Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 71
Lin Carter
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Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 71
Lin Carter
Die Magier von Bargelix Wissenschaft gegen Schwarze Magie Es geschieht im Jahr 154 des interstellaren Menschheitsimperiums, das dem Jahr 3217 irdischer Zeitrechnung entspricht. Der Schauplatz ist Bargelix, der einzig bewohnbare Planet des Doppelsternsystems 4221A und B in den Sierra-Sternen, 35 000 Lichtjahre von Sol entfernt. Morgan Outworlder, der Verbannte des Imperiums, beginnt seinen aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die Schwarze Magie und deren Vertreter. Er liebt die Welt, die ihm Asyl gewährt hat, und er versucht, die Bewohner vor dem drohenden Verderben zu retten. Nach MEISTER DER STERNE (UTOPIA-CLASSICS-Band 64) präsentiert der Autor mit DIE MAGIER VON BARGELIX das zweite Abenteuer aus der Imperium-Trilogie. Der dritte Roman erscheint in Kürze als Band 73 dieser Taschenbuchreihe.
Lin Carter
Die Magier von Bargelix Utopia-Classics Band 71
Freeware ebook by Tigerliebe Oktober 2003 Kein Verkauf!
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT
Titel des Originals: OUTWORLDER Aus dem Amerikanischen von Heinz Nagel
UTOPIA-CLASSICS-Taschenbuch Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1971 by Lin Carter Copyright © 1984 by Verlag Arthur Moewig GmbH – Deutsche Erstausgabe – Titelbild: Nikolai Lutohin Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck GmbH, Berlin Printed in Germany November 1984 ISBN 3-8118-5017-2
EINLEITUNG Die Errichtung des ersten Imperiums unter Arion dem Ewigen und der Moraldemontane-Dynastie im Jahr 3063 nach Christus verschmolz die Überreste des Nordonnats in ein einziges Ganzes und führte nach einiger Zeit zu einem neuen Gefühl nationaler Einheit von galaktischem Ausmaß. Dies führte natürlicherweise zu neuem Interesse für die Erforschung der Galaxis und erzeugte einen Anreiz, der die koloniale Ausweitung beschleunigte, die unter Nordonns Regime praktisch zum Erlahmen gekommen war. Häufig waren es handeltreibende Abenteurer, verbannte Gesetzlose und Wanderer, die als erste die neuen Sternenwelten erreichten. Manchmal trafen sie sogar Jahrhunderte vor den Forschungsflotten ein. Einige der Eingeborenenkulturen jener bislang unerforschten Welten befanden sich noch in ihren mythischen oder heroischen Zeitaltern. Auf solchen Welten mußte die formelle Geschichte erst ihren Anfang nehmen … Es ist daher nicht überraschend, daß die Taten und Leistungen einiger dieser wandernden Abenteurer Teil der noch jungen Mythologien solcher Zivilisationen der Morgendämmerung wurden. Und in diesem Zusammenhang wird man zwangsläufig an den Morgantyr-Mythos von Sierra 4221 IV erinnert. (Zitat aus Die ersten Tausend Jahre, Band II, von Chendler Diocolba, C.A.; Universitätsbibliothek Azphar, Nolderon I, Herkules, Jahr 2019 des Imperiums.)
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Bargelix; Sierra 4221 IV. Einziger bewohnbarer Planet des Doppelsternsystems 4221 A und B in den Sierra-Sternen. Durchmesser: 11.756 Kilometer (Äquatormessung), Gravitationskonstante: 0,92 Standard. Das Zentralgestirn 4221 A (Sitra) ist ein blau-weißer Stern der Hauptsequenz mit einem A 5 Spektrum, der an Alpha Aquilae erinnert; die zweite Komponente des Binärsystems, 4221 B (Marib) ist ein Roter Zwerg mit einem M5e-Spektrum. Das Doppelsternsystem liegt etwa 35.000 Lichtjahre von Sol entfernt, in der Richtung Kanopus. Bargelix beherbergt eine intelligente, sehr hominide Eingeborenenrasse, die Cophyri. Die Hauptabweichung von der Terranorm besteht in der ungewöhnlichen gelben Pigmentierung der Iris, dem Fehlen jeglicher Körperbehaarung und einer inzwischen rudimentären Drüsenabnormalität des Biokortex im Vorderhirn; in früheren Zeiten führte diese biokortikale Entwicklung zu einer starken rassischen Vorliebe für psionische Manipulation der geophysikalischen, ja sogar astrophysikalischen Bereiche des Plenums. Die cophyrische Literatur, insbesondere das vor dem Kontakt entstandene Morgantyr-Epos läßt einige Analytiker vermuten, daß Bargelix möglicherweise in seiner Frühgeschichte von der wenig bekannten extragalaktischen Yokannarasse besucht wurde. Das Epos schildert möglicherweise in seinem neunten Gesang eine typische Yokanna-Dimensionalkongruenz, die gelegentlich in eingeborenen sierranischen Kulturen als ›Tür nach Draußen‹ erwähnt wurde … (Zitat aus Folkers Führer zu den Sierra Sternen, 9. Ausgabe; Kaleris Nationalbibliothek, Byatis III, Sierra, Jahr 4736 des Imperiums.)
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Hier beginnt die Legende von Morgan Outworlder und der Bericht von der Schließung des Tarandon-Tores, auf daß nicht die letzten Tage über die Welt von Bargelix kommen mögen … In früheren Zeiten hat der Sänger Conyin von Llyrain dieses Epos gesungen. Möge meine armselige Prosa zumindest ein Echo der Kraft und der Schönheit jenes mächtigen Gesanges sein.
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1. Der Himmel wurde plötzlich hell, und die bleiche Flamme der Morgendämmerung zog wie eine schnelle, lautlose Explosion über ihn. Der junge Mann, der sein Floß über den Gelben Drachenfluß zur Kargonessa-Insel in der Bucht hinüberstakte, hielt inne, um etwas auszuruhen, und blickte zu dem bleichen Himmel empor, der mit leuchtendem Rosa überzogen war, und auf dem kleine, goldgeränderte Wolken standen. Vögel kreisten über dem braunen dahinströmenden Fluß, den milchweißer Morgennebel umhüllte. Hart, klagend hallten ihre Rufe. Das braune Flußwasser stank nach toten Fischen und verrottendem Müll, aber die aufkommende Brise trug den frischen Salzduft des Iophanesmeers landeinwärts. Mit geweiteten Augen trank der Bursche alles in sich hinein, die klare Morgendämmerung, den fahlen Himmel, den weißen Nebel und die mövenähnlichen Vögel, die über den Wogen des schlammigen Flusses dahinzogen. Fast alles, was er sah, schien ihm neu und wunderbar. Bislang hatte er wenig genug von der Welt gesehen, da er seine Knabenzeit im Kloster zwischen verstaubten Büchern verbracht hatte. Er beugte sich jetzt wieder vor, um sein Floß weiter über den Gelben Drachenfluß zu staken. Er war solche Arbeit nicht gewohnt, und es dauerte nicht lange, bis seine Arme, sein Rücken und die Schultern schmerzten. Doch sein Wille trieb ihn weiter. Die geschorene Kopfhaut glitzerte vom Schweiß. Obwohl der Morgen feucht und kühl war, hatte ihn die Anstrengung erwärmt. Er hatte die Kapuze nach hinten geschoben, die an seiner grünen Kutte befestigt war, und die langen, weiten Ärmel waren zurückgeglitten und ließen seine jungen Arme sehen. Goldene Ringe baumelten an seinen Ohrläppchen; an seinen Fingern glitzerten Talismanringe aus seltenen Metallen, während er mit langsamen Schlägen weiterstakte. Ein breiter Gürtel 8
aus Anthar-Leder umgab seine Hüfte, und an ihm hingen an Bronzehaken zwei Beutel. In dem einen klimperte Handelsmetall. Der andere war mit Zauber vollgestopft. Er war ein Magier. Das konnte man an dem grünen Gildenzeichen erkennen, das über seinen hellen gelben Augen auf seine Stirn tätowiert war. Dieses Zeichen, eine gehörnte Schlange, die sich in den Schwanz biß, ließ ihn als einen Adeptus Minor in der Bruderschaft des Grünen Ouroborus erkennen. Sein Name war Sodaspes, und er war erst vor kurzer Zeit in Babdaroul, der Verbotenen Stadt, seinem Geburtsort, der Schule der Geheimen Wissenschaften geweiht worden. Noch eines hätte man bemerken können. Es war seltsam, daß in jenen gefährlichen Zeiten keine Waffe in seinem Gürtel steckte. Aber vielleicht brauchte er bei den vielen kleinen Zaubern, mit denen sein Beutel vollgestopft war, keinen Stahl. Der Morgenhimmel war jetzt ein atemberaubendes Gewölbe vom blassesten Blau, klar wie Kristall. Der Nebel über dem Fluß verschwand jetzt, und jenseits der schlammigen Wasser konnte man die Felsinsel Kargonessa erkennen. Eine hohe Burg klammerte sich an den klippenreichen Fels; die Festung war aus demselben dunklen Gestein gehauen, aus dem die Insel selbst bestand, und man konnte nicht erkennen, wo die Natur aufgehört und der Mensch sein Werk begonnen hatte. Der junge Magier stützte sich auf seine Stange und betrachtete die Insel mit träumenden Augen. Er war sehr müde. Die ganze lange Nacht waren er und sein älterer Begleiter, der Sänger, auf schnell dahintrabenden Lopers südwärts geritten. Sie waren der Flußstraße gefolgt, am Gelben Drachen entlang, und waren müde die vielen Meilen zu dieser südlichsten Spitze Azams geritten. Kurz vor dem ersten Licht der Morgendämmerung hatten sie das kleine Fischerdorf Strye erreicht. Nur ein paar Frühaufsteher unter den Fischern waren bereits auf und rollten die Planen von ihren Fischerbooten zurück. Während Sodaspes’ Begleiter 9
abstieg, die zwei Loper an den Zügeln nahm und sich daran machte, eine Gaststätte zu finden, ging der Junge ans Flußufer, um sich ein Boot zu kaufen oder zu mieten, um mit der Flut nach Kargonessa übersetzen zu können. Die hochgewachsenen Leute von Strye rissen Augen und Münder auf, weil sie den Besuch von Fremden nicht gewöhnt waren. Aber als er Kargonessa erwähnte, wurden die aufgerissenen Augen kalt, und ihre offenen Münder schlossen sich grimmig. Die Männer ignorierten die Anwesenheit des Jünglings und wandten ihm den Rücken zu. Am Ende aber, fand Sodaspes einen schlaksigen Jüngling, der sich freundlich bereiterklärte, sich von seinem Floß zu trennen, sich jedoch entschieden weigerte, den Magier um irgendeinen Preis über den Gelben Drachenfluß zu befördern. Die Leute von Strye waren einfach und abergläubisch. Für sie war Kargonessa ein verwunschener Ort, eine Stadt dem Unheil geweihter Verbrecher, Flüchtlinge, Verbannter … Und was den Lord von Kargon anging, so waren seine Vorfahren dreimal verdammt, weil sie vor Jahrhunderten den Pakt gebrochen hatten, und seitdem waren alle, in deren Adern ihr schwarzes Blut floß, von der Gemeinschaft mit dem Bann belegt. Sodaspes blieb also nichts anderes übrig, als das Floß selbst über die Flußmündung zu staken und das Beste zu hoffen. Sein Begleiter würde ihm dabei nicht behilflich sein, da er als geweihter Barde nicht einmal den Fuß auf Erde setzen konnte, die die Brecher des Paktes berührt hatten. Nur ein Magier konnte ungefährdet die Kargoninsel betreten. Er befand sich mitten im Fluß, als die Zweitdämmerung kam und den leuchtenden, gewölbten Himmel mit schwachem Scharlach erfüllte. Jetzt hob sich die kleine rote Zweitsonne über den nebligen Horizont und begann auf ihrer ewigen Verfolgungsjagd hinter der helleren, höheren Sonne herzuklettern. Für Sodaspes war die erste Sonne Sitri der Weiße Krieger, und ihr schwach leuchtender Begleiter Marib der Karmesinrote. 10
Bald erfüllten der blau-weiße Stern und sein roter Zwergbegleiter den Himmel ihres Abkömmlings Bargelix mit doppeltem Tageslicht. Vor ihm türmte sich die Burg in die Höhe, umringt von finsteren Mauern, und reckte ihre massigen Türme in die Helligkeit. Banner flatterten von Turmspitzen und Mauern, und auf ihrem meergrünen Feld prangte das silberne Emblem des Hippocampus, das Wahrzeichen der wappentragenden Familie der Freien Stadt, der Diomhae, die das kleine Inselfürstentum beherrschten. Hier weitete sich die Mündung des Gelben Drachenflusses zu einer Bucht. Sodaspes stakte sein Floß langsam weiter, mühte sich um die Felsbiegung, an der sich Gischt und Meeresbrandung brachen. Von hier aus konnte er eine geschützte winzige Bucht erkennen, und über ihr reihten sich Hütten und kleine Häuser und darüber die Festung selbst. Von den zwei Vorbergen dieses winzigen Vorsprungs aus hatte man Kais aus grauem Felsgestein ins Wasser hinausgeführt. Dort lagen drei Schiffe vertäut, ihrem Umfang nach zu schließen Handelsschiffe. Er wußte, daß die kargonesischen Inselbewohner, obwohl auf dem Festland als Gesetzlose betrachtet, doch mit den Küstenstädten auf dem Südkontinent jenseits des Iophanesmeers Handel trieben, denn jene waren Heiden, die den Pakt der Gemeinschaft nicht kannten. Er lenkte sein Floß zum näherliegenden Kai und vertäute es. Dann kletterte er den Kai hinauf und machte sich auf den Weg, den Hügel hinauf, durch die Straßen der kleinen Stadt, die sich im Schatten des Kargonlords duckte. Finster blickende Seeleute stießen ihn beiseite, während sie ihrer Wege gingen. Ausgemergelte Bettler jammerten nach Almosen. Kinder mit schmutzigen Gesichtern rannten kreischend an ihm vorbei. Niemand achtete sonderlich auf ihn, während er die Dorfstraße hinauf auf das offene Tor der Festung zuging. 11
An die Außenwand der Burg gelehnt, fand er eine Matrosenkneipe. Der heiße Atem, der durch die offene Tür der Wirtschaft nach außen schlug, ein Dunst von geröstetem Fleisch, saurem Wein und kräftigen Soldamagewürzen, ließ seinen Magen knurren. Erst jetzt erinnerte er sich daran, daß er heute noch nicht gefrühstückt hatte, daß tatsächlich seit gestern abend keine Nahrung mehr über seine Lippen gekommen war. Morgan stand bei der ersten Dämmerung auf. Der salzige Duft der Seebrise weckte in ihm stets einen kräftigen Appetit. Die Zimmerflucht, die Lord Tasper ihm zugewiesen hatte, lag auf der seewärts gerichteten Seite der Festung, und der feuchte Wind heulte durch seine Fenster, trug die Schreie der Vögel und die Gesänge der Matrosen mit sich und das Klatschen der Wogen gegen die Klippen. Es war eine kleine Zimmerflucht, niedrig, mit Balken an den Decken und dicken Steinmauern, die mit cremefarbenem Verputz bedeckt und mit schweren Teppichen behängt waren. Während er sich das kalte Wasser ins Gesicht spritzte und sich die letzten Schlafreste aus den Augen rieb, überlegte er, daß sein Leben hier auf der Kargoninsel ähnlich dem der Wikinger gewesen sein mußte, damals, auf Sol III. Er war ein Centaurusgeborener, aber die Wurzeln der Vorfahren seiner Mutter waren tief in Terra verankert, und die Familie war seinerzeit in der Skandinavischen Union mächtig und berühmt gewesen. Nackt, die Haut vom kalten Wasser gerötet, schlüpfte er in seine Strümpfe und gürtete sich seine Tunika um den Leib. Zwei Jahre waren jetzt fast verstrichen, seit er zur Bargelixwelt gekommen war. Er war Soziologie-Ingenieur und hatte sich auf Trasna im Acturussystem niedergelassen, wo er daran gedacht hatte, sein Leben mit der Arbeit zu verbringen, die ihm den größten Spaß machte. Aber dann kamen die Semnedar-Junta und die Freiheitsunruhen, und er war in den trasnischen Kampf 12
um Selbstbestimmung gegen das Erbliche Parlament hineingezogen worden. Als überzeugter Zentralist hatte er von Trasna fliehen müssen, um sein Leben zu retten, als das Prokonsulat die Macht ergriff. Jetzt war er ein Verbannter, den der Erlaß des Mardax-Imperators von den imperialen Welten vertrieben hatte, und so war er jenseits der Grenzen gezogen, um in den fernen Sierra-Sternen Zuflucht zu suchen … Und hier nun hatte er ein Zuhause gefunden. Denn Bargelix war das Zuhause, nach dem sein Herz sich gesehnt hatte, eine Welt verloren in den Zeiten, Äonen hinter den imperialen Sternen zurückhinkend … eine Insel der Farbe und Pracht, der windzerzausten Wälder, der einsamen Schlösser und Burgen, der feurigen Barden, der barbarischen Krieger … eine romantische, lebende Welt, mit fahlen Morgen, flammenden Mittagen und mystischem Zwielicht, wo Sigurd, der Wälsunge, hätte wohnen können. Den Schatten eines Lächelns um die Lippen, zog Morgan sich langsam an. Er hatte seine erste Jugend hinter sich, war vielleicht sechsunddreißig, ein dunkler Mann, etwas kleiner und kompakter als die orionidische Norm, mit einem Schimmer von Grau im kurz gestutzten dunklen Haar. Vor zwei Jahren, im Jahre 152 des Imperiums, war er auf diese Welt gekommen, in einem winzigen Ein-Mann-Flieger, der jetzt, von Lianen überwuchert, an irgendeinem Wiesenhang im Westland verrottete. Ein schweigsamer, scheuer und etwas verlegener Mann, hatte Morgan sich auf seiner Welt und in seiner Zeit stets als Fremder gefühlt. Manche Männer sind geborene Fremde, und er war einer davon. In seinem Herzen war nichts, das sich unter den Männern des Imperiums zu Hause fühlte. Er sehnte sich nach einem Leben näher der grünen Erde und den Zyklen der Jahreszeiten. Und so war er im Herzen ein Outworlder, ein Wanderer, selbst bevor die politischen Spannungen ihn aus dem Arcturussystem vertrieben. 13
Er war ohne Wurzeln geboren worden. Aber hier auf Bargelix hatte er sie gefunden. Es war etwas Seltsames, endlich nach Hause zu kommen. Einem Zuhause auf einer fremden Welt, weit entfernt von der Welt seiner Geburt. Die Leute hießen ihn willkommen, trotz all seiner Sternenweltfremdheit. Sie kannten seinesgleichen von einem früheren kurzen Kontakt her. Die Cophyri waren trotz ihrer Ferne vom Imperium gelegentlich von wandernden Händlern oder Gesetzlosen besucht worden. Sie wußten von den reichen imperialen Welten, und die Gerüchte von Wissenschaft und Wundern hatten ihren Weg bis hierher gefunden. So fand er, inmitten der verbitterten, einsamen, stolzen Seekönige von Kargon ein Willkommen, jenen Königen, deren uralte Verfehlung gegen jenen mysteriösen »Pakt« sie für Verbannte und Gesetzesbrecher auf Bargelix zur Zuflucht machten. Und hier fand er seine Heimat, eine wilde, einfache und buntfarbige Welt, wie er sie nur in den Träumen seiner Knabenzeit besucht hatte. Er gewöhnte sich daran, die Leute von Bargelix mit einer Eindringlichkeit zu lieben, die ihn überraschte und zugleich bewegte. Und sie ihrerseits akzeptierten und ehrten ihn und gewöhnten sich daran, ihn ebenfalls zu lieben. Er war der Sternenlord, der Outworlder. Aber weder er noch sie ahnten auch nur entfernt, wer er einmal für ihre Kinder sein würde, und die Kinder ihrer Kinder ahnten nicht, daß dieser finstere, schweigsame Outworlder, der seinen Platz zwischen ihnen eingenommen hatte, in den Sagen und Mythen weiterleben sollte. Tasper Kargonlord frühstückte nach Art der alten Barone. Die niedrige, verräucherte Speisehalle war überfüllt. Neben den Männern und Frauen des eigenen Hofes und der Burg waren da Fischer und Seeleute, Händler und Bewohner von Kargondorf, das am Fuß der Burg lag. 14
Mächtige Feuer flackerten auf steinernen Herden. Langhaarige Pagen trugen Platten mit rauchendem Fleisch zwischen den Tischen hindurch. Saures Bier, Wein und Liköre bespritzten die Schilfmatten auf dem Boden. Alles war Festlichkeit, Lärm und Freude. Was Tasper selbst anbetraf, so saß er auf dem großen Podest unter einem verblaßten Gobelin, der die mächtigen Taten von Arvery dem Großen in seinen Schlachten gegen das Meervolk von Whitestrand Firth darstellte. Tasper war blendender Laune. Sein Gelächter dröhnte über die Scherze, die von Tisch zu Tisch flogen. Aus tiefer Kehle hallte seine Stimme, und er trank reichlich aus dem Hornpokal und ließ dann den Becher, wenn er geleert war, gegen den schweren Schild dröhnen, der an seinem Hochsitz lehnte. Sein Becher schlug den Takt zu den Versen der alten Meersagen, die sein Sänger verkündete. Die klare Stimme des alten Barden schwebte wie der Duft lang vergessener Zeiten durch die Halle … Er sang das Lied von Arvery, das Epos vom Krieg des Helden gegen die Sieben Ungeheuer. Morgan kannte es gut und liebte es, und es war auch kein Wunder, daß sie es gerade an diesem Tag sangen, denn dies war der Tag des Arvery, den man seit alten Zeiten verehrte, denn kein anderer als jener ruhmreiche Held hatte das Adelshaus der Diomhae gegründet. Und so blieb er am Eingang zur Halle einen Augenblick lang stehen und lauschte auf die alte Geschichte, ehe er seinen Platz an den Tischen einnahm. Tasper applaudierte als erster und warf seinem Sänger einen goldenen Armring zu, den der alte Mann mit geschickter Hand im Flug auffing, während Morgan Platz nahm und zu essen begann. Dann verlangte der Earl brüllend nach der letzten Strophe des alten Epos, die sich mit der Schlacht selbst befaßte, und in der Halle zog Stille ein. Die schlanken Finger des alten 15
Sängers schwebten über die silbernen Saiten, und die uralte Weise erfüllte die rauchige Halle, bis die Herzen der Männer zu Träumen von mutigen Taten und einer vergangenen, goldenen Epoche anstachelte. Einer nach dem anderen fielen die Krieger des Earls in den alten Gesang ein. Morgan, der Outworlder, sang mit ihnen und teilte ihre Freude, und er liebte das, was er erlebte, aus ganzem Herzen. Dann kam der alte Osmer, der Burgsteward des Earls, und sagte, einer stehe vor der Banketthalle und wolle zum Earl Tasper und seinen Lords sprechen. Ein Jüngling sei er, ein Mann vom Festland, und wie es schien, sei er ein Magier. Lord Tasper rief dröhnend, man solle den Knaben eintreten lassen. Der kam und stand vor ihnen, mit den geweiteten Augen eines Träumers. Er lehnte Wein und Fleisch ab und sagte, seine Botschaft, die er durch kalte Nächte und lange Tage harten Rittes getragen hätte, dulde kein längeres Warten. Und Earl Tasper von Kargon forderte ihn auf zu sprechen, und ganz unten am langen Tisch spürte Morgan, der Wanderer von Centaurus, einen Hauch seltsamer Furcht, als die weiten gelben Augen des Knaben ihn suchten und ausgerechnet ihn anstarrten. Dann sprach der Junge mit klarer Stimme. »Lord Earl und Lords von Kargonessa, ihr singt von mutigen Taten in vergangenen Tagen, singt von Kriegen und tapferen Helden einer alten Zeit … und ich bin gekommen, um einen von euch aufzufordern, eine edlere und mutigere Tat zu begehen, als sie je besungen wurde! Denn, fürwahr – im Westen brennt der Unheilsstern! Die Sterne, die das Drachenzeichen bilden, sind zurückgekehrt durch endlose Zyklen unermeßlicher Zeit, um wieder ihren Platz einzunehmen – und die letzten Tage, seit dreimal zehntausend Jahren prophezeit, sind über uns! Ich bin der Zauberer, gekommen, um von deiner Tafel den Mann zu mir zu rufen, Morgan, Sternenwanderer, Outworlder, auf daß er die Suche nach der Schließung des Tores beginne – 16
höret meinen Ruf, auf daß nicht böse Tage über uns kommen, auf daß nicht Bargelixwelt im Chaos versinke!« Die Knabenstimme hallte wie eine Fanfare, und als sie verstummte und sich eine Welle von Ehrfurcht und Stille über die Halle senkte, sah Morgan sich um und erkannte, daß die Augen aller Männer ihm zugewandt waren. Und in jenem langen, zeitlosen Augenblick wußte Morgan noch nicht, ahnte auch nicht, daß das Schicksal ihn über tausend Sternenräume hergeholt hatte zur Bargelixwelt, für diesen Tag und diese Stunde. Er sah nicht die Sorge in den Augen seines Freundes, des Kargonearls. Alles was er sehen konnte, war der seltsame Stolz einer geheimnisvollen Bestimmung, die ihn aus den Augen von Sodaspes anstarrte.
2. Kargoninsel bestand ganz aus Felsgestein, und jene, die aus fernen Landen dort ankamen, gewöhnten sich daran, das Fehlen grüner Felder, großer Bäume und des Duftes lehmiger Erde zu ertragen. Auch der Earl Tasper fühlte den Mangel und hatte daher veranlaßt, daß man in den oberen Geschossen des Burgfrieds einen Garten anlegte und diesen pflegte. In jenem Garten schlenderte Morgan Outworlder oft herum und erinnerte sich der sonnigen Felder des fernen Centaurus. Er war eine seltsame Mischung von Mann: grobschlächtig und einfach und alles andere als wortgewandt; er pflegte wenig zu sagen, und sein starr wirkendes Gesicht und die finsteren Augen ließen selten irgendwelche Gefühle erkennen. Trotzdem waren seine Empfindungen tief. Die Vorfahren seines Vaters waren im alten Gwent zur Welt gekommen, und so hatte er die Art der mystischen Kelten an sich. Während der Nachmittag lange Schatten von den felsigen Türmen zog und Earl Taspers Garten im kühlen Schatten er17
tränkte, schlenderte er zwischen fremdartigen Bäumen und Blumen dahin und versuchte, in seine wirren Gedanken Frieden und Ordnung zu bringen. Der Ruf des jungen Magiers hatte an etwas Altes, lang Schlummerndes in seinem Blut gerührt. Aber er begriff die Botschaft nicht, die der Jüngling ihm gebracht hatte. Und er wußte nicht, warum sich alle Leute in der Halle ihm zugewandt hatten. In dem schmerzhaften Schweigen, das dem Ruf des Sodaspes gefolgt war, hatte der Outworlder gespürt, daß die Blicke aller auf ihm ruhten. Seine Wangen hatten sich gerötet, seine Lippen waren wie gelähmt, und er wußte nicht, was er sagen sollte. Nicht einmal, wozu man ihn aufgerufen hatte. Jetzt, während der Westen sich rötete und die Luft kühler wurde und der weiße Stern Sitri sich weigerte, sich seinem karminfarbenen Bruder am fernen Horizont anzuschließen, warf er sich auf eine weiße Steinbank, die über und über mit Schnitzwerk versehen war. Am meisten beunruhigte ihn, daß der Ruf des jungen Magiers in ihm etwas geweckt hatte, von dem er nicht einmal gewußt hatte, daß es da war. Sein ganzes Wesen war bei den geheimnisvollen Worten erwacht, als hätte er sein ganzes Leben lang auf einen solchen Ruf gewartet. Aber dies war Träumerei – Wahnsinn! Denn er wußte nichts vom Unheilsstern, nichts von Toren, die zu schließen waren, oder Welten, die es vor der Finsternis zu retten galt … Das Scharren einer Sandale auf den Gartenfliesen riß ihn aus seinen finsteren Gedanken; er hob die Augen und sah, wie sein Gastgeber durch die Schatten herannahte. Er erhob sich und begrüßte den Earl höflich, aber Tasper gab ihm ein Zeichen, Platz zu nehmen, und stand verlegen schweigend eine Weile vor dem Outworlder. Für einen Cophyri war dieser Tasper von Kargon hochgewachsen und kräftig gebaut; er hatte kurzes, dickes Haar von 18
der Farbe von Stroh, und ein Gesicht, das die Sonnen rot gebrannt hatten; vom guten Leben fleischig, mit breiter Stirn und noch breiterer Wange und einem kantigen Kinn, breitem Mund und Augen von kaltem Gelb. Er war kräftig und massiv und neigte zu schnellen Gefühlsausbrüchen und war trotz seiner rauhen Art von zartem Herzen. Er hatte dem schweigsamen Outworlder Gastrecht gewährt, mehr wie einer Kuriosität als jemandem, der wahrhaft in seiner Halle willkommen war. Aber an dem anderen war etwas, das seine Liebe fast von Anfang an gewonnen hatte. Dem fremden Blut einer fernen Welt entsprungen, schien der Mann Morgan irgendwie kein Fremder auf Bargelixwelt. Von Anfang an hatte er sich unauffällig der Lebensart Kargons angepaßt; selbst die Dorfleute vergaßen bald seine Herkunft von der Sternenwelt und sahen in ihm einen der Ihren. Und jetzt liebte man ihn, und Kargon war sein Zuhause. »Du brauchst nicht zu gehen«, platzte es plötzlich aus Tasper heraus, und in dem Satz war so viel Eindringlichkeit, daß Morgan blinzelte. »Du brauchst nicht zu gehen«, sagte er wieder und nickte mit dem schweren Schädel. »Das Gastrecht ist dein; der Junge vom Festland kann von dir nichts fordern, nur bitten. Soweit es mich betrifft, ist Insel Kargonessa dein Zuhause, ob du nun der Wahrer des Liedes bist oder nicht!« Diese letzten Worte schrie er fast hinaus. Morgan wählte seine Worte langsam; so war das immer bei ihm – er wußte nie ganz, was er sagen sollte. Sein Verstand war nicht schnell – da war keine Zungenfertigkeit. »Herr, ich weiß nicht … Ich verstehe nichts von dem … was der junge Mann meinte. Von diesem Lied. Oder weshalb man mich ruft oder wozu man mich ruft …«, sagte er zögernd. Aber der andere war, wie stets, seiner stockenden Zunge voraus. »Eine alte Prophezeiung, nichts mehr; ich sage es noch einmal, du brauchst nicht zu gehen … Bleib hier, wo du hinge19
hörst, und soll die Welt sich um sich selbst kümmern!« knurrte Tasper mit einer schnellen Bewegung seiner kräftigen Pranke. »Aber welche Prophezeiung? Wie kann sie … ich begreife nicht, wie sie mich erwähnen kann. Ich kam hierher, laß mich sehen, es war …« Tasper murmelte einen Fluch gegen alle Propheten und brummte etwas vom Pakt und daß seine Ahnen, als sie mit der ganzen Sippe brachen, auch mit allen älteren Gesängen gebrochen hätten und nicht länger durch närrische Sitte gebunden wären. Und dann, unruhig auf dem Gartenweg auf und ab schreitend, den Kopf auf die breite Brust gesenkt, so daß seine Worte nur schwer zu verstehen waren, begann er schwerfällig, diese Mysterien zu erklären. Und Morgan saß stumm da, den Kopf auf die geballte Faust gestützt, und lauschte gebannt. Die von Bargelixwelt, soviel wußte Morgan, waren in vieler Hinsicht primitiv, und dazu gehörte auch ihre Religion. Seine eigenen Leute, wie die meisten Centaurier, hatten schon lange die religiösen Modelle ihrer Vorfahren aufgegeben, und das war nur natürlich, denn nur wenige Religionen überleben die Zivilisation, in der sie aufgestiegen sind, und in deren Lebensweise sie einzig und alleine von Belang sind. Von Zeit zu Zeit treten neue Religionen hervor, so wie in jüngster Zeit Vuudhana aufgestiegen war und jetzt die Orionsterne überzog, aber zum größten Teil war dem jungen Imperium die Religion etwas Fremdes. Die von Bargelixwelt hatten eine Religion wie die meisten Kulturen der feudalen Zeitalter, aber sie war zum größten Teil eine Frage gesellschaftlicher Sitten und lieferte den Barden einen Schatz an Überlieferungen, aus denen sie ihre Gesänge wählen konnten, und den Fürsten ein Maß an Autorität, von dem sie ihre Rechte und Privilegien ableiteten. Es war nicht eine Religion heiliger Schriften, feuriger Propheten, eine der Kreuzzüge oder der Inquisitionen oder eine, die jene auf dem 20
Scheiterhaufen verbrannte, die sich ihren Glaubensgrundsätzen nicht unterordnen wollten. Sie wirkte im Hintergrund, war eher eine Sache der Tradition. In ferner Vergangenheit hatte sie die Sitten der Cophyri geformt; in der Gegenwart hatte sie nur wenig Einfluß auf ihr Leben. Diese Dinge waren Morgan einigermaßen bekannt. Kargonessa hielt sich einen Priester, einen fetten alten Burschen, der das Weinglas und die alten Dichter sehr liebte: Vater Ormaldus nannte er sich. Morgan hatte manchmal mit dem alten Mann Taku gespielt, das, was auf Bargelix dem Schach oder dem Damespiel entsprach. Er hatte mit dem schläfrigen, alten Mann geplaudert, sie hatten Scherze und Zitate getauscht, und Ormaldus hatte den Outworlder das wenige gelehrt, was er von der geschriebenen Sprache dieses Teils des Planeten wußte. Über Religion hatten sie sich, soweit er sich erinnerte, nie unterhalten. Für den alten Priester war das etwas Selbstverständliches, eine Sache, deren Fragen und Dispute alle vor Jahrhunderten bereits geklärt worden waren und die man getrost vergessen oder zumindest vernachlässigen konnte. Morgan hatte ein wenig in den alten Heldensagen gelesen, hatte aber nie irgendeine der religiösen Schriften oder Prophetischen Bücher der Verehrung gelesen, wie die Bewohner von Bargelix ihren einheitlichen, die ganze Welt umfassenden Glauben nannten. Er war überhaupt kein Mann für Bücher. Aber von den Yokanna hatte Morgan gehört. Es gab da einen Berg oberhalb von Jarimstadt, mit einem aus zwei Stufen bestehenden Gipfel: »Yokannathron« nannten die Fischerleute ihn, so wie die Bewohner von Cornwall einer früheren Epoche ihr Land mit Orten gefüllt hatten, die sich auf die Artuslegende bezogen – Felsen, die »Artusstuhl« hießen und Bergkuppen mit dem Namen »Artusgrab« und so weiter. Sie waren keine Götter, die Yokanna, oder zumindest nicht genau Götter; jedenfalls betete man sie nicht an, ja verehrte sie nicht einmal. Vor langer Zeit waren sie zur Bargelixwelt ge21
kommen, waren eine Weile geblieben und dann ins Geheimnis entschwunden, ins Anderswo. Wie Earl Tasper die Geschichte jetzt hervorbrachte, waren sie ein seltsames Volk gewesen, das stets von einer Welt zur anderen eilte, von einer Zeit in die andere, stets auf der Flucht vor schattenhaften, schrecklichen Verfolgern. Der groben Sprache Taspers fehlten die richtigen Worte, um es genau zu erklären, aber irgendwie entwickelte sich bei seinem Zuhörer die Vorstellung einer Rasse fremdartiger Geschöpfe, die stets vor einem Verderben flohen, das von Ewigkeit zu Ewigkeit auf sie lauerte, und das sie nie weit hinter sich zurücklassen konnten. Eine sternfahrende Rasse? Das fragte er sich und stellte die Frage laut, weil er wußte, daß es solche Besucher vor dem Erscheinen der Menschen von Terra gegeben hatte. Die Archäologen hatten Spuren einer ausgestorbenen Sternenschifftechnologie gefunden, tot und verschwunden, Äonen ehe der Mensch den Mutterleib seines Planeten verließ und sich zwischen den Sternen ausbreitete. Aber, nein, sagte Tasper, der im fernen Keruvay – »Stern-Stadt« – die hohen Silberschiffe gesehen hatte, dort, wo die wenigen Menschen von Morgans Rasse manchmal erschienen, um ihre fremden Güter gegen Juwelen, Pelze, Gewürze und Alkohol einzutauschen, aber nicht oft. In Keruvay war er, Morgan, vor zwei Jahren gelandet, und dort hatte er zum erstenmal den Fuß auf die schwarze Erde von Bargelix gesetzt, die ihn so freundlich willkommen geheißen hatte, als wäre diese Welt seine Heimat. Nicht durch den Weltraum, sondern zwischen den Räumen: das war, worauf Taspers Erklärung hinauslief – wundersam für einen Menschen der Bronzezeit, der überhaupt nichts von Raum-Zeit-Kontinuen wissen konnte. Eine Dimensionstür, das war der Sinn von all dem; durch so etwas waren die Yokanna vor undenklichen Zeiten gekommen; und durch dasselbe Portal waren sie wieder gegangen, als Jenes-was-stets-verfolgt ihnen näher rückte, als sie ertragen konnten. 22
Ein geheimnisvoller Mythos, dachte Morgan, der nichts davon wußte, daß die Xenomythologen in neun anderen hominiden Kulturen Spuren desselben Glaubens entdeckt hatten, Kulturen, die vom Orion bis zu den Sierrasternen verstreut waren und zurück bis zu den Planeten von Herkules. »… Und als sie abzogen, mußt du wissen, haben sie das Tor offen gelassen«, murmelte Earl Tasper. »Für jene offen, die sie von Welt zu Welt verfolgen.« Morgan lief es eisig über den Rücken, denn er begriff. »… Und die Verfolger werden durch das Tor kommen und sie jagen. Wenn sie die Yokanna hier nicht finden, nun, dann werden sie das verwüsten und in Schutt und Asche legen, was sie finden: uns. Es sei denn, irgendein tapferer Mann schließt das Tor rechtzeitig.« Morgan furchte nachdenklich die Stirn. Verwirrt suchte er nach Worten. »Aber sie müssen doch … Ich meine, Herrgott, das alles liegt doch eine Ewigkeit zurück. Sind denn die Yokanna nicht geflohen, weil ihre Feinde näherkamen … Sind sie denn nie gekommen? Warum kommen sie jetzt?« »Es hat etwas mit den verdammten Sternen zu tun. Die Sterne müssen richtig sein, ich meine, in der richtigen – wie heißt das verfluchte Wort doch? – in der richtigen ›Konfiguration‹ stehen, ja, das ist es! Du mußt wissen, das Tor ist nicht immer offen.« Morgan hatte tausend Fragen, aber er konnte sie nicht sortieren, und so suchte er in ihnen herum, nahm hier eine und dort eine, sprach davon zu dem Fürsten, kaute an seiner Antwort herum, die immer wieder neue Fragen aufwarf. Aber dann fügte er es sich Stück für Stück zusammen, jedenfalls das meiste. Die Yokanna und das, was sie stets verfolgte, reisten auf seltsame Weise zwischen den Welten, ja, und auch zwischen den Zeiten, und das war auch der Grund, weshalb die lange Zeitspanne zwischen ihrer legendären, weit zurückliegenden Abreise und der augenblicklichen Gefahr für sie bedeutungslos war, aber für die Menschen so unerklärlich. Die Tore 23
(Morgan fand nie heraus, ob es mehr als eines gab, aber möglicherweise war es so, weshalb sonst das eine in Frage kommende mit einem Namen behängen – Taradontor nannte es sich in der Überlieferung) funktionierten nur selten, und die Position bestimmter Sterne war dafür der Schlüssel; Morgan dachte verwirrt an stellare Magnetfelder, an das Wirken gravitorischer Kräfte, und gab auf. »Aber warum gerade ich?« Klagend kam das. »Freund, ich weiß es nicht. So ist’s im Lied. ›Der Outworlder‹ sagt die Prophezeiung.« »Das Lied … weißt du, ich habe es nie gehört.« Das Sehen fiel jetzt schwer; der Westen stand in Flammen, und die langen, dünnen Wolken hatten Bäuche aus blassem Jadegrün. Der Garten war in purpurnen Schein gehüllt. Die massive, breitschultrige Gestalt des Earls war eine schwarze Silhouette vor ihm, ein Monolith der Finsternis, und er konnte das Gesicht seines Gastgebers nicht ausmachen. Und dann begann Tasper mit leiser, unsicherer Stimme zu singen. Nach einer Weile erfaßte ihn die Stimmung des Gesangs, fast so, als wäre ihm die Musik aus heroischen Zeiten ins Blut gegangen. Und es schien, als schlüge sein Herz im Takt dazu. Und ein paar Zeilen später bemerkte er, daß seine Hand den Takt schlug. Kleine Finger von Ehrfurcht – oder war es Angst? – strichen über Morgans Rücken, der dasaß und lauschte, die Stirn furchte und nachdachte. Und als der Earl schließlich jene Stelle im Gesang erreichte, die sich angeblich mit ihm, Morgan Outworlder, befaßte, hielt er den Atem an. »Der junge Zauberer trägt den Schlüssel und weiß, daß das Verderben naht. Reitet zu jenem fernen Ort am Meer, dort wo die Wogen brausen.
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Dort, wo ein Outworlder wohnt, der Heimat fern, inmitten jener, die sich einst vergangen – auf seinen Schultern ruht die Last der Suche in der ganzen Welt …« Es folgten noch viele Strophen, aber Tasper sang sie nicht, und in Wahrheit hätten sie Morgan Outworlder in jenem Augenblick nichts bedeutet. Seine Stimme verstummte, während der Outworlder dasaß und in sich jene fremdartige, uralte Musik nachklingen hörte und über das Geheimnis nachdachte, das anfing, ihn in seinen Bann zu ziehen. Dann riß ihn Earl Taspers schwere Stimme aus seinen wandernden Gedanken. »Siehst du, junger Freund, Kargonessa ist der ›ferne Ort, wo die Wogen brausen‹ … oder zumindest hatte dieser junge Zauberer das so angenommen. Was den Rest angeht, nun, ›jene, die sich einst vergangen‹, das sind wir Kargonesen, weil unsere Vorfahren in alter Zeit den Pakt brachen, den alle anderen auf Bargelixwelt geheiligt halten und nie verletzen würden.« »Ja, ich beginne zu begreifen«, murmelte der Terraner. »Und der Outworlder, ›der Heimat fern‹, das bist wohl du, denke ich … daran ist kein Zweifel … der einzige Outworlder, den es jetzt auf ganz Bargelixwelt gibt. Und das ist es, wieso der junge Sodaspes wußte, wen er suchen mußte und wie er ihn finden konnte …« Der alte, fette Priester hatte ein winziges Nest ganz unten im Burgfried; man hatte es förmlich aus dem Boden gegraben, und die Wände waren roh behauener Stein, dick und massiv, wie die Gebeine der Welt. Man konnte dort das Meer hören oder es fühlen, wie es kräftig gegen den Berg aus Felsgestein anrannte. Ein kleines Fenster spähte auf die düstere Iophanische See hinaus, ein Fenster, das man tief und schräg aus der Mauer geschlagen hatte, um Licht und Luft hereinzulassen. Man hatte 25
Scheiben aus altem, gelben Horn eingesetzt, so daß das hereinfallende Licht schwach und von rosafarbenem Gold war. Da lagen weiche, schwere Kissen und ein oder zwei alte Teppiche, die jetzt fadenscheinig waren, und an der Wand stand ein Bücherregal. Die riesigen, langen Cophyribücher waren ganz anders als ihre terranischen Gegenstücke aus Morgans Knabenzeit (er wußte, daß das nur mehr Filmbänder und Kassetten waren), und sie waren so schwer und so groß, daß Bücherschränke der Cophyri so gebaut waren, daß man sie flach lagern konnte. Vater Ormaldus war überrascht, ihn zu sehen. Er hatte ihn aus seinem gewohnten Schläfchen geweckt, aber jetzt fegte er Morgans Entschuldigungen weg und sagte, es gäbe bald Nachtmahl, und er würde seinen alten Knochen ohnehin erheben müssen, es mache daher nichts. Und Morgan lächelte innerlich, weil er wußte, daß der alte Mann ohnehin lieber essen oder trinken würde als schlafen. Auf den alten, ledergebundenen Büchern mit ihren zerknitterten Pergamentseiten und den bunten Kapitelanfängen lag Staub. Die windschiefen, üppig verzierten Buchstaben waren schwer auszumachen (und das Licht war auch schlecht), aber der Priester schlug sich den schweren Folianten gegen den Schenkel, schüttelte den Staub weg und zeigte ihm die Seite, die er suchte, und begann mit einer langen, weitschweifigen Erzählung, wie er sich vor Jahren jenen Band für seine Sammlung beschafft hatte, und wer Lissandur gewesen war, der alte sodalmesische prophetische Barde, der den Gesang in lang verstrichenen Jahrhunderten aufgezeichnet hatte. Wie stets, war es auch jetzt schwer, dem geschwätzigen alten Priester lange zuzuhören, und so gab Morgan es nach einer Weile auf; er gab sogar auf, so zu tun, als hörte er zu, während er las und die Verse des Gesanges langsam eins wurden mit dem Schlag der Wellen gegen die Klippen, die man in der kleinen Kammer hören konnte. Schläfrig dröhnte die Stimme des alten Mannes, und Morgan 26
träumte und brütete über den verschlungenen Schriftzeichen und las den Lissandurgesang oder Teile davon und las Jazphers Anmerkung, und die Kommentare der Vier Alten las er auch, soweit er imstande war, die abstrusen Formulierungen einer antiquierten und weitgehend vergessenen Theologie zu enträtseln. Einiges von dem, was er las, brachte ihm neue Erkenntnisse; einiges war völlig verwirrend, und letzteres war zum Teil den Redakteuren und Kommentatoren zuzuschreiben, wenn diese versuchten, jene Teile des Gesanges zu enträtseln, die selbst für sie keinen Sinn abgaben, so wie der Begriff »Outworlder« für sie ein unergründliches Geheimnis darstellte, was er zunächst nicht begreifen konnte, bis ihm in den Sinn kam, daß diese alten Priester und Gelehrten zu einer Zeit gelebt, gedacht und geschrieben hatten, als das erste terranische Sternenschiff den Boden dieses fernen Planeten noch nicht berührt hatte. Auf Kargonessa pflegte man das Nachtmahl spät einzunehmen. Ormaldus war sehr stolz auf seine Lichtuhr, die er mit viel geduldiger Arbeit und sorgfältigen Messungen selbst ausgetüftelt hatte. Sie hing an der Wand, genau gegenüber dem einen kleinen Fenster der Kammer, eine Platte, die auf eigenartige Weise mit Farbstrichen und Zyklen bemalt war, so daß der Priester, je nachdem auf welchen Teil davon die Sonne fiel, die Stunde ablesen konnte. Morgan war fertig; er hatte genug gelesen, um das Rätsel teilweise zu erklären und neue Rätsel aufzuwerfen. Als der alte Mann sich schließlich räusperte und die Stunde verkündete, war er froh, sich von den Seiten des altes Buches abzuwenden und die Kammer mit dem alten Mann zu verlassen, der mit ihm die Treppe hinunterschlurfte, in die große Festhalle, wo er auf Sodaspes zuging, der dastand und wartete, die klaren, furchtlosen Augen auf den Erdmenschen gerichtet. Und der blieb vor dem jungen Magier stehen und sprach die Worte: »Ich werde mit dir gehen.«
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Tasper wollte, daß sie wenigstens bis zum Morgen bleiben sollten. Er sagte, die Welt hätte so lange überdauert und würde doch wohl noch ein paar Stunden überdauern können, und Morgan war es gleichgültig, aber Sodaspes war darauf erpicht, sein großes Vorhaben in Angriff zu nehmen, und so verließen sie Kargonessa nach dem Abendmahl und wechselten sich dabei ab, das Floß über die dunklen Wellen zu treiben. Tasper hatte gegen Morgans plötzliche, impulsive Entscheidung, mit dem jungen Magier zu gehen, keine Einwände erhoben. Er nahm die Nachricht in mürrischem Schweigen auf, und ehe sie abreisten, schenkte er dem Outworlder einen fetten Beutel voll Handelssilber und einen Reiseanzug, der aus einem Lederwams bestand, das mit achteckigen Platten aus schwerem Stahl besetzt war, einem dicken, warmen Umhang aus Wolle und ein kostbares Schwert. Und noch ein weiteres Geschenk drängte er ihm auf: einen Diener. Als Morgan protestierte, widersprach ihm Tasper und rief den jungen Zauberer zu Hilfe. »Heißt es nicht im Gesang, daß ein kräftiger Diener, einer der sechs, die Tat verrichten soll?« fragte er. Sodaspes nickte wortlos, und so wurde es entschieden. Der Diener war ein starker, vierschrötiger Mann, Ende der zwanzig, namens Othgrim. Er hatte ein freundliches, ehrliches, offenes Gesicht, kräftige Muskeln, Haar von der Farbe von Stroh und helle, humorvoll blickende, gelbe Augen. Er war entzückt, mit von der Partie sein zu dürfen, und schwor dem Outworlder die Treue. Und so stakten sie quer über den Gelben Drachenfluß und redeten wenig miteinander. Morgan, weil er vor dem jungen Zauberer etwas verlegen war, der sich seiner selbst so sicher schien, so erfüllt von seiner Aufgabe, und dessen klare Augen beständig auf ein Ziel blickten, das Morgan nicht einmal sehen konnte; Othgrim, weil er es nicht gewöhnt war, sich vertrauensvoll unter »Höhere« zu mischen, wie er sie nannte, und 28
Sodaspes, weil er sich in der Gegenwart des vorbestimmten Outworlder bescheiden, ehrfürchtig vorkam, des Mannes aus dem alten Mythos. Und so stakten sie nur das Nötigste redend, langsam quer durch den finsteren Hafen – unter einem Himmel, der plötzlich fast erhaben wirkte, stakten hinüber zu dem Fischerdorf, wo der Sänger wartete, wie Sodaspes zumindestens hoffte, und die von der Burg gekrönte Insel sank hinter ihnen zurück, eine hochragende Masse aus Finsternis mit nur wenigen flackernden Lichtern. Morgan schmeckte den kühlen Nachtwind von der See, würzig vom Salzduft und dem exotischen Geruch all der fernen Orte, die er besucht hatte. Jetzt wehte er von der dunklen Küste des Festlands zu ihm herüber, und Morgan träumte von Abenteuern, die ihm bevorstanden, und wunderte sich ein wenig über die impulsive Art, mit der er dem Ruf gefolgt war, den er immer noch nicht völlig begriff. Und dabei sah er sich nicht einmal nach der felsigen Insel um, die sein Zuhause gewesen war, und die er zutiefst liebte. Aber da wußte er natürlich noch nicht, daß er sie nie mehr sehen würde. Sie landeten, und Sodaspes vertäute das Floß an einer Stange, die mit farbigen Bändern als Eigentum der Familie des Jungen markiert war, von dem er das Floß am Morgen gemietet hatte. Sie kletterten an Land und fanden das Dorf in Finsternis daliegend, selbst die Gasthäuser und Weinlokale waren geschlossen und dunkel, denn Fischer gehen früh zur Ruhe, weil sie schon vor der Morgendämmerung wieder aufstehen müssen, wenn sie die silberne, schuppige Ernte des Meeres einbringen wollen. Sie fanden den Sänger betrunken vor – Conyin von Llyrain hieß er, und einst würde er vielleicht einen Gesang aus der Geschichte ihrer Reisen machen, wenn sie sie geschafft hatten – und als sie die Tür aufrissen und ihn sahen, standen sie stumm da und starrten sein gerötetes Gesicht an, seine blutunterlaufenen, trüben Augen und seinen feuchten Mund. 29
Jetzt blickte er zu ihnen auf und lachte, lachte, hauptsächlich über den scheuen Morgan mit den starren Zügen, gleichzeitig aber auch über den Jungen mit den strengen Zügen. Lachte und sagte mit heiserer Stimme: »Das ist also der Narr, den du aufgepickt hast, was, Junge? Willkommen, dreimal willkommen im Tollhaus, ausländischer Herr?« Morgan sah den Magier fragend an, und der Junge sagte schnell: »Stör dich nicht an ihm, er ist oft so, aber trotzdem ist er ein wahrer Sänger.« Ob der Sänger das nun gehört hatte oder nicht, konnte keiner von beiden sagen, aber er brach in heiseres Gelächter aus, stampfte mit nackten Füßen auf den schmutzigen Boden und schlug sich mit den schwieligen Händen auf die Schenkel. »Seht uns an … seht uns an!« krähte er. »Zwei Narren, ein schwachsinniger Tölpel und ein verrückter Junge auf einer wahnsinnigen Reise an den Rand der Welt, um mit Schattenteufeln zu kämpfen, die noch kein Mensch je gesehen hat! Hat es je eine solche Reise oder Helden wie uns gegeben?« Und wieder hallte sein Gelächter, während Morgan steif und mit rotem Gesicht verlegen dastand und sich dachte, daß er sich gar nicht wie ein Held fühlte. Und so hatten sich die vier versammelt, jeder von weit her kommend, Conyin von Llyrain im Norden, Sodaspes von Babdaroul im Westen, Othgrim von Kargonessa im Süden und Morgan selbst, ein Outworlder vom fernen Centaurus. Seltsam unähnlich waren sie einander; der häßliche, geschwätzige, stets betrunkene alte Barde, der streng wirkende junge Magier, der kräftige Diener mit mächtigen Muskeln, aber einfachem Herzen, und der scheue, verlegene, einsame Sternenwanderer. Würde es ihnen gelingen, aus ihren Unterschieden ein Band zu knüpfen, das sie für die eine Aufgabe verbinden würde? Das mußten sie. Denn es hatte begonnen: sie hatten die ersten 30
Schritte auf ihrem langen Weg getan, und die Suche hatte bereits angefangen …
3. Strye fiel hinter ihnen zurück, und als der Morgen zur Hälfte um war, hatten sie ein gutes Stück Weges nach Nordosten zurückgelegt. Eine Weile benutzten sie die alte Straße der Könige, verließen sie aber nach ein oder zwei Stunden und machten sich quer über die Grasebene auf den Weg. Es war ein düsterer, grauer Tag, und der Wind flüsterte in den hohen Gräsern, und sie beugten sich seiner unsichtbaren Macht, und in jenem Wind lag eine eisige Kühle. Sie hatten einander wenig zu sagen. Der alte Conyin war mürrisch und litt ohne Zweifel unter etwas, das man auf der alten Erde als Kater bezeichnet hätte. Der Zauberer war tief in seine Gedanken versunken und antwortete einsilbig auf Morgans wenige Versuche, ein Gespräch zu beginnen, so daß nur er und Othgrim blieben. Der vierschrötige Knecht war es nicht gewöhnt, einen Loper zu reiten, und er hatte alle Mühe, nicht herunterzufallen. Wenn sie die Tiere nur im Schritt gehen ließen, machte das nichts, aber wenn sie dann zu traben begannen, war ihm deutlich anzumerken, daß er sich nicht wohl fühlte. Morgan versuchte, ihm das Reiten beizubringen, war aber das Sitzen auf einem Loperrücken selbst nicht gewohnt und fand es recht schwierig, sich an die seltsamen Tiere zu gewöhnen. Das Loper kommt dem terranischen Pferd so nahe, wie das die unterschiedliche Entwicklung auf Bargelix zuließ, was nicht sehr nahe ist. Das einzige, was Pferd und Loper wirklich gemeinsam haben, sind ihre vier Beine. Lopers sind mit kurzem indigofarbenen Pelz bedeckt und haben lange, nach vorne zulaufende Hälse, fast wie Giraffen auf der Erde; außerdem 31
sind sie höher gebaut als Pferde, und ihre langen Beine scheinen irgendwo ein zusätzliches Gelenk zu haben, was ihnen einen längeren Schritt mit seltsamem Rhythmus erlaubt, der einige Gewöhnung erfordert. Der graue Tag brachte schließlich kühlen Regen. Lange, nasse Gräser schlugen gegen die Flanken ihrer Reittiere, während sie sich langsam und hintereinander durch die Flüsternden Ebenen arbeiteten, wie das Grasland östlich von Strye heißt. Es dauerte nicht lange, bis Morgan von den Hüften bis zu den Füßen durchnäßt war. Sein Umhang, wenn auch aus schwerer Wolle gewebt, konnte wenig dazu beitragen, ihn vor dem Wetter zu schützen, und er wünschte sich aus ganzem Herzen einige der Bequemlichkeiten der technologisch orientierten Zivilisation, die er hinter sich gelassen hatte. Primitive Welten sind recht schön; sie sind romantisch und prunkvoll, erregend und farbenfroh, aber wenn dann ein Tag einmal kühl und regnerisch ist, dann sehnen sich selbst die romantischsten Träumer nach einem Thermoumhang oder einer Repellereinheit. Aber im Augenblick hatte er keine andere Wahl, als die Zähne zusammenzubeißen und alles zu ertragen. Und nach einer Weile gewöhnte er sich sogar an den leicht schwankenden Lauf seines Tiers und an die ewige Nässe. Er fragte sich, was er eigentlich hier zu suchen hatte, weshalb er diese Reise auf sich genommen hatte, und wozu das alles am Ende führen würde. Wahrscheinlich hatte er die Suche deshalb auf sich genommen, weil er tief in seinem Innern das Gefühl hatte, den Cophyri etwas zu schulden. Sie hatten ihn in ihrer Mitte willkommen geheißen, obwohl er ein völlig Fremder auf ihrer Welt war und nicht mit ihrer Lebensart vertraut. Noch nie zuvor hatte er das Gefühl gehabt, irgendwo zugehörig zu sein. Centaurus kam ihm eigentlich nicht als Heimat vor, denn wenn er auch dort geboren war, lagen seine Wurzeln doch auf der alten Erde, im mystischen Wales und in der Skandinavischen Union. Aber wohin auch immer seine Reisen ihn geführt hat32
ten, er schien stets ein Fremder unter Fremden zu sein. Bargelix hingegen war ihm fast seit der ersten Stunde, in der er den Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatte, wie ein Zuhause vorgekommen. Und die Leute hier hatten ihm in ihrer Mitte einen Platz eingeräumt; er war hier kein Fremder. Und wahrscheinlich war es das, eine nicht artikulierbare Tiefe der Dankbarkeit, die er empfand – und das hatte ihn zu seiner impulsiven Entscheidung geführt, die Suche auf sich zu nehmen. Denn ohne Zweifel glaubte er nicht an alte Prophezeiungen und geheimnisvolles Verderben. Er hatte das Gefühl, den Menschen dieser Welt vieles zu schulden, und dies war das allererste, was irgendeiner von ihnen je von ihm verlangt hatte. Er hätte gerne mehr über die Suche gewußt, die er sich zu seiner Aufgabe gemacht hatte. Als sie anhielten, um die Mittagsmahlzeit einzunehmen und ihren Lopers Futter und Wasser gaben und eine Weile ausruhten, versuchte er, den Sänger danach zu befragen. Der alte Conyin hatte sich von den Nachwirkungen des vielen Alkohols erholt, den er am vergangenen Abend zu sich genommen hatte, aber seine Zunge war so scharf wie eh und je. Als Morgan ihn fragte, weshalb er sich der Suche angeschlossen hatte, da er doch, nach seinen Worten vom vergangenen Abend zu schließen, ebensowenig daran zu glauben schien wie Morgan selbst, brummte und knurrte der alte Barde und gab am Ende zu, daß auch er den Ruf gehört hatte. Sodaspes war der erste gewesen. Ihn hatte der Ruf eines Nachts in Babdaroul, der Verbotenen Stadt, erreicht. Erst vierzehn Tage davor war er in die Mysterien seiner Kunst eingeweiht worden. Der Ruf hatte ihn während der Nachtwache erreicht, und er hatte ihn sofort begriffen und war aufgestanden und bei Morgendämmerung des nächsten Tages losgezogen. Was Conyin betraf, so war er auf dem Weg zum Hof des Königs Chandazzar im Hügelland unterwegs gewesen, da es hieß, daß jener Monarch für die Lieder der Barden etwas übrig hatte und freigebig zu sein pflegte. Conyin hatte der Ruf in derselben 33
Nacht erreicht, in der er auch in der Zelle des Sodaspes in Babdaroul erklungen war. Er, der Sänger, hatte unter freiem Sternenhimmel gelegen, hatte seine Leier gestimmt und war damit beschäftigt gewesen, eine Ballade zu Ehren des freigebigen Königs zu komponieren, dessen Gastfreundschaft er bald zu genießen hoffte. Auch er kannte die Bedeutung des Rufes. Denn er war ein geweihter Barde und auf seine Art so etwas wie ein heiliger Mann. Und er kannte den Lissandurgesang. Also hatte er abgewartet, bis der Zauberer am Ufer der Flußstraße erscheinen würde. Dann waren sie sich begegnet und waren gemeinsam nach Süden gegangen. Morgan sah den alten Mann mit unverhohlener Neugierde an. Er hatte keinen Ruf gehört, und als er sich darum bemühte, von dem alten Sänger mehr Einzelheiten darüber zu hören, versiegte dessen Redseligkeit, und er war nicht bereit, mehr zu sagen. Es war gerade, als wäre der Ruf etwas Persönliches und Intimes, worüber man nicht sprach. Seine schmalen, knochigen Kiefer kauten getrocknetes Fleisch und schluckten saures Bier, und seine dunklen, gelben Augen blickten brütend ins Leere. Morgan wußte einiges über Barden seiner Art. Die Cophyri empfanden tiefe Verehrung für das Wissen und für Männer, die sich der Wissenschaft ergeben hatten. Sie waren nicht nur sakrosankt, sondern heilig. Es gab alle möglichen Arten von Barden, angefangen bei wandernden Minnesängern, die nicht mehr viel als Taschenspieler und Vagabunden waren, bis zu echten Rhapsoden. Ein Rhapsode, wie Conyin, wurde mit besonderer Verehrung betrachtet: er mußte die Kunst der Barden auf einer der sieben Schulen dreimal fünf Jahre lang studieren, er mußte die Mysterien seiner Kunst beherrschen, und man schrieb ihm unter dem Volk die Fähigkeit zu, jene, die ihm Mißfallen bereiteten, ihn beleidigten oder verletzten, mit einem Fluch zu belegen. Morgan hatte einmal eine dieser langgezogenen, gereimten Fluchlitaneien gehört, und dabei hatten sich ihm die Nackenhärchen gesträubt. Er empfand 34
durchaus Mitgefühl mit einfachen, ungebildeten Bauern und konnte sich daher gut die Ehrfurcht und die Angst vorstellen, mit der sie einen Mann mit so seltsamen Kräften und geheimnisvollen Wissen betrachteten, wie Meistersinger von Bardenrang waren. Und so sehr er sich auch wie ein alter, schmutziger Landstreicher benahm, war Conyin doch ein Meistersinger. Sie hatten sich einen guten Platz für ihr Mittagsmahl ausgesucht. In großen Abständen erhob sich hier und da ein Baum inmitten der Graswüste. Diese Bäume (man nannte sie Oraldinar, Oasenbäume, weil ihr Blattwerk Schutz vor der Sonne bot und man aus ihren fleischigen Wurzeln Wasser gewinnen und ihre großen Früchte essen konnte) hatten fremdartige, breite Blätter, so groß wie der Rücken eines Mannes, und weit ausgestreckte Zweige, die eine beträchtliche Fläche deckten. Einer dieser Oraldinarbäume konnte einer halben Kompanie berittener Krieger Schutz vor dem Wind, der Sonne oder dem Schnee bieten. So nahmen sie ihre Mahlzeit mit einigem Komfort ein, zumindest trocken, während die ganze Welt um sie von kaltem, grauen Nieselregen erfüllt war. Sodaspes hatte Feuer gemacht, um sie zu wärmen, und Morgan riß verblüfft die Augen auf, als er sah, wie er das machte. Während Othgrim den Lopers die Sättel abnahm und sie trokkenrieb und Morgan ihnen Futter und Wasser gab, schlenderte der junge Zauberer unter dem Baum herum, sammelte trockene Zweige und Laub und errichtete daraus einen kleinen Haufen. Statt aber die komplizierten kleinen Feuerzeuge aus Stahl und Feuerstein zu benutzen, die Morgan in Kargonessaburg gesehen hatte, holte der Magier einfach nur einen der kleinen Zauber aus seinem Beutel. Es war ein kleiner roter Stein, der selbst im schwachen Licht dieses grauen Tages golden schimmerte. Diesen Stein legte er auf die aufgehäuften Zweige, und in wenigen Augenblicken brannten diese und flackerten munter. Es war seltsam. Morgan wußte, daß die Leute dieser Welt, so wie es die Primitiven überall taten, an Zauberei glaubten. Ge35
legentlich hatte er bei Earl Taspers Festen gesehen, wie die Zauberei zur Unterhaltung benutzt wurde, hatte darin aber immer eine Kombination von Fingerfertigkeit und vielleicht gewisser Suggestivkraft gesehen, wenn nicht gar etwas wie Massenhypnose. Aber das, was er hier sah, ganz beiläufig, wirkte echt. Er dachte eine ganze Weile darüber nach, war aber zu verlegen, um sich näher zu erkundigen. Im flackernden Flammenschein betrachtete er die Gesichter seiner Begleiter, das glatte Gesicht des jungen Magiers mit seinem nach innen gerichteten gelben Blick und dem kahlgeschorenen Schädel, die häßlichen Züge des alten Sängers und den trägen, breitgesichtigen Othgrim mit seinen kleinen, hellen, freundlich blickenden Augen. Conyin hielt seinen Blick am längsten fest. Es war unmöglich festzustellen, wie alt der Mann war, denn sein ledernes, durchfurchtes Gesicht schien die Erfahrung von Jahrhunderten zu bergen. Seine Augen waren von dunklerem Gelb als die der zwei anderen und saßen tief in knochigen Höhlen. Seine Brauen waren buschig und wirkten irgendwie teuflisch. Er hatte ein langes Pferdegesicht und eine gerunzelte Stirn, dicke Lippen und einen sehr breiten Mund; seinen Kopf bedeckten wirre, schüttere Locken von eher farblos als grau wirkendem Haar. Seine lange, hagere Gestalt war mit Kleidern bedeckt, die man nur mit Mühe als solche bezeichnen konnte, die Reste von tausend Lumpensammlern schienen sie zu sein; nichts paßte zu irgend etwas anderem. Sein Umhang war geflickt und ausgefranst und von einer Art dunklem Grün; seine Handschuhe bestanden aus abgewetztem, alten schwarzen Leder; sein Beinkleid war zerrissen und faltig – und dann hatte er alle möglichen Dinge am Gürtel und in die Ärmel gestopft: Tücher, eine Art Schal, eine abnehmbare Kapuze und was dergleichen mehr war. Anstelle von Sandalen, Schuhen oder Stiefeln trug er Reitstiefel, die früher einmal aus scharlachrotem Leder bestanden haben mochten, jetzt aber abgewetzt und mit grauem 36
Schlamm und gelbem Ton bespritzt waren. Das Gesicht des alten Mannes zeigte eine Fülle von Charakter und Humor von der Art eines Rabelais. Jetzt, da er sich weitgehend von den Folgen seines unmäßigen Trinkens erholt hatte, schien die Stimmung des Barden verbessert. Er summte ein kleines Lied und musterte den jungen Magier und den verlegenen Outworlder mit blitzenden, humorvollen Augen. Morgan hatte das Gefühl, daß er gerne ein Lied gespielt hätte und das auch getan hätte, wäre das Wetter nicht gewesen. Seine Leier war übrigens aus schönem, altem, gelbem Elfenbein. Er achtete besser auf sie als auf sich selbst; er trug sie eingehüllt in mit Wachs imprägniertem Leder unter seinem schweren Umhang. Ihr hatte auch seine erste Sorge gegolten, als er aus dem Sattel gestiegen war: er hatte sie aus dem Futteral geholt und mit einem sauberen Leinentuch abgewischt, das er irgendwo unter dem phantastischen Sammelsurium an Kleidern zum Vorschein gebracht hatte. Aus dem leichten Nieselregen wurde ein Wolkenbruch. Glitzernder grauer Regen peitschte das Gras und trommelte auf die großen Blätter des Oasenbaumes herunter. Die Reisenden, die jetzt ihr Mahl beendet hatten und wußten, daß ihre Lopers ausgeruht waren, überlegten, ob sie gleich weiterziehen oder den Regenguß abwarten sollten. Sodaspes war unruhig und wollte weiterreiten. Dies sei gefährliches Land, sagte er, aber sie müßten es durchqueren. Aber als Morgan fragte, ob es wilde Tiere gäbe, schüttelte der Magier den Kopf und murmelte etwas von »Wilden Reitern«. »Aber im Regen reiten sie nicht, Knabe«, lachte der alte Conyin. »Die sind vernünftiger.« »Ist das nicht ein guter Grund für uns, es zu tun?« fragte Sodaspes. »Wir können in diesem Regen weit kommen.« »Nicht weit genug; es kostet uns leicht ein oder zwei Tage, um Grymwood zu erreichen, falls du nicht über die Felsmauer 37
Thoor reisen willst. Und ich würde lieber einen Zusammenstoß mit den Reitern riskieren, als mich darauf einlassen, ein knurrendes Rudel Senmurven abzuwehren.« »Ich habe vor, den Weg über die Felsmauer zu nehmen«, sagte der Junge entschlossen. »Über die Senmurven zerbrechen wir uns den Kopf, sobald wir auf den Klippen sind.« »Sobald wir auf den Klippen sind, werden sie uns vielleicht den Kopf zerbrechen«, sagte Conyin trocken. »Aber tu, was du willst, für mich ist das alles ohnehin Wahnsinn.« »Warum hast du dann an der Flußstraße auf mich gewartet?« Conyin starrte brütend in die schwächer werdenden Flammen und gab keine Antwort. Sie stiegen auf ihre Tiere und ritten weiter, nachdem Sodaspes in der Asche seinen roten Stein gesucht, ihn saubergewischt und wieder eingesteckt hatte. Morgan berührte ihn: er fühlte sich kühl und trocken an. Sodaspes sagte, daß man so etwas einen Dryope nenne, einen Feuerstein. Sie kamen bis zum nächsten Oasenbaum, vier Stunden Weges, ehe die Wilden Reiter über ihnen waren. Conyin sah sie als erster. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und wenn auch der Himmel noch von tiefhängenden Wolken bedeckt war, die eher wie dicker Nebel wirkten als die Art von Wolken, mit denen Morgan vertraut war, so standen doch die Zwillingssonnen von Bargelix hoch dahinter, und feuchte Hitze lag über der Ebene. Conyin ritt an der Spitze, und seine Haltung im Sattel wurde plötzlich steif, und er zügelte sein Reittier und starrte mit scharfen, alten Augen nach vorne. Sodaspes trabte an Morgan vorbei und hielt neben dem Alten an. »Ich habe es dir ja gesagt«, sagte der Sänger grimmig. »Dreißig, würde ich sagen. Keine Ahnung, was sie tun werden.« Sodaspes wurde bleich. Er biß sich auf die Lippen und sagte nichts. 38
»Ich nehme an, du hast einen Zauber in einem deiner Beutel, mit dem man dreißig Wilde Reiter in die Flucht schlagen kann, wie?« fragte der Barde sarkastisch. Der junge Magier schüttelte wortlos den Kopf. Morgan, der hinter ihnen ritt, konnte noch nichts sehen. Hinter ihm seufzte Othgrim und betastete das blaue Amulett aus gebranntem Ton, das an einem Lederband um seinen Hals hing. »Die sind schlimm, die Reiter«, brummte er. »Vielleicht müssen wir gegen sie kämpfen, Meister.« Morgan sagte nichts; er trug ein langes Schwert an der Hüfte, war aber wenig damit vertraut. Der Barde war natürlich unbewaffnet, da nur wenige der Bewohner dieser Welt es wagten, gegen seinesgleichen die Hand zu erheben. Othgrim war mit einem Stab aus Eichenholz bewaffnet, zehn Fuß lang und an den Enden mit Eisenkappen versehen. Eine schreckliche Waffe, aber was konnte man damit schon gegen dreißig Männer ausrichten? »Was sind das – Banditen?« »Reiter sind keine Banditen, Meister. Sie sind die Männer der Ebenen. Sie reiten, wann sie wollen, und kennen kein Gesetz außer ihrem eigenen.« »Weshalb nennt man sie ›Wilde Reiter‹?« Der hünenhafte Knecht zuckte die Schultern. »Ich hab’ einmal von Meister Yuthlim gehört«, sagte er und bezog sich damit auf den Barden an Taspers Hof. »Er sagte, die machen eine Art Kuchen aus irgendeinem Kraut, das sie Chingay nennen, und das macht sie manchmal verrückt. Manchmal töten sie und foltern, dann sind sie wieder gastfreundlich und gutgesinnt.« Chingay bedeutete auf altcophyrisch »Verrücktes Blatt«. Morgan fragte sich, ob das vielleicht eine Art Halluzinogen war wie das terranische Peyote. Er wünschte sich in diesem Augenblick nichts so sehr wie einen Energiestrahler. Jetzt konnte er sie sehen, es waren leicht dreißig. Sie ritten in 39
weit gezogenem Halbkreis auf langbeinigen, verhungert aussehenden Lopers. Es waren gebräunte Männer mit harten Gesichtern, wilden Mähnen und riesigen Säbeln, die sie an Wehrgehängen trugen, die um ihre Schultern geschnallt waren. Sie waren fast nackt, nur mit Stiefeln, Lendentüchern und schwarzen Lederkürassen bekleidet, die ihren Oberkörper bedeckten. Sie fegten mit atemberaubender Geschwindigkeit über das Grasland dahin, geradewegs auf die kleine Gruppe von Reitern zu, und – das war das Beängstigende an ihnen – sie ritten völlig lautlos. Morgan hätte sich wohler gefühlt, wenn sie mit Geheul herangeprescht gekommen wären. Aber sie ritten in völligem Schweigen. Conyin ritt ihnen entgegen, und dann kam die breite Sichel aus Reitern plötzlich zum Stillstand. Er hob die Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sagte mit lauter, klarer Stimme: »Ich bin ein geweihter Barde der Aronneschule. Mein Name ist Conyin Meistersänger, und ich reite unter dem Schutz des Hohen Brauches auf dieser Welt. Wenn ihr mich und meine Brüder aufhaltet, so tut ihr das auf eigene Gefahr, Reiter!« Die Reiter musterten sie böse, blieben aber reglos auf ihren Lopers sitzen. Zwei von ihnen flüsterten miteinander und warfen finstere Blicke auf die Reisenden, und einer von ihnen lachte. Morgan war unruhig und tastete nach dem Heft seines langen Schwertes, und er fragte sich, ob ihre Suche schon hier ihr Ende finden würde. Dann folgte ein langes Palaver; zwei der Wilden Reiter ritten vor, um mit dem Sänger zu verhandeln. Die Verhandlung, von der Morgan kein Wort hören konnte, schien ewig zu dauern. Er saß da, schwitzte in der schwülen Feuchtigkeit und wünschte sich weit weg. Endlich salutierte Conyin den zwei Reitern mit erhobener Hand und wandte sich wieder seinen Begleitern zu. Sein Gesicht wirkte erleichtert, und er grinste breit. 40
»Alles in Ordnung, denke ich«, sagte er mit leiser Stimme. »Man hat uns eingeladen, dieser Gruppe zum Lager ihres Herrn zu folgen, um die Gastfreundschaft der Reiter zu genießen«, sagte er, und neben Morgan atmete der vierschrötige Othgrim erleichtert auf. »Das war knapp, Meister«, knurrte er. »Ich war schon sicher, daß gleich die Schwerter sprechen würden!« »Können wir ihnen vertrauen, meinst du?« fragte Sodaspes im Flüsterton. Der Barde zuckte die Schultern. »Das wissen die Götter, Junge. Aber ich dachte, es wäre nicht klug, ihre Gastfreundschaft abzulehnen.« Und so ritten sie weiter, durch den diesig-schwülen Tag, hinter der galoppierenden Schar von Reitern her, und als der Abend nahte, tauchte am Horizont das Lager der Wilden Reiter auf. Es war ein dreifacher Kreis aus riesigen Wagen, mit Dächern aus zusammengenähten Häuten über einem Rahmenwerk aus Korb. Die hochrädrigen Wagen wirkten auf Morgan wie die alten Planwagen des Wilden Westens, die Morgan in den Büchern seines Vaters gesehen hatte, als er noch ein Kind war. Am äußeren Rand des dreifachen Kreises grasten schwere Tiere, deren buschige Schwänze hin und her schlugen und auf deren dicken Köpfen phantastische Geweihe prangten. Morgan hatte dergleichen noch nie zuvor gesehen, vermutete aber, daß es Anthar waren, Vieh von der Art der Ochsen. Die Reiternomaden benutzten sie ohne Zweifel als Zugtiere für ihre Planwagen und als Schlachtvieh. Stupsnasige Kinder starrten sie neugierig an, als sie in einer Gasse zwischen den Wagenkreisen auf deren Mitte zuritten. Gut aussehende, dunkle Frauen in voluminösen Röcken beäugten sie von den Stufen der Wagen und riefen den Reitern, die sie begleiteten, mit schrillen Stimmen ihre Bemerkungen zu. In der Mitte des Kreises hatte man das Gras flachgetreten, und ein wahrhaft gigantisches Feuer flackerte himmelwärts. 41
Große Stücke von Antharfleisch drehten sich langsam an ächzenden Spießen, und ihr Fett tropfte in die Flammen. Rings um das Feuer waren Bänke aufgestellt worden, und dort saßen die Ältesten des Nomadenstamms, tranken aus Weinschläuchen und rauchten die hohen Wasserpfeifen aus durchlöcherter Bronze, von denen Morgan oft gehört, aber die er nie gesehen hatte. Ihre Begleiter zügelten ruckartig die Pferde und sprangen geschickt herunter. Die Abenteurer kletterten steif aus dem Sattel und standen herum, fragten sich, was nun geschehen würde. Dann kam der Anführer der Gruppe, der Mann, mit dem Conyin verhandelt hatte, im Gefolge eines eindrucksvoll wirkenden Mannes auf sie zu, der sicher der Häuptling der Horde war. Er war fast sechs Fuß groß, was für einen Cophyri eine Seltenheit war, da diese gewöhnlich nicht diese Größe erreichten, und er hatte auffällig bernsteinfarbige Augen, die wie die eines Löwen blitzten, und einen eindrucksvollen Bart, gepflegt und gewachst, offenbar sein ganzer Stolz. Conyin begrüßte ihn, worauf der andere würdig nickte und sie schweigend musterte. Die anderen Reiter, die sich um sie drängten, hatten, wie Morgan feststellte, entweder glasige, gleichgültige Augen oder solche, in denen es wild loderte, was offenbar ihrer Stammessitte zuzuschreiben war, Chingay zu kauen. Nicht so der Reiterfürst. Seine Augen waren scharf und klar suchend. Sie glichen denen von Tasper Kargonearl: die Augen eines großen Königs. Endlich erhob er die Stimme, sie klang tief und sonor: »Ihr seid willkommen hier, in Frieden und Brüderschaft unter dem Pakt«, sagte er, und Morgan wußte, daß sie nichts mehr zu befürchten hatten. In dieser Nacht feierten sie mit den Reitern. Es war eine wilde, tumulthafte Nacht; am Himmel flammten die Sterne, und 42
mächtige Winde heulten gegen den goldenen Mond, die langen Gräser seufzten und stöhnten. Morgan aß, bis er nichts mehr essen konnte; in Kargonessa war Fisch das Grundnahrungsmittel, Antharfleisch eine Seltenheit, die es nur an heiligen Tagen gab, aber hier auf den Ebenen war es umgekehrt, und Fisch galt als exotische Rarität. Es schmeckte herrlich, voll und saftig, dampfendheiß vom offenen Feuer, und dann gab es dicke Bratensoße, die man mit Brot auftunkte. Und gelben Wein, der mit Honig und Kräutern und rotem Pfeffer gewürzt war. Morgan aß, bis er das Gefühl hatte, er müsse bersten, und lehnte sich dann warm und schläfrig gegen ein Wagenrad. Wenn der Rest der Suche so sein sollte, hatte er eine glückliche Wahl getroffen, dachte er halb benommen. Ob es nun der Wein war, oder das Chingay, mit dem man die Bratensoße gewürzt hatte – jedenfalls empfand er eine seltsame Mischung aus Leichtigkeit und Schlaftrunkenheit. Die Reiter liebten Musik wie die Zigeuner und spielten sie auf klagenden Pfeifen und kleinen Glöckchen, während die jungen, unverheirateten Mädchen des Stammes vor den hochlodernden Flammen eine wilde, erotische Sarabande tanzten. Die Röcke hoch gehoben, so daß man die roten Petticoats fliegen sehen konnte, mit nackten, langen Beinen, die immer wieder im Flammenschein blitzten, tanzten sie zu den berauschenden Rhythmen, und von Zeit zu Zeit sprang einer der jungen Männer mit einem wilden Schrei auf, um sich ihnen anzuschließen. Die Hände in den Hüftgürtel gesteckt, die Schultern zurückgeworfen und die Brust vorgereckt, stolzierten die Männer wie Kampfhähne herum, während die Mädchen sie umkreisten, mit den Röcken flatterten und mit roten Lippen lächelten, so daß ihre weißen Zähne im Flammenschein blitzten. Es war wild und stürmisch, und Morgan genoß es. Dann forderte der würdige Reiterfürst, der unter den Stammesältesten saß, Conyin auf, ihnen ein Lied zu singen, und der alte Barde stellte sich vor die Flammen und stimmte seine 43
Leier. Zuerst sang er ein melancholisches Lied, voll hallender Vierteltöne, wie um damit den Kontrast zu der wilden, schrillen Musik des Tanzes herzustellen. Morgan hatte den alten Sänger noch nie zuvor singen gehört, und es war für ihn wie eine Offenbarung. Conyin war wahrhaftig ein Meistersänger; seine Stimme war herrlich, tief und voll, ein edler Bariton, und das traurige Liebeslied, das er ihnen sang, versenkte sie alle in Träume. Dann schloß sich ein Stück aus einer der alten Heldensagen an, die Earl Tasper so geliebt hatte. Er sang die Ballade im epischen Versmaß, und sie war gefüllt mit Duellen und Schlachten und den Tagen der legendären Krieger des Altertums. Während Morgan den Worten lauschte, dachte er schläfrig, daß der blinde Homer wohl ebenso gesungen haben mochte. Und dann schloß sich, wie um erneut einen Kontrast herzustellen, ein seltsam komisches altes Lied an; es gab keinen Sinn, und Morgan begriff die ehrfurchtsvolle Stille nicht, die sich über sie senkte. Später sollte er sich daran erinnern, an den mächtigen Gesang jener früheren Suche, als die Neun Helden von Irion sich gegen die Schatten und die finstere Hexe stellten, die Dienerin der Dunkelheit, nur bewaffnet mit der Harfe Gleewood und Gondafal, dem Schwert des Lichtes. Auf jener Suche hatten sie auch einen Sänger gehabt, und er war es, der jenes alte Lied gemacht hatte, um die anderen der Neun auf ihrem langen Weg zu erheitern: Wir suchen den König der Schatten, wo immer er stecken mag, auf der anderen Seite der Berge oder sechs Meilen tief im Grab! Wir jagen auch die Hexe, die seine Dienerin ist, um Mores sie zu lehren. Unter dem Mond soll ihre Burg liegen? Was macht das uns schon aus!
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Sind wir auch nur neun Männer (mit Gleewood sind wir zehn), kein Ort der Welt ist uns zu weit, sonst suchen wir nochmal! Dann schwoll das alte, muntere Lied an, und wieder fielen all die Wilden Reiter und ihre Frauen und Kinder ein, ein mächtiger Chor, der dem einfachen, alten Lied etwas von der Leidenschaft und der Macht eines Epos verlieh. Und plötzlich ertappte Morgan sich dabei, wie er mit den anderen mitsang … Sie mag zehn Heere haben, gehorsam ihrem Wort, und wir, die wir nur neun sind (Gondafal nicht gezählt)! Am Morgen soll sie zittern, noch vor der Zeit des Mahls besiegen wir ihre Armeen – und werfen sie ins Meer! Dann soll die Hexe zittern, ja zittern soll die Hex, ja zittern soll die Hex. Das alte Lied bekam brüllenden Applaus, aber der nächste Gesang rief ehrfürchtiges Schweigen hervor. Man spürte die tiefe Trauer, die es erzeugte, aber es war eine strenge, grimmige, kraftvolle Art der Trauer. Es ging um ein Opfer, das der Liebe zu bringen war, und um einen Fremden, der endlich sein Zuhause fand, und irgendwie war er gleichzeitig Sieger und Besiegter, und erst als Morgan bemerkte, daß alle Männer ihn anstarrten, erwachte er langsam und bemerkte, daß der alte Barde mit großer Würde und mit Tränen in den Augen den Lissandurgesang sang. In hallendem Schweigen endete er. Der Reiterfürst stand auf und verbeugte sich vor dem Sänger, dann drehte er sich um und verbeugte sich vor Sadaspes und Othgrim und auch Morgan. »Auch wir Bewohner der Ebenen kennen die alten Weisen«, 45
sagte er leise. »An uns ist der Ruf nicht ergangen, obwohl es hier Helden gibt. Unsere weisen Männer haben die Sterne gelesen und wissen, daß der Drache sich wieder geformt hat, so wie er einst in der Vergangenheit tief am fernen Himmel prangte, als der Elendstern rot wie Feuer oder Blut loderte.« Der Wind flüsterte im Gras; ein paar Augenblicke lang sprach niemand. »Wir kennen euch und kennen auch eure Sendung, weil wir schon seit langem wissen, daß ihr eines Tages dieses Weges kommen würdet«, fuhr der alte Häuptling langsam fort. »Der Zauberer, der Sänger, der Knecht und der weitgereiste Fremde. Ihr ehrt uns ungemein, und wir werden unseren Kindern und den Kindern unserer Kinder noch erzählen, daß wir euch einmal gesehen haben.« Und Morgan sah, daß auch seine Augen mit Tränen gefüllt waren. Es gab keinen Wein mehr zu trinken und keine Lieder, die es zu singen galt, aber am Ende wartete ein weiches Bett in den Zelten der Wilden Reiter und tiefer Schlaf unter dem purpurnen Himmel, wo tausend Sterne groß und klar brannten, wie verstreute Diamanten auf dickem Samt. Noch lange sollten sie sich der Gastfreundschaft der Reiter der Ebenen erinnern, denn vor ihnen lagen schwere Zeiten auf jener langen Straße, die um die Welt führte. Sie mußten über Ebenen und Klippen, durch Wälder und über Berge, vorbei an Ungeheuern und Magiern, bis schließlich ihre große Suche ihr Ende finden würde.
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4. Am nächsten Tag bildeten die Wilden Reiter eine Eskorte und ritten den ganzen Tag mit ihnen, denn im Grasland gab es Banditen und wilde Tiere. Die dritte Nacht ihrer Reise verbrachten sie unter den Sternen, während die Reiter respektvoll Wache standen, und als dann der Morgen dämmerte, ritten sie weiter nach Osten, wo die Felsmauer sich wie eine weiße Wand aus dem Morgen hochtürmte. Der Reiterfürst – er hieß Loran – hatte sie höchst gastfreundlich mit Antharseiten versorgt, die in Wachshäute gehüllt waren, und mit trockenen Früchten, die die Wilden Reiter gegen Fleisch und Häute von den Bewohnern der Handelsstädte im Norden eintauschten, und mit gutem Wein in ledernen Säcken, aus denen man nach Reiterart trinkt, indem man sich den Schlauch über den Kopf hält, so daß der Elfenbeinspund herunterhängt, und dann drückt man den Wein in einem dünnen Strahl in den Mund. Wenn man Glück hat: als Morgan es das erstemal versuchte, besudelte er sich sein Lederhemd damit. Die Reiter, die sie begleiteten, schlugen diesen Weg widerstrebend ein, denn es hieß, daß die Felsmauer von den Senmurven unsicher gemacht würde, die ihre Nester in kleinen Höhlen und Löchern im Felsgestein hätten. Aber Sodaspes blieb hartnäckig. Der Ruf, der an ihn ergangen war, hatte ihm gesagt, daß der fünfte ihrer Gruppe sich ihnen auf den Klippen anschließen würde. Außerdem lag hinter der Felsmauer Grymwood, und das war der Weg, den sie einschlagen mußten. Als sie der Felsmauer von Thoor näherkamen und Morgan die mächtige Klippenwand deutlicher erkennen konnte, verspürte er, wie ihn ein Gefühl der Niedergeschlagenheit überkam. Das sollten sie ersteigen? Wie eine tausend Fuß hohe Mauer türmten sich die Klippen über ihnen auf und zogen von Norden nach Süden quer über die Welt, so weit das Auge in diesem Dunst sehen konnte (denn es war immer noch nebelig). Aber Sodaspes 47
behauptete, von einem Paß zu wissen, und da war auch einer, wenn sie auch den ganzen Vormittag brauchten, um ihn zu finden, weil sie etwas vom Weg abgekommen waren, indem sie zum Lager der Reiter nach Norden zogen. Er war steil und schmal, steiler, wie Morgan dachte, als irgendein Loper klettern konnte; aber Conyin sagte, die Lopers seien dazu imstande, wenn es auch nötig werden könnte, sie ein paarmal von der Peitsche kosten zu lassen, um sie in Gang zu halten. Sie trennten sich am Fuß des Passes von der Reiterschar, und über ihnen ragten die Klippen wie die Mauern einer Stadt von Giganten auf. Der Abschied war ziemlich peinlich. Denn die dreißig Krieger warfen sich wie ein Mann auf die Erde und knieten, um ihren Segen entgegenzunehmen, und einer von ihnen, ein gut aussehender Junge mit scharfen, gelben Augen, einem guten Gesicht und einer Nase, die wie der Schnabel eines Falken wirkte, kniete vor Morgan nieder, bestand darauf, ihm die Hand zu küssen und bat um seinen Segen. Morgan sah die anderen hilflos an (Conyin grinste unverhohlen), aber sie waren ihm keine Hilfe, und so hob er verlegen eine Hand – der Junge hatte die Lippen fest auf die andere gedrückt – und machte die Andeutung einer Segensgeste. Niemand lachte. Der Junge dankte ihm ernst, so als hätte er etwas Seltenes, Wunderbares getan. »Man nennt mich, Khonor, Sohn von Lord Reiterlord«, sagte er. »Und ich und meine Männer sind die Deinen, wenn du uns je brauchen solltest, Lord!« Dann sprangen sie in den Sattel, machten kehrt, die nackten braunen Arme grüßend erhoben, stießen einen ohrenzerreißenden Schrei aus und fegten über das Grasland davon, so daß Morgan ihnen nur benommen nachstarren konnte. Die Wilden Reiter … die Flüsternden Ebenen … Nie sollte er sie wiedersehen, aber dies wußte er natürlich nicht. Stundenlang quälten sie sich den steilen Paß hinauf. Die feuchte, schwüle Wärme der Ebene wich trockener, kühler Luft. 48
Manchmal wurde der Paß so steil, daß sie aus dem Sattel steigen und die Lopers führen mußten, indem sie vor ihnen gingen und sie an den Zügeln zerrten. Die langbeinigen blauen Tiere gaben klagende Laute von sich, quälten sich aber weiter. Der Felsstaub hing dicht in der Luft und er war weiß, denn das Gestein hier war Mergel und zerbröckelte wie Kalk. Sie sahen keine Spur von Senmurven – was immer Senmurven sein mochten. Morgan hatte nie zuvor von ihnen gehört, oder zumindest nur als heraldisches Symbol, denn die Fürsten von Srishtar tragen sie als Wappen. Sie kletterten weiter. Morgan begann Muskeln zu entdecken, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß er sie besaß, aber entdeckte sie hauptsächlich, wenn sie zu schmerzen begannen. Besonders Muskeln an seinen Schenkeln; er preßte die Lippen zusammen und fuhr fort zu klettern, gab sich Mühe, sich nicht zu beklagen. Hinter ihm stapfte der vierschrötige Othgrim dahin, und sein breites, fleischiges Gesicht war gerötet, und er murmelte unablässig vor sich hin. Weder Sodaspes noch dem Sänger schien die Kletterpartie etwas auszumachen. Sie schienen tatsächlich fast Gefallen daran zu finden, obwohl sie beide binnen kurzer Zeit von Kopf bis Fuß vom Felsstaub weiß waren. Morgan selbst war ebenfalls ganz weiß; das Zeug war in seinem Mund, biß in seinen Augen und klebte an seinem Hals. Aber alles endet einmal, und so erreichten sie schließlich den leichter zu begehenden Teil des Passes und konnten ihre Lopers wieder besteigen und weiterreiten. Von dieser Höhe aus konnten sie in ungeheure Weiten blicken. Unter ihnen lag meilenweit die Ebene, von leichtem Nebel überzogen; dahinter konnte man ganz schwach das Glitzern des späten Nachmittagslichts auf Wasser erkennen: der Gelbe Drachenfluß oder das Meer? Styre selbst war unsichtbar, ebenso wie Kargonessa. Der Himmel rötete sich, als die erste der Doppelsonnen im flammenden Glorienschein hinter dem Horizont versank. Der 49
weiße Stern, Sitra, stand immer noch am Himmel, wenn auch der Tag schon fast vorbei war. Sie mühten sich weiter den Paß hinab, und der kalte Wind, der ihnen ins Gesicht schlug, war sehr erfrischend. Conyin pfiff eine melancholische Weise und trank von Zeit zu Zeit aus seinem Weinschlauch, was Sodaspes dazu veranlaßte, die Lippen mißbilligend zusammenzupressen und den Blick abzuwenden. Morgan war der erste, der einen Senmurv erblickte. Er wußte nicht, was es war, und hätte fast über das komische Aussehen des Geschöpfes gelacht, das ganz und gar nicht gefährlich wirkte. Man stelle sich einen Adler mit einem Hundekopf vor, das vermittelt den Eindruck wohl am besten. Der Körper war für einen Vogel groß und wirkte plump, er watschelte auf kurzen, krummen Beinen, die mit glänzenden schwarzen Klauen bewehrt waren. Der Hundekopf hatte eine heraushängende Zunge, dick und feucht und weiß, und Augen, die im Schatten rot funkelten. Es klammerte sich irgendwie an einen weißen Mergelvorsprung über ihnen und starrte herunter wie ein Wachhund, der die Witterung noch nicht aufgenommen hat und nicht weiß, ob er bellen soll. Lachend wollte Morgan die anderen auf das seltsame kleine Zwitterwesen hinweisen, aber Sodaspes schrie ganz plötzlich schrill auf. Er verstummte sofort wieder und sah sich verlegen um, aber das nützte nichts. Mit einem heiseren, schnarrenden Bellen stürzte sich der Hundeadler nach vorne und kam auf sie heruntergeschossen, die Augen glühend, die weiße Zunge aus dem mit Fängen bewehrten Maul hängend. Das Geschöpf wirbelte so dicht an Morgan vorbei, daß er das Pfeifen des Windes in den steifen Federn hören und den strengen Geruch seines Körpers einatmen konnte. Während die Bestie an ihm vorbeifegte, erfaßten ihre Fänge seine Schulter, rissen daran und fetzten ein Stück von seinem Umhang weg. Er taumelte benommen zur Seite und fiel von 50
seinem Loper. Der Senmurv war in einer steilen Kurve wieder nach oben gezogen. Jetzt bellte er, ein schriller, heiserer, kläffender Schrei, dessen Echo von einer Felswand des steilen Passes zur anderen hallte. Ehe Morgan sich bewegen oder denken konnte, wimmelte es über ihnen von den wilden, kleinen Tieren. Ein heulender Chor, wie von jagenden Bluthunden, erfüllte den Himmel. Überall wirbelten ihre geflügelten Leiber herum, schnappend und knurrend und um sich beißend. Sodaspes stieß ein halb ersticktes Krächzen aus und riß eines der Tiere von seiner Kehle weg, wo es sich festgeklammert hatte, die schwarzen Klauen ausgestreckt und wild um sich beißend. Die Lopers schrien und bäumten sich auf, schlugen wie wild um sich. Der hünenhafte Othgrim schwang seinen schweren Stab und traf eine der geflügelten Bestien in der Luft. Morgan hörte das Klatschen des eisenbeschlagenen Stabes, als der den Senmurv am Rücken traf. Das Ding stieß einen Schmerzensschrei aus und plumpste zu Boden. Vielleicht hatte der Schlag mit der Eichenstange ihm das Rückgrat gebrochen – jedenfalls zerschmetterte Othgrim ihm mit einem zweiten Schlag den Kopf und schwang dann seinen Stab herum, um ein zweites Opfer zu suchen. Sodaspes hetzte durch den wirbelnden, weißen Staub heran, packte Morgan am Arm und drängte ihn weiter. »Hinauf zum höchsten Punkt des Passes!« keuchte er. »Vielleicht können wir sie dort besser abwehren, wenn wir oben stehen …« Morgan spürte die Panik des anderen, zögerte aber zu fliehen. Hinter ihm war Othgrim aus dem Sattel gestiegen. Er stand jetzt inmitten einer wirbelnden Wolke der kleinen Teufel und ließ seinen mächtigen Stab mit vernichtender Wirkung kreisen. Was Conyin betraf, so stand der alte Rhapsode mit dem Rücken an der Felswand und wehrte sie mit seinem eigenen Stab ab. Drei oder vier der Bestien lagen zu seinen Füßen. 51
Morgan wollte nicht Sicherheit für sich selbst suchen, solange seine Kameraden noch bedrängt wurden. Er wischte die Hand des Magiers mit einer kurzen Entschuldigung weg, zog ungeschickt sein Schwert und eilte Conyin zu Hilfe. Eines der Scheusale hing mit wütend schlagenden Flügeln in Brusthöhe und schnappte immer wieder nach dem alten Mann. Morgans Stahl traf es an der Schulter. Er konnte einen Blick auf ein bösartig geöffnetes, schwarzes Maul und wilde Augen erhaschen, die rings um die Pupille ganz weiß waren, als der wütende Hundevogel den Kopf herumdrehte, um nach der Klinge zu schnappen. Zähne knirschten und glitten auf dem Metall ab, und einer der Fänge brach. Dann schnitt die Klinge in den Flügelmuskel, und der Senmurv fiel herunter. Morgan biß die Zähne zusammen und tötete das Scheusal. Sein Angriff von hinten alarmierte das Rudel, das Conyin umflatterte, und sie bogen plötzlich mit schrillen Warnrufen ab. Morgan packte den Arm des alten Minnesängers und zerrte ihn von der Felswand weg, schob ihn auf Sodaspes zu, der immer noch unschlüssig weiter oben am Paß stand. Der Rhapsode stieß ein Wort des Dankes hervor und taumelte im wirbelnden Staub davon. Morgan drehte sich um, um zu sehen, wie es Othgrim erging. Sie waren jetzt alle zu Fuß, und ihre Reittiere waren entweder tot oder in wilder Flucht den Paß hinunter begriffen. Der vierschrötige Knecht war ganz in seinem Element: das Gesicht schwarz und verzerrt, den Mund weit geöffnet, schrie er dröhnende Flüche hinaus und schwang den schweren Stab in der geflügelten Wolke kläffender Scheusale und traf immer wieder eines davon mit schmetternden Schlägen. Sein Lederhemd bestand nur noch aus Fetzen, und Fänge oder Klauen – oder beides – hatten ihm die nackte Brust, den Rücken und die Schulter mit scharlachroten Linien überzogen, aber er kämpfte ruhmreich und schwang den eisenbeschlagenen Stab mit der ganzen Gewalt seiner mächtigen Muskeln. 52
Schon lagen sechs oder acht tote Senmurven im Staub zu seinen Füßen. Als Morgan sich näherte, den Stahl schwingend, wirkte das wie ein Alarm für das Rudel, das in einer schwindelerregenden Spirale davonstrebte, so daß Othgrim sich einen Augenblick auf seinen Stab stützen und nach Luft schnappen konnte. Morgan drängte ihn weg und sie stürmten beide zur Paßhöhe, wo Conyin und Sodaspes einen Ort der Zuflucht gefunden hatten. »Schnell jetzt; die fassen gleich wieder neuen Mut«, knurrte der alte Sänger und schob sie vor sich her. Sodaspes hatte eine Höhle gefunden; kaum mehr als ein Loch in der Felswand, und nicht hoch genug, daß einer von ihnen hätte aufrecht stehen können, aber so eng wie der Eingang war, konnte ein einziger Mann dort eine ganze Armee aufhalten. Sie stolperten in die Finsternis hinein, dabei kleine, trockene Knochen unter den Füßen zerdrückend, und Morgan hoffte nur, daß der räuberische Bewohner, dem diese Höhle als Behausung diente, heute nicht zu Hause sein möge. Geduckt, keuchend, in der schlechten Luft halb erstickend, hörte Morgan ein warnendes Knurren von Othgrim, der hinter ihm war, und drehte sich um, um zu sehen, daß ein hechelnder Hundeschädel am Eingang schnüffelte. Othgrims Stab traf den Schädel zwischen den roten, leuchtenden Augen, und trieb das Tier zurück. Aber kurz darauf schob sich eine andere schwarze Schnauze neugierig ins Dunkel – und dann noch eine und noch eine. Othgrim handhabte seinen Stab mit grimmigem Geschick, während die anderen sich steif niederkauerten, den Felsstaub und den Gestank der Höhle einatmeten und sich fragten, ob sie das schwarze Loch wohl je wieder lebend verlassen würden. »Einen kleinen Fehler hat dieses Versteck«, knurrte der Sänger, zu Sodaspes gewandt. »Stimmt schon, diese Vogelbiester können uns nicht anfallen; auf der anderen Seite stecken wir hier fest und können nicht mehr hinaus, solange die nicht davonfliegen – wenn sie das je tun!« 53
Darauf wußte Sodaspes keine Antwort, denn die Feststellung des Alten stimmte. Aber sie mußten warten und sehen, was geschehen würde; vielleicht würden die geflügelten Scheusale ihrer Wache müde werden und anderswo leichtere Beute suchen. Eine halbe Stunde verstrich, und immer noch schwärmten die hundeköpfigen Adler knurrend und mit Schaum vor den Mäulern am Eingang ihrer Zuflucht. Morgan hatte das dumpfe Gefühl, als müßte ihm das Rückgrat vom langen Kauern brechen. Und dann sehnte er sich mächtig nach Wasser, konnte aber den Schlauch nicht erreichen, der hinter ihm hing. Sodaspes, der weiter in die Felsspalte eingedrungen war als die anderen, fand einen Spalt, einen Schlitz am Ende der engen Höhle. Der Schlitz war mit lockerem Felsgestein fast verschlossen, aber der junge Magier entdeckte einen Luftzug, der durch die Lücken zwischen den Steinen wehte. Mit beiden Händen tastend, gelang es dem Magier, ein paar Steine locker zu bekommen und herauszuziehen. Der Luftzug wurde jetzt stärker. Jetzt machten sich die Abenteurer daran, gemeinsam arbeitend, so gut das in der Enge ging, größere Steine zu lockern. Schließlich entdeckten sie eine Ausweitung in eine größere Höhle. Sie war so eng und niedrig, daß sie kriechen mußten, einer hinter dem anderen, und schwarz wie Pech. Sie konnten nicht sehen, wohin der Weg sie führte, und wußten auch nicht, ob der Felsspalt sie ins Freie führen oder nach einer Weile an einer massiven Felsmauer enden würde. Aber von irgendwoher mußte die frische Luft kommen, und wie Conyin auf seine lakonische Art bemerkte, selbst wenn die Spalte sie nur zu einer anderen Felswand führte, konnten sie ja immer noch umkehren und würden dann wieder in derselben Lage wie vorher sein, nicht besser und nicht schlechter dran. Mit den gelockerten Felsbrocken versperrten sie den vorderen Eingang, so daß auch die mutigeren der Senmurven ihnen nicht folgen konnten. Dann bewegten sie sich, einer nach dem 54
anderen, gebückt und manchmal auf allen vieren dahinkriechend, hintereinander durch den schwarzen Gang. Das scharfe Gestein riß ihnen Knie und Hände auf; sie holten sich ein paar Abschürfungen an den Felswänden, schafften es aber irgendwie, sich durchzuwinden und am Ende ins Freie zu gelangen. Die Höhle führte zu einem schmalen Felssims, von dem aus man eine tiefe Schlucht überblicken konnte, bei der es sich um irgendeinen Nebenarm im Innern der Felsmauer handeln mußte. Der Sims war an seiner breitesten Stelle nur knapp zwei Fuß breit und verlief an der Felswand entlang, beschrieb dann einen Bogen und verschwand. Müde, verstaubt, sich die schmerzenden Muskeln reibend, überlegten sie, was nun zu tun sei. Möglicherweise endete der Vorsprung hinter jener Kurve; aber es lohnte zumindest, das näher zu erforschen. Mit Conyin an der Spitze, weil er am besten zu Fuß war, schoben sie sich mit den Rücken an der Klippenwand langsam an dem Sims nach vorne. Für Morgan war es nach jener endlosen Zeit in der finsteren, engen Höhle schon ein Glücksgefühl, wieder frische, kalte Luft zu schmecken und das Sonnenlicht im Gesicht zu spüren und aufrecht zu stehen. Vor der Biegung weitete sich der Sims etwas aus, so daß sie frei stehen konnten. Conyin ging vorsichtig auf die Biegung zu und blieb dann mit einem heiseren Stöhnen stehen. Denn jetzt waren die Senmurven wieder über ihnen, und diesmal war ihr Stand zu unsicher, als daß sie hätten kämpfen können. Das Rudel der fliegenden Schrecken mußte Witterung von ihnen bekommen haben und über die Bergkuppe in diese innere Schlucht geflogen sein. Da waren zehn – ein Dutzend – zwei Dutzend dieser geflügelten Bestien. Flatternd und schnaubend stießen die hundeköpfigen Adler auf den Felssims herunter, auf dem sie standen. Conyin fluchte heftig, aber sein faltiges, häßliches Gesicht wirkte seltsam friedlich. Othgrim schien völlig ungerührt; er 55
stand neben Morgan, als wollte er den Outworlder mit dem eigenen Körper schützen. Sodaspes war damit beschäftigt, etwas aus seinem Beutel zu ziehen, dem Beutel, der mit so vielen kleinen Zaubern vollgestopft war, und plötzlich kam es dem Outworlder in den Sinn, daß die Senmurven so schnell angegriffen hatten, daß der Magier überhaupt noch nicht imstande gewesen war, eine seiner übernatürlichen Waffen einzusetzen. Was Morgan anging, so empfand er tiefe Müdigkeit und doch zugleich ein Gefühl des Überschwangs. Hier sollte es also enden, seine Wanderung, seine Sternreisen! Zumindest hatte er seine wahre Heimat gefunden, bevor das Ende kam. Zumindest würde er, wenn er schon sterben mußte, hier in Gesellschaft guter und treuer Männer sterben. Der erste Senmurv sprang ihn mit schwirrenden Flügeln und freigelegten Klauen an und ging auf seine Augen los. Sich mit dem Rücken gegen die Felswand pressend, hob Morgan sein Schwert und schwor, daß er wenigstens ein paar der fliegenden Teufel zu den Toren des Todes mitnehmen würde … Und dann blühte da plötzlich, wie durch Zauber, ein funkelnder weißer Pfeil aus der breiten Brust des Senmurven auf! Das Ding schrie auf und taumelte zur Seite, prallte gegen die Klippe. Ein zweiter Pfeil pfiff durch die Luft und durchbohrte den Schädel des nächsten Scheusals. Morgan dachte benommen, es wäre Sodaspes, der endlich eine seiner Zauberkünste eingesetzt hatte, aber nein, als er sich umsah, um nach dem jungen Magier zu sehen, war der ebenso benommen und verwirrt wie die anderen, und die Waffe, was auch immer sie sein mochte, hing unbenutzt und vergessen in seiner Hand. Ein Mädchen trat um die Felsbiegung. Ein glänzender Bogen, den kleine, kräftig wirkende Fäuste hielten, entsandte einen dritten Pfeil und einen vierten. Sie starrten sie verständnislos an. Ihr plötzliches Auftauchen, hier auf diesem einsamen Felssims, kam so unerwartet und wie durch Zauberei, daß sie sie 56
zunächst für eine Erscheinung hielten, die jemand heraufbeschworen hatte. Aber nein, sie war sehr wirklich. Sie wirkte sehr jung, ein Mädchen noch, zumindest sahen jene Teile ihres schlanken, gelenkigen Körpers, die nicht von knapper Kleidung bedeckt waren, knabenhaft jugendlich aus. Ihr Haar war schwarz und lang und glänzte wie der Flügel eines Raben. Eine weiße Strähne durchzog es wie ein Blitz durch schwarze Sturmwolken. Ihr Gesicht war oval, gleichmäßig gebräunt, mit ernst blickenden, klaren, gelben Augen wie Bernstein, einem kleinen, festen Mund und einem ausgeprägten Kinn. Sie trug eine leichte Brustplatte aus geformtem Stahl, und ein breiter Gürtel aus schwarzem Leder, mit stählernen Ringen besetzt, umgab ihre schmale Hüfte. Und von dem Gürtel hing eine Art kurzer Kilt aus Lederstreifen, mit silbernem Besatz und mit quadratischen Stahlplatten behängt, herunter, um ihre Lenden und Oberschenkel und den Bauch zu schützen. Hohe Stiefel, ebenfalls mit Silber besetzt, vervollständigten ihr Kostüm. Um die Schultern hing ihr ein kleiner Beutel, und an ihrer Hüfte hing ein kurzes, breites Schwert. Ein kleiner Rundschild aus mit Silber besetztem Leder, das über ein Korbgeflecht gespannt war, war an ihren linken Unterarm geschnallt, hing aber jetzt von einem Haken im Gürtel, um ihr zu erlauben, mit beiden Armen den Bogen zu bedienen. Über dem Kurzschwert klatschte ein Köcher mit weißen Pfeilen bei jeder Bewegung gegen ihren rechten Schenkel. Sie hatte lange, schlanke, gebräunte Beine. Die Abenteurer musterten sie blinzelnd. Diese Mischung aus jungem Mädchen und bewaffnetem Krieger war verblüffend. Aber sie verstand sich jedenfalls darauf, mit dem Bogen umzugehen. Ihre Hände fuhren an den Köcher und ließen den nächsten Pfeil fliegen – so schnell, daß man der Bewegung kaum zu folgen vermochte. Der tödliche Hagel gefiederter Pfeile räumte im Rudel der Senmurven auf. Unterdessen hatte sie bereits acht von ihnen 57
erledigt, und kurz darauf war die Zahl auf zehn angewachsen. Die kläffenden Scheusale fingen an, ihren Appetit zu verlieren. Jedesmal, wenn eines von ihnen die Männer auf dem Felsvorsprung anflog, brachte ein weißer Pfeil ihm den Tod im Abgrund. Jetzt ließen schon einige der weniger Eifrigen von ihrem Vorhaben ab und flogen davon, um sich weniger gut behütete Beute zu suchen. Nicht lange, und die Senmurven strebten dem Gipfel zu und hingen böse knurrend dort, wagten es aber nicht, noch einmal anzugreifen. Die vier Reisenden und ihre Retterin starrten einander in schmerzvollem Schweigen an. Schließlich murmelte Sodaspes: »Wir sollen sechs sein, und bis jetzt sind wir nur vier. Mädchen, ist an dich auch der Ruf ergangen?« Sie musterte ihn mit einem langen, unergründlichen Blick und nickte dann kurz. »Mein Ruf hat mich an diesen Ort gelenkt«, sagte sie mit klarer, weithin hallender Stimme. »Man nennt mich Argyra, die Kriegsmaid von den Neun Clans von Siriath Koroba. Nach dem grünen Siegel auf deiner Stirn zu schließen, wirst du der Magier sein …« Sodaspes nickte und begann Conyin vorzustellen. Aber das Kriegermädchen blickte an dem alten Rhapsoden vorbei und sah Morgan in die Augen. »Und du, der Outworlder, … ›Tatenvollbringender der Suche‹«, murmelte sie und hob eine kleine braune Hand in einem seltsamen Gruß, den er verlegen erwiderte. Ihre durchdringenden, hellen, gelben Augen, Falkenaugen, furchtlos und stolz und sehr klar, starrten ihn an. Sein Gesicht rötete sich, und er stammelte etwas, wünschte, sein Haar wäre jetzt nicht verwirrt und voll Felsstaub, seine Kleider zerfetzt, die aufgerissene Schulter blutend, wo der erste Senmurv ihn aufgegriffen hatte. Und dann schritt sie an den anderen vorbei und kniete schnell 58
zu seinen Füßen nieder, um ihre warmen Lippen auf seine staubige Hand zu drücken. »Die vier sind jetzt fünf, Outworlder«, sagte sie. Und der klare Blick ihrer gelben Augen verfolgte ihn noch viele Nächte lang in seinen Träumen … Jenseits der Biegung im Fels weitete sich der Sims noch weiter aus und endete schließlich an einem Schieferhang, den sie mit einiger Mühe erstiegen. Der Hang war mit Geröll bedeckt, und sie bewegten sich in beständiger Angst, eine kleine Lawine auszulösen. Trotz alledem, wenn Argyra Kriegsmaid es geschafft hatte, den Hügel herunterzukommen, so würden sie es wohl schaffen, ihn zu ersteigen. Und sie schafften es auch tatsächlich. Die Sonne ging gerade unter, als sie den Rand der Felsmauer erreichten, und es war schwarze Nacht, als sie schließlich müde und zerschunden das Tafelland dahinter erreichten. Hier wuchsen dicke, lange Gräser, ähnlich jenen der Ebenen, über die sie am Morgen und am Tag zuvor geritten waren. Vor ihnen, in der Dunkelheit unsichtbar, lag Grymwood, durch das sie ziehen mußten. Aber jene Gefahr bewahrten sie sich für den Morgen auf. Othgrim sammelte trockenes Gras und errichtete daraus einen hohlen Haufen, den Sodaspes mit einer Berührung seines Zaubersteins zu Feuer entfachte. Im weichen Gras ausgestreckt, die Stiefel oder Mokassins abgestreift, genossen sie den kühlen Nachtwind, packten ihren geretteten Proviant aus und aßen und tranken und redeten. Argyra erzählte ihnen vom Leben bei den Neun Clans ihres nördlichen Volkes. Sie war sehr jung, wie Morgan vermutet hatte: nur neunzehn. Bei ihrem Volk sind die Frauen die Krieger, die Jäger, die Häuptlinge; was die Männer angeht, so hüten sie die geheiligten Feuer des Herdes, kümmern sich um die Kinder und bereiten die Mahlzeiten zu. Eine seltsame Umkeh59
rung der Gebräuche, ohne Zweifel, aber die Menschheit ist zu unendlicher Vielfalt fähig, und zwischen den Sternen, die er besucht hatte, hatte Morgan von noch viel fremdartigeren Lebensweisen als jener gehört. Noch lange erinnerte er sich an jenen friedlichen Abend – im weichen Gras, das wie ein Kissen war und nach würzigen Kräutern duftete – und die orangeroten Flammen tanzten und malten hinter ihnen schwarze Schatten – und die leisen Stimmen seiner Freunde im gelockerten Gespräch. Nach einer Weile sang der alte Conyin. Es war ein leises Lied voll klagender Töne; ein trauriges Lied vielleicht, aber auch ein tapferes, mit einem Anklang von Glück. Morgan lag da und träumte und lauschte, bis Conyin schließlich seine alte Leier beiseite legte und gähnte, sich streckte und Bier trank. Nach einer Weile schliefen sie. Und so lagen sie des Nachts am Fuß von Grymwood, und nichts rings um sie störte ihre Ruhe. Aber da waren Augen, die sie unter belaubten Zweigen beobachteten.
5. Morgan erwachte beim ersten Licht der Morgendämmerung und lag da, schläfrig blinzelnd, während der Osten langsam bleich wurde und Sitra emporstieg und sich kurz darauf rötete, als Marib aufging. Bald erwachte Conyin, rieb sich den Schlaf aus den Augen, streckte sich und knetete seine hageren, knochigen Glieder, sich immer wieder räuspernd und spuckend, wie es alte Männer tun. Sie bereiteten sich ein bescheidenes Frühstück, erpicht darauf weiterzuziehen und so weit wie möglich in Grymwood voran60
zukommen, solange der Tag hielt. Morgan spülte das grobe Brot und das kalte Fleisch mit saurem Bier hinunter und fühlte sich dabei unwohl und gereizt. Er wünschte sich ein heißes Bad mit echter Seife, aber leider gab es weit und breit kein Wasser. Sein Gesicht juckte von Schmutz, und als er sich mit der Hand über das Kinn strich, stellte er überrascht fest, daß er einer Rasur bedurfte. Er war nach all den Jahren so gewohnt, alle zehn Tage Demonol zu nehmen, daß ihm erst jetzt bewußt wurde, daß er den Bartunterdrücker in Kargonessa gelassen hatte. Nun, da war nichts zu machen. Er hatte kein Rasiermesser – hatte tatsächlich so lange schon keines mehr benutzt, daß er sich wahrscheinlich ein Ohr abgeschnitten hätte, wenn er eines hätte benutzen müssen. Die Anwesenheit Argyras führte zu gewissen Unbequemlichkeiten; nicht gerade sexueller Natur, dafür war Conyin zu alt, der junge Magier hatte ein Keuschheitsgelübde abgelegt, Othgrim war von niederer Geburt und würde eher sterben, als eine höherstehende Kaste beleidigen, und was Morgan betraf, so war er in Gegenwart junger Frauen immer steif und verlegen und wußte nicht, was er zu ihnen sagen, oder was er mit seinen Händen anfangen sollte. Nein: die Unbequemlichkeiten waren sanitärer Natur. Die Männer waren, weil sie Männer waren und unter Männern, gewöhnt, sich immer dann zu erleichtern, wenn sich die Notwendigkeit ergab. Aber in Gegenwart des Mädchens mußte sich das ändern, das erforderte die Sitte. Der alte Conyin war gerade dabei, seinen Gürtel zu lösen, um seine Notdurft zu verrichten, als er bemerkte, daß Argyra zusah. Irgendeine Unfreundlichkeit murmelnd, mußte der alte Barde seine Hosen wieder hochziehen und etwa sechzig Schritte bis zum nächsten Busch trotten. Sein Gesichtsausdruck, gerötet, verärgert, indigniert, und das ziemlich große Tempo, mit dem er dem Busch zustrebte, ließen seine männlichen Begleiter laut auflachen. Als er zurückkehrte, immer noch bis 61
zu den Ohren rot, steif vor gekränkter Würde, erkundigten sie sich beflissen nach seinem Gesundheitszustand. Der Barde fand das keineswegs spaßig und hielt sich eine Weile abseits von ihnen, vor Wut kochend. Als die fünf sich dem mächtigen Wald näherten, standen die Zwillingssonnen von Bargelix schon hoch am Himmel. Er türmte sich vor ihnen auf wie eine grüne Mauer, Reihen über Reihen mächtiger, knorriger, uralter Bäume, die vom Norden bis Süden reichten, so weit das Auge sehen konnte. Das Land war Thoor genannt; es war ein Tafelland, ein Hochplateau, und dahinter ragten noch mächtigere Höhen auf, und die hochgetürmten Berge, die die Cophyri Shamandur nannten – »Den Gipfel der Welt«. Diesen Wald mußten sie durchqueren, jene mächtigen Höhen ersteigen und einen schmalen Pfad zwischen schwindelerregenden Abgründen und spitzen Gipfeln schreiten, wenn sie je Tarandon-Tor erreichen wollten. Als sie den Rand des Waldes erreichten, hielten sie ein wenig inne, zögerten, als empfänden sie Widerstreben, in die uralte Einsamkeit und das Schweigen, das dort wohnte, einzudringen. Nur wenige Menschen, so berichtete Sodaspes, drängen in die dunkelgrüne Düsternis von Grymwood ein; es hatte unter Reisenden einen schlechten Namen. »Sind dort drinnen Ungeheuer?« fragte Othgrim, und seine Hand umfaßte den eisenbeschlagenen Stab fester. Der Magier zuckte die Schultern. »Vielleicht Tiere der einen oder anderen Art«, sagte der Junge würdig. »Aber besonders müssen wir Menschen uns weniger als Menschen fürchten. Denn in Grymwood gibt es Räuber; Gesetzlose und Verbannte, Banditen aller Art.« Und dann sprach er auch von den Derynigol, einem Cophyriwort, das sich nur schwer in unsere Sprache übertragen läßt: »Eine passende Übersetzung könnte vielleicht ›Zauberer des 62
Wildwaldes‹ sein, aber ich will sie die Waldhexer nennen.« Morgan hatte im meerumschlungenen Kargonessa wenig von den Derynigol gehört. Aber an dem Wenigen war nichts Gutes gewesen. Eine wilde, gesetzlose Brüderschaft von Zauberern waren diese Waldhexer; verschlagene, gefährliche, trickreiche Geschöpfe. Und doch hatten auch sie sich dem Pakt angeschlossen. Wenn die fünf also das Unglück haben sollten, einem ihrer Art zu begegnen, so war immerhin möglich, daß sie ohne ein Messen der Kräfte an ihm würden vorbeiziehen dürfen. Und so zögerten sie eine Weile, ehe sie den Wald betraten. Und Morgan dachte für sich über jenes geheimnisvolle, unausgesprochene Band nach, das man »Pakt« nannte. Die Menschen dieser Welt erwähnten ihn immer wieder; er war einer der Fakten ihrer Existenz, so wie Regen, Sonne oder Blut. Sie erwähnten ihn fast bei jedem zweiten Atemzug und sprachen doch nie darüber. Morgan hatte nie begriffen, worum es bei diesem Pakt ging, und jedesmal in seinen frühen Tagen auf Kargonessa, wenn er versucht hatte, einen der Cophyri danach zu befragen, so zuckte der Betreffende mit einer Mischung von Schrecken und Empörung zurück, als ob seine Frage an Blasphemie grenzte. Es war alles höchst rätselhaft; aber dann war diese Welt ihm ohnehin in vieler Hinsicht fremd. Nur wenige Menschen der terranischen Rasse waren vor ihm hierhergekommen, und das waren im allgemeinen Händler gewesen; keiner vor ihm hatte auf Bargelix sein Zuhause gefunden. Und die Cophyri hatten trotz ihres menschenähnlichen Aussehens und ihrer biologischen Ähnlichkeit doch ihre Geheimnisse. Mit der Zeit hatte er sich aus den cophyrischen Mythen zusammengereimt, daß die Götter dieser Welt zu Anfang gleichzeitig viele Rassen erschaffen hatten: Menschen, Gnomen, Meeresvolk und die Sprechenden Tiere – die vier Gemeinschaften. Die Götter schufen einen Pakt zwischen den Gemeinschaften; den Menschen wurden die Felder und Flüsse gege63
ben; den Gnomen die Hügel und Berge; die Meerleute beanspruchten das große Meer für sich, und was die Sprechenden Tiere anging, so waren die Wälder ihre Domäne. Und so herrschte Frieden – der Frieden des Paktes – zwischen ihnen allen. Was hatten die Kargonleute getan, um den Pakt zu brechen? Das war das Geheimnis, das der Outworlder nie erfuhr, aber er argwöhnte, daß ein Mann von Kargoninsel einen der Meerleute getötet hatte, denn in den alten Tagen hatte es, wie er wohl wußte, einen Krieg zwischen den Kargonlords und den Lords des Meeres gegeben. Soviel hatte sich der Outworlder aus Andeutungen und Stükken der Überlieferung zusammengereimt – aber es war ein Gewebe, das meistenteils aus Vermutungen bestand, und so konnte er nicht sicher sein. Jedenfalls waren die Alten Tage lange vorbei. Und jene Dinge trugen heute mythischen Charakter. Die Meerleute waren alle tot und seit Äonen verschwunden oder hatten sich vielleicht auch von den Küsten der Menschen an die tiefen, geheimen Orte des Meeres zurückgezogen … auch die Berggnomen sah man selten. Und von den Sprechenden Tieren, was immer das Wort bedeutete, hörte man heutzutage nur noch in Legenden. Sie zögerten eine Weile vor dem Eingang zu Grymwood, und eine ernste Stimmung überkam sie in Gegenwart der mächtigen Bäume und ihrer lautlosen Majestät. Hier hatte die Hand des Menschen, die allen Dingen ihren Stempel aufdrückt, nicht zugeschlagen. Diese mächtigen Patriarchen hatten nie den bitteren Kuß der Axt verspürt. So wie in der ersten Dämmerung der Schöpfung streckte sich auch heute Grymwood noch unverändert über die Welt. Hier war Zauber, und auch Geheimnis – und Fremdheit. Ein wilder, geheimnisvoller Rausch. Aber hier war auch Frieden … 64
Frieden, ungebrochen seit Anbeginn der Zeiten. Sie standen im Schatten der riesigen Bäume, alle von der gleichen würdevollen, ernsten Stimmung erfaßt, stumm. Morgan dachte an die mächtigen alten Redwoods der Erde seiner Ahnen. Er war nie dort gewesen, noch hatte er die großen Bäume je körperlich gesehen, aber er kannte sie wohl aus Stereosendungen und Fotowürfeln und Buchbändern. Jahrtausende hatten sie erlebt, waren unverändert geblieben. Und von solcher Weise war der Zauber, der von Grymwood ausging. Und Sodaspes griff in nachdenklicher Melancholie hinter sich und strich über die rauhe Borke eines mächtigen Baumes. »Hai-ja, Grymwood!« flüsterte er leise für sich: »Du ehrwürdiger, uralter Großvater aller Wälder … Seit der Dämmerung der Zeiten stehst du auf diesem Land, du grüner, stimmloser Gigant! Behüte immer deine Geheimnisse und deine Verstecke; wir bitten nur, du mögest uns den Durchzug gewähren, und flehen dich an um sicheres Geleit …« Und dann begann plötzlich Conyin zu sprechen, anscheinend war die schlechte Stimmung, die ihn den ganzen Vormittag begleitet hatte, jetzt verflogen. Seine Augen blickten verträumt. »Holz von Zweigen Grymwoods diente Kelemar als Stab und Bogen und Pfeile«, sagte er mit tiefer Stimme, aber weich, fast als sänge er ein Lied. »Und damit bewaffnet, zog er gegen die Schwarzen Gnome und entrang in alter Zeit dem Schatten ganz Sodalma; Heil dir, alter Wald, Heil dir, Grymwood!« Dann zogen sie unter den gebogenen Ästen des Waldtitanen, und es war, als hätten sie eine magische Schwelle überschritten von einer Welt in die andere. Denn draußen war nur volles, goldenes Sonnenlicht und muntere Winde, die mit den hohen Grashalmen spielten; aber hier drinnen waren grüner, mystischer Schein, flüsterndes Schweigen und geheimnisvolle Wege, die einen ins Unbekannte führten. Es war eine völlig andere Welt hier drinnen im Wald, und hier mußten sie vorsichtig ausschreiten. 65
Smaragdfarbene Düsternis umhüllte sie, als sie hintereinander einen sich windenden Pfad entlangschritten. Hohe Stämme ragten beiderseits von ihnen auf, wie mächtige Säulen in einer riesigen, düsteren, murmelnden Kathedrale. Das grüne Schweigen und die Düsternis waren ehrfurchterregend, waren irgendwie heilig. Hier herrschte Schweigen, das nicht mehr gebrochen worden war, seit die Welt jung war. Sie schritten hinein in die Düsternis, und die Düsternis verschlang sie. Den ganzen Tag lang schritten sie durch die grünen Schatten von Grymwood und sahen nichts, was ihnen Furcht bereitete. Es gab kleine Tiere, die zwischen den heruntergefallenen Blättern herumliefen, oder auf den Ästen entlangrannten und sie ohne Angst mit hellen, neugierigen Augen musterten. Und in Nestern über ihnen saß seltsames Geflügel, riesige Vögel mit prunkvollen Federn, die ihr Lied sangen. Aber an gefährlichen Tieren oder gar Raubtieren sahen sie nichts. Wäre Sodaspes jetzt nicht gewesen, so hätten sie sich sehr schnell verlaufen. Aber der Magier trug stets einen Wegstein in der Hand; das war etwas sehr Seltenes, eine Art natürlicher Kompaß, ein milchiger Kristall, in dessen wolkigem Herzen ein Funken lebender Flamme pulsierte. Der kleine Stern pochte in den Tiefen des Kristalls: eine flackernde Flamme, wie eine Pfeilspitze, die immer nach Osten wies, auf das Land des Sonnenaufgangs zu. Als es schließlich zu dunkel geworden war, als daß sie hätten weitergehen können, lagerten sie an einem kleinen, munter plätschernden Flüßchen. Morgan schlüpfte erleichtert aus seiner Tunika und badete seinen verschwitzten Körper hinter dem Schutz der Büsche im kalten, gurgelnden Wasser. Sie aßen im Schein ihres Lagerfeuers, zu müde, um viel zu reden. Aber jetzt, da Dunkelheit über ihnen war, war die Gefahr groß. 66
Sodaspes trug kein Schwert, weil die Gelübde, die er abgelegt hatte, verboten, daß er scharfen Stahl trage. Aber er lieh sich das kurze Schwert aus, das an Argyras Seite hing; man brauchte eine Stahlklinge, um die Hut zu errichten. Morgan hatte von diesem Ritus gehört, hatte aber nie zugesehen, wie ein Magier ihn zelebrierte. Und so sah er jetzt mit großer Neugierde zu. Der Magier zog einen Griffel aus feinem Holz aus seinem Beutel und schrieb damit auf eine mit feinem Wachs bedeckte Schiefertafel. Jetzt benutzte er die Spitze des Griffels, um eine Ader über seinem Herzen zu ritzen, und als Tropfen für Tropfen dunkles Blut aus der kleinen Wunde aufquoll, befeuchtete er die Griffelspitze darin und malte damit sorgfältig Symbole auf das Schwertblatt. Dann drückte er die Schwertspitze in den Boden und zog langsam einen Kreis um ihr Lager, bis die ganze Lichtung unter der Hut war. Als das geschehen war, stieß er das kurze Schwert in der Mitte des Kreises in den Boden und ließ es dort stecken. Argyra beklagte sich laut, daß die Feuchtigkeit der Nacht den Stahl zum Verrosten bringen könnte. Aber Sodaspes brachte sie mit einem hingeworfenen »Es muß so sein« zum Schweigen, entschuldigte sich dann ob seiner Unhöflichkeit und versprach ihr, das Schwert selbst am nächsten Morgen zu säubern. Dann zogen sie sich alle zu ihren Lagern zurück. Die Kriegsmaid schlief ein wenig abseits von den Männern auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Die ganze Nacht hielt das verzauberte Schwert das Lager in seiner Hut. Einmal, obwohl die Schläfer das nicht wußten, stand eine hochaufragende dunkle Silhouette lautlos im düsteren Schatten der Bäume außerhalb des Kreises und beobachtete sie mit bösen glitzernden Augen. Auf verstohlenen Füßen kroch die 67
Gestalt nahe an den Kreis heran; das Schwert blitzte einmal warnend, ein greller Blitz stahlblauen Lichts, und das gleitende Ding floh vor der Strahlung, stieß einen klagenden Laut aus und hielt sich etwas vor die Augen, um das Blitzen abzuhalten. Das Schwert aber wurde wieder dunkel, ohne einen einzigen Schläfer geweckt zu haben. Und dann glitt ein schniefendes Ding heran und schnupperte mit schmatzenden Lauten den heißen Atem lebenden Menschenfleisches. Es war vorsichtiger als das Geschöpf, das aufrecht stehend hereingespäht hatte, denn es kam dem Kreis nicht einmal nahe, sondern hielt sich hungrig außerhalb der verzauberten Sperre. Das zweitemal kam das schniefende Ding, das jetzt vom Geruch von Menschen an die Grenze seiner Toleranz getrieben war, um ein Haar zu nahe, und die unsichtbare Sperre knisterte warnend. Ein kaum sichtbarer Vorhang feuriger Funken. Das dunkle Ding zog seine zarte Schnauze zurück und verschmolz wieder mit der schwarzen Düsternis des Waldes, zornig und verwirrt, aber auch verängstigt. Die fünf schliefen ungestört weiter und erfuhren überhaupt nicht, wie nahe das Schreckliche ihren schlafenden Leibern gekommen war. Der Morgen dämmerte, und sie standen auf und tranken und aßen, und Sodaspes brach die Hut und polierte Argyras Stahl, während sich das Kriegermädchen zu den Büschen am Ufer des Flüßchens zurückzog, um sich dort zu waschen. Sie waren alle irgendwie beschäftigt, als es endlich kam: Sodaspes war über das Schwert gebeugt und polierte es mit Öl und einem Lappen. Morgan und Conyin waren damit beschäftigt, ihre Knappsäcke neu zu packen, die sie in der Nacht zuvor nicht neu geordnet hatten. Othgrim drückte die letzten Kohlen des Feuers aus und bespritzte sie mit Wasser aus dem Flüßchen: Grymwood war ihnen bis zur Stunde ein freundlicher 68
Gastgeber gewesen und so wollten sie ihn nicht ungehörig mit jenem Feuer belohnen, das die Furcht aller Wälder ist. Argyra schrie! Schrill, scharf, erschütternd laut in der Stille des Morgens. Othgrim schnappte sich seinen Stab und bahnte sich brüllend seine Bahn durch die Büsche, wobei er ein paarmal rief: »Ich komme, Herrin!« Morgan stand einen Augenblick lang wie erstarrt, dann beugte er sich vor, riß Sodaspes das Schwert des Mädchens weg und rannte hinter dem hünenhaften Othgrim her. Als er sich dem Flußufer näherte, sah er plötzlich ein eingefrorenes Tableau. Nackt stand das Mädchen im Strom, bis zu den Knien im Wasser, mit einem Arm die Schenkel und mit dem anderen ihre Brüste bedeckend, in der seit urdenklichen Zeiten bekannten Haltung einer überraschten Frau. Trotz der unsäglichen Spannung des Augenblicks wurde sich Morgan doch auf schmerzhafte Weise einer kleinen, runden, festen, weißen Brust bewußt, die sich im schnellen Atem des Mädchens hob und senkte. Aber er konnte nur einen winzigen Blick auf jene weiße Brust und ihre Schultern erhaschen, über die das ungebundene Haar strömte, auf die traumhafte Kurve ihres Rückens, ihrer Hüften und der langen, schlanken Schenkel. Denn der hünenhafte Othgrim lag mit dem Gesicht nach unten im Fluß, als hätte eine Axt ihn gefällt. Und hinter den zweien – stand lächelnd ein Waldhexer. Er war ein kleiner, gebeugter Mann, mit braunem, runzeligem Gesicht, schwarzem, öligen Haar und gelben Augen, so seelenlos wie die einer Kröte. Er trug einen unauffälligen Umhang, zerfetzt und geflickt und schmutzig, so daß es fast nicht mehr wie ein Tuch wirkte. Er verschmolz mit der Baumrinde und den hohen Gräsern und der schlammigen Erde, als hätte er sich wieder zur Hälfte in seine natürlichen Elemente aufgelöst. Eine braune, knorrige, schmutzige Hand hielt einen Stab aus 69
schwarzem Holz umklammert. Die Hand selbst wirkte fast wie ein Gewirr knotiger Wurzeln. In dem atemlosen Schweigen hob Morgan sein Schwert. Sonnenlicht blitzte auf geöltem Stahl, aber der seltsame, schmutzige, kleine Mann achtete überhaupt nicht auf das Schwert, obwohl seine bösen, gelben Augen zur Seite huschten, um die Klinge zu mustern. Othgrim lag zu Morgans Füßen. Tot oder betäubt? fragte sich Morgan, und sein Herz schmerzte ihn. Er mußte tot sein; wie konnte der kleine Mann ihn niedergeschlagen haben? dachte er. Und dann dachte er: Tasper! Wie kann ich zurückkehren und davon berichten? Othgrim, du großer, dummer, grinsender, treuer Bursche! Er veränderte den Griff, mit dem er das Schwert hielt. Er schwitzte unter der heißen Sonne im summenden Schweigen. Ein Schweißtropfen sammelte sich an seiner Nasenspitze und fiel in den Schlamm. Der gebeugte, braune, kleine Mann grinste spöttisch in lautlosem Gelächter, und seine Hand bewegte sich wie eine riesige Spinne über den schwarzen Stab. Und dann war hinter Morgans Rücken eine zitternde, atemlose Stimme, die von Sodaspes, zu hören: »Geh von uns, Derynigol! Ich bin ein Adeptus Minor des Grünen Ouroborus. Geh von uns, Derynigol! Ich diene dem Verborgenen Auge; mein Kreis ist der Neunte; die Grüne Schlange bewacht die Ihren, Derynigol! Geh von uns, jetzt! Geh in Frieden! Erinnere dich an den Pakt, Derynigol; wir sind die Sucher; die Großen Jahre sind über uns, Derynigol; wir gehen, um das Tarandon-Tor zu schließen, auf daß der Schatten uns nicht alle überwältige und die Welt ende …« Argyra holte schluchzend Atem. Ihr Gesicht war weiß wie Milch – Morgan sah, daß selbst ihre Lippen weiß waren – er wußte, ohne daß es der Worte bedurfte, daß sie gesehen hatte, wie jene bösen, gelben Augen sie beobachteten, daß sie jenes bösartige Feixen gesehen hatte, zwischen grünen Blättern, 70
während sie ihre Nacktheit in klarem Wasser badete. Der Schrecken aller Frauen war über sie gekommen in jenem Augenblick; das oder der Panikschrecken, den die Waldhexer wie eine Pestilenz um sich verbreiten, wo immer sie sind. Insekten summten in seinen Ohren; die Sonne spiegelte sich vom hellen Wasser in seinen Augen. Das Flüßchen gurgelte über glatte, bemooste Steine, erschreckend laut. Seine Achselhöhlen waren naß und klebrig; Schweißtropfen klebten auf seinem Handrücken. Das lange Stillstehen bereitete ihm Schmerzen. Im nächsten Augenblick würde er sich auf den kleinen, braunen Mann stürzen und ihm das Schwert in den Leib treiben, das wußte er. Hinter ihm tönte die zitternde, schwache Stimme von Sodaspes weiter, und Morgan fühlte, daß er diese Spannung nicht länger ertragen konnte. Ein roter Nebel zog über seine Augen. Seine Beine zitterten wie die eines kampfunerfahrenen Pferdes beim Geruch der Schlacht. Und immer noch lachten die gelben Augen, und das braune Gesicht starrte feixend zu ihm herüber. Und dann pfiff etwas an Morgans Ohr vorbei, ein schwarzer Pfeil, bohrte sich klatschend zolltief in den Stab des braunen Mannes, summte zwischen den braunen, knorrigen Fingern! Argyra kreischte, schlug um sich; Morgan stöhnte! Schnell, wie das Flackern eines Gedankens, blitzte ein zweiter Pfeil. Diesmal brach der schwarze Stab in zwei Stücke und fiel durch die Blätter – dem erschlaffenden Griff des Waldhexers entrissen. Plötzlich riß die Stimmung wie ein zersplitternder Spiegel, die Spannung rann aus der Szene. Der braune Mann verschmolz mit den Blättern und war plötzlich verschwunden, lautlos. Sie drehten sich um, alle, und sahen einen hochgewachsenen, kräftigen Mann, unbestimmten Alters, in dunkle Erdfarben gekleidet, der einen mächtigen schwarzen Bogen senkte. Er stand auf der anderen Seite des Flusses, ein paar Schritte 71
stromabwärts. Der Waldhexer hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so kam es, daß keiner der fünf den großen Mann aus dem Blattwerk hatte treten sehen, den schwarzen Bogen hebend und die Pfeile versenden. Jetzt musterten sie ihn unsicher. War dies ein Freund, der den Feind vertrieben hatte? Oder war es eine Konfrontation zwischen zwei ihrer Feinde gewesen, die um sie, die gemeinsame Beute, stritten? Er war sehr groß, fast ebenso wie der mächtige Othgrim. Sein schmales Gesicht war braun wie die Erde, sein Haar von dunklem Grau, an den Schläfen weiß gefleckt. Seine klaren, gelben Augen waren scharf, sein dünnlippiger Mund fest. Es war ein gutes, starkknochiges Gesicht. Er trug ein einfaches Hemd aus weichem, braunen Leder, sauber und gebürstet, fast Wildleder; darunter ein Kleidungsstück mit grünen Ärmeln, waldgrün, könnte man sagen, und eng anliegende Beinkleider derselben Farbe. Er trug Wildlederhandschuhe und Halbstiefel aus demselben Material. Ein lederner Gurt umgab seine Hüften und an ihm hing ein Dolch in schwarzer Scheide, ein Lederbeutel und ein Köcher. Einen Umhang aus dunkelgrünem Wollstoff hatte er über die Schultern zurückgeworfen, um die Arme für den Pfeil und Bogen frei zu haben. Dann senkte er den Bogen und ließ die Sehne locker und lächelte ihnen zu. Sie wußten, daß er kein Feind war. Othgrim, stellten sie fest, war weder tot noch im Sterben. Der Knecht hatte den Waldhexer mit einem dröhnenden Schrei angegriffen, worauf ihn ein Zauberstrahl gefällt hatte. Argyra hatte das Ganze gesehen: ein lautloser Blitz grünen Feuers aus dem schwarzen Stab, so grell, daß das Tageslicht daneben düster wirkte, und Othgrim war kraftlos niedergestürzt wie vom Schlag einer Keule. Kaltes Wasser, das man ihm ins Gesicht spritzte, und etwas Wein brachten ihn gleich wieder zu sich, obwohl er eine Weile etwas benommen war. Aber er hatte keinen dauernden Schaden 72
gelitten. Sodaspes legte seinen Umhang um den bloßen Körper der Kriegsmaid; Conyin und Morgan halfen dem benommenen Hünen beim Aufstehen und trugen ihn ins Lager zurück. Der Fremde, stumm und geheimnisvoll, folgte ihnen, den schwarzen Bogen schußbereit, mit scharfen Augen, die beständig das Buschwerk absuchten, so als argwöhnte er, daß jeden Augenblick wieder einer der Waldhexer angreifen könnte. Aber das geschah nicht, und sie erreichten ihren Lagerplatz sicher. Und dort befragte Sodaspes mit leiser Stimme den stummen Fremden, während die anderen zu Ende packten. Wie sich ergab, hieß jener, dessen schneller Pfeil sie alle vor dem kleinen braunen Mann aus dem Wald gerettet hatte, Korlix. Das war eigentlich kein Name sondern ein Beruf: kor lix, ›Mann des Bogens‹ bedeutet das auf Corphyri. Und als Sodaspes den Namen hörte, rief er erstaunt aus: »Ist es nicht ganz so, wie der Gesang prophezeit?« Sein junges Gesicht strahlte vor Freude. Der alte Conyin funkelte ihn mürrisch an, und Argyras klare Stimme erhob sich fragend. »So heißt es doch im Lied, im Lissandurgesang!« sagte er. »Ihr erinnert euch doch sicher an die Verse …« »Nun, ich zumindest nicht«, gab Morgan zögernd zu. »Oder besser, laß mich sagen, daß ich mich unbestimmt an sie erinnere. Conyin hat sie in jener Nacht im Reiterlager gesungen – aber ich habe es nicht verstanden, mir schienen diese Verse unsinnig … wie ein Rätsel …« »Ja, so ist es«, brummte der alte Rhapsode. »Aber wie alle Rätsel und Worte von Prophezeiungen wird es klar, wenn das, was prophezeit wird, geschehen ist: was, mein lieber Zauberjunge?« Und der alte Barde schlug grinsend seine Leier an, und plötzlich verstand der Outworlder seine Bedeutung, hatte er doch alles mit eigenen Augen miterlebt. 73
Ich meine den achten Gesang, der da lautet: Im Blattwerk an dem munteren Bach, ein Zauberfeind die fünf bedroht. Doch der Gefahr entrinnen sie, ein kühner Bogenschütze eilt herbei. »Natürlich!« sagte Morgan Outworlder. »Korlix, der Mann ist der Schütze, den der Gesang prophezeit! Aber wie erstaunlich das alles doch ist, daß diese Ereignisse, die wir erleben, von einem gesehen und im Gesang festgehalten wurden, der vor so langer Zeit gelebt hat – vor wievielen Jahrhunderten?« Aber keiner hörte auf ihn, denn alle hatten sich um den hochgewachsenen, finster blickenden Fremden mit dem großen schwarzen Bogen gesammelt. Da seine Bezeichnung kor lix, wie ich schon sagte, nichts anderes als »Mann des Bogens« besagt, werde ich ihn künftig in dieser Erzählung einfach »Bowman« nennen. Wahrscheinlich ist das ein seltsamer Name, aber so lautet er nun einmal. Das Morgantyr-Epos, dem ich lediglich folge, nennt ihn so in Cophyri, und dem muß ich folgen. Wie auch immer er bei der Geburt genannt wurde, was auch immer sein Clan, seine Stadt, seine Vorfahren gewesen sein mögen, ist im Epos nicht vermerkt, und die anderen, die mit ihm zogen, haben es nie erfahren. Oder, wenn sie von diesen Dingen hörten, haben sie das Wissen nicht weitergegeben, und so ist Bowmans Geschichte eine, von der wir nur wenig wissen. Und so unbefriedigend der Name auch sein mag, wir kennen keinen anderen. Das war der einzige Name, den er ihnen nannte, und somit auch der, unter dem sie ihn kannten. Bowman begleitete sie zu ihrem Lager zurück. Er war ein Mann weniger Worte, schweigsam und von ernstem Wesen, und mußte daher zu den Waldlern gehören, wie man die Räuberbanden von Grymwood nennt. Es herrscht ewiger Krieg oder zumindest bewaffneter Waffenstillstand zwischen den 74
Derynigol und den Waldlern. Die Waldhexer haben Macht über alle, die von draußen in die grünen Lichtungen von Grymwood kommen; aber ihre Kräfte sind vom Boden selbst abgeleitet, vom Samen und vom Blatt, von Kräutern und Blüten, und ihre schattenhaften Künste sind nutzlos gegen Mitbewohner des Waldes, die mit ihnen das Blätterdach von Grymwood teilen. So kam es, daß Bowman den feixenden, kleinen, braunen Mann mit den bösen Augen so leicht vom Schauplatz des Geschehens hatte vertreiben können. Obwohl, wie er eingestand, die Konfrontation ganz anders hätte ausgehen können, hätte er nicht das Glück gehabt, den schwarzen Stab des Hexers mit einem seiner Pfeile zu zerstören. Sie packten ihre Sachen, und Argyra legte stumm ihren Brustpanzer an. Eine ernste Stimmung hatte sich über sie gelegt, denn wie Sodaspes sagte, war die alte Prophezeiung des Liedes jetzt erfüllt. Der letzte der Helden, die die große Suche antreten sollten, sollte ein Bogenschütze sein, hieß es im Lissandurlied. Und dieser grimmige, schweigsame, ernste Mann war auf denselben Ruf hin erschienen, der sie alle eingeholt hatte, abgesehen von Othgrim und Morgan Outworlder. Anscheinend war dieser Ruf tief in den Mysterien der Gene und Chromosomen der Cophyri vergraben. Morgan hatte ihn nicht gehört, weil er von fremdem Blut war, und Othgrim hatte ihn nicht gehört, weil alle, die auf Kargoninsel wohnen, als Brecher des Paktes von dem gemeinsamen geistigen Erbe der Festländer abgeschlossen sind, isoliert vom Zauber und dem Schutz der nebelhaften Schattengötter von Bargelix, die so selten erwähnt wurden, obwohl sie doch so wirklich schienen. Bowman drückte es mit seiner tiefen, ruhigen Stimme so aus: »Nun sind wir in Wahrheit die Sechs und können weiterziehen ans Ende der Suche.« Sie verließen jenen Ort, und Bowman führte sie den ganzen Tag durch die dunklen Pfade von Grymwood, und die Nacht 75
verbrachten sie auf dem Lagerplatz der Waldler im Schutz ihres neuen Kameraden.
6. Bowmans Brüder wohnten mitten in Grymwood, wo ein gigantischer Baum einer Lichtung Schatten spendete, die so groß wie ein ganzes Stadion war. Dieser große Baum war uralt; sein mächtiger Stamm so riesenhaft, daß zehn Männer mit ausgestreckten Armen ihn nicht umfassen konnten: Iornungand nannten sie ihn voll Respekt und Liebe. Der Name bedeutete »Großvater-der-Bäume«, und war sehr gut gewählt, dachte Morgan Outworlder. Die Waldler hatten ihr Hauptlager in dieser Lichtung. Zelte aus Häuten waren unter den mächtigen Ästen aufgestellt, Lagerfeuer flackerten in Gruben. Lautlos, wie Schatten, glitten die grün und lederbekleideten Gesetzlosen durch die Lichtung im Schatten des ungeheuren Patriarchen der Wälder. Sie waren eine rauhe, harte Schar, diese Waldler, und neigten zu groben Scherzen und lauter Heiterkeit. Alles Gesetzlose, ob sie nun ein Bruch der Gesetze ins Exil getrieben hatte oder freiwillige Wahl der Einsamkeit Grymwoods. Aber da jener Bowman (ein Häuptling von einigem Rang in ihrer Gruppe) sich für die Reisenden verbürgte, wurden sie mit großer Gastfreundschaft willkommen geheißen. Sie kannten den Pakt nicht; noch kannten sie Lissandurlied oder irgendeine Prophezeiung oder kümmerten sich darum. Aber die Gastfreundschaft, das Recht des Gastes, war ihnen geheiligt, und so fanden die fünf und ihr neuer Begleiter einen Platz unter ihnen. In jener Nacht saßen Sie unter den wenigen Sternen, die man durch den schwarzen Baldachin von Iornungands Zweigen erkennen konnte, saßen und unterhielten sich. Sie hatten reichlich gegessen und getrunken. Das Gastmahl 76
bestand aus mächtigen, dampfenden Stücken köstlichen Wildbrets auf Platten aus geschnitztem Holz und Holzbechern mit kaltem, schäumendem Bier und würzigem Kräuterkuchen, und es war wahrhaftig eine herzhafte Mahlzeit zum Klang alter Lieder und wilder Musik, die auf Pfeifen und klagenden Lauten gespielt wurden. Die Frauen der Waldler tanzten vor den Feuern, genauso wie die Frauen des Reitervolks in jener Nacht auf den Flüsternden Ebenen getanzt hatten. Mit herausfordernden Augen, lachend und mit roten Lippen. Da Conyin ein Barde war, forderten ihn die Waldler auf, ihnen ein Lied zu singen, und er sang in jener Nacht unter dem murmelnden Baldachin aus Blättern und den wenigen glitzernden Sternen, sang ihnen das alte Lied von Arvery am Whitestrand Firth, und die Gesetzlosen saßen hingerissen und verträumt und lauschten dem mächtigen Epos uralter Helden und Krieger. Morgan aß reichlich. Das Wildbret stammte von einem tierähnlichen Bewohner der Wälder, einem großen, edlen Geschöpf mit purpursamtener Haut und schneeweißem, verästeltem Geweih. Die Gesetzlosen jagten den purpurnen Hirsch, um sein Fleisch, seine Haut und sein Geweih zu gewinnen. Was das Bier betraf, so brauten sie es selbst, indem sie gut verschlossene Fässer tief in die rauschenden Wasser der großen Ströme versenkten, die kalt und schäumend von den Höhen jenseits von Grymwood in die Tiefe stürzten. Er trank in langen Zügen und wurde verwirrt. Der wirbelnde Tanz, die strömenden Flammen, das Brausen des Liedes – sie alle vermischten sich in seinem Geist. Und durch den Nebel leuchtete klar das ovale Gesicht von Argyra. Ihre gelben Augen suchten von Zeit zu Zeit die seinen, wenn die Kriegsmaid ihm gegenübersaß. Nach einer Weile schlief er ein, und das so tief, daß Morgan, als Othgrim kam, um ihn mit vorsichtiger Hand zur Ruhe zu betten, nicht einmal bemerkte, daß man ihn bewegte. Aber Conyin trank viel mehr als er, und so war er am 77
nächsten Morgen mürrisch und reizbar und legte sich mit allen an, ohne dafür einen Grund zu haben. Sie ließen das grüne Dach von Grymwood hinter sich und stiegen ein in steiles, felsiges Land. Sie waren jetzt dem Shamandur ganz nahe – dem Gipfel der Welt. Weit vor sich konnten sie die Berge sehen, die sich hintereinander auftürmten, undeutlich und purpurfarben, und aus dieser Ferne noch wie Nebel oder Wolkenformationen wirkend. Bowman schritt mit einem schweren Bündel auf den Schultern vor Morgan einher. Vor ihnen erwarteten sie jetzt keine Freunde mehr, auch keine Einladungen zum Abendmahl; jetzt mußten sie ihre eigenen Vorräte tragen, oder hungern. Sodaspes übernahm die Führung, und der Wegstein blitzte in seiner Hand, und wies immer nach Osten, dem Land des Sonnenaufgangs. Die Luft war klar und kalt und sehr trocken. Sie stiegen jetzt beständig höher, und bald brannten ihre Beinmuskeln von der Strapaze. Unter ihnen und hinter ihnen dehnte sich Grymwood, ein endloser Teppich, dunkelgrün mit einer Andeutung von Grasland und einem Blick auf die ferne Felsmauer dahinter – alles andere war im Dunst der Entfernung verlorengegangen. Zuerst hielten sie jede zweite Stunde an, um zu rasten. Aber bald legten sie jede Stunde eine Rastpause ein und wurden dennoch müde, denn die trockene Luft brannte in ihren Lungen, und ihre Münder dursteten. Als ihr Weg sie daher zu einem kalten, schnell dahinplätschernden Bergflüßchen führte, war ihnen das sehr willkommen. Sie legten Bündel und Stab beiseite und legten sich auf den Bauch, um von dem bitterkalten, sauberen Naß zu trinken, das an ihnen vorbeiströmte. Morgan tauchte den ganzen Kopf in den Strom, und als er sein brennendes Gesicht wieder hob, blickte er ins Antlitz des Schreckens. Auf der anderen Seite des Stromes funkelte ihn auf einem 78
weißen Felsbrocken ein vorgebeugtes schwarzes Ding an, mit einem Gesicht, das eine Karikatur der menschlichen Visage war, mit bösen, roten Augen. Eisiger Schrecken packte ihn. Er wußte, was das war – ein Schwarzer Gnom! – einer der Bergbewohner – und ein Feind jedes Menschen. Er stieß krächzend einen Warnruf aus, aber Bowman und Argyra hatten den Gnomen fast im selben Augenblick auch erkannt. Ihre zwei Bogen blitzten, und ein schwarzer und ein weißer Pfeil pfiffen durch die klare Luft und prallten gegen totes Felsgestein. Das schwarze Ding war verschwunden, wie durch Zauberei – zwischen dem Augenblick, in dem die Pfeile die Sehne verließen und dem, in dem sie gegen den Felsen prallten. Ernüchtert griffen sie wieder nach ihren Bündeln und zogen weiter, aber jetzt schritten sie mit größter Vorsicht aus und beobachteten die Hügel und Gipfel über sich und hielten Ausschau nach schwarzen Gestalten, die sich bewegten. Sie wußten, daß diese Höhen von Gnomen wimmelten, aber es war ein Unglück, daß sie schon so früh entdeckt worden waren. Höher kletterten sie und immer höher. Aber dies war nicht, wie Morgan gefürchtet hatte, dasselbe wie Bergsteigen. Da er nichts von solch alpinen Dingen verstand, hatte er damit gerechnet, sich mühsam an steilen Felswänden emporarbeiten zu müssen, bei jedem Schritt in Gefahr. Aber so war es nicht: hier stieg das Land steil an, eine Felskette nach der anderen, aber Gefahren waren da kaum, eher rückenbrechende Quälerei. Die Berge von Shamandur freilich, die vor ihnen lagen, mochten da etwas ganz anderes sein. Einige Stunden später geschah es. Auf schmerzenden Beinen und Füßen arbeiteten sie sich eine steile Schlucht hinauf, als sie plötzlich stehenblieben und einander anstießen. Dort, an der Mündung der Schlucht, stand drohend eine klei79
ne, schwarze, verzerrte Gestalt und funkelte auf sie herunter, und ihre roten Augen brannten unter herunterhängenden Lidern und einer zottigen Mähne. Morgan musterte die Kreatur fasziniert, als wäre sie ein Geschöpf der Legende. Gedrungen – vielleicht drei Fuß oder ein wenig größer – schwarz wie knorriges Holz, mit kurzen, krummen Beinen und knorrigen Armen, so knotig wie die Wurzeln von Iornungand, dem Großvater der Bäume. Es hatte einen viereckigen Schädel, ohne Brauen und breit, dicht mit zottigem Haar bewachsen, das die Farbe von Stroh hatte. Aus dem breiten, lippenlosen Mundschlitz ragten Hauer hervor, halb von einem spärlichen Bart bedeckt. Unglaublich häßlich stand es da, eine schwere Steinaxt in den hornigen Händen. Sein Leib war mit schmutzigen Häuten bedeckt. Und das Ding stank. Bowman schoß einen Pfeil auf den schwarzen Gnomen ab, aber der gab ein knurrendes Geräusch von sich, das ebensogut Gelächter hätte sein können, und fegte den Pfeil mit unglaublicher Geschicklichkeit mit seiner Steinaxt weg. Ehe der hochgewachsene Mann einen weiteren Pfeil hinter dem ersten herschicken konnte, huschte das bösartige kleine Geschöpf zur Seite und war plötzlich verschwunden. Die sechs sahen sich stumm an, als wollten sie sagen – was nun? Doch die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, als nämlich ein Felsbrocken von der Größe eines Kürbisses von oben heruntergeflogen kam, Othgrim nur um ein Haar verfehlte und in einem Regen scharfkantiger Fragmente und einem Wirbel von Felsstaub auf dem Boden zerschellte. Sie blickten auf. Grinsende, schwarze Gesichter säumten den Klippenrand wie Wasserspeier an einem Dachsims. Weitere Steine rollten und tanzten jetzt den steilen Hang herunter und zerplatzten wie Bomben auf dem Steinboden. Ein schrapnellähnliches Fragment riß Morgans Wange auf, ein zweites, so groß wie eine Menschenfaust, prallte gegen Bowmans Schulter 80
und brachte ihn zum Taumeln. Sie suchten Deckung und rannten, als sie keine fanden, den Weg hinauf, um außer Reichweite zu sein. Herumhuschende, schwarze Gestalten schwärmten schnatternd am Felsrand entlang und hielten mit ihnen Schritt. Ein Speer mit einer steinerner Spitze krachte dicht neben Argyra gegen einen Felsvorsprung; einen zweiten fing sie mit ihrem kleinen Schild auf und lenkte ihn ab, wurde aber davon niedergeworfen. Im nächsten Augenblick ging ein ganzer Regen schwerer Steinwaffen auf sie nieder. Aber wie durch ein Wunder wurde in dem ganzen Durcheinander keiner der Gruppe verletzt. Sie rannten weiter und waren in wenigen Minuten außer Reichweite, mußten aber von jetzt an jeden Augenblick auf der Hut sein und ihre Umgebung im Auge behalten. Dreimal während der nächsten Stunden pfiff ein Pfeil mit steinerner Spitze aus dem einen oder anderen Versteck an ihnen vorbei. Die Waffen der Gnomen waren primitiv gemacht und schlecht ausbalanciert, und so wurde keiner getroffen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die bösartigen kleinen Teufel genügend Mut gefaßt haben würden, um sie in Massen anzugreifen. Tatsächlich geschah das auch nur wenige Minuten nach dem dritten Pfeil. Die sechs schlängelten sich durch eine ziemlich enge Felsspalte, als sich plötzlich, ohne das geringste Geräusch, das sie hätte warnen können, kleine schwarze Männer mit bösen roten Augen sich auf sie warfen, vielleicht zwei Dutzend an der Zahl. Argyra fing mit ihrem Schild einen Axthieb auf und fällte einen Gnomen. Ein zweiter, der wie ein Ziegenbock stank, sprang Morgan von hinten auf die Schulter und riß ihn halb zu Boden. Morgan hatte einmal ein paar Nahkampftricks gelernt – er packte ein knorriges, schwarzes Handgelenk, beugte sich plötzlich vor und riß den um sich schlagenden kleinen Gnomen zu Boden, wo Othgrim ihm mit seinem Stab erschlug. 81
Es war ein wirbelndes Chaos aus weißem Staub, heulenden, buckligen Gestalten und schreienden Männern. Das Sonnenlicht blitzte auf Argyras breiter Klinge, als diese ein weiteres der häßlichen kleinen Geschöpfe niederschlug. Bowman jagte einen Pfeil nach dem anderen davon, ein tödlicher Hagel, der fünf oder sechs der kleinen, schwarzen Gnomen fällte. Blendende Blitze lautlosen blau-weißen Lichts huschten über ihre Netzhaut. Das war Sodaspes, der wild gestikulierte. Jeder Blitz blendete einen der heulenden Horde oder ließ ihn ohnmächtig niedersinken. Morgan riß sein Schwert heraus, tötete einen der Gnomen und fragte sich, ob Sodaspes noch weiteren Zauber hatte, den er einsetzen konnte. Und das tat er. Als die Lichtblitze allem Anschein nach erschöpft waren, holte Sodaspes einen kurzen Stab aus einem rauchigen, bernsteinfarbenen Kristall heraus und richtete ihn auf ihre Widersacher. Rotes Feuer schoß aus der Spitze – es sah aus wie eine Laserpistole, wunderte sich Morgan – und ein paar der schwarzen Gnomen fielen um, eingehüllt in ein Netz aus roten Flammen. Othgrim war es, der die Wende brachte. Wie ein Riese aus weißem Kalkstein, vom Scheitel bis zur Sohle mit weißem Staub bedeckt, ragte er hoch in dem Durcheinander auf, und sein mächtiger Stab kreiste pfeifend, wie ein riesiges Rad des Todes. Und dabei hallte seine tiefe Stimme, brüllte einen unartikulierten Kriegsruf hinaus. Der Angriff endete ebenso schnell, wie er begonnen hatte. Plötzlich gab es da keine herumhuschenden, knurrenden schwarzen Kreaturen mehr zu bekämpfen; zehn oder fünfzehn lagen reglos im Staub; die Überlebenden flohen, verschwanden fast wie durch Zauberei und ließen die sechs keuchend, zerkratzt und blutend, aber unversehrt auf dem Schlachtfeld zurück. Sie gingen weiter, aber den ganzen Tag lang folgten ihnen schwarze Gestalten entlang der Klippen und Spitzen, und von Zeit zu Zeit flog ein Felsbrocken auf sie herunter, verfehlte 82
sie aber immer wieder. Sodaspes machte sich Sorgen: Langsam zog die Nacht herauf, und in der Dunkelheit würde der nächste Angriff einer größeren Schar vielleicht auch der letzte sein. Aber es blieb ihnen nichts anderes, als weiterzuziehen, und das taten sie, ohne Rast und ohne Ruhe, bis die Nacht über sie kam. Argyra war es, die die Höhle fand. Es war nur eine schmale, schwarze Spalte in der Mauer aus weißem Felsgestein, aber dahinter weitete sie sich aus, so daß sie aufrecht stehen konnten. Sie sollte ihnen Unterschlupf für die Nacht bieten, da leicht ein einziger Mann den Eingang halten konnte, während die anderen ruhten. Conyin beklagte sich auf seine mürrische Art, daß es gut eine Falle sein könnte; vielleicht lauerten die Gnomen auf sie und konnten sie überfallen, wenn sie in der Morgendämmerung wieder herauskamen. Bowman meinte in seiner kurz angebundenen Art, daß sie sich über die Probleme des nächsten Tages am besten am nächsten Tag den Kopf zerbrechen sollten, zumindest würden sie diese Nacht in Sicherheit schlafen können. Und so kamen sie überein, daß sie die Dunkelheit in der Höhle verbringen sollten, da jeder Versuch, im Freien zu lagern, dem Selbstmord gleichkam. Die Bergwinde hatten trockene Blätter und allen möglichen Unrat in die Ecken der Höhle getrieben, und die häufte Sodaspes jetzt mit ein paar Zweigen auf und machte ein Feuer, wobei er wieder den Zauber seines kleinen Steines einsetzte. Sie machten eine Mahlzeit, und dann legte sich jeder zur Ruhe und rollte sich in seinen Mantel, wobei Bowman die erste, Othgrim die zweite und Argyra auf eigenen Wunsch die dritte Wache übernahm. Morgan schlief den Schlaf völliger Erschöpfung und regte sich nicht, bis er Argyras Hand an der Schulter spürte, und die verklebten Augen blinzelnd öffnete, um das erste Licht der 83
Morgendämmerung an der Höhlenmündung zu erkennen. »Meine Wache?« murmelte er. Aber sie hielt warnend den Finger an die Lippen und trat an ihm vorbei, um den Sänger und Sodaspes auf dieselbe Art zu wecken. Bowman und der vierschrötige junge Riese kauerten an der Mündung der Höhle und, spähten mit grimmigen Gesichtern hinaus. »Tatsächlich ein Hinterhalt«, sagte Bowman mit leiser Stimme. »Sie haben uns umzingelt und stehen bereit, einen Regen von Felsbrocken und Pfeilen auf uns niedergehen zu lassen, sobald wir herauskommen. Das Problem ist – sollen wir versuchen, uns ihnen draußen zu stellen oder hierbleiben in der Hoffnung, daß sie am Ende weggehen?« Conyin rieb sich mit der knochigen Hand über die Stoppelwangen. »Wir könnten einfach hierbleiben, nicht wahr, und das auf ein paar Tage. Wir haben Essen und Wasser …« »Ja«, sagte Argyra, »aber was ist, wenn sie nicht weggehen, sondern einfach dort draußen lagern? Am Ende müssen wir hinaus; sollte es jetzt oder später sein?« Darauf hatte keiner eine gute Antwort. Sodaspes runzelte nachdenklich die Stirn und rieb sich über die Brauen. Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. Conyin runzelte fragend die Stirn. Der Magier sagte: »Ehe wir das entscheiden, sollten wir nicht vorher sehen, wohin diese Kaverne führt? Vielleicht gibt es eine Abzweigung, die zu einem anderen Ausgang führt.« Der Sänger lachte. »Nun, warum auch nicht, wie? Bis jetzt haben wir ja mit Höhlen ausgezeichnetes Glück gehabt«, meinte er und bezog sich damit auf die Höhle, in der sie Schutz vor den Senmurven gefunden hatten. Jene hatte einen »Hinterausgang« gehabt, der zu dem Zusammentreffen mit Argyra und schließlich in die Freiheit geführt hatte. Konnte es nicht bei dieser Höhle ebenso sein? Sie beschlossen, es zu riskieren; während Morgan und Bowman ihre Habseligkeiten einsammelten, gab Othgrim dem 84
Lagerfeuer neue Nahrung, damit die Flammen den Eingang abdecken und es den Gnomen erschweren sollten, ihre Verfolgung zu früh aufzunehmen. Sodaspes entzündete eine Fackel, und dann drangen sie, angeführt von ihm, tiefer in die schwarze Höhle ein, wo sie einen engen Gang fanden, der im Zickzack verlief, bis er sich nach einer Weile in eine bequemere Kaverne ausweitete. Von oben tropfte Wasser von den Spitzen herunterhängender Speere aus glasig wirkenden Mineralien. Ein kalter, feuchter Wind schlug ihnen entgegen und ließ die Flammen von Sodaspes’ Fackel zittern, so daß der von Zeit zu Zeit die Hand davor halten mußte, um zu verhindern, daß sie ausgeblasen wurde. Aber dieser Wind war ein gutes Zeichen: er wehte nicht von hinter ihnen, wo der Eingang lag, sondern von irgendwo vor ihnen aus den schwarzen, unbekannten Tiefen. Und ein Wind weht nicht durch Mauern aus massivem Felsgestein; es mußte also einen anderen Ausgang geben! Sie gingen durch eine phantastische Welt. Rings um sie gab es schleimigen Schimmel und Flechten und riesige, fahle Pilze, die von Wänden und gerundeten Felsbrocken glitzerten und aus dem feuchten, dampfigen Boden sprossen. Die Flechten ebenso wie der Schimmel leuchteten grünlich und erzeugten ein gespenstisches Glühen, das die Schwärze wie der fahle Schimmer eines unterirdischen Mondes erfüllte. Die Stalaktiten und Stalagmiten wuchsen zu ungeheurer Größe, hängende, steinerne Wälder, durch die sie sich mühsam ihren Weg suchen mußten. Der Klang ihrer Schritte hallte von überall wider, ein gespenstisches Echo, in das sich das allgegenwärtige Trip-Trip-Trip von Wasser mischte. Die unterirdische Welt war nicht ohne Bewohner. Rote Augen beobachteten sie furchtlos aus schwarzen Schrunden; das Klicken und Scharren winziger Klauen auf glattem Gestein konnte aus den Galerien gehört werden, und einmal glitt ein Nagetier quer über ihren Weg, abstoßend groß, nackt, rosafar85
ben, mit einem langen, schlangenartigen Schwanz und scharlachroten Augen, die in der Finsternis leuchteten. Es war eine Welt wie aus einem Alptraum, fremdartig und irgendwie schön, trotz all ihrer Fremdheit. Morgan hatte nie von Jules Verne oder dessen berühmten Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde gehört – nur wenig terranische Literatur aus der präspatialen Zeit hatte die Jahrhunderte überlebt –, aber wenn er den Roman gekannt hätte, so hätte er ohne Zweifel eine seltsame Verwandtschaft mit Vernes unterirdischen Abenteuern empfunden. Die Welt, durch die sie jetzt zogen, war nicht fremdartiger und auch nicht faszinierender als die, die Vernes Helden unter einem erloschenen Vulkan in Island entdeckt hatten. Morgan fand während einer kurzen Ruhepause, die sie einlegten, Gelegenheit, dem jungen Magier eine Frage zu stellen. »Wohnen denn diese Schwarzen Gnomen, wie ihr sie nennt, in solchen Orten?« Sodaspes nickte, und über seine müden Züge zog ein schwaches Lächeln. »Ja, Morgan, sie hausen in den schwarzen Höhlen unter den Bergen, an den Wurzeln der Welt. Mir ist derselbe Gedanke gekommen – daß sie nämlich diese Kavernen vielleicht viel besser kennen als wir, und daß wir in größere Gefahren hineinlaufen als die, vor denen wir zu fliehen trachten. Aber ich weiß nichts Besseres … wir müssen das Risiko einfach eingehen.« Morgan verarbeitete das. »Was diese Gnomen betrifft«, meinte er schließlich, »sind sie nicht auch an den Pakt gebunden wie alle anderen? Weshalb sollten sie uns hindern und versuchen, uns ein Leid anzutun, wo wir uns doch Mühe geben, sie und alle anderen Bewohner von Bargelix vor dem Unheil zu retten?« Sodaspes zog die Beine an, um etwas bequemer zu sitzen. »Das ist schwer zu erklären, Outworlder. Ursprünglich galt der Pakt auch für sie. Aber du mußt wissen, das liegt sehr lange 86
zurück. Zu Beginn der Welt, in der mythischen Zeit, wohnten alle Geschöpfe in Frieden beieinander unter dem Pakt. Aber in den Äonen, die seit jener fernen, vergessenen Zeit vergangen sind, haben sie sich der Verehrung der Dunkelheit und des Bösen zugewandt. Und außerdem sind sie ein unstetes Volk, dem man nicht vertrauen kann. Vielleicht haben sie uns einfach nur deshalb angegriffen, weil sie die Menschen nicht mögen, oder weil sie unseren Auftrag nicht kennen, oder aus irgendeinem anderen Grund, den wir nicht ahnen können.« »Zwischen den Kindern der Menschen und dem Gnomenvolk hat es seit vielen tausend Jahren keine Verbindung mehr gegeben«, bemerkte Conyin, der dem Gespräch zugehört hatte. »Ja«, fügte Bowman ernst hinzu. »Und dann gibt es noch einen Grund, einen besonders schrecklichen.« »Und was für ein Grund wäre das?« fragte Sodaspes. Bowmans Gesicht verfinsterte sich. »Das Tarandon-Tor öffnet sich in das formlose Chaos zwischen den Welten … das gestaltlose Zeug, aus dem alle Welten am Anfang geschaffen wurden, sagen die Philosophen. Jene, die die Finsternis anbeten, sagen, daß Chaos der erste Gott war, der Urvater, das, woraus die Schöpfung entstanden ist. Und selbst das Chaos müht sich ab, die Schöpfung zu vernichten …« Der Magier sah den anderen streng und mißbilligend an. »Das sind verbotene Dinge«, erklärte er ernst. »Was du sagst, grenzt gefährlich an die Geheimnisse der Hohen Magie!« Bowman grinste und spuckte aus. »Das ist alles, was ich für die Hohe Magie übrig habe! Für uns sind diese Fragen möglicherweise Leben oder Tod und für ganz Bargelixwelt! Ich pfeife auf deine Theologie – das ist ernst.« »Bitte fahr fort, Bowman«, bat Morgan. »Nun gut. Es ist leicht möglich, daß die auf dieser Welt, die zum Dienst am Bösen verführt worden sind, dagegen sind, daß das Chaostor geschlossen wird. In Grymwood wurde davon geraunt: daß die Derynigol sich regten, daß Gnomen und be87
stimmte mächtige Zauberer sich zu einer wichtigen Sache verbündet hätten. Wir haben Gnomen gesehen, die Schwarzen Gnomen heißt das, nicht das Alte Volk, die auf geheimer Mission die Höchsten der Derynigol in Grymwood aufgesucht haben.« Sein bronzefarbenes Gesicht war wie eine Maske, er blickte brütend drein. »Die Großen Tage sind jetzt da, meine Kameraden. Es mag sein, daß dies schon die Letzten Tage sind, und wieder verbünden sich die Diener des Schattens im uralten Bündnis, denn das Chaos selbst greift nach Bargelixwelt.« Conyins Augen glitzerten im Widerschein der verlöschenden Fackeln. »Das ist es also, weshalb der Waldhexer es gewagt hat, uns in Grymwood herauszufordern!« brummte der alte Mann. »Ich hatte mich schon darüber gewundert, das ist nicht ihre Art; sie scheuen die Menschen und wagen es nicht, sich gegen sie zu stellen!« Argyra wurde unruhig: ihr Volk wußte wenig von den Traditionen der Alten Tage, und sie war dieser Reden müde; es drängte sie danach, diese Welt der Finsternis und des leuchtenden Schleims und ewig tropfenden Wassers zu verlassen. »Sollen wir nicht weiterziehen?« fragte sie. »Wenn wir dieses schwarze Loch verlassen haben, ist noch genug Zeit zum Reden.« Die Kaverne führte immer weiter in die Tiefe. Mächtige, frei liegende Felsschichten, wie eine Treppe, die für Giganten bestimmt war, führten sie immer tiefer in die Kavernenwelt. Sie schritten jetzt durch wahrhafte Wälder aus kolossalen Pilzen, riesigen Gebilden von der Größe von Regenschirmen, aus schorfigem Rot, fahlem Gelb, giftigem Blau, und manche so hoch wie junge Bäume. Hier und da kamen sie an unterirdische Flüsse, die ihnen den Weg versperrten. Einen dieser Flüsse überquerten sie, kämpften gegen den Sog des eisigen Wassers an, um schließlich auf 88
der anderen Seite bis auf die Haut naß, vor Kälte zitternd, wieder herauszukommen. Der zweite Strom war zum Glück von einer natürlichen Steinbrücke überspannt. Oder war dies eine natürliche Formation? Sodaspes beugte sich vor, um sie im schwachen Licht zu untersuchen. Er konnte keine Spur menschlicher Arbeit entdecken, blieb aber zweifelnd. »In der Welt sind drei Arten von Gnomen übrig geblieben«, sagte er finster. »Die Schwarzen Gnome, unsere bösen Feinde, die keinem der Kinder des Menschen besonders freundlich gesinnt sind. Dann gibt es die Roten Gnomen, von denen man heutzutage nur selten sieht oder hört, nicht gerade Feinde der Menschen, aber stets zu Streichen aufgelegt. Am besten von allen sind die alten Grauen Gnomen, die immer noch dem Pakt gehorchen, aber von denen haben wir in vielen Jahrhunderten nichts mehr gehört …« Sie gingen weiter. Stunden waren jetzt vergangen, seit sie ihren Abstieg in diese schwarze, verwunschene Welt begonnen hatten. Sie sahen nichts von den kleinen Geschöpfen, die sie belagert hatten, und am Ende gelangten sie zu dem Schluß, daß die Gnomen sie nicht in die Höhle verfolgt hatten. Aber warum die kleinen, schwarzen Kreaturen das nicht getan haben sollten, blieb ihnen ein Geheimnis. Das Lagerfeuer an der Kavernenmündung hätte sie eigentlich nicht lange aufhalten dürfen, da sie es hätten ersticken können; ebenso unwahrscheinlich war, daß sie Ursache zur Furcht hatten, den sechs in diese Kavernenwelt zu folgen, da die Unterwelt ja ihre Heimat war. Konnte es sein, daß es in diesen Tiefen etwas gab, das die Schwarzen Gnomen selbst fürchteten? Der Gedanke war beunruhigend. Aber die Frage war nicht zu beantworten, und so gingen sie weiter, vorsichtig, die Schwerter bereit. Es geschah eine Weile später, als sie durch eine riesige, hallenähnliche Formation zogen. Die Kuppeldecke war weit über 89
ihnen; ihre Fackeln waren jetzt fast ausgebrannt, und sie stolperten durch das Halbdunkel, das nur gelegentlich von Flecken einer stumpfen Phosphoreszenz erhellt war, wo der Schimmel wucherte. Überall waren mächtige Felsbrocken aufgehäuft, von denen viele die schwarze Mündung des Tunnels versperrten, auf den sie jetzt zustrebten. Argyra, die sich ihren Weg zwischen den hinderlichen Felsen bahnte, schrie plötzlich auf und sprang zurück, stach mit ihrem kurzen Schwert nach etwas auf ihrem Weg. Es sah aus wie der Schwanz einer Schlange, war aber viel größer als eine Schlange je sein konnte. Das Stück Schwanz, über das die Kriegsmaid fast gestolpert wäre, hatte den Umfang eines Fasses. »Ich dachte, es lebt – irgendeine Art Tier«, gestand das Mädchen. Als sie genauer hinsahen, erkannten sie eine hornige Substanz, die entweder schwarz oder grünlichschwarz war, leicht glänzte und wie Schuppen aussah. Aber die Schuppen hatten die Größe einer menschlichen Hand und konnten daher keine Schuppen sein. Bowman stieß das Ding an. Es war hart und unnachgiebig wie Fels, und das sagte er auch. Argyra zuckte die Schultern und lachte ein wenig verlegen. »Irgendeine Art Gestein also«, sagte sie und schickte sich an, über den Steinhaufen dahinter zu klettern, der die Tunnelmündung versperrte. Und dann öffnete einer der großen Steine Augen wie Bälle aus orangeroten Flammen und sah sie an … Sie stoben in Panik auseinander. Morgan konnte sich später nie mehr an die nächste Minute erinnern, bis er wieder bei sich war. Aber da war er bereits durch die halbe Grotte gerannt, keuchend und zitternd. Was sie für einen Felsen gehalten hatten, hob jetzt einen unglaublich dicken, schuppigen Hals und drehte sich herum. Es 90
hatte einen Schnabel und Hörner und war ungeheuer mit riesigen Kiefern, und die Augen brannten wie orangerote Lampen und erfüllten die Kaverne mit rötlichem Schein wie zwei Scheinwerfer. Morgan dachte an Drachen. An Siegfried, den Helden seiner Knabenzeit, und den Drachen Fafnir. Aber dieses Ding war wirklich, es lebte, und Drachen waren Geschöpfe aus der Legende … Das mußte ein gigantischer Saurier sein, eine ungeheure Echse, ein Bewohner der Tiefen. Und dann sprach es! Tiefe Baßtöne, langsam und dröhnend, wie Donner, dem Sprache verliehen ist. »Was – seid ihr Menschenvolk hier in meiner uralten Unterwelt?« sagte das schwerfällige Monstrum mit Tönen, die wie das Echo eines fernen Erdbebens widerhallten. »Habt ihr nicht die ganze obere Welt, um darin eure Behausung zu finden, und müßt in meinen Abgründen herumstochern und Leute mit scharfen Stöcken belästigen?« Mit orangeroten Augen, die wie riesige Lampen flammten, einem riesigen Schädel, gehörnt und mächtig, der über ihnen aufragte, regte sich der kolossale Saurier langsam, schwerfällig, und unter seinem mächtigen Gewicht scharrte das Gestein. »Ich will davon nichts haben, hört ihr? Zurück in eure obere Welt, und laßt die Tiefen Dzarmungzung, in Frieden …« Sodaspes, der keuchend neben Morgan stand, drehte sich um, als er diesen seltsamen, schwer auszusprechenden Namen hörte. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß und war bleich wie Milch, aber plötzlich blitzte Hoffnung in seinen gelben Augen. »Dzarmungzung!« flüsterte er ungläubig. Und dann huschte sein Blick zum alten Conyin hinüber, der ebenfalls plötzlich zum Stillstand gekommen war und sich jetzt umdrehte und mit dem jungen Magier verblüffte, benommene Blicke wechselte. »Dzarmungzung?« wiederholte der alte Barde. Und dann drehte er sich vorsichtig um und sah das hoch aufragende Reptil an, das sie mit Flammenaugen anfunkelte. »Bist das du, Alter Drache?« rief er. 91
Das große Ding senkte seinen mächtigen Schädel. »Ich bin es«, dröhnte es mit seiner tiefen Stimme. »Aber wer nennt meinen alten Namen?« Jetzt trat Conyin mutig vor, obwohl Morgan sehen konnte, daß seine Beine zitterten. Conyin schwang seine Leier herum, so daß man sie sehen konnte. »Ich, Conyin, der Sänger, ein geweihter Barde. Du lebst also wirklich, o Mächtiger, nach all den Zeiten? Und hältst du den Pakt immer noch in Ehren?« »Ich lebe noch, ja«, sagte der Drache langsam. »Ein Barde des Menschenvolks hier? Wie wunderbar seltsam … Ja, der Pakt! Aber wer seid ihr, die ihr von Pakten plappert und in meinen zarten Schwanz Dinge steckt? Sprich, Menschling, hab keine Angst vor dem alten Dzarmungzung und stich ihn nicht mehr mit scharfen Stöcken!« Conyin begann ein stockendes Gespräch mit dem mächtigen Reptil, aber Morgan konnte sich später nicht mehr erinnern, was gesagt wurde. Er war voll des Staunens – nicht so sehr über die Vorstellung eines vernunftbegabten Wesens, das von nichtmenschlicher Gestalt war, denn davon gab es auf den Sternenwelten viele. Tatsächlich waren die Boygyars von Tau Ceti diesen großen gigantischen Reptilintelligenzen nicht unähnlich und den Menschen freundlich gesinnt. Aber sie waren Telepathen und nicht mit der Fähigkeit der Sprache begabt. Nein – sein Staunen hatte eine andere Ursache, denn er begriff, daß Dzarmungzung eines der Sprechenden Tiere der alten Cophyrilegende sein mußte; einst, so sagten die Mythen, teilten die Menschen diese Welt mit großen, weisen Tieren, die sich in menschlicher Sprache verständigten. Von Äonen glaubte man schon, sie seien alle untergegangen, und jetzt erwähnte man sie nur noch in alten Geschichten und in jenen Reimen, mit denen die Cophyrimütter ihre Kinder in den Schlaf sangen – und doch lebte hier einer, ein sprechender Drache! Es war, als unterhielte 92
man sich mit einem alten magischen Geschöpf aus einem uralten Märchen. »Nun, nun, tretet vor und laßt euch ansehen«, polterte der alte Drache. Conyin winkte heftig, und sie traten nacheinander vor und standen bleich und zitternd oder verwundert vor Dzarmungzung, dem Alten Drachen. Die großen Lampen seiner Augen ließen ihr rötliches Licht über sie tanzen, über einen nach dem anderen, bis sie schließlich auf Argyra zum Stillstand kamen. »Hoh! Bist du das gewesen, der mich gestochen hat?« fragte er. Sie nickte tapfer, und ihre schwarzen Locken schimmerten im Leuchten seiner flammenden Augen. »Das war ich, aber ich kannte dich nicht, o Großvater aller Schlangen«, rief sie. Der Drache drehte seinen mächtigen Hals und spähte auf sie herunter. Menschliche Gefühle flammten jetzt in jenen Augen, Amüsiertheit, Überraschung und Humor. »Was soll das?« brüllte er. »Bei meinem uralten und höchst zarten Schwanz, ist das nicht ein Mädchenkind? Sag, Mädchen, hat der alte Dzarmungzung nicht recht? Nach all diesen Ewigkeiten«, wunderte sich der Drache, »ein Mädchenkind – und mit einem Stecher bewaffnet!« Er lachte glucksend – ein entnervendes Geräusch, das so klang, wie wenn man eine Ladung Kohlen in eine Blechrutsche schüttelt. »Ja, ich bin eine Frau, und mein Name ist Argyra, Alter«, schrie das Mädchen zu ihm hinauf. »Nun, hmmm!« Er schnaubte, verschleierte die Lampen seiner Augen halb und ließ sich dann langsam herunter, bis seine mächtigen Kiefer und der hornige Schnabel auf den gekreuzten Vorderpfoten ruhten. In dieser Position reichte sein gehörnter Kopf nur ein kleines Stück über Othgrim hinaus. »Ein Sänger … ein Zauberer … ein Mädchenkind«, sinnierte der alte Drache langsam. »Ich sehe, daß ihr sechs seid … Nun, bei meinen Hörnern, schließlich kennt der alte Dzarmungzung auch die alten Gesänge! Dann sind also die Letzten Tage über 93
uns gekommen? Nun, nun … ich habe mir schon so etwas gedacht.« Plötzlich unterbrach er sich und schniefte. Wenigstens dachte Morgan, daß er das tat. Es klang wie eine Dampfpfeife, die Druck abläßt. »Gnomen!« polterte er. »Ihr stinkt nach Gnomischkeit! Nun, sag mir, Kind, habt ihr etwas mit den kleinen Schwarzen zu tun gehabt? Heh? Bei meiner alten Nase, das rieche ich.« Argyra trat vor. »Sie haben uns in der oberen Welt angegriffen«, rief sie dem Monstrum zu, »und wir haben gegen sie gekämpft und in diesen Kavernen Zuflucht vor ihnen gesucht, denn sie sind viel mehr an der Zahl als wir, obwohl wir ihre Zahl ein wenig reduziert haben«, sagte sie grinsend und schlug sich auf die Schwertscheide. »Ho, ho! Ein paar weniger von den kleinen schwarzen Würmern, wie?« gluckste der Drache. »Das gefällt mir gut, Kind! Ein widerliches Volk sind sie, diese Schwarzen, mit ihren kleinen roten Augen, die überall herumschnüffeln – ho! Es hat also einen Kampf gegeben, he? Das hätte meinem alten Herzen gut getan, das zu sehen, das ist die Wahrheit! Was … glaubt ihr, daß das die Wahrheit ist … wißt ihr, was dieses schurkische Pack gewagt hat, he? In meine eigene Kaverne haben sie sich hereingeschlichen und haben versucht, mich mit Gold, alten Edelsteinen und dem Versprechen fetter Menschenbabys zu kaufen. Dzarmungzung, dem Schwarzen Chaos und dem Schatten des Bösen dienen! Was haltet ihr davon? Hah!« Er reckte seinen alten Schädel, seine Augen flammten. Weit hinter ihnen, im Schatten, regte sich sein mächtiger Schweif und löste zwischen den Steinen eine kleine Lawine aus. »Und was hast du gesagt, Großvater?« fragte Argyra. »Gesagt?« dröhnte er. »Gesagt? Nun, nichts, kleines Kind – getan habe ich. Ja, das ist das Wort – getan! Nun, ich hab ihnen meine Antwort schon gegeben, ja, das habe ich, und ganz klar, nicht mit leisen Worten, das sollt ihr wissen … Etwa auf diese 94
Weise habe ich’s formuliert, schaut …« Seine mächtige Pranke hob sich und schwebte einen Augenblick lang in der Luft, riesig wie ein Haus, so schien sie. Sieben Finger waren an dieser mächtigen Pranke, und orangefarbenes Augenlicht glitzerte auf den gekrümmten Klauen, die sie bewehrten. Und dann krachte die große Tatze plötzlich donnernd auf die aufgehäuften Steine herunter, von denen die meisten mannshoch und aus solidem Felsgestein waren. Der Steinboden bebte, und Echos hallten durch die mächtige Kaverne, als Dzarmungzung die Steine mit der mächtigen Pranke wie Walnüsse knackte. Stücke von zersprungenem Gestein spritzten zwischen seinen Fingern davon und prasselten wie Gewehrfeuer von den fernen Wänden. Staub wirbelte auf, angefüllt mit Felsflocken und setzte sich dann langsam wieder. Die Stärke des Drachen war unglaublich. Und dann sagte er mit selbstgefälliger Stimme, mitten in das Echo hinein: »Und ich glaube, sie haben verstanden, was ich mir dachte, diejenigen von ihnen, die nicht plattgedrückt wurden, meine ich«, und dann gluckste er wieder. »Deshalb hatten sie also Angst, uns zu folgen!« lachte der alten Barde. Dzarmungzung blinzelte mit einem hornigen Augenlid, dämpfte sein orangefarbenes Licht. »Nun, mich überrascht es nicht, wenn das schwarze Geschmeiß sich hier in meinen Träumen nicht willkommen fühlt!« dröhnte er. Sodaspes sah sich verträumt in der mächtigen, düsteren Kaverne um. »Das also ist Dzarmungzungs Tiefe«, sagte er nachdenklich; »wie oft habe ich doch von diesem Ort und seinen Wundern in den alten Geschichten und Liedern gehört, als ich in den sonnigen Höfen der verbotenen Stadt Novize war.« »So, man spricht also noch in jener euren oberen Welt von dem Alten Drachen?« polterte Dzarmungzung. »Nett zu wis95
sen, daß die kleinen Menschlinge sich an ihren alten Freund erinnern … Sag mir, Magier, wieviele Jahre ist es jetzt her, seit jene Tage verstrichen sind, verstrichen in jenem hellen, schrecklich offenen Ort, aus dem ihr Kinder kommt?« Sodaspes sagte zögernd: »Eine sehr lange Zeit, Großvater aller Schlangen … viele Jahre …« »So wie ihr kleinen Kinder Zeit rechnet, ja«, sagte der Alte Drache tolerant. »Aber sag mir, wieviele? Denn ich habe lange im dunklen, kühlen Schweigen der Untererde geschlafen, und möchte wissen, wieviele Jahre, vielleicht Jahrhunderte, aus der Zukunft in die Vergangenheit gewandert sind, seit jene hohen, goldenen Tage und wundersamen Kriege vorübergezogen sind.« Sodaspes wechselte einen Blick mit Conyin und senkte die Augen. Er schlurfte unsicher mit den Füßen; Morgan hatte den Eindruck, daß der junge Magier Angst hatte, die Wahrheit zu sprechen. Das beschäftigte ihn sehr, aber er wußte überhaupt nichts von diesen Dingen und hatte diese Geschichten nie gehört. Der Drache bemerkte den Blick, der zwischen den zwei Sterblichen gewechselt wurde, und er spürte das verlegene Schweigen, das darauf folgte. »Ihr scheint Angst zu haben, zum alten Dzarmungzung von der Zeit zu sprechen«, dröhnte der Drache blinzelnd. »Nun muß ich euch bei meinem uralten und zarten Schwanz sagen, daß ich nicht weiß, warum ihr so empfindet. Ich bin immer ein Freund von euch kleinen Menschlingen gewesen, in jenen alten Tagen ebenso wie heute. Sprecht jetzt und sagt mir die Wahrheit: Wie viele Jahre sind an mir vorübergegangen, während ich hier in meinem tiefen, dunklen Loch schlief, seit ich mit Rolnarn, König der Menschen, und Silianath, Herr des Meeresvolkes, und Yunglinglamor, Häuptling der Gnomen, an meiner Seite gegen den Schatten zog, mit all den Sprechenden Tieren hinter mir, als ich über die sonnenbeleuchtete Erde 96
schritt? Sprecht, habt keine Angst vor mir!« Endlich sprach Sodaspes, aber mit gesenktem Blick, mit leiser, trauriger Stimme. »Dreißigtausend Jahre der Zeit«, sagte er sanft. »Hä?« Der Drache hob seinen mächtigen Schädel, und seine flammenden Augen blinzelten ungläubig. »Hä?« Sodaspes wiederholte den Satz. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Mit weiten, flammenden Augen ragte der gigantische Drache über ihnen auf. Mit einem einzigen Schlag seiner Pranke konnte er sie zu Brei schlagen, mit einem einzigen Peitschen seines mächtigen Schweifes. Dann klang es donnernd: »Du lügst, falscher Menschling! Du lügst, sage ich!« Das Brüllen zerriß die Finsternis. Die Lampen der monströsen Augen flammten wie goldene Monde durch die Düsternis. Sie standen erstarrt vor dem Donner seines Zorns, wagten weder zu sprechen noch sich zu bewegen. Dann verblaßten die flammenden Augen, und die hochragende schwarze Gestalt schrumpfte ein wenig zusammen, als sei sie plötzlich müde. Langsam senkte sich der mächtige Schädel des Drachen. »So lange … so lange … wirklich, eine sehr lange Zeit … dreißigtausend Jahre! … Ihr habt doch ›tausend‹ gesagt, oder? … Ja, und ich habe hier in meinem schwarzen Loch geschlafen, während all die Zeit verstrich … Und die hellen jungen Reiche, was ist aus denen geworden? Herrscht Riolnarns Blut immer noch in Irion, Stadt der Menschen? Was, kleiner Menschling?« Conyins Stimme klang unendlich sanft, als der Sänger es auf sich nahm, diese von Hoffnung erfüllte Frage zu beantworten. »Seine Dynastie endete vor vielen tausend Jahren, und all sein Volk ist verstreut und vergessen, und die Steine von Irion, der Stadt der Menschen, sind begraben unter dem Staub der Äonen und verloren, so daß nicht einmal die weisesten aller 97
Menschen noch wissen, wo jene große Stadt einmal stand.« Der Drache wimmerte tief in seiner mächtigen Kehle. »Ist das so, wahrhaftig …? Das leuchtende Irion … das stolze Irion … das schöne Irion? Ah! Ich kann es noch sehen, die goldenen Banner, die im Wind des Morgens flattern … die jungen, lachenden Prinzen … die Helden mit den edlen Herzen … ah, wie traurig …« Sie standen verlegen da und wußten nicht, was sie sagen sollten, während das älteste aller lebenden Geschöpfe verlorene Königreiche betrauerte. Nach einer Weile hob der Drache wieder seinen großen Schädel, um zu fragen: »Und der mächtige Sillianath und das Volk des Tiefen Grünen Meeres – bestimmt sind sie auch dahin und vergessen … und was ist mit ihrer hellen Stadt, Koth Ylim, die Stadt im Meer – sie ist doch sicher nicht auch untergegangen, mit all den Legionen des Meeresvolks, die sie schützten?« Und Sodaspes sagte leise: »Das Meeresvolk hat nach der Zerstörung der Dunklen Stadt und dem Fall des Schattens vor der Ankunft Iarbaths, Engel des Lichts, mit den Kindern der Menschen lange Kriege gekämpft … Die Stadt im Meer wurde besiegt und vom schwarzen Schlamm bedeckt, und all Meervolk floh zu den fernen Orten der Welt und wenn noch welche leben, so haben sie sich vor den Menschen verborgen.« Der Alte Drache brütete lange Zeit schweigend, und seine Augen waren stumpf und fahl, nur das langsame, schwere Geräusch seines Atems durchbrach das Schweigen; schließlich stellte er mit dumpfer Stimme eine letzte Frage. »Du bringst mir traurige Nachricht, Menschling … trauriger, als Worte es ausdrücken können … Und mein altes, müdes Herz leidet unter dem Wissen dieser Dinge, und ich wollte, ich hätte nicht gefragt! Aber da ist noch eines, was ich wissen muß … eine letzte Frage muß ich dir stellen …« »Dann stelle sie, Alter«, bat der Magier. »Mein eigenes Volk, das Tiervolk … was ist mit ihnen? Si98
cher hat die Zeit doch keinen so traurigen Zoll von meinen eigenen Brüdern verlangt, wie von euch Sterblichen! Sicher … wir sind sehr langlebig, wir Tiere … Was ist mit Sharmingzorn dem Großen Rock, und Gordrim dem Weißen Greif, und Aaarl, dem Sprechenden Fisch? Was mit der schönen, süßen Nonidaal, der Sphinx-Löwin … und dem schlauen Yemnd, dem Basilisken … und dem alten, weisen Erygandor? Was ist aus unserer Art geworden, den Einhörnern, den Hippocamps, den Feuerdrachen, den Sprechenden Tieren der Berge, Haine, Meere und des Himmels?« Sodaspes’ Kopf sank auf seine Brust, und Morgan sah das Glitzern von Tränen in seinen Augen. Mit erstickter Stimme sprach er, und der Drache unterbrach ihn und bat ihn, das Gesagte zu wiederholen. Das tat er. »Es tut mir leid, Großvater … abgesehen von dir, dir alleine … nach allem, was die Kinder des Menschen wissen … sind die Sprechenden Tiere vor Äonen von dieser Welt verschwunden …« »Kann das so sein?« »So ist es, Großvater«, meldete Argyra sich zu Wort. »Mein eigenes Land, im Norden der Flüsternden Ebenen, war einst die Heimat Baranthars, des menschenköpfigen Bullen. Aber er starb, jener große Weise, Zwölftausend Jahre vor der Geburt meiner Mutter … starb, wie er gelebt hatte, ein Freund von uns Menschlingen. Die Sprechenden Tiere sind alle lange verschwunden.« »Deshalb staunten wir so darüber, dich zu finden, o Mächtiger«, sagte der Rhapsode würdig. »Du bist, soweit wir bloßen Sterblichen es wissen, das letzte all der Sprechenden Tiere, die mit den ersten Menschen am hellen, schönen Morgen der Welt über das Land zogen …«
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7. Der Drache brütete eine lange Zeit über jene lang vergangenen Tage nach, und seine Augen waren düster und glanzlos, versunken in finsteren Gedanken und alten Erinnerungen. Aber am Ende raffte er sich auf, und obwohl in seiner tiefen Stimme immer noch Traurigkeit mitschwang, brannten die großen Lampen seiner Augen wieder hell. »Nun«, sagte er würdevoll, »die Zeit verstreicht, ob wir es wollen oder nicht … und die Welt vergeht … schwebt immer zwischen der Ewigkeit und dem Untergang. Mich dünkt, es ist Zeit, daß ich aus meinem uralten Schlummer erwache, denn noch gibt es tapfere Taten zu vollbringen, ehe die Welt kalt ist.« Und er verlegte sein kolossales Gewicht und erhob sich majestätisch zu seiner vollen Höhe. Morgan riß die Augen weit auf. Sicher waren nicht einmal die großen Dinosaurier der alten Erde in der Urdämmerung der ersten Tage so gewaltig gewesen. Dzarmungzung mochte tausend Tonnen an Gewicht haben: die Welt ächzte und stöhnte unter seinem bedächtigen Schritt. Kein lebendes Ding konnte auf seine gepanzerte Gestalt blicken, ohne Ehrfurcht, Staunen und Schrecken zu empfinden. Er war ein sich bewegender Berg aus lebendem Fleisch, er, das älteste aller lebenden Geschöpfe, das letzte und größte und weiseste aller Sprechenden Tiere. Er führte sie langsam durch jenen Ort der alten Mythen. Es war eine Kaverne, die eine Kuppel deckte, so riesig, daß man Sternenschiffe darin hätte abstellen können. Die Decke war dem Blick verloren, von Schatten verhüllt; die andere Wand nur schwach zu erkennen. Sie schritten, oder besser gesagt, sie trabten, denn sie hatten Mühe, mit dem Drachen Schritt zu halten, stets darauf bedacht, den großen Tatzen auszuweichen, die sie zu Brei hätten zermalmen können. Und während sie neben ihm dahinliefen, blickten sie auf die Wunder, die sich 100
ringsum ihren Augen darboten. Die Dunkelheit wich. Dzarmungzung rief einen Namen, und eine glitzernde Fontäne aus silbernem Feuer erblühte aus dem Dunkel eines Kraters in der Mitte des riesigen Raumes. Das glitzernde weiße Feuer hob und senkte sich und ließ mächtige Schatten über die Wände und das Kuppeldach der Drachenhalle zucken. Und jetzt, da die Kaverne beleuchtet war, konnten sie monströse Schriftzeichen oder Runen erkennen, die in die Felswand geschnitten waren, tief in den Stein getrieben, die geduldige Arbeit ferner Jahrhunderte. Die Symbole waren fast zu groß, als daß man sie auf einen Blick hätte erkennen können; das Auge wanderte über sie von einer Seite zur anderen, es waren Schriftzeichen so riesig wie Häuser. Sodaspes sah voll Ehrfurcht auf die Drachenschrift. »Das ist die vergessene Sprache«, seufzte er, zu Conyin gewandt. »Die Welt hat sie vergessen, die Schrift der Dämmerung, die Sprache der Tiere! Er hat hier mit seinen Klauen die mächtige Fabel der Schöpfung in das lebende Felsgestein geschnitten. Schaut doch, schaut! Kein Mensch wird je wissen, welche Geheimnisse hier eingegraben sind …« Conyin nickte, hörte den anderen kaum. Sein faltiges, häßliches Gesicht wirkte im schimmernden Licht der magischen Fontäne sanft, ja fast verträumt. Er kannte die alten Gesänge und liebte sie aus ganzem Herzen, mit einer Liebe, wie er sie sein ganzes Leben lang nie einem Mann oder einer Frau hatte geben können: und diese Halle war in jenen goldenen Gesängen der Urzeit berühmt. Dies war Dzarmungzungs Tiefe, und für Conyin war sie schrecklich und wundersam und herzerstikkend fremd zugleich … so als würden Sie oder ich durch die Marmorhallen des Olymps wandeln oder über die grimmigen Zinnen von Asgard, und auf deren Wunder blicken und erkennen, daß eine Legende Wahrheit war. »Hierher kam einst Iarbath selbst, als die ganze Welt noch jung war, um den Alten Drachen in den Krieg gegen die Fin101
sternis zu rufen«, murmelte er. »Unsterbliche Füße sind über jene uralten Steine geschritten, vielleicht bin ich der einzige von allen Sängern, der dieses Wunder sehen soll!« Vorräume (jeder einzelne so groß wie das Schiff einer mächtigen Kathedrale) gingen von der Mittelhalle aus. Der Drache führte sie durch eine ganze Reihe solcher Räume: einer davon war mit Schätzen wie mit goldenen Bergen vollgefüllt, andere mit Hügeln aus weißem Silber oder mit Strömen von Juwelen. Der Reichtum einer anderen Welt lag hier aufgehäuft, und Morgan hielt den Atem an, als er die Fülle sah. Das Drachenvolk hatte stets Freude daran gehabt, Schätze zu sammeln und zu bewachen, aber dieser hier überstieg jede Vorstellung. Und keineswegs alles war das Werk von Menschenhand. Hier lagen fremdartige Juwelen, eingetauscht oder gestohlen von dem Gnomen, und seltsame grüne Münzen, die aus den Münzstätten des Meeresvolks stammten, und eigenartige Edelsteine wie durchsichtige Blasen aus schimmerndem Licht – Tand vielleicht der Sylphine, jenes Volkes der Lüfte, von denen die Legenden berichten und die vom Angesicht der Welt verschwunden waren. Der verlorene Stamm … Sodaspes stöhnte und beugte sich vor, um mit zitternden Fingern eine blitzende Goldmünze aufzuheben, auf der ein königliches Gesicht eingraviert war und seltsame Schriftzeichen, wie sie der Outworlder noch nie zuvor gesehen hatte. Der Magier berührte die Münze mit ehrfürchtigen Fingern und wandte dann sein Gesicht Conyin zu. »Schau, Sänger! Dies ist das Gesicht von Amandar selbst, dem ersten König der Menschen«, flüsterte er. Conyin beugte sich über die Hand des anderen und blickte staunend auf das Geldstück. »Eine Münze, die in Mon, der Stadt der Menschen, geschlagen wurde«, sagte der alte Barde mit vor Ehrfurcht rauher Stimme. »Sieh, Junge, die ist fast vor siebzigtausend Jahren geprägt worden. Jene Zeit, das Königsreich, sein Volk und die 102
Sprache, die sie sprachen, sind lange aus dem Wissen der Menschen verschwunden. Aber sieh doch! Das geprägte Gold leuchtet hell und rein, als wäre kein Tag verstrichen, seit es in der Herrlichen Stadt Gestalt angenommen hat.« Sie zogen weiter durch Höhlen des Wunders, vollgestopft mit Schätzen. Da war eine Halle, in der tausend Schwerter hingen. Alt und zerbeult und zernarbt und rot vom uralten Rost waren diese Schwerter, und jedes hatte seinen eigenen Namen und seine stolze Geschichte; Schwerter der alten Heroen waren dies, und unter ihnen waren viele der gesegneten Klingen, die die Menschen im großen Krieg gegen die Finsternis getragen hatten. Der alte Conyin wußte all dies auf einen Blick. Seine Augen waren verschleiert, als er auf die alten Schwerter blickte, und er nannte ihre Namen, einen nach dem anderen. »Dort hängt Skammung, das Ixnar trug, und das breite Ionar und das blitzende Seriam das Scharfe und Babamore und Rornaway und Yan und Tarnalume und Zariol das Schlanke. Schlaf gut, du heiliger Stahl! Du hast dir die Ruhe der Ewigkeit verdient.« Und schließlich erreichten sie eine weitere, noch riesigere Höhle. Sie war düster und blau und erfüllt von murmelnden Geräuschen und sich bewegenden Schatten und ruhelosem Feuer, und die Luft roch nach Zauberei – würzig, geheimnisvoll! »Die Höhle der Magie«, sagte Bowman mit leiser Stimme. Sodaspes fand keine Worte; er sah sich mit tränenden Augen um, und in seinem jungen Gesicht leuchtete die Ehrfurcht vor dem Unerreichlichen. Morgan sah sich in dem mystischen blauen Schein um. Fremdartige Formen ragten in der magischen Finsternis auf. Gehörnte Masken aus Stein; ein Amboß, mächtiger als ihn je ein Sterblicher benutzt hatte; eine Kugel aus klarem Wasser, die im lebenden Licht leuchtete; ein Altar, primitiv und roh aus uralten Steinen aufgehäuft; ein großer 103
Speer, vom Ende bis zur Spitze vierzig Fuß lang, und mit einer Spitze aus unsterblichem Feuer. Und dann gab es hier auch viele seltsame Instrumente, für die Morgan keine Bezeichnung kannte. Seltsame Gebilde aus Stangen und Kegeln, Würfeln und Prismen aus glänzendem Kristall und fremdartigem Metall, schwarz und grün und silbern. In diesen geheimnisvollen Gebilden pulsierte Kraft – Kraft, die gebändigt war, jetzt schlief, aber Kraft, die aufwachen konnte – um ganze Welten zu verändern, zu zerbrechen oder in Stücke zu reißen. Die Höhle der Zauberei … Noch heute flüsterten alte Gesänge davon, jenem fabelhaftem Schatz der Alten Magie, angefüllt mit Geräten und Instrumenten und Waffen der Zauberer aus der Morgendämmerung der Welt. Da war ein schwarzer Spiegel, hoch wie das Tor einer Festung; in seinen Tiefen bewegten sich fahle Gestalten, regten sich endlos die Gespenster, die für immer in einer blassen Welt aus nur zwei Dimensionen gefangen waren. Und ein riesiges Juwel, in tausend blendende Facetten geschnitten, und jede Seite, jede Fläche trug eine Rune von unbekannter Kraft: Feuer schlummerte im Herzen des Juwels wie ein gefangener Stern. Da waren Rüstungen und Schilde mit fremdartigen Schriftzeichen. Ein Schwert, dessen Klinge ein blitzender Diamantsplitter war, lag auf einer zusammengeknüllten Kriegsflagge. Ein Kopf aus getriebener Bronze, vom Alter geschwärzt, stand auf einer Säule aus stumpfem Blei; in metallischen Augenhöhlen blitzten Juwelen, und da war Leben und Intelligenz in jenen Augen, die sich ganz leicht bewegten, so als wollten sie sie beobachten, während sie vorüberschritten. In der Mitte der Kaverne wuchs ein riesiger Baum. Es war erstaunlich anzusehen – er lebte, obwohl seine knorrigen, verwitterten Wurzeln aus kalkhartem Stein herausragten. Frische grüne Blätter wuchsen auf den mächtigen Zweigen und regten sich leicht, als bewegte sie ein schwacher Wind, viel104
leicht aus irgendeiner anderen Welt. Ein Ast fiel ihnen ins Auge. Er blitzte wie helles Gold, und sieben schwarze Vögel saßen darauf, und die Vögel hatten weder Augen noch Schwingen. Morgan sah diese Wunder, kannte sie aber nicht. Und aus der Ehrfurcht und dem Staunen, das er in den Gesichtern seiner Freunde wahrnahm, wußte er, daß er hier durch den Hort uralter Wunder schritt: Dinge aus dem Mythos, das, woraus uralte Legenden geformt waren. Vor einem Wunder aus dunklem Kristall blieb Dzarmungzung stehen. Es war wie ein großer Brunnenschacht, der mit schimmerndem Glas ausgekleidet war. Das Geheimnis hing darüber wie eine Aura aus unsichtbarem Licht. »Kann es sein?« staunte Argyra mit schwacher Stimme neben Morgan. »Du kennst es wohl, Mädchenkind?« fragte der Alte Drache, und seine orangefarbenen Augen blitzten vergnügt. Die Kriegsmaid nickte langsam. »Das ist Yggs Brunnen, nicht wahr, Alter Großvater? Hierher kam Prinz Ouros in der Geschichte und der Weise Einsiedler und der alte König Adler auch …« »Der Brunnen der Weisheit«, kam es von Bowmans Lippen. Selbst sein ausdrucksloses, finsteres Gesicht ließ sein Staunen erkennen. »Ja, Kinder, der Brunnen der Weisheit, wahrhaftig!« dröhnte Dzarmungzung. Er war jetzt selten guter Stimmung; nach all diesen Äonen seine Schätze vor Gästen zeigen zu können, die sie begriffen, bereitete ihm Freude, dachte Morgan, so wie es bei jedem Sammler der Fall war. »Mir schien es klug, daß ihr hierherkommt zu dem Brunnen, den in vergangenen Zeiten so viele andere Helden des Menschenvolks besucht haben«, polterte der alte Drache. »Hier könnten wir von dem lesen, was kommen soll, oder von dem, 105
das vielleicht kommen könnte, und vielleicht einiges Wissen gewinnen von den Gefahren, die auf uns lauern, und wie man sie am besten umgeht, wie? Ha! Dann bleibt hier und – bei meinem uralten, zarten Schweif – wir wollen sehen, ob im letzten Zeitalter der Welt immer noch die Weisheit lebt …« Die sechs knieten ehrfürchtig am Rand des geheimnisumwobenen Brunnens nieder, dessen Rand aus dunklem Kristall in den magischen Lichtern dieses Horts der Zauberei schwach schimmerte. Dzarmungzung baute sich neben dem Brunnen auf und setzte sich langsam. Er legte seinen schuppenbewehrten, glitzernden Schweif halb um die Öffnung des Brunnens herum und stützte seinen mächtigen, hornigen Schädel auf die riesigen Pranken. Dann sprach er einen Namen aus. Und an dem magischen Ort wurde es still. Die Schatten wurden dichter; die Lichter verglommen. Jetzt kam ein schwaches Leuchten aus den unsichtbaren, unbekannten Tiefen des alten Brunnens. Wie ein Geist aus grünem Licht war jenes Leuchten: zu schwach eigentlich, um es »Licht« zu nennen, und zu fahl, als daß man es eigentlich »grün« nennen durfte. Ein Phantom des Lichtes war es und der Schatten einer Farbe. Das Leuchten schwebte aus der Mündung des Brunnens nach oben und hing wie ein schwacher Dunst darüber, kräuselte sich langsam. Morgan sah gebannt und fasziniert hin. Dies war wahre Magie, und jetzt befand er sich nicht länger in der Tageslichtwelt der Menschen, sondern im zwielichtigen, geheimnisvollen Reich des Mythos. Der grüne Dunst verformte sich langsam in etwas, das wie ein riesiges Gesicht aussah. Sie war nicht ganz menschlich, jene dunstige Visage, obwohl sie bärtig und majestätisch und menschlich war. Flügel wuchsen aus der breiten Stirn, und in den großen, weisen Augen schimmerten unirdische Tiefen, und als das Gesicht im Nebel 106
sprach, war seine Stimme ein weit entferntes Flüstern, das im Bewußtsein nachhallte, nicht im Ohr. Was willst du? fragte die flüsternde Gedankenstimme. »Wir möchten wissen, was diesen kleinen Menschlingen bevorsteht«, sagte der alte Dzarmungzung kühn, während die sechs den Schemen voll Ehrfurcht und Staunen anstarrten. Viele Gefahren und für jeden einzeln; und für mindestens einen der Tod, und Finsternis für einen anderen; aber große, triumphale Taten ebenso, und Ruhm, der alle Zeiten überleben wird, sagte das Gesicht im Dunst. »Aus meiner Tiefe gibt es sieben Straßen«, sagte der Drache; »welchen dieser Pfade sollten diese kleinen Reisenden einschlagen; welches Tor ist unbewacht; welcher Pfad nicht von Gnomen besetzt?« Alle sieben Wege sind bewacht, aber das Schicksal hat entschieden, daß die sechs durch das Bergtor diesen Ort verlassen sollen, obwohl auch jenes scharf bewacht wird. »Und was, wenn sie durch ein anderes der sieben Tore hinausziehen?« fragte der Drache. Das Gesicht der Weisheit lächelte schwach. Du kannst das Schicksal nicht vereiteln, o Dzarmungzung, so sehr du dich auch bemühst! Denn im Buch der Millionen Jahre steht, daß sie die Tiefe auf jenem Weg verlassen sollen und auf keinem anderen: und obwohl es zutrifft, daß Gefahr und Tod und Finsternis vor dem Bergtor lauern, so wartet dort auch der Sieg. Deshalb fürchtet euch nicht und schreitet kühn hinaus, dem entgegen, das bestimmt ist. Das Gesicht begann jetzt wieder zu verblassen: Stirn und Wange und fließender Bart lösten sich wieder in formlose Schatten auf. Dzarmungzung sprach hastig, ehe das Phantomgesicht sich ganz aufgelöst hatte. »Und was ist mit den Gnomen, o Weiser?« Sie und die Hexe, ihre Herrin, haben sich mit dem Chaos verbündet, aber am Ende wird alles gut sein … 107
Und mit jenen geheimnisvollen Worten verschwand das Gesicht, und im Brunnen der Weisheit wurde es wieder dunkel. In jener Nacht schliefen sie in Dzarmungzungs Halle, und als der Morgen dämmerte, zogen sie zum Bergtor. Der Weg dorthin führte durch Gänge und Galerien, die seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden nicht mehr benutzt worden waren. Hier herrschte ringsum absolute Finsternis, denn in jenen staubigen, düsteren Bereichen war das grünliche Leuchten der phosphoreszierenden Pilze und Flechten nicht zu sehen. Es gab hier überhaupt kein Licht, nur das gespenstische Strahlen, das von Dzarmungzungs Augen ausging. Deshalb zog Sodaspes ein Medaillon aus seltsamem schwarzem Metall aus dem Beutel. Eine geheimnisvolle Hieroglyphe, die keiner der Abenteurer bisher gesehen hatte, war darauf eingeprägt. Der junge Magier hielt die kleine Scheibe hoch und sprach einen bestimmten Namen aus, worauf eine Kugel aus wirbelndem Licht aufflammte. Sie schwebte vor ihnen her und strahlte ein flackerndes, goldenes Licht aus. »Die Hallen, durch die wir gehen müssen, sind finster genug, aber ich glaube, das Hexenlicht wird die Dunkelheit erhellen«, sagte Sodaspes und steckte sein Medaillon wieder weg. Morgan folgte den anderen und dachte, daß es doch recht gut war, einen echten Magier als Begleiter zu haben, wenn man auf eine Suche ging, wie er sie angetreten hatte. Die Blase aus goldenem Licht schwebte über ihnen, während sie durch riesige Gewölbe zogen, in denen ihre Schritte gespenstisch hallten. Der Lichtkegel, der vom Hexenlicht ausging, reichte aus, um ihnen den Weg zu weisen. Dzarmungzung ging mit Argyra voraus, die anscheinend seine Favoritin war und auf seiner Schulter hockte, die wie eine runde Bergkuppe über ihnen aufragte. Sie schlenderten neben den mächtigen Füßen des alten Dra108
chen dahin. Von Zeit zu Zeit, wenn der Gang enger wurde, zogen sie sich hinter seinen Schwanz zurück, der mit einem metallischen Klappern über den rauhen Steinboden schleifte. Diese Galerien waren seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden und daher teilweise knöcheltief mit Staub bedeckt. Aber einst hatten die Könige und Helden aller Gemeinschaften hier gewohnt oder diese unterirdischen Korridore als Grabgewölbe benutzt. Sie kamen an steinernen Sarkophagen vorbei, deren mächtige Deckel die glitzernden Aufschriften von Namen aus der Fabel trugen. Throne, die von staubigen Spinnweben verhängt waren, ragten in den Schatten auf. In jener Zeit der Morgendämmerung war es Sitte gewesen, daß mit jedem König sein Thron, seine Krone und sein Schwert begraben wurden. Hier und da glitzerten inmitten von Staub und Spinnweben Rüstungen oder zerbeulte Helme, verrostete Schilde oder Lanzen im düsteren Schein uralten Metalls, wenn das kalte Hexenlicht auf sie fiel. Othgrim, der dicht hinter dem Outworlder einherschritt, verdrehte abergläubisch die Augen, als er diese verwitterten Relikte der Sterblichkeit sah, und murmelte halblaut eine heisere Litanei der Namen von Schutzgeistern. Der vierschrötige Bauer wußte um die Schrecken, von denen es hieß, daß sie solche Orte heimsuchten, und bei dem bloßen Gedanken daran liefen ihm eisige Schauer über den Rücken. Morgan lächelte innerlich, obwohl er bemüht war, die Gefühle dieses wackeren Kameraden nicht zu verletzen, indem er etwas sagte. Er erinnerte sich sehr wohl des eisernen Mutes, den dieser selbe Othgrim an der Felsmauer von Thoor gezeigt hatte, als das heulende Rudel der Senmurven um sie gekreist war. Damals hatte der wackere Knecht nicht das leiseste Anzeichen von Furcht gezeigt: jetzt aber waren seine Lippen weiß, und kalte Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und er 109
rollte verängstigt mit den Augen. Morgan grinste, sagte aber nichts. »Jedem Mann seine eigene Tapferkeit und sein eigener Schrecken«, sagt das Weiße Buch. Eine kleine Weile später hatte Morgan Outworlder selbst Anlaß, den eiskalten Hauch des Schreckens zu verspüren. Denn plötzlich blieben sie stehen, und selbst dem Furchtlosesten von ihnen entrang sich ein Stöhnen der Ehrfurcht und des Staunens. Bowman wurde blaß, und seine Hände umfaßten den schwarzen Bogen fester, so daß seine Knöchel weiß hervortraten. Vor ihnen bewegte sich etwas zwischen den Schatten. Mit langsamen Schritten kam es aus der Finsternis hervor, um sich ihnen gegenüberzustellen. Morgan kniff die Augen zusammen und versuchte, in dem schwachen Licht auszumachen, was es war. Und dann weiteten sich seine Augen ungläubig, und er merkte, daß sein Herz wie wild schlug, wie ein Vogel, der sich aus einem Käfig befreien möchte. Uralter Schrecken stand vor ihnen und breitete braune, verwitterte Arme aus, um ihnen den Weg zu versperren! Einst war es ein lebender Mensch gewesen, ein Ding aus Fleisch und Blut, aber das lag sehr weit zurück. Die Jahrhunderte hatten jenes Fleisch zu geschwärzten Fetzen verwittern lassen. Nackte, braune Knochen glitzerten trocken durch die ledernen Fleischlappen, die von ihnen herunterhingen. Der Kopf war wenig mehr als ein Schädel. Nackter, brauner Knochen, ausgetrocknet und zersprungen, vom Staub der Äonen bedeckt. Ein grinsendes Horrorgesicht – und doch blitzte aus den Schatten schwarzer Augenhöhlen noch Intelligenz wie Funken eines unsterblichen Feuers. Das skelettartige Ding stand auf knochigen Beinen, die so dünn wie Stöcke waren. Es war ohne Zweifel tot, und doch war da eine geheimnisvolle Kraft, die es belebte. 110
Die knochige Klaue einer Hand umklammerte den Griff eines alten Schwertes. Die Klinge war vom Rost gerötet und zerbeult, aber immer noch scharf genug, um zu verwunden und zu töten. Die braunen, knochigen Kiefer brachten kein Wort heraus, aber die zerbrochenen Zähne grinsten maskenhaft. Und doch funkelte im Feuer jener unsterblichen Augen eine Herausforderung, unausgesprochen, und doch nicht weniger eindrucksvoll. Conyin kannte das Ding, denn er alleine trat vor, während die anderen wie erstarrt stehenblieben. Er sprach es mit sanfter Stimme an. »Laß uns passieren, Dorovir, tapferer Dorovir, o du treuester aller Diener!« sang er leise. Der Schädel bewegte sich ein wenig, so als lauschte er. »Wir bitten dich, laß uns passieren, o Dorovir! Dein guter König schläft immer noch im Schatten hinter dir, und seine Ruhe soll von uns nicht gestört werden, hab also keine Angst, Dorovir, und laß uns vorbei, du Getreuer. Der gute König Aromedion soll in ungestörter Ruhe schlafen, bis zum Ende aller Dinge, du Getreuer! Wir müssen nur seinen Ort passieren und werden ihn nicht stören, denn er gehört zu den gesegneten Toten … O laß uns passieren, wir bitten dich, tapferer Krieger!« Langsam zog sich das tote, knochige Ding zur Seite zurück, und sie krochen an ihm vorbei, einer nach dem anderen, wichen seinem wachsamen Blick aus, bis sie den Ort passiert hatten, wo Dorovir der Tapfere ewige Wache vor der letzten Ruhestatt seines geliebten Königs hielt, dessen Schlaf er jetzt zehntausend Jahre lang bewacht hatte und den er weiter bewachen würde, bis die Welt selbst ihr Ende fand. Sie zogen weiter, stumm, mit ernsten, nachdenklichen Gesichtern. Und nie wieder lächelte Morgan Outworlder über Othgrim und seinen »Aberglauben«, denn dies war nicht seine Welt, und er kannte nicht alle Dinge, die in ihr waren.
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Stundenlang führte sie ihr Weg durch die Hallen des Todes, aber am Ende, als der Morgen dämmerte, traten sie in das helle Licht des Bergtors hinaus, und jetzt bedrohten keine grimmigen Schemen mehr ihren Pfad. Sie ruhten ein wenig in der Sonne aus, verjagten den Geruch nach Staub und Trockenheit und Verwesung aus ihren Lungen, tranken die frische, klare, kalte Bergluft in sich hinein und ergötzten sich nach so viel Schatten wieder am Anblick der hellen Sonne. Sie waren still und redeten überhaupt nicht über die Dinge, die sie erlebt hatten, denn sie wußten jetzt alle, selbst der Outworlder, daß in jener Finsternis große Legenden und alte Helden schliefen, und es geziemt sich nicht, von solchen Dingen zu reden. Nach einer Weile, erfrischt mit kaltem Wein und nachdem sie die finstere Stimmung von sich geschüttelt hatten, die in den Hallen des Todes über sie gekommen war, schickten sie sich wieder an, weiterzugehen. Immer noch schwebte das Hexenlicht über ihnen hin und her, obwohl sein Feuer im hellen Glanz des Morgens nur schwach und kalt wirkte. Sodaspes erinnerte sich jetzt daran und zog wieder sein Medaillon heraus und bannte es, indem er einen anderen Namen aussprach. Und so zogen sie weiter, über das Bergtor hinaus. Eine Weile begleitete Dzarmungzung sie noch, auf daß sie den wahren Pfad finden mögen. Aber schließlich kehrte er um und sagte ihnen lebewohl, denn die Suche war ihre Aufgabe, und nach so vielen in der Finsternis verbrachten Äonen schätzte er die Helligkeit des Tages nicht sonderlich. »Gehabt euch wohl jetzt, kleine Menschlinge, und auch du, kleines Mädchenkind!« sagte er mit seiner tiefen Stimme, und seine großen Augen lächelten wie freundliche Lampen auf sie herab. »Künftig müßt ihr allein eures Weges gehen, obwohl meine Wünsche euch bis zum Ende eurer Suche begleiten.« 112
Einer nach dem anderen sagten sie dem gigantischen Reptil Lebewohl, und jeder versuchte auf seine Art, dem alten Drachen für seine Freundlichkeit und Gastfreundschaft zu danken. Aber er wollte nichts davon hören und weigerte sich resolut, auch nur hinzuhören. »Bei meinem uralten, zarten Schwanz«, polterte er. »Nichts davon will ich hören, denn was ich getan habe, tat ich nur, um mit euch Worte zu tauschen und euch meine uralte Tiefe zu zeigen! Und deshalb heiße ich euch, seid still und dankt nicht dem alten Dzarmungzung! Und wenn diese eure große Suche vorbei ist und Bargelixwelt gerettet, dann seid ihr willkommen, mich wieder in meiner Behausung zu besuchen. Vielleicht haben wir dann die Muße zu einem guten Gespräch. Aber jetzt sagte ich euch Lebewohl. Seid vorsichtig, schaut aus nach diesen kriechenden, kleinen schwarzen Gnomen! Ein schurkenhaft schlaues Gezücht ist das, seid also auf eurer Hut! Vielleicht werden wir uns wieder begegnen … früher sogar, als ihr denkt!« Und mit diesen Worten machte der alte Drache kehrt und zog wieder zum Bergtor seiner unterirdischen Welt. Sie blieben eine Weile stehen und sahen ihm nach, bis er ihren Augen entschwunden war. Dann drehten sie sich wieder um und zogen weiter. Die Stimme von Ygg hatte nicht gelogen. Kaum eine Stunde, nachdem Dzarmungzung sich von ihm getrennt hatte, waren die Schwarzen Gnomen über ihnen, und diesmal in größerer Zahl als zuvor. Der Morgen flammte hell am reinen Himmel, und die beiden Sonnen standen hoch am Firmament, während sie die Höhen erklommen. Sie waren jetzt mitten in den mächtigen Bergen, denn sie hatten endlich den Gipfel der Welt erreicht. Rings um sie türmten sich die größten Berge auf, die Morgan je in seinem Leben gesehen hatte, ragten in den hellen Morgen, bedeckt mit jungfräulichem Schnee, den noch nie des Menschen Fuß betreten 113
hatte, und in dem sich der ganze Glanz des Himmels widerspiegelte. Sie waren jetzt nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Nur ein kurzes Stück Weges noch, dann würden sie vor dem Tarandon-Tor stehen, und die Suche würde dann beendet sein. Und da brach es über sie herein, so schnell, daß sie schon hilflos waren, ehe sie auch nur Zeit hatten, mit der Hand ans Schwert zu greifen. Sie mühten sich einen steilen Weg hinauf, der sich zwischen den hohen Bergmauern hindurchschlängelte, als der Himmel plötzlich dunkel wurde und Netze auf sie heruntersausten und sie mit ihrem Geflecht bedeckten. Bowman rief eine Warnung; Argyras Schwert blitzte im hellen Licht; Othgrim brüllte wie ein zorniger Bulle und schwang seinen mächtigen Stab. Aber die dicken Falten des schweren Netzes fielen über sie herab, umschlangen ihre Arme, behinderten ihre Waffen und warfen sie auf die Knie. Und dann kam heulend, in einem schrillen Chor, der von den Bergen widerhallte, eine ganze Schar der knorrigen, kleinen schwarzen Geschöpfe über sie. Ihre roten Augen glänzten mit böser Lust, und ihre Knüppel flogen. Sie schlugen Bowman nieder. Ein wohlgezielter Schlag traf Argyra am Handgelenk, und das Schwert entfiel den gelähmten Fingern der Kriegsmaid. Aber wenigstens ein Dutzend von ihnen war nötig, um den brüllenden Othgrim niederzuzerren und den mächtigen Knecht bewußtlos zu schlagen. Sodaspes spie Blitze von magischem Feuer nach ihnen. Pfeile aus gelben Flammen zuckten und fällten wie Blitze. Aber am Ende wurde auch er niedergeschlagen. Eine Keule traf Morgan am Hinterkopf. Für ihn explodierte die Welt in fliegenden Sternen und versank dann in absoluter Dunkelheit. Und als sie erwachten, waren sie Gefangene der Roten Zauberin.
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Der Brunnen der Weisheit hatte sie davor gewarnt, und es war so gekommen. Sodaspes hatte im Gespräch mit dem Alten Drachen entdeckt, was die geheimnisvolle Warnung des Gesichts im Nebel bedeutet hatte. Wie es schien, war eine mächtige Zauberin zur Macht gelangt und hatte die Herrschaft über die Schwarzen Gnomen angetreten. Yakiah hieß sie, ein Name, den man in diesem Land fürchten mußte. Immer noch verstrickt in das schwere Netz, benommen und nur halb bei Bewußtsein, schleppte man sie in die Halle ihres Bergpalasts und warf sie zu Füßen ihres Thrones. Auf eine gewisse unheimliche Art war die Halle sehr schön. Ringsum ragten Wände aus kühlem, grünen Stein in die Höhe, glasig und halb durchsichtig. Der Boden war ein schwarzer Spiegel, in dem kleine, goldene Sterne blitzten, verloren in ebenholzfarbenen Tiefen. In Pfannen aus getriebenem Messing leuchteten Jadeschalen mit smaragdgrünen Flammen zu beiden Seiten ihres Thrones, der ein Sessel aus rotem Holz war, mit einem grünen Samthimmel dahinter und darüber. Auf diesem Stuhl saß die Rote Zauberin. Sie trug die Gestalt einer schönen jungen Frau mit hohen Brüsten, schlanken Schenkeln und Hüften – eine gebieterische Schönheit, die die staubige Argyra ungepflegt und primitiv erscheinen ließ. Aber trotz all ihrer Schönheit konnte man erkennen, daß sie nicht ganz menschlich war. Zauberinnen von solcher Macht wie der ihren gestatteten selten anderen, sie in ihrer Realität zu sehen, und nahmen daher häufig eine Scheingestalt an. Daß sie die Rote Zauberin genannt wurde, paßte gut, denn ihr Haar war eine glitzernde Mähne aus scharlachrotem Feuer und wirkte eher wie das Werk eines begabten Juweliers als wie menschliches Haar. Winzige Punkte aus Gold und rotem Feuer blitzten zwischen ihren Haaren. Sie trug ein Kleid aus scharlachroter Seide, das ihre perfekten Beine kaum verhüllte und ihre kleinen, spitzen Brüste bloß ließ. 115
Ihr Gesicht war ein Oval, blaßgolden und makellos in seiner Perfektion, mit vollen, üppigen Lippen und einem kleinen Kinn, das ihrem Antlitz die Form eines Herzens verlieh. Doch ihre Augen verrieten sie. Unter fein gezeichneten Brauen waren sie von reinem Scharlachrot: die Augen eines Tieres, nicht die einer Frau. Am Fuß ihres Throns hockte ein häßliches, kleines Monstrum, schwarz wie Ebenholz, breitschultrig, mit mächtigen Oberarmen, krummen, knorrigen kleinen Beinen, einem häßlichen Gesicht, das eine zottige Mähne und ein Bart aus rötlichem Grau umrahmte. Auf seinem häßlichen Schädel saß eine Krone aus Eisen. Dies war Thog, der Häuptling der Schwarzen Gnomen und Diener der Roten Zauberin. Das Netz wurde von ihnen weggeschnitten, und viele kleine Gnomen hielten ihre Arme und Beine. Man band sie mit eisernen Ketten und nahm ihnen die Waffen weg, ebenso wie Conyins Leier und den kleinen Beutel mit Zauber, den der junge Magier an seinem Gürtel trug. Dann warf man sie vor ihren Thron. All dies geschah in völligem Schweigen, während die Zauberin mit unergründlichem Blick zusah, mit einem Gesicht, das ohne jeden Ausdruck war. Als sie dann sprach, mit glockenklarer Stimme, rein, süß und verführerisch, verriet das sofort die wahre Macht, die von ihr ausging. »Weshalb seid ihr hierhergekommen, trotz der Warnung des Brunnens, daß man euch gefangennehmen würde?« fragte sie ohne Vorrede. Sie sahen einander an, und dann war es Bowman, der das Wort als ihr Führer ergriff, obwohl dies bislang nie geschehen war. Doch irgendwie schien dies in diesem Augenblick ganz natürlich. »Weil, Lady, der Brunnen uns den Sieg versprochen hat«, sagte er. »Sieg!« sagte sie, und in ihrer Stimme klang Spott. »Wie 116
könnt ihr an Sieg denken, wo ich euch alle habe? Ein Wort von meinen Lippen, und Stahl senkt sich in das Herz des Outworlders, und eure Suche ist vorbei. Denn, wie du weißt, Sodaspes, nur ein Outworlder kann Tarandon schließen.« Sodaspes, bleich, aus vielen Wunden blutend, sagte nichts auf diesen Spott, oder hob auch nur den Kopf, der auf seine Brust gesunken war. Wieder sprach Bowman für die sechs, und seine Stimme war eigenartig ruhig. »All dies ist sehr wahr, Lady. Und doch weiß ich irgendwie, daß du jenes Wort nicht sprechen wirst. Oder, wenn du es tust, daß sich das, was du wünscht, aus irgendeinem Grund nicht ereignen wird; oder selbst wenn es das tut, daß am Ende der Gesang sich erfüllen wird.« Sie musterte sein Gesicht mit hellen, spottenden Augen, die nichts Menschliches an sich hatten. »Glaubst du das wirklich, Bowman? Sollen wir es auf die Probe stellen? Ich kann jenen Befehl jetzt aussprechen, und das Herzblut von Morgan Outworlder wird diesen schwarzen Spiegel des Bodens rot beflecken. Wollen wir darauf wetten, du und ich?« Jetzt fühlte Morgan eine Angst, wie er sie während all der Gefahren die sie bestanden hatten, nicht gekannt hatte. Er wagte nicht zu sprechen; er lag still und reglos da wie einer, der bereits tot ist, und haßte sich ob seiner Furcht. Doch er konnte nicht anders. Die ruhige Sicherheit, die in Bowmans Stimme mitschwang, fand kein Echo in Morgans Herzen. Ihm war nach Schreien zumute, aber er wagte nicht, sich zu bewegen, oder einen Laut von sich zu geben. Irgendwie – unerklärlich – wußte er, daß Bowman Herr des Augenblicks war. Auch Yakiah, die Rote Zauberin, spürte es, und es verblüffte sie. Bowman lenkte die Rede auf einen anderen Weg. »Du kannst den Outworlder nicht töten, Lady, so sehr du dich auch bemühst, weil es nicht seine Bestimmung ist, an diesem Ort zu sterben, noch die deine, ihm Unheil zu bringen«, sagte er leise. »Und du, die du die Macht der Roten Magie beherrscht, 117
weißt, daß man die Bestimmung nicht betrügen kann.« Ein Anflug von Unsicherheit legte sich über ihre Züge; und dann wurden sie wieder kalt und hart, wie eine aus Elfenbein geschnitzte Maske; und dann wieder weich und schlau. »Bestimmung!« spottete sie. »Weil das Gesicht im Nebel gesagt hat, ihr werdet am Ende gewinnen? Hat das Gesicht nicht auch gesagt, daß hinter dem Bergtor der Tod einen der sechs erwartet? Warum sollte es nicht Morgan Outworlders Tod sein?« Und dann fuhr sie, ehe er antworten konnte, fort: »Und wie kannst du sicher sein, daß das Gesicht die Wahrheit sprach? Oder wessen Stimme durch jene Schattenmaske sprach? Vielleicht war es das mächtige Chaos und nicht der weise Alte Ygg!« Bowman gab darauf keine Antwort; es gab wirklich nichts zu sagen. Sie konnten nicht sicher sein, daß das Gesicht zu ihnen die Wahrheit gesprochen hatte … nur hoffen konnten sie. Dann sprach wieder die Zauberin, und jetzt war ihre Stimme einschmeichelnd. »Warum quält ihr euch durch Gefahren und Unbilden, wo doch nichts euch zwingt, diese Leiden und Lasten auf euch zu nehmen? Woher wißt ihr, daß ihr das Tarandon-Tor schließen könnt? Wie könnt ihr wissen, daß ihr es auch nur finden werdet inmitten dieser Wildnis aus Felsgestein, in diesem Wald aus Gipfeln? Und selbst wenn ihr es findet und es könnt, wißt ihr denn, ob es klug ist, das Tor zu schließen? Eure Götter sind einst durch das Tor auf diese Welt gekommen; vielleicht sind sie es, die sich jetzt diesem Portal nähern und die auf diese schöne, grüne Welt zurückkehren möchten, um ein Paradies aus ihr zu machen? Könnt ihr sicher sein, daß dies nicht die Wahrheit ist? Denn wenn es einmal geschlossen ist, kann das Tor nie wieder geöffnet werden, nicht einmal dann, wenn alle Magier dieser Welt sich dazu verbündeten.
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Warum fürchtet ihr das Chaos und bekämpft es? Weil es böse ist? Aber das Chaos ist die Kehrseite der Schöpfung. Die beiden zusammengenommen machen das Ganze, was wir Natur nennen. Kann eine Naturgewalt gut oder schlecht sein? Sind denn die Gewalten, die die Welten machen und zerbrechen, nicht über solch unwichtige Urteile erhaben, die kleine Menschlinge in ihren kleinen Moralphilosophien erwecken? Ist ein Stern gut oder böse – ein Wind, ein Stein, ein Tier, eine Wolke, eine Welle?« So floß die weiche Musik ihrer Worte weiter, bis Morgan spürte, wie seine Aufmerksamkeit abzuschweifen begann. Es drängte ihn danach auszuruhen; seine Arme waren taub. Der schwarze Spiegel, auf dem er lag, war kalt. Er blinzelte ein paarmal, um sich wachzuhalten, und entdeckte, daß sie aufgehört hatte zu sprechen. Sie saß reglos da wie eine Statue, starrte auf sie herab, und ihre Macht umhüllte sie, ihre Augen flammten in der fahlen Maske ihres schönen Gesichts wie rote Monde, und ein Schimmer pulsierender Macht umgab sie fast sichtbar; er lag wie ein schwaches Leuchten über ihrer Haut, als wäre sie durchsichtig geworden wie eine Säule aus farbigem Rauch, und sie konnten die sieben Chakras ihres Astralleibs wie Flammenräder sehen. Zu ihren Füßen kauerte wimmernd der Gnom und verbarg seine bösen Augen. Eine Wolke pulsierender Strahlung sammelte sich über ihrem Kopf, Zwielicht war im Raum; grüne Düsternis umhüllte alles. Es war, als stünde dieser Saal unter Wasser, und das einzige Licht käme durch flüssigen Smaragd herein. Und dann erstarb das Licht und stürzte den Raum in schwarze Düsternis. Jetzt ging das einzige Licht von der nebelhaften, durchsichtigen Gestalt auf dem Thron aus – von den sieben wirbelnden Flammenscheiben, die durch ihre Gestalt brannten wie Monde aus kriechendem Feuer durch eine Wolke. Ein schrilles Pfeifen wurde hörbar: ein Geräusch so scharf und hoch, daß menschliches Fleisch es kaum ertragen konnte. 119
Argyra wimmerte und versuchte, mit den zusammengeketteten Händen ihre Ohren zu bedecken. Sodaspes war weiß wie eine Leiche und schwitzte, und seine Augen funkelten wie die eines Wahnsinnigen, Schaum stand in seinen Mundwinkeln, und er versuchte zu sprechen. Conyin lag mit dem Gesicht nach unten auf dem schwarzen Boden und betete. Die sieben Feuerräder wurden jetzt heller, und die Substanz ihres Körpers verblaßte fast bis zur Unsichtbarkeit. Das Pfeifen wurde tiefer, wurde zu einem Dröhnen. Wellen des Lichtes gingen jetzt von der wirbelnden Wolke aus, die sich über dem Kopf dessen, was einmal Yakiah gewesen war, versammelt hatte; Tentakel aus wolkiger Strahlung tasteten herum, wanden sich ineinander wie ein Nest von Schlangen. Dann zerrten harte, schwarze Hände sie aus dem Saal, weg von der pulsierenden Säule aus Feuerrädern und der unirdischen Musik, und Morgan sank in eine Ohnmacht, die Stunden dauerte. Er sollte nie erfahren, was die seltsame Transformation zu bedeuten hatte, deren Zeuge er geworden war, noch weshalb die Hexe so eigenartig zu ihnen gesprochen hatte, noch was das Ganze bedeutete. Nichts davon erklärt das Epos und auch nicht die neun Kommentare, noch kann ich das, weil ich es nicht begreife; ich kann es hier nur wiedergeben, wie es im siebten Buch des Epos geschildert wird, und hoffen, daß klügere Geister als der meine seine Bedeutung und sein Geheimnis erkennen mögen. Die Zeile, in die die Gnomendiener der Roten Zauberin sie stießen, war geräumig und luftig, in gewissem Maß sogar bequem. Nach all den Strapazen und Mühen der Reise war es seltsam angenehm, in solchem Komfort Gefangener zu sein. Eine eigenartige Stimmung der Schlaffheit hatte sie erfaßt: sie beklagten ihren Zustand nicht, versuchten auch nicht zu entkommen, da sie klar erkannten, daß dies ihre Kräfte überstieg. 120
Sie saßen oder lagen herum, redeten träge und dösten von Zeit zu Zeit. Die Stunden verstrichen in einem traumartigen Nebel. Nichts schien sehr wichtig, nicht einmal die Flucht. Weshalb die Magierin sie gefangenhielt, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Ihre Motive waren unbekannt, davon abgesehen, daß sie eine Jüngerin des Chaos war und daher ihrer Suche feindlich gegenüberstand. Morgan konnte nicht begreifen, weshalb man sie am Leben ließ, da, solange sie lebten, die Flucht und die Krönung ihrer Suche, das Schließen von Tarandon-Tor, doch noch möglich waren. Ihr Tod würde dem ein Ende machen, und doch ließ sie sie nicht töten. Und an diesem Punkt staunte Morgan, der wie die meisten Terraner ein Pragmatiker war, über ihre scheinbare Ziellosigkeit, obwohl er sich natürlich den Tod nicht wünschte. Träge diskutierten sie Fluchtpläne. Die Tür ihrer Zelle war mit einer Stange aus fremdartigem Metall verriegelt, ausgebleicht und farblos, ein Metall, das keiner von ihnen kannte. Die Riegel waren zwei Zoll dick und wichen nicht einmal Othgrims hünenhafter Stärke. Es gab kein Schloß an der Tür: sie war mit Zauberei versiegelt, und der Schlüssel war ein geflüstertes Wort. Die Gnomen hatten ihnen all ihre Waffen und Geräte abgenommen. Sodaspes besaß freilich auch ohne den kleinen Beutel mit Zauberamuletten noch gewisse Kräfte – das Wissen um Worte und Namen – Runensprüche, für die die Stimme reichte. Aber in ihrer augenblicklichen Not waren diese, wie er ihnen erklärte, nicht ausreichend, um ihnen zu helfen. Auf Morgan wirkte der junge Magier ruhig, ja phlegmatisch, ohne viel Interesse an ihrer Zukunft, ganz in die Stimmung der Trägheit versunken, die sie alle erfüllte. »Wenn man sich selbst nicht helfen kann«, sagte der Magier, »muß man auf Hilfe von draußen warten.« Aber er wollte diese geheimnisvolle Bemerkung nicht erklären und hieß den Outworlder nur, er solle abwarten. 121
Die Rote Zauberin schickte nicht wieder nach ihnen, sprach auch nicht mit ihnen. Aber manchmal waren sie sich bewußt, daß ihre unsichtbaren Augen auf ihnen ruhten: »Sie hat einen Zauberspiegel«, murmelte Sodaspes träge auf Morgans Frage. Er wußte, daß dies ein Zauberglas war, ein magischer Spiegel irgendeiner Art, in dem sie sie sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Und dann war der Augenblick ihrer Flucht plötzlich über ihnen, ohne die geringste Warnung. Soweit sie die Zeit in diesem seltsamen Schloß abschätzen konnten, das jenseits des Zugriffs der Zeit zu liegen schien, mußte das ein oder zwei Tage nach ihrer Gefangennahme sein. Morgan hatte ein wenig geschlafen. Plötzlich war er hellwach, als der Steinboden unter seiner Pritsche sich aufbäumte. Die Luft war voll Staub und Geschrei. Gnomen huschten im Korridor an ihrer Zelle vorbei, von Panik erfüllt kreischend. Aus der Ferne war das Poltern von Steinen zu hören und ein Scharren von zerbrochenen Felsbrocken, die sich an anderen rieben. Jetzt bäumte sich der Boden wieder auf, und in der Ferne war ein lautes Klappern zu vernehmen, und plötzlich riß in ihrer Zelle eine Spalte auf, die vom Boden bis zur Decke reichte. »Erdbeben!« rief Morgan in Neoanglik aus, weil er den Ausdruck in Cophyri nicht kannte. Irgendwie schien Sodaspes zu begreifen, was er meinte, und er lächelte schwach. »Mag sein, Outworlder! Ich glaube freilich, daß es Augen und einen Schweif hat«, sagte er geheimnisvoll. Plötzlich erschütterte etwas die Burg in ihren Grundfesten: das ganze Bauwerk schien zu zittern und sich zu bewegen, und überall in den Fugen zwischen den Steinblöcken stiegen Staubwolken auf. Wieder war aus einer fernen Halle das Klappern herunterstürzender und zerbrechender Dinge zu hören, und erneut erhob sich ein Chor heulender Gnomenstimmen. 122
Und gleich darauf ertönte ein knatterndes Krachen, dann ein summendes Dröhnen und ein paar betäubende Explosionen. Blitzschläge, dachte Morgan benommen. Dann folgte ein donnerndes Krachen, und der Boden ihrer Zelle schwankte wie ein Floß auf unruhiger See. Argyra taumelte durch die Staubwolken auf sie zu, und der Outworlder legte den Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen. Selbst in diesem Augenblick der Panik war er sich ihrer weichen Rundungen und der Wärme bewußt, die von ihrer Nähe ausging. Und der Duft ihres Haares stieg ihm in die Nase und ließ sein Herz schneller schlagen. Sie sah ihn an, ein langer, seltsamer Blick, und löste sich dann aus seinen Armen. Der Staub legte sich. Bowman stieß einen Schrei aus, ein wortloser Freudenruf, und deutete. Die verzauberte Tür ihrer Zelle war aus ihren Angeln gefallen, und der Korridor lag offen vor ihnen. Sie rannten aus der Zelle in den geneigten Gang hinaus. Die Steine an der Decke ächzten unheilverheißend. »Das fällt uns gleich auf den Kopf, Meister«, knurrte Othgrim. Morgan schluckte, nickte dann und sagte: »Welche Richtung?« »Irgendwohin, Junge, nur los!« herrschte der alte Conyin ihn an, und dann rannten sie den Korridor hinunter, erreichten eine Treppe und hetzten mit verzweifelter Hast hinauf. Lärm umgab sie jetzt von allen Seiten, wie die Geräusche einer Schlacht: schrille Schreie, knurrende Stimmen, als hätte ein Feind die Gnomen überfallen. Sie erreichten das nächste Stockwerk des Schlosses, ohne entdeckt zu werden, und gelangten in eine geräumige Halle. Einst war sie wohl prunkvoll gewesen, aber jetzt war nur noch das Werk der Zerstörung zu sehen. Schlanke Statuen aus durchscheinenden, milchigem Stein lagen in zersprungenen Fragmenten neben ihren Sockeln, und der ganze Boden war mit kalkigem Staub bedeckt. Wände und Türöffnungen waren zersprungen oder verbogen, eine riesige Porphyrsäule war umgestürzt, und ein halber Torbogen war 123
zerbröckelt und übersäte den Boden der Halle mit Trümmern. Zwei oder drei Gnomen waren von den heruntergestürzten Steinen zerdrückt worden. Der scharfe Jodgeruch von Gnomenblut lag in der Luft und mischte sich in den beißenden Staub. Sie rannten durch das Trümmerfeld und erreichten eine große Rotunde. Dort, auf einem zersprungenen Podest, lagen zu ihrer großen Freude, Schwert, Stab, Leier und alles, was ihnen gehörte. Ein Zauber hatte ihr Eigentum behütet, aber ein heruntergefallener Balken hatte den Ring aus leuchtender, roter Kraft durchbrochen, und so konnte man ihn durchschreiten, wenigstens sagte Sodaspes das. Mit zitternden Händen, fürchtend, das Dach würde jeden Augenblick in einer Steinlawine über ihnen zusammenbrechen, griffen sie sich ihre Habseligkeiten und rannten durch das mittlere der vier Portale, das in die Rotunde führte, und fanden sich kurz darauf auf den Zinnen einer mächtigen Mauer im Freien. Ihren Augen bot sich ein phantastisches Bild. Die Burg der Roten Zauberin war auf einem breiten Felsvorsprung erbaut, der wie eine mächtige Klippe über einen gewaltigen Abgrund hinausragte. Rings um sie ragten schneebedeckte Gipfel in das klare Licht des Morgens, rosafarben und grau, purpurn, golden und in atemberaubendem Weiß. Nur Sitra stand am Himmel und überflutete das reine, wolkenlose Blau mit seinem weißen Schein. In dem grellen Licht war jede Einzelheit mit kristallener Klarheit zu erkennen. Die Burg wurde belagert. Und das, was sie belagerte, war schrecklicher als jede Armee. Denn es war kein anderer als Dzarmungzung selbst, der Großvater aller Drachen, der vor der Außenmauer stand. Bowman stieß einen Freudenruf aus, und der alte Conyin grinste breit. Der Alte Drache hatte ihre Not erraten oder mit seiner Magie von ihr gehört, und die mächtigste Kreatur dieser 124
Welt hatte sich aus ihrer Lethargie gerissen und war aus den Tiefen ihrer Unterwelt ausgezogen, um für das Licht zu kämpfen. Die äußerste Mauer von Yaklahs Festung bestand aus Steinquadern, von denen jeder eine Tonne wog, und die Mauer war so breit, daß zwei Männer nebeneinander auf ihr gehen konnten. Aber für die Macht Dzarmungzungs war die Kraft des Steines nichts, und so hatte der Drache sich mit seinen mächtigen Tatzen gegen die Mauer gelehnt und sie an zwei Stellen umgeworfen. Gnomen hingen von Zinnen und Dach, fuchtelten mit ihren Steinwaffen herum und jaulten wie ein Rudel Hunde. Furcht und Schrecken vor dem Großen Drachen erfüllten sie, und man konnte die Angst aus ihren Stimmen hören. Während die sechs in den von Schutt und Staub bedeckten Hof zwischen der inneren und der äußeren Mauer strebten und durch einen der Risse in der Mauer zusahen, ging der alte Dzarmungzung erneut ans Werk und drückte mit dem Schädel gegen einen Wachturm, der eine der Himmelsrichtungen bewachte. Im klaren Morgenlicht schien der Alte Drache aus funkelnder Jade zu bestehen, und die großen Hornplatten, die seinen Rükken, seine Schultern und das Gesicht schützten, leuchteten wie riesige Smaragdscheiben. Er war wie ein sich bewegender Berg. Und jetzt drückte er mit der Stirn gegen den Turm und beugte sich vor. Seine mächtigen Tatzen gruben sich in den Steinboden, zerdrückten massives Gestein zu Staub; mächtige Muskelstränge traten an seinem Nacken hervor. Vor den Augen der sechs bewegte sich der schwere Turm etwas, Stein scharrte an Stein; ein Regen von Staub und Felsbrocken ging zu allen Seiten des Turmes hernieder. Und dann fiel der Turm in großen Stücken auseinander, brach in sich selbst ein; Gnomen sprangen wie schwarze Insekten von der Turmspitze. Der Turm löste sich in fünf riesige Fragmente auf 125
und fiel langsam mit einem mächtigen Krachen zusammen, das den Boden erzittern ließ und den Himmel mit einer wirbelnden Fontäne aus Steinstaub erfüllte. Dzarmungzung grinste, und sein großer, horniger Kopf war mit weißem Felsstaub bedeckt wie eine Maske. Er schien ungeheuren Spaß zu haben. Jetzt zog ein schriller Schrei aus unartikulierter Wut ihre Aufmerksamkeit auf die Spitze des Mittelturms der Festung, wo ein breiter Balkon Ausblick auf die Szene bot. In der unnatürlichen Klarheit des weißen Tages konnten sie die winzige, scharlachrote Gestalt in allen Einzelheiten erkennen. Die Zauberin stand dort, das scharlachrote Haar gelöst und ihren Kopf wie eine Krone wildgewordener Schlangen umfliegend. Selbst auf diese Entfernung waren ihre Augen sichtbar, rote Kreise zuckender Flammen. Ihre Kraft umgab sie wie ein Panzer und umflutete sie wie ein strahlender Nimbus aus roten Flammen. Ihre eine Faust hielt einen Stab aus goldenem Holz oder Metall; oben war der Stab wie Schwingen geformt, die von einer Kugel aus Glas ausgingen, in der ein Funke eines diamanthellen Leuchtens wie ein gefangener Stern blitzte. »Was ist das Ding?« wollte Argyra wissen. Sodaspes warf ihr einen Blick zu und sagte: »Ihr Sprengstock, glaube ich; sei still, Mädchen, und sieh zu …« Sie strich über den Stab, und plötzlich zuckte eine Kette aus lebenden Feuern durch die staubige Luft und traf den Alten Drachen. Die sechs zuckten unwillkürlich zusammen, als ein Blitzschlag über den Hof peitschte. Es war ein Blitz, so unerträglich grell, daß die Sonne im Vergleich dazu blaß wirkte, und die Sekunden, die der Blitz zuckend am Himmel hing, machten den Tag selbst düster und dunkel. Die Explosion war betäubend. Sie hallte, wie wenn ein mächtiger Riese die Hände zusammenschlägt. Dann war der feurige Blitzbogen verschwunden und hinterließ ein gespenstisches 126
grünlich-gelbes Nachleuchten in ihren Augen. Der metallische Gestank von Ozon hing in der staubigen Luft. Morgan blinzelte das Nachbild weg und blickte furchterfüllt hinüber, um zu sehen, ob ihr geschuppter, mächtiger Freund verletzt worden war. Aber Dzarmungzung stand ungerührt da, und seine orangefarbenen Augen blickten mild. Die älteste all der Sprechenden Tiere von Bargelixwelt hatte große Zauberkraft und bezog seine Stärke aus den Granitgebeinen der Berge und den eisernen Eingeweiden der Welt, und so etwas war für ihn nicht mehr als ein Nadelstich. Die Zauberin stieß einen wütenden Schrei aus. Sie hob ihre schlanken Arme vor den flammenden Feuerschein ihres Haares, um erneut zuzuschlagen. Aber jetzt stand Sodaspes mit erhobenen Armen da, das Gesicht bleich und vor Konzentration streng blickend, und auf seiner Stirn schimmerte der Schweiß. Langsam sammelte er seine Kräfte und sprach einen Namen der Macht aus. Gespenstisch und rauh waren die rollenden Silben jenes Namens; Kehle und Zungen von Menschen waren nicht dafür geformt, jenen schrecklichen Namen auszusprechen, und die harten Silben sogen die Kraft aus dem jungen Magier, und er sackte schließlich müde in sich zusammen und wäre vielleicht gestürzt, wenn Othgrim ihn nicht mit seinen mächtigen Armen gestützt hätte. Aber der Klang des Namens ließ den Stab der Zauberin in ihren Händen zerbrechen. In sieben Stücke zerbrach er, und trotz der Entfernung konnte man hören, wie er brach. Der diamantene Funke, der in der geflügelten Kugel gebrannt hatte, verlosch; die Kugel brach vom Stab und fiel, zerklirrte auf dem steinernen Rand der Balustrade. Yakiah kreischte! Sie warf die Arme hoch und stieß einen schrillen, schrecklichen Ruf aus. Und dann zerbröckelte mit donnerartigem Grollen der Balkon und stürzte in die Tiefe, ein Katarakt aus Felsbrocken wie eine kleine Lawine. Die Frau war plötzlich verschwunden, vielleicht unter den Steinen begraben. 127
Der Fall der Hexe, ihrer Herrin, brach den Mut der Gnomen. Von Panik erfüllt, rannten sie hin und her, verließen die Mauern, warfen die Waffen weg und huschten durch das Steingewirr. Alle, ausgenommen der schwarze Thog. Er klammerte sich an die Fenstermündung, vor der einmal der Balkon gewesen war, von dem aus die Zauberin ihre feurigen Blitze nach Dzarmungzung geschleudert hatte. Als er die sechs im Hof unter sich erblickte, ballte er die knorrige Faust und schüttelte sie in stummem Haß nach ihnen. »Ist sie tot?« fragte Morgan. Conyin sah ihn mit kalten Augen an. »Tot, wie? Nun vielleicht … und vielleicht auch nicht. Jene, die so hoch im Dienst des Chaos und der Alten Nacht aufsteigen, sind nicht leicht zu töten. Und wenn sie einmal tot sind, bleiben sie selten lange tot. Fürwahr, manchmal muß man sie immer wieder töten, in jedem Äon …« Und dann gingen sie über den Hof zu Dzarmungzung, der damit beschäftigt war, den nächsten Turm umzuwerfen. Er entdeckte sie durch die Staubwolken, und sein herzlicher Gruß dröhnte ihnen entgegen. »Hoh! Sind das nicht die kleinen Menschlinge? Bei meinen Hörnern, und ich hatte schon gedacht, der alte Dzarmungzung müßte diesen hübschen Palast zur Hälfte umstürzen, um euch zu finden! Nun denn, Kind«, knurrte er, und seine Augen suchten Argyra, zu der ihn besondere Zuneigung zu erfüllen schien, obwohl es gerade die Kriegsmaid gewesen war, die ihm mit dem Schwert in den Schwanz gestochen hatte – »Nun, hat nicht Yggs Brunnen die Wahrheit gesprochen? He? Magier! Es hat mir viel Freude bereitet, zu sehen, wie du mit deiner Kraft den Stab jener Hexe zerbrachst. Ja, fürwahr, diese Berge werden wieder freier atmen, wo sie nicht mehr ist und die Luft nicht länger verpesten kann. Möge sie tausend Jahre nicht mehr erwachen!« Er drehte sich etwas zur Seite, hielt inne, zog seinen Schweif 128
durch all den Schutt an sich heran und demolierte verspielt ein weiteres Mauerstück mit einem Prankenschlag. Mit großer Befriedigung sah er zu, wie das Mauerwerk in sich zusammensank. Und dann: »Ah, nun, das sollte genügen, was, ihr Menschlinge? Alte Knochen wie die meinen sollten alle paar hundert Jahre einmal ein wenig bewegt werden, ist es nicht so? He! Hrrumph. Nun denn, Kind, sieh zu, ob du und deine Kameraden nicht auf dieses breite Stück zwischen den Schultern des alten Dzarmungzung klettern könnt, eh? Und dann wollen wir alle gemeinsam zum Tarandon-Tor gehen und es schließen, ihr und ich, und ihr sollt die Hälfte des Weges bequem auf mir reiten!«
8. Eines mußte Morgan zugeben, wenn man schon auf eine Suche gehen mußte, dann war es besser, dies auf dem Rücken des Großvaters der Drachen zu tun als zu Fuß. Das behäbige, alte Reptil schlenderte dahin, plauderte dabei mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme, und seine krummen Beine fraßen trotz seines ungeheuren Gewichts die Meilen in sich hinein, und die Entfernung schrumpfte so schnell, daß sie es kaum bemerkten. Angesichts seiner Leibesfülle brauchte er eine ziemlich breite Straße und wählte sich daher die Kammlinie der Bergkette. Sie waren jetzt weit über dem Meeresspiegel und hatten eine gehörige Distanz zurückgelegt. Morgan hätte gestaunt, wenn man ihm gesagt hätte, wie weit sie gereist waren, seit sie an jenem lang vergessenen Morgen Kargonessa verlassen hatten. In dieser Höhe war die Luft klar und trocken und sehr kalt, und sie ritten zwischen den Schultern Dzarmungzungs, die wie schuppige Hügel waren, und hatten sich eingehüllt in ihre Umhänge und in Decken. Nach einer Weile schlief der Out129
worlder ein und selbst in seinem Traum klang die angenehm dröhnende Stimme des Alten Drachen, der freundlich mit Argyra und Bowman plauderte. Als dann der Alte Drache plötzlich haltmachte, weckte ihn das auf. Er blinzelte, wachte auf und starrte auf ein phantastisches Bild, das sich ihm bot. Vor ihnen, auf der anderen Seite eines riesigen Abgrunds, türmte sich ein mächtiger Berg in die Höhe. Man konnte nicht sagen, wie hoch er war, aber er schien höher als jeder Everest auf der alten Erde, höher selbst als Mount Albright auf Centauruswelt war er, und mit silbernem Schnee bis zu seinem gehörnten Gipfel bedeckt. »Und da ist sie, Menschlinge«, sagte der Drache: »Die Mutter aller Berge.« Neben dem Outworlder faltete Sodaspes die Hände und hauchte einen magischen Namen. »Tarandon …« Morgan musterte den Berg aus zusammengekniffenen Augen. Er türmte sich vor ihnen auf, ungeheurer, als je ein Berg sein sollte, unglaublich riesig, den halben Mittagshimmel mit seinen mächtigen Hängen erfüllend. Ganze Wälder bedeckten seine Flanken, Hügel und Schluchten. Morgans Herz drohte zu stocken, als er die Höhe und die gewaltigen Ausmaße sah. »Ist … ist er das?« murmelte er. »Aber … Wie sollen wir das je ersteigen?« Der alte Conyin kniff die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Widerschein der endlosen Schneefelder zu schützen, knurrte und stieß dann hervor: »Wir brauchen ihn nicht ganz zu erklettern, nur ein Stück – dort, diese Höhlenmündung bei der scharfen Bergspitze im Süden! Siehst du sie? Diese schwarze, dreiecksförmige Öffnung? Das ist der Weg, der zu dem Portal führt, wenn die alten Legenden nicht lügen.« »Wir brauchen ihn überhaupt nicht zu ersteigen«, ereiferte sich Argyra und deutete hinüber. »Seht ihr? Dort führt eine Steinbrücke über den Abgrund zu diesem großen Felsbrocken. 130
Von dort bis zur Mündung der Höhle scheint es nicht weit zu sein.« Vielleicht waren Bowmans Augen schärfer als die der Kriegsmaid, oder er verstand sich besser darauf, Entfernungen abzuschätzen. »Das ist weiter als es scheint, Herrin«, sagte er mit seiner leisen, ruhigen Stimme. »Und der Hang vom Ende der Brücke zur Höhlenmündung ist steil und schneebedeckt und gefährlich.« Sie zogen weiter, und am Ende stellten sie fest, daß für den alten Dzarmungzung der Weg jetzt zu Ende war, denn von der Stelle aus, die sie erreicht hatten, wurde der Pfad für ihn zu schmal. Es war auch gut so, daß sich ihre Wege hier trennten, denn am Ende würden sie ohnehin auseinandergehen müssen: niemals würde er die Steinbrücke überqueren können, die den mächtigen Abgrund von einem Berg zum nächsten überspannte. Denn die war so eng gebaut, daß nur ein Mann auf ihr gehen konnte, und so würden sie hintereinander hinübergehen müssen. So verabschiedeten sie sich hier von Dzarmungzung, an einer Stelle, wo der Platz für ihn noch ausreichte, daß er sich umdrehen und zurückgehen konnte. Es war ein ernster Abschied, denn nach dem, was sie aus dem Brunnen gehört hatten, stand ihnen noch große Gefahr bevor, ehe sie ihr Ziel erreichten. »Gefahr und Finsternis und Tod«, hatte das Gesicht im Nebel versprochen. Und so gab es einige unter ihnen, die den alten Dzarmungzung nie wieder erblicken würden. Argyras Abschied war voll Liebe. Die Kriegsmaid brach in Tränen aus und schlang die Arme um das mächtige Kopfhorn des Alten Drachen und sagte ihm, er solle gut auf sich aufpassen und sich vor den Gnomen hüten. Seine großen Augen blinzelten ihr freundlich zu, und er gab beschwichtigende Geräusche von sich, oder versuchte das wenigstens, weil sie nur als ohrenbetäubendes Schnauben herauskamen. »Geh nur zu, Kind, und vielleicht wird der alte Dzarmung131
zung noch nicht umkehren, sondern hier warten und vielleicht ein kleines Nickerchen machen. Bei meinem uralten, zarten Schweif, all die Anstrengung hat mich müde gemacht, und so werde ich eine Weile schlafen, bis ihr alle zurückkehrt, denn auf diesem Weg müßt ihr wieder kommen – es gibt keinen anderen …« Und sein mächtiger Rachen öffnete sich weit in einem erschütternden Gähnen, so daß man seine großen Fänge und Hauer sehen konnte, wie mächtige Stalagmiten in einer uralten Höhle. So zogen sie alleine weiter, und ehe eine Biegung im Weg ihnen die Sicht nahm, blickten sie zurück und sahen, daß die großen, feurigen Lampen seiner Augen geschlossen waren. Der Großvater aller Drachen schlief tief, dort auf dem Schnee des Gipfels der Welt. Zwei Stunden, oder auch ein wenig mehr, arbeiteten sie sich langsam und mühsam über den Felspfad hinauf, an den Fuß der steinernen Brücke, die den Abgrund überspannte. Und dann nahm Thog Rache … Von irgendwo aus dem Nichts brach eine heulende Horde Schwarzer Gnomen über sie herein. Sie arbeiteten sich gerade auf einem schmalen Felssims auf die Brücke zu, als es geschah. Auf der einen Seite ragte eine steile Klippe weit über ihnen auf; auf der anderen stürzte die Welt ab in einen düsteren, schwindelerregenden Abgrund. Und da ging plötzlich ein Sturm steinerner Geschosse auf sie nieder. Steinäxte und Speere mit Steinspitzen klapperten gegen die Felswand. Conyin taumelte, Blut strömte ihm über die Schulter, und er wäre gestürzt, hätte der mächtige Othgrim nicht den Arm ausgestreckt, ihn am Umhang gepackt und ihm Halt gegeben. Die Gnomen waren über ihnen am Bergkamm, und ihre schwarzen Köpfe säumten den blauen Mittagshimmel, und sie hatten keine andere Wahl als zu rennen. 132
Und so rannten sie über den schmalen Felssims, wo ein einziger Fehltritt den schrecklichen Absturz in einen schnellen Tod auf den Felsen in der Tiefe bedeutete; rannten, während rings um sie feuergespitzte Pfeile in einem klappernden Schauer niedergingen. Einer prallte von Argyras kleinem Schild ab, den sie sich über den Kopf hielt; ein anderer zupfte am Saum von Sodaspes’ Kutte und fetzte einen langen Riß in das grobe Gewebe, fügte ihm aber zum Glück nur einen leichten Kratzer am Bein zu. Morgan rannte keuchend, denn in dieser dünnen Luft bereitete jede Anstrengung Mühe. Bowman war vor ihm, und während sie rannten, schrie Morgan die Frage, ob sie wohl die Brücke noch rechtzeitig erreichen würden. »Wenn nicht, sind wir alle tot«, knurrte Bowman. Aber schließlich hatten sie den Felssims hinter sich, und keiner von ihnen war ernsthaft verletzt. Vor ihnen war die Brücke. Und ebenso die Gnomen und Thog selbst, die bärtigen Lippen in einem Wolfsgrinsen zurückgezogen, so daß man die schmutziggelben Stummel seiner verfaulten Zähne sehen konnte. Sie hatten keine andere Wahl als den Angriff, und so griffen sie an. Othgrim an der Spitze, den mächtigen, eisenbeschlagenen Stab schwingend, zur Linken und zur Rechten mit jedem Schlag grauhaarige Schädel spaltend. Bowman und Argyra eilten ihm zur Seite und ließen die Sehnen ihrer Bogen schwingen. Weiße und schwarze Pfeile pfiffen abwechselnd über den Mittagshimmel, durchbohrten Leder und Fleisch. Die Gnomen fielen und glitten über den Abgrund, um in der Tiefe zu verschwinden. Morgan und Conyin waren jetzt mitten unter ihnen, und Morgan schwang sein Schwert und schlug und hieb nach allen Seiten, bahnte sich seinen Weg durch das knurrende Pack kleiner, schwarzer Geschöpfe. Sie klammerten sich an seine Schenkel, seine Knöchel, bissen mit scharfen Fängen nach ihm, versuchten, ihn in die Tiefe zu ziehen. Aber die scharfe Klinge, 133
die Tasper ihm vor so vielen Tagen gegeben hatte, verließ ihn in dieser Stunde der Gefahr nicht. Sie schnitt und hieb und hinterließ eine rote Spur in der Luft. Und dann war plötzlich der Weg irgendwie frei. Othgrim stand auf der Brücke, winkte ihnen zu, und Morgan stürzte sich hinter ihm her, dicht gefolgt von Conyin und Sodaspes, während Argyra und Bowman mit ihren Bogen die Nachhut sicherten. Und jetzt kam Morgans Zeit des Schreckens. Er hatte das noch nie jemandem gesagt, aber er fürchtete sich vor Abgründen. An hohen Stellen überkam ihn Schwindel, und jetzt mußte er diese schmale Felsbrücke über den Abgrund gehen. Man stelle sich vor: die Brücke maß von einem Rand zum anderen zweieinhalb Fuß, und es gab kein Geländer. Schnee bedeckte das glatte, ausgetretene alte Gestein und machte jeden Schritt gefährlich. Zu beiden Seiten gähnte ein schwindelnder Abgrund. Während sie sich vorsichtig, Zoll für Zoll, weiterarbeiteten, erwachten die mächtigen Winde und fegten lachend um sie, zerrten an ihren Kleidern, zupften an ihrem Haar, trieben ihnen das Wasser mit ihrem eisigen Atem in die Augen, bis sie kaum sehen konnten, wohin sie den Fuß setzen sollten. Und im Griff jener kalten, heulenden Winde schwankte die Brücke ganz leicht hin und her. Alle Kraft verließ seine Beine. Jeden Augenblick konnte er fallen, und es würde fast eine Freude sein, loszulassen, zu taumeln, in die Tiefe zu stürzen und diese Tortur nicht länger ertragen zu müssen. Seine Augen tränten, so daß er seine Umgebung nur wie durch einen Schleier wahrnahm. Aber er wagte es nicht, die Augen zu reiben, auf daß die Gewichtsverlagerung sein Gleichgewicht nicht störe. Er ging weiter, irgendwie, Schritt für Schritt, obwohl er lieber gestorben wäre. Er wollte weinen, schreien – irgend etwas 134
tun, nur um diese unerträgliche Spannung zu mildern, und den Druck loszuwerden, der auf ihm lastete. Aber er ging weiter, taumelnd, benommen, fast blind und von Furcht gepackt, weiter, irgendwie, sich mit ausgestreckten Armen Gleichgewicht schaffend, die Phantome seiner alten Angst von sich treibend, die in seinem Bewußtsein heulte und kreischte, mit seiner ganzen Seele dagegen ankämpfend. Und dann, nach einer Ewigkeit, spürte er, wie Othgrims mächtige Hand sein Handgelenk packte und ihn auf die Knie niederzog. Und er wußte jetzt, daß alles vorbei war, daß er den Abgrund sicher überquert hatte und sich auf der breiten geschützten Felsnase befand. Würgend übergab er sich, während der große Othgrim ihn festhielt und ihm auf die Schultern klopfte, verblüfft von der Qual seines Herrn, das Schreckliche nicht begreifend, das dieser erduldet hatte. Und dann, wieder mit klarem Verstand, die Tortur hinter sich, spürte Morgan, wie ein grenzenloses Staunen über ihn kam, Staunen darüber, daß er es geschafft hatte und nicht abgestürzt war. Schwach wie Wachs lag er in Othgrims mächtigen Armen und wußte, daß ihm nie wieder, ganz gleich, was noch an Schrecklichem vor ihm liegen mochte, eine ähnlich heroische Tat wie das Überqueren der Brücke abverlangt werden würde. Er wusch den säuerlichen Geschmack mit Wein aus Othgrims Bündel aus seinem Mund, ruhte eine Weile aus und fühlte sich bald wieder wohler. Jetzt waren sie am Ende, schwer geprüft, und vielleicht würden sie nicht weitergehen können. Einer nach dem anderen kamen sie sicher über die Brücke, aber jetzt stand ihnen Schweres bevor. Bowman hatte einen Gnomenpfeil durch die Schulter bekommen und lag mit weißem Gesicht, Blut spuckend im 135
Schnee. Eine der großen Arterien, die zu seinem Herzen führten, war von dem Pfeil getroffen worden, und er konnte nicht weitergehen. Auch Conyin war getroffen. Es war sein Herz. Der alte Mann hatte sich abgemüht, mit ihnen Schritt zu halten, aber die dünne, kalte Luft dieser Höhen reichte nicht aus, und sein Herz hatte auf die einzige Art protestiert, die es kannte, und das war Schmerz. Mit weißem Gesicht, die Augen stumpf und glasig, war der alte Barde so weit gegangen wie er konnte. Jetzt war er am Ende seiner Kräfte. Und die Gnomen überquerten die Brücke. Mit kurzen Schritten kamen sie über den Abgrund, so sicher wie Katzen, und Argyra hielt sie mit ihren Pfeilen zurück. Aber die weißen Geschosse in ihrem Köcher waren schließlich ausgegangen, und sie benutzte bereits die schwarzen Pfeile aus Bowmans Köcher. Bald kam die Zeit, wo auch sie zu Ende waren. Und dieses Ende war jetzt sehr nahe. Othgrim stand am Fuß der Brücke und hielt sie, als der erste der Gnomenhorde auf ihn zuhuschte. Dann fegte er sie eine Weile, den mächtigen Stab mühelos schwingend, in den Abgrund. Anschließend stand er wieder da, lehnte sich auf den Stab und wartete, daß andere ihren Mut oder ihre Wut so weit anstachelten, daß sie den Angriff wagten und versuchten, den Abgrund zu überqueren. Conyin und Bowman konnten nicht mehr kämpfen, und auch Argyra war dem Ende ihrer Kräfte nahe. Die wackere Kriegsmaid besaß allen Mut der Welt, aber selbst die Stärksten und Tapfersten müssen einmal der Natur ihren Tribut zollen. Und sie gehörte einem Volk an, das im Flachland lebte: ihre Lungen waren nicht dafür geschaffen, diese dünne, trockene Luft zu atmen. So lag sie benommen, mit stumpfen, glasigen Augen da, und ihre jungfräulichen Brüste wogten verzweifelt, lechzten nach Luft. Morgan wußte, daß jede weitere Anstrengung ihren 136
Tod bedeutete. So hielten er und Othgrim und Sodaspes die Brücke gegen die Gnomen. In den Kampfpausen schleppten sie ihre gestürzten Kameraden in Sicherheit, wo es für sie etwas besser war. Sie würden von der Kälte sterben, wenn nicht an ihren Wunden, falls man sie nicht gleich vor den Winden schützte. Zum Glück gab es an dem Abhang zahlreiche kleine Höhlen, und in die beste dieser Höhlen, die, die sie vor dem Wind schützen konnte, zerrten sie die Gestürzten, und Sodaspes, dem Ende seiner Kräfte selbst nahe, machte ein magisches Feuer, um sie zu wärmen. Sie packten ihre Bündel aus, hüllten sie in Decken und Häute und betteten sie so weich sie konnten. Conyin gaben sie starken Wein, unverdünnt mit Wasser, und ließen ihn schlafen. Für Bowman konnte der müde, ausgepumpte Sodaspes nur wenig tun, aber jenes Wenige tat er und zog schließlich den Pfeil aus seiner Schulter, obwohl er seine ganze magische Kunst aufbieten mußte, um die rote Fontäne zu stillen, die aus der durchschnittenen Arterie schoß. Schließlich lag der Magier, vor Erschöpfung geschwächt, da und konnte sich nicht mehr bewegen. »Ah, laß ihn hier schlafen, Meister«, dröhnte Othgrims Stimme. »Du und ich, wir können die Brücke gegen dieses Geschmeiß halten, wenn nötig bis zum Ende aller Zeiten.« »Nein, du mußt sie alleine halten«, ächzte eine schwache Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um, und es war Conyin; der alte Barde war dem Ende nahe, aber seine müden Augen strahlten. »Du mußt weitergehen, Morgan, und den Jungen zurücklassen, um den Weg zu halten. Wir haben nichts davon gesagt, Morgan, weil wir nichts tun konnten. Aber die Zeit ist jetzt sehr nahe. Du mußt jetzt alleine weitergehen, Morgan, und das Tor so schließen, wie Sodaspes es dir gezeigt hat, denn uns bleiben nur noch Stunden, mußt du wissen.« Morgan fühlte sich hilflos, benommen; er stammelte. »A… aber … kann Othgrim die Brücke halten? Und wie lan137
ge? Und wenn er fällt, dann werden sie – dann werden sie hierherkommen und euch alle hinschlachten, so wie ihr daliegt«, sagte er. Doch Conyin brachte kein Wort mehr hervor; er schlief, den weißen Kopf auf Felle gebettet, das faltige Gesicht vom Feuerschein beleuchtet. Jetzt sprach Bowman. Seine Stimme war ein Flüstern blutloser Lippen. »Du mußt jetzt weiterziehen, Morgan, alleine, wie der Sänger es sagt. Wir haben alles getan, was wir konnten, um dich an diesen Ort zu bringen. Und jetzt mußt du uns unserem Schicksal überlassen und zum Tor gehen. Wenn Othgrim fällt und wir sterben, nun, dann macht das nichts … solange nur du lebst, um das Tarandon-Tor zu schließen.« Hilflos, unfähig Worte zu formen, wandte sich Morgan von ihnen ab. Othgrim blickte mit sanften Augen aus seinem breiten, lächelnden, gebräunten Gesicht auf ihn herab. Er schlug Morgan verlegen auf die Schultern. »Du hast sie gehört, Meister, also geh nur weiter und laß Othgrim hier«, sagte der Hüne. »Ich glaube, ich kann die Brükke lange halten. Geh nur und tue das, wozu du hierhergekommen bist … Nein! Sag nicht, daß du mich nicht hier zurücklassen kannst, Meister, denn das kannst du.« Die klaren Augen des Hünen blickten plötzlich verträumt. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum die Götter wollten, daß ich mitkomme. Darüber habe ich viel nachgedacht. In den Nächten – warum gerade ich auf dieser Suche mitziehe und nicht irgendein Lord oder Weiser Mann. Warum ich? Ich tauge zu nicht viel, aber stark bin ich, und kämpfen kann ich gut. Und ich glaube, ich kann eine ganze Menge töten. All die anderen, nun, die haben auch alle ihren Zweck, daß sie hier sind. Der Zauberer da, nun, die haben ihn gebraucht, damit die Hexe stürzte, dort in ihrer Burg, denke ich, damit sie den Alten Drachen nicht töten konnte. Und den Sänger haben sie ge138
braucht, damit er mit dem Reitervolk redet, weißt du? Und die Herrin hier«, sagte er und lächelte liebevoll Argyra zu, die um Atem ringend dalag und sie beobachtete und auf das lauschte, was sie sagten, »nun, ich glaube, die haben sie gebraucht, damit wir damals an den hundsköpfigen Vögeln vorbeikamen auf den Klippen, erinnerst du dich? Und den Bowman auch. Er hat den Waldhexer im Wald verjagt und uns Gastrecht von den Waldlern verschafft, als wir es brauchten. Und du, Meister, du bist der Tatenmeister der Suche, und nur du kannst das Tor schließen!« Seine klaren, gelben Augen blickten freundlich auf ihn. »Und ich? Nun, ich glaube, ich bin mitgekommen, um dies hier zu tun: Um hier zu stehen und die Brücke zu halten, solange ein Mensch sie halten kann und vielleicht ein Stückchen länger. Sonst kann keiner das tun, außer mir, und das ist der Grund, daß ich hier bin. Ist doch klar, oder?« Morgan versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte wollten sich nicht einstellen. Othgrim legte eine mächtige Pranke auf seine Schulter und drückte sanft. »Geh du jetzt, Meister, tu, was nur du tun kannst und laß mich hier, um das zu tun, wozu ich bestimmt bin.« Und der Hüne ging wieder hinunter, um seinen Posten am Fuß der Brücke einzunehmen, denn die Gnomen hatten sich gegenseitig zu neuer Wut angestachelt und schwärmten jetzt über den Bogen aus Stein. Othgrim nahm einen Schluck Wein, spülte sich den Mund damit aus und schluckte ihn dann hinunter. Er spreizte die Beine, bis er sicher stand, spuckte sich dann in die großen, roten Hände, umfaßte den eisenbeschlagenen Stab fester und wartete auf die ersten der kreischenden schwarzen Horde. Er sah sich nicht um, während Morgan stolpernd und weinend den schneebedeckten Abhang hinaufkletterte und schließlich verschwand. Er holte tief Luft, schwang den Stab ein paarmal und wartete dann auf den Angriff. Er war sehr glücklich. 139
9. Wie er es schaffte, würde er wohl nie wissen, aber am Ende schaffte er es jedenfalls. Der Abhang war sehr steil, und der Schnee lag dick und weich darauf, über den kantigen Steinen, und unter dem Schnee lag Eis. Er glitt viele Male aus und glaubte manchmal, daß er für jeden Meter, den er weiterkam, drei zurückrutschte. Bald sah er selbst wie ein Gebilde aus Schnee aus, weiß von Kopf bis zum Fuß und von der Kälte taub. Bowman hatte recht gehabt. Es war viel schwerer, als es aussah. Aber er hatte keine andere Wahl als weiterzugehen. Dort hinten starben in diesem Moment vielleicht seine Freunde, um ihm diese wertvollen Minuten zu verschaffen. So trieb er sich weiter, wühlte sich mühsam durch die dichte weiße Schneedecke, glitt immer wieder auf dem Eis aus, grub die Hände in den Schnee, um wieder ein paar Zoll weiterzukommen. Die Luft war sehr dünn und trocken, und seine Kehle brannte. Sein Herz mühte sich qualvoll, trommelte gegen seine Rippen, aber irgendwie schaffte er es, auf den Beinen zu bleiben. Die Tränen waren schon lange auf seinem Gesicht gefroren. Er konnte jetzt nicht mehr weinen. Aber es gab noch Zeit, um um Othgrim zu weinen – den hünenhaften, dummen, ehrlichen, wackeren Othgrim! –, wenn all dieser weiße Schrecken vorüber war und die Welt entweder gerettet oder dem Untergang geweiht war. Jetzt konzentrierte sich sein ganzes Bewußtsein auf einen einzigen Punkt: Er mußte den Fuß auf den nächsten Stein setzen, den Ellbogen auf jenen kleinen Vorsprung stützen, sich hochstemmen und den Körper nachziehen, bis er das Knie in jene Spalte zwängen konnte; dann einen Augenblick ausruhen, während sein Herz schlug und der Schädel ihm kreiste, und es dann wieder tun. Und wieder. Und wieder. Er war jetzt sehr weit oben, dachte er vage, während er aus 140
zusammengekniffenen Augen auf den schwachen Nebel der Welt darunter blickte. Wahrscheinlich war noch kein anderer Mensch von Bargelix so hoch über der Meeresfläche gewesen, seit diese Welt erschaffen wurde, dachte er. Wenn die Luft klar gewesen wäre, wenn seine Augen nicht mit Schneekristallen bedeckt und vom grellen Schein der Sonne auf die Schneefelder halb geblendet gewesen wären, hätte er wahrscheinlich bis Thoor sehen können, bis zur Felsmauer vielleicht, möglicherweise sogar bis zu den Flüsternden Ebenen, wo die Wilden Reiter herrschten. Er fragte sich, warum gerade er auserwählt war, es zu tun. Er war kein Bergsteiger, kein starker Mann und mochte die Höhen nicht. Er war sein ganzes Leben noch nie so weit oben gewesen. Er mußte eine Meile hoch sein, dachte er, und vielleicht mehr. Benommen fragte er sich, weshalb er in dieser Höhe atmen konnte, denn die Luft war sehr dünn und rein, bitterkalt, wie die Schneide eines Messers in seinen Lungen. War es, weil er ein Raumer war, gewöhnt, dünne Luft zu atmen? fragte er sich. Das mochte es sein. Dann erinnerte er sich an das, was Sodaspes gesagt hatte. Tage oder Wochen lag das zurück, in dem Gasthof in Strye. Sie hatten einen Geas auf diesen Ort gelegt, auf die Kaverne des Tores; kein Mann von Bargelixwelt konnte es durchqueren, es war stärker als ein bloßes Tabu, etwas, das in das Blut und die Gene der Menschen dieser Welt eingeprägt war und ihnen den Zutritt verbot. Er, ein Outworlder, konnte hineingehen. Ihn berührte der Geas nicht. Aber jetzt hatte er lange genug ausgeruht. Es war Zeit, den Kampf wieder aufzunehmen. Nach einer langen Zeit lag er benommen da und wußte, daß er nicht weiterklettern konnte. Ihm war jetzt so kalt, daß er seine Füße nicht mehr fühlen konnte und seine Hände nicht, und sein ganzes Gesicht war 141
eine einzige betäubte Maske. Er würde hier sterben, dachte er, erfrieren, nie wissend, wann die Welt endete. Es war nicht schwer, das zu tun; es würde überhaupt nicht weh tun. Der Schnee war dick und weich, und seine Kälte war für ihn Wärme geworden. Es würde genauso sein, wie wenn er einschlief, vielleicht der leichteste aller Tode. Zu schlafen und die Welt verlassen … Er hatte getan, was er konnte. Schließlich war er nur ein Mensch, kein Held, und so würde er hier sterben … Was nun bedeutete, daß Othgrim für – für gar nichts? – starb? Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schock. Er taumelte weiter, zornig über sich selbst, über seine Schwäche und das, was er für seine Feigheit hielt. Er trieb seine tauben Glieder weiter, zwang sie zur Bewegung, obwohl es so leicht gewesen wäre, einfach dazuliegen, umhüllt von einer weichen, weißen Decke, und den Tod kommen zu lassen. Er mühte sich weiter. Und entdeckte, daß er nur noch zwei Meter unter der Kaverne des Tores war! Großer Arion, zu denken, daß er beinahe aufgegeben hatte – so nahe dem Ende der Reise! Sich selbst verfluchend, vor Schmerz schluchzend, quälte er sich über den breiten Steinsims vor dem Eingang. Er blieb liegen, keuchte, klammerte sich an dem vom Wind freigefegten Stein fest und starrte empor zu der dreieckigen Mündung der Kaverne. Ein Felsvorsprung schützte ihn vor dem schlimmsten Wind. Entweder deswegen, oder wegen einer seltsamen Wärme, die von dem Steinsims selbst ausging, tauten seine benommenen Glieder langsam auf, und er fühlte, wie ihn wieder warmes Blut durchpulste. Er zerrte sich zu dem schwarzen Eingang, mühte sich, sich aufzusetzen, den Rücken gegen die Felsmündung zu stützen, öffnete mit klammen Fingern sein Bündel und holte Essen und Trinken heraus. 142
Es war nur getrocknetes Fleisch, ein paar Stücke Käse und ein paar Brocken trockenes, hartes Brot und ein Schlauch mit starkem Wein, aber er fühlte sich ausgehungert, erschöpft und benommen, fast am Rand seines Leistungsvermögens. Und die einfache Nahrung schmeckte unbeschreiblich herrlich. Heißhungrig würgte er es hinunter, trank gierig von dem starken Wein und lehnte sich dann zurück und spürte, wie wieder Kräfte in ihn zurückfluteten, bis er sich stark genug fühlte aufzustehen. Jetzt war es also fast vorbei. Ein seltsamer Gedanke! Er war so weit gekommen, hatte so viele Wunder gesehen, so viele Gefahren bestanden; und jetzt war das alles fast vorbei. Verträumt starrte er in den Dunst; es war inzwischen Nachmittag, dachte er vage, und die Schatten über der Welt wurden bereits wieder länger. Wie weit er doch gekommen war, seit … Wie lange war es her? Wie lange lag jener Morgen in Taspers Halle auf Kargonessa zurück, als er in die hellen, furchtlosen Augen des jungen Sodaspes geblickt und seine Botschaft gehört hatte? Er zählte die Tage und staunte – nur zehn Tage von jenem Tag bis zu diesem! Dabei kam es ihm eher wie ein Monat vor; sicher war es ein Monat gewesen! So viel war geschehen, und so weit waren sie gekommen. Er dachte zurück, erinnerte sich an den hellen Morgen in Kargonessa, das Gesicht mit dem Earl im Garten und später mit dem fetten, schläfrigen Vater Ormaldus. Und dann, wie er über den Gelben Drachenfluß gezogen war, mit dem wortkargen Othgrim und dem jungen Magier, in die Kneipe, wo Conyin betrunken auf sie gewartet hatte. Eine nach der anderen flackerten die Szenen jenes Abenteuers durch seine Erinnerung: die Dämmerung in dem kleinen Fischerdorf, die Flüsternden Ebenen, die er auf dem Rücken eines Lopers durchzogen hatte; der Regen, die Mahlzeit unter den Sternen, und das große Feuer im Lager des Reiterlords. Dann jener lange Ritt über die Ebene, zum Fuß der Felsmauer, 143
der Aufstieg und der Angriff der Senmurven, die Höhle, der Felssims dahinter, und Argyra … Argyra … Und jene Nacht auf den grasbedeckten Ebenen von Thoor, am Rand von Grymwood. An alles erinnerte er sich: Argyra nackt im Fluß, der grinsende, kleine Derynigol, der schwarze Pfeil, und Bowman, stumm und grimmig, auf der anderen Seite des Flusses. Jene Nacht mit den Waldlern unter den mächtigen Zweigen von Iornungand, dem Vater der Bäume … die kalkigen Hügel, die Schwarzen Gnomen, die Höhle, die ihnen in jener Nacht Unterschlupf gewährt hatte, und der Abstieg durch die unterirdische Welt in Dzarmungzungs Tiefen … der Brunnen der Weisheit, und Yakiah, und Othgrim an der Brücke … zehn Tage, zehn Tage! Nur zehn Tage, und sie hatten einen halben Kontinent durchquert, um eine Welt zu retten! Als er sich ausgeruht und seine Kräfte wiederhergestellt hatte, erhob er sich und schickte sich an, weiterzugehen. Sein Bündel ließ er an der Mündung der Höhle. Niemand würde es hier stören, denn niemand außer ihm konnte diesen Ort betreten. Die Mündung der Kaverne des Portals war dreißig Fuß hoch, verengte sich wie eine Pfeilspitze von einer breiten, flachen Basis zu einem zugespitzten Bogen weit über seinem Kopf. Die Mündung der Kaverne schien zu regelmäßig, um ein Werk der Natur zu sein, und doch bezweifelte er, daß hier Menschenhand am Werk gewesen war. Fremdartige Zeichen waren an den Wänden angebracht, tief in das uralte Felsgestein von Tarandon eingegraben. Ihre Bedeutung konnte er nicht einmal erahnen. Er trat ein und stand eine Weile bewegungslos da, während seine Augen sich nun an die Finsternis anpaßten. Der Boden der Kaverne war glatt wie polierter Stein, und auch dies war unnatürlich. Hinter ihm ein Dreieck aus dunkler werdendem Blau, von Rot durchzogen, weil die Höhlenmün144
dung nach Westen blickte, wo die Zwillingssonnen langsam in einem Glorienschein der Flammen hinter dem Horizont versanken. Das rötliche Licht hüllte ihn ein und spiegelte sich an Rundungen von poliertem Stein. Morgan erkannte jetzt etwas beunruhigt, daß die Kaverne des Portals ganz und gar künstlich geschaffen war, von Intelligenz geformt und nicht von der blinden Natur, denn das Dach der Kaverne weit über ihm wurde von mammutartigen Säulen gestützt. In doppelter Reihe, in ihrem Umfang den Stämmen eines mächtigen Waldes aus versteinerten Redwoods gleich, erstreckten sich die Säulen bis in die Dunkelheit hinein: rötliches Licht schimmerte in der spiegelgleichen Politur des Steinbodens, und in dem schwachen Schein konnte er den Weg vor sich sehen, klar und unbehindert. Er trat in die dichter werdenden Schatten hinein, und bald war sein Weg nicht mehr zu erkennen, dennoch ging er weiter. Ihm schien, als ginge er Stunden. Sicher war es draußen inzwischen Nacht geworden, in der Welt jenseits dieses Ortes. Außer dem Geräusch seiner Schritte und dem Schlag seines Herzens war kein Laut zu hören. Schwarzes Schweigen hatte sich um ihn geschlossen, und er begann, jedes Zeitgefühl zu verlieren. Die Kaverne mußte tief in das Herz von Tarandon hineinführen. Jene Mutter der Berge mußte sogar noch gigantischer sein, als er gedacht hatte; der Name Gipfel der Welt paßte gut, dachte er. Er ging den endlosen Korridor von Säulen entlang, immer tiefer in das schwarze Herz des mächtigen Berges hinein. Ein oder zweimal blieb er stehen, um sich umzublicken, aber dann war ihm jedesmal, als griffe eine eisige Hand nach seinem Herzen, als er erkannte, wie klein der dreiecksförmige Eingang geworden war. Er war jetzt auf die Größe seines Fingernagels zusammengeschrumpft – und dann auf einen schwachen, win145
zigen Lichtpunkt, ein Atom rötlichen Leuchtens in einer hallenden Unendlichkeit völliger Schwärze. Als er sich das letztemal umgesehen hatte, hatte er den Ausgang überhaupt nicht mehr sehen können. War er meilenweit gegangen, oder bewegte er sich vielleicht in irgendeiner seltsamen Zwischenwelt, einer fremden Dimension, in die er irrtümlich geraten war? Er wußte es nicht. Aber er sah sich nicht wieder um. Und dann, nach einer Zeit, die ihm endlos vorkam, entstand vor ihm ein schwaches Leuchten. Es war von düsterem Blau, eine sich bewegende, saphirfarbene Strahlung. Als er dann weiterging, wurde es vor ihm immer heller. Jetzt schimmerte es schon auf den groben Säulen; dann glitzerte es im polierten Boden unter seinen Füßen. Er bewegte sich jetzt auf einem Pfad aus blau glitzerndem Feuer, wie Mondlicht, das einen silbernen Pfad über dunkle Wasser beschreibt. Dann sah er das Portal und blieb, vor Ehrfurcht ergriffen, davor stehen, jenem mächtigen Wunder aus blauer Flamme. Vor ihm war eine Scheibe aus poliertem Stein in den Boden eingelassen. Und darüber eine weitere, von kleinerem Umfang, und darüber eine dritte: ein Podest, kreisförmig, mit drei Stufen. Und darüber – das Portal ins Jenseits! Man stelle sich einen großen ovalen Ring aus dunklem Kristall vor, fünfzig Fuß hoch und dreißig Fuß von einer Seite zur anderen durchmessend … wie die Schleife eines Schleifenkreuzes, des uralten ägyptischen Symbols des ewigen Lebens … Und zwischen den Seiten jenes glitzernden Kristallrahmens gewoben, es von Seite zu Seite füllend, von unten bis oben, wogte ein Gewebe aus saphirnem Licht … ein Gewebe aus blauen Flammen! Flammen, die dauernd in Bewegung waren, sich unablässig in konzentrischen Ringen bewegten, wie Wellen, die über die 146
Fläche eines schwarzen Tümpels dahinziehen … Flammen, die wogten, ein Film aus azurfarbenem Licht, das sich in einem Wirbel immer weiter werdender Ringe bewegte. An jenem blauen Schein war etwas, das den Augen Schmerz bereitete, sie blinzeln ließ, und Nadeln aus stechendem Schmerz in das Gehirn hinter den Augen trieb. Er ignorierte es, starrte tief in den Wirbel fahlblauen Leuchtens. Es zog ihn an! Er spürte einen Augenblick übelkeiterregenden Schwindels. Eine schreckliche Desorientierung im Raum, so als ob »oben« plötzlich »unten« geworden wäre. Als ob das Portal, statt aufrecht vor ihm zu stehen, in Wirklichkeit ein Brunnenschacht wäre, über den er sich lehnte … und als winkten ihn die kreisenden Wellen aus blauem Licht hinunter in Tiefen und Fernen, die unvorstellbar waren. Mit einem heiseren Schrei riß er den Blick von der Übelkeit erregenden Vision und starrte zu Boden, keuchend, mit wild schlagendem Herzen, bis der Schwindel nachließ. Dann hob er die Augen und blickte auf den Hebel. Es war ein einfacher Schaft aus leuchtendem Kristall, der im rechten Winkel aus einem Schlitz oben aus dem Podest ragte. Und dies war das Ende der Suche. Es war eigenartig, dieses Gefühl der Enttäuschung. Es blieb kaum noch etwas zu tun. Die letzte Aufgabe war so einfach, daß er sich irgendwie auf unbestimmte Art betrogen fühlte. Dies war keine große, heroische Tat, es galt nur, einfach einen Hebel umzulegen. Das hatte nichts Dramatisches an sich, nicht mehr, als wenn man eine offene Tür schließt. Dabei hatte es nichts zu besagen, daß die Tür in das wogende, urtümliche Chaos zwischen den Dimensionen von Raum und Zeit führte, oder daß die Tür vor einer Million Jahren offen gelassen worden war, und daß die letzte Hand, die den Hebel berührt hatte, die eines unsterblichen Gottes gewesen war, wenn man die geheimnisvollen Yokannagötter wahrhaftig unsterblich nennen 147
konnte. Trotzdem, es war eine sehr kleine Tat, die es zu tun galt. Und so ging er mit diesem seltsamen Gefühl der Enttäuschung die drei Kristalltreppen hinauf, bis er vor dem ungeheuren Oval stand, über das beständig Wellen gespenstischer blauer Flammen zogen, griff nach dem Kristallstab, der sich kalt anfühlte und an seiner Handfläche ein prickelndes Gefühl erzeugte, und legte ihn um. Einen Augenblick lang änderte sich nichts. Dann … Plötzlich beschleunigte sich der gleitende Rhythmus des blauen Gewebes aus leuchtenden Flammen zu einem unerträglichen Vibrieren. Der mächtige Torbogen war plötzlich eine solide Masse aus blauer Flamme – blendend, unerträglich, die konzentrierte Essenz azurfarbener Brillanz! Tausend Nadeln blauer Agonie stachen in seine Augen – bohrten sich in sein Gehirn, durchführen es, und er schrie laut. Er drückte die schmerzenden Augen zu und preßte die Knöchel in die Augenhöhlen, um jenes brennende Bild blendenden Feuers zum Erlöschen zu bringen. Und ebenso schnell, wie es zu voller Brillanz aufgeflammt war, verblaßte der blaue Glorienschein aus Licht … verblaßte zu einem Gespenst des Lichts … wurde schwächer … und ging aus! Schwärze senkte sich auf die Halle der mächtigen Säulen herab, tiefe, vollkommene Schwärze. Der Schmerz wich langsam von seinen Sehnerven, und die gelben Gespenster wurden vor seinen schmerzenden, tränenden Augen dunkler, bis rings um ihn nur noch unbeleuchtete Düsternis war. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte den Kristallrand des Portals; er war kalt und tot. Vorsichtig tauchte er die Hand in den Raum, in dem sich das Gewebe aus schwachem blauen Feuer bewegt hatte, spürte dort aber nichts als Luft. Und so war es geschehen. Es war vorbei 148
und vorüber. So einfach war das! Und die Welt war gerettet. Ganz plötzlich überkam ihn ein Gefühl unendlicher Müdigkeit. So müde war er, daß er sich setzte, daß er völlig unpassend auf der obersten Stufe jenes eine Million Jahre alten Tors zwischen den Universen Platz nahm und den Kopf auf die Hände stützte. Morgan Outworlder hätte jetzt einen Tropfen Wein gebraucht. Aber der Wein war in seinem Bündel, weit entfernt, und er mußte durch jene lange Halle der Säulen zurückgehen, um an sein Bündel zu kommen. Er war sehr müde. Vielleicht schlief er eine Weile, dort am Fuß des TarandonTores, das zu schließen er um die halbe Welt gezogen war. Jedenfalls erhob er sich nach einer Weile – Arion alleine wußte, wie lange es gedauert hatte – und setzte sich benommen, unsicher in der Schwärze, die nach dem Tod des blauen Flammengeflechts gekommen war, wieder in Bewegung, zurück den langen, hallenden Weg. Im Berg war es jetzt schwarz wie der Tod. Aber er ertastete sich seinen Weg, indem er mit den Fingerspitzen an den glatten, glasigen Steinsäulen entlangfuhr. Ein oder zweimal kam er vielleicht vom Wege ab und einmal stieß er gegen eine Säule und schlug sich die Stirn an. Aber er ging weiter, mit langsamen, schleppenden Schritten. Jetzt war alles vorbei. Dabei hatte er die Empfindung, daß es schwieriger sein mußte, die Welt zu erretten. Dann erinnerte er sich an etwas, was Sodaspes vor Tagen und Tagen gesagt hatte: Etwas von einem Opfer, das die Suche von ihm forderte, zumindest hieß es so, denn, wenn man Gefahren, Strapazen und Furcht nicht als Opfer bezeichnet, hatte er keines gebracht. Er ging weiter, und nach langer Zeit erreichte er schließlich wieder den Eingang.
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Die Nacht mußte sich über die Welt gesenkt haben, denn als er auf den Felssims jenseits der Höhlenmündung hinaustaumelte, herrschte völlige Dunkelheit. Er hatte im Innern der Kaverne jedes Zeitgefühl verloren. Stunden oder Tage konnten vergangen sein, ohne daß er sie gezählt hatte. Es war sehr dunkel, und es war auch kein Mond zu sehen. Er ruhte sich auf dem Felssims aus, trank die klare, kalte Luft in sich hinein und spürte den Wind im Gesicht. Dann drangen undeutliche Schritte im Schnee an sein Ohr, und er richtete sich auf. Das konnten nur schwerlich seine Freunde sein, dachte er, denn die lagen jetzt verletzt, ermüdet oder tot viel weiter unten. Aber es konnte die Vorhut der Schwarzen Gnomen sein … Nun, wenn sie es waren, so hatte das wenig zu sagen; das Geas, das weltweite Tabu, beschützte diesen Ort immer noch vor allen, die keine Outworlder waren. Er konnte sich in den Eingang zurückziehen und dort vor jedem Angriff sicher sein. Aber er rechnete kaum damit, daß die Schwarzen Gnomen es wagen würden, diesem Ort nahezukommen. Dann hörte er die klare, silberne Stimme Argyras, und das Herz hüpfte ihm vergnügt im Wissen, daß das Mädchen in Sicherheit war. »Hallo, Outworlder«, rief sie. »Du lebst noch! Ist dann die Tat getan?« »Sie ist getan, Argyra, und das Tor ist für immer dem Chaos verschlossen«, erwiderte er. »Aber was ist mit unseren Gefährten? Haben sie die Gnomen abgewehrt, oder ist noch Gefahr?« »Die Gnomen sind abgeschlagen«, rief sie zurück. »Wie schade, daß wir dem starken Othgrim nicht gegen sie helfen konnten.« Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit überkam Morgan. »Ist er …« »Lange hat er die Brücke gegen sie gehalten und seine Herausforderung gegen sie hinausgeschrien und ihren Mut belei150
digt und sie immer wieder aufgefordert, doch mit ihm zu kämpfen«, sagte sie mit hohler Stimme. »Immer wieder kam ein Rudel der schwarzen kleinen Bestien heulend über den schmalen Steg, und jedesmal hat Othgrim mit seinem mächtigen Stab unter ihnen gewütet. Aii, zu Dutzenden hat er sie niedergeschlagen. Und doch kamen sie immer wieder, und er wurde sehr müde, und keiner von uns hatte die Stärke, sich neben ihn zu stellen und ihm bei seinem letzten Kampf zu helfen. Am Ende …« Ihre Stimme erstarb. »Sprich, Argyra! Was geschah am Ende?« »Am Ende wagten sie nicht wieder, gegen ihn anzutreten. Sie wußten nicht, daß er auf den Tod müde war, und sie wußten nicht, wie sehr seine Wunden ihn geschwächt hatten. Denn wisse, Outworlder, daß er, obwohl schon drei Pfeile in seinem Fleisch steckten, er immer noch dastand und ihnen den schmalen Pfad versperrte. Ich weiß nicht, von wo er die Kraft bezog, um immer noch zu stehen, während sein Herzblut verströmte, aber er blieb stehen, und seine Stimme war stark und ruhig wie immer.« »Wie hat es … geendet?« »Sie hatten Angst, noch einmal gegen ihn anzutreten, denn sie sagten, er sei ein Gott und kein Sterblicher, denn noch nie hätte es einen sterblichen Menschen gegeben, der so schrecklich kämpfen und töten konnte wie er. Thog, ihr Prinz, tobte vor Wut und verfluchte sie und schlug mit seinem Schwert um sich und tötete einige von ihnen, aber selbst ihre Furcht vor Thog reichte nicht aus, um sie noch einmal über die Brücke zu treiben, in Reichweite jenes tödlichen Stabes. Das Ende von alledem war, daß Thog alleine gegen den wackeren Othgrim antrat. Er war mächtiger als die anderen seiner Art, und seine Wut und sein Zorn trieben ihn fast in den Wahnsinn. Und doch verlor er seine Schlauheit nicht und bewaffnete sich mit einer schweren Axt, mit der er Othgrims Stab beiseite wischen und ihn vielleicht sogar zerschlagen konnte.« 151
Ihre Stimme war jetzt schwächer geworden, und Morgans Herz schmerzte vor Angst vor den Worten, von denen er wußte, daß sie jetzt kommen würden. »Und so brach er den Stab und schlug den Stummel aus Othgrims Händen und dann warf Thog sich mit einem wilden Schrei auf unseren Kameraden, der jetzt mit bloßen Händen gegen ihn kämpfen mußte. Die schreckliche Axt schwang sich glitzernd in die Höhe und fuhr wieder herunter und spaltete Othgrims Brust. Es war ein Schlag, der jeden geringeren Mann augenblicklich gefällt hätte, und doch lebte Othgrim noch einen Augenblick, und in dem Augenblick warf er sich nach vorne und packte Thog mit seinen mächtigen Händen und drückte ihn gegen seine gespaltete Brust, und ein schrecklicher Schrei ging von Thog aus und hallte bei den Gnomen wider, die sich auf der anderen Seite zusammendrängten, während Othgrim und der Gnomenprinz, einander mit den Armen umfangend, in den Abgrund stürzten und für immer verschwanden.« Schweigen. Dann fragte Morgan: »Was folgte dann?« Argyra sagte: »Der Weg war nicht länger bewacht, aber der Fall ihres mächtigsten Kriegers nahm den Schwarzen Gnomen den Mut, und sie flohen heulend und versperrten nicht länger den Weg. Und so kam es, daß ich, als ich meine Kraft wiedergewonnen hatte, hierher kletterte, um zu sehen, ob du noch lebtest und ob die Suche erfüllt war.« »So ist es, Argyra«, sagte er. »Dann Heil dir, o Morgantyr! Unser großer Freund ist nicht vergebens gestorben!« rief sie, und ein Prickeln durchlief ihn bei dem Namen, den sie ihm so verliehen hatte. Und dann wurde ihm klar, daß er wahrhaftig den Namen des Helden gewonnen hatte, der so selten verliehen wird. Und er wußte, daß er von diesem Augenblick an als Morgantyr bekannt sein würde. Gerecht schien das nicht, dachte er. Er hatte wenig erlitten, 152
während Othgrim bis zum Tod und darüber hinaus gekämpft hatte, und Bowman verwundet, vielleicht tödlich verletzt, unter dem Schneehang lag. Warum sollte er alleine den Namen des Helden tragen? »Willst du jetzt nicht heruntersteigen und zu uns kommen, o Morgantyr?« fragte Argyra. »Oder bist du zu müde oder hast dich vielleicht an jenem verbotenen Ort verletzt?« Er zwang sich zu einem Lachen. »Ich bin müde genug, aber noch ganz. Und doch meine ich, daß ich warten sollte, bis es dämmert, Argyra, denn ich möchte nicht noch einmal, und diesmal in der Finsternis der Nacht, jenen trügerischen Abhang in Angriff nehmen!« Wieder herrschte Schweigen. Dann rief sie. »Aii! O Morgantyr! Dann hast du jenen finsteren Ort des Schreckens nicht unverletzt verlassen!« Er wollte sie schon fragen, was sie meinte, aber als er dann einen Schritt vortrat, spürte er den warmen Schein der Zwillingssonnen auf seinem Gesicht, und plötzlich war ihm die schreckliche Wahrheit bewußt. Denn obwohl er die Sonnen fühlen konnte, sah er sie nicht. Und für ihn war für immer die Nacht über die Welt gekommen. Und das war das Opfer …
10. Der Himmel erhellte sich plötzlich im weißen Schein der Morgendämmerung, als Sitra über den Rand der Welt aufstieg und Land und See mit Licht überflutete. Weiße Vögel sangen ihr klagendes Lied und kreisten über den schlammig braunen Wellen des Gelben Drachenflusses und stiegen in die Höhe, um die hochragende Felsinsel von Kargonessa zu umkreisen, die sich hoch vor dem strahlenden Morgenhimmel auftürmte, dort in der mächtigen Bucht, wo der braune Fluß sich ins grüne 153
Meer ergoß. Riesige Wellen brachen sich donnernd an ihrem felsigen Sockel, und weißer Gischt krachte über die Felsen und Docks, wo die hohen Schiffe von Arthex und Sarcola und Phuol und dem fernen Jhandalmar vor Anker lagen. Auf den Kais rannten finster blickende Seeleute mit geteertem Haar und nach Bier riechendem Atem herum. Magere Bettler flehten aus Türnischen um Almosen, und schmutzige Kinder rannten zwischen den Ballen und Kisten hin und her, die aus den Rümpfen der Schiffe entladen worden waren. Und auf der anderen Seite des Gelben Drachenflusses, wo die Küsten von Azam braun und grün vor dem Horizont sichtbar waren, ruderten die Fischerleute von Strye langsam in ihren Hafen, die schweren Netze mit dem Fang des Morgens gefüllt. Es war alles sehr schön. Morgantyr konnte von all dem nichts sehen, obwohl er auf einer hohen Zinne aus grauem Stein stand, die über die grünen Wasser des Iophanischen Meeres aufragten. Aber den klagenden Ruf der weißen Vögel konnte er hören und sich vorstellen, wie sie kreisten und hochstiegen und dann mit ausgebreiteten, reglosen Flügeln im Morgenwind dahinglitten. Und den frischen Salzduft des offenen Meeres konnte er riechen und den zu Kopf steigenden Geruch der Gewürze von den Docks, in denen sich Teer und Farbe und Segelleinwand mischten. Das Krachen der schaumigen Brandung gegen die Felsen der Insel drang an seine Ohren und das Ächzen der Segel und heisere Stimmen von den Docks. All das konnte er sich ausmalen, wie es gewesen war, als er es zum letztenmal sah. Für ihn würde sich davon nichts mehr ändern. Kargonessa würde stets so bleiben, wie es vor Jahren gewesen war. Seine Gedanken wandten sich verträumt der langen Reise zu. Um die halbe Welt waren sie gezogen, um an den Abhang von Tarandon zu gelangen, während einer weiterzog, um das Tor 154
des Verderbens zu schließen. Durch Gefahren und Schlachten, vorbei an Feinden und Tieren, waren sie von Strye zum Shamandur gezogen. Und am Ende hatten sie gesiegt. Und in jener seltsamen Art und Weise, in der alle Geschöpfe von Bargelixwelt irgendwie miteinander verbunden sind, wußten alle Menschen von ihrem Sieg. So war der Weg zurück, ebenso lang wie vorher, sicher. Die Gnomen verbargen sich unter den tiefen Wurzeln der Berge und belästigten sie nicht; der alte Dzarmungzung begrüßte sie mit ernster Höflichkeit und führte sie durch sein Reich. Nirgends auf ihrer langen Reise drohte ihnen Gefahr: die Senmurven kamen nicht hervor, um sie anzugreifen. Die Waldler von Grymwood begegneten ihnen ehrerbietig und gaben ihnen ein Gastmahl und hießen sie willkommen. Sie waren auf ihrer Reise langsam zu jenem Ort der Ruhe gezogen, denn Bowman war dem Rand des Todes sehr nahe gekommen und war vom Blutverlust schwach wie ein Kind. Sie mußten langsam und vorsichtig gehen, weil Morgantyr seine Augen nicht gebrauchen konnte. Sie rasteten lange bei den Waldlern und gewannen ihre Kräfte zurück. Conyin war wieder ganz der alte, als sie die Höhen hinter sich gelassen hatten, ebenso übellaunig und streitsüchtig und dem Trunk ergeben wie zuvor. Denn jetzt war er ein großer, siegreicher Held. Der Weg von Grymwood zu den Flüsternden Ebenen war kein leichter. Argyra ging an der Seite Morgantyrs, stets zur Stelle, um seine Schritte zu lenken und ihre jungen Kräfte einzusetzen, um ihn zu stützen, wenn er müde wurde. Denn er brauchte eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, daß er jetzt in einer Welt ewiger Dunkelheit lebte, und es gab Zeiten, da die Furcht vor der Finsternis und die Angst vor der Einsamkeit, die die Finsternis mit sich brachte, ihn überkam, und dann weinte er im Schlaf. Aber sie war immer zugegen, um ihn zu trösten. Und es dauerte nicht lange, bis er sich an das Leben in der Dunkelheit gewöhnt hatte und sich nicht mehr fürchtete. 155
Wie erobernde Helden wurden sie begrüßt. Unter den Klippen erwarteten sie die Wilden Reiter und grüßten sie mit mächtigen Willkommensrufen. Lopers standen bereit, und sie ritten quer über die Ebenen ins Lager der Reiter, umgeben von einer Ehrengarde. Und während jenes wilden Rittes, sangen die Krieger Lieder von alten Helden und fabelhaften Siegen. Selbst Strye, als sie schließlich die Ufer des Gelben Drachenflusses erreichten, grüßte sie voll Ehrfurcht. Argyra sagte Morgantyr, wie die einfachen Fischerleute stumm, mit entblößten Köpfen, dastanden, als sie an ihnen vorüberritten, und wie einige niederknieten, um sie zu ehren, und wie die Frauen ihnen ihre Kinder entgegenhielten, so daß sie künftig sagen konnten, sie hätten die Helden von Tarandon-Tor gesehen. Sodaspes lächelte spöttisch, als sie das Ufer erreichten. Denn als er Wochen zuvor hierhergekommen war, hatte es dort nur einen jungen Burschen gegeben, der bereit war, ihm ein Boot zu vermieten. Und jetzt wetteiferten hundert Fischer um die Ehre, sie zur Kargoninsel zu rudern! Sie überquerten den braunen Fluß, jeder von ihnen in einem Boot für sich, und sie mußten für die Kargonesen wie eine Invasionsflotte gewirkt haben, als sie mit Morgantyr an der Spitze über das Wasser kamen. Earl Tasper Kargonlord erwartete sie am Kai, und mit ihm sein ganzer Hof. Schweigend standen sie in ihrer prunkvollen Kleidung in der Sonne, und als die Fischerleute dem Morgantyr halfen, den Kai zu ersteigen, ging Tasper vor ihm auf die Knie und mit ihm all die anderen Lords. Sie knieten auf beiden Knien, in der Begrüßung, die sonst nur Kaisern zuteil wird. Als er sie aufstehen hieß, zogen sie die Schwerter und hoben sie mit einem weithin hallenden Schrei zum Himmel, so daß die Seevögel in wirbelnden Wolken aufstiegen. Und so hatten sie Morgantyr wieder nach Kargoninsel zurückgeleitet.
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Einen Monat wohnten die Helden in Taspers Hallen und wurden mit großen Ehrungen überhäuft. Aber dann zogen sie, einer nach dem anderen, in ihre Heimat zurück: Bowman, um sich wieder den Waldlern von Grymwood anzuschließen, und Sodaspes, um wieder seinen Platz unter den Magierbrüdern von Babdaroul einzunehmen. Doch Conyin blieb in Kargonessa. Das rauhe Volk der Insel gefiel ihm, und er war damit beschäftigt, ein großes Lied von ihrem Abenteuer zu verfassen, und dazu würde er Jahre brauchen. Doch ehe die Gruppe auseinanderging, kam eine Deligation des Hohen Rates der Gemeinschaften, wie es sie seit sieben Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Sie knieten vor Morgantyr nieder, wo er auf seinem hohen Thron saß, neben dem Stuhl von Tasper selbst, und nicht weniger hoch, und flehten ihn an, ihnen zu sagen, welchen Titel oder welche Ehre sie ihm anbieten sollten. Morgantyr verkündete würdig, daß der Heldenname, mit dem alle Leute ihn jetzt ansprachen, Ehre genug sei. Aber wenn sie ihm noch mehr Ehre erweisen wollten, so sollten sie von Tasper und seinem Volk den Fluch des Paktbrechers nehmen und sie wieder in die Bande der Gemeinschaft aufnehmen. Und so geschah dies mit großem Pomp und unter viel Zeremonie. Und nie wieder sollten die Bewohner von Kargoninsel von der Gemeinschaft von Bargelixwelt getrennt werden. Darüberhinaus verlangte er keine andere Ehre. Und dafür, wenn für keine andere Tat, würden die Menschen von Kargoninsel ihn stets lieben und verehren. Er sog die würzige Seeluft tief in seine Lungen und lächelte, spürte das Sonnenlicht auf seinem Gesicht und den rauhen, porösen Stein der Balustrade unter seinen Händen. Es war gut zu leben und unter Freunden zu sein und nach mächtigen Taten auszuruhen. Er war lange in den schwarzen Räumen, zwischen den weit verstreuten Sonnen des Weltraums gewandert, weit war er gezogen von der Welt seiner Geburt, und war zu einer 157
fernen Welt gelangt, die nur wenige Angehörige seiner Rasse bisher besucht hatten. Und hier hatte er sein Zuhause gefunden. Er vermißte sein Augenlicht nicht. Er war sehr glücklich. Und dann hörte er Schritte und das Rascheln eines langen Gewandes. Er war neugierig – einen Sinn hatte er verloren, aber all die anderen waren wie zum Ausgleich schärfer geworden. Er drehte sich um und lächelte einer zu, die er nicht sehen konnte, von der er aber wußte, daß sie dort stand. Eine weiche, süße Stimme sagte: »Du bist früh aufgestanden, mein Ehemann, mein Lord.« »Ja, meine Liebe«, sagte er. »Aber ich liebe den Morgen so.« Und dann streckte er die Hand aus und spürte schlanke, warme Finger, die sich um die seinen schlossen. Und dann gingen er und seine Frau Argyra hinein, um mit ihren Söhnen das Frühstück einzunehmen. ENDE
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NACHWORT DES AUTORS Für diejenigen, die solche Dinge wissen möchten, will ich sagen, daß dieser Roman ein Band in einer Folge von Bänden ist, die ich »Geschichten des Großen Imperiums« nennen möchte. Andere in dieser Folge bereits veröffentlichte Romane sind The Man Without a Planet (Der Mann ohne Planet) und Star Rogue (Meister der Sterne). Im Gegensatz zu einer Serie wie Asimovs FoundationErzählungen oder Fritz Leibers Stories von Fafhrd und dem Grauen Mausling hat die meine weder ein zusammenhängendes Thema oder einen Handlungsrahmen, der die verschiedenen Bände zu einem Ganzen verbindet, noch eine kontinuierliche Folge von Personen. Tatsächlich sehe ich in ihr eher eine Sequenz als eine Serie. Und das aus gutem Grund. Die einzelnen Bände haben ihre eigene Handlung, ihre eigenen Personen und stehen in keiner besonderen Beziehung zueinander, abgesehen davon, daß sie einen gemeinsamen Hintergrund historischer und galaktografischer Daten besitzen. Man erwartet nicht von Ihnen, daß Sie sie in chronologischer Reihenfolge lesen: tatsächlich können Sie das nicht einmal, wenn Sie es wollen, weil ich sie nicht in dieser Reihenfolge schreibe. Die Magier von Bargelix, das Buch, das von den drei bislang erschienenen das jüngste ist, ist chronologisch das früheste. Natürlich soll jeder Roman für sich alleine bestehen, und es ist nicht erforderlich, daß Sie, der Leser, die anderen Bücher gelesen haben, um dieses hier zu verstehen oder Spaß daran zu haben. Was künftige Bücher in der Sequenz angeht, so kann ich dazu nicht viel sagen. Für jedes einzelne davon gibt es ein Exposé – wenn nicht auf Papier, dann doch immerhin in meiner Vorstellung – aber es scheint mir unklug, sie hier zu diskutieren 159
oder auch nur aufzulisten. Warum? Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen weiß ich zwar, was ich in künftigen Jahren gerne schreiben möchte, aber meine Pläne können sich jederzeit ändern, wenn mir neue Ideen in den Sinn kommen. Und dann ist da noch ein anderer Grund: Ein Autor handelt nicht frei, sondern ist in gewisser Weise den Wünschen seiner Verleger unterworfen. Wenn ich jetzt das Buch ankündigen würde, das ich Galactic Agent nenne, oder das, welches Empire of Stars heißen soll, oder wieder ein anderes mit dem Namen Between Galaxies oder The Mischief-Makers, dann wäre das voreilig und unklug. Ich kann nicht sicher sein, daß ich einen Verleger finde, der bereit ist, irgendeines dieser Bücher anzunehmen. Da Verleger gelegentlich eigensinnig und pervers sind, ist es schon vorgekommen, daß sie ›nein‹ gesagt haben. Selbst die Titel könnten sich ändern, was als traditionelles Vorrecht der Verleger gilt. Und so kann ich im Augenblick nur sagen, daß die Sequenz, so wie ich sie mir jetzt vorstelle, aus nicht weniger als acht bis zwölf Bänden bestehen und etwa zehntausend Jahre zukünftiger Geschichte umspannen sollte. Übrigens, es liegt mir fern, mir nicht zukommendes Lob auf mich zu ziehen, und ich darf daher darauf hinweisen, daß die Idee, eine Folge von Erzählungen verschiedener Art zu schreiben, die sich über eine zukünftige Geschichte der Menschheit erstreckten, nicht gerade von mir stammt. Robert A. Heinlein tat das zum erstenmal in den vierziger Jahren mit einer Serie, die er durchaus passend als »The Future History Series« bezeichnete. Ich hoffe, daß niemand mir ein Plagiat vorwerfen wird, wenn ich zugebe, daß ich diese grundlegende Idee von ihm ausgeborgt habe – die Idee von Erzählungen, die vor einem sich kontinuierlich entwickelnden Hintergrund historischer Ereignisse aufgebaut sind. Mir schien die Idee sehr interessant, und ich habe sie schamlos übernommen und sie für meine eigenen Zwecke benutzt. Aber ich möchte hier erklären, 160
daß Robert Heinlein derjenige war, der als erster daran dachte. Sonst habe ich von seiner berühmten Serie nichts geborgt; ich hoffe, er wird mir diesen kleinen »Diebstahl« nicht verübeln. Dieser Notiz füge ich eine chronologische Tafel bei, die die Anordnung der historischen Ereignisse darstellt, die in Die Magier von Bargelix erwähnt wurden, ebenso wie die Daten der anderen Bücher, die bereits erschienen sind. – Lin Carter –
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Chronologie der wichtigsten historischen Ereignisse, die in diesem Roman erwähnt wurden. Anno Domini
Jahr des Imperiums
Schilderung der Ereignisse
3063 (3181)
Das Jahr 1 des Imperiums 118
(3215)
152
(3217)
154
(3376)
313
(3468)
407
(7177)
4114
Gründung des Ersten Imperiums durch den Imperator Arion I. Morgan wird im CentaurusSystem geboren. Politische Unruhen auf den Arcturus-Planeten. Die Semnedarjunta ergreift die Macht auf Trasna. Die »Freiheitsunruhen« führen zum Einsatz der Flotte. Mardax Imperator erklärt die Zentralistenpartei als ungesetzlich. Morgan im Exil; er erreicht die Sierrasterne und trifft im fünften Jahr der Kaiserherrschaft Mardax’ auf Bargelix ein. Die Suche der sechs Helden und die Schließung von Tarandon-Tor, wie im Roman Die Magier von Bargelix geschildert. Das Imperium stellt offiziellen Kontakt mit Bargelix her und findet dort das Morgantyr-Epos vor. Das Imperium breitet sich in den Grenzwelten von Herkules aus. Periode des Romans Der Mann ohne Planet Periode des Romans Meister der Sterne 162
Als Utopia-Classics Band 72 erscheint:
Kurt Mahr
Der Nebel frißt sie alle Der große Flug des Sternenschiffs EUR 2002 Der große Flug des Sternenschiffs Für die Crew der EUR 2002 ist das Schiff noch das einzige, was sie an die Erde erinnert, von der sie im Oktober des Jahres 2158 gestartet sind. Wenn auch nach Bordzeit kaum mehr als ein Jahr seit dem Start verstrichen ist, so sind die Männer und Frauen der EUR 2002 sich dessen bewußt, daß sie den Preis zahlen müssen, den der Flug im hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich fordert: Sie werden, wenn sie zurückkehren, eine Erde wiederfinden, die um Milliarden Jahre gealtert ist. Doch die Kosmonauten suchen nach wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen – und sie finden das große Abenteuer zwischen den Sternen.
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