Nina Engels
Die Luftbrücke
vgs
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Nina Engels
Die Luftbrücke
vgs
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman »Luftbrücke – Nur der Himmel war frei« basiert
auf dem Drehbuch von Martin Rauhaus zum gleichnamigen
Spielfilm, einer Produktion von teamWorx Television & Film
GmbH in Zusammenarbeit mit Sat.1
© teamWorx Television & Film GmbH ©2005 Sat.1
www.sat1.de
Lizenz durch: MM MerchandisingMedia GmbH
www.merchandisingmedia.com
1. Auflage 2005 Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln
Alle Rechte vorbehalten.
Produktion: Susanne Beeh, Jutta Wallrafen
Umschlaggestaltung: Christa Marek, Köln
Titelfoto: Wolfgang Wilde
Satz: Achim Münster, Köln
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-1704-0
(ab 01.01.2007: ISBN 978-3-8025-1704-4)
Besuchen Sie unsere Homepage: www.vgs.de
Drei Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Noch immer trauert Luise Kielberg um ihren Mann Alexander, der nicht von der Front zurückgekehrt ist. Doch das Leben geht weiter, auch für Luise, die mit ihrem kleinen Sohn Michael im Westen der geteilten Stadt Berlin wohnt. Als sie im amerikanischen Casino des Flughafens Tempelhof eine Stelle als Kellnerin bekommt, blickt die junge Frau zum ersten Mal seit langem wieder hoffnungsvoll in die Zukunft. Aber die historischen Ereignisse nehmen unweigerlich ihren Lauf. Die von der Sowjetunion verhängte Berliner Blockade isoliert die westlichen Besatzungszonen der Stadt und gefährdet die Versorgung der Bevölkerung. Wie alle anderen fürchtet Luise die Nöte und Entbehrungen jener Jahre, die doch endgültig vorbei zu sein schienen. Da tritt ein Mann in ihr Leben, der nicht nur das Schicksal der Westberliner maßgeblich lenken soll, sondern auch Luises Herz erobern wird…
PROLOG
BERLIN 1944 Luise Kielberg wälzte sich unruhig in ihrem Bett. Furchtbare Träume quälten sie. Träume, in denen sie immerzu auf der Flucht war, aber nirgendwo einen Unterschlupf fand. An ihrer Hand: Michael, ihr achtjähriger Sohn, der sie krampfhaft festhielt, um mit ihr Schritt halten zu können. Nicht dabei: ihr Mann, Alexander. Wo ist er? Warum ist er nicht bei mir? Ihre Gedanken begannen zu rasen. Eine grausame Angst kroch in ihr hoch. Ist er tot? Panik ergriff sie und schnürte ihr die Kehle zu. Immer fester hielt sie Michaels Hand umklammert. Sie rannte schneller und schneller, kaum spürte sie noch ihre Beine. Sie sah den Pflasterstein nicht, der ihr im Weg lag, sie spürte nur, dass sie stolperte. Sie versuchte, nicht zu stürzen, kämpfte um ihr Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, doch sie fiel. Und fiel immer tiefer. Auf einmal war sie ganz allein. Um sie herum war es dunkel. Sie hatte eine Angst, die sie noch nie zuvor in sich gespürt hatte. Sie fiel und fiel und… endlich entrang sich ihrer Brust ein lauter, verzweifelter Schrei. Sie schreckte auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Verwirrt blickte sie sich um. Ihr Nachthemd war schweißnass. Dann, ganz langsam, wurde ihr bewusst, dass sie geträumt hatte. Wieder einmal. Von draußen drang dumpf das Geräusch von Flugabwehrgeschützen an ihr Ohr, die kleine Fechnerstraße in Berlin-Wilmersdorf war noch nicht erwacht, am Horizont flackerte immer wieder ein Lichtschein auf.
Luise sah auf den Wecker. Es war 5.25 Uhr. 5.25 Uhr? Ihr eben noch müder Körper war auf einmal hellwach. Sie rannte, so schnell sie konnte, ins Wohnzimmer. Ihr Mann Alexander, ein großer, schlanker Mann Mitte dreißig, wurde heute eingezogen. Er hatte bis jetzt im Neuköllner Krankenhaus gearbeitet. Luise hatte gehofft und gebetet, dass der Kelch an ihm vorübergehen würde. Er wurde doch hier gebraucht. Er musste doch hier Leben retten und nicht an der Front Leben zerstören! Doch ihre Gebete wurden nicht erhört. Der Krieg war verloren, und er musste noch hin! Sie hasste den Krieg und alles, was mit ihm zusammenhing. Und sie hasste Abschiede. An der Türschwelle blieb sie stehen. Alexander stand vor seinem Koffer und packte die letzten Sachen ein, ein paar Bücher, medizinische Fachliteratur. Seine Uniform hatte er bereits angezogen. Als er Luise bemerkte, hielt er kurz inne, schloss dann den Koffer und richtete sich auf. In seinen Augen war tiefe Traurigkeit. »Gut«, meinte er mit belegter Stimme. »Dann…« Luise sah ihn nur an. Sie brachte kein Wort heraus. Dann riss sie sich vom Türrahmen los und fiel ihrem Mann um den Hals. »Ich komme zurück«, sagte Alexander und strich ihr behutsam über den Rücken. Luise hatte sich fest vorgenommen, tapfer zu sein. Tapfer und zuversichtlich. Sie wollte es Alexander nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon war. Doch jetzt versagten ihr die Kräfte. »Versprich mir, versprich es mir…«, stammelte sie. Ihre Stimme war heiser, Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie klammerte sich mit aller Kraft an ihn, konnte sich nicht vorstellen, ihn jemals wieder loslassen zu können, gehen lassen zu können. »Ich verspreche, ich komme zurück… Ich komme zurück!« Alexander schob sie sanft von sich fort und blickte ihr in die
Augen. Die Kraft, die sie darin sah, gab ihr Mut. Ihre Tränen versiegten. »Ich werde auf dich warten«, antwortete Luise und sah ihn dabei an mit einem Blick, der sich in sein Herz einbrannte. Dann schmiegte sie sich erneut an ihn. Alexander wusste nicht, wie lange sie so dastanden, es schien ihm, als sei die Zeit stehen geblieben. Es gab nur ihn und seine Frau und ihre Liebe. Vor zehn Jahren hatten sie sich kennen gelernt, seitdem waren sie unzertrennlich. Kurz nach der Heirat hatten sie ihren Sohn bekommen, Michael, der jetzt acht war und ihre Liebe krönte. Sie waren glücklich gewesen. So glücklich. Dieses Glück durfte der Krieg nicht zerstören. Als er ein Geräusch hörte, sah er auf. Es war Michael, der ebenfalls aufgewacht war und seine Eltern beobachtete. Er war viel zu klein, um zu verstehen, was das alles bedeutete. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass sein Vater verreisen müsse, für längere Zeit, um in einem fernen Land kranken Menschen zu helfen. Das leuchtete ihm ein. Aber er verstand nicht, warum seine Mutter so traurig war. Er war verunsichert, spürte, dass etwas Schlimmes vor sich ging. Und so klein er auch war, er ahnte, dass die Reise seines Vaters etwas mit dem Krieg zu tun hatte, etwas mit den Nächten im Luftschutzkeller, etwas mit den Schüssen und Einschlägen der Bomben, die die Flugzeuge abwarfen, die in letzter Zeit immer häufiger in Berlin zu hören waren. Nachts und auch tagsüber. Als sein Vater ihn zu sich winkte, ging er auf ihn zu. Und als er dann so mit seinen Eltern dastand, da wusste er, dass dies ein bedeutsamer Augenblick war. Sein Vater, seine Mutter und er hielten sich in den Armen und das Schweigen, das sich wie eine Decke über sie gelegt hatte, war beredter als alle Worte der Liebe und des Abschieds. Dann löste sich Alexander von seiner Familie, nahm den Koffer, blickte sich ein letztes Mal in der Wohnung um und
ging zur Tür. Schweigend folgten ihm Luise und Michael und begleiteten ihn hinunter zur Straße. »Ich will, dass das Beste in unserem Leben noch vor uns liegt.« Alexander bemühte sich, seiner Stimme den Klang der Zuversicht zu geben. Dann ging er vor Michael in die Hocke, legte die Hände um die schmalen Schultern seines Sohnes und blickte ihm tief in die Augen. »Und du passt mir gut auf deine Mutter auf. Ab jetzt bist du der Mann im Hause.« »Versprochen«, antwortete der Kleine und nickte tapfer. »Ich verlass mich drauf«, sagte Alexander und strich seinem Sohn durch die Haare. Noch einmal nahm er die beiden in die Arme, beugte sich dann zu Luise und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich, Luise. Vergiss das nie!« »Ich dich auch«, antwortete sie mit fester Stimme. »Immer!« Als ein Armeewagen mit lautem Motorengeräusch neben ihnen hielt, riss er sich los, nahm seinen Koffer und stieg ein. Noch ein letztes Mal sah er sich um, sah Luise und Michael, die Arm in Arm auf dem Gehsteig standen und ihm nachschauten, dann bog der Wagen um die Ecke. Ein ersticktes Schluchzen drang aus Luises Kehle, doch ihr blieb keine Zeit, um sich ihrer Trauer und ihrer Angst hinzugeben. In dem Augenblick, in dem Alexander aus ihrem Blickfeld verschwand, heulten auch schon die Sirenen los. Fliegeralarm. Sie nahm Michael an der Hand, hastete mit ihm die Treppe hinauf und stürzte in die Wohnung. In fieberhafter Eile schnappten sie sich die bereitstehenden Koffer und eine Stahlkassette. Die Sirenen heulten noch immer. Durchdringend. Unaufhörlich. In der Ferne hörte man die ersten Einschläge von Bomben.
Mit den Koffern in der Hand rannte sie den Flur entlang zur Wohnungstür. Michael schnappte sich noch schnell ein kleines Holzflugzeug, das im Flur auf einem Schränkchen stand. »Mach schnell, los!«, rief Luise mit Panik in der Stimme. »Komme!« Michael klemmte sich im Vorbeigehen eine Petroleumlampe unter den Arm und schon liefen beide ins Treppenhaus, die Stufen hinunter, rein in den Luftschutzkeller. Das schwache Licht der Notbeleuchtung erhellte den Raum. Aber bei nahen Detonationen wurde es immer wieder stockdunkel, sodass Luise die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Nur an den Atemgeräuschen um sie herum merkte sie dann, dass sie nicht allein waren. Doch niemand sagte ein Wort. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Mit seinen Gedanken, mit seiner Trauer, mit seiner Angst. Im spärlichen Licht der Lampe erkannte sie die anderen. Ungefähr zwanzig Menschen saßen auf den Bänken im Keller, lehnten sich an die kalten, feuchten Wände. Allesamt Nachbarn, die sie kannte, und allesamt Menschen, deren Gesichter vom Krieg gezeichnet waren. Er hatte bei allen Spuren hinterlassen. In den ausgezehrten, müden und blassen Gesichtern war Leere, bei einigen hatten sich tiefe Furchen in die Haut gegraben. Ihre Augen blickten stumpf und ohne jede Hoffnung. Dann wurde der Keller von der Detonation einer Bombe erschüttert. Michaels Hand krallte sich in die seiner Mutter und Luise legte ihren Arm um ihn. Der Angriff wollte kein Ende nehmen. Nach diesem Bomber kam ein nächster, und nach diesem wieder einer. Doch irgendwann, das wusste Luise, würde auch dieser Angriff ein Ende nehmen. Irgendwann würden diese Nächte ein Ende haben. Irgendwann wäre dieser ganze verdammte Krieg vorbei. Luise schloss die Augen.
1
Vier Jahre waren seitdem vergangen. Luise hatte Recht behalten. Der Krieg war vorbei. Am 30. April 1945 hatte Hitler Selbstmord begangen, zwei Tage später kapitulierte Berlins Stadtkommandant General Weidling. Am 8. Mai unterzeichnete Hitlers Nachfolger Karl von Dönitz die Gesamtkapitulation Deutschlands in Berlin-Karlshorst. Rund einen Monat später war Berlin unter den Besatzungsmächten aufgeteilt worden. Die Luftangriffe hatten kurz vor Kriegsende Berlin in einer immer höheren Frequenz heimgesucht. Fast täglich hatten die Alarmsirenen geheult, hatte nachts über der Stadt ein roter Feuerschein gelegen und tagsüber bleierner Rauch den Himmel verdunkelt. Viele Straßenzüge waren ausgelöscht. Geblieben waren bizarre Ruinenlandschaften, die wie riesige, zerbröckelte Zähne in den Himmel ragten. Schlimmer aber als der Verlust der eigenen Wohnung und oftmals der gesamten Habe waren die menschlichen Verluste. Fast jede Familie hatte Tote zu beklagen. Auch Luise. Alexander war nicht von der Front heimgekehrt. Er hatte sein Versprechen nicht halten können. Aber das Leben musste weitergehen. Das war sie Alexander schuldig. Ihre größte Sorge galt dem nackten Überleben. Wohnungen waren Mangelware, die täglichen Lebensmittelrationen lagen unter denen der Kriegszeit, der Schwarzmarkt blühte und das wichtigste Zahlungsmittel waren amerikanische Zigaretten. Seit zwei Jahren gab es jedoch eine deutliche Verbesserung, dank Care-Paketen, die aus Übersee nach Deutschland geschickt wurden.
Auch die Fechnerstraße hatte sich verändert. Luises Haus war wie viele andere dem Bombenhagel zum Opfer gefallen. In der Mitte der Straße türmte sich ein riesiger Schutthaufen. Trümmerfrauen arbeiteten davor, Kinder spielten Krieg und bewarfen sich mit Steinen. Luise hatte heute für all das keinen Blick. Sie hastete mit ihrem Sohn, der mittlerweile mit seinen zwölf Jahren ein richtig großer Junge war, die Straße entlang. Sie hatte es so eilig, dass ihr Michael kaum folgen konnte. »Guten Morgen, Frau Kielberg!«, rief ihr ein älterer Mann zu. Es war Herr Prenzke, der gerade seinen Laden aufschloss. Die Prenzkes waren ihre Nachbarn in ihrem neuen Zuhause. Ein altes Ehepaar, das die Kriegswirren überstanden hatte und versuchte, seinen Obst- und Gemüsehandel, der vor dem Krieg ein florierendes Geschäft gewesen war, wieder in Schwung zu bringen. »Guten Morgen, Herr Prenzke!«, rief Luise zurück, doch für einen nachbarschaftlichen Plausch hatte sie keine Zeit. Sie musste sich sehr konzentrieren, da Michael sie Vokabeln abfragte. »Ich habe eine langjährige Erfahrung?«, rief er außer Atem, während er neben ihr herlief. »I have a long experience.« »Ich brauche?« »I need!« Herr Prenzke sah den beiden nach, schmunzelte und schüttelte den Kopf, ganz so, als wollte er sagen: »Die Jugend von heute…«, aber Luise und Michael waren schon auf die andere Straßenseite gewechselt und konnten sein Lächeln nicht erwidern. Sie blieben an der Bushaltestelle stehen. »Verzweifelt?«, fragte Michael seine Mutter die nächste Vokabel ab.
»Verzweifelt, verzweifelt…« Luise überlegte angestrengt. »Gib mal her!« Sie nahm ihm das Blatt weg und schaute darauf. »Desperately, desperately«, murmelte sie. »Dieses Wort kriege ich nie hin.« Dann sah sie ihren Sohn an. »Mach dir keine Sorgen, Kleiner, es wird schon schief gehen.« Sie umarmte Michael und stieg in den Bus ein, der gerade gekommen war und der sie zum Flughafen Tempelhof bringen sollte. Als der Bus losfuhr und Luise durch das hintere Fenster ihren Sohn sah, wie er in seinen kurzen Hosen dastand und ihr zuwinkte, wusste sie, dass sie heute ihre Chance ergreifen musste. Sie musste es für ihn tun. Etwa eine halbe Stunde später hatte sie ihr Ziel erreicht. Auf dem riesigen Flughafengelände herrschte reges Treiben. Luise fühlte sich etwas unsicher, wie sie sich da in ihrem besten Kleid und den einzigen Pumps, die sie noch besaß, suchend umblickte. Eine Gruppe amerikanischer Soldaten lief vorbei und blickte ihr pfeifend hinterher, doch Luise bemerkte es kaum. Sie musste sich beeilen, sie musste so schnell wie möglich das Casino finden. Dort, wo sie hoffentlich bald arbeiten würde, sollte auch das Vorstellungsgespräch stattfinden. Als ihr ein Soldat entgegenkam, sprach sie ihn an. »Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo das Casino ist?«, fragte Luise und sah ihn an. Der Soldat grinste. »Was krieg ich dafür?« »Bitte! Ich muss da hin!«, erwiderte Luise ungeduldig. Sie hatte keine Zeit für Geplänkel – und sie wusste auch nicht mehr, wie das ging. Alexander war immer noch in ihrem Herzen, der Schmerz über seinen Verlust machte ihr noch immer zu schaffen. Jede Nacht, wenn es dunkel wurde. Der Soldat merkte, dass es der Frau vor ihm ernst war. »Da vorn an der Säule links, dann sehen Sie’s schon, Ma’am.« Als Luise seiner Beschreibung gefolgt war und das Casino betrat, war sie erst einmal enttäuscht. Es waren viel mehr
Mitbewerberinnen da, als sie erwartet hatte. Etwa fünfzig junge Frauen standen im »Casino«, das im Grunde nichts anderes als die Flughafenkantine war. Fast alle von ihnen hatten sich hübsch gemacht oder waren noch damit beschäftigt, etwas Rouge aufzulegen und ihr Haar zu richten. Natürlich hatte keine von ihnen neue Kleider, aber jeder war es mit viel Improvisationstalent gelungen, das Beste aus ihrer Garderobe herauszuholen. Auf gewisse Weise sahen sie allesamt schick aus und Luise blickte prüfend an sich hinunter. Auch sie hatte sich genau überlegt, was sie anziehen könnte, und schließlich das beste Kleid gewählt, das in ihrem Schrank hing. Es war senfgelb und sah zu ihren dunklen Haaren und ihrem zarten Teint sehr schön aus. Frisch und zugleich elegant. Der Rock fiel glockig und schwang bei jedem Schritt hin und her. Die Haare hatte sie sich am Abend zuvor aufgedreht: In Ermangelung von Lockenwicklern hatte sie die Strähnen befeuchtet, um den Finger gewickelt und mit Stoff festgebunden. Der Aufwand hatte sich gelohnt, sie fielen in sanften Wellen auf Luises Schultern. Dennoch: Konnte sie mit den anderen mithalten? Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ein paar Frauen, die sich noch schnell Taschentücher in den BH stopften. Neben ihr saß eine Frau, die in einem Sprachführer las. Plötzlich sah sie auf und blickte Luise an. »Would you like a chicken sandwich?«, fragte sie mit einem grauenhaften Akzent. »Nein, danke«, antwortete Luise geistesabwesend. Sie war noch immer damit beschäftigt, die Umgebung zu mustern. Allmählich wurde ihr doch etwas mulmig und sie fragte sich, ob sie hier wirklich richtig war oder ob an diesem Ort nicht in Wahrheit die Wahl zur Miss Berlin 1948 stattfand. Hatte sie überhaupt eine Chance? Sie betrachtete sich noch einmal kritisch in einer Fensterscheibe. Dann beschloss sie, sich auf einen der Stühle
zu setzen und der Dinge zu harren, die auf sie zukommen würden. Im selben Moment traten ein Officer und seine Sekretärin ein, nahmen auf der anderen Seite des Raumes an einem Tisch Platz und riefen den ersten Namen auf. Eine Frau nach der anderen wurde nun nach vorne gerufen, setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Tisch aufgestellt war, strich sich in der Bewegung wie zufällig den Rock ein Stückchen die Beine hinauf, schlug dieselben dann übereinander, während die Hände schon zu den Haare geglitten waren und der Oberkörper eine gestreckte, erwartungsvolle Haltung annahm. Luise schien die Zeit nicht vergehen zu wollen, sie war immer unruhiger geworden, doch irgendwann saß niemand mehr neben ihr. Nun müsste sie an der Reihe sein. Eine junge Blondine, deren Vorstellungsgespräch soeben beendet worden war, verabschiedete sich von dem Officer und nutzte dabei die Gelegenheit, sich nach vorne zu beugen und ihm einen Abschiedsblick in ihren Ausschnitt zu gewähren. »Also dann, bye-bye. Und many, many thanks«, zwitscherte sie. »Keine Ursache«, entgegnete der Officer kühl. »Sie hören dann von uns.« Die Blondine schenkte ihm noch einmal ihr strahlendstes Lächeln und verließ dann hüftschwenkend den Raum. Der Officer und die ältere Sekretärin warfen sich viel sagende Blicke zu und packten ihre Unterlagen zusammen. »Das war die Letzte«, meinte die Sekretärin, ohne Luise eines Blickes zu würdigen. »Alle waren sie natürlich gegen die Nazis, aber keine hat einen Wortschatz, der über ›Good morning‹ und ›Goodbye‹ hinausgeht«, regte sich der Officer auf. »Es scheint unmöglich zu sein, eine Bedienung für das Casino zu finden!«
Als sich die beiden zum Gehen wandten, sprang Luise auf und trat vor den Tisch. »Entschuldigung?«, meinte sie und blickte die beiden fragend an. »Tut mir Leid«, meinte die Sekretärin. »Die Liste ist durch. Und Sie stehen nicht auf der Liste.« »Aber – ich habe drei Stunden gewartet!«, rief Luise, die nicht glauben konnte, dass sie noch nicht einmal Gelegenheit bekommen sollte, sich vorzustellen. »Leider ist Warten noch keine Qualifikation, Schätzchen«, meinte die Sekretärin mit einem mitleidigen Lächeln. Der Officer machte ein bedauerndes Gesicht, sah dann aber seine Sekretärin an. »Ich danke Ihnen. Ich habe für heute auch wirklich genug grauenvolles Englisch gehört.« Die beiden machten sich auf den Weg zur Tür. Jetzt oder nie, dachte Luise und nahm all ihren Mut zusammen. »Mister… Mister, listen…«, rief sie ihm hinterher. Der Officer hielt inne und drehte sich um. »I’m hungry«, erklärte Luise eindringlich. »Sehr gut. Wirklich. Ausgezeichnet.« Ein ironischer Tonfall lag in seiner Stimme, schon hatte er sich wieder umgewandt und ging rasch weiter. Doch Luise gab nicht auf. »I’m so hungry.« Sie eilte ihm hinterher. »I don’t sleep at night. My husband died in the war and I have my little son to take care of.« Der Officer verlangsamte seine Schritte. Zögernd blieb er stehen. Irgendetwas in der Stimme dieser Frau drang in sein Herz. »Ich bin qualifiziert«, rief Luise. »Mein Vater hatte ein Restaurant, in dem ich als Kind ausgeholfen habe. Ich brauche diesen Job, I need it… desperately, und wenn ich ihn nicht bekomme, dann… dann… dann weiß ich einfach nicht weiter.«
Der Officer und die Sekretärin wechselten einen Blick – überrascht und auch ein wenig gerührt, dann nickten sie einander zu. Sie hatten ihre neue Bedienung gefunden. Luise konnte es zuerst kaum fassen. Sie hatte einen Job! Sie konnte wieder in die Zukunft blicken! Als sie aus dem Flughafengebäude kam, wankte sie ein wenig. Sie blieb stehen und holte tief Luft. Immer noch ungläubig schaute sie auf das Papier, das sie in der Hand hielt. Assignment agreement stand darauf und darunter ihr Name: Luise Kielberg. Als sie aufblickte, sah sie einen Soldaten in einem der Wandelgänge stehen. »I have a job. I have a job here!«, rief sie ihm zu und strahlte. Sie war so glücklich, am liebsten hätte sie es ganz Berlin zugerufen. »That’s great, Ma’am«, antwortete er und lächelte. Luise eilte von dem Gelände, als würde sie schweben. Sie hatte gerade den Bus verpasst, aber das war ihr egal, dann würde sie eben zu Fuß gehen. Zu Fuß nach Wilmersdorf, in die Fechnerstraße. Auch drei Jahre nach dem Krieg lag hier noch vieles in Schutt und Asche. Ausgebrannt, verfallen, zerbombt. Aber es wurde langsam besser. Luise sah in einem Hinterhof eine Frau, die einen Teppich ausklopfte. Eine andere betätigte einen Pumpenbrunnen und füllte Wasser in einen Krug. Ein herrlicher Sonnenschein lag über der Stadt, und Luise schien ein Geruch in die Nase zu dringen, den sie schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Der Duft der Hoffnung. Michael war, nachdem er seine Mutter zum Bus gebracht hatte, zu seinem ein Jahr älteren Freund Wolfgang und den anderen Jungs aus der Nachbarschaft gelaufen, um mit ihnen wie fast jeden Nachmittag auf den Straßen und Trümmergrundstücken zu spielen. Sie hatten sich einen kleinen
Spaß mit den Prenzkes erlaubt – es war nicht der erste, um genau zu sein. Einer von ihnen hatte eine Linie aus Schwarzpulver gestreut, an deren Ende eine aufgeschraubte Patrone darauf wartete, zur Explosion gebracht zu werden. Die Patrone lag direkt vor dem Laden der Prenzkes. Es gab einen lauten Knall und wie erwartet war Herr Prenzke in seiner weißen Schürze auf die Straße gelaufen und hatte mit fuchtelnden Armen losgepoltert. Das konnte er so gut wie kein anderer. Lachend waren die Jungs in verschiedenen Richtungen davongerannt. Michael und Wolfgang versteckten sich in einem baufälligen Haus und amüsierten sich aus sicherer Entfernung über den aufgelösten Gemüsehändler. Dann holte Wolfgang eine Zigarette aus einer Schachtel heraus, legte sie sich lässig auf den Handrücken und warf sie hoch, sodass sie zwischen seinen Lippen landete. »Wo haste’n die her?«, wollte Michael wissen. »Verbindungen brauchste«, antwortete Wolfgang und steckte sich die Zigarette an. »Ohne Verbindungen ist der Mensch bloß Luft, verstehste?« »Kannste mit deinen Verbindungen auch Petroleum besorgen?« »Na klar. Ich kann allet besorgen«, prahlte Wolfgang. Michael nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die Wolfgang ihm hinhielt, und versuchte, das Kunststück nachzumachen. Ganz konzentriert warf er ein ums andere Mal die Zigarette hoch, die einfach nicht in seinem Mund landen wollte. Nach dem vierten Versuch stupste ihn Wolfgang am Arm. »Wenn du’s schaffst«, grinste sein Freund, »kannste es gleich deiner Mutter vorführen, da kommt se nämlich.« Michael erschrak, ging blitzschnell hinter einer Mauer in Deckung und linste zu seiner Mutter hinüber. Er sah, dass sie
zielstrebig auf den Laden der Prenzkes zusteuerte. Au Backe, dachte er, heute Abend gibt’s Ärger. »KARTOFFELN PRENZKE« stand auf dem ramponierten Schild über der Eingangstür, durch die Luise gerade trat. Besser gesagt: Das hatte da mal gestanden. Mittlerweile fehlten ein paar Buchstaben – aber für ein neues Schild war kein Geld da. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Luises Augen an die dunklere Umgebung gewöhnt hatten. Dann sah sie, dass Herbert Prenzke, ein Mann um die siebzig, hinter der Theke stand und seine Frau Brigitte gerade dabei war, die Kisten umzuräumen, die entlang einer Wandseite aufgestellt waren. »Tag, Herr Prenzke«, grüßte Luise. »Ich hätte gern ein halbes Pfund Kartoffeln und sechs Möhren.« »Frau Kielberg…«, begann Prenzke verlegen, doch dann schüttelte er plötzlich heftig den Kopf. »Nebenbei gesagt, wenn ich Ihren Sohn in die Finger kriege… dann… dann…« Er stockte. Man merkte, dass er etwas Unangenehmes loswerden musste, aber nicht so recht wusste, wie er es am besten hinter sich bringen könnte. Dann holte er tief Luft. »Es tut mir Leid, aber Sie wissen doch… Anschreiben ist nicht mehr.« Luise nickte und zog ein wenig stolz ihre Geldbörse hervor. »Ich habe Arbeit gefunden«, sagte sie und strahlte die Prenzkes an. Frau Prenzke, die den beiden zugehört hatte, richtete sich auf und ging auf Luise zu. »Och, Luise, das freut mich aber ehrlich für Sie!«, rief sie und drückte sie herzlich an sich. »Ich kann’s noch gar nicht glauben«, sprudelte es gleich aus Luise heraus. »Die zahlen sieben Mark! Am Tag!« »Da werden Sie ja noch reich!«, lachte Brigitte Prenzke und ihr Mann ergänzte: »Was hab ich immer gesagt? Es geht wieder aufwärts!«
Er machte sich daran, die Kartoffeln für Luise abzuwiegen. Seine Frau stemmte die Arme in die Hüften. »Heute Morgen hast du mir noch erklärt, der Dritte Weltkrieg steht vor der Tür«, rief sie ihm zu und schüttelte den Kopf. Herr Prenzke lachte. »Na, so schlimm wird’s schon nicht werden!« Er konnte nicht wissen, dass es in Tempelhof ein paar Männer gab, die sich diesbezüglich längst nicht so sicher waren wie er.
Lucius D. Clay, Vier-Sterne-General und Militärgouverneur in der US-amerikanischen Zone Deutschlands, ein entschlossen wirkender Mann Anfang fünfzig, blickte grimmig aus dem Fenster seines Büros auf das Rollfeld des Flughafens Tempelhof. »Was heißt das konkret, Walker?«, wollte er wissen. »Die Russen behindern die Zufahrtswege?« Sein Generalskollege Walker, etwas jünger als er und mit zwei Sternen weniger dekoriert, sah in seine Akten. »Am Autobahnübergang Helmstedt stand vier Stunden lang alles still. Angeblich wegen ›dringender Bauarbeiten‹.« »Aber sicher«, antwortete Clay mit ironischem Unterton. Er glaubte den Russen kein Wort. »Gegen die Straßen in Moskau ist die Transitstrecke durch die Zone doch eine Prachtstraße!« »Und auf der Elbe stauen sich die Schiffe«, führte Walker weiter aus. »Kontrollen, heißt es. Jede dauert ein paar Stunden, das addiert sich.« »Also mehr als die üblichen Nadelstiche«, brachte Clay die Besorgnis erregende Lage auf den Punkt. Schon kurz nach Kriegsende war es zu ersten Spannungen gekommen. Berlin, das als Vier-Sektoren-Stadt einen Sonderstatus einnahm, lag mitten in der sowjetischen
Besatzungszone und sollte – ähnlich wie Gesamtdeutschland durch den Alliierten Kontrollrat – gemeinsam in der hierzu geschaffenen Alliierten-Kommandantur verwaltet werden. Doch was auf dem Reißbrett als wasserdichte Lösung entworfen worden war, zeigte in der Realität bald schon lecke Stellen. Die Sowjetunion sah Berlin zuerst einmal als Teil ihrer Besatzungszone an und über zwei Monate lang, von Anfang Mai bis Anfang Juli 1945, waren die Sowjets, die Berlin erobert hatten, auch die einzige Besatzungsmacht der Stadt. Erst dann rückten die Amerikaner und die Briten in ihre Sektoren ein und im August folgten schließlich die Franzosen, die nachträglich als vierte Macht in das Londoner Protokoll vom 12. September 1944 über die Besatzungszonen Deutschlands und die Verwaltung von Groß-Berlin mit einbezogen worden waren. Aus diesen Gründen und auch wegen Stalins ganz eigenen Plänen hatten die drei Westmächte bereits nach kurzer Zeit feststellen müssen, dass die Sowjetunion den unbehinderten und unkontrollierten Zugang der westlichen Alliierten nach Berlin keineswegs für selbstverständlich hielt. Und da es nur für den Flugverkehr genaue Absprachen, zum Beispiel über die Luftkorridore, gegeben hatte, mussten für alle anderen Verkehrswege, für die Straßen, die Eisenbahn- und die Wasserverbindungen, im Nachhinein Routen ausgehandelt werden. Die fein verzweigten Nervenbahnen der Stadt erwiesen sich bald als die krisenanfälligsten Stellen des BerlinStatus. 1946 hatten sich die Amerikaner und die Briten darauf verständigt, sich wirtschaftlich zusammenzuschließen, und so wurde Anfang 1947 die so genannte Bizone gegründet, die man später mit den Franzosen zur Trizone erweiterte – was wiederum von der Sowjetunion als Affront gewertet wurde.
Die Differenzen zwischen den westlichen Besatzungsmächten, also den USA, Großbritannien und Frankreich, einerseits und der Sowjetunion andererseits wuchsen immer weiter an, bis sich der Konflikt zu Beginn dieses Jahres noch einmal deutlich zugespitzt hatte. Walker sah Clay besorgt an. »Auf jeden Fall, Clay«, meinte er. »Wir sollten Protest vor dem Alliierten Kontrollrat einlegen.« »Großartige Idee!«, höhnte Clay. »Mit unseren Protestnoten können die Russen mittlerweile den ganzen Kreml neu tapezieren.« Er nahm Walker die Akte aus der Hand. »Das ist doch kein Zufall«, meinte er nach kurzem Überlegen. »Nicht gerade jetzt, wo Westdeutschland ein einziger Staat zu werden beginnt. Nein, nein – die haben was vor.« Die Empfehlungen der Londoner Sechsmächtekonferenz, die unter anderem die Errichtung eines föderativen Regierungssystems in Westdeutschland vorsahen, hatten zum heftigen Protest der sowjetischen Vertreter geführt, die daraufhin am 20. März den Kontrollrat verlassen hatten – alles deutete darauf hin, dass die Probleme zunehmen würden…
Nachdem Luise bei den Prenzkes eingekauft hatte, war sie noch durch halb Berlin gerannt – zumindest kam es ihr so vor, als sie ihre schmerzenden Füße spürte –, um weitere Lebensmittel zu besorgen. Sie ahnte nichts von den weltpolitischen Problemen, die nur ein paar Kilometer weiter diskutiert wurden, und den dunklen Wolken, die sich über der Stadt zusammenbrauten. Am Abend stand sie in ihrer bescheidenen kleinen Wohnung mit dem alten Kachelofen und den teilweise mit Teerpappe reparierten Fenstern und begutachtete voller Stolz den gedeckten Tisch. Sie wollte mit Michael ihren Erfolg feiern und auf der Linoleumtischplatte
türmten sich Leckereien, die es im Hause Kielberg schon sehr lange nicht mehr gegeben hatte. Sie hatte Michael befohlen, die Augen geschlossen zu halten, bis sie ihn holte. Nun führte sie ihn, der sich immer noch mit den Händen die Augen zuhielt, vorbei an dem Blechzuber, in dem die Wäsche eingeweicht lag, hin zum Esstisch. »Augen auf!«, rief Luise feierlich. Michael nahm die Hände weg – und schaute verblüfft auf den reichhaltig gedeckten Tisch: Kartoffeln, Möhren, zwei Gläser Milch – und sogar zwei Schälchen mit Schokopudding standen da, im Schein von einem halben Dutzend Kerzen. »Mama, ist das echter Schokoladenpudding?!«, rief er begeistert. Sofort wollte er einen Finger in die braune Creme stecken, aber Luise gab ihm einen Klaps auf die Hand. »Untersteh dich!«, rief sie scherzend und nahm Platz. »Ich bin durch die halbe Stadt gelaufen, um den zu kriegen.« Michael strahlte übers ganze Gesicht. »Du hast die Arbeit bekommen?« »Ja, ich habe sie, Micha. Bei den Amis in Tempelhof, als Kellnerin. Die haben mir gleich einen Vorschuss gegeben.« Luises Stimme überschlug sich fast. »Heißt das, wir sind jetzt reich?«, forschte Michael nach. »Na ja«, bremste ihn Luise, »Oma hat uns Geld geliehen. Wenn ich sie überreden kann, dass ich es ihr nicht gleich zurückgeben muss… Und wenn ich Herrn Prenzke bezahlt habe und die Stromrechnung und den Milchmann… und wenn dann noch was übrig ist…« »Versteh schon«, unterbrach sie Michael. »… dann können wir dir ein Paar neue Schuhe kaufen. Und zwar welche ohne Löcher. Und vielleicht ist ja sogar noch einmal Kino drin.« »Oder erst ins Kino?«, fragte Michael, der für seinen Teil natürlich ganz klare Prioritäten hatte.
Luise schmunzelte und begann die Teller zu füllen. »Und, kann ich da mal mitkommen? Die Flugzeuge anschauen?« Michaels Augen leuchteten, Flugzeuge beeindruckten ihn sehr, und in seinen Träumen war er wahlweise Flugzeugkonstrukteur oder waghalsiger Pilot. »Jetzt lass mich da erst mal anfangen«, antwortete Luise und machte sich genussvoll über das Festtagsmenü her. Nach dem Essen beschloss Luise, ihrer besten Freundin Leni noch einen Besuch abzustatten und ihr von ihrem Erfolg zu erzählen. Leni und sie waren unzertrennlich, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie sich in vielem voneinander unterschieden. Leni Genthin war drei Jahre jünger als Luise und das, was als Erstes an ihr herausstach, war ihre unbändige Lebenslust und ihr fröhliches Naturell. Sie besaß einen kleinen Frisiersalon, den sie kurz nach dem Krieg wieder aufgemacht hatte, war selbst sehr hübsch und hatte Pech mit den Männern. Ihr Markenzeichen war, dass sie entweder frisch verliebt war oder gerade frisch getrennt. Sie war kein Mensch, der lange allein sein wollte und konnte. Kaum war Luise im Salon aufgetaucht und hatte Leni von ihrer Stelle berichtet, hatte diese ihre Freundin auch schon auf den Frisierstuhl verfrachtet. Sie musste doch beim morgigen Arbeitsantritt gut aussehen, meinte Leni und machte sich sofort daran, ihr die Haare zu kämmen. Wie immer plauderte sie munter drauflos und erzählte Luise von einer Kundin, die an diesem Tag zum ersten Mal in den Salon gekommen war. »… und ich sage, Sie kriegen die neueste Frisur aus Paris und bei Ihrem fünften Besuch kriegen Sie sogar noch Rabatt, und da meint die blöde Kuh, für das Geld könnte sie ja gleich nach Paris fliegen«, regte sich Leni auf. Luise lachte. »Und, was hast du gemacht?«
»Ich hab ihr eine Tonsur geschnitten!«, rief Leni unter Lachen. »Die denkt jetzt, sie ist ›tres chic‹, aber ihre Frisur war zuletzt bei den Kartäusermönchen im Mittelalter modern!« Vor Freude schlug sie sich auf die Schenkel. Plötzlich aber änderte sich Lenis Gesichtsausdruck. Sie ging um den Stuhl herum und sah Luise ernst an. »So«, sagte sie und holte tief Luft. »Und nun die Nachricht der Woche: Groß. Ami. Sieht gut aus. Hat Humor. Und Freitagabend treffen wir uns.« Luise schmunzelte. »Du hast ›Ich glaube, diesmal ist es der Richtige‹ vergessen.« Leni überhörte die Neckerei. »Er bringt seinen Freund mit. Und ich hab versprochen, ich auch. Also, eine Freundin natürlich.« »Ich weiß nicht«, antwortete Luise ausweichend. »Ich muss mich doch um Micha kümmern.« »Na ja – das machste ja nun schon eine ganze Weile.« Luise erschrak ein wenig: So offen hatte Leni das Thema Männer und Luise noch nie angesprochen… »Als damals der Brief kam«, fuhr Leni fort, »dass Alex gefallen ist…« Sie zögerte ein wenig, überlegte, wie sie es am besten formulieren sollte, ohne ihrer Freundin zu nahe zu treten. »Da hab ich dir gesagt: Du schaffst das. Und du hast es auch geschafft. So, wie du’s jetzt auch geschafft hast, Arbeit zu finden.« »Leni«, fiel Luise ihr ins Wort, »ich kann nicht einfach losziehen und sagen, so, jetzt such ich mir ‘nen neuen Mann. Ich weiß nicht. Alex ist immer noch in meinem Herzen drin. Ich rede auch manchmal mit ihm. Wie ich alles machen soll.« »Das will dir ja auch keiner nehmen«, entgegnete Leni sanft. »Aber deshalb musst du ja nicht für den Rest deines Lebens solo bleiben.« Sie machte eine kurze Pause und zupfte an Luises Haaren. »Und außerdem – das Leben geht jetzt wieder
los! Wird doch alles wieder aufgebaut. Berlin wird wieder schön gemacht!« Luise wirkte wenig begeistert, doch Leni drehte sie zum Spiegel. »Guck mal in den Spiegel – das kannst du der Welt doch nicht im Ernst vorenthalten wollen!«, kicherte sie. Luise musste lachen. »Ich wusste, du nimmst Vernunft an!«, rief Leni und drückte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange.
2
In dieser Nacht konnte Luise kaum schlafen. Immer und immer wieder ging sie den Tag durch, an dem so viel passiert war. Eigentlich war ja gar nicht so viel passiert, sie hatte nur einen Job bekommen. Aber was hieß hier »nur«? Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sie das Gefühl, dass es bergauf ging – und dieses Gefühl war ungewohnt, schön und auch verwirrend. Zu lange hatte sie gedacht, dass sie niemals mehr vor Freude nicht schlafen könnte. Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fühlte sie sich, als sei sie eben erst zu Bett gegangen, doch kaum war in ihr Bewusstsein gedrungen, dass sie heute ins Casino gehen würde, war sie mit einem Schlag hellwach. Sie weckte Micha, bereitete alles für ihn vor, was er mittags brauchte, zog sich an und lief aus dem Haus. Sie hatte Glück, der Bus kam fast zeitgleich mit ihr an der Haltestelle an, und als sie einstieg, musste sogar der Fahrer lächeln, so sehr strahlte Luise in die Welt. Der erste Tag ließ sich gut an. Es gefiel Luise, dass sie endlich wieder unter Menschen war, dass ihr Leben wieder aus mehr bestand, als nur zu Hause zu sein und darüber nachzudenken, warum Alexander an der Front geblieben war und wie sie ihren Jungen und sich selbst satt bekommen könnte… Nachmittags war es im Casino sogar richtig voll. Als sie eine kurze Verschnaufpause machte, sah sich Luise um. Rauchschwaden hingen in der Luft und reizten fast schon ihre Augen. Amerikanische Songs aus einer Musikbox erfüllten den Raum und sorgten für eine beschwingte Stimmung. Einige Männer standen in kleinen Gruppen zusammen, lachten,
unterhielten sich. Andere saßen an einem der vielen Tische und spielten Skat. Frauen gab es – abgesehen von Luise und ihren Kolleginnen – keine. Woher auch? In einer Ecke weiter hinten hatte sich eine größere Gruppe versammelt, allesamt Piloten, wie Luise an ihren Uniformen erkannte. Die Männer hatten einen Halbkreis um einen hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Mann gebildet, der soeben eine Pilotenmütze auf den Boden vor eine Wand gelegt hatte. Der Mann, der Luises Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hieß Jack Snyder. Er war kurz nach Kriegsende nach Berlin gekommen, gemeinsam mit seinem Freund Harry, der sein Kopilot war und mit dem er stets zusammen flog. Unter den Blicken der anderen schritt Jack von der Mütze aus eine Strecke ab. »Okay!«, rief er und zählte mit. »Vier, fünf, sechs Yards.« Dann zog er eine Spielkarte aus seiner Jackentasche und begann mit konzentrierter Miene Maß zu nehmen. Die Männer lachten. Offensichtlich erfreute sich Jack großer Beliebtheit – aber das war auch nicht verwunderlich: Selbst unter der größten Anspannung behielt Jack seinen Humor und er war gleichzeitig ein Freund, auf den man sich verlassen konnte. Loyal, hilfsbereit, ehrlich. Jack blickte noch einmal kurz auf und sah den Sergeant an, der ebenfalls dem Schauspiel zusah. »Wenn ich treffe, haben wir drei Tage frei. Wenn nicht, schulden wir Ihnen zwei Stangen Luckies«, meinte er grinsend und begann erneut, Maß zu nehmen. »Hey, wieso ›wir‹?«, protestierte Harry lautstark. »Das ist dein…« »Nicht jetzt, Harry«, fiel Jack ihm ins Wort und konzentrierte sich erneut auf seinen Wurf. Gebannt sahen die Jungs zu, wie Jack die Karte ansetzte, um sie auf die Reise zu schicken. Würde er die Mütze treffen? Zwei Dutzend Augenpaare folgten jeder Bewegung Jacks.
Schließlich war er so weit. Der große Moment war gekommen. Geübt schnipste er die Karte Richtung Mütze… und verfehlte sie um Haaresbreite. Die Männer lachten und begannen Witze zu reißen. Der Sergeant klopfte Jack auf die Schulter. »Guter Versuch, Snyder«, meinte er und wandte sich ab, um sich einen Drink zu holen. Luise, die die ganze Szene beobachtet hatte, musste schmunzeln. Doch dann rief wieder die Arbeit. Ihre neue Kollegin knallte ihr ein Tablett auf die Theke und Luise belud es mit Kaffee, Bierflaschen und ein paar Gläsern Bourbon. »Noch mal vier Budweiser und sechs Kaffee«, sagte die kecke Blondine, während sie den Nachschub auf dem Tablett zurechtrückte. »Ach ja, und acht, die deine Telefonnummer haben wollen.« »Ich habe gar kein Telefon«, antwortete Luise lachend. »Aber ich«, verkündete die Kollegin und zwinkerte ihr zu. »Den Rest der Woche bin ich abends ausgebucht.« Sie stemmte das Tablett hoch und mischte sich wieder unter die Leute. Luise sah ihr lächelnd nach. Der neue Job gefiel ihr. Er gefiel ihr sogar sehr!
An ihrem ersten freien Tag machte sich Luise mit Michael auf den Weg zu ihrer Mutter Clara. Sie wohnte im Ostteil der Stadt, in Friedrichshain, dort, wo Luise aufgewachsen war und ihre Jugend verbracht hatte. Bevor Luise im Casino angefangen hatte, war sie oft zu ihrer Mutter gefahren, doch die letzten Tage waren so übervoll mit Eindrücken gewesen, dass sie gar nicht dazu gekommen war, sie zu vermissen. Heute früh jedoch stand fest, wie sie den Tag verbringen wollte. Sie wollte nach Friedrichshain. Und das
nicht nur ihrer Mutter wegen. Luise trieb es ans Soldatengrab ihres Mannes. Sie hatte einen kleinen Buchsbaum aufgetrieben, den sie heute pflanzen wollte. Nachdem sie ihre Mutter abgeholt hatten, schlugen sie sogleich die Richtung zum Friedhof ein. Kurz darauf knieten sie vor einem bescheidenen Holzkreuz, auf dem außer dem Namen ihres Mannes, Alexander Kielberg, das Geburts- und das Sterbejahr zu lesen waren. 1915-1944 stand darauf und jedes Mal, wenn sich Luise der Tatsache bewusst wurde, dass er viel zu früh gegangen war, schien es ihr, als ob die Wunde in ihrem Herzen von neuem aufzureißen drohte. Schweigend zupfte sie einige welke Blätter vom Grab und begann dann, den Buchsbaum einzupflanzen. »Aber jetzt sag mal«, unterbrach die Stimme ihrer Mutter die Stille. »Für die Amis arbeiten?« Clara schüttelte missbilligend den Kopf. Auch wenn Luises Mutter froh war, dass der Krieg vorbei war und der Wahnsinn, der Deutschland ergriffen hatte, endlich ein Ende hatte – die Amerikaner waren in ihren Augen trotz ihrer Care-Pakete in erster Linie Besatzer. Ungezügelte Männer, die zu viel rauchten, zu viel tranken und womöglich ihre Tochter belästigten… »Micha und ich brauchen das Geld«, erklärte Luise und drückte ein letztes Mal die aufgeworfene Erde um den Buchsbaum herum fest. Dann drehte sie sich um und blickte ihre Mutter an. »Und bisher sind die alle ganz okay.« »Jetzt sagst du sogar schon ›okay‹.« Luises Mutter schüttelte erneut den Kopf. Dann fuhr sie fort, ihrem Unmut Luft zu machen. »Die Amis führen eine eigene Westwährung ein«, meinte sie besorgt. »Da können die Russen mit ihrem Rubel doch gar nicht mithalten. Und wir hier in der Sowjetzone auch nicht.« Sie hielt kurz inne. »Das ist ja so, als würde man Deutschland in zwei Teile teilen.«
»Ach, Mama«, entgegnete Luise, »wie soll denn das gehen?« Sie musste schon fast lachen über die Unkenrufe ihrer Mutter. Ein Land teilen? Was für eine absurde Idee! Etwas später brachten sie Clara nach Hause und verabredeten sich für Luises nächsten freien Tag. Dann machten sich Luise und Micha auf den Heimweg. Doch allzu weit kamen sie nicht. Als sie um eine Ecke bogen, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Etwa zehn russische Soldaten hatten sich zu einem Spalier aufgereiht und kontrollierten bemerkenswert langsam und akribisch alle Passanten, die die sowjetische Zone verlassen wollten. Luise tippte einem Mann, der vor ihr stand, auf die Schulter. »Wissen Sie, was da los ist?«, fragte sie ihn und blickte besorgt nach vorne, wo sich die Soldaten mittlerweile dem nächsten Passanten zugewandt hatten. »Der Teufel ist los!«, antwortete der Mann verärgert. »Wir wollten zur S-Bahn, aber die kontrollieren alle, die in den Westen wollen!« Noch während er dies sagte, hielt ein russischer Militärlaster, aus dem weitere Soldaten stiegen. Der Mann sah Luise aufgeregt an. »An der Friedrichstraße ist auch alles dicht«, meinte er. »Da stehen sie schon auf den Bahnsteigen.« Luise verstand nicht recht. »Das gibt’s doch nicht!«, rief sie empört. Dann merkte sie, dass sie bereits die Aufmerksamkeit eines Soldaten erregt hatte, und dämpfte ihre Stimme. »Dürfen die das überhaupt?« Intuitiv schloss sich ihre Hand fester um die ihres Sohnes. »Das ist denen doch wumpe!«, regte sich der Mann auf. Offenbar interessierte es ihn nicht, ob die Soldaten mitbekamen, dass sich unter den Passanten Unmut breit machte. »Das ist reine Schikane!«, rief er aufgebracht.
Die Umstehenden hatten sich längst zu ihm umgedreht und schenkten ihm beifälliges Kopfnicken. Doch dann wurden sie gewahr, dass einer der russischen Soldaten, den Sternen nach zu urteilen der ranghöchste, auf sie zukam. »Hast du ein Problem?«, herrschte er den Mann vor Luise mit starkem russischem Akzent an. »Ja, hab ich!«, schrie der Mann. »Das ist illegal, was ihr hier macht! Es gibt nur ein Berlin!« »Das ist richtig«, bestätigte der Russe und fügte dann viel sagend hinzu: »Jedenfalls schon sehr bald.« Dann nickte er zweien seiner Männer zu, die sich sofort in Bewegung setzten. Sie packten den Mann links und rechts an den Armen und zerrten ihn mit sich fort. Luises Hand hatte sich während der ganzen Szene immer fester um Michas geschlossen. Angstschweiß hatte sich wie ein kalter Film auf ihre Haut gelegt und als die Reihe an ihnen war und die russischen Soldaten ihre Papiere kontrollierten, musste sie sich bemühen, das Zittern ihres Körpers unter Kontrolle zu halten.
Schlangen hatte es an jedem Grenzübergang gegeben. Der Beschluss der westlichen Alliierten, die alte, fast wertlose Reichsmark durch die neue Deutsche Mark zu ersetzen, war ohne Abstimmung mit der Sowjetunion gefasst worden. Dass dieser Affront nicht ohne Folgen bleiben würde, war eigentlich allen klar gewesen. Aber die Heftigkeit, mit der die Russen darauf reagierten, schockierte dann doch – Verbündete und Betroffene. Am nächsten Tag machte sich Ernst Reuter, Berlins Bürgermeister, auf den Weg zu General Clay, um mit ihm die Lage und mögliche Schritte zu besprechen.
Trotz seiner Leibesfülle und einer gewissen Gemütlichkeit, die Reuter ausstrahlte, war er ein energischer Mann. 1946 war er nach Berlin zurückkehrt, nachdem er in türkischer Emigration als Professor für Stadtplanung und Städtebau in Ankara tätig gewesen war. Wegen seines Engagements in der SPD war er ins Visier der Nazis geraten. Nach mehreren Festnahmen gelang es schließlich englischen Freunden, ihn aus der KZ-Haft zu befreien. Reuter war beliebt und hatte Erfahrung. Nur das sowjetische Veto hatte im Juni 1947 seinen Amtsantritt als Berlins Oberbürgermeister verhindert. Reuter, der während des Ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft gekommen war, hatte die Sprache gelernt und sich unter dem Eindruck der Februarrevolution den Bolschewiki angeschlossen. Im Dezember 1917 wurde er unter Lenin zum Volkskommissar der Wolgadeutschen Republik ernannt – doch schon im November 1918 war Reuter nach Deutschland zurückgegangen. Zuerst trat er zwar in die KPD ein, doch überwarf er sich bald mit seinen Weggefährten, wurde 1922 aus der Partei ausgeschlossen und kehrte noch im selben Jahr zur SPD zurück. War es dieser Schritt, der ihm den Unmut der Sowjets eintrug? Seitdem jedenfalls war das Verhältnis mehr als getrübt – das sowjetische Veto zu seinem Amtsantritt als Oberbürgermeister war die logische Weiterführung des Zerwürfnisses. »Die Russen kontrollieren alle S-Bahn-Fahrgäste in den Westen. Nehmen Leute fest, die sich wehren. Das ist eine Riesensauerei!«, rief Reuter, während er in General Clays Büro auf und ab ging. Clay sah den Bürgermeister ernst an. »Ich bin der Erste, der Ihnen da zustimmt, Reuter.« Er angelte sich eine Zigarette aus einer der vielen auf seinem Schreibtisch liegenden Schachteln, zündete sie an und inhalierte tief. Dass der General eine
ausgemachte Nikotinsucht hatte, war kaum zu übersehen. Er war acht Jahre jünger als Reuter, doch die zahllosen Zigaretten, die den Weg in seine Lungen gefunden hatten, machten den Altersunterschied vergessen. Clay war Spross einer Politikerfamilie in Georgia, womit sein beruflicher Werdegang fast schon vorgezeichnet gewesen war. Doch auch ungeachtet aller Familientradition war Politik schon immer seine große Leidenschaft gewesen. Kurz vor Kriegsende war er Stellvertreter General Eisenhowers, des Oberbefehlshabers der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, und danach Stellvertreter McNarneys geworden, des Militärgouverneurs der amerikanischen Besatzungszone. Am 15. März 1947 trat er schließlich dessen Nachfolge an und wurde Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone und Befehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa. Während seiner Amtszeit vollzog er die Vereinigung der britischen und der amerikanischen Besatzungszone zur Bizone und übergab nach anfänglichem Zögern immer mehr Verwaltungsaufgaben in deutsche Hände. Dabei bemühte er sich stets, die Bildung demokratischer Institutionen zu unterstützen. Reuter hatte Vertrauen zu dem Mann – und legte sich daher ihm gegenüber auch keinen diplomatischen Maulkorb an. »Sie und ich wissen, dass die Einführung der Westmark in den Westzonen eine Provokation war. Zwar richtig, aber eben auch eine Provokation. Da muss doch in Washington jemand drüber nachgedacht haben, dass Stalin darauf reagiert!«, meinte er nun aufgebracht, stützte sich auf eine Ecke von Clays Schreibtisch und schaute diesen besorgt an. »Ich bin mir manchmal selbst nicht sicher, worüber in Washington nachgedacht wird«, erwiderte Clay und runzelte die Stirn. »Herr General, ich will Ihnen hier keine Geschichtsstunde geben, aber – gestatten Sie mal?« Reuter nahm einige von
Clays Zigarettenschachteln und stellte sie nebeneinander auf. »Stalin verfolgt eine Expansionspolitik«, fuhr er fort. Seine Stimme hatte einen eindringlichen Klang angenommen. »Schon jetzt kontrolliert er fast den gesamten Ostblock. Ungarn ist in seiner Hand. Die Tschechoslowakei ist in seiner Hand. Und in genau diesem Augenblick ist er dabei, seine Hand nach Berlin auszustrecken. Ich glaube, wenn man überhaupt noch etwas tun will – dann muss man es jetzt tun.« Mit diesen Worten ließ Reuter eine Zigarettenschachtel nach der anderen umkippen. Clay hatte dem Schauspiel gebannt zugesehen. Er wusste, dass Reuter Recht hatte. Er blickte auf und sah den Bürgermeister an. »Also gut«, sagte er. »Ich fliege nach Washington. Vielleicht gelingt es mir, sie wachzurütteln.« Bald darauf verabschiedete sich Reuter. Er ging mit dem Gefühl, dass er seinem Gesprächspartner die Dringlichkeit des Handelns nahe gebracht hatte.
Sein Gefühl täuschte ihn nicht, denn kurze Zeit später – General Clay war nach Washington geflogen, um US-Präsident Truman die prekäre Lage zu schildern – wurde Reuters Szenario umkippender Zigarettenschachteln… … in Trumans Konferenzraum mit Dominosteinen wiederholt, anhand deren Clay seine berühmt gewordene Dominotheorie erläuterte und ein präzises Menetekel zeichnete. Der Präsident, sein engster Berater Royall, Außenminister Marshall und weitere Berater hörten ihm aufmerksam zu. »Wenn Berlin fällt, wird Westdeutschland als Nächstes dran sein«, prophezeite Clay. »Wenn wir Europa gegen die Kommunisten halten wollen«, führte er aus und sah einem nach dem anderen direkt in die Augen, »dann dürfen wir nicht
nachgeben. Ich glaube fest daran, dass die Zukunft der Demokratie uns dazu verpflichtet, zu bleiben!« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann ergriff Royall als Erster das Wort. »Was ist denn tatsächlich passiert?«, fragte er provozierend. »Die Russen kontrollieren ein paar Fahrgäste, mehr nicht.« Clay ließ ihn kaum ausreden. »Sie kontrollieren alle Fahrgäste«, korrigierte er. »Und dabei wird es nicht bleiben.« Nun mischte sich Marshall ein. »Formaljuristisch können wir sowieso nichts machen«, erklärte er. »Im Potsdamer Abkommen gibt es keine Garantie der Zufahrtswege nach West-Berlin. Dass man nach West-Berlin reisen kann, ist sozusagen ›goodwill‹ der Russen.« Royall nickte zustimmend. »Es war doch immer klar, dass der Westteil Berlins ein Provisorium ist«, meinte er. »Eine Insel mitten im Kommunismus. Wir würden ja auch keine kommunistische Großstadt mitten in Ohio akzeptieren.« Er erntete beifälliges Gelächter – nur Clay war nicht nach Scherzen zumute. »Sie verstehen nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Wir reden hier von Berlin. Das ist das Herz Deutschlands!« »Und vor kurzem noch der Sitz des Führerhauptquartiers, oder?«, fiel Marshall höhnisch ein. »Soll ich den Berlinern also sagen, dass das die Position Washingtons ist?« Clay schaute in die Runde. Truman hatte sich bis jetzt herausgehalten und sich alle Positionen angehört. Nun aber hatte er das Gefühl, sich einschalten zu müssen, denn die konträren Ansichten, die heute im Weißen Haus vorgetragen wurden, drohten eine Lösung des Konflikts unmöglich zu machen. Er blickte zuerst Marshall und dann Clay eindringlich an. »Clay, ich nehme das sehr, sehr ernst, was Sie hier vorbringen«, meinte er und machte eine kurze Pause.
Der General nickte. »Das klingt schon besser.« »Dennoch sehe ich nicht, was wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt tun könnten«, fuhr er fort. »Russland ist noch immer vom Krieg ausgeblutet. Und deshalb wird Stalin keine Konfrontation wollen.« »Und das amerikanische Volk auch nicht«, ergänzte Royall. »Und dieses Volk wird in wenigen Monaten an die Urnen gehen.« Clay zuckte innerlich zusammen. Im Klartext hieß das nichts anderes, als dass nichts unternommen werden würde. Diese Reise hätte er sich ebenso gut sparen können! Er räusperte sich kurz und blickte auf. »Ich verstehe«, sagte er so beherrscht wie möglich. »Dann bleibt mir nur, Ihnen alles Gute für Ihre Wiederwahl zu wünschen.« Damit packte er seine Sachen zusammen und empfahl sich.
Ungefähr zur selben Zeit, als General Clay desillusioniert und enttäuscht die Rückreise nach Berlin antrat, hatten sich Leni und Luise soeben ausgehfein gemacht. Während in Washington Mittag war, war in Berlin der Abend angebrochen. Um genau zu sein, der Freitagabend. Heute wollte Leni ihrer Freundin Harry vorstellen – und ihr gleichzeitig etwas auf die Sprünge helfen, was Männer anging. Luise hatte Leni mit gemischten Gefühlen in deren Frisiersalon abgeholt. Schon den ganzen Tag über hatte sie ihr Gewissen geplagt, ob es überhaupt richtig war, Leni heute Abend zu begleiten, ob sie damit nicht etwa einen Treuebruch gegenüber Alexander begehen würde. Als sie nach Hause gekommen war, war sie nahe dran gewesen, ihrer Freundin abzusagen, aber dann hatte sie sich einen Ruck gegeben. Gegen ein harmloses Ausgehen ist doch eigentlich nichts einzuwenden, hatte sie sich Mut gemacht, daraufhin ein Kleid
aus dem Schrank geholt, sich die Haare gekämmt und einen Hauch Rot auf die Wangen gelegt. Als Luise bei Leni aufkreuzte, hatte diese sie zuerst vor den Frisierspiegel platziert und ihrem Haar den nötigen Schwung verliehen, der ihrer Meinung nach für einen ausgelassenen Abend unerlässlich war. Frisch frisiert und bester Laune machten sich die beiden Freundinnen auf den Weg. Leni hatte die Richtung nach Tempelhof eingeschlagen und tatsächlich: Kurze Zeit später betraten die beiden das Casino. Luise staunte nicht schlecht. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte sich ihre Arbeitsstätte verändert. Sie glich jetzt eher einem Club, Jazz-Band inklusive. Wie immer war die Luft rauchgeschwängert, die Musik dröhnte in ihren Ohren, das ganze Casino war brechend voll. »Du hättest mir sagen sollen, dass wir die beiden hier treffen, da hätte ich gar nicht erst heimgehen müssen«, meinte Luise und sah sich weiter in dem großen Raum um. Jetzt am Abend waren deutlich mehr Frauen anwesend. Allesamt jung und hübsch. Doch sie kam nicht dazu, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn Leni hatte in der Menge bereits den entdeckt, den sie gesucht hatte. Sie zog Luise zur Bar und steuerte auf zwei US-Soldaten zu. Es waren Harry und sein Freund Jack. Luise musste schmunzeln. Die beiden kamen ihr doch bekannt vor… »Harry!«, rief Leni freudestrahlend und ließ sich von ihm herumwirbeln. Dann machte sie eine Handbewegung zu Luise. »Das hier ist meine Freundin Luise, und das ist…« »Jack«, stellte sich Jack mit einem gewinnenden Lächeln vor. »Hi, Jack«, grüßte Leni. Und dann fasste sie in der ihr eigenen, lustigen Art zusammen: »Also – Luise: Jack. Jack: Luise. Harry: Luise. Luise: Harry. Jack: Leni. Leni: Jack.«
Nachdem dies erledigt war, machte sie eine kurze Pause und wandte sich an Harry. »Hast du Lust zu tanzen?« »Hab ich erwähnt, dass Fred Astaire mein Schwager ist?«, antwortete Harry smart. Leni lachte und zog mit ihm auf die Tanzfläche. Luise sah den beiden nach, dann setzte sie sich etwas zögerlich zu Jack an die Bar. Der fühlte sich anscheinend auch nicht ganz wohl in seiner Haut, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis er sie ansah. »Hi«, meinte er dann und blickte sie lächelnd an. Kaum hatte Luise den Gruß erwidert, gellte plötzlich ein Pfiff quer durch den Club. Als Jack sich umschaute, sah er in der Tür einen Sergeant, der ihn heranwinkte. Sofort schnappte er sich seine Jacke und eine Tasche, in der Luise ein paar Flaschen Whisky und ein paar Stangen Zigaretten entdeckte, und wandte sich zum Gehen. »Sorry«, meinte er. »Ich muss los.« Und mit diesen Worten war er auch schon unterwegs zum Ausgang. »Kein Problem«, antwortete Luise zu einem imaginären Gegenüber. In Ermangelung eines Gesprächspartners sah sie sich weiter im Casino um. Ihr Blick wanderte zur Tanzfläche, wo sich mehrere Paare aufhielten. Auch Leni und Harry. Die beiden waren ein hübsches Paar. Harry brachte ihre Freundin offensichtlich zum Lachen – und das allein machte ihn schon sympathisch, fand Luise. Leni hatte es verdient, nach so vielen Enttäuschungen endlich einmal mehr Glück mit einem Mann zu haben. Und während Luise bei Lenis Verflossenen schon von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt hatte, hatte sie bei Harry die Ahnung, dass es dieses Mal nicht nur ein Strohfeuer sein würde. Als Leni ihre Freundin allein an der Bar erblickte, kam sie mit Harry an der
Hand zu ihr. Ein Getränk später machten sich die beiden Freundinnen auf den Heimweg. Leni brannte natürlich darauf zu erfahren, was Luise über Jack dachte. Vielleicht hatten die beiden ja Gefallen aneinander gefunden? »Leni, wie soll ich denn jemanden finden, der nicht mehr sagt als ›Hi‹ und ›Sorry, ich muss los‹?«, lachte Luise und verdrehte die Augen. Dann blickte sie ihre Freundin an. »Aber du und Harry, ihr passt wirklich gut zusammen.« »Ja, nicht wahr?« Leni strahlte. »Das ist schon verrückt, aber manchmal müssen wir beide lachen, bevor der andere was gesagt hat. Und, ich meine…« Sie machte eine kurze Pause. »Ich weiß, ich sollte das jetzt nicht sagen, aber…« »Ich glaube, diesmal ist es der Richtige«, stimmte Luise mit ein und die beiden brachen in Gelächter aus, nahmen sich in den Arm und setzten ihren Weg fort.
Am nächsten Morgen, es war noch früh, hatten die ersten Sonnenstrahlen ganz Berlin in ein sanftes Licht getaucht. Doch die politischen Ereignisse, die dieser Tag bringen würde, sollten so gar nicht zu der friedlichen Stimmung passen. Die Bombe schlug ein paar Stunden später ein. Reuter besprach sich gerade mit seinem jungen Assistenten Willy Brandt, als im Büro das Telefon klingelte. Willy Brandt, der unter dem Namen Herbert Frahm in Lübeck 1913 geboren worden war, trat erst in die SPD ein, um dann in einer Abspaltung, der Sozialistischen Arbeiterpartei, kurz SAP, Vorsitzender des Lübecker Jugendverbands zu werden. Bereits 1933, also mit gerade einmal zwanzig Jahren, befand er sich auf der Flucht vor der Verfolgung der Nazis. Diese endete in Norwegen, wo er den Namen Willy Brandt annahm. Bewegte Jahre folgten, bis er ab 1945 als norwegischer
Korrespondent über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse berichtete und 1947 Presseattaché der norwegischen Militärmission in Berlin wurde. 1948 schließlich wurde er Mitglied des SPD-Parteivorstands in Berlin. »Das kann doch nicht wahr sein!«, hörte Brandt seinen Vorgesetzten gerade aufgeregt am Telefon sagen und sah, wie sich dessen Körper anspannte. »… Ich verstehe«, fuhr Reuter dann fort. Sein Gesicht drückte höchste Konzentration aus. »… Ja… gut… Vielen Dank, General.« Damit legte er auf und wandte sich an Brandt. »Das war Clay. Die Russen haben die Sitzung des Alliierten Kontrollrats verlassen.« »Mit welcher Begründung?« Aus der Stimme des Assistenten sprachen Unruhe und Besorgnis. »Brandt, die Russen brauchen keine Begründung«, antwortete Reuter. »Sie sind einfach mitten aus der Sitzung raus. Und der Kontrollrat war der letzte verbliebene Ort, wo Russen und Amerikaner noch miteinander geredet haben.« »Das macht Sokolowski doch nicht ohne Rückendeckung«, vermutete Brandt und Reuter gab ihm Recht. »Natürlich nicht. Er handelt auf Weisung.« Wer die Weisung erteilt hatte – darüber musste man kein Rätselraten anstellen. Beide wussten, dass niemand anderer als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt unter dem Namen Stalin, im Hintergrund die Fäden in der Hand hielt und der große Regisseur der Konfrontationen war. Wie viele Akte das Theaterstück allerdings haben sollte, das konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Tatsächlich lief zur selben Zeit rund 1500 Kilometer östlich Josef Stalin in einem prunkvollen Saal des Kreml unter der aufmerksamen Beobachtung dreier Generäle auf und ab. Irgendetwas schien ihn zu belustigen, denn die Andeutung
eines Lächelns umspielte schon seit einer Weile seine Mundwinkel. »Nicht ich habe das Spiel begonnen«, resümierte er und blickte die Generäle der Reihe nach an. »Wir haben in Potsdam gesessen und Deutschland aufgeteilt: in vier Teile. In die Augen haben wir uns geschaut dabei.« Er unterstrich das eben Gesagte durch eine Handbewegung, dann fuhr er in bitter klingendem Tonfall fort. »Und dann habe ich zugesehen, wie sie jeden der Beschlüsse ausgehöhlt haben. Und plötzlich werden drei der vier Teile zu einem einzigen Teil gemacht: zu einem neuen großdeutschen Westdeutschland.« Stalin blieb stehen und räusperte sich. »Und Truman!«, rief er und begann ihn zu zitieren. »›Die amerikanische Außenpolitik muss stets das eine Ziel im Auge behalten: die Völker der Welt an Frieden und Freiheit teilhaben zu lassen.‹ Sie nehmen sich, was sie wollen, und dann verkaufen sie dort ihre Coca Cola!« Die drei Generäle pflichteten ihm nickend bei. Doch Stalin war noch nicht am Ende. Bei den letzten Sätzen war seine Stimme klirrend kalt und schneidend. »Aber sie werden erleben, dass die Sowjetunion nicht so schwach ist, wie sie denken. Wenn die Westmächte sämtliche Nachkriegsabkommen pervertieren wollen, dann nehmen wir uns im Gegenzug Berlin. Daher habe ich Befehl gegeben, am morgigen Tag mit der Blockade Berlins zu beginnen.«
Der nächste Morgen, es war der 24. Juni 1948, versprach ebenso schön zu werden wie die letzten Tage. Luise hatte bereits gefrühstückt und machte sich daran, die Wohnung in Ordnung zu bringen. Aufräumen, Staub wischen, Geschirr abtrocknen. Sie war gerade dabei, die Wäsche, die sie von draußen hereingeholt hatte, zusammenzulegen, als sie aufhorchte. Sie hatte das Radio angestellt, und was sie dort
erfuhr, ließ sie erschrocken innehalten. Luise merkte nicht, wie ein Wäschestück ihren Händen entglitt und auf den Boden fiel. »Seit heute Morgen ist West-Berlin auf Befehl der Sowjetunion von der Außenwelt abgeschnitten«, sagte gerade der Radiosprecher. »Es kam zu einer Blockade sämtlicher Zufahrtswege.« Dann ging der Sprecher in die Einzelheiten: Am Grenzübergang Helmstedt hatten sich binnen kurzer Zeit die Wagen zu einer schier endlosen Schlange aus Blech gestaut. Fahrer hatten ihre Autos verlassen und erregt mit ratlos wirkenden Grenzbeamten diskutiert, die auch nicht wussten, wie sie in dieser Situation handeln sollten. An anderen Orten hatten sich sowjetische Soldaten darangemacht, Eisenbahnschienen abzubauen, um so Strecken unpassierbar zu machen. Manche Trassen wurden einfach nur zugeschüttet. Lastwagen luden tonnenweise Sand und Schutt ab. Aber nicht nur alle möglichen Verkehrsverbindungen waren gekappt worden. Russische Soldaten hatten auch vor der Energieversorgung nicht Halt gemacht. »Darüber hinaus sind die Strom- und Gaslieferungen aus den Bezirken der sowjetischen Besatzungszone in den Westteil der Stadt eingestellt worden«, fuhr der Radiosprecher fort. Die Berichterstattung lief auf Hochtouren. Vertreter öffentlicher Einrichtungen wurden interviewt. Besonders Krankenhäuser schienen stark von der Blockade betroffen zu sein, konnte doch das Penizillin, das per Zug aus Frankfurt eintreffen sollte und lebenswichtig für die TuberkulosePatienten war, nicht seinen Bestimmungsort erreichen. Plötzlich verstummte die Stimme des Moderators. Luise steckte das Kabel ein und aus. Nichts tat sich. Sie betätigte den Lichtschalter, denn in ihr war ein Verdacht aufgekommen. Er bewahrheitete sich. Das Licht ging nicht mehr an. Die Energieversorgung war bereits zusammengebrochen.
Während es bei Luise still wurde, setzte bei Leni der Fön aus und es wurde dunkel im Frisiersalon. Bei Frau Prenzke erlosch die Flamme des Gasherds. Überall herrschte Rat- und Fassungslosigkeit. Was war das? Und vor allem: Was bedeutete das? Hieß das Krieg? Wieder Krieg? Wenig später konnte man schon die ersten Lautsprecherwagen hören, die in größter Eile eingesetzt wurden, um die Bevölkerung zu informieren. Sie fuhren durch die Straßen Berlins und wiederholten, gefolgt von Kindern, die in Gruppen hinter ihnen herrannten, immer wieder die gleichen tragischen Meldungen. »Sie hören die Stimme von RIAS-Berlin. Seit heute Morgen ist West-Berlin auf Befehl der Sowjetunion von der Außenwelt abgeschnitten. Oberbürgermeister Ernst Reuter mahnt die Bevölkerung zur Besonnenheit und tut alles in seiner Macht Stehende, um die Lage zu entschärfen. RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt.« Herr Prenzke, der einem vorbeifahrenden Lautsprecherwagen hinterher blickte, schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht nicht mehr lange.« Mit gesenktem Blick ging er zurück in seinen Laden.
3
Die Ereignisse hatten wie eine Bombe eingeschlagen. Ganz Berlin wartete gespannt, wie die Alliierten reagieren würden, und die politische Situation bildete den perfekten Nährboden für Gerüchte aller Art. Luise versuchte, im Casino so viel wie möglich aufzuschnappen – allerdings hatte sie den Eindruck, dass auch dort vor allem Ratlosigkeit herrschte. An der Stelle von Wissen und Information gab es auch unter den Soldaten nur größtenteils Mutmaßungen und Meinungen. Eigentlich galt nur eines als gewiss: Bald würde es nichts mehr zu essen geben. Und wenn es etwas gab, was Luise wirklich Sorgen bereitete, dann das. Sie dachte an Micha, der immer so einen Hunger hatte, und daran, dass es ihr jedes Mal einen Stich ins Herz versetzte, wenn sie ihn mit knurrendem Magen ins Bett schicken musste. Luise stand am Küchentisch und schmierte dünn Sirup auf eine Scheibe Brot. Dann wickelte sie die Stulle in Papier. »Micha, du musst los!«, rief sie ihrem Sohn zu, der wie immer morgens rumtrödelte. Es wirkte. Michael kam in die Küche, nahm die Stulle entgegen und packte sie in seinen Ranzen. »Wenn’s jetzt Krieg gibt, muss ich ja sowieso nicht mehr zur Schule«, meinte er und sah sie mit einem Gesicht an, auf dem sich eine gewisse Genugtuung abzeichnete. Luise durchfuhr bei seinen Worten ein Schreck. In Sekundenbruchteilen brach in ihrem Innern eine Bilderflut über sie herein. Die Nächte im Luftschutzkeller. Die ständige Angst. Alex, wie er auf den Laster stieg. Alex, der sagt: »Ich will, dass das Beste in unserem Leben noch vor uns liegt.« Sie
schluckte, hatte sich aber gleich wieder gefangen. Gespielt munter sah sie ihren Sohn an. »Wer sagt das denn?« »Na ja – alle«, meinte der Junge. »Der letzte Krieg ist doch erst drei Jahre her«, entgegnete Luise, aber insgeheim fragte sie sich, ob dieser Grund tatsächlich ausreichen würde, um die drohende Katastrophe zu verhindern, wie sie es sich selbst so gerne einredete. Sie verbot sich jedoch, länger darüber nachzudenken, drückte stattdessen Michael einen Kuss auf die Wange und schob ihn bestimmt in Richtung Tür. Luise wartete, bis sie Michaels Schritte im Treppenhaus hörte. Dann war sie allein in der Küche. Mit sorgenvollem Gesicht öffnete sie den »Berliner Kühlschrank«. Dies war ein Schrank unter dem Küchenfenster, der zur Aufbewahrung der Vorräte diente und der in fast jeder Wohnung zu finden war. Die Lebensmittelbestände, die sie sichtete, trugen nicht dazu bei, die Sorgenfalten auf ihrem Gesicht zu glätten. Ein Viertel Brot, eine halb leere Flasche Milch, ein paar Kartoffeln und Zwiebeln, ein Rest Schmalz und ein paar Kerzen, mehr gab’s nicht. Zumindest behält man gut die Übersicht, würde Leni sicher sagen, schoss es Luise durch den Kopf und der Gedanke an die Freundin und deren ungebrochenen Sinn für Humor ließ sie den Tag etwas mutiger beginnen. Verzweiflung wird mir jetzt auch nicht weiterhelfen, dachte sie und machte sich daran, den Tisch abzuräumen.
Im Büro des amerikanischen Militärgouverneurs hatte sich derweil eine Art Notstandskomitee, bestehend aus dem Generalskollegen Walker, Bürgermeister Reuter, seinem Assistenten Willy Brandt und natürlich Clay selbst,
zusammengefunden, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Clay hielt den Telefonhörer ans Ohr gepresst. »Ja… Ich verstehe«, sagte er soeben in einem Tonfall, der an Schärfe und unterdrücktem Zorn kaum zu überbieten war. »… Gut.« Er legte auf und wandte den übrigen Anwesenden kurzzeitig seinen Rücken zu. Als er sich dann umdrehte, passierte das Unweigerliche. Clay explodierte. »Sie ›beraten‹ noch!«, polterte er los. »Eine ganze Stadt wird als Geisel genommen – und Washington stellt sich tot!« »Für so was gibt es eben keine Reaktionspläne, die man einfach aus der Schublade holt«, unternahm Walker einen Erklärungsversuch. »Und wieso nicht?«, rief Clay. »Was macht denn das State Department den ganzen Tag über? Spielen die Schiffeversenken, oder was?« Walker war zu einer Wand gegangen, an der eine große Karte hing. Auf ihr waren Berlin, Deutschland, die Sektorengrenzen und die Luftkorridore abgebildet. »Clay«, meinte er, »wir haben hier 10.000 Soldaten stationiert. Aber in drei Stunden können 300.000 Russen vor Berlin stehen. Was erwarten Sie denn von Washington? Dass wir den Dritten Weltkrieg auslösen vielleicht?« Walkers Stimme war immer lauter geworden. Insgeheim hielt er Clay für einen unfähigen, überschätzten und ketterauchenden Hitzkopf. Als hätte Clay Walkers Gedanken erraten, steckte er sich eine Zigarette an und nahm einen hastigen Zug. »Washington würde sogar noch zögern, wenn eine russische Rakete direkt aufs Weiße Haus zufliegt«, sagte er und fügte mit ironischem Unterton hinzu: »Ihre Entscheidung könnte ja zu Verwicklungen führen.« Er musterte Walker einen Augenblick
länger als gewöhnlich, inhalierte noch einmal und wandte sich dann an Reuter. »Was brauchen Sie am dringendsten, Reuter?« Über die Antwort musste der Bürgermeister nicht lange nachdenken. »Lebensmittel«, antwortete er. »Außerdem Kartoffeln, Milch, Mehl.« Walker sah ihn irritiert an. »Aber die Lagerhäuser sind doch randvoll?« »Die drüben am Prenzlauer Berg, ja«, nickte Reuter. »Unsere Vorräte reichen höchstens noch für drei Wochen.« »Über neunzig Prozent der Lebensmittelversorgung WestBerlins stammt aus dem Umland«, führte Brandt auf dieses Stichwort hin aus. »Ebenso der Großteil unserer Gasversorgung. Die Braunkohlelieferungen sind inzwischen ebenfalls gestoppt.« »Aber wir haben doch Sommer«, meinte Walker. Anscheinend sah er keinen Handlungszwang. Brandt und Reuter wechselten einen Blick, der so viel sagte wie: Wer hat den denn zum General gemacht? Als Clay den Blick bemerkte, musste er insgeheim schmunzeln. Das hatte er sich selbst auch schon manchmal gefragt. »Für die Kraftwerke, Walker«, erklärte er ihm deshalb wie einem Schuljungen das Problem. »Die Leute kriegen keinen Strom mehr. Wenn wir nichts tun, stehen hier bald alle Räder still! Am liebsten würde ich eine Garnison Soldaten quer durch die sowjetische Zone schicken!« Reuter lächelte. »Die Berliner würden das zu schätzen wissen. Aber diese Option haben Sie wohl nicht.« Clay blickte in die Runde. Dann holte er tief Atem. »Also gut«, sagte er. »Straßen, Schienen und Wasserwege sind dicht.« Er machte eine kurze Pause. »Aber wir haben die Luftkorridore!«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging er zu seinem Schreibtisch, hob den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. »Wie stellen Sie sich das denn vor?«, rief Walker fassungslos und eilte Clay hinterher. »So, wie ich es gesagt habe, Walker. Da wir keine andere Möglichkeit haben, werden wir West-Berlin eben aus der Luft versorgen.« »Jetzt kommen Sie mal zur Besinnung, Clay!«, brüllte Walker und griff nach dem Hörer. Aber Clay ließ nicht los. Walker kam es vor, als hätte er es mit einem Wahnsinnigen zu tun. »Das ist die fünftgrößte Stadt der Welt da draußen. Berlin hat 3,3 Millionen Einwohner, allein der Westteil 2,2. Und jeder von denen muss essen!« Mit jedem weiteren Wort Walkers wurde Clays Wut größer. »Ja, genau!«, schrie er den General an. »Aber das ist ja nicht unser Problem, oder? Wir haben ja schließlich zu essen.« Walker ging gar nicht darauf ein. Für ihn war es schlichtweg unmöglich, 2,2 Millionen Menschen über den Luftweg zu ernähren. Ein Plan, der seiner Meinung nach keiner war. Ein Vorhaben, das auch mangels Entscheidungsgewalt unrealistisch war. »Das ist eine Entscheidung, die außerhalb Ihrer Kompetenz liegt«, meinte er deshalb scharf. »Einer muss sie aber nun mal treffen. Und die, die das tun sollten, beraten noch. Und zwar seit über 48 Stunden!«, antwortete Clay und schaute Walker an, der immer noch den Hörer festhielt. Die beiden Männer fochten ein stummes Blickduell aus, bei dem keiner nachgeben wollte. Längst ging es nicht mehr nur um Clays Plan oder darum, ob er die Befugnis hatte, ihn in die Tat umzusetzen. Hier prallten zwei Charaktere, zwei grundsätzlich verschiedene Lebensweisen aufeinander. Leidenschaft und Explosivität auf Clays Seite konkurrierten
mit der bürokratischen Korrektheit und der durch Rationalität verbrämten Ängstlichkeit Walkers. Zwischen den beiden knisterte die Luft. Schließlich ließ Walker den Hörer los. »Das kann Sie Ihre Sterne kosten, Clay«, zog er seinen letzten Trumpf aus der Tasche. »Kann schon sein«, antwortete Clay messerscharf. Dann blickte er sein Gegenüber provozierend an. »Zum Glück hab ich ja vier davon. Sie haben bloß zwei.« Er wählte die Nummer zu Ende und hatte Glück. Die Verbindung war sofort hergestellt. »Hennings? Clay hier«, meldete er sich. »Ich habe Arbeit für Sie. Und diesmal ist es eine Menge Arbeit.«
Jack, Harry und zwei andere Piloten hatten es sich gerade gemütlich gemacht. Sie saßen im Unterhemd in ihrer Baracke beieinander und gingen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: dem Pokern. Jack hatte eine Glückssträhne. Er schob vier Zigaretten in die Mitte des Tisches. »Deine zwei – und noch zwei«, meinte er mit unbewegter Miene. Doch er sollte nicht mehr erfahren, ob ihm das Pokerface auch dieses Mal den erwünschten Zigarettengewinn eingebracht hätte, denn fast im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. »Alle Piloten in fünf Minuten am Hangar 3!«, schrie der Sergeant, noch auf der Schwelle. »Hör mal, ich hab hier gerade das Blatt meines Lebens!«, rief Jack. Er wollte sich nicht so schnell geschlagen geben – jetzt, wo er so nah dran war. Doch da stieß er bei dem Sergeant auf Granit. Kurzerhand griff sich dieser die Zigaretten und steckte sie ein. »Dann hast
du Pech gehabt«, sagte er. »Die machen sämtliche Maschinen startbereit.« »Heißt das Krieg?«, wollte Harry wissen. Der Sergeant blickte ihn ausdruckslos an. »Noch nicht«, antwortete er dann kurz angebunden und war schon wieder draußen. Jack, Harry und die anderen taten es ihm einen Augenblick später gleich. Als sie hinausrannten, sahen sie ihre Kollegen. Aus der Vogelperspektive hätte die plötzliche Betriebsamkeit chaotisch erscheinen können, doch war es alles andere als das. Was sich gerade auf Tempelhof abspielte, war nichts Geringeres als der Beginn der Luftbrücke. Und nichts von alldem verlief so planlos, wie es auf den ersten Blick hätte scheinen können. Jeder der Männer wollte auf kürzestem Weg zu seinem Flugzeug, alle rannten auf die Hangars zu, eine Maschine nach der anderen wurde auf das Flugfeld gerollt. Auf rasch aufgebauten großen Tischen, die mitten im Hangar standen, unterrichteten Offiziere die Piloten über ihre Flugroute. Bevor Jack und Harry in ihre Dakota stiegen, klopfte Harry noch einmal fast schon zärtlich gegen den Rumpf der Maschine. »So, Mädchen, es geht wieder los!«, rief er und kletterte ins Cockpit. Propeller um Propeller begann sich zu drehen und die Luft war erfüllt von einem lauten Rattern, das sich wie ein plötzlich aufkommender Wind über das Gelände gelegt hatte. Es dauerte nicht lange, da hoben die ersten Maschinen von der Startbahn ab. Andere schlossen sich ihnen an und wie an einer unsichtbaren Perlenschnur aufgereiht, flogen sie nacheinander die ihnen vorgegebene Route durch den schmalen Luftkorridor. Keiner von den Männern wusste in diesem Moment, dass sie dabei waren, Geschichte zu schreiben. Die Luftbrücke hatte begonnen.
Tausende von Meilen entfernt auf einem anderen Kontinent war die Aufregung über die neuesten Meldungen aus Berlin groß. Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte Präsident Truman sofort seinen Berater Royall, Außenminister Marshall und zwei weitere enge Vertraute in den Konferenzraum des Weißen Hauses gerufen. Royall war alles andere als ein Freund General Clays und konnte sich nur schwer zurückhalten, nicht gleich loszupoltern. Die Entwicklungen, die in Berlin vor sich gingen, und das eigenmächtige Handeln des Generals ließen ihn nach Luft schnappen. »Was glaubt Clay überhaupt, wer er ist?«, rief er entrüstet und schlug mit der Hand auf den großen Tisch, der dem Konferenzraum allein schon durch seine beachtlichen Ausmaße einen der Weltpolitik würdigen Anstrich verlieh. »Vor allem scheint ihm völlig egal zu sein, ob der amerikanische Steuerzahler bereit ist, diese Kosten zu tragen für eine Stadt, von der der Zweite Weltkrieg ausgegangen ist«, schaltete sich Marshall ein und stellte sich damit eindeutig auf Royalls Seite. »Ich habe mit ihm gesprochen«, fügte dieser schnaubend hinzu. »›Ihnen sollte klar sein, dass das Schicksal der freien Welt auf dem Spiel steht‹, hat er gesagt. Er klingt, als wäre er der Präsident!« Royall schüttelte den Kopf, als wollte er damit andeuten, dass bei Clay offensichtlich einiges durcheinander geraten war. Truman, der die ganze Zeit zum Fenster hinausgeschaut hatte, drehte sich nun um und nickte. Er hatte lange genug zugehört. »Clay hat sich noch nie um Kompetenzen gekümmert«, sagte er und begann langsam durch den Raum zu gehen. »Die ganze Welt schaut auf Berlin. Was ist denn das Zeichen, das wir setzen wollen? Dass Amerika sich zurückzieht?« Truman blieb stehen und sah fragend in die Runde.
»West-Berlin war von Anfang an ein Konstrukt«, antwortete Marshall. »Und jetzt versucht auch noch ein Infanteriegeneral, es über eine Luftbrücke am Leben zu halten.« Seine Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er diesen Plan für völlig absurd hielt. Royall nickte zustimmend. »Mr. President – alle Experten sagen uns, dass diese so genannte Luftbrücke technisch nicht möglich ist.« »Gut«, meinte Truman. »Dann sollten wir das nicht anzweifeln.« Bei seinen Worten warfen sich Marshall und Royall einen erleichterten Blick zu: Sah ganz so aus, als sei die Sache gelaufen, der wahnsinnige Clay würde zur Räson gerufen werden, man könnte sich endlich auf das konzentrieren, was wirklich anstand – den Wahlkampf. Aber sie hatten sich zu früh gefreut, Truman war noch nicht fertig. Mit eindringlicher Stimme verkündete er: »Denn Unmögliches zu schaffen war schon immer eine unserer Spezialitäten.«
Am nächsten Tag überschlugen sich bei The Big Picture, dem US-amerikanischen Pendant zur deutschen Wochenschau, die Berichte. »US-Präsident Truman erklärte am späten Abend in Washington: ›Wir werden in Berlin bleiben, Punkt.‹«, sagte ein Nachrichtensprecher. »Schon wenige Stunden nach der historischen Entscheidung geht der Flugbefehl an US-Air Force-Stützpunkte in aller Welt hinaus. Und so wird die Welt Zeuge eines eindrucksvollen, nie da gewesenen Schauspiels: Aus Alaska, aus Honolulu, aus Guam, aus Texas, ja, aus Südostasien setzen sich Flugzeuggeschwader in Bewegung. Gigantische Flugzeugverbände sind am Himmel. Buchstäblich
Hunderte schwerer Transportmaschinen vom Typ Dakota und Skymaster verdunkeln den Himmel auf ihrem Weg. Ihre Mission: eine Stadt zu retten! Ihr Ziel: Berlin!« Während der Sprecher seine Meldungen verlas, wurden aktuelle Aufnahmen eingeblendet. Man sah lachende USPiloten auf ihre Maschinen zurennen, Flugzeuge, die auf Startbahnen rollten, Dakota-Verbände, die gerade in die Luft stiegen. Die Bilder waren beeindruckend. Ganze Flugzeuggeschwader machten sich Hornissen gleich auf ihren Weg. Nicht um Zerstörung zu bringen, sondern um zu helfen. In Berlin war die Luftbrücke mittlerweile in vollem Gange. Die Zahl der startenden und landenden Maschinen war so groß, dass die Bahnen bereits voll ausgelastet schienen. Während am Boden eine Maschine zum Stehen kam, kreiste oben bereits die nächste und wartete auf ihre Landeerlaubnis. Mehrere Maschinen wurden gleichzeitig entladen, denn alle Aktivitäten hatten sich binnen kurzer Zeit vervielfacht. Die Kapazitäten mussten noch immens vergrößert werden, wollte man 2,2 Millionen Menschen versorgen – doch die improvisierte Organisation schien schon jetzt an ihre Grenzen zu stoßen. Flugzeuge blockierten einander im Hangar, Kartoffeln fielen von den Lastwagen auf die Bahn und kullerten über den Asphalt. Übermüdete Soldaten konnten die Flut an Lieferungen kaum noch bewältigen. Das Ausladen der Maschinen dauerte länger als vorgesehen, der dadurch verursachte Rückstau war unübersehbar.
Auch Jack und Harry befanden sich in der Luft über Berlin. Sie saßen in der Pilotenkanzel ihrer Dakota, wie so oft in den letzten Wochen seit Beginn der Luftbrücke. Jack saß hochkonzentriert hinter dem Steuer, so kurz vor Tempelhof war der Himmel voller Flugzeuge. Harry blickte aus dem
Seitenfenster. Ein Flugzeuggeschwader mit weißem Stern auf dem Rumpf zog gerade an ihnen vorbei. »Wir kriegen Verstärkung. Die Jungs aus Texas«, kommentierte Harry euphorisch und winkte den Piloten zu. Jack zeigte nicht die gleiche Begeisterung wie sein Freund. »Die Maschinen stehen sich doch jetzt schon gegenseitig auf den Füßen«, meinte er. »Und das Entladen dauert jedes Mal eine Ewigkeit.« Harry lachte. »Wahrscheinlich haben die bloß vergessen, dich um Rat zu fragen«, meinte er und klopfte seinem Kumpel auf die Schulter. Doch Jack blieb ernst. »Jemand sollte Clay sagen, dass es ›Luftbrücke‹ heißt, weil sie jederzeit einstürzen kann«, warnte er. Dann konzentrierte er sich weiter auf den Anflug, während Harry per Funk um Landeerlaubnis bat. Als wären Jacks Worte das Stichwort gewesen, schrillten plötzlich auf dem Flughafen die Alarmsirenen los. In das rhythmische An- und Abschwellen ihres Tons mischte sich das durchdringende Geräusch von Trillerpfeifen. Sekunden später jagten auch schon Feuerwehr- und Sanitätsfahrzeuge auf die Landebahn zu, gefolgt von Soldaten in ihren Jeeps. Eine Maschine war mitten auf der Piste liegen geblieben. Die Reifen der Dakota waren geplatzt, aus dem Rumpf rauchte es. Die Rettungsmannschaften sprangen aus ihren Wagen, rollten die Schläuche aus und begannen auf der Stelle mit dem Löschen des havarierten Flugzeugs. Höchste Eile war geboten, denn von Minute zu Minute wurde die Gefahr einer Explosion und damit einer völligen Zerstörung der Maschine und ihrer Ladung größer. Die Männer waren vollauf beschäftigt und bemerkten zunächst gar nicht, dass am Himmel eine andere Gefahr auf sie zugeflogen kam. Im Tower wurde die Szene unter wachsender Anspannung beobachtet. »Tower an Delta Charly 8634, Sie haben keine
Landeerlaubnis! Ich wiederhole, Sie haben keine Landeerlaubnis!« Die Stimme des Fluglotsen klang mühsam beherrscht. Harry warf einen Blick auf die Tankuhr, dann meldete er dem Tower: »Delta Charly 8634 an Tower: negativ. Wir haben keinen Tropfen Sprit mehr.« Die Dakota näherte sich immer weiter der Landebahn. In dem Moment sahen Harry und Jack, was am Boden los war. Jack traute seinen Augen nicht. »Scheiße!«, brüllte er und umklammerte das Steuer. »Fliegen Sie eine Schleife, Delta Charly 8634! Wir haben eine Havarie mitten auf der Landebahn!«, befahl der Fluglotse über Funk. »Fliegen Sie eine Schleife!« Jack und Harry warfen sich einen kurzen Blick zu. Mit verbissener Miene nickte Jack seinem Freund zu. Er musste es versuchen. Es stand 50:50, dass er es schaffte. Mit aller Kraft riss er den Steuerknüppel nach oben, seine Gedanken waren völlig auf die Situation fokussiert. Eine innere Ruhe hatte sich seiner bemächtigt. Entweder – oder. Es war ganz einfach. Entweder war alles ganz plötzlich vorbei oder sie würden dem Tod noch einmal von der Schippe springen. Mit rasender Geschwindigkeit hielten sie immer noch direkt auf die Maschine zu. Jetzt erkannten sie auch zwei Leute, die auf der Piste standen und mit ausgestreckten Armen Zeichen gaben, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Sind Sie wahnsinnig geworden?! Abbrechen!«, tönte es aus dem Funkgerät. »Abbrechen!! Sie haben keine fünfhundert Meter zum Ausrollen!« Nun sahen auch die Feuerwehrmänner und andere Hilfskräfte auf der Landebahn die herannahende Maschine. Panisch rannten sie los, um sich in Sicherheit zu bringen. Im Cockpit war es gespenstisch still. Harry sagte kein Wort, und auch Jack ging keine Silbe über die Lippen. Die Sekunden
schienen sich endlos in die Länge zu dehnen. Immer näher raste die Landebahn auf sie zu. Komm schon, Baby, schoss es Jack immer wieder durch den Kopf. Unsere Zeit ist noch nicht gekommen. Und da geschah es. Im letzten Moment zog die Dakota hoch, um Haaresbreite flog sie über die liegen gebliebene Maschine hinweg und setzte direkt dahinter auf. Jack stieß den Bremsknüppel nach vorne, die Dakota wurde langsamer und blieb schließlich am Ende der Piste stehen.
Nachdem Jack und Harry kreidebleich ausgestiegen waren, machten sie sich als Erstes auf den Weg ins Casino. »Wir sind nur halb betankt gewesen!«, erklärte Jack Luise, die hinter der Theke stand und ein ums andere Tablett mit den Bestellungen belud. »Aber die leeren Maschinen aus Texas, die tanken sie voll!« Harry und Jack standen am Tresen, Luise füllte ihre Tassen mit Kaffee. »Clay stellt hier was auf die Beine, das noch keiner vorher versucht hat. Da läuft eben nicht gleich alles rund«, meinte Harry, der von der Idee der Luftbrücke von Anfang an begeistert gewesen war. Er hatte den Beinahe-Unfall fast schon wieder vergessen. »Dann soll er sich eben den richtigen Mann dafür holen!«, antwortete Jack. Auch er war ein Befürworter der Luftbrücke. Aber anders als Harry hatte er seine Zweifel, ob die Optimierung aller Aktionen mit der Zahl von Soldaten hier vor Ort überhaupt möglich sein konnte. Sicher, Clay war ein guter Mann und seine Leute waren es auch. Aber brachten sie die nötige Erfahrung mit, die man brauchte, um ein Vorhaben dieser Größenordnung erfolgreich durchzuführen? Seiner Meinung nach nein. Seiner Meinung nach kam nur einer dafür infrage: Turner.
»Wer ist ›der richtige Mann‹?«, wollte Luise wissen. Der Schreck saß auch ihr noch in den Knochen. Vom Casino aus hatte sie das riskante Landemanöver verfolgt – nicht ahnend, dass sich im Cockpit der Maschine ausgerechnet Harry und Jack befanden. »Im Zweiten Weltkrieg saßen unsere Jungs in China fest«, erzählte Jack. »Sie brauchten Nachschub. Die einzigen zur Verfügung stehenden Waffen lagerten in Indien. Dazwischen lag der Himalaja. Da mussten Panzer und Lastwagen rübergebracht werden. Und alle sagten: ›Das geht nicht.‹« Jack sah grimmig aus dem Fenster, wo eine soeben gelandete Maschine zum Hangar rollte. »Aber einer sagte: ›Ich krieg das hin‹«, fuhr Harry fort. Seine Augen leuchteten und in seiner Stimme schwang Respekt. »Unsere Jungs flogen in sechstausend Meter Höhe, durch Schneestürme und Fallwinde. Sie glaubten selbst nicht, dass das zu schaffen wäre. Aber Turner hatte es gesagt. Und Turner kriegte es hin!« Luise wusste nicht, wer dieser Turner war. Sie hatte noch nie von ihm gehört. Aber egal, im Moment war sie einfach nur froh, dass Jack und Harry unversehrt geblieben waren. Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb ihr auch heute nicht. Sie ließ die beiden Freunde am Tresen allein, denn schon wieder hatte eine Kollegin ein Tablett voll leerer Tassen, Gläser und Flaschen gebracht, das darauf wartete, abgeräumt und neu beladen zu werden.
In einem der Hangars draußen auf dem Flughafengelände wurde zur selben Stunde Krisenrat gehalten. Die heutigen Ereignisse waren für alle ein Schock gewesen. Dass höchste Konzentration vonnöten war, um eine solch große Aktion durchzuführen, war allen bewusst – dass aber unerwartete
Ereignisse regelrechte Katastrophen auslösen konnten, war bislang nur allzu gerne verdrängt worden. »Sie schaffen es nicht«, meinte Walker, während er zusammen mit Clay durch die Halle ging, in der Flugzeuge repariert wurden. »Sie müssten mindestens zweitausend Tonnen pro Tag schaffen. Gestern waren es 362«, rechnete er ihm vor und zählte dann die weiteren Probleme auf. »Sie müssen Hunderte von Flügen koordinieren. Die Wartung der Maschinen klappt hinten und vorne nicht. Die neuen Piloten brauchen Unterkünfte. Es gibt aber keine Unterkünfte.« »Dann bauen wir eben welche!«, unterbrach ihn Clay in gereiztem Tonfall. Er hatte die Nase voll von diesem ewigen Pessimisten. Er hatte aber auch eine Ahnung davon bekommen, wie sich Scheitern anfühlt. »Und wo?«, hakte Walker nach. »Wir haben Tempelhof, die Briten haben Gatow. Zwei Flugplätze – für über sechshundert Flugbewegungen pro Tag.« Er und Clay gingen unter der Tragfläche eines Flugzeugs auf den Ausgang zu. Clay nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Zu enger Luftraum. Zu lange Wartezeiten«, fuhr Walker fort. »Sobald wir Nebel haben, spielt das Radar verrückt. Und in drei Monaten kommt der Winter. Und dann?« Diesmal wollte sich Walker nicht abwimmeln lassen. Der heutige Tag hatte ihn zum wiederholten Male in seiner Meinung bestätigt. Die Luftbrücke war ein Hirngespinst, die ganze Aktion wahnwitzig und letztlich zum Scheitern verurteilt. Ein Traum. Der heldenhafte, edle Traum eines realitätsfernen Spinners. »Eine Luftbrücke ist eben kein Routinejob«, erklärte Clay. Er hoffte, dass Walker endlich damit aufhörte, nur Kritik zu üben, und zur Abwechslung einmal eine gute Idee liefern würde. Doch weit gefehlt.
»Sie selbst halten 1200 Tonnen pro Tag für das Maximum. Aber sobald die Menschen heizen müssen, brauchen wir das Zweifache an Tonnage«, wetterte er weiter. Clay blieb stehen und holte tief Luft. »Ja, es ist schwierig. Und – ja, vielleicht ist es unmöglich«, sagte er und sah Walker an. »Aber kommen Sie mal mit.« Er führte Walker nach draußen und deutete zum Entladebereich. Mithilfe des unermüdlichen Einsatzes deutscher Kräfte wurden die Maschinen immer schneller entladen, gerade arbeiteten wieder mindestens zwei Dutzend Männer Hand in Hand. »Die arbeiten seit sieben Stunden«, erklärte Clay. »Vor zwei Stunden wollte ich sie zwingen, eine Pause einzulegen. Aber sie wollten nicht. Vor drei Jahren haben die noch auf uns geschossen. Und wir haben Bomben auf sie geworfen.« Clay sah Walker grimmig an. »Ich finde, wir sind ein ganzes Stück weitergekommen.« In dem Moment rollte nicht weit entfernt eine kleines Flugzeug heran, das gerade gelandet war. Es war eine Passagiermaschine. Als Clay sie erblickte, verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. Walker folgte seinem Blick. »Kriegen wir Besuch?« »Nein«, antwortete Clay. »Aber in Washington ist man der Ansicht, dass wir Unterstützung brauchen.« Kaum war das Flugzeug stehen geblieben, öffnete sich die Tür und ein Soldat legte eine kleine Treppe zum Aussteigen an. Clay und Walker gingen auf die Maschine zu, in deren Tür nun ein Mann erschien. Mittleren Alters, attraktiv, von großer Ausstrahlung. Es war nicht irgendein Mann, nicht irgendein General, nein, es war ein Held, der da auf Clay zukam, es war Turner. Der Turner. Mit seiner Aktion waren er und seine Mannschaft zu Nationalhelden erster Kategorie aufgestiegen. Dennoch: Clay mochte sich nicht so recht über den hohen
Besuch freuen. Hier war nicht der Himalaja, hier war Berlin. Und das hier war nicht Turners Luftbrücke, sondern seine. »Turner«, grüßte Clay knapp den Besucher. »Clay«, antwortete Turner nicht minder knapp. Turner schien seinen Kollegen kaum wahrzunehmen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Gelände, das er soeben betreten hatte. »Wie sind die Maße dieses Rollfelds?«, wollte er unvermittelt wissen. »Ähm, keine Ahnung. Wieso?« Clay war leicht irritiert. Turner antwortete nicht, sondern ging weiter. Hinter ihm stiegen etwa zehn weitere Männer aus der Maschine: Turners »Truppe«. Es waren dieselben Männer, mit denen er im Zweiten Weltkrieg den legendären »Hump-Airlift« von Indien nach China gemanagt hatte – über den Himalaja. Durch Fallwinde und Schneestürme und in über neun Kilometer Höhe. Bepackt mit ihren Seesäcken, folgten sie Clay und Turner auf dem Weg an den Hangars vorbei. Viele bewundernde, fast ehrfürchtige Blicke folgten ihnen, denn diese Männer waren lebende Legenden. Knochenharte Typen, der Stolz der US-Air Force. »Wir tun hier, was wir können, aber wir haben Probleme«, unternahm Clay einen erneuten Anlauf, mit Turner ins Gespräch zu kommen. »Ich mag das Wort ›Probleme‹ nicht, Clay. Ich ziehe das Wort ›Aufgabe‹ vor«, beschied ihn Turner und setzte seinen Weg fort. »Gut«, meinte Clay und blieb Turner dicht auf den Fersen. »Wir haben also Aufgaben. Eine ganze Menge Aufgaben.« Turner ging in direkter Linie auf einen der Hangars zu und stand nun völlig reglos am Eingangstor. Clay war sich noch nicht einmal sicher, ob der andere überhaupt mitbekommen hatte, was er ihm eben gesagt hatte.
Turner beobachtete zwei Mechaniker, die am Fahrwerk einer C54 herumschraubten, während drei ihrer Kollegen plaudernd in einer Ecke saßen und Kaffee tranken. Turner sagte kein einziges Wort, bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Ihn umgab eine Aura des Unantastbaren. Fast so, als käme er von einer anderen Welt. Es schien, als würde ihm kein noch so winziges Detail, keine noch so scheinbare Kleinigkeit entgehen. Alles, was er sah und hörte, wurde sofort gespeichert, bildete ein winziges Steinchen in dem Mosaik, das sich allmählich in seinem Kopf zusammenfügte und das ihm dabei half, die Lage vor Ort richtig beurteilen und in der Folge optimieren zu können. Clay hatte keine Ahnung, was in Turner vorging, konnte nicht verstehen, dass dieser mit ihm bis jetzt nicht mehr als zwei Sätze gewechselt hatte. Dennoch: Er hatte Respekt vor dieser Legende, die da am Hangar stand. Und Turner war ihm nicht unsympathisch, war er doch selbst auch kein Vertreter galanter Konversation, sondern eher ein Mann der Taten. Turner blickte sich immer noch um und registrierte drei weitere Maschinen, die in dem Hangar standen. Offenbar waren alle drei defekt. Clay hatte den Eindruck, dass Turner sich nun lange genug schweigend umgesehen hatte. Er nahm eine Mappe aus seiner Tasche, öffnete sie und wandte sich mit ihr an seinen Kollegen. »Ich habe hier eine erste Übersicht über die uns zur Verfügung stehenden Kapazitäten erstellen lassen. Wie Sie sehen werden, ist…« Er verstummte, als er merkte, dass ihm Turner überhaupt nicht zuhörte. Ganz in sich versunken war dieser zur hinteren Wand des Hangars gegangen und nahm diese nun eingehend in Augenschein. Was sollte das? Was ging hier vor? Verwirrt wandte sich Clay an einen von Turners Männern. Floyd Jenkins hieß er, Turners rechte Hand. »Was zum Teufel macht er da?«
Jenkins sah ihn leicht belustigt an. »Er schaut sich die Wand an«, antwortete er. Er kannte seinen Chef in- und auswendig. Dessen Verhalten gab ihm schon lange keine Rätsel mehr auf. Allerdings konnte er Clays Irritation nur zu gut verstehen, kannte er sie doch aus eigener Erfahrung… Kurz darauf betraten die Männer das Casino, das auch nun, mitten am Tage, gut besucht war. Fast alle Tische waren besetzt, Luise und ihre Kolleginnen hatten alle Hände voll zu tun. Clay unternahm einen weiteren Versuch, Turner über die Lage zu informieren. »Wir haben Proble…« Er stockte und verbesserte sich rasch. »… ich meine Aufgaben, bezüglich der Flugkoordination. Die Maschinen sind so schwer beladen, dass die Reifen reihenweise den Geist aufgeben. Wir müssten eigentlich zweitausend Tonnen pro Tag schaffen, aber siebenhundert scheinen das Maximum zu sein. Dazu kommen noch Aufgaben mit dem Radar, mit dem Mangel an Flugplätzen, mit…« Er hielt inne. Wieder war völlig unklar, ob Turner ihm überhaupt zuhörte. Dieser ließ seinen Blick durch den Raum wandern und schien sich selbst einen Überblick verschaffen zu wollen. Clay seufzte und zückte seine Mappe. »Aber vielleicht ziehen Sie es vor, sich selbst…« Turner schaute flüchtig auf die Dokumente, machte aber keinerlei Anstalten, sie an sich zu nehmen. Stattdessen sah er sich weiterhin um. An einem Tisch erblickte er Piloten beim Pokern. An einem anderen saßen zwei und lasen die Zeitung. An einem dritten Tisch döste einer vor sich hin. Kurz gesagt: Es herrschte Feierabendstimmung. Clay wiederum verlor langsam die Geduld. »Oder haben Sie sich vielleicht schon irgendeine Meinung gebildet?«, fragte er. Und siehe da: Turner sah ihn an. »Also schön«, meinte er. »Hören Sie gut zu.« Dann ging alles sehr schnell. Ohne jede
Vorwarnung zog er seine Waffe und feuerte einen Schuss an die Decke. Dabei traf er eine Glühbirne. Der ohrenbetäubende Knall hatte den Dösenden so hochschrecken lassen, dass er mit dem Stuhl krachend hintenüber kippte. Dann herrschte Stille. Alle stellten sich eine Frage: War dieser Mann verrückt geworden? Luise hatte vor Schreck den Atem angehalten und blickte wie alle anderen zu demjenigen, der den Schuss abgefeuert hatte. Von Jack und Harry hatte sie bereits erfahren, wer er war. Er sah gut aus, hatte dunkle Haare und ein markantes Gesicht mit wachen Augen. Aber warum dieser Mann im Casino herumballerte, verstand auch sie nicht. Nachdem einige Schrecksekunden lang nichts als Schweigen geherrscht hatte, wandte sich Turner um und sah Clay direkt in die Augen. »Das denke ich«, meinte er und führte aus: »Die ganze Welt schaut auf Berlin und hier sind alle im Tiefschlaf. So kann das nicht funktionieren.« Clay schluckte, machte dieses vernichtende Fazit doch auch vor seiner Person nicht Halt. Er räusperte sich. »Und, was schlagen Sie vor?« »Sie haben ein riesiges Flugfeld, aber nur zwei Landebahnen. Sie haben einen riesigen Hangar, aber nur einen Zugang. Und Sie haben eine Menge Mechaniker, die einfach nur herumstehen.« Er wies mit ausgestreckter Hand zum Fenster und fuhr fort: »Aber da draußen sind zwei Millionen Menschen, die versorgt werden müssen. Und solange wir eine Minute Zeit und einen Zentimeter Raum verschwenden, laufen wir Gefahr, dass einer von diesen zwei Millionen verhungert oder erfriert. Und solange nicht jeder hier das kapiert hat, haben wir in der Tat nicht nur eine Aufgabe – sondern wirklich ein Problem.« Der ganze Saal hatte Turner zugehört. Keiner der Anwesenden sagte ein Wort. Viele von ihnen fühlten sich
ertappt. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der jeder über das soeben Gehörte nachzudenken schien, doch auf einmal wurde die Stille durch die Stimme einer Frau unterbrochen. »Entschuldigung.« Luise hatte sich im hinteren Thekenbereich eine Stehleiter geschnappt und machte sich daran, diese nun direkt neben Turner aufzustellen. Jack und Harry, die wie alle im Raum die Szene beobachteten, wechselten einen viel sagenden Blick, der so viel besagte wie: Was um Himmels willen macht sie da? Will sie ihren Job verlieren? Luise war mittlerweile auf die Leiter gestiegen. Sie hatte nicht länger tatenlos herumstehen wollen. »Die Lampe hier ist kaputtgegangen«, erklärte sie und begann die zersplitterte Birne herauszudrehen. »Miss, wie heißen Sie?«, fragte Turner in knappem Tonfall. Luise drehte sich um und schaute die Leiter hinunter. »Luise Kielberg.« »Und was ist Ihr Job?« »Ich bediene hier.« Turners Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Jetzt nicht mehr.« Luise schluckte. Das darf nicht wahr sein!, dachte sie. Sie war sich sicher, dass sie gerade ihren Job verloren hatte. Ihr wurde schwindelig und mit schreckgeweiteten Augen blickte sie Turner an. Dieser machte ein paar Schritte in den Raum. »Diese Frau hat mich verstanden«, verkündete er mit fester Stimme. Dann sah er Luise an. »Ab sofort arbeiten Sie als meine Sekretärin.«
4
Noch am selben Tag wurde Luise in ihren neuen Job eingewiesen. Nachdem sie mit ihrer Schicht im Casino fertig war, meldete sie sich bei General Turner. Dieser hatte ihr bereits bedeutet, dass viel Arbeit auf sie warten würde – und als sie sich nun mit ihm und Jenkins in einem bislang ungenutzten Raum wiederfand, war ihr schnell klar, was er damit meinte. Luise hielt einen Bestellblock aus dem Casino in der Hand und machte sich Notizen – die Aufträge wollten kein Ende nehmen und ein ums andere Blatt füllte sich. Turner schritt den Raum ab und gab seine Anweisungen. »… dann drei Schreibtische, drei Stühle, zwei Schreibmaschinen, zwei Rechenmaschinen.« Er öffnete die Tür zum Nebenraum und nahm ihn kurz in Augenschein. »Hier kommt ein großer Tisch rein, für zehn bis zwölf Mann.« Luise nickte eifrig. »Und Stühle«, ergänzte sie. Turner schenkte ihr einen kurzen Blick für diese nur bedingt ausgefallene Idee. »Ja. Und Stühle.« Dann schaute er sich wieder in seiner neuen Wirkungsstätte um. »In jeden Raum müssen zwei Telefonleitungen und -anlagen. Wenden Sie sich an Hennings, das ist der Versorgungsoffizier.« Er wandte sich wieder Luise zu. »Ihr Arbeitsbeginn ist um acht Uhr morgens, Sie gehen um sechs. Es wird Tage geben, an denen ich Sie länger brauche. Wird das gehen für Sie?« Luises Antwort war eindeutig. »Selbstverständlich«, meinte sie und lächelte Turner an. Sie war glücklich über die Chance, die er ihr gab. Die Arbeit im Casino hatte ihr zwar Spaß gemacht, das war keine Frage. Doch hier bot sich ihr plötzlich
die Möglichkeit, an etwas wirklich Bedeutsamem beteiligt zu sein. Unmittelbar. »Gut«, schloss Turner. Dann blickte er sie noch einmal eindringlich an. »Außerdem unterliegt alles, was Sie hier hören, absoluter Geheimhaltung.« Luise nickte. Sie hatte verstanden.
Schon einen Tag später hatte sie es geschafft, dass das Büro als solches bereits nutzbar war. Es war zwar noch nicht komplett eingerichtet, doch fürs Erste reichte es. Ebenso wie die Einrichtung war auch Luises Kostüm improvisiert, es hatte etwas »Semi-Militärisches«. Luise war sich der Tatsache nicht bewusst, wie schick sie darin aussah, aber das Kostüm stand ihr ausgezeichnet. Während das fast jeder Mann, dem sie über den Weg lief, zumindest wohlwollend registrierte, schien es, als wäre es Turner sogar egal gewesen, wenn sie eine Kittelschürze getragen hätte. Er ging voll und ganz in seiner Aufgabe auf, und das Einzige, für das er wirklich Augen hatte, waren die Flugpläne und die Landkarten, die auf einem großen Tisch ausgebreitet waren und über denen er mit Jenkins und anderen Militärangehörigen brütete. »Was wir brauchen, ist eine Prioritätenliste«, ergriff Turner nun das Wort. »Was ist das Wichtigste? Ist Kohle wichtiger als Mehl? Sind Kartoffeln wichtiger als Trockenmilch? Sind diese ›tausend Kalorien pro Einwohner‹ überhaupt realistisch?« Er stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und blickte kurz auf. »Das alles muss mit Wiesbaden koordiniert werden.« Turner holte eine weitere Karte hervor und entrollte sie auf dem Tisch. Sie zeigte Berlin, die Westzonen und die Luftkorridore. »Aber das Wesentliche ist der Flugbetrieb«,
meinte er. »Wir haben drei Korridore. Bisher wurde jeder davon wie eine Autobahn benutzt: eine Spur, eine Gegenspur.« Zur Veranschaulichung legte er jeweils zwei Pfeile aus Pappe in entgegengesetzter Richtung auf die schematisch dargestellten Korridore. »Wir werden zunächst die gesamte Flugkoordination umstellen«, erklärte er seinen Plan. »Die beiden äußeren Korridore für die Transporte, der innere für den Flug zurück in die Westzonen. Danke.« Das letzte Wort bezog sich auf den Kaffee, den Luise ihm reichte. Mit einem kurzen Blick nahm er ihr die Tasse ab und drehte sich wieder um. »Was wir brauchen«, fuhr er sogleich fort, »ist eine reibungslos funktionierende Maschinerie. Und weil jede Verzögerung an irgendeinem Teil davon die gesamte Maschinerie zum Stillstand bringt, müssen wir jedes dieser Teile unter zwei Aspekten überprüfen.« Er machte eine kurze Pause, denn er wollte die nun folgenden Punkte ihrer Wichtigkeit entsprechend präsentieren. »Erstens: Wie geht es schneller? Und zweitens: Wie geht es noch schneller?«
Innerhalb kürzester Zeit begann man damit, Turners Optimierungspläne in die Tat umzusetzen. Im Hangar fraß sich bereits ein Schneidbrenner in Metall. Funken sprühten und mehrere Arbeiter machten sich unter lautem Rufen daran, eine Wand herauszubrechen. Bald war der gewünschte zweite Eingang fertig. Schon einen Tag später rollte vorne eine Maschine aus dem Hangar hinaus, während hinten gleichzeitig eine andere zum Entladen hineinrollte. Aber nicht nur realen Mauern wurde zu Leibe gerückt – auch die Mauern in den Köpfen sollten abgerissen werden. Als Erstes begann Turner mit dem Tiefschlaf, den er im Zuge seiner Bestandsaufnahme bei dem einen oder anderen Piloten
und Arbeiter registriert hatte und der sich wie eine warme Decke über Tempelhof gelegt hatte. Jenkins machte sich einen Spaß daraus, Piloten, die nicht schnell genug auf ihre Flugzeuge zuliefen, mit einem gezielten Tritt in den Hintern anzutreiben. Und wenn sich Piloten nach getaner Arbeit stärken wollten und erst einmal gemütlich in Richtung Casino gingen, wurden sie von einem von Turners Männern umgeleitet: Außer dem Casino gab es nun auch eine »rollende Snackbar«, an der man sich mit Essen und Getränken versorgen konnte. Eine von Luises ehemaligen Kolleginnen aus dem Casino hatte den Job übernommen, und bei ihrem Anblick, an dem die meisten Männer unverkennbar Gefallen fanden, stieß die neue Verpflegungsstation auf große Begeisterung… Clay und Turner besprachen sich mehrmals täglich am Konferenztisch. Oft legte der Gouverneur neues statistisches Material vor – stapelweise. Doch meistens wurden die Papiere von Turner ignoriert. Als Clay während einer Besprechung wieder einmal von Turner eine Zwangspause verordnet bekam, weil dieser draußen anscheinend gerade etwas Wichtigeres zu tun hatte, stand Clay auf, zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster. Eine Maschine war gerade gelandet. Noch im Ausrollen wurde die Ladeklappe geöffnet und kaum stand das Flugzeug, sprangen auch schon bereitstehende Arbeiter hinein und begannen mit dem Entladen. Turner stand mit einer Stoppuhr daneben und gab Anweisungen. Eine Rutsche wurde an der Maschine angedockt, und sofort rollten die ersten Säcke hinunter. Plötzlich drohte die Rutsche wegzukippen, doch sofort eilte Turner herbei und hielt sie in der Halterung, während er gleichzeitig ein paar Männer anbrüllte. Beim Anblick dieser Szene konnte sich Clay ein Grinsen nicht verkneifen.
Dieser Turner ist ein richtiger Teufelskerl, das muss man ihm lassen, dachte er. Irgendwie mochte er diesen Mann, der klare Ziele hatte und es gewohnt war, diese zu verwirklichen. Er mochte nicht der umgänglichste Mensch sein, aber was hieß das schon? Er war ein Mann von Format und Clay war froh über den frischen Wind, der seit Turners Ankunft in Tempelhof wehte. Clay musste zugeben, dass er am Anfang alles andere als begeistert gewesen war, Hilfe aus Washington zugewiesen zu bekommen. Aber mittlerweile wusste er diese durchaus zu schätzen. Während in Berlin der Optimismus auf dem Vormarsch war und bei allen der Glaube daran wuchs, dass man es vielleicht doch schaffen könnte, über zwei Millionen Menschen am Leben zu halten, drohte in Moskau die gute Laune in ihr Gegenteil umzuschlagen… »Aber es hieß doch, das kann nicht funktionieren!«, herrschte Stalin zwei seiner Generäle und Kotikow an, die sich in seinem Büro im Kreml eingefunden hatten. Die Blicke, die er ihnen zuwarf, waren voller Zorn. Kotikow war der sowjetische Militärgouverneur in Berlin, also qua Funktion das russische Pendant zu Clay. »Es hat noch nie jemand versucht«, räumte der eine der beiden Generäle ein. »Aber die Luftbrücke über den Himalaya galt damals auch als Ding der Unmöglichkeit.« »Semjonow?« Stalin schnaubte den Namen geradezu. Die Neuigkeiten aus Berlin schmeckten ihm nicht. Dieser Amerikaner Turner schien die Blockade ernsthaft gefährden zu können. »Diese so genannte Luftbrücke steht auf Pfeilern«, antwortete Berater Semjonow, der anscheinend eine Idee hatte. »Der eine Pfeiler sind die Westzonen, den werden wir nicht ansägen können. Aber der andere heißt Berlin.«
Stalin war von diesem Gedanken angetan. Man musste die gegebenen Möglichkeiten restlos ausschöpfen und vielleicht hatte man einfach eine von ihnen übersehen. »Wie genau sieht es aus in der Stadt – auf welche Weise ist die Grenze gesichert?« Stalin hatte sich an Kotikow gewandt und ging einen Schritt auf ihn zu. »Der Autoverkehr ist blockiert. Auf den großen Straßen sind Schutthalden«, berichtete dieser. »Um die Fußgänger einfach herumspazieren können?«, fragte Stalin. Kotikow nickte. »Ich habe bereits angeordnet, die Kontrollen zu verstärken«, sagte er, auch wenn er ahnte, dass diese Antwort nicht zur vollen Befriedigung Stalins ausfallen würde. »Verstärken genügt mir nicht«, erwiderte dieser dann auch wie vermutet. »Der Westberliner Bevölkerung muss jegliche Möglichkeit genommen werden, sich aus dem Osten zu versorgen.« Stalin machte ein Pause und sah einen nach dem anderen beschwörend an. »Jedes Ei, jede Kartoffel, die wir beschlagnahmen, werden die Amerikaner einfliegen müssen. Und sie werden sehen, dass es sehr, sehr viele Kartoffeln sind.« Ein grimmiges Lächeln hatte sich wieder um seine Lippen gelegt. Die soeben entdeckte Möglichkeit gefiel ihm gut. Sie würden den selbstherrlichen Amerikanern schon ihre Grenzen aufzeigen!
Stalin behielt Recht. Die deutlich verschärften Kontrollen zeigten Wirkung. Wenn es vorher schon schwierig gewesen war, etwas Brot oder Schmalz, ein paar Kartoffeln oder Eier in die Westzone hinüberzuschmuggeln, dann war es jetzt unmöglich. Und da fast jede Westberliner Familie ihre Lebensmittelrationen auf diese Weise etwas aufgestockt hatte, wurde den Menschen erst nun richtig klar, mit wie wenig sie
auskommen mussten. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, sagten die meisten und schauten etwas ratlos auf die ihnen ausgeteilten Wochenrationen. Auch Luise und Leni hatten sich in eine lange Schlange eingereiht, die sich entlang einer Hauswand gebildet hatte. Jeder der Wartenden hatte bereits seine Lebensmittelkarte gezückt und hoffte darauf, dass die Portionen groß genug ausfallen würden. Leni und Luise waren als Übernächste an der Reihe, gerade bekam ein älteres Ehepaar die streng rationierten Waren. Ein Viertelpfund Brot, ein Tütchen mit Kaffee, ein kleines Paket Schmalz. Der Mann betrachtete die Dinge eine Weile. Er schien auf mehr zu warten. Erst als der Soldat an der Ausgabe keine weiteren Anstalten machte, noch mehr Lebensmittel zu holen, begriff der Mann, dass das, was er in der Hand hielt, alles war. »Wie soll denn das für eine Woche reichen?«, fragte er seine Frau schockiert. Diese schüttelte den Kopf und packte die Lebensmittel in ihre Tasche. »Frag mich was Leichteres«, meinte sie müde, dann wandten sich die beiden um und gingen niedergeschlagen nach Hause. »Und? Wie ist er so?«, wollte Leni von Luise wissen, während sie in der Schlange aufrückten. Sie war schwer beeindruckt von den Geschichten, die Luise ihr von ihrem neuen Chef berichtet hatte. Und außerdem hatte sie auch von Harry und Jack schon einiges über diesen Turner erfahren. »Der ist wie…« Luise überlegte kurz, wie sie Turner beschreiben könnte. »… wie in seiner eigenen Welt«, meinte sie dann. Leni lachte. Das konnte ja sein, doch das war es nicht, was sie interessierte. »Aber sieht er gut aus?«, konkretisierte sie deshalb ihre Frage. »Leni!«, rief Luise in gespielter Empörung. »Der ist General!«
»Wieso? Generäle können doch auch gut aussehen!« Luise lachte und verdrehte die Augen. »Jetzt hör mal auf«, meinte sie und gab ihrer Freundin einen kleinen Stups. »Außerdem ist er verheiratet, auf seinem Schreibtisch steht ein Bild von seiner Frau.« Jetzt war die Reihe an ihnen. Leni und Luise legten ihre Karten vor. Während sie auf ihre Lebensmittel warteten, meinte Luise in einem Tonfall, als wäre sie gerade ganz weit weg: »Aber irgendwas ist anders, seit er da ist.« »Aha«, machte Leni und legte ein wissendes Gesicht auf. »Quatsch!« Dass ihre Freundin sie auch immer missverstehen wollte! Luise lachte. »Ich meine auf dem Flugplatz! Bei Clay wurde über alles und jedes diskutiert. Aber was Turner befiehlt, wird sofort ausgeführt. Die vertrauen ihm.« Sie nahmen ihre spärlichen Rationen in Empfang: ein Brot, ein Stück Seife, einen kleinen Block Bratfett. Leni kicherte. »Stimmt«, sagte sie. »Sogar Harry und Jack wirken plötzlich erwachsen.« Als die beiden alles hatten, machten sie sich auf den Heimweg. Plötzlich hielt Leni inne und fasste ihre Freundin am Arm. Dann fragte sie es. Fast wie nebenbei: »Hättest du übrigens Lust, meine Trauzeugin zu sein?« Luise blieb fast die Luft weg. »Nee, ne?«, stieß sie überrascht hervor. Leni strahlte sie an. »Er hat gefragt. Und ich hab Ja gesagt!« Gerührt fiel ihr Luise um den Hals. Wie sehr freute sie sich für ihre Freundin! Sie hatte sich in diesem Harry also nicht getäuscht! Er war anders als all die anderen, die ihr Leni im Laufe der Jahre vorgestellt hatte. Diesmal war es anscheinend wirklich der Richtige! Luise und Leni alberten den ganzen Heimweg lang herum, diskutierten die Frisurenfrage und stellten erste Überlegungen an, wie man aus Nichts ein Brautkleid zaubern könnte. Dann
lud Leni ihre Freundin zu der kleinen Verlobungsfeier ein, die im Frisiersalon stattfinden sollte. Luise versprach natürlich zu kommen, wenn es sich irgendwie einrichten ließ – allerdings konnte sie für nichts garantieren. Seit sie bei Turner angestellt war, hatte sie keine festen Arbeitszeiten mehr. Gut, der Dienstbeginn war geregelt, aber wann sie nach einem arbeitsreichen Tag endlich nach Hause gehen konnte, das war fast immer unklar und oft blieb sie bis spät in der Nacht im Büro.
Auch am nächsten Tag wurde es spät. Sehr spät. Es war schon tiefe Nacht und auf Luises sehr blassem Gesicht lagen dunkle Augenschatten. Turners persönliche Sachen waren heute angekommen und sie hatte ihm geholfen, alles auszupacken und aufzustellen. Auf einem kleinen Schrank stand nun eine Reihe von Büchern. Es waren ausnahmslos amerikanische Biographien: Roosevelt, Robert E. Lee, Lincoln, Edison, Albert Kahn, Henry Ford, Andrew Jackson. Turner saß an seinem Schreibtisch, der mit Papieren und Karten überhäuft war, den Kopf in die Hände gestützt und tief versunken in Berechnungen. Luise hatte sich schon manches Mal gefragt, ob er überhaupt jemals schlief. Sie trat an seinen Tisch. »Noch einen Kaffee, General?«, fragte sie. Turner schreckte fast ein bisschen zusammen und sah von seinen Papieren auf. »Sie sind noch da?« Luise reichte ihm eine Mappe. »Ich habe das hier noch fertig getippt«, sagte sie mit einem Lächeln. Sie sah trotz ihrer Erschöpfung bezaubernd aus. Das geblümte Kleid mit dem kleinen Kragen verlieh ihr etwas Mädchenhaftes und betonte
ihre schlanke, hohe Gestalt. Die Blässe, die die Müdigkeit auf ihr Gesicht gelegt hatte, kontrastierte auf das Reizvollste mit ihrem dunklen Haar. Turner nahm die Mappe und wandte sich sogleich wieder seinen Papieren zu. »Haben Sie denn niemanden, der auf Sie wartet?« Es war die erste persönliche Frage, die er an sie richtete – dabei war es schon eine ganze Weile her, seit sie das Büro bezogen hatten. Luise spürte, wie gut es ihr tat, endlich das Gefühl zu haben, dass Turner in ihr auch einen Menschen sah. Nicht nur einen Tipp-Automaten und eine Kaffeemaschine. »Meinen kleinen Jungen«, antwortete sie und lachte. »Aber wenn der nicht schon längst im Bett liegt, bekommt er Ärger.« Turner warf ihr einen kurzen Blick zu, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern meinte: »Wir brauchen zweitausend Tonnen pro Tag. Wenn der Winter kommt, sogar noch mehr.« Dieser Mann schien wirklich nur an seine Arbeit denken zu können, dachte Luise. »Kann es denn so lange dauern?«, wollte sie erstaunt wissen. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Der letzte Krieg hat sechs Jahre gedauert«, sagte Turner und fügte hinzu: »Der ›Zweite Weltkrieg‹. Sie werden bemerken, dass wir sie sogar schon nummerieren.« Er machte ein kurze Pause und fuhr dann fort: »Nicht mal Washington weiß, wie lange es gehen wird. Und falls Truman nicht wiedergewählt wird: Wer weiß, ob sein Nachfolger seine Politik überhaupt weiterführt.« Luise sah ihn bestürzt an. »Das wusste ich nicht«, sagte sie. »Es hängt auch niemand an die große Glocke.« Turner begann sich eine Notiz zu machen. Da sie offenbar nicht länger gebraucht wurde, warf Luise einen Blick auf die Uhr und zog sich ihren Mantel über. Dann deutete sie auf einen Pappkarton mit Papieren. »Ähm, diese alten Akten hier, kann ich die mitnehmen?«
Turner schaute kurz hoch. »Ich glaube kaum, dass die Russen sich für die Rechnungen unseres Casinos interessieren. Aber was haben Sie damit vor?« »Es wird schon ziemlich kalt nachts«, antwortete Luise. »Da hilft jedes bisschen, das wir in den Ofen stecken können.« »Jetzt schon«, murmelte Turner, dann vertiefte er sich wieder in seine Aufzeichnungen. »Gute Nacht«, sagte Luise und wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht«, erwiderte Turner, ohne sie anzusehen. Luise fragte sich, ob sie jemals etwas über diesen Mann erfahren würde, das über seine Arbeit hinausging.
Am folgenden Tag weihte auch Harry seinen Freund Jack in seine Heiratspläne ein. Danach gingen die beiden auf dem Rollfeld des Flughafens nahe den Hangars auf ihre Maschine zu. Zwei Mechaniker zogen noch am rechten Propeller ein paar Schrauben fest. Ein anderer überprüfte die Reifen. Jack und Harry nahmen ihre Flugpapiere entgegen, stiegen ein und machten sich startbereit. »Sie ist verrückt«, schwärmte Harry seinem Freund vor. »Völlig verrückt!« Er lachte. »Sie hat mir so ein Dings gemacht, so ‘n Fleischbällchen, Buletten nennen die das hier. Ich probiere es und es schmeckt so lala.« Er holte aus seiner Tasche ein Brötchen, das in Papier gewickelt war. Zwischen den beiden Hälften steckte eine Bulette – und eigentlich handelte es sich um den allerersten Burger, sozusagen den Prototypen. Nur wusste es noch niemand. Harry zeigte Jack begeistert seine Stulle und fuhr fort, von seiner Verlobten zu erzählen. »Sie hat es da reingeklemmt, bisschen Mayonnaise draufgeschmiert und plötzlich schmeckt das Ganze erstklassig!« Zur Bekräftigung seiner Worte biss er genüsslich hinein. »Sie will noch Tomaten und Ketchup und
Salat dazugeben«, fuhr er schmatzend fort. »Also, ich glaube, das Ding wird der Renner!« Jack verzog den Mund. »Harry, kein Mensch will all das Zeug in einem Brötchen!« »Du kennst Leni nicht«, entgegnete Harry mit vor Stolz geschwellter Brust. »Sie hat eine Idee. Sie will das Ding weltweit in einer Kette vermarkten! Hat mich gefragt, ob wir in den Staaten Patente auf Lebensmittel haben.« Der Pfiff eines Unteroffiziers gab das Signal dafür, dass die Inspektion abgeschlossen war, und unterbrach Harrys Schwärmerei. Allerdings nicht für lange. Während die Maschine anrollte, wiederholte er immer wieder kopfschüttelnd: »Ist völlig verrückt, die Frau.« Jack grinste vor sich hin. So wie jetzt hatte er Harry noch nie erlebt. Er war zwar immer ein Freund schöner Frauen gewesen und hatte, so lange er ihn kannte, immer großen Wert darauf gelegt, dass der Spaß in seinem Leben nicht zu kurz kam – allerdings waren es bis jetzt immer Strohfeuer gewesen, die ihn mit dem jeweiligen Mädchen verbunden hatten. Ebenso schnell, wie sie aufgelodert waren, waren sie jedes Mal auch wieder verloschen. Niemals zuvor war Harry so hin und weg gewesen – und Jack konnte ihn verstehen. Diese Leni war eine tolle Frau. Hübsch, keck, frech. Gerade drang wieder die Stimme des Freundes an sein Ohr, der eigentlich pausenlos von nichts anderem mehr sprach als von Leni. »… und ich sage: ›Baby, ich kann einfach nicht mehr, ich bin vierzehn Stunden geflogen.‹« Harry lachte. »Und was macht sie? Sie lächelt mich an, setzt sich auf mich drauf und meint: ›Na, Käpt’n, für ‘nen kleinen Rundflug wird’s doch wohl noch reichen.‹ Und was soll ich dir sagen? Sie hatte Recht!« Ganz in Gedanken an die Nacht hatte Harry ein klein wenig den Überblick über die Startbahn verloren, denn die Dakota hatte
deutlich an Geschwindigkeit zugelegt – und das Ende der Startbahn war bereits in Sicht. »Ich fänd’s jetzt wichtiger, wenn du unsere Maschine hochkriegst!«, meinte Jack daher leicht alarmiert. »Was ist los?«, lachte sein Kumpel. »Glaubst du nicht mehr an mich?« In allerletzter Sekunde hob die Dakota von der Startbahn ab. Äußerst knapp flog sie über den Zaun hinweg, der das Flughafengelände begrenzte, und ein paar Kinder, die sich an ihm die Nase platt gedrückt hatten, hielten sich blitzschnell die Ohren zu. In der Pilotenkanzel klopfte sich Harry übermütig auf die Schenkel, Jack schüttelte schmunzelnd den Kopf.
Zur gleichen Zeit tagte im Weißen Haus wieder einmal der Krisenstab. In Washington war es noch tiefe Nacht. Truman befand sich zusammen mit Royall im Konferenzraum und zeichnete gerade einen Stapel Dokumente ab, als sein Berater besorgt das Wort ergriff. »Sie brauchen immer mehr Maschinen. Dreißig weitere Skymaster! Und die Kosten explodieren ins Unermessliche«, meinte er und blickte den Präsidenten fragend an. »Ich habe Turner zugesichert, dass ich ihm den Rücken decke. Es war doch klar, dass er mehr Maschinen braucht«, antwortete Truman bestimmt. »Ich bekomme quasi täglich Anrufe von MacArthur«, stöhnte Royall. »Er fragt, ob unsere Konzentration auf Berlin eine Einladung an die Russen sein soll, sich im Pazifikraum zu engagieren.« Der Fünf-Sterne-General Douglas MacArthur hatte 1945 die Kapitulation Japans auf der USS Missouri entgegengenommen und dann als Kommandeur der Besatzungstruppen die anschließende Demilitarisierung und Demokratisierung des
Landes geleitet. Er galt als zäh und machthungrig – und befand sich gegenüber dem Präsidenten oft auf Konfrontationskurs. »Ich denke nicht, dass ich Nachhilfe von MacArthur brauche«, antwortete Truman gereizt. Er wusste, dass sein Berater ein Gegner der Luftbrücke war und ihm deshalb MacArthurs Angriffe gerade recht kamen. »Er weist lediglich darauf hin, dass wir unsere langfristige geopolitische Strategie im Auge behalten müssen!«, verteidigte Royall den General. »Ja«, nickte Truman genervt. »Bestellen Sie ihm, ich danke ihm für seinen Hinweis.« Er hatte auf jedes der Dokumente seine Unterschrift gesetzt, steckte seinen Füllhalter ein und schob die Mappe zu Royall hinüber. »Was ist denn mit den Vereinten Nationen?«, fragte er ihn nun. »Kommt Jessup endlich weiter?« Royall verzog das Gesicht. »Die ›Vereinten Nationen‹«, wiederholte er mit spöttischem Unterton. »Es gibt Länder, die offen fragen, was wir ihnen dafür bieten, wenn sie uns unterstützen sollen.« »Eine friedliche Welt!«, antwortete Truman mit Nachdruck. »Wenn sie die nicht wollen, sollen sie für die Russen stimmen!«
An der friedlichen Welt wurde in Berlin unterdessen hart gearbeitet. Wieder einmal hatte sich tiefste Dunkelheit über die Stadt gelegt und so spät in der Nachte brannten nur noch wenige Lichter auf dem Flughafengelände. Eines davon brannte wie so oft in Turners Büro. Schweigend und konzentriert widmeten sich der General und Luise ihren Aufgaben. Luise saß an ihrem Schreibtisch und zählte auf einer Rechenmaschine Zahlen zusammen. Als ihr fast die Augen zufielen, schaute sie zu Turner hinüber. Dieser
stand an einem großen Tisch, den Blick auf Zeichnungen und Pläne geheftet, die darauf ausgebreitet waren. Er stand einfach nur da und dachte nach. Fast vermittelte er den Eindruck eines Menschen, der sich in tiefster Meditation befand, und nicht den eines hochrangigen Militärs, der über einer Mission brütete. Doch seine Regungslosigkeit wurde in regelmäßigen Abständen unterbrochen, daran merkte Luise, dass er noch da war. Immer wieder schrieb er ganz plötzlich etwas auf, machte sich Notizen zu Ideen, die ihm durch den Kopf schossen. »Frau Kielberg, ich brauche etwa zehn Meter Sperrholzleisten. Außerdem fünf Meter dünnen Draht, Leim und Pappkartons«, drang auf einmal die Stimme ihres Vorgesetzten an Luises Ohr und schreckte sie auf. Sie war hundemüde. Ihr war kalt und sie hatte Hunger. Sie wollte nur noch nach Hause. Und zum ersten Mal regte sich in ihr leichter Widerstand. »General«, meinte sie, erhob sich und ging zu ihm hinüber. »Es ist ein Uhr nachts, ich weiß nicht, ob…« Er schaute sie gar nicht an, sondern reichte ihr abwesend einen Stapel beschriebener Papiere. »Und das hier müsste ins Reine getippt werden«, sagte er nur. Luise blätterte die Papiere durch und schluckte. Es waren mindestens zehn eng beschriebene Seiten, die er ihr in die Hand gedrückt hatte. Aber sie riss sich zusammen und straffte den Oberkörper. »Gerne.« Erst jetzt blickte ihr Chef für einen Moment zu ihr hinüber. »Keine Angst«, meinte er. »Morgen früh reicht.« Dann war er auch schon wieder abgetaucht in seine Welt. Das Lächeln, das ihm Luise zuwarf, bekam er gar nicht mit. Luise wandte sich zur Tür und nahm im Gehen ihren Mantel vom Haken. Sie wollte sich gerade verabschieden, als Turner sich plötzlich umdrehte und sie ansah.
»Wann geht eigentlich die letzte U-Bahn?«, fragte er und blickte auf die Uhr. Luise erschrak fast, als seine Stimme an ihr Ohr drang. »Um halb elf«, antwortete sie rasch. »Elf ist Sperrstunde.« »Und wie kommen Sie jetzt nach Hause?«, wollte er wissen. »Na, zu Fuß«, sagte Luise, als wäre dies das Normalste von der Welt. Aber für sie war es das auch, schließlich war sie, seit sie für Turner arbeitete, schon oft in den Genuss eines nächtlichen Spaziergangs gekommen. Am Anfang hatte sie sich zwar noch zu Tode gefürchtet, so allein durch die nächtlichen Straßen zu wandern, mit den riesigen Schutthaufen rechts und links, die unheimliche Schatten warfen. Aber mittlerweile hatte sie sich auch daran gewöhnt. Es war immer so angenehm ruhig, sie konnte ihre Gedanken schweifen lassen. Niemand wollte etwas von ihr, niemand bat sie um irgendetwas. Turner war zur Berlin-Karte gegangen, die an der Wand hing, und deutete darauf. »Wo wohnen Sie?«, hakte er nach. Diese Frau beeindruckte ihn. Er wusste selbst nicht, wieso gerade jetzt – aber heute fiel ihm auf, dass er fast nichts über sie wusste. Er beschloss, dies zu ändern und mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Luise blickte ihn an. »In Wilmersdorf.« Turner musste kurz suchen, dann fand er den Stadtteil. Er war ein gutes Stück vom Flughafen Tempelhof entfernt, und er schätzte, dass Luise zu Fuß rund eine Stunde bräuchte. Ohne ein weiteres Wort an seine Sekretärin zu richten, griff er zum Telefonhörer und bestellte einen Wagen, der Luise nach Hause bringen sollte. Luise hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu. Wie kam sie heute zu dieser Ehre? Sie wusste es nicht. Aber es gefiel ihr, und sie musste sich eingestehen, dass dieser Mann sie von Tag zu Tag mehr faszinierte.
Als Luise das Flughafengebäude verließ, wartete die Limousine bereits auf sie. Bevor sie einstieg, drehte sie sich noch einmal um und schaute die Fassade hinauf. Nur in einem Raum brannte noch das Licht. Turner stand am Fenster. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Luise nickte schüchtern, dann stieg sie in den Wagen und nahm auf der Rückbank Platz. Nachdem sich Turner davon überzeugt hatte, dass Luise heute Nacht sicher nach Hause gebracht werden würde, trat er vom Fenster zurück und wandte sich wieder seinen Plänen zu. Aber er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es war das erste Mal, dass Luise in einer Limousine saß und chauffiert wurde. Sie nannte dem Fahrer ihre Adresse, dann lehnte sie sich zurück und sah sich fast schon ehrfürchtig im Inneren der Karosse um. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die Polster und blickte aus dem Fenster, hinter dem das nächtliche Berlin an ihr vorbeizog. Die ganze Situation erschien ihr nahezu irreal. Sie fühlte sich wie in einem fremden Leben. Tief drückte sie sich in den weichen. Sitz hinein und genoss die Fahrt durch die stillen Straßen. Es war schon so lange her, dass sich jemand um sie gekümmert hatte. Wenig später bog Turners Limousine in die Fechnerstraße ein und kam neben dem Bürgersteig vor ihrem Haus zum Stehen. Luise stieg aus. Sie winkte dem Fahrer kurz zu und sah dann dem fortfahrenden Wagen gedankenverloren hinterher, so als wäre es ein Traum, dem sie noch eine Weile nachhängen wollte. Erst als er um die Ecke bog und ihrem Blickfeld entschwand, wandte sie sich um, um ins Haus zu gehen. Da bemerkte sie, dass in Lenis Frisiersalon trotz der späten Stunde noch Licht brannte. Kurz entschlossen lief sie über die Straße. Ihre beste Freundin feierte schließlich nur einmal Verlobung, Müdigkeit hin oder her.
Als Luise durch das Fenster schaute, sah sie Jack, Leni und Harry, die sich gerade etwas Lustiges erzählt haben mussten – zumindest lachten alle drei und prosteten sich zu. Die Verlobungsfeier war klein und improvisiert – die Musik kam aus dem Radio, das »Menü« bestand aus Bourbon und Buletten in Brötchen. Jack, der am Anfang mehr als skeptisch auf Lenis Erfindung reagiert hatte, schien mittlerweile seine Meinung geändert zu haben. Zumindest biss er mit sichtlichem Appetit in einen der Ur-Burger. »Gar nicht mal schlecht«, meinte er kauend. »Vielleicht kann man damit wirklich ein Geschäft machen.« »Wenn du mir die Idee klaust, bist du die längste Zeit unser Trauzeuge gewesen!«, drohte ihm Leni lachend. Sie saß auf Harrys Schoß, den Arm um seinen Hals gelegt, und fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. Das Glück der beiden war nicht zu übersehen. In dem Moment klopfte es an der Scheibe. Als Leni sich umdrehte und Luise erkannte, sprang sie sofort freudig überrascht zur Tür, um aufzumachen. »Luise, so spät?«, rief sie. Dann zog sie ihre Freundin hinein. »Aber du kommst genau richtig.« »Ach, Leni, ich freue mich so!«, strahlte Luise sie an, doch dann machte sie ein bedauerndes Gesicht. »Ich kann aber nicht lange bleiben…« »Nur auf einen Schluck!«, fiel ihr die Freundin ins Wort und schon hatte Luise ein Glas in der Hand. Alle stießen miteinander an. Dann erhob Luise ihr Glas. Sie wollte etwas sagen – doch plötzlich fühlte sie sich unsicher. Sie zögerte. Dann aber sah sie, wie Leni und ihr Verlobter sie erwartungsvoll anschauten. Harry warf Jack, der unverdrossen weiter sein Bulettenbrötchen genoss, einen Blick zu, der diesen
dazu veranlasste, sofort das Brötchen beiseite zu legen. Luise musste schmunzeln und nahm sich ein Herz. »Was soll ich sagen?«, begann sie und lächelte die beiden an. »Was soll ich euch wünschen?« Luise machte eine kurze Pause, dann atmete sie tief durch. »Leni, du bist meine beste Freundin! Ich freue mich so für dich. Ich freue mich, dass du den Mann gefunden hast, der dich zum Lachen bringt, der dir die Tür aufmachen wird, wenn du nach Hause kommst – falls er überhaupt da ist –, der dich umarmen wird, wenn es draußen kalt ist, dass du den Mann gefunden hast, der dich liebt.« Wieder verstummte sie für einen Moment, ehe sie sich an Harry wandte. »Harry, ich wünsche dir weiterhin gute und sichere Flüge. Und dir, Leni: Flieg mit. Flieg so hoch, wie du kannst, und so weit, wie du kannst. Hab keine Angst, denn es gibt nichts Schöneres als das. Also: auf euch beide!« Luises Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, alle Anwesenden fühlten sich tief berührt. Luise selbst wischte rasch alle wehmütigen Erinnerungen an ihre und Alex’ Liebe beiseite, die in ihr während der Rede aufgestiegen waren, und lächelte Leni tapfer an. Alle erhoben erneut das Glas, stießen an und tranken. Plötzlich sah Jack Harry auffordernd an. Doch Harry verstand erst nicht. Als jedoch sein Freund partout nicht aufhörte, ihn so seltsam anzusehen, durchzuckte es ihn. Beinahe hätte er das Wichtigste vergessen! »Ach, Mensch!«, rief er und griff in seine Tasche. Schnell wurde er fündig und ergriff Lenis Hand. Zärtlich streifte er ihr einen Ring an den Finger. »Den hier hätte ich fast vergessen.« Leni sagte kein Wort. Sie schaute nur auf den Ring, völlig sprachlos – und dann fiel sie Harry um den Hals und küsste ihn. Luise nahm die Hand ihrer Freundin und betrachtete bewundernd den Ring. »Ist der schön!«, meinte sie. Dann
blickte sie auf die Uhr und erschrak. Es war später geworden, als sie gedacht hatte, und sie spürte, wie bleierne Müdigkeit sich ihrer bemächtigte. Es war definitiv Zeit zu gehen. Sie umarmte Leni noch einmal herzlich, verabschiedete sich von den beiden Männern und verließ den Laden. Rasch überquerte sie die Straße und verschwand im Treppenhaus. Als sie die Wohnungstür öffnete, griff sie nach der Petroleumlampe und machte sie an. Im aufkommenden Lichtschein erkannte Luise, dass auf dem Boden eine neue Petroleumflasche stand. Es war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Micha sich auf dem Schwarzmarkt herumgetrieben hatte. So lieb es von ihm war, ihr Petroleum zu besorgen, damit sie sich nicht im Dunkeln durch die Wohnung bewegen musste – sie machte sich Sorgen, dass ihr Sohn die falschen Freunde hatte! Sie schlich leise in Michas Zimmer und sah ihn an. Friedlich lag er in seinem Bett und sein ruhiger und gleichmäßiger Atem zeigte ihr an, dass er tief schlief. Es schmerzte sie, dass sie nur noch so wenig Zeit für ihn hatte. Oft kam sie so spät nach Hause, dass Micha bereits im Bett lag. Sie hoffte inständig, dass dieser Zustand nicht mehr allzu lange andauern würde. Sie wollte ihm doch eine gute Mutter sein! Aber was blieb ihr anderes übrig? Eine gute Mutter zu sein bedeutete doch auch, ihrem Jungen etwas zu essen geben zu können! Müde schloss sie die Tür und ging in ihr Zimmer, zog ihre Kleider aus und legte sich ins Bett. Sie ließ die Petroleumlampe noch eine Weile brennen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und verlor sich schon bald in ihren Gedanken. Es mussten sehr angenehme Gedanken sein, denn ein Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht gelegt…
Turner hatte, nachdem Luise gegangen war, nicht mehr zu seiner Ruhe und Konzentration zurückfinden können. Eine Zeit lang war er in seinem Büro auf und ab gegangen und hatte dabei immer wieder einen Blick auf den leeren Stuhl von Luise geworfen. Da er am Schreibtisch nichts Sinnvolles mehr zustande brachte, beschloss er zu gehen. Er stand auf, nahm seine Jacke vom Haken, schaltete das Licht aus und verließ das Büro. Zu Hause in seiner Villa zog er die Uniform aus und goss sich einen Drink ein. Mit dem Glas in der Hand trat er gedankenverloren ans Fenster und blickte in die dunkle Nacht. Etwas Neues und gleichzeitig Altbekanntes war in sein Leben getreten. Etwas, von dem er nicht mehr für möglich gehalten hätte, dass es für ihn überhaupt noch existierte.
5
Der Himmel über Berlin war wolkenverhangen. Schon seit ein paar Tagen war das Wetter schlecht und immer wieder kamen Schauer herunter. Als Luise heute früh in Tempelhof ankam, hatte sie auch einen Guss abbekommen – inzwischen war ihre Kleidung aber wieder vollständig getrocknet. Sie saß an ihrer Schreibmaschine und warf immer mal wieder einen Blick zu Clay und Turner hinüber. Der Militärgouverneur war kurz zuvor ins Büro gekommen, um die neuesten Meldungen aus Washington zu übermitteln. »Turner, ich habe Washington gerade weitere dreißig Skymaster aus dem Kreuz geleiert. Trumans Berater halten ihm jetzt schon jeden Tag unsere Rechnungen unter die Nase«, berichtete Clay gerade und fuhr fort: »Glauben Sie, wir sind besonders populär bei denen?« »Die Politik ist Ihre Sache, Clay«, entgegnete Turner. »Außerdem geht es nicht um die Anzahl der Maschinen, sondern um ihre Größe. Eine C-47 schafft nur zwei Tonnen, die C-54 dagegen zehn. Zur Zeit brauchen wir also fünf Flüge, wo einer die gleiche Tonnage liefern würde.« Clay inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette und winkte ab. »Die C-54 sind aber das Rückgrat der Air Force. Guam und Honolulu werden nicht einfach dichtmachen für uns. In Indochina kann es jeden Augenblick losgehen.« Er reichte Turner ein Schreiben mit einem Pentagon-Briefkopf. »Im Übrigen haben die ein Gutachten angefertigt. Es wird bezweifelt, dass ein Mehr an Material die erforderliche Tonnagezahl schafft.«
Das war der wunde Punkt. Der Punkt, über den Turner immer und immer wieder nachdachte und bei dem er bis jetzt noch nicht die zündende Idee gefunden hatte. »Sie haben Recht«, meinte er und nickte mit besorgtem Gesicht, während er in Gedanken beim Winter war, der früher oder später kommen würde. Er glaubte nicht daran, dass die Blockade rechtzeitig aufgehoben werden würde. Das würde nicht zu Stalin passen. »Der Bedarf wird noch steigen.« »Und was gedenken Sie zu tun?« Clay sah ihn fragend an. »Ich arbeite daran«, antwortete Turner. »Außerdem brauchen wir einen weiteren Flughafen.« Clay lachte auf. Aber es war kein fröhliches Lachen. »Was wollen Sie als Nächstes von mir? Die Präsidentschaft vielleicht?« Er ärgerte sich. Anscheinend hat dieser Turner überhaupt keine Ahnung davon, wo die Schwierigkeiten in der Umsetzung all seiner Ideen lagen. Und wenn er es wüsste, dann wäre es ihm auch egal. Es gibt ja keine Probleme, es gibt ja nur Aufgaben!, schoss es Clay durch den Kopf. Er zündete sich mit dem Rest der alten eine neue Zigarette an und drückte die Kippe mit zusammengekniffenen Augen im Aschenbecher aus. Turner lehnte sich ein Stück in seinem Stuhl zurück, um der Qualmwolke zu entgehen – was ihm jedoch nicht viel half. Clay musste sich eingestehen, dass ihn das ein kleines bisschen freute. »Aber mit nur zwei Flughäfen ist die Sache nicht zu machen«, ergriff Turner erneut das Wort. »Und in Tegel steht ein riesiges Gelände frei. Was ist da noch gleich drauf, Frau Kielberg?« Luise blickte hinter ihrer Schreibmaschine auf. »Das ist einfach eine riesige Schutthalde«, sagte sie. »Na prima, da haben wir gleich Baumaterial«, meinte Turner gewohnt pragmatisch.
»Die Franzosen würden wahrscheinlich eher den Russen einen Flugplatz bauen«, gab Clay zu bedenken. »Die helfen denen ja sogar noch, die Borsigwerke zu entkernen.« Jetzt reichte es Turner. »Dann muss man sie eben daran erinnern, wer vor drei Jahren verhindert hat, dass Hitler ganz Paris ›entkernt‹!«, rief er und haute mit der flachen Hand einmal kräftig auf die Tischplatte. »Turner, in Frankreich sind die Kommunisten die zweitstärkste Partei! Die wollen nicht hören, dass es Amerikaner waren, die ihre Hauptstadt befreit haben.« Die Unterhaltung dauerte nicht mehr allzu lange an. Die Positionen waren klar, die Probleme deutlich geworden. Zehn Minuten und zwei Zigaretten später erhob sich Clay und machte sich auf den Weg. Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sah Turner zu Luise und verzog das Gesicht. »Machen Sie doch bitte mal ein Fenster auf, hier kann man ja kaum noch atmen!« Luise musste schmunzeln. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Sobald ein frischer Luftzug den Raum erfüllte, ließ Turner seiner Wut freien Lauf. »Wozu ist der Mann Militärgouverneur der US-Zone, wenn er nicht mal einen Flugplatz bauen kann?« »Immerhin war er es, der die Luftbrücke befohlen hat«, warf Luise ein. Turner winkte gereizt ab. »Wahrscheinlich brauchte er einfach Zigaretten.« Luise fasste sich ein Herz, denn sie hatte das Gefühl, Clay verteidigen zu müssen. »General«, meinte sie, »es steht mir zwar nicht zu, das zu sagen, aber wenn Clay nicht gewesen wäre, würden wir in Berlin wahrscheinlich längst mit Rubel bezahlen.«
»Sie haben Recht«, entgegnete Turner kühl. »Es steht Ihnen nicht zu.« »Und wieso nicht?« Luise hatte den Unterton sehr genau wahrgenommen und fühlte sich gekränkt. »Weil Ihre Analyse unzutreffend ist«, kam es barsch zurück. Luise verkniff sich eine Erwiderung und wartete ab, ob der General sie nun belehren würde. »In den Zeitungen werden Sie eine Menge schöner Geschichten lesen: über Berlin als Bollwerk gegen den Kommunismus. Berlin als Symbol der Freiheit. Berlin als freie Stimme der freien Welt, wie es im Radio heißt«, dozierte Turner. »Und das stimmt nicht?«, fragte Luise. »Es ist nur die halbe Wahrheit«, antwortete er. »Sehen Sie, Berlin ist ein militärischer Brückenkopf, zweihundert Meilen tief im Gebiet des Feindes. Wenn nicht Clay die Luftbrücke befohlen hätte, dann hätte es jemand anderes getan. Was glauben Sie denn, was Stalin tun würde, wenn Paris sowjetische Zone wäre und wir eine Blockade befehlen würden?« Luise spürte, wie in ihr die Wut hochkroch. In welchem Ton sprach dieser Mann eigentlich mit ihr? Dachte er vielleicht, dass er ein dummes Schulmädchen vor sich hatte? »Ich verstehe«, antwortete sie deshalb. »Na, dann weiß ich ja jetzt Bescheid.« Sie reichte Turner eine Mappe und sah ihn mit einem selbstbewussten Lächeln an. »Ich werde jetzt erst mal Kaffee kochen. Das kann ich ja schließlich am besten, finden Sie nicht?« Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro. Überrascht über die für Luise ungewohnte Reaktion wollte Turner noch etwas erwidern. Aber auf die Schnelle fiel ihm nichts Passendes ein. Also entschied er sich, nichts zu sagen, setzte sich an seinen Schreibtisch und schaute vor sich hin,
während er aus dem Nebenraum Scheppern und Klappern hörte. Seine Sekretärin machte heute tatsächlich sehr laut Kaffee. »Weil Ihre Analyse unzutreffend ist«, äffte Luise ihren Vorgesetzten nach und stellte eine Dose geräuschvoll auf die Ablage. Nachdem der Kaffee fertig war, machte sie sich bald auf den Weg. Sollte er doch heute schauen, wie er zurechtkam. Sie hatte wahrlich genug Überstunden angesammelt! Und heute sollten es nicht noch mehr werden. Zu Hause angekommen, begann Luise sogleich damit, die Wohnung sauber zu machen. Sie hatte einiges gründlich vernachlässigt – und heute war sie genau in der richtigen Stimmung, um den Staubwedel zu schwingen! Als sie gerade in den letzten Zügen war, klopfte es heftig an der Tür. Luise wischte sich kurz die Hände an ihrem Kittel ab und ging in den Flur, um zu öffnen. Sie staunte nicht schlecht, als sie im Treppenhaus Frau Prenzke erblickte, die wie ein Fisch den Mund auf- und zumachte. »Luise, da ist… da ist…« Der Nachbarin fehlten die Worte, sie war ganz blass um die Nase. Luise sah sie besorgt an. »Um Gottes willen, Frau Prenzke, was…« »Da ist…« Frau Prenzke guckte noch immer ganz entgeistert. Schließlich meinte sie: »Sie müssen ganz schnell nach unten kommen!« Luise nickte und rannte die Treppe hinunter. Als sie auf die Straße trat, dachte sie zuerst, dass sie nicht richtig sehen würde. Vor der Haustür stand ein Jeep und daneben Turner, der soeben einen großen Kohlesack heraushob. Luise schluckte, dann schmunzelte sie. Sie beschloss, die beiden Nachbarinnen zu ignorieren, die von der anderen Straßenseite das Schauspiel beobachteten und gerade heftig miteinander
tuschelten, während sie immer wieder viel sagende Blicke zu Luise hinüberwarfen, und ging auf Turner zu. »Aber wir haben doch Sommer«, meinte sie lächelnd. »Ich kann Ihnen nur versichern, dass Kohlen bald sehr begehrt sein werden«, entgegnete Turner und schulterte den Sack. »Jedenfalls ist es das erste Mal, dass mir jemand Kohlen schenkt«, sagte Luise und dachte im Stillen, ob dies ein Wiedergutmachungsversuch ihres Vorgesetzten war. »Jetzt werden Sie mal nicht albern!« Turner warf ihr durch seine Sonnenbrille einen kurzen Blick zu, während sie auf Luises Haus zugingen. »Bei Ihren Überstunden haben Sie sich die mehr als verdient.« Die beiden betraten das Treppenhaus. Turner schaute sie fragend an. »Wohin damit? In den Keller?« Luise schüttelte den Kopf. »Da wären sie schnell weg«, meinte sie und ging vor ihm die Treppe hinauf. Turner atmete einmal tief durch und folgte ihr mit seiner schweren Last. Auf einem Absatz musste er sich an der korpulenten Hausmeisterin vorbeidrängen, die gerade das Treppenhaus fegte. »Guten Tag, Frau Conrad«, grüßte Luise freundlich. »Guten Tag, Frau Kielberg«, kam es tonlos zurück. Die Hausmeisterin war aschfahl geworden. Ein Fünf-SterneGeneral trug Kohlen an ihr vorbei. Hatte man so etwas schon mal gesehen? Für Luise war es der schönste Treppenaufstieg seit langem. Soll er ruhig ein bisschen ins Schwitzen kommen, dachte sie und spürte gleichzeitig, wie ihre Laune, seitdem sie ihn auf der Straße gesehen hatte, sekündlich stieg. Als sie oben ankamen, öffnete sie flink die Wohnungstür, bat Turner hinein und rief dann ihren Sohn herbei. »Micha?« Michael kam aus dem Bad gerannt – und blieb wie
angewurzelt stehen. Im Flur standen ein Mann in Uniform und ein Kohlesack. »Hi«, grüßte ihn Turner lächelnd. »Du musst Michael sein.« »Sind Sie Pilot?«, antwortete Micha mit einer Mischung aus Respekt, Neugier und Skepsis. Turner schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid«, meinte er mit bedauerndem Gesicht. »Bloß General. Aber ich war mal Pilot.« In Michas Innerem regte sich eine leichte Ablehnung, die er gegenüber jedem fremden Mann empfand, der sich in der Nähe seiner Mutter befand. Doch dann überwog seine Begeisterung fürs Fliegen. »Was für eine Maschine sind Sie geflogen?«, erkundigte er sich bei dem Besucher. »Eine Dakota. 2400 PS, 2300 Kilometer Reichweite, 370 Stundenkilometer Spitze. Zumindest bei Rückenwind«, antwortete Turner, doch Micha hätte der Namen gereicht, und schon hätte er Bescheid gewusst. »Ich weiß«, meinte er ein bisschen stolz. »Ich hab selber eine.« Turner sah ihn fragend an. Michael kletterte auf einen Stuhl und holte von einem Regal ein kleines Flugzeug aus Holz herunter. Eine Dakota. Turner ging vor dem Jungen in die Knie und nahm das Flugzeug in die Hand. »Hast du die gebaut?« Michael nickte zögernd. »Mit meinem Vater zusammen.« »Willst du dir mal eine echte Dakota ansehen?«, schlug Turner vor, der an dem Jungen Gefallen zu finden schien. Michaels Augen leuchteten kurz auf, aber dann war sein Unwille über die Anwesenheit dieses fremden Mannes doch stärker als die Tatsache, dass er eine Sonderführung in Tempelhof in Aussicht gestellt bekam. Sein Blick verfinsterte sich und er schaute Luise an. »Ich muss noch mal weg!«, rief er und drehte sich um.
Luise hatte die Wandlung mitbekommen und glaubte zu wissen, was in ihrem Sohn vorging. Etwas besorgt blickte sie ihm nach. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, rief sie ihm hinterher. Aber Micha antwortete nicht mehr. Er war bereits aus der Tür und lief die Treppe hinunter. »Netter Junge«, sagte Turner und erhob sich wieder. »Sie müssten ihn mal erleben, wenn er den Abwasch machen soll«, sagte Luise. Sie lächelten sich an und plötzlich spürte Luise eine leichte Befangenheit. »Es… es gibt gerade Gas«, meinte sie. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Turner nickte und folgte Luise in die Wohnküche. Er nahm am Tisch Platz und sah sich um. Sein Blick blieb an einem gerahmten Foto hängen, das auf einer Kommode stand. Es war das Porträt eines Mannes. »Ihr Mann?«, fragte er und sah zu Luise. Sie nickte. »Er war Arzt.« Sie hatte bereits damit begonnen, Kaffee zu machen, und der Kessel pfiff. »Die Nazis wären nicht begeistert davon gewesen, dass er mit seinem Sohn ein amerikanisches Flugzeug bastelt«, sagte Turner. Luise nickte. »Die Nazis waren sowieso nicht begeistert von ihm.« Turner sah sich weiter um. Bemerkte die Deckchen auf dem Schrank, die Topfblume am Fenster. Das kleine Bild mit einem Meeresmotiv. »Hübsch haben Sie ‘s hier.« »Na ja«, meinte Luise abwehrend. Sie goss den Kaffee auf. »Wir wollten renovieren, aber mein Kartoffelhändler meint, ich soll erst mal abwarten. Nicht dass man Pech hat und dann… Sie wissen schon.« Endlich war der Kaffee fertig. Luise schenkte zwei Tassen ein und Turner trank sofort einen Schluck. Dann stutzte er und warf einen prüfenden Blick auf das Getränk in seiner Tasse.
Luise musste grinsen. Natürlich! Das kannte er ja nicht. »Ersatzkaffee. Zichorie«, erklärte sie. Turner hoffte, dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht bemerkt hatte. »Schmeckt, ähm, sehr gut«, sagte er wenig überzeugt. »Nett von Ihnen, aber Ihre Analyse ist unzutreffend«, entgegnete Luise mit einem leisen Triumph in der Stimme. Turner sah sie erstaunt an. »Hätte gar nicht gedacht, dass Sie nachtragend sind.« »Sagen wir mal, ich habe ein gutes Gedächtnis«, schlug Luise vor und nahm noch einen Schluck. Sie musste ihm Recht geben. Wirklich gut war was anderes. War eben nur Ersatzkaffee. Sie tranken beide aus und unterhielten sich noch ein wenig, doch die Atmosphäre blieb seltsam befangen. Wie sollte auch Lockerheit entstehen, dachte Luise, schließlich war Turner ihr Vorgesetzter, ihr Chef. Trotzdem warf sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zu, diesem Mann, der nun schon eine ganze Weile eine nicht unwichtige Rolle in ihrem Leben spielte. Turner wiederum musste immer wieder Luise anschauen, die er nicht nur als Sekretärin schätzte, sondern, wenn er ehrlich zu sich selbst war, längst als überaus anziehende Frau wahrgenommen hatte. Doch die Pflicht rief, und so erhob sich Turner von seinem Stuhl. Luise bedankte sich für das in diesen Zeiten äußerst wertvolle Geschenk und begleitete ihn noch hinunter auf die Straße. Als sie aus dem Haus traten, blieb Turner kurz stehen und schaute die Fechnerstraße hinunter. Sah die Wasserpumpe, das Kartoffelgeschäft, den kleinen, inzwischen trockenen Brunnen, das Kopfsteinpflaster. »Sind Sie hier groß geworden?«, fragte er. »Um die Ecke, ja«, sagte Luise. »Aber das Haus steht nicht mehr.« Sie deutete mit der Hand an die nächste Ecke. »Da
vorn war eine Eckkneipe«, erzählte sie. »Da drüben der Kohlenhändler. Und da hinten ein Süßwarenladen! Da sind wir nach der Schule immer hingegangen und haben uns Wundertüten gekauft.« Turners Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand. Aber wo immer sie auch hinzeigte, überall bot sich das gleiche Bild – überall waren nur Ruinen, Häuserfassaden mit nichts dahinter, leere Fenster. Luise fragte sich plötzlich, ob Turner überhaupt wusste, von was sie sprach. »Wissen Sie, was ›Wundertüten‹ sind, General?« »Ähm, was?« Turner war kurzzeitig abwesend gewesen, aber Luise bemerkte es gar nicht. Auf einmal spürte sie den Drang, ihm etwas von sich zu erzählen. Etwas Persönliches. »Als ich acht war, da gab’s die plötzlich«, begann sie und ihre Augen hatte denselben Glanz angenommen wie damals, als sie noch ein Kind war. »Kleine bunte Tütchen«, fuhr sie fort. »Für fünf Pfennige das Stück. Mit Lakritze drin – oder mit kleinen Tierfiguren.« Sie machte eine kurze Pause, erinnerte sich an die längst vergangene, unwiederbringliche Zeit. »Einmal hatte ich sogar eine Trillerpfeife… Aber das Größte war immer der Moment kurz vorm Aufmachen: weil man eben nie wusste, was drin sein würde. Außer eben irgendwas Schönes.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber irgendwann, mitten im Krieg, da gab’s plötzlich keine Wundertüten mehr. Und es hat auch nie wieder welche gegeben.« Luises Lächeln verriet einen Hauch von Traurigkeit. »Irgendwann waren die Zeiten für Wunder halt vorbei.« Inzwischen hatten sie den Jeep erreicht. Turner hatte ihr aufmerksam zugehört. Nun blickten die beiden einander noch einmal an, dann verabschiedeten sie sich. Turner stieg ein und fuhr los.
Luise wusste nicht, dass es jemanden gab, der sie die ganze Zeit im Visier hatte. Versteckt hinter einer Mauer auf dem Ruinengrundstück schräg gegenüber sah Michael den Jeep davonfahren. Und seine Mutter, die dem Wagen nachschaute. »Na, da haste ja bald vielleicht ‘nen Ami als Vater!«, sagte sein Freund Wolfgang, der neben ihm hockte und lässig einen Flachmann aus der Hosentasche zog. Diese Art von Sprüchen konnte Michael überhaupt nicht leiden. »Halt’s Maul!«, blaffte er seinen Freund an. Wolfgang grinste. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und hielt sie dann Michael hin. »Hier, nimm einen Schluck«, meinte er. »Dann wirste den Ami vielleicht sogar gut finden.« Michael setzte die Flasche an und schüttelte sich. Aber ihm gefiel der leichte Nebel, der sich sofort in seinem Kopf breit machte. Und ihm gefiel das Wissen, dass das, was er tat, seiner Mutter ganz sicher nicht gefallen würde…
Der nächste Arbeitstag wollte wieder einmal kein Ende nehmen. Doch auf dem Flughafengelände von Tempelhof schien es keine Tageszeiten zu geben. Die Flugzeuge landeten und starteten in einer nicht enden wollenden Kette. Zwei Piloten kippten spät am Abend an der rollenden Snackbar ihren letzten Schluck Kaffee, den unentbehrlichen Wachmacher. Dann gingen sie zügig auf ihre Maschine zu, die startbereit auf sie wartete, während auf der Landebahn ihre Kollegen mit der nächsten Naturalien-Lieferung aufsetzten. Auch heute hatte Luise reichlich Überstunden gemacht. Der Zeiger der Wanduhr ging auf Mittenacht zu. Nun musste sie nach Hause. Während sie sich den Mantel anzog, sah sie aus den Augenwinkeln, dass sich Turner eine Tasse Kaffee einschenkte. »General«, meinte sie, »Sie müssen einfach mal Schluss machen.«
Turner schaute auf. »Ich konnte schon einen ganzen Krieg lang nicht nach Hause gehen«, begann Turner unvermittelt zu erzählen, als müsste er unbedingt etwas loswerden. »Meine Frau war sehr krank. Ich hätte alles darum gegeben, bei ihr sein zu können. Aber ich war nicht mal da, als sie starb.« Seine Stimme brach kurz ab. Es schien ihm schwer zu fallen, über sich selbst und sein Innerstes zu sprechen. »Und als der Krieg endlich vorbei war, hab ich meinen beiden Jungs versprochen, dass ich jetzt für immer dableibe.« Noch nie hatte Luise erlebt, dass dieser so unangreifbar, so souverän scheinende Mann sich auf diese Weise offenbarte. »Als das Telegramm von Truman kam, habe ich es in den Papierkorb geworfen«, fuhr Turner fort. »Aber die Jungs haben es wieder rausgeholt und gesagt: ›Du darfst die Welt nicht im Stich lassen.‹« Er schluckte und sah aus dem Fenster. »Ich will, dass die beiden nie mehr einen Krieg erleben müssen. Und ich versuche, meinen Teil dafür zu tun.« Nun wandte er sich Luise zu. »Ich denke, darum geht es: das Richtige zu tun. Auf die bestmögliche Art und Weise.« Luise nickte und ging zur Tür. Sie hatte das Gefühl, dass es nichts gab, was man diesen Worten noch hinzufügen konnte. »Also dann – gute Nacht.« »Gute Nacht«, sagte Turner. Den Türgriff bereits in der Hand, ließ sie die Stimme Turners noch einmal innehalten. »Aber Sie sollten wissen, dass wir es vielleicht nicht schaffen werden!« Luise drehte sich zu ihm um. »Ich weiß, Sie schaffen es, General.« Für einen kurzen Moment lächelte Turner, dann wurde er wieder ernst und nickte. »Falls nicht, hat es jedenfalls nicht an Ihnen gelegen.« Nachdem sich die Tür hinter Luise geschlossen hatte, nahm Turner einen Schluck Kaffee. Er stützte die Hände auf den
Tisch und starrte eine Weile in Gedanken vor sich hin. Dann ging er hinüber zu seinen aufgereihten Büchern. Auf dem Weg dorthin schlug er plötzlich gegen eine offene Schranktür. Irgendetwas beschäftigte ihn, er war aufgewühlt. Er ließ den Blick über die Buchrücken wandern, fast so, als könnten ihm die Namen und Titel eine Antwort geben, dann zog er einen roten Band heraus und begann zu lesen. Es war ein Buch des Architekten Albert Kahn.
Auf ihrem Heimweg waren Luise die Worte Turners immer wieder durch den Kopf gegangen. Sie bewunderte seine Entschlossenheit, mit der er trotz aller Widrigkeiten für eine gute Sache kämpfte. Doch viel mehr noch als dies bewegte sie, dass er ihr gegenüber so offen gesprochen hatte. Sie hatte das vage Gefühl, zwischen ihnen sei ein Damm gebrochen und etwas Wichtiges habe sich ereignet. Leise öffnete sie die Wohnungstür, ging in den Flur und legte die Schlüssel auf eine Konsole. Beim Ausziehen ihres Mantels warf sie einen Blick in die Wohnküche und erschrak. Dort saß Michael am Esstisch. Er sollte doch längst im Bett sein! Stattdessen hatte er die Arme auf dem Tisch ausgestreckt, die Hände zu Fäusten geballt, und starrte sie an wie ein Racheengel. »Micha, was machst du denn noch hier?«, rief Luise. »Weißt du nicht, wie spät es ist? Du solltest schon längst im Bett sein!« Michael sagte keinen Ton. Schnell legte Luise ihren Mantel ab und ging zu ihm. Als sie sich zu ihm hinabbeugte, roch sie sofort seine Schnapsfahne. »Sag mal, hast du getrunken?« Ihr Sohn sah sie nur unverwandt an.
»Hast du dich wieder mit diesem Wolfgang rumgetrieben?«, forschte Luise nach. Ihr Tonfall hatte eine gewisse Strenge angenommen. »Du weißt, dass ich das nicht mag!« Sie wollte Michaels Hand greifen, um ihn mitzunehmen, aber er entzog sich ihr. »Solange du mit diesem Scheiß-Ami gehst, mache ich, was ich will!«, schrie er. Luise war für einen Augenblick perplex. »Was redest du denn da?«, sagte sie und zog Michael vom Stuhl hoch. Doch dieser riss sich los und blieb trotzig stehen. »Du hast Papa versprochen, ihn zu lieben, für immer!«, rief er mit Tränen in den Augen. »Hast du’s vergessen?« »Nein… Was redest du denn da?«, antwortete Luise schockiert. »Ich war arbeiten, das weißt du doch. Und du gehst jetzt ins Bett!« »Du lügst!«, schrie Michael sie an. »Du Hure! Du Ami-Hure, du lügst!« Luise gab ihm eine schallende Ohrfeige. Sofort hörte er auf zu schreien und erstarrte. Plötzlich würgte er und rannte zur Spüle, wo er sich übergab. Luise lief hinterher, hielt seine Stirn und strich ihm sanft über den Rücken. Über ihre Wangen liefen Tränen. Als sein Magen nichts mehr hergab und er sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, brachte Luise ihn ins Bett und legte sich neben ihn. »Micha, das ist mein Chef«, sagte sie mit leiser Stimme und strich ihm übers Haar. »Was soll ich ihm denn sagen, wenn er uns Kohlen bringt? Danke, kein Interesse?« Michael schwieg. »Er war doch nett zu dir«, versuchte sie es weiter. »Ich will ihn aber nicht mögen!« Micha blickte sie verzweifelt an. »Wenn ich ihn mag, dann ist das so, als würde ich Papa verraten.«
Luise nahm seine Hand. »Aber das kannst du doch gar nicht, Micha.« Sie drückte ihn fest an sich. »Und es gibt nichts und niemanden auf der ganzen Welt, der zwischen uns stehen kann. Ich bin deine Mutter, und du bist mein Sohn. Und das wird immer so sein.« Luise kämpfte mit den Tränen. Vergeblich. »Unser Leben geht weiter, Micha«, sagte sie. »Das Leben geht immer weiter.« Und nun weinten beide gemeinsam, Arm in Arm. Eine ganze Weile. »Micha?« Luise sah ihren Sohn an. »Was?« »Wenn wir jetzt nicht aufhören, gibt’s hier gleich ‘ne Überschwemmung.« Michael schniefte und wischte sich über die Augen, dann lächelte er. Luise gab ihm einen Kuss, stand auf und ging zur Tür. An der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. »Der General hat gefragt, wann du mal vorbeikommst.« Sie warf ihm noch einen letzten Kuss zu und verließ den Raum. Michael war bereits eingeschlafen.
Schon am nächsten Tag war es so weit. Michael war zu Besuch auf dem Flughafen Tempelhof. Wer das nicht wusste und nur den Jeep sah, der im Zickzack-Kurs auf der Rollbahn herumkurvte, musste annehmen, dass die Militärs ihren Kaffee mit Cognac verlängert hatten. Doch es war Michael, der auf Turners Schoß am Steuer saß und zum ersten Mal ein Auto lenkte. Aus einem der Fenster sah Luise den beiden zu und musste lächeln. Schon lange hatte sie ihren Sohn nicht mehr so unbeschwert, so glücklich erlebt. Und Turner? Der zeigte ihr
gerade, dass er nicht nur der kühle Kopf war, der harte General, der sich durchzusetzen wusste. Plötzlich sah sie einen anderen Turner. Den Turner, in dem auch noch ein kleiner Junge steckte, der Spaß haben konnte. Während sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, zeigte Turner ihrem Sohn den Flughafen. Die Maschinen, die Hangars, das Ersatzteillager. Dann durfte Michael in die Kanzel einer Dakota klettern. Turner war sein Kopilot und gab ihm Anweisungen. Michael rollte zur Piste und wartete auf die Starterlaubnis. Dann gab er Gas und zog die Maschine hoch. Beide schwenkten auf ihren Sitzen zur rechten Seite, als Michael eine ziemlich waghalsige Linkskurve flog… Turner war gerade dabei, ihm die Stadt von oben zu zeigen, als sie einen Sergeant auf sich zukommen sahen. Blitzschnell gingen sie auf Tauchstation und grinsten sich verschwörerisch an. Wenig später kamen die beiden ins Büro und setzten sich an einen Tisch, auf dem Sperrholzleisten, Drähte und Kartonpapier lagen. Nachdem ihm Turner erklärt hatte, mit welchem Problem er zur Zeit beschäftigt war, machte sich Michael sofort ans Basteln. Als wenig später Luise mit einem Stapel Akten den Raum betrat, ging Turner auf sie zu und fragte: »Sagen Sie – hätten Sie etwas dagegen, wenn Ihr Sohn sich etwas dazuverdient?« »Aber… er ist doch erst zwölf…« »Ja«, gab ihr Turner Recht und nickte dann Micha anerkennend zu. »Aber er ist hoch qualifiziert.« Er führte Luise zu dem Tisch, an dem ihr Sohn in seine Arbeit vertieft war. Er war dabei, aus den Holzleisten, dem Draht, den Pappkartons und Leim ein eigenartiges Gebilde zusammenzubauen: ein Modell der Luftbrücke. »Ich habe einen Weg gefunden!«, erklärte Turner mit Stolz. »Und dieses Modell da wird mir helfen, ihn den Männern begreiflich zu machen!«
Am nächsten Tag versammelten sich in Turners Büro eine ganze Reihe von Männern. Auch Michael war da. Schließlich hatte er das Modell gebaut, das nun präsentiert werden sollte. Turner zeigte seinen Männern zuerst Bilder in einem aufgeschlagenen Buch: Es waren die Autofabriken von Detroit in den Zwanzigern. Ford, General Motors, Buick, Chrysler. »Albert Kahn war Architekt«, erklärte er. »In den Zwanzigern baute er die großen Autofabriken in Detroit. Aber er baute nicht einfach Gebäude.« Er deutete auf ein Bild, dass den Querschnitt einer Autofabrik zeigte. Wie eine Schlange zog sich die Produktionsstrecke von oben nach unten. »Kahn baute sie so, dass der Bau eines Autos im oberen Stockwerk begann, dann im ersten Stock weitergeführt wurde…« Turner deutete auf die einzelnen Elemente. »… bis dann unten das fertige Auto herausrollte. Dadurch gab es keine überflüssigen Transportwege. Er baute Gebäude, die wie Fließbänder waren.« Er legte das Buch beiseite und dirigierte die Männer zu Michaels Modell der Luftbrücke. Den anwesenden Offizieren und Piloten wurde allmählich klar, auf was Turner hinauswollte. »Was wir brauchen, ist ein reibungslos laufendes Fließband«, ergriff dieser nun wieder das Wort. »Und zwar das größte Fließband der Welt: denn es besteht aus Hunderten von Flugzeugen.« Turner nickte Michael zu – und dieser weihte das Modell ein. Mittels eines Seilzugs setzte sich die Luftbrücke wie ein Karussell in Bewegung. Unbemerkt war Luise näher gekommen und stand nun schräg hinter dem vor Eifer glühenden General. Glücklich schaute sie ihrem Sohn zu, der stolz die kleinen Flugzeuge aus Pappe in Gang hielt. Glücklich machte sie aber auch die Nähe, die zwischen ihm und Turner entstanden war. »Es gibt keine Warteschleifen«, fuhr Turner fort, während sich das Modell zum ersten Mal in Aktion befand. »Wenn eine
Maschine nicht landen kann, fliegt sie auf direktem Weg zurück nach Westdeutschland – denn das Fließband darf keinen Augenblick lang anhalten.« Michael spürte den Moment, in dem die Männer begriffen. Er sah das Leuchten in ihren Augen und er hatte das Gefühl, dass er gerade ein Teil von ihnen war. Noch nie in seinem Leben war er so stolz gewesen!
Die Übertragung des Modells auf die Realität ließ nicht lange auf sich warten. Deutlich mehr Maschinen konnten nach dieser bahnbrechenden Neuerung abgefertigt werden – allerdings nur auf Tempelhof. Am Flugplatz Gatow schien die Umstellung für Probleme zu sorgen. Luise saß, es war später Nachmittag, nichts ahnend an ihrer Schreibmaschine, als Turner ein Telefonat beendete, aufstand und zu ihr ging. »Kommen Sie«, sagte er in dem für ihn typischen, bestimmten Ton. »Wir fahren nach Gatow.« Luise deutete auf den Stapel Akten, der auf ihrem Tisch lag. »Aber ich – « Doch Turner ließ sie nicht ausreden. »Die Briten kriegen die Koordination unserer Flugpläne nicht hin. Nehmen Sie einen Notizblock mit.« Damit war die Sache entschieden. Luise packte ihre Sachen zusammen, stand auf und nahm ihre Jacke. Nur Minuten später saßen sie in Turners Limousine und fuhren los. Es war ein wunderschöner Sommertag, das bemerkte Luise erst jetzt. Wie immer war auch heute so viel Arbeit angefallen, dass sie die Welt außerhalb des Büros überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Weder die laue Luft noch die Sonne, die inzwischen gen Horizont wanderte, aber immer noch mit ihren
Strahlen die Landschaft leuchten ließ. Luise saß neben Turner, der in seine Akten vertieft war, auf dem Rücksitz und sah aus dem Seitenfenster, während sie am Wannsee vorbeifuhren. Sie sah das blaue, funkelnde Wasser des Sees, das dunkle, satte Grün der Bäume und die dahintreibenden Wolken am Himmel – und dies alles sog sie in sich auf, als würde sie es zum ersten Mal erleben. Deshalb bemerkte sie auch nicht, dass Turner auf einmal von seinen Papieren aufblickte. Erst seine Stimme ließ sie zusammenzucken. »Was gibt’s denn da zu sehen?«, fragte er. »Nichts«, sagte Luise und schaute weiter aus dem Fenster. »Es ist einfach nur schön.« Turner folgte ihrem Blick. Dann beugte er sich zu seinem Fahrer vor. »Miller, halten Sie doch bitte mal an.« Der Fahrer stoppte den Wagen. Turner stieg aus, hielt Luise die Tür auf und forderte sie mit einem Winken auf, ihm zum Ufer des Sees zu folgen. Einen Moment lang standen sie schweigend da, dann ging Luise zu einem Baumstamm in der Nähe und setzte sich darauf. Sie beobachtete Turner, der am Ufer stehen geblieben war und flache Steine über das Wasser springen ließ. Dann ging er in die Hocke, ließ sich das Wasser über die Hände gleiten und schaute gedankenverloren auf den See. »Sie haben Recht!«, rief er plötzlich. »Es ist schön!« Er drehte sich zu Luise um. »Kommen Sie mal hierher. Schauen Sie, wie schön das Wasser ist.« Aber Luise reagierte nicht. »Ist alles in Ordnung?« Er sah sie forschend an. »Ja, ja. Alles okay«, antwortete Luise, wandte ihren Blick aber ein bisschen zu schnell von ihm ab und strafte ihre Worte damit Lügen. Turner versuchte sie aufzumuntern. Er stand auf und nahm einen Stein in die Hand. »Dann kommen Sie, machen Sie mit«, sagte er und hielt ihr den Stein entgegen.
»Ich weiß nicht, ich…« Luise zögerte. Sie fühlte sich befangen. »Heißt das, Sie weigern sich, einen Befehl auszuführen?«, fragte Turner mit gespieltem Ernst. Endlich musste Luise lächeln. »Ich will doch nicht meinen Job verlieren«, sagte sie, stand auf und nahm den Stein. Er schaffte drei oder vier Hüpfer. »Na sehen Sie!«, rief Turner und ließ nun seinerseits einen Stein springen. Ein paar Meter weiter, oben auf der Straße, war Miller aus dem Wagen gestiegen. Er lehnte gegen die Kühlerhaube der Limousine und schaute auf die Uhr. Dann zuckte er mit den Schultern, steckte sich eine Zigarette an und blickte belustigt zum See hinüber, wo sein Chef gerade mit seiner Sekretärin Steine über das Wasser hüpfen ließ. Miller war beruhigt. Turner war anscheinend auch nur ein Mann aus Fleisch und Blut – keine Maschine, die vierzehn oder mehr Stunden am Tag arbeitete und nur Feierabend machte, um zu schlafen, zu essen und zu duschen. »Gut. Jetzt noch Fassberg/Wiesbaden.« Turner streckte die Hand aus, um von Luise eine dicke Aktenmappe entgegenzunehmen. Seit ihrem Ausflug waren einige Stunden vergangen, nun befanden sie sich wieder in Tempelhof. Die Sperrstunde war bereits angebrochen. Luise wirkte immer noch ein bisschen zerstreut und in Gedanken. Wie zur Bestätigung stieß sie mit der Mappe gegen Turners Kaffeetasse. Der braune Inhalt schwappte auf die darunter liegenden Unterlagen. »Oh, Verzeihung!«, rief Luise, über ihr Missgeschick erschrocken. »Tut mir furchtbar Leid.« Rasch machte sie sich daran, den Kaffeefleck wegzuwischen. »Macht nichts. Ist schon okay«, sagte Turner, der sie dabei beobachtete. Nach einer Weile meinte er: »Was ist los?«
Luise unterbrach ihre Tätigkeit und blickte Turner in die Augen. »Es war einfach so schön, was Sie für Micha getan haben.« »Ist das ein Grund, traurig zu sein?« Turner lächelte sie kurz ermutigend an. »Es ist bloß… Er hat nicht viele solcher Tage«, sagte Luise. »Er hat’s nicht einfach. Ohne Vater, mit einer Mutter, die kaum da ist…« »… die ihn sehr liebt, die alles für ihn tut.« Turner sah sie mitfühlend an. Luise schluckte. Sie musste sich jemandem anvertrauen. Plötzlich brach es aus ihr raus. »Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt nicht mit ihm.« »Was?« »Er hat schlechten Umgang. Manchmal kommt er sehr spät nach Hause und bringt Sachen mit.« Luise wandte den Blick ab. »Ich habe Angst zu fragen, woher.« »Was für Sachen?«, forschte Turner nach. »Petroleum.« Turner verstand nicht recht. »Petroleum?«, fragte er nach. »Für eine Lampe. Damit es immer hell bleibt.« »Hat er Angst vor der Dunkelheit?« »Nicht er. Ich!« Luise sah ihn verlegen an. »Blöd, nicht? In einer Stadt, die fast nur im Dunkeln liegt, Angst vor der Dunkelheit zu haben.« Mit einer fast unsicheren Bewegung legte Turner ihr die Hand auf den Arm. »Sie – Sie sind sehr stark«, sagte er und blickte ihr in die Augen. Dann zog er seine Hand weg und widmete sich wieder seinen Akten. Luise wandte sich ab und ging zu ihrem Schreibtisch. Für sie war es Zeit, Feierabend zu machen. Wieder einmal war es spät genug geworden.
Turner blickte kurz auf. »Vergessen Sie Ihren Mantel nicht«, meinte er, dann war er wieder in seiner Welt abgetaucht. Luise griff verwundert nach ihrem Mantel. Wieso in aller Welt sollte sie den vergessen? Dann zog sie die Tür zu und machte sich auf den Heimweg. Tief atmete sie die kühle Abendluft ein und ging zügig in Richtung Wilmersdorf.
Als sie zu Hause ankam, war alles still. Michael lag schon längst im Bett und schlief fest. Luise zog ihren Mantel aus, hängte ihn an den Haken und wollte schon in die Küche gehen, um noch ein Glas Wasser zu trinken – da stutzte sie. Etwas Buntes blitzte in der rechten Manteltasche auf. Sie zog es hervor – und plötzlich hielt sie den Atem an. Es war eine Tüte aus Papier, eine Wundertüte! Luise war sofort klar, dass nur einer für diese Überraschung infrage kam. Aufgeregt setzte sie sich mit der Tüte an den Tisch. Einen Moment lang saß sie nur so da, als schien sie darauf zu warten, dass sich das Gefühl von früher wieder bei ihr einstellte. Die Spannung, die Vorfreude, die Neugier, die sie als Kind empfunden hatte. Kurz bevor der Inhalt zum Vorschein kam. Schließlich öffnete sie die Tüte. Sie fand ein Stück Schokolade, einen Kaugummi, einen Luftballon – und zwischen all diesen Dingen einen kleinen Plastikring. Luise musste lächeln, drehte ihn zwischen den Fingern und zog ihn sich über. Dann schaute sie auf ihre Hände: An der einen Hand trug sie den Plastikring, an der anderen Hand ihren Ehering. Sie legte beide Hände übereinander und sann über etwas nach. Doch dann schüttelte sie energisch den Kopf, als hätte sie sich selbst bei einem Gedanken ertappt, der zu verrückt war, um wahr zu werden. Sie zog den Plastikring wieder ab und ging schlafen. Aber wie so oft in letzter Zeit lag sie noch lange wach.
Am nächsten Morgen, kurz nachdem Micha zur Schule losgegangen war, verließ Luise die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Sie hatte heute ihren freien Tag und wollte endlich mal wieder ihre Mutter besuchen, die in einer Wäscherei arbeitete. Sie brauchte jemanden zum Reden. Im Treppenhaus putzte gerade die Hausmeisterin. »Guten Morgen, Frau Conrad«, grüßte Luise freundlich wie immer. »Morgen, Frau Kielberg«, kam es zurück. Als Luise schon an ihr vorbei war, richtete sich die Hausmeisterin auf und stützte sich auf ihren Schrubber. »Ach, Frau Kielberg… der Mann neulich, das war doch ein General, oder?« Luise blieb stehen und drehte sich um. »Ja. Und?« »Ich weiß, es geht mich ja nichts an. Aber die Leute… die Leute reden schon…«, meinte Frau Conrad, zweifellos eine derjenigen, die von Tratsch und Klatsch nicht genug bekommen konnten. Deshalb fiel Luises Erwiderung auch eher knapp aus. »Sie haben Recht, Frau Conrad. Es geht Sie wirklich nichts an.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging hinunter auf die Straße. Dort atmete sie tief durch, dann war der Ärger über den Tratsch auch schon vergessen. Es gab wirklich Wichtigeres, als sich über die Neugier der Nachbarn zu ärgern. Luise stapfte die Fechnerstraße hinunter. Um diese Zeit waren nur wenige Passanten unterwegs. Die Stille wurde nur durch das Poltern eines Handkarrens unterbrochen, mit dem eine alte Frau einen Sack voll Kohlen über das Kopfsteinpflaster zog. Ungefähr eine Stunde später hatte Luise ihr Ziel erreicht. Als sie in den Hinterhof einbog, sah sie auch schon ihre Mutter. Mitten in einem Inferno aus Wasserdampf stand Clara mit
einer Kollegin an einer Heißmangel und zog ein Bettlaken lang. Clara machte sofort Pause und setzte sich mit ihrer Tochter in einer stillen Ecke auf zwei umgedrehte Waschzuber. Luise hatte belegte Brote mitgebracht, die sie nun gemeinsam aßen. »Micha hat seine Mathearbeit zurück. ‘nen Vierer«, berichtete Luise ihrer Mutter. »Na ja, vier ist ›ausreichend‹.« »Ich habe ihm gesagt, er muss mehr lernen. Aber in seinem Alter hast du mir das auch immer gesagt.« Clara sah ihre Tochter belustigt von der Seite an. »Da biste ja ‘nen weiten Weg gekommen, um mir das mitzuteilen.« Sie machte eine kurze Pause, dann fragte sie: »Und? Wie heißt er?« »Was?« Luise fühlte sich ertappt und zugleich falsch verstanden. Wenn es doch nur so einfach wäre!, dachte sie. »Weiß ich nicht. Hast bloß so geguckt eben.« Clara biss ein Stück von ihrem Brot ab. »Ich musste bloß gerade an den Mann denken, für den ich arbeite.« »Aha«, machte Clara viel sagend. »Mama! Der ist – der ist ein General. Der kennt nur seine Arbeit.« Luise seufzte kurz. »Wenn ich morgens komme, ist er schon da. Und wenn ich gehe, macht er weiter.« »Verstehe«, antwortete Clara und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Klingt aber so, als würdet ihr euch oft sehen…«
6
Turner hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht, welche weiteren Möglichkeiten es geben konnte, die Luftbrücke noch effektiver zu gestalten. Immer wieder hatte er sich die Frage gestellt, ob er vielleicht etwas übersehen hatte, etwas, womit man womöglich durch einfache Mittel Zeit gewinnen konnte. Denn darum ging es letztlich. Alles musste schneller werden. Sogar viel schneller. Denn nur so konnte man die erforderliche Tonnage schaffen. Der Winter, das stand fest, würde kommen. In den frühen Morgenstunden, nach zahllosen Tassen Kaffee, war er endlich auf eine Lösung gestoßen, die er nun Jenkins und ein paar Mechanikern in einem der Hangars erläuterte. »Bisher wurde jede Maschine einzeln gewartet. Aber dabei habt ihr euch nur gegenseitig auf den Füßen gestanden«, sagte Turner und zeigte mit ausgestrecktem Arm an die Stirnseite der Halle. »Ab sofort kommen die Maschinen dort rein. Da vorne ist die Mechanik, dort drüben die Elektrik und da hinten die Triebwerke«, teilte er den Hangar in drei Bereiche ein. Der zugrunde liegende Gedanke war im Grunde simpel: »Wir übertragen das Prinzip des Fließbandes auf die Wartung.« »Und wenn die Elektrik gecheckt ist und die Mechanik noch nicht?« Jenkins war skeptisch, ob sich Turners Vorschlag tatsächlich realisieren ließ. »Gute Frage«, erwiderte Turner. »Die Antwort lautet, dass genau das nicht passieren darf.« Mit diesen Worten drückte er Jenkins seine Stoppuhr in die Hand und machte sich auf den Weg in sein Büro.
Unterwegs sah er aus der Ferne Luise, die gerade mit einem schweren Stapel Akten über das Gelände eilte. Turner legte an Tempo zu, bis er sie eingeholt hatte. »Guten Morgen«, grüßte er sie. »Guten Morgen, General«, entgegnete Luise etwas kurzatmig – wie fast immer in letzter Zeit, wenn sie ihm unvorbereitet begegnete. Die beiden gingen gemeinsam weiter. Auf Turners Gesicht erschien ein verschmitztes Lächeln. »Und? Sind Sie fündig geworden?« »Wieso haben Sie das getan?«, fragte Luise, ohne ihn anzusehen. »Ich dachte, Sie freuen sich vielleicht«, antwortete Turner grinsend. »Da haben Sie ganz richtig gedacht.« Jetzt lächelte auch Luise. »Was war denn drin?«, wollte er wissen. Luise spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Ach, nur Kleinigkeiten«, wich sie aus. »Was Kinder halt so mögen.« Luise war heilfroh, dass sie das Büro erreicht hatten und sie sich hinter ihrer Schreibmaschine verschanzen konnte.
Am Abend dieses Tages war Luise mit Leni verabredet. Die Hochzeit rückte immer näher und das Kleid war noch längst nicht fertig. Luise beeilte sich, zu ihrer Freundin zu kommen – und nicht nur das Kleid war der Grund. Sie musste dringend mit ihr über den Mann sprechen, der sie aus dem Gleichgewicht brachte. Etwas ging da vor sich, sie spürte es an sich. Und auch an ihm. Und gleichzeitig fragte sie sich, ob nicht doch alles bloß Einbildung war. Leni stand auf einem Hocker in der Mitte ihres Wohnzimmers und trug die »Vorstufe« ihres Kleids, das Luise gerade mit Nadeln absteckte.
»Hätte ich dir aber sagen können, dass er nicht wissen konnte, was da drin ist«, sagte Leni kopfschüttelnd. »Ist doch klar, dass ‘ne Wundertüte zu ist, wenn man sie kauft. Deshalb heißt sie ja Wundertüte.« »Ich wäre fast in den Boden versunken. Ich habe keine Ahnung, was zur Zeit mit mir los ist.« Luise merkte, dass sie völlig neben sich stand. »Geht eben doch nicht spurlos an Mann und Frau vorbei, wenn sie jede Nacht bis zwölf im selben Büro sitzen.« Leni war nun mal eine Frau mit Erfahrung. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass sich zwischen Luise und diesem Turner etwas anbahnen würde. »Nur weil du mich seit drei Jahren verkuppeln willst, muss das noch lange nicht stimmen«, meinte Luise. »Klar stimmt das«, widersprach Leni. Dann blickte sie ihre Freundin eindringlich an. »Erst schenkt er dir Kohlen und dann ‘ne Wundertüte.« »Du kennst ihn nicht. Er ist nicht so«, versuchte Luise dagegenzuhalten und steckte Leni den Schleier in den Haaren fest. Leni verdrehte die Augen. »Ach, nee?«, fragte sie mit gespielter Naivität. »Aber ein Mann ist er doch, oder?« Dann seufzte sie und stieg von dem Hocker hinunter. »Na, wie auch immer.« Sie ließ sich von Luise zur Spiegelkommode führen und betrachtete sich strahlend. Dann sah sie durch den Spiegel Luise an, die hinter sie getreten war. »An deiner Stelle würde ich mich jedenfalls ranhalten. In einer Woche verschwindet schon wieder ein Junggeselle vom Markt.«
Am nächsten Tag saßen Jack und Harry wie so oft in ihrer Dakota. Jack flog die Maschine, Harry war wie üblich auf dem Kopilotensitz. Beide waren gut gelaunt und Harry hatte seinem
Freund mal wieder die tollsten Geschichten von seiner Verlobten erzählt, während Jack vor sich hin schmunzelte. Gerade hatte Harry wieder eine Episode aus dem Leben eines verliebten Paares zum Besten gegeben, als aus dem Radio die Stimme des Sprechers ertönte. »You’re listening to AFN Berlin. And this is from Leni to Harry: ›One for my baby‹.« Die ersten Takte von ›One for my baby, one more for the road‹ setzten ein. Harry lächelte selig vor sich hin, dann warf er einen Blick zu Jack hinüber, der sich eine Bemerkung verkniff und stattdessen nur grinste. »Du bist doch bloß eifersüchtig«, meinte Harry und pfiff vergnügt zu dem Lied, dass sich Leni für ihn gewünscht hatte. Die beiden befanden sich im Landeanflug und er freute sich auf den Abend mit seiner Verlobten. »Delta Charly 8634 an Tower, wir kommen jetzt rein«, meldete sich Harry per Funkgerät. »Gebt ihr uns Landeerlaubnis? Es sprach Harry Keynes, eine freie Stimme aus der freien Welt.« Er wartete einen Moment, dann schaltete er das Mikro wieder an. »Was ist los, schlaft ihr da unten?« Das war zwar nicht der Fall, doch trotzdem stimmte etwas nicht im Tower. »Was ist das?«, rief der Fluglotse zum Funker. Er hatte mit einer anderen Maschine gerechnet. »Möchte ich auch wissen«, antwortete ihm der Funker ratlos. »Wir haben die DC 4721 vom Radarschirm verloren.« »Dann hol erst mal die andere rein«, wies ihn der Fluglotse an – die Anweisung noch im Ohr, das Fließband nicht zum Stillstand kommen zu lassen. Der Funker nickte und beobachtete den einzelnen Lichtpunkt, der sich auf dem Monitor des Radargeräts bewegte. »Tower an Delta Charly 8634. Sie haben Landeerlaubnis.«
»Delta Charly 8634 an Tower, Landeerlaubnis bestätigt«, antwortete Harry. Jack schaute kurz auf den Höhenmesser, dann wieder nach vorn durchs Fenster. Die Dakota flog durch dicke Wolken. Kurz darauf hatten die beiden Piloten wieder freie Sicht und konnten unter sich den Stadtrand von Berlin erkennen. Die Maschine stieß in die nächste Wolke. Und flog wieder heraus. Plötzlich stockte Jack der Atem. »Scheißeee!!«, brüllte er mit weit aufgerissenen Augen. Direkt unter ihnen war eine zweite Maschine aus den Wolken aufgetaucht. Und sie war verdammt nah. Jack versuchte ein verzweifeltes Ausweichmanöver und zog hoch, doch dieses Mal hatte er kein Glück… Die Männer unten im Tower starrten fassungslos auf den Radarschirm, der nun wieder zwei Lichtpunkte anzeigte, die fast übereinander lagen. Sie rannten zu den Fenstern und schauten zum Himmel hinauf, an dem sich ein Drama abspielte, in das sie nicht mehr eingreifen konnten. Die Flugzeuge berührten sich. Schrammten aneinander. Das eine verlor sein Höhenruder. Ein Triebwerk begann zu brennen. Funken flogen, Metallteile jagten – in tödliche Geschosse verwandelt – durch die Luft. Eine Maschine stürzte ab. Wie ein Pfeil raste sie hinab zur Erde, schwarzer Rauch verdunkelte die Luft um sie herum, bis sie mit einem ohrenbetäubenden Knall aufprallte und sofort explodierte. Ein rot-gelber Feuerball schoss in den Himmel. Harry und Jack waren noch in der Luft. Die DC 8634 war oben geblieben, wenn auch stark beschädigt. Die Scheiben des Cockpits waren zerborsten. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich in rasender Geschwindigkeit. Mit aller Kraft umklammerte Jack das Steuer und versuchte, Kontrolle über die Maschine zu gewinnen, die im Steilflug auf den Boden zuschoss.
»Wir verlieren an Höhe, Harry!! Wir verlieren an Höhe!! Sag ihnen, ein Triebwerk ist ausgefallen!!« Jacks Stimme war ein einziger Schrei. Doch Harry blieb stumm. »Harry!! Was ist los?! Harry, antworte mir!!« Voller Entsetzen sah Jack, wie Harrys blutüberströmter Kopf zur Seite fiel. Er war schwer verletzt, aber er lebte. Mit nur einem Triebwerk versuchte Jack, das Flugzeug irgendwie zur Landung zu bringen. Zudem konnte er die Fahrgestelle nicht mehr ausfahren. Hin und her schwankend flog die Maschine auf die Landebahn zu. Unter lautem Kreischen und Dröhnen setzte sie auf dem Beton auf und rutschte immer noch rasend schnell auf dem Rumpf über die Rollbahn. Jack bremste und bremste, riss die Maschine herum und brachte sie tatsächlich zum Stehen. Sie mussten sofort raus, jede Sekunde konnte das brennende Flugzeug explodieren. Jack packte seinen halb bewusstlosen Freund und zog ihn aus dem Cockpit durch den völlig verrauchten Frachtraum ins Freie. In seinem Kopf war nur ein Gedanke: Nichts wie weg hier! Er zerrte Harry auf die Wiese neben der Landebahn und schrie wie ein Besessener: »Weiter! Wir müssen weiter!!« Sie waren etwa fünfzig Meter weit gekommen, als die gewaltige Druckwelle der Explosion sie zu Boden riss. Jack beugte sich über seinen Freund, der auf dem Rücken lag. Langsam öffnete Harry die Augen. »Und wir dachten noch: Honolulu, das ist wie Urlaub«, sagte er mit schwacher Stimme. Jack sah ihn flehend an. »Halt durch. Du schaffst das«, keuchte er. »Gleich kommt Hilfe.« Er riss die Jacke seines Freundes auf. Harrys Hemd war blutdurchtränkt. Eines der Metallgeschosse waren in seinen Bauch eingedrungen.
»Ich…« Harrys Stimme versagte. Unsagbarer Schmerz zog in kalten Wellen durch seinen Körper. Er spürte, dass er es nicht schaffen würde. Und auch Jack ahnte es. Er nickte und nahm Harrys Kopf schützend in beide Hände. Noch einmal öffnete Harry den Mund. »Sag… sag… ihr, sie soll… unbedingt… dranbleiben. Die Idee mit den Buletten… in den Brötchen ist… klasse. Nichts im Leben hat mir…« Er hustete und spuckte einen Schwall Blut aus. »Nichts… hat mir jemals besser geschmeckt…« Und während in der Ferne die Sirenen von Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen die Luft zerrissen, schloss Harry für immer die Augen. Jack ließ sich auf seinen Freund sinken und begann zu schluchzen. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, wie lange er so dalag. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, in der er Harrys Leben an sich vorbeiziehen sah. Als sie von dem Unglück erfahren hatten, waren Turner und Jenkins sofort hinaus auf die Rollbahn gefahren. Die Männer aus dem Tower waren bereits mit den Rettungskräften dort. »Ich habe hier fünf Tote und acht Schwerverletzte, und ich will wissen, wie das möglich ist!«, schrie Turner den Fluglotsen aufgebracht an. »Weil sie auf einmal verschwunden war.« Der Fluglotse stand noch unter dem Schock der Ereignisse. »Eine Maschine verschwindet nicht einfach, verdammt!«, brüllte Turner. »Die Maschinen fliegen so dicht, dass das Radar sie nicht mehr auseinander halten kann,« verteidigte sich der Fluglotse. »Wenn Tegel nicht endlich fertig wird, werden sie bald noch dichter fliegen!« Turner wollte sich gerade abwenden, um sich nach den Verletzten zu erkundigen, als er Jack, gestützt von zwei Sanitätern, auf sich zuwanken sah. Jacks Stirn war
blutüberströmt, er war voller Ruß und Dreck, in seinen Augen stand die pure Verzweiflung. »Du – du verdammtes Arschloch!«, schrie er unter Tränen. Er war fast bei Turner angelangt und holte zu einem Faustschlag aus. »Du bringst uns alle um für deine Luftbrücke!« Turner sah den Schlag kommen und konnte ihm im letzten Moment ausweichen. Er packte Jack an der Schulter und hielt ihn fest. Einige Sekunden lang sah er ihn nur an. »Ich weiß, wie weh das tut, Junge. Ich weiß es«, sagte er. Dann nickte er den Sanitätern zu. »Bringen Sie ihn ins Krankenhaus«, wies er sie an. Während Jack abtransportiert wurde, blieb Turner allein neben dem brennenden Flugzeugwrack stehen und schaute in die Flammen. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Unglück herumgesprochen. Auch die Namen der Piloten waren mittlerweile jedem bekannt. Als Luise davon erfuhr, sackten ihr die Beine weg. Sie zitterte am ganzen Leib, sank auf einen Stuhl und begann hemmungslos zu weinen. Eine ganze Weile blieb sie so sitzen, dann stand sie plötzlich auf und ging hinüber zum Wohntrakt in das Zimmer, das sich Jack und Harry geteilt hatten. Wie in Trance begann sie damit, Harrys Sachen zusammenzupacken.
Als sie fertig war, setzte sie sich auf eines der Betten und starrte vor sich hin. Immer wieder musste sie an Leni denken, ihre beste Freundin, die sich so sehr auf ihre Hochzeit freute. Das leise Knarren der Tür ließ sie hochfahren. Sie drehte sich um und sah Turner. Er hatte erfahren, wie Luise auf die schreckliche Meldung reagiert hatte, und war gekommen, um nach ihr zu sehen. Langsam ging er durch das Zimmer und blieb neben einem Spind stehen. Er betrachtete die Fotos, die an ihm hingen, und nahm eines ab. Es war ein Bild von Leni
und Harry, die sich verliebt ansahen. Turner zuckte innerlich zusammen. Er hatte nicht gewusst, dass Harry eine Freundin hatte. »Ich… ich kann ihr das nicht sagen«, sagte Luise tonlos. »Was?«, fragte Turner leise. »Meine beste Freundin. Er war mit ihr verlobt. Sie wollten heiraten. Aber ich kann ihr doch jetzt nicht sagen, dass er tot ist.« Luises Hände zitterten, ihr Gesicht war kreidebleich und tränennass. »Weil… wenn man das gesagt bekommt, dann ist man plötzlich leer.« Sie sah Turner verzweifelt an. »Ich sage es ihr«, sagte er und ging zu ihr. »Du musst das nicht allein tun.« Luise sah zu ihm hoch in einer Mischung aus Ungläubigkeit, Trauer und Sehnsucht. Einer Sehnsucht nach Nähe, danach, nicht mehr allein zu sein. Turner hatte ihr die Hand entgegengestreckt, die sie nun ergriff und sanft streichelte. Langsam beugte sich Turner herab, setzte sich neben sie und zog sie zu sich heran. Im selben Moment pressten sie ihre Lippen aufeinander, als hätten beide schon lange nach diesem Kuss verlangt. Sie küssten sich wieder und wieder, beider Hände umklammerten den Körper des anderen. Neben ihnen auf dem Boden lag das Foto von Harry und Leni. Vielleicht war es genau das, was sie endgültig zueinander gebracht hatte. Das Wissen um den Tod, das Wissen, dass der Liebe manchmal nur eine begrenzte Zeit geschenkt ist und dass man sie nicht un-gelebt vorbeiziehen lassen darf.
Noch benommen von allem, was in den letzten Stunden passiert war, machten sich Luise und Turner auf den Weg zu Lenis Frisiersalon. Sie sahen sie bereits von draußen durch die
Fensterscheibe munter auf eine Kundin einplappern, ganz so, wie es ihre Art war. Sie ließ die Schere los, die klappernd auf den Boden fiel, und rannte aus dem Laden. Mit einem Mal wusste sie, was passiert war, und warf sich schreiend in Luises Arme. Ihr ganzer Körper war ein einziges Schluchzen und Beben. Die Kundin, die ihr aus dem Laden gefolgt war, musste nur in Turners Gesicht sehen, um die Tragik der Situation zu erfassen. Dann begann Leni zu schwanken. Ihr Körper wurde plötzlich so schwach und so schwer, dass sie nicht mehr stehen konnte. Sie setzte sich auf den Bürgersteig und vergrub den Kopf zwischen den Armen. Sie hatte aufgehört zu schluchzen. Jetzt war sie ganz ruhig geworden. Leni merkte nicht mehr, dass sie von Luise und Turner hochgezogen und in ihre Wohnung gebracht wurde. Sie nahm auch nicht wahr, dass Leni ihr die Schuhe auszog und sie in ihr Bett legte und zudeckte. Sie nahm gar nichts mehr von dem wahr, was um sie herum geschah. Luise und Turner gingen in Lenis Küche. Inzwischen war es Nacht geworden. Luise musste irgendetwas tun und begann das Geschirr abzuwaschen. Sie wollte gerade die letzten Teller in den Schrank räumen, als Turner zu ihr kam und sie ihr abnahm. Er deutete mit dem Kopf in Richtung Flur und als Luise ins Schlafzimmer ging, sah sie ihre Freundin auf der Bettkante sitzen. Leni saß da und starrte apathisch auf den Fußboden. Luise war sich nicht sicher, ob Leni sie überhaupt bemerkte. Leise setzte sie sich neben sie. »Ich bleibe bei dir heute Nacht«, sagte Luise und nahm Lenis Hand in ihre. »Und Micha?«, kam es tonlos zurück. »Der kommt schon klar«, beruhigte sie Luise. »Sagt ja selber immer, dass er schon groß sei.« Dann ließ Luise den Blick durchs Zimmer schweifen. Auf dem Nachttisch stand ein
anderes Foto von Harry und Leni. Eines, auf dem sie sich schief lachten. Leni war Luises Blick gefolgt. »Wir hatten bloß die vier Wochen«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Vier Wochen, zwei Tage und drei Stunden. Aber das waren die besten meines Lebens.« Und dann kamen ihr wieder die Tränen. Luise nahm sie in die Arme und hielt sie ganz fest. Leni biss die Zähne zusammen, als wollte sie der wieder aufkommenden Verzweiflung Einhalt gebieten, und ließ sich von ihrer Freundin wie ein Kind in den Armen wiegen. Als sich der Weinkrampf nach einiger Zeit gelöst hatte, erhob sich Luise und ging in die Küche, um Turner zu verabschieden. »Sagst du Bescheid, wenn du irgendwas brauchst?«, fragte er sie und hielt sie mit beiden Händen an der Schulter. Luise nickte. Sie sah blass und übernächtigt aus. »Ich… ich brauche nichts«, antwortete sie stockend. Dann machte sie eine kurze Pause und sah ihn an. »Oder vielleicht doch«, meinte sie. Schweigend und langsam lehnte sie sich an Turners Brust. Ohne ein Wort zu sagen, legte Turner die Arme um sie und streichelte mit der einen sanft über ihren Rücken, während sie die andere ruhig und fest hielt. Erst als Luise ihm zu verstehen gab, dass sie sich wieder gefasst hatte, ließ er sie los, verließ Lenis Wohnung und fuhr zurück nach Tempelhof.
Am nächsten Tag bat Turner Clay in sein Büro. Wie schon am Tag zuvor hingen Wolken über Berlin, der Sommer ging in großen Schritten dem Herbst entgegen. Und das war eine Tatsache, die Turner mit großer Sorge erfüllte. Geladen riss er das Fenster auf. »In wenigen Wochen haben wir hier Nebel und Schneetreiben!«, rief er. »Und deshalb werden wir unser gesamtes Radar austauschen.«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«, wollte Clay wissen. Auch ihm saß der Schrecken über die gestrigen Ereignisse noch in den Gliedern, aber wie er auf die Schnelle das Radar austauschen sollte – das stellte den Militärgouverneur vor eine schier unlösbare Aufgabe. »Wie ich höre, sind die Radaranlagen auf unseren italienischen Stützpunkten brandneu. Da, wo sie kein Mensch braucht. Oder rechnet jemand mit einem Angriff der Tunesier?« Turners Stimme war schneidend scharf geworden. »Ich rede mit MacAllister. Aber versprechen kann ich nichts«, erwiderte Clay. Turner fixierte ihn mit spöttischem Blick. »Natürlich nicht.« »Was soll das denn heißen?« »Mir ist klar, dass ich Ihnen stinke, Clay. Dass ich Ihnen von Anfang an gestunken habe.« Turner war einen Schritt auf Clay zugegangen und nahm ihn ins Visier. »Das hier war Ihre Luftbrücke. Aber Sie haben es nicht hingekriegt, und deshalb hat man mich geholt. Und das ist ein Dämpfer für Ihren Stolz.« »Sie sind ja verrückt, Turner«, antwortete Clay und das meinte er auch so. Vielleicht hatte er es einmal so empfunden, aber das war für ihn Schnee von gestern. Er hatte Respekt vor Turner. Er war ein guter Mann. Doch Turner schien von seiner Antwort nicht überzeugt zu sein. »Wie Sie meinen«, sagte er und fuhr mit drohendem Unterton fort: »Aber ich werde nicht einfach zuschauen, wie meine Jungs hier geopfert werden.« Wieder einmal bewies Turner, dass er ein Mann der klaren Worte war. »Ich bin unter bestimmten Bedingungen hierher gekommen. Und wenn man mir die nicht erfüllt, dann ist es wieder Ihre Luftbrücke.« Damit war für ihn die Unterredung beendet. Innerlich kochte er, fühlte er sich doch für die Piloten, die hier eine immense und auch riskante Aufgabe vollbrachten, verantwortlich. Der
Tod Harrys war ihm nahe gegangen. Näher, als er gedacht hatte.
Aber nicht nur in Berlin lagen die Nerven blank, auch in Moskau war die anfängliche Siegesgewissheit in Skepsis umgeschlagen. Die Luftbrücke dauerte schon viel zu lange, und wie es überhaupt möglich war, über zwei Millionen Menschen nun schon mehrere Monate lang auf diesem Wege zu versorgen, stellte Stalin vor ein Rätsel. Er hatte Militärgouverneur Kotikow in sein Büro im Kreml kommen lassen und ließ sich die neuesten Entwicklungen schildern. »Die Amerikaner schaffen alles, was sie haben, nach Berlin«, erklärte Kotikow die Lage. Stalin atmete tief durch. »Wie lange können sie das durchhalten?« »Schwer zu sagen, wahrscheinlich wissen sie das selbst nicht. Aber sie scheinen entschlossen zu sein.« Kotikow machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Bald wird gewählt. Und die Stimmung in Berlin ist gegen uns.« Stalin machte eine Handbewegung, als wolle er Kotikows Bedenken beiseite wischen. »Es kommt nicht darauf an, wie gewählt wird – es kommt darauf an, wie ausgezählt wird.« »Im Ostsektor brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Aber im Westen ist Reuter der große Held.« Kotikow war Reuter, dieser Abtrünnige, mindestens ebenso verhasst wie Stalin, aber anders als dieser sah er keine Möglichkeit, die Wahl mit leichter Hand zu beeinflussen. »Vielleicht nicht mehr lange. Was ist mit Polizei und Feuerwehr?«, wollte Stalin nun wissen. Kotikow verdrehte die Augen. »Ein ständiges Gerangel«, stöhnte er. »Die Amerikaner sagen, das sei ihre Kompetenz, und wir behaupten natürlich das Gegenteil.«
»Wir werden nichts mehr behaupten, sondern wir werden Fakten schaffen!«, entgegnete Stalin entschlossen. »Wir brauchen Druck von der Straße. Ich will, dass diese Stadt vollkommen destabilisiert wird!« Der Militärgouverneur nickte. »Wird gemacht, Genosse Stalin.«
Bereits eine Woche später waren den Plänen Stalins Taten gefolgt. Die Lage wurde immer unübersichtlicher und am Vorabend des 9. September hatte Reuter Brandt zu sich zitiert, um mit ihm die immer kritischer werdende Lage zu erörtern. »Der Senat muss hier in Schöneberg tagen, weil das Rathaus in fünf Tagen dreimal gestürmt worden ist«, sagte Reuter und ging in seinem Büro auf und ab. »Die Polizei steht daneben, weil die SED im Osten ihren eigenen Polizeipräsidenten hat! West-Berliner Polizisten werden von ihren eigenen Kollegen zusammengeknüppelt und in den Osten verschleppt. Und die Berliner Feuerwehr ist fest in der Hand der SED!« Reuters Stimme war laut geworden. Brandt sah ihn an. »Es war doch von vornherein klar, dass Stalin sich nicht einfach zurücklehnen würde.« Reuter nickte. »Die Versorgungslage wird auch immer kritischer«, sagte Reuter. »Und ich weiß nicht, wie lange Westdeutschland noch bereit ist, uns zu unterstützen.« »Immerhin hilft uns das Ruhrgebiet.« »Das schon. Aber ein paar andere Bundesländer gehen bereits auf Abstand. Die fragen laut, wie lange das noch gehen soll.« »Aber die Amerikaner – «, wollte Brandt einwenden, doch Reuter ließ ihn nicht ausreden. »Die Amerikaner, ja. Aber die Franzosen wackeln schon. Selbst in England wird jetzt diskutiert. Als man noch dachte, das geht nur ein paar Wochen, da standen sie alle hinter uns.«
»Was können wir noch tun?« »Ich weiß es nicht, Brandt. Ich denke über nichts anderes nach. Aber ich weiß es nicht«, gestand Reuter ein. »Ich weiß nur eins: dass diese Stadt auf dem besten Weg ist, auseinander zu brechen.« Während in Reuters Büro Ratlosigkeit herrschte, war Turner bei Luise eingetroffen. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen und spürte, dass es trotz allem Unglück, das passiert war, die richtige Entscheidung war. Auch wenn um sie herum die Welt in Scherben lag, wusste sie, dass das Leben weiterging. Es ging weiter mit diesem Mann, der von ihrem Herzen in den vielen gemeinsam verbrachten Stunden vollständig Besitz ergriffen hatte. Als sie ihm die Tür öffnete, küssten sie sich und umarmten sich, ohne ein Wort zu sagen. Beide schienen noch nicht recht glauben zu können, dass ihr Glück tatsächlich wahr war. Da wieder einmal der Strom abgestellt worden war, nahm Luise Turner bei der Hand und führte ihn durch die dunkle Wohnung zum Esstisch, auf dem ein paar Kerzen standen. Ihr flackernder Schein verlieh dem Zimmer eine wohlige, ja, nahezu romantische Atmosphäre. Kaum hatten die beiden Platz genommen, fragte Turner: »Und, wie geht es Leni?« »Sie weint viel«, sagte Luise. »Immer noch. Ich gehe mit ihr spazieren. Ich lese ihr aus der Zeitung vor. Aber ich bin nicht sicher, ob sie mir zuhört.« Sie sah ihn traurig an. »Sie braucht noch Zeit«, erwiderte Turner. »Aber sie ist stark.« Luise warf einen Blick auf die Uhr. »Micha wollte längst hier sein«, wunderte sie sich. Sie hatte ihren Sohn ausdrücklich gebeten, heute einmal – ausnahmsweise – ganz pünktlich zu Hause zu sein.
Dann blickte sie auf den Tisch. Aus dem verschwindend geringen Lebensmittelangebot hatte sie mit großem Improvisationstalent ein unter diesen Umständen fast schon rührendes Candlelight-Dinner gezaubert. Sie begann Turners Teller aufzufüllen. »Lass uns anfangen.« Als Menü gab es »Pikante Wurst-Tomaten-Grütze« mit gekochten Möhren und eine Trockenkartoffel pro Person. Turner probierte. Vorsichtig. »Und?« Luise sah ihn erwartungsvoll an. »Ähm – gut«, antwortete er. Und als er ihren forschenden Blick sah, sagte er: »Wirklich sehr gut.« »Das Gas ist mittendrin ausgefallen, sonst wäre es mehr durch«, erklärte Luise entschuldigend, dann fing auch sie an zu essen. Doch dann legte sie auf einmal das Besteck beiseite und sah ihn an. »In der Wundertüte, die du in meinen Mantel gesteckt hast…«, begann sie und machte eine bedeutungsvolle Pause. Turner sah sie fragend an. Luise griff in ihre Rocktasche und zog den Plastikring hervor. »Da war der drin«, meinte sie und hielt ihn Turner lächelnd entgegen. Er nahm ihn und betrachtete ihn von allen Seiten, als wäre dieser kleine Kinderring in Wahrheit etwas ungeheuer Wertvolles. Genau in dem Moment ging von selbst das Radio an. Es gab wieder Strom! »RIAS Berlin, Sie hören RIAS-Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt«, sagte der Sprecher. »Schön, dass wir wieder auf Sendung sind. Und hier unser nächster Titel: ›Somewhere over the rainbow‹.« Während die ersten Takte des Liedes aus dem Lautsprecher drangen, gab Turner Luise den Ring zurück, den sich diese über den Finger streifte. Dann stand er auf, ging zu ihr und lächelte sie auffordernd an. Luise atmete tief durch, reichte ihm ihre Hand und ließ sich von ihm auf die »Tanzfläche«
neben dem Esstisch führen. Sie tanzten langsam und aneinander geschmiegt und beide schienen vollkommen vergessen zu haben, dass sie sich nicht in dem schicken Ambiente eines Nachtclubs, sondern in einer einfachen Küche mitten in der Berliner Blockade befanden. Es gab nur sie beide und ihre Körper, die die Wärme des anderen spürten. Plötzlich merkte Turner, wie sich Luise versteifte. Er blieb stehen, drehte sich um und folgte ihrem Blick. Da stand Michael, der sie wohl schon eine Weile beobachtete. »Papa ist tot! Und du tanzt!«, brach es aus ihm heraus. Voller Wut trat er gegen einen Blecheimer, rannte aus der Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. »Micha!«, rief Luise und eilte ihm nach. So schnell sie konnte, hetzte sie Treppe hinunter. Aber als sie aus dem Hauseingang trat und suchend nach Micha Ausschau hielt, sah sie ihn bloß noch um die nächste Ecke rennen. »Micha! Micha!« Immer wieder schrie sie seinen Namen in die Dunkelheit. Aber er kam nicht zurück. »Er wird dir jetzt nicht zuhören«, drang die Stimme Turners an ihr Ohr. Er war ihr nach unten gefolgt und hielt sie sanft an den Schultern. »Aber ich muss doch…« Luise sah ihn flehend an. »Das ist hart für ihn. Aber er kommt zurück. Und dann wirst du für ihn da sein.« Er nahm Luise in den Arm. »Und – wenn du es willst – ich auch.«
Der Herbst rückte immer näher – und mit ihm der Winter. Es war der 9. September 1948, und am Morgen ahnte noch niemand, dass dieser Tag in die Geschichte eingehen sollte. An diesem Tag wollte Ernst Reuter eine Rede halten. Vor den Berlinern und vor der ganzen Welt, um einerseits auf die verzweifelte Lage der Stadt in aller Deutlichkeit aufmerksam
zu machen und andererseits den Menschen, die hier lebten, Mut zuzusprechen. Alle Berliner waren dazu aufgefordert, zum Reichstag zu kommen. Auch an der Ladentür der Prenzkes hing ein Schild, auf dem »Vorübergehend geschlossen« zu lesen war. Das alte Paar hatte sich auf den Weg gemacht und wartete nun inmitten einer großen Schar auf den Bus, der sie zum Reichstag bringen sollte. Als Reuter an das Mikrophon trat, brandete der Jubel von 350.000 Berlinern auf, die sich hier versammelt hatten, um zu hören, was er ihnen zu sagen hatte. »Heute ist der Tag«, begann Reuter und blickte in die Menschenmenge. Bis zur letzten Minute hatte er an der Rede gefeilt, die die Welt wachrütteln sollte. Die deutlich machen sollte, wie ernst die Lage für weit über zwei Millionen Menschen war. »Heute ist der Tag, an dem das Volk von Berlin seine Stimme erhebt.« Lautstarker Beifall brach los. »Drei Jahre nach dem fürchterlichsten Krieg, den diese Welt gesehen hat, steht es nun auf des Messers Schneide. Es geht um nichts Geringeres als die Freiheit. Doch es geht nicht nur um unsere Freiheit, um die Freiheit der Menschen hier in Berlin.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Sondern es geht darum, ob wir bereit sind, für diese Freiheit zu kämpfen. Ob wir bereit sind, Hunger und Not und Kälte zu erdulden, weil wir wissen, dass diese Freiheit unser höchstes Gut ist.« Kriegsversehrte und Arme standen neben Bessergestellten, Eltern trugen ihre Kinder auf dem Arm, alte Leute stützten sich auf ihren Stock, junge Männer warfen Mützen in die Luft, und ausnahmslos alle jubelten Reuter zu, als dieser nun wieder seine Stimme erhob. »Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese
Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt! Ihr Völker der Welt: schaut auf diese Stadt!« 350.000 Menschen ließen die Welt nach diesen Worten ihre Stimme hören – wenn auch bestimmt nicht allen bewusst war, welch großem Augenblick sie gerade beiwohnten.
Die sich zuspitzende Situation in Berlin war auch der Grund für eine eilig einberufene Besprechung in Washington. Im Konferenzraum des Weißen Hauses berieten sich Truman, Royall und Außenminister Marshall zum weiteren Vorgehen. Krieg oder nicht Krieg war nun die Frage, die Marshall in immer schärferem Ton aufwarf. Doch der Präsident schüttelte zu dieser Angelegenheit weiterhin beharrlich den Kopf. »Wir haben uns geschworen, dass so etwas nie mehr geschehen darf«, sagte er bestimmt. Marshall sah ihn eindringlich an. »Mr. President, Stalin spürt, dass wir schwanken. Vielleicht nicht wir Amerikaner, aber doch die Franzosen. Sogar die Westdeutschen glauben nicht mehr, dass Berlin auf Dauer zu halten ist!« »Und Stalin tut alles, um diese Stimmung auszunutzen«, ergänzte Royall. »In den letzten Tagen ist mehrfach versucht worden, das Rathaus zu stürmen. In Berlin ist die Hölle los. Und nun noch das.« Mit einer Handbewegung forderte er Marshall auf weiterzureden. »Der russische Militäradministrator Sokolowski hat ›Flugmanöver‹ angekündigt«, erklärte der Außenminister. »Wie wir hören, machen die Russen Jagdmaschinen startklar.«
Tatsächlich wurden zur selben Stunde auf dem sowjetischen Militärflugplatz in Berlin-Schönweide zwei Jagdmaschinen
startklar gemacht. Je ein russischer Stern prangte auf den Längsseiten der Flugzeuge, die mit in großer Eile herangeschafften Raketen bestückt wurden. Eine der Raketen drohte in der Hast zu Boden zu fallen, aber wie durch ein Wunder konnte sie in letzter Sekunde aufgefangen werden. Hektische russische Wortfetzen zerschnitten die Luft. Die Aufregung und die ungeheure Anspannung, die auf dem ganzen Gelände herrschte, war fast körperlich zu spüren. Ein Offizier überbrachte gerade den beiden Piloten ihre Einsatzbefehle, kurz danach heulten die Triebwerke auf. Die beiden russischen Jagdmaschinen setzten sich in Bewegung, hoben von der Startbahn ab und flogen dröhnend in den Luftraum über Berlin.
Royall sah Truman ernst an. Er wusste, dass er seine gesamte Überzeugungskraft aufbieten musste. »Man kann keinen Krieg vermeiden, wenn der Gegner glaubt, dass man ihn vermeiden wird«, sagte er. Wieder ergriff Marshall das Wort. »Aus diesem Grund haben wir vier B-29-Bomber nach England verlegt. Sie sind startbereit.« Er übergab dem Präsidenten ein Dokument. Damit diese Maschinen eingesetzt werden konnten, bedurfte es der Unterschrift Trumans. Royall versäumte es nicht, unmissverständlich klarzumachen, welche Tragweite diese Unterschrift haben konnte. »Für den Fall eines Kriegsausbruchs genehmigen Sie damit den Einsatz von Atomwaffen.« Truman blickte auf das Dokument in seiner Hand. Dann stand er auf, trat an eines der Fenster und schaute eine Weile wortlos hinaus. Vor ihm lag der beschauliche Rosengarten des Weißen Hauses.
»Wie friedlich das alles hier wirkt«, sagte er schließlich. »Und doch scheinen wir an der Schwelle eines neuen Krieges zu stehen.«
Währenddessen warteten in einem der vielen Heimkehrerlager ein paar Dutzend Männer darauf, aufgerufen zu werden und nach Hause zurückgehen zu können. Es waren fast ausschließlich ehemalige Wehrmachtssoldaten, die da auf einfachen Holzbänken Platz genommen hatten. Alle waren gezeichnet von vier Jahren russischer Kriegsgefangenschaft. Einige waren so erschöpft, dass sie sich auf den Boden gelegt hatten und schliefen, andere saßen bereits vor kleinen Holztischen, hinter denen Beamte ihre Personalien aufnahmen. Wieder wurde ein Mann aufgerufen. Seine Kleidung war dreckig und zerrissen, sein Gesicht ausgezehrt. Er stand auf, ging durch den Raum und ließ sich auf dem Stuhl vor einem der Tische nieder. »Name und Geburtsdatum?«, wollte der Beamte wissen. »Alexander Kielberg. 6. Februar 1909.« »Beruf?« Der Beamte sah kaum auf. Zu viele Männer kamen tagtäglich und ließen sich registrieren und alle hatten eines gemein: Sie waren traumatisiert. Sie hatten Dinge getan und Dinge gesehen, die für Menschen nicht gut waren. »Arzt«, antwortete Alexander. Es kam ihm fast unwirklich vor, dass er es bis hierhin geschafft hatte. Dass er überlebt hatte. »Familienstand?« »Verheiratet«, sagte er und musste schlucken. »Ein Kind. Mein Sohn.« Bei diesen Worten war seine Stimme brüchig geworden. Während des Krieges und in den Jahren danach hatten ihn trotz aller anderen Qualen und Nöte die Gedanken
an Luise und Micha am meisten gequält. Und nichts hoffte er mehr, als dass sie den Krieg unbeschadet überlebt hatten. »Letzter Wohnort vor dem Krieg?« Alexander holte tief Luft. Er kniff die Augen zusammen, die sich mit Tränen füllten. »Berlin«, sagte er. »Ich wohne in Berlin.«
7
Während Ernst Reuter vor den Trümmern des Reichstagsgebäudes vor Hunderttausenden Berlinern seine berühmt gewordene Rede hielt, zog Jack mit seiner Dakota dicht unterhalb der Wolkendecke einen eleganten Halbkreis im südlichen Luftkorridor. Äußerlich, so hatten ihm die Ärzte gesagt, würde er nur ein paar Narben von dem Unfall zurückbehalten, innerlich trug er weit schwerere Wunden davon, die längst nicht geheilt waren und vielleicht nie heilen würden. Sein Freund fehlte ihm, und wenn er nicht gerade flog, saß er die meiste Zeit in sich gekehrt und schweigsam im Casino. Er hatte einen neuen Kopiloten an die Seite gestellt bekommen, der auch nun neben ihm saß. Richard Handerson war sein Name, ein erfahrener Mann um die dreißig, der Härte und Entschlossenheit ausstrahlte. Jack mochte ihn, aber er war nicht Harry. Harry ließ sich nicht ersetzen. »Wie lange noch bis Berlin?«, wollte Jack wissen. »Das war das Funkfeuer Magdeburg. Zwanzig Minuten etwa.« Handerson goss sich einen Kaffee ein und trank einen Schluck. Dann merkte er, dass irgendetwas Jack irritierte. Immer wieder schaute dieser aus dem linken Seitenfenster und als Handerson seinem Blick folgte, erkannte auch er zwei winzige Punkte, die sich auf sie zubewegten. »Wofür würdest du das da halten?«, fragte Jack. »Von uns könnend keine sein«, antwortete Handerson. »Die sind außerhalb des Korridors.« Jack fixierte die rasch größer werdenden Punkte. »Jetzt nicht mehr!« Immer deutlicher erkannten sie die Konturen zweier
Jagdflugzeuge. Zweier russischer Jagdmaschinen, die direkt auf die Dakota zuschossen. »Delta Charly 8634 an Tower! Wir haben Feindberührung!«, schrie Handerson in das Mikro des Funkgeräts. Im Bruchteil einer Sekunde war er sich der drohenden Gefahr bewusst geworden. »Identifizieren Sie die Art der Feindberührung!«, antwortete der Fluglotse alarmiert. Handerson sah durch das Seitenfenster. »Verdammt, das sind zwei Yags!« Fluchend riss Jack den Steuerknüppel hoch und versuchte die schwere Maschine nach oben zu ziehen. Zwanzig Tonnen Stahl stöhnten unter der ungeheuren Belastung, aber würden sie es schaffen? Es war einer der Momente, in denen sich alles entscheidet. In denen es um Leben und Tod geht. In allerletzter Sekunde drehten die Russen ab und verhinderten die Kollision. Jack versuchte verzweifelt, die hin und her schwankende Dakota unter Kontrolle zu bekommen. Aber die Steuerung funktionierte nicht mehr richtig. »Delta Charly 8634, sind Sie unter Beschuss?«, kam es vom Tower. »Nein. Aber die sind direkt auf uns zugeflogen!«, schrie Handerson. Unterdessen wurde in Tempelhof geklärt, was das Flugzeug transportierte. Als feststand, dass sich in der Maschine zwanzig Kinder befanden, die zur Landverschickung in Bayern waren und heute zurückkommen sollten, packte die Männer im Tower pures Entsetzen. An Bord der Dakota unternahmen Jack und Handerson alles, um einen Absturz zu verhindern. Im Frachtraum herrschte Chaos: Teile der Ladung hatten sich aus ihrer Verankerung gerissen und rollten hin und her. Zwanzig Berliner Kinder schrien voller Furcht wild durcheinander.
»Delta Charly 8634, hören Sie mich?«, rief der Fluglotse. »Ich höre euch«, meldete nun Jack. »Wir sind manövrierunfähig!« Handerson war in der Zwischenzeit nach hinten geklettert, um nach den Kindern zu sehen und eine schwere Kiste hochzustemmen, damit der Keilriemen der Maschine nicht länger blockiert war. »Los, mach schon!«, schrie ihm Jack durch den ohrenbetäubenden Lärm zu. Handerson musste all seine Kräfte aufbieten – und tatsächlich, er schaffte es. Keuchend rief er nach vorne ins Cockpit: »Und?!« Jack streckte den Daumen nach oben. Er konnte wieder steuern. »Geben Sie uns einen Zustandsbericht!«, forderte der Fluglotse ihn auf. Jack setzte alles daran, die Maschine zu stabilisieren, aber sie torkelte weiter bedenklich hin und her. Schwarzer Rauch drang aus einem der Triebwerke. »Unser Leitwerk scheint was abgekriegt zu haben. Teile der Ladung haben sich aus der Verankerung gerissen!« »Es ist unbedingt notwendig, dass Sie auf keinen Fall den Luftkorridor verlassen!«, wies ihn der Fluglotse an, und trotz der unglaublichen Anspannung, unter der Jack stand, konnte er sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen. »Danke für den Tipp«, sagte er lakonisch. »Aber ich kann froh sein, wenn ich uns überhaupt runterbringe.« Auf dem Flughafen heulten die Alarmsirenen los. In fieberhafter Eile wurde die Landebahn geräumt, hektische Anweisungen schwirrten durch die Luft, die Löschmannschaften und Rettungswagen setzten sich in Bewegung.
In der Dakota nahm das Chaos zu. Die Kinder heulten und schrien auf, als wieder ein Fass gegen die Wand des Frachtraums krachte. Handerson hatte die Kleinsten der Kinder an sich gezogen und versuchte sie, so gut es ging, zu schützen. Bange Kinderaugen, aus denen die nackte Angst sprach, sahen ihn an. Auf dem Flughafengelände herrschte nach wie vor Hektik. Aber Turner ging es nicht schnell genug. »Das muss schneller gehen!«, schrie er in den Hörer. »Die zweite Löschmannschaft ans Südtor!« Er hängte ein und starrte wie alle anderen auf den Radarschirm des Lotsen, auf dem sich ein blinkender Punkt unregelmäßig bewegte. Fast im gleichen Augenblick erschien Jacks Dakota über den Dächern Tempelhofs. Sie hatte schwere Schlagseite. Besorgt sah Jenkins Turner an. »Kann er das schaffen?« »Eigentlich nein. Aber bei Snyder bin ich mir nicht ganz sicher.« Bange Sekunden vergingen. Die Männer hofften, dass es Jack gelingen würde, die Maschine in einer annähernden Waagerechten aufsetzen zu lassen. Atemlos beobachtete Turner durch das Fenster den Anflug der schwankenden Maschine. Noch Sekunden vor der Landung drohte sie mit der rechten Tragfläche den Boden zu berühren – aber im allerletzten Moment erreichte sie wieder die Waagerechte. Endlich setzten die Räder der Dakota auf. Jack hatte es geschafft! Er hatte es tatsächlich geschafft! Jenkins und Turner rannten sofort hinaus auf die Piste. Turner half den Kindern beim Aussteigen aus der Maschine und gab sie in die Obhut der Sanitäter. Als er sich umblickte, sah er Jack am Rand stehen und ging zu ihm hinüber. »Ich weiß, Sie legen keinen Wert auf Orden, Snyder«, meinte er und klopfte Jack auf die Schulter. »Kann ich sonst irgendwas für Sie tun?«
Jack sah ihn grimmig an. »Sie können die Russen für mich in den Arsch treten.« »Worauf Sie sich verlassen können«, antwortete Turner, machte auf dem Absatz kehrt und ging zielstrebig auf das Flughafengebäude zu. In Turners Büro war der Teufel los. Was konnte der Vorfall bedeuten? Welchen Plan verfolgten die Russen? Die Telefone klingelten unaufhörlich, Anfrage reihte sich an Anfrage. An einem der Telefone versuchte Jenkins alles über ungewöhnliche Flugbewegungen in und nahe der Korridore in Erfahrung zu bringen. Luise telefonierte ebenfalls. »Soweit ich weiß, ist das noch unklar… ja… selbstverständlich…« Luise sah kurz auf, als Turner den Raum betrat. Er wirkte aufs Äußerste angespannt und bedeutete ihr, das Gespräch sofort abzubrechen. Sie nickte ihm zu und beendete das Telefonat. »Ich brauche einen Termin bei Clay«, ordnete Turner an. »Für wann?« »Für jetzt.« Turners Stimme war kurzzeitig laut geworden, aber man sah ihm an, dass er es bereits wieder bereute. Luise erschrak kurz, wählte aber sofort eine Nummer. Während am anderen Ende noch das Klingelzeichen ertönte, reichte sie Turner den Hörer. »Die Russen greifen unsere Maschinen an«, informierte er Clay. »Ja, ja… Ich verstehe. Bis gleich.« Turner legte auf. »Heißt das Krieg?« Luise spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. Turner blickte sie an. »Genau das will ich Clay fragen.« Er beugte sich hinunter zu Luise und legte seine Hand auf ihre. Leise sagte er: »Falls ja, dann werde ich alles tun, um dich und Michael aus der Schusslinie zu bringen. Es wird euch nichts passieren.«
»Ich werde nirgendwo hingehen ohne dich«, erwiderte Luise. »Und ich nicht ohne dich.« Turner drückte ihre Hand, dann eilte er hinaus. Luise wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie ahnte nicht, dass sich in Wilmersdorf gerade ein Mann nach ihr erkundigte. Ein Mann, mit dem sie vor langer Zeit eine gemeinsame Zukunft geplant hatte – bis die Nachricht seines Todes alles, was an Träumen trotz des Krieges übrig geblieben war, zerstört hatte.
Langsamen Schrittes ging Alexander die Fechnerstraße hinunter. Zu beiden Seiten ragten Ruinen empor, wo vormals Häuser gestanden hatten. Die Verwüstungen des Krieges waren hier noch überall präsent. An einer Ecke sah er ein paar Männer, Arbeitslose, die mit Murmeln spielten. Alexander hielt inne und beobachtete sie. Ein Einarmiger, der sich gerade umdrehte, bemerkte den ehemaligen Soldaten, der vor den Mauertrümmern stand. Er ging auf ihn zu. »Tja, hier hat’s gekracht«, meinte er und sah den Fremden forschend an. »Gerade zurück?« Alexander nickte. »Wissen Sie, ob hier noch eine Luise Kielberg lebt? Sie hat einen Sohn. Zwölf Jahre alt.« »Ja sicher, die wohnt da oben.« Der Mann wies auf das Haus, in dem Luise jetzt lebte. »Und ihr Kleener tobt hier immer rum. Bloß ihr Mann, der ist im Krieg geblieben.« Alexander bedankte sich und ging auf das Haus zu. In seinem Rücken war der Einarmige stehen geblieben. Er sah aus, als dächte er über irgendetwas nach. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Die Erinnerung war wiederkommen. Er hatte den Mann erkannt – aber Alexander war schon weitergegangen. Er
wollte nur noch eines: so schnell wie möglich nach Hause. Endlich nach Hause. Luises Türschild wies ihm den Weg, die Tür war nicht abgeschlossen. Als er eintrat und niemanden vorfand, setzte er sich an den Tisch und wartete. Er musste nicht lange ausharren, denn schon bald stieg Luise müde die Treppe des Hauses hinauf. Sie hatte heute früher gehen können, da Turner sie nicht mehr brauchte. Er war sowieso unterwegs, und sie war so erschöpft und voller Sorgen, dass sie die Gelegenheit dankbar annahm. Während der gesamten Heimfahrt gingen ihr immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf. Würde es Krieg geben? Und wenn ja: wann? Und: Würde Micha endlich wieder zurückkommen? Seit dem verhängnisvollen Abend, als er sie und Turner beim Tanzen beobachtet hatte und weggelaufen war, war er nicht mehr aufgetaucht. Jeden Tag wartete sie seitdem darauf, dass er zurückkam – doch bis jetzt fehlte von ihm jede Spur. Als Luise im Treppenhaus an Frau Prenzke vorbeikam, griff diese sie sanft am Arm. »Und?«, meinte sie und sah Luise mitfühlend an. »Nichts.« Luise senkte niedergeschlagen den Blick. Insgeheim hatte sie gehofft, dass vielleicht Frau Prenzke ihren Micha gesehen hatte. »Der kommt schon wieder«, tröstete sie die alte Frau. »Mein Mann sagt, dass er in Michas Alter oft mal weggelaufen ist. Aber irgendwann hat er immer Hunger gekriegt. Da hätte die Blockade endlich auch mal ihr Gutes.« Luise lächelte sie dankbar an und ging weiter die Treppe hoch, begleitet vom Husten Frau Prenzkes, der immer schlimmer zu werden schien. Gedankenversunken öffnete sie die Wohnungstür. Alles war still. Als sie ihren Mantel aufhängen wollte, erstarrte sie: An der Garderobe hing ein alter
Staubmantel. Fast im gleichen Moment, in dem sie den Mantel sah, hörte sie ein Geräusch, das aus der Küche kam. Ihr stockte der Atem. Vorsichtig ging sie durch den Flur. »Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?« Sie blieb stehen, wartete auf eine Antwort. Als alles still blieb, ging sie entschlossen in die Küche hinein. Am Herd stand ein Mann. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, schien aber dennoch bemerkt zu haben, dass Luise in der Tür stand. »Trinken Sie Ihren Kaffee mit Milch?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Luise taumelte fast, wie unter einem Schlag. Sie hielt sich am Türrahmen fest. »Ohne«, sagte sie leise. Der Mann drehte sich langsam um. Alexander. Keiner von beiden kümmerte sich noch um das Pfeifen des Wasserkessels. Sie gingen aufeinander zu, fielen sich in die Arme und hielten sich fest. Zwei Liebende, die die Hoffnung aufgegeben hatten, sich jemals wiederzusehen. Zwei Menschen, für die das Leben in der Zeit der Trennung wie auch immer weitergegangen war. Aber auch ein Mann und eine Frau, die sich einmal ewige Liebe geschworen hatten. Sie standen eine ganze Weile so da. Stammelnd, ungläubig, tastend. Dann endlich machte sich Luise los und führte Alex an den Küchentisch, wo sie beide Platz nahmen. Alexander war schweigsam. Ganz langsam glitt seine Hand über das einfache Holz des Küchentischs. So, als wäre der etwas ganz Besonderes, das er noch nie zuvor gesehen hatte. »Was… was ist denn?«, fragte Luise, die ihn beobachtet hatte. Wie ertappt zog Alexander rasch die Hand zurück und schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf, als könnte er den dunklen Schatten seiner Vergangenheit entkommen. Luise spürte, dass etwas in Alexander an der Front und in den Jahren danach zerbrochen sein musste. Sie sah ihn an. Sanft
und eindringlich zugleich. »Willst du nicht erzählen?« Sie legte die Hand auf seinen Arm und beugte sich zu ihm. »Wie war es dort?« Alexander schaute sie kurz an. »Ich… ich weiß nicht, wie es dort war… Vielleicht will ich es nicht wissen…«, antwortete er stockend und schlug sein Gesicht in die Hände. »Ich kann es nicht…« »Aber wie – wie hast du überlebt?« Alexander fasste sich wieder und blickte auf. »Die Russen brauchten Ärzte. Ich war einer.« Dann zuckte er mit den Schultern, als wäre damit alles gesagt. Einen Augenblick lang saßen beide so da. Keiner sagte ein Wort, jeder war in seinen Gedanken versunken. Auf einmal wurde die Stille durch Schritte unterbrochen. Luise drehte sich um. In der Tür stand Clara, Luises Mutter, an ihrer Hand Michael. Sofort sprang Luise auf und lief zu ihm. Michael schaute schuldbewusst auf den Boden. »Ich… ich will wieder zu Hause sein. Ich will einfach nur noch wieder bei dir zu Hause sein«, sagte er nun und seine Stimme klang voller Reue. Er fiel seiner Mutter um den Hals. Überglücklich hielt Luise ihn fest. »Du bist zu Hause, Micha.« Alexander war hinter Luise aufgetaucht und als er seinen Sohn sah, den er als kleinen Bengel zum letzten Mal gesehen hatte und der in den vergangenen vier Jahren zu einem richtig großen Jungen herangewachsen war, vergaß er für kurze Zeit alles, was er an Schrecklichem erlebt hatte, und glaubte wieder an das Leben. Mit ungläubigem Blick schaute Micha hoch. Im ersten Moment sah er nur einen Mann, der ihm fremd vorkam. Und dann begriff er: Dieser Mann war sein Vater! »Papa! Papa!«, rief er und warf sich mit einem Schluchzen in Alexanders Arme.
Clara und Luise, die wortlos dabeistanden, sahen sich an. Beider Augen füllten sich mit Tränen.
Auf der anderen Seite des Atlantiks schlug die russische Provokation hohe Wellen. Wieder einmal befanden sich Truman, sein Berater Royall und Außenminister Marshall in einem Konferenzzimmer und berieten angespannt die Lage. Es ging um sehr viel, das war allen Anwesenden klar. Doch während Royall davon überzeugt war, dass die einzige Antwort auf das sowjetische Flugmanöver »Krieg« heißen konnte, war Truman weiterhin auf der Suche nach diplomatischen Lösungen. »Die Russen machen Ernst. Worauf warten wir?«, fragte Royall gereizt in die kleine Runde. Truman machte eine mäßigende Handbewegung. »Langsam«, mahnte er. »Bisher war nur von Störmanövern die Rede.« »Mit denen sie das Flugverbot in den zugesicherten Luftkorridoren ignorieren«, fiel ihm Royall ungehalten ins Wort. »Wann handeln wir also? Wenn sie beginnen, uns abzuschießen?« Jetzt mischte sich Marshall ein. »So einfach ist das nicht«, bremste er den Berater. »Unsere gesamte bisherige Strategie war darauf angelegt, eine militärische Eskalation zu vermeiden.« »Tatsache ist«, sagte Royall und blickte von Truman zu Marshall, »wir haben überhaupt keine ›bisherige Strategie‹. Selbst die Entscheidung für eine Luftbrücke hat uns Clay abgenommen.« »Begleitflugzeuge?«, schlug Truman vor. »Was wäre, wenn wir unsere eigenen Jäger mit hochschickten?«
»Wir haben zwei Jagdfliegerstaffeln nach Bayern verlegt. Aber das ist Ihre Entscheidung«, sagte Royall an Truman gewandt. Marshall war von diesem Plan alles andere als begeistert. »Genau darauf warten sie doch! Sie haben den Finger am Abzug. Die Frage ist: Tun wir ihnen den Gefallen?«
Doch nicht nur in Washington wurde beraten und um eine Lösung gerungen. In Berlin hatte sich Turner unverzüglich auf den Weg zu Clay gemacht und ihm den dramatischen Vorfall des heutigen Tages geschildert. »Zum Teufel mit den Russen, Clay! Das sage ich!« Ein erregter Turner hatte sich vor dem Schreibtisch des Militärgouverneurs postiert. »Die sind in unseren Luftkorridor eingedrungen. In Jagflugzeugen – die sich den Korridoren laut Potsdamer Abkommen nicht einmal nähern dürfen!« »Kotikow hat im Neuen Deutschland verkündet, dass es sich bei der Luftbrücke lediglich um einen Versuch der westlichen Alliierten handele, Berlin ›auszuplündern‹«, meinte Clay und sah Turner an, während er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm. »Und ganz nebenbei hat er sowjetische Luftmanöver im Großraum Berlin angekündigt.« Turner stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und beugte sich zu Clay. »Ein Pilot wie Snyder ist lange genug dabei, um ein ›Manöver‹ von einem gezielten Angriffsanflug unterscheiden zu können«, meinte er scharf. »Und ich werde nicht einfach zuschauen, wie meine Jungs da draußen ihr Leben riskieren.« Clay hob in einer Geste der Ratlosigkeit die Arme. »Was erwarten Sie denn von mir? Dass ich einen Abschussbefehl gebe?«
Turner nickte. »Wir haben jetzt dreihundert Maschinen und über fünftausend Mann in Berlin. Wenn die Russen Krieg wollen, dann können sie ihn meinetwegen haben!« Beide Männer sahen sich an, als wollten sie durch Blicke herausfinden, wer hier der Stärkere war. Clay war nicht bereit, im Alleingang einen Abschussbefehl mit unberechenbaren Konsequenzen zu erteilen, Turner hingegen wollte seine Männer schützen. Mit jedem nur denkbaren Mittel, wenn es denn nötig war. Die gespannte Stille wurde von einem Anruf unterbrochen. Es war Washington. Auch hier waren die Beratungen weitergegangen. Während Royall daran festgehalten hatte, dass ein militärisches Eingreifen und das Ende der Diplomatie die einzige Möglichkeit sei, die Russen zu stoppen und die Wiederwahl des Präsidenten herbeizuführen, hatte Truman fieberhaft nach anderen Lösungen gesucht. Auf einmal hatte er aufgeblickt: »Vielleicht gibt es eine dritte Möglichkeit.« Er hatte eine kurze, bedeutungsvolle Pause eingelegt. »Als die Blockade begann, wollte Clay mit einem bewaffneten Konvoi durch die sowjetische Zone. Das werden die Sowjets nicht vergessen haben.« Er hatte Royall, der schon Einwände vorbringen wollte, gar nicht erst zu Wort kommen lassen. »Das Ganze ist eine Pokerpartie«, fuhr er fort. »Wenn wir drohen, wird Stalin dies für einen Bluff halten. Aber eine von Clay ausgesprochene Drohung wird man auf sowjetischer Seite wesentlich ernster nehmen.« Der Plan stand und wurde dem US-Gouverneur in Berlin unverzüglich mitgeteilt. So machte sich denn Clay wenig später in Begleitung seines Assistenten auf den Weg in die sowjetische Militäradministration. Als die beiden das Besprechungszimmer betraten, saßen Kotikow und zwei weitere Männer bereits am
Verhandlungstisch und empfingen die Besucher mit eisigen Mienen. Clay ignorierte die Stühle auf der anderen Seite des Tisches und baute sich vor den Männern auf. Einen Moment lang sah er den Stadtkommandanten mit kühlem Blick an. Dann ließ er sich von seinem Begleiter eine Mappe geben, schlug sie auf und begann den vorbereiteten Text abzulesen. »Als Militärgouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone bin ich vom Außenministerium beauftragt worden, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Erstens: Mit der Verletzung der zugesicherten Flugkorridore durch russische Jagdflugzeuge hat die UdSSR das Abkommen von Jalta gebrochen.« Kotikow folgte den Ausführungen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zweitens«, fuhr Clay fort. »Das US-Außenministerium verurteilt diesen Bruch internationalen Rechts auf das Schärfste und wird dies auch den Vereinten Nationen vortragen. Drittens: Im Fall einer Fortsetzung der von der UdSSR als ›Manöver‹ bezeichneten Aktivitäten werden State Department und Pentagon angemessene Gegenmaßnahmen prüfen.« Clay schloss die Mappe und knallte sie Kotikow auf den Tisch. »Als oberster Gouverneur der sowjetischen Besatzungszone nehme ich Ihre Mitteilung zur Kenntnis und werde sie an Moskau weiterleiten«, entgegnete Kotikow mit monotoner Stimme. Er nahm die Mappe und warf sie achtlos auf einen Stapel Papiere. »Tun Sie das, Kotikow«, sagte Clay. »Und wenn Sie das tun, dann sagen Sie denen auch noch meine Übersetzung.« Ihm schien es mehr als angebracht, mit diesen Sowjets Klartext zu reden. »Wenn Sie den Flugkorridoren auch nur noch ein einziges Mal um einen Meter zu nahe kommen, dann schießen wir Ihren Jungs ihre Maschinen unter dem Arsch weg!«
Kotikow schien solche Töne nicht gewohnt zu sein, doch Clay war noch nicht am Ende. »Sagen Sie Stalin, wenn er einen Krieg will, dann kann er ihn haben. Weil nämlich Amerika und im Übrigen auch ich selbst nicht drei Jahre lang versucht haben, Deutschland wiederzubeleben, nur um uns jetzt wegen ein paar Ihrer altersschwachen Yags in die Hosen zu machen. Und zu seiner Erinnerung: Wir haben eine Atombombe.« »Ich denke nicht, dass Genosse Stalin das vergessen hat«, sagte Kotikow mit gepresster Stimme. Mit solch einer Drohung hatte er offenbar nicht gerechnet. Was Clay betraf, war nun alles gesagt. Er nickte seinem Begleiter zu und verließ grußlos den Raum. Sprachlos sahen sich die russischen Militärs einen Moment lang an. Kotikows Assistent hatte sich als Erster wieder gefangen. »War das ein Bluff?«, fragte er. Kotikow verschränkte die Hände ineinander und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ach, wissen Sie«, antwortete er, »ich bin ganz froh, dass diese Frage Moskau beantworten muss.«
8
Luise, Alexander und Michael hatten noch eine Weile zusammengesessen, aber irgendwann war es auch an solch einem besonderen Tag Zeit, ins Bett zu gehen. Alexander und Luise brachten zuerst Michael ins Bett, kurz darauf legte sich Luise schlafen. Kurzzeitig hatte sie ihre große Müdigkeit zwar vergessen können, doch dann hatte sie sich ihren Weg gebahnt. Sie gab Alexander einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Er versprach ihr, bald nachzukommen. Mitten in der Nacht, Luise hatte schon längst geschlafen, schreckte sie durch irgendetwas auf. Wahrscheinlich wieder einer dieser Träume, dachte Luise, dann merkte sie, dass das Bett neben ihr unberührt war. Sie stand auf und ging leise ins Wohnzimmer, um nach Alexander zu sehen. »Alex! Was – was ist denn?«, fragte sie. Alexander saß auf einem Sessel neben dem Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Das Geräusch eines Flugzeugs, das gerade tief über das Haus geflogen war, wurde etwas leiser. »Dieser Lärm!«, sagte Alexander und sah sie irritiert an. »Das sind die Amerikaner. Das ist die Luftbrücke.« Luise hielt sich den Morgenmantel zu, denn nachts kühlte es schon empfindlich ab. »Geht das jede Nacht so?«, wollte Alexander mit müder Stimme wissen. »Wir hören das gar nicht mehr.« Luise ging zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte mit warmer Stimme dicht an seinem Ohr: »Es wird wieder gut. Wenn wir nur zusammenhalten. Dann wird alles wieder gut. Komm… komm
ins Bett.« Luise wusste nicht, ob sie damit nur ihrem Mann Mut machen wollte oder nicht auch sich selbst meinte. Seit Alexanders Ankunft hatte sie sich jeden Gedanken an Turner verboten – aber so sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht. Alexander sah sie kurz an und Luise konnte in seinen Augen ablesen, dass er ihr nicht glaubte. Er drückte seine Zigarette aus, folgte ihr und legte sich ins Bett – aber er vermied es, Luise zu berühren. Er schloss die Lider und drehte sich auf die Seite. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, die Beine angewinkelt. Es machte den Eindruck, als wolle er sich selbst Wärme geben. Luise spürte, wie weit Alexander sich im Laufe der vergangenen Jahre von ihr entfernt hatte. Obwohl sie im selben Bett lagen, war er doch unerreichbar. Sie blieb noch lange wach. Mit weit geöffneten Augen fixierte sie einen unsichtbaren Punkt an der Decke.
Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fühlte sie sich, als hätte sie die ganze Nacht in einem Steinbruch zugebracht. Ihr Körper tat weh, ihr Nacken war verspannt und sie spürte, wie der Schmerz langsam hochkroch und unter ihrer Schädeldecke zu pochen begann. Sie schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht und blickte in den Spiegel. Sie sah bleich und übernächtigt aus. Dann gab sie sich einen Ruck, zog sich rasch an und weckte Micha auf. Während sie für ihn ein Brot schmierte, setzte sich auch Alexander an den Küchentisch. Er trug noch einen Bademantel und sah ebenfalls müde aus. Mit kleinen Schlucken trank er den Kaffee, den ihm Luise gereicht hatte. Luise spürte seine forschenden Blicke, mit denen er sie bedachte, so als würde er
sich fragen, was genau sie alles in den letzten vier Jahren erlebt hatte. »Alex, wir mussten von irgendwas leben. Und ohne die Amis wären die Russen schon hier.« Luise hatte sich umgedreht und sah ihn an. Im selben Moment kam Micha in die Küche gestürmt. Er schnappte sich seine Stulle und sah Alexander strahlend an. »Die Amis sind echt okay, Papa«, meinte er. »Die Russen sind böse, die wollen uns umbringen!« Mit diesen Worten wollte Micha verschwinden, doch sein Vater rief ihn zurück. »Komm mal her, Micha«, sagte Alexander in einem Tonfall, der Michael erschrocken innehalten ließ. Hart und kühl klang die Stimme und Micha fragte sich, was gerade Schlimmes passiert sei, das dies rechtfertigte. Langsam ging der Junge auf seinen Vater zu. Der zog ihn an sich heran und umklammerte seinen Arm mit der Wucht eines Schraubstocks. »Es waren wir Deutschen, die damals Russland angegriffen haben.« Alexander sah seinen Sohn eindringlich an. »In Russland sind mehr Menschen gestorben als bei uns. Das Land ist völlig ausgeblutet. Und die russischen Soldaten, die im Krieg gestorben sind – das waren genauso Väter wie ich.« Er hob den Zeigefinger für die letzten Worte seiner Lektion. »Die Welt da draußen ist nicht einfach schwarz und weiß, Micha. Lass dir das nicht einreden.« Michael nickte. Er hatte den Kopf gesenkt und mit schüchterner Stimme fragte er, ob er nun zur Schule könne. Erst jetzt schien auch Alexander zu merken, wie fest er seinen Sohn am Arm gepackt hatte, ihn immer noch festhielt. Schnell lockerte er seinen Griff. »Natürlich«, sagte er, nickte und lächelte ihm zu.
Luise hatte die Szene mit großem Befremden verfolgt. Sie wusste nicht, was sie mehr verwirrte: Alexanders Worte oder sein strenges Auftreten gegenüber ihrem Sohn. Aber nun war keine Zeit, um darüber nachzudenken oder zu reden. Schnell gab sie Micha sein Schulbrot. Er umarmte sie und lief los. Luise griff nach ihrer Jacke. »Ich muss auch los«, sagte sie in einem Tonfall, der ihre Verwirrung durchschimmern ließ. Sie ging zu Alexander und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Als sie sich schon umwenden wollte, griff er nach ihrer Hand und hielt sie zurück. »Muss ich übrigens eifersüchtig sein?« Luise erschrak. Kann er etwas wissen?, fuhr es ihr sofort durch den Kopf, aber dann beruhigte sie sich. Woher denn? Das war ja gar nicht möglich. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie mit betont ruhiger Stimme. »Du hast einen neuen Ring«, erklärte Alex und betrachtete den Kinderring an Luises Finger. Luise machte eine wegwerfende Handbewegung, aber ihr Lächeln wirkte leicht unsicher. »Den meinst du. Der ist bloß aus einer Wundertüte.« »Ach, die gibt’s wieder?«, rief er ihr noch nach, doch Luise entschied sich, so zu tun, als hätte sie die Frage schon nicht mehr gehört, und ging eilig das Treppenhaus hinunter. Unten angekommen, holte sie erst einmal tief Luft. Bei dem Gedanken daran, was ihr gleich bevorstand, bekam sie weiche Knie, und sie fühlte sich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Schritt zu gehen. Aber sie hatte sich entschieden. Sie musste reinen Tisch machen. Noch heute. Das schuldete sie Turner, Alexander und nicht zuletzt sich selbst.
Während Luise im Bus saß und Richtung Tempelhof fuhr, hatte sich Alexander angezogen und auf den Weg zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz gemacht: dem Neuköllner Krankenhaus. Nachdem er dort angekommen war, begab er sich gleich zu seiner alten Station. Auf den ersten Blick hatte sich gar nicht so viel verändert. Das Krankenhaus war weitestgehend unbeschädigt geblieben – nur die Kapazitäten schienen für die Masse an Kranken und Bedürftigen nicht mehr ausreichend zu sein. Da das Ärztezimmer geschlossen war, beschloss er, erst einmal in einem der Krankensäle auf eine Schwester oder einen Kollegen zu warten. Als er den Gang hinuntersah, sah er Frau Wohlers auf sich zukommen. Die fünfzigjährige resolute Frau konnte mit Recht als die gute Seele der Station bezeichnet werden. Sie hatte zwar eine bisweilen deftige Berliner Schnauze, aber auch ein Herz aus Gold. Forschen Schrittes ging sie mit einem Medikamententablett auf den Armen in Schlangenlinien durch das Spalier von links und rechts an den Wänden stehenden Patientenbetten. Alexander wandte sich rasch von ihr ab und verstellte ihr scheinbar unbeabsichtigt den Weg. »Das Wartezimmer ist da vorne. Oder warten Sie hier auf den Bus?«, hörte er Frau Wohlers’ vertraute Stimme an sein Ohr dringen. Er drehte sich um. »Es ist tröstlich, dass sich ein paar Dinge nicht geändert haben, Frau Wohlers.« Die Schwester starrte ihn an, als wäre er von den Toten auferstanden. Beinahe ließ sie ihr Tablett fallen, erst im letzten Moment konnte sie sich wieder fangen. »Nee!«, schrie sie auf. »Nee, das gibt’s jetzt nicht!« Dann gab sie Alexander ein Zeichen, sich einen Moment lang zu gedulden, und rief mit lauter Stimme in den Saal: »Kommt mal alle ganz schnell her!«
Sie stellte ihr Tablett ab und nahm Alexander in den Arm. »Das muss jetzt leider sein, Herr Dr. Kielberg«, meinte sie warmherzig und drückte ihn an sich. Immer mehr Schwestern und Ärzte kamen von allen Seiten heran, bis sich ein kleiner Pulk um Alexander gebildet hatte. Einige klopften ihm auf die Schulter, andere taten es Frau Wohlers gleich und nahmen den zurückgekehrten Arzt in den Arm. Ein wenig scheu lächelte Alexander in die Runde. Aber tief in seinem Inneren war er für den freundlichen und liebevollen Empfang dankbar. Was er jetzt am dringendsten brauchte, war eine Aufgabe, und er hoffte, mit der Aufnahme seiner Tätigkeit auch die schrecklichen Bilder, die ihn quälten, endlich verblassen lassen zu können.
Als Luise in Tempelhof ankam, befand sich Turner nicht in seinem Büro. Er war gerade in einem der Hangars und redete mit zwei Mechanikern, die Jacks Maschine durchcheckten, deren Leitwerk bei dem Ausweichmanöver stark beschädigt worden war. »Wie sieht’s aus?«, fragte Turner, nachdem er den Schaden begutachtet hatte. »Das Höhenruder ist praktisch durch«, antwortete der eine der beiden und demonstrierte die Instabilität, indem der das Ruder hin- und herbewegte. »Kriegt ihr das hin?« Turner war zwar ein sehr guter Pilot gewesen – aber von diesen Dingen hatte er nun wirklich keine Ahnung. Der Mechaniker sah ihn skeptisch an. »Die werden in Kansas gebaut. Das kann Wochen dauern, bis wir ein neues kriegen.« Turner nickte. Da sah er plötzlich aus den Augenwinkeln, dass Luise draußen vor dem Tor stand. Sofort erkannte er an ihrer
Körperhaltung und ihre Miene, dass etwas nicht in Ordnung war. Er grüßte die Mechaniker und ging schnell zu ihr. »Micha ist zurück. Es geht ihm gut«, sagte Luise mit belegter Stimme und schaute ihn an. »Gott sei Dank«, sagte Turner erleichtert und wollte sie schon kurz in den Arm nehmen, als ihn irgendetwas in ihrem Blick davon abhielt. Völlig verzweifelt sah Luise ihn an, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Jetzt erst merkte er, dass sie am ganzen Leib zitterte. Plötzlich stieg eine Ahnung in ihm auf. Er griff nach Luises Hand und führte sie ins Büro, wo sie allein sein konnten. Dort angekommen, bestätigte Luise seine Vermutung und erzählte ihm von Alexanders unerwarteter Heimkehr. »Ich verstehe«, sagte Turner. Doch das stimmte nicht. Er wollte nicht verstehen. Langsam ging er zum Fenster und schaute auf das Flugfeld hinaus. Luise folgte ihm, auch wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte. »Und, bist du glücklich?«, fragte Turner, ohne sie anzublicken. »Er ist mein Mann. Und Michas Vater.« Eine Antwort war dies nicht. Luises Stimme klang vielmehr so, als müsste sie sich selbst von ihrer Entscheidung überzeugen. Unvermittelt drehte sich Turner zu ihr um. Sein Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging, nur seine Augen hatten einen unendlich traurigen Glanz angenommen. »Sag mir, dass du mich nicht liebst. Dann werde ich aus deinem Leben verschwinden.« Luise sah ihn mit stummer Verzweiflung an. »Ich liebe dich nicht«, sagte sie leise. Und dann wiederholte sie es noch einmal und noch einmal. Als könnte lautes Aussprechen bewirken, dass diese grausamen Worte wahr wurden.
»Ich liebe dich nicht. Ich liebe dich nicht.« Sie stürzte auf ihn zu und presste ihre Lippen auf die seinen. Wenigstens noch dieses eine Mal… Dann löste sie sich von ihm und zwang sich, einen Schritt zurückzumachen. »Und wir dürfen uns nie mehr küssen«, sagte sie. Ein letztes Mal streichelte sie ihm mit der Außenseite der Finger über die Wange. Turner schluckte. Er versuchte seine Tränen zu unterdrücken. »Also gut«, meinte er und straffte den Körper. Plötzlich war er, zumindest nach außen, wieder ganz General. Dies hier war eine Situation, die eine klare und eindeutige Entscheidung erforderte. »Wir werden weiterarbeiten«, sagte er und kämpfte jedes Gefühl in sich mit aller Macht nieder. »Wir werden tun, was getan werden muss.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu seinem Schreibtisch. Er reichte Luise einen handgeschriebenen Brief. »Das hier müsste ins Reine getippt werden… Frau Kielberg.« Es tat Luise unendlich weh, dass er das sagte. Doch dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte. »Gut, General.« Sie ging mit dem Brief an ihren Tisch, spannte einen Bogen in die Schreibmaschine und begann zu tippen. Turner trat wieder ans Fenster und starrte mit blinden Augen hinaus. Er konnte es noch nicht fassen, dass alles vorbei sein sollte, wirklich vorbei. Er liebte diese Frau. Das fühlte er, das war eine unumstößliche Gewissheit. Der Brief, den Luise abtippte, war das Beileidsschreiben an Harrys Eltern, dessen Überführung in die Vereinigten Staaten für diesen Tag angesetzt war. Später würde Leni kommen und Luise hatte Angst, dass sie all dem nicht gewachsen war. Aber in den letzten Jahren hatte sie sich angewöhnt, nicht mehr allzu weit in die Zukunft zu schauen, sondern aus dem Hier und
Jetzt das Beste zu machen. Deshalb biss sie auch nun tapfer die Zähne zusammen und verbot sich alle Gedanken an das, was ihr bevorstand. »Sehr geehrte Mrs. Keynes, sehr geehrter Mr. Keynes«, las Luise. »Ich habe die schmerzliche Pflicht, Ihnen die sterblichen Überreste Ihres Sohnes zu übersenden. Es gibt keine Worte, die Ihrem Verlust gerecht werden können. Dass er für eine gute Sache starb, wird Ihnen kein Trost sein. So wenig wie den vielen hier bei uns, die Ihren Sohn gekannt, und auch nicht denen, die ihn geliebt haben.« Luise konnte den Gedanken an ihre Freundin nicht länger verdrängen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen – aber es war auch ihre eigene verlorene Liebe, um die sie weinte. Nach einer Weile tippte sie weiter. »Harry Keynes war ein großartiger Pilot, ein guter Kamerad, und wann immer es hier hart auf hart ging, dann half uns sein Lachen, sein Mut und seine Zuversicht, an ein Morgen zu glauben, in dem es sich zu leben lohnt. Er starb, wie man sagt, im Dienst für sein Vaterland. Und er starb im Kampf für die Freiheit von vielen, vielen Menschen. Und ich und seine Freunde werden alles tun, dass sein Tod nicht umsonst war. Gott schütze Sie beide. Hochachtungsvoll, General Philip Turner.«
Am späten Nachmittag stand der Flugbetrieb der Luftbrücke still. Harrys Sarg, über dem die US-amerikanische Flagge ausgebreitet war, war vor seiner Dakota aufgebahrt worden. Rund vierzig Piloten hatten in Reih und Glied Position bezogen und eine Trompete spielte die Nationalhymne.
Luise stützte Leni, als sie zu Harrys Sarg ging und eine rote Rose auf ihn legte. Danach folgte Jack, der seine Hand auf den Sarg legte und stumm die Lippen bewegte. Schließlich kam Turner, der salutierte. Nach ihm nahmen viele Piloten nacheinander an dem Sarg Abschied von ihrem Kumpel. Dann war es so weit: Sechs Männer trugen den Sarg in die Maschine, Jack und sein neuer Kopilot Handerson gingen auf die Pilotenkanzel zu. Für Jack war es eine heilige Pflicht, die sterblichen Überreste des Freundes über den Atlantik in seine Heimat zu bringen. Als das Flugzeug zur Startbahn fuhr, war es, als würde der Lauf der Dinge einen Augenblick innehalten. Außer dem Geräusch der Maschine war kein Laut zu hören. Alle, Piloten, Offiziere, Mechaniker, Transportfahrer und sogar die deutschen Hilfsarbeiter, unterbrachen ihre Arbeit, während die Dakota mit Harrys Sarg darin an ihnen vorbeirollte. Und dann hob Jack ab. Leni hatte den Kopf in Luises Schulter vergraben, die sie einfach nur im Arm hielt. Beide standen da und sahen der Maschine nach – einem immer kleiner werdenden Punkt, mit Kurs auf die untergehende Sonne.
In der entgegengesetzten Richtung, in der sowjetischen Hauptstadt, wurde währenddessen heftig über Clays Warnung debattiert. Ein General hatte soeben Stalin und weitere Militärs von Kotikows Bericht in Kenntnis gesetzt. »Wenn es nur Clays Gepolter wäre, dann müssten wir das nicht weiter ernst nehmen«, meinte der General. »Er wollte damals sogar einen bewaffneten Konvoi in die Zone schicken, um unseren Blockadering zu sprengen. Aber Kotikow betonte, dass Clay ausdrücklich das Nuklearpotenzial der USA erwähnt hat.«
Stalin hatte ruhig zugehört und wandte sich nun an den Militär. »Und dem messen Sie Bedeutung zu?« »Vier B-29-Bomber sind nach England verlegt worden«, berichtete der General. »Der letzte aktive Einsatz dieser Maschinen war in Hiroshima. Und einer unserer Agenten hat zuverlässige Informationen, dass Truman vor drei Tagen für den Fall eines Kriegsausbruchs den Einsatz der Atombombe bewilligt hat.« Stalin fuhr sich mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Unterlippe. »An welcher Stelle sitzt dieser Agent?« »In Washington«, antwortete der General. »Mitten in der britischen Botschaft.« Stalin betrachtete leicht schmunzelnd seine Generäle, in deren Gesichter sich Beunruhigung spiegelte. Trotz der Nachrichten gab er sich weiterhin unbeeindruckt. »Vielleicht ist es wirklich zu früh…«, warf er kryptisch in den Raum und trat, als würden dies in entscheidenden Momenten alle Staatsmänner der Welt machen, ans Fenster. Er öffnete es und ließ kalte Luft in den Raum wehen. Einen Augenblick lang stand er stumm da und sog die Luft ein, während sich sein Brustkorb hob und senkte. Dann drehte er sich zu den Männern um und fragte: »Riechen Sie das?« Er machte eine kurze Pause, als warte er darauf, dass die Männer von selbst auf den Gedanken kämen, der ihn gerade beschäftigte. »Es erinnert mich an meine Kindheit«, fuhr er fort. »Bei uns konnte man es immer sehr früh riechen…« Die Generäle wechselten Blicke, die ihr Befremden ausdrückten. Was sollten die dunklen Andeutungen bedeuten? Aber Stalin wusste genau, wovon er sprach. »Die Amerikaner haben ihre Atombombe. Aber Russland hat eine mächtigere Waffe. Einen Verbündeten, der uns nie im Stich gelassen hat«, fuhr er fort und sah die Anwesenden an. Eindringlich und
siegesgewiss zugleich. »Nicht gegen Napoleon und nicht gegen Hitler. Und er wird uns auch diesmal nicht enttäuschen. Der Winter wird kommen…« Mittlerweile waren zwei Monate vergangen und wie so oft im November gab es auch dieses Jahr bereits um diese Zeit die ersten Schneefälle. Der Wintereinbruch war plötzlich und unvermittelt gekommen. Binnen kurzem hatte sich ein weißes Tuch über Berlin ausgebreitet, und nicht wenige hatten die Sorge, dass daraus auch rasch ein Leichentuch werden könnte. Viele Menschen waren krank – ihre Abwehrkräfte funktionierten nicht mehr und Infektionen, die unter normalen Umständen mit ein wenig Bettruhe auskuriert werden konnten, zehrten an den ohnehin schon geschwächten Körpern. Die Einzigen, die sich über den Schnee freuten, waren die Kinder, die unverdrossen Schneemänner bauten und sich Schneeballschlachten lieferten. Auch in der Fechnerstraße wurde getobt und Prenzkes Laden mit weißen Kugeln beworfen – immer in der Hoffnung, dass der alte Prenzke herauskäme und eine seiner Schimpftiraden zum Besten geben würde. Aber Herrn Prenzke war nicht danach. Er machte sich große Sorgen um seine Frau, deren Husten in den vergangenen Wochen immer schlimmer geworden war. Jetzt war sie sogar in Krankenhaus gekommen – und was das hieß, das hatte er sich denken können. Die Tuberkulose wütete schließlich heftiger denn je. Jeder kannte mittlerweile jemanden, der selbst erkrankt war oder aber einen Familienangehörigen hatte, der betroffen war. Sein Laden war alles, was Prenzke nun Halt gab und auch ein wenig Ablenkung verschaffte. So war er froh um jedes Gespräch, jeden nachbarschaftlichen Austausch. Aber viel Kundschaft kam nicht mehr, denn außer Möhren und ein paar verschrumpelten Kohlrabis waren die Regale gähnend leer.
Da klingelte die Ladenglocke. Es war Frau Conrad, die ein wenig Gemüse kaufen wollte. »Jetzt schreiben die schon, dass über einen ›Kompromiss‹ verhandelt würde«, meinte Prenzke, während er ein paar Möhren abwog. »Den Abbruch der Blockade gegen den Verzicht auf eine eigene Westberliner Währung. Und dann zahlen wir hier mit Ostmark. Wo doch jeder weiß, dass der Osten kaputt ist. Und deren Geld weniger wert ist als das Papier, auf dem es gedruckt ist. Es ist ein Irrsinn, wenn Sie mich fragen. Aber wer fragt uns schon?« Frau Conrad nickte. »Irrsinn, genauso is et. Irrsinn.« Sie steckte die Möhren ein. »Geht’s Ihrer Frau denn besser?« »Fragen Se nicht…«, antwortete Prenzke. Er hatte den Blick gesenkt. Als er aufschaute, hatte er Tränen in den Augen. »Fragen Se bitte nicht«, wiederholte er nur und nahm dankbar die tröstliche Umarmung an, die ihm Frau Conrad schenkte.
Der Wintereinbruch hatte in Tempelhof für große Probleme und Verzögerungen gesorgt. Aber nicht nur dort. »In Wiesbaden sind sechs Maschinen ausgefallen, in Celle gleich acht«, berichtete Jenkins seinem Chef, während sie in einem Hangar standen und zusahen, wie ein Flugzeug hineingerollt wurde. »Und in Lübeck ist so dichtes Schneetreiben, dass sie den Flugverkehr völlig sperren mussten.« Turner beobachtete zwei Mechaniker, die sich unverzüglich daran machten, Eis und Schnee von den Propellern und den Reifen der Maschine zu hacken. »Richten Sie Wachowski aus, dass in einer Stunde wieder geflogen wird. Und wenn ich ihn persönlich in eine Maschine setzen muss.« Er hatte den Reißverschluss seiner Jacke zugezogen und begann damit, sich
mit weit ausholenden Schritten ein Bild von der Lage im Wartungsbereich zu verschaffen. Jenkins folgte ihm. »Und wir hatten einen Absturz«, fuhr er fort. »An der bayrischen Grenze. Die beiden Piloten haben überlebt, aber die Skymaster ist hin.« »Wie konnte das passieren?« »Die Jungs fliegen bis zu vierundzwanzig Stunden. Niemand sagt es offen, aber sie schlafen da oben. Abwechselnd.« Jenkins machte eine kurze Pause. »Und dann ist da noch was.« »Da ist immer noch was«, antwortete Turner schroff. »Wir brauchen Decken. Den Jungs frieren die Zehen ab da oben.« Wenn Jack und sein Kopilot Handerson dies hätten hören können, hätten sie nur zustimmend genickt, denn während Jenkins und Turner zumindest das Dach des Hangars über dem Kopf hatten, saßen die beiden frierend im Cockpit und suchten Decken, die nicht da waren.
Luise war heute etwas verspätet an ihrem Arbeitsplatz angekommen, weil der Bus wegen des Schneetreibens nicht pünktlich gewesen war. Als Turner eintrat, saß sie an ihrem Schreibtisch und rechnete Tonnagelisten zusammen. »Wir geben eine neue Order aus: Beide Piloten haben sich alle dreißig Minuten zu melden«, wandte er sich an Luise und während diese schon einen neuen Bogen in die Maschine spannte, fuhr er fort: »Das geht an Celle, Fassberg, Wiesbaden. Und die Briten bekommen auch einen Durchschlag – wir sollten das als ›Information‹ bezeichnen, die sind empfindlich.« Statt einer Antwort nickte Luise nur und begann zu tippen. Erst jetzt bemerkte Turner, dass sie geweint hatte.
»Ist etwas passiert?«, fragte er und seine Stimme hatte wieder diesen sanften Tonfall angenommen, den sie immer annahm, wenn er Luise etwas Persönliches fragte. Aber das kam selten vor. Sie sahen sich an. Es war nur ein kurzer Blick. Aber für einen kurzen Blick war er eigentlich viel zu lang. »Nein. Nichts«, antwortete Luise und senkte den Blick wieder auf die Tastatur.
Als sie an diesem Abend nach Hause kam und die Treppe hinaufstieg, waren ihre Beine unendlich schwer. Sie war müde und traurig. Wie sehr hatte sie sich all die Jahre gewünscht, dass die Nachricht von Alexanders Tod ein Irrtum gewesen wäre. Wie sehr hatte sie gehofft, dass er irgendwann einfach vor ihrer Tür stehen und sein letzter Satz wahr werden würde: Dass die besten Jahre ihres Lebens noch vor ihnen lagen. Und jetzt? Alexander war tatsächlich zurückgekommen – aber nichts von all dem ersehnten Glück war eingetreten. Es war so, als wäre mit den Jahren eine unsichtbare Wand zwischen ihnen entstanden. Sie korrigierte sich: Nicht zwischen ihnen, sondern um Alexander herum. Er hatte sich verändert – und oft fragte sie sich mutlos, ob sie den alten Alexander, den, den sie einmal geliebt und den sie so sehr herbeigesehnt hatte – ob sie diesen Alexander jemals wieder erleben würde und ob es ihn überhaupt noch gab. Nach dem Essen spülte Luise das Geschirr, Alexander steckte einen Holzscheit in den spärlich brennenden Ofen, Micha saß noch bei Kerzenlicht am Küchentisch über seinen Hausaufgaben. Auf den ersten Blick könnte man uns glatt für eine glückliche Familie halten, dachte Luise, während sie gedankenverloren
ein Glas abwusch. Aber wir sind es nicht. Wie kann man es auch sein, wenn man dem anderen nichts von seinem Leben preisgibt? »Spielen wir gleich noch was, Papa?« Micha sah von seinem verhassten Mathematikheft auf und blickte erwartungsvoll seinen Vater an. »Würde ich gerne, Micha. Aber ich habe Nachtdienst.« Michael verzog den Mund zu einer Schnute. »Schon wieder?«, maulte er. »Meine Arbeit ist wichtig, Micha.« Damit stand Alexander auf und zog sich seinen Mantel über. Er gab Luise einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann war er draußen. Michael begann mit trauriger Miene seine Hefte und Schulbücher zusammenzupacken. Luise konnte sein Leiden nur schwer ertragen. Sie holte das Kartenspiel aus der Küchenschublade, setzte sich zu ihrem Sohn und begann zu mischen. »Wir können was spielen«, sagte sie und teilte die Karten aus. Michael nahm sein Blatt in die Hand. »Wieso ist er denn so?« »Weil er im Krieg war«, antwortete Luise. »Und das ist ein Ort, den es eigentlich gar nicht geben sollte.« Michael sah seine Mutter verständnislos an. »Er braucht einfach noch Zeit«, fuhr Luise fort. »Und die Arbeit tut ihm gut. Er muss spüren, dass er gebraucht wird.«
Im Krankenhaus war die Tuberkulosestation mittlerweile hoffnungslos überfüllt. Unzählige Patientenbetten standen bereits auf dem Gang. Alexander hatte in Begleitung von Frau Wohlers mit der nächtlichen Visite begonnen. »Tief einatmen.« Alexander horchte eine Frau ab, deren Husten entsetzlich klang. Im Bett daneben lag eine Frau Mitte
vierzig, an deren Seite ein kleines Mädchen saß, das ihre Hand streichelte. Alexander nahm das Krankenblatt und notierte seinen Befund. Er wollte schon wieder weiter, als er eine Stimme vernahm. »Herr Doktor.« Die Frau sprach sehr leise, aber Alexander hatte die Stimme trotzdem erkannt. Es war Frau Prenzke. Er nahm ihre Hand und beugte sich zu ihr, damit sie sich nicht so anstrengen musste. »Kann ich denn zu Weihnachten wieder nach Hause?«, flüsterte sie und sah ihn erschöpft an. »Ich – ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, antwortete er und merkte, dass Frau Prenzke ihre Lage anscheinend weniger aussichtslos einschätzte, als er es tat. »Ich muss mich doch um meinen Mann kümmern. Der kann sich ja nicht mal selber Spiegeleier machen«, meinte sie nun, nach Argumenten suchend. Alexander versuchte sie zu beschwichtigen. »Wir schauen mal, was wir machen können, Frau Prenzke.« Er richtete sich wieder auf und ging weiter. Als er außer Hörweite der Patienten war, blieb er stehen und bedeutete Frau Wohlers, zu ihm zu kommen. »Wieso hat diese Frau ihr Mycinol nicht bekommen?« Er sagte das fast schon aggressiv, aber die Krankenschwester ließ sich so schnell nicht einschüchtern. »Ja, wieso eigentlich?«, fragte sie und reckte das Kinn. »Weil ich so ‘n schlechter Mensch bin wahrscheinlich.« Dann wurde sie jedoch ernst. »Es gibt keine Ampullen«, erklärte sie. »Ampullen kommen dienstags. Spätestens Samstag mittags sind sie verbraucht. Und heute ist Sonntag.« »Heißt das, dass an drei von sieben Tagen keine Injektionen möglich sind?« Alexander war fassungslos. Das hatte er nicht gewusst. Kein Wunder, dass sich der Zustand der meisten Kranken nicht verbesserte, sondern verschlechterte.
Frau Wohlers nickte. »Manchmal auch an vieren – Penizillin zum Beispiel ist meist schon Freitag alle.«
In den folgenden Wochen spitzte sich die Lage zu. Sowohl auf der Tuberkulosestation als auch bei den Kielbergs. Alexander verbrachte immer mehr Zeit im Krankenhaus und immer weniger zu Hause. Zwar versuchte Luise Verständnis dafür aufzubringen – doch an der Einsamkeit, die sie quälte und die immer öfter in Verzweiflung umzuschlagen drohte, änderte dies nichts. In Tempelhof wiederum versuchte man alles Menschenmögliche, die Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Luise blieb wieder fast jeden Tag bis in den späten Abend im Büro – und das bedeutete: bei Turner. An ihren Gefühlen zu ihm hatte sich nichts geändert. Obwohl sie ständig dagegen angekämpft hatte, liebte sie diesen Mann. Aber sie liebte auch Alexander. Die Gefühle für ihren Mann waren aufrichtig und echt – nur spürte sie nichts davon, dass dieser sie auch erwiderte. Blicke zwischen ihr und Turner waren das Einzige, was darauf hindeutete, dass zwischen den beiden etwas war, das über ein Arbeitsverhältnis hinausging. Die Blicke trafen sich, wenn auch nicht oft, so doch immer wieder. Und wenn sie sich, ansahen, dann schien die Zeit stehen zu bleiben. Manchmal, wenn Turner in seinem Büro zurückblieb und durch das Fenster Luise aus dem Gebäude gehen sah, musste er sich mit aller Kraft davon abhalten, ihr nachzueilen und sie in seine Arme zu nehmen. Er tat es nicht, es wäre nicht richtig gewesen. Doch bisweilen konnte man ihn dabei beobachten, wie er das Luftbrücken-Modell mit einem Blick betrachtete, der verriet, dass sie ihn in seinem tiefsten Inneren etwas noch mehr beschäftigte als seine Arbeit.
Oft schauten beide, Luise und Turner, gleichzeitig aus dem Fenster. Wenn jeder für sich war, nachts, und keine Ruhe fand. Er stand in seinem leeren Haus, sie in ihrer kleinen Wohnung, und beider Blicke gingen hinaus in die Nacht, die ihnen doch niemals eine Antwort auf ihre Frage geben und ihre Sehnsucht stillen konnte. Wenn Luise einmal früher Schluss machte, dann um sich um ihre Freundin zu kümmern. Leni ging es noch immer sehr schlecht. An ihrem kleinen Frisiersalon hing weiterhin das Schild »VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN«. Bislang hatte sie es nicht geschafft, in ein wenigstens nach außen so wirkendes Alltagsleben zurückzukehren. Wie auch, nachdem ihre ganze Zukunft mit einem einzigen Radarausfall zunichte gemacht worden war?
Die Tage vergingen. Wieder einmal war Luise am späten Abend nicht zu Hause, sondern in Tempelhof. Jenkins hatte Turner aufgesucht, da neue Probleme aufgetreten waren. »In der Nordsee ist ein Tanker havariert. Das heißt, Celle hat ein Treibstoffproblem«, berichtete Jenkins. »Wie viel Reserve hat Wiesbaden?«, fragte Turner an Luise gewandt. Sie hatte mehrere Aktenordner vor sich ausgebreitet und schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben. Abwesend starrte sie auf die Blätter vor ihr, ohne eine Antwort zu geben. »Frau Kielberg?«, fragte Turner erneut. Erst jetzt sah sie auf. Sie blickte ihn lange an und schien erst dann allmählich wieder in der Gegenwart anzukommen. »Etwa dreißigtausend Barrel.« Ihre Stimme klang belegt. »Rufen Sie Gardener an«, wies sie Turner nun an. »Zehntausend Barrel gehen nach Celle.« Jenkins stand auf und ging hinüber in den Nebenraum. Turner trat an Luises Schreibtisch. »Zehntausend Barrel…« Er
schien zu rechnen. »Das sind acht Güterzüge.« Dann sah er sie an, bemerkte ihre Müdigkeit. »Geht es noch?« Seine Stimme hatte wieder einmal diesen Klang angenommen, wie sie es immer tat, wenn er sich um sie sorgte. Luise nickte. »Ja. Ja, natürlich geht es noch.« »Sie können…« Er verstummte und setzte noch einmal an. »Du kannst jederzeit Schluss machen.« »Nein, ich… ich kann noch.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und griff sich den nächsten Ordner. In ihrem Inneren hatte das »du« einen Nachhall gefunden, der sie fast um die Fassung brachte. Aber sie riss sich zusammen. Sie musste stark bleiben. Es ging hier nicht nur um sie.
Etwa zur gleichen Zeit stand Alexander mit Frau Wohlers am Bett einer Patientin, die gerade verstorben war. Alexander legte seine flache Hand über ihr Gesicht und schloss ihr die Augen, dann wandte er sich mit der Krankenschwester zum Gehen. Sie waren gerade aus der Tür des Krankenzimmers getreten, als ein kleines Mädchen, die Tochter der eben Verstorbenen, mit einem selbst gemalten Bild in der Hand auf sie zukam. Frau Wohlers sah Alexander nur kopfschüttelnd an. »Tut mir Leid«, sagte sie, »aber das kann ich nicht.« Alexander atmete tief durch, dann ging er auf das Mädchen zu und ging vor ihr in die Hocke. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte er die Kleine. »Klar.« Das Mädchen lächelte ihn arglos an. »Sie sind der Arzt von meiner Mama.« »Es ist ja schon ganz spät. Jetzt kannst du nicht mehr zu ihr.« Das Mädchen sah ihn an. »Haben Sie Blumen gern?« Sie reichte ihm ihr Bild. Es war eine bunte Blumenwiese mit einer strahlenden Sonne darüber. Alexander nickte. »Jeder hat Blumen gern.«
»Dann schenk ich die Ihnen. Weil Sie meiner Mama helfen.« Sie reichte ihm das Bild und blickte ihn an, dass es ihm fast das Herz brach. Alexander fand keine Worte. Er schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ist denn dein Papa jetzt zu Hause?«, fragte er. Verwundert sah ihn das Mädchen an, dann nickte es langsam, als würde es ahnen, dass irgendetwas passiert war… Stunden später verließ Alexander das Krankenhaus. Es dämmerte bereits. Die ersten Vogelstimmen begleiteten ihn durch das morgendliche Berlin auf dem Weg in die Fechnerstraße.
9
Als Alex die Wohnungstür aufschloss, war Luise bereits wach. Sie hatte die halbe Nacht auf ihn gewartet, immerzu darüber nachgrübelnd, wie es mit ihnen beiden wohl weitergehen könnte. Wie lange sie die Entfremdung zwischen ihnen noch aushalten würde. Sie war sehr früh aufgestanden, da an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken war. Jetzt stand sie in der Küche und machte den Abwasch, der vom letzten Abendbrot stehen geblieben war. Alexander kam herein und sank auf einen Stuhl am Tisch. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Wie so oft sprach er kein Wort, sondern starrte nur vor sich hin. Luise konnte fast die Spatenstiche hören, die den Graben zwischen ihr und Alexander ein weiteres Mal tiefer aushoben. Als sie es nicht mehr aushielt, setzte sie sich zu ihm. »Alex… ich kann das bald nicht mehr. Diese Stille. Ich halte das nicht mehr aus.« Ihre Stimme klang trotz der Erschöpfung angespannt und drängend, aber Alexander sah sie nur an. »Sprich doch mit mir. Was ist denn nur los?« Alexanders Oberkörper wippte nach vorne, so als hätte er sich gerade selbst einen Ruck gegeben. Seine Hände, die zu Fäusten geballt auf der Tischplatte vor ihm lagen, krampften sich noch mehr zusammen und die Fingerknöchel traten weiß hervor. »Ich musste heute ein kleines Mädchen nach Hause bringen. Sie war höchstens acht«, sagte er wie unter Schmerzen. Dann holte er das Blumenbild hervor und reichte es Luise. »Diese Blumen wollte sie ihrer Mutter bringen. Und ich konnte ihr nicht sagen, dass ihre Mutter gerade gestorben war.«
Luise sah ihn aufmerksam an, hört ihm zu und versuchte ihm zu zeigen, dass sie für ihn da war. Alexander wandte sich ab und Luise befürchtete bereits, dass er wieder verstummen würde, als sich die Muskeln seines Oberkörpers erneut anspannten. »Ich will helfen, aber ich kann es nicht«, sagte er. »Es fehlt an Medikamenten, an Spritzen, an allem. In den Krankenzimmern ist es bitter kalt. Die Flure kriegen wir überhaupt nicht geheizt. Ich rede mit den Kranken, ich versuche ihnen Kraft zu geben. Aber sie sterben mir unter der Hand weg.« Es war das erste Mal, dass er Luise mit den Zuständen im Krankenhaus konfrontierte. Er hatte im Krieg gelernt, über Ohnmacht und Schrecken nicht zu sprechen, sondern wie auch immer allein damit fertig zu werden. Und auch jetzt spürte er nur eine Ahnung dessen, was andere Menschen als Befreiung beschreiben, wenn sie ihr Herz einem anderen ausschütten. Luise dagegen fühlte wieder ein bisschen Hoffnung in sich aufkommen. Es war das erste Mal seit seiner Rückkehr, dass Alexander sich ihr anvertraute. Zwar hatte er ihr nichts von den vergangenen vier Jahren erzählt, aber immerhin: Er erlaubte ihr einen Blick in sein gegenwärtiges Leben. Das, was er erzählt hatte, schockierte Luise allerdings zutiefst. Sie hatte das nicht gewusst, nichts von alledem, und sie beschloss, sofort alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um an diesen Bedingungen etwas zu verändern. Entschlossen ging sie nur wenig später durch das Vorzimmer von Clays Büro, vorbei am Schreibtisch des wie immer mürrisch wirkenden Sekretärs. Vergeblich versuchte er sie aufzuhalten. Fast zeitgleich, als Luise Clays Tür öffnen wollte, steckte dieser den Kopf heraus. »Hendricks, ich brauche…« Clay hatte einen Schritt in das Vorzimmer gemacht, blieb aber sofort stehen, als er Luise
erblickte. Sein Gesicht hellte sich auf. Er hielt große Stücke auf diese Frau, die sich so unermüdlich für die Luftbrücke einsetzte. Natürlich war ihm auch nicht entgangen, was sich zwischen General Turner und ihr entwickelt hatte – und er konnte Turner gut verstehen. »Frau Kielberg«, grüßte er sie verwundert. Seine Stimme hatte gar nichts mehr von dem militärischen Ton, mit dem er soeben seinen Sekretär angesprochen hatte. »Guten Tag, General Clay«, begrüßte Luise ihn. »Es tut mir Leid, dass ich hier einfach so aufkreuze, aber hätten Sie fünf Minuten Zeit für mich?« Clay verzog den Mund zu einem spitzbübischen Grinsen. »Mal sehen, ob ich Sie irgendwann nächste Woche dazwischenquetschen kann«, antwortete er, hielt ihr aber im gleichen Moment die Tür zu seinem Büro auf. Luise lächelte ihn an und trat unter den verärgerten Blicken des Sekretärs ein. Clay, der Hendricks beobachtet hatte, musste schmunzeln, ging dann Luise nach und schloss die Tür. Ohne Umschweife begann Luise zu erzählen. Von den fehlenden Spritzen, nicht gelieferten Medikamenten, den vielen, vielen Toten. Clay hörte ihr während der ganzen Zeit aufmerksam und mit zunehmendem Entsetzen zu. Nachdem sie geendet hatte, nickte er, stand auf und wies Hendricks an, noch für denselben Tag einen Termin im Krankenhaus zu vereinbaren.
Als Clay am späten Abend dort eintraf, wurde er von Alexander begrüßt, der keine Zeit verlor und seinen Besucher sogleich durch die nächtliche Tuberkulosestation führte. Clay sah Bilder des Schreckens. Manche Kranke litten bereits an offener Tuberkulose. Bestürzt sah er freiliegendes, eitriges Gewebe. Die Führung wurde ununterbrochen begleitet vom qualvollen Husten der Patienten. Viele alte Menschen waren
darunter, aber auch Kinder. An einem der Betten saß ein Priester und murmelte ein Gebet, ein paar Nachtschwestern versorgten die, die am schlimmsten dran waren – aber es war nicht viel, was sie tun konnten. Clay war schockiert. Stumm folgte er Alexander über die Gänge, und als sie die Tuberkulosestation verließen und hinaus ins Freie traten, griff er sogleich in seine Brusttasche und zündete sich eine Zigarette an. »Das wusste ich nicht«, gestand er dem Arzt und atmete tief aus. Weißer Rauch verflüchtigte sich in der Dunkelheit. Alexander nickte. »Das wissen viele nicht. Aber Sie sollten es wissen. Berlin hat ein massives Tuberkulose-Problem.« »Was brauchen Sie?«, fragte Clay. »Mehr«, antwortete Alex. »Mehr von allem: Kohle, Decken, Lebensmittel, Arznei.« Er stockte, dann blickte er Clay voller Überzeugung an. »Ach ja, es gibt ein neues Medikament: Streptomycin. Sehr teuer, aber auch sehr effektiv. Es wird in den Staaten hergestellt.« Clay versprach, alles zu unternehmen, was nur möglich war, um Abhilfe zu schaffen. Dann verabschiedete er sich mit einem festen Händedruck. Alexander blickte dem Militärgouverneur nach, bis er mit seinem Wagen verschwunden war – dann zog es ihn wieder auf seine Station.
Vor lauter Arbeit und Sorge um seine Patienten hatte Alexander überhaupt nicht mitbekommen, dass sich Micha wieder häufig mit seinem Freund Wolfgang herumtrieb. Gefallen hätte ihm dies sicher nicht. Ein paar Tage nachdem Clay Alexander aufgesucht hatte, saßen die beiden Jungen wie so oft bei der Ruine in der Fechnerstraße zusammen. Wolfgang hatte eine Errungenschaft
gemacht, die er natürlich seinem Freund präsentieren musste. Stolz zeigte er ihm eine russische Pistole. »War billig. Für ‘n Pfund Zucker.« Er wirbelte die Pistole um den Finger wie ein Westernheld. Dann gab er Michael einen kleinen Schubs an die Schulter. »Komm doch mal wieder mit«, meinte er. »So wie früher.« Michael schüttelte den Kopf, aber er hatte den Blick gesenkt, so, als sei er selbst nicht von dem überzeugt, was er antwortete: »Mein Vater sagt, man soll beim Schwarzmarkt nicht mitmachen.« Wolfgang grinste und verdrehte die Augen. »Amen.« »Sag das nicht noch mal!«, brauste Michael auf. Auf seinen Vater ließ er nichts kommen. »Nüscht für ungut«, antwortete Wolfgang lässig, »aber viel haste ja nun ooch nich davon, dat dein Alter wieder da ist.« Er hielt seinem Freund die Waffe hin. »Wülste auch mal?« Michael sah ihn an, zögerte, aber dann griff er zu und versuchte, die Waffe genauso lässig herumzuwirbeln wie Michael. Heute brauchte er keine Angst zu haben, von seiner Mutter erwischt zu werden, die hatte sich nämlich auf den Weg zu seiner Großmutter gemacht.
Luise konnte heute etwas später anfangen, deshalb war sie zeitig zu ihrer Mutter aufgebrochen. Nachdem Alexander wieder die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht hatte, hatte sie das Gefühl bekommen, dass der Druck in ihrem Inneren zu groß geworden war. Sie brauchte jemandem zum Reden, aber zu Leni wollte sie nicht gehen. Ihrer Freundin ging es sowieso schon schlecht genug, sie konnte sie jetzt unmöglich mit ihren Problemen noch zusätzlich belasten. Und schon gar nicht, wo es sich doch um Beziehungsprobleme handelte.
Luise freute sich, als sie ihre Mutter an der Heißmangel stehen sah. Clara hörte sofort mit ihrer Arbeit auf, als sie ihre Tochter durch den Dunst, der den gesamten Hinterhof erfüllte, erkannte. Die beiden suchten sich eine ruhige Ecke und setzten sich auf zwei kleine Hocker. Ohne große Einleitung begann Luise zu erzählen. Von ihrem Leben mit Alexander, von seinen Schwierigkeiten im Krankenhaus. »Ich bin sogar zu Clay gegangen für ihn«, sagte Luise. »Habe ihn überredet, dass er sich selbst ein Bild macht. Alex hat kurz danke gesagt am nächsten Morgen. Dann ist er wieder zur Arbeit.« Ratlos sah sie ihre Mutter an. »Er steht auf, er zieht sich an, er geht in sein Krankenhaus. Nachts, oder, wenn wir Glück haben, abends kommt er heim.« »Das ist alles nicht leicht für ihn«, versuchte Clara ihren Schwiegersohn in Schutz zu nehmen. »Ist für keinen leicht zur Zeit.« Aber sie fühlte mit ihrer Tochter und verstand nur 2u gut, wie sehr sie unter der Situation litt. »Ich… ich fühle ihn gar nicht mehr, Mama. Seit er zurück ist…« Luise stockte, denn noch nie hatte sie ihrer Mutter solch intime Details genannt, doch dann schob sie die Scham beiseite und fuhr fort. » Seit er zurück ist, haben wir uns kaum angefasst. Er sagt gute Nacht und dreht sich auf die andere Seite.« Clara spürte Luises Verzweiflung und nahm ihre Hand. »Er ist… so weit entfernt. Er sitzt bei uns am Tisch. Er ist da. Aber es ist, als sei jemand anderes zurückgekommen. Irgendein Fremder, mit seinem Gesicht.« Luises Augen waren mittlerweile feucht geworden. Clara drückte die Hand ihrer Tochter und sah sie dann eindringlich an. »Aber immerhin tut er etwas. Andere können das nicht mehr. Dein Mann war im Krieg, Kind. Das geht an keinem spurlos vorbei.« Clara schaute auf ihre Uhr und stand dann auf. »Ich sehe sie überall«, sagte sie. »Sie stehen an den
Ecken. Bei uns geht einer immer die Gleise rauf und runter. Erteilt irgendwelche Befehle, die keiner mehr hört. Und alle haben sie diesen Blick. Die haben Sachen gesehen, für die der Mensch nicht gemacht ist.« »Das verstehe ich ja«, entgegnete Luise. »Aber wieso kann er denn in seinem Krankenhaus so weitermachen wie früher – aber bei uns nicht?« »Du kannst es nicht erzwingen, meine Kleine«, sagte Clara mit der Lebenserfahrung einer Frau, die schon viel mitgemacht hatte. »Wenn er zurückkommt, gut. Aber du kannst es nicht erzwingen.« Luise nickte tapfer, doch in ihrem Inneren war die Angst um ihre Ehe zu einer schweren Last geworden, die ihr auf der Brust lag und fast die Luft zum Atmen nahm. Auf dem Heimweg entschied Luise, noch eben zu Leni zu gehen, um zu schauen, wie es ihr ging. Als sie auf ihr Klopfen keine Antwort erhielt, blieb sie einen Moment lang unschlüssig vor der Wohnungstür stehen und fragte sich, wo Leni bloß sein könnte. In letzter Zeit war sie immer zu Hause gewesen. Als sie noch einmal klopfte, öffnete sich die Tür gegenüber und eine Nachbarin streckte den Kopf in den Gang. »Ich hab’s auch schon probiert, aber sie macht nicht auf«, sagte die Frau. »Wollte ihr nämlich Brot bringen.« Mit einem Mal kam Luise ein schrecklicher Gedanke. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen Lenis Tür und rief laut ihren Namen. Nichts passierte. »Haben Sie einen Dietrich?«, fragte sie die Nachbarin atemlos. »Ja, hab ich«, sagte diese und verschwand in ihre Wohnung, um ihn zu holen. Luise nahm das Werkzeug, steckte es ins Schloss, und nur wenige Sekunden später war die Tür offen. Sie trat ein, machte schnell die Tür zu, damit die Nachbarin nicht hineinkommen
konnte, und rannte einer Eingebung folgend geradewegs in die Küche. Leni kauerte ohnmächtig zusammengesunken vor dem Herd. Ihr Kopf lag auf der heruntergeklappten Tür des Backofens, aus dem laut zischend das aufgedrehte Gas strömte. Sofort zerrte Luise ihre Freundin von dem Ofen weg, stellte alle Gashähne ab und riss das Fenster weit auf. Am Spülbecken füllte sie eine Tasse mit Wasser. Dann war sie auch schon wieder bei Leni, kniete sich hinter sie, hob ihren Kopf an und zwang sie zu trinken. »Du musst leben!«, schrie sie und ihre Hände umklammerten die Schultern ihrer Freundin. »Hörst du, ich will, dass du lebst!« Leni hustete und spuckte das Wasser aus. Langsam kam sie zu sich. »Wozu… wozu denn?«, begann sie zu stammeln. »Damit ich jeden Morgen wieder allein aufwache und weiß, ich kann nie mehr glücklich werden?« »Denkst du, das hätte er gewollt?« »Ich…« Leni stockte. Die beiden Frauen sahen sich an. Ihr schweres Atmen, fast schon ein Keuchen, war das einzige Geräusch im Raum. Schließlich begann Leni wieder zu sprechen: »Wie oft erlebt man denn die ganz große Liebe? Dass du jemanden triffst… und man muss gar nichts mehr sagen.« Luise verstand. Natürlich verstand sie. Statt einer Antwort hielt sie ihre Freundin im Arm. »Ich wollte doch bloß wieder bei ihm sein.« »Das kannst du nur, wenn du lebst«, sagte Luise. »Wir müssen leben, verstehst du?« Weinend vergrub Leni ihren Kopf an der Schulter der Freundin. Lange saßen sie da. Luise wiegte sie in den Armen, so lange, bis sich bei Leni Ermattung einstellte, bis ihr Körper schwer wurde und die Tränen weniger. Als sich Luise sicher
war, dass sie ihre Freundin kurz allein lassen konnte, rief sie Alexander herbei, der auch sofort kam und Leni eine Beruhigungsspritze verabreichte. Dann brachten sie Leni gemeinsam ins Bett. Alexander saß noch eine Weile neben ihr und beobachtete ihre Atemzüge. Endlich drehte er sich zu Luise um. »Sie wird jetzt schlafen«, meinte er. »Eine ganze Weile.« Er steckte die Spritze und die Flasche mit dem Medikament in seine Arzttasche. Luise stand in der Tür. »Ich bleibe bei ihr heute Nacht.« Alexander nickte. »Micha hat gegessen«, sagte er und stand auf. »Ich muss zurück ins Krankenhaus. Brauchst du noch was für die Nacht?« Luise schüttelte den Kopf. »Ich nehme mir was von Leni.« »Gut, dann…« Alexander zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf und ging zur Tür. »Kannst du bleiben?« Luise war ihm nachgegangen und sah ihn bittend an – aber Alexander verstand nicht. Er wollte sie nicht verstehen. »Luise, ich muss arbeiten«, erklärte er, leicht gereizt. Und wie zum Hohn meinte er anschließend in einem Tonfall, der verriet, dass er sich keiner Schuld bewusst war: »Diese Menschen brauchen mich.« Luises Blick wurde hart. Genauso wie ihre Stimme. »Ich brauche dich auch. Und Michael treibt sich schon wieder mit Wolfgang auf dem Schwarzmarkt rum. Weil du keine Zeit für ihn hast.« »Wie du das sagst«, antwortete Alex vorwurfsvoll. »Weil es so ist!« Und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Du hast mal gesagt, du willst, dass das Beste in unserem Leben noch vor uns liegt. Aber wann fängt das an, unser ›Leben‹?« Sie schluckte. »Morgen ist Sonntag, aber du wirst in deinem Krankenhaus sein.«
Für einen Moment wandte sie sich ab, Alexander sah sie verständnislos an. »Wir reden nicht darüber. Du redest nicht darüber. Du musst zu uns zurückkommen.« Tief in seinem Inneren verstand Alex, was sie meinte. Es war ihm ja selbst klar. Aber er war noch nicht so weit. Und ob er das jemals sein würde – er wusste es nicht. »Ich bin doch hier«, war das Einzige, was ihm zu sagen einfiel. »Nein, du bist nicht hier!«, widersprach Luise unter Schluchzen. »Du bist immer noch da draußen, in deinem verdammten Krieg. Aber der Krieg ist vorbei! Und wir brauchen dich. Jetzt. Aber du denkst nur noch an dein Krankenhaus und an deine Arbeit.« Alexander sah sie einen Augenblick lang an. Dann atmete er tief durch, wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung. Eine Weile stand Luise einfach nur da und sah zu der geschlossenen Wohnungstür, als müsste sie sich jeden Moment öffnen und Alexander würde zurückkommen. Dann ging sie zu ihrer Freundin, legte sich neben sie, nahm sie in den Arm und versuchte ihr die Wärme und Geborgenheit zu geben, die sie selbst so sehr vermisste. Am nächsten Morgen blieb Luise bei Leni, bis sie sicher war, dass ihre Freundin außer Gefahr war und sich wieder gefangen hatte. Dann ging sie nach Hause, in ihre leere Wohnung. Alexander war im Krankenhaus, Micha trieb sich irgendwo herum. Doch lange hielt sie es dort nicht aus. Unsichtbare Fäden zogen sie fast schon magisch zum Wannsee. Zu dem Ort, an dem sie einmal mit Turner Steine übers Wasser hatte hüpfen lassen. Zu dem Ort, an dem sich ihre Gefühle füreinander langsam zu erkennen gegeben und sich ihren Weg gebahnt hatten. Das Wasser des Sees war gefroren. Eine dicke Schneedecke hatte sich auf das Land gelegt. Luise hüllte sich fester in ihren
Mantel und steckte die Hände in den Muff, der um ihren Hals hing. Sie merkte, wie die Kälte und das Weiß, die Ruhe und die Einsamkeit ihr halfen, ihre Gedanken zu ordnen. Weit und breit war kein Mensch und Luise ging ein paar Schritte auf dem zugefrorenen See. Es tat ihr gut, hier zu sein – und auf einmal wusste sie, was zu tun war. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, war immer noch alles still. Eine Weile saß sie einfach nur da und betrachtete die Wohnung mit traurigem Blick, so als nehme sie Abschied von einem Wunsch, der ihr lange Zeit die Kraft gegeben hatte, mit alldem fertig zu werden. Dann stand sie auf und ging ins Schlafzimmer. Entschlossen öffnete sie den Schrank und griff nach dem schönsten ihrer Kleider… Wenig später ging Luise auf eine imposante Villa aus grauem Stein zu. Unter ihrem Mantel blitzte bei manchen Schritten das Kleid hervor und nur ganz kurz meldete sich in ihr ein leichtes Zögern, als sie die Haustür erreicht hatte. Aber es war viel zu leicht, als dass es sie jetzt noch hätte aufhalten können. Luise drückte auf die Klingel. Nach einem kurzen Moment hörte sie Schritte, und ihr Herz begann wie verrückt zu rasen. Dann öffnete Turner die Tür. Ohne ein Wort zu sagen, blickten sie sich eine Weile stumm an, dann zog er sie hinein. Es gab kein Halten mehr. Die mühsam unterdrückten Gefühle, die sich seit Wochen in ihnen angestaut hatten, durchbrachen mit aller Macht den Damm, den sie beide errichtet hatten. Luises Arme umschlangen seinen Hals, seine Lippen suchten ihre. Um sie herum war alles vergessen. Alexander, die Luftbrücke, Berlin, die Welt. Es gab nur sie beide, ihre Liebe, ihre Sehnsucht und die Gewissheit, dass es das Richtige war, was sie taten. Der Winter schlug unbarmherzig zu. Oft fegte Schneetreiben über Berlin und das leuchtende Weiß, das auf den Dächern, Straßen und Mauern lag, stand in krassem Gegensatz zu dem Leid, dem Hunger und dem Tod, der in der ganzen Stadt
lauerte. Da sich die Lage weiter zugespitzt hatte und die Berichte über die drohende Tuberkulose-Epidemie schon längst Washington erreicht hatten, wurde auch vor den Vereinten Nationen in New York auf diplomatischem Parkett der Kampf gegen die sowjetische Blockade weiter ausgefochten. Die US-Delegierten wussten, dass jeder Tag zählte, und hatten sich entschlossen, den Vereinten Nationen einen Film vorzuführen, der die Bemühungen von Engländern und Amerikanern demonstrierte, Deutsche zeigte und Piloten, die Hand in Hand versuchten, das Schlimmste abzuwenden. Aber nicht nur in den Staaten wurde gerungen und appelliert, natürlich stand man auch und gerade in Berlin nicht still. Immer neue Probleme verlangten neue Strategien, immer neue Bedürfnisse verlangten besondere Aufmerksamkeit. Turner saß an seinem Schreibtisch und überflog gerade eine Liste. Nachdem er fertig war, schüttelte er entschieden den Kopf und blickte seinen Besucher an. Es war Alexander, in Begleitung von Clay. »Ihre guten Absichten in allen Ehren.« Er stockte, denn soeben war Luise eingetreten. Ihr erster Blick galt ihrem Mann und Turner zwang sich, nicht zu ihr zu schauen. Dennoch war die Spannung, die in dem Raum lag, fast körperlich spürbar. In Sekundenschnelle hatte sich Turner wieder gefangen und fuhr fort. »Aber das hier ist Illusion, Dr. Kielberg. Der Winter wird es uns schwer genug machen, unsere Tonnagezahlen zu halten. Und seit den Wahlen kommen jeden Tag mehrere hundert Menschen in den Westteil der Stadt.« »Ich habe mit Washington geredet«, schaltete sich nun Clay ein und sah Alexander an. »Man wird alles tun, um Ihr Streptomycin zu liefern. Aber…« Er brach ab, denn Luise war gerade zu Turner gegangen, um ihm eine Akte zu reichen.
»Das Streptomycin allein hilft uns nicht«, ergriff Alexander das Wort. »Nicht, wenn die Patienten hungern und frieren.« »Das mag so sein. Aber diese Lebensmittel, die Sonderrationen Kohle. Wir haben das durchgerechnet.« Turner hatte die Akte geöffnet. »Das sind vierzig, fünfundvierzig Flugzeugladungen mehr pro Tag.« »Aber es muss einfach gehen!«, beharrte Alexander mit Nachdruck. »Es geht aber nicht – nicht mit den Maschinen, die wir haben.« Turner machte eine bedeutungsvolle Pause und sah Clay an. Der begriff sofort. »Was?«, rief er abwehrend. »Nein. Wirklich nicht, Turner! Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.« »Ohne die C-74 ist es nicht zu machen«, kam es zurück. »Turner, das ist das größte Transportflugzeug, das wir haben«, antwortete Clay beschwörend. »Die gesamte Air Force verfügt nur über zehn Stück davon. Und die braucht MacArthur. Über Korea ziehen sich dunkle Wolken zusammen. Und wir haben hier schon über dreihundert Maschinen.« Jetzt hielt es Clay nicht mehr aus. Die nächste Zigarette war fällig. Nach einem hektischen Zug fuhr er fort. »Ich erkläre Ihnen seit drei Monaten, dass wir dabei sind, unser Blatt zu überreizen. Truman ist zwar wiedergewählt, doch jetzt wird man ihm noch genauer auf die Finger schauen.« »Aber es kann doch nicht um Politik gehen!«, mischte sich Alexander mit lauter Stimme ein. Nachdem er den beiden eine Weile lang zugehört hatte, konnte er nicht mehr an sich halten. Beide Generäle und auch Luise erschraken fast über diesen Ausbruch, doch Alexander ließ sich von ihren Mienen nicht beeindrucken. »Meine Kollegen und die Schwestern und Pfleger, wir arbeiten zwölf bis sechzehn Stunden pro Tag«, begann er. »Aber danach gehen wir in die armen Bezirke – nach Moabit, in den Wedding. Dorthin, wo nachts das Husten
der Menschen zu hören ist. Wir erklären ihnen, was sie tun können, um Infektionen zu vermeiden.« In Turners Gesicht spiegelten sich Respekt und Achtung, aber auch Zwiespalt: Dieser Kielberg war zweifellos ein guter Mann. Aber eben auch der Mann seiner Geliebten. »Dr. Kielberg – niemand hier bezweifelt, dass Sie alles tun, um…« Clay wollte den Gast beruhigen, aber Alex ließ sich nicht bremsen. »Als der Krieg vorbei war, da habe ich mir nur eines gewünscht«, sagte er und blickte von einem zum anderen. »Dass mein Sohn und dass alle anderen Kinder auf dieser Welt so etwas nie mehr erleben müssen. Und jetzt halte ich die Hände von Kindern, die sterben. Und bin bei ihnen, wenn wir die Leichen ihrer Mütter verbrennen.« Alexander stand auf und nahm seine Aktenmappe. »Vielleicht sagen Sie das Ihrem Präsidenten.« Er ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, blieb er kurz neben Luise stehen. Ein kurzer Blickwechsel, dann verschwand er. Clay stand ebenfalls auf und verabschiedete sich. Als auch er gegangen war und Turner mit Luise allein war, musste er sie das fragen, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigte. »Wieso bist du damit zu Clay?« »Ich – ich wollte ihm helfen«, antwortete Luise zögernd. »Du hättest zu mir kommen können. Aber du warst nicht sicher, ob ich dir helfen würde. Ob ich deinem Mann helfen würde.« »Er will Leben retten. Auf seine Weise.« Luise wusste nicht, wie sie es erklären sollte. »Und ich nicht?« Turner atmete tief durch. »Ich werde auf jeden Fall alles tun, um ihm zu helfen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das anstellen soll.« Er nahm sich einen dicken Stapel Papiere vor und machte sich wieder an die
Arbeit. Luise sah ihn an in einer Mischung aus Liebe, Sorge und Respekt.
Wenige Tage später war Weihnachten. Still und verschneit lag die Fechnerstraße da, während in den Wohnungen Kerzen brannten und die Menschen versuchten, mit dem wenigen, das sie hatten, ein Fest zu feiern. Auch Luise hatte sich alle Mühe gegeben. Im Wohnzimmer stand ein kleiner, aber liebevoll geschmückter Weihnachtsbaum, Leni und Clara waren bei ihnen, und alle saßen am Tisch und hörten aus dem Radio die Stimme Ernst Reuters, der eine Rede hielt. »Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, liebe Kinder«, begann er. »Monate der Entbehrung liegen hinter uns. Und keiner weiß, wie lange es noch so gehen wird. Es scheint schon eine Ewigkeit her, dass ich die Welt aufgefordert habe, auf diese Stadt zu schauen. Doch sie hat es getan, und sie tut es noch immer. Diese Welt weiß um unsere Not. Und sie weiß auch darum, dass jeder von uns hier in dieser Stadt seinen Kampf für diese Welt dort draußen kämpft. Einen Kampf für die Freiheit. Heute danken wir auch unseren amerikanischen und britischen Freunden. Die ihr Leben für uns aufs Spiel setzen. Berlinerinnen und Berliner: Ich wünsche Ihnen und uns allen ein gesegnetes und friedliches Weihnachten.« Damit endete die Rede und der Radiosprecher meldete sich zu Wort. »Sie hörten die Weihnachtsansprache unseres Oberbürgermeisters Ernst Reuter. RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt.« Viele Geschenke hatte es bei den Kielbergs nicht gegeben – doch für jeden war eine Kleinigkeit dabei. Für Alexander ein Buch, von dem alle Welt sprach: Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert. Luise bekam einen Schal und Leni ein
Modeheft aus Paris. Clara freute sich über Fäustlinge, und Michael packte ein Paar nagelneue Lederschuhe aus. Sie saßen beisammen – und doch beschäftigte jeden etwas, das er ganz mit sich allein ausmachte. Auch in der Wohnung der Prenzkes hatte man die Ansprache Reuters verfolgt. Auf ihr Bitten hin hatte Alexander Frau Prenzke aus dem Krankenhaus entlassen – auch deshalb, weil ihr Zustand hoffnungslos war und er ihr das letzte Weihnachtsfest mit ihrem Mann nicht nehmen wollte. Er hatte Herrn Prenzke aufgeklärt, wie er die Ansteckungsgefahr minimierte – und tapfer brachte der alte Mann seiner Frau das bescheidene Weihnachtsessen ans Bett und stützte sie, wenn sie wieder einen Hustenanfall bekam. Auf dem Flughafengelände herrschte an diesem besonderen Tag eine sentimentale Stimmung, wie sie Menschen überkommt, die am Heiligen Abend mit ihren Liebsten zusammen sein wollen und es nicht können, weil Tausende Meilen zwischen ihnen liegen. In einem Vorraum hingen die US-Piloten an der langen Reihe von Telefonen und sprachen mit ihren Familien daheim. Einer hielt dabei ein Foto von einer Frau und zwei kleinen Kindern in der Hand. Ein noch ganz junger Pilot weinte. Am späten Abend fand im Casino eine Weihnachtsfeier statt. Auf der Bühne stand eine Band mit einem Sänger. Der große Raum war gefüllt mit Soldaten und jungen Frauen. Die Stimmung war ausgelassen, es wurde getanzt – nur Jack bekam von alledem nichts mit. Er saß allein an einem Tisch und betrank sich. In der Hand hielt er einen Flachmann mit Kentucky Bourbon, ein Geschenk von Turner, der ihm eine Freude hatte machen wollen, weil er wusste, wie sich Jack an einem Tag wie diesem fühlen musste.
Nachdem Clara gegangen war und Luise Micha ins Bett gebracht hatte, ging sie zu Alex und sagte ihm, dass sie ihre Freundin nach Hause bringen wollte. Er nickte nur und die beiden verließen die Wohnung. »Ich kann auch noch bei dir bleiben, wenn du willst«, bot Luise ihrer Freundin an, als sie auf der Straße waren, und hakte sich bei ihre unter. »Ja, sicher. Damit ich dir dein Weihnachten endgültig vermiese. Es war lieb von euch, dass ich bei euch sein durfte. Aber ich habe trotzdem nur an Harry gedacht.« »Leni. Dachtest du denn, das weiß ich nicht?« Luise nahm ihre Freundin in den Arm. »Aber das kann doch jetzt nicht für immer so weitergehen.« Sie machte eine kurze Pause und lächelte dann Leni an. »Weißt du was? Ich habe eine Idee!« Und mit diesen Worten schlug sie den Weg zum Flughafen ein. Als sie im Casino ankamen, war die Musik leiser geworden. Es war nicht mehr so voll wie noch vor ein paar Stunden. Einige G.I.s tanzten mit ihren Mädchen. Andere saßen noch an Tischen beisammen. Luise und Leni stellten sich an den Tresen. »Luise, was soll ich denn hier?« Leni blickte sich um und sah dann ihre Freundin mit gequältem Blick an. »Dich daran erinnern, dass es noch was anderes gibt als deine Wohnung und den Blick auf den Hof.« »Ich kenne hier doch nicht mal jemanden.« Luise schüttelte den Kopf und wies in den Raum. »Einen schon.« Leni folgte Luises Blick – und dann sah auch sie Jack an einem der Tische.
10
Leni war Luises Rat gefolgt und auf Jack zugegangen. So unnahbar er aus der Ferne auch gewirkt hatte, so sehr schien er sich jetzt darüber zu freuen, nicht mehr allein sein und seinen trüben Gedanken nachhängen zu müssen. »Und mit wem fliegst du jetzt?«, fragte ihn Leni, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Richard Handerson«, antwortete Jack. »Er ist in Ordnung.« Er sah Leni an und wusste genau, an wen sie jetzt dachte. »Aber manchmal, wenn ich fliege… dann denke ich immer noch, Harry sitzt neben mir.« Leni lächelte ihn an. Sie kannte das doch selbst so gut – obwohl die Zeit, die sie mit Harry verbracht hatte, so kurz gewesen war. Sie fühlte sich plötzlich sehr wohl in Jacks Gegenwart. Und als sanfte Musik einsetzte und einige Paare die Tanzfläche betraten, wusste sie, dass es richtig war, Jacks Blick zu erwidern. »Ich dachte, du tanzt gar nicht«, meinte sie zwar neckend, aber als Jack mit den Worten »Tu ich auch gar nicht« aufstand, Leni einfach bei der Hand nahm und zur Tanzfläche fühlte, da spürte Leni in sich keinen Widerspruch, keinen Einwand, sondern ein Gefühl der Leichtigkeit, wie sie es schon seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Luise hatte Leni noch kurz nachgesehen, als sie zu Jacks Tisch gegangen war, dann hatte sie kehrtgemacht und war hinauf in das Büro gegangen, nachdem sie Turner vergeblich im Casino gesucht hatte. Ihre Vermutung bestätigte sich. Turner saß auf einem Stuhl und starrte auf das Modell der Luftbrücke. Betätigte den Seilzug, ließ die Flugzeuge
einfliegen, landen und wieder ausfliegen. Für eine Sekunde schien ihn der Schlaf zu übermannen. Seine Augen schlossen sich kurz, und erst als er sie fast gewaltsam aufriss und seinen Körper dehnte und streckte, bemerkte er, dass Luise in der Tür stand. »Es wird niemandem nützen, wenn du dich totarbeitest«, meinte sie und sah ihn lächelnd an. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er und stand auf. »Und was tust du hier?«, wollte er dann wissen. Er selbst hatte nicht damit gerechnet, dass Luise ihn am Heiligen Abend besuchte. Dass sie nun doch da war, freute ihn sehr, auch wenn er es nicht zeigte. »Ich wollte Leni nach Hause bringen«, antwortete Luise und machte eine kurze Pause. Dann blickte sie ihn an und meinte: »Danach wollte ich heimgehen. Mit Alex reden.« Wieder machte sie eine Pause. »Ich denke immer: Heute sagst du es ihm. Heute musst du es ihm doch sagen. Ich überlege mir die Worte, die ich sagen will.« Sie strich zart über Turners Wange. »Und dann merke ich, dafür gibt’s gar keine Worte.« Mit diesen Worten beugte sich Turner zu ihr und küsste sie. So zart und doch so fordernd, dass sie sich nicht vorstellen konnte, noch jemals auf diese Küsse verzichten zu müssen. Spät in der Nacht kehrte sie heim. Niemals hätte sie sich selbst zugetraut, so zu handeln. Und jetzt? Jetzt fühlte sie kein schlechtes Gewissen in sich. Sie konnte kein schlechtes Gewissen haben. Die Gefühle für Turner waren rein und echt – wie hätte man sie ihrer schämen können? Vorsichtig zog sie die Tür ins Schloss, bedacht darauf, niemanden aufzuwecken, und zog sich leise ihre Schuhe und den Mantel aus. Als sie auf Zehenspitzen durch die stille Wohnung ging und gerade an der Küche vorbeiwollte, blieb ihr fast das Herz stehen: Am Küchentisch saß Alexander. »Du bist noch auf?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.
Er blickte von seinem Buch auf. »Wie spät ist es denn?« »Es ist gegen zwei«, sagte sie. »Leni wollte, dass ich noch bei ihr bleibe.« »So lange?«, meinte Alex forschend. Er glaubte ihr nicht. Sie spürte es. »Wenn man allein ist, ist das nicht lange.« Man merkte Luise an, dass sie in diesem Moment nicht nur Leni meinte, sondern auch sich selbst. Als sie bald darauf schlafen gingen, war alles wie immer. Alexander lag zusammengerollt auf seiner Seite des Bettes. Er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Luise lag auf der anderen Seite. Ihre Augen waren weit geöffnet, lautlose Tränen liefen über ihre Wangen.
Etwa zur gleichen Zeit hatte Turner seinen Fahrer gerufen. Er sollte ihn nach Hause bringen – doch als Turner schon vor der geöffneten Tür stand und sich ein letztes Mal umdrehte und in den Osthimmel blickte, durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke. Ein Gedanke, der so einfach wie neuartig und unglaublich war und auf den ihn die fünf Drähte einer Telefonleitung gebracht hatten, die in seinem Blickfeld gestanden hatte. Geduldig wartete sein Fahrer darauf, dass Turner einstieg – er wusste um dessen Wortkargheit und wunderte sich mittlerweile nicht mehr darüber, wenn sein Chef anders reagierte, als man gemeinhin erwarten konnte. Schließlich aber machte er doch auf sich aufmerksam. »Ähm – General?«, fragte er vorsichtig und folgte etwas ratlos dessen Blick zu den Telefonleitungen. Doch Turner hatte sich schon zum Gehen gewandt. »Später«, meinte er nur und ging eilig, gefolgt von seinem Fahrer, zum Flughafengebäude zurück. Drinnen stürzte er regelrecht in sein Büro, schaltete das Licht ein, ging zu seinem
Modell und machte sich an die Arbeit. Das LuftbrückenModell wurde erweitert: Noch immer flogen die Maschinen von und nach Berlin – doch nun flogen sie in fünf Etagen. »Warum bin ich nicht vorher darauf gekommen?« Turner schüttelte über sich den Kopf, während ihm der Fahrer immer wieder neue Modellflugzeuge reichte, die Turner an den übereinander gespannten Drähten befestigte. »Wir nutzen den ganzen Raum, verstehen Sie?« Der Fahrer strahlte ihn an. Er ahnte, dass dies der Durchbruch sein konnte. »Das… das ist… ein großartiges Weihnachtsgeschenk, General«, meinte er und musste sich zusammenreißen, Turner nicht vor Freude auf die Schulter zu klopfen.
Allein – die Idee wurde nicht überall so begeistert aufgenommen. Auf der anderen Seite des Atlantiks stieß sie sogar auf große Ablehnung. »Clay will weitere Maschinen. Was sage ich: Er verlangt sie praktisch. Weil Turner die Maschinen jetzt auch noch übereinander stapelt!« Royall sah seinen Assistenten an – einen jungen Karrieristen mit Nickelbrille. »General MacArthur scheißt mich an, weil er wissen will, wie er die Pazifikregion stabilisieren soll, wenn wir ihm über die Hälfte seiner schweren Maschinen nach Berlin abziehen. Und Clay will noch mehr davon!« Er warf genervt eine Akte auf den Tisch. »Vielleicht gibt es eine Lösung«, meldete sich der Assistent zu Wort. »Wir müssten Acheson plausibel machen, dass aus Koordinierungsgründen Deutschland direkt dem State Department unterstellt werden sollte.« Royall blieb skeptisch. »Aber Truman persönlich hat Clay freie Hand gegeben«, wandte er ein.
»Für Acheson wäre es ein Machtzuwachs«, argumentierte der Assistent. »Truman kann kein drittes Mal kandidieren. Und es gibt Beispiele, wie aus Außenministern Präsidenten wurden.« »Wird er uns das überhaupt abkaufen?« Der Assistent lächelte viel sagend. »Er ist erst drei Monate im Amt.« Royalls Gesicht hellte sich kurz auf. Er nickte. »Den Versuch ist es wert. Wenn Clay erst mal weg ist, können wir endlich wieder Politik machen.« Sofort griff er zum Hörer. Luise und Turner lebten unterdessen ihre Liebe immer offener aus. Zwar konnte man nicht von Routine sprechen – aber es war doch regelmäßig der Fall, dass Turner in seiner Limousine Luise abholte. Natürlich nicht direkt vor ihrem Haus in der Fechnerstraße, aber unweit davon, hinter der nächsten Ecke, wartete er zu verabredeten Zeiten darauf, dass sie in seinen Wagen stieg. Dann fuhren sie zu ihm, in seine Villa, wo sie ungestört waren und endlich frei und ungezwungen sein konnten. In der luxuriösen Villa, fernab von Luises anderem Leben, lebten die beiden ihren Traum. Ihren Traum von einem gemeinsamen Leben, der in diesen Augenblicken wahr wurde. Sie hörten Musik, sie tanzten, sie lasen sich gegenseitig vor. Luise liebte es, für Turner zu kochen und mit ihm gemeinsam zu essen. Und sie liebte es, ihn zu lieben. Sie liebte seinen Hunger nach ihr, und sie selbst war ebenfalls atemlos, hungrig, gierig nach ihm, seinem Geruch, seinem Geschmack, seiner Haut, die sie nicht schnell genug an ihrer spüren konnte. Oft saßen sie aber auch einfach nur beisammen und träumten von einer Zukunft, die im nächsten Augenblick schon wieder in weite Ferne rücken konnte. Dann nämlich, wenn sich Luise dessen gewahr wurde, dass sie wieder zurückmusste. Dass es viel später war als angenommen, dass sie sich wieder nach Hause stehlen musste, in ihr altes Leben, zu ihrem Mann, der
nicht mehr für sie da war, weil er fast seine gesamte Zeit im Krankenhaus verbrachte. Wie oft nahmen Luise und Turner sich vor, mit all dem aufzuhören? Wie oft lagen sie beieinander, um sie gegenseitig zu versichern, dass mit dem Versteckspiel Schluss sein musste? Dass sie sich nie mehr sehen durften! Nur um im selben Augenblick übereinander herzufallen in einer verzweifelten Liebe, in einem Hunger, der niemals gestillt werden konnte! Als Luise eines Nachts auf die Uhr sah und Turner bat, sie nach Hause zu bringen, war es bereits nach Mitternacht. Etwa zur gleichen Zeit beschloss Alexander, das Krankenhaus zu verlassen. Völlig übermüdet ging er durch die Nacht und war schon fast in der Fechnerstraße, als ein Auto seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Paar saß im Inneren und küsste sich leidenschaftlich zum Abschied – und irgendetwas sagte Alexander sofort, dass die Frau in dem Wagen Luise war. Als sie dann ausstieg und sich noch einmal hineinbeugte, um den Mann ein letztes Mal zu küssen, war er sich sicher. Er ging schnell hoch in die Wohnung und wartete in der Küche auf sie. Als sie eintrat, sparte er sich die Begrüßung. Sparte sich jeden Anschein von Normalität. »Seit wann?«, fragte er knapp. Luise antwortete ihm nicht. Sie setzte sich auf das Sofa und starrte auf den Boden. »Seit wann?«, wiederholte er. Luise wollte nicht weinen. Und doch fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten, die unaufhörlich aus ihr herauszubrechen drohten. »Ich wollte es nicht. Ich wollte es doch nicht«, stammelte sie. »Das scheint dich nicht gehindert zu haben.« Alexanders Stimme war hart und unnachgiebig.
»Es war so… so stark.« Luise blickte hoch. Sie fühlte, dass sie es ihm erklären wollte. Aber ihr fielen nicht die richtigen Worte ein. Alex sah sie höhnisch an. »Natürlich. Das muss es wohl gewesen sein.« Luise gab sich einen Ruck. Sie schluckte, dann setzte sie an. »Als du zurückkamst, da habe ich ihm gesagt, dass wir uns nie mehr Wiedersehen dürfen.« Sie sah Alexander an, ihr Blick war entwaffnend ehrlich. »Und ich habe es versucht. Aber als Leni sich umbringen wollte, da habe ich sie angebrüllt. Dass sie leben muss.« Alexander atmete durch. »Und in dem Moment habe ich gewusst: Ich lebe ja selbst nicht mehr. Ich stehe morgens auf und gehe abends wieder schlafen, und zwischendurch esse und arbeite und atme ich. Aber als ich ihn getroffen habe… da lebte ich plötzlich wieder.« Als sie ihn anblickte, sah sie gerade noch, wie Alexanders Arm vorschnellte. Für ein Ausweichen war es zu spät. Alexander schlug ihr ins Gesicht. Mit dem ganzen Gefühl seiner Ohnmacht schlug er sie – und erschrak selbst beinahe mehr darüber als sie. Dann starrte er auf seine Hand. Fast erstaunt betrachtete er sie, so, als wäre sie ein Körperteil mit einem eigenen Willen. »Ich dachte nicht, dass ich das tun könnte«, sagte er tonlos. Luise sah ihn traurig an. Ihre Wange brannte noch unter dem Schlag. »Ich dachte auch nicht, dass ich das tun könnte.« Luise fühlte sich ebenso hilflos wie Alexander. »Aber ich habe es getan.« Stille breitete sich aus. Jeder starrte vor sich hin, beide waren erschöpft. »Wer ist es?«
»Es spielt doch keine Rolle, wer es ist.« Luise sah ihn an und Alexander spürte, dass sie es ihm nie sagen würde. Er gab auf. Aber es gab etwas, das musste er wissen. »Und? Liebst du ihn?« Luise zögerte nicht. Sie blickte Alex offen an und nickte. »Ja. Ich liebe ihn.«
Am nächsten Tag erzählte sie Turner von dem, was in der letzten Nacht geschehen war. »Er – er verlangt eine Entscheidung«, sagte Luise und sah hinaus in den Nebel, der wie eine Glocke über der Stadt lag. »Aber ich weiß nicht, wie man das macht: sich entscheiden. Reißt man sich einfach ein Stück aus dem Herzen und lebt weiter?« Turner trat zu ihr und hielt sie sanft an den Schultern. »Was kann ich tun? Was können wir tun?« Aber Luise hörte ihn gar nicht. »Man soll immer alles richtig machen im Leben«, sagte sie wie zu sich selbst. »Aber wenn’s drauf ankommt, dann weiß man plötzlich nicht mehr, was richtig ist.« Sie senkte den Blick. »Dann weiß man bloß noch, dass man sein Herz nicht in zwei Stücke schneiden kann.« Alexanders Nerven lagen blank. Dass Luise einen anderen Mann kennen und lieben lernen würde – damit hatte er nicht gerechnet. Es war eine ungesunde Mischung aus Eifersucht, Erschöpfung, Selbsthass und verletzter Eitelkeit, die in ihm brodelte. Gereizt ging er auf der Station auf und ab – nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Als er eine Krankenschwester dabei beobachtete, wie ihr ein Fehler unterlief, war ihm dieser Anlass ein willkommenes Ventil für seine Wut.
»Sehen Sie doch mal hin!« Er schrie die junge Frau fast an und hielt ihr ein Patientenblatt unter die Nase. »Was steht denn hier?« »Zweihundert Milliliter«, kam es schüchtern und schuldbewusst zurück. »Und warum verabreichen Sie dann vierhundert?«, fragte Alexander aufgebracht. Frau Wohlers, die eine unfreiwillige Zeugin der Szene geworden war, hatte schweigend zugehört. Doch nun reichte es ihr. Lange genug hatte sie gegenüber Alexanders Launen beide Augen zugedrückt. »Es tut ihr ja auch Leid«, schritt sie ein und stellte sich zwischen die beiden. Dann sah sie die junge Frau freundlich an. »Ist gut, Kirsten.« Nachdem die junge Krankenschwester den Raum verlassen hatte, funkelte Frau Wohlers Alexander an. Alexander spürte ihren Blick und den Vorwurf darin. Als wäre dies eine Entschuldigung für sein Verhalten, meinte er: »Ich hatte einen Anruf von Clays Büro. Die versprochenen Lieferungen fallen aus. Wegen des Nebels steht die Luftbrücke still.« »Gut, dann muss es eben so weitergehen. Da kann ja eine Aushilfsschwester nichts für!« Alexander gab ihr darauf keine Antwort. »Es ist alles so aussichtslos. Wir tun, was wir können, aber die Leute sterben uns weg.« Frau Wohlers sah ihn nachdenklich an. »Sie kamen frisch von der Universität, als Sie hier angefangen haben, Dr. Kielberg. Damals waren Sie noch ›Alex‹ für alle. Und Sie waren der Schwarm aller jungen Schwestern hier.« Alexander sah sie irritiert an. »Sie wollen damit sagen, dass sich die Dinge ändern?«
»Nein«, antwortete Frau Wohlers. »Ich will damit sagen, dass es Ihnen nicht gut geht. Und dass Sie das uns alle hier spüren lassen. Und Ihre Frau und Ihren Sohn vermutlich auch.« Ihre Stimme wurde eindringlicher. »Mein Mann ist im Krieg gefallen. Aber Sie sind am Leben. Sie haben was abgekriegt, innen drin. Aber Sie sind am Leben. Und deshalb sollten Sie jetzt aufhören, sich aufzuführen, als wäre der Rest der Welt schuld an Ihrem Elend.« Damit ging sie hinaus und ließ Alexander allein. Er blickte ihr verblüfft nach und im ersten Moment spürte er Wut in sich aufsteigen. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an, denn schon bald merkte er tief in seinem Inneren, wie Recht diese Frau hatte. Aber noch war er nicht so weit. Noch brauchte er Zeit und musste die ehrlichen Worte erst verarbeiten.
Fast schon symbolisch wollte nicht nur in Alexanders Innenleben, sondern auch draußen der Nebel nicht weichen. Dicht und dumpf hing er über der Stadt, ließ die Sonne nur als milchig graue Lichtquelle erahnen und an manchen Orten der Stadt sogar die Kirchtürme im Irgendwo verschwinden. Clay und Turner standen an einen Jeep gelehnt und blickten in die Ferne, die nur ein paar Meter weit reichte, dann verschlang bereits eine trostlose graue Wand aus Watte alle Konturen und Umrisse. »Dieser verdammte Nebel!«, fluchte Turner. »Jede Minute kostet uns zehn bis zwanzig Tonnen Fracht!« »Was schlagen Sie denn vor?«, wollte Clay wissen und zog an seiner obligatorischen Zigarette. »Dass ich aus Washington besseres Wetter anfordere?« »Was ist denn mit Tegel?«, fragte Turner wütend. Der Flughafen hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre, schon längst, schon vor Wochen eingerichtet sein müssen. »Wenn
Tegel endlich fertig würde, könnten wir das Verlorene vielleicht wieder aufholen.« »Ich rede mit Reuter«, versprach Clay. »Vielleicht kann er noch mehr Arbeiter beschaffen. Aber ich bezweifle es. Der Boden ist gefroren, das ist Knochenarbeit da draußen. Und die Stadt hungert.« Die beiden Männer trennten sich und Clay machte mit Reuter noch für denselben Tag einen Termin. Wenig später war der Oberbürgermeister auch schon in seinem Büro. »Es ist uns gelungen, noch einmal tausend Arbeiter zu beschaffen. In zwei Wochen sollte Tegel fertig sein.« Reuter blickte hinaus in den dichten Nebel. Sofort nach Clays Anruf hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt – der Erfolg konnte sich sehen lassen. Auch Clay war beeindruckt. »Großartig, Reuter«, sagte er anerkennend. Reuter winkte bescheiden ab. »Was Sie für uns tun, ist großartig«, meinte er, dann blickte er zweifelnd auf. »Aber ich weiß nicht, ob es reicht.« Reuter klang äußerst besorgt, als er weitersprach. »Es brennt an allen Ecken und Enden. Wir haben achttausend Konkurse seit Beginn der Luftbrücke. Und jetzt schaffen es die so genannten Vereinten Nationen nicht einmal, die sowjetische Blockade zu verurteilen.« Er deutete auf den vor ihm liegenden Tagesspiegel. »US-Intervention gegen Blockade gescheitert«, stand darauf. »Vereinte Nationen lehnen Verurteilung der UdSSR ab«. »Die Berliner ziehen ja mit, aber dieser Schwebezustand, den müssen wir beenden«, meinte Reuter voller Überzeugung. »Die Leute wollen wissen, was werden wird.« »Ich weiß es selber nicht, Reuter.« Clay sah ihn bedauernd an. Er machte eine kurze Pause, dann entschied er sich, offen zu sprechen. »Und leider werde ich, wie es aussieht, bald auch nichts mehr dazu beitragen können.«
Reuter sah ihn irritiert an. »Was soll das heißen?« Er sprach nicht weiter, sondern nahm stattdessen das Schreiben, das ihm Clay hinhielt, und begann zu lesen. Das Siegel des USPräsidenten war darauf – die von Royall und seinem Sekretär gesponnene Intrige hatte Früchte getragen. »Das – das können die doch nicht machen. Sie sind Herz und Seele der Luftbrücke.« Reuter gab ihm das Schreiben zurück und sah Clay schockiert an. »Es ist entschieden: Das State Department wird die Koordination in der US-Zone übernehmen. Ich habe mir in Washington nicht nur Freunde gemacht in den letzten Monaten.« Er steckte sich grimmig eine Zigarette an. »Und hier auch nicht. Zumindest Turner wird froh sein, dass ich ihn nicht mehr mit meinen Zigaretten vollqualme.« Er wusste nicht, dass er sich in Turner irrte, und auch nicht, dass sein Schicksal in Washington eine neue Wendung nahm.
Die Meldungen aus Berlin vom Stillstand der Luftbrücke hatten auch dort für Aufregung gesorgt. Außenminister Acheson hatte kurzfristig zu einer Lagebesprechung gebeten, an der neben Präsident Truman auch Royall teilnahm. »Es gibt Nachrichten. Aber ich fürchte, sie sind nicht gut.« Acheson sah Truman und Royall an, dann blätterte er kurz in der Akte, die er bei sich trug. »Die Luftbrücke steht seit fünf Tagen still. Der Nebel ist so dicht, dass jeder Flug einem Selbstmordkommando gleichkäme. Das heißt: Es geht nichts mehr rein nach Berlin. Und die Vorräte reichen nur noch wenige Tage.« »Und das wird auch Stalin klar sein. Diese Situation ist genau das, worauf er gebaut hat«, meldete sich Royall zu Wort. »Was sind unsere Optionen?«, fragte Truman.
»Die Russen haben durchblicken lassen, dass sie sich in Südostasien zurückhalten könnten«, gab Acheson zurück. Truman schüttelte den Kopf. »Und dafür sollen wir ihnen Berlin überlassen? Nachdem wir ein halbes Jahr gekämpft haben um diese Stadt?« Betretenes Schweigen breitete sich im Raum aus, dann wollte Royall beschwichtigen. »Es ist schließlich nur eine Stadt«, meinte er. »Es ist nicht nur eine Stadt«, legte der Außenminister Widerspruch ein. »Es ist genau so, wie Reuter gesagt hat: Die ganze Welt schaut auf diese Stadt. Sie preiszugeben käme einer Einladung an Stalin gleich.« Royall war anderer Meinung. »In den Westsektoren haben wir und die Briten und die Franzosen genug Truppen, um eine weitere russische Expansion zu stoppen.« »Und wie lange?« fragte Truman. »Bis Südostasien brennt und wir uns eine zweite Front gar nicht werden leisten können?« Royall blickte Truman an. »Mr. President, bei allem Respekt: Aber Politik ist die Kunst des Möglichen.« Truman war stinksauer auf seinen Berater. Und jetzt war genau der richtige Zeitpunkt, ihn das auch spüren zu lassen. »Und war diese ›Kunst des Möglichen‹ auch Ihr Beweggrund dafür zu versuchen, Clay aus dem Amt zu hebeln? Und zwar, ohne mich zu informieren?« Truman war laut geworden. »Mr. President, ich habe lediglich…« Royall wollte sich verteidigen, doch Truman hatte keine Lust, seine Ausreden anzuhören. »Ich weiß, was Sie getan haben«, sagte Truman. »Und genau deshalb werden wir jetzt nicht nachgeben. Die Entscheidungen, die wir hier treffen, mögen von der Abwägung zwischen Möglichem und Unmöglichem bestimmt werden. Doch wir dürfen nie eines vergessen: dass dort
draußen Männer sind, die uns jederzeit eines Besseren belehren werden.« Truman wusste nicht, wie bald er schon Recht bekommen sollte…
Noch immer hing schwerer und undurchdringlicher Nebel über dem Flughafengelände, der Flugbetrieb stand still. Jack und ein paar Piloten lehnten an ihren Maschinen und diskutierten wieder einmal die Lage. »Was sagt der Wetterbericht?«, fragte Jack und sah Handerson gespannt an. »Seit vier Tagen das Gleiche: Nebel.« »Die Sicht ist unter zehn Meter. Das ist praktisch Selbstmord«, meinte ein Pilot. Jack schaute in die Runde, als prüfte er, ob es gute Männer waren, die hier herumstanden. »Ich habe mit Turner geredet«, teilte er den anderen mit. »Er sagte, die Entscheidung liegt bei uns.« »Klar!« Handerson lachte kurz auf. »Der sitzt ja auch in seinem Büro.« »Die Leute hier in der Stadt leben von achthundert Kalorien am Tag. Weil sie wissen, dass jede Scheibe Brot weniger ein Stück Freiheit mehr bedeuten kann.« Handerson sah seinen Partner erstaunt an. »Vielleicht solltest du’s mal als Politiker versuchen. Du machst das ganz gut.« Doch Jack ging gar nicht darauf ein, sondern fuhr stattdessen fort: »Als Turner damals über den Himalaja ist – da war der Nebel noch dichter als hier. Aber er hat sich in seine Maschine gesetzt.« Er trat seine Zigarette aus. »Und genau das werden wir auch tun. Denn wenn wir hier ewig hocken bleiben, dann werden Harry und all die anderen umsonst draufgegangen sein.«
Ein Pilot wollte lachen, hielt das eben Gesagte noch für einen Spaß. Aber dann sah er bereits Jack und Handerson und die sechs oder sieben anderen auf ihre Maschinen zugehen. Da wusste er, dass es ernst war, fluchte kurz, trat seine Zigarette aus und tat es ihnen gleich. Trotz der beschränkten Sicht konnte man am Horizont bereits den Sonnenaufgang erahnen. Und plötzlich tauchte auf der Startbahn in Tempelhof die erste Dakota aus dem Nebel auf. Wie eine Erscheinung. Dann traten immer mehr Maschinen aus der weißen Wand und nahmen Kurs in Richtung Westen. Turner und Jenkins standen hinter einem der Fluglotsen und beobachteten gebannt die Punkte auf dem Radargerät. Als der Lotse die beiden bemerkte, drehte er sich kurz um, nickte und hob den Daumen. Turner atmete durch, und Jenkins und er wechselten begeisterte Blicke. Kurz dachten beide an die Vergangenheit, an den Himalaja. Doch nur kurz. Denn voller Spannung und voller Stolz galten ihre Gedanken gleich darauf wieder den Männern, die nun da oben in den Maschinen saßen. Ungeachtet der Bedingungen und bereit, alles zu riskieren, um Berlin zu retten. Aber die Wiederaufnahme der Luftbrücke war nicht die einzige Überraschung an diesem Tag, denn als Clay mit Truman telefonierte, erfuhr er von diesem, wie massiv sich Turner für seinen Verbleib in Berlin eingesetzt und er es nicht zuletzt ihm zu verdanken habe, nicht abberufen zu werden. Zuerst war er sprachlos. Dann aber dämmerte ihm die Erkenntnis, dass er da draußen wohl einen Freund hatte, ohne es bislang bemerkt zu haben. »Ja… Selbstverständlich, Mr. President«, sagte er in den Hörer. »… Keine Frage… Ich danke Ihnen!« Als er auflegte, trat ein Strahlen auf sein Gesicht. Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an.
Einen Tag später, es war bereits dunkel, stand ein todmüder Alexander am offenen Fenster des Krankenhauses, rauchte eine Zigarette und starrte in die Nacht hinaus. Wie im Reflex meinte er, als er Frau Wohlers den Gang auf sich zukommen sah: »Ja. Ich komme.« »Den Teufel werden Sie tun«, kam es als Antwort, und erst jetzt sah Alexander, dass sie seinen Mantel in der Hand hielt. »Sie arbeiten jetzt seit vierzehn Stunden«, sagte die Schwester energisch. »Und das tun Sie jeden Tag, seit Sie zurück sind. Und deshalb werden Sie jetzt nach Hause gehen. Sonst haben Sie nämlich bald kein Zuhause mehr.« Sagte es, reichte ihm den Mantel und schob ihn fast schon hinaus. Doch Alexander ging noch nicht nach Hause. Es trieb ihn durch das stille nächtliche Berlin. Er musste einmal in Ruhe nachdenken und so stapfte er, so müde er auch war, durch die Eiseskälte und merkte doch, wie die frische Luft, die Stille und die Einsamkeit ihm dabei halfen, seine wirren Gedanken zu ordnen. Luise saß währenddessen am Küchentisch und las beim schwachen Schein einer Kerze ein Buch. Als ihre Augenlider schwer und schwerer wurden, klappte sie es mit einem Seufzen zu, sah auf die Uhr und horchte. Aber alles blieb still, von Alexander war keine Spur. Sie löschte die Kerze und legte sich hin. Mitten in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf und bemerkte, dass Alexander immer noch nicht zu Hause war. Die andere Seite des Bettes war unberührt, die Wohnung dunkel. Traurig drehte sie sich um und irgendwann sank sie wieder in einen unruhigen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen in der Küche stand, kam Michael hereingelaufen. Er war mal wieder spät dran. Den Schulranzen bereits auf dem Rücken, wollte er nun noch schnell seine Stulle holen.
»Wo ist denn Papa?«, wollte er wissen. »Er musste heute früh raus«, log Luise. Dabei versuchte sie, so glücklich wie möglich auszusehen – aber es mochte ihr nicht so recht gelingen. »Hier dein Brot!« Sie reichte ihm die Box. »Ist was drauf?«, fragte Micha. Luise nickte. »Fett und Zucker.« Michael verzog zwar leicht das Gesicht, aber dann ließ er es doch zu, dass Luise die Box in seinen Ranzen steckte. Er gab seiner Mutter einen schnellen Abschiedskuss, und schon rannte er die Treppe runter. Vor der Tür der Prenzkes blieb er jedoch plötzlich stehen, klingelte energisch und nahm seinen Ranzen ab. Als Herr Prenzke die Tür öffnete, hielt ihm Michael das Brot entgegen. »Aber Junge – du musst doch wachsen«, wehrte der alte Prenzke ab, doch Michael ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. »Wachsen tu ich doch von selbst, Herr Prenzke!«, meinte er, und als der markerschütternde Hustenanfall, der aus der Wohnung hinter dem alten Mann ertönt war, wieder verebbte, meinte er: »Und Ihre Frau hat mir doch auch immer was gegeben. Schon als ich klein war.« Herr Prenzke musste lächeln – dann nahm er das Brot. »Komm mal her«, sagte er und nahm Michael in den Arm, erdrückte ihn fast vor Rührung. Michael konnte nicht sehen, dass Herr Prenzke Tränen in den Augen hatte.
Nachdem Luise die Tür hinter Michael geschlossen hatte und in die Küche zurückgekehrt war, spürte sie leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie ging ins Badezimmer und erfrischte ihr
Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie sich wieder aufrichtete und die Augen für einen kurzen Moment schloss, schwankte sie ein wenig. Kurz stützte sie sich ab, dann nahm sie ihren Mantel vom Haken und verließ die Wohnung. Sie war gerade aus der Haustür getreten, als sie auf der anderen Straßenseite Alexander auf sich zukommen sah. »Alex!«, rief sie ihm schon entgegen. »Wo – wo warst du denn?« »Ich bin spazieren gegangen«, antwortete er, als er neben ihr stand. Er sah müde aus. »Die ganze Nacht?«, fragte Luise ungläubig. »Du bist die ganze Nacht spazieren gegangen?« »Ja.« Er sah sie ernst an, aber aus seinem Blick sprachen Liebe, Zärtlichkeit und Bedauern, alles Dinge, die Luise schon lange, schon sehr lange nicht mehr in seinen Augen entdeckt hatte. »Es gab vieles, worüber ich nachdenken musste.« Fast sanft sagte er das. »Ich weiß, du musst zur Arbeit… Aber… weißt du noch? Als ich gegangen bin, habe ich versprochen, dass ich zurückkommen werde. Dass ich zu dir zurückkommen werde.« Behutsam legte er seine Hand auf ihren Arm. »Jetzt bin ich da. Und ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, dass es mir wehtut. Aber wenn du diesen Mann liebst, wenn du wirklich so fühlst, dann…« Seine Stimme brach ab. »… dann muss es vielleicht so sein. Ich will, dass du glücklich bist.« Luise brach es fast das Herz, doch Alexander schüttelte den Kopf, als wollte er ihr damit zeigen, dass es jetzt nicht um ihn ging, sondern um sie. Um ihre Entscheidung. Zärtlich küsste er sie aufs Haar. Und dann blieben sie noch eine Weile so stehen. Eng umschlungen.
11
Die Nachricht von Clays weiterem Verbleib in Berlin rief an vielen Stellen freudige Überraschung hervor. Auch Reuter und Brandt hatten es sich nicht nehmen lassen, den Militärgouverneur aufzusuchen, um ihm persönlich mitzuteilen, wie erleichtert sie seien. Kaum waren sie eingetreten, ergriff auch schon der Oberbürgermeister das Wort. »Darf ich Ihnen zunächst sagen, wie unendlich wir uns alle freuen, dass Sie…« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn Clay unterbrach ihn. »Danke, Reuter. Aber das glaube ich zu wissen.« Die beiden wechselten einen kurzen, herzlichen Blick. »Ich habe noch eine gute Nachricht«, fuhr Clay dann mit bedeutungsvoller Miene fort und ging zu der großen Europa-Karte, die hinter seinem Schreibtisch an der Wand hing. »Wie Sie ja wissen, ist die Wirtschaft der SBZ am Boden. Vor allem brauchen sie Stahl und Kohle, und was die Russen davon haben, das brauchen sie selber. Die Stahl- und Kohlelieferungen kamen bisher vor allem aus Frankreich und dem Ruhrgebiet.« Brandt schaltete sofort. »Kamen?«, fragte er überrascht nach. »Korrekt«, bestätigte Clay. »Seit gestern sind sämtliche Lieferungen gestoppt. Wir haben die Luftbrücke, wir kämpfen an der politischen Front, und seit gestern üben wir auch wirtschaftlichen Druck aus. Wenn die Russen glauben, sie seien die Einzigen, die eine Blockade durchführen können, dann werden sie einsehen müssen, dass sie sich irren.«
Die Männer sahen sich an. Jeder von ihnen wusste, dass dies auf Dauer die Wendung bedeuten könnte. Es gab wieder Grund, zu hoffen und in die Zukunft zu schauen. Leni wollte von Zukunft allerdings nichts wissen. Seit Weihnachten hatte sie Jack nicht mehr gesehen. Wollte ihn auch gar nicht mehr sehen. Wollte niemanden sehen. Die Leichtigkeit, die sie beim Tanzen mit ihm verspürt hatte, war nur ein kurzes Intermezzo gewesen. Schon auf dem Heimweg war sie dann wieder in ihre bodenlose Trauer zurückgesunken. Es ging ihr schlecht, sie hatte seit Harrys Tod kein einziges Mal mehr eine Haarschere in die Hand genommen. Die meiste Zeit saß sie allein in ihrer Wohnung – ohne irgendetwas zu tun. Luise kam fast jeden Tag vorbei und wünschte sich so sehr, dass es Leni endlich besser gehen würde. Auch wenn ihre Zeit knapp bemessen war und ihr Leben alles andere als leicht, kümmerte sie sich doch, so gut es ging, um ihre Freundin, brachte ihr Essen vorbei, erzählte ihr Neuigkeiten aus Tempelhof. Heute hatte sie ihr Zucker, Kaffee und einen Viertellaib Brot per Lebensmittelkarte besorgt sowie einen Henkelmann voll Suppe mitgebracht. Sie füllte das bescheidene Mahl in einen tiefen Teller und stellte ihn vor Leni auf den Tisch. »Kartoffelsuppe. Dünn, aber iss sie bitte, ja?« Leni, die, obwohl es Nachmittag war, immer noch ihren Morgenmantel anhatte, reagierte kaum. »Brauchst nicht mehr zu kommen«, meinte sie nach einer Weile und ihre Stimme klang ebenso antriebslos und schwach, wie ihr Körper matt und müde wirkte. »Ist lieb von dir, dass du das alles machst«, fuhr sie dann fast abwesend fort, »aber jedes Mal, wenn du da warst, fängt alles wieder von vorne an in meinem Kopf. Ich sitze den ganzen Tag hier…«
»Dann musst du eben mal rausgehen. Es tut dir nicht gut, wenn du…« Luise kam nicht weiter, denn Leni machte schon wieder eine abwehrende Handbewegung. »Draußen sind die Flugzeuge. Immer sind die Flugzeuge am Himmel. Ihr seht und hört die wahrscheinlich gar nicht mehr, weil sie immer da sind. Aber ich tu’s.« Ihre Stimme hatte einen gequälten Klang angenommen. Wie unter Schmerzen. Luise verstand sie. Sie ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. »Leni, es ist schrecklich, was passiert ist«, sagte sie. »Aber du musst nach vorne schauen.« »Was ist denn ›vorne‹? Deine Kartoffelsuppe vielleicht?« Wütend und verbittert stieß sie gegen den Teller, sodass die Suppe auf den Tisch schwappte. »Soll ich mich auf die freuen?« Plötzlich hielt Luise es nicht mehr aus. Sie konnte sich das nicht länger anhören. »Weißt du was?«, rief sie und es platzte förmlich aus ihr heraus. »Ob du’s glaubst oder nicht: Es gibt noch andere Leute, denen es nicht gut geht.« »Was – was meinst du denn?«, fragte Leni erschrocken. So hatte sie Luise noch nie mit ihr sprechen hören. Luise schluckte. »Ich bekomme meine Tage nicht mehr.« »Das passiert schon mal«, antwortete Leni, die das auch kannte. Luise schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin vierzig Tage überfällig. Und seit einer Woche muss ich jeden Morgen kotzen.« Sie machte eine kurze Pause. »Aber möglichst so, dass Alex und Micha nichts mitkriegen. Und ich versuche ein munteres Gesicht zu machen und merke, dass die beiden sich schon fragen, wieso ich die ganze Zeit so blöde grinse!« Ihre Stimme war immer verzweifelter geworden. »Ich bekomme ein Kind, Leni. Und von Alex ist es nicht. Und ich habe
niemanden, mit dem ich darüber reden kann, weil meine beste Freundin nicht mal mehr will, dass ich ihr was zu essen bringe!« Luise brach in Tränen aus. Sie sah an sich hinunter und legte die Hände auf ihren Bauch. »Da ist Leben drin… Noch.« Leni begriff sofort, was Luise vorhatte. Erschrocken blickte sie ihre Freundin an. »Das kannst du nicht tun, Luise!« »Ach, nein? Und wieso nicht?!« Leise, aber doch bestimmt sagte Leni: »Du hast mir mal gesagt, dass wir leben müssen… Dass es ums Leben geht.« Solche Worte hatte Luise schon lange nicht mehr aus dem Mund ihrer Freundin gehört. Doch ihre Miene blieb starr. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und davon konnte auch Leni sie nicht abbringen. Luise staunte nicht schlecht, als sie an diesem Abend nach Hause kam und Alexander schon auf sie wartete. Aber tief in der Nacht musste er noch einmal fort. Herr Prenzke brauchte seine Hilfe. Alexander nahm seine Arzttasche, folgte dem Nachbarn in dessen Wohnung und ließ sich ins Schlafzimmer führen. Er setzte sich zu Frau Prenzke, die reglos und starr im Bett lag. Routinemäßig prüfte er ihren Augenreflex, obwohl er gleich wusste, dass sie nicht reagieren würde. Sie war tot. Er drehte sich zu Herrn Prenzke und sah ihn an. Der alte Mann begriff. Es war vorbei. Er konnte seiner Frau nicht mehr helfen. Stumm setzte er sich auf das Bett, zu seiner Frau, und ließ seinen Tränen freien Lauf. Auf dem Nachttisch stand noch ein Teller mit dem Brot, das Michael Herrn Prenzke gebracht hatte. Es war fast unberührt. Nur ein ganz kleines Stück davon war abgebissen.
Es war in den letzten Tagen wieder kälter geworden, als wollte der Winter noch einmal zeigen, dass er nicht kampflos dem
Frühjahr weichen würde. Nun schneite es auch wieder. Clay hatte sich auf den Weg zu Turners Büro gemacht. Er wollte ihm endlich danke sagen. Dafür, dass er sich beim Präsidenten so für ihn eingesetzt hatte. Turner begrüßte ihn bereits draußen auf dem Rollfeld. »Ich soll Sie vom Präsidenten grüßen«, meinte Clay, während sie nebeneinander hergingen. »Er sagt, Sie reden zu viel.« Turner hatte dem Präsidenten viermal mit seinem Rücktritt gedroht, falls Clay abberufen werden sollte. Turner blickte ihn an. »Clay, ich mag Nichtraucher sein, aber ich erkenne einen guten Soldaten, wenn ich einen sehe.« Clay bemühte sich, ein doppelt grimmiges Gesicht zu machen, aber insgeheim freute er sich über diese Bemerkung. Besonders, da sie von einem Mann kam, auf den er große Stücke hielt und der wusste, von was er sprach. »Wenn Sie mal jemand brauchen, um…« Clay zögerte, wusste nicht recht, wie er es sagen sollte. »…um einfach zu reden. Dann sollen Sie wissen, dass ich da bin.« Da begriff Turner, dass Clay Bescheid wusste. Er wusste von Luise und ihm und Alexander. Erstaunt blickte er ihn an, bemühte sich aber sogleich wieder, ein militärisch ernstes Gesicht zu machen. »Danke, Clay. Mag sein, dass ich darauf zurückkomme.« Damit war es dann aber auch der Vertraulichkeiten genug. Die Generäle gingen weiter und betraten einen Hangar. Zu ihrer großen Verwunderung stand dort eine Gruppe von Männern um einen Tisch herum, auf dem Hunderte von Schokoladentafeln lagen, die sie in mühevoller Kleinarbeit an Minifallschirmen befestigten. Als sie Handerson entdeckten, stapften die beiden auf ihn zu. »Was soll das werden?«, fragte ihn Turner gereizt.
Handerson zuckte mit den Schultern und grinste. »Wir haben ein paar Kindern versprochen, Schokolade abzuwerfen. Was dagegen?« Turner und Clay sahen einander. Es war unverkennbar, dass sie von dieser Idee nicht begeistert waren. Aber sie ließen die Soldaten gewähren – nicht ahnend, welche Welle der Sympathie ihnen mit der Schokolade entgegenschlagen sollte. Kurze Zeit später schon flog die erste Maschine dicht über die Dächer der Stadt und warf Hunderte kleiner Fallschirme mit Schokolade ab, während sich Kinderarme hochstreckten und die ersten bereits fingen. Die Fallschirme waren aus Taschentüchern gebastelt und als der Himmel plötzlich voll von ihnen war, blieben die Leute stehen, sahen hinauf und glaubten wieder an das Gute im Menschen. Es war mittlerweile der 2. Februar 1949, und im Weißen Haus war wieder einmal in den Konferenzraum gebeten worden. Es ging um eine Stellungnahme Stalins, die Acheson, der seit Trumans Wiederwahl im November neuer Außenminister und damit Nachfolger von Marshall war, Kopfzerbrechen bereitete und die er unbedingt dem Präsidenten vorspielen wollte. Um den Tisch herum saßen Truman, Royall und ein etwas jüngerer Mann mit Nickelbrille, eben jener Dean Gooderham Acheson, der alle gerufen hatte und nun das Tonband startete. »Generaloberst Stalin«, begann eine Männerstimme und Acheson erklärte, dass sie Kingsbury Smith vom International News Service gehöre. »Viele internationale Beobachter stellen sich die Frage, wie Sie sich in Bezug auf die Berlin-Blockade verhalten würden für den Fall, dass die westlichen Alliierten von der Gründung eines westdeutschen Staates absehen würden.« Nun begann Stalin selbst zu sprechen, überlagert von einer Stimme, die seine Worte übersetzte. »Unter diesen
Bedingungen würde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken keinerlei Hindernis mehr sehen, die Blockade Berlins sofort zu beenden. Nicht das geringste Hindernis.« Acheson stoppte das Tonband und blickte erwartungsvoll in die Runde – so erwartungsvoll, dass der Präsident nicht so recht wusste, was das zu bedeuten hatte. »Und?«, fragte er deshalb. »Das wusste ich vorher schon, was er da sagt.« Acheson räusperte sich. »Das Interessante scheint uns zu sein, was er nicht sagt.« »Und das wäre?« Truman war gespannt, doch der Außenminister spannte ihn nicht lange auf die Folter. »Die Währungsfrage«, antwortete er. »Seit Juni letzten Jahres gibt es keine einzige russische Stellungnahme, die die Aufhebung der Blockade nicht explizit an die Rücknahme der Westwährung koppelt. Bis zu diesem Statement.« Truman blieb skeptisch. »Wie viele dieser anderen Stellungnahmen haben Sie ausgewertet?« »Sämtliche Stellungnahmen«, sagte Acheson. »168, um genau zu sein. Und plötzlich erwähnt er die Währungsfrage nicht einmal.« »Bei aller Liebe, Acheson, aber das ist doch Kaffeesatzleserei«, wandte Royall ein. »Wahrscheinlich hat er es einfach vergessen. Das ist nur ein Interview.« »Das dachten wir auch«, meinte Acheson, »aber Smith hat seine Fragen dem Kreml vorher schriftlich vorlegen müssen. Stalin hatte Zeit, über seine Worte nachzudenken.« »Und das heißt?« Truman sprach das aus, was alle anderen dachten. »Seit wir die Stahl- und Kohlelieferungen gestoppt haben, steht die ostdeutsche Wirtschaft praktisch still. Seine Blockade kostet Stalin jeden Tag einen höheren Preis.« Mit einer kleinen
Pause unterstrich Acheson die Bedeutung dieser Information. »Wir glauben, dass er versucht, uns eine Botschaft zu schicken.« Plötzlich trat Stille im Konferenzraum ein. Es war die Ruhe vor dem Sturm, denn mit einem Mal lag Stimmengewirr in der Luft. Jeder der Männer ahnte plötzlich, was das bedeuten konnte, und alle überschlugen sich geradezu, Vermutungen und Ideen über das vermeintlich beste Vorgehen vorzubringen…
Wenige Tage später trafen sich in der Halle der Vereinten Nationen in New York die Männer, die einen Wandel in der Berlin-Blockade auf diplomatischem Parkett versuchen sollten. In einer Ecke der Halle stand der etwas füllige sowjetische Delegationsleiter Jakow Malik und rauchte eine Zigarre. Er erzählte drei Männern gerade einen Witz auf Russisch, als er sah, wie ein schlaksiger, hoch gewachsener Mann in seine Richtung schlenderte. Er erkannte ihn sofort. Es war Phillip Jessup, der Leiter der amerikanischen Delegation. Malik erzählte seinen Witz zu Ende und nutzte die obligatorische Lachsalve, um sich von der Gruppe zu entfernen. Er begrüßte Jessup und ging mit ihm an ein Fenster, wo sie in Ruhe sprechen konnten. »Leider ist mein Russisch nicht sehr gut. Die Pointe ist mir entgangen«, meinte Jessup mit einem feinen Lächeln. »Als Amerikaner hätten Sie den Witz ohnehin nicht sehr komisch gefunden«, erklärte Malik frei heraus und hielt Jessup sein Feuerzeug hin. Erst jetzt erinnerte sich dieser, dass er ja eine Zigarette in der Hand hielt, und ließ sich von seinem russischen Kollegen Feuer geben. Die beiden wechselten einen kurzen Blick, der erkennen ließ, dass es durchaus echte
Sympathie war, die sie trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft füreinander empfanden. »Haben Sie das Stalin-Interview mit dem INS gelesen?«, fragte Jessup – wohl wissend, dass dies ganz sicher der Fall war. »Ich verfolge alle Darlegungen des Genossen Stalin mit der größten Sorgfalt«, antwortete Malik dann auch. Er wusste natürlich, worauf Jessup hinauswollte. »Es scheint, als sei die Frage der Westwährung nicht mehr von übergeordnetem Interesse für ihn. Jedenfalls erwähnt er sie nicht. Und da haben wir uns gefragt, inwieweit das eine Bedeutung hat.« Malik verzog das Gesicht, fast sorgenvoll sah er aus. »Die Wege des Kreml sind unergründlich«, seufzte er und schaute aus dem Fenster. »Deshalb kann es gefährlich sein, die falschen Fragen zu stellen. Viele, die das getan haben, fällen jetzt Bäume. In weit entfernten, unwirtlichen Gegenden wie etwa Sibirien.« Dann wandte er sich Jessup zu und auf seinem Gesicht deutete sich ein Lächeln an. »Aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann.« Fernab von jedem Weltgeschehen, in ihrer kleinen Wohnung, setzte sich Leni an den Küchentisch. Sie hatte unerwarteten Besuch bekommen und schenkte gerade Kaffee in die bereitstehenden Tassen. Es war Jack, der beschlossen hatte, nach ihr zu sehen, denn an Weihnachten hatte er nur allzu deutlich ihre Verzweiflung gespürt. Seitdem hatte er oft an sie denken müssen – und sein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl sagte ihm, dass er es auch seinem Freund schuldete, Leni in dieser schwierigen Zeit nicht allein zu lassen. Da Leni nicht viel sagte, erzählte er ihr von der großen Welle der Begeisterung, die die Fallschirmaktion ausgelöst und ihre Dakotas mit dem Kosenamen »Rosinenbomber« belegt hatte.
»Die Geschichte ist riesig geworden. Hershey’s hat Handerson einen Werbevertrag angeboten, aber er meinte bloß, er hätte Cadbury’s immer lieber gemocht.« Jack lachte, aber er merkte gleichzeitig, dass all seine Aufmunterungsversuche an Leni abprallten, ganz so, als wäre sie noch immer unter einer riesigen schwarzen Glocke gefangen. Nach wie vor wirkte sie völlig kraft- und antriebslos. Und sie wirkte nicht nur so. Es kostete sie sogar Anstrengung, ihren Kaffee zu trinken. Jack bemerkte, dass sie am Ende ihrer Kräfte, war und schaute auf die Uhr. »Tja, ich schätze, ich muss los«, meinte er nach einer Weile verunsichert und erhob sich. Leni stand so schnell auf, dass es fast schon ein wenig unhöflich war, ganz so, als könnte sie es nicht erwarten, endlich wieder allein zu sein. Sie fasste sich ein Herz und reichte ihm zum Abschied die Hand. »Es war nett, dass du gekommen bist.« Dann brachte sie ihn zur Tür. Jack war schon fast draußen, als er noch einmal stehen blieb und sie eindringlich ansah. »Bevor es vorbei war – da sagte er noch, du sollst unbedingt dranbleiben an den Buletten in den Brötchen. Dass ihm nie was besser geschmeckt hat.« Damit drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Leni blieb noch eine ganze Weile in der Tür stehen. Die Worte lösten in ihr eine Lawine an Gedanken und Gefühlen aus. Liebe, Trauer und ihr altes Leben liefen vor ihrem geistigen Auge ab und plötzlich merkte sie, dass es weitergehen musste. Mit einem Mal fühlte sie, dass es sogar richtig war. Als sie in die Wohnung zurückkehrte, spürte sie, wie langsam, ganz langsam die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Und es gelang ihr, an etwas anderes als an sich und Harry zu denken. Ihr fiel ein, dass heute der Tag war, an dem Luise zum
Engelmacher gehen wollte. Sie hatte sie nicht davon abbringen können, das Kind abtreiben zu lassen.
Tatsächlich ging Luise in diesem Augenblick zu einem gesichtslosen, deprimierend wirkenden Mietshaus hinüber. Während sie über die Straße ging, versuchte sie, jedes Gefühl in sich abzutöten, einfach zu funktionieren. Ein hagerer, kalt wirkender Mann um die fünfzig öffnete Luise auf ihr Klopfen hin die Tür. »Guten Tag«, grüßte sie tonlos. »Luise Kielberg.« Der Mann musterte sie. »Sie sind eine halbe Stunde zu spät.« »Ich weiß. Ich…« Luise sprach nicht weiter. Offenbar wollte der Mann keine Entschuldigungen hören, denn er war bereits den Gang hinuntergegangen und öffnete nun die Tür zum »Behandlungsraum«. Luise folgte ihm und sah sich um. Es war ein kleines Zimmer. Am zugehängten Fenster stand ein Tisch, darauf ein Kissen. Kein weißes Laken, nur blankes Metall. »Das Geld haben Sie?«, fragte der Mann knapp und sah sie forschend an. Luise griff hastig in ihre Tasche und nahm sechzig Mark heraus. Als sie ihm das Geld reichte, zählte er schnell die Scheine nach und steckte sie dann in seine Hosentasche. »Dann kann’s losgehen«, meinte er und deutete auf den Tisch. Luise schluckte. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn auf einen Stuhl. Eine Sekunde lang stand sie unschlüssig da, wartete, dass der Mann sich abwandte. Als er begann, seine Instrumente zurechtzulegen, zog sie schnell ihren Schlüpfer unter dem Kleid hervor und setzte sich auf den Tisch. Das eisige Klappern des Metalls dröhnte in ihrem Kopf.
»Legen Sie sich hin«, befahl der Mann barsch und stellte eine kleine Emailschüssel an das eine Ende des Tischs. Daneben legte er ein paar Windeln, die nach ihrem letzten Gebrauch nur dürftig ausgewaschen worden waren. Luise kämpfte den Ekel in sich nieder, legte sich auf den Tisch und schloss die Augen. Ihr Atem ging flach und stoßweise. Mit aller Macht kämpfte sie gegen ihre Übelkeit, gegen ihre Scham, gegen ihre Trauer. »Haben Sie jemand, der Sie abholt?«, wollte der Mann wissen und nahm zwei Zangen in die Hand. »Was?« Luise war verwirrt. Er hatte sie von weit, weit weg in die Realität zurückgeholt. »Sie werden ein paar Tage lang bluten. Ich krieg das nicht alles raus hier.« Luise starrte ihn nur an – eine Sekunde, oder zwei. Dann schlug sie mit voller Kraft gegen seine Hand, sodass eine der Zangen quer durch den Raum flog. »Was ist los mit dir, Mädchen?«, schrie er sie an – doch Luise hörte ihn gar nicht. Sie sprang auf, raffte in Windeseile ihre Sachen zusammen und rannte, rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her, aus der Wohnung. Kopfschüttelnd sah der Mann ihr nach, dann tastete er nach den Geldscheinen. »Tja, bezahlt ist bezahlt.« Im Hausflur zog sie sich rasch an, dann lief sie raus auf die Straße. Nach Luft japsend, blieb sie einen Moment stehen. Dann, als sie das Gefühl hatte, einen Fuß vor den anderen setzen zu können, ging Luise nach Hause. Der einzige Ort, der ihr Schutz versprach, der einzige, an dem sie nun mit ziemlicher Sicherheit allein sein konnte. Sie warf sich bäuchlings aufs Bett und weinte, weinte ohne Ende. Irgendwann schlief sie völlig erschöpft ein, den Kopf in ihr tränennasses Kopfkissen gedrückt.
Als Luise wieder aufwachte, war es noch immer taghell. Sie drehte sich auf den Rücken und merkte, dass ihr Atem wieder ruhiger ging. Überhaupt fühlte sie sich ruhiger. Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch – und plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie musste zu Alexander. Schnell. Luise wartete noch auf den Bus, der sie nach Neukölln bringen sollte, als dort zur selben Zeit vor dem Krankenhaus zwei US-amerikanische Jeeps hielten. Alexander, der die Wagen vom Fenster aus gesehen hatte, machte sich sofort auf den Weg nach draußen und begrüßte Jenkins, Turners rechte Hand. Während dieser ihm einige Papiere zum Gegenzeichnen gab, begannen die Fahrer schon damit, die Kisten zu entladen und auf die Rampe vor dem Lieferanteneingang zu stellen. MEDICINE – HANDLE WITH CARE-Aufkleber waren auf den Seiten angebracht und Alexander wusste, was das bedeutete. Die erste Lieferung des hochwirksamen Streptomycins war angekommen. Nachdem die Formalitäten erledigt waren, wollte Alexander keine Zeit verlieren. Er bedankte sich bei Jenkins, ging zurück ins Gebäude und suchte Frau Wohlers, deren Hilfe er nun als Nächstes brauchte. »Wir haben zwölftausend Ampullen«, teilte er der Krankenschwester mit. »Das ist nicht viel«, meinte Frau Wohlers. Sie konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen, denn sie hatte sich sehr viel mehr erhofft. »Eine weitere Lieferung ist angekündigt«, sagte Alexander, um sie zu beruhigen. Nun galt es jedoch, sofort zu handeln. »Ich möchte, dass Sie einen Verteilungsplan erarbeiten. Die Hälfte für die Patienten hier und die andere Hälfte für die Kranken im Bezirk.«
»Aber wir haben hier über dreihundert Patienten«, wandte sie Schwester ein. »Die Hälfte des Streptomycins reicht kaum für eine Woche.« »Frau Wohlers, machen wir uns nichts vor. Wir werden einige dieser Patienten verlieren«, gab Alexander zu und man merkte, dass ihn diese Tatsache alles andere als unberührt ließ. »Aber wir müssen an die gesamte Stadt denken«, fuhr er fort. »Jeder behandelte Patient senkt die Infektionsrate. Und das ist das Entscheidende.« Nur wenig später – Frau Wohlers hatte den Verteilungsplan fertig gestellt – packte eine junge Krankenschwester die Medikamente in verschiedene Kartons. In der Zwischenzeit hatte Alexander einen Botenfahrer gebeten, seinen Sohn und dessen Freund Wolfgang in der Fechnerstraße zu suchen und zu ihm zu bringen. Alexander hatte beschlossen, den Jungs eine sinnvolle Aufgabe zu geben. Eine Aufgabe, die sie weg vom Schwarzmarkt und von der Straße bringen sollte. Und tatsächlich, die beiden klopften kurz darauf an die Tür des Arztzimmers und kamen herein – wenn auch zunächst eher misstrauisch, da sie keine Ahnung hatten, was Michaels Vater von ihnen wollte. Doch nachdem Alexander ihnen alles erklärt hatte, tauten sie allmählich auf und hörten aufmerksam zu. »Hier ist die Liste«, sagte Alexander schließlich und reichte den beiden ein Papier. »Links steht immer das Krankenhaus und hier die Nummern der Pakete, die ihr dort abliefert. Kriegt ihr das hin?« »Na klar, Papa«, meinte Michael, und Alexander konnte ein wenig Stolz aus der Stimme seines Sohnes heraushören. »Gut!«, rief er. »Dann los mit euch.« Er stand auf und wollte die Jungs schon zur Tür bringen, als Wolfgang noch einmal stehen blieb und ihn ansah.
»Herr Dr. Kielberg«, sagte er. »Wir haben noch nicht drüber geredet, was dabei rausspringt für uns.« »Ich fürchte, nicht viel, Wolfgang«, antwortete Alexander. »Bloß, dass ein paar Menschen, die sonst sterben würden, leben können.« Eine kurze Pause entstand und Michael sah unruhig zu seinem Freund hinüber. Ganz offensichtlich hatte er die Befürchtung, dass er nun ganz allein auf dem Job sitzen bleiben würde. Aber da täuschte er sich, denn auf einmal begann Wolfgang zu lächeln. »Na ja«, meinte der mit allen Wassern gewaschene Junge, »also ich schätze mal, das ist ‘ne gute Bezahlung.« Die beiden Jungs grinsten sich an und machten sich auf den Weg.
Als Alexander kurz nach ihnen das Arztzimmer verließ und den Gang entlangging, sah er Luise. Es war das erste Mal, dass sie zu ihm ins Krankenhaus kam. Er brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass es etwas Wichtiges sein musste, das sie ihm sagen wollte. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in einen Raum, in dem sie ungestört sein konnten. Dort setzten sie sich nebeneinander auf eine Bank. Luise zögerte nicht, sondern begann sofort, ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen und von dem grausamen Nachmittag, der hinter ihr lag. Ohne ein Wort zu sagen, hörte Alexander ihr zu. Dann fragte er: »Weiß er es?« Luise schüttelte den Kopf. »Wenn ich es ihm sagen würde, dann würde ich dich und mich endgültig auseinander reißen. Und das kann ich nicht…« Verzweifelt vergrub sie ihren Kopf in den Händen. »Es tut mir so Leid…«
Alexander schaute sie an. »Es muss schrecklich für dich gewesen sein«, sagte er und in seinen Worten schwang die ganze Liebe mit, die er für sie empfand und an der auch ihre Schwangerschaft nichts ändern konnte. Mit dieser Reaktion hatte Luise nicht gerechnet. Sie war tief getroffen. Wie sehr hasste sie sich dafür, ihm so wehtun zu müssen – umso erstaunter war sie, als sie sich zu ihm wandte und sah, dass er sie anlächelte. »Dachtest du denn wirklich, ich hätte gewollt, dass du das tust?«, fragte Alexander und lächelte sie noch immer an. »Es hat zu viel Tod gegeben«, fuhr er fort. »Da dürfen doch wir nicht noch mitmachen.« Und dann, ganz langsam, reichte er Luise die Hand, und sie legte ihre in seine. Nicht nur Luise hatte beschlossen, Ja zum Leben zu sagen – auch bei Leni hatte sich viel verändert. Ihr war klar geworden, dass auch sie nach vorne blicken musste, dass es ums Leben ging – nicht um den Tod. Jetzt klapperte in ihrem Salon zum ersten Mal, seit Harry gestorben war, wieder die Schere. Als Erstes wollte Leni wieder in Übung kommen, deshalb hatte sie sich eine Perücke geschnappt und sie auf einen Kopf aus Styropor gesetzt. »Wissen Sie«, meinte sie zu dem Kopf, während sie auf ihrem Friseurhocker saß und der Perücke den letzten Schliff verpasste, »irgendwann geht’s wieder aufwärts. Und wenn wir jetzt schon eine schicke Frisur haben, dann geht’s vielleicht auch ein bisschen schneller.« Als es an der Scheibe klopfte und sie Luise draußen stehen sah, ließ Leni ein wenig verschämt die Schere sinken, lächelte ihrer Freundin leicht verlegen zu und sprang dann auf, um ihr die Tür zu öffnen. »Hier bist du«, rief Luise. »Ich habe oben geklopft, aber…«
»Ich dachte, ich probiert mal wieder«, fiel ihr Leni ins Wort. »Muss ja irgendwie weitergehen.« Sie rollte den Kundenstuhl heran und machte ihn für Luise frei. Wie früher begann sie, die Haare ihrer Freundin zu kämmen. Luise sah ihr im Spiegel zu und freute sich so sehr, endlich wieder ihre alte Leni wiederzuhaben. Nach einer Weile beugte sich Leni zu ihr hinunter. »Jack hat mich besucht. Wollte wissen, wie’s mir geht. Er war lieb.« Sie ließ die Schere sinken. »Glaubst du, Harry hätte was dagegen? Also, wenn ich Jack auch mal die Haare schneide?« Und zum ersten Mal seit langer Zeit strahlten sich die Freundinnen wieder voller Optimismus an. Bei vielen Menschen hatte sich die Stimmung in den letzten Wochen gewandelt. Als ahnten alle, dass die Zeit der Entbehrung bald vorbei sein würde. Und wenn vorher die Dankbarkeit der Bevölkerung schon groß gewesen war für die Hilfe, die die Amerikaner ihnen zukommen ließen, so wurde diese durch die Rosinenbomber noch größer. Für die Kinder war es das Größte, nach Monaten, sogar Jahren der Entbehrung wieder einmal Schokolade essen zu können, und die Begeisterung, die Handerson, Jack und all die anderen ausgelöst hatten, sprengte jede Vorstellungskraft. Genau aus diesem Grund hatte sich Alexander auf den Weg nach Tempelhof gemacht. Er hatte den Auftrag bekommen, General Turner ein Dankeschön der Kinder aus dem Krankenhaus zu überreichen. Er legte das Geschenk auf Turners Schreibtisch und rollte es vorsichtig aus – ein selbst gemaltes Bild, besser gesagt, ein regelrechtes Monumentalgemälde. »Natürlich ist es kein besonders großes Geschenk – aber sie haben eine Woche dran gemalt«, erklärte Alexander bescheiden. Das Bild zeigte nichts Geringeres als die Berliner
Luftbrücke. Viele Flugzeuge waren darauf, SchokoFallschirme, lachende Piloten und winkende Kinder. »Ohne Ihre Hilfe hätten sie das gar nicht malen können«, sagte Alexander und sah Turner lange an. »Sie hätten nie mehr etwas malen können.« Dann lächelte er und zeigte auf das Bild. »Tut mir übrigens Leid wegen Ihres Namens.« Am oberen Rand des Blattes stand in schnörkeliger Schrift: »Thank you General Tunnel«. Turner musste lächeln. »Ach, wissen Sie, man hat mich schon ganz anders genannt in den letzten Jahren.« Er sagte das recht markig, aber Alex war klar, dass der General tief gerührt war. »Richten Sie den Kindern meinen Dank aus. Und bestellen Sie ihnen, dass ihr Bild einen Ehrenplatz in meinem Haus bekommt.« Er grinste kurz. »Vorausgesetzt, General Clay versucht nicht, es mir wegzunehmen.« Die beiden Männer gaben sich zum Abschied die Hand. Alexander ging auf die Tür zu, doch plötzlich blieb er stehen und drehte sich um. »Sie sind es, oder?«, fragte er. Turner hatte ihm den Rücken zugewandt. Nun drehte er sich langsam um und sah Luises Mann in die Augen. »Ja«, sagte er. »Ich bin es.« »Ich habe mir immer versucht vorzustellen, wer es wohl ist«, sagte Alexander. Die beiden Männer schwiegen einige Sekunden. »Wir – wir dachten, Sie wären tot, verstehen Sie?« »Natürlich. Aber dann war ich ja wieder ganz lebendig.« Alexander grinste etwas schief. Dann sagte er: »Passen Sie auf sich auf.« »Sie auch.« Turner meinte dies ebenso aufrichtig wie Alexander.
Alexander griff nach seinem Mantel, der an einem Garderobenständer hing. Er zog ihn gerade über, als noch einmal Turners Stimme an sein Ohr drang. »Was hätten Sie an meiner Stelle getan?« Alexander sah Turner an, den Mann, in den sich seine Frau verliebt hatte und von dem sie ein Kind erwartete. »Wenn es Luise gewesen wäre?« Er machte eine kurze Pause. »Vermutlich das Gleiche wie Sie«, sagte er mit einem kurzen Lächeln und verließ das Büro. Unter anderen Umständen hätten die beiden Männer vielleicht Freunde werden können. Aber in diesem Leben würde dies nicht geschehen. Konnte es nicht geschehen…
Ganz ähnlich verhielt es sich auch mit zwei anderen Männern. Jessup und Malik. Die beiden hatten sich an der Hotelbar des prächtigen Waldorf Astoria Hotels in New York verabredet. Es war tiefe Nacht, die Bar hatte sich geleert. Im Hintergrund ließ ein Pianist seine Hände über die Tasten des Flügels gleiten, er spielte wie für sich allein, in sich versunken. Der Barkeeper trocknete mit einem Leinentuch die letzten Gläser, er hatte sich schon auf Feierabend eingestellt. Dann aber erschien ein Mann und kurz darauf noch einer, die sich zu ihm an die Bar stellten. Freundlich wie immer nahm er ihre Bestellung auf. »Einen Bourbon«, sagte Jessup, ohne lange überlegen zu müssen, und auch Malik wusste, was er wollte. »Einen Wodka, bitte. Russischen, wenn Sie haben.« Nachdem sich der Barkeeper abgewandt hatte, wollte Malik das Wort ergreifen, doch Jessup stoppte ihn. »Nein. Sagen Sie nichts.« Jessup schien regelrecht zu kochen, deshalb zog es Malik vor, lieber zu schweigen. »Malik, vor sechs Wochen haben Sie sich bereit erklärt, mit uns über eine Lösung nachzudenken. Und nun sitzen wir seit
geschlagenen drei Wochen da oben und alles, was Ihren Kollegen einfällt, ist das Herumreiten auf völkerrechtlichem Kleingedrucktem.« »Ich sagte damals noch etwas anderes«, entgegnete Malik. »Etwas über die Größe Russlands in den Augen der Weltöffentlichkeit.« »Vielleicht bin ich zu müde, aber was zum Teufel meinen Sie?« Jessup sah kurz auf, denn der Barkeeper servierte gerade ihre Getränke. »Ich meine, dass Sie und ich wissen, dass diese Verhandlungen kurz davor sind, abgebrochen zu werden«, antwortete Malik. »Jede Aufgabe der territorialen Regelung des Potsdamer Abkommens würde von Moskau abgelehnt werden. Und das will ich ebenso wenig wie Sie.« »Also?« Jessup wartete. »Wenn wir eine Sprachregelung fänden, in der die endgültige Lösung der offenen Fragen zwischen unseren Staaten noch gemeinsam diskutiert werden würde – von Gleich zu Gleich, verstehen Sie? –, dann sehe ich kein Hindernis, dass wir sehr schnell zu einem Ergebnis kommen.« Jessup verstand. Es ging um Geheimverhandlungen. »Nein«, sagte er. »Wissen Sie was, Malik? Ich habe noch eine bessere Idee.« Er reichte dem Russen die Hand. »Genau so machen wir’s.« Malik ergriff die Hand und schüttelte sie kräftig.
12
Es war Ende April, als General Clay Oberbürgermeister Reuter, Brandt und Turner in sein Büro rief – wichtige Neuigkeiten aus Washington, hieß es –, worauf sich jeder sofort auf den Weg machte. »Mein Herren«, begann Clay, nachdem alle versammelt waren. »Ich habe vor einer Stunde ein Telegramm aus Washington erhalten.« Er machte eine Pause und genoss sichtlich die erwartungsvollen Blicke der Anwesenden. Dann verkündete er: »Wie es scheint, ist bei den seit drei Wochen laufenden Geheimverhandlungen in New York eine Einigung erzielt worden. Am 12. Mai wird die Blockade Berlins aufgehoben.« Es war raus! Aber es war kaum zu glauben. Wo war der Haken? Jeder Einzelne von ihnen hatte sofort diese Frage im Kopf – und der Oberbürgermeister war der Erste, der aussprach, was alle dachten. »Zu welchen Bedingungen?« Die Frage stand im Raum, und dem Gesicht nach zu urteilen, das Clay aufgesetzt hatte, war sie mehr als berechtigt. »Das ist der Punkt, Reuter«, nickte er ernst. Reuter und Brandt wechselten einen Blick: Was in aller Welt würde jetzt kommen? Aber dann breitete sich auf Clays Gesicht zu ihrer Überraschung das strahlendste Lächeln aus, das sie je bei ihm gesehen hatten. »Soweit ich das sehen kann: zu keinen Bedingungen. Die Russen geben auf!« Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile in der ganzen Stadt. Die Freude kannte keine Grenzen. Die ersten
Schlagbäume gingen am Grenzübergang Helmstedt hoch, wo schon Menschen voller Ungeduld in ihren Wagen darauf warteten, wieder über die Zonengrenze fahren zu können. Jubelnde Menschenmassen empfingen am Bahnhof den ersten Zug, der seit Beginn der Blockade wieder einfuhr, und das Pappschild, das aus einem Abteilfenster gehalten wurde und auf dem »BERLIN, WIR KOMMEN!« stand, wurde mit tosendem Beifall bedacht. Überall in der Stadt spielten sich an diesem 12. Mai unbeschreibliche Szenen ab. Die nach elf Monaten endlich wieder durchkommenden Züge und Lastwagen wurden von Hunderttausenden mit Applaus begrüßt. Alle waren von der Begeisterung ergriffen, auch Michael war nicht zu bremsen. Er sprang hinten auf einen Laster, auf dem vorne ein Plakat angebracht war mit der Aufschrift »Hurra, wir leben noch« und ließ sich von ihm durch Berlin kutschieren. Immer mehr voll beladene Laster trafen vor der Gedächtniskirche ein – und Oberbürgermeister Ernst Reuter ließ es sich nicht nehmen, persönlich Kartoffeln in die Menge zu werfen. Doch nicht nur in der Stadt, unter der zivilen Bevölkerung, war die Freude über die Aufhebung der Blockade grenzenlos – auch auf dem Flughafen Tempelhof wurde ausgelassen gefeiert. Turner nahm die Ereignisse zum Anlass, ein zweites Mal in die Decke des Casinos zu schießen – und als ihm dadurch, wie schon beim ersten Mal, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden garantiert war, spendierte er Freibier für alle. Die Männer schrien »Hurra!« und warfen ihre Mützen in die Luft. Auch Luise hatte es nicht im Büro gehalten. Sie kam ins Casino, sah sich suchend um und ging dann, als sie ihn entdeckt hatte, mitten in dem Trubel und Lärm auf Turner zu. »Ist es wirklich vorbei?«, schrie sie ihm ins Ohr.
»Ja, es ist vorbei! Es ist wirklich vorbei!« Jede Zurückhaltung vergessend, nahm er Luise in die Arme und wirbelte sie herum. Luise konnte immer noch nicht fassen, was das bedeutete. Für sie und Michael und für das Kind, das sie in sich trug und von dessen Existenz nur Alexander und Leni wussten. »Wie ich die Russen kenne, suchen sie sich schon einen neuen Schauplatz«, sagte Turner. »Aber hier ist es vorbei, ja! Berlin ist frei!« Er strahlte Luise an. Turner wusste nicht, wie schnell er Recht bekommen sollte, denn während in Berlin gefeiert wurde, brauten sich im Pazifikraum dunkle Wolken zusammen.
Der amerikanische Außenminister Acheson ahnte es bereits, als er mit Truman auf die Beendigung der Berliner Blockade anstieß. »In einer Woche beginnen die Pariser Verhandlungen. Aber alle Modalitäten sind bereits unterschrieben«, informierte er den Präsidenten. »Das ist nur noch eine Formsache, damit die Russen so aussehen, als hätten sie noch mitzureden.« »Dann ist es also vorbei.« Truman atmete auf. »Wir haben gewonnen.« »Mit Verlaub, Mr. President. Aber ich glaube nicht, dass es vorbei ist«, sagte Acheson. »Ich glaube, es hat gerade erst begonnen.« Die Geschichte sollte ihm Recht geben. Der Kalte Krieg hatte begonnen – und noch viele Jahre, nein, Jahrzehnte, sollte die Weltpolitik durch ihn geprägt werden.
Zwei Tage später sollte Turner mit Clay nach Washington reisen, um einen Orden verliehen zu bekommen. Das Flugzeug
wartete bereits. Turner ging schnell in sein Büro, um seinen gepackten Koffer zu holen. Doch dort traf er auf Luise, die auf dem Boden vor dem Koffer kniete und ihn neu packte. »Ich werde nicht zulassen, dass du in Washington deinen Orden bekommst und dabei völlig zerknittert aussiehst«, sagte sie und sah zu ihm hoch. Sie sah traurig aus – Turner konnte es nicht übersehen –, und auch ihm ging es nicht sonderlich gut. Luise und er – sie mussten noch einmal miteinander sprechen. Er spürte das. Und sie auch. »Na gut«, antwortete er und versuchte einen Witz. »Vermutlich werden die auf mich warten.« Er setzte sich auf seinen Stuhl und sah zu, wie Luise seine Kleidung sorgfältig gefaltet in den Koffer zurücklegte. Als sie fertig war, stand er auf und schloss den Koffer mittels eines Gurts. »In vier Tagen werde ich zurück sein. Dann sollten wir reden.« Er sagte es wieder einmal so knapp, als gäbe er eine Anweisung – aber mittlerweile kannte ihn Luise. Sie wusste, dass er auch dann in seinen militärischen Tonfall verfiel, wenn ihm etwas sehr nahe ging. »Gut«, antwortete sie und sah ihn an, beobachtete, wie er den Koffer in die Hand nahm und sich anschickte, zur Tür zu gehen. Auf halbem Weg blieb er stehen. Stellte den Koffer ab, drehte sich zu ihr um und nahm sie ein letztes Mal in die Arme. Luise drückte sich an ihn. Ganz bewusst, so als wollte sie sich jede noch so winzige Einzelheit einprägen, für immer in ihr Gedächtnis brennen. Nachdem er sie losgelassen hatte und hinausgegangen war, ging sie zum Fenster. Ein rauchender Clay stand an einem startbereiten Flugzeug. Als er Turner mit seinem Koffer kommen sah, ging er einen Schritt auf ihn zu. »Turner, wo bleiben Sie denn?«, wollte er wissen und warf seine Zigarette fort. »Bin ja schon da. Tut mir Leid.«
Bevor Turner einstieg, drehte er sich noch einmal um und sah Luise am Fenster seines Büros. Er hob seine Hand zum Gruß, vorsichtig, zögerlich. Zur Antwort hob auch Luise die Hand und drückte langsam die Innenfläche gegen das Fensterglas. Dann begannen sich die Propeller der Maschine zu drehen. Clay war bereits im Flugzeug. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und las in der New York Times, deren Schlagzeile an diesem Tag lautete: »BERLIN AIRLIFT OVER, SOUTH PACIFIC NEXT BATTLEFIELD?« Turner setzte sich neben Clay auf die andere Seite des Gangs. Er legte den Gurt an und schaute noch einmal aus dem kleinen Seitenfenster. Dann räusperte er sich. »Clay?«, meinte er und sah zu ihm hinüber. Ohne von seiner Zeitung aufzublicken, meinte Clay: »Ich weiß. Ich rauche zu viel.« Doch Turner meinte nicht das Rauchen. »Sie haben mal gesagt, dass Sie für ein Gespräch zur Verfügung stünden.« »Natürlich«, sagte Clay. »Jederzeit.« »Ich glaube, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt.« Clay legte seine Zeitung weg, sah Turner an und beugte sich ein Stück über die Armlehne. Turner brauchte einen Moment, dann begann er zu reden. Es waren immer wieder dieselben Fragen, die ihn Umtrieben. Konnte er von Luise verlangen, dass sie mit ihm fortging? Konnte er überhaupt auf dem Unglück ihres Mannes und ihres Sohnes seine Zukunft gründen? Es waren Fragen, die sich ihm immer dringender stellten und auf die er keine Antworten fand. Für ihn, der das Wort »Probleme« nicht mochte, sondern gewohnt war, seine »Aufgaben« zügig zu lösen, war das eine völlig neue Erfahrung.
Es gab nur eines, dessen sich Turner absolut gewiss war. Nur eines musste er sich nie fragen. Er liebte Luise. Er liebte sie mehr, als er je eine Frau geliebt hatte. Es tat ihm gut, über all dies zu reden, was ihn in seinem Innersten bewegte – und Turner wusste, das alles, was er von sich offenbarte, seine Gedanken und seine Gefühle, bei Clay gut aufgehoben war. Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, dankte er ihm. Turner schloss die Augen. Irgendwann schlief er ein und wurde erst wieder wach, als sie sich im Landeanflug auf Washington befanden. Dort fand in einer feierlichen Zeremonie die Verleihung der Orden statt – und Turner wurde auf seinen neuen Einsatz in Indochina vorbereitet. Vier Tage waren seit Turners Abreise vergangen, heute sollte er zurückkehren. Luise hatte immer und immer wieder darüber nachgedacht, was sie ihm sagen wollte. Sie wollte die richtigen Worte finden, wollte das Richtige tun. In Gedanken ganz bei Turner, räumte sie gerade ein paar Einkäufe in den Kühlschrank, als sie hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. »Micha?«, rief Luise – doch als sie sich umdrehte, war es nicht ihr Sohn, der da in der Tür stand, sondern ihr Mann. »Ich habe früher Schluss gemacht«, sagte Alexander und sah sie etwas unsicher an. »Ich dachte, vielleicht könnten wir was mit Micha unternehmen. In den Zoo gehen. Er hat gesagt, er wünscht sich das so. So wie früher.« Luise zögerte kurz und senkte den Blick. »Ich… ich muss noch mal zum Flughafen. Jemanden verabschieden…« »Ich verstehe.« Alexanders Stimme war ohne jeden Vorwurf, ohne jeden Zorn. »Dann vielleicht am Wochenende?«, schlug er vor. »Ja. Vielleicht am Wochenende.« Luise nickte. Sie wartete, bis Alexander ins Schlafzimmer gegangen war, und griff dann
noch einmal in ihre Einkaufstasche. In ihr lag die Tageszeitung, deren Schlagzeile die Ordensverleihung in Washington zum Thema hatte. Kurz darauf verließ Luise das Haus und stieg in den Bus, der sie all die Monate nach Tempelhof gebracht hatte. Dort, wo alles begonnen hatte. Sie ging den wohl bekannten Gang entlang auf die Tür zu, hinter der sich alles angebahnt hatte. Als Luise das Büro betrat, stand Jenkins vor einem der Aktenschränke. Er war dabei, ein paar Dokumente in Kisten zu packen – Luise ahnte, was das bedeutete. »Luise! Ich war nicht sicher, ob Sie noch…« Er stockte, wusste nicht recht weiter. »Ich wollte nur…« »Er ist eben aus Washington gekommen«, sagte er. »Es gibt schon wieder neue Proble… Aufgaben. Guam. In Indochina kämpfen die Franzosen gegen Ho Tschi Minh. Und da soll, wie es so schön heißt, verstärkte US-amerikanische Truppenpräsenz eine Eskalation in der Pazifikregion verhindern.« Luise sah ihn besorgt an. »Wird denn nie mehr Frieden sein?« Ehe Jenkins etwas erwidern konnte, ging die Tür auf und Turner trat ein. Die Männer wechselten einen kurzen Blick, dann nickte Jenkins Luise zu und ließ die beiden allein. Für einen Moment machte sich Stille zwischen ihnen breit. Wie anfangen?, fragten sich beide – und jedem fiel es unendlich schwer, den ersten Schritt zu tun. Endlich fasste sich Turner ein Herz. »Ich habe einen Einsatzbefehl nach Guam bekommen. Meine Sachen sind schon gepackt.« »Dann… dann ist es also so weit?« Luise hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte kaum sprechen.
»›Ich will, dass das Beste in unserem Leben noch vor uns liegt‹, hat dein Mann gesagt.« Einen Moment lang konnte Turner nicht weiterreden. »Ich wollte zu dir gehen und sagen: ›Komm mit mir.‹ Und ich wollte, dass du es tust. Und ich wusste, wir hätten sehr glücklich sein können. Viele Tage, viele Monate, und vielleicht sogar viele Jahre.« »Ich kann nicht mit dir kommen. Das weißt du.« »Ja. Natürlich weiß ich das.« Turner schluckte. »Denn eines Tages«, fuhr er fort, »hätte ich in deinen Augen gesehen, dass du für dieses Glück einen zu hohen Preis bezahlt hast.« Schweigend begleitete sie ihn über das Rollfeld zu dem Flugzeug, mit dem Turner endgültig Berlin verlassen würde. »Als ich dich zum ersten Mal traf, da wusste ich gar nicht, was das ist: das Beste. Erst durch dich habe ich es verstanden.« Turner atmete tief durch und blieb stehen. »Ich habe keine Worte. Ich habe keine Worte, das Beste zu beschreiben. Aber ich weiß, dass es plötzlich da war. Und dass es uns niemand nehmen kann. Wo immer du und ich sein werden.« Ein letztes Mal umarmten sie sich. Dann ließen sie einander los. Turner ging auf seine Maschine zu. Stieg ein. Rollte mit ihr davon und stieg mit ihr in den Himmel. Luise sah ihr nach, bis sie über der Wolkendecke verschwunden war, dann machte sie sich auf den Heimweg. Als sie in der Fechnerstraße angekommen war, blieb sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Lenis Frisiersalon stehen. Durch das Fenster sah sie, dass ihre Freundin gerade dabei war, einer Kundin die Haare zu schneiden. Das Geschäft lief wieder an: Zwei weitere Frauen warteten und blätterten in Magazinen. Ein junges Mädchen – es war Lenis neuer Lehrling – kam mit einem Tablett herein und bot den Kundinnen Buletten an, die in Brötchen steckten. Zusammen mit einem Salatblatt und einer Tomate.
Während Luise aus der Ferne zuschaute, fuhr ein Jeep vor und Jack stieg aus. Leni hatte ihn kommen sehen und lief hinaus auf die Straße. Jack deutete auf seine Haare, sagte etwas – und Leni musste lachen. Lächelnd ging Luise weiter. An Prenzkes Laden vorbei, der auch wieder geöffnet hatte. Der alte Herr stand auf einer Leiter und brachte ein neues Schild an, welches das alte ramponierte ersetzte. »PRENZKE LEBENSMITTEL« stand darauf. »Das ist hübsch!«, rief Luise ihm zu und blieb stehen. Prenzke stieg von der Leiter herunter und betrachtete das Schild von weitem. »Also, ick weeß nich. Ick mochte det alte lieber. Aber ick hab meiner Frau versprochen, dass wir ein neues machen.« Er ging zu Luise und nahm sie am Arm. »Den Laden renovier ick ooch noch. Mit so modernen Holzregalen. Obwohl, die Kartoffeln werden genauso schmecken wie vorher.« Einen Moment lang standen die beiden nur so da. »Man muss mit der Zeit jehen, hat meine Frau immer jesacht. Nach vorne kieken. Na ja.« Er lachte und sah Luise an. »Wo immer vorne is, oder?« Luise lächelte ihn an. Nun musste sie aber endlich nach Hause. Dort öffnete sie im Schlafzimmer den Schrank und holte einen Pappkarton hervor, in dem sie den Ring aus der Wundertüte aufbewahrte. Sie betrachtete noch einmal das Zeitungsfoto, auf dem Turner von Truman einen Orden überreicht bekam, legte es dazu und stellte den Karton zurück. Dann ging sie hinaus in den Flur. Auch Alexander war zu Hause. Er saß an seinem Arbeitstisch und tippte etwas auf der Schreibmaschine. Michael brütete noch über seinen Hausaufgaben. Ohne sie anzusehen, fragte Alexander: »Gehst du noch mal weg? Oder bleibst du?« »Ich bleibe«, sagte Luise. »Natürlich bleibe ich.« Langsam drehte sich Alexander auf seinem Stuhl um und streckte ihr
seine Hand entgegen. Luise ging zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn. Leise kam Michael zu den beiden, die ihn in die Arme schlossen. »Wir könnten doch auch schon morgen in den Zoo gehen…«, sagte er. Alexander nickte. »Ja. Lass uns das tun.« Luise lächelte. »Es soll schön werden morgen.«
NACHTRAG
Während der elf Monate dauernden Berliner Luftbrücke wurden bei fast 200.000 Flügen insgesamt rund 1,5 Millionen Tonnen Versorgungsgüter befördert. 76 Menschen kamen ums Leben. Nach dem Ende der Luftbrücke organisierte General William H. Tunner (im Film und Roman General Philip Turner) die US-amerikanische Luftversorgung im Koreakrieg. 1951 heiratete er eine Amerikanerin und hatte eine Tochter mit ihr. Er starb am 6. April 1983 in Virginia im Alter von 76 Jahren. Luise Kielberg lebt noch immer in Berlin.
ZEITTAFEL
15. Dezember 1947: Londoner Konferenz Außenminister der vier Siegermächte wird abgebrochen.
der
20. März 1948: Die Sowjetunion beendet ihre Mitwirkung im Alliierten Kontrollrat. 1. April 1948: Die Sowjetunion beginnt mit der so genannten »Kleinen Blockade« Berlins. 3. April 1948: Der Marshall-Plan wird vom amerikanischen Kongress verabschiedet. 16. Juni 1948: Die Sowjetunion verlässt die Berliner MilitärKommandantur. 18. Juni 1948: In der Westzone kommt es zur Währungsreform. Jede Person erhält als »Kopfgeld« eine einmalige Zahlung von 40 Deutsche Mark. 23. Juni 1948: In der sowjetischen Besatzungszone kommt es ebenfalls zur Währungsreform. Hier wird ein »Kopfgeld« von 70 Mark ausbezahlt. 25. Juni 1948: In den westlichen Zonen von Berlin wird die Deutsche Mark eingeführt. 25. Juni 1948: Die Strom- und Wasserversorgung der Westsektoren wird blockiert, der gesamte Verkehr zu Land
und zu Wasser durch die Ostzone in die Westsektoren von Berlin wird unterbrochen. Der amerikanische Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, setzt die »Luftbrücke« als Hilfsaktion durch. 26.Juni 1948: Die erste Maschine der US-amerikanischen Luftwaffe fliegt zum Flughafen Tempelhof und startet damit die »Operation Vittles«. Die »Operation Plain Fare« der britischen Luftwaffe folgt zwei Tage später. 26. Juli 1948: Es kommt zur »Gegenblockade« durch die Anordnung eines Lieferverbots für Industriewaren von West nach Ost. 6. September 1948: Die Stadtverordnetenversammlung im Stadthaus wird gestört. 9. September 1948: Die Stadtverordneten der westlichen Bezirke ziehen aus der bis dahin gemeinsamen Stadtverordnetenversammlung in die Technische Universität, später in das Schöneberger Rathaus. Ernst Reuter hält an diesem Tag vor dem Reichstagsgebäude eine Rede mit dem Hilferuf: »Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!« 30. September 1948: Friedrich Ebert wird im sowjetischen Sektor zum Oberbürgermeister Berlins ernannt und der Magistrat für Gesamt-Berlin als abgesetzt erklärt. 7. Dezember 1948: Im Westteil Berlins wird Ernst Reuter formell zum Bürgermeister ernannt.
4. Februar 1949: Jeglicher Osthandel durch die Bizone wird gestoppt. 15. Februar 1949: Im Rahmen der UN-Vollversammlung über die Blockade, Gegenblockade und Währungsreform beginnen die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen. 4. Mai 1949: Die Siegermächte beschließen in einem Viermächtekommunique die Beendigung der Blockade und Gegenblockade zum 12. Mai 1949. 12. Mai 1949: Beendigung der Blockade. Die Verkehrswege von und nach Berlin werden wieder geöffnet.