ahnte etwas, packte sie an den Schultern. »Denken wir an dasselbe?« Sie nickte heftig. Eine neue Tränenflut begann. »Du willst wirklich eine von diesen... Puppen?«
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Drei Streifen erreichten die Wohneinheit fast gleichzeitig. Sie sahen deutlich, daß die Tür von innen beschädigt worden war. Etwas hatte sie mit großer Wucht getroffen und sich hineingebohrt. Draußen erkannte man die Spitze eines Gegenstands. Die Streifenbeamten handelten routiniert. Sie brauchten sich untereinander nicht zu verständigen. Jeder wußte, was zu tun war. Sie schickten ihre Roboteinheiten vor. Diese sendeten ein Signal aus, das sonst jede Tür zum Öffnen brachte. Diese hier nicht: Sie klemmte. Aber das bedeutete kein Hindernis für einen Roboter. Eine der Maschinen raste auf einen entsprechenden Befehl hin vor und traf die Tür mit seiner ganzen Masse. Es krachte, und zerborstene Teile wurden in die Wohnung geschleudert. Der Gegenstand, der die Tür verbeult und beschädigt hatte, entpuppte sich als Stück eines Metallgerippes, das zu einem Plastikmöbel gehörte. Die drei Menschen drangen hinter dem Robot ein. Entsetzt prallten sie zurück. Schon in der Garderobe zeigte sich das ganze Ausmaß der Verwüstung. Gedeckt von den Robotern, durchquerten die Menschen die Diele. Kinderstimmen wurden laut. Sie sangen ein Lied, das die Eltern ihnen wohl beigebracht hatten. Die drei Streifenbeamten - zwei Frauen und ein Mann - wandten sich jetzt dem Wohnzimmer zu. Sie hatten an die Roboteinheiten nicht den Auftrag zu geben brauchen, die Sache weiterzumelden. Das war bereits automatisch geschehen. Jetzt quakte es aus einer der Maschinen: »Captain Holleway hat den Polizeipräsidenten in Kenntnis gesetzt. Ich schalte meine Kamera ein, damit alles in der Zentrale mitverfolgt werden kann.« Daß ein Roboter in Ichform sprach - daran waren die Menschen gewöhnt. Es bedeutete nicht, daß die Maschine wie ein selbständiges Wesen denken konnte, auch wenn sein »Gehirn« aus einer sogenannten Biocard bestand. Es gehörte einfach zum Programm. »Die anderen sollen ihre Kameras auch einsetzen!« wies eine der Polizistinnen an. Die Roboter gehorchten. Somit wurde Jan Holleway in der Zentrale Zeuge der Ereignisse. Aus dem Wohnzimmer war der Hilferuf erfolgt. Und da lugten die Beine eines Mannes hinter der zerschmetterten Couch hervor. Der Mann rührte sich nicht. Der Tisch lag in seine Einzelteile zerlegt in einer Ecke. Hier schien ein Orkan gewütet zu haben. Das Videophon war aus der Wand gerissen. Am Boden befand sich Blut, und dieses Blut bildete einen nassen, häßlichen Streifen bis über den Flur hinaus. Und die fröhlichen Kinderstimmen drangen herüber. Die Polizisten umrundeten die Couch. Copyright 2001 by readersplanet
In ihrer jahrelangen Praxis hatten sie schon manches gesehen und konnten als abgebrüht gelten. Hier jedoch griff scheinbar eine eiskalte Hand nach ihren Kehlen. Der am Boden liegende Mann war nicht die erste Leiche, die sie erblickten, aber die am scheußlichsten zugerichtete! Einer der Roboter kümmerte sich sofort um den Toten. Die drei Polizisten torkelten würgend hinaus. Und die Kinder spielten laut. Die Polizisten wankten zu dem Zimmer und wollten die Tür öffnen. Da war ein Hindernis, und durch einen Spalt nur sahen sie die Kinder Ringelreihen tanzen. Es waren drei, und sie hatten die Möbel beiseite geräumt, um mehr Platz zu haben. Die Polizisten stemmten sich gegen die Tür. Sie gab zögernd nach. Etwas schleifte über den Boden. Plötzlich kam ein Arm zum Vorschein und fiel den drei Eindringlingen leblos vor die Füße. Eine der Frauen schrie gellend. Der Polizist schnappte hörbar nach Luft. Und die Kinder sangen: »Hase kommt, Fuchs ist rot - Ha-se tot!« Der Arm gehörte der Anruferin, und diese lag gräßlich zugerichtet am Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie spiegelten das nackte Grauen wider. Die Kinder keuchten und lachten. Sie achteten nicht auf das, was sich um sie herum ereignete. Eine der Polizistinnen blieb stehen. Sie wagte es nicht, den Kleinen zu nahe zu kommen. Ihre beiden Kollegen hetzten von einem Zimmer zum anderen. Die Eltern waren beide tot. Das stand unumstößlich fest. Die einzigen Lebenden waren die drei Kinder, die sich nicht in ihrem Spiel stören ließen: »Bäumchen, rüttel dich, Bäumchen, schüttel dich, Wirf das Männlein über dich!« »Was sind denn das für schizoide Texte?« brüllte plötzlich jemand aus einem der Lautsprecher am Bauch eines Roboters. Es war die Stimme von Jan Holleway. »Verdammt, merkt denn keiner von euch, daß das gar keine echten Kinder sind? Das sind Puppen!« Der männliche Polizist ließ pfeifend die Luft aus seiner Lunge entweichen. »Dann - dann waren - die es!« murmelte er fassungslos. Inzwischen stürmte der Polizeipräsident in die Zentrale. Er hörte das Liedchen: »Es krabbelt ein Männlein auf den Baum, Ganz hoch hinauf, man sieht es kaum. Sein Kopf, der wird vor Angst ganz rot, Das Männlein fällt und ist gleich tot!« »Ja, bin ich denn hier im Tollhaus?« schnappte er, denn noch hatte er nicht begriffen, was geschehen war. Erschrocken drehte sich Jan Holleway herum. Sein Gesicht war weiß. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf seinen Bildschirm. »Die Puppen revoltieren!« Stirnrunzelnd blickte der Polizeipräsident auf die Szene. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag.
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Sie gingen Hand in Hand. Judy Hamilton und ihr Mann hatten sich nach langen Debatten entschlossen. Sie betraten das langsame Rollband. Sie freuten sich. Zugegeben, Kinder durften sie keine haben, aber diese Puppen waren ein echter Ersatz, wie sie glaubten. Hatten sie nicht schon Milliarden von Menschen glücklich gemacht? Wer konnte sie schon von echten Kindern unterscheiden? Sie waren Cyborgs, also eine Mischung aus Kybernetik und lebendem Zellgewebe. Ihre Knochen bestanden aus molekularverstärktem Metall. Das Fleisch jedoch wirkte natürlich und war auch verletzbar. Sorgfältig programmierte Speicher, sogenannte Biocards, beinhalteten ihre Charaktereigenschaften. Bewegungen und Sprache wurden biotronisch gesteuert, während die eigentlichen Lebensfunktionen durch einen künstlich aus lebenden menschlichen Zellen gezüchteten Nervenknoten kontrolliert wurden. Sie waren wie wirkliche Menschen. Manchmal aßen und tranken sie und mußten sterben, wenn man ihnen Nahrung völlig vorenthielt. Nur einen Nachteil hatte das Ganze: Das Gewebe alterte sehr rasch. Durch Medikamente wurde diese Tatsache zwar weitgehend aufgehalten, doch kippte der Stoffwechsel nach ein paar Jahren plötzlich um. Innerhalb kürzester Zeit mußten die Puppen dann in eine spezielle Werkstatt gebracht werden, damit wenigstens die kostbare Biotronik gerettet werden konnte. Die Puppen waren eine technische, biologische und kybernetische Großtat. Ihre Massenproduktion ermöglichte es dennoch, daß sie erschwinglich waren. Sie waren im Unterhalt problemlos und billig, weil genügsam, und es überwogen die Charaktereigenschaften, die Kinder nach den Klischeevorstellungen Erwachsener besitzen sollten. Negativ programmierte Cyborgs gab es nicht - jedenfalls normalerweise nicht! Ein makabrer Ersatz in einer unmenschlichen Gesellschaft, in der die Werte pervertierten. An die negativen Aspekte dachten Ken und Judy Hamilton im Moment indessen nicht. Sie ließen sich von dem üblichen Massenverkehr mitspülen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten: eine der Filialen von FEDERAL PUPPET im Stockwerk zweihundertdreizehn Alpha/Beta. Vielleicht hatten sie Glück und konnten »ihr Kind« gleich mitnehmen? Judy und Ken traten voll gespannter Erwartung ein. Bewußt hatte man hier auf den Robotportier verzichtet. Eine angenehme Atmosphäre empfing den Besucher. Leise, einschmeichelnde Musik rieselte aus unsichtbaren Lautsprechern. Im Hintergrund raschelte ein Vorhang. Ein älterer, etwas rundlicher Mann schob sich hindurch und kam auf die beiden zu. »Was kann ich für Sie tun?« »Wir wollen - ich will - das heißt...«, stotterte Judy. Ken vermochte nichts zu sagen. Ein imaginärer Kloß steckte in seiner Kehle und verhinderte jedes Wort. Der dickliche, gemütliche Herr winkte lächelnd ab.
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»Ja, ich verstehe schon«, gab er an. »Wenn ich die Herrschaften bitten dürfte, mir zu folgen?« Ken und Judy nickten mechanisch. Sie gelangten in ein geschmackvoll eingerichtetes Büro, das eher wie ein Wohnzimmer wirkte. Sogar die Großvideoanlage fehlte nicht. Der Verkäufer bot Getränke an. Ken und Judy besaßen nicht die Kraft, abzulehnen. Wenig später prosteten sie sich zu. »Sie wollen also ein Kind«, sagte schließlich der Berater und blinzelte sie freundlich an. »Dürfte ich um Ihre Personalien bitten?« Judy und Ken reichten ihre Kennkarten, die der freundliche Herr sofort in einen Computer steckte. Das Ding ratterte leise und zauberte Daten auf einen kleinen Bildschirm, der für die Besucher nicht einsehbar war. Daraufhin bekamen sie die Karten wieder zurück. »Das war die offizielle Seite«, meinte der dickliche Herr. »Übrigens, mein Name ist Koester, Ernst Koester.« Er schaute vor sich auf den Tisch. Sein Blick entrückte. »Ich habe gleich vier Kinder. Eines ist erst ein Baby.« Aus den Augenwinkeln beobachtete er kurz seine Kunden. »Ein richtiger Balg, sage ich Ihnen.« Er lächelte etwas verloren. »Die Kleine kann vielleicht schreien, sage ich Ihnen.« Die Reaktion war nicht wie gewünscht. Aber Koester war noch nicht am Ende seiner Weisheit. Er hatte noch mehr Tricks auf Lager, um herauszufinden, was die Kunden wirklich wollten. »Der zweite ist etwas älter«, fuhr er fort. »Seit zwei Jahren unser Sonnenschein. Bald hat er Geburtstag. Tja, wie die Zeit vergeht.« Auch dies war die falsche Richtung, wie sich zeigte. »Insgesamt haben wir zwei Mädchen und zwei Jungen. Der älteste ist vier. Den sollten Sie einmal sehen!« Judy lächelte. Koester reagierte prompt. Er gab sich begeistert. »Ja, das habe ich wirklich so gemeint. Sie werden ihn sehen! Es gibt Bilder von ihm. Warten Sie...« Er suchte irgendwo jenseits der Tischplatte. »Na, wo habe ich sie denn?« Ken Hamilton blieb unbeteiligt. »Ach, was brauchen wir Fotos. Machen wir es anders.« Koester tastete ein paar Kombinationen ein. Der Bildschirm war drehbar. Koester bewegte ihn. Der Schirm flackerte etwas. Dann schälte sich aus dem diffusen Grau eine Szene. Sie wurde dreidimensional, also plastisch wiedergegeben, trat regelrecht aus dem Apparat heraus, der dahinter verschwand - als würde man jetzt durch ein geöffnetes Fenster in ein Kinderzimmer schauen. Ernst Koester achtetet nicht auf die Szene. Er hatte nur Augen für Judy Hamilton. In deren Blick glaubte er so etwas wie Zustimmung zu erkennen. Auch jetzt verhielt sich Ken Hamilton neutral. Er wirkte lediglich neugierig, ohne wirkliche Anteilnahme. Das wird schon noch! sagte sich Ernst Koester, denn er war ein Experte auf seinem Gebiet. »Ja, das ist er - unser Junge. Oh, es gibt so viele Kinder wie er. Ich habe auch Aufnahmen von einem Freund der Familie. Er hat sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.« Das Bild wechselte. In dieser Manier ging es weiter. Bis Judy schließlich rief: »Sieh mal, Ken - ist der nicht süß?« Diesmal reagierte auch Ken Hamilton. Koester registrierte es mit Genugtuung. Die Sache machte endlich Fortschritte. Copyright 2001 by readersplanet
»Auch er ist vier - gerade erst geworden.« Judy Hamilton sah den Berater an. »Ist - ist er hier? Kann - kann man ihn sehen?« Koester strahlte. Beflissen sprang er auf. »Sofort bin ich wieder da!« versprach er und verschwand. Die Hamiltons merkten nicht, daß sie beobachtet wurden. Sie fühlten sich wie im Fieber. Pausenlos starrten sie auf die Tür, durch die Koester sie verlassen hatte. Ken Hamilton spürte leise Bedenken, aber er wagte sie nicht zu äußern, blieb lieber ruhig aus Rücksicht auf seine Frau. Und dann schaltete jemand den Lautsprecher zum Bild. Automatisch wanderten ihre Blicke zum Bildschirm zurück. Der kleine Junge, der in Wirklichkeit alles andere als ein solcher war, spielte. Judy fühlte sich bereits als Mutter.
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Die Puppen befanden sich in einer Art Waben. Ihr biotronischer Mechanismus war ausgeschaltet, und die lebenden Zellen wurden durch die Anlage versorgt, nachdem ihr Stoffwechsel auf ein Minimum beschränkt worden war. So konnten sie hier Jahre verbringen, ohne Schaden zu nehmen. Die meisten Puppen waren selbstverständlich noch recht neu. Lange Lagerungen galten als nicht lohnend. Deshalb wurde der Bestand auch in Grenzen gehalten. Koester zog ein kleines Gerät aus der Tasche und drückte einen Knopf in die Fassung. Der Computer reagierte prompt. Er verglich die eingelegte Bildkonserve mit dem Lagervorrat. An einer bestimmten Wabe blinkte ein Licht. Koester regte sich nicht. Alles würde vollautomatisch ablaufen. Es bedurfte nicht seines Zutuns. Das Lebenserhaltungssystem der betreffenden Wabe griff in den Stoffwechsel der lebenden Zellen ein. Es dauerte nicht lange, dann wurde der leblose Körper der Puppe von einem Kraftfeld angehoben und auf den Boden befördert. Sie war nackt. Der Computer sendete Impulse an die Biocard des Minigehirns. Marionettengleich erhob sich das Ding, das aussah wie ein vierjähriger Junge, ging zum Ausgabeschacht hinüber und nahm die Kleidungsstücke in Empfang - wie sie auf dem Bildschirm angezeigt wurden. Ungeschickt kleidete der Junge sich an. Als dies abgeschlossen war, nahm der Computer den letzten Eingriff vor. Die Puppe erwachte endgültig zum »Leben«. Das Minigehirn wurde selbständig.
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Judy und Ken Hamilton betrachteten noch immer entzückt die Spielszenen auf dem Bildschirm, als Koester eintrat. Sie bemerkten es gar nicht. »Vati, Mutti!« rief da eine helle Knabenstimme, und die kam nicht aus dem kleinen Lautsprecher, sondern entstand direkt im Raum. Die Hamiltons fuhren herum und sprangen auf. Ihre Augen weiteten sich. »Papa, Mama!« Der kleine, vierjährige Knabe sprang freudig erregt auf sie zu und klammerte sich an das leichte Kleid von Judy. Seine Augen glänzten feucht. Das gab den Ausschlag. »Jimmy!« murmelte Judy und beugte sich hinab. »Mein Sohn!« Sie nahm den Bub auf Und drückte ihn weinend an sich. Koester lächelte. Für ihn war das Geschäft so gut wie besiegelt. Er konnte zufrieden sein.
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Die Angestellten hatten sogar die Möglichkeit, sich außerhalb der Anlage zu begeben und die wilde Schönheit scheinbar unberührter Natur zu bewundern. Naturgemäß zeigte man jedoch wenig Interesse daran. Olivia Missouri bildete in dieser Beziehung eine Ausnahme. Es war empfindlich kühl, als sie die Schleuse verließ und die Luft, die so anders war als die gewohnte, tief einatmete. Olivia befand sich nicht zum ersten Mal hier draußen. Deshalb wußte sie, was sie erwartete. Die Kleidung, die sie angelegt hatte, war vollklimatisiert. Gemächlich schlenderte die junge Frau am Ufer entlang. Von hier aus war der gigantische Komplex der FEDERAL PUPPET kaum zu sehen. Hohe Felsmassen verbargen die Sicht. Die Umgebung wirkte dadurch wie eine Mondlandschaft. Pflanzen und Tiere gab es nur äußerst selten. Nur weiter unten warf sich das Meer mit wütender Wucht gegen die schroffen Klippen. Olivia betrachtete die Schaumkronen. Einst hatten Futurologen die Meinung geäußert, der Mensch könnte auf dem Meeresgrund überleben. Diese Zukunftsforscher hatten offensichtlich die immer schneller fortschreitende und durch Gesetzgebungen nur unzulänglich abgebremste Verschmutzung unterschätzt. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert noch waren Erfolge in der Politik wichtiger gewesen als unpopuläre Maßnahmen zur Erhaltung der Umwelt. Die Menschen schrien nach Wirtschaftswachstum, und die wenigen, die von der Natur sprachen und davon, daß man für Ausgewogenheit sorgen sollte, taten dies zumeist nur aus nostalgischen Gründen und weniger, weil es ihnen die Vernunft befahl. Deshalb wurden sie auch nicht sonderlich ernst genommen. Man brauchte das Wachstum, um das System aufrechterhalten zu können - das System, das alle ernährte und deshalb nicht gestört werden durfte. Nach Entdeckung des Gaarson-Effektes waren nun endlich die Grundlagen geschaffen gewesen, die Umweltverschmutzung zu stoppen und sogar die Umwelt weitgehend zu reparieren. Aber die Möglichkeiten des Gaarson-Effektes und damit die Macht über praktisch unbegrenzte Energieressourcen waren auch damals nicht in der richtigen Weise genutzt worden. Ganz im Gegenteil. Man hatte viel lieber nach unberührter Natur weit draußen im Weltall gesucht, als dem eigenen Planeten die Chance zu eröffnen, wieder zu gesunden. Was das bedeutete, sah Olivia als Spätfolge direkt vor sich. Und es gab erst neuerdings, durch den Druck der Astroökologen bedingt, wieder Tendenzen, eine Besserung herbeizuführen. Der Schaum war nicht natürlichen Ursprungs. Aus welcher Chemikalie bestand er? Wie lange würde es dauern, bis sich der Planet einigermaßen wieder regeneriert hatte, wenn es endlich ernsthaft in Angriff genommen wurde? Die modernen Städte, diese Ameisenhaufen aus Beton, Plastik und Biotronik, waren so autark, daß sie in ihrem Innern sauber waren und die Umwelt relativ wenig belasteten. Innerhalb gab es daher auch wenig Interesse an kostspieligen Verbesserungen außerhalb. Und die Menschen, die in den Villen unter freiem Himmel lebten, wohnten von üppigen Parklandschaften umgeben, die noch nicht einmal vermuten ließen, daß es so etwas wie hier überhaupt noch geben könnte. Lediglich die Neniantoj, die Ausgestoßenen, waren wirklich davon betroffen, aber sie und ihre möglichen Belange wurden genauso von der Masse ignoriert wie die stark geschädigte Umwelt. Die Civitanoj interessierten sich für die Ausgestoßenen, die größtenteils in den noch immer bestehenden Ruinen der untergegangenen Altstädte hausten, nur dann, wenn sie Jagd auf sie machten. Ein perverses Vergnügen, das niemand ahndete, weil dabei »nur« Copyright 2001 by readersplanet
Nichtregistrierte und damit Vogelfreie starben. Wenn bei der Jagd einer der Jäger umkam, was natürlich auch immer wieder vorkam, weil sich die Neniantoj nach Kräften wehrten, dann galt das einfach als Unfall. Präsident Tipor Gaarson suchte längst nach Mittel und Wege, solche Dinge aus der Welt zu schaffen, aber er hatte ein solch schweres Erbe übernommen, als er Weltpräsident geworden war, daß es wohl noch viel Zeit brauchte, bis er auch nur einen Teil dessen verwirklicht hatte, was an dringenden Maßnahmen anstand. Dabei teilte er mit den Astroökologen den schlimmen Verdacht, daß die alten Machthaber der Erde absichtlich die Ruinenstädte gelassen hatten, um die Existenz der Neniantoj als Vogelfreie zu fördern. Man hatte also tatsächlich die Existenz der Neniantoj in perverser Mißachtung aller humanitärer Aspekte als Blitzableiter für die Aggressionen der unzufriedenen Civitanoj nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar forciert! Olivias Gedanken schweiften ab. Sie dachte an die letzten Stunden zurück. Erst einmal hatte sie vorschriftsmäßig Meldung gemacht. Man hatte ihren Bericht gleichmütig aufgenommen, wie sie glaubte. Anschließend hatte sie versucht, mit Cliff Chapman, ihrem Freund, Verbindung zu bekommen. Vergeblich. Er meldete sich einfach nicht. Sie verhielt im Schritt. Von hier aus konnte sie gut den Gebäudetrakt erkennen, der von den Leuten der FEDERAL PUPPET wie ein Augapfel gehütet wurde. Was ging dort vor? Ja, die Natur zu bewundern und dabei philosophisch-ökologische Betrachtungen anzustellen, war nicht der einzige Grund, warum Olivia Missouri hier draußen war. Sie interessierte sich für das abgesperrte Gebäude, jedoch nicht aus bloßer Neugierde. Sie mußte ihre Auftraggeber aus ihrer Lethargie wecken. Man vertraute diesem Porfirijs zu sehr. Er brauchte allerdings nicht persönlich darin verwickelt zu sein, falls wirklich etwas nicht mit rechten Dingen zugehen sollte. Es kamen auch seine Leute in Frage. Bei einer solch großen Firma konnte sich der oberste Chef nicht um alles kümmern - zumal er noch nicht lange im Amt war und vorher nicht gerade zu den beliebten Mitarbeitern seines Vorgängers gehört hatte. Sonst hätte dieser ihn auf seiner Flucht wahrscheinlich mitgenommen. Wie dem auch war: Olivia mußte der »Wespe« konkrete Hinweise liefern, bevor diese zustechen konnte. Die Sonne war inzwischen fast hinter dem Horizont im Westen verschwunden. Es herrschte düsteres Zwielicht. Der Himmel war bedeckt, und das begünstigte Olivias Vorhaben. Sie wußte, daß das Objekt ihres Interesses bis fast zum Ufer stieß, das hier weniger zerklüftet war. Ungesehen arbeitete sich Olivia Missouri darauf zu. Hinter einem Felsbrocken fand sie Deckung. Es gab daneben sogar ein total verkrüppeltes Gebüsch. Das war selten genug, so daß es für kurze Zeit Olivias Interesse weckte. Das abgeschirmte Gebäude zeichnete sich deutlich gegen den etwas helleren Himmel ab. Olivia bewies Geduld. Sie beobachtete sorgfältig. Nicht zum ersten Mal befand sie sich an dieser Stelle. Es hatte den Anschein, als wäre das Gebäude von dieser Seite aus unbewacht. Aber Olivia verließ sich nicht darauf. Sie wußte, daß in unregelmäßigen Abständen Wachen nach dem Rechten sahen. Geduckt umrundete sie den Felsbrocken. Diesmal würde sie sich etwas weiter vorwagen. Da hörte sie durch das Donnern der Brandung ein Geräusch hinter sich. Erschrocken kreiselte sie um die eigene Achse. Gleichzeitig packte jemand nach ihr. Ein Schatten wuchs vor ihr aus dem Boden heraus. Olivia setzte sich sofort zur Wehr. Es war mehr eine Reflexhandlung. Aber der Gegner war nicht zu unterschätzen. Er stieß die junge Frau von sich und hob etwas an. Im Zwielicht erkannte Olivia ein Gewehr. Sie spürte aufkeimende Angst. Es war bekannt, daß tödliche Waffen weltweit verboten waren. Sie lagerten in den gigantischen Magazinen der Weltsicherheitsbehörde. Die Exekutivorgane hatten weit humanere Mittel. Copyright 2001 by readersplanet
Und ausgerechnet dieser Mann hier schleppte ein echtes Energiegewehr mit sich herum eine tödliche Waffe? Gehörte er zur Wachmannschaft? Anders konnte es eigentlich nicht sein. Olivia beschloß, sich dennoch nicht so einfach zu ergeben. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, denn der Mann würde aus ihrer Richtung keine kämpferische Aktion erwarten. Sie war in seinen Augen schließlich »nur« eine Frau und auch noch unbewaffnet. Wie eine Katze warf sie sich auf den Gegner. Sie war ausgebildet und hatte aus diesem Grunde eine reelle Chance. Beide Personen fielen zu Boden und rollten den Abhang hinunter. Dabei ging das Gewehr verloren. In einem echten Ringkampf hätte Olivia unterliegen müssen. Bevor es dazu kam, schlug sie mit der Handkante zu. Es genügte nicht, den Gegner auszuschalten, ihn aber für ein paar Augenblicke aus dem Konzept zu bringen. Olivia sprang auf und hetzte den Abhang hinauf. Da lag das Gewehr. Sie nahm es an sich und drehte sich herum. Sie hatte sich nicht verrechnet. Der Wächter war schon hinter ihr. Aber als er die Mündung auf sich gerichtet sah, prallte er erschrocken zurück. »Wer - wer sind Sie?« keuchte er und rieb sich den Hals. »Dasselbe könnte ich Sie fragen!« konterte Olivia. »Ich bin ein Wächter der FEDERAL PUPPET - was sonst?« »Eigenartige Methoden sind das. Sie schleppen so ein tödliches Ding mit sich herum und schleichen einen von hinten an. Wollen Sie damit harmlose Spaziergänger erschrecken, oder führen Sie Übleres im Schilde?« »Harmlose Spaziergänger verstecken sich nicht bei hereinbrechender Dunkelheit hinter Felsbrocken!« Olivia lachte. »Wollen Sie mir vorschreiben, wie ich mich zu verhalten habe?« »Genau deshalb versehe ich diesen Job! Sie befinden sich im Sperrgebiet. Hier hat niemand was zu suchen.« Olivia runzelte die Stirn und wog unschlüssig das Gewehr in den Händen. »Hören Sie zu«, sagte sie einlenkend. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen mein Benehmen seltsam vorkam, aber ich bin biologisch und zoologisch interessiert. Das ist der Hauptgrund dafür, daß ich nach draußen ging. Hier gibt es noch seltenes Kleingetier. Beinahe hätte ich eine Eidechse dort am Felsen gefangen, als Sie dazwischenkamen.« Der Wächter schüttelte sich unwillkürlich. »Sie fangen Kriechtiere?« Warum nicht?« Sie legte den Kopf schief. »Ich arbeite genauso für FEDERAL PUPPET wie Sie. Woher hätte ich wissen sollen, daß dies Sperrgebiet hier ist? Es ist nicht allgemein bekannt.« Sie betrachtete das Gewehr, zögerte, dann warf sie es dem Mann zu. Er fing es geschickt auf. Den Lauf seiner Waffe schwenkte er nun hin und her. Offenbar wußte er nicht, was er mit der Frau anfangen sollte. »Sie, haben mir noch immer nicht gesagt, wer Sie sind!« Mittlerweile war es dunkel genug, daß sie nur noch zwei Schatten waren. Eine Taschenlampe flammte auf. Olivia schloß geblendet die Augen und blinzelte. »Olivia Missouri. Ich arbeite als Psychologin im Programmiercenter für die Puppen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er grinste breit. Copyright 2001 by readersplanet
»Es macht mir nichts aus, wenn es Sie nicht stört, daß ich Werner Sutten heiße und hier den Posten eines Wächters bekleide - aber das ist Ihnen ja hinreichend bekannt.« Kurz leuchtete er sich selbst ins Gesicht. Olivia sah einen schmalen Schnurrbart, ein energisches Kinn und kurzgeschorene Haare. Der Lichtstrahl erlosch. Die Situation hatte sich absolut gewandelt. »So gefallen Sie mir besser«, bemerkte Olivia, »wenn Sie nicht versuchen, zufällig vorbeikommende Frauen zu überfallen.« »Vielleicht sollten Sie den Versuch wagen und noch andere positive Dinge an mir entdecken?« »Es käme ganz darauf an.« »Worauf denn? Morgen abend habe ich frei. Es gibt in der Anlage Lokale, in denen lauter nette Leute verkehren.« »Sie gehen aber 'ran!« Olivia lachte leise. »Mein Interesse ist rein dienstlicher Natur«, scherzte er. »Ich bin bestimmt kein Schürzenjäger, glauben Sie mir. Aber ich muß schließlich irgendwie Ihre Angaben überprüfen. Bei einem Drink in gemütlicher Atmosphäre geht das am besten, nicht wahr?« »Da haben Sie im Prinzip recht.« »Dann sehen wir uns also? Wie lange arbeiten Sie schon hier?« »Drei Monate. Ich wußte wirklich nicht, daß es hier ein so streng bewachtes Gebäude gibt.« Er warf einen Blick hinüber. »Nun, vielleicht ist es besser, Sie gehen jetzt, ehe einer meiner Kollegen aufmerksam wird.« »Ich danke Ihnen, Werner«, sagte sie warm. »Um acht Uhr. Vergessen Sie es nicht!« Er schaute ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Ein Glück für ihn, daß er keine Gedanken lesen konnte. So war er siegesgewiß und sah sich im Geist schon das Herz der schönen Frau endgültig erobern.
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Es war spät. Die Rhodes saßen im Wohnzimmer. Nach ihrem Lebensrhythmus hätten sie längst schon im Bett sein müssen. Claus Rhodes gähnte verhalten. »Müde?« erkundigte sich seine Frau. »Nein, ich tu nur so«, scherzte Claus. »Dieser uralte Film im Videoprogramm brachte alles durcheinander. Aber morgen habe ich frei.« »Sollen wir noch nicht zu Bett gehen?« Claus Rhodos zuckte die Schultern und nahm die Fernbedienung vom Tisch. Das dreidimensionale Bild auf dem fast wandgroßen Schirm wechselte. In den einzelnen Ländern, die es in veränderten Grenzen noch immer gab, wurden die meisten Sendungen in der jeweiligen Heimatsprache ausgestrahlt. Die Amtssprache wurde in der Unterhaltung relativ selten eingesetzt. Überall wuchsen die Menschen zweisprachig auf. War vorher deutsch gesprochen worden, so erwischte Claus Rhodes jetzt ein japanisches Programm. Er schaltete weiter. Plötzlich tauchte ein Nachrichtensprecher auf, der schwedisch sprach. »Du weißt doch, daß ich das nicht verstehe«, maulte Karin. Claus achtete nicht darauf. Er lauschte plötzlich auf das, was der Sprecher sagte. Seine Schwedischkenntnisse waren recht gut. Worum ging es denn da? »...einem Gerücht zufolge, daß Puppen...« »Warum läßt du denn das?« unterbrach Karin. »Ruhe!« rief Claus aufgebracht. Sein Herz schlug ein paar Takte schneller. Er wollte wissen, was der Sprecher zu berichten hatte. »...ein Ehepaar getötet...« »Findest du es nicht auch rücksichtslos, was du da tust, Claus?« Eiskalt rieselte es ihm über den Rücken. Er vermochte nicht, den Blick von dem Nachrichtensprecher zu lösen. »...weitere Vorkommnisse. Auch dann würden die sogenannten Puppen...« »Ich protestiere!« rief Karin Rhodes aus. »Um Gottes willen«, bat Claus erbleichend, »sei doch wenigstens ein paar Augenblicke still!« »Die Polizei hüllt sich in Schweigen. Inzwischen sollen jedoch erneut Übergriffe durch die Puppen erfolgt sein. Ein Sprecher der Behörden gab zwar ein Dementi...« »Was ist denn überhaupt los, Claus? Was sagt der Mann denn?« »Wie geht es weiter? Greift es noch mehr um sich? Wir dürfen das Schlimmste befürchten. Nur gezielte Aufklärung über die wahren Hintergründe können eine entstehende Panik verhindern.« Claus Rhodes drückte den Aus-Knopf und erhob sich. Wankend stand der Mann da. Auch Karin stand auf. Ihre Hände krallten sich in die Kleidung ihres Mannes. »Claus, so sage doch etwas! Was ist passiert? Was hast du erfahren?« Copyright 2001 by readersplanet
Er nahm seine Frau in die Arme. »Die - die kleinen Cyborgs, die Puppen. Irgend etwas ist geschehen. Der Sprecher berichtete von Übergriffen, Panik, von Polizei und von Toten!« Mit einem Ruck ließ er seine Frau los und wandte sich zur Tür. Entgeistert folgte ihm Karin mit den Blicken. Er erreichte das Kinderzimmer, öffnete leise, schaltete die indirekte Beleuchtung ein. Claus Rhodes zählte. Alle fünf schienen friedlich zu schlafen. Er schüttelte den Kopf. Der schwedische Nachrichtensprecher hatte ihn ganz konfus gemacht. Möglichst geräuschlos zog er sich zurück und schloß langsam die Tür. Er war bereits auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. Und da hörte er etwas, was ihn erstarren ließ. Er wagte sich nicht zu bewegen. Etwas tapste über den Boden, näherte sich ihm. Claus Rhodes hielt den Atem an. Die Panik drohte ihn zu übermannen. Mit einem Ruck drehte er sich um sich selbst. Da standen sie - alle fünf. Er schaute in ihre ausdruckslosen Gesichter. Claus Rhodes wurde von der Angst an die Stelle gebannt. Er war zu keiner Regung fähig. Die Kinder verhielten sich abwartend, als kämpfe in ihnen das positive Programm mit dem Vernichtungswillen. Und dann griffen sie an. Claus Rhodes' Reflex zur Flucht kam zu spät. Karin, seine Frau, hörte einen gellenden Schrei. Sie eilte herbei und konnte nicht fassen, was sie mit ihren eigenen Augen sah. Die kleinen Ungeheuer fielen auch über sie her, ehe sie zu einer Reaktion fähig war. Danach nahmen sie sich bei den Händen, tanzten herum und sangen: »Vater, Mutter tot Sie gaben uns kein Brot. Schlag alle tot, schlag alle tot Sie gaben uns kein Brot!«
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Die Hamiltons waren glücklich mit ihrem kleinen Jimmy. Sie verließen nach dem Abschluß die Filiale. Zunächst gingen sie in ein Geschäft für Kindersachen. Dort kauften sie ein. Endlich kamen sie zu Hause an. Jimmy sah sich mit großen, runden Augen um. Vor allem sein Zimmer interessierte ihn. Ken hatte es als Arbeitszimmer und Hobbyraum benutzt. Das hatte nunmehr ein Ende. Viele Stunden waren vergangen, als Judy Hamilton zum ersten Mal richtig zu Bewußtsein kam, daß sie eine der Puppen erworben hatten. Die beiden Erwachsenen sahen sich betroffen an. Jimmy kauerte in einer Ecke des Wohnzimmers und spielte mit einem Spielzeuggleiter, wobei er das charakteristische Summen des Schwerkraftmotors nachzuahmen versuchte. Plötzlich brach Judy in Tränen aus. Jimmy spielte weiter. Er stimmte ein Kinderliedchen an, das völlig falsch in Text und Melodie über seine Lippen kam. Judy fühlte sich einem Nervenzusammenbruch nahe. Da sah Jimmy auf einmal auf. Zögernd erhob er sich und kam näher. »Mutti, du weinst ja«, stellte er betroffen fest. »Hat dir jemand weh getan?« Judy schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen ab. Es nutzte nichts. Immer neue rannen über ihre Wangen. »N-nein, Jimmy«, murmelte sie tränenerstickt, »der Mutti hat niemand etwas getan.« Der Kleine schüttelte die Fäustchen. »Ich würde ihn nämlich boxen!« prophezeite er. Judy streichelte seinen Blondschopf. Ken stand auf, um das Kinderbettchen zu richten, das inzwischen geschickt worden war. Er konnte es nicht mehr mit ansehen.
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12
Gisela Jacobs war seit einem halben Jahr nicht mehr berufstätig. Sie war automatisch in die Kaste der Civitanoj abgerutscht, und es gab keinerlei Aussicht auf Besserung. Damit erlosch automatisch ihr Anspruch auf eine Puppe. Allerdings lief ihr alter Vertrag noch, und so durfte sie die drei Cyborgs noch fast ein ganzes Jahr lang behalten. Niemand konnte sich in die Lage der älteren Frau versetzen, konnte ermessen, was die Puppen für sie bedeuteten. Sie waren das einzige, was sie hatte, seit ihr Mann bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. An diesem Abend - für sie war Abend - brachte sie ihre »Kinder« ins Bett und wartete eine halbe Stunde, bis sie anscheinend fest schliefen. Dabei wurde ihr nicht bewußt, daß ein aus einer Biocard bestehendes Biotrongehirn - gekoppelt mit gezüchteten menschlichen Nervenzellen - nicht schlafen konnte! Sie begann, sich ausgehfertig zu machen, denn sie war bei Freunden eingeladen, einem jüngeren Ehepaar, das eine neue Puppe besaß und sie Gisela Jacobs zeigen wollte. Die ältere Frau freute sich auf den Besuch, denn sie war gespannt auf - das »kleine Mädchen«. Bevor sie ihre Wohnung verließ, lauschte sie noch einmal pflichtbewußt an der Tür zum Kinderzimmer. Alles war ruhig. Der organische Teil der Androiden benötigte in der Tat Ruhepausen zur Regenerierung. Gisela brauchte sich keine Sorgen zu machen. Bald hatte sie ihr Ziel erreicht. Die Wohnung der Familie Ballhaus lag nicht weit entfernt. Petra Ballhaus öffnete persönlich. »Oh, Gisela, du bist aber pünktlich«, rief sie erfreut. »Hat es keine Komplikationen mit den Kleinen gegeben?« »Nein, sie wissen, daß sie mir vertrauen können. Man muß zu seinen Kindern nur das richtige Verhältnis haben, dann kann man sie auch einmal allein lassen; glaube mir, Petra, ich habe da meine Erfahrungen.« »Hast du schon etwas gegessen?« Gisela verneinte. »Trifft sich gut. Wir haben etwas bestellt. Heute gibt es keine Einheitsnahrung, sondern etwas außer der Reihe. Stell dir vor, echte Kartoffeln stehen auf dem Speiseplan!« »Ja, habt ihr denn in der Lotterie gewonnen?« »Nein, das nicht gerade. Weißt du, wir haben etwas gespart für die Kleine, und heute soll es eben ein Festmenü geben.« Sie wechselte das Thema. »Aber, sag einmal, willst du denn draußen stehenbleiben?« Sie führte Gisela Jacobs ins Innere der Wohnung. Als Gisela ins Wohnzimmer trat, erschrak sie. Die Familie Ballhaus hatte außer ihr noch jemanden eingeladen. Das ältere Ehepaar war fremd für sie. Frau Ballhaus stellte sie gegenseitig vor. Karl Ballhaus besorgte indessen etwas zu trinken. »Wie ist das mit eurer Tochter?« fragte Gisela gespannt. Petra machte ein unglückliches Gesicht. Copyright 2001 by readersplanet
»Ich bin untröstlich, liebe Gisela, aber das arme Ding war so schrecklich müde.« Gisela Jacobs war bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie widmete sich dem fremden Paar. »Haben Sie auch Kinder?« erkundigte sie sich. »Nicht mehr!« Der Mann warf sich in die Brust. »Wir hatten eine Adoption für volle drei Jahre!« »Ein echtes Kind?« Gisela war sprachlos. »Es war das zweite Mal schon!« Die Stirn des Mannes umwölkte sich kurz. »Leider sind wir wieder seit dreiundzwanzig Tagen allein. Alles erscheint uns so traurig ohne Kind. Es ist fast unerträglich.« »Vielleicht sollten wir leise das Kinderzimmer öffnen, um die Kleine im Schlaf zu sehen?« lenkte Petra Ballhaus ab. »Nein!« entschied ihr Gatte, »das dürfen wir nicht riskieren. Die Kleine braucht ihren Schlaf sehr dringend.« Petra Ballhaus hob in einer hilflos anmutenden Geste die Hände. »Na ja, vielleicht sollte ich in der Küche nachsehen, ob das Essen schon angekommen ist?« »Ich helfe dir«, erbot sich Gisela spontan. »Wer sind die beiden eigentlich?« fragte sie Petra, als sie beide allein waren. »Bekannte von meinem Mann, von Karl. Vor einigen Wochen waren sie zum ersten Mal da. Heute kamen sie uneingeladen. Eine Viertelstunde vor dir standen sie vor der Tür. Was sollte ich tun?« Gisela winkte ab. »Na, ich habe nichts gegen sie - falls du das meinst.« »Aber ich!« Petra verzog das Gesicht. »Es sind Snobs, kennen nur ein Gespräch: ihre beiden Adoptivkinder. Und das Schlimmste ist, daß sie wieder eins bekommen können. Ihr Index reicht aus. Du weißt ja, wie das ist.« Eine Lampe blinkte. Die Küche verdiente ihre Bezeichnung eigentlich nicht mehr. Sie war nur das Versorgungszentrum einer Wohneinheit. Hier liefen die Hauptleitungen zusammen Ernährung, Post und Sonstiges. Petra öffnete eine Klappe und griff hinein. Gisela half ihr, die duftenden und dampfenden Speisen herauszubefördern. »Hm, riecht wirklich gut«, kommentierte sie dabei. »Hör mal, Gisela, wir sind doch jetzt unter uns. Ich habe vorhin gesehen, daß du enttäuscht warst. Weißt du, Karl war nur wegen der anderen dagegen. Die lehnen die Puppen nämlich vollkommen ab. Willst du nicht doch einmal einen Blick ins Kinderzimmer werfen? Die beiden merken bestimmt nichts davon. Die glauben, wir sind noch in der Küche beschäftigt.« Gisela zeigte sich begeistert. »Wenn du glaubst, es verantworten zu können?« Ihre Stimme vibrierte. Sie ließen das Essen stehen, gingen hinaus und sicherten erst einmal nach allen Seiten. Zum Glück war die Wohnzimmertür geschlossen. Sie hörten die Stimmen der Besucher. Aufatmend schritten sie den Flur entlang. Petra Ballhaus stoppte vor dem Kinderzimmer und legte die Hand auf die Klinke. Die Tür schnappte leise auf. Petra schaltete das gedämpfte Licht ein und schob sich weiter. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Petra war etwas größer als ihre Freundin, die vergeblich versuchte, etwas zu erkennen. »He, was ist? Warum gehst du nicht weiter?« flüsterte sie.
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Als Antwort stieß Petra Ballhaus einen erstickten Laut aus und drängte rückwärts aus dem Raum heraus. Dabei wurde sie unbeabsichtigt von Gisela behindert. Im nächsten Augenblick schrie Petra gellend und sank zu Boden. Gisela wich fassungslos zurück. Über die schreiende Freundin stieg ein kleines Mädchen mit blutverschmierten Händen. Ein Mädchen? Das Ding sang: »Ehne, mehne, muh, das bist du! Ehne, mehne, mot, bald bist du tot!« Es lachte hell und beendete Petras Schreie. Erst jetzt erkannte Gisela das Messer. Ein Schatten schob sich zwischen sie und das kleine Monstrum. Es war der fremde Mann. Die anderen hatten die Schreie gehört. Der Mann packte den Androiden. Aber er hatte sich verrechnet. Das Ding war nur dem Anschein nach ein Kind. Das Biotrongehirn konnte schneller reagieren als ein menschliches Gehirn. Das Messer bohrte sich in die Brust des Mannes. Karl Ballhaus kam ihm zu Hilfe. Er ging umsichtiger zu Werke als sein Bekannter. Mit dem Fuß trat er zu. Das empfindliche Gehirn bekam einen Knacks. Der Halbandroide gab quietschende Geräusche von sich und drehte sich ständig im Kreis. »Polizei!« schrie Karl Ballhaus und beugte sich über den schwerverletzten Mann. Niemand reagierte - weder Gisela noch die andere Frau. »Petra!« Karl Ballhaus schluchzte hemmungslos und wankte zum Videophon. Dabei mußte er an Gisela vorbei. Während Tränen über seine Wangen rollten, sagte er: »Und du hast gleich drei von diesen Monstren. Wir müssen sie vernichten, ehe sie uns alle töten!« Gisela zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Es war für sie plötzlich unwichtig, was hier passiert war. Sie mußte an »ihre Kinder« denken. Ihr Mutterinstinkt meldete sich. Die wollten ihren Kleinen etwas antun? Das würde sie zu verhindern wissen. Wortlos wandte sie sich ab und eilte aus der Wohnung.
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Pünktlich zur verabredeten Zeit verließ Olivia Missouri ihre Unterkunft. Kaum trat sie vor das Gebäude, als ein Mann auf sie zusteuerte. »Welch ein Zufall«, sagte sie lächelnd, denn sie erkannte Werner Sutten. Er erwiderte das Lächeln. »Einen solchen Zufall sollte man feiern, nicht wahr?« Er deutete eine Verbeugung an. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« »Wenn es kein Alkohol ist...« Er hob beide Hände. »Ich schwöre es!« Olivia lachte. »Also gut, überredet!« Sie hatte den Mann richtig eingeschätzt. Er rechnete sich bei ihr Chancen aus. Sie betraten eine kleine Bar in der Nähe. Es herrschte schummriges Licht. An einem Tisch nahmen die beiden Platz. Olivia sah sich um. »Es gefällt mir hier. Es ist gemütlich.« Sutten deutete auf die Tastatur, die sich in der Mitte eines jeden Tisches befand. »Geben Sie bitte Ihre Bestellung auf, Olivia.« Er zückte seine Kreditkarte. »Ich habe Sie eingeladen.« Er steckte die Karte in einen Schlitz. Sie wurde vom Automaten gelesen und wieder freigegeben. Beide bestellten. Wenig später öffnete sich eine Klappe. Die Drinks waren da. »Prost!« sagte Werner Sutten. Die Gläser stießen mit hellem Klingen zusammen. Während Olivia trank, beobachtete sie den Mann aus den Augenwinkeln. Wieviel wußte Sutten? Sie mußte sehr geschickt vorgehen. »Darf ich zu einem Tänzchen bitten oder ist der Wunsch zu gewagt?« fragte er. »Er ist es nicht!« Sie gingen zur Tanzfläche. Elektronische Musik spielte auf. Während des Tanzes achtete Olivia darauf, daß ihr Abstand zueinander nicht zu klein wurde. Mit viel Diplomatie leitete Olivia ein Gespräch ein. Sie unterhielten sich über alles, nur nicht über die Arbeit von Werner Sutten. Das wagte Olivia erst, als sie schon über zwei Stunden zusammen waren. Er hatte dem Alkohol eifrig zugesprochen, und Olivia konnte das nur begrüßen: Ihr Kopf war noch klar. Gerade hatten sie wieder getanzt und setzten sich ein wenig außer Atem an den Tisch. »Sie sind ganz schön ausdauernd«, eröffnete Olivia das entscheidende Wortspiel. »Ist das Ihrem Job zu verdanken?« Er zögerte mit der Antwort. Aber Olivia ließ ihn nicht zum Überlegen kommen. Sie bereitete den nächsten Zug vor: »Vielleicht sollten wir das unpersönliche Sie weglassen?« Er lachte auf. Copyright 2001 by readersplanet
»Ich hätte es längst schon vorgeschlagen, wäre ich nicht so entsetzlich schüchtern.« »Sie und schüchtern!« Die beiden tranken Brüderschaft. »Ich darf eigentlich nicht über das reden, was ich tu«, meinte Sutten ernst, »aber es gehört natürlich dazu, sowohl körperlich als auch geistig auf der Höhe zu sein.« »Kann ich mir gut denken. Sonst würden die wohl ihr Geld aus dem Fenster werfen. Wenn etwas so wichtig ist, daß man es bewachen muß, dann sollte man sich auf die Wachleute auch hundertprozentig verlassen können.« Werner Sutten fühlte sich geschmeichelt. Das kam zum Ausdruck, als er sagte: »Im Grunde sind wir sehr unzulänglich informiert. Ich habe vorher in einer Einheit der Schwarzen Garden gedient. Dort hat man uns die nötigen Grundbegriffe beigebracht. Und dann trat jemand an mich heran und bot mir die Stelle hier an. Die Bezahlung ist Spitze, sage ich dir. Mein Vertrag läuft insgesamt fünf Jahre. Danach habe ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt.« Olivia geriet ins Schwärmen. »Was für ein Mann du bist! Wer bekommt schon einen solchen Posten!« Seine Augen glänzten - und das nicht nur vom Alkohol. Er trank sein Glas leer und bestellte sich ein neues. Dann schaute er sich vorsichtig um, als müßte er fürchten, belauscht zu werden. Er beugte sich vor und flüsterte vertraulich: »Die können mir nichts vormachen. Bei einem solchen Aufwand muß es sich um eine ganz heiße Sache handeln. Aber das muß natürlich unter uns bleiben, Baby, verstehst du?« Sie winkte ihn näher, weil sie beschlossen hatte, die Partie zu beenden. »Hör zu, Werner, ich darf natürlich auch nicht darüber reden, aber wir sind schließlich beide Geheimnisträger, nicht wahr?« »He, wie meinst du das?« Olivia dachte: Schach! Laut sagte sie: »Man arbeitet in dem bewachten Gebäude an der Verbesserung der Puppengehirne!« »Wie, das weißt du?« Werner Sutten war entgeistert. »Na, immerhin bin ich Psychologin und werde mit dem Programmieren der Puppen täglich konfrontiert.« Werner Sutten wurde nervös. »Wie ich schon sagte, ein ganz heißes Ding. Du hast wahrscheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Es geht um eine Neuentwicklung. Eine ganze Menge biotronische Teile wandern hin und her. Sieht so aus, als würden sie dort drin bearbeitet.« »Ich frage mich nur, was die Geheimhaltung und der ganze Aufwand sollen. FEDERAL PUPPET hat das Monopol. Eine Konkurrenz gibt es nicht und somit auch keine Wirtschaftsspionage.« »Ja, glaubst du denn, die Angelegenheit sei legal?« Er lachte unsicher. Schach und matt! konstatierte Olivia im stillen. Jetzt war es an der Zeit, das Thema zu wechseln. Mehr war aus dem Wächter nicht herauszuholen. »Na, ist mir auch egal.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hauptsache, ich behalte meinen Job. Weißt du, es ist gar nicht mal so neu, daß man die ausgemusterten Gehirne durch Eingriffe wieder auf Vordermann bringt und dabei gleichzeitig verbessert. Ich habe selber schon oft genug solche Arbeiten vorgenommen. Natürlich verstehe ich nicht viel von Kybernetik. Ich bin nur für das psychologische Programm verantwortlich. Vor allem die Vorbereitungen nehmen lange Zeit in Anspruch. Gemeinsam mit dem Großcomputer wird ein ausgesuchtes Kind in jeder Sekunde seines jungen Lebens Copyright 2001 by readersplanet
beobachtet. Seine Reaktionen werden getestet. Für die Psyche des Kindes ist das völlig ungefährlich. Es merkt von alledem nichts. Tja, anschließend wird das so gewonnene Material mit anderem abgestimmt. Vor einiger Zeit wurde das sogenannte Grundkonzept entwickelt. Du weißt davon. Es erlaubte den Bau der ersten Halbandroiden. Sämtliche Puppen erhielten diesen Grundcharakter. Bekomme ich nun eines der bereits benutzten Gehirne, wird die Grundkonzipierung erneuert. Anschließend erhält das Ding seine individuelle Persönlichkeit, die sich auf die Beobachtungen des entsprechenden Kindes stützt. Die fertigen Programme werden durch parallel laufende Untersuchungen ständig überprüft und verbessert. Es soll nicht so sein, daß jede Puppe ist wie die andere. Es muß Unterschiede geben - nicht nur äußerlich. Was ich mache, ist die Durchführung sogenannter Simultanversuche. Der Computer erzeugt künstliche Situationen und nimmt die entsprechenden Reaktionsimpulse vom Mikrogehirn auf. Ich schaue mir das an und sorge für immer wieder neue Spezifizierungen, was der entsprechenden Puppe ein eigenes Verhaltensmuster aufprägt.« Werner Sutten blies die Wangen auf. »Das ist ganz schön kompliziert.« Olivia seufzte. »Vor allem ist es anstrengend.« Sie befragte ihre Uhr. »Darf gar nicht daran denken, daß meine Schicht bereits in vier Stunden beginnt. Viel Schlaf werde ich bis dahin nicht mehr bekommen.« Werner Sutten erschrak. »Verdammt, du hast recht!« Olivia tätschelte seine Hand. »Am besten, wir gehen jetzt beide heim. Würde mich freuen, dich einmal wiederzusehen.« Sie küßte ihn sanft auf die Wange. »In zwei Tagen habe ich wieder Zeit. Wie ist es mit dir?« Sie hatte ihn in der Hand, und Olivia war sicher, daß er ihr noch nützlich sein würde, wenn sie es nicht übertrieb.
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Der kleine Jimmy schlief. Judy und Ken ließen sich durch das Großvideo berieseln. Schließlich kamen die Nachrichten. Die beiden Zuschauer hörten nur mit halbem Ohr zu. Bis der Sprecher sagte: »Unterdessen gewann Antal Rypdahl mit seinen radikalen Ideen immer mehr Anhänger. Das höchste Gremium der Weltsicherheitsbehörde hat einen Erlaß herausgebracht, nach dem Mitglieder seiner weltweiten Organisation keine wichtigen Ämter im öffentlichen Leben bekleiden dürfen. Vor strengeren Maßnahmen schreckte die wichtigste Behörde der Welt noch zurück, da es bisher noch nicht zu Übergriffen gekommen ist. Antal Rypdahls Agitationen bewegen sich nach wie vor nur im theoretischen Bereich. Trotzdem werden er und seine Helfer ständig beobachtet. Aufsehen erregte er vor fünf Stunden mit seiner Rede, die in der allgemeinen Amtssprache von mehreren Sendern ausgestrahlt wurde. Sie bezog sich auf die jüngsten Ereignisse, in denen anscheinend die sogenannten Puppen die Hauptrolle spielen. Bis jetzt bleiben Meldungen in dieser Richtung jedoch unbestätigt. Wir zeigen Ihnen nun einen Ausschnitt der Ansprache.« Judy und Ken richteten sich unwillkürlich auf. Das Bild wechselte. Es zeigte einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit fast kahlgeschorenem Schädel. Seine Augen leuchteten fanatisch. Dennoch redete er beherrscht. »Indem wir uns mehr und mehr der Biotronik überantworten, geben wir uns selbst auf. Heute beherrscht uns bereits die eigene Technik. Es gibt keinen Ausweg mehr, wie es scheint. Bisher sahen wir in der gegenwärtigen Ordnung nur die Vorteile. Aber was ist denn so gut daran, daß unser gesamtes Leben von künstlichen Gehirnen organisiert wird? Die Bevormundung reicht bis in den kleinsten, intimsten Bereich hinein. Kinder dürfen wir nur bekommen, wenn es erlaubt ist. Das Essen wird uns verabreicht, wenn wir an der Reihe sind. Geld, das wir verdienen, geben wir aus für einen zweifelhaften Vorteil, indem wir ein Vermögen auf den Tisch legen, nur um einmal an natürliche Nahrung heranzukommen. Aber wir brauchen sie im Grunde genommen gar nicht, weil wir bereits satt sind - satt durch künstliche Erzeugnisse. Wir haben eine Kultur des Ersatzes. Sogar die Kinder, die wir nicht bekommen dürfen, ersetzen wir durch Androiden, durch sogenannte Puppen. Und wer ist dafür verantwortlich zu machen? Sind es nicht diejenigen, die die Oberaufsicht über die Computer haben? Ihnen ist es gelungen, uns mit ihren Mitteln perfekt zu kontrollieren und zu beherrschen. Sie kennen Sorgen wie wir nicht, denn sie gehören zu den Höchstprivilegierten, dürfen Kinder haben, natürliche Nahrung, dürfen die Städte verlassen, wann immer Sie wollen, kennen die Welt... Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Und jetzt beginnen die biotronischen Diener gegen ihre Herren aufzustehen. Überall auf der Welt haben Androiden in der Gestalt von unschuldigen Kindern ihr blutiges Spiel bereits betrieben. Viele Mitbürger mußten ihr Leben lassen, aber die Weltsicherheitsbehörde schweigt dazu. Mancherorts gibt es zaghafte Dementis. Doch die Gefahr wächst! Diese meine Rede wird von der Presse gekürzt werden. Man sieht mich als Gefahr. Warum? Weil ich sage, was der Wahrheit entspricht. Der größte Teil der Bevölkerung ist unwissend, was den Aufstand der Puppen betrifft. Sollten wir warten, bis uns die kleinen Monstren alle umgebracht haben? Nein, spielen wir nicht länger das Opferlamm. Vernichten wir unsere Puppen! Wir wollen uns nicht mehr länger an der Nase herumführen lassen. Wir wollen Kinder, und man gewährt uns Copyright 2001 by readersplanet
Spielzeug - tödliches Spielzeug!« An dieser Stelle wurde ausgeblendet. Der Nachrichtensprecher erschien wieder. »Wir legen Wert auf den Hinweis, daß die Rede von Antal Rypdahl nicht deshalb gekürzt wurde, weil sich die Weltsicherheitsbehörde vor seinen Aussagen fürchtet, sondern weil einfach die Sendezeit sehr knapp bemessen ist. Rypdahls Rede dauerte insgesamt fast zwei Stunden.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Unabhängig davon meldete die Weltsicherheitsbehörde vor wenigen Minuten, daß ein Krisenstab zusammengetreten ist, der sich mit den gegenwärtigen Vorwürfen betreffs einer angeblichen Revolte der Puppen beschäftigen wird.« Ken Hamilton schaltete ab. Bleich schaute er seine Frau an. Judys Augen waren weit aufgerissen. »Jimmy!« flüsterte sie. »Wir sollen - sollen ihn einfach - umbringen?« Das Wort ging ihr schwer über die Zunge. Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ruhig, Judy!« beschwor sie Ken, »das ist doch alles nur das dumme Geschwätz eines Spinners. Es stimmt zwar manches, was dieser Rypdahl von sich gibt, aber er weiß so gut wie jeder, daß sich die gegenwärtige Situation nur mit roher Gewalt ändern läßt. Und das würde bedeuten, daß Millionen - vielleicht sogar Milliarden! - Menschen ihr Leben lassen müßten. Wer will denn das schon?« Er hatte von den Puppen ablenken wollen, was ihm jedoch nicht gelang. Judy lief zu ihm hin und packte seine Schultern. »Ken, sei ganz ehrlich. Du bist ein hoher Beamter im Gemeinderat. Was ist dran an den Geschichten von den durchdrehenden Puppen?« Ken druckste herum. »Mir ist natürlich auch manches zu Ohren gekommen, aber...« »Aber was?« »Du hast gehört, was der Sprecher sagte. Nichts ist erwiesen!« »Du lügst!« stellte Judy leise fest. Ken suchte nach Worten. Etwas enthob ihn einer Entgegnung: Jimmy erschien schlaftrunken in der Tür. Er rieb sich die Augen. »Mutti, ich kann nicht schlafen!« klagte er. Judy ging zu ihm, kniete nieder und drückte den Jungen fest an sich. »Haben wir dich denn geweckt?« Vergeblich unterdrückte sie ihre Tränen. »Es - es tut mir so leid.« Sie nahm Jimmy auf den Arm. »Aber jetzt gehen wir wieder ins Bett, nicht wahr?« »Ich will aber nicht!« protestierte er trotzig. »Wie willst du jemals groß und stark werden, wenn du nicht genügend Schlaf findest?« Sie trug ihn hinaus. Vor der offenstehenden Tür zum Kinderzimmer warf sie ihn hoch und fing ihn wieder auf. Er lachte laut und freute sich. »So«, sagte sie, als sie ihn hinlegte, »und jetzt werden Vati und ich ganz leise sein, damit unser kleiner Jimmy nicht wieder gestört wird, nicht wahr?« Er schloß lächelnd die Augen. Judy blieb noch eine Minute im Zimmer und betrachtete das kleine Wesen. Es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, daß sie einen Cyborg vor sich hatte, ein künstliches Ding ohne Bewußtsein und ohne Gefühl, eine Maschine.
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Gisela Jacobs saß zitternd in der Garderobe ihrer Wohnung. Sie hörte ihre drei spielenden Kleinen. Sie tollten im Flur herum. Sie verdrängte die Gedanken an das, was sie bei den Ballhausens erlebt hatte. Sie wollte ihre Kinder nicht aufgeben. Für sie waren es keine Puppen, sondern lebendige Wesen, die ihr ans Herz gewachsen waren. Und deshalb saß sie hier und zitterte um sie. Karl Ballhaus hatte die Polizei benachrichtigt. Sicher würde er die Streife auch zu ihr schicken. Gisela Jacobs hielt ein Messer in der Rechten. Egal, was passieren würde, sie würde sich und ihre Kleinen verteidigen bis aufs Blut! Das Rufzeichen des Videophons ließ sie aufschrecken, sie blieb, wo sie war. Das Videophon blieb hartnäckig. Bis es Gisela schließlich nicht mehr aushalten konnte und aufsprang. Der »Siebenjährige« wollte gerade den Antwortknopf drücken. »Laß das um Gottes willen!« rief sie entsetzt. »Warum denn, Mutti? Es läutet doch.« »Weil ich es dir verbiete!« »Es ist nicht das erste Mal, daß ich...« »Bitte, geh auf dein Zimmer! Niemand darf dich sehen. Nimm die anderen beiden mit!« Er sah sie seltsam an. »Was ist denn los mit dir, Mutti? Hast du Sorgen? Bist du krank?« »Krank?« echote sie hysterisch. »Ja, ich bin krank - krank vor Angst! Ich habe Angst um euch drei!« Der Kleine wich erschrocken zurück. Er sammelte »seine Geschwister« ein und verschwand mit ihnen im Kinderzimmer. Die Tür blieb offen. Die drei beobachteten »ihre Mutter«.
Das Grauen geht weiter in... Band 14: »Revolte der Androiden« "Sie drehen durch - und bringen den Tod!" Ein Roman von Wilfried Hary
Den bekommt man übrigens auch in gedruckter Fassung, mit farbigem Titelbild von dem bekannten Künstler Gerhard Börnsen. Einfach mal fragen bei: HARY-PRODUCTION, Copyright 2001 by readersplanet
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