Die Leichenuhr
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 146 von Jason Dark, erschienen am 25.05.1993, Titelbild: Jill Bauman...
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Die Leichenuhr
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 146 von Jason Dark, erschienen am 25.05.1993, Titelbild: Jill Baumann
Als sich Gallio, der Uhrmacher, vor einigen hundert Jahren mit dem Teufel verbündete, bekam er von ihm das Versprechen, Herrscher über einen Teil der Zeit zu werden. Aber Gallio war nicht stark genug. Die Macht ließ sich nicht kontrollieren. Er wollte sein Werk, die Leichenuhr, vernichten. Da er es aus eigener Kraft nicht schaffte, wandte er sich an einen Helfer. Der ließ Gallio im Stich. Der Uhrmacher brachte sich selbst um, und die Uhr überlebte. Generationen später gab es sie immer noch. Und Gallios Geist fand keine Ruhe. Er war auf der Suche nach einem Partner. Diesmal fand er einen - mich. Und so stellte ich mich der mörderischen Leichenuhr.
Noch immer dachte Jules Vangard an das Mädchen, dessen Stimme ihn in den Träumen der letzten Nacht regelrecht verfolgt hatte. In Gedanken streichelte er ihre Schenkel, ihre Brüste und ihre Hüften. »Tu es, nimm mich, ich will es doch!« Lizzys Liebesgeflüster war ein Ohrenschmaus. Die Erinnerung glich einem Ballon, der immer mehr aufgeblasen wurde und sich zu einem großen Mond verformte. Er würde sicherlich bald platzen, nur wollte es Jules nicht so weit kommen lassen. Er mußte Lizzy Lamotte einfach wiedersehen. Er wußte nicht viel von ihr, nur ihren Namen und daß sie Artistin in einem kleinen Wanderzirkus war. Dabei ging er davon aus, daß nicht einmal ihr Name echt war. Er hörte sich nach einem Pseudonym an. Doch echt war ihr Körper gewesen. Er sehnte sich nach ihm. Vangard stellte seinen kleinen Polo am Rand des Platzes ab, wo die drei Buchen standen, die dem Fahrzeug einigermaßen Schutz boten. Von dieser Stelle aus konnte er auf den Platz sehen, wo der Zirkus sein Winterquartier bezogen hatte. Der Flecken Erde war ihm von der Stadt zur Verfügung gestellt worden. Das Vieh überwinterte in den Ställen, und so konnte die Stadt wenigstens einen kleinen Obulus an Miete kassieren. Zirkus war eigentlich nicht der richtige Ausdruck für ein Unternehmen wie dieses. Natürlich wurde ein Zelt aufgebaut, unter dessen Kuppel Artisten ihr Können zeigten und Dompteure Tieren ihren Willen aufzwangen. Clowns gab es ebenfalls, aber alles andere paßte nicht zu einem Zirkus, eher zu einer Kirmes. Der Zirkus >Baresi< reiste noch mit zwei Karussells. Eines war für Kinder, ein richtig altes Kinderkarussel mit hölzernen Pferden, kleinen Autos, Drehsitzen, Schafen und auch Kühen. Der Autoskooter, die zweite Attraktion, wurde mehr von den Jugendlichen frequentiert. Beide Anlagen waren im Winter nicht eingemottet worden. An freundlichen Sonntagen hatten sie geöffnet, das hatte Tonio Baresi höchstpersönlich versprochen. Jeder Benutzer brauchte auch nur den halben Preis zu zahlen. Lizzy Lamotte hatte Jules in den beiden Nächten, die sie miteinander verbracht hatten, viel erzählt. Er erinnerte sich auch an ihr Liebesgeflüster und an eine Warnung. »Komm nie nach Mitternacht!« hatte sie ihn eindringlich gebeten. Erst hatte er über die Warnung gelacht. Dann aber war ihm aufgefallen, daß Lizzy ihn beide Male vor Mitternacht weggeschickt hatte. Bevor ihm das ein drittes Mal passierte, wollte er der Sache auf den Grund gehen. Er würde Lizzy fragen. Jules wußte, daß sie in einem der hellen Wohnwagen ihr Zuhause hatte. Geschichte mal ganz anders, mit diesem Thema lockte Tonio Baresi seine Kunden an. Er hatte auch von einer geheimnisvollen Uhr
gesprochen, die die Zeit zurückdrehte und dem zahlenden Zuschauer einen Blick in die Vergangenheit gewähren konnte. Jules Vangard hatte sich darum nicht gekümmert. Er hatte es wie nebenbei erfahren. Es war auch nicht wichtig, er wollte einzig und allein zu Lizzy. Er hatte sich auch schon seine Chancen ausgerechnet. In diesem Winter würde er sie öfter besuchen. Was aber war, wenn das Frühjahr begann und sich der Zirkus auf die Reise machte? Sollte er dann mitziehen, oder würde ihre Liebe dann schon zu Ende sein? Er hatte oft darüber nachgedacht – auch über die Warnung, sie nie nach Mitternacht zu besuchen. Was soll der Mist? Ich will sie vor Mitternacht und nach Mitternacht haben. Mit seinen siebenundzwanzig Lenzen stand er voll im Saft, wie er immer sagte, und er war es auch irgendwie leid, über die Dörfer zu fahren, sich in beschissenen Discos herumzutreiben und darauf zu warten, irgendwelche Landschönheiten aufzureißen. Da war Lizzy anders. Verdammt, die hätte ihn schon um den Verstand bringen können. Wie sie sich unter ihm bewegt hatte! Wie eine Schlange war sie gewesen. Sie hatte Dinge mit ihm angestellt, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Wächter oder Aufpasser waren zwar nicht aufgestellt worden, wie er von Lizzy wußte, aber Jules war vorsichtig. Er hielt die Augen weit offen, als er sich dem Ziel seiner Sehnsucht näherte. Die Dunkelheit war wie ein Schwamm, jedenfalls kam sie dem jungen Mann so vor. Es war feucht, leicht neblig. Der Rasen war weich, er schien zu dampfen, als wäre unter ihm ein Riese versteckt, der in bestimmten Intervallen immer wieder seinen Atem ausstieß. Das Gras war sehr kurz. Schafe und auch Rinder hatten es abgerupft. Im Winter wuchs es nur langsam. Zahlreiche braune Flecken unterbrachen die grüne Fläche, und auf einem dieser Flecken stand auch Lizzys Wohnwagen. Er war nicht mehr als ein heller Kasten in der Dunkelheit, hinter dessen Fenstern kein Licht schimmerte. Vier Fenster hatte das Gefährt insgesamt, auf jeder Seite eins, wobei ein Fenster direkt neben der Tür lag. Dort wollte der nächtliche Schleicher hin. Stille lag über dem Platz. Selbst die Hunde schlugen nicht an. Sie hatten sich vor der Kühle verkrochen, was Jules natürlich gefiel, und als er auf die Uhr schaute, da hatte er zugleich den Wagen seiner Angebeteten erreicht. Genau Mitternacht! Er lächelte, obwohl ihm Lizzys Warnung einfiel. Die konnte sie sich in die Haare schmieren. Er mußte zu ihr! Vielleicht konnte er sie von diesem Zirkus wegholen und mit ihr in eine andere Stadt verschwinden, in eine Großstadt, wo sie anonym leben konnten.
Vor sich sah er die Tür. Sie war längst nicht so breit wie eine normale Tür, nur ein schmaler Durchgang. Ob Lizzy Lamotte abgeschlossen hatte, wußte er nicht. Am liebsten wäre er in den Wagen hineingestürzt, das aber verbot ihm seine Höflichkeit und auch die Vorsicht. Er klopfte. Dabei erschrak Jules, denn seiner Meinung nach war das Geräusch bis an den Rand des Platzes zu hören gewesen. Unwillkürlich duckte er sich und wartete lauernd ab, doch er hatte Glück. Nicht einmal ein Hund regte sich, geschweige denn ein Mensch. Jules war zufrieden und befand sich auch in der Stimmung, die Tür zu öffnen. Die Klinke klemmte ebenso wie die Tür. Mit viel Kraft zerrte er sie auf. Dann stand sie offen. Sein Blick fiel in den dunklen Wagen. Für einige Sekunden blieb er unbeweglich auf dem Fleck stehen, er zischelte auch den Namen seiner Angebeteten und war enttäuscht, daß sie ihm keine Antwort gab. Wahrscheinlich schlief sie schon. Wer schläft, der träumt oft, dachte Jules. Und er führte den Gedanken weiter. Vielleicht sogar von mir, denn als Liebhaber war er nicht schlecht gewesen. Das hatten ihm auch schon andere weibliche Wesen mehr als einmal bestätigt. Die aber waren vergessen, als er den Wohnwagen betrat und die Tür hinter sich schloß. Er blieb zunächst einmal stehen, leicht geduckt, sonst wäre er mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen. Jules kannte sich aus. Er wußte, daß er nach links gehen mußte, um das Bett der zweiundzwanzigjährigen Lizzy zu erreichen. Obwohl der Wagen ziemlich klein war, hatte ihn Lizzy noch einmal durch einen Quervorhang unterteilt, den sie zuzog, wenn sie schlief. In dieser Nacht war er offen. Das wiederum irritierte den ungebetenen Besucher. Es war nicht so stockfinster im Wagen, als daß er nichts hätte erkennen können. Durch die Fenster sickerte das Sternenlicht, so daß er gewisse Umrisse ausmachen konnte. Auch das Bett sah er. Es war ein altes Metallbett, das stabil war, wie Jules wußte. Nur konnte er nicht sehen, ob auf dem Bett jemand lag. Er ging näher, und mit jedem Schritt wuchs seine Enttäuschung. Als er vor dem Bett stehenblieb, bekam er die Wahrheit präsentiert. Das Bett war leer! Jules fluchte nicht, er atmete nicht einmal lauter. Die Enttäuschung jedoch machte ihm schwer zu schaffen. Wieso war das verdammte Bett leer? Weil Lizzy nicht im Wagen war, gab er sich selbst die Antwort. Er fragte sich aber gleich, wo sie um diese Zeit wohl stecken konnte, und die Eifersucht fing an, in seinem Innern zu nagen. Er spürte, daß er einen roten Kopf bekam. Seine Hände wurden feucht. Jules erinnerte sich an die Warnungen seiner Freundin, sie nie nach Mitternacht zu besuchen.
Er war gekommen, hatte das Bett leer vorgefunden, und Lizzy steckte wahrscheinlich bei einem anderen Liebhaber, womöglich bei einem Typ vom Zirkus, denn unter ihnen gab es einige verflixt heiße Burschen, wie er mittlerweile wußte. Selbst Direktor Baresi hatte ein Auge auf die Kleine geworfen, das hatte ihm Lizzy gestanden. Im Wagen war es stickig. Er schnupperte. Der Geruch erinnerte ihn an Lizzys Parfüm, aber war da nicht noch ein anderer Geruch, der den ersten beinahe überlagerte? So muffig und alt, beinahe schon modrig, als würde im Wagen Aas liegen. Jules schüttelte sich, als er daran dachte. Der Gestank blieb in seiner Nase. Eine Sinnestäuschung war es nicht. Neben dem Bett stand ein Hocker. Dort hatte die kleine Lampe mit dem gelben Schirm ihren Platz gefunden. Jules Vangard überlegte, ob er sie einschalten sollte, um mehr zu erkennen, aber das brauchte er nicht. Was er herausfinden wollte, das konnte er auch im Dunkeln ertasten. Er strich mit der Hand über die Bettmitte. Es kam ihm so vor, als hätte das Laken noch die Körperwärme der Schlafenden gespeichert, demnach konnte Lizzy noch nicht lange fort sein. Er tastete weiter und erschrak. Seine rechte Hand war naß geworden. Er zog sie zurück, ließ sie an einer Stelle auf dem Laken liegen und fühlte erneut. Das Laken war nicht nur naß, es war auch irgendwie glitschig, und da fühlte sich etwas an wie Pudding. Die Kehle des jungen Mannes verengte sich. Sein Unterbewußtsein meldete sich und schickte ihm eine Warnung zu. Es war am besten, wenn er nicht näher nachschaute und auch kein Licht machte. Sich umdrehen und den Wohnwagen so schnell wie möglich verlassen, das war die Parole. Angst peitschte durch seinen Körper. Er richtete sich wieder auf. Sein Herz schlug jetzt bedeutend schneller. Er brachte seine Hand dicht vor die Augen und sah, daß die Fläche dunkel war. Eine dunkle Flüssigkeit also. Etwa Blut? Bei diesem Gedanken rebellierte sein Magen. Jules fing an zu schlucken, und der Drang, den Wagen zu verlassen, verstärkte sich immer mehr. Das war kein guter Platz mehr. Nicht zu vergleichen mit dem der beiden letzten Nächte. Es war am besten, wenn er verschwand und Lizzy am folgenden Tag zur Rede stellte. Lebte sie überhaupt noch? Auf Zehenspitzen zog sich Jules Vangard zurück. Seine rechte Hand war noch immer feucht und glatt. Zwischen dem Schmier spürte er einige Haare, die über seine Haut kratzten. Er traute sich allerdings nicht, seine Hand irgendwo abzuwischen, auch nicht an seiner Kleidung. Die Tür
öffnete er mit der Linken und war wenig später froh über die frische Luft. Den Wohnwagenmief ließ er hinter sich. Leise stieg er die Stufe hinab. Er tauchte in die Stille ein und empfand diese Ruhe schon als unnormal. Das war keine nächtliche Stille, wie er sie kannte. Hier hatte sich etwas verändert. Sogar von einer Stunde zur anderen, denn vor Mitternacht war sie ihm noch nicht so bedrückend vorgekommen. Jules dachte abermals an die Warnungen seiner Freundin. Er schüttelte sich, ohne das beklemmende Gefühl zu verlieren. Es blieb in ihm, es war wie eine innere Klammer. Er wußte, daß etwas passiert war, nur erkennen konnte er nichts. Über den abgestellten Wagen und Buden lastete ein bedrückendes Schweigen. Es mochte auch an dem Schatten liegen, der über ihn fiel. Jules schaute nach links. In unmittelbarer Nähe des großen KuriositätenBaus fühlte er sich nicht wohl. Dieses Gebilde strahlte etwas aus, das ihm nicht behagte. Hätte er es in Worte fassen sollen, es wäre ihm kaum gelungen. Das war einfach da, es war anders als die Dunkelheit der Nacht. Jules kam es sogar vor, als wären die tiefen Schatten mit einem bösen Leben erfüllt. Als eine leichte Windböe über den Platz wehte, hörte er das leise Rascheln der Blätter. Das Laub war erfaßt und in die Höhe geschleudert worden. Es wehte an ihm vorbei. Jules Vangard hörte die Schritte! Er blieb auf der Stelle stehen, konzentrierte und spannte sich. Die Angst saß tief wie ein Stachel in ihm. Vorsichtig schaute er nach links. Die Gestalt war kaum zu erkennen, obwohl sie in seiner Nähe vorbeihuschte. Ihm kam es vor, als würde er auf der Stelle einfrieren. Er hatte sie erkannt, er wollte ihr etwas nachrufen, seine Stimme versickerte jedoch schon im Ansatz. Nur mit den Augen hatte er Lizzy verfolgen können. Er wußte jetzt, welchen Weg sie genommen hatte. Sie war auf die Rückseite des Kuriositätenkabinetts zugelaufen. Wenig später hörte er ein leises Knarzen. Da hatte sich tatsächlich eine Tür bewegt. Jules wußte Bescheid. Lizzy hatte tatsächlich um die Zeit den Wagen betreten, und er fragte sich, was das nun wieder sollte. Wieso ging sie nach Mitternacht dort hinein? Er dachte wieder an ihre Warnung. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Er spürte den Druck im Magen und auch hinter den Augen. Jules überlegte, ob er ihr nachgehen sollte. Er dachte an die Nächte mit ihr und glaubte fest daran, daß es in dieser Nacht nicht mehr dazu kommen würde. Er wollte wenigstens mit Lizzy reden. Er bückte sich und holte ein Taschentuch hervor. Ein Feuerzeug ebenfalls, das er anschnickte und die kleine flackernde Flamme dicht neben seine rechte Handfläche hielt. Er wollte den Schmier endlich sehen. Es war kein Schmier, es war Blut!
Plötzlich ekelte ersieh. Dickes Blut, sogar die dunklen Haare entdeckte er darin. Jules schüttelte den Kopf. Er dachte daran, daß er in das Bett gefaßt hatte, während er seine Hand im Gras zu reinigen versuchte. Dieses Blut hatte sich in Lizzys Bett befunden. Es war eine stockige Flüssigkeit gewesen, der Vergleich mit dem Pudding kam ihm wieder in den Sinn. Wie war das Blut in Lizzys Bett gelangt? War sie etwa verletzt? Konnte er ihr helfen? Vielleicht hatte sie nicht mehr länger in ihrem Wagen bleiben können und suchte jetzt ein Versteck? Im Kabinett würde sie kaum jemand vermuten. Hatte er bisher noch gezögert, so sollte sich dies sehr schnell ändern. Eine Pause gab es nicht mehr, er nahm denselben Weg wie Lizzy und war auch froh, daß er sich auskannte. Im Gegensatz zur Vorderseite war die hintere nicht mit bunten Bildern bemalt. Sie war nicht mehr als eine dunkle Holzfläche, die zudem muffig und feucht roch. Wieder blieb Jules vor einer Tür stehen. Hinter ihr aber lag etwas Fremdes, denn den Wohnwagen hatte er gekannt. Nun kam es ihm vor, als würde er eine fremde, unheimliche Welt betreten, die eine Hölle für sich war. Er hatte einen trockenen Mund bekommen. Die innere Stimme sagte ihm, daß es Wahnsinn war, was er da tat, aber irgendwo gab es auch eine Grenze. Da mußte man sich entscheiden, und er hatte sich entschieden. Er würde den Weg gehen. Allein wegen Lizzy. Und er würde auch über seinen eigenen Schatten springen. Es kam ihm vor wie die erste Mutprobe seines Lebens. Als er daran dachte, mußte er schon lächeln. Dabei verkrampfte er sich. Wenn Lizzy von innen abgeschlossen hatte, würde er sich zurückziehen. Das hatte er sich vorgenommen, und irgendwie hoffte er auch, daß es zutraf. Sie hatte nicht von innen abgeschlossen. Jules öffnete die Tür. Er hörte das Knarren jetzt deutlicher, bekam eine Gänsehaut, die auch blieb, als er den Schritt in das unbekannte, fremde und feindselige Dunkel machte. Er zog auch die Tür zu. Die Angst kam, als sich die Dunkelheit wie ein tiefer Sack über ihn stülpte. Er sah überhaupt nichts. Das Gefühl der Klaustrophobie überkam ihn schlagartig. So wie ihm mußte es jemandem gehen, der lebendig begraben worden war. Er dachte an Lizzy und erinnerte sich wieder daran, daß er ihr mal vorgeschlagen hatte, dieses Kabinett zu besichtigen. Aber Lizzy hatte es strikt abgelehnt. Sie wollte nicht, es wäre nicht gut, hatte sie ihm gesagt. Jetzt wußte er, daß sie recht hatte.
Dieser Bau war kein guter Ort. Er war gefährlich. Trotzdem ging Jules Vangard weiter. Liebe macht bekanntlich blind. Sie kann auch manchmal tödlich sein… ***
Der Traum Wer mich kennt, der weiß, daß ich ein Mensch bin, der sich am Abend, wenn es die Zeit erlaubt, gern früh hinlegt, zumeist vor Mitternacht, und sich darüber freut, tief und fest zu schlafen. Einfach wegsacken, um am anderen Morgen mit einem guten Gefühl und auch erfrischt zu erwachen. So etwas klappt nicht immer, schließlich ist der Mensch keine Maschine, aber in der Regel hatte ich keine Schlafprobleme. Leider hatte sich das geändert! In den letzten drei Nächten war ich zwar zum Schlaf gekommen, aber er war verdammt unruhig gewesen, bedingt durch einen bestimmten Traum, den ich nicht einordnen konnte, über den ich aber mit meinem Freund Suko gesprochen hatte, ohne von ihm eine Lösung serviert zu bekommen. Er hatte nur die Schultern gehoben und davon gesprochen, daß ich mit dem Problem allein fertig werden müßte. Klar, war das meine Sache, auch andere wurden mit den Problemen allein fertig. In meinem Fall sah ich es nur etwas anders an, denn es waren keine verschiedenen Träume, die mich plagten, sondern immer wieder der gleiche. Am vierten Abend glaubte ich nicht mehr an einen Zufall. Auch deshalb nicht, weil sich der Traum intensiviert hatte und ich mit immer mehr Details konfrontiert worden war. Ich hatte über eine Lösung nachgedacht und war auch zu einem Ergebnis gekommen. Dieser Traum mußte mehr als eine Botschaft verstanden werden. Die Botschaft an mich – doch von wem? Das war die Frage, der ich nachgehen mußte, nur kam ich mit Überlegungen nicht weit, denn die Hauptfigur des Traumes war mir unbekannt. Doch beim drittenmal hatten sich bereits mehrere Details herauskristallisiert, und ich wartete voller Spannung auf den vierten Traum. Ich hatte das Gefühl, daß er der entscheidende werden würde, und ich war bereits tagsüber ziemlich aufgeregt. Ich hatte mir einen Tag im Büro auserbeten, um gewisse Dinge zu ordnen. Ich wollte Rechnungen aufarbeiten, mal wieder mit Glenda Perkins reden, wobei ich feststellen mußte, daß sich meine Gedanken immer mehr verloren und ich überhaupt nicht bei der Sache war, sondern schon darauf wartete, den Traum zu erleben.
Vielleicht mit neuen Details. Mit der Botschaft, die ich nun voll und ganz begriff. Das merkte auch Glenda. Sie schlug mir vor, die Zelte abzubrechen und nach Hause zu gehen. Alles andere wäre sinnlos gewesen, und ich stimmte ihr zu. Noch am späten Nachmittag verließ ich das Büro, wobei mir Suko noch androhte, am Abend vorbeizukommen und nach dem rechten zu sehen. Das tat er auch. Ich war froh darüber, ihn zu sehen, denn die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Natürlich hätte ich mich ins Bett legen können, das wäre auch nicht das Wahre gewesen, denn ich fühlte mich noch nicht müde genug. Hinzu kam die Erwartung, wieder denselben Traum zu haben. Ich wurde nervös, was Suko sich nicht erklären konnte. »Du hast eben eine andere Erziehung hinter dir.« »Stimmt, John. Manchmal ist es gut, wenn jemand die alten asiatischen Weisheiten nicht vergißt. Sie geben dir die Kraft, um die Gefühle ordnen zu können.« »Da muß ich wohl noch viel üben.« Suko schaute mir lächelnd nach, wie ich im Zimmer umhertigerte. Ich schaute zu Boden, dachte zum wiederholten Male nach, welchen Sinn dieser Traum gehabt haben könnte. Er war wie ein weit von mir entferntes Gebilde gewesen, nicht zu greifen, auch nicht beim Näherkommen, denn wenn ich das Gefühl hatte, ihn mit den Gedanken erfassen zu können, glitt ich immer wieder ins Leere. Dennoch mußte der Traum eine Botschaft sein! Ich lächelte vor mich hin, als ich Sukos Gesicht sah. Mein Freund sah aus, als würde er sich mehr Sorgen um meinen Zustand machen als ich mir selbst. »Was hast du?« »Ich beobachte dich.« »Ja, das sehe ich.« »Und ich möchte dir einen Vorschlag machen.« »Rück raus damit!« »Sollen wir irgendwo hingehen und eine Kleinigkeit essen? Zum Italiener, Chinesen…« »Du hast Hunger.« »Stimmt. Da ich nicht gern allein im Lokal sitze und mampfe, wollte ich dich fragen, ob du mich begleitest.« Ich nahm in einem Sessel Platz und legte die Handflächen gegeneinander. »Nein, Suko, ich bleibe hier. Nimm es nicht persönlich, aber ich wäre kein guter Unterhalter heute abend. Außerdem habe ich kaum Hunger. Ich müßte mich dazu zwingen, überhaupt einen Happen zu essen. Ist lieb gemeint, doch ich sage danke.« »Dachte ich mir.«
»Ich komme später darauf zurück, Suko. Gib mir einige Tage Zeit, wenn diese Sache vorbei ist.« »In die du dich viel zu tief hineingekniet hast, John. Du mußt alles lockerer nehmen.« Ich schaute ihn zweifelnd an. »Würdest du das tun? Einfach so locker nehmen?« »Klar.« Ich verzog die Lippen. »Das, mein Lieber, glaube ich dir nun nicht. Du würdest ebenso wie ich über die bleiche Gestalt nachdenken, die immer wieder erscheint, um dich zu warnen. Sie ist ja da, sie ist plötzlich präsent, und ich kann ihr nicht entkommen.« »Willst du es denn?« »Nein. Ich möchte herausfinden, was sie von mir will. Das ist kein normaler Traum, Suko. Ich vergleiche ihn mit einem Puzzle. Jede Nacht kommt ein Teil hinzu. Wenn ich in der folgenden wieder anfange zu träumen, dann hat sich das Puzzle geschlossen. Dann ist es fertig, und ich weiß zumindest Bescheid.« »Dessen bist du dir sicher?« »Auf jeden Fall.« Suko wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, aber es ist dein Traum. Ich an deiner Stelle würde vielleicht anders denken und die Lösung von einer anderen Seite anpacken.« »Von welcher, bitte?« Suko winkte ab. »Das habe ich dir doch schon gesagt. Es wäre möglich, daß es etwas in deiner Vergangenheit gibt, das diesen Traum gewissermaßen gesponsert hat.« »Toll gesprochen.« »Dabei bleibe ich auch. Der Traum läßt sich bestimmt auf etwas zurückführen, an das du heute noch gar nicht denkst.« »Der Meinung bin ich auch. Ich denke da an einen Fall.« »Gut.« Er grinste. »An welchen?« »Keine Ahnung.« »Sag das nicht, John. Es müßte ein Fall sein, der nur dich allein etwas angeht. Eine ganz persönliche Sache, denke ich, mit der deine Freunde nichts zu tun haben.« Er ließ mir Zeit zum Nachdenken, und ich nickte. »Ja, da kannst du schon recht haben.« »Meine ich doch.« »Trotzdem bleibe ich skeptisch. Ich bekomme ihn nicht in den Griff. Und persönliche Fälle – Himmel«, ich hob die Schultern. »Soll ich jetzt alle durchgehen?« »Wäre eine Möglichkeit, aber nicht effizient.« »Eben.«
Suko sprach weiter, und er unterstrich seine Worte durch Handbewegungen. »Es ist ja nicht gesagt, daß er mit Dingen zusammenhängt, die du schon erlebt hast. Es kann etwas sehr Persönliches sein, das tief in deinem Innern vergraben ist. Du weißt selbst, daß die Seele des Menschen das Rätselhafteste ist, das man sich auf der Welt vorstellen kann. Neben dem Gehirn natürlich.« »Seele«, murmelte ich. »Wobei wir beim Thema wären.« »Soll ich weit zurückgehen, nicht mehr in der Gegenwart bleiben und tief in die Vergangenheit tauchen?« Suko lächelte. »Ich schätze, daß du dich auf dem richtigen Weg befindest, Alter.« »Eine Vergangenheit, die längst hinter mir liegt und die ich nicht als John Sinclair erlebt habe?« »Das ist sehr persönlich.« »Und darauf wolltest du hinaus.« »Ja.« »Weiter!« forderte ich. »Hector de Valois, Richard Löwenherz, deine Templer-Zeiten, John.« Ich winkte ab. »Hör auf, Mann! Wie sich das schon anhört! Deine Templer-Zeiten!« »Liege ich da so falsch?« Ich schwieg, was so gut wie ein Eingeständnis war. Wenn ich näher darüber nachdachte, mußte ich zugeben, daß mein Freund gar nicht so falsch lag. Denn meine Wiedergeburten waren nun mal sehr persönliche Angelegenheiten. Die Erinnerung daran kann durchaus in meinen Träumen aufgefrischt werden. »Nun, Mister Geisterjäger…« »Gar nicht so schlecht. Das wäre eine Möglichkeit, eine Basis. Ich werde sie ins Kalkül ziehen.« »Untertreibe nicht. Du mußt sie einfach in Betracht ziehen. Du mußt damit leben, und ich bin sicher, daß sich die Vergangenheit immer mehr in die Karten schauen läßt. Da kommt etwas auf dich zu, für daß ich keine Erklärung habe.« »Ich auch nicht.« »Nur wirst du ihm nicht entgehen können.« »Das mag sein«, gab ich zu. »Es ist sogar so.« Wir diskutierten noch eine Weile, und ich merkte kaum, wie die Zeit verging. Zudem schaffte es Suko immer wieder, mich in faszinierende Theorien zu verstricken, über die ich erst einmal nachdenken mußte. Für ihn war es nichts anderes als ein Umkehrprozeß, der mit meiner Wiedergeburt zu tun hatte.
»Ich glaube fest daran, John, daß in der tiefen Vergangenheit irgend etwas stattgefunden hat, das damals nicht gelöst werden konnte. Es hat aber eine Lösung geben müssen, und deshalb hat man sich einfach an dich gehalten. Oder liege ich da so falsch?« »Ich habe keine Ahnung.« »Du willst keine haben, aber du kannst dich auch nicht dagegen wehren. Du bist mit der Vergangenheit konfrontiert worden, und vielleicht mußt du sogar für deren Sünden zahlen.« »So schlimm wird es schon nicht werden.« Ich gähnte, was Suko zu einem Lachen verlockte. »Wunderbar«, sagte er und stand auf, wobei er auf seine Uhr schaute. »Wir haben gleich Mitternacht. Die Zeit ist vorbeigehuscht. Du bist müde, ich ebenfalls, und ich bin gespannt, was du mir am nächsten Morgen berichten kannst.« »Vielleicht gar nichts.« »Das bleibt abzuwarten.« Ich brachte Suko noch zur Tür. Er blieb davor stehen und machte ein ernstes Gesicht. »Wie man es auch dreht und wendet, John, dein Traum ist nicht so leicht zu verkraften. Auch ich hätte meine Mühe damit gehabt. Ich rate dir nur, vorsichtig zu sein. Nimm ihn um Himmels willen nicht auf die leichte Schulter.« »Keine Sorge. Es ist trotzdem nur ein Traum.« Mein Freund hob die Schultern, wünschte mir noch eine gute Nacht und verschwand nach nebenan. Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und ging wieder zurück in meine Wohnung. Das Gespräch mit Suko hatte zwar nicht viel gebracht, ich war auch nicht ruhiger geworden, es tat trotzdem gut, einen Freund in der Nähe zu wissen. Träume sind Schäume, so heißt es manchmal. Ich allerdings wollte daran nicht so recht glauben. In meinem Fall waren sie mehr als Schäume, da hatten sie möglicherweise ein direktes Zeichen gesetzt, und es konnte durchaus sein, daß dieser Traum so etwas wie eine Offenbarung für die Gegenwart oder die nahe Zukunft war. Ich war sehr nachdenklich, während ich mich auszog. Als ich nach der Toilette im Bett lag, ließ ich das Licht auf der Konsole brennen, worüber ich selbst lachen mußte, denn ich kam mir vor wie eine ängstliche alte Jungfer, die Furcht vor dem Einschlafen hatte und trotzdem darauf hoffte, daß ihr Traumprinz erschien, um sie aus ihrem Zustand zu erlösen. Ich wartete auf den Schlaf. Komisch, vorhin war ich müde gewesen, doch nun wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich wartete auf ihn, fühlte mich dabei aufgekratzt und kam mir vor, als würde ich mich dagegen stemmen, obwohl ich doch wollte, daß ich einschlief. Ein paarmal schaute ich auf die Uhr.
Der neue Tag war bereits über zwanzig Minuten alt. Ich hatte nie nachvollziehen können, wann die Träume kamen. Ob kurz nach Mitternacht oder erst in den frühen Morgenstunden, jedenfalls hoffte ich, daß ich in den folgenden Stunden Klarheit bekam. Auch draußen war es ruhig geworden. Ich wohnte am Stadtrand von Soho, und irgendwann, besonders in den langen Spätherbsttagen, schliefen auch hier die Geräusche ein. Irgendwann sackte ich weg, fiel in ein tiefes Loch. Ich hatte dabei das Gefühl, als hätten mich unsichtbare Hände hineingezerrt. Das Loch war bodenlos, und ich schwamm einfach weg. Nichts war mehr zu spüren. Um mich herum versank die Welt, mein Bewußtsein verabschiedete sich. Im gleichen Maße wurde das Unterbewußtsein aktiviert. Plötzlich war die Realität der Welt für mich nicht mehr wichtig. Ich schlief tief und fest, bekam selbst nichts mit, wartete aber auf die Träume. Der Schacht hielt mich fest. Nichts war da. Dunkelheit, tief und schlammig. Ich kam mit mir selbst nicht mehr zurecht. Ich spürte mich nicht, denn ich war nicht mehr John Sinclair. Ich war zu einem anderen geworden. Jetzt war ich eine Person, die ihre Träume absolut realistisch erlebte. Wer war ich? Warum konnte ich mich gegen die Kräfte nicht wehren? Ich ging durch meinen eigenen Traum als eine fremde Person, die ebenso fühlte wie ich. Ich wanderte durch die Dunkelheit, die nur sehr langsam vor mir zurückwich, damit sich ein Bild formen konnte. Ich sah mich in einem fremden, düsteren Ort, wobei ich nicht erkennen konnte, ob ich in einem Dorf oder einer Stadt stand. Jedenfalls befand sich unter meinen Füßen ein holpriges Pflaster. Ich mußte darauf achten, nicht zu stürzen. Alles war anders geworden. Wenn ich den Kopf drehte, schaute ich gegen die düsteren Fassaden buckliger und schiefer Häuser. Lichter brannten keine. Über mir breitete sich ein düsterer Himmel aus, bedrückend wie immer, und ich wußte plötzlich, daß mein Traum schon längst begonnen hatte, denn dieser Anfang war mir nicht neu. Ich kannte ihn, ich hatte mich darauf eingestellt und war zudem gespannt auf seine Fortsetzung. Nur gelang es mir nicht, den Traum selbst zu steuern. Das mußte ich anderen Kräften und Mächten überlassen, die mich durch die Düsternis begleiteten. Eine Straße, die sich in Kurven durch den kleinen Ort wand und sehr eng war. Eine tiefe Stille, deren Anwesenheit mir einen Schauer über den Rücken rieseln ließ. Und dann das Licht.
Ich sah es rechts von mir. Es flackerte. Wahrscheinlich war es das Licht einer oder mehrerer Kerzen. Ich blieb stehen und drehte den Kopf. Vor mir öffnete sich eine schmale Gasse, aus der es roch, weil dort irgendwelcher Abfall vermoderte. Ich mußte sie betreten, ob ich wollte oder nicht, denn sie war der einzige Weg, um so schnell wie nur möglich in die Nähe des Lichts zu gelangen. Es lockte mich… Ich ging hin. Schon dreimal war ich in meinen Träumen diesen Weg gegangen. Nur aber kam ich mir vor, als würde ich ihn zum erstenmal beschreiten, weil ich ahnte, daß ich so etwas wie eine wichtige Entdeckung machen würde. Ich wußte sogar, daß dort, wo das Licht war, jemand auf mich wartete, und ich wollte schneller gehen, was ich nicht schaffte, denn dieser Traum wurde von anderen Gesetzen diktiert. Ich bewegte mich in einer gleichmäßigen Geschwindigkeit und ging durch einen zähen Nebel, weil ich immer das Gefühl hatte, es wären unsichtbare Arme da, die mich festhalten wollten. Als ich das Ende der Gasse erreichte, konnte ich direkt auf das Haus mit dem Licht schauen. Es war ein ebenso kleines Gebäude wie die übrigen Häuser auch. Nur eben das Licht hinter den kleinen Fenstern unterschied es von den anderen. Es drang auch durch die Vierecke und zeichnete helle Inseln auf den Boden vor dem Haus. Wie in den drei Traumnächten zuvor ging ich den Weg direkt auf das Haus zu. Nichts in der Umgebung rührte sich. Die Stille lag schwer wie Blei über allem. Manchmal glaubte ich sogar zu schweben, einfach wegzufliegen und diesen Traum zu verlassen. Es war seltsam. Ich erlebte ihn sehr intensiv, obwohl es mir manchmal vorkam, ein anderer Mensch zu sein. In dieser Nacht war eben alles anders, selbst die Träume. Es mochte damit zusammenhängen, daß es so etwas wie ein Wahrtraum war, aus der Vergangenheit hervorgeholt und nur für mich persönlich bestimmt. Wie immer blieb ich vor der Tür stehen. Sie war aus Holz gefertigt, hing schief in den Angeln und hatte nicht einmal eine Klinke, sondern nur einen eisernen Griff. Damit schob ich die Tür auf. Da der obere Querbalken ziemlich tief lag, mußte ich den Kopf einziehen, als ich das Haus betrat. Wie in den Nächten zuvor begrüßte mich der altbekannte Geruch. Es war jedoch kälter, als hätten sich die Geister der Toten im Haus versammelt. Ich gelangte nicht erst in einen Flur, sondern stand sofort im Raum und schloß die Tür schnell wieder, damit der Wind das Licht der vier Kerzen nicht ausblies. Der eiserne Kerzenhalter stand auf einem kleinen Tisch.
Ich sah eine Holzbank, eine Feuerstelle, Stühle, einen Schrank und stand selbst auf dem harten Boden, der weder von einem Teppich noch von irgendwelchen Steinen bedeckt wurde. Man hatte die Erde kurzerhand geplättet. Ich tat nichts. Stehenbleiben, warten, dem Kerzenschein vertrauen, der mir nicht einmal warm vorkam, sondern einen Eishauch zu verströmen schien. Aus den vorherigen Träumen wußte ich, was geschehen würde. Ich würde die seltsame Stimme hören, die mich aus dem Zimmer in einen anderen Raum lockte, und ich würde ihr folgen. Noch war ich allein. Das Licht malte Schatten auf Wände und Boden. Der kalte Hauch nahm zu, er umfing mich wie ein Netz, das sich auch auf mein Gesicht niederlegte. »John Sinclair…« Da war die Stimme. So weit entfernt und doch so nah. Anders als eine menschliche. Geisterhaft, flüsternd, gleichzeitig aber auch bestimmend und irgendwie quälend, als hätte sich der Rufer mit einem gewaltigen Problem herumzuschlagen. Ich drehte mich um. Es war wieder wie in den vergangenen Nächten. Nichts hatte sich verändert. Ich konnte das Zimmer verlassen, ohne daß mich jemand aufhielt. Die Tür zum anderen Zimmer sah ich erst, als ich davorstand. Sie befand sich neben dem Kamin und lag im Schatten. Ich wußte auch, was mich dahinter erwartete, stieß die Tür auf und fing an zu blinzeln, weil mich die zahlreichen Kerzenflammen doch etwas blendeten. Alle zusammen gaben sie schon eine starke Helligkeit ab, an die ich mich erst noch gewöhnen mußte. Der Raum war kleiner als der, aus dem ich gekommen war. Aber er war dafür höher. Das mußte er zwangsläufig sein, sonst hätte nicht der Gegenstand in ihn hineingepaßt, der einfach alles andere überschattete. Nur auf ihn konzentrierte ich mich. Es war die Uhr! Eine Standuhr aus dunklem Holz, die mit einer normalen nicht zu vergleichen war. Ich sah sie als außergewöhnlich an, als ein wahres Meisterwerk der Uhrmacherkunst. Sie bestand aus einem normalen Unterteil, das ziemlich kompakt wirkte, auch sehr mächtig sein mußte und unten breiter war als oben. So hatte es die nötige Standfestigkeit bekommen. Gleichzeitig wirkte das Unterteil der Uhr wie abgeschnitten oder wie nicht vollendet. Da paßten die Proportionen nicht mehr, und genau das war wichtig, weil zu einer Uhr eben ein Zifferblatt gehört, und dieses hier war überdimensional groß. In seinem Umfang mit der Höhe des Unterteils zu vergleichen. Ein riesiger Kreis mit römischen Zahlen und nur einem Zeiger versehen, was darauf schließen ließ, daß die Uhr sehr alt war,
denn vor einigen Hundert Jahren gab es viele Uhren dieser Art. Der Zeiger wies haargenau auf die Zwölf. Er war ein besonderer Zeiger. Bis zum Rand der Uhr war er noch normal. Dann aber teilte er sich in zwei Spitzen, die wie lange Lanzen wirkten und auch als gefährliche Waffen eingestuft werden konnten. Der Raum zwischen den beiden Zeigerspitzen nahm nicht einmal eine Handbreite ein, doch das alles war es nicht, was mich so erschreckte. Mir ging es um die Farbe des Zeigers, die durch das helle Licht der Kerzen deutlich hervortrat. In der oberen Hälfte schimmerte sie in einem glänzenden Rot. Eine Farbe, die durchaus als Blut hätte angesehen werden können. Für mich hatte der Zeiger die Uhr zu einem regelrechten Mordinstrument gemacht. Obwohl ich sie bereits zum viertenmal in meinen Träumen erlebte, packte mich der Schauer erneut. Er rieselte wie eine Menge kalter Glasperlen über meinen Rücken. Ich wußte, daß mir die fremde Stimme die Chance gab, mich an den Anblick zu gewöhnen. Sie würde sich noch früh genug melden, und so war es auch jetzt. Das Licht der Kerzen begann zu flackern, bevor die ersten Worte gesprochen wurden. »John Sinclair… diesmal freue ich mich besonders. Diesmal bist du gekommen, um zu hören, was zu tun ist…« Das war neu für mich. Wieder bekam mein Rücken Besuch. Ich fing an zu frieren, was auch an der inneren Erwartung lag, die mich überfiel. Ich war darauf gefaßt, weitere Erklärungen zu hören, die allerdings ließen auf sich warten. Dafür geschah etwas anderes. Gleichzeitig erlebte ich die mir nicht bekannte Fortsetzung des Traums, denn in dem Kerzenschein, zwischen und über den Flammen, bewegte sich etwas. Dort materialisierte sich eine Gestalt. Es war der Sprecher. Und es war ein Gespenst! *** Ich träumte weiter, aber ich nahm diesen Traum so realistisch auf, als wäre er Wirklichkeit. Es war nicht zu erkennen, ob sich die Gestalt aus den Flammen gebildet hatte, fast schien es so zu sein, jedenfalls stand sie vor mir, und ich sah sie als ein feinstoffliches Wesen an. Ein Gespenst, ein Geist, eine verformte Seele, die trotz allem normal reden konnte, wie ich ja schon erlebt hatte. Auch jetzt rechnete ich damit, von dem Namenlosen angesprochen zu werden und wartete förmlich darauf. Meine Furcht war verschwunden. Statt dessen hatte sie einer gewissen Erwartungshaltung Platz geschaffen, doch ich wurde
noch mehr auf die Folter gespannt, weil die Erscheinung mit sich nicht zurechtkam. Sie war ein graues und ein weißes Etwas. Im Traum suchte ich nach einem Vergleich. Sie kam mir vor wie ein Mann, der von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt worden war und dabei etwas von der Dichte seines Körpers verloren hatte. Mir persönlich präsentierte er sich als eine Mischung aus Geist und Mensch, was ich einfach hinnahm. Neben der Uhr blieb die Gestalt stehen. Im Licht der Flammen konnte ich sogar die Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen, und entdeckte, daß er ein alter Mann sein mußte, dessen Haut schon ziemlich zerfurcht war. Er stand gebückt vor mir, hatte die Arme leicht gehoben und wies mit den Händen auf die Uhr. »Mein Werk!« hörte ich die geisterhafte Stimme. »Sie ist einzig und allein mein Werk, denn ich bin Gallio, auch Chronos genannt, der beste Uhrmacher des Landes. Man hat mich auch den Herrscher der Zeiten genannt. Ich habe diese Uhr hergestellt. Sie ist mein Lebenswerk geworden, auf das ich stolz war. Meine Meinung änderte ich später, denn ich sah ein, einen Fehler gemacht zu haben. Ich wollte nicht nur zuviel, ich wollte alles. Ich wollte die Zeit begreifen, den Anfang und das Ende, den Himmel und die Hölle, ich wollte gott- oder göttergleich sein, mit den Zeiten spielen, um Menschen damit unter meine Kontrolle zu bringen. Aber die Bäume der Menschen wachsen nicht in den Himmel. Es war bereits zu spät, als ich das begriff. Da hatte mich die Zeit bereits manipuliert. Ich hatte mir den falschen Freund ausgesucht. Luzifer ist kein Helfer der Menschen, er ist ein Tier, der die Geschöpfe nur mißbraucht und benutzt. Er gab mir die Chance, die Zeit zu verändern. An einer Stunde des Tages, zwischen Mitternacht und ein Uhr, konnte ich mit dieser Uhr spielen und wurde zu Chronos, dem Herrscher der Zeit. Ich stellte sie vor und zurück, die Vergangenheit und die Zukunft rückten zusammen. Sie vermischten sich miteinander, so daß es mir gelang, die Zeiten zu überbrücken. Ich bekam viel zu sehen, ich erlebte Dinge, die bisher nur ein Traum für mich gewesen waren, aber ich merkte auch, wie mich die Macht immer mehr in ihre Krallen bekam. Ich wurde verbittert, ich wurde schließlich besessen. Ich war nur noch äußerlich ein Mensch, und ich verlor meine Freunde und Kunden. Aber ich forschte weiter, bis ich merkte, daß es keinen Ausweg mehr gab. Da fing ich an, die Uhr zu hassen, denn sie allein hat mich einsam gemacht. Ihretwegen gingen die Freunde von mir fort. Ich haßte sie sehr, nur brachte ich es nicht fertig, sie zu zerstören. Etwas hielt mich davon ab. Als ich merkte, daß mich die Uhr beherrschte und ich nicht einmal meinen Willen gegen sie durchsetzen konnte, entschloß ich mich, den anderen Weg zu gehen. Wenn ich die Uhr nicht zerstören konnte, dann wollte ich mich vernichten. Das tat ich. Der Zeiger war dafür wie geschaffen…«
Hier stoppte seine Rede, und ich stand bewegungslos auf dem Fleck und mußte das Gehörte zunächst einmal verdauen. Es war für mich etwas viel auf einmal gewesen. Ich kam damit kaum zurecht, und mein Blick wechselte zwischen der Uhr und Gallio hin und her. Als er den Arm hob, da wußte ich, daß er weitersprechen wollte. Ich konzentrierte mich wieder auf ihn. »Mir war klar, daß ich durch meinen Tod das Problem nicht lösen konnte, und so überlegte ich, ob es nicht einen Mann gab, der stark genug war, diese Uhr zu zerstören, wenn ich einmal nicht mehr war. Ich muß dazu sagen, daß die Zeiten sehr wild gewesen sind, von einer Ruhe war nichts zu spüren. Es gab viele Länder, Grafschaften, Herzogtümer und Provinzen. Es gab auch die Kirche, die über allem schwebte. Ich traute mich nicht, ihr meine Bitte vorzutragen, denn man hätte mich als Ketzer verdammt und hingerichtet. Nach langem Überlegen fiel mir jemand ein, der nicht in direktem Kontakt zur Kirche stand, aber sehr gut Bescheid wußte und ein Feind der Hölle und ihrer schrecklichen Dämonen war. Er war ein Templer, nicht nur das, er gehörte sogar zu den Anführern, er war sehr mächtig, und man achtete seine Reden sehr. Er hieß – Hector de Valois…« Komisch, ich war nicht einmal so überrascht. Den letzten Worten nach zu urteilen, hatte es für mich keine andere Lösung gegeben. Es hatte mächtige Templerführer gegeben, doch nur einen aus der Vergangenheit, der einen so direkten Kontakt zu mir hatte wie eben Hector de Valois, der in mir wiedergeboren war. Sollte ich etwas sagen? Wartete diese Gestalt darauf, daß ich meinen Kommentar abgab? Als ich sie anschaute, glaubte ich nicht mehr daran, denn Gallio machte auf mich den Eindruck einer Person, die zu sehr in ihre eigenen Probleme verstrickt war. Er hatte den Kopf gesenkt und bewegte ihn dabei. Er stöhnte leise, und als er seinen Kopf wieder anhob, war sein Gesicht von tiefen Sorgenfalten gezeichnet. Es schien ihm schwerzufallen, über die Vorgänge der Vergangenheit zu sprechen. Er riß sich wieder zusammen und murmelte noch einmal den Namen meines >Ahnherrn<. »Was war mit ihm?« »Ich gab ihm Bescheid«, hörte ich seine Geisterstimme. »Ich schickte gleich drei Boten los und entlohnte sie fürstlich, damit ich sicher sein konnte, daß er auch gefunden wurde. Doch alle drei enttäuschten mich. Sie kehrten nicht einmal mehr zu mir zurück. Vielleicht sind sie mit dem Lohn verschwunden oder aber in den Wirren der zahlreichen Kriege zwischen den einzelnen Ländern umgekommen. Ich jedenfalls habe es nicht gewußt, für mich war alles schrecklich gewesen, weil immer mehr Zeit verging und ich tiefer und tiefer in diesen Strudel hineingeriet. Ich hatte mich verändert. Ich ging keiner Arbeit mehr nach. Ich verkam immer mehr. Ich konnte nur noch an die Uhr denken und an die erste
Stunde des Tages. Darauf wartete ich. Da konnte ich mich entfalten, da hatte man mir die Chance gegeben, mit der Zeit zu spielen, was ich immer wieder bis zur letzten Sekunde ausnutzte. Glücklich wurde ich nicht, im Gegenteil, ich verfiel immer mehr. Hector de Valois kam nicht, doch es mußte eine Lösung geben. Wenn ich schon nicht die Uhr vernichten konnte, dann mußte ich selbst aus dem Leben scheiden. Ich faßte einen Plan.« Er drehte den Kopf und schaute zu dem zweigeteilten Zeiger. »Siehst du ihn?« fragte er mich. Ich bejahte. »Er genau brachte mich auf die Idee.« Mehr sagte Gallio nicht. Dafür bewegte er sich auf die Uhr zu. Ich rechnete mit einer Demonstration, aber ich rechnete nicht mit dem, was plötzlich geschah. »Es ist die Stunde nach Mitternacht«, erklärte er mir, während er auf einen Hocker stieg, der neben der Uhr stand. Die weiße Gestalt reckte beide Arme, damit sie mit den Händen die Umrandung zu fassen bekam. Ziemlich weit oben griff sie zu und nutzte sie als Stütze. »Es ist die Zeit der Magie«, erklärte Gallio weiter. »Sie müßte ich nutzen…« Er kletterte weiter. Schon bald hielt er sich an dem Zeiger fest. Er war so stabil, daß er sich nicht einmal verbog. Chronos glitt auf den Zeiger zu und beugte sich über seine Spitze. Jetzt wußte ich, was er vorhatte. »Was ist mit der Uhr?« rief ich. »Du hast sie nicht zerstören können…« »Nein, das habe ich nicht.« »Was geschah mit ihr? Existiert sie noch?« »Ja, es gibt sie. Man kann sie nicht zerstören. Sie ist heute noch so wie damals. Hector de Valois hat sie zerstören sollen, doch er ist nicht gekommen, nur in meinen Träumen. Als Gestalt zwischen den Welten habe ich dich erreicht. Du bist derjenige, der sie vernichten kann. Du bist der zweite Hector, du wirst es bestimmt schaffen…« »Wo kann ich sie finden?« »Ein Mann hat sie. Er nimmt sie mit. Er ist weit weg. Er heißt Tonio – Tonio Baresi. Ein Zirkus… eine Attraktion, wichtig für dich. Die Uhr ist dort. Sie ist eine Gefahr. Such sie, laß dich nicht abhalten. Du mußt sie packen…« Ich hatte noch zahlreiche Fragen, aber Gallio ließ es nicht zu. Er bewegte sich oberhalb der beiden Zeigerspitzen. Er drückte seinen Oberkörper nach unten, und im nächsten Augenblick wurde ich Zeuge eines unheimlichen Schauspiels. Beide Zeiger, die ich als Lanzen eingestuft hatte, glitten durch seinen Körper wie durch weiches Fett. Sie durchbohrten ihn! Ich sah das rote Blut aus zwei Wunden laufen. Es vermischte sich mit dem Weiß der Gestalt. Ein Geist, der sich als Mensch selbst auf diese schreckliche Art
und Weise umgebracht hatte, starb noch einmal, und ich erlebte als Zeuge jedes Detail mit. Ich sah den Schmerz auf seinem Gesicht, aber auch die Erleichterung in den Augen, denn der irrsinnige Druck war endlich von ihm genommen worden. Er starb, er löste sich auf. Auch ich löste mich auf und spürte unter mir einen leichten Widerstand. Dann öffnete ich die Augen. Ich war wieder wach, drehte mich nach rechts, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Genau in diesem Augenblick war die erste Stunde des Tages vorbei, und damit auch mein Traum… *** Es hatte sich bei mir persönlich nichts verändert, es war wie in den drei Nächten zuvor. Kalter Schweißl klebte an meinem Körper. Innerlich fühlte ich mich aufgewühlt und trotzdem irgendwie befreit von gewissen Fragen. Einfach deshalb, weil ich Antworten bekomme. Ich wußte jetzt mehr, wahrscheinlich soviel, wie ich wissen mußte. Für mich stand fest, daß dieser Traum zu einem Fall geworden war. Die Uhr existierte noch, und ich hatte entsprechende Hinweise bekommen, wo ich anfangen mußte, nach ihr zu suchen. Tonio Baresi! Diesen Namen würde ich so leicht nicht vergessen, und ich brachte ihn in eine Verbindung mit einem Zirkus. Noch während ich im Bett lag, dachte ich schon einen Schritt weiter, wobei mir der Begriff Winterpause durch den Kopf ging. Nicht alle Unternehmen legten eine Winterpause ein. Einige von ihnen setzten ihre Programme in den Hallen fort. Es konnte möglich sein, daß auch der Zirkus Baresi zu ihnen gehörte, aber unbedingt unterschreiben würde ich das nicht. Er mußte ausfindig zu machen sein, denn hinter mir stand Scotland Yard, eine gewaltige Organisation und ein perfekt funktionierendes Räderwerk, das, wenn es einmal lief, so leicht nicht mehr zu stoppen war. Mit diesem guten Gedanken im Hinterkopfstand ich auf, strich durch meine Haare, ging ins Bad und ließ zunächst einmal Wasser über mein erhitztes Gesicht laufen. Nach dem Abtrocknen betrat ich den Wohnraum und nahm in der Nähe des Telefons Platz. Es war mittlerweile fast halb zwei geworden, zum Glück wurde beim Yard Tag und Nacht gearbeitet. Die Stimme, die ich hörte, klang müde. »Ja, hier Greyson.« »Sinclair…«
»Nein, bitte nicht! Nicht schon wieder und nicht in der Nacht, John. Was habe ich nur getan?« Er lamentierte weiter. Das kannte ich, denn die Kollegen wußten, daß meine Anrufe Ärger und Arbeit mit sich brachten. »Es ist ganz einfach«, sagte ich. »Den Satz kenne ich.« »Wirklich. Ich möchte nur wissen, Luke, wo sich ein Zirkus Baresi momentan aufhält und möglicherweise sein Winterquartier aufgeschlagen hat.« »Mehr nicht?« »Nein.« Luke Greyson stöhnte auf. »Können Sie mir nicht wenigstens einen kleinen Tip geben?« »Versuchen Sie es erst einmal hier in England.« »Der Name hört sich aber italienisch an.« »Das klingt auch besser.« »Muß also nichts zu bedeuten haben.« »So ist es.« Greyson stöhnte noch einmal auf und versprach, das Unmögliche möglich zu machen. »Deshalb habe ich mich auch an euch gewandt.« »Keine falschen Komplimente, John.« Luke Greyson legte auf, und ich merkte, daß ich hellwach war. Trotz des Traumes hatte mich der kurze Schlaf erfrischt, und ich dachte daran, daß ich noch eine Person aus dem Schlaf reißen konnte, die nebenan im Bett lag. Ich wählte Sukos Nummer. Bei ihm hatte ich Pech. Er meldete sich sofort, was darauf schließen ließ, daß er nicht geschlafen hatte. »Ich wußte, daß du anrufen würdest«, sagte er. »Bist du Hellseher?« »Nein, aber ich kann im Gegensatz zu dir manchmal denken. Halt einen Platz frei, ich bin sofort bei dir.« Da Suko einen Schlüssel auch zu meiner Wohnung besaß – umgekehrt war es ebenso – , brauchte ich ihm nicht erst zu öffnen. Er kam in mein Zimmer und sah für meinen Geschmack irgendwie widerlich frisch aus. Dazu trug auch das optimistische Lächeln auf seinem Gesicht mit bei. Aus der Küche holte er Orangensaft und Mineralwasser und brachte auch gleich die entsprechenden Gläser mit. »Pur oder gemixt?« »Gemixt«, murmelte ich. »Okay.« Er bereitete die Drinks vor und schob mir ein Glas zu. »So, und jetzt mal Butter bei die Fische«, sagte er. »Du hast, das kann ich dir ansehen, geträumt, und wenn mich nicht alles täuscht, war es wieder der gleiche Traum.«
Ich trank einige Schlucke und spürte, wie mich die Mischung aus Mineralwasser und O-Saft erfrischte. Das Glas abstellend nickte ich. »Ja, so kann man es sagen. Und trotzdem ist es anders gewesen.« »Rück raus damit!« »Ich träumte diesmal bis zum Ende durch.« Suko hob die Augenbrauen. »Bis zum bitteren?« »Nein, das möchte ich nicht unbedingt sagen«, erwiderte ich hüstelnd. »Es ist kein direkt bitteres Ende gewesen, aber es bringt Probleme mit sich, die ich im Traum nicht habe lösen können, und die sich auch nicht von selbst gelöst haben. Ich muß den Tatsachen aus dem Traum in der Realität einfach nachgehen.« »Hört sich spannend an.« »Das ist es auch.« Ich kam zur Sache und berichtete meinem Freund haarklein, was ich erlebt hatte. Suko staunte darüber. Manchmal schüttelte er den Kopf, gab flüsternde Kommentare, die darauf hinausliefen, daß er es nicht begreifen konnte. »Das ist wirklich ein Hammer«, sagte er leise. »Daran hätte ich nie gedacht, darauf wäre ich auch nicht gekommen. Und du glaubst daran, daß es die Leichenuhr noch gibt?« »Ja. In diesem Zirkus Baresi. Man hat mich dafür ausersehen, das zu vollenden, was Hector de Valois nicht schaffte.« Suko nickte. »Das ist mal wieder eine völlig neue Variante. Hätte nicht gedacht, daß wir uns einmal auf diesen Weg begeben würden. Doch die Spur ist da, wir dürfen sie nur nicht verlieren.« Er schüttelte den Kopf und kam auf die Uhr zu sprechen. »Und sie ist tatsächlich in der Lage, die Zeit zu manipulieren?« »Nicht immer. Nur in der ersten Tagesstunde. Da kann dann alles anders sein.« »Wie anders?« Ich hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe ja nur erlebt, wie Gallio aus dem Leben schied. Er hat es sich auch zuvor nicht leichtgemacht und hat dann einen Weg gewählt, der dokumentieren sollte, daß diese Uhr letztendlich stärker war als der Mensch, der sie nicht beherrschen konnte.« »Kein Mensch kann die Zeit beherrschen«, sagte Suko leise. »Sie ist eine Größe, die selbst Mathematikern Kopfzerbrechen bereitet. Vielleicht sind einige Menschen in der Lage, sie zu verstehen, aber zu beherrschen«, er schüttelte heftig den Kopf, »das ist nicht möglich. So etwas werden sie nie schaffen.« Ich gab ihm recht, machte ihn mit meiner Antwort allerdings etwas mißtrauisch. »Menschen nicht, Suko.« »Wer dann?« »Dämonen!« »Meinst du? Schätzt du sie also doch hoch ein?«
»Auf keinen Fall, doch Gallio hat sich mit dem Teufel verbündet. Das heißt, er hat nicht einmal Asmodis erwähnt, sondern direkt Luzifer. Und ihm traue ich das Herrschen über die Zeit durchaus zu. Er wird Gallio diesen Floh ins Ohr gesetzt haben. Du darfst nicht vergessen, daß er Uhrmacher war. Nicht irgendeiner, sondern jemand, der in seiner Arbeit regelrecht aufging. Man gab ihm den Spitznamen Chronos, was ja schon tief blicken läßt.« »War das nicht der römische Gott der Zeit?« »Der griechische.« »Egal, man kann nicht alles wissen. Außerdem wollte ich dich nur auf die Probe stellen.« »Ich bedanke mich.« Nach diesen Worten kam ich wieder zum eigentlichen Thema. »Wir müssen also davon ausgehen, daß diese Uhr, ich nenne sie Leichenuhr, noch existiert, und zwar bei diesem Zirkus Baresi. Ihn müssen wir finden.« »Dann leite mal was in die Wege.« »Habe ich schon.« »Wann?« »Vor deinem Anruf. Die Kollegen von der Fahndung werden sich darum kümmern. Es ist möglich, daß dieser Tonio Baresi sogar im Computer gespeichert ist, falls er sich etwas hat zuschulden kommen lassen.« »Das wäre ideal.« »Ansonsten müssen wir eben herausfinden, wo dieser Zirkus überwintert. Sehr bekannt ist er nicht. Dann hätte ich den Namen gekannt, und ein Zirkus Luzifer wird es hoffentlich nicht sein«, wobei ich mit dieser Bemerkung auf einen uralten Fall anspielte. »Aber er steckt mit drin, dein Luzifer.« »In der Uhr.« »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du ihn vertreiben willst?« »Nein. Daß es nicht leicht sein wird, weiß ich. Ich könnte mir auch vorstellen, nicht als Polizist dort aufzutreten, sondern als ein Mensch, der zufällig des Weges kommt. Ich werde allen Mitgliedern mit höchster Vorsicht begegnen und besonders dem Direktor gegenübermißtrauisch sein.« »Aber ich bin dabei, Alter.« »Wenn du unbedingt willst.« Suko grinste breit. »Und ob ich will. Ich habe mich schon immer für alte Uhren interessiert.« Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. »Die aber – sollten wir sie finden – gehört mir.« »Sicher. Ich beneide dich auch nicht, denn du mußt das vollenden, was Hector de Valois nicht geschafft hat oder wozu er nicht gekommen ist.
Aber mal weg von der Vergangenheit. Viel Unsinn kann die Uhr noch nicht angerichtet haben.« »Wieso?« »Dann hätte es sich schon herumgesprochen.« Der Ansicht war ich nicht und begründete sie auch. »Wenn alles in einem kleinen Kreis bleibt, wenn es niemand gibt, der über gewisse Dinge spricht und sie dabei nach außen trägt, kann die Leichenuhr schon zugeschlagen haben.« Mein Blick verlor sich etwas. »Weißt du, Suko, es gibt doch für einen Menschen, wenn er will, nichts Besseres, als in einem Zirkus unterzutauchen. Da kommt es nicht auf die Vergangenheit an. Als Helfer, als Auf- und Abbauer ist man gefragt. Man bekommt seinen Lohn, einen Schlafplatz und reist noch im Land umher. Das ist doch ideal für dämonische Aktivitäten.« »Sicher, so kann man es auch sehen.« In der nächtlichen Stille hörte sich das Tuten des Telefons überlaut an. »Jetzt geht’s los«, sagte Suko und rieb seine Hände. »Das ist ein Kollege von der Fahndung, er wird dir sagen…« Suko verstummte, weil ich den Hörer abgenommen hatte und mich meldete. Es war tatsächlich Luke Greyson, der mir eine Nachricht überbringen wollte. »Es hat geklappt!« »Ja, John, hat es.« Ich war erleichtert, was ich durch ein Aufatmen auch dokumentierte. Dann hörte ich zu und erfuhr, daß es tatsächlich einen Zirkus mit dem Namen Baresi gab, der auch sein Winterquartier aufgeschlagen hatte, und zwar im Südwesten, nicht weit von Canterbury entfernt, nahe der kleinen Ortschaft Ash. »Das ist ja toll, Luke. Wie haben Sie das so schnell geschafft?« »Ganz einfach. Es hat da mal ein kleines Problem gegeben.« »Welches?« »Es ging um zwei junge Männer, die verschwunden sind. Die Eltern hatten sich an die Polizei gewandt und mitteilen können, daß die beiden zuletzt bei einem Zirkus angeheuert hatten. Das war eben dieser Zirkus Baresi.« »Sind die Männer wieder aufgetaucht?« »Nein.« »Gegen den Zirkus wurde aber ermittelt?« »Selbstverständlich. Leider kam es zu keinem Ergebnis. Man wußte dort nichts.« »Damit war der Fall erledigt.« »Ja. Nur eben nicht für den Computer. Dort habe ich die Angaben gefunden.« »Ich habe noch eine Frage, Luke. Wann passierten die Dinge denn? Liegen sie schon lange zurück?«
Ich hörte ihn lachen. »Nein, nicht lange. Das war vor zwei Wochen.« Ich pfiff durch die Zähne. »Da gibt es keinen Irrtum?« »Überhaupt nicht.« »Das ist gut.« »Will ich meinen, John, aber mehr kann ich Ihnen wirklich nicht mit auf den Weg geben.« »Das brauchen Sie auch nicht, Luke. Sie haben mir mit Ihren Informationen schon sehr geholfen.« »Kann ich dann meinen Schlaf fortsetzen?« »Meinetwegen bis ins nächste Jahr.« Er lachte und legte auf. Suko hatte natürlich mitbekommen, wie das Gespräch verlaufen war. Er sah mir die Freude an, und auch er selbst zeigte sich beeindruckt. »Was steht der Auflösung des Falles noch im Weg?« fragte er voller Tatendrang. »Möglicherweise die Uhr.« »Die packen wir auch.« Ich war da nicht so optimistisch. »Abwarten, mein Lieber. So ein Schuß kann auch nach hinten losgehen. Daß mit einem Wesen wie Luzifer nicht zu spaßen ist, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.« »Das ist klar. Abgesehen davon, wie sollen wir es angehen? Bleibt es bei deinen Planfragmenten?« »Bestimmt.« Suko tippte mit der Kuppe des Zeigefingers mehrmals auf den lisch, um seine folgenden Worte zu unterstreichen. »Das heißt, daß wir beide hinfahren, du dich aber offiziell nicht zu erkennen geben willst. Sehe ich das richtig?« »Alles paletti, Suko. Nur mit einer kleinen Variante versehen. Du kannst dich offiziell dort blicken lassen. Ich denke, daß du den alten Fall aufgreifen sollst. Du erkundigst dich noch einmal nach den beiden vermißten Personen. Ein Privatdetektiv würde dir gut stehen.« Er verzog das Gesicht. »Meinst du?« »Aber immer.« »Das ist doch mehr eine Sache für Jane Collins.« Ich hob beide Hände. »Nichts gegen sie, aber laß Jane bitte aus dem Spiel.« »Es war auch nur so dahingesagt.« »So«, sagte ich und stand auf. »Die Nacht ist noch nicht vorbei. Ich will mich noch ein wenig aufs Öhr legen.« »Kannst du denn schlafen?« »Das will ich doch hoffen«, sagte ich. »Und ich denke auch, daß ich es traumlos schaffen werde…« ***
Ein riesiges, dunkles, unheilvolles Grab. Feucht, klamm und kühl. Kaum ein Lichtstreifen verirrte sich dorthin, damit die Ruhe der Toten nicht gestört wurde. So kam es Jules Vangard vor, als er die fremde Welt betreten und versucht hatte, sich einen Weg zu bahnen, was ihm nur mit großer Mühe gelungen war. Er hatte sich wie ein Blinder vortasten müssen, über schmale Treppen hinweg, an sperrigen Gegenständen vorbei, war oft genug berührt worden und hatte dabei immer das Gefühl empfunden, von Totenhänden umkrallt zu sein. In seinem Nacken hatte sich eine Eisschicht festgesetzt. In seinem Magen saß der Klumpen wie ein mächtiger Druck, und er gestand sich ein, einen Fehler begangen zu haben. Doch auf den Rückweg machen? Nein, das wollte er nicht. Er kannte sich nicht aus. Er würde ihn nicht finden und sich verlaufen. Dieses Kuriositätenkabinett war ein einziger Irrgarten, der durch die Vergangenheit führte und bei Licht sicherlich Spaß machte. In der Dunkelheit weniger. Hinzu kam, daß er einen Lichtschalter nicht gefunden hatte und sich nun an einem Ort irgendwo in der Mitte des Kabinetts befand, an dem er sich zusammenkauerte, um abzuwarten, bis die Nacht vorbei war. Dabei war es nur um Lizzy gegangen, doch ihr war er nicht begegnet. Er hatte sie in den Bau hineinhuschen hören, das war auch alles gewesen. Danach hatte sich ihre Spur verloren. Das Knarren der Tür hatte sich nach seinem Eintreten nicht wiederholt, auch nicht ein ähnliches Geräusch aus einer anderen Richtung. So ging er davon aus, daß sich Lizzy noch in der Nähe befinden mußte. Jules erinnerte sich daran, eine Treppe hochgegangen zu sein. Er war sie an der anderen Seite nicht wieder hinabgestiegen und dachte darüber nach, was er unternehmen sollte. Am besten wäre es gewesen, Lizzys Namen zu rufen, das aber traute er sich nicht, denn er hatte auch ihre Warnung nicht vergessen. Vangard verfluchte sich selbst. Seine Dummheit und die Gier hatten ihn in diese Lage gebracht. Hätte er sich nur an die Warnungen gehalten, doch wer dachte schon an so etwas, wenn einem immer der nackte Körper vor Augen schwebte? Er traute sich auch nicht, das Feuerzeug anzuschnippen. Der kleinste Lichtschein konnte gefährlich sein und ihn verraten. Wer wußte denn, wer noch alles in dieser verfluchten Finsternis lauerte? Jules kam sich sowieso von Gegnern umzingelt vor, die er nicht sehen und nicht einmal ahnen konnte. Wieviel Zeit seit dem Eindringen verstrichen war, konnte er auch nicht sagen. Seine Uhr hatte keine Leuchtziffern, er konnte nur schätzen, aber in der Dunkelheit kam ihm sowieso jede Minute doppelt so lang vor.
Da er unbequem saß, nahm er eine andere Haltung ein. Er streckte die Beine aus. Mit den Hacken schleifte er dabei über den hölzernen Untergrund des Gerüstes, auf dem er hockte. Jedenfalls hatte er das Gefühl, daß es ein Gerüst war, denn vor ihm befand sich der Handlauf eines Geländers. Er hörte das Geräusch! Jules schrak zusammen, sein Atem stockte. Von ihm stammte dieses Geräusch nicht, es war auch nicht in seiner unmittelbaren Nähe aufgeklungen. Das war weiter entfernt und über ihm. Vangard hielt den Atem so lange wie möglich an und lauschte. Dann ließ er die Luft leise durch die Nase strömen. Er schluckte, atmete erneut ein und hörte die verdammten Trittgeräusche. Das war keine Täuschung, er machte sich da nichts vor. Irgendwo in der Nähe bewegte sich eine Gestalt. Was tun? Hockenbleiben oder aufstehen? Er blieb zunächst sitzen und verfolgte den Weg dieser in der Dunkelheit gefährlich klingenden Laute. Sie bewegten sich von ihm fort, blieben jedoch in einer bestimmten Höhe. Ihm war, als würden unsichtbare Fingernägel durch die Haare und über seine Kopfhaut hin wegkratzen. Auf dem Rücken lag wieder die kalte Graupelschicht, die Furcht trieb das Gefühl eines heißen Messerstichs in seinen Magen. Irgendwo in der Dunkelheit lief etwas ab, das ihm große Furcht einjagte, das er nicht begreifen konnte. Er dachte an Lizzy. War sie es, die durch die Dunkelheit schlich? Wahrscheinlich, denn sie kannte sich in diesem Kabinett aus. Eine wie sie brauchte kein Licht falls es Lizzy überhaupt war. Jules rechnete mittlerweile mit allem. Dieser große Raum kam einem Grab gleich, und dann tat er etwas, das ihn eine große Überwindung gekostet hatte. Er rief Lizzys Namen. Zuerst nur flüsternd, dann lauter. Die Schritte verstummten. War das ein Erfolg? Jules versuchte es erneut. »Lizzy?« Dabei stand er auf. »Lizzy, wenn du es bist, dann melde dich bitte. Gib mir Antwort, du weißt, wer hier ist…« Seine Stimme versickerte. Sie wurde von der bedrückenden Finsternis einfach aufgesaugt, als wäre sie Wasser, das auf einen trockenen Schwamm tropfte. Jemand kicherte. Es war kein Lachen, für Jules war es ein widerliches Geräusch, weil es sich so hämisch und gleichzeitig siegessicher anhörte. Er dachte darüber nach, ob es tatsächlich Lizzy gewesen war, die ihm dieses Kichern geschickt hatte.
Danach hörte er wieder die Schritte. Diesmal lauter, sie bewegten sich auf seiner Höhe. Jules ging jetzt so weit zurück, daß er mit seinem Rücken gegen das Geländer stieß. Dieser Halt gab ihm etwas Sicherheit. Den Kopf hatte er zurückgelegt. Er war dabei seinem Gefühl gefolgt, schaute schräg in die Höhe und gegen die Decke, die er wegen der Dunkelheit nicht sah. Dafür sah er etwas anderes. Plötzlich flackerte ein Licht auf. Dann noch eines, ein drittes und ein viertes. Kerzenlicht! Durch die lange Dunkelheit war Jules zuerst geblendet. Er mußte seine Augen mit der Hand beschatten, um genau erkennen zu können, was sich über ihm abspielte. Ob sich dort eine Galerie hinzog, war für ihn nicht genau zu erkennen. Jedenfalls flackerte das Licht hoch über ihm, und es sah so aus, als stünde er auf der Mitte einer Pyramide, die sich zur Decke hin verengte, wobei sie auf oder an ihrer Spitze den Gegenstand zeigte, der wie ein Planet alles andere überragte und auch beherrschte. Es war eine Uhr! Ja und nein, denn eigentlich konnte Vangard nur das Zifferblatt erkennen, das selbst aus seiner Position übergroß aussah und keinem Vergleich mit dem normalen Zifferblatt einer Uhr standhielt. Die Kerzenflammen flackerten unruhig in der Nähe des Zifferblattes. Ihr Licht reichte aus, den Zeiger zu erkennen. Er zuckte zusammen. Die Furcht vor den beiden Spitzen nagte in ihm, und er sah auch, daß auf dem Metall etwas Dunkles klebte, das von seinem Platz aus nicht genau zu erkennen war. Vangard schüttelte sich… Plötzlich war seine Kehle trocken geworden. Er spürte hinter der Stirn den Druck. Obwohl das Kerzenlicht jetzt leuchtete, hatte er den Eindruck einer mörderischen Bedrohung. Sie war noch intensiver geworden als zuvor in der Dunkelheit. Woran mochte das nur liegen? Seine Hände hatte er um den Handlauf geklammert. Der Schweiß stand ihm auf dem Gesicht, er hatte auch den Nacken des Mannes angefeuchtet. Die Gefahr war da! Sie umlauerte ihn, und sie war seiner Meinung nach auch zu hören, denn abermals vernahm er die Trittgeräusche. Dann schob sich Lizzys Gestalt in den Lichtschein hinein. Sein Jubelruf erstickte schon in der Kehle, als er die Frau sah. Sie hatte sich äußerlich nicht verändert, und doch jagte ihm der Anblick einen tiefen Schrecken ein. In ihrem langen, weißen Kleid wirkte sie wie eine von Draculas Bräuten, die auf den Blutsauger warteten, um sich ihm hinzugeben. Lizzy Lamotte bewegte sich langsam. Die Beine und Füße wurden von einer
kompakten Ballustrade verdeckt. Er sah nur ihren Oberkörper, der sich in eine bestimmte Richtung bewegte, nämlich auf die Uhr zu. Auch die Hände konnte Jules nicht erkennen, allerdings fiel ihm etwas dabei auf. Es war der linke Arm, der sich so ungewöhnlich bewegte. Im Gegensatz zum Rechten wurde er von einer Seite zur anderen geschwungen, und Vangard konnte sich diese Bewegung beim besten Willen nicht erklären. Den Grund dafür sah er jedenfalls nicht. Vor der Uhr blieb Lizzy stehen. Sie schaute nicht einmal zu ihm hin, sondern blickte zur Spitze des Zeigers hoch, als wäre dieser etwas Besonderes. Einen Moment später warf sie etwas in die Luft. Erst als es in den Schein der Kerzen geriet, erkannte Jules den Gegenstand. Da breiteten sich vier Beine oder Pfoten aus, und er konnte den Kadaver der Katze genau sehen. Blut spritzte noch auf Lizzy nieder, eine Sekunde später fiel die Katze wieder nach unten. Der Doppelzeiger spießte sie auf! Vangard hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Er hatte seine Hand gegen die Lippen gepreßt. So schaute er zu, wie der Körper langsam an der Spitze herab nach unten sank und Lizzy wieder anfing zu kichern. Einen Moment später drehte sie sich um. Sie kletterte über eine Treppe oder eine Leiter hinter der Uhr hoch, damit auch sie das Zifferblatt erreichte. An einer bestimmten Stelle blieb sie stehen und schaute nach vorn. Ihr Blick war direkt auf Jules gerichtet. Ob sie ihn sah oder nicht, wußte er nicht. Jedenfalls glotzte sie ihn an. Ja, es war ein Glotzen, denn er sah die schrecklichen blutverschmierten Augen. Dann kippte sie vor. Einen Moment später drangen die beiden Zeiger durch ihren Körper hindurch. Ihr Gewicht hielt ihn nicht mehr an derselben Stelle, und er drehte sich nach rechts. Lizzy rutschte dabei tiefer. Blut quoll aus den Wunden, aber sie lachte und streckte Vangard die Hand entgegen. Plötzlich schwamm er weg. Alles in seiner Umgebung veränderte sich. Die Umrisse verschwanden, Konturen lösten sich auf. Es kam ihm vor, als hätte ein Nebel blitzschnell zugeschlagen. Er drehte sich um. Angst durchflutete ihn, als er sah, wo er sich befand. Er war nicht mehr in diesem verdammten Kabinett, sondern hinausgetragen worden. Doch wohin? Jules Vangard konnte keine Antwort geben, er sah das brennende Kreuz, spürte den heißen Wind im Gesicht und sah die vermummten Gestalten in ihren weißen Gewändern, und da wußte er, ohne es richtig zu begreifen, daß er in der Vergangenheit gelandet war. In den Südstaaten und damit in den Fängen des Ku-Klux-Klan!
*** Der Tritt traf mich in Höhe der Hüfte, und durch diesen Stoß erwachte ich. Es war kein gutes Erwachen, mehr ein dumpfes Hervordringen aus einer zähen Masse. Ich wollte mich trotzdem zur Seite rollen, um Licht zu machen, da fiel mir ein – nicht erst, als ich gegen den Körper meines Nebenmanns gestoßen war, daß ich nicht in meinem Bett lag. Es roch nach Männerschweiß und alten Kleidungsstücken. In meinem Kopf ging es nicht eben ruhig zu. Hummeln schienen dort ihr Nest aufgeschlagen zu haben. Ich setzte mich trotzdem hin und streckte die Arme aus, um mich geschmeidig zu machen. Nur mit Mühe erreichte ich meine Zehen, die vom Stoff der dicken Socken bedeckt waren. Den Tritt hatte ich unabsichtlich bekommen, denn der Mann neben mir schlief ziemlich unruhig. Zudem schnarchte er. Zusätzlich wehte aus seinem Mund eine Alkoholfahne, die sich mit dem säuerlichen Schweißgeruch vermischte. Ich dachte daran, einen Fehler gemacht zu haben, als ich an den letzten Abend zurückdachte. Tom hatte mich von seinem Spezialschnaps probieren lassen, nur zwei Schlucke, aber die hatten mich irgendwie umgehauen, deshalb auch der dumpfe Schädel. Ich fror und hätte mich gern wieder unter der Decke verkrochen, doch darauf verzichtete ich. Dieses Erwachen nahm ich als Wink des Schicksals hin, schaute auf meine Uhr und stellte fest, daß es drei Minuten nach Mitternacht war. Ich hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen. Hinlegen wollte ich mich nicht mehr. Es war genau die Zeit, um einen kleinen Rundgang zu unternehmen. Mein Plan ging auf. Nicht eben als feiner Herr war ich dort aufgetaucht, wo der Zirkus Baresi sein Winterquartier aufgeschlagen hatte. Daß die Aktion auf tönernen Füßen stand, wußte ich selbst, doch ich hatte mich auf mein Glück verlassen und richtig gesetzt. Der Direktor selbst war mir über den Weg gelaufen und hatte mich >eingestellt<. Mich, den Stromer Sinclair. Den Herumtreiber, den Lebenskünstler, wie ich ihm versichert hatte. Ich brauchte nur ein Dach über dem Kopf und wollte dafür arbeiten. Es gab kaum Arbeit. Zudem hatten sie Tom als Helfer. Zum Glück war ein Girl namens Lizzy erschienen und hatte auf Baresi eingeredet. Schließlich hatte der Direktor zugestimmt und mir zunächst erklärt, daß er mir keinen Penny zahlen könnte. Das war nicht weiter tragisch. Eine Schlafstatt konnte er mir geben, auch eine warme Mahlzeit am Tag, doch dafür mußte ich arbeiten. Reinigung
der Maschinen, Entrosten irgendwelcher Metallteile, das Putzen der Käfige, denn es gab noch einige Tiere, die zusammen mit den Menschen an diesem Platz überwinterten. Die anderen waren leihweise bei befreundeten Unternehmen abgestellt worden. Einen Schlafplatz hatte man mir auch zugewiesen. Ich lag zusammen mit Tom in der Kassenbude des Autoskooters. Das war zwar nicht bequem, auch sehr eng, aber warm, weil ein schmaler Elektroofen die Kälte vertrieb. Bisher hatte ich mir nur einen Überblick verschaffen können. Ich wußte, wer zum Zirkus gehörte, obwohl ich mir die Namen nicht alle hatte merken können. Die beiden Karussells hatte ich schon gesehen, auch die Bude, die als Kuriositätenkabinett durchging, tatsächlich aber ein Spiegelbild der Menschheitsgeschichte sein sollte. Mit wirklich ungewöhnlichen Dingen, wie ich von Tom wußte, und ich hatte auch die Wagen mit den Tieren gesehen, die hier überwinterten. Es waren Hunde, schneeweiße Pudel, und sie wurden von einer Madame Bovary vorgeführt, die sich auf die Dressur von Hunden spezialisiert hatte. Die anderen Tiere waren woanders untergebracht worden. Ich stand auf. Das Schnarchen riß ab, als hätte der neben mir liegende Tom irgend etwas gespürt. Im Dunkel des Kassenhäuschens blieb ich stehen, lauernd und abwartend, den Blick schräg nach unten gesenkt, um zu sehen, wie sich Tom verhielt. Er schlief weiter. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn Tom sollte mein Verschwinden nicht unbedingt mitbekommen. Ich kannte ihn zuwenig, um sagen zu können, wie er sich verhalten hätte. Er hatte sich nur anders hingelegt und die Hälfte meines Platzes ebenfalls mit eingenommen. Nur einen Schritt brauchte ich zu gehen, um die Tür zu erreichen. Sie hatte einen Glaseinsatz, war an der Seite des Häuschens angebracht und lag im rechten Winkel zur Front, wo sonst jemand hinter der Kasse hockte, kassierte, und Chips aushändigte. Ich schlüpfte durch die Tür und ärgerte mich darüber, daß es mit Geräuschen verbunden war. Tom hörte mich nicht. Er hatte von seinem Schnaps getrunken und schlief wie ein Bär. Auf der hölzernen Außenumrandung der SkooterBahn blieb ich stehen und zog meine Jacke über. Von Bill Conolly hatte ich eine alte, ziemlich ramponierte Lederjacke bekommen, die er schon ausrangiert und im Keller aufbewahrt hatte. Für mich war sie ideal, darin fiel ich nicht auf, und ich mußte grinsen, als ich daran dachte, wie mich der Direktor gemustert hatte. Ob er mir meine Rolle tatsächlich abnahm, wußte ich nicht. Am Morgen würde Suko hier erscheinen und sich noch einmal nach den beiden Verschwundenen erkundigen. Dabei ergab sich hoffentlich die Chance einer kurzen Kontaktaufnahme zwischen uns beiden.
Ich verließ die Plattform des Autoskooters. Das Gebilde selbst war wie ein kantiger Schatten, der in die Finsternis hineingestellt worden war. Die kleinen Fahrzeuge standen auf dem Rand der Fläche und waren abgedeckt worden. Ich wußte auch, daß sie einen neuen Anstrich bekommen sollten, dafür hätte ich mich sogar freiwillig gemeldet. Es war eine bessere Arbeit, als irgendwelche Metallteile zu entrosten. Ach ja, zwischendurch wollte ich noch die Aufgabe lösen, die Hector de Valois nicht mehr geschafft hatte. Ich war gespannt, ob ich überhaupt die Chance erhielt. Es war eine sehr dunkle Nacht. Eine dieser Spätherbstnächte, in denen sich der Himmel hinter den schweren Wolken versteckte, wo der Wind seinen kalten Atem über das Land schickte und das letzte Laub wegfegte. Ein Wetter, das nicht zum Spazierengehen einlud. Ich war mir ziemlich sicher, daß mir niemand über den Weg laufen würde. Ich hatte mir noch keinen festen Plan zurechtgelegt und wollte zunächst einmal das Gelände abgehen. Irgendwo mußte es eine Spur oder einen Hinweis geben. Ich glaubte auch daran, daß der Zirkus und die gefährliche Leichenuhr in einem unmittelbaren Zusammenhang standen. Wie das funktionierte, wollte ich herausbekommen. Der weiche Rasen dämpfte meine Schritte. Ich kam mir dabei vor, als würde ich über einen Teppich laufen. Vom Skooter aus waren es nur wenige Schritte bis zum Rand des Platzes, und dort begannen bereits die Bäume, die sich zu einem relativ dichten, wenn auch zu dieser Jahreszeit kahlen Wald zusammenfügten. Verstecke waren vorhanden. Ich konnte sie auch schnell erreichen. Weniger sicher war ich bei den Wohnwagen, die dicht zusammenstanden wie eine Herde aus Metalltieren. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht. Hier legte man sich früh zur Ruhe. Als ich die Höhe des Kinderkarussells erreicht hatte, blieb ich stehen und blies in meine kalten Hände. Ich tastete nach meinen Waffen. Sie waren mir im Schlaf nicht abgenommen worden. Über dem Platz lag eine tiefe Stille. Wäre es anders gewesen, hätte ich mich auch gewundert, und trotzdem gefiel mir die Stille nicht. Sie wirkte auf mich bedrohlich, als wollte sie einen Menschen davor warnen, sie zu unterbrechen. Das konnte auch Einbildung sein, nur hatte ich gelernt, auf meine Gefühle zu achten. Seltsamerweise hatte mich eine innere Warnung erfaßt. Es konnte durchaus sein, daß sich in der unmittelbaren Nähe irgendwelche Feinde herumtrieben. Es wäre vermessen gewesen, schon in der ersten Nacht mit einem Erfolg zu rechnen. Ich wollte allerdings auch nicht die Zeit grundlos vertun.
Nichts und niemand bewegte sich. Die Stille und die Starre waren in diesem Fall Geschwister. Selbst der Wind hielt sich zurück. Starke Böen und ein leichter Sturm waren erst für die folgenden Tage angesagt worden. Wonach ich genau suchte, wußte ich nicht. Ich wollte mich einfach überraschen lassen und ging zunächst einen Bogen, wobei ich immer dicht an der Begrenzung des Platzes blieb. Die Überraschung gelang. Beinahe wäre ich über ein am Seitenrand abgestelltes Fahrzeug gestolpert, das zwischen einigen Bäumen stand und nicht auszumachen gewesen war. Es war ein deutsches Auto, was mich nicht weiter interessierte. Mir war etwas eingefallen. Am Abend zuvor hatte ich den Wagen noch nicht gesehen. Der Polo war also erst nach Einbruch der Dunkelheit hergefahren. Während ich das Fahrzeug umging, dachte ich über den Grund nach. Es konnte ein völlig harmloser sein, daß jemand aus dem Zirkus Besuch bekommen hatte, aber das wollte ich nicht so ohne weiteres unterschreiben, denn das Auto kam mir vor, als hätte es sein Fahrer bewußt in einem Versteck abgestellt, damit es nicht sofort gesehen werden konnte. Ich hatte auch während meines zweimaligen Rundgangs nichts Verdächtiges entdecken können. Der Wagen war leer, auf dem Beifahrersitz lagen zwei Zigarettenschachteln und auf dem Rücksitz eine dunkle Jacke. Ich setzte meinen Weg durch die Dunkelheit fort. Am Himmel hatte der Wind ein Wolkenloch gerissen, und genau an dieser Stelle schaute der Mond auf die Erde nieder. Er sah aus wie eine hochkant gekippte Gondel und kam mir sehr bleich vor. Ein großer Schatten tauchte vor mir auf. Es war die größte Bude auf dem Platz und auch so etwas wie die Attraktion des Zirkus Baresi, wie ich wußte. Das historische Kuriositätenkabinett erinnerte mich von der Form her an eine Geisterbahn. Ich schaute mir die Vorderfront an. Ich sah das leere Kassenhäuschen und links davon die Eingangstür. Nach dem Bezahlen ging der Kunde die vier Stufen einer Holztreppe hoch, erreichte einen Gittergang, wandte sich nach links und konnte das Kabinett betreten. Die Tür war jetzt verschlossen, es brannten auch keine Lampen, nur die Bemalung zeichnete sich in der Düsternis als finsteres Meer ab, dessen Motive ich nicht erkennen konnte. Ich wußte auch nicht, woher der Grund kam, aber mich interessierte das Kabinett. Ich hatte mir schon bei dem ersten Entdecken vorgenommen, es zu betreten, allerdings war die Nacht nicht der richtige Zeitpunkt. Außerdem wollte ich keine Tür aufbrechen. Da mich der Gedanke nicht losließ, begab ich mich auf die Rückseite. Ich ging davon aus, daß es dort ebenfalls einen Eingang gab. Sollte dies
der Fall sein und sollte die Tür auch nicht abgeschlossen sein, würde ich mal einen Blick hineinwerfen. Starke Bretter hielten die Holzwände an der Rückseite zusammen. Dennoch gab es Lücken, und mir fiel auf, daß sich im Innern etwas tat. Ich hörte keine Geräusche, aber ich sah einen weichen Lichtschimmer durch eine der Lücken schimmern. Sofort dachte ich an den leeren Wagen. Konnte es sein, daß jemand die gleiche Idee gehabt hatte wie ich und diesem Kabinett einen nächtlichen Besuch abstatten wollte? Ich hörte einen Schrei! Es war ein dünnes Geräusch, ziemlich weit entfernt klingend, aber doch hörbar. Der Schrei war im Innern des Kabinetts aufgeklungen. Meine Neugierde war gewachsen. Ich mußte nur den Eingang finden, denn was einem anderen gelang, sollte mir auch gelingen. Meine Hand steckte schon in der Tasche, um nach der Lampe zu fassen, als ich das dumpfe Geräusch eines Tritts hörte. Es war zu spät für mich, noch nach einer Deckung zu suchen. Ich ließ die Lampe los, drehte mich um – und wurde vom starken Schein einer Taschenlampe geblendet, der genau in mein Gesicht zielte. »Was machst du denn hier, Sinclair?« klang die scharfe Stimme des Direktors hinter der weißen Lichtfülle auf… Ich fluchte innerlich und war sauer auf mich selbst, daß ich nicht mehr auf die Sicherheit geachtet hatte. Ausgerechnet Baresi mußte mich hier entdecken, und ich suchte fieberhaft nach einer Ausrede, die auch glaubhaft genug klang. Er blendete mich weiter. »Ich warte auf eine Antwort, verdammt noch mal!« »Ja, ich weiß!« »Also!« Ich hob meinen rechten Arm und winkelte ihn vor den Augen an. »Können Sie nicht das Licht wegnehmen?« »Ja, kann ich.« Er senkte den Arm. Der Lichtkegel warf einen Kreis auf den schmutzigen Boden. Gleichzeitig nickte mir der Mann zu. »Also, rede endlich!« »Ich… ich konnte…« »Nicht stottern.« »Ich konnte nicht schlafen, Mr. Baresi.« Er schwieg. Allmählich hatten sich auch meine Augen wieder auf die Lichtverhältnisse eingestellt. Ich erkannte den Mann mit der Halbglatze besser. Er trug einen Ledermantel und sah darin aus wie ein Scherge eines totalitäten Systems. Er hatte einen runden Kopf, dicke Wangen, und sein dunkles Haar war so weit zurückgewichen, daß ersieh schon über den Kaufeines Toupets hätte Gedanken machen können. Er hatte
einen fleischigen Mund, selbst in der Dunkelheit fielen die wulstigen Lippen auf und der glänzende Speichel darauf. In den kleinen dunklen Augen glitzerte es. Er war kleiner als ich, was ihn ärgerte. Möglicherweise wippte er deshalb auf den Hacken und leuchtete mich wieder an. »Das ist mir zuwenig, Sinclair.« »Was denn?« »Deine Ausrede.« »Es ist keine, Sir. Ich… ich habe wirklich nicht einschlafen können. Es war so ungewohnt für mich. Und Tom schnarcht so laut wie ein Elefant.« »Das sollte dir doch nichts ausmachen!« »Darin bin ich sensibel.« Er schüttelte den Kopf und leuchtete wieder in mein Gesicht. »Gib endlich zu, daß du schnüffeln wolltest!« Da er mich anleuchtete, mußte ich ein sehr guter Schauspieler sein. Er suchte ja nach Regungen in meinem Gesicht, die seine Ansicht bestätigten, ich aber schüttelte den Kopf und brachte sogar so etwas wie ein Grinsen zustande. »Wieso denn, Mr. Baresi? Ich… ich… ich bin hier durch die Dunkelheit gegangen, das tue ich öfter. Ich habe bisher ein ziemlich freies Leben geführt, und ich wollte nachdenken.« Er lachte. Es hörte sich an, als hätte er mir bisher kein Wort geglaubt. Zum Glück senkte er die Lampe. »Nachdenken also. Toll, daß jemand wie du auch denken kann.« »Ich versuche es zumindest, Sir.« Er überhörte den Spott oder hatte ihn erst gar nicht mitbekommen, denn seine nächste Frage klang wieder normal. »Worüber hast du denn nachdenken wollen?« »Über mich, Sir.« »Ist das alles?« »Ja.« »Was gibt es bei einem Herumtreiber zu denken? Du bist doch froh, wenn du einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommst – oder?« »Das stimmt.« »So!« Seine Stimme klang zufrieden. »Und worüber hast du dir noch Gedanken gemacht?« »Bald kommt der Winter, Sir. Da muß ich sehen, daß ich irgendwo unterkomme.« Meine Antwort hatte ihn amüsiert. Er lachte leise, trotzdem schrill. »Wo können Penner wie du denn unterkommen?« »Keine Ahnung.« »In einer Zelle, wie?« Ich gab mich verlegen. »Nein, Sir, das… das möchte ich nicht.« »Hast du schon gesessen?« »Etwas.«
»Das ist keine Antwort.« »Nie lange, Sir«, sagte ich schnell. »Zweimal für je zwei Wochen. Dann hat man mich wieder laufenlassen. Ich stehe an einem Wendepunkt und denke wirklich darüber nach, was ich machen und wie es mit mir weitergehen soll.« »Auf nächtlichen Spaziergängen.« »Richtig, Sir.« »Und das soll ich dir abnehmen?« blaffte er mich an. »Du willst mich doch hier auf den Arm nehmen.« »Nein, Sir, nein. Auf keinen Fall will ich das. Aber es ist leider so. Ich kann nachts am besten denken.« »Und schnüffeln!« »Wieso?« Er leuchtete jetzt gegen die Rückseite der großen Bude. Auf dem braunen Holz malte sich der helle Kreis ab. »Ich habe dich hier erwischt. Du bist mir vorgekommen wie jemand, der in dieses Kabinett eindringen wollte. Du hast dich hergeschlichen. Ich habe dich schon eine Weile beobachtet, du hast es nur nicht bemerkt. Ich will Typen wie dich hier nicht durchfüttern, damit sie mir…« »Sir, bitte!« Ich spielte weiterhin den Devoten. »So dürfen Sie nicht denken. Ich wollte hier nicht schnüffeln. Ich wollte auch nichts stehlen…« »Das wäre dir auch nicht gut bekommen.« »Weiß ich, Sir, weiß ich«, bestätigte ich nickend. »Ich habe mir nur Gedanken über mich selbst gemacht. Sie haben mir eine kleine Chance gegeben, dafür danke ich Ihnen, aber was kommt danach? Der Winter kann lang werden. Im vergangenen Jahr habe ich noch mal Glück gehabt. Ich wäre beinahe erfroren. Da muß man schon Vorsorge treffen.« »Aber nicht bei mir, Sinclair!« Es lief nicht gut für mich. Er glaubte mir nicht. Ich mußte die Lage wieder wenden und versuchte, ein möglichst zerknirschtes Gesicht zu machen. »Wollen Sie mir diese Chance auch wieder nehmen, Sir? Warum denn? Ich habe…« »Du hast geschnüffelt.« »Aber hier gibt es doch nichts.« Tonio Baresi ließ sich Zeit. Er atmete tief ein. Er pumpte sich auf, als wollte er noch wachsen. Es gefiel ihm nicht, daß er an mir hochschauen mußte. Mit der linken Handfläche rieb er über das Leder seines Mantels. Ich hörte die knirschenden Geräusche, und dann nickte er einige Male. »Du hast mich zwar nicht überzeugt, Sinclair, aber ich bin auch kein Unmensch. Du kannst bleiben.« »Danke, Sir.« »Bedanke dich später.« Er schaute mich hinterlistig grinsend an. »Falls du dann noch Lust dazu hast.«
Ich strich durch mein Haar und machte einen etwas bedepperten Eindruck. »Wie haben Sie das denn gemeint, Sir?« »Das wirst du noch sehen. Es liegt an dir, ob ich dich durch die Attraktion führe oder nicht.« »Welche Attraktion?« »Das Kabinett, in das du doch hinein wolltest, wenn ich das richtig gesehen habe.« »Auf keinen Fall, Sir.« Baresi unterbrach mich. »Rede nicht, ich bleibe bei meiner Ansicht. Es kommt auf dich ganz allein an, ob du es zu sehen bekommst oder nicht. Du mußt dich nur richtig verhalten.« »Ich werde meine Arbeit verrichten.« »Hoffentlich«, murmelte er und winkte mit der Lampe. »Am besten wird es sein, wenn ich dich wieder an deinen Schlafplatz zurückbringe. Es fängt für dich bald ein harter Tag an, der sicherlich kein Vergnügen sein wird. Darauf kannst du dich verlassen.« Es gab keinen Grund für mich, ihm zu widersprechen. Er würde mich sicherlich scheuchen, bis mir die Knochen weh taten, bis ich erschöpft war und er von mir kaum Widerstand erwartete. Er hatte mir so gut wie versprochen, mir das Kabinett zu zeigen. Ich wußte nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht, denn möglicherweise war es eine Falle. Da brauchte ich nur an die beiden verschwundenen Männer zu denken. Ich erinnerte mich auch an den leisen Schrei und warf noch einen Blick zurück, bevor wir gingen. »Ist was?« fragte Baresi. »Nein, Sir, nein, im Prinzip nicht.« Ich spielte anschließend eine gefährliche Karte auf. »Aber ich habe das Gefühl gehabt, einen Schrei gehört zu haben.« Baresi blieb stehen. »Einen Schrei, wie?« »Ja, Sir, ja. Aus dem Kabinett.« Er verengte die Augen, als er mich anschaute. »Bilde dir nur nichts ein, du Penner. Wer hier schreit und wer nicht, das bestimme noch immer ich. Verstanden?« »Sicher, Sir.« Er brachte mich bis zu meinem Schlafplatz. Unterwegs sprachen wir kein Wort mehr miteinander. Tom wurde nicht wach, als ich das schmale Kassenhaus betrat. Baresi blieb an der Tür stehen. »Ist doch gemütlich hier«, sagte er. »Vor allem warm. Zu frieren brauchst du nicht. Ich an deiner Stelle würde mich jetzt hinlegen und auch liegenbleiben. Der morgige Tag wird kein Zuckerschlecken.« Ich hockte mich auf den Boden und faltete die Decke auf. »Natürlich, Sir, ich werde es versuchen.« »Ich rate es dir.«
Er zog sich zurück und hatte die Tür nicht ganz geschlossen, als ihn mein Ruf erreichte. »Ach so, Sir, da ist noch etwas, das ich Ihnen sagen wollte.« »So? Was denn?« »Danke!« Baresi schnaufte. Ihm fiel keine Antwort ein. Er war unsicher geworden und wußte auch nicht, ob er auf den Arm genommen werden sollte oder nicht. Ziemlich heftig zog er die Tür zu. Mein Lächeln sah er nicht mehr, aber durch das Geräusch war sogar Tom aus dem Schlaf hochgeschreckt. Er grunzte, setzte sich in einer Reflexbewegung hin und fragte: »Ist was?« »Nein, Tom, schlaf weiter.« Ich kroch unter die graue Decke, die stank und kaum wärmte. Aber Tom wollte nicht schlafen. »Da war doch Baresi«, sagte er und hustete. »Du hast geträumt.« »Habe ich nicht. Was wollte er?« Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Er hat mich zurückgebracht, weißt du.« »Woher denn?« Tom wandte sich mir zu. Von seinem stoppelbärtigen Gesicht war nur ein Schatten zu sehen. Noch immer stank er nach billigem Fusel. »Ich war unterwegs, konnte nicht schlafen. Habe mich nur ein wenig umgeschaut, und das hat ihm nicht gefallen.« Tom kicherte. »Da kennst du den Alten schlecht. Der dreht oft seine Runden.« »Hat er einen Grund dafür?« »Das weiß ich nicht. Der ist eben sehr mißtrauisch.« »Auch seinen Leuten gegenüber?« »Klar.« »Schlechte Erfahrungen, wie?« »Kann sein«, brummelte Tom. Auch er ließ sich wieder zurücksinken. »Er will eben alles unter Kontrolle haben. Niemand soll von der Schiene geraten.« »Das hört sich an, als hätte er etwas zu verbergen.« »Wer weiß«, seufzte mein Nebenmann. Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Los, Tom, stell dich nicht so an. Sag was.« »Was soll ich denn sagen?« »Daß es hier ein Geheimnis gibt.« »Quatsch.« »Finde ich nicht.« »Du bist erst ein paar Stunden hier.«
»Trotzdem kenne ich mich aus. Ich bin herumgekommen, Tom. Kannst dich drauf verlassen. War auch einige Male weg von der Insel und auf dem Festland. Ich habe dort viel gesehen und kenne auch Jahrmärkte und Zirkusse. Habe oft genug mitgeholfen, sie auf- und abzubauen. Aber einen Typ wie Baresi habe ich noch nicht erlebt. Kein Direktor schleicht grundlos nach Mitternacht über das Gelände.« »Das weiß ich nicht.« »Es muß einen Grund geben.« Tom stöhnte auf. »Wo hat er dich denn erwischt, du verdammter Quälgeist?« »An dieser großen Bude, dem historischen Kuriositätenkabinett. Und zwar an der Rückseite.« »Ha…« »Was heißt das?« »Da wolltest du wohl einbrechen, wie?« »Unsinn. Was hätte ich denn da holen sollen? Ich habe mich über dein Schnarchen geärgert, konnte nicht einschlafen und wollte deshalb frische Luft schnappen.« Ich schlug mit der Hand auf mein neben mir stehendes Gepäck, das ich in einem Rucksack untergebracht hatte. »Das ist der Grund.« »Den dir Bares nicht geglaubt hat.« »So ist es.« »Da kann ich auch nichts machen.« Es hörte sich so an, als hätte Tom keine Lust mehr, sich noch länger über das Thema zu unterhalten. Er wollte seine Ruhe haben, was verständlich war. Der nächste Tag würde auch für ihn hart werden. Ich machte nicht den Fehler, ihn einzuweihen. Auf keinen Fall durfte ich ihm vertrauen. Tom war müde geworden, ich hörte es an seiner Stimme, die matt klang. »Einen guten Rat gebe ich dir, John. Stell nicht zu viele Fragen. Mach hier keinen Ärger, sonst wird es dir verdammt schlecht ergehen.« »Kennst du dich aus?« »Vielleicht«, murmelte er und war Sekunden später eingeschlafen, wie sein Schnarchen verkündete. Ich lag noch lange wach. Und das ungute Gefühl steigerte sich. Obwohl noch nichts Konkretes in meiner Umgebung passiert war, hatte ich den Eindruck, daß hier einiges nicht so ablief, wie es eigentlich ablaufen mußte. Auf den nächsten Tag war ich gespannt. Jules Vangard wußte nicht, ob er träumte oder wach war, doch der heiße Flammenschein versengte beinahe seine Haut. So sah er sich gezwungen, zurückzutreten, bis er den düsteren Schatten einer mächtigen Baumkrone erreicht hatte, die ihn schützte. Er wunderte sich darüber, daß ihn niemand aufgehalten hatte, man hätte ihn sehen müssen, denn kurz vor seinem Wegtreten war eine der Kuttengestalten
dicht an ihm vorbeigegangen. Er hatte ihm nichts getan, nicht einmal angeschaut aus den schmalen Augenschlitzen, die in die weiße Kapuze hineingeschnitten waren. Oben endete die Kopfbedeckung in einer ziemlich langen Spitze, und mit ihrer breiten Öffnung saß sie zu beiden Seiten des Halses auf den Schultern auf. Die Gestalt war weitergegangen und hatte für freie Sicht des Beobachters gesorgt. Noch immer war er wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte sich keinen Reim auf die Vorgänge machen, hier waren Veränderungen eingetreten, die mit seiner Logik nicht erfaßt werden konnten. Vor seine Überlegungen schob sich ein Schutzschild. Vangard nahm sich vor, nur zu beobachten und nicht zu handeln. Seinen Gedankenapparat konnte er trotzdem nicht abstellen. Natürlich suchte er nach einer Erklärung. Die irresten Ideen und wirrsten Gedanken huschten durch seinen Kopf. Er dachte daran, daß er durch irgendeinen Vorgang in einen Drei-D-Film hineingeraten war oder in ein Hologramm, das ihn in eine andere Wirklichkeit entführt hatte, mit der er noch nicht zurechtkam. Es gab ja Dinge im Leben, die nicht erklärbar waren, aber diese andere Wirklichkeit war seines Erachtens verflucht hautnah, denn er nahm ja nicht allein die Szene in sich auf, er registrierte auch das gesamte Drumherum: die Hitze des Feuers, die Schreie der Kapuzenmänner, die sich in der Nähe des Flammenkreuzes hektisch bewegten und immer wieder nach einer Hexe riefen, die endlich hergebracht werden sollte. Das Feuer hatte das große Kreuz in einen zuckenden und lodernden Umhang gekleidet. Dunkel war der Himmel über dem Land, aber die nach oben greifenden Flammen rissen tiefe Lücken in die Finsternis hinein und füllten sie mit ihrem roten, gelben und schwarzen Widerschein aus, so daß gespenstische Gebilde entstanden. Vangard hatte die Kuttenträger nicht gezählt. Es waren sehr viele, und einer von ihnen tat sich besonders hervor. Auf der Vorderseite der weißen Kutte leuchtete ein blutrotes Kreuz. Der Mann selbst hielt eine schwere Bullpeitsche in der Hand, die er immer wieder schwang und laut knallen ließ. »Die Hexe!« schrie jemand. Der Anführer fuhr herum. Seine Hand mit der Peitsche sank nach unten. Das Leder ringelte sich auf dem Boden zusammen. »Bringt sie her, verdammt! Sofort!« Das Brausen der Flammen wurde von einem anderen Geräusch übertönt. Jules konnte es zuerst nicht identifizieren, bis ihm einfiel, daß es nur das Donnern von Hufen sein konnte. Im nächsten Augenblick erschienen aus der tiefen Dunkelheit hinter dem brennenden Kreuz vier Reiter, die eine ungewöhnliche Haltung eingenommen hatten. Sie hatten sich zu verschiedenen Seiten hingebeugt und hatten Schlingen um ihre
Handgelenke gedreht. Deren Enden umschlossen die Hand- und Fußgelenke der eben erwähnten Hexe. Sie wurde wie ein alter Teppich über den Boden geschleift, und ihre schrillen Schreie übertönten selbst den Klang der Hufe. Wenn die Frau noch weitergeschleift wurde, dann würde sie zu Tode kommen, aber die Reiter stoppten ihre Tiere in der Nähe des brennenden Kreuzes, bevor sie sich aus den Sätteln schwangen und die Hexe hochrissen. Die Frau war nackt! Jules Vangard ballte seine Hände. Plötzlich war er erregt und wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte die junge Frau erkannt. Es war Lizzy, seine Lizzy, die sich da unter den Griffen ihrer Peiniger wand und von den anderen so schamlos angeglotzt wurde. »Nein!« keuchte Vangard. »Das darf nicht wahr sein, das ist einfach nicht wahr! Das ist…« Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung, und so lief er auf den Ort des Geschehens zu. Obwohl er waffenlos war, mußte er Lizzy helfen. Sie durfte nicht getötet werden! Seine Füße hinterließen dumpfe Echos auf dem weichen Boden. Er keuchte laut, die Augen waren weit geöffnet, die Lippen spröde, die Glut des Feuers schickte ihm ihren Hauch entgegen, der über sein Gesicht streifte und so heiß war, als sollte ihm die Haut gelöst werden. Die vier Männer lösten die Fesseln. Nackt wand sich Lizzy auf dem Boden. Ihr braunes Haar war wie eine Fahne. Sie schrie noch immer. Aber waren das tatsächlich Schreie? Jules wußte es selbst nicht mehr, er war völlig durcheinander, als er auf sein Ziel zulief. Es brauchten nicht unbedingt Schreie zu sein, denn diese schrillen Laute hörten sich eher an wie ein gellendes Lachen, mit denen sich Lizzy über ihre Peiniger amüsierte. Dann war er da! Er schlug zu. In seiner Wut hatte er sich den Anführer vorgenommen und rammte seine Faust dicht unter die beiden Augenschlitze, weil er die Nase des Mannes zu Brei schlagen wollte. Er traf, und er traf nicht! Die Faust wischte durch die Gestalt hindurch, und von seinem eigenen Schwung wurde Jules nach vorn getragen. Auf dem etwas glatten Boden rutschte er aus, fiel hin, rollte sich zur Seite, wurde nicht angegriffen und bekam überhaupt keinen Sinn in die gesamten Vorgänge. Er war nicht mehr als ein Statist, der bei diesem Drama mitspielte, aber von den anderen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Er sprang wieder hoch. Lizzy hatte man ebenfalls auf die Beine gezogen. Sie wand sich unter den Griffen ihrer Peiniger, sie spuckte, sie trat um sich, und plötzlich brach sie grünen Schleim aus. »Das ist die Hexe! Ins Feuer mit ihr!«
Darauf hatten die anderen Kuttenträger nur gewartet. Sie rannten herbei, und unzählige Hände waren plötzlich da und schnappten sich die nackte Frau. Jules wollte dazwischen. Er schrie, er bebte, er schlug seine Widersacher, ohne sie direkt zu treffen, und er geriet so in die unmittelbare Nähe der Frau. Er konnte sogar in ihr Gesicht schauen, denn sie lag auf dem Rücken, als sie zum Feuer geschafft wurde. »Lizzyyy…« Sie lachte ihn an, und sie geiferte dabei. Grüner Schleim oder widerliche Galle sprühten vor ihrem Mund. Die Augen waren weit geöffnet, die Pupillen zeigten einen klaren Glanz, in dem sich Bilder abzeichneten und sich zu Szenen zusammenfügten. Schlimme Bilder – fratzenhafte Gestalten, Höllenwesen und ein schreckliches Antlitz mit kalten Augen. Sie lachte, die Hexe freute sich. Sie hatte den Sieg errungen. Sie vertraute auf Luzifer, auf die Hölle, auf deren Schutz, und die Männer rannten mit ihrer Gefangenen auf das brennende Kreuz zu. Sie holten aus. Ihr Anführer gab die Befehle. Vor und zurück schwangen sie den nackten Körper, dann ließen sie Lizzy los. Sie jagte dem Flammenkreuz entgegen. Ihr Körper drehte sich noch in der Luft. Sie schlenkerte mit den Armen, und aus dem offenen Mund drang ein gellendes Gelächter. Kurze Zeit später hatte sie den Flammenvorhang erreicht, tauchte in ihn hinein und prallte gegen das Kreuz. Es war stabil, es hätte diesem Aufprall standhalten sollen, doch als der Körper dagegenschlug, brach es zusammen. Das Kreuz veränderte sich zu einem glühenden, sprühenden Holzhaufen, von dem aus eine knisternde Flammenwand in die Höhe schoß. Loderndes Feuer, glühende Teile, Flammen, die nach Nahrung suchten. Lizzy zeigte ihnen, wie sehr sie als Hexe das Feuer beherrschte. Die Klanmänner waren zurückgetreten. Sie erwarteten, daß alles zu Asche verbrannte, doch etwas anderes geschah. Aus den zusammengeschlungenen Resten des Kreuzes erhob sich die Gestalt der Hexe wie Phönix aus der Asche. Ein kalt schimmerndes, nacktes, bläuliches Wesen mit einem glatten Gesicht und einem weit geöffneten Mund, aus dem ein Gelächter brandete, das selbst den Kuttenträgern Angst einjagte. Mit beiden Armen schaufelte sie in die Flammen hinein. Sie fachte das Feuer noch einmal an und schleuderte die Glut nach vorn, auf die Peiniger zu, die so erschreckt waren, daß sie zunächst stehenblieben. Einige Kutten fingen Feuer.
Schreie gellten über den Platz. Die Pferde rannten wiehernd davon, und die Hexe erlebte ihren Triumph, als sie sah, wie vier Männer in hellen Flammen standen und nicht so schnell aus ihren Kutten hervorkriechen konnten. Einem gelang es, die brennende Kapuze abzureißen. Ein heißer Feuerstoß jagte von unten her gegen sein Gesicht und ließ die Haut schmelzen wie Glas in einem Brennofen. Das bekam Jules Vangard noch sehr deutlich mit. Er konnte noch immer keine Erklärung abgeben und mußte plötzlich erleben, wie sich alles veränderte. Ein ungewöhnlicher Nebel überzog die Szene. Er verdeckte sie nicht nur, er löschte sie sogar aus. Als Vangard endlich dazu kam, Luft zu holen, schmeckte er den Staub auf seiner Zunge und schaute wieder in das zitternde Licht der Kerzenflammen, die sich um das Zifferblatt der Uhr gruppierten… *** Jules rührte sich nicht. Er war zusammengesunken, sein Rücken beschrieb dabei einen Halbbogen, und er sah aus wie ein Mensch, der jeden Augenblick einen Schlag erwartete. Die Augen hielt er geschlossen, denn der Kerzenschein hatte ihn zu stark irritiert. Er konnte ihn in kein Verhältnis zu den Flammen setzen, die er erlebt hatte. Allmählich kehrte seine Erinnerung zurück. Aus den Tiefen tauchte sie auf. Er hörte sich sogar schreien und erschrak über die eigene Reaktion. Dann öffnete er die Augen. Die Lichter waren noch da. Nichts hatte sich verändert. Auch die Uhr konnte er sehen. Allerdings war der Zeiger nach rechts gewandert. Es war ungefähr zwanzig Minuten nach Mitternacht. Und ihm fiel auch ein, was er mit Lizzy erlebt hatte. Sie hatte über dem Zeiger geschwebt und sich sogar auf ihn gelegt. Dann hatte sie sich von ihm töten lassen. Er erinnerte sich an das Blut, das aus den Wunden gesprudelt war und das helle Kleid benetzt hatte. Ein kalter Schauer jagte bei diesem Gedanken über seinen Rücken. Einbildung? Hatte er sich das wirklich alles nur eingebildet? War es ein Produkt seiner Phantasie geworden? Vangard hob die Hände an und preßte sie gegen seine Wangen. Er konnte nichts begreifen, weil er nichts wußte, und er fühlte sich so überflüssig. Daß er selbst in Schweiß gebadet war, konnte er nicht leugnen. Er fühlte sich wie ausgequetscht, und hinter seiner Stirn stachen ihn zahlreiche kleine Messer. Seine Beine zitterten dermaßen stark, daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte. Er mußte nachdenken und alles in die Reihe bekommen, sonst wurde er noch verrückt.
Wieder dachte er daran, aus welch einem Grund er hergekommen war. Er hatte Lizzy finden wollen. Er mußte mit ihr reden, er wollte wissen, was sie hier tat. Sie hatte sich umgebracht. Getötet! Vangard stand kurz vor einem Zusammenbruch. Erst jetzt wurde ihm klar, was das bedeutete. Er würde sie nie mehr in den Armen halten können, nie mehr über ihre nackte Haut streicheln. Er würde nicht mehr in den Genuß ihrer Leidenschaft gelangen, denn in den letzten Minuten hatte sich alles verändert. Lizzy war tot! Er hatte sie zweimal sterben sehen. Zum einen auf dem Uhrzeiger, zum anderen in seinem Traum, falls es dann ein Traum gewesen war. Jules war kein Traumexperte, er gehörte zu den Menschen, die nicht oft bewußt träumten, so etwas jedoch hatte er noch nicht erlebt. Dieser Traum war einfach zu realistisch gewesen, um ihn überhaupt als einen Traum ansehen zu können. Was war es dann? fragte er sich. War es in seinem Traum die Hitze des Feuers gewesen, die ihn erfaßt hatte, so spürte er nun die Kälte, die über seinen Rücken kroch, als wäre er von einem Eisnebel berührt worden. Angst… Die Kälte der Angst überflutete ihn. Er zog den Kopf ein. Seine Kehle steckte voller Teer, der sich schwerfällig bewegte. Er mußte husten und hörte das dumpfe Geräusch. Da war etwas umgefallen – oder? Er schaute nach vorn. Im Kerzenlicht betrachtete er das Zifferblatt der Uhr. Links davon entstand eine Bewegung, die noch von der Dunkelheit verborgen war. Vangard konzentrierte sich trotzdem nur auf diesen Punkt, denn er wußte, daß dort bald etwas Entscheidendes passieren würde. Der Kerzenschein waberte in die Dunkelheit hinein, aber nicht zu tief, um schon etwas hervorzuholen. Die Bewegung war für Jules mehr zu ahnen als zu sehen. Seine Spannung wuchs und damit auch der Druck. Auf der Stirn sammelten sich die Schweißperlen. Schweiß bedeckte auch seine Oberlippe, und die Gänsehaut rann bis zu seinen Kniekehlen. Sie kam. Es war Lizzy, die sich plötzlich aus der Finsternis hervorschälte und im ersten Moment aussah wie eine Gestalt aus dem Totenreich, denn ihr weißes Kleid wehte bis zu den Knöcheln hinab und verdeckte dabei noch die Füße. Jules Vangard stand unbeweglich auf dem Platz und begriff es einfach nicht. Er war nicht in der Lage, gewisse Dinge zu realisieren, sein
Denken war einfach abgeblockt worden, und die Kehle saß so zu, daß er kaum Luft bekam. Er stöhnte. Es hatte eigentlich ein Wort aus seinem Mund dringen sollen, doch erbrachte den Namen Lizzy nicht hervor. Statt dessen spürte er, wie sich Tränen aus seinen Augen lösten und als kleine Tropfen an den Wangen herabliefen. Lizzy blieb stehen. Sie hatte sich einen guten Platz ausgewählt, von wo aus sie den Überblick hatte. Ihre Hände umklammerten die Balustrade, und das Lächeln auf ihrem Mund war eine einzige Lockung. Das alles interessierte ihn nicht, daran schaute er vorbei, für ihn war einzig und allein die Gestalt wichtig, denn er suchte nach dem Blut und den Wunden. Er sah sie nicht. Vangard wollte beinahe schon lachen, dann aber hob er mit einer langsamen Bewegung seinen Arm und strich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Besonders über seine Augen, als wollte er das Bild der völlig normalen Lizzy wegwischen und statt dessen ein anderes, ein schreckliches hervorholen. Es war nicht möglich, nichts mehr war möglich. Lizzy sah noch immer so unverletzt aus, und sie löste jetzt die rechte Hand von der Balustrade, um sie Jules entgegenzustrecken. Dabei bewegte sie ihre Finger. Es war eine Lockung, der er nicht widerstehen konnte, obwohl er sich nicht mehr danach sehnte, Lizzy in die Arme zu schließen. Dann würde er das Gefühl haben, eine Tote zu umarmen, und an so etwas wollte er nicht einmal denken. »Hallo, Jules…« Wie weich ihre Stimme klang, so herrlich lockend. Ja, so hatte er sie in Erinnerung behalten, und daran hatte sich nichts mehr geändert. Er atmete heftig, er pumpte sich regelrecht auf und merkte, daß sich in seinem Hals ein Kloß festsetzte. Er versuchte auch, das Lächeln zu erwidern, nicht mehr als ein Zucken der Mundwinkel kam dabei heraus. Ansonsten blieb er stumm, und die Furcht vor Lizzy ließ sich nicht leugnen. »Du sagst ja nichts…« Er hob die Schultern. »Freust du dich nicht?« Auch wenn dies der Fall gewesen wäre, er hätte es durch Worte nicht ausdrücken können, denn der Kloß in seiner Kehle machte ihm das Sprechen unmöglich. »Sag doch was, Jules…« Er schüttelte den Kopf. Lizzy lächelte. Sie bog ihren Oberkörper zurück, hob beide Arme an und strich mit den gespreizten Fingern durch ihr Haar. Es war eine laszive
Bewegung, und Jules erinnerte sich daran, daß er sie so sehr geliebt hatte. Auch jetzt konnte er dieser Verlockung nicht widerstehen. Zwar schmolz er nicht dahin, doch seine innere Abwehr stand kurz vor dem Zusammenbruch. Lizzy redete weiter. »Es ist wunderschön, wenn man begehrt ist«, flüsterte sie. »Ich habe dich gewarnt, hierherzukommen. Du hast es trotzdem getan. Ist deine Sehnsucht so groß gewesen?« Plötzlich konnte Jules wieder sprechen, auch wenn es nur ein >Ja< war, das er über seine Lippen preßte. Sie strahlte. Ihr Gesicht schien von warmen Sonnenstrahlen beührt zu werden. Von einem Augenblick zum anderen war sie die Person geworden, als die er sie kannte. Sie jubelte innerlich, und alles andere schien sie vergessen zu haben. »Dann komm her!« rief sie ihm zu. »Komm endlich zu mir. Ich warte doch auf dich!« Und Jules hatte auf eine derartige Einladung gewartet. Trotz seiner Furcht hatte sich dies immer in seinem Hinterkopf festgesetzt. Die Barriere war zusammengebrochen, es gab nichts Trennendes mehr zwischen ihnen beiden. Die Liebe hatte gesiegt. Was war schon das Verbrennen der Hexe gewesen? Nichts als ein böser Traum. Schreckliche Erinnerungen, die möglicherweise nicht einmal den Tatsachen entsprachen. Ein Spuk, der vergangen war. Irreale Bilder, geboren aus Phantasien, denn hier war die einzige, die echte Lizzy Lamotte. »Bitte, Jules, du mußt dich beeilen, die eine Stunde ist bald vorbei. Es wird Zeit…« »Ja, ja, ich komme.« Er dachte über die Worte nicht nach und schaute auch nicht auf den Zeiger, der sich immer weiter über das Zifferblatt hinwegbewegte und sich allmählich der vollen Stunde näherte. Noch trennten ihn zehn Minuten davon. Da sich Jules unterhalb seiner Geliebten aufgehalten hatte, mußte er einen Weg finden, der ihn zu ihr führte. Vielleicht führte die Treppe zu ihr, die er rechts vor sich sah. Die Stufen waren schmal und hoch und aus schlichten Holzbrettern zusammengenagelt. Ein eisernes Geländer gab ihm den nötigen Halt. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, wuchs seine innere Spannung. Nein, es war etwas anderes, das in ihm hochstieg. Es war die Sehnsucht danach, Lizzy endlich in die Arme schließen zu können, denn darauf, da war er sich sicher, warteten beide. Das Ende der Treppe. Der Weg nach links, wo sie wartete und ihm bereits die Arme entgegenstreckte. Im Licht der Kerzen wirkte sie noch schöner, weil der Flammenschein ihren Körper mit sehr weichen
Konturen übergoß. Lizzy kam ihm vor wie ein Gemälde, und er konnte es kaum erwarten, sie in die Arme zu schließen. Seine Augen glänzten, die ihren ebenfalls. Zusätzlich spiegelte sich in den Pupillen das Licht der Kerzen und erfüllte sie mit geheimnisvollen Reflexen. Seine Knie waren schon weich, als er die nächsten Schritte machte. Das Herz klopfte schneller, und er erinnerte sich an die erste Begegnung. Da hatte er sich ebenfalls so gefühlt. Auf einmal kam ihm die Zeit zu kurz vor. Er konnte es nicht mehr erwarten. »Lizzy!« Mit einem Schrei auf den Lippen rannte er die letzten Schritte und warf sich in die Arme der Frau. Sie umfing ihn mit einem festen Griff, daß er sich eigentlich hätte wundern müssen, aber Jules war trunken vor Liebe. Er hatte das erreicht, was er sich wünschte, sie noch einmal in dieser Nacht in die Arme zu schließen und seine Hände über ihren Körper gleiten zu lassen, was er auch tat. Der Stoff war sehr dünn. Er spürte unter ihm die festen Brüste mit den steil aufgerichteten Warzen. Er streichelte ihre Schenkel, und seine Hände glitten höher. Dabei fiel ihm nicht auf, wie fest und klammernd ihr Griff geworden war und daß er plötzlich in die Höhe gehoben wurde. Er schwebte mit beiden Füßen über dem Boden, als die Frau einen Schritt vorging. Dann noch einen. Jules küßte sie. Seine Lippen berührten ihren Mund, und er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Er machte weiter. Seine Hände umklammerten ihren Hals, wo die Haut ebenfalls so herrlich weich war, dann fuhren sie an ihrem Gesicht in die Höhe, sie zerwühlten das weiche, braune, so herrlich dichte Haar, während er kaum merkte, daß sie sich bewegte, und im Sturm seiner Gefühle gefangenblieb. Seine Lippen lösten sich von ihrem Mund und begannen mit der Wanderschaft über ihr Gesicht. Er küßte Lizzys Wangen, die Augen, die Stirn. Er hörte sich selbst Worte murmeln, die er selbst nicht fassen konnte, die ihn aber in eine Leidenschaft hineinrissen, wie sie kaum mehr zu begreifen war. Lizzy blieb cool. Eiskalt sogar, als sie sich drehte, dabei stöhnte, ihm ebenfalls Worte zuflüsterte, die ihn noch heißer machen sollten. Als sie langsam die Treppe hochstieg, waren ihre Bewegungen weder eckig noch abgehackt, sondern gleitend. Als würde sie trotz des schweren Gewichts über den Stufen schweben. Jules Vangard hörte sich atmen. Aus seinem Mund floß der Luftstrom über die Wangen der Frau wie ein warmer Wind. Er hatte die Erlebnisse der nahen Vergangenheit vergessen. Für ihn gab es nur noch diese Frau, deren Brüste ihn bei jeder Bewegung noch mehr in Rage brachten.
Er wollte sie lieben! Hier und jetzt, auf der Treppe. Er versuchte schon, ihr Kleid in die Höhe zu schieben. Darunter war sie nackt. Seine Hände sollten über die Seidenhaut hinwegstreichen, die Flamme der Leidenschaft war zu einer Fackel geworden. Er wunderte sich selbst darüber, welche Vergleiche ihm durch den Kopf fuhren, doch er sah ihr Lächeln nicht. Lizzy hatte den Kopf zur Seite gedreht, damit sie an Jules vorbeischauen konnte. Ihre Augen waren verdreht, denn in diesem Augenblick interessierte sie einzig und allein die Uhr. Sie setzte ihn ab. Nicht einmal fest, sondern so sacht, daß Jules es kaum merkte. Beide standen neben der Uhr, und Lizzy stellte mit einem schnellen Blick fest, daß sich der Zeiger weiterbewegt hatte. Nur noch fünf Minuten… Es wurde Zeit! »Komm!« flüsterte sie ihm zu. »Komm endlich…« Er schluchzte auf, obwohl er nur Atem holen wollte. »Wo denn… wo soll ich denn…?« »Hier!« Dieses eine Wort traf ihn. Es riß den Vorhang der Gefühle auseinander. Jules erwachte wie aus einem Traum, er atmete heftig, und über sein Gesicht tanzte nicht allein der Widerschein der Kerzen, sondern auch die roten, hektischen Flecken, die seine Erregung bei ihm hinterlassen hatten. Niemand würde sie hier stören, und er war plötzlich froh, ihre Warnung mißachtet zu haben. Lizzy Lamotte griff zu. Sie tat es raffiniert und geschickt. Plötzlich kippte er zur Seite, lag im nächsten Moment quer auf ihren Armen, war unsicher. Ihr Gesicht schwebte wie eine lächelnde Zeichnung über dem seinen. Dieser Ausdruck beruhigte sie ungemein, und sie hatte den Mund geöffnet, damit sie tief einatmen konnte. »Es ist so wunderbar mit dir!« flüsterte sie Jules entgegen und er ließ sich gern durch ihre Worte einlullen. Es machte ihm auch nichts aus, daß sie einige Schritte mit ihm ging, er blieb gern auf den Armen liegen, nur als sich ihre Bewegungen veränderten, weil sie die Sprossen einer Leiter anstieg, da sah alles anders aus. »Was tust du?« »Ich bringe ihm den Beweis meiner Liebe.« Er überlegte. Lizzy ging weiter. Endlich konnte er seine Frage in Worte fassen. »Wem willst du einen Beweis deiner Liebe bringen?« Ihre Stimme schnurrte. »Das wirst du gleich sehen. Er bekommt ihn immer wieder zwischen Mitternacht und dem Ende der ersten Tagesstunde. Du brauchst keine Angst zu haben, du bist nicht der erste.« Der erste?
Die Frage brandete in seinem Kopf. Sie füllte sein Gehirn aus. Der Mund öffnete sich, denn plötzlich hatte er Angst bekommen und wollte sie hinausschreien. Diesmal erinnerte er sich an das Flammenkreuz, an die brennenden Männer und an das Lachen der Hexe. Hexe? »So, jetzt wirst du es erleben. Die Uhr ist dein Schicksal. Sie wird für mich und ihn da sein. Luzifer freut sich…« Der junge Mann begriff nicht viel. Er merkte nur, daß er noch höher schwebte, und es gelang ihm, den Kopf nach rechts zu drehen. So stark, daß er direkt nach unten schauen konnte. Zwei spitze Pfeile ragten ihm entgegen! Die Zeiger! Noch ein Ruck. Ein Uhr! In dem Moment – es war wirklich der allerletzte – ließ Lizzy ihr Opfer fallen. Sie schaute zu, sie freute sich, in ihren Augen tanzten Funken. Sie lauschte dem fürchterlichen Todesschrei, der wie Musik in ihren Ohren klang, und sie lachte dann in die Stille hinein, die der abgebrochene Schrei hinterlassen hatte. Luzifer würde zufrieden sein, und auch die Uhr hatte wieder einmal ein Opfer bekommen… *** Der Morgen begann mehr als trübe, aber es gab einen Kaffee, der mir schmeckte. Ich trank ihn aus einer Blechtasse, die zugleich meine Handflächen wärmte. Über der Tasse waberte heißer Dampf und stieg mir in die Nase. Eine alte Frau hatte den Kaffee gekocht und sogar die Kanne neben mich gestellt. Tom kaute auf einer Scheibe Brot. Er hatte kaum einen Schluck von der braunen Brühe getrunken und sich lieber auf seinen Durstlöscher verlassen. Irgendein Zeug, das in einer Feldflasche schwappte und entfernt nach Rotwein roch. Der Regen fiel als feiner Sprüh aus den tiefhängenden Wolken und sah aus wie ein nie abreißender Vorhang. Unter dem Dach des Skooters waren wir geschützt. »Willst du eine Scheibe?« Ich schüttelte den Kopf. »Danke, Tom, aber mir hat eine gereicht. Das Zeug schmeckte wie aufgeweichte Pappe.« Er lachte. »Was willst du? Damit werden auch die Tiere gefüttert.« »Toll.« »Wieso?«
»Was die nicht nehmen, das bekommen wir dann.« Er wollte sich ausschütten vor Lachen und schlug sich gleich mehrmals auf die Schenkel. Ich blieb bei meinem Kaffee und schenkte mir die dritte Tasse voll. Tom war ein Gemütsmensch. Ob man ihn als einen Alkoholiker einstufen sollte, war fraglich. Für mich zählte er zu der Sorte von Genußtrinkern, leider schon am frühen Morgen. Wer ihn sah, konnte Angst bekommen. Groß, breit, ein Bär von Mann mit kantigen Schultern, einem Specknacken und mächtigen Armen. Aber auch mit viel Fett, denn auf seinen Bauch war er ebenso stolz wie auf das Gestrüpp in seinem Gesicht, das sich Vollbart nannte. Der Mund war darin kaum auszumachen. Ich brauchte nur dem Geruch der Fahne zu folgen, um herauszufinden, wo sich seine Lippen befanden. »Irgendwie ist es komisch«, quetschte Tom hervor. »Was denn?« Er kratzte durch sein strähniges Haar auf der Kopfhaut herum. »Daß sich der Chef noch nicht hat blicken lassen. Um diese Zeit läuft er bereits zur Höchstform auf.« »Ach ja…« Tom nahm meine Bemerkung zum Anlaß, wieder zu sprechen. Genau das hatte ich auch gewollt. »Ja, John, so war es noch nie. Oder nur einmal in der Zeit, in der ich hier bin.« Er krümelte einen Popel aus der Nase und schnippte ihn weg. »Ist ein echt starkes Stück. Hätte ich einen Kalender, müßte ich den Tag rot anstreichen.« »Das hat bestimmt einen Grund«, gab ich ihm recht. »Und ob.« Ich hob die Schultern. »Aberweichen?« »Keine Ahnung.« Tom stocherte jetzt zwischen seinen Zähnen herum. »Ist auch zu ruhig hier. Schau mal über den Platz. Siehst du irgendwelche Leute, die etwas tun?« »Keiner arbeitet im Freien. Kann am Wetter liegen.« »Nie und nimmer. Es gibt hier einiges am Skooter zu tun. Da muß ein Teil des Bodens ausgewechselt werden. Ist eine Sauarbeit, die Platten zu lösen. Heute morgen sollte damit angefangen werden. Wir beide hätten uns totgeschuftet, aber keiner treibt uns. Das ist sehr ungewöhnlich. Mir soll es recht sein.« »Mir auch.« Er schluckte den Wein, ohne daß sich sein Adamsapfel bewegt hätte. Im Trinken war er wirklich ein Könner. Dann zog er die Nase hoch und spie noch aus. »Von allein fange ich nicht an, das habe ich noch nie getan. Mich muß man immer zur Arbeit treiben. Wenn ich einmal dran bin, dann kenne ich keine Verwandten mehr, Kumpel.« Er schlug mir auf die Schulter. »Auch keine Freunde, das wirst du noch merken. Wenn du nicht schnell genug bist, mußt du dich leider verabschieden.« »Mal sehen.«
Er ließ mich erst die Tasse leeren, dann wollte er meine Hände sehen. »Die Hände?« »Ja, zeig sie her.« »Bitte.« Ich hielt sie ihm hin. Tom besah sie sich genau. Ich mußte sie drehen und wenden. Schließlich hatte er genug gesehen und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht das Wahre.« »Wie meinst du?« »Das sind keine Malocherhände. Die sehen zwar ziemlich kräftig aus, aber viel gearbeitet hast du in deinem Leben noch nicht. Sag jetzt nicht, daß ich lüge, ich kenne mich da aus.« »Stimmt. Die Arbeit und ich sind noch nie große Freunde gewesen. Außerdem bin ich noch nicht lange auf der Straße. Das heißt, ich bin es eigentlich überhaupt nicht. Ich treibe mich eben herum. Zwei bis drei Jahre habe ich mir vorgenommen. Außerdem möchte ich mich nicht unbedingt erwischen lassen.« »Die Bullen?« »Nein, meine Alte.« Er gab ein lautes Ha! von sich. »Immer die Weiber, John. Ich sage es dir, und ich kann es nur ständig wiederholen. Die Weiber sind noch unser Untergang. Die machen dich fertig, die nehmen dich aus, die sind die größten Blutsauger, die es gibt. Kenne das, habe selbst mal in einem ehelichen Knast gesessen.« »Dann brauche ich dir ja nichts zu erzählen.« »Da hast du recht. Und nach zwei Jahren willst du wieder spießig werden?« »Ich hoffe es.« Er winkte ab. »Das ist nicht gut, John, das ist überhaupt nicht gut, sage ich dir.« »Wieso nicht?« »Weil du meist die Kurve nicht kriegst. Dann hast du dich mal an die Freiheit gewöhnt und dir eine Leck-mich-am-Arsch-Stimmung zugelegt. Das sehe ich so.« »Kannst recht haben.« Tom lachte und trank wieder. »Der Chef ist noch immer nicht da. Auch von den anderen läßt sich kaum jemand blicken. Nur Madame Bovary hat ihre Köter ausgeführt.« »Die habe ich noch nicht gesehen.« »Das ist der kleine Blonde mit dem großen Hut.« Tom lachte. »Der Blonde? Ist sie keine Frau?« »Nee, so ein Mittelding. Ist ein Mann, fühlt sich aber als Weib. So ein Travistet oder ähnlich.« »Transvestit.« »Richtig. Kennst dich ja aus.« Er war erstaunt.
»Habe darüber mal was gelesen. Das kann manchmal ganz schön beschissen sein, wenn man sich in seiner Haut nicht wohl fühlt. Nur ist mir gerade etwas anderes eingefallen.« »Was denn?« »Da muß in der Nacht was passiert sein, glaube ich.« »Klar, du warst unterwegs.« »So meine ich das nicht. Etwas anderes, denn ich habe einen Wagen entdeckt. Einen Polo, ist ein deutsches Fabrikat.« »Weiß ich selbst.« »Sorry. Wem gehört der Wagen?« »Von uns fährt keiner einen Polo.« Ich streckte den Arm aus und drückte ihn nach links. »Dahinten ist er abgestellt worden. In guter Deckung.« Tom hob die Schultern. Er wollte noch etwas sagen, hielt aber seinen Mund, denn quer über dem Platz stiefelte der Chef, Tonio Baresi, auf uns zu. Ich mußte grinsen, als ich den Mann sah. Die hohen gelben Gummistiefel paßten nicht zu den kurzen Beinen. Der Mann trug eine Regenjacke und schützte seinen Kopf mit dem wenigen Haar durch eine Baskenmütze vor dem Regen. Beim Gehen sah er aus wie ein zu großer Zwerg in der Kleidung eines Erwachsenen. Mit bösen Blicken schaute er sich um. Er bewegte den fleischigen Mund, ohne zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, daß er es auf mich abgesehen hatte. Dennoch konnte ich mir das Grinsen über seinen Auftritt nicht verkneifen. Vor uns blieb er stehen. Er fixierte mich. »Was grinst du so, verdammt?« »Ich freue mich.« Baresi wußte nicht, ob er sich auf den Arm genommen fühlen sollte oder nicht. Sicherheitshalber gab er eine leicht drohend klingende Antwort. »Die Freude wird dir gleich vergehen, das kann ich dir versprechen. Die Zeit der Faulen ist vorbei!« »Probleme, Chef?« erkundigte sich Tom. »Warum?« Mein Kollege hob die Schultern. »Keine Ahnung, aber ich denke schon, daß es welche gibt. Sonst haben wir schon immer ziemlich früh angefangen, heute sieht es eher nach Urlaub aus.« Baresi schnappte nach Luft. Er konnte das Wort kaum fassen. »Urlaub?« jaulte er. »Ja, Chef, Sie teilen die Arbeit immer ein.« »Das wird auch noch geschehen.« Ich wollte ihn provozieren, denn er konzentrierte sich bereits auf unseren Job, schaute an uns vorbei auf die Plattform des Skooters und wollte uns etwas sagen. »Da steht ein Wagen, Chef!« Der Satz brachte ihn aus dem Konzept. »Was meinst du damit?« »Ein deutscher Wagen, ein Polo. Wem gehört er?«
»Interessiert dich das?« »Ich habe nur gefragt.« »Das hat dich nicht zu interessieren.« »Schon gut, Chef.« Er funkelte mich böse an. Andere als ich hätten vielleicht zur Seite geschaut, der Typ war ich nicht. Ich hielt seinem Blick stand und sah, daß sich noch etwas anderes in den Pupillen des Mannes ausgebreitet hatte. Ein tiefes Mißtrauen, ein Lauern. Ich konnte mir vorstellen, daß ihn meine Frage nach dem fremden Wagen aus seiner relativen Ruhe aufgeschreckt hatte. »Ich kenne den Polo auch nicht«, stand mir Tom bei. Baresi suchte nach einer Ausrede. Er quälte sich. Schließlich hatte er sie gefunden. »Ja, ich habe Besuch bekommen. Es ist eine private Sache. Verstanden?« Tom hob die Hand. »Geht klar, Chef.« »Und ihr könnt anfangen.« »Hier?« »Nein, am Karussell. Ihr werdet die Figuren abbauen, sie unterstellen und überholen. Reinigen, neu lackieren, falls nötig, und damit werdet ihr euch in der nächsten Zukunft beschäftigen, die auch länger dauern kann.« »Wird mal wieder Zeit, nicht?« »Ja, du kennst das, Tom.« Wir standen auf. Baresi ging einen Schritt zurück. Es gefiel ihm nicht, daß wir ihn überragten. Er wandte sich schnell ab und lief stampfend vor uns her. Tom griente in seinen Bart hinein. »Mich mag er nicht besonders, dich schon gar nicht.« »Wen mag er denn?« »Lizzy.« »Wer ist das denn?« »Lizzy Lamotte. Toller Typ, ein heißer Ofen, hätte man früher gesagt. Sie ist der Schuß hier überhaupt. Sie ist Artistin, eine kleine Attraktion. Der Chef und sie sind eng verbandelt.« »Sehr eng?« »Keine Ahnung, ob er sie bumst. Ist eher anzunehmen, obwohl Lizzy unzählige Männer verrückt machen kann.« »Die hätte ich gern gesehen.« Er stieß mir die Faust leicht gegen den Arm. »Laß nur die Finger von ihr. Du wirst sie dir verbrennen, das sage ich dir. Sie ist… sie ist eine gefährliche Frau.« »Tatsächlich?« »Ja, Madame Bovary sagt, daß sie etwas von einer Hexe an sich hätte. Das glaube ich schon.« »Okay, er oder sie muß es wissen.«
Wir hatten das Karussell erreicht, kletterten auf die runde Plattform und gingen durch bis zu dem eingebauten Kassenhäuschen in der Mitte. Es war eng, nur einer paßte hinein, und es war Tom, der sich durch die Tür quetschte. Ich wartete auf ihn, schaute mich um, sah nicht nur die Pferde, Kühe, Wagen und drehbaren Tonnen, sondern auch die grelle Bemalung, deren Motive den fünfziger Jahren nachempfunden waren. Jedenfalls sahen die Gesichter so aus. Ich trat zurück, als Tom kam. Er hatte Werkzeug geholt. In einer Tasche und einer Kiste war es verpackt. Bohrmaschinen, Schraubenschlüssel, Hämmer, Zangen und vieles mehr. »Ich hoffe, daß du damit etwas anfangen kannst und dich nicht so blöd anstellst. Wie schon gesagt, bei der Arbeit kenne ich keine Verwandten und Freunde.« Er räusperte sich. »He, Sinclair, du Hundesohn, du hörst mir ja gar nicht zu.« Das stimmte, ich hatte nicht auf ihn geachtet und war an den Rand der Plattform getreten, um einen Wagen zu beobachten, der auf den Platz rollte. Es war ein dunkler BMW, und ich wußte, daß ich Unterstützung bekommen hatte… *** Suko war schon ziemlich früh gefahren und hatte sich durch das miese Wetter gekämpft. Dem dichten Londoner Morgenverkehr war er entwischt, später hatte er zwar auch nicht sehr schnell fahren können, war aber nicht in irgendwelchen Staus steckengeblieben und hatte sich bis zu seinem Ziel durchgekämpft. Es gab keinen direkten Weg, der bei den abgestellten Wagen endete, und so lenkte Suko seinen BMW mitten auf den Platz. Er stieg aus. Schwungvoll warf er die Tür ins Schloß, schaute sich um und hatte sehr bald seinen Freund John Sinclair entdeckt, der auf dem runden Kinderkarussell ziemlich verloren wirkte, als hätte man ihn dort abgestellt und vergessen. Suko sah das Werkzeug, das zwischen John und einem bärtigen Riesen stand. Da hatte man ihm direkt Arbeit gegeben. Der Inspektor entschloß sich, seinen Freund ein wenig zu ärgern. Er stiefelte über den nassen Rasen auf das Karussell zu und bekam mit, daß John noch nicht das große Sagen hatte, denn der Bärtige schob ihn zur Seite und blieb mit den in den Hüften gestemmten Armen stehen. Auch Suko stoppte. »Sie sind nicht der Chef hier, wie ich annehmen darf?« »Nein.« »Sie denn?«
»Auch nicht«, antwortete John und stellte eine Frage, wobei er ebenso leicht grinste wie Suko. »Suchen Sie Arbeit? Wollen Sie vielleicht Mistkäfer dressieren oder Kellerasseln?« »Das nicht, Mann. Ich bin von der Polizei. Also – wo finde ich den Direktor?« »Er hat den größten Wagen«, antwortete Tom und schnitt eine bedeutungsvolle Fratze. »Danke.« Suko drehte sich grinsend um. Er hoffte, daß Tom nichts bemerkt hatte. Lange brauchte er nicht zu suchen. Der größte Wohnwagen stach ihm ins Auge. Er war weiß lackiert und mit roten Streifen versehen, über denen der Name des Unternehmens gepinselt worden war. Vor dem Wagen stand ein kleiner Mann und lamentierte über das Wetter. Er sprach mit zwei jungen, dunkelhaarigen Frauen, die gertenschlank waren und sich wegen der Kälte Ponchos über die Schultern gehängt hatten. Darunter trugen sie Trikots. »Wir werden das kleine Zelt noch nicht aufbauen. Ich will nicht auch noch den Rasen abdecken. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir werden die Wetterlage abwarten, dann könnt ihr die neue Nummer einstudieren. Ansonsten macht euch anders nützlich.« Die beiden Mädchen zogen ab. Sie wirkten ziemlich frustriert. Eine streckte dem Direktor die Zunge raus, was dieser allerdings nicht sah, denn Suko hatte sich geräuspert, und der Mann drehte sich auf der Stelle, um ihn anzuschauen. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Suko.« »Kann ich auch nichts dafür. Was wollen Sie?« »Einige Fragen stellen.« Das Gesicht des Direktors verdüsterte sich. »Ich hasse Fragensteller und kann Ihnen schon jetzt sagen, daß Sie von mir keine Antworten bekommen werden.« »Dann müßte ich Sie vorladen.« Tonio Baresi war kein Dummkopf. Das letzte Wort hatte sich verdammt amtlich angehört. Er räusperte sich, zog die Augenbrauen zusammen und fragte: »Was soll das bedeuten?« »Polizei.« »Habe ich nichts mit zu tun.« »Doch, sogar mit Scotland Yard.« Baresi schwieg. Er bekam zwar keine Gänsehaut, ihm wurde nur etwas komisch. In seinen Augen flackerte Mißtrauen auf. »Ich wüßte nicht, was ich mit Scotland Yard zu tun hätte…« »Das wird sich herausstellen.« Suko spürte, wie ein Tropfen an seinem Rücken entlangrann. »Es geht um die beiden Vermißten, wenn Sie sich erinnern.« »Das ist erledigt.«
»Für uns nicht.« Baresi merkte, daß er so nicht weiterkam. Fr hob die Schultern, drehte sich um und bekam mit, daß ihn einige Leute schon jetzt beobachteten. Das paßte ihm nicht. »Kommen Sie in meinen Wagen. Da ist es auch trockener, Mister. Wie heißen Sie eigentlich?« »Inspektor Suko.« Baresi bekam auch den Ausweis zu sehen. Er war erst jetzt zufrieden, stand aber unter Druck, denn er riß mit einer wütenden Bewegung die Tür auf. Suko folgte ihm auf den Fuß, stieg die kleine Metalltreppe hoch und betrat den langgestreckten Wagen, in dem der Elektroofen eine bullige Wärme verbreitete. Der vordere Teil des Gefährts diente als Büro, der hintere als Wohn- und Schlafraum. Sie blieben im Büro. Als Suko vor einem kleinen Schreibtisch Platz genommen hatte, hörte er Schritte. Aus dem zweiten Teil des Wagens erschien eine braunhaarige junge Frau, die überrascht war, als sie Suko sah. Er stand auf, um sich vorzustellen, aber Baresi war schneller. »Lizzy, der Mann hier ist von der Polizei.« »Ach…« »Es geht um die beiden, die bei uns abgehauen sind.« Sie griff nach einer Regenjacke und zog sie über. »Was haben wir damit zu tun?« »Das weiß ich auch nicht.« Lizzy zog den Reißverschluß hoch. »Ich kann doch gehen, oder?« »Sicher.« Lizzy nickte Suko zu. Ihm war ihr ziemlich blasses Gesicht aufgefallen. Und die Schatten unter ihren Augen deuteten darauf hin, daß sie eine harte Nacht hinter sich hatte. Er sprach erst, als Lizzy den Wagen verlassen hatte. »Ihre Tochter?« »Nein!« Die Antwort klang wütend. Suko grinste innerlich, ließ das Thema und kam auf die beiden Vermißten zu sprechen. »Es muß eine Lösung geben, Mr. Baresi, glauben Sie mir. Und ich…« »Aber nicht hier bei uns«, fiel ihm der Direktor ins Wort. »Ich habe sie beschäftigt, das gebe ich gern zu, dann aber verschwanden sie bei Nacht und Nebel.« »Sie sind nicht mißtrauisch geworden?« Hinter seinem Schreibtisch wirkte Baresi größer. »Nein, bin ich nicht. Wer bei uns arbeitet und wen ich als Hilfskraft anstelle, der bekommt seinen Lohn, wenn er nicht nur fürs Essen schuftet, am Abend ausbezahlt. Er ist gewissermaßen ein Tagelöhner. Da passiert es schon mal, daß Leute keine Lust haben und sich bei Nacht und Nebel absetzen. So ist das Leben.« »Sie scheinen ein netter Chef zu sein.«
Baresi hatte die Ironie nicht überhört. »Was reden Sie denn da! Was heißt netter Chef? Hier geht es um Existenzen, auch ich muß rechnen. Die Großen wollen die Kleinen kaputt machen. Mich haben sie noch nicht am Boden, das verdanke ich auch meiner Führungspolitik. Ich lasse mir das Geld nicht einfach aus den Taschen ziehen. Ich muß sehen, daß ich zurechtkomme, ich muß die Leute auf Trab halten.« »Stimmt. Aber warum sind die beiden verschwunden?« »Keine Ahnung.« »Sie tauchten auch nicht wieder auf.« »Ist nicht mein Problem, Inspektor.« Suko seufzte. »Aber meines, Mr. Baresi. Leider ist es zu meinem Problem geworden, da muß ich schon einiges einsetzen, um den Fall zu klären.« »Was bedeutet das für mich?« »Ganz einfach. Ich werde mit Ihren Leuten reden müssen.« Baresi zeigte seine dritten Zähne. »Das ist verdammt beschissen.« »Warum?« »Sie bringen Unruhe in unser Lager.« »Haben Sie denn etwas zu verbergen?« »Nein, aber warum hier?« »Ich muß irgendwo anfangen.« »Dann gehen Sie mal nach Ash, Inspektor. Dort sind die beiden auch bekannt gewesen. Die haben so manche Nacht gesoffen. In den Kneipen kennt man sie. Einmal kam ein Wirt und wollte eine Rechnung einlösen. Dem habe ich es gegeben.« »Schade.« »Kann man wohl sagen.« Baresi lächelte. »Hier werden Sie nichts finden, Inspektor. Außerdem können Ihnen meine Leute sowieso nichts erzählen. Die beiden waren Einzelgänger. Sie hockten immer zusammen, um die übrige Crew kümmerten sie sich nicht. Folgen Sie meinem Vorschlag und fangen Sie in Ash an.« »Mal sehen.« Suko schob den Stuhl zurück. »Ich weiß, daß es nicht angenehm für Sie ist, wenn sich hier die Polizei in Gestalt eines fragenden Inspektors herumtreibt. Doch ich bin nicht ohne Grund hergekommen.« »Sie wollen Fragen stellen?« »Das hatte ich mir vorgenommen.« Tonio Baresis Gesicht verfinsterte sich. Er sah jetzt aus wie ein wütender Giftzwerg. »Gut, ich kann Sie nicht daran hindern, das weiß ich selbst. Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber es ist die reinste Zeitverschwendung.« »Mal sehen.« »Ich werde bei Ihnen bleiben.«
Suko hob beide Hände. »Um Himmels willen, nein, das ist nicht nötig. Sie können sich Ihrer Arbeit widmen. Ich denke, daß Sie damit genug zu tun haben.« »Sie wollen mich wohl loswerden.« »Das auch.« Baresi schaute Suko an, als wollte er ihn fressen. Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf und fluchte hinter dem Inspektor her, als dieser den Wohnwagen verließ. *** Ich hatte das Holzpferd aus der Verankerung gelöst und kippte es vorsichtig zur Seite. Dort konnte es bis zu seinem Abtransport liegenbleiben. Noch immer wunderte ich mich über das Gewicht des Pferdes. Es bestand wohl aus massivem Holz. »Das sind ja Hindernisse, die bei der Arbeit stören«, beschwerte ich mich bei Tom. Der rieb über seine Nase und streifte die Hand am Stoff der Hose ab. »Hast recht, Sinclair, deshalb werde ich jetzt eine Sackkarre holen. Damit schaffen wir sie weg.« »Gut. Ich kann dann mal für kleine Mädchen gehen. Der Kaffee drückt mir auf die Blase.« »Bleib nicht zu lange.« »Keine Sorge.« Tom ging noch nicht. Er blieb am Rand der Plattform stehen und schüttelte den Kopf. »Hast du was?« Er deutete auf Sukos BMW. »Ein schicker Wagen.« »Klar, möchte ich auch schon haben. Aber das ist nicht dein Problem, denke ich.« »Stimmt, es ist der Fahrer.« »Dieser Inspektor?« Ich lachte. »Ich habe keine Angst vor den Bullen«, denke ich. »Ich auch nicht«, murmelte Tom. »Ich frage mich nur, was er hier will, zum Teufel?« »Mit Baresi reden.« »Weiß ich auch.« »Kennst du den Grund?« Tom schüttelte den Kopf. »Ist auch nicht mein Problem«, gab er zu und sprang von der Plattform auf den Boden. Er stampfte gebeugt über den nassen Rasen, die Hände in den Taschen vergraben. Mir tat schon jetzt von der ungewohnten Arbeit der Rücken weh. Deshalb war ich nicht hergekommen. Ich wollte einen Fall aufklären. In der letzten Nacht schon hatte ich die Chance gehabt, sie aber nicht nutzen können.
Durch meinen Kopf spukte noch immer die Leichenuhr. Ich war davon überzeugt, sie hierzu finden. Nicht im Freien, sondern versteckt in einem der Wagen oder auch Bauten. Dieses Kuriositätenkabinett wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich war auch jetzt noch davon überzeugt, in der Nacht einen Schrei gehört zu haben, und ich mußte dieser Sache auf den Grund gehen. Dazu konnte sich möglicherweise jetzt die Gelegenheit bieten, denn Sukos Anwesenheit lenkte die anderen von den eigentlichen Problemen ab. Zudem gab mir das Vorhandensein des Polos noch gewisse Rätsel auf. Ich fragte mich, wem er wohl gehörte. Wohl keinem der hier Beschäftigten, eher einem Fremden. Ich stiefelte nicht quer über den Platz, sondern nutzte zunächst die Deckungen einiger Wagen aus. Sie erlaubten es mir auch, von keinem anderen gesehen zu werden. Zudem war das Wetter nicht dazu angetan, sich im Freien aufzuhalten. Noch immer regnete das Wasser als Sprüh vom Himmel. Da blieb man lieber im Trockenen. Alles war feucht und naß. Auf dem weichen Boden waren meine Schritte so gut wie nicht zu hören, und ich arbeitete immer darauf, daß ich in Deckung blieb. Erst in Höhe des etwas versteckt abgestellten Autos verließ ich den Wald wieder. Die normale Welt und damit auch der kleine Zirkus schien meilenweit zurückgeblieben zu sein. Hier umgab mich eine bedrückende Stille. Nicht einmal ein Vogel sang. Ich hörte nur das Aufschlagen der von den Zweigen und Ästen fallenden Tropfen. Der Wagen sah aus, als wäre er in feuchte Tücher eingewickelt worden. Die Nässe hatte sich auf ihm verteilt, perlte allerdings nicht ab, was auf einen nicht eben guten Zustand des Lacks schließen ließ, doch das war mir persönlich egal. Für mich gab es andere Dinge zu tun. Ich wollte ihn mir genau ansehen. Vielleicht entdeckte ich jetzt – hier im Hellen – einen Hinweis auf den Besitzer. Ich schlich um das Fahrzeug wie ein Dieb, der erst sicher sein wollte, daß man ihn nicht beobachtete. Da die Scheiben nicht getönt waren, konnte ich ohne Schwierigkeiten in das Innere schauen, trotz der Tropfen, die außen am Glas ihre Muster hinterlassen hatten. Die Jacke sah ich noch, mehr auch nicht. Er war verschlossen, wie ich schon längst festgestellt hatte, und ich versuchte es noch einmal an der Heckklappe, wo sich auch nichts rührte. Allerdings fiel mir etwas anderes auf, und zwar der Geruch, der so gar nicht in diesen frischen Regenmorgen passen wollte. Er war irgendwie anders, kaum zu erklären, dumpfer, bedrückender. Ich war irritiert. Was roch so?
Bekannt war er mir schon vorgekommen, und ich schnüffelte weiter. Dabei beugte ich meinen Oberkörper der Heckklappe entgegen, denn dort mußte sich die Quelle des Geruchs befinden. Da hatte ich es! Moder… Ich richtete mich wieder auf, überlegte und strich über das nasse Haar. Moder war auch nicht der richtige Ausdruck. Ich dachte an einen Toten. Ja, Leichen rochen so. Ich dachte an das Werkzeug, das am Karussell lag. Gern hätte ich es gehabt, um den Kofferraum aufzubrechen, denn er Leichengeruch verflog nicht, er hielt sich, und so glaubte ich auch nicht an eine Täuschung. Werkzeug holen und… Da hörte ich das Räuspern! Ich fuhr herum und staunte. Vor mir stand eine junge Frau! *** Ich hatte sie schon mal gesehen, ich wußte auch, daß sie Lizzy hieß und daß sie in der besonderen Gunst des Direktors Baresi stand, wie mir Tom versichert hatte. Ihr durfte sich kein anderer Mann offen nähern, sonst spritzte Baresi Gift und Galle. Sie trug einen hellen Regenmantel und hatte die Kapuze über ihr braunes Haar gestreift. Sie schien das Lager verlassen zu wollen. »Guten Morgen«, sagte ich ein wenig aufdringlich. Die Frau schaute mich nur an. Den Gruß erwiderte sie nicht, statt dessen stellte sie mir eine Frage: »Wer sind Sie?« »Ich arbeite hier.« »Sag mir deinen Namen.« Sie sprach vertraulicher, ohne jedoch vertraut zu wirken. »John Sinclair.« »Gut.« Es klang neutral. »Und wer bist du?« In ihrem Gesicht entstand ein überraschtes Zucken. »Ich heiße Lizzy Lamotte.« »Ein schöner Name.« »Red keinen Unsinn und sag mir lieber, was du hier zu suchen hast.« »Ich bin neu hier«, sagte ich schulterzuckend, »und wollte mich mal ein wenig umschauen.« »Du bist Handlanger?« »So kann man es sehen.« »Dann solltest du arbeiten, verdammt.« »Nein oder ja. Ich habe gearbeitet.« Zum Glück war mir Suko eingefallen. »Aber da war dieser Polizist, der seine Untersuchungen
durchführen will. Er hat mich davon abgehalten, die anderen auch. Wir sollen in der Nähe bleiben, falls er noch Fragen hat.« Lizzy kam einen Schritt näher. Sie war jetzt gespannt, hatte sogar die Augen leicht verengt. »Hat er irgendwas gesagt?« »Wie meinst du das?« »Wie lange er noch hier auf dem Gelände bleiben will, zum Beispiel.« »Nein.« »Und worum geht es?« »Um Vermißte, denke ich.« Sie runzelte die Stirn und gab sich erstaunt. »Du hast da in der Mehrzahl gesprochen?« »Ja, das sagte er.« »Kennst du die Zahl der Vermißten, von denen dieser Bulle sprach?« Mit dieser Frage war sie mir praktisch ins Messer gelaufen. Ich stand noch immer in der Nähe des Polos und dachte auch an den Leichengeruch. Um zwei Personen ging es, nun aber war möglicherweise noch eine weitere hinzugekommen. Bisher hatte ich keinen Beweis, aber ich würde einfach so tun, als wüßte der Polizist schon Bescheid. Lizzy zeigte Ungeduld. »Was ist? Kannst oder willst du nicht reden?« »Nun ja, ich weiß nicht…« »Was weißt du nicht?« Ich spielte weiterhin den Dummen. »Es ist so, der Bulle hat gesagt, daß niemand mit einem anderen über die Fragen und Antworten sprechen soll.« Lizzy Lamotte lachte leise. »Daran wird sich wohl keiner halten, aber bitte, wie du willst. Du solltest nur bedenken, daß ich zu denjenigen Personen hier auf dem Gelände gehöre, die viel Einfluß haben. Das könnte sich auch für dich bezahlt machen, ich werde bestimmt nicht undankbar sein.« Ich stellte mich noch immer etwas unterbelichtet an. »Wie… wie soll ich das denn verstehen?« »Eine Hand wäscht die andere. Wenn ich bei Baresi ein gutes Wort für dich einlege, könntest du möglicherweise bei uns bleiben. Ist doch nicht unübel – oder? Im nächsten Jahr geht es rüber nach Irland. Wird ein toller Sommer dort.« Ich strahlte sie an und tat dabei ungläubig. »Das… das würdest du wirklich tun?« »Klar. Vorausgesetzt, du vertraust mir auch und erzählst mir, was der Bulle will.« Ich setzte eine Verschwörermiene auf. »Aber es bleibt unter uns, das mußt du mir versprechen, Lizzy.« »Hältst du mich für eine Quatschtante?« »Nein, das nicht, aber…«
»Komm, John Sinclair. Stell dich nicht so an und rede drei bis vier Takte.« »Ja«, murmelte ich. »Der… der Bulle sucht drei Personen, die verschwunden sind.« Lizzy schrak zusammen und verlor zum erstenmal die Kontrolle über sich. Ihre Haltung veränderte sich, und ich hörte ihr leises Stöhnen. »Das darf doch nicht wahr sein«, hauchte sie. »Was denn?« »Drei Personen.« Ich nickte ihr zu. »Hat er gesagt, das kannst du mir glauben.« »Natürlich glaube ich dir.« Sie hob die Schultern. »Von zwei Vermißten weiß ich ja, aber der dritte…« Den Rest ließ sie unausgesprochen und wartete auf meine Reaktion, die auch nicht lange auf sich warten ließ. »Viel weiß ich auch nicht, aber meine Nase hat so einen komischen Gestank registriert.« Auf einmal lag Eis in ihren Augen. »Einen komischen Geruch, sagst du?« Selbst ihre Stimme hatte sich verändert. Sie klang wesentlich lauernder und schärfer. »Klar, und zwar hier.« Ich deutete auf den Wagen. Sie schaute ebenfalls hin, dann lachte Lizzy auf. »Ach so, den meinst du. Wenn es nicht mehr ist…« »Aber er stinkt.« »Er riecht. Es ist übrigens mein Fahrzeug, und ich benutze es nicht nur zu irgendwelchen Vergnügungsfahrten. Ich transportiere hin und wieder etwas darin, was nicht so ganz astrein riecht. Deshalb auch dieser seltsame Geruch.« »Was denn?« »Ist doch egal.« Ich spielte weiterhin den Naiven, setzte aber trotzdem noch einen drauf. »Für mich roch es nach Leiche.« Dabei nickte ich bestätigend. »Ja, es roch nach einem Toten. Nach verwestem Fleisch.« Die Frau schwieg. Nicht sehr lange, dann hatte sie sich wieder gefangen. »Und das hast du genau herausgefunden, John? Darin bist du Spezialist, nehme ich mal an.« »Stimmt.« »Darf ich fragen, wie es kommt und wo du dir diese Fähigkeiten angeeignet hast?« Ich hatte längst eine Antwort parat. »Auf dem Friedhof, Lizzy. Ich habe mal für eine Weile auf dem Friedhof gearbeitet. Ist zwar schon länger her, aber einen derartigen Geruch vergißt man nicht.« Ich schlug auf die Heckklappe. »Du kannst sagen, was du willst, Lizzy, hier riecht es irgendwie nach Leiche.« Bei meinem Schlag war sie zusammengezuckt, hielt sich ansonsten aber ziemlich gut. Sie hatte auch schon einen Ausweg gefunden und
wechselte das Thema. »Hier ist es mir zu kalt. In meinem Wagen steht der Kaffee. Er ist noch frisch.« »Wie schön für dich«, sagte ich, »dann werde ich auch wieder an meine Arbeit zurückgehen, bevor es Ärger gibt.« »Das glaube ich nicht. Solange sich der Bulle hier aufhält, ist der betriebliche Ablauf gestört.« Sie lächelte mich an. »Wie wäre es denn, wenn wir den Kaffee gemeinsam trinken, John?« Ich holte scharf Luft. »Bei dir?« »Wo sonst?« Ich strich über das nasse Haar. »Ja, das wäre ein Ding«, murmelte ich. »Trotzdem weiß ich nicht, ob…« Sie kam auf mich zu, umfaßte meine Schulter und zog mich in ihre Richtung. »Alles andere laß mal meine Sorge sein. Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich mit dem Direktor sehr gut verstehe. Er wird dir schon keine Steine in den Weg legen, John.« Das glaubte ich auch. Nur dachte ich anders darüber. Die Einladung war nur insofern ehrlich gemeint, als daß ich sie als Falle für mich ansah. Diese Person wollte mich unter Kontrolle haben, um dann so schnell wie möglich zuschlagen zu können. Ich hatte etwas entdeckt, was nicht entdeckt werden sollte, und deshalb sollte ich einfach aus dem Verkehr gezogen werden. Das war eine Logik, die ich gut nachvollziehen konnte. Ich tat so, als wäre ich von dem Vorschlag begeistert, und so ließ ich mich willig wegführen. Ihr Wagen stand zwar nicht einsam, aber doch räumlich relativ weit entfernt von den anderen Unterkünften. Dafür war er der einzige Wagen, der seinen Platz in unmittelbarer Nähe des Kuriositätenkabinetts gefunden hatte, was mir persönlich ein wenig zu denken gab. Dafür mußte es einen Grund geben. Lizzy Lamotte merkte, daß ich mit den Blicken die große Bude abtastete. Sie wollte wissen, was ich an diesem Kasten so interessant fand. »Weiß nicht.« »Das ist keine Antwort.« »Ich würde ihn mir gern mal von innen ansehen. Der muß doch toll sein, denke ich. Kuriositäten, da bekommt der Besucher bestimmt Dinge zu sehen, bei deren Anblick sich ihm die Haare sträuben.« »Das kann durchaus sein.« »Hast du denn damit zu tun?« »Nein, das ist nicht meine Sache.« Lizzy blieb mit mir vor ihrem Wagen stehen. »Ich verspreche dir, daß du dir dieses Kabinett mal von innen ansehen darfst.« »Toll. Und wann?« »So bald wie möglich«, murmelte sie und holte einen schmalen Schlüssel aus der Tasche, den sie in das Schloß steckte, zweimal drehte, um die Tür aufziehen zu können.
Mir schlug eine dumpfe Wärme entgegen, zusammen mit einem Halbdunkel, das die Einrichtungsgegenstände des Wagens in sich hineinschlingen wollte. Ich gab mir den Anschein, mich unwohl zu fühlen und spürte sehr bald den Druck der Hand in meinem Rücken. »Du kannst ruhig hineingehen, John. Es ist niemand da, der dich beißen wird.« »Das glaube ich.« »Dann los!« Ich stieg die Stufen hoch und betrat den relativ schmalen Wagen, der jedoch für eine Person ausreichend Platz bot. Ich mußte den Kopf einziehen, konzentrierte mich auf die schmale Sitzbank und ließ mich dort nieder. Schräg gegenüber befand sich die Kochgelegenheit mit den beiden Platten und eine Kaffeemaschine stand daneben. Der Wagen war an den Stromkreislauf eines Generators angeschlossen worden. Die Wärme stammte von einem Strahler. Wie ein übergroßes Auge war er unter der Decke angebracht worden. »Zieh deine Jacke ruhig aus, mir ist es auch zu warm«, sagte Lizzy und zerrte den Vorhang zurück. Dahinter befand sich das kleine Schlafzimmer. Ihr reichten ein Bett und die schmalen Einbauschränke durchaus. »Ich bin gleich wieder zurück, John. Du kannst ja mittlerweile den Tisch decken.« »Mach’ ich.« Die Tassen hatte ich schon entdeckt. Sie standen, zusammen mit anderem Geschirr, auf einem kleinen Bord über der Spüle. Ich holte sie an den Tisch und stellte die Kaffeekanne drauf. Meine Zigaretten legte ich daneben. Die Jacke hatte ich ausgezogen. Den Pullover zerrte ich nach unten, damit er die Beretta verdeckte. Lizzy Lamotte kehrte zurück. Ich hörte das Rascheln des Vorhangs, schaute hin – und bekam erst mal große Augen… Sie lächelte, als sie mich unbeweglich sitzen sah. »Ist was?« fragte sie schließlich. Ich nickte. »Und ob.« »Wieso?« »Ich… also ich dachte, daß du dich umziehen wolltest.« »Habe ich doch, weil es hier so warm ist.« Sie trug hautenge, bunte Leggins mit dem grellen Pucci-Muster. Über ihren Körper hatte sie ein duftes Oberteil gezogen, das leicht durchsichtig war. Bei Gegenlicht ein netter Anblick. Lizzy kam lächelnd näher und setzte sich im rechten Winkel zu mir auf einen Stuhl an der Schmalseite des Tischs. Für uns beide schenkte sie den Kaffee ein. Ich schaute ihr zu, war rot geworden und gab meinen Fingern ein leichtes Zittern. Sie sollte mich noch immer für den leichten Tölpel halten. Lizzy schenkte Kaffee ein. »Nimmst du Zucker oder Milch?«
»Schwarz.« »Gut, ich auch.« Sie freute sich. »Da haben wir ja schon wieder etwas gemeinsam.« Lizzy hob die Tasse an und prostete mir zu. »Auf eine gute Zeit für dich.« »Ja, danke.« Auch ich trank die heiße Brühe, die mir beinahe die Lippen verbrannte. Lizzy stöhnte auf und lehnte sich zurück. »Es ist schon etwas Besonderes, wenn man an einem Morgen dasitzt und Kaffee trinkt, obwohl man eigentlich arbeiten müßte. Aber das haben wir einzig und allein dem Bullen zu verdanken. Ich denke, daß wir auf ihn anstoßen sollten.« »Ja.« »Aber nicht mit Kaffee.« »Womit dann?« »Laß dich überraschen.« Flugs stand sie auf, während ich demonstrativ auf ihren wippenden Busen starrte. Lizzy verschwand wieder hinter dem Vorhang. Sie ließ mich ziemlich nachdenklich zurück. Ich rechnete ja mit einer Falle oder einer Überrumpelung und war gespannt, welche Pläne sie noch verfolgte. Sie kehrte zurück und lachte. Dabei hielt sie eine Flasche fest, in der eine klare Flüssigkeit schwappte. »Ein Selbstgebrannter, gerade richtig für unseren Freund, den Polizisten. Findest du nicht auch.« »Na ja…« Ich verzog den Mund. »Am frühen Morgen ist das nicht so mein Fall.« »Darum mußt du nichts geben, John. Am schönsten sind doch die Ausnahmen von der Regel.« Sie drehte den Verschluß auf. Gläser hatte sie auch mitgebracht. Keine kleinen, sie hatten schon die Größe von Zahnputzbechern. Zu einem Drittel schenkte sie die beiden Gläser voll und schob mir eines rüber. Schon jetzt stieg mir der Geruch in die Nase. Ich schnupperte. »Hast du was?« »Im Prinzip nicht. Ich überlege nur, aus welchen Kräutern der gebraut ist.« Sie beugte sich zu mir herunter. Ihr Gesicht war feingeschnitten und wirkte trotzdem irgendwo verzerrt. Um die Augen herum spannte sich die Haut. Auch den Ausdruck in den Pupillen konnte ich kaum deuten. Sie waren nicht richtig dunkel, sie waren auch nicht direkt hell, sondern bestanden aus einem Mischmasch. »Es sind die Kräuter des Waldes, John. Ganz spezielle, von mir persönlich gesammelt.« »Toll.« »Im Volksmund heißen sie Hexenkräuter.«
Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wie verhielt ich mich jetzt richtig? Ich tat zunächst nichts, abgesehen von einem harten Räuspern. Sie lächelte schief. »Ist was, John? Habe ich etwas Falsches zu dir gesagt?« »Riech doch mal dran.« Das tat ich schon die gesamte Zeit über, schließlich stieg mir der Geruch permanent in die Nase. Es roch süßlich und gleichzeitig auch scharf. Dieses Zeug in mich hineinzukippen, würde mich Überwindung kosten. Wer wußte denn, was sie in diesen Trank hineingemixt hatte. Es gab ja auch die sogenannten K.o.-Tropfen. Ich traute dieser Person zu, daß sie mich damit betäuben wollte. »Was ist denn, John?« Ich hob den Kopf. Das Glas stand auf dem Tisch, umklammert von meiner Hand. »Ich möchte ja keine Ansprüche stellen, was mir auch nicht zusteht. Ich will auch nichts sagen, aber ein ehrlicher Whisky wäre mir schon lieber.« Sie lächelte. »Mir auch.« »Hast du keinen?« »Leider nein«, sagte sie. »Ich habe nur diesen Hexenschnaps.« Plötzlich lachte sie, und einen Augenblick später wurde alles anders. Etwas wirbelte auf mich zu. Aus so geringer Entfernung geschleudert, daß ich den Kopf nicht zur Seite drehen konnte. Der Schnaps traf mein Gesicht. Und er erwischte meine Augen! *** Er brannte wie eine scharfe Säure. Er machte mich blind. Ich schrie zwar nicht, stöhnte aber auf und merkte, daß ich durch den Schnaps blind geworden war. Mit einer Geste der Verzweiflung riß ich die Hände hoch, den Schutz brauchte ich nicht mehr, denn Lizzy Lamotte kippte mir keine zweite Ladung ins Gesicht. Dafür klatschte ihre Hand gegen meinen Hals. Ich wurde so hart getroffen, daß mir die Luft wegblieb und ich zurückfiel. Sie stützte mich ab. Durch den schrägen Aufprall aber rutschte ich nach links weg und kippte gleichzeitig auf den Rücken. Ich war blind geworden. Die Vorgänge in meiner unmittelbaren Umgebung bekam ich optisch nicht mehr mit, ich mußte mich da schon an die entsprechenden Geräusche halten und lauschte den hastigen Schritten der jungen Frau. Automatisch hatte ich die Hände hochgerissen, schnappte noch immer nach Luft und versuchte zugleich, mir das Zeug aus den Augen zu wischen, was eigentlich Unsinn war, denn es war besser, wenn die
Tränen es herausspülten, so verteilte ich es nur noch mehr. Wer aber behielt in einer derartigen Lage schon den Überblick? Ich mußte mich zurechtfinden, bevor sie wieder zurückkehrte. Zumindest etwas sehen, wenn ich meine Beretta zog und Lizzy damit in Schach hielt. Sie kam wieder. Laut klangen ihre Tritte. Sie flüsterte auch etwas, das ich nicht verstand. Tränen spülten die ersten Reste der fremden Flüssigkeit aus meinen Augen. Zwar konnte ich noch immer nichts richtig erkennen, aber das Dunkel wich einem Grauschleier, der sich wie ein Vorhang ausgebreitet hatte. Dazwischen bewegte sich eine Gestalt. Es war Lizzy, die mit einem heftigen Ruck den Tisch zur Seite schob, der nicht am Boden befestigt war. Jetzt hatte sie Platz. »Du verdammter Hund! Du Lügner! Leichengeruch, hast du gesagt! Das stimmt. Du hast recht, aber es wird dir nichts mehr nutzen, denn du wirst die nächste Leiche sein! Ich lasse mich nicht reinlegen. Spielst hier den Blöden, schleichst dich als Handlanger ein, aber das ist vorbei.« Hoffentlich redete sie noch länger, um so mehr klarte mein Blickfeld auf. Sie tat mir den Gefallen nicht. Ich konnte sie bereits erkennen, sie stand vor mir und bewegte sich. Das heißt, nur an einer Seite, denn etwas raste auf mich herab. Es war ein Schatten, der leider keiner mehr blieb, als er an meinem Kopf explodierte. Da hatte sich der Schatten in einen harten Gegenstand verwandelt, der mich in die tiefe Bewußtlosigkeit hineinriß. Ich fiel in das Loch! *** Obwohl Suko sich ärgerte, ließ er sich nichts anmerken. Er saß in Baresis Wagen, hatte die Leute einzeln antreten lassen und ihnen die entsprechenden Fragen gestellt. Von keinem hatte er eine Aussage erhalten, die ihn weitergebracht hätte. Niemand wußte etwas oder wollte etwas wissen. Man hob nur die Schultern. Das ärgerte den Inspektor. Er kam sich verschaukelt vor, und Baresis Grinsen, der den Verhören des Inspektors doch zuhörte, wurde immer hämischer. Als drittletzte Person hatte sich Suko Madame Bovary vorgenommen. Die Dame hatte auch nichts gewußt und verschwand schließlich mit wütenden Schritten und spitzen Bemerkungen, wobei sie ihre beiden schneeweißen Pudel unter die Arme geklemmt hatte. »Bis auf zwei waren das alle«, stellte Suko fest und schaute Baresi dabei an.
Der hockte auf einem Stuhl und nuckelte an seiner Zigarre. Sein Gesicht war hinter den Rauchwolken verschwunden und sah aus, als würde es zerfließen. »Meine beiden Handlanger.« »Wie heißen Sie?« »Der eine heißt Tom.« »Und der andere?« »John!« »Haben die beiden auch Nachnamen?« Baresi puffte wieder und schuf einen erneuten Rauchvorhang. »Tom heißt noch Packard. Bei dem anderen muß ich nachdenken, der Knabe ist erst seit gestern bei uns.« »Tun Sie das.« »Er heißt Sinclair.« »Aha. Und er ist erst seit gestern bei Ihnen?« »Das sagte ich schon. Deshalb wird er Ihnen kaum etwas über die Vermißten sagen können.« Suko lächelte. »Ich möchte ihn trotzdem sprechen.« »Können Sie, Inspektor, können Sie. Wir haben hier nichts zu verbergen.« Daß es noch eine Frau namens Lizzy gab, das hatte Baresi Suko wohlweislich verschwiegen. »Dann lassen Sie die beiden Handlanger herholen, Mr. Baresi.« »Was ist denn, wenn sie auch nichts wissen?« »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es ist auch mein Problem, nicht das Ihre.« »Man kann ja mal fragen.« Baresi erhob sich. Wütend ging er zur Tür und zerrte sie auf. Die feuchtkalte Luft strömte in den Wagen und vermischte sich mit dem Qualm der Zigarre. Zu rufen brauchte der Direktor nicht, denn Tom Packard hatte sich ausrechnen können, wann er an der Reihe war. Er hatte schon gewartet. »Komm rein, Tom.« Der >Bär< nickte. Mit schaukelnden Bewegungen stampfte er in den Wagen, knetete seine Hände und zeigte so, daß er sich unwohl fühlte. Suko bot ihm einen Platz an. Packard ließ sich vorsichtig auf dem Stuhl nieder und legte seine Hände auf die Oberschenkel. Er fühlte sich unwohl, das war bei den meisten der Fall gewesen und störte Suko nicht. Erst als sich Baresi ebenfalls gesetzt hatte, stellte er die erste Frage. »Sie heißen?« »Tom Packard.« »In welcher Funktion sind Sie hier angestellt?« Tom schaute auf den Direktor und schwieg. Baresi gab für ihn die Antwort. »Er ist so etwas wie ein freier Mitarbeiter. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt. Es steht in
keinem festen Arbeitsverhältnis. Ich setze ihn für Handlangerdienste und einfache Reparaturarbeiten ein.« »Stimmt das, Mr. Packard?« »Ist richtig.« Er knetete noch immer seine mächtigen Hände. »Aber über die beiden Verschwundenen weiß ich wirklich nichts. Die waren plötzlich weg, haben ganz überraschend Leine gezogen.« »Können Sie sich vorstellen, daß die beiden nicht mehr leben?« »Hä?« »Daß sie tot sind!« »Warum das denn?« Suko verdrehte die Augen. »Manchmal werden Menschen ermordet, Mr. Packard. Davon sollten selbst Sie gehört und gelesen haben.« Tom grinste schief. »Mit dem Lesen ist das so eine Sache bei mir, aber gehört habe ich von so etwas. Auch gesehen, in der Glotze. Aber die beiden hatten doch nichts. Keine Kohle, keinen Schotter. Da war nichts mit Geld.« »Darum braucht es auch nicht zu gehen«, sagte Suko. Er mußte wieder einmal eine Engelsgeduld aufbringen. »Für mich ist wichtig, ob Sie persönlich etwas gesehen haben, das mich weiterbringt.« »Überhaupt nicht.« »Sie haben doch bestimmt mit Ihnen zusammengearbeitet.« »Das schon.« »Haben Sie sich da nicht unterhalten?« Tom schaute wieder Baresi an, der aber hob nur die Schultern und überließ Tom das Feld. »Schon.« Suko atmete tief durch. »Wunderbar. Können Sie mir auch sagen, worüber Sie gesprochen haben?« Tom schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie nichts sagen?« »Das gehört nicht hierher.« »Vielleicht doch.« Packard schaute zu Boden. »Das waren doch so… also Männergespräche.« Suko schmunzelte. »Verstehe. Die drehten sich wahrscheinlich um ein bestimmtes Thema.« »Klar. Es ging um Frauen.« »Mögen Sie Frauen.« »Aber immer.« »Auch die beiden Kollegen?« Beinahe hätte sich Tom aufgerichtet, denn Suko hatte durch seine Frage genau das richtige Thema angesprochen. »Und ob die Frauen mochten. Die waren unheimlich scharf.« »Auf wen denn?« »Na ja, auf Lizzy.« Aus dem Augenwinkel entdeckte Suko, daß sich Tonio Baresi spannte. Nur für einen winzigen Moment, doch das hatte ihm gereicht. Mit seiner
Frage hatte Suko wohl einen wunden Punkt getroffen. Allerdings ging er darüber hinweg und tat so, als sei nichts gewesen. »Wer ist den Lizzy?« »Die arbeitet hier.« Suko schüttelte den Kopf. »Nein, glaube ich nicht. Ich habe diesen Namen noch nie gehört.« »Ich muß Ihnen da etwas erklären«, sagte Baresi, hob eine Hand und rutschte auf seinem Stuhl vor. »Da bin ich aber gespannt«, murmelte Suko mit samtweicher Stimme. »Ich habe erwartet, daß Sie mit offenen Karten spielen, Mr. Baresi. Und jetzt so etwas.« »Ich habe mit offenen Karten gespielt, aber eine Person, die nicht hier ist, können Sie nicht befragen.« »Sie meinen, sie ist nicht in der Nähe.« »Wann kommt sie zurück?« »Das kann dauern…« »Wann?« »Ich weiß es nicht, verdammt. Ich habe Sie heute früh weggeschickt. Sie muß in London einige Besorgungen für mich machen. Sie wird mit einer Bank verhandeln, ich brauche da einen kleinen Überbrückungskredit, und sie wird auch noch einige Vorbereitungen treffen müssen, die unsere Gastspielreise im nächsten Jahr betreffen. Es wird Zeit, in nicht einmal zwei Monaten ist das alte Jahr vorbei.« »Das weiß ich.« »Zwei Tage wird Lizzy schon brauchen. Erst dann können Sie mit Ihr reden. Wollen Sie solange hier auf sie warten?« Das hatte Suko nicht vor. Er ging allerdings davon aus, daß ihn dieser Baresi belogen hatte. Für ihn stand nicht fest, daß sich die Frau in London aufhielt. Er konnte sie andererseits auch nicht als Verdächtige einstufen, aber sie mußte möglicherweise mehr über die beiden Männer wissen und auch über andere Dinge, die hier passiert waren. Unter Umständen war sie sogar aus dem Weg geschafft worden. Suko schaute Baresi an. Der hob nur die Schultern und meinte, daß er nicht mehr sagen könne. »Es hat mir auch schon gereicht«, erklärte der Inspektor. Baresi muckte auf. »Wie meinen Sie das denn?« »Wie ich es sagte.« Er wandte sich wieder an Tom Packard. »Ich gehe mal davon aus, daß auch Sie Lizzy kennen.« Toms Augen bekamen einen gewissen Glanz. »Und ob ich die Frau kenne. Die ist einfach spitze, aber für unsereins tabu. Wir können sie nur anschauen.« »Die beiden anderen haben das auch getan, oder war da mehr geschehen?« »Was meinen Sie damit?«
»Ist Lizzy von ihnen angemacht worden?« »Nein. Glaube ich nicht.« »Glauben oder wissen Sie es nicht?« Tom zog ein säuerliches Gesicht. »Kann ich mir nicht vorstellen. Alle haben zuviel Angst gehabt. Die hat sich mit solchen wie uns nicht abgegeben. Die hatte andere Chancen…« Suko wollte zum Abschluß kommen und fragte: »Und sonst wissen Sie nichts, Tom?« »Nein, gar nichts.« »Okay, dann bleibt noch einer, wenn Lizzy nicht hier ist. Sagen Sie Mr. Sinclair Bescheid.« Suko hatte es wie nebenbei gesagt, und schrak schon zusammen, als er die Antwort hörte. »Der ist nicht da.« Suko blieb still sitzen. Er legte die Stirn in Falten und zog die Mundwinkel schief. Es wurde kein Lächeln, höchstens ein knappes, leicht spöttisches Grinsen. »Auch nicht da? Ist er mit Lizzy weg?« »Nein, das nicht.« »Sondern?« »Ich habe mit ihm am Karussell gearbeitet, was Sie ja gesehen haben, Inspektor. Sie sind gegangen. John blieb noch und wollte mal austreten.« »Was er auch tat?« »Ja.« »Was passierte dann?« Tom hob die mächtigen Schultern. »Eigentlich nichts. Er ging weg und kam nicht mehr zurück.« »Ach so. Wo befindet sich denn hier die Toilette?« Packard grinste. »Die benutzen wir nur selten. Der wird im Freien gepinkelt haben. Doch er ist noch nicht zurück.« »Das ist komisch.« »Meine ich auch, Inspektor.« Suko drehte sich und schaute den Direktor an. Der hob beide Arme. »Hören Sie, Inspektor, ich habe damit nichts zu tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich bin ebenso überrascht worden wie Sie. Aber ich versichere Ihnen, daß ich mir Sinclair vornehmen werde. Er ist jetzt schon gefeuert.« »Das bringt mich auch nicht weiter.« »Sehe ich ein. Zudem hätte er Ihnen nichts sagen können. Erst seit gestern ist er bei uns, der kennt die beiden Verschwundenen gar nicht.« »Kann ich jetzt gehen?« fragte Tom. »Ja, Mr. Packard. Herzlichen Dank noch!« »Bitte, keine Ursache.« Tom war froh, den Wagen verlassen zu können. Er stürmte beinahe fluchtartig ins Freie. Zurück blieben Suko und Tonio Baresi. Der Direktor hatte zu seiner alten Sicherheit zurückgefunden. Er
lächelte den Inspektor an. »Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir. Ich mache es gern.« »Im Moment nicht.« Baresi stampfte den Zigarrenstummel im Ascher zusammen. »Heißt das, daß Sie uns noch mal beehren werden?« »Korrekt.« »Hm, komisch.« Er streckte seine kurzen Beine aus. Die Stiefel reichten bis zu seinen Kniekehlen. »Darf ich daraus folgen, daß Sie uns hier noch eine Weile erhalten bleiben?« »Nicht unbedingt. Ich werde fahren.« »Eine gute Idee.« »Nach London.« Baresi nickte. »Noch besser.« »Und Sie sind so nett und geben mir die Adresse, wo ich Lizzy finden kann.« Baresi verengte seine Augen. »Ach ja? Was wollen Sie denn von ihr? Lizzy Lamotte hat zu tun und…« »Befragen will ich sie.« »Ist das so wichtig?« »Für mich schon.« Der Direktor bewegte wild seine Hände. »Das ist doch alles Unsinn! Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wo genau sie Lizzy Lamotte finden werden, denn mir ist nicht bekannt, in welchem Hotel sie gebucht hat. Wenn Sie unbedingt mit ihr reden und ihre Zeit vergeuden wollen, dann kommen Sie in zwei Tagen wieder.« Suko schaute ihn an. »Ja, Mr. Baresi, das werde ich auch. Ich werde Ihnen in zwei Tagen wieder einen Besuch abstatten.« Innerlich atmete Baresi auf, zeigte es allerdings nicht nach außen hin. Nur ein knappes Glitzern in seinen Augen gab bekannt, wie zufrieden er mit dem Ergebnis des Gesprächs war. Er schaute zu, wie sich Suko erhob. An der Tür fragte der Inspektor: »Um welche Zeit könnte sie wieder aus London zurück sein?« »Kommen Sie am besten gegen Mittag.« »Danke für den Tip, Mr. Baresi.« Suko zog die Tür auf und verließ den Luxuswagen. Daß Baresi hinter ihm herlächelte, konnte er sich vorstellen, doch am besten lachte noch immer der, der zuletzt lachte. Das wollte er sein. Der Regen hatte aufgehört. Ein kräftiger Wind, der die Wolken vertrieb, hatte ihn abgelöst. In einem hellen Blau lag der Himmel über dem Land. Suko ging zu seinem BMW zurück, natürlich verfolgt von zahlreichen Augenpaaren. Alle waren froh darüber, daß der Inspektor sie verließ. Er stieg in den Wagen, schnallte sich an und startete den Motor. Er wendete und fuhr zurück. Dabei rollte er auch an den Wohnwagen entlang. Er sah die Menschen entweder in den offenen Türen stehen
oder hinter den Fenstern nach draußen schauen. Madame Bovary warf ihm sogar eine Kußhand hinterher. So komisch die Geste auch wirkte, Suko konnte darüber nicht lachen. Zu tief nagten die Sorgen in ihm, besonders die Sorge um John Sinclair… *** Tonio Baresi wartete so lange, bis der schwarze BMW verschwunden war. Erst dann traute er sich vor die Tür. Er kochte innerlich. Bis auf Tom Packard hatten sich all seine Mitarbeiter wunderbar verhalten. Der dumme Kerl, der hätte ihn beinahe um Kopf und Kragen geredet. Zum Glück war ihm bei Lizzy die Ausrede mit London eingefallen. Sollte der Bulle doch zwei Tage in London herumsuchen. Bis dahin hatte er einige Dinge wieder zurechtgerückt. Es war zunächst wichtig, daß er sich um Tom kümmerte. Er war die Archillesferse. Baresi wußte nicht, was Packard dem Bullen alles gesagt hatte. Da war es schon besser, wenn er ihn aus dem Verkehr zog, für immer. Nur mußte er es raffiniert anstellen, denn Packard war bauernschlau, er roch den Braten leicht. Dann war er nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Baresi schloß seine Tür ab. Der Clown wollte noch etwas mit ihm bereden, aber Tonio ließ ihn abfahren. »Nein, nicht jetzt. Ich habe keine Zeit.« »Geht in Ordnung.« Kopfschüttelnd ging der Mann davon. Er mußte sich >ducken<, in seinem Alter nahm ihn kein anderes Unternehmen mehr. Hier bekam er sein Gnadenbrot. In seinen hohen Stiefeln ging Baresi dorthin, wo Tom Packard seinen Arbeitsplatz hatte. Er sah ihn auch auf der Plattform des Karussells, wo er den Job allein ausführte, bei dem ihn Sinclair eigentlich hätte unterstützen sollen. Da Tom der freien Fläche den Rücken zudrehte, hörte er Baresi erst, als sich dieser räusperte. Er erhob sich und drehte sich schwerfällig um. Mit dem Handrücken wischte er noch über seine Lippen und durch das Bartgestrüpp. »Ah, Sie sind es, Chef.« »Ja, ich.« Der Direktor betrat die Plattform. Er schob sich an einem Elefanten vorbei. Neben Tom blieb er stehen und nickte zweimal. Packrad war auf dem falschen Dampfer, als er sagte: »Sorry, Chef, aber Sinclair ist noch nicht wieder aufgetaucht.« »Das dachte ich mir.« »Ich weiß ja auch nicht, warum er abgehauen ist. An mir hat es nicht gelegen. Wir beide haben uns eigentlich ganz gut vertragen. War ein guter Kumpel.« »Das bestreitet keiner.«
Tom hob die Schultern und wußte nicht mehr, was er noch sagen sollte. An seine Aussagen dachte er nicht mehr, aber Baresi brachte das Gespräch wieder in Gang. »Du hast da etwas von Lizzy gesagt.« »Stimmt.« »Magst du sie?« Tom grinste breit. »Da fragen Sie noch, Chef. Ich kenne keinen Mann, der sie nicht mag. Sie ist eine Wucht.« »Weiß ich.« »Klar, Chef, sie ist ja oft bei Ihnen.« Tom wurde rot, weil er zuviel gesagt hatte. Dafür hörte er das meckernde Lachen des Direktors. »Im Prinzip hast du recht. Sie ist eine Wucht, das kann ich nur bestätigen. Aber sie hat auch Wünsche, weil sie eine Frau ist. Verstehst du mich?« »Noch nicht, Chef.« »Dann will ich es dir sagen. Sie möchte sich mal mit anderen Männern unterhalten. Jedenfalls hat sie mir das zu verstehen gegeben, und da habe ich sie natürlich gefragt, was dahintersteckt. Sie gab mir auch eine Antwort. Willst du sie hören, Tom?« »Klar, Chef.« »Lizzy will eine neue Nummer einstudieren und sucht dazu einen neuen Partner.« »Toll.« »Fällt der Penny?« »Nein, noch nicht, aber…« Toms Gesichtszüge froren ein. Dann tippte er mit der rechten Zeigefingerspitze gegen seine Brust. »Soll ich dieser Partner sein?« Baresi genoß die Situation. Er kniff ein Auge zu. »Nun ja, Tom, ich will ehrlich zu dir sein. So genau hat sie das nicht gesagt, aber ich will auch nicht verhehlen, daß dein Name gefallen ist. Das wollte ich dir noch sagen.« Tom konnte es nicht fassen. Er wich so weit zurück, bis er gegen die Tür des Kassenhäuschens stieß. »Chef, Chef.« »Ja, was ist?« »Sie machen doch einen Witz, Chef.« »Nein.« »Lizzy hat mich doch nie angeschaut.« Jetzt zeigte Baresi auf ihn. »Das sagst du, weil du nie so richtig hingeschaut hast. Insgeheim hat sich Lizzy schon für dich interessiert. Ich weiß es. Sie hat es mir schon gesagt. Außerdem machen Frauen das nicht so auffällig.« »Das… das kann sein.« »Deshalb bin ich zu dir gekommen. Wir werden jetzt gemeinsam zu ihr gehen.« Tom holte mit offenem Mund Luft. »Wir…?« lachte er. »Jetzt gleich?«
»Genau.« Er wischte seine Hände an der Hose ab. »Aber Chef, wie sehe ich denn aus?« »Nach Arbeit, mein Junge. Die hat noch niemals geschändet. Laß es gut sein, zudem kennt dich Lizzy so und nicht anders. Du willst ja nicht mit ihr tanzen. Noch nicht…« Tom wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er war völlig von der Rolle. Heute war ein irrer Tag. Da erfüllte sich ein Traum. Lizzy wollte ihn, ausgerechnet ihn! Daß Baresi ihn angelogen hatte, konnte er sich nicht vorstellen. Nein, so etwa tat ein Direktor nicht. »Können wir dann gehen?« »Jetzt schon?« Tonio Baresi schenkte dem einfältigen Tom ein Lächeln. »Sie wartet, mein Junge.« Tom nickte. Er freute sich diebisch, um einen Moment später zusammenzuschrecken. Sein Gesicht verfinsterte sich wieder, und er fuhr seinen Chef an. »Warum belügen Sie mich?« »Ich dich belügen?« »Ja.« »Pardon, aber das mußt du mir erklären.« Packard trat dicht an ihn heran. »Es ist ganz einfach. Sie haben selbst gesagt, daß sich Lizzy in London aufhält. Ich war dabei, ich habe es gehört und…« Er sprach nicht mehr weiter, weil ihn das Lachen des Direktors störte. »Meine Güte, Tom. Du darfst doch nicht alles glauben, was ich einem Bullen erzähle. Natürlich ist Lizzy hier. Ich wollte nur nicht, daß Sie mit diesem komischen Sherlock Holmes redet. Die Bullen dürfen zwar alles essen, aber nicht alles wissen. Capito?« Tom starrte ins Leere. Es dauerte eine Weile, bis er begriffen hatte, dann lachte auch er. »Natürlich, Chef, klar, jetzt habe ich begriffen. Sie wollen nicht, daß die Bullen zuviel erfahren.« »Richtig.« Mit der nächsten Frage bewies Tom Bauernschläue. »Worüber denn nichts, Chef?« »Das ist einzig und allein meine Angelegenheit. Ich rede nicht gern darüber. Mußt du verstehen, aber ich kann dir versichern, daß es nur zu deinem besten ist.« »Verstehe«, murmelte Tom, obwohl er in Wirklichkeit nichts begriffen hatte, das brauchte sein Chef nicht zu wissen. Er wischte noch einmal seine Hände ab und folgte Baresi, der bereits von der Plattform gesprungen war und sich sehr rasch an der Seite des Karussells entlangdrückte, als wollte er nicht gesehen werden. Das stimmte auch, Zeugen konnte er nicht gebrauchen.
Tom Packard nahm alles in Kauf. Man hätte ihn auch in die Hölle führen können, er wäre mitgegangen. Er wollte diese Chance auf keinen Fall auslassen, und er wunderte sich auch nicht, daß sie sich dem Wald näherten. Baresi erklärte ihm den Grund trotzdem. »Die anderen sollen nicht eifersüchtig werden. Niemand soll sehen, wo wir hingehen.« »Das ist gut, Chef.« »Sag’ ich doch.« Als sie an dem Kuriositätenkabinett entlangliefen, bedachte Baresi ihn mit einem besonders langen Blick, und er lächelte sogar dabei, aber das merkte Tom nicht. Mit seinen Gedanken war er bereits bei Lizzy. Wie oft hatte er in der Nacht wach gelegen und von ihr geträumt. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, wie sie wohl nackt aussehen würde. Es mußte ein irres Gefühl sein, ihre blanke Haut auf der eigenen zu spüren. Die Vorfreude war riesig. Neben Lizzys Wagen blieben sie stehen. Als Baresi einen Schlüssel hervorholte, da wurde Tom erst richtig bewußt, daß er nicht träumte. Die Tür war nicht verschlossen, trotzdem mußte der Schlüssel halb herumgedreht werden. Der Direktor betrat den Wohnwagen als erster und war irritiert, als ihm ein gewisser Geruch in die Nase stieg. Es roch nach einer ungewöhnlichen Flüssigkeit, und er kannte diesen Geruch. Es ließ darauf schließen, daß Lizzy Lamotte ihren Spezialschnaps getrunken hatte. Auf dem Tisch standen zwei Gläser. Der Beweis, daß sie nicht allein gewesen war, und Baresi ahnte, wer sie besucht haben konnte. »Dieses Schwein«, flüsterte er. »Ist was, Chef?« »Nein, schließ die Tür.« Das tat Tom sehr sorgfältig. Er war gleichzeitig enttäuscht, daß er Lizzy nicht sah. Auch ihm fiel der penetrante Geruch auf, er schaute durch eine Lücke im Vorhang, ob sie vielleicht doch im Bett auf ihn wartete. »Sie ist nicht da, wie?« »Noch nicht.« Tom stand verlegen im Wagen und rieb sein Kinn. Die Finger kratzten durch den Bart. Er kam sich ziemlich fehl am Platz vor, auch seine Kleidung gefiel ihm nicht mehr. Er schaute zu Boden und räusperte sich einige Male. Baresi schob den Vorhang nur ein wenig zur Seite, um die andere Hälfte des Wagens betreten zu können. Das hatte seinen Grund, und er lächelte eisig, als sich die Finger der Rechten um den Griff eines schweren Kerzenleuchters schlossen. Er war aus Messing gefertigt und
hatte schon sein Gewicht. Zweckentfremdet konnte er zu einem perfekten Mordinstrument werden. »Kommst du mal, Tom?« Packard hörte die Stimme seines Herrn und Meisters. Er nickte, obwohl er Baresi nicht sehen konnte. Einen Augenblick später stiefelte Tom los. Er zerrte die eine Vorhanghälfte nach links, ging den nächsten Schritt und wunderte sich, daß er Baresi nicht sah. »Chef, was ist?« Der Schlag traf ihn von der Seite, als er bereits zum zweiten Schritt angesetzt hatte. Es war ein Hammer. Sein Kopf schien davonzufliegen. Plötzlich blitzte es vor seinen Augen auf. Der gesamte Raum verwandelte sich in einen Spiralnebel, und der schwere Körper kippte nach vorn, fiel aber nicht zu Boden, sondern krachte bäuchlings auf das Bett, wo Tom liegenblieb und sich die Wunde an seiner linken Kopfseite wie ein nässender Fleck im dunklen Haar abzeichnete. Tonio Baresi nickte zufrieden. Noch zufriedener war er, als er den Revolver unter seiner Jacke hervorholte. Er war stupsnasig, und Baresi hätte ihn gern mit einem Schalldämpfer bestückt. Den besaß er leider nicht, so mußte er sich anders helfen. Vom Bett her holte er ein gelbes Kissen und preßte es um die Waffe. So näherte er sich seinem Opfer, das noch nicht mal bewußtlos geworden war. Tom konnte wahnsinnig viel einstecken. Er war nur groggy, hörte sich selbst stöhnen, und es klang wie aus weiter Ferne. Der Direktor lächelte eisig. Er schob sich an die linke Bettseite, auf der auch Tom lag. »Gleich ist alles erledigt, du Bär. Es wird dir nichts mehr weh tun, und auch dein Gerede wird kein fremdes Ohr mehr zu hören bekommen…« Er krümmte den Finger um den Abzug. Im nächsten Augenblick fiel der Schuß! *** An der Wange spürte ich etwas Feuchtes, Klebriges und hatte den Eindruck, in meinem eigenen Erbrochenen zu liegen. Die Vorstellung erschreckte mich dermaßen, daß ich mich auf die Seite drehte, um von dem Zeug wegzukommen. Ich hatte einen widerlichen, pappigen Geschmack im Mund, der Magen revoltierte noch immer leicht, und mein Kopf war zu einem Ballon geworden. Wie lange ich wehrlos dagelegen hatte, konnte ich nicht sagen. Als ich auf die Uhr schaute, verschwammen die Zeiger. Jedenfalls war die Umgebung dunkel. Ich hatte es geschafft, mich aufzusetzen und mich so weit zurückzudrücken, bis ich einen weichen Widerstand an meinem Rücken
spürte. Er war ein Stoff oder ein Polster, jedenfalls tat mir die Stütze gut, und ich wollte diese Haltung zunächst auch beibehalten. Reingelegt! Eine Falle gestellt. Ein uralter Trick. Weibliche List und Raffinesse, beinahe schon klassisch zu nennen. Hätte nur noch das Gift gefehlt, und sämtliche Vorurteile Frauen gegenüber wären bestätigt worden. Die Frau hatte einen Namen. Sie hieß Lizzy Lamotte. Auch wenn es nur ein Pseudonym war, mich störte es nicht. Mir ging es ausschließlich um die Person, die mich überwältigt hatte. Sie mußte mit den Rätseln, die ich auflösen wollte, in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Es war typisch für mich, daß ich trotz der Kopfschmerzen zu überlegen anfing, trotz des Geruchs, der weiterhin in meine Nase stieg und den ich endlich identifiziert hatte. So hatte auch dieser Likör gerochen, dem mein Gesicht im Wege gestanden hatte. Das Brennen in den Augen spürte ich nicht mehr, doch mein Gesicht war von dem widerlichen Zeug verklebt. Lizzy hatte gut gezielt. Ich befand mich in einem Gefängnis, aber ich war nicht gefesselt, doch die Beretta hatte mir das verdammte Weib abgenommen. Sie mischte also mit! Wer noch? Ich dachte an die seltsame Begegnung in meinen Träumen und an die bleiche Gestalt, die auf den Namen Gallio hörte. Ein Uhrmacher, der Chronos geheißen hatte. Er war von dem Phänomen der Zeit begeistert gewesen und hatte versucht, sie zu begreifen. Er wollte herausfinden, wie sie funktioniert, aber die Zeit ist ein Rätsel. Sie ist etwas Relatives, kaum zu begreifen, höchstens von einem hochintelligenten Wissenschaftler. Der war Gallio nicht gewesen. Er hatte versucht, den anderen Weg zu gehen und sich mit Luzifer anzufreunden. Durch ihn und dessen Hilfe wollte er die Zeit begreifen und mit den einzelnen Phasen spielen. Das hatte er geschafft. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart hatte er wohl mischen können, aber nicht begreifen. Die Uhr und sein Wissen war zu einem Fluch geworden, und er hatte versucht, ihn zu stoppen. Hector de Valois war damals ein bekannter Mann gewesen, vielleicht hätte er die vom Bösen manipulierte Leichenuhr wieder >reparieren< können, nur war es aus Zeitgründen – so komisch sich das auch anhörte – nicht mehr dazu gekommen. Gallio hatte sich selbst umgebracht. Die Uhr war zu seinem Mörder geworden, und sie war geblieben. Über lange Zeit hinweg, über Jahrhunderte. Es mußte auch Menschen gegeben haben, die erkannten, welch eine Macht in ihr steckte. Zuletzt hier auf diesem winterlichen Rummelplatz. Die Uhr kannte ich aus meinen Träumen, nur war ich
davon überzeugt, daß ich sie sehr bald in natura sehen würde. Ich konnte mir vorstellen, daß sie nicht mehr weit von mir entfernt war. Die Dunkelheit war nicht so intensiv, wie ich sie schon des öfteren erlebt hatte, wenn ich in einem lichtlosen Raum eingesperrt gewesen war. Hier gab es überall Lücken und Ritzen, wo das Tageslicht hindurchsickern konnte. Ob sich einer meiner Gegner schon in der Nähe befand, konnte ich nicht herausfinden. Sie hielten sich zurück, und seltsamerweise lauschte ich nach einem bestimmten Geräusch. Ich wollte herausfinden, ob irgendwo eine Uhr tickte. Nichts – die Stille blieb. Kein Ticken der Leichenuhr, nur den eigenen Atem hörte ich. Die Beine zog ich langsam an. Sie schabten über den rauhen Holzboden, und ich suchte in der Tasche nach meiner kleinen Leuchte. Die Beretta war verschwunden, die Leuchte hatte man mir gelassen. Immerhin etwas, denn Licht in der Finsternis hat nicht nur Symbolcharakter, es war auch als pragmatisch anzusehen, denn mir brachte es sicherlich einen Erfolg. Ein scharfer überaus heller Schnitt jagte in die Dunkelheit hinein. In dieser Lanze zitterte der Staub. Ich schwenkte die Leuchte, sah plötzlich Ziele aus der Schwärze hervortauchen wie schwebende Geister, und ich konnte mich darüber nur wundern. Eine Fratze starrte mich an. Sie grinste mit widerlich breitem Mund. Glotzaugen stierten ins Leere, aber die Fratze gehörte zum Oberteil eines schmalen Holzschranks, der vor mir stand. Auch in seiner Maserung schimmerten Fratzen, und mir fiel jetzt ein, daß ich mich eigentlich nur an einem bestimmten Ort befinden konnte, eben in diesem Kuriositätenkabinett. Da mußte jemand gesammelt haben, und das über Jahre hinweg. Zeugnisse der Geschichte, Kuriositäten, wo immer ich auch hinleuchtete. Drehorgeln, Spiele für Kinder, ein Schrank mit einer Falltür und immer wieder irgendwelche Masken und schreckliche Gebilde. Des öfteren auch den Teufel in verschiedenen Darstellungen. Sehr schön für denjenigen, der Gefallen daran fand. Ich gehörte nicht dazu, denn mir ging es um die Uhr, und die hatte ich bei meinem ersten Rundblick nicht gesehen. Allmählich wurde ich vom langen Sitzen steif. Ich hatte inzwischen festgestellt, daß ich mit dem Rücken gegen eine Couch lehnte. Als ich mich erhob, quietschte sie. Es hörte sich an wie das Schreien kleiner Kinder, und das war ebenfalls wieder ein Gag. Ich blieb vor der Couch stehen. Die Lampe wanderte, und der Strahl wanderte mit. Staub schimmerte. Ich entdeckte eine Treppe, die in den ersten Stock hochführte. Es war auch ein durch Gitter abgesicherter Weg zu sehen,
den die Besucher gehen mußten. Der Weg setzte sich mehr aus Kurven als aus geraden Strecken zusammen. Ich stand relativ gut. Schwindlig war mir nicht mehr. Auch die Schmerzen ließen sich ertragen. Für mich war der Geruch des in meinem Gesicht klebenden Likörzeugs am schlimmsten. Nur war leider keine Dusche in der Nähe. Der aufgewirbelte Staub kitzelte meine Nase. Ich nieste. Mein Kopf war etwas freier geworden, ich bekam auch wieder besser Luft. Wo befand sich die Uhr? War ich allein hier? Lauerte diese Lizzy Lamotte auf mich? Daß sie etwas mit der Leichenuhr zu tun hatte, stand für mich fest. Möglicherweise hatte sie die Funktion des verstorbenen Uhrmachers Gallio übernommen, und ich mußte nun die des Hector de Valois wahrnehmen. Man sagt, daß sich in der Geschichte alles wiederholt. Möglicherweise erlebte ich es am eigenen Leibe. Man hatte mich abseits des offiziellen Besucherwegs liegenlassen. Da die Leichenuhr sicherlich zu den Hauptattraktionen zählte, würde der Weg bestimmt an ihr vorbeiführen. Deshalb entschloß ich mich, ihn zu nehmen. Bei meinen ersten Schritten konnte ich nicht eben jubeln. Ich kam mir vor wie jemand, der auf Gummi geht. Die nächsten Schritte klappten besser, ich fühlte mich relativ gut, erreichte das Laufgitter, duckte mich darunter hinweg und hatte nun den inneren Weg erreicht. Nach oben oder in der Höhe bleiben? Ich entschied mich für den Weg nach oben. Die Luft war verbraucht. Die hier ausgestellten Gegenstände sonderten zudem einen muffigen Gestank ab. Es roch nach altem Holz und auch nach feuchten Klamotten. Langsam nur ging ich weiter, immer wieder nach rechts und links leuchtend, wobei mich stets weitere Überraschungen erwarteten. Sogar seltsam krumme Schwerter entdeckte ich, stumpfe Lanzen, schiefe Rüstungen, eine Kommode mit verschiedenen Nachttöpfen, zwischen denen verstaubte Perücken lagen. Einen gewissen Humor konnte man dem Aussteller nicht absprechen. Mir allerdings war nicht nach Spaß zumute. Ich stieg die erste Stufe hoch. Vier Stufen weiter begann eine schmale Plattform, von deren rechtem Rand die Treppe weiterhin in die Höhe führte. Die Plattform selbst interessierte mich nicht, viel wichtiger waren die dort abgestellten Gegenstände. Als ich den Arm nach links drehte, da erwischte der schmale Strahl etwas Weißes, Flatterhaftes, das aussah wie ein Gespenst. Zudem bewegte es sich in einem dünnen Luftzug, und es sah tatsächlich aus wie ein Leichenhemd. Sicherlich war es auch eines, auch die beiden Särge, die auf dem Boden standen, paßten irgendwie perfekt zu der makabren Performance.
Zwar waren die Särge zu, doch nicht verschlossen. Als Polizeibeamter muß man einfach neugierig sein, da machte auch ich keine Ausnahme. Leichengeruch! Ich schluckte, ahnte Schlimmes, wollte trotzdem einen Beweis haben, hob zuerst den einen, dann den zweiten Deckel ab und leuchtete in das Innere der Särge. War es bisher noch relativ harmlos gewesen, so hörte der Spaß nun endgültig auf. Beide Särge waren belegt! Zwei Leichen hatte man in die engen Totenkisten hineingequetscht. Zwei Männer, und sie sahen verdammt nicht gut aus. Sie mußten schon eine Weile hier liegen. Ihre Gesichter befanden sich schon im Zustand der Verwesung. Mir stockte der Atem. Ich dachte daran, daß diese beiden den Besuchern wohl niemals gezeigt würden, und ich erinnerte mich auch wieder an den Geruch, der dem Polo entströmt war. Nur war dieser hier viel intensiver und widerlicher. Ich wußte sofort, daß ich die beiden Vermißten vor mir hatte, nach denen sich Suko so intensiv erkundigt hatte. Gingen sie auf Lizzys Konto oder auf das des Direktors? Beiden traute ich nicht über den Weg. Ich drehte mich wieder herum, weil ich höhersteigen wollte. Ich leuchtete probehalber schon einmal in diese Richtung. Das Licht durchdrang die schwadige Dunkelheit, wobei ich als Ziel eine schmale Balustrade entdeckte, hinter der sich eine weitere Plattform ausbreitete. Und dort stand ein längerer Gegenstand. Ich sah noch die Rundung, als gleichzeitig die Stimme aufklang. »Weg mit dem Licht!« Eine zischende Stimme, die ich trotzdem erkannte. Lizzy Lamotte hatte gesprochen. Den Gefallen tat ich ihr nicht. Im Gegenteil, ich wollte sie noch besser aus dem Dunkel über mir hervorholen und leuchtete sie direkt an. Es war kein Fehler, denn als sie die Arme hob, da entdeckte ich den schwarzen Gegenstand, den sie mit beiden Händen festhielt. Es war meine Beretta! Sie zielte damit schräg in die Tiefe, und sie schien mit einer solchen Waffe umgehen zu können. »Ich bin auch mal als Kunstschützin ausgebildet worden«, erklärte sie mir. »Du kannst mir glauben, daß ich dir aus dieser Entfernung dein Schnüfflergehirn aus dem Schädel schießen werde.« »Geht in Ordnung«, sagte ich. Ich löschte die Lampe und steckte sie weg. Die Finsternis umgab mich wie ein lichtloses Gefängnis. Ich hatte mir gemerkt, wo der Aufgang lag, den fand ich auch ohne Licht. Aus dem Dunkel erreichte mich plötzlich die zischende Stimme Lizzy Lamottes. »Du wirst dich erst rühren, wenn
ich es dir befehle. Ansonsten wirst du hier noch einige Überraschungen erleben. Vergiß nicht, wo du dich befindest, Sinclair.« »Ist gut.« In den nächsten Sekunden senkte sich die Stille über uns. Ich hörte das Klopfen meines eigenen Herzens, doch die Stille hielt nicht lange an. Wieder sprach Lizzy. Ihre Stimme tönte mir entgegen. Sie klang drohend, was möglicherweise auch an der Dunkelheit lag. Daß sie etwas vorhatte, bekam ich sehr bald bestätigt. »Du willst die Leichenuhr sehen, Sinclair. Ich weiß, daß du deshalb gekommen bist. Du wirst das vollenden wollen, was einem Hector de Valois nicht gelungen ist. Ich kann dir versprechen, daß du die Uhr zu Gesicht bekommst. Nur etwas Geduld…« Die mußte ich haben, denn hier setzte eine andere die Zeichen. Ich befand mich in der zweiten Reihe. Außerdem war ich gespannt auf die Begegnung mit der Leichenuhr, und ich wunderte mich gleichzeitig darüber, wie gut diese Person Bescheid wußte. Der Name Hector de Valois war ihr glatt über die Lippen gekommen. Man hatte sie eingeweiht, und ich fragte mich, wer diese Person gewesen war. Vielleicht auch Gallio? Irrte der Geist dieses Uhrmachers durch die Zeiten? Fand er keine Ruhe, weil er sich übernommen hatte? Wollte er etwas richten, was er damals versäumt hatte? Meine Gedanken rissen ab, weil ich plötzlich ein Licht sah. Es flackerte unruhig über mir, und sein Widerschein glitt über die Gestalt in der hellen Kleidung. Lizzy hielt das Streichholz in der Hand, bewegte es und hielt die Flamme dann an den ersten Kerzendocht, der sofort Feuer fing. Wenig später leuchteten weitere vier Kerzenflammen auf, und sie durchbrachen die bedrückende Finsternis. Lizzy Lamotte bewegte sich lautlos wie ein Geist. Hin und wieder konnte ich einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Trotz der über die Haut hinwegtanzenden Schatten wirkte es blaß und ungewöhnlich starr, wie auch die Augen. Im Flammenschein war endlich der Gegenstand zu erkennen, auf den ich so lange gewartet hatte. Seinetwegen war ich überhaupt hergekommen. Ich sah die Leichenuhr! Ein Schreck rann mir über den Rücken, wenn ich an ihre Vergangenheit dachte. Ich erinnerte mich sofort an meine Träume und konnte zur Realität keinen Unterschied feststellen. Wichtig war das Zifferblatt! Ein ungewöhnlich großes Rund, aus Holz gefertigt von einem Meister seines Fachs. Die römischen Ziffern waren auch im Licht der Kerzen zu erkennen, das sich gleichzeitig auf dem einen Zeiger widerspiegelte.
Der Zeiger war gleichzeitig eine Mordwaffe. Sehr wohl erkannte ich die dunklen Flecken auf dem Metall und auch die beiden hohen Spitzen. Perfider und perfekter konnte ein Mordinstrument nicht sein. Ich konnte nicht anders und mußte mich einfach schütteln. Lizzy Lamotte bewegte sich um die Uhr herum wie ein Gespenst. Es war nichts zu hören. Sie schien über dem Boden zu schweben, anstatt ihn zu berühren, und sie hatte den Kopf leicht zurückgelegt, um das Zifferblatt anschauen zu können. Sie lächelte. Ein Lächeln, das mir wissend, verloren und gleichzeitig gefangen vorkam. Es vereinigte alles. Es sagte mehr als irgendwelche Erklärungen. Für mich stellte es die intensive Verbindung zwischen Lizzy und dieser verdammten Leichenuhr dar. Es brannten fünf Kerzen. Sie steckten in Haltern oder Leuchtern, waren gut verteilt, so daß sie nur diese eine Lichtinsel innerhalb der Dunkelheit schufen. Mit einem langen Schritt näherte sich Lizzy der Ballustrade und schaute auf mich herab. Die Beretta hatte sie nicht aus der Hand gelegt. Durch sie unterstrich sie den nächsten Befehl. »Komm zu mir!« »Jetzt?« »Ja.« Ich hatte noch eine Frage. »Was ist mit den beiden Toten hier. Sie liegen in zwei Särgen und…« »Sie machten einen Fehler, ebenso wie Jules Vangard.« »Wer ist das?« »Ihm gehörte der Polo. Ich habe ihn in den Kofferraum geklemmt. Werde ihn aber bald wegschaffen.« Ähnliches hatte ich mir schon gedacht, schluckte meine Wut runter und wollte wissen, welche Fehler die Männer begangen hatten. »Das ist ganz einfach, Sinclair. Sie glaubten, mich besitzen zu können. Aber ich lasse mich von ihnen nicht vorführen, das habe ich nicht nötig. Ich bin diejenige, die erklärt, wo es langgeht. Ich habe sie benutzt. Als sie dann die Beziehung intensivieren wollten, mußten sie sterben.« »Ich sah das viele Blut auf ihrer Kleidung. Hast du sie getötet?« »Nein, es war die Uhr!« Das hatte ich wissen wollen. Sie mußten auf die gleiche Art und Weise ums Leben gekommen sein wie auch Chronos, und das hatte er mir in meinen Träumen gezeigt. Es stand auch für mich fest, daß ich der einzige war, der Lizzy Lamottes Mordterror und den der Leichenuhr stoppen konnte. Die Uhr war vorhanden. Sie mußte zerstört werden, weil sie den finsteren Mächten geweiht war. Durch die Kraft Luzifers war es ihr gelungen, die Zeiten zu verändern oder mit ihnen zu spielen. Nur standen meine Chancen ziemlich schlecht, denn Lizzy besaß die Waffe.
»Komm schon!« forderte sie mich auf. Okay, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird klappen. Ich lächelte kalt und ging auf die Treppe zu. Das Licht von oben erreichte sie kaum, ich sah die letzten Stufen nur, über die farblich unterschiedliche Reflexe huschten. An der rechten Seite wurde die Treppe durch ein Geländer gesichert. Meine Finger glitten über den metallenen Handlauf hinweg, während ich Stufe für Stufe hochging. Meinem Verderben entgegen? Daran glaubte ich nicht. Zwar war ich kein unverbesserlicher Optimist, aber man hatte mir eine Waffe gelassen. Es war mein Kreuz, das nach wie vor verborgen unter der Kleidung hing. Es war kein Allheilmittel, aber gegen die Mächte der Hölle konnte ich es wirkungsvoll einsetzen, was auch Hector de Valois gewußt hatte. Er war einmal der Besitzer des Kreuzes gewesen. Lizzy Lamotte erwartete mich. Noch immer hielt sie die Waffe mit beiden Händen fest. Der Kerzenschein umflorte sie. Das weiße Leichenhemd hatte Flecken bekommen, die sich bewegten wie rote, gelbe und auch dunkle Inseln. Die Waffe machte jede meiner Bewegungen mit. Dann war sie auf meine Stirn gerichtet. Die letzte Stufe. Mit einem großen Schritt überwand ich auch sie, um dann vor Lizzy zu stehen. Das heißt, es befand sich noch ein genügend großer Raum zwischen uns. Eine Kugel würde mich immer erwischen, wenn ich versuchte, einen Angriff zu starten. Sie lächelte mich an. »Die Uhr«, flüsterte sie, »hast du sie nicht sehen wollen?« »Stimmt.« »Wolltest du sie nicht auch vernichten?« »Das gebe ich zu.« »Das wirst du nicht schaffen. Sie ist zu mächtig. Durch sie treibt der Geist der Hölle. Schau dir das Zifferblatt an. Ist es nicht wahnsinnig groß?« Ich brauchte nur den Kopf ein wenig nach rechts zu drehen, um dies bestätigt zu bekommen. Es war sehr groß, unnatürlich groß, höher als ein ausgewachsener Mensch. Man mußte schon die Leiter benutzen, um ihre Oberseite zu erreichen, wo sich dann die Zwölf befand, über die beide Spitzen der Zeiger hinwegragten. Mir wurde heiß, als ich daran dachte, wie viele Opfer die Uhr schon gefordert hatte. Der Name Leichenuhr paßte sehr gut zu ihr. »Gefällt sie dir, Sinclair?« »Ich kenne sie.« »Ach ja? Woher denn?«
Es wunderte mich, daß ich sie durch meine Antwort überrascht hatte. »Ja, man hat mich vor dieser Uhr gewarnt. Wirst du es glauben, wenn ich dir sage, daß sie in meinen Träumen erschienen ist? Zusammen mit einer Gestalt, die versucht hat, die Uhr oder die Zeit zu beherrschen, aber aufgeben mußte und sich durch die Uhr hat töten lassen.« »Es war Gallio!« »Ja, das stimmt.« »Ich kenne ihn.« »Woher?« Lizzy hob ihre Brauen und bewegte auch die Brauen. »Weißt du das nicht?« zischte sie. »Hat es dir dein Traumdeuter wirklich nicht erklärt?« »Nein.« »Dann will ich es dir sagen.« »Darauf warte ich.« »Ich war die Geliebte des Chronos!« Sie sprach diesen Satz voller Stolz aus, und ich mußte ehrlich zugeben, daß mich dieses Geständnis total überraschte. Sie war Gallios Geliebte? Davon hatte er mir nichts erzählt. Er hätte es sicherlich getan, wenn auch sie eine Verbindung zu dieser Leichenuhr gehabt hätte. »Du glaubst mir nicht«, stellte sie fest. Mit sicherem Blick hatte sie meine Unsicherheit erkannt. »Stimmt, denn ich bin mehr als überrascht!« »Es entspricht der Wahrheit. Chronos liebte mich. Nur wußte er nicht, daß auch ich mich dem Teufel verschrieben hatte. Ich war eine Dienerin, eine Hexe, und ich spielte für mein Leben gern mit der Zeit.« Sie lachte plötzlich und sagte: »Aber was ist schon Leben bei einer Hexe? Nein, Leben kann man das nicht nennen, denn man hat immer wieder versucht, es mir zu nehmen. Man hat mich verbrannt, nicht nur einmal, man hat mich erschlagen, man hat mich gefoltert. Ich bin verschiedene Tode gestorben, aber immer wieder zurückgekehrt, denn meine Hexenseele fand stets andere Körper. So verfolgte ich den Weg der Uhr, denn auch sie ging durch verschiedene Hände, hatte zahlreiche Besitzer, wobei ich immer in deren Nähe war. Die Leichenuhr ließ ich nicht aus den Augen, denn sie war das Erbe meines Geliebten.« »Wußte Gallio über dich Bescheid?« Lizzy hob die Schultern. »Ich weiß es nicht genau, vielleicht hatte er es geahnt, aber er hat nie mit mir darüber gesprochen. Er schied aus dem Leben, und ich blieb, denn ich war gezwungen, auf sein Erbe zu achten, und das wollte ich nie aus den Augen lassen. Luzifers Geist hielt auch mich umfangen. Nach meinen Toden wurde ich dort wiedergeboren, wo sich auch die Leichenuhr befand. So lernte ich die verschiedenen Besitzer kennen und wickelte sie dabei um den Finger.« »Dann gehört dir die Uhr nicht?«
»Nein.« »Baresi?« »Ja, er ist der neue Besitzer. Aber frag mich nicht, wie er an sie herangekommen ist. Er steht übrigens voll und ganz auf meiner Seite, und ich habe ihn in die Funktionen der Leichenuhr eingeweiht. Er weiß genau, daß er durch sie die Chance hat, andere Zeiten zu erleben, daß er hineintauchen kann in die Vergangenheit, um die Szenen dort so plastisch zu erleben, als würden sie in der Gegenwart stattfinden. Das Vergnügen ist dir noch nicht zuteil geworden – oder?« »Nein, noch nicht.« »Das wird es auch nicht.« Sie sagte es bedauernd, und ich fragte nach dem Grund. »Weil ich nicht bis Mitternacht warten möchte.« »Funktioniert die Magie erst dann?« »So ist es. Nur von Mitternacht bis zum Ende der ersten Tagesstunde entwickelt die Uhr ihre gesamte Macht. Dann erlebt derjenige, der auf den Zeiger vertraut, die Zeitreisen. Jede Minute kann ihn in eine andere Zeit bringen, doch er darf den Zeiger nicht loslassen, der ihm zum Segen geworden ist.« »Wann wird er zur Mordwaffe?« »Man brauchte sich nur auf ihn zu legen und sich aufspießen zu lassen.« »Das habe ich gesehen.« »Bei wem?« »Ich sah Chronos.« »Ach ja?« »Sicher. Er hat mir den Weg gezeigt. Er erschien in meinen Träumen, denn er fand keine Ruhe. Er war ein Wanderer zwischen den Welten. Er weiß nicht, wohin er gehört, und er hat ein schlechtes Gewissen, daß es ihm nicht gelungen war, die Leichenuhr zu vernichten. Er hat Hilfe gesucht, er hat sie nicht bekommen, aber er wußte von mir, und ich bin jetzt hier.« »Um das zu vollenden, was mir nicht gelang?« »So ist es.« »Irrtum, Sinclair. Auch wenn du der Nachfolger eines Hector de Valois bist, an mir kommst du nicht vorbei. Ich werde es nicht zulassen, daß du die Uhr in deine Gewalt bringst oder sie zerstörst. Das Gegenteil wird eintreten, sie wird dich vernichten, damit ich für die Zukunft freie Bahn habe. So lautet mein Plan.« »Und wie sieht er im einzelnen aus?« Wir kamen zur Sache, das wußte auch Lizzy. Sie hob die Waffe an und zielte genau zwischen meine Augen. »Das kann ich dir sagen. Du wirst hochsteigen und dich auf den Zeiger legen. Hat es dir Chronos nicht schon vorgemacht?« »Hat er!«
»Dann bist du sein Nachfolger…« *** Tonio Baresi wunderte sich darüber, wie laut sich der Schuß anhörte. Dabei hatte er doch ein Kissen vor die Mündung gepreßt, das den Schall dämpfen sollte. Dann spürte er den Schmerz! Er war böse, messerscharf und zerriß seinen Rücken. Er lähmte jede seiner Bewegungen, und er spürte gleichzeitig, wie schnell ihn die Kraft verließ. Die Waffe wurde für ihn zu schwer. Er schaffte es nicht einmal, den Finger zu krümmen, und genau da, wurde ihm bewußt, daß nicht er geschossen hatte, sondern ein anderer. Eine Kugel steckte in seinem Rücken! Sie raubte ihm den Atem, sie hatte ihn vernichtet, sie war zu einem tödlichen Messer geworden, das dabei war, seinen Körper in zwei Hälften zu teilen. Er hörte sich selbst stöhnen und spürte im selben Augenblick den Geschmack von Blut auf der Zunge. In seinem Rücken hörte er Schritte. Ungewöhnlich laut und deutlich vernahm er sie, dann wirbelte plötzlich der Boden wie ein rasender Strudel auf ihn zu. Bevor der ihn verschlingen konnte, spürte er noch den Druck an seinem Körper. Jemand war plötzlich da, der ihn auffing. Wenig später fand er sich auf dem Boden wieder, auf der Seite liegend, und ein Gesicht beugte sich über ihn. Baresi kam es vor wie ein gewaltiger Schatten, die Züge waren für ihn nicht genau zu erkennen, weil sie immer wieder verschwammen. Aber in seiner Erinnerung flammte etwas auf. Er wußte plötzlich, daß er das Gesicht schon mal gesehen hatte. Es gehörte einem Mann, der gekommen war, um ihn zu befragen. »Bleiben Sie ruhig liegen, Baresi. Sie sind verletzt.« Er versuchte zu sprechen. Beim ersten Anlauf schaffte er es nicht, beim zweiten brachte er den Satz mehr als mühsam über die Lippen. »Ich werde sterben! Du hast mich gekillt.« Suko kniete neben ihm und schüttelte den Kopf. Auf dem Bett bewegte sich Tom Packard stöhnend. Er hatte nicht gewußt, in welch einer Gefahr er sich befunden hatte. Auch in den folgenden Minuten würde er sich nicht zurechtfinden. »Es war im letzten Augenblick, Baresi. Ich habe Sie vor einer Dummheit bewahren müssen. Es tut mir leid, daß mir nicht mehr die Zeit blieb, genau zu zielen. Als ich kam, war es bereits nach Mitternacht. Sie hätten einen anderen Weg gehen sollen. Nichts auf der Welt ist es wert, ein Menschenleben zu opfern.« Baresi wunderte sich darüber, daß er die Worte verstand. Er konnte sie auch nachvollziehen und darüber nachdenken, und er schaffte es sogar,
eine Antwort zu geben. »Nein, Irrtum. Es gibt die Uhr. Sie ist jedes Opfer wert. Sie ist das Besondere, das mir und Lizzy gehört. Wir beide beherrschen sie. Die Uhr ist ein Wunder, eine Erinnerung an die Magie der Hölle. Durch sie sind wir in der Lage, uns Träume zu erfüllen. Sie muß geschützt werden. Kein Fremder darf sie bekommen, und Tom hat schon zuviel erzählt. Er durfte nicht mehr länger leben.« »Jetzt wird er leben!« »Die Uhr auch!« »Ich weiß nicht, ob John Sinclair das zulassen wird«, erklärte der Inspektor. Der Direktor überlegte. Seine Augenlider flatterten dabei. »John Sinclair?« »Ja, Ihr Helfer.« »Gehört er zu Ihnen?« Suko nickte. »Er ist mein Freund und Kollege, Baresi. Wir haben die Spur der Leichenuhr gefunden, und wir werden sie gemeinsam vernichten. Die alten Zeiten sind endgültig vorbei. Die Leichenuhr stellt für die Menschen eine zu große Gefahr dar. In der Vergangenheit hat es Hector de Valois nicht geschafft, doch John Sinclair ist sein Nachfolger. Er wird Hectors Arbeit beenden.« Baresi hatte zugehört. Er schwitzte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Gleichzeitig fror er, seine Zähne schlugen aufeinander. Der Schüttelfrost blieb, trotzdem stellte Suko eine Frage. Er wußte, daß er John Sinclair dort antreffen würde, wo sich die Uhr befand. »Wo steht die Uhr?« Baresi bewegte die Lippen. Suko sah kleine Blutbläschen auf ihnen zerplatzen. Die Kugel aus der Beretta mußte die Lunge verletzt haben. »Nie… Niemals…« »Wo steht sie?« »Auf dem Platz…« »Im Kabinett?« Baresi schaffte ein Grinsen. »Ja, mein Vater und ich haben eine Sammlung. Die Uhr gehört dazu. Ich fand heraus, was mit ihr los war. Durch Lizzy, die bei mir erschien. Sie klärte mich auf. Sie ist eine wunderbare Frau, die sich auch in der Vergangenheit auskennt, denn sie hat bereits mehrmals gelebt. Sie kennt Chronos, sie war seine Geliebte. Sie weiß viel, sie weiß alles…« »Ist sie bei Sinclair?« Der Direktor riß den Mund auf. Er wollte Luft holen, was er nicht mehr schaffte. Plötzlich war er starr geworden. Der Mund stand offen. Ein Blutfaden rann über seine Unterlippe und >teilte< das Kinn. Tonio Baresi war tot! Suko atmete tief durch, bevor er sich erhob. Das hatte er nicht gewollt. Das Schicksal hatte ihm jedoch keine Sekunde gelassen, sorgfältiger zu
zielen. Er war nicht zu spät gekommen und hatte nur durch Glück herausgefunden, wo sich Tom und der Direktor überhaupt aufhielten. Ihre Stimmen waren durch die Wand des Wagens nach draußen gedrungen. Zu spät für Baresi, früh genug für Tom Packard. So hatte das Schicksal sich trotz allem irgendwo wieder gerecht gezeigt und ausgeglichen. Das Bett, auf dem Tom lag, konnte er mit einem Schritt erreichen. Packard stöhnte noch immer. Als Suko ihn anfaßte und auf den Rücken drehte, da sah er die Kopfwunde. Das Blut war durch die Haare gesickert, hatte auf dem Laken einen feuchten Fleck hinterlassen. Die Lippen des Mannes zitterten. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, doch das Röcheln blieb in seiner Kehle stecken. »Tom…« Packard hörte die Stimme. Er zuckte auch zusammen, aber er schaute an Suko vorbei. »Tom… ich bin es.« Da richtete er seinen Blick in die Höhe. Er schaute in Sukos Gesicht, und in seinem breitete sich plötzlich das Erkennen aus. »Du… du bist es?« hauchte er. »Ja, ich…« Tom verzog die Lippen. »Ich wollte zu Lizzy«, flüsterte er. »Da hat mich Baresi…« »Ich weiß, daß er dich niedergeschlagen hat. Er wollte dich auch töten. Ich war schneller.« »Warum töten?« »Das spielt jetzt keine Rolle für dich. Ich möchte dich nur bitten, hier im Wagen zu bleiben, bis ich dir Bescheid gebe. Es ist alles in Ordnung, Tom. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Tom begriff nicht. Dann verlor er sogar das Bewußtsein. Es war wohl so am besten. Suko richtete sich auf. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Für ihn war das Kuriositätenkabinett jetzt das Ziel aller Wünsche… *** Lizzy, die Geliebte des Uhrmachers Chronos, schoß, und die Kugel huschte so nah an meiner Stirn entlang, daß ich sogar den Luftzug spürte. Damit hatte sie mir bewiesen, daß sie tatsächlich mit der Waffe umgehen konnte. Als das Echo des Schusses verklungen war, befahl sie: »Kletter die Leiter hoch!« »Das wollte ich auch!« »Schneller!«
Verständnis konnte ich für sie zwar nicht aufbringen, aber ich hätte an ihrer Stelle kaum anders gehandelt. Sie wollte mich so schnell wie möglich tot sehen. Ich kletterte an der Seite des Zifferblatts in die Höhe. Dann sah ich es aus der Nähe. Zudem reichte der Kerzenschein aus, um zu erkennen, wie stabil das Material doch war. Sogar das Zifferblatt war aus massivem Holz gefertigt. Ich hatte den Eindruck, in eine dumpfe Totengruft zu steigen. Immer wenn ich Luft holte, schmeckte ich Staub, Moder und das Blut auf meiner Zunge. Gern hätte ich einen Schluck getrunken, doch ich dachte über andere Dinge nach als über ein Glas Wasser. Schon jetzt machte ich mir Gedanken, wie ich mit dem Leben davonkommen konnte. Wenn ich nach links schaute, sah ich Lizzy unter mir stehen. Sie lauerte auf ihrer sicheren Plattform und stand im Schatten. Die Waffe zielte dabei auf meinen Rücken. »Geh nur weiter…« »Ich habe es gleich geschafft!« »Das sehe ich.« Noch zwei Sprossen mußte ich auf der Holzleiter hinter mich bringen. Zum Greifen nahe sah ich bereits den über den Rand hinwegragenden Zeiger. Blutverklebt – eine tödliche und hinterlistige Waffe, die in dieser Art einmalig war. Sie wartete auf das nächste Opfer, auf mich! Ich war stehengeblieben und hörte die schleifenden Geräusche unter mir, als Lizzy Lamotte näher kam. »Du wirst dich jetzt nach vorn bewegen und dich auf den Zeiger legen. Beide Spitzen werden in deine Brust dringen und dich langsam aufspießen, und ich werde zusehen. Es ist die Zeit des Vernichtens. Du wirst keine Zeiten durcheilen, denn nur zwischen Mitternacht und dem Ende der ersten Morgenstunde greift die Kraft der Leichenuhr.« Ich hatte Lizzy angeschaut und dabei in die Mündung meiner eigenen Pistole gesehen. Mir blieb nur die Wahl zwischen einer Kugel und dem langsameren Sterben auf dem Zeiger. Die Kugel war schneller. Sollte ich sie hinnehmen? »Noch etwas«, sagte Lizzy. »Ich weiß, worüber du nachdenkst, doch eine falsche Bewegung deinerseits, und es ist vorbei.« »Ich habe verstanden.« »Dann leg dich auf den Zeiger!« Schweiß bedeckte meine Stirn. Es war eine verfluchte Situation. Ich hatte ja damit gerechnet, an mein Kreuz heranzukommen, doch Lizzys Kontrolle war einfach zu stark gewesen.
Mit beiden Händen umfaßte ich den Rand der Leichenuhr. Das Holz war glatt wie ein Kinderpo. Ich duckte mich und streckte dabei meinen Körper. »Ja, so ist es gut, Sinclair!« kommentierte Lizzy meine Versuche. »Du stellst dich wirklich geschickt an.« Ich schwieg. Jedes Wort hätte mich abgelenkt und hätte zudem auch Kraft gekostet. Die linke Hand löste ich vom Holz, machte den Arm lang und umfaßte zum erstenmal den Zeiger. Ich spürte unter mir nicht nur das glatte Metall, sondern auch die Blutschicht, die sich darauf ausgebreitet hatte. Sie hatte auf der Oberseite eine Kruste bekommen, die durch den Druck meiner Hand brach. Es schüttelte mich innerlich, als das alte Blut meine Hand verschmierte. Ich mußte mich von der Vorstellung befreien, daß hier Menschen gestorben waren. »So ist es gut, Sinclair! Mach weiter.« Bäuchlings lag ich auf dem Rand des Zifferblatts. In Magenhöhe spürte ich den Druck. Mir war speiübel, auch der Schwindel kehrte zurück. Er brachte meine sichtbare Welt durcheinander und teilte mir eben auf seine Weise mit, wie wenig fit ich war. Konnte das noch gutgehen? Ich mußte an mein Kreuz herankommen. Auf der Brust lag es, war körperwarm geworden, hatte sich aber nicht gemeldet, denn die Uhr strahlte zu dieser Zeit nichts Böses ab. Auch der Zeiger bewegte sich nicht, er ragte in die Höhe. Erst um Mitternacht würde es gefährlich werden. Meine Kehle war noch immer trocken. Die schlechte Luft sorgte für eine bleibende Übelkeit. Im Prinzip hatte ich die ideale Position schon erreicht, was auch Lizzy Lamotte auffiel, denn sie befahl mir, mich auf den Zeiger zu legen. »Tu es, Sinclair! Tu es während der nächsten Sekunden!« »Nein!« »Willst du die Kugel?« Ich zögerte diesmal mit der Antwort. Die davor hatte ich schnell geben können, und das nicht ohne Grund. Denn hinter Lizzy, wo sich der Schein der Kerzen in der Dunkelheit verlor, begann die Dunkelheit zu flimmern und sich zu bewegen. Wie aus dem Nichts entstand dort eine Gestalt. Lizzy duckte sich, als hätte sie einen eiskalten Hauch gespürt, der über ihren Nacken kroch. Sie war plötzlich verunsichert, ich aber wußte Bescheid und faßte auch wieder Hoffnung, denn die weißgraue Gestalt kannte ich aus meinen Träumen. »Dreh dich um, Lizzy!« brüllte ich sie an.
Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Mit einem Trick rechnete sie natürlich, gleichzeitig hatte auch sie gespürt, daß etwas nicht stimmte. Die Gesichtszüge entglitten ihr. »Los, mach schon!« Sie fuhr herum. Und sie sah Chronos! *** Er stand auf der Plattform wie auf einer Bühne. Lizzy schrie vor Wut auf. Ihr Schrei erreichte meine Ohren, und die kurze Pause gab mir Gelegenheit, mein Kreuz hervorzuholen. Ich mußte es einfach schaffen, solange Lizzy durch Gallio abgelenkt war. »Du!« rief sie. Chronos rührte sich nicht. »Du bist ein Gespenst!« schrie sie ihn an. »Du gehörst nicht hierher, obwohl du einmal mein Geliebter gewesen bist. Jetzt aber gehört die Uhr mir! Hast du verstanden? Sie gehört mir – mir allein! Ich bin ihre Herrin, denn ich will sie nicht zerstören. Ich habe mich mit Luzifer verbündet. Ich liebe diese Leichenuhr, und ich werde sie immer lieben. Daran kann und wird niemand etwas ändern, auch du nicht, verfluchter Gallio! Du warst zu schwach, um die Uhr zu beherrschen, du hast dich nicht getraut, du bist zu klein gewesen, was mir nicht passiert. Ich bin, ich werde sein, ich stehe unter dem Schutz der Hölle, und ich werde immer wieder die erneute Geburt erleben, hörst du?« Chronos schwieg! Ich hing in meiner unbequemen Lage und versuchte noch immer, das Kreuz in die Hand zu bekommen, was gar nicht so einfach war, denn der Pullover war mir im Weg. Die Halskette hatte ich bereits mit zwei Fingern umfaßt, der Rest mußte auch noch zu schaffen sein. Dann bekam ich Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, weil ich mich nur noch mit einer Hand festhielt. »Was willst du hier?« schrie Lizzy. »Geh zurück in die Welt der Toten, wo du nie mehr Ruhe finden sollst. Hier will ich dich nicht mehr haben!« Chronos gab keine Antwort. Er schien auch nicht auf telepathischem Weg mit ihr Kontakt aufnehmen zu wollen, er stand nur da. Kein Laut war zu hören, als sich das Gespenst aus der Vergangenheit bewegte. Selbst Lizzy bekam so etwas wie Furcht, denn sie wich vor ihm zurück. Chronos ließ sich nicht beirren. Er hatte etwas gutzumachen, und er würde es tun. Sie schoß! So gut, wertvoll und sicher geweihte Silberkugeln auch waren, gegen Geister richteten sie nichts aus. Die waren feinstofflich, und auch hier schlug die Kugel durch den Körper. Sie hielt die wie mit Puderzucker
bestreut wirkende Geistergestalt nicht auf, die endlich ihre Totenruhe finden wollte. Das war auch Lizzy klargeworden. Nur wollte sie nicht aufgeben und fuhr wieder herum. Um Gallio kümmerte sie sich nicht, es gab ja noch mich. Ich hatte endlich mein Kreuz frei, als ich ihre Bewegung sah. Sie entdeckte mich und sah, daß ich mich nur mit einer Hand festhielt. In der anderen hielt ich das Kreuz, und ich wollte es ihr entgegenschleudern. Dabei mußte ich eine gewisse Entfernung überbrücken. Ich konnte es nicht aus dem Handgelenk werfen, holte etwas aus und erreichte dadurch eine Gewichtsverlagerung. Was ich hier so langsam berichte, ging in Wirklichkeit ziemlich schnell. Da wurden mehrere Bewegungen fast zu einer, weil sie zeitgleich abliefen, und ich mutete mir, ohne es selbst nachvollziehen zu können, einfach zu viel zu. Ich hatte meine instabile Lage vergessen und rutschte ab. Da ich schon zum Wurf angesetzt hatte, fiel ich mit der Brust genau auf den Zeiger zu… *** Suko hoffte nur, daß er diesmal nicht auch zu spät kommen würde. Bis zu seinem Ziel waren es nur wenige Schritte. Er verlor noch Zeit, weil er an der Vorderseite des Gebäudes entlanglief. Dort konnte er keinen Eingang entdecken, wenigstens keinen, der offen war. Aus einer gewissen Entfernung hörte er die Stimmen der Zirkusleute. Es war ihm auch egal, ob sie ihn entdeckten. Er sah zu, daß er so schnell wie möglich auf die Rückseite gelangte. Seine Füße bewegten sich stampfend über den nassen Rasen. Der Untergrund war rutschig, und an der Rückseite des Baus schimmerten kleine, mit Wasser gefüllte Mulden wie große Augen. Suko sprang über ein Hindernis hinweg und hatte endlich die schmale Tür gesehen. Er atmete auf, riß sich gleichzeitig zusammen. Er beging nicht den Fehler, wie ein Irrer in diesen Bau zu stürmen. Zu tödlich konnten die Überraschungen sein, die ihn dort erwarteten. Er zerrte die Tür weiter auf, um sich durch den Spalt in die muffige Düsternis zu schieben. Suko stieg ein penetranter Geruch in die Nase. Er sah Licht und hörte Stimmen. Lizzy und sein Freund John Sinclair unterhielten sich. In diesem Augenblick fiel dem Inspektor ein Stein vom Herzen. Die Leichenuhr hatte noch kein neues Opfer bekommen. Er atmete scharf aus. Mit ausgestreckten Armen ging er vor. Hindernisse erschienen vor und neben ihm. Er wußte nicht, um was er sich alles
herumwand, für ihn war wichtig, dorthin zu gelangen, wo sich die Lichtquelle befand. Durch Glück und Zufall fand er den normalen Weg für Besucher. Suko turnte über den Zaun, hörte alles deutlicher und begriff auch, daß es seinem Freund nicht besonders gut ging. Dann fiel ein Schuß! Suko blieb beinahe das Herz stehen. War John getötet worden? Er hätte beinahe vor Wut geschrien, beherrschte sich und dachte dabei an seine Aufgabe. Er mußte weiter und dieses verdammte Wesen vernichten. Noch eine Kurve, er sah die Treppe, und als er dann nach oben schaute, entdeckte er die vom Kerzenschein beleuchtete Szenerie. Ihm stockte der Atem, denn er war in dem Augenblick eingetroffen, wo sich alles veränderte. Über die weiße Gestalt dachte er nicht nach, er sah nur Lizzy Lamotte und vor allen Dingen seinen Freund John, der oben auf dem Zifferblatt der Uhr herumturnte, sogar sein Kreuz festhielt, doch nicht dazu kam, es einzusetzen. Er rutschte ab, und er fiel genau auf die beiden tödlichen Zeiger zu! *** Mein Gott, ich sterbe! Dieser Ruf jagte durch meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, von einer Flamme vernichtet zu werden. Aufgespießt und von Blut besudelt. Das endgültige Aus. Wieso es nicht dazu kam? Ich konnte es selbst kaum fassen, es war wohl der reine Überlebenswille, der mich reflexartig hatte handeln lassen. Die Zeiger hatten meine Kleidung bereits berührt, als ich mir den Ruck und die gleichzeitige Drehung gab. Die Spitzen hakten sich in der Lederjacke fest und durchdrangen sie dann. Da bewegte sich der Zeiger! Ich hörte Lizzys irren Schrei. Plötzlich war mir klar, daß mir in dieser Lage auch mein Kreuz nicht mehr half. Ich würde es nicht einsetzen können, Lizzy konnte schießen. »Ich knall dich ab!« brüllte sie. Und der Schuß fiel! *** Treffer? Suko wußte es nicht. Er wollte nur retten, was noch zu retten war. Er flog die Stufen hoch, um die Plattform zu erreichen, wo die Frau in ihrem Totenkleid stand.
Auch sie hatte damit gerechnet, daß John Sinclair durch den Zeiger aufgespießt werden würde, und sie war um so enttäuschter, daß er hautnah an dieser mörderischen Waffe vorbeirutschte. Sie brüllte wütend auf. Die nähere Umgebung interessierte sie nicht, deshalb sah sie auch nicht den heranjagenden Inspektor. Lizzy richtete ihre Waffe gegen die hängende Gestalt am Zeiger, die sie nicht verfehlen konnte. John war wehrlos. Sie drückte ab. Suko war schon auf dem Weg. Die letzten beiden trennenden Schritte hatte er durch einen gewaltigen Hechtsprung überwunden und prallte genau im richtigen Moment gegen die Frau. Zwar verließ das Geschoß noch den Lauf, aber es jagte schräg in die Decke und nicht in einen Körper. Lizzy war so überrascht, daß sie zur Seite taumelte, sich um die Achse drehte, kein Ziel dabei fand und von der Brüstung aufgehalten wurde. Bevor sie die Beretta auf ein Ziel richten konnte, hatte Suko zugetreten. Seine Fußspitze jagte unter ihr Gelenk. Nicht nur der rechte Arm schnellte in die Höhe, die Beretta machte die Bewegung mit und wurde ihr durch die Wucht aus den Fingern gerissen. Sie drehte sich in der Luft und landete in sicherer Entfernung auf der Plattform und blieb dort liegen. Lizzy starrte ihr nach. Ein Nichtbegreifen stand in ihrem Gesicht. Suko aber packte zu und riß die Frau herum. Wuchtig schleuderte er sie auf den Rücken. Lizzy schrie. Kein Schrei der Angst, sondern der Wut und des reinen Hasses. Ihre Augen leuchteten in einer kalten Farbe, und Suko hatte den Eindruck, das eisige Gesicht des obersten Dämons Luzifer darin zu erkennen. Es glitzerte. Ihn selbst überfiel ein kalter Schauer. Er wußte nicht, ob er es bei Lizzy mit einem Menschen oder einem dämonischen Wesen zu tun hatte, wollte aber auf Nummer Sicher gehen und zog seine Dämonenpeitsche hervor. Bevor er noch den Kreis damit hatte schlagen können, schnellte Lizzy wieder hoch. Sie war noch längst nicht fertig. Sie wollte und sie würde auch kämpfen. Der nächste Tritt schleuderte sie wieder auf die Planken. Sie brüllte. Grüner Schaum stand plötzlich vor ihrem Mund. Die Haut lief rot an, als würde dicht darunter ein höllisches Feuer brennen. Damit rechnete Suko sogar, für ihn war die Person kein Mensch mehr, sondern zumindest eine verfluchte Hexe. Sie fuhr in die Höhe. Es war ein Vorgang, den Suko kaum fassen konnte. Eine andere Kraft spielte mit ihr, schleuderte sie hoch. Die Hexe breitete dabei die Arme
aus. Die Haare standen aufrecht. Rote Flämmchen huschten zwischen den einzelnen Strähnen hin und her. Das Gesicht sah Suko nur mehr entfernt als menschlich an. Es war eine eklige Fratze, und aus den Augenhöhlen quoll Schleim. Er rann an ihren Wangen entlang und verschwand im offenen Mund. Lizzy hatte ihre wahre Gestalt gezeigt und bewiesen, daß sie zur Hölle gehörte. »Fahr zur Hölle!« brüllte Suko und drosch mit der Dämonenpeitsche auf die Gestalt ein. Der Zeitpunkt war außerordentlich günstig gewesen, denn Lizzy Lamotte fiel auf Suko zu. Sie wollte ihn mit den eigenen Händen zerreißen, aber die drei Riemen wickelte sich um ihren Körper. Suko zurrte sie fest. Lizzy hing wie eine Gefangene darin. Sie prallte zu Boden, tickte dort auf, und die drei Riemen umklammerten sie noch immer. Das Wesen heulte und warf sich hin und her. Aus ihrem Körper, der vor Sukos Augen zu einem stinkenden Etwas vermoderte, stieg ätzender Rauch hervor. Lizzy verging. Ihre Kraft fehlte somit der Leichenuhr. Suko löste die drei Riemen von der weichen, beinahe schon gallertartig gewordenen Masse, drehte sich um, denn das zweite Problem, John Sinclair, war noch nicht gelöst… *** Ich hing an dem verdammten Zeiger fest. Beide Spitzen schauten aus meiner Jacke hervor. Durch mein Gewicht war er nach unten gerissen worden und stand praktisch auf halb eins. Dann sah ich Chronos. Die weißgraue Gestalt schwebte herbei und schaffte es, die Botschaft loszuwerden. >Nicht Hector de Valois, sondern du wirst sie vernichten. Ich danke dir, ich habe meinen Frieden gefunden…< Vor meinen Augen löste sich die schwebende Gestalt auf. Sie war eingegangen ins Reich der Toten. Für immer. Mein Problem aber blieb. Ich blickte nach unten. Suko hatte den Kampf gegen die Hexe gewonnen. Sie lag wie ein dicker Klumpen am Boden und hatte ihre Schönheit vollends verloren. Sie war vernichtet. Das war mir noch zu wenig. Ich wollte, daß auch die Uhr zerstört wurde. Aber wie? Mein Kreuz – die Formel – Gut gegen Böse! Mit lauter Stimme rief ich: »Terra pestem teneto – salus hic maneto!«
Ich hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als der Horror begann. Die Uhr spielte plötzlich verrückt. Eine mächtige Kraft löste sich plötzlich, eine Kraft, die stärker war als ich. Es riß auch mich in die Höhe, als sich der Zeiger wild drehte. Es wurden Energien frei, die ich nicht kontrollieren konnte. Ich schaffte es auch nicht, mich dagegenzustellen. Ich wurde hochgezerrt, wieder nach unten gestoßen, abermals in die Höhe gerissen, bevor das Spiel wieder von vorn begann. Und aus der Uhr löste sich das Böse. Ich spürte den immensen Druck einer mächtigen Gestalt und sah plötzlich das kalte Gesicht Luzifers. Es war ein Antlitz, das ich nie in meinem Leben vergessen werde. So kalt, so menschenverachtend, blaß und trotzdem farbig, von einem eisigen Blau unterlegt. Ein Gesicht, das eigentlich keines war, denn es lebte nicht. Es war nur brutal! Ich hörte das Reißen in meiner Nähe. So knackte Holz, und das Gesicht war auf einmal weg. Diesmal erwischten mich die mechanischen Kräfte. Der Zeiger konnte sich nicht mehr am Zifferblatt halten. Er riß ab. Nicht sofort, in mehreren Intervallen, damit ich mich schon auf den Fall einstellen konnte. Ich spürte das Rucken am Arm, und der verfluchte Zeiger drehte sich dabei immer weiter. Wann würde er endlich brechen? Er brach nicht, die Uhr fiel auseinander, und ich raste in die finstere Tiefe. In den letzten Sekunden hatte ich von der eigentlichen Umgebung nichts mehr sehen können und hatte auch nicht mehr an die Plattform gedacht. Auf sie raste ich zu. Der Aufprall war hart. Er raubte mir fast die Luft. Ich spürte die helfenden Hände, die mich abstützten. Mein Freund Suko war mir entgegengelaufen, und ich hatte mich sogar – aus welchen Gründen auch immer – von diesem verdammten Zeiger gelöst. Dabei hatte er seine Richtung geändert und war mit beiden Spitzen in Lizzy Lamottes Überreste hineingerast. *** Suko hatte mir auf die Beine geholfen und mich auch beim Verlassen der Plattform unterstützt. Von unten her schaute ich noch einmal zurück. Es war schon seltsam, aber das Licht der Kerzen hatte den Horror überstanden. Sie brannten noch, und ihr Schein strahlte auch nach oben. Nur traf er diesmal kein
Ziel mehr, es sei denn, man sah die Decke als neues Ziel an, über das Schatten huschten. Die Leichenuhr gab es nicht mehr! Ich nickte. »Wir haben es gepackt, Suko.« Dann lachte ich. »Verdammt noch mal, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Sie hat zum Schluß verrückt gespielt und ihre dämonische Kraft ausgespien. Luzifers kleines Erbstück wird kein Menschenleben mehr kosten, darauf kannst du dich verlassen.« »Ja, dein Kreuz!« Ich hob die Schultern. »Nicht nur das«, sagte ich. »Stell du dein Licht nicht unter den Scheffel. Wenn du nicht die Hexe vernichtet hättest, wäre ich durch die eigene Waffe getötet worden.« Die Worte machten Suko verlegen. »Ach so, ja, Waffe«, sagte er und reichte mir die Beretta. »Ich habe sie für dich aufgehoben.« »Danke.« »Hör auf.« Wir verließen das Kuriositätenkabinett. Auf dem Weg ins Freie berichtete Suko mir, was ihm widerfahren war. Ich war nicht überrascht, daß auch Tonio Baresi mit der Hexe zusammengearbeitet hatte. Beide hatten versucht, die Zeit und auch die Menschen zu beherrschen, doch zum Glück läßt der Liebe Gott die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Einer mußte ja den Menschen ihre Grenzen aufzeigen. Als wir endlich nach draußen traten, schien die Sonne. Ich hatte den Eindruck, als würde sie mir zulächeln und mich in einem neuen Leben willkommen heißen…
ENDE