ERWIN BEKIER
Die Legende des Dolganen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.—65. Tausend Die Tatsache...
8 downloads
695 Views
519KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ERWIN BEKIER
Die Legende des Dolganen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.—65. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1967 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf-Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Elfriede Sell Hersteller: Lydia Herkt Gcsamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Eine einmalige Radfernfahrt Auch die Dolganen glauben schon längst nicht mehr an Geister und andere überirdische Wesen. Zwar leben die Angehörigen dieser kleinen Völkerschaft, wie man so sagt, am Ende der Welt, auf der Taimyr-Halbinsel, dort, wo das gewaltige eurasische Festland weit über den Polarkreis hinaus in das Eismeer hineinragt, aber die moderne Technik läßt Entfernungen zusammenschrumpfen. Man rennt nicht zum Schamanen, wenn auf fernen Weideplätzen jemand erkrankt ist, sondern fordert durch Funk einen Hubschrauber mit dem Arzt an. Zum Rundfunkgerät hat sich der Fernsehapparat gesellt, seitdem die Stadt Norilsk ein eigenes Programm ausstrahlt. Meine Flugzeit von Moskau bis Norilsk betrug vier Stunden, und es ist klar, daß auch ein Dolgane nicht länger fliegt, wenn er von Norilsk nach Moskau will. Unter den Passagieren der viermotorigen Turbopropmaschine, die mich über die nordischen Weiten beförderte, waren auch einige Dolganen, junge Leute, die in Moskau studierten und für die Sommerferien zu ihren Angehörigen zurückkehrten. Einer war mein Sitznachbar. Von ihm erfuhr ich, daß der nationale Taimyr-Bezirk 860 000 Quadratkilometer mißt, das entspreche der Fläche Westdeutschlands, Frankreichs, Hollands und Belgiens zusammengenommen.
Froh über diese Reisebekanntschaft, verging mir die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge. Mein Notizbuch füllte sich mit Geschichten über dieses entlegene Land, bevor ich noch meinen Fuß darauf gesetzt hatte. An der Stirnwand des Flugzeugs erschienen die bekannten Leuchtbuchstaben „Anschnallen und Rauchen einstellen", als mir mein Reisegefährte von dem Mann mit dem eisernen Rentier erzählen wollte. „Das ist doch ein Märchen", mischten sich seine Kameraden ein; ich sah, daß es ihnen peinlich war. „Nein, meine Großmutter hat ihn selber gesehen", widersprach der künftige Veterinär. Unsere Wege trennten sich auf dem Flugplatz. Ihm standen noch ein kleiner Flug mit dem Hubschrauber und eine Fahrt mit dem Rentiergespann bevor; ich stieg auf die nördlichste Eisenbahn der Welt um, die vom Flughafen Dudinka am Jenissej zur Großstadt Norilsk führt. Später, als ich mit einem kleinen Wasserflugzeug in das Innere der Halbinsel flog, erzählten auch einheimische Fischer am Lagerfeuer von dem Mann mit dem eisernen Rentier. Erst mein junger Pilot brachte Licht in diese rätselhafte Geschichte. „Das ist keine Mär, der Mann hat genau auf der Route, die wir jetzt fliegen, in zwei Monaten mit einem Fahrrad die Taimyr-Halbinsel durchquert." Wir flogen von Norilsk an den Fluß Chantaika; dort entsteht das nördlichste Wasserkraftwerk der Welt. Ich blickte nach unten: Tausende im Schein der Mitternachtssonne leuchtende Wasserfleckchen in der Größenordnung zwischen Müggel- und Müritzsee, unzählige Flußläufe, unendliche Wälder von Krüppelbirken, weite Sumpfflächen, dann Hügel und später Gebirge mit meterhohen und kilometerlangen
„Schneefetzen" und, so weit das Auge reichte, keine Straße, kein Weg und kein Steg. Hier fliegt man und steigt dann auf den Rentier- oder Hundeschlitten um. Nur die Geologen arbeiten sich bei langen Expeditionen zuweilen mit riesigen Spezialgeländefahrzeugen zu ihren Forschungsstätten durch. Der Pilot sah den Zweifel in meinen Augen, und er ergänzte: „Dieser Mann, er heißt Gleb Trawin, ist die Eismeerküste von Murmansk über Archangelsk, die Taimyr-Halbinsel bis zur Beringstraße entlanggefahren. Er kam aus Kamtschatka, von dort war er durch den Fernen Osten, durch Sibirien und Mittelasien über Moskau nach Murmansk geradelt, und sein Endziel war natürlich wieder Kamtschatka. Die Taimyr-Halbinsel hat er im Sommer neunzehnhundertdreißig durchquert." Von dem Piloten des Wasserflugzeugs erfuhr ich die erste Geschichte über den Mann mit dem eisernen Rentier, wie sie von den Dolganen erzählt wird.
Kele - ein Geist! Im Jahre 1930 gab es noch keine Schiffahrt auf dem Nördlichen Seeweg, es gab auf der Taimyr-Halbinsel keine Stadt Norilsk, in Dikson befand sich eine Funkstation, die „nächste" war in Kap Wellen an der Beringstraße, aber es gab einen Radfahrer! Er kam aus Murmansk, und um sich den Weg nach Archangelsk abzukürzen, fuhr er im Monat April von der Küste der Kola-Halbinsel über das Weiße Meer. An der engsten Stelle mißt die Entfernung bis zum Festland
hundertfünfzig Kilometer. Im Schneesturm und Gegenwind geriet er in eine Eisspalte. Die kupfernen Strahlen der kalten Polarsonne ließen am nächsten Tag das rotlackierte Fahrrad aufleuchten. Sie trafen die vereiste Gestalt neben der Maschine, und der Mann riß die bereiften Wimpern auseinander. Er wollte sich erheben, sich bewegen — es ging nicht. Aus der Eisspalte war Wasser geflossen, er war festgefroren. Mit Mühe befreite er schließlich den linken Arm, der zerrissene Ärmelpelz blieb im Eis. Die Hand tastete zum Gürtel. Die erstarrten Finger klammerten sich um den Holzgriff eines schweren Jagdmessers. Stahl klang auf Eis. Schlag um Schlag befreite sich der Mann von der tödlichen Umklammerung. Zentimeter um Zentimeter öffnete er den Eissarg. Endlich war er frei. Er erhob sich; ein Mann von mittlerem Wuchs, die Haare fielen ihm weit über den Nacken, der Bart und die zerrissene Kleidung reif- und eisbedeckt. Ein Schneemensch! Er schlug mit der einen Hand auf die andere, er ging in die Kniebeuge, er befühlte Kopf, Schultern, Schenkel und Füße. Dann sah er sich um - da lag es: sein Fahrrad. Es war ebenso unbeschädigt wie die Schneeschuhe und das Gewehr im Futteral. Der Mann holte einen gefrorenen Fisch aus der Tasche. Er raspelte sich mit dem Jagdmesser Stücke davon in den Mund, er kaute langsam, bedächtig und bestieg sein Rad. Es war wirklich kein außergewöhnlicher Unfall, der ihn hier ereilt hatte. Er jedenfalls empfand es so. Er erreichte das Festland, als die Sonne wieder hinter dem. Horizont versunken war. Einige aus dem Schnee aufragende Eisblöcke zogen ihn an. Er schlug sich mit dem Beil
eine tiefe Höhle in den Schnee. Die viereckigen Schneeplatten stapelten sich unter seinen geschickten Händen zu einem zuverlässigen Windschutz, und die letzten schlössen endlich sein Nachtlager. Doch die nur notdürftig geflickte Pelzkleidung ließ ihn empfindlich die Kälte spüren. Er konnte es sich nicht leisten, schnurstracks, wie gewohnt, weiterzufahren, er mußte Menschen finden. „Kele! Ein Geist!" Die Frauen und Kinder drängen sich im Innern der Jurte zusammen. Entsetzen spiegelt sich in den weit aufgerissenen Augen und die Hoffnung, daß die Erscheinung, die sie sehen, wieder verschwinden möge. Doch sie kommt näher. „Kele! Ein Geist auf einem eisernen Rentier." Der Geist hält das eiserne Rentier fest an den Hörnern. In der Mitte des Geweihs leuchtet ein Auge, grell und weiß. Zum erstenmal erblicken diese Menschen an der Eismeerküste eine der ältesten Erfindungen der Menschheit: das Rad. Zum Glück kommt das Oberhaupt dieser Familie der Dolganen, ein alter Jäger, vom Fallenstellen zurück. Er sieht, daß der „Geist" sich kaum auf den Füßen halten kann. Mit einem Blick schätzt der Dolgane den Zustand des Menschen, der sich verirrt hat, ein. Er hilft ihm die Kleidung herunterreißen, er reibt ihn mit Schnee ab, und auf seinen Befehl bringen die Frauen neue Fellstiefel, Hosen und Hemden. Zwei Tage lang erholt sich der Mann mit dem eisernen Rentier in der Jurte. Dann besteigt er sein glänzendes Tier, und es trägt ihn weiter. Die Erinnerung an diese Begegnung aber lebt noch lange fort in den Erzählungen dieser Nomaden. Später erfindet die Phantasie der Erzähler vieles, was sie nicht gesehen haben.
Die Strecke von Gleb Trawins Radfernfahrt Und als die Augenzeugen schon nicht mehr leben, bleiben die Kinder und Enkel, die sich erinnern: „Bei uns ist der Mann mit dem eisernen Rentier auch durchgekommen; es hat Leute gegeben, die ihn mit eigenen Augen gesehen haben." So erzählte es mir auch der junge Pilot. Zugegeben, die ganze Geschichte klingt so unwahrscheinlich, daß man annehmen möchte, sie wäre wirklich erfunden. Ich habe zur gleichen Jahreszeit, da der Mann mit dem eisernen Rentier die TaimyrHalbinsel durchquert haben soll, gewaltige Geländefahrzeuge gesehen, Vorläufer von Mondfahrzeugen, die über Funk um Hilfe gebeten haben, weil sie nicht weitergekommen. Dann kreuze ich auf meinen Fahrten durch die Sowjetunion noch vielmals die Route Trawins. Es gibt an vielen Orten Menschen, die von Leuten gehört haben, die Trawin gesehen haben wollen. Selbst in den Wüsten
Mittelasiens, an den Gebirgspässen des Kaukasus und schließlich auch in Moskau gibt es Anhaltspunkte, und es gibt vor allem sowjetische Kollegen, die der Geschichte dieser ungewöhnlichen Radfernfahrt nachspüren. Sie schreiben so lange darüber - bis sich Gleb Trawin meldet! Er lebt in Petropawlowsk auf Kamtschatka, aber außer seinem Fahrrad gibt es keinerlei Dokumente, mit denen er seine Erzählungen beweisen kann. Er legt auch gar keinen Wert darauf. „Wer es nicht glaubt, soll's sein lassen." Schließlich wendet sich der sowjetische Journalist A. Charitanowski an die Öffentlichkeit. In den Zeitungsredaktionen kommen Briefe an; aus allen Teilen der Sowjetunion, von Menschen, die Gleb Trawin auf dieser Fahrt gesehen und fotografiert haben, die ihn haben hindern wollen weiterzufahren und ihm schließlich doch geholfen haben. Expeditionsleiter melden sich, Jäger, Polarflieger - das Bild rundet sich ab. Nein, es gab damals keinen Pressekonvoi wie heute bei der Friedensfahrt. Und doch ist es möglich, darüber ausführlich zu berichten: Gleb Trawin. Er war am 10. Oktober 1928 in der Stadt Petropawlowsk auf Kamtschatka gestartet, und er kam nach drei Jahren, am 24. Oktober 1931, wieder dort an. Er legte in dieser Zeit 85 000 Kilometer zurück, den kleinsten Teil auf Straßen, den größten Teil fuhr er durch Gebiete, die weder vor noch nach ihm ein Radfahrer durchquerte.
Der fliegende Holländer Im Mai 1923 erreichte der holländische Radfahrer Adolf de Groot auf seiner Route auch die russische Stadt Pskow. Vielleicht würde heute sogar ein Kosmonaut den „fliegenden Holländer", wie sich de Groot nannte, um den Empfang beneiden, den ihm die Bevölkerung der russischen Städte bereitete. Der Holländer war aus Antwerpen durch Belgien, Deutschland und durch die skandinavischen Länder nach der Sowjetunion gefahren. Er wollte weiter nach Persien, um von dort über Afrika und über die Straße von Gibraltar durch Spanien und Frankreich wieder nach Antwerpen zurückzukehren. Ein Fahrrad! Ein ausländisches Fahrrad noch dazu! Voller Ehrfurcht starrten vor allem die jungen Burschen in der Stadt Pskow auf dieses von Nickel, Chrom und Lack glänzende Wunder. Schon als Schuljunge hatte sich Gleb Trawin ein Fahrrad gewünscht. Das war vor dem ersten Weltkrieg gewesen. Der einzige seiner Mitschüler, der damals Besitzer eines Fahrrads war, war der Sohn des Bankdirektors. Dreihundert Goldrubel kostete diese Maschine, das entsprach dem Jahresgehalt von Trawins Vater, einem Hausmeister. Und im Jahre 1923, nach Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnot und Zerrüttung der gesamten Volkswirtschaft, war der Besitz eines Fahrrads für einen Pskower Jungen ein unerfüllbarer Wunsch. So schien es. Gleb Trawin war zu dieser Zeit Waldhüter, und nach dem Besuch des „fliegenden Holländers" war er es, der die Pskower in Erstaunen versetzte. Von einem Kongreß der Forst-
arbeiter in Moskau kehrte Gleb mit einem Fahrrad zurück! Wahrlich, es konnte keinen Vergleich mit der holländischen Maschine aushalten. Es gab Spötter, die behaupteten, Gleb hätte es aus einem Museum gestohlen, es wäre das Zweirad des Uraler Meisters Artamonow, das dieser im Jahre 1801 gebaut hatte und mit dem er Jahre später zum Erstaunen der Moskauer in der Hauptstadt angekommen war und mit dem er auch eine Strecke von fünftausend Kilometern - nach Werchoturje im Ural zurückkehrte. Gleb jedoch hatte seinen Drahtesel in einem Kommissionsgeschäft eingetauscht. Einige Zeit nach der erfolgreichen Überführung von Moskau nach Pskow arbeitete er den Plan für eine Fahrrad-Weltreise aus. Er hatte ein Vorbild: den Uhrmacher Pankratow. Dieser Russe war im Juni 1911 in Charbin (China) gestartet. Im Herbst erreichte er Petersburg, die damalige Hauptstadt Rußlands, dann durchquerte er Deutschland, die Balkanstaaten, die Schweiz, Italien und Frankreich, er fuhr mit dem Schiff über den Ozean Und durchradelte die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, stieg wieder auf ein Schiff, radelte durch Japan, fuhr mit einem Fährschiff nach China und radelte zurück, zum Ausgangspunkt seiner Reise, nach Charbin. Die Weltsportbehörde händigte dem Radwanderer den „Brillantstern" aus. Gleb Trawin hatte sich eine weit schwierigere Route ausgedacht: Start in Pskow, durch die gesamte Sowjetunion, nach Kamtschatka und nach der Tschuktschen-Halbinsel, zur Beringstraße, nach Amerika übersetzen, durch Alaska, Kanada und die Vereinigten Staaten, Mittel- und Südamerika,
Schiffsreise nach Afrika, Durchquerung des Schwarzen Erdteils und, unterbrochen von den notwendigen Schiffsfahrten, Weiterfahrt durch Australien, Japan und nach einem Stückchen China über Wladiwostok zurück nach Moskau. Es war eine große Spirale, die sich um den Globus zog, und Trawin erinnerte sich ihrer viele Jahre später, als sein Landsmann Gagarin diese Strecke in knapp neunzig Minuten zurücklegte. Er trainierte eisern, er durchquerte mit seinem Fahrrad alle Jagdreviere des Pskower Gebiets; und nach den Lokomotivführern, die manches Wettrennen mit ihm gefahren hatten, war es schließlich auch die Sportbehörde, die auf Gleb aufmerksam wurde. Man übertrug ihm die Leitung eines Sportklubs, und im Jahre 1925 erteilte die Oberste Sowjetische Sportbehörde Gleb Trawin die Erlaubnis zu einer Fahrrad-Weltreise. Ihm wurde ein Paß ausgestellt, und in einem Schreiben wurde ihm bestätigt, daß seine Fahrt der Förderung des Radsports diene. Gleichzeitig wurden die sowjetischen Behörden gebeten, Gleb Trawin auf seiner Fahrt zu unterstützen. Die Rote Armee richtete in jenem Jahr Offizierssonderkurse ein. Man brauchte abgehärtete, trainierte junge Menschen. Trawin meldete sich freiwillig, aber er gab seinen Plan nicht auf. Er absolvierte den Offizierskursus, und als Leutnant der Reserve beschloß er, zunächst eine Trainingsfahrt entlang den Grenzen der Sowjetunion zu unternehmen. Um seine Fahrt am östlichsten Punkt des Landes zu beginnen, ließ er sich bei seiner Entlassung vom Kompanieschreiber eine Fahrkarte nach Kamtschatka ausfertigen. Kamtschatka war damals unendlich fern. Es gab noch kein Flugzeug,
das diese Strecke in einem Tag zurücklegte, es gab keine Eisenbahn, die dort hinführte. „Ich schreibe dir für die Reise und das Zehrgeld vierzig Tage aus, das wird wohl reichen?" fragte der Schreiber zweifelnd.
Balanceakt über dem Amur Nach fünf Jahren Pläneschmieden ist es endlich soweit. Gleb Trawin führt ein eigens für ihn in einem sowjetischen Werk angefertigtes Fahrrad in Petropawlowsk auf das Deck eines japanischen Dampfers, der nach Wladiwostok fährt. Am 23. Oktober 1928 ziert der zweite Stempel einer Stadtbehörde sein Tagebuch. Gleb Trawin fährt aus der Stadt am Stillen Ozean auf der Chabarowsker Chaussee durch den Fernen Osten. Der Herbst kann in diesem Gebiet wunderschön und er kann schrecklich sein. Im Oktober 1928 treten durch nicht enden wollende Regenfälle alle großen und kleinen Flüsse über die Ufer. Nur die Telegrafenmasten zeigen an, in welcher Richtung die Chaussee verläuft. Die Schlauchreifen halten einer derartigen Belastungsprobe nicht stand. Gleb muß sie vielmals reparieren. Als er Anfang November Ghabarowsk erreicht, baut er seinen Drahtesel auf gewöhnliche Bereifung um. Auch die Straßen der Stadt sind überflutet, der Amur wälzt sein lehmiges, trübes Wasser durch Gassen und über Plätze, er entwurzelt Bäume, zerbricht Zäune, unterspült ganze Uferstraßen und erlaubt keinen Fährverkehr über den Fluß. Schließlich gestattet man Trawin, die Eisenbahnbrücke zu benutzen. Neben dem einspurigen Gleis ist auf der drei Kilometer langen Brücke nur ein
schmaler Eisenpfad für die Streckenwärter. Das Fahrrad ist schwer mit Gepäckstücken beladen, der Pfad läßt keinen Platz für Fußgänger und Maschine. Jeder, der einmal versucht hat, sein Fahrrad auf schmaler Bordkante zu fahren, wird das Erstaunen, ja Entsetzen der Brückenwache verstehen, als sich Trawin auf seine Maschine schwang. Tief unter ihm der kochende Amur - die Brückenkonstruktion zittert unter dem Anprall der Wassermassen -, und er fährt schnurgerade dem fernen Ufer entgegen. Es ist, als überquerte ein Mensch mit dem Fahrrad im Gebirge auf einem glattgehobelten Balken eine drei Kilometer breite Schlucht. Es ist erstmalig und einmalig, so, wie auf dieser Fahrt noch manches erstmalig und einmalig sein wird. November 1928 in Transbaikalien. Regen, Schlamm und immer wieder Flußläufe ohne Brücken, ohne Furt, oft weit und breit kein Boot. Die ersten Fröste, aber kein Schnee. Plötzlich entdeckt Gleb Trawin ausgezeichnete Chausseen. Er entwickelt eine Meisterschaft, auf dem Eis zugefrorener Flußläufe zu fahren. Er nimmt große Umwege in Kauf, wenn die „Chausseen" nur ungefähr nach Westen führen. Das junge Eis biegt sich, es knistert, und Trawin stellt Geschwindigkeitsrekorde auf. Links und rechts Urwald. Manchmal erreicht er ein Dorf, bevor die Nacht hereinbricht; viel öfter schläft er im Freien. Nachtlager in der Taiga; in Sibirien kann man damit niemand verwundern. Der Wald bietet dem Kundigen immer ein weiches Lager, ein wärmendes Feuer und ein schützendes Dach. Etwas schwieriger ist es mit der Verpflegung. In den Dörfern sorgt man für den seltsamen Wanderer; wie oft aber passiert Trawin
tagelang kein Dorf. Hier helfen nur alle Eigenschaften des Jägers und Pfadfinders. Diesem gibt der sibirische Wald alles, was er braucht: Fleisch und Fisch, Beeren und Pilze - auch im Winter. Einmal ist Gleb Trawin eine Woche lang unterwegs, ohne daß er einen Menschen trifft, ohne daß ein Dorf in Sicht kommt. Siebenhundert Kilometer! Irgendwo, nach den Berechnungen mit Karte und Kompaß hundertfünfzig Kilometer nördlich von ihm, durchschneidet der Schienenweg der Transsibirischen Eisenbahn die Taiga. Gleb Trawin erreicht diese Lebensader auf dem Eise eines kleinen Flusses.
Seltsame Wanderer Dezember 1928. Neben der Eisenbahnlinie ein Trakt. Stürmischer, kalter Wind, abgelöst durch Windstille und eisigen Frost; aber kein Schnee. So sieht der Winter hier, in Transbaikalien, aus. Der einsame Radfahrer trägt keine Kopfbedeckung. Ein Band umschlingt das immer üppiger werdende Haar. In den einsamen Dörfern sind die Leute nicht neugierig. Außerdem macht Gleb Trawin immer erst am späten Abend Rast, und bei Morgenanbruch fährt er wieder los. In den Städten muß er die Behörden aufsuchen, um sich seinen Reisestempel, den Beweis für die zurückgelegte Strecke, für sein Tagebuch zu holen. Gewiß, Interviews für Zeitungen, für den Rundfunk und das Fernsehen braucht er nicht zu geben, aber es läßt sich nicht vermeiden, neugierige Fragen zu beantworten und sich gute Ratschläge anzuhören. „Was ist das für ein
eigenartiger Kopfschmuck?" Gleb Trawin scherzt: „Ich kann mir keinen überflüssigen Ballast und damit auch keine Mütze leisten." In der Stadt Tschita sitzt auf der Behörde ein besonders gewissenhafter alter Herr. „Sie unternehmen diese Fahrt lediglich zu Ihrem Vergnügen?" Und mit der Antwort nicht zufrieden, fragt er in Petropawlowsk auf Kamtschatka an. Dann erwidert er: „Sie können weiterfahren, man hat telegrafiert, daß Sie tatsächlich die gesamte Grenze der Sowjetunion entlangfahren wollen." So etwas läßt sich auch an anderen Orten nicht vermeiden; Wachsamkeit ist kein leeres Wort: In dieser Zeit unterstützen die Japaner weißgardistische Kosakenbanden in Sibirien, und die Engländer versorgen von Afghanistan, Iran und Indien aus die Basmatschen in Mittelasien. Die Amerikaner beliefern von Alaska aus nicht nur die zersprengten Banden ehemaliger Offiziere des Generals Koltschak an der Tschuktschen-Halbinsel mit Waffen, sie plündern auch noch ungestraft den Pelzreichtum des sowjetischen hohen Nordens. Neben allen Unbilden der Natur hat der junge Kommandeur der Roten Armee Gleb Trawin auch die Möglichkeit solcher Begegnungen eingeplant. Sein Gewehr ist nicht nur für die Jagd, sondern auch zur Verteidigung bestimmt. Aber dieser hartnäckige Genosse in Tschita erzählt ihm: „Sie sind bereits der vierte seltsame Wanderer, mit dem ich die Ehre habe zu sprechen. Mit allen nahm es ein schlechtes Ende." „So?" „Ja, im Jahre neunzehnhundertfünf sprach ich mit dem Offizier Basow. Er ritt mit seinem Burschen aus der
Mandschurei nach Petersburg. Er hat die Hauptstadt auch erreicht, aber im Weltkrieg ist er gefallen. Und sechs Jahre später, neunzehnhundertelf, kam Ihr Kollege, der Radfahrer Pankratow, hier durch." „Aber seine Weltreise mit dem Fahrrad ist ihm doch gelungen", widersprach Trawin. „So, das wissen Sie; aber nach seiner berühmten Radfahrt hat Pankratow eine Fliegerschule besucht, und nur zwei Jahre ist ihm das Fliegerglück an der Front treu geblieben. Im Juli neunzehnhundertsechzehn sind vier deutsche Flieger über ihn hergefallen. Das ist sein letzter Kampf gewesen. Und dann ...", der Alte strich sich den Bart, „dann kam im Juli neunzehnhundertvierzehn sogar ein Auto aus Wladiwostok an. Ja, ja. Vollgummiräder mit Holzspeichen. Damit wollte der Offizier Golowatschew nach Moskau fahren. Und was soll ich Ihnen sagen, er war kaum aus Tschita weitergefahren, da kam ein Telegramm: ,Aufhalten! Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt!'" Trawin ist nicht abergläubisch und ist auch darauf gefaßt, daß bürokratische Barrieren nicht die leichtesten Hindernisse auf der Fahrt sein werden. Zunächst gilt es jedoch, den sibirischen Winter zu überwinden.
... auf einem Fahrrad will ich dich zwingen Januar 1929. Der Sturm fegt über die spiegelglatte Eisfläche des Baikals. Trawin durchfährt die Gebirgszüge am Ostufer des „sibirischen Meeres" auf dem Flußlauf der Selenga.
Gleb Trawin im Jahre 1929 Er fährt nicht um den See herum, sondern wie die Fischer, die dick verhüllt in ihren Pelzen auf den Schlitten sitzen, wählt er den direkten Weg über den See. Nach zwanzig Kilometern holt er solch eine Fuhre ein. Nur die dampfenden Pferde zeigen Leben. Trawin ruft: „Hallo, Reisegenossen!" Gesichter mit reifbedeckten Barten und Augenbrauen wenden sich ihm zu; ungläubige Blicke. Ein Radfahrer mitten auf dem Baikalsee! „Komm näher, wenn du kein Geist bist.
Woher kommst du denn?" „Aus Kamtschatka!" Die Fischer sind bereit, alles andere zu glauben. „Du bist irgendwo ausgerückt?" Gleb Trawin zeigt seinen Paß. „Und wohin willst du?" Es sind harte Männer, die hier am Baikal leben. Sie machen nicht viel Wesens daraus, ihre Fische im Winter mit dem Schlitten hundert Kilometer über das Eis zur nächsten Eisenbahnlinie zu bringen. Doch diese Antwort.. . „Zum Eismeer willst du? Genügt dir der Baikalsee nicht?" Einer zieht die Pelzhandschuhe aus, er sucht in der Fracht und wirft dem Radfahrer einen Fisch zu. „Hier, probier einmal unseren Omul! Im Eismeer gibt es keine besseren Fische. Und hier, trink noch einen Wodka dazu." „Ich trinke nur Wasser, und auch das nur zweimal am Tag, schon seit meiner Abfahrt in Kamtschatka." Jetzt glauben die Fischer zu verstehen. „Ach so, du machst eine Pilgerfahrt. .." Nun sind sie bereit, alles zu glauben. Sie bekreuzigen sich und blicken nachdenklich dem Radfahrer nach, der sie überholt hat und als kleines Pünktchen im Grau des Wintertags verschwindet. Was für Sünden muß dieser Unglückliche auf sich geladen haben! Februar 1929. Wie eine unendliche Schneise führt der sibirische Trakt neben der Bahnlinie von Irkutsk nach Krasnojarsk. Strahlendblauer Himmel; die Kälte ist leichter zu ertragen als in Transbaikalien. Aber wehe, wenn ein leichter Windzug den pulvrigen Schnee aufwirbeln läßt. Selbst die Schlittenfuhren bilden dann
eine Wagenburg, und Gleb Trawin - baut seine ersten Schneehöhlen. Der sibirische Trakt ist zwar glattgefahren, aber hier im Ostteil des ' gewaltigen Waldozeans, der sich vom Ural bis zum Stillen Ozean erstreckt, sind unzählige Steigungen zu überwinden. Trawin fährt wie auf einem ungeheuren Meer, das mitten im Sturm plötzlich zugefroren ist, über unzählige Wellenkämme, Hügel und Mulden. Er jagt die Abfahrten hinunter, um die nächste Steigung zu überwinden ..., bis ein riesiger Baum quer über dem Trakt liegt. Er erwacht benommen in einer Schneewehe. Vor dem Baumstamm steht ein Fuhrwerk, ein Mädchen bemüht sich, das Hindernis zu beseitigen. Sie rennt zum Schlitten und kehrt mit einem Gewehr zurück, als Trawin sie aus seiner Schneewehe anruft. „Ein Radfahrer! Das glaube ich gern. Solche Radfahrer kenne ich!" Dann erblickt die Komsomolzin und Klubleiterin das Fahrrad, und zum erstenmal während seiner Fahrt kann es Trawin nicht abschlagen, im nächsten Dorfklub wenigstens einen Vortrag über Kamtschatka zu halten. Eineinhalb Monate braucht Trawin vom Baikal bis zur Stadt Krasnojarsk, auch der Jenissej ist zugefroren - von hier bis zum Eismeer. Der Fluß ist im Winter zur Hauptstraße der Stadt geworden, zu einer Trawin lockenden Straße, die gerade - so wenigstens scheint es ihm - schnell zu seinem Ziel führt, das er von hier in einem Monat, aber, wenn er seinem ursprünglichen Plan folgt, vielleicht erst in einem Jahr erreicht: die Polarstation Dikson am Eismeer. Hinter Krasnojarsk endet Ostsibirien. Bis zum Ural und bis zu den Steppen Mittelasiens erstreckt sich jetzt das Westsibirische
Tiefland. Trawin behält die alte Route bei. Er fährt schließlich doch dem Frühling entgegen. Am 5. April 1929 erreicht er Nowosibirsk. Er hat bis hierher nicht nur ganz Sibirien durchfahren, sondern läßt auch den sibirischen Winter hinter sich. Vom ersten Frost und durch Schneestürme bis zu den tauenden Eiszapfen an den Dächern der sibirischen Bauernhäuser hat er immer nach dem gleichen strengen Tagesplan gelebt: im Morgengrauen aufstehen, mit entblößtem Oberkörper im Schnee waschen, Frühstück, Fahrrad überprüfen, Start. Keine Zigarette, keinen Schluck Alkohol, die minimalste Bekleidung, keine Kopfbedeckung. Trawin weiß, alles was er auf dieser Fahrt durch, den Fernen Osten und Sibirien bestanden hat, ist nur ein Training im Vergleich zu dem, was ihn an der Eismeerküste erwartet. Dort wird er über Strecken von Tausenden Kilometern keine Städte, nicht einmal Dörfer antreffen.
Steppenfahrt Hinter dem Irtysch geht Trawin im April 1929 auf Südkurs. Den letzten sibirischen Stempel in seinem Tagebuch ziert noch die Bemerkung: „Hat ein Paar Schuhe bekommen." Gleb Trawin ist jetzt ein halbes Jahr unterwegs, und die Fahrt durch die aufgeweichte Steppe bis zur Stadt Semipalatinsk läßt ihn täglich nur einige Kilometer der endlosen Strecke erreichen. Aber der Wechsel zwischen Winter und Sommer ist in diesem Gebiet kurz, und bald kommt Trawin seine Disziplin zugute. Trawin ermüdet auch in der Hitze nicht. Er nimmt ein Bad in den durch die Schmelzwasser im
Gebirge angeschwollenen Steppenflüssen, aber er trinkt nach wie vor nur am frühen Morgen und am späten Abend. Am Balchasch-See übernachtet der Radfahrer zum erstenmal in einer Jurte. Der Hausherr, ein Kasache, bewirtet Trawin am Morgen vor der Abfahrt mit einer großen Tasse Airan, saurer Schafsmilch. Trawin trinkt nach seiner Gewohnheit wenig. Er gießt den Rest aus, um die Tasse zu säubern. Die Gesichter der Kasachen versteinern. Eben hat er sich mit ihnen noch, ohne der Sprache mächtig zu sein, freundlich verständigt, jetzt sind die Brauen der Männer zusammengezogen, ihre Blicke sind böse, und die Frauen wenden sich ab. Etwas Unverzeihliches ist geschehen. Trawin versteht, daß er Ähnliches getan hat, als würde ein Gast in einer russischen Bauernstube Brot auf den Fußboden werfen ... Noch viele Völker des großen Rußlands wird Trawin kennenlernen - dieses Mißgeschick in der kasachischen Steppe ist ihm eine Lehre, die er auf der ganzen Radfernfahrt beherzigt. Auch in Kasachstan sind die einfachen Menschen überall seine Freunde. Sie leben zwischen dem Mittelalter und dem zwanzigsten Jahrhundert. Gestern hat man den Bei weggejagt, sein Land verteilt, heute baut man die TurkestanischSibirische Eisenbahn (Turksib), und mit Traktoren und Maschinen kommt auch das elektrische Licht in die Dörfer. Irgendwo hilft Trawin einen Motor reparieren, bessert eine Lichtleitung aus - die kleinen wunderbaren Lämpchen strahlen wieder ihre unwahrscheinliche Helligkeit aus. Die Kasachen schnalzen vor Vergnügen mit der Zunge. „Hör mal, bleib hier. Bekommst ein Haus, wenn du eine
Frau willst, auch eine Frau, sogar ein Pferd, und was für eins." Es geht noch etwas durcheinander mit der alten Tradition und der neuen Technik.
Gletscher und Wüste Trawin ist unbarmherzig mit sich selbst. Er könnte am Fuß der großen Gebirge entlangfahren. Auf der Karte der Sowjetunion wäre ein Unterschied nicht einmal so sehr bemerkbar. Trawin fährt sechs Tage durch die Steppe, ohne einen Menschen anzutreffen, nur um in das Gebirge einzudringen, um möglichst dicht an der Grenze entlangzufahren. Damals führte noch keine Straße nach Alma-Ata. Oft steigt Gleb vom Rad, um regelrechte Klettertouren zu unternehmen, das Fahrrad zieht er dann mit einem Strick nach. Von einer Höhe aus sieht er dann endlich Alma-Ata, die Stadt der Äpfel, im Schmuck vieler Tausender blühender Obstbäume unter sich liegen, und - von der anderen Seite führt auch eine Straße in die Stadt. Gleb kommt vom Gebirge herunter durch jenes Tal, auf dem einmal alle Ausflügler und Touristen auf glatter Asphaltchaussee zu einem Aussichtspunkt fahren werden, den man dann auch mit einer Drahtseilbahn erreichen kann. Davon ahnt Gleb nichts. Er erfreut sich der schattigen Straßen und der vielen kleinen Kanäle, die das kühle Gebirgswasser in die Gärten leiten. Auf der alten usbekischen Karawanenstraße erreicht Trawin innerhalb weniger Tage die Steppe. Vor seinen Augen verändert sie ihr Aussehen. Das saftige grüne Gras verdorrt, die Blumenteppiche verschwinden, die frische Luft wird
durch trockene Backofenhitze verdrängt. Wo im Frühling kleine Seen waren, glitzert das Salz weiß zwischen den gelben Steppengräsern. Schließlich wird auch dieser Lehmboden von der Hitze in Vierecke und Rhomben zerrissen. Gleb fährt mit Handschuhen; denn mit bloßen Fingern kann er das erhitzte Metall des Rades nicht berühren. Die Gummihandgriffe kleben und lösen sich schließlich auf. Einmal überfährt er eine Falange, eine giftige Spinne, deren Biß tödlich ist. Vom Vorderrad wird sie auf seinen Rücken geschleudert. Trotz Sonnenglut überläuft Trawin ein eiskalter Schauer; doch die Spinne ist schon tot. Zuweilen liegen kleine Dörfer, in Mittelasien Kischlak genannt, am Wege. Lehmhäuser, enge Gassen, vom Fuß bis zum Kopf vermummte Frauengestalten, gehässige Blicke der Männer. Irgendwo, in der Wüste, sterben Rotarmisten unter den heimtückischen Kugeln entrechteter Feudalherren und fanatischer Muselmanen. Aber als Trawin in Taschkent einfährt, laufen die jungen Usbekinnen bereits ohne Schleier, und sie sitzen neben den Jungen in den Hörsälen ihrer neuen Universität. Trawin läßt sich auch von der großen Stadt zu keinem Aufenthalt verlocken. Er passiert sie am 22. Mai 1929, und er überquert am selben Tag den Fluß Syr-Darja. Er fährt durch das Gebiet der Hungersteppe. Sie wird drei Jahrzehnte später noch denselben Namen tragen, aber auf unendlichen künstlich bewässerten Feldern dem usbekischen Volk Riesenerträge an Baumwolle und Früchten bringen. Für Trawin jedoch hat der Name Hungersteppe noch volle Gültigkeit. Des Nachts umheulen Schakale sein einsames Lagerfeuer, am Tage sind Eidechsen und
Schildkröten die einzigen Lebewesen oder hoch oben am grellblauen Himmel Geier, die in lautlosem Flug verfolgen, wie lange sich dieses seltsame Wesen dort unten noch vorwärts bewegt. Am 25. Mai erreicht Gleb Trawin die Stadt Samarkand mit ihren Moscheen und Palästen, deren blaue Kuppeln mit der Farbe des Himmels wetteifern. Trawin biegt ab nach Tadshikistan; wieder geht es über steile Pässe auf schwindelerregenden Pfaden ins Gebirge. Bevor Trawin an eine Gegenwehr denken kann, überwältigen ihn an einer alten Festung bewaffnete Männer. „Schaitan Inglish! (Englischer Teufel!)" Sie halten ihn für einen Waffenschmuggler oder Agenten. Der ehemalige Bek von Gissar, durch die Oktoberrevolution entthront, hat erst vor kurzem mit einer Bande die afghanische Grenze überschritten und die Residenz seiner Väter dem Erdboden gleichgemacht. Erbittert rechnet nun die Bevölkerung mit jedem Basmatschen ab. Und nun halten sie Gleb Trawin mit seinem Fahrrad für einen Spion. Niemand versteht Russisch, und wenn sich Trawin durch Gebärden verständigen will, trifft ihn der Stoß eines uralten Gewehrlaufs im Rücken. Erst in der nächsten Ortschaft klärt ein Rotarmist die für den Reserveleutnant der Roten Armee Trawin keineswegs ungefährliche Situation.
Die grüne Lawine Termes - die heißeste Stadt der Sowjetunion, und Trawin erreicht sie in der heißesten Jahreszeit. Das Thermometer zeigt zweiundfünfzig Grad im Schatten.
Ein Jahr später wird Gleb Trawin an der genau entgegengesetzten Grenze ebensoviel Kältegrade erleben und überwinden. Jetzt aber beeilt er sich, seinen Südkurs auf Westkurs zu ändern. Auch auf der neuen Strecke ist der Kompaß sein Richtungweiser. Je nach Beschaffenheit des Geländes legt Trawin je Tag fünfzig bis hundert Kilometer zurück, und er fährt immer noch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Schweiß rinnt ihm über das hagere Gesicht. Ein Käfer klatscht gegen die Wange. Trawin streift ihn ab - eine Heuschrecke. Dann wirbeln sie plötzlich zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tausenden unübersehbar in der Luft eine grüne Wolke, die immer dichter wird. Mit tiefgebeugtem Kopf tritt Gleb mit aller Anstrengung die Pedalen. Die Heuschrecken hängen an ihm von den Haaren bis zu den Füßen, an seinen Gepäckstücken und selbst am blanken Metall! Es ist sinnlos, sie abschütteln zu wollen. Die Füße rutschen von den Pedalen, von den Rädern wirbelt widerwärtiger Schleim hoch. Trawin fährt blind, auch die Gläser der Motorradbrille sind von Heuschrecken bedeckt. Schließlich wühlt sich das Vorderrad in den Sand einer Düne. Trawin stürzt kopfüber in die grüne Masse. Er springt auf, tastet nach dem Fahrrad und rennt weiter wie ein gejagtes Tier, ohne den Lenker loszulassen. Plötzlich steht das Vorderrad quer, der Mensch fällt, und er denkt voller Entsetzen: Ich werde ersticken. Er arbeitet sich noch einmal hoch und taumelt weiter - ohne das Fahrrad. Täuscht er sich, oder wird die grüne Wolke lichter? Über ihm ist Motorengeräusch. Flugzeuge lassen dichte weiße Staubwolken hinter sich, sie streuen Chemikalien. Dann
kommen Lastkraftwagen angerumpelt. Männer springen herab, mit Spaten in den Händen, sie rollen Fässer herunter. Den grünen fliegenden Heuschrekken folgen kleine graue Grashüpfer; es gilt, sie zu vernichten, bevor auch sie als grüne fliegende Lawine die Obstgärten und Baumwollplantagen erreichen. Trawin schließt sich dem Bekämpfungstrupp an. Zwei Tage lang arbeitet er mit bis zur völligen Erschöpfung, als „Infanterist an der Landfront" zur Vernichtung dieser uralten Plage des Morgenlands. Der weitere Weg führt auch durch die Wüste, aber von Buchara an fährt Trawin immer in unmittelbarer Nähe der Eisenbahnlinie. Sie führt durch die Wüste Karakum nach Aschchabad. Mit der Strecke von Aschchabad nach Krasnowodsk am Kaspischen Meer liegt Mittelasien hinter dem Radwanderer. Ein Schiff trägt ihn nach Baku. Von hier bis zur Ostsee wird er auf Strafjen fahren, durch Städte und Dörfer, vorüber an Gärten, Getreidefeldern, Wäldern und Wiesen, an Brunnen mit erfrischendem Wasser, an großen und kleinen Flüssen; und an weichen Schlafstellen in Heuschobern wird kein Mangel sein. Zwei Wochen braucht Trawin, um die Pässe des Kaukasus zu überqueren. Die Gipfel des Elbrus und des Kasbek glänzen im ewigen Schnee. Der Terek donnert seine Wassermassen schäumend durch tiefe Schluchten. Heute fahren Touristen aus dem In- und Ausland in Omnibussen und Autos auf dieser Route. Kaum einer von ihnen, der sich vorstellen könnte, wie man über diese Pässe gelangen könnte, wenn die Straße nicht asphaltiert und an den gefährdetsten Stellen durch Tunnel vor Lawinen abgesichert wäre.
Trawin und sein „eisernes Rentier" auf der Krim Für Trawin ist der Paß schon damals eine Straße erster Ordnung. Er überquert den Kuban und leistet sich den Umweg über die Krim, trotzdem erreicht er Moskau in fünf Wochen.
„... rechts geht es nach Afrika!" Am 23. September 1929 stoppt ein Milizionär den etwas eigenartig aussehenden Radfahrer. Moskau ist schließlich Moskau. „Ihre Papiere." In gewohnter Würde hebt
der Hüter der Ordnung zwei Finger an seinen Mützenschirm. „So, aus Kamtschatka kommen Sie? Über Samarkand? Hören Sie mal, ist das kein Umweg? Und immer mit dem Fahrrad?" „Ja, immer mit dem Fahrrad!" „Und wohin wollen Sie?" „Die Eismeerküste entlang zur Beringstraße!" „Zur Be-Beringstraße? Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Sie müssen hier nach links abbiegen, rechts geht es nach Afrika!" In der Obersten Sportbehörde erfährt Trawin, daß aus der neuerbauten Automobilfabrik in Gorki drei Lastkraftwagen aus der ersten Produktion - Fordlizenz — eine Erprobungsfahrt von Moskau nach Wladiwostok machen wollen. Als ein Verbindungsfahrzeug soll ein Motorrad mit. „Das wäre doch etwas für Sie?" Trawin lehnt ab. Das Angebot ist verlockend, aber nicht auf Kosten seiner Radfahrt. „Sie werden nicht einmal bis nach Murmansk kommen, wie wollen Sie das sumpfige Karelien bezwingen? Doch nicht auf den Schwellen der Eisenbahnlinie?" Trawin zeigt auf die Karte. „Auf dem Eis der zugefrorenen Seen, ich habe da so einige Erfahrungen." Heute liegt die Stadt Amderma an jenem Punkt der Jugor-Halbinsel, wo der Funker einer kleinen Polarstation Anfang April 1930 folgenden Spruch zur Polarstation auf der Insel Waigatsch absandte: „Ein Sportsmann ist aus Kamtschatka mit einem Fahrrad bei uns eingetroffen!" Auf der Polarstation der Insel lacht alles über den verspäteten Aprilscherz. „Wie ist dieser Supersportier nur unbemerkt bei uns vorübergefahren?" Der Koch ulkt: „Vielleicht ist er andersherumgefahren,
so linksherum über Samarkand?" Alles biegt sich vor Lachen. Die Insel Waigatsch liegt zwischen den nördlichen Ausläufern des Uralgebirges und der Insel Nowaja Semlja. Die Funkstation ist besonders wichtig für die Schiffe der sogenannten Karischen Expeditionen, die in den Sommermonaten jener Jahre mit Hilfe von Eisbrechern schon regelmäßige Fahrten von Murmansk und Ar-. changelsk bis zur Jenissejmündung, zum neuerbauten Hafen Igarka, unternehmen. Dabei haben auch die Männer auf der Insel Waigatsch schon längst Kunde von Trawin erhalten. Der unsichtbare Tundratelegraf unter den Jägern, Fallenstellern und Rentierhirten verbreitet schon seit Wochen Nachrichten über den Mann mit dem eisernen Rentier, der mitten im Winter allein die Einöde zwischen dem Fluß Pe-tschora und dem Ural durchreitet: „Er hat sich in der Jaranga von Nikitin mit dem Jagdmesser zwei erfrorene Zehen abgeschnitten." Es geht den Überwinterern auf der Insel Waigatsch nicht anders als ihren Kollegen auf dem Festland, auf der Jugor-Halbinsel. Auch sie machen ihre Witze über das Rentier mit den nach hinten gebogenen Hörnern, dem roten funkelnden Leib und seinem Reiter, „der ständig mit den Beinen zappelt". Hier müssen die Schamanen ihre Hand im Spiel haben. Doch der Reiter auf dem eisernen Rentier scheint sich zu nähern. Und eines Tages klopft es an die Tür des Arztes. „Können Sie mir bitte einmal einen fachgerechten Verband anlegen?" Der Arzt schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Ihr Glück nur, daß Sie nach der Amputation ständig weitergefahren sind. Die unaufhörliche Bewegung hat keinen Brand entstehen lassen."
Aber nun läßt der Arzt kraft seines Amtes den Patienten, der ihm in die Hände geraten ist, nicht weiterfahren, bis die Wundbehandlung abgeschlossen ist. Trawin hackt Holz, er hilft in der Bäckerei und beim Hausbau. Er feiert den Ersten Mai in der Polarstation. Danach jedoch teilt er dem Arzt mit: „Ich will einen kleinen Abstecher zu der Funkstation auf der Insel Waigatsch machen." Zu Trawins Verwunderung ist der Arzt einverstanden. „Wenn Sie durch Sibirien und über die karelische Seenplatte gekommen sind, will ich Ihnen diesen Ausflug bewilligen." Trawin ahnt nicht die Hintergedanken des besorgten Arztes. Aus der Karischen See sind nämlich frühzeitig Eisbewegungen gemeldet. Ob und Jenissej sind im Mittellauf schon frei, das bedeutet, daß in drei bis vier Wochen ihre riesigen erwärmten Wassermassen in das Eismeer strömen werden und weite Strecken der Küste dadurch vom Randeis frei werden. Dann ist diesem tapferen Jungen der weitere Weg in den sicheren Untergang versperrt; denn auf dem Festland müßte er im Riesenumweg durch aufgeweichten Frostboden, durch das weglose Uralgebirge und müßte dann schließlich noch die über hundert Kilometer breite Obbucht überqueren; ein aussichtsloses Unternehmen. So denkt der Arzt. Auf der Insel ist des Verwunderns kein Ende. „Mein Pedal ist zerbrochen, haben Sie eine Werkstatt?" Das sind die ersten Worte des Mannes, der von der Seite des Karischen Meeres über das Eis kommt, so als läge die Polarstation irgendwo zwischen Tula und Moskau. Die jungen Leute sind begeistert, als Trawin von seiner bisherigen Fahrt erzählt. Die erfahrenen langjährigen Überwinterer schütteln mit den Köpfen. „Aber hier ist
Schluß, junger Mann, hier ist die vorletzte Tür vor dem Ende der Welt." Sie erzählen ihm ausführlich vor? der Tragödie der Expedition des Italieners Nobile. Trawin hat jedoch diese Tragödie, die drei Monate vor seinem Start alle Zeitungen gefüllt hat, aufmerksam studiert, und er verwundert die „alten Polarfüchse" auch durch seine sonstigen Kenntnisse der arktischen Verhältnisse. „Und wo ist der Flieger Tschuchnowski, der die beiden letzten Italiener der Nobileexpedition entdeckt hat?" fragt er. „Irgendwo an der Jenissejmündung, er wird dich auch noch suchen müssen, wenn du so weitermachst." Die Jäger auf der Insel Waigatsch haben sich in diesem Jahr zu einer Genossenschaft vereinigt. In ihrer Hauptstadt, bestehend aus acht Jarangen, stempelt ihr Vorsitzender Taiborei das Tagebuch Trawins mit einem kunstvoll geschnitzten Siegel aus Seehundknochen. Voller Stolz zeigt er Trawin einen zerknitterten Funkspruch aus Archangelsk, in dem seine Wahl bestätigt wird. „Das ist ein sprechendes Papier", erklärt er, „jetzt kennt man mich auch in Archangelsk." Dieser Mann, der das Vertrauen seiner Landsleute im Umkreis von über tausend Kilometern besitzt, ein alter Mensch, der von Kindesbeinen an in ständigem Kampf mit der harten Natur seiner Heimat steht, erkennt die Leistung Trawins an: „So spät ist noch nie jemand über das Eis zu uns gekommen."
Polarfrühling Auf dem Rückweg zum Festland fliegen Trawin riesige Scharen von Zugvögeln entgegen. Frühankömmlinge
haben schon ihre Nester in die Uferfelsen gebaut. Mit Vergnügen bereitet sich Gleb lang entbehrte schmackhafte Eierspeisen. Einige Kilometer von der Funkstation entfernt sammeln sich bei der Faktorei Chabarowo die einheimischen Jäger und Fallensteller. Immer neue Schlitten kommen an, hochbeladen mit Fellen, und bald herrscht im Jurtendorf fröhliches Leben. In der Faktorei lichten sich die Warenbestände, da taucht am Horizont eine lang ersehnte Rauchwolke auf: ein Handelsschiff. Die Funkstation meldet, es sei der Eismeerfrachter „Sibirjakow". Kutter landen, vollbeladen mit den Schätzen eines Warenhauses. Im Angebot die Sensation dieses Jahres: Grammophonapparate. Die Dolganen und Nenzen sind reich; hier handelt nicht mehr ein amerikanischer Aufkäufer, der die Preise nach seinem Belieben festsetzt. Seit drei Jahren wissen die Jäger schon im Winter, wenn sie ihre Fallenlinien abfahren, welchen Wert das erbeutete Fell haben wird. Mit der „Sibirjakow" ist auch eine geologische Expedition gekommen und - eine Feldscherin. Die Nenzen und Dolganen sitzen mit bloßen Oberkörpern im Kreis zu einer wichtigen Beratung. Aus Archangelsk ist der Stammesälteste zurückgekehrt. Hauptthema der Beratung: Zusammenschluß zu einer Jagd- und Rentierzüchtergenossenschaft. Der Stammesälteste, er heißt jetzt Vorsitzender, sagt: „Wir werden zusammen arbeiten, einander helfen und hier bei der Faktorei feste Häuser bauen; auch eine Schule. Mit dem nächsten Schiff wird man uns große Boote mit Motoren bringen." Da ertönt eine helle Mädchenstimme: „Und eine Badeanstalt werden wir
schon in diesem Jahr bauen und gegen den Schmutz kämpfen und gegen die Krankheiten ..." Die Versammelten drehen sich um, sie mustern das schmächtige Persönchen, das den Sommer ignoriert und noch eine dicke Wattejacke, Pelzmütze und Pelzjacke trägt. „Ein kühnes Mädchen!" sagt ein Nenze. „Werden wir auch solche eisernen Rentiere bekommen?" ruft ein junger Jäger; er zeigt dabei auf Trawin. Trawin antwortet: „Sogar solche, auf denen zwei Jäger sitzen können und die von selber fahren, und welche, die vier runde Beine haben, darinnen hat die Last von zehn Schlitten Platz." „Oho", ertönt es erstaunt und verwundert im Kreis. Aber niemand zweifelt an Trawins Worten. Wie sollte man auch, wenn in diesem kleinen viereckigen Kasten mit dem großen Trichter Menschen sitzen, die singen und musizieren, wenn man nur die Kurbel dreht. Der Vorsitzende, er ist schon mit dem eisernen Vogel geflogen, weiß aus der Stadt Archangelsk noch andere Dinge zu berichten: „Man wird uns Schlitten schicken, die ohne Hunde und Rentiere fahren, und Fahrzeuge auf Ketten, die ziehen ein ganzes Haus über den Schnee." Trawin setzt sich zur Feldscherin und fragt diese: „Wie ist Ihr Name?" „Klawa, das heißt Klawdija Wassiljewna", korrigiert sich das Mädchen, und sie fügt hinzu: „Das Nordkomitee des Komsomol hat mich hierherdelegiert, werden Sie mir helfen?" Auf der Funkstation vermerkt man, daß es Trawin auf einmal gar nicht eilig hat mit seiner Weiterfahrt. Er hilft beim Mauern von Fundamenten, beim Hausbau, und schließlich errichtet er, das erstemal in seinem Leben,
auch einen Ofen. Klawdija nickt zufrieden bei der ersten Probe. „Der Rauch kommt aus dem Schornstein 'raus, das ist die Hauptsache." Anscheinend hat die junge Komsomolzin auch schon andere Öfen gesehen. Gleb zimmert aus alten Kisten Garderobenschränke, Tische und Stühle, Betten, Schränkchen und Regale für die Medikamente, schließlich malt er sogar ein großes Schild „Sanitätsstube". Weil niemand von den fröhlichen Jägern krank werden will, wird Gleb auch der erste Patient. Er erinnert sich seiner amputierten Zehen. Die Polarweide zeigt ihre Kätzchen, der Blumenteppich ist so üppig, wie es Trawin nicht einmal im mittelasiatischen Steppenfrühling erlebt hat. In der Büchse auf dem Tisch, sorgsam mit einer Papiermanschette umwickelt, stehen die ersten Veilchen. Auf den Tundraseen führen die Gänse und Enten ihre kleinen. wolligen Nachkömmlinge zur ersten Schwimmfahrt aus, und eines Tages flattert sogar ein Schmetterling zur offenen Tür der Sanitätsstube herein. Auch die Jäger nutzen die Zeit. Sie bringen Jagdgerät und Kleidung in Ordnung. Trawin sieht ihnen manchen Kniff ab, und er näht sich ein kleines Zelt mit doppelten Bahnen. Die Jäger rüsten zum Aufbruch, und die jungen Polargänse starten zu ihren ersten Flugversuchen, als Trawin in der Funkstation mitteilt, nun sei auch für ihn die Zeit gekommen. Die ruhigen Nordländer geraten in Erregung. „Und Klawa? Wie kannst du von solch einem Mädchen Weiterreisen? Wie soll sie ohne dich zurechtkommen?" Kein Zureden hilft, und die Funker sehen, daß es Trawin selber schwer genug fällt mit seiner Entscheidung. „Du solltest wenigstens versuchen,
mit den Wissenschaftlern auf dem Eisbrecher ,Lenin' zu sprechen. Sie haben die Eisverhältnisse bis zur TaimyrHalbinsel untersucht, und einige von ihnen werden sich wohl auch weiter nördlich auskennen. Sicher können sie dir wichtige Ratschläge geben." Der Ankerplatz der „Lenin" ist auf der anderen Seite der großen Bucht. „Ich werde das angeschwemmte Boot, das im Schuppen liegt, in Ordnung bringen", antwortet Trawin. „Das ist doch nur noch zum Verbrennen gut", entgegnet der Bäcker. Voller Erstaunen sehen alle, wie Trawin im Verlauf einer Woche aus dem Bootswrack eine seetüchtige Schaluppe zimmert. Jeder hilft bei dem Werk, wo er sich als Fachmann fühlt. Dann ist es soweit. Trawin hißt das aus Mehlsäcken genähte Segel, und er schiebt sich mit dem selbstgeschnitzten Ruder ab. Alle Angehörigen der Funkstation, alle Jäger und Klawa stehen am Ufer, als das Boot, zwischen Eisschollen lavierend, der freien See zustrebt. Noch einmal blinkt vom Lenker des Fahrrads ein Sonnenstrahl einen Gruß zum Festland.
Eisbrecher, Polarflieger und Radfahrer Zu jener Zeit war das Dampfschiff „Lenin" der stärkste Eisbrecher der Sowjetflotte. Doch selbst heute, auf dem Atomeisbrecher „Lenin", würde ein Funkspruch dieser Art nicht anders aufgenommen werden als damals im Jahre 1930: „Ein Radfahrer ist zu euch unterwegs, er will mit den Wissenschaftlern den weiteren Weg zur Beringstraße beratschlagen." Einen Tag später empfängt man auf der Jugor-Halbinsel die lakonische Antwort:
„Radfahrer eingetroffen. Eisbrecher Lenin." Die Segelfahrt zu dem Eisbrecher erweist sich für Trawin als eine Klippe auf seinem weiteren Weg, die, wie es scheint, nicht zu umschiffen ist. Leiter der Expedition auf dem Schiff ist der Polarforscher Nikolai Jewgenow. Er ist Teilnehmer der legendären Fahrt der Eisbrecher „Taimyr" und „Waigatsch", bei der es gelang, in den Jahren 1913 bis 1915 den Nördlichen Seeweg mit zwei Überwinterungen von Ost nach West zu durchfahren. Es war dies nach der Fahrt des Norwegers Nordenskiöld auf der „Vega" im Jahre 1879 die erste Bezwingung dieses Seewegs durch große Schiffe. In diesem Jahr hatte Jewgenow mit der „Lenin" und noch zwei Eisbrechern über fünfzig ausländischen Handelsschiffen den Weg in die Jenissejbucht zum neuerbauten Hafen Igarka gebahnt. „Sie sind ein Phantast, junger Mann! Ihre bisherige anerkennenswerte Leistung ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was Ihnen bevorsteht. Begreifen Sie doch: Es gibt auf Ihrem weiteren Weg nicht einmal Polarstationen, keine Möglichkeit, Nahrungsmittel zu ergänzen, keine Nachrichtenverbindung; die letzte Funkstation ist Dikson. Ich vertrete hier die Sowjetmacht. Kraft meiner Kenntnisse bin ich verpflichtet. Sie zurückzuhalten." „Geben Sie mir überhaupt keine Chance? Ich werde doch immer am Ufer entlangfahren." „Ich will Ihnen etwas erzählen: Im Jahre neunzehnhundertzwanzig hatte einer der besten Kenner der Arktis, der Norweger Amundsen, mit seinem Schiff ,Maud' die äußerste Spitze der Taimyr-Halbinsel am Kap Tscheljuskin erreicht. Während der erzwungenen
Pause, in der sein Schiff von Eismassen eingeschlossen war, schickte er zwei seiner erfahrensten Matrosen mit einem Bericht über den Fahrtverlauf zur Funkstation Dikson. Die beiden Matrosen Tessem und Knudsen wanderten auch nur die Küste entlang. Sie kamen nie in Dikson an. Einer der besten Kenner der Taimyr-Halbinsel, der russische Jäger Begitschew, fand schließlich den Leichnam Tessems. Er lag vier Kilometer von der Funkstation entfernt." „Also geben Sie mir gar keine Chance?" „Ich gebe jedem notwendigen und gründlich vorbereiteten Unternehmen eine Chance. Auf unserer Durchfahrt von Ost nach West entdeckten wir im September neunzehnhundertdreizehn die Inselgruppe Sewernaja Semlja. Wir mußten dort überwintern, und auch im nächsten Sommer kamen die Schiffe nicht frei. Wir entschlossen uns schließlich, alle nicht unbedingt notwendigen Leute, über fünfzig Mann, auf das Festland zu schicken. Zu Fuß. Das war notwendig, damit die restliche Besatzung und die Wissenschaftler die geplante Fahrt, und sei es mit noch drei Überwinterungen, fortsetzen konnten. Die Matrosen legten dreihundert Kilometer auf dem Eis des Karischen Meeres zurück und anschließend noch fünfhundert Kilometer über die Taimyr-Halbinsel bis zum Jenis-sej. Es war ein großes Kollektiv erfahrener Nordmeermatrosen unter Führung von Polarwissenschaftlern, und doch baten wir durch einheimische Jäger diesen Begitschew zu uns, ohne dessen wertvolle Unterstützung das Unternehmen vielleicht nicht so gut verlaufen wäre." „Und wo ist Begitschew jetzt?"
„Einheimische Jäger haben ihn vor zwei Jahren tot am Fluß Pjasina aufgefunden. Skorbut. Aber Sie werden sicher einige Zentner Frischgemüse mit sich schleppen?" Jewgenow schritt erregt in der Kajüte auf und ab. Zwei Jahre ist dieser junge, nicht unerfahrene und in Strapazen gestählte Mensch jetzt unterwegs. Jewgenow hat vorher aufmerksam Trawins Fahrtbericht angehört. Es hat genug Situationen gegeben, die ein anderer nicht überstanden hätte. Zufälle und glückliche Umstände können drei-, vier- oder fünfmal eine Rolle spielen, aber nicht ein dutzendmal. Wird dieser Mann seine Absicht aufgeben, wenn er ihn an Bord behält und erst in Murmansk wieder an Land setzt? Dieser Reserveleutnant dient eigentlich weiter. Es gibt ein Beispiel, wozu ein einzelner Mensch fähig ist. Jewgenow dreht sich zu Trawin um. „Ihre Chance ist eins zu hundert!" „Na sehen Sie, ein Prozent und ich dazu, das sind schon zwei Faktoren." „Machen Sie keine Witze. Kommen Sie zur Karte. Ich will Ihnen den Weg von Dudinka am Jenissej über die Taimyr-Halbinsel und weiter zum Fluß Lena schildern. Ich habe vor zehn Jahren in diesem Gebiet Vermessungsarbeiten geleitet." Noch einigemal sitzen beide Männer über der Karte der Taimyr-Halbinsel und Jakutiens. Staunend sieht die Besatzung das Eisbrechers, wie der Expeditionsleiter Jewgenow den Polarradfahrer verabschiedet. Die Schaluppe Trawins wird wieder zu Wasser gelassen. „Sie melden sich also auf dem Frachter ,Wolodarski'." Jewgenow ruft noch einmal die
Ankerposition des Frachters herunter. Trawin hantiert erst mit Kompaß und Karte, dann setzt er die Segel. Der Frachter soll ihn in Dudinka absetzen. Am 29. August 1930 erblickt die Wache auf der „Wolodarski" im Fernglas die angekündigte kleine Schaluppe und das Fahrrad darin. Bis zu diesem Augenblick hat man auf der „Wolodarski" an einen Scherz des sonst so ernsten Expeditionsleiters geglaubt. In der weiten Bucht des Jenissej liegen zwei Wasserflugzeuge vor Anker. Ein Mann in Marineuniform, aber mit pelzgefüttertem Lederhelm und Pelzstiefeln beobachtet den Landgang des einzigen Passagiers der „Wolodarski". „Sie sind also der Polarradfahrer Trawin?" „Ja, Und wer sind Sie?" „Ich bin der Polarflieger Tschuchnowski", sagt der Mann, so als handelte es sich um zwei sehr verwandte Berufe. Der erfahrene Arktispilot gibt Trawin manchen guten Ratschlag. „So groß ist der Unterschied zwischen uns nicht", sagt er, als Trawin von seiner bisherigen Polarfahrt erzählt. „Bei Sturm können wir mit unseren hundertfünfzig Kilometern in der Stunde auch nicht den Kurs halten - wir ,Schneehühner', wie man in der Polarfliegersprache sagt. Wir landen und buddeln uns ein Loch. Wenn es wieder klar ist, fliegen wir weiter. Sie haben es in solchen Fällen leichter; bei uns gibt es jedesmal eine unendliche Plackerei mit dem Motor, bis er wieder anspringt. Also, wo kann ich Sie aufsuchen, wenn Sie überwintern?" „Ich hoffe, ohne Überwinterung bis zur Beringstraße durchzukommen!" Der Jenissej ist im Unterlauf sechzig Kilometer breit.
Sein Wasser glitzert in der Septembersonne, der Himmel ist blau, und die Wolkenschatten, die über den bereiften Tundraboden huschen, kommen von immer neuen Scharen der Zugvögel. Sie sammeln sich hier vor ihrer großen Reise nach dem Süden. Gleb Trawin stellt seinen Kompaß auf Kurs Nordost. Drei russische Familien leben dort, wo einmal Dudinka, der nach Igarka wichtigste Flußhafen an der Mündung des Jenissej, liegen wird. Ein alter Dolgane ist nach den Weideplätzen der Rentiere am Fluß Pjasina unterwegs. Er sagt, wenn die Nomaden ihre Herden zurückgeholt haben, wird es auf der ganzen riesigen TaimyrHalbinsel kaum einen Menschen mehr geben. Er zählt die Jäger an den Fingern auf, die Trawin eventuell noch antreffen kann, wenn er sich beeilt. Der alte Dolgane kennt sich gut auf der Karte aus. Trawin ist fünf Tage mit ihm unterwegs, und der Jäger ergänzt auf diesem Weg die Karte. Sie ist ungenau. Die Taimyr-Halbinsel ist zu dieser Zeit noch ein großer Fleck auf der Karte. Man weiß, daß es dort Gebirge gibt, die bis zu zweitausend Meter hoch sind, riesige Seen mit einer Länge bis zu zweihundert und einer Breite bis zu achtzig Kilometer, große Flüsse, die vierhundert bis siebenhundert Kilometer lang sind, und unzählige kleinere Seen und Flüsse. Nach hundertfünfzig Kilometern trennen sich die Wege der beiden" Wanderer. Der alte Dolgane zeigt auf die Karte. „Du mußt hier bis zum Heiligen See, er ist rund wie ein Vogelauge, dann ziehst du diesen Fluß aufwärts bis zu einem Felsen, der sieht aus wie ein Gänsekopf. Von dort sind es noch zwei Tage bis zur Jagdhütte Nikitas. Wenn du ihn nicht findest, mußt du hierher weiter, an dieser
Stelle liegt am Fluß Pura ein Boot, mit dem du übersetzen kannst, wenn die Fröste bis dahin noch nicht stark genug waren." Der Dolgane hat nach Tagereisen mit dem Rentierschlitten gerechnet. Trawins Gewicht und das Gepäck lassen die Reifen des Rades durch die dünne Frostschicht brechen. Darunter ist Morast, ein bis zwei Meter, soviel hat die Sonne in den zwei Monaten, da sie ununterbrochen am Himmel steht, zuwege gebracht. Über weite Strecken muß Trawin das Rad schieben, vorbei an unzähligen Flüssen und Seen. Die Seen sind mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, sie trägt noch nicht. Das Wasser der Flüsse ist eiskalt, aber in den Mittagsstunden steigt so viel Dampf auf, daß sich Trawin wie durch dichten Nebel vorwärts bewegt, und wenig später bedeckt Rauhreif Mann und Rad. Auch die Schuhe brechen zuweilen durch die dünne Frostschicht, der zähe Schlamm gefriert bis zu den Knien. Trawins Lebensmittelvorräte gehen zur Neige, aber weder der runde See noch der Felsengänsekopf ist zu sehen. Eine Rentierherde kreuzt seinen Weg; er weiß nicht, ist es ein wildes Ren oder eines aus der Herde des alten Dolganen, das er erlegt. Der Hunger ist gebannt, aber die feuchte Kälte macht Trawin mehr zu schaffen als der härteste Frost. In einer Nacht schlägt der Wind auf Nord um. Trawin spürt, wie sich die nassen, pappigen Schneeflocken in Eiskristalle .verwandeln. Er kriecht auch mit dem Kopf in den Schlafsack, zufrieden, weil er morgen mit dem Rad fahren wird. Der Frost wird ihm wieder seine Straßen auf Flüssen und Seen bauen, wie er es von Sibirien und Karelien her kennt. Die Jurte des Dolganen Nikita steht an einem langen,
schmalen See. Hier wird einmal die Stadt Norilsk mit 150 000 Einwohnern auf der Karte vermerkt sein. Aber erst sechs Jahre nachdem Trawin die Taimyr-Halbinsel durchquert hat, werden im Jahre 1936 Flußbarken die Pjasina vom Eismeer herauf das erste Baumaterial für das zukünftige „Ruhrgebiet" auf der Taimyr-Halbinsel befördern. Das wird vier Jahre nach dem Zeitpunkt sein, da die „Sibirjakow" als erstes Handelsschiff die schmale Meerenge zwischen der Taimyr-Halbinsel und der Inselgruppe Sewernaja Semlja durchfahren hat und ohne Überwinterung von Murmansk bis zur Beringstraße und weiter in den Stillen Ozean gelangt. Dort, wo drei Jahrzehnte später auf asphaltierten Strafjen Omnibusse an fünfstöckigen Wohnbauten vorbeifahren werden, vielleicht gerade an der Stelle, wo das Norilsker Theater oder die Winterschwimmhalle errichtet ist, erblickt Trawin Nikitas „Haus", ein Wunderhaus, so scheint es ihm jedenfalls; denn der findige Dolgane hat es auf zwei Schlitten gebaut, mit richtigem Fußboden, auf dem Rentierfelle ausgebreitet sind, und einem kleinen eisernen Ofen in der Ecke. Der Dolgane ist noch auf der Jagd, nur seine Frau und die Kinder sind zu Hause. „Nikita muß bald zurückkehren, warte auf ihn, er will seine Jagdgründe näher an die Siedlung am Fluß Chantaika verlegen, wir werden denselben Weg haben." "Trawin hält es nicht, er will die Zeit der leichten Fröste und des geringen Schnees nutzen. Vorsichtig prüft er vor dem Befahren jeden Flusses die Festigkeit des Eises. Eines jedoch hat er nicht einberechnet - einen Sturz. Die spiegelblanke Fläche birst unter seinem Anprall. Das Fahrrad! Gleb schleudert es von dem dunklen Wasserloch weg, es rutscht weit über das Eis,
dann werden Pelzschuhe und Kleidung unendlich schwer, sie ziehen ihn hinunter. Gleb ist als Junge nicht nur einmal in der Umgebung von Pskow beim Schlittschuhlaufen eingebrochen, und vielleicht sind es die Erinnerungen und Erfahrungen von damals, die ihm helfen, zunächst die Arme und dann den Oberkörper auf das Eis zu schieben. Es kostet unmenschliche Anstrengungen, die Füße liegen noch im Wasser, aber auf der Stirn perlen Schweißtropfen. Trawin überwindet die Erschöpfung. Er wagt nicht mehr, sich aufzurichten. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen rutscht er zu dem Fahrrad und schiebt es vor sich her zum Ufer. Mühselig entledigt sich Trawin der Pelzoberbekleidung und der Schuhe. Dann reißt er Pullover und Unterzeug herunter. Gäbe es Zuschauer, sie würden Trawin für einen Schamanen halten. Er tanzt wie ein Besessener nackt in Schnee und Frost und wringt dabei das Unterzeug aus. Er zieht es wieder an und rennt am Ufer entlang - im wahrsten Sinne des Wortes um sein Leben. Er stolpert. Da liegen, vom leichten Schnee bedeckt, Rentierfelle, hart gefroren, von dolganischen Jägern zum Abtransport vorbereitet. Sie sind steif wie Bretter, doch Trawin baut daraus eine Höhle. Er zieht so viel Pelzplatten hinein, wie es geht, und während das feste, stachlige Fell seine nackte Haut massiert, trocknet draußen der Frost die Kleidung. Nur Fernglas und Barometer hat Trawin bei diesem Flußübergang opfern müssen.
Allein im Schneesturm Zwölf Rauchsäulen steigen kerzengerade in den Himmel. Der Tag ist kurz, er dauert nur drei Stunden, als
Trawin Anfang November das Dorf Chatanga erreicht. Zwei Monate sind vergangen, seit er vom Jenissej abgefahren ist. Vom See Labas ist er die Boganirka entlanggefahren, von dort zur Cheta, die Cheta vereinigt ihre Eisstraße mit der des Flusses Katai; dem Katai ist er der Chantaika gefolgt. Nun künden die Rauchsäulen: Die menschenleere Taimyr-Halbinsel ist durchquert, vor ihm liegt der Weg nach und durch Jakutien. In Jakutien gibt es Siedlungen und landeinwärts sogar Städte. Zu der Zeit, da Tra-wins Radfahrt durch dieses Land führt, zählt die Statistik in Jakutien immerhin einen Menschen auf zehn Quadratkilometer Land. Nur auf Trawins Weg liegt der dünn besiedelte Bezirk Olenjok, dort rechnet man zweihundert Quadratkilometer Fläche für einen Einwohner. Doch nach der Taimyr-Halbinsel ist es, wie ein Dolgane zu Trawin sagt, ein dichtbesiedeltes Land. „Kannst keine zweihundert Kilometer fahren, ohne auf einen Menschen zu treffen." In Chatanga bleibt Trawin bis zum Feiertag der Oktoberrevolution. Der junge Lehrer ist ebenso wie die Feldscherin auf der Jugor-Halbinsel durch das Komsomolaufgebot in den Norden gekommen. Er bittet Trawin zu bleiben. Nicht immer ist ein solcher Gast zum Fest im Ort, der erzählen kann, was die Menschen in Sibirien, im Fernen Osten, in Mittelasien und westwärts des Urals in den dreizehn Jahren seit der Oktoberrevolution geschaffen haben, wie sich ihr Leben verändert hat. Viele Dorfbewohner begleiten Trawin, als er in der Morgendämmerung - zur Mittagszeit - wieder aufbricht. Mit zweihundert Patronen, Schokolade und Dauerzwieback hat er seine eiserne Ration ergänzt.
Die Räder rollen schnell über das Eis. Jetzt könnte es schon Lasten von einigen hundert Tonnen tragen. Nach einer Stunde bricht die Abenddämmerung herein. Über die weite Kuppel des Polarhimmels zieht sich das leuchtende Band der Milchstraße. Es ist still. Trawin entfernt sich weit von der Küste, so kann er den Weg wesentlich abkürzen. Schnurgerade wie ein Schiff auf dem Ozean, nur nach dem Kompaß, findet er seine Richtung. Ein leichter Windhauch trifft das unbedeckte Gesicht, Schneekristalle stechen auf den Wangen, die Sterne sind verschwunden. Die Windstöße werden heftiger, Trawin kann das Rad nicht mehr auf dem Eise halten, er muß absteigen. Eine Purga! Der gefürchtete Schneesturm jagt die weißen Wolken vor sich her. An Land würde sich Gleb eine Schneehöhle graben. Hier wirft ihn ein Windstoß schließlich um, und zusammen mit dem Rad schiebt die Gewalt des Sturmes den Mann über das Eis. Vergeblich sucht Trawin Halt. Kann man sich an die Eisfläche klammern? Trawin fingert nach dem Jagdmesser. Eine Hand hält krampfhaft das Rad, die andere stößt weit ausholend das Messer bis zum Schaft in das Eis. Die breite, starke Klinge bewährt sich. 'Mit der freien Hand schiebt Trawin das Fahrrad vor seinen Körper. Mühselig hebt er es gegen den Sturm. Eine Schneelawine bildet sich vor dem Hindernis. Trawin hebt das Rad noch höher. Es gelingt ihm nicht, das Zelt zu nutzen, aber Gepäck und Rad lassen die Schneewehe wachsen. Schließlich stemmen Trawins Schultern das Rad zu seiner vollen Höhe. Er kann das Messer aus dem Eis ziehen. Er schneidet sich Blöcke aus dem festen Schnee und erhöht damit die Barriere. Schnee gegen Schnee! Baumeister Purga läßt die
Schneewehe wachsen, so hoch auch Trawin die Blöcke schichtet. Schließlich befinden sich Radfahrer und Rad in einer festen, immer wärmer werdenden Höhle. Trawin kann seinen Proviant auspacken. Immer leiser wird das Toben der Purga, immer dichter und höher werden die Wände der Schutzhütte. Trawin kriecht in den Schlaf sack; wieder hat ein Mensch im Kampf gegen die Naturgewalten gesiegt.
Am Hundefluß Ende Dezember ist die Kunde über Temir Taba - so heißt eisernes Rentier auf jakutisch - Trawin weit vorangeeilt. „Temir Taba hat fünf Tage in einer Schneehöhle gesessen. Es hat so gestürmt, daß auch unsere Jäger mit den Hundegespannen nicht weitergekommen sind." - „Der Reiter auf Temir Taba hat dem alten Ikonei von seiner Medizin gegeben, sie hat geholfen, und der Schamane ist wütend." Oft hilft Trawin mit seiner kleinen Apotheke, die ihm Klawdija mitgegeben hat. Er selbst fühlt sich gesund, er schreibt es dem Umstand zu, daß er Fleisch und Fisch roh geraspelt ißt und nicht einmal Salz zum Würzen nimmt. Doch kurz vor dem neuen Jahr trifft ihn ein anderes Unglück. Er findet am Ufer reichlich Schwemmholz. Bald brennt neben seinem Zelt ein loderndes Feuer. Ein unerwarteter Windstoß jagt einen Funkenregen über seine Unterkunft. Haare, Handschuhe und Oberbekleidung sind versengt; er ist noch einmal davongekommen, aber nun muß er sich nach jeder Etappe ein Schneeloch graben. Schlafsack und Zelt
fehlen sehr; Schlafsucht und Kälte stehen in ständigem Kampf. Er nähert sich der Indigirka - Hundefluß nennen sie die Jakuten -, als ein Schneesturm ihn zwingt, vier Tage in solch einer Schneehöhle zu verbringen. Mitte Januar 1931 überschreitet Trawin die Indigirka. Das Ostufer ist steil. Selbst mit dem wenigen Gepäck ist es Trawin kaum möglich, mit dem Rad die Steigung zu bewältigen. Völlig erschöpft setzt er sich schließlich auf der Uferhöhe auf sein Rad. Er atmet erleichtert auf, tief unter ihm liegt die Indigirka. Bewältigt! Da knirscht es. Im Schnee bilden sich Risse, und ehe Trawin begreift, was geschieht, reißt ihn die Eis- und Schneelawine mit. Fünfzehn Rauchsäulen zählt damals das Dorf Ruskoje Ustje an der Indigirka. Seit einiger Zeit ist noch die meteorologische Station mit zwei Mann Besatzung hinzugekommen. Nach einer Vereinbarung zwischen den Anliegerstaaten der Arktis bereitet sich die Sowjetunion auf das zweite internationale Polarjahr (1932/33) vor. In der Arktis sollen siebzehn neue meteorologische Stationen errichtet werden, neun von der Sowjetunion. Die Station an der Indigirka ist eine davon. Ihre beiden Bewohner, Maxim Matwejew und Innokenti Starikow, sind von Jakutsk zwei Monate und sechs Tage mit Rentierschlitten unterwegs gewesen, um ihr Ziel zu erreichen. Mitte Januar 1931 reißt der Jäger Stschelkanow die Tür dieser meteorologischen Station auf. „Hier", sagt er, und ein zweiter Mann humpelt schwerfällig in den Raum. Das Gesicht des Fremden ist blutunterlaufen und zerschrammt, ein Bart mag noch manche Prellung verdecken, der linke Arm hängt in einer Schlinge. Der Fremde läßt sich schwer auf die Ofenbank nieder, der Jäger rennt noch einmal hinaus,
um ein - Fahrrad in die Stube zu schleppen. „Da", sagt er triumphierend, „mit diesem Ding da hat der Bursche versucht, das Steilufer der Indigirka zu erklimmen, als meine Hunde ihn witterten." Er weiß nicht, daß es Trawins zehnter oder zwölfter Versuch war, als er ihm zu Hilfe kam. Die beiden Meteorologen sind sprachlos. Ihnen schien, sie hätten nach ihrer langen Fahrt von Jakutsk den einsamsten Punkt der Welt erreicht, da kommt von Zentralrußland ein Radfahrer des Weges. Und er will noch weiterfahren! Vorläufig zwingt der verletzte Arm Trawin zu einem längeren Aufenthalt. Der Jäger setzt seine unterbrochene Fahrt fort; einer der Meteorologen führt Trawin ins Dorf. „Dort bist du besser untergebracht." Fünfzehn Blockhäuser, eine hölzerne Kirche, eine Schule, in der zwölf Mädchen und Jungen in einer Klasse lernen: Das ist Ruskoje Ustje im Jahre 1931. Die Frauen und Männer sind gekleidet, wie es Trawin in Büchern gesehen hat, in denen die Zeit Iwans des Schrecklichen illustriert war: bunte Sarafane, weiße Blusen, Pumphosen, gestickte Hemden, Leibgürtel, jedes dieser Stücke aus Satin und Plissee genäht; aber die Schuhe aus Pelzen. Trawin ist so an die Jakutenkleidung gewöhnt, daß er sich, noch benommen von dem Sturz, wie in einem Märchen vorkommt. Er geht durch Schneegassen an tiefverschneiten Häusern vorüber, überall will man ihn zu Gast sehen. „Zuerst zum Heilkundigen", ruft der Meteorologe. „Seht ihr nicht den Zustand des Gastes?" Am Abend jedoch ist in dem Haus, in dem Trawin eine Schlafstatt gefunden hat, das ganze Dorf zu Gast. Lachend beantworten die
Männer und Frauen Tra-wins Fragen. „Wir sind Russen, aber wir wissen selber nicht, wann und wie unsere Vorfahren hierhergelangt sind." Gleb muß sich anstrengen, sie zu verstehen, auch die Sprache ist wie das Altslawische des sechzehnten Jahrhunderts. Aber sie singen Lieder, von Moskau und von der Stadt Wladimir. In der Nacht auf dem ungewohnten Schlafplatz, dem großen russischen Ofen, fühlt Trawin, daß er sich noch ein paar Zehen erfroren hat. Wer weiß, wie oft und wie lange er bei seinen vergeblichen Versuchen, die Steilwand des Flusses Indigirka zu erklimmen, erschöpft neben dem Fahrrad gesessen hat. Am nächsten Tag humpelt Trawin zu Großvater Gregori, dem Heilkundigen. Das nächste Krankenhaus befindet sich in Mittel-Kolymsk, zehn oder fünfzehn Tagereisen mit dem Rentierschlitten entfernt. Zum Glück gibt es im Ort eine Apotheke, und Großvater Gregori amputiert Gleb mit einem Rasiermesser die erfrorenen Glieder. An eine Weiterfahrt ist vorläufig nicht zu denken. In den nächsten Tagen wird der Patient von Haus zu Haus eingeladen. Und am Abend versammeln sich die Dorfleute immer dort, wo Gleb nächtigt. Von beiden Seiten gibt es viel zu erzählen. Trawin erfährt, daß hier die Männer Mammutelfenbein sammeln, doch ihr Haupterwerb ist die Jagd. Unter dem Vorsitz Jegor Stschelkanows haben sie sich im vergangenen Jahr zu einer Genossenschaft vereinigt. Ihre Jagdgründe erstrecken sich zu beiden Seiten der Indigirka auf je sechshundert Kilometer. Das Abfahren einer Fallenlinie mit dem Hundegespann dauert einen Monat, zuweilen mehr. Gefrorene Fische dienen den Jägern und ihren Hunden als Nahrung. „Manchmal kam
der Jäger von solch einer Fahrt in Frost und Polarnacht, durch Schneestürme und Nebel mit einem oder zwei Fellen zurück. Das ist jetzt besser geworden", sagen die Frauen.
Banditen Trawin erholt sich schnell in dieser heimischen Umgebung. Sechs Wochen hilft er mit seinen geschickten Händen, wo es not tut. Allmählich lernt er auch alle Männer des Dorfes kennen, wenn sie von der Jagd zurückkehren, um sich ein paar Tage auszuruhen, bevor sie dann wieder losziehen. Am liebsten hält sich Trawin bei den Meteorologen auf. Innokenti Stari-kow, ein neunzehnjähriger Junge, ist voller Bewunderung für Trawin. Matwejew, der schon in der Armee gedient hat, verhält sich respektvoll zu dem Reserveoffizier, aber doch voll eigener Würde. Die beiden jungen Leute sind zwei Jahre in Jakutsk für ihren Beruf ausgebildet worden. Bereitwillig weihen sie Trawin in alles ein, was man sie auf dem Kursus gelehrt hat. Eines Tages knirscht ein Schlitten vor der Station. Von der achthundert Kilometer entfernten, ebenfalls neuerrichteten Nachbarstation ist der erfahrene Meteorologe Molokijenko gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Gleb fühlt mit Erleichterung, daß ihm hier niemand mehr rät umzukehren. Wohin auch? Er hat zwei Drittel seines Eismeerwegs zurückgelegt, und er befindet sich unter Menschen, die tausend Kilometer fahren, um ihre Fallen zu überprüfen oder wie dieser Meteorologe hier Kollegen zu besuchen. Er, Gleb Trawin, fährt mit dem Rad. Seine Sache. Er ist damit
von Westen her gekommen, warum soll er damit nicht weiter nach Osten fahren? Glebs eintönige Speisekarte gehört der Vergangenheit an. Rentierfleisch, Bärenschinken, Gänseleber, Gänsebrust und Gänsekeule, die verschiedensten Fische, gebacken, gekocht und als Suppe, und alles das von freundlichen Gastgebern mundgerecht zubereitet. Gleb fühlt, wie er aus seiner Kleidung wächst. Innokenti klagt: „Das Brot ist zur Neige gegangen, und die Leute im Dorf backein keines, sie machen sich Piroggen aus Fisch." Matwejew raucht den letzten Tabak, gemischt mit Moos, dann zerhäckselt er den leinenen Tabakbeutel und mischt die Lumpen mit Moos. Es ist an den Fingern abzuzählen, wann er nur noch Moos rauchen wird. Über wenig Tabak und fehlendes Salz klagt man auch im Dorf. Schiffe, die dieses Küstengebiet versorgen, kennt man in jenen Jahren noch nicht. Weshalb die Schlitten mit Handelsware aus den Faktoreien des Landesinnern ausbleiben, versteht niemand. Die Regale der Faktorei im Dorf sind leer, aber die Pelze füllen schon alle Räume. Dann trifft ein jakutischer Jäger mit einem Brief ein. In dem gro-fjen roten Siegel steckt eine Gänsefeder. Molokijenko erklärt Trawin, daß Briefe mit solch einem Zeichen als Eilpost gelten. Sie werden von Siedlung zu Siedlung, von Jaranga zu Jaranga, von Jäger zu Jäger bei jedem Wetter befördert. Die Jakuten überbringen solche Post als Stafette. Sie unterbrechen dazu ihre Jagdfahrten, sie versorgen jeden Schlitten mit ausgeruhten Hunden und den Boten mit Proviant, bis der Brief sein Ziel erreicht hat. Dieser Brief ist an den Vorsitzenden des Dorfsowjets gerichtet, aber Jegor
Stschelkanow ist auf Jagdfahrt. Innokenti als Sekretär des Dorf Sowjets öffnet den Brief, liest: „Aus Richtung Kosakenfluß bewegt sich eine etwa vierzig Mann starke bewaffnete Bande ehemaliger Koltschakoffiziere zur Indigirka. Setzt euch in Verteidigungsbereitschaft, versteckt alle Wertsachen, insbesondere Pelze, verhindert, daß den Banditen Warfen und Patronen in die Hände fallen." Jetzt verstehen alle, weshalb so lange keine Schlitten mit Handelsware eingetroffen sind. Molokijenko kratzt sich verlegen den Kopf. „Das ist gar keine meteorologische Angelegenheit." Fast vierzehn Jahre sind seit der Oktoberrevolution vergangen, sieben Jahre ist es her, daß die letzten regulären Streitkräfte der weißrussischen Armee an den Ufern des Ochotskischen Meeres und auf Kamtschatka aufgestöbert und geschlagen worden sind. Und nun setzen der Reserveleutnant der Roten Armee Trawin und der ehemalige Unteroffizier Matwejew das Dorf Ruskoje Ustje am Eismeer in Verteidigungsbereitschaft gegen eine Bande unversöhnlicher Gegner der Sowjetmacht. Trawin überprüft sorgsam die Abdichtungen der Schießscharten in den Häusern. Er hat gedacht, alle Menschen hier gut zu kennen, aber jetzt überlegt er - wird man sich auf jeden im Dorf verlassen können? Die Jäger werden zurückgerufen, einige haben die Fahrt selber unterbrochen. Jakuten haben die Kunde von der Bande über den Tundratelegrafen verbreitet. In weitem Umkreis vom Dorf sind Posten aufgestellt. Man weiß nicht, von welcher Seite ein Überfall zu erwarten ist. Die meteorologische Station wird zum Stab. Jegor Stschelkanow teilt mit, daß alle Pelze von der Faktorei
an den sichersten Ort, in die Kirche, geschafft sind. Dann meldet sich im Stab der Handelsleiter Sannikow. „Die Verantwortung für die Felle bin ich los, aber nun bitte ich auch, mich nicht in die aktiven Handlungen einzubeziehen, ich möchte neutral bleiben." Wie es Trawin aus seiner Jugendzeit in Pskow kennt, in schwierigen Situationen zeigen die Menschen ihren wahren Charakter. Trawin zügelt die Empörung der Jäger und Meteorologen. Besser solch ein Geständnis, als daß dieser Mann vielleicht jenen Posten besetzt hält, auf den die Banditen zuerst stoßen könnten. Zwei Wochen bleibt das Dorf in Verteidigungsbereitschaft, dann kommt ein neuer Bote und mit ihm ein neuer Eilbrief. Diesmal teilt Jakutsk mit, daß die Bande von Milizeinheiten umzingelt und vernichtet worden ist. Erst jetzt erzählt Trawin, daß auch an der Südgrenze der Sowjetunion immer noch Banden der Basmatschen friedliche Dörfer überfallen' und Einheiten der Roten Armee die letzten Verstecke der Konterrevolutionäre in den Wüsten und im Hochgebirge des Pamir in erbitterten Kämpfen ausräuchern müssen.
... und wieder übers Meer Von den Dächern an der Südseite der Häuser tropfen die ersten Eiszapfen, als sich Trawin zur Weiterfahrt entschließt. Jegor Stschelkanow befürwortet Trawins Plan, auch die Tschuktschen-Halbinsel auf dem Eis der Ostsibirischen See zu erreichen. „Aber ich werde dir einen kleinen Schlitten und zehn Hunde mitgeben. Du kannst darauf ein kleines Pelzzelt und auch mehr Proviant mitnehmen."
„Aber die Hunde wollen auch fressen", widerspricht Trawin. Der erfahrene Meteorologe Molokijenko rät, das Geschenk nicht auszuschlagen. „Die TschuktschenSee unterliegt schon den Einflüssen der Strömung aus der Beringstraße, das Eis kann reißen, und solche Hindernisse sind mit den Hunden und einem Schlitten leichter zu überwinden als mit dem Fahrrad." So fährt im April des Jahres 1931 über das Eis des Ostsibirischen Meeres ein Radfahrer, von dessen Gürtel ein Strick zu dem Schlitten führt, den ein Hundegespann zieht. Den Jakutenhunden ist dieses eigenartige Gefährt, das ständig neben dem Schlitten herrollt, seltsam. Widerwillig gewöhnen sie sich daran, daß der Mensch auf diesem Gestell zwar nicht im Schlitten sitzt, aber doch mit ihm verbunden bleibt. wenn sie plötzlich seitwärts ausbrechen wollen, um eine Wildspur zu verfolgen. Für Trawin sind solche Schlittenfahrten nicht angenehm. Manchmal dauert es zehn Minuten, bis er sich an den Schlitten heranzieht und die wilde Jagd der Hunde mit dem Bremsstock stoppt. Doch die Hunde sind klug. Sie geben es auf, sich sinnlos anzustrengen. Nach zwei Wochen erreicht Trawin mit dem Hundegespann die Bären-Insel. Der Fischvorrat ist verbraucht, aber jeder Hund fordert am Tag Portionen zwischen fünf und sechs Kilo Fisch. Einigemal gelingt es Trawin, einen Seehund zu schienen; den Hunden ist das Fleisch ebenso widerwärtig wie Gleb, und er verspeist es ebenso so roh wie die Hunde. Davon und von seinem Tagesrhythmus geht er nicht ab. Zwei Mahlzeiten - morgens und abends. Seine Gestalt ist wieder hager, muskulös und
sehnig. Und er bewegt sich leichter durch die Packeisfelder als zu Beginn seiner Fahrt vom Fluß Indigirka. Seine Bewegungen sind ruhig und ausgeglichen, ebenso wie seine Gedanken. Das Wetter erlaubt ihm, sich vor der Abendrast von Kopf bis Fuß zu waschen. Er weiß, daß er mit verschwitztem Körper frieren und sogar erfrieren könnte. So aber fühlt er sich warm und wohlig. Die Sonne versinkt nur noch für einige Stunden hinter dem Horizont, und richtig dunkel wird es nicht mehr. Der Polarsommer meldet sich mit Nebeln. Es ist schwierig, bei solch einem Wetter im Packeis den Kurs zu halten. Trawin schafft nur zehn bis fünfzehn Kilometer am Tag. Auf dem Festland wird es nicht einfacher sein, aber der Trinkwassermangel zwingt ihn, diese Richtung einzuschlagen. Der Schnee schmilzt, er vermischt sich mit dem Eis, und auch das Eis des Eismeeres ist salzig. Noch einmal reißen die Hunde Trawin vom Rad, sie haben einen Eisbären aufgestöbert. Zum Glück befindet sich das Gewehr im Schlitten. Als der Bär eine Eisbarriere erklettert hat und die ersten beiden Hunde mit gewaltigen Tatzenschlägen herunterfegt, hat Trawin schon das Gewehr in der Hand. Nun ist die Speisekarte wieder abwechslungsreicher, und Trawin kann ohne Pause von der Insel Ajon bis zum Festland fahren; am Kap Pewek befindet sich eine Faktorei. Ein Blockhaus. „He - ist hier jemand?" - „Ist", antwortet eine Baßstimme. Die Faktorei ist voller Waren, und der Handelsleiter mustert mitleidig Trawins Rentierfellbekleidung. „Hören Sie mal, ich schlage Ihnen einen Tausch vor. Sie lassen das Bärenfell hier und suchen
sich aus, was Sie brauchen." Trawin verzichtet auf einen „guten Anzug". Er tauscht tausend Patronen und ein Fernglas ein und wagt kaum seinen Augen zu trauen, als er eine ausführliche Landkarte der TschuktschenHalbinsel entdeckt, die nicht nur Dörfer, sondern auch Faktoreien und selbst die vermutlichen Winter- und Sommeraufenthalte der Tschuktschenstämme zeigt. „Und die Wrangelinsel ist auch bewohnt?" - „Ja, vor zwei Jahren hat Minejew die Uschakow-Expedition abgelöst, aber seit neunzehnhundertneunundzwanzig ist kein Schiff wieder zur Insel vorgedrungen." Trawin betrachtet den Landfleck, die letzte sowjetische Insel vor dem amerikanischen Festland. Er mißt die Entfernung: tausendfünfhundert Kilometer! Trawin überlegt: Auf dem Festland wird in den nächsten zwei Monaten ein schwieriges Vorankommen sein. „Sie überlegen?" fragte der Handelsleiter. „Wenn Sie 'rüberwollen, müssen Sie es von Kap Bellingsen aus versuchen."
Harte Bräuche Am Kap Bellingsen kommt Gleb das Fernglas zustatten. Zwischen den Felsen liegen Kisten, Bretter und Fässer. Gleb klettert das Steilufer hinunter. Ein ganzes Warenhaus ist hier ausgeschüttet! Benzinfässer, Tabak in zugelöteten Zinndosen, Kondensmilch, Tuchballen, Wäschebündel, Butter, Öl... Trawin ergänzt seine Vorräte, seine Leibwäsche, und als Prunkstück trocknet er einen farbenprächtigen dicken .Pullover. Nun steht der Fahrt zur Wrangelinsel nichts mehr im Wege. Eisspalten, übereinandergeschobene Blöcke und richtige
kleine zusammengepreßte Gebirge lassen Trawin immer wieder dankbar an das Dorf Ruskoje Ustje denken. Meist liegt das Rad auf dem Schlitten, oft muß Trawin sogar neben dem Schlitten hermarschieren. Zum zweitenmal bewährt sich das Fernglas. Von jedem höheren Standpunkt blickt Trawin sich um, und so bemerkt er einen Schlitten. Er hält darauf zu, bis auch dieser seine Richtung ändert. „Kaminew", stellt sich der Gespannführer vor. Er weist auf ein Pelzbündel im Schlitten. „Meine Frau." Aus den Pelzen schält sich ein zierliches blondes Wesen. „Jewdokija", nennt sie ihren Vornamen und sagt zu ihrem Mann: „Wie schön, wir werden nicht allein Mittag essen." Sie drückt ihm einen Teekessel in die Hand. „Füll ihn mit Schnee, aber nur die obere Schicht." Trawin findet sie nicht so zurückhaltend, wie es die Menschen des Nordens im allgemeinen sind, und im Gespräch erfährt er schnell, daß das Ehepaar seit einem Jahr eine neuerrichtete Faktorei am Nordkap bewirtschaftet. „Wir hatten aber Pech, einen Brand, und jetzt fahren wir nach Pewek, um unsere Vorräte zu ergänzen." Der Spirituskocher bullert, und Trawin packt voller Stolz seine Beutestücke aus. „Ergänzen Sie doch Ihre Vorräte am Kap Bellingsen", sagt er und erzählt von seinem Fund. Das Ehepaar weiß Bescheid. „Dort ist im vergangenen Sommer ein amerikanischer Schmuggler vom Eis zerdrückt worden. Die Tschuktschen haben uns von dieser Stelle eine große Apotheke gebracht. Es war aber alles englisch beschriftet, und hätte der Schiffsarzt auf dem letzten Handelsschiff, das unsere Faktorei versorgte, nicht alles übersetzt..." - „Ja", sagt die Frau, „aber so habe ich mit den Medikamenten, die mir der Doktor beschrieben hat,
schon vielen Tschuktschen geholfen." - „Nur den Verrückten nicht", bemerkt der Mann, und die Frau erzählt: „Ja, mein Mann war gerade nicht in der Faktorei, da kommt unser Nachbar, der Tschuktsche Akko, sagt: ,Gib mir Pulver für den Kopf - es tut hier weh', und er erbricht sich. Dann sagt er, daß auch seine Frau Schmerzen im Kopf gehabt hätte. Er erklärt mir, er hätte ihn mit dem Beil aufgemacht, aber es sei alles in Ordnung gewesen. Ich verstehe, daß der alte Tschuktsche wahnsinnig geworden ist und seine Frau ermordet hat. Er verschwindet, und ich sitze voller Angst allein in der Faktorei. Etwas später kommt sein Sohn Jatorgin. Er bittet mich mit feierlicher Stimme: ,Ich brauche einen neuen Teekessel, eine feste Schnur, eine Pfeife, ein Päckchen Tabak und Tee.' Wozu, frage ich. ,Unser Vater wird heute sterben.' Da unterdrücke ich meine Angst und gehe zur Jaranga von Akko. Die Frauen sitzen da, sie nähen ihm einen neuen Überpelz, Hosen, einen Anorak und Fellstrümpfe. Man läßt mich nur in den Vorraum, aber ich kann sehen, daß im hinteren Raum der gefesselte Akko liegt. Am Abend haben sie ihn erwürgt, mit der Schnur, die sie bei mir gekauft haben. ,Wir haben ihn zu den oberen Leuten geschickt', sagen sie. Sie kleiden ihren Vater neu ein und fahren ihn mit dem Schlitten auf den höchsten Hügel der Umgebung. Die Hunde werden ausgespannt, die Leiche bleibt auf dem Schlitten. Ringsherum stellen sie den Teekessel, die Säckchen und Büchsen mit Zucker, Tabak, Tee und einen Trinkbecher. So ist das bei uns." - „So ist es noch bei uns", sagt der Mann.
Der Freund Jack Londons Eine Woche schon hält Trawin seinen Kurs in Richtung Wrangelinsel. Nebel, Schneematsch, immer wieder schier undurchdringliche Eispressungen behindern seinen Weg. Das Fahrrad ist zum Ballast geworden. Trawin stellt sich die Freude der Überwinterer vor, wenn sie solch einen unerwarteten Besuch bekommen. Am achten Tag dreht sich die Kompaßnadel, ohne daß Trawin die Richtung wechselt. Magnetstörung? Der trübe Himmel macht es schwer, sich nur nach der Sonne zu orientieren. Es vergehen noch einmal vierundzwanzig Stunden. Trawin kann den Stand der Sonne ermitteln, er versucht, danach seine Richtung zu halten die Sonne narrt ihn auch! Er marschiert noch einen Tag, bis er vor offenem Wasser steht. Und in einer Entfernung von einem Kilometer ist Land! Unwahrscheinlich groß ist diese Wrangelinsel. Der Tag ist klar, aber kein Ende ihrer Küstenlinie ist zu erkennen. Plötzlich wird Trawin auf Spuren aufmerksam. In freudigem' Schreck vermutet er einen abgetriebenen Überwinterer der Wrangelinsel — doch es sind seine eigenen Spuren. Er befindet sich auf einer riesigen Scholle! Sie dreht sich seit Tagen, und er, Trawin, ist tagelang buchstäblich auf der Stelle gelaufen. Jetzt kann nur noch der Kompaß helfen, er ist in Ordnung. Trawin prüft die Karte. Wenn die Windrichtung bleibt, kann sich die Scholle an einem Vorsprung des Festlands stoßen. Denn es ist wieder das Festland, was vor ihm liegt, nicht die Wrangelinsel. Nebel, nasser Schnee, Regen. Wenn jetzt ein Sturm aufkommt, der die Scholle zerreißt... Der Sturm läßt
nicht auf sich warten. Aber er kommt aus Nordost, er treibt die Scholle dem Festland zu. Das Eis kracht, es bricht, schiebt sich übereinander. Einmal werden große Stücke von Mannshöhe über den Schneematsch geschoben, als hätte sie eine Riesenhand gesteuert. Trawin muß ständig seinen Standort wechseln. Wasser dringt durch die Rinnen. Das ersehnte Land kommt näher. Nun, nach zwei Wochen Marsch zur Wrangelinsel, erkennt Trawin das Kap Bellingsen. Ein Zipfel der Scholle berührt das Land. Trawin eilt mit dem Gespann dieser Brücke zu, sie bricht und treibt ab. Drei Dutzend Meter trennen ihn vom Land. Soll er warten, daß die Scholle es erreicht oder abtreibt? Er reißt die Kleidung herunter und stopft sie in den Zeltsack. Die Hunde jaulen auf, als der nackte Mann sie zum Wasser zieht und hineinstößt, aber sie schwimmen ihm hinterher. Nur zehn Meter noch. In seinem Rücken dreht sich die Scholle weiter; ein vorspringendes Stück kommt näher und schiebt den Schlitten vor sich her. Trawin strebt verzweifelt dem Land zu. Die Küste ist steil, die Eisscholle kann ihn zerdrücken. Hinter ihm kracht es, eine Welle schlägt über seinen Kopf, von der Scholle hat sich wieder ein großes Bruchstück gelöst. Noch drei Meter bis zum Ufer. Die Glieder sind schon völlig erstarrt. Da finden die Füße Halt auf dem Grund. Schon zerkratzen die Hunde den schmalen Uferstreifen, Trawin faßt den Schlitten. Noch drei, noch zwei Schritte - er ist gerettet. Die Eisscholle ist schon einen halben Kilometer vom Ufer entfernt; Trawin blickt ihr nach. Immer mehr freies Wasser bleibt zwischen ihr und dem Kap, und erst jetzt begreift Gleb Trawin völlig die Gefahr, die ihm auf der treibenden Scholle gedroht.
Immer öfter trifft Gleb auf seinem weiteren Weg Menschen. Die Tschuktschen kommen zum Fischfang an die offene Rinne des Eismeeres. Eines Tages begegnet Trawin einem Europäer. Er spricht gebrochen russisch. Verwundert bemerkt Trawin, daß dem Mann beide Hände fehlen. Ist es möglich, als Krüppel hier im äußersten Norden zu leben? Ein eigenartiges Schicksal rollt vor Gleb ab, als der Mann ihn in sein geräumiges Blockhaus bittet. „Wool ist mein Name. Ich bin Norweger. Seit wann ich hier lebe? Seit dem Jahre neunzehnhundertzwei. Bin von Alaska 'rübergekommen, vom Yukon, mit noch vierzig Prospektoren, wollten Gold suchen, fanden aber nur Silber und Graphit. Die meisten sind zurück; einige blieben hier als Jäger oder Händler. Hab' eine Tschuktschin geheiratet. Hier sind unsere Kinder: meine Tochter Sophia und meine Söhne Ballit und Ben." Drei junge Augenpaare schauen fassungslos auf Trawins Fahrrad. Wool sagt: „So 'n Ding habe ich schon in Klondike gesehen, vor fünfunddreißig Jahren. Irgend so ein Idiot, der nicht wußte, was er anfangen sollte mit seinem Goldfund, hatte es sich aus den Staaten bestellt. Mein Freund Jack London hat sich krank gelacht." Trawin glaubt sich verhört zu haben. „Sie waren mit Jack London bekannt?" „Nicht bekannt, er war mein Freund. Nur ist er in die Staaten zurückgekehrt, und ich bin hierher in die Tschuktei gefahren. Na, ich hab's nicht schlecht. Sophia, zieh das Grammophon auf, spiel die Platte mit Tschaljapin vor!" Auch die Inneneinrichtung des Hauses ist europäisch. Zwei Wohnstuben, eine Schlafstube, Küche, Schränke voller Geschirr, dicke Fellteppiche, in
allen Ecken kleine Öfen. Wirklich, Wool lebt nicht schlecht. Aber ohne Hände? Wool erzählt seine Tragödie: „Ein Wal war angeschwemmt. Viel Fleisch. Aber ich konnte ihn nicht an Land ziehen, es lag zu viel Eis dazwischen. Wollte es mit Dynamit sprengen, da passierte es. Wenn mein ältester Sohn nicht wäre ..." Er weist auf eine Jaranga in der Nähe. Der älteste Sohn lebt schon wie ein Tschuktsche, aber er sorgt auch für den Vater wie ein Tschuktsche. Die Frau Wools ist auch europäisch gekleidet. Sie stellt Butter, Kakao, Kondensmilch auf den Tisch. „Ist alles vom Schmuggelschoner", sagt Wool und zeigt mit dem Handstummel auf Trawins Pullover, „wie Ihr Wöllchen." Wool läßt sich von Ben eine Pfeife mit englischem „Prinz-Albert-Tabak" stopfen. „Sophia kann englisch", sagt er, „Amundsen hat es ihr beigebracht, als er neunzehnhundertzweiundzwanzig bei uns gewohnt hat." Im Kap Wellen, am äußersten Zipfel der TschuktschenHalbinsel, leben im Jahre 1931 drei Dutzend Russen. Sie lassen es sich nicht nehmen, zu Ehren Trawins auf einem Hügel ein Denkmal zu errichten. Auf einer großen Steinplatte meißeln sie ein: UdSSR Dem Radfahrer-Touristen Gleb Trawin 12. 7.1931 Trawin fährt aber noch weiter bis zur St.-Lorenz-Bucht. Hier leben die einzigen Eskimos auf sowjetischem Territorium. Sie teilen Gleb mit, daß in unmittelbarer Nähe ein Schiff vor Anker liegt, das bald nach
Kamtschatka auslaufen wird. Es ist das schwedische Schiff „Arika". Der Kapitän nimmt Trawin an Bord; und am 24. Oktober 1931 geht in Petropawlowsk ein Mann an Land. Sein erster Gang führt zur Behörde, um den letzten Stempel für das Tagebuch zu holen. Es ist der gleiche wie der erste - zwischen beiden liegen drei Jahre und 85000 Kilometer. Trawin macht kein Geschrei um seine Fahrt. Er hat sein Ziel erreicht; nun sucht er sich einen Beruf. Drei Jahre vergehen, da gibt es ein unerwartetes Wiedersehen.
Ein Arktisforscher staunt Im Frühjahr 1934 legt für kurze Zeit ein Schiff in Petropawlowsk an. Es sind die geretteten Mitglieder der Tscheljuskin-Expedition, die nach dem Untergang ihres Schiffes und einem langen Lagerleben auf einer Eisscholle durch damals von aller Welt für unmöglich gehaltene Flüge zum Festland befördert worden sind. Mit Schlitten hat man sie bis Kap Wellen gebracht, jetzt geht es mit dem Schiff über Petropawlowsk nach Wladiwostok, dort wartet ein Sonderzug nach Moskau auf sie. Nikolai Jewgenow, einer der leitenden Wissenschaftler in der Verwaltung des Nördlichen Seewegs, unterhält sich mit Kamanin, einem der Rettungsflieger, dem späteren Kommandeur der Kosmonauten. Da tritt ein hochgewachsener Mann in Uniform an ihn heran. „Hier ist ein Telegramm aus Moskau, es wird darin bestätigt, daß Sie uns zwei von den Flugzeugen der Rettungsexpedition hierlassen sollen. Wir wollen auf Kamtschatka eine Luftlinie einrichten."
Dreißig Jahre später. Nach einer letzten Ehrenrunde im Stadion von Petropawlowsk übergibt Cleb Trawin sein Fahrrad dem Museum für Arktis- und Antarktisforschung in Leningrad Jewgenow lacht und sagt: „Sie sind ja ein ungewöhnlicher und schneller Organisator, nutzen die Gelegenheit aus, uns von den paar Flugzeugen gleich zwei wegzunehmen." Er will weitersprechen und schaut sprachlos mit offenem Mund auf den Mann.
Trawin sagt: „Sie haben mich erkannt?" Das Fahrrad steht jetzt blank geputzt im Museum für Arktis- und Antarktisforschung in Leningrad. Etwas unangebracht, so mag es dem Besucher scheinen, der nichts von der Geschichte der einmaligen Polarradfahrt weiß. Trawin lebt immer noch auf Kamtschatka. Nach jahrelanger Tätigkeit als Sportorganisator ist er seit 1960 Rentner. Sein erstes Pensionsjahr nutzte er zu einer Spazierfahrt mit dem Auto nach Prag. 1963 fuhr er mit seinem Wagen elftausend Kilometer durch den europäischen Teil der Sowjetunion vom Schwarzen Meer zur Ostsee. Seit einigen Jahren versuche ich vergeblich, ihn zu treffen. 1965 fuhr ich von Chabarowsk mit dem Schiff vier Tage nach Nikolajewsk am Stillen Ozean. Dort sagte man mir: „Trawin? Er ist mit seinem Auto unterwegs." Sicher gäbe es an meiner Geschichte noch manches zu ergänzen, würde ich ihn treffen. Ich denke, ich werde ihn einmal unter den Zuschauern der Friedensfahrt entdecken, so an einer Straßenecke oder in einem Stadion. Wundern würde ich mich nicht.