Olaf Stapledon
Die Letzten und die Ersten Menschen
Gescannt nach der Ausgabe München, Heyne, 1983
Olaf Stapledon
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Olaf Stapledon
Die Letzten und die Ersten Menschen
Gescannt nach der Ausgabe München, Heyne, 1983
Olaf Stapledon
Die Letzten und die Ersten Menschen Eine Geschichte der nahen und fernen Zukunft Mit einem Nachwort von Michael Nagula
Titel der englischen Originalausgabe
LAST AND FIRST MEN Deutsche Übersetzung von Kurt Spangenberg
Inhalt Vorbemerkung des Herausgebers Vorwort Einleitung von einem der Letzten Menschen
9 11 17
Die Chronik
23
I Das balkanisierte Europa Der europäische Krieg und seine Folgen Der englisch-französische Krieg Europa nach dem englisch-französischen Krieg Der russisch-deutsche Krieg
25 27 30 41 49
II Der Zusammenbruch Europas Europa und Amerika Ein Mysterium und sein Ursprung Das ermordete Europa
55 57 62 69
III Amerika und China Die Rivalen Der Konflikt Auf einer Insel im Pazifik
75 77 88 94
IV Die amerikanisierte Erde Die Gründung des ersten Weltstaates Die Vorherrschaft der Naturwissenschaften Materielle Leistungen Die Kultur des ersten Weltstaates Der Untergang der Zivilisation 5
103 105 109 113 118 130
V Das Ende des Ersten Menschen Das Erste Dunkle Zeitalter Der Aufstieg Patagoniens Der Kult der Jugend Die Katastrophe
137 139 145 150 159
VI Die Zeit des Übergangs Der Erste Mensch ist verloren Das Zweite Dunkle Zeitalter
171 173 186
VII Der Aufstieg des Zweiten Menschen Das Aufkommen einer neuen Art Die Beziehungen zwischen drei Arten Der Zweite Mensch auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung
191 193 200
VIII Die Marswesen Die erste Invasion der Marswesen Das Leben auf dem Mars Intellekt und Psyche der Marswesen Die Illusionen der Marswesen
219 221 224 233 239
IX Erde und Mars Der Zweite Mensch ist verloren Der Zusammenbruch von zwei Welten Das Dritte Dunkle Zeitalter
245 247 257 268
X Der Dritte Mensch in der Wildnis Die dritte menschliche Art Abweichungen in der Entwicklung des Dritten Menschen Die Kunst, Lebendiges umzubilden Politische Konflikte 6
275 277 284 292 299
207
XI Der Mensch erschafft einen neuen Menschentyp Das erste der Großen Gehirne Die Tragödie der Vierten Menschen Die Fünften Menschen Die Kultur der Fünften Menschen
303 305 311 321 328
XII Die letzten Menschen auf der Erde Der Kult der Vergänglichkeit Die Erforschung der Zeit Reisen in den Weltraum Eine neue Welt wird vorbereitet
339 341 347 355 364
XIII Die Menschheit auf der Venus Die Menschheit faßt wieder Wurzeln Die Fliegenden Menschen Ein kleineres astronomisches Ereignis
373 375 381 394
XIV Neptun Aus der Vogelperspektive Da capo Die langsame Eroberung
399 401 404 409
XV Die Letzten Menschen Einführung in das Wesen der letzten menschlichen Art Kindheit und Reife Das Erwachen der Rasse Kosmologie
417 419 426 432 446
XVI Der Letzte Mensch Das Todesurteil Das Verhalten der Verdammten Epilog
457 459 462 471 7
Nachwort von Michael Nagula
481
Bibliografie
495
Zeittafeln
501
8
Vorbemerkung Wie schmählich für Science Fiction, von der Wirklichkeit eingeholt zu werden und — unrecht gehabt zu haben! Wie blamabel für einen Autor, das unmittelbar vor seiner Nase Liegende nicht gesehen, die Zeichen seiner Zeit falsch gedeutet zu haben! Aber stimmt das überhaupt? Ich hätte mir die Einstellung meines amerikanischen Kollegen zu eigen machen können, der die ersten beiden Kapitel, in denen die Ereignisse zwischen 1930 und dem Ende dieses Jahrhunderts geschildert werden, die von der Zeit ›eingeholten‹, also ›überholten‹, in seiner Ausgabe kurzerhand weggelassen hat (und auch gleich einen Teil des dritten, um die anti-amerikanischen Töne zu dämpfen). Ich habe mich gegen diese Verstümmelung entschieden, vor allem aus zwei Gründen: Erstens hat der Leser ein Recht darauf, eines der interessantesten Werke der Science Fiction in seiner vollständigen Form zu studieren, zumal es hier zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt wird. Zweitens halte ich die Annahme, Science Fiction würde von der Wirklichkeit ›eingeholt‹ oder ›überholt‹, für grundsätzlich irrig. Sie geht von der falschen, wenn auch von manchen Autoren und vielen Lesern geteilten Voraussetzung aus, diese Literatur sei eine Art illustrierender Futurologie, womöglich noch auf naturwissenschaftlicher Basis. Das war Science Fiction nie und kann es gar nicht sein. Science Fiction ist Ausdruck von Hoffnungen und Ängsten der jeweiligen Gegenwart, der Hoffnung, mit Hilfe der Technik und der Naturwissenschaften eine paradiesische Welt einzurichten, die Krankheiten auszurotten, zu den Sternen zu fliegen, auf uns wohlwollende außerirdische Intelligenzen zu stoßen ebenso wie die Furcht, von schrecklichen Kriegen und Seuchen heimgesucht, von Monstern bedroht, von Robotern niedergewalzt, 9
von Computern bevormundet oder von geisteskranken Politikern oder Wissenschaftlern unterdrückt und versklavt zu werden. Die Science Fiction zeigt deutlicher als jede andere Literatur, ja mit fast seismographischer Genauigkeit, welche Ängste die Menschen zu gewissen Zeiten besonders peinigten, vor welchen Entwicklungen sie Bedrohung empfanden und welche Hoffnungen sie in neue Ideen und Erfindungen setzten, an welche Vorstellungen einer besseren Zukunft sie sich klammerten. Science Fiction ist der (fast) unbeschränkte Tummelplatz menschlicher Phantasie, die Spielwiese für alle erdenklichen Möglichkeiten, nicht ein Testgelände für Wahrscheinlichkeiten. Die Hoffnungen von gestern sind nicht die Wirklichkeit von heute, die Ängste gottlob auch nicht — zumindest sind uns einige der Ereignisse, wenn auch nicht alle, erspart geblieben, die der Autor Ende der zwanziger Jahre für das halbe Jahrhundert voraussah, das seit Erscheinen seines Buches (1930) nun vergangen ist. Sollten Sie sich, verehrter Leser, von liebgewordenen Auffassungen, was Science Fiction sei oder zu sein habe, nicht trennen können, dann überblättern Sie die ersten beiden Kapitel, oder — noch besser — lesen Sie sie wie einen historischen Abriß aus einer merkwürdig vertrauten Parallelwelt. Zum Schluß ein Wort des Dankes an Prof. Dr. Kurt Spangenberg, der in monatelanger Arbeit dieses umfangreiche und sprachlich streckenweise schwierige Werk kongenial ins Deutsche übertragen hat. Dank auch Michael Nagula, der dieser Ausgabe das Nachwort beigesteuert hat, um dem deutschen Leser den Zugang zu diesem Buch zu erleichtern, das wie ein erratischer Block in der SF-Landschaft steht und wie »Der Sternenschöpfer« zwei Generationen von SF-Autoren nicht nur Anregung, sondern geradezu ein ›Steinbruch‹ von Ideen war. Wolfgang Jeschke 10
Vorwort Dies ist ein Roman. Ich habe versucht, mir eine Geschichte auszudenken, die eine mögliche, oder doch zumindest nicht völlig unmögliche Darstellung der Zukunft der Menschheit sein soll, und ich habe diese Geschichte unter Berücksichtigung der sich gegenwärtig wandelnden Zukunftsperspektiven des Menschen zu entwickeln versucht. Wenn man in die Zukunft schweift, so mag dies aussehen, als würde man, um des Phantastischen willen, seiner unbezähmbaren Spekulationslust nachgeben: Doch eine kontrollierte Phantasie auf diesem Gebiet kann für alle diejenigen eine sehr wertvolle Denkübung sein, die über die Gegenwart und deren Entwicklungsmöglichkeiten verwirrt sind. Wir sollten heute jeden ernsthaften Versuch, sich ein Bild der Zukunft der Menschheit zu machen, begrüßen und sogar aus ihm lernen, nicht nur um die sehr unterschiedlichen, und oft tragischen, vor uns liegenden Möglichkeiten zu begreifen, sondern um uns auch damit vertraut zu machen, daß viele der von uns besonders gehegten Ideale einem höher entwickelten Intellekt mit Sicherheit kindisch erscheinen würden. Wenn also Streifzüge in die ferne Zukunft unternommen werden, dann in dem Bemühen, die Menschheit im kosmischen Rahmen zu sehen, und um uns für das Akzeptieren neuer Werte zu öffnen. Aber wenn solche Entwürfe imaginärer, möglicher Zukünfte wirklich bedeutungsvoll sein sollen, dann muß unsere Phantasie einer strengen Kontrolle unterworfen sein. Wir müssen uns bemühen, die Grenzen des Möglichen nicht zu überschreiten, die durch die besondere Art von Kultur und Zivilisation, in der wir leben, abgesteckt sind. Das bloß Phantastische hat wenig Überzeugungskraft. Nicht daß wir uns etwa mit Voraussagen über das beschäftigen sollten, was tatsächlich eintreten könnte, denn außer in simplen Angelegenheiten wären solche Prophezeiungen in jeder Hinsicht nutzlos. Wir sind keine Historiker, die 11
statt über die Vergangenheit über die Zukunft zu forschen versuchen. Wir können nur einen einzelnen Faden aus dem Gewirr ebenso vorstellbarer Möglichkeiten aufgreifen. Aber dies muß bewußt geschehen. Womit wir es hier zu tun haben, ist keine Wissenschaft, sondern Kunst, und sie sollte die ihr gemäße Wirkung auf den Leser haben. Wir beabsichtigen aber auch nicht, eine nach ästhetischen Gesichtspunkten bemerkenswerte Erzählung vorzulegen, vielmehr einen Mythos, nicht bloße Historie und auch nicht bloße Fiktion. Ein echter Mythos bringt das, was in einem bestimmten noch lebendigen oder toten Kulturkreis am höchsten verehrt und beachtet wird, in großer Mannigfaltigkeit und oft in seiner Tragik zum Ausdruck. Ein falscher Mythos verstößt entweder brutal gegen die Grenzen der Glaubwürdigkeit, die durch die Kulturstruktur, auf die er sich bezieht, gegeben sind, oder behandelt weniger markante, den charakteristischsten Vorstellungen dieser Kultur nicht entsprechende Phänomene. Ebensowenig wie es sich bei diesem Buch um eine echte Voraussage handelt, kann von ihm behauptet werden, es wäre ein echter Mythos, vielmehr handelt es sich um einen Versuch in der Schaffung eines Mythos. Ich glaube, daß die Art von Zukunft, wie sie hier ausgedacht wurde, nicht völlig aus der Luft gegriffen sein dürfte, oder doch wenigstens nicht so unvorstellbar für diejenigen ist, die mit den Grundzügen gegenwärtigen westlichen Denkens vertraut sind. Hätte ich eine Angelegenheit behandelt, die überhaupt nichts Spekulatives zuließe, dann wäre die Darstellung so plausibel ausgefallen, daß sie allein dadurch schon nicht mehr plausibel erschienen wäre. Denn wenigstens eines ist bei der Zukunft so gut wie sicher, daß sehr vieles für uns darin nicht vorhersehbar sein dürfte. In einer Hinsicht mag ich vielleicht stark übertrieben haben. Ich habe angenommen, ein Mensch der fernen Zukunft würde mit uns Heutigen in Verbindung treten. Ich habe behauptet, er besäße die Fähigkeit, die Gedankengänge der gegenwärtig Lebenden teilweise zu beeinflussen, und daß dieses Buch auf eine solche Beeinflussung zurückzuführen sei. Aber selbst eine solche Fiktion muß 12
nicht völlig undenkbar sein. Lediglich durch geringfügige Änderungen meines Themas hätte ich natürlich auf diese Fiktion verzichten können, wenn sie nur aus Gründen der Bequemlichkeit verwandt worden wäre. Doch durch irgendein solches radikales und verblüffendes Mittel konnte ich verdeutlichen, daß im Wesen der Zeit noch mehr verborgen sein mag, als uns bisher bekannt ist. Nur durch einen Trick dieser Art konnte ich meiner Überzeugung gerecht werden, daß unsere ganze gegenwärtige Mentalität nur ein konfuses und auf die Gegenwart fixiertes erstes Experiment darstellt. Sollte dieses Buch jemals zufällig von irgendeinem Menschen in der Zukunft entdeckt werden, zum Beispiel durch einen Angehörigen der nächsten Generation, der den Abfall seiner Väter aussortiert, dann wird es sicherlich belächelt werden, denn sehr vieles muß inzwischen geschehen sein, worüber bisher nicht die geringste Andeutung erkennbar ist. Selbst in meiner eigenen Generation können sich die Umstände so unerwartet schnell und so radikal verändern, daß dieses Buch schon sehr bald lächerlich erscheinen mag. Macht nichts. Wir Heutigen müssen unser Verhältnis zum übrigen Universum so gut, wie wir es nur eben vermögen, zu begreifen versuchen, und selbst wenn unsere Bilder den Menschen in der Zukunft skurril erscheinen müssen, dann mögen sie trotzdem heute ihren Zweck erfüllen. Einige Leser, die meine Geschichte als einen Versuch ansehen, etwas voraussagen zu wollen, mögen sie ungerechtfertigterweise für pessimistisch halten. Es handelt sich aber um keine Prophetie. Es ist ein Mythos, oder besser ein Versuch zur Schaffung eines Mythos. Wir alle wünschen sehnlichst, daß die Zukunft sich als glücklicher erweisen möge, als ich sie mir vorgestellt habe. Insbesondere hoffen wir, daß unsere gegenwärtige Zivilisation sich ständig weiterentwickle zu einer Art Utopia. Die Vorstellung, daß sie zerfallen und zusammenbrechen und daß all ihre geistigen Schätze unwiderruflich verloren gehen könnten, ist uns zutiefst zuwider. Und doch muß dies wenigstens als Möglichkeit ins Auge gefaßt werden. Eine derartige Tragödie, die Tragödie einer 13
Rasse, muß aber, so denke ich, bei einem zulänglichen Mythos vorkommen dürfen. So habe ich mir eben aus literarischen Gründen vorgestellt — wobei ich voll Freude feststelle, daß es gegenwärtig starke Keime der Hoffnung, aber auch der Verzweiflung gibt —, daß unsere menschliche Rasse sich selbst zerstört. Es gibt heute eine sehr aufrichtige Bewegung für den Frieden und für eine internationale Einigkeit, die auch mit Glück und unter intelligenter Leitung triumphieren mag. Aber ich habe die Dinge in diesem Buch so entwickelt, daß diese große Bewegung nicht zum Erfolg gelangt. Ich halte sie für nicht in der Lage, eine Reihe von nationalen Kriegen zu verhindern, und ich gestehe ihr erst zu einer Zeit, in der die Mentalität der Menschheit bereits ausgehöhlt ist, zu, ihr Ziel der Einheit der Welt und des Friedens zu erreichen. Möge dies nie eintreten. Möge der Völkerbund oder eine stärker kosmopolitisch orientierte Autorität Erfolg haben, bevor es zu spät ist! Aber lassen Sie bitte in unserem Intellekt und in unserem Herzen auch die Vorstellung zu, daß das ganze Unternehmen unserer Menschheit schließlich nur eine geringfügige und erfolglose Episode in einem weit größeren Drama sein könnte, das möglicherweise auch tragisch endet. Wenn es überhaupt amerikanische Leser dieses Buches geben sollte, dann werden diese das Gefühl haben, daß ihre große Nation eine wenig reizvolle Rolle in meiner Geschichte spielt. Ich habe mir vorgestellt, daß die etwas primitivere Art des Amerikanismus über das Beste und Vielversprechendste in der amerikanischen Kultur obsiegt. Möge dies nie Wirklichkeit werden! Doch Amerikaner haben selbst zugegeben, daß ein solches Problem bestünde, und sie werden mir hoffentlich verzeihen, wenn ich es besonders hervorhebe und es als einen Wendepunkt in dem langen Drama der Menschheit benutze. Bei jedem Versuch, ein solches Drama zu entwickeln, muß berücksichtigt werden, was die gegenwärtige Wissenschaft über die Natur des Menschen selbst und über seine physische Umwelt zu sagen hat. Ich habe versucht, meine eigenen geringen Kenntnisse in den Naturwissenschaften dadurch zu erweitern, daß ich meine Freun14
de aus diesem Bereich durch Fragen belästigt habe. Gespräche mit den Professoren P. G. H. Boswell, J. Johnstone und J. Rice, Liverpool, haben mir in dieser Hinsicht außerordentlich geholfen. Aber sie dürfen für die vielen absichtlichen Übertreibungen nicht verantwortlich gemacht werden, die, obwohl sie in meinem Konzept ihren Zweck erfüllen, Naturwissenschaftlern einen Schauer über den Rücken jagen mögen. Dr. L. A. Reid bin ich für seine allgemeinen Kommentare und Mr. E. V. Rieu für viele wertvolle Anregungen sehr zu Dank verpflichtet. Gegenüber Professor L. C. Martin und seiner Frau, die das gesamte Buch in Manuskriptform gelesen haben, kann ich meine Dankbarkeit für ihre stetige Ermutigung und für ihre Kritik gar nicht stark genug ausdrücken. Dem erfrischend gesunden Menschenverstand meiner Frau verdanke ich weit mehr, als sie annimmt. Bevor ich dieses Vorwort abschließe, möchte ich den Leser darauf aufmerksam machen, daß der im folgenden in der ersten Person Singular Sprechende nicht der Verfasser dieses Buches ist, sondern daß der Erzähler ein Individuum aus einer sehr entfernten Zukunft sein soll. West Kirby, Juli 1930 O.S.
15
Einleitung von einem der Letzten Menschen Dieses Buch hat zwei Autoren: der eine ist ein Zeitgenosse seiner Leser, der andere lebt in einer Zeit, die diese die ferne Zukunft nennen würden. Derjenige, der die folgenden Kapitel niederschreibt, lebt zur Zeit Einsteins. Ich jedoch, der ihn dieses Buch schreiben läßt, der es in sein Gehirn übertragen hat, ich, der ich die Vorstellungen jenes primitiven Wesens beeinflusse, lebe in einer Zeit, die für Einstein in der fernsten Zukunft liegt. Ihr Zeitgenosse glaubt, er schreibe einen Roman. Obwohl er sich bemüht, seine Geschichte plausibel zu erzählen, hält er sie weder selbst für wahr, noch erwartet er, daß andere dies tun. Diese Geschichte ist jedoch die reine Wahrheit. Ein Wesen, das Sie einen Menschen der Zukunft nennen würden, hat sich des gelehrigen, aber kaum ausreichend differenzierten Gehirns Ihres Zeitgenossen bemächtigt und versucht, dessen Denkprozesse für eine fremde Absicht zu nutzen. Auf diese Weise will ein zukünftiges Zeitalter mit Ihnen in Verbindung treten. Hören Sie, bitte, geduldig zu; denn wir, die Letzten Menschen, haben den aufrichtigen Wunsch, uns Ihnen, den Angehörigen der ersten menschlichen Spezies, mitzuteilen. Wir vermögen Ihnen zu helfen, und auch wir brauchen Ihre Hilfe. Da Sie noch sehr unvollkommen mit den Funktionen der Zeit vertraut sind, ist zweifellos Ihr Vorstellungsvermögen jetzt überfordert, und Sie werden das alles für unglaubwürdig halten. Aber das macht nichts aus. Lassen Sie sich durch die uns so vertraute Tatsache, die Ihnen aber nur schwer eingehen dürfte, nicht allzu sehr verwirren. Es genügt, wenn Sie vorerst die Vorstellung, daß sich Wesen der Zukunft gelegentlich und unter Schwierigkeiten einigen Ihrer Zeitgenossen mit17
teilen, als ein Erzeugnis der dichterischen Phantasie anerkennen. Stellen Sie sich darauf ein und betrachten Sie die folgende Chronik als eine auf diese Weise echte Botschaft des Letzten Menschen, sonst wird es mir schwerfallen, Sie für jenen großen historischen Abriß, den ich Ihnen zu geben habe, aufnahmebereit zu finden. Wenn Ihre Schriftsteller sich Gedanken über die Zukunft machen, dann beschreiben Sie in ihren Romanen allzu leicht den Fortschritt, gerichtet auf eine Art von Utopia, wo dann Menschen wie Sie selbst in eitel Wonne und Wohlbehagen und unter Umständen leben, die sich in äußerster Vollkommenheit einer feststehenden menschlichen Natur anpassen. Ein solches Paradies habe ich nicht die Absicht zu beschreiben. Statt dessen habe ich über ein gewaltiges Auf und Ab von Freude und Leid zu berichten, das sich nicht nur aus Veränderungen der Umgebung des Menschen ergab, sondern auch bestimmt war durch die Veränderungen der Natur des Menschen selbst. Und ich muß schließlich auch darüber berichten, wie der Mensch meiner Zeit, nachdem er endlich zu geistiger Reife und zu philosophischer Klarheit gelangt war, durch eine unvorhergesehene Krise gezwungen wurde, eine Unternehmung zu beginnen, die genauso widerwärtig wie verzweifelt ist. Ich lade Sie also ein, mit mir gemeinsam in Ihrer Phantasie durch die Äonen zu reisen, die zwischen Ihrer Zeit und der meinen liegen. Ich erbitte Ihre Aufmerksamkeit für eine Geschichte der Veränderungen, der Sorgen, der Hoffnungen und der unerwarteten Katastrophen, wie sie sich nirgendwo sonst innerhalb unserer Milchstraße zugetragen hat. Aber zuvor ist es nützlich, sich die Größe der kosmischen Ereignisse einen Augenblick lang zu veranschaulichen. Denn bei der für meine Erzählung erforderlichen zeitlichen Raffung mag es so erscheinen, als handle es sich hierbei lediglich um eine Aufeinanderfolge von abenteuerlichen und unheilvollen Begebenheiten ohne dazwischenliegende Friedenszeiten. In Wirklichkeit jedoch ist das Schicksal des Menschen weniger mit einem Gebirgsstrom zu vergleichen, der reißend von Fels zu Fels herniederfällt, als vielmehr mit einem großen trägen Fluß, 18
dessen Lauf nur selten durch Stromschnellen beschleunigt wird. Lange Zeit der Ruhe oder sogar des tatsächlichen Stillstandes, die vor der Gleichförmigkeit der Probleme und Mühen fast identischer Lebensläufe beherrscht wurden, stehen sehr seltenen Augenblicken des abenteuerlichen Aufbruchs der gesamten Rasse gegenüber. Ja selbst diese wenigen scheinbar rasch ablaufenden Ereignisse waren in Wirklichkeit oft zeitlich von langer Dauer und in ihrem Ablauf schleppend. Nur durch das Tempo der Erzählung entsteht hier ein falscher Eindruck. Obwohl auch der primitive Intellekt die an uns vorüberziehenden Tiefen der Zeit und des Raumes ein wenig erahnen kann, vermögen nur Wesen mit einer etwas differenzierteren Ausstattung Konturen zu erkennen. Einem naiven Betrachter erscheint zum Beispiel eine Gebirgslandschaft fast wie ein flaches Bild, und die sternenübersäte Leere ist bloß ein Dach mit Lichtpünktchen. In Wirklichkeit kann man die unmittelbare Umgebung in etwa einer Stunde durchmessen, die unzähligen Täler zwischen den hoch aufragenden Berggipfeln bleiben hingegen dem entfernten Beobachter uneinsichtig. Ähnlich ist es mit der Zeit. Während die nahe Vergangenheit und die nahe Zukunft noch plastisch mit Höhen und Tiefen begreifbar sein mögen, wird alles andere zur Fläche zeitlicher Unendlichkeit. Daß die gesamte Geschichte des Menschen nur ein kurzer Augenblick im Leben der Sterne ist, mag für einfache Gemüter genauso unbegreiflich sein wie die Vorstellung, daß Ereignisse der fernen Vergangenheit und der fernen Zukunft in sich selbst von ungeheurer zeitlicher Ausdehnung waren und sind. In Ihrer Zeit haben Sie schon gelernt, einige Berechnungen über die Weiten von Zeit und Raum anzustellen. Aber um ein Thema in seinen wahren Proportionen zu erfassen, muß man mehr tun, als nur Berechnungen durchzuführen. Man muß über diese Weiten nachdenken, sie mit seinem Geist zu umfassen versuchen, man muß die Geringfügigkeit des Hier und Jetzt und jenes Augenblickes der menschlichen Zivilisation spüren, den wir Geschichte nennen. Ihre Sinnesorgane und folglich Ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten sind zu grob, als daß Sie hoffen 19
könnten, für das Verhältnis von eins zu einer Milliarde eine bildhafte Vorstellung zu entwickeln. Aber Sie können wenigstens durch Nachdenken erreichen, daß Ihnen die Bedeutung Ihrer bisherigen Berechnungen etwas klarer wird. Wenn die Menschen Ihrer Tage auf die Geschichte ihres Planeten zurückblicken, werden sie nicht nur bemerken, wieviel Zeit seine Entwicklung gebraucht hat, sondern auch die bestürzende Beschleunigung, mit der das Leben auf ihm voranschreitet. Während in der frühesten erdgeschichtlichen Periode kaum Leben zu bemerken war, scheint die Entwicklung des Menschen sich im Augenblick zu überstürzen. Seine geistigen und seelischen Fähigkeiten hinsichtlich Ausdauer, Wissen, Einsicht, Kunstverständnis und Willensstärke sollen gegenwärtig höher sein, als sie je zuvor erreicht wurden, und steigern sich von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mehr. Wie wird es weitergehen? Sie denken sicherlich, daß es eine Zeit geben wird, in der keine weiteren Steigerungen mehr möglich sein werden. Diese Ansicht ist falsch. Sie unterschätzen dabei selbst die Vorgebirge, die Sie bereits erkennen können, geschweige denn daß Sie daran dächten, daß weit hinter diesen, noch von den Wolken verhüllt, sich Abgründe auftun und Schneefelder ausbreiten. Gegenüber dem, was der Mensch geistig und seelisch schon vollbracht hat, ist das, was — von Ihnen aus gesehen — im Sonnensystem noch geleistet werden muß, ungleich viel komplexer und gefährlicher. Und obwohl sich im Geistigen und Seelischen Entwicklungen im bescheidenen Umfang durchaus nachweisen lassen, so sind doch die im eigentlichen Sinne höheren geistigen Fähigkeiten noch nicht einmal in Ansätzen bemerkbar. Auf irgendeine Weise muß ich Ihnen dabei helfen, nicht nur die ungeheure Weite von Zeit und Raum zu begreifen, sondern auch die ungeheuer vielfältigen seelischen und geistigen Erscheinungsformen des Menschen selbst. Dies jedoch läßt sich nur andeuten, denn sehr vieles überschreitet Ihr Vorstellungsvermögen. 20
Die Historiker Ihrer Zeit brauchen sich nur mit einem winzigen Ausschnitt der dahinfließenden Zeit zu beschäftigen. Ich hingegen muß in einem einzigen Buch nicht nur das Wesentlichste aus Jahrhunderten, sondern aus Äonen darstellen. Folglich können wir nicht gemächlich durch einen Zeitabschnitt schlendern, in dem eine Million Erdjahre soviel bedeuten wie ein Jahr Ihrem Historiker. Wir müssen vielmehr über diesen Abschnitt hinwegfliegen. Wir können dabei — genauso wie Sie es von Flugreisen her gewöhnt sind — nur die hervorstechenden Züge eines Kontinents wahrnehmen. Da aber der Flugreisende nichts von den winzigen Bewohnern des Kontinents unter ihm wahrnimmt, diese aber eigentlich doch dessen Geschichte bestimmen, müssen wir unsere Geschwindigkeit oft abdrosseln, in langsamem Tempo und niedriger Höhe über die Häuser dahingleiten und sogar in besonders wichtigen Fällen einmal landen und aussteigen, um direkt mit einzelnen Menschen zu sprechen. So wie jede Flugreise mit einem langsamen Aufstieg beginnt, und sich die Froschperspektive dabei allmählich in eine Vogelperspektive weitet, so wollen wir zunächst recht detailliert jenen kleinen Zeitabschnitt betrachten, der den Höhepunkt und den Zusammenbruch Ihrer eigenen primitiven Zivilisation umfaßt.
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DIE CHRONIK
kapitel i
Das balkanisierte Europa
Der europäische Krieg und seine Folgen Diese Geschichtsepoche stellt sich aus der Sicht des Letzten Menschen folgendermaßen dar: Lange bevor sich der menschliche Geist zu einer klaren Erkenntnis der Welt und zu seiner selbst erhob, bewegte er sich manchmal im Schlaf, erwachte kurz, öffnete bestürzt die Augen, bis er wieder in Schlaf fiel. Einer dieser Augenblicke eines frühzeitigen Erkennens umfaßt den gesamten Kampf des ersten Menschen von der Barbarei bis zur Zivilisation. Innerhalb dieser winzigen Zeitspanne befinden Sie sich fast genau in dem Augenblick, in dem die menschliche Rasse den Scheitelpunkt ihrer Entwicklung erstmalig erreicht hat. Diese frühe Kultur zeigt kaum irgendwelche nennenswerten Zeichen einer Weiterentwicklung, und die menschliche Rasse ist bereits zu Ihrer Zeit geistig im Abstieg begriffen. Die erste, und einige würden sagen, die größte Leistung Ihrer eigenen ›westlichen‹ Kultur war es, daß sie zwei Idealvorstellungen für das menschliche Verhalten entwickelte, die beide für die geistige Entwicklung wesentlich waren. Sokrates, der sich für die Wahrheit um ihrer selbst willen begeisterte und nicht nur für ihre praktische Nutzanwendung, verherrlichte das vorurteilsfreie Denken, sowie die Wahrhaftigkeit des Geistes und der Rede. Jesus, der sich für die wirklichen Menschen um ihn begeisterte und für das Göttliche, das ihmzufolge die Welt durchdrang, setzte sich für die selbstlose Liebe des Nächsten und für die selbstlose Liebe Gottes ein. Sokrates erweckte das Ideal der leidenschaftslosen Intelligenz, Jesus das Ideal der leidenschaftlichen, doch selbstvergessenen Gottesverehrung. Sokrates forderte die Rechtschaffenheit des Intellekts, Jesus die Rechtschaffenheit des Willens. Obwohl jeder von einem anderen Bezugspunkt ausging, schloß das eine Ideal das jeweils andere ein. 27
Unglücklicherweise verlangten diese beiden Ideale dem menschlichen Gehirn einen solchen Grad von Energie und von klarem Denken in Zusammenhängen ab, den das Nervensystem des Ersten Menschen in Wirklichkeit nicht erreichen konnte. Viele Jahrhunderte hindurch lockte dieses Doppelgestirn die schon vorzeitig menschlicher Gewordenen aus dieser noch tierischen Horde an, jedoch vergeblich. Das Unvermögen, diese beiden Ideale praktisch zu beherzigen, erzeugte in der Rasse eine zynische Müdigkeit, die eine der Ursachen ihres Verfalls war. Es gab aber noch andere Ursachen. Die Völker, aus denen Sokrates und Jesus hervortraten, gehörten auch zu denen, die als erste dem unabänderlichen Schicksal gegenüber ihre Verehrung bekundeten. In der griechischen Tragödie und in der hebräischen Anerkennung der göttlichen Gesetze ebenso wie in der indischen Entsagung erlebte der Mensch, zuerst noch ganz dunkel, jene Vision einer fremden und überirdischen Schönheit, die ihn auch später immer wieder während seiner ganzen Geschichte erheben und verwirren sollte. Der Konflikt zwischen jener Verehrung und einem unbeugsamen Lebenswillen, der sich dem Tode entgegenstellte, erwies sich als unlösbar. Und obwohl einige wenige Menschen diese Frage klar erkannten, wurde doch die menschliche Rasse als Ganzes immer wieder durch diesen verwirrenden Grundkonflikt in ihrer geistigen Entwicklung unbewußt gehindert. Während der Mensch von diesen frühen Erfahrungen hin- und hergerissen wurde, veränderte sich die Gesellschaft durch die Nutzbarmachung von Energiequellen so schnell, daß seine primitive Anlage nicht mehr mit dieser komplexen Umgebung fertig werden konnte. Arrivierte Tiere, die daran gewöhnt waren, in der Wildnis zu jagen und zu kämpfen, sollten plötzlich Bürger sein, und noch dazu Bürger einer Gesellschaft, die die ganze Welt umspannte. Gleichzeitig fanden sie sich im Besitz einiger sehr gefährlicher Kräfte, für deren vernünftige Verwendung ihre Gehirne zu klein waren. Der Mensch kämpfte, aber, wie Sie hören werden, brach er unter dieser Anstrengung zusammen. 28
Der europäische Krieg, der seinerzeit ein Krieg genannt wurde, der alle Kriege beenden sollte, war der erste und noch am wenigsten zerstörerische jener Weltkonflikte, die auf so tragische Weise die Unfähigkeit des Ersten Menschen, sich selbst unter Kontrolle zu halten, enthüllen. Ein Bündel von Motiven, einige darunter waren ehrenhaft, andere das Gegenteil, entzündete eine Auseinandersetzung, auf die beide Gegner nur allzu gut vorbereitet waren, obwohl keiner von beiden sie ernsthaft anstrebte. Tatsächlich existierende Mentalitätsunterschiede zwischen dem romanischen Frankreich und dem germanischen Deutschland, verstärkt durch eine leichte Rivalität zwischen Deutschland und England und durch dumme und brutale Gesten seitens der deutschen Regierung und dem militärischen Oberkommando, führten dazu, daß die Welt sich in zwei Lager teilte, und zwar so, daß es unmöglich war, einen Unterschied prinzipieller Art zwischen den beiden Lagern zu entdecken. Während des Kampfes war jede der beiden Parteien davon überzeugt, daß nur sie die Zivilisation verteidige. Aber in Wirklichkeit standen sich beide Lager in der zeitweiligen Anwendung von Brutalität in nichts nach. Andererseits gab es auch Akte des Heldentums und der Großmütigkeit, die beim Ersten Menschen ganz ungewöhnlich war. Denn was klarer Denkenden als ein vernünftiges Verhalten gilt, konnte in jenen Tagen nur durch selten anzutreffende Einsicht und Selbstbeherrschung erreicht werden. Als der Todeskampf länger anhielt, entstand bei den kriegführenden Völkern ein echter, sogar leidenschaftlicher Wille nach Frieden und nach einer geeigneten Welt. So entwickelte sich aus diesem Konflikt, wenigstens für kurze Zeit, ein Bewußtsein, das höher stand als der Chauvinismus einzelner Nationen. Aber diesem heißen Wunsch nach Frieden mangelte es noch an klarer Orientierung und sogar an Überzeugungsmut. Der Friede, der auf den europäischen Krieg folgte, ist einer der bedeutsamsten Augenblicke der alten Geschichte, denn in ihm werden sowohl dämmernde Erkenntnis wie unheilbare Blindheit, Streben nach Loyalität gegenüber einem höheren Ganzen wie zwanghafter 29
Stammesegoismus in einer Rasse deutlich, die insgesamt doch nur äußerlich als menschlich gekennzeichnet werden konnte.
Der englisch-französische Krieg Das Schicksal des Ersten Menschen dürfte durch einen kurzen, aber tragischen Vorfall besiegelt worden sein, der im Jahrhundert nach dem europäischen Krieg eintrat. Während dieses Jahrhunderts waren Friedenswille und Vernunftstreben bereits ernstzunehmende historische Faktoren geworden. Wenn man von einigen sehr unglücklichen Zwischenfällen absieht, über die aus jener Zeit zu berichten sein wird, so hätte die Friedensbewegung Europa während seiner gefährlichsten Entwicklungsperiode beherrschen können und mit Europa zugleich die Welt. Mit ein wenig mehr Glück oder mit mehr Weitsicht und Selbstbeherrschung wäre es möglicherweise niemals zu jenem dunklen Zeitalter gekommen, mit dem die Existenz der Ersten Menschen ausgelöscht wurde. Denn hätte man Erfolg gehabt, bevor das Mentalitätsniveau allgemein stark abzusinken begann, wäre das Erreichen eines Weltstaates nicht als Ziel an sich, wohl aber als ein erster Schritt in Richtung auf eine wirkliche Zivilisation anzusehen. Es kam aber anders. Nach dem europäischen Krieg wurde aus dem besiegten Staat, der ursprünglich genauso militaristisch wie seine Gegner war, der friedliebendste und geradezu eine Hochburg der Aufklärung. Fast überall, besonders aber in Deutschland, hatte sich tatsächlich ein tiefgehender Gesinnungswandel ergeben. Trotz eines echtgemeinten Bemühens, menschlich und großzügig sein zu wollen und eine neue Welt zu errichten, wurden die Siegerstaaten, teils aus Angst, teils wegen der blinden Diplomatie ihrer Regierungen dazu verführt, alle jene Laster zu begehen, gegen die, wie sie selbst glaubten, sie ihren Kreuzzug geführt hat30
ten. Nach einer kurzen Periode, in der sie sich verzweifelt um gegenseitige Freundschaft bemühten, begannen sie aufs neue mit militärischen Auseinandersetzungen. Auf zwei dieser Konflikte muß näher eingegangen werden. Der erste, für Europa noch weniger verhängnisvolle Konflikt war ein kurzer und grotesker Kampf zwischen Frankreich und Italien. Seit dem Fall Roms hatten sich die Italiener mehr in den Künsten und in der Literatur ausgezeichnet als durch militärische Leistungen. Aber die heldenhafte Befreiung Italiens im neunzehnten christlichen Jahrhundert hatte die Italiener besonders empfindlich, gegenüber Fragen des nationalen Prestiges werden lassen. Da nun in den Ländern des Westens nationales Ansehen nach Maßstäben militärischen Ruhmes gemessen wurde, fühlten sich die Italiener durch ihren Erfolg gegenüber einer wackligen Fremdherrschaft dazu angespornt, sich hinsichtlich des Vorwurfs einer nur bescheiden entwickelten Kriegskunst zu rehabilitieren. Nach dem europäischen Krieg durchlebte Italien jedoch eine Phase sozialer Unordnung und Selbstzweifel. Folglich errang eine extravagante aber ernsthaft bemühte nationale Partei die Macht im Staat und bot den Italienern eine neue Selbstachtung auf der Grundlage von Sozialreformen und einer militaristischen Politik. Die Züge waren pünktlich, die Straßen sauber, und die Moral war puritanisch. In der Luftfahrt wurden für Italien Wettkampfpreise gewonnen. Die Jugendlichen wurden in Uniformen gesteckt, und man brachte ihnen bei, mit echten Gewehren Soldat zu spielen, man überzeugte sie, sie wären die Retter der Nation, man ermunterte sie, Blut zu vergießen, und man benutzte sie, um den Willen der Regierung durchzusetzen. Die ganze Bewegung wurde vor allem von einem Mann organisiert, dessen Aktionstalent zusammen mit seiner Rhetorik und der Primitivität seiner Gedanken ihn einen sehr erfolgreichen Diktator werden ließen. Fast wie durch ein Wunder gelang es ihm, die italienische Nation auf Leistungsfähigkeit hin zu drillen. Mit großer emotionaler Wirkung und gleichzeitig ohne jeden Sinn für Humor trompetete er ebenso Italiens nationale Bedeu31
tung heraus wie dessen Willen zur ›Expansion‹. Und da die Italiener nur sehr langsam die Notwendigkeit einer Familienplanung begriffen, war eine ›Expansion‹ tatsächlich erforderlich. So kam es dazu, daß Italien, begierig auf französische Territorien in Afrika, eifersüchtig auf die Vorherrschaft Frankreichs unter den romanischen Völkern, und entrüstet über den Schutz, den Frankreich italienischen ›Verrätern‹ gewährte, in zunehmendem Maße bereit war, sich mit dem selbstbewußtesten seiner ehemaligen Alliierten anzulegen. Es war ein Grenzzwischenfall, eine vermeintliche »Beleidigung der italienischen Fahne«, der schließlich zu einem unberechtigten Übergriff auf französisches Territorium durch eine kleine italienische Militäreinheit führte. Die Eindringlinge wurden gefangengenommen, aber französisches Blut war vergossen. Frankreichs darauf folgendes Verlangen nach Entschuldigung und Wiedergutmachung war zurückhaltend, verletzte aber dennoch in subtiler Weise die italienische Würde. Die italienischen Patrioten steigerten sich in eine kurzsichtige Wut. Der Diktator, weit davon entfernt, eine Entschuldigung zu wagen, war gezwungen, die Freigabe der gefangenen Milizsoldaten zu verlangen und schließlich den Krieg zu erklären. Nach einem einzigen schweren Gefecht stießen die französischen Armeen ohne Verzug nach Norditalien vor. Der anfangs heldenhafte Widerstand endete bald im Chaos. Völlig konsterniert erwachten die Italiener aus ihrem Traum vom militärischen Ruhm. Die Bevölkerung, die zuvor den Diktator zur Kriegserklärung getrieben hatte, wandte sich jetzt gegen ihn. Sein theatralischer aber dennoch tapferer Versuch, die Massen in Rom zur Räson zu bringen, schlug fehl, und er wurde getötet. Die neue Regierung schloß schnell Frieden und trat an Frankreich ein Grenzgebiet ab, das dieses bereits ›aus Sicherheitsgründen‹ annektiert hatte. Fortan waren die Italiener weniger darauf aus, die Ruhmestaten eines Garibaldi zu übertreffen, als vielmehr den bedeutenderen Dantes, Giottos und Galileis nachzueifern. 32
Frankreich beherrschte jetzt das kontinentale Europa vollkommen. Da es aber viel zu verlieren hatte, benahm es sich arrogant und nervös. Es dauerte daher nicht lange, bis der Friede erneut gestört wurde. Kaum hatten die letzten Veteranen des europäischen Krieges damit aufgehört, die Jüngeren mit ihren Kriegserinnerungen zu nerven, als die seit langem bestehende Rivalität zwischen Frankreich und England in einer Auseinandersetzung der jeweiligen Regierungen kulminierte, bei der es um ein Sexualverbrechen ging, das ein Soldat aus Französisch-Afrika an einer Engländerin verübt haben sollte. In diesem Streit war die Britische Regierung, vermutlich verwirrt infolge eigener sexueller Repressionen, zweifelsfrei im Unrecht. Ein Verbrechen war nie begangen worden. Bei den Tatsachen, auf denen das Gerücht beruhte, handelte es sich vielmehr darum, daß eine dem Müßiggang frönende, neurotische Engländerin im Süden Frankreichs, die sich nach der Umarmung eines ›Höhlenmenschen‹ sehnte, in ihrer Wohnung einen senegalesischen Unteroffizier verführt hatte. Als dieser dann später Anzeichen von Langeweile erkennen ließ, rächte sie sich dafür und erklärte, er hätte sie unsittlich im Wald oberhalb der Stadt attackiert. Die Engländer waren nur allzu bereit, ein solches Gerücht auszukosten und zu glauben. Auch die englischen Pressemagnaten konnten sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Sexualität, den Rassismus und die Selbstgerechtigkeit hochzuspielen. Es folgte ein Ausbruch von Beleidigungen und von gelegentlichen Gewalttätigkeiten gegenüber französischen Staatsangehörigen in England; und so bekam jene Partei der Furcht und des Militarismus in Frankreich eine Gelegenheit zugespielt, nach der sie so lange gesucht hatte. Denn der wahre Kriegsgrund hing mit den Luftstreitkräften zusammen, Frankreich hatte den Völkerbund (in einem seiner wenigen lichten Augenblicke) dazu gebracht, die Größe von Militärflugzeugen so zu beschränken, daß, während London noch leicht von der französischen Küste her angegriffen werden konnte, Paris nur unter Schwierigkeiten von England her erreichbar war. Dieser Zustand konnte ganz offensichtlich nicht von Dauer sein. Britan33
nien insistierte in einer sich immer mehr verstärkenden Agitation auf einer Aufhebung der Beschränkungen. Andererseits wurde in Europa immer stärker die Forderung nach einer vollständigen Abrüstung der Luftstreitkräfte erhoben; und in Frankreich war die Partei der Vernunft bereits so stark, daß jener Plan fast mit Gewißheit von der französischen Regierung angenommen worden wäre. In zweierlei Hinsicht waren daher die Militaristen in Frankreich nur allzu bereit zum Losschlagen, solange für sie noch eine Gelegenheit bestand. Im Handumdrehen waren alle Früchte der Abrüstungsanstrengungen zerstört. Der feine Mentalitätsunterschied, der es seit eh und je unmöglich gemacht hatte, daß sich die beiden Nationen gegenseitig verstanden, wurde plötzlich durch jenen provozierenden Zwischenfall derartig verstärkt, daß eine offenbar unüberbrückbare Zwietracht entstand. England kehrte zu seiner Überzeugung zurück, daß alle Franzosen Lüstlinge wären, und die Engländer erschienen den Franzosen, wie früher schon, als eine besonders offensive Spezies von Heuchlern. Vergeblich versuchten die einsichtigeren Deutschen zu vermitteln. Vergeblich drohte der mittlerweile zu großem Ansehen und Autorität gelangte Völkerbund beiden Parteien mit dem Ausschluß, ja sogar mit Bestrafung. In Paris gab es Gerüchte, daß England unter Bruch aller internationalen Verpflichtungen jetzt fieberhaft dabei wäre, riesige Militärflugzeuge zu bauen, um Frankreich von Calais bis nach Marseille in eine Trümmerwüste zu verwandeln. Und das Gerücht war gar nicht so aus der Luft gegriffen, denn als der Kampf begann, zeigte es sich, daß der Aktionsradius der British Air Force viel weiter war, als man erwartet hatte. Dennoch wurde England durch den tatsächlichen Kriegsausbruch überrascht. Gerade als in London die Zeitungen mit Schlagzeilen über die erfolgte Kriegserklärung verkauft wurden, erschienen feindliche Flugzeuge über der Stadt. Nach ein paar Stunden war ein Drittel von London zerstört, und die Hälfte der Bevölkerung lag vergiftet auf den Straßen. Eine Bombe, die neben dem British Museum abgeworfen wurde, verwandelte ganz Bloomsbury in einen einzigen Krater, in dem 34
Fragmente von Mumien, Statuen und Manuskripten sich mischten mit Bruchstücken der Auslagen und des Mobiliars von Ladengeschäften und Teilen von Verkäufern und der Intelligenz. So wurde in einem einzigen Augenblick ein großer Teil von Englands kostbarsten Relikten zusammen mit den fruchtbarsten Gehirnen zerstört. Dann trat eines jener mikroskopischen und dennoch in höchstem Maße wirkungsträchtigen Ereignisse ein, die manchmal für Jahrhunderte den Lauf der Dinge bestimmen. Während des Luftangriffs fand eine Sondersitzung des Britischen Kabinetts in einem Keller in der Downing Street statt. Die damals die Regierung tragende Partei war progressiv, leicht pazifistisch und hatte eine scheue Vorliebe für kosmopolitische Vorstellungen. In den Streit mit Frankreich war sie ganz gegen ihre Absicht verwickelt worden. Ein idealistisch gesonnenes Kabinettsmitglied drängte bei dieser Sitzung seine Kollegen zur Einsicht, daß eine überragende Geste des Heroismus und des Großmuts seitens Britanniens erforderlich wäre. Nur mit Mühe konnte es mit gehobener Stimme das Bellen der englischen Abwehrgeschütze und das sich wie Vulkanausbrüche anhörende Bersten französischer Bomben übertönen, als es vorschlug, folgende Botschaft über den Rundfunk zu verbreiten: Das englische Volk an das französische Volk. Eine Katastrophe ist durch Ihr Tun über uns hereingebrochen. In diesen Stunden des Leids sind wir dennoch ohne Haß und Zorn. Unsere Augen wurden uns geöffnet. Wir können uns nicht mehr nur als Engländer sehen und Euch als Franzosen, über allem steht, daß Franzosen wie Engländer zivilisierte Lebewesen sind. Ihr solltet nicht dem Trugschluß verfallen, daß wir besiegt und daß diese Botschaft ein Winseln um Gnade wäre. Unsere Rüstung ist intakt, und unsere Ressourcen sind noch immer sehr groß. Doch wegen der Offenbarung, die uns heute zuteil geworden ist, werden wir nicht kämpfen. Kein Flugzeug, kein Schiff, kein britischer Soldat werden weitere feindselige Handlungen ausführen. Euch steht es frei zu tun, was Ihr wollt. Es wäre sogar besser, wenn ein großes 35
Volk vernichtet, als daß die ganze Rasse in den Abgrund gerissen würde. Aber Ihr werdet nicht erneut losschlagen. So wie uns unsere Augen durch Schmerz und Leid geöffnet wurden, so werden sich auch die Euren durch unseren Akt der Brüderlichkeit öffnen. Der Geist Englands und der Geist Frankreichs sind andersartig. Es gibt sogar große Unterschiede, aber nur solche, wie es sie zwischen dem Auge und der Hand gibt. Ohne Euch wären wir Barbaren. Und ohne uns würde selbst der helle Geist Frankreichs nur halb so stark leuchten. Denn der Geist Frankreichs lebt weiter in unserer Kultur und sogar in unserer Sprache; und der Geist Englands ist es, der Eure unverwechselbare Brillanz prägt. Zu keinem früheren Zeitpunkt in der Geschichte des Menschen hätte eine solche Botschaft ernsthaft von einer Regierung erwogen werden können. Wenn jemand sie während des letzten Krieges vorgeschlagen hätte, dann wäre er lächerlich gemacht, verflucht oder sogar ermordet worden. Aber seither war vieles geschehen. Es gab mehr Nachrichtenverbindungen, einen verstärkten Kulturaustausch und einen längeren, kraftvoll geführten Kampf für kosmopolitische Ziele, und das alles hatte die europäische Mentalität verändert. Dennoch waren die Mitglieder der Regierung voller Ehrfurcht ihrem eigenen Handeln gegenüber, als, nach kurzer Debatte, die Regierung die Ausstrahlung dieser einzigartigen Botschaft veranlaßte. Sie hätten nicht gewußt, sagte ein Regierungsmitglied, ob der Teufel oder ob Gott sie getrieben habe. Besessene wären sie aber auf jeden Fall gewesen. In jener Nacht ergriff die (noch übrig gebliebene) Bevölkerung Londons ein Begeisterungstaumel. Der Zusammenbruch der Versorgung und des Lebens in der Stadt, das überwältigende physische Leid, das Mitleid, das Bewußtwerden einer vom Geist her bestimmten Handlung, an der sich jeder einzelne beteiligt fühlte — diese Einflüsse erzeugten zusammengenommen, selbst in der Hektik der Verwirrung einer zerstörten Metropole, eine Art verhaltener Leiden36
schaftlichkeit und einen tiefen Seelenfrieden, beides für Londoner völlig untypisch. Inzwischen wußte der unzerstörte Nordteil des Landes nicht, wie er den plötzlich in der Regierung ausgebrochenen Pazifismus einschätzen sollte, ob als einen Akt der Feigheit, oder als eine Geste außergewöhnlicher Tapferkeit. Sehr bald jedoch machte man dort aus der Not eine Tugend und neigte der letzteren Auslegung zu. In Paris war durch die Botschaft die Meinung geteilt zwischen einer lautstarken, triumphierenden und einer schweigenden, verblüfften Gruppe. Als aber nach einigen Stunden die erstere auf eine Aggressionspolitik drängte, gab die letztere ihre Schweigsamkeit auf in dem Ruf ›Vive l‘Angleterre, vive l‘humanite‹. So stark war zu dieser Zeit der Wille nach einer Weltbrüderschaft, daß er fast mit Sicherheit zu einem Triumph der Vernunft geführt hätte, wenn es nicht in England wiederum einen Zwischenfall gegeben hätte, der die ganze Kette gefährlich zugespitzter Ereignisse in die entgegengesetzte Richtung lenkte. Die Bombardierung Londons war am Freitagabend. Am Sonnabend gab es von allen Nationen ein vielfältiges Echo auf Englands große Botschaft. Als am Abend jenes regnerischen und nebeligen Tages die bleiche Sonne allmählich unterging, wurde ein französisches Flugzeug über den westlichen Vororten Londons gesichtet. Es wurde von den Beobachtern für einen Friedensboten gehalten, als es langsam auf eine geringere Flughöhe herunterkam. Es kam immer weiter herunter. Man beobachtete, wie etwas sich vom Flugzeug löste und herunterfiel. Nach ein paar Sekunden gab es eine ungeheure Explosion neben einem großen Schulkomplex und einem der königlichen Schlösser. In der Schule kam es zu grauenhaften Zerstörungen. Der Palast blieb verschont. Aber für die Sache des Friedens war dies eine Katastrophe, denn eine schöne und durch ihre Extravaganzen populäre Prinzessin kam durch die Explosion um. Ihr ekelerregend verstümmelter Körper, dennoch für jeden Leser der illustrierten Zeitungen erkennbar, war auf einem der hohen Parkgitter neben der Hauptverkehrsstraße zur Stadt aufgespießt wor37
den. Unmittelbar nach der Explosion stürzte das feindliche Flugzeug ab, ging in Flammen auf. Das Flugzeug und alle Insassen verbrannten. Bei kühlem Nachdenken hätte es allen Beobachtern klar sein müssen, daß diese Katastrophe einem Unfall zuzuschreiben war, und daß es sich bei dem Flugzeug um einen verspäteten Nachzügler in einer Notsituation und nicht um einen Botschafter des Hasses handelte. Aber angesichts der übel zugerichteten Leichen von Schülern und von Entsetzens- und Todesschreien gequält, war die Bevölkerung nicht in der Lage nachzudenken. Darüber hinaus war die Prinzessin, ein überwältigend starkes Sexsymbol und nationales Wahrzeichen, abgeschlachtet und in dieser Form vor den Augen ihrer Verehrer zur Schau gestellt worden. Die Nachricht durcheilte das Land, natürlich so verzerrt, daß kein Zweifel daran bestand, daß es sich bei diesem Vorfall um die abgefeimteste Teufelei der Sexdämonen jenseits des Kanals handelte. Innerhalb einer einzigen Stunde war die Stimmung in London umgeschlagen, und die gesamte Bevölkerung Englands unterlag einem Anfall primitivsten Hasses, der weit stärker war als selbst Haßwellen, die sich im Krieg gegen Deutschland gezeigt hatten. Die sehr gut ausgerüstete und in Bereitschaft stehende British Air Force erhielt den Auftrag, nach Paris zu fliegen. Mittlerweile war die militärisch orientierte Regierung in Paris gestürzt worden, und die Friedenspartei an der Macht. Als die Straßen noch vollgestopft waren mit deren lautstarken Anhängern, fiel die erste Bombe. Bis Dienstag morgen war Paris ausgelöscht. Einige Tage lang kämpften die gegnerischen Streitkräfte noch gegeneinander, und die jeweilige Zivilbevölkerung wurde Opfer der Gemetzel. Trotz französischer Tapferkeit, einer überlegenen Organisation, technischer Leistungsfähigkeit sowie trotz zurückhaltenderer Risikobereitschaft seitens der British Air Force, war es bald für französische Flugzeuge nicht mehr möglich, zu starten. Wenn Frankreich am Ende war, so war andererseits England so gelähmt, daß es daraus keinen Vorteil ziehen konnte. In jeder Stadt der beiden Länder waren Versorgung und Ordnung völlig 38
zusammengebrochen. Durch Hunger, Aufstände, Plünderungen und vor allem durch sich schnell ausbreitende und nicht mehr unter Kontrolle zu bringende Seuchen zerfielen beide Staaten und brachten so das Ende des Krieges. Nicht nur die Kampftätigkeit hörte auf, sondern beide Nationen waren so zerschlagen, daß selbst der gegenseitige Haß aufhörte. Alle Energien waren einzig und allein darauf gerichtet, eine völlige Auslöschung der Bevölkerung durch Hunger und Seuchen zu verhindern. In ihrer Wiederaufbauarbeit waren beide Länder weitgehend auf Hilfe von außen angewiesen. Ihre Verwaltung wurde vorübergehend vom Völkerbund übernommen. Zu jener Zeit unterscheidet sich die Stimmungslage in Europa signifikant von derjenigen nach dem europäischen Krieg. Obwohl es damals echte Bemühungen um eine Einheit gegeben hatte, beherrschten Haß und Argwohn auch weiterhin die jeweilige nationale Politik. Es gab viel Gerangel um Entschädigungen, Reparationen, nationale Sicherheit; und die Trennung des Kontinents in zwei feindliche Gruppierungen blieb weiterhin bestehen, obwohl zu diesem Zeitpunkt nur noch künstlich und aus sentimentalen Gründen aufrechterhalten. Aber nach dem englisch-französischen Krieg war die Stimmung völlig anders. Von Reparationen wurde nicht gesprochen, es gab auch keine Möglichkeit, eine nationale Sicherheit durch Bündnisse zu erreichen. Unter den Auswirkungen einer so gewaltigen Katastrophe gab es einfach vorübergehend keinen Patriotismus mehr. Die zwei verfeindeten Völker arbeiteten mit dem Völkerbund in ihrer Aufbauarbeit nicht nur getrennt voneinander zusammen, sondern auch untereinander. Dieser Gesinnungswandel war zum einen auf den zeitweiligen Totalzusammenbruch der staatlichen Organisation zurückzuführen, zweitens durch die Vorherrschaft pazifistischer und antinationaler Arbeiterparteien, die diese in jedem der beiden Länder sehr schnell erreichten, und drittens durch die Tatsache, daß der Völkerbund über genügend Macht verfügte, um Untersuchungen über die Kriegsanlässe und -ursachen durchzuführen, deren 39
Ergebnisse dann veröffentlicht wurden und jeden der Kriegführenden seinem eigenen Land gegenüber und vor der Weltöffentlichkeit in recht trübem Licht dastehend erscheinen ließen. Wir haben jetzt mit einigen Details jenes Ereignis in der Geschichte der Menschheit dargestellt, das als das vielleicht dramatischste Beispiel für ungeheure Wirkungen durch kleine Ursachen angesehen werden kann. Man muß sich das einmal klarmachen: Durch irgendeine falsche Berechnung oder durch bloßes Versagen seiner Instrumente geriet ein französischer Pilot vom Kurs ab und verunglückte in London, und zwar nachdem die Friedensbotschaft ausgestrahlt worden war. Wäre dies nicht geschehen, wären England und Frankreich nicht zerstört worden. Und, hätte man den Krieg gleich zu Beginn beenden können, wie es fast geschehen wäre, so hätten die Gruppierungen der Vernunft in der ganzen Welt beträchtlich an Kraft zugenommen; der recht unstabile Wille zur Einheit hätte dadurch die ihm noch fehlende Überzeugungskraft dazugewonnen und hätte den Menschen nicht nur während jener durch Angst und Schrecken bestimmten Umschwünge nach jedem krampfartig auftauchenden Krieg beherrscht, sondern wäre zu einer dauerhaften Politik geworden, die sich auf gegenseitiges Vertrauen gründet. So zerbrechlich und gefährdet war damals die Balance zwischen den primitiven und höherentwickelten Impulsen des Menschen, daß — wenn es nicht jenen trivialen Zwischenfall gegeben hätte — man tatsächlich annehmen kann, daß die Bewegung, die mit Englands Friedensbotschaft begann, stetig gewachsen sein und schnell zu einer Vereinigung der Menschheit geführt haben könnte. Diese Bewegung hätte dann ihr Ziel bereits vor und nicht erst nach der Periode des geistig-seelischen Verfalls erreichen können, die das Ergebnis einer langen Kette von Kriegen war. Und so wäre es möglicherweise nicht zu einem ersten Dunklen Zeitalter gekommen.
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Europa nach dem englisch-französischen Krieg Eine subtile Veränderung machte sich jetzt im seelisch-geistigen Klima des gesamten Planeten bemerkbar. Das ist um so bemerkenswerter, als dieser Krieg aus der Sicht etwa Amerikas oder Chinas schließlich nur eine geringfügige Störung war, kaum mehr als eine Schlägerei zwischen streitsüchtigen Kleinstaaten, eine Episode im Abstieg einer senilen Zivilisation. In Dollars aufgerechnet war der Schaden für das reiche Amerika und das potentiell ebenso reiche China nicht sehr beeindruckend. Das British Empire, jener einzigartige ›Feigenbaum der Völker‹, war in der Tat fortan weniger wirksam auf dem Parkett der Weltdiplomatie, aber da das Band, das diese Völker zusammenhielt, eh nur noch aus emotionalen Bindungen bestand, führte das Unglück des Baumstammes nicht gleich zur Auflösung des Empire. Außerdem bestärkte die allen gemeinsame Furcht vor einem amerikanischen Wirtschaftsimperialismus die Kolonien in ihrer Loyalität. Doch war diese ›kleine Schlägerei‹ in Wirklichkeit eine nicht mehr reparable Katastrophe mit weitreichenden Folgen. Denn trotz all jener Temperamentsunterschiede, die die Engländer und Franzosen in einen Konflikt stürzten, hatten sie dennoch, obwohl oft unbewußt, dabei zusammengearbeitet, die Mentalität Europas zu mäßigen und zu klären. Obwohl die Fehler der beiden sehr stark zur Zerstörung der westlichen Zivilisation beitrugen, wurden die Tugenden, aus denen auch ihre Untugenden herrührten, dringend für die Errettung der Welt benötigt, die zu unkritischen romantischen Vorstellungen neigte. Trotz der tief verwurzelten Blindheit und Hinterhältigkeit Frankreichs in der internationalen Politik und der sich noch verheerender auswirkenden zaghaften Haltung Englands war beider Einfluß auf die Kultur nützlich gewesen und wurde im Augenblick dringend benötigt. Denn obwohl sie hinsichtlich ihres Geschmacks und ihrer Ideale jeweils an den entgegenge41
setzten Enden einer Skala hätten eingestuft werden müssen, so waren diese beiden Völker doch darin gleich, daß sie im ganzen skeptischer waren, und daß die besten Individuen beider Völker mehr über eine objektive und zugleich kreative Intelligenz verfügten, als dies bei anderen westlichen Völkern der Fall war. Gerade dieser Charakterzug war auch für unverkennbare Fehler verantwortlich, nämlich bei den Engländern eine Vorsicht, die oft bis zur moralischen Feigheit ging, und bei den Franzosen eine gewisse kurzsichtige Selbstgefälligkeit und Gerissenheit, die sich als Realismus maskierte. Natürlich gab es in jedem Land eine große Vielfalt. Es gab viele Arten englischen Intellekts. Doch die meisten waren in gewissem Maße ausgesprochen englisch, worauf wohl auch die besondere Art englischen Einflusses in der Welt beruht. Relativ unvoreingenommen, skeptisch, vorsichtig, praktisch, toleranter als andere, weil er mehr mit sich selbst zufrieden und weniger zu leidenschaftlichen Ausbrüchen neigte, so war der typische Engländer zur Großmut ebenso fähig wie zum Heroismus, aber gleichzeitig auch zu einer ängstlichen oder zynischen Aufgabe von Zielen, die von der Menschheit als lebensnotwendig angesehen wurden. Die Engländer und auch die Franzosen mochten sich gegen die Menschheit versündigen, aber sie taten es auf verschiedene Weise. Die Franzosen sündigten blindlings aufgrund einer seltsamen Unfähigkeit, Frankreich objektiv betrachten zu können. Die Engländer sündigten aus Zaghaftigkeit und offenen Auges. Unter allen anderen Nationen zeichneten sie sich durch eine Mischung von gesundem Menschenverstand und Weitblick aus. Aber ebenso waren sie unter all diesen Nationen diejenigen, die am ehesten ihren Weitblick im Namen des gesunden Menschenverstands verleugneten. Daher kommt es, daß man ihnen Perfidie nachsagte. Unterschiede im Nationalcharakter und in patriotischen Gefühlen waren nicht die grundlegendsten Unterscheidungsmerkmale für Menschen der damaligen Zeit. Obwohl alle Angehörigen einer Nation durch eine gemeinsame Tradition oder durch ihre kulturelle Einbindung gewisse uniforme Züge erkennen ließen, war doch in allen, zwar in 42
unterschiedlichem Ausmaß, jeder intellektuelle Typ präsent. Der bedeutsamste aller kulturellen Unterschiede jedoch, nämlich der Unterschied zwischen Rassisten und Kosmopoliten ging quer über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg. Denn überall in der Welt entwickelte sich etwas wie ein weltumspannender Patriotismus, ein neues übernationales Weltbürgertum. In jedem Land gab es mittlerweile eine Gruppe aufgeweckter Geister, die, unabhängig von Temperament, politischer Einstellung und Glaubensbekenntnis, übereinstimmten, in einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Menschheit als Gattung oder als geistigem Abenteuer. Unglückseligerweise war dieses neue Treuebekenntnis noch vermischt mit alten Vorurteilen. Bei einigen war eine Verteidigung des menschlichen Geistes in aller Unschuld noch gleichbedeutend mit der Verteidigung einer bestimmten Nation, die als Hort jeglicher Aufklärung galt. Bei anderen wiederum führten soziale Ungerechtigkeiten zu einem militanten proletarischen Loyalitätsverhalten, das, obwohl es im Grunde kosmopolitisch war, sowohl deren Verfechter als auch deren Feinde mit leidenschaftlichem Sektierertum infizierte. Noch eine weitere Grundstimmung, weniger klar erkennbar und bewußt wie die kosmopolitische, spielte eine gewisse Rolle in den Köpfen der Menschen, nämlich die Loyalitätsverpflichtung gegenüber dem objektiven Gebrauch von Intelligenz zugleich mit verwundertem Erstaunen über eine Welt, deren Strukturen sich zu enthüllen begannen, einer erhabenen Welt, unendlich, subtil, in der dem Menschen anscheinend nur eine winzige und doch tragische Rolle zu spielen vorbestimmt war. Zweifellos hatte es in vielen ethnischen Gruppen Menschen gegeben, die treu am Ideal geistiger Objektivität festgehalten hatten. Aber England und Frankreich gehörten in dieser Hinsicht zur Avantgarde. Andererseits gab es selbst in diesen beiden Nationen vieles, was einer solchen Feststellung zuwiderlief. Wie alle älteren Völker wurden beide von emotionalen Wahnsinnsanfällen heimgesucht. So war der französische Intellekt im allgemeinen zwar sehr hellsichtig, sehr realistisch, jede Vieldeutigkeit und jeden Nebel verachtend und distanziert bei Schluß43
folgerungen, jedoch so besessen von der Vorstellung ›Frankreich‹, daß er in der internationalen Politik zu keinem Großmut fähig war. Und doch waren es Frankreich gemeinsam mit England, die nicht nur in ihren eigenen Ländern, sondern überall in Europa und Amerika den Anstoß dazu gaben, daß der Intellekt unbestechlich zu sein habe, und damit in das westliche Kulturgeflecht den seltensten, aber auch den strahlendsten Strang einfügten. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert hatten die Franzosen und die Engländer, deutlicher als andere Völker, ein Interesse an der objektiven Welt um ihrer selbst willen entwickelt, sie hatten die Naturwissenschaften begründet und hatten — auf der Grundlage der Skepsis das großartigste und konstruktivste aller intellektuellen Instrumente herausgebildet. Später waren es vor allem Franzosen und Engländer, die den Menschen und sein physisches Universum in annähernd richtigen Proportionen erfaßten, und es war vor allem die Elite dieser beiden Völker, die mit jenen stimulierenden Entdeckungen triumphierte. Mit dem Niedergang Frankreichs und Englands schwand diese große Tradition des Forschens nach objektiven Erkenntnissen dahin. Europa wurde jetzt von den Deutschen geführt. Und die Deutschen waren trotz ihrer wissenschaftlichen Beiträge zur Geschichtsforschung und trotz ihrer hervorragenden Wissenschaft und ihrer strengen Philosophie im Grunde ihres Herzens Romantiker. Diese romantische Neigung war sowohl ihre Stärke wie auch ihre Schwäche. Durch sie waren sie zu ihren schönsten Kunstwerken wie zu ihren tiefgründigsten metaphysischen Spekulationen angeregt worden. Aber hierdurch wurden sie ebenso oft unkritisch sich selbst gegenüber und wichtigtuerisch. Bereitwilliger als andere im Westen, das Rätsel menschlicher Existenz zu lösen, weniger skeptisch gegenüber den Möglichkeiten des Verstandes und daher eher dazu geneigt, unbequeme Fakten außer acht zu lassen oder wegzudiskutieren, waren die Deutschen im Systematisieren besonders couragiert. In dieser Hinsicht hatten sie Großes geleistet. Ohne sie wäre das europäische Denken chaotisch geblieben. Aber ihre Lei44
denschaft, hinter den wirren Erscheinungen nach einer Ordnung und in der Realität nach einem System zu suchen, führte ihr Denken oft zu einseitigen Schlußfolgerungen. Auf unsicheren Fundamenten balancierten sie mit genial konstruierten Leitern und wollten so die Sterne erreichen. So konnte die teutonische Seele ohne eine beständige harsche Kritik von jenseits des Rheins und der Nordsee nicht zur vollen Selbstausprägung gelangen. Ein vages Gefühl des Unbehagens über seine Sentimentalität und ein Mangel an Distanziertheit sich selbst gegenüber verführte dieses große Volk ab und zu dazu, seine Potenz durch haarsträubende brutale Akte unter Beweis zu stellen und im übrigen sein träumerisches Dasein durch einen beständig vorangetriebenen und außergewöhnlich erfolgreichen Handel zu kompensieren. Was aber not getan hätte, wäre eine weit radikalere Selbstkritik gewesen. Und nun, weiter östlich, zu Rußland. Hier lebte ein Volk, dessen Schöpferkraft, noch weit mehr als diejenige der Deutschen, eine disziplinierte kritische Intelligenz benötigt hätte. Seit der bolschewistischen Revolution hatte sich in den in dieser immensen Weite von Wäldern und Kornanbaugebieten verstreut liegenden Städten, und stärker noch in der Metropole, eine eigenständige Richtung in der Kunst und im Denken herausgebildet, die eine Vermischung darstellte zwischen einer leidenschaftlichen Bilderstürmerei, einer starken Sinnlichkeit und einem besonders bemerkenswerten, und im wesentlichen mystisch oder intuitiv zu begründenden Vermögen, sich von allen privaten Wunschträumen zu distanzieren. Amerika und Westeuropa waren zuallererst am Leben des Einzelnen interessiert und erst sekundär am sozialen Ganzen. Für diese Völker schloß Loyalität die widerwillige Selbstaufgabe des Einzelnen ein, und das Ideal bestand immer darin, daß der Einzelne sich mit seinen Fähigkeiten unterschiedlicher Art auszeichnete. Die Gesellschaft war nichts anderes als die nun mal erforderliche Fassung für das Juwel Individuum. Aber die Russen, ob nun durch angeborene Veranlagung, oder durch die Einflüsse einer jahrhundertelangen politischen Unterdrückung, durch religiöse Hingabe 45
oder durch eine echte soziale Revolution, neigten zu einem das Selbst verachtenden Interesse an Gruppen, zu einer spontanen Verehrung all dessen, was sie für erhabener als das Individuum hielten, ob es die Gesellschaft, ob es Gott oder ob es die blinden Naturgewalten waren. Westeuropa konnte intellektuell zu einer präzisen Vorstellung von der Kleinheit und Bedeutungslosigkeit des Menschen als eines Fremden in der Welt der Gestirne gelangen, konnte sogar aus dieser Sicht einen kurzen Einblick in das Grundkonzept des Universums erhalten, innerhalb dessen alles menschliche Bemühen nichts als nur einer von unzähligen Beiträgen war. Der russische Geist aber, ob nun orthodox, ob Tolstoischer Art oder ob einem fanatischen Materialismus zuneigend, konnte zu fast der gleichen Überzeugung auf intuitive Weise gelangen, durch unmittelbare Wahrnehmung, ohne erst eine beschwerliche intellektuelle Reise durchstehen zu müssen, konnte er sich über diese Erkenntnis freuen. Aber weil sie unabhängig vom Intellekt gewonnen wurde, war eine solche Erfahrung konfus, unberechenbar, oft falsch gedeutet, und ihre Auswirkung auf das Verhalten war eher explosiv als richtungsweisend. Eine ausgleichende Mäßigung und gegenseitige Stärkung war daher für Ost und West dringend erforderlich. Nach der bolschewistischen Revolution machte sich ein neues Element, das zuvor in keinem anderen modernen Staat bekannt war, in der russischen Kultur bemerkbar. Das alte Regime wurde von einer echten Arbeiterregierung beseitigt, die, obwohl eine Oligarchie und manchmal blutrünstig und fanatisch, die alte Tyrannei der Klassen abschaffte und den einfachsten Bürger dazu ermutigte, stolz auf seinen Beitrag zu diesem großen Gemeinwesen zu sein. Noch wichtiger war, daß die russische Einstellung, materiellen Besitz nicht überzubewerten, mit der revolutionären Politik übereinstimmte und eine Befreiung vom Wohlstandsfetischismus bewirkte, die für den Westen völlig fremd war. Die Aufmerksamkeit, die anderswo durch das Anhäufen und Zurschaustellen von Reichtum beansprucht wurde, konnte in Rußland 46
weitgehend entweder spontanen, instinktiven Vergnügungen oder kulturellen Aktivitäten gewidmet werden. Es war vor allem die Bevölkerung der russischen Städte, die weniger verkrampft war als Städter in anderen Regionen, in der der Geist des Ersten Menschen anfing, eine neue und echte Anpassung an die Bedingungen einer sich verändernden Welt zu finden. Und von den Städten verbreitete sich die Kunde von einer neuen Lebensweise auch zu der Landbevölkerung. Und in den Tiefen Asiens blickten die zähen und wachsenden Bevölkerungsmassen immer mehr auf Rußland, auf der Suche nicht nur nach Maschinen, sondern nach Ideen. Es gab Augenblicke, da schien es, als könnte Rußland den fast überall spürbaren Herbst der Menschheit wieder in einen Frühling verwandeln. Nach der bolschewistischen Revolution war das neue Rußland durch den Westen boykottiert worden und hatte daher eine Periode übertriebenen Selbstbewußtseins durchlebt. Kommunismus und naiver Materialismus wurden zu Dogmen in einer atheistischen Kampagne gegen die Kirche. Jegliche Kritik wurde sogar noch rigoroser als die Gegenkritik in anderen Ländern unterdrückt; und den Russen wurde beigebracht, sie könnten sich als Retter der Menschheit ansehen. Später jedoch, als die wirtschaftliche Isolation den bolschewistischen Staat zu behindern begann, milderte und erweiterte sich die neue Kultur. Stück für Stück wurden die Wirtschaftsbeziehungen und damit auch die kulturellen Beziehungen mit dem Westen wieder aufgenommen. Die intuitive mystische Distanziertheit wurde allmählich in Begriffen der besten westlichen Denkschulen zu einer intellektuellen Distanzierung umdefiniert und damit konsolidiert. Die Bilderstürmerei wurde unter Kontrolle gebracht. Das Sinnliche und das Impulsive wurden durch eine neue kritische Bewegung gemäßigt. Der fanatische Materialismus, der seine Kraft aus einer falsch verstandenen, aber sehr intensiven mystischen Eingebung über die Existenz einer objektiven Wirklichkeit bezogen hatte, verband sich mit einem weitaus rationaleren Stoizismus, einem raren Sproß westli47
chen Denkens. Zur gleichen Zeit begriff das neue Rußland durch die Begegnung mit der Kultur seiner Bauern und mit den Kulturen der Völker Asiens in einer angstauslösenden Zusammenschau der Phänomene sowohl die schwere enttäuschende Desillusionierung Englands und Frankreichs als auch die Ekstatik des Ostens. Eine Harmonisierung dieser beiden geistigen Strömungen war jetzt die Hauptaufgabe der Menschheit. Wenn es nicht gelang, diese in einem, beiden übergeordneten Gefühl zu integrieren, hätte es die Menschheit in den Wahnsinn treiben können. Und das trat auch sehr bald ein. Zuvor jedoch erschien diese Integration den besten Köpfen Rußlands als eine Aufgabe von immer größerer Dringlichkeit, die sie auch hätten lösen können, wenn sie länger unter dem Einfluß der kalten Rationalität des Westens geblieben wären. Es kam aber anders. Das Vertrauen Englands und Frankreichs auf ihre intellektuellen Kräfte, das bereits durch den von Amerika und Deutschland verursachten, zunehmenden wirtschaftlichen Niedergang erschüttert worden war, wurde jetzt vollends ausgehöhlt. Viele Jahrzehnte lang hatte England zugesehen, wie diese Neuankömmlinge seine Absatzmärkte übernahmen. Aus diesem Verlust hatte sich für England eine Fülle innenpolitischer Probleme ergeben, die nur durch drastische chirurgische Eingriffe hätten beseitigt werden können, und dazu brauchte es mehr Mut und Energie, als es ein Volk ohne Zukunftshoffnung aufzubringen in der Lage war. Dann kam es zum Krieg mit Frankreich und zu einem entsetzlichen Zusammenbruch. Es kam zu keinem Delirium wie in Frankreich, doch die Mentalität veränderte sich sehr stark, und der ernüchternde Einfluß Englands auf Europa ging zurück. In Frankreich war das kulturelle Leben schwer beeinträchtigt worden. Frankreich hätte sich möglicherweise von diesem Schlag erholen können, wenn es nicht bereits durch einen unersättlichen Nationalismus langsam vergiftet worden wäre. Denn die Liebe zu Frankreich war das Verderben der Franzosen. Sie übertrieben ihre Huldigung des tat48
sächlich bewundernswerten französischen Geistes so weit, daß sie die Angehörigen aller anderen Nationen für Barbaren hielten. So kam es, daß die russischen kommunistischen und materialistischen Doktrinen, das Werk deutscher Systematiker, ohne kritische Stellungnahmen blieben. Andererseits wurde der Kommunismus in der Praxis allmählich unterminiert, denn der russische Staat geriet immer mehr unter den Einfluß des westlichen, insbesondere des amerikanischen Kapitals. Auch der Materialismus offizieller Auslegung wurde zur Farce, denn er war für den russischen Geist ein Fremdkörper. So bestand zwischen Theorie und Praxis eine breite Kluft. Was einmal als eine vitale und vielversprechende Kultur begonnen hatte, glitt ab in die Unaufrichtigkeit.
Der russisch-deutsche Krieg Die Diskrepanz zwischen der kommunistischen Theorie und deren individueller Handhabung in der Praxis war eine der Ursachen für das nächste Unheil, das über Europa hereinbrach. Man hätte meinen sollen, daß es auf der Grundlage eines Austauschs von Maschinen gegen Getreide zwischen Rußland und Deutschland eine enge Partnerschaft hätte geben müssen. Aber die Theorie des Kommunismus stand dem im Wege, und zwar auf eine recht eigenartige Weise. Der Aufbau der russischen Industrie hatte sich ohne amerikanisches Kapital als undurchführbar erwiesen; und Schritt für Schritt hatte dieser finanzielle Einfluß das kommunistische System umgewandelt. Von der Ostsee bis zum Himalaya und bis zur Bering-Straße gerieten Weideland, Holzwirtschaft, mit Maschinen versorgte Getreideanbaugebiete, Ölfelder sowie Industriestädte, die sich wie ein Ausschlag verbreiteten, in eine zunehmende Abhängigkeit von amerikanischem Kapital und amerikanischer Organisation. Doch nicht etwa Amerika, sondern das viel weniger individualistische Deutschland war in der Vorstellung der Rus49
sen zum Symbol des Kapitalismus geworden. Ein selbstgerechter Haß Deutschland gegenüber entschädigte die Russen für ihren eigenen Verrat an den kommunistischen Idealen. Diese perverse Feindschaft wurde von den Amerikanern angeheizt, die, gefestigt im eigenen Individualismus und Wohlstand, mittlerweile die russischen Doktrinen mit Verachtung tolerierend, nur darauf aus waren, die russischen Geldquellen für sich selbst zu erhalten. Natürlich hatte Amerika in Wirklichkeit Rußland bei seinem Selbstbetrug geholfen, und es war eigentlich der amerikanische Geist, der vom russischen am weitesten entfernt war. Aber Rußland konnte mittlerweile auf den amerikanischen Reichtum nicht verzichten, und so wandte sich der Amerika zustehende Haß indirekt gegen Deutschland. Die Deutschen ihrerseits waren erbost, daß die Amerikaner sie aus höchst profitablen Unternehmungen verdrängt hatten, insbesondere bei der Ausbeutung der Ölvorräte des asiatischen Teils der Sowjetunion. Weil die Wirtschaft der Menschen eine Zeitlang von der Kohle abhängig war, sich aber später Öl als eine weitaus bequemere Energiequelle erwiesen hatte, weil die Ölvorräte auf der Erde viel kleiner als ihre Kohlevorräte waren und weil das Öl natürlich vollkommen ohne Kontrolle und verschwenderisch verbraucht wurde, machte sich bereits eine Knappheit bei den Ölvorräten bemerkbar. So war der Besitz der noch verbliebenen Ölfelder für die Staaten ein Hauptfaktor der Politik geworden und zudem eine ergiebige Quelle für Kriege. Amerika, das die meisten seiner eigenen Vorräte aufgebraucht hatte, war nun darauf aus, sich um die sehr beträchtlichen in chinesischer Hand befindlichen Ölvorräte zu bemühen, indem es zunächst Deutschland in Rußland zuvorkam. Kein Wunder, daß die Deutschen erbost waren. Sie waren aber selbst daran schuld. Damals, als der russische Kommunismus die Welt bekehren wollte, hatte Deutschland die Funktion Englands in der Führung eines individualistisch orientierten Europa übernommen. Während es einerseits gierig auf einen Handel mit Rußland war, hatte es andererseits Furcht vor einer Ansteckung durch die russischen sozia50
len Doktrinen, um so mehr als der Kommunismus zunächst unter den deutschen Arbeitern Anhänger gefunden hatte. Selbst als dann später eine vernünftige Umorganisation in der Industrie dem Kommunismus seine Anziehungskraft auf Arbeiter genommen und ihn somit geschwächt hatte, blieben antikommunistische Schmähungen weiter auf der Tagesordnung. So war der Friede in Europa ständig durch das Gezänk zweier Völker in Gefahr, die sich mehr in ihren Idealen als in ihrer Praxis voneinander unterschieden. Denn die einen, nach der Theorie kommunistisch, mußten viele Rechte des Staates an private Unternehmer delegieren; und die anderen, nach der Theorie freien Unternehmertums organisiert, wurden immer sozialistischer. Keiner der beiden wollte einen Krieg. Keiner hatte ein Interesse an militärischem Ruhm, denn der Militarismus als Zielvorstellung hatte keinen guten Ruf. Keiner bekannte sich zum Nationalismus, denn auch der wurde, obwohl noch stark verbreitet, nicht mehr sehr geschätzt. Jeder behauptete von sich, daß er für die Sache des Internationalismus und des Friedens einträte und beschuldigte den jeweils anderen eines engstirnigen Patriotismus. So wurde für Europa, das damals wohl friedliebender als je zuvor war, der Krieg unausweichlich. Wie bei den meisten anderen Kriegen so hatte auch der englischfranzösische Krieg die Friedenssehnsucht verstärkt, trotzdem aber den Frieden unsicherer gemacht. Ein Mißtrauen, und zwar nicht bloß das Mißtrauen der einen vor der anderen Nation, sondern ein nagendes Mißtrauen in die menschliche Natur selbst, packte die Menschen, als ob sie Angst davor hätten, wahnsinnig zu werden. Einzelne, die sich durch und durch als Europäer fühlten, fürchteten, auch sie könnten jederzeit von irgendeiner jener lächerlichen patriotischen Epidemien angesteckt werden und dann zu einer weiteren Lähmung Europas beitragen. Diese Furcht war einer der Gründe für die Bildung einer Europäischen Konföderation, in der alle europäischen Staaten, außer Rußland, 51
ihre Souveränität einer gemeinsamen Autorität unterstellten und sogar ihre Streitkräfte in einen Militärpool einbrachten. Angeblich war das Motiv hierfür die Erhaltung des Friedens, aber Amerika faßte es als eine gegen sein Land gerichtete Maßnahme auf und zog sich vom Völkerbund zurück. China, der »natürliche Rivale« Amerikas, blieb weiterhin Mitglied, in der Hoffnung, den Völkerbund gegen Amerika gebrauchen zu können. Von außen erschien die Konföderation zunächst als ein enggeknüpftes Ganzes, aber aus der Nähe betrachtet, war sie als unsicher bekannt, und sie zerfiel bei jeder ernsten Krise. Obwohl der kumulative Effekt der vielen kleinen Kriege dieser Periode sowohl wirtschaftlich als auch psychologisch schwerwiegend war, ist es nicht erforderlich, sie im einzelnen darzustellen. Gefühlsmäßig entwickelte sich Europa trotz allem zu einer Art Gesamtnation, obwohl diese Einheit weniger aufgrund gemeinsamer Loyalität gegenüber Europa, sondern mehr durch die gemeinsame Furcht vor Amerika herbeigeführt wurde. Eine endgültige Konsolidierung Europas wurde als Ergebnis des russisch-deutschen Krieges erreicht, der teils wirtschaftliche aber auch gefühlsmäßige Ursachen hatte. Mit Entsetzen hatten alle Völker Europas seit langem die finanzielle Eroberung Rußlands durch die Vereinigten Staaten verfolgt, und sie befürchteten, daß auch sie sich bald vor demselben Tyrannen beugen müßten. Rußland anzugreifen bedeutete für sie, Amerika an seiner einzig verwundbaren Stelle zu treffen. Aber der tatsächliche Kriegsanlaß hatte mehr mit Gefühlen zu tun. Fünfzig Jahre nach dem englisch-französischen Krieg veröffentlichte ein zweitrangiger deutscher Schriftsteller ein typisch deutsches Buch niederer Qualität. So wie jede Nation ihre charakteristischen Tugenden besaß, neigte sie ebenso zu charakteristischen Torheiten. Dieses Buch gehörte zur Gruppe jener brillanten, aber ausgefallenen Veröffentlichungen, in denen die ganze Vielfalt der Existenz unter eine einzige Formel gestellt wird, sehr ins Detail gehend und plausibel, aber mit erstaunlicher Naivität geschrieben. Obwohl es in diesem künstlichen Universum sehr 52
scharfsinnig zuging, war das Buch im weiteren Sinn völlig unkritisch. In zwei dicken Bänden behauptete der Verfasser, im Kosmos bestünde eine Polarität zwischen einem heroischen und offenbar nordischen Geist, der, nach göttlichem Recht eingesetzt, über den undisziplinierten, doch servilen, offenbar slawischen Geist herrsche. Die gesamte Geschichte und die Evolution wurden von diesem Prinzip her abgeleitet, und im Hinblick auf die Welt der Gegenwart wurde behauptet, daß das slawische Element Europa vergiften würde. Besonders die Formulierung »das Affenantlitz des russischen Untermenschen« brachte Moskau in Wut. Moskau verlangte eine Entschuldigung und ein Verbot des Buches. Mit unverhohlener Schadenfreude bedauerte Berlin diese Beleidigung und verwies auf die Meinungsfreiheit. In einem Crescendo folgten Haßtiraden im Rundfunk und dann der Krieg. Die Einzelheiten dieses Krieges spielen in der Geschichte des Intellekts dieses Sonnensystems keine Rolle, aber sein Ausgang ist wichtig. Moskau, Leningrad und Berlin wurden von der Luft her zerstört. Ganz Westrußland wurde von dem neuesten und tödlichsten Giftgas überflutet, so daß nicht nur alle Menschen, Tiere und Pflanzen vernichtet wurden, sondern auch das ganze Land zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee viele Jahre lang unfruchtbar und unbewohnbar blieb. Innerhalb einer Woche war der Krieg vorüber, weil die Kriegführenden durch ein ungeheuer großes Gebiet, in dem kein Leben mehr existierte, voneinander getrennt waren. Aber der Krieg wirkte noch lange nach. Die Deutschen hatten einen Prozeß in Gang gesetzt, den sie nicht mehr anhalten konnten. Giftschwaden wurden durch wechselnde Winde in jedes Land Europas und Westasiens getrieben. Es war Frühling, aber, außer an den Küsten des Atlantik, schrumpften überall die Knospen der Frühlingsblumen in sich zusammen, und jedes neue Blatt hatte einen verdorrten Rand. Auch die Menschen litten, abgesehen von den kriegszerstörten Gebieten waren es vor allem Kinder und ältere Menschen. Wie in gewaltigen, weitauseinandergezogenen Locken verbreite53
te sich das Giftgas über den ganzen Kontinent. Sie hatten die Ausdehnung von Großstädten und änderten ihre Richtung nach dem Wind. Wo immer sie hinkamen, verdorrten die Augen, die Kehlen und die Lungen wie die Blätter. Nach langen Debatten hatte sich Amerika schließlich dazu entschlossen, seine Interessen in Rußland durch eine Strafexpedition gegen Europa zu verteidigen. China begann zu mobilisieren. Aber schon lange bevor Amerika zum Losschlagen bereit war, bewirkten Nachrichten über die Vergiftung weiter Flächen Europas eine Änderung seiner Politik. Statt zu bestrafen, wurde jetzt geholfen. Dies war eine schöne Geste guten Willens. Aber, wie man in Europa ebenfalls feststellte, brachte dies Amerika statt Kosten Profite, denn dadurch gerieten zwangsläufig immer größere Teile Europas unter Kontrolle des amerikanischen Kapitals. Das Ergebnis des russisch-deutschen Krieges war, daß Europa im Haßgefühl gegenüber Amerika geeint war, daß sich aber auch die europäische Mentalität deutlich verschlechterte. Dies war teils auf den emotionalen Einfluß des Krieges selbst, zum Teil aber auch auf die schädlichen Auswirkungen des Giftgases auf die Struktur der Gesellschaft zurückzuführen. Ein Teil der heranwachsenden Generation war krank geworden und mußte es bis zum Lebensende bleiben. In den dreißig Jahren bis zum europäisch-amerikanischen Krieg war Europa durch eine ungewöhnlich hohe Zahl von Kranken und Invaliden belastet. Erstrangige Intelligenzen gab es weniger als zuvor, und diese waren vor allem praktisch beim Wiederaufbau tätig. Noch verheerendere Auswirkungen für die Menschheit hatte die Tatsache, daß das erst vor kurzem begonnene Projekt eines Ausgleichs zwischen dem westlichen Intellektualismus und dem östlichen Mystizismus ein jähes Ende gefunden hatte.
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kapitel ii
Der Zusammenbruch Europas
Europa und Amerika Über die Köpfe der europäischen Volksgruppen hinweg betrachteten zwei mächtigere Völker einander mit zunehmendem Mißfallen. Sie hatten ihre Gründe; denn das eine pflegte die älteste und wohl ausgebildetste aller noch überlebenden Kulturen, während das andere, die jüngste der großen Nationen, voller Selbstvertrauen seinen Geist als den neuen Geist der Zukunft proklamierte. Im fernen Osten verbesserte China, bereits halb amerikanisch, obwohl stark russisch und vor allem östlich, geduldig seinen Reisanbau, erweiterte sein Eisenbahnnetz, organisierte seine Industrie und fand gegenüber jedermann in der Welt ein gutes Wort. Sehr früh schon, als es seine Einheit und Unabhängigkeit erreichte, hatte es viel vom militanten Bolschewismus gelernt. Und nach dem Zusammenbruch des russischen Staates lebte die russische Kultur im Osten weiter. Ihre Mystik beeinflußte auch Indien. Ihre sozialen Ideale beeinflußten China. Nicht daß China die kommunistische Theorie und noch weniger seine Praxis übernommen hätte, aber China baute sein Vertrauen in zunehmendem Maße auf eine mächtige, ergebene und despotische Partei und darauf, mehr an das soziale Ganze zu denken und weniger an den einzelnen. Aber China war vom Individualismus durchsetzt, und hielt, trotz seiner herrschenden Richtung, eine abgesunkene und verzweifelte Klasse von Arbeitssklaven unterdrückt. Drüben im Westen beanspruchten die Vereinigten Staaten ganz offen für sich das Amt des Wächters über den gesamten Planeten. Überall gefürchtet und beneidet, überall respektiert wegen ihres Unternehmungsgeistes und doch wegen ihrer Selbstgefälligkeit weitgehend verachtet, veränderten die Amerikaner grundlegend und sehr schnell die menschliche Lebensweise. Damals benutzte jeder in der Welt amerikanische Erzeugnisse, und es gab kein Gebiet, in dem nicht amerika57
nisches Kapital an regionalen Arbeitsvorhaben beteiligt war. Darüber hinaus wurde die Erde durch Presse, Schallplatten, Filme und Fernsehen unaufhörlich mit amerikanischem Denken überschwemmt. Jahr für Jahr durchzog den Äther der Widerhall der New Yorker Vergnügungsszene und der religiösen Inbrunst des mittleren Westens. Kein Wunder also, daß Amerika, selbst wenn es verachtet wurde, dennoch unaufhaltsam die Menschheit formte. Wenn Amerika von seinem Besten das Beste gegeben hätte, wäre das nicht weiter schlimm gewesen. Aber zwangsläufig konnte nur das Schlechteste verbreitet werden. Nur die vulgärsten Eigenschaften jenes potentiell großen Volkes konnten den anderen mittels jener primitiven Instrumente nahegebracht werden. So wurde durch die Giftfluten, die von den niederen Angehörigen dieses Volkes verbreitet wurden, die ganze Welt und mit ihr auch die höhergearteten Angehörigen dieses Volkes selbst unwiderruflich korrumpiert. Denn das Beste in Amerika war nicht stark genug, dem Schlechtesten Widerstand zu bieten. Die Amerikaner hatten tatsächlich sehr viel zur Entwicklung des menschlichen Denkens beigetragen. Sie hatten die Philosophie aus ihren uralten Fesseln befreit. Sie hatten sich um die Wissenschaft durch großangelegte und methodisch strenge Forschung verdient gemacht. Begünstigt durch ihre teuren Instrumente und durch eine klare Atmosphäre hatten sie in der Astronomie viel für die Entdeckung und Erfassung von Sternen und Galaxien getan. Obwohl sie sich auf dem literarischen Gebiet oft wie Barbaren benahmen, waren bei ihnen neue Ausdrucksformen und Denkweisen entstanden, die in Europa keinen leichten Zugang fanden. Sie hatten ebenfalls eine neue und glänzende Architektur. Und ihr Organisationstalent war so hoch entwickelt, daß es für andere Völker kaum vorstellbar, geschweige denn in der Praxis anwendbar erschien. In der Tat beschäftigten sich ihre besten Köpfe in reiner Unschuld und mit Mut mit den uralten Theorie- und Bewertungsproblemen, so daß überall dort, wo diese Elite der Amerikaner präsent war, Nebelschwaden des Aberglaubens verschwanden. Aber diese besten Köpfe waren schließlich nur in der Minderheit in der sie 58
umgebenden Wüstenei, in der rechthaberische Selbsttäuscher das Sagen hatten, von denen erstaunlicherweise ein zerschlissenes religiöses Dogma mit dem Optimismus und der Intoleranz Jugendlicher favorisiert wurde. Denn die Amerikaner waren im wesentlichen ein Volk von aufgeweckten, aber in ihrer Entwicklung gestörten Heranwachsenden. Irgend etwas fehlte ihnen zum Erwachsenwerden. Wenn jemand über Ewigkeiten hinweg auf dieses ferne Volk blickt, kann er bereits dessen Schicksal, das sich aus den Umständen und aus seiner Veranlagung ergibt, erkennen, und er wird sich des makabren Witzes bewußt, daß ausgerechnet diejenigen, die sich selbst für befähigt hielten, dem Planeten eine neue Jugend zu bringen, ihn zwangsläufig durch Verwüstung seiner geistigen Kräfte in die Senilität und in eine unendlich lange Nacht stürzten. Zwangsläufig. Und doch war hier ein einzigartiges, vielversprechendes Volk, von der Erbmasse her mit Fähigkeiten ausgestattet wie kein anderes. Es war aus allen Rassen zusammengesetzt und geistig übersprudelnder als alle anderen. Man fand dort die angelsächsische Hartnäckigkeit, das deutsche Talent für Details und für das Systematisieren, den italienischen Frohsinn, das innere Feuer der Spanier und das beweglichere Aufflammen der Kelten. Ebenso vertreten waren die Sensibilität und das heftige Temperament der Slawen, eine verjüngende negroide Infusion, eine schwache aber stimulierende Spur der Indianer und, im Westen, ein paar Tropfen mongolischen Blutes. Zweifellos isolierte eine gegenseitige Intoleranz die einzelnen ethnischen Gruppen voneinander, aber sie wuchsen dennoch immer mehr zu einem Volk zusammen, das stolz war auf seine Eigenart, auf seine Erfolge, auf seinen idealistischen Auftrag in der Welt, ebenso wie es stolz war auf sein optimistisches Bild vom Universum, in dessen Mittelpunkt der Mensch stand. Was hätte eine solche Energie nicht alles erreichen können, wenn sie unter einer kritischeren Kontrolle gestanden und mehr gezwungen gewesen wäre, sich auch mit den düsteren Seiten des Lebens zu befassen! Unmittelbare tragische Erfahrungen hätten möglicherweise die 59
Herzen jenes Volkes geöffnet. Ein Austausch mit einer reiferen Kultur hätte vielleicht zur Differenzierung seiner Intelligenz beigetragen. Aber gerade durch die Erfolge, die die Amerikaner in einen Rauschzustand versetzten, wurden sie auch allzu selbstzufrieden, um noch von anderen Völkern lernen zu können, denen es nicht so gut ging wie ihnen. Es gab allerdings einen Zeitpunkt, zu dem es so aussah, als könnte diese Isolation überbrückt werden. So lange England ein ernsthafter wirtschaftlicher Konkurrent gewesen war, wurde es von Amerika zwangsläufig mit Argwohn angesehen. Aber als England sich deutlich im wirtschaftlichen Abstieg befand, kulturell jedoch noch immer am Gipfelpunkt, entwickelte Amerika ein stärkeres Interesse an der letzten und ernstesten Periode englischer Philosophie. Bedeutende Amerikaner begannen hinter vorgehaltener Hand zu sagen, daß möglicherweise der beispiellose Reichtum Amerikas weder für seine intellektuelle Größe noch für eine rechtschaffene Moral des Universums als ausreichender Beweis angeführt werden könnte. Eine an Zahl sehr geringe Gruppe von Schriftstellern wies mit Beharrlichkeit darauf hin, daß es Amerika an Selbstkritik fehle, daß es keinen Scherz verstünde, wenn er auf seine Kosten ginge, daß es keine Objektivität und Distanzierung kenne und auch keine Resignation, die zu den besten und natürlich auch seltensten Stimmungslagen im England der letzten Tage gehörte. Jene Bewegung hätte durchaus überall im amerikanischen Volk eine notwendige Mäßigung seines barbarischen Egoismus bewirken und seine Ohren für das Schweigen jenseits der lärmerfüllten Atmosphäre des Planeten wieder öffnen können. Erst vor kurzem waren die Amerikaner durch das Getöse ihrer materiellen Erfolge taub geworden. Über den amerikanischen Kontinent verstreut gab es damals zwar überall viele zusammenschrumpfende Kulturinseln, die entstanden waren, damit ihre Bewohner ihre Köpfe vor der ansteigenden Flutwelle des Vulgären und des Aberglaubens höher halten konnten. Von diesen Inseln aus blickte man auf Europa, suchte dort Hilfe und plante ein Treffen mit den Europäern, gerade als England und Frankreich in jene Gefühls- und Mordorgie 60
hineintaumelten, die so viele ihrer besten Köpfe auslöschte und ihren kulturellen Einfluß für immer schwächte. Fortan sprach Deutschland für Europa. Und Deutschland war ein zu ernster wirtschaftlicher Konkurrent Amerikas, als daß Amerika von ihm hätte beeinflußt werden können. Darüber hinaus war die deutsche Kritik, obwohl oft mit Einfühlungsvermögen vorgebracht, viel zu pedantisch und zu wenig ironisch, um das dicke Fell amerikanischer Selbstzufriedenheit durchstoßen zu können. So versank Amerika immer tiefer in seinem Amerikanismus. Ein gewaltiger Reichtum und eine riesige Industrie und ebenso brillante Erfindungen waren daraufgerichtet, infantile Ziele zu verfolgen. Das ganze amerikanische Leben war insbesondere auf den Kult des mächtigen Einzelnen hin ausgerichtet, auf jenes Phantomideal, das Europa in seiner letzten Phase gerade begonnen hatte, zu überwinden. Jene Amerikaner, die beim Erreichen dieses Ideals vollkommen versagten und auf der untersten Stufe der sozialen Leiter hängenblieben, trösteten sich entweder mit Zukunftshoffnungen, oder bezogen ihre Ersatzbefriedigung aus ihrer Identifizierung mit irgendeinem populären Star, oder brüsteten sich mit ihrer amerikanischen Staatsangehörigkeit und applaudierten der arroganten Außenpolitik ihrer Regierung. Diejenigen, die zur Macht emporstiegen, waren zufrieden, solange sie diese behalten und sie in der üblichen Überheblichkeit unkritisch zur Schau stellen konnten. Es war so gut wie unumgänglich, daß Europa, sobald es sich vom Desaster des russisch-deutschen Krieges erholt hatte, mit Amerika zusammenstoßen würde, denn es war zu lange unter dem Sattel des amerikanischen Kapitals wundgescheuert worden, und das alltägliche Leben der Europäer war mehr und mehr durch die Existenz einer überall auftauchenden und verabscheuten fremden ›Aristokratie‹ amerikanischer Geschäftsleute eingeengt. Deutschland war verhältnismäßig frei von solchem fremden Einfluß, denn es war selbst immer noch eine große Wirtschaftsmacht. Aber es kam auch in Deutschland, wie überall, zu ständigen Reibereien mit den Amerikanern. 61
Natürlich wollten weder Europa noch Amerika einen Krieg. Beide waren sich bewußt, daß er das Ende des prosperierenden Handels bedeuten würde, und für Europa möglicherweise das Ende überhaupt, denn es war bekannt, daß sich die Zerstörungskraft der Waffen weiter erhöht hatte, und daß, wenn ein Krieg rücksichtslos geführt würde, der Stärkere den Schwächeren auslöschen konnte. Schließlich kam es wiederum zu jenem unvermeidlichen ›Zwischenfall‹, der die Gemüter auf beiden Seiten des Atlantik hochgehen ließ. Ein Mord in Süditalien, einige schlecht bedachte Äußerungen in der europäischen Presse, eine Art offensiver Vergeltung in der amerikanischen Presse, begleitet von Lynchjustiz an einem Italiener im mittleren Westen, ein nicht zu verhinderndes Massaker an Amerikanern in Rom, die Entsendung einer amerikanischen Luftflotte mit dem Auftrag, Italien zu besetzen, das Abfangen dieser Luftstreitkräfte durch eine europäische Luftflotte, und der Krieg war bereits im Gange, noch ehe er erklärt wurde. Vielleicht zum Unglück Europas hatte diese Aktion der europäischen Luftstreitkräfte zur Folge, daß das amerikanische Vordringen für den Augenblick gestoppt war. Der Feind war aber herausgefordert und bereitete einen Vernichtungsschlag vor.
Ein Mysterium und sein Ursprung Während die Amerikaner noch ihre gesamten Streitkräfte mobilisierten, trug sich etwas zu, das wohl als das interessanteste Ereignis dieses Krieges bezeichnet werden kann. Rein zufällig hielt eine internationale wissenschaftliche Gesellschaft eine Konferenz in Plymouth, England, ab, und ein junger chinesischer Physiker bat darum, seinen Bericht einem Ausschuß ausgewählter Teilnehmer vortragen zu dürfen. Da seine Versuche dem Ziel gedient hatten, durch Zerstörung von Elementarteilchen subatomare Energie zu gewinnen, gab es einige Aufregung, als, entsprechend den Anweisungen, die vierzig internationalen Mitglieder 62
dieses Ausschusses an die Nordküste von Devon fuhren und sich auf einer kahlen Landspitze, Hartland Point genannt, versammelten. Der Regen war einem hellen Morgen gewichen. Elf Meilen nordwärts zeigten sich sehr deutlich die markanten Klippen von Lundy Island. Meeresvögel zogen über den Köpfen der Gruppe ihre Kreise, als sich alle auf ihre Regenmäntel setzten und sich im Halbkreis auf dem von Kaninchen kahl gefressenen Rasen niederließen. Es war schon eine bemerkenswerte Versammlung, jeder einzelne für sich unverwechselbar eine Persönlichkeit, dennoch in gewissem Maße durch den jeweiligen nationalen Typ beeinflußt. Bei allen handelte es sich um ausgesprochene »Wissenschaftler dieser Zeitepoche. Früher hätte zu diesem Beruf eine recht unkritische Anerkenntnis des Materialismus und ein Vortäuschen von Zynismus gehört, mittlerweile aber war es Mode geworden, sich zu der gleichfalls unkritischen Vorstellung zu bekennen, alle natürlichen Phänomene wären Manifestationen des kosmischen Geistes. Wenn ein Wissenschaftler, und so war es in beiden Fällen, sich außerhalb der Sphäre seiner eigenen ernsthaften Arbeit bewegte, war das, woran er dann glaubte, jenseits seiner professionellen Verantwortung; er entschied sich dafür nach seinem Gusto, so wie er es bei seinen Hobbys tat oder beim Essen. Unter den Anwesenden sollten wir einige näher betrachten. Der Deutsche, ein Anthropologe, und Ergebnis des seit langem etablierten Kultes, nach dem in einem gesunden Körper auch eine gesunde Seele wohne, versuchte durch seinen athletischen Körper die einem nordischen Menschen gemäßen Charakteristika zur Schau zu stellen. Der Franzose, ein bejahrter, aber immer noch vor Leben sprühender Psychologe, der dem seltsamen Hobby des Sammelns alter und moderner Waffen nachging, nahm alle Vorgänge mit liebenswürdigem Zynismus zur Kenntnis. Der Engländer, einer der wenigen übriggebliebenen Intellektuellen seines Volkes, kompensierte seine strengen Studien in der Physik mit nicht weniger anstrengenden Forschungen zur Geschichte englischer Kraftausdrücke und des Slang und war hocherfreut, wenn 63
er Kollegen mit den Ergebnissen seiner mühevollen Arbeit beglücken konnte. Der Vorsitzende der Gesellschaft war ein Biologe aus West Afrika, berühmt durch seine Kreuzungsversuche von Menschen mit Affen. Als sich alle gesetzt hatten, erläuterte der Präsident den Zweck dieser Sitzung. Die Nutzung subatomarer Energie wäre tatsächlich erreicht worden, und man würde einer Demonstration beiwohnen. Der junge Mongole stand auf und entnahm einem Kasten ein Instrument, das einem altmodischen Gewehr ähnelte. Er zeigte den Gegenstand und sprach mit jener kuriosen, etwas gespreizten Formalität, die einst für alle gebildeten Chinesen charakteristisch gewesen war: »Bevor ich die Einzelheiten meines recht komplizierten Verfahrens darstelle, möchte ich Ihnen seine Bedeutung illustrieren und Ihnen sagen, was man damit anfangen kann. Ich kann damit nicht nur die Zerstörung von Elementarteilchen auslösen, sondern dies auch aus der Entfernung tun und in einer ganz bestimmten Richtung. Weiterhin kann ich diesen Prozeß anhalten. Als ein Zerstörungsmittel ist mein Instrument perfekt. Als Energiequelle für die konstruktive Arbeit der Menschheit hat es unbegrenzte Möglichkeiten. Meine Herren, dies ist ein großer Augenblick in der menschlichen Geschichte. Ich bin dabei, in die Hände der organisierten Intelligenz dasjenige Mittel zu legen, das die mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Menschen ein für allemal beenden kann. Fortan wird diese große Gesellschaft, deren Elite Sie sind, voller Milde den Planeten regieren. Mittels dieses kleinen Instruments werden Sie jene lächerlichen Kriege beenden; und mit einem anderen, das ich bald fertiggestellt haben werde, steht Ihnen unbegrenzte Energie für Industriegebiete zur Verfügung, wo immer Sie diese für nötig erachten. Meine Herren, mit Hilfe dieses praktischen Instruments, das ich die Ehre habe, Ihnen zu demonstrieren, sind Sie auf dem Wege, die uneingeschränkten Herren dieses Planeten zu werden.« An dieser Stelle murmelte der Delegierte Englands eine veraltete Redewendung, deren Bedeutung nur er selbst verstand: »Gawd ‚elp us!« Von den Nichtphysikern unter den Ausländern wurde dieser seltsame 64
Ausdruck für einen technischen Terminus gehalten, der etwas mit der neuen Energiequelle zu tun hatte. Der Mongole wandte sich in Richtung Lundy und fuhrt fort: »Die Insel dort drüben ist nicht mehr bewohnt, und sie stellt eine gewisse Gefahr für die Schiffahrt dar, ich werde sie beseitigen.« Als er dies gesagt hatte, zielte er mit seinem Instrument auf die entfernte Klippe und sprach weiter: »Dieser Auslöser hier wird die positiven und negativen Grundladungen der Atome an einer bestimmten Stelle der Felsplatte so beeinflussen, daß sie sich gegenseitig zerstören. Die so zerstörten Atome zerstören dann ihre Nachbaratome, und so geht es endlos weiter. Mit dem zweiten Auslöser kann der Prozeß angehalten werden. Würde ich ihn nicht betätigen, so ginge es unbegrenzt weiter, vielleicht bis zur Auflösung des gesamten Planeten.« Unter den Zuschauern gab es ein besorgtes Hin- und Herrücken. Der junge Mann zielte sorgfältig und drückte die beiden Auslöser in schneller Folge. Nicht das geringste Geräusch vom Instrument her. Keine sichtbare Wirkung auf der wie lächelnd daliegenden Oberfläche der Insel. Der Engländer setzte zum Lachen an, aber es erstarb. Denn ein blendender Lichtpunkt tauchte über der Klippe auf. Er nahm zu an Größe und Strahlungskraft, bis alle Augen der Beobachter geblendet waren. Die Feuerkugel erhellte die Unterseiten der Wolken. Die Schatten der Ginsterbüsche neben den Beobachtern verschwanden. Der ganze dem Festland zugewandte Teil der Insel war eine einzige, unerträglich sengende Sonne geworden. Bald darauf jedoch war ihre Gewalt durch Dampfwolken verhüllt, die aus dem kochenden Meer aufstiegen. Dann plötzlich brach die ganze Insel, drei Quadratmeilen soliden Granits, auseinander, eine Kette großer Felsbrocken wurde emporgeschleudert, darunter bildete sich ein gigantischer, langsam anschwellender Pilz aus Dampf und Trümmern. Dann erreichte sie der Schall. Alle rissen die Hände hoch und bedeckten ihre Ohren, während sich die Augen weiter mühten, die durch den Steinhagel wie mit Blattern übersäte Meeresbucht zu beobachten. Eine riesige Woge ging vom Zentrum des 65
Durcheinanders aus, man sah, wie sie ein Küstenschiff verschlang und sich weiter, auf Bideford und Barnstaple zu, bewegte. Die Beobachter sprangen auf und schrien durcheinander, während der junge Urheber dieses Infernos das Spektakel entzückt und überrascht, angesichts des Ausmaßes der bloßen Nachwirkungen seines Verfahrens, betrachtete. Die Sitzung wurde daraufhin in eine nahegelegene Kapelle verlegt, wo der Forschungsbericht vorgetragen werden sollte. Bevor die Delegierten, einer nach dem anderen, in die Kapelle eintraten, konnten sie feststellen, daß Dampf und Rauch sich gelegt hatten, und dort, wo einst Lundy gelegen hatte, nur noch das offene Meer zu sehen war. Wie es sich gehörte, wurde in der Kapelle die Bibel beiseite gelegt, und es wurden die Fenster geöffnet, um das Fluidum der Heiligkeit ein wenig zu verdrängen. Denn obwohl die ersten geisteswissenschaftlichen Interpretationen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie die Naturwissenschaftler inzwischen dazu gebracht hatten, der Religion ihren Respekt zu zollen, bekamen viele von ihnen trotzdem eine Art Erstickungsanfall, wenn sie sich an geheiligten Stätten aufhielten. Als die Wissenschaftler sich auf den uralten, harten Kirchenbänken niedergelassen hatten, erläuterte der Präsident, daß die Pfarrbehörde ihnen freundlicherweise erlaubt hätte, diese Sitzung hier abzuhalten, da auch die Männer der Wissenschaft allmählich die geistigen Grundlagen der Physik entdeckt hätten, und es der Pfarrbehörde klargeworden wäre, daß fortan Wissenschaft und Religion enge Verbündete sein müßten. Darüber hinaus würde ja beabsichtigt, in dieser Sitzung eines jener höchsten Mysterien zu behandeln, das zu entdecken der Ruhm der Wissenschaft und das zu verklären die Aufgabe der Religion wäre. Der Präsident beglückwünschte den jungen Kollegen, der eine solche Machtquelle anderen zugänglich machen wollte, zu seinem Triumph und bat ihn, mit seinem Vortrag zu beginnen. An dieser Stelle jedoch bat der bejahrte französische Delegierte ums Wort, das ihm auch gewährt wurde. Fast vor 140 Jahren geboren und 66
mehr durch seine angeborene geistige Spannkraft am Leben erhalten als durch Mittel künstlicher Regeneration, schien dieser Alte aus einer weit zurückliegenden, weiseren Zeitepoche zu den anderen zu sprechen. Denn in einer sich im Niedergang befindlichen Zivilisation sind es oft die Ältesten, die den größten Weitblick haben und mit den jüngsten Augen sehen. Seine recht lange, von rhetorischen Floskeln durchsetzte, aber dennoch streng der Logik folgende Rede beschloß er mit den Worten: »Ohne Zweifel sind wir die Intelligenz dieses Planeten, und weil wir unsere Berufung ernst nehmen, sind wir sicherlich auch verhältnismäßig ehrlich. Aber schließlich sind auch wir nur Menschen. Hie und da machen wir kleine Fehler und begehen kleine Indiskretionen. Der Besitz einer solchen Macht, wie man sie uns anbietet, würde keinen Frieden bringen. Im Gegenteil, er würde unsere nationalen Haßgefühle verewigen. Er würde die Welt in ein wildes Durcheinander bringen. Er würde unsere eigene Integrität aushöhlen und uns selbst zu Tyrannen machen. Darüber hinaus würde er die Wissenschaften zerstören. Selbst wenn durch irgendeinen kleinen Irrtum die Welt explodierte, wäre dieses Desaster nicht weiter zu bedauern. Mir ist klar, daß Europa nahe daran ist, von seinen mächtigen aber recht verwöhnten Kindern jenseits des Atlantiks zerstört zu werden. Aber wie erschreckend dies auch immer sein mag, die Alternative wäre noch schlimmer. Nein danke, mein Herr! Ihr so herrliches Spielzeug wäre ein geeignetes Geschenk für höherentwickelte Wesen, aber für uns, die wir immer noch Barbaren sind — nein, dies darf nicht sein. Und so bitte ich Sie mit aufrichtigem Bedauern, Ihre Arbeit zu zerstören und, falls dies möglich wäre, auch Ihr Wissen um Ihre großartigen Forschungsergebnisse. Vor allem aber, geben Sie kein Sterbenswörtchen über Ihr Verfahren an uns oder an irgendeinen anderen weiter.« Der Deutsche protestierte, daß es feige wäre, ein solches Angebot abzulehnen. Er beschrieb kurz seine Vorstellung von einer Welt, die durch eine organisierte Wissenschaft geleitet würde, und entwickelte ein wissenschaftlich begründetes religiöses Dogma. »Auf jeden Fall«, sagte er, 67
»wäre eine Ablehnung die Zurückweisung eines Gottesgeschenkes, eines Geschenkes jenes Gottes, dessen Allgegenwart selbst in dem bescheidensten Energiequantum uns allen zu unserer Überraschung vor kurzem so deutlich geworden ist.« Im Für und Wider nahmen weitere Redner Stellung, es war aber bald klar, daß die Einsicht obsiegen würde. Die Einstellung der Wissenschaftler war inzwischen ausgesprochen kosmopolitisch geworden. So weit waren sie vom Nationalismus entfernt, daß der Amerikaner auf der Sitzung für die Annahme der Waffe plädiert hatte, obwohl sie gegen seine eigenen Landsleute zur Anwendung gekommen wäre. Schließlich jedoch, und zwar einstimmig, bat, oder besser befahl der Ausschuß, indem er gleichzeitig seine hohe Anerkennung für die Leistung des chinesischen Wissenschaftlers hervorhob, diesem, das Instrument und alle Unterlagen hierüber zu zerstören. Der junge Mann erhob sich, nahm sein Instrument aus dem Kasten und fingerte daran herum. So lange blieb er schweigend, mit seinen Augen darauf gerichtet, stehen, daß die Versammlung unruhig wurde. Schließlich sagte er: »Ich werde den Beschluß des Ausschusses befolgen. Nun, es ist schwer, das Ergebnis einer zehnjährigen Arbeit zu zerstören, und dazu noch ein solches. Ich hoffte auf die Dankbarkeit der Menschheit, und jetzt bin ich ein Ausgestoßener.« Er machte eine Pause und sah aus dem Fenster, zog aus seiner Rocktasche einen Feldstecher, drehte sich nach Westen und suchte etwas am Himmel, »ja, es sind tatsächlich amerikanische Flugzeuge, meine Herren, die amerikanische Luftflotte kommt auf uns zu.« Die Wissenschaftler sprangen auf und drängten sich zu den Fenstern. Weit im Westen erkannten sie eine Linie kleiner Punkte, die sich bis an den Horizont nach Norden und Süden hinzog. Der Engländer rief: »Benutzen Sie um Himmels willen Ihr verdammtes Ding da noch einmal, oder England ist erledigt. Die müssen unsere Leute über dem Atlantik abgeschossen haben.« 68
Der chinesische Wissenschaftler blickte auf den Präsidenten. Überall ertönten Schreie »Stoppt sie!«. Nur der Franzose protestierte. Der amerikanische Delegierte rief mit erhobener Stimme: »Sie sind meine Landsleute, und ich habe Freunde da oben. Vermutlich ist sogar mein eigener Sohn dabei. Aber verrückt sind sie. Sie haben etwas Grauenhaftes vor. Sie sind in Lynchstimmung. Stoppt sie!« Der Mongole sah immer noch zum Präsidenten hinüber, dieser nickte. Der Franzose weinte. Dann stützte sich der junge Mann auf das Fensterbrett, zielte sorgfältig auf jeden der schwarzen Punkte, einen nach dem anderen. Wie blendende Sternschnuppen fielen sie nacheinander vom Himmel herunter und verschwanden im Meer. In der Kapelle war es lange Zeit totenstill. Dann Geflüster und Blicke zum chinesischen Wissenschaftler hinüber, die Angst und Abneigung ausdrückten. Darauf kam es in aller Eile zu einer Art Zeremonie in einem an die Kapelle angrenzenden Feld. Ein Feuer wurde entzündet, und das Instrument sowie das nicht weniger mörderische Manuskript wurden verbrannt. Der junge Mongole, der darauf bestanden hatte, jedem einzelnen in der Runde die Hand zu geben, sagte danach mit ernstem Gesicht: »Mit dem Geheimnis, das in mir weiterexistiert, darf ich nicht weiterleben. Eines Tages wird eine ihm würdigere Menschheit es wiederentdecken, aber heute bin ich eine Gefahr für diese Planeten. Und so muß ich mir, der ich es törichterweise übersehen habe, daß ich noch unter Wilden lebe, mit der Weisheit meiner Ahnen den Austritt aus diesem Leben verschaffen.« Als er dies gesagt hatte, fiel er tot um.
Das ermordete Europa Durch Rundfunk und von Mund zu Mund wurde in der ganzen Welt bekannt, eine Insel wäre auf mysteriöse Weise explodiert und die amerikanische Luftflotte ebenso mysteriös in der Luft vernichtet worden. Und in der Gegend, wo dies passiert wäre, hätte es eine Konferenz von 69
Wissenschaftlern hohen Ranges gegeben. Die europäische Regierung forschte nach dem unbekannten Retter Europas, um ihm zu danken und um sich sein Verfahren zur eigenen Verwendung zu sichern. Der Präsident der Gesellschaft berichtete über die Sitzung des Ausschusses und über dessen einstimmigen Beschluß. Er und seine Kollegen wurden daraufhin sofort festgenommen. Zunächst versuchte man mit moralischem Druck und später mit physischer Gewaltanwendung, die Wissenschaftler dazu zu bringen, ihr Geheimnis preiszugeben, denn die Welt war davon überzeugt, daß es sich tatsächlich in ihrem Besitz befände und sie nur zur Verfolgung eigener Pläne damit zurückhielten. Inzwischen hörte man auch, daß der Befehlshaber der amerikanischen Luftflotte nach Vernichtung der europäischen Luftstreitkräfte den Auftrag gehabt hätte, über England nur einen ›Demonstrationsflug‹ durchzuführen, da die Friedensverhandlungen bereits im Gange gewesen waren. Denn das amerikanische Großkapital hatte der Regierung einen Boykott angedroht für den Fall, daß es in Europa zu unnötiger Gewaltanwendung kommen würde. Das Großkapital war mittlerweile weitgehend international eingestellt, und man war sich in diesen Kreisen darüber im klaren, daß eine Zerstörung Europas zwangsläufig die amerikanische Finanzwelt aus den Angeln heben würde. Aber das unvorhersehbare Unheil, das die siegreiche amerikanische Luftflotte getroffen hatte, erweckte in Amerika blinden Haß, und die den Frieden unterstützenden Gruppierungen wurden beiseite geschoben. Es erwies sich nun, daß die einzige kriegerische Handlung des chinesischen Wissenschaftlers England nicht gerettet hatte, sondern ihm zum Verhängnis werden würde. Einige Tage lang lebte Europa in panischer Furcht und wußte nicht, welchem Schrecken es jeden Augenblick ausgeliefert sein könnte. Kein Wunder also, daß die Regierung zur Folter zurückkehrte, um den Wissenschaftlern das Geheimnis zu entreißen. Und es ist ebensowenig verwunderlich, daß einer der vierzig, der Engländer, sich durch Täuschung aus der Affäre zu ziehen verstand. Er versprach, sein Bestes tun zu wollen, 70
um sich an das Verfahren zu ›erinnern‹. Unter strenger Überwachung gebrauchte er seine eigenen Kenntnisse in der Physik, um durch Experimente hinter den Trick des Chinesen zu kommen. Glücklicherweise war er jedoch auf der falschen Fährte. Und das wußte er auch. Denn obwohl er zunächst nur auf sein eigenes Überleben bedacht gewesen war, entwickelte er später eine Taktik, die gefährliche Entdeckung für immer zu verhindern, indem er die Forschungsprojekte in Sackgassen führte. So hielt sein Verrat an der Wissenschaft, daß er nämlich seine Autorität als berühmter Wissenschaftler dafür hergab, völlig aussichtslose Forschungswege zu verfolgen, diese undisziplinierte und kaum menschlich zu nennende Spezies davon ab, ihren Planeten zu zerstören. Das amerikanische Volk, gelegentlich zartbesaitet bis zum Exzeß, war jetzt in einem kollektiven Wahn des Hasses allen Engländern und allen Europäern gegenüber befangen. Eiskalt und effizient überflutete es Europa mit dem neuesten und tödlichsten aller Gase, bis alle Völker in ihren Städten wie Ratten in ihren Löchern vergiftet waren. Nach drei Tagen war das angewandte Gas wirkungslos. Amerikanische Sanitätskorps konnten daher jede der einzelnen Hauptstädte nach einer Woche übernehmen. Von denen, die als erste in das große Schweigen der gemordeten Städte hinabstiegen, gerieten viele außer Fassung angesichts der überwältigenden Konfrontation mit dem Tod der gesamten Bevölkerung. Das Gas hatte sich zunächst auf der Oberfläche verbreitet, war dann aber wie eine ansteigende Flutwelle zu den oberen Stockwerken der Häuser, zu den Türmen und Hügeln vorgedrungen. Während auf den Straßen Tausende lagen, die von den ersten Giftschwaden erfaßt worden waren, fand man auf jedem Dach und jedem Berggipfel, Körper von toten Menschen, die so hoch wie nur irgendmöglich geklettert waren, in der vergeblichen Hoffnung, so dem Gas entrinnen zu können. Als die Invasoren ankamen, erblickten sie an jedem hochgelegenen Ort verkrampft daliegende Tote. Europa war also tot. Alle Zentren intellektuellen Lebens waren ausgelöscht, von den landwirtschaftlich genutzten Regionen waren nur sol71
che im Hochland und in Gebirgen verschont geblieben. Nur verformte Bruchstücke des europäischen Geistes konnte man fortan noch bei Amerikanern, Chinesen, Indern und anderen Völkern wiederfinden. Natürlich gab es die britischen Kolonien, die aber mittlerweile weniger europäisch als amerikanisch waren, und der Krieg hatte das British Empire aufgelöst. Kanada stellte sich an die Seite Amerikas. Südafrika und Indien hatten bei Ausbruch des Krieges ihre Neutralität erklärt. Nicht aus Feigheit, aber durch Loyalitätskonflikte war auch Australien sehr bald auf den Status eines neutralen Staates gedrängt worden. Die Neuseeländer zogen in ihre Berge und behaupteten sich ein Jahr lang in einem irrsinnigen, aber heroischen Widerstandskampf. Als ein einfaches und tapferes Volk hatten sie so gut wie keine Vorstellung vom europäischen Intellekt. Obwohl es ihnen nicht klar war, hielten sie ihm dennoch trotz Amerikanisierung die Treue, oder wenigstens England gegenüber, dem Symbol, das für sie für Europa stand. Sie waren sogar so übertrieben loyal oder von Natur aus so zäh und eigensinnig, daß sich Männer und Frauen, als ihnen ein weiterer Widerstand unmöglich wurde, lieber selbst umbrachten, als sich zu unterwerfen. Aber nicht die Besiegten, sondern die Sieger dieses Krieges litten unter den am längsten anhaltenden qualvollen Auswirkungen dieses Krieges. Denn als sich die Leidenschaften gelegt hatten, konnten es die Amerikaner nicht einfach ungeschehen machen, daß sie einen Mord begangen hatten. Im Grunde waren sie kein brutales, sondern eher ein freundliches Volk. Die Welt stellten sie sich vor als einen Ort, wo man sein unschuldiges Vergnügen suchte, und sich selber hielten sie für die Lieferanten solchen Glückes und solcher Freude. Und doch waren sie irgendwie in dieses unwahrscheinliche Verbrechen hineingezogen worden. Fortan machte sich ein alles durchdringendes Gefühl von Kollektivschuld als ein den amerikanischen Geist verformender Einfluß bemerkbar. Dünkelhaft und intolerant waren die Amerikaner schon immer gewesen, aber jetzt wurden diese Eigenschaften noch stärker, bis zum Wahn übertrieben. Sowohl als einzelne wie auch im Kol72
lektiv wurden sie immer empfindlicher gegenüber Kritik, immer mehr neigten sie dazu, anderen die Schuld zu geben und zu hassen, sie wurden immer selbstgerechter, immer feindseliger gegenüber einem kritischen Intellekt und immer abergläubischer. So war ein einstmals edles Volk von den Göttern zur Bestrafung ausersehen worden und zugleich zum Vollstrecker seiner eigenen Strafe.
73
kapitel iii
Amerika und China
Die Rivalen Nachdem Europa untergegangen war, trat an die Stelle des Nationalbewußtseins der verschiedenen Einzelstaaten ein supranationales oder rassisches Bewußtsein, das sich bei den einen auf die Zugehörigkeit zum amerikanischen, bei den anderen auf die zum chinesischen Block bezog. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer dieser beiden Gruppen entwickelte sich so stark, daß alle anderen patriotischen Regungen nur noch von lokaler Bedeutung waren und die Loyalität gegenüber China oder Amerika in keiner Weise beeinflußten. Natürlich hatte es zuerst eine Reihe von mörderischen Kämpfen gegeben. Eine genaue Darstellung dieser Periode würde darüber zu berichten haben, wie Nordamerika die Einschmelzung der bereits amerikanisierten lateinamerikanischen Staaten Südamerikas in eine große amerikanische Nation erreichte, wobei sich übrigens ein ähnlicher Vorgang wiederholte, wie seinerzeit beim amerikanischen Bürgerkriegs dem Krieg der Nordstaaten gegen die Südstaaten. Ebenfalls müßte darüber berichtet werden, wie Japan, das einst das junge China in Knechtschaft gehalten hatte, so durch soziale Revolutionen geschwächt wurde, daß es dem amerikanischen Imperialismus als leichte Beute zufiel, und wie durch diese Abhängigkeit sich die Gefühle in Japan plötzlich China zuwandten, so daß sich Japan schließlich durch einen heroischen Unabhängigkeitskrieg befreien konnte und der asiatischen Konföderation unter chinesischer Führung beitrat. Eine ausführliche Geschichte dieser Zeit würde sich ebenfalls mit den Veränderungen der Struktur des Völkerbundes beschäftigen müssen. Obwohl der Völkerbund zu keiner Zeit eine wahre Weltregierung darstellte, sondern vielmehr eine Vereinigung von nationalstaatlichen Regierungen, jede einzelne um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Souveränität sehr besorgt, gewann diese große weltumspannende Or77
ganisation allmählich doch an Prestige und Autorität gegenüber ihren Mitgliedern. Und trotz vieler Unzulänglichkeiten, die sich in den meisten Fällen aus seiner verfassungsrechtlichen Grundkonstruktion ergaben, war der Völkerbund doch ein konkreter Ansatzpunkt und von unschätzbarer Bedeutung für eine sich allmählich entwickelnde Loyalität gegenüber der gesamten Menschheit. Anfänglich war seine Existenz sehr gefährdet; er konnte sich nur durch außergewöhnliche Vorsicht am Leben erhalten, die für die ›Großen Mächte‹ fast an Servilität grenzte. Allmählich jedoch, Schritt für Schritt, gewann er so stark an moralischer Autorität, daß keine einzelne Macht, nicht einmal die stärkste, es offen und kaltblütig wagte, dem Willen des Völkerbundes zu trotzen oder das Urteil des Hohen Gerichtshofes zurückzuweisen. Aber, da sich damals die Loyalität des Menschen in erster Linie auf eine Nation und nicht auf eine Weltregierung richtete, gab es immer noch sehr häufig Situationen, in denen eine einzelne Nation ihren Kopf verlor, Amok lief, ihre Versprechen brach, und aus Furcht zum Angreifer wurde. Dadurch ist zum Beispiel der englisch-französische Krieg entstanden. Es hat andere Zeiten gegeben, in denen sich die Nationen in zwei Lager teilten und den Völkerbund zeitweilig völlig vergaßen. Das war der Fall beim russisch-deutschen Krieg. Er konnte nur dadurch entstehen, daß Amerika Rußland und China Deutschland unterstützte. Nach der Zerstörung Europas gab es in der Welt auf der einen Seite den Völkerbund und auf der anderen Amerika. Der Völkerbund wurde jedoch von China beherrscht und konnte deswegen nicht länger als eine Weltregierung angesehen werden. So bemühten sich diejenigen, die sich einer Loyalität gegenüber der gesamten Menschheit verpflichtet fühlten, Amerika erneut in den Bund zurückzubringen, und sie hatten schließlich Erfolg. Obwohl der Völkerbund versagte, wenn es sich um die Verhütung ›großer‹ Kriege handelte, gelang es ihm jedoch erstaunlich gut, alle jene kleineren Konflikte zu verhindern, die sich einst als chronische Krankheit der Menschheit gezeigt hatten. Es kam schließlich sogar dazu, daß der Weltfriede als gesichert gelten konnte, außer, wenn der Völkerbund 78
in sich selbst in zwei gleichstarke Lager zerfallen war. Und das trat leider mit dem Aufstieg Amerikas einerseits und Chinas andererseits immer häufiger ein. Während des Krieges zwischen Nord- und Südamerika versuchte man zwar, den Völkerbund erneut mit der Souveränität einer Weltregierung zu versehen, die die gemeinsamen Rüstungsanstrengungen aller Nationen überwachen sollte. Aber obwohl der Wille zu einer weltweiten Regelung stark war, konnte er gegen die nationalen Egoismen nicht aufkommen. So kam es schließlich dazu, daß der Völkerbund sich bei der japanischen Frage endgültig in zwei Lager spaltete, deren jedes sich Völkerbund nannte und für sich die rechtmäßige Nachfolge eines Weltbundes beanspruchte. In Wirklichkeit herrschte aber bei beiden nur ein supranationales Gefühl vor, das amerikanische oder das chinesische. Das alles geschah in dem auf den Untergang Europas folgenden Jahrhundert. Im nächsten Jahrhundert gelangte der Prozeß der Herausbildung zweier verschiedener Systeme in politischer Hinsicht und hinsichtlich der Mentalität zum Abschluß. Auf der einen Seite stand die reiche und festgefügte Amerikanische Kontinentale Konföderation mit ihren armen Verwandten Südafrika, Australien, Neuseeland, den darniederliegenden Überbleibseln Westeuropas und einem Teil jenes seelenlosen Körpers, der einmal Rußland gewesen war. Auf der anderen Seite standen Asien und Afrika. Die alte Unterscheidung zwischen Ost und West war nun tatsächlich die Grundlage für eine politische, gefühlsmäßige und organisatorische Abgrenzung geworden. Innerhalb eines jeden einzelnen dieser Systeme gab es natürlich kulturelle Unterschiede. Besonders unterschied sich zum Beispiel die Mentalität der Chinesen von derjenigen der Inder. Das Interesse der Chinesen galt dem Äußeren, dem Sinnlichen, dem Förmlichen, dem Praktischen; die Inder hingegen suchten hinter der Flut der Erscheinungen nach einer letzten Wahrheit, von der dieses Leben, wie sie meinten, nur einen flüchtigen Abglanz böte. So bemühte sich der durchschnittliche Inder zum Beispiel niemals ernsthaft um die praktische Lösung der schweren, 79
bedrückenden sozialen Fragen. Das Ideal, diese Welt der Vollkommenheit entgegenzuführen, gab es für ihn nicht, da er in dem Glauben aufgezogen worden war, daß die Welt nur eine unwesentliche äußere Hülle wäre. Es gab sogar Zeiten, in denen die Mentalität Chinas der amerikanischen viel näher stand als der indischen, aber die gemeinsame Furcht vor Amerika führte die beiden großen östlichen Völker doch zusammen. Sie fanden zusammen in dem gemeinsamen tiefen Haß gegen jene seltsame Mischung von Handlungsreisendem, Missionar und ungebildetem Eroberer, die der Amerikaner im Ausland verkörperte. Durch relative Schwäche und Erbitterung über die Greif arme der amerikanischen Industrie im eigenen Lande war China damals nationalistischer eingestellt als sein Rivale. Amerika andererseits behauptete von sich, daß es den Nationalismus überwunden hätte und die politische und kulturelle Einheit der Welt anstrebe. Aber unter Einheit verstand es die Einheitlichkeit amerikanischer Organisationsformen; und mit Kultur meinte es die amerikanische Kultur. Ein solcher Kosmopolitanismus wurde von Asien und Afrika ohne sonderliche Sympathie betrachtet. So machte China große Anstrengungen, seine Kultur von fremden Einflüssen zu säubern. Der Erfolg dieser Mühe war jedoch nur oberflächlich. Es führte nur dazu, daß die Wohlhabenden das Zopftragen und das Mit-dem-Stäbchen-Essen als neue Mode entdeckten, und daß das Studium der chinesischen Klassiker wiederum in den Schulen als Pflichtfach eingeführt wurde. Die Lebensformen des durchschnittlichen Chinesen veränderten sich nicht, sie blieben amerikanisch. Er bediente sich nicht nur amerikanischer Bestecke, Schuhe, Plattenspieler sowie moderner Kücheneinrichtungen, Eisschränke usw., sondern sein Alphabet blieb europäisch, sein Wortschatz war durchsetzt mit amerikanischem Slang, und Zeitungen und Radio waren amerikanisch aufgemacht, obwohl inhaltlich natürlich antiamerikanisch eingestellt. Tag für Tag sah er an seinem Fernsehschirm jede Einzelheit des amerikanischen Familienlebens, und er nahm teil an jedem bedeutenden amerikanischen öffentlichen Ereignis. 80
Zigaretten und Kaugummi nahmen für ihn die Stelle von Opium und Räucherstäbchen ein. Auch sein Denken war weitgehend nur eine mongolische Spielart des amerikanischen Denkens. Da er zum Beispiel von der Mentalität her an metaphysischen Dingen wenig Gefallen fand, andererseits aber ein bißchen Metaphysik nun mal angebracht ist, übernahm er jene naive materialistische Metaphysik, wie sie die frühen Behavioristen verbreitet hatten. Nach dieser Ansicht offenbart sich die Wahrheit einzig und allein in der physischen Energie, und Geist und Seele manifestieren sich nur in den körperlichen Reaktionen auf einen Reiz. Der Behaviorismus hatte früher bei der Säuberung des westlichen Geistes vom Aberglauben eine große Rolle gespielt; und er war sogar eine Zeitlang der wesentlichste Ansatzpunkt westlichen Denkens gewesen. Diese Frühform einer zweifellos fruchtbaren aber ebenso extravaganten Doktrin hatte nun China übernommen. In seinem Ursprungsland war der Behaviorismus jedoch allmählich dem Zug der Zeit gefolgt und hatte sich in eine bequemere und praktikablere Ideologie umgewandelt, bis aus ihm schließlich eine seltsame Art von Spiritismus entstand. Danach offenbarte sich die letzte Wahrheit immer noch in der physischen Energie, und diese Energie wurde gleichgesetzt mit Gott. Hinzu kam eine besonders dramatische Entwicklung des amerikanischen Denkens jener Zeit, die durch das Verschmelzen des Behaviorismus und des Fundamentalismus, einer verspäteten und degenerierten Form des Christentums, gekennzeichnet war. Vom Glauben her betrachtet war der Behaviorismus ursprünglich eine Art umgekehrter Puritanismus, derzufolge es zur Erlangung des intellektuellen Heils erforderlich war, ein grobes materialistisches Dogma anzunehmen, das den Selbstgerechten widerwärtig und den Intellektuellen früherer philosophischer Schulen unverständlich war. Die alten Puritaner unterdrückten in sich und anderen alle fleischlichen Gelüste; diese neuen Puritaner, die Behavioristen, unterdrückten in sich selbst und anderen, nicht weniger selbstgerecht, alle seelischen und geistigen Regungen. In der stets 81
spiritistischen Reflektionen zuneigenden Physik fanden schließlich der Behaviorismus und der Fundamentalismus eine gemeinsame Grundlage. Da man als Grundlage des physischen Universums die ungeheure Menge von willkürlich wirkenden ›Quanten‹ ansah und ihre Aktivität für ›Geist‹ hielt, war es leicht für Materialisten und Spiritisten, sich zu einigen. Obwohl sie in ihren Glaubenssätzen gegenteilige Standpunkte eingenommen hatten, waren sie in Wirklichkeit nie sehr weit voneinander entfernt gewesen. Der einzige Unterschied zwischen beiden hatte nur darin bestanden, daß die einen an eine wahrhaft immaterielle Seele glaubten, und die anderen spiritistische und materialistische Ansichten hinsichtlich des Seelenlebens bevorzugten. So brauchten die materialistischsten unter den christlichen Sekten und die doktrinärsten unter den wissenschaftlichen nicht lange, um eine Formel zu finden, durch die sie ihre Übereinstimmung ausdrücken konnten und mit der sie gleichzeitig alle subtileren Fähigkeiten des menschlichen Geistes verleugneten. Beide Glaubensrichtungen bewerteten die körperliche Bewegung besonders hoch. Darin lag der Hauptunterschied zwischen der amerikanischen und der chinesischen Mentalität. Für den Amerikaner war die Tätigkeit, jede Art von Tätigkeit, bereits ein Ziel in sich; für den Chinesen war die Tätigkeit nur ein Fortschreiten zu einem letzten Ziel, das für ihn Ruhe und Seelenfrieden bedeutete. Nur wenn das harmonische Gleichgewicht gestört war, mußte man etwas tun, um es wieder herzustellen. In dieser Hinsicht waren China und Indien der gleichen Anschauung. Beide zogen ein kontemplatives Leben dem aktiven vor. So war in China und Indien der Drang nach Reichtum weniger stark entwickelt als in Amerika. Reichtum war die Kraft, mit der man Dinge und Menschen aus der Ruhe brachte und in Bewegung setzen konnte. In Amerika wurde Reichtum deswegen ganz offen als der Odem Gottes angesehen, als der göttliche Geist, der im Menschen wirkt. Gott war der oberste Boß, der Arbeitgeber des Universums. Seine Weisheit offenbarte sich in einer ungeheuren Tüchtigkeit und Leistung, und seine Liebe war die Freigebigkeit eines Chefs gegenüber seinen Arbeitnehmern. 82
Das Gleichnis vom Knecht, der mit seinem Pfunde wucherte, wurde zum Leitbild der Erziehung, und wer reich war, wurde als ein Werkzeug Gottes angesehen. Der typische amerikanische Wirtschaftsmanager war inmitten des Glanzes und des Luxus zutiefst asketisch. Für ihn bedeutete das alles nur ein Aushängeschild, auf dem seine Mitbürger lesen konnten, daß er zu den Auserwählten gehörte. Der typische reiche Chinese hingegen genoß seinen Luxus ohne Hast und mit feinem Gaumen, und es war selten, daß er ihn der bloßen Machtbegierde opferte. Da die amerikanische Kultur sich andererseits nur um den Wert, den das einzelne Leben gewinnen konnte, kümmerte, war sie viel besorgter als die chinesische um das Wohlergehen des einzelnen. Daher waren die Arbeitsbedingungen der Industrie weit besser unter dem amerikanischen Kapitalismus als unter dem chinesischen. In China existierten nun die beiden Spielarten des Kapitalismus nebeneinander. Es gab amerikanische Fabriken, in denen die chinesischen Arbeiter vom amerikanischen System profitierten, und es gab chinesische Fabriken, in denen die Arbeiter, verglichen mit den amerikanischen, elende Arbeitssklaven waren. Die Tatsache, daß viele chinesische Arbeiter sich nicht einmal ein Auto leisten konnten, geschweige denn ein Flugzeug, war bei den amerikanischen Arbeitgebern die Quelle manch selbstgerechten Unwillens. Und die Tatsache, daß dies in China keine Revolution bewirkte, und daß die chinesischen Arbeitgeber trotz der besseren Bedingungen amerikanischer Fabriken über genügend Arbeitskräfte verfügten, war für sie die Quelle echter Bestürzung. Was der durchschnittliche chinesische Arbeiter aber in Wirklichkeit brauchte, war nicht eine symbolische Selbstbestätigung dadurch, daß er eigene Autos, Flugzeuge usw. benutzen konnte, sondern vielmehr eine echte Lebenssicherheit und Muße, für die er keinem anderen gegenüber verantwortlich zu sein brauchte. In den frühen Phasen der Entwicklung des ›modernen‹ China hatte es allerdings ernste Ausbrüche von Klassenhaß gegeben. Fast in jedem großen chinesischen Industriezentrum waren irgendwann einmal die Arbeitgeber massakriert worden, und man hatte einen unabhängi83
gen kommunistischen Stadtstaat proklamiert. Aber der Kommunismus war für China fremd, und keines dieser Experimente war auf die Dauer erfolgreich. Als sich dann später die Herrschaft der Nationalpartei festigte, und die schlimmsten Mißstände in der Industrie beseitigt wurden, war der Klassenkampf einer allgemeinen patriotischen Verachtung der amerikanischen Einmischung und der amerikanischen Betriebsamkeit gewichen, und jene, die unter Amerikanern arbeiteten, wurden oft Verräter genannt. Die Nationalpartei war natürlich nicht die Seele Chinas, aber sie war sozusagen sein zentrales Nervensystem, innerhalb dessen die Seele die beherrschenden Funktionen übernommen hatte. Die Partei war eine außergewöhnliche praktische und doch idealistische Organisation, halb Beamtentum, halb religiöser Orden, obwohl sie jeder Art von Religion feindlich gegenüberstand. Sie war ursprünglich der bolschewistischen Partei Rußlands nachgebildet, hatte Züge des einheimischen und gelehrten Beamtentums des alten China übernommen und sogar jene Tradition einer integren Verwaltung, die der beste, der einzige Beitrag des britischen Imperialismus im Osten war. So hatte sich die Partei auf ihre Art entwickelt und jene Idealform erreicht, die Plato mit seinem Rat der Weisen vorschwebte. Wenn man Parteimitglied werden wollte, mußte man zwei Dinge tun, man mußte zunächst eine sehr schwere schriftliche Prüfung in westlicher und chinesischer Gesellschaftswissenschaft ablegen und danach eine fünfjährige Tätigkeit in praktischer Verwaltungsarbeit erfolgreich beenden. Außerhalb der Partei gab es in China nach wie vor sehr viel Korruption; denn Unterschlagungen und Vetternwirtschaft wurden so lange nicht gerichtlich verfolgt, wie sie sich im Verborgenen abspielten. Aber die Partei gab ein hervorragendes Beispiel für selbstlose Hingabe; diese unerhörte Ehrlichkeit war eine Quelle ihrer Macht. Es wurde allgemein anerkannt, daß ein Parteimitglied wirklich an sozialen Fragen interessiert war und nicht an seinen Privatangelegenheiten; und so vertraute man ihm. Das letzte Ziel seiner Loyalität war nicht die Partei, sondern China, worunter er nicht die Masse der Chinesen verstand, die er mit 84
genau der gleichen Nonchalance betrachtete wie sich selbst, sondern die Einheit des Staates, der Kultur und der Rasse. Alle exekutive Gewalt in China lag in den Händen der Parteimitglieder, und die Legislative war eine Versammlung von Parteimitgliedern. Zwischen diesen beiden Institutionen stand der Präsident. Zuweilen war er nur der Vorsitzende der Regierung, gelegentlich fast ein Diktator, der in seiner Person den Ministerpräsidenten, den Kaiser und den obersten göttlichen Würdenträger verkörperte. Denn der Führer der Partei war der Führer des Staates. Und wie die alten chinesischen Kaiser wurde er zum Symbol des Ahnenkultes. Die Politik der Partei wurde geleitet durch die chinesische Achtung vor der Kultur. So wie westliche Staaten nur allzu oft unter dem Willen nach militärischem Prestige organisiert waren, so war der Staat des neuen China organisiert, um kulturelles Prestige zu erreichen. Amerika stellte man daher als ein abschreckendes Beispiel eines vulgären Barbarentums dar und benutzte so den Patriotismus, um die Kulturpolitik der Partei zu stützen. Man prahlte damit, daß, während zwar in Amerika jeder Mann und jede Frau hoffen könnte, zu materiellem Wohlstand zu gelangen, jeder einzelne sich dies aber erkämpfen müsse, während es jeder intelligenten Person in China ohne weiteres möglich wäre, am kulturellen Reichtum der Rasse teilzuhaben. Die Wirtschaftspolitik der Partei hatte zum Prinzip, allen Arbeitenden ihren Lebensunterhalt und Chancengleichheit in Bildung und Erziehung zu gewährleisten. (In amerikanischen Augen war der garantierte Lebensstandard jedoch kaum ausreichend für wilde Tiere, und die für jeden offenstehenden Bildungsmöglichkeiten waren völlig veraltet und ihr Inhalt areligiös.) Die Partei achtete besonders darauf, die Besten aus jeder sozialen Klasse bei sich zu sammeln und auch in den unintelligenten Massen einen Respekt für Gelehrsamkeit zu erzeugen ebenso wie die Illusion, daß diese selbst zu einem gewissen Teil die nationale Kultur mittrügen. Aber in Wirklichkeit war diese Kultur, die die einfachen Leute so stark in ihren Vorgesetzten verehrten und in ihrem eigenen Leben nach85
ahmten, kaum weniger oberflächlich wie jener Kult der Machtbegierde, gegen die sie sich wandte. Denn es war fast ausschließlich ein Kult der sozialen Rechtschaffenheit und der Wortgelehrsamkeit; es handelte sich dabei nicht so sehr um literarische Kultur, wie sie das alte China gekannt hatte, als vielmehr um ein gewaltiges Kompendium von zeitgenössischen wissenschaftlichen Dogmen und vor allem um reine Mathematik. Zu früheren Zeiten mußte ein Bewerber ein detailliertes und kritisches Wissen über klassische Schriftsteller nachweisen; jetzt mußte er eine keineswegs weniger unfruchtbare Beschlagenheit in genauen Beschreibungen von Formeln der Physik, der Biologie, der Psychologie und ganz besonders der Wirtschaft und der Gesellschaftswissenschaften nachweisen. Und obwohl er niemals dazu angehalten worden war, sich mit den philosophischen Grundlagen der Mathematik abzugeben, wurde doch von ihm erwartet, daß er mit den verwickelten Problemen wenigstens eines Zweiges dieses ausgedehnten Fragenkomplexes vertraut war. So groß war die Menge des Wissens, die ihm abverlangt wurde, daß er keine Zeit fand, über die Verknüpfungen und die wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Wissenszweige nachzudenken. China besaß aber dennoch eine Seele. Und in dieser schwer definierbaren chinesischen Seele lag die einzige Hoffnung des Ersten Menschen. Überall in der Partei verstreut gab es eine Minderheit von eigenschöpferisch denkenden Köpfen, die für die Partei die Quelle der Inspiration waren und die Weiterentwicklung des menschlichen Geistes während dieser Periode ermöglichten. Obwohl sie sich der Kleinheit des Menschen voll bewußt waren, betrachteten diese Denker ihn trotzdem als die Krone des Universums. Von der Grundlage einer positivistischen und ziemlich oberflächlichen Metaphysik aus entwickelten sie gesellschaftliche Ideale und eine Theorie der Kunst. Sie sahen in der Kunstausübung und im Kunstverständnis die höchste Vollendung des Menschlichen. Sie waren recht pessimistisch über die ferne Zukunft der Rasse, verachteten den amerikanischen Evangelismus und sahen als Ziel alles Lebendigen die Schaffung eines verzweigten aber in sich zu86
sammenhängenden Geflechts von menschlichen Einzelleben in einer angemessenen und schönen Umgebung. Die Gesellschaft, das höchste Kunstwerk (wie sie es nannten), sei ein zartes und leicht verderbliches Gewebe aus zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie glaubten sogar an die Möglichkeit, daß letzten Endes nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern auch das Schicksal der ganzen menschlichen Rasse einen tragischen Ausgang nehmen könnte, und nach den Gesetzen der tragischen Kunst zu bewerten wäre. Einer von ihnen sagte einmal, als er die Vorstellungen Amerikas den eigenen Anschauungen gegenüberstellte: »Amerika glaubt wie ein zurückgebliebener Junge in seinem mit Luxus und Elektrizität ausgerüsteten Spielzimmer, daß seine mechanischen Spielsachen die Welt bewegen. China hingegen bewundert wie ein Gentleman beim Abendspaziergang in seinem Garten den Duft der Blumen und die Ordnung dieses Gartens um so mehr, weil er in der Luft schon die erste Winterkälte verspürt, und mit seinem Ohr die unwiderstehliche Barbarei herannahen hört.« In dieser Haltung war etwas Bewundernswertes, etwas, das damals dringend gebraucht wurde, aber darin war zugleich eine fatalistische Unzulänglichkeit enthalten. In denjenigen, die diese Haltung am besten ausdrückten, war sie eine abgeklärte und doch glühende Daseinsbejahung; aber alles degenerierte allzu schnell in träge Selbstgefälligkeit und in einen Kult der gesellschaftlichen Etikette. Durch die dem Chinesen eigene Gewohnheit, nur auf die äußeren Dinge und Erscheinungen zu achten, war eine solche Gefahr stets latent. In mancherlei Hinsicht ergänzte sich der Geist Amerikas durch den Chinas: die einen waren unruhig, die anderen ruhig, die einen leidenschaftlich, die anderen leidenschaftslos, die einen religiös, die anderen künstlerisch interessiert, die einen oberflächlich mystisch oder wenigstens romantisch, die anderen klassisch und rationalistisch, obwohl sie zu bequem waren, ein länger anhaltendes striktes Denken durchzustehen. Gemeinsam hätten diese beiden viel vermocht. Es war aber auch bei beiden ein gleicher und sehr bedeutender Mangel zu erkennen. Keine von beiden Kulturen wur87
de angeregt und emporgerissen durch jenes unersättliche Wahrheitsstreben, jene Leidenschaft, die kritische Intelligenz frei zu üben, jene zermürbende Jagd nach der Wahrheit, die der Ruhm des vergangenen Europa und sogar des frühen Amerika gewesen war, die sich jetzt aber nirgendwo mehr beim Ersten Menschen fand. Und dazu gesellte sich noch ein anderer Mangel. Beide Kulturen besaßen nicht mehr jenen respektlosen Esprit, den die Menschen früherer Generationen so gern untereinander und gegeneinander benutzt hatten, und mit dem sie selbst vor ihren geheiligtesten Gütern nicht Halt machten. Trotz all dieser Schwächen hätte der Erste Mensch mit einigem guten Glück am Ende doch noch triumphieren können. Aber, wie ich berichten werde, untergrub der Geist Amerikas die Integrität Chinas, und zerstörte damit die einzige Chance einer Rettung. Ebenso unvermeidlich wie zufällig traf hier den Ersten Menschen einer jener Unglücksschläge, die ihn schon zuvor in gewissen Abständen ereilt hatten. Es war so, als ob es sich um die Vollstreckung des Willens einer Gottheit gehandelt hätte, die mehr an der Vortrefflichkeit ihrer dramatischen Schöpfung interessiert gewesen wäre, als an jenen mit Gefühl versehenen Marionetten, denen sie einige Rollen anvertraut hatte.
Der Konflikt Das erste Jahrhundert nach dem europäisch-amerikanischen Krieg verzeichnete nur einige kleinere nationale Auseinandersetzungen. Danach folgte ein Jahrhundert eines nur mühsam aufrecht erhaltenen Friedens, in dem Amerika und China einander immer lästiger wurden. Am Ende dieser Zeit waren die Menschen theoretisch weit weltbewußter als nationalistisch gesinnt, aber ein eingeborener Stammesegoismus schlummerte in jedem einzelnen und konnte jederzeit Besitz von ihm ergreifen. Die Erde war jetzt eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Wirtschaftseinheit, und die Vertreter der Wirtschaft waren es, die in allen Län88
dern ihre Verachtung gegenüber den nationalen Leidenschaften nachdrücklich betonten. Die gesamte Erwachsenengeneration jener Zeit war völlig bewußt und ohne Einschränkung international und pazifistisch gesonnen. Aber diese im Logischen unangreifbare Überzeugung wurde durch eine vom Biologischen her verständliche Sehnsucht nach einem abenteuerlichen Leben unterhöhlt. Ein lang anhaltender Friede und verbesserte gesellschaftliche Verhältnisse hatten die Gefahren und Härten des Lebens weitestgehend verringert, es gab aber keinen sozial unschädlichen Ersatz, der etwa an die Stelle eines Krieges getreten wäre, und durch den der primitive Mut und die Aggressionen des Tieres im Menschen, das eigentlich für die Wildnis bestimmt war, hätten befriedigt werden können. In seinem Bewußtsein wollte der Mensch den Frieden, im Unterbewußtsein brauchte er noch immer jene Tapferkeit, wie sie ihm der Krieg gewährte. So suchten diese unterdrückten Kampfinstinkte immer wieder ein Ventil in völlig irrationalen Ausbrüchen nationaler Leidenschaften. Es war vorauszusehen, daß es schließlich zu einem ernsten Konflikt kommen würde. Wie üblich gab es auch hier wieder wirtschaftliche und gefühlsmäßige Ursachen. Die wirtschaftliche Ursache war der Bedarf an Energie. Ein Jahrhundert zuvor hatte ein sehr ernsthafter Ölmangel die Menschheit so ernüchtert, daß es dem Völkerbund möglich gewesen war, überall in der Welt ein Bewirtschaftungsprogramm für Öl, ja sogar für Kohle, durchzusetzen. Er hatte strenge Anordnungen über den Gebrauch dieser wertvollen Kraftstoffe erlassen. Insbesondere Öl durfte nur noch in solchen Fabriken und Unternehmen gebraucht werden, denen keine andere Kraftquelle zur Verfügung stand. Die weltweite Energiebewirtschaftung war vielleicht die bedeutendste Leistung des Völkerbundes, und es wurde von der Menschheit sogar dann noch an dieser Politik festgehalten, als der Völkerbund längst zerfallen war. Aber die Ironie des Schicksals wollte es, daß ausgerechnet diese sehr vernünftige Politik den Niedergang der Zivilisation weitgehend mit herbeiführte. Durch diese Bewirtschaftungsmaßnahmen nämlich, wie 89
später ausgeführt werden wird, konnte das Absinken der Kohlevorräte zwar verhindert werden, aber die Vorräte waren ausgerechnet dann erschöpft, als die Intelligenz der Rasse bereits so weit herabgesunken war, daß sie nicht mehr in der Lage war, mit einer solchen Krise fertigzuwerden. Anstatt daß die Menschen dieser neuen Situation mit neuen Maßnahmen begegnet wären, brach die Zivilisation einfach zusammen. Zu jener Zeit aber, mit der wir uns gegenwärtig befassen, war es gerade durch die Entdeckung neuer Mittel wirtschaftlich interessant geworden, die gewaltigen Erdöl- und Kohlevorkommen der Antarktis abzubauen. Nun unterstanden diese gewaltigen Vorkommen unglückseligerweise formaljuristisch nicht der Internationalen Bewirtschaftungsbehörde. Amerika war zuerst da und sah in den antarktischen Kraftstoffen ein Mittel, seine eigene technische Entwicklung zu beschleunigen und die selbstauferlegte Pflicht, den Planeten zu amerikanisieren, zu erfüllen. China, das eine Amerikanisierung der Erde befürchtete, verlangte, daß die neuen Energiequellen der Internationalen Bewirtschaftungsbehörde unterstellt werden sollten. Einige Jahre hindurch wurden die Gemüter durch diese Frage immer heftiger bewegt, und beide Völker waren allmählich in den Zustand einer nationalen Hysterie zurückgefallen. Ein Krieg erschien unvermeidbar. Der tatsächliche Anlaß für den Konflikt war, wie üblich, eine Bagatelle. Ein Bericht über Kinderarbeit in gewissen indischen Fabriken wurde veröffentlicht. Jungen und Mädchen unter 12 jähren wurden dort ausgebeutet, und in ihrer elenden Lage bestand ihr einziges Vergnügen in verfrühter sexueller Betätigung. Die amerikanische Regierung protestierte in einer Form, die erkennen ließ, daß Amerika die Rolle eines Hüters der öffentlichen Moral in der Welt für sich beanspruchte. Indien unterbrach sofort die Reform der Kinderarbeit, die es gerade eingeleitet hatte, und erwiderte Amerika, daß es sich besser um seine eigenen Dinge kümmern sollte. Amerika drohte mit einer Expedition, die die Dinge in Ordnung bringen sollte, und die die Zustimmung aller moralisch empfindsamen Völker der Erde hätte. Jetzt intervenierte 90
China in der Absicht, zwischen seinem Gegner und seinem Verbündeten den Frieden aufrecht zu erhalten und wollte sich darum bemühen, daß das Übel beseitigt würde, falls Amerika von seinen unsinnigen Verleumdungen gegenüber dem Gewissen des Ostens abließe. Aber es war zu spät. Eine amerikanische Bank in China wurde überfallen, und mit dem abgeschlagenen Kopf des Bankdirektors spielte man in den Straßen Fußball. Das Tier im Menschen hatte wieder einmal Blut gerochen. Der Westen erklärte dem Osten den Krieg. Geographisch bildete Asien mit Nordafrika ein zusammenhängendes System, aber Amerika und seine Verbündeten waren wirtschaftlich leistungsfähiger. Bei Ausbruch des Krieges verfügte keine der beiden Seiten über eine ernst zu nehmende Rüstung, da Kriege seit langem gesetzlich verboten waren. Diese Tatsache jedoch war nicht weiter wichtig, weil es in jener Zeit möglich war, einen Krieg sehr wirkungsvoll durch den Einsatz großer Armadas ziviler Luftfahrzeuge zu führen, die man einfach mit Giftstoffen belud, mit Bomben großer Sprengwirkung, mit Bakterien und mit den noch tödlicherwirkenden ›hypobiologischen‹ Organismen, die die Wissenschaft jener Zeit manchmal als die einfachste Lebensform und manchmal wiederum als die komplexeste Anordnung von Molekülen bezeichnete. Der Kampf begann mit großer Heftigkeit, die bald nachließ, und zog sich ein Vierteljahrhundert lang hin. Nach Ablauf dieser 25 Jahre war fast ganz Afrika in den Händen Amerikas. Ägypten war ein unbewohnbares Niemandsland, denn die Südafrikaner hatten die Quellen des Nils erfolgreich vergiftet. Europa stand unter chinesischer Besetzung. Es waren Armeen von stämmigen Zentralasiaten, die allmählich auf den Gedanken kamen, daß sie sich ebenso gut zu Herren über ganz China machen könten. Die chinesische Sprache mit europäischem Alphabet wurde an allen Schulen eingeführt. In England gab es keine Schulen mehr und auch keine Bevölkerung; denn in einem frühen Stadium des Krieges hatten die Amerikaner in Irland einen Luftstützpunkt eingerichtet, und England war häufig verwüstet worden. Die 91
Flieger, die über das, was früher einmal London gewesen war, hinwegflogen, konnten noch gerade in dem grünüberwucherten, grauen Ruinengewirr Andeutungen der früheren Oxford Street und des Strand erkennen. Die ungebändigte Natur, die einst so eifrig vor der vordringenden städtischen Zivilisation in Naturschutzgebieten gehütet wurde, hatte sich inzwischen wieder die ganze Insel Untertan gemacht. Auf der anderen Seite der Erde waren die japanischen Inseln in ähnlicher Weise verwüstet worden, als sich die Amerikaner vergeblich bemühten, dort einen Luftstützpunkt zu errichten, von dem aus sie die Herzschlagader des Feindes treffen konnten. Bis jetzt waren jedoch weder China noch Amerika vom Kriege allzusehr in Mitleidenschaft gezogen worden, doch dann hatten die amerikanischen Biologen eine neue bösartige Mikrobe gezüchtet, die widerstandsfähiger und infektiöser als alles bisher Bekannte war. Sie sollte die höheren, spezialisierten Nervenzellen zersetzen und auf diese Weise alle diejenigen, die auch nur leicht von dieser Mikrobe befallen waren, unfähig zum intelligenten Handeln machen. Eine schwere Infektion bewirkte Lähmungserscheinungen und schließlich den Tod. Mit Hilfe dieser Waffe hatten die amerikanischen Militärs bereits eine chinesische Stadt in ein Irrenhaus verwandelt, die Bazillen hatten sich weiter verbreitet und waren in das Gehirn mehrerer hoher Beamter in der Provinz gelangt und bewirkten bei diesen ein Handeln ohne jeden Sinn und Verstand. Aber auch bei anderen wurde es allmählich üblich, sämtliche Fehlleistungen auf eine Infektion durch diese Mikroben zurückzuführen. Man hatte bisher noch kein wirksames Abwehrmittel gegen die Verbreitung dieser Seuche gefunden. Und da der Infizierte in den frühen Stadien der Krankheit von einer rastlosen Aktivität befallen wurde und sinn- und ziellose Reisen unter nichtigen Vorwänden unternahm, schien es, daß aller Wahrscheinlichkeit nach sich der ›amerikanische Irrsinn‹ allmählich über ganz China ausbreiten würde. Im ganzen gesehen hatten die Amerikaner zweifellos einen militärischen Vorteil errungen; wirtschaftlich gesehen hatten sie jedoch wohl 92
mehr gelitten, denn ihr höherer Lebensstandard hing in starkem Maße von den Investitionen im Ausland und vom Export ab. Überall auf dem amerikanischen Kontinent traf man jetzt auf echte Armut und auf ernste Anzeichen eines beginnenden Klassenkampfes, allerdings nicht zwischen den Arbeitern und ihren Arbeitgebern, sondern vielmehr zwischen den Arbeitern und der autokratischen Militärkaste, die der Krieg hervorgebracht hatte. Die Großindustrie war zwar zuerst der patriotischen Begeisterung erlegen, hatte sich aber sehr bald daran erinnert, daß der Krieg ein Irrsinn war und dem Handel schaden würde. Auf beiden Seiten hatte der nationale Begeisterungssturm nur ein paar Jahre angehalten, danach war die Abenteuerlust der bloßen Furcht vor dem Feinde gewichen. Denn jede Seite hatte ihrem Volk den Glauben eingeimpft, daß der Gegner ein Satan in Menschengestalt wäre. Als ein Vierteljahrhundert vergangen war, nachdem der freie Verkehr zwischen den Völkern zum Erliegen gekommen war, hatte sich für viele der Mentalitätsunterschied zwischen den beiden Völkern fast zu einem biologischen Gattungsunterschied vertieft. So predigte zum Beispiel in Amerika die Kirche, daß kein Chinese eine Seele hätte. Man sagte, daß Satan selbst sich in die Entwicklung der chinesischen Rasse eingeschaltet habe, als sie zum ersten Mal die Entwicklungsstufe eines Tieres verlassen hätte. Er hätte es so eingerichtet, daß die Chinesen zwar gerissen wären, aber ohne jede Zartheit des Gemüts. Er hätte ihnen eine unersättliche Sinnlichkeit mitgegeben und eine eigensinnige Blindheit gegenüber dem erhabenen göttlichen Grundsatz, die Energie um der Energie willen anzustreben, die den Ruhm Amerikas ausmache. Ebenso wie in vorgeschichtlichen Zeiten die junge Rasse der Säugetiere die trägen, gefühllosen und veralteten Reptilien weggefegt hätte, so, wurde gesagt, wäre die junge Seele Amerikas ausersehen, die Planeten von den reptilienhaften Mongolen zu befreien. In China war andererseits die offizielle Ansicht, die Amerikaner wären ein Musterbeispiel einer biologischen Degeneration. Wie alle Parasiten hätten sie sich auf eine niedrige Verhaltensform unter Aufgabe ihrer höheren menschlichen Zweckbe93
stimmung spezialisiert und würden jetzt als ›Bandwürmer des Planeten‹ durch ihr wahnsinniges Erwerbsstreben die höheren Fähigkeiten der menschlichen Rasse verdorren lassen. Das waren die offiziell verbreiteten Dogmen. Aber die Anstrengungen des Krieges bewirkten schließlich auf beiden Seiten ein tiefes Mißtrauen gegenüber der eigenen Regierung und einen nachdrücklichen Willen nach Frieden um jeden Preis. Beide Regierungen haßten die jeweilige Friedenspartei sogar noch mehr als einander, denn ihre Existenz hing vom Krieg ab. Sie gingen sogar in ihrer Zusammenarbeit« so weit, daß sie sich gegenseitig über die geheimen Operationen der Pazifisten verständigten, die von ihrem Nachrichtendienst im Gebiet des Gegners entdeckt wurden. Als dann die Großunternehmer und die Arbeiter beiderseits des Pazifiks beschlossen, den Krieg durch eine gemeinsame Aktion zu beenden, war es für ihre Abgesandten sehr schwierig, sich zu treffen.
Auf einer Insel im Pazifik Mit Ausnahme der Regierungen sehnten sich jetzt alle Menschen aufrichtig nach Frieden, aber in Amerika waren die Meinungen geteilt zwischen dem Willen, lediglich eine ökonomische und politische Einheit der Welt herbeizuführen einerseits und andererseits dem fanatischen Verlangen danach, die amerikanische Kultur dem Osten aufzuzwingen. Auch China war in seiner Meinung gespalten zwischen der Bereitschaft, aus wirtschaftlichen Gründen Ideale zu opfern, um dadurch Frieden und Wohlstand zu erreichen, und dem Willen, die chinesische Kultur zu erhalten. Die beiden Personen, die sich zu geheimgehaltenen Friedensverhandlungen treffen sollten, waren typische Angehörige ihrer jeweiligen Völker. Bei beiden waren wirtschaftliche und kulturelle Motive erkennbar, obwohl die wirtschaftlichen meist überwogen. 94
Es war im sechsundzwanzigsten Kriegsjahr, als sich zwei Seeflugzeuge des Nachts, eines vom Osten, das andere vom Westen kommend, einer Insel im Pazifik näherten und auf einem abgelegenen Meeresarm niedergingen. Der Mond, der sonst in der Nähe des Äquators mit dem Licht aus seinem vernarbten Antlitz erdrückend wirkte, brachte in dieser Nacht nur ein leichtes Glitzern der Wellen zustande. Aus jedem der beiden Flugzeuge kam ein Mann zum Vorschein, der sich jeweils selbst mit Hilfe eines Gummibootes an Land ruderte. Die beiden Männer trafen sich am Strand und gaben sich die Hand, der eine etwas zeremonieller, der andere mit einer erzwungenen Kumpelhaftigkeit. Schon ging die Sonne langsam am Horizont auf und verkündete Helligkeit und Hitze. Der Chinese nahm seine Pilotenkappe ab, entrollte seinen Zopf mit betonter Sorgfalt, entledigte sich seiner schweren Pilotenkleidung, unter der ein himmelblauer, mit Drachen bestickter Pyjamaanzug zum Vorschein kam. Der andere, der mit kaum verhohlener Abneigung diese Eleganz betrachtet hatte, zog seinen Flugdreß aus und enthüllte darunter einen schicklichen grauen Rock und Kniebundhosen, durch die amerikanische Geschäftsleute der damaligen Zeit unbewußt ihre Rückkehr zum Puritanismus symbolisierten. Die Zigaretten des chinesischen Abgesandten rauchend setzten sich die beiden hin, um den Planeten neu zu ordnen. Die Unterhaltung war freundschaftlich und ging reibungslos voran, denn man war sich über die zu ergreifenden praktischen Maßnahmen einig. Die Regierung in jedem der beiden Länder mußte sofort gestürzt werden. Die beiden Männer waren zuversichtlich, daß dies erreichbar wäre, wenn dies gleichzeitig auf beiden Seiten des Pazifiks in Angriff genommen würde, denn in beiden Ländern konnte man sich auf das Kapital und auf das Volk verlassen. Anstelle von nationalen Regierungen sollte ein Welt-Finanz-Direktorium errichtet werden. Es sollte aus den führenden Wirtschafts- und Industriemagnaten der ganzen Welt und aus Vertretern der Arbeitnehmerorganisationen zusammengesetzt sein. Der Amerikaner sollte der erste Präsident des Direktoriums sein 95
und der Chinese der erste Vizepräsident. Aufgabe des Direktoriums war die gesamte wirtschaftliche Umorganisation der Welt. Insbesondere sollten die industriellen Bedingungen in Übereinstimmung gebracht werden mit denjenigen Amerikas, während andererseits das amerikanische Monopol in der Antarktis aufgegeben würde. Dieses reiche und fast noch unberührte Land sollte unter die direkte Kontrolle des Direktoriums gestellt werden. Gelegentlich wurde während des Gesprächs auf die großen kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West hingewiesen, aber die Verhandelnden schienen bemüht zu sein, anzunehmen, daß es sich hierbei nur um untergeordnete Dinge handle, die die Sachdiskussionen nicht stören sollten. An dieser Stelle begab sich etwas, das zu denjenigen Ereignissen rechnet, die, an sich unbedeutend, unverhältnismäßig große Auswirkungen haben. Das Gespräch der beiden wurde unterbrochen, als sie eine menschliche Gestalt, hinter einer Landzunge hervorkommend, in ihre kleine Bucht hereinschwimmen sahen. Im flachen Wasser erhob sie sich, kam aus dem Wasser heraus und lief auf die Schöpfer des Weltstaates zu. Eine bronzefarbene junge Frau, völlig nackt, stand unschlüssig vor ihnen, ihre Brüste hoben und senkten sich noch von der Anstrengung des langen Schwimmens. Obwohl keiner der beiden es gewahr wurde, hatte sich die Beziehung der beiden Männer zueinander sofort verändert. »Entzückende Tochter des Meeres«, sagte der Chinese in jenem etwas altertümlichen und absichtlich unamerikanischen Englisch, das die Asiaten damals im Gespräch mit Ausländern bevorzugten, »was ist es, das diese beiden verabscheuungswürdigen Landtiere für dich tun können? Für meinen Freund vermag ich nicht zu sprechen, aber wenigstens ich werde von nun an dein Sklave sein.« Seine Augen schweiften liebkosend, aber doch in vorbildlicher Höflichkeit über ihren ganzen Körper. Und sie, mit der zusätzlichen Grazie, die von Frauen ausgeht, wenn sie 96
den Kuß eines bewundernden Blickes spüren, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar und wollte gerade etwas sagen. Aber der Amerikaner protestierte: »Wer immer du auch sein magst, bitte unterbrich uns nicht! Wir sind wirklich sehr beschäftigt und müssen eine Angelegenheit von großer Bedeutung besprechen und dürfen dabei keine Zeit verlieren. Geh, bitte! Deine Nacktheit muß jeden beleidigen, der an zivilisierte Sitten gewöhnt ist. In einem modernen Land wäre es nicht erlaubt, ohne Badeanzug zu schwimmen. Wir sind in dieser Hinsicht sehr empfindlich.« Ein Erröten der Verzweiflung, aber sehr attraktiv, verbreitete sich unter der nassen Bronze ihres Gesichtes, und sie schien gehen zu wollen. Aber der Chinese rief: »Bleib doch! Wir sind mit unserem Gespräch fast zu Ende. Erfrische uns mit deiner Gegenwart. Bring die Wirklichkeit wieder zurück in unsere Diskussion und erlaube uns einen Augenblick lang, die perfekten Konturen einer Vase in deinen Hüften und Schenkeln zu betrachten. Wer bist du? Zu welcher Rasse gehörst du? Meine anthropologischen Studien reichen nicht aus, um dich einordnen zu können. Deine Haut ist heller als die der Eingeborenen hier, obwohl sehr sonnengebräunt. Deine Brüste sind griechisch. Deine Lippen sind mit einer Erinnerung an Ägypten gemeißelt. Dein Haar, so nachtschwarz es war, trocknet mit einer verwirrenden Andeutung von Gold. Und deine Augen, laß sie mich betrachten. Lang, feingeschnitten, wie die der Frauen meines Landes, unergründlich wie der Geist Indiens, und doch enthüllen sie sich deinem neuen Sklaven nicht als völlig schwarz, sondern violett wie der Himmel vor Sonnenaufgang. Wirklich, eine solche exquisite Einheit von Unvereinbarem erobert sowohl mein Herz wie mein Interesse, sie verstehen zu wollen.« Während dieser langen Tirade hatte die Frau ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden, obwohl sie gelegentlich zu dem Amerikaner hinsah, der ihrem Blick beständig auswich. Als sie antwortete, bediente sie sich der gleichen Ausdrucksweise wie der Chinese, aber überraschenderweise mit dem Akzent der Eng97
länder früherer Zeiten: »Natürlich bin ich ein Mischling. Du solltest mich nicht Tochter des Meeres, sondern Tochter der Menschheit nennen, denn Menschen aller Rassen kamen auf diese Insel und haben hier Nachkommen gezeugt. Ich weiß, daß mein Körper seine verschiedenrassigen Vorfahren in einer recht eigenartigen Mischung verrät. Meine Denkweise ist vielleicht genauso ungewöhnlich, denn ich habe diese Insel niemals verlassen. Und obwohl es erst ein Vierteljahrhundert her ist, da ich geboren wurde, hat vermutlich das vergangene Jahrhundert für mich mehr Bedeutung als die verworrenen Ereignisse der Gegenwart. Ein Eremit hat mich unterrichtet. Vor zweihundert Jahren hatte er ein sehr aktives Leben in Europa geführt, aber gegen Ende seines langen Lebens zog er sich auf diese Insel zurück. Dieser alte Mann hatte mich sehr gern. Und Tag für Tag machte er mich mit dem großen Geist der Vergangenheit vertraut, aber er sagte mir nichts über die Gegenwart. Jetzt, da er tot ist, bemühe ich mich, die Gegenwart zu begreifen, dabei sehe ich aber alles aus dem Blickwinkel einer anderen Zeit. Und wenn ich nun ...«, damit wandte sie sich an den Amerikaner, »gegen die modernen Sitten verstoßen habe, dann nur deswegen, weil man mir hier auf dieser Insel niemals beigebracht hat, daß Nacktheit anstößig wäre. Ich bin ungebildet und sicherlich eine Wilde. Wenn ich nur etwas über eure große Welt erfahren könnte. Falls dieser Krieg einmal zu Ende gehen sollte, dann muß ich umherreisen.« »Köstlich«, sagte der Chinese, »von vorzüglichen Proportionen und eine exquisite, zivilisierte Wilde! Begleite mich und mach mit mir Urlaub im modernen China. Da kannst du, solange du schön bist, ohne Badeanzug baden.« Sie überhörte diese Einladung, schien ins Träumen zu geraten und fuhr dann wie geistesabwesend fort: »Vielleicht würde ich unter dieser Unruhe, diesem Sehnen danach, die Welt zu erleben, nicht so leiden, wenn ich statt dessen die Mutterschaft erleben könnte. Viele Männer auf der Insel haben mich von Zeit zu Zeit durch Ihre Umarmungen 98
beglückt. Aber von keinem unter ihnen hätte ich ein Kind empfangen mögen. Sie sind lieb, aber alle sind sie im Grunde nur Kinder.« Der Amerikaner wurde unruhig. Aber wieder griff der Chinese ein und sagte mit leiser und tiefer Stimme: »Für mich, den Vizepräsidenten des Welt-Finanz-Direktoriums, wäre es eine Ehre, dir zur Möglichkeit des Mutterglücks zu verhelfen.« Sie sah ihn ernst an und lächelte dann wie ein Kind, das mehr verlangt, als ihm vernünftigerweise zusteht. Aber der Amerikaner erhob sich hastig und wandte sich an den seidengekleideten Chinesen: »Sie wissen vermutlich, daß die amerikanische Regierung dabei ist, eine weitere Luftflotte auszuschicken, deren Gift ihre gesamte Bevölkerung noch wahnsinniger machen wird, als sie es bereits ist. Gegen diese neue Waffe gibt es für Sie keine Verteidungsmöglichkeit, und wenn ich Sie davor noch retten soll, dann kann ich mich nicht weiter mit Nichtigkeiten abgeben. Das gilt auch für Sie, denn wir müssen gleichzeitig losschlagen. Für den Augenblick haben wir alle diese Fragen geklärt. Aber bevor ich abfliege, muß ich Ihnen deutlich sagen, daß Ihr Verhalten dieser Frau gegenüber mir sehr eindringlich klar gemacht hat, daß da etwas faul ist mit der Art und Weise, wie die Chinesen denken und leben. In meiner Sorge um den Frieden habe ich meine Pflichten in dieser Hinsicht übersehen. Ich kündige hiermit an, daß wir Amerikaner, wenn das Direktorium errichtet ist, sie dazu veranlassen müssen, diese Mißstände zu reformieren, um der Welt und um Ihrer selbst willen.« Der Chinese erhob sich und antwortete: »Diese Angelegenheit muß regional geregelt werden. Wir erwarten nicht, daß Sie unsere Normen und Werte übernehmen, so erwarten Sie aber bitte auch nicht, daß wir die Ihren übernehmen.« Damit wandte er sich wieder lächelnd der Frau zu. Und dieses Lächeln brachte den Amerikaner zur Weißglut. Wir brauchen auf das Hin und Her zwischen den beiden Abgesandten, das daraufhin folgte, nicht weiter einzugehen. Obwohl jeder der beiden seiner Einstellung nach Weltbürger war, verabscheute er dennoch das jeweilige Wertsystem des anderen aus tiefstem Grunde seines 99
Herzens. Es genügt zu erwähnen, daß der Amerikaner immer ernster und diktatorischer wurde und der Chinese immer sorgloser und ironischer. Schließlich stellte der Amerikaner mit erhobener Stimme ein Ultimatum. »Unser Vertrag über eine Vereinigung der Welt wird ohne Unterschrift bleiben«, sagte er, »wenn Sie nicht einen Absatz einfügen, nach dem Sie sich zu drastischen Reformen verpflichten, der im übrigen von meinen Kollegen bereits als eine Bedingung unserer Zusammenarbeit vorgeschlagen wurde. Ich war der Meinung, davon abzusehen, falls er unseren Vertragsabschluß hätte gefährden können, aber jetzt sehe ich ein, daß er unbedingt erforderlich ist. Sie müssen Ihr Volk erziehen, ihm seine lüsterne und faule Lebensweise abgewöhnen und es der modernen wissenschaftlichen Religion zuführen. Lehrer an Schulen und Hochschulen müssen sich der modernen Fundamentalphysik und dem Behaviorismus widmen und die Verehrung des Göttlichen Allesbewegers durchsetzen. Die Reformen werden schwierig sein, aber wir werden Ihnen dabei helfen. Sie werden einen unerbittlichen Orden von Inquisitoren brauchen, der dem Direktorium direkt unterstellt ist. Er wird auch eine Reform gegen jene frivole Sexualität ihres Volkes durchzusetzen haben, durch die Sie so viel Göttliche Energie vergeuden. Wenn Sie dem nicht zustimmen, kann ich den Angriff nicht verhindern. Die Gesetze Gottes müssen eingehalten werden, und diejenigen, die sie kennen, müssen sie durchsetzen.« Die Frau unterbrach ihn: »Sagen Sie, was ist dieser, Ihr Gott? Die Europäer verehrten einen Gott der Liebe und keinen Gott der Energie. Was verstehen Sie unter Energie? Heißt das nur, daß die Menschen schnell gehen und daß die Luft aufgewühlt wird?« Er antwortete lustlos, so als würde er eine Schulaufgabe hersagen: »Gott ist der alles durchdringende Geist der Bewegung, der sich überall dort zu verwirklichen sucht, wo er als latente Kraft existiert. Gott hat das große amerikanische Volk dazu bestimmt, das Universum zu mechanisieren.« Er machte eine Pause und blickte auf die klaren Umris100
se seines Flugzeugs. Dann fuhr er mit Nachdruck fort: »Aber Schluß jetzt! Unsere Zeit ist kostbar. Entweder arbeiten Sie für Gott, oder wir werden Sie hinwegfegen von Gottes Wegen.« Die Frau ging auf ihn zu und sagte: »Da ist sicherlich etwas Großes an dieser Begeisterung. Aber trotzdem, obwohl mir mein Herz sagt, daß Sie recht haben, hat mein Kopf noch Zweifel. Da muß irgendwo ein Fehler sein.« »Fehler!« lachte er und sprach in der Pose seines Machtgefühls auf sie ein: »Wenn die Seele eines Menschen in Bewegung ist, wie kann er sich da irren, daß diese Bewegung göttlichen Ursprungs ist? Ich habe diesem großen Gott Energie mein ganzes Leben lang gedient, als Junge in einer Tankstelle, bis jetzt als Weltpräsident. Ist nicht der Glaube des gesamten amerikanischen Volkes durch seine Erfolge bestätigt worden?« Voller Verzückung, aber immer noch verwirrt, sah sie ihn an: »Da stimmt irgend etwas mit euren Köpfen nicht, bei euch Amerikanern, aber trotzdem seid ihr großartig.« Sie sah ihm in die Augen, legte dann plötzlich eine Hand auf seine Schulter und sagte voller Überzeugung: »Wenn man dich so ansieht, dann hast du vermutlich recht. Auf jeden Fall bist du ein Mann, ein echter Mann. Nimm mich! Sei der Vater meines Sohnes! Nimm mich mit in die gefährlichen Städte Amerikas, daß ich für dich arbeiten kann.« Der Präsident sehnte sich plötzlich nach ihrem Körper und war selbst überrascht darüber, und sie bemerkte es. Aber er drehte sich zum Vizepräsidenten um und sagte: »Sie hat erkannt, wo die Wahrheit liegt. Und Sie? Krieg oder Zusammenarbeit am Werk Gottes?« »Tod unserer Körper oder Tod unserer Seele«, sagte der Chinese, aber mit einer Bitterkeit ohne Überzeugung, denn er war kein Fanatiker. »Nun, da die Seele lediglich das Verhalten des Körpers ein wenig harmonisiert und da wir, trotz unseres kleinen Disputs, darin übereinstimmen, daß die Koordinierung unserer Aktivitäten für diesen Planeten von größter Dringlichkeit ist, und da sich diese junge Dame hier 101
hinsichtlich unserer unterschiedlichen Temperamente für Amerika entschieden hat und da weiterhin, falls die asiatische Lebensweise wirklich einen Wert in sich hat, sie nicht einem bißchen Propaganda unterliegen, sondern eher im Widerstand kräftiger werden könnte, — da dies alles so ist, nehme ich Ihre Bedingungen an. Es wäre aber Chinas unwürdig, wenn diese großen Umwandlungen von außen zustande gebracht würden. Sie müssen mir Zeit lassen, damit ich in Asien eine spontane Sekte einheimischer Energetiker gründen kann, die selbst das amerikanische Evangelium in unserem Land verkündet, und ihm dabei — wenn ich mir das erlauben darf, zu sagen — ein wenig mehr der noch fehlenden Eleganz verleihen könnte. Auch dies sind wir bereit zu tun, um die Kontrolle der Antarktis durch die Weltbehörde zu sichern.« Daraufhin wurde der Vertrag unterzeichnet. Hinzu kam noch eine neu entworfene, geheime Klausel, die ebenfalls unterzeichnet wurde, beides bezeugt und beglaubigt durch die klaren, runden und altertümlichen Schriftzüge der ›Tochter der Menschheit‹. Sie faßte beide bei der Hand und sagte: »So ist die Welt endlich vereinigt. Ich möchte wissen, wie lange. Ich höre die Stimme meines alten Lehrers, die mich schilt, so als hätte ich etwas sehr Dummes getan. Aber er ist nicht mehr da, und ich habe einen neuen Lehrer, den Herren über diese Welt.« Sie ließ die Hand des Asiaten los, so als wollte sie den Amerikaner mit sich fortziehen. Und der, obwohl er streng monogam war und eine bessere Hälfte in New York hatte, die auf ihn wartete, sehnte sich danach, den sonnenumkleideten Körper der Tochter der Menschheit an sein puritanisches Gewand zu drücken. Sie zog ihn zu den Palmen. Der Vizepräsident der Welt setzte sich wieder hin, zündete sich eine Zigarette an, lächelte und dachte nach.
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kapitel iv
Eine amerikanisierte Erde
Die Gründung des ersten Weltstaates Wir haben jetzt jenen Punkt in der Geschichte des Ersten Menschen erreicht, zu dem, etwa 380 Erdjahre nach dem Europäischen Krieg, das Ziel einer Welteinheit endlich erreicht wurde — allerdings erst, nachdem der Geist der Menschenrasse ernstlich geschwächt war. Es ist hier nicht nötig, den Übergang von rivalisierenden Nationalstaaten zu einer gemeinsamen Regierungsinstanz, dem Welt-Finanz-Direktorium, im einzelnen darzustellen. Es genügt zu erwähnen, daß durch eine gemeinsame Aktion in beiden Staaten, nämlich durch den passiven Widerstand der am Welthandel interessierten Kreise der Großindustrie, die regierenden Militärs in Amerika und China handlungsfähig wurden. In China entwickelte sich alles sehr schnell und ohne Blutvergießen. In Amerika kam es einige Wochen lang zu schweren Unruhen, wobei die verblüffte Regierung durch Anwendung des Kriegsrechts versuchte, die Rebellierenden zu dezimieren. Aber die Bevölkerung wollte den Frieden; und obwohl man einige Industriekapitäne erschoß und hie und da eine Menge opponierender Arbeiter kurzerhand niedermähte, wurde der Widerstand unüberwindlich. Sehr bald zerfiel die Macht der regierenden Clique. Die neue Ordnung gründete sich auf ein ausgedehntes System, das einer Art »Zunftsozialismus« ähnelte, der jedoch im Grunde individualistisch war. Jeder Wirtschaftszweig wurde theoretisch von allen seinen Mitgliedern demokratisch geleitet, aber in der Praxis herrschten in ihm einige besonders einflußreiche Personen. Ein Weltwirtschaftsrat sorgte für die Koordinierung der Wirtschaft. In ihm behandelten die Leiter der einzelnen Wirtschaftszweige die Angelegenheiten der gesamten Erde. Das Gewicht jeder einzelnen Wirtschaftsgruppe, die im Rat vertreten war, hing dabei zum Teil von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die Welt ab, zum Teil von ihrem öffentlichen Ansehen. Man begann 105
bereits damals mit einer Unterscheidung zwischen ›vornehmen‹ und ›niedrigen‹ Tätigkeiten des Menschen. Die vornehmen Betätigungen mußten nicht notwendigerweise zu den finanziell ertragreichsten gehören. So bestand im Rat ein innerer Ring der ›vornehmen‹ Wirtschaftsgruppen, zu denen in der ungefähren Reihenfolge ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihres öffentlichen Ansehens Finanzwirtschaft, Flugwesen, Bauwesen, Straßen- und Schienenverkehr, chemische Industrie und Berufssport zählten. Aber die wahre Macht lag nicht beim Weltwirtschaftsrat und auch nicht bei jenem inneren Ring des Rates, sondern beim Welt-Finanz-Direktorium. Dieses bestand aus einem Dutzend Millionären, an deren Spitze ein Amerikaner als Präsident und ein Chinese als Vizepräsident standen. In diesem erlauchten Gremium waren interne Zwistigkeiten unvermeidbar. Kurz nachdem das System errichtet war, versuchte der Vizepräsident den Präsidenten dadurch zu stürzen, daß er die Nachricht von seiner Liaison mit einer Polynesierin verbreitete, die sich neuerdings ›Tochter des Menschen‹ nannte. Diese Skandalgeschichte sollte in der tugendhaften amerikanischen Öffentlichkeit einen Sturm der moralischen Entrüstung gegen ihren Helden entfachen. Nur durch einen Geniestreich rettete der Präsident sich selbst und damit die Einheit der Welt. Er wies diese Beschuldigung nicht etwa zurück, sondern bekannte sich stolz dazu. In jenem Augenblick des sexuellen Triumphes, so verkündete er, hätte sich ihm eine große Wahrheit enthüllt. Ohne die mutige Aufopferung seiner persönlichen Reinheit wäre er nur ein Amerikaner geblieben und niemals in der Lage gewesen, als ein wahrhafter Weltpräsident zu wirken. In den Adern dieser Frau flösse das Blut aller Rassen und in ihrem Geist mischten sich alle Kulturen. Seine erste sowie viele darauf folgende Vereinigungen mit ihr hätten ihn den Geist des Ostens begreifen und verstehen gelehrt und hätten ihm eine tiefe Sympathie allen Menschen gegenüber gegeben, so wie es sein hohes Amt erfordere. Als Privatmann, so beteuerte er, wäre er nach wie vor monogam, und er hätte — wie bekannt — seine Frau in New York; und 106
als Privatmann hätte er auch gesündigt und müsse dafür ewige Gewissensqualen erleiden. Aber als Weltpräsident wäre es seine Pflicht, sich mit der ganzen Welt zu vermählen. Und da es nun einmal nichts Wirkliches ohne eine physische Grundlage gäbe, so hätte die geistige Verbundenheit mit der gesamten Welt in der körperlichen Vereinigung mit der Tochter des Menschen ihren symbolhaften Ausdruck finden müssen. In tiefer innerer Bewegung vertraute er mit verhaltener Stimme dem Mikrophon an, wie er in der Gegenwart jener mystischen Frau seine privaten moralischen Skrupel überwunden, wie die Göttliche Energie ihn plötzlich ergriffen und sich seine Vermählung mit der Welt im Schatten einer Bananenstaude vollzogen hätte. Die lieblichen Formender ›Tochter des Menschen‹, natürlich in modischer Umhüllung, erschienen überall in der Welt auf dem Fernsehschirm. Ihr Antlitz, das asiatische ebenso wie westliche Züge trug, wurde zum machtvollsten Symbol für die Einheit aller Menschen. Jeder Mann auf der Erde bildete sich ein, ihr Liebhaber zu sein, und jede Frau identifizierte sich mit ihr. Ohne Zweifel war etwas Wahres an der Behauptung, daß die Tochter des Menschen Geist und Seele des Präsidenten geweitet hätte. Denn seine Politik gegenüber dem Osten war erstaunlich taktvoll. Oft besänftigte er das amerikanische Verlangen nach unverzüglicher Amerikanisierung Chinas. Oft überredete er die Chinesen, eine Politik anzunehmen, die sie zuerst mit Argwohn betrachtet hatten. Die Erklärung des Präsidenten über sein Verhalten erhöhte sein Ansehen sowohl in Amerika als auch in Asien. Amerika war von der romantischen Religiosität seiner Erzählung fasziniert. Bald wurde es zur Mode, eine strikte Einehe mit seiner Frau zu Hause zu führen, daneben aber eine ›symbolische Ehefrau‹ im Osten zu haben oder auch nur in einer anderen Stadt, oder in einer anderen Straße oder auch mehrere an verschiedenen Orten. In China wandelte sich durch diesen Vorfall die distanzierte Toleranz, mit der man dem Präsidenten zunächst entgegengetreten war, in eine gewisse Zuneigung. Und es war zum Teil sei107
nem Takt oder dem Einfluß seiner symbolischen Frau zuzuschreiben, daß das Tempo der Amerikanisierung ohne eine Auflehnung dagegen gesteigert werden konnte. Die ersten Monate nach der Gründung des Weltstaates hatte China vollauf damit zu tun, mit dem ›amerikanischen Irrsinn‹ fertig zu werden, mit jener ansteckenden Seuche, die ihm sein früherer Feind beschert hatte. Im Küstenstreifen Nordchinas harte sich völlige Desorganisation ausgebreitet. Industrie, Landwirtschaft und Verkehr lagen danieder. Riesige Mobhaufen, von Hunger und Wahnsinn getrieben, zogen im Lande hin und her, vertilgten alle genießbaren Pflanzen und schlugen sich um das Fleisch ihrer Toten. Es dauerte lange, bis die Krankheit endlich eingedämmt werden konnte; und noch Jahre danach verursachte ein gelegentlicher Ausbruch der Seuche überall im Land Panik. Einigen konservativeren Chinesen erschien es, als ob die gesamte Bevölkerung in milder Form von dem Bazillus befallen worden wäre; denn überall in China bildete sich spontan eine neue Sekte unter den Bewohnern. Ihre Angehörigen nannten sich die ›Energisten‹ und verbreiteten mit der These von der heiligen Verpflichtung zum Handeln eine neue Auslegung des Buddhismus. Und seltsamerweise gewann diese Heilsbotschaft so stark an Bedeutung, daß nach wenigen Jahren das gesamte Erziehungssystem durch die Anhänger dieser Sekte erobert war, allerdings nicht ohne einen vorausgehenden Kampf mit den reaktionären Vertretern der älteren Universitäten. Obwohl der neue Weg allgemein Anerkennung fand, obwohl das junge China zur Verehrung dieser Bewegung in allen ihren Ausdrucksformen erzogen wurde und trotz der höheren Löhne, die es allen Arbeitern ermöglichten, sich eigene Autos und Flugzeuge anzuschaffen, blieben dennoch die breiten Massen Chinas im Grunde dabei, das Tätigsein nur als ein Mittel zu betrachten, mit dem man die Ruhe erreichen könne. Als schließlich ein chinesischer Physiker darauf hinwies, daß Energie in ihrer vollkommensten Form im gespannten Gleichgewicht der Kräfte innerhalb eines Atoms enthal108
ten wäre, wandten die Chinesen diese Doktrin sofort auf sich selbst an und behaupteten, daß ihre Ruhe das vollendete Gleichgewicht mächtiger Kräfte darstelle. Dies war der Beitrag des Ostens zur Religion des Zeitalters. Der Kult des Tätigseins schloß in sich ein den Kult der Untätigkeit. Beide wurden von den Prinzipien der Naturwissenschaften abgeleitet.
Die Vorherrschaft der Naturwissenschaften Die Naturwissenschaften nahmen jetzt eine Ehrenstellung beim Ersten Menschen ein. Diese Vorrangstellung ist nicht so sehr der Tatsache zu verdanken, daß sich die Menschheit, schon lange bevor sie den Sommer ihrer Entwicklung erreichte, in ihren Denkanstrengungen genauestens mit diesem Gebiet befaßt hatte, noch daß die Menschen durch die Naturwissenschaften einen gewissen Einblick in Vorgänge der physischen Welt gewonnen hatten, sondern die Vorrangstellung beruhte darauf, daß es durch die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien möglich gewesen war, die materiellen Umweltbedingungen revolutionär zu verändern. Die einstmals fließenden Lehrmeinungen der Naturwissenschaften waren allmählich zu einem festen und recht verwickelten Dogma erhärtet; trotzdem bewährte sich die schöpferische wissenschaftliche Intelligenz noch immer ausgezeichnet bei der Verbesserung industrieller Fertigungstechniken und beherrschte von hier aus vollständig die Phantasie einer Rasse, in der die rein intellektuelle Neugier bereits merklich abgenommen hatte. Der Wissenschaftler wurde als Verkörperung nicht nur des Wissens sondern auch der Macht angesehen; und keine Legende über die Macht der Wissenschaft wäre zu phantastisch gewesen, als daß man sie nicht geglaubt hätte. Ein Jahrhundert nach der Gründung des ersten Weltstaates hörte man in China Gerüchte über das letzte Geheimnis einer wissenschaftlichen Religion, über die erhabene und zugleich furchtbare Geheimlehre des Gordelpus, durch deren 109
Anwendung es möglich sein sollte, die Energien der Protonen und Elektronen zu erschließen. Nach den Gerüchten sollte dieses unschätzbare Wissen, als dessen Entdecker ein in alten Zeiten lebender chinesischer Wissenschaftler und Heiliger galt, von einer Elite von Wissenschaftlern die ganze Zeit über bewahrt worden sein, um der Welt zu einem Zeitpunkt verkündet zu werden, wenn diese reif genug wäre, ein solches Wissen zu besitzen. Die neue Sekte der Energisten behauptete, daß der junge Entdecker eine Inkarnation Buddhas gewesen wäre, und daß er, da die Welt damals eine solche letzte Enthüllung nicht vertrug, sein Geheimnis den Wissenschaftlern anvertraut hätte. Beim Christentum gab es eine sehr ähnliche Legende über dieselbe Person. Die neue Großchristliche Bruderschaft, die jetzt bei weitem die mächtigste aller Kirchen des Westens war, sah in dem Entdecker den Sohn Gottes, der ein zweites Mal auf die Erde gekommen wäre, um durch Verkündung die Geheimnisse der Göttlichen Kraft das Tausendjährige Reich zu bringen; aber, da er feststellen mußte, daß die Völker noch nicht einmal die viel primitivere, bei seiner ersten Menschwerdung verkündete Botschaft der Liebe in die Praxis umgesetzt hatten, hätte er ein zweites Mal um der Menschen willen den Märtyrertod erlitten und sein Geheimnis den Wissenschaftlern anvertraut. Die Naturwissenschaftler der ganzen Welt hatten sich schon seit langem in festgefügten Korporationen zusammengeschlossen. Eine Mitgliedschaft im Internationalen Collegium der Naturwissenschaften konnte nur durch eine Prüfung und durch die Zahlung hoher Mitgliedsbeiträge erreicht werden. Jedes Mitglied erwarb das Recht, den Titel ›Naturwissenschaftler‹ zu führen und durfte experimentieren. Ebenso war die Zugehörigkeit zum Internationalen Collegium der Naturwissenschaften eine wesentliche Voraussetzung für die Erlangung lukrativer Posten. Weiterhin hieß es, daß sich die Mitglieder verpflichten mußten, gewisse technische Geheimnisse einem Nichtmitglied gegenüber nicht zu enthüllen. Und man wollte wenigstens von einem Fall 110
wissen, in dem der Verräter einer geringfügigen Einzelheit kurz darauf auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen war. Die Naturwissenschaften als Zusammenfassung aller Kenntnisse über die Natur waren zu einem solchen Umfang angewachsen, daß ein einzelner Kopf nur noch einen winzigen Ausschnitt übersehen konnte. So erfuhren zum Beispiel Studierende eines bestimmten Zweiges der Naturwissenschaften praktisch überhaupt nichts über Arbeiten in verwandten Wissenschaftsgebieten. Das galt besonders für die umfangreiche Wissenschaft von der subatomaren Physik. Darunter verstand man etwa ein Dutzend Studiengebiete, das jedes für sich so umfangreich war wie die gesamte Physik des 19. christlichen Jahrhunderts. Dadurch, daß ihre Wissenschaft immer komplexer wurde, übten Wissenschaftler eines Fachgebietes immer mehr Zurückhaltung bei etwaiger Kritik der Grundlagen anderer Fachgebiete, und sie versuchten erst gar nicht, diese Gebiete verstehen zu lernen. Jede untergeordnete Abteilung wachte eifersüchtig über ihre Monopolstellung und respektierte genauestens das Monopol der anderen. In früherer Zeit hatten Naturwissenschaftler und Philosophen von einer philosophischen Grundlage her die Naturwissenschaften kritisiert und zusammengehalten. Aber die Philosophie enthielt keine wissenschaftliche Disziplin mehr. Es gab zwar noch einen vagen Rahmen von Ideen oder Annahmen, die allen Menschen geläufig waren und auf den Naturwissenschaften beruhten, eine populäre Pseudo-Naturwissenschaft, die von Journalisten mit zündenden Formulierungen aus Wissenschaftlerkreisen gespeist wurde. Aber ein echter Wissenschaftler setzte seinen Stolz darein, diese unzulänglichen Interpretationsversuche zurückzuweisen, selbst dann, wenn er sich unbewußt ihrer bediente. Und jeder beteuerte nachdrücklich, daß sein eigenes Spezialgebiet selbst den meisten seiner Fachkollegen zwangsläufig unverständlich bleiben müsse. Als nun das Gerücht auftauchte, daß den Physikern das Geheimnis des Gordelpus bekannt wäre, bestritt unter diesen Umständen jede einzelne Abteilung der subatomaren Physik nicht einmal für ihren eigenen 111
Bereich die Richtigkeit einer solchen Behauptung und war durchaus bereit, es für möglich zu halten, daß irgendeine andere Abteilung tatsächlich im Besitz des Geheimnisses wäre. Folglich nährte das Verhalten der Wissenschaftler insgesamt die allgemeine Überzeugung, daß sie davon wüßten und nur nichts sagen wollten. Ungefähr zwei Jahrhunderte nach der Bildung des ersten Weltstaates erklärte der Weltpräsident, daß die Zeit für eine Vereinigung von Naturwissenschaft und Religion reif sei und berief eine Konferenz der führenden Vertreter dieser beiden großen Gebiete. Auf jener Insel im Pazifik, die das Mekka der Welteinheit geworden war und damals aus einem einzigen gewaltigen, hochaufstrebenden, bis in die Wolken reichenden Friedenstempel bestand, kamen die obersten geistlichen Würdenträger des Buddhismus, des Islam, des Hinduismus, der neuen Großchristlichen Bruderschaft und der Modernen Katholischen Kirche Südamerikas überein, daß die Unterschiede zwischen ihren Religionen nurmehr formaler Art wären. Alle beteten sie die Göttliche Energie an, ob diese sich in rastloser Tätigkeit oder in verhaltener Ruhe darstelle. Alle anerkannten sie den heiligen Entdecker, entweder als den letzten und größten der Propheten oder als tatsächliche Menschwerdung der Göttlichen Energie. Und man konnte leicht nachweisen, daß diese beiden Anschauungen nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften identisch waren. In einem früheren Zeitalter war es Brauch gewesen, nach Ketzerei zu suchen, sie zu stellen und mit Feuer und Schwert auszulöschen. Aber jetzt wurde das Sehnen nach Übereinstimmung dadurch erfüllt, daß man etwaige Unterschiede wegerklärte und damit unter dem Beifall der ganzen Welt beseitigte. Als die Konferenz die Einheit der Religionen festgestellt hatte, machte sie sich daran, die Einheit von Religion und Naturwissenschaften zu errichten. Alle wüßten, so meinte der Präsident, daß einige Wissenschaftler das letzte Geheimnis besäßen, obwohl sie, klugerweise, dies nicht zugeben wollten. Es wäre nun an der Zeit, daß sich die Kräfte und 112
Organisationen der Naturwissenschaften und der Religion zusammenfänden, damit die Menschen besser betreut und geleitet werden könnten. Er wende sich deshalb an das Internationale Collegium der Naturwissenschaftler mit der Bitte, aus ihren Reihen eine Gruppe von Persönlichkeiten auszuwählen, die dann von der Kirche heiliggesprochen würden und die man den Heiligen Orden der Naturwissenschaftler nennen solle. Die Existenz dieser Wächter des letzten Geheimnisses sollte durch öffentliche Mittel gesichert werden, so daß sie sich ganz dem Dienste der Wissenschaft widmen könnten und hier insbesondere der Forschung darüber, wie am besten die Verehrung des Gottes Gordelpus erfolgen könne, ein Projekt von höchster wissenschaftlicher Priorität. Von den anwesenden Wissenschaftlern fühlten sich einige wenige in ihrer Haut ausgesprochen unwohl, aber die Mehrzahl konnte ihr Entzücken über diesen Vorschlag nur sehr unvollkommen durch würdevolles und nachdenkliches Zögern verbergen. Auch bei den Priestern gab es zwei verschiedene Reaktionen; aber im großen und ganzen herrschte dort die Ansieht vor, daß die Kirche nur gewinnen könne, wenn sie von dem außerordentlichen Prestige der Naturwissenschaften mitprofitierte. Auf diese Weise kam es zur Gründung des Heiligen Ordens der Naturwissenschaftler, der bis zum Niedergang der ersten menschlichen Zivilisation eine beherrschende Rolle spielen sollte.
Materielle Leistungen Abgesehen von unbedeutenderen, gelegentlich aufflackernden, örtlich begrenzten Konflikten, die von der Weltpolizei leicht niedergehalten werden konnten, war jetzt die gesamte Menschheit etwa viertausend Jahre lang eine einzige gesellschaftliche Einheit. Während des ersten dieser Jahrtausende ging es mit dem materiellen Fortschritt sehr schnell voran, danach aber gab es bis zum endgültigen Zerfall der Ge113
sellschaftsordnung wenige Veränderungen. Die gesamte Energie des Menschen konzentrierte sich darauf, seine Zivilisation beständig auf höchsten Touren laufen zu lassen, bis nach weiteren dreitausend Jahren eines solchen verschwenderischen Aufwands gewisse lebensnotwendige Energiequellen plötzlich erschöpft waren. Nirgendwo gab es dann noch jene geistige Beweglichkeit, um mit dieser plötzlichen Krise fertig zu werden. Das gesamte Gesellschaftssystem fiel in sich zusammen. Wir können ruhig die Anfangsstadien dieser phantastischen Zivilisation in unserer Betrachtung auslassen und dafür jenen Zeitraum genauer untersuchen, der kurz vor dem Entdecken verhängnisvoller Veränderungen lag. Die damaligen materiellen Lebensverhältnisse der Menschheit würden alle ihre Vorfahren in höchstes Erstaunen versetzt haben, sogar jene, die in Wahrheit viel zivilisierter waren. Aber wir, die Letzten Menschen, sehen nur ein bis ins Komische übersteigertes Pathos in den Bemühungen, diese materiellen Errungenschaften als eine Zivilisation auszuweisen, wenn man — abgesehen von dieser Verwechslung — jene armseligen vielgerühmten materiellen Errungenschaften mit denjenigen unserer eigenen Gesellschaft vergleicht. Allerdings waren alle Kontinente in der Tat bis ins einzelne durchtechnisiert. Abgesehen von vielen Reservationen, die man als Kulturschutzgebiete, historische Museen und Erholungsparks beließ, gab es keinen Quadratkilometer Land, der in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben wäre. Die landwirtschaftlich und industriell genutzten Flächen unterschieden sich in nichts mehr voneinander. Die Kontinente waren zu großen Städten geworden, die man natürlich nicht mit jenen übervölkerten Industriestädten der früheren Zeit vergleichen könnte, aber es waren eben doch Städte. Überall lagen Industrien und Landwirtschaft dicht nebeneinander. Das war einmal möglich geworden durch den großen Aufschwung des Luftverkehrs und zum anderen durch die nicht weniger bemerkenswerte Entwicklung der Architektur. Durch die Verwendung völlig neuartiger Kunststoffe konnte 114
man schlanke, turmartige Gebäude errichten, die oft bis zu 5000 Meter und noch höher in den Himmel ragten, 400 Meter tief in der Erde verankert waren und an der Basis 800 Meter Durchmesser hatten. In bestimmten Abschnitten waren kreuzförmige Landeplattformen angebracht, die für kleine Privatflugzeuge, die für jeden Erwachsenen ein Teil seines Selbst geworden waren, gute Landemöglichkeiten boten. Diese gigantischen Säulen einer Architektur, die bereits noch gewaltigere Bauten einer ferneren Zukunft erahnen ließ, standen in unterschiedlicher Dichte auf jedem Kontinent. Sehr selten kam es vor, daß die Entfernung zwischen zwei benachbarten Türmen geringer war als ihre Höhe; andererseits waren sie, abgesehen von der Arktis, nur in sehr wenigen Fällen mehr als 30 km voneinander entfernt. So ähnelte jedes Land etwa einem Wald, dessen riesige Bäume weitgehend entästet und zurechtgestutzt waren. Wolken tummelten sich oft in mittlerer Höhe dieser gewaltigen künstlichen Baumriesen und ließen nur die unteren Stockwerke erkennen. Für die oben Wohnenden war ein blendendes Wolkenmeer mit den auf allen Seiten daraus hervorragenden Säuleninseln ein vertrauter Anblick. Für die hochgelegenen obersten Stockwerke war es manchmal erforderlich, außer selbstverständlich künstlicher Beheizung, zusätzlich den Luftdruck und die Sauerstoffzufuhr zu regulieren. Zwischen diesen Wohn- und Industrietürmen leuchtete das Land den Jahreszeiten entsprechend überall in grünen und braunen Schattierungen, je nachdem, ob es für landwirtschaftliche Zwecke, als Park oder als Kulturschutzgebiet angelegt war. Breite graue Überlandstraßen für schwere Lastkraftwagen breiteten ihr Netz über alle Kontinente; abgesehen davon gab es für leichtere Transportgüter und für Passagiere nur den Luftverkehr. Bis zur Höhe von acht Kilometern zogen über den dichter besiedelten Gebieten ständig Schwärme von Flugzeugen durch die Luft; Flughöhen über 8000 Meter waren den riesigen Verkehrsmaschinen vorbehalten, die regelmäßig zwischen den Kontinenten verkehrten. 115
Eine für die damalige Zeit bereits ferne Vergangenheit hatte jeden Teil der Landoberfläche der Erde technisch, landwirtschaftlich und zivilisatorisch erschlossen. Die Sahara durchzog ein Seengebiet mit unzähligen sonnigen Urlaubsorten. Die Kanada vorgelagerten arktischen Inseln, für die man durch geniale Umleitung tropischer Meeresströmungen ein erträgliches Klima geschaffen hatte, waren zur Heimat eines kräftigen Volkes von Nordländern geworden. Die Küsten der Antarktis, die man auf die gleiche Weise erwärmt hatte, wurden von Menschen bewohnt, die die reichen Bodenschätze des Hinterlandes abzubauen hatten. Einen großen Teil der Energie, die zur Aufrechterhaltung dieser Zivilisation benötigt wurde, bezog man aus den Ablagerungen einer vorgeschichtlichen Vegetation in Form von Kohle. Obwohl man nach der Gründung des Weltstaates die antarktischen Ölvorräte streng bewirtschaftet hatte, war jedoch die Ölquelle in weniger als 300 Jahren versiegt, und die aus Kohle gewonnene Elektrizität mußte zum Antrieb der Flugzeuge dienen. Es wurde jedoch sehr bald klar, daß auch die unerwartet reichen Kohlengruben der Antarktis nicht unerschöpflich waren. Das Versiegen der Ölquellen hatte den Menschen eine schon längst fällige Lektion erteilt, es hatte ihnen die bedrückende Realität des Energieproblems vor Augen geführt. Zur gleichen Zeit etwa wirkten sich die kosmopolitischen Ideen dahingehend aus, daß man alle Menschen als seine Brüder und Landsleute anerkannte und sich sogar zu einer zeitlich größeren Perspektive aufraffte, um die gegenwärtigen Verhältnisse mit den Augen künftiger Generationen zu sehen. Während dieser ersten und vernünftigsten tausend Jahre des Weltstaates war überall die Absicht stark verbreitet, keine Energie zu verschwenden, damit man keine Schuld gegenüber der Nachwelt auf sich lüde. So gab es damals nicht nur eine ernsthaft durchgeführte Sparsamkeitskampagne, übrigens das erste weltumspannende gemeinsame Vorhaben aller Menschen, sondern es wurden auch Versuche zur Ausnutzung dauerhafterer Energiequellen unternommen. Die Kraft des Windes wurde zum Beispiel weit116
gehend ausgenutzt. Auf jedem Gebäude standen zahllose Windmühlen für die Erzeugung des elektrischen Stroms, auch jedes Gebirge war in gleicher Weise ausgenutzt, und jeder einigermaßen beachtliche Wasserfall wurde durch Turbinen geleitet. Noch wichtiger für die Energieerzeugung waren die Ausnutzung von Vulkanen und Bohrungen in das Erdinnere. Man hatte gehofft, auf diese Weise das Energieproblem ein für allemal zu lösen. Aber schon in diesen früheren und noch intelligenteren Stadien der Entwicklung des Weltstaates war die schöpferische Erfindungskraft nicht mehr die gleiche wie früher, und man fand keine technisch befriedigende Lösung des Problems. So reichte die aus vulkanischer Tätigkeit gewonnene Energie zu keiner Zeit des Bestehens dieser Zivilisation zu mehr als zu einer bloßen Ergänzung der erstaunlich reichen Kohlenflöze der Antarktis. In der Antarktis fand man die Kohlenablagerungen in weit größeren Tiefen als woanders, weil hier, durch irgendeinen Zufall, die Hitze des Erdinnern nicht so stark wie an anderen Orten war, und die tieferen Schichten nicht in Graphit verwandelt hatte. Als eine weitere mögliche Energiequelle kannte man natürlich die Gezeiten; aber der Heilige Orden der Naturwissenschaftler verbot eine Ausnutzung dieser Kräfte, weil man sie für heilig hielt, da sie so offenkundig etwas mit den Sternen zu tun hatten. Die vielleicht größte Leistung des ersten Weltstaates in seiner frühen und vitaleren Phase waren seine Erfolge in der medizinischen Prophylaxe. Obwohl die biologischen Wissenschaften seit langem hinsichtlich ihrer theoretischen Grundlagen erstarrt waren, konnten sie doch noch weiterhin auf praktischem Gebiet von Nutzen sein. Die Männer und Frauen brauchten nicht mehr zu befürchten, daß sie selbst oder ihre Angehörigen unter Krankheiten wie Krebs, Tuberkulose, Angina pectoris und Rheuma oder an schrecklichen seelischen und geistigen Störungen leiden müßten. Es gab keine plötzlichen, durch Bakterien hervorgerufenen Epidemien. Für die Frauen war die Geburt eines Kindes nicht mehr mit Qualen verbunden, und auch sonst kannten sie keine Beschwerden mehr. Jene Zeit kannte Fälle von chronischer Invalidi117
tät ebensowenig wie Krüppel. Nur die Senilität konnte man nicht beseitigen, man vermochte jedoch ihre Auswirkungen durch Spezialbehandlungen zur Verjüngung des Körpers zu mildern. Die Beseitigung dieser uralten Quellen der Schwäche und des Elends, die in früheren Zeiten die Menschheit insgesamt gelähmt und so viele einzelne entweder mit ganz bestimmten Torturen oder mit einer dumpfen und kaum bewußten Verzweiflung gequält hatten, bewirkte überall einen vitalen Schwung und einen Optimismus, der für Generationen früherer Zeiten unvorstellbar gewesen wäre.
Die Kultur des ersten Weltstaates So stand es also um die äußeren und materiellen Leistungen dieser Zivilisation. Keine hatte es zuvor gegeben, die auch nur halb so durchtechnisiert, so differenziert und dabei so reich gewesen wäre. Zweifellos hatten frühere Zeiten solche Ideale angestrebt; aber der nationalistische Wahnsinn hatte jene Epochen daran gehindert, die dazu erforderliche wirtschaftliche Einheit zu erreichen. Diese ›Zivilisation der letzten Tage‹ jedoch hatte den Nationalismus vollkommen überwunden und viele friedliche Jahrhunderte für ihre Konsolidierung ausnutzen können. Aber mit welchem Ergebnis? Mit dem Verschwinden solcher Schrecken wie Armut und Krankheit war der Geist des Menschen von einer lähmenden Last befreit worden und hätte sich großen Abenteuern zuwenden können. Unglücklicherweise hatte jedoch seine Intelligenz in bedenklichem Maße abgenommen. Und so wurde diese Epoche in weit größerem Ausmaß als das berüchtigte 19. Jahrhundert zum Zeitalter einer einfallslos sterilen Selbstgefälligkeit. Jedes einzelne Exemplar der Gattung Mensch war wohlgenährt und strotzte vor Gesundheit. Es war auch wirtschaftlich unabhängig. Es arbeitete niemals mehr als sechs Stunden täglich und oft sogar nur vier. Es erhielt seinen gerechten Anteil an den Erzeugnissen der Industrie, und während seiner lan118
gen Urlaubszeit durfte es den ganzen Planeten in seinem eigenen Flugzeug bereisen. Mit sehr viel Glück konnte jemand bereits mit 40 Jahren reich sein; und falls es ihm bis dahin nicht gelungen war, zu Wohlstand zu kommen, so war es doch so gut wie sicher, daß er, noch bevor er die Achtzig erreicht hatte, zu den Wohlhabenden gehören würde, ein Alter, in dem er sich noch auf weitere 100 Jahre eines aktiven Lebens freuen konnte. Aber trotz aller dieser äußeren Prosperität waren die Menschen doch Sklaven. Ob Arbeit oder Muße, alles war beherrscht von fieberhafter Tätigkeit, die nur durch wenige Augenblicke eines trägen Müßiggangs, die den Menschen als eine Sünde schwer belasteten und ihm unangenehm waren, unterbrochen wurde. Wenn er nicht zu einer verbissen tätigen und erfolgreichen Minderheit gehörte, war er häufiger jenen Augenblicken des Vorsichhinbrütens überlassen, die man wegen ihrer Dumpfheit kaum Meditation nennen konnte, und ebenso einem Sehnen, das zu blind war, als daß es sich zu einem Wunsch konkretisiert hätte. Denn er und alle seine Zeitgenossen wurden von bestimmten Ideen beherrscht, die sie daran hinderten, ein im wahrsten Sinne erfülltes menschliches Leben zu führen. Eine dieser Ideen war das Fortschrittsideal. Durch die Lehren seiner Religion wurde der einzelne ständig dazu angehalten, sein fliegerisches Können zu bessern, die gesetzlich festgelegte sexuelle Freiheit aktiv auszunutzen und einem Millionärsdasein zuzustreben. Ein Vervollkommnungs- und Fortschrittsideal gleich unintelligenter Art bestand auch für die gesamte Menschheit. Eine immer prächtigere und an Umfang zunehmende Fliegerei, eine extensive Steigerung des sexuellen Verkehrs, eine ins Gigantische ansteigende Güterproduktion und entsprechender Konsum sollte in einem sich immer mehr organisatorisch verfeinernden Gesellschaftssystem zusammengehalten werden. Während der ersten 3000 Jahre war diese primitive Art von Fortschritt nur sehr wenig vorangekommen, worüber die Menschen allerdings eher stolz als enttäuscht waren. Das bedeutete nämlich, daß das gesteckte Ziel fast 119
vollkommen erreicht war, jene Perfektion nämlich, die zu einer Offenbarung des Geheimnisses der Göttlichen Energie berechtigte und eine Ära unvergleichlich größerer Aktivität einleiten würde. Denn die allem übergeordnete Idee, die die ganze Menschheit tyrannisierte, war der fanatische Kult der Bewegung. Gordelpus, der Allesbeweger, verlangte von seinen menschlichen Ebenbildern zügige und komplizierte Bewegungen mannigfaltiger Art, und die Aussicht auf ein ewiges Leben hing für den einzelnen von der Erfüllung dieser Verpflichtung ab. Obwohl die Wissenschaft seit langem den Glauben an eine persönliche Unsterblichkeit, als unwesentlich für den Menschen, beseitigt hatte, tauchte doch seltsamerweise ein Ersatzglaube hierfür auf, der in etwa besagte, daß diejenigen, die sich in einer rastlosen Aktivität bewährten, auf wunderbare Weise für alle Ewigkeiten im hurtig dahineilenden Geist des Gordelpus weiterleben würden. So stand das Verhalten eines jeden einzelnen von Kindesbeinen an bis zu seinen letzten Zügen unter dem Gebot, soviel Bewegung wie nur möglich zu bewirken, sei es durch seine Muskelkraft oder durch Beherrschung von Naturgewalten. So zollte man in der Hierarchie der Industrie drei Berufen fast die gleiche Anerkennung wie dem Heiligen Orden der Wissenschaftler, nämlich dem Beruf der Flieger, der Tänzer und der Sportler. Natürlich übte sich ein jeder bis zu einem gewissen Grade in diesen drei Betätigungen, denn sie waren von der Religion vorgeschrieben; aber die Berufspiloten sowie die Berufstänzer und die Berufssportler gehörten zu einer privilegierten Schicht. Es gab mehrere Gründe, weswegen das Fliegen zu so hohen Ehren gelangt war. Als Verkehrsmittel war es von großer praktischer Bedeutung; und als die schnellste Art der Fortbewegung galt es als höchste Form der Anbetung. Daß die Form des Flugzeugs zufälligerweise dem Hauptsymbol der alten christlichen Religion ähnelte, verlieh dem Fliegen zusätzlich mystische Bedeutung. Denn obwohl der 120
Geist des Christentums verlorengegangen war, hatte man doch viele seiner Symbole mit in den neuen Glauben übernommen. Da es seit langem keine Kriege mehr gegeben hatte, war eine noch wichtigere Ursache für die Vorrangstellung des Fliegens die Tatsache, daß die absichtlich vollführten gefährlichen Flugkunststücke das einzige Betätigungsfeld für die angeborene Abenteuerlust des Tieres im Menschen waren. Junge Männer und Frauen setzten voller Inbrunst ihr Leben zum höheren Ruhme des Gordelpus und für ihr eigenes Seelenheil aufs Spiel, während die Teilnahme an diesen nicht enden wollenden Festspielen der jugendlichen Tapferkeit den Älteren eine Ersatzbefriedigung war. Es ist in der Tat völlig unwahrscheinlich, daß die Menschheit ihren Frieden und ihre Einheit so lange bewahrt hätte, wenn es den Jüngeren versagt gewesen wäre, in luftakrobatischen Gottesdiensten gefährlich leben zu können. An jedem der sehr häufigen Heiligen Flugtage wurde ein besonderes Ritual von Gemeinschafts- und Einzelflügen über jeder der religiösen Kultstätten zelebriert. Überall war dann der Himmel mit Tausenden von Flugzeugen übersät, die in ausgezeichneter Ordnung und in verschiedenen Höhen ihre Loopings drehten, Schleifen zogen, dahinschwebten oder in rasender Fahrt herabstürzten, sich auffingen und sich dann wieder steil in den Himmel bohrten. Die Flugtänze in verschiedenen Flughöhen ergänzten einander. Es schien so, als hätte die Natur spontan verschiedene Schwärme von Wasserläufern und Strandläufern hervorgebracht, die — tausendmal so komplex wie ihre Vorfahren — in der Lage gewesen wären, sich einem endlos variierten Tanzthema anzupassen. Ganz plötzlich pflegte der Schwärm dann dem Horizont zuzurasen und überließ den Himmel den Quartetten, Duetten und Soli der hervorragendsten Flieger. Ebenso überzogen des Nachts ganze Geschwader von Flugzeugen mit ihren farbigen Lichtern den Himmel mit einem ständig wechselnden, symbolischen Farbmosaik. Neben diesen Flugtänzen gab es einen bereits 800 Jahre alten Brauch, nach dem zu bestimmten Zeiten eine dichte Flugformation über 10 Kilometer hin Teile der Heiligen Schrift des Gordel121
pus an den Himmel schrieb, so daß diese lebende Schrift auch für andere Planeten sichtbar werden konnte. Das Fliegen spielte auch im Leben eines jeden einzelnen eine große Rolle. Unmittelbar nach seiner Geburt wurde er von einer Priesterin zu einem Flug mitgenommen und dann aus dem Flugzeug geworfen. Die Babies konnten sich dabei an einen Fallschirm klammern, und ihre Väter fingen sie mit den Tragflächen ihrer Flugzeuge geschickt auf. Dieses Ritual diente als Ersatz für Empfängnisverhütung, (die als Beeinflussung der Göttlichen Energie verboten war); denn da bei vielen Säuglingen der alte affenartige Greifinstinkt verkümmert war, ließen sie den Fallschirm los und stürzten sich auf dem Flugzeug ihres Vaters zu Tode. In der Pubertät durften Jungen oder Mädchen zum ersten Mal ein Flugzeug steuern, und sie mußten später eine ganze Reihe schwerer aeronautischer Testflüge absolvieren. Von den mittleren Jahren aufwärts, das heißt etwa von 100 Jahren an, wenn man nicht mehr erhoffen konnte, in der Hierarchie der aktiven Flieger weiter aufzusteigen, setzte man trotzdem täglich seine Flüge fort. Aber auch die anderen beiden rituellen Tätigkeiten, nämlich Tanzen und Sport, waren von kaum geringerer Bedeutung. Es war auch nicht so, daß diese Sportarten nur auf der Erde ausgeübt wurden. Denn zu gewissen rituellen Handlungen gehörte es, daß man mitten in der Luft auf den Tragflächen eines Flugzeuges tanzte. Besonders die Neger, die in der Welt jener Tage eine ganz besondere Stellung innehatten, waren auf Tanzen spezialisiert. Zwar begannen die Unterschiede in der Hautfarbe bei den Menschen allmählich zu verschwinden, denn durch den immer mehr anwachsenden Flugverkehr hatten sich die Schwarzen, Braunen, Gelben und Weißen bereits so miteinander vermischt, daß der überwiegende Teil der Menschheit keine rassischen Charakteristiken mehr zeigte. Ab und zu traf man jedoch, besonders in den Ursprungsländern der einzelnen Rassen, auf Individuen, die den alten Rassenbildern entsprachen. Diese Personen wurden für gewöhnlich auf besondere und historisch angemessene Weise be122
achtet. So vertraute man zum Beispiel solchen mit ausgesprochen negroiden Merkmalen die besonders heiligen Tanz-Zeremonien an. Zur Zeit der Nationalstaaten hatten die Nachkommen der emanzipierten afrikanischen Sklaven in Nordamerika weitgehend das künstlerische und religiöse Leben der weißen Bevölkerung beeinflußt und einen Kult von Negertänzen inspiriert, der bis zum Ende des Ersten Menschen bestand. Zum Teil war dies dem primitiven und sexuellen Charakter der Negertänze zuzuschreiben, die von einer durch sexuelle Tabus beherrschten Nation als Ausgleich besonders gebraucht wurden. Aber es gab noch eine tiefere Ursache. Die Amerikaner hatten ihre Sklaven ursprünglich als Gefangene gehalten und lange Zeit hindurch deren Nachkommen verachtet. Später kompensierten sie unbewußt diese Schuld durch einen Negerkult. Als nun die amerikanische Kultur den Planeten beherrschte, wurden die Neger eine heilige Kaste. Obwohl man ihnen viele Bürgerrechte vorenthielt, wurden sie doch als besondere Diener des Gordelpus angesehen. Sie waren heilig und doch Ausgestoßene. Diese Doppelrolle wurde durch ein besonderes Ritual verdeutlicht, das einmal jährlich in einem der großen Nationalparks stattfand. Eine weiße Frau und ein Neger, die beide wegen ihrer besonderen Tanzgeschicklichkeit ausgewählt waren, führten ein langes und symbolisches Ballett auf, das vor den Augen einer rasenden Zuschauermenge in einer rituellen Schändungszeremonie seinen Höhepunkt fand. Danach erstach der Neger sein Opfer und floh in den Wald, verfolgt von einer exaltierten Meute. Falls es ihm gelang, einen heiligen Schrein zu erreichen, wurde er für den Rest seines Lebens für besonders heilig angesehen. Aber wenn man ihn fing, wurde er in Stücke zerrissen oder mit leicht entzündbarem Alkohol übergössen und verbrannt. Der Aberglaube des Ersten Menschen ging in jener Zeit soweit, daß die beiden Teilnehmer an dieser Zeremonie selten vor ihr zurückschreckten; denn man glaubte fest daran, daß beiden das ewige Leben mit Gordelpus sicher wäre. Dieses heilige Lynchen war in Amerika das beliebteste aller Feste; denn es war sowohl sexuell als auch blutig, 123
und es erfüllte die Massen, deren Sexualleben beschränkt und intim war, mit wilder Freude. In Indien und Afrika war der Schändende immer ein Engländer, sofern man ein solches damals seltenes Individuum finden konnte. In China änderte man den Charakter dieser Zeremonie erheblich; denn aus der Schändung wurde ein Kuß und aus dem Mord eine Berührung mit einem Fächer. Eine weitere Rasse, nämlich die Juden, wurden mit einer ähnlichen Mischung von Verehrung und Verachtung behandelt, aber aus ganz anderen Gründen. Früher hatten ihre allgemeine Intelligenz, insbesondere ihr finanzielles Talent zusammen mit ihrer Heimatlosigkeit sie zu Ausgestoßenen gemacht; jetzt, beim Niedergang der Zivilisation des Ersten Menschen, glaubte man, daß sie rassisch integer geblieben wären, wenn dies auch nicht ganz den Tatsachen entsprach. Sie galten immer noch als Ausgestoßene, obwohl man sie nicht entbehren mochte und sie sehr mächtig waren. Fast die einzige Art intelligenter Tätigkeiten, die der Erste Mensch noch respektierte, waren finanzielle Transaktionen, ob privater Natur oder im Weltmaßstab. Die Juden waren für die wirtschaftliche und finanzielle Organisation des Weltstaates unentbehrlich, denn sie allein hatten reine Intelligenz weiterhin heimlich respektiert und waren allen anderen an Intelligenz weit überlegen. So kam es, daß noch lange, nachdem Intelligenz bei Durchschnittsmenschen als unfein galt, man sie dennoch gerade von Juden erwartete. Man nannte es bei ihnen satanische Gerissenheit, man hielt sie für die Inkarnation der Mächte des Bösen, die jedoch gebändigt worden wären und dem Gordelpus zu Diensten stünden. So erlangten die Juden allmählich eine Art ›Ausnahmegenehmigung‹ zur Verwendung ihrer Intelligenz. Die zwei Jahrtausende, in denen sie unausgesetzt verfolgt waren, hatten sie jedoch seit langem zu einem unbewußt wirkenden Stammesegoismus veranlaßt, so daß sie dieses wertvolle Gut Intelligenz im wesentlichen nur für sich selbst nutzten. Als sie nämlich die wenigen noch übrigbleibenden Verrichtungen, die statt Routine schöpferisches Denken verlangten, übernommen hatten, nützten sie diese Vorteile im we124
sentlichen dazu aus, um ihre eigene Stellung in der Welt zu festigen. Zwar waren sie intelligenter als andere, hatten aber auch erheblich unter der die ganze Welt erfassenden allgemeinen Verflachung und Einengung des Denkens zu leiden. Obwohl sie also noch in gewissem Maße in der Lage waren, die praktischen Mittel und Maßnahmen zu kritisieren, mit welchen man bestimmte Zwecke erreichen konnte, waren sie völlig unfähig zu Kritik an den Grundsätzen und Zielen, nach denen sich ihre Rasse seit Jahrtausenden gerichtet hatte. Ihre Intelligenz war ihrem Stammesegoismus untergeordnet. So gab es eine gewisse Entschuldigung für den weitverbreiteten Haß und auch die physische Abneigung, mit denen man ihnen überall begegnete; denn sie allein hatten keinen Anteil an jenem großen Voranschreiten der Menschheit vom Stammesbewußtsein zum Weltbürgertum, das für alle anderen Rassen Wirklichkeit geworden war. Und es war andererseits auch gut zu verstehen, daß man ihnen Respekt entgegenbrachte, denn sie hatten sich noch ein gewisses Maß von Intelligenz, jener ausgesprochen menschlichen Eigenschaft, bewahrt, wenn sie auch von dieser Fähigkeit einen etwas zu skrupellosen Gebrauch machten. In primitiven Zeiten wurden geistig-seelische Gesundheit und Intelligenz der Menschheit dadurch erhalten, daß es den Geisteskranken unmöglich war, im Daseinskampf zu bestehen und am Leben zu bleiben. Als humanitäre Ideen Mode wurden, und als man für die Pflege von Geistesschwachen mit öffentlichen Mitteln sorgte, hörte dieser natürliche Ausleseprozeß auf. Und da es diesen Unglücklichen an Klugheit ebenso wie an sozialem Verantwortungsgefühl mangelte, vermehrten sie sich ohne selbstauferlegte Zurückhaltung und drohten dadurch, die ganze Art mit ihren Unzulänglichkeiten zu infizieren. Während der Blüte der westlichen Zivilisation wurden daher die Anomalen sterilisiert. Aber die Anbeter des Gordelpus hielten sowohl Sterilisation wie auch Empfängnisverhütung für eine sündhafte Einmischung in die Macht des Göttlichen. Folglich gab es als einzige Abwehr gegen das Anwachsen der Menschenlawine das Herauswerfen der Neugeborenen aus 125
den Flugzeugen, ein Verfahren, das zwar Schwächlinge ausmerzte, aber von den gesunden Säuglingen die robusteren und primitiveren eher als die höherentwickelten übrigließ. So war die Intelligenz der Menschheit in stetigem Abstieg begriffen. Und keiner bedauerte das. Die allgemeine Abwendung von der Intelligenz war eine natürliche Folge der übermäßigen Verehrung menschlicher Kraft, und dies wiederum war ein Teil des Aktivitätskults. Da die Göttliche Energie die unbewußte Quelle aller menschlichen Kraft war, durfte man, soweit wie möglich, niemals spontane Impulse unterdrücken. Zwar war dem einzelnen logisches Denken innerhalb seiner beruflichen Tätigkeit erlaubt, aber auf keinen Fall darüber hinaus. Und selbst Spezialisten durften keine eigenwilligen Überlegungen und Experimente ohne Erlaubnis für ein besonderes Forschungsvorhaben durchführen. Eine solche Erlaubnis kostete viel Geld und wurde nur dann gewährt, wenn das Ergebnis der beabsichtigten Forschung eine Steigerung der Aktivität auf der Welt verhieß. In früheren Zeiten hatten es gewisse Personen mit krankhafter Neugier gewagt, altehrwürdige Verfahrensweisen zu kritisieren und bessere Methoden vorgeschlagen, die dem Heiligen Orden der Naturwissenschaftler jedoch nicht behagten. Dem wurde Einhalt geboten. Zu Beginn des vierten Jahrtausends des Weltstaates waren daher die Verrichtungen innerhalb der Zivilisation auf so raffinierte Weise schematisiert, daß nie mehr irgendwelche neuen, außerhalb des Schemas liegende Situationen auftraten. Allerdings gab es noch eine weitere, sehr hoch bewertete intellektuelle Tätigkeit außerhalb des Finanzwesens, nämlich die Beschäftigung mit mathematischen Berechnungen. Alle rituellen Bewegungen, alle Arbeitsprozesse der Maschinen in der Industrie, alle feststellbaren Naturerscheinungen mußten bis ins einzelne durch mathematische Formeln erfaßt werden. Solche Formeln und Berichte wurden in den Archiven des Heiligen Ordens der Naturwissenschaftler abgelegt. Und dort blieben sie. Dieses gewaltige Unternehmen einer minutiösen mathematischen Beschreibung war die Hauptarbeit der Wissenschaftler. 126
Man glaubte, daß die Erfassung jeder Winzigkeit der irdischen Bewegung der einzige Weg wäre, um Anteil zu haben am ewigen Wesen des Gordelpus. Der Instinkt-Kult bedeutete nun nicht einfach ein Leben mit unbeherrschten Impulsen. Weit gefehlt! Denn der Grundinstinkt, dem alle anderen Instinkte untergeordnet waren, so sagte man, war der Instinkt, Gordelpus durch ständiges Tätigsein zu dienen. Der Geschlechtstrieb, der dem Ersten Menschen ebenso göttlich wie obszön erschien, spielte hierbei eine besonders bedeutende und geheiligte Rolle. Daher wurden alle das Sexuelle betreffende Fragen streng reglementiert. So war die Erwähnung der Sexualität gesetzlich verboten und nur in geeigneten Umschreibungen erlaubt. Personen, die Bemerkungen über die offenkundige sexuelle Bedeutung der religiösen Tänze machten, wurden strengstens bestraft. Dem einzelnen, ganz gleich ob Mann oder Frau, wurde jede Betätigung sowie jedes Wissen auf diesem Gebiet verboten, bevor er seine erste Flugprüfung hinter sich hatte. Zwar konnte man bis dahin verzerrte und perverse Informationen über dieses Gebiet durch Lesen religiöser Bücher und Beobachten kultischer Handlungen beziehen, aber offiziell wurden diese heiligen Dinge metaphysisch und nicht sexuell interpretiert. Und obwohl man durchaus seine Flugprüfung im Alter von 15 Jahren bestehen und damit die gesetzliche und gesellschaftliche Reife erlangen konnte, gelang manchem die Flugprüfung erst mit 40 Jahren. Wer dann immer noch nicht den Test bestand, dem wurde es verboten, sich sexuell zu betätigen und Informationen über sexuelle Fragen zu erlangen. In China und Indien wurde dieses übertriebene sexuelle Tabu ein wenig gemildert. Viele leichtfertige Personen meinten, daß die sexuelle Aufklärung von ›Unreifen‹ nur dann ein Vergehen wäre, wenn man sich des Mediums der als heilig angesehenen amerikanischen Sprache bediente. Sie gebrauchten daher für diese Zwecke ihre heimischen Dialekte. Ähnlich, meinten sie, wäre der Geschlechtsverkehr von ›Unreifen‹ soweit zulässig, wie er unter Vermeidung der amerikanischen Sprache 127
in Kulturschutzgebieten ausgeübt würde. Solche fadenscheinigen Auslegungen wurden jedoch von den Orthodoxen, selbst von denjenigen Asiens, streng verurteilt. Wenn ein Mann durch Bestehen seiner Flugprüfung seine ›Schwingen‹ erhalten hatte, wurde er feierlich in das Mysterium des Sexus mit all seiner ›biologisch-religiösen‹ Bedeutung eingeführt. Er durfte jetzt auch eine ›Hauptfrau‹ nehmen, aber erst nach einer weiteren schwierigen Flugprüfung war es ihm erlaubt, sich jeder beliebigen Anzahl von ›symbolischen Nebenfrauen‹ zu widmen. Die gleichen Bestimmungen galten für Frauen. Die beiden Arten von Partnerbeziehungen unterschieden sich folgendermaßen: der ›Hauptmann‹ und die ›Hauptfrau‹ traten in der Öffentlichkeit gemeinsam auf und ihre Verbindung war unauflöslich. Eine ›symbolische‹ Verbindung hingegen konnte von jedem der beiden Partner jederzeit aufgelöst werden. Außerdem war eine solche Verbindung zu heilig, daß man sie je offenbart oder in der Öffentlichkeit darüber gesprochen hätte. Eine große Zahl von Personen bestand niemals die zur Anerkennung ihrer sexuellen Reife erforderliche Flugprüfung. So blieben sie entweder unberührt oder nahmen sexuelle Beziehungen auf, die nicht nur ungesetzlich sondern geradezu gotteslästerlich waren. Diejenigen andererseits, die ihre Flugprüfung erfolgreich absolviert hatten, waren berechtigt und geneigt, sich jeder zufälligen Bekanntschaft zu widmen. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß der sexuell benachteiligte Teil der Bevölkerung gewisse Geheimkulte entwickelte, in denen er aus der rauhen Wirklichkeit in Phantasiewelten entfliehen konnte. Zwei dieser verbotenen Sekten ungebildeter Analphabeten waren sehr verbreitet. Die eine war eine Perversion des alten christlichen Glaubens an einen Gott der Liebe. Alle Liebe, sagte man, sei mit dem Sexus verbunden, daher müsse der einzelne in seinem privaten oder öffentlichen Gottesdienst eine direkte sexuelle Verbindung mit Gott suchen. Hieraus entwickelte sich ein im wesentlichen phallischer Kult, auf den die durch ihre ›Schwingen‹ begünstigten Personen, die so et128
was nicht brauchten, voller Verachtung herabsahen. Die zweite große ketzerische Bewegung bezog ihre Kräfte zum Teil aus der Energie unterdrückter intellektueller Impulse. Ihr gehörten Menschen voller ursprünglicher Neugier an, deren Möglichkeiten jedoch durch die allgemein verbreitete Intelligenzarmut der Rasse begrenzt waren. Diese pathetischen Anhänger des Intellektualismus waren von Sokrates inspiriert worden. Jener große Primitive hatte erklärt, daß ein klares Denken ohne eine vorausgegangene Begriffserklärung unmöglich, und daß der Mensch ohne logisches Denken von der Daseinsfülle ausgeschlossen wäre. Diese letzten Jünger des Sokrates waren kaum weniger begeisterte Anhänger der Wahrheit wie ihr Meister, aber sie verstanden den Sinn seiner Lehre überhaupt nicht. Nur durch Erkennen der Wahrheit, sagten sie, kann der einzelne die Unsterblichkeit erlangen. Nur durch Definieren kann er die Wahrheit feststellen. Deshalb diskutierten sie in ihren geheimen Zusammenkünften, in denen sie in beständiger Gefahr schwebten, wegen analphabetischen Intellektualismus festgenommen zu werden, endlos über die Definition von Dingen. Aber die Dinge, die sie sich zu definieren mühten, waren nicht die grundlegenden Begriffe menschlichen Denkens, denn diese, so betonten sie, wären ein für allemal durch Sokrates und seine unmittelbaren Nachfolger festgelegt worden. So akzeptierten sie jene Grundbegriffe als wahr, verstanden sie aber völlig falsch und machten sich als letzte Sokratiker daran, alle Einrichtungen und Vorgänge des Weltstaates sowie des Rituals der herrschenden Religion, alle Gefühlsregungen von Männern und Frauen, verschiedene Formen von Nasen, Mündern, Gebäuden, Gebirgen, Wolken und somit alle Äußerlichkeiten ihrer Welt in Definitionen zu fassen. Auf diese Weise glaubten sie, sich von den Spießern ihrer Zeit abzuheben und der Gemeinschaft mit Sokrates in einem künftigen Leben teilhaftig zu werden.
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Der Untergang der Zivilisation Der Zusammenbruch der ersten Weltzivilisation war dem plötzlichen Versiegen der Kohlevorkommen zuzuschreiben. Alle bekannten Kohlenflöze waren bereits vor Jahrhunderten abgebaut worden, und es hätte eigentlich klar sein müssen, daß die erst vor kurzem entdeckten Vorkommen nicht für ewig Kohle liefern würden. Einige tausend Jahre hindurch befand sich das wichtigste Kohlenlager in der Antarktis. So reich war dieser Kontinent, daß sich in den umschatteten Gehirnen der Weltbürger der Aberglaube festgesetzt hatte, daß die Vorräte in der Antarktis wie durch ein Wunder unerschöpflich wären. So kam es, daß, als trotz strengster Zensur schließlich die Nachricht durchsickerte, man wäre selbst bei den tiefstmöglichen Bohrungen auf keine weiteren Öl- oder Kohlevorkommen gestoßen, man diese Nachricht für völlig unglaubwürdig hielt. Eine vernünftige Politik würde jetzt den gewaltigen Energieaufwand für das rituelle Fliegen verboten haben, da hierdurch mehr Energie als durch die gesamte Konsumgüterindustrie verbraucht wurde. Aber für die an Gordelpus Glaubenden war eine solche Maßnahme völlig undiskutabel. Sie hätte zudem noch die Vorrangstellung der fliegenden Aristokratie unterminiert. Diese mächtige Gruppe erklärte, daß jetzt die Zeit zur Enthüllung des Geheimnisses der Göttlichen Energie gekommen wäre und wandte sich an den Heiligen Orden der Naturwissenschaftler, damit dieser die neue Ära eröffne. Eine derartig lautstarke Agitation in allen Ländern brachte die Wissenschaftler in arge Bedrängnis. Sie gewannen dadurch Zeit, daß sie erklärten, der Augenblick für die Enthüllung der Göttlichen Energie wäre zwar nahe, aber noch nicht da, denn sie hätten eine göttliche Verkündigung erhalten, daß die Erschöpfung der Kohlenvorräte eine letzte Prüfung für den Glauben des Menschen sein solle. Die rituellen Flüge zum Ruhme des Gordelpus 130
sollten daher eher vermehrt als vermindert werden. Die Rasse sollte sich auf die Religion konzentrieren und nur ein Minimum der zur Verfügung stehenden Energie auf weltliche Dinge verwenden. Wenn Gordelpus einen solchen Beweis ihres Glaubens und ihrer Hingabe erkenne, würde er den Wissenschaftlern erlauben, die Menschheit zu retten. Die Naturwissenschaften waren so hoch angesehen, daß man diese Erklärung zunächst überall akzeptierte. Die rituellen Flüge wurden beibehalten. Luxusgüter wurden nicht mehr hergestellt, und selbst die lebensnotwendigsten Arbeiten wurden auf ein Minimum reduziert. Arbeiter, die hierdurch ihre Stellung verloren, wurden in die Landwirtschaft geschickt; denn man glaubte, daß man so bald wie möglich auch die Maschinen in der Landwirtschaft abschaffen müßte. Alle diese Veränderungen beanspruchten ein weit größeres Organisationstalent, als es die Rasse zu jener Zeit noch besaß. Es gab überall große Verwirrung, nur hier und da machten einige Juden ernsthafte organisatorische Anstrengungen. Das erste Ergebnis dieser großen Bedeutung der Sparsamkeit und der Selbstverleugnung bewirkte eine Art geistiges Erwachen bei vielen, die bis dahin dumpf und gelangweilt dahingelebt hatten. Hinzu kamen die weitverbreitete Krisenstimmung und das Warten auf Wunder. Die Religion, die trotz ihrer universalen Bedeutung in dieser Zeit doch mehr eine Angelegenheit des Rituals als eine solche des inneren Erlebens geworden war, rührte jetzt erstmalig an die Herzen der Menschen — allerdings bewirkte sie keine echte Gottesverehrung, sondern eher eine unbestimmte Furcht, vermischt mit Wichtigtuerei. Aber als diese Begeisterung nicht mehr neu war und abnahm, und als das Leben immer unbequemer wurde, stellten sogar die größten Eiferer zu ihrem Entsetzen bei sich selbst Augenblicke der Untätigkeit fest, in denen sie empfänglich waren für Zweifel, die zu ungeheuerlich waren, als daß man sie bekennen durfte. Und als die Lage immer schlimmer wurde, vermochte nicht einmal ein Leben unaufhörlicher Aktivität diese verruchten Phantasiegebilde zu unterdrücken. 131
Die Menschheit stand mit ihrer chronisch kranken Mentalität einer wirtschaftlichen Katastrophe gegenüber und geriet dadurch in eine beispiellose Krise. Man muß sich erinnern, daß jeder einzelne ursprünglich ein neugieriges fragendes Kind gewesen war, dem man aber beigebracht hatte, seine Neugier wie den Atem des Leibhaftigen zu meiden. Folglich litt die ganze Rasse jetzt unter einer Art Umkehrung des Verdrängens ihrer intellektuellen Impulse. Die plötzlichen wirtschaftlichen Veränderungen, die überall auf dem Planeten alle Bevölkerungskreise ergriffen, setzten eine völlig ungehörige Neugier frei, eine quälende Skepsis, die bis dato in den tiefsten Verliesen des Geistes verschüttet gelegen hatte. Man kann sich nur schwer die seltsame Geistesverwirrung vorstellen, die jetzt die gesamte Menschheit ergriff und sich in einigen Fällen sogar in körperlichen Schwindelgefühlen ausdrückte. Nach Jahrhunderten des Wohlstands, der Routine, der Strenggläubigkeit setzte sich in den Menschen plötzlich ein Zweifel fest, den sie ihrer Erziehung nach als teuflisch empfinden mußten. Keiner sprach darüber; aber jedem flüsterte der Versucher ins Ohr, und jeder wurde gequält von den unruhigen Blicken seines Nächsten. Die völlig veränderten Lebensverhältnisse verhöhnten seine Leichtgläubigkeit. In einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit hätte eine solche Weltkrise die Menschen vielleicht wieder zur Vernunft gebracht. Unter dem Druck der Not hätten sie dann möglicherweise Überspanntheiten ihrer Kultur beseitigt. Aber jetzt waren ihre Verhaltensweisen zu sehr zum Reflex geworden. So können wir das phantastische Schauspiel beobachten, wie eine Welt tapfer und ergeben ihre Kraftreserven für gewaltige Flugzeremonien vergeudet, und das nicht etwa im einfältigen Glauben an die Richtigkeit und Wirksamkeit solcher Maßnahmen, sondern lediglich als Folge eines hoffnungslos und unwiderstehlich ablaufenden Automatismus. Ebenso, wie jene kleinen Nagetiere, die trotz des Versinkens von Kontinenten stur ihrem uralten Wanderinstinkt folgten und jährlich zu Tausenden im Meer ertranken, so klammerten 132
sich die Ersten Menschen hilflos an das festgelegte Ritual. Zum Unterschied von den Lemmingen wurden sie aber gleichzeitig von Zweifeln über die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges bedrückt, von Zweifeln, die sie sich nicht einmal einzugestehen wagten. Mittlerweile gingen die Wissenschaftler ernsthaft daran, im geheimen die alten Bücher ihres jeweiligen Gebietes durchzustöbern in der Hoffnung, dort den vergessenen Talisman wiederzufinden. Ebenso führten sie heimlich Experimente durch, gerieten dabei aber auf eine falsche Fährte, die ein Zeitgenosse des Entdeckers, ein etwas versponnener Engländer, verfolgt hatte. Die Ergebnisse dieser Unternehmungen waren, daß sich mehrere Forscher durch Gifte oder Elektrizität zu Tode beförderten und daß ein großes Forschungslabor in die Luft flog. Dieses Ereignis beeindruckte die Bevölkerung sehr, die annahm, daß es sich hierbei um allzu waghalsige Versuche mit der bereits entdeckten Göttlichen Energie gehandelt hätte. Das Mißverständnis inspirierte die verzweifelten Wissenschaftler dazu, weitere solcher ›eindrucksvollen Wunder‹ vorzuführen und damit auch die immer mehr anwachsende Unruhe innerhalb der hungernden Industriearbeiterschaft einzudämmen. So geschah es, daß, als eine Abordnung der Arbeiter vor dem Büro der Landwirtschaftskammer erschien, um mehr Mehl zu verlangen, Gordelpus auf wundersame Weise die Fläche, auf der die Deputation stand, in die Luft fliegen ließ, so daß die verstümmelten Körper zwischen den in weiterer Entfernung stehenden Zuschauern niederfielen. Und als die Bauern Chinas losschlugen, um eine vernünftige Zuteilung von Elektrizität für die Landbestellung zu erreichen, trat ihnen Gordelpus mit üblen Gerüchen entgegen, so daß sie daran erstickten und zu Tausenden starben. Durch dieses direkte göttliche Eingreifen angespornt, gewannen die zweifelnden und ungetreuen Elemente innerhalb der Bevölkerung ihren Glauben zurück und wurden wieder fügsam. So ging es auf der Welt eine Weile weiter, möglichst im gleichen Trott der vergangenen 4000 Jahre, außer daß Hunger und Krankheit allgemein zunahmen. 133
Aber als die Lebensbedingungen immer schwerer wurden, war es unvermeidlich, daß die bisherige Fügsamkeit der Menschen in Verzweiflung umschlug. Kühne Geister äußerten in aller Öffentlichkeit ihre Zweifel an der Weisheit und sogar an der Frömmigkeit, die einen solchen ungeheuren Energieverbrauch für kultische Flüge zuließ, wenn es auf der anderen Seite am Lebensnotwendigsten wie Nahrung und Kleidung fehle. Mache sich eine solche hilflose Ergebenheit nicht bloß lächerlich in den Augen der Gottheit? Gott helfe dem, der sich selbst helfe. Die Sterblichkeit wäre schon beängstigend angestiegen. Ausgezehrte und zerlumpte Menschen würden bereits auf den Straßen betteln. In bestimmten Gebieten wäre die gesamte Bevölkerung bereits am Verhungern und das Direktorium täte nichts für diese Menschen. In anderen Gebieten würden ganze Ernten auf den Feldern verfaulen, nur weil man für die Erntemaschinen keine Energie zuteile. So erhob sich in allen Ländern ein wütendes Geschrei, das nach dem Beginn einer neuen Ära verlangte. Die Wissenschaftler wurden jetzt von panischem Schrecken ergriffen. Ihre Forschungen hatten zu keinem Ergebnis geführt, und es wurde klar, daß alle durch Wind und Wasser gewonnene Energie ausschließlich jenen Industriezweigen zugeführt werden mußte, die für den lebensnotwendigen Bedarf arbeiteten. Außerdem waren viele dem Hungertode ausgeliefert. Der Präsident der Physikalischen Gesellschaft schlug als eine Art Kompromiß mit Gordelpusdem Direktorium vor, daß die kultischen Flüge ab sofort auf die Hälfte reduziert werden sollten. Kurz darauf riskierte es ein prominenter Jude, jene furchtbare Wahrheit im Rundfunk offen auszusprechen, die nur wenige bisher gewagt hatten, sich selbst gegenüber einzugestehen: die alte Legende vom göttlichen Geheimnis wäre nichts als Lüge, denn aus welchem anderen Grunde würden die Physiker sonst zögern? Entsetzen und Wut ergriff den Planeten. Überall erhob sich das Volk gegen die Wissenschaftler und gegen die von diesen abhängigen Regierungsstellen. Massaker und Vergeltungsmaßnahmen führten bald zu Bürgerkriegen. China und Indien 134
erklärten sich zu freien Nationalstaaten, konnten aber trotzdem keine Ordnung im Inneren erreichen. In Amerika, das seit je ein Bollwerk der Naturwissenschaften und der Religion gewesen war, konnte die Regierung ihre Autorität für eine Weile durchsetzen. Aber je unsicherer ihre Position wurde, um so skrupelloser wurden ihre Kampfmethoden. Schließlich machte sie den großen Fehler, nicht nur Giftgase sondern auch Mikroben zu verwenden, gegen die beim damaligen Stand der darniederliegenden medizinischen Wissenschaften kein Mensch in der Lage war, irgendwelche Gegenmittel zu entwickeln, mit denen man die Seuchen hätte eindämmen können. Der gesamte amerikanische Kontinent fiel einer Lungen- und Nervenseuche zum Opfer. Jener alte ›amerikanische Irrsinn‹, der seinerzeit den Krieg gegen China entschieden hatte, verwüstete jetzt Amerika. Die großen Wasser- und Windkraftwerke wurden von Amok laufenden Horden, die sich an jeglicher Art von Autorität rächen wollten, völlig zerstört. Ganze Bevölkerungen verschwanden in Orgien von Kannibalismus. In Asien und Afrika wurde eine gewisse äußere Ordnung noch eine Zeitlang aufrechterhalten. Bald jedoch ergriff der ›amerikanische Irrsinn‹ auch diese beiden Kontinente und löschte in kurzer Zeit alle Spuren von Zivilisation aus. Nur in den fruchtbarsten Gebieten der Welt konnte ein von Krankheiten befallener Rest der Bevölkerung noch dem Boden etwas Nahrung abringen. Um ihn herum war nichts als Verwüstung, und die Wildnis kam zurück auf die Erde.
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kapitel v
Das Ende des Ersten Menschen
Das Erste Dunkle Zeitalter Etwas weniger als 5000 Jahre nach dem Wirken Newtons liegt der Zeitpunkt, bis zu dem wir gegenwärtig in der Geschichte der Menschheit vorgedrungen sind. In diesem Kapitel müssen wir ungefähr 115000 Jahre behandeln und im nächsten Kapitel sogar weitere 10 Millionen Jahre. Das bringt uns in eine Zeit, die für den ersten Weltstaat genauso weit in der Zukunft liegt wie die frühesten Anthropoiden in der Vergangenheit. Während des ersten Zehntels der ersten Million Jahre nach dem Zusammenbruch des Weltstaates, das heißt also während der ersten 100 000 Jahre, vegetierte der Mensch in einer geschichtslosen Dunkelheit. Erst nach dem Ende dieser Periode, die wir als das Erste Dunkle Zeitalter bezeichnen, rang er sich erneut vom Tierhaften über die Barbarei zur Zivilisation empor. Diese wiedererstandene Zivilisation war jedoch nur von kurzer Dauer. Von ihren frühesten Anfängen bis zu ihrem Ende dauerte sie nur 15000 Jahre. In ihrem Todeskampf wurde der Planet so stark zerstört, daß der Geist fortan für weitere 10 Millionen Jahre in tiefen Schlaf verfiel. Das war das Zweite Dunkle Zeitalter. Dies mag vorerst genügen, um jene Epoche zeitlich zu begrenzen, mit der wir uns in diesem und im nächsten Kapitel beschäftigen wollen. Man hätte erwarten können, daß sich die Menschheit nach Zusammenbruch des ersten Weltstaates in wenigen Generationen erholt hätte. Und tatsächlich haben Historiker sehr oft über die Ursache der überraschend vollständigen und langandauernden Entartungserscheinungen gerätselt. Die Erbanlagen der Menschen nach der Krise unterschieden sich nicht wesentlich von denjenigen ihrer Vorfahren, und doch erwies sich der gleiche Geist, dem es gelungen war, eine Weltzivilisation aufrechtzuerhalten, als völlig unfähig, aus den Ruinen der Vergangenheit etwas Neues entstehen zu lassen. Der Mensch war weit davon entfernt, 139
sich wieder zu fangen, sondern versank sehr schnell in einen Zustand tierhaften Vegetierens. Viele Ursachen bewirkten dieses Ergebnis. Einige waren äußerlicher Natur und zeitlich begrenzt, andere waren grundlegender Art und von langer Dauer. Es scheint so, als ob das Schicksal, das die Ereignisse auf ein vorher bestimmtes Ziel hinsteuert, sich hier vieler und mannigfaltiger Mittel bedient hat, die alle unwiderstehlich im gleichen Sinne wirkten, von denen jedoch keines allein ausgereicht hätte und für sich von wesentlicher Bedeutung gewesen wäre. Die unmittelbare Ursache für die Hilflosigkeit der Menschen während der Krise des Weltstaates war natürlich die durch Verwendung von Mikroben entstandene große Wahnsinnsepidemie und die daraus resultierende, immer weitere Kreise ergreifende Intelligenzminderung. Diese Entwicklung traf den Menschen so unversehens, daß es für ihn in jenem frühen und noch kontrollierbaren Stadium des Zusammenbruchs unmöglich war, den Ereignissen Einhalt zu gebieten. Später, als die Seuche zurückgegangen war, hätte es trotz der bereits zerfallenen Zivilisation vielleicht doch noch durch gemeinsame, dem Wohle aller dienende Anstrengungen zu einem Wiederaufbau in bescheidenem Rahmen kommen können. Aber unter den Ersten Menschen gab es nur eine Minderheit, die sich dem Gemeinwohl gegenüber verpflichtet fühlte. Die überwiegende Mehrheit wurde nur von ihren eigenen Impulsen geleitet. So tief waren Enttäuschung und allgemeine Müdigkeit, daß es in dieser schwarzen Periode der Menschheit nicht einmal zu irgendwelchen entschlossenen Handlungen kam. Es schien dem Menschen so, als wäre nicht nur seine Gesellschaftsordnung, sondern auch die Ordnung des Universums zusammengebrochen. Er reagierte auf alles nur mit gleichgültiger Verzweiflung. In 4000 Jahren zivilisatorischer Routine hatte er seine Wendigkeit eingebüßt. Von diesen Wesen erwarten zu wollen, daß sie ihr gesamtes Verhalten umstellten, wäre genauso unvernünftig, als wenn man von Ameisen erwartete, daß sie die Verhaltensweisen 140
von Wasserkäfern übernähmen, wenn der Ameisenhügel unter Wasser stünde. Aber daß der Erste Mensch nach seinem Sturz so lange dahinvegetierte, hat noch einen anderen, viel tieferen Grund. Eine feine Veränderung machte sich im Physischen bemerkbar und erfaßte Körper und Geist des Menschen. Man könnte hier von einer ›Allgemeinen Alterungstendenz der Gattung‹ sprechen. Das Gleichgewicht im chemischen Haushalt eines jeden einzelnen wurde immer mehr gestört, so daß der Mensch allmählich die ihn auszeichnende Befähigung, eine verlängerte Jugend zu erleben, verlor. Viel eher als bei den Vorfahren wurden seine Gewebe durch den Lebensprozeß abgenutzt. Ein solches Verhängnis war keineswegs unvermeidbar, aber die damalige physische Verfassung der Art beschleunigte eine derartige Entwicklung zusätzlich. Denn der Mensch hatte 4000 Jahre hindurch unter zu hoher Anspannung seiner Aktivität in einer biologisch unnatürlichen Umgebung gelebt und hatte keine Mittel und Wege gefunden, solche einseitige Belastung auszugleichen. So glitten also die Generationen nach dem Zusammenbruch des ersten Weltstaates sehr rasch vom Dahindämmern in die Nacht hinüber. In jenen Jahrhunderten mußte man in der Überzeugung eines allgemeinen Niedergangs und milden Legenden über eine mächtige Vergangenheit leben. Die übriggebliebene Bevölkerung bestand fast ausschließlich aus Landarbeitern des alten Systems, und da die Landwirtschaft in der Hierarchie der Berufe nur als eine träge und niedrige Tätigkeit eingestuft war, bestenfalls geeignet für Faule, gab es damals auf der Erde im wesentlichen nur schwerfällige Bauerntölpel. Ohne Elektrizität, Maschinen und künstlichen Düngerstanden sie in ihrer Unbeweglichkeit vor der schweren Aufgabe, sich selbst am Leben zu erhalten. Und nur ein Zehntel von ihnen überstand die Katastrophe. Schon die nächste Generation kannte die Zivilisation nur noch vom Hörensagen. Ihre Tage waren von früh bis spät ausgefüllt mit Ackerbau oder mit gemeinsamem Kampf gegen Plünderer. Frauen standen wiederum in sexueller 141
und sozialer Hinsicht auf der Stufe von Haustieren. Die Familie, die Familiensippe wurde zur größten gesellschaftlichen Einheit. Unaufhörliche Streitereien und Fehden gab es zwischen den Bewohnern des einen und des anderen Tales sowie zwischen Ackerbauern und Horden von Straßenräubern. Kleine Militärtyrannen tauchten auf und gingen wieder unter; aber es war nicht möglich, in einem größeren Gebiet eine dauerhafte Ordnung aufrechtzuerhalten. Es gab eben keinen überschüssigen Reichtum, den man auf solchen Luxus wie Regierungen und ausgebildete Soldaten hätte verwenden können. In einer solchen erbärmlichen Plackerei ohne bemerkenswerte Veränderungen schleppten sich die Jahrtausende hin. Denn diese modernen Barbaren lebten auf einem verbrauchten Planeten. Abgesehen davon, daß ihnen keine Kohle und kein Öl mehr zur Verfügung standen, konnten sie auch mit ihren schlechten Werkzeugen und ihrem geringen Verstand kaum irgendwelche mineralische Bodenschätze abbauen. Besonders die unedlen Metalle, die eine hochentwickelte Zivilisation für so viele ihrer verschiedenartigen Produktionszweige benötigt, waren in den zugänglicheren Tiefen der Erdrinde längst abgebaut. Der Ackerbau wurde darüber hinaus noch dadurch behindert, daß selbst Eisen nicht mehr zur Verfügung stand, weil man es nur mit Hilfe von Maschinen hätte gewinnen können. Die Menschen mußten wieder zu Steinwerkzeugen, wie sie von ihren Vorfahren einstmals gebraucht wurden, zurückkehren. Aber ihnen fehlte die Geschicklichkeit und die Ausdauer der Alten. Ihre Geräte entsprachen weder der sauber ausgearbeiteten Tropfenform der Faustkeile der Altsteinzeit noch der regelmäßigen Symmetrie der Neusteinzeit, sondern bestanden nur aus wenig bearbeiteten, gebrochenen oder natürlich geformten Steinen. In fast jedes Werkzeug ritzten sie das gleiche pathetische Symbol ein, das als Sonnenkreuz, Hakenkreuz oder Kreuz mit sehr unterschiedlicher Bedeutung vom Ersten Menschen während der ganzen Zeit seines Wirkens auf der Erde als heiliges Zeichen verehrt wurde. Es war ursprünglich von Rebellen übernommen worden, für die es ein Symbol für den Sturz 142
des Gordelpus und des Staates darstellte. Es war vom Bild eines die Zerstörung mit sich führenden und auf die Erde herunterstürzenden Flugzeuges abgeleitet. Aber die folgenden Generationen deuteten dieses Zeichen als die Handschrift eines göttlichen Vorfahren, als eine Erinnerung an das Goldene Zeitalter, das ihnen nie zu erleben bestimmt war, oder höchstens dann, wenn die Götter sich ihrer annähmen. Man könnte fast sagen, daß durch das hartnäckige Festhalten an diesem Symbol die erste menschliche Spezies unbewußt ihr gespaltenes und sich selbst vereitelndes Wesen bekundete. Die Vorstellung, daß der Verfall unaufhaltbar weitergehen würde, beherrschte zu jener Zeit die Rasse. Jene Generation, die den Zusammenbruch des Weltstaates miterlebt hatte, versorgte die Jüngeren mit Geschichten über vergangene Annehmlichkeiten und Wunder und schmeichelte sich selbst mit der Meinung, daß die jungen Leute doch nicht den Verstand besäßen, um ein solch komplexes Gebilde wiederaufzubauen. In dem gleichen Maße, in dem die Lebensbedingungen von Generation zu Generation immer erbärmlicher wurden, verstärkten sich die Übertreibungen, mit denen man die Vergangenheit in Legenden glorifizierte. So gingen die wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr rasch verloren, außer ein paar Brocken, die sich für ein Leben in der Wildnis von praktischer Bedeutung erwiesen. Allerdings blieben Fragmente der alten Kultur noch im Gewirr der verschiedenen volkskundlichen Überlieferungen erhalten, das den ganzen Globus umschlang, aber sie waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Zum Beispiel bestand der weit verbreitete Glaube, daß der Ursprung der Welt das Feuer gewesen wäre und daß das Leben sich aus dem Feuer entwickelt hätte. Nach dem Auftreten der Affen hätte die Evolution aufgehört, so sagte man, bis sich der Göttliche Geist herabgesenkt und sich den weiblichen Affen zugewandt hätte, wodurch dann menschliche Wesen entstanden wären. So wäre das Goldene Zeitalter der gottähnlichen Vorfahren entstanden. Aber unglücklicherweise hätte nach einer Weile das Tier im Menschen über das Göttliche triumphiert, so daß der Fortschritt einer 143
langen Zeit des Verfalls gewichen wäre. So wäre gegenwärtig der weitere Niedergang der Rasse unvermeidbar, bis zu einer Zeit, da es die Götter für angebracht halten würden, sich mit den Frauen wiederum zu vereinigen, um auf diese Weise der Menschheit eine neue Hochkultur zu ermöglichen. Dieser Glaube an ein zweites Eingreifen der Götter erhielt sich an manchen Orten beharrlich während des gesamten Ersten Dunklen Zeitalters und versöhnte die Menschen mit ihrer dumpfen Ahnung, daß die Rasse weiter degeneriere. Bis zum Ausgang des Ersten Dunklen Zeitalters standen die Ruinen der alten Wohntürme überall als charakteristische Landmarken im Gelände und kontrastierten in ihrer machtausstrahlenden Senilität zu den armseligen Hütten der Primitiven. Die Lebenden wohnten zu Füßen dieser Reliquien wie Enkel, die sich zu Füßen ihrer für sie riesigen und mächtigen Großväter umherbalgen. So gut und so dauerhaft hatte die Vergangenheit gebaut, daß die Ruinen selbst noch nach hunderttausend Jahren als Artefakte zu erkennen waren. Obwohl die meisten von ihnen jetzt nur noch von Gras und Büschen überwachsenen Trümmerpyramiden ähnelten, ließen doch fast alle ein Stück intakte Wandkonstruktion erkennen, und hier und da erhob sich sogar in einigen Ausnahmefällen ein 30 oder 40 m hohes schlankes Gebäude mit vielen Fensterhöhlen aus einem Schuttberg empor. Phantastische Sagen erzählte man von diesen Turmruinen. Nach einer dieser Legenden hatten sich die Menschen der Vergangenheit gewaltige Paläste gebaut, mit denen man fliegen konnte. Tausend Jahre lang — für die Primitiven war das eine unvorstellbar lange Zeit — hatten die Menschen in Einigkeit und Gottesverehrung miteinander gelebt, aber schließlich hatte sie ihre Ruhmsucht so verstiegen gemacht, daß sie aufbrachen, zur Sonne, zum Mond und zu den Sternen zu fliegen, um die Götter aus ihren strahlenden Gefilden zu vertreiben. Aber die Götter säten Zwietracht unter die Menschen, so daß diese sich gegenseitig in der Luft anfielen und ihre schnellflügligen Paläste zu Tausenden auf die Erde herabstürzten, um dort den Menschen für alle Zeit an seine verhängnisvolle Vermes144
senheit zu erinnern. Nach einer anderen Legende hatten die Menschen früher selbst Flügel getragen. Sie wohnten in Taubenschlägen aus Mauerwerk, deren Dächer weit über die Sterne hinausragten und den Zorn der Götter erregten, die die Menschheit deshalb zur Strafe vernichteten. So geisterte in dieser oder jener Fassung das Thema vom Sturz der mächtigen Flugmenschen der Vergangenheit unter ihren elenden Nachkommen. Deren Weiterentwicklung ihres primitiven Ackerbaus, ihrer Jagd und die Verbesserung ihrer Verteidigung gegen neuauftretende Raubtiere wurde immer wieder durch die Furcht gehindert, die Götter mit irgendeiner Neuerung zu beleidigen.
Der Aufstieg Patagoniens Im Laufe der Jahrhunderte entstanden in den verschiedenen Gebieten der Erde zwangsläufig viele neue Rassen. Jede Rasse bestand aus einer Anzahl von Stämmen, deren jeder nur seine direkten Nachbarstämme kannte. Nach vielen Jahrtausenden bewirkte diese gewaltige Mannigfaltigkeit von Rassen und Kulturen neue biologische Transfusionen und eine Wiederbelebung der Art. Schließlich erhob sich aus den vielen Rassenmischungen ein Volk, in dem die alte Würde des Menschlichen wieder einigermaßen hergestellt war. Und wieder unterschieden sich fortschrittliche und rückständige Gebiete voneinander, ›primitive‹ und relativ ›aufgeklärte‹ Kulturen. Diese Wiedergeburt ereignete sich in der südlichen Hemisphäre. Komplexe Klimaänderungen verwandelten den südlichen Teil Südamerikas in eine neue Wiege der Zivilisation. Weiterhin hatte sich die Erdrinde östlich und südlich von Patagonien so gewaltig aufgeworfen, daß sich der einstmals verhältnismäßig flache Teil des Ozeans zu einer weiten Neulandfläche erhob, der Amerika über die Falklandinseln und Südgeorgien mit der Antarktis verband und sich nach Osten und Nordosten bis zur Mitte des Atlantiks ausdehnte. 145
Zufällig waren auch in Südamerika die rassisch-biologischen Vorbedingungen für eine solche Entwicklung günstiger als anderswo. Nach dem Zusammenbruch des Ersten Weltstaates nahm das europäische Element innerhalb der Bevölkerung ab und die alten ›indianischen‹ und ›peruanischen‹ Volksteile dominierten. Vor vielen Tausenden von Jahren hatte diese Rasse bereits eine eigene primitive Zivilisation besessen. Nachdem die Spanier diese zerstört hatten, schien sie für immer ausgelöscht und zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Doch hatten sich die Besiegten merkwürdigerweise im Geistigen stets von der Zivilisation der Eroberer ferngehalten. Obwohl sich beide Völker sehr stark miteinander vermischt hatten, bestanden in den abseits gelegeneren Teilen des Kontinents Lebensweisen weiter, die dem herrschenden Amerikanismus völlig fremd waren. Äußerlich amerikanisiert, blieben sie im Grunde ›indianisch‹ und der übrigen Welt unverständlich. Während der vergangenen Zivilisation ruhten sie wie ein Saatkorn im Winter, aber mit der Wiederkehr der Barbarei blühten sie wieder auf und verbreiteten sich unbemerkt in alle Windrichtungen. Aus der Begegnung dieser alten primitiven Kultur mit vielen anderen Rassensplittern, die auf dem Kontinent von der alten Weltzivilisation übriggeblieben waren, sollte das zivilisierte Leben wieder entstehen. So konnten die Inkas letzten Endes über ihre Eroberer triumphieren. Viele Ursachen trafen dann in Südamerika und insbesondere in den neuen, jungfräulichen Ebenen Patagoniens zusammen, um das Erste Dunkle Zeitalter zu beenden. Die große Polyphonie des menschlichen Geistes erklang erneut. Aber diesmal in Moll. Denn ein schwerer Nachteil machte den Patagoniern zu schaffen. Sie waren alt, bevor ihre Jugend vorüber war. Zur Zeit Einsteins dauerte die Jugend eines Menschen etwa 25 Jahre, und im Weltstaat wurde sie künstlich auf die doppelte Zahl verlängert. Nach dem Niedergang der Zivilisation ließ sich die zunehmende Lebensverkürzung nicht mehr durch irgendwelche Kunstgriffe verbergen. Und gegen Ende des Ersten Dunklen Zeitalters gehörte ein 15jähriger Junge bereits in die mittlere Altersgruppe. 146
In ihrer Blütezeit gewährte die patagonische Zivilisation ihren Angehörigen ein beträchtliches Maß an Bequemlichkeit und Sicherheit im Leben und ermöglichte dem Menschen eine Lebensspanne von 70 oder sogar 80 Jahren. Dabei währte jedoch die eigentliche Spannkraft, Elastizität und Empfindsamkeit der Jugendzeit bestenfalls nur etwas über 15 Jahre. So waren die Jüngeren erst dann in der Lage, ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Kultur zu leisten, wenn sie bereits im mittleren Alter standen. Mit fünfzehn wurden ihre Knochen merklich spröde, ihr Haar ergraute und ihr Gesicht bekam Falten, ihre Gelenke wurden steif, ihre Muskeln schwach, ihr Gehirn war nicht mehr in der Lage, sich neuen Verhältnissen anzupassen, und ihre Leidenschaft verebbte. Es muß seltsam erscheinen, daß die Rasse unter diesen Umständen überhaupt eine Zivilisation entwickeln konnte, und daß die einzelnen Generationen mehr zu leisten imstande waren, als lediglich die Tricks der Älteren zu erlernen. Obwohl der Fortschritt zwar zu keiner Zeit stürmisch wurde, ging es doch immer stetig voran. Ein Grund hierfür mag sein, daß diese Wesen durch einen starken Mangel an jugendlicher Vitalität nicht den Verwirrungen und Ablenkungen der Jugend so sehr ausgesetzt waren. Die Ersten Menschen der damaligen Zeit hatten sich bereits ihre Hörner abgelaufen; und obwohl ihre Jugendtorheiten sie einigermaßen geschwächt hatten, waren sie doch hinsichtlich Nüchternheit und Zielstrebigkeit im Vorteil gegenüber ihren Vorfahren. Obwohl ihre Müdigkeit und eine gewisse Furcht vor Übertreibungen es ihnen unmöglich machte, die höchsten Leistungen ihrer Vorgänger je zu erreichen, vermieden sie jedoch viele Inkonsequenzen und seelische Konflikte, die die frühere Zivilisation zwar nicht zur Zeit ihres Niedergangs, wohl aber in ihrer Blütezeit gequält hatten. Da das Tierhafte bei den Patagoniern etwas verdrängt war, vermochten sie sich mehr einem leidenschaftslosen Erkenntnisdrang zu widmen und waren insgesamt intellektueller. Sie waren ein Volk, bei dem zwar das vernünftige Verhalten viel weniger oft durch Leidenschaften beeinflußt, jedoch sehr stark durch Trägheit und Kleinmut gefährdet war. Sie konnten sich 147
zwar relativ leicht von den subjektiven Belastungen ihrer Welt befreien und sich einer objektiven Betrachtung zuwenden, aber dies geschah aus bloßer Lebensmüdigkeit, nicht als ein Sprung aus dem Gefängnis der Wünsche und Begierden in eine freiere und weitere Welt. Ein Grund für diese besonderen Charaktereigenschaften der Patagonier war die Tatsache, daß ihr Geschlechtstrieb verhältnismäßig schwach entwickelt war. Viele dunkle Ursachen haben dazu beigetragen, daß die beim Ersten Menschen in überreichlichem Maße hervortretende Sexualität, durch die er sich von allen anderen Lebewesen unterschied, und in der er sogar die hierin sehr regen Affen übertraf, sich nunmehr weniger stark zeigte. In der letzten Lebensphase dieser Spezies bewirkten diese verschiedenen Ursachen ein allgemeines Nachlassen überschüssiger Energie. Während des Dunklen Zeitalters hatte die Härte des Existenzkampfes das erotische Interesse soweit zurückgedrängt, daß es fast die gleiche untergeordnete Bedeutung hatte wie bei Tieren. Der Koitus gehörte zu den nicht lebensnotwendigen Luxusbedürfnissen und wurde selten begehrt, während der Selbsterhaltungstrieb an erster Stelle in der Liste der Lebensnotwendigkeiten rangierte. Als dann das Leben bequemer wurde, blieb das Sexuelle weiterhin zu einem guten Teil verschüttet, denn schon wirkten jene Kräfte, die ein vorzeitiges Altern der Rasse verursachten. So unterschied sich die patagonische Kultur in dieser Hinsicht von allen bisherigen Kulturen des Ersten Menschen. Zuvor war der Zusammenprall der sexuellen Bedürfnisse mit den sozialen Tabus wenigstens für die Hälfte der Leidenschaften und die Hälfte der Enttäuschungen der Menschheit verantwortlich gewesen. Die überschüssige Energie einer siegreichen Spezies hatte man in den großen Fluß des Sexus geleitet, der dann, durch soziale Konventionen, eingedeicht und in Kanäle gelenkt, die Energiequelle für Tausende verschiedener Tätigkeiten abgab. Und obwohl es oft zu Deichbrüchen und damit verbundenen Verwüstungen gekommen war, hatte sich das System im großen und ganzen gut bewährt. Natürlich hatte der Fluß nach allen Richtungen Auswege gesucht und eigene 148
Kanäle gerissen, so wie ein gestutzter Baum unzählige Triebe aussendet. So war es früher bei den Völkern zu einem Reichtum und einer Mannigfaltigkeit im Seelischen und Geistigen gekommen, aber ebenso zu Inkonsequenzen sowie zu gewalttätigem und unbegreiflichem Verlangen und zu ebensolchen Begeisterungsausbrüchen. Bei den Patagoniern gab es so etwas nicht. Daß ihre Sexualität recht schwach war, bedeutete an sich keinen Nachteil. Viel verhängnisvoller war es, daß jene Energiequellen, die sich in früheren Zeiten in einen großen Fluß ergossen hatten, fast am Versiegen waren. Man stelle sich also ein kleines und erstaunlich nüchternes Volk vor, das sich ursprünglich östlich der alten Bahia Bianca niedergelassen hatte und über die Jahrhunderte immer weiter über die Ebenen und in die Täler hinein vordrang. Schließlich erreichte es einen Höhenzug, der einmal die Insel Südgeorgien gewesen war, und drang im Norden und Westen weiter in das brasilianische Hochland und über die Anden vor. Es war von anderer Art als alle seine Nachbarn, auf jeden Fall vitaler und klüger, und kannte keine ernsthaften Gegner. Und da es in seiner Mentalität friedfertig und umgänglich war, standen seinem kulturellen Fortschritt weder ein militärischer Imperialismus noch irgendwelche inneren Kämpfe und Streitigkeiten entgegen. Wie einstmals bei seinen Vorfahren in der nördlichen Hemisphäre gab es natürlich auch bei diesem Volk Zeiten der Zerrissenheit und solche der Einigkeit, des Rückschritts und des Neuentstehens; aber seine Karriere war im großen und ganzen von einem beständigen Fortschritt bestimmt und war auch weniger dramatisch als alles bisher Dagewesene. Früher hatte es Völker gegeben, denen der Sprung von der Barbarei zur Zivilisation innerhalb eines einzigen Jahrtausends gelungen war, die dann aber sehr bald wieder zusammenbrach. Bei den Patagoniern dauerte es zehnmal so lange, bis sie von den Organisationsformen eines Stammes zu einer stämmeumfassenden Staatsform gelangten. Schließlich gelang ihnen die Bildung einer räumlich ausgedehnten und hochentwickelten Gemeinschaft von selbständigen Provinzen, de149
ren politisches und kulturelles Zentrum an der neuen Küste nordöstlich der alten Falklandinseln lag, und zu deren weniger entwickelten Gebieten Brasilien und Peru gehörten. Daß es zwischen den verschiedenen Teilen des Reiches keine ernsthaften Auseinandersetzungen gab, verdankten die Patagonier zum Teil ihrer angeborenen pazifistischen Einstellung und zum anderen ihrem Organisationstalent. Diese Einflüsse wurden noch verstärkt durch eine merkwürdigerweise recht lebendig gebliebene kosmopolitische Tradition, einem Streben nach Einheit unter den Menschen, das während der Lähmung der Welt durch die Zwietracht vor dem Entstehen des Ersten Weltstaates entstanden war und sich offensichtlich so stark in den Herzen der Menschen festgesetzt hatte, daß es sogar noch nach einem Dunklen Zeitalter als mythisches Element weiterwirkte. Diese Tradition erwies sich als so mächtig, daß selbst nachdem patagonische Segelschiffe im entfernten Afrika und in Australien Kolonien gegründet hatten, diese neuen Gemeinwesen weiterhin mit ihrem Mutterland verbunden blieben. Selbst als die fast nordische Kultur der neuen und klimatisch gemäßigten antarktischen Küsten das alte Zivilisationszentrum der Patagonier an Bedeutung übertroffen hatte, war die politische Zusammengehörigkeit der Rasse nie in Gefahr.
Der Kult der Jugend Die Patagonier gingen durch alle geistigen Entwicklungsstufen hindurch, die auch Rassen vor ihnen durchlebt hatten, dabei nahmen sie natürlich einen eigenen Weg. Bei ihnen gab es zunächst eine primitive Stammesreligion, die in dunkler Vergangenheit entstanden war und auf der Furcht vor Naturkräften gründete. Dann gab es bei ihnen die monotheistische Verkörperung der Allgewalt in Gestalt eines rächenden Schöpfers. Der von ihnen am meisten verehrte Held aber war ein gottähnlicher Mensch, der ihrem Volke angehörte und die alte Religion der 150
Furcht beseitigte. Ebenso gab es bei ihnen Perioden ritueller Frömmigkeit, dann solche, in denen der Rationalismus vorherrschte und wieder andere, in denen sie durch empirische Untersuchungen ihrer Neugier frönten. Die dem gottähnlichen Übermenschen zugrundeliegende Thematik ist besonders aufschlußreich für einen Historiker, der sich bemüht, die besondere Mentalität der Patagonier zu verstehen. Diese Thematik zeigt merkwürdigerweise verwandte wie auch abweichende Züge ähnlicher Erscheinungen in früheren Kulturen des Ersten Menschen. Der Gott-Mensch hatte eine ewige Jugend und war in mystischer Verbundenheit der Sohn aller Männer und Frauen. Er war keineswegs ein älterer Bruder, sondern das Lieblingskind und repräsentierte jene jugendliche Energie und Begeisterung, von der die Rasse damals glaubte, daß sie für immer entschwunden wäre. Obwohl das sexuelle Interesse dieses Volkes nur schwach war, waren doch elterliche Gefühle erstaunlich stark entwickelt. Aber man verehrte den Lieblingssohn nicht nur aus einem elterlichen Gefühl heraus, sondern verband damit auch sein eigenes Sehnen nach der dahingeschwundenen Jugend und die dunkle Ahnung, daß die Rasse einem allmählichen Alterungsprozeß unterworfen wäre. Der Prophet soll ein ganzes Jahrhundert in jugendlicher Frische gelebt haben. Man nannte ihn ›den Jungen, der sich weigerte, alt zu werden‹. Er entwickelte diese Willensstärke, so sagte man, weil sich in ihm die schwache Vitalität der Rasse vielmillionenfach konzentriert hätte. Denn er wäre die Frucht aller elterlichen Liebe und Zuneigung, die es jemals gegeben hätte oder geben würde; und so wäre er göttlich. Vor allem war er Sohn des Menschen, aber er war auch ein Gott. Denn in dieser Religion war Gott nicht der Schöpfer aller Dinge, sondern die Frucht aller Bemühungen des Menschen. Der Schöpfer war für den Patagonier nur seelenlose Kraft, durch die dieser zum Beispiel aus Versehen ein edleres Wesen als sich selbst erzeugen könnte. Gott, der Anbetungswürdige, hingegen stellte für ihn das ewige Ergebnis aller Bemühungen 151
des Menschen im Zeitlichen dar, das in die Ewigkeit gesetzte Ziel, dem der Mensch nachstreben sollte. Obwohl dieser Kult sich auf den Willen gründete, mit jungen Herzen die Zukunft zu ergreifen, wurde er von einer manchmal fast zur Gewißheit werdenden Furcht überschattet, daß es in Wirklichkeit eine solche Zukunft nie geben würde, daß die Rasse dazu verdammt wäre, alt zu werden und zu sterben, und daß der Geist niemals über das vergängliche Fleisch triumphieren könne, sondern mit ihm dahinschwände und ausgelöscht würde. Nur wenn man die Botschaft des Göttlichen Jungen in sich aufnähme, so sagte man, könnte man diesem Verdammungsurteil entgehen. Das war also die Legende. Es ist sehr instruktiv, wenn man sich daraufhin jetzt der Wirklichkeit zuwendet. Der Mensch, auf den sich der Mythos vom Lieblingssohn gründet, war zweifellos sehr bemerkenswert. Seine Eltern waren Schafhirten in den südlichen Anden. Er wurde zunächst bekannt als Führer einer romantischen Jugendbewegung, und hierdurch gelang es ihm bereits frühzeitig in seiner Laufbahn, Anhänger zu finden. Er forderte die Jungen auf, den Alten ein Beispiel zu geben und ihr Leben ohne Rücksicht auf Konventionen zu genießen, bei der Arbeit tüchtig zuzupacken, aber nicht zu lange zu arbeiten und treue Kameradschaft zu halten. Er predigte vor allem von der religiösen Verpflichtung, sich im Geiste jung zu erhalten. Keiner, so sagte er, brauche alt zu werden, wenn er sich ernsthaft dagegen wehre, wenn er seine Seele daran hindere, in Schlaf zu verfallen, und wenn er sein Herz allen verjüngenden Einflüssen gegenüber öffne und es vor jedem Hauch der Senilität verschließe. Das Entzücken, das eine Seele an der anderen fände, sagte er, wäre der große Jungbrunnen; in ihm würden der Liebende und die Geliebte neu geboren. Wenn die Patagonier endlich wieder die sie umgebende Schönheit ohne Skrupel und Eifersucht genießen und genießen lassen würden, würde die Rasse wieder jung werden. Die Aufgabe, die sich seine immer mehr anwachsende Jugendschar gestellt hatte, war keine geringere, als die, den Menschen zu verjüngen. 152
Die Verbreitung dieser Heilslehre wurde durch ein scheinbares Wunder gefördert. Es stellte sich heraus, daß der Prophet eine für Patagonier offensichtlich einmalige Vitalität besaß. Während sich bei vielen der mit ihm Gleichaltrigen bereits Alterserscheinungen bemerkbar machten, blieb er körperlich jung und frisch. Zudem besaß er eine Manneskraft, die für die Patagonier ans Wunderbare zu grenzen schien. Und da es damals keine sexuellen Tabus gab, widmete er sich nach Herzenslust der Liebe und hatte bald in jedem Dorf eine Freundin und eine Nachkommenschaft, die in die Hunderte ging. In dieser Hinsicht bemühten sich seine Anhänger, seinem Vorbild nachzueifern, aber sie hatten hierbei nur sehr geringen Erfolg. Aber der Prophet blieb nicht nur körperlich jung, sondern er bewahrte sich auch eine auffallende jugendliche Beweglichkeit im Geistigen. Für ihn war die seine Zeitgenossen überraschende und ans Wunderbare grenzende Sexualität nur ein maßvolles Verströmen überflüssiger Energie, das ihn keineswegs erschöpfte, sondern im Gegenteil stärkte. Bald wandte er sich jedoch nach diesem Überschwang der Gefühle einem etwas nüchterneren Leben der Arbeit und der Meditation zu. In diesem Lebensabschnitt unterschied er sich auch im Geistigen merklich von seinen Mitmenschen. Denn noch im Alter von 25 Jahren, als die meisten Patagonier auf ausgetretenen Wegen dahinschlichen, rang er mit einem Heer wieder neu auf ihn einstürmender Ideen und erkämpfte sich einen Weg auf das Unbekannte zu. Erst als er 40 Jahre alt war und dabei physisch noch im frühen Mannesalter stand, konzentrierte er seine Kraft auf die Konzeption seiner reifen Daseinslehre. Diese Heilsbotschaft war für die meisten Patagonier völlig unverständlich. Obwohl sie in gewissem Sinne ihre eigene Kultur verdeutlichte, war doch der kraftvoll vitale Standpunkt, von dem aus diese Sinngebung erfolgte, nur für sehr wenige faßbar. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt, als der vom Alter ungezeichnete Prophet während eines Gottesdienstes im bedeutendsten Tempel der Hauptstadt, bei dem die Gläubigen vor dem furchteinflößenden Bild des Schöpfers auf den Knien lagen, auf den Altar zuschritt, 153
erst einen Blick auf die Gemeinde warf, dann den Gott ansah und in ein schallendes Gelächter ausbrach, danach auf das Bild einschlug, daß es im Räume widerhallte und rief: »Häßlicher, ich grüße Dich! Nicht als Allmächtigen, sondern als größten Clown aller Zeiten, der sich ein solches Gesicht erlauben darf und den man trotzdem verehrt, der so leer und hohl ist und trotzdem gefürchtet wird!« Sofort erhob sich nach diesen Worten ein Lärm in der Menge. Aber die Überraschung und der gottgleiche Glanz und die Zuversicht, die von diesem jungen Bilderstürmer ausgingen, sowie sein Ruf als Wunderknabe waren so groß, daß sich die Menge wieder beruhigte, als er sich zu ihr umwandte, und sie seine Strafpredigt geduldig über sich ergehen ließ. »Ihr Narren!« rief er. »Ihr senilen Säuglinge! Wenn Gott euch eure unterwürfigen Schmeicheleien und diesen ganzen faulen Zauber abnimmt, dann nur deswegen, weil er sich darüber köstlich amüsiert. Ihr seid zu tierisch ernst, und doch nicht ernsthaft genug; so feierlich, und das alles wegen einer Kinderei. Ihr seid so begierig zu leben, daß ihr nicht leben könnt. Ihr seid so um eure Jugend besorgt, daß sie euch flieht. Als ich noch ein Knabe war, sagte ich: »wir wollen jung bleiben«; und ihr rieft Beifall, nahmt eure Spielsachen fest in die Arme und weigertet euch, erwachsen zu werden. Was ich damals sagte, war nicht schlecht als Aufforderung eines Jungen, aber es besagte nicht alles. Jetzt bin ich ein Mann und ich sage euch: Werdet um Gottes willen endlich erwachsen! Natürlich müssen wir uns jung erhalten; aber es ist sinnlos, jung bleiben zu wollen, ohne gleichzeitig den Wunsch zu haben, immer weiter zu wachsen und zu reifen. Zweifellos gehören zum Jungsein Elastizität und interessierte Anteilnahme an allen Dingen der Welt; aber das Erwachsensein bedeutet nun keineswegs andererseits ein Absinken in Starre und Interesselosigkeit, sondern den Erwerb einer immer größeren Geschicklichkeit in der Beherrschung der Spielregeln des Lebens. Es gehört noch etwas anderes zum Erwachsenwerden, nämlich die Erkenntnis, daß das Leben in Wirklichkeit am Ende nur ein Spiel ist, zweifellos ein außerordentlich ernstes Spiel, aber eben doch nur ein 154
Spiel. Jeder echte Spieler wird aus Körper und Geist das Letzte herausholen, um den Sieg zu erringen, und doch wird ihm der Sieg weniger bedeuten als das Spiel selber. Verhält er sich so, wird er sogar noch besser spielen. Barbaren, die gegen eine patagonische Mannschaft spielen, vergessen stets, daß es sich bloß um ein Spiel handelt und sind wie die Wahnsinnigen nur auf einen Sieg aus. Und wir alle wissen genau, wie wir sie deswegen verachten. Nach einer Niederlage werden sie rabiat, und nach einem Sieg ertönt ihr wildes Triumphgeschrei. In jedem Falle morden sie das Spiel, und sie merken dabei nicht einmal, daß sie etwas sehr Schönes umgebracht haben. Und wie sie sich dann mit ihren Flüchen und Vorwürfen auf den Schiedsrichter stürzen! Früher habe ich das natürlich genauso gemacht; allerdings nicht im Spiel, sondern im Leben. Wirklich, ich habe den Schiedsrichter unseres Lebens verflucht. Das war auf jeden Fall besser, als ihn mit Geschenken zu beleidigen, in der Hoffnung, dadurch bei ihm besser abzuschneiden, so wie ihr das hier mit eurem Kotau und mit euren Gelübden tut. So etwas habe ich nie getan. Ich habe ihn bloß aus tiefster Seele gehaßt. Später habe ich dann über ihn lachen können, oder, genauer gesagt, über das, was ihr an seine Stelle gesetzt habt. Aber jetzt endlich vermag ich ihn klar zu erkennen, und ich lache mit ihm gemeinsam über mich selbst, weil ich den Sinn des Spiels nicht begriffen hatte. Und was tut ihr!? Ihr kriecht, winselt und buhlt um die Gunst des Schiedsrichters!« An dieser Stelle seiner Rede stürzten die Menschen auf ihn zu und wollten ihn ergreifen, aber er hielt sie zurück mit seinem jungen Lachen, und sie liebten ihn trotz ihres Hasses. Er fuhr fort: »Laßt mich euch erzählen, wie ich meine Lehre erteilt bekommen habe. Ich klettere gern in den Bergen umher, und einmal, als ich in den Schneefeldern zwischen den Bergklüften von Aconcagua war, wurde ich von einem Schneesturm überrascht. Einige von euch werden vielleicht wissen, was ein Schneesturm im Gebirge bedeutet. Ich befand mich plötzlich inmitten einer tosenden Schneeflut, die mich packte und mit sich fortriß. Viele Stunden lang wurde ich von ihr hin- und hergeschleudert, bis ich schließ155
lich in eine Schneewehe fiel. Ich versuchte, mich zu befreien, aber fiel immer wieder zurück, bis auch mein Kopf schon vom Schnee bedeckt war. Bei dem Gedanken, jetzt schon sterben zu müssen, wurde ich wütend, denn ich wollte noch so vieles tun. Wie wahnsinnig versuchte ich, mich aus dieser Lage zu befreien, aber es war vergeblich. Dann plötzlich — wie soll ich euch das erklären — da erlebte ich mich wie einen Teilnehmer eines Spiels, der am Verlieren war. Und ich erkannte, daß es ein gutes Spiel war, bei dem es nichts ausmacht, ob man gewinnt oder verliert. Denn das Spiel war wichtig und nicht der Sieg. Bisher war ich in meiner Blindheit sklavisch auf den Sieg versessen gewesen, aber plötzlich fühlte ich mich frei und konnte sehen. Da sah ich mich selbst und uns alle mit den Augen des Schiedsrichters. Es war so, als würde ein Schauspieler das Drama, in dem er selbst mitspielt, mit den Augen des Autors vom Zuschauerraum aus verfolgen. Dort stand ich auf der Bühne, in der Rolle eines recht ordentlichen Zeitgenossen, der durch eigene Fahrlässigkeit zu Fall gekommen war, bevor er sein Werk vollendet hatte. Für mich als Mitspieler war die Lage entsetzlich und endgültig; aber für mich als Zuschauer war sie vortrefflich im Sinne einer höheren Dramatik. Ich erkannte, daß es so wie mir uns allen geht, und nicht nur uns, sondern allen Welten des Universums. Denn es schien mir, als ob tausend andere Welten Mitwirkende in diesem großen Schauspiel wären. Das alles sah ich mit den ruhigen, triumphierenden, ja fast spöttischen, aber nicht unfreundlichen Augen des Autors. Nun, es sah so aus, als ob meine letzte Stunde geschlagen hätte; aber nein, der Autor hatte noch ein weiteres Stichwort für mich vorgesehen. Irgendwie hatte mich diese neue Einsicht in den Lauf der Dinge so gestärkt, daß ich mich aus der Schneewehe befreien konnte. Und so stehe ich heute wieder vor euch. Aber ich bin ein anderer Mensch geworden. Mein Geist ist frei. Als ich noch ein Knabe war, sagte ich ›Werde lebendiger!‹; aber damals hätte ich nie vermutet, daß es eine viel stärkere Intensität im Leben geben könnte als das jugendliche Aufflackern, nämlich eine Art ruhigen Leuchtens. Ist denn niemand unter euch, der 156
begreift, was ich meine? Niemand, der sich nicht wenigstens nach einer solchen Lebensintensität sehnt? Der erste Schritt hierzu heißt, den Götzendienst am Leben selbst zu beseitigen und jene bettelnde Liebedienerei gegenüber der Macht aufzugeben. Kommt! Hört auf damit! Zerstört dieses lächerliche Bild in eurem Herzen so wie ich diesen Götzen zerschlage.« Indem er dies sagte, ergriff er einen großen Leuchter und zerschmetterte das Bild. Wiederum erhob sich ein wildes Geschrei, und die Priester ließen ihn verhaften. Bald darauf wurde er wegen Gotteslästerung vor Gericht gestellt und hingerichtet. Denn diese letzte Zügellosigkeit war nur der Höhepunkt einer Reihe von vielen Unbesonnenheiten. Die Machthaber waren froh, einen so geeigneten Vorwand zu haben, um jenen genialen, aber ebenso gefährlichen Wahnsinnigen zu beseitigen. Aber der Kult des Göttlichen Knaben war bereits sehr verbreitet, denn die frühen Lehren des Propheten entsprachen einer ursprünglichen Sehnsucht der Patagonier. Seine Anhänger nahmen sogar seine letzte Botschaft in sich auf, wenn sie diese auch nicht recht verstanden. Dabei stand für sie seine Tat als Bilderstürmer im Vordergrund und nicht der Sinn seiner Ermahnungen. Jahrhundert um Jahrhundert verbreitete sich diese neue Religion, denn um eine solche handelte es sich hier, über die ganze Welt. Die Menschheit schien eine gewisse geistige Verjüngung durch überall neu entfachte Leidenschaften und Interessen durchzumachen. Auch im Physischen machten sich gewisse Verjüngungserscheinungen bemerkbar; denn dieser einzigartige biologische Wunderknabe hatte als einziger Erbe einer verlorengegangenen früheren Vitalität bis zu seinem Tode mehrere tausend Söhne und Töchter gezeugt, die ihrerseits für die weitestmögliche Verbreitung ihrer guten Erbanlagen sorgten. Zweifellos war es diesem neuen Geschlecht zuzuschreiben, daß Patagonien jetzt ein goldenes Zeitalter erlebte, in dem die materiellen Lebensbedingungen der Menschheit wesentlich verbessert, die Zivilisation in die nördlichen Gebiete gebracht und naturwissenschaftliche 157
und philosophische Probleme mit erneutem Eifer wieder aufgegriffen wurden. Aber dieses Wiederaufleben der Rasse war nicht von Dauer. Die Abkömmlinge des Propheten legten zu viel Wert auf ein ungestümes Leben, so daß sie sich physisch, sexuell und geistig verausgabten und schwächten. Hinzu kam, daß jener kräftigende Erbstrom durch Blutsmischung mit den zahlenmäßig weit größeren ›senilen‹ Bevölkerungsgruppen allmählich verdünnt wurde und wieder in die Inaktivität des Alters zurückfiel. Gleichzeitig erschien auch die Gestalt des Göttlichen Knaben in einer immer stärkeren Verzerrung. Zuerst repräsentierte sie das Ideal der Jugend, wie Jugendliche sein sollten: schwärmerische Treue, ungebundene Fröhlichkeit, Kameradschaftlichkeit, Sinnenfreude und eine gute Portion reinen Schabernacks. Aber unmerklich wurde daraus eine Wunschvorstellung der langweiligen, am Leben ›Gereiften‹ davon, wie die Jugend sein müßte. Aus dem ungestümen jungen Helden wurde in der sentimentalen Sicht der Alten ein naiver und gefügiger unfertiger Mensch. Alles jugendliche Ungestüm wurde vergessen, und übrig blieb ein seltsames Abziehbild von einem Jugendlichen, das den elterlichen Wunschvorstellungen entsprach. Und weil Menschen in mittleren Jahren Nüchternheit und Vorsicht so gerne mögen, wurden auch diese Eigenschaften noch Bestandteil ihres Trugbildes von der Jugend. So wurde dieses Zerrbild der Jugend notwendigerweise ein Alb für die wirklich jungen Männer und Frauen. Es wurde ihnen als soziales Leitbild vorgehalten; aber es war ein Leitbild, dem sie niemals entsprechen konnten, ohne ihrem eigentlichen Wesen Gewalt anzutun, denn es hatte überhaupt nichts mehr mit Jugendlichkeit zu tun. So wie man in früheren Zeiten die Frauen gleichzeitig idealisiert und in ihrer Entwicklung niedergehalten hatte, so geschah es jetzt mit der Jugend. Einige wenige allerdings gab es immer wieder, die im Laufe der Geschichte Patagoniens zu einer klareren Vorstellung über den Propheten gelangten. Noch wenigere konnten sogar den Sinn seiner letzten Bot158
schaft verstehen, in der er kraft seiner immer jung bleibenden Geistigkeit eine Reife erreicht hatte, die den Patagoniern völlig unzugänglich war. Die Tragik dieses Volkes war nämlich nicht so sehr sein Altern sondern sein Stillstand im Wachsen und Reifwerden. Sie fühlten sich alt und sehnten sich danach, wieder jung zu sein. Aber durch ihre beständige geistige Unreife kamen sie nie zu der Erkenntnis, daß die echte, wenn auch von ihnen nicht erstrebte Erfüllung eines leidenschaftlichen jugendlichen Sehnens nicht die bloße Realisierung von Jugendwünschen bedeutet, sondern das Erreichen einer bewußteren und umfassenderen Vitalität.
Die Katastrophe Erst in der Spätzeit ihrer Entwicklung entdeckten die Patagonier Spuren der vorangegangenen Zivilisation. Da sie die alte Religion der Furcht überwunden und damit gleichzeitig die Legende einer versunkenen Herrlichkeit aufgegeben hatten, fühlten sie sich jetzt als Pioniere des Geistigen. In dem neuen Kontinent, der ihre Heimat geworden war, gab es natürlich keine Überbleibsel der alten Ordnung; und jene Ruinen, die in den älteren Siedlungsgebieten verstreut zu sehen waren, hatte man als monströse Spielereien der Natur angesehen. Aber dann waren Archäologen infolge der erweiterten Kenntnisse über die Natur in der Lage gewesen, etwas von dieser vergessenen Welt wiederaufzubauen. Der Wendepunkt kam, als sie in den Kellergeschossen eines zerfallenen Turmes in China einen großen Vorrat an metallähnlichen Platten entdeckten, die aus einem außerordentlich festen und haltbaren Kunststoff hergestellt waren, und auf denen ein Gewirr von Schriftzeichen erhaben hervortrat. Es handelte sich bei diesen Gegenständen in Wirklichkeit um Druckstöcke, die vor einer Million Jahren zum Druck von Büchern verwendet worden waren. Bald entdeckte man noch weitere, ähnliche Lagerräume, und so konnte man, Zeichen für Zeichen, all159
mählich die tote Sprache entziffern. Nach drei Jahrhunderten waren die Umrisse der alten Kultur klar erkennbar; und plötzlich stürzte, die ganze Historie vom Aufstieg und Fall des Menschen auf diese Spätzivilisation hernieder, als wenn einer jener alten Riesentürme auf Nomadenzelte zu seinen Füßen herabgestürzt wäre. Die Pioniere entdeckten, daß das ganze Gebiet, das sie so mühselig der Wildnis abgerungen hatten, vor undenklichen Zeiten schon längst erobert und dann verlorengegangen war; daß ihre materiellen Errungenschaften nichts im Vergleich zu jenen der Vergangenheit waren und daß sie in der Sphäre des Geistigen nur einige wenige Siedlungen errichtet hatten, wo früher ein Imperium bestanden hatte. Die Naturwissenschaft in Patagonien war kaum weiter vorangekommen als die Europas vor der Zeit Newtons. Sie hatten gerade erst mit dem wissenschaftlichen Denken begonnen und waren von einigen abergläubischen Vorstellungen abgerückt. Und jetzt sahen sie sich plötzlich als Erben einer gewaltigen Gedankenwelt. Dies allein schon war eine schwerwiegende und beunruhigende Erfahrung für ein Volk mit so starkem intellektuellen Interesse. Aber noch überwältigender für sie war die im Laufe ihrer Forschungen auftauchende Erkenntnis, daß die Vergangenheit nicht nur voller Glanz sondern auch voller Verrücktheiten gewesen sein mußte und daß der Irrsinn am Ende triumphiert hatte. Denn die Patagonier waren von zu gesundem und empirischem Verstand, als daß sie das Wissen der alten Welt einfach unbesehen übernommen hätten. Die Untersuchungsergebnisse der Archäologen wurden sehr bald den Physikern und anderen Naturwissenschaftlern vorgelegt, und man erkannte, daß sich das klare Denken und die Wertmaßstäbe Europas und Amerikas in ihrer Blütezeit deutlich von den Degenerationserscheinungen des Weltstaates abhoben. Der Ausgang dieser Begegnung mit einer höherentwickelten Zivilisation war dramatisch und voller Tragik. Die Patagonier spalteten sich nämlich in Konservative und Rebellen, in solche, die alle neuen Erkenntnisse für eine satanische Lüge hielten, und in andere, die damit fertig zu werden suchten. Für die eine Gruppe waren die Tatsachen ein160
fach niederschmetternd; die anderen erblickten in ihnen, vielleicht in einem übermäßigen Respekt, eine unwiderstehliche Erhabenheit und auch eine Hoffnung. Daß die Erde nur ein Stäubchen in einem gewaltigen Sternenhaufen ausmachte, war für die Patagonier noch der am wenigsten umstürzlerische Lehrsatz der neuen Doktrin, denn sie hatten schon längst ein geozentrisches Weltbild aufgegeben. Was die Konservativen so erschütterte, war die Vorstellung, daß ein früheres Geschlecht vor langen Zeiten jene Vitalität besessen und verschwendet hatte, nach der sie sich so sehr sehnten. Die Fortschrittspartei andererseits setzte sich dafür ein, daß man diesen gewaltigen Schatz neuen Wissens nutzen sollte und daß ein mit solchen Kenntnissen versehenes Patagonien den Mangel an Jugendlichkeit durch überragende Vernunft wettmachen könnte. Diese verschiedenen Bestrebungen resultierten in Kämpfen, wie sie die patagonische Welt zuvor niemals gekannt hatte. Eine Art Nationalismus entstand. Die lebenskräftigeren antarktischen Küstengebiete wurden modern, während Patagonien selbst die bisherige Kultur bewahrte. Es kam zu mehreren Kriegen, und als Antarctica in der Physik und in der Chemie Fortschritte machte, entwickelte man dort Kriegswaffen, denen die im Norden wohnenden Volksgruppen keinen Widerstand entgegenzusetzen hatten. Nach wenigen Jahrhunderten hatte die neue ›Kultur‹ den Sieg errungen. Die Welt war wieder eine Einheit. Bis zu jener Zeit war die patagonische Zivilisation mittelalterlich gewesen. Jetzt verwandelte sie sich unter dem Einfluß der Physik und der Chemie. Zur Erzeugung von Elektrizität benutzte man die Kräfte des Windes und des Wassers. Auf der Suche nach Metallen und Mineralen, die in geringen Tiefen nicht mehr zu finden waren, begann man großangelegte Tiefbohrungen. Bauten aus Stahl wurden errichtet. Elektrisch angetriebene Flugzeuge wurden hergestellt, allerdings hatte man mit ihnen wenig Erfolg. Dieses Versagen war symptomatisch für die Patagonier, denn sie waren einfach zur Bezwingung der Luft nicht tollkühn genug, selbst wenn ihre Flugzeuge technisch besser gewesen wären. Na161
türlich schrieben sie selbst dieses Versagen dem Fehlen einer geeigneten Energiequelle, wie etwa dem Benzin vergangener Zeiten, zu. Tatsächlich behinderte sie der Öl- und Kohlemangel überall. Natürlich hätte man die Kraft der Vulkane ausnützen können. Da dieses Problem von ihren weit erfindungsreicheren Vorfahren jedoch zu keiner Zeit erfolgreich gelöst worden war, kamen sie hierbei erst recht nicht voran. Mit der Erschließung der Wind- und Wasserkräfte war ihr Energiebedarf eigentlich auch vollends gedeckt; denn ihnen stand der ganze Planet zur Verfügung, und es lebten damals auf der Erde weniger als insgesamt einhundert Millionen Menschen. Wenn sie auch mit diesen Energiequellen allein niemals den Luxus des ersten Weltstaates erreicht hätten, so wäre es ihnen trotzdem sicherlich möglich gewesen, eine Art von Utopia zu erreichen. Aber dazu sollte es nicht kommen. Obwohl die von ihnen durchgeführte Industrialisierung nur einen geringen Anstieg der Bevölkerungszahl bewirkte, hatte sie doch im Laufe der Zeit die meisten jener sozialen Spannungen zur Folge, die ihre Vorfahren beinahe überwältigt hatten. Den Patagoniern erschien es so, als ob alle diese Schwierigkeiten beseitigt werden könnten, wenn sie nur über mehr Energie verfügten. Diese stark hervortretende und kaum vernunftgemäß zu begründende Überzeugung war symptomatisch für die alle beherrschende fixe Idee, der Sehnsucht nach gesteigerter Vitalität. Unter diesen Umständen war es ganz natürlich, daß sie eine ganz bestimmte Episode der alten Geschichte faszinierte. Das Geheimnis der unbegrenzten Beherrschung der Materie hatte es einmal gegeben, bis es dann verlorengegangen war. Warum sollte es Patagonien nicht gelingen, dieses Geheimnis wiederzuentdecken, es zu nutzen und mit seiner überlegenen Vernunft den Himmel auf Erden zu verwirklichen? Zweifellos hatten die Vorfahren gut daran getan, auf eine so gefährliche Energiequelle zu verzichten, aber die klardenkenden und vernünftigen Patagonier brauchten sich davor nicht zu fürchten. Einige hielten zwar die Suche nach jener Energiequelle für weniger wichtig als die Entde162
ckung eines Mittels, mit dem man den biologischen Alterungsprozeß zum Stillstand hätte bringen können, aber leider waren, im Gegensatz zu den sich sehr rasch erweiternden physikalischen und chemischen Kenntnissen, die Erkenntnisse auf dem Gebiete der diffizileren Biologie zurückgeblieben, im wesentlichen deswegen, weil auch die Vorfahren kaum mehr erreicht hatten, als nur die Grundlagen für diese Wissenschaft zu legen. So kam es dazu, daß sich, angesichts des lohnenden Gewinns, der für alle winkte, die besten Köpfe Patagoniens auf die Lösung des Problems der Kernzertrümmerung konzentrierten. Der Staat unterstützte diese Forschungsvorhaben durch Gründung und Subventionierung von Laboratorien, deren einzige Aufgabe die Lösung des Energieproblems war. Das Problem war schwierig, und außerdem fehlte es den patagonischen Wissenschaftlern an der nötigen Entschlossenheit, obwohl sie intelligent genug waren. So wurde das Geheimnis, oder wenigstens ein Teil davon, erst nach weiteren 500 Jahren ununterbrochener Forschungstätigkeit entdeckt. Durch die Konzentration ungeheurer Energiemengen konnte man die positiv und negativ geladenen Teilchen in einer nicht sehr häufig vorkommenden Atomart zerstören. Aber diese Einschränkung besagte nichts; denn die Menschheit verfügte damit über eine unerschöpfliche Energiequelle, die man leicht beherrschen und verwenden konnte. Aber obwohl man dieses neue Geschenk fest unter Kontrolle hielt, war es dennoch keineswegs narrensicher; und es gab keine Garantie dafür, daß diejenigen, die sich auf seine Anwendung verstanden, davon nicht doch einen törichten Gebrauch machen würden, oder daß sie diese Kraft versehentlich entfesselten. Zu der Zeit, als die neue Energiequelle entdeckt wurde, waren die Patagonier unglückseligerweise untereinander mehr gespalten als zuvor. Die Industrialisierung traf auf eine Rasse, die einen angeborenen Hang zur Unterordnung besaß und bewirkte daher einen weit größeren Klassenunterschied als er in der alten Welt bekannt gewesen war, obwohl es sich hierbei um einen Klassenunterschied von seltsam anderer Art 163
handelte. Der Elterninstinkt des durchschnittlichen Patagoniers nämlich hielt die herrschende Schicht von jenen brutalen Ausbeutungsmethoden ab, die man früher gekannt hatte. Abgesehen vom ersten Jahrhundert der Industrialisierung gab es beim Proletariat keine materielle Not. Eine patriarchalische Regierung war darauf bedacht, daß alle Patagonier wenigstens genügend Nahrung hatten und ausreichend gekleidet waren, und sie sorgte für reichlich Freizeit und für Gelegenheiten zur Unterhaltung und zum Vergnügen. Allmählich brachte sie es zuwege, daß die Bevölkerung immer mehr unter Kontrolle stand. Ebenso wie im ersten Weltstaat befand sich die Staatsgewalt wiederum in den Händen einer kleinen Gruppe von Industriekapitänen, allerdings mit einem gewissen Unterschied. Früher war das Leitmotiv der Wirtschaft eine fast mystisch zu nennende Leidenschaft zur Erzeugung immer größerer Aktivität gewesen; jetzt war die regierende Minderheit von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sie gegenüber dem Volk so etwas wie Elternschaft verträte, und wollte es ›jung im Herzen, unkompliziert, fröhlich, stark und treu‹ sehen. Ihr Ideal war ein Staatstyp, der etwa in der Mitte zwischen einer von einem sympathischen, aber strengen Lehrerkollegium geleiteten Klippschule und einer Aktiengesellschaft stand, in der den Aktionären nur ein einziges Recht belassen war, nämlich das Recht, ihre Vollmachten dankbar einer Gruppe von hervorragenden Direktoren zu übertragen. Daß dieses System bisher so gut gearbeitet hatte und so lange intakt geblieben war, verdankte es nicht nur der angeborenen Fügsamkeit der Patagonier, sondern ebenso den Prinzipien, die für die Ergänzung der Regierungsschicht galten. Eines hatte man nämlich durch das schlechte Beispiel der früheren Zivilisation gelernt, man hatte jetzt Respekt vor der Intelligenz. Durch ein System von sorgfältigen und genauen Testverfahren wurden die intelligentesten Kinder aus allen Bevölkerungsschichten ausgewählt und so erzogen, daß sie später Gouverneure werden konnten. Selbst die Kinder der amtierenden Gouverneure hatten sich den gleichen Prüfungen zu stellen, und nur diejenigen unter ihnen, 164
die sich als qualifiziert genug erwiesen, schickte man auf die ›Schule für junge Gouverneure‹. Zweifellos gab es dabei auch Korruption, aber im großen und ganzen funktionierte das System. Die auf diese Weise ausgewählten Kinder erhielten eine gründliche theoretische und praktische Ausbildung als Organisatoren, Wissenschaftler, Priester und Logiker. Die weniger gescheiten Kinder wurden völlig anders als die jungen Gouverneure erzogen. Es wurde ihnen eingeprägt, daß sie unfähiger wären als die anderen. Man brachte ihnen bei, die Gouverneure als höhere Wesen zu respektieren, die nur wegen ihrer besonderen Tüchtigkeit aufgerufen wären, der Gemeinschaft mit ihren Spezialbegabungen in harter Arbeit zu dienen. Es wäre unfair, wenn man behaupten wollte, daß man den weniger intelligenten Menschen lediglich eine Erziehung zu Sklaven hätte angedeihen lassen; sie sollten vielmehr zu fügsamen, fleißigen und glücklichen Söhnen und Töchtern des Vaterlandes erzogen werden. Ihnen wurde beigebracht, treu und optimistisch zu sein. Man bildete sie für die verschiedenen Berufe aus und regte sie dazu an, ihre Intelligenz so weit wie möglich in dem ihnen angemessenen Rahmen zu gebrauchen; aber es war ihnen strengstens untersagt, sich mit den Angelegenheiten des Staates, mit Fragen der Religion und mit den theoretischen Wissenschaften zu befassen. Der Grundsatz für ihre Erziehung war das offizielle Dogma von der ›Schönheit der Jugend‹. Man lehrte sie alle traditionellen Tugenden der Jugend wie insbesondere Bescheidenheit und Einfalt. Da die Leibesübungen ein sehr wesentlicher Teil des patagonischen Erziehungswesens waren, strotzten diese Kinder und Jugendlichen vor Gesundheit. Weiterhin wurde die weitverbreitete Übung des Sonnenbadens, ein religiöses Ritual, besonders nachdrücklich dem Proletariat empfohlen, weil man glaubte, daß dadurch der Körper ›jung‹ und der Geist friedlich würde. Die Freizeit der herrschenden Schicht wurde mit Leichtathletik und anderen körperlichen und geistigen Übungen ausgefüllt. Auch Musik und andere Künste wurden gepflegt, weil man sie für junge Menschen für geeignet hielt. Die Regie165
rung behielt sich eine Zensur von Kunstwerken vor, von der aber selten Gebrauch gemacht zu werden brauchte, denn das einfache Volk von Patagonien war viel zu phlegmatisch und beschäftigt, um mehr als geradlinige, konventionelle Volkskunst zustande zu bringen. Alle hatten vollauf mit ihrer Arbeit und mit ihren Vergnügungen zu tun. Sie waren auch keinen sexuellen Tabus unterworfen. Die offizielle Religion der Verehrung der Jugendlichkeit und der Treue zur Gemeinschaft befriedigte alle darüber hinausgehenden überpersönlichen Interessen. Nach dem ersten Jahrhundert der Industrialisierung bestanden diese harmonischen Verhältnisse vierhundert Jahre hindurch. Aber mit der Zeit verstärkte sich der Mentalitätsunterschied zwischen den beiden Klassen. Überragende Intelligenzleistungen wurden beim Proletariat immer seltener, und die Gouverneure mußten ihre Nachfolger immer mehr in den Reihen ihrer eigenen Nachkommenschaft suchen, bis die Regierungsgewalt schließlich erblich wurde. Dabei verloren die Regierenden jeden geistigen und seelischen Kontakt mit den Regierten. So machten sie einen Fehler, der von ihnen niemals begangen worden wäre, wenn die Psychologie jener Zeit mit den anderen Wissenschaften Schritt gehalten hätte. Weil sie nämlich laufend auf die mangelhafte Intelligenz der Arbeiter stießen, behandelten sie diese immer mehr wie kleine Kinder, wobei sie vergaßen, daß es sich bei ihnen zwar um einfältige, aber doch ausgewachsene Männer und Frauen handelte, die als freie Partner an einem großen Vorhaben aller Menschen für voll genommen werden wollten. In der ersten Zeit hatte man die Illusion einer Mitverantwortung emsig gepflegt. Jetzt aber, als sich die Kluft zwischen den Klassen erweitert hatte, behandelte man die Proletarier wie Säuglinge und nicht wie Heranwachsende, wie gutversorgte Haustiere und nicht mehr wie Menschen. Ihr Leben wurde für sie zu einem gutgemeinten aber bis ins einzelne festgelegten Schema. Gleichzeitig gab man sich auch mit ihrer Erziehung weniger Mühe und man unterließ es, sie zu lehren, das gemeinsame Ziel für alle Menschen zu verstehen und zu würdigen. Unter diesen Umständen änderte sich ihr Charakter zu166
sehends. Obwohl es ihnen in materieller Hinsicht weit besser ging, als man es je zuvor geahnt hätte, ausgenommen während der Zeit des ersten Weltstaates, wurden sie träge, unzufrieden, boshaft und undankbar gegenüber den Herrschenden. So stand es also um die Dinge, als die neue Energiequelle entdeckt wurde. Die Weltgemeinschaft bestand aus zwei verschiedenen Bevölkerungsgruppen: erstens aus einer kleinen, hochintellektuellen Kaste, die sich leidenschaftlich für den Staat und die Förderung und den Fortschritt der Kultur in ihren Kreisen einsetzte; und zweitens aus einer weit umfangreicheren Bevölkerungsgruppe von ziemlich dumpfen, materiell gut versorgten, aber geistig verhungerten Industriearbeitern. Einen ernsten Zusammenstoß hatte es zwischen diesen beiden Klassen bereits wegen einer gewissen Droge gegeben, die das Volk wegen der dadurch erreichten Steigerung des Wohlgefühls besonders liebte, die aber von den Gouverneuren wegen schädlicher Nachwirkungen verboten wurde. Die Droge verschwand; aber das Motiv für ihre Beseitigung wurde vom Proletariat falsch verstanden. Dieser Vorfall brachte einen Haß an die Oberfläche, der sich seit langem, wenn auch unbewußt, beim Volk angestaut hatte. Als das Gerücht auftauchte, daß die Energiequellen in Zukunft unerschöpflich sein würden, erwartete das Volk ein goldenes Zeitalter. Jedermann würde über eine eigene unbegrenzte Energiemenge verfügen können. Die Arbeit würde aufhören. Das Vergnügen würde sich ins Unermeßliche steigern lassen. Unglückseligerweise benutzte man die neue Kraft zu einem umfangreichen Bergbauvorhaben in einer bisher unerreichten gewaltigen Tiefe auf der Suche nach Metallen und Mineralen, die schon seit langem nicht mehr in geringeren Abbautiefen zu finden gewesen waren. Die Bergleute hatten dabei sehr schwierige und gefährliche Arbeiten zu verrichten. Es gab Verletzte und Aufruhr. Da setzten die Gouverneure die neue Kraft mit verheerender Wirkung gegen Aufständische ein und erklärten, daß ihr elterliches Herz zwar blute, diese Züchtigung jedoch notwendig sei, damit Schlimmeres verhütet werde. Die Arbeiter sollten sich an dem 167
Göttlichen Knaben ein Beispiel nehmen und ihre Arbeit mit der gleichen stoischen Gelassenheit wie er durchführen. Aber dieser Ratschlag begegnete nur überall dem ihm gebührenden Spott. Es kam zu weiteren Streiks, Revolten und Morden. Zwar hatte das Proletariat gegenüber seinen Herren kaum mehr Macht als eine Schafherde gegenüber dem Hirten, denn es hatte nicht genügend Verstand, um in großem Maßstab etwas organisieren zu können, und dennoch wurde Patagonien durch eine dieser nutzlosen, mit viel Pathos durchgeführten Rebellionen schließlich zerstört. In einem der neuen Bergwerke war es zu einem geringfügigen Streit gekommen. Die Direktion hatte es den Bergleuten verweigert, ihre Söhne in ihrem Beruf auszubilden, denn sie war der Ansicht, daß eine Berufsausbildung nur durch Akademiker erfolgen dürfe. Der Unwille über diese Einmischung in das Elternrecht bewirkte ein neues Aufflackern der aufgespeicherten Wut. Die Arbeiter bekamen eine Kraftanlage in ihre Gewalt, spielten daran in ihrer Dummheit herum, bis sie schließlich unbeabsichtigt die neue Energie zu einer solchen Kettenreaktion entfesselten, daß sie den ganzen Planeten zerstörte. Die erste Explosion genügte, um die Bergkette oberhalb des Bergwerks in die Luft zu schleudern. Da sich in jenem Gebirge große Mengen des gefährlichen Elements befanden, wurde das Ganze durch die Ausstrahlungen der ersten Explosion gezündet. Dadurch wurden noch weiter entfernt eingelagerte Vorräte des Elements gezündet und in die Luft gejagt. So verbreitete sich ein glühender Orkan mit rasender Schnelligkeit über ganz Patagonien und nahm, wo immer er hinkam, an Gewalt zu. Er wütete die Anden und die Rocky Mountains entlang und versengte mit seiner Glut Leben und Vegetation in beiden amerikanischen Kontinenten. Er zerstörte die Bering-Straße und verbreitete sich wie ein Gezücht gewaltiger glühender Schlangen über Asien, Europa und Afrika. Die Bewohner des Mars, die die Erde bereits beobachteten, so wie eine Katze einen Vogel beobachtet, der sich außerhalb ihrer Sprungweite tummelt, bemerkten bei ihrem Nachbarplaneten plötzlich einen verstärk168
ten Glanz. Schließlich begannen auch die Ozeane durch vulkanartige Ausbrüche unter der Meeresoberfläche zu kochen. Flutwellen zerfetzten die Küstengebiete und arbeiteten sich die Täler empor. Durch Verdunstung des Wassers infolge der ungeheuren Hitze und durch neuentstandene Klüfte im Meeresboden sank der Meeresspiegel mit der Zeit beträchtlich ab. Sämtliche Vulkane der Erde wurden wieder aktiv. Die Eiskappen der Pole begannen zu schmelzen und bewahrten dadurch die Arktis davor, ebenso vom Feuer ausgeglüht zu werden wie die übrige Erde. Die Atmosphäre war eine einzige dichte Wolke von Feuchtigkeit, Rauch und Staub, die unaufhörlich von Orkanen durchgeschüttelt wurde. Die umsichgreifende gewaltige elektromagnetische Kettenreaktion erhöhte die Oberflächentemperatur des Planeten immer mehr, so daß es nur noch in der Arktis und an einigen günstig gelegenen Stellen der Antarktis Lebensmöglichkeiten gab. Der Todeskampf Patagoniens dauerte nicht lange. Einige wenige Siedlungsgebiete in Afrika und Europa blieben von den Auswirkungen der vulkanischen Tätigkeit verschont, fielen aber wenige Wochen später den glühendheißen Orkanen zum Opfer. Außer 35 Menschen, die sich zufälligerweise im Gebiet des Nordpols aufhielten, waren alle zweihundert Millionen Mitglieder der menschlichen Rasse innerhalb von drei Monaten entweder verbrannt, vor Hitze umgekommen oder erstickt.
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kapitel vi
Die Zeit des Übergangs
Der Erste Mensch ist verloren Durch einen jener Streiche, die das Schicksal allerdings nur selten den Menschen spielte, und die sich ebensooft günstig wie auch ungünstig für sie auswirkten, war vor kurzem erst ein Schiff ausgerüstet worden, das im Packeis über den Nordpol treiben sollte. Man hatte es mit Lebensmitteln für vier Jahre versehen, und als die Katastrophe eintrat, war es bereits seit sechs Monaten unterwegs. Es war ein Segelschiff, weil die Expedition bereits vor der technischen Verwendbarkeit der neuen Kraft ausgeschickt worden war. An Bord befanden sich 28 Männer und sieben Frauen. Wenn sich Menschen einer früheren und sexuell aktiveren Epoche in einem solchen Zahlenverhältnis der Geschlechter und auf so engem Raum in völliger Isolierung von der Außenwelt beieinander befunden hätten, wären sie aller Wahrscheinlichkeit nach früher oder später übereinander hergefallen. Für Patagonier hingegen waren diese Verhältnisse keineswegs unerträglich. Da bei ihnen die Sexualität bei den Frauen weniger stark zurückgebildet als bei den Männern war, konnten die sieben Frauen durchaus, neben der Erledigung ihrer Hausfrauenpflichten gegenüber der Expedition, allen an sie gerichteten weitergehenden Anforderungen vollauf genügen. Natürlich gab es in dieser kleinen Gemeinschaft gelegentlich Eifersüchteleien und Fehden, die sich aber durch einen strengen Korpsgeist unterdrücken ließen. Alle Expeditionsmitglieder hatte man sehr sorgfältig unter den Gesichtspunkten der Kameradschaftlichkeit, der Treue und Zuverlässigkeit sowie hinsichtlich ihrer Gesundheit und ihrer technischen Fähigkeiten ausgewählt. Alle behaupteten von sich Nachkommen des Göttlichen Knaben zu sein. Alle gehörten der herrschenden Klasse an. Ein etwas seltsamer Zug des sehr stark entwickelten elterlichen Instinkts der Patagonier war es, daß man zwei winzige Schoßäffchen auf die Reise mitgenommen hatte. 173
Ein rasender heißer Wind, der die Oberfläche des Eises zum Schmelzen brachte, war für die Mannschaft die erste Ankündigung der Katastrophe. Der Himmel wurde schwarz. Der arktische Sommer wich einer unheimlichen und schwülen Nacht, die durch phantastische Gewitter erhellt wurde. Der Regen rauschte wie ein Wasserfall pausenlos auf das Deck des Schiffes herab. Beißende Rauch- und Staubwolken entzündeten Augen und Nasen. Seebeben zerrissen das Packeis. Ein Jahr nach der Explosion kämpfte das Schiff immer noch in der Nähe des Pols gegen Stürme und Eisberge. Die bestürzte kleine Expeditionsgesellschaft wollte einen Weg nach Süden erkunden; aber als sie nach Süden vordrangen, wurde die Luft immer heißer und beißender, und die Stürme wurden heftiger. Ein weiteres Jahr fuhren sie auf diese Weise in der Arktis umher, ständig zurückgetrieben von den unmöglichen klimatischen Verhältnissen im Süden. Aber schließlich wurde das Klima ein wenig günstiger, und unter großen Schwierigkeiten gelang es den wenigen Überlebenden der menschlichen Rasse, ihr ursprüngliches Ziel in Norwegen anzulaufen. Die Tiefebenen breiteten sich vor ihnen als ausgeglühte, tote Wüstenflächen aus, und nur auf den Höhenzügen zeigten sich dichte grüne Flecken. Die Pflanzen hatten bereits ihren Existenzkampf wieder aufgenommen. Ein Glutorkan hatte den Stützpunkt der Expedition vernichtet, und die Skelette seiner Besatzung lagen noch immer auf den Straßen herum. An der Küste entlang fuhren sie weiter nach Süden. Überall trafen sie auf die gleiche trostlose Verwüstung. In der Hoffnung, daß es sich nur um eine örtlich begrenzte Katastrophe handelte, fuhren sie um die britischen Inseln herum nach Frankreich. Dort machten sie jedoch sofort wieder kehrt, denn Frankreich war ein einziger chaotischer Vulkan. Als sich der Wind drehte, prasselten auf das Meer um sie herum Gesteinsbrocken herunter, viele von ihnen noch glühendheiß. Wie durch ein Wunder blieb das Schiff unbeschädigt, und sie wichen wieder nach Norden aus. Endlich gelang es ihnen nach einer Fahrt entlang der sibirischen Küste, einen erträglichen Landeplatz im Delta eines der großen Flüsse zu finden. Das Schiff 174
warf Anker, und seine Mannschaft erholte sich. Die Expedition war kleiner geworden; denn sechs Männer und zwei Frauen waren auf den Erkundungsfahrten umgekommen. Auch hier hatten anscheinend bis vor kurzem keine günstigen Lebensbedingungen bestanden. Der größte Teil der Pflanzen war verbrannt, und man sah viele tote Tiere. Aber offenbar ließ die Gewalt der ungeheuren Explosion mit ihren Nachwirkungen allmählich nach. Jetzt begann ihnen die Wahrheit über die Art der Katastrophe zu dämmern. Sie erinnerten sich an halb scherzhafte Voraussagen, daß die neue Energie früher oder später den gesamten Planeten vernichten würde, Voraussagen, die offenbar völlig begründet gewesen waren. Sie erkannten, daß anscheinend die gesamte Welt von einem ungeheuren Unglück heimgesucht worden war, dem wahrscheinlich alle anderen Menschen zum Opfer gefallen waren, und dem sie nur deswegen entgangen sein konnten, weil sie sich gerade in der Arktis befunden hatten. Die Zukunft einer Handvoll völlig erschöpfter Menschen auf einem verwüsteten Planeten sah so verzweifelt aus, daß einige Expeditionsmitglieder den gemeinsamen Selbstmord vorschlugen. Und alle spielten mit dem Gedanken an Selbstmord, außer einer Frau, die ganz unvorhergesehen schwanger geworden war. In ihr erwachte jetzt der starke mütterliche Instinkt ihrer Rasse, um dieses Kindes willen nicht aufzugeben, sondern zu kämpfen. Als man sie daran erinnerte, daß ihr Kind nur ein Leben voller Entbehrungen und Nöte vorfinden würde, wiederholte sie immer wieder mit mehr Hartnäckigkeit als Logik: »Mein Kind muß leben!« Die Männer zuckten die Achseln. Aber als sie sich nach und nach von den Strapazen der vergangenen Kämpfe mit den entfesselten Elementen erholten, begannen sie, den Ernst und die Einmaligkeit ihrer Lage zu begreifen. Einer der Biologen sprach dann als erster aus, was ein jeder schon lange gedacht hatte. Es bestünde zumindest noch eine Chance für das Überleben der Menschheit, und wenn jemals Männer 175
und Frauen eine heilige Verpflichtung gehabt hätten, eine solche Chance zu nützen, dann wären sie es. Denn die wenigen Überlebenden der Katastrophe wären jetzt die einzigen Treuhänder des menschlichen Geistes. Was auch immer sie an Entbehrungen und Elend auf sich nehmen mußten, es wäre ihre Aufgabe, die Erde wieder mit menschlichem Leben zu erfüllen. Dieses gemeinsame Ziel führte zu einem Wiederaufleben ihrer Initiative und erweckte ein neues Gefühl der Verbundenheit. »Wir sind alle nur ganz gewöhnliche Menschen«, sagte der Biologe, »aber wir müssen uns selbst übertreffen und groß werden.« Und ihre einzigartige Lage hob sie tatsächlich über sich selbst empor. Ein gemeinsames Ziel und gemeinsam ertragene Strapazen erzeugen bei Menschen mit unverkümmerter Seele und starkem Geist ein tiefes kameradschaftliches Gefühl, das sich vielleicht weniger in Worten als in Taten zeigt. Die übriggebliebenen Menschen erlebten in ihrer Verlassenheit und mit ihrer Verpflichtung nicht nur eine solche Kameradschaft, sondern eine noch stärkere Verbundenheit untereinander als Werkzeuge einer heiligen Sache. Die Gruppe errichtete eine Siedlung dicht am Fluß. Obwohl die ganze Vegetation verbrannt und verschwunden war, hatte sie sich jedoch sehr bald durch übriggebliebene Wurzeln sowie durch Samenkörner, die unter der Erdoberfläche unversehrt geblieben waren, oder die der Wind hergetragen hatte, wieder erneuert. Überall war das Land bedeckt von Pflanzen, die es vermocht hatten, sich dem neuen Klima anzupassen. Die Tiere jedoch hatten unter jener Katastrophe viel stärker gelitten. Abgesehen vom Polarfuchs sowie von einigen kleinen Nagetieren und einer Herde Rentiere, war von ihnen nichts weiter übrig geblieben als die Bewohner der Arktis, wie der Eisbär, verschiedene Walfische und Seehunde. Verschiedenen Arten von Vögeln war es gelungen, in großen Mengen den Verheerungen im Süden zu entfliehen, durch Futtermangel starben sie aber sehr bald zu Tausenden, aber auch hier gelang es einigen Vogelarten, sich der neuen Umgebung anzupassen. So machte die gesamte übriggebliebene Fauna und Flora des Planeten die 176
Phase einer sehr schnellen und äußerst harten Anpassung durch. Vielen seit langem weitverbreiteten Arten gelang es dabei nicht mehr, unter den geänderten Lebensbedingungen weiterzuexistieren, während andere bis dahin völlig unbedeutende sich am Leben erhielten. Durch Samen, den man aus einem zerstörten Lager in Norwegen herbeischaffte, war es der Gruppe möglich, Mais und sogar Reis anzubauen. Aber durch die große Hitze, durch häufige Wolkenbrüche und bei wenig Sonne war der Ackerbau eine mühselige und gefährliche Tätigkeit geworden. Außerdem war die Atmosphäre sehr mit Schmutzteilchen angefüllt, und der menschliche Organismus hatte sich damit noch nicht abfinden können. Die Folge war, daß die Gruppe laufend unter Krankheiten und unter Müdigkeit litt. Die schwangere Frau war im Kindbett gestorben, aber ihr Kind war am Leben geblieben. Dieses Kind war der Gruppe heilig, denn es erweckte bei jedem den Elterninstinkt, der für die Patagonier so charakteristisch war. Krankheit, Orkane und vulkanische Gase reduzierten die Zahl der Siedler allmählich immer mehr. Aber mit der Zeit gelang es den Überlebenden, eine Art Gleichgewicht mit den Umweltbedingungen herzustellen, und sie erfreuten sich sogar einiger, mit sehr viel Schweiß errungener Annehmlichkeiten des Lebens. Mit dem Anwachsen eines gewissen Wohlstandes ging jedoch ihre Einigkeit dahin. Mentalitätsunterschiede wirkten als Sprengstoff. Unter den Männern gab es jetzt zwei Führer, oder vielmehr einen Führer und einen Kritiker. Der ursprüngliche Leiter der Expedition hatte sich als unfähig erwiesen, mit der neuen Lage fertigzuwerden und hatte schließlich Selbstmord begangen. Die Gruppe hatte darauf den zweiten Navigationsoffizier zu ihrem Führer gewählt, und zwar einstimmig. Der andere geborene Führer der Gruppe war ein junger Biologe, ein Mann ganz anderer Art. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Männern trugen sehr viel zum künftigen Verlauf der Geschichte der Menschheit bei und bedürfen eigentlich einer genaueren Untersuchung. In diesem Zusammenhang 177
können wir uns jedoch nur oberflächlich damit beschäftigen. In allen Zeiten der gemeinsamen Anspannung aller Kräfte beugte man sich der uneingeschränkten Autorität des Navigationsoffiziers, denn alles hing von seiner Initiative und seinem heroischen Vorbild ab. In weniger angespannten Zeiten jedoch wurden gegen ihn Stimmen laut, weil er auf die Einhaltung von Disziplin achtete, selbst dann, wenn Disziplin nicht notwendig zu sein schien. Zwischen ihm und dem jungen Biologen bestand ein Verhältnis, das eine seltsame Mischung von Feindschaft und zugleich Bewunderung darstellte; denn der zwar recht kritische Biologe liebte dennoch den Navigator und bewunderte ihn sogar. Er erklärte, daß es die Genialität dieses Mannes in praktischen und organisatorischen Dingen der Gruppe ermöglicht hätte, am Leben zu bleiben. Obwohl die kleine Gemeinschaft drei Jahre nach ihrer Landung der Anzahl nach und auch hinsichtlich ihrer Vitalität geschwächt war, hatte sie sich doch an ein geregeltes Leben in der Jagd, im Ackerbau und im Hausbau gewöhnt. Drei nach der Katastrophe geborene recht gesunde Kinder erfreuten sich ihres Lebens und hielten ihre Eltern in Atem. Es lag auf der Hand, daß die praktischen Fähigkeiten des Navigationsoffiziers jetzt weniger vonnöten waren, während die Kenntnisse der Wissenschaftler immer wertvoller wurden. Von Pflanzen- und Geflügelzucht verstand der heroische Führer nichts, und auch beim Abbau von Mineralien war er genauso hilflos. So geschah es, daß die übrigen Seeleute mit der Zeit immer unruhiger und reizbarer wurden, bis es schließlich, als der Navigationsoffizier anordnete, daß alle sich wieder auf das Schiff begeben sollten, mit dem man ein besseres Siedlungsgebiet auskundschaften wolle, zu einer ernsten Auseinandersetzung kam. Der Navigationsoffizier erhielt für diese Anordnung von seiten der Seeleute lebhafte Zustimmung, aber die Wissenschaftler weigerten sich, die Siedlung zu verlassen, teils weil sie die Auswirkungen des Unglücks, das die gesamte Welt befallen hatte, besser begriffen, teils weil sie die Härten, die eine neue Expedition mit sich bringen mußte, scheuten. 178
Es kam zu heftigen Gefühlsausbrüchen, aber beide Seiten hielten sich aus langgeübtem Respekt voreinander und aus Loyalität gegenüber der Gemeinschaft zurück. Aber plötzlich schlugen sexuelle Leidenschaften wie ein Funke in das Pulverfaß. Jene Frau, die unter allgemeiner Zustimmung die Stellung einer Art Königin in der Siedlung innehatte und die dem Führer als angetraut galt, betonte ihre Unabhängigkeit, indem sie sich einem der Wissenschaftler hingab. Der Führer überraschte beide und tötete in einem plötzlichen Wutanfall den Wissenschaftler. Sofort spaltete sich die kleine Gemeinschaft in zwei bewaffnete Gruppen, und es kam zu noch weiterem Blutvergießen. Sehr bald jedoch wurden Torheit und Frevel einer solchen Fehde den wenigen Überlebenden der zivilisierten Menschheit klar, und man traf nach einer Verhandlung eine folgenschwere Entscheidung. Die Siedler sollten sich trennen. Eine Gruppe, bestehend aus fünf Männern und zwei Frauen, sollte unter Leitung des jungen Biologen in der Siedlung bleiben. Der Führer selbst wollte mit den restlichen neun Männern und zwei Frauen auf der Suche nach besserem Siedlungsland mit dem Schiff nach Europa aufbrechen. Diese Gruppe versprach, wenn möglich, während des kommenden Jahres den Zurückgebliebenen eine Nachricht zu senden. Nach diesem Entschluß wurden die beiden Gruppen wieder zu Freunden. Alle arbeiteten gemeinsam an der Ausrüstung der Pioniere. Als die Zeit des Aufbruchs herangekommen war, gab es einen ernsten und feierlichen Abschied. Jeder fühlte sich erleichtert, daß jener schmerzliche Widerstreit der Meinungen aufgehört hatte, aber schwerer noch als diese Erleichterung wog die trauernde Zuneigung zueinander, da sie so lange gemeinsam an einem heiligen Vorhaben mitgewirkt hatten. Es wurde sogar eine noch viel bedeutendere Trennung, als man es damals vermuten konnte. Denn hierdurch entstanden später zwei vollkommen verschiedene Menschenarten. 179
Jene, die zurückgeblieben waren, hörten nie mehr etwas von den Pionieren, woraus sie den Schluß zogen, daß diese umgekommen sein müßten. Aber in Wirklichkeit waren die Pioniere weit nach Westen getrieben worden, dann nach Südwest, vorbei an Island, das völlig aus Vulkanen bestand, bis sie schließlich nach Labrador kamen. Auf dieser Fahrt durch unvorstellbare Stürme und Meerbeben verloren sie fast die Hälfte ihrer Besatzung, so daß die Übriggebliebenen nicht einmal mehr in der Lage waren, das Schiff navigationsfähig zu halten. Als sie schließlich an einer felsigen Küste strandeten, gelang es nur noch dem Zimmermannsmaat, zwei Frauen sowie einem Paar Affen, das Festland zu erreichen. Sie fanden dort ein Klima, das viel drückender als dasjenige Sibiriens war. Aber auch Labrador besaß wie Sibirien Hochebenen mit üppiger Vegetation. Zuerst war es für den Mann und seine beiden Frauen sehr schwierig, Nahrung zu finden, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an eine Kost, die aus Beeren und Wurzeln bestand. Das Klima hatte jedoch im Laufe der Jahre eine tiefgreifende Wirkung auf ihre Mentalität. Ihre Nachkommen sanken später auf eine Stufe niedrigster Barbarei ab und degenerierten zu Lebewesen, die sich nur noch hinsichtlich ihrer Abkunft auf den Menschen hätten berufen können. Die kleine Siedlung in Sibirien war dagegen zwar hart bedrängt aber zielbewußt. Durch sorgfältige Berechnungen waren die Wissenschaftler zu der Überzeugung gelangt, daß der Planet erst nach einigen Millionen Jahren in einen normalen Zustand wie zur Zeit vor der Katastrophe zurückkehren würde; denn obwohl die erste, sich mehr oberflächlich auswirkende Gewalt des Unglücks bereits nachgelassen hatte, würde die von der Explosion im Innern der Erde angestaute Energie noch Millionen Jahre benötigen, um sich durch bereits bestehende sowie durch sich neu bildende Vulkane einen Ausgang zu verschaffen. Der Führer der Gruppe, der durch einen wahren Glücksfall ein wirkliches Genie war, sah die Lage folgendermaßen: Millionen Jahre hindurch würde der Planet, abgesehen von einem kleinen Streifen an 180
der sibirischen Küste, unbewohnbar bleiben. Die Menschen müßten sich für Äonen mit einem sehr begrenzten Lebensraum und mit einer für sie ungeeigneten Umgebung abfinden. Man konnte nur hoffen, daß die Reste der zivilisierten Menschheit diese Zeiten überstehen könnten und nach einer so langen Ruhe trotzdem fähig wären, in einer günstigeren Epoche zu neuem Leben zu erwachen. Immer mit diesem Ziel vor Augen müßte sich dieser Menschheitsrest weiter fortpflanzen und die Grundlagen für eine Kultur seiner Nachfahren legen. Vor allem müßte er in einer die Zeiten überdauernden Form so viel wie möglich über die Kultur der Patagonier aufzeichnen. »Wir sind der Keim«, sagte er. »Wir dürfen kein Risiko eingehen, müssen unsere Zeitrechnung in Ordnung halten und der Menschheit Erbe bewahren. Unsere Chancen sind überwältigend schlecht, aber es kann durchaus möglich sein, daß wir durchkommen.« Nach diesen Grundsätzen handelten sie. Anfänglich waren sie mehrere Male dem endgültigen Untergang sehr nahe, trotzdem bewahrten diese gequälten Individuen ihren Funken Menschentum. Wenn man sich genauer mit ihren Lebensläufen beschäftigen würde, könnte man darin ein starkes persönliches Drama erblicken; denn sie waren alle trotz des heiligen Zweckes, dem sie wie Muskeln in einem Glied dienten, schließlich doch Individuen verschiedenen Temperaments. Dazu kam, daß die Kinder bei den in ihren elterlichen Instinkten zu kurz kommenden Älteren Gefühle der Eifersucht verursachten. Es gab immer eine unterdrückte und manchmal offen in Erscheinung tretende Rivalität um die Gunst der Kleinen, jenen wenigen und so kostbaren Knospen am Stamm des Lebens der Menschheit. Ebenso kam es zu Meinungsverschiedenheiten über ihre Erziehung. Obwohl alle Älteren sie einfach wegen ihrer Kindlichkeit sehr liebten, gab es wenigstens einen, nämlich den weit vorausblickenden Führer der Gruppe, der in ihnen vor allem die potentiellen Übermittler des menschlichen Geistes sah, die man in ihrer Erziehung auf diese große Aufgabe vorbereiten müßte. In diesem ständig unterdrückten Widerstreit der Gefühle und 181
der Ziele lebte die kleine Gruppe von einem Tag zum ändern, ähnlich wie ein Glied durch das Spiel verschiedener Muskelgruppen in Bewegung gehalten wird. Die Erwachsenen der Gruppe verwandten während des langen Winters den größten Teil ihrer freien Zeit auf die gewaltige Arbeit, einen Überblick über das gesamte Wissen der Menschheit niederzulegen. Diese Aufgabe lag dem Führer besonders am Herzen, aber die anderen waren ihrer oft überdrüssig. Jeder Frau und jedem Mann wurde ein bestimmter Bereich der Kultur zugewiesen. Nachdem der einzelne dann über ein Teilgebiet nachgedacht und seine Gedanken niedergeschrieben hatte, legte er seinen Text den anderen zur Stellungnahme vor und meißelte ihn dann nach etwaigen Änderungen tief in harte Steinplatten ein. Im Laufe der Jahre wurden auf diese Weise viele Tausende solcher Steinplatten hergestellt und in einer Höhle gestapelt, die für diesen Zweck sorgfältig hergerichtet worden war. In dieser Höhle lagen Aufzeichnungen über die Geschichte der Erde und des Menschen sowie über Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und Geometrie. Jeder Skribent vertraute den Steinplatten außerdem noch Einzelheiten über seine speziellen Studiengebiete an und fügte ein persönliches Bekenntnis mit seinen eigenen Ansichten über das Leben hinzu. Viele Überlegungen und viel Scharfsinn wurden auf die Zusammenstellung eines umfangreichen Bildlexikons und einer Grammatik verwandt, die, wie man hoffte, in ferner Zukunft der Schlüssel zum Verständnis der Steinbibliothek sein sollten. Jahre vergingen, und diese gewaltige Bestandsaufnahme des menschlichen Wissens dauerte immer noch an. Die Gründer der Siedlung wurden schwächer, als die Ältesten der nächsten Generation noch in der Pubertät waren. Eine der beiden Frauen war gestorben, und die andere war fast ein Krüppel. Beide waren durch die ihnen übertragenen Aufgaben zu Märtyrern geworden. Von einem kleinen Jungen und vier verschiedenaltrigen Mädchen hing jetzt die weitere Zukunft der Menschheit ab. Unglücklicherweise hatten diese wertvollen Wesen darunter 182
gelitten, daß sie als so wertvoll angesehen wurden. Ihre Erziehung war völlig verpfuscht worden. Man hatte sie ebenso verzärtelt wie unterdrückt. Nichts konnte für sie gut genug sein, und so wurden sie mit Fürsorge und Unterricht überschüttet. So hielten sie sich die Älteren so gut es ging vom Leibe und hatten die Ideale, die man ihnen einimpfte, satt. Ohne ihre Einwilligung hatte man sie einfach in eine zerstörte Welt hineingeboren, und so weigerten sie sich, die erdrückenden Verpflichtungen gegenüber einer unglaubwürdig fernen Zukunft zu übernehmen. Die Jagd und der alltägliche Kampf gewährte nach ihrer Ansicht in einem Pionierzeitalter Geist und Seele ausreichende Übung in mutigem Verhalten, in Treue und im Interesse an anderen Personen. Sie wollten nur für die Gegenwart und für die faßbare Wirklichkeit leben und nicht für eine Kultur, die sie nur vom Hörensagen kannten. Insbesondere verabscheuten sie die Mühen, die mit dem Eingravieren von endlosen Wortgirlanden in Granitplatten verbunden waren. Zu einer Krise kam es, als das erste Mädchen die körperliche Reife erreicht hatte. Der Führer bedeutete ihr, daß es ihre Pflicht wäre, ab sofort ihren mütterlichen Verpflichtungen nachzukommen. Er ordnete zur Vorbereitung dessen ihre Vereinigung mit ihrem Halbbruder, seinem Sohn an. Da sie selbst bei der letzten Entbindung ihrer Mutter, bei der diese gestorben war, assistiert hatte, weigerte sie sich, der Anordnung des Führers Folge zu leisten, und als er deswegen auf sie einredete, warf sie einfach ihren Grabstichel weg und riß aus. Dies war die erste ernsthafte Rebellion. Es dauerte nur wenige Jahre, bis die Herrschaft der alten Generation beseitigt war. Eine neue aktivere, gefährlichere, sorglosere und mehr dem Genuß zugewandte Lebensweise führte dazu, daß das Niveau des Komforts und der Organisation innerhalb der Gemeinschaft absank, stärkte aber zugleich auch Gesundheit und Vitalität. Man vernachlässigte Experimente in der Pflanzenzucht und der Zucht von Haustieren, und die Häuser zerfielen. Statt sich um diese Dinge zu kümmern, führte man Heldentaten bei der Jagd und bei Erkundungszügen aus. Die Freizeit widmete man Glücksund Kombinationsspie183
len, sowie dem Tanzen, dem Singen und dem Erzählen romantischer Geschichten. Musik und Dichtung wurden jetzt das hauptsächliche Betätigungsfeld für höhere Regungen jener Menschen. Eine noch verschwommene religiöse Erfahrung kam in ihnen zum Ausdruck. Den Intellektualismus der Älteren machte man lächerlich. Was vermochten schon ihre kümmerlichen Wissenschaften über die Wirklichkeit auszusagen, jene Wirklichkeit mit den vielen Gesichtern, die sich von Augenblick zu Augenblick veränderte, die im tiefsten Grunde inkonsequent war und doch ewig fortwirkte? Die hausbackene Intelligenz des Menschen reichte zwar für die Jagd und den Ackerbau aus. Wenn er sie aber zu Höherem gebrauchen wollte, würde er sich in einer Wüste wiederfinden und seine Seele würde zugrunde gehen. Er sollte lieber so leben, wie die Natur es ihm auferlegt hatte. Er sollte den jungen Gott in seinem Herzen lebendig erhalten. Er sollte sich jener kämpferischen, irrationalen, dunklen Vitalität zuwenden, die sich in ihm nicht als Logik sondern als Schönheit zu verwirklichen suche. Die Steinplatten wurden fortan nur noch von den Greisen beschriftet. Aber eines Tages, als der Junge das frühe Mannesalter der Patagonier erreicht hatte, erregten die hinteren schwanzgleichen Gliedmaßen eines Seehundes seine Neugier. Etwas zaghaft ermunterten die alten Leute seine Wißbegier. So machte er weitere biologische Beobachtungen, und man lehrte ihn, das ganze Drama des Lebens auf diesem Planeten zu begreifen und seine Verpflichtung gegenüber der Sache zu verstehen, der sie alle gedient hatten. Inzwischen hatten Geschlechtstrieb und Mutterinstinkt überall dort triumphiert, wo eine bewußte Erziehung bisher versagt hatte. Die jungen Leute verliebten sich ineinander, und mit der Zeit wurden mehrere Kinder geboren. So blieb die kleine Siedlung viele Generationen hindurch am Leben, jeweils mit unterschiedlichen Erfolgen, mit mehr oder weniger großer Begeisterung und mit wechselnder Hingabe der Zukunft ge184
genüber. Mit den wechselnden Verhältnissen veränderte sich auch die Anzahl der Siedler, einmal sogar bis auf nur zwei Männer und eine Frau absinkend, dann wieder ansteigend bis auf einige tausend Menschen, die äußerste Bevölkerungsdichte, die die Nahrungsmöglichkeiten jenes kleinen Küstenstreifens erlaubten. Obwohl die Umstände die Überlebenschancen nicht zerstörten, bewirkten sie doch auf die Dauer der Zeit einen Abstieg im Geistig-Seelischen. Die sibirische Küste blieb nämlich ein tropisches Gebiet, das im Süden von einer Kette von Vulkanen begrenzt wurde, und so ging es mit der geistigen Kraft und dem Scharfsinn im Laufe der Zeit immer weiter bergab. Diese Tatsache war natürlich unter anderem der beständigen Inzucht zuzuschreiben, die allerdings auch eine gute Seite hatte. Obwohl die geistige Kraft dahinschwand, konsolidierten sich doch andererseits auch einige durchaus begrüßenswerte Eigenschaften. Die Gründer dieser Siedlung waren eine der bestmöglichen Selektionen der damaligen Menschheit. Sie waren wegen ihrer Kühnheit, wegen ihres Mutes, ihrer angeborenen Treue und wegen ihres starkentwickelten Erkenntnisdrangs für die Expedition ausgewählt worden. So war es den Menschen trotz zeitweiliger depressiver Phasen nicht nur möglich, am Leben zu bleiben, sondern auch ihre natürliche Wißbegier und ihr Gemeinschaftsgefühl zu erhalten. Selbst als die geistigen Fähigkeiten der Menschen abnahmen, blieben Verständigungsbereitschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl erhalten. Obwohl die Vorstellungen der Siedler vom Menschen und vom Universum allmählich einem rohen Mythos wichen, bewahrten sie ihre irrationale Treue der Zukunft und der jetzt als Heiligtum geltenden Bibliothek aus Steinplatten gegenüber, die für sie immer unverständlicher wurde. Tausende und sogar Millionen Jahre hindurch, in denen sich die Art körperlich stark veränderte, behielt sie eine Bewunderung für intellektuelle Fähigkeiten, die verschwommene Überlieferung einer prächtigen Vergangenheit sowie den Glauben an eine noch prächtigere Zukunft. Vor allen Dingen waren die mörderischen Kämpfe innerhalb dieser Gruppe sehr selten und dienten 185
nur dazu, den klaren Willen zu einer harmonischen Einheit der Rasse zu erhalten.
Das Zweite Dunkle Zeitalter Wir müssen jetzt das Zweite Dunkle Zeitalter schneller behandeln, wobei wir nur jene Ereignisse hervorheben können, die für die Zukunft der Menschheit von Bedeutung waren. Jahrhundert um Jahrhundert entwich die aufgestaute Energie jener gewaltigen Explosion aus dem Erdinnern; aber es dauerte viele Hunderttausende von Jahren, bis die unzähligen neuentstandenen Vulkane allmählich versiegten, und erst nach Millionen Jahren bot der größte Teil des Planeten wieder ausreichende Lebensmöglichkeiten. Während dieser Epoche kam es zu vielen Veränderungen. Die Atmosphäre wurde wieder klarer, reiner und ruhiger. Mit dem Absinken der Temperatur ließ sich in der Arktis und der Antarktis gelegentlich Frost und Schnee feststellen, und allmählich waren die Pole wieder mit Eis bedeckt. Inzwischen veränderten die üblichen geologischen Prozesse, die noch durch besondere Spannungen vermehrt wurden, denen der Planet durch verstärkten Druck aus dem Erdinnern ausgesetzt war, die Struktur der Kontinente. Südamerika fiel fast vollständig durch die bei der Explosion entstandenen Hohlräume in sich zusammen, aber ein neues Festland verband Brasilien mit Westafrika. Von Ostindien erstreckte sich eine zusammenhängende Landmasse bis nach Australien. Das gewaltige Bergmassiv des Hochlandes von Tibet sackte sehr stark ab, dadurch entstand durch Verwerfungen im Gebiet von Afghanistan eine Gebirgskette mit Höhen von fast 13000 m über dem Meeresspiegel. Europa verschwand unter dem Atlantik. Wie Würmer, die im Todeskampf hin- und herzuckten, wanden sich die Flüsse schmerzgepeinigt bald hierhin bald dorthin. Neue Landflächen entstanden durch Anschwemmungen, und auf dem Meeresgrund glättete eine Schicht nach 186
der anderen die neuentstandenen Zerklüftungen des Meeresbodens. Neue Tier- und Pflanzenarten bildeten sich aus der überlebenden arktischen Flora und Fauna und breiteten sich über Asien und Amerika aus. In den neuen Wäldern und Steppen tauchten verschiedene Arten auf, die sich aus Rentieren weiterentwickelt hatten, dazu große Scharen von Nagetieren. Sie wurden von den großen und kleineren Abarten des arktischen Fuchses gejagt, unter denen ein Typ, ein riesiges wolfähnliches Wesen, im neuen Tierreich sehr schnell zum ›König der Tiere‹ aufstieg und für lange Zeit uneingeschränkt herrschte, bis es schließlich durch die Nachfahren des Eisbären, die sich nur langsam verändert hatten, verdrängt wurde. Eine besondere Seehundrasse wiederum hatte die Lebensgewohnheiten von Landtieren angenommen und konnte sich mit ihrem schlangenähnlichen schlanken Körper mit großer Behendigkeit zwischen den Sanddünen der Küstengebiete bewegen. Dort lauerte sie den Nagetieren auf und verfolgte sie bis in ihre Schlupflöcher. Überall wimmelte es von Vögeln. In den Gebieten, die von der alten Fauna entblößt waren, mußten viele Vogelarten das Fliegen aufgeben und wurden zu Landtieren, die sich auf ihren Füßen fortbewegten. Die Insekten, die durch das große Feuer fast vollständig ausgerottet waren, hatten sich bald darauf so schnell vermehrt und sich in so vielen Arten den neuen Bedingungen angepaßt, daß fast wieder der alte reichhaltige Bestand an verschiedensten Arten erreicht war. Noch schneller hatten sich neue Mikroorganismen durchgesetzt und behauptet. Ganz allgemein konnte man bei allen Tieren und Pflanzen der Erde einen großen Wandel in den Lebensgewohnheiten feststellen und, damit zusammenhängend, eine Überlagerung alter körperlicher Erscheinungsformen durch neue, die sich den veränderten Bedingungen anpassen konnten. Die beiden Siedlungen der Menschen hatten sehr unterschiedliche Schicksale. Die Siedlung in Labrador, die durch ein besonders drückendes Klima gehemmt und in ihrer Entwicklung nicht durch den Willen der sibirischen Siedler, die Kultur in eine andere Zeit hinüberzuretten, vorangetrieben wurde, sank in animalische Formen ab, vermochte aber 187
schließlich doch, den gesamten Westen mit nomadisierenden Stämmen zu bevölkern. Die Menschen in Asien hingegen waren während der ganzen zehn Millionen Jahre, die das Zweite Dunkle Zeitalter währte, nur ein winziges Grüppchen. Ein Meereseinbruch schnitt ihnen den Weg nach Süden ab. Die alte Halbinsel Taimyr, auf der sich ihre Siedlung befand, wurde der nördliche Teil einer Insel, deren Küstenlinie den Flußläufen des Jenissej, der Tunguska und der Lena folgte. Als das Klima gemäßigter wurde, zogen viele Familien zur südlichen Küste dieser Insel, aber das Meer gebot ihnen Halt. Die allmähliche Klimabesserung ermöglichte ihnen einen gewissen Grad von Kultur. Aber sie waren nicht mehr in der Lage, die Gnade, die ihnen die Natur gewährte, zu nutzen, denn die vorausgegangenen Zeiten mit tropischem Klima hatten Geist und Energie erlahmen lassen. Gegen Ende der zehn Millionen Jahre ergriff das arktische Klima wieder Besitz von der Insel. Es kam zu Mißernten, ihr Viehbestand, vor allem Nagetiere, ging zurück und die wenigen Rentierherden kamen aus Futtermangel um. Allmählich degenerierte dieses dürftige Überbleibsel der Menschheit zu einem kümmerlichen Rest von Eismeerbarbaren. So blieb es eine Million Jahre hindurch. Die Menschen waren psychisch so gelähmt, daß sie die Kraft, irgendwelche Neuerungen einzuführen, fast vollkommen verloren hatten. Als ihre heiligen Steinbrüche in den Bergen vom Eis überdeckt waren, hatten sie nicht einmal mehr den notwendigen Verstand, um die Steine aus den Tälern zur Herstellung von Werkzeugen zu benutzen, sondern verfertigten ihre Geräte und Werkzeuge aus Knochen. Ihre Sprache degenerierte zu einigen wenigen Grunzlauten, mit denen sie bestimmte Handlungen bewirken oder vermeiden wollten. Daneben gab es ein etwas stärker differenziertes System emotioneller Ausdrucksmöglichkeiten. Denn im Seelischen hatten sich diese Wesen noch eine gewisse Kultur bewahrt. Obwohl sie ihre intellektuelle Erfindungsgabe fast völlig eingebüßt hatten, waren doch ihre instinktiven Reaktionen und Handlungen von einer Art, wie man sie einer gebildeten Intelligenz zuschreiben würde. Sie waren ausgesprochen sozial in ihrem Verhalten, 188
respektierten zutiefst das Leben eines jeden einzelnen, waren gute Eltern und hingen mit großem Ernst an ihrer Religion. Erst kurz nachdem sich der übrige Planet wiederum mit Leben erfüllt hatte, erst zehn Millionen Jahre nach der Katastrophe in Patagonien, wurde eine Gruppe dieser Wilden auf einem Eisberg über das Meer nach Süden auf das asiatische Festland getrieben. Dies war ein glücklicher Zufall, denn die arktische Kälte nahm in ihrer Heimat immer mehr zu, so daß die Zuhausegebliebenen allmählich ausstarben. Die Überlebenden siedelten in dem neuen Land und drangen über die Jahrhunderte bis in das Kerngebiet Asiens vor. Sie vermehrten sich nur langsam, denn sie waren eine recht unfruchtbare und wenig anpassungsfähige Rasse geworden. Die Umweltbedingungen hatten sich jedoch sehr zu ihren Gunsten gewandelt. Das Klima war gemäßigt, da Rußland und Europa zu jener Zeit ein flaches Meeresbecken darstellten, das von den warmen Strömungen des Atlantiks erwärmt wurde. Außer den kleinen grauen Bären, Nachkommen des Eisbärs, und den großen wolfähnlichen Füchsen gab es keine gefährlichen Tiere. Die verschiedenen Arten von Nagetieren und Rehe versorgten sie mit einem Überfluß an Fleisch. Außerdem gab es Vögel aller Größen und Arten. Holz, Obst, wildes Getreide und andere nahrhafte Pflanzen konnten sie auf der gut durchwässerten Humusschicht finden, die sich aus Lavagestein gebildet hatte. Die unaufhörlichen Vulkanausbrüche hatten außerdem die oberen Schichten der Erdrinde wieder mit Metallablagerungen versehen. Es genügten ein paar hunderttausend Jahre, bis sich in dieser neuen Welt aus den paar Menschen erneut eine Vielzahl von Rassen entwickelte. Durch die Zusammenstöße dieser Rassen miteinander, durch ihre Verschmelzung, ebenso durch die Aufnahme bestimmter Chemikalien, die der Boden wieder zur Verfügung stellte, gewann die Menschheit ihre Vitalität zurück.
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kapitel vii
Der Aufstieg des Zweiten Menschen
Das Aufkommen einer neuen Art Im plötzlichen Hervortreten biologischer Varianten, von denen viele äußerst wertvoll waren, zeigten sich etwa zehn Millionen Jahre nach der Katastrophe von Patagonien die ersten Grundzüge einer neuen menschlichen Art. Auf diese wirkte die neue Umgebung mit ihren Reizen einige hunderttausend Jahre ein, bis sich schließlich die Spezies des Zweiten Menschen gebildet hatte. Abgesehen von höherem Wuchs und einem geräumigeren Schädel ähnelten diese Wesen in ihren Proportionen durchaus ihren Vorfahren. Allerdings war ihr Kopf, selbst unter Berücksichtigung ihrer Länge, ungewöhnlich groß und ihr Hals recht massiv. Sie hatten gewaltige, aber feingeformte Hände. Ihre fast titanenhafte Größe verlangte nach einem stärkeren Halt, und ihre Beine waren daher kräftiger als die Beine der früheren Menschen. Dadurch daß ihre Füße keine einzelnen Zehen mehr aufwiesen und die zusammengewachsenen Fußknochen stärker waren, war die Leistungsfähigkeit ihrer Gehwerkzeuge erheblich gesteigert worden. Während seines Aufenthaltes in Sibirien hatte der Erste Mensch seinen Körper durch einen dichten pelzartigen Haarwuchs geschützt, daher konnte man auch bei den meisten Rassen des Zweiten Menschen bis zum Ende ihrer Existenz dieses blonde Haarkleid entdecken. Die Menschen hatten große und meist jadegrüne Augen. Ihr Gesicht war wie aus Granit gemeißelt, aber trotzdem beweglich und leuchtend. Man könnte sagen, daß die Natur mit dem Zweiten Menschen eine Neuauflage jenes edlen, aber unglücklichen Typs schuf, der vor Urzeiten als Jäger und Künstler in den vorgeschichtlichen Höhlen gelebt hatte, daß sie diesen Typ aber bei weitem übertraf. Auch hinsichtlich seiner inneren Organe unterschied sich der Zweite Mensch von seinem Vorgänger. Insbesondere besaß er nicht mehr jene rudimentären Organe, die den Ersten Menschen, mehr als ihm 193
bewußt war, behindert hatten. Der Blinddarm, die Mandeln und andere längst funktionslos gewordene Organteile fehlten. Außerdem war der gesamte Organismus viel leistungsfähiger. Der chemische Haushalt war darauf abgestimmt, daß sich die Gewebezellen besser erneuerten und ergänzten. Obwohl die Zweiten Menchen im Verhältnis zu ihren sonstigen Körpermaßen nur ein kleines Gebiß hatten, waren die wenigen Zähne vollkommen frei von Karies. Die Drüsen sorgten dafür, daß die Pubertät mit zwanzig Jahren einsetzte und daß die Zweiten Menschen erst mit fünfzig zur Reife gelangten. Mit ungefähr 190 Jahren ließ ihre Spannkraft nach, und nach wenigen Jahren einer der Kontemplation gewidmeten Zurückgezogenheit starben sie in der Regel, bevor sie der Senilität verfielen. Es war so, als ob ein Mensch, der seine Arbeit verrichtet hatte, noch einmal in aller Ruhe über sein Leben nachdachte, bis er nichts mehr fand, was sein Interesse noch weiter zu beschäftigen vermochte, und er langsam vom Schlaf überwältigt wurde. Die Mütter trugen ihre Leibesfrucht drei Jahre bei sich, stillten den Säugling fünf Jahre lang und waren während dieser ganzen Zeit und während weiterer sieben Jahre steril. Sie kamen mit 160 Jahren ins Klimakterium. Im Äußeren erschienen sie ebenso massiv wie die Männer und hätten wahrscheinlich bei den Ersten Menschen als furchterregende Riesinnen gegolten. Aber selbst jene frühen Halbmenschen würden bei den Frauen der zweiten Gattung deren erregende Vitalität und ihr zutiefst menschliches Wesen bewundert haben. Im Temperament zeigten sich beim Zweiten Menschen gegenüber seinem Vorgänger seltsame Unterschiede. Es waren zwar dieselben Komponenten vertreten, aber in anderer Zusammensetzung, und alles war dem bewußten Willen des einzelnen viel stärker untergeordnet. Ihre geschlechtliche Potenz hatten die neuen Menschen wiedergewonnen, doch das sexuelle Interesse hatte sich verlagert. Zu der alten beglückenden Lust am körperlichen, geistigen und seelischen Kontakt mit dem anderen Geschlecht trat jetzt eine Art sublimierteren Erfas194
senwollens der gesamten Natur, eine Begierde, die in sich einmaligen verschiedenen körperlichen, geistigen und seelischen Erscheinungsformen aller Lebewesen begreifen zu lernen. Es ist vermutlich für weniger komplex ausgestattete Naturen recht schwierig, sich eine solche Erweiterung des sexuellen Interesses vorstellen zu können; denn für sie dürfte es nicht ohne weiteres einleuchtend sein, daß die lebhafte Bewunderung, die man dem anderen Geschlecht entgegenzubringen pflegt, auch die allein angemessene Haltung ist, mit der man allen jenen Schönheiten der Gestalt und des Wesens der wilden Tiere, der Vögel und der Pflanzen begegnen kann. Der Elterninstinkt war bei der neuen Art stark entwickelt, aber auch er hatte einen universelleren Charakter. Er wurde als eine starke angeborene Zuwendung allen Lebewesen gegenüber, die der Fürsorge bedurften, empfunden. Eine solche leidenschaftliche, aus freiem Antrieb entstandene Uneigennützigkeit hatte man in der alten Art nur in Ausnahmefällen finden können. Jetzt aber erlebten alle normalen Männer und Frauen die Uneigennützigkeit als ein leidenschaftliches Gefühl. Die primitive, Kinder als einen Besitz ansehende Elternliebe mäßigte sich in eine mehr das Individuum geltenlassende Form der Liebe, die bei den Ersten Menschen viel seltener gewesen war, als es ihre Selbstgefälligkeit hatte wahrhaben wollen. Auch die Selbstbestätigung hatte ihren Charakter weitgehend gewandelt. Früher hatte der Mensch sehr viel Energie darauf verwandt, sich als Individuum gegenüber anderen Menschen hervorzuheben und zu bestätigen, und sein Großmut war sehr oft im Grunde nur aus egoistischen Motiven entstanden. Aber beim Zweiten Menschen war das Konkurrenzstreben zu Zwecken der Selbstbestätigung sehr stark zurückgegangen, jener Kampf der eigenen, intim bekannten Tierseele gegen alle anderen. Die großen Taten der vergangenen Gesellschaft wären nie vorangekommen, wenn man nicht den Egoismus hierfür eingespannt hätte. Bei den Zweiten Menschen war es jedoch genau umgekehrt. Nur sehr wenige würden sich bis zum Letzten für ihre eigenen Belange eingesetzt haben, wenn sie nicht für die Gemeinschaft von Interesse und Bedeutung ge195
wesen wären. Nur die Vorstellung von einer Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, die alle Menschen in der Welt umfaßte, konnte den Kampfinstinkt bei jenen Menschen erwecken. Also unterschied sich der Zweite Mensch viel mehr im Seelisch-Geistigen als im Körperlichen vom Ersten, und hier insbesondere durch seine angeborene Fähigkeit, kosmopolitisch zu denken und zu fühlen. Natürlich gab es auch Stämme und Staaten, und auch der Krieg war nicht ganz unbekannt. Aber selbst in den primitivsten Zeiten fühlte sich der einzelne der gesamten Menschheit gegenüber verpflichtet. Das Kriegführen wurde dabei so stark durch plötzlich auftretende freundschaftliche Gefühle gegenüber dem Feind behindert, daß ein Krieg nur allzuleicht zu einem, allerdings noch recht rohen, sportlichen Wettkampf degenerierte, der dann zu einem Fest allgemeiner Verbrüderung wurde. Allerdings war trotz allem das stärkste Interesse dieser Wesen keineswegs auf die Gesellschaft gerichtet. Ihnen hat es nie gelegen, solche Abstraktionen wie den Staat, die Nation oder den Weltstaat zu lobpreisen. An einem bloßen Zusammenleben in Herden oder an Geselligkeit waren sie kaum interessiert, ihr angeborenes Interesse galt vielmehr der Persönlichkeit. Die Verschiedenheit der einzelnen Menschen faszinierte sie ebenso wie die Aufgabe, die eigene Persönlichkeit weiterzubilden. Sie besaßen die bemerkenswerte Fähigkeit, ihre Mitmenschen in ihrer Einmaligkeit als Individuen mit ganz besonderen Bedürfnissen intuitiv zu erfassen. Die Menschen der früheren Spezies hatten darunter gelitten, daß das Wesen eines jeden einzelnen dem anderen fast völlig verschlossen blieb. Nicht einmal Liebende und kaum ein Genie mit besonderem Empfinden für Persönlichkeitswerte hatten je eine auch nur annähernd zutreffende Vorstellung vom anderen Menschen gehabt. Aber der Zweite Mensch wandte sein tiefes, genau registrierendes Bewußtsein nicht nur auf die eigene Person an, sondern auch auf andere. Dazu befähigte ihn nicht etwa eine besondere Gabe, sondern eher ein stärkeres Interesse für andere, ein verfeinertes Einfühlungsvermögen und eine aktivere Phantasie. 196
Ebenso besaß er ein bemerkenswertes angeborenes Interesse an geistigen Tätigkeiten höherer Art, oder besser an den subtilen Objekten, mit denen er sich dabei beschäftigte. Bereits Kinder neigten instinktiv dazu, ihre Welt sowie ihr eigenes Verhalten nach echt ästhetischen Gesichtspunkten zu werten und sie sich mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden und Abstraktionen zu erobern. Kleine Jungen waren zum Beispiel nicht nur begeisterte Sammler von verschiedenen Eierarten oder Kristallen, sondern sie sammelten mathematische Formeln, die verschiedene Formen von Eiern und Kristallen oder die Windungen von Schneckenhäusern, des Farnkrautes, von Blättern oder von Grasbüscheln erfaßten. Es gab eine reichhaltige Überlieferung von Märchen, deren besonderer Reiz darin bestand, daß sie philosophische Probleme behandelten. Die kleinen Kinder hatten ihre helle Freude daran, wenn sie hörten, wie die armen Wesen, die man Illusionen nannte, aus dem Reich der Realität verbannt wurden, wie der eindimensionale Herr Strich plötzlich in einer zweidimensionalen Welt aufwachte, oder wie der tapfere junge Klang die kakophonischen wilden Tiere erschlug und dabei seine Braut Melodia errang, in jenem seltsamen Land, in dem die Landschaft nur aus Tönen bestand und die Lebewesen Musik waren. Der Erste Mensch war erst durch einen mühseligen Unterricht für die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Philosophie interessiert worden. Der Zweite Mensch hingegen hatte eine naturgegebene Neigung von gleicher Stärke wie die Instinkte der Primitiven, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Das bedeutete natürlich nicht, daß er den Mühen des Lernens gänzlich enthoben gewesen wäre, derlei Tätigkeiten bereiteten ihm vielmehr Freude und fielen ihm so leicht, wie das bei seinen Vorfahren nur bei geistig anspruchsloseren Beschäftigungen der Fall gewesen war. Auch der Zusammenhang innerhalb des Nervensystems der alten Spezies war immer stark gefährdet gewesen und konnte nur allzuleicht durch die Rebellion irgendeines untergeordneten Teiles zu einer Geisteszerrüttung führen. Bei der Zweiten Art hingegen gelang es den 197
Schaltzentren höherer Ordnung, eine fast vollkommene Harmonie der nachgeordneten Funktionsteile aufrechtzuerhalten. So spielten zum Beispiel moralische Konflikte, die sich aus der Spannung zwischen einem vorher gefaßten Entschluß und einer plötzlichen Eingebung oder aus dem Gegeneinander von privatem Interesse und Allgemeininteresse ergaben, eine unbedeutende Rolle. Auch in der Wahrnehmungsfähigkeit übertraf diese vom Schicksal begünstigte Art bei weitem ihre Vorgänger. Der Zweite Mensch konnte im Farbspektrum zwischen Grün und Blau eine neue Grundfarbe erkennen und sah noch eine weitere Grundfarbe neben dem Blau, die nicht etwa ein verschwommenes Rotblau war, sondern mit zunehmendem roten Grundton weit in den ultravioletten Bereich hineinragte. Diese beiden neuen Grundfarben waren Komplementärfarben. Auf der entgegengesetzten Seite des Farbspektrums erschien ihm Infrarot als eine besondere purpurne Farbtönung. Weiterhin ermöglichten es ihm seine sehr große Netzhaut sowie die größere Zahl von Sehnervbündeln und -zapfen, auch kleinere Ausschnitte seines Gesichtsfeldes viel genauer zu erfassen. Dieses verbesserte Wahrnehmungsvermögen verband sich mit einer erstaunlich reichen inneren Bildwelt und gestattete ihm einen besseren Einblick in das Wesen neuauftretender Situationen. Während die natürliche Intelligenz beim Ersten Menschen bereits mit dem vierzehnten Lebensjahr ausgereift war, kam der Reifungsprozeß beim Zweiten Menschen erst mit dem vierzigsten Lebensjahr zum Abschluß. So konnte ein durchschnittlicher Erwachsener der damaligen Zeit jene Probleme unmittelbar begreifen, deren Lösung für die glänzendsten Köpfe der Vergangenheit erst nach langwierigen Denkanstrengungen möglich gewesen war. Durch einen solchen hervorragenden geistigen Scharfblick konnte die zweite Spezies die meisten jener uralten Verwirrungen und abergläubischen Vorstellungen vermeiden, die ihre Vorgänger in ihrer Entwicklung gelähmt hatten. Diese große Intelligenz war mit einer bemerkenswerten Fähigkeit gepaart, einmal gefaßte Entschlüsse nicht 198
starr beizubehalten, sondern jederzeit, falls erforderlich, zu revidieren. Der Zweite Mensch war in der Tat weit fähiger als der Erste, mit Gewohnheiten zu brechen, die längst keine Berechtigung mehr besaßen. Man kann also zusammenfassend sagen, daß günstige Umstände eine sehr edle Spezies hervorgebracht hatten. Im wesentlichen handelte es sich dabei um den gleichen Typ wie bei der ersten, aber mit grundlegenden Verbesserungen. Vieles, was der Erste Mensch nur nach langer Ausbildung und Selbsterziehung ausführen konnte, gelang dem Zweiten Menschen mühelos und bereitete ihm dazu noch Freude. Insbesondere handelte es sich hierbei um zwei Fähigkeiten, die für den Ersten Menschen unerreichbare Ideale geblieben waren, und die jetzt jedem normalen Menschen zur Verfügung standen, nämlich ein völlig objektives Erkenntnisvermögen und die Fähigkeit, die anderen vorbehaltslos wie sich selbst zu lieben. Man könnte die Zweiten Menschen daher auch ›Natürliche Christen‹ nennen, da sie stets bereit waren, einander nach den Geboten Jesu Christi zu lieben und ihr ganzes Gemeinwesen mit dem Geist der Liebe und Güte erfüllten. Schon frühzeitig in ihrer Entwicklung hatten sie sich der Religion der Liebe zugewandt und wurden von ihr bis zu ihrem Ende immer wieder auf verschiedene Weise ergriffen. Andererseits führte sie ihr objektives Erkenntnisvermögen sehr bald zu einer Verehrung des Schicksals. Und da sie im Denken kompromißlos und unerbittlich waren, verstörte sie die Diskrepanz zwischen ihrer Religion der Liebe und ihrer Loyalität gegenüber dem Schicksal. Es mag so scheinen, als ob der menschliche Geist jetzt einen triumphalen und schnellen Fortschritt hätte erleben können. Aber obwohl die zweite menschliche Art gegenüber der ersten zweifellos vollkommener war, fehlten ihr dennoch gewisse Eigenschaften, ohne die sie die nächste Etappe auf dem Entwicklungsgang des menschlichen Geistes nicht erreichen konnte. Weiterhin brachte gerade ihre Vortrefflichkeit einen neuen Fehler mit sich, der bei den Ersten Menschen kaum in Erscheinung getreten 199
war. Im Leben der einfachen Menschen gibt es Gelegenheiten, wo nur eine eigene heroische Anstrengung ihnen dazu verhelfen kann, ihr Leben von der Stagnation oder dem Absinken zu bewahren, und sie in neue Bereiche und zu neuen Taten aufbrechen läßt. Beim Ersten Menschen wurde eine solche Anstrengung oft durch Selbstsucht ausgelöst. Eine Flutwelle, bestehend aus unzähligen Einzelegoismen, brandete blind in eine bestimmte Richtung und trug dabei den Ersten Menschen voran. Beim Zweiten Menschen hingegen war Selbstachtung nie ein mitreißendes Motiv. Nur der Appell an seine Treue gegenüber der Gemeinschaft oder eine persönliche Liebesbeziehung vermochten ihn zu verzweifelten Anstrengungen anzuspornen. Wenn es sich aber bei einer Sache nur um das persönliche Fortkommen handelte, wollte er lieber seine Ruhe haben, als sich zum Sklaven seines Ehrgeizes zu degradieren, und zog die Freuden des Sports, der Geselligkeit, der Kunst oder des Intellekts vor. So kam es, daß zwar die Zweiten Menschen glücklich daran waren, wenn bei ihnen Machtstreben und Geltungsdrang, die der alten Art den Industrialismus und den Militarismus beschert hatten, kaum anzutreffen waren, und sie sich langer Zeiten eines idyllischen Friedens erfreuen konnten, daß aber andererseits oft ihr Fortschritt, wenn sie eine hohe Kulturstufe erreicht hatten, seltsamerweise langsamer wurde, ohne daß sie sich den Planeten selbstbewußt Untertan gemacht hätten.
Die Beziehungen zwischen drei Arten In wenigen tausend Jahren breitete sich diese neue Spezies über das ganze Gebiet zwischen Afghanistan bis zum Chinesischen Meer aus, überrannte Indien und drang weit in den neuen australasiatischen Kontinent vor. Es war jedoch kein militärisches sondern ein kulturelles Vordringen. Die übriggebliebenen Stämme des Ersten Menschen, für die eine Kreuzung mit der neuen Art nicht möglich war, vermochten nicht, sich der höheren Kultur anzupassen, die sie umgab, und starben aus. 200
Während mehrerer weiterer Jahrtausende war der Zweite Mensch so etwas wie ein vornehmer Barbar, durchlief dann sehr schnell die Entwicklungsstufe des Nomaden und trieb sehr bald Ackerbau und Viehzucht. Während dieser Zeit wurde eine Expedition ausgerüstet, die den neuentstandenen riesigen Hindukusch überqueren und Afrika erforschen sollte. Diese Expedition kam zum erstenmal in Berührung mit den Nachkommen jener Schiffsbesatzung, die vor Millionen von Jahren Sibirien verlassen hatte. Diese Wesen besaßen kaum noch menschliche Eigenschaften und Züge. Sie hatten sich nach Süden über Amerika und die neuentstandene Landverbindung bis nach Afrika verbreitet. Sie glichen eher Pavianen als Menschen. Mit ihren flachen Schädeln und seltsamen rüsselartigen Schnauzen gingen sie nicht mehr aufrecht, sondern bewegten sich sehr häufig auf allen vieren vorwärts und reichten den Zweiten Menschen nur bis zum Knie. Dabei waren sie trotz ihrer subhumanen Gestalt streng nach einem komplizierten Kastensystem organisiert, das sich an Geruchswahrnehmungen orientierte. Ihr Geruchssinn hatte sich auf Kosten ihrer Intelligenz überaus stark entwickelt. Gewisse Krankheiten verursachten bei einzelnen dieser Subhumanen bestimmte Ausdünstungen, die so widerwärtig waren, daß man sie für heilig hielt. Solche Individuen behandelte man mit besonderem Respekt. Obwohl sie durch ihre Krankheit sehr geschwächt waren, wurden sie so sehr gefürchtet, daß kein Gesunder es gewagt hätte, sich ihren Anordnungen zu widersetzen. Die verschiedenen Geruchscharakteristika waren die Grundlage einer hierarchischen Ordnung. Diejenigen, die nur eine sehr begrenzte Fähigkeit hatten, widerwärtige Gerüche zu erzeugen, zollten denen gegenüber Respekt, bei denen ein fortgeschrittenes Stadium der Körperzersetzung den greulichsten Gestank verbreitete. Jene Krankheiten regten besonders den Fortpflanzungstrieb an. Diese Tatsache erklärt sowohl die Achtung, die man den Kranken entgegenbrachte als auch deren ungeheure Fruchtbarkeit, die es ihnen ermöglichte, trotz Dummheit und vieler Seuchen zwei Kontinente zu überfluten. Obwohl diese Krankheiten einen tödlichen Aus201
gang nahmen, griffen sie doch nur sehr langsam um sich. Wenn auch die von Krankheit befallenen Individuen oft nicht mehr in der Lage waren, für ihre Ernährung selber zu sorgen, konnten sie sich auf die Ergebenheit der Gesunden verlassen, die nur allzu glücklich waren, wenn sie sich bei der Krankenpflege anstecken konnten. Das Erstaunlichste aber war, daß diese Kreaturen von einer anderen Intelligenzform versklavt werden konnten. Als der Zweite Mensch noch weiter in das Innere Afrikas vordrang, erreichte er ein Waldgebiet, an dem Kompanien kleiner Affen sich ihm entgegenstellten. Es wurde sehr bald klar, daß die Affen jede Einmischung in die Angelegenheiten der schwachsinnigen und passiven Subhumanen, die sich in ihrem Gebiet befanden, übelnahmen. Als sie dann sogar noch primitive Bogen und vergiftete Pfeile gegen die Eindringlinge gebrauchten, wurde deren Lage ziemlich unangenehm. Die Verwendung von Waffen und anderen Werkzeugen sowie eine bemerkenswerte Zusammenarbeit bei kriegerischen Operationen ließen die Zweiten Menschen erkennen, daß sie es hier mit einer Affenart zu tun hatten, die hinsichtlich ihrer Intelligenz alles auf Erden, außer sie selbst, weit übertraf. Der Zweite Mensch sah sich jetzt der einzigen Gattung von irdischen Lebewesen gegenüber, die es in der Geschichte der Erde dazu gebracht hatte, sich in Wendigkeit und praktischem Verstand mit dem Menschen zu messen. Als die Angreifer weiter vordrangen, konnten sie beobachten, wie die Affen ganze Herden von Subhumanen zusammentrieben und fortschafften. Sie konnten auch feststellen, daß diese als Haustiere gehaltenen Subhumanen gänzlich frei waren von jenen Krankheiten, unter denen ihre ›ungezähmten‹ Verwandten litten, die ihrerseits aber gerade deswegen jene gesunden Sklaven verachteten. Später erfuhren die Zweiten Menschen, daß die Affen die Subhumanen als Lasttiere abrichteten und außerdem ihr Fleisch als begehrtes Nahrungsmittel sehr schätzten. Man entdeckte eine aus Zweigen und Ästen geflochtene Baumstadt, die gerade gebaut wurde. Die Subhumanen schleppten Bauholz herbei und zogen es in die Höhe. Die Affen trieben sie dabei mit Speeren an, die 202
mit einer Knochenspitze versehen waren. Allerdings wurde bald klar, daß die Affen ihre Autorität weniger durch Gewalt als vielmehr durch Einschüchterung aufrechterhielten. Sie rieben sich mit dem Saft einer seltenen aromatischen Pflanze ein, deren Geruch die Subhumanen in Angst und Schrecken versetzte und sie im Zustand unterwürfiger Fügsamkeit verharren ließ. Es war nur eine Handvoll von Pionieren, die diese Expedition unternommen hatten. Auf der Suche nach Metallen, die während der vulkanischen Epoche an die Erdoberfläche geworfen worden waren, hatten sie das Gebirge überquert. Sie hegten als Angehörige einer freundlichen Rasse keinerlei feindselige Gefühle gegenüber den Affen, sondern betrachteten mit Vergnügen deren Gewohnheiten und Erfindungsreichtum. Aber die Affen ärgerte die bloße Anwesenheit dieser mächtigeren Wesen. So sammelten sie sich schließlich zu Tausenden in den Baumwipfeln und erledigten die Expedition mit vergifteten Pfeilen. Nur einem Mann gelang es, zurück nach Asien zu entfliehen. Nach einigen Jahren kehrte er mit einigen Hundert anderen zurück. Es handelte sich dabei aber um keine Strafexpedition, denn dem gütigen Zweiten Menschen lag ein Groll merkwürdigerweise fern. Die Expedition ließ sich am Rande des Waldgebietes nieder und versuchte, mit den kleinen Baumbewohnern in Verbindung zu treten und einen Tauschhandel zu beginnen. Nach einiger Zeit konnte sie deren Territorium ungestört betreten und ihre Suche nach Metallen darin beginnen. Eine genaue Untersuchung über diese so verschiedenartigen Intelligenzformen würde sicherlich sehr aufschlußreich sein, aber wir haben leider dafür keine Zeit. Innerhalb ihrer eigenen Welt besaßen die Affen vielleicht eine schnellere Auffassungsgabe als die Menschen, aber ihre Intelligenz stand ihnen nur in diesen engen Grenzen zur Verfügung. Sie waren zum Beispiel sehr gewandt, immer neue Mittel zu entdecken, durch die sie ihren Appetit besser stillen konnten. Aber ihnen mangelte es vollkommen an Selbstkritik. Zusätzlich zu einer normalen Ausstattung mit Instinkten, die ihre Bedürfnisse befriedigten, hatten 203
sie eine ganze Reihe von traditionellen Begierden entwickelt und erworben, von denen die meisten recht exzentrisch und sogar schädlich waren. Der Zweite Mensch konnte andererseits zwar oft im Augenblick von den Affen überlistet werden, erwies sich aber am Ende als unvergleichlich fähiger und vernünftiger. Der Unterschied zwischen den beiden Intelligenzformen läßt sich sehr deutlich erkennen, wenn man sieht, wie sie auf Metalle reagierten. Der Zweite Mensch suchte Metalle nur, um den weiteren Fortschritt einer bereits hochentwickelten Kultur zu gewährleisten. Aber die Affen waren vom Anblick der ersten leuchtenden Metallbarren einfach hingerissen. Sie hatten schon früher die Eindringlinge wegen ihrer angeborenen Überlegenheit und wegen ihres materiellen Reichtums gehaßt. Jetzt aber verband sich diese Eifersucht mit einer primitiven Gewinnsucht, und die Kupfer- und Zinnplatten wurden in ihren Augen zu Symbolen der Macht. Um ihrer Arbeit ungestört nachgehen zu können, hatte die Expedition eine Abgabe in Form von Waren entrichtet, die in ihrem Land hergestellt wurden, wie zum Beispiel Körbe, Geschirr und besonders entwickelte Kleinwerkzeuge. Aber beim Anblick der Metalle verlangten die Affen einen Anteil an diesem edelsten Erzeugnis ihres Landes. Dieses Verlangen wurde bereitwillig erfüllt, denn so brauchte man keine Waren mehr aus Asien herbeizuschaffen. Die Affen brauchten aber eigentlich diese Metalle gar nicht. Sie hamsterten sie nur und wurden immer habgieriger. Wer nicht mühselig einen großen Metallbarren dauernd mit sich herumschleppte, wurde nicht respektiert. Wenn einer ohne eine derartige Metalldekoration herumlief, wurde das allmählich sogar als unanständig angesehen. Und wenn man mit Angehörigen des anderen Geschlechts sprach, hielt man die Metallplatten immer so, daß sie die Genitalien verdeckten. Je mehr Metall die Affen bekamen, desto mehr wollten sie haben. Oft kam es bei Streitigkeiten über den Besitz von Hamsterlagern zu Blutvergießen. Diese mörderischen gegenseitigen Fehden führten schließlich dazu, daß sich alle gemeinsam gegen den Export von Me204
tallen wandten. Einige machten sogar den Vorschlag, daß die verfügbaren Metalle dazu benutzt werden sollten, wirksamere Waffen herzustellen, mit denen man die Eindringlinge hätte vertreiben können. Dieser Vorschlag wurde jedoch verworfen, nicht nur deswegen, weil es keinen gab, der das Rohmetall in entsprechender Weise hätte bearbeiten können, sondern vor allem, weil die Affen der Überzeugung waren, daß ein so heiliges Material nicht durch profane Zweckbestimmung entweiht werden dürfe. Ihr Wille, sich der Eindringlinge zu entledigen, wurde durch einen Streit über die Behandlung der Subhumanen noch verstärkt. Diese erbärmlichen Wesen wurden von ihren Herren sehr rauh angefaßt. Man verlangte von ihnen nicht nur ungeheure Arbeitsleistungen, sondern quälte sie auch noch in kaltblütigster Weise. Das geschah nicht so sehr aus Vorliebe für Grausamkeiten, sondern aus einer sonderbaren Art von Humor, der Freude an Ungereimtheiten. Es bereitete zum Beispiel den Affen ein außerordentliches Vergnügen, bei dem sie sich keinerlei Schuld bewußt waren, die Subhumanen zu zwingen, ihre Arbeit aufrecht zu verrichten, eine Haltung, die diesen mittlerweile völlig ungewohnt war, oder sie zu zwingen, ihre eigenen Exkremente oder ihre Kinder zu fressen. Wenn es im Ausnahmefall dazu kam, daß ein Subhumaner gegen derlei Quälereien rebellierte, brachen die Affen voll tiefster Verachtung über eine solche Humorlosigkeit in hellen Zorn aus. So wenig waren sie in der Lage, sich die Individualität anderer Wesen vorstellen zu können. Gegenüber ihren Mitaffen konnten sie sich allerdings gütig und großzügig verhalten, wenn auch hier oft der Schelm mit ihnen durchging. Ein Individuum, das von seinen Mitaffen mißverstanden wurde, mußte damit rechnen, daß man es in heiterer Ausgelassenheit quälte und oft zu Tode hetzte. Im großen und ganzen litten aber mehr die Subhumanen unter dieser Eigenschaft. Die Expeditionsmitglieder waren erbittert über solche schwachsinnigen Grausamkeiten und protestierten. Ein derartiger Protest war aber für die Affen völlig unverständlich. Wozu war Vieh anders nütze, als 205
seinen Herren zu dienen? Offenbar glaubten die Affen, daß die Eindringlinge keine höherstehenden geistigen Fähigkeiten besitzen könnten, wenn sie nicht einmal die besondere Schönheit des phantastisch Ungereimten zu würdigen verstünden. Diese und andere Gegensätze ließen die Affen nicht ruhen, bis sie ein Mittel fanden, durch das sie sich für immer befreien wollten. Es hatte sich herausgestellt, daß der Zweite Mensch sehr anfällig gegenüber den Krankheiten seiner elenden subhumanen Verwandten war. Nur durch eine ganz rigorose Quarantäne hatte einmal eine Seuche eingedämmt werden können, die seine Anfälligkeit enthüllte. So nutzten die Affen dieses Wissen zum Teil aus Rache, zum Teil aber auch, weil sie an dem durch die Verbreitung einer Seuche entstehenden Durcheinander ihr hämisches Vergnügen hatten. Es gab da eine bestimmte Nuß, die in einem entfernteren Gebiet des Landes wuchs und die Affe und Mensch gleich gut mundete. Die Affen hatten schon lange damit begonnen, diese Nuß gegen zusätzliche Metallieferungen einzutauschen, und die Zweiten Menschen beluden Karawanen mit diesen Nüssen, die sie in ihre Heimat bringen sollten. Hier witterten die Affen ihre Chance. Sie infizierten große Mengen von Nüssen mit den Keimen jener Krankheit, die unter den nicht domestizierten Subhumanen grassierte. Sehr bald gab es unzählige Karawanen, die solche präparierten Nüsse überallhin nach Asien brachten. Die Wirkung dieser Mikroben, die den Zweiten Menschen völlig unvorbereitet traf, war verheerend. Die Pioniersiedlungen fielen ihnen zum Opfer ebenso wie die Mehrzahl aller Menschen der Zweiten Spezies. Die Subhumanen hatten sich bereits an die Mikroben gewöhnt und pflanzten sich jetzt um so schneller fort, ganz im Gegensatz zu den differenzierter organisierten Zweiten Menschen, die abstarben wie Blätter im Herbstwald. Die Zivilisation zerfiel. Nach wenigen Generationen war ganz Asien nur noch von einer Handvoll verstreut vegetierender Wilder bevölkert, alle waren krank, und die meisten gelähmt. Aber trotz dieser Katastrophe blieb die Spezies latent erhalten. Nach wenigen Jahrhunderten hatte sie die Infektion überwun206
den und einen neuen Aufstieg zur Zivilisation begonnen. Nach weiteren tausend Jahren überschritten wiederum Pioniere das Gebirge und drangen nach Afrika vor. Sie trafen auf keinen Widerstand. Das gefährliche Aufflackern der Intelligenz von Affenwesen war längst erloschen. Die Affen hatten ihre Körper so sehr mit Metallen behangen und ihren Geist mit der fixen Idee, immer mehr Metalle zusammenraffen zu müssen, zerstört, daß den Herden der Subhumanen ein Aufstand geglückt war und sie ihre Herren vernichtet hatten.
Der Zweite Mensch auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung Fast 250 000 Jahre hindurch gab es für den Zweiten Menschen viele einander ablösende Phasen des Aufstiegs und des Niedergangs. Von einer Rasse mit so glänzenden Voraussetzungen hätte man einen weit stetigeren und triumphaleren Fortschritt auf eine höhere Kulturstufe erwarten können. Aber, ob es sich um einzelne oder um Rassen handelt, Zufälligkeiten vereiteln oft selbst die vorsichtigsten Voraussagen. Der Zweite Mensch wurde zum Beispiel lange Zeit hindurch von einer ›Eiszeit‹ sehr stark behindert, die zur Zeit ihrer größten Ausdehnung sogar Indien im arktischen Klima erstarren ließ. Immer weiter schob sich das Eis nach Süden vor und drängte die einzelnen Völkerschaften bis ins südlichste Indien zurück, wo sie etwa auf die Kulturstufe der Lappen herabsanken. Nach dieser Epoche erholten sie sich sehr bald wieder, hatten aber unter Krankheiten zu leiden. Am verheerendsten wirkte eine von Bakterien verbreitete Seuche. Die erst in jüngerer Zeit entstandenen und außerordentlich fein aufeinander abgestimmten Gewebeteile dieser Art waren gegenüber Krankheiten besonders anfällig. So geschah es nicht nur einmal sondern viele Male, daß eine vielversprechende primitive oder ›mittelalterliche‹ Zivilisation plötzlich von Seuchen ausgelöscht wurde. 207
Aber schlimmer als alle Naturkatastrophen, die den Zweiten Menschen heimsuchten, waren die spontanen Veränderungen seiner physischen Konstitution. Ebenso wie die Fangzähne des Säbelzahntigers so gewaltig wurden, daß das Tier durch sie am Fressen gehindert wurde, so drohte das Gehirn des Zweiten Menschen den übrigen Körper zu überwuchern. Diese einzigartige Gabe der Natur, die ursprünglich genügend Raum im Schädel gefunden hatte, wurde jetzt immer mehr zusammengepreßt, während der Kreislauf, dessen Kraft früher vollkommen ausgereicht hatte, immer häufiger versagte und ein auf so engem Raum zusammengepferchtes Gebilde nicht mehr ausreichend mit Blut versorgen konnte. Diese beiden Faktoren wirkten sich schließlich verhängnisvoll aus. Angeborener Schwachsinn wurde immer häufiger, dazu kamen erworbene Geisteskrankheiten aller Art. Während mehrer Jahrtausende war die Existenz der Rasse ständig gefährdet. Einmal schien sie auszusterben, ein andermal entwickelte sich in irgendeinem Gebiet mit günstigen Lebensbedingungen sehr schnell eine extravagante Kulturform. Einem solchen Aufzucken eines gefährdeten Geistes war das plötzliche und nur kurze Auftreten einer Reihe von Stadtstaaten im Tal des Jangtsekiang zu verdanken, deren Bewohner Neurotiker, Genies und Schwachsinnige waren. Das Dauerhafteste dieser Zivilisation war ihr brillanter Beitrag zur Verzweiflungsliteratur, in dem ein feines Unterscheidungsvermögen zwischen dem tatsächlichen Schicksal und den potentiellen Möglichkeiten des Menschen und des Universums vorherrschte. Später, als die Rasse ihren Zenit erreicht hatte, dachte sie oft über jene tragischen Mahner aus der Vergangenheit nach und über deren Botschaft, die sie an das aller Existenz zugrundeliegende Grauen erinnerte. Allmählich wurden die Gehirne immer größer und die Rasse zerfiel immer mehr. Zweifellos wäre ihr durch die verhängnisvolle Richtung, in der sich ihre Physis entwickelte, das gleiche Schicksal wie dem Säbelzahntiger bestimmt gewesen, wenn nicht ihre Spezies zu guter Letzt einen im Physischen stabileren Typ hervorgebracht hätte. In Nordame208
rika, das der Zweite Mensch auf dem Wege über Afrika schon vor langer Zeit erreicht hatte, tauchte dieser mit einem geräumigeren Schädel und mit einem stärkeren Herzen versehene Typ zuerst auf. Es war ein sehr glücklicher Umstand, daß sich die neuen Erbanlagen als dominant erwiesen. Aus der Kreuzung mit dem alten Rassetyp entstand eine von Gesundheit strotzende Rasse, die bald ganz Amerika bevölkerte. Die Art war gerettet. Es dauerte aber nochmals 100 000 Jahre, bevor der Zweite Mensch seinen Zenit erreichte. Ich darf mich bei diesem Satz der menschlichen Symphonie nicht aufhalten, obwohl er von klangvoller Schönheit und Fülle ist. In ihm wiederholen sich bekannte Themen aus der Entwicklung der ersten Spezies, aber anders gesetzt, von Moll in Dur transponiert. Wiederum folgt eine primitive Kultur der anderen, oder sie geht in eine primitive oder ›mittelalterliche‹ Zivilisationsform über, und eine nach der anderen zerfällt oder wandelt sich. Zweimal kam es sogar auf der Erde zur Bildung einer einzigen weltumspannenden Gemeinschaft, die für viele Jahrtausende fortbestand, bis auch diese durch unglückliche Umstände zerbrach. Diese Zusammenbrüche sind durchaus erklärlich, denn im Gegensatz zum Ersten Menschen verfügte der Zweite weder über Kohle noch Öl. Beiden dieser frühen Weltgemeinschaften des Zweiten Menschen mangelte es vollkommen an mechanisch erzeugter Energie. Daher umfaßten diese komplexen Zivilisationen zwar die ganze Welt, sie blieben aber ›mittelalterlich‹. In jedem Kontinent nahm eine intensiv betriebene und hochentwickelte Landwirtschaft von den Tälern ihren Ausgang und drang über die Gebirge in bewässerte Wüstengebiete vor. In den überall entstehenden Gartenstädten bearbeitete der einzelne Bürger das ihm zugewiesene Land, trieb nebenbei noch ein Kunsthandwerk und hatte außerdem noch freie Zeit für Frohsinn und Beschaulichkeit. Die Verbindungen zwischen den fünf großen Festlandstaaten wurden mit Wagen, durch Karawanen und mit Segelschiffen aufrechterhalten. Die Segelschiffe kamen wieder zu ihrem Recht und übertrafen alle bisher bekannten Leistungen. Auf jedem Meer tru209
gen ganze Flotten von geräumigen aber schlanken hölzernen Klippern, mit geschnitztem Bug und Heck und roten Segeln, geschmeidig wie Delphine, die Waren aller Länder und viele Passagiere, die gern ein Ferienjahr bei Ausländern verleben wollten. So viel konnte selbst ohne mechanische Energie im Laufe der Zeit von Menschen erreicht werden, die mit hoher Intelligenz begabt und gegen antisoziale Selbstbehauptungstendenzen immun waren. Aber auch dieser Zustand ging zu Ende. Eine rätselhafte Müdigkeit breitete sich überall in der Welt aus. Da die Rasse noch völlig unerfahren auf dem Gebiet der Physiologie war, konnte sie nicht vermuten, daß ein Virus daran schuld war, der ihr Drüsensystem in Unordnung gebracht hatte. So zog sich Jahrhundert um Jahrhundert die Landwirtschaft immer mehr aus den Wüstengebieten und den Bergen zurück, das handwerkliche Geschick ließ nach, und das Denken erstarrte. Die große Lethargie erzeugte allgemein Mutlosigkeit. Schließlich verloren die Nationen den Kontakt untereinander, vergaßen einander, vergaßen ihre Kultur und zerbröckelten zu einzelnen wilden Stämmen. Und das Leben auf der Erde verfiel wiederum in Schlaf. Lange nachdem die Krankheit erloschen war, entwickelten sich mehrere tausend Jahre später nebeneinander mehrere große Völker. Als sie schließlich den Kontakt untereinander wieder aufnahmen, standen sie sich so fremd gegenüber, daß es erst in jedem einzelnen Volk zu einer mühsamen kulturellen Umwandlung, nicht ohne Blutvergießen, kam, bis die Welt wieder zu einer Einheit gelangte. Diese zweite Weltgemeinschaft bestand jedoch nur einige Jahrhunderte lang, denn durch im Unbewußten wirkende große Wesensunterschiede vermochten es die einzelnen Rassen nicht, sich wirklich loyal zueinander zu verhalten. Religiöse Gründe zerstörten schließlich die Einheit, die alle ersehnten, der aber keiner traute. Eine heroische Nation von Monotheisten fühlte sich dazu berufen, ihren Glauben einer zurückhaltend pantheistischen Welt aufzudrängen. Zum ersten und letzten Mal stolperte der Zweite Mensch dabei in einen die ganze Welt erfassenden Bürgerkrieg, 210
bei dem es, gerade weil es sich hier um einen Religionskrieg handelte, mit bisher unvorstellbarer Brutalität zuging. Mit vorsintflutlicher Artillerie und mit außerordentlichem Fanatismus fielen die beiden Gruppen übereinander her. Die Felder wurden verwüstet, die Städte zerstört, die Flüsse und zuletzt sogar noch die Luft vergiftet. Noch lange nachdem dieses Inferno des Grauens durchschritten war, bei dessen Anblick jede niedrigere Art zusammengebrochen wäre, setzten diese heroischen Wahnsinnigen ihre organisierte Zerstörung fort. Und als schließlich der unvermeidliche Zusammenbruch doch herankam, war er um so vollständiger. Die vernichtende Klarheit, die allmählich jeden ergriff, das überwältigende Bewußtsein, einen Verrat gegenüber der Menschheit begangen zu haben, sowie die tragische Ironie des ganzen Gemetzels nahm einer so empfindsamen Spezies alle Lebenskraft. Erst viele Jahrtausende später brachte sie eine neue Weltgemeinschaft zustande. Aber sie hatte die ihnen erteilte Lehre verstanden. Die dritte und dauerhafteste Zivilisation des Zweiten Menschen erreichte den Glanz einer ersten mittelalterlichen Zivilisation, ging dann aber weit darüber hinaus und brachte eine Blütezeit der Naturwissenschaften hervor. Kunstdünger vermehrte die Ernteerträge. Dadurch wuchs die Weltbevölkerung. Wind- und Wasserkräfte wurden zur Erzeugung von Elektrizität genutzt und ergänzten damit die Arbeitsleistung des Menschen und der Tiere. Nach vielen anfänglichen Mißerfolgen war es schließlich auch möglich, sich die Kraftquellen der Vulkane und des Erdinnern gefügig zu machen und damit Dynamos anzutreiben. Dadurch wurde im Laufe weniger Jahre die gesamte materielle Grundlage der Zivilisation umgewandelt. Und doch vermied der Zweite Mensch trotz seines ungestümen Einbruchs in ein industrielles Zeitalter die Fehler des alten Europa, Amerikas und Patagoniens. Dies war einmal seiner großen Gabe des Mitfühlenkönnens zu verdanken, durch die — abgesehen von den Verirrungen des Religionskrieges — ein jeder sich seinem Nächsten verbunden fühlte. Zum anderen beruhte es auf der glücklichen Verbindung von drei Eigenschaften, 211
nämlich einem praktischen Verstand, der noch stärker entwickelt war als derjenige der Briten, einer Immunität gegenüber dem Glanz des Reichtums, die die russische noch übertraf, und einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit Geist und Seele, die selbst im alten Griechenland unbekannt gewesen war. Selbst mit Hilfe der Elektrizität blieben zum Beispiel Bergbau und Handwerk Tätigkeiten, die kaum weniger Mühe erforderten als früher. Da aber jeder einzelne lebhaft an den Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Mitmenschen Anteil nahm, lag ihm nichts an persönlicher finanzieller Macht auf Kosten anderer. Der Wille, Auswüchse der Industrialisierung zu beseitigen, setzte sich durch, weil er aufrichtig war. Die Kultur des Zweiten Menschen wurde in ihrer Blütezeit durch die Achtung vor der Einzelpersönlichkeit bestimmt. Man betrachtete aber trotzdem die einzelnen Individuen der damaligen Zeit nicht etwa als die Krönung einer langen Entwicklung, sondern man sah in ihnen die Wegbereiter für noch weit besser organisierte Individuen einer fernen Zukunft. Denn obwohl der Zweite Mensch länger lebte als seine Vorgänger, war er dennoch von der Kürze der menschlichen Lebensspanne und der Belanglosigkeit der Leistungen eines einzelnen im Vergleich zu der ihn umgebenden, Ehrfurcht und Bewunderung verdienenden, Unendlichkeit bedrückt. Er war daher entschlossen, eine Rasse mit einer viel längeren natürlichen Lebensspanne hervorzubringen. Wenn er auch mehr als seine Vorgänger am Leben seiner Mitmenschen Anteil hatte, so war er dennoch von Verzweiflung gelähmt angesichts der Entstellungen und Irrtümer, die das Wesen des einen Menschen in der Sicht eines anderen verzerrten. Ebenso wie bei seinen Vorfahren gab es auch bei ihm alle naiveren Phasen vom erwachenden Selbstbewußtsein über die Wahrnehmung fremder Bewußtseinsformen bis zur Idealisierung verschiedener Persönlichkeitstypen. Er bewunderte den Typ des Helden in der Wildnis, dann den Romantiker, den Sensiblen, den Draufgänger, den Dekadenten, den Gütigen und den Ernsten und Strengen. Er verlangte von jedem, der eines dieser Persönlichkeitsidea212
le verkörperte, daß er sich bemühen sollte, offen gegenüber den Eigenheiten der anderen Idealtypen zu sein. Er besaß sogar eine bestimmte Vorstellung von einer idealen Gemeinschaft. Darunter verstand er die direkte telepathische Anteilnahme an den Erfahrungen aller Menschen und deren Auswertung durch den einzelnen sowie das hieraus entstehende überindividuelle, gemeinschaftliche Bewußtsein. Die Tatsache, daß dieses Ideal für ihn vollkommen unerreichbar war, warf einen tiefen Schatten auf seine Kultur. Es erfüllte ihn mit einer Sehnsucht nach geistiger und seelischer Einheit und mit Erschrecken über die Einsamkeit des einzelnen, mit Gefühlen, die ihre viel isolierteren Vorfahren niemals ernstlich beunruhigt hatten. Dieses Sehnen nach der Vereinigung mit anderen beeinflußte auch das sexuelle Leben der Gattung. Das Geistig-Seelische stand bei ihnen mit dem Körperlichen in so enger Verbindung, daß es ohne echte Harmonie im geistig-seelischen Bereich zu keiner Empfängnis kam. So wertete man aus dem Augenblick entstandene und vorübergehende sexuelle Beziehungen ganz anders als jene, in denen sich eine tiefere Intimität ausdrückte. Man sah in ihnen eine köstliche Verschönerung des Lebens, die Gelegenheiten bot zu anmutigen Begegnungen, zu unbeschwerten Zärtlichkeiten, zu Neckereien und natürlich auch zum Sinnenrausch. Sie bedeuteten nicht mehr als das Vergnügen, das man bei einer Begegnung mit Freunden empfindet. Wo hingegen eine enge Verbindung im Seelischen und Geistigen bestand, führte der Geschlechtsverkehr, allerdings nur in Augenblicken leidenschaftlich begehrter Gemeinsamkeit, fast immer zur Empfängnis. Derartig eng miteinander verbundene Paare mußten daher oft empfängnisverhütende Mittel verwenden. Bei oberflächlichen Bekanntschaften war das niemals notwendig. Besonders nützlich erwies es sich in diesem Zusammenhang, daß die Psychologen eine besondere Technik der Autosuggestion entwickelt hatten, durch deren Anwendung es, ohne unästhetische Begleitumstände und irgendwelche Schädigungen, möglich war, eine Empfängnis bewußt zu ermöglichen oder zu verhindern. 213
Hinsichtlich der sexuellen Moral waren dem Zweiten Menschen die gleichen Entwicklungsphasen bekannt wie dem Ersten. Aber als der Zweite Mensch eine einheitliche Weltkultur erreicht hatte, umfaßte diese auch eine Sexualmoral, wie man sie in früheren Kulturen nicht gekannt hatte. Ob Mann, ob Frau, jeder wurde dazu ermuntert, so viele gelegentliche sexuelle Beziehungen wahrzunehmen, wie er sie zur Bereicherung seiner Persönlichkeit brauchte. Aber auch bei jener höheren Form einer Partnerschaft im Seelisch-Geistigen mißbilligte man die strikte Monogamie. Denn in der sexuellen Gemeinschaft dieser höheren Form von Partnerschaft sah man ein Symbol für jene mentale Harmonie, die der Zweite Mensch für die gesamte Art erstrebte. Das kostbarste Geschenk, das Liebende einander geben konnten, war daher nicht etwa die Keuschheit sondern die sexuelle Erfahrung. Man hielt eine Verbindung für beide Teile dann für viel bereichernder, wenn jeder Partner die neue Gemeinsamkeit durch vorausgegangene sexuelle, seelische und geistige Begegnungen zu intensivieren vermochte. Obwohl die Monogamie im Prinzip nicht sonderlich geschätzt wurde, kam es bei jener höheren Form von Verbindungen oft zu Partnerschaften, die ein Leben lang bestanden. Da aber die durchschnittliche Lebenserwartung des Zweiten Menschen sehr viel länger war als die des Ersten, unterbrach man solche durch den Zufall entstandene Dauerverbindungen absichtlich eine Zeitlang und wandte sich anderen Partnern zu, bis man die alten Verbindungen mit der ursprünglichen Vitalität später wieder aufnahm. Manchmal gab es auch eine Art dauerhafter Gruppenehe, bei der die verschiedengeschlechtlichen Partnerbeziehungen innerhalb der Gruppe jeweils wechselten. Die Gruppe tauschte auch zuweilen ein Mitglied, oder mehrere Mitglieder ihrer Gruppe mit anderen Gruppen aus, oder teilte sich für längere Zeit vollständig auf andere Gruppen auf, bis sie nach vielen Jahren mit erweiterter Erfahrung ihre wechselseitigen Beziehungen in der Gruppe wieder fortführte. Die in dieser oder anderen Form bestehenden ›Gruppenehen‹ wurden als eine Ausweitung des individuellen sexuellen Erfahrungsbereiches innerhalb eines 214
höheren Ganzen sehr hoch geschätzt. Die geringere Lebenserwartung des Ersten Menschen hätte ihm derartige menschliche Beziehungen unmöglich gemacht, weil eine tiefe sexuelle und geistigseelische zwischenmenschliche Beziehung eine intime Verbindung von dreißig Jahren voraussetzt. Es wäre zweifellos sehr interessant, die Gesellschaftsordnung des Zweiten Menschen zur Zeit der Blüte seiner Kultur näher zu untersuchen. Dafür haben wir aber nicht genügend Zeit. Wir können uns nicht einmal mit jenen glänzenden intellektuellen Leistungen näher beschäftigen, in denen er seine Vorgänger bei weitem übertraf. Zudem würde jede eingehende Darstellung der Naturwissenschaften und der Philosophie des Zweiten Menschen für die Leser dieses Buches völlig unverständlich bleiben müssen. Es möge genügen, wenn darauf hingewiesen wird, daß die Zweiten Menschen jene Fehler vermieden, die die Ersten Menschen zu falschen Verallgemeinerungen und metaphysischen Theorien verleiteten, die ebenso überintellektualisiert wie naiv waren. Erst als der Zweite Mensch über die besten Leistungen des Ersten Menschen in Naturwissenschaft und Philosophie hinausgelangt war, entdeckte er die Überbleibsel jener großen Steinbibliothek in Sibirien. Eine Gruppe von Ingenieuren stieß zufällig darauf, als sie einen neuen Stollen in die Tiefe trieb, um die Energie des Erdinnern zu nutzen. Die einzelnen Steintafeln waren zerbrochen, verwittert und lagen nicht mehr in der ursprünglichen Ordnung. Allmählich konnte man sie jedoch restaurieren und mit Hilfe des Bildwörterbuches entziffern. Diese Funde waren von größtem Interesse für den Zweiten Menschen, allerdings nicht im Hinblick auf das in ihnen enthaltene wissenschaftliche und philosophische Wissen, das die sibirischen Siedler der Nachwelt als wichtigste Kunde zu überliefern getrachtet hatten. Der Zweite Mensch interessierte sich für die steinerne Bibliothek als Geschichtsquelle. Die Vorstellungen, die diese Steinplatten über das Universum vermittelten, waren viel zu naiv und an den Haaren herbeigezogen. Aber die Platten waren von unschätzbarem Wert hinsichtlich des Einblicks, den sie den 215
Nachfahren in Mentalität und Wesensart ihrer Vorfahren ermöglichten. Bisher hatte der Zweite Mensch sich kein klares Bild über die vorausgegangene Kultur machen können, da nur sehr weniges aus der vergangenen Welt die vulkanische Epoche der Erde überstanden hatte. Ein Fundstück dieses archäologischen Schatzes hatte für sie sogar noch mehr als nur historische Bedeutung. Der Biologe, der Führer jener kleinen sibirischen Siedlung, hatte vieles über das Leben des Göttlichen Knaben aufgezeichnet. Am Ende seiner Aufzeichnungen erwähnte er auch die letzten Worte des Propheten, die damals für Patagonien völlig rätselhaft geblieben waren. Diese Worte waren aber für den Zweiten Menschen voll bedeutungsvoller Bilder, ebenso wie auch der Erste Mensch in seiner Blütezeit diese Bilder verstanden hätte. Während hingegen jene Form einer leidenschaftslosen objektiven Zuwendung an die Dinge, die der Prophet gepredigt hatte für den Ersten Menschen nur ein Ideal und keine Erfahrungstatsache hatte bleiben müssen, erkannte der Zweite Mensch in diesen Worten eine ihm durchaus vertraute Erkenntnis. Vor langen Zeiten hatten die gequälten Genies der Stadtstaaten am Jangtsekiang das gleiche erkannt. In der darauffolgenden Zeit waren die gesünderen Generationen oft von ebensolchem Erkennen heimgesucht worden, und sie hatten sich darüber geschämt. Denn man brachte es stets in Verbindung mit irgendwelchen krankhaften Geisteszuständen. Aber mit der immer mehr anwachsenden Überzeugung, daß es sich hierbei um etwas durchaus Gesundes gehandelt hätte, suchte der Zweite Mensch auch nach einem Symbol für seine Vorstellungen. Im Leben und in den letzten Worten jenes Apostels aus einer längst vergangenen Zeit hatte er dieses Symbol gefunden. Die Spezies brauchte eine solche Botschaft jetzt sehr dringend. Die Weltgemeinschaft erreichte schließlich den Zustand einer gewissen Vollkommenheit und Ausgeglichenheit. Sie trat in einen langen Sommer der sozialen Harmonie, des Wohlstands und der Verschönerung des Lebens durch die Annehmlichkeiten der Kultur. Alles was der Menschengeist in seiner damaligen Entwicklung zu erreichen vermoch216
te, schien vollbracht. Langlebige und tüchtige Wesen, die einander bewundernswert fanden, folgten Generation um Generation. Man hatte allgemein das Gefühl, es wäre jetzt an der Zeit, daß der Mensch alle seine Kräfte darauf konzentrierte, eine neue Mentalität zu erwerben. Man hielt den gegenwärtigen Menschentyp für ein noch recht ungehobeltes und widerspruchsvolles Naturprodukt. Der Mensch sollte sich selbst in die Gewalt bekommen, um aus seinen bisherigen Grundlagen ein edleres Exemplar zu entwickeln. Mit diesem Ziel vor Augen begann man daher mit zwei großen Vorhaben. Man führte Untersuchungen durch über den idealen Menschen und über die praktischen Möglichkeiten, einen solchen Menschen zu schaffen. Die Menschen in allen Ländern, die ihren privaten Dingen weiterhin nachgingen, die sich aneinander freuten und das gesellschaftliche Gewebe lebendig und kräftig erhielten, waren alle zutiefst von der Vorstellung bewegt, daß sich ihre Weltgemeinschaft endlich dieser heldenhaften Aufgabe widmen möge. Aber an einem anderen Ort im Sonnensystem wollte eine völlig andersgeartete Lebensform auf eine seltsame, ihr gemäße Weise Aufgaben lösen, die dem Menschen unverständlich sein mußten, die aber im Grunde seinen Bemühungen entsprachen. Schließlich kam es zu einer Begegnung dieser beiden Welten, die allerdings nicht friedlich verlief.
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kapitel viii
Die Marswesen
Die erste Invasion der Marswesen In den Vorgebirgen des neuen und gewaltigen Gebirgsmassivs, das sich auf dem Gebiet des früheren Hindukusch erhob, befanden sich viele Ferienorte, von denen aus die jungen Männer und Frauen Asiens in die Berge aufzubrechen pflegten, um sich dort bei den Gefahren und Strapazen eines Bergsteigerdaseins seelisch zu erfrischen. Kurz nach Anbruch eines Sommertages wurden die Marsbewohner in dieser Gegend von den Menschen zum ersten Mal gesehen. Frühaufsteher entdeckten bei ihrem Spaziergang, daß der Himmel auf unerklärliche Weise eine grünliche Tönung bekommen hatte und daß die aufsteigende Sonne nur schwach schimmerte, obwohl die Luft wolkenlos war. Plötzlich verfolgten sie ganz überrascht, wie sich die grünliche Tönung in Tausenden winziger Wölkchen konzentrierte und dazwischen das klare Blau des Himmels freigab. Mit Feldstechern ließ sich inmitten jeder einzelnen Wolke die Andeutung eines rötlichen Kerns erkennen, daneben sich hin- und herbewegende ultraviolette Farbstreifen, die früheren Menschen unsichtbar geblieben wären. Diese ungewöhnlichen Wolkenflecken waren alle ungefähr gleich groß, und der größte erschien aus der Entfernung kleiner als der Mond. Der Form nach gab es aber große Unterschiede, und die ›Wolken‹ veränderten ihre Gestalt weit schneller als etwa Zirruswolken, denen sie entfernt ähnelten. Obwohl diese Phänomene in Form und Bewegung viel mit Wolken gemeinsam hatten, schien etwas Bestimmtes in ihrer Gliederung und ihrem Verhalten Leben anzudeuten. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit amöbenhaften Organismen, die man durch ein Mikroskop betrachtet. Überall war der Himmel damit voll, mal bildeten sie eine zusammenhängende grüne Fläche, mal verhüllten sie das Blau spärlicher. Es ließ sich eine Bewegung feststellen. Sie nahmen allgemeine Richtung auf einen der schneebedeckten Berggipfel, der die Landschaft beherrschte. 221
Schließlich erreichten die Vordersten den Bergkamm, und man sah sie sehr langsam wie Amöben die Vorderseite des Felsens heruntergleiten. Mittlerweile waren ein paar mit Elektrizität angetriebene Flugzeuge aufgestiegen, um die seltsame Erscheinung aus der Nähe zu untersuchen. Sie flogen durch die dahintreibenden Wölkchen hindurch und wurden auf keine Weise behindert, auch wurden sie nicht einmal durch ihre Bewegung in diesem grünen Wolkenstrom der Sicht von der Erde her entzogen. Im Gebirge sammelte sich ein großer Schwarm dieser Wolken und kroch die Abhänge und Schneefelder herunter in ein hochgelegenes Gletschertal. An einer bestimmten Stelle, wo der Gletscher steil auf ein darunterliegendes Plateau abfiel, verlangsamte sich das Tempo der Vordersten, bis sie schließlich anhielten und die Darauffolgenden aufschließen konnten. Nach einer halben Stunde war der Himmel wieder ganz klar, abgesehen von normalen Wolken. Über dem Gletscher aber lag etwas, das wie eine außergewöhnlich dunkle und undurchsichtige Gewitterwolke aussah, wenn man von ihrer grünen Färbung und einer Art siedender Bewegung absah. Einige Minuten lang sah man diese seltsame Masse sich auf einen geringeren Umfang konzentrieren und noch dunkler werden. Dann bewegte sie sich wieder weiter über das felsige Ende des Gletschers hinaus in eine mit Nadelbäumen bestandene talartige Senke hinein. Durch eine dazwischenliegende Erhebung konnten die Beobachter sie nicht mehr verfolgen. Etwas weiter unten in der Talsenke lag ein Dorf. Als man die mysteriöse dichte Masse herankommen sah, setzten sich viele der Bewohner schnellstens in ihre mechanischen Wagen und entflohen, aber andere warteten voller Neugier, was geschehen würde. Sie waren bald von einem trüben olivbraunen Nebel aufgesogen, der mit seltsam rötlich schimmernden Farbarmen mal hierhin und mal dorthin schoß. Plötzlich war alles um sie herum stockfinster. Das Licht von Lampen und Taschenlampen wurde schon auf Armeslänge von der Finsternis verschluckt. Das Atmen wurde ihnen schwer. Kehle und Lungen wurden 222
so stark gereizt, daß jeder von ihnen durch heftige Husten- und Niesanfälle geschüttelt wurde. Die Wolke glitt durch das Dorf hindurch und schien dabei, unabhängig von ihrer allgemeinen Bewegungsrichtung, einen wechselnden Druck nach verschiedenen Seiten auszuüben. Nach wenigen Minuten wurde der Nebel wieder durchsichtiger, und schließlich verließ er das Dorf. Zurück blieben nur einige Fasern und Teile seiner rauchartigen Substanz, die in Seitenstraßen stecken geblieben und jetzt isoliert waren. Sehr bald schienen diese Teile sich aber wieder zurechtzufinden. Sie bewegten sich schnell fort, um die Hauptgruppe einzuholen. Als sich die schweratmenden Bewohner dieses Ortes ein wenig erholt hatten, sandten sie einen Funkspruch an die Bewohner einer kleinen, weiter unten im Tal gelegenen Stadt und drängten sie, die Stadt vorübergehend zu evakuieren. Dieser Funkspruch wurde mit Richtstrahler ausgestrahlt. Zufällig traf der Strahl auf seinem Weg in die Stadt auf jene häßliche Masse. Solange gesendet wurde, blieb die Wolke stehen, und ihre Umrisse wurden unregelmäßig und verschwommen. Wolkenteile wurden sogar vom Wind fortgetragen und lösten sich auf. Als aber die Sendung aufhörte, nahm die Wolke fast unmittelbar darauf wieder eine klar erkennbare Gestalt an und verhielt für eine Viertelstunde am selben Fleck. Aus Neugier gingen etwa zwölf tapfere junge Männer aus der Stadt auf die dunkle Masse zu. Kaum waren sie um eine Biegung des Talweges gekommen, als die Wolke sich plötzlich zusammenzog, bis sie kaum größer als ein Haus war. Wie eine Mischung aus dichtem, undurchlässigem Rauch und einer gallertartigen Masse lag die Wolke da, bis die Gruppe sich auf wenige Meter herangewagt hatte. Offenbar verließ die Männer dann aber ihr Mut, denn man konnte sehen, wie sie sich umwandten. Bevor sie auch nur drei Schritte zurück machen konnten, schoß aus der Masse ein langer rüsselartiger Greifer mit der Geschwindigkeit der Zunge eines Chamäleons hervor und packte sie. Langsam bewegte sich der Greifer wieder zurück und zog die jungen Männer mit sich. Die Wolke oder das Gallert schüttelte sich 223
darauf einige Sekunden sehr heftig und spie dann die Körper in einem einzigen Klumpen, wie zerkaut, wieder aus. Das mörderische Etwas machte sich jetzt auf den Weg zur Stadt, drängte die Straße entlang, mal hierhin und mal dorthin, lehnte sich gegen das erste Haus, zermalmte es und bewegte sich immer weiter wie ein Lavastrom voran, alles zerstörend, was ihm in die Quere kam. Die Einwohner flohen, aber einige wurden trotzdem von dem Gallert ergriffen und vernichtet. Alle benachbarten Sendestationen richteten daraufhin gemeinsam ihre Sendestrahlen auf die Wolke, deren Zerstörungskraft allmählich nachließ. Wiederum löste sie sich auf und dehnte sich aus. Schließlich hob sie sich wie eine gewaltige Rauchsäule vom Boden empor und formierte sich in großer Höhe zu einem Feld grüner Wölkchen, die an Zahl merklich abgenommen hatten. Immer blasser wurde das grüne Wolkenfeld und verschwand allmählich ganz. So endete die erste Invasion der Erde durch die Marswesen.
Das Leben auf dem Mars Wir beschäftigen uns hier lediglich mit der Entwicklung der Menschheit und daher mit den Marswesen nur soweit, wie es ihre Beziehungen zu den Menschen betrifft. Damit man aber die Tragik des Aufeinandertreffens dieser beiden unterschiedlichen Lebensformen besser verstehen kann, ist es erforderlich, einen kurzen Blick auf die Lebensbedingungen auf dem Mars zu werfen und etwas über jene, auf groteske Weise andersgearteten, aber im Grunde doch ähnlichen Wesen zu erfahren, die sich bemühten, die Heimat des Menschen in Besitz zu nehmen. Wenn man Biologie, Psychologie und Geschichte einer ganzen Welt auf wenigen Seiten beschreiben will, so ist das genauso schwierig, als wollte man in gleich konzentrierter Form die Marsianer mit dem wahren Wesen des Menschen vertraut machen. In beiden Fällen müßte 224
man umfangreiche Lexika, ja ganze Bibliotheken bemühen. Trotzdem möchte ich einen Eindruck von den Leiden und Freuden der Fremden und von den vielen Äonen ihrer Kämpfe zu vermitteln versuchen, in denen diese wunderlichen, nichtmenschlichen Intelligenzformen entstanden, die sich in mancher Hinsicht der Gattung des Menschen, mit der sie zusammentrafen, als sehr unterlegen, in anderer jedoch als deutlich überlegen erweisen sollten. Der Mars umschloß eine Welt, deren Masse nur ein Zehntel der Erde ausmachte. Folglich hatte sich die Schwerkraft bei der Entwicklung der Marswesen weniger tyrannisch bemerkbar gemacht. Durch geringere Schwerkraft und durch eine kleinere Lufthülle war der allgemeine atmosphärische Druck viel geringer als auf der Erde. Es gab dort auch viel weniger Sauerstoff, und auch Wasser war verhältnismäßig selten. Der Mars besaß keine Ozeane und Meere sondern nur seichte Seen und Moore, von denen viele im Sommer austrockneten. Das Klima war allgemein sehr trocken und kalt. Ständig war der Mars von schwachen Strahlen der entfernten Sonne erfaßt, die von keiner Wolkendecke aufgehalten wurden. Als es noch mehr Luft, mehr Wasser und, durch die Hitze des Marsinnern, eine höhere Temperatur gegeben hatte, war in jener frühen Periode der Marsgeschichte das Leben in den Küstengewässern entstanden und hatte sich von dort in annähernd der gleichen Weise wie auf der Erde weiterentwickelt und verbreitet. Es gab zunächst primitive tierische und pflanzliche Lebensformen. Mehrzeller traten auf und spezialisierten sich ihrer Umwelt entsprechend sehr unterschiedlich. Eine Fülle verschiedenartiger Pflanzen bedeckte die Landfläche. Oft sah man Wälder aus riesigen schlankstämmigen Federn. Mollusken- oder insektenartige Tiere krochen oder schwammen umher oder bewegten sich in phantastischen Sprüngen durch die Luft. Gewaltige spinnenartige Wesen, die man vielleicht mit Krebsen oder mit riesigen Heuschrecken vergleichen könnte, sprangen ihre Beute an und entwickelten Wendigkeit und Klugheit, wodurch es ihnen möglich wurde, den Planeten zu 225
beherrschen, ebenso wie der Mensch zu viel späterer Zeit die Wildnis der Erde zu beherrschen lernte. Mittlerweile verlor aber der Mars sehr schnell seine Lufthülle und besonders seinen Wasserdampf. Die Lebensbedingungen veränderten sich so stark, daß für jene frühe Flora und Fauna keine Existenzmöglichkeiten mehr bestanden. Eine vollkommen andersgeartete Lebensform konnte jedoch von diesen Veränderungen profitieren. Auf dem Mars hatte sich, ebenso wie auf der Erde, das Leben aus einer von vielen möglichen subvitalen Formen entwickelt. Die neue Lebensform auf dem Mars entstand aus einer anderen subvitalen Molekularverbindung, aus einer Verbindung, die bisher an der Evolution keinen Anteil gehabt und nur eine sehr untergeordnete Rolle als Virus in den Atmungsorganen der Tiere gespielt hatte. Es handelte sich dabei um ultramikroskopische, subvitale Organisationsformen, die noch viel kleiner als Bakterien oder Viren der Erde waren. Sie kamen ursprünglich in den sumpfigen Tümpeln vor, die jeden Frühling austrockneten, und zwar in Ablagerungen von trockenem Schlamm oder Staub. Einige von ihnen wurden durch Staubteilchen in die Luft mitgenommen und gewöhnten sich an eine sehr trockene Lebensweise. Sie existierten durch Aufnahme gewisser chemischer Stoffe dieser Staubteilchen und einer winzigen Menge von Luftfeuchtigkeit. Ebenso absorbierten sie das Sonnenlicht und gebrauchten es auf die gleiche Art, wie es die Pflanzen zur Photosynthese verwenden. Bis hierher glichen sie anderen Lebewesen, aber sie besaßen dazu noch gewisse Fähigkeiten, die den anderen bereits bei Beginn ihrer Entwicklung verlorengegangen waren. Die irdischen Lebensformen sowie diejenigen Lebensformen auf dem Mars, die den irdischen glichen, benötigten zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensfähigkeit ein Nervensystem oder andere materielle Verbindungstrakte, die den Kontakt zwischen den einzelnen Teilen des Organismus aufrechterhielten. In den differenziertesten Typen dieser Art bestand ein außerordentlich kompliziertes, auf den Nerven aufgebautes ›Telephonsystem‹, das jeden 226
Körperteil mit einer sehr umfangreichen Zentrale, dem Gehirn, verband. Bei irdischen Organismen handelte es sich ausnahmslos um in sich zusammenhängende stoffliche Gebilde, die auch in ihrer Form eine gewisse Beständigkeit beibehielten. Aber aus den charakteristischen subvitalen Organisationsformen des Mars entwickelte sich schließlich eine völlig andersartige Lebensform, bei der ein stofflicher Zusammenhalt zwischen den einzelnen Teilen weder zur Abstimmung des Verhaltens noch als Bewußtseinszentrale nötig war. Das wurde auf einer ganz anderen physikalischen Grundlage erreicht. Die ultramikroskopischen Teile waren empfänglich gegenüber allen Arten von Luftschwingungen, und zwar direkt empfänglich, so wie dies keiner irdischen Lebensform möglich gewesen wäre, und sie konnten auch selber Luftschwingungen hervorrufen. Auf dieser Grundlage entwickelte sich auf dem Mars schließlich eine Lebensform, der es möglich war, ohne stofflichen Zusammenhang als ein mit Bewußtsein versehenes Wesen zu bestehen. Der typische Organismus bestand auf dem Mars aus einer kleinen Wolke, einer Gruppe von freibeweglichen Einheiten, die von einem Gruppenbewußtsein beherrscht wurden. Aber für bestimmte Zwecke entwickelte die Gattung auch unterschiedliche individuelle Fähigkeiten und Eigenarten. Das betraf nicht nur bestimmte Wolken, sondern auch große fließende Wolkensysteme. Um ein solches System handelte es sich bei der Invasion der Erde durch die Marswesen. Der Organismus der Marswesen beruhte also nicht sozusagen auf ›Telephondrähten‹, sondern auf einer ungeheuren Anzahl einzelner beweglicher »Sende- und Empfangsanlagen-, die entsprechend ihrer jeweiligen Funktion auf verschiedenen Wellenlängen sendeten oder empfingen. Dabei war die Sende- und Empfangsenergie einer einzigen Einheit natürlich sehr schwach, aber ein größeres System von Einheiten vermochte selbst über beträchtliche Entfernungen hin die Verbindung mit seinen Teilen aufrechtzuerhalten. Ein weiteres wichtiges Merkmal war für die dominierende Lebensform auf dem Mars kennzeichnend. Ebenso wie eine Zelle bei irdi227
schen Lebensformen oft ihre Form ändern kann (wodurch sich zum Beispiel die Muskeltätigkeit erklären läßt), so konnte sich bei der Lebensform des Mars die freibewegliche ultramikroskopische Einheit verändern und darauf spezialisieren, um sich herum ein magnetisches Feld zu erzeugen und dadurch seine Nachbarn entweder zurückzustoßen oder anzuziehen. Daher besaß dieses System von stofflich nicht zusammenhängenden Einheiten trotzdem gelegentlich einen Zusammenhalt. Es hatte eine Festigkeit, die zwischen derjenigen einer Rauchwolke und der eines sehr zähen Gelees variierte. Die Wolke hatte auch einen bestimmten, wenn auch sich ständig verändernden Umriß sowie eine Widerstand leistende Oberfläche. Durch massierte gegenseitige Abstoßung aller einzelnen Teile untereinander konnte sie einen Druck auf Gegenstände ausüben; und in der konzentriertesten Form konnte das Wolkengelee vom Mars ungeheure Kräfte entwickeln, die trotzdem noch für sehr feine Verrichtungen genutzt werden konnten. Die molluskenartige Fortbewegung der gesamten Wolke über dem Boden war ebenfalls den magnetischen Kräften zuzuschreiben, die auch für den Transport anorganischer Substanzen sowie von Lebenseinheiten innerhalb der Wolke von einem Bereich in einen anderen sorgten. Das von den subvitalen Einheiten erzeugte magnetische Feld war nicht so stark wie die Energie seiner Sende- und Empfangsanlage. Ähnlich war es auch bei den größeren Systemen. So war zwar jede der einzelnen Wolken, die der Zweite Mensch sah, in sich eine unabhängige Kraftzentrale, zugleich stand diese Wolke aber in einer Art telepathischer Verbindung mit ihren Nachbarwolken. So wurde bei jedem öffentlichen Vorhaben, wie zum Beispiel den Feldzügen gegen die Erde, innerhalb eines ungeheuren Strahlungsfeldes eine fast vollkommene Einheit des Bewußtseins aufrechterhalten. Die größte gemeinsame magnetische Kraftentfaltung wurde allerdings nur dann erreicht, wenn sich die gesamte ›Bevölkerung‹ zu einem kleinen und relativ dichten Wolkengelee verdichtete. Man muß wissen, daß die Marswesen in drei verschiedenen Formationen auftraten: erstens in einer ›offenen Ord228
nung‹ von selbständigen und sehr zarten Wolken, die in ›telepathischer‹ Verbindung miteinander standen und oft gemeinsam als Gruppe handelten; zweitens in einer konzentrierteren und weniger verletzlichen Vereinigung von Wolken und drittens in einem außerordentlich konzentrierten und furchtbaren Wolkengelee. Abgesehen von den bisher erwähnten sehr bemerkenswerten Kennzeichen bestanden zwischen den charakteristischen Lebensformen auf dem Mars und denjenigen auf der Erde keine grundsätzlichen Unterschiede, obwohl die chemische Basis der Marswesen etwas komplizierter als diejenige der Menschen war. Der Rolle, die dabei das Selen spielte, entsprach nichts ähnliches bei irdischen Lebensformen. Außerdem war der Organismus der Marsbewohner insofern einzigartig, als er sowohl tierische als auch pflanzliche Funktionen wahrnahm. Aber von all diesen Besonderheiten abgesehen, waren die beiden Lebensformen biochemisch sehr ähnlich. Beide brauchten Stoffe aus dem Boden, beide benötigten Sonnenlicht. Jede lebte durch die Veränderungen, die sich in ihrem eigenen ›Fleisch‹ vollzogen. Jede war darauf bedacht, sich als organische Einheit zu erhalten. Allerdings bestand noch ein gewisser Unterschied hinsichtlich der Fortpflanzung. Die subvitalen Einheiten der Marswesen konnten wachsen und sich vermehren. Die Geburt einer Marswolke vollzog sich durch die Teilung von Myriaden von Einheiten innerhalb der ›Elternwolke‹. Diese Wolke gab dann das neue ›lndividuum‹ frei. Da die subvitalen Einheiten auf die verschiedensten Funktionen hin spezialisiert waren, hatten alle durch Teilung an der Bildung der neuen Wolke beizutragen. In den frühesten Entwicklungsstadien dieser Wolken auf dem Mars hatten sich die Einheiten sofort nach der Teilung voneinandergetrennt. Aber später wurde die bis dahin nutzlos erscheinende und verkümmerte Kraft, Strahlung auszusenden und zu empfangen, dazu benutzt, daß die Einheiten nach der Teilung unter sich durch Strahlung den Kontakt aufrechterhielten und immer mehr als Teile eines Organismus gemeinsam fühlten, dachten und handelten. Später kam es dazu, daß die229
se Wolken ihrerseits mit den aus ihnen entstandenen Wolken, ihrer ›Nachkommenschaft‹, in Verbindung traten und auf diese Weise größere Wesen mit verschieden aufgeteilten Spezialfunktionen entstanden. Jede weitere Differenzierung der Funktionen brachte auch eine sich immer mehr verstärkende Sende- und Empfangsenergie mit sich, so daß, als die Evolution auf dem Mars ihren Höhepunkt erreicht hatte, der gesamte Planet (abgesehen von den Überresten der voraufgegangenen weniger erfolgreichen Flora und Fauna) zuweilen im biologischen und psychologischen Sinne ein einziges Individuum darstellte. Dies traf aber nur bei Angelegenheiten zu, die die Gattung als Ganzes betrafen. In den meisten Fällen war das Individuum auf dem Mars eine Wolke, so wie diese die Zweiten Menschen in Erstaunen versetzt hatte. Aber in Krisenzeiten, wenn das Schicksal der gesamten Gattung auf dem Spielestand, erwachte in der einzelnen Wolke plötzlich das Bewußtsein der ganzen Gattung. Sie nahm mit den Sinnen vieler anderer Individuen wahr und ordnete alle Wahrnehmungen gemäß den Erfahrungen der gesamten Rasse ein. Die den Mars beherrschenden Wesen waren also einerseits eine außerordentlich gut disziplinierte Armee, bestehend aus vielen Spezialeinheiten, und andererseits ein Organismus, der von einem einzigen Bewußtsein geleitet wurde. Wie eine Armee konnten sie zur Durchführung ihrer Aufgaben jede notwendige Gestalt annehmen, ohne daß dadurch der Zusammenhalt des Organismus gefährdet wurde. Wie eine Armee bewegten sie sich oft in ausgeschwärmter Ordnung voran, konnten aber ebensogut Spezialabteilungen zur Durchführung von besonderen Aufgaben detachieren. Wie eine Armee bestand diese Lebensform aus Individuen, die jedes für sich seine eigenen Erfahrungen machte, die sich aber freiwillig einer gemeinsamen Disziplin unterwarfen. Andererseits erwachte in dieser Formation — ganz ungewöhnlich für eine Armee — gelegentlich das Bewußtsein der gesamten Gattung. Das gleiche Hin- und Herschwanken zwischen Individualität und Gemeinschaftsbewußtsein, das für die Gattung als Ganzes charakte230
ristisch war, galt auch für jede einzelne Wolke. Jede handelte einmal als Individuum, ein andermal als bloße Anhäufung einer Menge primitiverer Einzelwesen. Während die Gattung als Ganzes sich jedoch nur selten zu einheitlicher Individualität erhob, galt für die einzelnen Wolken das Gegenteil. Jede einzelne Wolke bestand aus Spezialgruppen, die aus untergeordneteren Spezialgruppen gebildet waren, welche ihrerseits sich aus den verschiedenen Grundkategorien der subvitalen Einheiten zusammensetzten. Jede freibewegliche Gruppe von ebenso freibeweglichen Grundeinheiten bildete ein spezielles Organ, dem im Ganzen eine besondere Funktion zukam. Einige waren zum Beispiel für die Anziehung und Abstoßung verantwortlich, einige für chemische Umsetzungen, einige für die Speicherung der Sonnenenergie, einige für das Senden, einige für das Aufsaugen und die Speicherung des Wassers, einige für besondere Wahrnehmungsfunktionen wie zum Beispiel Druckempfindung, Empfindlichkeit gegenüber Vibrationen, gegenüber klimatischen Veränderungen oder gegenüber Lichtstrahlen. Andere waren darauf spezialisiert, daß sie etwa die Funktionen des menschlichen Gehirns übernehmen konnten, allerdings auf eine besondere Art. Der gesamte Bereich der Wolke vibrierte ständig auf den verschiedenen Wellenlängen von den unzähligen Sendeimpulsen der verschiedenen ›Organe‹. Die Aufgabe der ›Gehirn‹-Einheiten war es, diese Botschaften zu empfangen, sie gegeneinander abzuwägen, sie im Lichte der bisherigen Erfahrungen zu deuten und Impulse an die jeweilig betroffenen Organe auf den richtigen Wellenlängen weiterzugeben. Abgesehen von einigen wenigen Typen, die bereits zu sehr spezialisiert waren, vermochten alle subvitalen Einheiten auch unabhängig als Bakterien oder Viren in der Luft zu leben. Wenn sie einmal den Kontakt mit dem Schwingungsfeld ihres Systems verloren hatten, existierten sie als simple Viren weiter, bis sie wieder in ein neues Schwingungsfeld gerieten. Alle Einheiten konnten zwar frei und unabhängig schweben, wurden aber normalerweise durch das elektromagnetische Feld der Wolke beeinflußt und mit besonderen Aufgaben bald hierhin, 231
bald dorthin dirigiert. Einige von ihnen wurden dabei oft mit anderen Einheiten unbeweglich in einer bestimmten Position gehalten. So erging es zum Beispiel den Sehorganen. In einem früheren Entwicklungsstadium hatten sich Einheiten darauf spezialisiert, winzige Wasserkügelchen zu halten. Später hielten Millionen von Einheiten gemeinsam einen zwar immer noch mikroskopisch kleinen aber viel größeren Tropfen jener kostbarsten Lebensflüssigkeit. Bald wurden solche Wasserlinsen zur Steigerung des Sehvermögens gebraucht, und ein ganzes Gerüst von unzähligen Einheiten hielt eine Linse, die so groß war, wie ein Ochsenauge, während eine aus anderen Einheiten gebildete Netzhaut immer im gleichen Abstand der Brennweite gehalten wurde. So konnten die Marswesen Sehorgane jeder Art und Größe, wann immer sie diese brauchten, zusammenstellen, ebenso Fernrohre und Mikroskope. Natürlich vollzog sich die Anpassung der Sehorgane an die jeweiligen Bedürfnisse im wesentlichen unbewußt, so wie sich das Auge des Menschen unbewußt auf die verschiedenen Entfernungen einstellt. Aber die Marswesen hatten die bewußte Steuerung von physiologischen Prozessen sehr gesteigert. Dadurch erreichten sie beachtliche Erfolge in der Optik. Bevor wir uns der Psyche der Marswesen zuwenden, müssen wir noch eine weitere physiologische Funktion näher betrachten. Die vollentwickelten, aber noch unzivilisierten Marswesen hatten schon längst damit aufgehört, die für ihre Ernährung wichtigen chemischen Stoffe aus frei in der Luft schwebenden vulkanischen Staubteilchen zu entnehmen. Statt dessen lagerten sie nachts über dem Boden, ähnlich wie ein kniehoher Nebel auf den Wiesen der Erde, und senkten röhrenförmige Spezialeinheiten wie kleine Wurzeln in die Humusschicht. Auch einen Teil des Tages verwandten sie auf diese Tätigkeit. Später wurde dieses Verfahren noch dahingehend erweitert, daß sie die auf ihrem Planeten zurückweichende Vegetation auf diese Weise mit verspeisten. Die Marswesen der höheren Zivilisationsstufe hatten dann ihre Methoden zur Ausnutzung des Bodens und des Sonnenlichts durch Verwendung 232
mechanischer Mittel sowie durch Spezialisierung ihrer Organe erheblich verbessert. Mit der weiteren Zunahme der Bevölkerung und einer Ausweitung ihrer Tätigkeiten wurde jedoch das Ernährungsproblem immer ernster. Sie betrieben zwar auch eine Art Landwirtschaft, konnten aber nur in einem sehr kleinen Gebiet ihres trockenen Planeten Erträge erzielen. So war es vor allem die Aussicht, das Wasser und die Vegetation der Erde für ihre Ernährung mit heranziehen zu können, die sie antrieb, jene große Weltraumreise zu unternehmen.
Intellekt und Psyche der Marswesen Intellekt und Psyche der Marswesen waren ganz anders als bei den Erdbewohnern, — und doch im Grunde identisch. Bei einem so fremdartigen Organismus war naturgemäß auch die Seele erfüllt von fremdartigen Sehnsüchten und von eigenen Ängsten und Vorstellungen von der Umwelt. Durch den ganz anderen Verlauf, den ihre Geschichte nahm, waren die Marswesen mit Vorurteilen belastet, die sich mit denen der Menschen überhaupt nicht vergleichen lassen. Und dennoch besaßen sie einen Intellekt und eine Psyche, die sich um die Aufrechterhaltung und Vervollkommnung des Lebens und um die ständige Übung aller vitalen Funktionen mühten. Im Grunde freuten sich die Marswesen wie alle anderen Lebewesen an der freien Betätigung ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte und fanden ihre Selbstbestätigung darin. Oberflächlich betrachtet waren sie jedoch hinsichtlich ihrer Psyche, ihres Geistes und ihres Organismus mit der menschlichen Lebensform nicht zu vergleichen. Versuchte man trotzdem einen Vergleich mit dem Menschen, war das hervorstechendste Kennzeichen der Marswesen eine viel größere Anfälligkeit des Individuums gegenüber Auflösungs- und Spaltungstendenzen, gleichzeitig besaßen sie aber auch eine unvergleichlich größere Fähigkeit, an seelischen und geistigen Erlebnissen und Einsichten 233
anderer Individuen teilzuhaben. Geist und Seele des Menschen hingegen behielten unter normalen Umständen den Zusammenhang mit allen anderen Körperteilen und ihre dominierende Stellung gegenüber diesen bei. Zu einer vom Gesamtorganismus abgesonderten Existenz einzelner seelischer und körperlicher Teilfunktionen kam es nur bei Krankheiten. Andererseits konnte der Mensch mit keinem anderen Menschen einen unmittelbaren Kontakt aufnehmen, und es war auch vollkommen unmöglich, daß sich in einer Gruppe von Individuen so etwas wie ein »Gruppenbewußtsein« bilden konnte. Eine Marswolke hingegen konnte sich zwar viel schneller als ein Mensch materiell und seelisch als Einheit auflösen, war aber jederzeit wieder in der Lage, als Teil der Intelligenz seiner Rasse mit den Sinnesorganen aller anderen Individuen wahrzunehmen und an Gedanken und Wünschen teilzuhaben, die sozusagen das Ergebnis aller individuellen Gedanken und Wünsche, die sich mit einer Frage allgemeinen Interesses beschäftigten, waren. Leider erreichten jedoch Geist und Seele der Marswesen — wie ich berichten werde — niemals eine höhere Bewußtseinsstufe als die eines menschlichen Individuums. Die Unterschiede zwischen Intellekt und Psyche der Marswesen und der Menschen lassen charakteristische Vor- und Nachteile erkennen. Den Marswesen, die immun waren gegenüber der eingefleischten Selbstsucht des Menschen und gegenüber geistiger Isolierung des einen vom andern, fehlte es an der Fähigkeit, Zusammenhänge logisch zu durchdenken, ihre Aufmerksamkeit zu konzentrieren und umfangreiche Analysen und Synthesen durchzuführen. Ebenso mangelte es ihnen an einem kräftigen Selbstbewußtsein sowie an unbarmherziger Selbstkritik, die selbst der Erste Mensch in seinen besten Zeiten bereits gekannt hatte und die beim Zweiten Menschen noch viel weiter entwickelt waren. Ein weiterer Nachteil war es für die Marswesen, daß der Charakter des einen Individuums fast völlig identisch war mit dem eines jeden anderen. Es herrschte zwar der Zustand vollkommener Harmonie, aber nur deswegen, weil es fast überhaupt keine Unterschiede 234
im Temperament gab. Die Marswesen waren durch ihre Gleichheit aneinander gefesselt. Bei ihnen gab es keine reiche Mannigfaltigkeit an Persönlichkeiten, die ihnen durch verschiedenartige Mentalität, wie sie dem menschlichen Wesen eigen ist, Weite und Vielschichtigkeit verleihen konnten. Zwar hatte die ungeheure Zahl verschiedener Persönlichkeitstypen beim Ersten Menschen zu endlosen, kräftezehrenden und grausamen persönlichen Konflikten geführt, und auch der Zweite Mensch war davon nicht ganz verschont geblieben, aber sie ermöglichte auch jedem verständnisbereiten Individuum, sich durch den Umgang mit anderen Individuen, deren Temperament, deren Denken und deren Idealen, die anders waren als die eigenen, geistig zu bereichern. Wenn die Marswesen auch kaum unter Haßgefühlen und mörderischen Fehden litten, so kannten sie andererseits ebensowenig leidenschaftliche Liebe und Zuneigung. Ein Marswesen vermochte durchaus ein Gefühl der Bewunderung zu äußern und es hielt dem Gegenstand seiner Verehrung unerschütterlich die Treue. Es bewunderte und verehrte jedoch nicht irgendeine konkrete und in ihrem Wesen einmalige Persönlichkeit der gleichen Gattung wie es selbst, sondern bestenfalls eine vage und abstrakte Vorstellung von ›Rassenseele‹ oder dergleichen. Individuen wie sich selbst betrachtete es nur als Instrumente oder Organe des ›Allgemeinbewußtseins‹. Dies wäre durchaus nicht verfehlt gewesen, wenn das Rassenbewußtsein, an dem das Marswesen oft unter dem Einfluß der Schwingungen teilhatte, in Wirklichkeit ein Bewußtsein höherer Ordnung als das seine gewesen wäre. Aber das war es eben nicht. Es war lediglich die Summe aller Wahrnehmungen, alles Denkens und alles Wollens der Einzelwolken. So verschwendeten die Marswesen ihre große Treue an etwas, das nur im Umfang, aber nicht in der Qualität größer war als ihr eigenes geistiges und seelisches Vermögen. Die Marswolke besaß ebenso wie der Mensch eine komplexe Instinktausrüstung. Bei Tag und Nacht mußte ihr vegetatives System für die Aufnahme von chemischen Stoffen aus dem Boden und für die 235
Nutzbarmachung der Sonnenenergie sorgen. Auch Luft und Wasser mußten absorbiert werden. Sie hatte auch ihre besonderen charakteristischen Bewegungsreflexe, einmal zur Fortbewegung ihres »Körpers« und dann für bestimmte Tätigkeiten. Die Marszivilisation berücksichtigte den Bewegungsdrang ihrer Bevölkerung bei erforderlichen landwirtschaftlichen Arbeiten und bei recht komplizierten aber außerordentlich schönen Wolkentänzen und gymnastischen Übungen. Denn diese Wesen von vollkommener Wendigkeit und Geschmeidigkeit waren hochbeglückt, wenn sie in der Luft Bewegungsspiele ausführen konnten. Sie bewegten sich gern im wilden Rhythmus flatternder Bänder, verflochten sich ineinander, bildeten Spiralen, dann wieder undurchsichtige Kugeln, Würfel, Kegel oder andere phantastische Raumgebilde. Viele dieser Bewegungen oder Gestalten waren Symbole für die verschiedenen Tätigkeiten ihres Lebens und hatten für sie besondere emotionale Bedeutung. Sie wurden von ihnen voll tiefer religiöser Leidenschaft und mit großem Ernst ausgeführt. Die Marswesen kannten auch Gefühle der Furcht und der Kampfeslust. In der Vergangenheit hatten sich diese oft gegen die Angehörigen der eigenen Gattung gerichtet. Seitdem aber die Rasse zu einer Einheit zusammengewachsen war, konnten diese Gefühle nur gegenüber anderen Lebensformen und gegenüber der unorganischen Natur abreagiert werden. Der sehr stark entwickelte Herdentrieb war bei ihnen an die Stelle des individuellen Selbstbewußtseins getreten. Da sie für ihre Vermehrung keine andersgeschlechtlichen Partner brauchten, war ihnen der Geschlechtstrieb unbekannt. Aber in dem Impuls, körperlich, geistig und seelisch mit anderen Individuen zu verschmelzen und in einem Superbewußtsein aufzugehen, war vieles enthalten, was den sexuellen Beziehungen der Menschen ähnelte. Sie kannten zwar eine Art Mutterinstinkt, der aber strenggenommen diesen Namen nicht verdiente. Sie waren nämlich nur darauf bedacht, sich überschüssiger Lebensstoffe zu entledigen und mit den daraus entstandenen Individuen in Verbindung zu bleiben, so wie sie das mit jedem anderen Individuum 236
auch zu tun pflegten. Sie kannten die innige Zuwendung der Menschen den sich entfaltenden kleinen Persönlichkeiten ihrer Kinder gegenüber ebensowenig wie die zarte erotische Spannung bei der Begegnung des männlichen und des weiblichen Temperaments. Zur Zeit ihrer ersten Invasion der Erde hatten die Marswesen ihre Vermehrung weitgehend eingeschränkt, denn der Planet war bereits dicht bevölkert, und jede einzelne Wolke war unsterblich. Die Marswesen kannten keinen »natürlichen Tod«, keinen unvermeidbaren Tod durch Abnutzungserscheinungen des Alters. Normalerweise regenerierten sich die einzelnen Organe der Wolke selbständig durch ständige Erneuerung ihrer jeweiligen Einheiten. Allerdings führten auch auf dem Mars bestimmte Krankheiten oft zum Tode. Die bedeutendste dieser tödlichen Seuchen war eine Krankheit, die etwa dem Krebs entsprach, bei der die subvitalen Einheiten ihre Schwingungsempfindlichkeit verloren, dann als primitive Organismen weitervegetierten und sich ungehindert vermehrten. Da sie die noch nicht von der Krankheit ergriffenen Einheiten als Parasiten befielen, mußte die Wolke folglich sterben. Wie die höheren Arten unter den Säugetieren der Erde waren auch die Marswesen sehr neugierig. Da sie zur Aufrechterhaltung ihrer Zivilisation auch viele praktische Bedürfnisse erfüllen mußten und von Natur her für alle möglichen physikalischen Experimente und mikroskopischen Untersuchungen außerordentlich gut ausgerüstet waren, hatten sie große Erfolge in den Naturwissenschaften. Was die Physik, die Astronomie, die Chemie und sogar die Biochemie anbelangte, konnten sie vom Menschen nichts Neues lernen. Ihr sehr umfangreiches Wissen hatten sie viele Jahrtausende hindurch zusammengetragen. Alle Stadien dieses Wissenserwerbs sowie den aktuellen Erkenntnisstand auf den verschiedenen Gebieten hatten sie auf riesigen, aus Pflanzenmark hergestellten Papierrollen verzeichnet und diese in steinernen Bibliotheken gelagert. Die Marswesen waren nämlich paradoxerweise große Baumeister, die in großen Teilen ihres Planeten Gebäude errichtet hatten, deren bizarre Federform und Hän237
gearchitektur auf der Erde ganz unmöglich gewesen wäre. Zu Wohnzwecken brauchten sie, außer in den arktischen Regionen zwar keine Gebäude, aber als Werkstätten, Lebensmittelspeicher und als Lagerräume aller Art waren Gebäude für sie unerläßlich. Außerdem machte diesen sehr zarten Wesen gerade der Umgang mit festen Stoffen sehr viel Freude. Selbst ihre ausgesprochenen Zweckbauten hatten eine Art gotischer oder maurischer Verzierungen sowie phantasievolle Darstellungen. Danach schien es, als wollten diese Wesen der Lüfte selbst das feste Material in eine ätherische Form hineinquälen. Zur Zeit der Erdinvasion war der Intellekt der Marswesen in stetiger Weiterentwicklung begriffen. Erst eine Erkenntnis auf dem Gebiet der theoretischen Physik hatte es ihnen ermöglicht, ihren Planeten zu verlassen. Seit langem war ihnen schon bekannt gewesen, daß winzige, am oberen Rande der Lufthülle befindliche Teilchen in der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang durch den Druck der Sonnenstrahlen in den Raum hinaus gelangen konnten. Schließlich entdeckten sie, daß man diesen Druck ebenso benutzen konnte wie man den Wind beim Segeln ausnutzt. Als ultramikroskopische Einheiten verteilten sie sich am Rande der Lufthülle, und es gelang ihnen, die Gravitationsfelder des Sonnensystems, wie ein Boot das Wasser, zur Fortbewegung auszunutzen. Auf diese Weise konnten sie als eine Armada von ultramikroskopischen Fahrzeugen zur Erde hinüber segeln. In der Erdatmosphäre verwandelten sie sich wieder zu Wolken und schwammen durch die sehr dichte Luft zu jenem Berggipfel. Wie etwa ein Schwimmer, der eine Leiter in ein Bassin hinuntersteigt, kletterten sie dann vom Berg ins Tal hinab. Diese Leistung verlangte sehr komplizierte Berechnungen und schöpferische Leistungen auf dem Gebiet der Chemie, insonderheit Verfahren für die Erhaltung des Lebens während der Weltraumreise und auf einem fremden Planeten. Sie konnten nur von Wesen vollbracht werden, die über eine umfangreiche und genaue Naturkenntnis verfügten. Auf diesem Gebiet waren die Marswesen zwar sehr fortge238
schritten, im geistigen und seelischen Bereich waren sie jedoch außerordentlich rückständig. Sie begriffen kaum ihre eigene Mentalität und noch viel weniger die Stellung der Seele und des Geistes im Universum. Obwohl sie auf ihre Art als hochintelligente Gattung gelten mußten, hatten sie überhaupt kein Interesse an philosophischen Fragen. Sie verstanden kaum die Probleme, mit denen sich sogar schon der Erste Mensch, wenn auch vergeblich, beschäftigt hatte, geschweige denn, daß sie diese Probleme aufgegriffen hätten. Die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit, die Beziehungen des einzelnen zu den anderen sowie die Bedeutung von Gut und Böse waren für sie keine dunklen, klärungsbedürftigen Fragen. Auch eine kritische Untersuchung ihrer eigenen Ideale war ihnen vollkommen fremd. Sie erstrebten nur mit ganzem Herzen den Fortschritt für ihre eigene superindividuelle Gemeinschaft. Was aber eine Individualität bedeutete und wie es hier einen Fortschritt geben könnte, war für sie völlig uninteressant. Und etwa die Vorstellung, daß sie auch Wesen gegenüber verpflichtet sein könnten, die nicht ihrem Schwingungsfeld angehörten, war ihnen viel zu hoch. Obwohl sie so clever waren, gehörten sie doch zu den naivsten aller Illusionisten und vermochten das wahrhaft Erstrebenswerte nicht zu erkennen.
Die Illusionen der Marswesen Wenn man verstehen will, wie die Marswesen einer Selbsttäuschung unterliegen und wie sie schließlich durch ihre eigenen Wahnvorstellungen vernichtet werden konnten, muß man kurz auf ihre Geschichte eingehen. Das zivilisierte Marswesen stellte den einzigen von einer ganzen Gattung übriggebliebenen Typ dar. In ferner Vergangenheit hatte die Gattung mit vielen anderen Gattungen ähnlicher Organisationsformen konkurriert und diese später vernichtet. Durch das sich verändernde 239
Klima begünstigt rottete sie auch fast alle Gattungen aus, die in ihren Lebensformen mehr der irdischen Flora und Fauna entsprachen und verringerte damit gleichzeitig die Vegetation, um deren Erhaltung sie sich dann später so sorgfältig bemühte. Der Sieg dieser Gattung war zum Teil auf Wendigkeit und Intelligenz zurückzuführen, weiterhin darauf, daß ihr Grausamkeiten bemerkenswert gut lagen und daß sie ein einzigartiges, auf Schwingungen reagierendes Sende- und Empfangssystem besaß, das es ihr ermöglichte, alle gemeinsamen Operationen in einer Weise zu koordinieren, wie es selbst die perfektesten Herdentiere nicht vermochten. Diejenige Eigenschaft aber, der sie diese Erfolge zu verdanken hatte, wurde ihr schließlich zum Verhängnis, so wie dies im Laufe der Entwicklung des Lebens im Universum schon andere Gattungen erlebt hatten. Als die Marswesen einen Entwicklungsstand erreicht hatten, der etwa demjenigen der primitiven menschlichen Kultur entsprach, befand sich unter ihnen eine Rasse, die eine noch größere Sende- und Empfangsintensität erzeugen und sich dadurch den anderen gegenüber in ihrer Geschlossenheit als einheitlicher zusammenhängender Lebensorganismus durchsetzen und alle anderen Rivalen ausrotten konnte. Viele Jahrtausende hindurch hatte es Kriege zwischen den einzelnen Rassen gegeben. Sobald es aber dieser von der Entwicklung begünstigten Rasse gelungen war, eine fast absolute Solidarität in ihrem Wollen zu erreichen, war ihr Sieg unaufhaltsam und wurde durch ein fröhliches Abschlachten der Feinde besiegelt. Von diesem Zeitpunkt an litten die Marswesen allerdings unter den psychischen Nachwirkungen dieses Sieges, der die Epoche der Rassenkriege beendete. Die außergewöhnliche Brutalität, mit der die anderen Rassen ausgerottet wurden, stand in völligem Widerspruch zu den edlen und großmütigen, von ihrer Zivilisation geförderten Gefühlen und hinterließ eine schwere Narbe in ihrem Gewissen. Zur Entschuldigung ihres Verhaltens redeten sie sich ein, daß ihnen die Ausrottung als heilige Pflicht auferlegt worden wäre, weil sie vortrefflicher waren als die anderen. Ihre besonders stark entwickelte Fähigkeit, Strahlungen aus240
zusenden und zu empfangen, hätte ihnen einen einmaligen Wert verliehen. Daraus entstand eine in hohem Maße unaufrichtige Tradition und Kultur, die schließlich auch am Untergang der Gattung schuld war. Seit langem schon war es ihre Überzeugung, daß ein System von Einheiten, die Luftschwingungen gegenüber empfänglich waren, notwendigerweise die physische Grundlage eines Bewußtseins sein müsse und daß Organismen, deren Funktionstüchtigkeit vom direkten physischen Kontakt ihrer einzelnen Teile abhängig war, viel zu primitiv wären, als daß sie irgendeine Erfahrung speichern könnten. Nach dem Zeitalter der Ausrottung der anderen Rassen versuchten sie sich einzureden, daß der ethische Wert und die Vortrefflichkeit eines jeden Organismus vom Grad seiner Differenzierung und seiner Strahlungskapazität abhingen. Jahrhundert um Jahrhundert bestärkten sie sich gegenseitig im Glauben an dieses vulgäre Dogma und entwickelten daraus ein System völlig irrationaler Wahnvorstellungen und fixer Ideen, das sich auf ihre wollüstige Leidenschaft für Strahlungen gründete. Es würde zu weit führen, alle hiermit zusammenhängenden Hirngespinste anzuführen und über alle jene einfallsreichen scholastischen Kunststücke zu berichten, durch die man versuchte, jene Hirngespinste mit den realen Tatsachen auszusöhnen. Aber eine dieser Wahnvorstellungen muß wenigstens deshalb erwähnt werden, weil sie bei den Kämpfen mit den Menschen eine große Rolle spielte. Es war den Marswesen natürlich bekannt, daß ein Stoff durch die Kraft der winzigen, ineinandergreifenden Atomsysteme seine Festigkeit erlangte. Feste Materialien genossen daher bei ihnen dasselbe Ansehen wie etwa die Luft, der Atem, der Geist usw. beim primitiven Menschen. Ihre größte Stärke erreichten die Marswesen, wenn sie sich zu einer gallertartigen Masse, also zu einer quasi festen Form zusammenzogen. Aber die Beibehaltung einer solchen Form war für sie sehr schwierig und anstrengend. Diese Erfahrungstatsache verband sich im Bewußtsein der Marswesen mit der Überlegung, daß die Festigkeit schließlich nichts anderes als das Ineinandergreifen verschiedener Atomsysteme wäre, die elektroma241
gnetisch zusammengehalten würden. Festigkeit und Härte waren für sie besonders heilige Eigenschaften. Durch eine Reihe psychologischer Zufälligkeiten wurden sie in diesem Aberglauben bestärkt und verehrten mit fanatischer Inbrunst alle sehr harten Materialien, wie zum Beispiel harte Kristalle, und darunter besonders Diamanten. Denn Diamanten waren im höchsten Maße widerstandsfähig und waren zur gleichen Zeit, wie es die Marswesen ausdrückten, die überragendsten Jongleure mit jener ätherischen Strahlung, die man Licht nennt. Jeder Diamant war daher die höchste Verkörperung der geballten Energie und des ewigen Gleichgewichtes im Kosmos und mußte voller Ehrerbietung behandelt werden. Sämtliche Diamanten, die man auf dem Mars gefunden hatte, wurden auf den spitzen Türmen heiliger Gebäude den Sonnenstrahlen dargeboten und durften sich mit ihnen beschäftigen. Der Gedanke, daß es auf dem Nachbarplaneten Diamanten geben könnte, die man nicht in dieser Weise behandelte, war einer der Gründe für die Invasion der Erde. Auf diese Weise wurden Geist und Seele der Marswesen unbewußt von ihrer wahren Entfaltung abgelenkt und krank und mühten sich immer fanatischer, Phantomen nachzujagen. Im frühen Stadium dieser Geistesverwirrung betrachtete man die Strahlung lediglich als ein untrügliches Zeichen für das Vorhandensein von Mentalität, und eine komplexe Strahlung galt als Maßstab für die geistige Bedeutung eines Organismus. Aber allmählich vergaß man, zwischen Strahlung und Mentalität zu unterscheiden und hielt die Organisation eines Strahlungsfeldes für etwas Wertvolles an sich und zugleich für etwas Geistbeseeltes. In ihrem Wahn glichen die Marswesen in etwa dem Ersten Menschen, als er sich in einer Epoche der Degeneration dem Dienst an der Idee unablässiger Aktivität verschrieben hatte. Allerdings besteht hier ein Unterschied. Die Intelligenz der Marswesen war nämlich weiter wirksam, obwohl ihre Erkenntnisse einer strengen Zensur im Namen des »Geistes der Rasse« unterlagen. Jedes Marswesen war gespalten. Es 242
war nicht nur in dem Sinne schizophren, daß es einmal als unabhängiges Bewußtsein und ein andermal als Bewußtsein der ganzen Rasse bestand, es war dazu noch in seiner eigenen Individualität gespalten. Obwohl es dem Superindividuum absolut ergeben war und alle Gedanken und Gefühle verurteilte und verwarf, die dem allgemeinen Interesse zuwiderliefen, kamen ihm doch derlei Gedanken und Gefühle, wenn es diese auch in den tiefsten Tiefen seines Wesens verschlossen hielt. Es bemerkte sie nur sehr selten, und wenn es das tat, war es über sie entsetzt und schockiert. Aber sie waren existent. Sie gaben einen unzusammenhängenden, zuweilen fast lückenlosen kritischen Kommentar zu allen seinen im Sinne der Allgemeinheit ehrbaren Taten und Erlebnissen. So tragisch stand es um das geistige Leben auf dem Mars. Die Marswesen waren an sich in mancherlei Hinsicht für echte Abenteuer des Geistes und für einen geistigen Fortschritt sehr gut ausgestattet. Eine Laune des Schicksals hatte sie aber dazu verleitet, Einheit und Uniformität vor allen anderen Dingen hoch einzuschätzen. Sie wirkten dadurch ihrem eigenen, dagegen aufbegehrenden Geist dauernd entgegen und hemmten ihn an seiner Entwicklung. Das Superbewußtsein der Marswesen war demjenigen des einzelnen Individuums keineswegs überlegen, es war ihm sogar in mancher Hinsicht unterlegen. Es hatte seine Vorherrschaft während einer Krise begründet, die eine strenge militärische Zusammenarbeit verlangte. Obwohl es seit jenen fernen Tagen große intellektuelle Fortschritte gemacht hatte, war es doch im Grunde ein militärisches Superbewußtsein geblieben. Es besaß die Qualitäten eines Feldmarschalls kombiniert mit denjenigen des Gottes der alten Hebräer. Ein gewisser englischer Philosoph beschrieb und rühmte einmal ein frei erfundenes Staatswesen, das er ›Leviathan‹ nannte. Das Superindividuum der Marswesen war ein solcher mit einem Bewußtsein ausgestatteter Leviathan. Dieses Bewußtsein nahm nur solche Dinge auf, die leicht zu speichern waren und mit der Tradition übereinstimmten. So hinkte das öffentliche Bewußt243
sein intellektuell und kulturell immer hinter der Zeit hinterher. Lediglich in praktischen und organisatorischen Fragen hielt es mit dem Bewußtsein der einzelnen Schritt. Der intellektuelle Fortschritt war stets nur von den Einzelwesen ausgegangen und war vom öffentlichen Bewußtsein erst registriert worden, nachdem die Masse der Individuen durch direkten Kontakt mit jenen Pionieren infiziert worden war. Das öffentliche Bewußtsein hingegen war aus eigener Kraft nur in der Lage, einen Fortschritt auf den Gebieten der sozialen, militärischen und wirtschaftlichen Organisation einzuleiten. Die ungewohnten Verhältnisse, die die Marswesen auf der Erde vorfanden, unterwarfen ihre Mentalität schweren Belastungsproben. Denn ein so einzigartiges Vorhaben wie die Eroberung einer neuen Welt verlangte von der Allgemeinheit genauso wie vom einzelnen die höchste Entfaltung von Aktivität. Daraus entstanden qualvolle Konfliktspannungen bei den Marsindividuen. Zwar handelte es sich hier im wesentlichen um ein gemeinschaftliches militärisches Unternehmen, das exakte Zusammenarbeit und gemeinschaftliches Handeln erforderte. Das völlig Ungewohnte der neuen Umgebung verlangte aber eigentlich ebensosehr von jedem einzelnen, daß er alle Kräfte eines unreglementierten Bewußtseins zur Bewältigung unvorhergesehener Situationen hätte voll einsetzen müssen. Überdies fanden die Marswesen vieles auf der Erde, was ihre Grundüberzeugungen Lügen strafte. In einigen lichten Augenblicken wurde dies auch von einzelnen erkannt.
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kapitel ix
Erde und Mars
Der Zweite Mensch ist verloren So waren die Wesen, die die Erde angriffen, gerade als der Zweite Mensch sein großes Vorhaben, eine künstliche Evolution hervorzurufen, beginnen wollte. Die Gründe für die Invasion waren sowohl wirtschaftlicher als auch religiöser Art. Die Marswesen brauchten Wasser und pflanzliche Nährstoffe. Außerdem waren sie von der religiösen Aufgabe beseelt, die irdischen Diamanten zu ›befreien‹. Die Lebensbedingungen waren auf der Erde für die Invasoren wenig günstig. Die größere Schwerkraft machte ihnen allerdings weniger zu schaffen, als man hätte erwarten können. Nur wenn sie sich als gallertartige Masse konzentrierten, litten sie darunter. Störender empfanden sie den stärkeren Luftdruck der irdischen Atmosphäre, der die zarten lebendigen Wolken sehr in ihrer Beweglichkeit behinderte und ihren »Stoffwechsel« und ihre Bewegungen abbremste. In der gewohnten Atmosphäre ihres Heimatplaneten vermochten sie mit Leichtigkeit und mit beträchtlicher Geschwindigkeit hin- und herzuschwimmen, aber die für sie sirupartige Luft der Erde hemmte sie ebenso wie einen Vogel, der in einer Luft von der Dichte des Wassers fliegen müßte. Als einzelnen Wolken gelang es ihnen daher kaum, sich bis auf die Höhe der Berggipfel herunterzulassen. Hinzu kam auch, daß ihnen der starke Sauerstoffanteil der Luft Qualen bereitete. Sie litten dadurch beständig an einem heftigen Fieber, gegen das sie sich nur recht unvollkommen zu schützen vermochten. Noch schlimmer wirkte die außerordentlich starke Luftfeuchtigkeit. Einmal löste sie bestimmte Stoffe bei den subvitalen Einheiten auf, zum ändern störten größere Regenfälle die physiologischen Prozesse innerhalb der Wolken und rissen viele der von ihnen aufgespeicherten Stoffe mit sich zur Erde herunter. Außerdem mußten die Invasoren noch mit Funkstrahlungen fertigwerden, die den gesamten Planeten überzogen und das organische 247
Strahlungssystem der Marswesen in Unordnung zu bringen drohten. Etwas derartiges hatten sie allerdings in gewissem Umfang erwartet. Die Funkpeilungen und Richtstrahler aus allernächster Nähe überraschten sie jedoch, verwirrten, marterten und vernichteten sie, so daß sie zum Mars zurückflohen und viele ihrer Kameraden zerstört in der Luft der Erde zurücklassen mußten. Aber die erkundende Armee (oder besser der Kundschafter, denn während des ganzen Unternehmens agierten sie unter einem gemeinsamen Bewußtsein) hatte zu Hause viel zu berichten. Wie erwartet, hatte man eine reiche Vegetation vorgefunden sowie Wasser fast sogar in schädlichem Überfluß. Es gab auch Tiere dort, die etwa der prähistorischen Fauna auf dem Mars entsprachen, die meisten von ihnen hatten zwei Beine und bewegten sich in aufrechter Haltung. Ein Experiment hatte ergeben, daß diese Kreaturen starben, wenn man sie in Stücke riß, daß sie keine Sensibilität gegenüber Strahlungen gezeigt hätten, obwohl die Sonnenstrahlen allerdings in ihren Sehorganen chemische Reaktionen hervorgerufen hätten. Offenbar besäßen sie daher kein Bewußtsein. Andererseits war die Atmosphäre der Erde beständig von heftigen Strahlungen ohne jeden ersichtlichen Zusammenhang erfüllt gewesen. Es wäre noch unklar, ob diese groben Luftschwingungen ganz natürliche Phänomene darstellten, gewissermaßen aus einer unbedachten Laune des kosmischen Bewußtseins entstanden, oder ob sie auf irgendeinen irdischen Organismus zurückzuführen wären. Es bestünde Grund zu der Vermutung, daß das letztere der Fall sein könnte und daß eine verborgene irdische Intelligenzform die festen Körperwesen als Instrumente benütze, denn man hätte Gebäude entdeckt, und viele der Zweifüßler hätten sich darin aufgehalten. Weiterhin würde auch die plötzliche heftige Konzentration einer gerichteten Strahlung auf die Marswolke auf planvolles und feindliches Verhalten schließen lassen. Daraufhin hätte man eine Strafexpedition unternommen und viele Gebäude und Zweifüßler zerstört. Allerdings müßte die physische Grundlage der irdischen Intelligenzform erst noch gefunden werden. 248
Die Wolken der Erde könnten dies nicht sein, denn sie hätten sich als unempfindlich gegenüber Strahlungen erwiesen. Auf jeden Fall würde es sich wohl um eine Intelligenzform niederer Ordnung handeln, denn die Strahlungen wären kaum systematisch und recht primitiv gewesen. Ein oder zwei unglückliche Diamanten hatte man in einem Gebäude entdeckt. Nichts deutete darauf hin, daß man ihnen die schuldige Ehrerbietung entgegengebracht hätte. Die Menschen ihrerseits waren über die außergewöhnlichen Vorfälle jenes Tages vollkommen verblüfft. Einige hatten zwar scherzhaft gemeint, daß die komische Substanz wohl lebendig und mit einem Bewußtsein ausgerüstet sein müsse, denn sie hätte sich doch offenbar recht rachsüchtig gezeigt. Aber niemand nahm diese Anspielung ernst. Eines stand jedenfalls fest, das Ding hatte sich aufgelöst, als man Richtstrahler darauf gelenkt hatte. Wenigstens das war eine verwertbare Erfahrung. Aber noch fehlte jedes theoretische Wissen über die wahre Natur der Wolken und über ihre Einordnung im Universum. Diese völlige Unwissenheit störte eine Rasse mit einem so ausgeprägten Erkenntnisdrang und so hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen. Die Grundlagen des ganzen Gebäudes ihrer Wissenschaften schienen dadurch ins Wanken zu geraten. Trotz der Verluste an Menschenleben bei der ersten Invasion hofften viele ganz offen, daß sich bald wieder eine neue Gelegenheit ergeben würde, bei der man diese höchst erstaunlichen Objekte genauer untersuchen könnte, die weder ganz gasförmig noch feste Körper und auch (anscheinend) nicht organischen Ursprungs wären und sich andererseits doch so benommen hätten, als ob sie lebendig wären. Eine solche Gelegenheit für eingehendere Beobachtungen ergab sich sehr bald. Einige Jahre nach ihrer ersten Invasion tauchten die Marswesen wieder auf, diesmal in größerer Stärke als zuvor. Von den gebirgigen Teilen auf der ganzen Erde gleichzeitig ausgehend begannen sie damit, die großen Flüsse von der Quelle her auszutrocknen, wagten sich dann weiter in die tieferen Regionen vor, durchkämmten Dschungel und Ackerland 249
und entfernten dort jegliche Vegetation bis zum letzten Blatt. Ein Tal nach dem anderen wurde verwüstet, als ob darin ungeheure Schwärme von Heuschrecken gehaust hätten, und in ganzen Ländern war nicht ein einziges grünes Blatt mehr zu finden. Ihre Beute transportierten sie zum Mars. Myriaden ihrer subvitalen Einheiten, die auf den Transport von Wasser und Nahrungsmitteln spezialisiert waren, beluden sie jeweils mit einigen Molekülen ihrer Schätze und schickten sie zurück in ihre Heimat. Ohne Unterlaß ging der Verkehr zwischen Mars und Erde auf diese Weise hin und her. In der Zwischenzeit beschäftigte sich die Hauptmacht der Marswesen damit, neue Länder auszukundschaften und auszubeuten. Nichts konnte ihnen Einhalt gebieten. Zur Aufnahme von Wasser und pflanzlichen Nährstoffen verteilten sie sich über eine Landfläche wie ein sehr feiner Nebelschleier, den der Mensch nicht zu zerteilen oder zu vernichten vermochte. Armeen bestehend aus gigantischen Wolkengelee-Kolossen, jeder von diesen viel größer als das Ungeheuer, das sich während der ersten Invasion gebildet hatte, zerstörten jegliche Zivilisation. Städte wurden niedergewalzt, Menschen zu Brei zermalmt. Der Mensch setzte eine Waffe nach der anderen gegen sie ein. Alles war vergeblich. Schließlich entdeckten die Marswesen in den unzähligen Sendestationen die Quelle der irdischen Strahlungen. Hier endlich hatten sie die physische Grundlage der irdischen Intelligenzform entdeckt! Was war das aber für ein niederes Wesen! Welche Karikatur alles Lebendigen! Man konnte diese traurigen unbeweglichen Systeme aus Glas, Metall und Pflanzenteilen allein schon hinsichtlich ihres primitiven Organismus überhaupt nicht mit den differenzierten und zartgegliederten Marsorganismen vergleichen. Die einzige Leistung, zu der sie offensichtlich imstande gewesen waren, schien, daß sie sich jene Zweifüßler ohne Bewußtsein Untertan gemacht hatten, die für sie sorgten. Im Laufe ihrer Streifzüge hatten die Marswesen noch weitere Diamanten entdeckt. Die zweite menschliche Spezies hatte die barbarische Gier nach Juwelen überwunden, sie liebte aber die Schönheit von edlen 250
Steinen und Metallen und ließ daraus Amtsketten und -insignien herstellen. Als die Marswesen gerade eine Stadt plündern und zerstören wollten, stießen sie unglückseligerweise auf eine Frau, die einen großen Diamanten um den Hals trug, weil sie Bürgermeisterin der Stadt und für deren Evakuierung verantwortlich war. Eine solche Verwendung des heiligen Steins, anscheinend als Erkennungsmarke für jenes zweibeinige Vieh, schockierte die Invasoren sogar noch stärker als die Entdeckung von Diamantsplittern in gewissen Schneideinstrumenten. Der Krieg wurde fortan mit dem ganzen Heroismus und der Brutalität eines Kreuzzuges geführt. Noch lange nachdem eine reiche Ausbeute an Wasser und pflanzlichen Nährstoffen den Mars sicher erreicht hatte und lange nachdem die Erdbewohner wirksame Abwehrwaffen entwickelt hatten und die Marswolken mit hochgespannter Elektrizität in Form von Gewitterblitzen abschlachteten, führten irregeleitete Marsfanatiker ihre Aktion zur Rettung der Diamanten weiter. Sie schafften sie auf die höchsten Gipfel der Berge fort. Viele Jahre später entdeckten dort Bergsteiger funkelnde Diamantornamente, die an den Felskanten wie Nester mit Möweneiern ausgelegt waren. Dorthin hatten sie die letzten todgeweihten Marswesen transportiert, die jeden Gedanken an ihre eigene Rettung verschmähten, bevor nicht die Diamanten in der klaren Bergluft ein würdiges Domizil gefunden hatten. Als die Zweiten Menschen Kunde von diesem großen Diamantenlager erhielten, begannen sie ernsthaft daran zu glauben, daß sie es nicht mit Monstern oder, wie einige meinten, mit Bakterienschwärmen zu tun gehabt hätten, sondern tatsächlich mit Organismen höherer Ordnung. Nur in bewußter Absicht konnte jemand diese Diamanten auslesen, aus ihren Einfassungen herausnehmen und so sorgfältig auf den Felsen arrangieren. Zumindest besaßen jene mörderischen Wolken die kleptomane Mentalität von Elstern, da sie so offensichtlich von einem solchen Schatz fasziniert waren. Die gleiche Handlung jedoch, die ihr Bewußtsein offenbart hatte, ließ auch erkennen, daß ihre Intelligenz diejenige von instinktiv handelnden Tieren keineswegs überragte. Da die Marswol251
ken alle zerstört waren, bestand keine Gelegenheit mehr, diesen Irrtum zu korrigieren. Der Kampf hatte nur wenige Monate gedauert. Seine materiellen Auswirkungen auf das Leben der Menschen waren zweifellos ernst aber nicht unüberwindlich. Psychologisch ließ sich sogar eine ausgesprochen belebende Wirkung feststellen. Die Zweiten Menschen waren schon viel zu lange an eine Sicherheit und an einen Wohlstand von fast utopischem Ausmaß gewöhnt. Ganz plötzlich hatte sie ein großes Unglück heimgesucht, das für ihre wissenschaftliche Einsicht völlig unverständlich war. In einer solchen Situation hätte sich bei ihren Vorfahren jenes charakteristische Hin- und Herschwanken zwischen menschlichen und tierhaft primitiven Tendenzen gezeigt. Von einem romantischen Treuefieber befallen hätten sie viele ziel- und zwecklose Taten der Selbstaufopferung vollbracht und dadurch insgeheim ihr beschädigtes Selbstgefühl restauriert. Jeder hätte versucht, aus dem allgemeinen Unglück seinen eigenen Profit zu ziehen und hätte laut geklagt über Profitjäger, die erfolgreicher waren als er selber. Sie hätten ihre Götter verflucht und sich gleichzeitig nach anderen, nützlicheren Göttern umgesehen. Gelegentlich würden sie sich auch ziemlich planlos ihrer Vernunft bedient und auf diese Weise ab und zu das Niveau des Zweiten Menschen erreicht haben. Der höherentwickelte Zweite Mensch hingegen, dem ein Blutvergießen in solchen Ausmaßen völlig ungewohnt war, litt qualvoll unter dem Mitgefühl für seine zermalmten Brüder. Da er sich aber voll und ganz den Hilfs- und Rettungsarbeiten zuwandte, wurde sein Mitleid nicht laut, und der allgemeine Gram blieb fast unbemerkt. Da sich alle der plötzlichen Notwendigkeit gegenübersahen, den Verhältnissen in gegenseitiger Loyalität und mit äußerstem Mut zu trotzen, fügten sie sich mit großer Bereitwilligkeit. Sie erlebten jenen Zuwachs an geistiger Energie, der sich immer dann einstellt, wenn man eine Gefahr erkennt und sich ihr entgegenstellt. Doch wäre es ihnen niemals eingefallen, ihr Verhalten etwa heroisch zu nennen. Sie glaubten lediglich, daß sie sich unter Verwendung ihres gesunden Menschenverstandes vernünftig ver252
hielten. Keiner, der einmal in einer heiklen Lage versagte, wurde als feige beschimpft. Man gab ihm lediglich eine Droge, durch die er wieder zur Vernunft kommen sollte, oder übergab ihn einem Arzt, wenn die Droge nichts half. Sicherlich wäre ein solches Verfahren beim Ersten Menschen nicht gerechtfertigt gewesen, denn jene verwirrten Wesen besaßen keine gemeinsame klare und alle beherrschende Einsicht, die alle gesunden Angehörigen der zweiten Gattung in gegenseitiger Loyalität verband. Als unmittelbare psychologische Wirkung der Katastrophe läßt sich feststellen, daß sie dieser sehr edlen Rasse den gesundheitsfördernden Einsatz ihrer großen Reserven an Treue und Heldentum ermöglichte. Dieser erste Kampf mit den Marswesen auf Leben und Tod und die weiteren Kämpfe, die noch folgen sollten, hatten — ganz abgesehen von einer belebenden Wirkung im Psychischen — jedoch auch noch im Guten wie im Bösen weitere Auswirkungen auf den geistigseelischen Bereich. Schon lange war den Zweiten Menschen bekannt gewesen, daß es im Universum nicht nur individuelle sondern auch große allgemeine Tragödien geben konnte, und auch ihre Philosophie hatte diese Tatsache keineswegs verheimlichen wollen. Individuellen Tragödien vermochten sie mit Güte und mit starker Seele zu begegnen oder diese sogar bereitwillig zu akzeptieren, so wie es die vergangene Spezies nur sehr selten gekonnt hatte. Ein allgemeines Verhängnis, ja sogar eine Katastrophe, die die gesamte Welt erfaßte, meinten sie, sollte man in der gleichen Haltung auf sich nehmen. Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen einer Weltkatastrophe, die man abstrakt in seine Überlegungen mit einbezieht, und zwischen dem direkten Miterleben einer solchen Tragödie. Obwohl die Zweiten Menschen voller Ernst ihre ganze Aufmerksamkeit den praktischen Fragen ihrer Verteidigung zuwandten, waren sie gleichzeitig entschlossen, diese Tragödie mit der ganzen Tiefe ihres Wesens zu erfassen, sie genau und furchtlos zu untersuchen, sie auszukosten und einzuordnen, so daß deren wilde Gewalt fortan ihren Schatz an bewußten Erfahrungen bereichern konnte. So verfluchten sie nicht ihre Götter oder flehten sie auch nicht demütig 253
an. Sie sagten sich nur: »Dies alles ist also die Welt. Wenn wir ihre Abgründe kennen, werden wir auch ihre Höhen klarer sehen können und wir werden beide loben und preisen.« Aber ihre Lektion hatte gerade erst begonnen. Die Eindringlinge vom Mars waren zwar alle tot, aber ihre subvitalen Einheiten hatten sich überall auf dem Planeten als ein tödlich wirkender ultramikroskopischer Staub verbreitet. Obwohl sie als Teile einer lebendigen Wolke in den menschlichen Körper ohne dauerhafte Schädigungen des Organismus eindringen konnten, hatten sie jetzt ihre Funktion innerhalb eines höheren organischen Systems verloren und wurden zu parasitären Viren. Wenn der Mensch sie in die Lungen einatmete, paßten sie sich sehr rasch der neuen Umgebung an und brachten dann das Lungengewebe in Unordnung. Jede Zelle, in die sie eindrangen, veränderte ihre Struktur so wie ein Staat, den der Feind durch eine Handvoll Agenten erfolgreich mit tödlicher Propaganda infiziert hat. Der Mensch war zwar vorläufig Sieger im Kampf mit dem Superindividuum vom Mars geblieben, aber seine Organe wurden von den subvitalen Überbleibseln seines toten Feindes vergiftet und zerstört. Eine Rasse, deren Körperbau genauso utopisch erschien wie ihr Staatswesen, wurde in einen Zustand ängstlich-vorsichtiger Invalidität zurückversetzt. Sie besaß außerdem nur noch einen völlig verwüsteten Planeten. Der Verlust an Wasser war dabei fast unerheblich. Viel schlimmer wirkte sich die vollständige Vernichtung jeglicher Vegetation in den Kriegsgebieten aus, durch die eine Zeitlang überall in der Welt eine Hungersnot ausbrach, wie sie der Zweite Mensch nie gekannt hatte. Das Gebäude seiner Zivilisation war so weit zusammengestürzt, daß man viele Jahrzehnte auf seinen Wiederaufbau verwenden mußte. Der materielle Schaden erwies sich aber als viel weniger gefährlich als die physiologischen Schädigungen. Zwar entdeckte man durch intensive Forschung ein Mittel, um der Seuche Einhalt zu gebieten, und nach wenigen Jahren einer rigoros durchgeführten Ausmerzung dieser 254
Marspest waren die Atmosphäre und die Gewebe der Menschen wieder frei von Viren. Die Generationen jedoch, die von der Seuche ergriffen worden waren, erholten sich nie mehr richtig von dieser Krankheit. Ihre Körpergewebe waren zu stark angegriffen. Ganz allmählich wuchs eine neue Generation von gesunden Männern und Frauen nach, aber es handelte sich dabei nur um wenige Menschen, weil die Fruchtbarkeit der Erkrankten sehr zurückgegangen war. So lebte auf der Erde jetzt eine kleine Zahl von noch sehr jungen gesunden neben einer außerordentlich großen Gruppe gebrechlicher alter Menschen. Viele Jahre hindurch hatten sich diese Krüppel trotz ihrer Schwäche bemüht, die Arbeiten in ihrer Welt weiter zu erledigen, aber mit der Zeit ließen Ausdauer und Fähigkeiten nach. Sie verloren sehr schnell den Kontakt zum Leben und versanken in eine lange Periode der Senilität, die für den Zweiten Menschen bisher völlig unbekannt geblieben war. Die Jungen waren dadurch gezwungen, Arbeiten weiterzuführen, auf deren Übernahme man sie schlecht vorbereitet hatte. Sie machten dabei alle möglichen groben Fehler, wie sie bei den Älteren nie vorgekommen wären. Anstelle gegenseitiger Beschuldigungen, die sich hierdurch zwischen Älteren und Jüngeren hätten ergeben können, ermöglichte es die allgemeine geistige und seelische Verfassung der zweiten menschlichen Spezies, eine aufopferungsvolle Treue gegenüber der Art zu bewahren, wie sie bisher ohne Beispiel war. Die kranken Generationen beschlossen fast einstimmig, daß jedes Individuum dann Selbstmord begehen sollte, wenn seine Altersgenossen der Meinung wären, daß seine Tauglichkeit erheblich gemindert sei. Zum Teil aus Liebe gegenüber den Älteren und auch zum Teil aus Furcht vor ihrer eigenen Unfähigkeit, die Dinge zu meistern, wandten sich die Jüngeren zunächst sehr stark gegen derartige Maßnahmen. »Die Kraft der Älteren«, so sagte ein junger Mann, »mag zurückgegangen sein, aber sie sind immer noch weise, und wir lieben sie nach wie vor. Wir wagen es nicht, allein ohne sie weiterzumachen.« Die Älteren blieben aber fest bei ihrem Beschluß. Hinzu kam, daß viele Angehörige der nachfolgenden Generationen heranwuchsen, 255
und wenn das Staatswesen die Wirtschaftskrise überstehen sollte, mußte es rücksichtslos alle kranken Teile abstoßen. So wurde denn der Beschluß ausgeführt. Wie es die Not erforderte, wählte einer nach dem ändern ›den Frieden der Selbstauslöschung« und ließ eine dürftige, unerfahrene aber vitale Bevölkerung zurück, die das wieder aufbauen sollte, was zerstört worden war. Vier Jahrhunderte waren vorübergegangen, bis sich die Marswolken wiederum am Himmel zeigten. Wieder kam es zu gegenseitigem Abschlachten und zu Verwüstungen. Die beiden verschiedenartigen Mentalitäten waren auch dieses Mal völlig außerstande, einander zu begreifen. Wiederum wurden die Marswesen zerstört. Wieder grassierte die Lungenseuche, der allmähliche Reinigungsprozeß, eine gelähmte Bevölkerung und mutige Aufopferung für die anderen durch Selbstmord. 50 000 Jahre lang erschienen die Marswolken immer wieder in unregelmäßigen zeitlichen Abständen. Jedesmal kamen die Marswesen mit unwiderstehlicher Gewalt und gefeit gegen Waffen, die die Menschen beim letzten Zusammenprall erfolgreich gegen ihre Expedition eingesetzt hatten. Allmählich erkannten auch die Menschen, daß der Feind kein reflexgesteuertes Monstrum sein konnte, sondern intelligent sein mußte. Daher versuchten sie, mit den fremden Wesen in Kontakt zu gelangen und ihnen Vorschläge für eine friedliche Regelung zu machen. Aber da nun mal die Verhandlungen von Menschen geführt werden mußten und da die Marswesen Menschen allenfalls für zweibeinige Haustiere irgendeiner irdischen Intelligenz hielten, wurden die Parlamentäre entweder völlig ignoriert oder vernichtet. Den Marswesen gelang es, während jeder ihrer einzelnen Invasionen zunächst eine beträchtliche Wassermenge zum Mars abzutransportieren. Mit dieser materiellen Beute waren sie dann anscheinend nicht recht zufrieden. Sie führten danach gewöhnlich noch so lange ihre Kreuzzüge zur Rettung der Diamanten, bis der Mensch eine Waffe entwickelt hatte, mit der er ihre neuen Abwehrmaßnahmen umgehen 256
konnte und sie in die Flucht schlug. Allerdings erholte sich der Mensch nach jeder neuen Invasion langsamer und unvollständiger, während sich trotz des großen Bevölkerungsverlustes auf dem Mars auf die Dauer durch das erbeutete Wasser ein gewisser Kräftezuwachs feststellen ließ.
Der Zusammenbruch von zwei Welten Als 50 000 Jahre seit ihrem ersten Erscheinen auf der Erde längst vorübergegangen waren, eroberten die Marswesen einen Brückenkopf in der antarktischen Hochebene und überrannten von dort aus Australasien und Südafrika. Viele Jahrhunderte lang behielten sie einen großen Teil der Erdoberfläche im Besitz, betrieben eine Art Landwirtschaft, studierten die Verhältnisse auf der Erde und verwandten sehr viel Energie auf die ›Befreiung‹ von Diamanten. Während jener beträchtlichen Zeitspanne, bis sie sich auf der Erde niederließen, war kaum irgendeine Veränderung ihrer Mentalität bemerkbar. Das Leben auf der Erde begann dann jedoch ihre Selbstgefälligkeit und ihre Einheit zu untergraben. Einigen forschenden Marswesen drängte sich der Gedanke auf, daß es sich bei den Zweifüßlern der Erde trotz ihrer Unempfindlichkeit gegenüber Schwingungen und Strahlungen in Wirklichkeit um die Intelligenzen des Planeten handelte. Zunächst wich man dieser Überlegung geflissentlich aus, aber nach und nach erregte sie die Aufmerksamkeit aller auf der Erde lebenden Marswesen. Gleichzeitig wurde ihnen bewußt, daß alle ihre Forschungsvorhaben zur Erkundung der irdischen Verhältnisse, und selbst das soziale Gefüge ihrer Kolonie, nicht von ihrem Superindividuum abhingen, sondern von einzelnen Individuen, die eigenständig aus privater Initiative handelten. Das Superindividuum der Kolonisten veranlaßte lediglich den Kreuzzug zur Befreiung der Diamanten und die verschiedenen Unternehmen, um die irdische Intelligenz oder Strahlung auszulöschen. Diese neuen Einsichten erweckten die Kolonisten vom Mars 257
aus einem uralten Traum. Sie erkannten, daß das von ihnen verehrte Superindividuum kaum mehr Vermögen als sie selber besaß, daß es nur die Summe ihrer atavistischen Phantasien und Sehnsüchte war, zu der sich in ihrem gemeinsamen Bewußtsein nur noch eine gewisse praktische Intelligenz hinzugesellt hatte. Eine sehr schnelle und verblüffende Renaissance ergriff die gesamte Kolonie. Ihr zentraler Lehrsatz lautete, daß für die Gattung der Marswesen nicht die Strahlung, sondern die Bildung einer Mentalität von größtem Wert wäre. Seit dem frühesten Beginn der Marszivilisation hatte man diese beiden völlig andersartigen Begriffe verwechselt und sogar gleichgesetzt. Endlich konnte man den Unterschied klar erkennen. So begannen die Marswesen mit einer tastenden, aber ehrlich gemeinten Erforschung ihrer Seele und ihres Geistes und unterschieden dabei sogar zwischen den niedrigeren und höheren geistig-seelischen Betätigungen. Hätte sich diese Renaissance ungestört weiterentwickelt, so läßt sich nicht absehen, wohin sie noch geführt haben könnte. Möglicherweise hätten die Marswesen noch rechtzeitig zu erkennen vermocht, daß auch völlig andersartige geistige und seelische Strukturen anderer Lebensformen von Bedeutung und Wert sein können. Zunächst war eine solche Verstandesleistung jedoch für sie unmöglich. Obwohl sie begriffen hatten, daß die irdischen Zweifüßler ein Bewußtsein besaßen und intelligent waren, empfanden sie diesen gegenüber keinerlei Sympathie, sondern betrachteten sie im Gegenteil mit noch stärkerer Feindseligkeit. Sie fühlten sich ihrer Marsrasse gegenüber nach wie vor in Treue verbunden, weil sie so gleicher Art wie sie selber und desselben Geistes war. Ihr Bestreben war es, das öffentliche Bewußtsein der Kolonie und sogar des Mars nicht etwa aufzugeben sondern umzubilden. Aber das Superbewußtsein der Kolonisten beherrschte die einzelnen noch immer, auch in jenen Zeiten, da sie als Individuen dahindämmerten. So sandte es einige von denjenigen, die in ihren privaten Phasen durchaus revolutionär waren, zurück zum Mars, daß sie von dort Hilfe gegen die revolutionäre Bewegung herbeiholen sollten. Der Heimat258
planet stand den neuen Gedanken völlig verständnislos gegenüber. So setzten sich seine Bürger aus tiefster Überzeugung für den Versuch ein, die Kolonisten wieder zur Vernunft zu bringen. Aber dieser Versuch mißlang. Das koloniale Superbewußtsein veränderte im Laufe der Jahrhunderte seinen Charakter so stark, daß es sich vom Marsdogma sehr weit entfernte. Schließlich begann es sich sogar auf seltsame Weise völlig umzuwandeln. Aus diesem Prozeß hätte es durchaus als das edelste Wesen unter den Bewohnern unseres Sonnensystems hervorgehen können. Nach und nach verfiel es in eine Art hypnotischen Trancezustand, das heißt: die Einzelwesen brachten ihm nicht mehr ihre Aufmerksamkeit entgegen. Es bestand aber fort als eine Einheit ihrer unbewußten oder unbemerkten Mentalität. Die Verbindung von allen Mitgliedern der Kolonie wurde durch Strahlungen aufrechterhalten, aber nur unbewußt. Und hier in der Tiefe des Unbewußten vollzog sich die große Umwandlung unter dem befruchtenden Einfluß der neuen Ideen, die, sozusagen der Sturm der vollbewußten geistigen Revolution erzeugt hatte und die dann in die ozeanischen Tiefen des Unbewußten absanken und weiterwirkten. In einem solchen Prozeß hätte sich durchaus mit der Zeit eine neue und verfeinerte Mentalitätsart herausbilden und ein vollbewußtes Superindividuum erwecken können, das von höherer geistig-seelischer Potenz gewesen wäre als die Einzelindividuen. Während sich das allgemeine Bewußtsein in diesem Trancezustand befand, machte es die Kolonisten unfähig zu jenem raschen und gemeinsamen Handeln, mit dem sich ihre Vorfahren den Mars so erfolgreich erobert hatten. So hatte das Superindividuum des Heimatplaneten ein leichtes Spiel, seine aufrührerischen Kolonisten auf der Erde zu vernichten, worauf es mit einer neuen Kolonisierung der Erde begann. Dieser Prozeß wiederholte sich während der nächsten 300 000 Jahre mehrmals. Das unwandelbare Superindividuum vom Mars rottete mit seiner grauenhaften Tüchtigkeit seine eigene Nachkommenschaft auf der Erde aus, bevor den Kolonisten die Umwandlung von der Raupe zum Schmetterling gelungen war. Diese Tragödie hätte sich vielleicht 259
bis in die Unendlichkeit wiederholt, wenn nicht beim Menschen einige Veränderungen eingetreten wären. Die ersten Jahrhunderte nach der Gründung der Kolonie der Marswesen waren beständig von Kriegen erfüllt gewesen. Schließlich hatten sich die Zweiten Menschen jedoch mit einem immer mehr zusammenschrumpfenden Reservoir an Nahrungsmitteln und Bodenschätzen sowie mit der Tatsache abgefunden, daß sie mit ihren mysteriösen Feinden in derselben Welt existieren müßten. Die beständige Beobachtung der Marswesen erneuerte allmählich das erschütterte Selbstvertrauen der Menschen, das während der 50 000 Jahre vor Gründung der Kolonie sehr angegriffen war. Früher waren sie gewohnt gewesen, sich für die tüchtigsten Wesen unter der Sonne zu halten. Dann hatte plötzlich eine neue erstaunliche Erscheinung ihre Intelligenz besiegt. Langsam hatten sie begriffen, daß sie sich im Kampf mit einem entschlossenen und wendigen Gegner befanden und daß dieser Gegner von einem bisher nur mit Geringschätzung betrachteten Planeten stammte. Mit der Zeit mußten sie vermuten, daß sie selbst zu den Primitiven gehörten und ihre Existenz überstrahlt würde von derjenigen einer Rasse, deren organische Funktionen allein schon für den Menschen unbegreiflich waren. Als die Marswesen jedoch eine Dauersiedlung auf der Erde errichtet hatten, entdeckten die Wissenschaftler bald die wahre physiologische Grundlage der Marsorganismen und waren zumindest dadurch beruhigter, als deren biologische Funktionen nicht mehr etwas völlig Unvorstellbares zu sein schienen, sondern im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse erklärbar waren. Die Menschen erfuhren auch, daß die Marswesen auf bestimmten Gebieten außerordentlich tüchtig waren, daß sie aber geistigseelisch auf keiner sehr hohen Stufe standen. Diese Entdeckungen stellten ihr Selbstvertrauen wieder her. Die Menschen versuchten in dieser Lage ihr Bestes. Sie entwickelten unüberwindliche Sperren aus hochgespannter Elektrizität, um die Marswesen von den Siedlungsgebieten der Menschen fernzuhalten, und sie bauten mit viel Geduld und so gut es ging ihre zerstörte Heimat 260
wieder auf. Zuerst konnten sie sich durch ihre Abwehrmaßnahmen nur kurze Ruhepausen vor dem Kreuzzugseifer der Marswesen verschaffen. Im zweiten Jahrtausend ließ dieser jedoch nach, und die beiden Rassen ließen einander in Frieden, abgesehen von gelegentlichen leidenschaftlichen Ausbrüchen der Marswesen. Schließlich war die Zivilisation wieder aufgebaut und gefestigt, wenn auch nur in bescheidenem Maße. Die Menschen lebten wiederum in Frieden und in relativem Wohlstand, obwohl es ab und zu jahrzehntelange Unterbrechungen dieses Zustandes gab, in denen sie einen Kampf auf Leben und Tod zu führen hatten. Das Leben war zwar härter als früher und auch der Körper war nicht mehr so stabil und immun gegen Krankheiten, aber die Männer und Frauen lebten trotzdem unter Verhältnissen, um die sie die meisten Staaten des Ersten Menschen beneidet hätten. Wenigstens hatte das Zeitalter der fortgesetzten Aufopferung des einzelnen für eine von Seuchen geschüttelte Gemeinschaft endlich aufgehört. Wieder gab es eine erstaunliche Mannigfaltigkeit an Persönlichkeiten, die in ihrer Entwicklung nicht mehr eingeengt waren. Wiederum konnten sich Männer und Frauen uneingeschränkt Arbeiten zuwenden, die ihnen Freude bereiteten, und ihre Geschicklichkeit darin üben. Sie fanden auch Zeit, sich den feineren Genüssen persönlicher Freundschaften zu widmen. Wieder wurden Geist und Seele erfrischt und geweitet durch das leidenschaftliche Interesse des einen an dem anderen, das so lange angesichts des alles überschattenden allgemeinen Unglücks zurücktreten mußte. Wieder erstand eine melodische Musik, die in ihrer Zartheit eine goldene Vergangenheit zum Erklingen brachte. Ein neues Aufblühen der Literatur und der Künste. Der Intellekt begann erneut die Grundlagen der physischen Welt und die Möglichkeiten des Geistes und der Seele zu erforschen. Und auch das religiöse Leben, das für so lange Zeit durch die Ablenkungen der Gewalt und die mit der Kriegführung unvermeidlich verbundenen Selbsttäuschungen vergröbert und verborgen weiterbestanden hatte, schien sich durch den Einfluß der wiedererblühenden Kultur zu läutern und zu verfeinern. 261
Unter ähnlichen Bedingungen hätte die frühere und weniger sensible menschliche Rasse wahrscheinlich glücklich weitergelebt bis ans Ende der Tage. Das konnten die Zweiten Menschen jedoch nicht. Denn gerade ihr feineres Empfindungsvermögen machte es ihnen unmöglich, die sich ihnen immer wieder aufdrängende Gewißheit, daß ihr ganzer Wohlstand auf tönernen Füßen stünde, einfach beiseite zu schieben. Obwohl sie sich also rein äußerlich unter heroischen Anstrengungen langsam zu erholen schienen, sanken sie gleichzeitig geistig langsam, aber um so tiefer wirkend, immer mehr ab. Eine Generation folgte auf die andere. Die Gesellschaft erreichte innerhalb ihres begrenzten Territoriums und mit ihren beschränkten materiellen Hilfsmitteln nahezu einen Zustand der Perfektion. Die einzelnen Persönlichkeiten verfügten über einen ungeheuren Reichtum an subtilsten Eigenschaften. Schließlich nahm sich die Rasse vor, ihr altes Projekt wieder in Angriff zu nehmen, nämlich die Natur des Menschen umzubilden und einen Menschen höherer Art zu erschaffen. Aber anscheinend besaß sie nicht mehr den nötigen Mut und das erforderliche Selbstvertrauen, um ein solches Vorhaben auszuführen. Man redete zwar viel darüber, aber es geschah nichts. Eine Epoche folgte auf die andere, und alles Menschliche blieb offenbar gleich. Der Mensch bemühte sich, sein Leben und seine Kultur zu erhalten, ein weiterer Fortschritt war ihm aber versagt. Er glich einem Zweig, den der Sturm geknickt hatte, der aber noch nicht ganz abgebrochen war. Es ist fast unmöglich, in wenigen Worten jene geistige Malaise beschreiben zu wollen, die den Zweiten Menschen zu schaffen machte. Wenn man sagen würde, daß sie unter einem Minderwertigkeitskomplex litten, so wäre das zwar nicht ausgesprochen falsch, aber es wäre eine irreführende Simplifizierung der Wahrheit. Auch die Feststellung, daß sie den Glauben an sich selbst und an das Universum verloren hätten, wäre fast genauso unzutreffend. Ihr Unglück, ganz grob gesagt, war, daß sie sich als Spezies an ein bestimmtes geistiges Unternehmen herangewagt hatten, dessen Durchführung außerhalb des Vermögens ihrer im262
mer noch recht primitiven Natur lag. Sie hatten sich geistig übernommen. Wie bei einer übermäßigen gewaltsamen Streckung des Körpers waren ihnen hierbei sozusagen alle Muskeln gerissen. Ein neuer Versuch war für sie folglich undurchführbar. Sie hatten die Absicht gehabt, die Tragödie ihrer eigenen Rasse als ein Schauspiel von erhabener Schönheit zu betrachten. Und das war ihnen mißlungen. Dieses dunkle Gefühl ihrer Niederlage hatte sie vergiftet. Da sie in vielerlei Hinsicht eine sehr edle Art repräsentierten, konnten sie nicht einfach ihr Versagen als belanglos hinstellen und ihr früheres Leben, wie gewohnt, mit Eifer und Gründlichkeit wieder aufnehmen. Während der ersten Angriffe der Marswesen hatten die geistlichen Führer der Menschheit gepredigt, daß dieses Unglück als eine Gelegenheit für höchstes religiöses Erleben genützt werden müßte. Die Menschen dürften nicht nur, so sagte man, während sie sich bemühten, mit aller Kraft ihre Zivilisation zu retten, ihr Schicksal ertragen zu lernen, sondern sie müßten selbst die für sie härtesten Ergebnisse dieses Kampfes immer noch bewundern. »Dies alles ist also die Welt. Wenn wir ihre Abgründe kennen, werden wir auch ihre Höhen klarer sehen können, und wir werden beide loben und preisen.« Die gesamte Bevölkerung hatte diesen Rat angenommen. Zuerst schien sie sich danach richten zu können. Viele vortreffliche Dichtungen entstanden, die diesen Gedanken noch genauer hervorhoben und definierten und sogar dieses höchste Erleben bei den Menschen auszulösen schienen. Als aber die Jahrhunderte vorbeigingen, ohne daß die Unglücksserie abgerissen wäre, befürchteten die Menschen, daß ihre Vorfahren einer Täuschung erlegen waren, jene frühen Generationen hatten sich inbrünstig danach gesehnt, das tragische Verhängnis ihrer Rasse als Teil eines Geschehens von kosmischer Größe und Schönheit zu erkennen, und hatten sich schließlich eingeredet, daß sie es tatsächlich so erleben würden. Aber die nachfolgenden Generationen argwöhnten allmählich, daß es bei ihren Vorfahren zu einem solchen Erleben überhaupt nicht gekommen sein könnte und daß es in Wirklichkeit gar keine kosmische Schönheit 263
gäbe und daher kein Mensch sie jemals würde erleben können. In einer solchen Situation hätte sich der Erste Mensch vermutlich entweder dem Extrem eines geistigen Nihilismus oder irgendeinem tröstlichen religiösen Mythos zugewandt. Auf jeden Fall besaß er ein viel zu grobes Empfindungsvermögen, daß ihn derartige, kaum spürbare Kümmernisse hätten zugrunde richten können. Das war bei den Zweiten Menschen ganz anders, denn sie waren sich nur allzu klar darüber, daß ihre Existenz einer höchsten Belastungsprobe unterworfen war. So klammerten sich die Generationen all jene Zeiten hindurch verzweifelt an die Hoffnung, daß ihre Tage wieder heller sein würden, wenn sie nur noch ein bißchen länger durchhielten. Selbst nachdem die Kolonie der Marswesen bereits dreimal errichtet und durch das orthodoxe Superindividuum ihres Heimatplaneten wieder zerstört worden war, beschäftigten sich die Menschen immer noch mit dieser religiösen Wunschvorstellung. Aber danach verloren sie allmählich den Mut. Sie gelangten zu der Überzeugung, daß entweder sie selbst zu beschränkt sein müßten, den letzten Sinn und die Vortrefflichkeit des Geschehens erkennen zu können, eine Vortrefflichkeit für die sich zwar intellektuell gute Gründe anführen ließen, die aber mit dem realen Geschehen nicht vereinbar war, oder aber, daß sich die Menschen vollkommen getäuscht hätten, und der Ablauf des kosmischen Geschehens völlig unwesentlich wie ein sinnloses Geschwätz wäre. Dieses Dilemma zersetzte ihre Kraft wie ein schleichendes Gift. Wenn sie im Physischen eine junge Rasse gewesen wären, hätten sie vielleicht noch die Stärke gehabt, sich damit abzufinden und geduldig Harmonie und Vortrefflichkeit in ihrer Lebenswirklichkeit entdecken und schaffen können. Aber eine solche Vitalität, die allein ein derartiges Verzichtenkönnen erlaubt, besaßen sie nicht mehr. Die Bildung ihrer Persönlichkeit, das feine Gewebe der zwischenmenschlichen Beziehungen, die vielseitigen und verwickelten Unternehmungen eines sehr großen Staatswesens, die Kunst, das Forschen des Intellekts, all das hatte für sie an Reiz verloren. Es ist bemerkenswert, daß eine derar264
tige, eigentlich nur religiöse Krise sogar dem Liebenden das Entzücken an der Gestalt und dem Körper der Geliebten verdarb, den Speisen ihren Geschmack nahm und selbst die Sonne nur noch wie hinter einem Vorhang erkennen ließ. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren waren die einzelnen Funktionen bei den Individuen dieser Art so aufeinander abgestimmt, daß keine einzelne intakt bleiben konnte, wenn die höchste Funktion gestört war. Hinzu kam, daß sich die allgemeine Verschlechterung ihrer Konstitution, eine Folge der unendlich langen Kriege, derart auswirkte, daß jene zerrüttenden Geistesverwirrungen, die die frühesten Arten der Gattung heimgesucht hatten, wieder auftraten. Das bloße Entsetzen über die Aussicht, daß die Rasse dem Irrsinn verfallen könnte, verstärkte noch die Tendenz, von der Vernunft abzuweichen. Perversionen und Begierden empörten und entsetzten die Menschen immer häufiger. Masochistische und sadistische Orgien wechselten sich ab mit Phasen überspannter und makabrer Vergnügungssucht. Verrat gegenüber der Gemeinschaft, eine bis dahin fast völlig unbekannte Erscheinung, erforderte schließlich den Aufbau eines durchgreifenden Polizeiwesens. Örtlich kam es zu organisierten räuberischen Überfällen verschiedener Gruppen gegen andere. Nationen bildeten sich, und damit tauchten alle jene Vorurteile und Phobien wieder auf, die mit dem Nationalismus einhergehen. Als die Kolonisten vom Mars die Desorganisation bei den Menschen feststellten, bereiteten sie auf Veranlassung ihres Heimatplaneten eine umfassende Offensive vor. Zufällig durchlebte die Kolonie gerade in jener Zeit eine Epoche der Aufklärung, die bei den voraufgegangenen Koloniegründungen immer früher oder später durch eine Strafexpedition vom Mars mit Auslöschung der Kolonie geendet hatte. Viele der Kolonisten spielten zu jener Zeit eher mit dem Gedanken, mit den Menschen zu einem Ausgleich zu kommen, als gegen sie Krieg zu führen. Aber die öffentliche Meinung auf dem Mars, die durch einen solchen Verrat sehr aufgebracht war und schäumte, versuchte, derartige Gedanken dadurch zu unterdrücken, indem sie einen neuen Kreuzzug 265
zur Befreiung der Diamanten begann. Die Uneinigkeit der Menschen bot dafür eine günstige Gelegenheit. Durch den ersten Angriff änderten sich die Menschen in erstaunlichem Maße. Der Wahn schien plötzlich von ihnen abzufallen. Innerhalb weniger Wochen hatten die Regierungen der Einzelstaaten ihre Souveränität an eine Zentralgewalt abgetreten. Unruhen, Ausschweifungen und Perversionen hörten vollkommen auf. Verrat, Egoismus und Korruption, die viele Jahrhunderte lang gang und gäbe gewesen waren, wichen allgemein einer völligen Hingabe an die gemeinsame Sache. Anscheinend befand sich die Art wieder im Vollbesitz ihrer Sinne und Kräfte. Trotz der Schrecken des Krieges traf man überall auf eine frohe Kameradschaftlichkeit, auf Brüderlichkeit und einen Heldenmut, der gepaart war mit einer seltsam überdrehten Heiterkeit. Der Krieg verlief schlecht für die Menschen, und die allgemeine Stimmung wandelte sich zu kalter Entschlossenheit. Immer noch rückten die Marswesen siegreich vor. Unter dem Einfluß der gewaltigen fanatisierten Armeen, die von ihrem Heimatplaneten herübergekommen waren, hatten die Kolonisten ihre zögernde pazifistische Haltung aufgegeben und versuchten, ihre Ergebenheit durch besondere Grausamkeiten zu beweisen. Die Menschen warfen daraufhin alle vernünftige Überlegung beiseite und verfielen in einen unbeherrschten Zerstörungstrieb. In diesem Stadium der Auseinandersetzung erklärte einer ihrer Bakteriologen, daß es ihm gelungen wäre, ein besonders tödlich wirkendes Virus mit großer Übertragbarkeit zu züchten, mit dem es möglich sein würde, den Feind zu infizieren und zu vernichten, allerdings um den Preis der gleichzeitigen Vernichtung der menschlichen Rasse. Es ist bezeichnend für die ungesunde Geistesverfassung, in der sich die Bevölkerung der Erde zu diesem Zeitpunkt befand, daß es über die Frage, ob es überhaupt zweckmäßig wäre, diese Waffe einzusetzen, zu keiner Diskussion kam, als diese Tatsachen bekannt wurden. Unter dem Beifall der gesamten menschlichen Rasse wurde die Waffe sofort angewandt. 266
Innerhalb weniger Monate war die gesamte Kolonie der Marswesen ausgelöscht und verschwunden. Auch die Bevölkerung auf dem Mars war infiziert worden und sich darüber im klaren, daß sie durch nichts mehr gerettet werden konnte. Die Konstitution des Menschen hingegen war robuster als diejenige der lebendigen Wolken. Ihm schien ein schleichenderer Tod vorbehalten zu sein. Die Menschen unternahmen keine Anstrengungen, um der Seuche, die sie selbst entfesselt hatten, Einhalt zu gebieten oder um sich gegen die Lungenseuche zu schützen, die durch die zerfallenden Organismen der Marskolonisten entstanden war. Das Gebäude der Zivilisation zerfiel, denn die Bevölkerung war durch ihre Enttäuschung und ihre Todeserwartung gelähmt. Wie ein Bienenstock ohne Königin versanken alle Menschen auf der Erde in einen Zustand der Apathie. Die Männer und Frauen blieben zu Hause, taten nichts, aßen, was sie gerade vorfanden, schliefen bis weit in den Tag hinein, und wenn sie endlich aufstanden, gingen sie gleichgültig aneinander vorbei und mieden sich. Nur die Kinder waren noch fröhlich, aber auch sie waren bedrückt durch die Schwermut der Älteren. Inzwischen breitete sich die Krankheit immer weiter aus. Ein Haus nach dem anderen wurde von ihr befallen. Die Nachbarn kümmerten sich nicht darum. Aber der Schmerz im Körper eines jeden einzelnen trat zurück gegenüber seiner viel stärker wirkenden Verzweiflung über die geistige Niederlage seiner Rasse. So hoch entwickelt war die Sensibilität, daß selbst körperlicher Verfall und Todeskampf den einzelnen nicht von seinen Gedanken über das Versagen der Menschen abzubringen vermochten. Niemand hatte den Willen, sich zu retten; und jeder wußte, daß seine Nachbarn seine Hilfe nicht begehrten. Nur die Kinder litten unter der Todesangst und den Qualen ihres Todeskampfes, wenn die Krankheit sie geschlagen hatte. Zärtlich, aber im Grunde gleichgültig, versenkten dann die Älteren sie in ihren letzten Schlaf. Die unbeerdigten Toten verbreiteten Verwesung und Seuchen unter den Sterbenden. Die Städte starben, und das Korn verfaulte am Halm. 267
Das Dritte Dunkle Zeitalter Das neue Virus war so ansteckend und tödlich, daß seine Entdecker damit rechneten, die menschliche Rasse würde dadurch genauso ausgelöscht wie die Marswesen. Jeder absterbende Teil der Menschheit, der infolge des Zusammenbruchs aller Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen von allen anderen vollkommen isoliert war, glaubte, daß seine letzte Stunde auch die aller anderen Menschen wäre. Aber durch einen Zufall — fast könnte man meinen, wie durch ein Wunder — blieb ein Funke des menschlichen Lebens wiederum erhalten, der das heilige Feuer weitergeben konnte. Überall verstreut auf den einzelnen Kontinenten fanden sich bestimmte Familien oder Rassentypen, die sich als weniger empfänglich gegenüber dem Virus erwiesen als die Mehrheit der Bevölkerung. Da das Virus in den heißeren Gegenden weniger virulent war, erholten sich einige wenige dieser durch ihre Konstitution begünstigten Individuen, die sich zufällig gerade im Dschungel der Tropen befanden, von ihrer Infektion. Von diesen wenigen überstand wiederum nur eine kleine Minderheit die Auswirkungen jener Lungenseuche, die, wie üblich, von den sterbenden Marswesen ausgegangen war. Man hätte annehmen können, daß sich aus dieser menschlichen Keimzelle sehr bald wieder eine zivilisierte Gemeinschaft bilden würde. Bei so hervorragenden Wesen wie den Zweiten Menschen hätten sicherlich wenige Generationen oder höchstens einige tausend Jahre ausreichen müssen, um die alte Zivilisationsstufe wieder zu erreichen. Aber nein. Wiederum war gewissermaßen gerade die hervorragend differenzierte Ausstattung des Zweiten Menschen die Ursache dafür, daß eine solche Wiedergeburt verhindert wurde und daß sein Geist in Trance verfiel, die länger währte als die gesamte Entwicklungsgeschichte der Säugetiere bis zu jener Zeit. Etwa dreißig Millionen Mal wiederholten sich die Jahreszeiten, und während dieser ganzen ungeheuer 268
langen Zeitspanne veränderte sich der Mensch in seiner körperlichen Konstitution und in seinen geistig-seelischen Anlagen genauso wenig wie in früheren Zeiten etwa das Schnabeltier. Für Angehörige einer früheren menschlichen Art muß es schwer sein, diese so lange währende Impotenz einer Rasse zu begreifen, die weit höher entwickelt war als sie selber. Denn hier schienen beide Voraussetzungen für einen kulturellen Fortschritt gegeben, nämlich eine unbewohnte Welt mit reichen Schätzen und eine außergewöhnlich tüchtige Spezies. Und doch geschah nichts. Als die Seuchen und die nachfolgenden ungeheuren Verwesungsprozesse aufgehört hatten, führten die wenigen überlebenden Menschengruppen in den Tropen ein immer trägeres Leben. Die Erkenntnisse und das Wissen der Vergangenheit wurde an die Jüngeren nicht weitergegeben, so daß diese in völliger Unwissenheit aufwuchsen und außerhalb ihrer unmittelbaren Erfahrung über keinerlei weitere Kenntnisse mehr verfügten. Gleichzeitig nahm die ältere Generation der jüngeren mit vagen Andeutungen über eine Niederlage der Menschheit und über die Unsinnigkeit alles kosmischen Geschehens allen Mut. Wenn die Jüngeren selber normal gewesen wären, hätte das nichts weiter ausgemacht; sie hätten darauf mit leidenschaftlichem Optimismus reagiert. Aber sie waren jetzt von Natur aus begeisterungsunfähig. Innerhalb dieser Art, bei der die niederen Funktionen in so starker Abhängigkeit von den höheren standen, hatte sich nämlich die seit langem feststellbare geistige Tragödie allmählich auf das Keimplasma ausgewirkt, so daß jeder einzelne von Geburt an eine geistige Müdigkeit mitbrachte und seine Mentalität auf Moll gestimmt war. Der Erste Mensch war vor langer Zeit durch grobe Irrtümer, Wohlleben und Schonung seiner Person in einen Zustand der Senilität der Rasse abgeglitten. Der Zweite Mensch hingegen lebte wie ein Schlafwandler, wie ein Kind, das zu früh durch schwere Erlebnisse belastet wurde. Im Laufe der Generationen ging alles Wissen der voraufgegangenen Zivilisation verloren, nur die in den Tropen mögliche Landwirtschaft 269
wurde betrieben, und es wurde gejagt. Die Intelligenz der Rasse hatte sich nicht vermindert, und sie war auch nicht in bloße Barbarei abgesunken. Die Trägheit der Menschen hinderte sie nicht daran, sich neuen Lebensbedingungen anzupassen. Diese Schlafwandler erfanden sehr bald geeignete Verfahren, durch die man zu Hause in Handarbeit vieles herstellen konnte, zu dessen Fertigung man früher Fabriken und Maschinenkraft benötigt hatte. Fast ohne jede geistige Anstrengung entwarfen und verfertigten sie annehmbare Werkzeuge aus Holz, Feuerstein und Knochen. Obwohl noch intelligent, waren sie ihrer Anlage entsprechend träge und gleichgültig. Sie strengten sich nur dann an, wenn sie ein akutes Bedürfnis primitiverer Art dazu trieb. Kein Mensch schien in der Lage, seine volle Energie einsetzen zu können. Selbst das Leid hatte seine antreibende Wirkung verloren. Was nicht sehr schnell erledigt werden konnte, schien nicht der Mühe einer längeren Anstrengung wert. Auch ein Erlebnis wirkte nicht mehr als Initiative auslösend. Die Seele hatte sich gegenüber jeder Art von Antrieb verschlossen. Die Männer und Frauen arbeiteten und spielten, liebten und litten, aber jeweils im Zustand angespannter geistiger Abwesenheit. Es war, als ob sie sich beständig mühten, sich an etwas zu erinnern, das ihnen entfallen war. Die Angelegenheiten des täglichen Lebens erschienen ihnen als viel zu unbedeutend, als daß man sie hätte ernst nehmen können. Und jene andere so überaus bedeutende Sache, die allein Beachtung verdiente, war so vage und obskur, daß keiner eine Ahnung hatte, worum es dabei überhaupt ging. Sie waren sich dieses posthypnotischen Zwanges genauso wenig bewußt wie ein Schlafwandler der Tatsache, daß er schläft. Ein Minimum an notwendiger Arbeit wurde geleistet, und es ließ sich dabei sogar eine gewisse träumerische Arbeitslust feststellen, aber alles, was mit zusätzlichen Anstrengungen verbunden war, blieb ungetan. Als die Menschen sich den neuen Lebensbedingungen der Erde angepaßt hatten, trat daher völlige Stagnation ein. Mit praktischer Intelligenz konnte man sehr leicht mit der sich langsam verändernden 270
Umwelt fertigwerden und ebenso mit plötzlichen Katastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben und Epidemien. Der Mensch blieb in gewissem Sinne der Herr seiner Welt, aber er hatte keine Ahnung, was er mit seiner Herrschaft anfangen sollte. Als vernünftiges Lebensziel wurde allgemein anerkannt, daß man so viele Tage wie möglich träge im Schatten liegen sollte. Unglückseligerweise hatten die Menschen aber eine ganze Reihe von Bedürfnissen, die sich unangenehm bemerkbar machten, wenn man sie nicht befriedigte, und so mußten sie trotzdem viel schwere Arbeit leisten. Man mußte zum Beispiel etwas gegen Hunger und Durst tun. Da der Mensch mit einer Sympathie anderen gegenüber und einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Wohlergehen seiner Gruppe gestraft war, mußte er sich notgedrungen außer um sich selbst auch um andere kümmern. Man war der Ansicht, daß gemeinsamer Selbstmord in dieser Situation das einzig Vernünftige sein würde, aber irrationale Impulse hinderten die Ausführung eines solchen Vorhabens. Rauschmittel erschlossen zwar für kurze Zeit den Himmel der Glückseligkeit. Der Zweite Mensch war aber noch nicht so weit gesunken, daß er nicht klar zu erkennen vermochte, daß eine solche Glückseligkeit immer mit einem darauffolgenden Katzenjammer bezahlt werden mußte. Ein Jahrhundert nach dem andern, eine Epoche nach der andern glitten vorüber, und das scheinbar so gefährdete, aber in Wirklichkeit unerschütterliche Gleichgewicht des Menschen mit seiner Umwelt blieb unverändert. Was auch immer geschah, nichts konnte seine leicht erreichbare Herrschaft über Tier und Natur gefährden, nichts vermochte ihn aber auch aus seinem Schlafzustand wachzurütteln. Über lange Zeiträume hin wirkende Klimaveränderungen trieben die Wüstengebiete, den Urwald und die Steppe über den Erdball wie der Wind die Wolken über den Himmel. Als die Zeit nach Jahrmillionen zählte, hatten die üblichen geologischen Prozesse, die noch durch die Druck- und Spannungsverlagerungen als Folge der patagonischen Explosionswelle verstärkt worden waren, das Antlitz der Erde völlig umgestaltet. Konti271
nente waren versunken, andere aus dem Meer aufgetaucht, bis schließlich nur noch wenig von der alten Oberflächengestalt des Planeten übriggeblieben war. Ebenso grundlegend veränderten sich Flora und Fauna. Das Virus, das den Menschen fast ganz ausrottete, hatte auch unter anderen Säugetieren gewütet. Wiederum entwickelten sich auf dem Planeten neue Arten, die dieses Mal aus den wenigen überlebenden Tierrassen der Tropen hervorgingen. Wieder bildeten sich alte Typen um und nahmen neue Gestalten und Eigenschaften an, allerdings kam es nicht zu so revolutionären Gestaltveränderungen wie nach der Katastrophe von Patagonien. Da die Menschheit infolge ihrer geistigen Müdigkeit an Zahl klein blieb, zogen andere Gattungen daraus ihre Vorteile. Besonders die Wiederkäuer und die großen Raubtiere vermehrten sich und wiesen eine reiche Mannigfaltigkeit an Arten nach Gestalt und Lebensgewohnheit auf. Aber die bemerkenswerteste biologische Entwicklung machten die subvitalen Einheiten der Marswesen durch, die sich nach der Vernichtung der Marswolken überallhin verbreitet und Mensch und Tier mit einer Lungenseuche befallen hatten. Im Laufe der Zeit paßten sich bestimmte Säugetierarten diesen subvitalen Einheiten so an, daß die Viren für sie nicht mehr schädlich sondern geradezu lebensnotwendig waren. Aus dem ursprünglichen Verhältnis eines Parasiten zu seinem Wirt wurde mit der Zeit eine echte Symbiose, ein Zusammenleben zu beiderseitigem Nutzen, bei der die irdischen Tiere einige der charakteristischen Eigenschaften der untergegangenen Marswesen hinzugewannen. Es kam eine Zeit, in der der Mensch diese Geschöpfe voller Neid beobachtete, bis er dann das ›Virus‹ vom Mars zur Bereicherung seines Wesens selbst gebrauchte. Bis dahin aber waren viele Millionen Jahre hindurch alle anderen Lebewesen auf der Erde ständig in einem Umwandlungsprozeß begriffen. Nur der Mensch nicht. Nachdem der Sturm schon längst nachgelassen hatte, lag er noch immer wie ein schiffbrüchiger Seemann auf seinem Floß. 272
Er stagnierte jedoch nicht vollständig. Unbemerkbar für ihn selbst trieb er auf den Meeresströmungen des Lebens in eine Richtung, die weitab lag von seinem ursprünglichen Kurs. Nach und nach wurden seine Lebensgewohnheiten einfacher, weniger künstlich und tierhafter. Die Landwirtschaft verschwand, weil sie in einem so fruchtbaren Garten, in dem der Mensch jetzt lebte, nicht mehr notwendig war. Die Waffen für Verteidigung und Jagd wurden diesen Zwecken genauer angepaßt, wobei gleichzeitig die Vielzahl einzelner Typen abnahm. Auch die Sprache verstummte fast völlig, denn es gab keine neuen Erlebnisse. Bekannte Tatsachen und vertraute Gefühle wurden immer mehr durch eine meist unbewußte Gestik ausgedrückt. Im Körperbau hatte sich die Rasse wenig verändert. Die natürliche Lebenserwartung war beträchtlich zurückgegangen, allerdings nicht als Folge von Veränderungen im Physiologischen, sondern durch eine seltsame und tödlich wirkende Geistesabwesenheit in den mittleren Jahren. Der einzelne reagierte allmählich auf seine Umwelt überhaupt nicht mehr, so daß er, selbst wenn er einem gewaltsamen Tod entgehen konnte, einfach verhungerte. Trotz dieser großen Veränderungen, blieb die Spezies doch im eigentlichen Sinne menschlich. Sie vertierte nicht, so wie es einmal bei den Subhumanen vorgekommen war. Diese in einem Trancezustand dahindämmernden Reste der zweiten menschlichen Spezies waren keine Tiere sondern arglose, simple Naturkinder, die sich ihrem einfachen Leben perfekt angepaßt hatten. In mancherlei Hinsicht war dieser Zustand idyllisch und beneidenswert. Ihre geistigen und seelischen Fähigkeiten waren so weit reduziert, daß sie nicht einmal klar erfassen konnten, in welchen glücklichen Umständen sie lebten, geschweige denn, daß sie die Erkenntnisse und Erlebnisse ihrer Vorfahren, die jene entflammt und gemartert hatten, je hätten begreifen können.
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kapitel x
Der Dritte Mensch in der Wildnis
Die dritte menschliche Art Wir haben jetzt die Geschichte des Menschen während ungefähr 40 Millionen Jahren verfolgt. Diese Chronik behandelt jedoch eine Zeitspanne von insgesamt zwei Milliarden Jahren. Daher müssen wir in diesem und dem darauffolgenden Kapitel einen schnellen Flug in sehr großer Höhe über einen Zeitraum ausführen, der dreimal so groß ist wie derjenige, den wir bisher überblicken konnten. Vor uns dehnt sich keineswegs eine leere Wüste aus, sondern ein großer Kontinent, der von den verschiedensten Lebensformen und vielen aufeinanderfolgenden und sehr unterschiedlichen Zivilisationen geradezu wimmelt. Die Myriaden von menschlichen Wesen, die ihn bewohnen, übertreffen an Zahl bei weitem die Menschen der ersten und zweiten Spezies zusammengenommen. Und der Inhalt eines jeden dieser einzelnen Leben stellt ein Universum in sich dar, ebenso reich, einmalig und schwergewichtig wie das Leben jedes einzelnen Lesers dieses Buches. Trotz der großen Mannigfaltigkeit an Erscheinungen innerhalb dieses historischen Zeitraums, ist er jedoch nicht mehr als nur ein einziger Satz innerhalb einer Symphonie, so wie die Epoche der Ersten Menschen und diejenige der Zweiten Menschen jeweils nur einen einzigen Satz ausmachen. Die neue Epoche wird nicht nur von einer einzigen natürlich entstandenen und einer künstlich entwickelten menschlichen Art, zu der sich die natürliche Spezies schließlich bewußt umwandelte, beherrscht, sondern sie wird auch während ihrer ganzen Dauer trotz unzähliger Abschweifungen von einem einzigen Grundthema, einer einzigen Grundstimmung des menschlichen Willens erfüllt. Jetzt endlich richtet der Mensch seine ganze Energie darauf, sich selbst körperlich, geistig und seelisch umzuformen. Während des Aufstiegs und des Niedergangs vieler aufeinanderfolgender Zivilisationen wird diese Absicht in zunehmendem Maße immer klarer erkennbar und führt zu vie277
len tragischen und manchmal sogar in ihren Folgen verheerenden Experimenten, bis gegen Ende dieser unvorstellbar langen Zeit das Ziel fast erreicht zu sein scheint. Als der Zweite Mensch in jenem seltsamen Trancezustand ungefähr dreißig Millionen Jahre verharrt hatte, regten sich die dunklen, auf eine Weiterentwicklung tendierenden Kräfte erneut. Dieses Wiedererwachen wurde durch zufällige geologische Veränderungen begünstigt. Ein Einbruch des Meeres isolierte einen Teil der Menschen auf einem kleinen Inselkontinent, der sich aus dem Meeresboden des ehemaligen Nordatlantik emporgehoben hatte. Das ursprünglich subtropische Klima dieser Insel wurde gemäßigt und kühlte sich dann bis zu subarktischen Bedingungen ab. Die gewaltige Veränderung der klimatischen Verhältnisse bewirkte bei der abgetrennten Bevölkerungsgruppe eine geringfügige Strukturveränderung des Keimplasmas, die jedoch eine Fülle von biologischen Variationen nach sich zog. Viele neue Typen entstanden, aber im Laufe der Zeit drängte ein vitalerer und besser angepaßter Typ alle Konkurrenten beiseite. Langsam entwickelte sich aus ihm eine neue Art: der Dritte Mensch. Diese Wesen waren etwa von halber Größe ihrer Vorfahren und verhältnismäßig dünn und geschmeidig. Ihre Haut erschien lichtbraun und war von einem leuchtenden rotgoldenen Haarkleid bedeckt, das sich auf dem Kopf zu einem rotbraunen Schopf verdichteten. Sie hatten rätselhafte goldene Augen von geringer Tiefe, die denen einer Schlange ähnelten. Ihr Gesicht war kompakt wie das einer Katze, und sie hatten volle Lippen, die nach den Seiten hin in feinen Linien ausliefen. Bei den Ohren, die ihren besonderen Stolz ausmachten und als sekundäre Geschlechtsmerkmale besondere Bewunderung hervorriefen, gab es zwischen den einzelnen Rassen und den Individuen die verschiedensten Variationen. An diesen erstaunlichen Organen, die bei den Ersten Menschen lediglich Heiterkeit ausgelöst hätten, konnte man sowohl das Temperament des einzelnen sowie seine jeweilige Gemütslage feststellen. Sie waren ungeheuer groß, elegant nach innen eingerollt, von 278
silbrigem Gewebe und von großer Beweglichkeit. Sie gaben den Köpfen, die mehr denjenigen von Katzen ähnelten ein fledermausartiges Aussehen. Aber das bemerkenswerteste Charakteristikum des Dritten Menschen waren seine großen dünnen Hände mit sechs Fingern, sechs Fühlern aus lebendem Stahl, die sich nach allen Richtungen frei bewegen ließen. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren waren die Dritten Menschen kurzlebig. Sie kannten nur eine kurze Kindheit und eine kurze Zeit der Reife, auf die dann zehn Jahre der Senilität folgten, bis sie mit etwa sechzig Jahren starben. Sie besaßen jedoch eine solche Abscheu vor der Altersschwäche, daß sie nicht alt werden mochten, sondern sich lieber selber umbrachten, wenn geistige Wendigkeit und körperliche Behendigkeit nachzulassen begannen. Daher erreichten — abgesehen von außergewöhnlichen Epochen ihrer Geschichte — nur wenige von ihnen ein Alter von fünfzig Jahren. Obwohl die dritte menschliche Spezies in mancher Hinsicht, besonders hinsichtlich einiger höherer geistiger und seelischer Fähigkeiten, nicht das Niveau ihrer Vorgängerin erreichte, darf man sie keineswegs als degeneriert bezeichnen. Sie besaß eine vortreffliche und sogar noch leistungsfähigere Ausstattung an Sinnesorganen als die Zweiten Menschen. Der Gesichtssinn der Dritten Menschen war ebenfalls umfassend, präzis und farbsensibel. Ihr Gefühlssinn war sogar noch differenzierter, besonders an der Spitze des fein durchgebildeten sechsten Fingers. Das Gehör war so verfeinert, daß ein Mensch mit geschlossenen Augen durch den Wald laufen konnte, ohne daß er an die Bäume stieß. Darüber hinaus hatte sich innerhalb des großen Bereichs der wahrgenommenen Töne und unterscheidbaren Rhythmen eine sehr differenzierte Stufenleiter herausgebildet, die emotionale Bedeutungsunterschiede kennzeichnete. Daher beschäftigten sich die einzelnen Zivilisationen dieser Spezies besonders mit der Musik. Im Geistigen und Seelischen unterschied sich der Dritte Mensch sehr stark von seinen Vorgängern. Seine Intelligenz war zwar kaum we279
niger beweglich, aber sie war mehr auf das Praktische als auf das Theoretische gerichtet. Er war schlau, aber besaß wenig Verstand. Sein Interesse galt einer Welt, die er mit seinen Sinnen erfahren konnte und nicht der Welt der abstrakten Vernunft. Lebendige Wesen interessierten ihn weit mehr als tote Dinge. Gewisse Künste und sogar einige Wissenschaften lagen ihm. Er beschäftigte sich jedoch mit den Wissenschaften mehr aus einem praktischen, ästhetischen oder religiösen Bedürfnis heraus als aus intellektueller Neugier. In der Mathematik zum Beispiel, für deren Entwicklung das Duodezimalsystem (entstanden wegen der Tatsache, daß er zwölf Finger besaß) sehr förderlich war, konnte er großartig rechnen. Niemals verspürte er jedoch ein Verlangen, das Wesen der Zahlen genauer zu untersuchen. Noch war er in der Physik geneigt, sich mit den verborgenen Eigentümlichkeiten des Raums abzugeben. Es fehlte ihm seltsamerweise jegliche Wißbegier. Obwohl er manchmal durchaus zu intuitivem mystischen Erkennen von Zusammenhängen gelangte, entstand hieraus niemals ein ernsthaft geordnetes philosophisches System. Er unternahm auch keinen Versuch, mystische Intuitionen mit seiner übrigen Erfahrung in Verbindung zu bringen. In den primitiven Phasen ihrer Entwicklung waren die Dritten Menschen tüchtige Jäger. Ihr stark ausgeprägter Elterninstinkt trieb sie aber gleichzeitig dazu, gefangene Tiere als Haustiere zu halten und zu pflegen. Solange sie auf Erden existierten, fand man bei ihnen — wie frühere Rassen es genannt haben würden — ein geradezu unheimliches Mitfühlen- und Verstehenwollen gegenüber aller Kreatur, ob Tier oder Pflanze. Dieses intuitive Erfassenwollen der Natur aller Lebewesen und das nie erlahmende Interesse an ihren mannigfaltigen Lebensgewohnheiten wirkte auf die Dritten Menschen als vorwärtstreibendes Stimulans während der gesamten Zeit ihres Auftretens auf der Erde. Anfänglich waren sie nicht nur hervorragende Jäger, sie verstanden es ebenso ausgezeichnet, Tiere zu zähmen und zu züchten. Aus einer Naturveranlagung heraus waren sie mit den Händen sehr geschickt, besonders wenn es dabei um die Behandlung von Tieren und Pflanzen ging. Sie 280
hatten auch ein besonderes Gefallen an Spielen aller Art, vor allem an solchen, bei denen es auf die Beeinflussung und Behandlung von lebenden Organismen ankam. Schon in ihrer frühesten Zeit vollbrachten sie große Reiterkunststücke auf einem elchartigen Hirsch, den sie gezähmt hatten. Sie zähmten auch ein in Rudeln jagendes wildes Tier. Der Stammbaum dieses großen löwenartigen Wolfes ging zurück auf die in den Tropen von der Marsseuche verschont gebliebenen Tiere und führte dann weiter zurück auf die Nachkommen jenes arktischen Fuchses, der sich nach der patagonischen Katastrophe überall in der Welt verbreitet hatte. Dieses Tier dressierte der Mensch nicht nur als Hüteund Jagdtier sondern auch für die Teilnahme an schwierigen Jagdspielen. Zwischen diesem Hund und seinem Gebieter oder seiner Gebieterin bildeten sich oft sehr enge Beziehungen, eine Art psychischer Symbiose, ein dumpfes intuitives gegenseitiges Verstehen, eine echte Liebe auf der Grundlage ökonomischer Arbeitsteilung, die aber auch auf eine für die dritte menschliche Spezies typische Weise sehr stark durchdrungen war von religiösem Symbolismus und sexuellen Intimitäten. Sehr früh schon, in der Hirtenphase seiner Kultur, sammelte der Dritte Mensch Erfahrungen bei der Verbesserung von verschiedenen Pflanzen- und Tierarten durch Züchtung. Immer mehr beschäftigte er sich damit, die Fauna und Flora der Erde zu vervollkommnen und durch neue Arten zu bereichern. Jeder kleine Häuptling irgendwo im Lande war nicht nur stolz darauf, daß die Männer seines Stammes männlicher und die Frauen schöner waren als anderswo, er prahlte ebenso damit, daß die Bären in seinem Gebiet die edelsten und typischsten von allen Bären wären und daß die Vögel vollkommenere Nester bauten und besser fliegen und singen könnten als irgendwelche anderen Vögel undsoweiter, undsoweiter, das gesamte Tier- und Pflanzenreich herauf und herunter. Eine biologische Kontrolle wurde zunächst ganz einfach durch Züchtungsversuche erreicht, später immer mehr durch grobe physiologische Eingriffe bei jungen Tieren, dann beim Fötus und schließlich 281
durch Manipulation des Keimplasmas. Daraus ergaben sich ständig Konflikte, die oft zu Kriegen voller religiöser Leidenschaft und Erbitterung führten. Die Zartbesaiteten einerseits schreckten davor zurück, irgendeinem Wesen Schmerz zuzufügen. Die Manipulierer aus Passion wollten andererseits ohne Rücksicht auf Verluste etwas Neues schaffen. Diese Konfliktspannungen bestanden nicht nur zwischen einzelnen Menschen oder Menschengruppen, sie spielten ebensosehr in Geist und Seele eines jeden einzelnen eine Rolle, denn alle waren ihrer Veranlagung nach Jäger und Manipulierer, alle besaßen aber auch eine intuitive Sympathie gegenüber dem ›Material‹, mit dem sie arbeiteten und das sie quälten. Die Schwierigkeiten wurden noch dadurch vermehrt, daß sich selbst bei den Zartbesaiteten eine Lust an Grausamkeit einstellte. Dieser Sadismus hatte im Grunde genommen seine Wurzel in dem fast mystisch zu nennenden Respekt, den man allen sinnlichen Wahrnehmungen entgegenbrachte. Der physische Schmerz, der als intensivste sinnliche Wahrnehmung galt, wurde daher auch für die vollkommenste gehalten. Man könnte meinen, daß eine solche Vorstellung eher zu Selbstmarterungen als zu Grausamkeiten geführt hätte. Manchmal war es auch so. Im allgemeinen redeten sich jedoch diejenigen, die Schmerzen im eigenen Körper nicht sonderlich schätzten, ein, daß sie dadurch, daß sie niedrigeren Tieren Schmerzen zufügten, eine lebendige psychische Realität und damit eine höhere Vollkommenheit erzeugten. Solche intensive Schmerzen, sagten sie, wären zwar für Menschen und Tiere unerträglich. Wenn man sie aber aus der Sicht eines Gottes betrachtete, könnte man ihre wahre Schönheit erkennen. Selbst Menschen, erklärten sie, könnten diese Vollkommenheit begreifen, wenn das Wesen, dem man Schmerzen zufügte, nicht ein Mensch sondern ein Tier wäre. Obwohl die Dritten Menschen an systematischem Denken nicht interessiert waren, beschäftigten sie sich doch oft mit Dingen, die über wirtschaftliche Probleme des einzelnen und des Gemeinwesens hinausgingen. Das waren nicht nur ästhetische Fragen sondern auch ein 282
mystisches Verlangen nach Vollkommenheit. Obwohl sie jene feineren Schönheiten der menschlichen Persönlichkeit, die ihre Vorgänger als höchste Qualität allen Lebens auf Erden so sehr bewundert hatten, nicht zu schätzen wußten, versuchten die Dritten Menschen auf die ihnen eigene Weise, die Natur von Mensch und Tier zu verbessern. Den Menschen selbst sahen sie unter zwei Gesichtspunkten. Zunächst war er das edelste aller Tiere und mit einzigartigen Fähigkeiten begabt. Er war, wie man oft sagte, das größte Kunstwerk Gottes. Da er über die besondere Gabe verfügte, die Natur aller lebenden Wesen zu erfassen und zu beeinflussen, war er zugleich Gottes Auge und Gottes Hand. Im Bild einer Gottheit, die die Züge der verschiedenen Tiere trug — die Schwingen des Albatros, die Kinnladen des großen Wolfshundes, die langen Beine der Rehe usw. — wurden diese Überzeugungen immer wieder in den verschiedenen Religionen der Dritten Menschen ausgedrückt. Das menschliche Charakteristikum im Bild dieser Gottheit waren die Hände, die Augen und die Geschlechtsorgane. Und in den Händen des Gottes lag die Welt mit all ihren Lebewesen. Oft wurde auch diese Welt als Ergebnis der ersten primitiven Bemühungen dieser Gottheit angesehen oder auch als ein Objekt, das durch Hände grundlegend umgeformt und unter Schmerzen zur Vollkommenheit gebracht wurde. Die meisten Kulturen der Dritten Menschen wurden von dieser dunklen Verehrung des alles durchdringenden Lebens beherrscht, das sich in unzähligen verschiedenen Einzelwesen offenbarte. Gleichzeitig wurde aber das intuitive Gefühl der Verbundenheit mit allem Lebendigen und mit einer recht vage begriffenen Lebensmacht oft durch Sadismus getrübt. Als erstes galt die Erkenntnis, daß niedere Wesen etwas durchaus unerträglich finden könnten, was von höheren Wesen sehr geschätzt würde, daß man aber auch dadurch, daß man niederen Lebewesen Schmerzen zufügte, eine höhere Stufe der Vollkommenheit erreichen könnte. Die Verehrung, die man dem Leben als einer wirkenden Kraft entgegenbrachte, wurde durch eine Verehrung der Umwelt 283
ergänzt, in der man den Widerpart gegen die Subjektwerdung des Lebens erblickte. Die Umwelt stand dem Leben immer fremd gegenüber, vereitelte sein Streben, quälte es und trieb es letzten Endes gerade durch ihren Widerstand zu edleren Formen. Der Schmerz, so sagte man, wäre der lebendigste Ausdruck dieses heiligen und allgegenwärtigen Widerstandes der Umwelt. Zu keiner Zeit war das Denken der Dritten Menschen systematisch. Aber auf die oben beschriebene Weise versuchten sie ihre unbestimmte Ahnung von der Schönheit, die sowohl den Sieg als auch die Niederlage des Lebens umfaßt, zu erklären.
Abweichungen in der Entwicklung des Dritten Menschen So waren also in groben Zügen die körperlichen und die seelisch-geistigen Eigenarten des Dritten Menschen. Trotz unzähliger Abweichungen von dieser Generallinie der Entwicklung kam der Geist des Dritten Menschen immer wieder zurück auf seine biologischen Interessen, die er in Tausenden recht unterschiedlicher Kulturen verfolgte. Ein Volk nach dem anderen stieg aus Phasen der Primitivität und der Barbarei in ein Zeitalter gemäßigter Aufklärung empor. Meistens, wenn auch nicht immer, wurde diese Aufklärung entweder von einem besonderen Schaffensdrang auf biologischem Gebiet, von Sadismus oder von beidem gemeinsam bestimmt. Einem Menschen, der in eine solche Gesellschaft hineinwuchs, wäre an ihr kein besonders hervorstechendes Charakteristikum aufgefallen. Er wäre wahrscheinlich nur von der Mannigfaltigkeit der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten dieser Zeit beeindruckt gewesen. Er hätte den Reichtum an zwischenmenschlichen Beziehungen, an gesellschaftlichen Organisationsformen, an Erfindungen, an Kunstwerken und an Theorien bemerkt, die alle dem allgemeinen Leitbild entsprachen, daß nämlich der Einzelne sich um die Erhaltung oder den Ausdruck seines Selbst bemühte. Der Historiker vermag 284
jedoch oft in diesen mannigfaltigen Wucherungen einer Gesellschaft ein einziges beherrschendes Grundthema zu erkennen. So wirkten sich denn in Abständen von einigen tausend oder hunderttausend Jahren die Launen des Menschen auf die Fauna und Florader Erde aus, bis er sich schließlich der Aufgabe der Neuschaffung des Menschen selbst zuwandte. Dieser Versuch brach immer wieder aus den verschiedensten Gründen in sich zusammen, und die Spezies versank erneut im Chaos. Zuweilen entstand allerdings auch für kurze Zeit eine Kultur ganz besonderer Art. So bildete sich in der frühen Geschichte der Spezies, bevor ihr Wesen zu starr festgelegt war, eine vorindustrielle Zivilisation von echt intellektueller Art, die fast derjenigen des alten Griechenland ähnelte. Manchmal auch, allerdings nicht sehr häufig, berauschte sich die dritte menschliche Art an einer überspannten industriellen Weltzivilisation, wie sie etwa der erste amerikanisierte Mensch besessen hatte. Im allgemeinen waren die Dritten Menschen jedoch an ganz anderen Dingen interessiert, so daß sie Maschinen und Apparate nicht sonderlich begeistern konnten. Bei drei Gelegenheiten allerdings verfielen sie dem Zauber der Maschinen. Die erste dieser drei Zivilisationen nutzte als hauptsächliche Energiequellen die Kräfte des Windes und der herabstürzenden Wasser, die zweite die Gezeiten und die dritte die Hitze des Erdinnern. Die erste Zivilisation blieb durch die Grenzen, die ihrer Energieerzeugung gesetzt waren, von den schlimmsten Auswüchsen der Industrialisierung verschont und hielt sich einige hunderttausend Jahre in unschöpferischem Gleichgewicht, bis sie durch ein unbekanntes Bakterium zerstört wurde. Die zweite war glücklicherweise nur von kurzer Dauer. Aber 50 000 Jahre einer zügellosen Verschwendung der aus den Gezeiten gewonnenen Energie reichten aus, um eine merkliche Veränderung des Mondumlaufs zu bewirken. Diese Weltordnung fiel schließlich in einer Reihe von Kriegen um wertvolle Industriegebiete in sich zusammen. Die dritte jener industriellen Weltzivilisationen konnte 250 000 Jahre lang bestehen und bot das Bild einer ausgezeichnet funktionierenden und vernünftigen 285
Weltordnung. Fast während der gesamten Dauer ihres Bestehens läßt sich in ihr eine nahezu perfekte soziale Harmonie feststellen, die kaum so viele innere Unruhen kannte, wie sie etwa in einem Bienenkorb auftreten. Aber auch diese Zivilisation brach zusammen, diesmal durch den irrigen Versuch, besondere Menschentypen für Spezialarbeiten in der Industrie zu züchten. Die Industrialisierung stellte jedoch im Leben dieser Spezies nur eine temporäre Abweichung von ihrer eigentlichen Entwicklung dar, eine langwierige, unglückliche Belanglosigkeit. Es gab jedoch noch andere Abweichungen. Darunter befanden sich zum Beispiel Kulturen, die manchmal mehrere tausend Jahre hindurch bestanden und vorwiegend musikalisch orientiert waren. Eine solche Kultur wäre beim Ersten Menschen niemals möglich gewesen. Die dritte Spezies besaß jedoch ein besonders fein entwickeltes Gehör und war emotional gegenüber Tönen und Rhythmen sehr sensibel. So wie die Ersten Menschen durch ihre irrationale Maschinen-Besessenheit wieder in der Wildnis versanken und wie sich die Dritten Menschen in ihrem Streben nach Kontrolle von biologischen Vorgängen vernichteten, so wurden sie auch ab und zu von ihrer musikalischen Begabung fasziniert. Unter diesen vorherrschenden musikalischen Kulturen tritt als besonders bemerkenswert eine Kultur hervor, in der Musik und Religion zusammen eine Tyrannei ausübten, die genauso starr und unerbittlich war, wie die Diktatur von Religion und Naturwissenschaften in ferner Vergangenheit. Es lohnt die Mühe, sich mit einer ihrer Eigenheiten etwas näher zu beschäftigen. Die Dritten Menschen sehnten sich alle sehr stark nach Unsterblichkeit. Ihr Leben war kurz, sie liebten es daher sehr. Sie empfanden es als besondere Tragik ihrer Existenz, daß die Melodie des einzelnen Lebens entweder in trauriger Senilität verzitterte oder plötzlich abriß und dann auf immer verloren war. Musik hatte für diese Menschen eine besondere Bedeutung. Sie vermochten Musik so stark zu erleben, daß sie in ihr gewissermaßen eine grundlegende Realität sahen, auf die sich alle 286
Dinge zurückführen ließen. Die Bauern zauberten zum Beispiel in den wenigen Mußestunden, die sie sich von ihrer Plackerei in einem oft tragisch verlaufenden Leben abgerungen hatten, mit ihrem Lied, ihrer Flöte oder ihrer Geige eine Welt herbei, die schöner und auch wirklicher für sie war als die der täglichen Arbeit. Wenn sie sich mit ihrem besonders empfindsamen Gehör auf die unerschöpfliche Vielfalt der Töne und Rhythmen konzentrierten, wähnten sie, die lebendige Anwesenheit der Musik selbst zu verspüren und fühlten sich von ihr in eine schönere Welt versetzt. Kein Wunder, wenn sie glaubten, daß jede Melodie ein Wesen wäre, das sein eigenes Leben im Reiche der Musik führte. Kein Wunder, wenn sie sich vorstellten, daß auch eine Symphonie oder ein Chor ein einziges Wesen wäre, das sich aus vielen anderen gebildet hätte. Kein Wunder, wenn es ihnen so erschien, daß die Mauern zwischen einzelnen Individuen zerfielen, wenn Männer und Frauen gemeinsam ein bedeutendes Musikwerk hörten, und daß sie durch die verbindende Kraft der Musik zu einer einzigen Seele zusammenwüchsen. Ihr Prophet wurde in einem Gebirgsdorf geboren, in dem der Glaube an die Musik sehr stark entwickelt war, jedoch ohne jede klare Formulierung. Sehr früh schon lernte der Prophet, seine bäuerlichen Zuhörer durch Musik zu überreichen Freuden emporzuführen und in köstliche Traurigkeit zu versenken. Schließlich begann er darüber nachzudenken und erläuterte seine Gedanken mit der Autorität eines großen Barden. Er hatte es nicht schwer, die Menschen davon zu überzeugen, daß die Musik die einzige Realität darstellte und alles andere nur Illusion, daß das lebendige Wesen des Universums reine Musik wäre, und daß jeder einzelne, ob Mensch oder Tier zwar einen Körper hätte, der sterben und vergehen müßte, daß er aber auch eine Seele besäße, die Musik, und daher ewig wäre. Eine Melodie, sagte er, ist das fließendste aller Dinge. Sie ist da und geht vorüber. Die große Stille verschluckt sie und löscht sie scheinbar aus. Der Durchgang durch diese Stille ist jedoch für ihre Existenz lebensnotwendig. Denn wenn die Melodie stehen bleiben wollte, würde sie eines gewaltsamen Todes sterben. Alle Musik, bekräf287
tigte der Prophet, habe ein ewiges Leben. Nach einer Zeit der Stille könne sie wieder da sein mit all ihrer Frische und ihrem Leben. Die Zeit hätte keinen Einfluß auf sie, denn die Heimat der Musik wäre in einem Land außerhalb der Zeit. Jenes Land, so predigte der junge Musiker voller Ernst, sei auch die Heimstatt eines jeden Mannes und einer jeden Frau, ja es sei die Heimat eines jeden Lebewesens, das mit Musik begabt wäre. Wer die Unsterblichkeit suche, müsse sich bemühen, seine Seele aus dem Trance-Zustand zu erwecken und sie in Melodie und Harmonie aufgehen lassen. Und vom Grad musikalischer Originalität und Leistung hinge der Platz, den jeder einzelne im ewigen Leben einnehmen würde, ab. Diese Heilslehre breitete sich zusammen mit den leidenschaftlichen Melodien des Propheten wie eine Feuersbrunst aus. Instrumentale und vokale Musik ertönte von jeder Wiese und von jedem Kornfeld. Die Regierung versuchte, die Musik zu unterdrücken, weil dadurch die Produktivität der Landwirtschaft litt, und vor allem deswegen, weil ihre leidenschaftliche Gewalt bereits in den Herzen der Damen des Hofes Eingang gefunden hatte und die in Jahrhunderten entwickelten feinen Lebensformen gefährdete. Ja, sogar die gesellschaftliche Ordnung begann zu zerfallen. Viele erklärten ganz offen, daß das Wichtigste nicht mehr aristokratische Geburt oder Bewandertsein in den altehrwürdigen musikalischen Formen, die die gebildeten Müßiggänger so sehr priesen, wäre, sondern die Fähigkeit, seine emotionalen Gefühle spontan in Rhythmus und Harmonie auszudrücken. Die Verfolgung dieses neuen Glaubens stärkte ihn nur noch und schuf eine große Gruppe von Märtyrern, die, wie allseits bestätigt wurde, noch in den Flammen triumphierend weitersangen. Eines Tages erklärte der heilige Monarch selbst, der bis zu diesem Zeitpunkt ein Gefangener seiner Konventionen gewesen war, zum Teil durchaus aufrichtig, zum Teil aber auch aus taktischen Gründen, daß er zum Glauben des Volkes konvertiert wäre. Die Bürokratie wich einer aufgeklärten Diktatur, der Monarch schmückte sich mit dem Titel 288
»Oberste Melodie‹, und die gesamte gesellschaftliche Ordnung wurde mehr nach dem Geschmack der Bauern umgebildet. Getragen von der Kreuzzugsstimmung seines Volkes und durch die sehr schnelle spontane Ausbreitung des Glaubens über alle Länder begünstigt, eroberte der kluge Fürst die ganze Welt und gründete die ‚Allgemeine Kirche der Harmonie«. Inzwischen hatte sich der Prophet, der über seinen allzu leichten Erfolg entsetzt war, in die Berge zurückgezogen, um unter dem Einfluß ihrer großen Ruhe und der Musik des Windes, des Donners und der Wasserfälle seine Kunst zu vervollkommnen. Plötzlich wurde jedoch diese Stille der Natur durch das Geschmetter von Militärkapellen und den Gesang von Kirchenchören jäh zerrissen, die der Kaiser zu ihm gesandt hatte, um ihn zu grüßen und ihn in die Hauptstadt zu bringen. Man konnte ihn nach einem Handgemenge ergreifen, und so wurde ihm sein Wohnsitz im hohen Tempel der Musik angewiesen. Dort hielt man ihn gefangen, verlieh ihm den Titel ›Großes Geräusch Gottes«, und die Weltregierung nutzte ihn als Orakel, dem sie ihre eigene Ausdeutung gab. In wenigen Jahren hatte ihn die offizielle Musik im Tempel und diejenige der Delegationen, die aus aller Welt herbeiströmten, in den Irrsinn getrieben. In diesem Zustand erwies er sich als noch viel wertvoller für die Regierenden. Auf diese Weise kam es zur Gründung des ›Heiligen Reiches der Musik‹, das tausend Jahre lang die Ordnung und das Ziel für die Spezies festlegte. Die Worte des Propheten, die durch eine Reihe sehr tüchtiger Regenten ausgelegt wurden, gaben die Grundlage für ein Rechtsystem ab, das allmählich alle örtlichen Rechtsnormen aufgrund seiner göttlichen Autorität ablöste. Wahnsinn war die Wurzel dieses Systems, das aber in seinem wesentlichen Teil einen, wenn auch verworrenen, gesunden Menschenverstand erkennen ließ, zwischen dem köstlicher und harmloser Unsinn wucherte. Der Kodex ging stillschweigend und recht vernünftig davon aus, daß das einzelne Individuum ein biologischer Organismus mit bestimmten individuellen Bedürfnissen und Rechten und bestimmten Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit wäre. Die 289
Sprache jedoch, in der dieses Prinzip ausgedrückt und dargestellt wurde, bediente sich der Begriffe der Musik und ging von der Vorstellung aus, daß jeder Mensch eine Melodie wäre, die im größeren musikalischen Thema der Gesellschaft ihren Platz und ihre Vollendung fände. Gegen Ende jenes musikalischen Zeitalters kam es unter den Freunden dieses Systems zu einer Spaltung. Eine neue Sekte erklärte in glühendem Glaubenseifer, daß der wahre Geist der musikalischen Religion durch die Kirche erstickt worden wäre. Der Gründer der Religion hätte gepredigt, daß Heil und Erlösung nur durch das persönliche musikalische Erleben erreicht werden könnten, durch ein intensives Einswerden mit der Göttlichen Musik. Aber allmählich, so sagte man, hätte die Kirche diese zentrale Wahrheit vergessen und durch ein steriles Interesse an äußeren Formen und Prinzipien der Melodie und des Kontrapunktes ersetzt. Nach dieser offiziellen kirchlichen Ansicht könne man das Heil nicht durch persönliches musikalisches Erleben erreichen, sondern nur dadurch, daß man sich an die Regeln einer obskuren musikalischen Technik hielte. Und worum handelte es sich bei dieser Technik? Anstatt die gesellschaftliche Ordnung zum praktischen Ausdruck des göttlichen Gesetzes der Musik werden zu lassen, hätten Kleriker und Staatsmänner die göttlichen Gesetze so interpretiert, daß sie ihrer und der Bequemlichkeit der Gesellschaft dienten. Auf diese Weise wäre der wahre Geist der Musik verlorengegangen. Gegen diese reformatorischen Kräfte kam es auf der anderen Seite zur Bildung einer gegenreformatorischen Bewegung. Man machte die egoistischen Seelenerlösungsmotive der Rebellen lächerlich. Man schärfte den Menschen ein, daß sie sich lieber um die göttlichen und fein entwickelten musikalischen Formen kümmern sollten als um ihre eigenen Gefühle. Bei den Rebellen kam allmählich das biologische Interesse der Rasse, das bis dahin eine untergeordnete Stelle eingenommen hatte, wieder zu seinem alten Recht. Die Auswahl des Partners erfolgte, zumindest unter den frommeren Frauen, immer mehr unter dem Gesichtspunkt, daß 290
sie Kinder von überragender Musikalität gebären wollten. Die Biologie war zwar als Wissenschaft sehr wenig entwickelt, aber das Grundprinzip der Zuchtwahl war bekannt. Innerhalb eines Jahrhunderts hatte sich die Züchtung von Musikalität oder von ›Seele‹ von einer privaten Marotte zur Grundlage der Gesellschaftspolitik entwickelt, von dem die ganze Menschheit besessen war. Dadurch tauchte nach einiger Zeit ein neuer Typ auf, der bei der Anerkennung und der Verehrung, die ihm die gewöhnlichen Menschen entgegenbrachten, prächtig gedieh. Diese neuen Wesen hatten eine so übersteigerte musikalische Sensibilität, daß ihnen der Gesang einer Lerche wegen seiner Banalität wirkliche Qualen bereitete und sie andererseits bei jeder Art durch Menschen erzeugter Musik, die ihnen zusagte, unweigerlich in einen Trancezustand verfielen. Unter dem Antrieb einer Musik, die sie nicht mochten, konnten sie Amok laufen und die Musiker oder Sänger ermorden. Wir brauchen uns nicht länger mit den einzelnen Stadien aufzuhalten, in denen eine verblendete Rasse sich allmählich Schritt für Schritt den Normen dieser Geschöpfe menschlicher Narretei auslieferte, bis sie dann sogar für kurze Zeit die tyrannischen Herrscher einer musikalischen Theokratie wurden. Es genügt zu erwähnen, daß sie die Gesellschaft in ein Chaos führten, und daß schließlich ein Zeitalter der Verwirrung und des gegenseitigen Mordens die Menschen wieder zur Vernunft, aber auch zu einer so bitteren Enttäuschung brachte, daß sie sich nicht dazu zu entschließen vermochten, sich umzustellen und sich einem neuen Ziel zuzuwenden. Die Zivilisation zerbrach und wurde erst nach einigen tausend Jahren wieder aufgebaut, und während dieser Zeit lag die Menschheit in tiefem Schlummer. Auf diese Weise endete die vielleicht pathetischste aller Illusionen der Menschen. Sie war aus einem starken und echten ästhetischen Erleben entstanden und entbehrte selbst nicht gewisser nobler, wenn auch verrückter Wesenszüge. Unzählige andere Kulturen, zwischen denen ebenfalls lange Zeiten der Barbarei lagen, müssen in dieser kurzen Chronik unberücksichtigt 291
bleiben. Die Mehrzahl war im wesentlichen von biologischen Interessenrichtungen bestimmt. In einer herrschte zum Beispiel sehr starkes Interesse am Fliegen und an den Vögeln vor, in einer anderen besondere Vorstellungen von der Veränderbarkeit des Menschen, mehrere waren besonders kreativ im Sexuellen, und in sehr vielen wurden wissenschaftlich meist recht unzureichende Verfahren angewandt, um die Rasse zu veredeln. All jene Kulturen müssen wir hier übergehen und uns jetzt der bedeutendsten aller Unterrassenderdritten menschlichen Spezies zuwenden und verfolgen, wie sich diese Rasse unter Qualen auf einen neuen Menschentyp hin zu entwickeln mühte.
Die Kunst, Lebendiges umzubilden Erst nach ungewöhnlich langer Zeit des Dahindämmerns erlangte das Wesen der dritten menschlichen Spezies seine höchste Ausprägung. Die einzelnen Stadien, in denen sich dieser Prozeß vollzog, brauchen uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Es genügt, daß es durch ihn am Ende zu einer sehr bedeutenden Zivilisation kam, sofern man diesen Begriff überhaupt auf eine Ordnung anwenden darf, in der es keine Anhäufung von Bauten gab, in der Kleidung nur als Schutz gegen Kälte getragen wurde und in der die Entwicklung der Industrie den anderen Tätigkeiten der Menschen untergeordnet wurde. In der frühen Geschichte dieser Kultur entstand aus den für das Leben notwendigen Beschäftigungen der Jagd und der Landwirtschaft sowie aus dem spontanen Bedürfnis, Lebendiges zu beeinflussen und zu manipulieren, ein zwar noch recht primitives, aber gut brauchbares systematisches biologisches Wissen. Aber erst als die Kultur sich über die gesamte Erde ausgebreitet hatte, bewirkte die Biologie das Entstehen der Chemie und der Physik. Gleichzeitig versorgte eine recht gut funktionierende industrielle Gesellschaftsordnung, die sich zunächst auf den Energiequellen Wind und Wasser und später auf der Hitze des Er292
dinnern aufbaute, alle Menschen mit den von ihnen begehrten materiellen Gütern und darüber hinaus mit viel freier Zeit, die sie vorher darauf verwandt hatten, ihre nackte Existenz zu sichern. Hätte es zu jener Zeit nicht ein anderes und schon lange vorherrschendes, mächtigeres Interesse gegeben, so würde die Mechanik der Industrialisierung auch jene Spezies in ihren Bann gezogen haben, dem schon so viele vor ihr erlegen waren. Aber bei ihr existierte ein Interesse am Lebendigen, lange bevor die Industrialisierung begonnen hatte. Das Geltungsbedürfnis der Dritten Menschen konnte weder durch die Ausübung wirtschaftlicher Macht noch durch das Zurschaustellen von Reichtum befriedigt werden. Das bedeutete nicht etwa, daß sie von einem derartigen Geltungsbedürfnis frei gewesen wären. Im Gegenteil, sie hatten fast völlig jene spontane Uneigennützigkeit, die den Zweiten Menschen ausgezeichnet hatte, verloren. Ihr Geltungsbedürfnis dokumentierte sich in den meisten Epochen ihrer Geschichte durch den Nachweis von möglichst viel ›Pecunia‹, das heißt nicht Geld, sondern eben Vieh. Der Besitz von vielen und edlen Tieren, ganz gleich ob damit ein wirtschaftlicher Vorteil verbunden war oder nicht, galt als Maßstab für das Ansehen, das jemand bei den anderen genoß. Dem gemeinen Volk genügte schon die bloße Stückzahl, bestenfalls bosselten sie ein wenig an den konventionellen Charakteristika der althergebrachten Zuchtrassen herum. Die Vornehmeren hingegen setzten ihren ganzen Stolz darein, bei ihren Manipulationen an Lebewesen gewisse Grundsätze über das Erreichen ästhetischer Vollkommenheit zu beachten. Als die Spezies immer mehr Kenntnisse auf biologischem Gebiet erwarb, brachte sie eine völlig neue Kunstrichtung hervor, die wir vielleicht als ›Vitaplastizismus‹ bezeichnen könnten, eine Kunstrichtung, bei der es darauf ankam, lebendige Organismen nach ästhetischen Gesichtspunkten zu bilden und zu formen. Die Vitaplastik wurde zum markantesten Kennzeichen der neuen Kultur. Überall übte man sich mit religiöser Inbrunst in dieser Kunst, die sehr eng dem Glauben an einen Lebensgott entsprach. Obwohl die Regeln jener Kunst und die 293
Gebote der Religion in jeder Epoche andere waren, liegen ihnen jedoch gewisse allgemein anerkannte Prinzipien zugrunde. Oder anders ausgedrückt: obwohl es fast zu allen Zeiten allgemeine Übereinstimmung darin gegeben hatte, daß die Ausführung von Vitaplastiken das höchste Ziel an sich darstellte, dem alle Nützlichkeitserwägungen unterzuordnen wären, übten die Vitaplastizisten ihre Kunst trotzdem nach zwei verschiedenen Grundsätzen aus. Die eine Kunstrichtung mühte sich darum, das Wesen eines jeden einzelnen in der Natur vorkommenden Typs zu harmonisieren und zu vervollkommnen und diesen Typ zu seiner vollen artgemäßen Entfaltung zu entwickeln, oder auch neue Typen hervorzubringen, deren körperliche, seelische und geistige Charakteristika harmonisch aufeinander abgestimmt waren. Die andere Kunstrichtung setzte ihren Stolz darein, Monstrositäten hervorzubringen. Manchmal wurde eine einzige Fähigkeit auf Kosten der Harmonie und der Lebenstüchtigkeit des Organismus als Ganzem besonders stark entwickelt. So gab es zum Beispiel einen Vogel, der schneller zu fliegen vermochte als jeder andere Vogel auf Erden. Er konnte sich aber nicht fortpflanzen und war nicht einmal imstande, sich selbst zu ernähren und mußte daher künstlich ernährt und am Leben erhalten werden. Manchmal wurden auch gewisse Charakteristika, die in der Natur unvereinbar nebeneinander existiert hatten, einem einzigen Organismus mitgegeben, der nur unter großer Gefährdung sein Gleichgewicht mit der Umwelt aufrechterhalten konnte. Eine sehr stark beachtete Glanzleistung war zum Beispiel die Erzeugung eines fleischfressenden Säugetiers, das anstelle seiner Vorderfüße Vogelschwingen besaß, sogar mit echten Federn. Da der Körper dieser Kreatur falsch proportioniert war, konnte sie nicht fliegen. Ein taumeliger Lauf mit ausgestreckten Flügeln war ihre einzige Fortbewegungsart. Zu den weiteren Monstrositäten zählte ein Adler mit zwei Köpfen sowie ein Reh, dessen Schwanz die Künstler mit unglaublicher Geschicklichkeit dahingehend zu beeinflussen vermocht hatten, daß aus ihm ein Kopf mit Gehirn, Sinnesorganen und Gebiß erwuchs. Durch die sehr starke Beschäftigung mit 294
dem Schicksal als einer göttlichen Kraft, die dem einzelnen durch seine Körperhaftigkeit und seine Mentalität den Weg vorzeichnet, wurde bei den Anhängern dieser Kunstrichtung das Interesse an lebenden Wesen noch von Sadismus beeinflußt. So war das objektive Interesse am Schicksal verschiedener monströser Lebewesen in seinen vulgären Abarten eigentlich nichts anderes als Ausdruck einer primitiven Machtgier. Das Motiv, derartige disharmonische Monster hervorzubringen, trat zwar neben dem anderen Motiv, harmonische und vollkommene Lebewesen zu entwickeln, sehr stark zurück, es besaß aber zu allen Zeiten wenigstens einen unbewußt bestimmenden Einfluß. Das Hauptziel der vorherrschenden, die Vollkommenheit anstrebenden Bewegung war die Verschönerung der Erde durch eine differenzierte, hochentwickelte Fauna und Flora, der gegenüber die menschliche Rasse als Krone der Schöpfung, zugleich aber auch als Instrument, dieses Leben auf der Erde hervorzubringen, galt. Jede Gattung und jede Art sollte im großen Kreislauf des Lebens ihren Platz einnehmen. Jede sollte in ihrem Innern dieser Funktion entsprechend vervollkommnet werden. Sie durfte keine schädlichen, rudimentären Organe für überholte Lebensfunktionen mehr haben, ihre Anlagen und Fähigkeiten mußten sich im Zustand vollkommener Harmonie befinden. Es ging aber nicht allein um die Vervollkommnung der einzelnen Typen, sondern um die Vervollkommnung des gesamten lebendigen Strukturganzen auf dieser Erde. Obwohl es also Typen jeder Art vom einfachsten Bakterium bis zum Menschen gab, widersprach es doch den orthodoxen Regeln der heiligen Kunst, daß irgendein Typ durch die Vernichtung eines höheren Typs profitieren konnte. Die sadistische Kunstrichtung sah jedoch in jenen Situationen, in denen ein niederer Typ einen höheren ausrottete, eine vortreffliche tragische Schönheit besonderer Art. Im Laufe der Geschichte der Rasse ergaben sich hieraus viele blutige Auseinandersetzungen, weil die Sadisten nicht davon abließen, Parasiten zu züchten, um mit ihnen die edlen Zuchtergebnisse der Orthodoxen zu zerstören. 295
Unter den Jüngeren der vitaplastischen Kunst, die eigentlich in gewissem Umfang von allen Menschen ohne Ausnahme ausgeübt wurde, gab es auch einige wenige, die bewußt alle orthodoxen Grundsätze verachteten und trotzdem wegen ihrer grotesken Schöpfungen ebenso berühmt wie berüchtigt waren. Es gab aber auch andere, die weniger Glück mit ihrer Erklärung hatten, daß ihre Schöpfungen symbolhaft die allgemeine Tragödie des Lebens kennzeichneten, und die das Schicksal von Verfemten und sogar von Märtyrern auf sich nehmen mußten, was sie auch bereitwillig taten. Die große Mehrheit bekannte sich zu den heiligen Regeln des Vitaplastizismus. Sie entschied sich daher für eine der anerkannten künstlerischen Gestaltungsweisen. So versuchte sie zum Beispiel ein auf der Erde vorhandenes Lebewesen durch Vervollkommnung seiner Anlagen und Fähigkeiten, durch Ausmerzung der schädlichen und überflüssigen Organe und Eigenschaften zu verbessern. Andere wiederum wandten sich einer gefährlicheren Aufgabe zu, die eine größere schöpferische Kraft verlangte, nämlich der Schaffung von neuen Typen, die noch vorhandene Lücken im System der Flora und Fauna der Erde ausfüllen sollten. Sie wählten zu diesem Zweck einen geeigneten Organismus aus, mühten sich, aus ihm ein vollkommen harmonisches Lebewesen zu entwickeln, das nach den von ihnen aufgestellten Gesichtspunkten seinen neuen Lebensbedingungen mustergültig angepaßt war. Bei dieser Arbeit galt es, verschiedene streng ästhetische Prinzipien genau zu beachten. Es wurde zum Beispiel als Kunstfehler angesehen, einen höheren Typ in einen niedrigeren umzumodeln oder die Anlagen und Fähigkeiten eines Typs auf irgendeine Weise zu vernachlässigen. Da man als letztes Ziel dieser Kunst nicht die Schaffung einzelner Typen ansah, sondern die Hervorbringung eines die ganze Erde umfassenden vollkommenen Systems der Fauna und Flora, galt es ebenfalls als Kunstfehler, bei seinem Vorhaben — wenn auch nur durch bloßen Zufall — irgendeine höhere Lebensform als diejenige, die man zu entwickeln beabsichtigte, zu schädigen, denn der Vitaplastizismus wurde als eine Kunst angesehen, bei der 296
es auf die Zusammenarbeit aller ankam. Nach Gott war die Menschheit als Ganzes der höchste Künstler, und die höchste künstlerische Aufgabe für den Menschen war es, die Erde mit einem immer feineren Gewirk von Lebensformen zum höheren Ruhme und zum Entzücken jenes höchsten Künstlers, dem der Mensch gleichzeitig als Kreatur und Instrument diente, zu schmücken. Natürlich kam man auf diesem Wege zunächst wenig voran, bis die angewandte Biologie den Stand der biologischen Wissenschaften zur Zeit des Zweiten Menschen weit hinter sich gelassen hatte. Zur Inangriffnahme derartiger Aufgaben benötigte man mehr als die Faustregeln der Viehzüchter der Frühzeit. Erst nach vielen Tausenden von Jahren der Forschung entdeckte die klügste aller Rassen der dritten menschlichen Spezies die subtileren Prinzipien, die der Vererbung zugrunde lagen, und ersann Verfahren, durch die Erbfaktoren bereits in der Keimzelle beeinflußt werden konnten. Erst durch eine solche Ausweitung der biologischen Wissenschaft erschlossen sich für den Dritten Menschen die höheren Probleme der Chemie und der Physik. Dadurch, daß sich diese beiden Wissenschaften historisch gesehen aus der Biologie entwickelt hatten, erklärt sich auch die Tatsache, daß man sie biologisch zu begreifen suchte und zum Beispiel das Elektron als den Grundorganismus und den Kosmos als ein organisches Ganzes ansah. Man stelle sich also eine Erde vor, die ein fast lückenloses System von botanischen und zoologischen Gärten oder von Naturschutzgebieten darbot, zwischen denen sich landwirtschaftlich und industriell genutzte Flächen befanden. In jedem großen Ort gab es jährliche und monatliche Vorstellungen. Die letzten Kreationen wurden in allen Gangarten vorgeführt, von den Hohepriestern des Vitaplastizismus begutachtet, ausgezeichnet und dann in einer religiösen Zeremonie geweiht. Ein Teil der Ausstellungsobjekte wurde dabei nach seinem Nutzen, ein anderer unter rein ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt. Es gab zum Beispiel verbesserte Getreide- und Gemüsesorten oder Zuchtviehrassen, vielleicht auch einen besonders intelligenten oder kräftigen Schäferhund297
typ oder einen neuen Mikro-Organismus mit irgendeiner besonderen Funktion für die Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge oder der Verdauung des Menschen. Daneben wurden aber auch die letzten Schöpfungen des reinen Vitaplastizismus ausgestellt. Große schlankgliedrige, geweihlose, für Wettrennen abgerichtete Hirsche, Vögel oder Säugetiere, die eine bis dahin unausgefüllte Funktion übernehmen konnten, Bären, die alle bekannten Bärenarten im Daseinskampf auszustechen vermochten, Ameisen mit besonderen Organen und Instinkten oder auch das in eine echte Symbiose umgestaltete Verhältnis eines Parasiten zu seinem Wirt, bei der auch der Wirt aus dieser Gemeinschaft seinen Vorteil ziehen konnte, usw. usw. Dazwischen standen überall kleine unbekleidete, faunartige Wesen von rötlicher Körperfarbe herum, die diese Wunder hervorgebracht hatten. Es waren scheue, fast ängstliche Leute aus den Wäldern, etwa von der Körpergröße der Gurkhas, die sich hier neben ihren Antilopen, Geiern oder neuen großen katzenähnlichen Jagdtieren recht klein ausnahmen. Eine ernst blickende junge Frau erregte vielleicht besonderes Aufsehen, wenn sie mit mehreren gigantischen Bären im Gefolge den Platz betrat. Wenn sich die Menge an die Tiere herandrängte, um ihre Zähne oder Glieder zu untersuchen und zu befühlen, wird sie die allzu Neugierigen vermutlich von ihrer geduldig wartenden Herde weggejagt haben. Normalerweise bestand damals zwischen Mensch und Tier eine vollkommene Freundschaft, die sich manchmal sogar, besonders bei Haustieren, in eine heftige, fast schmerzvolle gegenseitige Verehrung steigerte. Selbst die wilden Tiere wichen niemals dem Menschen aus, geschweige denn, daß sie ihn angriffen, abgesehen von der Jagd oder bei heiligen Gladiatorenkämpfen. Diese Gladiatorenkämpfe brauchen noch eine Erklärung. Man bewunderte den Kampfesmut und die Kampfeskraft der Tiere genausosehr wie ihre anderen Fähigkeiten. Angesichts eines Kampfes um Leben und Tod empfanden Männer und auch Frauen wilde Freude, die sich fast zur Ekstase steigerte. Daher gab es offizielle Feste, bei denen 298
man verschiedene Arten von wilden Tieren gegeneinander hetzte und ihnen erlaubte, bis zum Tode des Gegners zu kämpfen. Darüber hinaus gab es sogar einige Wettkämpfe zwischen Mensch und Tier, zwischen zwei Männern, zwischen zwei Frauen — für die Leser dieses Buches vielleicht besonders überraschend — sogar zwischen Mann und Frau. Die junge Frau war nämlich in dieser Spezies genauso kräftig wie ihr Partner.
Politische Konflikte Schon von Anfang an hatte man — wenn auch zögernd — den Vitaplastizismus in gewissem Umfang auch auf den Menschen angewandt. So war es zu großen Verbesserungen der Konstitution des Menschen gekommen, aber nur zu Verbesserungen, deren Wert für alle außer Frage stand. Geduldig beseitigte man viele Krankheiten und Anomalitäten, die als Erbe vergangener Zivilisationen übriggeblieben waren, ebenso wie verschiedene grundlegende Mängel. So wurden zum Beispiel die Zähne, der Verdauungsapparat, das Drüsensystem und der Blutkreislauf erheblich verbessert. Überall in der Welt waren die Menschen außerordentlich gesund und von großer körperlicher Schönheit. Für die Mutter war die Geburt von Kindern schmerzlos und von gesundheitsförderndem Wert. Man vermochte die Senilität zurückzudrängen. Das Niveau der allgemeinen praktischen Intelligenz wurde merklich erhöht. Alle diese Reformen wurden durch eine gewaltige gemeinsame, von der Weltregierung unterstützte Anstrengung auf den Gebieten der Forschung und des Experiments ermöglicht. Aber auch die private Initiative wirkte sich aus. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wurden nämlich viel bewußter als beim Ersten Menschen vom Gedanken an Nachkommenschaft beherrscht. Jeder einzelne, ob Frau oder Mann, kannte genau seine Erbanlagen und wußte auch, welche Art von Nachkommenschaft durch die Kreuzung mit den Erbanlagen anderer Typen 299
zu erwarten war. So gab sich der junge Mann, wenn er um seine Angebetete warb, nie damit zufrieden, daß er sie lediglich davon überzeugte, er sei von der Natur dazu ausersehen, ihr Wesen glückhaft zu ergänzen, sondern er vergaß darüber nicht darauf hinzuweisen, daß sie mit seiner Hilfe Kinder von ganz besonderer Vollkommenheit gebären würde. So wirkte sich in dieser Rasse ständig das Prinzip der Zuchtwahl aus, auf einen allgemein anerkannten Idealtyp hin. In gewissen Zügen blieb das Bild dieses Idealtyps viele tausend Jahre hindurch unverändert. Dieses Ideal umschloß vollkommene Gesundheit, katzenähnliche Wendigkeit, außerordentliche Handgeschicklichkeit, Musikalität, ein feines Unterscheidungsvermögen zwischen dem Zulässigen und dem Unzulässigen auf dem Gebiet der Vitaplastik und einen intuitiven Menschenverstand in allen Lebenslagen. Auch eine längere Lebensdauer und die Beseitigung der Senilität suchte man zu erreichen, was auch zum Teil gelang. Der sexuelle Attraktionswert des einzelnen war ziemlich oft der Mode unterworfen, manchmal wurden die Erbfaktoren Kampfestüchtigkeit bevorzugt, ein andermal ein besonderer Gesichtsausdruck oder auch ein besonderes stimmliches Timbre. Aber diese vorübergehenden Modelaunen waren im Grunde unwesentlich, denn tatsächlich wurden durch die individuelle Zuchtwahl nur die auf die Dauer angestrebten Charakteristika verstärkt. Schließlich kam aber die Zeit, in der man sich an ehrgeizigere Ziele heranwagte. Eine hoch durchorganisierte theokratische Hierarchie, die vom ›Hohen Rat der Priester und Biologen des Vitaplastizismus‹ im großen und ganzen wohlwollend aber streng beherrscht wurde, erfaßte die gesamte Welt. Wir müssen einen Organismus entwickeln, so sagten sie, der nicht bloß eine Anhäufung aller möglicher Überbleibsel aus der Zeit seiner primitiven Vorfahren darstellt und in einem immer gefährdeten Gleichgewicht durch einen Schimmer von Intelligenz gehalten wird. Wir müssen einen Menschen hervorbringen, der durch und durch Mensch ist. Wenn wir das getan haben, dann können wir auch, wenn wir wollen, jenen Menschen fragen, wie es um die Unsterblichkeit steht. 300
Wir können diesem Menschen ganz beruhigt die Regelung aller unserer Angelegenheiten anvertrauen. Die regierende Schicht wandte sich mit all ihrer Energie gegen eine solche Politik. Sie erklärte, daß im Erfolgsfall daraus ein höchst unharmonisches Wesen entstehen würde, das gegen sämtliche ästhetische Regeln des Vitaplastizismus verstieße. Der Mensch, sagten sie, wäre im wesentlichen ein Tier, allerdings ein solches mit einzigartigen Anlagen. Die ganze menschliche Natur müßte entwickelt werden, nicht bloß eine besondere Fähigkeit auf Kosten der anderen. Vermutlich waren die Regierenden bei ihren Argumenten auch von der Furcht bestimmt, an Autorität einbüßen zu können. Aber ihre Argumente waren schlüssig, und die Mehrheit stimmte ihnen zu. Trotzdem gab es in ihren Reihen eine kleine Gruppe, die entschlossen war, ein solches Vorhaben insgeheim weiterzubetreiben. Was die Züchtung von Verbindungsmedien zwischen den Welten anbelangte, sogenannte Kommunikanten, bestand keine Notwendigkeit, dieses Projekt im geheimen voranzutreiben. Der Weltstaat förderte diese Politik und schuf sogar Einrichtungen, die sich mit dieser Aufgabe befassen sollten.
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kapitel xi
Der Mensch erschafft einen neuen Menschentyp
Das erste der Großen Gehirne Jene, die ein Supergehirn entwickeln wollten, führten ihre umfangreichen Forschungen und Experimente in einer abgelegenen Gegend der Erde durch. Es erübrigt sich im Augenblick, nähere Einzelheiten über ihre Erfolge und Mißerfolge mitzuteilen. Sie arbeiteten zunächst im geheimen und bemühten sich dann später, die Welt zur Annahme ihres Projektes zu bewegen, erreichten aber dadurch nur eine Spaltung der Menschheit in zwei Gruppen. Der Weltstaat zerfiel, und es kam zu religiösen Kriegen. Nach einigen Jahrhunderten eines nur gelegentlich unterbrochenen Blutvergießens siedelten die beiden Sekten, nämlich jene, die versuchte, Kommunikanten zu entwickeln, und jene andere, die ein Supergehirn hervorzubringen beabsichtigte, in jeweils verschiedenen Gebieten, damit sie ihre Ziele ungestört weiter verfolgen konnten. Aus jeder dieser beiden Sekten entwickelte sich mit der Zeit eine Art Nation, die durch ihren religiösen Glauben und durch ihren Kreuzzugseifer zusammengehalten wurde. Zwischen diesen beiden Nationen bestanden kaum nennenswerte kulturelle Beziehungen. Jene, die ein Supergehirn entwickeln wollten, wandten dabei vier Methoden an, nämlich (1) die künstliche Zuchtwahl, (2) die Beeinflussung der Erbfaktoren in den Keimzellen, für die in den Laboratorien besondere Kulturen bestanden, (3) Manipulationen im befruchteten Ei (ebenfalls in Laboratorien kultiviert) und (4) Manipulationen am wachsenden Organismus. Zuerst waren nur unzählige tragische Mißgeburten die Ergebnisse ihrer Bemühungen. Aber mehrere tausend Jahre nach den ersten Experimenten hatten sie schließlich etwas entwickelt, das Erfolg zu versprechen schien. Ein sorgfältig ausgewähltes menschliches Ei war im Laboratorium befruchtet worden und in seiner Struktur sehr wesentlich durch künstliche Mittel umgeformt worden. Indem sie das Wachstum des embryonalen Körpers und der niedrigeren Gehirnzel305
len behinderten aber gleichzeitig das Wachstum der Großhirnrinde anregten, konnten die unerschrockenen Experimentatoren endlich einen Organismus entwickeln, der aus einem Gehirn von vier Metern Durchmesser bestand, dessen übriger Körper jedoch rudimentär zurückentwickelt worden war und dem Gehirn nur als eine Art Unterlage diente. Arme und Hände waren die einzigen Körperteile, denen man ihre natürliche Größe gelassen hatte. Diese sehnigen Manipulationswerkzeuge ragten dort, wo sie sonst bei Menschen aus den Schultern hervortreten, aus einem festen Mauerwerk hervor, das diese Kreatur wie ein Gehäuse umschloß. Auf diese Weise hatten sie den nötigen Halt zu ihrer Arbeit. Die Hände waren im Grunde genommen die normalen sechsfingrigen Hände der Dritten Menschen, allerdings erheblich größer und verbessert. Dieser phantastische Organismus war in einem Gebäude erzeugt worden, das sowohl ihm selbst als auch der komplizierten Maschinerie, die für seine Erhaltung notwendig war, genügend Raum bot. In einer solchen Umgebung wuchs er heran. Eine elektrisch betriebene, selbstregulierende Pumpe diente ihm als Herz. Eine chemische Fabrik übernahm die Funktionen der Verdauungsorgane und der Drüsen, reinigte das Blut und führte ihm die notwendigen Stoffe zu. Ein großer Behälter mit Röhren, durch die ein beständiger Luftstrom mit einem elektrischen Ventilator getrieben wurde, waren seine Lungen. Der gleiche Ventilator trieb, wenn erforderlich, Luft durch die künstlichen Sprechorgane. Diese Organe waren so konstruiert, daß die natürlichen Nervenfasern, die vom Sprachzentrum des Gehirns ausgingen, die entsprechenden elektrischen Impulse auslösen konnten, die in der Lage waren, Töne hervorzubringen, welche nach Rhythmus, Phonetik und Intonation der Sprache des Menschen glichen. Die sinnliche Wahrnehmung dieses rumpflosen Gehirns wurde durch eine Verbindung von natürlichen mit künstlichen Organen ermöglicht. Die Sehnerven wuchsen an zwei anderthalb Meter langen beweglichen Rüsseln entlang, deren jeder an seinem Ende ein gewaltiges Auge besaß. Durch eine sehr sinnreiche Änderung der Augenstruktur konnte die natürliche Linse nach Belie306
ben soweit seitwärts gestellt werden, daß sich die Netzhaut jeder Art optischer Instrumente bedienen konnte. Auch die Ohren konnten auf ›Stielen‹ »ausgefahren« werden und waren so entwickelt, daß die Nervenenden im direkten Kontakt mit künstlichen Verstärkern jeder Art in Verbindung gebracht werden konnten oder daß sie die mikroskopischen Lebensrhythmen der winzigsten Organismen direkt wahrzunehmen in der Lage waren. Der chemische Geruchs- und Geschmackssinn war so verfeinert, daß man mit ihm fast alle Elemente und ihre Zusammensetzungen unterscheiden konnte. Materialwiderstand, Wärme und Kälte konnten nur von den Fingern, allerdings mit großer Subtilität registriert werden. Man wollte den Organismus frei von jeder Schmerzempfindlichkeit konstruieren, was aber mißlang. Eine derartige Kreatur wurde also erfolgreich zum Leben erweckt und lebte auch tatsächlich vier Jahre lang. Obwohl zunächst alles gut ging, begann jedoch das unglückliche Kind, wenn man so sagen darf, in seinem zweiten Jahr unter heftigen Schmerzen zu leiden und zeigte Anzeichen von Geistesverwirrung. Trotz aller Mühe, die sich seine ihm treu ergebenen Pflegeeltern mit ihm gaben, fiel es immer mehr in geistige Umnachtung und starb schließlich. Es war ein Opfer seines Gehirngewichts geworden sowie gewisser Unzulänglichkeiten in der chemischen Regulierung der Blutzufuhr. Wir können die nächsten vierhundert Jahre ruhig übergehen. In ihnen wurden verschiedene vergebliche Versuche unternommen, um jenes große Experiment mit besserem Erfolg durchzuführen. Wir wenden uns statt dessen gleich dem ersten echten Angehörigen der vierten menschlichen Spezies zu. Er wurde auf die gleiche künstliche Weise wie sein unglücklicher Vorfahre erzeugt und wies auch im allgemeinen die gleichen Merkmale auf. Seine mechanische und chemische Ausrüstung jedoch war viel leistungsfähiger, so daß seine Schöpfer ihm Unsterblichkeit prophezeiten, weil es ihnen gelungen war, Ab- und Aufbau der Gewebe im Gleichgewicht zu halten. Auch sein allgemeiner 307
Konstruktionsplan war in sehr wesentlicher Hinsicht geändert worden. Die Konstrukteure hatten einen großen kreisförmigen ›Gehirnturm‹ gebaut, der in viele von der Mitte ausgehende Abteilungen aufgegliedert, überall mit einer Art von ›Taubenlöchern‹ versehen war. Durch eine Technik, zu deren Entwicklung sie Jahrhunderte brauchten, veranlaßten sie die Zellen im Embryonalstadium des Gehirns, nicht den üblichen Wachstumsgesetzen eines Großhirns mit seinen Windungen zu folgen, sondern in die für diesen Zweck vorbereiteten Taubenlöcher hineinzuwachsen. Dieser künstliche Schädel war also ein sehr geräumiger Turm aus Eisenbeton mit einem Durchmesser von etwa 14 Metern. Durch eine Tür und einen Gang konnte man von außen in die Mitte des Turms gelangen, von wo aus weitere Gänge, strahlenförmig an Reihen kleiner Schränke vorbei nach allen Richtungen führten. Unzählige Röhren aus Glas, Metall und einem gummiartigen Kunststoff versorgten das ganze System mit Blut und chemischen Stoffen. Elektrische Heizkörper sorgten in jedem einzelnen Schränkchen und überall in den unzähligen, sorgfältig geschützten Kanälen für die Nervenfasern für gleichmäßige Wärme. Thermometer, Druckmesser und Meßinstrumente aller Art informierten die Wärter dieses seltsamen halb natürlichen und halb künstlichen Systems, dieser absurden Gehirnfabrik, über jede Veränderung. Acht Jahre nachdem er zum Leben erweckt war, hatte dieser Organismus den für sein Gehirn vorgesehenen Raum ausgefüllt und seine Mentalität entsprach etwa der eines neugeborenen Säuglings. Mit einer für seine Pflegeeltern entmutigenden Langsamkeit kam er allmählich ins Stadium der Reife. Erst mit etwa 50 Jahren hatte er das geistige Niveau eines intelligenten Jugendlichen erreicht. Eine Enttäuschung über diesen langsamen Reifeprozeß war aber durchaus nicht angebracht. Schon nach weiteren 10 Jahren hatte dieses erste Exemplar des Vierten Menschen alles Wissen, was ihm die Dritten Menschen vermitteln konnten, in sich aufgenommen und auch erkannt, daß ein großer Teil ihrer Weisheit dummes Zeug war. In manueller Geschicklichkeit 308
konnte er bereits mit den Besten unter ihnen konkurrieren, und obwohl ihm jegliche Art von Manipulation ein besonderes Vergnügen bereitete, gebrauchte er seine Hände fast ausschließlich dazu, seiner Neugier zu frönen. Diese Neugier erwies sich immer mehr als ein Hauptzug seines Wesens. Er war ein gewaltiges Bündel Neugier mit sehr geschickten Händen. Man hatte ein Ministerium gegründet, das sich um seine Ernährung und Bildung zu kümmern hatte. Eine Armee von Gelehrten wurde in ständiger Bereitschaft gehalten, um seine ungeduldigen Fragen zu beantworten und ihm bei seinen wissenschaftlichen Experimenten zu assistieren. Als er seine geistige Reife erreicht hatte, mußten diese unglücklichen Gelehrten feststellen, daß sie ihm an Wissen hoffnungslos unterlegen und nur noch bloße Schreiberlinge, Putzfrauen und Laufburschen waren. Ständig wurden Hunderte seiner Diener in alle möglichen Gegenden der Erde gejagt, um Informationen und Muster für ihn herbeizuschleppen, und ihre Intelligenz reichte oft nicht aus, um die Bedeutung derartiger Aufträge auch nur entfernt zu erkennen. Allerdings hüteten sie sich davor, ihre Unwissenheit öffentlich einzugestehen. Im Gegenteil, sie vermochten gerade durch solche mysteriösen Botengänge für sich einen Prestigezuwachs zu erreichen. Normale instinktive Reaktionen fehlten dem Großen Gehirn völlig. Nur Neugier und gewisse schöpferische Fähigkeiten waren ihm eigen. Es kannte auch keine instinktive Furcht, obwohl es allen Umständen, die es bedrohten und seine leidenschaftlichen Forschungen störten, mit kalter Vorsicht begegnete. Auch Zorn kannte es nicht, dafür aber eine unerschütterliche Festigkeit bei der Überwindung von Widerständen. Auch Hunger- oder Durstgefühle waren ihm fremd, es kannte nur eine gewisse Schwäche, wenn sein Blut nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt wurde. Die Sexualität war seinem Wesen völlig fremd. Eine instinktive Zärtlichkeit oder das instinktive Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe waren ihm unmöglich, denn es mangelte ihm an Mitgefühl und Mitleid. Die oft heroische Ergebenheit seiner engsten Diener erweckte bei ihm keine Dankbarkeit, sondern nur kühle Anerkennung. 309
Zuerst interessierte es sich überhaupt nicht für die Angelegenheiten der Gesellschaft, die es erhielt, ihm jeden launischen Wunsch erfüllte und es verehrte. Aber mit der Zeit bereitete es ihm Vergnügen, brillante Lösungen für alle aktuellen Probleme gesellschaftlicher Organisation vorzuschlagen. Immer häufiger wurde es um Rat gefragt, den man dann auch befolgte. Der erste der Vierten Menschen wurde der Autokrat des Staates. Seine Intelligenz, seine völlige Objektivität sowie die abergläubische Hochachtung des Volkes machten seine Stellung viel unerschütterlicher als die eines gewöhnlichen Tyrannen. Die albernen Sorgen seines Volkes kümmerten ihn nicht, aber er war entschlossen, dafür zu sorgen, daß ihn eine ausgeglichene, gesunde und kräftige Rasse bediente. Das Studium der menschlichen Natur war außerdem für ihn nicht ohne Reiz, wenn er sich von den aufregenden ernsthafteren Untersuchungen auf den Gebieten der Physik und der Astronomie einmal erholen wollte. Es scheint auf den ersten Blick erstaunlich, daß ein Wesen, dem jegliches menschliches Mitgefühl so völlig fremd war, trotzdem soviel Takt besitzen konnte, um die sehr emotionale Spezies des Dritten Menschen zu regieren. Das Große Gehirn entwickelte aber gewissermaßen für den Hausgebrauch eine sehr genaue behavioristische Psychologie und wußte, obwohl ihm die Gefühle der Menschen völlig fremd waren, unfehlbar wie ein geschickter Dresseur, was es von seinem Volk erwarten konnte. Obwohl es zum Beispiel ihre Verehrung von Tieren und Pflanzen und ihre Lebensreligion im tiefsten Grunde verachtete, gab es sich sehr bald den Anschein, sich gegenüber derartigen Marotten tolerant zu verhalten, um sie für seine Zwecke auszunutzen. Ihm selbst lag an Tieren nur, wenn es sie für seine Experimente benutzen konnte. Hierbei half ihm sein Volk bereitwilligst, zum Teil, weil es ihm versicherte, daß sein Ziel die weitere Verbesserung aller Typen wäre, zum Teil, weil sie von seiner völligen Nichtbeachtung üblicher Verfahren zur Verhütung von Schmerzen fasziniert waren. Eine Orgie von Leiden, die anderen zugefügt wurden, erweckte in seinem Volk eine lange unterdrückte Lust an Grausamkeit, die sich trotz intuitiver Ein310
sicht in das Wesen von Tieren beim Dritten Menschen als ein sehr starker, bestimmender Faktor erwiesen hatte. Nach und nach durchforschte das Große Gehirn das materielle Universum und das Universum der Seele und des Geistes. Es meisterte die Grundsätze der biologischen Evolution und entwarf zu seinem eigenen Vergnügen eine detaillierte Geschichte des Lebens auf der Erde. Durch an Wunder grenzende archäologische Forschungsmethoden entdeckte es die Geschichte aller vergangenen menschlichen Rassen sowie diejenige der Begegnung mit den Marswesen, Zusammenhänge, die dem Dritten Menschen unbekannt geblieben waren. Es entdeckte die Prinzipien der Relativität und die Quantentheorie wie die Natur des Atoms als eines verwickelten Systems von Schwingungen. Es durchmaß den Kosmos und zählte mit seinen empfindlichen Instrumenten die Planetensysteme in vielen, unendlich fernen Universen. Es löste auch, wenigstens zu seiner vollsten Zufriedenheit, so ganz nebenher die uralten Probleme von Gut und Böse, von Seele und Materie, vom Verhältnis des Einen zu der Vielheit und das Problem der Wahrheit und des Irrtums. Es schuf viele neue Ministerien zu dem Zweck, seine Entdeckungen in einer künstlichen Sprache, die es eigens für diesen Zweck entwickelt hatte, aufzuzeichnen. Jedes Ministerium bestand aus vielen Hochschulen mit sorgfältig gezüchteten und ausgebildeten Spezialisten, die ihr eigenes Fachgebiet in ihrem Ministerium einigermaßen verstanden. Aber allein das Große Gehirn vermochte die verschiedenen Arbeiten zu koordinieren und jede einzelne wirklich zu begreifen.
Die Tragödie der Vierten Menschen Als etwa dreitausend Jahre nach Beginn seines Wirkens vergangen waren, beschloß dieses einzigartige Individuum, weitere Wesen seiner Art zu erzeugen. Es litt nicht etwa an Einsamkeit. Es sehnte sich auch nicht nach Liebe oder etwa nach geistigem Kontakt mit seinesgleichen. Es 311
brauchte die Unterstützung von Wesen, die seiner eigenen geistigen Kapazität entsprachen, einzig und allein zu dem Zweck, um mit ihnen gemeinsam weitergehendere Forschungen durchführen zu können. Es entwarf daher einen wesentlich verbesserten Typ von Gehirn und ließ diese Türme und Fabriken überall in den verschiedenen Gegenden der Erde errichten. In jedem dieser Gehirntürme ließ es durch seine Diener eine Zelle seines Körpers bringen und gab ihnen genaue Anweisungen mit auf den Weg, so daß sich aus dieser Zelle bei entsprechender Pflege ein neues Individuum bilden konnte. Weiterhin veranlaßte der erste der Vierten Menschen, daß auch bei ihm selbst nach einem neuen besseren Plan weitreichende operative Veränderungen vorgenommen wurden. Die wichtigste der neuen Eigenschaften, die er sich selbst und seiner Nachkommenschaft zulegte, war eine unmittelbare Sensibilität gegenüber Strahlungen und Schwingungen. Eine solche Sensibilität konnte dadurch erreicht werden, daß jede einzelne Gehirnzelle einen besonderen, aus subvitalen Einheiten der Marswesen weiterentwickelten Parasiten in sich aufnahm. Jedes Gehirn wurde auch mit einer sehr starken Sendeanlage ausgestattet. Auf diese Weise sollte es der über weite Gebiete verstreuten unbeweglichen Bevölkerung möglich gemacht werden, eine direkte ›telepathische‹ Verbindung miteinander aufrechtzuerhalten. Dieses von dem ersten der Vierten Menschen geplante Vorhaben wurde erfolgreich durchgeführt. Es gab jetzt etwa zehntausend der neuen Individuen, zehntausend Vierte Menschen, auf der Erde. Jeder war entsprechend seinem Standort und seiner Aufgabe besonders ausgerüstet. Auf den höchsten Bergen standen Superastronomen mit gewaltigen Observatorien. Ihre Instrumente waren zum Teil künstlich hergestellt, zum Teil natürliche Ausbildungen ihrer eigenen Gehirne. Tief in den Eingeweiden der Erde studierten andere, die den ungeheuren Hitzegraden besonders angepaßt waren, die Kräfte des Erdinnern und standen mit den Astronomen in ständiger ›telepathischer‹ Verbindung. In den Tropen, in der Arktis, in den Wäldern, den Wüsten und auf dem Mee312
resgrund stillten die Vierten Menschen ihre unvorstellbare Neugier. Und um den Stammvater der Rasse herum, in der Heimat der Vierten Menschen, lebten in vielen großen Gebäuden etwa einhundert Individuen. Die Rasse des Dritten Menschen, die ursprünglich dabei geholfen hatten, die neue menschliche Spezies hervorzubringen, standen im Dienste dieser überall in der Welt anzutreffenden Vierten Menschen und bestellten ihr Land, züchteten ihr Vieh, rackerten sich ab, um den ungeheueren Bedarf dieser neuen Zivilisation an materiellen Dingen sicherzustellen und befriedigten ihre seelischen und geistigen Bedürfnisse durch Übungen in ihrer alten Vitaplastik, die immer mehr zum bloßen Ritual erstarrte. Ganz allmählich und unmerklich war ihre ganze Rasse dabei in eine dienende Funktion abgesunken. Trotz der Langsamkeit dieses Prozesses war sein Ergebnis für sie doch recht unerfreulich. Gelegentlich gab es hier und da eine Revolte, aber keine von ihnen war von ernster und nachhaltiger Wirkung. Gegen das Prestige und die Überzeugungskraft der Vierten Menschen war nicht anzukommen. Schließlich kam es jedoch trotzdem zu einer Krise. Etwa dreitausend Jahre lang hatten die Vierten Menschen ihre Forschungen mit andauerndem Erfolg durchgeführt, aber gegen Ende dieser Zeit wurde ihr Fortschritt immer langsamer. In zunehmendem Maße wurde es schwieriger, der Forschung neue Richtungen zu weisen. Zweifellos wies ihr Wissen über die Erde noch viele Lücken auf, die man ausfüllen konnte, und hinsichtlich der anderen Sterne war noch viel mehr an Wissen nachzutragen. Es bestand aber keine Aussicht, neue Berggipfel zu erobern, von denen man eine bessere Einsicht in die wahre Natur aller Dinge haben konnte. Sie begannen zu begreifen, daß sie bisher noch nicht einmal die obersten Wellen eines geheimnisvollen Ozeans mit unendlicher Tiefe richtig untersucht hatten. Ihr Wissen war zwar von vollkommener Systematik, aber im Grunde rätselhaft. Sie hatten immer mehr das Gefühl, daß sie zwar in gewisser Hinsicht alles kannten, aber in Wirklichkeit nichts wußten. 313
Wenn Seele und Geist eine derartige Frustration erleben, so werden sie sich normalerweise in Gesellschaft anderer, durch Sport und Spiel oder durch Kunst erholen. Für die Vierten Menschen gab es aber keinen derartigen Ausgleich. Solche Tätigkeiten waren für sie unmöglich und sinnlos. Die Großen Gehirne waren »von ganzem Herzen« an der Welt interessiert, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie an ihr ihre intellektuelle Neugier befriedigen konnten. Lediglich der Erkenntnisvorgang reizte sie, sowie die Formeln und Prinzipien, die man dabei als Werkzeuge gebrauchen konnte. Männer und Frauen waren für sie gleichbedeutend mit irgendeinem Material im Reagenzglas, und ihre Artgenossen standen für sie auf der gleichen Stufe wie Rechenmaschinen. Man könnte sogar fast sagen, daß auch jeder einzelne der Vierten Menschen in sich selbst nichts anderes sah als lediglich ein Instrument der Erkenntnis. Viele ihrer Spezies hatten geistige Gesundheit und Leben geopfert, nur um ihrem Erkenntnisdrang zu frönen. Je bedrückender das Gefühl der Frustration für sie wurde, um so mehr litten die Vierten Menschen darunter, daß ihre Art so einseitig spezialisiert war. Obwohl sie sich völlig leidenschaftslos objektiv verhalten hatten, solange ihr intellektuelles Leben noch in ständiger Ausweitung begriffen war, traten mit der Zeit bei ihnen immer mehr Verwirrtheiten, törichte Launen und Sehnsüchte hervor, die sie untereinander mit mancherlei Erklärungen und Entschuldigungen bemäntelten. Unbeweglich an den Ort gebunden und auch unfähig zu irgendeiner gegenseitigen Liebe mußten sie dauernd zusehen, wie sich ihre Diener frei umherbewegten, wie sie in Gruppen zusammenlebten und wie sie liebten. Derartige Betätigungen empfanden sie als Beleidigung. Eine kalte Eifersucht bildete sich bei ihnen, die — weil solche Gefühle unter ihrer Würde waren — von ihnen aber bewußt nicht zur Kenntnis genommen wurde. Da die Vierten Menschen jetzt nicht mehr die Angelegenheiten ihrer Sklaven mit der sonst üblichen Gerechtigkeit regelten, kam es zu ernsten Mißständen. 314
Der Höhepunkt dieser Entwicklung war erreicht durch ein großes Wiederaufleben der Forschungen, die, wie man sagte, die unsichtbaren Widerstände niederreißen und einen neuen Kontinent des Wissens erschließen sollten. Die Großen Gehirne sollten auf das Tausendfache vermehrt werden, und alle Möglichkeiten und Mittel der gesamten Erde sollten viel stärker als zuvor für einen Kreuzzug der Erkenntnis eingesetzt werden. Die dienende Rasse der Dritten Menschen hätte demzufolge mehr Arbeit und weniger Vergnügen gehabt. In früheren Zeiten hätten die Dritten Menschen bereitwilligst ein solches Schicksal auf sich genommen, weil es für sie eine Ehre war, den Großen Gehirnen dienen zu können. Aber die Tage ihrer blinden Ergebenheit waren vorüber. Sie raunten sich gegenseitig zu, daß sich das große Experiment ihrer Vorfahren als ein gewaltiger Fehlschlag erwiesen hätte, und daß die Vierten Menschen, die Großen Gehirne, trotz ihrer teuflischen Schläue nur Mißgeburten wären. Die Dinge spitzten sich zu, als die Tyrannen erklärten, daß alle unnützen Tiere zu schlachten wären, weil ihre Ernährung und Pflege für die Welt eine zu starke wirtschaftliche Belastung bedeuten würde. Weiterhin durfte die Kunst der Vitaplastik in Zukunft nur noch durch die Großen Gehirne selbst ausgeübt werden. Diese Erklärung empörte die Dritten Menschen über alle Maßen. Es bildeten sich unter ihnen zwei Parteien. Viele von denjenigen, die ihr Leben dem Dienst der Erhaltung der Großen Gehirne geweiht hatten, sprachen sich für einen unbedingten Gehorsam aus, obwohl auch sie tief verstört über jene Verlautbarung waren. Die Mehrheit andererseits weigerte sich strikt, ein derartiges ruchloses Gemetzel zuzulassen oder etwa gar ihre Rechte als ausübende Künstler der Vitaplastik aufzugeben. Die Abtötung der irdischen Fauna, so sagten sie, würde die harmonische Schönheit des Universum verletzen, weil hierdurch einige seiner schönsten Geschöpfe ausgelöscht würden. Es wäre eine Vergewaltigung des Lebens Gottes, die dieser sicherlich rächen würde. Sie betonten, die Zeit wäre daher für alle wahren Menschen gekommen, sich gemeinsam zusammenzufinden 315
und die Tyrannen abzusetzen. Das könne man ganz leicht tun, führten sie aus. Man brauchte nur einige elektrische Kabel, die die Großen Gehirne mit den Kraftwerken des Erdinnern verbänden, zu zerschneiden. Die elektrischen Pumpen würden dann einfach aufhören, die Gehirntürme mit sauerstoffhaltigem Blut zu versorgen. Und in den wenigen Fällen, in denen die Großen Gehirne ihre eigenen Wind- oder WasserEnergiequellen selber regulieren könnten, sollte man einfach damit aufhören, ihre Verdauungslaboratorien mit den erforderlichen Nährstoffen zu versorgen. Die persönlichen Diener der Großen Gehirne schreckten vor einer solchen Handlung zurück, denn sie hatten voller Stolz und sogar mit einer gewissen Liebe ihr ganzes Leben dem Dienst der von ihnen verehrten Wesen gewidmet. Aber die landwirtschaftlich tätige Bevölkerung war entschlossen, die Lieferungen von Rohstoffen und Nahrungsmitteln einzustellen. So rüsteten die Großen Gehirne ihre Bediensteten mit einer Vielzahl von sinnreich konstruierten Waffen aus. Es kam zu ungeheuren Zerstörungen. Da aber die Rebellen dezimiert waren, standen nicht mehr genügend Arbeitskräfte zur Verfügung, um das Land zu bestellen. Einige der Großen Gehirne und viele ihrer Bediensteten verhungerten. Als die Not zunahm, begannen auch die Diener der Großen Gehirne von ihren Herren abzufallen und sich den übrigen Menschen anzuschließen. Die Dritten Menschen hielten es jetzt für so gut wie sicher, daß die Großen Gehirne sehr bald erledigt sein würden und daß die Erde wiederum unter die Herrschaft von natürlichen Wesen käme. Aber die Tyrannen ließen sich nicht so einfach schlagen. Sie hatten schon mehrere Jahrhunderte lang insgeheim an einem Verfahren herumexperimentiert, das es ihnen ermöglichen sollte, die Dritten Menschen noch rigoroser als bisher zu kontrollieren und zu beherrschen. In der elften Stunde hatten sie mit ihren Bemühungen Erfolg. Bei ihrem Vorhaben konnten sie die Ergebnisse verwerten, zu denen eine Gruppe der Dritten Menschen seinerzeit gelangt war, als sie sich darum bemüht hatte, sogenannte Kommunikanten zu züch316
ten, die mit einer unsichtbaren Welt in Verbindung treten sollten. Jene Sekte oder theokratische Nation, die sich viele Hunderte von Jahren um die Erreichung dieses Zieles bemüht hatte, glaubte schließlich, einen Erfolg erreicht zu haben. Es gelang ihr nämlich, eine Kaste von Kommunikanten zu züchten, bei der das Kommunikationstalent erblich war. Obwohl diese Menschen wie Medien in Trancezustände fielen, in denen sie anscheinend mit Bewohnern der anderen Welt Unterhaltungen führten und von diesen Anweisungen erhielten, wie die Angelegenheiten der Erde zu ordnen wären, war doch die eigentliche Ursache für ihre Fähigkeiten nur eine anomale Suggestibilität. Da sie von Kindheit an mit Gedanken und Geschichten über eine unsichtbare Welt aufgewachsen waren, brachte ihr Geist während einer Trance eine erstaunliche Fülle von Phantasien hervor, die auf jenen Gedanken und Geschichten beruhten. Wenn man sie sich selbst überließ, so waren es im Grunde genommen nur Leute, die einen ungewöhnlichen Mangel an Initiative und Intelligenz aufwiesen. Sie waren so naiv und so träge, daß man sie viel eher mit Vieh als mit Menschen hätte vergleichen können. Doch unter dem Einfluß der Suggestion wurden sie plötzlich intelligent und lebendig. Ihre Intelligenz stand jedoch voll und ganz im Dienste der Suggestion und war zu einer Kritik dieser Suggestion selbst völlig unfähig. Als Ursache für den Niedergang dieser theoretischen Gesellschaft braucht man sich nur die Tatsache vor Augen zu führen, daß sämtliche privaten und öffentlichen Angelegenheiten nach den Worten und Anweisungen der Kommunikanten geregelt wurden und daher das Staatswesen zwangsläufig im Chaos versank. So kam es, daß die andere Sekte des Dritten Menschen, die sich auf die Entwicklung der Großen Gehirne konzentrierte, mit der Zeit den gesamten Planeten beherrschte. Die Medien blieben jedoch als Erbstamm erhalten und man behandelte sie mit halb verächtlicher Ehrerbietung. Man nahm im allgemeinen noch immer an, daß sie auf irgendeine Weise einen besonderen Zugang zum göttlichen Geist besäßen, aber man hielt sie für zu heilig, als daß ihre 317
Aussprüche noch irgendeine Beziehung zu praktischen Angelegenheiten dieser Welt hätten haben können. Mit Hilfe dieses Erbstammes von Medien hatten die Großen Gehirne versucht, ihre Stellung zu festigen; ihre ersten Versuche in dieser Richtung sind in diesem Zusammenhang unwichtig. Aber am Ende gelang es ihnen, eine Rasse von lebendigen und sogar intelligenten Maschinen zu erschaffen, deren Willen sie selbst über große Entfernungen hin absolut beherrschten. Diese neue Abart der Dritten Menschen war nämlich ›telepathisch‹ mit ihren Herren in ständiger Verbindung. Subvitale Einheiten der Marswesen waren in ihrem Nervensystem enthalten. Im allerletzten Augenblick vermochten die Großen Gehirne eine Armee dieser vollkommenen Sklaven aufzustellen, die sie mit den wirkungsvollsten todbringenden Waffen ausrüsteten. Diejenigen, die noch immer als Diener der Großen Gehirne ausgeharrt hatten, entdeckten zu spät, daß sie selbst bei der Herstellung ihrer Nachfolger mitgewirkt hatten. Sie schlössen sich den Rebellen an, allerdings nur um mit diesen gemeinsam in der allgemeinen Vernichtung unterzugehen. In wenigen Monaten waren alle Dritten Menschen außer jener neuen gefügigen Abart von ehemaligen Medien ausgelöscht. Allerdings wurden noch einige Individuen der ursprünglichen Dritten Gattung Mensch in Käfigen für Experimente aufbewahrt. In wenigen Jahren war auch jedes Tier, von dem man wußte, das es weder direkt noch indirekt für das menschliche Leben notwendig war, ausgerottet. Von den Tieren wurden auch keine Einzelexemplare mehr aufbewahrt, denn die Großen Gehirne hatten sie bereits durch und durch untersucht. Obwohl die Großen Gehirne jetzt die absoluten Beherrscher der Erde waren, standen sie ihrem eigentlichen Ziel kaum näher als zuvor. Die Bekämpfung des Dritten Menschen war für sie eine willkommene Aufgabe gewesen, die sie von ihrem intellektuellen Versagen abzulenken vermochte. Als aber der Kampf vorüber war, hatte sich im Grunde an ihrem Zustand nichts geändert. Mit schmerzvoller Klarheit mußten sie 318
erkennen, daß sie trotz ihres ungeheuren Gewichtes an Nervengeweben, trotz ihres gewaltigen Wissens und ihrer Klugheit der letzten Wahrheit praktisch genausowenig wie ihre Vorfahren nähergekommen waren. Sie lag noch unendlich weit vor ihnen. Für die Vierten Menschen, die Großen Gehirne, gab es keine andere Lebensmöglichkeit als die des Lebens durch den Intellekt, und ihr intellektuelles Leben war unfruchtbar geworden. Offenbar benötigte man mehr als eine bloße Ansammlung von Gehirnmasse, um die tieferen intellektuellen Probleme lösen zu können. Man mußte also darangehen, auf irgendeine Weise eine neue Eigenschaft des Gehirns, eine neue Gehirnformation zu entwickeln, durch die man eine Erfahrensweise und Einsicht erreichen konnte, die ihnen in ihrem gegenwärtigen Zustand unmöglich war. Sie mußten herausfinden, wie sie ihre eigenen Gehirnzellen nach einem neuen Plan umstrukturieren konnten. Mit diesem Ziel im Auge und zum Teil auch aus unbewußter Eifersucht auf die natürliche und ausgeglichenere dritte menschliche Spezies, die sie erzeugt hatte, begannen sie ein neues großes Forschungsvorhaben, um das Wesen der Gehirnzellen des Menschen zu entdecken. Man hoffte, auf diese Weise einen Hinweis zu bekommen, in welcher Richtung die Evolution gefördert werden sollte. So wurden die noch übriggebliebenen Unglücklichen Tausenden von ausgetüftelten physischen und psychischen Torturen unterworfen. Einige erhielt man am Leben, aber ihr Gehirn lag ununterbrochen auf einem Laboratoriumstisch, damit die verschiedenen psychischen Reaktionen mikroskopisch genau beobachtet werden konnten. Andere versetzte man in unvorstellbare anomale geistige und seelische Zustände. Wieder andere wurden körperlich und geistig bei bester Gesundheit gehalten, bis man sie schließlich in einer besonderen Versuchsanordnung durch eine tragische Erfahrung ums Leben kommen ließ. Man entwickelte neue Typen und hoffte, daß bei ihnen Anzeichen für eine qualitativ höhere seelische und geistige Verfassung zu erkennen wären, aber in Wirklichkeit wiesen sie nur die verschiedenen Züge aller Arten von Wahnsinn auf. Die Untersuchungen wurden einige tausende Jahre wei319
tergeführt, bis sie allmählich nachließen, da sie sich als völlig unergiebig herausstellten. Als die Enttäuschung immer offenkundiger wurde, wandelten sich die Ansichten der Vierten Menschen. Sie wußten, daß die natürliche Spezies des Menschen an vielen Dingen und Tätigkeiten Geschmack fand, denen sie überhaupt keinen Wert beizumessen vermochten. Bisher war diese Tatsache von ihnen lediglich als Symptom für die niedrige geistige und seelische Entwicklungsstufe der natürlichen Spezies ausgelegt worden. Aber das Verhalten der unglückseligen Opfer, an denen sie herumexperimentiert hatten, gab den Vierten Menschen allmählich einen größeren Einblick in das, was die natürliche Spezies begehrte und liebte, so daß sie sehr bald auch zwischen jenen fundamentalen Sehnsüchten und Strebungen und jenen unwesentlichen kleinen Wünschen unterscheiden konnten, die schon bei vernünftigerem Nachdenken beiseite geschoben worden wären. Sie mußten erkennen, daß bestimmte Tätigkeiten und bestimmte Objekte von diesen Wesen mit der gleichen klaren inneren Überzeugung geschätzt wurden, mit der sie das Wissen schätzten. Zum Beispiel besaßen die natürlichen menschlichen Wesen eine Hochachtung voreinander und waren manchmal fähig, sich für die anderen aufzuopfern. Auch die Liebe schätzten sie sehr. Sie waren auch vom Wert ihrer künstlerischen Betätigung überzeugt, und in den Bewegungen und Tätigkeiten ihres eigenen Körpers und der Körper von Tieren vermochten sie echte Vollkommenheit zu erkennen. Nach und nach begriffen die Vierten Menschen, daß sich bei ihnen nicht nur die Begrenzung auf den Intellekt störend auswirkte, sondern daß sich ihr mangelndes Wertbewußtsein noch empfindlicher bemerkbar machte. Sie erkannten, daß diese Schwäche nicht auf einen verkümmerten Intellekt zurückzuführen war, sondern auf einen Mangel an Körperzellen und niederen Hirnzellen. Diesen Mangel konnten sie jedoch nicht abstellen. Es war für sie einfach unmöglich, sich selbst so radikal umzugestalten, daß aus ihnen ein normalerer Typ hätte werden können. Sollten sie vielleicht ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, 320
neue, harmonischere Wesen als sie selbst es waren, zu entwickeln? Man sollte eigentlich annehmen, daß eine solche Arbeit für sie ohne jeden Reiz gewesen wäre. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Sie begründeten ihr Vorhaben folgendermaßen: »Es ist nun mal unsere Art, daß wir das Wissen am meisten schätzen. Ein umfangreicheres Wissen kann aber nur von Wesen erlangt werden, die mehr in die Tiefe gehen und breiter angelegt sind als wir selbst. Wir wollen deshalb keine Zeit mehr damit verschwenden, selbst dieses Ziel verwirklichen zu wollen. Wir wollen statt dessen lieber ein Wesen erschaffen, das von unseren Mängeln frei ist und das an unserer Stelle unser Ziel des vollkommenen Wissens erreichen kann. Die Erzeugung eines solchen Wesens wird alle unsere Kräfte beanspruchen, wird uns aber auch die höchste für uns mögliche Erfüllung unserer Absichten gewähren. Es wäre unvernünftig, diese Arbeit nicht auszuführen.« So wandten sich die künstlichen Vierten Menschen in neuem Geist den überlebenden Exemplaren der Dritten Menschen zu, um aus ihnen diejenigen Wesen zu entwickeln, die ihre eigene Spezies ablösen sollten.
Die Fünften Menschen Der Plan für die Erschaffung eines neuen menschlichen Wesens wurde in allen Einzelheiten genauestens ausgearbeitet, bevor man mit der eigentlichen Arbeit begann. Das neue Wesen sollte im wesentlichen einen normalen menschlichen Organismus haben, mit allen Körperfunktionen, wie sie der natürliche Typ besaß, alles in ihm sollte aber vollkommener sein. Es sollte zum Beispiel die mit dem Gesamtplan zu vereinbarende größtmögliche Gehirnmenge erhalten, aber nicht zuviel. Sehr sorgfältig berechneten auch seine Schöpfer die Maße und Proportionen für das Körperinnere. Sein Gehirn konnte nicht im entferntesten so groß sein wie ihr eigenes, denn es mußte es mit sich herumtragen 321
und mit seinen Körperfunktionen ernähren und erhalten. Wenn das Gehirn größer sein sollte als dasjenige des Dritten Menschen, so mußte der übrige Organismus im Verhältnis dazu sehr stabil gebaut sein. Dann mußte die neue Spezies ebenso wie die zweite sehr groß sein. Sie mußte wahrscheinlich noch viel größer sein als die zweite. Ihr gegenüber würden die Zweiten Menschen wie Zwerge wirken. Andererseits durfte der Körper nicht so gewaltig sein, daß er durch sein eigenes Gewicht und durch viel zu massive Knochen behindert sein würde. Bei der Festlegung der allgemeinen Körpermaße des neuen Menschen mußten die Großen Gehirne noch leistungsfähigere Knochen und Muskeln entwerfen. Nach einigen Jahrhunderten geduldigen Experimentierens entwickelten sie tatsächlich ein Verfahren, durch das den Keimzellen eine Wachstumstendenz mitgegeben wurde, durch die sie stärkere Knochengewebe und kräftigere Muskeln bildeten. Gleichzeitig ersannen sie Nervengewebe, die auf ihre besonderen Funktionen viel besser vorbereitet waren. Und in dem im Vergleich zu dem ihren sehr winzigen Gehirn wurde die Kleinheit durch eine größere Leistungsfähigkeit einzelner Zellen sowie im Zusammenwirken mehrerer Zellen ausgeglichen. Weiterhin konnte man durch Verbesserungen im Verdauungssystem ein wenig an seinem Umfang und der von ihm benötigten Energie einsparen. Man stellte gewisse neue Typen von Mikroorganismen her, die im Darm des Menschen symbiotisch lebten und den ganzen Verdauungsprozeß erleichterten, beschleunigten und gleichmäßiger ablaufen ließen. Einem besonderen System der selbsttätigen Gewebeerneuerung schenkte man besondere Aufmerksamkeit. Hierbei wurden besonders jene Gewebezellen berücksichtigt, die am ehesten einer Abnutzung ausgesetzt waren. Gleichzeitig wurden die Wachstums- und Alterungstendenzen so aufeinander abgestimmt, daß der neue Mensch im Alter von 200 Jahren in die Pubertät kommen und danach wenigstens 3000 Jahre im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte sein soll322
te, bis sein Herz mit dem ersten Auftreten ernsthafter Verfallserscheinungen plötzlich aufhören sollte zu funktionieren. Über die Frage, ob das neue Wesen wie seine Schöpfer ewig leben sollte, war es zu einigen Auseinandersetzungen gekommen. Schließlich hatte man sich aber dahingehend geeinigt, diesem nur als Übergangstyp geplanten Wesen aus Sicherheitsgründen nur eine begrenzte, allerdings recht lange Lebensdauer zu ermöglichen. Es sollte nicht in die Versuchung geraten, sich selbst als die letzte und höchste Form alles Lebendigen betrachten zu können. Die sinnliche Wahrnehmung des neuen Menschen sollte sämtliche Vorzüge derjenigen des Zweiten und des Dritten Menschen aufweisen und darüber hinaus noch eine weitere Frequenz und ein feineres Unterscheidungsvermögen innerhalb eines jeden Sinnesorgans besitzen. Wichtiger noch als diese Verfeinerungen war die Tatsache, daß in den neuen Keimzellen subvitale Einheiten der Marswesen enthalten waren. Im Laufe der Entwicklung des einzelnen Organismus sollten sich diese Einheiten vermehren und sich dann in den Zellen des Gehirns sammeln, so daß jeder einzelne Gehirnteil Schwingungen gegenüber sensibel war und das ganze System zusammen eine starke Sendeenergie ausstrahlte. Es wurde aber sorgfältig darauf geachtet, daß diese ›telepathische‹ Fähigkeit der neuen Spezies nur eine untergeordnete Funktion einnahm. Es durfte auf keinen Fall dazu kommen, daß das einzelne Individuum zum gelenkten Befehlsempfänger der Herde werden konnte. Durch ihre Forschungen auf dem Gebiet der Chemie, die sich über lange Zeiten erstreckten, waren die Vierten Menschen auch in der Lage, umfangreiche Verbesserungen im chemischen Haushalt und im Drüsensystem des neuen Menschen zu erreichen, so daß dieser ein vollendetes Gleichgewicht im Physiologischen und ein wohlausgeglichenes Temperament besaß. Man wollte ihm zwar ein reiches emotionales Leben durchaus ermöglichen, aber verhindern, daß sich seine Leidenschaften bis zum unheilvollen Exzeß steigern konnten, und man wollte auch nicht, daß er — je nach den Jahreszeiten — bestimmten Gefühlen aus323
geliefert war. Es erwies sich als notwendig, sich besonders eingehend mit dem ganzen System der Instinkte, Reflexe und Impulse zu beschäftigen und es zu revidieren. Einige mußten ausgemerzt, andere geändert und wieder andere verstärkt werden. Alle komplexeren »instinktiven« Reaktionen, die der Mensch seit den Tagen des Pithecanthropus Erectus mit sich herumgeschleppt hatte, mußten ebenfalls mit besonderer Sorgfalt revidiert werden, sowohl hinsichtlich der Form der Reaktion als auch hinsichtlich der Objekte, bei denen diese Reaktionen instinktiv auftraten. Zorn, Furcht, Neugier, Humor, Zärtlichkeit, Egoismus, sexuelle Leidenschaft und Geselligkeit, alle diese Stimmungen, Gefühle, Instinkte und Triebe sollte es selbstverständlich auch weiterhin geben. Aber der Fünfte Mensch sollte sie steuern können. So wie schon der Zweite Mensch sollte auch der neue Typ aus einer angeborenen Anlage heraus all jene höheren Ziele und Aufgaben meistern, denen der Erste Mensch nur unter angestrengtester Selbstdisziplin näherkommen konnte. Obwohl der Konstruktionsplan des Fünften Menschen Gefühle wie das der Selbstachtung enthielt, gab es daneben aber auch eine Neigung, das eigene Ich im wesentlichen als ein soziales und intellektuelles Wesen zu begreifen und nicht als einen Wilden der Urzeit. Wenn der Plan einen starken Geselligkeitstrieb enthielt, war doch die Gruppe, auf die sich ein derartiges instinktives Interesse richtete, keine geringere als die organisierte Gemeinschaft aller Menschen. Während der Plan auch eine vitale ursprüngliche Sexualität und einen Elterninstinkt berücksichtigte, sah er auch alle jene angeborenen ›Sublimierungen‹ vor, die bereits bei der zweiten Spezies aufgetreten waren; zum Beispiel die Fähigkeit uneigennütziger Liebe gegenüber Individuen jeder Art, gegenüber Kunst und Religion. Durch ihre vorzüglichen rein intellektuellen Fertigkeiten konnten die kalt und objektiv registrierenden Großen Gehirne beim bloßen Studium der Dritten Menschen die Bedeutung derartiger Tätigkeiten erkennen und einen Organismus entwerfen, der zu ihrer Ausübung hervorragend geeignet war, obwohl sie nie selbst erlebt hatten oder erleben würden, was es mit derlei Dingen auf sich hat324
te. Es war, als ob eine Rasse von Blinden lediglich auf Grund physikalischer Studien Sehorgane erfinden würde. Es wurde natürlich erkannt, daß sich eine Rasse, bei der die durchschnittliche Lebenserwartung Tausende von Jahren umfassen würde, nur sehr langsam vermehren durfte. Es wurde aber ebenso berücksichtigt, daß nicht nur der Geschlechtsverkehr sondern auch das Erlebnis der Elternschaft für eine reiche geistige Entwicklung beider Geschlechter erforderlich waren. Diesen Schwierigkeiten begegnete man zum Teil dadurch, daß Säuglingsalter und Kindheit beträchtlich ausgedehnt wurden. Die Folge war, daß notwendigerweise die Reiferen ihre Funktionen als Eltern wesentlich länger ausüben mußten, um diese sehr komplizierten Organismen geistig, seelisch und auch körperlich richtig zu pflegen und zu betreuen. Die Geburt war dabei für die Frauen genauso leicht wie beim Dritten Menschen. Man rechnete auch damit, daß der Säugling infolge seiner wesentlich verbesserten physischen Konstitution nicht mehr jener besorgten und kräftezehrenden Fürsorge bedürfen würde, die Mütter früherer Rassen so sehr belastet hatte. Die bloße Aufstellung dieser Grundsätze für die Entwicklung eines verbesserten Menschen erforderte viele Jahrhunderte der Forschung, der Planung und der Berechnung und stellte sogar an die Erfindungsgabe der Großen Gehirne ungeheure Anforderungen. Darauf folgte eine längere Periode, in der man mit vorbereitenden und tastenden Experimenten an die Entwicklung eines solchen Typs heranging. Tausende von Jahren kam man nur sehr wenig voran, sondern mußte immer wieder erkennen, daß viele hoffnungsvolle Ansätze im Grunde zu nichts führten. Während dieser langen Zeit wurden auch mehrmals sämtliche Arbeiten durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Großen Gehirnen über den einzuschlagenden Weg aufgehalten. Einmal führten diese Meinungsverschiedenheiten sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die eine Gruppe die andere mit Chemikalien, Mikroben und Armeen menschlicher Automaten angriff. 325
Kurzum, es gelang den Vierten Menschen erst nach vielen Mißerfolgen und nach vielen für die Weiterentwicklung des Projektes unfruchtbaren Perioden, in denen die Arbeiten aus verschiedenen Gründen eingestellt wurden, zu guter Letzt zwei Individuen zu entwickeln, die fast vollkommen dem ursprünglich vorgesehenen Typ entsprachen. Sie waren unter Laboratoriumsbedingungen aus einem einzigen befruchteten Ei entstanden. Diese verschiedengeschlechtlichen eineiigen Zwillinge waren der Adam und die Eva einer neuen und ruhmreichen menschlichen Spezies, der des Fünften Menschen. Man kann mit Recht sagen, daß die Fünften Menschen die ersten waren, die in ihrem Körper, ihrer Seele und ihrem Geist wahrhaft menschliche Proportionen besaßen. Im Durchschnitt waren sie mehr als doppelt so groß wie die Ersten Menschen und viel größer als die Zweiten Menschen. Ihre unteren Gliedmaßen mußten daher außerordentlich massiv sein, um ihrem Rumpf die notwendige Stütze zu geben. So wirkten sie auf dem kräftigen Piedestal ihrer Füße wie in Stein gehauene Säulen. Obwohl sie der Größe nach Elefanten glichen, ließ sich doch eine bemerkenswerte Präzision und sogar Zartheit an den einzelnen Körperteilen feststellen. Ihre großen Arme und Schultern, die im Verhältnis zu ihren noch mächtigeren Beinen fast zierlich wirkten, waren nicht nur äußerst kräftig, sondern auch für diffizile Arbeiten zu verwenden. Auch ihre Hände waren so gebildet, daß sie zu sehr viel Kraft erforderlichen Manipulationen, aber auch als Präzisionsinstrumente gebraucht werden konnten. Während nämlich Daumen und Zeigefinger zusammen einen beachtlichen Schraubstock darstellten, traten aus dem zarteren sechsten Finger an seiner Spitze zwei winzige Fingerchen mit einem entsprechenden Daumen hervor. Die Umrisse der Glieder waren klar zu erkennen, denn der Körper war, abgesehen von einem dichten dicken Haarbüschel auf dem Kopf, das rötlich-braun war, von keinerlei Haarwuchs bedeckt. Wenn man die klar hervortretenden Augenbrauen herabzog, boten sie den sehr empfindlichen Augen einen Schutz vor Sonnenstrahlen. Da die braune Haut so hervorragende Eigenschaften 326
besaß, daß sie im tropischen wie im subarktischen Klima ohne Unterstützung von Haar oder Kleidern immer eine gleichmäßige Temperatur aufrechterhalten konnte, bestand für einen Haarbewuchs des Körpers kein Bedürfnis. Der Kopf war im Vergleich zum mächtigen Körper gar nicht besonders groß, obwohl die Gehirnkapazität doppelt so groß war wie diejenige der Zweiten Menschen. Bei den Stammeltern der Fünften Menschen waren die sehr großen Augen tiefviolett, das Gesicht stark gegliedert und beweglich. Da der Gesichtsausdruck den Vierten Menschen unwesentlich erschien, hatte er ihn nicht in seiner Planung besonders berücksichtigt: aber die verschiedenen aufeinander wirkenden biologischen Kräfte brachten schließlich ein Gesicht hervor, das demjenigen des Zweiten Menschen nicht unähnlich war, obwohl sich in ihm noch ein zusätzlicher und unbeschreibbarer Zug erkennen ließ, der bisher kein menschliches Antlitz ausgezeichnet hatte. Wir können uns hier nicht im einzelnen mit der weiteren Entwicklung beschäftigen, wie zum Beispiel aus diesen beiden Individuen allmählich eine neue Bevölkerung entstand, die zunächst von ihren Schöpfern eifrig umhegt und gepflegt wurde, bis sie später ihre Unabhängigkeit gewann und ihr Schicksal selbst in die Hand nahm; wie die Großen Gehirne erschütternderweise die Mentalität ihrer Geschöpfe nicht zu verstehen und gutzuheißen vermochten und den Versuch unternahmen, sie zu tyrannisieren; wie die Erde eine Zeitlang zwischen zwei sich gegenseitig befehdenden intoleranten Gruppen aufgeteilt war und Blut in Strömen floß, bis die menschlichen Automaten ausgerottet und die Großen Gehirne verhungert oder in die Luft gesprengt waren und von den Fünften Menschen auch nicht mehr viel übrig blieb; und wie schließlich als Ergebnis dieser Ereignisse sich ein dichter Nebel der Barbarei über den Planeten legte, so daß die Fünften Menschen, wie so viele andere Rassen vor ihnen, ihre Zivilisation und Kultur von Grund auf neu errichten mußten.
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Die Kultur der Fünften Menschen Es ist nicht möglich, die einzelnen Stadien bis zum Entstehen der größten Zivilisation und Kultur der Fünften Menschen aufzuzählen und darzustellen. Uns interessiert in diesem Zusammenhang nur die Blütezeit dieser Kultur. Auch ihre höchste Leistung, die viele Millionen Jahre hindurch erkennbar war, kann ich hier nur streifen, und das nicht nur deswegen, weil ich diese Geschichte schneller zu Ende bringen will, sondern auch, weil jene Leistung jenseits des Vorstellungsvermögens derjenigen liegt, für die dieses Buch geschrieben ist. Wir haben jetzt endlich jene Periode der Geschichte des Menschen erreicht, in der er beginnt, seine gesamte Mentalität umzustellen, um mit Dingen fertigzuwerden, deren Existenz ihm bisher fast vollkommen verborgen war. Die alten Ziele sind noch immer dieselben. Viel stärker als je zuvor werden sie allmählich in die Wirklichkeit umgesetzt. Aber durch ein tieferes Erleben drängen sich den Fünften Menschen neue Ziele auf, denen sich die alten Ziele immer mehr unterordnen. Ebenso wie die Interessen und Ideale der Ersten Menschen für die mit ihnen gleichzeitig lebenden Affen unverständlich sind, so müssen auch den Ersten Menschen die Interessen und Ideale der Fünften Menschen in ihrer vollen Ausprägung unbegreiflich vorkommen. Andererseits gibt es auch vieles im Leben des primitiven Menschen, das auch im Leben von Affen von Bedeutung ist, und es gibt vieles bei den Fünften Menschen, das auch die Ersten Menschen verstehen können. Man stelle sich also eine Gesellschaft vor, die die ganze Welt umfaßt, und die über einen materiellen Reichtum verfügt, wie ihn sich die Angehörigen einer amerikanischen oder chinesischen Zivilisation selbst in ihren kühnsten Träumen nicht erhofft hätten. Energie in unbeschränkter Menge, zum Teil durch Kernspaltung, zum Teil durch Zerstörung von Materie durch Kernverschmelzung gewonnen, beseitigte die gan328
ze groteske Last und Quälerei vollständig, die bisher die unumgänglichen Kosten der Zivilisation, ja sogar des Lebens selbst gewesen zu sein schienen. Durch bloßes Drücken geeigneter Knöpfe konnte man die gewaltige wirtschaftliche Routinearbeit innerhalb der Weltgemeinschaft erledigen. Auf diese Weise ließen sich alle Arbeiten im Verkehrswesen, im Bergbau, in der industriellen Fertigung und sogar der Landwirtschaft ausführen. Ja, sogar die systematische Abstimmung und Koordination dieser Tätigkeiten ließ sich in den meisten Fällen durch einen selbsttätig regulierenden Steuerungsmechanismus bewirken. Daher war es für die Menschen nicht länger erforderlich, ihr ganzes Leben mit monotonen, keinerlei Fachausbildung erfordernden Arbeiten zu verbringen, und auch viele Arbeiten, die bei den früheren Rassen einen hohen Ausbildungsgrad erfordert hätten, die aber im Grunde stereotyp waren, wurden jetzt von Maschinen ausgeführt. Nur die Weiterentwicklung der Industrie, die unaufhörlichen anregenden Forschungen, Erfindungen, Entwürfe und Umorganisationen, die sich bei einer ständig im Wandel befindlichen Gesellschaft ergeben, beschäftigte auch weiterhin Intellekt und Seele der Männer und Frauen. Obwohl es sich hier um einen immensen Arbeitsanfall handelte, beanspruchte er doch nur einen Teil der Aufmerksamkeit der gesamten Weltbevölkerung. So konnte sehr viel Energie der Menschheit ungehindert auf andere, nicht weniger schwierige Dinge verwandt werden, oder man konnte seine Erholung bei vielen verschiedenen Künsten und Sportarten suchen. Jeder einzelne war materiell gesehen ein Multimillionär, denn ihm stand eine Vielzahl von mächtigen Maschinen zur Verfügung. Es war aber ebenso ein mittelloser Bettelmönch, denn er besaß überhaupt keine wirtschaftliche Macht über irgendeinen anderen Menschen. Er konnte innerhalb einer Stunde durch die Stratosphäre von einem Ort zum anderen auf der gegenüberliegenden Hemisphäre fliegen, oder, wenn er das nicht mochte, den ganzen Tag über zwischen den Wolken müßig herumhängen. Sein Flugapparat war nicht mehr ein schwerfälliges Flugzeug, sondern ein schwingenloses Luftboot oder ein bloßer Overall, in dem er frei wie ein 329
Vogel durch die Lüfte flog. Nicht nur in der Luft konnte er sich mühelos bewegen, sondern auch im Meer und dort auf dem Meeresgrund herumstreifen und mit Tiefseefischen spielen. Es stand ihm frei, als Wohnsitz entweder eine Hütte in der Wildnis zu wählen oder sich in einem jener großen Türme niederzulassen, denen gegenüber die Architektur des amerikanischen Zeitalters wie Spielzeug erschienen wäre. Er durfte auch einen solchen gewaltigen Palast ganz allein bewohnen und in ihm seine Maschinen und seinen Besitz unterbringen, für deren Instandhaltung automatisch und ohne sein Zutun gesorgt wurde. Er konnte sich aber auch mit anderen zusammentun und aus dem Turm einen Bienenstock schwirrenden Lebens machen. Alle diese Annehmlichkeiten waren für ihn so selbstverständlich wie für den Wilden die Luft, die er atmet. Da sie jedem ebenso wie die Luft zur Verfügung standen, wurden sie weder überbewertet, noch wurden sie anderen mißgönnt. Trotzdem hatte die Bevölkerung der Erde außerordentlich stark zugenommen. Etwa 10 Milliarden Menschen lebten in den schneebedeckten Türmen, die wie ein künstlicher, nicht allzu dichter Wald die Kontinente bedeckten. Zwischen jenen großen Obelisken lagen landwirtschaftlich genutzte Flächen, Parks und Wildnis. Man hatte nämlich sehr viele Wälder und Gebirge gewissermaßen als Spielplätze erhalten. Ein ganzer Kontinent, der sich von den Tropen bis in die Arktis erstreckte, wurde völlig unberührt in seinem ursprünglichen Zustand gelassen. Im wesentlichen wegen der darin enthaltenen Gebirge hatte man dieses Gebiet ausgewählt, denn man schätzte Berge sehr, da die meisten gebirgigen Hochflächen von Wasser und Frost abgetragen und unscheinbar geworden waren. In diesem wilden Kontinent führten Menschen jeglichen Alters viele Jahre hindurch das Leben von Primitiven ohne irgendeine Hilfe und Unterstützung durch die Zivilisation. Man hatte erkannt, daß gerade eine besonders hoch entwickelte Rasse, die sich fast ausschließlich den Künsten und den Wissenschaften widmete, besondere Maßnahmen ergreifen müßte, um nicht den Kontakt mit dem Primitiven, dem Einfachen und dem Ursprünglichen zu 330
verlieren. So konnte man in dem wilden Kontinent jederzeit auf eine, allerdings nicht sehr große Bevölkerung von ›Wilden‹ treffen, die mit Waffen aus Feuersteinen und Knochen oder seltener aus Eisen ausgerüstet waren, das sie und ihre Freunde in mühevoller Arbeit dem Boden entrissen hatten. Diese freiwillig Primitiven waren vor allem eifrige Jäger und betrieben eine einfache Landwirtschaft. Die geringe, ihnen zur Verfügung stehende Freizeit widmeten sie der Kunst, der Meditation oder dem vollen Genuß aller ursprünglich menschlichen Werte. Es war ein sehr hartes und gefährliches Leben, das sich jene Intellektuellen von Zeit zu Zeit selbst auferlegten. Obwohl sie einen Reiz darin sahen und sich dafür begeistern konnten, hatten sie trotzdem oft Furcht vor Entbehrungen und vor der Ungewißheit, ob sie jemals wieder in die Zivilisation zurückkehren könnten. Denn die Gefahr umlauerte sie überall. Die Fünften Menschen hatten die törichte Zerstörung aller Tiere durch die Vierten Menschen dadurch wieder ausgeglichen, daß sie ein System völlig neuer Tierarten erschufen, die vor allem jenen wilden Kontinent bevölkerten. Einige dieser Kreaturen waren recht beachtliche Fleischfresser, denen gegenüber der nur mit primitiven Waffen ausgerüstete Mensch durchaus berechtigte Furcht empfinden konnte. Eine hohe Sterblichkeit war daher in dem wilden Kontinent üblich und unvermeidlich; und viele hoffnungsvolle Menschenleben kamen dort zu einem jähen Ende. Es wurde aber eingesehen, daß ein solches Opfer im Hinblick auf die Entwicklung der Rasse nicht umsonst gebracht wurde; denn die geistigen und seelischen Auswirkungen eines zeitweiligen Lebens in der Wildnis machten sich recht positiv bemerkbar. Wesen, deren natürliche Lebenserwartung etwa dreitausend Jahre betrug, und die sich fast ausschließlich mit zivilisatorischen Aufgaben und Beschäftigungen abgaben, taten zehn Jahre in der Wildnis gelegentlich außerordentlich gut, sowohl zur Stärkung ihrer Kräfte als auch zur Erweiterung ihrer geistigen und seelischen Frequenz. Die Kultur der Fünften Menschen wurde sehr stark durch ihre ›telepathische‹ Verbindung untereinander beeinflußt. Man konnte sich jetzt 331
der offensichtlichen Vorteile dieser Fähigkeit erfreuen, ohne Nachteile dafür in Kauf nehmen zu müssen. Da sich jeder einzelne entweder vollständig oder hinsichtlich einiger besonderer geistiger und seelischer Prozesse jederzeit bewußt gegenüber der von anderen ausgehenden Strahlung abschirmen konnte, bestand für ihn niemals die Gefahr, daß er seine Individualität verlor. Andererseits war er gegenüber Wesen, deren Verständigungsmöglichkeiten nur auf der symbolischen Sprache beruhten, durch die ›telepathische‹ Kommunikation unvergleichbar besser in der Lage, an Erfahrungen anderer teilzuhaben. Kollisionen zwischen verschiedenen Absichten und Bestrebungen waren natürlich auch jetzt noch möglich, aber sie konnten viel leichter als bei irgendeiner der früheren Arten zu einem Verständnis für die verschiedenen Standpunkte und Intentionen führen. Daher gab es weder im Denken noch im Begehren langanhaltende oder grundlegende Konflikte. Man wußte überall, daß Unterschiede in Meinung und Zielrichtung durch telepathische Diskussionen ausgeglichen werden konnten. Manchmal ging das sehr leicht und schnell. Manchmal gelang es aber erst, nachdem man Seele und Geist aufeinandergelegt« hatte, um geduldig und bis ins einzelne genau zu erkennen, wodurch die Differenzen entstanden waren. Die Sprache war angesichts einer dieser Spezies allgemein zur Verfügung stehenden ›telepathischen‹ Befähigung nicht mehr nötig. Sie blieb zwar noch erhalten und wurde hoch geschätzt, aber nicht mehr als Kommunikationsmittel, sondern als künstlerisches Ausdrucksmittel. Das Denken bediente sich natürlich auch weiterhin im wesentlichen noch der Worte. Aber wenn man jemand etwas mitteilen wollte, brauchte man dazu keine Worte mehr. Für die Aufzeichnung und die Speicherung von Gedanken mußte man sich jedoch auch weiterhin der Schriftsprache bedienen. Die Sprache war in ihrer geschriebenen und gesprochenen Form ein viel differenzierteres und zuverlässigeres Instrument für die genaueste begriffliche Erfassung von Gedanken und Gefühlen geworden als je zuvor. 332
Die ›Telepathie‹ zusammen mit der langen Lebensdauer der Spezies und der außergewöhnlich subtilen Struktur ihres Gehirns ermöglichte es dem einzelnen, unvorstellbar viele intime Freundschaften zu schließen und auch die Rasse als Ganzes besser zu kennen. Dies, fürchte ich, wird vielleicht meinen Lesern unglaublich erscheinen, wenn sie sich nicht dazu entschließen, hierin ein Symptom für die hohe geistige Entwicklung der Spezies zu sehen. Es war tatsächlich so, daß jede einzelne Person jede andere, wenigstens als ein Gesicht, als einen Namen oder als Inhaber eines besonderen Amtes kannte. Man kann die Auswirkungen einer solchen Bekanntschaft aller Personen untereinander kaum überschätzen. Sie bedeuteten nämlich, daß die Spezies als Ganzes in jedem Augenblick wenn auch nicht einer Gruppe von Freunden, so doch einem großen Club oder einer Hochschule glich. Es kam noch hinzu, daß, da jeder einzelne das Spiegelbild seiner eigenen Seele und seines Geistes in sehr vielen anderen entdecken konnte, er angesichts der vielen unterschiedlichen psychischen Charaktere und Typen, bei denen er sein Spiegelbild wiederfand, zu einem sehr genauen und zutreffenden Bewußtsein seiner selbst kam. Bei den Marswesen hatte sich aus dem ›telepathischen‹ Verkehr ein echtes Gruppenbewußtsein gebildet, ein einziger, die gesamte Rasse erfassender psychischer Prozeß, der sich der elektromagnetischen Strahlung als seines Vehikels bediente; aber dieses Gruppenbewußtsein war dem Einzelbewußtsein unterlegen. Alles, was im besten Sinne das Individuelle ausmachte, war ohne Wirkung auf das Gruppenbewußtsein und hatte darin keinen Platz. Beim Fünften Menschen war die ›Telepathie‹ hingegen nur ein Mittel der Verständigung zwischen Individuen, es gab kein wirkliches Gruppenbewußtsein. Andererseits verständigte man sich selbst über die tiefsten und differenziertesten Erfahrungen auf ›telepathischem‹ Wege. Die Kultur der Fünften Menschen konnte überhaupt nur durch einen ständigen ›telepathischen‹ Austausch von Erfahrungen über Kunst, Wissenschaft, Philosophie und über die Begegnung mit anderen Persönlichkeiten bestehen. Bei den Marswesen 333
war eine ›telepathische‹ Einheit im wesentlichen nur auf Kosten der Beseitigung individueller Unterschiede entstanden. Bei den Fünften Menschen hingegen partizipierte auf der Grundlage jener ›telepathischen‹ Verständigung jeder einzelne von den geistigen und seelischen Eigenheiten eines jeden anderen, sein eigenes Bewußtsein wurde gewissermaßen multipliziert mit dem ungeheueren Reichtum von 10 Milliarden weiterer menschlicher Bewußtseinseinheiten. Jeder einzelne war daher im echten Sinne das Kulturbewußtsein seiner Art, es gab aber trotzdem so viele unterschiedliche Bewußtseinsstrukturen wie Individuen. Diesen Bewußtseinsstrukturen der Individuen war kein zusätzliches Bewußtsein der gesamten Rasse übergeordnet. Jedes Individuum war ein bewußtes, in sich abgeschlossenes Wesen, das an der Erfahrung aller anderen Wesen teilhatte, und seinen eigenen Beitrag hierzu leistete. Wäre die Weltregierung nicht imstande gewesen, einen so großen Teil ihrer Kraft und Energie auf die höheren geistigen und seelischen Tätigkeiten zu konzentrieren, wäre ein solcher Zustand unmöglich gewesen. Diese Ziele bestimmten die gesamte gesellschaftliche Struktur. Es ist nahezu unmöglich, das Wesen und die Ziele dieser Kultur auch nur anzudeuten, geschweige denn verständlich zu machen, daß sich eine gewaltige Bevölkerung während unzähliger Millionen Jahre nicht vollkommen und nicht einmal hauptsächlich mit dem industriellen Fortschritt, sondern fast ausschließlich mit Kunst, Wissenschaft und Philosophie beschäftigt haben soll, ohne sich dabei zu wiederholen und ohne der Langeweile zu verfallen. Es läßt sich nur darauf hinweisen, daß Geist und Seele um so mehr Dinge im Universum entdecken, mit denen sie sich beschäftigen, je höher sie ausgeprägt und entwickelt sind. Selbstverständlich hatten sich die Fünften Menschen schon sehr früh mit jenen Widersprüchen der Naturwissenschaften auseinandergesetzt und sie überwunden, die seinerzeit die Ersten Menschen so verwirrt hatten. Selbstverständlich kannten sie auch den Bau des Kosmos und 334
den des Atoms genauestens. Trotzdem geriet immer wieder das Gebäude ihrer Wissenschaften durch eine neue Entdeckung ins Wanken, so daß sie alles mit viel Geduld nach einem völlig neuen Entwurf wieder aufbauen mußten. Schließlich schienen sie jedoch mit ihrer klaren Einsicht in die Grundlagen der Psychophysik, in der die frühere Psychologie und Physik gewissermaßen eine chemische Verbindung eingegangen waren, ihren Bau auf einem soliden Fundament errichtet zu haben. In dieser Wissenschaft wurden die grundlegenden Begriffe der Psychologie physikalisch ausgedeutet und die grundlegenden Begriffe der Physik psychologisch. Weiterhin entdeckte man, daß die Grundlagen des physischen Universums den Grundprinzipien der Kunst entsprachen. Aber, und hierin lag ein Mysterium, das selbst die Fünften Menschen mit Entsetzen erfüllte, es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, daß dieser unter ästhetischen Gesichtspunkten bewundernswerte Kosmos die Arbeit eines bewußten Künstlers sein konnte, noch daß sich jemals ein Bewußtsein so hoch und weit entwickeln würde, daß es in der Lage wäre, das Ganze in seinem Zusammenhang und in seinen Einzelheiten voll erkennen und würdigen zu können. Da die Kunst für die Fünften Menschen in gewissem Sinne die Grundlage des Kosmos gelegt zu haben schien, waren sie natürlich am künstlerischen Schaffen sehr interessiert. Alle diejenigen, die nicht mit Fragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, mit wissenschaftlichen Forschungen oder mit der reinen Philosophie befaßt waren, gehörten dem Berufsstand der schaffenden Künstler oder der Handwerker an. Das heißt, sie waren mit der Herstellung von Gegenständen verschiedener Art beschäftigt, deren Form für den Betrachter ästhetisch eindeutig und vollendet sein sollte. In einigen Fällen handelte es sich bei diesen Gegenständen auch um Wortkunstwerke, um Musikwerke, in anderen Fällen um bewegte Farbgestalten, um ein Gebilde aus Stahlwürfeln und Stangen, um die Umsetzung der menschlichen Gestalt in irgendein Medium usw. Das ästhetische Empfinden drückte sich auch in unzähligen handgefertigten Gebrauchsgegenständen aus, 335
manchmal in verschwenderischem Schmuck, ein andermal lediglich durch die Herausarbeitung schlichter funktionaler Schönheit. Sämtliche künstlerische Medien, die schon die Ersten Menschen angewandt hatten, wurden auch von den Fünften Menschen berücksichtigt; hinzu kamen jedoch unzählige neue Kunstarten und -mittel. Im großen und ganzen schätzte man solche Kunstarten höher ein, in denen eine gewisse Dynamik zum Ausdruck kam, in denen sich nicht nur das Räumliche sondern auch das Zeitliche ausdrücken ließ, denn die Rasse war besonders an allen mit der Zeit zusammenhängenden Fragen interessiert. Alle jene unzähligen Künstler glaubten, daß sie etwas besonders Wichtiges taten. Der Kosmos wurde von ihnen als eine ästhetische Einheit im Räumlichen und im Zeitlichen angesehen, die von einer für Menschen unvorstellbaren Komplexität war. Man glaubte, daß Kunstwerke dem Menschen dazu verhelfen würden, einen winzigen Teil jener kosmischen Schönheit erblicken und bewundern zu können. In den Kunstwerken, so sagte man, wären Züge des Kosmos zu erkennen, dessen Gestalt der Mensch auf andere Weise nie erfassen könne, weil er wegen dessen ungeheurer Größe und seiner eigenen Flüchtigkeit für ihn unbegreiflich bliebe. Das Kunstwerk wurde manchmal mit einer umfangreichen mathematischen Formel verglichen, die ein gewaltiges, anscheinend chaotisches Durcheinander von Tatsachen zusammenfassen sollte. In Wirklichkeit wäre ein Kunstwerk jedoch nicht mit einer mathematischen Formel zu vergleichen, so sagte man, sondern die Einheit, die ein Kunstwerk offenbare, beruhe im wesentlichen auf der Erfassung von zwei Faktoren, nämlich der Erfassung der lebendigen Natur und derjenigen des Geistes. So glaubte die Spezies von sich, daß sie sich einem großen Unternehmen der Entdeckung und der Schöpfung gewidmet hätte, zu dem jeder einzelne die ihm gemäßen einzigartigen Beiträge beisteuerte und gleichzeitig am Ganzen teilhätte. Als die Jahre nach Millionen und Zehnmillionen zu zählen begannen, mußte man feststellen, daß sich die Kultur der Welt eigentlich nur 336
in Spiralform voranbewegte. Es hatte zum Beispiel Perioden gegeben, in denen sich das Interesse der Menschheit fast vollständig bestimmten Existenzfragen zuwandte. Nach vielleicht hunderttausend Jahren war man der Überzeugung gewesen, daß dieser Problemkreis vollkommen durchdacht und erschlossen war, und man ließ ihn fallen. Während der nächsten Periode pflegte man dann seine Aufmerksamkeit wieder anderen Fragen zu widmen und danach wieder anderen und wieder anderen. Schließlich kehrte man zu den alten verlassenen Feldern zurück und entdeckte mit Erstaunen, daß sie jetzt auf wunderbare Weise einen millionenfach größeren Ernteertrag ergaben. So kam der Mensch in der Naturwissenschaft und in der Kunst nach einiger Zeit immer wieder auf die alten Themen zurück. Er beschäftigte sich erneut mit vielen Einzelfragen sehr genau und gewann dabei neue Erkenntnisse und erblickte neue Schönheiten, die früher für ihn gänzlich unzugänglich gewesen waren. Obwohl die Wissenschaft unaufhörlich voranschritt und immer umfassendere und auch mehr in Einzelheiten gehende Erkenntnisse über das Leben zusammentrug, entdeckte sie doch in bestimmten Zeitabständen stets wieder ein revolutionäres Grundprinzip, das den gesamten bisher angesammelten Wissensschatz in völlig neuer Bedeutung erscheinen ließ. Und auch in der Kunst konnte man in einer Epoche Kunstwerke entdecken, die, oberflächlich betrachtet, mit den Kunstwerken einer früheren Epoche völlig identisch zu sein schienen, die jedoch für den Kenner unvergleichlich tiefere Bedeutung hatten. Ähnlich war es auch bei den Menschen selbst. Jene Männer und Frauen, die zu einer Zeit lebten, als die Tage der Fünften Menschen gezählt waren, konnten oft in der dunklen frühen Vergangenheit ihrer Rasse Wesen entdecken, die ihnen seltsam ähnlich waren, die sich aber nur in wenigen Dimensionen auskannten und nicht in einer so vieldimensionierten Tiefe und Weite lebten, wie sie selbst. Wie die Landkarte ein Abbild des Gebirges ist, das Bild stellvertretend für die Landschaft steht, oder Punkt und Kreis einer Sphäre ähneln, so — allerdings nur auf diese Weise — glich auch der Fünfte Mensch der Blüte der Menschheit. 337
Eine derartige Feststellung hätte bereits angesichts der vielen Perioden eines beständigen gleichmäßigen kulturellen Fortschritts ihre Berechtigung. Aber sie ist von noch größerer Bedeutung angesichts einer Entwicklung, die ich im folgenden etwas ausführlicher darstellen muß.
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kapitel xii
Die letzten Menschen auf der Erde
Der Kultus der Vergänglichkeit Die Fünften Menschen besaßen keine Unsterblichkeit wie ihre Schöpfer. Die Tatsache, daß sie sterblich und doch langlebig waren, bestimmte den besonderen Glanz und die Eigenart ihrer Kultur. Wesen, deren natürliche Lebenserwartung dreitausend Jahre betrug und sich später sogar bis auf fünfzigtausend Jahre ausdehnte, waren besonders beunruhigt durch die Aussicht auf den Tod und auf den Verlust all jener, die ihnen nahestanden. Ein kurzlebiges Wesen, das entsteht und fast gleichzeitig wieder vergeht, noch bevor es begonnen hat, sich seiner selbst bewußt zu werden, kann seinem Ende mit halb unbewußtem Mut gegenübertreten. Selbst sein Schmerz beim Verlust von anderen Wesen, mit denen es vertraut war, ist nichts weiter als ein vages und fast traumhaftes Leiden. Ein kurzlebiges Wesen hat keine Zeit, sich voll zu entfalten oder mit anderen eine wirklich echte Vertrautheit zu erreichen, bevor ihm seine Geliebten und Vertrauten wieder entrissen werden und es selbst in Bewußtlosigkeit versinkt. Aber bei den langlebigen und doch nicht unsterblichen Fünften Menschen lagen die Dinge anders. Sie wußten, daß der ganze Reichtum ihrer Seele, ihrer Erfahrung, ihr Wissen um den Kosmos, ihr immer genaueres und lebendigeres Verstehenkönnen und ihre Freude an den Dingen sehr bald vorüber sein würden. Und obwohl sie in der Liebe einen hohen Intimitätsgrad nicht nur mit einer, sondern mit vielen Personen erreicht hatten, erschien ihnen der Tod eines dieser geliebten Wesen als eine unwiderrufliche Tragödie, als die völlige Auslöschung des strahlendsten Ruhmes einer Persönlichkeit, als ein Verlust für den Kosmos für alle Zeiten. In ihrer kurzen primitiven Entwicklungsphase versuchten sich die Fünften Menschen, wie viele andere Rassen vor ihnen, mit dem der Vernunft widersprechenden Glauben an ein Leben nach dem Tode zu trösten. Sie stellten sich zum Beispiel vor, daß die Erdenmenschen nach ih341
rem Tode in eine an ihr irdisches Leben anschließende, aber viel reichere Existenz entweder in irgendeinem entfernt gelegenen Planetensystem oder an einen ganz bestimmten Ort des Raum-Zeit-Kontinuums hinüberwechselten. Obwohl derartige Theorien in der primitiven Periode niemals widerlegt wurden, galten sie doch in immer zunehmenderem Maße nicht nur als unwahrscheinlich, sondern geradezu als unwürdig. Es wurde nämlich erkannt, daß der strahlende Glanz der Persönlichkeit, selbst in hohem Grade vollkommener Schönheit, wie er jetzt zum erstenmal erlebt wurde, doch nicht das Höchstmaß an Vervollkommnung darstellt. Es war eine schmerzvolle und doch wieder erhebende Einsicht, daß sogar der Wunsch des Liebenden, die Geliebte oder der Geliebte sollte unsterblich sein, ein Verrat des Menschen an seiner höchsten Loyalitätsverpflichtung bedeutete. Und immer mehr wurde offenbar, daß alle diejenigen, die ihre großen Fähigkeiten und sogar ihr Genie darauf verwandten, die Wahrheit über ein Leben nach dem Tode herauszufinden oder mit ihren geliebten Toten eine Verbindung aufzunehmen, unter seltsamer Blindheit und geistiger Stumpfheit litten. Zweifellos war die Liebe selbst, die sie dazu geführt hatte, eine bewundernswerte Kraft, aber sie waren von ihr doch in eine falsche Richtung geführt worden. Sie wanderten wie Kinder umher, die ihr verlorenes Spielzeug suchten. Wie Heranwachsende, die die Unbefangenheit und die Freude an den Dingen ihrer Kindheit wiedergewinnen wollten, schreckten sie vor jenen schwierigeren Dingen zurück, deren Wahrnehmung und Bewunderung dem Erwachsenen gemäß gewesen wäre. So betrachteten es die Fünften Menschen als ihr Ziel, sich selbst in Augenblicken der Trauer darin zu üben, nicht einzelnen Personen ihre größte Bewunderung entgegenzubringen, sondern jener gewaltigen Musik unzähliger Einzelwesen, in denen das Leben der gesamten Menschheit wiederklingt. Sehr früh schon in ihrer Entwicklung vermochten sie eine von ihnen zunächst nicht erwartete Schönheit in der Tatsache zu erkennen, daß das Einzelwesen sterben mußte. Als sie schließlich die Mittel besaßen, um sich selbst die Gabe der 342
Unsterblichkeit zu verleihen, gebrauchten sie diese Mittel nicht, sondern entschieden sich für eine bloße Verlängerung der Lebensdauer auf etwa 50 000 Jahre. Um die menschlichen Fähigkeiten voll auszuschöpfen, war nach ihrer Meinung eine so lange Lebensdauer erforderlich. Die Unsterblichkeit, glaubten sie, würde sie in eine geistige Katastrophe führen. Mit dem Voranschreiten ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse entdeckten sie, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, noch vor dem Entstehen der Sterne, da Geistiges und Seelisches im Kosmos noch nicht existiert hätten und daß es wieder eine Zeit geben würde, in der alles Geistige und Seelische ausgelöscht sein würde. Die früheren Arten des Menschen hatten sich nicht um das weitere und letzte Schicksal des Bewußtseins zu kümmern brauchen. Für die langlebigen Fünften Menschen war jedoch das Ende, wenn es auch noch in ferner Zukunft lag, nicht mehr so unendlich weit entfernt. Eine derartige Aussicht beunruhigte sie. Sie hatten sich dazu erzogen, nicht um des einzelnen willen, sondern um der Rasse willen zu leben und mußten jetzt erkennen, daß selbst das Leben der Rasse ein bloßer Lebensfunke zwischen der unendlichen Leere der Zukunft war. Es gab bei ihnen nichts, was höher geschätzt wurde als die systematische Weiterbildung der Mentalität der Menschheit. Die Überzeugung, daß dieser Prozeß sehr bald aufhören würde, erfüllte viele kleinere Geister mit Entsetzen und Unwillen. Im Laufe der Zeit vermuteten die Fünften Menschen jedoch, ebenso wie es die Zweiten Menschen schon lange vor ihnen getan hatten, daß sich sogar in jenem tragisch kurzen Aufflackern des Geistes besondere Schönheit offenbare, die schwieriger zu erkennen, aber um so hervorragender wäre. Wenn auch das Leben der menschlichen Rasse nur einen Augenblick der Unendlichkeit erfüllte, könnte der Menschengeist doch den gesamten Raum sowie Vergangenheit und Zukunft durchdringen und auf diese Weise, gewissermaßen aus den Gittern seines Gefängnisses heraus, dem Universum seine intelligente Verehrung entgegenzubringen, die dieses von ihm verlangte. Das wäre wenigstens besser, mein343
ten sie, als wenn er seine Kraft für nutzlose Fluchtversuche vergeuden würde. Seine Würde läge in seiner Schwäche, und die Würde des Kosmos in der Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Unendlich lange Zeiten hindurch hielten sie an diesem Glauben fest. Sie übten ihre Herzen, sich damit abzufinden und sagten: »Wenn es so ist, so ist es schon am besten für uns. Wir müssen nur zu begreifen versuchen, daß es das Beste für uns ist.« Was sie nun unter »das Beste« verstanden, war etwas völlig anderes, als es vielleicht ihre Vorfahren begriffen hätten. Sie machten sich zum Beispiel nichts vor, indem sie sich etwa einredeten, daß ihnen die Vergänglichkeit des Lebens lieber als die Unsterblichkeit wäre. Im Gegenteil, sie sehnten sich durchaus nach Unsterblichkeit. Da sie aber sowohl hinter der physischen Ordnung als auch hinter ihren geistigen und seelischen Wünschen ein grundlegendes ästhetisches Prinzip entdeckt hatten, hielten sie an der Überzeugung fest, daß das, was Tatsache war, auch unter universalen Gesichtspunkten stimmig, richtig, schön und ein Bestandteil der kosmischen Form sein müsse. So akzeptierten sie einen Zustand als rechtmäßig gegeben, mit dem sie im Grunde ihres Herzens überhaupt nicht einverstanden waren. Diese Überzeugung von der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit und der Vergänglichkeit des Geistes und der Seele erweckte bei ihnen eine große Zärtlichkeit allen Wesen gegenüber, die gelebt hatten und vergangen waren. Sie glaubten, daß sie den Gipfel ihrer Lebensleistung erreicht hätten, sie waren mit einem langen Leben gesegnet und besaßen philosophische Objektivität. Und doch waren sie oft vom Mitleid ergriffen mit jenen einfacheren, kurzlebigeren und weniger freien Wesen, die in der Vergangenheit existiert hatten. Da sie selbst geistig außerordentlich komplex, subtil und bewußt empfanden, fühlten sie sich zu allen einfacheren Wesen, wie zum Beispiel den Ersten Menschen und zu den wilden Tieren, besonders hingezogen und bewunderten sie. Die Vernichtung so vieler fröhlicher und ergötzlicher Kreaturen durch ihre Vorfahren 344
verurteilten sie mit großem Nachdruck. Sie machten sich ernstlich daran, in ihrer Phantasie wieder alle jene Wesen entstehen zu lassen, die ein blinder Intellektualismus hingemordet hatte. Ebenso wühlten sie in der nahen und fernen Vergangenheit, um so viel wie möglich über die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten zu erfahren. Mit gewissenhafter Liebe gingen sie dem Leben längst ausgestorbener Arten nach. So beschäftigten sie sich zum Beispiel mit dem Brontosaurier, dem Nilpferd, dem Schimpansen, dem Engländer, dem Amerikaner, oder auch mit noch vorhandenen Amöbenarten. Und während sie sich an der eigenartigen Komik und der Possierlichkeit jener untergegangenen Wesen ergötzten, entsprang ihre amüsierte, liebevolle Anteilnahme an diesen Primitiven im Grunde genommen ihrer Einsicht, daß diese ein tragisches Schicksal hatten, weil sie blind gewesen waren. Obwohl sie erkannten, daß der Mensch seine Hauptkräfte vor allen Dingen für die Meisterung der Zukunft einsetzen mußte, fühlten sie, daß er auch gegenüber der Vergangenheit Verpflichtungen hätte. Er mußte die Vergangenheit in seinem Geist bewahren. Wenn er sie schon nicht mehr lebendig machen konnte, so mußte er sie doch wenigstens mit seinem Wesen zu umgreifen versuchen. Vor ihm in der Zukunft lagen Ruhm, Freude und glanzvolle Abenteuer des Geistes. Die Zukunft verlangte Arbeit und Bemühen, kein Mitleid, keine Pietät; aber in der Vergangenheit gab es Dunkel, Verwirrung, Verschwendung, alle jene verkrampften primitiven Seelen, die in ihrer Verwirrung und Dummheit einander quälten, die dennoch jede für sich und alle zusammen in ihrer Art einzigartig und schön waren. So betrachtete es der Fünfte Mensch als eine seiner Hauptaufgaben, die Vergangenheit nicht nur in Form der Geschichte, sondern auch mit der Lebendigkeit des Romans wieder erstehen zu lassen. Viele widmeten sich dieser Aufgabe, jeder einzelne spezialisierte sich genauestens auf eine besondere Episode aus der Geschichte des Menschen oder der Tiere und fügte seine Arbeit in die Kultur der Rasse ein. So erlebte der Einzelne sein eigenes Leben immer mehr als ein bloßes Aufflackern 345
zwischen dem Gewimmel der Vergangenheit und den endlosen Leeren der Zukunft. Seine Lebensfreude als Angehöriger einer sehr edlen und glücklichen Rasse wurde gedämpft, aber auch gleichzeitig vertieft durch das Gefühl der geisterhaften Gegenwart von Myriaden weniger glücklicher Wesen der Vergangenheit. Manchmal wurde die Pietät gegenüber den Primitiven und der Vergangenheit, besonders in Epochen, in denen die Entwicklung recht zufriedenstellend und hoffnungsvoll verlief, bestimmend für die Aktivität der Rasse. Es wechselten Phasen der Auflehnung gegen das tyrannische Wesen des Kosmos mit solchen, in denen man glaubte, daß jene Schrecken doch im universalen Sinne gerechtfertigt wären. In einer jener letzteren Gemütslagen glaubte man, daß die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit allen denen, die früher gelebt hatten, sowie auch dem Kosmos zum Ruhme gereichen würde, so wie sich ein tragisches Kunstwerk durch die Unvermeidbarkeit einer Katastrophe auszeichne. Jahre hindurch wurde diese Haltung der Ergebung und des Glaubens zu einem charakteristischen Zug der Fünften Menschen. Die Fünften Menschen sollten aber eine bestürzende Entdeckung machen, eine Entdeckung, die ihre Einstellung gegenüber dem Leben völlig verwandeln sollte. Gewisse unklare biologische Tatsachen brachten sie rein empirisch auf die Vermutung, daß die Ereignisse der Vergangenheit durchaus nicht etwa unexistent wären, daß sie zwar im zeitlichen Sinne nicht mehr existierten, aber auf irgendeine andere Art ewig weiterwirkten. Diese immer mehr um sich greifende Vermutung über die Vergangenheit führte zur Spaltung der bis dahin in Harmonie lebenden Rasse in zwei verschiedene Gruppen, nämlich in jene, die darauf beharrten, daß die Schönheit des Universums eine Vergänglichkeit der Form aller Dinge erfordere, und in jene, die entschlossen waren zu beweisen, daß Seele und Geist der Lebenden in der Lage sein würden, in die fernste Vergangenheit zurückzureichen. Die Leser dieses Buches werden kaum imstande sein, sich die Bedeutung dieses Konfliktes klarmachen zu können, der jetzt die Menschheit 346
zu zerstören drohte. Sie vermögen ihn nicht in der Perspektive einer Rasse zu sehen, deren Kultur sich auf eine über lange Zeit hin betriebene Erziehung zur Bewunderung eines ständig lebenszerstörerisch wirkenden Kosmos aufbaute. Die Orthodoxen hielten diese neue Ansicht für ketzerisch, unverschämt und vulgär. Ihre Gegner hingegen beharrten darauf, daß die ganze Angelegenheit leidenschaftslos, je nach den zur Verfügung stehenden Beweisen, entschieden werden müßte. Sie wiesen auch darauf hin, daß die Anbetung der Vergänglichkeit letzten Endes aus der Überzeugung resultiere, daß der Kosmos in seiner Gestalt und seiner Wirkung edel sein müsse. Niemand, so sagte man, könne aber die Vergänglichkeit an sich als einen besonders vortrefflichen Zug des Universums ansehen. So tiefgehend wirkte diese Auseinandersetzung, daß die orthodoxe Gruppe alle ›telepathischen‹ Verbindungen zu den Rebellen abbrach und sogar ihre Vernichtung plante. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß im Falle der Gewaltanwendung die menschliche Rasse tatsächlich vernichtet worden wäre, denn mörderische Kriege hätten einen schweren Eingriff in das Wesen einer Spezies gehabt, die eine so hohe geistige Entwicklungsstufe erreicht hatte. Eine so schändliche geistige Katastrophe hätte man nicht überleben können. Glücklicherweise konnte sich jedoch der gesunde Menschenverstand noch in allerletzter Stunde durchsetzen. Man erlaubte den Bilderstürmern, ihre Untersuchungen durchzuführen, und die gesamte Rasse wartete auf ihr Ergebnis.
Die Erforschung der Zeit Der erste Angriff auf die Natur der Zeit erforderte eine ungeheuere gemeinsame Anstrengung sowohl im Theoretischen als auch im Praktischen. Man hatte in der Biologie den ersten Hinweis dafür erhalten, daß die Vergangenheit weiterwirkte. Es erwies sich als notwendig, das gesamte Wissen auf den Gebieten der Biologie und der Physik sowie 347
der anderen Naturwissenschaften unter diesem neuen Gesichtspunkt neu zu ordnen. Weiterhin mußte man im praktischen Bereich umfangreiche physiologische und psychologische Experimente durchführen. Wir können hier nicht näher auf diese Arbeiten eingehen. Man verwandte Millionen von Jahren darauf. Tausende von Jahren hindurch beschäftigte sich manchmal die Rasse mit der Erforschung der Zeit, dann traten diese Projekte wieder in den Hintergrund oder wurden auch in Perioden, die sich anderen Interessengebieten zuwandten, vollkommen unbeachtet gelassen. So vergingen die Zeiten, und alle Versuche des Menschen auf diesem Gebiet blieben ergebnislos. Endlich aber vermochten sie doch einen wirklichen Erfolg zu erringen. Man hatte eines von vielen Kindern ausgewählt, die in einem über lange Zeiten hin durchgeführten Projekt für die Überwindung der Zeit gezüchtet worden waren. Vom Säuglingsalter an war das Gehirn dieses Kindes sehr sorgfältigen physiologischen Untersuchungen unterworfen gewesen. Psychologisch war das Kind einer Sonderbehandlung zugeführt worden, die es für seine seltsame Aufgabe vorbereiten sollte. In Gegenwart mehrerer Wissenschaftler und Historiker wurde es nun in einen Trancezustand versetzt und eine halbe Stunde später wieder daraus erweckt. Es wurde dann veranlaßt, einen ›telepathischen‹ Bericht über seine Erlebnisse während der Trance zu geben. Unglücklicherweise war das Kind jetzt so durcheinander, daß dieser Bericht fast unverständlich war. Nach einigen Monaten der Ruhe stellte man ihm erneut die gleiche Frage, und nun war es in der Lage, eine eigenartige Episode zu beschreiben, die sich als ein Schockerlebnis erwies, das seine tote Mutter als Mädchen gehabt hatte. Es schien diesen Vorfall mit den Augen seiner Mutter gesehen und dabei auch alle ihre Gedanken wahrgenommen zu haben. Das allein bewies an sich noch nichts, denn das Kind hätte ebensogut eine solche Information aus dem Gedächtnis irgendeines Mitlebenden »abzapfen‹ können. So wurde es erneut entgegen seiner dringenden Bitten in jenen besonderen Trancezustand versetzt. Als es wieder erwachte, erzählte es eine unzusammenhängende Geschich348
te von »Leuten, die in einem kompakten kleinen weißen Turm lebten«. Es war klar, daß hiermit die Großen Gehirne und ihre Wärter gemeint waren. Aber auch das war noch kein Beweis, und bevor das Kind seinen Bericht beendet hatte, starb es. Man wählte ein anderes Kind aus, aber unterwarf es einem ebensolchen Test erst, als es bereits die Pubertät überschritten hatte. Nach einer Trance von einer Stunde wachte es auf und war furchtbar erregt. Dann zwang es sich zur Ruhe und beschrieb eine Episode, die die Historiker einwandfrei als im Zusammenhang stehend mit der Invasion der Marswesen datieren konnten. Der von ihm beschriebene Vorfall war durch Erwähnung eines bestimmten Hauses mit einer aus Granit gemeißelten Tür, das neben der Quelle eines Wasserfalls in einem Gebirgstal stehen sollte, besonders wichtig. Das Medium sagte, daß es sich in der Gestalt einer alten Frau wiedergefunden hätte, der die anderen Bewohner des Hauses in größter Eile hinausgeholfen hätten. Alle hätten dann beobachtet, wie ein gestaltloses Ungeheuer in das Tal heruntergekrochen wäre, das Haus zerstört und zwei Personen, die ihm nicht rechtzeitig ausweichen konnten, zermalmt hätte. Das hier beschriebene Haus war nun keineswegs typisch für die Wohnungen der Zweiten Menschen, sondern mußte der Laune irgendeines Einzelgängers entsprungen sein. Durch die näheren Angaben, die der Junge machte, war es möglich, das Tal im Gelände eines früheren Gebirges zu bestimmen, das aus der historischen Geologie bekannt war. Natürlich war an dieser Stelle kein Tal mehr erhalten geblieben. Aber tiefe Ausgrabungen legten die alten Abhänge frei und ebenso ließen sie den Weg des Wasserfalls erkennen. Schließlich wurden sogar die zerbrochenen Säulen entdeckt. Diese und viele ähnliche Vorfälle bestätigten den Fünften Menschen, daß sie mit ihren Forschungen über die Zeit auf dem richtigen Wege waren. In der folgenden Epoche wurde die Technik der direkten Betrachtung der Vergangenheit allmählich verbessert. Das geschah jedoch nicht ohne tragische Zwischenfälle. In den frühen Stadien der Untersuchungen erwies es sich als unmöglich, das Medium für länger als ein 349
paar Wochen nach seinem Ausflug in die Vergangenheit am Leben zu erhalten. Seine Erlebnisse schienen einen fortschreitenden geistigen Zerfall zu bewirken, zunächst zeigten sich Wahnvorstellungen, dann trat eine Paralyse ein, die in wenigen Monaten zum Tode führte. Diese Schwierigkeiten konnte man schließlich beseitigen. Durch verschiedene Mittel gelang es, ein Gehirn zu entwickeln, das den Belastungen von Erlebnissen in anderen Zeiten ohne tödliche Folgen gewachsen war. Ein immer mehr ansteigender Teil der heranwachsenden Generation bekam auf diese Weise direkten Zugang zur Vergangenheit und war damit beschäftigt, die Geschichte aufgrund unmittelbarer Erfahrungen und Erlebnisse zu revidieren. Allerdings ließen sich die Besuche in der Vergangenheit nicht steuern. Die Menschen konnten nicht gehen, wohin sie wollten, sondern wurden durch den Zufall bald hierhin, bald dorthin verschlagen. Bloße Absicht oder Wille reichten nicht für die Durchführung einer solchen Reise aus, sondern man mußte sich dazu einer sehr komplizierten Technik und der Unterstützung von Fachleuten bedienen. Mit der Zeit gelang es, das ganze Verfahren wesentlich zu verbessern, vielleicht kann man sogar sagen, allzu leicht zu machen. Das unglückliche Medium konnte sich selbst ganz leicht in Trance versetzen und merkte gar nicht, wie lange es in der Vergangenheit weilte und wieviel Lebenszeit es auf diese Beschäftigung verwandte. Ganz plötzlich konnte es auf den Boden niederstürzen, dort Monate oder Jahre ganz verzückt, aber dumpf gegenüber seiner Umwelt, liegen bleiben. Es war die ganze Zeit über auf künstliche Ernährung angewiesen. Es war ebenfalls möglich, sich etwa ein dutzendmal am Tage in die verschiedenen Epochen der Geschichte zurückzuversetzen. Eine weitere bedrückende Erfahrung war es auch, wenn die Ereignisse der Vergangenheit nicht mehr dem normalen zeitlichen Ablauf entsprachen. So konnte man etwa die Ereignisse eines Monats oder sogar eines Lebens auf phantastische Weise, wie in einem Zeitraffer zusammengedrängt, in einer Trance von nur einem Tag Dauer an sich vorüberrasen sehen. Oder, was noch schlimmer war, man blickte gewissermaßen im Zeit350
strahl zurück und erlebte die Vorgänge in einer der natürlichen Folge entgegengesetzten Ordnung. So etwas hielten selbst die hervorragenden Gehirne der Fünften Menschen nicht aus. Sie reagierten darauf mit Geistesverwirrung, und schließlich trat der Tod ein. Ein weiteres Problem ergab sich für die ersten Experimentatoren. Die Möglichkeit, Erfahrungen in verschiedenen Zeiten machen zu können, machte süchtig und wirkte wie eine gefährliche Droge. Diejenigen, die sich in die Vergangenheit wagten, wurden durch ihre Erlebnisse oft in einen derartigen Rauschzustand versetzt, daß sie unablässig bemüht waren, jeden einzigen Augenblick ihres natürlichen Lebens für Streifzüge in der Vergangenheit auszunutzen. Auf diese Weise verloren sie allmählich den Kontakt mit der Gegenwart und lebten nur noch in einem Zustand der Geistesabwesenheit und des Vorsichhinbrütens. Ihr Verhalten der Umwelt gegenüber war gestört, sie fielen für die Gesellschaft praktisch aus, und sie kamen sogar körperlich oft zu Schaden, weil sie nicht mehr in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen. Erst nach vielen weiteren Jahrtausenden konnte man diese Schwierigkeiten und Gefahren überwinden. Aber später hatte sich die Technik der supratemporalen Streifzüge so vervollkommnet, daß jeder einzelne sie bewußt und sicher handhaben und sich mit ihrer Hilfe, innerhalb gewisser Grenzen, an jeden Ort des Raum-Zeit-Kontinuums versetzen konnte, den er aufsuchen wollte. Es war allerdings nur möglich, die Ereignisse der Vergangenheit mit den Augen eines nicht mehr lebenden Wesens jener Zeit zu sehen. In der Regel bediente man sich nur der Sinnesorgane dieser Menschen oder manchmal auch derjenigen höherer Säugetiere. Der Forscher behielt während seines Abenteuers seine eigene Persönlichkeit bei und verfügte auch über sein eigenes Gedächtnis. Während er so die Wahrnehmungen, die Erinnerungen, Gedanken und Wünsche der Individuen der Vergangenheit erlebte und damit auch Bewußtseinsinhalte und -prozesse erfuhr, blieb er doch er selbst und reagierte auf die Ereignisse entsprechend seinem eigenen Charakter, sie einmal ablehnend, ein andermal mitfühlend und mitlei351
dend, zuweilen auch nur als kritischer Betrachter dem Schauspiel beiwohnend. Die Wissenschaftler und Philosophen waren sehr lange damit beschäftigt, die Wirkungsweise dieser neu errungenen Fähigkeiten zu erklären. Ihre endgültige Erklärung läßt sich natürlich hier nicht wiedergeben, es sei denn durch ein Gleichnis. Um die Tatsachen in ihrem Zusammenhang richtig zu interpretieren, war es notwendig, viele grundlegende Begriffe zu revidieren. Die einzige Andeutung, die ich von dieser Erklärung geben kann, läßt sich etwa, auf ein Bild übertragen, so formulieren, daß das Gehirn der Lebenden seinen Zugang zur Vergangenheit nicht über irgendein mysteriöses kollektives Unbewußtes oder durch eine ebenso unmögliche Zeitreise erreichen konnte, sondern daß es gewissermaßen mit einem Teil seiner Funktionen in die Ewigkeit hineinlangte und durch das Bewußtsein eines Angehörigen der Vergangenheit, wie durch ein optisches Instrument, in der Lage war, einen winzigen Ausschnitt der Raum-Zeit zu inspizieren. Die phantastische Geschwindigkeit, das plötzliche Abbremsen und sogar die umgekehrte Ordnung, in der sich den ersten Experimentatoren das zeitliche Geschehen in der Vergangenheit darbot, waren im Grunde genommen auf die unordentliche Inspektionsweise zurückzuführen. Ebenso wie ein Leser die Seiten eines Buches entweder nur flüchtig in sich aufnimmt, oder sie in einem ihm angemessenen Tempo liest, wie er sich an einem besonderen Wort festhakt oder auch einen Satz von hinten nach vorn zurückverfolgt, so konnte auch ein Neuling in der Zeit sehr leicht das sich ihm bietende Bewußtsein auf die verschiedene Art und Weise entziffern oder mißverstehen. Man muß beachten, daß diese neue Erfahrensweise ein Bestandteil der Tätigkeit von lebenden Gehirnen war, wenn es sich dabei auch um Gehirne eines neuen Typs handelte. So hing es auch von der begrenzten Fähigkeit des jeweiligen forschenden Gehirns ab, was es durch das ›Medium der Ewigkeit‹ zu erkennen vermochte. Obwohl der supratemporale Kontakt mit den Ereignissen der Vergangenheit das natürliche 352
Gehirn zeitlich nicht in Anspruch nahm, benötigten jedoch die Herbeiführung jener Vision sowie die sich daran anschließende erforderliche Umstellung auf die normalen Funktionen des Gehirns Zeit. Für diese Anpassung und Umstellung war die Dauer der Trance erforderlich. Wenn man erwarten wollte, daß Nerven ein Erlebnis aus der Vergangenheit unmittelbar vermitteln könnten, so wäre das genauso unsinnig, als wenn man von einer Maschine verlangte, daß sie sich neuen Bedingungen anpassen könnte, ohne ihr Zeit für diese Umstellung und Anpassung zu lassen. Die Erschließung der Vergangenheit hatte natürlich weitreichende Auswirkungen auf die Kultur der Fünften Menschen. Sie erlangten dadurch nicht nur ein unvergleichlich genaueres Wissen über den Ablauf vergangener Ereignisse, Einsicht in die Motive historisch bekannter Persönlichkeiten und in kulturelle Entwicklungen, die sich über große Zeiträume hin auswirkten, sondern es veränderte sich darüber hinaus auch ihre Einschätzung der Bedeutung von Dingen und Ereignissen. Obwohl sich die Fünften Menschen natürlich rein intellektuell die ungeheure zeitliche Ausdehnung und die reiche Fülle der Vergangenheit klargemacht hatten, kam jetzt eine außerordentlich lebendige Vorstellung jener Zeit hinzu. Es war möglich geworden, Angelegenheiten, die man bisher nur historisch und schematisch rubriziert hatte, noch einmal in allen Einzelheiten nachzuerleben und nachzuempfinden. Die einzige dem Einfühlungsvermögen gesetzte Grenze war die begrenzte Gehirnkapazität, die dem einzelnen Forscher zur Verfügung stand. So wie es sein Gedächtnis mit der jüngsten Vergangenheit getan hatte, war es ihm möglich, die fernste Vergangenheit in sich aufzunehmen. Schon bevor diese neuartige Erlebnisfähigkeit entwickelt wurde, hieß es allgemein, daß die gesamte Rasse besonders stark im Banne der Vergangenheit stünde. Das hatte sich seither noch in unvorstellbarem Maße gesteigert. Zuvor hatten die Fünften Menschen Zuhausegebliebenen geglichen, die zwar niemals gereist waren, aber Beschreibungen fremder Gegenden genauestens kannten, jetzt waren sie weitgereist, in allen 353
Kontinenten der menschlichen Zeit erfahren. Die geisterhaften Begegnungen mit Angehörigen längst vergangener Kulturen waren jetzt Begegnungen mit Menschen aus Fleisch und Blut gewichen, die man bei hellem Tageslicht treffen konnte. So erschien ihnen der bewegliche Augenblick, den man Gegenwart nennt, nicht mehr als die einzige Wirklichkeit, sondern nur als die Spitze eines unzerstörbaren, immer weiter in die Höhe wachsenden Lebensbaumes. Die Vergangenheit war wirklicher geworden, nur die Zukunft noch leer, Gegenwart bedeutete für sie nur die kaum zu erfassende, sich ständig verändernde Gestalt einer unzerstörbaren Vergangenheit. Die Entdeckung, daß die Ereignisse der Vergangenheit weiterwirkten und auch zugänglich blieben, erfüllte die Fünften Menschen natürlich mit tiefer und aufrichtiger Freude, aber verursachte auch einen neuen Schmerz. Solange man die Vergangenheit als einen Abgrund der Nichtexistenz ansah, konnte man die unvorstellbar großen Schmerzen, das Elend, die Gemeinheit, die jenen Abgrund ausfüllten, als erledigt ansehen, und man konnte sich darauf konzentrieren, derartige Schrecken in der Zukunft zu verhindern. Jetzt aber mußte man erkennen, daß nicht nur die Freuden, sondern auch das Elend der Vergangenheit bis in alle Ewigkeit existent waren. Und jene, die im Laufe ihrer Reisen in die Vergangenheit auf Epochen ununterbrochener Todeskämpfe gestoßen waren, kamen völlig zerrüttet und entsetzt zurück. Es war natürlich leicht, diese zerquälten Forscher daran zu erinnern, daß nicht nur der Schmerz, sondern auch die Freude ewig währte. Wer Reisen in die tragische Vergangenheit hinter sich hatte, wies derartige Versicherungen mit Verachtung zurück und betonte, daß die Freuden aller Menschen aller Zeiten nicht den Todesschmerz eines gequälten und gepeinigten Einzelwesens ausgleichen könnten. Ganz offensichtlich, so sagten sie, hätte die Freude gegenüber dem Schmerz kein Übergewicht gehabt. Im Gegenteil, Schmerz hätte es, abgesehen von der Moderne, zu allen Zeiten in Überfluß gegeben. 354
So nachhaltig nagten diese Überzeugungen an Seele und Geist des Fünften Menschen, daß diese trotz ihrer fast vollkommenen gesellschaftlichen Ordnung, in der das Leid nur noch als stärkendes Tonikum angewendet wurde, der Verzweiflung verfielen. Immer und überall verfolgte sie die Tragik der Vergangenheit, sie war allgegenwärtig und vergiftete ihr Leben, zerstörte ihre Kräfte. Liebende schämten sich des Entzückens, das sie aneinander fanden. So wie in den längst vergangenen Tagen der sexuellen Tabus senkten sich schwere Schuldgefühle in ihre Seelen und hielten sie selbst dann gefangen und voneinander isoliert, wenn sich ihre Körper vereinigt hatten.
Reisen in den Weltraum Als die Fünften Menschen gerade versuchten, sich aus der Gewalt jener großen Schwermut zu befreien, die die ganze Gesellschaft durchdrungen hatte, als sie voller Beunruhigung auf eine neue Erkenntnis hofften, die ihnen das Leid der Vergangenheit hätte begreiflich und sinnvoll erscheinen lassen oder dieses Leid transzendiert hätte, gerieten sie ganz unerwartet in eine Krise. Man stellte plötzlich fest, daß mit dem Mond etwas seltsames vor sich ging. Entgegen allen Berechnungen der Wissenschaftler näherte sich der Mond, wie in einer sich verjüngenden Spirale, immer mehr der Erde. Schon vor undenklichen Zeiten hatten die Fünften Menschen ein alle Erscheinungen erfassendes und minutiös ausgearbeitetes zusammenhängendes System der Naturwissenschaften entwickelt, jeder einzelne Faktor in diesem System war tausende Mal überprüft worden und galt als unbedingt eindeutig und zuverlässig. Man kann sich daher die große Bestürzung über eine solche außergewöhnliche Entdeckung vorstellen. Als sich die Naturwissenschaften noch aus vielen bruchstückhaften Einzelkenntnissen zusammengesetzt hatten, bewirkte eine neue umstürzende Entdeckung lediglich ein Umdenken und eine Umorgani355
sation in einem Teilgebiet, jetzt aber war der Zusammenhang des Wissens so stark, daß bereits die geringste Abweichung einer Tatsache von der Theorie den Menschen intellektuell vollkommen unsicher machte. Der Umlauf des Mondes um die Erde war natürlich seit jeher genauestens studiert worden. Sogar die Ersten Menschen wußten bereits, daß die Bahn des Mondes zunächst in einem größeren Abstand von der Erde, dann aber wieder in größerer Erdnähe verlief, bis der kritische Punkt erreicht war, der Mond sich auflöste und Ringe um die Erde bildete, wie sie beim Saturn zu sehen waren. Diese Ansicht war von den Fünften Menschen durch gründliche Nachforschungen bestätigt worden. Danach hätte sich der Satellit während eines Zeitraums von vielen hunderten Millionen Jahren noch weiter von der Erde entfernen müssen. Es konnte aber beobachtet werden, daß diese zentripetale Bewegung nicht nur aufgehört hatte, sondern daß der Mond sich im Gegenteil verhältnismäßig schnell der Erde näherte. Neue Beobachtungen und Berechnungen wurden angestellt. Aber das Ergebnis blieb dasselbe. Man versuchte kluge theoretische Erklärungen für diese Erscheinung zu geben, trotzdem blieb ihre Ursache weiterhin unklar. Erst einer weit höher entwickelten Spezies der Zukunft sollte es vorbehalten sein, den Zusammenhang zwischen der Gravitation eines Planeten und seiner kulturellen Entwicklung zu entdecken. Inzwischen wußten die Fünften Menschen nur das eine, daß nämlich die Entfernung zwischen Erde und Mond immer mehr abnahm, und daß sich dieser Prozeß immer stärker beschleunigte. Diese Entdeckung wirkte wie ein stärkendes Tonikum auf eine Rasse, die der Schwermut verfallen war. Menschen kehrten aus der tragischen Vergangenheit in eine aufregende Gegenwart und in eine noch Ungewisse Zukunft zurück. Die Beobachtungen hatten klar erkennen lassen, daß der Mond in weniger als zehn Millionen Jahren bei Andauer der gegenwärtigen Bewegungstendenz die kritische Nähe zur Erde erreichen und sich dann auflösen würde. Weiterhin wußte man, daß sich die einzelnen Fragmen356
te des Mondes nicht sehr lange in einer Kreisbahn um die Erde bewegen, sondern sehr bald auf sie herabstürzen würden. Durch die bei ihrem Aufprall entstehende Hitze würde die Oberfläche der Erde unbewohnbar werden. Für eine kurzsichtige und kurzlebige Spezies wäre eine solche Galgenfrist von zehn Millionen Jahren gleichbedeutend mit der Ewigkeit erschienen. Die Fünften Menschen dagegen erlagen nicht derartigen Täuschungen. Da sie vor allem an das Schicksal der gesamten Menschheit dachten, erkannten sie sofort, daß alle ihre gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen im Hinblick auf jene zukünftige Katastrophe getroffen werden müßten. Es gab natürlich unter ihnen einige, die sich zunächst weigerten, diese ganze Angelegenheit ernst zu nehmen und meinten, daß überhaupt kein Grund zu der Annahme bestünde, der Mond würde sich auch weiterhin so komisch aufführen wie im Augenblick. Aber mit den Jahren wurde eine solche Ansicht immer unwahrscheinlicher. Einige, die früher sehr viel Zeit ihres Lebens darauf verwandt hatten, die Vergangenheit zu erforschen, bemühten sich jetzt um die Erkundung der Zukunft in der Hoffnung, beweisen zu können, daß es selbst in der fernsten Zukunft auf der Erde noch eine menschliche Zivilisation geben würde. Aber alle Versuche, in die Zukunft vorzudringen und sie zu entschleiern, endeten mit vollständigem Mißerfolg. Es wurde irrtümlicherweise angenommen, daß Ereignisse der Zukunft im Gegensatz zu denen der Vergangenheit erst dann existierten, wenn sie von der Gegenwart erschaffen worden wären. Es erschien unumgänglich, daß die Menschheit die Erde verlassen mußte. Alle Forschungen wurden deshalb auf die Möglichkeiten des Weltraumflugs konzentriert und auf die Eignung benachbarter Planeten für den Menschen. Nur der Mars und die Venus wiesen geeignete Lebensbedingungen auf. Der Mars allerdings besaß kein Wasser und keine Atmosphäre. Dahingegen besaß die Venus eine dichte feuchte Atmosphäre, der es aber an Sauerstoff mangelte. Weiterhin wußte man, daß die Venus fast vollständig von einem flachen Meer bedeckt war. Außerdem war es am Tage auf diesem Planeten so heiß, daß der Mensch 357
in seiner gegenwärtigen Gestalt und Art selbst an den Polen kaum am Leben bleiben würde. Für den Entwurf und die Entwicklung eines geeigneten Mittels, mit dem man den Weltraum durchqueren konnte, brauchten die Fünften Menschen nur wenige Jahrhunderte. Man baute gewaltige Raketen. Die Energie für ihren Antrieb gewann man durch Atomzerfall. Das Fahrzeug wurde einfach durch den ungeheuren Druck der dabei freigesetzten Strahlung vorangetrieben. ›Kraftstoff‹ für eine Reise von vielen Monaten oder sogar Jahren konnte man natürlich leicht mitführen, da durch den Zerfall von nur geringen Stoffmengen ungeheure Energien freigesetzt wurden. Hinzu kam, daß, wenn die Rakete erst einmal die Atmosphäre der Erde verlassen und ihre volle Geschwindigkeit erreicht hatte, sie natürlich während des Transits keine zusätzliche Energie mehr benötigte. Die Aufgabe, sie manövrierfähig zu machen und auch einigermaßen wohnlich einzurichten, erwies sich als schwierig, war aber nicht unlösbar. Das erste Weltraumschiff hatte einen etwa tausend Meter langen zigarrenförmigen Rumpf. Es war aus künstlichen Metallen gebaut worden, die weit hitzebeständiger und widerstandsfähiger waren als alle bisher bekannten Metallarten. Raketenbatterien an verschiedenen Stellen seines Rumpfes ermöglichten es dem Schiff, nicht nur geradeaus, sondern auch rückwärts, in jede andere Richtung und auch zur Seite zu manövrieren. Fenster aus durchsichtigem Kunststoff, der stabil und haltbar wie das Metall des Rumpfes war, erlaubten den Reisenden einen guten Rundblick. Im Schiff selbst war genügend Raum für die Unterbringung von einhundert Personen mit dazugehörigen Vorräten für einen Zeitraum von drei Jahren. Der für die gleiche Zeit erforderliche Sauerstoff wurde unterwegs durch Protonen und Elektronen erzeugt, die unter besonderem Druck im Inneren des Schiffes gelagert waren, der etwa den Druckverhältnissen innerhalb eines Sterns nahekam. Wärme konnte man natürlich durch Atomzerfall gewinnen. Eine sehr leistungsfähige Kühlanlage sollte es dem Schiff ermöglichen, sich der Sonne sogar bis zur Bahn des Merkurs zu nähern. Künstliche 358
Schwerkraft, die mit Hilfe eines elektromagnetischen Feldes erzeugt wurde, konnte je nach Belieben eingeschaltet und reguliert werden, so daß es möglich war, mehr oder weniger normale Umweltbedingungen für den menschlichen Organismus aufrechtzuerhalten. xxxx Das Pionierschiff wurde mit einer Bedienungsmannschaft und vielen Wissenschaftlern erfolgreich zu einer Probefahrt gestartet. Es hatte die Aufgabe, bis dicht an die Oberfläche des Mondes heranzukommen, den Mond, wenn möglich, in einer Höhe von dreitausend Metern zu umfliegen und ohne Zwischenlandung zur Erde zurückzukehren. Viele Tage lang konnten die auf der Erde Zurückgebliebenen die Funksprüche der starken Sendeanlage des Schiffes hören, die über einen guten Verlauf der Probefahrt berichteten. Aber plötzlich brachen die Funksprüche ab, und man hörte nie mehr etwas über das Raumschiff. Fast zur gleichen Zeit, als der letzte Funkspruch aufgefangen wurde, hatte man mit Teleskopen ein plötzliches Aufflammen in Richtung des Schiffes bemerkt. Man nahm daher an, daß das Schiff mit einem Meteor kollidiert und beim Zusammenprall geschmolzen wäre. Man baute weitere Raumschiffe und schickte sie auf Probefahrten. Viele kehrten nie zurück. Einige wurden manövrierunfähig und gerieten vom Kurs ab. Ihre letzten Meldungen besagten, daß sie das Sonnensystem verließen, und wieder andere stürzten unaufhaltsam auf die Sonne zu. Bis der letzte Angehörige der Mannschaft erstickt war, konnte man ihre verzweifelten Funksprüche empfangen. Wieder andere Raumschiffe kehrten glücklich zurück, aber ihre Mannschaften waren durch den langen Zwangsaufenthalt in schlechter Luft heruntergekommen und geistig zerrüttet. Ein Schiff zerbrach bei dem Versuch, auf dem Mond zu landen, so daß die Luft aus seinem Rumpf entwich und alle Menschen darin umkamen. Nachdem man seinen letzten Funkspruch aufgefangen hatte, entdeckte man das Schiff als einen zusätzlichen Fleck auf der mit Tupfen versehenen Oberfläche eines der Mondmeere. Mit der Zeit nahmen jedoch die Unfälle ab. Sie wurden so selten, daß man Reisen in die Leere des Weltraums zu den populären Vergnügun359
gen zählte. Die Literatur dieser Epoche schwelgt in diesen neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Man betont, der Mensch hätte endlich das wahre Fliegen erlernt und sich die Freiheit des Sonnensystems erobert. Die Schriftsteller beschrieben den Schock, den die Reisenden erleben, wenn bei Start und Beschleunigung des Raumschiffs die Landschaft mit rasender Geschwindigkeit zusammenschrumpft, bis dann sehr bald nur noch eine leuchtende Scheibe oder Sichel von Sternen umgeben zu erkennen ist. Sie wiesen auch auf jene furchterregende mysteriöse Einsamkeit hin, die Reisende während der ersten Fahrten erlebten, mit blendendem Sonnenlicht auf der einen Seite des Schiffes und der glitzernden, mit Pailletten übersäten Nacht auf der anderen. Sie beschrieben, wie sich die Korona einer sengenden Sonne vom schwarzen und sternenübersäten Himmel abhob. Sie ließen sich über die Spannung aus, die alle ergreift, wenn man sich einem neuen Planeten nähert, wenn man aus der Luft die noch sichtbaren Überbleibsel der Mars-Zivilisation erkennt und betrachtet, wenn man durch die Wolkenfelder der Venus taucht und in ihren grenzenlosen Meeren plötzlich Inseln entdeckt, wenn man einen Versuch unternimmt, sich dem Merkur zu nähern, bis die Hitze trotz der hervorragenden Kühlanlagen unerträglich wird, wie man sich entlang dem Asteroidengürtel an den Jupiter herantastet, bis Luft und Vorräte ausgehen und man zur Umkehr gezwungen ist. Wenn es auch verhältnismäßig leicht gelungen war, im Raum umherzureisen, so hatte man die Hauptaufgabe bisher überhaupt noch nicht in Angriff genommen. Man mußte entweder die Natur des Menschen verändern, so daß er auf einem anderen Planeten lebensfähig war, oder man mußte die Lebensbedingungen dieses anderen Planeten verändern, so daß sie den Bedürfnissen des Menschen entsprachen. Es widerstrebte den Fünften Menschen, die erste Alternative aufzugreifen. Sie hätte ganz offensichtlich bedeutet, daß der menschliche Organismus vollständig umgebildet werden mußte. Es wäre ganz unmöglich gewesen, irgendeines der lebenden Individuen so zu verändern, daß es unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen auf dem Mars oder der Venus exis360
tieren konnte. Und es wäre wahrscheinlich genauso unmöglich gewesen, ein neues, diesen Bedingungen angepaßtes Wesen zu schaffen, ohne daß dabei die glänzend abgestimmte Konstitution der bestehenden Art geopfert werden mußte. Der Mars konnte andererseits ohne Zuführung von ungeheuren Luftmengen und Wassermassen nicht bewohnbar gemacht werden, und es erschien undurchführbar, solche Mengen heranzuschaffen. Es blieb also nichts weiter übrig, als den Versuch zu unternehmen, die Venus bewohnbar zu machen. Nach näheren Untersuchungen stellte sich heraus, daß die von undurchdringlichen Wolkenmassen abgeschirmten Polargebiete der Venus gar nicht so unerträglich heiß waren. Vielleicht würde es den folgenden Generationen sogar gelingen, sich dem subarktischen und dem ›gemäßigten‹ Klima der Venus anzupassen. Sauerstoff war auf der Venus zwar in ausreichendem Maße vorhanden, mußte aber erst aus anderen chemischen Verbindungen herausgelöst werden. Da Sauerstoff sehr bereitwillig jede chemische Verbindung eingeht und da es außerdem auf der Venus kein pflanzliches Leben gab, das einen ständig abnehmenden Sauerstoffvorrat durch Kohlensäure-Sauerstoff-Austausch ergänzen konnte, stellte sich als erstes die Aufgabe, die Venus mit einer geeigneten Vegetation zu versehen, durch deren Einfluß sich im Laufe der Zeit die Atmosphäre des Planeten so mit Sauerstoff anreichern konnte, daß sie für den Menschen atembar würde. Daher mußte man die chemischen und physikalischen Gegebenheiten der Venus genauestens untersuchen, um pflanzliche Lebensformen zu entwickeln, die unter den dortigen Verhältnissen gedeihen konnten. Diese Versuche mußten entweder innerhalb der Weltraumschiffe durchgeführt werden, oder von Menschen, die die Venus mit Sauerstoffgeräten betreten konnten, da ein Mensch ohne ein solches Gerät niemals in der ursprünglichen Atmosphäre jenes Planeten hätte leben können. Wir brauchen uns mit dem Zeitalter der heroischen Forschungen und Abenteuer, das jetzt anbrach, nicht im einzelnen zu beschäftigen. 361
Neuere Beobachtungen und Berechnungen des Mondumlaufs hatten ergeben, daß die geschätzte Bewohnbarkeit der Erde für einen weiteren Zeitraum von 10 Millionen Jahren zu hoch gegriffen war. Man erkannte sehr bald, daß man nicht in der Lage sein würde, die Venus vor Ablauf dieser Frist den Bedürfnissen des Menschen anzupassen, wenn man die notwendigen Veränderungen ihrer Atmosphäre nicht erheblich schneller herbeiführte. Man entschloß sich daher, einen großen Teil der Wassermassen des Planeten durch einen gewaltigen elektrolytischen Prozeß in Wasserstoff und Sauerstoff zu zerlegen. Dies wäre zweifellos ein viel schwierigeres Unterfangen gewesen, wenn das Meer nicht einen verhältnismäßig geringen Salzgehalt gehabt hätte. Es gab nur wenig Land, dessen Salze und Minerale durch Regen und Flüsse hätten ins Meer gespült werden können. Mit dem aus der Elektrolyse gewonnenen Sauerstoff wurde die Atmosphäre angereichert. Den Wasserstoff wollte man auf irgendeine Weise loswerden, und erfand auch ein geniales Verfahren, durch das man den Wasserstoff mit so großer Geschwindigkeit aus der Atmosphäre des Planeten hinausbeförderte, daß er nie mehr zurückkehren konnte. Wenn erst einmal genügend freier Sauerstoff zur Verfügung stand, konnte eine neue Vegetation die Abnahme dieses Vorrats durch Sauerstoffausgleich verhindern. Man begann mit diesen Arbeiten gerade im rechten Augenblick. Auf mehreren Inseln wurden große automatische Elektrolyse-Einrichtungen erbaut, und biologische Forschungslaboratorien entwickelten schließlich eine Flora besonderer Pflanzenarten, die die Landfläche des Planeten bedecken konnten. Man hoffte, daß die Venus in weniger als einer Million Jahren so weit vorbereitet sein würde, daß sie die Menschheit aufnehmen könnte, und man hoffte, daß dann auch die Menschheit imstande sein würde, auf der Venus zu leben. In der Zwischenzeit hatte man eine genaue Untersuchung des Planeten durchgeführt. Seine Landoberfläche, die kaum ein Tausendstel derjenigen der Erde ausmachte, bestand aus ungleichmäßig verteilten gebirgigen Inselgruppen. Echolotungen ergaben, daß seine gesamte 362
Oberfläche sehr stark gefurcht war. Demzufolge mußte der Planet erst vor kurzem eine Periode durchgemacht haben, in der sich Gebirge und Höhenzüge gebildet hatten. Das Meer wurde von verheerenden Stürmen und Strömungen zerrissen; denn weil der Planet mehrere Wochen für eine Umdrehung um sich selbst brauchte, bestanden große Unterschiede hinsichtlich der Temperatur und des atmosphärischen Druckes zwischen der jeweiligen fast arktischen Nachtseite der Venus und der drückenden Hitze auf der Tagseite. Die Verdunstungen waren dabei so stark, daß man fast nie von irgendeiner Stelle der Planetenoberfläche den offenen Himmel zu Gesicht bekam. Auf der jeweiligen Tagseite lösten sich dichte Nebel mit phantastischen Gewittern ab. Der normalerweise am Abend niedergehende Regen fiel wie eine Stürzsee herab. Und wenn die Nacht zu Ende ging, krachten und klirrten die Eisstücke auf den Wellen gegeneinander. Der Mensch betrachtete seine künftige Heimat nur mit Widerwillen, die Erde aber liebte er leidenschaftlich. Mit ihrem blauen Himmel, ihren unvergleichlich sternklaren Nächten, ihrem gemäßigten Klima und ihren mannigfaltigen Kontinenten, mit ihren weiten Feldern und Wäldern, ihrer Wildnis und ihren Parkanlagen, mit ihren ihm wohlbekannten Pflanzen und Tieren im alles durchdringenden Leben und Wirken der dauerhaftesten aller irdischen Zivilisationen, erschien den Männern und Frauen, die ihre Abreise vorbereiteten, diese Erde fast wie etwas Lebendiges, das sie anflehte, es nicht zu verlassen. Oft blickten sie haßerfüllt zum Mond empor, der ruhig seine Bahn zog, jetzt aber größer und deutlicher zu erkennen war als früher. Immer wieder revidierten sie ihre astronomischen und physikalischen Theorien in der Hoffnung, auf irgendeinen Punkt zu stoßen, der ihnen das Verhalten des Mondes als weniger geheimnisvoll, als weniger schrecklich zu erklären erlaubt hätte. Sie fanden aber nichts dergleichen. Es war, als ob ein Unhold aus irgendeinem alten Mythos in die moderne Welt eingedrungen wäre, um durch Aufhebung der Naturgesetze den Menschen zu vernichten. 363
Eine neue Welt wird vorbereitet Ein neues Problem tauchte auf. Mehrere Elektrolyse-Stationen auf der Venus wurden anscheinend durch Unterwasserexplosionen zerstört. Ebenso explodierten mehrere Raumschiffe, die mit einer Untersuchung des Ozeans beschäftigt waren auf mysteriöse Weise. Eine Erklärung für diese Vorgänge fand man, als eines dieser Schiffe trotz Beschädigung zur Erde zurückkehren konnte. Der Kommandant berichtete, daß, als man die Lotleine eingezogen hätte, daran ein großer kugelförmiger Gegenstand hing. Eine genaue Prüfung hätte ergeben, daß der Gegenstand an dem Lot außen mit einem Haken befestigt gewesen war. Jenes Gebilde aus kleinen zusammengenieteten Metallplatten sei ganz ohne Frage künstlichen Ursprungs gewesen. Als man Vorbereitungen getroffen hätte, um den Gegenstand in das Schiff zu ziehen, wäre er zufällig gegen den Rumpf geschlagen und dabei explodiert. Offenbar mußte es also irgendwo in den Ozeanen der Venus intelligentes Leben geben, offenbar ärgerten sich diese Seewesen über die ständige Abnahme ihres Lebenselementes und waren entschlossen, dem ein Ende zu bereiten. Die Menschen hatten angenommen, daß, wenn im Wasser kein ungebundener Sauerstoff enthalten wäre, darin auch kein Leben existieren könne. Aber genaue Beobachtungen ergaben sehr bald, daß in diesem, die ganze Welt der Venus bedeckenden Meer sehr viele Gattungen existierten, einige hatten keine Fortbewegungsorgane, andere schwammen frei herum, andere waren von mikroskopischer Größe und wieder andere waren so groß wie Walfische. Die Lebensgrundlage dieser Kreaturen war nicht die Photosynthese oder der Austausch von chemischen Stoffen, sondern der gesteuerte Zerfall radioaktiver Atome. Die Venus war besonders reich an diesen Atomen, und man konnte auf ihr noch gewisse Elemente finden, die auf der Erde schon längst nicht mehr vorhanden waren. Die ozeanische Fauna lebte durch den Abbau 364
winziger Mengen radioaktiver Atome, der überall in ihren Geweben erfolgte. Einigen jener Gattungen war es gelungen, ihre materielle Umwelt meisterhaft zu beherrschen, und sie konnten sich mit großem Geschick und mit verschiedenen mechanischen Mitteln gegenseitig umbringen. Verschiedene Arten waren sogar in gewissem Grade ausgesprochen intelligent und wendig. Unter jenen intelligenten Arten ragte ein Typ besonders hervor, dem es durch seine überlegene Intelligenz gelungen war, alle anderen zu beherrschen. Auf der Grundlage seiner radioaktiven Macht hatte er sogar eine echte Zivilisation errichtet. Diese höchstentwickelten Wesen auf der Venus ähnelten etwa in Größe und Gestalt Schwertfischen. Sie besaßen drei Greiforgane, die normalerweise in dem großen ›Schwert‹ verborgen waren, die sie aber als muskelbesetzte Fühler weit vorstrecken konnten. Sie schwammen in seltsam schraubenförmiger Bewegung ihrer Körper und dreigliedrigen Schwänze. Drei Flossen dienten ihnen als Steuerruder. Sie besaßen weiterhin Organe, die der Lichterzeugung, dem Sehen und dem Fühlen dienten und auch ein Organ, das in etwa dem Gehör entsprach. Sie schienen sich asexuell zu vermehren und legten ihre Eier im Schlamm des Meeresbodens ab. Sie brauchten sich nicht im gewöhnlichen Sinne zu ernähren, schienen aber während ihrer »Kindheit« genügend Radioaktivität in sich aufzuspeichern, die sie dann viele Jahre hindurch am Leben erhielt. Wenn der Vorrat eines einzelnen an Radioaktivität nachließ, und er sich schwach zu fühlen begann, wurde er entweder von den Jüngeren umgebracht oder in einem radioaktiven Stollen ›beerdigt‹, den er nach wenigen Monaten in vollkommen verjüngtem Zustand wieder verlassen konnte. Am Grunde der Ozeane drängten sich diese Kreaturen in Städten zusammen, die aus korallenähnlich wuchernden Gebäuden gebildet wurden. Darin befanden sich viele, recht komplizierte Geräte, die offenbar zu den Lebens- und Luxusbedürfnissen ihrer Zivilisation gehörten. Soviel wenigstens konnten die Menschen im Laufe ihrer Erkundung der Ozeane der Venus feststellen. Die Mentalität jener Wesen blieb ih365
nen jedoch verborgen. Es war natürlich klar, daß diese, wie alle Lebewesen, das Bestreben hatten, sich selbst zu erhalten und sich im Gebrauch ihrer Fähigkeiten zu üben. Aber über die Art jener Fähigkeiten wurde nur sehr wenig bekannt. Zweifellos gebrauchten sie eine Art Symbolsprache, die sich auf mechanischen Schwingungen aufbaute, die durch die Bewegung der Klauen ihrer Fühler im Wasser verursacht wurden. Aber ihre weiteren verwirrenden Tätigkeiten blieben unverständlich. Was man mit Sicherheit noch feststellen konnte, war, daß sie kriegerische Aktivitäten besonders bevorzugten, wobei es sogar zu Kriegen zwischen einzelnen Gruppen einer Art kommen konnte. Selbst angesichts einer militärischen Katastrophe hielten sie eine fieberhafte Produktion von Gegenständen aller Art aufrecht, die sie dann zerstörten oder gar nicht mehr beachteten. Eine Aktivität erschien besonders mysteriös. Zu bestimmten Jahreszeiten pflegten drei Individuen, die plötzlich besonders stark leuchteten, unter rhythmischem Schwingen und Zucken aufeinander zuzuschwimmen, sich dann auf ihre Schwänze zu stellen und ihre Körper gegeneinanderzupressen. Manchmal sammelte sich in einem solchen Augenblick eine aufgeregte Menge, die wie Schneeflocken um die drei herumwirbelte. Die drei Individuen rissen sich dann in wilder Raserei mit ihren krebsartigen Scheren gegenseitig in Stücke, bis nichts mehr von ihnen übrig war als ein Gewirr von herabhängenden Fleischfetzen, die großen Schwerter und die noch immer zuckenden Klauen. Die Menschen, denen es schwerfiel, derartigen Szenen zuzuschauen, vermuteten zuerst, daß es sich hier um eine Art von Geschlechtsverkehr handeln könnte. Es erwies sich jedoch, daß die Fortpflanzung in keinerlei Beziehung zu derartigen Metzeleien stand. Möglicherweise hatte jenes Verhalten früher einmal biologischen Zwecken gedient und war dann später zu einem zwecklosen Ritual erstarrt. Vielleicht handelte es sich um irgendein freiwilliges religiöses Opfer. Wahrscheinlich aber war es ganz anderer Art und für den Menschen unverständlich. 366
Als die Arbeiten der Menschen auf der Venus immer mehr zunahmen, steigerten sich auch die Versuche der Seewesen, die Menschen zu vernichten. Da sie Tiefseeorganismen waren, konnten sie natürlich nicht das Meer verlassen, um die Menschen direkt anzugreifen. Ohne den Druck der Wassersäule wären sie zerplatzt. Aber es gelang ihnen, Explosionskörper auf die Arbeitsstellen auf den Inseln zu schleudern oder diese von Tunneln her zu erreichen. Auf diese Weise wurde das Elektrolyse-Vorhaben sehr stark behindert. Da auch alle Versuche, sich mit den Venusianern zu verständigen, fehlschlugen, war es auch unmöglich, mit ihnen zu einem Kompromiß zu gelangen. So standen die Fünften Menschen sehr schweren moralischen Problemen gegenüber. Welches Recht hatte der Mensch, in eine Welt einzudringen, die bereits von offenbar intelligenten Wesen beherrscht wurde, auch wenn ihm deren seelisches und geistiges Leben unbegreiflich erschien? Vor langen Zeiten hatte der Mensch selbst unter der Invasion der Marswesen gelitten, die sich zweifellos für edler als die menschliche Rasse gehalten hatten. Und jetzt war der Mensch drauf und dran, ein ähnliches Verbrechen zu begehen. Andererseits mußte man entweder die Menschheit auf der Venus ansiedeln, oder sie würde zerstört werden. Es war jetzt ganz sicher, daß der Mond zu einem nicht sehr fernen Zeitpunkt auf die Erde stürzen würde. Und obwohl das Wissen des Menschen um die Venusianer sehr große Lücken aufwies, deutete das wenige, das er wußte, doch darauf hin, daß sie ihm sicherlich hinsichtlich der Mentalität unterlegen waren. Natürlich konnte dieses Urteil auch falsch sein. Die Venusianer konnten auch dem Menschen geistig und seelisch soweit überlegen sein, daß er sie überhaupt nicht zu begreifen vermochte. Ein solches Argument würde allerdings genauso für die Qualle oder irgendeinen Mikroorganismus gelten können. Man mußte nach den vorliegenden Tatsachen urteilen. Unter Berücksichtigung aller ihm bekannter Tatsachen mußte sich der Mensch daher selbst als eine höhere Lebensform empfinden. 367
Noch einen anderen Umstand mußte man erwägen. Das Leben der Venusianer hing vom Vorhandensein radioaktiver Atome ab. Da jene Atome einem Zerfallsprozeß ausgesetzt sind, mußten sie im Laufe der Zeit seltener werden. Zwar fand sich auf der Venus hiervon ein weit größerer Vorrat als auf der Erde, aber auch dort mußte es einmal dazu kommen, daß sich die radioaktive Substanz erschöpft hatte. Die Untersuchungen in den Ozeanen hatten gezeigt, daß die Fauna der Venus in früheren Zeiten viel ausgedehnter gewesen sein mußte, und daß die immer größeren Schwierigkeiten bei der Beschaffung radioaktiver Substanzen die Ausbreitung der Zivilisation in starkem Maße behinderte. So waren die Venusianer bereits vom Schicksal gezeichnet, und der Mensch würde ihr Ende lediglich ein wenig früher herbeiführen. Man hoffte natürlich, daß die Kolonisierung der Venus durch die Menschen ohne ernsthafte Interessenskollisionen mit der eingeborenen Bevölkerung vor sich gehen würde. Aber diese Hoffnung erwies sich aus zwei Gründen als ungerechtfertigt. Erstens schienen die Eingeborenen entschlossen, die Eindringlinge zu vernichten, selbst dann, wenn sie dabei zu Grunde gehen würden. Sie verursachten zum Beispiel gewaltige Explosionen, die den Invasoren schweren Schaden zufügten, aber auch die Oberfläche des Ozeans mit Tausenden von toten Venusianern übersäten. Zweitens stellte sich heraus, daß nicht der gesamte durch den Elektrolyseprozeß gewonnene freie Sauerstoff von der Atmosphäre aufgenommen wurde, sondern auch das Meer sich einen Teil zurückholte. Dieser aufgelöste Sauerstoff war aber von verheerender Wirkung auf die Meereswesen. Ihre Gewebe begannen Sauerstoff aufzunehmen. Sie wurden von innen und von außen durch ein langsames Feuer zerfressen. Erst als die Atmosphäre der Venus genauso mit Sauerstoff gesättigt war wie die Atmosphäre der Erde, hörte der Mensch mit seiner Elektrolyse auf. Schon lange, bevor dieser Sättigungsgrad der Luft erreicht war, ließ sich klar erkennen, daß die Venusianer die Wirkung des Giftes bereits spürten und längstens in einigen tausend Jahren ausgerottet sein würden. Deshalb beschlossen die Menschen, sie so schnell wie möglich 368
aus ihrer elenden Lage zu befreien. Der Mensch konnte jetzt schon auf den Inseln der Venus frei umherlaufen und siedeln, und so kam es zur Gründung der ersten Niederlassungen. So war es auch möglich, eine mächtige Flotte von Unterseeboten zu bauen und damit in den Tiefen der Meere die gesamte einheimische Fauna zu vernichten. Dieses gewaltige Gemetzel beeinflußte die Mentalität der fünften menschlichen Spezies in zweierlei Hinsicht. Es trieb sie einmal in eine tiefe Verzweiflung und erfüllte sie andererseits mit ernstem Stolz. Einerseits erzeugte dieses entsetzliche Gemetzel in der Seele aller Menschen ein quälendes Schuldgefühl, einen mit Vernunftgründen nicht zu beseitigenden Ekel vor der Menschheit, die, um sich selbst zu retten, zum Mörder werden mußte. Dieses Schuldgefühl verband sich mit Mangel an Selbstvertrauen gegenüber den eigenen intellektuellen Fähigkeiten, der durch das Versagen der Naturwissenschaften bei der Suche nach Gründen für die Annäherung des Mondes entstanden war. Auch jenes völlig irrationale Schuldgefühl, das aus dem Mitgefühl mit einer ewig leidenden Vergangenheit entstanden war, wurde durch diese Umstände wiedererweckt. Diese drei Einflüsse zusammen konnten eine Neurose der gesamten Rasse bewirken. Andererseits waren die gleichen drei Quellen oft Ursache für eine ganz andere Stimmung. Schließlich war das Versagen der Naturwissenschaften auch eine Herausforderung, die man gern annahm. Sie eröffnete eine Fülle neuer Möglichkeiten, an die man bisher nicht gedacht hatte. Selbst die Leiden der Vergangenheit, die man nicht mehr ändern konnte, stellten eine Herausforderung dar. Denn auf irgendeine seltsame Weise müßten Gegenwart und Zukunft, so sagte man, die Vergangenheit umgestalten. Und was den Mord an den Venusianern anlangte, so war er sicherlich entsetzlich, aber gerechtfertigt. Man hatte ihn ohne Hast begangen, eher in einem Gefühl der Liebe. Als die Flotte nämlich ihre unbarmherzige Aufgabe durchführte, hatte sie viel über das Leben der Venusianer erfahren und diese zu bewundern, ja, sogar zu lieben begonnen, während sie sie gleichzeitig ausrottete. Diese Aufgabe, die mit 369
Unerbittlichkeit, aber keineswegs mit Grausamkeit durchgeführt wurde, verstärkte die geistige und seelische Sensibilität der Spezies, verfeinerte sozusagen ihr geistiges Gehör und ließ die Töne und Themen in der Musik des Universums unterscheiden, die bisher für sie unhörbar gewesen waren. Welche der beiden Haltungen, Verzweiflung oder Mut, würde am Ende triumphieren? Alles hing davon ab, ob die Spezies in der Lage sein würde, auch unter den ungünstigsten Bedingungen einen hohen Grad von Vitalität beizubehalten. Der Mensch war jetzt sehr damit beschäftigt, seine neue Heimat vorzubereiten. Viele Pflanzenarten, die aus der Flora der Erde entwickelt, aber speziell für einen Lebenskampf auf der Venus gezüchtet worden waren, begannen jetzt, sich auf den Inseln und im Meer auszubreiten. Es gab so wenig Land auf der Venus, daß man in großen Gebieten des Meeres besondere Wasserpflanzen auswerfen mußte. Sie bildeten gewaltige schwimmende Pflanzenkontinente. Auf denjenigen Inseln, die am wenigsten unter der Hitze zu leiden hatten, errichtete man Wohntürme, die sehr bald wie ein künstlicher Wald aussahen. Zwischen diesen war jedes freie Fleckchen mit Pflanzen bedeckt. Selbst bei größtmöglicher Ausnutzung der vorhandenen Landfläche der Venus war es unmöglich, die gesamte Bevölkerung der Erde zu ernähren. Man mußte daher dafür sorgen, daß die Geburten abnahmen, während die Sterblichkeit gleich blieb. Wenn die Zeit herannahte, sollte die Rasse auf die Venus übersiedeln können, ohne gezwungen zu sein, noch lebende Angehörige der Spezies zurückzulassen. Man rechnete damit, daß die Venus nur etwa hundert Millionen Menschen einigermaßen ernähren konnte. Die Bevölkerung mußte daher auf ein Hundertstel ihrer bisherigen Größe reduziert werden. Da angesichts der sehr ausgedehnten gesellschaftlichen und kulturellen Unternehmungen und der verschiedenen Tätigkeiten innerhalb der menschlichen Gemeinschaft auf der Erde jeder einzelne eine ganz besondere Funktion innerhalb der Gesellschaft ausfüllte, ergab sich zwangsläufig, daß durch die Reduzierung 370
der Zahl der Angehörigen der neuen Gemeinschaft auf ein Hundertstel diese auch seelisch und geistig ärmer und weit weniger differenziert sein würde. Bisher hatte jeder einzelne viel stärker am Reichtum einer weitverzweigten und mannigfaltigen gesellschaftlichen Umwelt partizipieren können, als es je auf der Venus der Fall sein würde. So lagen also die Dinge, als man es schließlich für ratsam hielt, die Erde ihrem Schicksal zu überlassen. Der Mond war jetzt schon so nahe an die Erde gerückt, daß er oft den Tag in Nacht verwandelte und die Nacht in einen geisterhaften Tag. Gewaltige Gezeiten und ein abscheuliches Wetter hatten bereits die Erde ihrer Annehmlichkeiten beraubt und das Gefüge der Zivilisation unterhöhlt. So ergriff die Menschheit schließlich widerwillig die Flucht. Mehrere Jahrhunderte vergingen, bevor die Übersiedlung abgeschlossen war, bevor die Venus nicht nur die gesamte übriggebliebene Menschheit aufgenommen hatte, sondern auch Exemplare vieler anderer Gattungen und Organismen ebenso wie die wertvollsten Schätze menschlicher Kultur.
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kapitel xiii
Die Menschheit auf der Venus
Die Menschheit faßt wieder Wurzeln Der vorübergehende Aufenthalt des Menschen auf der Venus dauerte etwas länger als sein gesamtes Leben auf der Erde. Von den Tagen des Pithecanthropus bis zur Evakuierung der Erde gab es, wie wir gesehen haben, eine bestürzende Vielfalt von menschlichen Formen und Lebensbedingungen. Obwohl der Mensch auf der Venus als biologischer Typ eine größere Konstanz zeigte, war die Mannigfaltigkeit der Kulturen, in denen er auftrat, kaum geringer als auf der Erde. Wenn man diese Epoche auch nur in der gleichen episodenhaften Art behandeln wollte, wie das mit der bisherigen Geschichte des Menschen geschehen ist, würde das einen weiteren Band erfordern. Meine Skizze muß daher noch umrißhafter werden. Der Schößling Menschheit, der in ein anderes Erdreich umgepflanzt wurde, verdorrt dort zunächst fast bis zur Wurzel, paßt sich dann ganz langsam der neuen Umgebung an, wird kräftiger und entwickelt eine gewisse Beständigkeit in der Form, setzt Jahr um Jahr neue Knospen an, die sich zu vielen aufeinanderfolgenden Zivilisationen und Kulturen entfalten, versinkt jeden Winter in einen tiefen Schlaf, viele Äonen einer nachlassenden Vitalität hindurch, bis er sich schließlich — um beim Bilde zu bleiben — die ewig wiederkehrende Entlaubung vermeidend, in eine immergrüne Stechpalme oder Kiefer verwandelt und ständig in Blüte steht. Danach wird er erneut durch eine Laune des Schicksals samt seiner Wurzel aus dem Erdreich gerissen und in eine neue Welt geworfen. Die ersten Menschen auf der Venus wußten sehr wohl, daß das Leben für sie eine traurige Angelegenheit sein würde. Sie hatten ihr Bestes versucht, um den Planeten der menschlichen Natur anzupassen, aber sie konnten aus der Venus nicht plötzlich eine neue Erde machen. Die Landoberfläche war sehr begrenzt. Das Klima war fast unerträglich. Die extremen Temperaturunterschiede zwischen der langen Nacht 375
und dem Tag erzeugten unglaubliche Stürme, Regenfälle, die mit der Gewalt von tausend Wasserfällen herabstürzten, plötzliche elektrische Entladungen und Nebel, in dem es dem Menschen nicht einmal möglich war, seine eigenen Füße zu sehen. Was noch schlimmer war, der Sauerstoffvorrat reichte kaum aus, damit die Luft atembar blieb. Hinzu kam, daß der abgespaltene Wasserstoff nicht immer erfolgreich über die Atmosphäre hinaus ins All geschleudert worden war. Er vermengte sich manchmal mit der Luft und bildete ein hochexplosives Gemisch, das dann manchmal in ein gewaltiges atmosphärisches Feuer umschlug. Immer wiederkehrende Katastrophen dieser Art zerstörten die Bauten, vernichteten die Menschen auf vielen Inseln und reduzierten den Sauerstoffvorrat beträchtlich. Schließlich erlaubte es aber die sich immer mehr ausbreitende Vegetation, daß man den gefährlichen Prozeß der Elektrolyse beenden konnte. In der Zwischenzeit hatten die atmosphärischen Explosionen die Rasse so stark gelähmt, daß sie unfähig wurde, mit einer mysteriösen Schwierigkeit fertig zu werden, die ihr schon zu schaffen gemacht hatte, als sie eben erst zur Venus gekommen war. Ein neuer und unerklärlicher Zerfall der Verdauungsorgane, der zunächst als seltene Krankheit auftrat, drohte schon nach wenigen Jahrhunderten, die gesamte Menschheit zu vernichten. Die physischen Wirkungen dieser Krankheit waren kaum weniger verheerend als die psychischen, die durch die ständigen Mißerfolge bei der Bekämpfung der Seuche entstanden. Denn die unerklärliche Abweichung des Mondes von seiner Umlaufbahn um die Erde und das tiefe vernunftwidrige Schuldgefühl, das durch die Ausrottung der Venusianer entstanden war, hatten das Selbstvertrauen des Menschen bereits sehr stark erschüttert, so daß seine hochentwickelte Mentalität bereits Symptome völliger Verwirrung erkennen ließ. Schließlich erkannte man, daß die neue Krankheit durch irgendeinen Stoff im Wasser verursacht wurde, der durch bestimmte molekulare Verbindungen entstanden war, die früher nur sehr selten vorkamen, aber jetzt, durch die Anwesenheit irdischer Organismen, im Ozean 376
häufiger auftrat. Man entdeckte kein Mittel zur Bekämpfung dieser Krankheit. Noch eine weitere Krankheit suchte die bereits geschwächte Rasse heim. Die Gewebe des Menschen hatten die subvitalen Einheiten der Marswesen, die der ›telepathischen‹ Verständigung dienten, niemals vollkommen assimiliert. Der allgemeine gesundheitliche Schwächezustand begünstigte nun das Auftreten einer Art von ›Krebs‹ des Nervensystems, der durch ungehinderte Wucherungen jener Einheiten entstand. Die Qualen dieser Krankheit wollen wir übergehen. Jahrhundert um Jahrhundert griff sie immer mehr um sich. Selbst jene Menschen, die unter dieser Krankheit nicht direkt litten, lebten in beständiger Furcht, von ihr ergriffen und wahnsinnig zu werden. All jene Schwierigkeiten wurden noch durch die verheerende Hitze verschlimmert. Die Hoffnung, daß sich die menschliche Natur im Laufe der Generationen allmählich auch den Bedingungen in den heißeren Zonen anpassen würde, schien unbegründet zu sein. Im Gegenteil zeigte sich, daß sogar die einstmals dichtbesiedelten arktischen und antarktischen Inseln innerhalb eines Jahrtausends fast völlig verlassen waren. Von jedem Hundert der großen hohen Türme waren kaum noch zwei bewohnt, und die darin Wohnenden waren todkranke, zerbrochene menschliche Wracks. Sie waren die einzigen, die ihre Teleskope auf die Erde richteten und das mit unvorhergesehener Verzögerung einsetzende Bombardement dieser benachbarten Welt durch Teile des Mondes beobachteten. Die Bevölkerung nahm noch weiter ab. Jede der kurz aufeinanderfolgenden Generationen zeigte leichte Verschlechterungen ihrer Konstitution gegenüber derjenigen ihrer Eltern. Die Intelligenz ging zurück. Erziehung und Bildung wurden oberflächlich und bruchstückhaft. Eine Verbindung mit der Vergangenheit konnte nicht länger aufrechterhalten werden. Die Kunst verlor ihre Bedeutung und die Philosophie ihre Gewalt über Geist und Seele der Menschen. Selbst bei den angewandten Wissenschaften begann es zu hapern. Die subatomaren Energiequellen 377
wurden oft genug nicht mehr von Menschen mit hinlänglicher Ausbildung gesteuert. Dadurch kam es zu einer ganzen Reihe von Katastrophen, die schließlich zu dem Aberglauben führten, daß jedes ›Herumpfuschen‹ mit den Naturgewalten ›des Teufels‹ und die ganze Weisheit der Alten lediglich eine Schlinge wäre, die der Widersacher den Menschen ausgelegt hätte. So verbrannte man Bücher, zertrümmerte Instrumente und vernichtete alle Schätze der menschlichen Kultur. Nur die dauerhafteren Gebäude widerstanden der Zerstörung. Von der unvergleichlich hohen Weltordnung der Fünften Menschen blieb nicht mehr übrig als einige wenige Inselstämme, die voneinander durch das Meer und von dem übrigen Raum-Zeit-Kontinuum durch die Tiefe ihrer eigenen Unwissenheit abgeschnitten waren. Nach vielen Jahrtausenden begann die Natur des Menschen sich dem Klima und dem giftigen Wasser anzupassen, ohne das ein Leben auf der Venus unmöglich war. Zur gleichen Zeit tauchte eine neue Abart der Fünften Gattung auf, bei der subvitale Einheiten der Marswesen nicht mehr im Körper enthalten waren. So gewann die Rasse schließlich eine gewisse geistige und seelische Stabilität unter Einbuße ihrer ›telepathischen‹ Fähigkeiten zurück, die der Mensch erst in einer der letzten Phasen seiner Entwicklung wiedererwerben sollte. Wenn sich die Menschen auch allmählich von den zunächst hemmenden Einflüssen einer fremden Welt erholten und sich an diese Welt anzupassen vermochten, so waren doch Glanz und Ruhm ihrer Kultur entschwunden. Wir wollen daher die folgenden Epochen schnell überfliegen, bis wir wieder auf bedeutungsvollere Ereignisse stoßen. Während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes auf der Venus hatten die Menschen ihre Nahrung von den großen schwimmenden Pflanzeninseln bezogen, die vor ihrer Übersiedlung künstlich angelegt worden waren. Aber als sich die Meere mit immer mehr Abarten der irdischen Fauna bevölkerten, betrieben die Stämme der Menschen immer mehr Fischfang. Unter dem Einfluß der ozeanischen Umgebung übernahm ein Zweig der Fünften Menschen die Lebensgewohnheiten von Mee378
resbewohnern, so daß er sich mit der Zeit sogar biologisch an das Leben im Wasser anpaßte. Es ist vielleicht überraschend, daß der Mensch noch in der Lage war, eine solche spontane Variation hervorzubringen. Da die fünfte menschliche Spezies jedoch künstlich erschaffen war, hatte sie seit jeher eine Neigung zu Mutationssprüngen gezeigt. Nach weiteren Jahrmillionen der natürlichen Auslese und der Veränderung tauchte eine sich recht erfolgreich durchsetzende Rasse seehundartiger Subhumaner auf. Ihr Körper hatte eine stromlinienförmige Gestalt. Das Fassungsvermögen ihrer Lungen hatte sich erheblich erhöht. Ihre Wirbelsäule war länger und beweglicher. Ihre Beine waren geschrumpft, zusammengewachsen und zu einem horizontalen Ruder abgeflacht. Auch ihre Arme waren kleiner und flossengleich, obwohl sie noch einen beweglichen Zeigefinger und Daumen aufwiesen. Der Kopf war in ihren Körper eingesunken und blickte in die Schwimmrichtung. Ihre starken Reißzähne, ihr Zusammenleben in Rudeln und eine neue, fast menschlich zu nennende Schlauheit bei der Jagd machten diese Seehund-Menschen zu Herrschern der Meere. Diese Stellung hatten sie viele Millionen Jahre inne, bis eine menschenähnlichere Rasse, die sich über das fischähnliche Aussehen dieser Subhumanen ärgerte, ihnen mit Harpunen den Garaus machte. Ein anderer Zweig der degenerierten fünften Spezies hatte nämlich die alte menschliche Gestalt und etwas irdischere Lebensgewohnheiten beibehalten. Da diese elenden Wesen in bedauerlichem Maße an Größe und Gehirnkapazität gegenüber den ursprünglichen Invasoren der Venus eingebüßt hatten und mit jenen überhaupt nicht mehr zu vergleichen waren, werden sie mit Recht als eine neue Spezies, nämlich als die Spezies der Sechsten Menschen, angesehen. Generation um Generation suchte unter ständiger Gefährdung nach ihrem Lebensunterhalt durch Ausgraben von Wurzeln auf den waldüberdeckten Inseln, durch Vogelfang und durch Fischfang mit Hilfe von Ködern, die sie in den von der Flut zurückgelassenen Wassern der Buchten auslegten. Manchmal fraßen sie ihre seehundartigen Verwandten auf oder wurden von diesen 379
gefressen. Millionen Jahre hindurch blieb die Umwelt dieser übriggebliebenen Menschen so konstant und begrenzt, daß sie biologisch und kulturell stagnierten. Schließlich ermöglichten jedoch geologische Veränderungen der Venus der menschlichen Natur eine Weiterentwicklung. Durch eine gewaltige Verwerfung der Rinde des Planeten entstand eine Insel, die fast so groß wie Australien war. Bald war sie bevölkert, und aus dem Zusammenprall verschiedener Stämme entstand eine neue geistig beweglichere Rasse. Wiederum wurde das Land planmäßig bestellt, es gab Handwerker und eine komplizierte moderne Gesellschaftsordnung sowie neue Abenteuer im Reich des Denkens. Während der nächsten zweihundert Millionen Jahre wiederholten sich auf der Venus die Hauptphasen der Entwicklung der Menschheit auf der Erde viele Male, allerdings mit charakteristischen Unterschieden. Theokratische Imperien, freie und intellektuell bewegliche Bürger von Inselstädten, unsichere Feudalherrschaften in verschiedenen Inselgruppen, Rivalitäten zwischen den Hohepriestern und dem Kaiser, Religionskriege über die Auslegung heiliger Schriften, Hin- und Herschwanken in Religion und Philosophie zwischen naivem Animismus über Polytheismus zu verschiedenen widerstreitenden monotheistischen Systemen und all jenen verzweifelten Ismen, durch die der Geist die klaren Umrisse der Wahrheit zu verzerren sucht, Wechsel zwischen Perioden mit trostsuchender Phantasie und solchen mit kalter Intelligenz, soziale Unruhen durch den Mißbrauch der Vulkan- oder Windenergien in der Industrie, Wirtschaftsimperien und pseudokommunistische Imperien — alle jene Formen huschten unaufhörlich über den sich ständig verändernden Kern der Menschheit, so wie in einem dauernd unterhaltenen Herdfeuer eine Unendlichkeit von verschiedenen Flammen- und Rauchgestalten auftaucht und verschwindet. Jene kurzlebigen Seelen aber, die von solchen Gestalten umspielt wurden, kannten die ganze Zeit über kein anderes Ziel, als ihre primitiven Bedürfnisse zu befriedigen. Sie wollten Nahrung, Unterkunft, Kameradschaft, 380
Massenekstasen, Liebe, sie wollten Eltern sein oder Kinder, und sie wollten ihre Muskeln und ihre Intelligenz bei leichtem Sport ein wenig trainieren. Nur in seltenen Augenblicken der Klarheit und nach langen Zeiten des Irrtums gab es hie und da einige wenige, die gelegentlich tiefere Einsicht in die Natur der Welt und des Menschen erlangten. Kaum hatte sich diese kostbare Einsicht anderen mitzuteilen begonnen, als sie auch schon wieder verdunkelt wurde durch irgendeine kleine oder große Katastrophe, eine Epidemie, einen plötzlichen Zusammenbruch der Gesellschaft, durch Imbezilität, die plötzlich die Rasse befiel, durch ein längeres Bombardement des Planeten mit Meteoren oder durch bloße Feigheit oder ein Schwindelgefühl, das die Menschen davor zurückhielt, in den Abgrund der Tatsachen zu blicken.
Die Fliegenden Menschen Wir brauchen uns bei den unzähligen ständigen Wiederholungen der verschiedenen Kulturen nicht länger aufzuhalten. Es genügt, wenn wir einen Blick auf die letzte Entwicklungsphase dieser sechsten menschlichen Art werfen und uns danach der künstlich entwickelten Spezies zuwenden, die von den Sechsten Menschen erschaffen wurde. Während der gesamten Dauer ihrer Existenz waren die Sechsten Menschen oft vom Gedanken an das Fliegen fasziniert worden. Der Vogel war sehr oft ihr heiligstes Symbol. In ihren monotheistischen Religionen beteten sie keine Götter an, die menschliche Züge trugen, sondern vogelähnliche Gottheiten, manchmal in der Gestalt des mächtigen göttlichen Seeadlers, manchmal in der eines gewaltigen barmherzigen Turmseglers, oder als körperlosen Geist der Luft und auch als Vogelgott, der der Menschheit den Flug des Körpers und der Seele beibringen sollte. Daß das Fliegen den Menschen auf der Venus besonders erstrebenswert erschien, war durchaus verständlich, denn Landbewohner muß381
ten sich auf diesem Planeten auf wenigen Landflächen zusammendrängen, und das übermütige Treiben einer prächtig gedeihenden Vogelwelt erregte den Neid und den Ärger der Fußgänger. Als Wissen und Fertigkeiten der Sechsten Menschen denjenigen der Ersten Menschen der ersten Blütezeit ihrer Entwicklung gleichkamen, erfanden sie verschiedene Arten von Flugapparaten. Mehrere Male gingen mit dem Zusammenbruch einer Zivilisation auch deren Kenntnisse über das Fliegen und die Konstruktion von Flugapparaten verloren, doch immer wieder kam es nach längerer Zeit zu einer Wiederentdeckung. Trotzdem wurde das Fliegen mit Flugapparaten nur als Behelf angesehen. Als daher die Sechsten Menschen schließlich durch die Fortentwicklung ihrer biologischen Wissenschaften in der Lage waren, den menschlichen Organismus selbst zu beeinflussen, entschlossen sie sich, einen fliegenden Menschen zu erschaffen. Viele Zivilisationen bemühten sich vergeblich, manchmal nur mit halbem Herzen, ein andermal wieder mit religiösem Eifer, diesem Ziel näherzukommen. Endlich war aber der dauerhaftesten und glänzendsten aller Zivilisationen des Sechsten Menschen tatsächlich ein Erfolg beschieden. Die Siebenten Menschen waren Pygmäen, kaum schwerer, als es die größten Vögel der Erde gewesen waren. Sie waren durch und durch für das Fliegen entwickelt. Eine ledrige Haut spannte sich nach beiden Seiten von ihren Füßen bis zu den Spitzen der stark verlängerten und sehr kräftig entwickelten ›Mittelfinger‹. Die drei ebenfalls längeren ›äußeren‹ Finger dienten dieser Flughaut als Flügelrippen, während die Daumen und Zeigefinger frei als Manipulationswerkzeuge gebraucht werden konnten. Ihr Körper war wie derjenige eines Vogels stromlinienförmig gestaltet und mit einem tiefen wolligen Federkleid bedeckt. Bei diesem Federkleid sowie bei dem seidenglänzenden Flaum der Flughäute zeigten sich bei einzelnen Individuen große Unterschiede in Färbung und Maserung. Auf dem Boden bewegten sich die Siebenten Menschen genauso wie andere, denn die Flughäute ließen sich dicht an die Beine und den Körper anlegen, und sie hingen von den Armen wie 382
Plusterärmel herab. Während des Fluges wurden die Beine wie ein abgeflachter Schwanz ausgestreckt und die Füße durch beide Zehen fest ineinander verhakt. Das Brustbein war wie ein Kiel gebildet und enthielt die Flugmuskeln. Die übrigen Knochen waren zur Gewichtseinsparung hohl. Ihre Hohlräume wurden als zusätzliche Lungen benutzt. Wie die Vögel benötigten nämlich diese Fliegenden Menschen während des Fluges sehr viel Sauerstoff. Ein Zustand, der bei anderen als Fieber gegolten hätte, war für sie normal. In ihrem Gehirn gab es sehr viele Zellgruppen, in denen die Flugfähigkeit lokalisiert war. Es war sogar möglich gewesen, die Spezies mit einem Reflexsystem zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beim Fliegen und mit einem echten, wenn auch künstlich erzeugten Fluginstinkt zu versehen und ein instinktives Interesse am Fliegen zu erwecken. Ihre Gehirnkapazität war im Vergleich zu derjenigen ihrer Schöpfer zwangsläufig kleiner, aber ihr ganzes Nervensystem war sehr sorgfältig durchgegliedert und ausgeglichen. Es kam auch sehr schnell zur Reife und konnte sehr leicht neue Tätigkeiten und Verhaltensweisen dazuerwerben. Dies war sehr nützlich, denn der einzelne lebte normalerweise nur fünfzig Jahre. In den meisten Fällen beendete er sein Leben noch früher, weil er mit 40 Jahren, oder wenn sich Alterserscheinungen bemerkbar machten, irgendein mit Sicherheit den Tod herbeiführendes Heldenstück vollbrachte. Diese fledermausartigen Fliegenden Menschen waren vermutlich unter allen menschlichen Arten diejenige, die am sorglosesten lebte. Körpergestalt und Körperfunktionen waren gut abgewogen, sie besaßen ein fröhliches Temperament und waren ihrem Wesen nach bestmöglich geeignet, ihr gesellschaftliches Erbe anzutreten. Wie es so oft bei anderen der Fall gewesen war, bestand für sie keine Veranlassung, eine grundsätzliche Feindschaft der Welt sich selbst gegenüber anzunehmen oder sich als Mißbildungen zu betrachten. Sie waren in alltäglichen persönlichen Angelegenheiten und in Fragen der gesellschaftlichen Organisation intelligent und beweglich und keineswegs durch unersättlichen Er383
kenntnisdrang beunruhigt. Dabei waren sie nicht etwa unintellektuell, denn sie entwickelten aus ihren Erfahrungen sehr bald ein wunderschönes System. Sie erkannten außerdem sehr klar, daß dieses Gedankengebäude in Wirklichkeit nur eine im Chaos dahintreibende Seifenblase war. Immerhin war es aber eine schöne Seifenblase. Ihr System war zwar nicht im echten Sinne des Wortes wahr, es war aber ein echtes Abbild ihrer eigenen fröhlichen, offenen und zugegeben unaufrichtigen Denkweise. Was konnte man eigentlich mehr, so fragte man, vom Intellekt des Menschen erwarten? Man ermutigte die Heranwachsenden, die alten Probleme der Philosophie zu studieren, nur damit sie sich selbst von der Sinnlosigkeit des Überschreitens der Grenzen irgendeines orthodoxen Systems überzeugen konnten. »Stich nur an irgendeiner Stelle der Seifenblase der Philosophie«, so sagte man, »und du wirst das Ganze zum Zerplatzen bringen. Da die Philosophie aber für das Leben notwendig ist, muß man sie erhalten.« Die Naturwissenschaften wurden von den Vorfahren mit halb geringschätziger Dankbarkeit als ein notwendiges Mittel übernommen, sich der Umwelt einigermaßen vernünftig anzupassen. Die Ergebnisse der angewandten Naturwissenschaften wurden als Grundlage ihrer gesellschaftlichen Ordnung geschätzt. Als jedoch die Jahrtausende vorüberzogen und die Gesellschaft endlich jenen bemerkenswerten Zustand der Vollkommenheit und Stabilität erreichte, der viele Millionen Jahre hindurch andauern sollte, benötigte man wissenschaftliche Schöpferkraft und Erfindungsgabe immer weniger. Die Naturwissenschaften wurden den Kindergärten zugewiesen. Auch Geschichte wurde im Umriß bereits im Kindesalter vermittelt und daher später vergessen. Diese seltsam aufrichtige intellektuelle Unaufrichtigkeit ergab sich aus der Tatsache, daß sich die Siebenten Menschen mit ganz anderen Dingen als mit abstraktem Denken beschäftigten. Es ist schwierig, den Angehörigen der ersten menschlichen Spezies eine Vorstellung vom Hauptanliegen jener Fliegenden Menschen zu geben. Wenn man sagt, 384
es wäre das Fliegen gewesen, so wäre dies zutreffend, aber nicht die ganze Wahrheit. Und wenn man darauf hinwiese, daß sie versucht hätten, gefährlich und intensiv zu leben und in jedem Augenblick soviel Erfahrung wie möglich auszukosten, so wäre auch dies eine Karikatur der Wahrheit. Rein materiell war natürlich ›das Universum des Fliegens‹ mit all seinen vielfältigen Gefahren und Anforderungen an die Fluggeschicklichkeit in einer sturmgepeitschten Atmosphäre für jeden einzelnen dasjenige Feld, auf dem er sich erproben und seine Selbstbestätigung finden konnte. Die Art war jedoch nicht vom Fliegen selbst, sondern vom geistigen Aspekt des Fliegens besessen. In der Luft waren die Siebenten Menschen ganz andere Wesen, als wenn sie sich auf dem Boden befanden. Immer wenn sie flogen, ging eine merkbare geistige und seelische Veränderung mit ihnen vor. Natürlich mußten sie einen großen Teil ihrer Zeit auf dem Boden zubringen, da die meisten Arbeiten, die für die Aufrechterhaltung ihrer Zivilisation erforderlich waren, unmöglich in der Luft ausgeführt werden konnten. Außerdem waren zu einem Leben in der Luft unerhörte Energien erforderlich, so daß sie sich immer wieder auf dem Boden von ihren Flügen erholen mußten. Als Landwesen waren die Siebenten Menschen nüchtern, leicht gelangweilt, doch im wesentlichen fröhlich, von humorvoller Ungeduld über die Eintönigkeit und die Mühen eines Lebens als Fußgänger, aber immer getragen von den Erinnerungen an ein glänzendes Leben in den Lüften und in der Hoffnung auf kommende Flüge. Oft waren sie müde nach den Anstrengungen eines solchen Lebens, aber selten waren sie mutlos oder träge. Sie waren vielmehr bei allen notwendigen Arbeiten in Landwirtschaft und Industrie fleißig wie die Ameisen. Und doch arbeiteten sie in einer seltsamen Stimmung, einer in die Ferne lauschenden geistigen Abwesenheit, denn ihre Herzen gehörten dem Reich der Lüfte. Wenn sie häufig genug fliegen konnten, so waren sie auch dann, wenn sie unten bleiben mußten, ausgeglichen und zufrieden. Aber wenn sie aus irgendwelchen Gründen, zum Beispiel wegen einer Krankheit, längere Zeit nicht fliegen durften, verwelk385
ten sie vor Gram, wurden schwermütig und starben. Ihre Schöpfer hatten es so eingerichtet, daß ihre Herzen bei großem Schmerz oder Leid plötzlich aufhörten zu schlagen. Auf diese Weise sollten sie schweren Belastungen ausweichen können. Allerdings funktionierte diese barmherzige Einrichtung nur auf dem Boden. In der Luft entwickelten sie eine ganz andere, heldenhaftere Haltung, die ihre Schöpfer nicht vorausgesehen hatten, obwohl eine solche sich ganz folgerichtig aus ihrem allgemeinen Konstruktionsplan ergab. In der Luft schlug das Herz des Fliegenden Menschen kräftiger. Die Temperatur stieg an. Sein Gefühlsleben wurde lebhafter und differenzierter, seine Intelligenz wendiger und tiefgreifender. Alles, was er erlebte, ob Freude oder Schmerz, erlebte er intensiver. Es soll damit nicht gesagt werden, daß er emotionaler wurde, eher im Gegenteil, wenn man unter Emotionalität die Versklavung aller anderen Funktionen durch die Gefühle versteht. Das bemerkenswerteste Kennzeichen der Flugphase war, daß eine gesteigerte Verständnisfähigkeit zugleich objektiver wurde. Solange sich der einzelne in der Luft befand, ob im einsamen Kampf mit den Sturmgewalten oder im zeremoniellen Ballett mit Schwärmen seiner Gefährten, die den Himmel verdunkelten, ob in entrücktem Liebestanz mit einem Geschlechtspartner oder im meditativen Einzelflug hoch über seiner Welt; ob sein Unternehmen vom Glück begünstigt war, oder ob ein Orkan ihm die Flügel abriß und er hilflos zu Tode stürzte: immer betrachtete er sich und seine glücklichen oder tragischen Erlebnisse mit objektivem ästhetischen Entzücken. Selbst wenn sein bester Kamerad durch irgendein Unglück verstümmelt oder getötet wurde, für dessen Rettung er sein eigenes Leben hingegeben hätte, frohlockte er. Sehr bald nach seiner Rückkehr auf den Boden übermannte ihn jedoch die Trauer. Er versuchte vergeblich, jene Vision, die ihn zum Jubeln veranlaßt hatte, wieder zu erfassen, und weil er das nicht vermochte, zerbrach sein Herz. Auch wenn — was auf der Venus gelegentlich geschah — ganze Bevölkerungsgruppen der Fliegenden Menschen durch irgendeine, den 386
ganzen Planeten ergreifende atmosphärische Katastrophe ausgelöscht wurden, jauchzten die wenigen geschlagenen Überlebenden beim Anblick eines solchen Spektakulums, solange sie in der Luft bleiben konnten. Wenn sie schließlich erschöpft auf den Boden sanken, der Entzauberung und dem sicheren Tode entgegen, lachten sie noch immer in ihrem Innern. Nachdem sie aber eine Stunde unten waren, hatte sich ihr Zustand verändert, und ihre Vision war verschwunden. Sie konnten sich nur noch an das Entsetzliche jener Katastrophe erinnern, und diese Erinnerung tötete sie. Kein Wunder, daß die Siebenten Menschen jeder Augenblick, den sie auf dem Boden leben mußten, verdroß. Während sie in der Luft waren, akzeptierten sie die Aussicht auf ein Intermezzo als Fußgänger oder sogar auf eine unbegrenzte, ihnen im Grunde widerliche Existenz als Landwesen, mit unerschütterlicher Fröhlichkeit. Wenn sie aber wieder zurück waren, beklagten sie sich bitter darüber, ein solches Leben führen zu müssen. In der Geschichte jener Art wurde der Anteil der in der Luft verbrachten Stunden gegenüber den auf dem Boden verbrachten durch eine biologische Erfindung erhöht. Man züchtete eine winzige Nährpflanze, die den Winter über mit ihren Wurzeln im Boden wachsen konnte und sich im Sommer in den sonnenlichterfüllten oberen Luftschichten aufhielt und das Sonnenlicht durch Photosynthese in Nahrung umsetzte. So war es den Fliegenden Menschen möglich, wie Schwalben auf den hellen Weiden des Himmels ihre Nahrung zu finden. Im Laufe der Zeit traten die materiellen Bedürfnisse der Zivilisation immer mehr zurück. Bedürfnisse, die ohne Arbeit auf dem Boden nicht mehr befriedigt werden konnten, wurden nicht mehr zur Kenntnis genommen. Maschinell hergestellte Güter wurden immer seltener. Bücher wurden nicht mehr geschrieben und auch nicht mehr gelesen. Zum großen Teil waren sie auch nicht mehr nötig. Zum geringeren Teil wurden sie durch mündliche Überlieferung und durch Gespräche in den oberen Luftschichten ersetzt. 387
Von den Künsten gab es nur noch Musik, gesprochene Lyrik und Versepen sowie die hohe Kunst des Lufttanzes. Die anderen Künste verschwanden. Viele Wissenschaften hörten als solche zu bestehen auf, wurden aber ein Bestandteil der Tradition. Ein echter wissenschaftlicher Geist wurde bewahrt in einer sehr exakten Meteorologie, in einer ausreichenden Biologie, einer Psychologie des Menschen, die nur vom Zweiten und vom Fünften Menschen in der jeweiligen Blütezeit ihrer Entwicklung übertroffen wurde. Keine dieser Wissenschaften wurde jedoch besonders ernst genommen, abgesehen von ihrer Bedeutung für die Praxis. Die Psychologie erklärte zum Beispiel die Flugekstase sehr genau als eine fieberhafte und ›irrationale‹ Seligkeit. Niemand fühlte sich jedoch durch diese Theorie beunruhigt, denn wenn er flog, hielt er sie lediglich für eine amüsante Halbwahrheit. Die gesellschaftliche Ordnung der Siebenten Menschen war im Grunde weder utilitaristisch, noch humanistisch, noch religiös, sondern ästhetisch. Jede Handlung und jede Einrichtung hatte nur dann eine Berechtigung, wenn sie zur Vervollkommnung der Gestalt der Gemeinschaft beitrug. Selbst die soziale Mannigfaltigkeit wurde nur als ein Mittel angesehen, durch das Schönheit erreicht werden könnte, die Schönheit nämlich, die die harmonische Verbindung von vielen glänzenden Einzelleben ausmacht. Aber nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Rasse selbst, so betonten die Weisen, wäre der Tod beim Fliegen weit vollkommener als ein längeres Leben auf dem Boden. Viel, viel besser als ein Fußgängerdasein wäre der Selbstmord der Rasse. Da jedoch der Einzelne wie auch die Rasse nur als Instrumente zur Erreichung objektiver Schönheit angesehen wurden, war in einer solchen Überzeugung nichts Religiöses enthalten. Die Siebenten Menschen hatten überhaupt kein Interesse am Universalen und Unsichtbaren. Die Schönheit, die sie erschaffen wollten, war eine stark sinnliche Schönheit von kurzer Dauer. Sie waren damit sehr zufrieden. Die persönliche Unsterblichkeit, so sagte ein sterbender Weiser, würde genauso langweilig sein wie ein endloses Lied. Genauso stünde es auch mit der 388
Unsterblichkeit der Rasse. Die schöne Flamme, von der wir alle ein Teil sind, muß sterben, sagte er, muß sterben, denn ohne ihren Tod wäre sie nie schön gewesen. Fast hundert Millionen Erdjahre erhielt sich diese Zivilisation der Lüfte mit nur wenigen Veränderungen. Während dieser Epoche standen immer noch auf vielen Inseln jene alten Wohntürme, obwohl sie durch viele Reparaturen kaum noch als solche zu erkennen waren. In diesen Nestern schliefen die Männer und Frauen der siebenten Spezies während der langen Nächte der Venus, zusammengedrängt wie Schwalben auf der Stange. An den Venustagen hielten sich in den großen Türmen nur diejenigen auf, die gerade ihre Schicht in der Industrie abzuleisten hatten. Andere arbeiteten in den Feldern und auf dem Meer. Die meisten aber waren in der Luft. Viele glitten über das Meer und tauchten wie Fischreiher nach Fischen. Andere kreisten über dem Land oder über der See und stießen dann ab und zu wie Habichte auf die Wildhühner herab, die ihre wichtigste fleischliche Grundnahrung waren. Wieder andere schwebten, kreisten oder fegten aus reiner Lust am Fliegen in zwölf bis achtzehntausend Metern Höhe über den Wellen, wo selbst die dichte Atmosphäre der Venus sie kaum mehr trug. Manche genossen die Stille und ließen sich mühelos, umstrahlt vom Sonnenlicht, in großer Höhe vom stetigen Aufwind tragen und gaben sich der Meditation und den Freuden der Erkenntnis hin. Und nicht wenige liebestrunkene Pärchen umschlangen sich gewissermaßen in Spiralen, Kaskaden und anderen Luftfiguren, bis sie sich plötzlich umarmten und körperlich vereint dreitausend Meter herabfallen ließen. Andere wieder schwebten im grünen Pflanzennebel mit offenem Mund hin und her und ließen sich die für sie köstliche Speise wohl schmecken. Auch größere Gruppen konnte man beobachten, wie sie in der Luft kreisten, dabei soziale oder ästhetische Probleme diskutierten, zusammen sangen oder dem Vortrag einer Versdichtung lauschten. Tausende andere führten wie wandernde Vögelschwärme in der Luft Massentänze auf, die an die Choreographie der mechanischen Lufttänze des ersten Welt389
staates erinnerten, aber viel vitaler und ausdrucksvoller waren, ebenso wie der Flug eines Vogels sich in seiner Vitalität vom Flug eines Flugapparates unterscheidet. Dazwischen gab es immer einige, die entweder allein oder in Gesellschaft Fische oder Wildhühner jagten oder auch aus bloßem Übermut ihre Kräfte und ihre Geschicklichkeit, oft mit tragischem Ausgang, gegen einen Orkan erprobten, immer voll überschäumender Lebensfreude und mit jauchzender Seele. Es mag kaum glaubhaft erscheinen, daß die Kultur der Siebenten Menschen von so langer Dauer gewesen ist. Man könnte annehmen, daß sie entweder durch ihre Gleichförmigkeit und Stagnation zerfallen oder in einen Bereich tieferen Erlebens hätte vorstoßen müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Eine Generation folgte der anderen, und jede von ihnen war viel zu kurzlebig, als daß sie die Lust verloren und die Langeweile entdeckt hätte. Außerdem waren diese Wesen ihrer Welt so hervorragend angepaßt, daß sie selbst bei einem sich über Jahrhunderte erstreckenden Leben kein Bedürfnis verspürten, ihren Lebensstil zu ändern. Das Fliegen erfüllte sie mit starkem körperlichen Wohlgefühl, und diese Heiterkeit des Körpers war auch die Grundlage für ein echtes und ekstatisches geistiges Erleben, wie begrenzt es auch immer sein mochte. Sie genossen beim Fliegen, einer ihrer höchsten Begabungen, nicht nur die mannigfaltigen Eindrücke des Fluges selbst, sondern sie erlebten auch die Schönheiten ihrer abwechslungsreichen Welt und möglicherweise vor allem die des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft der Lüfte mit all jenen riskanten Unternehmungen, die Gefühl und Heldentum ansprachen. Trotzdem waren es die besonderen Eigenheiten dieser Art, die das Ende des scheinbar ewigen Elysiums herbeiführten. Als die Zeiten sich zu Äonen dehnten, kam es zunächst dazu, daß die alte wissenschaftliche Weisheit den Generationen immer mehr entglitt. Sie wurde für sie bedeutungslos. Eine Gesellschaft der Lüfte brauchte so etwas nicht mehr. Solange sich an ihrem körperlichen Zustand und an ihrer Umwelt nichts änderte, fiel ein solcher Wissensverlust nicht weiter ins Ge390
wicht. Aber sehr bald traten biologische Veränderungen auf. Schon immer hatte die Art eine gewisse Labilität im Biologischen gezeigt. Ein je nach den Umständen kleinerer oder größerer Teil der Säuglinge war mißgestaltet, und zwar so, daß diese nicht fliegen konnten. Ein normales Kind konnte bereits zu Anfang des zweiten Lebensjahres fliegen. Wenn es das durch irgendeinen Zufall nicht vermochte, dann verfiel es sehr bald körperlich und starb vor Ablauf des dritten Jahres. Es gab aber auch viele deformierte Kinder, die unbegrenzt weiterlebten, ohne flugfähig zu sein, bei denen sich offenbar eine Rückkehr zu den Lebensgewohnheiten ihrer zu Fuß gehenden Vorfahren vollzogen hatte. Aus Barmherzigkeit gegenüber diesen Krüppeln hatte man sie traditionsgemäß getötet. Da aber eine gewisse Meersalzverbindung, die für die empfindlichen Siebenten Menschen lebensnotwendig war, allmählich ausging, wurden mehr mißgestaltete als normale Kinder geboren. Die Weltbevölkerung sank so stark ab, daß das organisierte Leben der Gemeinschaft in der Luft nicht mehr nach den altehrwürdigen ästhetischen Prinzipien weitergeführt werden konnte. Keiner wußte, wie man dem Verfall der Rasse Einhalt gebieten konnte, aber viele glaubten, daß man ihn aufhalten könnte, wenn man ein größeres biologisches Wissen besäße. So traf man eine folgenschwere politische Entscheidung. Man entschloß sich, einen sorgfältig ausgewählten Teil der mißgestalteten Kinder am Leben zu lassen, nämlich diejenigen, die wahrscheinlich einen hohen Grad an Intelligenz erreichen würden, obwohl sie für alle Zeiten Fußgänger bleiben mußten. Auf diese Weise hoffte man, eine Gruppe von Spezialisten heranzubilden, die sich, ohne vom Rausch des Fliegens abgelenkt zu werden, ganz der biologischen Forschung widmen konnten. Die hochbegabten Krüppel, die ihr Leben jener Politik verdankten, betrachteten ihre Welt jedoch aus einer ganz anderen Perspektive. Da sie jene hohe Glückseligkeit, die für ihre Mitmenschen den Lebensinhalt darstellte, nur neidvoll aus Berichten kannten, aber niemals nachzuerleben imstande waren, und da sie andererseits die naive Mentalität der 391
anderen verachteten, die sich anscheinend um nichts weiter kümmerten, als um die Übung ihrer Körperkräfte, um Liebe, um die Schönheiten der Natur und um die Feinheiten des gesellschaftlichen Lebens, fanden diese fluguntüchtigen Intelligenzen ihre Befriedigung fast ausschließlich in der Forschung und in der wissenschaftlichen Beherrschung der Welt. Sie litten unter der Tatsache, daß sie ihrem Wesen nach eigentlich dazu bestimmt waren, ein Leben in der Luft zu führen, dies aber nicht vermochten. So hegten sie einen Groll gegen die anderen, die Glücklicheren. Obwohl das Volk der Lüfte sie gerecht behandelte und ihnen gegenüber sogar Mitgefühl und Achtung zeigte, tat ihnen diese Güte weh. Sie verschlossen ihre Herzen gegenüber allen anerkannten Werten und suchten sich neue Ideale. In wenigen Jahrhunderten war es ihnen gelungen, das intellektuelle Leben wieder zu rehabilitieren und sich mit der Macht, die ihnen ihr Wissen gab, zu Herren der Welt zu machen. Die liebenswerten Flieger waren überrascht, verblüfft, ja, sogar von Schmerz über diese Entwicklung erfüllt, zugleich aber auch belustigt. Selbst als es offenbar wurde, daß die Fußgänger eine neue Weltordnung schaffen wollten, in der es für die Schönheiten des natürlichen Fluges keinen Platz mehr geben sollte, bekümmerte diese Entwicklung die Fliegenden nur, solange sie auf dem Boden waren. Immer mehr Maschinen und fluguntüchtige Industriearbeiter drängten sich auf den Inseln. In der Luft sah sich das Schwingenvolk durch die niedrigen, aber sehr wirksamen künstlichen Flugapparate zur Seite gedrängt. Natürliche Flüge verfielen der Lächerlichkeit, das Leben der Fliegenden Menschen wurde als nutzloser Luxus verdammt. Es wurde festgesetzt, daß jeder Flieger in Zukunft der Weltordnung der Fußgänger zu dienen habe oder verhungern müßte. Da die Züchtung von Luftpflanzen eingestellt worden war und da das Fischen und die Jagd auf Hühner sehr streng kontrolliert wurden, war dieses Gesetz keine leere Drohung. Für die Flieger war es zunächst unmöglich, Tag für Tag viele Stunden auf dem Boden zu arbeiten, ohne daß sie sich gesundheitliche Schädigungen zuzogen, die dann einen frühen Tod herbeiführten. Aber 392
die Physiologen der Fußgänger erfanden eine Droge, die die armen Arbeitssklaven bei einigermaßen erträglicher Gesundheit hielt und auch tatsächlich ihr Leben verlängerte. Keine Droge der Welt konnte jedoch ihren Geist gesund erhalten, der unter der Tatsache litt, daß der normalerweise fast unbegrenzte Aufenthalt in der Luft für sie jetzt auf wenige müde Erholungsstunden einmal in der Woche herabgesetzt war. In der Zwischenzeit hatte man Experimente durchgeführt, um einen flügellosen Typ mit besonders großem Gehirn zu erzeugen. Schließlich wurde sogar ein Gesetz erlassen, wonach alle mit Flügeln geborenen Kinder entweder operiert oder getötet werden mußten. Die Flieger unternahmen jetzt den Versuch, sich mit Gewalt durchzusetzen. Dieser heldenhafte Versuch war aber wirkungslos. Sie griffen die Landbevölkerung aus der Luft an. Darauf mähte sie der Feind mit seinen großen Flugzeugen nieder und zerfetzte sie mit Granaten. Die noch übriggebliebenen Kampfgruppen der Fliegenden Menschen waren schließlich gezwungen, sich auf eine abgelegene und unfruchtbare Inselgruppe zurückzuziehen. Diese Insel war auch die Zufluchtstätte für das gesamte übrige Volk der Lüfte, das jetzt nur noch ein Schatten seiner früheren Macht war. Auf der Suche nach Freiheit flohen sie aus allen zivilisierten Inselgruppen, außer den Kranken, die Selbstmord begingen, und allen Säuglingen, die noch nicht fliegen konnten und in Befolgung einer Anordnung der Führer der Fliegenden Menschen von ihren Müttern oder ihren Verwandten erstickt wurden. Ungefähr eine Million Männer, Frauen und Kinder, von denen einige für einen längeren Flug kaum alt genug waren, versammelten sich auf den Felsen der Insel, ohne Rücksicht darauf, daß dort für eine so große Ansammlung von Menschen keine Nahrungsmittel zur Verfügung standen. Die Führer berieten sich und erkannten klar, daß die Tage der Fliegenden Menschen vorüber waren und daß es für eine so glanzvolle Rasse angemessener wäre, sofort zu sterben, als sich im Joch der von ihnen verachteten Herren dahinzuschleppen. Sie befahlen der Bevölkerung daher, gemeinsam als Rasse Selbstmord zu begehen, um wenigstens 393
durch diese Geste ihren Freiheitswillen zu bekunden. Diese Nachricht wurde überbracht, als sich alle gerade auf dem steinigen Heideland ausruhten. Ein großes Wehklagen erhob sich. Es verstummte, als der Sprecher sie bat, doch die Schönheit dieses Vorhabens erkennen zu wollen, obwohl sie sich zur Zeit auf dem Lande befänden. Sie erkannten keine Schönheit darin. Aber sie wußten, daß er recht hatte, daß sie alles so sehen würden, wie er es ihnen gesagt hatte, fast im gleichen Augenblick, in dem ihre müden Muskeln sie wieder emportragen würden. Es war keine Zeit mehr zu verlieren, denn viele waren schon fast ohnmächtig vor Hunger und befürchteten, daß sie bald nicht mehr emporfliegen könnten. Auf ein verabredetes Zeichen erhob sich das ganze Volk in den Himmel. Die Luft bebte. Die Trauer blieb zurück. Als die Mütter ihren Kindern erzählten, was geschehen sollte, bejahten selbst diese ihr Schicksal freudigen Herzens, obwohl sie sicher von Entsetzen gelähmt gewesen wären, wenn man ihnen noch auf dem Boden etwas davon gesagt hätte. In einer vielen Kilometer langen Doppelreihe flogen sie stetig nach Westen. Ein Vulkankegel tauchte über dem Horizont auf und wurde immer größer, je näher sie herankamen. Die Führer hielten auf seinen rötlichen Rauchpilz zu, und ohne zu zögern stürzten sich alle, Gruppe für Gruppe, in seinen glühenden Schlund. So endeten die Fliegenden Menschen.
Ein kleineres astronomisches Ereignis Die Rasse der Fluguntüchtigen, jedoch ihrem Wesen nach noch halbe Vogelmenschen, errichtete ihre Gesellschaft auf den Grundlagen der Industrie und der Wissenschaften. Es gelang ihnen schließlich nach ebenso vielen Teilerfolgen wie Mißerfolgen und nach mancherlei Änderungen der Entwicklungsrichtung eine neue menschliche Art zu schaffen, den Achten Menschen. Diese langschädligen und ansehnlichen Leute waren körperlich, seelisch und geistig ausgesprochene Landbe394
wohner. Mit ihrer Handgeschicklichkeit, ihrer Mathematik und ihrer Erfindungsgabe verwandelten sie sehr bald die Venus in ein technisches Paradies. Ihre gewaltigen elektrischen Schiffe, die ihre Energie aus der Hitze des Planeteninneren bezogen, zogen ungestört durch die ewigen Monsune und Orkane ihre Bahn und hatten für das schlechte Wetter der Venus nur noch Verachtung übrig. Inseln wurden durch Tunnel und durch elastische ›Tausendfüßlerbrücken‹ verbunden. Jeder Zoll breit Boden wurde industriell oder landwirtschaftlich genutzt. Den Generationen gelang es, einen so großen Reichtum anzuhäufen, daß die verschiedenen rivalisierenden Rassen und Kasten es sich alle paar Jahrhunderte leisten konnten, in umfangreichen gegenseitigen Gemetzeln und der Zerstörung materieller Werte zu schwelgen, ohne daß dadurch ihre Nachkommen normalerweise ärmer geworden wären. So gefühllos war der Mensch geworden, daß er sich solcher Orgien überhaupt nicht mehr schämte. Nur durch derartige heftige Gewaltausbrüche konnte sich nämlich diese spießerhafteste aller Arten eine Weile aus ihrer Selbstgefälligkeit befreien. Der Krieg, der edleren Wesen als eine schwere Niederlage des Geistes erschienen wäre, war für jene ein Tonikum, ja fast eine religiöse Übung. Diese kathartischen Krampfzustände waren allerdings nur kurze und seltene Krisenzeiten, die fast automatisch lange Zeiten eines stumpfen Friedens unterbrachen. Niemals gefährdeten sie die Existenz der Spezies, sehr selten nur zerstörten sie ihre Zivilisation. Nach einer längeren Periode des Friedens und des Aufstiegs der Wissenschaften machten die Achten Menschen eine unangenehme astronomische Entdeckung. Seit jener Zeit, als die Ersten Menschen erkannt hatten, daß es im Leben eines jeden Sterns einen kritischen Augenblick gibt, in dem seine große Masse zusammenfällt und auf einen winzigen kleinen Kern mit nur schwacher Strahlung zusammenschrumpft, hatten die Menschen immer wieder von Zeit zu Zeit vermutet, daß auch die Sonne einem solchen Prozeß unterworfen sein und einmal ein typischer ›weißer Zwerg‹ werden könnte. Nun entdeckten 395
die Achten Menschen sichere Anzeichen für eine solche Katastrophe und konnten ihr Datum festlegen. Zwanzigtausend Jahre gaben sie sich noch, bis jene Veränderung beginnen würde. Sie glaubten, daß nach weiteren fünfzigtausend Jahren die Venus wahrscheinlich vor Kälte erstarrt und unbewohnbar sein würde. Die einzige Hoffnung, die ihnen blieb, war der Versuch, während jener großen Veränderungen auf den Merkur überzusiedeln, wenn jener Planet aufgehört hätte, so unerträglich heiß zu sein. Es war also notwendig, dem Merkur eine Atmosphäre zu geben und eine neue Spezies zu entwickeln, von der man annehmen konnte, daß sie sich schließlich einer außergewöhnlich kalten Welt anzupassen in der Lage wäre. Dementsprechende Vorbereitungen waren schon im Gange, als eine neue astronomische Entdeckung sie als vollkommen sinnlos erscheinen ließ. Die Astronomen entdeckten in einiger Entfernung außerhalb des Sonnensystems eine nichtleuchtende Gaswolke. Ihre Berechnungen ergaben, daß diese Wolke und die Sonne sich einander näherten und kollidieren würden. Weitere Berechnungen ließen die wahrscheinlichen Ergebnisse dieses Ereignisses erkennen. Die Sonne würde aufflammen und sich gewaltig ausdehnen. Ein Leben würde daher auf allen anderen Planeten, außer vermutlich dem Uranus und wahrscheinlich noch dem Neptun, ganz unmöglich sein. Die drei Planeten jenseits des Neptuns würden zwar der ungeheuren Hitzeausstrahlung entgehen können, waren aber aus anderen Gründen ungeeignet. Von ihnen würden die beiden am weitesten von der Sonne entfernt liegenden eisüberdeckt bleiben. Überdies lagen sie außerhalb der Reichweite der noch unvollkommenen Weltraumschiffe der Achten Menschen. Der näher zur Sonne gelegene der drei Planeten war praktisch eine kahle Eisenkugel, die weder eine Atmosphäre noch Wasser besaß und nicht einmal mit normalem Felsgestein bedeckt war. Neptun allein mochte noch Lebensmöglichkeiten bieten. Aber wie konnte man Neptun bevölkern? Nicht nur war seine Atmosphäre denkbar ungeeignet und seine Anziehungskraft so stark, daß sie den Menschen in unerträglicher Weise belasten 396
mußte, sondern, was noch schwerwiegender war, bis zum Zusammenstoß des Gasnebels mit der Sonne würde dieser Planet außerordentlich kalt sein. Erst nach jenem Zusammenstoß würde er irgendeiner dem Menschen bekannten Lebensform zu existieren erlauben. Obwohl es die Geschichte von der Eroberung des Neptun, der die endgültige Heimat des Menschen werden sollte, sehr wohl wert wäre, genauer aufgezeichnet zu werden, habe ich leider nicht genügend Zeit, um im einzelnen darauf einzugehen, wie alle diese Schwierigkeiten überwunden werden konnten. Auch kann ich hier nicht über den Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen politischen Einstellungen berichten. Die einen, die sich darüber im klaren waren, daß die Achten Menschen selbst niemals auf dem Neptun leben würden, wollten ihre ganze Zeit nur noch einer andauernden Orgie von Vergnügungen widmen, bis das Ende herankommen würde. Aber schließlich übertraf die Rasse sich selbst in einem fast einmütigen Entschluß, die ihr noch verbleibenden Jahrhunderte auf die Entwicklung eines menschlichen Wesens zu verwenden, das in der Lage sein konnte, die menschliche Mentalität in einer neuen Welt wiederzuerwecken. Es gelang Weltraumschiffen, jene weit entfernte Welt zu erreichen und chemische Veränderungen zur Verbesserung der Atmosphäre einzuleiten. Durch das erst vor kurzem wiederentdeckte Verfahren der Zerstörung von Elementarteilchen war es auch möglich, einen Energievorrat zur Erwärmung eines bestimmten Gebietes auf dem Neptun ständig zur Verfügung zu haben, in dem man Leben so lange zu erhalten hoffte, bis sich die Sonne wieder verjüngen würde. Als schließlich die Zeit der Übersiedlung herangenaht war, brachte man eine besonders für die Verhältnisse auf dem Neptun entwickelte Vegetation in jenes warme Gebiet, damit sie später für den Menschen zur Verfügung stehen würde. Man war der Meinung, daß man Tiere nicht brauchte. Dann transportierte man eine den dortigen Bedingungen angepaßte menschliche Art, den Neunten Menschen, in seine neue Heimat. Die riesenhaften Achten Menschen selbst konnten auf 397
dem Neptun nicht leben. Sie hätten nicht nur darunter gelitten, daß sie kaum in der Lage gewesen wären, ihr eigenes Körpergewicht zu tragen, geschweige denn zu laufen, sondern vor allem wäre auch der atmosphärische Druck auf dem Neptun für sie unerträglich gewesen. Der große Planet trug nämlich eine Gashülle bis in eine Höhe von vielen Tausenden von Meilen. Der feste Teil des Planeten war darin kaum mehr als das Dotter in einem gewaltigen Ei. Diese Luftsäule übte zusammen mit der Schwerkraft einen Druck aus, der noch größer war als derjenige auf dem Meeresgrund der Venus. Nur für ganz kurze Augenblicke wagten es daher die Achten Menschen, ihre Raumschiffe zu verlassen und die Oberfläche des Planeten in stählernen Taucheranzügen zu betreten. Nachdem sie alles soweit vorbereitet hatten, blieb für sie nichts anderes übrig, als zu den Inselgruppen der Venus zurückzukehren und den Rest ihres Lebens so gut es ging zu genießen, bis die Katastrophe eintreten würde. Sie brauchten nicht lange darauf zu warten. Wenige Jahrhunderte, nachdem die Besiedlung des Neptun abgeschlossen war und man die wertvollsten Schätze der Menschheit dorthin überführt hatte, konnte jener große Planet gerade noch einen Zusammenstoß mit dem dunklen Eindringling aus dem Weltenraum vermeiden. Der Uranus und der Jupiter waren zu jener Zeit weit außerhalb seiner Bahn. Der Saturn allerdings wurde mit allen seinen Ringen und Satelliten wenige Jahre, nachdem der Neptun gerade noch einem Zusammenprall entgangen war, von der Gaswolke verschlungen. Das plötzliche Aufflammen, das durch jene kleine Kollision bewirkt wurde, war nur ein Vorspiel. Der gewaltige Fremde stürzte weiter heran. Wie ein Finger in einem Spinnennetz wütete er im Planetensystem der Sonne. Nachdem er sich durch die Asteroiden hindurchgefressen, den Mars verfehlt und die Erde und die Venus zerglüht hatte, sprang er die Sonne an. Von jetzt an war das Zentrum des Sonnensystems ein Stern, der fast bis zur alten Bahn des Merkur reichte, und das gesamte System bildete sich um.
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kapitel xiv
Neptun
Aus der Vogelperspektive Ich habe jetzt die Geschichte des Menschen etwa bis zur Hälfte der gesamten Zeit, gerechnet von seinem ersten Auftreten bis zu seiner Vernichtung, behandelt. Hinter uns liegt der ungeheuer lange Zeitraum, der sein ganzes Leben auf der Erde und der Venus einbeschließt, mit all dem langsamen Hin- und Herschwanken zwischen Dunkelheit und Licht. Vor uns liegt seine Zeit auf dem Neptun, eine ebenso lange Zeitspanne, vielleicht auch ebenso tragisch, aber mannigfaltiger und in ihrer letzten Phase unvergleichlich glanzvoller. Es würde nicht angehen, die Geschichte des Menschen auf dem Neptun in der gleichen minuziösen Weise zu erzählen, wie die voraufgegangenen Geschichtsepochen in den vorhergehenden Kapiteln behandelt worden sind. Vieles davon würde für Erdbewohner unverständlich sein, und vieles sind bloß Wiederholungen, Variationen von Themen, wie wir sie bereits in den irdischen und venusianischen Sätzen der menschlichen Symphonie gehört haben. Um den Umfang und die Feinheiten jenes großen Epos des Lebens richtig erkennen zu können, müßten wir uns im Grunde genommen zweifellos jedem seiner einzelnen Sätze mit der gleichen angemessenen Aufmerksamkeit widmen. Aber das übersteigt die Fähigkeit jedes Menschen. Wir vermögen nur einige wenige bedeutende Themen aufzunehmen in der Hoffnung, dadurch einen zwar lückenhaften, aber allgemeinen Eindruck von dem ungeheuren Formenreichtum jenes Epos zu bekommen. Für die Leser dieses Buches, die selbst nur Tonschwingungen in den Eröffnungstakten dieser Musik sind, ist es vielleicht besser, wenn ich sie mit Dingen in Verbindung bringe, die ihnen zugänglicher und verständlicher sind, wenn ich dabei selbst auch vieles unbeachtet lassen muß, das in Wirklichkeit weit bedeutender war. Bevor wir unseren langen Flug fortsetzen, wollen wir uns noch einen Augenblick umsehen. Bisher sind wir über dem Zeitstrahl in ziemlich 401
niedriger Höhe dahingeflogen und konnten viele detaillierte Beobachtungen machen. Von nun an werden wir in größerer Höhe fliegen und mit einer erheblich höheren Geschwindigkeit. Wir müssen uns daher innerhalb des größeren Horizontes, der sich uns eröffnet, zu orientieren versuchen und müssen die Dinge unter einem astronomischen und nicht mehr unter einem menschlichen Gesichtspunkt sehen. Ich sagte schon, daß wir uns etwa in der Mitte der zeitlichen Entwicklung des Menschen befinden. Wenn wir jetzt aus unserer größeren Höhe in den frühen Anfang zurücksehen, müssen wir feststellen, daß die Zeitspanne, die die gesamte Geschichte des Menschen vom Pithecanthropus bis zur Katastrophe in Patagonien zu einem einzigen, nicht weiter zu analysierenden Punkt zusammengeschrumpft ist. Selbst die davor liegende und noch viel längere Periode vom Auftauchen der ersten Säugetiere bis zum Ersten Menschen, etwa 25 Millionen Erdjahre, scheint jetzt unbeträchtlich. Das Ganze, vom Auftauchen der ersten Säugetiere einschließlich des Zeitalters des Ersten Menschen, liegt etwa halbwegs zwischen der Bildung der Planeten, vor etwa 2 Milliarden Jahren, und ihrer endgültigen Zerstörung, 2 Milliarden Jahre später. Wenn man sich noch weiter erhebt, sieht man, daß dieses Äon von 4 Milliarden Jahren selbst nur ein winziger Augenblick im Vergleich zum Alter der Sonne ist. Bereits vor der Geburt der Sonne hat die Materie unserer Milchstraße Äonen lang als Nebel bestanden. Ja selbst jene Äonen sind noch kurz im Vergleich zu den Zeitblöcken, die sich aufeinandertürmten, bevor jene Myriaden von großen Nebeln selbst, nämlich jene zukünftigen Milchstraßen, sich aus dem allesdurchdringenden Nebel des Anfangs bildeten. Die gesamte Zeitspanne, in der der Mensch existiert, mit seinen vielen Arten und dem unaufhörlichen Sturzbach der Generationen ist daher nur ein Aufblitzen im Leben des Kosmos. Auch gemessen an der unendlichen Weite des Weltraums ist der Mensch unvorstellbar klein. Wenn wir in unserer Phantasie unsere Milchstraße auf die Größe eines der alten Fürstentümer der Erde reduzieren, müssen wir uns vorstellen, daß es im leeren Raum mit Milli402
onen anderer solcher Fürstentümer dahintreibt, die alle unendlich weit voneinander entfernt sind. Im gleichen Maßstab wäre etwa der allesumfassende Kosmos vom Umfang einer Kugel, deren Durchmesser etwa zwanzigmal größer ist als der Abstand des Mondes von der Erde in Ihren Tagen. Und irgendwo innerhalb des kleinen wandernden asteroidgleichen Fürstentums, das unser Universum, unsere Milchstraße, darstellt, wäre unser Sonnensystem ein ultramikroskopischer Punkt und der größte Planet darin noch unvergleichlich viel kleiner. Wir haben das Schicksal von aufeinanderfolgenden menschlichen Arten über einen Zeitraum von einer Milliarde Jahren verfolgt. Die erste Hälfte jenes Funkens, der die gesamte Existenz des Menschen darstellt. Zehn weitere Arten lösen jetzt einander ab, bzw. leben zur gleichen Zeit auf den Ebenen des Neptun. Wir, die Letzten Menschen, sind die Achtzehnten Menschen. Wie wir gesehen haben, gelangten einige der ersten acht Menschenarten nie über die Primitivität hinaus, viele erreichten wenigstens eine verworrene und vergängliche Zivilisation und eine von ihnen, die hochstehende fünfte Spezies, schien bereits echte Menschlichkeit zu erreichen, als sie vom Unglück ereilt wurde. Die zehn Arten auf dem Neptun zeigen noch größere Mannigfaltigkeit. Sie reichen vom mit Instinkten versehenen Tier bis zu Bewußtseinsformen, die zuvor niemals erreicht wurden. Die ausgesprochen subhumanen Degenerationsformen treten nur in den ersten sechshundert Millionen Jahren des Aufenthalts des Menschen auf dem Neptun auf. Während der ersten Hälfte dieser langen Vorbereitungsphase bevölkerte der Mensch, dessen Existenz zunächst fast vollkommen durch eine feindliche Umwelt vernichtet zu sein schien, die gewaltige nördliche Halbkugel des Planeten. Es waren aber Tiere, die dort lebten, keine Menschen. Denn den Menschen gab es nicht mehr. Während der zweiten Hälfte der vorbereitenden 600 Millionen Jahre erwachte der menschliche Geist allmählich wieder. Die Entwicklung jener Zeit sah das gleiche Hin- und Herschwanken zwischen Aufstieg und Niedergang, das für die vorneptunsche Epoche so charakteristisch war. In den 403
letzten 400 Millionen Jahren seiner Existenz auf dem Neptun gelang dem Menschen dann ein fast stetiges Voranschreiten auf dem Wege zu voller geistiger Reife. Wir wollen uns jetzt etwas genauer mit diesen drei großen Epochen der Geschichte der Menschheit befassen.
Da capo Die letzten Menschen auf der Venus hatten die neue Spezies, die den Neptun kolonisieren sollte, in verzweifelter Hast entworfen und entwickelt. Außerdem hatte allein schon die große Entfernung zu diesem Planeten sie daran gehindert, die dortigen Umweltbedingungen genau zu erforschen, so daß die neuen menschlichen Organismen nur zum Teil der für sie bestimmten Umwelt angepaßt waren. Bei diesen neuen Organismen mußte es sich zwangsläufig um einen zwergartigen Typ handeln, denn nur Wesen von kleinem Wuchs hatten Aussicht, einer außergewöhnlich starken Anziehungskraft zu widerstehen. Nur die allernotwendigsten menschlichen Charakteristika konnten daher bei der Bildung ihres Gehirns berücksichtigt werden, das sonst zu überfüllt und nicht mehr leistungsfähig gewesen wäre. Trotzdem waren die Neunten Menschen immer noch viel zu fein strukturiert, um den brutalen Naturkräften auf dem Neptun widerstehen zu können. Diese Naturgewalten hatten die Konstrukteure stark unterschätzt. Sie hatten sich damit begnügt, eine Miniaturausgabe ihres eigenen Typs zu entwickeln. Sie hätten ein kälteunempfindliches und widerstandsfähiges Tier schaffen sollen, mit einem starken Fortpflanzungstrieb, primitiver Schlauheit für die Behauptung im Kampf ums Dasein, vor allen Dingen zähe, fruchtbar und so unempfindlich, daß es kaum den Namen Mensch verdient hätte. Sie hätten darauf vertrauen sollen, daß die Natur aus dieser rauhen Saat, wenn sie erst einmal Wurzel gefaßt hatte, mit der Zeit etwas Menschlicheres hervorgebracht hätte. Statt dessen erschufen sie eine 404
Rasse, die unter der nun einmal Miniaturausgaben anhaftenden Zerbrechlichkeit litt und für eine zivilisierte Umwelt entwickelt war, die sie mit ihrem schwachen Geist unmöglich in den Elementargewalten ihrer Welt errichten und behaupten konnte. Neptun, der noch jugendliche Gigant, trat nämlich allmählich in eine Phase der Schrumpfung seiner Oberfläche ein mit allen damit verbundenen Erdbeben und Eruptionen. So wurden die schwachen Kolonisten immer mehr von der Gefahr bedroht, entweder von plötzlich aufreißenden Erdspalten verschluckt oder vom Vulkanstaub begraben zu werden. Außerdem wurden ihre flachen Gebäude, wenn sie nicht durch Lavamassen niedergewalzt oder durch hin- und hergezerrte Fundamente verbogen wurden und zusammenfielen, durch die turbulente und sehr dichte Atmosphäre dauernd wie mit einem Sturmbock angegriffen und beschädigt. Die ungesunde Zusammensetzung der Atmosphäre zerstörte auch jeden Frohsinn und Mut einer Rasse, die ihrem Wesen nach selbst unter günstigen Bedingungen neurotisch war. Glücklicherweise währte dieser Todeskampf nicht lange. Da die quälende Vision einer besseren Welt verlorenging, löste sich die Zivilisation nach und nach in Barbarei auf. Das Bewußtsein des Menschen verengte und vergröberte sich zum Bewußtsein eines Tieres. Das Tier hatte Glück und konnte sich trotz widriger Umstände am Leben erhalten. Lange nachdem die Neunten Menschen alle menschlichen Züge verloren hatten, vermochte die Natur auf ihre langsame und blinde Weise dort einen Erfolg zu erzielen, wo der Mensch versagt hatte. Die tierhaften Nachkommen dieser menschlichen Spezies paßten sich schließlich ihrer Welt recht gut an. Mit der Zeit gab es eine Fülle subhumaner Lebensformen unter allen möglichen Umweltbedingungen, die sich durch die Landmassen und Meere des Neptun ergaben. Keine dieser Lebensformen stieß sehr weit bis zum Äquator vor, denn die angeschwollene Sonne durchglühte in jener Zeit die Tropen mit derartiger Hitze, daß dort kein Leben existieren konnte. Selbst an den Polen konnten 405
nur die widerstandsfähigsten Kreaturen den langanhaltenden Sommer überstehen. Zu jener Zeit war das Neptunjahr ungefähr 165 mal so lang wie das alte Erdjahr. Der langsame Wechsel der Jahreszeiten war für den Rhythmus des Lebens von außerordentlicher Bedeutung. Außer bei ganz kurzlebigen Organismen zeigte sich bei allen anderen eine Tendenz, wenigstens ein vollständiges Jahr hindurch zu leben. Die höheren Säugetiere lebten sogar länger. In einem späteren Stadium sollte diese natürliche Langlebigkeit sich besonders vorteilhaft für die Wiedergeburt des Menschen auswirken. Andererseits verzögerte aber die Langsamkeit des Wachstumsprozesses des einzelnen und die in jeder Generation langandauernde Unreife den natürlichen Evolutionsprozeß auf dem Neptun, so daß die biologische Entwicklung nur im Schneckentempo voranschritt, wenn man sie mit derjenigen auf der Erde und auf der Venus vergleicht. Nach dem Fall der Neunten Menschen bewegten sich die ihnen nachfolgenden subhumanen Kreaturen, um mit der Schwerkraft besser fertig zu werden, auf allen vieren. Zunächst hatten sie nur gelegentlich ihre Arme zur Unterstützung herangezogen, aber mit der Zeit tauchten viele Arten echter Vierfüßler auf. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Arten waren die Finger, und ebenso auch die Zehen, zusammengewachsen, und ein Huf war zwar nicht auf ihren alten Fingerspitzen, die zurückgebogen und atrophiert waren, gewachsen, jedoch auf ihren Knöcheln. 200 Millionen Jahre nach dem Zusammenstoß der Sonne mit jener schwarzen Gaswolke existierten auf dem Festland am Pol unzählige Arten subhumaner Weidetiere mit langen, schafähnlichen Schnauzen, ausgeprägten Mahlzähnen und einem Verdauungssystem, das dem der Wiederkäuer sehr ähnlich war. Unter ihnen fanden die subhumanen Fleischfresser ihre Nahrung. Einige hatten sich zu sehr schnellen Jägern, andere zu geschickten Schleichtieren, die im jähen Sprung ihre Beute erfaßten, entwickelt. Da aber das Springen auf dem Neptun große 406
Schwierigkeiten bereitete, waren jene katzenähnlichen Typen alle sehr klein. Sie jagten daher meist die kaninchenähnlichen und rattenähnlichen Nachkommen des Menschen, fraßen das Aas größerer Säugetiere oder die eifrigen Würmer und Käfer. Würmer und Käfer hatten sich ursprünglich aus Ungeziefer entwickelt, das von der Venus unbeabsichtigt zum Neptun transportiert worden war. Von der alten Fauna der Venus war es nur dem Menschen selbst, einigen Insekten und anderen wirbellosen Tieren sowie vielen Mikroorganismen gelungen, auf dem Neptun Fuß zu fassen. Viele Pflanzenarten hatte man künstlich für die neue Welt gezüchtet, und aus diesen hatte sich eine Fülle von Gräsern, Blütenpflanzen, dickstämmigen Büschen und neuen Algen gebildet. Von dieser Meeresflora ernährten sich gewisse sehr hoch entwickelte Meerwürmer, aus denen schließlich mit der Zeit schnelle, fischähnliche, räuberische Wirbeltiere entstanden. Diese wurden wiederum durch die im Meere lebenden Nachkommen des Menschen gejagt, sowohl durch die subhumanen Seehundeais auch durch die spezialisierteren subhumanen Tümmler. Vielleicht die bemerkenswerteste jener Weiterentwicklungen unter den Nachfahren des Neunten Menschen ist wohl jene, die über einen kleinen insektenfressenden fledermausartigen Gleiter zu einer großen Zahl verschiedener Arten von echten fliegenden Säugetieren führte, die allerdings kaum größer als Kolibris, aber in einigen Fällen so behende wie Schwalben waren. Nirgendwo konnte man jedoch typische menschliche Lebensformen entdecken. Es gab nur Tiere, die durch ihre Struktur und ihren Instinkt irgendeinen Platz in der Unbegrenztheit und Mannigfaltigkeit dieser geräumigen Welt ausfüllten. Gewiß erhielten sich auch hie und da seltsame Überreste der menschlichen Mentalität, ebenso wie sich zum Beispiel an den Vorderfüßen der meisten Arten noch Andeutungen der einstmals geschickten Finger des Menschen befanden. Es gab zum Beispiel bestimmte Arten von Weidetieren, die sich in Notzeiten trafen und ein mißtönendes Geheul erklingen ließen oder mit zusammengepreßten Vorderbeinen 407
auf ihren Hinterbacken sitzend stundenlang dem Gejaule eines ihrer Führer zuhörten, in Abständen dazu stöhnende und winselnde Kommentare gaben und sich schließlich in schäumende Wut steigerten. Und es gab ebenso Fleischfresser, die mitten in der Brunstzeit im Frühling ihre Werbung, ihren Kampf oder ihre alltägliche Jagd abbrachen, allein auf eine hochgelegene Stelle zogen, sich dort hinsetzten und lange Zeit nichts anderes taten als zu wachen und zu warten, bis der Hunger sie schließlich wieder aktiv werden ließ. Als die Zeit erfüllt war, ungefähr 300 Millionen Erdjahre nach dem Zusammenstoß der Sonne mit dem Gasnebel, fühlte sich eine gewisse, sehr kleine, haarlose kaninchenartige Kreatur, die in den Steppen des Polargebietes jagte, sehr stark bedroht und verfolgt durch einen schnellen Hund aus dem Süden. Dieses subhumane Kaninchen war ziemlich unspezialisiert und verfügte über keine wirksamen Mittel zur Verteidigung oder Flucht. Es wurde daher fast vollständig ausgerottet. Einige wenige retten sich jedoch dadurch, daß sie sich in ein Gelände mit dichtem und dickstämmigem Unterholz zurückzogen, wohin ihnen der Hund nicht folgen konnte. Hier waren sie gezwungen, ihre Ernährungsund Lebensweise umzustellen: statt des gewohnten Grases mußten sie Wurzeln und Beeren und sogar Würmer und Käfer fressen. Ihre vorderen Glieder benutzten sie immer mehr zum Graben, zum Klettern und gelegentlich sogar zur Herstellung von Nestern aus Stöcken und Stroh. Bei dieser Rasse waren die Finger niemals richtig zusammengewachsen gewesen. Ihre Vorderpfote war nach innen wie eine winzige Faust geballt. Aus den verlängerten und hervortretenden Knöcheln ragten einzelne Zehen hervor. Ihre Knöchel verlängerten sich allmählich noch weiter und bildeten sich zu einer neuen Hand. An dieser neuen kleinen Affenhand konnte man noch immer Spuren der alten Finger des Menschen entdecken, die auf die Handfläche zugebogen waren. So wie es schon früher oft geschehen war, regte auch hier der Gebrauch der Finger zu klarerer Wahrnehmung an. Diese bessere Wahrnehmung bewirkte schließlich, im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, bei der 408
Ernährung, der Jagd und für die Verteidigung dauernd alle Möglichkeiten auszuprobieren, Wendigkeit im Verhalten und Geschmeidigkeit in der geistigen und seelischen Anpassung. Das Kaninchen gedieh, nahm einen fast aufrechten Gang an, sein Körper und sein Gehirn wurden größer. Aber ebensowenig, wie es sich bei der neuen Hand um eine Wiederbelebung der Funktionen der alten Hand des Menschen gehandelt hatte, so wurden auch nicht im Gehirn die alten atrophierten Teile des Großhirns wieder hergestellt, sondern es bildete sich ein neues Organ, das sich über die alten Gehirnreste legte und diese aufnahm. Geist und Seele jener Kreaturen waren daher in vieler Hinsicht eine Neubildung, obwohl sie in ihren Grundfunktionen Geist und Seele der voraufgegangenen Menschenarten entsprachen. Wie seine Vorfahren wollte das neue Wesen natürlich Nahrung, Liebe, Ruhm und Geselligkeit. Um das alles zu erreichen, stellte es Waffen und Fallen her und baute Dörfer aus Flechtwerk. Es hielt eine Art von Beratungen mit anderen ab. Es wurde der Zehnte Mensch.
Die langsame Eroberung Eine Million Erdjahre hindurch breiteten sich diese langarmigen, haarlosen Wesen mit ihren Flechthütten und Knochengeräten über die großen nördlichen Kontinente aus und hielten diese Gebiete weitere Millionen Jahre in ihrem Besitz, ohne daß ihre Kultur weitere Fortschritte gemacht hätte. Die geologische und kulturelle Evolution auf dem Neptun kam, den dortigen Verhältnissen entsprechend, nur sehr langsam voran. Schließlich wurden die Zehnten Menschen durch einen Mikroorganismus angegriffen und vernichtet. Aus ihren Resten bildeten sich mehrere primitive menschliche Arten, die Millionen von Dezennien isoliert in verschiedenen, weit voneinander entfernten Territorien weiterexistierten, bis sie schließlich durch Zufall, durch ein Erkundungsunternehmen miteinander in Kontakt kamen. Eine 409
dieser frühen Arten, die sich in gebückter Haltung fortbewegte und große Stoßzähne hatte, war wegen ihres Elfenbeins sehr begehrt und wurde von einer geschickteren Art immer gefangen, bis sie ganz ausgerottet war. Eine andere Art mit langer Schnauze und kräftigem Unterkörper kauerte für gewöhnlich auf ihrem Hinterteil wie ein Känguruh. Kurz, nachdem diese fleißige und gesellige Rasse den Gebrauch des Rades entdeckt hatte, wurde sie von einer primitiveren aber kriegstüchtigeren wie von einer Flutwoge verschlungen. Diese zwar aufrechten, aber fast genauso breit wie langen klotzigen und blutrünstigen Wilden verbreiteten sich über das gesamte arktische und subarktische Gebiet, und einige Millionen Jahre hindurch wechselten sich bei ihnen in monotonem Rhythmus Fortschritt und Zusammenbruch ab, bis schließlich sogar eine allmähliche Schwächung ihres Keimplasmas fast die Existenz des Menschen beendet hätte. Aber nach einem Äon der Dunkelheit tauchte eine neue, dickstämmige Art auf, die über eine größere Gehirnkapazität verfügte. Dies war die erste Spezies auf dem Neptun, die die Religion der Liebe und alle jene geistigen Sehnsüchte und Qualen herausbildete, von denen die Menschen schon so oft und ergebnislos auf der Erde und auf der Venus ergriffen worden waren. Und wieder gab es Feudalreiche, kriegerische Nationen, wirtschaftliche Klassenkämpfe und nicht nur einmal, sondern häufiger einen Weltstaat, der die gesamte nördliche Hemisphäre umfaßte. Diese Menschen waren die ersten, die den Äquator in künstlich gekühlten elektrischen Schiffen überquerten und das gewaltige Territorium im Süden erforschten. In der südlichen Hemisphäre konnten sie kein Leben irgendwelcher Art entdecken. Denn noch in jener Zeit wäre es jeder Lebensform ohne künstliche Kühlung unmöglich gewesen, die glühendheißen tropischen Gebiete zu durchqueren. Bei all seiner schöpferischen Erfindungsgabe hätte auch der Mensch keine längere Reise durch die Tropen überstehen können, wenn nicht in jenen Tagen die verstärkte Strahlung der Sonne bereits wieder nachgelassen hätte. 410
Ebenso wie die Ersten Menschen und so viele andere menschliche Arten, die sich auf natürlichem Wege gebildet hatten, waren die Vierzehnten Menschen noch recht unvollkommen. Ebenso wie die Ersten Menschen errichteten sie Ideale für ihr Verhalten, die ihr unvollkommen durchgebildetes Nervensystem niemals erreichen und denen sie sich nur selten annähern konnten. Aber anders als die Ersten Menschen war es ihnen vergönnt, mit geringen biologischen Veränderungen ihre Art 300 Millionen Jahre zu erhalten. Selbst in einer so langen Periode gelang es ihnen jedoch nicht, aus ihrer unvollkommenen Geistigkeit herauszugelangen. Immer wieder erhoben sie sich von der Barbarei zu einer Weltzivilisation und immer wieder glitten sie in die Barbarei zurück. Wie ein Vogel in seinem Käfig waren sie Gefangene ihres eigenen Wesens. Und so wie sich ein Vogel in seinem Käfig mit Nestbaumaterialien beschäftigen mag, das Ergebnis dieser instinktiven, aber sinnlosen Beschäftigung jedoch immer wieder zerstört, so zerstörten diese engstirnigen Wesen ihre Zivilisation. Schließlich ging jedoch diese zweite Phase der menschlichen Geschichte auf dem Neptun, diese Ära des ständigen Hin- und Herschwankens, zu Ende. Im Ablauf der 600 Millionen Jahre nach der ersten Besiedlung des Planeten erzeugte die Natur ohne jede künstliche Unterstützung in der fünfzehnten menschlichen Spezies jene höchste Form des auf natürlichem Wege entstandenen Menschen, die sie bereits schon einmal in den Zweiten Menschen hervorgebracht hatte. Diesmal gab es keinen Zusammenstoß mit Marswesen. Wir können hier den Kampf jenes großköpfigen Menschen gegen sein schwerwiegendes Handicap, nämlich ein zu großes Schädelgewicht und zu schwerfällige Körperproportionen, nicht näher behandeln. Es mag genügen zu erwähnen, daß die Fünfzehnten Menschen nach langer Zeit der Unreife, in der es zu einem großen Krieg zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre kam, Beschwerden und Phantasien ihrer Jugend überwanden und sich in einer einzigen Weltgemeinschaft zusammenfanden. Die wirtschaftliche Grundlage dieser Zivilisation war die Kraft 411
der Vulkane, und geistig widmete sie sich der Aufgabe, die Kapazität des Menschen zu erweitern und zu steigern. Diese Spezies war auch die erste auf dem Neptun, die eine Umbildung des Menschen zu einem Wesen höherer Art für eine Daueraufgabe und Zweckbestimmung der Rasse hielt. Daher war auch der Fortschritt des Menschen trotz vieler Katastrophen, wie zum Beispiel weitere Erdbeben, Eruptionen, plötzliche klimatische Veränderungen, unzählige Krankheiten und biologische Abweichungen, verhältnismäßig stetig. Er war allerdings keineswegs schnell und sicher. Es gab lange Zeiten, oft länger als die gesamte Existenz der Ersten Menschen, in denen sich der menschliche Geist von seinem Vordringen erholte und seine Eroberungen sicherte, oder in denen er wieder in die Wildnis ausbrach. Aber nie mehr sollte er anscheinend vollkommen vernichtet werden und im Tierhaften versinken. Wenn wir den endgültigen Aufstieg des Menschen zu vollentwickelter Menschlichkeit verfolgen wollen, so können wir hier nur die allgemeinsten Entwicklungslinien innerhalb eines astronomischen Zeitraums verfolgen. In dieser Zeit drängen sich jedoch in Wirklichkeit viele Tausende von langlebigen Generationen. Myriaden in ihrer Art einmalige Individuen verströmen ihre Leben, begegnen einander mit Staunen und Entzücken, lassen ihren Herzschlag in der Musik des Universums mitschwingen, vergehen und machen anderen Platz. Diese Aufeinanderfolge von einzelnen Leben, die das eigentliche Gewebe im Fleisch der Menschheit ausmachen, kann ich nicht beschreiben. Ich kann nur das vom Persönlichen abstrahierte Wachstum der Menschheit verfolgen. Die Fünfzehnten Menschen setzten sich zunächst zum Ziel, fünf große Mißstände abzustellen, nämlich die Krankheit, die niederdrückende schwere Arbeit, die Senilität, das Mißverstehen und die Böswilligkeit. Über die Geschichte ihrer Hingabe an diese Aufgaben, über ihre vielen unglücklich verlaufenden Experimente und über ihren endlichen Triumph kann hier nicht berichtet werden. Auch läßt sich nicht 412
im einzelnen darstellen, wie sie das Geheimnis entdeckten, Energie aus der Umwandlung von Materie zu erzeugen, wie sie Raumschiffe zur Erforschung der benachbarten Planeten erfanden und wie sie nach unendlich langem Experimentieren eine neue Spezies entwarfen und erschufen, die Sechzehnten Menschen, die sie selbst ablösen sollten. Dieser neue Typ glich dem früheren Fünften Menschen, der einst die Venus kolonisiert hatte. Künstliche Atome wurden zur Absteifung seines Knochengewebes verwandt, so daß dieses einen starken Körper und ein großes Gehirn tragen konnte, dem außerdem noch eine außergewöhnlich feine Zellstruktur eine besonders komplexe Differenzierung ermöglichte. Auch ›Telepathie‹ stand wieder zur Verfügung, diesmal nicht mit Hilfe subvitaler Einheiten der Marswesen, die schon seit langem ausgestorben waren, sondern durch die synthetische Erzeugung einer ähnlichen Molekulargruppe. Das alte Übel des Egoismus wurde durch ein außerordentlich erweitertes, durch ›telepathischen‹ Rapport ermöglichtes, gegenseitiges Verständnis und durch eine bessere Abstimmung innerhalb des Nervensystems bei normalen Menschen vollkommen und endgültig beseitigt. Sofern sich egoistische Impulse nicht unter- oder einordnen ließen, wurden sie als Anzeichen von Geisteskrankheit gewertet. Die Wahrnehmungsorgane der neuen Spezies waren auch wesentlich verbessert worden. Den neuen Menschen stand sogar ein Paar Augen am Hinterkopf zur Verfügung. So hatte sich ihr Gesichtsfeld von einem Kreisausschnitt zur Erfassung des gesamten Kreises erweitert. Die allgemeine Intelligenz der neuen Rasse war jetzt so angestiegen, daß viele Probleme, die früher als unlösbar galten, sofort intuitiv erfaßt und gelöst werden konnten. Als Beispiel für den praktischen Gebrauch, den die Sechzehnten Menschen von ihren Fähigkeiten machten, braucht hier nur die Tatsache erwähnt zu werden, daß es ihnen gelang, die Bewegung ihres Planeten unter Kontrolle zu bekommen. Mit der unbegrenzten Energiemenge, die ihnen zur Verfügung stand, waren sie schon sehr bald in der Lage, den Neptun in eine weiter von der Sonne entfernte Umlaufbahn zu len-
ken, so daß das Klima auf dem Neptun gemäßigter wurde und Schnee gelegentlich die Polargebiete bedeckte. Als die Sonne jedoch im Laufe der Zeit an Kraft verlor, wurde es notwendig, den Planeten allmählich wieder näher an die Sonne heranzubringen. Als die Sechzehnten Menschen nahezu 50 Millionen Jahre lang die unumschränkten Herrscher ihrer Welt gewesen waren, wurde es auch ihnen, wie schon zuvor den Fünften Menschen, möglich, sich Zutritt zum Bewußtsein von Menschen der Vergangenheit zu verschaffen. Dies war für sie ein noch aufregenderes Abenteuer als für ihre Vorgänger, da sie bis zu diesem Zeitpunkt von der Geschichte des Menschen auf der Erde und auf der Venus keine Ahnung gehabt hatten. Wie ihre Vorgänger, so waren auch sie so entsetzt über das gewaltige Ausmaß des Elends in der Vergangenheit, daß ihnen eine Zeitlang ihre Existenz trotz der großen Segnungen, derer sie teilhaftig waren, und trotz ihres spontanen Frohsinns wie Hohn erschien. Aber bald entdeckten sie in Not und Elend der Vergangenheit für sich eine Herausforderung. Sie redeten sich ein, daß die Vergangenheit sie um Hilfe anginge, und daß sie auf irgendeine Weise einen großen ›Kreuzzug zur Befreiung der Vergangenheit‹ durchführen müßten. Wie dies im einzelnen zu geschehen hätte, konnten sie sich noch nicht vorstellen. Sie waren aber fest entschlossen, dieses Don Quichottsche Ziel bei jenem großen Vorhaben zu berücksichtigen, das mittlerweile das Hauptanliegen der Spezies geworden war, nämlich bei der Erschaffung eines Menschentyps noch höherer Ordnung. Es war ihnen klar, daß der Mensch zu jener Zeit die höchste Stufe des Verständnisses und der schöpferischen Kraft erreicht hatte, die einem Individuum, dessen Gehirn in körperlicher Isolierung arbeitete, möglich war. Dennoch waren die Sechzehnten Menschen durch ihr eigenes Unvermögen bedrückt. Obwohl sie in die Philosophie tiefer eingedrungen waren, als es je zuvor möglich gewesen war, hatten sie eigentlich nichts anderes erkennen können, als die hin- und herwehenden Schleier eines Geheimnisses. Insbesondere quälten sie hierbei drei ural-
te Probleme, von denen zwei rein intellektueller Art waren, nämlich das Geheimnis der Zeit und das Geheimnis der Beziehung von Geist und Seele zur Welt. Ihr drittes Problem war ihr Bedürfnis, auf irgendeine Weise ihre festgewurzelte Loyalität dem Leben gegenüber, das sie als ständig im Kampf mit dem Tod stehend begriffen, mit dem sich bei ihnen immer mehr verstärkenden Impuls zu einer objektiven Bewunderung dieses Kampfgeschehens in Übereinstimmung zu bringen. Durch die Zeiten hindurch blühten immer neue Kulturen der einzelnen Rassen des Sechzehnten Menschen auf. In der Symphonie des Universums erklang ständig wieder jener Satz vom Erfassenwollen der Zusammenhänge mit allen seinen Variationen des Geistigen und ließ alte Themen in neuer Klangfülle und Bedeutung erstehen. Doch blieben jene drei großen Probleme zur Bestürzung des einzelnen ungelöst und beeinträchtigten die Politik der Rasse. Gezwungen zwischen geistiger Stagnation und einem gefährlichen Sprung in die vor ihnen liegende Dunkelheit zu wählen, entschlossen sich die Sechzehnten Menschen schließlich, einen Gehirntyp zu entwerfen, dem es durch die geistige Verschmelzung mit vielen anderen gleichartigen Gehirnen möglich sein würde, eine völlig neuartige Bewußtseinsstufe zu erreichen. Man hoffte, daß auf diese Weise der Mensch Wahrheit und Wesen der Existenz erkennen könnte, ganz gleich, ob er diese Wahrheit bewundern oder verachten würde. Auf diese Weise würde die Aufgabe der Rasse, die durch philosophische Ignoranz verdunkelt wäre, endlich klar zu erkennen sein. Über die 100 Millionen Jahre, die die Sechzehnten Menschen darauf verwandten, den neuen Menschentyp zu schaffen, brauche ich hier nichts zu sagen. Sie dachten, sie hätten das Ziel ihrer Wünsche erreicht. In Wirklichkeit aber wurden die gloriosen Wesen, die sie erschufen, durch manche Mängel und Schwächen gequält, die so subtil waren, daß sie das Begriffsvermögen ihrer Schöpfer überstiegen. Sofort nachdem die Siebzehnten Menschen die Welt bevölkert und ihre Kultur errichtet hatten, setzten sie daher alle ihre Kräfte für die Erzeugung eines 415
neuen Typs ein, der im wesentlichen dem ihren glich, aber vollkommener war. So wich der Siebzehnte Mensch auf dem Neptun nach kurzer Existenz von wenigen hunderttausend, mit Glanz und Kämpfen angefüllten Jahren der achtzehnten menschlichen Art, der — wie es sich zeigen wird — letzten. Da alle diese voraufgegangenen Kulturen ihre Erfüllung in der Welt der Letzten Menschen finden, übergehe ich sie, um dafür etwas länger in unserer modernen Zeit zu verweilen.
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kapitel xv
Die Letzten Menschen
Einführung in das Wesen der letzten menschlichen Art Wenn einer der Ersten Menschen die Welt der Letzten Menschen betreten könnte, würde er darin viele ihm vertraute Dinge finden, aber auch vieles, was ihm seltsam verzerrt oder sogar pervers vorkäme. Aber fast alles, was für die letzte menschliche Art besonders kennzeichnend ist, würde er übersehen. Wenn man ihm nicht erklären würde, daß hinter all jenen erkennbaren und eindrucksvollen Merkmalen der Zivilisation, hinter der ganzen gesellschaftlichen Organisation und den zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb dieser großen Gemeinschaft eine vollständig andere geistige Kulturwelt bestünde, die sich jedoch seiner Einsicht entzöge, würde er die Existenz einer solchen Welt genauso wenig vermuten, wie etwa eine Londoner Katze eine Ahnung vom Vorhandensein der Finanzwelt oder der Literatur haben könnte. Zu den ihm noch vertrautesten Erscheinungen, denen er begegnen würde, gehörten Wesen, die zwar erkennbare menschliche Züge tragen, jedoch aus seiner Sicht grotesk erscheinen. Während er selbst sich mit dem Gewicht seines Körpers abplagte, würden diese Riesen mühelos umhergehen. Er sähe sie sicherlich als sehr derbe und untersetzte Leute an, würde ihnen aber eine gewisse Anmut der Bewegungen und sogar eine Schönheit der Proportionen nicht aberkennen können. Je länger er sich bei ihnen aufhielte, desto mehr Schönheit würde er bei ihnen entdecken und seine eigene Art weit weniger selbstgefällig betrachten. Die Körper einiger dieser phantastisch anzusehenden Männer und Frauen wären mit glattem oder zottigem Pelz oder mit einem Maulwurffell bedeckt, das die Muskeln erkennen ließe. Andere wären von brauner, gelber oder rötlicher Hautfarbe, oder man könnte sogar ihr pulsierendes Blut unter aschgrauer, durchsichtiger Haut erkennen. Obwohl wir alle Menschen sind, bestehen innerhalb der Art außerordentlich große körperliche Unterschiede sowie Unterschiede 419
der Mentalität, so daß wir bei oberflächlicher Betrachtung als Angehörige verschiedener Arten erscheinen könnten. Einige charakteristische Merkmale sind natürlich bei uns allen gleich. Dem Besucher aus einer anderen Zeit würden wahrscheinlich die großen, doch sehr feinfühligen Hände überraschen, die bei Männern und Frauen gleich sind. Bei uns allen ragen aus der Spitze des Zeigefingers drei winzige Manipulationswerkzeuge hervor, ähnlich denjenigen, die für die Fünften Menschen entwickelt wurden. Diese Auswüchse würden zweifellos unseren Besucher abstoßen. Ebenso würde ihn das Augenpaar am Hinterkopf sowie das für die Letzten Menschen besonders typische nach oben gerichtete astronomische Auge oben auf dem Kopf schockieren. Dieses Organ wurde so sinnreich konstruiert, daß es, ungefähr eine Handbreit über sein Knochengehäuse hinaus nach oben ragend, den Weltraum mit der gleichen Schärfe durchdringt wie die kleineren astronomischen Teleskope der Ersten Menschen. Abgesehen von diesen besonderen Merkmalen gibt es eigentlich bei uns keine ausgesprochen neuen körperlichen Charakteristika, obwohl natürlich jedes Glied, jeder Umriß klar erkennen lassen, daß seit den Tagen der Ersten Menschen viele Veränderungen vor sich gegangen sind. Wir sind diesen gegenüber menschlicher, aber auch tierhafter. Da so viele unserer menschlichen Züge jenseits seiner Verständnismöglichkeiten liegen, würde der primitive Forscher viel stärker von unserer Tiernatur als von unserer Menschlichkeit beeindruckt sein. Zunächst würde er uns vielleicht als einen völlig degenerierten Typ einstufen. Er würde bei uns Ähnlichkeiten mit einem Faun entdecken und uns in besonderen Fällen mit Affen, Bären, Ochsen, Beuteltieren oder Elefanten vergleichen wollen. Trotzdem sind unsere allgemeinen Proportionen den alten Maßen entsprechend und ausgesprochen menschlich. Dort wo die Schwerkraft keine unüberwindlichen Hindernisse bietet, ist die aufrechte Körperform eines Zweifüßlers immer noch die für intelligente Landwesen zweckmäßigste Gestalt. Nach vielen Abweichungen ist der Mensch zu dieser alten Gestalt zurückgekehrt. Außerdem würde ein Beobachter, der verschie420
dene Gesichtsausdrücke zu unterscheiden vermag, in jedem einzelnen unserer zahllosen physiognomischen Typen einen schwer zu beschreibenden, aber ausgesprochen menschlichen Blick erkennen müssen, ein sichtbares Zeichen für jene innere und geistige Anmut, die auch in seiner eigenen Art nicht ganz unbekannt ist. Vielleicht würde er sagen: »Diese Menschen sind Tiere und sicherlich auch Götter.« Sie würden ihn an jene alten ägyptischen Gottheiten mit ihren Tierköpfen erinnern. Bei uns durchdringen sich das Animalische und das Menschliche mit ungeheuerer Mannigfaltigkeit in jedem unserer Züge, in jeder unserer Körperwölbungen. Er würde in uns Kennzeichen des lange ausgestorbenen Mongolen, des Negers, des Nordländers und des Semiten erkennen können sowie viele ihm unbekannte Züge und Ausdrucksformen, die aus der subhumanen Epoche auf dem Neptun oder von der Venus herrühren. Er würde in jedem unserer Glieder ihm unbekannte Umrisse von Muskeln, Sehnen oder Knochen entdecken, die erst lange nach dem Untergang der Ersten Menschen entstanden sind. Außer Augen, die auch in den ihm bekannten Farben erstrahlen, könnte er andere Farben wie Topas, Amethystbraun, Smaragdgrün und Rubinrot mit Tausenden von Variationen erkennen. Er würde aber auch, falls ihm das notwendige Wahrnehmungsvermögen zur Verfügung stünde, bei uns allen in Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik eine gewisse leuchtende und doch scharfe, ironische Kraft erkennen, die man in den Gesichtern der früheren Menschen meist vergeblich sucht. Der Reisende würde bei uns auch unverkennbare Geschlechtsmerkmale, sowohl in den allgemeinen Körpermaßen als auch die einzelnen Organe betreffend, feststellen können. Er würde aber lange brauchen, um zu begreifen, daß einige der auffallendsten Unterschiede im Körperlichen und im Gesicht auf eine Unterteilung der beiden alten Geschlechter in viele Untergeschlechter zurückzuführen sind. Erst durch die vielgestaltigen Beziehungen dieser einzelnen untergeschlechtlichen Individuen zueinander ergibt sich für den einzelnen ein reiches sexu421
elles Erleben. Auf die sehr wichtigen Sexualgruppen werde ich später noch zurückkommen. Unser Besucher würde übrigens auch beobachten, daß, obwohl alle Personen auf dem Neptun normalerweise nackt gehen und nur einen Beutel oder einen Rucksack bei sich tragen, zu bestimmten Anlässen doch Kleidung in sehr leuchtenden Farben getragen wird, die aus verschiedenen schlichten, aber leuchtenden Geweben hergestellt wird, die vor unserer Zeit unbekannt waren. Er würde ebenfalls, überall in der grünen Landschaft verstreut, viele Gebäude, die meisten davon Flachbauten, entdecken, denn auf dem Neptun ist selbst für die eine Billion der Letzten Menschen genügend Raum vorhanden. Hier oder da ragen aber auch turmartige Bauten mit einem kreuzförmigen oder sternförmigen Grundriß bis über die Wolkenfelder empor, die die weiten, unveränderlichen Ebenen des Neptun schmücken. Diese mächtigsten aller Bauten, die aus unzerstörbaren Kunststoffen errichtet worden sind, würden unserem Besucher wie Gebirge erscheinen, deren geometrische Form jedes natürliche Gebirgsmassiv, selbst jene, die auf kleineren Planeten möglich sind, bei weitem überragen. In vielen Fällen ist der ganze Bau transparent, so daß er nachts, von innen beleuchtet, wie ein Leuchtturm erscheint. Von einem Fundament von sieben und mehr Kilometern Durchmesser emporragend erreichen die nach den Sternen ausgreifenden Türme eine Höhe, in der selbst die Atmosphäre des Neptun schon etwas dünner wird. Auf ihren Gipfeln arbeiten unzählige unserer Astronomen und halten den Ausguck besetzt, von dem aus unsere Spezies auf ihrem kleinen Floß über den unendlichen Ozean Ausschau hält. Hierher ziehen sich auch alle Männer und Frauen zeitweilig zurück, um unsere Milchstraße sowie die unzähligen, weit entfernt liegenden anderen Weltinseln zu betrachten. Dort führen sie auch gemeinsam jene hohen symbolischen Handlungen aus, für die es in Ihrer Sprache kein Eigenschaftswort außer dem recht abgegriffenen ›religiös‹ gibt. Dort genießen sie auch die Gebirgsluft einer Welt, in der Gebirge unbekannt sind. 422
Und zwischen den Zinnen und Schächten dieser höchsten Fühlhörner befriedigen viele von uns einen ursprünglichen Klettertrieb, der dem Menschen schon angeboren war, bevor er noch zum Menschsein erwachte. Diese Gebäude dienen also als Observatorien, Tempel, Sanatorien und Sportplätze zugleich. Einige sind schon fast so alt wie die gesamte Art. An anderen wird noch gebaut. In ihnen findet man daher die verschiedensten Stilepochen wieder. Einige dieser Stilarten würde der Reisende vielleicht gotisch, klassisch, ägyptisch, peruanisch, chinesisch oder amerikanisch nennen wollen, abgesehen von den Tausenden von Baukonzeptionen, die ihm völlig fremd erscheinen müssen. Jedes dieser Gebäude wurde irgendwann einmal gemeinsam von der ganzen Rasse errichtet. Keines entstand aus rein lokaler Initiative. Jede einzelne der vielen aufeinanderfolgenden Kulturen hat in einem oder in mehreren dieser alles überragenden Denkmäler ihren Niederschlag gefunden. Etwa alle vierzigtausend Jahre wurde eine neue Baukonzeption entwickelt und in der Praxis ausgeführt. So stark ist der Zusammenhang unserer Kulturen, daß es kaum nötig war, irgendeine Arbeit der Vergangenheit zu beseitigen. Wenn sich unser Besucher zufällig in der Nähe eines jener großen Türme aufhielte, würde er einen Schwärm von Mücken entdecken, der den Turm umschwirrt. Diese Mücken würden sich schließlich für ihn als fliegende Menschen entpuppen, die ohne Flügel, nur mit ausgestreckten Armen fliegen. Fremden würde es wahrscheinlich unverständlich sein, daß ein so großer Organismus sich vom Neptun mit seinem so starken Schwerefeld erheben kann. Fliegen ist jedoch für uns die normale Fortbewegungsart. Dazu braucht der Mensch nur eine Art Overall anzuziehen, der an verschiedenen Stellen mit Vibrations-Generatoren ausgerüstet ist. Der gewöhnliche Flug wird daher zu einer Art von Schwimmen in der Luft. Nur bei sehr hohen Geschwindigkeiten verwenden wir geschlossene Luftboote und -schiffe. Zu den Füßen dieser Gebäude liegt das flache hügellose Land mit seinen grünen, braunen oder goldenen Flächen, in denen überall Häu423
ser stehen. Unser Reisender würde feststellen, daß sehr viel Land bestellt wird, er würde auch viele Menschen mit Werkzeugen oder Maschinen bei der Landarbeit entdecken. Die meiste Nahrung wird allerdings durch künstliche Photosynthese auf dem kochenden Planeten Jupiter erzeugt, auf dem ohne eine sehr leistungsfähige Kühlanlage immer noch kein Leben existieren kann, obwohl die Sonne allmählich wieder normal wird. Für unsere Ernährung brauchten wir eigentlich gar keine Vegetation; aber die Landwirtschaft und ihre Produkte haben eine so große Rolle im Laufe der menschlichen Geschichte gespielt, daß Arbeit in der Landwirtschaft und Pflanzenkost für die Rasse psychologisch von sehr großer Bedeutung sind. So ergibt sich ein sehr großer Bedarf an pflanzlichen Stoffen, nicht nur als Rohstoff für die Herstellung unzähliger Erzeugnisse, sondern auch als ausgesuchte Delikatessen. Grünes Gemüse, Obst und verschiedene alkoholische Fruchtsäfte haben bei uns die gleiche rituelle Bedeutung erlangt wie bei Ihnen etwa der Wein. Fleisch, das uns nicht als normales Nahrungsmittel dient, wird nur sehr selten bei heiligen Anlässen gegessen. Die umhegte wilde Fauna des Planeten entrichtet ihren Tribut bei symbolischen Banketten, die in bestimmten Abständen abgehalten werden. Und immer, wenn ein Mensch sich zum Sterben entschlossen hat, so wird sein Körper in einer Zeremonie von seinen Freunden verzehrt. Die Verbindung mit den Nahrungsmittelfabriken auf dem Jupiter, den landwirtschaftlich genutzten Polargebieten des weniger heißen Uranus sowie mit den automatisch arbeitenden Bergwerken auf den eisbedeckten äußeren Planeten wird durch Weltraumschiffe aufrechterhalten, die eine viel größere Geschwindigkeit als die der Planeten selbst haben und daher für eine Reise zu den Nachbarwelten nur einen kleinen Teil eines Neptunjahres benötigen. Man kann beobachten, wie diese Schiffe, von denen das kleinste ungefähr zwei Kilometer lang ist, wie Enten aufs Meer heruntergehen. Bevor sie das Wasser berühren, verursacht ihre Druckwelle einen unvorstellbaren Wirbel, dann aber gleiten sie ruhig in ihren Hafen. 424
Das Raumschiff ist gewissermaßen ein Symbol für unsere Gemeinschaft. Es ist so hoch entwickelt und doch so winzig im Verhältnis zu der Leere, die uns umgibt. Weil die Weltraumfahrer so viel Zeit ihres Lebens in der Leere des Weltraums verbringen, außerhalb der Reichweite irgendwelcher ›telepathischer‹ Kontakte und manchmal sogar ohne Funkverbindung, stellen sie in ihrer Mentalität bei uns eine besondere Klasse dar. Sie sind verwegene, einfache und bescheidene Leute. Und obwohl sie eigentlich die stolze Herrschaft des Menschen über den Raum verkörpern, vergessen sie nie die zu Hause Gebliebenen in ihrer heiteren Hartnäckigkeit daran zu erinnern, daß ihre kühnsten Weltraumreisen nur in einem einzigen kleinen Tropfen dieses unbegrenzten Weltraummeeres stattgefunden hätten. Vor kurzem kehrte ein Expeditionsschiff von einer Reise zu weiter entfernten Gebieten zurück. Die halbe Mannschaft war gestorben. Die Überlebenden waren abgezehrt, krank, seelisch gestört. Für eine Rasse, die von sich annahm, daß ihre geistige Gesundheit ganz unerschütterlich wäre, war das Beispiel jener Unglücklichen sehr lehrreich. Während jener Reise, die die längste war, die man je unternommen hatte, war ihnen außer zwei Kometen und gelegentlich einem Meteor nichts begegnet. Einige der näheren Konstellationen hatten sie in veränderter Gestalt sehen können. Ein oder zwei Sterne waren heller geworden, und die Sonne war ihnen nur noch als der leuchtendste der Sterne erschienen. Die unzugängliche und doch unveränderte Begleitung durch jene Sternbilder muß die Reisenden in den Wahnsinn getrieben haben. Als nämlich das Schiff zurückkehrte und festgemacht hatte, konnte man eine Szene beobachten, wie sie sich selten in unserer modernen Welt abspielt. Die Mannschaft stieß die Türen auf und taumelte schluchzend in die Arme der Anwesenden. Niemand hätte jemals angenommen, daß Angehörige unserer Spezies soweit herunterkommen und die für uns normale Selbstbeherrschung vergessen könnten. Diese armen menschlichen Wracks haben dann später eine völlig unerklärliche Furcht vor den Sternen und vor allem, was nicht menschlich ist, 425
gezeigt. Sie trauen sich nachts nicht vor die Tür. Sie haben ein überspanntes Bedürfnis nach der ständigen Gegenwart anderer. Da aber alle anderen ein sehr großes Interesse an der Astronomie haben, finden sie keine rechten Freunde. Wider aller Vernunft verweigern sie ihre Teilnahme am geistigen und seelischen Leben der Rasse und sträuben sich, alle jene sie bedrückenden Probleme von einer höheren Ebene her in ihren richtigen Proportionen zu betrachten. Sie klammern sich in mitleiderregender Weise an die Freuden des individuellen Lebens und verfluchen die Unendlichkeit. Sie füllen ihre Seele mit menschlicher Eitelkeit und ihre Häuser mit Spielzeugen an. Nachts ziehen sie die Vorhänge zu, um die ruhige Stimme der Sterne bei ihren Lustbarkeiten nicht mehr zu vernehmen. Es sind aber freudlose und quälende Vergnügen, die sie nicht des Vergnügens wegen begehren, sondern nur zur Verdrängung der Realität.
Kindheit und Reife Ich sagte bereits, daß wir alle der Astronomie zugetan sind, das bedeutet aber nicht, daß wir ohne ›menschliche‹ Interessen wären. Unser Besucher von der Erde würde sehr bald entdecken, daß die überall verstreuten niedrigen Gebäude von einzelnen, Familien, Sexualgruppen und von Freundesscharen bewohnt werden. Die meisten dieser Gebäude sind so gebaut, daß zum Sonnenbaden oder des Nachts Dächer und Wände vollständig oder teilweise entfernt werden können. Das Haus liegt in einer Wildnis, einem Park oder in einem Garten, in dem unsere stämmigen Obstbäume stehen. Hier und da kann man Männer und Frauen mit Hacke, Spaten oder Baumschere bei der Arbeit beobachten. Die Gebäude selbst spiegeln verschiedene Stilarten wider, und auch ihre Inneneinrichtung weist große Unterschiede von Haus zu Haus auf. Selbst innerhalb eines einzigen Hauses wird der Besucher Räume mit den Charakteristika unterschiedlicher Stilepochen 426
finden. Während einige Räume angefüllt sind mit Gegenständen, von denen viele in ihrer Zweckbestimmung dem Fremden völlig unbekannt sein dürften, gibt es wieder andere Räume, die außer Tisch, Stühlen, Schrank und vielleicht einem abstrakten Kunstwerk keinerlei weiteres Mobiliar haben. Wir besitzen eine ungeheuere Fülle von verschiedenen Waren aller Art. Doch den Besuchern aus einer Welt, die von einer Gier nach materiellem Reichtum besessen ist, würde wahrscheinlich die Einfachheit und Nüchternheit auffallen, die für unsere Wohnungen charakteristisch ist. Zweifellos würde er auch überrascht sein, in ihnen überhaupt keine Bücher vorzufinden. In jedem Raum steht jedoch ein Schränkchen angefüllt mit Rollen von mikroskopischer Größe. Jede dieser Rollen enthält eine Stoffmenge, für deren Unterbringung die Menschen unzählige Bände gedruckter Bücher benötigt hätten. Man kann die Rollen mit einem Tascheninstrument von der Größe und der Gestalt einer Zigarettenschachtel »entziffern«. Wenn man die Rolle in einen solchen Apparat einlegt, rollt sie sich selbsttätig mit jeder beliebigen Geschwindigkeit ab und wirkt durch systematische Luftschwingungen, die durch das Instrument erzeugt werden. Auf diese Weise erreicht eine differenzierte ›telepathische‹ Sprache ununterbrochen das Gehirn des ›Lesers‹. Dieses Kommunikationsmittel wirkt so genau und unmittelbar, daß kaum eine Möglichkeit besteht, die Absichten des Autors mißzuverstehen. Die Rollen werden ihrerseits durch ein anderes Spezialgerät hergestellt, das die Schwingungen, die vom Gehirn des Autors erzeugt werden, aufzeichnet. Jene Aufzeichnungen sind aber nicht nur die bloße Reproduktion eines Bewußtseinsstromes, sondern sie halten nur jene Bilder und Ideen fest, die der Autor für aufzeichnungswürdig hält. Da wir zu jeder Zeit mit jedem beliebigen Menschen auf dem Planeten ›telepathisch‹ in direkte Verbindung treten können, dienen diese ›Bücher‹ natürlich nicht der Veröffentlichung von kurzlebigen Gedanken und Gefühlen. Jedes dieser Bücher enthält nur die ausgewählten und geklärten Gedanken, den geistigen Ertrag eines besonders hervorragenden Menschen. 427
Noch andere Geräte kann man in unseren Häusern bemerken, die ich hier nicht im einzelnen beschreiben kann, Apparate, die entweder dazu bestimmt sind, die Hausarbeit zu erledigen oder die eine unmittelbare Bedeutung für unser kulturelles Leben besitzen. Mehrere Fluganzüge hängen für gewöhnlich in der Nähe der Ausgangstür, und in einer an das Haus anschließenden Garage stehen die eigenen Luftboote, lustig bemalte torpedoförmige Fahrzeuge verschiedener Größe. Der Schmuck in unseren Häusern ist, abgesehen von dem der Kinderzimmer, überall einfach, ja sogar streng. Trotzdem lieben wir ihn sehr und verwenden viel Mühe darauf. Die Kinder allerdings schmücken ihre Wohnungen mit sehr viel auffälligem Glanz, an dem sich auch die Erwachsenen erfreuen können, wenn sie ihn mit den Augen der Kinder sehen. Ebenso vermögen sie die Ausgelassenheit und den Übermut der Kinder mit deren ursprünglicher Freude mitzuerleben. Die Anzahl der Kinder ist im Vergleich zu der großen Bevölkerungszahl in unserer Welt klein. Man könnte angesichts der Tatsache, daß ein jeder von uns seiner Anlage nach unsterblich ist, überhaupt die Frage stellen, ob wir uns in unserer Welt überhaupt Kinder erlauben dürften. Es gibt hierfür zwei Erklärungen. In erster Linie ist unsere Politik darauf ausgerichtet, neue Individuen von höherer Art als uns selbst zu erzeugen, denn wir selbst sind weit entfernt von biologischer Vollkommenheit. Daher brauchen wir Kinder. Wenn diese Kinder allmählich ihre geistige Reife erreichen, übernehmen sie die Funktionen der Erwachsenen, die ihnen gegenüber weniger vollkommen sind. Wenn diese Erwachsenen erkennen, daß sie nicht mehr gebraucht werden, entschließen sie sich, das Leben zu verlassen. Obwohl also jeder einzelne früher oder später sein Leben beendet, erreicht die durchschnittliche Lebensdauer trotzdem fast 250 000 Erdjahre. Es ist daher kein Wunder, daß wir nicht sehr viele Kinder aufziehen können. Da Kindheit und Jugend bei uns lange dauern, haben wir trotzdem mehr Kinder, als man vielleicht annimmt. Die Leibesfrucht wird zwanzig Jahre ausgetragen. Unsere Vorfahren hatten zwar den Fö428
tus außerhalb des Mutterleibes weiterentwickelt, aber dieses Verfahren wurde von unserer eigenen Art deswegen aufgegeben, weil es angesichts der wesentlichen Verbesserungen der Schwangerschaft nicht mehr gebraucht wurde. Unsere Mütter sind während der sehr seltenen Schwangerschaft körperlich und geistig besonders vital. Nach der Geburt dauert die eigentliche Säuglingszeit ungefähr ein Jahrhundert. Während dieser Periode, in der die körperlichen und seelisch-geistigen Grundlagen so langsam und sicher gelegt werden, daß kein Fehlschlag möglich ist, wird der Säugling von der Mutter betreut. Darauf folgen einige Jahrhunderte der Kindheit und ein Jahrtausend des Heranwachsens. Unsere Kinder unterscheiden sich natürlich vollkommen von denjenigen der Ersten Menschen. Obwohl sie körperlich in mancherlei Hinsicht noch wie Kinder sind, behandelt man sie doch innerhalb der Gemeinschaft wie selbständige Personen. Jedes Kind besitzt entweder ein eigenes Haus oder ein Zimmer in einem größeren Gebäude, das es gemeinsam mit seinen Freunden bewohnt. Tausende von Kindern leben in der Umgebung eines jeden der verschiedenen Bildungszentren. Es gibt auch Kinder, die lieber bei ihren Eltern wohnen oder bei dem einen oder anderen Elternteil, aber das sind Ausnahmen. Obwohl es sehr oft zu sehr freundschaftlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern kommt, gedeihen die Generationen im allgemeinen doch besser, wenn jede für sich getrennt unter einem anderen Dach lebt. Das ist bei unserer Spezies nicht zu umgehen. Die überwältigend größere Erfahrung des Erwachsenen enthüllt ihm die Welt in ganz anderen Proportionen, als sie selbst das genialste Kind begreifen könnte. Andererseits sind bei uns Seele und Geist eines jeden Kindes der Seele und dem Geist eines jeden Erwachsenen in dieser oder jener Richtung entschieden überlegen. Folglich kann einerseits das Kind niemals die besonderen Vorzüge und Eigenheiten der älteren Generation richtig verstehen, so wie andererseits auch die Erwachsenen — trotz ihrer Fähigkeit, mit Seele und Intellekt aller ihnen nicht überlegenen Kreaturen in Kontakt zu kommen —, ein völliges Unverständnis gegenüber den neuarti429
gen Eigenheiten und Charakterzügen ihrer Nachkommen haben müssen. Sechs- oder siebenhundert Jahre nach seiner Geburt entspricht ein Kind in mancher Hinsicht körperlich etwa einem zehnjährigen Kind der Ersten Menschen. Da für sein Gehirn aber eine weit höhere Entwicklung vorgesehen wurde, ist dieses bereits weit differenzierter als das Gehirn irgendeines Erwachsenen. Und obwohl das Kind sich auf manche Weise seinem Temperament entsprechend noch wie ein richtiges Kind benimmt, hat es intellektuell bereits in mancher Beziehung das geistige Niveau der besten Köpfe vergangener Zeiten weit hinter sich gelassen. Wenn der Reisende einem unserer aufgeweckten Jungen begegnen sollte, würde dieser ihn manchmal an die weise Einfachheit des legendären Christus erinnern. Er würde aber ebensosehr bei ihm eine große Überschwenglichkeit, einen Ungestüm und einen Schelm entdecken, sowie die absolute Unfähigkeit, von einem objektiven Standpunkt außerhalb der Welt des Kindes das eigene bewegte Leben zu betrachten. Im allgemeinen haben unsere Kinder bereits das intellektuelle Niveau der Ersten Menschen längst hinter sich gelassen, bevor sie den Willen zur objektiven Betrachtung ihrer Welt entwickeln, der für uns Erwachsene charakteristisch ist. Wenn es zum Beispiel zu einem Konflikt zwischen den Bedürfnissen des Kindes und denjenigen der Gesellschaft kommt, so wird sich das Kind in der Regel den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Aber es tut dies nur grollend und unter dramatischer Selbstbemitleidung und macht sich dadurch in den Augen der Erwachsenen ausgesprochen lächerlich. Wenn unsere Kinder die körperliche Reife erlangen, etwa ein Jahrtausend nach ihrer Geburt, verlassen sie die sicheren Pfade der Kindheit und verbringen ein weiteres Jahrtausend auf einem der antarktischen Kontinente, der als das Land der Jugend bekannt ist. Dieses Territorium, das in seinem ursprünglichen Zustand als Prärie und Buschland erhalten wird, erinnert in etwa an den wilden Kontinent der Fünften Menschen. Dort gibt es subhumane Weidetiere und Fleischfresser in Hülle und Fülle. 430
Vulkanausbrüche, Orkane, eisige Winter bieten den abenteuerlustigen jungen Menschen weitere Attraktionen. Deshalb gibt es dort auch eine große Sterblichkeit. In diesem Land führen unsere jungen Leute das halb primitive und halb zivilisierte Leben, das ihrer Natur entspricht. Sie jagen, fischen, ziehen Vieh auf und bestellen das Land. Sie kultivieren dort alle einfacheren Züge der menschlichen Persönlichkeit. Sie lieben und hassen. Sie singen, malen und schnitzen. Sie erfinden heroische Mythen und verkehren in ihrer Phantasie mit Wesen aus dem Kosmos. Sie finden sich zu Stämmen und Nationen zusammen. Manchmal erfreuen sie sich auch an primitiven, aber blutigen Kriegen. Als es das erstemal zu einem solchen Krieg gekommen war, mischten sich die Erwachsenen ein. Wir haben aber später gelernt, jenes Fieber sich selbst verzehren zu lassen. Der damit verbundene Verlust von Menschenleben ist bedauerlich. Aber er ist nur ein geringer Preis, der für die Einsicht in die Primitivität jener Kämpfe und Leidenschaften gezahlt wird, die selbst solche begrenzten Kriege den Jugendlichen ermöglichen, und wenn Menschen erst im Erwachsenenalter derartige Erfahrungen machen, dann wird die Primitivität der Kämpfe normalerweise philosophisch so bemäntelt, daß ihre Sinnlosigkeit ins Gegenteil verkehrt wird. Im Land der Jugend erleben unsere Jungen und Mädchen alle Höhen und Tiefen der Primitivität. Jahrhundert für Jahrhundert verspüren sie am eigenen Leibe die Mühen und die einengende Ärmlichkeit der Primitivität, ihre blinde Grausamkeit und Gefahr, aber sie erleben auch ihren Zauber und ihre frühlinghafte, schwärmerische Herrlichkeit. In ihrem Denken und Handeln machen sie hier alle jene Fehler, die die Menschen seit jeher gemacht haben. Schließlich erheben sie sich aber aus jener Welt, bereit, sich einer größeren und viel differenzierteren Welt der Reife zuzuwenden. Man hatte erwartet, daß man eines Tages, wenn die Spezies zur höchsten Stufe der Vervollkommnung entwickelt wäre, nicht immer wieder neue Generationen aufzuziehen brauchte, daß man sich nicht mehr mit Kindern und deren Erziehung und Bildung zu beschäftigen 431
haben würde. Man glaubte, daß die Gemeinschaft dann nur noch aus Erwachsenen bestehen würde und daß jene nicht nur theoretisch sondern auch faktisch unsterblich und selbstverständlich immer auf dem Höhepunkt ihrer vollen geistigen und körperlichen Kraft sein und bleiben würden. Der Tod sollte nie mehr die mühselig gewonnenen Perlen der Persönlichkeit aus dem Geschmeide der Gesellschaft heraustrennen und dadurch neue Verknüpfungen und schwierige Umgruppierungen veranlassen. Viele köstliche Schönheiten der Kindheit hätte man im übrigen immer noch in ausreichendem Maße durch die Erforschung der Vergangenheit genießen können. Wir erkennen jetzt, daß dieses Ziel nie erreicht werden kann, weil das Ende des Menschen nahe bevorsteht.
Das Erwachen der Rasse Über die Erziehung unserer Kinder zu sprechen ist noch leicht. Wie soll ich aber irgend etwas von Bedeutung über das Erleben der Erwachsenen berichten, demgegenüber nicht nur die Welt der Ersten Menschen, sondern auch die Welten der anderen voraufgegangenen Arten völlig negativ erscheinen? Der Grund dafür, daß wir uns so stark von allen anderen menschlichen Arten unterscheiden, sind unsere Sexualgruppen, die in Wirklichkeit weit mehr als nur Sexualgruppen sind. Diejenigen, die unsere Art planten, wollten ein Wesen erschaffen, das eine höhere Mentalität zu erreichen imstande sein sollte, als sie ihnen selbst zur Verfügung stand. Die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, war eine große Erweiterung und gleichzeitige Differenzierung des Gehirns. Sie wußten aber auch, daß das Gehirn eines einzelnen aus Sicherheitsgründen ein bestimmtes Gewicht nicht überschreiten durfte. Daher unternahmen sie den Versuch, das neue Mentalitätsniveau durch ein System unterschiedlicher und spezialisierter Gehirne zu erreichen, 432
deren Einheit auf ›telepathischem‹ Wege durch Luftschwingungen aufrechterhalten wurde. Die Einzelgehirne sollten dann gelegentlich bloße Schaltstellen in einem Strahlungssystem werden, das die materielle Grundlage für ein übergeordnetes Bewußtsein abgeben würde. Bisher hatte es nur ›telepathische‹ Verbindungen zwischen einzelnen Menschen gegeben, noch kein Super-Individuum oder Gruppenbewußtsein. Man wußte auch, daß eine derartige geistige und seelische Verbindung der einzelnen Individuen untereinander, außer auf dem Mars, bisher nirgendwo erreicht worden war. Der klägliche Ausgang jenes Versuches der Marswesen, ihr Gruppenbewußtsein über das Niveau des Einzelbewußtseins zu erhöhen, war nur allzu bekannt. Durch einen glücklichen Umstand kamen die scharfsinnigen Konstrukteure auf ein Verfahren, das den Mißerfolg der Marswesen verhindern konnte. Als Grundlage für ein Super-Individuum sahen sie eine multisexuelle Gruppe vor. Die seelisch-geistige Einheit der Sexualgruppe ist nicht das unmittelbare Ergebnis des Geschlechtsverkehrs der einzelnen Mitglieder untereinander. Natürlich gibt es solchen Verkehr. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die einzelnen Gruppen zwar sehr stark von einander, aber in den meisten Gruppen unterhalten sämtliche männlichen Gruppenangehörigen intime Beziehungen zu sämtlichen weiblichen Angehörigen der Gruppe. Der Sexus ist also bei uns im wesentlichen ein soziales Phänomen. Es ist für mich unmöglich, eine Vorstellung von dem weiten, tiefen und reichen Erleben zu vermitteln, das durch diese verschiedenen Begegnungen ermöglicht wird. Abgesehen von der damit für den einzelnen verbundenen Bereicherung seiner Persönlichkeit, liegt die Bedeutung der sexuellen Betätigung innerhalb der Gruppe vor allen Dingen darin, die einzelnen in jenem Zustand enger Vertrautheit, des Ausgleichs der Temperamente und des sich gegenseitigen Ergänzens zu bringen, ohne den das Entstehen eines überindividuellen Gruppenbewußtseins nicht möglich sein würde. Die einzelnen brauchen nicht ewig einer gleichen Gruppe anzugehören. Nach und nach kann eine Gruppe jedes einzelne ihrer 96 Mit433
glieder austauschen, und doch wird sie trotzdem immer ihr Gruppenbewußtsein aufrechterhalten, das durch die Erinnerungen der neu zu der Gruppe Hinzukommenden bereichert wird. Nur sehr selten verläßt ein einzelner eine Gruppe, bevor er ihr etwa zehntausend Jahre angehört hat. Bei einigen Gruppen haben alle Angehörigen eine gemeinsame Wohnung. In anderen Gruppen leben sie getrennt voneinander. Manchmal gibt es auch ein Individuum, das zu einem anderen Individuum einer Gruppe eine monogame Beziehung aufnimmt und mit ihm viele tausend Jahre oder sogar ein ganzes Leben hindurch eine gemeinsame Wohnung hat. Einige behaupten sogar, daß eine das ganze Leben hindurch bestehende monogame Beziehung mit ihrer tief innigen und zarten Vertrautheit der Idealzustand wäre. Aber selbst in einem solchen Zustand der Monogamie muß sich jeder der beiden Partner in gewissen Abständen durch den Verkehr mit anderen Mitgliedern der Gruppe erfrischen, nicht nur im Interesse der seelisch-geistigen Gesundheit der beiden Partner selbst, sondern auch, damit die volle Kapazität des Gruppenbewußtseins aufrechterhalten wird. Wie immer auch das Verhalten der einzelnen Gruppe in sexuellen Fragen sein mag, so besteht doch bei jedem einzelnen Mitglied ein besonderes Verbundenheitsgefühl mit der Gruppe, ein sexuell gefärbter Gemeinschaftsgeist, für den es bei den voraufgegangenen Arten keine Parallele gibt. Gelegentlich kommt es auch zu einer besonderen Art von Verkehr zweier Gruppen miteinander, bei der unter Beibehaltung des jeweiligen Gruppenbewußtseins sich sämtliche Mitglieder der einen Gruppe mit sämtlichen Mitgliedern der anderen Gruppe vereinigen. Gelegentlicher Geschlechtsverkehr außerhalb der Gruppe ist nicht häufig, wird aber auch nicht verhindert. Und wenn es dazu kommt, so wird er als ein symbolischer Akt, der eine bestehende geistige durch eine körperliche Vertrautheit krönt, gewertet. Jedesmal, wenn das Gruppenbewußtsein hervortritt, benötigt es — im Gegensatz zu den körperlich-sexuellen Beziehungen, die nur zwischen einzelnen bestehen — die Mitwirkung aller Gruppenangehöri434
gen. Zu den Zeiten, wenn die Gruppe als ein einziger geistig-seelischer Organismus existiert, geht der einzelne seiner normalen Arbeit und Erholung nach, außer wenn von ihm durch das Gruppenbewußtsein selbst eine besondere Tätigkeit verlangt wird. Aber alles, was er als Individuum ausführt, tut er mit spürbarer Zerstreutheit. In alltäglichen Situationen reagiert er völlig normal. Das geht so weit, daß er sogar ihm vertraute intellektuelle Arbeiten ausführen oder sich mit Bekannten intelligent unterhalten kann. Die ganze Zeit über ist er aber in Wirklichkeit ›weit weg‹, der direkten Anteilnahme am Geschehen um ihn herum als ein Teil des Gruppenbewußtseins entrückt. Nur eine ernste und unbekannte Krise kann ihn wieder zu sich bringen. Falls dies eintritt, dann bedeutet das für gewöhnlich das vorläufige Ende des gemeinsamen Erlebens der Gruppe. Jedes einzelne Mitglied der Gruppe ist im Grunde genommen nur ein hochentwickelter Mensch mit allen fortbestehenden animalischen Bedürfnissen. Er ißt gerne. Er läßt sich sofort von erotischen Reizen innerhalb oder außerhalb der Gruppe beeindrucken. Er hat seine Abneigungen und Schwächen und macht sich gern über die Schwächen anderer lustig, aber auch über die eigenen. Er mag vielleicht zu jenen gehören, die einen Widerwillen gegenüber Kindern empfinden, oder zu jenen, die mit Begeisterung in ein Kinderzimmer treten, wenn man sie nur hineinläßt. Er mag Himmel und Erde in Bewegung setzen, nur um die Erlaubnis zu einem Ferienaufenthalt im Land der Jugend zu erlangen. Wenn er sie nicht erhält, wie das fast immer der Fall ist, begnügt er sich, mit einem Freund schwimmen zu gehen, im Boot zu fahren oder wilde Spiele auszuführen. Vielleicht wird er auch nur in seinem Garten arbeiten oder, wenn auch nicht Körper, so doch Seele und Geist durch die Erforschung seiner Lieblingsepoche in der Vergangenheit zu erfrischen suchen. Einen großen Teil seines Lebens widmet er der Erholung. Deshalb ist er immer froh, wenn er wieder eine Arbeit aufnehmen kann, ob sie nun in der Aufrechterhaltung der materiellen Zivilisation der Welt besteht, ob er lehrt oder erzieht, ob er wissenschaftliche Un435
tersuchungen durchführt, ob er bei den unzähligen künstlerischen Vorhaben der Rasse mitwirkt oder ob er, was wahrscheinlicher ist, an einer der vielen Unternehmungen beteiligt ist, deren besondere Eigenarten ich hier unmöglich beschreiben kann. Als Mensch entspricht der einzelne typmäßig etwa einem Angehörigen der fünften Spezies. Bei ihm findet sich die gleiche Vollkommenheit des Drüsensystems und der Instinkte ebenso hochentwickelte sinnliche Wahrnehmung und Verstand. Wie bei der fünften Spezies hat auch in der achtzehnten jeder einzelne seine eigenen privaten Bedürfnisse, die er voll zu befriedigen sucht. Aber in beiden Arten ordnet der Mensch seine privaten Interessen und Sehnsüchte ohne Einschränkung und Aufbegehren dem Wohl der Rasse unter. Die einzigen Konflikte, die sich zwischen Individuen ergeben, sind nicht unversöhnbare Interessen- und Willenskonflikte, sondern Schwierigkeiten, die sich aus Mißverständnissen ergeben oder aus Wissenslücken hinsichtlich der gerade diskutierten Angelegenheit. Derartige Schwierigkeiten lassen sich stets durch geduldige telepathische Erklärungen beseitigen. Zusätzlich zu einer Gehirnstruktur, die für eine so vollkommene Natur des Einzelnen erforderlich ist, besitzt jedes Mitglied der Sexualgruppe in seinem Gehirn ein besonderes Organ, das zwar allein zwecklos ist, aber mit den Spezialorganen der anderen Mitglieder der Gruppe auf ›telepathischem‹ Wege ein elektromagnetisches Feld, die stoffliche Grundlage des Gruppenbewußtseins, aufbaut. Bei jedem einzelnen Geschlechtstyp hat dieses Organ eine besondere Gestalt und Funktion, und nur durch das gleichzeitige Zusammenwirken aller Organe kann die Gruppe zu gemeinsamem geistig-seelischen Erleben erwachen. Diese Organe erlauben es nicht nur den einzelnen Angehörigen der Gruppe, an den Erfahrungen und Erlebnissen aller anderen teilzuhaben, denn dies wird bereits durch die für Gehirngewebe unserer Art charakteristische Sensibilität gegenüber Strahlungen erreicht. Vielmehr bildet sich durch das harmonische Zusammenwirken aller Spezialorgane ein echtes Gruppenbewußtsein, das in Erlebnisfähigkeit und 436
Wahrnehmungsmöglichkeiten die Tiefe und Weite des Einzelbewußtseins bei weitem übertrifft. Dies wäre nicht möglich, wenn es nicht im Temperament und in den Eigenschaften eines jeden Geschlechtstyps Unterschiede gegenüber den anderen gäbe. Diese Unterschiede kann ich nur versuchen durch eine Analogie klarzumachen. Bei den Ersten Menschen gab es viele Temperamente, deren Wesen die Psychologen der Spezies nie voll erfaßt haben. Ich darf vielleicht eine oberflächliche Kennzeichnung dieser Typen versuchen: der Nachdenkliche, der Aktive, der Mystische, der Intellektuelle, der Künstlerische, der Theoretische, der Konkrete, der Selbstgefällige, der Nervöse. Unsere verschiedenen Geschlechtstypen unterscheiden sich voneinander im Temperament auf ähnliche Weise, aber in viel größerer Mannigfaltigkeit und Ausprägung einzelner Besonderheiten. Diese Temperamentsunterschiede werden zur Bereicherung der Gruppe genutzt, wie dies bei den Ersten Menschen nie möglich war, selbst wenn sie in ›telepathischer‹ Verbindung miteinander gestanden und eine elektromagnetische Einheit gewesen wären. Sie hatten nämlich nicht den Aktionsradius unserer spezialisierten Gehirne. In allen Fragen des täglichen Lebens ist jeder von uns seelisch und geistig ein unabhängiges Individuum, obwohl sein übliches Verständigungsmittel ›Telepathie‹ ist. Häufig jedoch erhebt er sich zu einem Gruppenbewußtsein. Das Gruppenbewußtsein ist nicht wie das Individuum selbständig und unabhängig, sondern es tritt nur beim »gemeinsamen Erwachen einzelner ›Individuen‹, wie man es nennen könnte, auf, und zwar existiert es nur so lange, wie alle Individuen zusammenwirken. Bei einem solchen »gemeinsamen Erwachen‹ erlebt jeder einzelne alle Körper seiner Gruppe als seinen eigenen vielgestaltigen Körper und nimmt die Welt mit allen jenen Körpern wahr. Dieser Zustand besteht für alle Individuen gleichzeitig. Zu dieser einfachen Erweiterung des Erfahrungsfeldes treten aber noch andere Qualitäten, die sich weit stärker von den Erlebnisformen des Individuums unterscheiden als beispielsweise die Mentalität eines Säuglings von der eines Erwach437
senen. So ermöglichen das Erkennen vieler ungeahnter und zuvor unverständlicher Züge der altvertrauten Welt der Menschen und Dinge. So ist es möglich, daß wir mit Hilfe unseres Gruppenbewußtseins die meisten, wenn auch nicht alle, jener seit urdenklichen Zeiten bestehenden philosophischen Puzzles, besonders wenn sie mit dem Wesen der Persönlichkeit zusammenhängen, klar erkennen und erfassen können, so daß sie für uns keine Probleme mehr sind. Auf dieser höheren geistigen Ebene stehen die Sexualgruppen, das heißt die einzelnen daran beteiligten Individuen als Überindividuum miteinander in Kontakt und bilden eine geistige Gemeinschaft. Jede dieser Gruppen ist quasi eine Person, die sich von anderen Gruppen in Charakter und Erfahrung genauso unterscheidet wie einzelne Individuen voneinander. Der Gruppe als Gesamtheit wird keine bestimmte Arbeit zugewiesen, etwa in der Weise, daß eine Gruppe sich ausschließlich in der Industrie betätigt, eine andere mit der Astronomie beschäftigt usw. Unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit werden Arbeiten nur an einzelne übergeben. Daher sind in jeder Gruppe verschiedene Berufe vertreten. Die Funktion der Gruppe ist es, besondere Arten von Einsicht und Verständnis zu entwickeln. Im Hinblick hierauf werden die Tätigkeiten der einzelnen ständig überprüft, nicht nur in der Zeit, in der sie sich zu einem Gruppenbewußtsein vereinen, sondern auch dann, wenn sie auf die Stufe gewöhnlichen, begrenzten, individuellen Erlebens zurückgeworfen sind. Zwar verfügen sie als Individuen nicht über die gleiche Verständnisfähigkeit und Einsicht in höhere Dinge wie die Gruppe, aber sie behalten davon doch wenigstens soviel, wie ein Individuum zu begreifen vermag, und erinnern sich insbesondere an Auswirkungen der Gruppenerfahrungen auf ihr Verhalten als Individuen. Erst vor kurzem konnte eine noch umfassendere und noch tiefer wirkende Erlebensweise erreicht werden, teils durch Zufall, teils durch systematische Forschungen, die von den Bewußtseinseinheiten der Gruppen geleitet wurden. Diese haben sich auf bestimmte Funktionen innerhalb des geistig-seelischen Lebens der Rasse spezialisiert, ebenso 438
wie die Individuen innerhalb des einzelnen Gruppenbewußtseins besondere Funktionen ausüben. Jene höhere Erlebensstufe wurde bisher äußerst selten und sehr unzuverlässig erreicht. Auf dieser Stufe wächst der einzelne noch über das Gruppenbewußtsein hinaus und wird ein Teil des Geistes und der Seele der gesamten Rasse. Selbstverständlich konnte und kann er jederzeit mit anderen Individuen überall auf dem Planeten ›telepathisch‹ in Verbindung treten, und es kommt häufig vor, daß die ganze Rasse quasi ›angeschlossen‹ ist, wenn ein einzelner der gesamten Welt etwas mitteilt. Aber die direkte Beteiligung aller Angehörigen der Rasse an gemeinsamer intellektueller und seelischer Erfahrung ist von anderer Qualität. Das Strahlungsfeld, das den ganzen Planeten und eine Billion Gehirne einhüllt, gibt die stoffliche Grundlage für das Gesamtindividuum der Rasse ab. Das einzelne Individuum erfährt sich mit allen Körpern der gesamten Menschheit. Er verspürt unmittelbar alle körperlichen Kontakte einschließlich, der Vereinigungen aller Liebenden. Mit den unzähligen Füßen aller Männer und Frauen steht es auf seiner Welt. Es sieht mit all ihren Augen und erfaßt mit einem einzigen Blick alle ihre Sichtfelder. So sieht es gleichzeitig die gesamte Oberfläche des Planeten in ihrer ungeheuren Vielfalt. Und nicht nur das, dieses Bewußtsein steht über dem Gruppenbewußtsein wie jenes über dem Bewußtsein einzelner Individuen. Mit dem Bewußtsein der gesamten Rasse betrachtet das Individuum die Gruppe mit der gleichen Mischung von Verachtung, Sympathie, Achtung und Objektivität wie etwa die Funktionen seines Körpers. Es beobachtet sie mit dem gleichen Interesse, mit dem man lebende Zellen des eigenen Gehirns oder etwas hochmütig das Leben in einem Ameisenhaufen studieren würde, auch wie jemand, der von den seltsamen unterschiedlichen Verhaltensweisen seiner Mitmenschen verzaubert ist, und zugleich hoch über einem Schlachtfeld schwebend, sich selbst und seinen Kameraden unter sich bei einem verzweifelten Kampf zusieht, vor allem aber mit der Einstellung eines Künstlers, der im Geiste nichts anderes als seine Vision bewegt und sich um deren Gestaltwerdung bemüht. Mit 439
den Augen seiner ganzen Rasse lernt der Einzelne, Dinge in astronomischen Maßstäben zu begreifen. Durch alle Augen und alle Teleskope sämtlicher Observatorien erblickt er seine dahingleitende Welt und sieht zugleich in das Dunkel des Weltalls hinaus. So vereinigen sich gleichmäßig in seiner Sicht die Perspektiven des Matrosen, des Kapitäns, des Heizers und des Mannes im Ausguck. Da er das Sonnensystem von beiden Hemisphären des Neptuns gleichzeitig erfaßt, sieht er die Planeten und die Sonne stereoskopisch wie durch eine plastische Brille. Das Jetzt ist für ihn nicht nur ein Augenblick, sondern ein ganzes Zeitalter. Da er seine Milchstraße von jedem Punkt auf der weiten Kreisbahn des Neptuns um die Sonne und das Hin und Her der sich verändernden, ihm näher gelegenen Sterne sehen kann, erscheinen ihm einige Sternbilder dreidimensional. Mit Hilfe unserer neuesten Geräte sieht er sogar die gesamte Milchstraße plastisch. Aber die großen, weit entfernten Nebel und Welteninseln bleiben für ihn trotzdem nur Punkte auf einer flachen Himmelsscheibe, und angesichts ihrer ungeheuren Entfernung wird sich selbst der Achtzehnte Mensch, der mächtigste aller menschlichen Arten, in seiner Erhebung zum Rassenbewußtsein über seine Winzigkeit und sein Unvermögen klar. Vor allen Dingen aber übertrifft das Rassenbewußtsein die Bewußtseinseinheiten der Gruppen und der Individuen durch philosophische Einsicht in das wahre Wesen von Raum und Zeit, von Geist und Materie, von kosmischem Kampf und von kosmischer Vollkommenheit. Einige Andeutungen über diese große Aufklärung können gegeben werden, aber im Kern läßt sie sich anderen kaum begreiflich machen. Solche Einsichten sind nämlich uns selbst als isolierten Individuen wie auch den Gruppenbewußtseinseinheiten nicht möglich. Und wenn wir aufhören, mit dem Bewußtsein der gesamten Rasse wahrzunehmen, können wir uns an das, was wir erfahren und erlebt haben, nicht mehr klar erinnern. Insbesonders eine Erinnerung, die wir an unser gemeinsames Erleben als Rasse haben, ist sehr bestürzend und betrifft etwas schein440
bar Unmögliches. Die Erlebnisbreite des Rassenbewußtseins war nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich auf sehr seltsame Weise erweitert. Bei der Zeitwahrnehmung gibt es natürlich zwischen verschiedenen Bewußtseinsstufen Unterschiede, einmal hinsichtlich der Zeitspanne, die man als ›jetzt‹ empfindet, und dann hinsichtlich des Unterscheidungsvermögens zwischen den aufeinanderfolgenden Ereignissen, die in diesem ›Jetzt‹ enthalten sind. Als einzelne Individuen unserer Spezies erfassen wir unter einem ›Jetzt‹ eine Zeitdauer, die etwa dem alten Erdentag entspricht, und wenn wir wollen, können wir innerhalb dieser Zeitspanne ein schnelles Pulsieren erkennen, das wir für gewöhnlich als eine hohe Tonschwingung hören. Mit unserem Rassenbewußtsein hingegen erfaßten wir in diesem ›Jetzt‹ die gesamte Periode seit der Geburt der ältesten Lebewesen, und die gesamte Vergangenheit der Gattung erschien uns als ein Teil unserer Erinnerung, die bis in die nur unklar zu erkennende Frühzeit des Menschen zurückging. Wenn wir wollten, konnten wir aber auch innerhalb des ›Jetzt‹ eine bestimmte Lichtschwingung von der nächsten unterscheiden. Eine vermehrte Breite und Exaktheit der Zeitnehmung war an sich nicht absonderlich. Aber wie war es möglich, fragten wir uns, daß das Rassenbewußtsein eine so ungeheuer lange Epoche, während der es überhaupt nicht existent gewesen war, als ›jetzt‹ begreifen konnte? Unser erstes bewußtes Erleben der Rassenmentalität dauerte nur so lange, wie der Mond des Neptun braucht, um den Planeten einmal zu umkreisen. Und doch sah das Rassenbewußtsein während dieses einen Monats, in dem es bestand, die ganze bisherige Existenz des Menschen als zur Gegenwart gehörig an. Dieses Erlebnis hat uns als Individuen sehr beeindruckt und bestürzt, obwohl wir uns eigentlich nur daran erinnern können, daß es von außergewöhnlicher Subtilität und Schönheit war. Gleichzeitig erfaßt uns oft ein unbeschreibliches Entsetzen. Wir, die wir in unserer vertrauten individuellen Erlebnissphäre allen vorstellbaren tragischen Ereignissen nicht nur mit Seelenstärke, sondern sogar frohlockend zu begegnen vermögen, haben das dumpfe Empfinden, daß wir als Rassen441
bewußtsein in einen Abgrund des Bösen geblickt haben, der für uns unvorstellbar bleibt und dessen Anblick wir auch nicht ertragen können. Und doch wissen wir, daß diese Hölle in der Sachlichkeit des kosmischen Geschehens als ein Teil des Kosmos akzeptiert werden muß. Wir erinnern uns dunkel und sind sogar merkwürdigerweise davon überzeugt, daß wir den unendlich langen Kampf des menschlichen Geistes ebenso wie die kleinlichen Begierden Einzelner als schöne Bestandteile von etwas gesehen haben, das noch weit mehr Bewunderung verdient als diese Teile und daß die endgültige Niederlage des Menschen ebenso wie sein zeitweiliger Triumph zur höheren Vollkommenheit des Ganzen beitragen. Wie nüchtern und farblos diese Worte sind! Wie unwürdig gegenüber jener beglückenden Schönheit und der Gesamtheit aller Dinge und Wesen, der wir im erwachten Bewußtsein der Rasse Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen! Jeder Mensch, ganz gleich welcher Art er angehört, mag gelegentlich irgendeinen Teil oder einen Ausschnitt des Lebens von jener kalten Schönheit verklärt erkennen, die ihm normalerweise verschlossen bleibt. Sogar die Ersten Menschen ließen bereits in ihrer Hochachtung, die sie der tragischen Kunst entgegenbrachten, etwas von dieser Erlebnisfähigkeit erkennen. Die Zweiten und noch mehr die Fünften Menschen suchten bewußt danach. Die Fliegenden Menschen der Siebenten Gattung hatten jenes Erleben, solange sie in der Luft waren. Aber ihr Geist war eng. Was sie von allem begriffen, war nur ihre eigene kleine Welt und ihre eigene tragische Geschichte. Wir, die Letzten Menschen, haben ihre Begeisterungsfähigkeit übernommen, in unserem privaten Leben und im Leben unserer Rasse, ganz gleich, ob es sich für uns zum Guten oder zum Bösen auswirkt. Wir haben sie immer, auch Dingen gegenüber, bei denen es weniger hochentwickelten Wesen unbegreiflich erscheinen mag. Wir verbinden diese Begeisterungsfähigkeit außerdem mit unserem Intellekt. Wir wissen sehr wohl, wie ungewöhnlich es ist, das Böse und das Gute gleichzeitig zu verehren, und wir erkennen klar die alle Wertmaßstäbe aufhe442
bende zerstörerische Kraft dieser Begeisterung. Als bloßen Individuen gelingt es selbst uns nicht, unsere Loyalität gegenüber dem kämpferischen Geist des Menschen mit unserer gottähnlichen, erhabenen Sicht in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir nur Individuen wären, entstünde für uns daraus ein unlöslicher Konflikt. Aber durch unser Rassenbewußtsein hat jeder einzelne eine Klärung seines Verstandes und seiner Gefühle erlebt. Und obwohl wir als Einzelne niemals die Visionen des Rassenbewußtseins zu erreichen vermögen, werden wir doch zu jederzeit von einer dunklen Erinnerung daran beherrscht, die alle unsere Handlungen leitet. Es geht uns ähnlich wie dem Künstler Ihrer Tage, der, nachdem der Augenblick seiner kreativen Vision vorüber war und er wieder zu den Freischärlern im Kampf ums Dasein gehörte, dennoch jenen Entwurf im einzelnen auszuführen imstande war, dessen Grundstruktur er in der kurzen Phase der Erleuchtung erfaßt hatte. Er hatte jene Vision nicht länger vor Augen, aber er erinnerte sich daran. Er versuchte in einer für die Sinne wahrnehmbaren Form den entschwundenen Glanz nachzugestalten. So leben auch wir, genießen mit wachen Sinnen die Vereinigung des Fleisches, der Seele und des Geistes, freuen uns an den verschiedenen Dingen und Betätigungsmöglichkeiten, die uns unsere hochentwickelte Kultur bietet, arbeiten zusammen oder streiten uns bei tausenden kleiner Vorhaben, erfüllen unsere Aufgaben zur materiellen Sicherung unserer Gesellschaft und sehen dabei uns selbst und alle diese Tätigkeiten von einer Helligkeit überstrahlt, deren Quelle wir nicht mehr zu erkennen vermögen. Ich habe versucht, Ihnen eine Vorstellung von den charakteristischsten Zügen unserer Spezies zu vermitteln. Sie werden sich denken können, daß durch das häufige Hervortreten eines Gruppenbewußtseins und durch die seltenere Bewußtseinseinheit der gesamten Rasse die Mentalität des Einzelnen und somit auch die gesamte gesellschaftliche Ordnung in sehr starkem Maße beeinflußt wird. Wie keine Gesellschaftsordnung je zuvor wird unsere Gesellschaft von einer einzi443
gen, die ganze Rasse beherrschenden, im gewissen Sinne religiösen Zielsetzung getragen. Das bedeutet nicht, daß die Entfaltung des Einzelnen durch diese Zielsetzung der Rasse irgendwie behindert würde. Ganz im Gegenteil, denn das Erreichen jenes Zieles erfordert als Grundvoraussetzung eine reiche Mannigfaltigkeit in der Entwicklung individueller körperlicher und geistig-seelischer Kräfte. Bei jedem Mann und jeder Frau hat aber das Vorhaben der gesamten Rasse absoluten Vorrang und ist daher die bewegende Kraft der Politik dieser Gesellschaft. Ich kann hier nicht im einzelnen unsere Gesellschaftsordnung beschreiben, in der eine Billion Bürger in über tausend einzelnen Nationen ohne den Einsatz von Armeen und Polizeistreitkräften in vollkommener Eintracht leben. Ich kann auch nicht sehr viel über die sich allgemeiner Anerkennung erfreuende Organisation unseres Gemeinschaftslebens sagen, die jeden Bürger mit einer besonderen Aufgabe betraut, die, je nach den Bedürfnissen der Gemeinschaft, die Zeugung neuer Bürger der verschiedenen Arten überwacht und doch eine unendliche Vielfalt an Entwicklungsmöglichkeiten offen läßt. Bei uns kennt man keine Regierung und keine Gesetze, soweit man unter Gesetzen erstarrende Konventionen versteht, deren Einhaltung mit Gewalt durchgesetzt wird und die erst durch sehr umständliche Verfahren geändert werden können. Obwohl unsere Gesellschaft in diesem Sinne also anarchisch ist, richtet sie sich trotzdem nach einem sehr verwickelten System von Bräuchen und Gewohnheiten, von denen einige so alt sind, daß sie sich zu ganz natürlichen Tabus entwickelten und nicht erst durch Konventionen fixiert zu werden brauchten. Diejenigen unter uns, die Ihren Rechtsanwälten und Politikern ähneln, haben die Aufgabe, unsere Bräuche und Gewohnheiten zu studieren und Verbesserungen vorzuschlagen. Ihre Vorschläge unterbreiten sie keiner repräsentativen Körperschaft, sondern in einer ›telepathischen‹ Konferenz der Bevölkerung der gesamten Welt. Wir haben also in gewissem Sinne die demokratischste Gesellschaft, die man sich denken kann. In 444
anderer Hinsicht ist sie aber auch sehr bürokratisch, denn jene sozialen Ingenieure studieren ihr Material so pedantisch und sorgfältig, daß schon mehrere Millionen Erdjahre verstrichen sind, seit ein Vorschlag des Kollegiums der Organisatoren zurückgewiesen oder ernstlich kritisiert wurde. Die einzigen ernsthaften Konfliktmöglichkeiten bestehen zwischen dem Individuum als solchem und als Teil des Gruppenoder des Rassenbewußtseins. Obwohl es in dieser Hinsicht in früheren Zeiten tatsächlich ernste Schwierigkeiten gegeben hat, die besonders schmerzlich für die betroffenen Individuen waren, sind derartige Konflikte heutzutage selten. Auch als Individuen vertrauen wir immer mehr dem Urteilsvermögen und den Anweisungen unseres eigenen überindividuellen Bewußtseins. Es ist jetzt an der Zeit, daß ich mich dem schwierigsten Teil meiner Aufgabe zuwende. Ich muß versuchen, Ihnen in kurzer Zusammendrängung etwas über jene Existenzphilosophie oder Kosmologie zu sagen, die dazu geführt hat, daß die Zielsetzung unserer Rasse sich in eine im wesentlichen religiöse wandelte. Diese Vorstellungen wurden einmal durch Arbeiten Einzelner bei naturwissenschaftlichen Forschungen und in der Philosophie und zum anderen durch den Einfluß unseres Gruppen- und Rassenerlebens entwickelt. Sie werden sich vorstellen können, daß es nicht sehr leicht ist, diese moderne Sicht vom Wesen der Dinge in irgendeiner verständlichen Form wiederzugeben, die denjenigen, die nicht über unsere Erfahrungen und Möglichkeiten verfügen, noch zugänglich wäre. Vieles daran wird Sie an Ihre Mystiker erinnern. Zwischen denen und uns bestehen aber viel mehr Gegensätze als Ähnlichkeiten, sowohl im Hinblick auf den Gegenstand als auch die Art und Weise unseres Denkens. Während Ihre Mystiker nämlich darauf vertrauten, daß dieser Kosmos vollkommen wäre, sind wir nur sicher, daß er sehr schön ist. Während sie ohne Hilfe ihres Intellekts zu diesem Schluß gelangten, haben wir unseren Intellekt bemüht. Während wir also hinsichtlich der Schlußfolgerungen eher mit ihren Mystikern als mit ihren schwerfälligen In445
tellektuellen übereinstimmen, loben wir die Intellektuellen, vor allem wegen ihrer Methode, denn sie verschmähten es, sich durch bequeme Phantasievorstellungen täuschen zu lassen.
Kosmologie Wir leben in einer ungeheuer großen und grenzenlosen, aber doch endlichen Ordnung raumzeitlicher Ereignisse. Und jeder von uns hat ebenso wie unser Rassenbewußtsein erfahren, daß es noch weitere solcher Ordnungen gibt, weitere und unvorstellbare Lebenssphären, die mit unserer eigenen weder räumlich noch zeitlich verbunden und nur im ewigen Sein vereint sind. Über den Inhalt jener fremden Sphären wissen wir fast gar nichts, nur das eine, daß sie für uns und sogar für unser Rassenbewußtsein unbegreiflich sind. Innerhalb unserer eigenen raumzeitlichen Sphäre erkennen wir das, was wir Anfang und das, was wir Ende nennen. Am Anfang entstand — wir, wissen nicht wie — jenes alles durchdringende und unvorstellbar feine Gas, der Ursprung alles materiellen und geistigen Lebens innerhalb der uns bekannten Zeit. Es war eine ungeheuer große, aber in Wirklichkeit genau bemessene Menge. Dadurch, daß sich diese große Menge in Schwärme aufgliederte, entstanden mit der Zeit Nebel, deren jeder sich seinerseits zu einer Milchstraße, einem Sternenuniversum, kondensierte. Die Sterne haben ihren Anfang und ihr Ende, und einige Augenblicke lang, irgendwann in der Zeit zwischen ihrem Anfang und ihrem Ende, mag auf einigen, auf sehr wenigen, intelligentes Leben existieren. Aber das Ende aller Welten ist unaufhaltsam, wenn inmitten von unnützer Energie, die Reste der Milchstraßen von allen Seiten zu einem einzigen Haufen ausgeglühter, toter Asche zusammenkommen, für den es scheinbar keine Veränderung mehr gibt. Anfang und Ende stellen für uns in der Kette der kosmischen Ereignisse nur deshalb Grenzen dar, weil wir nicht wissen, was jenseits die446
ser Grenzen liegt. Wir wissen — und als Rassenbewußtsein haben wir es als notwendig begriffen —, daß nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit unendlich, aber begrenzt ist. In gewissem Sinne ist nämlich die Zeit zyklisch. Nach dem Ende wird das Geschehen nicht aufhören. Wir werden es nur nicht erkennen können, es wird viel länger als die Zeitspanne zwischen Anfang und Ende vor uns verborgen bleiben. Am Ende dieser Zeit wird dann jenes gleiche Ereignis wiederkehren, das wir den Anfang genannt haben. Obwohl die Zeit zyklisch ist, wiederholt sie sich jedoch nicht, denn es gibt keine übergeordnete zeitliche Ordnung, in der sie sich wiederholen könnte. Was wir Zeit nennen, ist nur eine Abstraktion der Folge vorübergehender Geschehnisse, und da alle Ereignisse in einem Zyklus aufeinanderfolgen, gibt es kein beständiges Maß, an dem wir eine Wiederholung von Ereignissen ablesen können. Die Ereignisse folgen also zyklisch aufeinander, wiederholen sich aber nicht. Die Geburt des allesdurchdringenden Gases beim sogenannten Anfang ähnelt nicht nur einer Geburt, die, nachdem wir vergangen sind, und lange nach dem sogenannten Ende des Kosmos sein wird, sondern der Anfang der Vergangenheit ist der Anfang der Zukunft. Auf dem großen Rad der Zeit entspricht die Zeitspanne zwischen Anfang und Ende nur der Entfernung von einer Speiche zur nächsten. Die Zeitspanne bis zum neuen Anfang jedoch entspricht der Entfernung von einer Speiche um das ganze Rad herum bis zum Anfang. Wir wissen nicht, was in dieser Zeit geschieht. Wir wissen nur, daß etwas geschehen muß. Überall im Zyklus der Zeit gibt es einen unaufhörlichen Strom von Ereignissen. In beständigem Fluß tauchen sie auf, verschwinden und machen Platz für die darauffolgenden. Obwohl das Vorübergehende zu ihrem Wesen gehört, und sie ohne dieses Charakteristikum nichts sind, existieren sie ewig. Dennoch ist ihr Vorübergehen keine Täuschung. Sie existieren im Ewigen und doch ewig nur im flüchtigen Vorübergehen. In unserem Rassenbewußtsein erkennen wir diese Zusammen447
hänge klar, für unsere individuelle Vorstellungskraft bleiben sie jedoch ein Geheimnis. Selbst als Individuen müssen wir beide Seiten des mysteriösen Widerspruchs als ein Gleichnis, das uns unsere Erfahrung verstehen hilft, akzeptieren. Zwischen Anfang und Ende liegen einige hundert Millionen Millionen Erdjahre, zwischen Ende und Anfang eine wenigstens neunmal längere Zeit. In der Mitte der kleineren Zeitspanne liegt eine noch viel kürzere Periode, in der allein belebte Welten auftreten können. Und es sind nur wenige. Eine nach der anderen erlangt Bewußtsein und stirbt, Blüten, die im kurzen Sommer des Lebens aufbrechen. Vor dieser Blütezeit und danach, selbst für lange Zeiten zwischen dem Anfang und dem Ende und vor dem Anfang und nach dem Ende nur Schlaf, völlige Bewußtlosigkeit. Erst wenn es Sterne gibt und nur, solange diese Sterne nicht wieder vor Kälte erstarrt sind, kann es Leben geben. Und selbst dann nur selten. In unserer eigenen Milchstraße hat es bis jetzt etwa zwanzigtausend Welten gegeben, auf denen Leben existiert hat. Von diesen wenigen haben aber nur weit unter hundert die Mentalität des Ersten Menschen erreicht oder überschritten. Und von denen, die sich soweit entwickelt haben, hat der Mensch die übrigen übertroffen. Nur der Mensch ist noch übrig. Daneben bestehen Millionen anderer Milchstraßen, zum Beispiel der Andromeda-Nebel. Wir haben einigen Grund zu der Annahme, daß in jenem begünstigten Universum der Geist Einsichten und Fähigkeiten entwickelt haben mag, die unvergleichlich größer als unsere eigenen sind. Wir wissen aber nicht mehr, als daß es im Andromeda-Nebel vier Welten höherer Ordnung gibt. Auf der Suche nach höherentwickelten geistigen Lebewesen haben wir in den Schwärmen anderer Universen, die wir mit unseren Instrumenten durchforscht haben, nichts dem Menschen Vergleichbares gefunden. Es gibt aber noch viele weit entfernte Universen, die wir nicht überprüfen können. 448
Sie möchten sicherlich gerne wissen, wie es uns gelang, jene Lebensformen und Intelligenzen so weit entfernter Welten zu entdecken. Dazu läßt sich nur sagen, daß das Vorhandensein von Mentalität winzige astronomische Wirkungen verursacht, die von unseren sehr empfindlichen Instrumenten selbst über große Entfernungen registriert werden. Die Stärke dieser Wirkungen hängt einmal von der Quantität des Lebens auf einem Himmelskörper, dann aber vor allem von der seelischen und geistigen Entwicklungsstufe, die dieses Leben erreicht hat, ab. Vor langen Zeiten hatte die seelische und geistige Entwicklung der Weltgemeinschaft der Fünften Menschen den Mond aus seiner Bahn gezogen. In unserem eigenen Fall können wir angesichts der Quantität unserer Gesellschaft und des hochentwickelten geistig-seelischen Niveaus nur durch ständigen Einsatz großer Energiemengen Unordnung in unserem Sonnensystem verhindern. Uns steht noch ein anderes Mittel zur Verfügung, um Intelligenzen im Weltraum zu entdecken. Wir können in den Geist von Lebewesen der Vergangenheit eintreten. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie sich befinden, solange uns ihr Wesen verständlich ist. Diese Fähigkeit haben wir ebenfalls zur Entdeckung entfernter intelligenter Welten zu nutzen versucht. Im allgemeinen ist aber die Lebens- und Erfahrensweise solcher Intelligenzen so andersartig, daß es für uns oft schon schwer ist, zu erkennen, ob es sich hier überhaupt um Intelligenzen handelt. So beruht unsere Kenntnis über andere intelligente Welten im wesentlichen auf den physischen Wirkungen, die von ihnen ausgehen. Wir können nicht behaupten, daß es nur auf jenen seltenen Himmelskörpern, die man Planeten nennt, Leben gibt und sonst nirgendwo anders. Wir haben nämlich Beweise dafür, daß selbst auf einigen der jüngeren Sterne Leben, sogar intelligentes Leben, existieren muß. Wie Leben in einer glühenden Umgebung bestehen kann, vermögen wir nicht zu sagen. Wir wissen auch nicht, ob es sich nicht vielleicht um das Leben des Sterns als Organismus handelt oder um das Leben vieler flammengleicher Bewohner des Sterns. Wir haben nur entdeckt, daß 449
später auf einem Stern, gewissermaßen in seiner Jugendzeit, kein Leben mehr zu finden war, so daß auf den jüngeren Sternen das Leben von begrenzter Dauer sein muß. Andererseits haben wir, wenn auch sehr selten, auf einigen außergewöhnlich alten Sternen, die schon lange nicht mehr glühen, intelligentes Leben festgestellt. Wie dessen Zukunft aussehen könnte, wissen wir nicht. Vielleicht liegt bei ihm und nicht beim Menschen die Hoffnung des Kosmos. Zur Zeit ist es noch auf einer primitiven Entwicklungsstufe. Gegenwärtig kann sich in unserer Milchstraße kein Wesen mit dem Menschen hinsichtlich seiner Einsichten, seines Weitblicks und seiner geistig-seelischen Kreativität vergleichen. So sind wir dazu gekommen, unsere Gemeinschaft für ziemlich bedeutend einzuschätzen, besonders hinsichtlich unserer Metaphysik. Leider kann ich nur mit Hilfe von Bildern und Gleichnissen versuchen, einen Eindruck von unserer metaphysischen Vorstellungswelt zu geben, wodurch günstigenfalls nur ein Zerrbild vermittelt wird. Am Anfang war große Kraft, aber wenig Form. Der Geist schlief ebenso wie das latent Lebendige. Von jener Zeit an hat es eine lange, abenteuerliche und ständig fluktuierende Entwicklung zu einer Fülle harmonisch aufeinander abgestimmter Formen gegeben, und es dauerte ebenfalls unendlich lange, bis der Geist sich seiner Einheit bewußt wurde, Wissen erwarb, mit Entzücken sich selbst und seine Umwelt wahrnahm und sich schließlich auszudrücken vermochte. Denn dies ist das Ziel alles Lebendigen, den Kosmos zu erkennen, zu bewundern und ihn mit weiteren Schönheiten zu schmücken. Soweit wir wissen, ist — wenigstens in unserer eigenen Milchstraße — jene abenteuerliche Entwicklung nirgendwo zu einer höheren Stufe gelangt als zu uns selbst. Wir sind nur ein winziger Anfang. Und doch ist es ein echter Aufbruch. Die Menschen unserer Tage besitzen einige tiefe Einsichten in die Zusammenhänge, ein weites Wissen, einige kreative Fähigkeiten und die Gabe, zu bewundern und zu verehren. Wir haben weit in die Ferne bli450
cken können. Wir haben das Wesen unserer Existenz nicht nur oberflächlich erfaßt und haben es schön, aber auch furchtbar gefunden. Wir haben ein recht beachtliches Gemeinwesen mit einem in seiner Art einmaligen gemeinsamen Bewußtsein entwickelt. Wir hatten uns eine sehr lange und von emsiger Tätigkeit erfüllte Zukunft vorgestellt, die noch vor dem Ende unseres Kosmos durch das vollständige Erreichen der Ideale des Geistes gekrönt sein sollte. Jetzt aber wissen wir, daß die Katastrophe nahe bevorsteht. Wenn wir mit unseren vollen seelischen und geistigen Kräften im gemeinsamen Bewußtsein unserer Rasse die drohende Katastrophe sehen, sind wir über dieses Schicksal nicht verzweifelt. Denn obwohl wir wissen, daß unsere schöne große Gemeinschaft vergehen muß, wird von ihr etwas übrigbleiben, was unzerstörbar ist. Es ist uns wenigstens gelungen, in einem Bereich des ewig Wirklichen eine Form zu gestalten, die Schönheit höherer Ordnung besitzt. Diese große Gesellschaft der so unterschiedlichen und recht liebenswerten Männer und Frauen mit allen ihren subtilen Beziehungen zueinander und ihrem gegenseitigen Verständnis, die alle gemeinsam die Vervollkommnung der Seele und des Geistes anstreben; unser Gemeinwesen und das gemeinsame Überbewußtsein all jener einzelnen; die sich anbahnenden weiteren Einsichten in Zusammenhänge, die schöpferischen Kräfte, die sich höheren Aufgaben zuwenden — dies sind sicherlich alles wirkliche Leistungen, obwohl sie sich aus einer höheren Perspektive recht winzig ausnehmen. Wenn uns auch die Aussicht auf unser eigenes Vergehen überhaupt nicht entsetzt, wären wir doch daran interessiert, zu erfahren, ob es in ferner Zukunft irgendeinem anderen Geist gelingen wird, das kosmische Ideal zu erreichen, oder ob wir selbst die bescheidene Krone des Lebendigen sind. Obwohl wir alle Zeiten der Vergangenheit, in der es für uns verstehbare Lebensformen gegeben hat, durchstreifen und durchforschen können, ist es uns leider nicht möglich, in die Zukunft einzudringen. So fragen wir vergeblich, ohne eine Antwort erwarten zu können, ob es je einen Geist geben wird, der alle geistigen Formen in 451
sich zu vereinen, der die volle Schönheit der Sterne zu erkennen, der alles Wissen besitzen und alle Dinge in der diesen gebührenden Weise zu bewundern vermag. Falls dieses Ziel in ferner Zukunft erreicht wird, dann ist es auch jetzt schon erreicht, denn zu welchem Zeitpunkt es auch geschieht, so wirkt es in der Ewigkeit. Wenn es aber tatsächlich ewig weiterwirkt, so muß es das Werk von geistigen Wesen sein, die uns ähneln, obwohl sie unvergleichlich größer sind als wir. Jenes geistige Wesen aber würde in der fernen Zukunft leben. Wenn es aber keinem geistigen Wesen in der Zukunft gelänge, jenes Ziel zu erreichen, bevor es verginge, dann wäre der Kosmos zwar von großer Schönheit, aber nicht vollkommen. Wir vermögen die Schönheit des Kosmos zu erkennen. Er ist aber ebenso von furchtbarer Gnadenlosigkeit. Uns selbst fällt es leicht, unserem Ende und sogar dem Ende des von uns allen hochgeschätzten Gemeinwesens mit Gleichmut entgegenzusehen, denn die vollkommene Schönheit des Kosmos steht für uns über allem. Es gibt aber Myriaden von geistigen Wesen, denen niemals eine solche Vision teilhaftig gewesen ist. Ohne einen solchen Trost haben sie gelitten, solange sie existierten. Unter ihnen gab es zunächst die unzähligen Scharen von niederen Kreaturen, die zu allen Zeiten in allen geistigen und beseelten Welten existierten. Ihr Leben war nur ein Traum und ihr Elend ihnen oft nicht einmal bewußt. Trotzdem verdienen sie Mitleid, weil sie ein bewußtes, geisterfülltes Leben nicht gekannt haben. Weiterhin gab es menschliche und andere Intelligenzen, in vielen Welten überall in den galaktischen Systemen, die sich zum bewußten Erkennen ihrer Welt emporkämpften, sich mühten, ohne zu wissen, warum, sich kurze Zeiten eines Hochgefühls über vermeintliche Erkenntnisse erfreuten, im Schatten des Schmerzes und des Todes lebten, bis ihr Leben schließlich von einem sorglos unbeteiligten Schicksal ausgelöscht wurde. Innerhalb unseres Sonnensystems existierten die Marswesen, von einer unvernünftigen und unglücklichen fixen Idee vorwärtsgetrieben; die Venusianer, im Meer eingeschlossen und vom Menschen um seiner selbst willen um452
gebracht, und jene vielen uns voraufgegangenen menschlichen Arten. Zweifellos haben einige wenige Individuen in jeder Epoche als Angehörige von durch die Umstände besonders begünstigter Rassen im großen und ganzen recht glücklich gelebt. Manche unter ihnen haben sogar ein wenig von jener höchsten Glückseligkeit erlebt. Aber abgesehen von unserer heutigen Zeit sind doch die Bemühungen der meisten Menschen vereitelt worden, ohne daß sie ihr Ziel erreichen konnten. Wenn die Trauer über ihr Versagen trotzdem ihre Freude nicht immer überwog, so nur deswegen, weil sie glücklicherweise nicht begriffen, daß sie ihre Aufgabe nicht erfüllten, weil sie sie nicht kannten. Unsere Vorfahren von der sechzehnten Spezies, die von jenem gewaltigen Elend und Entsetzen bedrückt waren, unternahmen einen hoffnungslosen und scheinbar unsinnigen Feldzug zur Rettung der tragischen Vergangenheit. Wir erkennen jetzt klar, daß ihr verzweifeltes Unternehmen nicht ganz so phantastisch war. Denn wenn selbst nur für einen Augenblick jenes kosmische Ideal verwirklicht worden wäre, so würde die erweckte Allseele in sich alle geistigen Wesen aus allen Bogensekunden des weiten Zeitzirkels umfaßt haben. So wäre es jedem einzelnen Wesen der Vergangenheit, selbst der niedrigsten Kreatur, vorgekommen, als wäre es selbst erwacht, hätte in sich die Allseele entdeckt und wüßte alles und freute sich über alles. Und wenn auch diese strahlende Vision durch den unaufhaltsamen Verfall der Sterne später ganz plötzlich, oder in einem langsamen und langanhaltenden Erstarrungsprozeß des Lebendigen verlorengegangen wäre, so hätte doch die erweckte Allseele ewigen Bestand gehabt und in ihr jedes einzelne gequälte Wesen seine ewige Glückseligkeit gefunden, obwohl ihm dies in seiner eigenen Zeit verborgen geblieben wäre. So wenigstens könnte es sein. Wenn es nicht so ist, dann erleiden jene gemarterten Kreaturen weiter ihre ewigen Qualen und finden keine Erlösung. Wir wissen nicht, welche dieser beiden Möglichkeiten den Tatsachen entspricht. Als Einzelne haben wir die aufrichtige Hoffnung, daß 453
das ewige Wesen der Dinge jenes höhere Erwachen aller Wesen einbeschließt. Nichts geringeres als die Verwirklichung dieser Hoffnung war das zwar entfernte, aber immer gegenwärtige Ziel unseres praktischen religiösen Lebens und unserer gesamten Gesellschaft. Auch in unserem Rassenbewußtsein haben wir dieses Ziel zu erreichen getrachtet, aber auf eine andere Weise. Auch unsere individuellen Wünsche und Sehnsüchte werden von jener rückhaltlosen Anerkennung und Bewunderung des Schicksals abgeschwächt, in der wir die höchste geistige Leistung eines Wesens erblicken. Auch als einzelne haben wir an den Geschehnissen als solchen unsere Freude, ob unsere Unternehmungen erfolgreich sind, oder ob sie fehlschlagen. Ein Pionier in der Wildnis, der dem Tode gegenübersteht, erlebt ebenso wie ein Liebender, dessen Geliebte ihm durch den Tod entrissen wurde und der von Trauer überwältigt ist, in seinem Unglück jene leidenschaftslose Ekstase, mit der er das Wirkliche so, wie es wirklich ist, begrüßt und kein Jota daran ändern will. Auch als Einzelne vermögen wir die bevorstehende Auslöschung der Menschheit als ein zwar tragisches, aber in seiner Dramatik vortreffliches Schauspiel zu betrachten. Wir wissen, daß der menschliche Geist sich dem Kosmos bereits mit unvergänglicher Schönheit eingeprägt hat, und daß der Mensch früher oder später unvermeidlich am Ende seiner Karriere angelangt sein wird, und wir sehen diesem Ende mit Lachen in unserem Herzen und mit innerer Ruhe entgegen. Und doch gibt es für uns als Individuen einen Gedanken, der uns erschreckt, nämlich der, daß das kosmische Geschehen selbst ein Fehlschlag sein könnte, und daß die reichen Möglichkeiten der Wirklichkeit nie zur Entfaltung gelangen, daß es den mannigfaltigen und gegeneinander kämpfenden verschiedenen Lebensformen zu keiner Zeit gelingt, eine universale Harmonie aller Lebewesen im Kosmos zu erreichen, daß der Geist daher in alle Ewigkeit, gespalten und unfähig in einem erbärmlichen Schlaf verharrt, daß die unzerstörbaren Schönheiten un454
seres Raum-Zeit-Sektors unvollkommen bleiben und daher auch nicht entsprechend erkannt und verehrt werden könnten. Im Rassenbewußtsein hingegen existiert diese letzte Furcht nicht. Bei jenen wenigen Gelegenheiten, bei denen wir uns als Rasse zu einem gemeinsamen Bewußtsein zusammengefunden haben, wurde von uns die Möglichkeit eines unvollkommenen Kosmos mit gelassener Ehrfurcht erwogen. Obwohl das Bewußtsein unserer Rasse die Erfüllung jenes kosmischen Ideals aufrichtig wünschte, konnte es sich jedoch von diesem Wunsch genauso wie die Individuen von ihren persönlichen‘ Wünschen und Sehnsüchten befreien. Das Rassenbewußtsein erstrebt zwar jenes Ziel, hält sich aber von allem Begehren und allen Gefühlen frei, abgesehen von der ekstatischen Bewunderung der existenten Wirklichkeit und der freudigen Anerkennung ihres Hell und ihres Dunkel. Wir versuchen daher als Individuen, das ganze Abenteuer des Kosmos als eine Symphonie zu betrachten, die gerade gespielt wird, von der man nicht weiß, wie das Thema weitergeführt und ob sie eines Tages zu einem guten Ende gebracht wird. Wie bei der Musik können die Biographien unzähliger Sterne nicht nur nach ihrem eigenen Thema bewertet werden, sondern nach der Perfektion der Gesamtbiographie, und ob diese Form vollkommen ist, können wir nicht wissen. Die wirkliche Musik ist ein Gewebe von sich umschlingenden Themen, die aufklingen und wieder absinken. Diese Themen wiederum setzen sich aus einfacheren Strukturen zusammen, die aus Akkorden und Einzeltönen bestehen. Die Musik der Sphären hingegen ist von unvergleichbar subtilerer Komplexität, und ihre Themen durchdringen, überlagern und bekämpfen sich in unzähligen gewaltigen Themen-Hierarchien. Nur ein Gott, nur ein geistiges Wesen, das von gleicher subtiler Komplexität wie die Musik selbst ist, vermag das Ganze in allen Einzelheiten zu hören und gleichzeitig dessen superindividuelle Klanggestalt zu erfassen, sofern es eine solche überhaupt hat. Kein Mensch vermöchte zu sagen, »Dies ist wirkliche Musik« oder »Dies ist bloßes Geräusch, dann und wann musikalisch von Bedeutung«. 455
Im Gegensatz zur richtigen Musik hat die Musik der Sphären nicht nur einen größeren Reichtum, sondern auch ein anderes Medium. Sie besteht nicht bloß aus Tönen, sondern aus Seelen. Jedes ihrer kleineren Themen, jeder ihrer Akkorde, jeder einzelne Ton, jede einzelne Tonschwingung ist nicht nur etwas Erzeugtes und damit etwas Passives, sondern ist Zuhörer und Erzeuger zugleich. Überall wo es eine individuelle Lebensform gibt, lauscht dieses Individuum fremder Musik und erzeugt eigene. Je komplexer diese Lebensform, desto tiefer ist ihr Musikverständnis und desto aktiver ihre eigene schöpferische Musikalität. So wird durch jeden einzelnen Faktor innerhalb dieser Musik die musikalische Umgebung dieses Faktors miterfahren und beeinflußt, entweder unbestimmt oder exakt, falsch oder mehr der Wahrheit entsprechend, gerechtfertigt oder nicht, begründet oder unbegründet, bewundert oder verachtet. So wie in der richtigen Musik jedes Thema durch die vorangegangenen und die nachfolgenden Themen und durch sein Arrangement bestimmt wird, wird auch in jener Musik der Sphären jeder einzelne Faktor von seiner Umgebung bestimmt, ebenso wie er das voraufgegangene und das ihm nachfolgende determiniert. Ob aber dieses mannigfaltige gegenseitige Determinieren letzten Endes nur rein zufällig erfolgt oder, wie in der Musik, von der Absicht der Schönheit des Ganzen zu dienen beherrscht wird, wissen wir nicht. Ebensowenig wissen wir, ob jenes schöne Ganze aller Dinge das Werk irgendeines geisterfüllten Wesens ist und ob es irgendein geistiges Wesen gibt, das dieses Ganze in seiner Schönheit erkennt und bewundert. Das eine wissen wir, daß wir selbst, wenn das Rassenbewußtsein in uns erweckt ist, die Wirklichkeit, so wie sie sich uns offenbart, anerkennen und bewundern und ihr dunkel-helles Wesen freudig begrüßen.
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kapitel xvi
Der Letzte Mensch
Das Todesurteil Im wesentlichen ist unsere Epoche ein philosophisches Zeitalter gewesen, in der die Philosophie zu ihrer höchsten Blüte entwickelt wurde. Aber wir standen auch einem großen praktischen Problem gegenüber. Wir mußten uns auf die Aufgabe vorbereiten, die Menschheit während einer äußerst schwierigen Periode zu erhalten, die nach unseren Berechnungen vom heutigen Zeitpunkt gesehen, in etwa 100 Millionen Jahren beginnen wird, uns aber auch unter gewissen Umständen noch viel weniger Zeit lassen könnte. Vor langen Zeiten glaubten bereits die Menschen auf der Venus, daß ihre Sonne in das Entwicklungsstadium eines ›weißen Zwerges‹ eintreten und ihre Welt daher sehr bald in Eisesstarre verfallen würde. Diese Berechnung war übertrieben pessimistisch. Wir wissen aber heute, daß selbst unter Einberechnung jener kleinen Verzögerung des Zerfallsprozesses der Sonne, die durch ihren Zusammenstoß mit dem Nebel aus dem Weltraum verursacht wurde, jener Sonnenkollaps nach astronomischen Maßstäben nicht mehr sehr lange auf sich warten lassen wird. Während der verhältnismäßig kurzen Periode, in der die Sonne einschrumpfen würde, hatten wir vorgesehen, unseren Planeten allmählich immer näher an die Sonne heranzubringen, bis er schließlich auf der nächstmöglichen Umlaufbahn um die Sonne fixiert werden sollte. Für sehr lange Zeit würden dann die Lebensbedingungen für den Menschen recht günstig geblieben sein. Danach wäre dann aber eine noch viel ernstere Krise entstanden. Bei fortschreitender Abkühlung der Sonne wäre der Mensch schließlich nicht mehr länger in der Lage gewesen, sein Leben in einer immer kälter werdenden Umwelt zu erhalten. Die Umwandlung von Materie in Energie hätte notwendigerweise den Wärmemangel ausgleichen müssen. Hierzu hätte man zunächst die anderen Planeten und dann später vielleicht die Sonne selbst be459
nutzt. Es wäre vielleicht auch möglich gewesen, sofern man ausreichende Nahrungsvorräte für eine gewaltige Reise speichern konnte, den Planeten kühn in die Nachbarschaft eines jüngeren Sterns zu dirigieren. Von da an hätte der Mensch vielleicht wieder unter viel großzügigeren Verhältnissen leben können. Er hätte dann alle für ihn geeigneten Welten in jedem Winkel der Milchstraße erforschen und kolonisieren können und vielleicht eine gewaltige Gemeinschaft intelligenter Welten organisieren können. Er hätte sogar, so träumten wir, eine Verbindung zu anderen galaktischen Systemen herstellen können. Es schien gar nicht ausgeschlossen, daß der Mensch die Keimzelle für eine Weltseele hätte sein können, die, wie wir immer noch zu hoffen wagen, einmal noch für kurze Zeit, bevor das Universum zerfällt, zum Leben erwacht um den ewigen Kosmos verstehend und bewundernd zu erfassen. Diese Einsicht und Bewunderung würden zwar flüchtig und vorübergehend, aber doch von ewiger Dauer sein. Wir wagten anzunehmen, daß dem menschlichen Geist in irgendeiner fernen Epoche alle Weisheit, Macht und Entzücken zur Verfügung stünde und er dann auf unser primitives Zeitalter mit einem gewissen Respekt zurückblicken würde, zweifellos auch mit Mitleid und Belustigung, aber trotzdem mit Bewunderung für unseren halberwachten Geist, mit dem wir gegen große Schwierigkeiten anzukämpfen hatten. In der gleichen halb mitleidigen, halb bewundernden Haltung, mit der wir selbst auf primitivere menschliche Arten zurückblicken, erwarteten wir, von jener Menschheit der fernen Zukunft betrachtet zu werden. Alle diese Aussichten haben sich jetzt für uns plötzlich und grundlegend verändert, denn unsere Astronomen haben eine überraschende Entdeckung gemacht, durch die das Ende des Menschen sehr schnell herbeigeführt werden dürfte. Zwar war seine Existenz schon seit jeher bedroht. Er hätte jederzeit in seiner Karriere durch irgendeine geringfügige Veränderung seiner chemischen Umwelt, durch eine besonders bösartige Mikrobe, durch einen radikalen Klimawechsel oder durch die mannigfaltigen Auswirkungen seiner eigenen Torheit ausgerottet wer460
den können. Bereits zweimal hatten ihn astronomische Ereignisse beinahe vernichtet. Wie leicht könnte es auch geschehen, daß unser Sonnensystem, das gegenwärtig durch ein Gebiet größerer Sternendichte innerhalb unserer Milchstraße dahinrast, von einem größeren Himmelskörper durcheinandergebracht oder mit diesem kollidieren und dadurch zerstört würde. Es hat sich erwiesen, daß das Schicksal für den Menschen ein weit überraschenderes Ende vorgesehen hat. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man beobachten, daß sich einer der uns nähergelegenen Sterne in unerwarteter Weise veränderte. Ohne irgendeine näher erkennbare Ursache wechselte er seine Farbe von Weiß zu Violett und erhöhte seine Strahlungsintensität. Schon jetzt besitzt er eine derartig starke Strahlungskraft, daß sein blendender purpurner Glanz des Nachts unsere Welt mit grausiger Schönheit erfüllt, obwohl er für unsere Augen nur als bloßer Punkt am Himmel sichtbar ist. Unsere Astronomen haben festgestellt, daß es sich hier um keine gewöhnliche Nova, also nicht um einen jener Sterne handelt, die zu starken Licht- und Energieausbrüchen neigen. Es handelt sich vielmehr um einen ihnen völlig unbekannten Vorgang, um einen normalen Stern, der unter einer einzigartigen Krankheit, unter einer phantastischen Beschleunigung seines Entwicklungsprozesses leidet und zügellos Energie vergeudet, die in ihm normalerweise äonenlang hätte eingeschlossen bleiben müssen. Wenn er seine Energie im gleichen Tempo weiter abbaut, so wird er in wenigen Jahrtausenden entweder ein energieloser Aschenball sein oder sich vollständig aufgelöst haben. Dieses ungewöhnliche Geschehen kann möglicherweise durch intelligente Wesen ausgelöst worden sein, die in der Nachbarschaft des Sterns irgendwelche törichten Dinge angestellt haben. Da sich aber jedwede sehr heiße Materie ständig in einem unsicheren Gleichgewicht befindet, kann die Ursache für jenes Phänomen ebensogut das bloße Zusammentreffen ganz natürlicher Umstände sein. Zunächst betrachtete man diesen Vorgang lediglich wie ein fesselndes Schauspiel. Weitere Feststellungen veranlaßten aber die Astrono461
men, sich ernsthafter damit zu beschäftigen. Unser eigener Planet und damit auch die Sonne wurden nämlich in sich immer mehr verstärkendem Maße von Wellen bombardiert, deren Wirkung unbekannt war, und die meist eine unvorstellbar hohe Frequenz besaßen. Wie würde sich dieses Bombardement auf die Sonne auswirken? Man hatte in der Umgebung jenes anomalen Sterns einige Himmelskörper festgestellt, die nach mehreren Jahrhunderten durch den gleichen Zersetzungsprozeß zerfallen waren. Ihr Fieber vermehrte den Glanz an unserem nächtlichen Himmel, bestätigte aber auch zugleich unsere Befürchtungen. Wir hofften noch immer, daß die Sonne von jenem Infektionsherd zu weit entfernt wäre, als daß sie ernstlich gefährdet sein könnte, aber nach einer sorgfältigen Analyse mußten wir diese Hoffnung aufgeben. Durch ihre größere Entfernung konnte die Sonne zwar einige tausend Jahre länger der Bombardierung durch jene Hochfrequenzwellen standhalten, bis deren Intensität ausreichen würde, ihren Zerfallsprozeß auszulösen, aber früher oder später würde auch die Sonne verglühen und veraschen. Nach weiteren dreißigtausend Jahren wird vermutlich jedes Leben im Umkreis der Sonne unmöglich sein, wobei die tödliche Zone so weit reichen wird, daß es für uns ganz ausgeschlossen ist, unseren Planeten noch rechtzeitig aus ihr herauszubringen.
Das Verhalten der Verdammten Die Entdeckung dieses Verhängnisses erweckte in uns unbekannte Gefühle. Bisher hatte es den Anschein, als würde der Menschheit eine sehr lange Zukunft beschieden sein, und der einzelne war gewohnt, auf ein viele Tausende von Jahren währendes Leben zu hoffen, das in freiwilligem Schlaf sein Ende finden würde. Wir hatten natürlich oft über eine plötzliche Vernichtung unserer Welt nachgedacht und sie uns in unserer Phantasie ausgemalt. Aber jetzt war jenes unverbindliche Phantasiegebilde bedrückende Realität geworden. Rein äußerlich bewegte 462
sich jeder mit heiterer Ruhe und Gelassenheit, aber sein Inneres war von Unruhe gequält. Nicht daß wir in Panik oder Verzweiflung verfallen wären, davon hielt uns unsere angeborene Objektivität zurück. Es brauchte aber naturgemäß seine Zeit, bis wir uns geistig und seelisch auf die neue Aussicht richtig einzustellen vermochten, bis wir unser eigenes Schicksal klar und schön vor dem Hintergrund kosmischen Geschehens erkennen konnten. Schließlich gelang es uns dennoch, die gesamte große Saga der Menschheit als ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk zu betrachten und es wegen seines plötzlichen tragischen Endes wie wegen der in ihm unerfüllt gebliebenen Verheißungen zu bewundern. Die Trauer verklärte sich zu einem ekstatischen Hochgefühl. Unsere Niederlage, die in uns zunächst ein niederdrückendes Gefühl der Unfähigkeit und Winzigkeit des Menschen im Angesicht der Sterne ausgelöst hatte, erweckte in uns gleichzeitig ein neues Mitgefühl und eine Hochachtung für alle jene Myriaden von Wesen aus der Vergangenheit, aus deren für sie unverständlichen Kämpfen und Mühen wir entstanden waren. Wir sahen in dem hervorragendsten Angehörigen unserer eigenen Rasse und in der niedrigsten Kreatur aus der Zeit unserer vormenschlichen Ahnen Ausdrucksformen des Geistigen von gleicher Wesenhaftigkeit und gleicher Vollkommenheit, obwohl sie unter verschiedenen Daseinsbedingungen existierten. Wenn wir uns am Firmament umsahen und den violetten Glanz betrachteten, der uns zerstören sollte, ergriff uns Ehrfurcht und Mitleid, Ehrfurcht vor der unvorstellbaren Macht dieses hellen Sterns und Mitleid mit seinem mißlungenen Bemühen, den Geist des Universums zu bereichern. Es schien für uns jetzt nichts weiter übrig zu bleiben, als zu versuchenden uns noch verbleibenden Daseinsrest so vollkommen wie möglich zu erleben und dem Ende mit Würde und Mut entgegenzusehen. Es gelang uns noch einmal, uns zu jenem seltenen Erlebnis des Rassenbewußtseins zu erheben. Ein ganzes Neptunjahr hindurch lebte jeder einzelne in verzückter Trance, in der er als Teil des Rassenbewußtseins 463
viele uralte Rätsel zu lösen und viele unerwartete Schönheiten zu sehen imstande war. Dieses unbeschreibliche Erlebnis im Schatten des Todes war der Höhepunkt der gesamten Existenz der Menschheit. Ich vermag jedoch nichts darüber zu berichten, außer daß wir selbst als Individuen eine neue ruhige Gelassenheit wiedergefunden hatten, in der sich auf eigenartige Weise, aber durchaus harmonisch, Trauer, Verzückung und gottähnliches Lachen verbanden. Unser Rassenbewußtsein ließ uns zwei Aufgaben klar erkennen, an die wir bisher nicht gedacht hatten. Die eine betraf die Zukunft, die andere die Vergangenheit. Im Hinblick auf die Zukunft machen wir uns jetzt an die fast aussichtslose Aufgabe, Samenkörner für das Entstehen einer neuen Menschheit überall hinaus zu den Sternen zu senden. Hierbei wollen wir die Strahlungskraft der Sonne ausnutzen und insbesondere die außergewöhnlich starke Strahlungsintensität, die später von ihr ausgehen wird. Wir hoffen zu diesem Zweck, winzige elektromagnetische ›Wellensysteme‹ entwickeln zu können, die den normalen Protonen und Elektronen ähneln und einzeln in der Lage sind, mit nahezu Lichtgeschwindigkeit auf dem Strahlungsorkan, der von der Sonne ausgeht, zu segeln. Dies ist natürlich eine schwierige Aufgabe. Außerdem müssen diese Wellensysteme so sinnvoll aufeinander abgestimmt sein, daß sie sich unter günstigen Bedingungen zu Lebenssporen vereinigen, aus denen sich dann natürlich keine Menschen, jedoch niedrige Organismen mit klarer Entwicklungsrichtung auf grundsätzlich menschliche Wesenszüge entstehen können. Diese Einheiten wollen wir in ungeheuren Mengen aus der Atmosphäre unseres Planeten hinausbefördern und dann an bestimmten Stellen seiner Umlaufbahn absetzen, so daß sie von der Sonnenstrahlung erfaßt und von dieser in diejenigen Regionen unserer Milchstraße mitgenommen werden können, die größte Erfolgschancen bieten. Die Chance, daß irgendeine dieser Einheiten in noch aktionsfähigem Zustand ihr Ziel erreicht, ist gering, und noch geringer ist die Aussicht, daß eine dabei auf eine geeignete Umwelt trifft. Sollte 464
aber ein solches Samenkorn auf guten Boden fallen, so hoffen wir, daß aus ihm eine recht schnelle biologische Evolution entstehen kann, die dann diejenigen komplexen organischen Lebensformen hervorbringt, die in jener Umwelt möglich sind. Dabei ist die Entwicklung der Intelligenz im physiologischen Aufbau der Einheit als besondere Tendenz festgelegt. Diese Tendenz ist bei diesen Einheiten viel stärker angelegt als bei jenen subvitalen Atomen und Molekülen, aus denen sich das Leben auf der Erde schließlich entwickelte. Es ist daher durchaus möglich, daß der Mensch bei sehr großem Glück doch noch die Zukunft dieser Milchstraße zwar nicht direkt, aber indirekt durch jene Wesen mitbeeinflussen kann. Aber das eigentliche Thema der Menschheit verschwindet für immer aus der großen Musik des Lebens. Vorüber sind die ständigen Wiederholungen innerhalb der Geschichte des Menschen; gescheitert ist sein ganzes stolzes Unternehmen, die volle Reife zu erlangen. Die von vielen menschlichen Arten angesammelten Erfahrungen sind versunken und vergessen, und unsere eigene Weisheit ist ausgelöscht. Die andere, die Vergangenheit angehende Aufgabe, die uns beschäftigt, wird Ihnen vielleicht unsinnig erscheinen. Seit langem schon ist es uns möglich gewesen, uns des Bewußtseins von Menschen der Vergangenheit zu bedienen und an ihren Erlebnissen teilzuhaben. Bis vor kurzem waren wir dabei nur passive Zuschauer, aber jetzt verfügen wir über die Fähigkeit, die Menschen der Vergangenheit zu beeinflussen. Das scheint unmöglich; denn ein Ereignis der Vergangenheit ist geschehen, wie könnte es auch nur im geringsten Detail zu einem späteren Zeitpunkt verändert werden? Es ist natürlich zutreffend, daß Vorgänge der Vergangenheit so, wie sie waren, unwiderruflich vergangen sind, und doch mag in bestimmten Fällen irgendeine Einzelheit jenes vergangenen Ereignisses von einem Ereignis der Zukunft abhängen. Ein Ereignis der Vergangenheit hätte nie den Verlauf genommen, den es tatsächlich nahm, wenn es nicht ein gewisses Geschehen in der Zukunft geben würde, das, obwohl es mit 465
jenem Ereignis nicht gleichzeitig abläuft, es dennoch im Bereich des ewigen Seins unmittelbar beeinflußt. Ereignisse gehen vorüber, und die Zeit ist die Aufeinanderfolge vorübergehender Ereignisse; aber obwohl sie vorübergehen, haben sie dennoch ein ewiges Sein. Und in gewissen seltenen Ausnahmefällen wirken zeitlich weit entfernte Ereignisse aufeinander im Bereich der Ewigkeit. Wir selbst sind oft geistig und seelisch sehr stark beeinflußt worden durch unsere unmittelbare Inspektion der Vergangenheit, und wir sind darauf gestoßen, daß auch bestimmte Entwicklungen im geistigen Leben von Menschen der Vergangenheit durch den geistig-seelischen Einfluß unseres eigenen Wesens verursacht wurden. Zweifellos gibt es daher auch noch einige geistig-seelische Entwicklungen der Vergangenheit, die nur dadurch zustande kamen, daß wir sie in der Zukunft verursachen werden. Unsere Historiker und Psychologen, die Menschen der Vergangenheit durch Teilnahme an ihrem Erleben unmittelbar untersucht haben, hatten sich oft darüber beklagt, daß es gewisse ungewöhnliche Züge in deren geistigem und seelischem Verhalten gab, die sich durch die bekannten psychologischen Gesetze nicht ausreichend erklären ließen. Ein völlig unbekannter Einfluß schien sich hier auszuwirken. Später entdeckten sie, wenigstens in einigen dieser Fälle, daß jene Störungen auf gewisse Gedanken und Wünsche des Beobachtenden zurückzuführen waren. Natürlich konnten nur solche Dinge den Menschen der Vergangenheit beeinflussen, die für ihn von Bedeutung waren. Diejenigen unserer Gedanken und Wünsche, die dem jeweiligen Wesen der Vergangenheit unverständlich sind, können von ihm nicht aufgenommen werden. Neue Ideen und Werte lassen sich eben nur vermitteln, indem man auf vertraute Dinge zurückgreift und diese so arrangiert, daß in ihnen ein neuer Sinn erkannt wird. Auf jeden Fall besaßen wir jetzt eine erstaunliche Fähigkeit, mit der Vergangenheit in Verbindung zu treten und bei ihrem Denken und Handeln mitzuwirken, obwohl wir sie natürlich nicht ändern konnten. 466
Aber man könnte natürlich fragen, was geschähe, wenn wir uns nicht entschlössen, durch unsere Einflußnahme den eigentlichen Grund für das Auftreten irgendeiner ›Besonderheit‹ in Geist und Seele eines Menschen der Vergangenheit zu geben. Die Frage ist sinnlos. Wir können ganz einfach nicht anders handeln, als jene Menschen der Vergangenheit zu beeinflussen, die von dieser Einflußnahme abhängig sind, denn wir begegnen ihnen im Bereich der Ewigkeit. Im Bereich der Zeit ist zwar unsere Entscheidung in der Gegenwart gefallen. Da sie sich aber auf die Menschen der Vergangenheit auswirkt, könnte man ebensogut sagen, sie wäre schon in der Vergangenheit gefallen. Bei einigen Wesen der Vergangenheit zeigten sich Besonderheiten, die nicht auf irgendeinen von uns ausgeübten Einfluß zurückgeführt werden können. Einige jener Eigenheiten werden wir zweifellos noch irgendwann einmal vor unserer endgültigen Vernichtung hervorgerufen haben. Es mag aber auch sein, daß sie auf einen Einfluß zurückzuführen sind, der nicht von uns ausgehen wird, sondern vielleicht von Wesen, sofern uns und ihnen das Glück hold ist, die in ferner Zukunft aus unserer schier aussichtslosen Unternehmung zur Verbreitung menschlicher Sporen hervorgehen könnten. Ebensogut könnten sie aber auch dem kosmischen Bewußtsein zuzuschreiben sein, auf dessen Auftreten in der Zukunft und auf dessen ewige Existenz wir aufrichtig hoffen. Wie dem auch sei, es lassen sich wenigstens über die Zeiten hinweg und sogar bei den primitivsten menschlichen Rassen hier und da einige bemerkenswerte Wesen feststellen, die einem anderen Einfluß als dem unsrigen unterliegen müssen. Sie sind in mancherlei Hinsicht so einzigartig, daß wir für ihre Verhaltensweisen und für ihren geistigen und seelischen Horizont keine vollkommen klare psychologische Erklärung nach den Maßstäben ihrer Zeit zu geben vermögen, und doch wissen wir genau, daß nicht wir ihre Eigenheiten verursacht haben. Ihr Jesus Christus, ihr Sokrates und ihr Buddha zeigen Spuren jener einmaligen Wesensart. Die originellsten Köpfe unter diesen Menschen waren jedoch zu exzentrisch, als daß sie irgendeinen Einfluß auf ihre Zeitge467
nossen hätten haben können. Es ist durchaus möglich, daß es auch in uns selbst Besonderheiten gibt, die sich nicht mit den bekannten biologischen und psychologischen Gesetzen erklären lassen. Wenn es uns gelänge, dies nachzuweisen, wäre es für uns ein unwiderleglicher Beweis für das Vorhandensein von Wesen einer hohen Mentalitätsstufe in irgendeiner Epoche der fernen Zukunft und damit zugleich ein Beweis für ihre ewige Existenz. Bisher hat sich aber die Lösung dieser Frage selbst für unser Rassenbewußtsein als zu schwierig erwiesen. Es mag sein, daß die Tatsache, daß es uns überhaupt gelungen ist, unser Rassenbewußtsein zu entwickeln, auf den Einfluß einer fernen Zukunft zurückzuführen ist. Es wäre sogar denkbar, daß jeder kreative Fortschritt, der durch irgendein Wesen zu irgendeiner Zeit erreicht worden ist, auf die ihm unbewußte Mitwirkung des kosmischen Bewußtseins zurückgeführt werden kann, das vielleicht noch erwachen wird, bevor das Ende hereinbricht. Wir haben zwei Methoden, um die Vergangenheit durch Menschen ihrer Zeit zu beeinflussen, einmal durch Wesen großer schöpferischer Kraft und zum ändern durch irgendein durchschnittliches Individuum, dessen Lebensverhältnisse und Mentalität für unsere Zwecke geeignet zu sein scheinen. Den schöpferischen Geistern vermögen wir nur eine sehr vage Intuition zu vermitteln, die dann durch den einzelnen Gestalt und Ausprägung findet, die sich sehr stark von unserer eigentlichen Absicht unterscheiden mögen, aber als sehr bedeutungsvolle Faktoren auf die Kultur seiner Zeit wirkten. Durchschnittsmenschen können wir andererseits als passive Instrumente für die Übermittlung detaillierter Vorstellungen und Ideen benutzen. In diesen Fällen jedoch ist der einzelne nicht in der Lage, das ihm übermittelte Material in eine seinem Zeitalter gemäße mächtige und bewegende Kraft umzugestalten. Auf welche Weise, so mögen Sie fragen, wollen wir eigentlich auf die Vergangenheit einzuwirken versuchen? Wir bemühen uns, in der Vergangenheit das Erkennen von Wahrheiten und Werten zu ermöglichen, die uns zwar aus unserer überlegenen Mentalität heraus selbstverständ468
lich sind, die aber einer Vergangenheit ohne jegliche Hilfe durch eine höher entwickelte Zukunft völlig unzugänglich wären. Wir wollen der Vergangenheit helfen, ihre Möglichkeit voll zu erkennen und zu nutzen, so wie eben ein Mensch dem anderen hilft. Wir wollen die Aufmerksamkeit von Individuen und Rassen der Vergangenheit auf Wahrheiten und Schönheiten lenken, die zwar in ihrem Erleben und in ihren Erfahrungen enthalten sind, die sie aber selbst leicht übersehen könnten. Wir wollen dies aus zwei Gründen tun. Wenn wir uns Zugang zu Seele und Geist von Wesen der Vergangenheit verschaffen, werden sie uns vollkommen vertraut. Wir beginnen sie zu lieben und wollen ihnen helfen. Wenn wir ausgewählte Individuen beeinflussen, so wollen wir damit indirekt auf große Massen ihrer Zeitgenossen wirken. Wir haben aber noch einen zweiten, ganz anderen Grund für unsere Bemühungen. Uns erscheint die Geschichte des Menschen auf den drei von ihm bewohnten Planeten als eine Entwicklung von einzigartiger Schönheit. Zwar ist dieser Entwicklungsprozeß von einer wirklichen Vollkommenheit weit entfernt, aber er ist großartig und schön, von der Schönheit der Tragödie. Jetzt hat es sich ergeben, daß wir um jener Schönheit willen zu verschiedenen Zeiten der Vergangenheit eingreifen müssen. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen einzugreifen. Leider hatten unsere ersten, ohne jede Erfahrung begonnenen Bemühungen verheerende Folgen. Viele jener Albernheiten, die primitive Gemüter zu allen Zeiten dem Einfluß entmaterialisierter Geister, ob es sich dabei nun um Götter, Teufel oder Tote handelte, zugeschrieben haben, waren lediglich das Ergebnis unserer ersten Experimente. Das zeigt sich auch bei diesem Buch, das nach unserer Vorstellung eine ausgezeichnete Darstellung hätte sein können, das aber aus dem Gehirn Ihres Zeitgenossen, der es niederschrieb, oft konfus herauskam, daß daraus größtenteils völliger Unsinn wurde. Nun beschäftigen wir uns mit der Vergangenheit nicht nur deswegen, um auf sie in einigen seltenen Fällen einzuwirken, sondern wir tun dies vor allem aus zwei weiteren Gründen. 469
Zunächst widmen wir uns der Aufgabe, mit jeder Einzelheit der menschlichen Vergangenheit vertraut zu werden und ihr ein liebevolles Verständnis entgegenzubringen. Das geschieht sozusagen für uns aus Respekt gegenüber den Eltern. Wenn ein Wesen ein anderes kennen und verstehen lernt, so entsteht daraus ein neues und schönes Gefühl, nämlich Liebe. Der Kosmos wird dadurch größer und bis in die Vergangenheit erweitert. Wir wollen jeden Menschen der Vergangenheit, zu dem wir Zugang finden, kennenlernen und ihn lieben. In den meisten Fällen lernen wir ihn viel besser verstehen, als er sich selbst zu begreifen in der Lage ist. Keiner ist für uns zu gering oder zu schlecht, daß wir ihn nicht verstehen und bewundern wollten. Aber die menschliche Vergangenheit beschäftigt uns noch auf eine andere Weise. Wir brauchen ihre Hilfe. Denn wir, die wir uns triumphierend in unser Schicksal ergeben, sind verpflichtet, unsere letzten Energien nicht etwa auf eine der Wirklichkeit entrückte Kontemplation zu richten, sondern auf die hoffnungslose und höchst unsympathische Aufgabe, den Samen der Menschheit über das Weltall zu verbreiten. Diese Aufgabe ist uns fast unerträglich und widert uns an. Wir wären sehr froh, wenn wir unsere letzten Tage auf die Bereicherung und Verschönerung unseres Gemeinwesens und unserer Kultur und auf die ehrfürchtige Erforschung der Vergangenheit verwenden könnten. Aber obwohl wir von Natur aus Künstler und Philosophen sind, haben wir die Pflicht, die gesamte Aufmerksamkeit unserer Welt auf das für uns reizlose Unternehmen zu lenken, auf künstlichem Wege menschliche Sporen zu entwickeln, sie in ungeheuren Mengen herzustellen und sie in den Weltraum hinauszuschleudern. Wenn es bei diesem Vorhaben überhaupt eine Erfolgschance geben sollte, müssen wir ein sehr langwieriges und umfangreiches Forschungsprogramm durchführen und schließlich überall auf unserer Welt die Herstellung jener Lebensträger organisieren. Diese Arbeiten werden erst zum Abschluß kommen dürfen, wenn unsere körperliche Konstitution bereits unterhöhlt sein und der Zerfall unserer Gemeinschaft begonnen haben wird. Ein solches 470
Vorhaben könnten wir aber niemals durchführen, ohne begeistert und von seiner Bedeutung überzeugt zu sein. Und hier vermag uns die Vergangenheit zu helfen. Wir, die wir so gründlich die hohe Kunst des ekstatischen Fatalismus erlernt haben, begeben uns demütig zurück in die Vergangenheit, um durch sie jene andere hohe geistige Leistung für uns zurückzugewinnen, die in der Loyalität gegenüber den Lebensmächten besteht, die sich im Kampf mit den Todesmächten befinden. Eine Wanderung zwischen den heldenhaften und oft völlig hoffnungslosen Unternehmungen der Vergangenheit erweckt in uns jene primitive Begeisterung, die wir so nötig brauchen. Wir bewahren dann zwar immer noch in unseren Herzen den Frieden, der unsere Einsicht in das Notwendige übersteigt, wir sind aber dennoch nach Rückkehr in unsere eigene Welt imstande zu kämpfen, als ob es uns nur um den Sieg unserer Sache ginge.
Epilog Ich spreche zu Ihnen jetzt aus einer Zeit, die etwa zwanzigtausend Erdjahre nach jenen Tagen liegt, in denen der gesamte voraufgegangene Teil dieses Buches vermittelt wurde. Es ist bereits sehr schwierig geworden, Sie zu erreichen und noch viel schwieriger, zu Ihnen zu sprechen, denn die Letzten Menschen sind nicht mehr so, wie sie früher einmal waren. Unsere beiden großen Unternehmungen sind noch immer nicht zum Abschluß gebracht. Vieles in der menschlichen Vergangenheit ist noch unvollkommen erforscht, und mit dem Herausschleudern der Lebensträger in den Weltraum wurde gerade erst begonnen. Jenes Vorhaben hat sich als weit schwieriger erwiesen, als man erwartet hatte. Erst in den letzten Jahren ist es uns gelungen, einen künstlichen menschlichen ›Staub‹ zu entwickeln, der durch die von der Sonne ausgehende Strahlung mitgenommen werden konnte und widerstandsfähig genug ist, um eine transgalaktische Reise von vielen Millionen Jahren zu überstehen 471
und dennoch in seiner komplexen Struktur die Möglichkeiten für die Entwicklung von Lebensformen enthält, aus denen sich ein geistig-seelisch höher entwickeltes Wesen bilden könnte. Wir bereiten jetzt die Massenherstellung dieser Lebensträger vor, um sie an geeigneten Stellen der Umlaufbahn unseres Planeten um die Sonne in den Raum hinauszuschleudern. Vor einigen Jahrhunderten hatte die Sonne ihre ersten Verfallssymptome gezeigt, nämlich eine geringe Farbverschiebung ins Bläuliche. Danach wurde sie viel heller und heißer. Wenn sie heute unsere immer dichter werdende Wolkendecke durchdringt, blendet sie uns mit einem unerträglich stählernen Glanz, der das Augenlicht eines jeden von uns zerstören würde, der töricht genug wäre, direkt in die Sonne zu sehen. Selbst eine dichte Wolkendecke, die für uns jetzt ganz normal ist, kann nicht verhindern, daß die Augen durch das blendende violette Gleißen verletzt werden. Trotz der besonderen Schutzbrillen, die wir für uns hergestellt haben, leiden wir alle unter Augenbeschwerden. Auch die Hitze ist von zerstörerischer Wirkung. Zwar haben wir unseren Planeten aus seiner ursprünglichen Bahn heraus in eine sich immer mehr erweiternde Spiralbahn um die Sonne gebracht, aber was wir auch tun, wir können nicht verhindern, daß das Klima selbst an den Polen immer tödlicher wird. Die nichtpolaren Gebiete sind bereits aufgegeben worden. Die Verdunstung der Meeresteile am Äquator hat die ganze Atmosphäre durcheinandergebracht, so daß feuchtheiße Orkane selbst über die Pole dahinfegen, und wir von unglaublichen Gewitterstürmen heimgesucht werden. Diese Gewitter haben bereits die meisten unserer großen Gebäude zerstört und manchmal eine ganze von Menschen wimmelnde Provinz unter einer Lawine einstürzenden glasigen Mauerwerks begraben. Zwischen den beiden noch bestehenden Gemeinwesen an den beiden Polen konnte zunächst eine Funkverbindung aufrechterhalten werden, aber es ist schon einige Zeit her, seitdem wir im Süden die letzten Meldungen aus dem noch stärker in Mitleidenschaft gezogenen 472
Norden erhielten. Selbst bei uns ist die Lage bereits verzweifelt. Wir hatten erst vor kurzem einige hundert Stationen eingerichtet, die die Lebensträger in den Weltraum schleudern sollten, aber nicht einmal zwanzig von ihnen konnten ihre Aufgabe erfüllen. Sie fielen vor allen Dingen deswegen aus, weil es immer mehr an Personal mangelt. Die phantastisch angestiegene Strahlungsintensität der Sonne hat auf den menschlichen Organismus eine verheerende Wirkung. Eine bösartige Geschwulst, der gegenüber die Medizin machtlos ist, breitete sich wie eine Seuche über den ganzen Süden aus und ließ von der gesamten dort lebenden Bevölkerung nur einen kümmerlichen Rest übrig, obwohl sich die Bewohner der Tropen auf die Antarktis zurückgezogen und somit die Zahl der dort Lebenden erheblich vermehrt hatten. Außerdem ist jeder einzelne von uns nur noch ein menschliches Wrack. Die höheren geistigen und seelischen Funktionen, die unsere am weitesten entwickelte menschliche Art kennzeichneten, sind bereits durch den Zerfall besonderer Gewebe verlorengegangen oder in Unordnung geraten. Nicht nur das Rassenbewußtsein ist verschwunden, sondern auch die Sexualgruppen haben ihre geistige und seelische Einheit verloren. Durch eine Zerrüttung ihres chemischen Haushalts sind bereits drei der Untergeschlechter ausgestorben. Drüsenstörungen haben bei vielen von uns Gefühle der Angst, des Hasses und des Ekels ausgelöst, deren wir nicht Herr werden können, obwohl wir wissen, daß sie völlig unvernünftig sind. Sogar unsere normalen ›telepathischen‹ Fähigkeiten sind so unzuverlässig geworden, daß wir gezwungen sind, uns der archaischen Lautsprache zu bedienen. Nur noch Spezialisten vermögen unter großer Gefährdung weiterhin die Vergangenheit zu erforschen. In vielen Fällen führt es bei ihnen zu Störungen des Zeitsinns. Die Degeneration unserer höheren Nervenzentren hat in uns ein noch viel ernsteres und tiefer sitzendes Leiden zum Ausbruch kommen lassen, nämlich eine allgemeine geistige Entartung, die uns früher unmöglich erschienen wäre, so fest hatten wir auf unsere geistig-seelische Integrität gebaut. Der vollkommen leidenschaftslose und objekti473
ve Wille war viele Millionen Jahre hindurch allgemein verbreitet und der Grundpfeiler unserer gesamten Gesellschaft und Kultur. Wir hatten beinahe vergessen, daß dieser Wille seinen Ursprung im Physiologischen hatte und daß wir uns, wenn seine physiologische Basis unterhöhlt war, nicht mehr länger vernünftig verhalten konnten. Aber einige Jahrtausende unter dem Einfluß jener einzigartigen Strahlungsintensität haben bewirkt, daß wir nicht nur allmählich unsere ekstatische objektive Verehrung gegenüber dem Kosmos, sondern auch unsere Fähigkeit, uns normal und objektiv zu verhalten, verloren haben. Jeder von uns unterliegt jetzt dem völlig irrationalen Zwang, zu seinen Gunsten und zu Ungunsten seiner Mitmenschen zu handeln. Persönlicher Neid, Hartherzigkeit, ja sogar Mord und sinnlose Grausamkeit, alles Dinge, die früher bei uns völlig unbekannt waren, sind jetzt an der Tagesordnung. Als die Menschen bei sich zuerst jene Triebe bemerkten, unterdrückten sie diese mit Belustigung und Verachtung. Aber als die höchsten Nervenzentren weiter zerfielen, wurde das Tier in uns immer unbändiger und der Mensch unsicherer. Zu vernünftigem Verhalten konnte man nur noch nach einem ermüdenden und entwürdigenden ›moralischen Kampf‹ gelangen, nicht mehr spontan und mühelos. Und was noch schlimmer war, immer häufiger endete ein solcher moralischer Kampf nicht siegreich, sondern mit einer Niederlage. Man stelle sich also unseren Schrecken und unser Entsetzen vor, als wir uns alle gemeinsam dazu verdammt sahen, einen verzweifelten Abwehrkampf gegen Impulse und Triebe zu führen, die wir gewohnt waren, als geisteskrank zu empfinden. Allein die Vorstellung ist erschreckend, daß jeder von uns jeden Augenblick seine höchste Pflicht gegenüber dem gemeinsamen Vorhaben der Verbreitung der Lebensträger verraten könnte, weil er dem einen oder anderen ihm Nahestehenden helfen muß; und es ist erschütternd, wenn man entdeckt, daß man selbst so weit gesunken ist, und nicht mehr die sonst übliche liebevolle Freundlichkeit gegenüber Mitmenschen aufzubringen in der Lage ist. Menschen, die sich zu Lasten ihrer Freunde oder derer, die sie lieben, auch nur den kleins474
ten Vorteil verschaffen, waren früher unbekannt. Heute aber verfolgen uns oft Blicke erstaunten Entsetzens und des Mitleids von Freunden, die wir verletzt haben. In den frühen Stadien dieser Entwicklung errichtete man Nervenheilanstalten. Diese waren aber sehr bald überfüllt und eine Belastung für die leidgeprüfte Gemeinschaft. Danach tötete man die Geisteskranken. Es wurde aber bald klar, daß wir bei Anlegung früherer Maßstäbe alle geisteskrank waren. Niemand konnte sich auf sein eigenes vernünftiges Verhalten verlassen. Natürlich können wir uns auch nicht mehr gegenseitig trauen. Teils durch das Überhandnehmen unvernünftiger Wünsche und teils durch Mißverständnisse, zu denen es nach dem Verlust unserer ›telepathischen‹ Kommunikationsmöglichkeiten gekommen ist, sind bei uns alle möglichen Mißhelligkeiten aufgetreten. Man mußte eine Verfassung und Gesetze ausarbeiten, aber dadurch scheinen sich unsere Schwierigkeiten nur noch vermehrt zu haben. Eine gewisse Ordnung wird durch eine überlastete Polizeitruppe aufrechterhalten. Aber diese untersteht der Gruppe der Organisatoren, die allen Lastern der Bürokratie verfallen sind. Hauptsächlich durch ihre Torheit kam es in zwei antarktischen Nationen zu sozialen Revolutionen. Diese beiden Staaten bereiten sich jetzt darauf vor, einer Kriegsmacht entgegenzutreten, die eine wahnsinnig gewordene Weltregierung zu ihrer Vernichtung aufgestellt hat. Durch den Zusammenbruch unserer Wirtschaftsordnung und die Unmöglichkeit, die Nahrungsmittelfabriken auf dem Jupiter zu erreichen, hat außerdem der Hunger die bereits vorhandenen Schwierigkeiten noch vermehrt und es einigen pfiffigen Irren ermöglicht, auf Kosten der anderen einen schwungvollen Handel zu treiben. Soviel Torheit in einer Welt, die dem Untergang geweiht ist, und in einer Gemeinschaft, die noch gestern die Blüte der Galaxis war! Diejenigen unter uns, die sich noch um ein Leben des Geistes kümmern, sind versucht, zu bedauern, daß die Menschheit sich nicht zu einem würdigen und angemessenen Selbstmord entschlossen hat, bevor der Zerset475
zungsprozeß begann. Das hätte aber nicht sein dürfen, denn die begonnene Aufgabe mußte vollendet werden. Die Ausbreitung der Sporen im Weltall ist für jeden einzelnen von uns zur höchsten religiösen Pflicht geworden. Selbst jene, die ständig dagegen sündigen, sehen darin die letzte Funktion des Menschen. Aus diesem Grunde mußten wir weitervegetieren, als unsere Zeit längst abgelaufen war, und zusehen, wie wir von einer geistigen Wesensform in jene dumpfe Tierhaftigkeit absanken, aus der sich der Mensch nur so selten zu befreien vermochte. Warum halten wir eigentlich an unserer so aussichtslosen Sache fest? Selbst wenn die Saat unter günstigen Umständen irgendwo Wurzeln fassen und wachsen sollte, würde ihrer Existenz doch sehr bald ein Ende gesetzt sein, wenn auch nicht durch schnelles Verglühen von Materie, dann im letzten Kampf des Lebens gegen die um sich greifende Kältestarre. Unsere Anstrengungen würden bestenfalls bewirken, daß der Tod eine reichere Ernte einbringen könnte. Ein vernünftiges Argument, das unser Vorhaben begründen könnte, gibt es nicht, es sei denn, daß wir es für vernünftig ansehen, blindlings eine Aufgabe weiterzuführen, deren Sinn wir in einem früheren bewußtseinshelleren Zustand einmal begriffen hatten. Ob unser Bewußtsein jedoch damals klarer und heller war, wissen wir nicht mehr. Auf unser früheres Selbst blicken wir voll Erstaunen, aber auch voll Unverständnis und Zweifel zurück. Wir versuchen uns an die Herrlichkeit zu erinnern, die einem jeden von uns durch unser Rassenbewußtsein enthüllt worden war, aber fast nichts davon ist in unserer Erinnerung geblieben. Wir können nicht einmal mehr zu jenem einfacheren glückseligen Zustand zurückfinden, den zu erreichen früher einmal jedem einzelnen ohne Hilfe eines Überbewußtseins möglich war, zu jener heiteren Ruhe und Gelassenheit, die, wie es schien, die angemessene Haltung des Geistes gegenüber jedem tragischen Ereignis war. Auch dies alles ist für uns versunken. Wir können diesen Zustand nicht erreichen und nicht einmal mehr begreifen. Unsere persönlichen Leiden und das allgemeine Elend sind für uns nur entsetzlich 476
und scheußlich. Daß der Mensch nach einem so langen Kampf um seine Reife schließlich wie eine gefangene Maus bei lebendigem Leibe geröstet wird, bloß weil ein Wahnsinniger daran seinen Spaß findet! Wie könnte darin irgendeine Schönheit liegen? Aber dies ist nicht unsere letzte Botschaft an Euch. Obwohl wir moralisch herabgesunken sind, ist in uns noch etwas aus der Vergangenheit übriggeblieben. Wir sind blind und schwach geworden, aber das Wissen um unsere Blindheit und Schwäche hat uns zu großen Anstrengungen vorangetrieben. Diejenigen unter uns, die noch nicht zu tief gesunken sind, haben sich in einer Bruderschaft zur gegenseitigen Stärkung der Widerstandskraft zusammengefunden, damit der wahre Geist des Menschen noch ein wenig länger wach bleibt, bis der Samen ausgesät ist und es uns erlaubt ist, zu sterben. Wir nennen uns die Bruderschaft der Verdammten«. Wir wollen einander die Treue halten und ebenso unserem gemeinsamen Unternehmen sowie jener früheren Einsicht in das kosmische Geschehen, die sich uns bereits verschlossen hat. Wir haben uns durch ein Gelübde verpflichtet, alle leidenden Menschen, denen der Tod noch nicht erlaubt ist, zu trösten und zu stärken. Wir haben uns verpflichtet, für die Verbreitung der Lebensträger zu sorgen. Wir haben gelobt, den menschlichen Geist bis zu seinem Ende hell und klar zu erhalten. Ab und zu treffen wir uns in kleinen oder größeren Gruppen, um uns aneinander aufzurichten und uns neuen Mut zu holen. Manchmal sitzen wir bei solchen Gelegenheiten schweigend beieinander und ringen um Trost und um Stärke für unser Vorhaben. Manchmal flackern auch hier und da Worte auf und geben unserer in einer glühend heißen Welt erfrierenden Seele ein wenig Helligkeit, aber wenig Wärme. Es gibt aber unter uns einen, der von Ort zu Ort und von Gruppe zu Gruppe geht, und nach dessen Stimme sich alle sehnen. Er ist jung, er ist der Letztgeborene unter den Letzten Menschen; denn er war der Letzte, der empfangen wurde, bevor wir das Verhängnis des Menschen erkannten, und bevor Zeugung und Empfängnis aufhörten. Als Letz477
ter ist er auch der Höchstentwickeltste und Edelste. In ihm grüßen wir seine ganze Generation und sehen zu ihm auf und hoffen, daß er uns Kraft gibt. Dieser Jüngste ist anders als wir übrigen. Bei ihm vermag der Geist, der eigentlich nur das sich seiner Geistigkeit bewußt gewordene Fleisch ist, dem wütenden Sturm der Sonnenenergie länger Widerstand zu bieten als bei uns. Es scheint, als würde selbst die Sonne von seinem strahlenden Geist an Helligkeit übertroffen. Es scheint, als erfüllte sich in ihm doch noch, wenn auch nur für einen Tag, die Erwartung der Menschheit. Denn obwohl er wie andere körperliche Qualen durchleidet, steht er über diesen Qualen. Und obwohl er mehr als wir alle die Leiden der anderen wahrnimmt, steht er über seinem Mitleid. Sein eigenartiger, scherzhaft lindernder Trost bringt den Leidenden dazu, daß er über seine Schmerzen zu lächeln vermag. Wenn dieser unser jüngster Bruder mit uns über unsere sterbende Welt und die Eitelkeit allen menschlichen Strebens spricht, ist er nicht wie wir bestürzt und entsetzt, sondern ruhig. Bei einer solchen Ruhe verwandelt sich die Verzweiflung in Frieden und innere Ausgeglichenheit. Durch seine vernünftigen Worte, fast schon durch den bloßen Klang seiner Stimme, klärt sich unser Blick und erfüllt sich unser Herz auf rätselhafte Weise mit Jubel und Triumph. Doch seine Worte sind oft sehr ernst. So sollen nicht meine, sondern seine Worte diese Chronik beenden: »Groß sind die Sterne, und der Mensch bedeutet ihnen nichts. Dennoch ist der Mensch ein edles Wesen, den ein Stern erzeugt hat und ein anderer tötet. Er ist größer als jene hellen und doch blinden Sternscharen. Obwohl diese über unermeßliche Energiemengen verfügen, kann er ihnen gegenüber auf eine wirkliche Leistung hinweisen, wenn sie auch nur gering sein mag. Scheinbar allzu früh geht es mit ihm zu Ende. Aber wenn es so kommt, wird es nicht so sein, als hätte er nie existiert; denn er wird für immer ein schöner Bestandteil der Architektur der Ewigkeit sein. Der Mensch besaß die Kraft zu einem hoffnungsvollen Höhenflug. Er besaß mehr Ausdauer als für einen so kurzen Flug, der jetzt zu Ende 478
geht. Er nahm sich sogar vor, die Blume aller Dinge, der alles Wissende und der alles Bewundernde zu werden. Statt dessen wird seine Art ausgelöscht. Er gleicht einem eben erst flügge gewordenen Vogel, den ein Waldbrand vernichtet. Er ist noch sehr klein, sehr arglos und einfältig und besitzt nur sehr geringe Fähigkeiten zu einem Einblick in das kosmische Geschehen. Sein Wissen um die Dinge und Zusammenhänge gleicht dem Wissen jenes jungen Vogels. Wie ein Nestling liebt und bewundert er nur das, was seinem eigenen kleinen Wesen freundlich gegenübertritt. Er freut sich nur über seine Nahrung und über den Lockruf, der ihm die Nahrung ankündigt. Die Musik der Sphären geht über ihn hinweg und durch ihn hindurch, aber er vernimmt sie nicht. Aber er war für jene Musik nötig. Und jetzt ist seine Vernichtung als Teil jener Symphonie erforderlich. Groß und schrecklich, aber sehr schön ist das Ganze; und für den Menschen ist es das Beste, daß er von diesem Ganzen gebraucht wird. Aber braucht man ihn wirklich? Wird das Ganze durch unseren Todeskampf tatsächlich schöner? Ist das Ganze überhaupt schön? Und was ist Schönheit? Solange der Mensch existierte, hat er sich bemüht, die Musik der Sphären zu vernehmen, und es schien ihm ab und zu so, als hörte er ein paar Takte oder einen Anklang ihrer Motive und ihres Aufbaus. Er kann aber nicht sicher sein, daß er sie wirklich gehört hat und ob er wirklich eine so vollkommene Musik vernehmen kann. Sollte es sie tatsächlich geben, wird sie sicherlich nicht für seine Ohren bestimmt sein. Eines aber ist sicher: Wenn es überhaupt keine Musik der Sphären gäbe, wäre das Schicksal des Menschen allein für sich schon ein kräftiges musikalisches Thema, das die gewaltige Begleitung der Sterne, der Stürme und der Welten zum Mitklingen brachte. Der Mensch ist bereits auf seine Weise auf ewig zu einem schönen Bestandteil der Architektur des Kosmos geworden. Es war sehr gut, ein Mensch sein zu dürfen. So können wir denn mit lachendem Herzen und mit innerer Ruhe gemeinsam unseren Weg weitergehen, dankbar gegenüber der Vergan479
genheit und gegenüber unserem eigenen Mut. Denn wir selbst sind ein gutes Finale für jene kurze Musik, die im Schicksal der Menschheit zum Erklingen kam.«
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Nachwort
Mit dem Geist zu neuen Ufern Zwischen Phantasie und kritischem Bewußtsein: Olaf Stapledons literarische Suche von Michael Nagula Für Mären Kirch Wir existieren in einer Welt, die man mit Hilfe fragmentarischer Methoden nicht mehr verstehen kann. So bezeichnend diese Methoden für unsere akademischen Fachbereiche und Amtsstuben sind, lösen sie doch keines unserer wirklichen Probleme, schieben sie in dem umfassenden Netz gesellschaftlicher Wechselwirkungen nur hin und her. Ein Wandel steht dann in Aussicht, wenn sich ein neues System von Werten konstituiert, das auf die Struktur des Netzes Einfluß nehmen kann. Zu diesem Zweck müssen wir uns eine großzügigere Betrachtungsweise aneignen und unsere individuelle Situation im Kontext der kulturellen Entwicklung des Menschen zu sehen lernen. Unsere Sicht vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts muß sich auf eine Zeitspanne verlagern, die Tausende von Jahren umfaßt, damit sich uns der Blick dafür eröffnet, weshalb die Vorstellung statischer gesellschaftlicher Strukturen einer Wahrnehmung dynamischer Muster des Wandels zu weichen hat. Diese Forderung ist nicht neu, ja geradezu zeitlos. Im Lauf unserer Geschichte erteilte so mancher Philosoph seine Ratschläge, die nur allzu rasch ideologisch versteinerten. Eine Heilslehre zu verkünden, nach deren Statuten zu leben beste Garantie für den Einzug ins Reich der Harmonie und des Hosiannas ist, fand von jeher mehr Aufmerksamkeit als der Weg des größeren Widerstandes: mit kritischem Bewußtsein das Treiben der Welt zu betrachten und seinen idealen Platz darin zu finden. Denn das erfordert Kraft und Mut und die ständige Bereitschaft zum Kampf, mag er sich naturgemäß auch darauf beschränken, 483
eine Sehnsucht zu formulieren, deren Erfüllung nicht in Aussicht steht. Haben wir darüber hinaus noch einen Schriftsteller vor uns, so wird selbst bei aller Qualität der Gedanken in der Öffentlichkeit niemals mehr als ein Strohfeuer entfachen. Aber vielleicht wird ihn der eine oder andere unter uns in Zeiten der kulturellen Krise wiederentdecken, dann nämlich, wenn der Leidensdruck auf das Individuum sich in einem Maß verstärkt, daß es nach Brüdern im Geiste Umschau hält. Es ist durchaus denkbar, daß ihn das zur Person des 1886 geborenen Olaf Stapledon führt, der bis zur Mitte unseres Jahrhunderts seine Suche auf literarische Weise bestritt. In einer autobiografischen Note schreibt er: »Meine Kindheit, die etwa fünfundzwanzig Jahre währte, steht vor allem unter dem Eindruck meiner Erlebnisse am Suezkanal und in Balliol. Seit dieser Zeit habe ich mich in verschiedenen Berufen versucht, aus denen ich jeweils frühzeitig wieder den Absprung schaffte, bevor es zum unvermeidlichen Disaster kam. Anfangs hämmerte ich mir als Schullehrer am Vorabend der Religionsstunden verschiedene Bibelgeschichten ein. Dann raffte ich in einem Reedereibüro in Liverpool Lieferscheine an mich und ließ in Port Said mit Unschuldsmiene die Schiffer mehr Kohle befördern, als sie mußten. Danach entschloß ich mich, das Wesen der Demokratie zu verbreiten, aber Grubenarbeiter aus Worthington, Nieter aus Barrow und Eisenbahner aus Crewe erteilten mir eine bessere Ausbildung, als ich sie ihnen hätte erteilen können. Seitdem halten mich zwei Erkenntniswelten in ihrem Bann: die Philosophie und das tragische Durcheinander in unserem irdischen Bienenstock. Nach einem verspäteten Angriff auf die akademische Philosophie schrieb ich eine Reihe von theoretischen Büchern und verschiedene Texte der Fantastic Fiction, die den Lauf der Menschheit zum Thema haben.« Im Ersten Weltkrieg diente Olaf Stapledon als Ambulanzfahrer in einer Sanitätskolonie der Quäker, die in Frankreich stationiert war, was den Gedanken an eine wahre Gemeinschaft unter den Menschen in ihm aufkommen ließ. Zeitlebens setzte er sich mit dem Sozialismus 484
auseinander, verabscheute jedoch die pragmatischen und analytischen Gedankengänge des zwanzigsten Jahrhunderts. Erst in der Literatur fand er die ihm adäquate Form der Auseinandersetzung mit seiner Sehnsucht nach Partnerschaftlichkeit und Harmonie in einer Welt, deren innerer Paradoxie er verständnislos gegenüberstand. So setzte sich denn schon sein erstes Buch Latter-Day-Psalms in Form von Gedichten mit den Themen auseinander, die für sein weiteres Leben bestimmend sein sollten: der Unerheblichkeit einer Religion, die auf dem Gedanken an die Unsterblichkeit beruht, und dem Postulat einer sich entwickelnden Gottheit. Als ihm Freunde rieten, das Dichten doch besser sein zu lassen, verstrichen fünfzehn Jahre, bis er mit A Modern Theory of Ethics ein neues Buch veröffentlichte. Es enthält bereits das theoretische Fundament aller Ideen, die auch sein Erzählwerk kennzeichnen: die teleologische Forderung nach der Pflicht zur Moral, das Einlösen individueller Talente für das Edle und Gute, die Gemeinschaft als notwendige Vorbedingung für die Erleuchtung des Einzelnen, die Ekstase als intuitives Bewußtsein einer kosmischen Hoheit und die hoffnungslose Mangelhaftigkeit menschlicher Fähigkeiten zur Erkenntnis der Wahrheit. Es stellt keine Herabsetzung seines theoretischen Werks dar, wenn man behauptet, daß seine Philosophie besser in den Romanen zum Ausdruck kommt. Bloße Worte können nicht das Gefühl beim Namen nennen, das ein Mythos hervorrufen kann. Was den Menschen in seinem Innersten berührt, steht außerhalb jedes logischen Kalküls. Mit Last and First Men verfaßte Olaf Stapledon eine Form der Utopie, die an Gedankenfülle, Phantasiereichtum und Ausdehnung der Horizonte von keiner Hervorbringung dieser so produktiven Literaturgattung mehr erreicht wurde. Es ist eine großangelegte synthetische Arbeit, in die der Autor seine Erkenntnisse zur Geschichte, Philosophie und Psychologie, zur politischen und metaphysischen Entwicklung des Menschen einbrachte, eine Darstellung möglicher zukünftiger Kulturen, die sich über zweitausend Millionen Jahre erstrecken. Die letzten Vertreter unserer Art, über die Venus auf den Neptun 485
emigriert, senden aus dieser fernen Zeit die ihnen nun zur Gänze bewußte Welthistorie telepathisch an den Autor zurück. Es ist ein wahrer Rosenkranz an Eindrücken, der sich hier offenbart, immer geistvoll, immer überzeugend, weil nur Tendenzen und Möglichkeiten, die schon vorhanden oder doch sichtbar sind, in ihrer letzten Konsequenz dargestellt werden. Man könnte geradezu von einer prospektiven Kultursoziologie sprechen, die manchmal recht beängstigende Züge aufweist. Da gibt es Kulturen, in denen die Musik die Hauptrolle spielt, bis die betreffende Gesellschaft wegen allgemeiner akustischer Überempfindlichkeit zusammenbricht, oder solche, in denen die heutige Verehrung der Jugend extrem religiöse Formen angenommen hat. Dann wieder wird eine Zukunftsgesellschaft beschrieben, in der nicht mehr das Geschlechtliche mit einem Tabu belegt ist, sondern das Essen, was zwangsläufig zu ähnlichen Verdrängungen, Perversionen und Reformbewegungen führt. Hinter allem steht aber die Entwicklung des Individuums in der Gemeinschaft, die Entfaltung seiner Persönlichkeit und seines Bewußtseins hin zu einem dauerhaften Zustand, der keine Stasis mehr kennt — bis die Explosion einer Supernova dem ein Ende bereitet. Es war niemals die Absicht des Autors, historische Prognosen zu erstellen. Im Zentrum seiner Gedanken steht nicht der Mensch, sondern der Geist, dieser nur schwer zu definierende Terminus, den zu beschreiben Olaf Stapledon sein ganzes Leben verbrachte. Er ist unsere eben erst erwachte Fähigkeit zur Weisheit, Liebe und zur schöpferischen Tat. Er ist die Sehnsucht nach der Transzendenz unserer Person, nach dem Verschmelzen mit einer Gemeinschaft, in der dennoch die Vielfalt der Individuen erhalten bleibt. Genau besehen kündet der Roman von dem Bestreben des Geistes, die verschiedenen Existenzformen des Menschen als Instrument zu benutzen, und zwar mit Hilfe eines historischen Prozesses, der ebenso an die Darwinsche Evolutionstheorie wie das dialektische Geschichtsverständnis des Marxismus erinnert. 486
Solche Versuche, den Geist in Gestalt der Menschheit vollkommen zum Ausdruck zu bringen, findet man in Utopien nicht gerade häufig. Ihr Denken ist meistens durch Rationalität und Innerweltlichkeit gekennzeichnet, und es herrscht so etwas wie Skepsis und Sorge darüber vor, was für Konflikte eine solchermaßen stattfindende Entwicklung mit sich bringen würde. Niemand außer Olaf Stapledon hat sich jemals darum bemüht, die geistige Potenz des Menschen zu ermessen und deutlich zu sagen, daß es letzten Endes nicht darum geht, das Gehirnvolumen unserer Art zu vergrößern. Sein Ziel ist die mystisch zu nennende Vereinigung aller Intelligenzen in einem einzigen Menschheitsbewußtsein, das schließlich zu ungeahnten Erkenntnissen und religiöser Kontemplation fähig wäre. Das Buch war eine Sensation. Namhafte Schriftsteller wie J. B. Priestley und Arnold Bennet lobten es und bestärkten den Autor in seinem Entschluß, von nun an mit dem Schreiben seine Pflicht zu tun. Unter seinen folgenden Romanen waren eine ganze Reihe, die in ihrer visionären Schau nicht so weitgespannt waren, sondern konkret die Probleme und Bedürfnisse des suchenden Individuums darstellten. Es erwies sich, daß Abstraktion und Universalität nur eine Ausdrucksmöglichkeit des Autors war, die andere offenbarte weitaus mehr von ihm selbst, ja war manchmal sogar autobiografisch. Hatte er in seinem ersten Roman eine Menschheit beschrieben, die fern der unseren existiert, so versetzt er nun in Last Men in London einen ihrer Vertreter in das frühe zwanzigste Jahrhundert, um Studien zu betreiben. Dieser nistet sich in dem Bewußtsein eines jungen Mannes namens Paul ein, der noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs steht, und erlebt seine sexuellen und religiösen Nöte mit, seine Frustration als Lehrer und seine geistige Erleuchtung. Er dient damit als wirkungsvolles Symbol für das langsame Bewußtwerden des Menschen, daß es jenseits der eigenen noch andere geistige Ebenen gibt. In der Person des Humpty, einem der Schüler seines Wirtes, der die fortgeschrittensten Intelligenztests mühelos besteht, mit den einfachen aber nicht zurande kommt, läßt er Paul Pläne 487
für eine neue Welt entwickeln, die dieser in seinem Leben nicht mehr wird ausführen können. Der Autor schließt das Buch damit, daß er ein anderes, höheres Individuum ankündigt, das dazu ausersehen sein wird, sie wenigstens annähernd zu realisieren. Hier offenbart sich der textübergreifende Zusammenhang im Werk von Olaf Stapledon, denn gemeint ist Odd John, ein zwei Jahre darauf erscheinender Roman, der zu den berühmtesten des Autors zählt. Einen Großteil seiner Bekanntheit verdankt er sicher seiner leichten Verdaulichkeit für den üblichen Leser von Science Fiction, obwohl der durchaus gängige Themenkreis des einsamen Geistesriesen, seiner willkürlichen Kräfte und seines bedeutungslosen Todes recht unkonventionell behandelt wird. Im Zentrum steht ein Übermensch mit enormen Gaben, der andere von seiner Art aufsucht und sich mit ihnen auf eine einsame Südseeinsel zurückzieht. Dabei hilft er den Menschen, tötet sie aber auch, manchmal dieselben, denen er zuvor half. Die Motive für dieses Handeln bleiben den Menschen unklar, sicher ist nur, daß er sie als Tiere betrachtet. Schließlich versinken er und seine Gefährten mit der Insel im Meer. Bestechend ist, daß der Autor dem Leser nichts in die Hand gibt, um die Moral der Geistesriesen beurteilen zu können, zu exotisch schildert er ihre Vorstellungen vom Intellekt und vom Leben. Manche Kritiker betrachten es als das schwächste Buch von Olaf Stapledon, nämlich aus künstlerischer und moralischer Sicht. Man sagt es uns, aber man zeigt uns nie, was jedes Mitglied der Kolonie darstellt. Odd John bleibt uns fremd. Es geht uns nicht sehr nahe, wenn er und die anderen lieber Massenselbstmord begehen, als die Entdeckung und Zerstörung durch den Homo Sapiens zu riskieren. Zwar erklärt Odd John: »Der Homo Sapiens ist eine Spinne, die aus einer Mulde zu klettern versucht. Je höher er klettert, desto steiler der Hang. Früher oder später geht‘s wieder hinunter. Er kann eine Zivilisation nach der anderen aufbauen, aber jedesmal fällt er, lange bevor er wirklich zivilisiert ist, auf die Nase!« Doch auf der anderen Seite vernichten sie ihrerseits den 488
Homo Sapiens nicht, weil dadurch ihr Suchen nach dem Geist beeinträchtigt würde. Gerade diese Überheblichkeit, mit der der Zeitgenosse als Kotfliege auf dem Misthaufen der Geschichte denunziert wird, ist wohl der wirkliche Grund für das Unverständnis der Kritiker. Was sie als Inkonsequenz und Mangel an Dichtkunst bezeichnen, ist in Wahrheit äußerst aufklärerisches Gedankengut. Es ist sicher kein Zufall, daß Olaf Stapledons nächstes Buch sein Star Maker war. Er hatte festgestellt, daß der Homo Sapiens überwunden werden muß, und zwar in jeglicher Existenzform. Was blieb ihm noch, als die Suche nach dem immateriellen Ideal zu forcieren. Er fährt an der Stelle fort, wo die erste Zukunftsvision endet, und läßt den Erzähler, den eines Abends eine tiefe Bitterkeit überkommt, einen Hügel besteigen, den archetypischen Ort der Erleuchtung. Dort löst er sich von der Erde, strebt hinauf in das All, erkundet ferne Welten, schließt sich auf geistiger Ebene mit Vertretern anderer Rassen zusammen und eilt als neu entstandenes Kollektivwesen durch die Unendlichkeit, immer neue Planeten besuchend, immer wachsend, auf der Suche nach dem Schöpfer des Universums. Zeit ist für dieses Wesen keine Konstante mehr. Es trennt sich von der Gegenwart und reist durch das Gestern und Morgen, bis es in fernster Zukunft nicht nur die aufgenommenen Individuen vereinigt, sondern auch alle Mitglieder dieser Superrassen, einschließlich der Sonnen. Dennoch bleibt ihm nicht die Erkenntnis erspart, daß selbst das Universum sterblich ist. Und im letzten Auflodern des Seins erkennt dieses kosmische Ich den Sternenmacher, erahnt den Zweck seiner Existenz, sieht sich und das All als eines von zahlreichen Versuchen, sicher nicht der schlechteste, aber auch nicht der beste und erst recht nicht der letzte. Jene unfaßbare Entität ist ein Künstler, nicht ein uns liebend zugewandtes Wesen. Sein Bestreben ist die Erschaffung eines Universums nach dem anderen, um seinem Ziel immer näherzukommen: der Vielfalt, Verfeinerung, Tiefe und Harmonie des Seins. Ständig hin- und hergerissen zwischen Zukunftsvisionen, in denen der Geist sich in der Geschichte darstellt, und Tragödien, in denen er 489
hinter den Beschränkungen des Individuums zurückbleibt, entsteht 1942 zu einer Zeit, als jegliche Prognosen unsicher waren, in Gestalt von Darkness and the Light ein Roman mit deutlich zweifacher Ausrichtung. Er skizziert eine Welt fernab des Ideals von der wahren Gemeinschaft, die von reaktionären Cliquen in China und Rußland beherrscht wird. Aber die zunehmend stärker werdenden Lichtmächte in Tibet wenden sich gegen sie. Sie setzen sich aus Heiligen und Revolutionären zusammen, beharren auf einem reinen Pazifismus, der ihnen bald zum Verderben gereicht. Das nun weltweite reaktionäre Reich wird zu einem Dauerzustand. Erst als die Tibetaner zu einer Form des flexiblen Pazifismus aufrufen, führt eine Rebellion zur Errichtung einer neuen Ordnung, die sich immer mehr der Verehrung des Geistes zuwendet. Mit diesem alternativen Ablauf der Geschichte macht Olaf Stapledon eine seiner philosophischen Ansichten deutlich, nämlich daß freier Wille und Determination durchaus nebeneinander bestehen können. Paradoxerweise wird von den meisten Kritikern als sein Buch mit dem humansten Interesse sein Roman Sirius betrachtender von großem instinktiven Verständnis für die Kreatur zeugt. Er handelt von einem Schäferhund, den man in einem wissenschaftlichen Versuch mit einer Intelligenz versieht, die der des Menschen gleichkommt. Nach und nach erlangt er seine Unabhängigkeit und empfindet das Leben durch die erwiderte Liebe zu einem Mädchen als erträglich, scheitert jedoch an dem Bestreben, das zwar entwickelte, aber doch beschränkte Ich zu verwirklichen. Ihm wird deutlich, was es heißt, ein Hund zu sein, ohne Hände und die Qualität menschlicher Augen, mit einem verfeinerten Geruchssinn, voller Freude an der Jagd und am Töten und mit einer Verbundenheit zur Landschaft, die kaum nachzuvollziehen ist. Diese Figur dient dem Autor zu zweierlei Zwecken. Einmal möchte er durch sie ausdrücken, wie der Mensch das benutzt und bis aufs Mark korrumpiert, was ursprünglich und wild ist. Zum anderen soll der Mensch selber als Tier entblößt werden, sich zu seiner animalischen Vergangenheit und Gegenwart bekennen und gleichzeitig zu einer übermenschli490
chen Persönlichkeit heranreifen. Mit Bedauern muß der Leser aber feststellen, daß der Schäferhund niemals wirklich über sich hinauswächst und schließlich in den Armen seiner Geliebten stirbt. In demselben Jahr erschien mit Old Man and New World ein Buch, in dem der Autor die Religion ein für allemal als Opium des Volkes verabschiedet. Es nimmt in seinem Gesamtwerk jedoch keinen bedeutenden Rang ein, weil es im übrigen nur die Themen vorangegangener Romane wiederholt. Eine abschließende Zukunftsvision bestritt er 1946 mit Death into Life. Sie brachte Neues hinsichtlich Stil und Inhalt, war einheitlicher in der Struktur und auch erfreulicher als ihre Vorläufer. Als Auftakt wird die Mannschaft eines alliierten Bombers über einer deutschen Stadt abgeschossen. Sie überlebt den Absturz nicht, erwacht nach dem Tod aber wieder zum Leben: zu einer Einheit verschmolzen, in der das Individuum noch bewahrt ist, bis auch dieser Geist stirbt. In verschiedener Form wird er immer wieder neu geboren, bis die Kollektivwesenheit sich ihrer selbst bewußt wird und Zugang zu ihrer Geschichte erhält. Die Absicht des Autors ist es hier wie stets, das Abstrakte mit dem Konkreten in Verbindung zu setzen. Perspektivelosigkeit, Frustration und Tod auf der einen Ebene sind für ihn Vorspiel zu einem Leben auf einer anderen Ebene, die in offenkundiger Weise elysisch ist. Eine verheißungsvolle und vielleicht gerade deshalb nicht unbedingt begrüßenswerte Haltung, wenn nicht das Geschehen im Laufe der Handlung sich zurück auf die Erde verlagern würde. Da der Zweite Weltkrieg vorüber ist, ist die Menschheit wieder dabei, sich zu erholen. Als Fazit bleibt: Jedes neue Leben beruht auf einem vergangenen Tod. Die letzten literarischen Arbeiten Olaf Stapledons künden von wachsendem Optimismus. Seite an Seite mit seinem Bestreben, die universellen Probleme in ihrer Tragweite und ihrem Detailreichtum darzustellen, verläuft sein Beharren darauf, daß alles für uns Sichtbare auch gut ist, selbst der Schmerz und die Trauer, die schließlich in eines münden: in die Dunkelheit und das Licht als Teile eines Bildes, 491
das in seiner Gänze herrlich ist und der Dunkelheit bedarf, um die Schönheit ans Licht zu bringen. So ist sein Roman The Flames zu verstehen, in dem er Angehörige einer fremden Rasse beschreibt, die sich als Bewohner der Sonne erweisen und erst sichtbar werden, wenn man sie der Hitze aussetzt. Und auf ganz ähnliche Weise ist sein stark mit autobiografischen Elementen durchsetztes A Man Divided zu sehen, das von einem Mann berichtet, der an einer Art heiliger Schizophrenie leidet. Manchmal ist er ein armer Sünder, der unter dem Eindruck all der Tabus und falschen Werte handelt, die man ihn von Kindheit auf lehrte, dann wieder durchschaut er diesen Lug und Trug in beschämender Klarheit und stellt sich in die Pf licht des Guten. Hin und her brandet der Streit in seiner Seele, woraus eine differenzierte Tragödie des Gefühls entsteht. Doch obwohl dieser Roman des Autors, der im Jahr seines Todes entstand, viel von seiner unstillbaren Sehnsucht nach Harmonie verrät, handelt es sich dabei wohl um einen seiner schwächeren Texte. Posthum erschien 1954 mit The Opening of the Eyes ein Buch, das dieses Thema auf eine weitaus erlesenere Art wieder aufnimmt. Es schildert einen Dialog zwischen dem Bewußtsein des Autors und einer inneren Stimme, die er Gott zu nennen sich nicht traut. In dieser letzten Arbeit führt er rationale Gründe dafür an, weshalb rückhaltlose Grausamkeit nicht schön ist und sich durch keine ästhetischen Werte rechtfertigen läßt. Formal stellt sie eine Verschmelzung seiner stilistischen Tendenzen dar und versteht sich weder als Fiktion noch als Philosophie. Man könnte sie eher eine Sonnettsequenz in Prosa oder eine Erforschung der Mystik des Lebens nennen. Allem Anschein nach kündet sie vom Durchbruch des Autors zu etwas anderem, das in einem Vorwort als Ziel seines Lebens bezeichnet wird. Resignation? Ehrfurchtsvolle Einsicht in das Unvermögen der menschlichen Natur? Dies mag letzten Endes jeder für sich selbst entscheiden. An einer Stelle seines umfassenden Werkes erläutert Olaf Stapledon sein Verständnis von utopischer Literatur: »Wenn imaginative 492
Konstruktionen möglicher Zukünfte überzeugend sein sollen, müssen wir unsere Vorstellungskraft streng disziplinieren. Es gilt die Grenzen des Machbaren nicht zu überschreiten und ein bestimmtes Stadium der Kultur aufrechtzuerhalten, in dem wir leben. Die bloße Phantastik hat nur geringe Kraft. Nicht daß wir danach streben sollten, vorherzusagen, was tatsächlich eintreten wird, denn in unserem gegenwärtigen Stadium sind solche Prophezeiungen sicher nutzlos, mit Ausnahme der einfachsten Dinge. Wir sind keine Historiker, die nach vorn zu schauen versuchen anstatt zurück. Wir können nur einen einzelnen Faden aus dem Knäuel vieler gleichermaßen wahrscheinlicher Möglichkeiten heraussuchen, aber wir müssen zweckgerichtet suchen. Die Sache, der wir uns verschrieben haben, ist nicht Wissenschaft, sondern Kunst, und die Wirkung, die sie auf den Leser ausüben sollte, ist eine, die Kunst ausüben sollte.« Er hat niemals aufgehört, nach dieser Maxime zu arbeiten und zu leben. In seinem Nachlaß fanden sich Notizen und Vorarbeiten für einen weiteren Roman, der seine beiden großen Zukunftsvisionen zu einer umfassenden Trilogie vereinen sollte. Sie wurden geordnet und 1976 unter dem Titel Nebula Maker herausgegeben. Sein Interesse an der universellen Ganzheit wirkte noch fort, als er bereits mit der Realität im reinen zu sein meinte. Dies nämlich machte Olaf Stapledon zu dem Mystiker, der er war: daß er uns zutraute, jede biologische und kulturelle Mauer niederzureißen, die uns daran hindert, unmittelbaren sinnlichen Kontakt mit dem Universum zu bekommen. Daß man ihn dennoch als einen Pessimisten bezeichnete, ist nur zu verständlich. Die technokratische Welt, in der wir existieren, möchte uns glauben machen, daß es ein Ende der Ideologien gibt. Sie bemüht sich darum, ein Drehbuch zu schreiben, in dem Überraschungen keinen Platz mehr haben. Die vielfältigen und komplizierten Zusammenhänge im Werk des Autors lassen jedoch ahnen, daß man ein Drehbuch für unerforschte Zeiten nicht entwerfen kann. Olaf Stapledon hat den Menschen in Bewegung gesetzt, und zwar in einem weitgespannten Raum und einem riesigen 493
Zeitabschnitt. Es ist an jedem einzelnen von uns, diese Bewegung aufrecht zu erhalten, in der Literatur und im Leben darauf zu deuten, daß der Mensch vor dem Hintergrund seiner Welt und in Wechselwirkung zu ihr einem fortwährenden Wandel ausgesetzt ist. Kein anderer Autor hat jemals mit mehr Nachdruck bewiesen, zu welcher Freiheit des Denkens und Fühlens sich Science Fiction aufschwingen kann, wenn sie sich auf das Zusammenwirken von Phantasie und kritischem Bewußtsein einläßt.
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Bibliografie
Eine Auswahl englischer Publikationen Der Erstdruck der mir bekannten Bücher erfolgte in London, einzige Ausnahme stellt der im Eigenverlag erschienene Gedichtband dar. Eine abschließende Ordnung des Nachlasses steht noch aus. Dichterisches Werk 1914: »Latter-Day Psalms« 1930: »Last and First Men« 1932: »Last Men in London« 1934: »Odd John« 1937: »Star Maker« 1942: »Darkness and the Light« 1944: »Sirius« 1944: »Old Man and New World« 1946: »Death into Life« 1947: »The Flames« 1950: »A Man Divided« 1976: »Nebula Maker« Es existieren zwei oder drei Auswahlbände mit Romanen des Autors, von denen mir »To the End of Time« den besten Einblick zu verschaffen scheint. Philosophisches Werk 1929: »A Modern Theory of Ethics« 1934: »Waking Worlds« 497
1939: »New Hope for Britain« 1939: »Philosophy and Living« 1939: »Saints and Revolutionaries« 1942: »Beyond the Isms« 1942: »Twentieth Century Authors« 1946: »Youth and Tomorrow« 1954: »The Opening of the Eyes« 1976: »Four Encounters« Darüber hinaus erschienen zahlreiche Artikel in Gelehrtenzeitschriften wie »Mind« und »Philosophy«.
Deutsche Publikationen »Last and First Men« – als »Die Letzten und die Ersten Menschen«: München 1983, Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur 06/21, deutsch von Kurt Spangenberg »Star Maker« – als »Star Maker«: Friedrichsdorf-Hannover 1966, Sonderdruck der Buchgemeinschaft Transgalaxis, deutsch von Thomas Schluck – als »Der Sternenmacher«: München 1970, Heyne Science Fiction 3706/07, Neuauflage unter 3706, deutsch von Thomas Schluck – als »Der Sternenschöpfer«: München 1982, Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur 06/5, deutsch von Thomas Schluck »Odd John« – als »Die Insel der Mutanten«: München 1970, Heyne Science Fiction 3214, Neuauflage unter 3526, deutsch von Walter Brumm 498
»Sirius« – als »Sirius«: München 1975, Heyne Science Fiction 3471, deutsch von Ilse Pauli In Vorbereitung für die vorliegende Reihe »Bibliothek der Science Fiction Literatur«, befinden sich Neuausgaben von »Odd John« und »Sirius«. Texte zum Werkverständnis Davenport, Basil: »The Vision of Olaf Stapledon«. In: Basil Davenport (Hrsg.): »To the End of Time«. New York 1953. Eschmann, Wilhelm Ernst: »Die Großen Gehirne. Vom Computer in Utopie und Wirklichkeit«. In: »Merkur 19« (1965), Heft 209, S. 720 bis 735. Moskowitz, Sam: »Olaf Stapledon: Cosmic Philosopher«. In: Sam Moskowitz: »Explorers of the Infinite. Shapers of Science Fiction«. Cleveland-New York 1963. Smith, Curtis C: »Olaf Stapledons Zukunftshistorien und Tragödien«. In: Eike Barmeyer (Hrsg.): »Science Fiction. Theorie und Geschichte«. München 1972. Neben einer Anzahl von Notizen und Kommentaren in diversen Lexika und Fachbüchern dienten diese Arbeiten auch als Material für das Nachwort. Copyright © 1983 by Michael Nagula
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