1. Ein Fregattvogel mit einem knallroten Kehlsack jagte im Sturzflug über die „Isabella VIII." und schien sich dann ins...
28 downloads
669 Views
631KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1. Ein Fregattvogel mit einem knallroten Kehlsack jagte im Sturzflug über die „Isabella VIII." und schien sich dann ins Meer zu stürzen. Aber das schien nur so, denn in Wirklichkeit hatte er keinesfalls die Absicht und fing seinen Sturz kurz
über der smaragdgrünen Wasseroberfläche wieder ab. Sein Ziel war ein fliegender Fisch, wie sie die „Isabella" schon seit einer ganzen Weile begleiteten. Immer wieder sprangen sie aus dem Wasser, segelten ein paar Yards und wollten wieder wegtauchen. Aber die Fregattvögel, diese äu-
4 ßerst eleganten Flieger, schnappten sie. Da half kein Ausweichen, die Fregattvögel waren schneller und wendiger, und sie packten ihre Beute noch auf der kurzen Strecke ihres Fluges. Der Decksälteste Smoky sah eine ganze Weile zu, starrte auf die fliegenden Fische, dann wieder auf die blitzschnellen Flieger und erwartete jedesmal, daß die Fregattvögel donnernd ins Wasser knallten, falls sie ihre Beute verfehlten. Sie verfehlten sie nie, und sie ließen sich auch durch die Männer der „Isabella" nicht stören, sie nahmen sie gar nicht zur Kenntnis. Smoky wandte sich an Bill, den Moses, eigentlich den Rustabout, denn Bill war praktisch „Mädchen für alles" an Bord, weil er außer den Killigrew-Zwillingen der jüngste Mann war". „Ich hätte nie für möglich gehalten, daß es so viele Inseln gibt",,sagte er. „Man sieht nur noch Inseln, und man segelt von einer zur anderen, und wenn sie außer Sicht gerät, tauchen schon wieder die nächsten auf. Aber es ist herrlich hier, findest du nicht?" Bill, der Moses, nickte grinsend. „Kann man wohl sagen. Wenn man hier auf jeder Insel gleich verheiratet wird, braucht man ein paar hundert Jahre, um sie alle kennenzulernen." Damit spielte er auf jene Insel an, wo der Decksälteste das Glück oder das Mißgeschick hatte, einer Perle der Südsee in die Fänge zu geraten. Ein kleines Zeremoniell, von dem Smoky keine Ahnung hatte, und schon war er verheiratet. Seine sogenannte Scheidung fand im Rahmen eines ausgiebigen Festes statt, denn auf diese Art und Weise war die Schöne - sie hieß Nuami - wenigstens nicht entehrt. Daher nahm Smoky sich vor, bei künftigen Ritualen oder anderen Festlichkeiten ganz besonders auf
der Hut zu sein, sonst konnte es ihm passieren, daß er den Rest seines Lebens auf einer der herrlichen Inseln als Papalagi verbringen mußte, und das wollte er nun doch nicht, die Gebräuche waren mitunter zu sonderbar. „Du Stint", sagte er gutmütig. „Statt mich auf den Arm zu nehmen, solltest du lieber mal dem Kutscher Bescheid sagen, damit er sich um Old O'Flynn kümmert. Der alte Bursche scheint krank zu sein, ihm bekommt offenbar das Klima nicht. Er hängt da wie ein abgenommenes Leichentuch." „Ihm fehlt nichts", widersprach Bill. „Ich glaube, er sieht wieder mal Gespenster, denn er benimmt sich so merkwürdig." „Geht denn die verdammte Spökenkiekerei schon wieder los?" fragte Smoky erbost. Er strich sich die Haare aus der Stirn und schüttelte den Kopf. „Manchmal", sagte er, „manchmal hat der Alte recht. Haben wir das nicht schon oft erlebt?" Bill nickte beklommen. „Das stimmt! Mitunter hat er das zweite Gesicht wie ein Jonas." Der Mann, von dem sie sprachen, Donegal Daniel O'Flynn, ein rauhbeiniger, granitharter alter Bursche mit einem von Wind und Sonne gegerbten Ledergesicht, lehnte an der Steuerbord-Nagelbank des Großmastes und starrte mit blicklosen Augen in die See voraus. Sein Holzbein hatte er auf eine Taurolle gestützt, und sein hagerer Körper bewegte sich leicht im Rhythmus des Auf und Ab der „Isabella", die durch sanfte Dünung lief. Old O'Flynn wirkte verkrampft und geistesabwesend, und seine sonst so klaren Augen schienen in eine andere Welt zu blicken. Das alte Rauhbein, mit allen Wassern der sieben Meere gewaschen, benahm sich höchst eigenartig.
5 Das fiel schließlich auch dem Kutscher auf, und so ging er über Deck, bis er vor dem Alten stand und ihn ansah. „Laß ihn um Himmels willen in Ruhe", flüsterte der Profos Edwin Carberry beschwörend. „Nach einer Weile legt sich das. Vielleicht sieht er wieder aufgetakelte Plattfische oder eingelegte Seegurken, was weiß denn ich!" Die meisten der Seewölfe umgingen Old O'Flynn, denn seine unmittelbare Nähe strahlte Beklemmung aus, und die übertrug sich mitunter auf die Gemüter und wirkte anstekkend. Doch den Kutscher und Feldscher der „Isabella" störte das nicht. Er ging noch näher an den geistesabwesenden O'Flynn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Na, Donegal", sagte er, „du siehst aus, als hätte dir jemand Kakerlaken in die Suppe getan. Was ist los?" Old O'Flynn sah den Kutscher nicht, er spürte auch nicht die Hand auf seiner Schulter. Sein maskenhaft starres Gesicht blickte immer noch in die Ferne, wo am milchigen Horizont kleine Inseln auftauchten. Eilande waren darunter, die manchmal nicht viel größer waren als die „Isabella" selbst. Nadelköpfe in der See, winzige grüne Punkte, oftmals nur von einem halben Dutzend Palmen bestanden. Sie gehörten zu den Salomon-Inseln, einer melanesischen Inselgruppe, die sich endlos in die Länge zog. Als Old O'Flynn ganz plötzlich sprach, öffneten sich nur seine Lippen ein wenig. Sein Gesicht blieb weiterhin starr und war von dem Blick in endlose Fernen überschattet. „Wir sollten umkehren", murmelte er dumpf mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören schien. „Merkt ihr denn nicht, daß hier der Pesthauch des Todes weht? Wie aus offenen
Gräbern zieht es herüber. Tod und Verdammnis liegen über den Inseln." Der Kutscher fröstelte unwillkürlich bei diesen Worten, und er sah, wie selbst der Profos unangenehm berührt das Genick einzog. Er wollte etwas sagen, doch dann blickte er sich um und sah den Seewolf an, der das Achterdeck verlassen hatte und jetzt vor ihnen stand. Er hatte die letzten Worte Old O'Flynns noch gehört, und obwohl er nicht abergläubisch war, spürte er doch etwas, das sich nicht bestimmen ließ, unsichtbar über ihren Köpfen schweben. Außerdem war das keine Spinnerei von Old O'Flynn. Der Alte hatte oft genug bewiesen, daß etwas daran war. „He, Donegal", sagte er. „Was erzählst du da? Was ist mit dem Pesthauch, der..." O'Flynn zuckte zusammen. Sein Blick kehrte langsam zurück und wurde wieder klarer. Es hatte den Anschein, als erwache er aus einem Traum. Ziemlich verwirrt sah er sich um. „Was ist los?" fragte er grob und rauhbauzig. „Was starrt ihr mich so an, und wovon faselt ihr eigentlich?" „Du sagtest eben etwas von den Inseln", erinnerte ihn Hasard. „Ich - von den Inseln?" fragte Old O'Flynn verblüfft. „Von welchen Inseln denn?" Hasard warf dem Kutscher einen hilfesuchenden Blick zu, aber der stand nur da und zuckte verlegen mit den Schultern. „Na ja, vielleicht haben wir das nur falsch verstanden", sagte der Seewolf, um Old O'Flynn nicht mehr daran zu erinnern. „Wir nehmen bald wieder Trinkwasser an Bord, denn bei dieser Hitze hält sich das Wasser immer nur einige Tage, und ich will keinem zumuten, das vergammelte warme Zeug zu trinken, wenn es hier genügend Frischwasser gibt. Des-
6 halb laufen wir eine der nächsten Inseln an." Er wartete auf eine Reaktion, aber O'Flynn nickte gleichmütig. „Eine gute Idee, Sir", sagte er. „Vor uns liegen ja auch prächtige Inseln." Hasard und der Kutscher warfen sich einen Blick zu. Old O'Flynn konnte sich ganz offensichtlich nicht mehr an seine düstere Prophezeiung erinnern, das bewies sein erstauntes Gesicht. Hasard fragte sich beklommen, was wohl in Donegal vorgehen mochte und ob auch diesmal wieder etwas Wahres daran sei. Er ließ die Angelegenheit auf sich beruhen, nickte den beiden noch einmal zu und wollte wieder aufs Achterdeck gehen, als er plötzlich stehenblieb. Eigenartig, fand er. Erst jetzt wurde ihm klar und deutlich bewußt, daß alles ganz anders war als sonst. Die „Isabella" segelte in einer lauwarmen Brise. Der Himmel war teils blau, zum Horizont hin leicht dunstig, und vom Wasser stieg brühwarme Luft auf. Er griff sich an die Stirn und fand, daß seine Haare feucht waren. Die Luft um ihn herum war wie von einem unbekannten Gift gesättigt, und er wurde das Gefühl nicht los, daß etwas Schreckliches in dieser merkwürdigen Atmosphäre lag. Er blickte zu den weit am dunstigen Horizont verstreuten Inseln und fand sie schrecklich und schön zugleich. Visionen von Fieber, Gift, Pest und Krankheiten zogen an ihm vorbei. „Unsinn", murmelte er. „Alles Einbildung!" Gewaltsam versuchte er, diesen Gedanken zu verdrängen, aber er kehrte immer wieder. Er blickte nach rechts und nach links und fragte sich, was denn eigentlich anders sei als sonst. Doch er vermochte
nicht, es zu definieren, es war eben anders. Kopfschüttelnd enterte er den Niedergang auf, und warf dabei noch einen Blick auf die Kuhl und das Quarterdeck. Carberry stand lustlos herum, der Zimmermann Ferris Tucker hatte sein Werkzeug auf die Planken gelegt und gähnte. Gary Andrews lümmelte am Schanzkleid, Smoky starrte auf die Fregattvögel, und der Moses reckte seine Glieder. Niemand hatte Lust, etwas zu tun, und das schien zu seiner großen Verwunderung nicht einmal den Profos und Zuchtmeister Carberry zu stören, denn der hatte nicht einmal Lust, irgendwelche Befehle zu geben. Nun, es gab nicht viel zu tun, jedenfalls im Augenblick nicht, überlegte der Seewolf, außer den kleinen, unumgänglichen Arbeiten, die dazu dienten, das Schiff immer in Ordnung zu halten, damit nichts vergammelte und verkam. Dazu gehörte das Auslüften der Kammern und Räume, das Überprüfen von Tauwerk, dem gesamten Gut, dem Erhalten des Holzes und vielen kleinen Dingen. Matt Davies betrachtete angelegentlich seine Hakenprothese, als hätte er sie noch nie gesehen. Stenmark hockte auf einer Taurolle, und der Gambianeger Batuti lehnte mit schweißglänzendem Oberkörper neben dem Kombüsenschott und trank einen Schluck Wasser. Auf dem Achterdeck war die Atmosphäre ähnlich. Ben Brighton lehnte an der Balustrade und fixierte einen imaginären Punkt auf den Planken. Der junge O'Flynn blickte auf seinen wieder unbeweglich dastehenden Vater, und selbst Pete Ballie schien die Lust am Steuern des Schiffes verloren zu haben. Verdammt, hier war doch alles anders als sonst, überlegte Hasard. Diese Inseln waren anders. Weit vor ih-
7 nen lagen sie da, und über allem war ein Hauch, der jegliches Leben erstarren ließ. Es schien, als würden sie tausendjährig im Schlaf liegen und müßten erst geweckt werden. „Verdammt!" schrie er laut. „Was ist denn auf diesem Schiff los? Liegt hier alles im Schlaf, oder habt ihr Kerle heimlich ein Rumfaß leer gesoffen?" In die erschlafften Gestalten kam augenblicklich Bewegung. Carberry reckte sich und schob sein Rammkinn vor. „Was sollen wir tun, Sir?" „Das müßtest du als Profos doch am besten wissen, Mister Carberry. Du stehst da wie ein altes Weib. Gleich schlafen wir alle ein, und dann hängen wir auf irgendeinem Korallenriff." „Aye, aye, Sir", sagte Ed lahm. „Es muß an der Luft liegen. Das ist eine richtig warme Brühe, die einen einschläfert." Hasard ertappte sich dabei, daß er selbst gähnte, es aber gerade noch unterdrücken konnte und nur das Gesicht verzog. „Ja, wahrscheinlich hast du recht", meinte er. „Kann sein, daß ein Wetterumschwung bevorsteht, das haben wir ja nicht zum ersten Mal erlebt." „Aye, aye, Sir", entgegnete Ed. Trotzdem schlug die Stimmung nicht um. Es war nicht so, daß sie jetzt alle mißmutig oder griesgrämig waren oder die Stimmung auf den Nullpunkt sank, es war eine andere Sache, die auf die Gemüter drückte, eine Art gewisser Wetterfühligkeit, die in diesem Teil der Südsee ganz besonders stark ausgeprägt war. Eine andere Erklärung hatte niemand. Die Inseln, die aus dem Dunst des Horizonts auftauchten, wurden größer und traten klarer hervor. Hasard deutete auf eine von dichten Palmengruppen umsäumte Insel, die in ihrer Mitte einen gekrümmten
Buckel aufwies und aussah wie ein zum Sprung bereites Raubtier. „Zwei Strich Backbord, Pete. Wir laufen die Insel an, die den großen Hügel hat. Sie scheint unbewohnt zu sein." „Zwei Strich Backbord", wiederholte Pete Ballie und legte Ruder. Für den Profos war das ein Signal. „Brassen!" brüllte er. „An die Brassen und rum mit den Zahnstochern, ihr triefäugigen Kakerlaken. Steht nicht rum wie verpennte Stockfische, ihr kalfaterten Miesmuscheln!" Sein Brüllen riß die Männer auf Stationen, und jetzt endlich kehrte wieder Leben in sie, und damit es auch so blieb, hatte Ed noch ein paar ganz besonders zarte Ausdrücke auf Lager, die bei seinem berühmten Affenarschspruch begannen und sich fortsetzten bis zu wesentlich größeren Körperteilen gewisser Dickhäuter. Die „Isabella" nahm Kurs auf die Buckelinsel. 2. Der Insel, die sie jetzt anliefen, schloß sich weiter nördlich eine weitere an. Bei Ebbe, wie sie jetzt herrschte, konnte man zu Fuß über die leicht herausragenden Korallenriffe von einer Insel zur anderen wandern. Die Luft war unnatürlich stickig und heiß. Die leichte Brise, die wehte, führte brühwarme Luftmassen mit sich. „Dort vorn - ein Auslegerboot", sagte Ben Brighton. „Also ist die Insel doch bewohnt." Hasard sah sich das Boot an. Es war ein Stück auf einen reichlich unzugänglichen Strand hinaufgezogen worden und sah genauso aus wie die Boote, die von den Eingeborenen der anderen Inseln benutzt wurden. „Tatsächlich, dort vorn bewegt sich auch etwas." Gleich darauf sahen sie es deutli-
8 cher, und was dort geschah, versetzte die Seewölfe in Erstaunen. Vier braunhäutige, kleinere Männer hackten wie wilde Teufel auf einem länglichen Gegenstand herum. Sie schienen alle Wut der Welt an diesem hölzernen Ding auszulassen und ruhten nicht eher, bis es kurz und klein geschlagen war. Entweder bemerkten sie die heransegelnde „Isabella" in ihrem unglaublichen Eifer nicht, oder sie ignorierten das Schiff, aber das fand Hasard höchst unwahrscheinlich. Der junge O'Flynn, der sich neben Hasard und Ben ebenfalls auf dem Achterdeck aufhielt, schüttelte erstaunt den Kopf. Sein Adlerblick hatte noch vor den anderen erkannt, um was es sich handelte. „ „Die schlagen einen Einbaum kaputt", sagte er. „Einen Einbaum?" fragte der Seewolf. „In dieser Ecke hat man nur ganz selten Einbäume." „Es ist ein Einbaum", beharrte O'Flynn. „Es war jedenfalls einer, denn jetzt ist es nur noch ein Trümmerhaufen." Ja, es stimmte, was Dan behauptete. Es war ein Einbaum, ein ganz leichter und sicher nicht seetüchtiger. Vermutlich war er aus dem dikkeren Stamm einer Palme gearbeitet. Was die vier Insulaner damit bezweckten, verstand niemand an Bord. Selbst die Reste zerstörten sie noch einmal, indem sie mit kleinen Äxten oder Beilen darauf losschlugen. Immer noch kümmerten sie sich nicht um das Schiff, das jetzt in ihrer Nähe die Segel aufgeite und in die kleine Bucht trieb. „Fallen Anker!" rief der Profos mit Donnerstimme, nachdem Smoky die Wassertiefe ausgesungen hatte. Erst als der Anker klatschend in die See fiel, zuckten die vier Männer zusammen und drehten sich um.
Augenblicklich schienen sie zu versteinern. Sie standen wie vom Donner gerührt da. Offenbar hatten sie das Schiff tatsächlich nicht bemerkt, als es die kleine Landzunge gerundet hatte. Jetzt betrug die Entfernung gerade noch etwas mehr als eine Kabellänge. So schnell, wie sie erstarrt waren, kehrte auch wieder Leben in sie zurück. Einer von ihnen deutete voller Entsetzen auf die „Isabella". Daraufhin rannten sie los, schoben ihren Ausleger ins Wasser und sprangen in das Boot. Nur der vierte Mann befand sich noch bis zu den Knien im Wasser und schob das Boot an. Hasard hatte das Spektiv am Auge und blickte hindurch. Der Insulaner tat noch ein paar Schritte, dann begann in seiner unmittelbaren Nähe plötzlich das Meer zu kochen, es wurde aufgewühlt,, brodelte immer stärker, und kleine blitzende Leiber flitzten nach allen Seiten. Dan, der das zweite Spektiv hatte, ließ es voller Entsetzen sinken. „Piranhas!" sagte er entsetzt. „Das ist fast unvorstellbar!" „Das sind keine Piranhas", erwiderte der Seewolf. „Das ist etwas anderes. Es sieht aus wie tausend kleine Aale mit gelblicher Unterseite. Ja, eine Art Aal", sagte er nachdrücklich. Auf der „Isabella" verfolgten jetzt alle angespannt das Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielte. Offenbar wurde der Insulaner von den kleinen Biestern pausenlos angegriffen und attackiert, denn ein hoher, dünner Schrei drang herüber, so voller Entsetzen und Schmerz, daß er ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dan O'Flynn war drauf und dran, sich über die Balustrade zu schwingen, ins Wasser zu stürzen und dem
9 Insulaner zu helfen. Aber eine harte Hand hielt ihn zurück, und für eine Sekunde blickte ihn der Seewolf aus seinen eisblauen Augen an. „Auf keinen Fall, Dan", sagte er. „Außerdem ist es zu spät, du kannst nicht mehr helfen." Unterdessen ging das Drama am Strand weiter. Die drei anderen Insulaner setzten das kleine Segel. Ohne sich um ihren Kameraden zu kümmern, segelten sie los. Sie drehten sich nicht einmal nach dem schreienden Mann um. Der griff voller Panik ins Wasser, hieb um sich, schrie und versuchte den Strand zu erreichen. Einmal bückte er sich, riß einen aalähnlichen Fisch aus dem Wasser und schleuderte ihn voller Zorn und Angst zum nahen Strand hinauf. Noch einmal gellte sein Schrei über das Wasser. Dann fiel der Insulaner steif um und trieb leblos im Wasser, mit dem Gesicht nach unten. Niemand zweifelte daran, daß er tot war. Auf der „Isabella" standen die Seewölfe wie erstarrt. Die meisten blickten auf den alten O'Flynn, der mit steinernem Gesicht zum Strand schaute. Diese Inseln waren verflucht, sagte sein Blick, und hier lag der Pesthauch des Todes, das war immer deutlicher zu spüren. „Seeschlangen", sagte Old O'Flynn mit unbewegtem Gesicht. „Seeschlangen haben ihn getötet." „Es gibt keine Seeschlangen", sagte der graubärtige Big Old Shane in die Stille hinein, aber er schien selbst daran zu zweifeln. „Und es gibt doch welche", behauptete Old O'Flynn stur. „Ihr werdet sie schon noch sehen." „Laßt das kleine Boot zu Wasser!" befahl der Seewolf. Er zog wieder das Spektiv auseinander und blickte zu jener Stelle am Strand, wo die Leiche des Insulaners immer noch mit dem Gesicht nach
unten im Wasser trieb. Während das kleine Boot abgefiert wurde, rätselte Hasard daran herum, was den Insulaner so blitzschnell getötet hatte. Als das Wasser zu brodeln, begann, bis zu jenem Augenblick, da der Mann starb, war nicht einmal eine Minute vergangen. Aber es stand außer Frage, daß ihn diese kleinen Fische getötet hatten, es konnte gar nicht anders sein. Er winkte dem Kutscher und Feldscher der „Isabella". „Du fährst mit zum Land, Kutscher, ebenso der Profos und ich." „Und die Wasserfässer?" fragte der Kutscher prompt. „Um die geht es im Augenblick nicht. Wasser nehmen wir später. Ich will mich hier nur einmal umsehen. Es ist immerhin möglich, daß auf dieser Insel ebenfalls Kopfjäger leben und wir einen Anschlag aus dem Hinterhalt befürchten müssen. Laß dir vom Profos eine Waffe geben und dann ab ins Boot." „Aye, aye, Sir!" Hasard sah dem Auslegerboot nach, das jetzt die Stelle erreicht hatte, wo die eine Insel in die andere, weitaus kleinere überging. Deutlich ragten die scharfen Korallen aus dem Wasser, aber dazwischen gab es auch Stellen, die fast glatt und eben waren. Die Insulaner umsegelten die Korallen. Kein einziges Mal hatten sie sich umgedreht, nachdem sie ihr Zerstörungswerk beendet hatten. Sie warfen auch keinen einzigen Blick zurück auf ihren toten Kameraden. Vielleicht hatte sie die Angst vertrieben, überlegte der Seewolf, vielleicht war es aber auch etwas anderes. Das wollte er feststellen. Der Profos Edwin Carberry händigte dem Kutscher zwei Pistolen aus, die er sich in den Gürtel steckte. Dann stiegen sie in das Boot und legten ab. Solange der Seewolf abwesend war, hatte Ben Brighton das
10 Kommando über die „Isabella". Al Conroy war damit beschäftigt, die beiden vorderen Drehbassen zu laden und auf Land zu richten - für alle Fälle. Ebenso waren zwei Culverinen feuerbereit. Der Profos trieb das kleine Beiboot dem Strand entgegen, jener Stelle zu, wo auch der Eingeborene im Wasser lag und allmählich dem Strand entgegenschaukelte. „Langsam, Ed", sagte Hasard. „Wir bringen den armen Kerl an Land." Hasard wollte nach dem Arm des Toten greifen, um ihn das kurze Stück auf den Sand zu ziehen. Aber ein lauter Warnschrei des Kutschers hielt ihn zurück. „Achtung, Sir, im Wasser!" Hasards ausgestreckte Hand zuckte zurück. Im ersten Augenblick hatte er die blitzenden Leiber nicht wahrgenommen, weil sich die Sonne auf dem Meer spiegelte. Der Kutscher sah sie aus seinem Blickwinkel besser. Es waren Tausende, die unter Wasser hin und her flitzten, durcheinanderquirlten und mehrere Schwärme bildeten, die sich im Zickzack rasend schnell bewegten. Auch der abgebrühte Profos starrte schaudernd in das Wasser. „Das sind tatsächlich Seeschlangen", stöhnte er. „Also gibt es doch welche, und Old Donegal hat nicht gesponnen." Hasard widersprach nicht, denn was er sah, hatte mit gewöhnlichen Aalen oder selbst Muränen nichts gemeinsam. Es waren Schlangen von annähernd zwei Yards Länge, einem typischen Schlangenkopf, allerdings mit einem etwas abgeplatteten Schwanzende, das zur schnelleren Bewegung diente. Wenn sich die Schlangen im Wasser drehten, erkannte man deutlich die stark gefärbte gelbe Unterseite auf ihren Bäuchen. Keiner der Seewölfe kannte sie ge-
nau, aber für den Kutscher stand fest, daß sie giftig waren und ihr Biß den Tod des Insulaners verursacht hatte. „Anscheinend beißen sie sofort, sobald sich im Wasser etwas bewegt", sagte der Kutscher. „Diese Biester sind wie die Schlangen an Land und genauso giftig, wenn nicht noch giftiger." „Ja, das ist stark anzunehmen, daß sie sofort angreifen. Aber der Insulaner hätte das doch wissen müssen, zumal sie hier in riesigen Schwärmen auftreten." „Er hat sie sicher zu spät bemerkt, oder er kam nicht mehr schnell genug ins Boot hinein." Der Kutscher nahm die Leine, die im Boot lag, streifte das Auge um den Arm des Mannes und zog ihn mit. Am Strand gab es ein Problem, als das Boot auflief. Es lief nicht bis auf den Sand hinauf. Sechs, sieben Yards Wasser blieben noch zwischen ihnen, und die waren nur zu überwinden, wenn man im Wasser ein paar Schritte ging. Der Kutscher sah den Profos an. „Spring du zuerst!" sagte er und kratzte sich das Kinn. „Du spinnst wohl, was, wie? Wie kann ich denn diese Strecke mit einem Satz springen!" Er blickte in das flache Wasser und sah die langen Schlangen, die sich mit atemberaubender Schnelligkeit durch ihr Element schlängelten. Ein ganzer Schwarm befand sich dicht am Ufer. „Ich habe Stiefel an", sagte Hasard. „Durch das Leder beißt keine Schlange der Welt, auch keine Seeschlange." Er sprang ins seichte Wasser und sah nach unten. Seine Stiefel hatten den gelblichen Sand noch nicht richtig berührt, als sich die Schlangen auch schon darauf stürzten. Sie glitten heran, bissen zu und verschwanden wieder wie der Blitz.
Eine von ihnen schleuderte der Seewolf mit einem gewaltigen Fußtritt aus ihrem Element. Das Biest war länger als zwei Yards, und noch als der Schlenker erfolgte, versuchte es, sich um den Stiefel zu winden. Hasard verstand nicht, warum diese Tiere so ungemein angriffslustig und aggressiv waren. Sie stürzten sich auf alles, was sie sahen, bissen und verschwanden wieder. An der Küste wimmelte es von ihnen. Er zog den Toten an den Strand, ging dann wieder zurück und befestigte die Leine am Boot. „Setzt euch nach achtern, dann ziehe ich das Boot auf den Strand hinauf", sagte er. „Oder soll ich euch tragen?" „Um Himmels willen, Sir", protestierte der Profos. „Die lausigen Plattfische an Bord würden sich totlachen, wenn der Kapitän seinen Profos an Land trägt wie ein Wickelkind." „Lieber so, als von diesen Biestern gebissen zu werden. Nehmt euch gut in acht, die schnellen sich sogar aus dem Wasser. Irgend etwas scheint sie zur Raserei zu treiben." Die Seeschlange, die Hasard aus dem Wasser befördert hatte, wand sich durch den Sand, richtete sich blitzschnell auf, stieß voller Wut den Schädel in den Sand und ließ ihren
11 Schwanz peitschen, daß der Sand nach allen Seiten flog. Hasard zog sein Entermesser, nahm kurz Maß und warf. Der erste Wurf nagelte das zuckende und sich wie wild gebärdende Reptil in den sandigen Boden. Als sie nicht mehr zuckte, trennte er ihren Kopf ab, um Aufschluß über die Gefährlichkeit zu erhalten. An den Vorderzähnen des Oberkiefers befand sich eine winzige Giftrinne, und das sagte dem Seewolf mehr als genug. Diese Schlangen waren absolut tödlich, und ihr Gift wirkte innerhalb sehr kurzer Zeit. Wer von einer dieser Giftschlangen gebissen wurde, brauchte keine Hilfe mehr. Anscheinend hatten nicht einmal die Insulaner ein wirksames Heilmittel. „Verdammte Inseln", sagte Carberry verbissen. „Ich verstehe nicht, wie Donegal so etwas voraussehen kann. Hier liegt wirklich die Pest über allem, und es riecht nach Gift und Hölle. Wieso weiß dieser Bursche das?" Hasard zuckte mit den Schultern. „Es ist nun mal eine Tatsache", gab er widerwillig zu, „aber erklären kann ich sie deshalb noch lange nicht. So, Kutscher, jetzt sieh dir mal den Mann an, ob er gebissen wurde. Wenn man seinen Feind kennt, kann man ihn besser einschätzen."
12 Der Tote war im Gesicht leicht blau verfärbt und hatte die Augen schrecklich weit aufgerissen. Bekleidet war er lediglich mit einem bunten Tuch um die Hüften, das auf den Oberschenkeln endete. Sonst trug er nichts, auch im Aussehen unterschied er sich nicht von den anderen Insulanern dieser feuchtheißen Inselgruppe. Der Kutscher untersuchte ihn genau, und er hatte alle Mühe, die winzigen Bißstellen zu entdecken. Sie waren wie Nadelstiche, und die winzigen Wunden bluteten auch nicht. „In die Beine ist er mindestens zwei Dutzend Male gebissen worden", sagte der Kutscher. „Das war gleich am Anfang, als er noch das Boot schob. Dann sind sie regelrecht über ihn hergefallen. Die vielen kleinen Bisse lassen sich nicht mehr zählen." „Glaubst du, daß der Biß einer einzigen Schlange bereits tödlich ist?" fragte Hasard. „Da bin ich ganz sicher, Sir. Ein einziger Biß genügt, und man steht nie wieder auf." „Dann müssen wir höllisch aufpassen, daß niemand ins Wasser springt, fällt oder leichtsinnig hineingeht." „Dagegen sind die Dons die reinsten Wickelkinder", sagte Ed. Sie sahen sich um. Über der Landschaft lag eine eigenartige, bedrükkende Stille. Kein Vogel zwitscherte, kein Tier ließ sich blicken. Vom Sand stieg brühwarmer, auf die Nerven gehender Dampf auf. Die Luftfeuchtigkeit war hier noch höher als auf allen anderen Inseln. Ein paar Palmen standen an dem steinigen Strand, dahinter folgte eine von fahlgelbem Gras bewachsene Fläche, gleich dahinter begann der Buckel, ein dicht bewaldeter Berg, der der Insel das merkwürdige Aussehen gab. Sie legten den Toten hinter die Palmen und bedeckten ihn mit einem kleinen Hügel aus Steinen.
Als Hasard sich umdrehte, bemerkte er, daß der Rumpf der kopflosen Seeschlange wieder wild zu zucken begann. Es war ein unheimlicher Anblick, wie er sich weiter durch den Sand schlängelte, als wäre ihr nichts passiert. „Scheißinsel", sagte Ed. „Noch nie habe ich mich in der gesamten Südsee so schlecht gefühlt wie hier. Als wäre alles verhext oder mit Gift überzogen." „Auf dieser Insel riecht man den Tod", sagte der Kutscher, und er meinte es mit seinen Worten verdammt ernst. „Er scheint hier überall zu lauern." „Nun übertreibe mal nicht, Kutscher", sagte Hasard. „Sehen wir uns das zertrümmerte Boot an." Bis zu dem kleinen Wrack waren es nur ein paar Schritte. Bei jedem Schritt knisterte und knirschte der Sand unter ihnen, als trete man auf frisch gefallenen Schnee. Die einzigen Lebewesen am Strand waren Krebse, die blitzschnell in ihre im Sand gebuddelten Löcher flohen, sobald sie sich ihnen näherten. Ab und zu glotzten sie mit ihren Stielaugen heraus, dann verschwanden sie wieder. Vor dem Wrack blieb der Seewolf kopfschüttelnd stehen. Aus den Überresten ließ sich trotz der Verwüstung noch einwandfrei erkennen, daß es sich um den etwas breiten Stamm einer Palme handelte. Er war ausgehöhlt worden und sollte fraglos als Wasserfahrzeug dienen, in dem ein Mann Platz hatte. „Stell dir das einmal vor, Sir", sagte der Kutscher. „Da kommen ein paar Insulaner mit ihrem Ausleger zu dieser Insel, tun nichts weiter, als das fragwürdige Boot zu zerstören, und verschwinden danach wieder. Siehst du darin einen Sinn?" „Nein", gab Hasard ehrlich zu. „Nicht den geringsten. Aber die Männer sind nicht von dieser Insel,
damit hast du recht. Sie stammen zweifellos von einer anderen, weit entfernten." „Demnach gibt es hier Leute", kombinierte der Kutscher, „die diesen Einbaum gebaut haben, aber die anderen wollten nicht, daß er gebaut wird, und deshalb zerstörten sie ihn wieder, kaum daß er richtig fertig war. Trotzdem ist das merkwürdig und irgendwie unlogisch." Ja, in gewisser Weise war das unlogisch, überlegte Hasard. Er blickte zur „Isabella" hinüber, wo seine Männer am Schanzkleid standen und sie beobachteten. Dann ging sein Blick weiter zu dem Berg hinauf, und er suchte den Wald ab. Einmal war ihm, als hätte er eine schnelle Bewegung gesehen, doch es konnte auch die leichte Brise sein, die die Blätter an einem Baum bewegt hatte. „Wir gehen ein Stück am Strand entlang", sagte er. „Bis dort, wo die andere Koralleninsel beginnt." Der Profos nickte und zeigte mit dem abgespreizten Daumen auf den dicht bewaldeten Berg. „Ich habe das Gefühl, als würden uns viele Augen belauern, Sir. Mit Pfeil und Bogen oder Speeren könnte man uns aus dem Hinterhalt erledigen." „Wegen unserer schönen Köpfe, was?" „Genau, Sir. Immerhin treiben die Insulaner damit Handel, und auf weiße Schädel sind sie besonders scharf." „Nein, die Entfernung ist zu weit, wenn wir immer dicht am Wasser bleiben, kann uns niemand erreichen." Als sie weitergingen, herrschte immer noch diese bedrückende Schwüle, und der Seewolf glaubte, in der Strandnähe ersticken zu müssen. Allen dreien lief der Schweiß in Strömen über die Gesichter. Die Haut brannte und juckte, und ab und
13 zu ließ sich eine kleine Fliege frech auf ihren Körpern nieder. Schlug man nach ihr, setzte sie sich sofort an eine andere Stelle. Die Plagegeister nahmen zu, je mehr sie sich dem Korallenriff näherten. Sie stiegen aus angeschwemmtem Seetang und warteten darauf, daß einer vorbeiging. Aber sie stachen nicht, sie waren nur ausgesprochen lästig und ließen sich nicht vertreiben. Der Strand war und blieb unzugänglich. Überall lagen Steine herum, angeschwemmte, abgebrochene Korallen übersäten den Sand, von dem ein ekelerregender Geruch aufstieg. Es herrschte Ebbe. In Wassernähe tummelten sich unübersehbare Scharen von Krebsen und kleinen Schalentieren. Aber auch die gelben Wasserschlangen bevölkerten in Ufernähe das Wasser, die immer wieder aus dem Wasser schnellten oder in großen Rudeln dahinjagten auf der Suche nach einem unbekannten Ziel. Hasard sah den tödlichen Schlangen mit einem Gefühl des Unbehagens nach. Es waren so viele, daß sich ihre Anzahl nicht einmal schätzen ließ. Aber ihre scheinbar wilde Flucht hatte doch eine gewisse Ordnung, denn wie der Seewolf feststellte, schienen sie alle einem Ziel zuzustreben, und das lag dort draußen bei der Korallenbank. Wenn er ins Wasser blickte, sah es so aus, als würden die gelben Schlangen sie auf ihrem Weg dorthin begleiten. Wieder blieb er ruckartig stehen, denn er hatte ganz deutlich eine Bewegung hoch über sich in dem bewaldeten Buckel gesehen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, ein Gesicht zu sehen, aber es war blitzschnell verschwunden, als er stehenblieb. Nein, diese Inselgruppe war kein Paradies. Gemessen an den anderen
14 Eilanden wie Bora Bora, Mooréa oder Tahiti, war sie die reinste Hölle, menschenfeindlich und abweisend, gefährlich und voller Tücken. Die unfreundlichen Inseln, so nannte er diese Inselgruppe in Gedanken, und es wäre entschieden besser gewesen, wenn sie sie gar nicht erst angelaufen hätten. Das Atmen wurde zur Qual. Je näher sie an die angrenzende Insel gerieten, desto schlimmer wurde der Pesthauch nach Tod und Verwesung. Der Profos blieb naserümpfend stehen. „Pfui Deibel", sagte er und verzog angewidert sein narbiges Gesicht. „Hier riecht es wie aus offenen Gräbern, außerdem wird es immer heißer und drückender. Die Luft ist hier so zäh wie der dickste Nebel." „Hast recht, Ed", sagte der Kutscher. „Hier würde ich es keine zwei Tage aushalten. Das ist eine Insel, auf der man aufmüpfige Dons aussetzen könnte. Die würden schon nach dem ersten Tag wieder ganz zahm werden." „Falls sie den ersten Tag überleben", meinte Ed mürrisch und schlug wieder ärgerlich nach den lästigen kleinen Fliegen. Sie erreichten die Stelle wo die Korallen begannen. Gebilde aus buntem Kalk türmten sich vor ihnen auf, dazwischen gab es Schluchten, dann wieder ebene Flächen, auf denen man gehen konnte. Hinter dieser natürlichen Brücke lag die andere Insel, klein und von Gestrüpp bewachsen. Hier war zwischen die Korallen irgendwann einmal Sand geschwemmt worden und hatte sich festgesetzt, und dann war nach und nach pflanzliches Leben entstanden. Aber einladend sah das kleine Eiland nicht aus, denn zwischen den Korallenschluchten wimmelte es von Seeschlangen. Das hier war offensichtlich ihr
Ziel, die tiefen Löcher, Spalten und Höhlen. Hier war das Wasser das reinste Gift. 3. Der Profos blieb stehen und beschattete seine Augen mit der flachen Hand. Dann spie er in den Sand. „Den Rest der Strecke können wir uns schenken. Auf der lausigen Insel lebt nicht mal ein Vogel. Kehren wir wieder um?" fragte er. „Nein", sagte Hasard. „Es gibt Leute hier, und ich würde sie gern einmal sehen. Ich möchte wissen, wie ein Mensch in diesem Fieberklima überlebt und wovon er sich ernährt." Hier, in unmittelbarer Nähe des Riffs, konnte man zu weiter entfernt liegenden Inseln blicken. Sie waren in leichten gelblichen Dunst gehüllt und hockten wie sprungbereite Ungeheuer in der See. Sie gehörten ebenfalls zu der Gruppe der Salomonen. Aus der Ferne sahen sie aus wie die meisten anderen Inseln auch, aber aus der Nähe erwiesen sich fast alle als lebensbedrohend und unfreundlich. Hasard ging ein paar Schritte über die Korallen. In ein paar Stunden würde die Flut sie wieder überspülen und die natürlich gewachsene Verbindung unterbrechen. Penetranter Geruch stieg ihm in die Nase. Er blickte angewidert nach links und überhörte die Besorgnis des Kutschers, der ihm ständig sagte, er möge nur ja aufpassen. Der Seewolf sah fasziniert zu, was sich links unter ihm in einem der zahlreichen riesigen Wasserlöcher abspielte. Dort wimmelte es von den Leibern der gelben Seeschlangen, die wie eine wilde Flut durcheinanderquirlten. Das Wasser in den Korallenlöchern kochte und wallte immer wieder auf. Der Kutscher tastete sich ebenfalls
vorsichtig weiter, gefolgt von Carberry, den jetzt die Neugier packte. „Oh, verdammt", entfuhr es Carberry. „Das sieht ja schlimmer aus als in der Hölle, das ist der reinste Giftpfuhl!" „Das sind ihre Laichplätze", sagte der Kutscher. Er ließ sich auf die Knie nieder und blickte in das Wasser, in das unbeschreibliche Gewimmel unter ihnen, wo die Schlangen zu Tausenden durcheinanderschwärmten, sich an den Korallen rieben und schlängelnd davonflitzten. Carberry griff den Kutscher am Genick und zog ihn hoch. „Du willst dir wohl deinen Gewürzprüfer abbeißen lassen, was?" schrie er. „Die Biester kommen doch an die Oberfläche, oder siehst du das nicht, du Stint?" Aber man sah es jetzt schon deutlich, ohne sich zu bücken. Unter den Seeschlangen gab es viele, die deutlich sichtbar ablaichten. Einige andere brachten lebende Junge zur Welt, stecknadelgroße Punkte, die wie leblos tiefer auf den Grund sanken, um nicht von ihren eigenen Artgenossen gefressen zu werden. „Deshalb sind sie so aggressiv", sagte Hasard. „Unter normalen Umständen würden sie vielleicht gar nicht angreifen." Eine Weile starrten sie in das unglaubliche Gewimmel. In jedem Wasserloch, in jedem Spalt tummelten sich die giftigen Ungeheuer und laichten ab. Und immer wieder erschienen neue Schwärme von ihnen, während die anderen verschwanden und sich ins offene Meer hinausschlängelten. Einige Exemplare erreichten eine Länge von knapp drei Yards. Der Gedanke, mit diesen Biestern Bekanntschaft zu schließen, ließ sie schaudern. Hasard stand noch unschlüssig auf dem breiten, übelriechenden und von Muschelschalen übersäten Grat und blickte zu der kleinen Insel hinüber.
15 Hundert Yards weiter, und er würde dort sein. Umkehren, dachte er. Was gab es da schon anderes zu sehen als Gestrüpp, ein paar Palmen und steinigen Sand! Einem inneren Impuls folgend, ging er weiter. Er drehte sich um und sah, daß ihm der Profos und der Kutscher nur widerwillig folgten. Ihre Gesichter waren schweißnaß und mürrisch, am liebsten wären sie wieder umgekehrt und an Bord gegangen. Der Weg durch die spitz aufragenden Korallen war gefährlich, und jeder Schritt mußte sorgfältig bedacht werden, um nicht in eins der zahlreichen Wasserlöcher abzurutschen. Immer noch lag der Pesthauch über den Korallen, zwischen denen verendete Fische steckten, Muscheln herumlagen, Seetang und faulende Blätter oder Rinde von Palmen. Dann waren sie drüben und sahen sich um. Die Insel maß nur ein paar hundert Yards in der Länge und lag höher als die Korallen, die sie von allen Seiten umgaben. Dichtes Gestrüpp stand wie eine Mauer vor ihnen, aber es gab einen schmalen Pfad, der durch das Dikkicht führte, und zum ersten Male sahen sie deutlich die Abdrücke menschlicher Füße im Sand. Am Wasser standen kleine Palmen, gab es die von gelbem Gras bedeckten Flächen, auf die der Sturm faulenden Tang geworfen und zu großen Bündeln angeweht hatte. Der Geruch wurde immer bestialischer. „Vermutlich sind hier die Insulaner gewesen, die mit ihrem Ausleger abgehauen sind", sagte Ed. „Aber was wollen sie auf diesem lausigen Stück Dreck?" „Die Fußspuren führen nicht vom Strand herauf", sagte Hasard. „Wenn sie mit dem Auslegerboot kamen,
16 Genau das war hier der Fall. Über kann es keine Spuren über das Korallenriff geben. Folglich waren es allem lag ein Geruch, der sich nur schlecht ertragen ließ. Die vielen andere Leute." „Du hast recht, Sir", sagte Carberry Skelette und die zum Teil noch nicht verblüfft. „Also jene, die den Ein- lange hier liegenden Leichen ließen sich kaum zählen. Es waren weitaus baum gebaut haben." mehr als hundert, eher das Doppelte, „Ganz richtig." schätzte Hasard. „Aber was, zum Teufel, wollen die Die gesamte Lichtung war mit Todenn hier?" fragte der Kutscher, dem das alles ein Rätsel war. „Die tram- ten bedeckt. Offenbar kamen hier die Insulaner peln doch keine Pfade, um ein paar von den gesamten umliegenden InKokosnüsse zu ernten!" Der schmale Pfad endete jäh. Vor seln zusammen, um ihre Toten beiihnen lag eine größere Lichtung, da- zusetzen. Daß sie keine Gruben aushinter begann wieder Gestrüpp, von hoben, mochte an ihren für Europäer einzelnen Riesenfarnen abgegrenzt. merkwürdig empfundenen Sitten Als sie die Lichtung betraten, war und Gebräuchen liegen. Sie legten das Rätsel kein Rätsel mehr, und das ihre Toten auf den Boden und verschwanden wieder, und wenn wieder seltsame Geheimnis war gelüftet. Sie befanden sich auf einem Fried- jemand starb, wurde er einfach dahof, und dieser makabre Anblick zugelegt. jagte ihnen eine Gänsehaut über den Carberry räusperte sich die Kehle Rücken. frei. In seinem Hals saß ein dicker Über der grausigen Stätte lag un- Kloß, der ihn beim Sprechen behinwirkliches Licht. Die schräg einfal- derte. lenden Sonnenstrahlen drangen nur „Himmel, da sind wir ja auf der teilweise durch das Gestrüpp und richtigen Insel gelandet. Das ist ein schufen ein dämmerartiges Zwie- einziger Friedhof! Laßt uns bloß licht, in dem alles anders aussah als wieder umkehren, Sir!" bei normalem Tageslicht. Hasard blickte auf die unzähligen Wer immer die Inselbewohner sein Gerippe, auf diese Schädelstätte des mochten, sie hatten sich nicht der Grauens, und dann mußte er sich Mühe unterzogen, ihre Toten zu be- selbst korrigieren. erdigen, und dieser Anblick ließ Das hier war kein Friedhof, auf selbst den Seewolf erstarren. dem die Toten der umliegenden InDa hockten, kauerten oder lagen seln bestattet wurden, das bewies ersie. Skelette, Leichen, die noch nicht neut der Trampelpfad durch das verwest waren, oder solche, denen Gestrüpp. das Fleisch teilweise von den Kno„Diese Toten stammen alle von chen gefallen war. Totenschädel, Ar- dieser Insel", sagte er. „Denn warum me und Beine, eine einzige Stätte des sollte man sich der Mühe unterzieGrauens. hen, sie erst umständlich an Land Keiner hatte mit diesem überra- abzusetzen, um sie dann über die geschenden Anblick gerechnet, mit fährlichen Korallenriffe zu bringen? dem sie so plötzlich konfrontiert Es geht doch viel einfacher: Man wurden, und so standen sie im ersten fährt mit dem Boot an diese Insel Augenblick da, unfähig zu einer Be- heran und trägt sie auf die Lichtung. Das sind nur ein paar Yards, mehr wegung. Hasard fielen wieder O'Flynns nicht. Und die bereiten keinerlei MüWorte ein. Wie der Pesthauch, der he." aus offenen Gräbern dringt! Der Kutscher starrte ihn an. Sein
17 glanzloser Blick irrte von den Ske- Seewolf zu Carberrys großer Erletten zu Carberry, dann wieder zu leichterung. „Ich kann nicht sagen, daß ich mich an diesem Ort besonHasard. „Wenn das so ist", murmelte er ders wohl fühle." dumpf, „dann müßten auf dieser InSie verließen die Schädelstätte und sel unwahrscheinlich viele Men- begaben sich vorsichtig auf den schen leben, gemessen an den Toten, Rückweg. die hier liegen. Dafür ist die Insel Hasard sprach kaum ein Wort, als aber viel zu klein." sie über die Korallenbrücke gingen. „Das stimmt", sagte Hasard nach- Pausenlos beschäftigte er sich in Gedenklich. „So viele Leute hätten hier danken mit dieser Insel und dem daniemals Platz. Also stimmt in meinen zugehörigen Friedhof. Überlegungen etwas nicht. NatürWas ging hier vor? Was hatte das lich hast du recht, Kutscher!" alles zu bedeuten? Weshalb starben „Wir haben keine einzige Hütte hier unzählige Menschen, obwohl es oder Behausung gesehen", sagte Ed. auf dieser Insel gar nicht viele geben Hasard deutete zur anderen Seite konnte? Die ausgebleichten Gebeine hinüber. und Knochengerüste einiger Insula„Die können auch in südlicher ner konnten noch nicht sehr alt sein, Richtung liegen, wir haben die Insel denn in diesem Klima schritt der ja nicht gerundet und wissen nicht, Verwitterungsprozeß sehr schnell wie es auf den anderen Seiten aus- voran, und Knochen, die jahrelang sieht." herumlagen, wären längst zu Staub Der Kutscher hatte wieder ein Ar- zerfallen. gument zur Hand. Vorsichtig balancierte er weiter „Hier gibt es so viele Tote, weil sie und gab acht, daß auch keiner der ständig den Seeschlangen zum Opfer anderen von dem schmalen begehfallen", vermutete er, aber Hasard baren Weg abkam. konnte diese Theorie nicht unterIm Wasser tummelten sich immer stützen. noch die gefährlichen Seeschlangen. „Auch das glaube ich nicht, Kut- Fast unmerklich kehrte die Flut zuscher. So schnell wachsen die Insula- rück und begann, die Korallen wiener gar nicht heran, und die See- der zu bedecken. schlangen beißen vermutlich nur, Dann hatten sie die Brücke endlich wenn sie kurz vor dem Ablaichen hinter sich und wollten auf den stehen. Außerdem kennen die Insu- Strand gehen, zum Boot zurück. laner diese Biester sehr genau, obAber da erwartete sie eine neue wohl ihnen hin und wieder schon Überraschung, und die war noch mal einer zum Opfer fällt. Nein, mit schlimmer als die Entdeckung der dieser Insel scheint es eine ganz be- Schädelstätte. sondere Bewandtnis zu haben, etwas, Als Philip Hasard Killigrew hochdas wir noch nicht begreifen, das wir blickte, sah er gerade noch, wie der vorerst nicht verstehen. Das möchte Kutscher aufschreiend zurückwich. ich aber gern herausfinden." Der Seewolf hielt die Luft an vor Seine Worte hallten seltsam hohl Entsetzen. über die makabre Lichtung. Immer wenn die Sonnenstrahlen anders einfielen, schien es, als würden sich 4. die Gebeine längst Verstorbener leicht bewegen. Da standen sie. Eine Gruppe von „Kehren wir wieder um", sagte der etwa zwanzig Männern und Frauen,
18 die stumm herüberblickten. Aber dieser Anblick war ungeheuerlich. Es waren monströs aussehende Insulaner, deren Köpfe an Löwenschädel erinnerten, die verquollene Gesichter hatten, denen Gliedmaßen fehlten. Gestalten aus einem Alptraum, der immer schrecklicher wurde. Der Profos war bleich und sprachlos. Der Kutscher schrie nicht mehr, stumm starrte er auf die erbarmungswürdigen Geschöpfe, und selbst der Seewolf traute sich nicht, noch einen Schritt weiterzugehen. Die Gruppe der monströs anzusehenden Menschen war unvermittelt aus dem Nichts erschienen, so jedenfalls hatte es den Anschein. Ihre Augen waren flehend auf die drei Männer gerichtet, als wollten sie um Hilfe bitten, aber sie sagten nichts. Sie standen nur da und sahen herüber. Einigen fehlten die Finger an den Händen, manche hatten nur noch einen Arm, und andere sahen aus, als hätte man sie verstümmelt. Viele der Frauen mußten früher mal hübsch gewesen sein, aber jetzt waren ihre Gesichter aufgedunsen, ihre Körper in die Breite gegangen. Sie ähnelten täuschend den Schädeln von weiblichen Löwen. Der Seewolf, der seinen anfänglichen Schreck und das Entsetzen überwunden hatte, musterte sie stumm, einen nach dem anderen. Dann stieß es ihm bitter auf, denn unter den dunkelhäutigen Insulanern entdeckte er zwei Männer, die dem Aussehen nach Franzosen, Engländer oder Holländer sein konnten. Der eine war mißgestaltet, an seiner rechten Hand fehlten der Daumen und ein Finger. Sein linkes Bein schien seltsam verkrüppelt, das war sogar deutlich unter der verschmutzten Leinenhose zu erkennen. Der andere, der neben ihm stand, wies überhaupt keinerlei Anzeichen
dieser eigenartigen Mißbildungen auf, aber dafür war sein Blick voller Trauer und nach innen gekehrt, als ginge ihn das alles hier nichts mehr an. Er sah ganz normal aus, als einziger dieser Gruppe bedauernswerter Menschen. Hasard zuckte zusammen, als aus dem bewaldeten Berg ein monotoner, irgendwie traurig stimmender klagender Gesang ertönte. Mehrere Leute sangen da, dann brach das traurige Lied ab, und über die Insel legte sich wieder die unheilvolle Stille, der Pesthauch des Todes. Es war schwer, sich das Leid dieser Leute vorzustellen, überlegte der Seewolf. Sie alle, bis auf den einen Weißen, waren vom Tode gezeichnet, und sie ertrugen diese schlimme Gewißheit mit trauriger Gelassenheit. Nur ihre Augen flehten, und darin stand eine stumme Sehnsucht, die der Seewolf nur zu gut verstand. „Nehmt uns mit", hieß das, „bringt uns fort von dieser Hölleninsel." Auch der Kutscher war tief erschüttert beim Anblick dieser armen Kreaturen. Seine anfängliche Angst war etwas gewichen, aber als einer der Leute einen Schritt vortrat, hob er abwehrend die Hände. „Bleibt, wo ihr seid!" rief er schrill. „Nähert euch nicht!" Seine Worte hatten sie verstanden, jedenfalls dem Sinn nach, denn sie blieben sofort stehen und sahen den Kutscher angstvoll an. „Ich glaube nicht, daß sie uns etwas tun werden", sagte Hasard. „Sie haben nicht einmal Waffen." „Vielleicht haben sie die Pest", sagte der Profos so leise, als befürchte er, jeden Augenblick davon angesteckt zu werden. „Nein, das ist nicht die Pest", widersprach der Kutscher. „An der Pest geht man schnell zugrunde und nicht so langsam. Dies ist eine Krankheit, von der ich noch nie vernommen habe. Anscheinend ist sie auch unheil-
19 bar." Aus irgendeinem unerfindlichen Grund sprachen sie alle leise, als würden laute Worte etwas zerstören. Hasard sah wieder den Europäer an, der unter den Insulanern stand. Er war dunkelblond und kräftig, hatte helle Augen und trug einen dunkelblonden Bart. Seine Kleidung bestand wie die des verunstalteten Mannes ebenfalls nur aus einer groben Leinenhose. Sein Blick war offen und ehrlich, nur lag diese unsagbare Traurigkeit darin, die ihn leicht verschleierte. Er trat zwei Schritte vor, näherte sich den Männern aber nur auf eine gewisse Distanz, dann blieb er stehen und sah dem Seewolf in die eisblauen Augen. „Ihr seid gewiß der Kapitän dieses Schiffes, Sir", sagte er klar und deutlich. „Ihr seid ein Landsmann, denn ich hörte euch eben sprechen. Mein Name ist Ebenezer Blake. Jener verunstaltete Mann ist mein Freund Hanky. Und das hier", er zeigte unendlich traurig auf die armselige Gruppe, „sind ebenfalls meine Freunde. Es sind Männer und Frauen von Vella Lavella, einer Insel der Salomonen. Was hat euch hierhergeführt, Sir?" „Philip Hasard Killigrew", sagte der Seewolf. „Das ist mein Profos Edwin Carberry, und dieser Mann hier ist unser Feldscher und Koch. Man nennt ihn den Kutscher." Hasard spürte, daß seine Stimme heiser und leicht unsicher klang, wie er es noch nicht an sich bemerkt hatte. Aber das lag an diesen eigenartigen Umständen, denn wenn er alles erwartet hatte, Engländer ganz gewiß nicht, niemals auf dieser abgelegenen, fieberverseuchten Toteninsel. „Wir legten hier nur an, um Trinkwasser zu erneuern", sagte er. „Wir wußten nicht, daß diese Insel bewohnt ist. Wir kennen auch ihren
Namen nicht." Hanky, der verunstaltete Mann, begann zu grinsen. Dabei verzog sich sein verquollenes Gesicht zu einer unheimlichen Grimasse. „Oh, Sir!" rief er. „Wir haben diese Insel getauft. Sie hat den schönen Namen Deathlike Silence, Grabesstille also. Wir fanden leider keinen besseren." „Nein, einen besseren hättet ihr nicht finden können", sagte Hasard schwer. „Ihr nehmt euer trauriges Los noch mit Humor." „Uns bleibt nichts als der Zusammenhalt untereinander, eine tüchtige Portion Sarkasmus und das unausbleibliche Sterben", sagte Ebenezer Blake ruhig. „Wir sind schon tot, Sir, bis auf einige wenige, und wenn wir uns noch bewegen, so geschieht das kaum noch ohne unser eigenes Zutun. Ich rate Ihnen, Sir, diese liebliche Insel bald wieder zu verlassen, und vergessen Sie, was Sie hier gesehen haben, wenn Sie es können." „So etwas kann man nie vergessen, Mister Blake. Soviel menschliches Leid auf einmal darf es gar nicht geben. An welcher Krankheit leidet ihr?" Die Blicke der Insulaner, die von der Unterhaltung kein Wort verstanden, waren immer noch freundlich. Aber in jedem Blick lag diese Lethargie des Todes, das Wissen um das baldige Ende und das gottergebene Sichdreinfügen. „Niemand kennt diese Krankheit, sie hat keinen Namen, Sir. Es ist ein Aussatz, der mit Knoten und Geschwüren beginnt. Er schreitet fort, bis einem die Gliedmaßen abfallen und der Körper sich total verändert." „Wie haltet ihr die fürchterlichen Schmerzen aus?" fragte der Kutscher entsetzt. „Was kann man dagegen tun?" „Diese Krankheit kennt keinen Schmerz. Man kann sie jahrelang mit sich herumschleppen, und sie ist
20 auch nicht unbedingt ansteckend. hier", sagte Blake gelassen, „und ich Ich selbst bin davon nicht befallen. habe es leider auch überlebt, obwohl Es kann aber sein, daß ich sie eben- ich Hunderte Male sterben wollte. falls längst in mir trage. Man merkt Mich packt auch diese verdammte es erst, wenn man an irgendwelchen Krankheit nicht." Körperstellen schmerzunempfindEr lachte bitter auf, wandte sich an lich ist, doch das fällt einem selbst die anderen verstümmelten Insulanur selten auf. Meist bemerken es die ner und sagte etwas in ihrer Sprache, anderen. Wer hier einmal landet, was Hasard nicht verstand. Offenkehrt nicht wieder auf die Inseln zu- bar klärte er sie auf, und Hasard sah, rück. Er kann nicht mehr zurück, wie sie nickten und auch Fragen denn die anderen würden es aus stellten, die Blake geduldig beantAngst nicht dulden." wortete. „Welche anderen?" fragte Hasard. Natürlich hatten sie die Ankunft „Jene Leute, die das kleine Boot zer- der „Isabella" beobachtet. Der Seestörten?" wolf hatte die heimlichen Bewegun„Ja, sie kontrollieren uns, und gen gesehen, nur die Leute hatten wenn wir ein Boot aus einem Stamm sich nicht gezeigt. gebaut haben, erscheinen sie in unHier mußte geholfen werden, regelmäßigen Abständen, um es zu überlegte er, dazu war er moralisch zerstören und uns keine Möglichkeit verpflichtet. Wenigstens Wollte er zu geben, wieder auf eine der schöne- versuchen, diesen armen Leuten das ren Inseln zurückzukehren. Und unausweichliche Ende etwas zu verschwimmen kann man hier nicht. schönern, wenn es schon keine Hilfe Um Deathlike Silence herum wim- für sie gab. melt es von Gelbbauchseeschlangen. Der Kutscher schüttelte unmerkIhr habt sie bereits gesehen, und ei- lich den Kopf. ner der Männer ist an ihren Bissen „Nein, Sir", sagte er auf Hasards gestorben." unausgesprochene Frage, „ich kann Mit diesen wenigen Worten war nichts tun, denn ich kenne diese für den Seewolf fast alles klar. Offen Krankheit nicht. Wenn die Medizin blieben allerdings noch eine Menge männer und Papalagis der Inseln anderer Fragen, die aber mehr per- nicht helfen können, dann scheint es sönlicher Natur waren. sehr schlimm zu stehen." Hasard wollte diesen armen KreaDer Seewolf nickte, dann wandte turen helfen, irgendwie, es gab sicher er sich an Blake, der seine Erzählung eine Möglichkeit, obwohl er sich beendet hatte. durchaus bewußt war, sie nicht an „Wo stehen eure Hütten? Wie lebt Bord nehmen zu können, um sie ir- ihr hier?" gendwo auf einer anderen Insel wie„Wir haben keine Hütten, Sir. Für der abzusetzen. Das verstieß hier die kurze Zeit, die wir noch leben, ganz offensichtlich gegen unge- brauchen wir auch keine. Wir schlaschriebene Gesetze. Daher fanden fen unter freiem Himmel und decken auch immer wieder die Kontrollen uns mit den Blättern der Palmen zu. statt. Wenn es stark regnet, dann rücken „Wir möchten euch helfen", sagte wir unter einem kleinen Dach zuer. „Auf dieser Insel scheint alles le- sammen, das wir uns selbst gebaut bensfeindlich zu sein. Selbst ein Ge- haben." sunder kann hier nicht lange existie„Wer verpflegt euch?" ren." „Niemand, Kapitän. Wir leben von „Ich bin schon eine ganze Weile dem, was die Insel bietet, ein paar
21 Früchte, Kokosnüsse und ein kleines Tarofeld. Wir kriegen ständig Nachschub - an lebenden Leichen", fügte er bitter hinzu. „Ab und zu bringt uns ein Boot auch einmal ein paar Brotfrüchte, aber das geschieht sehr selten." Hasard wollte mehr über diesen merkwürdigen Mann erfahren, der hier unter den Verstümmelten anscheinend freiwillig auf der Toteninsel lebte, aber er wollte ihn nicht direkt danach fragen. Vielleicht würde Blake das selbst erzählen, vielleicht erfuhr er seine Leidensgeschichte. „Wir haben Flut, Ed", sagte er zum Profos. „Also könnt ihr das Boot besteigen, ohne von den Seeschlangen belästigt zu werden. Ich bleibe noch hier. Geht beide an Bord, laßt das große Boot abfieren und beladet es mit allem, was entbehrlich ist. Denkt auch an Werkzeug, Öl und Segelleinen. Ihr wißt selbst am besten, was den Leuten hier fehlt. Nehmt ein paar Taue oder Stricke mit, Äxte, Messer und Blocksalz. Ferris soll mitkommen, um eine Hütte zu bauen, wir können diese Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen." „Ja, Sir", sagte der Profos, der nur nach außen hin immer so grimmig blickte und in Wirklichkeit ein weiches Herz hatte. „Sollen wir auch ein Faß Rum mitnehmen?" „Ja, natürlich. Und gebt acht. Ferris und die Leute, die du aussuchst, sollen Stiefel anziehen. Und nun geht!" Carberry und der Kutscher gingen den steinigen Weg am Strand zurück und schoben etwas später das Boot ins Wasser. Trinkwasser gab es auf der Insel, das stand für den Seewolf fest, denn sonst hätte hier keiner überlebt. „Meine Leute kehren bald mit einem beladenen Boot zurück", versprach Hasard. „Und unser Schiffszimmermann wird euch eine große Hütte bauen, ihr müßt nur den Ort
bestimmen." Als Blake das übersetzte, sah Hasard, daß einige der Leute still weinten und ihn gerührt anblickten. „Himmel", sagte Hasard, als der Engländer sich bedankte, „ich tue doch nur, was jeder andere auch tun würde. Ihr seid von jeglicher Zivilisation und aus der menschlichen Gesellschaft für immer ausgeschlossen, da ist es doch nicht mehr als recht und billig, wenn wir euch ein wenig helfen." „Die Hütte würden wir gern dort oben auf dem Hügel errichten", sagte Blake. „Dort gibt es einen kleinen See, unser Trinkwasser, das aus Regen besteht, der sich dort sammelt. Daran haben wir keinen Mangel, denn es regnet hier oft. Dort fühlen wir uns auch sicher." Blake musterte den Seewolf, dann zuckte er mit den Schultern. „Es ist auch wegen der Kopfjäger, Sir", sagte er leise. „Dort oben können wir sie früher entdecken und uns mit Steinen verteidigen, wenn sie erscheinen." „Die Kopfjäger laufen auch diese Insel an?" fragte Hasard verblüfft. „Ja, Sir. Natürlich sind ihnen die Schädel der Weißen als Tauschobjekt lieber, aber sie nehmen auch Eingeborene, besonders jene, die sich noch nicht verändert haben, die jungen Leute, bei denen die Anzeichen gerade festgestellt wurden. Wir haben schon oft ihre Bekanntschaft schließen müssen", setzte Blake hinzu. Als er schwieg, senkte sich wieder diese fürchterliche Stille über die Insel. Am Horizont standen gelbliche Wolkenbänke, und vom Meer her blies ihnen ein unangenehm warmer Wind ins Gesicht. „Wie viele Leute gibt es auf dieser Insel?" erkundigte sich Hasard nach einer Weile, denn er nahm an, daß sich oben auf dem Berg noch ein paar andere aufhielten, die nicht in Er-
22 scheinung treten wollten oder konnten. „Zur Zeit etwa neunzig", erwiderte Blake. „Diese Gruppe hier sind die fast Gesunden, die anderen sehen noch schlimmer aus. Mitunter schreitet diese Krankheit rasend schnell fort, andere wieder brauchen länger. Manche, ich hoffe dieser Anblick bleibt Ihnen erspart, Sir, kriechen am Strand herum und schreien nach Wasser. Sie kriechen immer wieder davon, sie wollen direkt am Meer sterben, und sie kriechen mit Körpern, die keine Glieder mehr haben. Dieser junge Mann da", sagte Blake und zeigte auf einen dunkelhäutigen Insulaner mit muskulösem Oberkörper und kräftigen Armen, „war der beste Schwimmer und Taucher. Er stammt von Malaita. Eines Tages wurde sein Gesicht von Flechten und Knoten befallen. Das ist jetzt erst drei Wochen her." Hasard sah den jungen Mann an, der ihm traurig zunickte und entsagungsvoll seine Hände hob, an denen die Finger fehlten. Sein Blick war leicht verschleiert, und als er nach unten blickte, sah der Seewolf die Verwandlung, die den vormals gesunden Körper ergriffen hatte. Der Mann bewegte sich nur noch auf Stümpfen. In manchen Gesichtern fehlten die Nasen oder die Ohren, die meisten hatten keine Finger mehr. Dazwischen gab es immer wieder welche, bei denen sich kaum ein Anzeichen dieser tückischen Krankheit erkennen ließ, wenn man es nicht zu deuten wußte. Hasard hatte schon viel gesehen, und er wollte auch nicht die Augen vor dieser Tatsache verschließen. Damit wurde sie nicht aus der Welt geschafft. Es gab diese Menschen, und sie existierten erbärmlicher als jede andere Kreatur unter der Sonne, das ließ sich nicht leugnen.
„Wollen Sie das Lager sehen, Sir?" fragte Blake. „Es ist nicht weit, nur ein paar Schritte den Berg hinauf." „Später, Mister Blake, ich muß erst diese Eindrücke verkraften, die Nachteile dieser herrlichen Paradiese - oder besser gesagt, ihre Kehrseiten. Bisher sind wir immer nur auf freundliche Inseln gestoßen, auf unbekümmerte Leute, und hier sehen wir das ganze Elend zum ersten Mal." „Ja, und es gibt keine Hilfe dagegen, das ist das Schlimme dabei. Es gibt keine Hoffnung, denn wer auf Deathlike Silence landet, dessen Name ist vergessen und ausgelöscht. Er kehrt nicht mehr zurück zu den Lebenden." „Und trotzdem versuchen es einige immer wieder?" „Ich kann sie nicht daran hindern, und ich will es auch nicht. Sie brauchen das bißchen Hoffnung, wieder zurückzukehren, auch wenn ihre Boote immer wieder zertrümmert und zerstört werden. Wer Kranke zurückbringt in die Gesellschaft, macht sich eines schweren Verbrechens schuldig. Man wird Sie später auch anflehen, Kapitän Killigrew, und die Leute werden so lästig sein wie Bettler. Aber Sie müssen hart bleiben. Andere Schiffe, die unsere Insel angelaufen haben, kehrten voller Entsetzen wieder um, als sie die Leute sahen. Sie haben nicht mal einen Fuß an Land gesetzt." Blake erklärte ihm alles, was er wissen wollte. Nur woher die rätselhafte und absolut tödlich verlaufende Krankheit stammte, das konnte er nicht beantworten. „Man sagt, die Weißen hätten sie eingeschleppt, denn es soll sie früher nicht gegeben haben, aber das ist nicht sicher. Soweit ich orientiert bin, gibt es diesen Aussatz auch nur in diesem Teil und ganz besonders auf den Salomonen. Diese Inseln sind die schlimmsten im ganzen Bereich,
Sir. Hier gibt es Fieber, giftige Seeschlangen und anderes Ungeziefer, das Sie auf keiner der anderen Inseln finden werden. Ich kenne mich hier aus." „Ihre Geschichte würde mich interessieren, Mister Blake." Wieder begann Blake bitter aufzulachen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. „Wollen Sie sie wirklich hören, Sir? Es ist keine sehr schöne Geschichte, auch die meines Freundes Hanky nicht." „Ich würde sie gern hören, denn immerhin ist es ungewöhnlich, auf diesem abgelegenen Eiland gleich zwei Engländer zu treffen." „Ich stamme aus Bristol, Sir, und Hanky auch. Wir kennen uns schon tausend Jahre, wie man so sagt, und jetzt kommt die Zeit, da es heißt, Abschied zu nehmen. Hanky nimmt das nicht so tragisch, er weiß, was ihm bevorsteht, er hat es täglich vor Augen. Vielleicht steht es mir ja auch noch bevor." Hanky, der Mann mit dem deformierten Körper, grinste traurig. Auch sein Blick war leicht verschleiert. Es mußte furchtbar für ihn sein, den sicheren Tod vor Augen zu haben. Tagtäglich sah er mit an, wie sein Körper sich veränderte und diese unheimliche Verwandlung fortschritt, bis er nur noch ein lebender Leichnam war. Ebenezer Blake sah aufs Meer hinaus. Dann erzählte er seine Geschichte. 5. „Im Jahre fünfzehnhundertachtundsiebzig des Herrn, vor zwölf Jahren also, heuerte ich auf der ,Glory', einer dreimastigen englischen Galeone, an. Hanky war bei mir, denn was wir taten, das taten wir immer gemeinsam.
23 Die ,Glory' war ein gutes und starkes Schiff, allerdings nicht so rank wie Ihr Segler. Auf der ersten Reise klappte jedoch überhaupt nichts. Wir segelten nach Indien, einem Land, das keiner von uns kannte, und wir gerieten in einen Sturm, der uns vom Kurs abbrachte und wochenlang weiter nach Süden trieb. Das Wasser verfaulte, an Bord herrschten Fieber, Krankheit und Siechtum. Die ersten Leute starben und wurden vom Kapitän über Bord gegeben. Erst sehr viel später fanden wir Land, und niemand wußte mehr, wo wir uns befanden. Der Kapitän ließ weitersteuern, nachdem wir unsere Wasservorräte und Nahrungsmittel
ergänzt hatten. Etwas später trafen wir auf einen Spanier, den der Sturm fast zertrümmert und entmastet hatte. Anhand seiner Roteiros erklärte er uns, wo wir uns befanden. Als Gegenleistung halfen wir ihm, das Schiff aufzuriggen, so gut es eben ging. Jedenfalls konnte er weitersegeln." „Ja, ein guter Don", sagte Hanky. „Einer von der Sorte, wie man sie nicht alle Tage antrifft." Ebenezer Blake legte seinem Kameraden freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Es war eine rührende Geste der Hilflosigkeit, fand Hasard. „Wir wußten jetzt zwar, wo wir waren, aber wir fanden den Kurs zu-
24 rück nicht mehr. Der Kapitän wei- ten es ja ohnehin nicht zu ändern, gerte sich, wieder in den Indischen und so fügten sie sich lethargisch in Ozean zu segeln, und wir weigerten ihr Schicksal. uns, weiter zwischen den Inseln her„Die ,Glory' hatte noch nicht einumzusegeln, weil sie nur Fieber, Tod mal alle Segel gesetzt, als an Bord und Verdammnis und ständige Schüsse fielen. Wir wußten nicht, Überfälle durch irgenwelche Stäm- was da passiert war, denn sie segelme brachten. Daraufhin brach eine te weiter, bis sie hinter dem Horioffene Meuterei aus, und der Kapi- zont verschwand. Auf der Insel, sie tän erschoß einen Decksmann. Einen war nicht ganz so groß wie Deathlike anderen mußte die Mannschaft hän- Silence, fanden wir zu unserem grogen, er zwang sie dazu, und so wurde ßen Glück Trinkwasser vor. Es war der arme Kerl von seinen eigenen nur ein tropfendes Rinnsal, aber es Kameraden umgebracht. Wir waren genügte, um drei Männer am Leben zu wenige Leute, um die ,Glory' zu zu erhalten. Wir ernährten uns von segeln, und wir mußten für die ande- den Vögeln, die dort nisteten, und von ren mitschuften. Das gab weiterhin Beeren und einer Handvoll Kokosböse Stimmung an Bord, und wieder nüssen. Wir aßen auch die angebrübrach Streit aus. Hanky und ich gin- teten Eier der Vögel, als die paar Kogen zum Kapitän, um mit ihm zu kosnüsse gegessen waren. Dann sprechen, was wir vielleicht ändern wurde Butch, unser dritter Mann, könnten, denn wir hatten weder ein krank, und keiner konnte ihm helZiel vor Augen noch eine Rückkehr fen, wir waren selbst krank. Ein paar in Aussicht. Tage später starb er, ohne zu klagen. war an der Meuterei genauso unDer Kapitän hörte uns nicht ein- Er schuldig wie wir auch. mal an. Er ließ Hanky, mich und einen weiteren Mann in Eisen legen Wir begruben ihn, das heißt, wir und segelte weiter. Nach zehn Tagen trugen ihn ins Wasser und beschwerwaren wir halb tot, krank und so ge- ten seine Leiche mit einem Stein, schwächt, daß wir uns kaum noch aber am nächsten Morgen war er auf den Beinen halten konnten. wieder da, und das wiederholte sich Dann wurden wir befreit und zu zweimal hintereinander. Weil unsere dritt in einem Boot an Land ge- Nerven das nicht mehr aushielten, bracht. Der Kapitän trieb uns mit begruben wir ihn auf der Insel, denn Gewalt an Land, es war eine erbärm- sein Anblick trieb uns zum Wahnlich karge Insel, und wünschte uns, sinn, weil wir ja das gleiche Schickwir mögen möglichst bald verrecken, sal vor Augen hatten. damit wir es hinter uns hätten. Dann Etwa einen Monat lang waren wir fuhr das Boot zurück, ein letztes höh- Gefangene der Insel. Dabei hatten nisches Lachen des Kapitäns, und wir am fernen Horizont noch Land wir waren allein." vor den Augen. Eine große Insel, aber Blake reckte sich ausgiebig und für uns unerreichbar, weil wir uns wischte sich den Schweiß aus dem nicht einmal ein Floß bauen konnGesicht. Ein paar der Kranken und ten. Außerdem hatten wir kein zum Tode Verurteilten gingen müh- Werkzeug. Der Kapitän hatte uns selig den Hügel hinauf, um einen nicht einmal Trinkwasser zurückgeSchluck Wasser zu trinken. Ein paar lassen, rein gar nichts. Dann waren andere setzten sich in den Sand und wir so entkräftet, daß es uns nicht mehr gelang, die Vögel zu fangen. dösten in der Bruthitze vor sich hin. Ihnen war offensichtlich alles egal, Fieber packte uns tagelang, und wir was mit ihnen geschah, sie vermoch- rechneten fest mit unserem Tod. Daß
25 er nicht kam, verdankten wir einem kleinen Boot, das zufällig die Insel anlief. Es waren Fischer, die zwischen den Inseln ihrem Handwerk nachgingen. Sie nahmen uns mit zu einer größeren Insel, und dort hielten wir uns längere Zeit bei den Insulanern auf. Nun, wir trieben uns herum, wir waren zwei Beachcombers, die von Insel zu Insel reisten. Wir bauten uns ein Boot, fischten oder trieben Handel mit den Eingeborenen, indem wir von einer Insel das holten, was die andere nicht hatte, und umgekehrt." „Ja", sagte Hanky, „es war eine schöne Zeit, Ebenezer, die schönste Zeit meines Lebens, aber nun ist sie leider rum." „Ja, wie alles einmal ein Ende hat", sagte Blake. Dann erzählte er seine Geschichte weiter. „Lange Zeit später liefen wir wieder eine Insel an und entdeckten am Strand ein halbverfallenes Wrack. Es war total ausgeplündert, und wenn Sie jetzt vermuten, daß es die ,Glory' war, Sir, dann vermuten Sie richtig. Sie war es, ein elendes Wrack, das auf die Klippen gelaufen und gestrandet war. Der Rumpf war aufgerissen, die Masten gebrochen, das Achterdeck zersplittert. Wir nahmen an, daß vielleicht noch ein paar unserer Leute überlebt hätten. Später fanden wir tatsächlich welche, nur ein halbes Dutzend, die sich auf Ratanga, so nannten die Eingeborenen die Insel, festgesetzt hatten und auch heute noch da leben, Fischerei oder Handel betreiben und nicht mehr daran denken, zurückzukehren. Auf dieser Insel gab es ein größeres Dorf und zwei richtige Kneipen, außerdem eine kleine Handelsstation, die auch regelmäßig von Kopfjägern angelaufen wurde. Eines Tages tauschten sie die Schädel von Weißen ein, kleine Schrumpfköpfe, die hier oft gehandelt werden. Einer dieser Schrumpfköpfe trug überdeutlich die
Züge unseres Kapitäns, ein anderer die des Zweiten Steuermannes. Da die Mannschaft sich in alle Winde verstreut hatte, wußten wir natürlich nicht, auf welcher der Inseln das passiert war. Wir empfanden trotz der schmählichen Behandlung auch keine Schadenfreude oder Genugtuung. Wir verprügelten die Kopfjäger, bis sie nicht mehr laufen konnten, die Schädel beerdigten wir." Blake unterbrach sich und füllte seine Lungen mit der stickigen warmen Luft. Nicht einmal er hatte sich an dieses erbarmungslose Klima gewöhnt, denn ihm lief der Schweiß genauso über das Gesicht wie dem Seewolf auch. „Auch wir waren von dem Zauber dieser Insel gefangen, sie liegt übrigens ganz in der Nähe. Das Klima ist dort auch erträglicher und angenehmer wie auch in Vella Lavella. Wir wurden freundlich aufgenommen und blieben da." „Und was war mit Ihrem Schiff geschehen?" fragte Hasard. „Es hat später noch einmal eine Meuterei gegeben. Der Kapitän und der Bootsmann wurden in Eisen gelegt, und eines Nachts lief die ,Glory' auf das Riff. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Eine Reparatur war nicht mehr möglich. Kapitän und Bootsmann wurden befreit und an Land gebracht. Die beiden verschwanden, und erst sehr viel später sahen wir dann den Kapitän auf diese grausige Weise wieder. Daß auf diesen lieblichen Inseln heimlich der Tod umging, erfuhren wir erst durch Zufall. Wir sahen, daß der Papalagi und der Medizinmann das ganze Dorf durchsuchten, und einer unserer Leute half dabei, er gab den Ton an. Das hatte er an Bord auch schon immer getan, meist mit den Fäusten, wenn es nicht anders ging. Sie suchten Leute, die an einer merkwürdigen Krankheit litten, eben an diesem tödlichen Aussatz. Sie fanden immer
26 wieder welche. Auch die Tochter des Papalagi war davon befallen. Meist zogen sich diese Leute in das Inselinnere zurück, doch damit waren die anderen nicht einverstanden. Sie wollten nicht zusammen mit den Aussätzigen leben oder sie in ihrer Nähe wissen, und da verfiel Trader, so hieß unser Mann, auf die Idee, die Kranken auf einer kleinen, unbewohnten Insel auszusetzen und sie dort ihrem Schicksal zu überlassen." Hasard schüttelte den Kopf und wartete, bis Blake mit seiner Erzählung fortfuhr. „Es spielten sich erschütternde Szenen ab, das kann sich niemand vorstellen, der es nicht selbst sah, Sir. Aber es war eine Schutzmaßnahme gegenüber den Gesunden, denn bis heute ist nicht geklärt, ob dieser Aussatz ansteckend ist oder unter welchen Umständen er auftritt." „Sie scheinen immun dagegen zu sein, Mister Blake. Sonst würde man nach so langer Zeit etwas an Ihnen bemerken." „Ja, es scheint so. Bei Hanky begann es ziemlich schnell. Später verliebte ich mich in eine der Inselschönheiten und heiratete sie nach dem Stammeszeremoniell. Das liegt erst ein paar Jahre zurück. Vor etwa einem halben Jahr brach bei ihr diese furchtbare Krankheit ganz plötzlich aus, und sie mußte auf die Insel. Ich habe sie freiwillig begleitet, denn ich wollte mich nicht von ihr trennen." Blake schluchzte plötzlich auf. „Ich habe sie getötet, Sir", sagte er leise. „Ich liebte sie so, daß ich sie tötete, und sie bat mich auch jeden Tag darum. Erst als sie nicht mehr laufen konnte und regelrecht zerfiel, habe ich es nicht mehr mit ansehen können, wie sie sich quälte, wie aus der hübschen jungen Frau ein Ungeheuer wurde, und da - da habe ich sie getötet. Sie hat es nicht mehr gemerkt", setzte er leise hinzu. „Sie ruht dort
drüben bei den Korallen. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle, aber ich muß es mir einmal von der Seele reden, denn außer Hanky weiß es keiner." Der Seewolf war tief erschüttert, und eine Welle des Mitleids stieg in ihm hoch. Er wußte nicht, was er sagen sollte, denn die Gefühle dieses Mannes konnte er nicht nachempfinden, dazu mußte man eine solche Situation wohl selbst erlebt haben. „Nach dem Tode meiner Frau konnte und wollte ich auch nicht mehr zurück. Ich blieb hier und litt mit diesen armseligen Kreaturen. Eines Tages brachten sie auch Hanky. Das war für mich erst recht ein Grund, auch weiterhin hierzubleiben. Ich spreche den Leuten Trost zu, ein geheuchelter Trost, Sir, denn es gibt nichts zu trösten. Jeder weiß, was ihm bevorsteht. Ich bleibe weiter hier als ein Verdammter von Deathlike Silence, und hier, auf dieser verfluchten Insel, werde ich auch sterben. Das ist, bis auf ein paar Kleinigkeiten, meine ganze Geschichte, Sir." „Wirklich keine schöne Geschichte", hörte Hasard sich murmeln. „Es ist ein verdammtes, schweres Schicksal, das Sie tragen, und ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken. Aber ich bewundere Sie, Mister Blake, ich bewundere Ihren Mut und Ihre menschliche Größe. Es wird nur ganz wenige Leute geben, die so handeln wie Sie, vielleicht gibt es keinen einzigen." Hasard drehte sich um, als er bemerkte, daß ein paar der Jammergestalten in eine bestimmte Richtung blickten. Das Boot kam, das große Beiboot der „Isabella", und es lag tief im Wasser. Hasard genoß die Freude und das plötzliche Lächeln der Leute, die ihn dankbar anblickten. Wenigstens helfen konnten sie,
27 dachte er, wenn auch nicht viel. Aber sie freuten sich, und das war viel wert. * Der Riese Carberry sprang als erster heraus, gefolgt von Ferris Tukker, dem graubärtigen Big Old Shane und Smoky. Kräftige Fäuste zogen das Boot hoch auf den Strand. Der Profos mußte den Männern schon einiges erzählt haben, trotzdem blieb das leise Entsetzen auf den Gesichtern der Seewölfe, als sie die anderen Leute der Insel sahen. Carberry beugte sich nieder und zog den Kutscher heraus, der zwischen Fässern und Segelleinen irgendwo festklemmte. Er trug einen Beutel mit Salben, Mixturen und seinem ganzen geheimnisvollen Kram mit sich, obwohl er wußte, daß er nicht helfen konnte. Aber einen Versuch war es immerhin wert. Dann wurde ausgeladen. Fässer mit Walfischöl wurden an den Strand gemannt. Äxte, Messer, Beile, Segelleinen, zwei Fässer Rum, getrockneter Schiffszwieback, Pökelfleisch, Tee und Reis, den sie immer noch aus dem Land des Großen Chan an Bord hatten. Spaten folgten, ein paar Mucks, Weinflaschen und Holz, um das Gerüst für eine Unterkunft zu bauen. Blake bedankte sich immer wieder im Namen aller, und Hasard sah es in seinen Augen feucht schimmern, so überwältigt war der Mann. Als das Boot endlich entladen war, lief ihnen der Schweiß über die Körper. Zum Schluß folgten noch Stahl und Flintstein, Zündkraut und ein kleines Faß Schießpulver. Nur Waffen hatten sie nicht mitgebracht, weil Carberry befürchtete, die dem Tod geweihten Leute würden sich damit selbst erschießen. Dann ging es den Berg hinauf, oh-
ne daß dabei viel gesprochen wurde. Die Insulaner schleppten mit, und sie schnappten sich immer die schwersten Sachen, bis Carberry abwinkte. „Die Leute sollen nur die leichten Sachen tragen, Mister Blake. Sie sind es nicht gewöhnt und auch gar nicht in der Verfassung, schwere Fässer zu schleppen." „Es ist ihnen peinlich, wenn Sie sich abmühen", sagte Blake, „und sie fast untätig herumstehen." Als sie den Hügel erreichten, bot sich ihnen ein neuer Anblick. Von hier oben aus sah man jedes Schiff, das sich der Insel näherte. Die anderen Inseln, die für die Kranken so unerreichbar fern waren, lagen zum Greifen nahe. Hierher hatten sie sich zurückgezogen, hier oben hausten sie zwischen den Felsen, über die ein paar Kokoswedel gedeckt waren. Hasard sah, daß der Brunnen gut gefüllt war, aber er sah auch noch mehr und schüttelte den Kopf vor Entsetzen. Die Menschen, die zum Sterben daniederlagen, hatten sich aus Angst oder Scham verkrochen und waren nicht zu sehen. Oder andere hatten sie rechtzeitig weggebracht, um den Fremden den Anblick zu ersparen. Viele hatten die Gesichter mit dunkelgrünen Blättern verhüllt, die sie um den Kopf gebunden hatten. Nur zwei dunkle Löcher waren zu erkennen, hinter denen alles Leid der Welt verborgen war. „Mein Gott, ist das furchtbar", sagte der ehemalige Schmied der Feste Arwenack erschüttert. „Nach Eds Erzählung habe ich es mir nicht mal halb so schlimm vorgestellt. Und du bist sicher, daß sie alle sterben müssen?" wandte er sich erschüttert an den Seewolf. „Ja, alle bis auf Blake, so hat er es mir erzählt. Bisher gibt es keine Rettung. Wenn du den Friedhof sehen könntest, Shane, würde dir das über-
28 deutlich klarwerden. Zu ihrer Hoffnungslosigkeit kommt noch die Angst vor den Kopfjägern, die sie in unregelmäßigen Abständen überfallen, weil sie sich hier leichte und wehrlose Beute erhoffen." Shane wandte sich schweigend ab, aber Carberry hatte die letzten Worte noch gehört und nickte grimmig. „Hoffentlich erscheinen sie, wenn wir noch hier sind", sagte er drohend. „Ich werde dieser Bande nicht die Hälse abschneiden, aber das Gegenteil ziehe ich ihnen dann streifenweise ab von ihren karierten Affenärschen." Ferris Tucker, Ed, Smoky und Shane gingen unverzüglich daran, die große Hütte zu erstellen. Balken wurden in die Erde gegraben und darüber das stabile Segellefnen von Schwerwettersegeln der „Isabella" gespannt. Die Insulaner, ganz besonders Hanky, halfen mit, soweit ihre verstümmelten Gliedmaßen das zuließen. Mit ihren eigenen unzulänglichen Mitteln hätten sie überhaupt nichts tun können. Hasard sprach mit Ebenezer Blake. „Dieser Trader", sagte er, „was ist das für ein Mann?" Blake hob langsam die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Er läßt sich nicht genau einordnen, Kapitän Killigrew. Auf den meisten Schiffen gibt es so einen Kerl. Er ist gewalttätig, spielt sich immer auf und drängt sich in den Vordergrund. Was er durch Schläue oder List nicht schafft, das erreicht er mit Gewalt. Er versteht es, sich einzuschmeicheln, oder er drängt sich eben gewaltsam nach vorn." „Hm, und Sie meinen, er hat Einfluß bei dem Papalagi oder dem Medizinmann?" „Darauf halte ich jede Wette. Er hat heute ganz sicher mehr zu sagen als alle beide zusammen." „Den Burschen werde ich mir an-
sehen", versprach Hasard. „Und ich werde auch mit ihm reden." „Was versprechen Sie sich davon, Sir?" „Ich werde ihn veranlassen, daß er einmal wöchentlich ein Boot mit Lebensmitteln und Früchten herüberschickt." „Das werden Sie nicht schaffen, Sir", sagte Blake. „Die erste Ladung werde ich bringen, in den nächsten Tagen schon. Und dann wird es schon klappen. Gibt es Brotfrüchte auf den anderen Inseln?" „Ja, genügend." „Hier nicht?" „Keine einzige. Ich wollte ein paar Schößlinge herüberbringen, aber es wurde nicht erlaubt." „Auch darum werde ich mich kümmern", sagte Hasard. „Ihr Leben auf dieser Toteninsel muß wenigstens einigermaßen lebenswert werden. So wird es jedenfalls nicht bleiben, das verspreche ich Ihnen." „Vielen Dank, Sir. Aber ich möchte nicht, daß Sie wegen uns Schwierigkeiten kriegen. Sehen Sie, die Leute sind ja schon so dankbar, daß Sie uns geholfen haben, mehr kann niemand verlangen." Hasard ließ das Thema fallen. Er streckte die Hand aus und zeigte in die Runde, wo die vielen anderen Inseln lagen. „Welche ist es?" fragte er. „Jene große Insel, von hier aus rechts gesehen - beziehungsweise Steuerbord", verbesserte sich Blake mit einem schmerzlichen Lächeln. „Es gibt einen kleinen Hafen, dort herrscht auch meist reger Verkehr. Aber hüten Sie sich vor Trader, seine Macht auf der Insel wird immer größer, er ist falsch und hinterhältig." „Mit solchen Leuten hatte ich schon oft zu tun, und die wird es auch immer wieder geben. Wir werden heute nacht noch hier ankern, mor-
29 gen segeln wir in aller Frühe hinüber." Blake nickte und ging zu den Seewölfen hinüber, um beim Aufbau wieder mitzuhelfen. Langsam nahm die große Unterkunft Gestalt an. Der Schiffszimmermann, Shane, der Profos und Smoky hauten rein, und sie verstanden ihr Handwerk. Das große Leinen wurde gespannt. Es bot Schutz vor Regen und vor glühender Sonne, und kein Sturm würde es wegreißen, denn die Senke auf dem Berg war gut geschützt. Es dauerte auch nicht lange, dann bestand die Unterkunft ihre erste Bewährungsprobe. Über Deathlike Silence ging ein kurzes, aber heftiges Gewitter nieder. Regen prasselte schwallartig nieder, und kein einziger Tropfen drang durch das Schwerwettersegel. Blakes Dank und der der anderen kannte keine Grenzen, aber der Seewolf wehrte jeden Dank ab, ebenso die anderen. Wenn sie helfen konnten, dann halfen sie, ohne große Worte, das war für die Männer der „Isabella" selbstverständlich. Bis zum späten Nachmittag war alles erledigt. Die Unterkunft war jetzt auch von den Seiten abgeteilt und vor Wetter geschützt. „Bei Tagesanbruch segeln wir zu der anderen Insel hinüber", sagte Hasard. „In ein paar Tagen sind wir wieder zurück. Und der Teufel soll mich holen, wenn unser Schiff nicht mit allem beladen ist, was euch hier fehlt." Als sie ins Boot stiegen, winkten ihnen die verunstalteten Menschen noch lange nach. Manche weinten, einige hatten sich versteckt, aber niemand flehte sie an, sie mitzunehmen. Anscheinend hatten Blake und Hanky das bewerkstelligt. Dennoch gab es einen Zwischenfall, aber das war nicht Blakes Schuld, denn er konnte ganz sicher
nichts dafür. Als das Boot durchs Wasser glitt, waren immer noch die gelbbäuchigen Seeschlangen zu sehen, nur waren sie nicht mehr so zahlreich wie zuvor. Aber keiner hätte sich auch nur getraut, den kleinen Finger ins Wasser zu stecken. Das große Beiboot wurde an Bord genommen, und die Zurückgebliebenen begrüßten ihre Kameraden, die pausenlos mit Fragen bestürmt wurden. Es wurde trotzdem weniger erzählt als sonst, denn Smoky und die anderen wirkten ziemlich niedergeschlagen und bedrückt, seit sie die Kranken gesehen hatten. Ab und zu wurde auch Old O'Flynn mit einem scheuen Blick gestreift, aber angeblich konnte er sich an nichts erinnern, was er vorausgesagt hatte. Wenn ihn jemand darauf ansprach, wies der Alte das entrüstet von sich. Dann senkte sich schnell die Nacht über das Meer, und die Konturen der Insel nahmen die Gestalt eines springenden Tieres an. „Laßt die Lampen an Deck brennen", sagte Hasard. „Und entzündet auch die große Hecklaterne! Es darf nicht passieren, daß einer der Kranken heimlich an Bord klettert und sich irgendwo versteckt. Gebt also gut acht!" „Bei den vielen Seeschlangen wird sich keiner ins Wasser trauen", vermutete Carberry. „Der käme ohnehin keine zehn Yards weit." „Diese bedauernswerten Leute sind zu allem fähig", warnte der Seewolf noch einmal nachdrücklich. „Ich bin sicher, daß jeder von ihnen wieder zurück möchte. Die Sehnsucht treibt sie zu ihren Heimatinseln. Wenn ihr in der gleichen Lage wäret, würdet ihr ganz genauso handeln. Diese Leute haben nichts zu verlieren, nicht einmal mehr ihr Leben, denn das ist schon fast zu Ende. Wir können und dürfen also keinen von
30 ihnen zurückbringen, so hart sich Auslaufen des Rahseglers entgehen das auch anhören mag. Habt ihr das lassen, und so standen sie stumm da und winkten den Seewölfen dankbar alle verstanden?" „Aye, aye, Sir!" rief ein ganzer Chor ihren Abschiedsgruß nach. Stimmen. Der Profos stieß tief die Luft aus. „Gut, dann gehen heute nacht vier „Mann, was bin ich froh, wieder Wachen. Smoky wird die Männer richtige Seeluft zu atmen", sagte er einteilen. Gute Nacht!" zu seinem Freund, dem rothaarigen „Gute Nacht, Sir!" rief es wiederum Schiffszimmermann. „Ich glaube, in im Chor. ein paar Tagen würde ich auf der InBald darauf senkte sich Stille über sel krepieren. Da ist die Luft so dick das Schiff. Nur die Deckswachen wie Sirup. Das ist eine der unheimgingen auf und ab. lichsten Inseln, die ich je gesehen haAber den Mann, der sich trotz See- be." schlangen in der Finsternis der „Isa„Mir geht es ähnlich, Ed. Aber wir bella" näherte, sah niemand. werden für diese armen Teufel etEr hatte ohnehin mit seinem Leben was tun, und wenn dieser Trader abgeschlossen, und ihm war es egal, sich großkotzig aufspielt, dann werob er an dem Aussatz starb oder an den wir ihm - äh ..." den Bissen der tödlichen Schlangen. „Die Haut in Streifen von seinem Er hatte nichts zu verlieren. verdammten Affenarsch ziehen", Ruhig und unbeirrt durch die setzte Carberry andächtig hinzu. Schlangen, schwamm er weit in die Ihr Gespräch wurde unterbrochen, See hinaus und nahm erst dann Kurs denn die Sprößlinge des Seewolfs auf die „Isabella". Fast ständig tau- tobten, gemeinsam mit dem Schimchend, erreichte er sie ungesehen pansen Arwenack, über die Kuhl. und krallte sich tief unten am Ruder- Über ihren Köpfen kreuzte der schaft fest. Aracanga und schrie ein unanstänSelbst wenn jetzt jemand hinun- diges Wort, über das sich die Zwillinterleuchtete, konnte er ihn nicht se- ge köstlich amüsierten. hen, denn dieser Winkel war von „Du scheinst deine Verletzung ja oben aus uneinsehbar. gut überstanden zu haben, du RüDie ganze Nacht harrte er dort aus. benschweinchen", sagte Carberry zu Merkwürdigerweise griff ihn keine Hasard, dem älteren der beiden einzige der zahlreichen Schlangen Zwillinge. „Was meint der Kutscher an. denn dazu, daß du so herumtollst?" Klein Hasard blickte den Profos 6. aus seinen eisblauen Augen treuherzig an. In der Frühe am anderen Morgen „Der Kutscher? Der sagt, selbst ging die „Isabella" ankerauf und wenn mich ein Siebzehnpfünder am nahm Kurs auf die Insel, deren Lage Kopf treffen würde, dann ginge der Blake dem Seewolf erklärt hatte. Siebzehnpfünder kaputt, aber nieDie letzten Segelmanöver waren mals meine Birne." gerade beendet, die Nagelbänke kla„Klar", sagte Ed trocken, „deine riert. Birne ist ja auch größer als ein SiebCarberry stand neben Tucker auf zehnpfünder, da hat der Kutscher der Kuhl und winkte den verhüllten recht, also kann sie nicht kaputtgeGesichtern nach, die sich oben am hen. Tut's noch weh?" Berg zeigten. Carberry spielte auf die SchußverKeiner der Kranken hatte sich das letzung an, die den Kleinen erwischt
31 hatte, aber Hasard winkte großspurig ab. Er hatte eine Kondition wie sein Vater, eine Bärennatur, und in seinem Alter heilten alle Wunden viel schneller. „Keine Spur", sagte er. „Oder haben Sie schon mal einen Seewolf heulen hören, Sir?" „Allerdings nicht", sagte der Profos verblüfft. „Ein Seewolf ist ja auch ein Fisch, und die heulen nicht." „Eben, Sir", sagte Hasard nickend. „Deshalb heule ich auch nicht wegen so einem Kratzer." „Deine Logik ist ja direkt umwerfend, Mann. Na, nun haut schon ab, ihr beiden Seewölfe." „Jetzt sind die Burschen in dem Alter, in dem sie ständig ihr starkes Hemd anhaben und große Sprüche klopfen", sagte Ferris lachend. „Aber die Kerlchen sind ganz in Ordnung, aus denen wird noch mal was." Während sie sich weiter unterhielten und die „Isabella" Kurs auf die Insel hielt, gingen Hasard und Philip nach achtern, in die Kapitänskammer. Anfangs hatten sie vorgehabt, „ein Ding knallen zu lassen", um die Männer ein bißchen zu erschrecken. Bei diesen Dingern handelte es sich um chinesische Brandsätze von unterschiedlicher Wirkung. Es gab die harmlosen Knallkörper, die funkenspeienden Heuler und die scharfen Brandsätze, deren einmal entfachtes Feuer nicht mehr zu löschen war. Aber ein harmloser Knaller würde genügen, und der Affe Arwenack würde wie ein Blitz in die Wanten flitzen, und der Papagei Sir John würde mit den übelsten Schimpfwörtern herumwerfen. An dem Bleiglasfenster blieben sie stehen und blickten achteraus, wo die „Isabella" eine schnurgerade Bahn aus Blasen und schäumendem Wasser hinter sich herzog. Philip meldete die ersten Bedenken an, als er den Knallkörper in der
Hand hielt. „Der Profos zieht uns die Haut ab", sagte er. „Oder Grandad vermöbelt uns mit dem Holzbein, wenn wir den an Deck sausen lassen." Hasard überlegte lange und zog die Stirn kraus. Dann grinste er lausbubenhaft. „Wir feuern einen aus dem Fenster, Philip, schließen das Fenster gleich wieder und hauen ab, als ob nichts gewesen wäre. Dann fliegt der Kracher in die See, und wir tun so, als würden wir uns mächtig wundern. Was meinst du?" „Klar, das ist gut!" In der Vorfreude rieben sich beide die Hände und grinsten. Es dauerte auch nicht lange, dann glomm eine winzige Lunte, die sie mit Flintstein und Stahl entzündet hatten. „Ich steck ihn an", sagte Hasard. „Nein, ich!" Schließlich einigten sie sich darauf, daß Philip den Knaller ansteckte und Hasard ihn warf, weil er der ältere war. Die kurze Lunte begann zu zischen und zu sprühen, und Hasard schielte auf das Ende, das rasend schnell verglomm. „Wirf doch endlich, sonst fliegt er uns um die Ohren", drängte Philip nervös. Hasard beugte sich aus dem Fenster, grinste noch stärker und ließ den Knaller fallen. Noch bevor er in das schäumende Kielwasser fiel, explodierte er mit einem bestialischen Knall. Der Erfolg, der sich daraufhin einstellte, war verblüffend. Die Explosion war noch nicht richtig verhallt, als ein angstvoller Schrei direkt aus dem Meer aufstieg. Es war ein Urschrei der Angst, der den Zwillingen das Blut aus den Wangen trieb und sie zu Salzsäulen erstarren ließ. Das Schlimme daran war, daß er direkt aus dem Meer
32 kam. Das sprengte ihre Vorstellungskraft. „Gott steh uns bei!" schrie Philip. „Wir haben einen der Meermänner getroffen! Und jetzt werden die anderen ihn rächen und unser Schiff auf den Grund ziehen." „Viel-vielleicht den Meergott persönlich", sagte Hasard bebend. „Dann ist sowieso alles aus. Los, laß uns verschwinden!" Sie knallten das Fenster zu, ließen den Riegel fallen und flitzten an Deck, wo sie sich betont harmlos gaben und so taten, als wären sie tödlich erschrocken. Aber ihre Hände zitterten, und sie hatten knallrote Schädel, denn auf der „Isabella" war augenblicklich der Teufel los. Fast ausnahmslos alle waren bei dem unerwarteten Knall zusammengezuckt, und der nachfolgende Urschrei ließ sie noch einmal zusammenfahren. „Bei allen Geistern!" schrie der Profos. „Was war das denn?" Den Zwillingen hatte keiner große Aufmerksamkeit geschenkt, und als sie jetzt harmlos an Deck standen, dachte sich auch immer noch keiner etwas dabei. Hasard war herumgewirbelt und blickte achteraus in die See. Aber da gab es nichts zu sehen, und so konnte er sich den Knall nicht erklären. Dem ersten Anschein nach sah es aus, als hätte ein anderes Schiff die „Isabella" beschossen, aber es gab kein anderes Schiff. Nur die Insel lag jetzt zum Greifen vor ihnen, die sie ansteuerten. Fast alle rannten nach achtern und rätselten herum. Al Conroy inspizierte besorgt die Pulverkammer und kehrte ratlos an Deck zurück, weil er nichts gefunden hatte. Den Zwillingen wurde es mulmig, fast schlecht vor Angst, bis Al Conroy schließlich sagte: „Wenn das keiner von den chinesischen Krachern
war, dann freß ich alle Culverinen auf einmal." „Und wer, zum Teufel, hat dann so laut geschrien?" wandte sich der Profos an die Männer. Ratloses Schulterzucken war die Antwort. Es gab keinen Verletzten, und doch hatte jemand seine Angst in den höchsten Tönen hinausgeschrien, als die Explosion erfolgt war. Die Zwillinge zogen sich weiter zurück auf die Kuhl. Alle beide blickten furchtsam dem Profos entgegen, dessen Rammkinn sich vorschob und der ziemlich üble Laune hatte. Die achtere Kammer war ergebnislos durchsucht worden, weil der Knall eindeutig von dort gekommen war. Vor den beiden blieb Carberry stehen und sah scheinbar gelangweilt auf sie hinunter, bis sie die Köpfe senkten und wie Schmalz in der Sonne schrumpften. Carberry pfiff laut und falsch. „Ich warte auf eine Antwort", sagte er ruhig. „Und zwar auf eine Antwort, die mir eindeutig erklärt, was da geknallt und wer da wie am Spieß geschrien hat." Sie sagten immer noch nichts. „Nun", sagte Ed, „dann werde ich die Antwort wohl ein wenig aus euch herausklopfen müssen, denn dafür kommt überhaupt kein anderer in Frage als ihr beiden Affenpopos! So, ihr flachgewalzten Kakerlaken wer von euch hat den Kracher gezündet? Wer war es?" brüllte er so laut, daß die beiden zusammenzuckten. Schließlich trat der kleine Hasard vor. Er zitterte immer noch. „Ich war es, Sir!" „Nein, ich war es!" behauptete sein Bruder. „Also beide in stiller Eintracht. Das dachte ich mir doch. Wollt wohl ein bißchen Erschrecken spielen, was, wie? Die Geheimnisvollen markie-
Seit wir ab dem SEEWÖLFE-Band 200 dieses Forum eingerichtet haben, hagelt es Leser-Zuschriften, und die Redaktion sieht sich plötzlich einem „fulltime job" gegenüber, wie es in der englischen Sprache so schön heißt - also einer Ganztagsarbeit, was natürlich weniger aufregend klingt. „Fulltime job" klingt mehr nach Braßfahrt - meinen wir und wollen damit auch nur sagen, daß wir uns freuen, ein solches Leser-Echo geweckt zu haben. Dabei wird uns bereits bewußt, daß wir beim Abdruck einer Leserzuschrift vor der Qual der Wahl stehen und zu überlegen haben, ist die Zuschrift interessant für alle Leser oder nicht. Herausgestellt hat sich schon, daß wir bei der Vielzahl der Leserzuschriften - die noch dazu durchweg interessant sind - den Umfang des SEEWÖLFE-FORUMS gewaltig vergrößern müßten, was aber weder eingeplant noch möglich ist. Darum bitten wir an dieser Stelle um Verzeihung, daß wir nicht jede Leserzuschrift hier im Forum veröffentlichen können - wir müßten dann nämlich zu jedem SEEWÖLFE-Roman einen Sonderband herstellen. Für heute herausgefischt haben wir die Leserzuschrift von Frau B E , 3140 Lüneburg, und zwar einfach deswegen, weil uns eine Leserin schreibt, was uns ein bißchen verblüffte, da wir meinten, von der weiblichen Leserschaft nicht beachtet zu werden. Dem ist nicht so. Und die Redaktion hatte auch allen Grund dazu,
sich daran zu erinnern, daß weibliche Skipper im letzten Jahrzehnt von sich reden machten, als sie einhand an Atlantikregatten teilnahmen. An Härte und Durchhaltewillen standen sie ihrer männlichen Konkurrenz in nichts nach die Aussage von den „eisernen Männern auf hölzernen Schiffen" ist Legende geworden. Nun, Frau E fragt, ob der Profos der „Isabella", Edwin Carberry, von den Autoren der SEEWÖLFESerie nicht stark „überzeichnet" würde. Wir befragten unsere Autoren, und sie waren einhellig der Ansicht, Männer wie Carberry habe es zu jeder Zeit und an Bord fast jeden Schiffes so oder so gegeben, auf Handelsschiffen ebenso wie auf Kriegsschiffen, Kerle, die fluchten, fürchterlich aussahen und ein Herz aus Gold hatten, ganz abgesehen von ihrer seemännischen Qualifikation. Einen Profos, wie wir ihn innerhalb der SEEWÖLFE-Crew vorstellen, hat es natürlich zur späteren Zeit der Windjammer nicht mehr gegeben. Da war es dann der Bootsmann oder die „seemännische Nr. 1" oder der Decksälteste - gleichviel ein Mann, der aufgrund seiner Persönlichkeit Autorität war. Und solche Persönlichkeiten waren oft genug fast etwas skurril was die Rauhbautzigkeit keineswegs ausschloß. Für heute grüßt Sie herzlich Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren.
36 ren, wie, was? So tun, als hätte der Blitz aus heiterem Himmel die ,Isabella' getroffen, ihr Pupstrompeter! Zeigt mal eure Flossen her, wer hat sich verletzt von euch?" Sie streckten die Hände vor. Es gab keine Verletzungen. „Und ich dachte immer", sagte Ed höhnisch, „Seewölfe heulen nicht, das hast du doch eben noch behauptet. Das war wohl der Schreck, was wie, der euch in die Knochen gefahren ist?" „Sir", begann Hasard vorsichtig. „Wir geben das ja auch zu, aber geheult hat einer der Meermänner, wir waren es ganz bestimmt nicht. Wir haben einen von ihnen mit dem Kracher getroffen. Und da hat er plötzlich losgebrüllt wie verrückt." Carberry stemmte die mächtigen Pranken in die Seiten und blickte die beiden Sünder an. „Den Quark habt ihr wohl von eurem Opa, he? Meermänner mit dem Kracher getroffen! Ihr spinnt wohl! Und die haben dann unter Wasser laut gebrüllt. Jetzt hört sich doch wohl alles auf." „Aber so war es, Sir!" Mittlerweile hatte sich die „Isabella" der Insel genähert, und vom Deck aus sah man schon die kleine Bucht und den hölzernen Anlegesteg, der ein Stück ins Meer ragte. Es war nicht mehr als ein schmaler Steg, um den sich viele Leute geschart hatten. „Mann über Bord!" ertönte mitten in Carberrys Strafpredigt die Stimme des blonden Schweden Stenmark aus dem Großmars. Noch einmal war gleich darauf der Teufel los. Wer konnte denn jetzt über Bord gefallen sein? Bei der fast ruhigen See war das ausgeschlossen. Alle starrten ins Wasser, und jetzt sah es auch jeder deutlich. Ein Eingeborener schwamm im Wasser, und er hatte es ziemlich eilig, die Küste zu erreichen, denn er paddelte wie wild
von der „Isabella" weg und schwamm eine menschenleere Stelle der Bucht an. Backbrassen, um den Mann aufzufischen, war nicht mehr möglich, außerdem wollte er auch gar nicht aufgefischt werden. Er wollte nur an Land und dort verschwinden, mehr nicht. Dem Seewolf ging schlagartig ein Licht auf. Er griff sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Der Bursche ist heute nacht an die ,Isabella' herangeschwommen oder getaucht", sagte er ärgerlich. „Und zwar so, daß ihn keine der Wachen bemerkt hat. Wie er das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Dann hat er sich am Ruderschaft festgeklammert und ist mitgefahren." „Richtig", sagte Ben Brighton. „Und als die beiden Helden ihren Kracher über Bord warfen, muß er dicht in seiner Nähe krepiert sein. Daher der Schrei. Das muß ihn natürlich erschreckt haben, so ein Knall aus heiterem Himmel. Und jetzt ist er abgesprungen und schwimmt an Land. Hoffentlich bringt uns das keinen Ärger ein. Aber deine Söhne haben daran keine Schuld, Sir. Sie hätten ihren verdammten Kracher nur eine halbe Stunde früher werfen sollen, dann hätten wir den Burschen noch zurückbringen können." „Das ist jetzt nicht mehr zu ändern, aber ärgerlich bleibt es doch. Ich werde versuchen, das zu klären." Immer mehr Leute liefen zusammen, aber einige rannten auch in langen Sprüngen zu der Stelle hin, wo der Mann an Land gehen mußte. Aber sie trafen zu spät ein. Der Insulaner lief schon aus dem Wasser und hetzte in langen Sätzen über den Strand, verschwand dann zwischen einer Palmengruppe und wurde nicht mehr gesehen. Vermutlich rannte er weiter auf den vulkanischen Berg zu, der die Insel krönte.
37 Die anfängliche Begeisterung der Hütte zwei Männer traten. Leute war erloschen, als die „IsabelDer eine war ein älterer Insulaner, la" langsam auf den Anleger zuglitt, wahrscheinlich der Papalagi oder und es sah verdammt nach Ärger auch der Medizinmann. Der andere aus, denn den Leuten war der Insu- war zweifellos Trader, der Beschreilaner nicht entgangen, und sie nah- bung nach, die Hasard erhalten hatmen an, die „Isabella" hätte ihn mit- te. gebracht, was ja in gewisser Weise Der Mann war dunkelblond, groß auch stimmte. und wuchtig. Ein langer, dunkelDaß sie von Deathlike Silence her- blonder Bart bedeckte seine untere übergesegelt war, konnte sich jeder Gesichtshälfte. Seine mächtige bean den Fingern einer Hand abzählen. haarte Brust war vorgewölbt. Er Die ranke Galeone schrammte an trug nur eine Leinenhose, die ihm bis dem Anleger entlang, drückte ihn zu den Knien reichte. leicht zur Seite und wurde dann verZwei andere Insulaner sagten ettäut. was zu ihm, worauf der Europäer Die sonst so neugierigen Insulaner finster nickte und einen Blick in jene verliefen sich, obwohl ein Schiff die- Richtung warf, in die der Flüchtling verschwunden war. ser Größe nur selten hier anlegte. Dann ging er auf die kleine AnleLinks und rechts von der Bucht standen Hütten, dazwischen war ein gepier und kam näher. freier Platz, auf dem nur eine einzige „Der spielt sich hier auf wie der InHütte stand. Aber sie war über dop- selkönig", sagte Dan O'Flynn mißbilpelt so groß wie die anderen und von ligend. „Der Kerl ist mir jetzt schon schlanken, hohen Palmen umstan- unsympathisch. Er hat hinterhältige den, die kühlen Schatten spendeten. Augen." „Und stinksauer ist er", sagte Matt Auch auf dieser Insel war die Hitze mörderisch, aber nicht so beklem- Davies, der am Schanzkleid lehnte mend wie auf der Insel der Kranken. und das Kinn auf seine HakenproHasard stieg vom Achterkastell these stützte. auf die Kuhl und sah sich genauer In Höhe der Kuhl blieb der schwerum. gebaute Mann stehen und funkelte Durch die veränderte Situation den Seewolf an. Zwei weitere Eingeborene, die waren auch die Zwillinge noch einmal davongekommen, denn jetzt war noch unschlüssig herumstanden, der Kracher vergessen, und sogar scheuchte er mit einer unwilligen Carberry kümmerte sich nicht mehr Handbewegung fort. Der andere Insulaner war ihm gefolgt, blieb aber darum. Hasard und Philip waren lediglich in weitem Abstand hinter ihm stesehr erstaunt, daß ihr Kracher prak- hen. tisch einen Menschen aus dem Nichts Trader hatte kleine, tückische Augezaubert hatte, der nun wie ein ra- gen. Seine Lippen sah man nicht, sie sender Teufel im Landesinneren verschwanden unter dem wildwuverschwunden war. chernden Bart. „Spanier?" fragte er in herrischem „Wenn mich nicht alles täuscht", sagte Ed zu Hasard, „dann wohnt in Ton. dieser großen Hütte der Affenarsch „Engländer", sagte Hasard lässig. von Trader. Aber warum läßt er sich Der Mann war nicht im geringsten nicht blicken?" überrascht. Sein Blick überflog die Carberry hatte die Worte noch „Isabella", und er warf auch einen nicht ausgesprochen, als aus der schnellen Blick auf die Männer, die
38 sich auf der Kuhl aufhielten. „Ihr seid von der Toteninsel herübergesegelt", sagte er drohend. „Und ihr habt einen der Kranken mitgebracht. Aber darüber reden wir noch. Wer sind Sie?" „Philip Hasard Killigrew", sagte der Seewolf und gab sich immer noch verbindlich. „Ja, wir kommen direkt von Deathlike Silence." Der Bärtige lachte abfällig. „Deathlike Silence", sagte er verächtlich. „Den Namen hat sich doch dieser verrückte Spinner ausgedacht, der freiwillig auf die Insel gegangen ist." Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Wegen eines Weibes!" sagte er. „Wo es hier von Weibern geradezu wimmelt. Mein Name ist Trader, mir untersteht diese Insel, ich bestimme hier. Nur, damit Sie gleich Bescheid wissen." „Wir werden das in unser Logbuch schreiben, damit wir es nicht vergessen", sagte der Profos grinsend, und wenn Ed grinste, dann sah sein narbiges Gesicht noch schlimmer aus als sonst. Trader fuhr herum und schnappte zu wie ein Köter. „Dich hat keiner gefragt, Kerl. Quatsch gefälligst nicht dazwischen, wenn ich etwas sage." „Jawohl, Hoheit", sagte Ed, der sich durch die groben Worte nicht aus der Ruhe bringen ließ. Trader sah, daß die anderen ebenso infam grinsten, und er erkannte auch auf dem Gesicht des Seewolfs diesen Zug. Das hieß nichts anderes, als daß sie ihn nicht ganz für voll nahmen. An seinem Hals schwoll eine Ader an, er ballte die Hände zu Fäusten, aber noch beherrschte er sich. Hasard flankte mit einem eleganten Satz über das Schanzkleid auf den Steg. „Wir sind nicht hergekommen, um uns gegenseitig zu beleidigen, Mister Trader", sagte er ruhig. „Uns führen
mehrere Gründe hierher, einer davon ist Trinkwasser." „Bevor wir weiter unnützes Zeug quatschen, werden Sie sich erst einmal an die Spielregeln halten", sagte Trader, „und die beginnen bei mir damit, daß Sie Liegegebühr bezahlen. Dann kriegen Sie auch Ihr Trinkwasser! Mit Geld oder Gold kann ich hier nichts anfangen. Ich will zwei Fässer Rum und eine Rolle Tabak. Außerdem zahlen Sie eine Strafe für den Kerl, den Sie mitgebracht haben und den wir wieder einfangen müssen." Hasard verschlug es wegen dieser Frechheit fast die Sprache. Dieser bärtige Kerl war anscheinend nicht mehr ganz richtig im Schädel, dachte er. Liegegebühr und Strafe! „Wir haben hier eine Menge Inseln kennengelernt", sagte er immer noch kühl und ruhig. „Bisher wurden wir immer freundlich aufgenommen. Aber das lag wohl daran, daß sich noch kein Europäer zum Papalagi aufgeschwungen hat und die Inseln durch seinen größenwahnsinnigen Machtanspruch versaute. Jetzt werden wir mal etwas deutlicher reden. Ich werde keine Liegegebühr bezahlen, Sie kriegen keinen Rum, und Tabak habe ich ohnehin nicht an Bord. Der Mann hat sich ohne mein Wissen am Ruderschaft versteckt. Sicher hat ihn die Sehnsucht nach seiner Sippe hergetrieben - oder die jämmerlichen Verhältnisse auf jener Insel haben ihn verjagt. An diesen Verhältnissen sind allein Sie schuld, sonst niemand. Ich akzeptiere, daß diese Kranken nicht mit den anderen zusammen leben können, weil man über die Krankheit nicht Bescheid weiß. Aber sie wenigstens einigermaßen gut zu versorgen ist Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit." Trader hörte mit offenem Mund zu, und als der Seewolf geendet hatte, starrte er ihn fassungslos an. „Sie sind wohl verrückt!" brüllte
39 er. „Sie wollen mir diktieren, was ich nicht mit sich spaßen, vom Kapitän zu tun und zu lassen habe? Ich lasse bis zum Moses nicht. Ihr Schiff hier bis in alle Ewigkeit Aber dann übermannte ihn der festsetzen. Und Ihre Kerle hänge ich Jähzorn, er konnte sich nicht mehr einen nach dem anderen an die Bäu- zurückhalten. me!" Seine Faust schoß auf Carberry zu, Hasard lachte spöttisch und maß doch der Profos hatte es in den Auden zornbebenden Mann verächtlich gen des Mannes aufblitzen sehen und von oben bis unten. Sein Urteil stand wußte Bescheid. Der harte Schlag längst fest. Blake hatte keinesfalls verfehlte ihn nur ganz knapp, und übertrieben, dieser Kerl war nicht als Trader durch den Schwung leicht nur anmaßend und grob, er war auch herumgerissen wurde, griff der Progrößenwahnsinnig. Er hatte eine fos zu. Spur von dem Spanier El Supremo Seine Hand erwischte den Bart des an sich, dem die Seewölfe auf Bora Mannes, und was der Profos einmal Bora schon das Fürchten beige- in den Fäusten hatte, das hielt er bracht hatten. auch eisern fest. Mit einem Ruck Plötzlich standen Carberry und drehte er ihm den Bart zusammen, Matt Davies hinter Trader. Ben bis Traders Kopf schief auf der Seite Brighton war ebenfalls mit einem hing und ihm das Wasser in die AuSatz auf den Steg geflankt, und Dan gen schoß. O'Flynn folgte. Der Seewolf schritt nicht ein. Er „Nun hört euch mal dieses unge- hatte die Arme über der Brust verwaschene Rübenschwein an", sagte schränkt und sah gelassen, fast erEd. „Spricht hier vom Hängen und heitert zu. kotzt die Insel voll, was, wie? Du „So schleppe ich dich über dein wirst dir jetzt anhören, was unser ganzes Königreich", sagte Ed grimKapitän zu sagen hat, du lausiger mig, „damit jeder Insulaner sieht, Hurenbock, und du wirst verdammt was du für ein verlauster Affenarsch gut zuhören, sonst stopfe ich dir dei- bist. Dann werden, sie sich totlachen nen Bart in die Zähne, daß dir die über dich!" Enden wie Taue aus den Ohren rausTrader ächzte und stöhnte unter hängen!" diesem Griff, dann tastete seine Matt Davies hielt ihm den scharf Hand nach dem Messer, das er im geschliffenen Haken dicht vor den Gürtel trug, um es Carberry in den Bart. Leib zu jagen. „Damit kann ich fast alles", drohte Er hatte das Messer noch nicht er. „Sogar verlauste Barte kämmen ganz heraus, als Matt Davies ihm mit oder den Namen dieser Insel in dei- der Hakenprothese auf die Hand nen Wanst tätowieren." schlug. Wie ein bösartiger Hahn Trader wich zurück. Es hatte den pickte er einmal kurz zu. Anschein, als wollte er sich auf den Trader schrie laut auf und ließ das Prpfos stürzen, doch die eisblauen, Messer fallen. spöttischen Augen des Seewolfs hielAls er nach dem Profos trat, ließ Ed ten ihn zurück. seinen Bart los. Sein Schlag kam hart Er wußte, daß er nicht die gering- und trocken, und er traf Trader voll ste Aussicht hatte, etwas gegen die- unter das Kinn. sen wilden Haufen zu unternehmen. Ächzend fiel der Mann um und Diesen Männern konnte er nicht im- blieb liegen. ponieren und ihnen schon gar nicht seinen Willen aufzwingen. Die ließen
40 7. „Wenn er wieder aufwacht", sagte Ferris Tucker andächtig, „dann kennt er ganz genau seine wahre Größe." „Dann weiß er bestimmt, was er für Hosen tragen muß", grollte der Profos. „Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, Sir", wandte er sich an Hasard. „Aber keineswegs, warum sollte ich? Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, sonst kriegt man ihn nicht auseinander. Außerdem hat er dich ja persönlich beleidigt, und vernünftig reden kann man mit dem Kerl ohnehin nicht." Weiter im Hintergrund standen ein paar Insulaner, die scheu herübersahen. Hasard sah es ihren Gesichtern an, daß die Abreibung sie freute und Trader eine Lektion erhalten hatte. Trader grunzte laut, drehte sich um und stemmte die Ellbogen auf die Holzplanken. Dann schüttelte er den Kopf, um die bunten Nebel zu vertreiben, die ihn umkreisten. Endlich stand er mühsam und leicht taumelnd auf den Beinen. „Seine Hoheit sehen so verklärt aus", sagte Ed. „Du scheinst uns entzückend zu finden, mein Sohn, was, wie?" Trader betastete sein Kinn. In seine Augen trat ein Ausdruck blanken Hasses, aber der verschwand sehr schnell wieder, als er in die Gesichter sah. Hölle, waren das knallharte Kerle, dachte er. Er war gewiß kein Schwächling, und so schnell legte ihn niemand auf den Boden, aber dieser narbige Mann war der Satan in Person. Wo der hinschlug, da splitterten selbst Eichenplanken. Er hörte dessen Stimme immer noch wie durch einen dichten Nebel, aber er verstand die Worte des Narbenmannes überdeutlich, der gerade sagte: „... lausige Rübenschwein
nicht vernünftig wird, nehmen wir ihn mit auf die Toteninsel und lassen ihn da, damit er endlich kapiert, wie das ist." Trader sah sich gehetzt um. Das traute er diesen Kerlen glatt zu. Und wer einmal da drüben war, der kehrte nicht mehr zurück. „Können wir jetzt mit Ihnen reden?" fragte Hasard. Trader nickte sauer. „Ihr seid stärker", brummte er in hilfloser Wut. „Gut, daß Sie das einsehen. Wir wollen nichts für uns, sogar Ihr Trinkwasser können Sie behalten. Sie sollten sich nur einmal das Elend dieser Leute yor Augen halten und so etwas wie Mitgefühl haben, denn die Kranken, die ohnehin den sicheren Tod vor Augen haben, müssen nicht auch noch Hunger leiden, zumal es hier alles reichlich und im Überfluß gibt. Ich verlange wohl nicht zuviel von Ihnen, wenn Sie jede Woche ein Boot mit Lebensmitteln zu der Insel schicken." „Ich will mit den Kranken nichts zu tun haben, verdammt", sagte Trader. „Soll ich mir vielleicht auch noch die Pest an den Hals holen?" „Es gibt genügend Insulaner, die ihre Angehörigen mit Freuden versorgen würden, wenn sie das dürften. Aber das haben Sie verboten, und dieses Verbot werden Sie aufheben, denn eines Tages kann auch Sie diese Krankheit erwischen, und dann werden Sie anders darüber denken, Trader." Trader wand sich und hatte Einwände, aber als Hasard ihn wild anblickte, nickte er schließlich widerwillig. „Also gut", sagte er. „Vielleicht sehe ich es ja auch ein. Morgen kommt ein Boot, das wieder vier Kranke mitbringt von der Insel Vella Lavella. Wir selbst haben auch wieder fünf
41 Fälle, und wir wollen sie so schnell wie möglich loswerden. Sie müssen das verstehen, Mister Killigrew. Es gibt jedesmal ein großes Geschrei, und die Insulaner verstecken ihre Kranken, aber ein wenig Ordnung muß hier schon herrschen, sonst stirbt die ganze Insel aus." „Dagegen ist nichts zu sagen, weil niemand die tückische Krankheit kennt. Aber wenn Sie die Leute schon isolieren, dann müssen Sie auch dafür sorgen, daß sie anständig leben können und ihr Leid nicht noch mehr vergrößert wird." Hasard sah, daß der Haß und das Glitzern aus den Augen des Mannes langsam verschwanden. Vielleicht gewann er doch die Überzeugung, daß man die Leute nicht sich selbst überlassen konnte. „Ich weiß, Sie fürchten die Anstekkung", sagte Hasard. „Aber niemand weiß, ob die Krankheit ansteckend ist. Wenn Sie zur Insel hinüberfahren, dann legen Sie die Lebensmittel eben einfach an den Strand. Die Leute holen sich dann schon alles selbst, und Sie geraten mit ihnen nicht in Berührung." Der Seewolf schilderte ihm noch einmal eindringlich, was sie auf Deathlike Silence mit eigenen Augen gesehen hatten und daß es allein an Trader lag, ob es ihnen besserging oder nicht. Er schloß mit den Worten: „Ich werde das kontrollieren, Mister Trader, denn wir halten uns noch eine ganze Weile in dieser Ecke auf. Eines Tages kehren wir zurück. Wenn Sie die Einsicht nicht aufbringen, verspreche ich Ihnen, Sie zur Insel zu schaffen, und zwar für immer." „Gut, ich werde morgen oder übermorgen ein Boot hinüberschicken. Wann segeln Sie weiter?" Hasard lächelte hintergründig. „Ich werde die erste Ladung mit meinem Schiff selbst übernehmen und zur Insel bringen. Sie brauchen
das nur dem Papalagi oder dem Medizinmann zu erklären. Ich bin sicher, daß sie mit Freuden einwilligen werden." „Hm, Und was brauchen Sie alles?" fragte Trader. „Was brauchen Sie denn zum Leben?" fragte Hasard dagegen. „Sie leben doch auch von der Brotfrucht, von Taro, Yam, Bananen, Kokosnüssen und den vielen anderen Früchten. Ein paar Brotfrucht-Schößlinge könnte man drüben anpflanzen, dann würde sich das Ernährungsproblem von selbst lösen, jedenfalls mit der Zeit. Sagen wir also, etwa dreißig kräftige Schößlinge oder junge Bäumchen. Dadurch werden die Leute dann wirklich unabhängig" „Und eines Tages kehren sie zurück, verjagen uns von der Insel und schicken uns hinüber, was? Das ist meine Befürchtung." „Wenn das Ihr ganzer Grund und Ihre Angst ist, dann können Sie wirklich beruhigt sein. Einmal lassen Sie ohnehin jedes Boot zerstören, das dort gebaut wird. Zum anderen sind das Einzelfälle und Ausnahmen, das hat Blake mir versichert. Und wenn die Leute ein gewisses Stadium dieser furchtbaren Krankheit erreicht haben, dann können sie sowieso nicht mehr gehen, weil sie kaum noch in der Lage sind, sich zu bewegen. Der Friedhof der Nebeninsel ist voll von den Opfern dieser Krankheit." „Wie viele Leute sind jetzt auf der Insel?" erkundigte sich Trader. „Ich meine, wie viele leben denn noch?" „Etwa neunzig, wie Blake sagte." „Und wie geht es seiner Frau, wegen der er auf die Insel gegangen ist?" fragte er fast widerwillig. „Ausgezeichnet", sagte Hasard sarkastisch. „Sie ist nämlich seit einiger Zeit tot." Er sah, wie Trader schluckte, offenbar berührte ihn das Schicksal
42 dieser Leute jetzt doch etwas stärker, oder er hatte eingesehen, daß er nicht richtig gehandelt hatte. So ganz langsam schien eine Wandlung in ihm vorzugehen, wenn Hasard die Anzeichen richtig zu deuten wußte. Trader stand da und blickte zum Horizont. Er blickte über das grünblaue Wasser und zu der im dunstigen Glast liegenden Insel. Dann drehte er sich um. „In letzter Zeit hat es nicht mehr so viele Fälle gegeben", sagte er dumpf. „Vielleicht hört das eines Tages ganz auf, oder es klingt allmählich ab. Aber Ihre Worte haben mich doch ein wenig nachdenklich gestimmt", gab er dann zu. „Reden Sie mal mit dem Papalagi darüber", riet Hasard. „Ich lasse in der Zwischenzeit ein Faß Rum auf den Landesteg stellen." „Wirklich?" fragte Trader zweifelnd. Er wurde mit Honigbrot und Peitsche geködert, aber ihm war das jetzt egal. Er wußte schon nicht einmal mehr, wie Rum überhaupt schmeckte. Hasard war es auch gleichgültig, wie er den Mann herumkriegte, ob mit oder ohne Gewalt, ob mit Rum oder mit der Faust. Es ging einzig und allein um die bedauernswerten Leute, um nichts anderes, und dazu war ihm jedes Mittel recht. „Wirklich", sagte er. „Ich pflege meine Versprechen immer einzulösen und zu halten." Trader drehte sich um und ging auf den Papalagi zu. Die beiden verschwanden in der großen Hütte und blieben fast eine halbe Stunde fort. „Ob aus dem Saulus ein Paulus wird?" fragte der alte O'Flynn voller Zweifel. „Oder markiert er nur?" „Ich glaube, ihm ist das Bild so drastisch vor Augen geführt worden, daß er sich ernsthaft damit beschäftigt", sagte der Seewolf. „Er hat zwar ein großes Maul und gibt gern den Ton an, aber er begreift
wenigstens. Schließlich verschafft er sich damit nur Ansehen bei den Insulanern, und auf diese Art und Weise gewinnt er wiederum größeren Einfluß. Ich halte ihn jedenfalls nicht für ausgesprochen dumm." Hasard ließ ein kleines Rumfaß ausladen und auf den Steg stellen, wie er es versprochen hatte. Trader kehrte mit dem Papalagi zurück, dessen Augen leuchteten. Also hat er ihm doch die Wahrheit gesagt, überlegte der Seewolf. Der Papalagi schien unendlich erleichtert und froh zu sein, und er warf den Seewölfen einen dankbaren Blick zu. Hasard fragte sich verwundert, wie und mit welchen Mitteln es einem einzelnen Mann gelungen war, die Gewalt über die Insel an sich zu reißen. Allein die Tatsache, daß er ein Weißer war, genügte nicht immer. Folglich hatte er die gutgläubigen Eingeborenen mit irgendwelchen geheimnisvollen Demonstrationen eingeschüchtert. Traders Blick jedoch blieb auf das Faß gerichtet. Auch als er sprach, wandte er keinen Blick davon. Der Inhalt zog ihn mit magischer Gewalt an, und unwillkürlich leckte er sich die Lippen. „Ich habe mit dem Papalagi gesprochen", sagte er, den Blick eisern auf das Rumfaß gerichtet, das noch aus dem Bauch einer spanischen Galeone stammte. „Äh - was wollte ich sagen? Richtig, ich sprach mit dem Papalagi, und wir werden es so halten, wie Sie vorgeschlagen haben." Er sah nicht das Grinsen auf den Gesichtern der Seewölfe, er sah nur das Faß. „Nachher werden wir das Schiff beladen", versprach er. „Und das Faß gehört jetzt mir?" erkundigte er sich lauernd. „Selbstverständlich", erwiderte
Hasard, „so habe ich es gesagt. Es gehört Ihnen." „Kann ich - ich meine, kann ich es schon fortbringen? Nicht, daß es vielleicht noch ins Wasser rollt." Hasard nickte, und über Carberrys Gesicht zog ein verstehendes Grinsen. „Nehmen Sie es nur mit, sonst fällt es wirklich noch ins Wasser", empfahl der Seewolf lächelnd. Für Trader war damit die Welt eine andere geworden. Alle Schläge waren vergessen, als er sich auf das Faß stürzte und es fortzurollen begann. Dabei entwickelte er einen Eifer wie nie zuvor in seinem Leben. Gleich darauf war er mitsamt dem Rumfaß in seiner Hütte verschwunden. Nur der Papalagi stand noch etwas ratlos herum und sagte etwas in einer Sprache, die kein Seewolf verstand. „Ob der alte Bursche etwa auch ein Faß Rum will?" fragte Ed. „Ich wette, daß Trader über den Inhalt herfällt wie ein Wilder, wie ein Ausgehungerter und in spätestens einer halben Stunde voll ist." „Davon bin ich überzeugt." Noch einmal brabbelte der Papalagi etwas, grinste, verbeugte sich und ging dann fort. Eine gute halbe Stunde lang geschah gar nichts. Trader feierte Hochzeit mit dem Rumfaß, der Papalagi war verschwunden, aber auch von den Insulanern zeigte sich niemand. Die Seewölfe hielten sich teils auf der Kuhl auf, teils auf dem Anleger oder am nahen Strand. Als sie glaubten, es würde gar nichts mehr geschehen, erschien Trader aus seiner Hütte und wankte heran. „Voll bis an Oberkante Unterlippe", sagte der Profos zu Ferris Tukker. „Die Hälfte hat er bestimmt schon gesoffen, und ich glaube, spä-
43 ter kaut er sogar noch die Dauben von dem Faß durch, wenn der Rum gesoffen ist." Trader ging auf den Moses Bill zu, der neben Carberry und Ferris Tukker stand. Sein Blick war glasig, sein Gang mehr als schwankend, aber er hielt sich aufrecht. Nur verströmte er einen Duft, als wären massenweise Rumfässer ausgelaufen. Er schlug Bill auf die Schulter und grinste. „Mann, hast du einen Schlag in der Faust", sagte er. „Ich - ich dachte, mir fliegt das Gehirn aus-aus dem Schädel. Du bist also der Profos von diesem schönen Schiffchen, was?" „Der Profos ist der mit den vielen Haaren auf der Brust", sagte der Moses und zeigte an Deck, wo Arwenack sich keckernd aufrichtete und Grimassen schnitt. „Ah, der ist das! Kennst du das Lied von dem Cockney, der keinen Brandy mehr hatte? Ich werde es dir vorsingen, Captain!" „Junge, hat der geladen", sagte Ed und drohte dem Moses mit der Faust wegen „Arwenack" und „Profos". Dann stellte Trader sich hin und sang so schaurig und laut, daß die Männer entnervt zusammenzuckten. Hasard riß fast die Geduld. Er wußte, daß es die Leute auf den Inseln niemals eilig hatten, aber so langsam wollte er endlich einmal etwas Leistung sehen und nicht tagelang hier herumliegen. Statt dessen torkelte dieser besoffene Kerl über den Steg, grölte auf englisch die schrecklichsten Lieder und verwechselte zum Schluß noch Sir John mit dem Kapitän, als Sir John dicht über seinen Schädel flog. Dann sah er die Zwillinge, stutzte, blickte von Hasard auf Philip, dann wieder zurück und unterbrach seinen Gesang. „Mann, ich seh schon alles doppelt", lallte er. „Aber ich habe auch schon jahrelang keinen Rum mehr gese-
44 hen. Ko-komisch, aber keiner von den beiden Kerlen löst sich in Luft auf." Die Zwillinge grinsten, stellten sich hintereinander und vereinigten sich so zu einem Bild für den besoffenen Mann. Dann gingen sie wieder auseinander, bis Trader schließlich sagte, daß er in seinem ganzen Leben noch nie so besoffen gewesen wäre. „Aha, da tut sich etwas", sagte Ed und deutete auf ein Dutzend Insulaner, die Körbe und Matten schleppten und sich der „Isabella" näherten. Weitere Männer schleppten ausgegrabene Brotfruchtsträucher heran. Nach kurzer Zeit begann es auf dem vorher so leblosen Steg von Insulanern zu wimmeln. Sie brachten Kokosnüsse, Maniok, Früchte und alles, was die Insel hergab. Die Seewölfe hatten genug damit zu tun, die Sachen im Laderaum zu stauen, der sich langsam zu füllen begann. Trader, der betrunken überall im Weg stand und überhaupt nicht mehr durchblickte, weil ihm der Alkohol bei dieser wilden Hitze unheimlich zusetzte, fiel einmal von dem Anleger ins Wasser, aber das konnte ihn nicht erschüttern. Es kühlte ihn allerdings auch nicht ab, und so taumelte er am Strand herum. „Da hat ja ein richtiges Fieber eingesetzt", sagte Ben Brighton zu Hasard. „Die schleppen ja mehr heran, als die Kranken jemals verbrauchen." „Es sind ja auch ihre Angehörigen, Freunde, Verwandte, Bekannte", sagte Hasard. „Die Leute wollten schon, nur hat dieser besoffene Kerl das immer unterbunden. Es wurde höchste Zeit, daß wir ihm das mal richtig beigebracht haben." Immer wieder kehrten die Insulaner lachend zurück und brachten weitere Früchte und Kokosnüsse. Auch Pflanzen waren darunter, die
auf Deathlike Silence nicht wuchsen, die sich jetzt aber dort ebenfalls verbreiten und damit das Leben erträglicher gestalten würden. Bis zum späten Nachmittag ging das so. Dann erschien das Boot, das nach Traders Worten erst morgen die Kranken von Vella Lavella bringen sollte. Mit der Fröhlichkeit war es schlagartig vorbei. Die Gesichter der Insulaner wurden traurig, und jeder blickte jeden an, und jeder dachte wohl an seine eigenen Angehörigen, die ebenfalls von dem Aussatz befallen waren. Selbst Trader, der für ein paar Stunden verschwunden war, erschien wieder und war diesmal stocknüchtern. Es war ein kleines Boot, in dem die Kranken saßen und stumm ins Wasser blickten, ohne die Köpfe zu heben. Man sah ihnen die Krankheit noch nicht an, jedenfalls auf den ersten Blick noch nicht. Trader sprach mit dem Papalagi, der sich wiederum an ein paar junge Insulaner wandte. Die braunhäutigen Männer bestiegen mit ernsten Gesichtern einen größeren Ausleger und ruderten ihn an den Steg. Dann stiegen die Kranken um. Das alles passierte unter einem entsetzlichen Schweigen. Kein Wort wurde gewechselt, es schien, als hätten die fröhlichen Leute ganz plötzlich die Sprache verloren. Von der rechten Buchtseite her näherte sich langsam ein Zug von vielen Leuten. Wie zu einer Beerdigung gingen sie, und in gewissem Sinn war es ja auch eine. Hasard erkannte zwei Frauen, eine junge und eine etwas ältere. Sie wurden von drei Männern begleitet, hatten die Köpfe gesenkt und trotteten vor den anderen her, die sie begleiteten, auf das Auslegerboot zu.
45 Auch auf der „Isabella" herrschte Mädchen drehte sich noch einmal um jetzt Schweigen, als sich der Zug und winkte matt. Immer weiter glitt das Boot aus der langsam näherte. In die erstarrten Leute kam erst Bucht, bis es das offene Wasser gewieder Bewegung, als die Todge- wann und Kurs auf die Toteninsel weihten das schwankende Ausleger- nahm. boot betraten und darin Platz nah„Hoffentlich vergessen Sie es men. wirklich nicht, Mister Trader", sagte In diesem Augenblick der Tren- Hasard nachdenklich. „Denn eines nung, die die Kranken für immer von Tages werden Sie vielleicht dankbar ihren Familien losriß, begann ein sein, wenn man sich um Sie kümlautes Klagegeschrei. mert, falls es Ihnen so ergehen sollte Hasard schloß entsetzt die Augen. wie Blake oder Hanky. Und Sie haben es ja täglich vor Augen, wie schnell es geht." „Ja, verdammt", murmelte der 8. Mann. „Früher habe ich mich nie Vor der jungen Frau fiel eine Alte darum gekümmert, aber jetzt sehe auf die Knie und jammerte so laut, ich das anders." daß es über die Insel hallte. OffenDas Boot mit den Aussätzigen sichtlich war die Alte die Mutter, die wurde immer kleiner, bis es sich endsich nun von ihrem Kind trennen lich als winziger Punkt auf der Wasmußte. serfläche verlor und in den Glast Eine andere Frau schrie ebenfalls tauchte, der am Horizont hing. laut auf und umarmte einen kleinen, Das Gelächter auf der Insel war dunkelhäutigen Mann, der mit stei- verstummt und die Verabschiedung nernem Gesicht in die Ferne blickte, der Kranken schnell von statten gewo die verhaßte Insel lag. gangen, so wie es hier immer der Fall Dann begannen auch die Zuschau- war. er laut zu jammern und zu klagen Die Leute, die den Ausleger zur Inund ihre Verwandten zu verabschie- sel fuhren, hatten es immer sehr eiden. lig. Einmal wollten sie an diesen „Da kann man nicht mehr zuse- Aussatz nicht gern erinnert werden, hen", sagte Hasard. „Sie fahren nur und zum anderen befürchteten sie ein paar Meilen weiter und sind doch eine Ansteckung, je länger sie mit den Kranken zusammen waren. | für immer und alle Zeiten fort." Er blickte zu Trader, der zu Boden Jetzt ging das Beladen weiter. sah und sich nicht rührte, als das Schweigend, in sich gekehrt und mit Auslegerboot langsam vom Steg ab- abwesenden Blicken leerten die Inlegte. sulaner ihre Körbe mit den KokosEinmal hob er matt die Hand, dann nüssen, die von den Seewölfen im rief er in der Sprache der Insulaner Raum verstaut wurden. etwas hinüber. „Gib auf die jungen Bäume acht, „Ich habe gesagt, daß wir sie nicht Smoky!" rief Ben nach unten. „Am vergessen werden", erklärte er dem besten stellst du sie in die Mitte, daSeewolf. „Daß für sie in Zukunft ge- mit sie die Erde um die Wurzelballen sorgt wird." nicht verlieren. Bei etwas rauher See Hasard sah dem Boot nach, auf haben sie dann auch besseren Halt." dem jetzt ein kleines dreieckiges Se„Aye, aye. Die sind schon gut vergel gesetzt wurde. Die Kranken sa- sorgt. Denen kann nichts mehr pasßen darin wie erstarrt. Nur eins der sieren", erwiderte der Decksälteste.
46 Weiter ging es bis fast zum Abend. Dann kontrollierte Hasard die Ladung noch einmal. In dem Raum lagerten jetzt Unmengen Früchte, Nüsse, Beutel mit Brotfruchtsamen, Schößlinge und Triebe anderer Pflanzen und die Brotfruchtbäume selbst. „Ich denke, das genügt", sagte Hasard zu Trader, der ebenfalls an Deck geklettert war und einen Blick nach unten warf. „Das müßte für mindestens zwei Wochen reichen", sagte der Engländer. Hasard bemerkte, wie er sich wieder auf dem Schiff umsah und alles einer genauen Musterung unterzog. Aber er stellte wegen der Bauweise keine Fragen, und er wußte immer noch nicht, ob Hasard im Auftrag der englischen Krone segelte, ein Freibeuter war oder auf eigene Rechnung fuhr. Sein Gewissen war nicht ganz rein, und in seiner Vergangenheit gab es etliche dunkle Punkte, und daran wollte er nicht gern erinnert werden. Hasard hatte den Blick bemerkt und fragte ganz beiläufig: „Wollen Sie nicht wieder mal nach England zurück, Mister Trader?" „Nein, nein", wehrte Trader ab. „Hier fühle ich mich wohler, hier bekommt mir auch das Wetter besser. Ich habe mich hier eingelebt, habe mein Auskommen und alles, was ich brauche. Auf mein Wort hört jeder hier auf der Insel. Ich bleibe hier." Nun, überlegte Hasard, vielleicht war es für ihn wirklich besser. In England wartete unter Umständen der Galgen auf ihn, wenn das mit der Meuterei herauskam, und in dem Fall mußte er Trader recht geben. Es lebte sich besser auf den Salomonen unter Sonne und Palmen als in England. Da würde er bei Wind, Nebel und Kälte an einem Galgen hängen. Aber das ging den Seewolf nichts an, und es interessierte ihn auch
nicht. Für ihn zählte lediglich, daß der Mann sein Versprechen einhielt. Wie es den Anschein hatte, würde er es auch tun. Der Raum wurde geschlossen, das getränkte Segelleinen darübergelegt und provisorisch verschalkt. Rauhe See war nicht zu befürchten, und bis zu Deathlike Silence war es nur ein kurzer. Weg. „Wir werden heute nacht noch hierbleiben, Mister Trader", sagte Hasard. „Morgen früh laufen wir aus. Irgendwann einmal kehren wir zu einem kurzen Besuch zurück. Das kann bald sein, das kann aber auch ein halbes Jahr dauern." Das stimmte natürlich nicht, aber dadurch war Trader verunsichert und würde sich an sein Programm halten. Dann fiel Hasard etwas ein, und er rief Bill zu sich. „In meiner Kammer", sagte er, „liegt ganz hinten im Backbordschapp eine kleine Kiste. Bring sie mir bitte!" „Aye, aye, Sir." Es dauerte nur ein paar Minuten, dann kehrte Bill wieder zurück - mit einer kleinen Kiste unter dem Arm. Darin befanden sich gepreßte Tabakblätter, aber sie lagerten schon lange, und Hasard wußte nicht, ob sie nicht längst vergammelt oder verschimmelt waren. Er hatte sie damals aufgehoben und verwahrt, als sie Tabakballen in England verkauft hatten. Da sich für das Zeug ohnehin keiner an Bord interessierte, war es im Schapp gelandet. Dort lag es mehr als Kuriosität herum, denn es diente keinem erkennbaren Zweck. Trader stand neben dem Seewolf und schnüffelte wie ein Jagdhund. Irgend etwas schien seinen Gaumen zu kitzeln, und er roch das Zeug schon, noch bevor Hasard die Kiste öffnete. Er warf einen schnellen Blick hinein. Die Blätter, steinhart zusam-
47 mengepreßt, waren etwas muffig, schende Worte hätte ich dem Büffel aber noch gut erhalten, und es ging gar nicht zugetraut. Und das alles ein durchdringender Geruch von ih- wegen einer Handvoll vergammelter Blätter." nen aus. „Das ist mein Abschiedsgeschenk „Ja, das ist ein komischer Kerl", an Sie", sagte Hasard und gab Trader sagte Pete Ballie, der Rudergänger die kleine Kiste. „Leider habe ich der „Isabella", der seine großen keine dazugehörigen Pfeifen, aus de- Pranken auf das Schanzkleid gelegt nen man das Kraut raucht." hatte und den Mann ansah. „Erst Der Engländer verging fast vor führt er sich hier auf wie ein wilder Rührung. Wie die Seewölfe ihn nun Affe, dann besäuft er sich bis an den schon kannten, würde er die näch- Kragen, und jetzt spielt er verrückt, sten Tage qualmend und saufend in weil er Tabak riecht. Dabei ist mir seiner Hütte verbringen, bis alles schon der Gestank von diesem Kraut zuwider, und der will das Zeug auch aufgebraucht war. „Tabak", stammelte er, „richtiger noch kauen! Der frißt bestimmt Tabak. Den haben wir an Bord der gleich noch die ganze Kiste auf." ,Glory' schon gequalmt, und man Wieder einmal hatte Trader es erkann sich verdammt daran gewöh- staunlich eilig, zu verschwinden. Ihn nen. Aber ich will ihn nicht rauchen. interessierte nur noch der Tabak. Ich kaue ihn, dann spürt man das un„Wir sehen uns ja bald noch", sagte vergleichliche Aroma auf der Zunge er voller Gier, endlich mit dem Kraut viel besser. Ah, Sir, das ist eine Freu- in seiner Hütte allein zu sein. „Vielen de!" Dank noch. Und wenn Sie zurückVor Verzückung verdrehte er die kehren und noch mehr Tabak und Augen, hob die Kiste an sein Gesicht Rum mitbringen, schenke ich Ihnen und verschwand mit der ganzen Na- die ganze Insel!" Dann rannte er los wie in Trance, se darin. „Ah", schwärmte er laut und ver- die Kiste fest unter seinen Arm genehmlich, „dieser hauchzarte Duft preßt, daß sie fast aus allen Nähten nach Feigen und Mandeln, dieser platzte. Odem von milder Würze, das herbe Hasard sah ihm kopfschüttelnd Ahnen unvergleichlicher Kräuter, nach und grinste sich eins. diese Andeutung von heiligem Das war wirklich ein merkwürdiRauch und dieses spürbare Ahnen ger Kauz, dieser Trader, dachte er. von wilden Ländern, ah, dieser lieb- Bei dem hingen die Segel falsch, für liche, berauschende Duft. Dazu ein den zählten auf der Welt nur noch Düftchen von Rum, ah, meine zwei Sachen: Rum und Tabak! Mehr Freunde, damit kann ich vergessen, brauchte er nicht. damit bin ich im Paradies." Der Abend senkte sich über die InAuf der Kuhl bogen sich die See- sel, und es wurde wieder auffallend wölfe vor Lachen, als dieser Klotz still. Der Wind schlief ein, ein drükvon einem Kerl wegen ein paar lau- kend warmer Hauch legte sich fast siger, vergammelter Tabakblätter spürbar über alles. geradezu in Ekstase geriet und zu An diesem Abend gab es auch keischwärmen begann. ne fröhlichen Eingeborenen und keiCarberry sah verständnislos in die ne Strandfeste wie auf den anderen Runde und tippte sich mit dem Fin- Inseln. ger an die Stirn. Hier kroch das Gespenst des Todes „Ist der noch ganz richtig im Schä- unsichtbar über den Strand und erdel, Männer?" fragte er. „So berau- stickte jedes Lachen und jede Fröh-
48 vonstatten, denn diesmal segelte die lichkeit. platt vor dem Wind, und Die Leute hatten sich in ihre Hüt- „Isabella" schon bald ten zurückgezogen und warteten ren Blicken.lag die Insel dicht vor ihvoller Angst auf den nächsten Tag Durch das Spektiv sah Hasard, daß auf die Anzeichen der ausbrechenden Krankheit, und jeder fragte sich die Aussätzigen zusammengelaufen voller Angst, wer wohl der nächste waren und winkten. „Auf der Backbordseite gibt es eine sein würde. Auch auf der „Isabella" kehrte Ru- tief eingeschnittene Bucht", sagte er he ein. Die erbarmungslose Schwüle zu Ben. „Da geht der Berg über Klipdieser Nacht bot keinen Anreiz für pen direkt ins Meer. Ein ideales ein Gespräch. Man fühlte sich stän- Plätzchen, aber schlecht zum Lödig ermattet und konnte zur Abküh- schen der Ladung, die wir mitführen. lung nicht einmal in das Wasser Ich denke, wir gehen wieder dort vor springen, denn sicher gab es auch Anker, wo wir schon einmal waren." hier die gefährlichen giftigen SeeBrighton nickte zustimmend. Seischlangen mit den gelben Bäuchen. ne dunkelblonden Haare klebten Der Mond erschien am Himmel, ihm schon wieder auf der Stirn, und riesengroß und von gelbroter Farbe. Schweißperlen rannen ihm über das Er schien drohend auf die Insel hin- Gesicht. unterzusehen. „An diese schwüle Affenhitze werLangsam zog er seine Bahn und de ich mich nie gewöhnen", sagte er. blickte bösartig aus seinem narbigen „Ich habe immer das Gefühl, mein Blut würde sieden - oder ich würde Gesicht nach unten. In den Palmenwipfeln rauschte abtauen wie ein Eisberg." „So geht es mir auch, Ben. Profos!" kein Wind, nicht die laueste Brise wehte vom Meer. Die Insel schlief, rief Hasard Carberry zu. „Wir anund mit ihr schien die ganze Welt zu kern wieder an derselben Stelle." schlafen. „Aye, aye, Sir!" Am Strand standen die Leute, die Gesichter mit Blättern verhüllt. Ebenezer Blake rannte aufgeregt hin 9. und her. Am nächsten Morgen war alles „Willkommen!" brüllte er. „Willwieder anders. kommen! Ihr habt Wort gehalten! Warmer Wind fächerte über das Die Leute sind fast wahnsinnig vor Meer, das Wasser war in leichter Be- Freude!" wegung, als die „Isabella" ablegte „Wir haben alles mit, was wir verund Segel setzte. sprochen haben!" rief Hasard zuVon Trader sahen sie nichts mehr, rück. „Wir lassen gleich das erste auch von den anderen Eingeborenen Boot zu Wasser." nicht. Es war noch sehr früh, und die Ein Jubelschrei war die Antwort, kurze Dämmerung setzte gerade ein. der Hasard eine Gänsehaut über den Trader schlief sicher seinen Rausch Rücken jagte. aus. Die Insulaner hatten ohnehin Als der Anker Grund gefaßt hatte, nicht viel zu tun, was sie veranlaßte, wurden beide Boote abgefiert und schon so früh auf den Beinen zu sein. sofort beladen. So verließ der ranke Rahsegler unDie Kranken zogen sich sofort zugesehen die Insel Ratanga und nahm rück, als das große Beiboot knirKurs zur Toteninsel. schend auflief. Sie wollten den GeDie Fahrt hinüber ging schnell sunden ihre unmittelbare Nähe nicht
49 „Kopfjäger", murmelte Blake. „Sie zumuten. erschienen mit vier Auslegerbooten Hasard sprang hinaus und achtete und haben die Leute schon auf See darauf, daß er nach Möglichkeit abgefangen. Vier von den Kranken nicht mit den Beinen im Wasser gelang es, zur Insel zu entkommen, stand. Die giftigen Schlangen konn- die anderen wurden überwältigt und ten zwar das Leder seiner Stiefel mitgenommen. Auch eine junge nicht durchbeißen, aber sie konnten Frau war darunter." sich aus dem Wasser schnellen. Hasards Gesicht verschloß sich, es Er gab Blake die Hand, der ihn gewurde hart und kalt, und ihm wurde rührt anblickte. „Ich danke Ihnen, Sir", sagte er im- übel, wenn er nur daran dachte. „Mein Gott", murmelte er betrofmer wieder. „Ich habe nicht an Ihrem Versprechen gezweifelt, aber ich fen. „Nimmt denn dieses Leid nieglaubte nicht, daß Sie es schaffen mals ein Ende? Auf welcher Insel würden. Wie haben Sie Trader dazu hausen die Kerle?" „Mal hier, mal dort, sie vagabunüberredet?" „Anfangs sträubte er sich und dieren von einer Insel zur anderen, wurde frech. Aber ich habe festge- morden, tauschen bei anderen und stellt, daß er ganz verträglich ist, verschwinden wieder. Heute früh wenn man ihn richtig anpackt. Mein haben sie unsere Insel belauert, und Profos hat ihn ein bißchen verprü- ich bin sicher, daß sie uns bald einen gelt, als er zu frech wurde, und von Besuch abstatten werden. Möglida an war er ganz friedlich. Ein Fäß- cherweise sogar heute noch, denn sie chen Rum und etwas Tabak haben benehmen sich immer gleich. Sie tauchen auf, beobachten und verdas übrige getan." Hinter ihnen entluden Hasards schwinden. Dann kehren sie zurück, Männer das Boot und legten alles an manchmal im Schutz der Dunkelheit, mitunter sogar bei Tage. Und den Strand. Die kostbaren Brotfruchtbäume wir können uns nur mit den Fäusten wurden sofort weggebracht und auf oder mit Steinen wehren. Die meiein dafür schon vorgesehenes Feld sten können nicht einmal das." gesetzt und bewässert. Die Aussätzi„Solange wir hier liegen, wird sich gen gingen mit einem Feuereifer an keiner an die Insel herantrauen", die Arbeit, denn sie wußten, daß jetzt sagte Hasard. „Aber das nutzt euch in ihrem kurzen Leben eine spürbare nicht viel. Lassen Sie mich nachdenErleichterung eintrat. ken, was zu tun ist, damit den Bur„Ja, dafür war er schon immer zu schen alles vergeht." haben", sagte Blake. „Er muß nur an Er setzte sich in den warmen Sand den richtigen Mann geraten." und blickte aufs Meer hinaus. Blake schlug zwei Kokosnüsse auf Hasard sah Blake aufmerksam in und gab Hasard die eine. die Augen. Während der Seewolf ihren wei„Was ist mit Ihnen los, Mann?" fragte er. „Sie wirken so gehetzt, es ßen milchigen Inhalt trank, überlegist doch alles in Ordnung - oder te er. nicht? Oder ist es wegen der KranNein, solange die „Isabella" hier ken, die gestern neu eintrafen?" lag, traute sich keiner dieser Kerle an die Insel heran. Aber sie würden ja Blake nickte traurig. nicht mehr lange hier sein, und damit „Es sind nur vier Leute gelandet", begann der Leidensweg für die Leute sagte er dumpf. „Das verstehe ich nicht. Es waren von Deathlike Silence von neuem. Abrupt stand er auf und ging auf doch..."
50 den schwitzenden Profos zu, der beim Ausladen half. Mit ein paar kurzen Sätzen setzte er ihn ins Bild. „Ich glaube, ich kann das verantworten", sagte er. „Bring beim nächsten Mal zwei Musketen, Kugeln und Pulver mit. Und aus meiner Achterkammer nimmst du ein halbes Dutzend Brandsätze mit, die noch von Sir-Tong stammen. Du weißt schon, welche ich meine, die mit dem großen Feuerzauber." „Diese Halunken", sagte Ed erbittert. „Es wäre zu schön, wenn sie heute noch erschienen. Denen werde ich die Haut..." „Ich weiß, Ed. Aber sie erscheinen nicht, solange die ,Isabella' hier am Strand liegt. Und von der anderen Seite greifen sie nicht an, weil da die Klippen sind und ihnen Steine auf die Köpfe fallen. Sieh zu, daß alles schnell ausgeladen wird, ich habe da eine Idee. Und vergiß nicht, was du mitbringen sollst." Er ging wieder zu Blake zurück und fragte ihn: „Wie tief ist das Wasser auf der anderen Seite in der Bucht?" „Schätzungsweise zehn Faden." Hasard nickte. „Das reicht, und es ist ein gutes Versteck." „Ich verstehe nicht, was Sie vorhaben, Mister Killigrew!" „Zunächst lasse ich Ihnen zwei Musketen und Kugeln bringen. Sie müssen mir nur versprechen, daß Sie immer auf die Waffen achtgeben. Sie oder Hanky." „Das verspreche ich", sagte Blake spontan. „Damit können Sie sich vom Berg aus zur Wehr setzen und den Kerlen das Fürchten beibringen. Dann habe ich noch etwas für Sie, falls die Übermacht einmal zu groß wird. Die Handhabung zeige ich Ihnen noch." Er klärte den staunenden Mann über die Brandsätze auf und sah, wie Blake immer wieder den Kopf schüttelte.
„Damit haben wir uns schon aus mancher Klemme befreit, wenn es gar nicht mehr anders ging", sagte Hasard. „Mein Profos bringt das Zeug mit der nächsten Ladung her." „Sir, ich weiß nicht, wie ich jemals ..." „Ich will keinen Dank", sagte Hasard. „Ich freue mich, wenn ich euch helfen kann, denn das Los dieser Menschen berührt mich mehr, als man mir ansieht. Ich kann das nachfühlen, und daher helfe ich. Aber ich wollte noch etwas anderes sagen. Wir müssen diese Kopfjäger von jedem weiteren Besuch abhalten, und der Schreck soll ihnen so nachhaltig in die Knochen fahren, daß sie die Insel nicht mehr anlaufen. Daher werden wir das Schiff auf der anderen Seite in der Bucht verstecken. Das erweckt den Eindruck, als seien wir wieder abgesegelt. Meine Leute werden bewaffnet am Strand warten, sich dort verstecken und den Burschen einen heißen Empfang bereiten. Nach Möglichkeit soll dabei der Eindruck entstehen, die Kranken würden sich selbst verteidigen. Aus dieser Lehre werden die Kerle ihre Konsequenzen ziehen, so hoffe ich jedenfalls." „Ein hervorragender Gedanke", sagte Blake. „Sie sind ein Mann mit Ideen, Sir, ich bewundere Sie! Sie haben in zwei Tagen alles das geschafft, was uns in Jahren nicht möglich war. Ich bin weiß Gott kein schlechter Seemann gewesen, aber Ihren Leuten kann ich das Wasser nicht einmal aus der Ferne reichen. Ich habe immer mal davon geträumt, auf so einem Schiff zu fahren - mit solchen Kerlen, bei denen einer für den anderen durch die Hölle geht, aber das wird wohl ewig mein Traum bleiben." Er zeigte in die Runde und hob die Schultern. „Ich habe hier eine Aufgabe, Sir, und nun, da diese Insel sozusagen
52 dank Ihrer Hilfe aufblüht, fühle ich mich wohler. Ich werde diese Leute betreuen, solange die Krankheit umgeht und solange ich lebe. Sie brauchen jemanden, und außerdem hängen meine Erinnerungen an dieser Insel, wenn Sie das verstehen. Ich bin auf meine Art glücklich, Sir," „Ich weiß das." Hasard stand auf. Mittlerweile war das Boot zweimal an den Strand gelaufen und entladen worden, und Carberry brachte die gewünschten Sachen an Land. Die Kranken trugen die Früchte auf den Berg, die Lebensmittel und gruben die Schößlinge ein, die die Leute von Ratanga ihnen gegeben hatten. Hasard erklärte Blake die Handhabung der Brandsätze, und Blake begriff sehr schnell, wie man sie am besten einsetzte und abfeuerte. Mit dem kleinen Boot kehrte Hasard etwas später an Bord zurück und unterrichtete die Seewölfe von seinem Plan. „Sobald alles entladen ist", sagte er, „runden wir die Insel und verstecken unsere alte Tante in der Bucht. Blake rechnet damit, daß die Kopfjäger bald erscheinen, die Zeichen stehen auf Sturm. Aber wir werden nicht zulassen, daß sie hier ihre Opfer finden, und wenn wir noch ein paar Tage hierbleiben." Zustimmendes Gebrüll war die Antwort. „Sollen sie nur auftauchen", sagte Smoky. „Wir heizen ihnen die Hölle vor, daß sie sich selbst für Teufel halten." „In gewisser Weise sind sie das ja auch", sagte Tucker. Der Gambianeger Batuti rollte wild mit den Augen und hob drohend die Faust. „Krankes Leute erschlagen, was?" grollte er. „Batuti werden Kopfjäger zerquetschen wie triefäugiges Kakerlak. So!" sagte er und rieb Dau-
men und Zeigefinger aneinander. Hasard erläuterte weiter und sagte ihnen das, was er auch schon mit Blake besprochen hatte. „Wenn sie hier auf unerwarteten Widerstand treffen, dann werden sie merken, daß sich einiges geändert hat. Erscheinen sie bei Tage, nehmen sie an; die Insel sei von nun an bewacht. Tauchen Sie bei Nacht auf, dann sehen sie uns nicht und halten uns für Insulaner. Letzten Endes ist es egal. Ein paar Mann bleiben auf der ,Isabella' als Wache zurück, die anderen verteilen sich am Strand. Aber jetzt bringen wir den Rest an Land, damit wir die Insel umsegeln, können," „Wir könnten auch ein paar Höllenflaschen oder ein paar Brandsätze mitnehmen", schlug der Stückmeister Al Conroy vor. „Das hat bisher immer einen nachhaltigen Schock hinterlassen." „Ja, das würde ihr Entsetzen noch steigern", sagte Hasard. Anschließend fuhr das Boot zum letzten Mal beladen an den Strand, und die restlichen Kokosnüsse und Früchte wurden ausgeladen. Etwas später wurde der Anker gehievt, und die „Isabella" manövrierte langsam um die Insel, bis die Bucht vor ihnen lag. Es war ein schmaler Einlaß, über dem im Hintergrund wie ein Dom der Felsen aufragte. Ein Angriff von dieser Seite war ausgeschlossen, er wäre reiner Selbstmord gewesen. Die „Isabella" ging vor Anker, die Segel wurden aufgegeit. Die Bucht war kein vorzügliches Versteck, und von dieser Seite konnte man sie leicht entdecken. Von der anderen jedoch war sie nicht zu sehen, da deckte sie der Berg. Und nach Blakes Worten war nicht anzunehmen, daß die Kopfjäger von dieser Seite erschienen. Das hatten sie noch nie getan. Al Conroy verteilte am Abend die
53 Waffen: Musketen, Pistolen und Höllenflaschen. Außerdem trug jeder sein Entermesser. Ferris Tucker hatte sich noch zusätzlich mit seiner furchterregenden Axt bewaffnet. „Du setzt dich oben in die Felsen", sagte Hasard zu Dan, weil der junge O'Flynn die schärfsten Augen hatte. „Sobald sich Ausleger nähern, gibst du Bescheid. Wenn sie heute nacht auftauchen, werden wir sie gut sehen können, denn der Himmel ist nicht bewölkt. Die anderen Männer gehen mit mir mit. Donegal, Luke und Will Thorne bleiben an Bord, ebenso Hasard und Philip. Das dürfte wohl genügen, denn außerdem hat Dan die ,Isabella' ja noch in Sichtweite, wenn er dort oben sitzt." Mit dem Beiboot verließen sie die „Isabella", ruderten die paar Yards durch die Bucht bis zu den Klippen und stiegen dort aus. Es gab keinen Weg über die Klippen, es war mehr ein Stolpern, überall lagen große Felsbrocken und Steine herum. Der Weg war nur kurz, dann traten sie wieder auf den geröllübersäten Strand und rundeten die kleine, vorspringende Landzunge. Blake erwartete sie dort schon. Etwas weiter vorn stand Hanky. Zu Hasards großem Erstaunen hatte er ein Feuer direkt am Strand entzündet. „Das sieht man doch meilenweit", rügte der Seewolf. „Wir halten nur die alten Gewohnheiten aufrecht", sägte Blake. „Feuer haben wir schon ein paarmal am Strand entzündet und uns gruppenweise darumgesetzt, wenn die Fliegen zu lästig wurden. Das wirkt also ganz natürlich und wird die Kopf Jäger auf keinen Fall von ihrem Überfall abhalten." „Nun, wenn das so ist, dann lassen wir es eben. Sind Ihre Leute alle oben?" „Ja, sie halten sich in dem großen
Zelt auf, und die anderen haben sich wieder irgendwo verkrochen." Hasard nickte. „Sobald Dans Meldung erfolgt, verteilt ihr euch hier auf dem gesamten Streifen, da wo das Gestrüpp wächst. Laßt die Kerle alle aussteigen. Angegriffen wird nur auf mein Kommando." „Aber dann nichts wie drauf!" sagte Ed grimmig. „Einigen werden wir die Flucht ermöglichen, damit sie überall erzählen können, daß hier der Teufel persönlich haust. Das wird die anderen dann vor weiteren Aktionen abhalten." Conroy hatte ein paar der von Ferris Tucker ersonnenen Höllenflaschen in den Sand gestellt. Eigentlich sahen sie ganz harmlos aus, aber ihr Inhalt bestand aus Schießpulver, Eisenstücken, rostigen Nägeln und Bleistücken. Und wenn das Zeug in die Luft flog, dann wirkte es verheerend. AI Conroy hatte ein Pulverfaß geöffnet und streute eine lange Spur den Strand entlang. Wenn die Kopfjäger an Land waren, genügte ein einziger Funke, um diese Pulverschlange in Brand zu setzen, und auch das würde den Kerlen gehörig einheizen. Der Waffen- und Stückmeister achtete darauf, daß die Flut das Pulver nicht erreichen konnte, und streute es auf die höher gelegenen Stellen, damit es nicht naß wurde. Nachdem er sein Werk beendet hatte, kehrte er wieder zurück und setzte sich zu den anderen Männern in den Sand. Dann warteten sie. Das Feuer wurde schwächer, und sie hielten es absichtlich so klein. Der Mond stand jetzt über dem Wasser und goß silbriges Licht darüber, das von kleinen eiligen Wellen fortgetragen wurde und dann wieder sanft zurückschaukelte.
54 Nur die Unterhaltungen der Seewölfe durchbrachen die Stille dieser Insel. Weiter drüben, hinter der Korallenbank, ruhten die Toten. Das kleine Eiland sah düster und schrecklich aus. Der Mond, wanderte, und eine Stunde nach der anderen verrann. Immer wieder stand der Profos auf, beschattete sein Gesicht mit der Hand und blickte über das Wasser. „Verdammt", sagte er zu Blake, „glauben Sie, die Kerle tauchen noch auf?" „Ich kann es nicht mit Gewißheit sagen, aber wir haben die Späher gesehen, und ich muß mich auf meine Erfahrungen verlassen. Sobald eins der Boote gesichtet wurde, kamen die Kerle ein paar Stunden später, um uns zu überfallen." Carberry juckte es mächtig in den Fäusten. Er hatte ohnehin eine Vorliebe für kleine heimtückische Burschen, die anderen die edelsten Körperteile wegnahmen, um sie zu verhökern. „Oder ist Dan etwa eingepennt?" fragte er verärgert. „Das glaubst du doch selbst nicht", erwiderte der Seewolf. „Hast du Dan auf Wache schon mal pennen sehen?" „Nein, allerdings nicht." „Nun, dann setz dich wieder und warte ab!" Die Zeit verrann träge, sie schlich dahin, und die hohe Luftfeuchtigkeit wirkte ermüdend. „Legt euch in den Sand und schlaft", sagte Hasard. „Es ist nicht nötig, daß alle wach bleiben. Zwei, drei Mann genügen, oben steht ja noch Dan." Ab und zu sahen sie im Mondlicht seine Silhouette, wenn er da oben entlangging und herunterblickte. „Immer noch nichts?" brüllte Ed ungeduldig. „Soll ich sie vielleicht herbeizaubern?" fragte Dan. „Weit und breit ist
jedenfalls kein Boot zu sehen, nicht mal ein Schwimmer im Wasser." „Verdammter Mist!" fluchte Ed. Einige streckten sich der Länge nach aus und schliefen auch bald darauf ein. Wenn etwas passierte, würden sie blitzartig auf den Beinen sein. Aber es passierte nichts, absolut nichts. Immer weiter wanderte der Mond, bis er schließlich ganz verschwand und am Horizont fahlgrauer Dämmer bemerkbar wurde. Es dauerte auch nur noch ein paar Minuten, dann erschien die Sonne über der Kimm und tauchte alles in gleißendes Licht. Die Männer hatten abwechselnd geschlafen, und niemand konnte von sich behaupten, daß er müde war. Sie fühlten sich ausgeruht, wenn auch nicht gerade erfrischt. Carberry erhob sich, spuckte in den Sand und verschwand irgendwo im Dickicht. Einer nach dem anderen folgte. Hasard stand ebenfalls auf. „Vielleicht besuchen sie uns heute am hellen Tag", sagte er zu Blake, der ratlos die Schultern hob. „Oder sie haben den Braten gerochen." „Das glaube ich nicht, Sir. Sie können nichts gemerkt haben, und das Schiff haben sie nicht gesehen." „Die Wachen bleiben aufgestellt", sagte Hasard. „Wir werden es ja selbst merken." 10. Auch an diesem Tag, als wieder brühheiß und stickig die Luft über Deathlike Silence stand, ließen sich die Kopfjäger nicht blicken. „Wenn wir schon nichts zu tun haben", brummte Carberry, „dann können wir den Leuten wenigstens ein bißchen bei der Feldarbeit helfen und das lange Stück da drüben ro-
den. Was haltet ihr davon? Die Leute schaffen das mit ihren verstümmelten Gliedmaßen doch kaum. Später können sie dann Gemüse anpflanzen oder was sie wollen." Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und die Seewölfe nahmen sich den Landstreifen vor, der mit gelblichem Gras und yardhohen Büschen bewachsen war. In ein paar Stunden hatten sie ihn gesäubert, die Büsche entfernt und das Stück mit Hacken und Spaten in fruchtbares Land verwandelt. Langsam verstrich auch dieser Tag. Am Abend wurde am Strand wieder ein kleines Feuer entzündet, und Al Conroy streute eine neue Pulverspur. In dieser Nacht erschienen sie. Die Sonne war gerade gesunken, und der Mond löste sie ab, als aus den Felsen ein leiser Ruf erscholl. „Wahrschau!" rief Dan. „Fünf Auslegerboote von Nord. Sie halten auf die Insel zu." „Wie weit entfernt?" rief Hasard zurück. „Vielleicht noch eine knappe Stunde, so lange werden sie noch brauchen. Ich sehe nur ihre Schatten auf dem Wasser." „So", sagte Ed, „jetzt geht endlich mal ein Tänzchen los, und wir können schon mal zur Fiedel greifen, um ihnen kräftig aufzuspielen." Er rieb sich die Hände und sah den Seewolf erwartungsvoll an. Hasard deutete auf das Gestrüpp. „Versteckt euch dort", sagte er. „Ich
55 beziehe hier Stellung. Kannst du die Boote schon sehen?" „Noch nicht, Sir." Blake nahm seine Muskete und überprüfte sie. Er wirkte nervös, aber das war auch kein Wunder, denn er hatte diese kleinen braunhäutigen Teufel schon aus nächster Nähe erlebt und war ihnen beim letzten Mal gerade noch entwischt. Nach einer Weile stieß er den Seewolf an. „Da sind sie, Sir", flüsterte er leise und kaum hörbar. „Ja, ich habe sie schon gesehen." Hasard vergewisserte sich, daß alle Leute auf dem Posten waren. Shane, Ben Brighton, Luke Morgan, Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark, Pete Ballie und Jeff Bowie, alle hatten ihre Positionen inne, und auch Bill war irgendwo im Gestrüpp verschwunden. Dan O'Flynn stand plötzlich hinter dem Seewolf. „Nicht nötig, daß ich noch da oben bleibe", sagte er. „Die andere Seite ist frei. Es sind nur diese Boote, und in jedem sitzen sechs bis sieben Leute." „In Ordnung", sagte Hasard. Die Boote näherten sich jetzt rasch. Es waren größere Ausleger mit dem trapezförmigen Segel, die der Wind genau auf den Strand zutrieb. Sie waren noch knapp hundert Yards entfernt, hoben sich auf dem Wasser aber durch das Mondlicht in allen Einzelheiten scharf ab. Bevor sie den Strand erreichten, fächerte die Formation sich auf, und
56 jetzt liefen sie jene Stellen an, wo die Seewölfe unsichtbar in den Büschen hockten. Batuti hatte seinen Morgenstern mitgenommen. Er verschmolz mit dem dunklen Gestrüpp so, daß man ihn selbst dann nicht sah, wenn man direkt davorstand. Die Segel auf den Auslegern wurden eingeholt, und Hasard staunte wieder einmal, daß die Gestalten einfach ins flache Wasser sprangen und die Ausleger lautlos auf den Strand zogen. Vor der Gelbbauchseeschlange hatten sie jedenfalls keine Angst. Hasard entging keine Einzelheit. Kleine flinke Männer, nur mit einem Schurz bekleidet, sprangen leichtfüßig auf den Sand. Sie hatten kleine Bogen über der Schulter hängen, und jeder von ihnen trug zwei oder drei Pfeile mit sich. In ihren Ohren steckten Knochen, ausgebleichten Fingern ähnlich, die sie sich durch die Ohrläppchen gebohrt hatten. Immer mehr Kerle wurden es, und sie waren gegen die Seewölfe in der Überzahl. Einige trugen kurze Speere, ein anderer hatte ein erbeutetes Beil in der Hand, sechs oder sieben von ihnen hatten richtige Entermesser, die sie irgendwo von getöteten Weißen erbeutet hatten. Ihre Gesichter waren mit Erdfarbe verschmiert, und selbst die schwarzen, krausen Haare waren mit Lehm oder Dreck überzogen. Am Strand blieben sie stehen, bis auch der letzte Mann bei ihnen war. Dann zeigte der Anführer mit dem kurzen Speer zum Berg hinauf. Hasard stellte sich in Gedanken das Gemetzel vor, daß hier passiert wäre, aber er mochte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, er war einfach zu fürchterlich. Er wartete noch so lange, bis die ersten Kopfjäger losgingen und ein
paar Yards von ihren Booten getrennt waren. „Feuer frei!" rief Hasard. Gleichzeitig schleuderte er die Lunte, die in seiner hohlen Hand glomm, auf die Pulverschlange. Anschließend war die Hölle los. Eine Flammenzunge, grellweiß und hoch wie eine Mauer, entstand am Strand und ließ die Kopfjäger vor Angst laut auf brüllen. Gleichzeitig krachten ein paar Musketen, und. jetzt brach unter den überraschten Kerlen Panik aus. „Ar-we-nack!" brüllte Dan, und der alte Schlachtruf der Seewölfe hallte schaurig und furchteinflößend über die Insel. Ein braunhäutiger, lehmverschmierter Mann warf die Arme hoch, ließ sein Entermesser fallen, dann griff er sich an den Schädel und fiel ins Wasser, wo er reglos liegenblieb. Wie wildgewordene Teufel rasten die Kopfjäger über den Strand, liefen zurück, stießen da auf plötzlich aus dem Nichts auftauchende Männer und drehten wieder ab, so daß sie den anderen in die Arme liefen. Das Musketenfeuer war nach den ersten Schüssen verstummt, denn keiner der Seewölfe schoß auf Leute, die sich nicht gleich zur Wehr setzen konnten, weil sie sich in heller Panik befanden. Aber dafür gab es Prügel, und da hielt Hasards Männer nichts mehr zurück. Von ihren Auslegern waren sie jetzt getrennt, der Weg zum Wasser war versperrt, und von den anderen Seiten waren sie umzingelt. Das Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen war so groß wie das Entsetzen jener Leute, über die sie heimlich herfielen, um sie zu töten. Jetzt war der umgekehrte Fall eingetreten. Einen, der in seiner Angst genau
57 auf den Seewolf zurannte, beförderte ein harter Schlag direkt in die Luft. Er hob sich vom Boden und segelte auf Luke Morgan zu, der ihm gleich beide Fäuste um die Ohren schlug, bis der Bursche sich nicht mehr rührte. Al Conroy warf eine der Höllenflaschen in ein Auslegerboot, um zu demonstrieren, wie das funktionierte. Die Flasche krepierte unter bestialischer Geräuschentwicklung, das Boot zerfetzte und löste sich in seine Bestandteile auf, die nach allen Seiten davonflogen. Die Explosionen und das wieder erloschene Feuer erschreckten die Kopfjäger noch mehr als die Männer, die wie die Teufel unter sie fuhren und drauflosschlugen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich auf ihre eigenen Waffen besannen und sie auch einsetzten. Am Strand wurde jetzt verbissen gekämpft, Mann gegen Mann. Die Kopfjäger schlugen mit Beilen und Messern um sich. Einer spannte seinen Bogen und legte auf Batuti an, aber der gewaltige Gambianeger warf seinen Morgenstern nach ihm und traf. Ferris Tucker wehrte sich mit seiner großen Axt, und wo er hinschlug, entstanden Breschen in der Mauer aus Leibern. „Paß auf, Ed, sie brechen durch!" rief Dan dem Profos zu. Carberry wurde von zwei Männern zugleich angegriffen. Den einen schickte er mit einem Schlag auf den Schädel zu Boden, den anderen packte er um die Hüften und hob ihn hoch. Er wirbelte den schreienden und zappelnden Mann um seine eigene Achse und warf ihn schwungvoll in die See. Dann griff er nach dem nächsten, der an ihm vorbeiwollte und gerade
mit dem Beil zu einem Schlag ausholte. Im Mondschein mußte Eds narbiges Gesicht, das jetzt noch grimmig verzogen war, dem Kopfjäger geradezu entsetzlich erscheinen. Er drehte sich um und rannte den Strand entlang. Ein anderer folgte ihm in heller Angst, Carberry stürmte hinterher, und sein Gebrüll, das sie ohnehin nicht verstanden, nervte sie. „Oh, ihr lausigen Rübenschweine!" schrie der Profos im Laufen. „Ihr wollt wohl noch den frischen Acker zertrampeln, was, wie?" Aus dem Laufen warf er sich auf den einen Mann und begrub ihn mit seinem Körpergewicht unter sich. Der zweite überschlug sich vor Angst vor diesem alles niederwalzenden Ungeheuer und flog ins Wasser. Dort begann er zu paddeln, aber er gelangte nicht weit. Ed hatte den Mann bewußtlos geschlagen, packte seine Beine, ließ ihn kreisen und warf ihn dem Fliehenden hinterher. Die beiden stießen zusammen, und von da an waren sie ruhig und hatten das Kampfgetümmel hinter sich gelassen. Geschrei und Gebrüll hallten über den Strand. Ein paarmal krachten Pistolenschüsse, Belegnägel pfiffen durch die Luft und landeten auf wolligen Schädeln. Luke Morgan, der mit einem zähen Burschen kämpfte, fühlte einen leichten Stich in seiner Hüfte. Da er von Natur aus ein überaus jähzorniger Mann war, sah er gleich rot, riß ebenfalls sein Entermesser hervor und drang auf den Mann ein. Nach kurzer Zeit war der Zweikampf entschieden, und Luke beteiligte sich wieder bei den anderen. Am Strand lagen verwundete, tote und bewußtlose Kopfjäger. Sie waren jetzt nicht mehr in der Überzahl,
58 aber viele rannten ins Wasser und schossen von dort aus ihre Pfeile ab. Da Blake versicherte, die Pfeile wären ausnahmslos vergiftet, griffen die Seewölfe wieder zu Pistolen und Musketen. Blakes Kugel fällte einen, der gerade auf den Seewolf anlegte. Seine Arme fielen schlaff herunter, und er stürzte rückwärts in das Wasser. Den nächsten holte sich Blake kniend mit der Pistole, die ihm jemand in die Hand gedrückt hatte. Er zog sich etwas zurück und nahm immer diejenigen Kopfjäger aufs Korn, die aus dem Hinterhalt schossen. Big Old Shane trieb zwei schreiende Kerle vor sich her wie unartige Kinder und verdrosch sie, wie sich das gehörte. Das heißt, er verdrosch sie einen mit dem anderen, wobei er den einen als Prügel benutzte und den anderen damit schlug. Ben Brighton hatte einen der kleinen Kerle im Kreuz hängen, der ihn unbedingt mit dem Messer attackieren wollte. Aber dazu gelangte er nicht mehr, denn Ben zog ihn wie eine lästige Wanze herunter, drehte ihn um und rammte ihn mit dem Schädel voran in den Sand. Auch der Seewolf ließ sich nicht lumpen. Ein etwas größerer Mann drang mit dem Messer auf ihn ein, bückte sich dann blitzschnell, hob eine Handvoll Sand auf und wollte sie Hasard in die Augen werfen, um ihn zu blenden. Hasard wich geschickt aus, und als der andere das Messer warf, stieß er blitzschnell mit dem Degen zu. Leblos sank der Kopfjäger in den Sand. Mittlerweile war es drei anderen gelungen, das Boot zu erreichen. Sie sahen ihr Heil nur noch in der Flucht. Sie hatten schnell herausgefunden, daß sich von ihren Gegnern keiner in das Wasser traute, um sie zu verfolgen.
Blake wollte feuern, er hatte seine Muskete gerade wieder geladen, doch der Seewolf winkte ab. „Noch nicht, Blake. Wir lassen die anderen laufen, aber diesen Kerlen werden wir es zeigen, sobald sie abgelegt haben. Sie können sich dann gleich einmal von der Wirkung dieser Brandsätze überzeugen." „Nicht auf die Kerle im Boot feuern!" rief der Profos. „Die sollen gleich sehen, was passiert." Ein vierter kam noch hinzu und sprang im letzten Moment hinein. Dann zogen sie das kleine Segel hoch, griffen außerdem zu den Paddeln und jagten davon. Nach knapp zweihundert Yards wurde Blake unruhig, denn er fragte sich, wie es diesem Killigrew jetzt noch gelingen sollte, das Boot zu vernichten. Hasard zündete den Brandsatz, den er in das tragbare Bronzegestell gesteckt hatte, und richtete ihn aus. Das Gestell, einer Drehbasse im Kleinformat ähnlich, schwenkte herum, und gleich darauf zischte ein feuerspeiendes Ungetüm mit nervtötendem Heulen durch die Nacht, sauste in den Himmel, als wolle es den Mond treffen, und rauschte dann in einer langen Kurve wieder hinunter. Blutrotes, grellweißes, blaues und grünes Licht ergoß sich aus dem nächtlichen Himmel. Für die Kerle im Ausleger mußte es so aussehen, als würde der Mond auf sie niederstürzen. Ein angstvoller Schrei gellte über das Wasser, als sich der Feuerregen aufs Meer ergoß, das Auslegerboot erfaßte und im Nu in Flammen aufgehen ließ. Auf dem Meer brannte es noch minutenlang weiter, bis die Reste des Auslegers im Wasser versanken. Dann erlosch auch das unheimliche Glosen, und es wurde wieder ruhig.
60 Bei diesem selbst für die Seewölfe ziemlich seltenen Schauspiel blieb Blake stumm, weil er einfach kein Wort mehr hervorbrachte, so fassungslos war er. Bei den Kopfjägern, einer kleinen Gruppe nur noch, die sich zur Wehr setzte, bemerkten sie etwas Eigenartiges. Als das Flammenrad am Himmel zerplatzte, warfen sie ihre Waffen fort und ließen sich der Länge nach in den Sand fallen. Und als sich der Feuerregen auf das Auslegerboot legte und es sofort verbrannte, da schrien sie gequält auf, gruben mit den Händen im feuchten Sand und versteckten ihre Gesichter darin, um nicht das schreckliche Heulen des rasenden Gottes mit anhören zu müssen. „Nun seht Euch diese Helden an, Blake", sagte der Profos. „Wenn die noch einmal hierher zurückkehren, dann werde ich selbst ein Kopfjäger. Die sind für alle Zeiten kuriert, denn wenn man einen Gott aus der Tasche zaubert, hat man natürlich auch Macht über ihn und ist somit stärker." Er wartete keine Entgegnung des fassungslosen Mannes ab, nahm seinen Belegnagel und zog den auf dem Boden kauernden und vor Angst erstarrten Kopfjägern kräftig eins über das Hinterteil, daß sie jaulend und heulend aufsprangen, die Arme hochrissen und etwas in ihrer Sprache schnatterten. Dabei blickten sie immer wieder zum Himmel, ob sich das furchtbare Schauspiel wiederholen würde. „Lassen wir die Rübenschweine laufen, Sir?" fragte Ed mit seiner Donnerstimme. „Natürlich, die sind ohnehin restlos entnervt, und sie werden es wie ein Lauffeuer verbreiten. Jagt sie in ihre Boote. Ihre Toten sollen sie auch gleich mitnehmen."
Der Kampf war damit beendet, aber die Kopfjäger wollten nicht in ihre Boote. Sie hatten fürchterliche Angst, daß es ihnen genauso ergehen würde wie den anderen. Carberry, Shane und Dan ließen sie ihre Leute einsammeln, und dabei verständigten sie sich durch Handzeichen und drohende Gebärden. Ein paar derbe Tritte besorgten den Rest. Die Kopfjäger nahmen die Gefallenen, Verwundeten und Bewußtlosen auf und trugen sie zu den restlichen Booten. Dann kletterten sie selbst hinein, weigerten sich aber beharrlich, das Segel zu setzen oder loszupaddeln. Erst als Hasard sich eine Muskete geben ließ und dicht vor den Booten in das Wasser schoß, bis kleine Fontänen aufspritzten, da begriffen sie endlich. Klein und demütig hockten sie in ihren Booten, daß man nur noch ihre lehmverschmierten Wollköpfe sah. Sie rührten keine Hand und ließen sich treiben. Die Angst steckte ihnen so in den Knochen, daß sie jeden Augenblick den Zorn des Feuergottes befürchteten. Mit Kurs aufs offene Meer verschwanden sie, und sie paddelten erst dann los, als sie mindestens vier Kabellängen vom Ufer entfernt waren. Da aber paddelten sie wie besessen. * Zwei Stunden, bevor der Morgen graute, wurden auf der „Isabella" die Segel gesetzt und der Anker eingeholt. Hasard wollte keinen Dank, und er wollte auch keinen rührseligen Abschied. Die Kranken dieser Insel würden
61 sie ohnehin in guter Erinnerung behalten, und der Zweck war auch erfüllt. Sie hatten reichlich zu essen, eine Unterkunft, und sie brauchten sich vor den Kopfjägern nicht mehr zu fürchten, denn die würden die Insel
künftig meiden, das war absolut sicher. Fast lautlos glitt die „Isabella" aus der Bucht, getrieben von einer lauen Brise. Sie segelte in den beginnenden Morgen, einem neuen Abenteuer entgegen.
Nächste Woche erscheint SEEWOLFE Band 206
Im Golf von Papua von Kelly Kevin Capitan da Carrilho tat genau das, was der Seewolf vorausgesehen hatte: er luvte an, um an der Backbordseite der „Isabella" vorbeizusegeln und die Luvposition zu gewinnen. Aber die ranke Galeone mit den überlangen Masten war schneller, obwohl die „Dona Felipa" raumschots heranrauschte. In einem blitzartigen Manöver ging die „Isabella" über Stag. Längst waren die Stückpforten geöffnet — und in der nächsten Sekunde krachte bereits die Breitseite . . .
Die seemännische Sprache von A-Z Schwimmende Seezeichen
Schwimmkran
Schwingbaum Schwitzwasser
Schwojen
Scow
Sechsergruppe
See
Sammelbegriff für alle auf See und Fahrwassern ausgelegte und verankerte Tonnen, Bojen und Feuerschiffe im Gegensatz zu den festen Seezeichen an Land wie den Leuchttürmen, Baken, Pricken usw. Kran für den Werft- und Hafenbetrieb. Er ist auf einen Ponton gebaut, hat entweder eigenen Antrieb oder muß zu seinen Einsatzstellen geschleppt werden. auch Backspiere oder Unterleesegelspiere genannt, Spiere, mit der das Unterleesegel ausgebracht wird. bei mangelnder Durchlüftung des Schiffsinneren durch Kondensation entstandene Feuchtigkeit an den Innenbordwänden und der Decksunterseite. auch Schwoien, die Pendelbewegung eines vor Anker oder an einer Boje liegenden Fahrzeugs, hervorgerufen von Wind und/oder Strömung. Schwertboote an der Boje müssen mit hochgezogenem Schwert liegen, um gut schwojen zu können — wenn nicht, besteht Kentergefahr bei starken Böen. ursprünglich ein sehr schnell segelnder Prahm mit kastenförmigem Querschnitt, der in Amerika sehr beliebt war und viel gesegelt wurde. Typisch für die Scowform sind der wellenbrettförmige Rumpf und der flache abgerundete Bug. Moderne Scow-Jollen sind das dänische Jugendboot „Flipper Scow", die „Fireball-Jolle" und die „Tempo Scow". sechs Schiffstypen, die nach der Seestraßenordnung (siehe dem) aufgrund spezieller Aufgaben Wegerecht haben und dies durch besondere Sichtzeichen anzeigen. Zur Sechsergruppe gehören: Kabelleger, Tonnenleger, Vermessungsschiffe, Fahrzeuge für Unterwasserarbeiten, Versorgungsfahrzeuge und Flugzeugträger. Bei Tage führen sie drei Signalkörper senkrecht übereinander und in gleichen Abständen, und zwar sind der obere und untere Signalkörper kugelförmig und rot, während der mittlere rhombusförmig und weiß ist. Bei Nacht zeigen sie drei Lichter senkrecht übereinander und in gleichen Abständen, und zwar sind das obere und untere Licht rot, das mittlere ist weiß. im seemännischen Sprachgebrauch das Meer. Damit zusammenhängend eine Fülle von Begriffen wie
Seeamt
Seeanker Seebär Seebataillon
Seebeben
Seegang, Grundsee, grüne See, in See gehen (nicht: ,,in See stechen"), Seenot, Seemeile usw. in Bremen, Emden, Flensburg, Hamburg und Lübeck bestehendes Seegericht zur Untersuchung von Ursachen und Schuldfragen von Seeunfällen. Berufungsinstanz der Seeämter ist das Oberseeamt in Hamburg, das der Bundesregierung untersteht. Das Seeamt besteht aus einem Vorsitzenden und vier Beisitzern. Der Vorsitzende muß Volljurist sein, mindestens zwei der Beisitzer müssen das Kapitänspatent haben. Als Staatsanwalt oder Ankläger fungiert bei der Seeamtsverhandlung der „Bundesbeauftragte" - meist ein ehemaliger höherer Seeoffizier der Bundesmarine. dasselbe wie Treibanker (siehe dem). früher scherzhafte Bezeichnung für einen alten Seemann. in der kaiserlich-deutschen Marine eine Truppe Marineinfanterie, die nur infanteristisch, nicht seemännisch ausgebildet war. Bestimmt war sie zur Verteidigung der Reichskriegshäfen, wurde jedoch früher aus Mangel an seemännischem Personal auch auf Panzerschiffe kommandiert, wo sie zum Wachdienst und zur Bedienung der Geschütze herangezogen wurde. In diesem Falle bezeichnete man sie als „Seesoldaten". Der Begriff des Seesoldaten dürfte bereits im 16. Jahrhundert entstanden sein, als an Bord der damaligen Kriegsgaleonen Seeleute zur Bedienung der Segel, Artilleristen als Geschützbedienungen und Soldaten als Handwaffenschützen die Schiffsbesatzung darstellten. Die kaiserlich-deutsche Marine hatte vor dem ersten Weltkrieg drei Seebataillone - eins in Kiel, eins in Wilhelmshaven stationiert. Das dritte Seebataillon diente als Kolonialtruppe, unter anderem besonders in der damaligen Ostasien-Kolonie Kiautschou (Tsingtau). Erschütterungen des Meeresbodens durch unterseeische Vulkanausbrüche o. ä. besonders im Pazifik-Gebiet, wodurch Flutwellen von außerordentlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit (700-800 km/h) entstehen können, die beim Auftreffen auf flacheres Wasser oder einengende Buchten verheerende Schäden anrichten.