Die Macht des Feuers von Carter Jackson
Das Kloster Monte Cargano lag im Schoß der Wolken, zweieinhalb Kilometer über ...
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Die Macht des Feuers von Carter Jackson
Das Kloster Monte Cargano lag im Schoß der Wolken, zweieinhalb Kilometer über dem Rest der Welt inmitten der Abruzzen, einem steil aufragenden Gebirgszug nordöstlich von Rom. Kaum jemand wußte von der Existenz der alten Anlage, die vor ewigen Zeiten an einer unzugänglichen Steilwand des Berges errichtet worden war, fernab jeder Zivilisation und nur über einen Seilkorb erreichbar, der von oben herabgelassen wurde. Die Mönche der Bruderschaft, die dort oben ihr Dasein fristeten, hatten den Ort mit Bedacht gewählt. Der Schatz, der hinter den Mauern von Monte Cargano verborgen lag, war nicht für fremde Augen bestimmt. Denn die tristen grauen Mauern der abgeschiedenen Abtei bargen etwas so Unvorstellbares, daß es um jeden Preis vor den Menschen geschützt werden mußte – und umgekehrt.
Was bisher geschah … Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält den Auftrag, auch die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah einen Knaben. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Kind geheilt! Doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes haben das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene erschüttert. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen: Sie träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund im Dienst des Vatikans, wird auf die Para-Träumer aufmerksam und schickt »Gesandte« aus, um diese Menschen anzuwerben. In den Para-Träumen einer jungen Frau namens Jennifer Sebree spielt Lilith Eden eine entscheidende Rolle. Die Halbvampirin spürt dies und findet Jennifer in Salem’s Lot, Maine. Dort trifft sie auch auf den Gesandten Raphael Baldacci. Erst fühlen sie sich zueinander hingezogen, doch als sie das Wesen des jeweils anderen erkennen, versucht Baldacci Lilith zu töten. Jennifers Eingreifen rettet die Halbvampirin. Dann verschwindet Jennifer. Sie folgt dem Ruf eines
Wesens, das erst vor kurzem das Licht dieser Welt erblickt hat und das fremde Kraft braucht, um zu wachsen und zu gedeihen … Sie findet das Kind in Neuengland im Norden der USA. Dort, in einer verlassenen Burg an der Küste, entzieht es seiner Mutter und dann auch Jennifer alle Lebenskraft. Und da es die Energie in Lilith gespürt hat, lockt es auch die Halbvampirin zu sich. Baldacci hat indessen über die Träumer der Illuminati eine Spur des Knaben gefunden – und entdeckt Lilith im Dorf nahe der Burg. Er folgt ihr, und gemeinsam geraten sie in den Bann des Kindes, das sie in eine Traumwelt versetzt, in der die Vampire die Menschheit versklavt haben. Lilith und Baldacci fechten einen verzweifelten Kampf, während der Knabe ihnen die Lebenskraft stiehlt. Doch dann opfert sich Baldacci und offenbart im Tod seine geistige Macht. Durch ihn kann Lilith den Träumen – und dem Ort – entfliehen. Das Kind aber ist noch nicht besiegt …
PROLOG Antonio Perez del Caz, innerhalb der Bruderschaft nur Nod genannt, stand an den Zinnen von Monte Cargano und ließ den Blick über das Land schweifen, das im rotgoldenen Licht der Dämmerung unter ihm lag. Im Südwesten konnte er am Horizont die Silhouette von Rom ausmachen, dessen Bürger unter der Knute der Medici ächzten, die nach Genua und Florenz nun auch hier ihr Unwesen trieben. Nod hatte gehört, daß die adelige Bankiersfamilie nur so in Geld schwimmen sollte, und er fragte sich, was daran so überaus bemerkenswert war. Geld – überhaupt materielle Güter – hatten für ihn und seine Brüder keinen Wert. Alles, was sie zum Leben brauchten, bekamen sie von Gott – oder vielmehr von dessen Stellvertreter auf Erden, Papst Julius II. Einmal im Monat kam auf sein Geheiß ein Händler aus Rom zum Kloster, lud unten am Fuß der Feldwand seinen Holzkarren aus und machte sich wieder auf den Rückweg, so daß keiner der Bruderschaft jemals dazu gezwungen war, Monte Cargano zu verlassen. Tatsächlich hatte Nod dem Kloster im Laufe der zweiundzwanzig Jahre, die er auf Erden weilte, noch nie den Rücken gekehrt. Er hatte sein ganzes bisheriges Leben in Monte Cargano verbracht, wie es die Regeln von einem Hüter verlangten. Und so Gott wollte, würde sich daran nichts ändern, bis auch für ihn die Zeit kam, ins Paradies einzukehren – oder bis der Jüngste Tag anbrach. Manchmal, wenn er des Nachts in seiner Kammer auf der Pritsche lag und zur Decke hinaufsah, fragte er sich, wie es »dort unten« wohl war. Wie es wäre, einmal mit anderen Menschen zu reden, ihre Städte zu besuchen. Dann jedoch erinnerte er sich daran, daß er ein Hüter war, ein Auserwählter, und daß es nichts Wichtigeres gab als das. Mit einem Seufzen, in dem sich Resignation und verhaltene Sehn-
sucht mischten, wandte Nod sich von den Zinnen ab, während die Schatten rasch länger wurden und die Herrschaft der Nacht ankündigten. Er ging durch den Innenhof ins Haupthaus zurück, das aus groben Felsblöcken errichtet worden war und keinerlei Fensterscharten aufwies. Der junge Mönch stemmte sich mit der Schulter gegen das hohe, eisenbeschlagene Eichenportal, bis es sich mit einem leisen Quietschen einen Spalt weit auftat, und schlüpfte hindurch. Drinnen roch es nach Staub, Alter und dem Pech der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in die nackten Wände eingelassen waren, welche vom Ruß der Flammen im Laufe der Jahrhunderte schwarz wie die Seele eines Sünders geworden waren. Murmelnder Gebetsgesang kam aus der großen Halle, in der sich die Brüder jeden Tag zur Zeit der Dämmerung einfanden, um ihrem Schöpfer zu huldigen. Nod hatte sein Abendgebet bereits absolviert. Darum zog er das Portal hinter sich zu und ging den Korridor entlang, bis rechts von ihm eine steinerne Treppe auftauchte, die wie eine Spirale in die Tiefe führte. Mit dem seltsamen Gefühl von Angst und Ehrfurcht in der Magengrube, das er stets empfand, wenn er auf dem Weg in die Katakomben unter dem Kloster war, stieg er die ausgetretenen Stufen hinab. Knapp zwei Minuten später langte er am Fuß der Treppe an. Hier unten herrschte ein dämmriges Zwielicht. Es gab nur zwei oder drei Fackeln, die Helligkeit spendeten. Jemand, der sich nicht auskannte in dem verzweigten Labyrinth aus Gängen und Stollen, das sich unter dem Kloster erstreckte, hatte keine Chance, sich hier zurechtzufinden. Tatsächlich hatten in der Vergangenheit immer wieder Menschen aus verschiedenen Gründen versucht, sich einen Weg in die Innere Halle zu bahnen, die das Herz der Klosteranlage bildeten. Aber die wenigen Männer, denen es überhaupt gelungen war, sich Zutritt zu Monte Cargano zu verschaffen, waren nie bis zum Heiligtum vorge-
drungen, sondern hatten in dem weit verzweigten und durch Fallen gesicherten Irrgarten den Tod gefunden. Noch nie war es einem Außenstehenden gelungen, dem Heiligtum ansichtig zu werden. Nod allerdings hätte den Weg dorthin auch mit verbundenen Augen gefunden. Schließlich war er einer der zwölf Hüter. Einer der zwölf Auserwählten, in dessen Händen das Schicksal der Welt ruhte. Doch mit einemmal spürte Nod, daß heute irgend etwas anders war als sonst. Denn während er das Labyrinth durchquerte, mal links, mal rechts abbog, beschlich ihn ein ungutes Gefühl der Vorahnung. Zwar vermochte der junge Mönch nicht zu sagen, was es damit auf sich hatte, aber er war sich sicher, daß es von Bedeutung war. Veränderungen kündigten sich an. Einschneidende Veränderungen. Neugierig und beunruhigt zugleich ging Nod weiter, bis er die Innere Halle erreichte, deren Säulen links und rechts von ihm aufragten wie steinerne Bäume und die gewölbte Decke stützten, die so hoch war, daß sie Nod manchmal wie der Himmel selbst vorkam. Überhaupt war er immer wieder von neuem von diesem Ort, an dem er beinahe sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, beeindruckt. Die grünlich phosphoreszierenden Wände, die das Heiligtum in ein weiches, nebelhaftes Licht tauchten; die in den Fels gemeißelten Symbole und Hieroglyphen, die bis heute nicht gedeutet werden konnten; die unbeschreiblichen Ausmaße der unterirdischen Halle … Am eindrucksvollsten war jedoch unzweifelhaft das Heiligtum selbst: ein gewaltiges Portal aus geschwärztem Eichenholz, das einen Großteil der Nordwand der Halle einnahm. Es bestand aus zwei Flügeln, von denen ein jeder so riesig wie ein Haus war, über und über mit Nieten beschlagen, die, betrachtete man das Tor aus der Distanz, ein groteskes Muster bildeten, dessen Bedeutung den
Wächtern ebenso verschlossen blieb wie das Portal selbst, das mit Riegeln und Schlössern gesichert war, damit niemand es öffnen konnte. Damit niemand hinein konnte. Und nichts heraus … Wie seine Brüder konnte Nod beim besten Willen nicht sagen, was genau sich jenseits des riesenhaften Tores befand. Dieses Wissen besaß der Papst allein. Aber im Grunde wollte Nod auch gar nicht erfahren, was er und die anderen elf Männer hier unten bewachten. Mit Vermutungen ließ es sich besser leben als mit der Gewißheit. Spekulationen waren weniger endgültig. Aber was immer es auch war, das auf der anderen Seite des Portals lauerte – es hatte etwas mit dem seltsamen Gefühl zu tun, das sich in seiner Magengrube breitgemacht hatte. Möglicherweise, überlegte Nod, war es gut, wenn er seine Brüder darüber informierte. Vielleicht wußte einer von ihnen, was zu tun war. Mit diesem Gedanken schritt Nod den Säulengang entlang, bis er am Durchgang zu den Kammern der Wächter anlangte. Er trat hindurch und blieb vor der Tür von Agbars Zelle stehen, der unter den Hütern des Tores eine Sonderstellung einnahm, da er der Älteste von ihnen war. Nod hob die Hand und klopfte gegen das rissige, alte Holz der Füllung. In der Kammer rührte sich nichts. Nod versuchte es noch einmal. Keine Reaktion. Offenbar war Agbar nicht in seiner Zelle. Oder er schlief sehr fest, was bei einem alten Mann wie ihm zwar ungewöhnlich, aber immerhin möglich war. Um sich Gewißheit zu verschaffen, drückte Nod die Holztür ein Stück auf und steckte seinen Kopf durch den Spalt, um einen Blick in Agbars Kammer zu werfen.
Die Pritsche des Mönchs war leer, die Zelle verlassen. Agbar war tatsächlich nicht in seiner Kammer! Nod war einen Moment lang so verblüfft, daß er reglos dastand und sich erst besinnen mußte. Dann ging er weiter zur nächsten Tür, um bei Hasrun anzuklopfen. Doch auch hier tat sich nichts. Wie Agbar war Hasrun nicht anwesend, was ein kurzer Blick in seine verwaiste Kammer bestätigte. Nod runzelte die Stirn. Seine Unruhe steigerte sich. Nervös wandte er sich der nächsten Tür zu. Diesmal hielt er sich nicht damit auf, sich durch Anklopfen bemerkbar zu machen, sondern stieß das Portal einfach nach innen auf und hoffte, daß zumindest Giovanni anwesend war. Aber er wurde wieder enttäuscht, denn Giovanni war ebenso wenig in seiner Zelle wie Agbar und Hasrun. Doch das war noch nicht alles. Denn es sah danach aus, als hätte er seine Kammer in großer Eile verlassen, wofür der Umstand sprach, daß seine graue Sackleinenkutte sorgfältig am Fuß der Pritsche lag, wo der Mönch sie plaziert hatte, als er sich nach dem Mittagsmahl hingelegt hatte, um sich für einige Stunden auszuruhen. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Unversehens brach Nod der Schweiß aus, perlte ihm kalt und klebrig auf der Stirn. Als er die nächsten Türen aufriß, wußte er bereits vorher, was er sehen würde: nichts. Sämtliche Zellen waren verlassen. Keiner der anderen Torwächter war zugegen. Aber das war absolut unmöglich! Die Alten Regeln besagten, daß sich zu jeder Zeit mindestens zehn der zwölf Hüter hier unten aufhalten mußten, aber vor dem großen Portal hatte Nod keine Menschenseele bemerkt, und auf dem Weg durch das Labyrinth war ihm ebenfalls keiner seiner Brüder begegnet. Wo auch immer Agbar, Hasrun und die anderen Hüter waren, sie hielten sich jedenfalls nicht hier unten auf.
Oder vielleicht doch? Obgleich Nod sich sicher war, daß er vorhin in der Halle niemanden gesehen hatte, beschloß er, von neuem dort nachzuschauen. Er verließ den Bereich der Kammern und kehrte eiligen Schrittes in die Innere Halle zurück. Mit unruhig klopfendem Herzen durchquerte der junge Mönch die riesige Halle und näherte sich dem Heiligtum, das vor ihm in die Höhe wuchs wie ein Berg. Als Nod das Portal erreichte, blieb er unschlüssig einige Schritte davor stehen und sah sich um, doch es schien tatsächlich niemand hier zu sein. Die Halle lag so leer und verlassen da wie die Kammern der Hüter. Nod strich sich nervös eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn. Seine Finger zitterten. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so einsam und allein gefühlt. Wo in Gottes Namen waren seine Brüder? Dann, als sein Blick mehr zufällig als absichtlich in eine der Nischen fiel, die entlang der Wände in den Fels gehauen waren, entdeckte er Agbar, den ältesten der zwölf Hüter. Der Mönch stand schweigend in der Einbuchtung, kaum auszumachen innerhalb der Schatten. Nod atmete hörbar auf. Also war er doch nicht allein hier unten! Mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Erleichterung rief er den Namen seines Bruders und eilte hinüber zu der Nische. Doch als er sie fast erreicht hatte, blieb er so unvermittelt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten, und er unterdrückte krampfhaft den Wunsch, sich einfach umzudrehen und Hals über Kopf die Flucht anzutreten. Denn aus der Nähe war offensichtlich, daß mit Agbar etwas nicht stimmte. Stocksteif stand er da, das Gesicht unbewegt, wie gemeißelt, die grauen Augen blicklos und starr wie die eines Toten. Sein Mund war zu einem stummen Schrei verzerrt, und auch wenn es aussah, als wäre er tot, als hätte der Odem Gottes seinen Leib verlas-
sen, lebte er, wie Nod feststellte, als er zögernd einen Schritt nähertrat. Die Brust des Mönchs hob und senkte sich unter der Kutte kaum merklich. Es war, als ob Agbar sich in einer Art Trance befand, in einem Zustand, der irgendwo zwischen Schlaf und Tod lag. Er wirkte wie eine Statue aus Fleisch und Blut. Nicht ganz tot – aber auch nicht lebendig …
* Nod stöhnte. Ein verhaltenes Zittern lief durch den Körper des jungen Mönchs, als er hastig die nächste Nische untersuchte und darin Hasrun entdeckte, der ebenso reglos wie Agbar dastand und ins Leere starrte. Sein Geist schien weit fort zu sein, in Dimensionen zu schweben, die für Nod unerreichbar fern waren. Es überraschte Nod kaum, daß die übrigen Nischen längs der Wand mit den übrigen seiner Brüder belegt waren. Giovanni, Banzai, Soli … Sie waren alle da – und keiner von ihnen schien mitzubekommen, was um ihn herum vorging. Als ob irgend etwas sich der Hüter bemächtigt hatte und sie in seinem Bann gefangen hielt. Irgend etwas … Aber was? Die Antwort auf diese Frage erhielt der verwirrte Nod, als er unversehens erkannte, daß nicht nur mit seinen Brüdern eine unheilvolle Veränderung vorgegangen war – sondern auch mit dem Tor! Benommen starrte er das gewaltige Portal an. Die zahlreichen Riegel und Schlösser, die das Tor sicherten, waren dabei zu schmelzen, zu zerlaufen wie Butter in der Sonne. Blei und Eisen tropften wie silbergraue, dampfende Tränen zu Boden, flossen am Holz hinab. Gleichzeitig quoll aus dem Großen Siegel, dem Hauptschloß des Portals, eine glutflüssige, rotgoldene, magmaähnliche Masse, die von einem sonderbaren, grellweißen Flimmern umgeben war.
Fassungslos beobachtete Nod, wie die Substanz an dem Schloß einen Klumpen von der Größe einer Faust bildete und sich dann zu verformen begann, sich bog und streckte, als ob unsichtbare Hände damit modellieren würden, bis sich aus der rotglühenden Masse schließlich etwas herausbildete. Ein … Schlüssel! Ein Schlüssel aus flüssig-festem Magma – der exakt ins Große Siegel paßte, der nur darauf zu warten schien, daß man ihn in die Öffnung des Siegels steckte und drehte. Ein pulsierendes, rötliches Leuchten wie von Kohleglut ging von dem Schlüssel aus, der sich auf so eigenartige Weise materialisiert hatte, während die übrigen Riegel und Schlösser des Portals weiter dahinschmolzen wie Eis in der Sonne. Es sah aus, als würde er irgendwie … leben. Es war ein erschreckender Anblick. Gleichwohl konnte Nod seine Augen nicht davon abwenden. Mit stark erweiterten Pupillen, als würde er unter Schock oder Trance stehen, starrte der junge Mönch den Magmaschlüssel an. Gleichzeitig spürte er, wie das Gefühl der Angst, das ihn bei seinem Weg durch das Labyrinth nach unten in die Innere Halle befallen hatte, verschwand. Es verflüchtigte sich wie Frühnebel, der von den warmen Strahlen der Morgensonne verdunstet wird, und machte einer seltsamen, jedoch nicht unangenehmen Lethargie Platz, die sich wie eine schwere Decke über Nod herabsenkte. Plötzlich war der junge Mönch vollkommen ruhig. Alle Gedanken daran, was hier vor sich gehen mochte, waren aus seinem Kopf verbannt. Sein Gehirn war so leer wie ein ausgewrungener Schwamm. Nod hatte nur noch Augen für den Schlüssel. Was würde geschehen, wenn er ihn im Schloß drehte? Würde sich das Tor auftun und sein Geheimnis enthüllen? Nod setzte sich in Bewegung und schritt auf das gewaltige Portal zu, das vor ihm wie eine Wand in die Höhe ragte. Als er nach dem Schlüssel griff, hatte das Zittern seiner Finger aufgehört. Da war kei-
ne Furcht mehr in Nod, nur noch Faszination und Neugierde. Langsam, wie in Trance, schloß der Mönch beide Hände um den Magmaschlüssel, von dem eine pulsierende Wärme ausging wie von einem schlagenden Herzen. In derselben Sekunde spürte er, wie ihn eine Woge der Kraft durchströmte, wie Energie durch seinen Körper pumpte und die sonderbare Lethargie vertrieb. Ein leises Lachen entkam Nods Lippen, als er den Schlüssel in die Öffnung des Siegels schob. In diesem Augenblick wurden hinter ihm auf einmal Schritte laut, die hastig die Halle durchquerten, und jemand rief voller Panik in der Stimme: »Bei Gott, dem Allmächtigen! Was tust du da, Hüter?« Nod hielt inne und blickte, beide Hände noch immer um den Schlüssel gekrampft, über die Schulter. Ein Dutzend Schritte hinter ihm standen Baglabar, der Oberste der Bruderschaft, und eine Handvoll weiterer Mönche, die nicht zu den Wächtern zählten. Sie alle bedachten Nod mit ängstlichen, furchtsamen Blicken. »Brich nicht das Große Siegel!« warnte ihn Baglabar ernst. »Oder willst du Tod und Verderben über die Welt bringen?« Nod sah den Obersten an. »Tod und Verderben sind irdisch«, erwiderte er mit kalter Verachtung, mit einer Stimme, die kaum wie seine eigene klang. »Das Reich jenseits des Tores ist es nicht.« »Nein«, stimmte Baglabar ernst nickend zu. »Du hast recht. Gleichwohl sind die Schatten des Todes dort weitaus heimischer als hier.« »Das Geschwätz eines alten Narrs«, sagte Nod. Früher hätte er es nie gewagt, so mit dem Obersten zu sprechen, doch mit einemmal fühlte er sich stark und mächtig, seinen Brüdern so weit überlegen, wie man es nur sein konnte. Er wollte wissen, was sich auf der anderen Seite des Tores befand, und niemand würde ihn daran hindern, es herauszufinden. Auch Baglabar nicht!
Entschlossen wandte er sich um und begann damit, den Schlüssel zu drehen, um das Große Siegel, den letzten Riegel, der noch zwischen ihm und dem Wissen lag, zu öffnen. Daß es ein Fehler gewesen war, seinen Brüdern den Rücken zuzukehren, erkannte er erst, als es schon zu spät war und die Hände der Mönche an seiner Kutte zerrten, um ihn von dem Portal und dem Schlüssel wegzuziehen. Er widersetzte sich ihnen, versuchte sich wütend ihrem Griff zu entwinden, aber die wunderbare Kraft hatte ihn in dem Augenblick verlassen, da sich seine Hände von dem Schlüssel lösten. Nod heulte auf wie ein Wolf und schlug blindwütig um sich, um den Mönchen zu entkommen. Alles in ihm verlangte danach, den Schlüssel zu drehen, das Große Siegel zu brechen und das Tor zu öffnen, doch die sieben oder acht Männer, die ihn hielten, würden alles tun, um ihn daran zu hindern. Wie recht Nod mit dieser Vermutung hatte, erkannte er, als Baglabar vor ihm auftauchte und aus einem der weiten Ärmel seiner Kutte ein Messer hervorholte. Die lange, gebogene Klinge fing das Phosphoreszieren ein, das die Wände absonderten, und glomm in dem Zwielicht unheilvoll auf. Baglabar hob das Messer und preßte es Nod an die Kehle, so fest, daß die Haut verletzt wurde und ein dünner roter Faden Blut unter der Klinge hervorquoll. In seinen eisgrauen Augen lag ein Ausdruck kalter Entschlossenheit. »Satanas ist in dich gefahren, Junge«, murmelte der Mönch mit ausdrucksloser Miene. »Du bist nicht mehr du selbst. Darum kann ich nicht anders, als deinem entweihten Leben ein Ende zu machen. Gott, vergib mir …« Mit diesen Worten ließ er seinen Messerarm zurückschnellen, um Schwung zu holen, und bereitete sich darauf vor, dem jungen Mönch die Klinge tief in die Brust zu stoßen. Doch darauf wartete Nod nicht. Er wollte nicht sterben. Und er
würde nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Das spürte er deutlich. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch lange nicht! In dem Augenblick, als Baglabar das Messer herniedersausen ließ, als die Klinge wie ein todbringender silberner Blitz die Luft zerteilte, warf Nod sich unvermittelt zur Seite und entkam dem todbringenden Stahl um Haaresbreite. Statt dessen drang das Messer bis zum Griff in die Schulter des Mönchs ein, der hinter Nod gestanden hatte. Blut spritzte, als der Mann lauthals schreiend zu Boden stürzte. Baglabar stand da wie erstarrt, das blutige Messer in der Hand. In seinen Augen glänzte Fassungslosigkeit. Nod nutzte die Verwirrung seiner ehemaligen Brüder, rappelte sich hastig auf und rannte auf das Tor zu. Er wollte es zu Ende bringen, um jeden Preis. Er mußte das Große Siegel brechen, mußte das Tor öffnen! Doch als er noch drei Schritte von dem Portal entfernt war, flammte sein Rücken mit einemmal auf, als würde er lichterloh in Flammen stehen. Nod taumelte. Durch eine Wand der Schmerzen spürte er, wie sich unter seiner Kutte klebrige warme Flüssigkeit ausbreitete, und er wußte, daß es sein Blut war, das seinen Rücken hinablief. Auch spürte er den kalten Stahl des Messers, das, von Baglabar geschleudert, tief in seinem Leib steckte. Nod keuchte schmerzerfüllt und setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Sein Blick trübte sich, drohte zu verschwimmen. Wie durch Watte gedämpft hörte er, wie die Mönche aufgeregt durcheinander riefen, doch er achtete nicht darauf. Er hatte nur Augen für den Magmaschlüssel, der in dem Großen Siegel stak und nur darauf zu warten schien, daß er ihn drehte. Benommen vor Qual streckte Nod seine Hände nach dem Schlüssel aus – und zuckte heftig zusammen, als sich neben dem ersten
Messer eine zweite Klinge in seinen Rücken grub, bis zum Heft eindrang und den linken Lungenflügel durchbohrte. Blut sprudelte aus der Wunde, ebenso wie aus Nods Mund. Der ganze Körper des jungen Mönchs war eine einzige Masse aus Schmerz, der noch weit größer wurde, als ein drittes Messer von hinten in seinen Nacken fuhr, die Schultermuskulatur durchtrennte und an der Wirbelsäule entlangschrammte. Nod schrie auf, mehr vor Verzweiflung denn vor Pein. Er spürte, wie seine Kraft schwand, wie ihn das Leben mit jedem Tropfen Blut mehr verließ, und er wußte, daß er es nicht schaffen würde, seine Aufgabe zu erfüllen. Doch er wollte nicht aufgeben. Halb blind griff er nach dem Schlüssel, während die Messer seiner Gegner in seinem Rücken wüteten, streckte seine blutigen Finger nach dem geformten rotgoldenen Magma aus, dessen Schein ihm wie das Licht des Paradieses erschien – und umklammerte den Schlüssel in einer verzweifelten Geste mit beiden Händen. Seine Peiniger brüllten schmerzerfüllt auf, als ein Strahl purer Energie den jungen Mönch durchfuhr. Funken stoben an den Stellen, an denen sie durch die Klingen ihrer Messer mit Nod verbunden waren. Panisch wichen die Männer vor ihrem »Bruder« zurück, der sich mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, an den Magmaschlüssel klammerte, aber nicht mehr in der Lage war, ihn zu drehen. Einige von ihnen bekreuzigten sich hastig. Nod spürte, wie die Kraft des Schlüssels ihn durchpulste, wie aus dem flüssig-festen Magma Leben in ihn gepumpt wurde, und schloß die Augen, um sich ganz diesem Gefühl zu ergeben. Gleichzeitig gewahrte er, wie irgend etwas mit ihm vorging, das er nicht erklären oder mit seinen Sinnen erfassen konnte. Etwas in ihm schien sich zu verändern, als ob er sich verwandeln würde, als ob eine fremde, geheimnisvolle Macht Besitz von ihm ergriff und ihn nach ihrem Willen umformte …
Nod stand da und ließ es geschehen, während die Mönche ihn mit panischen Blicken bedachten und Gebete ängstlich über ihre Lippen flossen. Den Verletzten sah er die Halle verlassen, die Hand auf die Wunde gepreßt. Eine Blutspur markierte seinen Weg. Nod genoß die Angst der Mönche, weidete sich daran ebenso wie am Pochen der hektisch schlagenden Herzen der Männer, das er plötzlich so deutlich hörte wie das Rauschen seines eigenen Blutes in den Adern. Überhaupt schienen er seine Umgebung mit einemmal viel intensiver wahrzunehmen als zuvor. Sein Blick durchdrang das in der Halle herrschende Zwielicht mit einer Leichtigkeit, als ob es hier unten so hell wie am Tage wäre, und Gerüche, die er zuvor nie richtig wahrgenommen hatte, drangen ihm mit geradezu brutaler Deutlichkeit in die Nase. Er konnte den Staub in der Luft riechen, den Schweiß, der auf den Gesichtern der Mönche glänzte, als ob sie sich mit Schweinefett eingerieben hätten. Alles schien ihm mit einemmal viel realer, viel wirklicher als zuvor. Der Gedanke daran, was das zu bedeuten hatte, beschäftigte Nod nur am Rande. Was spielte es schon für eine Rolle, warum er sich veränderte? Die Hauptsache für ihn was, daß er es tat. Als Baglabar und die anderen Brüder sich trotz ihrer Angst, die auf Nod beinahe wie ein Aphrodisiakum wirkte, zu einer neuen Attacke aufrafften, wußte der junge Mönch bereits, was sie im Sinn hatten, bevor sie es schließlich taten. Mit Augen, deren Pupillen nicht nur die Form, sondern auch die Farbe verändert hatten, funkelte er die Männer an. »Ich kann eure gottverdammte Angst riechen«, erklärte Nod ketzerisch. »Der Gestank eurer Furcht liegt in der Luft, als ob ihr euch in die Kutten geschissen hättet. Wie erbärmlich ihr doch seid!« Baglabar schluckte schwer. »Du bist nicht mehr du selbst, mein Sohn«, sagte er zu Nod. »Das Böse hat sich deiner bemächtigt. Der Teufel ist in dich gefahren. Und
es gibt nur einen Weg, deine gottgegebene Seele zu retten, wenn du nicht bis in alle Ewigkeit in der ewigen Verdammnis schmoren willst.« »Ach, ja?« höhnte Nod. »Und welchen?« »Ergib dich uns. Nur im Tod kannst du deine Seele läutern!« Nod lachte, laut und schrill. Der Ton schien nicht aus einer menschlichen Kehle zu kommen. »Weil es euch armseligen Mönchlein nicht gelingt, mich zu ermorden, soll ich euch die Arbeit abnehmen?« höhnte er. Das Lachen erstarb, als Baglabar den anderen ein Zeichen gab. Vier der Männer zogen die verbliebenen Messer aus ihren Kutten, und gemeinsam stürmten sie auf Nod zu. Nod reagierte mit einer Geschwindigkeit, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Er ließ den Magmaschlüssel los, wirbelte auf dem Absatz herum, fauchte die angreifenden Mönche an wie eine wütende Katze – und warf sich dann mitten zwischen sie! Die Mönche schrien überrascht auf, als Nod in ihrer Mitte auftauchte und durch sie hindurchwirbelte wie ein Pflug. Doch bevor sie ihn mit ihren Messern attackieren konnten, war Nod bereits hinter ihnen und rannte durch die Innere Halle in Richtung des Labyrinths. »Er will flüchten!« brüllte Baglabar. Der Oberste hatte recht. Nod wollte von hier flüchten. Denn was auch immer mit ihm vorging, der Wandel nützte ihm nichts, wenn er von seinen ehemaligen Brüdern ermordet wurde. Und sich ihnen zu stellen, dazu war er noch nicht bereit. Das würde er tun, wenn die Zeit dafür anbrach. Wenn es galt, das Große Siegel endgültig zu brechen! Mit wehender Kutte eilte Nod aus der Halle und hinein in das Wirrwarr des Labyrinths, während er die Schritte der Verfolger hinter sich hörte. Nod lief unbeeindruckt weiter. Er hatte keine Angst mehr. Vor
überhaupt nichts. Diese Welt hatte seine Schrecken für ihn verloren. Dennoch … Er durfte Baglabar und den anderen Mönchen auf keinen Fall in die Hände fallen. Das war nicht das Schicksal, das ihm zugedacht war. Sein Schicksal war es, zu leben. Zu leben und zu warten. Darauf, daß die Zeit kam, das Große Siegel zu brechen und das Portal des Tores zu öffnen. Denn das war die Aufgabe, die ihm vorherbestimmt war. Dafür war er geboren worden, das wußte er jetzt. Mit diesem Gedanken hetzte er die Treppe hinauf. Ein ganzes Stück hinter sich hörte er seine Verfolger keuchen und ächzen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Was war er all die Jahre nur für ein verdammter Narr gewesen, daß er auf dermaßen erbärmliche Kreaturen wie Agbar und Baglabar, deren Macht nur in Worten steckte, gehört hatte! Er hatte sein ganzes bisheriges Leben verschwendet. Doch damit war es nun vorbei. Für Nod brach eine neue Existenz an – und für die Welt eine neue Epoche, der er seinen Stempel aufdrücken würde. Als Nod das Ende der Treppe erreichte und in den Korridor hinaustrat, erscholl in dem Gang ein Murmeln aus Dutzenden von Kehlen. Die restlichen Mönche des Klosters hatten sich dort versammelt, um zu tun, was sie in Gottes Namen tun mußten, damit die Welt, wie die Menschen sie kannten, erhalten blieb. An ihrer Spitze ging, leicht gekrümmt, der an der Schulter Verletzte. Mit dem gesunden Arm wies er auf Nod und sagte: »Er ist es.« Bewaffnet mit Messern, Dolchen und anderen spitzen und scharfen, als Waffen zweckentfremdeten Dingen kamen sie auf Nod zu. In ihren Augen lag ein Ausdruck eisiger, obgleich furchtsamer Entschlossenheit. Nod überlegte einen Moment, ob er sich ihnen entgegenstellen sollte. Doch dann entschied er sich dagegen und wandte ihnen statt
dessen den Rücken zu, um mit weit ausgreifenden Schritten den Korridor hinunterzulaufen, zum Hauptportal des Klosters. Einen Augenblick später schlüpfte er in die Nacht hinaus und sog die klare, kühle Luft tief in sich ein, während er über den Innenhof zu dem Häuschen lief, in dem sich die Seilwinde und der große Korb befanden, mit dem allein man vom Kloster ins Tal gelangte. Doch als er die Tür des Häuschens aufriß, stellte er fest, daß seine ehemaligen Brüder Vorsorge getroffen hatten. Von dem langen Hanfseil, an dem der Korb sonst hing, fehlte jede Spur. Es gab keine Möglichkeit, Monte Cargano zu entfliehen! Nun beschlich Nod doch ein drückendes Gefühl der Angst. Die Nervosität kehrte zurück. Unruhig wandte er sich von dem Korbhäuschen ab und überlegte fieberhaft, wie er seinen Häschern, die bereits in den Innenhof drängten, sonst entkommen konnte. Doch er wußte nur allzu gut, daß es keinen weiteren Weg aus dem Kloster gab. Verdammt! Er stieß einen wütenden Fluch aus und sah sich hastig um. Die Kuttenträger waren schon fast bei ihm. Nur noch wenige Schritte trennten sie von Nod. Der Besessene funkelte seine Widersacher haßerfüllt an und lief nach rechts, hinüber zu den Zinnen, an denen er vorhin – es schien eine Ewigkeit her zu sein – gestanden und über das ruhig in der Abenddämmerung liegende Land geblickt hatte. Er wußte nicht, was er tun sollte, wie es ihm gelingen sollte, den Klingen seiner Häscher zu entkommen, die nun, da sie ihn in der Falle wußten, langsamer wurden. Nod wich immer weiter vor der Meute zurück, bis er mit dem Rücken, der trotz der tiefen Wunden, die Baglabar und die anderen Männer ihm unten in der Inneren Halle zugefügt hatten, nicht im Geringsten mehr schmerzte, gegen den Stein der halbhohen Zinnen stieß.
In diesem Moment wurde Nod klar, daß er verloren war. Hinter ihm der gähnende Abgrund. Vor ihm die Mitglieder der Bruderschaft, die sich ihm mit gewetzten Messern näherten, bereit, sich jederzeit auf ihn zu stürzen, wenn sich ihnen eine günstige Gelegenheit dazu bot. Nod zog sich noch weiter zurück, bis auf den Platz zwischen zwei der aufragenden Zinnen. Der Aufwind von jenseits der Mauern griff nach ihm und zerrte an seiner Kutte. Seine Finger krallten sich in den Stein, bis die Nägel brachen. Einer der Mönche trat vor. Es war Luciano, mit dem er in den wenigen Stunden, die des festgelegte Tagesplan ihnen ließ, oftmals Schach gespielt hatte. »Komm zu mir, Nod«, sagte er leise. »Du weißt, daß es keinen Ausweg gibt. Was die Gesetzte der Illuminati für diesen Fall vorschreiben. Laß es mich als deinen Freund tun.« »Wenn du mir einen Gefallen erweisen willst«, entgegnete Nod, »dann schneide dir doch selbst die Kehle durch. Ich kann dein dummes Gesicht nicht mehr sehen.« Luciano erstarrte, während die anderen mit wütenden Rufen auf die höhnischen Worte antworteten und näherrückten. Instinktiv wich Nod noch weiter zurück – aber da war kein Grund mehr, auf dem er sich halten konnte. Die Kante des Zinnen-Innenraums fiel auf den letzten Metern schräg ab. Als Nod darauf trat, geriet er aus dem Gleichgewicht, knickte unvermittelt in den Knien ein. Panisch mit den Armen rudernd, kippte er nach hinten. Wie ein Stein stürzte Antonio Perez del Caz in die Tiefe!
* Ein heiserer, gellender Schrei begleitete Nod auf dem Weg in die Tiefe. Er begriff kaum, daß er selbst es war, der ihn ausstieß. Er spürte, wie der Wind an seiner Kutte und seinem Haar zerrte, und
er begriff, daß er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte, bevor er unten auf dem Fels aufschlug. Über sich konnte er die Zinnen von Monte Cargano sehen, an denen jetzt die Gesichter der anderen Mönche auftauchten, die ihm nachstarrten, und den Mond, der bleich und rund wie das Antlitz eines toten Mannes am samtschwarzen Nachthimmel stand, und irgendwie erfüllte ihn der Anblick des Vollmonds mit einer Ruhe und Gelassenheit, die schon beinahe an Gleichgültigkeit grenzte. Denn mit einemmal begriff er, daß er vorhin recht gehabt hatte: Es war nicht sein Schicksal, heute und hier zu sterben. Er würde nicht sterben! Erfüllt von dieser Gewißheit verwandelte sich sein Schrei in bellendes Gelächter, als er sich in der Luft drehte, so daß er erkennen konnte, wie der felsige Boden mit jedem Herzschlag näherkam, und die Arme ausbreitete wie ein Vogel. Er genoß das Gefühl des Windes auf seinem erhitzten Gesicht. Gleichzeitig spürte er, wie mit ihm eine Veränderung vorging, wie ein sonderbares Kribbeln sich in seinen Gliedern ausbreitete. Obwohl er im Gegensatz zu den Mönchen der Illuminati nicht sehen konnte, was mit ihm geschah, wußte er dennoch, daß er sich verwandelte. Daß sein Leib, erfüllt und beherrscht von der Macht des Magmaschlüssels, eine Metamorphose durchmachte, wie eine Raupe, die zu einem Schmetterling wurde. Nod genoß den Schmerz, den seine Knochen verursachten, als sie sich grotesk bogen, streckten und verkürzten, sich drehten und krümmten, und verwandelte sich unter den fassungslosen Blicken des Obersten Baglabar und der übrigen Mönchen in eine Kreatur der Nacht. Verwandelte sich – in eine große Fledermaus! Kurz bevor Nod auf dem Boden aufschlagen würde, war die Verwandlung abgeschlossen, und als er probeweise mit seinen gewaltigen lederartigen Schwingen schlug, erfaßte ihn ein Windstoß und
trug ihn wieder empor, hinauf zu den Sternen, die wie ein Meer aus Diamanten das dunkle Firmament bedeckten. Nod riß sein Maul auf, das vor nadelspitzen Zähnen starrte, und stieß ein triumphierendes Kreischen aus, das von den Felswänden widerhallte. Er ließ sich vom Nachtwind emportragen zu den Zinnen von Monte Cargano, schloß wie ein Pfeil über das Kloster hinweg, schlug von neuem mit seinem Schwingen und stieg weiter auf, immer höher und höher, ein Schatten vor der hellen Scheibe des Mondes, erfüllt von einem unbeschreiblichen Gefühl des Glücks und der Freiheit, das er nie gekannt hatte, bis die Nacht ihn schließlich verschluckte. Zurück blieben die Mönche der Bruderschaft, die an den Zinnen von Monte Cargano standen, noch immer ihre nutzlosen Messer, Dolche und Sicheln in den Händen, und mit einemmal wie auf einen unhörbaren Befehl hin zusammen ein Gebet anstimmten. Sie beteten darum, daß die Prophezeiungen des Johannes sich nicht erfüllen mochten. Daß es ihnen gelang, das Heiligtum vor dem verderblichen Einfluß des Bösen zu bewahren, bis irgendwann der Jüngste Tag anbrach und der Herrgott ihnen befahl, das Portal zu öffnen, auf daß die Menschheit von ihrem eigenen Übel fortgerissen werde. Doch noch war es nicht soweit. Noch nicht …
* 493 JAHRE SPÄTER Es gibt Menschen, die alles tun würden, um dem Sensenmann nie ins knöcherne Antlitz schauen zu müssen. Andere wiederum sind dem Tod weit mehr zugetan als dem Leben. Zu letzterer Kategorie gehörten die beiden Gestalten, die in jener
Nacht im Januar des Jahres 1997 um kurz nach Mitternacht über die Mauer der St. Catherine’s Memorial Church in Los Angeles kletterten. Nacheinander, mit einem Selbstbewußtsein, welches verriet, daß dies nicht das erste Mal war, daß sie sich auf diese Weise Zutritt zu dem Friedhof verschafften, kamen die Eindringlinge über die Backsteinmauer und sprangen auf der anderen Seite behende zu Boden. Sie waren beide von Kopf bis Fuß völlig schwarz gekleidet, was weniger damit zu tun hatte, daß sie sich von ihren dunklen Sachen einen besseren Schutz vor Entdeckung versprachen, sondern weit mehr damit, daß die Farbe ihrer Einstellung entsprach. Schwarz symbolisierte für den dreiundzwanzigjährigen Baxter Collins und seine zwei Lenze jüngere Freundin Carola Wilson all das, was das Leben ihnen nicht bieten konnte: Ruhe. Frieden. Glück. Und Erfüllung bis in alle Ewigkeit. Denn für die zwei Grufties war Schwarz gleichbedeutend mit Tod. Mit Jenseits. Mit all dem, das danach kam. Was war das Leben schon verglichen mit den Wundern, die jenseits der beengenden Grenzen des Seins lagen? Der Tod versprach den beiden jungen Leuten mehr, als ihre irdische Existenz ihnen jemals würde bieten können. Deshalb suchten sie seine Nähe. Darum waren sie hier, auf dem Friedhof der St. Catherine’s Memorial Church, um zwischen den Gräbern und Grüften den Odem der Unsterblichkeit in sich aufzunehmen, das Flair des Jenseits, wie in so vielen Nächten zuvor. Doch heute würde das letzte Mal sein. Sie hatten lange darüber diskutiert, ob der Schritt, den sie zu tun gedachten, wirklich richtig war, und sie waren zu dem Schluß gekommen, daß es nichts gab, was sie sich mehr wünschten. Baxter und Carola wollten dieser trostlosen, öden Welt, die für sie weder Freude noch Glück bereithielt, den Rücken kehren, um in eine andere, zweifellos bessere Welt einzugehen.
Und sie würden es gemeinsam tun. Während sie sich liebten. Auf dem Höhepunkt ihrer Lust. Dem »kleinen« Tod sollte sein großer Bruder direkt auf dem Fuße folgen … Baxter huschte hinüber zum Hauptgang des Friedhofs und blickte sich um, da sich gelegentlich irgendwelche Penner, die von den Sicherheitsbeamten aus den beheizten Wartesälen der U-Bahnen verscheucht wurden, herschlichen, um in einer der Grüfte über Nacht Schutz vor Wind, Schnee und Kälte zu suchen. Als er nach einer halben Minute niemanden entdeckt hatte, winkte er Carola zu sich. Die junge Frau schloß zu ihm auf. »Alles klar?« Baxter nickte. »Scheint so.« Carola lächelte. »Gut«, sagte sie gedehnt. »Dann wird uns niemand stören …« Baxter grinste. Er ergriff die Hand seiner Freundin und zog sie hinter sich her den Mittelgang entlang. Schnee, weiß und jungfräulich, knirschte leise unter den Absätzen ihrer Schuhe. Zu beiden Seiten des Weges ragten Grabsteine empor, standen da in Reih’ und Glied, wie Soldaten auf dem Paradeplatz. Die beiden jungen Leute gingen weiter, bogen später von dem Weg auf einen anderen Pfad ab, der tiefer in das Areal führte, und schlichen Hand in Hand an einer Reihe von Mausoleen vorbei, von denen einige fast so groß wie Einfamilienhäuser waren. Das waren vor allem die Ruhestätten bekannter Hollywoodstars, die ihren Reichtum im wahrsten Sinne des Wortes mit in ihr Grab genommen hatten, vermutlich, um auch nach ihrem Tod noch eine Attraktion zu sein. Verrückte Welt … Baxter und Carola marschierten weiter, bis sie eine Reihe von Grabstätten erreichten, in denen ganze Familien beigesetzt waren. Dann sahen sie sich die teilweise mit Schnee bedeckten Grabsteine an und fanden schließlich unweit der St. Catherine’s Memorial-Kir-
che, die im Hintergrund düster und massiv in den wolkenverhangenen Nachthimmel ragte, ein Plätzchen, das ihren Vorstellungen entsprach. Die Grabstätte von Joseph und Susan Henderson schien für ihre Zwecke ideal zu sein. Schließlich waren die Hendersons zusammen gestorben; beide am 7. September 1993, vermutlich bei einem Autounfall oder Flugzeugabsturz. Oben auf dem weißen Grabstein, an dem sich die nackten, holzigen Zweige eines Rosenstrauchs emporrankten, thronte ein Engel aus Marmor, erhellt vom Licht des Mondes, und der weiße Schnee, der das Grab bedeckte, wirkte wie eine Decke, die zum Kuscheln einlud. Zum Kuscheln – und zum Lieben … Carola ließ die Hand ihres Freundes los und kniete sich vor dem Grabstein nieder. Mit den Fingern strich sie über den Stein und sagte leise: »Ob es leichter für sie war, weil sie zusammen gestorben sind?« Baxter zuckte die Achseln. »Möglich«, sagte er. »Für mich wird es jedenfalls leichter sein, wenn ich weiß, daß du bei mir bist, wenn wir hinübergehen.« Er legte ihr von hinten die Hand auf die Schulter, um seine Worte zu bekräftigen. Carola lächelte und rieb ihre Wange sanft an seiner Hand. Sie war eine attraktive junge Frau. Großgewachsen, mit langem, rabenschwarzem Haar, großen grünen Augen, die durch schwarzen Kajalstift noch betont wurden, und vollen, geschwungenen, von Natur aus roten Lippen, die zum Küssen geradezu einluden. Nur die unnatürlich bleiche Haut der jungen Frau trübte den positiven Gesamteindruck ein wenig. Baxter ließ seine Finger durch Carolas dichtes Haar wandern und massierte sanft ihre Schläfe, was ihr ein wohliges Seufzen entlockte. Sie genoß Baxters Berührung für einen Augenblick und drehte sich dann zu ihm um. Vor ihm auf dem Boden kniend, berührte sie den Schritt seiner Hose, der sich zusehends zu wölben begann, und
schaute lächelnd zu ihm auf, als sie die pulsierende Härte jenseits des Stoffs seiner Jeans spürte. »Du kannst es wohl kaum erwarten, wie?« neckte sie ihn. Er grinste. »Wie hast du das nur erraten?« Carola öffnete mit flinken Fingern den Reißverschluß seiner Hose. Baxters erigiertes Glied drängte sich ihr verlangend entgegen. Sie packte es mit geübtem Griff und massierte es leidenschaftlich. Baxter spreizte die Beine, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und grub seine Hände in Carolas Haar. Ein gutturales Stöhnen entwich seiner Kehle. Überwältigt von den Lustgefühlen, die Carola in ihm heraufbeschwor, legte er den Kopf in den Nacken, während die junge Frau auf seinem besten Stück spielte wie auf einem Instrument. Als Baxter spürte, wie ein Orgasmus nahte, zog er sich von ihr zurück. »Langsam«, sagte er. »Ganz langsam, Baby! Wir haben Zeit!« Sie ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Baxter suchte ihre Lippen, und sie küßten sich, lange und heiß und feucht, wie sie es gerne hatte. Dabei glitten seine Hände forschend über ihren Körper, schlüpften unter den Saum ihrer Jacke und ihre Bluse, um ihre nackte, weiche Haut zu liebkosen. Er ließ seine Finger unter der Jacke höher wandern und umfaßte ihre Brüste, jede mit einer Hand, um sie sanft und hart zugleich zu kneten, bis die Warzen hart und groß wie Kirschkerne waren. Carola wand sich in seinem Griff und stöhnte leise, als er seine rechte Hand über ihren schlanken weichen Bauch wandern ließ und vorne in den Bund ihrer Hose steckte. Sie spürte seine Finger, die unter ihren Slip schlüpften, um sie dort auf eine Art zu liebkosen, die Carola fast um den Verstand brachte. Als die Gier zu groß wurde und das Feuer, das in ihrem Schloß brannte, zu stark, drängte sie Baxter zurück und zog den Reißverschluß ihrer Jacke herunter, um sich auszuziehen. Unter den verlangenden Blicken ihres Freundes schlüpfte Carola aus ihrer gefütterte
Jacke und ließ das Kleidungsstück achtlos zu Boden fallen. Ihre Bluse folgte einen Augenblick später. Mit bloßem Oberkörper stand die junge Frau auf dem Grab der Hendersons und genoß das Gefühl der Gänsehaut, die wegen der Kälte über ihre bleiche Haut kroch. Die Höfe ihrer Brüste, die wunderbar üppig, aber fest genug waren, daß ein BH überflüssig war, wurden noch härter. Baxter tat es Carola gleich und streifte sich ebenfalls die Jacke ab. Darunter trug er ein schwarzes The Cure-T-Shirt, das er sich geschickt über den Kopf zog und beiseite warf. Danach entledigte er sich seiner Jeans und endlich seiner Unterhose, um seine Männlichkeit, die etwas zusammengeschrumpft war, der Nachtluft auszusetzen. Anschließend half er Carola dabei, aus ihrer Hose zu steigen. Dann verharrte er und betrachtete die junge Frau, die, nur mit einem knappen schwarzen Seidenslip bekleidet, vor ihm stand und so begehrenswert wie noch nie zuvor in ihrem kurzen Leben war. Carola war eine Traumfrau, eine Göttin. Seine Göttin. Die Göttin des Todes … Überwältigt von Leidenschaft und Wollust drängte Baxter die junge Frau vorwärts, wies sie an, sich über den Grabstein zu beugen, und legte seine beiden Hände auf ihre Backen, die weiß und rund und einladend emporragten. Carola stieß einen leisen Schrei aus, als sie ihn in sich dringen fühlte, und begann sich im selben Rhythmus zu bewegen. Dabei schloß sie die Augen, um sich ganz dem wunderbaren Gefühl hinzugeben, mit dem Mann, den sie liebte, vereint zu sein. Baxter gab Carola, was sie wollte, und spürte schon bald, wie er sich von neuem dem Höhepunkt näherte, der diesmal, das spürte er ganz deutlich, mehr einem Vulkanausbruch als einem Orgasmus gleichen würde. Doch Baxter hatte nicht vor, so zu kommen. Er wollte Carola dabei tief in die Augen sehen, in ihr versinken wie in einem See, um den
Anblick ihres lieben, verzückten Gesichts, das vor Lust und Leidenschaft leuchtete, mit auf die Reise zu nehmen. Er zog sich behutsam aus ihr zurück und bedeutete ihr mit einem Nicken, sich auf das Grab zu legen. Sie ließ sich auf das Weiß des Schnees sinken, breitete ihr dunkles Haar darauf aus wie auf einem Kopfkissen, und winkelte einladend die Beine an. Dann winkte sie Baxter zu sich. »Na los«, lockte sie ihn mit einem verführerischen Lächeln auf den Lippen. »Bring zu Ende, was du angefangen hast!« Baxter kniete vor ihr nieder, stützte sein Gewicht mit den Händen ab und bewegte seine Hüfte in einem schnellen, harten Rhythmus. Trotz der Kälte schwitzte er. Schweiß perlte auf der Stirn des jungen Mannes und lief seinen Hals hinab, um in den Schnee zu tropfen. Sein Herz hämmerte wie ein Schmiedehammer. Carola unter ihm stöhnte kehlig. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte Baxter tief in die Augen. Gemeinsam strebten sie dem Höhepunkt entgegen, der finalen Eruption, die sie in eine andere, bessere Welt hinüberbegleiten würde. Als er spürte, wie der Orgasmus kam, veränderte Baxter seine Stellung, griff nach seiner Hose, die neben ihm auf dem Grab lag, und fischte die schwarze Kapsel aus der Tasche, die er von Hank bekommen hatte. Ohne zu überlegen, was er tat, steckte er sich die Kapsel in den Mund und schob sie mit der Zunge hinten zwischen seine Backenzähne. Dann legte er Carola beide Hände um den Hals, was ihr einen Laut entlockte, den man wohl eher bei einer brünftigen Löwin erwarten würde. Sie wußte, daß sie sich mit gewaltigen Schritten dem Finale näherten, und bestärkte ihren Liebhaber in seiner Absicht, indem sie ihm ihr Becken entgegenstieß. Sie hatte keine Angst. Die Neugierde, was sie auf der anderen Seiten erwarten würde, war größer als ihre leise Furcht vor dem Tod. Denn der Tod war das Leben! Baxter grub seine Finger tiefer in das weiße Fleisch und sah der
jungen Frau direkt in die Augen. Er wollte sehen, wie ihre Seele den Körper verließ und die Grenze überschritt, um in diesem Moment die Zyankalikapsel in seinem Mund zu zerbeißen. Wenn Hank recht hatte, würde es nur zwei oder drei Sekunden dauern, bis das hochgiftige Kaliumsalz, das Baxters Kumpel aus der Blausäure von Pfirsichkernen gewonnen hatte, wirkte. Zwei oder drei kurze Sekunden Schmerz, um anschließend bis in alle Ewigkeit mit seiner geliebten Carola vereint zu sein … Kurz bevor es soweit war, überkam Carola unvermittelt ein Gefühl der Panik. Ihr schoß durch den Kopf, daß sie vielleicht einen großen Fehler machte, daß sie ihr jungen Leben womöglich für etwas fortwarf, das es nicht wert war. Doch dann sah sie durch die trüben roten Schlieren, die ihren Blick trübten, zu Baxter auf, und wußte, daß sie dabei war, das zu tun, wovon sie immer geträumt hatte. Sie starb. Durch die Hand des Mannes, den sie liebte. Was konnte es Schöneres auf der Welt geben? Als sie einen Moment später spürte, wie der Boden unter ihr erzitterte, glaubte Carola im ersten Augenblick, ihr Orgasmus wäre dafür verantwortlich. Doch dann hörte sie durch die Schicht von Watte, die in ihren Ohren zu stecken schien, das gewaltige Krachen einer Explosion. Gleichzeitig gewahrte sie durch den Schleier der Benommenheit, daß der Himmel über dem Friedhof sich unversehens rotgolden erhellt hatte. Als sie dann noch spürte, wie sich Baxters Hände von ihrem Hals lösten und sie wieder Luft bekam, wußte sie, daß irgend etwas geschehen war, womit weder sie noch ihr Freund gerechnet hatten. Während Carola sich keuchend und hustend im Schnee wand, zog Baxter sich aus ihr zurück und richtete sich verwirrt auf. Nackt bis auf seine Schuhe stand er da und starrte hinüber zur St. Catherine’s Memorial Church, die soeben mit einer gewaltigen Detonation in
Flammen aufgegangen war. Die Kirche brannte lichterloh!
* Vom Fundament bis hoch zum Glockenturm schlugen die Flammen. Es konnte kein normales Feuer sein, denn es verzehrte gierig Stein und Holz der St. Catherine’s Memorial Church mit einer Geschwindigkeit, die kaum vorstellbar war. Ruß, Asche und glühende Holzteilchen stoben in einer rotgoldenen Wolke empor zum Firmament, während die Buntglasfenster, auf denen die Lebensgeschichte Jesu Christi erzählt wurde, mit dem Geräusch von implodierenden Glühbirnen platzen und Splitter in alle Richtungen verstreuten. Baxter stöhnte; diesmal nicht vor Lust, sondern vor Hitze, denn obgleich der Brand etwa hundert Meter von ihnen entfernt war, spürte er die Hitze der Flammen, als ob er direkt neben ihnen stehen würde. Schweiß lief ihm in Strömen über den Leib. Dann schmeckte er, wie sich die Zellulosekapsel, in der sich das Zyankali befand, durch seinen Speichel aufzulösen begann, und spie die Kapsel kurzerhand in den Schnee. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er sie nicht mehr brauchte. Als Carola sich hinter ihm mühsam aufrappelte, bemerkte er es zunächst gar nicht. Erst als sie ihn am Arm berührte, drehte er sich zu ihr um. Sämtliche Leidenschaft war aus ihm verschwunden. Sein erschlaffter Penis baumelte zwischen seinen Beinen wie ein Stück Tau, nutzlos und lächerlich. Carola, noch immer benommen von dem vorübergehenden Sauerstoffentzug, sagte langsam: »Warum …« Baxter verstand nicht. »Warum was?« »Warum hast du aufgehört?« Er runzelte die Stirn. »Ist das dein Ernst?« sagte er. »Du willst wirklich wissen, warum ich aufgehört habe?« Er konnte es kaum
fassen. »Verdammt, sieh dich doch mal um! Die verfluchte Kirche ist in die Luft geflogen!« »Na und?« fragte Carola. »Was hast das mit uns zu tun?« »Ganz einfach«, erwiderte er und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. »In wenigen Minuten wird es hier von Feuerwehrleuten, Polizei, Reportern und was weiß ich wem sonst noch nur so wimmeln, und ich habe wenig Lust, dabei erwischt zu werden, wie ich dir splitternackt auf einem Grab die Seele aus dem Leib vögle, um dich anschließend umzubringen!« »Du liebst mich nicht mehr!« heulte Carola enttäuscht. Baxter winkte ab. »Natürlich liebe ich dich! Und eben weil ich das tue, möchte ich nicht, daß die ganze verdammte Welt mitbekommt, was nur uns beiden gehören soll! Wenn wir sterben, dann gemeinsam und in aller Ruhe und Abgeschiedenheit! Nur für uns, verstehst du? Nicht für die sensationsgeilen Reporter vom National Enquire!« Carola schniefte und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einemmal war ihr sehr kalt. Sie sah Baxter an und sagte langsam: »Ich liebe dich, Baxter. Wirklich. Und ich werde alles tun, was du willst.« »Wunderbar!« meinte er. »Dann sei ein braves Mädchen und zieh dich an, damit wir von hier verschwinden können!« Carola nickte und klaubte ihre Kleider zusammen, die auf dem Grab verstreut lagen und von der Nässe des Schnees feucht geworden waren. Sie schlüpfte in ihre Hose, streifte ihre Bluse über – und hielt plötzlich inne, als rechts von ihnen mit einemmal eine Gestalt auftauchte, die geradewegs aus den lodernden Flammen zu kommen schien, deren flackerndes rotgelbes Leuchten den gesamten Friedhof erhellte. Obwohl die Person nur ungefähr zwei Dutzend Meter von ihnen entfernt war, konnte sie nicht erkennen, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, da sie eine dunkle Kutte trug, deren Kapuze das Gesicht verbarg. Doch sie spürte deutlich, daß die Person gefährlich war.
Sehr gefährlich … »Baxter …«, murmelte Carola. Er sah sie an. »Was?« Sie sagte nichts, sondern wies mit dem Kopf in die Richtung des Kuttenträgers, der das Spiel der Flammen beobachtete und die beiden Grufties noch nicht bemerkt zu haben schien. Baxter sah hinüber zu der Gestalt und fluchte leise. »Was für ein Mist!« zischte er und zog seine Gespielin hastig hinter dem Grabstein der Hendersons in Deckung. »Ein Scheißmönch! Wenn der uns hier erwischt, können wir die nächsten fünf Jahre Tüten kleben! Und zwar auf Staatskosten!« Carola spähte über den Rand des Grabsteins hinüber zu dem düsteren Kuttenträger. »Was zum Teufel macht der hier? Mitten in der Nacht?« Baxter zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Aber irgendwie glaube ich nicht, daß der Kerl zufällig hier ist.« Carola sah ihn fragend an. »Du meinst …« Er nickte. »Schon möglich.« »Aber warum?« »Was weiß ich?« sagte Baxter. »Vielleicht hat es ihm nicht gereicht, bloß den Opferstock zu plündern …« Er wollte noch mehr sagen, doch mit einemmal kam Bewegung in den unheimlichen Kuttenträger. Er hob die Arme hoch über den Kopf und stieß einen gutturalen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schrei lag. Gleichzeitig schienen auf seinen Händen, deren Flächen der lichterloh brennenden Kirche zugewandt waren, blaue Funken zu tanzen, die sich innerhalb von wenigen Sekunden zu handballgroßen Energiebällen formten. Dann holte der Mönch aus – und schleuderte die beiden Energiekugeln kraftvoll gegen den Glockenturm der Kirche! Baxter Collins riß die Augen auf und verfolgte ungläubig, wie die zwei bläulichen Energiekugeln mit der Wucht von Kurzstreckenra-
keten in den Kirchturm einschlugen. Eine ohrenbetäubende Explosion zerriß die Nacht. Plötzlich war die Luft erfüllt von brennenden Trümmern. Stein brach. Holz splitterte. Dann begann der ungefähr fünfzig Meter hohe Turm der St. Catherine’s Memorial Church bedenklich zu schwanken, um einen Moment später nachzugeben und einzustürzen. Der Mönch brach in wieherndes Gelächter aus, das sogar den Lärm des einstürzenden Glockenturms übertönte. Es war schrill, hart und vollkommen humorlos. Das Lachen eines Wahnsinnigen … Carola preßte sich dicht an Baxter, der seinen verwirrten Blick unruhig von den Ruinen des Glockenturms zu dem Kerl mit der Kutte wandern ließ und sich fragte, ob er dabei war, den Verstand zu verlieren, oder einfach nur Halluzinationen hatte. Denn das, was er eben gesehen hatte, spottete jeglicher Vernunft. Männer, die in der Lage waren, Energiebälle zu erschaffen, mit denen sich Gebäude im Handumdrehen in Schutt und Asche legen ließen, gab es nur in Superhelden-Comics. Als einen Moment später aus der Ferne das Heulen mehrerer Sirenen erscholl, die sich mit hohem Tempo der Kirche näherten, verstummte das irre Gelächter des Kuttenträgers, und der Mönch wandte sich von der brennenden Ruine der St. Catherine’s Memorial Church ab, um von hier zu verschwinden, ehe die Feuerwehr und die Polizei eintrafen. Er kehrte der Kirche den Rücken und ging mit ausgreifenden Schritten den Hauptgang des Friedhofs hinab. Baxter und seine Freundin duckten sich noch weiter hinter den Grabstein, als der Mönch näherkam, und beobachteten, wie er zehn Meter rechts von ihnen an ihrem Versteck vorbeieilte, ohne sie zu bemerken. Die beiden Grufties atmeten erleichtert auf. Dann jedoch blieb der Kuttenträger mit einemmal stehen. Er hielt mitten in der Bewegung inne, als wäre er gegen eine Wand gelau-
fen, die sie nicht sehen konnten, und hob unter der weiten Kapuze, die von seinem Gesicht nur Schwärze erkennen ließ, den Kopf. Wie ein Jagdhund, der eine Witterung aufnimmt. Dann drehte der Mönch sich auf dem Absatz herum und schaute geradewegs zu den beiden jungen Leuten herüber, blickte ihnen direkt in die Augen, als ob er die ganze Zeit über ganz genau gewußt hatte, daß sie sich hinter dem Grabstein verborgen hielten. Und obwohl Carola sich dessen unmöglich sicher sein konnte, glaubte sie in diesem Augenblick zu sehen, wie sich die Züge des Mönchs in den Schatten der Kapuze zur Parodie eines Lächelns verzogen. Panik überkam Carola. Blinke, kopflose Panik. Sie sprang auf und zog Baxter mit sich hoch. »Komm!« rief sie aufgeregt. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu verstecken; der Mönch wußte genau, daß sie da waren. »Schnell! Weg hier!« Baxter nickte. Obwohl er abgesehen von seinen Schuhen und den Jeans, die er mittlerweile wieder angezogen hatte, nackt war, folgte er Carola, als sie in östlicher Richtung davonlief. Wie seine Freundin spürte er deutlich, daß mit der finsteren Gestalt irgend etwas nicht stimmte, und nach der Sache mit den Energiebällen verspürte er keinerlei Verlangen danach, genauer herauszufinden, was das wohl sein mochte. Er wollte nur weg von hier. So schnell wie möglich. Doch dazu war es bereits zu spät. Viel zu spät. Das begriffen Baxter und Carola spätestens in dem Moment, als der unheimliche Mönch, der vor einer halben Minute noch hinter ihnen gewesen war, plötzlich unmittelbar vor ihnen auftauchte und ihnen den Weg versperrte. Carola schrie auf und geriet auf dem Schnee ins Rutschen, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings gegen Baxter, der sie in letzter Sekunde an der rechten Schulter zu fassen bekam und verhinderte, daß sie zu Boden stürzte.
Der Kuttenträger kommentierte ihre Furcht mit einem hohlen Kichern, das bar jeden Gefühls war. Obwohl er weniger als drei Schritte von ihnen entfernt stand und der Widerschein des Feuers über seine Kutte huschte, konnten die zwei jungen Leute noch immer nicht sein Gesicht ausmachen. Es war, als ob unter der Kapuze nur Schwärze war; undurchdringliche, alles umfassende, absolute Schwärze … »Ihr hättet nicht herkommen sollen«, ertönte es aus dem Schatten. Die Stimme des Mönchs klang wie sein Lachen: hart und grausam, leidenschaftslos. »Nicht heute nacht. Nicht in der Nacht meiner Rache.« Baxter schluckte seine Furcht herunter, obwohl seine Knie wie Wackelpudding schlotterten, und fragte: »Warum nicht?« »Weil ihr hier sterben werdet«, sagte der Mönch. »Hier und heute nacht. Das ist euer Schicksal.« Baxter schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nicht mehr. Okay, wir hatten vor, allem ein Ende zu machen, aber nach der Sache mit der Kirche …« Er verstummte, als der Kuttenträger von neuem dieses eisige, emotionslose Kichern hören ließ. »Wie dumm ihr doch seid«, höhnte er. »Wie klein und dumm. Wie erbärmlich. Nur ein Mensch kann auf die Idee kommen, sich selbst umzubringen! Als ob das Leben nicht ohnehin schon viel zu kurz wäre! Der Tod ist ewig, aber das Leben … Oh, das Leben verfliegt innerhalb eines einzigen Augenblicks …« Jetzt verrieten die Worte des Kuttenträgers zum ersten Mal so etwas wie emotionale Regungen. Allerdings verschwand dieser Eindruck schnell wieder, als der Mann tonlos fortfuhr: »Dennoch ist der Tod manchmal unerläßlich – wie in eurem Fall.« Er breitete in einer leicht theatralischen Geste die Arme aus. »Ihr seid hergekommen, weil ihr den Tod suchtet – und ihr habt ihn gefunden. Hier bin ich!« »Scheiße«, murmelte Baxter. »Sie sind ja völlig irre …« Die Schatten unter der Kapuze schienen sich zu einem bösen Grin-
sen zu verziehen. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als ob der Mönch etwas darauf erwidern wollte. Doch statt dessen sprang er vor, war mit einem Satz bei den beiden Grufties und versetzte Baxter mit der flachen Hand einen Hieb mitten auf die Brust. Knochen knirschten. Baxter fühlte sich, als wäre er von einer Dampframme getroffen worden, und taumelte keuchend zurück. Er spürte, wie die Spitzen von mindestens vier gebrochenen Rippen ihm ins Fleisch stachen, und Tränen des Schmerzes schossen ihm in die Augen. Benommen und halb blind vor Qual stolperte er über seine eigenen Füße und stürzte zu Boden. Carola schrie auf und wollte Baxter zur Hilfe eilen, doch der Mönch packte ihr langes volles Haar und hielt sie brutal fest. Dann bog er Carolas Kopf mit einem Ruck nach hinten, so daß sich die Haut über ihrer Kehle spannte, und beugte sich über sie. Für einen Augenblick konnte Carola das Gesicht des Mönchs sehen, seine ebenmäßigen, beinahe knabenhaften Züge, die einem jungen Mann zu gehören schienen, obgleich seine pupillenlosen Augen davon kündeten, daß sie Äonen alt waren. Die hohe Stirn, die vorstehenden Wangenknochen, die vollen roten Lippen, die in dem bleichen Antlitz wie ein Fanal wirkten … Dann war er über ihr, und das Letzte, das Carola sah, ehe sich seine vor Speichel glitzernden Fangzähne, die lang und spitz und so weiß wie Elfenbein aus seinem Kiefer ragten, sich mit brutaler Gewalt in ihren Hals gruben, war der Mond, der hell und rund und vollkommen gleichgültig droben am Nachthimmel stand …
* Es bereitete Nod keinerlei Freude, an der Frau seinen Durst zu stillen, obgleich ihr Blut warm und rein war, nicht verdorben durch Drogen oder Alkohol wie das so vieler anderer Menschen in dieser trostlosen Epoche. Doch es war zumindest Nahrung, also nahm er
sich, was er brauchte. Wie immer. Als er die Frau nach einer knappen halben Minute komplett ausgesaugt hatte, schleuderte er ihren leblosen Körper achtlos beiseite und wandte sich dem Mann zu, der stöhnend zwischen zwei Grabsteinen kauerte und sich die schmerzende Brust hielt. Er schien kaum zu registrieren, was um ihn herum vorging. Der Schmerz betäubte ihn. Er bekam nicht einmal mit, wie seine Geliebte starb … Obwohl der Mann sich verzweifelt zu wehren versuchte, als Nod ihn packte, hatte der Mönch dennoch keine Schwierigkeiten, ihm seine Hauer in den Hals zu schlagen. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und war mit dem Kerl fertig, als die ersten Sirenen der nahenden Fahrzeuge in die Straße einbogen. Der junge Mann hing reglos und ungelenk wie ein nasser Sandsack in seinem Griff. Mit einem gleichgültigen Seufzen packte Nod den Kopf des Kerls und drehte sein Gesicht mit einem wütenden Ruck auf den Rücken, damit er nicht als Dienerkreatur erwachte. Als das Genick des Burschen brach, klang es wie knackendes Eis auf einem zugefrorenen See, hart und endgültig. Zufrieden wuchtete er die Leiche hoch und schleuderte sie mit der Leichtigkeit, mit der ein normaler Mensch einen Ball werfen würde, über vierzig Meter weit in die lodernden Flammen der St. Catherine’s Memorial Church, die inzwischen teilweise eingestürzt war. Schließlich war es nie gut, allzu deutliche Spuren zu hinterlassen. Dann ging er zu der toten Frau zurück, die mit angewinkelten Beinen, als würde sie auf ihren Liebhaber warten, zwischen zwei Gräbern im Schnee lag. Nod hob die Leiche auf – und wandte ruckartig seinen Kopf, als er unweit der Kirche das Knirschen von Reifen auf dem Kies des Vorplatzes hörte, während die Sirenen gleichzeitig verstummten. Aufgeregte Stimmen wurden laut. Nicht mehr lange, und es würde auf dem Friedhof zugehen wie in einem Tollhaus.
Nod stieß ein wütendes Knurren aus. Er mußte verschwinden, und zwar schnell! Er verzichtete darauf, der Frau das Rückgrat zu brechen. Statt dessen warf er sie wie ihren Geliebten in die gierigen Flammen, die an den Ruinen der Kirche emporleckten und alles verzehrten, was sich ihnen anbot. Das Feuer würde erledigen, wozu er jetzt nicht die Zeit hatte, dessen war sich der Mönch gewiß. Denn die Macht des Feuers war groß. Größer als die der Menschen. Größer als die der Vampire. Größer sogar als die Gottes, des Allmächtigen!
* Es war der Schmerz, der Carola aus der Welt der Toten in das Reich der Untoten hinüberbegleitete. Der Schmerz, den die Flammen, die sie umgaben, ihr zufügten, als sie begannen, die Frau mit derselben gierigen Gleichgültigkeit zu verzehren, mit der sie sich am Mauerwerk und Gebälk der Kirche gütlich getan hatten. Als die junge Frau, die einmal Carola Wilson gewesen war, aus dem Reich der Toten zurückkehrte, stand sie lichterloh in Flammen. Ihre Kleidung und ihr Haar brannten. Flammenzungen leckten über ihren Körper und bildeten Blasen auf der Haut. Blind vor Schmerz und geblendet von der Hitze und dem Feuer rappelte Carola sich inmitten des lodernden Infernos mühsam auf. Sie spürte, wie ihre Wimpern und Brauen verkohlten, und schrie ihre Pein lauthals hinaus. Sie taumelte durch die Flammen, die überall um sie herum waren, rotgolden und tödlich, tastete mit den Händen nach dem Weg, weil sie fast nichts mehr sehen konnte, während die letzten Reste ihrer Kleidung zu Asche verkohlten. Die Dienerkreatur, zu der Carola geworden war, spürte die Flammen in ihren Körper drangen. Sie roch den widerwärtigen Gestank
ihres eigenen verbrennenden Fleisches und stolperte benommen weiter. Und das, obwohl sie längst tot war … Doch auch wenn ihr früher niemals besonders viel an ihrem Leben gelegen hatte, jetzt kämpfte Carola darum, dieser Flammenhölle zu entkommen. Denn sie wollte weiterexistieren! Um jeden Preis! Die Flammen rings um Carola schlugen höher, und die Hitze nahm womöglich noch zu. Das Feuer vernichtete die Vampirin. Gnadenlos … Dann stolperte Carola über ein Hindernis, geriet ins Straucheln, kippte – und stürzte hin! Sie sah nicht mehr, wohin sie fiel, weil die Bewußtlosigkeit in diesem Moment wie eine gewaltige schwarze Woge über ihr zusammenschlug. Aber sie war sich sicher, daß dies das Ende war. Das endgültige Ende. Sie ahnte nicht, daß sie sich täuschte.
* John Sandford kannte das Feuer gut. Vermutlich besser als jeder andere. Erst hatte es ihm die Eltern genommen, danach die Frau und seine beiden kleinen Kinder. Es hatte alles vernichtet, was ihm in seinem Leben jemals etwas bedeutet hatte, hatte all das zerstört, wofür es sich lohnte, auf der Welt zu sein. Deshalb bekämpfte er das Feuer, wo immer er konnte. Sandford war Lieutenant beim Löschzug 115 der Feuerwache L. A. West und gehörte zur ersten Einheit, die bei der brennenden Kirche anlangte. Während seine Männer damit begannen, die Schläuche auszurollen und an die Hydranten in der Straße anzuschließen, ging Sandford so nah an die Flammen heran, wie er konnte, und starrte in das lodernde Feuer, das über die Steine und Balken der St. Cathe-
rine’s Memorial Church tanzte. Es war, als würde das Feuer leben, als würde es atmen – was es in gewisser Weise ja auch tat –, fühlen, begehren und sogar denken. Als ob es ein eigenes Bewußtsein hätte … Die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht riß Sandford aus seinen Gedanken. Mit einer energischen Geste wandte er sich von der Kirche ab, die bereits soweit eingestürzt war, daß es sich kaum lohnte, Wasser zum Löschen zu verschwenden, und ging zu seinen Männern zurück, die auf dem Kirchplatz die Schläuche ausgerollt hatten, während im Hintergrund weitere Löschzüge und mehrere Einsatzwagen der City Police sowie zwei Krankenwagen hielten, falls es Verletzte gab, wonach es im Moment allerdings nicht aussah. Polizisten und Feuerwehrleute wuselten durcheinander wie Ameisen. »Wie sieht’s aus, Lieutenant?« rief Sergeant Jeff Rooker, als Sandford näherkam. Rooker hielt ein Megaphon in der Hand. In seiner Jackentasche steckte ein Walkie talkie, aus dessen Lautsprecher ununterbrochen Wortfetzen und statisches Rauschen drangen. Sandford schniefte. »Die Kirche ist im Arsch. Eigentlich können wir unseren Kram gleich wieder einpacken. Aber dann wird die Versicherung Zicken machen; also gönnen wir dem Bau ein, zwei Tropfen Wasser.« Rooker sah hinüber zu den brennenden Trümmern, einem Meer aus hoch aufschießenden rotgelben Flammen, wie man sie vielleicht beim Brand einer Benzinraffinerie oder einer Chemiefabrik erwarten würde, wo es tonnenweise Substanzen gab, die hübsche Feuer produzierten, aber nicht bei einem solchen Gebäude, das fast komplett aus Stein bestand. »Wann wurde das Feuer gemeldet?« fragte er. »Vor zehn Minuten«, sagte Sandford. »Unglaublich«, murmelte Rooker. »Wie konnte der Bau derart schnell abfackeln?« Der Lieutenant zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Spielt für uns auch keine Rolle. Damit kann sich der Sachverständige von der
Versicherung amüsieren. Unsere Aufgabe besteht darin, das Feuer zu löschen, und das werden wir tun. Alles andere ist nicht unser Problem.« Rooker grunzte zustimmend und sah zu, wie die Feuerwehrmänner in Dreiergruppen vor der Kirche in Stellung gingen, jeweils zwei, um den Schlauch zu halten, und einer, der die Düse betätigte und den Wasserdruck kontrollierte. Alles in allem waren es an die zweihundert Feuerwehrmänner von sieben verschiedenen Löschzügen, die nur auf den Befehl warteten, mit der Wasserschlacht zu beginnen. »Sind unsere Jungs in Position?« fragte Sandford. »Alles bereit«, erklärte Rooker. »Okay«, erwiderte der Lieutenant. »Dann los!« Rooker nickte und hob das Megaphon. »Löschzug 115!« brüllte er, um sich über das Tosen der Flammen hinweg verständlich zu machen. »Wasser marsch!« Die Feuerwehrmänner drehten die Ventile ihrer Schläuche auf und richteten sie auf die Flammen. Wasserstrahlen von solcher Stärke, daß man damit ein geparktes Auto bewegen konnte, trafen die brennende Fassade der St. Catherine’s Memorial Church, um mit lautem Zischen teilweise zu Dampf zu verpuffen. Die übrigen Löschmannschaften erhielten von ihren Leitern jetzt ebenfalls den Einsatzbefehl. Von drei Seiten rückten sie der Feuersbrunst zuleibe, während die Polizei sich im Hintergrund hielt, die Straße absperrte und die vielen Schaulustigen, die sich bereits eingefunden hatten, auf Distanz hielt. Lieutenant Sandford verfolgte, wie die Männer entschlossen gegen das Feuer vorgingen. Dann schaute er sich nach Rooker um, der im Augenblick jedoch nirgends zu sehen war. Dafür entdeckte er Cliff Johnson, einen jungen Sergeant, der erst vor wenigen Tagen zu ihrer Truppe gestoßen war. Johnson stand am Rande des Gräberfelds und gestikulierte heftig, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Sandford runzelte die Stirn. »Was ist?« brüllte er. »Sir«, rief Johnson aufgeregt zurück. »In einem der Gräber hier liegt jemand! Eine Frau!« Lieutenant Sandford winkte ab. »Das ist auf einem Friedhof so üblich, Johnson!« »Nein, Sir«, entgegnete Johnson schreiend. »Die Frau lebt! Sie hat schwerste Verbrennungen, aber sie lebt noch! Schicken Sie sofort die Sanitäter mit einer Trage her! Die Frau muß sofort in die Klinik!«
* Dr. Steven Nyeberg war ziemlich erschöpft. Er war bereits seit über vierzehn Stunden im Dienst, und es sah nicht danach aus, als ob er bald ins Bett kommen würde. Im Gegenteil. Die Zahl der Un- und Notfälle, die er heute schon verarztet hatte, lag irgendwo in den Dreißigern, und der Andrang ließ einfach nicht nach. Es war, als ob sämtliche potentiellen Verkehrsopfer sich dazu entschlossen hatten, heute verletzt zu werden. Zudem sah es irgendwie so aus, als wenn sie alle ins West Medical Center eingeliefert würden, wo sie dann auf Nyebergs Tisch landeten, weil seine werten Kollegen im Aufenthaltsraum »zu beschäftigt« waren, um das zu tun, wofür sie bezahlt wurden. Irgendwie mußte das mit dem Vollmond zu tun haben … Als Schwester Judy durch den Korridor auf ihn zukam, hoffte er, daß sie nur ein kleines Schwätzchen mit ihm halten wollte, damit er wenigstens seinen Kaffee austrinken konnte, bevor er wieder an die Arbeit ging. Doch an ihrer gehetzten Art erkannte er, daß ihm dieser bescheidene Wunsch nicht gewährt wurde. »Dr. Nyeberg!« rief Judy, noch ehe sie ganz bei dem Arzt mit dem dunkelblonden Bürstenschnitt und der runden Nickelbrille war. »Dr. Nyeberg! Ein Notfall!« »Schön«, kommentierte er lakonisch. »Fragen Sie Pacmeyer, ob er
sich darum kümmert.« »Dr. Pacmeyer ist nach Hause gegangen«, sagte Judy. Nyeberg trank einen Schluck Kaffee. »Was ist mit Williams?« »Dr. Williams operiert gerade. Und Dr. Stantz ist draußen in den Hollywood Hills, wo es eine Massenkarambolage mit mehreren Toten und vielen Schwerverletzten gegeben hat. Außer Ihnen ist kein Arzt verfügbar.« »Na, großartig«, murmelte Dr. Nyeberg resigniert. Seufzend stellte er seinen halbvollen Plastikbecher auf den Automaten und strich seinen mit den verschiedensten Körperflüssigkeiten befleckten Kittel glatt. »Worum geht es bei dem Fall?« Während sie eilig in Richtung Notaufnahme strebten, die sich im Westflügel des Krankenhauses befand, setzte Schwester Judy Dr. Nyeberg die Sachlage auseinander, soweit sie selbst darüber informiert war. »Vor etwa einer halben Stunde ist die St. Catherine’s Memorial Church in der Campbell Lane in Brand geraten«, berichtete sie. »Bei den Löscharbeiten wurde in einem frisch ausgehobenen Grab auf dem angrenzenden Friedhof eine Frau entdeckt, die bei dem Unglück schwerste Verbrennungen davongetragen hat. Mindestens achtzig Prozent ihres Körpers sind mit Brandwunden bedeckt. Ihr Puls und ihre Herzfrequenz sind so schwach, daß man sie nicht einmal messen kann. Trotzdem kommt sie immer wieder für kurze Zeit zu sich und gebärdet sich dann wie wild.« »Wahrscheinlich hat sie ein schweres Trauma. Aber das ist in Anbetracht dieser Verletzungen kein Wunder. Ein Wunder ist schon eher, daß sie überhaupt noch am Leben ist«, kommentierte Dr. Nyeberg trocken. »Ich habe noch nie von einem Fall gehört, wo jemand mit mehr als fünfundsechzig Prozent überlebt hätte, und das nur bei Brandwunden zweiten und dritten Grades …« »Dennoch«, sagte Schwester Judy. »Die Frau lebt.« »Die Frage ist nur, wie lange noch«, erwiderte Nyeberg mit dem
schwarzen Humor, den sein Beruf mit sich brachte. Plötzlich war seine Erschöpfung wie fortgeblasen. Die Sache hatte seine Neugierde geweckt. Er hatte schon immer großes Interesse daran gehabt, die Grenzbereiche der modernen Medizin auszuloten, und dieser Fall schien dafür ideal zu sein. Vorausgesetzt natürlich, daß die Angaben von Schwester Judy tatsächlich zutrafen. Aber davon konnte man wohl ausgehen, bei ihrer Berufserfahrung. Ungefähr eine Minuten später erreichten Dr. Nyeberg und die Krankenschwester die Notaufnahme des West Medical Center, in der praktisch rund um die Uhr Hektik und Chaos regierten. Ein Dutzend Pfleger, Assistenzärzte und Schwestern kümmerten sich in voneinander durch Plastikstellwände getrennten Bettnischen um die Opfer von Verkehrsunfällen, Raubüberfällen, versuchten Selbstmorden und allen möglichen übrigen Widernissen. In der Luft lagen der Geruch von Desinfektionsmitteln, Raumspray mit Veilchenduft und Bohnerwachs. »Wo ist die Patientin?« fragte Nyeberg. »Kommen Sie, Sir«, sagte Judy. Sie ging voraus und führte Nyeberg zu einem Abschnitt der Notaufnahme, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Mehrere Leute vom Pflegepersonal und ein junger Assistenzarzt namens Waters, dem man auf hundert Meter ansah, daß er sich von dem Fall vollkommen überfordert fühlte, standen über den Metalltisch gebeugt, neben dem eine Reihe Apparaturen standen, darunter EEG und EKG. Nyeberg trat an den Tisch, musterte die Patientin, die, in ein Ganzkörpergipskorsett gebettet, im schonungslosen Licht der Deckenstrahler lag, und schluckte trocken. Er hatte in seiner knapp zwanzigjährigen Laufbahn als Mediziner bereits eine Menge Brandopfer behandelt – Menschen, die bei Verkehrsunfällen in ihren brennenden Autos eingeklemmt worden waren; Selbstmörder, die sich selbst mit Benzin übergossen und angezündet hatten –, aber so ein Fall wie dieser war ihm noch nie untergekommen.
Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, daß es wirklich ein Wunder war, daß die Frau, die da reglos und nackt auf dem Untersuchungstisch lag, noch am Leben war, was durch das rege Zucken ihrer lehmbraun verbrannten Lider dokumentiert wurde. Denn als Schwester Judy sagte, daß etwa achtzig Prozent ihres Körpers Verbrennungen aufwiesen, war das eine ausgesprochen optimistische Schätzung gewesen, wie Dr. Nyeberg bei näherer Betrachtung feststellte. Tatsächlich gab es nahezu keine Partie am ganzen Leib der Patientin, den das Feuer nicht angegriffen hatte. Der Körper der Frau, deren Gesicht von eitrigen Brandblasen und mehreren grob sternförmigen Stellen, wo die Haut durch die Hitze aufgeplatzt war, so entstellt war, daß man ihr Alter unmöglich erahnen konnte, war eine Masse aus angesengtem Fleisch, rot und schwarz. Ihre gesamte Körperbehaarung war von den Flammen aufgezehrt worden. Vier Zehen fehlten, die übrigen waren durch die Knochenschrumpfung unnatürlich gekrümmt, wie die Klauen eines Raubvogels. Ebenso verhielt es sich mit den verbliebenen acht Fingern. Hinzu kamen mindestens ein Dutzend weiterer schwerer, durch das Feuer verursachter Verletzungen im Bereich des Kopfes, des Brustkorbs und des Unterleibs. Mit einem leisen Seufzen beendete Dr. Nyeberg die Musterung der Patientin und wandte sich an Dr. Waters, der ebenso wie die anderen Anwesenden auf einen Kommentar des Mediziners wartete. »Wie sieht’s aus?« »Nicht gut«, sagte Dr. Waters. »Ihr Puls ist so schwach, daß ich ihn nicht messen kann. Dasselbe gilt für die Herzfrequenz. Überhaupt bewegen sich sämtliche Vitalfunktionen der Patientin auf einem Level, das so gering ist, daß man sie praktisch als nicht existent bezeichnen kann. Zudem hat die Frau einen schweren Schock erlitten.« Nyeberg nickte und schaute hinüber zu den grünen Anzeigen des Elektroenzephalografen und des Elektrokardiogramms. Obwohl die Patientin durch Elektroden auf ihrer Brust und der Stirn mit den beiden Geräten verbunden war, zeigte lediglich das EEG, das die Hirn-
tätigkeit der Frau kontrollierte, Werte an, während das EKG zur Messung der Herztätigkeit eine Nullinie aufwies. Nyeberg runzelte die Stirn. »Ist das EKG mal wieder hin?« »Nein, Sir«, entgegnete Waters. »Mit dem Gerät ist alles in Ordnung. Wie ich bereits sagte, wir können bei der Patientin abgesehen von den Hirnstromwellen nicht die geringsten Vitalzeichen erkennen.« »Das ist unmöglich«, sagte Nyeberg. »Selbst wenn ihr Puls vollkommen im Keller ist, müßte das EKG dennoch die Werte ihrer Herztätigkeit registrieren.« »Müßte schon«, bestätigte Waters. »Tut es aber nicht.« Nyeberg schaute ihn mißbilligend an. Dann zog er sein Stethoskop aus der Tasche, beugte sich über die Frau und drückte das Rundteil behutsam unterhalb ihrer linken Brust auf die verbrannte Haut. Er war sich sicher, daß das EKG-Gerät nicht richtig funktionierte. Ebenso hielt er es für möglich, daß Waters bei der Untersuchung der Patientin in der ganzen Aufregung einen Fehler gemacht hatte. Doch er täuschte sich. Im Brustkorb der Patientin war es vollkommen ruhig. Nichts regte sich. Kein Herzschlag. Nicht einmal das leise Rauschen des zirkulierendes Blutes in den Adern war zu vernehmen. Ungläubig steckte Nyeberg das Stethoskop in die Tasche und drückte mit Zeigefinger und Daumen vorsichtig das rechte Augenlid der Frau auseinander. Die Papille war unscharf begrenzt, ischämisch gesäumt. Die Venen wiesen eine deutliche Fragmentation auf. Hinzu kam, daß die Macula rotbraun war, fast schwarz. Dr. Nyeberg entfuhr ein fassungsloses Stöhnen. Er stand da wie erstarrt. Seine Gedanken rasten. Das durfte doch nicht wahr sein, zum Teufel! Waters bemerkte, daß mit Nyeberg etwas nicht stimmte. »Was haben Sie, Sir?« fragte er besorgt. »Ist Ihnen nicht gut? – Sir?
Wollen Sie sich für eine Minute ausruhen?« Es dauerte einen Moment, bis es Dr. Nyeberg gelang, sich zu fangen. Schließlich blickte er auf und sah Waters über den Untersuchungstisch hinweg benommen an. Statt auf seine Frage zu antworten, sagte er: »Haben Sie sich vorhin die Augen der Patientin angeschaut?« »Natürlich«, sagte Waters. »Und? Was haben Sie dabei festgestellt?« »Nun«, sagte der junge Assistenzarzt. »Die Papille scheint zu verblassen. Außerdem hat sich die Macula dunkel verfärbt.« Dr. Nyeberg nickte. »Korrekt. Und was sagt Ihnen das?« Waters war verwirrt. »Wie meinen Sie das, Sir?« »Na, kommt Ihnen das nicht ungewöhnlich vor?« Waters dachte einen Moment darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Bei Brandopfern treten häufig Veränderungen im Augenhintergrund auf.« »Das schon«, bestätigte Nyeberg. »Aber nicht solche.« Waters runzelte die Stirn. »Was wollen Sie damit sagen?« »Nur, daß die bei der Patientin feststellbaren Symptome bei normalen Menschen für gewöhnlich nicht auftreten«, erklärte der Arzt. »Oder genauer: bei lebenden Menschen.« Waters sah ihn an. »Was soll das heißen?« fragte er. Seine Miene spiegelte komplette Verwirrung. »Das soll heißen«, sagte Dr. Nyeberg langsam, »daß man Dinge wie eine Dunklerfärbung der Macula, ein Abblassen der Papille, Venenfragmentation und dergleichen in der Regel ausschließlich bei Personen findet, die seit ein bis drei Stunden verschieden sind. Hinzu kommt, daß angesehen von der Hirnfrequenz anscheinend sämtliche Vitalfunktionen der Patientin inexistent sind. Um es kurz und auch für Laien mit Diplom verständlich zu machen: Vom rein medizinischen Standpunkt aus betrachtet ist die Frau, die wir hier vor uns haben, tot …«
* Im dem Augenblick, als Dr. Nyeberg sich diese Worte sagen hörte, wußte er plötzlich mit absoluter Gewißheit, daß es einen Gott gab, dem das Wohl seiner Schäfchen wirklich am Herzen lag, denn jene Frau, die da vor ihm auf dem Untersuchungstisch lag, war schlicht und einfach eine medizinische Sensation von derart großer Tragweite, daß man es nicht einmal abschätzen konnte. Eine lebende Tote! So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen! Unvermittelt wurde Nyeberg klar, daß die Tage des Trübsinns für ihn vorüber waren. Keine Vierundzwanzig-Stunden-Schichten in der Notaufnahme mehr. Keine abgetrennten Gliedmaßen. Er würde wie ein Stern in den Zenit der modernen Medizin aufsteigen und dort? leuchten als der Entdecker und Erforscher einer lebenden Toten! Doch er mußte sicherstellen, daß ihm dabei niemand in die Quere kam. Er ließ seinen Blick über die Pfleger und Schwestern gleiten, die um ihn herumstanden und ihn fassungslos ansahen, kaum in der Lage zu glauben, was sie gerade gehört hatten, und sagte in einem autoritäreren Tonfall, als er jemals zuvor an den Tag gelegt hatte: »Okay, Ladies und Gentleman, diese Sache bleibt so lange unter uns, bis wir mit Sicherheit festgestellt haben, daß es sich bei der Patientin tatsächlich um eine Tote handelt, die – auf welche Art und Weise auch immer – lebt. Wir wollen schließlich keine falschen Hoffnungen oder sogar Panik verbreiten, oder?« »Nein, Sir«, sagte Waters, auf einmal so unterwürfig wie eine Pudeldame beim Anblick eines Schäferhundrüden. »Natürlich nicht. Was schlagen Sie vor?« »Unterrichten Sie Cooper von dem Fall«, erwiderte Nyeberg bedächtig. Professor Cooper war der Direktor des Krankenhauses, ein
Mann mit vielseitigen gewinnbringenden Ambitionen, der Dr. Nyeberg vermutlich bis zum Anschlag in den Arsch kriechen würde, wenn er begriff, welches Potential in dieser Angelegenheit steckte. »Erklären Sie ihm, wie es aussieht, und kommen Sie dann runter in den Operationssaal, wohin wir die Patientin bringen werden, um sie eingehender zu untersuchen.« Waters nickte. »Alles klar, Sir! Sofort!« Er wandte sich ab und verließ die Notaufnahme im Laufschritt. Offenbar hatte er ebenso wie Nyeberg begriffen, daß diese Sache ihn schlagartig in eine Position hebeln würde, von der er heute früh noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Nyeberg beugte sich über die Patientin, deren Lider sich in der Ohnmacht so schnell wie Schmetterlingsflügel bewegten, und versuchte noch einmal, ihren Puls zu messen – ohne Erfolg. Dann schaute er die verbliebenen Pfleger und Schwestern an und meinte: »Sie haben gehört, was ich eben gesagt habe! Schaffen Sie die Patientin runter in einen freien OP! Und zwar schnell! Bevor unsere lebende Tote wirklich zur Leiche wird!« Fünf Minuten später lag die Unbekannte auf dem Operationstisch im 5. OP des West Medical Center, angestrahlt von dem Halogenstrahler, der an einem Schwenkarm von der Decke hing. Während sich die Neuigkeit von der vermeintlichen lebenden Toten wie ein Buschfeuer in der gesamten Klinik ausbreitete, ging Dr. Nyeberg daran, die Patientin, deren Wohl plötzlich für keinen mehr von sonderlichem Interesse war, einer Reihe von Tests zu unterziehen, um in Erfahrung zu bringen, was mit der Frau los war. Warum sie lebte und gleichzeitig dennoch eindeutig tot war. Nyeberg begann die Versuche damit, die Reizbarkeit der Patientin zu erforschen, und zwar im Hinblick darauf, daß es sich bei ihr genaugenommen um eine Leiche handelte. Er griff nach drei Stahlnadeln, die neben ihm auf dem metallenen Rollwagen in der Instrumentenschale lagen, und führte sie an von der Pathologie genau vorgeschriebenen Stellen in den Leib der Frau ein: direkt unter dem
rechten Auge in das verbrannte, unmittelbar neben dem Mundwinkel und in die Flexorengruppe des Unterarms. Dann klemmte er Kabel an die Stahlnadeln und verband diese mit einer starken Batterie, deren Stromabgabestärke sich mittels eines Drehschalters genau regulieren ließ. »Okay«, sagte Nyeberg und nickte Dr. Waters zu, der ihm bei den Versuchen zur Hand gehen würde. »Fangen wir an. Geben Sie Strom auf die Nadeln! Beginnen wir mit vier Volt!« »Ja, Sir.« Waters drehte den Schalter auf vier Volt hoch, der Stromstärke, die eine Taschenlampenbatterie besitzt. Wenn die Patientin medizinisch gesehen tatsächlich tot war, würde diese geringe Strommenge, die ein lebender Mensch noch nicht einmal registrieren würde, bereits ausreichen, um zumindest eine schwache Zuckung auszulösen, einen Muskelreflex, der aufzeigte, daß ihr Körper seine elektrochemischen Vorgänge eingestellt hatte. Doch nichts geschah. Die Frau auf dem OP-Tisch rührte sich nicht. Dr. Nyeberg fluchte. Dann wurde ihm klar, daß die Patientin wahrscheinlich noch nicht lange genug tot war, daß sich ihre körperinternen Funktionen hatten komplett neutralisieren können, und zischte Waters angespannt zu: »Gehen Sie auf zwanzig Volt!« Der Assistenzarzt gehorchte. Aber noch immer lag die Patientin vollkommen reglos auf dem Operationstisch. Lediglich ihre Augenlider zuckten, wie sie es bereits die ganze Zeit über taten. »Verdammt!« grollte Nyeberg. Langsam wurde er unruhig. Bei dieser Stromstärke würde sich die Muskulatur eines Leichnams normalerweise zusammengezogen haben. Doch die Patientin rührte sich nicht. Sie verhielt sich genau wie ein Mensch, durch den man zwanzig Volt schickte. Ihr Körper, der von den Schwestern notdürftig mit Mullbinden und Salbe behandelt worden war, glich die elektrische Schwankung aus. Plötzlich kamen Nyeberg Zweifel. Was war, wenn sich die Patien-
tin lediglich in einer bis dato unbekannten Art von Koma befand, bei dem sich die Herzfrequenz drastisch verlangsamte? Wenn sie sich in Wirklichkeit nur im Tiefschlag befand? Dann war Nyebergs medizinische Sensation gestorben! »In Ordnung, Waters«, murmelte er, ohne die Patientin eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Erhöhen Sie die Stromstärke auf siebzig Volt!« »Siebzig Volt?« echote Waters irritiert. Nyeberg nickte. »Siebzig Volt!« wiederholte er streng. Wenn die Frau nicht tot war, würde diese Stromstärke ihren Körper in krampfhafte Zuckungen versetzen. Falls sie aber wirklich medizinisch tot war, würde die Reizung lediglich durch die Elektrizität zur Kontraktion der Augenlider und des Mundes führen. Außerdem sollten sich die Finger in einer stark fibrillären Zuckung bewegen. Wenn es jetzt nicht klappte, konnte er seinen Aufstieg an den Himmel der modernen Medizin vergessen, bevor er überhaupt begonnen hatte. Darum verfolgte er gebannt, wie Dr. Waters den Drehschalter langsam höher stellte. Vierzig Volt. Nichts rührte sich. Fünfundvierzig Volt. Immer noch nichts. Dann, als der Schalter fast auf fünfzig Volt stand, geschah es plötzlich – zuckend bewegten sich die Finger an der rechten Hand der Patientin, krümmten sich wie Spinnenbeine. Gleichzeitig begannen ihre Mundwinkel zu zucken. Es sah aus, als ob sie die Mediziner spöttisch angrinsen würde. Nyeberg stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Seufzen und einem triumphierenden Heulen lag. »Ja!« rief er. »Ja, sie ist tot! Sie ist wirklich und wahrhaftig tot!« Dr. Waters nickte bestätigend, obgleich er im Gegensatz zu Nyeberg weniger zu Freudentänzen aufgelegt war. Denn so erstaunlich
diese Entdeckung auch war, so heftig verwirrte es ihn dennoch, einen Arzt darüber jubeln zu hören, daß einer seiner Patienten tot war …
* Zeitungsmeldung in der Los Angeles Times, 17. Januar 1997: LEBENDE TOTE GIBT MEDIZINERN RÄTSEL AUF Als in der Nacht von Donnerstag auf Freitag die St. Catherine’s Memorial Church in West Los Angeles aus bis dato ungeklärten Gründen innerhalb weniger Stunden bis auf die Grundmauern niederbrannte, entdeckte ein junger Feuerwehrmann in einem frisch ausgehobenen Grab auf dem angrenzenden Friedhof eine Frau, die sich mit schwersten Verbrennungen dritten und vierten Grades aus den Flammen retten konnte. Nachdem sie auf dem schnellsten Weg ins West Medical Center geschafft worden war, erwartete die dortigen Ärzte eine Überraschung, denn die Untersuchung der Frau ergab, daß sie »vom rein medizinischen Standpunkt aus betrachtet tot ist«, wie Dr. Steven Nyeberg vom WMC auf einer Pressekonferenz erklärte. Ihr Herz würde nicht schlagen, und sämtliche übrigen Körperfunktionen seien ebenfalls inexistent. Lediglich ihre Hirnstromwellen wären feststellbar. Dennoch sei die Patientin laut Dr. Nyeberg »so lebendig wie Sie und ich – abgesehen davon, daß unsere Körper nicht zu neunzig Prozent von Verbrennungen gezeichnet sind.« Doch dies ist nicht das einzige Rätsel, das die mysteriöse »lebende Tote« den Medizinern aufgibt. Wie Dr. Nyeberg unserer Redaktion gegenüber berichtete, regenerieren ihre Wunden sehr viel schneller als bei normalen Menschen. Hinzu kommt, daß die geheimnisvolle Frau, deren Identität bislang nicht festgestellt werden konnte, ungewöhnlich lichtempfindlich ist, weshalb man sie in einem fensterlosen Raum im Untergeschoß der Klinik untergebracht hat, um sie vor Tageslicht zu schützen. Außerdem weigert sich die Unbekannte, Nahrung zu sich zu nehmen. Dr. Nyeberg: »Alles,
wonach sie verlangt, ist Blut. Frisches menschliches Blut.« Nyeberg nimmt an, daß das absonderliche Verhalten seiner Patientin mit dem verletzungsbedingten Schock zusammenhängt. Mittlerweile haben auch Mediziner anderer Kliniken und wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität von Los Angeles die »lebende Tote« in Augenschein genommen und Dr. Nyebergs Aussage angeschlossen, daß es sich bei ihr um eine »medizinische Sensation von größter Tragweite« handelt, die »in die Annalen der modernen Medizin eingehen wird«.
* Als der Kapitän der McDonald-Douglas L1101 den Anflug auf den Burbank-Airport von Los Angeles begann, legte Lilith Eden die Zeitung beiseite, in der sich jener Artikel befand, wegen dem sie die Reise an die amerikanische Westküste auf sich genommen hatte, und schaute nachdenklich aus dem Fenster des Flugzeugs. Unter sich konnte sie den Großraum L. A. sehen, ein Konglomerat von zwei Dutzend kleinen Städten, die sich zu einer der gewaltigsten Metropolen der Welt zusammenschlossen. Es war, als ob man auf ein riesiges Lichtermeer hinabblicken würde, das in jeder Himmelsrichtung bis zum Horizont reichte. Alles war hell erleuchtet. Man konnte fast zu der Überzeugung gelangen, daß es in der Stadt der Engel keine Dunkelheit gab, keine Finsternis. Doch dieser Eindruck täuschte. Es gab in L. A. sehr wohl dunkle Orte; Plätze, bis zu denen der Glanz Hollywoods nicht vordrang, denen alles Schöne, Helle, Reine fehlte. Einer davon war die Seele jener Frau, die man vorgestern am Rande dieser brennenden Kirche gefunden hatte. Denn wenn zutraf, was in der Zeitung stand, handelte es sich bei der Unbekannten um eine Vampirin; vermutlich um eine Sippenführerin, da sie nicht mit der grassierenden Vampirseuche infiziert worden war.
Und das bedeutete, daß sie sterben mußte. Durch Liliths Hand. Wie so viele andere Blutsauger zuvor. Denn das war Liliths Bestimmung. Sie lebte, um zu töten. Um die Welt vom Geschlecht der Vampire, die wie die Werwölfe vom Anbeginn der Zeit neben den Menschen lebten, zu befreien. Doch auch wenn ihr die Seuche, der »Zorn Gottes«, eine Menge Arbeit abnahm, war die Halbvampirin weit davon entfernt, die Hände in aller Ruhe in den Schloß legen zu können. Denn die Sippenoberhäupter waren als Seuchenträger gegen das Virus immun, das in den Infizierten einen unbändigen Durst nach Blut heraufbeschwor, den sie jedoch nicht löschen konnten, so daß sie rapide alterten, wenn sich die Natur das zurückholte, was sie ihr über die Jahrhunderte hinweg abgetrotzt hatten. Das brachte es mit sich, daß Lilith nicht mehr wie früher Heerscharen von Blutsaugern gegen sich wußte, sondern die vampirische Elite, die Sippenführer, die durch ihr Alter, ihre Erfahrung, ihr Wissen und ihre Macht eine Gefährlichkeit besaßen, der Lilith wenig entgegenzusetzen hatte. Doch sie hatte den ungleichen Kampf aufgenommen, obwohl sie wußte, daß ihre Chancen schlecht standen, und sie würde ihn zu Ende bringen. Sie würde weitermachen, bis kein Vampir mehr das Angesicht der Erde besudelte – oder bis es ihren übermächtigen Widersachern gelang, sie aus dem Weg zu räumen. Draußen vor dem Fenster kamen die Lichter der Stadt immer näher. Mittlerweile konnte Lilith einzelne Häuser ausmachen, Straßen, Parks, Plätze, die mit jeder Sekunde größer wurden. Beiläufig fragte die schwarzhaarige Halbvampirin sich, wo sich inmitten dieses Molochs von einer Stadt das West Medical Center befand, in dem sich die rätselhafte Unbekannte dem Zeitungsbericht nach aufhielt. Aber das würde sie schon herausfinden, wenn das Flugzeug erst einmal gelandet war. Gedankenverloren rechnete sie sich aus, daß
sie, wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellte – rein ins Krankenhaus, die Frau suchen, ihr das Genick brechen, raus aus dem Krankenhaus –, möglicherweise bereits mit der nächsten Maschine wieder von hier verschwinden konnte. Ein bißchen erschrak sie selbst, als ihr klar wurde, daß ihre »Verabredung« kaum mehr für sie war als ein geschäftlicher Termin. Doch bevor sie der Unbekannten den Hals umdrehte, mußte sie in Erfahrung bringen, ob es sich bei ihr um eine echte Vampirin oder nur um eine Dienerkreatur handelte. Auch wenn letzteres zutraf, war ihre Reise nicht umsonst gewesen, denn dann mußte es jemanden geben, der sie dazu gemacht hatte. Es konnte nie schaden, seine wirklichen Feinde zu kennen – vor allem dann nicht, wenn man wie Lilith Eden ganz oben auf deren Abschußliste stand …
* Das West Medical Center befand sich im Stadtteil Willow Brook, unweit der berühmten Watts Towers. Es war ein fünfstöckiges Gebäude, dessen rote Backsteinfassade im Laufe der Jahre von Autoabgasen und Smog dunkel gefärbt worden war. Die meisten Fenster in den oberen Etagen waren dunkel – vermutlich waren dort die Stationen für die Patienten, die zu dieser relativ fortgeschrittenen Stunde – es war Viertel vor elf – schon in Morpheus’ Armen weilten. Im Erdgeschoß dagegen war alles hell erleuchtet. Hinter den Fenstern der Notaufnahme und des Empfangs herrschte rege Betriebsamkeit, wie Lilith erkannte, als sie eine halbe Stunde, nachdem ihr Flug gelandet war, aus dem Yellow Cab stieg, das sie am Flugplatz genommen hatte. Mit weißen und grünen Kitteln gekleidete Pfleger, Schwestern und Ärzte huschten umher, um sich um die Patienten zu kümmern, die von den Ambulanzwagen eingeliefert wurden. Lilith drückte dem Fahrer des Taxis durch die heruntergekurbelte
Seitenscheibe einen Zehner in die Hand. Dann ging sie den breiten Betonweg entlang, der zum Haupteingang der Klinik führte. Sie wußte aus dem Artikel, daß die Unbekannte irgendwo im Untergeschoß des Gebäudes untergebracht war. Wo genau, hoffte sie am Empfang zu erfahren. Mit einem Zischen glitt die Glastür automatisch beiseite, als Lilith sich näherte. Sie trat ein und sah sich um. Rechts von ihr befand sich die Rezeption. Links ging es zu den Aufzügen und in den eigentlichen Klinikbereich. Eine Reihe Typen, die irgendwie verdammt nach Reportern aussahen, fläzten sich auf grellbunten Plastikstühlen, die nahe des Empfangs an der Wand standen. Sofern nicht gerade irgendein Hollywood-Star zugegen war, der einen Unfall gebaut hatte oder sich hier die Gallensteine entfernen ließ, warteten die Kerle vermutlich auf neue Sensationen bezüglich der »lebenden Toten«. Verdammte Aasgeier … Lilith wandte sich der Rezeption zu. Hinter dem Tresen saß eine matronenhafte Mittfünfzigerin, deren Gesicht mehr Schminke aufwies, als man ohne Spachtel wieder abbekam, in ein Kreuzworträtsel vertieft. Als Lilith sich leise räusperte, sah die Matrone auf. »Ja, bitte?« »Hallo«, sagte Lilith. Sie beschloß, es erst einmal auf die höfliche Tour zu versuchen. »Bitte verzeihen Sie die Störung, aber ich bin vom San Francisco Chronicle. Ich bin hier, weil ich ein Interview mit Dr. Nyeberg führen möchte. Ich bin zwar nicht angemeldet, aber …« »Wenn Sie keinen Termin haben, vergessen Sie’s«, erwiderte die Matrone gleichgültig. Ihr maskenhaftes Gesicht bewegte sie beim Sprechen nur minimal – vermutlich fürchtete sie, daß sonst das Makeup abplatzen könnte. »Der Doktor ist ein vielbeschäftigter Mann.« »Verstehe«, sagte Lilith. »Wäre es Ihnen dann möglich, für mich einen Termin mit Dr. Nyeberg zu machen? Vielleicht für morgen früh?«
Die Empfangsdame schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber Dr. Nyeberg hat morgen keine Zeit. Und übermorgen auch nicht, um es gleich vorweg zu nehmen. Warum versuchen Sie es nicht nächste Woche noch mal? Möglicherweise läßt sich dann etwas einrichten.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Die Halbvampirin spürte, daß ihr ohnehin nicht sonderlich dicker Geduldsfaden gleich reißen würde. Sie hustete nachdrücklich, was die Empfangsdame veranlaßte, noch einmal den – jetzt sehr unleidigen – Blick zu heben. Mehr als Augenkontakt benötigte Lilith nicht, um in das Bewußtsein der Frau eindringen und sie sich gefügig zu machen. Es war ein bißchen, als würde man in einen See eintauchen – in diesem Fall allerdings in einen relativ trüben … Als Lilith die Matrone unter Kontrolle hatte, verwandelte sich deren Miene von kalter Teilnahmslosigkeit in übermütige Hilfsbereitschaft. »Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?« flötete sie mit Engelszunge. »Nur eine kleine Auskunft«, sagte Lilith. »Wo hat man die ›lebende Tote‹ untergebracht?« »Bedaure, aber das weiß ich nicht«, entgegnete die Matrone freundlich. »Dr. Nyeberg hält die Patientin vollkommen isoliert. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß sie sich in einem Zimmer im Untergeschoß der Klinik befindet.« Lilith fluchte leise, als sie erkannte, daß die Frau, die unter ihrem Einfluß nicht in der Lage war, sie anzulügen, ihr nicht weiterhelfen konnte. Enttäuscht zog sie sich aus dem Bewußtsein der Matrone zurück und kehrte der Rezeption den Rücken zu, während die Empfangsdame sich wieder über ihr Kreuzworträtsel hermachte. Lilith bemerkte den jungen Mann erst, als er direkt neben ihr stand und fragte: »Was haben Sie mit ihr angestellt?«
Sie sah ihn verwirrt an. »Wie bitte?« Er nickte in Richtung Rezeption. »Wilma«, erklärte er ihr mit einem breiten Grinsen. »Sie kriegt die Zähne normalerweise nur auseinander, wenn’s was zu Futtern gibt. Wie haben Sie sie dazu gebracht, mehr als einen Satz am Stück zu sagen?« Lilith lächelte dezent. »Vielleicht ist mein einnehmendes Wesen dafür verantwortlich«, erwiderte sie – was im Grunde ja sogar der Wahrheit entsprach. Der Mann lachte amüsiert. »Darauf möchte ich wetten …« Lilith musterte den Burschen. Mitte/Ende zwanzig. Groß, fast athletisch gebaut. Kurzes blondes Haar, blaue Augen. Ein attraktives Gesicht. Seine weiße Kleidung verriet ihn als Arzt oder Krankenpfleger, vermutlich letzteres. In jedem Fall gehörte er zum medizinischen Personal der Klinik. Ob er wußte, wo sich die Untote befand? Lilith beschloß es herauszufinden. »Mein Name ist Lilith Eden«, stellte die Halbvampirin sich vor. »Ich arbeite für den San Francisco Chronicle und bin hier, um ein Interview mit Dr. Nyeberg zu machen. Aber die gute Wilma konnte mir diesbezüglich leider nicht weiterhelfen.« Mit einem verheißungsvollen Lächeln fragte sie: »Vielleicht habe ich bei Ihnen mehr Glück?« Der Bursche schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Seit Nyeberg dieses Vampirmädchen entdeckt hat, benimmt er sich, als wäre er Howard Hughes. Er gibt keine Interviews, bloß Pressekonferenzen. Tut mir wirklich leid.« Er schien es ehrlich zu meinen. Lilith winkte ab. »Schon gut«, sagte sie. »Wenn ich ehrlich bin, interessiert mich dieses … Vampirmädchen sowieso weitaus mehr als Dr. Nyeberg. Gibt es irgendeine Möglichkeit, sich die ›lebende Tote‹ aus der Nähe anzusehen?« Der Pfleger verneinte erneut. »Keine Chance«, erklärte er. »Nyeberg läßt niemanden an sie heran, abgesehen von drei oder vier
Schwestern und einigen anderen Ärzten. Er hat sogar zwei Männer vom Wachpersonal der Klinik vor der Tür ihres Zimmers postiert. Zwar tut er so, als ob es ihm nur um das Wohl seiner Patientin ginge, aber ich denke, in Wirklichkeit will er nur, daß außer ihm niemand von seiner Entdeckung profitiert.« »Sie scheinen nicht viel von Dr. Nyeberg zu halten«, sagte Lilith. »Nyeberg ist ein Arschloch«, erwiderte der Pfleger knapp. Lilith grinste, nicht nur, weil sie das Gefühl hatte, daß dieser Bursche ihr sagen konnte, was sie wissen wollte: wo nämlich Dr. Nyeberg seine rätselhafte Patientin untergebracht hatte. Doch als sie gerade zum interessanten Teil des Gesprächs kommen wollte, erschien am anderen Ende der Eingangshalle plötzlich ein Typ im weißen Kittel und rief dem Pfleger zu: »Verflucht, Mark, wo stecken Sie, wenn man Sie braucht? In der Notaufnahme hat sich ein Besoffener erbrochen! Kümmern Sie sich darum, daß die Sauerei verschwindet!« Mark winkte dem Kittelkerl zum Zeichen, daß er verstanden hatte, flüchtig zu. Dann wandte er sich wieder an Lilith und verdrehte demonstrativ die Augen. »Dr. Bower«, erklärte er. »Assistenzarzt. Arschloch Nummer zwei.« Lilith schmunzelte. »Tja, ich fürchte, daß Sie mich jetzt entschuldigen müssen, Miss Eden«, sagte Mark. In seiner Stimme klang echtes Bedauern mit. »Leider ruft die Pflicht. Hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Lady.« Lilith nickte. »Mich ebenfalls.« »Vielleicht sieht man sich ja mal wieder?« »Wer weiß?« sagte Lilith und lächelte vieldeutig. »Möglich ist schließlich alles, nicht wahr?«
*
Zu dem Zeitpunkt, als Lilith ihren anfänglichen Plänen zufolge eigentlich bereits wieder im Flugzeug sitzen wollte, hockte die Halbvampirin statt dessen auf einer Bank in der Nähe des Haupteingangs des Krankenhauses und wartete darauf, daß die Spätschicht zu Ende ging – was, wie die kreuzworträtselnde Wilma ihr verraten hatte, um ein Uhr dreißig der Fall war. Sie war sich sicher, daß sie von Mark erfahren würde, wo Dr. Nyeberg das »Vampirmädchen« untergebracht hatte, und wenn sie ihn außerhalb der Klinik abpaßte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach freiwillig damit herausrücken. Falls nicht, konnte sie immer noch ein wenig nachhelfen, um ihn von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. Es war fünf nach halb zwei, als Mark das Krankenhaus schließlich verließ. Er hatte seinen weißen Pflegerdress gegen Jeans, Stiefel und eine Lederjacke mit Fellkragen eingetauscht. Die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, ging er den Weg entlang in Richtung Straße. Lilith wartete, bis er fast bei ihr war, bevor sie von der Bank aus sagte: »So sieht man sich wieder.« Mark erschrak und wirbelte herum. Da die Bank halb hinter einer Hecke stand, hatte er sie nicht sofort gesehen. Doch als er Lilith erkannte, breitete sich auf seinem Gesicht ein erfreutes Lächeln aus. »Na, so was!« sagte er. »Miss Eden! Was machen Sie denn hier?« Sie zuckte die Schultern. »Das weiß ich eigentlich selbst nicht so genau«, log sie. »Vielleicht wollte ich nicht so lange warten, bis das Schicksal dafür sorgt, daß wir uns erneut über den Weg laufen?« »Wissen Sie«, erwiderte Mark und setzte sich neben ihr auf die Bank, »irgendwie habe ich gehofft, daß Sie das sagen, Miss Eden.« Lilith lächelte. »Wenn das so ist«, meinte sie, »warum vergessen wir die Förmlichkeiten in diesem Fall nicht ganz einfach?« Sie schlug die endlos langen Beine übereinander, die in engen schwar-
zen Leggins steckten (die in Wahrheit ein Stück gestaltwandlerischer Symbiont waren). »Soll mir recht sein«, erwiderte er. »Ich heiße Mark.« »Ich weiß«, sagte Lilith. Er runzelte gelinde verwirrt die Stirn. »Woher …?« »Dr. Bower«, erklärte Lilith. »In der Halle hat er dich mit deinem Namen gerufen.« »Stimmt«, sagte Mark und nickte. »Arschloch Nummer zwei.« »Wo wir gerade beim Thema sind«, nahm Lilith den Faden da auf, wo sie ihn vorhin in der Eingangshalle des West Medical Center verloren hatte, »glaubst du, daß es möglich ist, sich hinter Nyebergs Rücken im Untergeschoß umzusehen?« Er legte den Kopf schief und sah sie ernst an. »Du willst sie unbedingt sehen, nicht?« fragte er. »Das Vampirmädchen?« Sie nickte. »Wenn es geht … Kannst du mir dabei helfen? Kannst du mich zu ihr bringen?« Mark zögerte. Lilith registrierte, daß er unruhig hin und her rutschte, als hätte er mit einemmal Hummeln im Hintern. Man sah ihm deutlich an, daß er mit sich rang, daß er abwog, ob sich das Risiko, ihr zu helfen, lohnte, aber da Lilith nicht gerne verlor – egal, in welcher Beziehung –, wartete sie seine freie Entscheidung nicht ab, sondern half ein wenig nach. Einen Moment später traf Mark seine Wahl. Er blickte Lilith tief in die Augen und sagte: »Okay. Ich mach’s. Ich werde dich in die Klinik und nach unten zu dem Vampirmädchen bringen.« Ob er selbst sich dazu entschlossen hatte, ihr zu helfen, oder ob Liliths subtile mentale Beeinflussung dafür verantwortlich war, blieb unklar. Lilith lächelte erfreut. »Wunderbar!« sagte sie. Sie beugte sich vor und küßte Mark dankbar auf die Wange, ehe er überhaupt recht begriff, was geschah. Der junge Mann sah sie verwundert an und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange, als wäre er nicht ganz sicher, ob er das ge-
rade nur geträumt hatte. »Wofür war denn das jetzt?« »Dafür, daß ich mich auf dich verlassen kann«, erklärte die Halbvampirin. »Das kann ich doch, oder nicht?« »Doch!« versicherte Mark eifrig. »Absolut!« »Wunderbar«, sagte Lilith. »Wohnst du hier in der Nähe?« Er bekam große Augen. Offenbar konnte er sein Glück kaum fassen. »Zwei Straßen weiter ist meine Wohnung«, erklärte er. »Wieso?« »Nun«, sagte Lilith. »Ich nehme an, wenn du jetzt bereits wieder zum Dienst erscheinst, werden einige Leute mißtrauisch, oder nicht?« Er nickte. »Schätze schon. Obwohl wir Gleitzeit haben, um die Überstunden auszugleichen. Wenn ich in fünf, sechs Stunden zur Arbeit gehe, wär’s wahrscheinlich besser.« »Tja«, sagte Lilith. »Und was machen wir bis dahin?« »Also, wenn ich ehrlich bin«, sagte Mark und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, »dann wüßte ich da schon was …« Marks Wohnung befand sich im siebten Stock eines unscheinbaren Mietshauses in der Uncton Road, direkt unter dem Dach. Obwohl die Bude lediglich zweieinhalb Zimmer umfaßte, bot sie einem Junggesellen dennoch alles, was zum Leben notwendig war: Küche, Bad – und ein Schlafzimmer mit einem breiten Futonbett, hinter dem an der Wand mehrere japanische Fächer mit Drachenmotiven hingen. Außerdem gab es im Raum ein großes Regal, das vor Büchern und Videos überquoll. Als Mark in der Küche verschwand, um ihnen etwas zu trinken zu besorgen, ließ Lilith ihren Blick neugierig über die Titel der vielen Bände und Bänder wandern. Dabei stellte sie leicht verwundert fest, daß beinahe die Hälfte pornografisches Material war. Offenbar war Mark, der auf den ersten Blick wie Schwiegermamas Liebling wirkte, ein Hardcorefan. Als ihr neuer Freund ins Schlafzimmer zurückkam, in jeder Hand
ein bis zum Rand mit Gin Tonic gefülltes Longdrinkglas, sagte Lilith mit einem Nicken in Richtung des Regals: »Stehst du auf Sex?« Er reichte ihr eines der Gläser und nickte, darum bemüht, sich seine Verlegenheit nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Sex ist die reinste Form zwischenmenschlicher Kommunikation«, sagte er. »Keine überflüssigen Worte. Kein blödes Gelaber. Nur zwei Menschen, die sich gegenseitig ihre Zuneigung beweisen.« »Vermutlich hast du recht«, sagte Lilith. Sie schwieg einen Moment. Dann schaute sie Mark tief in die Augen und fragte mit einem anzüglichen Lächeln: »Wie wär’s? Hast du Lust, ein wenig mit mir zu kommunizieren?« Zwei Minuten später waren sie bereits heftig bei der Sache. Sie lagen nackt auf Marks breitem Futon, der sich hervorragend als Spielwiese für Erwachsene eignete, und ließen sich kopfüber in einen Strudel aus Leidenschaft und Verlangen fallen, dessen Wucht sie schon bald mit sich fortzureißen drohte. Trotz seines geringen Alters entpuppte sich Mark als versierter, talentierter und abwechslungsreicher Liebhaber, woran seine Vorliebe für Pornographie wahrscheinlich nicht ganz unschuldig war. Während Lilith und er sich küßten, ihre Zungen sich wie die von zwei jungen Fohlen umschlangen, glitten seine Hände über ihre üppigen, festen Brüste. Seine Finger zupften an ihren dunklen Brustwarzen, mal sanft, mal stärker, bis sie sich aufrichteten, hart und heiß. Anschließend glitten seine Hände tiefer, über ihren flachen, weichen weißen Bauch, umkreisten den Nabel und verschwanden schließlich zwischen Liliths leicht gespreizten Beinen. Seine forschenden Finger strichen über ihr Schamhaar, erkundeten ihren Venushügel und stießen dann vor und zurück, um in ihrem Unterleib ein Feuer der Wollust zu entfachen. Lilith stöhnte, bog den Rücken durch und gab sich ganz dem Gefühl der Erregung hin, das sie erfüllte, als sein Gesicht tiefer glitt, dem Pfad folgend, den zuvor seine Hände genommen hatten, bis
sein Kopf zwischen ihren Beinen verschwand. Dort blieb er, bis Lilith sich, von ihrer Leidenschaft übermannt, auf dem Bett zu winden begann wie eine Schlange und sich ihm entzog, damit die Sache nicht schon zu Ende war, ehe sie überhaupt richtig angefangen hatte. Bis jetzt hatte sie sich von Mark »bedienen« lassen. Jetzt fand Lilith, daß es an der Zeit war, selbst die Initiative zu ergreifen. Mit einem katzenhaften Schnurren drückte sie ihn auf die Matratze zurück und glitt hinunter zu seinem steil aufragenden Glied. »Oh, Junge«, murmelte Mark nach einer Weile benommen und streichelte sanft ihr langes schwarzes Haar. »Wo hast du das denn gelernt? Bei den Pfadfinderinnen?« Lilith lächelte lüstern, leckte sich mit der Zunge lasziv über die vollen roten Lippen und schwang sich auf ihn wie ein Cowboy auf sein Pferd, ohne auf die Frage zu antworten. In beständig schneller werdendem Rhythmus stieß er ihr sein Becken entgegen, bis der Höhepunkt gleichzeitig über sie beide hinwegbrandete wie eine riesige Welle. Mark hatte das Gefühl, sein Geist würde davongespült, um nur noch von dieser sagenhaften, unbeschreiblichen Erfahrung höchsten Glücks erfüllt zu werden. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Doch auch wenn weder er noch Lilith es zu diesem Zeitpunkt ahnten – Mark würde keine Gelegenheit mehr bekommen, diese Erfahrung zu wiederholen. Denn der Tod wartete bereits auf ihn …
* Als die Türen des Aufzugs mit einem Rumpeln beiseite glitten, schob Mark die Bahre aus dem Lift in den Korridor, der von unter der Decke angebrachten Neonröhren in ein grellweißes Licht getaucht wurde. In diesem Bereich der Klinik herrschte wesentlich we-
niger Betrieb als im übrigen Krankenhaus, da im Untergeschoß neben den Operationssälen und der pathologischen Abteilung nebst der dazugehörigen Kühlräume lediglich das Schwimmbad, die Räume für die Wasserkuren, die Großküche, der Heizungskeller und diverse Abstellkammern untergebracht waren, von denen eine als Krankenzimmer für die »lebende Tote«, die nach wie vor nicht identifiziert werden konnte, umfunktioniert worden war. Trotzdem war das Untergeschoß weitläufig wie ein Labyrinth, und ohne eine ID-Karte inklusive Zahlenkombination lief hier unten gar nichts, da man nur damit die Türen öffnen konnte, so daß es nahezu unmöglich war, ungesehen und von den Beamten des Sicherheitspersonals unbemerkt dort hinunter zu gelangen. Mark schob die Bahre, deren Gummireifen auf dem blanken Linoleum quietschten, in Richtung der Pathologie. Obgleich er regelmäßig hier unten war, um verstorbene Patienten in die Kühlräume zu bringen, hatte er sich nie an den Geruch gewöhnen können, der im Untergeschoß herrschte; eine Mischung aus Formalin, Desinfektionsmittel und einem widerlich süßlichen Raumspray. Für Mark war dieser Gestank gleichbedeutend mit Tod. Doch er hatte zu tun, was die Ärzte ihm auftrugen, deshalb behielt er seinen Widerwillen für sich und beeilte sich statt dessen, seinen Job so schnell wie möglich zu erledigen, damit er rasch wieder nach oben zurückkehren konnte, in die Welt der Lebenden. Er schob die Rollbahre den verwaisten Korridor entlang, bis er zur ersten Sicherheitstür gelangte, einer breiten Schiebetür aus verstärktem Milchglas, die keine Aufschrift besaß. Er zog seine ID-Karte aus der Tasche seines weißen Hemdes und steckte sie mit dem Magnetstreifen nach unten in den Schlitz, der neben der Tür in die Wand eingelassen war. Dann tippte er mit flinken Fingern seinen persönlichen Zugangscode in die kleine Tastatur darunter und wartete. Einen Augenblick später schob sich die trübe Milchglastür zischend beiseite, und der Schlitz spuckte Marks Karte wieder aus.
Der Pfleger steckte die ID-Card wieder ein und setzte seinen Weg fort, bis er eine kleine Weile später auf die nächste Sicherheitstür stieß, die nicht aus Milchglas, sondern komplett aus Metall bestand. Zudem befand sich unter der Decke eine Videokamera, die jeden aufzeichnete, der diese Stelle passierte, so daß man sich ein wenig vorkam, als würde man sich in einer Bank befinden. Mark wiederholte den Vorgang von eben – doch nichts rührte sich. Die Metalltür blieb geschlossen! Statt dessen hörte Mark, wie jenseits der Tür mit einemmal eine Glocke zu schrillen begann, und erschrak heftig. Plötzlich war er sehr nervös. Was zur Hölle hatte das zu bedeuten? Er erfuhr es einen Augenblick später, als sich die Metalltür plötzlich doch öffnete – und er sich den beiden Beamten vom Sicherheitsdienst der Klinik gegenübersah, die Dr. Nyeberg dazu abgestellt hatte, um zu verhindern, daß irgendwer ohne Befugnis seiner »medizinischen Sensation« zu nahe kam. Die Männer waren mit Smith & Wesson-Revolvern vom Kaliber . 38 bewaffnet, die in Hüftholstern steckten, und sie machten einen ziemlich ungemütlichen Eindruck. Soviel Mark wußte, hießen die Burschen Chandler und Lowe, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wer von ihnen wer war. Mark schluckte. Seine Gedanken rasten. Er suchte fieberhaft nach sinnvollen Ausreden, glaubte, daß man ihm bereits auf die Schliche gekommen war, sah sich im Geiste schon im Sekretariat seine Papiere abholen … Dann jedoch hellten sich die Mienen der beiden Beamten auf, als sie den Krankenpfleger erkannten. Das Mißtrauen verschwand aus ihren Gesichtern. »Morgen«, quetschte Mark hervor und versuchte sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Er deutete auf das Lesegerät, in dem noch immer seine ID-Card steckte. »Ist mit meiner Karte ir-
gendwas nicht in Ordnung? Ich meine, wegen des Alarms?« Einer der Männer winkte gequält ab. »Ach wo«, sagte er. »Damit ist alles okay. Ist bloß so, daß Dr. Nyeberg uns die Anweisung gegeben hat, ab heute jeden, der die Sicherheitstür passieren will, persönlich in Augenschein zu nehmen. Anscheinend hat er Angst, daß jemand auf die Idee kommen könnte, ihm seine Sensation zu klauen. Als ob sich irgendein geistig Normaler für dieses Ding, das irgendwann mal eine Frau war, interessieren würde …« Der andere Sicherheitsbeamte fügte mit einem abfälligen Unterton in der Stimme hinzu: »Sieht so aus, als ob der gute Doc allmählich abdreht, so, wie er sich um die Zombietante kümmert. Aber Nyeberg war schließlich immer schon verrückt.« Der erste Mann deutete auf die Rollbahre, die mit einem weißen Leinenlaken abgedeckt war, unter dem sich grob die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten. »Für den Leichenschnibbler?« fragte er. Mark nickte. »Frischfleisch.« Der Sicherheitsbeamte trat neben die Bahre und ergriff das Tuch, um es zu lüften und einen Blick darunter zu werfen. Die Neugierde mancher Leute kannte wirklich keine Grenzen … »Äh, wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht tun«, sagte der Pfleger hastig. »Ist kein schöner Anblick. Wirklich.« Der Mann sah ihn an. »So schlimm?« Mark nickte erneut. »Ziemlich übel. Hatte einen schlimmen Autounfall, die Gute. Ihr Wagen hat sich mehrmals überschlagen und ist dann in Brand geraten. Erst nach zwei Stunden haben die Feuerwehrleute es geschafft, sie aus dem Wrack zu bergen. Für einen medium durchgebratenen Burger mag die Lady zwar noch ganz annehmbar aussehen, aber sonst …« Der Sicherheitsbeamte verzog angeekelt das Gesicht und ließ das Tuch so hastig los, als wäre es vergiftet. »Ist ja widerlich, womit ihr Mediziner euch so rumschlagen müßt«, meinte er.
Mark seufzte. »Wem sagen Sie das?« Er strich sich beiläufig eine Haarsträhne aus der Stirn und fragte: »Also, wie sieht’s aus? Kann ich durch? Die Lady hier muß nämlich dringend in die Gefriertruhe, bevor sie anfängt zu stinken.« Der Wachmann schluckte hörbar. »Klar«, sagte er. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« »Besten Dank«, sagte Mark. »Was ist mit meiner Karte?« »Die bekommen Sie auf dem Rückweg wieder«, antwortete der andere Mann. »Auch eine Anweisung vom Doc. Niemand, der nicht seine ausdrückliche Genehmigung besitzt, darf mit ID-Card passieren. Schließlich könnte man ja mal einen Blick ins Gemach seiner Liebsten werfen wollen.« »Ich bin zwar pervers, weil ich blöd genug bin, diesen Job zu machen«, sagte Mark, »aber so krank bin ich nun auch wieder nicht …« Die beiden Sicherheitsbeamten lachten dreckig. Mark setzte sich in Bewegung und rollte die Bahre weiter den Korridor entlang. Links und rechts befanden sich Türen, von denen eine zum Zimmer der »lebenden Toten« führte. Aber welche? Vermutlich die, neben der die beiden Stühle standen, damit es sich Chandler und Löwe während ihrer Schicht bequem machen konnten. Hierfür sprach ebenfalls der Umstand, daß auf einem der Plätze die aktuelle Ausgabe des Playboy lag. Mark schob die Bahre an der Tür vorbei und weiter den Gang hinab. Ein Stück voraus knickte der Korridor rechtwinklig nach rechts ab. So gelassen und unscheinbar wie möglich, falls die Wachmänner ihn beobachteten, bog er um die Ecke und rollte die Bahre bis zu einer der drei unbeschrifteten Eisentüren, hinter denen die Kühlräume der Klinik lagen. Er griff nach dem Metallrad, das den Knauf ersetzte, und drehte es, bis sich die Tür mit einem verhaltenen Zischen, als sich das eisige Vakuum in dem Raum mit warmem Sauerstoff füllte, öffnete.
Nach einem Blick zur Ecke, um sich zu vergewissern, daß er von den Wachmännern nichts zu befürchten hatte, schob Mark die Bahre in den Kühlraum und zog die Eisentür hinter sich zu, die Dank des Drehschlosses nur von außen zu verschließen war. So brauchte man keine Angst zu haben, versehentlich inmitten der Schubfächer voller Leichen eingeschlossen zu werden. Er rollte die Bahre in die Mitte des Raumes, bevor er nach dem Laken griff und es mit einem Ruck wegriß. »Okay«, sagte Mark. »Alles klar.« Lilith richtete sich auf der Bahre auf, rutschte zu Boden und strich ihren hautengen schwarzen Catsuit glatt. Dann sah sie Mark an und fragte, gespielt beleidigt: »Wie war das eben mit dem durchgebratenen Hamburger?« Er grinste und zuckte in einer entschuldigenden Geste die Schultern. »War nicht so gemeint«, sagte er. »Aber es hat doch gewirkt, oder nicht?« Die Halbvampirin nickte. »Das rettet dich«, erwiderte sie amüsiert. Dann wurde sie ernst. »Weißt du, wo Nyeberg die Frau untergebracht hat?« Mark bejahte. »In dem Zimmer gleich um die Ecke«, erklärte er. »Die Tür, vor der die beiden Stühle stehen, ist es.« Lilith lächelte. »Wunderbar.« Sie schlang ihre Arme um den Krankenpfleger und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke für die Hilfe«, sagte sie. »Den Rest erledige ich allein.« »Wann soll ich dich wieder abholen?« Lilith wiegte den Kopf. »Weiß ich noch nicht«, meinte sie. »Das hängt ganz davon ab, wie sich die Sache entwickelt. Aber eigentlich glaube ich nicht, daß es sonderlich lange dauern wird. Zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde.« Mark nickte. »Alles klar«, sagte er. »Ich bin da.« Nachdem er und Lilith sich noch einmal geküßt hatten, leidenschaftlich, aber kurz, verließ er den Kühlraum und verschwand.
Lilith wartete, bis sie hörte, wie Mark sich von den beiden Wachmännern mit der Bemerkung, daß er vermutlich schon bald wieder auf der Matte stehen würde, verabschiedete, ehe sie zur Tür des Kühlraums ging, sie vorsichtig aufdrückte und in den Korridor hinausschlüpfte. Sie hatte vor, diese Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um anschließend wieder von hier zu verschwinden, bevor irgendwer bemerkte, daß Dr. Nyebergs lebende Tote inzwischen gänzlich verblichen war. Lilith schlich zum Ende des Flurs, lautlos und behende wie eine Katze, und spähte behutsam um die Ecke. Die zwei Sicherheitsbeamten hatten vor der Tür der Untoten Stellung bezogen. Sie saßen auf den Stühlen, die neben der Tür an der Wand standen, und begafften gemeinsam das ausklappbare Mittelposter des Playboy. »Oh, Junge«, kommentierte der eine, völlig hingerissen von Miss Februar. »Was für superscharfe Milchtüten!« »Jau«, stimmte Lowe zu. »Ein Strohhalm müßte man sein!« Während die Wachmänner ihre angeregte Unterhaltung über die physischen Vorzüge von Miss Februar fortsetzten, schlich Lilith auf sie zu. Sie drückte sich dicht an der Wand, damit sie nicht sofort entdeckt wurde, und schaffte es, sich den Sicherheitsbeamten bis auf knapp fünf Meter zu nähern, ehe die Männer sie schließlich entdeckten. »He!« rief einer der Beamten verwirrt. »He, Lady, was zum Teufel machen Sie hier?« Wohl mehr instinktiv als absichtlich tastete seine rechte Hand nach dem Knauf seines Revolvers, der in seinem Hüftholster steckte. Lilith reagierte mit der Schnelligkeit einer angreifenden Kobra. Sie sprang vor, war mit zwei Sätzen bei den Männern und packte sie bei den Haaren. Dann schlug sie ihre Köpfe kräftig gegeneinander, bevor die Beamten überhaupt begriffen, was mit ihnen passierte. Es
klang, als würde man zwei Schweinehälften wuchtig miteinander kollidieren lassen. Ausgeknockt sanken die beiden in sich zusammen. Keiner von ihnen hatte es geschafft, seine Waffe zu ziehen. Lilith beugte sich über die beiden Bewußtlosen und durchsuchte sie rasch. Dabei fand sie eine ID-Karte, die sie benötigte, um sich Zutritt zum Zimmer der »lebenden Toten« zu verschaffen, und ein Funkgerät, mit dem die Beamten offenbar Kontakt mit ihrer Zentrale hielten. Lilith nahm die Karte an sich und schmetterte das Walkie talkie mit voller Wucht gegen die Wand. Ein Puzzle aus Plastik- und Elektronikteilen prasselte zu Boden. Damit hatten die Männer, sollten sie zu sich kommen, bevor Lilith ihren Job erledigt hatte, keine Möglichkeit mehr, Hilfe zu rufen, und ohne die Karte konnten sie den Trakt auch nicht verlassen. Die Halbvampirin wandte sich der Tür zu. Sie schob die ID-Card in den Schlitz – und bemerkte beim Anblick der Tastatur, daß sie den Code nicht kannte, der notwendig war, um die Tür zu öffnen. Doch von den Wachmännern würde sie die Zahlenkombination in der nächsten halbe Stunde wohl kaum erfahren. Lilith zischte einen Fluch. Irgendwie schien heute nicht ihr Glückstag zu sein. Sie überlegte, was sie tun sollte. Dann entschied sie, daß sie im Grunde genommen nur eine einzige Möglichkeit hatte, um in das Zimmer zu gelangen. Nachdem sie drei Schritte Anlauf genommen hatte, sprang Lilith vor und trat in Höhe des Schlosses mit aller Kraft gegen die Tür. Holz splitterte knirschend. Die Tür erzitterte im Rahmen. Doch das Schloß hielt. Entschlossen trat Lilith noch einmal zu. Diesmal gab der Rahmen nach. Holzsplitter flogen davon, als die Tür wuchtig nach innen aufschwang und lautstark gegen die Wand krachte. Lilith fing die zu-
rückfedernde Tür ab und sprang mit einem Satz in den Raum. Sie war darauf gefaßt, angegriffen zu werden, aber in dem Zimmer regte sich nichts. Alles war ruhig. Gelinde verwirrt sah Lilith sich um. Der Raum war nicht sehr groß, vielleicht zwanzig Meter im Quadrat. Es gab weder Fenster noch eine Lüftung, dafür jedoch einige Metallregale, die davon kündeten, daß das Zimmer zuvor als Abstellkammer benutzt worden war. Linkerhand, umgeben von einer Reihe Apparaturen, stand ein Krankenhausbett, über das, wie ein grotesker Himmel, ein Plastikzelt gestülpt war. Neben dem Bett auf einem Rollwagen aus Metall befanden sich diverse Schalen mit medizinischen Instrumenten und Medikamenten. Neugierig trat Lilith näher. Vor dem Bett blieb sie stehen und schaute durch das Plastik. Inmitten weißen Bettzeugs lag ein Wesen, das man nur noch schwerlich als Mensch bezeichnen konnte. Verbranntes, von eitrigen Wunden und Blasen bedecktes rohes Fleisch. Halb verheilte Wucherungen am Körper und im Gesicht. Fehlende Zehen und Finger. Das linke Ohr war nur noch ein einziger Knorpel. Die Lippen – das, was davon übrig war – waren zur Parodie eines fröhlichen Grinsens verzogen, das seinen Ursprung darin hatte, daß die Flammen des Kirchenbrandes die Gesichtsmuskulatur der Frau stark beschädigt hatten. Ihre haarlose Kopfhaut war unter einer Plastikhaube verborgen. Es war ein gräßlicher Anblick. Gleichwohl fühlte sich Lilith in ihrer Annahme bestätigt, es mit einer Untoten zu tun zu haben, denn ein normaler Mensch würde mit solchen Verletzungen unmöglich überlebt haben – wobei man den Zustand, in dem die Unbekannte sich befand, allerdings kaum als »Leben« bezeichnen konnte, denn sie schien nicht in der Lage zu sein, sich zu bewegen. Ihre Gliedmaßen waren in sich irgendwie verkrümmt, als wären ihre Knochen geschmolzen und anschließend
mit veränderter Struktur wieder fest geworden. Mit anderen Worten: Sie war vollkommen wehrlos. Das erklärte vermutlich auch, warum es Dr. Nyeberg und seinen Kollegen möglich gewesen war, die Vampirin festzusetzen und zu einer Mediensensation zu machen. Sie war ihnen völlig ausgeliefert, war sogar darauf angewiesen, daß man ihr Blutplasma intravenös durch einen Plastikschlauch einflößte, damit sie nicht verhungerte. Während Lilith die Frau betrachtete, die mit geschlossenen Augen, deren Lider im Schlaf unruhig zuckten, in dem Bett lag, in jeder Hinsicht mehr tot als lebendig, empfand sie plötzlich Mitleid mit der Unbekannten. Unfähig, sich auch nur zu rühren, unheilbar entstellt und ans Krankenbett gefesselt, zu einer »medizinischen Sensation« verkommen, zu ewigem Leben verdammt, schien es nichts zu geben, das man der Untoten noch antun konnte, um ihr grausiges Los zu verschlimmern. Doch ihr Mitgefühl für den grauenhaften Zustand der Vampirin änderte nichts an ihrer Entschlossenheit, zu erledigen, weswegen sie gekommen war. Bevor sie das Geschöpf jedoch von der Welt der Untoten in das Reich der wahrhaft Toten befördern konnte, mußte sie herausfinden, ob die Frau der Alten Rasse angehörte oder lediglich eine Dienerkreatur war. Lilith griff nach dem Plastik und schlug es beiseite. Aus dem Innern des Zelts drang ihr ein ekelerregender Gestank nach verbranntem Fleisch, Eiter und Alkohol entgegen. Sie rümpfte angewidert die Nase und wollte sich gerade über die Unbekannte beugen, als die Untote mit einemmal die Augen aufschlug und Lilith aus gelbrot geäderten Pupillen anstarrte. Ihre Lippen bewegten sich, aber mehr als ein Wispern kam nicht darüber. Lilith brachte ihr Ohr dicht an den Mund der Frau – und vernahm das Wort, das die Situation klärte. »Herrin …« Die Untote war eine Dienerkreatur. Und sie hatte mit untrügli-
chem Gespür in Lilith eine Vampirin erkannt – auch wenn sie nur eine halbe war. Leider hatte Lilith ihrerseits die Fähigkeit verloren, Angehörige der Alten Rasse zu »wittern«. Wieder bewegten sich die verbrannten Lippen. »Töte … mich …« Lilith schauderte. Aber sie würde den Wunsch der Kreatur erfüllen. Sobald sie wußte, was sie wissen wollte. »Wer ist dein wahrer Herr?« fragte sie. »Wer hat dich zur Kreatur gemacht?« Die Untote reagierte nicht. Damit hatte Lilith gerechnet. Dienerkreaturen unterstanden voll und ganz dem Willen des Vampirs, dessen Keim sie in sich trugen. Sie würden ihren Herrn niemals verraten, wenn man sie nicht dazu zwang. Also beschloß Lilith, zu anderen Mitteln zu greifen. Kurzentschlossen packte sie den Kopf der Dienerkreatur, der sich unter ihren Fingern seltsam schwammig und gleichzeitig wie rissiges Leder anfühlte, drehte ihn mit einem wütenden Ruck zur Seite, preßte den Schädel in die Kissen und grub ihre Augzähne in den Hals der Untoten. Schwarzes Blut sprudelte in Liliths Mund, doch statt es zu trinken, zog sie ihre Hauer sofort wieder aus dem Fleisch der Dienerkreatur und spie das Zeug angeekelt auf den Fußboden. Es war nicht nötig, die Frau auszusaugen. Bereits durch den Biß hatte sie Liliths Keim in sich aufgenommen, was sie automatisch dem Willen der Halbvampirin unterwarf. Als sie spürte, daß sie die Kontrolle über das Wesen besaß, wiederholte Lilith ihre Frage: »Wer hat dich zu dem gemacht, was du bist?« »Ich … weiß es … nicht«, sagte die Dienerkreatur matt. Ihre Stimme klang brüchig und kraftlos. »Ich kenne … seinen Namen … nicht.« »Dann war es ein Vampir?« fragte Lilith.
Sie bewegte kaum wahrnehmbar den Kopf nach unten, was wohl ein Nicken bedeuten sollte. »Hast du ihn bei dem Kirchenbrand getroffen?« Erneut die kraftlose Andeutung eines Nickens. »Wie hat er ausgesehen?« erkundigte Lilith sich weiter. »Gläubig«, sagte die Dienerkreatur. Lilith runzelte die Stirn. »Gläubig?« wiederholte sie. »Was meinst du damit? In welcher Weise gläubig?« »Wie ein … Mönch«, erwiderte die Untote. »In einer … Kutte. Die Augen. Jung … und dennoch uralt …« Sie verstummte. Lilith Eden strich sich beiläufig eine Haarsträhne aus der Stirn. Obwohl sie nicht sicher war, was sie von den Worten der Dienerkreatur halten sollte, fragte sie: »Was wollte der Vampirmönch auf dem Friedhof?« »Rache«, kam die Antwort. »Rache wofür?« fragte Lilith. »Weiß nicht«, sagte die Untote. Lilith schnaubte mißmutig. Irgendwie entwickelten sich die Dinge nicht so, wie sie gehofft hatte. Die vagen Angaben der Dienerkreatur gaben kaum brauchbare Informationen her, aber die brauchte sie, wenn sie sich den Vampir schnappen wollte, der vermutlich ein Sippenoberhaupt war – und damit sowohl Nahrung als auch Beute für Lilith. Sie sah die erbarmenswerte Untote an. »Was weißt du von ihm?« »Er … besitzt Macht«, wisperte die Dienerkreatur. »Macht über das … Feuer.« In den Worten klang Ehrfurcht mit. »Dann hat er die Kirche in Brand gesteckt?« sagte Lilith. Die Untote nickte. Lilith stellte ihr noch einige weitere Fragen, doch sie stellte schnell fest, daß die Dienerkreatur nicht mehr wußte, als sie ihr schon gesagt hatte. Und das bedeutete, daß es Zeit wurde, zum Ende zu kommen. Auch wenn die Untote kaum eine große Bedrohung für
die Menschheit darstellte, mußte Lilith sie töten, denn sie war trotz allem ein Vampir. Außerdem konnte der Tod – der endgültige Tod – für die gelähmte Dienerkreatur nicht schlimmer sein würde als der Zustand, in dem sie sich jetzt befand. Als sie mit beiden Händen den Schädel der Untoten ergriff, hielt diese vollkommen still. Lilith riß den Kopf mit einem kraftvollen Ruck herum. Das Rückgrat brach mit dem Knacken eines trockenen Astes. Mit einem letzten Blick auf die sterblichen Überreste von Dr. Nyebergs »medizinischer Sensation« kehrte Lilith dem Bett den Rücken – und hielt abrupt inne, als sie Mark in der Tür stehen sah. Ein Ausdruck ungläubiger Fassungslosigkeit lag auf seinem Gesicht. »Wie lange bist du schon da?« fragte Lilith. »Lange genug, um zu wissen, daß du gewiß keine Reporterin vom San Francisco Chronicle bist«, erwiderte Mark lakonisch. Lilith schwieg. »Die Frage ist nur«, sagte Mark, »was bist du dann?« »Ich denke, du kennst die Antwort darauf«, sagte sie knapp. Unwillkürlich sandte sie ihre geistigen Fühler aus, um sich den Krankenpfleger gefügig zu machen, wenn es die Situation erfordern sollte. »Oder nicht?« »Doch«, sagte er langsam. »Ich schätze, schon.« Er kam zwei Schritte in das Zimmer hinein und warf an Lilith vorbei einen Blick auf das Bett und die darin liegende Gestalt. »Warum hast du sie getötet?« Lilith antwortete mit einer Gegenfrage: »Warum interessiert dich das?« »Weil du mich interessierst«, entgegnete Mark, und die Art, wie er das sagte, sprach dafür, daß er es ehrlich meinte. »Was zur Hölle geht hier vor?« Lilith musterte den jungen Mann. Sollte sie Mark erzählen, was er wissen wollte? Oder sollte sie seine Erinnerung an das, was er eben
gesehen hatte, einfach auslöschen, um anschließend auf Nimmerwiedersehen von hier zu verschwinden? Sie entschied sich dafür, es ihm zu sagen, vor allem, weil es danach aussah, als würde sie sich noch etwas länger in der Stadt aufhalten, und ein wenig Hilfe konnte nie schaden. Darum erklärte sie Mark mit wenigen Sätzen, was es mit der »lebenden Toten« auf sich hatte und daß es nun galt, den Vampirmönch aufzuspüren, der für diese ganze verdammte Angelegenheit die Verantwortung trug. Als sie mit ihrem Bericht geendet hatte, sah Mark sie einen Moment lang schweigend an. Nichts an seiner Miene verriet, was er dachte. Dann seufzte er schwer und sagte: »Okay, Lilith. Ich weiß, daß es irre ist, völlig verrückt, aber ich glaube dir die Geschichte. Ich werde dir helfen, diesen Kuttenträger zu finden. Vorausgesetzt natürlich, daß du auf meine Hilfe Wert legst.« Lilith lächelte. »Es kann nie schaden, einen starken jungen Burschen zur Seite zu haben, wenn man in einer fremden Stadt auf Vampirjagd geht …«, sagte sie.
* Nachdem Lilith das Krankenhaus mit Marks Hilfe so unauffällig verlassen hatte, wie sie es zuvor betrat, gingen sie gemeinsam in sein Apartment zurück, wo Lilith sich an das Telefon hängte, um nach Möglichkeit herauszufinden, was es mit dem geheimnisvollen Mönch und dem Brand in der St. Catherine’s Memorial Church auf sich hatte. Die Dienerkreatur, deren Namen sie nicht einmal kannte, hatte gesagt, daß der Vampir sich dort aufgehalten hatte, um sich zu rächen. Aber an wem? Und wofür? Einen ersten Hinweis erhielt Lilith vom Redakteur des Lokalteils der Los Angeles Times, einem geschwätzigen Kerl namens Joe Taylor, der von ihrer Stimme so angetan war, daß er sofort ein Date mit ihr
ausmachen wollte. Taylor erzählte ihr, daß vor der St. Catherine’s Church schon sieben weitere Kirchen in und um L. A. in Flammen aufgegangen waren, und zwar in einem Zeitraum von nur zwei Monaten. Allen sechs Fällen war gemeinsam, daß die Feuerwehr, obwohl sie jeweils innerhalb von zehn Minuten vor Ort war, nichts tun konnte, um die Gotteshäuser zu retten, da die Flammen die Gebäude aus unerfindlichen Gründen viel schneller aufzehrten als normal. Taylor vermutete, daß der Brandstifter – seiner Meinung nach ein Pyromane, der brennende Kirchen besonders geil fand – bei seinen Aktionen einen besonderen Brandbeschleuniger benutzte, der hinterher chemisch nicht mehr nachzuweisen war. Überhaupt wurden niemals brauchbare Spuren entdeckt, die Aufschluß darüber geben konnten, um wen es sich bei dem Feuerteufel handelte. Lilith wartete geduldig, bis der Redakteur seinen Bericht beendet hatte, bevor sie sich wie ein artiges Mädchen bei ihm bedankte und auflegte. Seiner Bitte, ihm ihre Nummer zu geben, kam sie nicht nach. Als sie den Hörer einhängte, sagte Mark: »Und? Hast du was erfahren, das uns irgendwie weiterhilft?« »Mehr oder weniger«, sagte Lilith. »Es sieht so aus, als ob unser mysteriöser Vampirmönch schon seit einigen Wochen in der Gegend sein Unwesen treibt. Inklusive der St. Catherine’s Memorial Church hat er in den letzten acht Wochen genauso viele Kirchen in und um Los Angeles abgefackelt. Wer auch immer der Bursche ist, er scheint was gegen Gotteshäuser zu haben.« »Offensichtlich«, sagte Mark. »Aber warum?« Lilith zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Vielleicht hat man ihn exkommuniziert? Was auch immer – daß er Kirchen anzündet und in einer Mönchskutte herumläuft, ist bestimmt kein Zufall. Die Untote sagte, er will Rache. Aber wofür? An wem rächt er sich, wenn er Kirchen anzündet?« »Tja«, witzelte Mark, »wie wär’s beispielsweise mit Gott? Schließ-
lich sind die Kirchen seine Häuser auf Erden.« Lilith sah ihn nachdenklich an. »Schon möglich«, sagte sie. Mark runzelte verwirrt die Stirn. »Wie meinst du das?« Lilith winkte ab. »Dir das zu erklären, würde jetzt zu weit führen«, sagte sie. Sie trank einen Schluck von dem Kaffee, den Mark ihnen aufgebrüht hatte, und dachte nach. Nach einer Weile fragte sie ihn: »Gibt es irgendeine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, welche Kirchen im Großraum L. A. bis jetzt noch nicht abgebrannt sind? Um herauszufinden, was das nächste Ziel des Kerls sein könnte?« »Ich schätze, schon«, sagte Mark. »Beim Grundbuchamt müßte ein Verzeichnis sämtlicher religiöser Bauten der Stadt geführt werden. Und bei der Polizei dürften sie eigentlich auch eine Liste aller Kirchen haben, schließlich darf man wohl annehmen, daß die Cops die Gotteshäuser nach den Feuern in der jüngsten Zeit verstärkt kontrollieren, um zu verhindern, daß es weitere Brandstiftungen gibt.« »Wunderbar«, sagte Lilith Eden und nickte anerkennend. »Wo ist die nächste Polizeiwache?«
* Es war Viertel vor zwei Uhr mittags, als Lilith das 54. Revier des Los Angeles Police Department betrat. Sie hatte Mark darum gebeten, draußen in seinem Wagen zu warten, einem verbeulten alten Ford Mustang Jahrgang ‘69, der bloß noch von rotbraunem Rost und Flüchen zusammengehalten wurde. Sie wußte nicht, was sie auf der Polizeistation erwartete, und wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gab, hätte er ihr nur im Weg gestanden. Als die Tür hinter ihr zufiel, sah Lilith sich im Wachraum der Station um. Links befand sich ein breiter Tresen, der fast die gesamte Breite des Raums einnahm. Dahinter gingen Beamte in Uniform an ihren Schreibtischen ihren Tätigkeiten nach, tippten mit zwei Fingern Berichte oder telefonierten. Rechterhand längs der Wand stan-
den zwei Bänke, auf denen Bürger saßen, die darauf warteten, daß man sie zur Kenntnis nahm. In der Station roch es nach Bohnerwachs, verstaubten Akten und dem Mief von feuchter Kleidung. Lilith kam sich ein wenig vor, als wäre sie in eine Episode der alten Krimiserie Highway Patrol geraten. Wenn jetzt die mit der Aufschrift »Detective J. T. Riker« versehene Tür im Dienstbereich aufgegangen und Broderick Crawford herausgekommen wäre, hätte sie sich nicht sonderlich gewundert. Lilith trat an den Tresen zu einem rundlichen Officer mit Vollbart und Kartoffelnase, der wie die Personifizierung des Klischees vom verschnarchten Staatsdiener wirkte. Als er die Halbvampirin bemerkte, sah er von dem Papierkram auf, den er mit verkniffener Miene bearbeitete, und musterte die rassige Schwarzhaarige mit den superben Formen – lange Beine, schmale Taille, üppige Brust, schlanke Schultern – von oben bis unten. Dann verzog er seine wulstigen Lippen zu einer Art freundlichem Lächeln und grunzte unterwürfig: »Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun, Ma’am?« Lilith beschloß, heute ausnahmsweise mal auf Smalltalk zu verzichten, und kam umgehend zur Sache. »Wäre es möglich, eine Liste sämtlicher Kirchen zu bekommen, die es in der Stadt gibt?« Mit einemmal verdüsterte sich der lüsterne Gesichtsausdruck des Cops. Er schaltete sein Grinsen aus wie eine Lampe und bedachte Lilith mit einem diesmal recht mißtrauischen Blick. »Und was wollen Sie damit?« »Ich bin Touristin«, erwiderte sie. »Ich interessiere mich für Kirchenarchitektur, und soviel ich weiß, soll es in dieser Gegend eine ganze Menge religiöser Bauwerke geben.« »Um genau zu sein«, grunzte Officer Danson mißmutig, »sind es exakt vierhundertdreiundsiebzig Kapellen, Synagogen, Kirchen und was weiß ich sonst noch. Für meinen Geschmack in jedem Fall eindeutig zu viele.« »Wegen der Kirchenbrände in letzter Zeit?« fragte Lilith.
Er nickte. »Richtig. Dieser irre Pyromane hält uns mächtig auf Trab. Allerdings fürchte ich, daß ich Ihnen die Auskunft, die Sie wünschen, nicht geben kann, Ma’am, da ich nicht befugt bin, Informationen, die in Zusammenhang mit laufenden Polizeiermittlungen stehen, an Zivilisten weiterzugeben. Tut mir sehr leid.« Er tat, als würde er bedauern, daß er ihr nicht helfen konnte, doch der überhebliche Ausdruck in seinen Augen kündete vom Gegenteil. »Das ist wirklich traurig«, sagte Lilith. »Sind Sie sicher, daß Sie mir nicht helfen können?« Sie beugte sich ein Stück vor und schaute dem Officer unverwandt in die Augen. Ihr Geist ging auf Wanderschaft, floß wie ein Strom mentaler Energie in das Bewußtsein des Polizisten und »programmierte« den Mann so, daß er in Zukunft selbst vom Rockefeller Building springen würde, wenn Lilith es ihm befahl. Zwar haßte die Halbvampirin es, sich Menschen auf diese Weise gefügig zu machen, aber manchmal hatte sie keine Wahl. Und diese Sache war zu wichtig, um sich Skrupel leisten zu können. »Ganz sicher?« Liliths geistige Manipulation zeigte sofort Wirkung bei dem Uniformierten. Das Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück. »Natürlich werde ich Ihnen helfen«, sagte Danson. »Tut mir leid, falls Sie gerade einen anderen Eindruck gehabt haben, aber zuweilen bin ich ein wenig … zerstreut.« Lilith winkte großmütig ab. »Kein Problem«, sagte sie. »Wir sind schließlich doch alle nur Menschen, nicht? Jedenfalls mehr oder weniger.« Officer Danson nickte. »Das ist wohl wahr«, sagte er. Dann klatschte er in einer arbeitseifrigen Geste in seine Hände und fragte zuvorkommend: »Also, Ma’am, was genau kann die Polizei von Los Angeles denn nun für Sie tun?« Fünf Minuten später verließ Lilith die Polizeistation mit einem schmalen Stapel Computerausdrucke in der Hand, überquerte eilig
die Straße, deren gestreute Fahrbahn wie ein grauer Fluß durch das schmutzige Weiß des verschneiten Viertels führte, und stieg zu Mark in den Wagen, der am Bordstein parkte. Mark sah sie fragend an. »Und?« Lilith hielt den Papierstapel hoch. »In der Stadt gibt es mehr Kirchen als praktizierende Gläubige«, erklärte sie mit einem leicht resignierten Unterton in der Stimme. »Wie sollen wir da nur die finden, wo der Mönch als nächstes zuschlagen wird?« »Abwarten«, sagte Mark, bemüht, seinen Optimismus nicht zu verlieren. »Vielleicht finden wir einen Hinweis auf das Schema der Brände, wenn wir die Unterlagen in aller Ruhe durchsehen. Das ist zwar ein bißchen, als würde man die berühmte Nadel im Heuhaufen suchen, aber es ist zumindest besser, als deprimiert in der Ecke zu hocken und Däumchen zu drehen.« Lilith stieß einen mißmutigen Laut aus und teilte den Stapel in zwei Hälften. »Okay, Muchacho«, sagte sie und warf ihm einen fingerdicken Haufen Computerpapier in den Schoß. »Dann mach dich mal an die Arbeit.« Mark nickte und begann die Ausdrucke durchzusehen. Lilith seufzte leise und schloß sich ihm an. Anders als Mark war sie aber nicht so sicher, daß sie in den Unterlagen etwas finden würde, das sie auf der Suche nach dem Vampirmönch einen Schritt weiter brachte, vor allem, weil sie im Grunde genommen nicht die geringste Ahnung hatten, wonach sie überhaupt suchten. Aber sie wußte nicht, wie sie dem mysteriösen Brandstifter sonst auf die Spur kommen konnten, deshalb ergab sie sich wohl oder übel in ihr Schicksal. In den Unterlagen waren sämtliche religiösen Einrichtungen von Los Angeles und der angrenzenden Countys aufgeführt. Selbst Privathäuser, die als Kirchen für Kleinreligionen wie die Amish oder die Adventisiten dienten, waren verzeichnet. Doch aufgrund der Tatsache, daß sämtliche Kirchen, die der Rache
des Vampirmönchs bislang zum Opfer gefallen waren, römischkatholischer Zugehörigkeit gewesen waren, waren Lilith und Mark sich relativ sicher, Einrichtungen anderer Glaubensgruppierungen ausschließen zu können. Das ließ die Zahl der Kirchen, die als nächstes Ziel des Vampirs in Frage kamen, immerhin auf knapp hundertsiebzehn im Großraum L. A. schrumpfen … Während der Durchsicht der Unterlagen war Marks Optimismus beständig kleiner geworden. Als er seinen Stapel schließlich mit einem enttäuschten Seufzen in die Ablage auf dem Armaturenbrett warf, hatte er die Hoffnung auf Erfolg fast aufgegeben. »Nichts«, sagte er resigniert. »Oder zumindest nichts, das uns in irgendeiner Form weiterhelfen würde. Und bei dir?« Lilith schüttelte den Kopf, ohne von den Papieren aufzusehen. »Bis jetzt Fehlanzeige. Nichts Brauchbares dab-« Mit einemmal hielt sie abrupt inne. »Was ist los?« fragte Mark irritiert. »Ich denke, ich hab’ hier was gefunden«, sagte Lilith. Plötzlich war Mark ganz Ohr. »Und was?« Lilith zeigte ihm einen der Ausdrucke und deutete mit dem Finger auf den Namen einer Kirche, die sich der Anschrift nach irgendwo im Südwesten der Stadt befand, vermutlich in einem der kleineren Vororte, in Glendale oder San Fernando Valley. »Was hältst du davon?« »Church of the Cleaning Fire«, las Mark vor. Er sah sie verwirrt an. »Die Kirche des Reinigenden Feuers?« Lilith nickte. »Reinigendes Feuer«, sagte sie. »Paßt doch irgendwie ganz gut zu unserem zündelnden Freund, oder? Zumal sich der Verein ergänzend ›Ordo Sancti Benedicti‹ nennt.« »Was soll das sein?« fragte Mark. »Italienisch?« »Fast«, sagte Lilith, die dank ihres vampirischen Erbes sämtliche Sprachen der Welt beherrschte. »Latein. Gemeint ist damit, daß sich die Kirche der Lehre des Benedikt von Nursia gewidmet hat, der zu-
fällig der Gründer des katholischen Benediktinerordens ist.« »Benediktiner?« wiederholte Mark. »Sind das nicht Mönche?« Lilith nickte. »Komischer Zufall, was?« »Ich glaube nicht an Zufälle«, erwiderte Mark. »Zumindest nicht an solche.« Lilith lächelte. »Willkommen im Club, Partner.« Sie zeigte mit dem Finger auf die Anschrift der Kirche. Zwar konnten sie nicht sicher sein, daß sie tatsächlich auf der richtigen Spur waren, aber es war immerhin einen Versuch wert. »Weißt du, wo das ist?« »So ungefähr«, sagte Mark und nickte. »Okay«, sagte Lilith energisch. »Dann los!«
* Die »Church of the Cleaning Fire« lag weiter außerhalb der Stadt, als Mark zunächst angenommen hatte, direkt am Rande der Santa Monica Mountains, in einem Gebiet, in dem nichts an die Tatsache erinnerte, daß praktisch gleich um die Ecke die Glitzermetropole Hollywood und das Luxusviertel Beverly Hills lagen. Wohin man blickte, gab es nur Sand, Geröll und Kakteen. Alles in allem war das nicht unbedingt die Gegend, in der man eine Kirche vermutete. Es war höchst fraglich, daß sich zu den Gottesdiensten sonderlich viele Gläubige in diese karge Einöde verirrten. Aber vielleicht, überlegte Lilith, als sie von dem Highway, auf dem sie bislang unterwegs gewesen waren, auf eine wesentlich schlechter ausgebaute Nebenstraße abbogen, lag das ja durchaus im Interesse der Anhänger der Church of the Cleaning Fire … Während der klapprige Ford Mustang sich die Straße entlangquälte, die mit jedem Meter schlechter wurde, stellte Lilith auf dem Beifahrersitz fest, daß es bereits zu dämmern begann. Lange Schatten krochen über den Schnee und breiteten sich rasch aus. Ein dämmriges Zwielicht herrschte, das bald der Dunkelheit, die zu dieser Jah-
reszeit auch in Kalifornien früh am Tag kam, Platz machen würde. Wenn sie Glück hatten, würde es noch eine Stunde lang hell sein. Die Landschaft, die an den Fenstern vorbeiglitt, wurde mit jeder Meile eintöniger, trostloser. Spuren menschlichen Lebens gab es kaum. Hin und wieder tauchten längs des Highways Häuser oder Wohnwagen auf, aber nach einer Weile verschwanden sie und überließen die Gegend sich selbst. Zum Glück besaß Mark eine Straßenkarte von L. A. und Umgebung, denn sonst hätten sie sich hier in der »Wildnis« zweifellos verfahren. Als die Kirche mit einemmal hinter einer scharfen Rechtskurve vor ihnen aufragte, trat Mark unwillkürlich auf die Bremse, während Lilith sich vorbeugte und den Bau durch die Frontscheibe des Wagens neugierig musterte. Die Kirche war nicht sonderlich groß und alles andere als eindrucksvoll. Sie maß in etwa soviel wie ein Zweifamilienhaus und war aus Holz errichtet worden. Der viereckige Glockenturm ragte schätzungsweise fünfundzwanzig Meter in den grauweißen Winterhimmel auf. Eine schmale Doppeltür führte ins Innere des Gebäudes, das von einem groben, halbhohen Lattenzaun umgeben war. Die kahlen Zweige von Rosenbüschen rankten sich die Wände des Baus empor, der einen ziemlich verwahrlosten Eindruck machte, als ob sich seit Monaten niemand mehr um die Kirche gekümmert hatte. Auf dem Dach türmte sich der Schnee. »Sieht nicht so aus, als ob die Leute sich beim Gottesdienst gegenseitig auf die Füße treten würden«, kommentierte Mark lakonisch. Er gab wieder Gas und fuhr auf die Kirche zu. Der Mustang holperte durch ein Schlagloch nach dem anderen. Lilith schwieg. Irgend etwas kam ihr an dem Bau sonderbar vor, doch sie konnte nicht genau sagen, was. Dennoch hatte sie das unbestimmte Gefühl, daß es wichtig war. Als Mark den Wagen auf den verwaisten Vorplatz der Kirche steuerte und anhielt, hatte sie es schließlich. »Fällt dir an dem Bau was
auf?« fragte sie ihren Begleiter. Der junge Mann musterte erst die Kirche, dann Lilith. »Wenn ich ehrlich bin«, meinte er. »Nö. Was stimmt mit dem Schuppen denn nicht?« »Zum Beispiel, daß nirgendwo christliche Symbole zu sehen sind«, erklärte Lilith. »Keine Kreuze. Keine Jesusfiguren oder Abbilder von Maria am Eingang, wie es bei katholischen Kirchen eigentlich üblich ist.« Mark runzelte die Stirn. Er betrachtete das Gebäude durch die Frontscheibe von neuem und stimmte ihr dann zu. »Du hast recht«, sagte er. »Da sind wirklich keine christlichen Zeichen. Meinst du, das hat was zu bedeuten?« Lilith zuckte die Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. In jedem Fall werde ich mir den Bau mal näher ansehen. Kirchen haben mich schon immer brennend interessiert.« »Okay«, sagte Mark. Er tastete nach dem Griff der Fahrertür, um auszusteigen. »Gehen wir und nehmen den Schuppen unter die Lupe.« »O nein«, wehrte Lilith ab und schüttelte den Kopf. »Ich gehe und nehme den Schuppen unter die Lupe. Du bleibt hier und paßt auf, daß niemand die Autoreifen klaut.« Mark zog eine Grimasse. »Muß das sein?« Lilith nickte. »Wenn du deinen nächsten Geburtstag nicht in Gesellschaft von Elvis, Janis Joplin und Buddy Holly verbringen willst, schon.« »Du meinst, die Sache könnte gefährlich sein?« »Möglich«, sagte Lilith. »Und so lange ich das nicht sicher weiß, bleibst du hier im Wagen.« Mark grunzte enttäuscht. »Also, ehrlich gestanden habe ich mir unsere Vampirjagd ein wenig aufregender vorgestellt …« Lilith schmunzelte, stieß die Beifahrertür des Mustang auf und stieg aus dem Wagen. Sie schlug die Tür zu und blickte über das
Dach des Autos zur Kirche hinüber, die in der zunehmenden Dunkelheit irgendwie bedrohlich wirkte, wie sie sich dort mit der Rückseite an den Hang schmiegte, einem lauernden Raubtier gleich. Wie mochte es hinter den Mauern der Kirche aussehen? Sie wußte es nicht. Aber sie hatte vor, es herauszufinden. Lilith setzte sich in Bewegung und marschierte um den Ford herum über den Vorplatz zum Zaun. Das Holztor war verschlossen, der Schnee, der den Weg dahinter bedeckte, unberührt. Es sah so aus, als wäre die Kirche wahrhaftig verlassen. Lilith sprang mit einem Satz über das Tor und ging hinüber zum Eingang des Gotteshauses. Vor dem Doppelportal, über dem die lateinischen Worte »Ordo Sancti Benedicti« prangten, blieb sie stehen. Sie streckte ihre Hand nach dem Eisenknauf aus, der so kalt war, daß ihre Haut um ein Haar daran kleben blieb, und versuchte ihn zu drehen. Zu ihrer Überraschung war das Portal nicht verschlossen. Lilith stieß die rechte Türhälfte vorsichtig auf. Aus dem düsteren Innern der Kirche schlug ihr eine Woge abgestandener, nach Staub, Mäusekot und altem Holz riechender Luft entgegen. Sie gewann immer mehr den Eindruck, daß hier seit langer Zeit niemand mehr gewesen war. Und dennoch … Etwas stimmte hier nicht. Lilith spürte es deutlich. Sie wünschte, sie wäre wie früher in der Lage gewesen, Vampire zu wittern, doch seit die Ur-Lilith sich im Garten Eden mit Gott versöhnt hatte, war für ihre Namensträgerin einiges anders geworden, und das nicht unbedingt in positiver Hinsicht. Doch was auch immer hier vorging, sie würde es nicht erfahren, wenn sie hier draußen stehenblieb. Darum trat sie nach einem letzten Blick auf Marks Ford über die Schwelle in die Church of the Cleaning Fire.
* In der Kirche war es düster wie in einer Gruft. Erst jetzt fiel Lilith auf, daß das Gebäude keinerlei Fenster besaß, durch die Licht ins Innere fallen konnte. Hätte sie nicht Augen wie eine Katze besessen, hätte sie praktisch überhaupt nichts gesehen. Lilith ließ das Portal hinter sich offen stehen und ging weiter in die Kirche hinein, wobei sie ihren Blick forschend durch die Finsternis wandern ließ. War das Äußere des Gebäudes noch eindeutig als Kirche zu erkennen, so gab es im Innern des Baus kaum etwas, das darauf schließen ließ, daß dies ein Haus Gottes war. Wie draußen gab es weder Kreuze noch Darstellungen religiöser Szenen, und auch die für katholische Kirchen so typischen Marienbilder fehlten. Noch nicht einmal der gekreuzigte Jesus hing über dem Mittelschiff und blickte auf die Holzbänke herab, die in zehn Reihen hintereinander den Großteil des Gebäudes einnahmen. Wenn nicht die Kanzel und die Empore mit der altertümlichen Orgel gewesen wären, wäre nicht zu erkennen gewesen, daß man sich in einer Kirche befand. Während Lilith wachsam den Mittelgang durchquerte, zwischen den Reihen der Holzbänke hindurch, fragte sie sich erneut, was zur Hölle hier los war. Entschlossen, es herauszufinden, setzte Lilith ihren Weg fort. Als sie am Ende der Bankreihen anlangte, tauchte vor ihr ein steinerner Altar auf, auf dem abgebrannte schwarze Kerzen und zwei Vasen standen, aus denen die längst vermoderten Überreste irgendwelcher Blumen ragten. Rechts führte eine schmale Treppe zur Kanzel hinauf, die sich ein halbes Dutzend Meter über dem Boden befand. Lilith trat neugierig auf den Altar zu. Dabei gewahrte sie einen seltsamen Geruch, der die Luft schwängerte und stärker wurde, je näher sie dem Steinaltar kam. Lilith schnupperte.
Vanille? Plötzlich begannen in ihrem Kopf sämtliche Alarmsirenen auf einmal zu schrillen. Sie war verwirrt darüber, daß sie nicht sofort darauf gekommen war, was dieser penetrante, vanillige Geruch zu bedeuten hatte, aber wahrscheinlich lag das schlicht daran, daß sie sich trotz allen in einer Kirche befand. Und wer erwartete schon, in einem Haus Gottes den Gestank von verwesendem Fleisch zu riechen? Nachdem Lilith ihre Überraschung überwunden hatte, näherte sie sich vorsichtig dem Altar, von dem der Geruch ausging. Auf den ersten Blick konnte sie nicht erkennen, was für den wenig angenehmen Duft verantwortlich war. Doch dann entdeckte sie hinter dem Altar, eingelassen in den nackten Steinboden, eine eiserne Falltür, die offenbar in einen Keller führte. Als sie sich darüberbeugte, stellte sie fest, daß der üble Verwesungsgestank durch die Ritzen an den Seiten der Falltür drang. Lilith rümpfte angeekelt die Nase. Was zum Henker war dort unten im Keller? Ein totes Tier? Eine Ratte vielleicht? Eine Katze? Oder etwas … anderes? Lilith mußte es wissen! Bevor sie es sich anders überlegen konnte, ergriff sie den Eisenring, der in die Falltür eingelassen war, und zog mit aller Kraft daran. Rost rieselte. Angeln quietschten schrill, als die Falltür wuchtig nach außen aufschwang und krachend auf den Steinboden knallte. Eine übelkeiterregende Wolke Verwesungsgestank stieg aus der Öffnung und raubte Lilith den Atem. Sie ignorierte ihren Widerwillen und spähte hinab in die Dunkelheit. Eine Steintreppe führte in die Tiefe. Kurzentschlossen kletterte Lilith in die Öffnung und stieg die ausgetretenen Stufen hinab. Links und rechts von ihr waren die Keller-
wände von Moos und Schimmel überwuchert. Irgendwo in der Finsternis tropfte Wasser. Ratten fiepten. Je weiter Lilith hinabstieg, desto stärker wurde der Geruch nach verwesendem Fleisch. Süßlich schwängerte er die abgestandene Luft und erinnerte die Halbvampirin bei jedem Schritt daran, daß sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie am Ende der Treppe erwartete. Nach etwa dreißig Stufen hatte sie den Fuß der Steintreppe erreicht und gelangte in einen höhlenartigen Kellerraum, dessen Boden mit einer Mischung aus Schmutz, Rattenkot und grauer Asche bedeckt war. Staubige Spinnweben hingen von der niedrigen Decke herab und strichen Lilith über das Gesicht, als sie mit vorsichtigen Schritten auf den nahezu zwei Meter hohen Haufen verwesender Leichen zuging, der sich in der Mitte des Gewölbes auftürmte. Der widerliche Gestank nach Vergänglichkeit und Tod wurde überwältigend. Lilith atmete flach durch den Mund und musterte den Leichenberg mit ausdrucksloser Miene. Vorsichtig geschätzt mochten es die Überreste von dreißig oder vierzig Menschen sein, die dort, übereinandergestapelt wie Klafterholz, im Dreck lagen. So genau ließ sich das beim besten Willen nicht sagen, da die Leichen fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. Lilith schluckte trocken. Sie hatte in ihrem Leben bereits eine Menge schrecklicher Dinge gesehen, aber dieser Anblick war selbst für sie nicht leicht zu verkraften. Was war mit diesen Menschen geschehen? Falls es überhaupt Menschen waren …! Liliths Verdacht bestätigte sich, als sie sich mit angehaltenem Atem über einen der verbrannten Toten beugte und den in der Verbrennungshitze aufgedunsenen, haarlosen Schädel betrachtete. Zwischen den ledrig verkohlten Lippen des Leichnams waren die geschwärzten Spitzen zweier Augzähne auszumachen.
Lilith stieß einen überraschten Laut aus. Diese Leichen … … waren Vampire! Plötzlich fügte sich alles mit der Selbstverständlichkeit eines Puzzles für Lilith zusammen. Es bestand kein Zweifel mehr, daß diese Kirche der Unterschlupf einer Vampirsippe gewesen war, und das vermutlich bereits seit langer Zeit. Wahrscheinlich hatten sie die Kirche sogar selbst errichtet. Aber warum? Und was um alles in der Welt war mit ihnen geschehen? Warum waren sie verbrannt, anstatt zu Staub zu zerfallen? Während Lilith noch dastand und den Leichenberg anstarrte, gewahrte sie über sich mit einemmal ein Geräusch. Ein leises, verstohlenes Schaben oder Schlurfen, als ob jemand die Treppe in den Keller hinabschlich. Lilith erstarrte. Aber nur für eine Sekunde. Dann huschte sie zum Fuß der Steintreppe hinüber und baute sich daneben an der Wand auf, unsichtbar für denjenigen, der die Stiegen hinabkam, und bereit, ihn sofort zu attackieren, wenn er das Kellergewölbe betrat. Sie hörte, wie die schleichenden Schritte näher kamen, und zählte im Geiste die Stufen nach unten mit. Als sie bei dreißig angelangt war, tauchte aus dem Treppenschacht eine Gestalt auf, die sich mit äußerster Vorsicht durch die Finsternis bewegte, wie ein Jäger auf der Pirsch nach Beute … Lilith zögerte keine Sekunde. Sie sprang aus ihrer Deckung hervor, schlang der dunklen Gestalt mit der Geschwindigkeit einer angreifenden Kobra den Arm um den Hals und zischte dem Neuankömmling aggressiv ins Ohr: »Keine Bewegung, oder ich breche dir das Genick!« »Verdammt, Lilith!« rief Mark, der sich hilflos in ihrem eisenharten Griff wand. »Ich bin’s nur! Alles in Ordnung!« Lilith schnaubte und ließ den jungen Mann wütend los. »Du ver-
fluchter Idiot!« schnaubte sie ärgerlich. »Ich hätte dich töten können! Habe ich dir nicht ausdrücklich gesagt, du sollst im Wagen bleiben?« Mark nickte. »Schon«, sagte er. »Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß du vielleicht meine Hilfe brauchen könntest, darum bin ich dir gefolgt.« Lilith ergriff ihn am Arm. »Komm«, sagte sie. »Hier unten gibt es nichts Interessantes. Laß uns zurück nach oben in die Kirche gehen.« Sie war froh, daß es hier unten so finster war, daß Mark unmöglich die Leichen erkennen konnte. Er blickte sie an. »Warum?« fragte er. Er schlang die Arme um sie. »Ich find’s hier unten irgendwie gemütlich …« Mit einem breiten Grinsen griff er nach ihren Brüsten und liebkoste sie durch den Stoff ihres Catsuit. Lilith schlug seine Hände ärgerlich weg. »Verdammt, bist du übergeschnappt? Was soll das?« »Ist doch endlich mal was anderes als zu Hause im Bett!« erwiderte Mark ungerührt. »Außerdem willst du es doch auch, Baby! Kannst es ruhig zugeben. Du willst es genauso wie ich!« Seine Hände gingen wieder auf Wanderschaft, diesmal hoch zu ihrem Hals. Gleichzeitig beugte er sich vor, um sie zu küssen. Lilith erkannte erst, was mit Mark nicht stimmte, als es schon fast zu spät war. In dem Moment, als sich seine Finger brutal um ihren Hals legten und sie das elfenbeinfarbene Schimmern seiner Fangzähne sah, wurde ihr klar, daß er kein Mensch mehr war, sondern ein Vampir, eine Dienerkreatur. Und daß er hier war, um sie zu töten!
* Mark umklammerte Liliths Hals mit brutaler Gewalt und schickte
sich an, ihr mit seinen Reißzähnen die Kehle zu zerfetzten. In seinen Augen flackerten Gier und Haß. Lilith reagierte instinktiv und rammte ihrem Gegenüber das Knie in den Magen, so wuchtig sie konnte. Zugleich hämmerte sie ihm die Faust seitlich gegen den Kopf. Mark stöhnte auf und stolperte nach hinten. Lilith setzte ihm nach und warf sich mit einem aggressiven Fauchen auf die Dienerkreatur. Zusammen krachten sie gegen den Berg toter Vampire, der daraufhin ins Rutschen geriet. Inmitten einer Woge verkohlter Leichen und ängstlich fiepend davonhuschender Ratten gingen sie zu Boden. Mark versuchte ihren Kopf zu fassen, um ihr das Genick zu brechen, doch Lilith wehrte seine Hände ab. Es gelang ihr, sich auf ihn zu rollen, und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Ein Knirschen erklang, als die Nase der Dienerkreatur unter ihrer geballten Faust brach und Blut, so schwarz wie das von Käfern, kalt und klebrig auf ihre Hand spritzte. Mark schrie auf und wollte sie von sich stoßen, aber Lilith nagelte mit ihren Knien seine Oberarme auf den Boden. Dann beugte sie sich über ihn, um ihm die Zähne ins Fleisch zu stoßen. Wenn sie ihn durch den Biß gefügig machte, konnte sie erfahren, wer ihn verwandelt hatte. Aber bevor sie dazu kam, begann die Dienerkreatur mit einemmal so unglaublich heftig zu zucken, daß es Lilith kaum gelang, ihren Gegner weiter am Boden zu halten. Sie schlug Mark ein weiteres Mal, doch er reagierte nicht. Seine Augen rollten in den Höhlen wie die Kugel beim Roulette. Er riß den Mund auf, entblößte seine Reißzähne und schrie wie am Spieß, als würde er unerträgliche Schmerzen erleiden. Grauschwarzer Rauch kräuselte sich aus seinem Rachen, ebenso aus den Ohren und den blutigen Nasenlöchern. Dann schlugen blauweiße Flammen aus seinen Augen. Fett verschmorte zischend. Feuerzungen strichen hungrig über das Gesicht
der Dienerkreatur. Lilith sprang erschrocken auf und verfolgte, wie Mark von den Flammen in wenigen Augenblicken vollkommen eingehüllt wurde wie von einem Mantel aus Feuer. Er warf sich panisch von einer Seite auf die andere, versuchte sich aufzurappeln, aber die Flammen hatten die Muskulatur seiner Beine schon zerstört. Lilith war versucht, Mark von seinen Schmerzen, die er auch als Dienerkreatur noch verspürte, zu erlösen. Doch sie konnte ihre Aufmerksamkeit ihm nicht widmen. Wer immer Mark auf sie angesetzt hatte, wußte längst, daß die Dienerkreatur versagt hatte. Das Feuer, das genau in dem Moment in Marks Eingeweiden ausgebrochen war, als Lilith ihn sich gefügig machen wollte, war Beweis genug. Der Feind war in der Nähe. Und wartete wahrscheinlich nur darauf, daß Lilith sich eine Blöße gab. Als Marks Körper dem Feuer nach einer kleinen Weile keine Nahrung mehr bot, wurden die Flammenzungen rasch kleiner und verloschen schließlich ganz. Innerhalb knapp einer Minute war Mark nicht mehr von den übrigen verkohlten Toten, die in dem Gewölbe verstreut lagen, zu unterscheiden. Das gab Lilith einen Hinweis darauf, wie die Vampire umgekommen waren. Als nichts weiter geschah, wandte sie sich von den verbrannten Körpern ab und ging langsam in Richtung Treppe. Ihre Vorsicht machte sich bezahlt. Der Feind war in der Nähe. Als Lilith die Stufen erreichte, stand er plötzlich vor ihr. Großgewachsen, breitschultrig, hünenhaft, von Kopf bis Fuß in eine nachtschwarze Mönchskutte gehüllt, das Gesicht in den Schatten der Kapuze verborgen, versperrte er den Weg nach oben in die Kirche. Lilith sprang zurück und ging in Angriffshaltung. Der geheimnisvolle Mönch stieg die letzten drei Stufen in den Keller hinab und baute sich vor der Treppe auf. Nichts in seiner Hal-
tung wies darauf hin, daß er Lilith als Gefahr betrachtete – was vielleicht sogar zutraf, wenn man bedachte, was mit Mark geschehen war. Er war einfach in Flammen aufgegangen. Drohte Lilith dasselbe Schicksal? Eine Weile standen sich die Halbvampirin und der Mönch in dem Gewölbe stumm gegenüber. Keiner von beiden regte sich. Es war, als würden sie sich gegenseitig abschätzen. Schließlich brach der Mönch das Schweigen. Mit einer Stimme, die klang, als würden Kieselsteine gegeneinanderreiben, fragte er: »Wer bist du?« »Mein Name Lilith Eden«, sagte die Halbvampirin. »Und du?« »Ich bin Nod«, sagte der Mönch nicht ohne Stolz. »Das ist deine Kirche, nehme ich an?« »Das war einst meine Kirche«, erwiderte Nod. »Als ich noch eine Gemeinde hatte, die meinen Worten lauschte. Anhänger, die zu mir aufblickten. Jünger, die alles für mich taten. Kinder, die an ihren Vater glaubten.« »Deine … Kinder«, sagte Lilith. »Wo sind sie geblieben?« Nod seufzte. Dann breitete er in einer Geste, die das ganze Gewölbe umfaßte, die Arme aus und sagte: »Sie sind alle hier. Mitten unter uns.« Lilith blickte hinüber zu dem Leichenberg, auf dem sich die Anhängerschaft des seltsamen Mönchs türmte. »Was ist mit ihnen geschehen?« »Die Seuche«, sagte Nod knapp. Lilith runzelte die Stirn. »Aber sie starben nicht an der Seuche. Sie sind verbrannt!« Er nickte. »Sie siechten vor meinen Augen dahin«, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme. »Alterten schneller, als ich sie nähren konnte. Bald starben meine ersten Kinder, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte, vergingen in meinen Armen. Mir wurde klar, daß es nur
eine Möglichkeit gab, die Seuche zu besiegen, nämlich das Feuer. Das reinigende Feuer. Die Heiligen Flammen, die mir dereinst von der Macht hinter dem Tor anvertraut wurden, sollten den Keim des Übels vernichten.« »Tja«, sagte Lilith und stieß eine verkohlte Leiche, die zu ihren Füßen im Schmutz lag, mit dem Stiefel an. »Sieht ganz so aus, als hätten sie das auch getan. Allerdings gründlicher als nötig …« Bei diesen Worten ging ein leises Zittern durch die dunkle Gestalt des Mönchs. Im ersten Augenblick dachte Lilith, daß er sie angreifen würde, um sich für ihren Frevel zu rächen, doch dann fuhr Nod fort: »Das Feuer hat sie alle verbrannt. Ergriff ihre von der Seuche gezeichneten Leiber und tötete sie, die da glaubten, von der Macht des Feuers geheilt zu werden. Da wurde mir klar, daß Gottes Zorn über sie gekommen war!« Lilith war verblüfft. Woher wußte dieser Mönch, daß Gott es gewesen war, der die Seuche über die Vampire gebracht hatte – eine Tatsache, die nicht einmal Landru sofort erkannt hatte? War es reine Intuition, oder hatte er Kenntnis von den Vorgängen im Garten Eden? »Einst war ich in seinen Diensten«, fuhr die düstere Gestalt fort, »aber ich wandte mich ab von ihm. Nun hat er mich gestraft.« Er senkte den Kopf; seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Aber sind wir nicht alle von ihm geschaffen, Menschen und Vampire?« fragte er. »Gott liebt seine Geschöpfe nicht mehr. Sonst würde er nicht Tod und Verderben über sie bringen. Aber ich …« Er schlug sich vor die Brust. »Ich habe meine Geschöpfe geliebt! Und er hat sie mir genommen! Darum muß er büßen! Und gegen die Rache Nods wird selbst der Zorn Gottes machtlos sein!« Jetzt schrie er fast. Lilith erkannte, daß sie es mit keinem gewöhnlichen Vampir zu tun hatte. Seine Worte klangen aufrichtig – aber hatte ein Vampir jemals Liebe empfunden? Und was bedeuteten seine Worte, eine »Macht hinter dem Tor« hätte ihm Gewalt über das Feuer verliehen?
Aber welche Sonderstellung Nod auch immer eingenommen hatte – der Verlust seiner »Gemeinde« hatte ihn offensichtlich um den Verstand gebracht. Er gab Gott die Schuld an dem, was mit seinen Anhängern geschehen war – nicht aus der Kenntnis heraus, was wirklich im Garten Eden geschehen war, sondern in dem Wahn, Gott würde ihn, den Abtrünnigen, strafen. Und er rächte sich nun am ihm, indem er wahllos Kirchen abfackelte. Lilith versuchte mehr über seinen Werdegang herauszufinden. »Diese Heiligen Flammen, die dir anvertraut wurden – was hat es damit auf sich?« fragte sie. »Die Macht wurde mir vor langer Zeit verliehen«, erklärte Nod. »Der Magmaschlüssel gab sie mir, als ich dereinst das Tor bewachte.« »Das Tor? Was verbirgt sich dahinter?« forschte Lilith. Der Mönch lachte spöttisch. »Wer weiß das schon? Ich nicht. Aber ich werde es erfahren. Bald. Sobald die Zeit kommt, das Große Siegel zu brechen.« Nod verstummte. Er sah Lilith unter dem Schatten der Kapuze hervor an und sagte prophetisch: »Und wenn ich das Portal geöffnet habe, wird die Apokalypse über die Welt kommen. Der Jüngste Tag wird anbrechen, aber es wird nicht Gott sein, der die Sünder richtet, sondern ich! Und ich fange schon jetzt damit an!« Bei diesen Worten begannen zwischen den Fingern des Vampirmönchs plötzlich blauweiße Funken zu tanzen, als ob Nod unter Strom stände, und der Gestank von Ozon erfüllte die Luft. Lilith erstarrte. Nod hob die Hände, während sich die blauen Funken schnell zu Energiebällen verdichteten, und richtete sie auf Lilith wie Schußwaffen. »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, zitierte er spöttisch. »Und zuweilen ziemlich kurz!« Damit schleuderte er die Feuerbälle auf Lilith!
*
Obwohl die Halbvampirin mit einer Attacke gerechnet hatte, war sie dennoch zu langsam, um beiden Energiebällen auszuweichen. Sie schaffte es zwar, der ersten Kugel durch einen Sprung zur Seite um Haaresbreite zu entgehen, aber das zweite Geschoß streifte ihre rechte Schulter mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Lilith schrie auf. Sie wurde nach hinten geschleudert wie eine Puppe und krachte mit dem Rücken hart gegen die Kellerwand. Ein wenig benommen registrierte sie, daß die blauweißen Flammen versuchten, ihre Kleidung zu verzehren, sie in Brand zu stecken. Doch der »Stoff« bestand aus dem Symbionten, einem lebenden, denkenden Gewebe, vor vielen Jahrtausenden aus der Haut der UrLilith geschaffen. Und obwohl dieses letzte verbliebene Teilstück nur noch wenige seiner früheren Fähigkeiten besaß, war er dennoch immer noch feuerfest. Die Flammen fanden hier keine Nahrung und erloschen flackernd. Nod stieß ein enttäuschtes Zischen aus und sammelte seine Kräfte zu einem neuen Angriff. Erneut zuckten Funken zwischen den Fingern des Vampirmönchs, verdichteten sich, formten sich zu Kugeln aus purer Energie. Lilith rappelte sich auf. Sie sah die Energiebälle auf sich zukommen und wich ihnen durch eine geschickte Drehung aus, so daß die Feuerkugeln hinter ihr gegen die Wand schlugen – und den Stein in Brand steckten! In Windeseile breiteten sich die zuckenden Flammen auf dem feuchten Mauerwerk aus, als würde es sich dabei um trockenes Stroh handeln. Nod fluchte und feuerte die nächsten zwei Kugeln ab. Diesmal trafen sie Lilith voll, erwischten sie mitten auf der Brust und schleuderten sie durch den Keller. Sie landete hart zwischen den verkohlten Jüngern des Mönchs und keuchte schmerzerfüllt, während die Flammen von neuem versuchten, den Symbionten in Brand zu stecken, der sich angesichts der Gefahr, in der auch er sich
befand, mit einemmal zu regen begann. Und dann geschah das Unfaßbare. Bevor Lilith den Vorgang überhaupt richtig mitbekam, glitt der Symbiont, auf dem vereinzelte Flammen züngelten, von ihrem Körper, wie eine Schlange, die sich aus ihrer Haut pellte, nur umgekehrt. Einem formlosen Schatten gleich floß er durch den vom Schein der brennenden Wände flackernd erhellten Keller – und griff den Vampirmönch an! Bislang hatte Lilith stets vergeblich versucht, das Symbiontenstück zu solcherlei Handeln zu bewegen; es hatte nie auf ihre geistigen Befehle reagiert. Sie hatte es lediglich als Schutz und Kleidung verwenden können. Nun aber ging es um sein eigenes »Leben«, und das mußte der Grund für die plötzliche Initiative des Symbionten sein. Lilith beobachtete, wie die Haut der Urmutter auf Nod zuschoß und seine Beine bis hinauf zur Hüfte umhüllte. Sie hörte den Mönch fluchen und sah, daß er mit Feuerhänden die Ränder des Symbionten packte um ihn von sich abzustreifen. Lilith wartete nicht, bis es ihm vielleicht gelang. Sie erkannte ihre Chance, aus dem Keller zu entkommen, in dem sich das Feuer immer weiter ausbreitete. Inzwischen brannte bereits die Decke, und auch auf dem Boden züngelten Flammen. Die Hitze in dem Gewölbe nahm mit jedem Lidschlag zu, war bald unerträglich. Lilith spürte, wie ihr der Schweiß in Strömen über den jetzt nackten Körper rann. Mit einem Satz kam die Halbvampirin auf die Beine und stürmte durch den Keller, vorbei an Nod, der mit dem Symbionten rang. Mehrere Stufen auf einmal nehmend hetzte sie die Treppe hinauf nach oben in die Kirche, erleichtert, der feurigen Hölle des Kellers entkommen zu sein. Doch ihr blieb keine Zeit, auszuruhen, denn hinter ihr auf der Treppe hörte sie bereits Nod nahen, der den Symbionten allem An-
schein nach abgeschüttelt hatte. Außer sich vor Zorn brüllte er lauthals hinter ihr her: »Es hat keinen Sinn zu fliehen, Sündige! Du kannst Nods Strafgericht nicht entkommen! Niemals!« Lilith hatte den Ausgang der Kirche fast erreicht, als sie aus dem Augenwinkel heraus einen rotglühenden Feuerball wie einen Kometen auf sich zurasen sah. Instinktiv ließ sie sich zu Boden fallen. Der Feuerball zischte knapp über sie hinweg und schlug mit der Wucht einer Granate in die Reihen der Holzbänke hinter ihr. Eine gewaltige Detonation zerriß die Sitzreihen. Brennende Holzsplitter erfüllten die Luft. »Die Rache ist mein!« brüllte Nod. »Und niemand wird ihr entkommen. Auch du nicht, Sündige!« Taumelnd kam Lilith hoch und setzte ihre Flucht zwischen den Holzbänken in Richtung Ausgang fort, während die Flammen, die der rote Feuerball hinter ihr entfacht hatte, vom brennenden Gestühl auf die Wände der Kirche übergriffen. Holzsplitter stachen in ihr Fleisch, aber sie achtete nicht darauf. Rechts von ihr schlug ein weiterer Feuerball ein und ließ den Boden erbeben. Die Druckwelle der Explosion erfaßte Lilith und schleuderte sie nach vorn. Die Halbvampirin spürte, wie die Hitze der Flammen über ihre nackte Haut leckte. Hoffentlich würde ihr Haar nicht anfangen zu brennen … Schließlich erreichte sie den Ausgang, der einem brennenden Reifen glich, denn der Rahmen und die zwei Hälften des Portals standen lichterloh in Flammen. Rotgoldenes Feuer loderte empor und lief mit einem Tempo, als hätte jemand Benzin auf dem Stein ausgegossen hatte, über den Boden. Lilith stand inmitten eines flammenden Infernos, das eine solche Hitze entwickelte, daß der Schweiß auf ihren Körper verdampfte. Erste Brandblasen erschienen auf ihrer Haut, breiteten sich unter ihren bloßen Füßen aus, so daß Lilith bei jedem Schritt vor Schmerz
aufstöhnte, als sie sich wieder in Bewegung setzte und auf das Portal zueilte. Der einzige Grund, warum sie sich nicht in eine Fledermaus transformierte, war der, daß es nichts brachte. Im Gegenteil; die dünnen Lederhäute ihrer Schwingen würden der Hitze noch weniger standhalten als ihre menschliche Haut. Der Symbiont hätte sie retten können – aber sie wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch existierte. Vielleicht hatte Nod ihn mit der Kraft des Feuers bezwungen. Lilith hob die Arme und hielt sie vor ihr Gesicht, um ihre Augen vor dem grellen Feuer zu schützen. Dann war sie direkt beim Portal, das sich in eine Wand aus Feuer und tödlicher Hitze verwandelt hatte. Ihr war klar, daß sie nicht einen Herzschlag lang zögern durfte, wollte sie in dieser Hölle nicht bei lebendigem Leib geröstet werden. Sie kniff die Augen fest zusammen und sprang blind mitten hinein in die lodernden Flammen …
* Lilith spürte, wie das Feuer gierig über ihren nackten Körper leckte, sich an ihrem Fleisch gütlich tun wollten, und widerstand dem Drang, ihren Schmerz hinauszuschreien, weil ihr das Feuer sonst den Mund versiegelt hätte. Obgleich es sich nur um wenige Sekundenbruchteile handeln konnte, bis sie durch die Flammenwand hindurch war, schien es dennoch eine Ewigkeit zu dauern. Dann, endlich, landete Lilith bäuchlings im Schnee vor der lichterloh brennenden Kirche. Benommen registrierte sie, wie ihr erhitzter Körper den Schnee ringsum zischend schmolz, und genoß das Gefühl des Wassers auf ihrer Haut, das auch ihre schwelenden Haare löschte. Wie es aussah, war sie dem sicheren Tod noch einmal von der
Schippe gesprungen! Doch das bedeutete nicht, daß sie bereits in Sicherheit war, denn der Wahnsinnige war ihr noch immer auf den Fersen. Und er wollte sie um jeden Preis tot sehen! Mit schmerzenden Gliedern kämpfte Lilith sich mühsam hoch und taumelte weiter von der Kirche weg, bis die Hitze in ihrem Rücken abnahm. Als sie sich umdrehte, erkannte sie, daß das Feuer mittlerweile das gesamte Gebäude erfaßt hatte. Die Kirche war vollständig von Flammen eingehüllt. Mit ohrenbetäubendem Lärm stürzten Teile des Dachstuhls und des Mauerwerks ein. Funken stoben empor wie Leuchtkäfer. Der Schein des Feuers erhellte die Nacht. Mit einemmal war Lilith sich nicht mehr so sicher, ob sie noch immer mit dem Vampirmönch rechnen mußte. Denn auch wenn er Macht über das Feuer besaß, schien es unmöglich, daß irgendwer dieses Inferno überleben konnte. Dann aber erschien die Silhouette des Mönchs plötzlich inmitten des brennenden Eingangs. Langsam schritt Nod durch die Flammen, ein Kriegsherr zwischen seinen Truppen, ohne daß seine schwarze Kutte auch nur angesengt wurde. In seinen Händen tanzten schon die Funken für die nächsten Feuerbälle. »Scheiße«, murmelte Lilith. »Verdammte Scheiße …« Sie sah sich hastig nach einer möglichen Deckung um, aber es gab keine. Keine Bäume, keine Felsen, keine Grabsteine. Nur Schnee. Irgendwie war heute nicht gerade Liliths Glückstag … Nod hatte sie bereits entdeckt. Er deutete mit dem Finger auf sie und brüllte: »Warum machst du es dir so schwer, Kind? Du kannst der Strafe für deine Sünden nicht entkommen! Niemand kann das!« »Leck mich!« rief Lilith trotzig zurück. Nod stieß angesichts dieser Obszönität ein schrilles Heulen aus, das entfernt an einen Wolf erinnerte, und schleuderte zwei Feuerbälle nach Lilith. Die Halbvampirin sah die feurigen Geschosse näherkommen und
sprang beiseite. Die Feuerbälle schlugen an der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, in den Boden ein und ließen Erde und Schmelzwasser aufspritzen. Nod schrie zornig auf und feuerte die nächsten Energiebälle auf die Halbvampirin ab, die zusammengekrümmt am Boden lag, wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Und diesmal würde sie ihrem Schicksal nicht entgehen …
* Es war der Symbiont, der Lilith vor dem sicheren Tod rettete. Unbemerkt von der Halbvampirin und dem Mönch hatte er sich aus der Kirche geflüchtet und war wie eine zähe Teerpfütze über den Schnee auf Lilith zugeflossen. Im gleichen Moment, da die beiden Feuerkugeln ihr Ziel erreichten, glitt er über Liliths nackten, schutzlosen Körper und hüllte sie von Kopf bis Fuß ein. Lilith, den sicheren Tod vor Augen, wurde von der enormen Wucht, mit der die Energiebälle explodierten, wie ein Blatt in die Luft geschleudert. Sie schrie und stellte fest, daß ihr Mund verschlossen war, daß der Symbiont keine Stelle an ihrem Körper freigelassen hatte, um sie vor dem Feuer zu schützen. Dennoch spürte sie deutlich, wie die Flammen gierig an ihr zu fressen versuchten, sich in den Symbionten gruben, um an ihr Opfer zu gelangen. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, durch die Symbiontenmasse zu sehen, hätte sie erkannt, daß sie in einen lodernden Mantel aus Feuer eingehüllt war, der auch dann nicht erstarb, als sie wieder auf dem Boden aufschlug. Blind wälzte Lilith sich im Schnee, halb bewußtlos vom Schmerz, und hoffte, daß die Flammen bald ersticken zu können, denn durch die vollständige Umhüllung konnte auch keine Luft mehr in ihre Lungen erlangen.
Und atmen mußte die Halbvampirin, wenn auch in langsamerem Rhythmus als normale Menschen. Als sie eine Sekunde später von einem weiteren Feuerball getroffen wurde, hatte Lilith das Gefühl, zerfetzt zu werden. Neuerliche Flammen hüllten sie ein und setzten dem Symbionten zu. Lilith konnte seinen Schmerz körperlich spüren; er vereinigte sich mit dem ihren und ließ grelle Explosionen in ihrem Geist aufblühen. Der Sauerstoffmangel schnürte ihr allmählich die Kehle zu. Ein scharfes Brennen kroch ihre Luftröhre hinauf. Rote Schleier umwölkten ihren Blick, vor dem nichts als Schwärze war. Sie riß den Mund auf, rang verzweifelt nach Atem, aber da war nur Leere. Vakuum. Sonst nichts. Langsam begannen ihr die Sinne zu schwinden … Da gewahrte Lilith plötzlich, wie sich ein Paar Hände um ihren Schädel legte, bereit, ihr mit einem heftigen Ruck das Genick zu brechen wie einen trockenen Ast. Nod! Er war direkt bei ihr! Lilith reagierte mit der Kraft der Verzweiflung. Blind und kaum mehr bei Sinnen warf sie sich zur Seite, so daß der Griff der unsichtbaren Hände von ihrem Kopf verschwand. Gleichzeitig stieß sie ihre Finger in die Richtung, in der sich der Vampirmönch befinden mußte, und bekam seine Kutte zu fassen. Heftig riß sie daran und brachte den überraschten Nod so zu Fall. Durch eine Wand aus Watte hörte sie, wie der Mönch wütend fluchte. Er wollte sich aufrappeln, doch das ließ sie nicht zu. Blind warf sie sich auf den Vampir und tastete nach seinem Kopf, während ihre schmerzenden Glieder durch den Sauerstoffmangel zunehmend träger wurden. Ihre Finger glitten über den Stoff seiner schwarzen Kutte, zeichneten die Linien seines Körpers nach, voller Panik. Dann spürte sie plötzlich die Form seines hin und her ruckenden
Kopfes unter den Händen und klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Nod versuchte sich aus ihrem stetig schwächer werdenden Griff zu lösen. Lilith wußte, daß ihr keine Zeit mehr blieb. Mit der allerletzten Kraft, die noch in ihrem ausgelaugten Körper steckte, riß sie den Schädel des Vampirs ruckartig so weit zur Seite, wie sie nur konnte. Niemals zuvor hatte das Knirschen eines brechenden Rückgrats für Lilith einen solchen Klang gehabt! Nur noch beiläufig registrierte sie, wie der Körper unter ihr erschlaffte und zerfiel, ehe die Bewußtlosigkeit wie eine schwarze Welle über ihr zusammenschlug und Lilith mit sich fortriß …
* Als die Halbvampirin wieder zu sich kam, war von Nod nur noch ein Häufchen grober Ascheflocken übrig, die vom Wind über den Schnee verteilt wurden. Die Kutte lag zusammengefallen auf dem Boden, leer und so ansehnlich wie ein alter Kartoffelsack. Lilith richtete sich keuchend auf und sah hinüber zur Kirche, die noch immer lichterloh brannte. Große Teile des Gebäudes waren bereits eingestürzt, und die kläglichen paar Mauern, die noch standen, würden bald folgen. Das Feuer tilgte die Spuren von Nods Umtrieben restlos. Benommen ging Lilith im flackernden Schein der brennenden Kirche in Richtung Vorplatz, wo Marks Wagen parkte. Die Wundmale, die das Feuer ihr zugefügt hatte, heilten bereits. In zwei oder drei Stunden würde von ihnen nichts mehr zu sehen sein. Nicht einmal Narben würden zurückbleiben. Doch obwohl Lilith wußte, daß sie froh darüber sein mußte, dieses Abenteuer relativ glimpflich überstanden zu haben, war dem nicht so. Zuviel von dem, was Nod ihr im Keller der Kirche gesagt hatte,
ergab für sie keinen Sinn. Was war das für ein rätselhaftes Tor, das die Apokalypse über die Welt bringen sollte, wenn es geöffnet wurde? Und was hatte es mit diesem Magmaschlüssel auf sich, der Nod einst die Macht über das Feuer verliehen hatte? Lilith wußte es nicht. Und das machte ihr angst. Von dem unguten Gefühl erfüllt, daß die Zukunft noch eine ganze Menge böser Überraschungen für sie bereithielt, schwang Lilith sich über den Zaun, öffnete die Fahrertür des Ford und ließ den Wagen an. Als sie wendete, sah Lilith im Rückspiegel, wie die Kirche endgültig einstürzte. Die letzte in L. A., die in Flammen aufgehen würde. Begleitet vom rotgoldenen Schein des Feuers, das den Nachthimmel flackernd erhellte, bog sie auf die Schotterpiste ein und fuhr in nördlicher Richtung davon. Erst als sie schon zwei Meilen weit gekommen war, fiel ihr auf, daß sie weinte. Doch wem ihre Tränen galten, das vermochte sie selbst nicht zu sagen … ENDE
Glossar Alte Rasse – Bezeichnung für die wahren Vampire, nicht für deren Dienerkreaturen. Vampire gibt es seit Anbeginn der Zeit, hervorgehend aus den Kindern, die Lilith, erste Frau Adams, im Garten Eden gebar. Dabei waren sie früher mächtiger, ihre Fähigkeiten phantastischer. Das änderte sich mit der Sintflut (>). Sintflut – Vor der Sintflut, die Gott über die Erde brachte, um die mißratene Menschheit bis auf wenige auszumerzen, besaßen die Vampire eine andere Qualität. Als sogenannte »Hohe Wesen« – das Wort »Vampir« gab es damals nicht – herrschten sie gottgleich über die Völker der Erde. Ihre Magie war um vieles mächtiger: So waren sie fähig, in der Zeit um eine kleinen Spanne – bis etwa drei Tage – vorzugehen, sie zerfielen nicht zu Staub, waren durch die Sonne (>) nicht beeinträchtigt und verbreiteten keinen Keim, schufen also auch keine Dienerkreaturen. Nach der Flut paßte die Ur-Lilith ihre Kinder und deren Machtsystem den neuen Gegebenheiten an und gab ihnen den Lilienkelch, um sich zu vermehren; so entstanden die Vampire, wie wir sie heute kennen. Sonne – Was für die Menschen lebenspendend ist, hat für Vampire eine gegenteilige Wirkung. Zwar wandeln auch die Angehörigen der Alten Rasse (>) unter dem Licht der Sonne, aber sie können ihre Kräfte nicht entfalten – so sind sie unter direkter Sonnenbestrahlung nicht zur Metamorphose fähig – und leiden unter psychischen Schmerzen. Auf Dienerkreaturen hat Sonnenlicht dagegen eine verheerende Wirkung. Je länger eine Kreatur existiert, desto lichtempfindlicher wird sie. In den ersten Wochen kann sie sich noch ins Licht wagen, dann beginnt die Sonne auf ihrer toten Haut zu brennen, und schließlich geht die Kreatur in Flammen auf und zerfällt zu Staub (>).
Staub – Aus Staub sind wir gemacht, und zu Staub werden wir. Auf keine andere Spezies trifft dieser Spruch mehr zu als auf Vampire. Dabei richtet sich der Verfall nach dem Alter des Vampirs. Nur wenn seit seiner »Geburt« die biologische Verwesungszeit vergangen ist, zerfällt er ganz. Und da alle Vampire durch das Verschwinden des Lilienkelchs mindestens 270 Jahre alt sind, geschieht dies bei jedem Angehörigen der Alten Rasse (>). Dienerkreaturen dagegen werden, tötet man sie endgültig, vom Keim innerlich verzehrt, bis nichts als Staub von ihnen bleibt.
Vampirismus und Nekrophilie 1. Teil von Carter Jackson »Sie sind so all wie die Welt, diese Geschichten von Vampiren, die sich auf einen legen und einem das Blut aussaugen. Man glaubt natürlich nicht mehr daran. Ich auch nicht. Trotzdem werde ich des nachts von nun an sorgfältig die Fenster und Türen verschließen und Papier auf die Scheiben kleben …« Michél de Ghelderode Vampire, wie sie in den beiden X-Files-Episoden »3« und – in verfremdeter Form – »2SHY« auftauchen, gibt es nicht erst, seit der irische Theaterdirektor und Hobbyschriftsteller Bram Stoker (18471912) im Jahre 1897 seinen weltbekannten Roman Dracula veröffentlichte und damit genaugenommen die Grundlage für den modernen Vampirmythos schuf. Bereits in den vier Jahrtausende alten Überlieferungen der Assyrer finden sich Hinweise auf den vampirähnlichen Geist Ekkimu, ebenso wie im hebräischen Talmud (um 600 n. Chr. abgeschlossen), wo Adams erste Frau Lilith, die später wegen »göttlicher Befehlsverweigerung« ihren Platz im Garten Eden für Eva räumen mußte, mit Zügen charakterisiert wird, die gleichfalls den Schluß zulassen, daß sie eine Art Vampirin war. So tötete Lilith kleine Kinder, um sich an ihnen zu laben, und erschien Männern des nachts als verführerischer Incubus (normalerweise werden weibliche Dämonen dieser Gattung zwar als Succubi bezeichnet, aber Lilith wollte sich angeblich schon bei Adam nicht unterordnen und bestand der Legende nach darauf, beim Geschlechtsverkehr »obenauf« zu sein, was mehr an einen
männlichen Incubus als an einen Succubus erinnert, wie Dietrich Haubold ausführt), um sie ihrer sexuellen Kraft zu berauben. In nahezu sämtlichen Kulturen und vielen Religionen kennt man seit jeher Wesen, die gewisse vampirische Merkmale aufweisen. Während die »Wampiri« in Rußland in menschlicher Gestalt erscheinen und mit einem Stachel unter der Zunge statt mit den »klassischen« Eckzähnen ausgestattet sind, sind die »Jaracara«, die in Brasilien ihr Unwesen treiben, schlangenartige Kreaturen, die sich neben menschlichem Blut vor allem an der Muttermilch stillender Frauen gütlich tun. Die »Asanbosam« aus Afrika indes haben Krallenfüße und ziehen den Daumen dem Hals des Opfers als Bißstelle vor, unterdessen der »Mulo« aus Serbien entgegen der allgemeinen Ansicht, das Vampire Nachtgeschöpfe seien, die das Sonnenlicht meiden, zumeist tagsüber reist, um in der Nacht am Blut und Fleisch der Wehrlosen seinen Hunger zu stillen. Alle Merkmale eines Vampirs weist ebenfalls der einst in Island sehr gefürchtete »Neuntöter« auf, der nach seinem Tode angeblich neun Jahre lang als Wiedergänger aktiv ist. Der Neuntöter, der als gierig und ausgesprochen boshaft gilt, kommt aus dem Grab zurück, um sich an den Menschen für seinen vorzeitigen Tod im Kindbett, auf See oder durch anderes Unglück zu rächen. Naht der Neuntöter, beginnt sich das Blut des Opfers zu »wehren« und fängt automatisch an zu fließen. Der Vampir, den wir mit diesem Begriff heutzutage in der Regel assoziieren, stammt ursprünglich aus Mittel- und Osteuropa, wo man ihn beispielsweise unter den Namen »Nosferatu«, »Strigoi« (Rumänien), »Ogolgen« (Böhmen) und »Murony« (Wallachei) kennt, und wird im Gegensatz zu seinen vornehmlich außereuropäischen »Kollegen«, die im Grunde kaum mehr als wandelnde Leichen mit der unstillbaren Gier nach Blut sind, allgemein als »elegant«, »charismatisch« und »gerissen« beschrieben. Diese Gattung der Vampire ist durch Stokers Roman Dracula und den vielen darauf basierenden Filmen weltweit am meisten »verbreitet«.
Die Bezeichnung »Vampir« für Blutsauger taucht in Deutschland erstmals in philosophischen und medizinischen Abhandlungen aus dem Jahre 1732 auf, die sich mit Fällen von Vampirismus auf dem Balkan beschäftigen, während der französische Benediktiner Dom Augustin Calmet in seinen Dissertations sur les apparitions des Esprits, et sur les vampires ou les revenans de Hongrie, de Moravie, ect. schon 1617 diesen Begriff für die »Plage Ungarns« verwendet. Die etymologische Herkunft des Wortes »Vampir« ist zweifelhaft. Miklosisch etwa nennt in seinem Etymologischen Wörterbuch der slawische Sprachen die Türkei als Ursprungsland des Ausdrucks, was durch Märchen und Sagen aus dieser Region zum Teil belegt wird. Josef Klapper hingegen ist der Ansicht, daß sich das Wort aus dem Polnischen ableitet, da das Verb »upior« übersetzt soviel wie »geflügeltes Gespenst« bedeutet. Welche dieser Thesen zutrifft, wollen wir dahingestellt lassen. Sicher ist jedoch, daß »Vampir« entgegen der Meinung von Johann Chr. Harenberg nicht mit »Blutsauger« gleichzusetzen ist, wie bereits Michael Ranft in seinem Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern (1734), das auch heute noch als Standardwerk über Vampirismus gelten kann, deutlich macht. Von sämtlichen Kreaturen der Nacht verbreiten die Vampire wohl den meisten Schrecken – und die größte Faszination, denn die Anziehungskraft, die der Vampirismus auf zahlreiche – vor allem moderne – Menschen ausübt, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Verglichen mit der Kraft, dem Geschick, der Gewandtheit und dem enormen Geruchs-, Gehör- und Gesichtssinn des Vampirs sowie seiner Fähigkeiten zu fliegen, sich zu verwandeln, den Willen von Mensch und Tier zu beeinflussen und über Wind, Nebel und andere Elemente zu herrschen, muß sich ein »Normalsterblicher« zwangsläufig wie ein Nichts vorkommen. Im Grunde ähneln Vampire (dunklen) Göttern, obwohl sie zugleich die Projektion unserer Urängste sind, »theologische Wesen mit großem philosophischen und psychologischem Tiefgang«, wie der deutsche Vampirfachmann Hans Meurer
aus Frankfurt/Main bemerkt. Während die Berichte über Vampirheimsuchungen im ehemaligen Ostblock (Rumänien, Polen, Ungarn, etc.) bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen, stößt man in Deutschland um das Jahr 1337 auf die ersten Fälle wiederkehrender Toter, die zum Teil auf dem Aberglauben basieren, daß diejenigen, die von Wiedergängern mit ihrem Namen angesprochen werden, anschließend innerhalb kurzer Zeit ebenfalls sterben. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die von Karl-Ferdinand von Schertz in seiner Magia posthuma (1706) zitierte Geschichte des Schafhirten Myßlata, der damals in dem böhmischen Dorf Blow bei der Stadt Cadan lebte. Nachdem Myßlata gestorben war, kehrte er immer wieder aus dem Grab zurück, um bestimmte Menschen bei ihrem Namen zu rufen, die daraufhin in der Frist von acht Tagen verstarben. Um das Übel auszumerzen, kamen alle Bauern von Blow und der umliegenden Ortschaften zusammen und berieten, was zu tun sei. Schließlich gruben sie die Leiche des Schafhirten aus und rammten einen Eichenpfahl durch den Körper. Doch der gepfählte Myßlata machte sich lediglich über die Bürger lustig und dankte ihnen höhnisch dafür, daß sie ihm einen Stock gegeben hätten, mit dem er sich besser gegen die Hunde zur Wehr setzen könne. In derselben Nacht kam der Hirte von neuem aus seiner Grube und verdammte mehr Menschen zum Tode als je zuvor. Also pfählte man Myßlata kurzerhand erneut und verbrannte ihn auf dem Scheiterhaufen, wobei der Leichnam »brüllte wie ein Wilder und Hände wie Füße einem Lebenden gleich bewegte«. Aus dem Körper des Schafhirten sprudelten Unmengen von schwarzem Blut. Als man Myßlatas Asche schließlich in alle Winde verstreute, kehrte in Blow endlich wieder Ruhe ein. Ein anderer interessanter Vorfall trug sich, wie der Marquis d’Argens in seinen Jüdischen Briefen (1738) berichtet, etwa zu derselben Zeit in einem ungarischen Gebiet mit dem Namen Oppida Heodonum zu, das von den Heiduken bewohnt wurde. Dreißig Tage nach-
dem der Bauer Arnold Paul aus Medreiga von einem auf ihn stürzenden Heuwagen erschlagen worden war, starben in dem Ort vollkommen unerwartet vier Menschen; an ihren Hälsen entdeckte man Bißwunden, wie man sie dem Volksglauben zufolge bei jenen findet, die von Vampiren heimgesucht wurden. Die abergläubischen Bürger von Medreiga erinnerten sich daran, daß Paul häufig davon erzählte, wie ihn ein Vampir in der Nähe von Cassova nahe der Grenze Türkisch-Serbiens angefallen habe. Sie nahmen an, daß Arnold Paul nach seinem Ableben ebenfalls zu einem Blutsauger geworden war, und gruben seinen Leichnam aus, der laut d’Argens »alle Merkmale eines Obervampirs aufwies. Der Körper war rosig. Haare und Nägel waren gewachsen. In den Adern floß Blut, das aus sämtlichen Körperöffnungen auf das Totenleinen tropfte. Der Haduagi (Dorfschulze), von welchem die Exhumierung vorgenommen wurde, ließ, wie es Sitte ist, einen spitzen Pfahl in das Herz des Toten treiben, der den ganzen Leib durchdrang. Nach Hörensagen soll Paul einen furchtbaren Schrei ausgestoßen haben, als lebe er noch. Daraufhin schnitt man ihm den Kopf ab und verbrannte alles. Gleiches tat man mit den Leichnamen von vier weiteren durch Vampire getöteten Einwohnern Medreigas, weil man befürchtete, sie könnten nicht zur Ruhe kommen.« Vorfälle dieser Art ereigneten sich zu jener Zeit ausgesprochen häufig und verschwanden auch in späteren Jahren nicht, selbst wenn sie während der Industrialisierung stark abnahmen. Noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts fanden in Preußen mehrere »Vampirprozesse« gegen Menschen statt, die aus Furcht vor Blutsaugern Gräber geöffnet hatten, um Leichen zu pfählen und ihnen die Köpfe abzutrennen. Otto Steiner schildert in seinem Buch Vampirleichen (1959) die Verhandlungen gegen die Familien Gehrke und Poblocki, die in beiden Fällen mit Freispruch endeten, da den Angeklagten zugebilligt wurde, sie hätten in »gutem Glauben« gehandelt. Daß solche aus Furcht vor Vampiren geborenen Vorfälle nicht auf Europa beschränkt waren, bestätigt eine Meldung der Deutschen
Presse-Agentur vom 26. 07. 1994, wonach Forscher auf einem alten Friedhof im amerikanischen Bundesstaat Connecticut ein »Vampirgrab« entdeckt haben. Als das Steingrab eines ungefähr fünfzig Jahre alten Mannes geöffnet wurde, fanden die Forscher den Kopf des Toten von der Wirbelsäule abgetrennt auf dem Brustkorb der Leiche liegend, darunter die gekreuzten Oberschenkelknochen. Der Fund bestätigte Gerüchte, wonach die Menschen Neuenglands früher glaubten, Opfer von Tuberkulose (Schwindsucht) würden aus dem Reich der Toten zurückkehren, um den Lebenden das Blut auszusaugen. Zum Schutz vor den vermeindlichen Vampiren griffen die Einwohner zu rigorosen Mitteln: Sie öffneten die Gräber der Tuberkulosetoten und verbrannten entweder deren Herzen oder die ganze Leiche. War das Herz bereits verwest, wurde das Skelett zerteilt und im Sarg neu angeordnet. Daß dieses Schicksal auch dem Mann widerfuhr, den die Forscher jüngst ausgruben, darauf weisen Spuren an den Rippen des Toten hin, die offensichtlich von einer Tuberkulose-Erkrankung stammen. Eng mit dem Vampirmythos verbunden ist der im Mittelalter vor allem in Schlesien weit verbreitete Glaube an sogenannte »Nachzehrer«. Im Gegensatz zu einem Vampir saugt der »gemeine Nachzehrer« seinen Opfern allerdings nicht das Blut aus, sondern verschlingt in seinem Grab unter heftigem Kauen und Schmatzen, das meistens weithin hörbar ist, sein Leichentuch sowie Teile seines eigenen Fleisches und »zieht« seine Opfer allein durch die sympathetische Wirkung seiner Tat nach. Allerdings läßt sich das unheimliche Phänomen des »Kauens und Schmatzens aus dem Grab« modernen medizinischen Erkenntnissen zufolge relativ einfach damit erklären, daß die »Toten« gar nicht tot waren, als man sie in den Sarg legte und verscharrte, sondern sich bloß in einem todesähnlichen Zustand wie Koma oder Katalepsie (Starrkrampf) befanden, um schließlich aufzuwachen und entsetzt festzustellen, daß man sie bei lebendigem Leibe begraben hatte, was in früheren Jahrhunderten erwiesenermaßen ziemlich häufig vorge-
kommen ist. Als in England vor einiger Zeit ein Friedhof aus dem 18. Jahrhundert dem Parkplatz eines Einkaufszentrums weichen mußte, ließ nicht weniger als ein Drittel der Leichen, die der Bulldozer zutage förderte, Hinweise darauf erkennen, daß sie sich aus ihrem Sarg hatten befreien wollen. Einige hatten panisch am Deckel ihres Sarges gekratzt und sich dabei nicht selten die Finger gebrochen. Andere hatten es geschafft, ihre Hände aus dem Sarg zu stecken. Manche Leichentücher waren blutverschmiert, da sich die Totgeglaubten aus Atemnot, Hunger oder Wahnsinn ins eigene Fleisch gebissen hatten. Tatsächlich war die Angst der Menschen davor, lebendig begraben zu werden, zu jener Zeit so gegenwärtig, daß damals sowohl in den USA wie auch in England Särge patentiert wurden, die mit Alarmglocken und Vorrichtungen für Atemluftzufuhr ausgestattet waren. Der dänische Märchendichter Hans Christian Andersen (1805 – 1875) etwa pflegte, bevor er sich schlafen legte, stets einen Zettel neben seinem Bett zu deponieren, auf dem stand: »Ich bin nicht tot; nur scheintot.« Allerdings ereilte die »Untoten«, denen es tatsächlich gelang, sich der »Oberwelt« durch Klopfen und Hämmern gegen den Sargdeckel oder durch Schreie bemerkbar zu machen, damals nicht selten ein Schicksal, das an makabrer Ironie kaum zu überbieten ist. Denn wenn das Gerücht umging, daß ein jüngst Verstorbener ein Vampir war, weil aus seinem Grab gewisse Laute drangen, griffen die Bürger häufig zu althergebrachten Mitteln, gruben den Sarg aus und trieben dem »Toten« einen angespritzten Pfahl durchs Herz, vor allem, wenn selbiges sogar noch schlug … Fortsetzung in Band 10
Der sündige Engel von Gastautor Uwe Voehl Sie war die Herrscherin über eine ganze Stadt, seit über tausend Jahren. Ihr Wort war Gesetz, ihre Grausamkeit Legende. Ihre Verbündeten, Wesen aus einer fremden Dimension, schienen allgegenwärtig. Al’Thera war eine Hölle auf Erden. Dann kam die Seuche. Ihre Untertanen siechten dahin, und erst die Mächte, die sie beschwor, konnten das Sterben beenden. Doch um welchen Preis! Al’Thera wurde zu einem Hort zwischen Leben, Tod und Verdammnis. Noch immer war sie die Herrscherin der Stadt, unversehrt und schön wie ein Engel. Doch nun sehnte sie selbst das Ende herbei …