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Roy Palmer
Die Krokodilmänner
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1. Das Kapuzineräffchen ließ sich aus einer Baumkrone in die Tiefe gle...
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Roy Palmer
Die Krokodilmänner
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1. Das Kapuzineräffchen ließ sich aus einer Baumkrone in die Tiefe gleiten, drohte im freien Fall bis in das verfilzte, undurchdringliche Dickicht des dampfenden Regenwaldes zu stürzen, erhaschte dann aber doch eine Liane und pendelte an ihr bis zum Nachbarbaum hinüber. Dort landete es sicher auf einem der tiefer gelegenen, ausladenden Äste und ließ die Liane los. Behende turnte es auf dem Ast entlang, bis ganz nach vorn zur Spitze. Hier verharrte das Tier. Unter ihm wälzten sich die lehmbraunen Fluten des gewaltigen Stromes dahin, aber nicht das war es, was die Aufmerksamkeit des Äffchens erregt hatte. Vielmehr drehte sich auf einem trägen Strudel ein rätselhaftes Ding, ein Etwas, wie es das possierliche Tier nie zuvor in seinem Leben erblickt hatte. Es war gelb und wirkte – zumindest aus der Sicht des Äffchens –, als ob man es mit einiger Überwindung fressen könne. Das Äffchen legte den Kopf schief und gab ein knappes, fragendes Keckern von sich. Das Etwas dort unten trug genau in seiner ausgehöhlten Mitte eine Gestalt spazieren, einen weißhäutigen Zweibeiner, der bis auf die Knochen abgemagert war und vor dessen hohlwangigem, ausgemergeltem Gesicht man glatt Angst kriegen konnte. Der Mann hatte seinen Blick nach oben gerichtet. Seine Augen erschienen seltsam starr. Tot? Das Äffchen hätte es gern herausgefunden. Aber das Ding, in dem der Mensch auf dem Wasser trieb, entwand sich jetzt den Kreisen des Strudels. Die Hauptströmung war stärker, sie entführte die Last. Dem Kapuzineräffchen gefiel diese Wandlung der Lage überhaupt nicht. Empört hastete es auf seinem Ast hin und her. Dann rannte es zurück, fand eine Verbindung zu Nebenästen, die ebenfalls über das zugewucherte Ufer hinausragten, begleitete seine interessante Entdeckung noch ein Stück,
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mußte aber schließlich zeternd zuschauen, wie sich das Ding endgültig aus seinem Gesichtskreis entfernte. Das Kapuzineräffchen keckerte und schimpfte eine Weile. Danach brach es in die hinter ihm liegende grüne Hölle auf, um Streit mit einem seiner Artgenossen zu suchen. Seine Neugierde war nicht vollends befriedigt worden. So etwas konnte auch einen Affen – nicht nur Menschen – in unbändigen Zorn versetzen. Der Strom nahm das schmutziggelbe Boot aus geflochtenem Reet mit wie eine sichere Beute. „Pororoca“ nannten die Indianer den gewaltigen Fluß Amazonas – Wolkenwasserlärm. Die Urmacht der Natur, die sich jählings brüllend aufbäumen konnte, um alles zu verschlingen. Die Macht der Götter. Was sie packte, gab sie nicht wieder frei. Und doch: Bisweilen geschah ein Wunder. Der Mann im Inneren des Reetbootes versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm nur halb. Er stöhnte. Seine Züge nahmen einen gequälten Ausdruck an. Er ließ sich wieder zurücksinken. Plötzlich veränderte sich seine Miene. Er brach in heiseres Kichern aus. „Der Teufel will dich nicht, Montanelli“, flüsterte er. „Der Fluß wird breiter und breiter, bald bist du an der Mündung angelangt. Erinnerst du dich, wie weit die Ufer voneinander entfernt lagen, als du hier eintrafst?“ Er legte eine Pause ein. Selbst das Flüstern bereitete ihn Schwierigkeiten. Er war unsagbar schwach, seine letzten Energiereserven waren verbraucht. „O Herr, steh mir bei, daß ich es schaffe – daß ich das Meer noch sehe, bevor ich sterbe…“ Seine dürren Finger hielten zwei Beutel aus roh gegerbtem Leder auf dem Boden des Bootes umklammert. Es befand sich kein Proviant in diesen Beuteln. Er, Montanelli, war den Tod durch Verhungern und Verdursten nahe, aber das, was die Beute bargen, konnte kein Mensch diese Welt herunterschlingen. Und das Wasser des Flusses war ungenießbar. Es würde seinen Tod nur beschleunigen.
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Piranhas befanden sich darin, giftige Würmer, Zitteraal Rochen, die mit ihrem langen Schwanzstachel furchtbare Wunder schlagen konnten. Kleine Fische, di‹ sich in die Öffnungen eines Menschen bohrten und die Rückenflosse aufrichteten, Kaimane, tausend Krankheitserreger. Montanelli brauchte nur dieses Wasser zu trinken oder sich hineinsinken lassen, wenn er seinem Dasein ein Ende bereiten wollte. Aber er wollte leben! Je schwächer er wurde, um so mehr klammerte er sich an den letzten Hoffnungsschimmer, dem Inferno zu entweichen. Wie oft war er dem Tod schon vor der Schippe gesprungen? Wieder lachte er leise. Viele dutzend Male. Ganz gewiß. Er hätte vor den vielen Gefahren, die der Strom bot, umgebracht werden können. Oder von Indianern. Aber nichts vor alledem, was er befürchtet hatte, war eingetreten, allen Gesetzmäßigkeiten dieser gräßlichen Umgebung zum Trotz. Eben. Die Hölle wollte ihn nicht. Montanelli drehte sich und hob der Kopf so weit, daß er über den Rand des Reetbootes spähen konnte. Er blickte und lauschte in den Wirrwarr aus feuchter grüner Flora und kunterbunter, lärmender Tierwelt. Er haßte diese ewige Kulisse, die sich nicht ändern wollte, aber er fing an, sie zu lieben, wenn er daran dachte, daß er nicht mehr weit von einer möglichen Rettung entfernt war. Er ließ sich völlig ermattet zurücksinken. Sein Atem ging flach und pfeifend. Die Welt begann sich um ihn herum zu drehen, und in seinem Kopf schien sich ein riesiges Mühlrad zu bewegen. Der azurblaue Himmel raste auf ihn zu und erdrückte ihn mit seiner Hitze. Schweißgebadet wachte Montanelli aus seiner Ohnmacht auf. Wieviel Zeit war verstrichen? Er wußte es nicht. Er stellte keine Schätzungen an. Er hatte aufgehört, die Tage zu zählen, warum sollte er dann noch die Stunden berechnen? Das Reetboot hatte mehr Fahrt aufgenommen. Es trieb dahin, ohne daß er seinen Kurs irgendwie beeinflussen konnte. Blieb
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es irgendwo hängen, dann würde der halbtote Mann es nicht einmal fertigbringen, es zu befreien. Er hob ächzend den Kopf und hielt wieder Ausschau. Diesmal sah er sie. Für einen Moment nur tauchten ihre braunen Leiber aus dem Dickicht des Südufers auf. Sofort waren sie wieder verschwunden. Aber die wenigen Sekunden genügten Montanelli. Er war keiner Täuschung erlegen und fieberte nicht. Seine Augen hatten auch noch die nötige Sehschärfe und gaukelten ihm keine Trugbilder vor. Mit entsetztem Keuchen fiel er auf den Bootsboden zurück. Sie waren da! Zwei! Die Angst packte ihn und fuhr ihm tief in die Knochen. Sie ließ ihn nicht mehr los und schüttelte ihn. Sie waren da und hatten ihn entdeckt. Jetzt würde alles wieder von vorn beginnen. Von diesem Zeitpunkt an wußte Montanelli, daß sein Tod doch eine besiegelte Sache war. * Philip Hasard Killigrew hatte sich bis auf eine kurze Hose seiner gesamten Kleidung entledigt. Das naßgeschwitzte weiße Hemd lag irgendwo in der Ecke seiner Kammer, gleich neben dem ledernen Wams, das ihm plötzlich auch zu eng geworden war. In der Hose und den hohen Schaftstiefeln hatten seine Beine und Füße gleichsam zu brennen begonnen, und bei jedem Schritt hatte es unangenehm in den Stiefeln gequatscht. Darum hatten auch die vertrackte Hose und die verdammten Stiefel ihren Ehrenplatz in der Kammer gefunden. Fast wäre er auf die Heckgalerie hinausgetreten und hätte das ganze Zeug über Bord gefeuert. Jetzt stand er auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ und schwitzte immer noch. Sein braungebrannter Körper glänzte bronzefarben unter den heißen Strahlenbündeln der Sonne. Aber wenigstens war noch der warme Wind vorhanden, der von
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der offenen See herüberblies und die „Isabella“ und den schwarzen Segler vor sich hertrieb. Hasard wußte, daß er darüber froh zu sein hatte. Längst hatte er damit gerechnet, in eine Flautenzone zu geraten, dorthin, wo kein Windhauch die schwüle Luft aufrührte. Für ihn und seine Crew, für Siri-Tong und ihre Mannschaft wäre dies die Hölle auf Erden – und es konnte immer noch eintreten. Deswegen verdrängte er seinen Ärger über die unerträgliche Hitze. Was konnte er auch daran ändern? Er blickte zu dem schwarzen Schiff hinüber. Der stolze Viermaster lief an Backbord der „Isabella“, auf gleicher Höhe mit ihr. Siri-Tong stand am Steuerbordschanzkleid des Achterdecks und winkte zu ihm herüber. Sie schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben. Hasard grinste und grüßte zurück. Die Rote Korsarin hatte sich auch einiger Kleidungsstücke entledigt, das erkannte er mit bloßem Auge. Natürlich konnte sie sich nicht so weit entblättern wie die Männer – es hätte prompt sämtliche Urtriebe der Burschen wachgerüttelt. Eine Meuterei und Rauferei wären unumgänglich gewesen. Schon so bot Siri-Tong einen Anblick, den man in feineren Gesellschaften als dieser hier als „anstößig“ bezeichnet hätte. Ihre schwarze Hose war bis über die Knie hinauf hochgekrempelt und lag eng an. Die rote Bluse hatte sie sich über dem Bauchnabel zusammengeknotet und sonst nicht zugeknöpft. Sie gab mehr preis als sie verhüllte. Hasard konnte sich nicht bezwingen. Er nahm das Spektiv zur Hand und blickte durch die Optik zu der Frau hinüber. O ja, sie war verteufelt schön. Ihre langen schwarzen Haare waren vom Wind leicht zerzaust. Sie umrahmten ein ebenmäßiges Gesichtsoval, in dem nur die leicht schräggestellten Mandelaugen und die ausgeprägten Jochbeine von der fremdländischen Herkunft Siri-Tongs kündeten.
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Hasards Blick glitt über den Kirschmund, Kinn und Hals tiefer und verharrte auf Siri-Tongs stolz geschwellten Brüsten. Manch einer wäre bereit gewesen, für diese Pracht bis aufs Messer zu kämpfen. Und einen Mann, der seit Wochen keine Frau gehabt hatte, konnte dies alles glattweg um den Verstand bringen. Aber Siri-Tong wußte ihren Haufen zu bändigen. Sie regierte mit eiserner Hand. Konsequent befolgte sie ihre Prinzipien, und wer sich nicht danach richtete, der büßte mit seinem Leben für seine Unbotmäßigkeit. Bei aller Zurschaustellung ihrer fraulichen Reize hatte Siri-Tong ein tiefverwurzeltes moralisches Empfinden. Es gebot ihr Zurückhaltung. Der einzige, „den sie an sich heranließ“, wie ihre Piraten das auszudrücken pflegten, war Hasard. Siri-Tong liebte den Seewolf. Er nahm das Spektiv wieder etwas höher und sah, wie sie lächelte. Dann warf sie ihm sogar eine Kußhand zu. Hasard setzte den Kieker ab. „Du verflixter Satansbraten“ sagte er leise. „Ich weiß, was du willst. Aber wir müssen es auf später verschieben. Es ist viel zu heiß.“ Er wandte sich dem Quarter- und Hauptdeck zu, wo seine Crew in der gleichen Aufmachung wie er schuftete. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Darum ließ Carberry ihnen auch jetzt kaum eine Minute Ruhe. Neben der normalen Decksarbeit mußte endlich wieder richtig aufgeklart werden. Bei dem Kurs, den sie zur Zeit steuerten, hatten sie die nötige Ruhe dazu. Die einzige Widrigkeit war die erdrückende Hitze – und deshalb fluchten die Männer. Es war Ende April 1583 und heißer als in den Monaten Juli und August in der Karibik. Kein Wunder – die „Isabella“ und der schwarze Segler befanden sich dem Äquator sehr nahe. Ihre genaue Position war an diesem Morgen 2 Grad 30 Minuten nördlicher Breite und 50 Grad westlicher Länge. Das Mündungsgebiet des Amazonas lag nicht mehr weit entfernt. Temperatur und Luftfeuchtigkeit stiegen von Stunde zu Stunde. Aber die Mannschaften der Schiffe mußten sich damit abfinden,
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und außerdem konnten sie noch frohlocken, weil der warme Wind aus Nord bis Nordost blies. Mal hatten die „Isabella“ und der Viermaster ihn raumschots, mal halbwinds. Sie segelten mit Backbordhalsen über Steuerbordbug, liefen gute Fahrt und das Wetter war beständig. Eigentlich konnte nach allem, was sie hinter sich hatten, jetzt nichts mehr schiefgehen. Aber vor Überraschungen war man nie sicher. Nach den Ereignissen auf der Teufelsinsel und in Guayana waren die Spanier ihnen immerhin noch auf den Fersen. Eigentlich hätten Hasard und seine Crew längst tot sein müssen, aber sie hatten dem Gegner mal wieder ein Schnippchen geschlagen, eine Tatsache, die die Dons ihnen nicht verzeihen wollten und konnten. Ihr Haß gegen „El Lobo del Mar“ schwelte und wurde immer wieder neu angeheizt. Daß es zum größten Teil ihre eigene Schuld war, weil sie sich wieder und wieder mit Hasard anlegten und dabei den kürzeren zogen, bedachten sie natürlich nicht. Vorläufig zeigte sich kein feindliches Schiff an der Kimm. Aber Hasard blieb ständig auf der Hut. Unachtsamkeit, das hatte sich immer wieder bestätigt, konnte den Kopf kosten. So gesehen war die Hitze ein Gefahrenfaktor. Hasard verweilte also die meiste Zeit am Oberdeck und hielt die Augen offen. Wo es an der nötigen Disziplin zu mangeln drohte, griff er ein. Carberrys Stimme tönte zu ihm herauf. „Ihr Kanalratten, ihr Strolche“, wetterte der Profos. „Wollt ihr wohl arbeiten? Laßt bloß keinen Schlendrian einreißen, sonst gibt's was auf die Hörner. Heda, euch treibe ich die Flausen schon aus, die ihr im Kopf habt, ihr karierten Decksaffen. He, Bill, willst du wohl die Planken schrubben, oder soll ich dir den Schwabberdweil um die Ohren hauen? Hey, Matt Davies, da müssen noch ein paar Fallen klariert werden, hast du Kokosnüsse auf den Klüsen, oder was ist los? Muß ich dir erst die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch ziehen, damit du in Gang kommst, was, wie?“
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Es war die übliche Litanei. Edwin Carberry war ja bekannt für seine wortgewaltigen Drohreden. Aber heute fiel er der Crew damit erheblich auf die Nerven. Matt Davies gab einen knurrenden Laut von sich. „Verdammt, wie kann der bei der Hitze bloß noch so große Töne spucken?“ murmelte er, während er sich anschickte, den Befehl auszuführen. „Vielleicht hat ihm die Sonne sein letztes bißchen Verstand eingetrocknet, und er weiß nicht mehr, was er von sich gibt“, sagte Blacky. Er schielte zum Profos hinüber. Jeder Mann auf der „Isabella“ lief zwar halbnackt herum, hatte sich aber eine Kopfbedeckung beschafft, um gegen die Sonnenglut wenigstens von oben her geschützt zu sein. Es waren Mützen und Hüte unterschiedlichster Beschaffenheit, und ihr Alter ließ sich in den meisten Fällen schwerlich schätzen. Nur Carberry hatte standhaft dagegen gekämpft, sich etwas Derartiges auf seinen mächtigen Schädel zu stülpen. Er wollte keinen „Speckdeckel.“ „Die Flausen, von denen er dauernd faselt, hat er bald selbst im Kopf“, zischte Bill. „Er wird Schmetterlinge fangen, die es überhaupt nicht gibt, und weiße Elefanten übers Wasser laufen sehen.“ „Sonnenstich?“ fragte Bob Grey. „Totale Mattscheibe“, raunte Bill ihm zu. Carberry hatte sich in Marsch gesetzt und stapfte auf sie zu. „Ihr da! Was habt ihr zu tuscheln?“ „Nichts, Ed“, sagte Blacky grinsend. „Ich habe aber gehört, daß ihr gemurrt und geflucht habt“, brüllte der Profos. „Wollt ihr hier eine Meuterei vom Zaun brechen?“ „Nein“, erwiderte Bill. „Wir sagten nur: schönes Wetter heute, was, wie?“ Carberry senkte den Kopf und schob dabei sein Rammkinn vor, eine akrobatische Meisterleistung, die nur er zustandebrachte.
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Wutschnaubend rückte er auf Bill, den fünfzehnjährigen Schiffsjungen, zu und grollte: „Ja, Kreuzdonnerwetter noch mal, was nimmst du dir eigentlich deinem Profos gegenüber 'raus?“ Ein scharfer Laut ertönte vom Achterdeck her und stoppte ihn. „Profos!“ Carberry drehte sich auf dem blanken Hacken seines rechten Fußes, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte zu Hasard. Der stand mit verschränkten Armen an der Five-Rail und rief ihm zu: „Ed, laß es gut sein!“ „Ich – aye, aye, Sir!“ Carberry widmete sich wieder seiner Aufgabe, ohne jedoch auf Bill loszugehen. Er murmelte nur etwas von „Frechheit“ und „Rotzlöffel“ und ließ es dabei bewenden. Bill war es im Grunde gar nicht recht, daß der Seewolf eingegriffen hatte. Er war der Meinung, selbst mit Carberry fertig werden zu können. Aber Hasard teilte diese Meinung nicht. „Bill übertreibt manchmal ein bißchen“, sagte er zu Ben Brighton und den anderen auf dem Achterdeck. „Er könnte sich ruhig mehr zurückhalten.“ Ben, auch nur noch mit einer aufgekrempelten Hose bekleidet, erwiderte: „Du vergißt, daß Ed den Jungen aufzieht, wo sich die Gelegenheit bietet.“ „Stimmt, aber Bill kann sich nicht mit ihm messen.“ Hasard lächelte. „Schön, er möchte auch gern ein richtiger Seewolf werden. Aber er ist es noch nicht.“ Shane trat dicht neben ihn hin. Der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle bot einen denkwürdigen Anblick mit seinem über und über behaarten Leib und dem grauen Bartgestrüpp, das bis zur Brust reichte. „Hör mal“, sagte er. „Ich schätze aber, daß noch mal einer aus ihm wird.“ „Was, Shane?“ „Na, ein richtiger Seewolf.“
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Hasard lachte auf. „Ach so. Ich war mit den Gedanken schon wieder woanders. Natürlich wird Bill ein harter Kerl. Die passende Veranlagung dazu hat er ja.“ Sie blickten zu Bill, der sich wütend mit dem Schwabberdweil abmühte. Ja, sie alle hatten den Jungen ins Herz geschlossen – nicht nur, weil sein sterbender Vater Hasard auf Jamaika das Versprechen abgenommen hatte, sich um Bill zu kümmern, sondern vor allem, weil der schwarzhaarige Bursche ein feiner Kerl war. Durch und durch aufrichtig und tollkühn. Einer, der in ihre Reihen paßte. Auf der Teufelsinsel, hatte Hasard es beinahe bereut, Bill an Bord der „Isabella“ genommen zu haben. Denn dort war es ihnen allen ganz bedenklich an den Kragen gegangen. Dort waren sie von den Spaniern gefangengenommen und zu Sklaven herabgewürdigt worden, und fast wäre es El Verdugo, dem Henker, gelungen, sie zu Tode zu quälen. Er hatte Bill hängen wollen. Nur durch einen Trick hatte Hasard es geschafft, ihn davon abzubringen, und noch heute erschien es dem Seewolf wie ein Wunder, daß sie sich überhaupt hatten befreien können. Er verscheuchte die düsteren Gedanken an das, was längst hinter ihnen lag. Sein Blick schweifte von der Kuhl ab und wieder hinüber zum schwarzen Segler der Roten Korsarin. „Hasard“, sagte Big Old Shane neben ihm. „Verdammt, was ist jetzt schon wieder?“ fragte Hasard, ohne zu dem Riesen zu schauen. „Die Hitze…“ „Sie bringt die Luft zum Knistern und heizt sie mit Spannung an, stimmt's?“ Hasard grinste breit. „Vor allem, was Siri-Tong betrifft, oder?“ Hasard sah jetzt doch zu Shane. „Auf was willst du eigentlich hinaus, du Stier?“ „Du spähst ja dauernd so komisch zu dem Mädchen 'rüber. Himmel, da weiß man doch Bescheid, wenn man nur dein verträumtes Gesicht sieht.“ Shane grinste noch breiter und wies
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auf den Strohhut, den er sich aufgesetzt hatte. Seine Krempe war völlig ausgefranst, das Ding machte Shane zu einer grotesken Gestalt. „Du solltest dir lieber auch so einen Hut besorgen.“ „Rede doch keinen Quatsch“, sagte Hasard. „Ich habe genug schwarze Wolle auf dem Kopf, verstanden?“ „Aye, aye, Sir.“ „Seht ihr, was auf dem schwarzen Segler los ist?“ fragte Hasard seine Freunde. „Da geht es rund. Siri-Tong hat Rollenexerzieren angeordnet, und Thorfin Njal sorgt dafür, daß keiner aus der Reihe tanzt oder auf dumme Gedanken verfällt.“ Ben, Shane, Ferris Tucker und der alte O'Flynn blickten nun gleichfalls zu dem Viermaster hinüber. Jawohl, die Rote Korsarin war dabei, ihrer neuen, kunterbunt durcheinandergewürfelten Mannschaft den richtigen Drill beizubiegen. Jeder mußte sich auf jeden einstellen und jede erdenkliche Aufgabe an Bord des Schiffes übernehmen können – auch die des Kapitäns. Dieses Rundum-Exerzieren hatte Siri-Tong erst vom Seewolf gelernt. Und sie hatte allen Grund, es jetzt in Anwendung zu bringen. Zu ihrer alten Stammcrew, den Piraten wie Juan oder der Boston-Mann, waren die Wikinger Thorfin Njal, Eike, Oleg, Arne und der Stör gekommen, anschließend dann Männer, die sie auf Tortuga angeheuert und schließlich die Männer von Tobago, die sie zuletzt rekrutiert hatte. Diese Männer mußten sich richtig aufeinander einspielen. Im Ernstfall durfte kein falscher Handgriff getan werden, das galt sowohl für die Segelmanöver als auch für die Arbeit auf den Gefechtsstationen. Thorfin Njal, Siri-Tong Miteigner, Steuermann und väterlicher Berater, regierte drüben auf dem Viermaster mit eiserner Hand. Etwa so wie Carberry auf der „Isabella“, nur nicht so lautstark. Carberry erschien auf dem Backbordniedergang, der das Quarterdeck mit dem Achterdeck verband und starrte Hasard an. Er triefte vor Schweiß.
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„Sir“, sagte er. „Wenn ich das ganze Wasser, das ich schon verloren hab, in einem Kübel aufgefangen hätte, könnte ich jetzt darin baden.“ Hasard musterte seinen Profos leicht amüsiert. „Eine treffende Feststellung, Ed. Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Wie weit sind wir eigentlich noch von dem hundsverfluchten Äquator entfernt?“ „Das läßt sich berechnen“, sagte Hasard.
2. Bill mußte ins Achterkastell flitzen und aus der Kapitänskammer einen von Hasards sorgsam gehüteten Schätzen holen: die Navigationsgeräte. Anhand des Astrolabs, des Jakobsstabes, des Quadranten und der beachtlichen Anzahl Seekarten, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte, stellte Hasard dann seine Berechnungen an. Der Kompaß, den sie beim Erwerb ihrer „Isabella VIII.“ im Ruderhaus hatten anbringen lassen, leistete ihm eine weitere Hilfe bei der exakten Bestimmung ihrer Position und ihres Kurses. Von Navigation verstand der Seewolf inzwischen eine ganze Menge, und er hatte sein Wissen an seine Crew weitergegeben, wie er ihnen auch die spanische Sprache beigebracht hatte. Zwar wurde vielfach, vor allen Dingen auf den spanischen Schiffen, immer noch „nach Gefühl und mit Gott“ gesegelt, und bei Navigation nach Instrumenten war die Bestimmung der genauen geographischen Länge noch allenthalben ein Buch mit sieben Siegeln, aber die Portugiesen hatten in diesem Punkt bereits einen wichtigen Beitrag geliefert, und auch ein gewisser William Bournes hatte 1574 ein erstes Handbuch der Navigation herausgegeben. Hasard sah seinen schweißgebadeten Profos an. „Gegen Abend müßten wir den Äquator passieren, Ed, falls der Wind nicht schralt oder völlige Flaute eintritt.“
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„Das bewahre Gott.“ „Ein frommer Wunsch, Profos.“ Carberry grinste schief und schaute zu Big Old Shane. „Hör zu, du brauchst dich nicht erst großartig zu maskieren, du wirst auch so einen schönen Neptun abgeben.“ Er lachte, als er Shanes verdutzte Miene sah, wandte sich ab und kehrte auf die Kuhl zurück. „Was meint denn der?“ wollte Shane wissen. Ben Brighton lachte. „Das wirst du schon noch merken. Denk mal scharf nach, dann kommst du schon darauf.“ Carberry war auf der Kuhl angelangt. Immer wieder blickte er zu Bill, der sich inzwischen wieder intensiv mit seinem Schwabberdweil befaßte. Carberry redete mit sich selbst, und Blacky und Al Conroy, die einmal dicht an ihm vorbeigingen, schnappten die Worte „Äquatortaufe“ und „Riesenspaß“ auf. Blacky trat zu Bill. „He, Junge, nimm dich vor Carberry in acht. Der will dich taufen.“ „Was?“ Bill schaute verärgert auf. „Kommt nicht in Frage. Das hat bei uns zu Hause der Kaplan in der Kirche erledigt, wie es sich für jeden anständigen neugeborenen Engländer gehört.“ „Das ist was anderes“, erklärte Smoky, der gerade von der Back herunterstieg. „Carberry meint die Äquatortaufe.“ „Äquatortaufe?“ „Dir werden die richtigen Seebeine auch noch wachsen“, sagte Matt Davies. Bevor Bill aufbegehren konnte, stieß Ed Carberry einen wahrhaft urweltlichen Schrei aus. Breitbeinig stand er vor dem Achterabschluß der Kuhl und brüllte: „Kutscher, he, Kutscher, wo steckst du Himmelhund?“ Prompt erschien die Gestalt des Kutschers im offenen Kombüsenschott. Hasards Koch und Feldscher trat das Körperwasser aus allen Poren. Er war kalkweiß, seine Augen quollen leicht aus den Höhlen hervor, kurz, man sah ihm an, welche Qualen er litt. Zur Zeit hatte er den schlechtesten Job an Bord. Er hatte die Holzkohlefeuer unter den schweren
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Bronzekübeln angeheizt, weil die Crew das ewige Pökelfleisch satt hatte und endlich mal wieder etwas „Anständiges“ zwischen die Zähne kriegen wollte. Also opferte sich der Kutscher und verging fast in der Hitze, die in der Kombüse herrschte. „Mein Gott“, stammelte er. „Was ist denn los?“ „Was los ist?“ brüllte Carberry zurück. Er badete jetzt doch fast in seinem Schweiß, der ihm in Strömen übers Gesicht und den ganzen Körper lief. Die Sonne brannte wie Feuer auf ihn nieder. „Das fragst du auch noch, du Stinkstiefel? Bring mir was zu trinken! Wasser! Dalli, oder ich…“ „… zieh dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch“, vollendete Luke Morgan den Satz. Seine Miene war mitleidig. „Nein!“ fuhr der Profos ihn an. „Ich schmeiß den Kutscher über Bord, wollte ich sagen. Zu den Haien und Barrakudas, wenn er uns hier elendig verdursten läßt.“ Der Kutscher bewies Mut. Er trat noch zwei Schritte weiter vor, einmal, um der glühenden Hitze der Kombüse zu entweichen, zum anderen, um den Abstand zum Profos zu verkürzen. „Ed“, sagte er. „Wenn du Flüssigkeit in dich hineinschlauchst, wird die Schwitzerei nur noch schlimmer. Du kannst es mir glauben.“ „Stimmt“, bestätigte Batuti. „Bezwing dich“, sagte Blacky zu Carberry. Der wollte sich nicht beherrschen und vernünftig sein. Er lief dunkel an und brüllte: „Kutscher, wenn du nicht sofort mit einer Pütz voll Wasser antrabst, knüpfe ich dich an der Rahnock auf und lasse dich dort zappeln!“ Der Kutscher zuckte mit den Schultern, drehte sich um und suchte das Vordeck auf. Wenig später kehrte er mit einer vollen Segeltuchpütz auf Oberdeck zurück. Er hatte auch eine Muck mitgebracht. Carberry riß sie an sich, tunkte sie in das Süßwasser und schöpfte eine volle Ladung heraus. Mit einem Laut der Zufriedenheit hob er den Becher an den Mund.
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Er schlürfte wie ein Roß an der Tränke. Dann geschah etwas Ungewöhnliches. Er hielt plötzlich inne, mitten im Zug. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, seine Stirn war drohend umwölkt. Der Kutscher trat vorsichtshalber zwei Schritte zurück. „Da stimmt was nicht“, sagte Blacky leise. Die gesamte Crew stand plötzlich reglos da und fixierte ihren Profos. Auch die Männer auf dem Achterdeck drehten sich dem zur Salzsäule erstarrten Carberry zu, und sogar Pete Ballie, der Rudergänger, lugte neugierig aus dem Ruderhaus hervor. Carberry schüttelte sich wie ein begossener Hund, dann ruckte sein klotziger Schädel mitsamt dem Rammkinn vor. In seinem Inneren grollte es, er öffnete den Mund und spuckte das soeben getrunkene Naß wieder aus. Ein richtiger Sprühregen ging auf die Decksplanken nieder. Das Ganze wurde noch gewichtiger durch das heftige Prusten des Profos. „Es hat ihn erwischt“, sagte Matt Davies. „Ich wußte es, Leute. Das kommt davon, wenn man sich keine Mütze aufsetzt.“ „Gehitzigschlag“, brummte Batuti. „Hitzschlag“, korrigierte Blacky. Carberry hatte ausgespuckt, was es auszuspucken gab. Jetzt fing er sich, holte tief Luft – und fing an zu toben. „Kutscher!“ schrie er aus Leibeskräften. „Was ist das für eine Schweinerei? Was ficht dich an, mir so eine Brühe vorzusetzen? Komm sofort hierher, du Hering du Mistfresser, du Leutevergifter!“ Der Kutscher hob den Kopf und wandte sich an Hasard. „Sir, muß ich diesem Befehl Folge leisten?“ Er sagte es mit Würde. Hasard stieg zur Kuhl hinunter. Bevor der wütende Profos auf den Kutscher losgehen konnte, stellte er sich zwischen die beiden. Smoky legte den Kopf in den Nacken und gab ein Zeichen zum Großmars hinauf. Dan O'Flynn und Arwenack beugten sich über die Segeltuchverkleidung ihres luftigen Postens, der Schimpanse so weit, daß er jeden Augenblick in die Tiefe zu
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stürzen drohte. Er keckerte und hielt schon eins seiner Wurfgeschosse bereit. Er konnte es nicht leiden, wenn der Profos auf die Palme ging, und war drauf und dran, das Ding abzufeuern. Dan hielt den Affen auf Smokys Wink hin zurück. Carberry wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Pfui Teufel! Himmel, Arsch und Zwirn, so eine Riesensauerei!“ Hasard wurde es langsam zu bunt. „Profos“, sagte er scharf. „Was ist eigentlich los? Hör auf, verrückt zu spielen und erkläre mir in vernünftigen Worten, was du zu bemängeln hast.“ Carberry beruhigte sich etwas. „Ja, Sir.“ Er wies auf die Segeltuchpütz mit Wasser, die der Kutscher immer noch hielt. „Das da – das Wasser. Probier es doch selbst mal, Sir.“ Der Seewolf trat zu dem Kutscher. Batuti reichte ihm die Muck. Carberry hatte sie in seiner Wut auf die Planken geschleudert. Hasard tauchte das kleine Gefäß in die Flüssigkeit. Und dann roch er nur einmal prüfend, und überzeugte sich, daß der Profos recht hatte. „Stimmt“, sagte er. „Das Wasser stinkt. Es ist faulig. Kutscher, was hat das zu bedeuten?“ Der Kutscher wurde diesmal richtig rot im Gesicht. „Himmel, ich – Sir, ich kann mir das nicht erklären.“ „Das Zeug schmeckt widerlich“, sagte Carberry in Hasards Rücken. „Schlimmer als eingeschlafene Füße.“ „Kutscher, das ist vielleicht ein Ding“, fuhr Hasard seinen Koch an. „Wie kannst du den Männern so etwas vorsetzen?“ Alles konnte der Kutscher vertragen, nur keinen Anranzer von seinem Kapitän. Mit verkniffenem Gesicht stand er da. „Ich sehe ja ein, daß ich Bockmist geschossen habe, aber ich hab das Wasser nun leider mal nicht geprüft, bevor ich es gebracht habe, Sir. Muß an der Hitze liegen Tut mir leid.“ „In der Kombüse ist es bullenheiß.“ sagte Blacky. „Der Kutscher ist auch nur ein Mensch.“
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Hasard warf ihm einen zurechtweisenden Blick zu. „Der Kutscher kann sich selbst verteidigen, oder?“ „Ja, Sir.“ „Kutscher, wieso haben wir überhaupt verfaultes Wasser an Bord?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wir haben doch erst vor kurzem Trinkwasser und Proviant gefaßt.“ „Ja, Sir.“ „Unter diesen Umständen halte ich es für richtig, wenn wir mal gemeinsam die Kombüse und die Vorratskammern inspizieren“, sagte Hasard. „Nimm es mir nicht übel, Kutscher. Ich tue das nicht, weil ich dir mißtraue, sondern weil ich annehme, daß es Dinge gibt, die auch deiner Aufmerksamkeit entgehen. In Ordnung?“ „In Ordnung, Sir.“ Sie gingen also ins Vorschiff, zunächst in die Kombüse. Hasard nahm genau in Augenschein, was der Kutscher schon penibel für die Zubereitung der Mittagsmahlzeit zurechtgelegt hatte. Er hob eine Speckseite an, schnupperte kurz daran, reichte sie dem Kutscher – und dessen Gesicht wurde lang und länger. Hasard setzte seinen Gang fort und erreichte die Vorratskammern im Vordeck. Der Kutscher folgte ihm dichtauf, danach kamen Ben Brighton, Shane, Ferris Tucker, fast die ganze Crew bis auf Pete Ballie und diejenigen, die an Oberdeck gerade unabkömmlich waren. Ganz am Ende des Trupps humpelte der alte Donegal Daniel O'Flynn. Er ließ am laufenden Band Flüche vom Stapel. Warum, das wußte er selbst noch nicht so genau. Auf jeden Fall hielt er es für ratsam, schon mal mit der Lästerei zu beginnen. Als der Seewolf, dann die Provianträume inspiziert hatte, bestand wahrhaftig aller Grund, die fürchterlichsten Verwünschungen auszustoßen.
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Das Gesicht des Kutschers war so lang geworden, wie es überhaupt möglich war, und am liebsten hätte der arme Kerl vor lauter Wut und Verzweiflung losgeheult. Hasard hielt noch einen größeren Fisch in der ausgestreckten Hand. Er klemmte die Schwanzflosse zwischen Daumen und Zeigefinger fest, und der Fisch baumelte herab, nicht als Corpus delicti, sondern als bildhafte Demonstration sozusagen. Es roch in den Vorratskammern der „Isabella“. Nicht übel, sondern geradezu bestialisch. „Also, so was hat die Welt noch nicht gesehen“, sagte Ben Brighton. Carberry erwiderte: „Gerochen, meinst du wohl.“ „Hier stinkt's nach Leichen“, sagte Shane angewidert. „Nach toten Hunden“, sagte Matt Davies, und sein Nebenmann Al Conroy nannte die Dinge ohne Umschreibung beim richtigen Namen. „Hölle und Teufel, alles total vergammelt – alles!“ Der Kutscher preßte sich mit einem Mal die Hände gegen die Ohren und rief: „Hört auf! Verflucht und zugenäht, hört endlich auf, ihr Hornochsen, ich kann's nicht mehr Aushalten!“ Die Seewölfe schauten sich an. Hornochse war für die Begriffe des Kutschers schon ein ganz schön deftiger Fluch, sie konnten daran messen, wie ihm zumute sein mußte. Sie protestierten nicht, sondern schwiegen unvermittelt. Für einen Moment war nur das Knarren und Knacken der Planken und Verbände zu vernehmen, und das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden. Hasard war es, der dann wieder das Wort ergriff. „Tut mir leid, Kutscher, aber ich muß eine traurige Bilanz halten. Die Trinkwasserreserven sind hinüber. Sämtlicher Proviant ist verdorben, auch der in der Kombüse. Das Brot ist vom Schimmelfraß befallen, Pökelfleisch, Speckseiten, Fisch und Dünnbier und alles andere, was wir hier gehortet haben, sind verfault. Sogar das Salz zerfließt.“
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Der Kutscher hob die Schultern und senkte sie wieder. Es war eine Geste völliger Resignation. Plötzlich verstand er die Welt nicht mehr. „Woran liegt das bloß?“ murmelte Ben Brighton immer wieder. „Woran bloß?“ „Mann, Kutscher, hast du denn überhaupt nichts bemerkt?“ fragte Ferris mit einem scheelen Blick auf den stinkenden Fisch in Hasards Hand. „Ich meine, bei der Zubereitung des Essens hättest du doch…“ „Nein!“ Der Kutscher funkelte den rothaarigen Schiffszimmermann an, und für einen Moment sah es so aus, als wolle er sich den verfaulten Fisch angeln und ihn Ferris rechts und links um die Ohren hauen. Aber so etwas tat er denn doch nicht. Er sagte nur: „Ich schwöre euch, daß alles, was ich oben in der Kombüse zurechtgelegt habe, bevor ich die Feuer anheizte, vor – ja, vor einer Stunde noch frisch war.“ „Hier spukt's“, unkte Old O'Flynn. Er handelte sich dafür die zornigen Blicke der versammelten Crew ein. * Hasard warf den Fisch fort. Seine Miene war von tödlichem Ernst, denn es gab in einer Situation wie dieser wahrhaftig keinen Grund, unbeschwert zu lachen. Trotzdem sagte er: „Nun dramatisiert mal nicht. Es gibt für alles eine logische Erklärung.“ „Old Donegal soll mit seiner Spökenkiekerei aufhören!“ rief Jeff Bowie. „Wir haben die Nase gestrichen voll vom Jonas und von ähnlichem Blödsinn.“ „Dabei bist du abergläubischer als ich“, fauchte der Alte. „Ruhe“, fuhr Hasard dazwischen. „Haltet die Luft an, Männer, oder es gibt Stunk. Hört zu. Das Klima in dieser Gegend ist
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vernichtend. Wir befinden uns jetzt unmittelbar vor dem nördlichen Bereich des Amazonasdeltas. Wir kriegen die Auswirkungen der Urwaldluft voll zu spüren. Nichts hält sich. Was eben noch genießbar gewesen ist, vergeht binnen Minuten. Die Hitze und die Feuchtigkeit sind vernichtend.“ Ben fuhr sich mit der Hand über die nasse Stirn. „Stimmt. Verdammter Mist, warum mußte uns das bloß passieren?“ Hasard blickte reihum. „Ihr könnt mich jetzt kritisieren, weil ich mich mit dem Schiff zu dicht in Küstennähe gehalten habe. Aber erstens dachte ich, immer noch weit genug vom Einzugsgebiet des großen Stromes entfernt zu sein. Zweitens befürchtete ich, weiter draußen auf See in eine entsetzliche Flaute zu geraten.“ Sein Blick verharrte auf Carberrys grimmigem Gesicht. „Ihr könnt mir die volle Schuld an diesem Vorfall zuschreiben, obwohl ich mich nicht rechtfertigen will. Nur laßt den Kutscher in Ruhe, er trägt keinerlei Verantwortung.“ „Danke, Sir“, sagte der Kutscher. Carberry kratzte sich verlegen am Kinn. Es klang, als bewege sich eine Kolonie Küchenschaben über trockenes Laub. „Himmel, ich hab's ja auch nicht so gemeint. Aber was tun wir jetzt?“ „Kutscher, Bill, Blacky und Jeff Bowie, ihr kehrt zunächst mal das ganze Gammelzeug zusammen und befördert es außenbords. Sollen die Haie sich daran erfreuen. Kutscher, du weißt ja, daß du anschließend Provianträume und Kombüse tüchtig zu schrubben hast.“ „Aye, aye, Sir. Wegen des verfaulten Drecks.“ Der Profos polterte los: „Hol der Teufel diesen ganzen Kram! Was futtern wir jetzt? Und was trinken wir? Hölle, meine Kehle ist ganz trocken und kratzig.“ Hasard ging an ihm vorbei und führte den Trupp nach oben auf die Kuhl zurück. Hier drehte er sich um und sagte: „Ed, du kannst von mir aus eine Ration Rum austeilen lassen, wenn dich das beruhigt. Aber in den nächsten Stunden müssen wir hungern und auch mit unserem Durst irgendwie fertigwerden. Nicht einmal Pökelfleisch und Schiffszwieback sind genießbar,
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von dem Rest ganz zu schweigen. Wir haben keinen Tropfen verwendbares Trinkwasser. Oder willst du, daß wir uns alle vergiften?“ „Natürlich nicht“, erwiderte Carberry. „Aber wie soll's weitergehen, Sir?“ „Das hast du schon mal gefragt“, wandte Matt Davies trocken ein. „Du wiederholst dich, Ed. Wir haben dir ja gesagt, du sollst einen Hut oder was Ähnliches aufsetzen.“ Schnaubend wandte Carberry sich ihm zu. „Dich kratzt das Ganze wohl überhaupt nicht, was, wie?“ „Doch. Aber ich hab längst begriffen, daß wir eine Weile Kohldampf schieben müssen, bevor wir unsere Vorräte erneuern können.“ Hasard bat sich mit einer Gebärde Ruhe aus, dann rief er zu Dan O'Flynn hoch: „He, Dan, signalisiere Siri-Tong, sie soll auf Rufweite heranstaffeln!“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es zurück. Wenig später hatte sich der schwarze Segler auf weniger als eine Drittel Kabellänge an die „Isabella“ herangeschoben, und der Seewolf turnte ein Stück in die Luvwanten des Besanmastens hinauf, drehte sich um und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Siri-Tong!“ „Was ist passiert, Hasard?“ ertönte ihre Stimme. Sie stand immer noch auf dem Achterdeck. Ihre Haare bewegten sich im Wind und ihre rote Bluse bauschte sich, daß es einem den Atem rauben konnte. „Kontrolliere deinen Proviant!“ schrie Hasard. „Geht in Ordnung!“ Sie fragte nicht groß nach dem Warum, vielleicht schwante ihr auch schon etwas. Jedenfalls scheuchte sie sofort Juan und den Boston-Mann los, und die kehrten nach wenigen Minuten mit völlig verstörten Mienen wieder auf das Achterdeck zurück und erstatteten ihr Meldung.
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Was sie sagten, konnte Hasard nicht verstehen. Aber er vernahm kurz darauf, was Siri-Tong ihm zurief. „Alles hinüber, Hasard! Verfault! Was hat das zu bedeuten?“ Er erklärte es ihr in einem Satz, dann fügte er hinzu: „Wir müssen unseren Kurs ändern, es bleibt uns nichts anderes übrig.“ Sie lachte gezwungen, ganz wohl war ihr plötzlich auch nicht mehr. „Du hast das Kommando. Wir folgen dir!“ Hasard winkte ihr zu, danach enterte er auf das Achterdeck ab und versammelte Ben, Shane, Ferris und Old O'Flynn um sich und die Crew auf dem Quarterdeck. „Da gibt es nur eins“, sagte er. „Wir müssen in den sauren Apfel beißen und das Amazonasdelta anlaufen. Irgendwie müssen wir Nachschub für den verdorbenen Proviant heranschaffen, das ist klar. Das Mündungsgebiet des großen Flusses scheint mir am besten dafür geeignet, Eßbares und Trinkwasser zu finden. Inseln gibt es hier in der Umgebung meines Wissens nicht.“ „Was ist das für eine Gegend?“ erkundigte sich Carberry. Hasard hob die Augenbrauen. „Was erwartest du, Ed?“ „Urwald.“ „Na also, warum fragst du dann?“ „Himmelarsch, ich hab noch von Guayana genug.“ „Profos“, sagte der Seewolf scharf. „Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?“ „Ich – nein, Sir.“ „Dann halt gefälligst den Rand und stinke nicht dauernd gegen meine Anordnungen an“, entgegnete Hasard scharf. „Sonst lasse ich dich vielleicht noch wegen Aufmüpfigkeit ein paar Stunden ins Vordeck sperren.“ Das saß. Carberry duckte sich wie unter Peitschenhieben. Er war zutiefst verletzt, aber er hörte auch mit seinem Gefluche und seiner Mäkelei auf. Wenigstens für die nächste Stunde.
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Und ganz tief in seinem Inneren sah er ja ein, daß hier nur einer das Sagen hatte: der Seewolf. Hasard wandte sich an Ben. „Ich wollte ursprünglich das Amazonasdelta um jeden Preis meiden, aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Verflixt, und dabei hatte ich mir eingebildet, ohne weiteren Aufenthalt an der Küste der Neuen Welt entlang bis nach Kap Horn segeln zu können.“ „Du meinst, wir seien vom Pech verfolgt?“ fragte Ben Brighton vorsichtig. „Nicht unken, Ben.“ Hasard ließ wieder zum schwarzen Schiff hinübersignalisieren. Wenig später übernahm die „Isabella VIII.“ die Führung. SiriTong äußerte keine Einwände an Hasards Vorhaben, denn sie hatte von dem Augenblick an, in dem Juan und der BostonMann ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatten, den Ernst und die Tragweite der Lage in vollem Umfang erfaßt. Beide Schiffe fielen ab. Sie nahmen Kurs nach Südwesten und gelangten nun relativ schnell, zur Küste, weil sie platt vor dem aus Nordosten wehenden, immer noch handigen Wind hersegeln konnten. Carberry blickte finster zu Bill hinüber. Schließlich marschierte er über das leicht schwankende Deck der Kuhl auf den Jungen zu. Bill traf Anstalten, die Flucht anzutreten, aber der Profos sagte nur: „Weißt du was? Der einzige Glückspilz bei der ganzen Schweinerei bist du, Söhnchen.“ „Wieso denn?“ „Weil du um die Äquatortaufe herumkommst, du Schlingel.“
3. Montanellis Atem ging keuchend. In seinem Hirn arbeitete es unablässig, und hin und wieder durchlief ein Zucken seinen ausgemergelten Körper. Er suchte nach einer Möglichkeit, etwas zu seiner Rettung zu tun. Aber er war zu schwach, um sich ganz aufzurichten, zu schwach, mit den Händen zu paddeln, allemal zu schwach, sich
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irgendein Stück Treibholz aus dem Strom zu fischen, das er als Ruder benutzen konnte. Was blieb? Er konnte nur beten, daß sich das Reetboot in der Mitte des Flusses hielt und nicht zum südlichen Ufer trieb. Er stöhnte. Es wirbelte vor seinen Augen und dröhnte in seinen Ohren, und er drohte wieder besinnungslos zu werden. Mit aller Macht seines Geistes zwang er sich dazu, das Bewußtsein zu behalten. Er verwandte das letzte bißchen Kraft, das ihm verblieben war, auf dieses Bestreben. Und es gelang ihm. Er wurde nicht ohnmächtig. Für Montanelli war dies ein gewaltiges Erfolgserlebnis. Er verspürte etwas innerlichen Auftrieb, einen Schimmer in weiter Ferne, an den er sich klammerte. Plötzlich lief ein Ruck durch sein Gefährt. Es drehte ab und schoß davon, als sei es von einem Katapult oder einer Bogensehne abgefeuert worden. Montanelli wußte genau, was das bedeutete. Er war in einen jener trügerischen, manchmal gefährlichen, manchmal harmlosen Strudel geraten, und dieser hatte seinem Boot einen neuen Kurs gegeben. Ängstlich hielt er sich fest. Seine Finger umspannten noch immer die beiden Beutel aus Rohleder. Wenn er sie bewegte, erklang ein hartes, metallisches Schaben aus dem Inneren der Beutel. Montanelli wußte nicht, wohin das kleine, wacklige Boot glitt. Unter unsäglichen Qualen hob er sich auf die Ellenbogen und warf einen Blick über die Kante des Flechtwerkes. Er wimmerte vor Entsetzen auf. Der Strudel hatte ihm mit einem Schlag genau die Richtung gegeben, die er um jeden Preis meiden wollte. In schräger Linie lief das Reetboot auf das Südufer des Amazonas zu, und es würde – wenn nicht ein Wunder geschah – im spitzen Winkel darauftreffen. Montanelli warf sich hin und her, aber das Boot schwankte nur ein wenig. Sonst geschah nichts. Er spielte mit dem wahnwitzigen Gedanken, sich in den Strom zu werfen und sein Leben dein Getier preiszugeben. Aber er verwarf den
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selbstmörderischen Plan genauso schnell, wie er ihn gefaßt hatte. Immer noch hing er an seinem erbärmlichen Dasein, ganz gleich, was geschah. Die tausend Stimmen, die unvergleichliche Musik des Regenwaldes – sie erschienen ihm jetzt wie ein Hohngelächter. Er betete und fluchte, jammerte und stöhnte, aber es nutzte ihm nichts, das Boot behielt seinen unglücklichen Kurs bei. Montanelli lag wieder auf dem Rücken. Er schloß die Augen, wollte nichts mehr sehen und an nichts mehr denken, doch es gelang ihm nicht. Ein neuerlicher Blick über den Bootsrand ließ ihn zusammenfahren. Der Busch war jetzt nicht mehr weit entfernt. Höchstens noch zehn, fünfzehn Yards trennten ihn von dem grünen, verdammungswürdigen Vorhang. Und inmitten dieser Wand erschienen wieder die beiden braunen Leiber, die ernsten Gesichter, die ohne Gefühl auf ihn blickten. „Nein“, stieß Montanelli aus. „Bitte – nein…“ O, er kannte sie und wußte, daß er von ihnen keine Gnade erwarten durfte. Von ihnen zu allerletzt! Sie waren stämmige, muskulöse Männer, nackt bis auf einen Lendenschurz, und sie trugen die Trophäe des Infernos auf dem Haupt: ein offenes Kaiman-Maul, dessen Oberkiefer auf dem Haar lastete und dessen Unterkiefer unter der Kinnpartie festgebunden war. Boote hatten sie nicht, daß wußte Montanelli auch ganz genau. Sie durften sie nicht besitzen. Darum hatte er seine ganze Hoffnung in die Aussicht gelegt, von dem Strom davongetragen zu werden. Die beiden Indianer waren Späher. Wer wußte, wie lange sie ihn schon beobachteten? Wahrscheinlich waren sie ihm über eine beachtliche Distanz am Ufer gefolgt. Das war in diesem Dickicht kein leichtes Unterfangen. Wenn Montanelli noch etwas Positives an ihnen fand, so war es das erstaunliche Geschick, mit dem sie sich im Urwald voranbewegten. Er wußte, was kam.
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Er hielt sich platt auf den Boden des Reetbootes gedrückt, regte sich nicht und schob die beiden Rohlederbeutel in einer fast instinktiven Handlung noch unter seinen mageren Leib. Er gab sich keine Blöße und hütete sich, den Kopf auch nur anzuheben. Aber dann befand er sich dicht am Ufer und unter den überhängenden Ästen und Baumkronen, in denen Schlangen hausen oder noch größere Tiere auf ihre Opfer lauern konnten. Die schlimmste Spezies von allen hatte es auf Montanelli abgesehen, die Spezies Mensch. Schon erblickte er die sehnige Gestalt, die sich geschmeidig über einen mächtigen Ast schob. Sie erreichte seinen vordersten Ausläufer, als das Boot sich fast direkt unter ihr befand. Der Ast wippte bedrohlich. Montanelli glaubte, der Indianer würde sich in das Boot fallen lassen, aber in diesem Punkt hatte er sich getäuscht. Der Indianer setzte nur ein langes Blasrohr an und zielte auf ihn. Montanelli öffnete den Mund. Aber seiner Kehle entrang sich kein richtiger Schrei, sondern nur ein entsetzliches Krächzen. Es gab keinen Laut, als der Pfeil das Blasrohr verließ und seine schnurgerade Bahn auf den Mann im Reetboot zog. Montanelli fühlte den Einschlag, zuckte zusammen, bäumte sich auf – und dann konnte er doch schreien. In seinem Kopf pulsierte es dröhnend, er verlor die Kontrolle über seine Gliedmaßen. Hilflos mußte er mitverfolgen, wie der Schütze den Baum wieder verließ, wie der zweite Indianer ein mit Widerhaken bewehrtes Seil warf. Die Haken krallten sich sofort in dem Reetboot fest. Die Indianer gaben dumpfe, gutturale Laute von sich und zogen das Gefährt ganz ans Ufer heran. Montanelli konnte sich nicht mehr bewegen, aber er konnte noch sehen und denken. Das Boot stach mit seinem Bug mitten in das feuchte Dickicht. Ein ' winziger Seitenarm des großen Stromes öffnete sich. Er lag sonst völlig versteckt unter dem wuchernden Pflanzenwuchs, kein Uneingeweihter konnte ihn jemals
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entdecken. Nur die Indianer, die Krokodilmänner, wußten, daß er sich an dieser Stelle befand. Sie liefen am Ufer entlang und zerrten das Reetboot an der Schleppleine mit. Montanelli begriff, daß sie ihn nicht sofort töten, sondern erst zu ihrem Herrn bringen wollten. Er war gelähmt und konnte nicht einmal mehr in das brackige, verseuchte Wasser rutschen. Dort, wo das Ziel seiner Gegner lag, erwartete ihn noch weitaus Grausameres, das wußte er. Er hatte aufgehört, sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. * „Land!“ Natürlich war es wieder Dan O'Flynn, der den graugrünen Streifen über der südwestlichen Kimm als erster sichtete. Er hatte die besten Augen der „Isabella“-Crew, deswegen saß er auch meistens als Ausguck hoch oben im Großmars. Hasard begab sich auf Dans Ruf hin auf die Back. Er zog das Spektiv auseinander, blickte hindurch und betrachtete mit gemischten Gefühlen, was sich da vor ihnen ausbreitete. Land. Ein Gürtel, der sich dem Vernehmen nach so lang wie ganz Europa durch die Neue Welt erstreckte, der nur zu einem winzigen Teil erforscht war und voller Gefahren steckte. Voll Skepsis blickte Hasard auch auf das braungelbe Wasser, in dem sie nun schon seit zwei Stunden dahinrauschten. Das war kein Seewasser mehr, das waren bereits die lehmigen Fluten des Amazonas. Die meisten Männer befanden sich in seiner Nähe. Neugierig reckten sie die Hälse und schauten voraus. Hasard drehte sich zu ihnen um. „Erstaunlich, wie weit der Amazonas sein Wasser ins Meer hinausdrückt, nicht wahr?“ „Wir haben ablaufendes Wasser“, stellte Smoky nüchtern fest. „Damit hängt es bestimmt zusammen.“
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„Ja. Aber was geschieht, wenn die Flut kommt?“ „Keine Ahnung.“ „Dann befördert der Atlantik diese braune Brühe in die Mündung zurück oder?“ sagte der Seewolf. Smoky schob seine Mütze ein Stück zurück und kratzte sich die Stirn. „Tja, eigentlich müßte es so sein.“ „Aber dann preßt Strömung gegen Strömung“, gab Hasard zu bedenken. „Wie in allen Flußmündungen der Welt“, sagte Big Old Shane. „Ich weiß nicht, wieso wir uns damit groß befassen sollen. Wir suchen uns Proviant und Süßwasser, verstauen das Zeug und hauen wieder ab.“ „Wenn das so einfach wäre“, erwiderte Bill. „Ho“, stieß Shane lachend hervor. „Was weißt du denn schon, du Naseweis?“ „Genausoviel wie du, du Bär“, sagte Bill forsch. „Ganz so dämlich, wie ihr alle denkt, bin ich nämlich nicht.“ „Aber noch feucht hinter den Löffeln“, meinte Carberry. Während sie sich zankten, dachte Hasard über das Phänomen des braunen Wassers nach. Gewiß hatte Smoky mit seinen Bemerkungen recht, aber Shane unterbewertete das Ganze. Denn hier, am gewaltigen „Amacunu“, dem „Wasserwolkenlärm“, wie die Indianer ihn nannten, war alles gigantischer als anderswo. Hier konnte ein simples Naturschauspiel zur Katastrophe gedeihen. Hasard sann nicht weiter darüber nach. Er kehrte auf das Achterdeck zurück, befaßte sich mit seinen Karten und stellte fest, daß sie sich als erstes einer großen Insel im Delta ' nähern mußten, die die Portugiesen „Ilha Curua“ getauft hatten. Der Tag näherte sich seinem Ende, aber die Luft kühlte nur allmählich ab. Im Osten war der Himmel indigoblau gefärbt. Im Westen hatte er noch die kräftige Tönung, die er am Morgen und am Mittag gezeigt hatte, und es schien fast, als wolle sich der Feuerball der Sonne mitten in die grüne Hölle betten.
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Keine Stunde später war es soweit. Die „Isabella“ und der schwarze Segler stießen in das Mündungsgebiet des legendären, gemiedenen und gehaßten Stromes vor. Die lehmbraunen Fluten drückten jetzt mit aller Macht gegen die Schiffsrümpfe an, aber immer noch wehte der Nordostwind. Er half ihnen über den kritischsten Punkt zwischen der Ilha Curua und der Ilha Janaucu hinweg und beförderte sie in einen langgestreckten, von grünen Barrieren gesäumten Wasserarm. „Das ist der Canal do Norte“, sagte Hasard. Er befand sich inzwischen wieder auf der Back, und zwar ganz vorn an der Schmuckbalustrade. Smoky lag vorn unter ihm auf dem Bauch und lotete die Tiefe aus. „Ein erstaunlicher Kanal, Hasard. Ich messe immer noch zehn Faden.“ „Das ist mehr, als ich dachte“, entgegnete der Seewolf. „Wirklich beachtlich.“ „Solange wir nicht auf eine Sandbank laufen!“ „Mann, Smoky!“ rief Al Conroy. „Mal jetzt bloß nicht den Teufel an die Wand.“ An Steuerbord war eine Bewegung. Hasard und seine Freunde wandten den Blick dorthin, und auch von Bord des schwarzen Schiffes, das sich nun dicht hinter der Galeone befand, hielt man interessiert Ausschau. Al Conroys Ruf schien die Landschaft wachgerüttelt zu haben. Aus dem grünen, menschenabweisenden Gürtel aus Bäumen und Schmarotzerpflanzen schienen sich mehrere flachliegende Stämme gelöst zu haben. Erst bei genauerem Hinsehen entpuppten sie sich als die scheußlichen, gefürchteten Riesenechsen, die schon so manchen abgebrühten Beachcomber in Angst und Schrecken versetzt hatten: Kaimane. Sie glitten ein Stück auf die „Isabella“ und den Viermaster zu, blinzelten tückisch, wagten sich aber nicht weiter heran. Gelassen schwammen sie eine Strecke mit den Schiffen, ohne etwas Bedenkliches zu unternehmen. Dann verloren sie das Interesse und zogen sich wieder ans Ufer zurück.
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Bill schauderte mit einem Mal unwillkürlich zusammen. Er griff in einer Instinkt-Reaktion nach dem Arm des Mannes, der ihm am nächsten stand. Es war Shane. „He, was ist denn, Junge?“ sagte Shane. „Sieh doch – da!“ Shane folgte der Richtung, die Bills Finger wies, mit den Augen. Dann konnte auch er sich dieses Gefühls nicht erwehren: Das war, als rieselten viele winzige Eisnägel über sein Rückgrat. Ein dicker Leib wand sich vom Ufer aus ins Wasser, brachte die Fluten ein wenig in Wallung und war gleich darauf verschwunden. Es war ein gescheckter Leib, der keinerlei Ähnlichkeit mit dem der Krokodile hatte. „Herrgott, was war denn das bloß?“ sagte Shane. Er war wütend über sich selbst. Hasard stand neben ihm. Er sagte nur ein Wort: „Anakonda.“ „Die Wasserschlange?“ „Ja, Shane. Von Hütten, der die Biester zur Genüge kennt, hat sie mir mehrmals beschrieben. Sie sollen bis zu fünfzehn Yards lang werden.“ „Verdammt, ich wußte nicht, daß es einem bei der Hitze kalt werden kann“, erwiderte Shane finster. „Smoky!“ rief Hasard. „Neuneinhalb Faden, Sir.“ „Gut. Weiter also.“ Smoky lag weiterhin auf der Galionsplattform und versah seine Aufgabe mit Akribie. Achtern auf dem schwarzen Segler wäre ein Ausloten der Wassertiefe eigentlich nicht nötig gewesen, aber Siri-Tong hatte trotzdem den Befehl dazu gegeben. Eike, einer der Wikinger, ruhte in der gleichen Lage wie Smoky auf dem vordersten Bereich der Galion. Hasard geriet immer mehr ins Staunen. Der Canal do Norte ließ sich tief ins Landesinnere hinein befahren – viel weiter, als er in seinen kühnsten Vorstellungen anzunehmen gewagt hätte.
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„Wir müssen eine Art Fahrrinne gefunden haben“, sagte er zu Ben Brighton. „Eine natürliche Vertiefung, die uns problemloses Fahren und Manövrieren erlaubt.“ „Hoffentlich bleibt es auch so.“ Hasard sah ihn eindringlich an. „Nicht unken, Ben!“ „Tu ich doch auch nicht.“ „Mir ist noch etwas eingefallen, Ben.“ „Daß wir hier alle elendig verrecken können?“ Hasard mußte lachen. Er schüttelte den Kopf. „Lassen wir das mal weg. Hör zu, von Hütten kennt dieses Land besser als alle anderen Freibeuter. Er hat mir seinerzeit mal gesagt – dessen entsinne ich mich jetzt wieder –, daß im Februar hoch oben in den Bergen bereits die Regenzeit einsetzt. Dort entspringen die Flüsse den Felsen, die sich später zum Amazonas vereinen. Jedenfalls sagen das die Indianer, obwohl man die genauen Quellen des großen Stromes nicht kennt.“ „Wir wollen sie doch wohl nicht entdecken, oder?“ fragte Ben mit griesgrämiger Miene. „Unsinn. Ich will auf etwas anderes hinaus. Der Fluß führt jetzt viel Wasser und ist wahrscheinlich noch auf viele Meilen hinaus befahrbar – selbst für Schiffe dieser Größe.“ „Meinst du denn, daß wir soweit vordringen müssen?“ „Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du der geborene Schwarzseher bist, Mister Brighton?“ „Ich bin nur für Vorsicht. Und mir gefällt dieser vertrackte Fluß nicht.“ Hasard schnitt eine Grimasse. „Mir auch nicht. Das allererste, was wir tun müssen, ist, nach einer Trinkwasserquelle Ausschau zu halten. Daß wir dem Strom kein Wasser entnehmen können, ist dir ja wohl klar, oder?“ Ben schielte argwöhnisch in die trüben Fluten. „Sonnenklar.“ „Smoky!“ rief der Seewolf noch einmal. „Immer noch neuneinhalb Faden, Sir.“
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Hasard drehte sich zu den Männern auf der Back um. „Wir stoßen noch ein Stück weiter vor, bis wir die Inseln hinter uns haben. Auf dem Festland finden wir leichter eine Quelle, die für unsere Zwecke geeignet ist.“ „Und dann gehen wir auf die Jagd, oder?“ sagte Al Conroy. „Ich habe schon sämtliche Waffen bereit. Ich glaube, Batuti könnte uns die brauchbarsten Ratschläge geben, was wir erlegen können und was nicht.“ Der riesige Gambia-Neger verdrehte die Augen. „Batuti ist nicht sicher. Tiere hier anders als in Afrika.“ „Wir werden sehen“, sagte Hasard. „Hoffentlich können wir noch etwas ausrichten, bevor es dunkel wird.“ In diesem Augenblick peitschte drüben auf dem schwarzen Schiff ein Schuß auf. Die Köpfe der Seewölfe zuckten herum. Sie konnten die weiße Qualmwolke sehen, die vom Backbordschanzkleid hochpuffte, und sie bemerkten auch die kleine Fontäne, die dicht am Südufer aus dem Wasser hochstob. Gleichzeitig krümmte sich ein langer, grünlichbrauner Leib im Strom. Einer der Kaimane war getroffen worden. Seine Artgenossen schoben sich heran, nicht aus Mitgefühl, sondern, weil sie ihn zu vertilgen gedachten. Der empörte Schrei der Roten Korsarin drang zu den Männern der „Isabella“ herüber. Sie entriß dem Schützen die Muskete und verpaßte ihm eine Maulschelle. Was sie dabei rief, war bis zur „Isabella“ hin zu verstehen. „Du Vollidiot! Wer hat dir den Befehl zum Schießen gegeben?“ „Niemand“, erwiderte der Mann. Er war einer der Neuen von Tobago. „Ich wollte diesen widerlichen Biestern nur zeigen, mit wem sie's zu tun haben.“ „Narr!“ fauchte Siri-Tong. „Noch so ein Vorfall, und ich lasse dich auspeitschen.“ Der Mann verstand sicherlich nicht, warum sie so aufgebracht war. Hasard schaute zu seinen Männern und wußte, daß sie das gleiche dachten wie er. Die Erfahrung lehrte: Es konnte
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immer nur falsch sein, unbedacht und aufs Geratewohl Lärm zu veranstalten.
4. Der Nebenarm war kein richtiger Fluß, eher ein Bach, und von beiden Ufern her so zugewachsen, daß das Reetboot ständig an Blättern und Zweigen entlangschleifte. Die beiden Krokodilmänner verstanden es, sich mit ihren Messern einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Sie bewegten sich im Laufschritt voran und zogen dabei Montanellis Gefährt an der Schleppleine mit sich. Er wußte: Sie würden ihn in dem Boot ziehen, so weit es ging, dann würden sie ihn herausheben und tragen, weiter, immer tiefer in den Dschungel hinein. Einmal ringelte sich eine Schlange aus dem Blattwerk auf Montanelli zu. Er lag starr und konnte sich nicht rühren, nur seine Augen weiteten sich in maßlosem Entsetzen. Shushupe, die giftigste aller Schlangen! Aber ihr häßliches Maul pendelte nicht zu ihm hinunter. Sie ließ ihn vorbeiziehen. Die Hölle wollte ihn nicht. Es wäre besser gewesen, wenn er jetzt gleich gestorben wäre, aber seine Agonie sollte hinausgezögert werden – bis ins Unerträgliche. Warum hatte die Shushupe keinen der beiden Indianer gebissen? Warum mußten sie stets so unerhörtes Glück haben? Der Urwald war ihr Element. Sie spürten die Gefahren, wußten sich demgemäß zu bewegen und überall so aufzutreten, daß sie mit keinem der aggressiven Bewohner aneinandergerieten. Sie hasteten voran und gönnten sich keine Pause. Montanelli konnte ihnen nur zuschauen, hilflos wie ein kleines Kind. Unversehens trat jedoch eine Änderung ein. Ein feines Geräusch drang an Montanellis Ohren. Es klang wie ein Peitschenknall. Die Krokodilmänner verhielten sofort, standen geduckt und tuschelten miteinander. Sie wiesen auf
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Montanelli und schienen unschlüssig zu sein, was sie tun sollten. Er hatte ihre Sprache nie richtig verstanden, aber er schnappte ein paar Brocken auf: „Fremde“ und „Feuerlärm“ und „Nachsehen“. Die eigenartige Laute, die sie ausstießen, waren der Ketschua-Sprache zuzuordnen, soviel war Montanelli, einem recht belesenen und kundigen Mann, bekannt. Irgend jemand war bis hierher vorgedrungen und hatte geschossen. Der Himmel allein wußte, wer. Aber es war die Aufgabe der beiden Indianer, diese Leute aufzustöbern und zu beobachten. Das Problem war, daß ein Mann allein niemals durch den Busch streifen sollte. Es war ein altes Gesetz der Indianer des Regenwaldes. Folglich waren sie gezwungen, Montanelli vorläufig ohne Bewachung zu lassen. Sie gelangen zu der Übereinkunft, daß er nichts zu seiner Rettung unternehmen konnte. Er war gelähmt. Sie schlangen nur das – Schleppseil um einen Baumstamm, dann überließen sie ihn seinem Schicksal. Das einzige, was passieren konnte, war, daß er von einer Schlange oder von einem Kaiman gebissen wurde oder ihn ein Jaguar verschleppte. Dieses Risiko gingen sie ein. Montanelli sah, wie ihre Gestalten von der dichten Blätterwand verschlungen wurden. Er blieb mit seinen fürchterlichen Ängsten in dem Reetboot zurück. Gleichzeitig bedauerte er auch jene Eindringlinge, die sich dummerweise durch einen Schuß bemerkbar gemacht hatten. Trotz der Musketen oder Pistolen, die sie führten, hatten sie hier nichts zu gewinnen – nur alles zu verlieren. * Im Einsetzen des Zwielichtes der Dämmerung gab Hasard den Befehl: „Fallen Anker!“
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Der schwere Stockanker am Bug der „Isabella“ rauschte aus und zerrte seine Trosse nach. Er sank keine zehn Faden tief und bohrte sich in den Schlick des Amazonasgrundes. Die „Isabella“ verharrte mit aufgegeiten Segeln auf der leicht gekräuselten Wasserfläche. Hasard ließ auch den Heckanker ausbringen, und das Schiff lag ruhig. Siri-Tong hatte ebenfalls ankern lassen. Die Schiffe lagen in Kiellinie vor dem Südufer des Canal do Norte, die Bugspriete nach Südwesten gerichtet, die Backbordseite dem Urwald zugewandt, der keine fünfzig Yards entfernt emporwucherte. Die Rote Korsarin hatte ein Boot abfieren lassen und setzte jetzt zur „Isabella“ über. Thorfin Njal und die vier anderen Wikinger sowie der Boston-Mann und Juan waren mit von der Partie. Sie hielten auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ eine kurze Lagebesprechung ab. Die Crew durfte selbstverständlich mit zuhören. Sie hatte sich auf dem Quarterdeck eingefunden. Jeff Bowie blickte an Blacky und Al Conroy vorbei auf die dunkelgrüne Wand. Affen und Papageien und tausend bunte Vögel schrien dort um die Wette. Es war ein beeindruckendes Konzert. Im Wasser war ständig Bewegung, die Kaimane und die anderen Bewohner des Elements gaben sich rund um die beiden Schiffe ein Stelldichein. „Blacky“, sagte Jeff. „Erinnerst du dich noch an die Zeit in Kolumbien? Damals, als wir ohne Schiff waren und Flöße bauen mußten – als ich meine linke Hand verlor?“ Er wies die Hakenprothese hoch, die er jetzt trug. Blacky nickte. „Und ob. Hölle, Jeff keinem von uns ist wohl in seiner Haut, aber was sollen wir tun?“ „Die Zähne zusammenbeißen und gute Miene zum bösen Spiel machen“, zischte Matt Davies ihnen zu. „Haltet jetzt die Klappe, ihr beiden!“ Der Seewolf sagte soeben zu Siri-Tong und deren Begleitern: „Ich hatte gehofft, auf eine Indianersiedlung zu stoßen. Dort hätten wir gegen Schmuck oder Waffen Proviant eintauschen
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können. Aber die Inseln und die benachbarten Ufer des Festlandes scheinen nicht bewohnt zu sein.“ „Wir sind wohl allein auf weiter Flur“, erwiderte Siri-Tong. „Auch nach dem Schuß, den einer meiner Leute dummerweise abgegeben hat, hat sich niemand gezeigt. Was tun also?“ Hasard lachte freudlos. „Wir müssen uns unsere Verpflegung selbst beschaffen. Wasser aus dem Amazonas zu schöpfen, hat keinen Sinn, wie ihr alle einsehen werdet. Daß mir bloß keiner auf den Gedanken verfällt, das Zeug zu trinken! Wenn der Durst auch noch so groß wird – kämpft dagegen an!“ „Jawohl“, entgegnete Carberry. „Ich verspreche, dafür zu sorgen.“ „Ausgerechnet der“, raunte Bill. Aber keiner verstand es. Hasard fuhr fort: „Das Amazonaswasser ist zu brackig, außerdem wimmelt es darin von dem unglaublichsten Getier. Nein, ich mein jetzt nicht die Kaimane oder die Piranhas, mit denen Jeff Bowie einmal unliebsame Bekanntschaft geschlossen hat. Ich spreche von dem kleineren Viehzeug. Giftige Würmer, Insekten, winzige Tiere, die dennoch gefährlich sind. Wir alle wollen so schnell wie möglich wieder 'raus aus diesem Dschungel. Aber vorher müssen wir an Land einen Trinkwasserteich oder eine Quelle finden, die nicht verseucht ist. Weiter muß Eßbares gejagt werden. Shane und Batuti, ihr kommt mit und rüstet euch mit Pfeilen und Bogen aus.“ „Was können wir denn schießen?“ erkundigte sich der graubärtige Riese. „Doch keine Krokodile und Schlangen, oder?“ „Pfui Teufel“, sagte Luke Morgan. Der Boston-Mann grinste plötzlich und blickte zu Arwenack, der auf Smokys Schulter kauerte. „Die Tierwelt im Dschungel ist wahrhaftig reichhaltig genug, abgesehen davon, daß es auch Maniok und anderes genießbares Pflanzenzeug gibt. Ich kenne mich da einigermaßen aus.“ „Das stimmt“, sagte Siri-Tong. „Er hat sich mal allein durch den Urwald schlagen müssen.“
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„Ganz unvorbelastet sind wir auch nicht“, sagte Ferris Tucker. „Halte uns bloß nicht für Trottel, Boston-Mann.“ Der Pirat musterte Ferris in einem Anflug von verächtlicher Belustigung. Hin und wieder kam es zu Spannungen zwischen den Korsaren und den Piraten. Die Kluft, die sich zwischen ihnen auf tat, ließ sich doch nie ganz beseitigen, obwohl sie im Grunde ausgezeichnete Verbündete waren. „So meine ich das auch nicht“, sagte der Boston-Mann. „Ich wollte euch nur darauf hinweisen, daß bei den Indianern Affenbraten sehr beliebt ist. Wenn alle Stricke reißen, könnten wir bei dem da anfangen.“ Er wies auf Arwenack. Die Mienen der Seewölfe verfinsterten sich augenblicklich. Sogar Carberry, der immer auf den „blöden Affen“ schimpfte, sah den Boston-Mann an, als wolle er ihm auf der Stelle den Hals umdrehen. Smoky sagte: „Wer Arwenack auch nur antickt, dem hau ich was aufs Hirn, daß das ganze Stroh 'rauskommt!“ Siri-Tong griff ein. „Boston-Mann, sag so etwas nicht. Im übrigen soll Affenbraten nach Mensch schmecken. Das ist nichts für uns.“ Dem Schimpansen war das Ganze nicht mehr geheuer. Er ergriff die Flucht, turnte in die Steuerbordwanten des Großmastes, enterte blitzschnell in den Webeleinen auf und hockte sich beleidigt zu Dan O'Flynn in den Mars. Dan hatte die Aufgabe, die Ufer im Auge zu behalten. Gleichzeitig lauschte er dem Gespräch unten auf Deck. „Der Boston-Mann, dieser blöde Hund“, sagte er leise. „Wir haben genug Vorreden gehalten“, sagte der Seewolf jetzt. „Fangen wir an. Zwei Gruppen pullen mit je einem Boot an Land und forschen nach Nahrung und Wasser. Außer Pfeil und Bogen und Schußwaffen werden Säbel, Degen und Schiffshauer mitgenommen, sonst kommen wir überhaupt nicht durch das verdammte Dickicht durch.“ „Aye, aye, Sir“, antwortete Carberry pflichtbewußt.
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„Siri-Tong und ich führen die eine, Thorfin und du die andere Gruppe“, sagte Hasard zu seinem Profos. „Ich will als Begleiter Dan O'Flynn, Blacky, Batuti, Shane, Ferris und Matt. Gary, du löst Dan im Großmars ab. Ed und Thorfin, wen wählt ihr?“ „Ich schlage Eike, Oleg, Arne, den Stör, den Boston-Mann und Juan vor“, sagte Thorfin Njal. Carberry hielt nichts von unnötigen Verzögerungen, vom Wenn und Aber. „Einverstanden“, erwiderte er nur. Das Landunternehmen begann. In aller Eile wurde nun auch ein Boot der „Isabella“ abgefiert und bemannt. Carberry, die Wikinger und die beiden Siri-Tong-Piraten enterten in das bereits an der Backbordseite der „Isabella“ liegende Beiboot des schwarzen Seglers ab. Etwas später legten beide Schaluppen von der Galeone ab und glitten auf das Ufer zu. Die Dämmerung senkte sich tiefer auf das Land. Hasard hatte zur Vorsicht Pechfackeln mitnehmen lassen. Er wollte sein Vorhaben nicht aus Mangel an Helligkeit abbrechen, bevor sie zumindest einen Teil des dringend benötigten Proviants beschafft hatten. Hasard kauerte im Bug seines Bootes. Siri-Tong hatte die Ruderpinne übernommen. Hasard hielt die Augen offen und achtete auf jede Regung im Wasser und an Land. Besonders die überhängenden Baumäste wollten ihm nicht behagen. An Steuerbord, wo Carberrys und Thorfin Njals Boot neben ihnen herfuhr, entstand plötzlich Aufruhr. Der Stör stieß einen Wutschrei aus und hob seine Muskete. Er zielte auf ein Krokodil, ein besonders großes Exemplar, das sich mit aufklaffendem Maul auf das Boot zuschob. Es war fast so weit heran, daß es die Kiefer nur noch zusammenzuklappen brauchte, um den Musketenlauf des Wikingers zu schnappen und zu zerbeißen. In diesem Augenblick drückte der Stör ab. Der Schuß bellte mitten in den riesigen Rachen des Krokodils hinein. Das Tier zuckte zusammen, als habe man ihm siedendes Öl ins Maul gekippt. Sein gewaltiger Schwanz
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peitschte das Wasser, es spritzte hoch auf und bis ins Boot hinein. Batuti hatte sich hoch aufgerichtet, balancierte auf einer Ducht von Hasards Boot und legte mit Pfeil und Bogen auf die Bestie an. Aber das Schicksal des Krokodils war besiegelt. Sein Schwanz krachte gegen die Bordwand. Die Männer klammerten sich fluchend fest. Eike feuerte seine Pistole auf die vorsintflutlich anmutende Kreatur ab, doch das war schon nicht mehr nötig. Die Kugel aus der Muskete des Störs hatte sehr wichtige Organe getroffen und den Lebensnerv zerstört. Das Krokodil drehte sich auf den Rücken und trieb nach ein paar letzten Zuckungen mit dem weißlich glänzenden Bauch nach oben auf dem Wasser. Batuti ließ den Pfeil trotzdem von der Bogensehne schwirren. Erstaunt verfolgten Siri-Tong und alle Männer – auch die an Bord der Schiffe verbliebenen –, wie der Pfeil fehlging. Er traf das Krokodil nicht sondern tunkte hinter ihm in die lehmigbraunen Fluten. Sogar Hasard wandte sich verblüfft zu seinem schwarzen Goliat um. Was war denn mit Batuti los? Er konnte sonst mit seinen Pfeilen aus größte Entfernung Gegner treffen und auf den Decks feindlicher Schiffe Entsetzliches anrichten. Hatte ihm die Hitze schon zu sehr zugesetzt? Aber er, gerade er, mußte doch daran gewöhnt sein! Das Rätsel löste sich. Der Pfeil tauchte nicht ganz ins Wasser, sondern schien darin steckenzubleiben. Sein Schaft tanzte in den kleinen Wellen und bewegte sich auf das Boot des schwarzen Schiffes zu. Carberry fand als erster die Fassung wieder. „Zupacken!“ rief er. „Los, greift euch den verdammten Stengel, zum Donnerwetter noch mal!“ Juan reagierte gedankenschnell. Er erhaschte den Pfeilschaft und wollte ihn aus dem Strom ziehen. Ganz so leicht, wie er geglaubt hatte, war das aber plötzlich nicht mehr. An dem Pfeil
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hing ein Gewicht. Juan faßte mit der anderen Hand nach, hievte hoch – und riß vor Staunen den Mund auf. Ein großer Fisch hing an der Pfeilspitze. Er drohte abzugleiten und wieder im Wasser zu versinken, aber der Boston-Mann, Eike, Oleg und Arne halfen ihm und holten die Beute an Bord. Carberry und Thorfin Njal starrten ziemlich verdutzt auf das gut einen Yard lange Tier. „Ein Mordsding!“ rief der Profos. „He, Batuti, du Teufelskerl!“ Der Neger hatte sich wieder auf seine Ducht gesetzt und grinste still vor sich hin. Hasard drehte sich ihm zu. „Gut gemacht, Batuti, alle Achtung. Na, da haben wir ja schon mal was für unsere Kombüse. Der Kutscher wird den Fisch nur richtig kochen müssen – wegen der Verseuchungsgefahr.“ „Kann man Krokodile auch essen?“ fragte Carberry laut. Der Boston-Mann grinste. „Natürlich. Die Indianer verzehren sie genauso gern wie Affenbraten.“ „Laßt das Biest treiben“, sagte Thorfin Njal mit einem Fingerzeig auf die tote Riesenechse. Sie pullten bis unters Ufer, vertäuten die Boote und setzten den Fuß in das Dickicht. Hasard führte den Trupp an, Siri-Tong hielt sich dicht hinter ihm. Hasard hatte einen außerordentlich scharf geschliffenen Cutlass von der „Isabella“ mitgenommen. Damit hieb er jetzt eine Bresche in das tückische Pflanzenwerk. Macheten hatten sie nicht, aber mit den Schiffshauern und Säbeln ließ sich die beschwerliche Arbeit auf die gleiche Weise verrichten. Sie waren noch nicht weit vorgedrungen, da drehte der Seewolf sich zu seinen Gefährten um und blieb plötzlich wie erstarrt stehen. Die Rote Korsarin und die Männer hinter ihr verharrten ebenfalls. Hasard riß den Cutlass hoch. Der stach auf Matt Davies zu, zischte durch die Luft und blieb zitternd in einem Baumstamm stecken – etwa einen halben Yard schräg rechts hinter Matts Rücken und nur eine Handspanne über seinem Kopf.
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Matts Gesicht hatte eine ungesunde, teigige Färbung angenommen. Ihn konnte so leicht nichts erschrecken und aus den Stiefeln werfen, aber das hier setzte ihm doch gehörig zu. „He“, stammelte er. „Was – hat das zu bedeuten, Hasard?“ „Dreh dich um“, sagte Hasard. Matt folgte der Aufforderung, und auch die anderen wandten sich dem Baum zu, in dem der Cutlass immer noch vibrierte. Die Klinge hatte direkt hinter Matts Rücken eine große gelbe Schlange mit braunem Tupfenmuster festgenagelt und ihr den Kopf vom Rumpf getrennt. Das Tier hatte sich den Baum hinuntergeringelt, ohne daß Matt Davies es bemerkt hatte. Jetzt erschlafften die Ringmuskeln langsam, und das Reptil fiel mit dumpfem Laut auf den Boden. Matt gab einen würgenden Laut von sich. „Hasard – das Biest hatte schon das Maul zum Biß aufgerissen, oder?“ „So ist es.“ „Danke für die Rettung.“ Der Seewolf hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Nicht der Rede wert. Wahrscheinlich war sie nicht einmal giftig.“ Siri-Tong beugte sich über den Kadaver. Der Boston-Mann drängelte sich durch und nahm ihn ebenfalls in Augenschein. Er schaute auf und sah die Rote Korsarin an. Für eine Sekunde verfingen sich ihre Blicke ineinander. Siri-Tong nickte ihm zu. „Jawohl“, sagte sie. „Es besteht kein Zweifel. Das war eine Shushupe, eine der giftigsten Schlangen, die existieren. Ihr Biß ist absolut tödlich, allemal, wenn er die Halsgegend eines Menschen trifft, wie das bei Matt der Fall gewesen wäre.“ Matt Davies rieb sich heftig den Nacken. „Verflucht und zugenäht“, stieß er hervor. „Das fängt ja gut an hier. O Gott, beinahe wäre ich einfach abgekratzt.“ „Hör auf“, sagte Hasard. „Gehen wir weiter.“ Er warf noch einen Blick auf ihrer aller Füße. „Das nächste Mal, wenn wir uns auf Landgang begeben, ziehen wir uns unsere Stiefel an, verstanden? Ich habe das vorhin vergessen anzuordnen.“
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„Aye, aye, Sir“, grollte Carberrys Baßstimme. Die Einleitung ihres Unternehmens war alles andere als ermutigend, aber es sollte noch härter kommen. Sie hatten sich rund hundert Yards weiter vorangearbeitet, da wurden sie von neuem aufgehalten. Siri-Tong schritt jetzt rechts neben Hasard, hatte sich mit einem Säbel bewaffnet und half, die Bresche zu erweitern, die er ins dampfende Unterholz trieb. Es war fast ganz dunkel geworden, aber die Hitze hielt sich in dem verfilzten und verwachsenen Tropenwald. Sie schien durch nichts auf der Welt zu vertreiben zu sein. Die Rote Korsarin, der Seewolf und die übrigen Männer schwitzten, wie sie nie geschwitzt hatten. Ungeziefer setzte ihnen zu. Es umschwirrte sie, krabbelte ihnen über die Gesichter und Körper, biß, stach, kratzte. Immer wieder vernahm Hasard, wie hinter ihm der eine oder andere seine Hand auf den nackten Leib niederklatschen ließ, um die Störenfriede zu vernichten. Hasard wollte den Befehl geben, die ersten Pechfackeln anzuzünden, da geschah es. Es begann mit einem Laut, der linker Hand von der Gruppe im Busch ertönte. Ein unterschwelliges, drohendes Brummen. Sein Urheber konnte sich nicht weit entfernt befinden. Abrupt blieben die schwarzhaarige Frau und die fünfzehn Männer stehen. Sie wandten die Köpfe nach links. „Ed, hör mit dem Blödsinn auf“, sagte Blacky verhalten. „Das war ich nicht“, verteidigte sich der Profos. „Wer denn?“ wollte Dan O'Flynn wissen. „Ruhe“, raunte Hasard ihnen zu. „Das da“, flüsterte der Boston-Mann. „Das war ein Jaguar, ich schwöre es euch.“ Hasard zog seine doppelläufige Reiterpistole und gab auch den anderen einen Wink, sich schußbereit zu machen. Es raschelte im Dickicht. Etwas bewegte sich direkt auf sie zu, dann ein Stück nach rechts, dann wieder in ihre Richtung.
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Fünfzehn Männer standen bereit, der Bestie Paroli zu bieten, wenn sie aus dem Busch auf sie zufederte. Sie wußten, daß sie das Raubtier wahrscheinlich mitten im Sprung erlegen mußten, wenn sie nicht verletzt werden wollten. Plötzlich riß das Rascheln ab. Totenstille trat ein, etwas Ungewöhnliches für den Regenwald, in dem sonst immer das Kreischen der Affen und das Geschrei der Vögel zu vernehmen war. Hasard drehte sich kurz zu Siri-Tong um, um zu sehen, ob sie eine Erklärung für dies alles hatte. Sie war verschwunden. Ohne einen Laut. Sie schien von der grünen Amazonashölle regelrecht verschlungen worden zu sein.
5. Hasard spürte, wie ihm der Schreck bis tief in die Knochen fuhr und seine Nerven zum Beben brachte. Die Rote Korsarin fort! Einfach so, ohne einen Schrei – da konnte etwas nicht stimmen. Plötzlich dämmerte es ihm. „Teufel, wir sind zum Narren gehalten worden!“ schrie er. Er senkte den Kopf und stürmte in das Dickicht zu ihrer Linken. In der rechten Hand hielt er die Radschloßpistole, in der anderen den Cutlass, den er nach dem Zwischenfall mit der Shushupe sofort wieder an sich genommen hatte. „Hasard, zurück!“ schrie ihm Thorfin Njal nach. „Beim Odin, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“ Hasard hörte nicht auf ihn. Er kämpfte sich durch das Dickicht, um nach dem zu suchen, der das dumpfe Grollen erzeugt hatte. Mit einem Mal war er überzeugt, daß etwas in dem verflixten Dschungel steckte, das bisher selbst Dan O'Flynns Aufmerksamkeit entgangen war. Jemand.
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Carberry fackelte nicht lange, er riß die Initiative an sich. „Los, Thorfin, nichts wie hinter Hasard her! Gruppe zwei – uns nach! Ferris, ihr schlagt euch mit eurer Gruppe nach rechts in die Büsche!“ „Vorwärts, Männer!“ brüllte Ferris. Der Profos war ein rauhbeiniger, bärbeißiger Kerl, dem man manchmal nicht zutraute, er könne bis drei zählen. Aber wenn's darauf ankam, bewies er zweierlei: daß er nämlich blitzschnell reagieren und außerdem fatale Situationen im Ansatz richtig beurteilen konnte. So hatte er gut daran getan, die beiden Gruppen jetzt zu teilen. Siri-Tong konnte nicht – vor ihrer aller Nase – nach links in den Urwald verschwunden sein. Jemand mußte dorthin, wohin sie mutmaßlich verschleppt worden war – nach rechts. Daß sie nicht freiwillig verschwunden war, daran zweifelte keiner der Männer auch nur einen Moment. Carberry, die fünf Wikinger und die beiden Siri-Tong-Piraten stürmten unterdessen mit wildem Geschrei dem Seewolf nach. Wenn es galt, den Jaguar frontal anzugreifen, dann wollten sie auch nicht fehlen. Hasards Handeln war nicht nur tollkühn, es war selbstmörderisch. Er durfte unter keinen Umständen allein gelassen werden. Hasard säbelte sich mit dem Cutlass durch das fest ineinander verschlungene Blatt- und Lianenwerk. Er war wie von Sinnen. Nach seiner Schätzung hätte er längst an dem Fleck angelangt sein müssen, an dem er das Rascheln des unbekannten Gegners zuletzt vernommen hatte. Er war es auch, nur hatte sich das, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, bereits zur Flucht gewandt. Hasard glaubte immer weniger daran, daß es sich tatsächlich um einen Jaguar handelte. Es war ein Trick gewesen, ein verdammter, billiger Trick, dieses Grollen. Um sie abzulenken, zu täuschen, hereinzulegen! Er entdeckte zerbrochenes Unterholz, kroch darüber weg, fand weitere Spuren dieser Art und pirschte ihnen nach. Den Cutlass
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brauchte er jetzt fast nicht mehr zu benutzen, denn vor ihm schlängelte sich ein Pfad durch das Dickicht. Man mußte ihn eben erst geschnitten haben, anders konnte es nicht sein, denn hier im Regenwald wucherte sofort alles wieder zu, jeder Versuch, auch nur ansatzweise so etwas wie einen Weg zu schaffen, mußte scheitern. Das war der Beweis. Hasard hatte einen Menschen vor sich. Und Siri-Tong war von dem oder den Komplicen, dieses Burschen entführt worden! Kalte Wut trieb Hasard voran. Hinter sich hörte er die beiden Gruppen im Unterholz rumoren, aber er wartete nicht auf sie. Jede Sekunde war kostbar, jeden Augenblick konnte die Hilfe für Siri-Tong zu spät sein. Der primitive Pfad schlug einen Bogen nach rechts, führte eine Weile genau geradeaus, dann nach links und dann wieder nach rechts. Kein Zweifel, der Kerl vor Hasard verwendete sein ganzes Können darauf, die Verfolger irrezuführen. Und er bewegte sich mit geradezu unheimlicher Geschwindigkeit voran. Er konnte nur ein Ureinwohner dieser Gebiete sein, ein Indianer. Hasard verfluchte ihn und schwor ihm Rache für den Fall, daß man der Roten Korsarin etwas antat. So war das also gelaufen: Der eine Schuft hatte im Dickicht den „Jaguar“ gemimt, der andere hatte sich in der Zwischenzeit von der entgegengesetzten Seite angeschlichen, hatte Siri-Tong gepackt und ihr sofort mit einer Hand den Mund zugehalten, während er sie lautlos ins Gebüsch gezerrt hatte. Nur ein Indianer konnte Derartiges vollbringen, hier, in seinem Element, im menschenfeindlichen Dschungel. Und die Seewölfe und die Piraten der Roten Korsarin hatten wie die Narren zu der vermeintlichen Raubkatze im Dickicht geblickt. So einfach und so unfaßbar war das. Hasard konnte sich wegen seines Fehlverhaltens selbst verdammen. Wie hatte er nur so dumm sein können? Die ersten Schritte durch die grüne Hölle, und er ließ sich
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hereinlegen wie ein blutiger Anfänger, wie einer, der keinerlei Erfahrung im Auskundschaften fremder Gebiete hatte. Gewiß, der Regenwald hatte seine ureigenen Gesetze, nach denen man sich richten mußte, wenn man nicht untergehen wollte, aber hatte er diese Lektion nicht bereits in der Fieberhölle von Guayana gelernt? Sicher. Aber da war etwas anderes. Als nach dem Lärm, den sie schon auf dem Fluß veranstaltet hatten, keine Menschenseele im Busch aufgetaucht war, hatte er sich einfach unbeobachtet gewähnt. Das war der einzige Fehler gewesen, den er begangen hatte, aber er bezahlte ihn jetzt teuer. Er war außer sich vor Zorn und Haß. Dieses Überschäumen seiner Empfindungen trieb ihn voran. Wie ein Berserker grub er sich durch den Busch. Er merkte dabei nicht, daß er sich immer weiter von seinen Kameraden entfernte. Hasard glaubte, einen schwachen, erstickten Ruf vor sich zu vernehmen. Weiter, hämmerte es in seinem Kopf, nur weiter, nicht aufhören zu laufen, zu schwitzen, zu laufen… Sie, die Seewölfe, kamen als Freunde der Indianer. Sie hatten Erfahrungen mit den Patagoniern und den Araukanern gesammelt, und, weiter nördlich auf dem neuen Kontinent, mit den Ureinwohnern von Peru, Kolumbien, den Inseln der Karibik – kurz, mit allen, die von den Spaniern geknechtet, ausgeraubt und mißhandelt wurden. Diese im Grunde ihres Herzens gutmütigen rothäutigen Menschen hatten mittlerweile gelernt, daß es auch eine andere Kategorie weißer Männer gab, nicht nur die grausamen „Viracocha“, die bärtigen Männer aus dem fernen Spanien. Hasard hörte ein Rascheln, ein Keuchen und zwei, drei dumpfe Geräusche, die darauf schließen ließen, daß sich nicht allzu weit entfernt jemand auf dem Untergrund hin- und herwarf. Er lief nicht mehr, er preschte durch das Dickicht und brach wie ein großer, sehniger Wolf durch das Gestrüpp, in dem man durch eine einzige nicht kalkulierte Bewegung hängenbleiben konnte.
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Er konnte es nicht begreifen, daß ausgerechnet die, mit denen er sich bei anderen Gelegenheiten immer wieder verbündet hatte, sie ohne besonderen Anlaß angriffen. Der Teufel sollte sie holen! Wieder dieses Keuchen, diesmal ganz nah, und Hasard brachte sich mit einem einzigen gewaltigen Satz voran. Das Kreischen und Zetern der Tiere hatte längst wieder eingesetzt, es begleitete ihn. Die beiden Gruppen der Männer streiften irgendwo weit hinter ihm durch den Busch und suchten und riefen nach ihm und SiriTong. Hasard antwortete nicht. Er wollte jetzt keinen zweiten Fehler begehen und den Gegner warnen. Plötzlich stürmte er aus dem Dickicht hervor auf eine winzige Lichtung. Etwas, irgendeine Pflanzenseuche, mußte diesen Kahlschlag hervorgerufen haben, etwas hatte den Wucherwuchs an dieser Stelle so weit unterbrochen, daß ein erwachsener Mensch sich ohne weiteres auf dem Boden ausstrecken konnte. Siri-Tong lag auf dem Untergrund ausgestreckt, und alle fürchterlichen Ahnungen des Seewolfes bestätigten sich mit einem Schlag. Ja, es waren tatsächlich Indianer, die sie entführt hatten – zwei, kompakt gebaute Kerle mit brauner Haut, dichten schwarzen Haarschöpfen und den einbalsamierten Schädeln von Kaimanen auf den Häuptern. Die oberen Teile dieser Jagdtrophäen hatten sie sich auf den Schädelplatten befestigt, die Unterkiefer unter dem Kinn festgezurrt. Es war eine makabre Kostümierung und eine unheimliche Szenerie. Einzelheiten, die Hasard im Bruchteil einer Sekunde erfaßte. Der eine Indianer kniete und hielt der Roten Korsarin den Mund zu. Gleichzeitig drückte er ihre beiden Arme so auf den Boden, daß er sie mit den Knien festpressen konnte. Der andere hatte Siri-Tong die Kleidung vom Leib gerissen und traf soeben Anstalten, sich seines Lendenschurzes zu entledigen. Er beugte sich über sie und paßte auf, daß sie ihn mit ihren strampelnden Beinen nicht treffen konnte. Er gab einen tiefen, wilden Laut von sich.
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Die beiden hatten sich hier in Sicherheit gewähnt, und nicht damit gerechnet, daß die weißen Eindringlinge sie jemals so schnell aufstöbern würden. Ja, sie wollten ihrer Gier auf die schöne Frau freien Lauf lassen, und wahrscheinlich planten sie, sie anschließend umzubringen. Dieser Gedanke schoß Hasard noch durch den Kopf, als er sich auf den ersten Indianer stürzte. Es war der, der gerade an seinem Lendenschurz herumnestelte. Hasard erwischte ihn an den Schultern und riß ihn mit sich. Da er ihn von schräg links angriff, rollten sie nach rechts und nicht vornüber auf Siri-Tong. Hasard hieb dem Indianer die Faust unters Kinn. Der Kerl stöhnte, verlor aber nicht das Bewußtsein. Er war hart im Nehmen, sehr hart. Verbissen klammerte er sich an Hasard fest und balgte sich mit ihm. Sie wälzten sich auf dem weichen Morastboden. Der zweite Indianer fuhr hoch, ließ Siri-Tong los und griff nach seinen Waffen. Sie brachte sich als erstes aus seiner Reichweite, indem sie sich nach links wegrollte. Der zweite Krokodilmann brachte geisterhaft schnell sein Blasrohr in Anschlag, führte einen Pfeil ein und setzte das Mundstück an die Lippen. Hasard hatte ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen verloren, obwohl er genug mit dem ersten zu tun hatte. So war er auf der Hut. Er drehte sich so, daß er den ersten Gegner als eine Art lebenden Schutzschild über sich hatte. „Hasard, Vorsicht!“ Das war Siri-Tong. Aber ihr Warnruf war eigentlich überflüssig. Der Seewolf rammte seinem Widersacher das rechte Knie in die Magengrube, stemmte ihn hoch und schleuderte ihn dann mit aller Kraft von sich. Bislang hatte der zweite Krokodilmann keine Chance gehabt, seinen tödlichen Giftpfeil auf Hasard abzuschießen, weil er dauernd den Stammesbruder vor der Mündung gehabt hatte.
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Jetzt federte der Kumpan ihm entgegen. Der zweite Indianer stieß einen gurgelnden Laut aus und wollte ausweichen. Doch dazu war es zu spät. Sein Begleiter prallte mit voller Wucht gegen ihn. Beide ächzten und gingen zu Boden. Hasard war wie ein Panther auf die Beine geschnellt. Er vollführte einen Satz, war wieder neben ihnen und trat dem zweiten Burschen das Blasrohr aus den Händen. Gleich darauf schloß er beide Hände zu Fäusten und ließ sie mit enormen Gewalt in den Nacken des ersten Indianers sausen. Dieser streckte buchstäblich alle viere von sich, zuckte und blieb dann reglos auf seinem Kumpan liegen. Der zweite warf den Bewußtlosen ab, kroch rückwärts und raffte sich auf. Die Rote Korsarin wollte eingreifen. Sie hatten sie ihrer Waffen beraubt, der Teufel mochte, wissen unter welchem Busch sie lagen. Aber die Schwarzhaarige war drauf und dran, ihre Fäuste und Krallen gegen den Krokodilmann einzusetzen. „Siri-Tong, nicht!“ rief Hasard ihr zu. „Halt dich da 'raus!“ Er rückte auf den jetzt wieder aufrecht stehenden Indianer zu. Dieser wich ein Stück zurück, blieb dann stehen – und zückte ein Messer. Hasard stand breitbeinig, die Arme vorgestreckt. Er hätte nur die Radschloßpistole zu ziehen brauchen, um auch diesen Kerl zu besiegen. Ein Warnschuß über den Kopf, und der Mann hätte ganz gewiß aufgegeben. Aber Hasard hatte ein eingefleischtes Gefühl für Fairneß. Er ließ die Pistole im Gurt stecken, tat noch einen Schritt auf den Indianer zu und hielt ihm die rechte Hand hin. „Gib das her.“ Er sagte es auf spanisch. Der Indianer schüttelte den Kopf. Er hatte also verstanden. „Hör zu“, sagte der Seewolf. „Du hast keine Chance mehr. Streich die Flagge, Bruder. Ich will dir nichts Böses, also gib das Messer her und hör auf, den wilden Mann zu spielen.“ Der Krokodilmann brüllte auf und unternahm jählings einen wilden Ausfall gegen ihn. Die Messerklinge zuckte vor, genau auf Hasards Unterleib zu. In diesem Moment stieg wieder die kalte Wut in Hasard auf. Er parierte, glitt nur ein Stück nach
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rechts, dann zuckte sein nackter Fuß hoch und knallte unter den Messerarm des Gegners. Der Indianer gurgelte vor Entsetzen. Sein Arm war sekundenlang gelähmt, so heftig war der Tritt gewesen. Das Messer entglitt seinen kraftlosen Fingern. Er wich zurück. Waffen – soviel konnte der Seewolf sehen – hatte er nicht mehr. Hasard ging ihm nach. Siri-Tong hatte sich auch wieder in Bewegung gesetzt, um dem Burschen von links her den Rückzug in den Busch abzuschneiden. Hasard hatte es ihr zwar verboten, in die Auseinandersetzung einzugreifen, aber jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie mußten diesen Mann haben, er durfte nicht entwischen. Hasard sagte zu dem Indianer: „Bleib stehen. Ich kriege dich so und so. Gib auf.“ Der Krokodilmann vollführte eine rasche Geste unter seinen Lendenschurz. Hasard duckte sich instinktiv. Besaß er doch noch mehr Waffen? Der Krokodilmann riß aus einem kleinen Leibriemen, den er unter dem Schurz trug, einen Blasrohrpfeil hervor und drückte ihn sich in die Herzgegend. Sein Mund öffnete sich, seine Augen weiteten sich, er begann zu torkeln. „Himmel, ist der verrückt?“ schrie Hasard.
6. Er sprang auf den Indianer zu und packte ihn. Der braunhäutige Mann trachtete nicht mehr, ihm auszuweichen oder die Flucht anzutreten. Er hatte bereits die Kontrolle über sich verloren und war nicht einmal einer Reflexbewegung fähig. Hasard drückte seine Hände zur Seite und packte den mörderischen Stachel. Mit einem Ruck riß er ihn aus der Brust. Siri-Tong war jetzt auch zur Stelle und fing den hinsinkenden Krokodilmann mit auf. Gemeinsam betteten sie ihn auf den Untergrund.
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Die Farbe wich mehr und mehr aus dem Gesicht des Indianers. Auch ein dunkelhäutiger Mann konnte leichenblaß werden. „Verdammt!“ rief der Seewolf. „Können wir denn nichts tun? Warum hat er das bloß getan?“ Die Augen des Indianers wurden glasig. Er starb in ihren Händen, ohne letztes Aufbäumen, ohne Zucken, es war ein leiser und undramatischer Tod. Hasard war zutiefst erschüttert. Er blickte Siri-Tong in die Augen und las darin, daß auch an ihr der Selbstmord des Indianers nicht spurlos vorbeigegangen war. „Ich kann ihn nicht bedauern“, sagte er. „Sie wollten dich vergewaltigen und umbringen. Aber ich begreife nicht, wie er so weit gehen konnte. Es will mir einfach nicht in den Kopf.“ „Mir auch nicht“, gestand sie. „Eine derartige Reaktion habe ich bei einem Indianer noch nie gesehen. In einem Land, das dem meiner Ahnen nicht fernliegt, existiert ein Ritual, das diesem hier ähnlich ist, in Japan – aber hier, in der Neuen Welt…“ Hasard hatte den Kopf gewandt, während sie sprach. Er hörte nur noch mit halbem Ohr hin, denn zweierlei geschah. Der erste Indianer war zu sich gekommen und erhob sich vom Boden. Außerdem knackte und prasselte es im Unterholz, und die Stimme von Ferris Tucker ertönte. „Hasard! Siri-Tong! Zum Teufel, wo steckt ihr?“ „Hier!“ rief Hasard zurück. „Auf einer kleinen Lichtung.“ „Wir kommen!“ Das war Big Old Shane. Der Krokodilmann hatte einen flackernden, fast irren Blick. Er entdeckte das Blasrohr, das Hasard seinem toten Stammesgenossen aus den Händen getreten hatte und wollte sich darauf stürzen. Hasard federte hoch und stürmte auf ihn zu. Der Krokodilmann sah ein, daß er die Waffe nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Er wirbelte herum und hetzte auf den Busch zu, doch in diesem Augenblick drängten sich Ferris Tucker, Dan, Blacky, Batuti, Shane und Matt Davies daraus hervor.
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Mit einem Aufschrei warf sich der Indianer wieder herum. Er jagte mit geducktem Kopf zwischen Hasard, Siri-Tong und den Männern der ersten Gruppe dahin und wollte sich dorthin retten, wo das Dickicht noch nicht durch weiße Männer versperrt war. Hasard war schneller. Er brachte sich an die Seite des Mannes, stellte ihm ein Bein und streckte die Hände nach ihm aus. Vielleicht lag es daran, daß es bereits zu dunkel war, um die Gestalt des Indianers richtig zu erkennen. Vielleicht hatte auch die Verzweiflung den Krokodilmann plötzlich mit ungeahnter Schnelligkeit gewappnet. Jedenfalls gelang es ihm, noch einmal unter dem Zugriff des Seewolfes wegzutauchen. Er strauchelte zwar, stolperte vorwärts, fing sich aber wieder. Hasard raste ihm fluchend nach. Der Indianer wirbelte im Laufen herum. Wie er das tat, war ein Rätsel. Er hatte sein Messer gezückt und schleuderte es auf den Seewolf. Hasard duckte sich. Hinter ihm ließ sich Matt Davies reaktionsschnell zu Boden fallen, denn er hatte zum zweiter Male an diesem Abend den Tod drohend vor Augen. Das Messer sirrte über ihn hinweg zwischen Shane und Batuti hindurch und blieb dann irgendwo im Busch stecken. Hasard setzte alles daran, den Krokodilmann zu stellen. Inzwischen war der Kerl waffenlos wie sein toter Kumpan, aber Hasard schwante Fürchterliches. Er hätte es geschafft, und den Flüchtigen noch auf der Lichtung oder gleich zu Beginn des Dickichts gefaßt. Aber plötzlich vollführte der Indianer die gleiche Bewegung wie vor ihm sein Gefährte. Er krümmte sich mitten im Lauf, tat einen Satz, drehte sich mit verzerrtem Gesicht – und brach zusammen. Hasard war als erster bei ihm. Auch ihm riß er sofort den Giftpfeil aus der Brust, doch es nutzte nichts mehr. Auch diesem Mann war das tödliche Gift augenblicklich in den Blutkreislauf eingedrungen. Nichts und niemand konnte, ihm mehr helfen.
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„Verflucht“, sagte Shane, der die Situation mit einem Blick erfaßt hatte. „Der Kutscher muß her. Vielleicht kann er diesem Narren helfen.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Nein, Shane. Zündet eine Fackel an, Männer, und dann seht euch diesen Mann hier genau an.“ Sie taten es. Dan entfachte mit Feuerstein und Feuerstahl ein bißchen knisternde Glut, Blacky hielt eine Pechfackel hinein, und die Flamme loderte auf. Geisterhaft zuckende Helligkeit erfüllte die Lichtung. Die Dunkelheit hatte die Dämmerung abgelöst, ohne Hilfsmittel hätten sie jetzt nichts mehr erkennen können. Siri-Tong und die Seewölfe blickten auf den zweiten Indianer hinunter. Sie schauten in die gebrochenen Augen eines Toten. „Naja“, sagte Ferris Tucker. „Sie haben gekriegt, was sie verdient haben.“ Er blickte zu Siri-Tong, die sich beim Eintreffen der Gruppe natürlich sofort notdürftig bekleidet hatte. „Keiner kann von uns verlangen, daß wir auch noch Mitleid mit diesen Schurken haben.“ Hasard antwortete: „Nein, das nicht. Aber da ist etwas, was ich nicht verstehe. Wir haben es nicht zum erstenmal mit Indianern zu tun. Aber dies sind die ersten beiden, die sich selbst umbringen, statt sich gefangennehmen zu lassen. Es ist gegen ihre Gewohnheiten, begreift ihr das nicht?“ Matt Davies nickte. „Ich glaube, ich hab's kapiert. Einen Indianer kannst du martern, und er wird immer noch an seinem Leben hängen. Es ist schimpflich, sich selbst ins Jenseits zu befördern. Selbstmörder kommen nicht ins Paradies, oder wie die Indios es nennen.“ „Die Ewigen Jagdgründe, glaube ich“, sagte Dan O'Flynn. Und Batuti ergänzte: „Indianer bittet Gegner ihn zu töten, wenn kein Ausweg mehr.“ „Richtig“, erwiderte Hasard. „Und je mehr wir darüber reden, desto unerklärlicher wird mir das Ganze.“ Sie standen noch kopfschüttelnd und betroffen da, da ertönte ein Schrei aus dem Dschungel, der Tote wachrütteln konnte.
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„Das kann nur Carberry sein“, stellte Hasard fest. „Los, nichts wie hin. Dan und Batuti, ihr bleibt hier bei den Toten und haltet Wache. Schießt auf jeden, der sich nicht zu erkennen gibt.“ „Aye, aye“, sagte Dan. Hasard hatte eine zweite Fackel an sich genommen, die Shane inzwischen entzündet hatte. Er folgte dem Verlauf des Pfades, den die beiden Krokodilmänner vor kurzem in den Busch gehauen hatten. Die Flammen der Fackeln schlugen gegen die Blätter und Zweige über ihnen, aber der Wald fing kein Feuer, weil er mit Feuchtigkeit gleichsam getränkt war. Carberry brüllte wieder etwas, das wie „Hierher“ oder „Hilfe“ klang. Hasard orientierte sich an dem Laut. „Wir müssen vom Pfad abweichen“, sagte er. Damit begann er wieder, seinen Cutlass zu schwingen. Vorher, beim Kampf mit den Indianern, hatte er ihn in der Scheide steckengelassen, auch das war eine Frage der Fairneß. Er hatte Gefangene machen, aber nicht morden wollen. Er fühlte sich nicht als legalisierter Vollstrecker, auch nicht mit dem Kaperbrief der Königin von England in der Tasche. Wie der Zwischenfall mit den beiden Krokodilmännern abschließend verlaufen war, behagte ihm überhaupt nicht. Energisch säbelte er sich eine Bresche durch das dichte Unterholz und rief dabei: „Ed, wir kommen!“ „Hierher!“ drang es zurück. „Was ist denn los?“ „Wir haben was gefunden. Wie steht es um die Rote Korsarin?“ „Ich bin noch in einem Stück!“ rief nun Siri-Tong. „Bei allen Göttern, so ein Glück!“ dröhnte Thorfin Njals Stimme durch den Dschungel. Kurz darauf trafen die beiden Gruppen aufeinander. Das letzte Stück Weg hatten Hasard und seine Begleiter sehr rasch zurücklegen können, nicht zuletzt, weil sie jetzt auch den Lichtschein der Fackeln ausmachten, die Thorfin Njal, Edwin Carberry und deren Gefährten entfacht hatten.
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Die Gruppe zwei hatte sich an einem Bachlauf eingefunden, der kaum als solcher zu erkennen war. Hasard mußte erst dicht neben seinen Profos hintreten, um den schmalen Streifen glitzernden Wassers im Lichtkreis der Fackeln sehen zu können. Der Profos stand ganz dicht an dem zugewachsenen Ufer und senkte langsam seine Fackel auf die Entdeckung. Hasard hielt unwillkürlich den Atem an. Zu ihren Füßen lag ein Boot in dem engen Kanal festgeklemmt. Es war ein eigentümliches, rätselhaftes Kanu aus dunkelgelbem Flechtwerk, und auf seinem Boden ruhte eine jammervolle Gestalt, ein leichenblasser, ausgemergelter Mann, der sich offenbar nicht bewegen konnte. Nur seine Lippen öffneten und schlossen sich. „Mein Gott“, sagte Siri-Tong bestürzt. „Der arme Teufel. Was sagt er denn nur?“ „Ich verstehe ihn nicht“, murmelte Carberry. „Klingt wie spanisch, was er da von sich gibt, ist es aber nicht…“ „In Fremdsprachen warst du noch nie gut, Ed“, sagte Blacky. Er handelte sich den vernichtenden Blick des Profos' ein. Carberry konnte es nicht leiden, immer wieder mit seinen mangelnden Kenntnissen in dieser Richtung aufgezogen zu werden. Hasard beugte sich so weit vor, daß er ins Wasser abzurutschen drohte. „Aiutatemi, per favore – portatemi via – via di qui“, stammelte der Fremde. Er sprach so leise, daß selbst der Seewolf ihn kaum verstehen konnte. „Helft mir“, übersetzte er. „Bringt mich von hier fort.“ Er richtete sich wieder auf und löste den Strick, der das Reetboot hielt, von seinem Baumstamm. „Der Mann ist Italiener. Ich weiß nicht, was ihn so zugerichtet hat, aber wir müssen ihn auf jeden Fall sofort auf die ‚Isabella‘ schaffen. Folgendes: Der Bach fließt aller Wahrscheinlichkeit nach direkt in den Amazonas, also folgen wir ihm und nehmen das kleine Kanu dabei in Schlepp.“
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Er blickte sich um. Die Gesichter der Männer waren gemeißelt wirkende Reliefs im wabernden Schein der Fackeln. Plötzlich schienen sie wie ihr Kapitän zu spüren, daß sie hier etwas Ungeheuerlichem, kaum Faßbarem auf der Spur waren. „Einer von uns muß zu Dan und Batuti zurücklaufen“, sagte Hasard. „Matt, du übernimmst es. Du kennst ja den Weg. Ihr drei bestattet die beiden toten Indianer und sucht nach SiriTongs Waffen, die irgendwo auf der Lichtung oder an ihrem Rand liegen müssen, dann kehrt ihr ebenfalls zu den Schiffen zurück.“ „Aye, aye“, sagte Matt Davies. „Ich hoffe, daß wir nicht von Schlangen gebissen, von Krokodilen vernascht oder von einer ganzen Streitmacht von Indianern überfallen werden.“ „Du meinst, es stecken noch mehr solcher – Krokodilmänner hier im Busch?“ fragte Eike. Thorfin Njal sagte: „Sind wir Hellseher? Wir müssen auf alles gefaßt sein in diesem von allen Göttern verfluchten Dschungel.“ „Beeil dich“, sagte Hasard zu Matt. „Bei jeder unliebsamen Überraschung feuerst du sofort einen Schuß in die Luft ab, verstanden?“ „Aye, aye, Sir“, antwortete Matt noch einmal, dann war er mit einer Fackel im Unterholz verschwunden. Das Pflanzengewimmel war so dicht, daß der Feuerschein schon nach Sekunden nicht mehr zu sehen war. * Der große Strom war eine matt glänzende Fläche unter dem fahlen Mondlicht. Als die Seewölfe und die Siri-Tong-Piraten an der Mündung des kleinen Bachlaufes angelangt waren, konnten sie als erstes die Myriaden von Mücken sehen, die über dem Wasser tanzten. Sie wandten den Blick stromaufwärts und sahen die „Isabella“ und den schwarzen Segler vor Anker liegen, etwa eine halbe Meile entfernt. Die Schattenrisse der gewaltigen Schiffsleiber
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mit ihrem skelettartig aufragenden Mastwerk vermittelten etwas Majestätisches und gleichzeitig ungemein Beruhigendes. „Donnerkeil, so weit sind wir von unserer ursprünglichen Richtung abgewichen“, sagte Carberry. „Da kannst du mal sehen, wie man sich in diesem ScheißUrwald verirren kann“, erwiderte Ferris Tucker. „Los, weiter“, sagte Hasard. „Keine Müdigkeit vorschützen.“ Sie gingen dicht am Ufer entlang und zogen das Reetboot mit dem immer noch stammelnden, hilflos daliegenden Italiener hinter sich her. Sie trafen auf ihre Boote, lösten die Leinen, Schoben die Boote ganz ins Wasser und pullten zur „Isabella“ hinüber. Hasard hatte den Strick des Reetbootes achtern an seinem Boot belegt, so daß sie den Fremden mitschleppen konnten. Von Bord der Schiffe tönten ihnen Hallo-Rufe entgegen. Sie brauchten sich nicht zu erkennen zu geben, denn längst hatten die Zurückgebliebenen dank des Fackellichts ihre Gesichter erkannt. Wenig später versammelten sich alle auf der Kuhl der „Isabella“ um den Fremden. Hasard hatte ihn behutsam auf ein provisorisches Lager gebettet. Die Boote lagen an der Backbordseite vertäut; und auch von dem schwarzen Segler war ein weiterer Teil der Besatzung herübergepullt, um den Bericht des Seewolfes und Siri-Tongs zu hören. Nur ein paar Deckswachen waren drüben auf dem Viermaster zurückgeblieben. Aus dem Regenwald drang das ohrenbetäubende Gekreische der Papageien, das Schrillen, Heulen und Zirpen der tausend anderen Vogelsorten, eine dissonante Sinfonie, die ebenso rasch wieder aussetzen würde, wie sie begonnen hatte. Die Geräuschkulisse wurde durch das unausgesetzte, aber im Vergleich zu dem Gekreische fast bescheiden klingende Zirpen und Quaken der Zikaden und Frösche vervollständigt. Eine Wolke von Mücken, Fliegen, Faltern und durch die Luft taumelnden Käfern fiel über die Versammlung auf dem
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Oberdeck her. Doch es war zu heiß und zu stickig im Achterkastell, um es jetzt schon aufsuchen zu können. Deshalb ertrugen die Rote Korsarin und die Männer lieber das abscheuliche Treiben der Insekten. Zum erstenmal seit langer Zeit konnten sie wieder etwas Kühle genießen. Wenigstens das. Ein frischer Nachtwind umfächelte sie, er schien vom Meer zu kommen. Siri-Tong bemühte sich, das Ungeziefer von dem gelähmten Italiener fernzuhalten. Hasard hielt die triste Bilanz ihres Unternehmens, bevor er sich näher mit dem bedauernswerten Mann befaßte. Er schilderte, was geschehen war. Zum Schluß sagte er: „Und wir haben nur den Fisch, den Batuti geschossen hat. Kutscher, du wirst ihn nachher zubereiten. Wir alle werden nicht davon satt, aber wir teilen ihn in gerechte Portionen, damit jeder wenigstens etwas in den Magen kriegt.“ „Aye, Sir.“ „Sind der Rum und der Whisky noch genießbar?“ „Alkohol verdirbt nicht so schnell“, erwiderte der Kutscher. „Dann haben wir wenigstens etwas, das wir trinken können. Nachher kriegt jeder seine Ration. Nur eins: daß sich ja keiner besäuft! Wir müssen besonders die Nacht über auf Hut sein und doppelte Bordwachen einteilen.“ Der Seewolf atmete tief durch. „Morgen früh setzen wir unsere Wasser- und Proviantsuche fort.“ Der Kutscher beugte sich jetzt über den Italiener. Schon nach kurzer Untersuchung hatte er den kleinen, dornähnlichen Pfeil entdeckt, den der Mann im Fleisch stecken hatte. Mit einem Ruck zog er ihn aus der rechten Brustpartie hervor. Er sah zu Hasard, und aus seiner Miene war leicht abzulesen, was er dachte. Da war nichts mehr zu tun, aussichtslos. Hasard hätte am liebsten laut losgeflucht, aber er beherrschte sich. Der Blick des immer noch wachen Fremden ruhte auf seinem Gesicht. Der Mann wirkte nicht verzweifelt, er schien sich mit seiner Situation abgefunden zu haben.
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Hasard kniete sich neben ihn. „Du bist also auch an die Indianer geraten, mein Freund.“ Er sprach jetzt spanisch. Er konnte italienisch verstehen, sich in dieser Sprache jedoch nicht ausdrücken. „Verstehst du mich?“ „Ja“, erwiderte der Italiener schwach. „Ich bin des Spanischen mächtig. Mein Name ist Montanelli.“ „Ich heiße Philip Hasard Killigrew.“ „Der Seewolf?“ „Es scheint sich ja herumzusprechen, daß man mich so nennt.“ Montanelli brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Ja. Ich bin also auf einem englischen Schiff. Danke. Danke für das, was ihr für mich – getan habt. Ich…“ „Du solltest vielleicht lieber mit dem Reden aufhören“, sagte Hasard sanft. „Es schwächt dich nur noch mehr.“ „Kann ich – etwas Rum haben – oder Whisky?“ „Bill“, sagte Hasard. Bill, der Schiffsjunge, flitzte los wie der geölte Blitz und war binnen kürzester Zeit wieder zurück. Er trug eine volle Flasche in den Kreis der Männer. Der Kutscher nahm sie ihm ab und gab Montanelli von dem scharfen, hochprozentigen Schnaps zu trinken. Montanelli nahm nur kleine Schlucke. Er wußte, daß es ihn umbringen würde, wenn er zuviel Flüssigkeit trank. „Danke“, sagte er noch einmal. „Das belebt mich. Ich glaube, ich kann jetzt besser sprechen. Die beiden Krokodilmänner sind mit euch zusammengestoßen, nicht wahr? Ich beherrsche die englische Sprache kaum, aber soviel habe ich vorhin herausgehört, als du berichtet hast, Seewolf.“ „Ja. Die beiden wollten Siri-Tong vergewaltigen.“ Montanellis Blick huschte zu der Roten Korsarin. „Allmächtiger. Sie schrecken vor nichts zurück. Wo – wo sind sie jetzt?“ „Tot. Auf einer Lichtung. Meine Männer begraben sie.“ „Habt ihr sie…“
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„Nein“, sagte Hasard. „Sie brachten sich selbst mit ihren verdammten Pfeilen um, als sie sahen, daß die Partie für sie verloren war.“ „Ich verstehe.“ Hasards Stimme wurde eindringlich. „Aber ich nicht. Hör zu, Montanelli, du scheinst mehr über diese Kerle zu wissen. Laß uns deine Geschichte hören. Du kannst uns vertrauen.“ Der Italiener lächelte wieder, diesmal aber etwas schief, seine Mundwinkel sackten gleich wieder herunter. „Aber natürlich. Warum sollte ich Geheimnisse vor euch haben – nach dem, was ihr für mich getan habt? Ich weiß, daß es mit mir zu Ende geht. Langsam, aber sicher. Der Pfeil, den die Krokodilmänner mir verpaßt haben, ist…“ „…ein Betäubungspfeil“, sagte Hasard rasch. „Wir haben auf Little Cayman einmal mit solchen Dingern unangenehme Bekanntschaft geschlossen.“ Montanelli schüttelte den Kopf. „Du brauchst mir nichts einzureden. Ich weiß, wie es um mich bestellt ist. Hoffnungen habe ich nicht mehr. Ich bin ja nicht ohnmächtig geworden, sondern das Gift des Pfeiles hat mich sofort gelähmt. Eine Substanz mit Langzeitwirkung. Ich weiß nicht, wie viele Stunden mir noch verbleiben, aber irgendwann ist es aus.“ „Großer Gott“, flüsterte Siri-Tong. Sie faßte nach der mageren Hand Montanellis, die nach wie vor einen der beiden Rohlederbeutel umklammert hielt. Die andere Hand ruhte auf dem zweiten Beutel. „Ich will meine letzten Stunden nutzen, um euch alles zu erzählen“, fuhr der Italiener fort. „Eins vorweg. Die Indianer waren Späher, die jeden Eindringling fernhalten sollen. Sie hätten euch der Reihe nach getötet, wenn ihr euch nicht als stärker und schlauer erwiesen hättet.“ „Warum tun sie das? Aus Haß gegen die Spanier?“ sagte der Seewolf. „Nein. Chano befiehlt es ihnen.“ „Chano?“
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„Ihr Gott-Herrscher. Er hat ihnen auch diktiert, Selbstmord zu begehen, falls sie in die Enge getrieben werden und keine andere Lösung mehr sehen. Dennoch, so versichert er ihnen, werden sie in den Indianerhimmel und nicht in die Hölle kommen.“ „Wer ist dieser Chano?“ fragte Ben Brighton. „Ich spreche noch darüber“, erwiderte Montanelli. „Darf ich noch einen Schluck Rum haben?“ Diesmal setzte Siri-Tong ihm die Flasche an die Lippen. Sie gab sie ihm wie einem hilflosen Kind und war rührend um ihn besorgt, denn er erregte ihr tiefes Mitgefühl. Montanelli seufzte, als Siri-Tong die Flasche wieder wegnahm und ihm mit einem Tuch die Lippen abtupfte. „Ihr fragt, warum sie sich umbringen“, sagte er. „Nun, sie sollen keinem Feind verraten können, woher sie sind. Die beiden, die jetzt dort drüben auf der Lichtung des Urwalds ruhen, waren überdies sicher, daß die Lähmung des Pfeilgiftes auch meine Zunge beeinflussen würde.“ Plötzlich wurde er aufgeregt, seine Augen flackerten. „Sie haben sich geirrt. Ich bin der einzige, der euch verraten kann, wo Chano, der teuflische Chano, sich versteckt hält.“ „Ruhig“, besänftigte ihn Siri-Tong. „Ganz ruhig.“ „Chano – ein Spanier?“ fragte Hasard zurück. „Ja“, sagte Montanelli. „Deswegen verstanden die Eingeborenen mich, als ich sie auf spanisch anredete.“ „Gewiß. Übrigens gehören sie zum Stamm der Assurini, einem eigentlich friedlichen Volk, das ausgezeichnete Krokodiljäger hervorgebracht hat. Sie betreiben die Jagd auf den Schwarzalligator, den gefährlichsten aller Kaimane. Sie schmücken ihre Häupter mit den Trophäen. Das hat ihnen ihren Beinamen eingebracht.“ Montanelli atmete flach und unregelmäßig. Er mußte eine Pause einlegen. „Ich glaube, einen Zusammenhang begriffen zu haben“, sagte nun Hasard. „Chano – wer immer dieser Schurke ist – hat die
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Assurini beeinflußt, und sich zum selbsternannten Gott und Herrscher über sie erhoben. Ist es so?“ Montanelli nickte. „Es ist immer wieder das gleiche“, sagte Hasard ernst. „Sie gaukeln den Eingeborenen etwas vor, nutzen sie aus, berauben sie ihrer Schätze, ihrer Frauen, ihres Stolzes und erniedrigen sie zu ihren Handlangern.“ Der Italiener bestätigte auch dies durch eine Kopfbewegung. Plötzlich raffte er die beiden Beutel aus roh gegerbtem Leder um einen Deut näher an seinen Leib heran. Diese Geste und die Regungen seines Kopfes schienen die einzigen Bewegungen zu sein, die er noch tun konnte. „Nicht das ganze Nervensystem ist betroffen, aber die Macht des Giftes greift weiter und weiter um sich“, murmelte der Kutscher. Er sagte es auf englisch. Montanelli konnte es nicht verstehen. Aber Siri-Tong sah den Kutscher bestürzt an. „Diese beiden Beutel“, sagte Montanelli. „Ich kann sie nicht hochheben. Aber sie gehören dir, Seewolf. Dir und deinen Männern. Bitte – öffne sie.“ Hasard blickte zu Siri-Tong, und sie nahm dem armen Teufel den Beutel aus der linken Hand. Sie mußte regelrecht zerren, denn Montanellis Finger waren bereits zu sehr verkrampft. Es war ein entsetzlicher Moment für die Rote Korsarin, und sie hätte vor Verzweiflung weinen können. Sie hatte sich in den fürchterlichsten Schlachten erbittert mit jedem Gegner herumgeschlagen, aber das bedeutete nicht, daß ihr menschliches Empfinden abgestorben wäre. Hinzu kamen die Impulse weiblichen Denkens. Sie fühlte nicht mit Montanelli, sie litt mit ihm. Der Kutscher hatte den zweiten Beutel aus der Hand des Italieners gelöst. Hasard nahm beide entgegen, knotete die Riemen auf, die ihre Öffnungen zuhielten, und wies im Schein der Fackeln, Lampen und Laternen den Inhalt vor.
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„Mein lieber Mann“, sagte Carberry. „Goldschmuck, mit Diamanten besetzt. Das allerkostbarste Zeug, und beide Beutel sind bis zum Rand voll damit.“ „Die grünen Steine, das sind Smaragde“, stellte Siri-Tong fasziniert fest. Hasard wollte Montanelli Fragen stellen, aber es gab jetzt eine Unterbrechung, weil Dan O'Flynn, Batuti und Matt Davies drüben am Ufer erschienen waren und ihnen Signale mit ihren Fackeln gaben. „Drei Mann: Al, Bob und Luke“, befahl der Seewolf. „Entert ab und pullt mit unserem Boot zu ihnen hinüber.“ Die drei setzten sich augenblicklich zum Schanzkleid hin in Bewegung. Hasard beugte sich wieder über Montanelli. Dieser fuhr zu sprechen fort, bevor Hasard etwas äußern konnte. „Du willst wissen, woher ich den Goldschmuck habe. Nein, nicht von den Assurini, und auch nicht von Chano, diesem elenden Hund. Ich bin in einem Land gewesen, wie es eigentlich nur in einem Märchen existiert.“ Die Blicke der schwarzhaarigen Frau und der Männer hingen mit einem Mal an seinen Lippen, sie schienen sich daran festsaugen zu wollen. Montanellis Züge hatten einen entrückten Ausdruck angenommen. „Das Goldland. Jenes sagenhafte Land, in dem die Häuser aus massivem Gold bestehen und die Straßen mit Gold gepflastert sind, und wo es sogar goldene Boote und Schiffe gibt.“ Siri-Tong holte zweimal tief Luft, dann sprach sie es aus. „El Dorado.“
7. El Dorado – das Wort schwebte in der Luft, hing über ihnen und versetzte sie in eine eigenartige Stimmung. Es hatte schon viele Legenden über die sagenhafte Stätte gegeben – haarsträubende Geschichten, die allesamt von vorn bis hinten erfunden zu sein schienen. Unbestritten blieb, daß die
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spanischen Konquistadoren auf der Suche nach den Reichtümern in der Neuen Welt auf die Inkas gestoßen waren und deren Kultur zerstört hatten, wobei sie ihnen eben jenes Gold und Silber entrissen hatten, das für Europa so begehrenswert war. Francisco Pizarro hatte damit ein Reich unschätzbarer Reichtümer vernichtet, doch es schien noch ein anderes, eben dieses unentdeckte El Dorado zu geben. Zum erstenmal vernahm Hasard die Bestätigung aus dem Mund eines Mannes, der ihm glaubwürdig erschien. Montanelli zeigte wieder ein schwaches Lächeln. „Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Daß El Dorado nämlich nicht existiert. Aber ich schwöre es euch, ich selbst, das Reetboot und der Goldschmuck sind der Beweis dafür. Aber laßt mich von vorn beginnen.“ Hasard kontrollierte kurz die richtige Einteilung der doppelten Deckswachen, dann wandte er sich wieder dem todgeweihten Mann zu. Er, Siri-Tong, der Kutscher, Ben Brighton, alle, die keine Wache zu gehen hatten, setzten sich neben Montanelli hin. „Ich will mich so kurz wie möglich fassen“, sagte der Italiener. „Vor fünf Jahren verließ ich meine Heimat und zog nach Venedig, um mich dort irgendwie zu verdingen. Vor einem Jahr wurde mein größter Wunsch erfüllt. Ich durfte auf einer Galeasse anheuern, die den Atlantik überqueren sollte.“ Batuti, Dan, Matt sowie Al, Bo und Luke waren unterdessen mit dem Boot zurückgekehrt und enterten ebenfalls an Bord der „Isabella“ auf. Ferris Tucker drehte sich zu ihnen um und legte den Zeigefinger an die Lippen. Schweigend gesellten sie sich zu der Versammlung. Dan O'Flynn händigte der Roten Korsarin ihre Waffen aus, die er an der Lichtung wiedergefunden hatte. „Eine Galeasse“, wiederholte Hasard nachdenklich. „Eine jener großen Galeeren, die drei Masten führen, gut armiert sind und über einen Rammsporn am Vorsteven verfügen. In der Schlacht von Lepanto hatte dieser Schiffstyp seinen entscheidenden Einsatz.“
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„Du weißt gut Bescheid“, sagte Montanelli erstaunt. „Mein Vater war bei der Schlacht von Lepanto dabei. 1571. Er war ein Malteserritter, von dem algerischen Piraten Uluch Ali gefangengenommen, ein Galeerensklave unter der Knute des Feindes.“ Hasards Gesicht war hart geworden. „Aber er zerbrach sein Ruder, der Ritter Godefroy von Manteuffel, er ließ sich lieber halb totschlagen als die Muselmanen in die Schlacht zu führen. Er war ein Mann, wie man ihn unter Tausenden nicht findet.“ Montanelli stellte einen sinnlosen Versuch an, den Kopf zu heben. „Mir scheint, er hat in seinem Sohn einen vollwertigen Nachfolger zurückgelassen.“ „Das stimmt“, erwiderte Ben Brighton. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, mein Freund.“ „Aber zurück zu der Galeasse“, sagte Hasard. „Es ist das erste Mal, daß ich höre, ein solches Schiff sei in die Neue Welt aufgebrochen.“ Montanelli atmete etwas rascher. „Richtig. Erst als ich an Bord der Galeasse war – ich war der Kombüse zugeteilt –, erfuhr ich von der geheimen Mission, die unser Kommandant Della Latta ausführen sollte. Ein waghalsiges Unternehmen. Mir sträubten sich die Haare, obwohl ich das Abenteuer suchte.“ „Ich verstehe“, entgegnete Hasard. „Es war ein Experiment, mit einer Galeasse statt mit einer Galeone, Karacke oder Karavelle die Atlantiküberquerung anzutreten. Und noch etwas. Die Spanier durften nichts von eurem Vorhaben erfahren, denn sie haben die Welt ja längst aufgeteilt, nicht wahr?“ „Ich staune immer mehr, wie gut du unterrichtet bist“, sagte Montanelli. „Nicht, daß ich euch englische Korsaren für Einfaltspinsel halte, weiß Gott nicht. Aber was die Belange der Republik Venedig im Verhältnis zu Spanien betrifft, so kennen sich die wenigsten aus.“ „Wir haben uns auch im Mittelmeer aufgehalten, waren auf Malta beim Orden der Ritter des Heiligen Johannes und haben so manches erfahren“, erklärte ihm der Seewolf. „Es ist eine
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verrückte, wirre Welt, in der wir leben. Vieles muß geändert werden, und dafür kämpfen wir, Montanelli.“ In der Tat, Spanien gestattete es offiziell keiner Nation, auch den Mitgliedern der Heiligen Allianz nicht, sich etwas von dem großen Kuchen abzuschneiden. Durch die Vermittlung Papst Alexander VI. war bereits Ende des 15. Jahrhundert der Teilungsmeridian von Tordesillas vereinbart worden. Er verlief westlich der Kapverdischen Inseln und schnitt gerade noch Brasilien für Portugal von Amerika weg. Was westwärts dieses Längenkreises lag, sollte spanisch sein, östlich beanspruchte Portugal freie Hand. 1580 war Portugal jedoch spanisch geworden, so daß nun alles König Philipp II. und dessen Landsleuten gehörte. Die spanische Macht indessen verkörperte die Casa de Contractacion, jenes Marineamt, das König Ferdinand und Königin Isabella im Jahre 1503 geschaffen hatten. Die Casa hatte ihren Sitz in Sevilla, sie war Kontor und Kontrollbehörde für den Handel mit der Neuen Welt – und durch und durch korrupt, voller bestechlicher Beamten, Intriganten, Betrüger und Diebe, die so viel wie irgendmöglich in die eigene Tasche arbeiteten. Es war also – aus Spaniens Sicht betrachtet – alles andere als rechtmäßig, was die Männer der Galeasse da unternommen hatten. Auf eigene Faust waren sie aufgebrochen, im geheimen Auftrag einer Republik, der eigentlich nicht der Sinn danach stand, mit Philipp II. einen Streit vom Zaune zu brechen. „Warum?“ fragte Hasard. „Warum das alles, Montanelli?“ „Wir sollten einen schiffbaren Weg quer durch die Neue Welt finden und neue Länder entdecken. Auf den Spuren von Amerigo Vespucci. Venedigs Beitrag zur Erforschung der Weltkugel. Verstehst du jetzt?“ „Ja. Wäre es euch gelungen, dann hätte Spanien nicht umhin gekonnt, Venedig ein Lob auszusprechen und es vielleicht an dem großen Zusammenraffen der Schätze hier zu beteiligen.“ „So ungefähr.“ „Aber ihr nahmt den falschen Kurs…“
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„Della Latta glaubte, der Amazonas sei kein Fluß, sondern eine Meerenge, die quer durch den Kontinent verläuft. Unsere Expedition führte vor acht Monaten, zum Ende der Regenzeit, den Amazonas hinauf. Und sie endete sehr rasch.“ „Die Krokodilmänner“, sagte Siri-Tong. Montanelli sah sie an. „Sie überfielen uns, etwa eine Tagesreise von hier entfernt. Es geschah während der Nacht. Wir ankerten viel zu nah am Ufer, sonst hätten sie uns nicht so leicht überwältigen können, zumal Chano, dieser Lump, sie keine Boote benutzen läßt. Auch die beiden Späher, die jetzt tot sind, hatten keinen Einbaum. Chano befürchtet immer noch, der eine oder andere von ihnen könne eines Tages fliehen und herumerzählen, welch grausiges Regime er errichtet hat.“ „Was geschah mit den Männern der Galeasse?“ fragte Hasard. „Etwa ein Drittel wurde getötet.“ „Auch Della Latta?“ „Nein. Er wurde mit uns anderen gefangengenommen. Wir wurden an Land gebracht, und wir lernten Chano kennen, einen Kerl mit langem schwarzen Haar und schwarzem Bart. Er ist ein Abtrünniger der Spanier, wenn seine Landsleute ihn jemals erwischen, stellen sie ihn vor Gericht. Darum ist er so sehr bemüht, daß nichts über ihn und sein Tun nach außen dringt.“ Hasard schnitt eine Grimasse. „Das kann ich mir gut vorstellen. Fern des Zugriffs der Krone und sämtlicher Autoritäten hat er sich hier ein Nest geschaffen, das er um jeden Preis verteidigen wird. Ist es so?“ „Ja“, sagte Montanelli. Das Sprechen bereitete ihm jetzt immer mehr Schwierigkeiten. „Er gehörte seinerzeit zu einer Expedition von zwanzig Spaniern, die weiter flußaufwärts nach Siedlungen suchen sollten, die sie überfallen und besetzen konnten. Chano spricht nie darüber, aber einer der Assurini erklärte uns während unserer Gefangenschaft, der Trupp Spanier sei damals von Amazonen überfallen worden. Chano konnte sich als einziger in den Dschungel retten, wurde von den Krokodilmännern gefunden, aufgepäppelt und wegen seiner Feuerwaffen und seiner Rüstung wie ein Gott verehrt.“
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„Ein prächtiger Vogel“, sagte Carberry grimmig. „Mit dem würde ich mich gern mal näher unterhalten.“ „Er hat sich von den Assurini eine Zitadelle bauen lassen“, fuhr Montanelli hastig in seinem Bericht fort. „Und wir mußten mithelfen, aus einer felsigen Gegend Quader heranzuschaffen und zu Mauern aufzuschichten. Eine Sklavenarbeit.“ „Wem sagst du das!“ warf Old O'Flynn ein und dachte noch voll Schaudern an die Zeit auf der Teufelsinsel. „Die Krokodilmänner sind unter Chanos Fuchtel zu mordenden Bestien geworden“, flüsterte Montanelli. „Das ist ein großes Unrecht. Sie tun alles, was der Spanier ihnen befiehlt. Und meine Landsleute – sie befinden sich immer noch in der Zitadelle. Dort werden sie einen elenden Tod finden. Du mußt ihnen helfen.“ „Ich verspreche es dir“, sagte Hasard. „Aber wie finden wir zu der Zitadelle?“ „Es gibt einen versteckten Nebenarm, der schiffbar ist. Wir hatten damals das Pech, ausgerechnet vor dem zugewachsenen Einlaß zu ankern. Ich beschreibe dir jetzt, wie ihr hinfindet.“ Er sprach noch leiser, Hasard mußte sich über ihn beugen, um etwas zu verstehen. Montanelli lieferte ihm Anhaltspunkte, an denen er sich orientieren konnte. „Die Galeasse“, wisperte er am Ende. „Sie ankert wahrscheinlich noch immer dort – auf dem Nebenarm – sie – ist jetzt Chanos Schiff. Gold und Silber hat er in der Zitadelle – gehortet. Er feiert Orgien mit den Assurini-Mädchen, mißhandelt sie, tritt seine Sklaven, wenn es ihm in den Sinn kommt. Die Männer der Galeasse – wir alle – es war unsere Schuld, daß wir in Chanos Fänge gerieten – aber…“ Seine Augen schlossen sich. Siri-Tong stieß einen Laut des Entsetzens aus. Hasard und der Kutscher beugten sich augenblicklich über den Toskaner, lauschten an seiner Brust, fühlten seinen Puls. „Aus“, sagte die Rote Korsarin. „Allmächtiger, warum nur…“
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„Nein“, sagte der Kutscher, indem er sich aufrichtete. „Er lebt noch und ist nur bewußtlos geworden. Es ist nicht das Gift, das ihn hat ohnmächtig werden lassen, sondern die Schwäche.“ * Hasard erhob sich mit einem Ruck. „Kutscher, Blacky und Batuti, ihr schafft diesen armen Teufel sofort in meine. Kammer. Es ist jetzt kühl genug, man kann auch dort atmen, wenn man die Fenster öffnet. Blacky und Batuti, ihr haltet Wache bei Montanelli' und laßt euch nach vier Glasen von Shane und Luke Morgan ablösen. Kutscher, du marschierst von meiner Kammer aus ab in die Kombüse. Bereite den Fisch zu, den Batuti erlegt hat. Die größte Portion erhält Montanelli, verstanden?“ „Aye, aye, Sir!“ Carberry hatte mit der Crew gesprochen, jetzt wandte er sich dem Seewolf zu und sagte: „Hasard, wir sind uns einig. Wir können auch noch einige Zeit länger Kohldampf schieben. Montanelli kriegt den ganzen Fisch, verdammt noch mal, es wird wohl das letzte Vergnügen in seinem Leben sein.“ „Das Gift wirkt langsam. Die Indianer sollten ihn lebend zu Chano zurückbringen, damit dieser ihn quälen konnte“, sagte Hasard. „Nein, es gibt keine Rettung mehr für den Toskaner.“ Siri-Tong sah ihre Mannschaft an. „Hat von euch jemand Appetit auf Fisch?“ „Nein“, tönte es im Chor zurück. Juan trat vor und sagte: „Wir alle haben große Lust, diesem Chano das Handwerk zu legen. Muß ja wirklich eine Bestie sein, dieser Kerl.“ Hasard blickte sich forschend um. „Wir sind uns also alle einig? Gut, dann hört zu. Wir verteilen uns auf unsere beiden Schiffe und gehen sofort ankerauf. Wir haben noch genug Wind, um die Strömung auszusegeln. Außerdem segelt es sich bei Nacht besser – oder ist jemand anderer Meinung?“ Keiner meldete sich.
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„Dann los!“ rief Hasard. „Wir wissen, daß die Wassertiefe mindestens bis zum Nebenarm, an dem Chanos Zitadelle liegt, schiffbar bleibt. Wir halten uns in Flußmitte und segeln auf Teufel komm 'raus, Männer. Jawohl, diesem Spanier, der sich einbildet, ein Gott zu sein, werden wir es zeigen!“ Er senkte die Stimme etwas. „Und noch was. Natürlich haben Chano und seine Assurini ausreichend Verpflegung und Trinkwasser. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe – falls nichts schiefläuft. Wir können uns in der Zitadelle mit Proviant versorgen, nachdem wir die Venezianer herausgehauen haben.“ Während Siri-Tong, die Wikinger und die Piraten in ihre Boote abenterten und zum schwarzen Schiff hinüberpullten, unternahm Hasard einen Abstecher in die Kapitänskammer der „Isabella“. Der Kutscher war bereits in Richtung Kombüse verschwunden. Blacky und Batuti hielten im Licht einer Öllampe an Hasards Koje bei Montanelli Wache. Blacky sah seinen Kapitän an. Nichts Neues, stand in seinem Blick zu lesen. Hasard betrachtete den zerschundenen, vom schleichenden Tod gezeichneten Mann aus dem fernen Italien. „Über El Dorado hat er uns genausowenig erzählen können wie über die Herkunft und Bedeutung des Reetbootes“, sagte er versonnen. „Wenn er nicht wieder aufwacht, wird er dieses Geheimnis mit sich über die düstere Schwelle ins Jenseits nehmen.“ * Zwei erhabene Silhouetten glitten mit geblähten Segeln auf dem „Amacunu“, dem größten aller Ströme, voran. Hasard hatte mit seiner Vorhersage recht behalten, der Wind drückte sie energisch voran. Er schien die grimmige Entschlossenheit der Seewölfe und Siri-Tong-Piraten zu verkörpern, aber es half ihnen noch ein anderer Umstand, der die Fahrt der Schiffe beschleunigte: die Flut.
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Das auflaufende Wasser drang jetzt von See aus tief in die vielen verästelten Flußläufe ein und schob mit sich, was sich gerade in ihm befand. Der Seewolf stand neben dem kleinen Reetboot, das sie auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ festgezurrt hatten, und dachte darüber nach. Irgendwann, irgendwo mußte das auflaufende Seewasser mit der Strömung des Amazonas kollidieren. Es sollte eine Nacht voller Überraschungen werden. Als der große Fisch, den Batuti „beschafft“ hatte, gar war, trug der Kutscher ihn in die Kapitänskammer. Aber Montanelli war noch nicht ins Bewußtsein zurückgekehrt. „Ich stelle den Fisch warm“, sagte der Kutscher betrübt. „Einige Zeit wird er sich halten.“ Hasard, der ihn ins Achterkastell begleitet hatte, sagte: „Tu das. Wie groß ist die Versuchung, einen Happen zu probieren, Männer?“ „Wir halten es noch zwei bis drei Tage so aus“, entgegnete Blacky. „Wir sind doch keine Waschlappen. Kutscher, paß bloß auf, daß Arwenack sich nicht an dem Fisch vergreift.“ „Ach, Unsinn, der mag lieber süßes Zeug“, erwiderte der Kutscher, dann ging er wieder. Blacky sah seinen Kapitän an. „Du brauchst es nicht extra zu sagen. Sobald Montanelli die Augen aufschlägt, flitze ich los und rufe dich.“ „In Ordnung, Blacky.“ Hasard ging langsam aufs Oberdeck zurück. Seine Gedanken kreisten mehr um das Zauberwort El Dorado als um die Zitadelle des Chano. Es war eigenartig, welche Anziehungskraft die bloße Nennung des Begriffes auf ihn hatte. El Dorado – das Goldland! Carberry stand unterdessen mitten auf der Kuhl und schaute nach der richtigen Segelstellung und allem anderen, über das sich möglicherweise meckern ließ. Aber es gab nichts zu bemängeln. Die „Isabella“ rauschte mit Backstagswind dahin
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und lief gute Fahrt, alle Segel standen einwandfrei, alle Fallen waren klariert, Takelage und Deck tipptopp in Ordnung – es war eine Zier. Der Profos stieß einen leisen, grunzenden Laut aus und begab sich aufs Achterdeck. Ferris Tucker, Shane und Old O'Flynn befanden sich bei Pete Ballie im Ruderhaus. Carberry hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Er trat ganz nach achtern an die große eiserne Hecklaterne der „Isabella“ und schaute zum schwarzen Segler, der das phosphoreszierende Kielwasser der Galeone mit seinem mächtigen Bug zerschnitt. Carberry war betrübt. Wenn es nichts zu fluchen gab, bereitete ihm die gesamte Seefahrt keinen Spaß. Das Leben ist wie 'ne Hühnerleiter, dachte er, von oben bis unten beschissen. In diesem Augenblick vernahm er ein schwaches Flattern in der Luft, direkt über sich. Unwillkürlich duckte er sich. Er hatte vom Boston-Mann vernommen, daß es Vampire geben solle, Blutsauger, die sich auf Menschen setzten und ihnen den Lebenssaft abzapften – in der Nacht! Tatsächlich, etwas schwirrte auf ihn nieder und krallte sich auf seiner Schulter fest. Es zappelte und krächzte ein bißchen und zwackte ihn am rechten Ohr. „O Himmel, Arsch und Zwirn“, legte der Profos los. „Hau bloß ab, du verfluchtes Biest. Zeig die Hacken, verkrümel dich, oder ich zieh dir die Haut in Streifen ab, und zwar von deinem verdammten Affenarsch…“ Ein verhaltenes Lachen ließ ihn herumfahren. Da standen sie und grinsten wie die Teufel: Shane, Ferris, Old O'Flynn, Ben Brighton. „Papageienarsch wolltest du wohl sagen“, meinte Shane. „Himmel Ed, wie kann man so einem Tierchen was Schlechtes wollen.“ „Oder Angst davor haben“, sagte Old O'Flynn kichernd. Carberry warf einen Blick nach rechts. Ihm fielen fast die Augen aus den Höhlen, als er sah, was ihm da auf der Schulter hockte
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und immer noch vergnügt an seinem Ohrläppchen herumzupfte – wirklich ein Papagei, kein Vampir. Ein krummschnabeliger Vogel, der Gott und die Welt nicht zu fürchten schien, sonst hätte er sich nicht ausgerechnet Edwin Carberry als Landeplatz ausgesucht. Aus zusammengekniffenen Augen registrierte Carberry weitere Einzelheiten des Tieres. Es war groß wie eine normale menschliche Hand, nicht ganz so groß wie die Pranken, die der Profos als seine Hände bezeichnete. Die Farbe des Papageis war karmesinrot, soweit das Licht der Hecklaterne eine exakte Festlegung gestattete. „Also, das haut doch dem Faß den Boden aus“, sagte Carberry verdattert. „Bleib ruhig, Ed“, sagte Ben. „Er hackt dir bestimmt kein Auge aus.“ Carberry entsann sich der Worte des alten Donegal. „Pa!“ sagte er. „Angst. Ich und Angst? Ihr habt sie ja nicht alle, ihr miesen Kanalratten.“ Hasard war inzwischen zu den Männern getreten und schaute ebenfalls amüsiert zu, wie der Profos sich mit dem Papagei unterhielt. „So, und jetzt verschwinde wieder“, sagte er soeben. „Wir können dich hier nicht gebrauchen, verstanden?“ „Kra-ah“, äußerte sich der Papagei – und blieb hocken. „Verduften sollst du, wir haben schon genug Viehzeug an Bord!“ Der Papagei kraulte Carberry am Ohrläppchen, daß es kitzelte. „He, ho!“ rief Carberry, und „Mensch, laß das“, dann brauste er auf: „Zum letztenmal, kratz die Kurve, sonst dreh ich dir den Hals um, du Satansbraten!“ Hasard trat zwei Schritte vor und musterte ihn streng. „Hör mal, Ed, das ist ein ganz junges Tier. Vielleicht hat es sich verirrt. Womöglich findet es nicht in den Wald zurück, wenn du es einfach wegstößt. Sei doch nicht so herzlos.“ Carberry wurde verlegen. „Ich Sir…“
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„Außerdem mag der Papagei dich, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock.“ „Mich?“ Carberry wußte gar nicht, wie ihm geschah. Plötzlich fühlte er sich veranlaßt, die Hand auszustrecken und dem kleinen karmesinroten Papagei den Kopf zu streicheln. Der Vogel ließ es geschehen. Er knabberte an den stämmigen Fingern des Profos' herum, gab einen gackernden Laut von sich, schmiegte sich an die Hand, die ihn wärmte – und Edwin Carberrys Herz zerfloß geradezu vor Rührung. O, er mochte Tiere ja, obwohl er's nicht zugeben wollte. Beispielsweise fluchte er dauernd über Arwenack, aber wenn dem Affen jemand an den Kragen wollte, wurde er wütend. Und damals, vor den Kykladen, als sie die schwarz-weiße Katze Micia aufgefischt hatten – war ihm da nicht auch ganz schwummrig zumute gewesen? „Du kleiner Schelm, du“, sagte er zu dem Papagei. Old O'Flynn kicherte wieder, und Carberry fuhr zu ihm herum und blaffte ihn an: „Was ist denn mit dir los? Haben dich die Schnaken gestochen? He, ihr!“ Er meinte Ferris, Shane und Ben. „Was glotzt ihr so blöd? Hier gibt's nichts zu gaffen.“ Er wandte sich Hasard zu. „Möglich, daß der Papagei mal einem Indianer gehört hat oder so. Weil er so zutraulich ist, meine ich.“ „Es kann auch Zufall sein, daß er bei uns gelandet ist und Freundschaft mit dir geschlossen hat“, erwiderte Hasard lächelnd. „Du hast eine rauhe Schale, aber darunter sitzt ein weicher Kern, Profos. Das wird er wohl gespürt haben.“ „Ich – ehm, ich wüßte schon einen Namen für ihn.“ „Eben wolltest du ihn noch über Bord schmeißen.“ „Aber jetzt – Sir, ich bitte um Erlaubnis, den Papagei behalten zu dürfen.“ Es fehlte nicht viel, und Carberry stand stramm. Hasard nickte ernst. „Dem Antrag wird stattgegeben, Profos.“ „Was die Taufe betrifft, Sir…“ „Nun spuck's schon aus, Ed!“ rief Big Old Shane.
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„Sir John würde ich ihn nennen“, platzte Carberry heraus. „Jawohl: Sir John.“ Hasard zog die Augenbrauen hoch. „Nach meinem geliebten Alten, Sir John Killigrew von Arwenack-Castle? Warum, wenn man fragen darf?“ „Na ja, der läuft auch immer so rot an wie das Federvieh hier, und außerdem hat er die gleiche aufdringliche, rauhbeinige, krächzende Art am Leib“, meinte der Profos. Hasard konnte nicht anders, er mußte lachen.
8. Es verging ihm und zwar gründlich. Die Episode mit dem karmesinroten Papagei sollte die einzige erfreuliche Überraschung dieser Nacht bleiben. Etwa eine halbe Stunde, nachdem das Tier dem Profos zugeflogen war, nahm das Rauschen des Stromes schlagartig zu. Es steigerte sich zu einem Grollen und Brüllen, und gleichzeitig gerieten die Decks der „Isabella“ und des schwarzen Seglers in tanzende, schlingernde Bewegung. Der Fluß tobte und schäumte, wie die fluchenden Männer im Mondlicht erkennen konnten. Er bäumte sich auf, schien total verrückt geworden zu sein, hob die Segler auf gischtende Wogenkämme und ließ sie in enge, düstere Täler hinuntersausen – wie draußen auf See mitten im dicksten Sturm. Hasard wurde von dem Ausbruch der Naturgewalten überrascht, als er sich gerade auf dem Quarterdeck befand. Er wurde glatt von den Beinen gerissen. Verzweifelt suchte er nach Halt und trachtete, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, aber es glückte nicht. Er fiel hin und schlidderte über Deck. Erst am Steuerbordschanzkleid war die Reise zu Ende. Er wetterte, war wie von Sinnen, aber das brachte ihm nichts ein. „Festhalten!“ schrie er gegen das Brüllen und Orgeln an. „Paßt auf, daß ihr nicht außenbords geht!“ Kein Zeit, Manntaue zu spannen oder andere, ähnliche Vorkehrungen zu treffen, wie sie vor dem Aufziehen eines
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Wetters üblich waren. Ganz plötzlich war dieses Wüten des Flusses da, unerwartet – es traf sie wie aus heiterem Himmel. Carberry klammerte sich mit der einen Hand an einer Nagelbank des Achterdecks fest, in der anderen hielt er den kreischenden Papagei Sir John. Shane, Ferris und Old O'Flynn hielten sich gegenseitig fest. Ben Brighton hatte es fertiggebracht, sich ins Ruderhaus zu retten. Unter Deck herrschte Gepolter, auf der Kuhl wirbelten mehrere Gestalten durcheinander. Hasard sah nicht genau, um wen es sich handelte, aber er wußte, daß es die Männer der zweiten Deckswache waren – und Bill befand sich bei ihnen, Bill, ihr Schiffsjunge! Ein Körper wurde gegen das Steuerbordschanzkleid der Kuhl geschleudert, richtete sich daran hoch und kriegte das Übergewicht nach hinten. „Bill!“ schrie Hasard. Bill kippte über die Handleiste des Schanzkleides weg. Matt Davies und Al Conroy waren in seiner Nähe, hechteten sich zu ihm hinüber, packten jedoch zu spät zu. Bill fiel außenbords zu den Kaimanen, den Piranhas, den Rochen, den giftigen Würmern und den kleinen Fischen, die Stacheln hatten und sich in allen möglichen Öffnungen einzunisten pflegten. Hasard zögerte keine Sekunde. Er erhob sich auf seinem taumelnden Schiff, flankte übers Schanzkleid und folgte Bill auf dem Weg in die Hölle. Kopfunter raste er an der dunklen Steuerbordseite der „Isabella“ vorbei und stach in die kochenden Fluten. Hasard tauchte, glaubte, bis auf den Grund zu gelangen, erreichte ihn jedoch nicht. Er fühlte etwas Glitschiges zwischen seinen Fingern hindurchgleiten und wußte nicht, was es war. Er drehte sich, erhielt Auftrieb, schoß an die Oberfläche zurück, steckte den Kopf aus dem Wasser und hielt nach Bill Ausschau. Der Junge war nicht mehr zu sehen.
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Es war lange her, daß Hasard derartige Panik empfunden hatte. Bill, ausgerechnet Bill! Seinem sterbenden Vater hatte er geschworen, sich um den Jungen zu kümmern, ihn an Bord seines Schiffes zu nehmen und einen guten Seemann aus ihm zu machen. Aber dazu gehörte Hasards Meinung nach auch, ihn zumindest in der ersten Zeit zu beschützen. Es war seine Pflicht! Er garantierte mit seinem Leben für das Leben des Jungen. Auf der Isla del Diablo, in der Gefangenschaft der Spanier, hatte er es fertiggebracht, ihn zu retten, aber hier? „Bill!“ brüllte Hasard gegen das Brausen des Amazonas an. Irgendwo, mittendrin in dem sprudelnden Inferno, tauchte urplötzlich der Kopf mit dem schwarzen Haarschopf auf. Hasard schwamm los. Er legte alles hinein in diesen Vorstoß, seine ganze Kraft, sein Vermögen als Kapitän, Korsar und Alleinverantwortlicher eines stolzen Schiffes. Er schwamm wie selten zuvor und gelangte bei dem Jungen an, bevor dieser wieder untergehen konnte. Er packte ihn, drehte sich im Wasser und schleppte ihn mit einem Rettungsgriff ab, den er sich selbst beigebracht hatte, als er noch ein Junge wie Bill gewesen war. Zur „Isabella“ hin – die Crew brüllte aus vollen Lungen, sie brachte eine Jakobsleiter und Taue aus. Sie tat alles, um die Aktion des Seewolfes zu unterstützen. Hasard wußte, daß die Krokodile sich diesem tosenden Pandämonium fernhalten würden, aber er hatte die ganze Zeit über den Eindruck, es zerre und zupfe an ihm. Die Piranhas. Waren sie es wirklich, oder spielten seine Nerven ihm einen Streich? Hasard stieß gegen die Bordwand der „Isabella“ und griff nach den Tauen. Eins kriegte er zu fassen. Sofort zerrte er sich halb aus dem Wasser hoch, schleifte Bill mit, setzte irgendwie den Fuß auf die unterste Sprosse der Jakobsleiter und enterte auf. Bill spuckte plötzlich einen dicken Schwall Wasser aus. Er japste, drehte sein Gesicht Hasard zu und sagte: „He, Kapitän, ich kann auch selbst klettern.“
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In einer Mischung aus Verwunderung und Staunen sah Hasard, wie das Bürschchen vor ihm die Jakobsleiter hochhangelte. Bill traf also vor ihm wieder auf der Kuhl ein. Johlend nahm die Crew ihn in Empfang. Hasard kletterte übers Schanzkleid, hielt sich fest und blickte kopfschüttelnd zu diesem bereits so kühnen Jungen, der sich den erlittenen Schrecken nicht im geringsten anmerken ließ. Das Tosen ließ nach, die „Isabella“ schaukelte und schwankte noch, strich etwas später jedoch schon wieder ruhiger durch die Fluten. Hasard konstatierte etwas Merkwürdiges: Der Wind hatte vorher überhaupt nicht zugenommen und blies auch jetzt mit der gleichen Beständigkeit wie zuvor, frisch bis handig, aber nicht stürmisch. „Profos?“ rief Hasard zum Achterdeck hoch. „Sir?“ „Ein Lichtsignal zum schwarzen Schiff geben und fragen, ob dort alles wohlauf ist!“ „Aye, aye, Sir!“ Hasard wartete nicht ab. Er lief zum Kutscher und ließ ihn Bill untersuchen. Bill sträubte sich zwar, weil er die Visite als Schmach empfand, aber Hasard kannte kein Pardon. Der Kutscher pflückte Bill dann tatsächlich auch ein paar unansehnliche Gebilde von den Beinen ab. Mit einem Fluch schleuderte er sie außenbords. „He!“ schrie Bill. „Was war denn das?“ „Blutegel“, erwiderte der Kutscher nüchtern. Bills Gesichtsfarbe wechselte von rot auf kalkweiß. „Hölle und Teufel – davon hab ich ja gar nichts bemerkt!“ Hasard hatte sich inzwischen selbst abgetastet und sich auch von zwei, drei Blutegeln befreit. „Wir können noch froh sein, daß uns die Piranhas nicht gepackt haben. Und ich nehme auch nicht an, daß wir irgendeine Krankheit aus dem Fluß mitgebracht haben. Wir sind zu kurze Zeit dringewesen.“
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Carberry hastete vom Achterdeck herüber. „Drüben bei der Roten Korsarin ist alles in Butter. Keine Verletzten, keine Schäden am Schiff. He, Bürschchen, bist du wohlauf?“ Bill, der Angesprochene, blickte hinter sich. „Wen meinst du?“ „Dich natürlich, du Hering“, grollte Carberry. „Ich bin kein Bürschchen.“ Bill wandte den Kopf und blickte den Profos offen an, aber ehe sich dieser in einem seiner cholerischen Ausbrüche üben konnte, sagte Bill: „Mann, was hältst du denn da in der Hand?“ Carberry schaute auf den Papagei, den er inzwischen beinahe vergessen hatte und zu zerquetschen drohte. „Das ist Sir John“, sagte er mit Würde. „Er bleibt bei uns an Bord, und wem's nicht paßt, der kriegt was aufs Dach.“ Später, als sich die komplette Crew auf der Kuhl eingefunden hatte, lieferte Hasard die Erklärung für das jähe Wüten des Stromes. „Ich dachte mir, daß etwas geschehen würde“, sagte er. „Aber ich glaubte nicht, daß es so heftig erfolgen würde. Es war die 'Pororoca', wie sie die Indianer nennen, die große Flutwelle, der 'Wolkenwasserlärm'. Ben, sieh doch mal zum Himmel. Was fällt dir da auf?“ „Daß wir Vollmond haben“, antwortete Ben Brighton prompt. „Eben. Und bei Vollmond ist der Tidenhub besonders groß. Die Wassermassen des Amazonas sind mit der landwärts rollenden Springflut des Meeres zusammengeprallt, der Fluß hat sich mit einer brüllenden Wasserwand gegen sich selbst gekehrt. Die Pororoca ist an uns vorbeigerast, hat uns überholt und jagt vor uns her.“ „Der Teufel soll sie holen“, sagte Carberry, und die anderen Männer dachten das gleiche. Die „Isabella“ und das schwarze Schiff setzten ihre Fahrt durch die Dunkelheit fort, weiter nach Südwesten. Unzählige Gefahren lauerten in der Nacht. Der Strom war ein blindwütiger Riese, der alles ertränkte, der stickige Regenwald atmete Menschenfeindlichkeit.
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Die Männer waren froh, als endlich der Morgen nahte. * Der neue Tag brachte wieder Hitze, Entbehrungen, Hunger, Durst, Ungewißheit und dumpfe Ahnungen. Das ablaufende Wasser stoppte die Fahrt der Schiffe, aber später half ihnen eine neue, diesmal sanft ausfallende Flutwelle wieder weiter. Montanelli war auf Hasards Befehl hin ganz dicht an die offene Tür der Kapitänskammer gebettet worden, die auf die Heckgalerie hinausführte. So konnte er auch in der größten Mittagshitze atmen. Er war zu sich gekommen und hatte den Fisch verzehrt und wieder einen Schluck Whisky getrunken, hatte Hasard aber nur einige ergänzende Erläuterungen über die Zitadelle liefern können. Danach war er wieder ohnmächtig geworden. Keine Hinweise auf El Dorado… Am späten Nachmittag stand Hasard auf dem Achterdeck und sah durch das Spektiv die Kennungen, die Montanelli ihm bezeichnet hatte. „Drei gewaltige aus dem grünen Meer aufragende QuebrachoBäume“, murmelte er. „Eine Lagune, in der man Ibisse beobachten kann. Es stimmt alles.“ Eine Stunde später ließ er rund fünf Meilen weiter flußaufwärts ankern. Blaßroter Himmel spannte sich wie ein riesiges Zelt über den Amazonasniederungen. Die ersten Schleier der Dämmerung fielen. Hasard hatte eine kleine Bucht ausgesucht, in die sich die beiden Schiffe verholen ließen, die Wassertiefe war gerade noch ausreichend. „Montanelli hätte uns nicht mehr groß darauf hinzuweisen brauchen“, sagte er zu seiner Crew. „Natürlich lauern an dem zugewachsenen Einlaß des Nebenarmes die Krokodilmänner. Sie haben uns längst entdeckt und warten jetzt ab, wie wir uns verhalten. Ich habe eine erste List angewandt, indem ich an dem Nebenfluß vorbeigezogen bin.“
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„Und jetzt?“ sagte Ferris Tucker. „Jetzt müssen wir doch dorthin zurück. Wenn wir die Boote nehmen, sind wir für diese Indianer immer noch bestens zu sehen, auch bei Nacht. Sie können uns im Mondlicht prächtig abschießen.“ „Stimmt“, entgegnete der Seewolf. „Deswegen begeben wir uns zu Fuß auf die Pirsch. Ed, Ferris, Shane, Batuti, Dan, Stenmark und Bob Grey, zieht euch schon mal die Stiefel an. Diesmal schleichen wir nicht auf nackten Sohlen durch den Dschungel. So, den Rest erkläre ich, wenn Siri-Tong herübergekommen ist.“ Eine halbe Stunde später gingen sie an Land und drangen mit ihren Säbeln und Schiffshauern in den Urwald ein. Ben Brighton und Siri-Tong, die als Kapitäne auf den Schiffen zurückgeblieben waren und die Rest-Besatzungen befehligten, hatten ihre klaren Anweisungen. Die Rote Korsarin hatte den Landtrupp unbedingt begleiten wollen, aber diesmal hatte der Seewolf es ihr verboten. Er grinste, während er mit kräftigen Hieben Lianen, Farne und andere Pflanzen niedersenste. Sollte sie schmollen! Dies hier war nichts für eine Frau. Er hätte ihr wahrhaftig den Hintern versohlt, wenn sie sich noch länger gesträubt hätte, auf dem schwarzen Schiff zu bleiben. Außer den von Hasard eingeteilten Männern gehörten zu der Gruppe: Thorfin Njal, Eike, Juan und der Boston-Mann. Sie waren eine zu allem entschlossene, verschworene Meute, die vor nichts zurückschrecken würde. Es wurde zusehends dunkler, aber Hasard ließ die mitgebrachten Fackeln nicht anzünden. Sie mußten auch so ihren Weg finden und durften dem Gegner keine Gelegenheit bieten, sie vorzeitig zu sichten. Hasard hatte die Richtung, die sie einschlagen mußten, im Kopf. Nichts konnte ihn verwirren und die richtige Orientierung verlieren lassen, dazu waren seine Instinkte zu sehr ausgeprägt. Carberry schritt hinter ihm. Er hatte Sir John, den Papagei, an Bord der „Isabella“ zurücklassen wollen, aber Sir John hatte da
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nicht mitgespielt. So nahm der Profos ihn mit. Er hatte ihn sich in die Hosentasche gestopft, und das schien dem kecken Burschen sogar zu gefallen. Fünf Meilen sind eine lange Strecke, wenn man sie quer durch den Urwald zurücklegen muß. Die Männer arbeiteten nicht, sie kämpften sich durch das tückische, alles verstopfende Dickicht. Kaum ein Wort wurde gewechselt. Sprechen war gleichbedeutend mit unnützer Verschwendung von Energien. Hasard wandte sich nicht der Lagune der Ibisse und der Mündung des Nebenflusses zu. Es entsprach seinem Plan, die dort plazierten Späher der Assurini ruhig an ihren Standorten zu belassen. Sein Weg führte direkt auf die Zitadelle zu. Montanellis Erläuterungen waren so exakt, daß er keinen Zweifel hatte, unmittelbar auf sie zu stoßen. Der versteckte Seitenarm schlängelte sich vom Südufer des Amazonas in südlicher und dann wechselnden Richtungen dahin. Vielleicht stieß er irgendwo sogar wieder auf den Hauptstrom, wer konnte das wissen? Das Wasser bahnte sich seinen Weg auf willkürliche, geradezu kapriziöse Art, vorwärts, rückwärts, links und rechts, sich teilend, wieder zusammenfließend, unaufhaltbar. Wichtig war nur eins: Die Zitadelle erhob sich am westlichen Ufer des Seitengewässers. Hasard und seine Gefolgsleute konnten sie also erreichen, ohne den Arm überqueren zu müssen. Schätzungsweise zweieinhalb bis drei Meilen hatten sie sich vorangebracht, da stieß Sir John in Carberrys Hosentasche unvermittelt einen heiseren Laut aus. Er zwickte Carberrys Hand mit dem Schnabel, der wollte fluchen, besann sich darin aber – und begriff im Bruchteil einer Sekunde. „'Runter“, zischte er. Wie die Marionetten sanken sie zusammen und kauerten mit einem Mal auf dem Untergrund. Etwas raschelte rechts von ihnen, dann war ein Surren in der Luft, und sie alle wußten, was das war. Als es vorbei war, schnellte Hasard hoch und stürmte
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in den Busch. Er hatte das schon einmal vorexerziert, aber diesmal waren die Gegebenheiten anders. Schon nach den ersten Schritten kriegte er jemanden zu fassen. Er hieb dem Mann das Blasrohr aus der Hand – soeben hatte der Kerl einen neuen Pfeil abfeuern wollen. Hasard knallte ihm die Faust unters Kinn und fühlte, daß die Knöchel auf etwas Trockenes, Pappiges trafen – auf die Trophäe des Schwarzalligators, die auch dieser Assurini sich umgebunden hatte. Links und rechts vom Seewolf prasselte es im Gestrüpp. Die Männer hatten sich, seinem Beispiel folgend, ebenfalls auf den Feind im Dunkel geworfen. Carberry fluchte, jemand stöhnte auf, dann wurde es wieder still. Nur wenige Sekunden hatte der Kampf gedauert. Jemand stürmte durch den Busch davon, Shane war ihm auf den Fersen, aber nach kurzer Zeit kehrte er zum Trupp zurück und meldete: „Verdammt, einer der Kerle ist entwischt. Ich habe ihn aus den Augen verloren. So ein Mist. Der läuft zur Zitadelle.“ „Wir können es nicht ändern“, erwiderte Hasard leise. „Wir haben unser Möglichstes getan.“ Er schaute zu Boden. In den wenigen Streifen Mondlicht, die durch die Baumkronen drangen, zählte er vier Späher. Krokodilmänner, die sie durch ihren Blitzeinsatz überwältigt hatten. „Fesseln“, ordnete der Seewolf an. „Und nehmt ihnen Blasrohre, Messer und Leibriemen mit Giftpfeilen ab, damit sie nicht auch Selbstmord begehen.“ Sir John streichelte er den Kopf. „Mein Freund, sobald wir wieder etwas zu beißen auf unserem Schiff haben, kriegst du die schönsten Leckerbissen“, sagte er. „Du hast uns durch deine Warnung das Leben gerettet. Ed, du kannst stolz auf deinen Vogel sein.“ „Es ist nicht immer ein Nachteil, wenn man einen Vogel hat“, meinte Dan – und wich Carberrys Boxhieb aus.
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9. Nur schwach erleuchtet dehnte sich der Saal im Erdgeschoß der Zitadelle aus. In einer Ecke kauerten zwei Assurini auf dem Boden, einer intonierte auf einer Flöte eine verworrene Melodie, der andere begleitete ihn dazu auf zwei fellbespannten Trommeln. Sie hatten Ayahuasca genossen, eine Droge, die als Getränk aus den Blättern und Trieben der gleichnamigen Liane gewonnen wurde. Der Genuß dieser „Soga de Muerte“, der Todesdroge, hätte einen weißen Mann ohne weiteres umgebracht. Chano, der Spanier, hütete sich daher, das Zeug wie die Assurini zu schlürfen, er beschränkte sich darauf, ihnen den Konsum zu genehmigen, wenn es ihm gerade paßte. Und an diesem Abend war es ihm recht. Auch die Mädchen, die ihn umtanzten und ihm gefällig waren, hatten geringe Dosen Ayahuasca zu sich genommen. Das machte sie frei und unbeschwert. Sie vergaßen ihre Angst vor dem schwarzbärtigen Mann und die Abneigung, die sie vor ihm empfanden. Chano trank Wein, roten Wein. Er hatte ihn erbeutet, als eine spanische Karavelle sich einmal bis hierher verirrt hatte und von seinen Krokodilmännern überfallen worden war. Die Ladung, die Munition, die Waffen – alles war in die Zitadelle gewandert. So hatte Chano im Laufe mehrerer Jahre ganze Schätze gehortet. All das stammte von Schiffen, die offiziell als verschollen gemeldet worden waren und von deren Mannschaften keiner überlebt hatte. Nur ein Schiff ankerte noch draußen vor der Zitadelle – die Galeasse aus Venedig. Chano griff sich eins der nackten Indianermädchen und zog es zu sich auf den Schoß. „Laß uns feiern, Querida, heute ist ein Festtag. Mein Schloß ist fertiggestellt, nachdem die Sklaven die letzten Zinnen hoch oben auf dem Wehrturm gesetzt haben.“ Das Mädchen verstand ihn nicht, es kannte nur den KetschuaDialekt der Assurini. Einige Krokodilmänner hingegen hatten die spanische Sprache recht gut erlernt, und auch Chano wußte
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sich in ihrer ureigenen Mundart zu verständigen. Heute nacht jedoch stand ihm der Sinn danach, nur spanisch zu sprechen und den Mädchen maßlose Dinge zuzuflüstern, während er sich mit ihnen vergnügte. Stark waren die Mauern der Zitadelle. Die Außenwände maßen in ihrer Dicke zwei Yards. Sie bargen Räumlichkeiten, in denen es ausreichend trocken war, damit Chanos Vorräte und der viele rote Wein nicht verderben konnten. Sie umkleideten zwei Geschosse mit zwei Sälen und vielen Zimmern, in denen Chano ruhen, seinen Lastern frönen und seine Sklaven mißhandeln konnte – und es existierte ein feuchtes Kellergewölbe, in denen die Gefangenen zusammengepfercht waren – vierzig Männer, mit ihrem Kommandanten Della Latta. Chano grinste. Lange würden sie die Marter nicht mehr durchhalten, die er ihnen auferlegt hatte. Harte Arbeit, wenig Essen und Trinken, die Nässe im Kerker, das brachte sie langsam um. „Komm“, raunte er dem nackten Indianermädchen zu. „Zeig mir deine Künste, Estrella, mein Stern. Ihr Assurini-Weiber habt doch ganz besondere Spielarten in der Liebe.“ Er hob sie hoch und trug sie zu einem ausladenden Tisch, den er aus dem Holz der Urwaldbäume hatte bauen lassen. Er setzte sie auf die Kante. Das Mädchen kicherte, die anderen Mädchen waren heran und umtanzten sie. Chano wollte seiner Auserwählten einen Schubs versetzen, damit sie hintenüberkippte. Doch in diesem Augenblick wurde die Tür des Saales geöffnet. Helligkeit flutete aus der Vorhalle herein, wo mehrere große Talglichter in eisernen Ständern brannten. Das Licht umrahmte die Gestalt eines Krokodilmannes im hohen Rechteck der Türöffnung. „Du Hund!“ fuhr Chano ihn an. „Habe ich nicht den ausdrücklichen Befehl gegeben, mich nicht zu stören?“ „Herr – es sind Fremde im großen Wald“, stammelte der Mann. Chano horchte auf und ließ von dem Mädchen ab. Er trat auf den Krokodilmann zu. „Wie viele und wo?“
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„Sie sind mit zwei großen Schiffen erschienen. Die Schiffe liegen weiter flußaufwärts. Einige der Fremden sind an Land gegangen. Wir wollten sie aus dem Hinterhalt töten, aber sie haben vier von uns gefangennehmen können. Ich bin als einziger geflohen.“ Der Eingeborene sprach hastiges, fehlerhaftes Spanisch, doch Chano ging darüber hinweg. „So“, versetzte er dumpf. „Das ist eine schwache Leistung. Wir rechnen deswegen noch ab, Freundchen. Diese Eindringlinge befinden sich also auf dem Weg zu meinem Schloß?“ „Ja, Herr.“ „Diese Narren. Wir erledigen sie wie die anderen, die sich einbildeten, hier irgendwelche Forschungen zu betreiben. Du!“ Er sagte es zu dem Mann in der Tür. „Du läßt unsere vierbeinigen Freunde frei.“ „Ja, Herr. Und meine Stammesbrüder – die Gefangenen der Weißen?“ Chano vollführte eine ungeduldige Gebärde. „Die müssen mit dran glauben. Sie haben selbst Schuld. Geh jetzt, du Versager, und führe meinen Befehl aus, ehe ich dich meine Wut spüren lasse.“ „Ja, Herr.“ Der Krokodilmann zog sich zurück und schloß vorsichtig die Tür. Chano kehrte zu den Mädchen zurück. Die Musik war vehementer geworden, die jungen Assurini-Schönheiten wiegten sich schneller im Takt und schienen in echte Ekstase zu geraten. Chano trank noch einen Schluck Rotwein, dann trat er zu der, die immer noch auf dem großen Tisch saß. Er wußte nicht, daß vor rund vierundzwanzig Stunden bereits zwei seiner Späher weiter unten am Fluß ihrem Leben ein jähes Ende bereitet hatten. Ihre Leichname waren noch nicht gefunden worden. Die Kunde von dem, was sich dort abgespielt hatte, hatte Chano, den Gottherrscher über die Assurini, nicht erreichen können. Aus diesem Mangel an Information ergab sich seine Fehleinschätzung der Lage.
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* Hasard verharrte. Sie waren dem flüchtigen Krokodilmann so schnell nachgeeilt, wie sie konnten. Jetzt standen sie für einen Moment und sichteten durch eine tiefe Kerbe im Busch zum erstenmal die Zitadelle. Ja, sie war ein imposantes Bauwerk, ganz nach dem Muster spanischer Kastelle errichtet. Hoch ragte ihr Wehrturm auf. Er beherrschte das wuchtige, trutzige Gemäuer, das wie ein einziger überdimensionaler Felsenquader über den Fluß wachte. Es mußte eine ungeheure Arbeit gewesen sein, Stein um Stein hierherzuschaffen und aufeinanderzufügen. Die Seewölfe wußten das ja aus eigener Erfahrung – von der Teufelsinsel. „Weiter“, raunte Hasard. „Und merkt euch das eine: Wir dürfen die Schußwaffen erst gebrauchen, wenn wir in der Zitadelle sind und die Gefangenen gefunden haben.“ „Aber der Späher wird Chano ohnehin schon gewarnt haben“, gab Ferris Tucker zu bedenken. „Chano ist seiner Sache sicher“, erwiderte der Seewolf. „Er glaubt, leichtes Spiel mit uns zu haben. Ich schätze, er lockt uns bis in den Bau, um uns dann ungestört niedermetzeln zu können.“ Sie schritten voran. Der stickige Blätterwald öffnete sich weiter und weiter, und sie sahen die Galeasse draußen auf dem Wasser ankern. Sie war ein schönes Schiff, größer, schwerer, besser armiert als die herkömmlichen Galeeren. Montanelli hatte gesagt, der berühmte venezianische Schiffbauer Bressano habe sie konstruiert. „Hasard“, zischte der Profos plötzlich. „Sir John ist schon wieder so aufgeregt.“ „Obacht“, warnte Hasard. „Das Tier wittert die Gefahr.“ Und auch dieses Mal traf es zu! Zwei flache schwarze Schatten lösten sich aus dem düsteren Bereich vor der Fassade der
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Zitadelle und schossen auf sie zu. Hasard verhielt und stand stocksteif. Neben ihm war Dan O'Flynn, der eine ähnliche Haltung einnahm. „Mein Gott, Hasard – Jaguare!“ „Still.“ Der Seewolf ließ sie heran. Er leugnete dabei vor sich selbst nicht, daß ihm die Furcht wie eine kalte Welle durch den Leib brandete. Nur ein Mann, der eine derartige Situation bereits erlebt hatte, konnte beurteilen, wie es war, wenn zwei ausgewachsene, grollende Raubkatzen mit gefletschten Zähnen direkt auf ihn zurasten. Hasard knickte langsam in den Knien ein, aber das war volle Absicht. Die beidseitig scharfe Klinge des Cutlasses ragte von seiner Hüfte nach vorn, die Spitze leicht erhoben. Sir John wollte vor lauter Angst kreischend davonfliegen, aber Carberry stopfte ihn ganz tief in die Tasche. Die Jaguare waren heran, die Männer vernahmen ihr hechelndes Atmen. Drohend blitzten die dolchspitzen Zähne in der Dunkelheit. Noch im Heranstürmen duckten sich die Tiere platt auf den Boden, schnellten dann durch einen Ruck ihrer Hinterläufe hoch und federten auf die Männer zu. Hasard nahm sich den linken Jaguar vor. Aus seiner eigentümlichen Position heraus stemmte er sich hoch, warf sich nach vorn und führte den Cutlass dabei mit beiden Händen. Fauchend, mit abgespreizten Pfoten, huschte das Tier auf ihn zu. Hasard traf es und bohrte ihm die Waffe bis zum Heft in den Leib, aber er wäre unter dem Gewicht des Katzenkörpers und seiner Wucht zurückgeprallt, wenn er nicht selbst auch vorgesprungen wäre. So rammten sie gegeneinander, verkeilten sich, gingen zu Boden und balgten sich. Hasard spürte, wie die mörderischen Krallen seinen Rücken aufrissen. Doch die Kraft des Tieres ließ sehr rasch nach. Seine Bewegungen erlahmten, es keuchte noch einmal, zuckte ein letztes Mal und lag dann still.
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Hasard erhob sich. Thorfin Njal war sofort neben ihm. „Bei Thor und Odin“, raunte er. „Du bist verletzt, Seewolf.“ „Nur Kratzer, nicht der Rede wert.“ Hasard blickte zu dem zweiten Tier. Es lag auf dem Untergrund, zwischen Dan, Carberry, Eike und Juan, und zwei, drei Klingen ragten aus seinem Leib auf. „Wir beide, Ed und ich, haben gleichzeitig zugestochen und den Kameraden zu Boden geworfen“, erläuterte Dan mit gedämpfter Stimme. „Dann halfen uns auch Eike und Juan.“ Hasard berührte den ersten Jaguar mit der Stiefelspitze. „Eigentlich schade um die schönen Tiere. Chano, dieser Satan, hat sie auf uns gehetzt, nachdem der Späher ihn alarmiert hat.“ Thorfin Njal ließ einen grimmigen Laut vernehmen. „Nun, die Felle hier geben einen schönen Schmuck für deine Kapitänskammer ab. Wie kommen wir jetzt in die Zitadelle, Hasard?“ „Wir robben.“ Hasard legte sich als erster auf den Boden und kroch auf das riesige Gemäuer zu. Seine Männer schlossen dicht auf. Sie alle bildeten eine schemenhafte Schlangenlinie, die sich unaufhaltsam auf das Gemäuer zuwand. Es gab keinen Burggraben, in dem Alligatoren oder ähnliches Viehzeug lauern konnte, und Hasard bescheinigte Chano im stillen, damit eine schwere Unterlassung begangen zu haben. Das Kastell des Todes – es hatte außer dem Haupttor mit einem heruntergelassenen Eisengatter auch noch einen Seiteneingang. Montanellis Beschreibung folgend, robbte der Seewolf darauf zu. Mit jedem Yard, den er zurücklegte, stieg seine Hoffnung, tatsächlich lautlos in die Feste zu gelangen. Das Seitenportal, an der Südmauer gelegen, wurde von zwei Krokodilmännern bewacht. Hasard und Carberry wuchsen plötzlich neben ihnen hoch wie zwei Gespenster. Gehöriger Schreck durchzuckte die Assurini, sie waren für eine Sekunde völlig geschockt. Hasard und der Profos hielten ihnen die
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Münder zu, dann sausten ihre Fäuste in die Nacken der Posten nieder. Sie sackten zusammen, ohne auch nur ein Stöhnen von sich zu geben. Die ganze Zeit über kauerten Juan und der BostonMann jedoch mit den erbeuteten Blasrohren in der Nähe, bereit, die Assurini durch Giftpfeile zu töten, falls es erforderlich war. Hasard überließ seinen Gegner dem nachrückenden Dan O'Flynn. Während Dan und der Profos beiden Indianern Knebel in die Münder stopften und Stenmark und Bob Grey ihnen die Hände fesselten, huschte Hasard weiter zum Portal. Wieder verließ er sich auf Montanellis detaillierten Bericht. Er zog sein Messer, schob es in den Spalt zwischen Tor und Rahmen – und hebelte den Innenriegel hoch. Er drückte gegen das Tor, es schwang mit leisem Schaben auf. Dann drang der zwölfköpfige Trupp in die Zitadelle ein. Sie schleiften ihre zwei bewußtlosen Gefangenen mit und dirigierten die vier im Busch gefaßten Späher vor sich her. Auch diesen Männern hatten sie Knebel zwischen die Zähne geschoben. Ein kleiner Innenhof lag vor ihnen. Nachdem sie ihn überquert hatten, vermochten sie sich durch düstere Gänge bis an eine Treppe vorzutasten, die in das Kellergewölbe hinunterführte. Alles, was Montanelli Hasard mitgeteilt hatte, erwies sich als richtig. Die Treppe in die Tiefe beschrieb eine Linkskurve. Lichtschein wurde sichtbar, leise Stimmen drangen herauf. Sie sprachen unverkennbar den Ketschua-Dialekt der Assurini. Hasard blieb stehen. Er drehte sich um, gab den Männern ein Zeichen, griff sich einen der Späher und zog ihn zu sich heran. Er setzte ihm die Radschloßpistole an die Schläfe, spannte den Hahn und wisperte ihm ins Ohr: „Du verstehst spanisch, leugne es nicht. Ich erschieße dich, wenn du nicht tust, was ich dir sage.“ Der Krokodilmann nickte. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren.
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Kurz darauf schritt er die letzten Stufen hinunter und trat in das Kellergewölbe. Er könnte keinen Selbstmord begehen, weil die Seewölfe ihn sämtlicher Waffen entledigt hatten. Er wagte es auch nicht, seine Stammesbrüder zu warnen, denn er wußte Hasards Pistole in seinem Rücken. Er winkte den beiden Wächtern des Kerkers zu. Sie erhoben sich taumelnd. Auch sie hatten ein wenig Ayahuasca getrunken, der Droge, die das Bewußtsein und die Sinne trübte. Sie fragten etwas, er sagte ihnen ein paar Worte – und sie folgten ihm zur Treppe. Hasard, Carberry, Shane und Thorfin Njal stürmten im richtigen Augenblick nach vorn. Es war kein Problem, die beiden Indianer zu überwältigen, ihre Reflexe waren noch träger als die der beiden vor dem Seitenportal. Während seine Männer sich auch um diese beiden kümmerten und dem Späher wieder den Knebel in den Mund stopften, lief der Seewolf in das Gewölbe. Es war der wohl absonderlichste Kerker, den er je gesehen hatte. Von den Wänden troff das Wasser. Es war ein Wunder, daß man nicht durch Fluten waten mußte, aber nicht das erschütterte Hasard so sehr. Ausgemergelte, bleiche Gestalten mit langen Bärten lagen wie Hunde angekettet oder hockten stumpfsinnig in richtigen Käfigen, die wiederum an langen Ketten von der Decke baumelten. Manche Sklaven waren mit Kopf und Armen in hölzernen „Kragen“ festgeklemmt worden, die sie nicht einmal mehr anheben konnten, andere wieder mußten aufrecht stehen, weil sie mit Eisen an den Wänden angeschlossen waren. Es war ein Bild des Jammers, das Abbild dessen, was ein einzelner Mann in seiner gnadenlosen Brutalität vollbringen konnte. Hasard trat dicht vor sie hin. „Wir sind hier, um euch zu retten“, sagte er auf spanisch. „Wir haben Montanelli gefunden. Wer ist Kapitän Della Latta?“ Ein erbärmlich zugerichteter Mann mit grauweißem Vollbart meldete sich. Er hockte in einem der sanft hin- und
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herschwingenden Käfige. „Ich. Mein Gott – Montanelli, daß er noch lebt! Wer bist du, Fremder?“ Hasard setzte ihm das Wichtigste in knappen Zügen auseinander. Dabei brach er das Schloß des Käfigs auf und half dem bedauernswerten Kapitän der Galeasse heraus. „Was war mit den beiden Kerkerwachen?“ fragte er zum Schluß. „Die kamen mir halb betäubt vor.“ „Ayahuasca“, erwiderte Della Latta hustend. „Eine LianenDroge. Aber freut euch nicht zu früh. Nicht alle Indianer hier im Kastell haben den Teufelssaft getrunken. Es halten sich hier schätzungsweise sechzig Krokodilmänner auf, und oben im Saal des Erdgeschosses sitzt Chano, betrinkt sich mit Wein und nimmt sich die Assurini-Mädchen vor. Er ist eine gemeine, wollüstige Bestie.“ „Packen wir's“, zischte Dan O'Flynn. Er war mittlerweile mit den anderen in das Gewölbe getreten und half mit, einen Gefangenen nach dem anderen zu befreien. „Auf was warten wir, es diesen Kerlen zu zeigen?“ „Wir helfen euch“, raunte Della Latta. „Ihr seid zu schwach“, wandte Hasard ein. Der Mann kniff die faltigen Augenlider zusammen. Seine Stimme klang brüchig, aber es schwang doch Entschlossenheit darin mit. „Dazu haben wir die Kraft, Seewolf. Darauf haben wir lange gewartet. Hör zu, ich weiß, wo die Waffenkammer der Zitadelle ist. Dort finden wir, was wir brauchen: Musketen, Arkebusen, Tromblons, Pistolen, Degen – alles.“ „Gut“, sagte Hasard. „Nur eins bitte ich mir aus. Tötet die Krokodilmänner nicht blindlings. Versucht, sie zur Aufgabe zu zwingen. Auch wenn sie tausendmal verirrte Fanatiker sind, sie können noch wieder in ihre alte Existenz zurückgeführt werden.“ „Wir versprechen es“, murmelte Kapitän Della Latta.
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10. Chanos Gewand war aus dunkelgrünem Samt und reichte fast bis auf den Boden. Auf den Aufschlägen und auf dem Rückenstoff waren stilisierte Krokodile aufgestickt, die Symbole der Alligator-Jäger. Mit diesem und ähnlichem Mummenschanz beeindruckte und beherrschte der schwarzbärtige Spanier die einfältigen Indianer. Sie beteten ihn an und befolgten seine Befehle – kompromißlos. Den samtenen Umhang hatte Chano jetzt geöffnet, um sich mit dem Indianermädchen auf dem Tisch zu befassen. Lange genug hatte er sie gestreichelt und geküßt. „Komm, Querida“, flüsterte er ihr zu. „Jetzt wird es ernst.“ Kichernd rutschte sie vor ihm fort. Die Musik des Flötenspielers und des Trommlers wurde immer wilder, leidenschaftlicher, schriller. „Komm her“, sagte Chano. Aber dann wurde es wieder nichts aus seinen brutal erzwungenen Intimitäten, denn die Tür flog auf und knallte gegen die Innenwand und ein Krokodilmann schrie: „Die Fremden – sie sind in der Zitadelle!“ Gleichzeitig begannen draußen Schüsse zu krachen. Sie wurden auf den beiden Innenhöfen der Feste abgegeben. Ihr Donnern wehte gegen die Mauern des Hauptgebäudes an, wallte daran empor, drang durch Fenster und Türen und dröhnte in Chanos Ohren. Er taumtelte. „Was – ihr – die Jaguare, warum haben die Jaguare diese Hunde nicht zerfleischt?“ Er brüllte es. „Die Jaguare sind tot!“ rief der Krokodilmann verzweifelt. Die Musik kreischte und hämmerte in Chanos Geist, das Krachen der Schüsse nahm zu, vermischte sich mit dem Heulen und Trommeln und geriet zu einem infernalischen Konzert. Chano preßte die Hände gegen die Ohren und brüllte: „Nein! Nicht das! Nicht mir! Zu den Waffen, ihr Kanaillen! Schlagt sie zurück!“
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Die Mädchen wichen von ihm fort. Chano raffte die Säume seines Gewandes zusammen, rannte los und griff sich seine Waffen, die auf einem Regal lagen. Hastig band er sich sein Wehrgehänge um, stopfte sich eine Pistole hinein und lief hinaus, an den benebelten Musikanten und dem entsetzten Krokodilmann vorbei auf den Gang hinaus. Er stürmte zum vorderen Innenhof. Feuerschein erhellte die Nacht, Gestalten rannten auf und ab, hin und her, nur schwer waren Freund und Feind zu unterscheiden, aber dann traf Chano seine erschütterndste Feststellung. Die Fremden, wer immer sie auch waren, hatten die Sklaven der Galeasse befreit, und jetzt kämpften sie gemeinsam und drängten die Krokodilmänner zum Haupttor zurück. Flüche wurden ausgestoßen, Chano vernahm Zurufe auf italienisch, auf spanisch und in einer dritten Sprache: englisch. „Da!“ schrie einer dieser Männer. „Da ist er, der Oberhalunke!“ Ein paar der Gegner drehten sich um und feuerten sofort auf ihn. Eisenkugeln und gehacktes Blei raste im Aufblitzen der Mündungsfeuer auf Chano zu. Er ging in Deckung. Hinter einem Pfeiler wartete er, bis die Ladungen vorbeigestrichen waren, dann schoß auch er. Aber er traf nicht. Das Trappeln von Schritten verriet ihm, daß sie nahten, um ihm endgültig den Garaus zu bereiten. Er hastete auf dem Gang zurück und wollte den südlichen Innenhof aufsuchen – prallte aber auch hier zurück, weil sich seinen Augen eine ähnliche Situation darbot. Das Kräfteverhältnis mochte ungefähr gleich sein – fünfzig bis sechzig Weiße gegen sechzig Assurini-Indianer. Doch die Fremden und die erlösten Gefangenen hatten die Waffenkammer aufgebrochen und ausgeraubt. Es mußte so sein, wie anders konnten sie über ein solches Arsenal und so viel Munition verfügen! Chano schreckte zurück.
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Er steckte in der Klemme. Aber eine Lösung blieb ihm noch. Er hastete wieder ins Zentrum des Hauptgebäudes, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Der große Wehrturm! Er erreichte den Aufstieg, bevor die Feinde von beiden Seiten heran waren und ihn einkesselten. Wie von Sinnen hetzte er die Wendeltreppe hoch. Oben waren zwei Schiffsgeschütze der Galeasse aufgestellt – Minions, Vierpfünder. Die Sklaven hatten sie mühsam heraufschleppen müssen. Jetzt konnte Chano sie, wenn er einiges Geschick aufbot, mit den Mündungen nach unten richten und Kugeln zwischen die Gegner setzen, die diese Bastarde zerfetzen würden. Zwei, drei Geschosse genügten, und die Panik war perfekt! Er war die Treppe halb hochgestürmt, da ertönte von oben ein gewaltiges Donnern. Der Turm schien zu wackeln, die Treppe zu beben – jemand hatte vor ihm eins der Geschütze gezündet! Chano schlich trotzdem weiter. Pulverqualm schob sich ihm in Schwaden entgegen, drang in seine Atemwege, breitete sich beißend darin aus. Er schaffte es, trotzdem nicht zu husten. Dieser geheimnisvolle Schütze, war das einer seiner Männer oder ein Gegner? Einigen Krokodilmännern hatte Chano gezeigt, wie man eine Kanone lud und zündete. Gewiß, sie hatten eine heilige Furcht vor Feuerwaffen, aber jetzt, in der Stunde der höchsten Gefahr, mochten sie von ihrem Wissen Gebrauch gemacht haben. Chano gelangte auf der oberen Turmplattform an. Der Schütze an dem einen Vierpfünder war ein riesiger schwarzhaariger weißer Mann. Viel Kleidung hatte er nicht auf dem Leib, aber seine Füße steckten in langschäftigen Stiefeln. Sein Rücken war zerkratzt, das sah Chano ganz deutlich im Mondlicht. Jaguartatzen, dachte er, Krallen, die dich zerreißen sollten, du Hund! Während er das dachte, zog er langsam seinen Degen. Der Fremde hielt ihm den Rücken zugewandt. Chano konnte sich anpirschen. Er hob den Degen zum vernichtenden Hieb.
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In diesem Augenblick wirbelte der Schwarzhaarige herum. Der Degen flog ihm aus der Scheide heraus in die rechte Faust, die Klinge blitzte im weißlichen, kalten Licht und klirrte von unten herauf gegen Chanos Waffe. In einer glänzenden Parade drängte er den Spanier ein Stück in Richtung auf die Treppe zurück. „Zu früh gefreut, Chano!“ rief er. „Ich habe deine Schritte knirschen hören. Nicht nur ein Jaguar hat gute Ohren.“ Chano setzte sich erbittert zur Wehr. „Fahr zur Hölle! Wer bist du?“ „Philip Hasard Killigrew. Mann nennt mich den Seewolf.“ „El Lobo del Mar“, stieß Chano außer sich vor Haß hervor. „Ausgerechnet der! Du wirst keine Kanonenkugel mehr gegen meine Leute abschießen, das schwöre ich dir!“ Hasard grinste, und in seinen eisblauen Augen tanzten tausend Teufel wie verrückt. „Du irrst dich. Ich habe nur ein Signal abgegeben. Für meine beiden Schiffe. Sie haben sich allmählich flußabwärts getastet, befinden sich kurz vor dem überwachsenen Einlaß des Seitenarmes, und meine Mannschaften wissen jetzt, daß sie die Wachen an den drei Quebracho-Bäumen und der Lagune der Ibisse niedermachen und zum Durchbruch anrücken können.“ „Sie werden also gleich hier sein…“ „Worauf du dich verlassen kannst, Chano.“ Hasard kreuzte zweimal die Klinge mit dem Degen des Gegners, dann unternahm er eine kurz angesetzte, rasende Attacke. Aber Chano wehrte sie ab. Der Rotwein hatte seine Sinne nicht getrübt, er war hellwach und höllisch auf der Hut. Vor allem achtete er darauf, daß ihm niemand in den Rücken fallen konnte. Er focht und tänzelte dabei so zur Seite fort, daß Hasard allmählich an den Treppenaufgang gelangte. „Du wirst das Aufkreuzen der Schiffe nicht mehr erleben!“ rief Chano. „Leere Drohungen“, gab Hasard zurück. „Zu mehr bist du nicht fähig – Gottherrscher.“
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Vom Fluß her klang jetzt Donnergrollen auf. Es rollte heran und wurde von den Seewölfen, den Piraten und den Venezianern unten in den Höfen mit lautem Beifallsgebrüll quittiert. Immer noch brandete der Kampf gegen die Assurini hin und her. „Du!“ brüllte Chano den Seewolf an. „Wie kannst du das alles so genau geplant und kalkuliert haben? Wer bist du wirklich?“ „Montanellis Rächer…“ Chano prallte zurück, fing sich aber sofort wieder. „So ist das also. Jetzt verstehe ich alles. Du und deine Männer, ihr habt diesen Hund gefunden. Und ich dachte, er sei längst tot.“ Er stand dicht vor einer wuchtigen Zinne. Sein Mantel bauschte sich im Nachtwind, seine schwarzen Haare wurden zerzaust. Er setzte sich erbittert gegen Hasard zur Wehr und konnte ihn immer wieder zurücktreiben. Über die Schultern des Gegners weg sah er jetzt die beiden Schiffe, die mit prall geschwellten Segeln den Seitenstrom entlangglitten. Eine Galeone mit flachen Kastellen und drei hohen Masten! Ein schwarzes Schiff, viermastig, eigenartig konstruiert, düster und unheimlich wie die Finsternis des Regenwaldes. Wieder bollerten die Kanonen beider Schiffe los. Weiße Qualmwolken standen vor den Stückpforten und breiteten sich langsam über der funkelnden Wasserfläche aus. Es krachte und hämmerte gegen die trutzigen Mauern der Zitadelle. „Sie bringen deine eigenen Leute um!“ schrie Chano schrill. „Diese Narren!“ Hasard lachte auf. „Nein. Ben Brighton und Siri-Tong jagen deinen Indianern nur einen gehörigen Schrecken ein, im übrigen halten sie mit den Geschützen tief genug, um niemanden ernsthaft zu gefährden. Gleich vereinnahmen sie die Galeasse, Chano.“ „Das nützt euch nichts!“ „Chano, es ist aus“, sagte Hasard eindringlich. „Gib auf, bevor es ganz zu Ende für dich geht.“ „Niemals!“ brüllte Chano, und es lag all sein Haß und seine Verzweiflung in diesem gellenden Schrei.
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* Er war ein ausgezeichneter Degenfechter, dieser Spanier. Mehrfach brachte er Hasard ernsthaft in Bedrängnis. Einmal drängte er ihn soweit auf eine Schießscharte zwischen zwei Zinnen zu, daß Hasard die Balance zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen drohte. Aber Hasard konnte sich mit einem Ruck nach rechts werfen. Chanos Degen stach zu, dorthin, wo der Feind eben noch gestanden hatte, die Klinge scharrte mit häßlichem Geräusch über den Stein. „Hasard!“ rief jemand von der Turmtreppe aus. Es war Thorfin Njal. „Zurück“, antwortete der Seewolf. „Chano und ich, wir tragen das hier allein aus.“ „Sehr vernünftig“, gab der Spanier hämisch zurück. „So eine Einstellung lobe ich mir, Lobo del Mar. Was hat Montanelli dir noch erzählt? Er floh, dieser Hurensohn, und meine Häscher fanden ihn nicht wieder. Wer hat ihm geholfen, aus der grünen Hölle zu entwischen? Die Amazonen etwa?“ „Nein.“ Hasard sagte ihm, was sich weiter unten am großen Strom zugetragen hatte – wie sie von den beiden Spähern angegriffen worden waren, wie die zwei Selbstmord begangen hatten, wie sie Montanelli in dem Reetboot entdeckt hatten. „Ihr Bastarde!“ zischte Chano. „Aber Montanelli lebt nicht mehr lange mit dem Giftpfeil im Fleisch. Ja, ihr habt ihn ihm herausgezogen, aber das Gift zirkuliert schon in seinem Leib.“ „Er hat El Dorado gesehen, Chano.“ „Unmöglich…“ „Er hatte zwei Lederbeutel mit Goldschmuck bei sich.“ „Betrug!“ stieß Chano leidenschaftlich aus, dann: „Ich glaube es nicht. Und wenn es ein El Dorado gibt, so müßte ich, der Herrscher vom Amazonas, als erster davon erfahren haben, und mir allein stünde es zu, diesen Ort zu entdecken!“ Ein irres
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Flackern hatte von Chanos Augen Besitz ergriffen, er stand starr und hielt den Kopf weit zurückgelehnt. Sein Mund war halb geöffnet. „Verbrecher“, sagte Hasard. „Wahnsinniger, Verführer der Indianer. Dir gebührt nur eins – der Tod.“ „Stirb!“ schrie Chano. Er stürzte vor und wollte Hasard den Degen in den Unterleib rammen. Aber Hasard hatte schon lange mit dieser Offensive gerechnet. Er ließ die Degenklinge hochschnellen, drückte Chanos Waffe nach oben und fegte sie mit einer flinken Armdrehung zur Seite weg. Er unterlief Chanos erneuten Angriff, holte aus – und seine Klinge bohrte sich in das Herz des Gegners. Chanos Gesicht war plötzlich von ungläubigem Entsetzen gezeichnet. Hasard riß ihm die Klinge mit einem heftigen Ruck wieder aus der Brust und wartete auf eine neue, noch irrsinnigere Aktion des Mannes. Doch Chano ließ nur seine Waffe fahren. Sie landete scheppernd auf dem Steinplattenboden der Plattform. Taumelnd bewegte er sich rückwärts. Er strauchelte, als sein Fuß die Umrandung der Plattform traf, kippte nach hinten über, genau durch eine der Schießscharten, verlor gänzlich das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Ein letzter langgezogener Schrei war das Signal, das die Kämpf enden unten auf dem Hof innehalten und herumfahren ließ. Sie sahen, wie Chano niederstürzte, und wichen auseinander. Hasard schloß unwillkürlich die Augen, als er den harten Aufprall vernahm. Chano lag zerschmettert auf dem Hof der Zitadelle. Und plötzlich fielen keine Schüsse mehr. Thorfin Njal erschien im Treppenaufgang. „Die Krokodilmänner geben auf“, sagte er. „Ihr Gott ist vernichtet, sie wissen nicht mehr, wofür sie kämpfen sollen.“ „Und er selbst hat ihnen den Glauben an Chano, den Allmächtigen, genommen“, fügte der Seewolf hinzu. „Ein Gott stirbt nicht, nicht wahr, Thorfin?“ „Beim Odin, so ist es!“
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Hasard blickte zu den Schiffen. „Ich muß so schnell wie möglich zu Montanelli, Thorfin. Er wird überglücklich sein, wenn er meine Nachrichten hört. Und noch etwas…“ „El Dorado?“ „Ja, El Dorado.“ Hasard spürte wieder, welch überwältigende Wirkung allein der Name auf ihn ausübte. Gleichzeitig fragte er sich, ob er nicht doch schon zu spät kam und sich nur noch vor dem Leichnam des Italieners bekreuzigen konnte. ENDE
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