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Seewölfe 244 1
John Curtis 1.
Der Morgen graute, und ein fahler Silberstreif hob sich am Horizont ab. Die „Isabella“ wiegte sich auf der langen Dünung, langsam hob und senkte sich der Rumpf des Dreimasters. Der Seewolf knirschte vor Zorn und vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen, als er einen Blick auf seine beiden Söhne Hasard und Philip warf. Angekettet wie er, waren sie am Besanmast in sich zusammengesunken und saßen zusammengekauert an Deck. Die Eisenfesseln ließen ihnen zwar diese Bewegungsfreiheit, aber genau wie beim Seewolf, den Don Bosco am Ruder der „Isabella“ angekettet hatte, machten sie jeden Fluchtversuch von vornherein unmöglich. Die beiden Söhne des Seewolfs waren nach einer langen Nacht, in denen ihr Vater immer wieder versucht hatte, ihnen Mut zu machen, vor Erschöpfung in ihren Eisen eingeschlafen. Aber jetzt, das wußte der Seewolf, nahte die Stunde der Entscheidung. Irgendwann nach Sonnenaufgang würde der Mahlstrom einsetzen, und dann, das hatte dieser verfluchte Tortuga-Pirat ihm gesagt, würden seine Söhne auf dem Vorkastell der „Isabella“ angeschlossen werden. Und er, der Seewolf, würde die „Isabella“ durch den Felsendom steuern müssen. Ihm blieb gar keine andere Wahl, denn anderenfalls starben nicht nur seine Söhne mit ihm, sondern auch alle seine Männer, die sich auf der Galeere „Conchita“ befanden. Angekettet wie er, fristeten sie ihr Dasein als Rudersklaven Don Boscos. Und Hasard wagte gar nicht darüber nachzudenken, was dieser Nuno, dieser brutale und hirnlose Glatzkopf, inzwischen alles mit ihnen angestellt hatte, um sie zu quälen, zu demütigen, zu zerbrechen. Der Seewolf warf einen Blick über die „Isabella“. Am Großmast stand Jan Ranse, der Steuermann Jean Ribaults, angekettet wie er. Und am Fockmast auf dem Vorderkastell erblickte er den Franzosen, ebenfalls angekettet. Die beiden waren
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Don Bosco in die Falle gegangen, sie hatten keine Chance gehabt, ihm zu entkommen. Und was schlimmer war, er, der Seewolf, hatte sich ebenfalls von diesem Unmenschen hereinlegen lassen, indem er den Franzosen dazu verleitete, ihm einige Dinge zu verraten, die Don Bosco brennend interessierten. Weder Jean Ribault noch er hatten geahnt, daß Don Bosco das alles eingefädelt hatte, daß er sie belauschte, sie aber in dem Glauben ließ, für einige Minuten allein zu sein. Und nur so war es auch für Don Bosco möglich gewesen, das mit den Bewohnern der Schlangeninsel verabredete Signal zu geben, daß an Bord der „Isabella“ alles in Ordnung sei und sie am nächsten Morgen mit Einsetzen des Mahlstroms in die Bucht der Schlangeninsel einlaufen würden. Damit hatte der Tortuga-Pirat erreicht, daß niemand an der Schlangeninsel auf einen Überfall gefaßt sein, daß niemand daran denken würde, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um einen solchen Überfall abzuwehren. Wieder knirschte der Seewolf mit den Zähnen. Er sah, wie Jean Ribault ihm zuwinkte, und er erwiderte den Gruß. Dem Seewolf war klar, daß sowohl der Franzose als auch sein Steuermann längst erkannt hatten, in welcher Lage der Seewolf und in welcher Gefahr die Schlangeninsel sich befand. Daß sie aber ebenfalls wußten, daß es aus dieser Situation -jedenfalls im Moment nicht - keinen Ausweg gab. Noch nie war der Seewolf einem so gerissenen Gegner wie diesem Don Bosco begegnet. Und noch nie hatte jemand mit vergiftetem Wasser und einem teuflisch geschickt eingeschleusten Mann die ganze „Isabella“-Crew, ausgenommen den alten O’Flynn und seinen Sohn Dan, total ausgeschaltet. Zwar hatten der Alte und sein Sohn dem heransegelnden und seines leichten Sieges gewissen Piraten noch ein erbittertes Gefecht geliefert und sogar seine Karacke versenkt, aber dann waren auch sie der Übermacht erlegen. Der Silberstreif am Horizont war etwas heller geworden. Die Sonne schickte ihre ersten Vorboten über die Kimm, die ihren
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baldigen Aufgang anzeigten. Den Beginn eines Tages, wie der Seewolf ihn höllischer nie erlebt hatte. Hasard dachte an Carberry, dem die Flucht von der „Isabella“ gelungen war. Wo mochte sein Profos zu dieser Stunde stecken? War es ihm gelungen, Hilfe für die „Isabella“ und die Schlangeninsel zu mobilisieren? Der Seewolf wußte es nicht, aber er kannte Carberry. Der würde das Unmögliche möglich machen, um sie alle wieder herauszuhauen. Anschließend aber war dieser Don Bosco ein toter Mann, das stand fest. Einer der Zwillinge rührte sich am Fuß des Besanmastes. Dadurch weckte er auch den anderen, der mit ihm zusammengeschlossen war. Die beiden streckten sich, dann spürten sie wieder ihre Eisenfesseln und waren im Nu hellwach. Hasard sah sie an, dann blickte er sich um, aber es war weit und breit kein Pirat zu sehen. Der Seewolf nutzte den Augenblick. „Hört zu, ihr beiden“, sagte er, und die Zwillinge sahen sofort zu ihm herüber, „dieser Don Bosco wird euch gleich auf dem Vorderkastell anketten lassen. Seid ganz ruhig, es passiert euch nichts. Man wird die heransegelnde „Isabella“ durch die Spektive von der Schlangeninsel beobachten, und man wird schon bald herausfinden, daß da etwas nicht in Ordnung ist. Stellt euch vor allen Dingen so, daß man eure Ketten gut sehen kann, sagt das auch Jean Ribault, aber nur, wenn niemand in der Nähe ist. Man wird sehen, daß ihr Fesseln tragt, man wird keinesfalls auf die „Isabella“ feuern. Das will dieser Don Bosco ja auch damit erreichen, daß er euch als Galionsfiguren benützt. Auf der Schlangeninsel werden wir weitersehen. Etwas ganz Wichtiges weiß dieser Dreckskerl nämlich nicht ...“ „Du meinst ...“ Aber der Seewolf bedeutete seinem Ältesten sofort zu schweigen und nickte lediglich. „Er wird sich noch wundern“, fügte er hinzu und sah zu seiner Erleichterung, wie die beiden Zwillinge zu grinsen begannen. Die Kerlchen waren schon in Ordnung. Sie
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hatten sich weiß der Himmel hervorragend gehalten. Wie echte Seewölfe, obwohl sie erst ganze zehn Jahre alt waren. * Der Seewolf grinste zurück, dann schwiegen sie, denn jeden Moment konnte dieser Don Bosco auf dem Achterdeck erscheinen. Der Seewolf behielt recht. Don Bosco kreuzte auf, aber ganz anders, als Hasard gedacht hatte. Der Tortuga-Pirat hatte das Achterkastell verlassen und trat an Deck. Ein höhnisches Grinsen spielte um seine Lippen, als er zum Steuerbordniedergang, der aufs Achterkastell führte, hinüberging. Aber dann blieb er plötzlich stehen, seine Augen verengten sich. Er starrte den Mann an, der am Steuerbordniedergang lag und schlief. Neben sich einen Krug Wein, der zudem noch umgefallen war und den eine Weinlache umgab. Schon wollte Don Bosco sich auf den Schlafenden stürzen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Nein, das hatte Zeit. Erst mußte er feststellen, ob der Seewolf und seine beiden Söhne bereits wach waren oder ob die beiden Jungens noch in ihren Ketten schliefen. Er schlich sich zum anderen Niedergang an Backbord. Dann enterte er auf, aber so leise, daß nicht einmal der Seewolf es hörte. Vorsichtig schob er sich soweit empor, daß er gerade aufs Achterdeck blicken konnte. Und so kriegte er gerade noch mit, wie der Seewolf und seine beiden Söhne sich angrinsten. Don Bosco schaltete sofort. Sie hatten sich also unterhalten. Vielleicht hatte der Seewolf den beiden sogar etwas verraten, was er, Don Bosco, unbedingt hätte wissen müssen! Und ausgerechnet der Mann, den er am Niedergang postiert hatte, damit er ihm jedes Wort berichten konnte, was auf dem Achterdeck gesprochen wurde, dieser Kerl lag dort und schlief seinen Rausch aus.
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Don Bosco lief rot an. Wie eine Woge überschwemmte ihn die Wut, denn er fühlte die Gefahr, die ihm drohte, fast körperlich. Aber noch schwankte er, was er tun sollte. Aus dem Seewolf kriegte er die Wahrheit sowieso nicht heraus. An den beiden Jungen konnte er sich nicht vergreifen, ohne seine beiden besten Geiseln zu gefährden und damit ein Druckmittel aus der Hand zu geben, das ihm auch auf der Schlangeninsel noch hervorragende, geradezu unschätzbare Dienste leisten konnte. Denn das wußte Don Bosco genau: Trieb er sein Spiel zu weit, dann brachte dieser schwarzhaarige Teufel es glatt fertig und riß sie alle mit sich ins Verderben. An diesem Punkt seiner Überlegungen richtete sich der ganze Zorn Don Boscos gegen den Mann, der am Steuerbordniedergang lag. Mit ein paar Schritten war der Pirat bei ihm. Ein derber Tritt weckte den Schläfer unsanft auf, und der Mann fuhr hoch. Aus verquollenen Augen blickte er Don Bosco an und begriff im ersten Moment gar nichts. „Hoch mit dir!“ schrie Don Bosco ihn an. „Dir werde ich zeigen, was es heißt, zu saufen und zu schlafen, wenn Don Bosco Wache befohlen hat!’ Dem Mann dämmerte jetzt, auf was er sich eingelassen hatte. Erkannte Don Bosco, und er wußte, daß ein Menschenleben für ihn nicht zählte. Das Gebrüll des Tortuga-Piraten hatte auch die anderen Piraten auf die Beine gebracht. Ebenfalls die beiden Wachen vom Hauptdeck eilten herbei. Auch sie musterten Don Bosco mit einem wilden Blick. „Ihr da“, herrschte er sie an, „habt ihr nicht gesehen, daß dieser Hundesohn sich betrunken hat und dann, statt meinem Befehl zu gehorchen, auf Wache eingeschlafen ist? Wo habt ihr eure Augen gehabt? Für jeden von euch zwölf Hiebe mit der Neunschwänzigen!“ Die beiden Wachen prallten zurück. Aber das half ihnen nichts, denn Don Bosco hatte schon zwei riesigen Kerlen gewinkt, und die packten sie.
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„Bindet sie an die Wanten. Vorwärts!“ kommandierte er. Sein Befehl wurde sofort erledigt. Doch als die beiden ihre Neunschwänzigen aus den Gürteln reißen wollten, stoppte Don Bosco sie. „Halt! Erst zu diesem Dreckskerl hier. Bindet ihn!“ Erst in diesem Augenblick begriff der Mann, was ihm drohte. Er fuhr lange genug unter Don Boscos Befehl, er wußte, wie Don Bosco derartige Vergehen ahndete. Er war verloren, so oder so. Aber wenn es den beiden erst gelang, ihn zu binden, dann hatte er nicht mehr die geringste Chance. Er warf einen gehetzten Blick zur Schlangeninsel hinüber. Ein guter Schwimmer konnte sie durchaus erreichen. Dabei dachte er allerdings weder an die Haie noch an den Mahlstrom, der bald einsetzen mußte. Er entschloß sich schnell. Mit einer blitzartigen Bewegung fuhr er herum, packte Don Bosco und schleuderte ihn den beiden Riesen entgegen, die sich eben auf ihn stürzen wollten. Dann rannte er die wenigen Stufen zum Achterdeck hinauf, und im nächsten Moment, noch während Don Bosco von seinen beiden Henkersknechten aufgefangen wurde, sprang er über Bord. Der Seewolf sah das, er hörte das wüste Gebrüll, mit dem diese Flucht begleitet wurde, und dann erschien Don Bosco auch schon auf dem Achterdeck. Er stürzte zum Steuerbordschanzkleid, riß seine Pistole hervor, zielte auf den Mann, der eben wieder auftauchte und schoß. Er traf jedoch nicht, und der Mann tauchte sofort wieder. Don Bosco stieß einen Fluch aus, und schon wollte er den Befehl geben, ein Boot abzufieren, um den Fliehenden wieder einzufangen, als ihm das Wort plötzlich in der Kehle steckenblieb. Dort, wo der Flüchtling eben wieder getaucht war, erschien unter der Wasseroberfläche ein großer, grauer Schatten, dem sogleich ein zweiter folgte. Über Don Boscos Züge ging ein teuflisches Grinsen. Er deutete auf die See,
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die von einer langen Dünung durchzogen wurde. „Dieser Hund kriegt genau das, was ich ihm zugedacht habe!“ sagte er, und die beiden Hünen traten neben ihn. Auch sie grinsten und bleckten bereits die Zähne in der Vorfreude auf das Schauspiel, das sich ihren Augen in den nächsten Sekunden unweigerlich bieten würde. Aber sie warteten vergebens, nichts geschah: Weder tauchte der Verurteilte wieder auf, noch sahen sie von den Haien auch nur die Rückenflosse. Don Boscos Gesicht überlief es wie Ärger. „Die Haie haben ihn unter Wasser geschnappt und sind mit ihrer Beute sofort abgetaucht!“ sagte er. „Los, verschwenden wir keine Zeit mehr auf diesen Dreckskerl, verpaßt diesen beiden anderen Hundesöhnen jetzt ihre Hiebe!“ Enttäuscht, daß ihnen das makabre Schauspiel, wie ein Mann von Haien angefallen und zerrissen wurde, entgangen war, enterten sie zum Hauptdeck ab. Sie ließen ihre Wut an den beiden Unglücklichen aus, die bereits an den Backbordwanten hingen. Don Bosco trat auf den Seewolf zu. Dicht vor ihm blieb er stehen und starrte ihn an. „Du planst irgendeine Teufelei, Seewolf!“ sagte er. „Ich sehe dir das an, und ich habe auch gesehen, wie du deine Söhne angegrinst hast. Ihr habt etwas vor, und vielleicht könnte ich es aus den beiden da herausholen. Aber ich werde mich damit jetzt nicht mehr aufhalten, denn viel Zeit haben wir nicht mehr. Aber ich warne dich. Hüte dich, oder du und deine Söhne werdet es bereuen. Jener Mann, den ich dort unten am Niedergang postiert hatte, damit er mir melden konnte, was zwischen euch gesprochen wurde, hat auf Wache geschlafen. Dafür haben ihn die Haie zerrissen, zwei prächtige, große Burschen sage ich dir. Bringe mich nur nicht erst auf die Idee, daß deine beiden Söhne oder auch nur einer von ihnen vielleicht ebenfalls eine prächtige Beute für die Haie abgeben könnten!“ Don Bosco stieß ein teuflisches Lachen aus, dann wandte er sich ab und winkte die
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beiden Hünen heran, die eben mit dem Auspeitschen der beiden Piraten fertig geworden waren und die Delinquenten wieder von den Wanten losgebunden hatten. „Holt die beiden Söhne des Seewolfs. Schließt sie auf dem Vorderkastell, nein, auf dem Galionsdeck an. Sie sollen die ersten sein, die sterben, falls der Seewolf die ‚Isabella’ auf ein Riff steuern sollte, um uns zu verderben!“ Die beiden nickten, dann stiegen sie zum Achterdeck empor, schlossen die Zwillinge los und trieben sie zum Vorschiff hinüber. Zähneknirschend mußte der Seewolf das mit ansehen, aber was in diesem Moment hinter seiner Stirn vorging, das bedeutete für Don Bosco nichts Gutes. Nur eines ahnten beide Männer in diesem Augenblick noch nicht: Die Flucht des von Don Bosco zum Tode Verurteilten sollte für sie alle noch ungeahnte Folgen haben. * Genau zwanzig Minuten vor Sonnenaufgang setzte der Mahlstrom ein. Erst war es nur, als ob etwas an der „Isabella“ zu zerren begann. Der Dreimaster schwoite um die Ankertrosse, bis sein Heck zur Schlangeninsel zeigte. Dabei straffte sich die Ankertrosse. Der Seewolf spürte die Bewegung seines Schiffes, und wenig später tauchte Don Bosco bei ihm auf. „Der Mahlstrom hat eingesetzt, Seewolf! Du übernimmst jetzt das Kommando, aber ich werde neben dir stehen, vergiß das nicht. In meinem Gürtel steckt eine geladene Pistole, ich werde immer noch Zeit finden, dir den Garaus zu machen, wenn du uns auflaufen läßt. Merk dir das gut. Und neben deinen Söhnen steht ebenfalls ein zuverlässiger Mann, auch er wird dafür sorgen, daß deine Brut nicht überlebt, wenn etwas geschieht. Pablo auf der „Conchita“ hat von mir strikte Order, alle deine Männer zu töten, wenn du uns in eine Falle lockst, Seewolf.“ Don Bosco sah ihn aus schmalen Augen an, und deutlich erkannte der Seewolf die
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Furcht und das Mißtrauen, die ihn erfüllten, in seinen Zügen. „Ich sehe Angst in deinen Augen!“ höhnte er. „Und du hast recht, Don Bosco. Es ist nicht leicht für einen Mann, den man ans Ruder kettet, ein Schiff wie dieses im Mahlstrom durch den Felsendom zu steuern. Vielleicht schaffe ich das, aber ich rate dir, stelle deine Leute am Ankerspill bereit, denn sie müssen Anker werfen, sobald ich es ihnen befehle, oder wir sind verloren!“ Don Bosco schloß seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Du glaubst, daß ich so dumm sein werde, dich loszuketten!“ sagte er. „Aber du täuschst dich, Seewolf. Ich denke nicht daran, du bist auch angekettet noch gefährlich genug. Entweder du schaffst es, die ‚Isabella’ heil in die Bucht zu steuern, oder wir sterben alle. Alle, Seewolf, daran solltest du denken ...“ „Ich habe das schon oft genug gehört, Don Bosco. Dir rieselt ja förmlich die Angst aus den Hosen. Ich habe es satt. Laß den Anker hieven, dann setzt die Segel, aber beeilt euch!“ Der Seewolf lauschte dem Ton, der jetzt eben über die See zu ihnen drang. Es war wie ein hohles Brausen, das von der Insel auszugehen schien, und es verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. „Hörst du es, Don Bosco?“ fragte der Seewolf, und seine Augen begannen zu glitzern. „Ich sage dir, gib deine Befehle, oder wir kriegen den Anker nicht mehr aus dem Grund!“ Der Seewolf hatte recht, die Strömung, die nun plötzlich einsetzte und immer stärker wurde, zerrte an dem Schiff. Don Bosco hetzte seine Männer ans Ankerspill, dann begannen sie unter seinem wüsten Gebrüll, den Anker zu hieven. Aber schon mußten sie die Spillspaken doppelt besetzen, so viel Kraft kostete es bereits, das Schiff gegen die Strömung über den Anker zu ziehen. Dann kam er frei, und es war, als ob ein Ruck durch die „Isabella“ ging. „Setzt die Segel!“ brüllte nun auch der Seewolf den Piraten an. „Setzt jeden
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Fetzen, den die Masten tragen! Wenn wir nicht schneller sind als die Strömung, dann haben wir kein Ruder im Schiff und fahren zur Hölle!“ Das wirkte, die Piraten enterten auf, und sie arbeiteten wie die Besessenen. Daß sie ihr Handwerk verstanden, das sah der Seewolf auf den ersten Blick, und er quittierte es mit Erleichterung, denn die Situation wurde jetzt wirklich kritisch. Immer noch trieb die „Isabella“, aber sie trieb rückwärts, es war auch für Hasard völlig unmöglich, Ruder ins Schiff zu bringen. Er spürte den Wind, der mit dem Mahlstrom aufkam, ebenfalls ein Phänomen, das bisher niemand zu erklären gewußt hatte, das aber jedesmal auftrat. So zuverlässig wie der Mahlstrom selber. Hasard spürte den Druck, den der Wind auf die Segel auszuüben begann. Er spürte auch, wie die „Isabella“ sich gegen den Strom stemmte. „An die Brassen!“ brüllte er den Piraten zu, und er sah, wie Jean Ribault, der Franzose, ihn anstarrte. „Ho, holt durch!“ schrie der Seewolf, denn die „Isabella“ schwang herum, und es kam nun darauf an, daß der Wind so schnell wie möglich voll in die Segel blies und dem Schiff Fahrt verlieh. Die „Isabella“ mußte schneller sein als die Strömung, wenn sie aufs Ruder reagieren sollte. Das hohle Brausen des Mahlstroms hatte sich zu einem infernalischen Gurgeln, Zischen und Heulen gesteigert. Deutlich sahen die Piraten den weißen sprühenden Gischt, der den Felsendom erfüllte und ihn zu einer Hölle aus Wind und Wasser und tosender Finsternis werden ließen. Die Strömung des Mahlstroms hatte die „Isabella“ erfaßt und riß den Dreimaster unabänderlich auf den Felsendom zu. Der Wind, der in ihrer Takelage heulte, beschleunigte die Fahrt des großen Schiffes auf eine Weise, wie die Piraten das noch nie erlebt hatten. Einige von ihnen bekreuzigten sich, andere warfen sich einfach an Deck und klammerten sich irgendwo fest. Der Seewolf sah das, und Zorn loderte in ihm auf. Er wußte, daß Jean Ribault und
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seine beiden Söhne sich auf dem Vorschiff befanden. Ging etwas schief, dann waren sie tot, noch ehe die Katastrophe ihn und diesen dreimal verfluchten Don Bosco erreichte. „Scheuch deine Memmen ans Spill, du Bastard!“ fuhr er Don Bosco an, „oder du erlebst die nächste Viertelstunde nicht mehr. Wenn der Anker nicht sofort fällt, sobald ich es befehle, dann wirft uns der Strom auf ein Riff!“ Don Bosco begriff. Er hastete durch das Heulen und Tosen zum Vorschiff hinüber, während der Seewolf wie ein Baum am Ruder stand. Die Piraten waren ihm in diesem Moment völlig gleichgültig, auch, was danach geschehen würde, wenn sie den Felsendom passiert hatten. Jetzt galt es, die „Isabella“, die viel zu spät den Anker gelichtet und die Segel gesetzt hatte, heil durch die Passage zu bringen. Hasard umklammerte das Ruderrad der „Isabella“ mit seinen Fäusten. Er wußte, daß diese Passage nicht so werden würde wie sonst, dafür hatte diese verfluchte Piratenbrut gesorgt. Aber er nahm sich in diesem Augenblick auch noch etwas anderes vor. Don Bosco würde das Geheimnis der Passage nicht bekommen, eher würde er ihn töten! Don Bosco hatte die Männer ans Spill gescheucht und die beiden Riesen, die die Wachen an den Backbordwanten ausgepeitscht hatten, als Aufpasser daneben gestellt. Danach hastete der Pirat zum Achterschiff zurück, das Grauen im Nakken, sooft er sich umdrehte und das brodelnde Inferno des Felsendoms sah, dem die „Isabella“ nun entgegenraste. Durch nichts mehr aufzuhalten, unabänderlich dem Können und den Fäusten des Seewolfs ausgeliefert. Don Bosco hatte dergleichen noch nie erlebt. Himmelhoch türmte sich der Felsendom vor der „Isabella“ auf. Ein Strom von gurgelndem, strudelndem pechschwarzen Wasser schoß ihm entgegen und verschwand in einer Höhlung, die Gigantenfäuste in die Felsen geschlagen haben mußten.
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Don Bosco klammerte sich am Ruderhaus fest. Das Tosen, Zischen und Gurgeln war jetzt so laut, daß es jede Unterhaltung unmöglich machte. Der Wind, der die „Isabella“ zusätzlich vorwärts trieb, fuhr heulend durch den Felsendom. Die „Isabella“ schien mit jeder Sekunde schneller zu werden. Sie raste auf die dunkle Höhlung zwischen den Felsen zu, und genau in dem Moment, in dem sie in der Höhlung verschwand, als Gischt ihr Vorschiff übersprühte und als sich um Schiff und Männer die Finsternis einer tobenden Hölle legte, schloß Don Bosco unwillkürlich die Augen. Das war der Augenblick, auf den der Seewolf gewartet hatte. Die ganze Zeit hatte er den Piraten nicht aus den Augen gelassen, indem er ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Aber jetzt, jetzt kam der Augenblick, in dem Don Bosco das Geheimnis der Passage sehen mußte, wenn er vor Angst nicht halb von Sinnen war, das aber wollte der Seewolf um jeden Preis verhindern. Als die „Isabella“ im Toben, im Inferno des Mahlstroms verschwand und wie von Gigantenfäusten durch den Felsendom gerissen und gepreßt wurde, schlug der Seewolf zu. Während seine Rechte das Ruderrad umklammerte und er seine Füße auf die Planken des Achterdecks stemmte, sauste die Linke des Seewolfs mit der Eisenschelle an ihrem Handgelenk, von wo aus sie eine Kette mit dem Ruder verband, auf den Schädel des Piraten nieder. Don Bosco zuckte zusammen. Einen Moment stierte er den Seewolf aus erlöschenden Augen an, dann brach er neben dem Ruderhaus zusammen. Niemand hatte davon in diesem Moment etwas bemerkt, denn die „Isabella“ jagte jetzt mit einer wahren Höllenfahrt durch den Felsendom. Dann aber kam das Riff. Der Seewolf erkannte es an dem Gischt, der himmelhoch zu steigen schien, und an der donnernden Brandung, in der sich der Mahlstrom an den scharfen Unterwasserfelsen brach. Es war der Moment, in dem sich entscheiden mußte, ob die Fahrt der
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„Isabella“ groß genug war, daß sie rasch genug aufs Ruder reagierte. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er der Brandung entgegen. Schon oft hatte er mit seinem Dreimaster die Einfahrt in die Schlangenbucht gemeistert, aber jedesmal war es dieser Moment, der über Leben und Tod entschied. Das Ruder zu früh hart Backbord zu legen bedeutete, an den Felsen der Passage zerschmettert zu werden. Wurde jedoch nur um einen winzigen Moment zu spät Hartruder gelegt, dann zerschellte das Schiff samt Besatzung unweigerlich auf den Klippen des Höllenriffs. Hasard wartete. Dann legte er Ruder. Mit der ganzen Kraft, die in seinem durch viele Kämpfe trainierten Körper steckte, griff er in die Speichen des Ruderrades und zwang es herum. Aus schmalen Augen starrte er auf das Riff und auf das Vorschiff der „Isabella“. Dann atmete er auf — der Dreimaster schwang herum, jagte an der donnernden Brandung des Riffs vorbei in die Bucht hinein. „Laßt fallen Anker!“ überschrie der Seewolf das Heulen, Tosen und Gurgeln, das die „Isabella“ immer noch umgab, und die Piraten befolgten seinen Befehl augenblicklich. Die Ankertrosse rauschte aus. Zwanzig Faden, dreißig Faden, vierzig, fünfzig — dann faßte der Anker. Die „Isabella“ schwoite herum, ein Ruck ging durch das Schiff, daß der Seewolf schon glaubte, die Ankertrosse würde brechen, aber sie hielt. Schließlich lag die „Isabella“ still, und die Piraten gebärdeten sich wie von Sinnen. Aber das war auch der Augenblick, in dem Don Bosco das Bewußtsein wiedererlangte. Er hielt sich den Schädel, stierte den Seewolf an, während er sich mühsam und stöhnend erhob. „Du Hund!“ sagte er nur und sonst kein Wort. Aber in diesem einen Wort lag eine so wilde Drohung, daß sogar der Seewolf erschauerte. Er versetzte Hasard einen Tritt und sah sich wild um. Er hatte sofort begriffen, warum der Seewolf ihn niedergeschlagen hatte. Er sah eine große Galeone, die unweit der „Isabella“ ankerte
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und sich durch den Mahlstrom parallel zu ihr ausgerichtet hatte. Von der „Le Vengeur II.“ starrten Menschen zur „Isabella“ hinüber, schweigend, ohne der geringsten Freude Ausdruck zu verleihen. „Du sollst mit eigenen Augen sehen, Seewolf, was jetzt geschieht. Und anschließend, anschließend befasse ich mich dann mit dir!“ Don Bosco verschwand, gleichzeitig schallten laute Befehle über Deck, und der Seewolf erstarrte. Er konnte nicht glauben, was er dennoch deutlich hörte. 2. Auf der Schlangeninsel hatte man die „Isabella“ keinen Augenblick lang aus den Augen gelassen, solange es das Tageslicht erlaubte. Als später die Signalrakete in den Nachthimmel stieg, hatten alle auf der Schlangeninsel aufgeatmet. Offenbar befand sich an Bord der „Isabella“ doch alles wohl, auch wenn das Verhalten des Seewolfs, weder ein Boot auszusetzen und zur Insel zu pullen, noch mit der „Isabella“ auf Rufweite an die Insel heranzusegeln, solange der Mahlstrom noch nicht eingesetzt hatte, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war, immerhin merkwürdig blieb. Man tröstete sich jedoch damit, daß Jean Ribault das verabredete Zeichen gegeben hatte und somit am nächsten Morgen alles seine natürliche und wohl auch harmlose Erklärung finden würde. Der heraufdämmernde Morgen brachte dann den voller Spannung erwarteten Augenblick. Der Mahlstrom setzte ein, für die Bewohner der Schlangeninsel eine gewohnte Sache, wenn auch immer wieder ein faszinierendes Schauspiel, zumal es keine Erklärung für dieses in der ganzen Karibik einmalige Phänomen gab. Die „Isabella“ lichtete den Anker, wenn auch nicht mit der sonst und aus früheren Jahren der Heimkehr zur Schlangeninsel gewohnten Schnelligkeit, setzte Segel und rauschte auf den Felsendom zu. Arkana, die Schlangenpriesterin, saß an diesem Morgen gemeinsam mit Karl von
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Hutten, dem Miteigentümer der „Le Vengeur II.“ Jean Ribaults, in einem der Felsennester des Felsendoms und beobachtete durch ein Spektiv die heransegelnde „Isabella“. Sie wußte nicht, warum, aber trotz des mit Ribaults vereinbarten Signals hatte sie die Nacht voller Unruhe verbracht. Irgendetwas stimmte nicht — sie spürte das, und in der Abgeschiedenheit ihres Schlangentempels, tief im Innern der Insel, war sie von düsteren Bildern gequält worden. Auch die Zeichen des Schlangengotts, um die sie mit gerungen hatte, waren düster und wenig freundlich gewesen. So war Arkana noch vor dem Morgengrauen zusammen mit Karl von Hutten den Felsendom hinaufgestiegen, auf einem Pfad, den sie und ihre Schlangenkriegerinnen in mühsamer Arbeit in die Felsen geschlagen hatten. Arkana bewegte sich unruhig. Sie setzte das Spektiv ab und reichte es von Hutten. „Mir ist, als sähe ich den Seewolf am Ruder der ‚Isabella’ stehen“, sagte sie mit dumpfer Stimme. „Aber er steht nicht da wie sonst. Und neben ihm meine ich einen Mann zu sehen, den ich nicht kenne. Beeil dich, wenn die ,Isabella` ihren Kurs ändert und direkt auf den Felsendom zuläuft, dann wird dir die Sicht auf das Achterschiff durch die Segel versperrt!“: Karl von Hutten nahm das Spektiv. Er war ein schlanker, braunhäutiger Mann, zu dessen durch und durch indianischem Aussehen die langen blonden Haare einen eigenartigen Gegensatz bildeten. Sein exotisches Aussehen fand seine Ursache darin, daß er der Sohn einer indianischen Häuptlingstochter war. Auch Karl von Hutten schüttelte nach einer Weile den Kopf. „Du hast recht, Arkana, es ist zweifellos der Seewolf, der dort auf der ‚Isabella’ am Ruder steht. Aber den Mann neben ihm kenne auch ich nicht. Und dann habe ich noch etwas bemerkt: Vorne, am Fockmast, steht Jean Ribault, mein Freund. Und noch weiter vorne meine ich die beiden Söhne des Seewolfs gesehen zu haben. Hasard würde aber nie dulden, daß sie sich beim
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Anlaufen des Felsendoms im Mahlstrom dort aufhalten. Das Galionsdeck ist beim Einlaufen in den Felsendom ein geradezu lebensgefährlicher Ort für sie!“ Von Hutten starrte zur „Isabella“ hinüber. Auch ihn beschlichen jetzt ungute Vorahnungen. Noch einmal hob er das Spektiv ans Auge, und Arkana ließ ihn gewähren, obgleich sie bereits die Hand nach dem Instrument ausgestreckt hatte. Sie kannte die scharfen Augen von Huttens. Der dunkelhäutige Mann blickte lange durch das Spektiv. Unterdessen segelte die „Isabella“ heran, sie lief schon im Mahlstrom mit beachtlicher Geschwindigkeit, die sich durch den heulenden Wind, der ihre Segel prall bis auf den letzten Fetzen Tuch füllte, von Minute zu Minute erhöhte. Und dann zuckte er plötzlich zusammen. Arkana war das nicht entgangen. Sie faßte nach seinem Arm. „Was siehst du?“ fragte sie drängend, denn ein Gefühl, das sie noch nie zuvor erfahren hatte, breitete sich in diesem Moment in ihr aus. „Jean Ribault ist mit Ketten an den Mast geschlossen“, stieß er betroffen hervor. „Und die beiden Söhne des Seewolfs auf dem Galionsdeck tragen ebenfalls Eisen!“ Wieder hob er das Spektiv, denn er traute seinen Augen nicht. Und dann zuckte er erneut zusammen. „Arkana!“ stieß er hervor, „auch Jan Ranse ist angekettet. An Bord der ‚Isabella’ muß etwas Schlimmes, etwas Entsetzliches geschehen sein. Keiner der Seewölfe außer Hasard und seinen beiden Söhnen befindet sich an Bord der ,Isabella`! Wir sind einer Kriegslist zum Opfer gefallen, der Schlangeninsel droht Gefahr. Ich bin sicher, daß auch der Seewolf Ketten trägt! Ich muß sofort an Bord der ,Le Vengeur II.’!“ Er sprang auf und reichte Arkana das Spektiv. „Sieh selbst, du erkennst jetzt alles schon ganz deutlich. Bleib hier, sieh dir alles genau an, damit wir wissen, .was geschieht. Ich eile zur Bucht!“
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Karl von Hutten verließ das Felsennest. Geschmeidig stieg er den Pfad hinab, und wo es die Felsen erlaubten, begann er sich schneller zu bewegen. Aber er mußte achtgeben, denn der Pfad war steil und die Felsen wären schroff. Doch so sehr er sich auch beeilte, als er die Bucht erreichte und zur „Le Vengeur II.“ übersetzen wollte, war es zu spät. Die „Isabella“ hatte den Felsendom passiert, der Mahlstrom dröhnte zu Karl von Hutten herüber, und er sah, wie der Anker der „Isabella“ geworfen wurde. Der Dreimaster schwang herum, legte sich parallel zur „Le Vengeur II.“ in die Bucht, und Karl von Hutten beobachtete, wie wüste Gestalten über die Decks rannten, hörten, wie Befehle gebrüllt wurden, dann flogen die Geschützpforten der „Isabella“ hoch. Instinktiv warf von Hutten sich zu Boden. Auch er glaubte nicht, was er sah, doch dann sah er die Mündungsfeuer aus den 17-pfündigen Culverinen der „Isabella“ aus den dunklen Öffnungen der Stückpforten hervorstechen. Pulverqualm wölkte auf. Kanonendonner rollte über die Bucht und hallte von den Felsen wider. Die „Le Vengeur II.“ mußte die aus allernächster Nähe abgefeuerte Breitseite voll schlucken. Das große Schiff erbebte unter den Einschlägen, Splitter wirbelten davon,. der Großmast brach in sich zusammen und riß das laufende und stehende Gut des Fockmastes mit sich. Männer brüllten, aber in die Schreie hinein entluden sich die Drehbassen der „Isabella“ und spien Tod und Verderben über die Decks der „Le Vengeur II.“ Von Hutten lag wie erstarrt. Musketengeknatter drang zu ihm herüber dann entlud sich auch schon die zweite Breitseite. Sie traf die „Le Vengeur -II.“ wieder voll. Dadurch, daß sie aus allernächster Nähe abgefeuert worden war, zerfetzte sie einen Teil der Bordwand unterhalb der Wasserlinie der „Le Vengeur II.“ Andere Treffer ließen Brände aufflackern. Das Achterkastell zerbarst unter den Einschlägen der Culverinen der „Isabella“, und im Nu loderten auch dort
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zahlreiche Brände auf, die rasch um sich griffen. Wieder hallte das Siegesgeschrei der heimtückischen Angreifer über die Bucht. Wieder entluden sich die Drehbassen der „Isabella“ und zerhackten die Takelage der „Le Vengeur II.“, zerfetzten die Schanzkleider und mähten einige der Männer um, die eben über Bord springen und sich aus dieser Hölle an Land retten wollten. Von Hutten sprang auf. Zum Teil verdeckte die todwunde „Le Vengeur II.“ die Sicht auf die „Isabella“, aber dennoch sah er Jean Ribault am Fockmast stehen, sah, wie der Franzose sich in seinen Eisenfesseln aufbäumte, wie er an den Ketten zerrte. Von Hutten sah auch die beiden Söhne des Seewolfs. Wie wild rissen sie an ihren Ketten, aber sie hatten so wenig Erfolg wie der Franzose. Dann erwischte von Hutten endlich einen Blick auf den Seewolf. Hasard stand am Ruder seines Dreimasters. Bleich, die eisblauen Augen brannten in ihren Höhlen. Er riß nicht an seinen Ketten, sondern starrte nur zur „Le Vengeur II.“ hinüber, in die eben die dritte Breitseite der „Isabella“ einschlug. Und diese Breitseite, abgefeuert aus acht siebzehnpfündigen Culverinen mit überlangen Rohren, brachte ihr das Ende. Der Rumpf der „Le Vengeur II.“ platzte auf, die Planken wirbelten davon. Eine grelle, rotgelbe Stichflamme schoß aus ihrem Rumpf hervor. Der Bug der „Le Vengeur II.“ sackte weg, die Galeone krängte nach Steuerbord, eine Rah polterte an Deck. Langsam hob sich das Heck aus dem Wasser der Bucht, dann glitt sie in die Tiefe. Für einen Moment noch war ihr dunkler Schatten im klaren Wasser zu sehen, dann war auch das vorbei. Ein gewaltiger Strudel begann über der Untergangsstelle zu kreisen, er zog alles in die Tiefe, was in seinen Bereich geriet. Luftblasen schossen an die Oberfläche. zerplatzten mit einem schmatzenden Laut. Ein paar Trümmer taumelten empor, sprangen hoch und fielen ins Wasser der Bucht zurück.
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Dann hörte man nur noch das wilde Geheul der Piraten, ihr lautes Geschrei über den vermeintlichen Sieg, den sie errungen zu haben glaubten. * Arkana stand wie erstarrt. Aus dem Felsennest hatte sie zunächst die heransegelnde „Isabella“ beobachtet, auch ihr Einlaufen in den Felsendom. Anschließend war Arkana auf die andere Seite des Felsens geeilt, auf einem Pfad, den ihre Schlangenkriegerinnen ebenfalls in den grauen Stein gehauen hatten. Und von dort war sie Zeugin des ganzen Dramas geworden, das sich anschließend in der Bucht abspielte. Als die „Le Vengeur“ im dunklen Wasser der Schlangenbucht verschwand, als Menschen um ihr Leben schwammen, als die Culverinen der ankernden „Isabella“ endlich schwiegen und nur noch das wilde Siegesgeheul der Piraten an ihre Ohren drang, hatte sich ihre Erstarrung gelöst. Von einem Augenblick zum anderen war Arkana wieder die wilde, unversöhnliche Schlangenkriegerin, als die sie der Seewolf auf der Mocha-Insel vor vierzehn Jahren kennengelernt hatte. Ihre dunklen Augen begannen zu funkeln. Die Piraten würden sich nicht lange ihres Sieges freuen, soviel stand für Arkana fest. Es gab Arten, einen überlegenen Gegner zu überwinden, von denen sie keine Vorstellung hatten. Jetzt galt es, sich der Verwundeten anzunehmen, dann mußte sie den Seewolf, seine beiden Söhne, Jean Ribault und seinen Steuermann Jan Ranse befreien. Bei diesem Gedanken stutzte sie. Wo waren die anderen Männer des Seewolfs? Befanden sie sich ebenfalls an Bord der „Isabella“? Angekettet im Innern des Schiffes? Wahrscheinlich verhielt es sich so, und das erschwerte die Sache sehr. Arkana knirschte vor Zorn mit den Zähnen. Welch eine teuflische List! Selbst wenn es möglich gewesen wäre, wenn die „Le Vengeur II.“ von diesem brutalen und hinterhältigem Feuerüberfall nicht so völlig überrascht worden wäre, von Jean
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Ribaults und Karl von Huttens Männern hätte keiner das Feuer erwidern können. Denn die Seewölfe und der Franzose selbst befanden sich als Geiseln auf dem Schiff. Wieder überlegte Arkana angestrengt. Es würde eine Zeitlang dauern, bis sie in die Bucht hinabgestiegen sein würde. Aber sie konnte Tenua, ihrer Unterführerin, vertrauen. Tenua war klug, hatte Umsicht und Erfahrung auf jede Weise oft genug bewiesen. Sie würde das Richtige tun, davon war Arkana überzeugt. Vor allem aber würde sie daran denken, dem Gegner nicht zu zeigen, mit wie vielen Schlangenkriegerinnen er zu rechnen hatte. Und sie würde die Verwundeten in den Schlangentempel schaffen und dort verbergen, wie der Schlangentempel überhaupt ein ausgezeichnetes Versteck war, in dem man gemeinsam das weitere Vorgehen beraten konnte. Denn was getan werden mußte, konnte erst im Schutz der kommenden Nacht geschehen, bis dahin aber blieb noch genügend Zeit, alle notwendigen Vorbereitungen gründlich zu treffen. Arkana spähte abermals zur „Isabella“ hinab. Das Deck wimmelte von Piraten, üblen Schlagetots und Schnapphähnen, das zeigte ihr das Spektiv überdeutlich. Am anderen Ufer der Bucht sammelten sich die Männer der gesunkenen „Le Vengeur II.“, soweit sie das Massaker überlebt hatten. Sie schüttelten in ohnmächtigem Zorn die Fäuste gegen den Dreimaster des Seewolfs, aber Arkana erkannte gleichzeitig, wie ratlos sie in Wirklichkeit in diesem Augenblick waren. Eine Gruppe von Schlangenkriegerinnen tauchte auf, begann, die Verwundeten und auch die Toten zu bergen, soweit das möglich war. Arkana erkannte, wie klug und wie geschickt Tenua die ganze Aktion organisiert hatte — alles geschah überfallartig, blitzschnell und völlig überraschend für die Piraten. Zwar fuhren die Kerle an Deck der „Isabella“ herum, als plötzlich die Araukanerinnen am Ufer erschienen, glotzten zu den Mädchen mit den nackten Oberkörpern herüber, aber sie reagierten nicht schnell genug. Als der
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erste von ihnen die Muskete hochriß, um auf eine der Kriegerinnen zu feuern, waren die Schlangenkriegerinnen Arkanas mit den Verwundeten und Toten bereits wieder in den Felsen verschwunden. Wütendes Gebrüll folgte ihnen, und gleich darauf entluden sich nacheinander donnernd abermals etliche Culverinen der „Isabella“. Felsbrocken flogen umher, Pulverqualm wölkte auf. Dann ließ Don Bosco auch die Culverinen an Backbord der „Isabella“ abfeuern, die Drehbassen griffen ebenfalls in das Bombardement ein und zerhackten mit ihrem Eisenhagel die Holzwände der am Strand der Bucht aufgestellten Wohnhütten. Grollend rollte der Donner durch die Felsen der Insel, und wieder knirschte Arkana mit den Zähnen. Schon hob die Schlangenpriesterin den Fuß, um in die Bucht hinabzueilen, als ihr Blick wie zufällig noch einmal auf die vor dem Felsendom liegende See hinausfiel. Die Schlangenpriesterin zuckte zusammen. Dort nahte von See her ein Schiff, eine große Galeere, die zu ihren schnell vorund zurückschwingenden Rudern auch noch ein großes Segel führte. Auch an Deck dieses Schiffes befanden sich wüst aussehende Piraten, die ihre Entermesser, Schiffshauer und Säbel drohend schwangen. Ein paar Sekunden lang starrte Arkana die Galeere an. Das Deck war weitgehend geschlossen, die Ruderer vermochte sie nicht zu erkennen. Das konnten Galeerensklaven, das konnten aber auch Piraten sein! Eine für die Schlangeninsel tödliche Verstärkung, wenn es der Galeere gelang, die Passage durch den Felsendom zu meistern! Arkana zuckte abermals zusammen. Aber dann spannten sich ihre Züge, und ein wildes, triumphierendes Lachen brach aus ihr hervor. Diese Narren! dachte sie. Sie kennen den Mahlstrom nicht. Er zieht die Galeere zwar noch mit aller Gewalt, vielleicht reichte der Wasserstand sogar noch aus für das flachgehende Schiff. Aber hinter der Felsbarriere im Felsendom lauerte das Höllenriff!
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Arkana kannte sich aus. Nur zu Beginn des Mahlstroms war es möglich, mit einem Schiff am Höllenriff vorbeizusegeln, und das auch nur, wenn man genau die Stelle kannte, an der man Hartruder legen mußte. Die „Isabella“ war vom Seewolf gesteuert worden: Aber dort, auf der heranrauschenden Galeere, dort stand keiner der Seewölfe am Ruder, sondern ein großer, athletisch gebauter Mann, den sie nicht kannte. „Recht so murmelte Arkana. „Das Höllenriff wartet auf euch, und es wird für euch alle die Hölle sein!“ Sie warf noch einen Blick auf die Galeere, dann wartete sie, bis sie sicher sein konnte, daß es für die Piraten zu spät war, umzukehren, weil der Mahlstrom sie nun voll erfaßt hatte und sie auf den Felsendom zuzog. Mit ständig steigender Geschwindigkeit. Die Galeere würde zerschellen, so oder so! Und das würde der Moment werden, der Don Bosco aus seinem Siegestaumel herausreißen mußte. Dann aber, genau im richtigen Augenblick, würde sie, Arkana, mit ihren Schlangenkriegerinnen zur Stelle sein! Arkana verließ das Felsennest. Sie konnte nicht abwarten, bis die Galeere den Felsendom erreichte. Rasch und sicher bewegte sie sich den Pfad zwischen den hohen Felsen zur Bucht hinab. * Arkanas Beobachtung war richtig. Die Galeere „Conchita“ wurde vom Mahlstrom auf die Schlangeninsel nicht nur zugezogen, sondern zugerissen. Außerdem blies der Wind voll in das Lateinersegel, das Pablo an dem einzigen Mast in der Mitte der Galeere hatte setzen lassen. Zusätzlich traktierte Nuno die Seewölfe und die anderen Rudersklaven mit der Peitsche, ein Ersatz-Schlagmann gab mit der Trommel ein geradezu höllisches Schlagtempo an. Weitere Tortuga-Piraten standen im Ruderdeck. Sie hielten geladene Musketen in den Fäusten und drohten, jeden sofort niederzuschießen, der dieses wahnwitzige Tempo nicht mithielt.
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Die Seewölfe hatten zuerst geflucht, dann gemurrt und schließlich mit zusammengebissenen Zähnen geschwiegen, weil sie begriffen, daß Schweigen ihnen eine Menge Hiebe mit der Neunschwänzigen ersparte. Es hatte einfach keinen Sinn, sich von diesem Glatzkopf halb totschlagen zu lassen, sie wußten, daß sie ihre Kräfte in dem Moment brauchen würden, dringend brauchen, sobald sich ihnen auch nur die geringste Chance bot, diesem Schinder zu entkommen. Keiner von ihnen konnte sehen, wohin sie ruderten, aber an dem Höllentempo, mit dem die Galeere sich bewegte, an dem Brausen, das zu ihnen vom Felsendom herüberdrang, an den wilden Kommandos, die an Deck erschallten, erkannten sie dennoch, daß der Kurs zur Schlangeninsel führte. Ferris Tucker konnte sich nicht mehr beherrschen. Er brüllte auf vor Wut und versetzte Nuno, als der einmal zu dicht an ihn herankam, einen mit aller Kraft und blitzschnell geführten Stoß mit der Schulter. „Ihr Narren! Ihr glaubt, die Passage durch den Felsendom zu schaffen?“ brüllte er den auf ihn einschlagenden Nuno mit solcher Lautstärke an, daß der Riese für einen Moment die Peitsche sinken ließ. „Ihr glaubt, weil die ‚Isabella’ und der Seewolf es geschafft haben, schafft ihr es mit diesem verlausten, stinkigen Kahn ebenfalls? Ja, versucht es nur, ihr werdet genauso ersaufen wie wir alle. Da gibt es nämlich ein paar Überraschungen, die ihr hättet wissen müssen. Aber jetzt, jetzt ist es zu spät. Wir sind im Mahlstrom, der läßt uns nicht mehr los, wir müssen durch den Felsendom, ob wir wollen oder nicht.“ Ferris Tucker zog den schweren Riemen mit einer solchen Gewalt durch`, daß die ganze Ruderbank ächzte. Dann starrte er Nuno so grimmig, so mörderisch an, daß der Glatzkopf unwillkürlich einige Schritte zurückwich. „Es wird euch gar nichts nützen, daß ihr nicht angekettet seid wie wir und die anderen da hinten. Und es wird auch denen
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nichts nützen, die von eurem verdammten Piratengesindel auf den Ruderbänken sitzen, ohne Ketten. Die ,Conchita` wird platzen wie ein faules Ei, wenn sie aufs Höllenriff kracht. Und dann, du lausiger Bastard, werdet ihr, soweit ihr diesen Aufprall überhaupt noch überlebt, versuchen um euer Leben zu schwimmen. Aber auch das wird euch nichts nützen, ihr werdet die Ufer der Bucht nicht erreichen, und unser Versaufen hier im Innern dieser Drecksgaleere wird ein Honiglecken sein gegen das, was euch alle am Höllenriff erwartet. Und nun renne zu deinem Pablo, sag ihm einen Gruß von mir. Er soll seine letzten Minuten noch genießen!“ Ferris Tucker holte tief Luft. „Rudert, Jungs!“ brüllte er dann. „Rudert wie die Teufel. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser. Ho, diesen verlausten Schlagetots und Beutelschneidern werden wir es zeigen. Diese hirnlosen Takelläuse sehen sich schon als die Herren über die Karibik oder die Schlangeninsel, daß ich nicht lache!“ So verbissen die Mienen der Seewölfe gerade noch waren, ein paar von ihnen begannen sogar jetzt, im Angesicht des Todes, zu grinsen. Big Old Shane war der erste, der den alten Schlachtruf der Seewölfe anstimmte, die anderen fielen ein, Schweiß auf den von Wind und Wetter gegerbten Gesichtern. Wie grollender Donner, wie der Anfang einer alles vernichtenden Explosion rollte er durch die Galeere, und auch Pablo auf dem Achterdeck fuhr entsetzt herum. „A-r-w-e-n-a-c-k! A-r-w-e-n-ac-k! A-r-we-n-a-c-k!“ dröhnte es durch das ganze Schiff. Wer im Achterschiff von den Rudersklaven noch brüllen konnte, der brüllte diesen Schlachtruf ebenfalls mit. Und bei jedem Mal, den die Seewölfe die Riemen durchzogen, erscholl ihr „Arwenack“. Nuno starrte die entfesselten Seewölfe an. Sein Gesicht verfärbte sich, er begriff nicht mehr, was in diesen Minuten um ihn herum vorging, aber er spürte, daß es etwas ganz Entsetzliches war, was da geschah, und daß diese Horde die Hölle selbst dann
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noch loslassen würde, wenn sie alle schon so gut wie tot waren! , Nuno ließ die Peitsche fallen. Um ihn herum brodelte der Mahlstrom, brüllten die Seewölfe, dröhnte das Tomtom der großen Trommel, die den Schlagrhythmus für die Ruder angeben sollte und die aber längst ausgeschaltet war, weil die Seewölfe schneller und schneller ruderten, in eine wahre Raserei verfielen. Nuno verlor den Kopf. Er preßte plötzlich seine gewaltigen Pranken auf die Ohren und rannte davon, als ob tausend Teufel ihn hetzten. Das sahen seine Kumpane, die ohne Ketten auf den Ruderbänken saßen und bei dem Toben der Seewölfe und vor allem Barbas, des bärtigen Riesen im Achterschiff, dem keine Peitsche, keine Schikane etwas anzuhaben können schien, die Ruder längst hatten sinken lassen. Auch sie ergriff die Panik in diesem Moment. Sie sprangen auf, überrannten einander, schlugen und trampelten sich gegenseitig fast tot, nur, um an Deck zu gelangen. Und auch ihnen folgte das infernalische Gebrüll der Seewölfe, trieb sie über den Mittelgang und die Stufen des Niedergangs zum Hauptdeck empor. Pablo, der neben dem Rudergänger auf dem Achterdeck stand, spürte, wie auch ihm der Schweiß ausbrach. Daß unten im Ruderdeck die Hölle ausgebrochen sein mußte, das hatte er längst begriffen. Außerdem sah er, wie ein Teil der Ruder sich plötzlich nicht mehr bewegte, sondern sich mit den anderen verhedderte, wie mehrere der großen Riemen brachen. Aber das war bei weitem nicht alles, was er registrierte. Auch nicht, daß Nuno an Deck stürzte und wenig später hinter ihm die anderen Männer seiner Besatzung, die er zum Ruderdienst eingeteilt hatte. Das alles registrierte er nur ganz am Rande. Was ihm den Schweiß über der Körper trieb, was ihn seine Eigenmächtigkeit, seine Entscheidung, zur Schlangeninsel zu segeln, Don Bosco den Schatz nicht alleine zu überlassen, jetzt verfluchen ließ, war der gewaltige Felsendom, auf den die „Conchita“ unaufhaltsam zuschoß. Mit einer Höllenfahrt, wie Pablo es noch nie
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auf einem Schiff erlebt hatte. Und da war das Brausen, das Gurgeln und Gischten des Wassers, das noch immer im Innern des Felsendomes herrschte und ihn an die Einfahrt zur Hölle, direkt in Satans Krallen, erinnerte. Auch Pablo war wie gelähmt. Er stand neben dem Ruder, aber er vermochte nichts zu tun. Er hatte die „Isabella“ im Felsendom verschwinden sehen, er hatte auch das Heulen, Gurgeln und Brausen vernommen, aber nur aus der Entfernung, nicht aus so unmittelbarer Nähe. Dann hatte er den Kanonendonner vernommen, und da er die Pläne Don Boscos kannte, wußte er auch, daß der „Isabella“ die Durchfahrt durch den Felsendom gelungen sein mußte. Der Felsendom wuchs höher und höher vor der „Conchita“ in den Himmel. Pablo verfluchte seine Gier, seine Leichtfertigkeit abermals. Verdammt, wie hatte er nur glauben können, diese Passage aus eigener Kraft zu meistern? Warum hatten ihn denn nur seine Gier nach den Schätzen der Schlangeninsel, sein Mißtrauen gegen Don Bosco und die Einflüsterungen dieses hirnlosen Nunos dazu bewogen, den sicheren Ankerplatz vor der Insel zu verlassen und sich in diese Hölle zu stürzen? Nuno riß ihn ziemlich unsanft aus seinen Gedanken. Er packte Pablo am Arm, riß ihn zu sich herum und brüllte ihm alles das in die Ohren, was Ferris Tucker zuvor von sich gegeben hatte. Ob er wollte oder nicht, Pablo schaffte es nicht, sich dem eisenharten Griff des Glatzkopfes zu entwinden. Mochte dieser Nuno auch ein Spatzenhirn besitzen, an Kräften war er Pablo haushoch überlegen. „Wenden!“ brüllte Nuno ihn an. „Oder wir ersaufen alle wie die Ratten! Dieser Kerl hat nicht gelogen, der kennt sich hier aus! Wenden, verdammt, oder ich schlage dir den Schädel ein!“ Nuno stierte den Unterführer Don Boscos aus blutunterlaufenen Augen an. Als Pablo nicht reagierte, versetzte er ihm einen Stoß, der Pablo quer über das Achterdeck schleuderte und ihn dann aufs Hauptdeck
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krachen ließ. Gleichzeitig packte er denn Mann am Ruder und schleuderte ihn gegen das Schanzkleid an Backbord. Mit einem Satz war Nuno am Ruder, riß es herum und stemmte sich mit all seinen gewaltigen Kräften gegen den Mahlstrom. Zu spät - die Galeere verschwand in diesem Moment im Felsendom. Sie reagierte nicht mehr schnell genug, stattdessen schrappte sie einmal an Steuerbord an der Felswand entlang. Den Seewölfen wurden die Riemen aus den Händen gerissen, berstend und krachend zersplitterten sie, und die „Conchita“ wurde vom Mahlstrom wieder in die Mitte des Stromes gezogen. Die Seewölfe hatten die Riemen fahrenlassen. Aus bleichen Gesichtern starrten sie nach vorne. Dorthin, wo die Galeere jeden Augenblick zersplittern, zerplatzen mußte, von wo das Wasser sich ins Ruderdeck ergießen und ihr Schicksal besiegeln würde. Ben Brighton, der Bootsmann der „Isabella“ und der Stellvertreter Hasards, verlor auch in diesem schlimmen Augenblick die Übersicht nicht. „Festhalten!“ brüllte er. „Klammert euch irgendwo fest, das Wasser ist noch hoch genug, die Galeere wird ...“ Weiter kam er nicht. Seine Worte gingen unter in dem berstenden Aufprall, der in diesem Moment die „Conchita“ erschütterte. Die Seewölfe wurden mit unvorstellbarer Gewalt in ihre Ketten geschleudert, aber die Eisenfesseln hielten den Anprall aus. Lediglich die Ruderbank, an die Barba angekettet war, gab nach, einer der Augbolzen, die seine Fußketten hielten, riß aus. Männer schrien, der Schiffsrumpf um sie herum schien von den scharfen Felsen des Höllenriffs zerfetzt und zerschlagen zu werden. Krachend stürzte an Oberdeck der Mast nach vorne und zerschlug dabei Teile des Vorschiffs. Er begrub mit seinem laufenden und stehenden Gut rennende, vor Angst halb wahnsinnige Männer unter sich, andere wurden vom großen Lateinersegel begraben und erbarmungslos festgehalten.
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Auf der „Conchita“ brach die Hölle los. Schlimmer, als irgendeiner der Piraten sie sich jemals hätte vorstellen können. Auch Nuno und Pablo verschonte sie nicht, und auch die Seewölfe spürten, wie der Teufel sich anschickte, sie lotweise zu holen. Langsam und qualvoll. Nur der alte O’Flynn brachte es in diesem Moment noch fertig, einen ganzen Schwall seiner allerübelsten Flüche vom Stapel zu lassen. 3. Der Seewolf stand, immer noch angekettet ans Ruder der „Isabella“, auf dem Achterdeck. Sein Gesicht war von Schweiß bedeckt. Die grauenhaften Bilder, die er bei der gnadenlosen und heimtückischen Vernichtung der „Le Vengeur II.“ in sich hatte aufnehmen müssen, setzten ihm genauso zu, wie sie Jan Ranse am Großmast, Jean Ribault in seinen Eisen am Fockmast und den beiden Söhnen des Seewolfs auf dem Galionsdeck zugesetzt hatten. Noch immer starrten die Zwillinge fassungslos auf die Stelle, an der vor kurzer Zeit noch die stolze Galeone des Franzosen gelegen hatte. Jean Ribault zerrte wie wild an seinen Ketten. Er konnte nicht fassen, was da eben geschehen war. Don Bosco sah seinen Zorn. Grinsend blieb er vor dem Franzosen stehen. „Die ‚Isabella’ ist wirklich ein feines Schiff, Monsieur“, sagte er und verneigte sich höhnisch vor Ribault. „Ich hätte gar nicht gedacht, daß ihre Culverinen eine solche Wirkung entwickeln könnten. Ein paar Breitseiten — und dein Schiff war bei den Fischen. Na, und von Gegenwehr halten deine tapferen Männer wohl nicht viel, was? Oder sollten sie am Ende gesehen haben, daß du, der Seewolf, dein Steuermann und die beiden Söhne des Seewolfs sich auf der ‚Isabella’ befanden? Doch, sicher, so muß es gewesen sein, sie haben sich nicht getraut, das Schiff des allmächtigen Seewolfs zu versenken. Natürlich nicht, lieber soffen sie selber ab, ganz klar, wie konnte ich nur daran zweifeln!“
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Don Bosco lachte dröhnend, versetzte dem Franzosen einen derben Tritt und ging in Richtung Achterdeck weiter. Ein paar Piraten, die alles mit angehört hatten, versetzten dem Franzosen auch noch ein paar Fausthiebe und grölten lauthals nach Wein und Schnaps, der ihrer Meinung nach zur fälligen Siegesfeier gehörte. Don Bosco wanderte unterdessen langsam weiter. Er hatte Zeit. Der einzige nennenswerte Gegner auf dieser Insel war versenkt. Er hatte freie Bahn. Und mit dem Seewolf, mit dem wollte er schon fertig werden, darauf konnte sich dieser Kerl verlassen. Der einzige Gegner? Don Bosco blieb stehen. Verdammt, er hatte doch gesehen, daß weiter hinten in der Bucht noch eine Galeone vor Anker lag. Und soweit er gesehen hatte, ein ganz respektables Schiff! Vielleicht war es doch besser, sich um diese Galeone erstmal zu kümmern, ehe es Ärger geben konnte! Don Bosco beschleunigte seine Schritte. Dann stand er am Steuerbordschanzkleid, und plötzlich glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Nervös, ungläubig, fuhr er sich mit dem Handrücken seiner Rechten durchs Gesicht. Was war das? Verdammt noch mal, hatte er denn schon Tagträume oder irgend so etwas? Aber das Bild blieb. Da draußen in der Bucht, an Land und im Wasser, saß er braunhäutige Mädchen. Barbusig, eine so schön und schlank wie die andere. Und diese Mädchen schleppten Verletzte weg, bargen Tote, schienen sich um die „Isabella“ gar nicht zu kümmern. Wieder fuhr sich Don Bosco mit dem Handrücken über die Augen. Das gab es doch nicht, das konnte es doch gar nicht geben! Don Bosco fuhr herum. Er brüllte seinen Männern etwas zu, und sofort rannten ein paar herbei. Er wies auf die Mädchen. und seine Kerle bekamen plötzlich Stielaugen. Aber dann, als sei alles nur ein Spuk gewesen, verschwanden sie zwischen den zerklüfteten Felsen der Insel. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die letzte Gruppe von ihnen verschwunden war. Und
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die Musketen, die losknatterten, die Pistolen, die den Schlangenkriegerinnen ihre Kugeln hinterherschickten, richteten keinen Schaden mehr an. Don Bosco stand immer noch wie erstarrt. Das also war es, dachte er, was dieser Hund von einem Seewolf sich ausgerechnet hat! Es gibt also außer dem Franzosen und seinen Männern noch andere Menschen auf der Schlangeninsel. Feinde, gefährliche Feinde, wie er an der Schnelligkeit und Unerschrockenheit, mit der diese Weibsbilder gehandelt hatten, klar erkannte. Don Bosco stieß sich vom Schanzkleid ab. Jetzt, Seewolf, gilt’s! dachte er. Jetzt wirst du mir Rede und Antwort stehen, oder ich werde dir die Lippen auf eine Weise öffnen, die dich deine Geburt verfluchen lassen wird! Don Bosco eilte zum Achterdeck -aber dann stoppte ihn plötzlich das wilde Geheul seiner Männer. Er fuhr herum, und er sah, wie sie alle zum Vorschiff rannten.: Don Bosco zögerte nicht. Er flog förmlich über die „Isabella“ - und er erreichte das Vorkastell der „Isabella“ noch rechtzeitig, um Zeuge des Dramas zu werden, das sich innerhalb der nächsten Augenblicke unweit der „Isabella“ in der Schlangenbucht abspielte. Die „Conchita“ erschien in der Öffnung des Felsendoms. Wie ein Pfeil schoß sie heran. Don Bosco hatte gerade noch Zeit, die abgeknickten Riemen ihrer Steuerbordseite wahrzunehmen, dann geschah es. Die Galeere schien sich plötzlich aus dem Wasser zu heben. Ein häßliches Knirschen und Bersten drang an seine Ohren. Der Mast brach, stürzte an Deck, begrub schreiende Männer unter sich, während die „Conchita“ sich immer noch weiter auf die scharfen Felsen eines Riffs schob, das Don Bosco nicht kannte. Er sah Pablo, und er sah Nuno. Beide Männer wurden durch die Wucht des Anpralls an Deck geschleudert und verschwanden dann im Chaos, das in diesem Moment an Deck der Galeere ausbrach.
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Don Bosco beobachtete, wie ein Teil seiner Piraten in wilder Panik über Bord sprang und versuchte, ans Ufer der Schlangenbucht zu gelangen. Aber dann, dann sträubten sich ihm die Haare. Und vor Entsetzen entrang sich ein Stöhnen seiner Brust. Don Bosco beobachtete, wie dunkle Schatten durchs Wasser zuckten, wie lange, mit Saugnäpfen bewehrte Arme nach seinen Männern griffen und einen nach dem anderen erbarmungslos in die Tiefe zogen. Plötzlich durchschnitten auch dreieckige Rückenflossen die Bucht. Haie! durchfuhr es Don Bosco, noch ehe er überhaupt begriffen hatte, welche Bewandtnis es mit den saugnapfbewehrten Fangarmen hatte, die überall am Höllenriff aus dem Wasser zu schießen schienen. Was die Kraken nicht schafften, die das Höllenriff bewohnten und völlig verschreckt durch den Aufprall der „Conchita“ sofort zum Angriff übergegangen waren, das besorgten die Haie, die der Mahlstrom in die Bucht getragen hatte. Don Bosco hielt sich für einen Moment die Augen zu. Dann nahm er die Hände wieder fort. Die „Conchita“ lag jetzt auf dem Riff. Ihr geringer Tiefgang hatte bewirkt, daß die gewaltige Fahrt, mit der die Galeere durch den Felsendom gezogen worden war, sie hoch aufs Riff geschleudert hatte. Aber ihr Rumpf war von den spitzen Felsen aufgeschlitzt worden. Wasser drang gurgelnd und schäumend in den Schiffskörper ein, das Heck, freier noch als der Bug und der Mittelteil des Rumpfes, sackte langsam ab. Don Bosco brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, daß sich auf diesem Schiff seine wertvollen Geiseln, die Seewölfe, befanden. Die waren verloren, das stand fest. Don Bosco mußte seine ganze Beherrschung aufbringen, um nicht vor Wut laut aufzubrüllen. Aber er sah die Gesichter des Franzosen und die der beiden Söhne des Seewolfs. Sah, wie den
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Zwillingen die Tränen der Wut und Trauer über die Wangen liefen. Ja, euch habe ich noch, dachte er. Warte Seewolf, jetzt bist du da, wo ich dich schon lange haben will. Du hast genau wie ich alles mit angesehen, vom Achterdeck aus hattest du sogar den besten Überblick. Wollen doch mal sehen, wenn deine verdammten Bastarde dort drüben jetzt versaufen, ob du nicht weich wirst. Jetzt, Seewolf, ist meine Stunde. Und für dich die Stunde, in der du mir sagen wirst, was ich wissen will. Alles. Und dann, Seewolf, dann wirst du sterben. Männer wie dich kann man nicht am Leben lassen, ohne ein Selbstmörder zu sein! Don Bosco eilte davon. Daran, daß die „Conchita“ auf dem Höllenriff ihm die Ausfahrt versperrte, daran dachte er nicht. Auch nicht daran, daß der Mahlstrom sich nach Einbruch der Dunkelheit oder der Dämmerung wieder umkehren, daß sein Brausen den Felsendom abermals erfüllen und die todwunde „Conchita“ von den Felsen spülen würde. Mit allem, was sie in ihrem Innern barg. -und was dort vielleicht doch noch überlebt hatte. Nein, Don Bosco war die Entwicklung nach seinem anfänglichen Schrecken sogar ganz willkommen, denn auf diese Weise war er die Seewölfe los. Alle mit einemmal. Sie konnten ihm nicht mehr gefährlich werden. Mit diesen Gedanken stürmte er über das Hauptdeck, jagte die wenigen Stufen zum Achterdeck empor und — starrte in die eisblau glitzernden Augen des Seewolfs. Aus ihnen traf den Tortuga-Piraten ein Blick, der ihn zurückfahren ließ, der ihm wie eine eiskalte Hand nach dem Herzen griff und ihm das Leben abdrückte. Don Bosco taumelte zurück, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich schweratmend vom Backbordschanzkleid, an das er sich geklammert hatte, wieder abstieß und auf den Seewolf zuwankte. *
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Zur gleichen Stunde geschah noch etwas auf der Schlangeninsel, was weitreichende Folgen für die Seewölfe haben sollte. Der Mann, den Don Bosco auf der „Isabella“ zum Tode verurteilt hatte und der aber über Bord gesprungen war, noch bevor das Urteil vollstreckt werden konnte, war ebenfalls vom Mahlstrom erfaßt und in die Schlangenbucht gespült worden. Er war mehr tot als lebendig, und er wußte nicht mehr, wie er die Passage durch den Felsendom überstanden hatte, wieso er von den Haien verschont worden war und von den Fangarmen der Kraken, die neben ihm Männer in die Tiefe gezogen hatten. Er begriff nicht einmal, daß er noch lebte, als der Strom ihn endlich an einen der Strände der Bucht spülte und ihn dort wie Treibgut liegen ließ. Juan Mendoza verstand nicht, wieso — aber er hatte überlebt. Er lag am Strand, ziemlich im Südteil der Bucht, und pumpte die Lungen voll Luft. Dann, als das Zittern seiner Glieder aufhörte, als sein Blick endlich wieder klarer wurde, sah er sich um. Er hatte genug über die Schlangeninsel gehört, um sofort zu begreifen, wo er sich befand. Er sah die dunklen Rauchwolken, die noch immer über der Insel lagerten, und er erinnerte sich, daß die „Conchita“ ihn irgendwann überholt hatte, daß sie haarscharf an ihm vorbeigeschossen und dann auf ein Felsenriff gekracht war. Ein böses Grinsen huschte um seine Lippen, als er sich aus dem Wasser herausarbeitete und sich ganz auf den Strand zog, um dort noch eine Weile in den Strahlen der Sonne liegenzubleiben. Diesen verfluchten Nuno hatte es ganz bestimmt erwischt, und den ihm verhaßten Pablo auch. Nach und nach setzte seine Überlegung wieder ein. Hier konnte er nicht liegenbleiben. Die einen wie die anderen durften ihn nicht erwischen. Außerdem mußte er erst einmal erkunden, was inzwischen alles auf dieser verdammten Insel geschehen war, die rein äußerlich durchaus den Vorstellungen entsprach, die er vom Paradies besaß. Herrliche weiße
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Strände, auf denen große Palmen Schatten spendeten, kristallklares Wasser, das förmlich zum Baden einlud, hohe, dunkle Felsen, die die Bucht umgaben und irgendwie das Gefühl von Geborgenheit aufkommen ließen. Juan schüttelte sich, denn in diesem Augenblick fiel sein Blick auch auf den düster und drohend wirkenden Felsendom. Den einzigen Zugang zu dieser Insel, der aber weit eher eine Ausgeburt der Hölle zu sein schien, als daß er irgendeine Ähnlichkeit mit dem Paradies aufwies, von dem die Sailors auf den Schiffen immer wieder ihr Garn spannen. Bei der Erinnerung dessen, was er im Mahlstrom, in dieser tobenden Hölle, und später in der Bucht erlebt hatte, überlief ihn trotz der wärmenden Sonnenstrahlen ein eisiger Schauer. Juan quälte sich hoch. Die ersten Schritte wankte er über den Strand, seine Beine wollten immer wieder unter seinem geschwächten Körper nachgeben. Aber er bezwang seine Schwäche, er mußte hier verschwinden. Und erst, wenn er die Lage gepeilt hatte, konnte er Überlegungen anstellen, was er tun wollte. Für ihn war es von Don Bosco von Anfang an ein völlig idiotisches Unternehmen gewesen, sich mit diesem Seewolf anzulegen und zu dieser dreimal verfluchten Insel zu segeln. Juan blieb auch jetzt bei dieser Meinung, auch wenn es den Anschein hatte, daß Don Bosco zur Zeit der Sieger war. Der Pirat verschwand zwischen den Felsen, und niemand beobachtete ihn bei dem hektischen Durcheinander, das zu dieser Zeit auf der Insel herrschte. * Don Bosco stand vor dem Seewolf. Er zermarterte sich das Gehirn, wie er diesen schwarzhaarigen Teufel packen konnte. Jetzt, wo seine Männer hinüber waren, angekettet ertrunken oder sonst wie verreckt auf der „Conchita“. Aber an diesen Bastard war einfach nicht heranzukommen. Der reagierte nicht, der sah durch ihn hindurch, als wäre er, Don
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Bosco, der Herrscher von Tortuga, gar nicht vorhanden! Don Bosco spürte, wie er zu kochen begann. Noch nie hatte er mit einem Mann wie dem Seewolf zu tun gehabt. Und deshalb war er auch zum erstenmal in seinem Leben ratlos. „Verdammt!“ brüllte er plötzlich. „Die ,Conchita` ist zum Teufel. Deine Männer sind es auch, daran ist nichts mehr zu ändern! Und weißt du warum? Weil der Pablo, dieser Schwachkopf, mir mißtraut hat. Weil er nicht wollte, daß ich alleine den Schatz an Bord der ‚Isabella’ nahm und ihm dann möglicherweise auf und davon segelte!“ Ein hämisches Grinsen zog über das Gesicht des Tortuga-Piraten. „Vielleicht hatte er sogar recht! Aber wie konnte dieser Narr sich denn einbilden, die Passage durch den Felsendom zu meistern! Er hätte wenigstens einen deiner Seewölfe ans Ruder der ,Conchita` stellen sollen! Du siehst also, Seewolf, ich bin nicht schuld am Tode deiner Männer, ich nicht.“ Der Seewolf beachtete ihn überhaupt nicht. Stattdessen wanderte sein Blick zum Wrack der „Conchita“ hinüber, die hoch auf den Felsen des Riffs lag. Ihr Bug ragte heraus, das Heck lag im Wasser. Tiefer, als es für die Ruderer im Innern des Schiffes gut sein konnte. Aber auch der übrige Teil des Rumpfes wurde von Wasser umspült, nein, da gab es keine Chance mehr für seine Seewölfe. Diesmal nicht. Außerdem hätten sie längst gebrüllt, um sich wenigstens der Schlangenpriesterin bemerkbar zu machen. Schließlich konnten sie gar nicht wissen, was inzwischen auf der Schlangeninsel geschehen war. In diesem Punkt irrte der Seewolf allerdings. Denn Nuno hatte nicht versäumt, es ihnen voller Hohn zu berichten, nachdem Don Bosco die beiden Söhne des Seewolfs auf die „Isabella“ hatte holen lassen. Und die Rechnung des Glatzkopfes war sogar für eine Weile aufgegangen, denn tiefste Niedergeschlagenheit, die später in wildeste Wut umschlug, bemächtigte sich der Seewölfe.
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Don Bosco hatte einen Entschluß gefaßt, allerdings der Seewolf auch, nur hatte der Pirat davon keine Ahnung. Hasard hatte die Zeit herausgeschunden, die er benötigte, um sich genau zu überlegen, wie er jetzt vorgehen mußte, wenn er überhaupt noch eine Chance gegen diese Bestie in Menschengestalt haben wollte. Und er hatte genau das Loch gefunden, durch das er dem Tortuga-Piraten entschlüpfen würde, allerdings nur, um abzurechnen mit diesem Kerl und seinem Gesindel. Auch, wenn es das letzte sein sollte, was er in diesem Leben tat. Den Tod seiner Männer würde er rächen, das stand für den Seewolf fest. „Hör zu, Seewolf, meine Geduld ist jetzt zu Ende, endgültig“, sagte Don Bosco, und der Seewolf wußte, daß er es auch so meinte. „Ich will jetzt, und zwar sofort, von dir wissen, wo eure Schätze lagern. Dann gehen wir hin und holen sie. Wer uns dabei stören sollte, den legen wir um. Ich habe an Bord dieses Schiffes genügend schwerbewaffnete und kampferfahrene Männer, um mir jeden, aber auch jeden Störenfried vom Hals zu halten. Deine beiden Söhne werden uns begleiten, damit auch du nicht auf dumme Gedanken kommst. Und dieser Franzose und sein Steuermann, die bleiben an Bord. Aber man wird sie an der Großrah hochziehen, falls uns auch nur das geringste zustößt.“ Der Seewolf zwang sich trotz der Trauer, trotz der einfach unbeschreiblichen Gefühle, die ihn erfüllten und nahezu handlungsunfähig machten, Don Bosco ins Gesicht zu lachen. Der Pirat fuhr zurück. Er kniff vor Schreck die Augen zusammen und legte den Kopf schief. „Du bist verrückt!“ sagte er leise. „Übergeschnappt! Der Kerl hat die Sache mit der ,Conchita` nicht mehr verkraftet“, murmelte er entsetzt. Aber dann brach die Wut in ihm durch. „Und wenn du zehnmal verrückt geworden bist, ich kriege dich wieder hin!“ brüllte er. „Holt die beiden kleinen Bastarde, diese Dreckskerls her, sofort! Und holt den Franzosen, legt ihm
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eine Schlinge um den Hals und zieht ihn hoch, wenn ich es befehle!“ Der Seewolf lachte Don Bosco abermals ins Gesicht. „Ich bin nicht verrückt, du Hurensohn von einem verlausten Piraten!“ sagte er dann. „Du bist es, der total übergeschnappt ist. Und wenn du uns alle hängst, vierteilst oder sonst wie umbringst, das wird dir gar nichts nützen. Solange der Mahlstrom die Bucht füllt, solange er nicht zurückgelaufen ist, kann niemand an die Schätze, ohne jämmerlich zu ersaufen. Und das, Don Bosco, hör gut zu, was ich dir jetzt sage, bedeutet für dich und deine dreimal verfluchten Halunken, daß ihr, wenn ihr die Schätze haben wollt, hier in der Bucht liegenbleiben müßt, bis der nächste Mahlstrom wieder zurückläuft. Oder ihr müßt morgen früh segeln, ohne die Schätze, eine andere Möglichkeit gibt es nicht! Und nun bring uns um, laß uns foltern, keiner von denen, die es wissen, kann dir etwas anderes sagen. Ich nicht, der Franzose nicht, sein Steuermann nicht und meine Söhne erst recht nicht, weil sie überhaupt nichts wissen.“ Wieder lachte der Seewolf sein lautes, dröhnendes und schauriges Lachen. Dann sah er den Tortuga-Piraten abermals an. „Es ist die Wahrheit, und die, die du noch alle hättest foltern lassen können, die es wußten wie ich, die sind dort drüben, Don Bosco. In einem Schiff, in dem jetzt schon die Kraken hausen, weil sie sich durch den aufgerissenen Schiffsboden in das Wrack gezwängt haben. In einem Schiff, das sich morgen früh spätestens mit dem wieder steigenden und zurückflutenden Mahlstrom von den Felsen des Riffs lösen und auf tausend Faden Tiefe gehen wird. Meine Seewölfe haben das Grab, das jeder von uns sich immer gewünscht hat, wir haben den Tod nie gefürchtet, wir wußten, daß er eines Tages auch uns ereilen würde.“ Don Bosco erbleichte. Er hatte von jenem Höllenriff gehört, er hatte mit eigenen Augen gesehen, was für höllische Szenen sich dort abgespielt hatten - aber tausend Faden tief sollte das Wasser dort sein? Die Vorstellung war für ihn so grauenhaft, daß
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er eine ganze Weile brauchte, um diese Hiobsbotschaft zu verdauen. Er wußte nicht, daß Arkana mit ihren Schlangenkriegerinnen versucht hatte, die Tiefe der Bucht auszuloten, um so dem Geheimnis des Mahlstroms auf die Spur zu gelangen, daß aber jeder Versuch gescheitert war. Dort und auch an anderen Stellen. Arkana hatte den Eindruck gewonnen, daß die Bucht ein riesiger, mit Wasser angefüllter Krater von unermeßlicher Tiefe war, und das erklärte auch, warum so viele Riesenkraken in dieser Bucht ihr Unwesen trieben und jeder Schwimmer, der sich einem der Riffs näherte, höllisch auf der Hut sein mußte, wollte er nicht in die erbarmungslosen Fangarme eines solchen Ungeheuers geraten. Der Seewolf hatte das am eigenen Leibe erfahren, die Rote Korsarin wußte es, sogar Bill, der Moses der „Isabella“, der er trotz seiner zwanzig Jahre immer noch war, ohne allerdings als ein solcher behandelt zu werden, sondern an Bord als vollwertiger Seewolf mit allen Rechten galt, hatte erfahren müssen, wie unbarmherzig so ein Krake zuzupacken wußte. Der Seewolf hatte das nicht ohne Grund gesagt. Er wollte verhindern, daß Don Bosco auf die Idee kam, jemand zu dem Wrack der Galeere zu schicken. Denn mochten auch etliche seiner Seewölfe ertrunken sein, im Vorschiff lebten vielleicht doch noch ein paar von ihnen, und die sollten ihre Chance erhalten. Die Rechnung des Seewolfs ging auf. Besonders, als er Don Bosco abermals anheizte. „Sieh nach, wenn du mir nicht glaubst. Laß dich zum Wrack der ,Conchita` hinüberpullen, nimm ein Tau mit, das längste, das es hier an Bord der ‚Isabella’ gibt, du wirst sehen, daß ich recht habe!“ Jean Ribault und Jan Ranse, die man zusammen mit den beiden Söhnen des Seewolfs eben in ihren Fesseln zum Achterdeck führte, mußten sich gewaltsam beherrschen. Sie durchschauten den Plan des Seewolfs sofort. Wenn dieser verfluchte Don Bosco dem Seewolf
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glaubte, dann würde er bis zum Wiedereinsetzen und Zurückfluten des Mahlstroms warten. Das bedeutete aber, daß Arkana die Chance erhielt, bei Nacht mit ihren Schlangenkriegerinnen anzugreifen und sie herauszuhauen. Ribault wußte, über welche Mittel sie verfügte, ihnen hatte dieser lausige Pirat, nichts entgegenzusetzen. Gar nichts. Dem Seewolf gelang es, seinen Söhnen einen Blick zuzuwerfen, den nur sie zu deuten wußten, und die Spannung, die sich eben noch in ihren Zügen gezeigt hatte, denn auch sie wußten genau, was ihr Vater plante, wich völliger Gleichgültigkeit. Don Bosco starrte den Seewolf an. Er war mißtrauisch, und er erinnerte sich in diesem Moment an die braunhäutigen Mädchen, die er gesehen hatte, als die „Le Vengeur II.“ gesunken war. Diese unheimlichen barbusigen Geschöpfe, die wie ein Spuk erschienen waren und die Toten und Verletzten geborgen hatten. Er packte den Seewolf am Hemd. „Du Hund, du willst mich reinlegen!“ sagte er. „Du hoffst, daß dich irgendjemand befreit, irgendwann heute nacht. Ich habe diese Mädchen sehr wohl gesehen, ich weiß also, daß noch jemand auf der Insel lebt. Wer sind diese Weiber? Los, rede, Mann, oder ich löse dir die Zunge!“ Wieder zwang sich der Seewolf zu einem lauten Gelächter, und Ribault stimmte samt seinem Steuermann ein. Nur die beiden Zwillinge verhielten sich still. Don Bosco fuhr herum. Er öffnete den Mund, um den Befehl zu geben, sie zum Schweigen zu bringen, aber der Seewolf kam ihm zuvor. „Mach dich nicht lächerlich, Don Bosco. Herrscher von Tortuga!“ setzte er voller Hohn hinzu. „Glaubst du Narr denn wirklich, daß Männer auf dieser Insel alleine leben, ohne Frauen? He, glaubst du das? Und du und deine schwerbewaffneten Männer, ihr fürchtet euch vor ein paar Weibern, die uns das Leben versüßen, wenn wir mal hier sind? Es lohnt sich nicht, daß erwachsene Männer sich mit dir unterhalten. Pack dich, du erbärmlicher
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Feigling, du stinkende Ausgeburt der Hölle!“ Don Bosco erbleichte abermals. Das hatte noch niemand gewagt. Aber der Seewolf war noch immer nicht fertig. „Verdammt, such doch nach dem Schatz. Ich bringe dich hin. Und ich werde mit Freuden sehen, wie du in den Höhlen ersäufst, weil das Wasser dir, falls du überhaupt hineinkommst, den Rückweg abschneidet. Es fällt und steigt jetzt ständig in allen Höhlen dieser Insel, die unter dem Wasserspiegel liegen. Aber bitte, ich bringe dich hin, dann gibt es wenigstens einen verfluchten Piraten auf der Welt weniger!“ Wie, um die Worte des Seewolfs zu bestätigen, begann die „Isabella“ um den Anker zu schwojen. Sie drehte sich im zurückflutenden und dann wieder kenternden Strom, und auch durch das Wrack auf dem Höllenriff ging ein Ruck. Der Rumpf rieb sich an den scharfen Felsen, und das entsetzliche Geräusch war bis zur „Isabella“ herüber deutlich zu hören. Es ging dem Seewolf, Ribault, Jan Ranse und den beiden Söhnen Hasards durch Mark und Bein, und unwillkürlich fuhren ihre Köpfe herum. Das gab den Ausschlag. Don Bosco trat einen Schritt zurück. Aus schmalen Augen starrte er den Seewolf an. „Gut“, sagte er dann, „vielleicht stimmt das alles, was du behauptest. Ich werde warten, bis der Mahlstrom kentert und wieder normaler Wasserstand in der Bucht herrscht. Aber dann, Seewolf, warte ich keine Minute länger. Entweder du spurst dann, oder deine Söhne sind dran. Das ist mein letztes Wort!“ Er fuhr herum. Wut über die erlittene Niederlage verzerrte seine Züge. „Schließt sie an. Alle vier hier auf dem Achterdeck, hier lassen sie sich am leichtesten bewachen. Den Seewolf an den Mast, ebenfalls den Franzosen. Die beiden da“, er deutete auf die Zwillinge, „an die Steuerbordnagelbank. Den da“, er zeigte auf Jan Ranse, „an die Schmuckbalustrade, die ist stabil genug und aus verdammt
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hartem Holz. Die reißt dieser Kerl bestimmt nicht ab!“ Don Bosco lachte höhnisch. Dann trat et abermals dicht an Hasard heran. „Vielleicht stimmt deine Geschichte, vielleicht rechnest du dir für die Nacht auch etwas aus. Aber du hast keine Chance, Seewolf, die ‚Isabella’ wird sich jetzt gleich in eine uneinnehmbare Festung verwandeln. Niemand wird sie gegen meinen Willen betreten oder verlassen. Du hast Don Bosco unterschätzt, Seewolf. Und ich kriege deine Schätze, diese Insel, die ganze Karibik, das wirst du erleben!“ Don Bosco verfolgte, wie die Zwillinge und die drei Männer angeschlossen wurden. Eigenhändig prüfte er sodann die Ketten und die Schellen an den Handgelenken. Befriedigung spiegelte sich in seinen Zügen wider. Anschließend brüllte er ein paar Befehle über die „Isabella“. Ihnen entnahm der Seewolf, daß Don Bosco Ernst machte. Er verwandelte die „Isabella“ tatsächlich in eine Festung. 4. An Bord der „Conchita“ hatten sich Szenen abgespielt, wie sie selbst die harten und kampferprobten Seewölfe noch nicht erlebt hatten. Die Felsen hatten den Rumpf auf fast die halbe Länge aufgeschlitzt. Aber die Galeere saß auf dem Riff, und das eindringende Wasser war im vorderen Teil des Ruderdecks nur bis Brusthöhe gestiegen. Anders im achteren Teil des Ruderdecks. Das Heck der Galeere hing im Wasser der Bucht. Ein Abschnitt des Achterschiffes war vollgelaufen. Die Männer, die dort gesessen hatten, angekettet auf ihren Ruderbänken, waren ertrunken. Der einzige, der überlebt hatte, war Barba. Aber auch er kämpfte verbissen um sein Leben, denn nur noch seinen Kopf vermochte er mit Mühe und Not und großer Anstrengung über Wasser zu halten. Und auch das nur, weil seine Ruderbank geborsten war beim Aufprall auf das Riff,
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weil Barba sich dadurch in seinen Ketten etwas Bewegungsfreiheit hatte verschaffen können. Im Ruderdeck herrschte Stille. Wie durch ein Wunder hing im Vorschiff noch eine blakende Laterne am Haken. An ihr konnten die Seewölfe sofort erkennen, ob sich das Schiff bewegte, ob Gefahr drohte, daß es von den Felsen abrutschte. Was sie alle aber noch mehr als diese ständig drohende Gefahr nervte, das waren die Saugarme der Kraken, die sich immer wieder tastend durch den geborstenen Rumpf schoben, suchend umherglitten, ohne jedoch vorerst einen der angeketteten Männer erreichen zu können. Die Seewölfe und Barba befanden sich allein auf der „Conchita“ — jedenfalls glaubten sie das, weil sich an Bord schon lange keine Menschenseele mehr rührte. Daß ausgerechnet Nuno und Pablo den Aufprall ebenfalls überlebt hatten, an Deck jedoch durch Trümmer so hoffnungslos eingekeilt waren, daß sie sich aus eigener Kraft nicht befreien konnten, das ahnten sie nicht. Außerdem befanden sie sich nicht bei Bewußtsein, durch Rufe konnten sie sich der in der Nähe ankernden „Isabella“ deshalb auch nicht verständlich machen. Old O’Flynn räusperte sich ächzend. dann bewegte er sich auf seiner Ruderbank, und die Ketten klirrten. „Eine so beschissene Situation habe ich noch nie erlebt!“ krächzte er, weil ihm die Stille auf die Nerven ging. „Aber ich sage euch“, fuhr er fort, „da vorne brennt noch eine Lampe, und das ist ein gutes Omen. Das ist ein Zeichen der Meermänner, daß sie uns noch nicht zu sich in ihr kühles Reich holen werden. Glaubt mir, ich kenne mich aus, ich ...“ Smoky unterbrach ihn rauh. „He, Oldie, wenn deine Meermänner aber nicht bald hier im Ruderdeck auftauchen, dann werden sie uns eine nette kleine Koje bei sich geben müssen. In diesen verdammten Ketten schwimmt es sich so schlecht, besonders, wenn man dabei auch noch so einen verfluchten Dreckeimer wie diese Galeere um den Hals hängen hat. Das
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ist selbst für den stärksten Seemann ein zu dicker Fisch. Also los, ruf sie herbei, wenn wir erst unsere Ketten los sind, dann können wir über alles weitere miteinander reden.“ Luke Morgan lachte. Es war aber eher ein Lachen der Verzweiflung, das er aus seiner Kehle preßte, denn er gab sich keinen Illusionen hin: diesmal hatte es sie, diesmal ging’s in den großen Keller Gottes. Old O’Flynn hatte sich, soweit das in seinen Ketten ging, aufgerichtet. „Smoky, daß du ein loses Maul hast, das habe ich dir schon öfter gesagt. Aber so ist das mit euch verdammten Grünschnäbeln: Wenn ihr mal ein bißchen Wind um die Nase gehabt habt, wenn euch ein Brecher mal ein bißchen durchgeschüttelt hat, dann glaubt ihr schon, etwas von der See und ihren Geheimnissen zu verstehen. Auch wenn ihr mich wieder auslacht, auf der guten alten ,Empress of Sea’ hatten wir einmal eine ähnliche Situation. Wir waren auf eine Sandbank aufgelaufen, und die schweren Brecher überrollten das Schiff pausenlos. Aber am Fockmast, da hing noch eine einzige Deckslaterne, und sie brannte, während alle anderen bei der Kollision mit der Bank an Deck gefallen, ausgelaufen, verlöscht und von der See über Bord gewaschen worden waren, noch ehe sie das Schiff in Brand zu setzen vermochten.“ Old O’Flynn legte eine Pause ein, und diesmal lachte keiner, keiner unterbrach ihn mehr. Sie kannten den wunderlichen Alten schon viele Jahre, und sie hatten auch oft über ihn gelacht. Aber sie wußten, daß er auch ebenso oft, wie sie ihn ausgelacht hatten, mit seinen Prophezeiungen Recht behalten hatte. „Genau wie heute“, fuhr der Alte fort, und die Seewölfe waren froh, überhaupt eine Stimme zu hören, „war unsere Situation hoffnungslos. Die ,Empress of Sea` saß fest. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die See sie kurz und klein geschlagen hatte, bis sie nur ein Wrack war, das sich in den tobenden Gewalten aufzulösen begann.“ Wieder legte der Alte eine Pause ein.
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„Ich erinnere mich aber noch ganz genau. Ich hatte mich unter den Niedergang vom Vorkastell zum Hauptdeck geflüchtet. Dort hockte ich mit ein paar Bordkameraden, und dort warteten wir auch das Ende ab. Immer wieder fiel mein Blick auf die unbeirrt brennende Lampe, der keiner der Brecher bisher etwas hatte anhaben können. Und plötzlich wußte ich, daß diese Lampe ein Zeichen war, das uns die Meermänner gesetzt hatten. Ich wußte, es würde weder uns noch unserem Schiff etwas zustoßen.“ Der Alte räusperte sich. „Ihr könnt den verrückten Alten mit seinem Holzbein ruhig auslachen. Aber es war so. Irgendwann kam eine Woge herangerollt, größer, mächtiger als andere vorher. Ganz oben auf ihr schwamm einer der Meermänner und winkte uns zu. Es war, als ob Feuer ihn umgeben würde, ein geheimnisvolles, unerklärliches Leuchten. Kurz und gut, die Woge hob unser Schiff an, trug sie über die Sandbank hinweg und entließ sie schließlich in tiefes, fahrbares Wasser. Die Geschichte ist wahr, jedes Wort ist wahr, so wahr ich Old O’Flynn bin. Und ich sage euch nochmals: Wir haben die Strandung der ,Conchita` überlebt. Im Vorschiff brennt noch eine Lampe. Wir werden hier herauskommen.“ Der Alte schwieg, und auch die anderen schwiegen. Sogar Barba im Achterschiff sagte keinen Ton. Irgendwie spürte jeder der Seewölfe, daß es dem Alten bitter ernst war mit seiner Geschichte. Wieder erschien einer der Saugarme eines Kraken. Diesmal tastete er sich bedenklich nahe an Batuti, den riesigen Gambianeger, heran. Der Schwarze stieß eine Verwünschung aus und wich so weit zur Seite, wie seine Ketten ihm das erlaubten. „Pestilenz und Höllenvieh, sein miserables Riff, auf dem sitzen!“ radebrechte er. „Batuti nix wissen, daß Schlangeninsel und Schlangenbucht voll von Mistviechern. Hoffentlich erwischen Nuno, Pablo und andere Schlagetots!“
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Der Saugarm verschwand, und wieder blieb es eine ganze Weile still in der Galeere. „Verdammt“, ließ sich plötzlich Barba vernehmen, „das Wasser steigt. Wenn das so weitergeht, versaufe ich hier wie eine Bilgenratte. He, einer von euch muß doch wissen, wann dieser verdammte Mahlstrom kentert? Ihr habt doch vorhin davon gesprochen.“ Ben Brighton antwortete ihm. Aber er hatte noch keine zwei Sätze gesprochen, als eine dunkle Gestalt wie ein Schemen ins Ruderdeck huschte. Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, der alte O’Flynn und sein Sohn Dan, die die Schlangenpriesterin in dem blakenden Schein der Schiffslaterne zuerst erkannten, rissen vor Staunen den Mund weit auf. Mit Arkana hatten sie überhaupt nicht gerechnet, denn sie mußte sie ja eigentlich auf der „Isabella“ vermuten, falls sie dort den Seewolf bereits gewahrschaut hatte, woran aber niemand von ihnen zweifelte. „Arkana, du ...“ Die Schlangenpriesterin bewegte sich geschmeidig auf Ferris Tucker zu, der ihr am nächsten saß. „Pst!“ bedeutete sie ihm zu schweigen und legte dabei den Finger auf die Lippen. „Seid alle still. Don Bosco ist drüben auf der ‘Isabella`, er hält euch alle längst für tot. Er darf nicht erfahren, daß ihr noch lebt. Auch ich hatte nicht mehr daran geglaubt.“ Sie zog einen kleinen Gegenstand aus ihrem Lendenschurz und schloß die Schellen an Ferris Tuckers Händen und Füßen auf. Aber wieder legte sie den Finger auf die Lippen. „Ich fand ihn oben an Deck. Dort liegen zwei von Don Boscos Leuten, sie sind von Trümmern eingekeilt und können sich aus eigener Hilfe nicht befreien. Daß wir es mit Don Bosco zu tun haben, das erfuhr ich von einem sterbenden Piraten, den meine Kriegerinnen aus den Fangarmen eines Kraken befreiten. Hier ist der Schlüssel, schließt euch los, aber seid leise und bleibt vor allem hier unten im Ruderdeck. Sollte
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die Galeere von den Felsen abrutschen -das wird aber vor Mitternacht nicht geschehen, dann springt ins Wasser, meine Kriegerinnen werden zur Stelle sein und euch vor den Haien und Kraken schützen. Es wird für diesen Don Bosco und sein Gesindel eine höllische Überraschung werden, daß ihr noch lebt!“ Ferris Tucker reckte seinen mächtigen Körper. „Darauf kannst du dich verlassen, Arkana!“ sagte er leise, und die Seewölfe murmelten Zustimmung. Dann eilte der Schiffszimmermann der „Isabella“ zu Barba. Der mußte zuerst losgeschlossen werden, denn dem stand das Wasser bereits bis zum Hals. Auch Barba reckte seine gewaltigen Glieder, dann drückte er Arkana die Hand, die mittlerweile ein nahezu fehlerloses Englisch sprach. Anschließend schlossen die beiden auch die anderen Seewölfe los. Als sie dem alten O’Flynn die Fesseln abstreiften, liefen Tränen der Freude über seine Wangen, in denen Wind und Wetter, See und Stürme ihre tiefen Spuren hinterlassen hatten. „Ich habe es gewußt!“ sagte er. „Ich habe es gewußt, die Lampe dort vorn war ein Zeichen. Begreift ihr verdammten Affenärsche jetzt endlich, daß ihr die reinsten Grünschnäbel seid, daß ihr absolut gar nichts wißt?“ redete er sich in Rage, um seine Rührung zu verbergen. Aber da stand auch schon Arkana neben ihm, legte ihm die Rechte auf die Lippen. „Ihr seid jetzt frei“, sagte sie leise. „Aber der Seewolf, seine beiden Söhne, Jean Ribault und Jan Ranse noch nicht. Don Bosco hat die ‚Isabella’ in eine wahre Festung verwandelt. Er weiß, daß diese Gefangenen seine besten und wertvollsten Geiseln sind, die er überhaupt haben kann. Niemand vermag sich der ‚Isabella’ zu nähern, ohne daß er sofort entdeckt und getötet wird.“ Matt Davies schob sich an Arkana heran, während ihre Blicke wie suchend durch das Wrack glitten. „Wo ist Narbengesicht Carberry?“ fragte sie dann. Ben Brighton erklärte es ihr leise.
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Arkana atmete auf. „Das ist gut!“ erwiderte sie leise. „Narbengesicht wird den Wikinger oder Siri-Tong finden, sie werden uns zu Hilfe eilen. Aber das kann zu lange dauern, darum müssen wir ...“ „Wir werden diesen Hundesohn von Don Bosco zur Hölle schicken, sobald es dunkel geworden ist!“ grollte Matt Davies, und die anderen murmelten zustimmend. Aber Arkana schüttelte energisch den Kopf. „Ihr bleibt bis zum Anbruch der Dunkelheit hier auf der Galeere. Ich habe dafür gesorgt, daß die beiden Piraten oben an Deck vor Beginn der Nacht nicht wieder erwachen werden. Wenn es dunkel ist, holen euch meine Schlangenkriegerinnen, vertraut euch ihnen an, sie bringen euch sicher ans Ufer. Aber versucht nicht, alleine vom Riff ans Ufer zu schwimmen, es wäre euer Tod!“ Arkana sah Ben Brighton an. „Du bist der Unterführer des Seewolfs“, sagte sie. „Meine Kriegerinnen und ich werden die ‚Isabella’ stürmen, sobald die Nacht hereingebrochen ist und ihr euch in Sicherheit befindet. Nein, versuche nicht, mich umzustimmen. Don Bosco hat den Seewolf und die anderen Gefährten von euch, er hat auch Hasards Söhne in seiner Gewalt. Ein winziger Fehler genügt, und er kann uns weiterhin seine Bedingungen diktieren. Ihr habt Don Bosco kennengelernt, ihr wißt, wie gefährlich dieser Pirat ist. Meine Kriegerinnen und ich, wir verfügen über Mittel, eine ganze Besatzung unschädlich zu machen, über die ihr nicht verfügt. Auf normale Weise geht es diesmal nicht, glaubt mir und überlaßt alles mir und meinen Kriegerinnen, wenn ihr den Seewolf unversehrt wiederhaben wollt.“ Die Seewölfe murrten, zuviel Haß und Zorn hatte sich in ihnen aufgestaut. Am liebsten wären sie sofort ins Wasser gesprungen und hätten auf der „Isabella“ erst einmal gründlich aufgeräumt. Aber Ben Brighton setzte diesen Gelüsten schnell ein Ende. „Wir werden den Anweisungen, die Arkana uns gibt, bedingungslos Folge
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leisten, alle, ohne jede Ausnahme, klar?“ sagte er. „Wir werden uns jedoch bereithalten, falls Arkana und ihre Kriegerinnen in Schwierigkeiten geraten, und dann gnade Gott diesem Don Bosco und seinen Schlagetots!“ Ben Brighton streckte der Araukanerin die Hand hin, und damit war die Abmachung besiegelt, damit stand er bei der Schlangenpriesterin unwiderruflich im Wort. Arkana dankte ihm durch ein Lächeln. „Es war eine gute Entscheidung, Ben Brighton“, sagte sie. „Gut für uns alle. Aber besonders gut für den Seewolf und die, die Don Bosco dort drüben auf der ‚Isabella’ angekettet hat und streng bewachen läßt. Sie werden leben und wieder frei sein, meine Kriegerinnen sind bereits im Schlangentempel dabei, alle notwendigen Vorbereitungen für den Angriff zu treffen.“ Arkana wandte sich zum Gehen, aber vor dem Niedergang, der an Deck führte, blieb sie noch einmal stehen. „Bleibt hier unten, laßt euch ja nicht an Deck sehen, außer besondere Umstände zwingen - euch, das Wrack hier zu verlassen. Don Bosco beobachtet die Galeere genau, so leicht entgeht ihm nichts.“ Big Old Shane musterte die biegsame, schlanke Araukanerin. „Und wie bist du ungesehen nicht nur an Bord gekommen, wie konntest du dich an Deck der Galeere bewegen, ohne daß dich Don Bosco sah?“ fragte er. Arkana lächelte ihn an. „Der Schlangengott hat mir und euch seinen Beistand nicht versagt“, erwiderte sie, und war gleich darauf verschwunden. Verblüfft starrten ihr Big Old Shane, der einstige Waffenmeister von der Feste Arwenack, und die anderen Seewölfe nach. Doch so sehr sie ihre Ohren anstrengten, sie hörten von Arkana keinen Laut, kein Geräusch. Es war, als ob ein Schatten die „Conchita“ verlassen habe. *
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An Bord des Schwarzen Seglers ließ der Wikinger zum wiederholten Mal eine ganze Reihe saftiger Flüche vom Stapel, aber das half auch nicht weiter. Die Lage war total verkorkst. Der Wikinger stützte sich schwer auf die mehrere Zoll dicke Platte des massiven Tisches, der mit dem Boden seiner Kapitänskammer verschraubt worden war. Siri-Tong, Edwin Carberry, der BostonMann und Araua starrten ihn an. So wütend hatten sie den riesigen Mann mit dem Kupferhelm auf dem Kopf selten erlebt. „Wir sitzen hier, salbadern dummes Zeug, -und inzwischen bringt dieser lausige Don Bosco unsere Freunde glattweg um. Das ist alles Quatsch, verdammt noch mal, Schluß mit dem ganzen Gefasel davon, daß dies nicht geht und jenes für die Seewölfe zu gefährlich sei. Jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt wird gehandelt, und zwar sofort!“ Der Wikinger hieb seine gewaltige Faust auf die Platte aus dem fremden schwarzen Holz, dessen genaue Herkunft niemand kannte, das aber mit jedem Jahr harter und härter wurde. Die Weinkrüge sprangen hoch, und der Roten Korsarin gelang es gerade noch, ihren Krug festzuhalten, bevor er auf den Boden der Kammer stürzte. Ed Carberry stimmte dem Wikinger zu. „Du hast recht, Thorfin“, sagte er nur. „Wenn wir noch lange hier herumsitzen und quatschen, dann ist es vielleicht wirklich zu spät. Ihr alle kennt euch auf der Schlangeninsel aus, ich war lange fort, also, was können wir tun, um diesem Don Bosco das Fell von seinem verdammten Affena…, äh, ich meine ...“ Er warf einen um Entschuldigung heischenden Blick auf Araua und Siri-Tong. „Also, was können wir tun, um den Seewolf und die anderen herauszuhauen?“ fuhr er dann fort. Der Wikinger nahm einen gewaltigen Schluck und schenkte sich dann nach. Gleichzeitig fuhr er sich mit der Linken durch den eisgrauen Bart. „Das ist nicht unser Problem. Auf der Schlangeninsel haust immer noch Arkana
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mit ihren Kriegerinnen. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sie zusehen wird, wie diese Tortuga-Laus unsere Freunde abschlachtet oder den Schlangentempel ausräumt! Da täuschst du dich aber ganz gewaltig, mein Lieber. Arkana ist für diesen Don Bosco ein harter Brocken, sage ich dir. Und sie versteht ihr Handwerk hervorragend. Der Kerl hat nicht die Spur einer Chance gegen sie. Aber Hölle und Verdammnis, er hat den Seewolf und seine beiden Söhne als Geiseln. Wenn dieser Hund geschickt genug ist, dann sind Arkana die Hände gebunden, er kann sie erpressen. Außerdem verfügt dieser Dreckspirat bestimmt über weit mehr Männer, als sie Kriegerinnen hat. Die Kerle können sogar die Befestigungen der Insel besetzen und uns glattweg in den Grund bohren, sobald wir der Schlangeninsel zu nahe kommen. Da ist unser Problem. Wir kommen an die Insel nicht heran, ohne von Don Bosco entdeckt zu werden, unsere eigenen Waffen kehren sich jetzt gegen uns.“ Der Wikinger funkelte die Rote Korsarin an. „Du bist auch mit schuld an dieser Misere!“ sagte er. „Du warst es doch, die diese verflixten Befestigungen im Eiltempo ausgebaut hat! Und jetzt haben wir den Ärger ...“ Die Rote Korsarin war aufgesprungen. Ihre schwarzen Augen verschossen Blitze. „Du und deine verdammten Saufbolde, ihr habt ja keinen Finger gerührt. Das habt ihr Arkana und mir überlassen. Und wenn du es noch immer nicht wissen solltest, dann nimm es gefälligst jetzt endlich zur Kenntnis: Die Zeiten, in denen die Schlangeninsel unser geheimer Stützpunkt war, sind endgültig vorbei. Die Schnapphähne der Karibik wissen, daß wir dort hausen, und jetzt wissen sie es durch diesen verdammten Don Bosco erst recht. Wenn wir künftig nicht in der Lage sind, diese Insel wirksam gegen Angriffe zu verteidigen, dann werden wir sie auch nicht mehr lange haben. Geht das jetzt endlich in deinen behelmten Schädel?“
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Ed Carberry wechselte mit dem BostonMann einen kurzen Blick. „Schluß jetzt mit diesem ganzen Quatsch!“ fuhr er die beiden an. „Du, Wikinger, wolltest vorhin sofort etwas unternehmen. Los, raus mit der Sprache, wir liegen schon viel zu lange hier herum mit unseren Schiffen!“ Der Wikinger, der ebenfalls aufgesprungen war, ließ sich wieder auf den schweren Holzstuhl fallen, daß er nur so krachte. „Du hast ja recht“, sagte er und kratzte sich dabei wieder am Helm, was Carberry mit einem verzweifelten Blick quittierte. „Also, ich schlage folgendes vor, denn eine andere Möglichkeit haben wir nicht ...“ Der Wikinger entwickelte den Gefährten seinen Plan. Carberry, der Boston-Mann, Araua und sogar die Rote Korsarin lauschten ihm, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. „Bei allen Haien, Meermännern, Kraken und sonstigen Ungeheuern“, sagte Carberry schließlich, „so gefällst du mir schon wesentlich besser, Thorfin Njal!“ Er starrte den Wikinger kopfschüttelnd an. „Da sitzt dieser behelmte Nordpolaffe vor uns“, sagte er dann grollend, „erzählt und schwatzt lauter dummes Zeug, streitet sich mit der Roten Korsarin herum, und dabei hat dieser Mensch unter seinem verrückten Helm längst einen Plan ausgebrütet, der diesem Don Bosco zeigen wird, wie groß er wirklich ist!“ Carberry schüttelte abermals den Kopf und grinste dann den Boston-Mann an, der das Grinsen zurückgab und ebenfalls einen gewaltigen Schluck aus seinem Weinkrug nahm. „Also los, worauf warten wir denn noch?“ Carberry erhob sich, aber diesmal war es die Rote Korsarin, die seinen Tatendrang bremste. „Auf die Dunkelheit warten wir. Wir müssen so absegeln, daß wir während der ersten Nachthälfte das Gebiet der Schlangeninsel erreichen. Keinesfalls früher, oder unser Plan ist sofort geplatzt.“ Sie sagte das erstaunlich sanft, und als sie es sagte, lächelte sie den riesigen Profos der „Isabella“ an, und zwar auf eine Weise,
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die Carberry sofort verstummen ließ. Jedermann an Bord der „Isabella“ kannte die Schwäche, die Carberry für die bildhübsche Siri-Tong verspürte, und das hatte schon oft zu ergötzlichen Szenen geführt. Jedermann wußte aber auch, wie sehr die Rote Korsarin diesen äußerlich so rauh wirkenden Mann schatzte, auch wenn ihr Verhältnis zueinander streng freundschaftlich war und blieb. Der Wikinger grinste Carberry an, dann griff er mit seinen Pranken nach der Roten Korsarin, und die war nicht imstande, sich gegen diesen Griff zu wehren. „Ich möchte den Tag erleben“, grollte er, „an dem du verdammte Wildkatze mit mir auch mal so nett und freundlich umgehst wie mit diesem Trumm von einem Nußknacker da!“ sagte er. Carberry glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Nußknacker? Wie, was?“ fragte er und packte den Wikinger, der ihm an Größe in nichts nachstand. „Ich glaube, es wird allerhöchste Zeit, daß dir mal ein anderer als die Tochter Arkanas den Helm poliert! Aber dann hat er ein paar Beulen, die du bestimmt nicht wieder so schnell herausklopfen wirst wie die, die du dir damals auf Tortuga eingefangen hast!“. Die Rote Korsarin begann zu lachen und entwand sich den Fäusten des Wikingers geschickt. Auch der Boston-Mann und Araua grinsten bei dem Anblick, den die beiden Riesen boten, wie sie sich scheinbar zornig gegenüberstanden. „Das mit dem Helmpolieren, du kalfatertes Rübenschwein“, grollte der Wikinger, „das ist gar keine so schlechte Idee. Vielleicht komme ich noch darauf zurück, wenn wir mit diesem Don Bosco fertig sind und dann alle noch nicht genug Beulen im Helm oder sonst wo haben. Erst saufen wir beide dann ein Faß Rum zusammen; anschließend polieren wir dann meinen Helm oder deine Narbenfresse! Hohoho, das wird ein Fest, sage ich dir!“ Der Wikinger brüllte bei dieser Vorstellung vor Lachen, und auch die anderen grinsten. Gelächter brandete durch die Kapitänskammer des Schwarzen
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Seglers, aber sie alle wußten, daß es schon fast schwarzer Humor war, den sie sich gönnten. Sie trennten sich. Siri-Tong kehrte auf ihre Galeone „Roter Drache“ zurück, ein schwerarmiertes, großes Schiff, das seinesgleichen in der Karibik nicht fand. Der Wikinger, Ed Carberry und der Boston-Mann begannen mit ihrer Arbeit auf dem Schwarzen Segler. Sie wurden von Araua unterstützt, die zum Erstaunen der beiden Männer mit Geheimnissen über die Schlangeninsel herausrückte, von denen keiner der beiden auch nur die geringste Ahnung gehabt hatte. Erst als die Sonne schon merklich tiefer stand, lichteten die beiden Schiffe ihre Anker und setzten Segel. Bald darauf glitten sie durch die lange Dünung mit Kurs auf die Schlangeninsel davon. 5. Es war ein langer Tag gewesen. Don Bosco hatte gar nicht daran gedacht, seinen Gefangenen ihr Los etwas zu erleichtern. Mochte das für die Männer noch gerade zu verkraften sein, die Söhne des Seewolfs waren total erschöpft. Zusammengesunken hockten sie vor der Steuerbordnagelbank. Die letzten Strahlen der Sonne trafen sie. Aber davon merkten die beiden nichts. Zu essen hatten sie seit mehr als zwei Tagen nichts bekommen, hin und wieder etwas Wasser. Der Seewolf blickte sie an. Und sein Entschluß stand in diesem Augenblick fest. Sollte es ihm gelingen, diesem Don Bosco zu entkommen -bei alledem, was dann zu geschehen hatte, würden die beiden nicht dabei sein. Auf keinen Fall. Er würde sie, falls es überhaupt so weit kam, bei Arkana zurücklassen. Die beiden mußten sich erst einmal gründlich erholen. Zwar waren sie zäh, härter sicher auch, als sonst Kinder in ihrem Alter zu sein pflegten, aber das alles änderte gar nichts an der Tatsache, daß die beiden erst zehn Jahre zählten. Der Seewolf dachte an jene Nacht vor zehn Jahren, in der seine Frau Gwendolin den beiden das Leben geschenkt hatte. Damals
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hatte der Seewolf gehofft, mit seiner Frau glücklich zu werden. Doch dann, in einer Sturmnacht, auf der Flucht vor den Häschern der Krone, war seine Frau ums Leben gekommen. Die beiden Söhne Hasards, von Freunden außer Landes gebracht, waren entführt worden. Die lange Suche nach ihnen begann, eine Suche, die eigentlich von Anfang an ohne den geringsten Hoffnungsschimmer auf Erfolg blieb. Der Seewolf erinnerte sich an den schlimmen Tag, an dem er die Botschaft erhielt, seine beiden Söhne seien tot, das Opfer eines Racheaktes geworden. Daß das eine bösartige Lüge gewesen war, erfuhr der Seewolf erst an dem Tag, an dem sie die beiden bei einem Gaukler wiederfanden, der mit ihnen durch die Lande zog und für den sie Geld verdienen mußten. Hasard schloß für einen Moment die Augen. Es gab so viele Zwischenstationen noch. Aber die beiden lebten - und jetzt, jetzt sollten sie von diesem Unmenschen, diesem Don Bosco, eiskalt getötet werden? Der Seewolf war sich völlig darüber im klaren, daß von ihnen allen keiner eine Überlebenschance besaß, wenn der Pirat erst einmal die Schätze der Schlangeninsel an sich gebracht hatte. Er würde sie töten, alle, denn solange sie lebten, solange überhaupt die Gefahr bestand, daß auch nur einem von ihnen die Flucht gelang, bedeuteten sie eine Gefahr für den Piraten. Der Seewolf öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf den Franzosen, der sich um den Besanmast der „Isabella“ herumgeschoben hatte und ihn aus tiefliegenden Augen ansah. Wie den Seewolf hatte Don Bosco den Franzosen auch an den Besanmast anschließen lassen. „Es tut mir leid, Jean, daß du dein Schiff und wahrscheinlich auch einen Teil deiner Männer verloren hast“, sagte der Seewolf leise. „Ich hatte keine Wahl. Diese Bestie hätte uns umgebracht. Uns und alle anderen.“ Jean Ribault nickte. „Nein, du hattest keine Wahl, Hasard“, sagte er, und er dachte an die langen Jahre,
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die sie zusammen gesegelt waren, gemeinsam gekämpft hatten. „Jeder von uns muß täglich damit rechnen, daß Bruder Tod ihn holt, wir hatten lange Glück, zuviel Glück vielleicht.“ Jean Ribault schwieg eine Weile, dann aber sah er den Seewolf aus brennenden Augen an. „Wenn ich je lebend diese Fesseln wieder los werde, dann werde ich diesen Don Bosco jagen. Genau wie du es tun wirst. Und ich werde die Schlangeninsel nicht eher wieder betreten, bis ich weiß, daß er tot ist. Bis ich ihn tot vor mir gesehen habe. Oder bis du mir sagst, daß er tot ist. Das ist ein Schwur, Hasard.“ Der Seewolf nickte. Er und seine Seewölfe hatten- einen ähnlichen Schwur geleistet, an Bord der Galeere. Unwillkürlich suchten seine Blicke das Wrack, das immer noch auf den Felsen saß und sich nur manchmal leicht bewegte. Kein Laut war von dort zu ihnen herübergedrungen, kein Gebrüll, es war totenstill auf dem Riff. Nein - in diesem Moment glaubte der Seewolf nicht mehr daran, daß von seinen Freunden noch einer lebte, und Bitterkeit stieg in ihm auf. Gestorben waren sie, ertrunken, weil die Ketten, mit denen dieser Don Bosco sie an die Ruderbänke hatte anschließen lassen, sie daran gehindert hatten, sich zu retten. Der Seewolf dachte daran, daß er und seine Männer es stets vermieden hatten, auf Galeeren zu feuern. Die meisten seiner Seewölfe hätten Monate auf einer spanischen Galeere in der Mündung des Guadalquivir als Rudersklaven zugebracht, bevor es ihm und Ben Brighton schließlich gelungen war, sie wieder zu befreien. Sie wußten, welch ein grausames Schicksal diese armen Teufel erdulden mußten und daß sie die ersten waren, die in einer leckgeschossenen Galeere dran glauben mußten. Denn keiner dachte daran, sie loszuschließen, wenn eine Galeere sank. Hasard erinnerte sich, wie er seinen Vater als Rudersklaven auf einer solchen Galeere gefunden hatte, wie sein Vater in seinen Armen gestorben war.
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Es war, als stiege die ganze Vergangenheit der letzten Jahre in ihm empor, und Hasard vermochte sich dagegen nicht zu wehren. Sein Blick glitt zu Jan Ranse hinüber, der an die Schmuckbalustrade angeschlossen worden war. Jan Ranse wirkte ebenfalls erschöpft. Wahrscheinlich setzte ihm der schwere Schlag, der ihn am Schädel getroffen hatte. immer noch zu. Trotzdem winkte er dem Seewolf und Jean Ribault zu, und die beiden Männer erwiderten seinen Gruß. Die Sonne versank hinter den hohen Felsen der Schlangeninsel. Dämmerung legte sich über die Bucht. Unheimliche Stille herrschte, nur hin und wieder unterbrochen durch das Gelächter der Piraten irgendwo auf der „Isabella“. Es war dem Seewolf ein Rätsel, warum der Pirat nicht längst ein Landkommando ausgerüstet hatte - aber wahrscheinlich traute Don Bosco der Ruhe und der Stille auf der Insel nicht. Hinzu kam noch, daß er ein paar der Schlangenkriegerinnen erblickt hatte - und ob Hasards Erklärung von ihm akzeptiert worden war, der Seewolf bezweifelte das. Dieser Pirat war kein dummer Primitivling, ganz im Gegenteil. Er würde den nächsten Morgen benutzen, um an Land zu gehen. Ihn, seine beiden Söhne, Jean Ribault und Jan Ranse als Faustpfand in der Hand. Daran hatte er ja nicht den geringsten Zweifel gelassen. Es wurde dunkler in der Bucht. In diesen tropischen Breiten sank die Sonne schnell. In einer knappen Stunde schon würde die Nacht ihre ersten Schleier über die Schlangeninsel und die Karibik legen. Eine Nacht, in der sich alles entscheiden mußte, denn der nächste Tag brachte den Tod. Es wurde nichts mehr gesprochen zwischen ihm und Jean Ribault. Die Zwillinge schliefen fest, aber auch in ihre Züge hatte sich Bitterkeit eingekerbt. Sie wirkten in diesem Moment gar nicht mehr wie zwei zehnjährige Jungens. Hasard, der ältere von beiden, bewegte sich einmal im Schlaf, aber er erwachte nicht, und das war gut so. Die Nacht sank über die Insel. An Deck der „Isabella“ brannten bereits die
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Deckslaternen. Von Don Bosco war weit und breit nichts zu entdecken. Der Seewolf traute diesem rüden Gesellen glatt zu, daß er in der Kapitänskammer der „Isabella“ lag und schlief. Überall auf dem Schiff patrouillierten Wachen, mit Musketen und Pistolen bewaffnet. Auch die Bewacher, die Don Bosco aufs Achterdeck zu den Gefangenen kommandiert hatte, waren noch da. Keiner von ihnen traute sich, etwas zu trinken oder gar sich dem Würfelspiel zu ergeben. Sie hatten nicht vergessen, was der Pirat ihnen für diesen Fall für eine Strafe angedroht hatte. Und trotzdem lag etwas in der Luft. Der Seewolf und auch Jean Ribault spürten das mit jeder Nervenfaser. In der Dunkelheit der Bucht, in der Stille der Nacht tat sich etwas. Don Bosco wußte nichts von Arkana, der Schlangenpriesterin. Er hatte keine Ahnung von ihrer Art, zu kämpfen, wenn der offene Kampf von vornherein zu keinem Ergebnis führen konnte. Der Seewolf dachte plötzlich ganz intensiv an diese geheimnisvolle Frau. Ihr Bild erschien vor seinen Augen, der goldene Schlangengott, von Flammen umlodert, die seinem Leib den Anschein verliehen, als winde er sich zwischen ihnen hin und her, Arkana! schoß es dem Seewolf durch den Kopf. Sie ist in der Nähe. Fast körperlich spürte er ihre Anwesenheit. Sie war also unterwegs mit ihren Schlangenkriegerinnen! Der Seewolf ballte seine Hände zu Fäusten, und in diesem Moment stieß der Franzose ihn an. Unmerklich deutete er mit dem Kopf nach draußen in die Bucht — also hatte auch er es gespürt! Hasard spürte das Kribbeln in seinen Gliedern. Die Stunde der Entscheidung nahte, denn wenn es Arkana nicht gelang, sie zu befreien, dann war ihre letzte Chance endgültig vertan. * Doch sosehr der Seewolf und Jean Ribault auch warteten — die erste Nachthälfte verlief ruhig. Bis dann, kurz vor
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Mitternacht, etwas passierte, womit keiner von ihnen gerechnet hatte. Der Mahlstrom kenterte. Ohne jede Vorwarnung. Erst war es wie hohles Brausen, das den Felsendom erfüllte, dann spürte der Seewolf, wie die „Isabella“ in die Strömung gezogen wurde und wie sie an ihrer Ankertrosse zu zerren begann. Auch aus dem südlichen Teil der Bucht drang ein gewaltiges Gurgeln und Zischen zu ihnen herüber. Niemand hatte je ergründen können, was dort hinten, am äußersten Ende der Schlangenbucht, beim Kentern des Mahlstroms geschah — aber es war, als ob gewaltige Wassermassen aus der Tiefe der Bucht emporstiegen, einen Wasserberg oder auch eine Woge bildeten, die dann auf den Felsendom zurollten. Wehe dem Schiff, dessen Anker dann nicht hielt oder dessen Ankertrosse dem gewaltigen Zug nicht standhielt und brach! Der Seewolf und Jean Ribault starrten hohlwangig und aus bleichen Gesichtern, die bereits von Bartstoppeln überzogen waren, auf das Wasser der Bucht, so gut sie das bei der herrschenden Dunkelheit vermochten. Die Augen des Seewolfs suchten das Wrack der „Conchita“, und er erkannte im schwachen Licht der Sterne, die über der Bucht glitzerten, die Umrisse der Galeere. Auch Jan Ranse war plötzlich wieder hellwach, und die Zwillinge waren aufgesprungen und starrten ebenfalls ins Wasser, das gurgelnd an der „Isabella“ vorbeiströmte und an dem Dreimaster zerrte. Don Bosco stürmte an Deck. Wirr hingen ihm die Haare ins Gesicht. „Der Mahlstrom!“ sagte er. „Er ist umgekippt! Du Hund hast mich belogen, du hast versucht, mich zu täuschen. Ich weiß nicht, was du damit bezweckt hast, aber du hast gewußt, wann der Mahlstrom kentern würde!“ Der Seewolf antwortete nicht. Er hatte es nicht gewußt. Nur erinnerte er sich aus früheren Jahren, daß so etwas hin und wieder schon geschehen war. Man wußte nicht, wie dieser unheimliche Strom entstand, und es ließ sich auch niemals
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genau voraussagen, wann er einsetzen und wann er kentern und wann in der Bucht dann wieder völlig normale Verhältnisse herrschen würden. Der Seewolf starrte zur „Conchita“ hinüber. Dann spürte er, wie die heranrollende Wasserflut die „Isabella“ hob. Nur Sekunden später hatte sie das Riff erreicht — und unwillkürlich stöhnte der Seewolf auf. Die Galeere wurde ebenfalls emporgehoben, einen Moment lang balancierte sie auf den scharfen Felsen des Höllenriffs, dann hatte der Mahlstrom gesiegt. Er zog das Wrack mit sich fort. Es knirschte und krachte, als er die „Conchita“ von den Felsen riß. Deutlich sah der Seewolf, wie sie sich in den Strudeln des Mahlstroms zu drehen begann, ihr Heck tauchte tiefer und tiefer ein, und plötzlich sackte sie weg wie ein Stein. Ihr Bug stieg steil aus dem Wasser der Bucht, eine unheimliche Silhouette, die sich im Sternenlicht für wenige Augenblicke abzeichnete, dann glitt die „Conchita“ in die Tiefe. Der Seewolf stöhnte abermals auf. Hatte er bis zu diesem Moment noch Hoffnung gehabt, daß dieser oder jener seiner Männer überlebt haben könnte, so war diese Hoffnung jetzt dahin. Der Untergang der „Conchita“ zog einen Strich unter alles, er bedeutete das unwiderrufliche Ende der Seewölfe! Don Bosco begriff, was im Seewolf in diesem Moment vorging. Er wandte sich um, sein hämisches Lachen scholl über Deck. „Dieser Mahlstrom nimmt mir eine Menge Arbeit ab, Seewolf. Deine Kerle sind jetzt, wenn sie nicht längst verreckt waren, zur Hölle gefahren. Von denen droht mir keine Gefahr mehr, ich ...“ Der Seewolf sah plötzlich rot. War es die Dunkelheit, war es der Triumph, der Don Bosco so unvorsichtig sein ließ, in die Reichweite seiner Beine zu kommen, der Seewolf trat zu. Mit aller Kraft, die in ihm steckte. Don Bosco gelang es nicht mehr auszuweichen. Er brüllte auf, dann schoß er über Deck, prallte gegen die
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Schmuckbalustrade, zu seinem Schaden genau dort, wo Jan Ranse angekettet war. Der Steuermann Jean Ribaults trat ebenfalls blitzschnell zu, und wieder brüllte Don Bosco auf. Aber dieser Tritt, in den auch Jan Ranse seine ganze Kraft und seine ganze aufgestaute Wut gelegt hatte, hob ihn über die Schmuckbalustrade hinweg. Don Bosco schlug schwer aufs Hauptdeck, und dort blieb er regungslos liegen. Ein wütendes Geheul ertönte an Bord der „Isabella“, die Piraten, die eben noch an den Schanzkleidern der „Isabella“ gelehnt hatten, stürzten zu ihrem Anführer hinüber, aber der rührte sich nicht. Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Dunkle Gestalten sprangen plötzlich an Deck. Sie warfen tönerne Gefäße zwischen die Piraten, die beim Aufschlag sofort platzten und aus denen augenblicklich dichte Schwaden eines Nebels entwichen, der sogleich über die Decks zu kriechen begann. Immer mehr der Töpfe flogen an Bord. Die Piraten sprangen auf, einige von ihnen wurden von den heran fliegenden Tontöpfen getroffen und brachen zusammen. Andere begannen bereits den Nebel einzuatmen und begannen zu husten und zu würgen. Taumelnd rannten sie über die Decks, aber sie hatten schon nach wenigen Sekunden jede Orientierung verloren, sprangen oder fielen über Bord, hinein in den gurgelnden Mahlstrom, oder brachen zuckend und um sich schlagend auf der „Isabella“ zusammen. Die Piraten heulten wie die Teufel, ziellos rannten sie hin und her, suchten nach einem Gegner, der sich im Dunkel der Nacht verborgen hielt, den sie nicht sehen konnten. Stattdessen flogen ihnen weitere Töpfe um die Ohren. Diejenigen, die noch imstande waren, zu denken, wichen zum Vorschiff zurück. Sie wußten, daß es vor diesen Nebelschwaden, die hinter ihnen herkrochen, vermehrt und gespeist durch immer neue Töpfe, die mit einem dumpfen Knall an Deck explodierten, kein Entrinnen mehr gab. Ins Wasser der Bucht konnten sie nicht
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springen, das würde sie unerbittlich ins Inferno des nahen Felsendoms reißen, außerdem erinnerten sie sich in diesem Augenblick auch an die Schreckensbilder und Schreckensszenen, die sich beim Höllenriff abgespielt hatten. Sie dachten an die Haie und die anderen Ungeheuer, die in der Tiefe der Bucht auf sie lauerten. So zogen sie sich bis zum Vorkastell zurück, drängten sich auf der Back zusammen, und dann zerplatzte eine neue Serie von Tontöpfen genau zwischen ihnen auf den Planken oder traf ihre Schädel. Wieder brüllten die Piraten auf. Einige von ihnen rannten den Niedergang zum Hauptdeck hinab, aber weit kamen sie nicht, denn der Nebel erreichte sie, drang in ihre Lungen ein und ließ sie würgend zusammenbrechen. Ein Trupp von Piraten hatte es geschafft, sich bis zum Achterkastell durchzuschlagen. Dort war der Nebel noch nicht, aber dafür empfingen sie dunkle Gestalten, Frauen, wie sie zu ihrem Entsetzen feststellten, und drangen sofort auf sie ein. Im Nu waren die Piraten umringt. Ein kurzer, heftiger Kampf flackerte auf, dann herrschte plötzlich Ruhe auf dem Achterdeck. „Die Schlüssel, rasch!“ Arkana streckte fordernd die Hände aus, es ging jetzt um Sekunden. Denn wenn der Nebel auch das Achterdeck erst erreicht hatte, dann mußten sie und ihre Schlangenkriegerinnen auch wieder fort sein, oder ihnen blühte das gleiche Schicksal wie den Piraten. Der Seewolf zuckte zusammen. Zwar hatte er sich schon gedacht, wer die Angreifer waren, aber als Arkana plötzlich leibhaftig vor ihm stand, war das doch etwas anderes. Er wollte etwas sagen, aber sie trat rasch auf ihn zu. „Still, Seewolf, wenn uns der Nebel aus meinen Wurftöpfen erreicht, betäubt er uns wie alle anderen, die ihn eingeatmet haben. Deine Seewölfe leben, sie sind in Sicherheit, du wirst sie bald sehen.“ Sie probierte die Schlüssel, die ihre Unterführerin Tenua in der Kammer des Seewolfs auf dem schweren Eichentisch
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gefunden hatte, als Arkana und sie mit einer Gruppe von Schlangenkriegerinnen übers Heck ins Achterkastell eingedrungen waren. Sie paßten. Die Eisenschellen des Seewolfs öffneten sich und fielen klirrend mitsamt den Ketten an Deck. Arkana warf die Schlüssel einer ihrer Kriegerinnen in der Nähe der Schmuckbalustrade zu, an der Jan Ranse angeschlossen war. „Den zuerst!“ befahl sie. Denn sie sah, wie der Nebel eben begann, zum Achterkastell emporzukriechen. „Dann die beiden Söhne des Seewolfs, dann Jean Ribault! Aber beeilt euch, wir haben nicht viel Zeit!“ Zwei der Schlangenkriegerinnen rannten zu Jan Ranse hinüber, um ihrer Gefährtin zu helfen, eine andere kniete sich bei den Söhnen des Seewolfs nieder, wieder eine Gruppe bewachte die Niedergänge und sicherte Arkana und die anderen gegen unliebsame Überraschungen vom Hauptdeck her ab. „Wir wußten, Seewolf, daß der Mahlstrom noch in der ersten Nachthälfte kentern würde, und darauf hatten wir unseren Plan aufgebaut. Wir wußten auch, daß er die ,Conchita’ vom Riff reißen und daß sie sinken würde. Die Aufmerksamkeit der Piraten würde dadurch abgelenkt werden, und genau diesen Moment nutzten wir. Deine Aktion allerdings hat uns dabei noch wesentlich geholfen.“ Arkana hatte rasch gesprochen, sie hatte den Seewolf gar nicht zu Wort kommen lassen. Sie sah auch, daß der Seewolf ihr gar nicht richtig zugehört hatte. „Meine Seewölfe leben?“ fragte er. „Arkana, meine ...“ Sie legte ihm die Hand auf die Lippen. „Sie leben, wir haben sie befreit. Durch Zufall entdeckten wir, daß sie sich auf der Galeere befanden und nicht bei euch auf der ‚Isabella’. Aber komm jetzt, wir haben keine Zeit, wir müssen weg!“ Die ersten Schwaden krochen über die Planken des Achterkastells. Durch den Seewolf ging ein Ruck. „Don Bosco“, sagte er dumpf, „wo ist dieser Kerl? Ich will ihn haben, ich lasse
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diesen Bastard nicht auf der ‚Isabella’ zurück, ich ...“ „Du kannst an ihn nicht heran, oder alles war umsonst. Er liegt auf dem Hauptdeck, er entgeht uns nicht, denn er wird erst sehr spät aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen, wenn er überhaupt noch lebt. Er hatte eine Verletzung am Schädel. Vom Sturz aufs Hauptdeck, vermute ich.“ Arkana drängte den Seewolf über das Achterkastell. Die anderen Kriegerinnen hatten Jan Ranse, Jean Ribault und die Zwillinge in ihre Mitte genommen und folgten Arkana. Der Seewolf knirschte mit den Zähnen. „Du weißt nicht, was dieser Bastard uns angetan hat. Nein, er wird mir nicht entgehen, jetzt, wo wir wieder frei sind und wo meine Seewölfe leben, dreimal nicht. Und wenn er bis ans Ende der Welt fliehen und sich in der Hölle verkriechen sollte ...“ „Er wird nicht fliehen, wir holen ihn uns, aber komm jetzt, Seewolf, oder es ist zu spät!“ Arkana sah zum Nebel hinüber, der sich nun rasch auch auf dem Achterkastell ausbreitete und bereits den Besanmast erreicht hatte. Arkana stand achtern am Schanzkleid. „Spring, Seewolf!“ sagte sie. „Wir haben dafür gesorgt, daß die Kraken uns vom Leib bleiben, die Haie sind mit dem Mahlstrom schon wieder aus der Bucht heraus. Deine beiden Söhne übernehmen wir. Unten am Heck warten meine Schlangenkriegerinnen, sie halten Leinen bereit, mit denen man uns ans Ufer ziehen wird, denn keiner vermag jetzt mehr gegen den Mahlstrom anzukämpfen.“ Der Seewolf sprang. Direkt unter dem Heck, unweit vom Ruderblatt der „Isabella“, kam er auf. Sofort spürte er eine der Schlangenkriegerinnen neben sich, die durch eine weitere Leine mit der „Isabella“ verbunden war und so auch nicht vom Mahlstrom abgetrieben werden konnte. Der Seewolf ahnte in diesem Moment, daß Arkana und ihre Kriegerinnen den Überfall auf die „Isabella“ in stundenlanger, schwerer, gefahrvoller und mühseliger Arbeit vorbereitet hatten. Die Schlangenkriegerin warf dem Seewolf eine
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Leine zu, mit der anderen Hand umklammerte sie seinen Leib. Nach dem Seewolf sprang der Franzose, dann Arkana und Tenua, die die Zwillinge in ihren Armen hielten. Auch auf sie schwammen sofort Schlangenkriegerinnen zu, und Arkana und ihre Unterführerin fingen die Leine geschickt auf. Gleich darauf ging ein Ruck durch die Leinen, und dem Seewolf kam es vor, als ob ihn Titanenfäuste durch den gurgelnden und an seinem Körper wie wild zerrenden Mahlstrom rissen. Er begriff in diesem Moment, daß ohne die sorgfältigen Vorbereitungen Arkanas seine Rettung, die seiner Söhne, Jean Ribaults und Jan Ranses gar nicht möglich gewesen wäre. Wenige Augenblicke später wurde er auf den Strand gerissen und - fand sich inmitten seiner Seewölfe wieder, die ihm aber sofort den Mund zuhielten. Ferris Tucker und Big Old Shane zogen den Seewolf hinter einen der Felsen. Der Seewolf hörte, wie heftig der Atem seiner Männer ging, und er spürte, daß es die Freude, die Erleichterung darüber war, daß die Rettungsaktion geglückt war. „Arkana hat uns eingeschärft, daß wir schweigen sollten!“ sagte Ferris Tucker leise, und Ben Brighton nickte zur Bestätigung. „Dieser Hund von Don Bosco soll weiterhin glauben, daß wir alle mit der ,Conchita` abgesoffen sind. Umso schlimmer wird für ihn dann das Erwachen sein!“ Arkana und ihre anderen Schlangenkriegerinnen hetzten mit dem Franzosen, seinem Steuermann und den beiden Söhnen des Seewolfs heran. Auch sie verschwanden sofort hinter den Felsen, die an dieser Stelle, unweit vom Felsendom, auf dem weißen Sandstrand lagen. „Ich sage dir, Sir, dieser Kerl wird Augen machen, wenn er mit seinem Brummschädel hustend und spuckend wieder erwacht und ihr fort seid! Nichts ist’s mehr mit den Schätzen, aber der Kerl ist gefangen. Ohne den Mahlstrom kann er nicht heraus aus der Bucht. Und dann, wenn diese Nebel sich aufgelöst haben,
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wenn sie auch für uns keine Gefahr mehr bedeuten, dann holen wir uns diese Kerle dort. Dann räumen wir auf!“ Der Seewolf hörte das alles nur wie im Unterbewußtsein, denn die Schlangenpriesterin stand vor ihm. Plötzlich streckte sie ihm ihre Hand hin. „Komm“, sagte sie. „Wir können im Augenblick nichts mehr tun. Wir werden uns jetzt darum kümmern, daß ihr rasch wieder zu Kräften gelangt, denn ihr werdet sie brauchen. Don Bosco und seine Kerle sind uns sicher, sie werden erst spät am nächsten Vormittag wieder erwachen, und selbst dann werden sie noch für Stunden so hilflos sein wie Kinder, die eben das Licht der Welt erblickt haben. Der Nebel ist eine unserer alten Waffen. Niemand von uns vermag zu sagen, woher unsere Vorfahren sie hatten, aber es gibt sie schon lange. Wir kennen ihre Wirkung genau, und alles, was wir brauchen, um neue Töpfe herzustellen, haben wir damals von Mocha aus dem Schlangentempel mitgebracht.“ Arkana zog den Seewolf mit sich fort. Er war unfähig, etwas zu sagen, die Freude, seine Seewölfe am Leben zu wissen, hatte ihn wie seine Söhne und seine beiden anderen Gefährten halb betäubt. 6. Pablo und Nuno hatten den Untergang der „Conchita“ ebenfalls überstanden, denn Arkana hatte sie durch ihre Kriegerinnen aus den Trümmern an Deck der Galeere befreien lassen, als sie die Seewölfe vor dem Kentern des Mahlstroms von Bord holten. Und zwar auf ganz ähnliche Weise wie den Seewolf, die Zwillinge, Jean Ribault und Jan Ranse von der „Isabella“. Arkana hatte Nuno und Pablo an zwei Palmen fesseln lassen, die unweit des Felsendoms standen und auch unweit von der Stelle, an der sie und die Seewölfe sich hinter den Felsen bis zum Beginn ihrer Befreiungsaktion verborgen hatten. Gefahr, daß Don Bosco die beiden ¬er blickte, bestand nicht, dazu war es zu dunkel. Daß die beiden nicht schreien konnten, dafür war ebenfalls gesorgt.
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Daß sie damit trotzdem einen verhängnisvollen Fehler beging, konnte sie sowenig ahnen wie die Seewölfe, die die beiden am liebsten sofort und ohne viel Federlesens zur Hölle geschickt hätten. Aber Arkana war dagegen gewesen. Sie rechnete den Seewölfen nüchtern vor, daß es besser sei, Don Bosco, Pablo und Nuno einem Verhör zu unterziehen, dem diese drei Halunken bestimmt nicht lange widerstehen würden. Arkana kannte ihre Verhörmethoden. Und sie basierten weniger auf der Folter, sondern auf der Verwendung besondererer Getränke, die aus speziellen Kräutern zusammengebraut und den zu Befragenden dann eingeflößt wurden. Das hatten sie schon auf Mocha mit spanischen Gefangenen praktiziert, das würde auch in diesem Fall seine Wirkung tun. Arkana erhoffte sich, durch ein solches Verhör zu erfahren, wie stark die Piraten auf den Caicos-Inseln überhaupt waren und wo sich ihre Schlupfwinkel befanden. Denn daß es jetzt mit dem Frieden und der Sicherheit der Schlangeninsel wie in den vergangenen Jahren vorbei sein würde, wenn man die Piraten nicht von den Caicos-Inseln verjagte, das lag auf der Hand. Die Seewölfe hatten sich diesen Argumenten gebeugt, widerwillig und knurrend zwar, aber eben doch. Vor allem wollten sie der Entscheidung, die Hasard nach seiner Befreiung fällen würde, nicht vorgreifen. Und deshalb standen die beiden Gefangenen auch jetzt noch, da Arkana und die Seewölfe in Richtung Schlangentempel verschwunden waren, an ihren Palmen. Niemand wußte später mehr zu sagen, ob man die beiden in der Wiedersehensfreude und wegen der gelungenen Rettung einfach vergessen hatte oder ob Arkana sie auf der Insel für so sicher gehalten hatte, daß nicht einmal eine Wache bei ihnen zurückblieb. Das war jedoch der zweite Fehler, den sowohl die Seewölfe als auch die sonst in solchen Dingen keinesfalls nachlässigen Araukanerinnen begingen. Pablo und Nuno hatten natürlich mitbekommen, was geschehen war. Auch
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das wütende Geheul ihrer Spießgesellen, das dann aber nach und nach erstorben war, hatten sie vernommen. Nuno begriff überhaupt nicht, was dort an Bord der „Isabella“ geschehen sein konnte, dazu reichte sein Spatzenhirn einfach nicht aus. Pablo ahnte, auf welche Weise die Schlangenpriesterin die Befreiung des Seewolfs vorgenommen haben konnte, auch wenn er überhaupt nicht verstand, woher diese halbnackten und äußerst kampferfahrenen Mädchen überhaupt stammten und was sie auf der Schlangeninsel zu suchen hatten. Nur daß Don Bosco ganz offensichtlich auf einen Gegner gestoßen war, mit dem er nicht gerechnet hatte, das stand für ihn fest. Pablo zerrte an seinen Stricken –aber die, das merkte er bald, hielten, die waren für ihn aus eigener Kraft nicht zu lösen. Er wollte jedoch fort von dieser verfluchten Insel. Irgendwo mußte ein Boot liegen, gleich, wie klein oder wie groß es war, es würde genügen. Er hatte die Blicke der Seewölfe, mit denen sie ihn und Nuno bedacht hatten, nicht vergessen. Der kommende Morgen würde für ihn und Nuno bestimmt nichts Gutes bringen, das war ihm klar. Zumal Don Bosco und seine Männer vielleicht auch nicht mehr lebten, denn diese braunhäutigen Mädchen, diese Amazonen; mußten Don Bosco und seine Männer umgebracht haben, anderenfalls wäre ihnen die Befreiung des Seewolfs und der anderen Geiseln niemals gelungen. So dachte Pablo, und es war naheliegend, daß er es tat. Wieder zerrte er an seinen Palmfaserstricken und wieder ohne jedes Ergebnis. Er warf einen Blick auf Nuno. Was ihm nicht gelang, das konnte diesem hirnlosen Muskelberg vielleicht gelingen. Sprechen konnte Pablo nicht, daran hinderte ihn der breite Riemen, der seinen Mund verschloß und gleichzeitig seinen Kopf gegen den Stamm der Palme preßte. Aus den Augen bemerkte er, daß auch Nuno die wildesten Anstrengungen unternahm, wieder loszukommen, allerdings ebenso vergeblich wie er.
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Pablo packte das Entsetzen. Sie mußten ihre Flucht irgendwie bewerkstelligen, und zwar bald. Denn es würde nicht lange dauern, dann kehrten die Seewölfe mit diesem großen, schwarzhaarigen Teufel zurück, dessen eisblaue Augen ihm alleine schon Schauer des Entsetzens über den Rücken trieben. Unermüdlich setzten die beiden ihre Bemühungen fort, voller Hast, mit schweißnassen Körpern und jagendem Puls. Zur gleichen Zeit pirschte sich ein anderer Mann über die Schlangeninsel, sein breites Entermesser in der Hand, bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Auch er hatte das wilde Geheul vernommen, das von der „Isabella“ her über die Bucht bis zu ihm gedrungen war. Daß er nicht auf der Schlangeninsel bleiben konnte, darüber war Juan Mendoza sich ebenfalls klar. Und in die Hände ihrer Bewohner wollte er nach alledem, was geschehen war, schon gar nicht fallen. Also brauchte er ein Boot, mit dem er seinen Häschern zu entkommen vermochte. Langsam schlich er weiter, und oft blieb er stehen, um zu lauschen. Folgerichtig sagte er sich, daß er nahe dem Ankerplatz der „Isabella“ am ehesten die Chance hatte, ein Boot zu finden, und dorthin schlich er sich. Die deutlich erkennbare Silhouette des Dreimasters wies ihm den Weg. Wiederum zur gleichen Zeit erwachte Don Bosco auf dem Hauptdeck der „Isabella“, allen Voraussagen der Schlangenpriesterin zum Trotz. Und das war der dritte schwere Fehler, den Arkana diese Nacht begangen hatte. Es war ihr entgangen, daß Don Bosco, bereits bewußtlos, als ihre Schlangenkriegerinnen die Tontöpfe mit dem betäubenden Nebel warfen, kaum noch atmete, durch seine tiefe Bewußtlosigkeit einen kaum noch spürbaren Puls besaß. Alle seine Lebensfunktionen waren auf ein Minimum reduziert. Als weiterer unglücklicher Umstand kam noch hinzu, daß er an Deck der „Isabella“ an einer Stelle lag, an der der von der Bucht her mit dem Kentern des
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Mahlstromes aufkommende leichte und dann immer stärker wehende Wind die Nebelschwaden immer wieder verdrängte. Im Gegensatz zu seinen übrigen Männern atmete Don Bosco von den betäubenden Schwaden nur eine ganz geringe Menge ein. Don Bosco stemmte sich hoch. Sein Schädel dröhnte, Übelkeit erfüllte ihn, und vor seinen Augen drehte sich alles. Er brauchte eine ganze Weile, ehe er sich daran erinnerte, was ganz zuletzt, bevor er das Bewußtsein verloren hatte, geschehen war. Er stemmte sich weiter hoch, aber ein stechender Schmerz, der seinen Schädel durchfuhr, ließ ihn innehalten. Und erst jetzt bemerkte er die Totenstille, die an Deck der „Isabella“ herrschte. Verdammt, wo waren seine Männer? Wieso ließ man ihn einfach an Deck liegen und kümmerte sich überhaupt nicht um ihn? Don Bosco wollte nach seinen Männern brüllen, wollte endgültig aufspringen, aber wieder hinderte ihn ein scharfer, stechender und nahezu unerträglicher Schmerz in seinem Schädel daran. In diesem Moment begriff Don Bosco endgültig, daß etwas geschehen sein mußte an Bord der „Isabella“. Etwas, das nicht in seine Pläne gehörte. Don Bosco brüllte nicht, im Gegenteil, er verhielt sich völlig still. Nach und nach richtete er sich auf, und indem er alle Bewegungen langsam vollführte, ging es. Vorsichtig schlich er über Deck, und er sah seine Männer liegen, zusammengekrümmt, mit verzerrten, entsetzten Gesichtern. Sie lagen auf dem Hauptdeck, er fand sie auf der Back, er fand sie bei den Niedergängen – keiner schien davongekommen zu sein. Don Bosco brach der Schweiß aus. So schnell er konnte, hastete er zum Achterdeck zurück, und ihm schwante Böses. Er achtete diesmal nicht mehr auf die stechenden Schmerzen in seinem Schädel, sondern stieg die Stufen zum Achterdeck empor. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Die Gefangenen waren fort. Alle!
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Um Don Bosco begann sich alles zu drehen. Er taumelte zur Schmuckbalustrade, dorthin, wo noch vor kurzer Zeit Jan Ranse angeschlossen gewesen war, der Steuermann dieses verfluchten Franzosen. Die Ketten lagen auf dem Deck, die eisernen Schellen, in denen die Arme gesteckt hatten, waren aufgeschlossen. Don Bosco saugte Luft in seine Lungen. Eine ganze Weile blieb er an der Schmuckbalustrade stehen. Allmählich wurde ihm besser. Er ging zum Besanmast hinüber. Das gleiche Bild – die Eisenfesseln, aufgeschlossen, lagen an Deck. Auch an der Steuerbordnagelbank des Besanmastes verhielt es sich so. Don Bosco wußte nicht, was sich an Bord der „Isabella“ abgespielt hatte, aber er begriff, daß er diese Partie verloren hatte. Daß seines Bleibens auf der Schlangeninsel nicht mehr war, daß er verschwinden mußte, so schnell wie möglich. Gelang ihm die Flucht von dieser Hölleninsel, dann hatte er noch eine Chance, dann würde er zurückkehren, mit einer Armada von Piratenschiffen, und dann würde es kein Entrinnen mehr für die Seewölfe geben. Don Bosco erstickte fast an der Wut, die in ihm tobte. Dieser verfluchte Seewolf hatte ihn doch überlistet! Sein Gefasel vom Kentern des Mahlstroms erst am nächsten Morgen war eine faustdicke Lüge gewesen. Dieser Hund hatte gewußt, daß ihm im Laufe der Nacht jemand zu Hilfe eilen würde, mit Mitteln, die Don Bosco nicht kannte, von denen er nie etwas gehört hatte. Er dachte an die braunhäutigen, barbusigen Mädchen und Frauen, die er am Strand gesehen hatte, und plötzlich fiel es dem Piraten wie Schuppen von den Augen. Sie waren es gewesen! Man erzählte sich ja so allerhand von diesem Seewolf. Wo er sich überall herumgetrieben hatte, daß er Indianerstämme gegen die Spanier verteidigt hatte. Eine Leibgarde hatte sich dieser Hundesohn angeschafft, eine Schutztruppe für die Insel: Amazonen — bildschöne Mädchen. Wie praktisch für ihn
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und seine Kerle und alle, die noch auf dieser Insel lebten! Der Tortuga-Pirat kochte vor Wut, aber dann begann er zu überlegen. Er mußte ans Ufer, er brauchte ein Boot. Er hatte dort sogar eine kleine Schaluppe liegen sehen, weiter vorne zwischen den Felsen. Don Bosco war kein Mann, der lange fackelte. Nur sofortige Flucht rettete sein Leben, also mußte er alles, einfach alles riskieren. Don Bosco warf einen letzten Blick über die „Isabella“, und wieder knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Verdammt, dieser stolze, schnelle Segler wäre genau das gewesen, was er gebraucht hätte! Entschlossen stieg er zum Hauptdeck hinab. Bald hatte er gefunden, wonach er suchte. An einem Tampen, der ins Wasser hing, glitt er an der Bordwand hinab. An seine Männer, die verkrümmt auf den Decks der „Isabella“ lagen, verschwendete er keinen weiteren Gedanken. Entweder waren die Kerle schon tot, dann nützten sie ihm sowieso nichts mehr. Oder sie würden sterben, denn die Seewölfe brachten sie um, und damit waren sie für ihn ebenfalls erledigt. Don Bosco glitt an der Bordwand entlang. Er spürte, wie der Mahlstrom an ihm zerrte, und ihn packte plötzlich die Furcht, von ihm in den dunkel gähnenden Schlund des Felsendomes gerissen zu werden. Entsetzen packte ihn, wenn er nur daran dachte. Noch während er an der „Isabella“ entlang glitt und sich nicht ins offene Wasser traute, stießen seine tastenden Hände plötzlich auf ein Seil, das von der „Isabella“ fortführte. Sofort war er hellwach. Er tastete sich an dem Seil weiter, und so entdeckte er den vierten Fehler, den die Araukanerinnen in dieser Nacht begangen hatten. Eines der Seile, die die Galeone des Seewolfs mit dem Ufer verbanden, war von ihnen vergessen worden. Don Bosco begriff schlagartig, wozu das Seil diente. Er ließ die „Isabella“ fahren, kämpfte sich an dem Seil entlang durch den Mahlstrom bis ans Ufer der Bucht.
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Dort hielt er schweratmend inne, um sich dann aber sofort wieder ins Wasser zurückzuziehen und sich dort flach hinzulegen. Denn vor ihm erklangen gedämpfte Stimmen. * Juan Mendoza hatte sich näher und näher an den Liegeplatz der „Isabella“ herangeschlichen, die unweit des Ufers in der Bucht ankerte. Zufällig bewegte er sich geradewegs auf die beiden Palmen zu, die dort in der Bucht standen und an die man Nuno und Pablo gefesselt hatte. Juan bemerkte die beiden erst, die durch die starken Stämme der Palmen nahezu ganz verdeckt würden, als er heran war. Sofort zuckte sein Messer hoch, doch dann erkannte er, daß die beiden Männer vor ihm gefesselt waren. Er schlich näher. Unhörbar für Pablo und Nuno, und die beiden erschraken nicht schlecht, als Juan plötzlich vor ihnen aus der Dunkelheit auftauchte. Trotzdem erkannte Pablo ihn sofort und Juan seine einstigen Spießgesellen ebenfalls. Blitzschnell überlegte er. Wie kamen die beiden hierher, an den Strand? Sie mußten doch mit der Galeere abgesoffen sein. Dann siegte seine Neugier. Mit einem Ruck riß er die Lederriemen herunter, die die Knebel hielten. Pablo und Nuno holten tief Luft. Sie hatten ja keine Ahnung, was an Bord der „Isabella“ vorgefallen war und daß Don Bosco Juan zum Tode verurteilt hatte, daß Juan ihm nur entwischt war, indem er einfach über Bord sprang, noch ehe die Häscher Don Boscos ihn zu packen vermochten. „Juan!“ stieß Pablo erleichtert hervor. „Verdammt, wie kommst du hierher’? Los, schneide unsere Fesseln auf, wir müssen hier verschwinden. Du mußt doch am allerbesten wissen, was dort drüben passiert ist!“ Er machte eine Kopfbewegung zur „Isabella“ hinüber. Juan überlegte fieberhaft. Aber er hütete sich dennoch zuzugeben, daß er gar nichts wußte, weniger vielleicht als diese beiden.
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Trotzdem wenn sie ein Boot oder gar eine Schaluppe fanden, dann war eine Flucht zu dritt immer noch wesentlich erfolgversprechender als allein. Pablo zerrte nervös an seinen Fesseln. „Los, beeil dich, Juan! Himmel und Hölle, worauf wartest du denn noch? Diese verfluchten Seewölfe und diese braunhäutige Teufelin können jeden Moment hier wieder auftauchen, dann ist unsere Chance, ihnen zu entwischen, vertan!“ Das gab den Ausschlag., Nichts fürchtete Juan mehr, als dem Seewolf und seinen Kerlen in die Fäuste zu fallen, gleich, wie sie von der „Conchita“ entkommen waren und wie sie die Strandung der Galeere überlebt haben mochten. Juan war nicht der Mann, der seine Zeit mit überflüssigen Fragen vergeudete. Er durchtrennte erst die Fesseln Pablos, dann die des Glatzkopfes. Nuno reckte die mächtigen Schultern, und seine Augen begannen zu funkeln. „So, jetzt brauchen wir ein Boot, und dann nichts wie weg, dieser verdammte Mahlstrom zieht uns in die offene See. Nur im Felsendom müssen wir aufpassen, daß der Kahn nicht querschlägt und an den Felsen entlangschrammt. Wenn wir da baden gehen, dann ist’s aus mit uns ...“ Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit, schritt auf sie zu. „Das glaube ich nicht“, hörten sie den Mann sagen, und Nuno, der sich schon auf den Ankömmling hatte stürzen wollen, prallte zurück. „Don, du, wie ...“, stotterte er. Don Bosco trat an die Männer heran. „Das ist eine lange Geschichte, Nuno“, sagte er. „Die heben wir uns für später auf, für sie ist jetzt keine Zeit. Ihr habt recht, wir müssen verschwinden. Weiter hinten liegt eine Schaluppe, ich habe sie von der ‚Isabella’ aus gesehen.“ Don Bosco verstummte. Aus schmalen Augen fixierte er Juan Mendoza. „Du mußt durch die Passage geschwommen sein, Juan“, sagte er, und seine Stimme klang nicht unfreundlich. „Schließlich bist du ja über Bord
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gesprungen, und fliegen kannst du nicht. Deswegen kann diese Passage auch gar nicht so schlimm sein, oder irre ich mich, Juan?“ Juan ließ sich von der Freundlichkeit Don Boscos täuschen. „Doch, die Hölle war’s, wirklich die Hölle. Ich weiß nicht, wie ich über& lebt habe, ich weiß es nicht. Der Mahlstrom hat mich angeschwemmt, dahinten in der Bucht.“ Juan Mendoza beging den zweiten Fehler, er steckte sein Messer wieder in den Gürtel. „So war das also“, sagte Don Bosco langsam, obwohl ihm die Zeit unter den Füßen brannte. „Es ist wirklich ein Wunder, daß du das überlebt hast, aber vielleicht hast du das auch gar nicht, vielleicht stimmt das alles gar nicht, und du bildest dir das nur ein!“ Blitzschnell hatte Don Bosco ihm das Messer aus dem Gürtel gerissen. Ebenso rasch stieß er zu und traf Juan Mendoza in die Brust. Der Pirat sank zu Boden, aus weit aufgerissenen Augen starrte er Don Bosco an. „Ich hatte dich zum Tode verurteilt, Juan“, sagte Don Bosco. „Wen Don Bosco zum Tode verurteilt, der überlebt nicht. Abgesehen davon hat die Schaluppe gerade Platz für Pablo, Nuno und mich. Fahr zur Hölle und sieh nach, ob es dort höllischer ist als im Mahlstrom im Felsendom.“ Er wischte das Entermesser an der Hose ab und reichte es Pablo. „Hier, ich habe selber eins. Und jetzt fort von hier. Wenn dieser Seewolf uns erwischt, dann ist es aus mit uns!“ Pablo und Nuno hatten der heimtückischen Ermordung ihres Spießgesellen wie erstarrt zugesehen. Sie begriffen nichts von alledem, was Don Bosco zu ihnen sagte. Aber sie stellten auch keine Fragen, dazu war in diesem Moment nicht die Zeit. Außerdem wußten sie aus Erfahrung, daß es gefährlich sein konnte, Don Bosco Fragen zu stellen, die er nicht hören wollte. Zusammen mit Don Bosco rannten sie davon. Am Strand zurück blieb der verkrümmte Körper des Ermordeten.
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Don Bosco fand die Schaluppe ohne Schwierigkeiten. Gemeinsam zogen sie das Boot ins Wasser. Dann schwangen sich Don Bosco und Pablo hinein, während Nuno die Schaluppe mit seinen Bärenkräften noch weiter bis ins tiefer werdende Wasser schob. Anschließend zog auch er sich ins Boot. Im Nu hatten die drei Männer das Segel gesetzt, der Mahlstrom ergriff die Schaluppe und riß sie mit sich fort. Wenige Augenblicke später verschwand sie im gischtenden Felsendom. * Arkana hatte auf dem Weg zum Schlangentempel ein schnelles Tempo vorgelegt. Hasard war es, der sie schließlich stoppte. „Halt, Arkana“, sagte er, und in seinen Augen glomm ein unheilvolles Feuer. „Wir sind im Begriff, einen Fehler zu begehen. Es mag sein, daß deine Töpfe für die nächsten Stunden noch wirken, aber mir ist das zu unsicher. Dahinten auf der ‚Isabella’ liegt Don Bosco. Ein Mann, der, falls er uns entkommt, alle Piraten der Karibik auf uns hetzt, und das sind eine ganze Menge. Ich werde nie wieder so dumm sein, einen Feind wie ihn zu unterschätzen. Ich kehre um, und meine Seewölfe werden ebenfalls umkehren. Wir holen uns diesen Don Bosco, und zwar sofort.“ Die Schlangenpriesterin sah den Seewolf an. Aber ihr genügte ein einziger Blick, um zu erkennen, wie unversöhnlich dieser Mann in diesem Augenblick war. Kein Argument würde ausreichen, ihn daran zu hindern, das zu tun, was er vorhatte. Zu tief schwelte der Haß gegen den TortugaPiraten in ihm, und Arkana konnte das verstehen. „Gut“, sagte sie. Und auch ihre dunklen Augen blitzten auf. „Vielleicht hast du recht. Entkommen darf dieser Mann auf keinen Fall. Aber vorhin hätten wir ihn nicht holen können, es war unmöglich, der Nebel hätte euch genauso betäubt wie alle anderen auch.“
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Sie rief ihre Unterführerin und erteilte ihr einige Anweisungen. „Sie wird uns ein Boot holen, noch läßt der Mahlstrom nicht zu, daß wir zur ‚Isabella’ hinüberschwimmen. Tenua und ihre Kriegerinnen werden nur etwas später zur Stelle sein als wir, eines unserer großen Boote liegt hier ganz in der Nähe zwischen den Felsen.“ Die Unterführerin verschwand mit ein paar Schlangenkriegerinnen, und der Seewolf dachte für einen winzigen Moment an Mocha. Die Disziplin unter den Araukanerinnen war noch immer die gleiche wie damals, in dieser Beziehung hatte sich nichts geändert. Arkana wollte schon wieder weiter, zurück zu jener Stelle der Bucht, an der sie die beiden Gefangenen wußte. Und erst in diesem Moment bemerkte sie voller Schrecken, daß keiner von ihnen allen daran gedacht hatte. ein oder zwei Wachen bei den Gefangenen zurückzulassen. Der Seewolf hielt sie jedoch noch einmal zurück. „Meine beiden Söhne, Arkana“, sagte er. „Ich möchte, daß eine deiner Kriegerinnen sie in den Schlangentempel bringt. Dort sind sie in Sicherheit, dort können sie sich ausruhen. Sie brauchen dringend Ruhe.“ Er trat ganz nahe an Arkana heran, seine Blicke sogen sich in den ihren fest. „Wie geht es Araua, unserer Tochter?“ fragte er leise. Arkana lächelte. „Sie befindet sich in der Obhut des Wikingers, Seewolf. Sie begleitet ihn des öfteren auf seinen Reisen, die er mit dem Schwarzen Segler unternimmt. Du wirst sie sehen, später.“ Wieder gab sie einige Befehle. Eine ihrer Kriegerinnen ging zu den Zwillingen hinüber, die zwar zu protestieren versuchten, unter den Blicken ihres Vaters aber sofort verstummten. „Keine Widerrede“, sagte der Seewolf nur. „Ihr werdet jetzt in den Schlangentempel gehen, dort wird für euch gesorgt. Was hier jetzt noch zu tun bleibt, das ist unsere Sache.“
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Er versetzte den beiden einen freundschaftlichen Klaps, und die Schlangenkriegerin, eine junge Frau, nahm die Zwillinge bei den Händen und war gleich darauf mit ihnen verschwunden. Arkana und die Männer brauchten nicht lange, bis sie vor den Palmen standen, an denen sich die Gefangenen befunden hatten. Das Gesicht des Seewolfs verfinsterte sich, als er sich zu dem Toten hinabbeugte, der unweit der beiden Palmen im weißen Sand des Strandes lag. Er drehte ihn um, und dann fuhr er zurück. Er erkannte den Mann sofort als denjenigen, der von der „Isabella“ geflohen war. Langsam richtete er sich auf. „Das ist Don Boscos Werk“, sagte er, und seine Seewölfe begannen zu knurren, während er einen Blick zur „Isabella“ hinüberwarf. Aber dort war noch alles still, nichts rührte sich auf der Galeone. Anschließend ging er langsam den Strand entlang, und dann fand er auch das Seil, das von der „Isabella“ bis zum Stamm einer Palme führte, die weiter unten in der Bucht stand. Arkana trat neben ihn. Ihre dunklen Augen starrten das Seil an. „Du hast recht, Seewolf, Don Bosco ist geflohen!“ sagte sie dann, und hinter ihrer hohen Stirn begannen die Gedanken zu jagen. Dann hatte sie es. „Er muß schon bewußtlos gewesen sein, ehe wir unsere Töpfe warfen. Er hat nicht genug von dem Nebel eingeatmet, er ist früher erwacht als die anderen.“ Arkana berührte den Seewolf mit den Fingerspitzen am Arm. „Es tut mir leid, Seewolf“, sagte sie leise. „Es ist sehr selten, daß mir solche Fehler passieren. Wir müssen ihn wieder einfangen, falls er wirklich entflohen ist. Dahinten lag eine Schaluppe, seht nach, ob sie noch dort ist. Du, Seewolf, kommst mit mir, denn du kennst diesen Don Bosco!“ Die Seewölfe stürmten los, Hasard und Arkana glitten ins Wasser und zogen sich an dem Tau, das immer noch eine feste Verbindung zwischen dem Ufer der Bucht und der „Isabella“ darstellte, zur Galeone
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hinüber. Dabei spürten sie, daß der Mahlstrom tatsächlich noch viel zu stark war, als daß sie zur „Isabella“ hätten hinüberschwimmen können. An der Bordwand der „Isabella“ verharrten sie regungslos. Aber an Bord des Dreimasters rührte sich nichts. Totenstille herrschte auf dem Schiff. Hasard und Arkana enterten auf. Noch immer lagen die Piraten in tiefer Bewußtlosigkeit an Deck. Der Seewolf ging nach achtern, dorthin, wo er Don Bosco zuletzt gesehen hatte. Der TortugaPirat war nicht mehr da. Gemeinsam suchten sie die ganze „Isabella“ ab, und Dan O’Flynn, der es am Ufer der Bucht nicht länger ausgehalten hatte, half ihnen dabei. Don Bosco blieb verschwunden. „Die Schaluppe ist ebenfalls fort. Wir haben deutliche Schleifspuren im Sand erkannt, sie ist erst vor wenigen Augenblicken zu Wasser gebracht worden!“ stieß Dan hervor. „Dieser Hund ist zusammen mit Pablo und Nuno getürmt, wir müssen ihn wieder einfangen, Hasard, oder er hetzt uns seine ganze Meute auf den Hals!“ Der Seewolf nickte nur. Dann wandte er sich an Arkana. „Wir nehmen dein Boot, Arkana“, sagte er. „Du bringst mit deinen Kriegerinnen die Piraten in Sicherheit. Sie dürfen nicht entkommen. Was mit ihnen später geschieht, werden wir sehen. Was schlägst du vor?“ Arkana dachte einen Moment lang nach. „Es wird gut sein, wenn sie nicht allzu viel von der Schlangeninsel zu sehen kriegen“, antwortete sie dann. „Ich werde sie auf meine Galeone schaffen lassen, die im Südteil der Bucht ankert. Dort werden meine Kriegerinnen sie in Eisen legen und bewachen. Falls wir sie am Leben lassen, werde ich sie später irgendwohin bringen, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Außerdem werde ich ihre Erinnerung an die Schlangeninsel löschen, verlaß dich auf mich, ich begehe diesmal bestimmt nicht den geringsten Fehler, Seewolf!“
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Hasard nickte. Der Vorschlag hörte sich gut an. Trotzdem sagte er: „Über das Schicksal dieser Piraten werden wir später gemeinsam entscheiden. Dann, wenn wir diesen Don Bosco zur Strecke gebracht haben. Dann erst werden wir genau wissen, was wir tun müssen. Kommt jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Sie kehrten zum Ufer zurück. Als der Seewolf seinen Männern vom Verschwinden der drei Piraten berichtete, stürmten die Seewölfe auf das große Boot zu, das die Schlangenkriegerinnen eben auf das Ufer der Bucht zusegelten. „Halt!“ stoppte der Seewolf sie. „Alle haben wir keinen Platz im Boot. Ben, Ferris, Batuti, Dan, ihr begleitet mich, das langt. Alle anderen helfen Arkana, anschließend klart ihr sofort die ‚Isabella’ auf, ich habe das dunkle Gefühl, daß wir sie schon sehr bald brauchen werden!“ Die Seewölfe murrten, aber sie fügten sich. Sie platzten fast vor Wut, daß dieser Don Bosco, dieser Pablo und dieser Glatzkopf ihnen entwischt waren. Smoky trat auf Hasard zu. „Ob du die Kerle jetzt noch erwischst, Sir, oder nicht, wir kriegen sie, darauf kannst du dich verlassen. Und diese verfluchten Ratten da, die werden wir so verstauen, daß sie mal spüren, wie das ist, wenn man in Eisen liegt, wenn bei jeder Bewegung die Ketten klirren, wenn man hundemüde und total kaputt ist und trotzdem nicht schlafen kann und wenn man zum Schluß in der eigenen Scheiße liegt. Die Kerle sollen mich kennenlernen!“ Zustimmung brandete auf, und Hasard war sicher, daß die Piraten während seiner Abwesenheit bestimmt keine Chance erhalten würden, zu entwischen oder sonst irgendetwas auf der Schlangeninsel anzustellen. Der Seewolf, Ben Brighton, Ferris Tucker, Batuti und Dan O’Flynn sprangen ins Boot, die Seewölfe schoben sie ins tiefe Wasser der Bucht. Dann fuhr der Wind ins Segel der Schaluppe, und der Mahlstrom riß es auf den Felsendom zu, wie vorher schon Don Bosco und seine beiden Spießgesellen.
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Während der Schwarze Segler durch die See pflügte, an Steuerbord begleitet von Siri-Tongs Galeone „Roter Drache“, hatte der Wikinger Carberry, den Boston-Mann, Juan, Bill the Deadhead und seine vier Nordmänner, den Stör, Eike, Arne und Olig, um sich versammelt. Er selbst thronte auf seinem gewaltigen Holzsessel, der auf dem Achterdeck des Schwarzen Seglers montiert worden war. „Hört zu“, sagte er. „Es dauert nicht mehr lange, dann werden wir die Umrisse der Schlangeninsel aus der See auftauchen sehen. Damit aber wird man auch uns von dort entdecken. Die Kerle haben in unseren Felsennestern bestimmt Wachen postiert, die Unsere Schiffe sofort sichten und unsere Ankunft melden.“ Carberry schüttelte unwillig den Kopf. „Von wegen Insel in Besitz genommen, daran glaube ich erst, wenn ich das gesehen habe, Thorfin“, sagte er. „Du vergißt Arkana, die wird diesem Kerl mit ihren Schlangenkriegerinnen schon die Hölle heiß machen oder gemacht haben. Ich will mir doch gleich meinen eigenen Affenar …. äh, hm, ich meine, ich will doch gleich, ach, ist ja auch völlig egal, was ich will“, sagte er dann mit einem Blick auf die eben zur Gruppe tretende Araua. „Jedenfalls hat dieser Don Bosco die Insel noch lange nicht und die Schätze ebenfalls nicht. Aber er hat den Seewolf und seine beiden Söhne, das ist der Punkt, Thorfin. Nur das. Um die Schlangeninsel habe ich überhaupt keine Angst. Ich habe Arkana auf der Mocha-Insel erlebt, ich weiß, wie sie und ihre Kriegerinnen zu kämpfen verstehen.“ Araua, mit ihren vierzehn Jahren ein atemberaubend hübsches und schon fast erblühtes Mädchen, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Natürlich war ihr der Lieblingsspruch Carberrys, den der Profos allerdings nur ansatzweise von sich gegeben hatte, weder entgangen noch unbekannt. Carberry sah das, und er grinste das Mädchen leicht verlegen an.
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Der Wikinger beendete dieses Intermezzo, indem er sich mit der Rechten durch den Bart fuhr. „Also, ist ja auch egal. Im Gegenteil, sie sollen uns sogar sehen, sonst klappt unser ganzer Plan ja nicht. Sie sollen wissen, daß wir vor der Insel liegen, daß sie keine Chance haben, die Schlangeninsel je wieder lebend zu verlassen, wenn sie dem Seewolf auch nur ein Haar krümmen. Und während sie noch beraten, was sie tun sollen, sind unsere beiden Boote längst am Südzipfel der Schlangeninsel angelangt, dort, wo Araua den geheimen Aufstieg durch die Felsen kennt. Von dort erwarten sie uns bestimmt nicht. Sind wir aber erst auf der Insel, dann kaufen wir uns diesen Don Bosco, und der Teufel persönlich wird mit all seinen Unterteufeln ein harmloser Geselle gegen uns sein.“ Der Wikinger sah Carberry an. „Was wir im einzelnen auf der Schlangeninsel unternehmen werden, das hängt davon ab, welche Situation wir vorfinden, darüber können wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen.“ Der Wikinger erhob sich. „Boston-Mann, Signal an ,Roter Drache’ soll in den Wind gehen. Es ist Zeit, daß wir unsere Boote abfieren. Der Wind ist günstig, wir schlagen einen weiten Bogen nach Süden um die Schlangeninsel, während die beiden Schiffe wieder Kurs dorthin nehmen und dann vor der Insel, aber reichlich außerhalb der Reichweite der in den Felsen installierten Kanonen, ankern. Mal sehen, wie diesem Herrscher von Tortuga das gefällt!“ Carberry rieb sich die Hände. Verdammt, die Ankunft des Schwarzen Seglers und die von „Roter Drache“ mußte bei Don Bosco einschlagen wie eine ganze Breitseite von 24pfündern. Der Kerl würde augenblicklich kapieren, daß es aus war mit ihm, auf jeden Fall aber mit den Schätzen der Insel. Das Äußerste,, was er überhaupt noch durch Verhandlungen erreichen konnte, war freier Abzug für sich und seine Leute. In diesem Moment fiel dem Profos wieder die Galeere ein, die vermutlich auch noch irgendwo vor der
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Insel ankern mußte. Himmel, und auf der befanden sich schließlich die Seewölfe! Carberry schlug sich vor den Kopf. Wie hatte er das nur so gänzlich vergessen können! Er wandte sich an den Wikinger und sagte es ihm. Der Hüne grinste, dann kratzte er sich wieder am Helm, aber Carberry übersah das diesmal großzügig. „Ich habe das nicht vergessen. Siri-Tong auch nicht. Unsere beiden Schiffe werden so segeln, daß eines von ihnen der Galeere unter allen Umständen den Weg abschneiden kann, falls sie versuchen sollte, sich zu verdünnisieren. Außerdem kann sie das gar nicht, oder was glaubst du, welches Schiff Don Bosco bleibt, falls wir uns auf freien Abzug für ihn einlassen müssen? Etwa mit der ‚Isabella’ des Seewolfs?“ Der Wikinger lachte dröhnend, dann packte er Carberry an der Schulter und zog ihn zu sich heran. „Ehe das geschieht, mein Freund, wird die Karibik etwas erleben, was man in hundert Jahren noch nicht vergessen haben wird.“ Der Wikinger wandte sich ab, um die notwendigen Befehle zum Abfieren des großen Bootes zu geben, das bereits fertig ausgerüstet an Deck stand und nur noch in die Talje der Großrah eingehängt zu werden brauchte. In diesem Moment erschallte aus dem Ausguck des Vortopps eine laute Stimme. „Wahrschau, Segel an Backbord, hält auf uns zu!“ Der Wikinger, Carberry, Araua und die anderen Nordmänner stürzten ans Backbordschanzkleid des Achterkastells. Es war zu dunkel, um etwas Genaues erkennen zu können, aber das Segel sahen sie doch. „Der Kahn hält wirklich auf uns zu!“ sagte Ed Carberry und kratzte sich angelegentlich an seinem Rammkinn. „Wenn ich mir den Kurs ansehe, den er hält, dann kann er eigentlich nur aus dem Gebiet der Schlangeninsel kommen. Dreh in den Wind, Wikinger, ich habe so meine Ahnung, wer das sein könnte!“
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Der Seewolf und: seine Gefährten hatten vergeblich nach Don Boscos Schaluppe Ausschau gehalten. Die Nacht, in der nicht einmal der Mond am Himmel stand, wurde dem gerissenen Piraten zum Bundesgenossen. Don Bosco hatte sich gehütet, direkten Kurs auf Tortuga oder auf die Caicos-Inseln zu nehmen. Beide Möglichkeiten hatte er zwar erwogen, aber sofort wieder verworfen. Stattdessen war er weit nach Süden ausgewichen, denn jetzt kam es nicht mehr darauf an. Alle weiteren Aktionen gegen den Seewolf und die Schlangeninsel wollten gründlich durchdacht und vorbereitet werden. Der Zorn, der Don Bosco erfüllte, brachte ihn fast um. Er war seinem Ziel, absoluter Beherrscher der Karibik zu werden, bereits so nahe gewesen. Aber dieser Seewolf war ihm entwischt, hatte ihn überlistet. Don Bosco erkannte, daß alles, was man sich über diesen schwarzhaarigen Teufel mit den eisblauen Augen erzählte, nicht nur stark untertrieben war, sondern daß dieser Mann noch weitaus gefährlicher sein konnte, als sogar er sich das hatte vorstellen können. Verflucht, ich hätte diese Kerle sofort der Folter unterwerfen sollen! dachte er. So beschränkt der Glatzkopf Nuno auch war, er hätte aus einem oder auch aus mehreren bestimmt herausgeholt, was er, Don Bosco, hätte wissen müssen, um nicht in diese Falle auf der Schlangeninsel zu stolpern, der er zudem nur ganz knapp entronnen war. Aber das half jetzt alles nichts mehr. Don Bosco beschloß, einen weiten Bogen zu schlagen und erst dann Kurs auf die Caicos-Inseln zu nehmen. Tortuga anzulaufen, das war ihm zu heiß. Er kannte den Wikinger und diese Rote Korsarin, vom Seewolf und seinen Männern und dem Franzosen, dem er praktisch das Schiff vor seinen eigenen Augen zu den Fischen geschickt hatte, mal ganz abgesehen. Alle diese Kerle würden ihn jetzt jagen, und sie würden ihr Mütchen
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zunächst einmal an Tortuga kühlen, wie sie es schon einige Male getan hatten. Don Bosco grinste tückisch. Genau das war es! Das würde ihm die nötige Zeit verschaffen, zum Gegenschlag auszuholen. Wundern sollten sie sich, diese Kerle. Sie dachten bestimmt, seine Macht sei nun gebrochen! Staunen würden sie noch, das schwor sich Don Bosco in diesem Augenblick. Seine Laune besserte sich bei diesem Gedanken sogar wieder etwas. „Nach Süden!“ kommandierte er, und Pablo, der an der Ruderpinne der Schaluppe saß, die zur größten Befriedigung Don Boscos ein außergewöhnlich schneller Segler war, legte das Ruder um. Anders der Seewolf. Er ahnte wohl, daß Don Bosco ihm ein Schnippchen geschlagen hatte, - sein Vorsprung war einfach zu groß und nicht mehr einzuholen gewesen. Der Pirat konnte jede x-beliebige Richtung eingeschlagen haben, jeden Kurs gesegelt sein, den ihm der Wind erlaubte. Hinzu kam die Nacht, die sein Bundesgenosse war und ihm weitere Vorteile verschaffte. Nein, es hatte keinen Sinn, hier draußen herumzukreuzen und nach dem Piraten zu suchen. Sie mußten ganz etwas anderes tun... Dan O’Flynn, der die schärfsten Augen an Bord der „Isabella“ besaß, sprang plötzlich auf. Hasard fuhr herum, denn er wußte sofort, daß das etwas zu bedeuten hatte. „Da, Hasard“, sagte Dan und deutete genau über den scharfen Bug der Schaluppe voraus, „Segel zweier Schiffe! Sie laufen genau auf uns zu!“ Der Seewolf starrte in die Nacht. In der langen Dünung, die aber bei dem sich allmählich verstärkenden Wind aus West schon kleine Gischtkronen aufzusetzen begann, hob und senkte sich die Schaluppe. Auch die anderen Seewölfe waren aufgesprungen und starrten in die Dunkelheit. „Dan hat recht!“ ließ der Seewolf sich plötzlich vernehmen. Eine Woge hatte eines der Schiffe angehoben, und deutlich
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hoben sich die großen Segel gegen den Sternenhimmel ab. Im nächsten Moment erblickten sie auch das andere Schiff, und das erkannten sie sofort. „Der Schwarze Segler!“ stieß Dan hervor. „Der Wikinger! Er kommt wie gerufen. Jetzt hüte dich, Don Bosco!“ fügte er hinzu. Ferris Tucker, der die Ruderpinne bediente, nahm sofort Kurs auf den Schwarzen Segler, während Batuti und Ben Brighton die Segelstellung korrigierten. „Das andere Schiff muß Siri-Tongs ‚Roter Drache’ sein.“ Der Seewolf beobachtete die beiden heransegelnden Schiffe genau, deutlich erkannte er, wie der Schwarze Segler plötzlich in den Wind drehte. Auch das andere Schiff folgte seinem Beispiel, und wenige Augenblicke später war die Schaluppe am Schwarzen Segler vetäut, und die Seewölfe enterten an Bord. Thorfin Njal begrüßte sie stürmisch, auch Carberry umarmte seine Gefährten und drückte sie an seine breite Brust, bis ihnen fast die Luft ausging. Dann erblickte der Seewolf Araua, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Eine Weile sahen sich die beiden wortlos an, dann ging der Seewolf auf seine schon fast erwachsene Tochter zu. „Araua!“ sagte er, und mehr brachte er einfach nicht heraus, denn Araua schmiegte sich an ihn. Die Männer, die den Seewolf und die junge Araukanerin umstanden, sagten kein Wort, lediglich Carberry räusperte sich einmal, daß es klang, als habe sich die Großrah bewegt. Eine Viertelstunde später enterte auch die Rote Korsarin an Bord des Schwarzen Seglers. Genau wie Araua blieb sie eine Weile am Schanzkleid stehen und sah den Seewolf aus ihren dunklen Augen nur an. Dann aber lief sie auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Der Wikinger machte der Szene ein Ende. Er brüllte nach einem Faß Rum, und Bell the Deadhead schleppte es heran.
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Anschließend begannen an Bord des Schwarzen Seglers die Becher zu kreisen, und der Seewolf berichtete, was sich ereignet hatte. Alle hörten ihm schweigend zu. Als Hasard fertig war, nickte der Wikinger. „So ist das also“, stellte er nicht gerade geistreich fest. „Ich wußte doch gleich, daß Arkana diesem Don Bosco die Hölle anheizen würde, ich ...“ Carberry warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. „So, du wußtest das gleich!“ sagte er drohend, schwieg dann aber aus. Der Wikinger blickte den Profos irritiert an und kratzte sich abermals am Helm. Dan und Batuti, die das lange nicht mehr genossen hatten, brachen in schallendes Gelächter aus, und Thorfin Njal fuhr herum. Er funkelte sie zornig an. „Ich kratze mich, wo ich will, wie ich will und wann ich will, klar?“ sagte er. Anschließend nahm er einen gewaltigen Schluck und rülpste laut. „Unser ganzer schöner Plan fällt jetzt ins Wasser“, sagte er. kniff aber plötzlich die Augen zusammen und grinste. „Nein, nicht ins Wasser, sondern geht buchstäblich in Rauch auf!“ stellte er gleich darauf fest. „Dieser Kerl darf von jetzt an nicht mehr zur Ruhe kommen, wir müssen ihn provozieren. Wir segeln jetzt zur Schlangeninsel, holen beim nächsten Mahlstrom deine ‚Isabella’, segeln nach Tortuga und nehmen anschließend dieses ganze lausige Piratennest mit unseren drei Schiffen so auseinander, wie die Kerle es noch nicht erlebt haben. Was haltet ihr davon? Dann ist endlich Ruhe auf Tortuga, wenigstens für eine Weile. Don Bosco hat keinen Stützpunkt mehr, den braucht er aber. Also muß er heraus aus seinen Schlupflöchern, und dann stellen wir ihn. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn mein Schwarzer Segler, der ,Rote Drache’ von Siri-Tong und deine ‚Isabella’ mit diesem Gesindel nicht ein für allemal fertig würden. Ho, was meint ihr zu meinem Vorschlag?“ Der Wikinger langte vor lauter Begeisterung über die bevorstehende
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Schlacht nach dem Rumfaß und setzte es an die Lippen. Dann gab er das Faß weiter, und alle hielten mit, sogar die Rote Korsarin, obwohl sie sonst dergleichen nicht besonders schätzte und einen Becher durchaus bevorzugte. Der Seewolf nickte. „Wir sind gezwungen, so zu handeln“, erwiderte er. „Entweder die oder wir. Dieser Don Bosco wird nicht aufgeben. Er war auf der Schlangeninsel, er befand sich - jedenfalls sieht er das so - kurz vor dem Ziel. Er will die Herrschaft über die ganze Karibik, er will die Schlangeninsel und unsere Schätze. Entweder wir schlagen ihn vernichtend, oder unsere Schlangeninsel ist keinen Tag länger mehr so sicher wie einst.“ Der Seewolf sah seine Gefährten an, und seine Augen glitzerten wie Eis. „Außerdem haben meine Seewölfe und ich einen Schwur geleistet. Wir werden diese Gegend nicht verlassen, bevor wir Don Bosco erledigt haben. Dieser Kerl hat sein Leben verwirkt.“ Der Wikinger und Carberry nickten. „Nuno und Pablo stehen ebenfalls auf meiner Liste“, fügte der Profos hinzu. „Und nicht nur auf meiner, sondern auf der von uns allen. Auch diese Kerle haben ihr Leben verwirkt. Los, Wikinger, scheuch deine Männer an die Brassen, verlieren wir keine Zeit mehr, lassen wir diesem Don Bosco keine Zeit, erst seine ganze Piratenflotte zusammenzutrommeln!“ Als die beiden Schiffe rund achtundvierzig Stunden später, nachdem sie bis dahin vor der Schlangeninsel vor Anker gelegen hatten, wieder ihre Segel setzten, blies inzwischen eine steife Brise aus Nordnordwest. Mit dem Mahlstrom verließ auch die „Isabella“ die Schlangenbucht. Genau wie die beiden Söhne des Seewolfs war auch Araua auf der Schlangeninsel bei ihrer Mutter zurückgeblieben, und der Schwarze Segler hatte einen neuen Mann an Bord, der von nun an zur ständigen Besatzung des großen Viermasters gehören sollte: Barba. Ein Kerl ganz nach dein Herzen des Wikingers, der ihn sofort zu seinem zweiten Steuermann ernannte.
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Die drei Schiffe nahmen Kurs auf Tortuga. Die Schlangeninsel versank hinter ihnen. Hoch oben auf dem Felsendom stand Arkana mit ihrer Tochter Araua und blickte den drei Seglern nach, wie sie sich durch die gischtende See kämpften. Ihr langes schwarzes Haar flog im Wind. „Sie werden einen schweren Kampf zu bestehen haben, Araua“, sagte sie. „Es wird eine gewaltige Schlacht bei den Caicos-Inseln stattfinden, aber sie werden wieder zur Schlangeninsel zurückkehren. Wir werden uns jetzt auf diesen Tag vorbereiten, denn es wird Verletzte und vielleicht auch Tote zu beklagen geben.“ Die Schlangenpriesterin nahm ihre Tochter an die Hand. Und als die drei Segler hinter der Kimm verschwunden waren, begannen sie den Abstieg zur Bucht. . * Der dicke Diego watschelte durch das Felsengewölbe seiner Schildkröte, der Kneipe, die auf Tortuga seit Urzeiten bestand und in der auch die Seewölfe einzukehren pflegten, wenn sie im Hafen von Tortuga ankerten, genau wie der Wikinger und seine Mannen und die Rote Korsarin. Unruhe erfüllte Diego. Er wurde die Gedanken an die Seewölfe nicht los. Was mochte aus ihnen geworden sein? Natürlich hatte Diego längst erfahren, daß Hasard und seine Männer Don Bosco in die Hände gefallen waren. Außerdem hätten der Schwarze Segler und der „Rote Drache“ Siri-Tongs längst wieder im Hafen von Tortuga aufkreuzen sollen. Schließlich hatte Diego für diese beiden Schiffe eine ganze Ladung von dringend benötigten Verbrauchsgütern beschafft und zur Abholung bereitgestellt. Der Wikinger und die Rote Korsarin waren meist pünktlich. Aber diesmal nicht. Nicht eine einzige Mastspitze war von diesen Schiffen zu sehen gewesen, sooft Diego auch Ausschau nach ihnen gehalten hatte. Diego hatte das Felsgewölbe seiner Kneipe durchquert. Er trat ins Freie auf das Plateau vor der Schildkröte, von der aus er einen
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weiten Überblick über den Hafen und die Karibische See hatte. Im ersten Moment starrte er verdutzt aufs Meer hinaus, dann fuhr er sich über die Augen, so, als sei er einem Trugbild erlegen. Dort segelte doch wahrhaftig die „Isabella“ des Seewolfs heran, und unzweifelhaft hatte sie Kurs auf Tortuga. Die Piraten, die das Schiff ebenfalls erspäht hatten, hingen in den Wanten ihrer eigenen Schiffe, schrien, johlten und lachten, denn kein anderer als Don Bosco konnte es sein, der sich Tortuga mit der „Isabella“ näherte. Diego erschrak. Wenn das stimmte, dann stand es schlimm um den Seewolf und seine tapferen Männer! Voller Hast watschelte Diego zurück, verschwand ganz hinten im Gewölbe durch eine dicke Bohlentür und kehrte gleich darauf mit einem vorzüglichen Spektiv, für das er viel Geld bezahlt hatte, zurück. Er zog es auseinander, und dann huschte plötzlich ein breites Grinsen über seine fettglänzenden Züge. Ho, den Mann, der auf dem Achterdeck des Seglers stand, den kannte er. Das war der Seewolf, nicht dieser Halunke Don Bosco! Und die anderen - den mit dem Narbengesicht, den Hünen mit den brandroten Haaren, die beiden Männer mit den Hakenprothesen, den riesigen Schwarzen -, die kannte er auch, so gut wie alle anderen. Ho, dachte er, das wird aber eine Überraschung für Don Boscos Schnapphähne werden! Denn daß die „Isabella“ diesmal nicht nur heransegelte, damit ihre Mannschaft in seiner Schildkröte ein wüstes Besäufnis abhalten konnte, das war Diego sofort klar. Schon wollte er sich in seine Felsenkneipe zurückziehen und die dicken Bohlentüren schließen, damit sich nicht die ganzen Schnapphähne Don Boscos in seine Kneipe flüchteten, sobald das Bombardement, von denen Diego im Laufe der Jahre schon einige erlebt, hatte, begann, als sein Blick auf weitere Masten und Segel fiel, die sich in diesem Moment über die Kimm schoben.
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Abermals setzte er sein Spektiv ans Auge. „Verdammt, der Schwarze Segler und der ,Rote Drache’ Siri-Tongs“, murmelte er. „Vorsicht ist der bessere Teil der Klugheit“, murmelte er weiter, während er wie fasziniert auf die heransegelnden Schiffe blickte. „Der alte Diego wird sich schleunigst in seine Felsen verzupfen, denn binnen kurzem dürfte es ganz verflixt heiß hergehen auf Tortuga!“ Die Feuerkraft und die Treffsicherheit dieser drei Schiffe kannte er zur Genüge. Diego warf noch einen Blick auf die „Isabella“, und er sah, wie ihre Stückpforten sich öffneten und die Culverinen ausgerannt würden. Auch die Schnapphähne sahen es. Einer von ihnen, der in die Toppen einer Galeone aufgeentert war, entdeckte in diesem Moment ebenfalls die beiden anderen Schiffe, und auch er erkannte sie auf Anhieb. Irgendetwas brüllte er seinen Kumpanen zu. Die Wirkung war verheerend. Wo immer Don Boscos Gesindel stand, hing oder hockte die Kerle ergriffen voller Panik die Flucht. Jeder rannte, was seine Beine nur hergaben. Sie sprangen über Bord, schwammen ans Ufer, sie rannten auf den Anlegern entlang, schrien und brüllten durcheinander, und dann heulte auch schon die erste Breitseite der „Isabella“ heran. Diego zog sich zurück. Er verschloß die schweren Bohlentüren und verrammelte sie zusätzlich von innen. Anschließend watschelte er, so rasch ihn seine dicken Beine trugen, durch die Kneipe, verschwand durch eine weitere Bohlentür und bezog seinen geheimen Beobachtungsposten, von dem aus er große Teile der Insel und vor allem den Hafen ungesehen zu überblicken vermochte. Was Diego in den nächsten Stunden erlebte, war die Hölle. Die „Isabella“, der Schwarze Segler und „Roter Drache“ feuerten, was die Rohre hergaben. Die Bucht erdröhnte unter ihren Kanonen, die Gläser, Flaschen und Krüge in Diegos Kneipe erzitterten unter dem rollenden Donner der Geschütze. Schwarzer fetter
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Qualm stieg in den Himmel empor und verdunkelte die Sonne. Die „Isabella“ und der Schwarze Segler verschossen zusätzlich Brandsätze auf die Schiffe, die im Hafen Tortugas lagen. Nach kurzer Zeit brannte im Hafen alles lichterloh, und die drei Schiffe feuerten immer noch. Diego wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Nein, so ein Bombardement hatte er noch nicht erlebt! Keinen Stein ließen sie diesmal auf dem anderen, und er ahnte, daß das erst der Beginn einer Auseinandersetzung war, eines erbarmungslosen Kampfes, der noch mit Don Bosco und seinen Piraten vom Seewolf, vom Wikinger und von der Roten Korsarin ausgefochten werden sollte. Irgendwann, und wie es Diego schien, nach einer Zeit, die ihm so lang vorkam wie noch nie ein Tag in seinem ganzen Leben, schwiegen die Geschütze, und die drei Schiffe warfen Anker in der Hafenbucht. Boote wurden, zu Wasser gelassen, und dann sah er auch schon den riesigen Wikinger, dessen Helm in den Sonnenstrahlen leuchtete, die sich durch den abziehenden dichten Qualm hindurchstahlen. Es war ein Bild, wie Diego es noch nicht gesehen hatte: Im Hafen loderten die Brände, sanken und kenterten laufend die Schiffe der Piraten, und dieser Wikinger, dem der Seewolf und die Rote Korsarin alsbald in ihren Booten folgten, ließ sich seelenruhig an Land pullen. Wohin sie wollten — auch das war Diego klar. Zu ihm. Den Sieg feiern. Und wie! Diego verließ seinen geheimen Beobachtungsposten. Verdammt, ich muß mich jetzt höllisch beeilen, dachte er. Dieser verrückte Wikinger ist imstande und schlägt mir die Bohlentüren kurz und klein, wenn sie nicht offen sind, sobald er vor ihnen steht! Diego watschelte abermals durch seine Felsenkneipe, er schuftete, räumte die Barrieren beiseite, die er vorsorglich aufgebaut hatte, um dem Piratengesindel auf jeden Fall den Zugang zu seiner Kneipe zu verwehren, und dann öffnete er
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die schweren Türen, indem er sie mit dem gewaltigen Gewicht seines Körpers aufdrückte. Trotzdem prallte er zurück. Er blickte in das vom Pulverqualm geschwärzte Gesicht des Wikingers und in die seiner Nordmänner, denen ihre gehörnten Kupferhelme, ihre runden schweren Schilde und die breiten Schwerter, die sie in den Fäusten hielten, ein geradezu fürchterliches Aussehen verliehen. Hinzu kamen noch die grauen Felle, die ihre riesigen Körper umgaben, und die Lederbindungen an ihren Waden. Der Wikinger schlug Diego seine Linke auf die Schulter, daß der dicke, ebenfalls weder schwächliche noch kleine Wirt fast in die Knie ging. „Bei Odin“, brüllte Thorfin Njal, „wenn du nicht innerhalb der nächsten Augenblicke ein ganzes Faß Rum oder Brandy auf meinen Tisch stellst, dann, bei Odin und Thor, dem Gott des Donners und der Blitze, wird deine Felsenkneipe genauso aussehen wie dieses lausige Piratennest!“ Er schob sich an Diego vorbei in die Felsenkneipe und ließ sich krachend auf eine der roh gezimmerten Bänke fallen. Ihm folgten die anderen. Der Seewolf, Jean Ribault, Edwin Carberry, Ferris Tucker, Ben Brighton und fast die ganze Crew der „Isabella“ mit Ausnahme der Wachen, die auf jedem der drei Schiffe zurückgeblieben waren und die später, abgelöst werden würden, wie Diego wußte. Den Schluß machte die Rote Korsarin mit ihren Männern. Der Wikinger packte Diego und hielt ihn fest. Er drückte ihm einen Beutel voller Goldstücke in die Hand. „So, und jetzt her mit deinem Gesöff!“ brüllte er, daß die Felsen erzitterten. „Gesöff!“ echote der Stör, nahm seinen Helm ab und hieb ihn auf die Tischplatte aus zolldicker Eiche. Die Seewölfe stimmten ein lautes Gelächter an, aber dann brandete ihr alter Schlachtruf durch die Felsenkneipe Diegos, und unter ihren Stimmen erzitterte die Schildkröte bis in ihr Innerstes.
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„Arwenack!“ brandete es dem Dicken entgegen, als er das erste Faß herbeischleppte und seinen nicht weniger dicken Gehilfen zur Eile antrieb. Und wieder brandete der Ruf durch das Gewölbe. Einige der Piraten auf Tortuga vernahmen den Schlachtruf der Seewölfe, und sie verkrochen sich noch tiefer zwischen die Felsen ihrer Schlupfwinkel und Verstecke. Sie dachten an Don Bosco und daran, was noch alles auf sie zukommen würde, wenn diese Kerle, die jetzt in der Schildkröte Diegos ihren Sieg feierten, erst mal richtig loslegten. Manche der Piraten verfluchten den Herrscher von Tortuga in diesem Moment und wünschten ihm die Pest an den Hals. Denn was ihnen geblieben war, das ging
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dort unten im Hafen in Rauch und Flammen auf. Irgendwann am Nachmittag dieses schlimmen Tages, als wieder dichte schwarze Qualmwolken des immer noch brennenden Hafens die Sonne verdunkelten, warfen ein paar Piraten sechs Brief tauben über ihrem Felsenversteck in die Luft. Einen Augenblick flatterten die Tiere, verwirrt durch den Rauch, der in dicken Schwaden über der Insel lagerte, ratlos und verwirrt herum, aber dann hatten sie ihre Richtung gefunden und flogen davon. Sie trugen die Botschaft mit sich, die Don Bosco davon in Kenntnis setzen würde, was an diesem Tage Tortuga, seiner Insel, widerfahren war...
ENDE