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DAS BUCH Während Bhealfa immer mehr zwischen die Fronten der widerstreitenden Mächte Rintarah und Gath Tampor gerät, verlassen zahlreiche Rebellen das Land und verschanzen sich auf der Diamantinsel. Einst eine Ferienkolonie, bietet sie den Flüchtigen jedoch nur wenig Schutz, zumal in den Gewässern rund um die Insel der berüchtigte Pirat Vance lauert, der schon bald einen brutalen Angriff unternimmt. Allein der Kampfkraft Reeth Caldasons verdanken die Rebellen ihr Überleben. Vance zieht sich zurück - fürs Erste. Noch während der Siegesfeier erfahren sie, dass der tot geglaubte Sänger Kinsel ein Gefangener der Piraten ist. Eilig schmieden die Rebellen einen Plan, ihn zu befreien. Zur selben Zeit spüren die letzten Widerständler auf Bhealfa Kinsels Frau Tanalvah auf. Keiner von ihnen ahnt, dass sie die Verräterin ist, deren Tat Unzählige das Leben kostete. Sie schmuggeln die hochschwangere Tanalvah in die Totenstadt, wo die letzten Rebellen sich auf die Reise zur Diamantinsel vorbereiten. Reeth Caldason begibt sich inzwischen mit seiner Gefährtin Serrah auf die Suche nach der Quelle der Magie, die in einem Labyrinth auf einer mysteriösen Insel verborgen ist. Magisch angezogen bewegt er sich auf die Quelle zu - und erlebt eine ungeheure Überraschung. Doch ihm bleibt kaum Zeit, seinen Fund zu würdigen, denn Rintarah und Gath Tampor bieten eine gewaltige, magisch bewaffnete Flotte auf, um die Rebellen vernichtend zu schlagen. Als sich Vance auf die Seite der Unterdrücker schlägt, scheint der Untergang der Diamantinsel besiegelt ... »Die magische Insel« ist der Abschluss der atemberaubenden Fantasy-Trilogie von Bestseller-Autor Stan Nicholls, deren Bände »Der magische Bund« und »Das magische Zeichen« Millionen von Leser begeistert haben. DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen widmete. Seit dem internationalen Bestseller-Erfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Nicholls lebt mit seiner Frau in den West Midlands. Weitere Informationen zum Autor unter: www.stannicholls.com
STAN NICHOLLS
DIE MAGISCHE INSEL Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der englischen Originalausgabe QUICKSILVER TWILIGHT Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Deutsche Erstausgabe 05/2006 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2006 by S. J. Nicholls Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006 http://www.heyne.de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-53025-X ISBN-13: 978-3-453-53025-6
DIE MAGISCHE INSEL ist in liebevollem Gedenken Eileen Costelloe, John Griffiths, Nick Reynolds, Barbara Shrestha, Annie Brich und
Daniel O'Grady gewidmet. Es wäre schön, wenn ihr damit aufhören würdet - mir gehen allmählich die Freunde aus.
WAS BISHER GESCHAH Vor langer Zeit wurde das magische System der bekannten Welt vom ausgestorbenen Volk der Gründer erschaffen, ursprünglich war die Macht ihrer Magie unermesslich groß. Gegenwärtig dient die Magie als eine Art Technologie, als Instrument der Unterdrückung und sogar als offizielles Zahlungsmittel. Sie zeigt auch den sozialen Status an. Zu ihren vielen Manifestationen, die allgemein als Zauber bezeichnet werden, gehören zugleich künstliche Lebensformen. Die verfeindeten Imperien von Gath Tampoor und Rintarah sind die dominierenden Zivilisationen der bekannten Welt. Beide wachen eifersüchtig über ihre weit verstreuten Protektorate. Der Inselstaat Bhealfa war in seiner Geschichte wechselweise beiden Reichen angegliedert und wird im Augenblick von Gath Tampoor beherrscht. Der Regent Prinz Melyobar, eine Marionette des Reichs, hält den Tod für ein Lebewesen und betrachtet ihn als seinen Erzfeind. Der Prinz hat einen von Magie angetriebenen Palast bauen lassen, der niemals stillsteht, um so dem Schnitter zu entgehen. Andar Talgorian, der kaiserliche Gesandte aus Gath Tampoor, hat die Aufgabe, sich mit Melyobars Verblendung auseinander zu setzen und dafür zu sorgen, dass den Wünschen der Kolonialherren Genüge getan wird. 7 Opposition wird gegen die beiden Imperien laut; als Reaktion auf deren Brutalität und Ungerechtigkeit hat sich eine Widerstandsbewegung gebildet. Die Regimegegner werden vor allem von den undurchschaubaren PaladinClans bekämpft, einer mächtigen militaristischen Organisation, in die nur eintreten darf, wer von den Paladinen abstammt. Die zynischen Clans sehen keinen Widerspruch darin, ihre Dienste sowohl Gath Tampoor als auch Rintarah anzubieten. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran ist ein besonders bösartiger Vertreter seiner Gattung. Allerdings verblassen seine Bemühungen neben der Grausamkeit seines Neffen, Konkurrenten und Nachfolgers Devlor Bastorran. Ein Dorn im Auge ist ihnen Reeth Caldason; er gehört dem verstreuten Volk der Qalochier an, die unter Heuchelei und Pogromen stark zu leiden hatten. Als einer der wenigen, die das Massaker an seinem Stamm überlebten, sinnt Caldason auf Rache. Auch sucht er seit Jahrzehnten Heilung für ein geheimnisvolles Leiden, das ihn in Tobsuchtsanfälle stürzt und ihm lebhafte, bizarre Visionen eingibt. Caldason freundet sich mit dem Waisenjungen Kutch Pirathon an, einem jungen Zauberlehrling, der Reeths Ablehnung der Magie, die in seiner Kultur etwas völlig Alltägliches ist, schockierend findet. Die beiden lernen den radikalen Politiker Dulian Karr kennen, eine der führenden Gestalten des Widerstands. Karr lässt durchblicken, der Bund, ein illegaler Orden von nicht lizenzierten Magiern, besitze möglicherweise das nötige Wissen, um Caldason von seinem Leiden zu befreien. Sein Angebot, für Reeth den Kontakt zum Bund herzustellen, führt letzten Endes dazu, dass Reeth und Kutch sich den Aufständischen anschließen. Serrah Ardacris, eine Agentin des berüchtigten Rates für Innere Sicherheit, befehligt eine Art Todesschwadron der Regierung, die gegen Banditengruppen in Rintarahs Hauptstadt eingesetzt wird. Als der tollkühne Sohn eines hohen Beamten während eines Einsatzes fällt, wird Serrah die 8 Schuld zugeschoben. Sie wird unter Druck gesetzt, ein Geständnis abzulegen; ihre Vorgesetzten schrecken nicht einmal davor zurück, Serrahs Schmerz über den Verlust ihrer Tochter Eithne auszunutzen, um zu bekommen, was sie wollen. Eithne starb mit gerade einmal fünfzehn Jahren an einer Überdosis Ramp, einer starken illegalen Droge. Kurz vor dem Zusammenbruch wird Serrah von einer Zelle des Widerstands gerettet und schafft es, nach Bhealfa zu fliehen. Trotz ihrer Macht beherrschen die Reiche nicht die ganze Welt. In den von Barbaren bewohnten Einöden im Norden haben sie praktisch keinen Einfluss. In diesem wilden, unwirtlichen Gebiet, wo noch Stammesfürsten herrschen, macht seit einiger Zeit ein mächtiger Kriegsherr von sich reden. Zerreiss, von seinen Leuten auch als der Mann bezeichnet, der von der Sonne fiel, besitzt eine geheimnisvolle Kraft, die ihm hilft, immer größere Landstriche zu erobern. Die Qalochierin Tanalvah Lahn, eine Prostituierte mit staatlicher Zulassung, hat ihr Leben lang in den Bordellen von Rintarah gearbeitet. Tanalvah verteidigt sich gegen einen Kunden, der ihre beste Freundin ermordet hat, und tötet den Mann unbeabsichtigt. Sie fürchtet Vergeltung, nimmt die beiden kleinen Kinder ihrer Freundin mit und flieht nach Bhealfa. Dort hilft ihr der Pazifist Kinsel Rukanis, ein berühmter klassischer Sänger, der den Widerstand unterstützt. Beide treffen auf Serrah, die sie gegen Agenten der Regierung verteidigt und dabei mehrere Männer tötet. Kinsel bringt Tanalvah und Serrah mit dem Widerstand in Kontakt. Reeth Caldason, Kutch Pirathon und Dulian Karr nehmen Verbindung mit Phönix auf dem Anführer des Bundes, der ein Bruchstück der Gründermagie benutzen kann, um sein Äußeres beliebig zu verändern. Dort begegnen sie auch Quinn Disgleirio, einem Angehörigen der Bruderschaft der Gerechten Klinge)' Dieser eigentlich längst untergegangene Kriegerorden wurde wieder ins Leben gerufen und kämpft nun für Bhealfas Unabhängigkeit. Der Widerstand, der
9 Bund und die Bruderschaft der Gerechten Klinge bilden den Vereinigten Revolutionsrat. Karr erklärt, der Rat habe das Ziel, einen Freistaat aufzubauen. Caldason ist nahezu unsterblich, sein Alterungsprozess ist stark verlangsamt. Er hat keine Ahnung, warum dies so ist. Der Bund glaubt, die Gründer hätten einen Hort des Wissens hinterlassen, den sie die Quelle nennen. Niemand weiß, welche Gestalt die Quelle annimmt, doch sie wird gewöhnlich mit der Legende der Clepsydra in Verbindung gebracht, bei der es sich um einen Artefakt handeln soll, der die Äonen bis zum Tag des Untergangs misst. Die Quelle könnte dem Widerstand eine mächtige Waffe gegen die Reiche in die Hand geben und vielleicht auch Caldason heilen. Er beschließt, sie zu finden, wird aber durch verschiedene Ereignisse immer wieder daran gehindert. Auch Kutch entwickelt eigenartige, unvermutete Fähigkeiten. Er besitzt die äußerst seltene Aufklärergabe. Aufklärer können die falschen Vorspiegelungen der Magie durchschauen und Illusion von Wirklichkeit unterscheiden. Phönix bietet an, den Jungen in der richtigen Anwendung dieser Fähigkeit zu unterrichten, doch Kutch stellt bald fest, dass er Caldasons schreckliche Visionen teilen muss. Kinsel und Tanalvah werden Geliebte und richten sich mit den Kindern in einem Haus ein. Doch Tanalvah macht sich Sorgen, weil Kinsel mit seiner Arbeit für den Widerstand ein großes Risiko eingeht. Ihre Befürchtungen bewahrheiten sich, als Devlor Bastorran sie beide als Angehörige des Widerstands identifiziert. Prinz Melyobar plant unterdessen, die gesamte Bevölkerung Bhealfas auszurotten. Er hat die Absicht, den Tod zu isolieren und ihm die Menschenmassen zu nehmen, in denen er sich verbergen kann. Heimgesucht von ihren Schuldgefühlen wegen des Todes ihrer Tochter und aufgewühlt durch eine Prophezeiung in einem Tempel, unternimmt Serrah einen Selbstmordversuch. 10 Derweil veranlassen die Aktivitäten des Widerstands die Behörden, ihrerseits den Druck zu verstärken. Die Paladine bekommen freie Hand und nutzen ihren Freiraum auf brutale Weise aus. Der Standort für den geplanten Rebellenstaat wird gefunden, zuerst wird die Idee aber von vielen als zu bizarr abgelehnt. Batariss, eher unter dem Namen Diamantinsel bekannt, ist eine heruntergekommene Ferieninsel. Sie gehört dem ehemaligen Piraten Zahgadiah Darrok, der auf einer magisch gesteuerten Scheibe fliegt, nachdem er in der Auseinandersetzung mit dem rivalisierenden Piraten Vance beide Beine verlor. Darrok willigt ein, die Insel gegen eine große Menge Gold der Regierung zu verkaufen, welches der Widerstand rauben will. Tanalvah überredet Kinsel, ein kostenloses Konzert für die Armen zu geben. Während dieses Ereignisses verhaftet Devlor Bastorran in Begleitung seines neuen Adjutanten Lahon Meakin den Sänger. Kinsel wird des Verrats angeklagt und vor Gericht gestellt. Im Laufe seines persönlichen Feldzugs gegen Caldason schaltet Devlor die Symbiontin und Meuchelmörderin Aphri Kordenza ein, die Caldason töten soll. Die Symbiontin, die auch als Verschmolzene bezeichnet wird, trägt ihren Zwillingsbruder, ein magisch erzeugtes Wesen namens Aphrim, in ihrem Körper. Aphrim ist fähig, sich aus Aphris Körper zu lösen und eigenständig zu handeln. Die Gewässer um die Diamantinsel werden von Piraten unsicher gemacht, zu denen auch der berüchtigte Kingdom Vance gehört. Er war dafür verantwortlich, dass Darrok seine Beine verlor, und nun muss der Widerstand gegen diese neue Bedrohung kämpfen. Als gegen\ Kinsel verhandelt wird, stellt Tanalvah fest, dass sie schwanger ist. Serrah erfährt zu ihrem Schrecken, dass Kommissar Laf fon, Leiter des Rates für Innere Sicherheit und der Mann, 11 der sie foltern ließ, nach Bhealfa kommt und am Verfahren gegen Kinsel teilnehmen will. Die Gerichtsverhandlung ist eine reine Propagandaveranstaltung, und Kinsel wird wie erwartet schuldig gesprochen. Er wird zur Sklavenarbeit auf einer Galeere verurteilt, was einem Todesurteil gleichkommt. Als der Kriegsherr Zerreiss seinen Einflussbereich vergrößert, werden beide Imperien auf ihn aufmerksam. Ihre gemeinsame Sorge ist, dass er sich mit dem Widerstand gegen die Reiche verbünden und seine geheimnisvollen Kräfte ins Spiel bringen könnte. Nachdem Devlor Bastorrans Plan, Caldason von der Verschmolzenen Aphri Kordenza töten zu lassen, gescheitert ist, versucht er etwas anderes. Auf seinen Befehl hin ermordet Kordenza seinen Onkel Ivak. Devlor erbt die Führungsposition der Clans, und Caldason wird als der Täter dargestellt, woraufhin die Fahndung nach ihm verstärkt wird. Unter Devlors Herrschaft greifen die Paladine noch härter durch als bisher. Caldason reist zur Diamantinsel, um das Gold abzuliefern, das Darrok verlangt hat. Auf dem Weg zur Insel bekommen seine Visionen eine neue (Qualität. Jetzt taucht Zerreiss in ihnen auf. Der Kriegsherr beginnt seinerseits von Caldason zu träumen. Serrah, die inzwischen viel für Reeth empfindet, beschließt, mit Kutch ebenfalls zur Diamantinsel zu reisen, um bei ihm zu sein. Der geheime Exodus des Widerstands soll ohnehin in wenigen Wochen beginnen. Als Kinsel die Qualen fast nicht mehr ertragen kann, wird seine Galeere von Piraten angegriffen, und er fällt Kingdom Vance in die Hände. Kinsels Leben wird nur verschont, weil Vance ihn erkennt und vom Sänger unterhalten werden will. Bastorran verfügt über einen hochrangigen Spion, der ihm Informationen über den Widerstand zuspielt. Auf der
12 Grundlage dieses Wissens führen die Behörden umfassende Razzien in den Verstecken des Widerstands durch. Blutvergießen und Chaos herrschen auf den Straßen. Serrah und Kutch können mit knapper Not auf ein Schiff fliehen. Der Widerstand musste einen Schlag hinnehmen, von dem er sich möglicherweise nicht mehr erholt. Niemand weiß, dass Tanalvah Lahn die Verräterin ist. Dulian Karr, Quinn Disgleirio, Phönix, Tanalvah und die Kinder bleiben in Bhealfa. Sie werden verstreut und müssen demoralisiert fliehen. Dies hinterlässt Spuren bei Karr, der zusammenbricht, schwer erkrankt und mit dem Tode ringt. Caldason, Serrah und Kutch sitzen mit Zahgadiah Darrok auf der Diamantinsel fest. Nur ein paar tausend Rebellen erreichen die Insel. Was ein bevölkerungsreiches, autarkes Land sein sollte, das sich verteidigen kann, ist kaum mehr als ein Trümmerhaufen. Serrah schwört, sich an dem Verräter zu rächen, wer auch immer es sei. Trotz des Chaos ist Caldason immer noch entschlossen, die Quelle zu finden. Als der Herbst in den Winter übergeht, scheint es, als müsse er seine Träume endgültig begraben ... 13 Die Sonne ging auf. Eiskalt und böig wehte der Wind, dichter Nebel hing über dem Meer und löste sich zögerlich auf. Gespenstisch kreisten Möwen über der Küste einer Insel, deren Umrisse sich langsam aus dem Dunst herausschälten. Das Schiff pflügte durch die Nebelschwaden. Es hatte drei Masten, war gepanzert und trug keinerlei Hoheitszeichen. Zwei Begleitschiffe stampften dahinter. Sie waren kleiner, aber nicht weniger gut bewaffnet. Auf den Decks der drei Schiffe drängten sich Menschen an der Reling. Eine armselige Flotte kam ihnen von der Insel entgegen, um die Angreifer zu stellen. Es waren nur einige Zweimaster in Begleitung kleinerer Schiffe. Sie trugen grüne Banner mit einem Skorpion darauf und stellten keine Gegner für die drei Piratengaleonen dar, die sich der Insel näherten. Als der Nebel sich lichtete, war heimliches Vorgehen nicht länger möglich. Die drei Kriegsschiffe und der bescheidene Konvoi der Verteidiger nahmen Fahrt auf. Weißer Schaum stand auf ihren Bugwellen, als sie aufeinander zuhielten. In Rufweite wurden die beiden Schiffsverbände langsamer und drehten bei. Pfeilsalven flogen zwischen den Schiffen hin und her und trafen Balken, Leinwand, Schilde und 15 die Körper der Unglücklichen oder Langsamen. Der Schusswechsel hielt an, bis die Pfeile verbraucht und alle Schiffe wie mit Stacheln übersät waren. Hunderte der hölzernen Schäfte trieben in der kabbeligen See. Dann wurde die magische Munition eingesetzt. Auf den Piratenschiffen wurden Reihen von Luken geöffnet, und dahinter kamen kräftige Eisenrohre zum Vorschein. Von Zaubersprüchen angetrieben, spuckten die Rohre magisch verstärkte Geschosse aus. Salven von Kreischnadeln und Prallstrahlen, Schwärme von Blendgranaten und Trickzündern. Es waren Ausgeburten der magischen Phantasie mit riesigen Reißzähnen und Klauen, kurzlebig, aber tödlich, die zwischen den Verteidigern erschienen und ihr Werk taten. Unmengen von Giftschlangen materialisierten. Donnerschläge zerschmetterten die Masten. Sturzbäche von Säure zerfetzten die Takelage. Die Inselbewohner griffen die Zauber mit neutralisierenden Stäben und magisch verstärkten Klingen an. Sie setzten auf Deck montierte Katapulte ein und feuerten ihre eigene Munition zurück. Zauberladungen ließen in der Luft Schwärme von Fleisch fressenden Vögeln entstehen, die über die feindlichen Schiffe herfielen. Betäubungswürfel explodierten mit ohrenbetäubendem Krachen. Dämonen mit ledrigen Flügeln spuckten Flammen auf die Köpfe der Feinde. Auf beiden Seiten beschworen die Magier fieberhaft schützende Energiefelder herauf - schimmernde, beinahe durchsichtige Blasen, auf denen die Farben spielten. Die Zauber prallten von ihnen ab, auftreffende Sprüche wurden gedämpft. Nach kurzer Zeit flaute das übersinnliche Trommelfeuer ab. Es war nicht weiter überraschend. Alle wussten, dass sich die Angelegenheit im Grunde nur von Angesicht zu Angesicht regeln ließ. 16 Trommeln wurden gerührt. Die Schiffe manövrierten und verkürzten die Distanz, und die bärbeißigen Kämpfer warteten voller Anspannung. Dann prallten die Schiffsrümpfe gegeneinander, die Balken knirschten, und die Matrosen brüllten. Ganze Wälder von Sturmleitern kamen zum Einsatz. Dutzende Enterhaken kreisten an Seilen wie Lassos und wurden geworfen. Wellen von Kämpfern mit Piken, Macheten, Schwertern und Äxten stürmten zur Reling, und das Gemetzel nahm seinen Lauf. Am heftigsten tobte der hektische Kampf auf dem größten Freibeuterschiff. Tapfere oder vielleicht auch sehr verzweifelte Verteidiger hatten sich den Weg an Bord erkämpft und zahlten nun einen hohen Preis dafür. Das blutige, brutale Handgemenge lichtete ihre Reihen sichtlich. Die Inselbewohner waren in der Unterzahl, sie wurden zurückgeworfen und drängten sich dicht zusammen. Wie ein einziges Untier mit vielen Gliedern und starrenden Stacheln aus Stahl standen sie da und erwarteten den tödlichen Angriff. Mordlust im Auge, drangen die Piraten auf sie ein.
Männer riefen. Es waren keine Kampfrufe oder Schmerzensschreie, sondern ein ungläubiges Gebrüll, das sich erhob. Einige deuteten nach oben. Eine Gestalt fiel vom Himmel. Es war ein Mann; er war schwarz gekleidet, und der wallende Mantel gab ihm das Aussehen einer riesigen Fledermaus. Das lange, wehende Haar ließ an einen Raben denken. Die Augen hätten Kohlestücke sein können. Als er auf Deck landete, mit sicherem Schritt wie eine Katze, dachten viele, er müsse eine magische Erscheinung oder ein Dämon sein. Sie irrten sich. Nur ein einziger Mann konnte mit einer so unbändigen Wut kämpfen. Er trug zwei Schwerter, die er sofort einsetzte. Die ersten beiden Freibeuter gingen zu Boden, ihr Bauch war im Nu aufgeschlitzt und die Brust durchstochen. Er griff be17 reits den Dritten an, als die Meute endlich begriff, wie ihr geschah, und sich gegen ihn wandte. Er zuckte mit keiner Wimper, sondern machte auch den nächsten Gegner mit einem bösen Hieb nieder und stellte sich den Feinden. Doch er schien kaum bemüht, Freund und Feind zu unterscheiden. Auch die Verbündeten mussten sich mit eiligen Schritten vor seinen tödlichen Klingen in Sicherheit bringen. Sein wilder Angriff schenkte der eingekesselten Gruppe der Inselbewohner neuen Mut, wenngleich viele, die ihn nicht erkannten, sich nicht völlig sicher waren, ob er wirklich auf ihrer Seite kämpfte. Oder auf überhaupt irgendeiner Seite, abgesehen von seiner eigenen. Er bot den Anblick eines Menschen, der von wilder Raserei getrieben war. Die Piraten gingen dazu über, ihre Beile nach ihm zu werfen. Er bewegte sich anmutig und wich mit beinahe verächtlicher Leichtigkeit aus. Zweimal lenkte er fliegende Beile mit der flachen Seite seiner Schwerter ab. Eines grub sich ins Deck, das zweite prallte ab, traf den Schenkel eines Piraten und spaltete den Knochen. Mit verdoppelter Wut setzte der schwarz gekleidete Krieger den Angriff fort. Brüllend und wild um sich hauend, griff er die überrumpelten Piraten an, die sich zur Flucht wandten. Nur ein kühneres Trio stellte sich ihm noch in den Weg. Er griff sie frontal an. Der Erste, der sterben sollte, trug ein schmieriges weißes Stirnband, das sich schnell blutrot färbte. Ein Stich ins Herz erledigte den Zweiten. Der Dritte starb an seiner aufgeschlitzten Luftröhre. Als der Kämpfer sich nach neuen Zielen umsah, ergriffen die eingekreisten Inselbewohner die Gelegenheit und brachen aus. Unter heftigem Schwerterklirren wurde der Kampf noch brutaler, als er ohnehin schon war. Ein Stück weiter auf dem rot gefärbten Meer erlebte ein anderes Piratenschiff eine ganz eigene Heimsuchung. Auch 18 diese kam von oben. Sie war ähnlich erschreckend, jedoch von ganz anderer Art. Die Mannschaft war in einen heftigen Kampf an zwei Fronten verwickelt. Die Hälfte versuchte, an Bord eines längsseits liegenden Schiffs von der Insel zu gelangen. Die anderen kämpften, um die Inselbewohner davon abzuhalten, das Gleiche mit ihrem Schiff zu tun. Wo die Gegner aufeinander trafen, folgte ein Blutbad. Eine donnernde Explosion ertönte, und eine indigofarbene Flamme blühte direkt vor dem Schiff auf. Splitter flogen durch die Luft, Seile rissen, zuckten wie Peitschen und verletzten die Matrosen. Brackwasser fiel als feiner Schauer aufs Deck. Oben, wo die Flammen aufgeblüht waren, schmorte ein Segel. Ein Objekt schwebte über ihnen und beschrieb unter den bleichen Wolken eine enge Kurve. Es hatte die Form einer Scheibe und schimmerte in den ersten schwachen Strahlen der Morgensonne. Die Klingen schwiegen, und die Kämpfer sahen zu, wie die fliegende Scheibe sich näherte. Bevor sie in Deckung rannten, konnten sie noch sehen, dass jemand rittlings daraufsaß. Die Scheibe schwebte knapp oberhalb der Masten, dann flog sie mit der Geschwindigkeit eines Speers vom Bug bis zum Heck. Als sie das Heck passierte, wo das Steuerruder auf dem erhöhten Ruderdeck vor der Kapitänskajüte stand, ließ der Reiter der Scheibe etwas fallen. Wieder gab es einen ohrenbetäubenden Knall und einen grellen Lichtblitz. Holz flog in alle Richtungen. Als der Staub sich setzte, lag die Brücke in Trümmern. Die Scheibe flog erneut eine scharfe Kurve und begann den Anflug für einen weiteren Angriff. Inzwischen hatten sich einige Piraten an Bord wieder gefasst. Sie schössen Pfeile ab und warfen Speere. Ein oder zwei Pfeile trafen, prallten aber harmlos von der Metallhülle der Scheibe ab. Ein Schiffsmagier setzte einen Energiestoß frei, eine helle 19 Lanze aus bösartigen Partikeln, die in den Augen schmerzte. Der Strahl erfasste den Rand der Scheibe, schlug blaue Funken und ließ sie schwanken wie ein Boot im Sturm. Doch der Fahrer fing sie rasch wieder ab und vollendete die Kehre. Am Bug des Schiffs war eine magische Galionsfigur angebracht. Sie war doppelt so groß wie ein Mann und stellte einen üppigen Frauenkörper dar, der in den einer Hydra überging. Ein halbes Dutzend pendelnde, spuckende Schlangenköpfe entsprangen dem gekrümmten Hals. Bei seinem nächsten Überflug nahm der Reiter auf der Scheibe ebendiese Figur aufs Korn. Wieder sah man ein Objekt fallen; es hätte ein kleiner Rupfensack sein können. Nach der Explosion war von der Figur nur mehr ein rauchender, verkohlter Stummel übrig. Ein einziger baumelnder Kopf war noch zu sehen; die gegabelte Zunge wackelte schwach, und die Magie erschöpfte sich schnell. Die Zerstörung ihrer Galionsfigur erzürnte die Freibeuter mehr als alles andere. Doch sie hatten keine Zeit mehr,
ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, denn die Inselbewohner, die sie vernachlässigt hatten, schwärmten erneut auf ihr Schiff. Nicht weit entfernt, auf dem größten Piratenschiff, waren die Explosionen zwar gut zu hören, aber kaum jemand achtete darauf. Die Leute dort waren viel zu sehr mit ihrem eigenen Gemetzel beschäftigt. Auf dem ganzen Schiff kämpften kleine Gruppen gegeneinander, überall auf dem Deck lagen Leichen und Verwundete herum. Niemand hatte den schwarzen Krieger bezwingen können. Seine Wildheit und seine Kraft waren unvergleichlich. Er hatte sich bis zum Kern der Piratentruppe vorgekämpft und ihre Offiziere erreicht. Diese Versammlung trug feinere Kleidung, wenngleich ihre Zauber eher billig waren. Die magisch verstärkten Masken waren grotesk oder Furcht erregend und dämonisch, änderten sich ständig und nahmen immer grässlichere Formen an. Sie sollten die Gegner ein20 schüchtern, doch den schwarzen Kämpfer beeindruckten sie nicht, und er kannte keine Gnade. Ein Gegner war für ihn wie der andere. Er fuhr fort, Schädel zu spalten und Rippen zu zerhacken. Wo Schwerter gegen ihn erhoben wurden, reagierte er mit wilden Attacken, und dort, wo sie nicht erhoben wurden, hielt er es kaum anders. Keiner, der sich ihm in den Weg stellte, wurde verschont, ob er ihn herausforderte oder eigentlich kapitulieren wollte. Er hackte sich durch die Feinde wie ein tollwütiger Geist, in dem sich eine ureigene Art von Wahnsinn mit einer überragenden Meisterschaft im Schwertkampf paarte. Irgendwann gab es keine Klingen mehr, die man bekämpfen musste. Keine Schreie von Sterbenden mehr, kein Flehen um Gnade. Eine Totenstille, die ihren Namen verdiente, senkte sich übers Meer. Der Krieger sah sich mit wilden Augen um und fand keine neuen Gegner mehr. Trotz der Kälte glänzte auf seiner Stirn der Schweiß. Irgendwo ertönten Jubelrufe. Nachdem ihre Anführer geschlagen waren, streckten die noch lebenden Piraten die Waffen. Die Inselbewohner trieben die Gefangenen zusammen und versorgten die Verletzten. Doch obwohl er das Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatte, mieden sie den Krieger und warfen ihm nur verstohlene Blicke zu. Er wirkte verloren. Wie betäubt, weil ihm das Ziel genommen worden war. Eines der beiden kleineren Piratenschiffe zog sich mit Schlagseite zurück. Das andere brannte. Die Flammen hatten die Segel erfasst und verwandelten die Leinwand in wehende Ascheflocken. Die Inselbewohner verließen das Schiff und seilten sich auf ihre wartenden Boote ab. Die noch lebenden Piraten sprangen über Bord. Öliger Rauch hüllte das Schiff ein. Die fliegende Scheibe entfernte sich sofort und hielt auf die eingenommene Galeone zu. Der Reiter flog niedrig, damit ihn die siegreichen 21 Inselbewohner drunten sehen konnten. Jubelnd grüßten sie ihn. Dann sah er sein Ziel und sank aufs Deck herunter. Die Scheibe schwebte vor dem schwarzen Kämpfer. Der Reiter glättete seinen Schopf blonden Haars. Auf seinen Wangen klebte Ruß. In seinem hübsch geschnittenen Gesicht fielen vor allem die gewitzten blauen Augen und der sauber getrimmte Schnurrbart auf. Er war athletisch gebaut und hatte breite Schultern und kräftige Arme. Doch seine Beine hingen lahm über der Kante der fliegenden Scheibe. Er wandte sich an den Krieger, der benommen ins Leere starrte und den Fahrer mit seiner Scheibe offenbar noch nicht bemerkt hatte. »Reeth.« Die knirschende Stimme passte nicht so recht zu dem guten Aussehen des Mannes auf der Scheibe. »Reeth!« Er bekam keine Antwort. »Reeth!«, rief er noch einmal. »Kommt zu Euch, Mann! Reeth!« Der Krieger hörte es nicht. Immer noch funkelte der Blutdurst in seinen Augen. Neben ihm hing ein Holzeimer an der Reling. Die Scheibe neigte sich etwas zur Seite, als der Fahrer nach der Kelle griff, die im Eimer hing. Er schöpfte eine Ladung Wasser, drehte sich um und schleuderte sie dem Krieger energisch ins Gesicht. Der eiskalte Guss riss den Mann aus seinem Tagtraum. Er schüttelte den Kopf, dass die Tropfen nur so flogen. Seine Augen funkelten zornig, seine Lebensgeister erwachten, und er machte einen drohenden Schritt nach vorn. »Reeth!«, rief der Fahrer. Seine Scheibe schwankte. »Es ist vorbei! Wir haben gesiegt!« Der Krieger zögerte. »Ruhig«, fuhr der Mann auf der Scheibe besänftigend fort. »Ich bin's, Zahgadiah.« Reeth Caldason hielt inne. Er blinzelte, dann stellte sich sein Blick auf den Mann ein. »Darrok?«, flüsterte er. 22 »Es ist vorbei, Reeth. Ihr könnt jetzt aufhören.« Langsam kam Caldason zu sich und ließ die Schwerter sinken. Er atmete mehrmals schaudernd ein. »Alles in Ordnung?«, fragte Darrok. Caldason nickte. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. »Ihr seht schrecklich aus. Aber ich will es Euch mal glauben.« Er beäugte den Qalochier. »Wenn jemand weiß, was ein Tobsuchtsanfall ist, dann seid Ihr es.« Caldason ging nicht auf die Bemerkung ein. »Ist es gut verlaufen?« »Seht Euch doch um.«
Erst jetzt schien Caldason die herumliegenden Leichen zu bemerken, von denen nicht wenige auf sein Konto gingen. Immer noch zeigte sein Gesicht keine Regung. »Vance?« »Der war anscheinend nicht dabei.« Caldason betrachtete das brennende Piratenschiff, das sich mit seinem Schwesterschiff entfernte. »Ob er dort drüben ist?« »Das glaube ich nicht. Der Mistkerl ist vorsichtig und bringt sich wenn möglich nicht in Gefahr. Er dürfte allerdings irgendwo in der Nähe sein.« »Wie schade.« Es war seltsam, dass ausgerechnet diese Bemerkung über seine Lippen kam. »Wir wollen dankbar sein für das, was wir haben. Es war eine gute Idee, sie schon auf See zu stellen, Reeth, statt abzuwarten, bis sie angelandet sind.« Der Qalochier ging nicht auf das Kompliment ein. Anscheinend war er in Gedanken schon wieder weit entfernt. »Wir haben dieses Schiff hier eingenommen und ein weiteres zerstört«, fuhr Darrok etwas unwirsch fort, »und wir haben eine Menge Piraten getötet. Das ist doch ein ansehnlicher Erfolg.« Dann sah er sich um und fuhr bedrückt fort: »Wir können es uns aber nicht mehr erlauben, auch 23 unsere eigenen Leute in diesem Ausmaß zu verlieren. Wir müssen einen Weg finden, um ...« »Hört Ihr das?« »Was denn?« »Hört doch hin.« Darrok brüllte, dass die Leute still sein sollten. Die jubelnden Inselbewohner beruhigten sich. Es dauerte einen Augenblick, bis ihnen klar wurde, dass sie jemanden singen hörten. Es kam aus der Ferne, der Wind trieb es heran. Sie hörten genug, um die melancholische Schönheit des Gesangs zu erkennen. Die Worte konnten sie zwar nicht verstehen, aber es war unverkennbar ein Klagelied. »Was, zum Teufel ...« Darrok sah sich um und versuchte, die Quelle des Gesangs ausfindig zu machen. Es war ein wundervoller, reiner, bittersüßer Gesang. Inselbewohner und Gefangene lauschten hingerissen und staunten über den eigenwilligen, berührenden Refrain. »Was ist das?«, fragte Darrok. Caldason schüttelte langsam den Kopf. Darrok deutete auf eine Nebelbank, die sich ein gutes Stück vor dem Strand gehalten hatte. »Es muss von dort kommen.« »Dann müsste Vance dort sein.« »Wollen wir ihn verfolgen?« Caldason überlegte. »Nein. Wie Ihr schon sagtet, es sind genug Leben für einen Tag vernichtet worden. Warum sollten wir riskieren, in einen Hinterhalt gelockt zu werden?« Darrok nickte. Sie lauschten noch eine Weile, dann erstarb der Gesang. Auf dem Schiff kamen die Menschen wieder in Bewegung. »Wir haben unsere Aufgabe hier erledigt«, verkündete Darrok. »Steigt auf, ich bringe uns nach Hause.« Er streckte eine Hand aus. Die Scheibe stieg auf und trug sie zur Diamantinsel. 24 Eine ganze Reihe von Befestigungen diente der Verteidigung der Insel. Schwer bewaffnete Schiffe ankerten in den Zufahrten der Buchten. Auf den Stränden waren Sperrwerke, Netze, Fußangeln und Pfahlgruben verteilt, außerdem gab es einige raffinierte magische Hindernisse. Hinter den Stränden durchkämmten Patrouillen das Unterholz, und auf den Klippen standen Wachtürme. Eine Hand voll Festungen war auf der ganzen Insel verteilt, einige neu gebaut, die meisten auf der Grundlage existierender Gebäude hergerichtet. Die größte Befestigung war zugleich die neueste. Der Bau dieser bislang noch nicht vollendeten Anlage nahm die Rebellen schon seit mehreren Monaten in Anspruch. Die Konstruktion glich der traditionellen Bauweise; im Grunde handelte es sich um mehrere konzentrische Erdwälle, die aufeinander aufbauten und jeweils die dreifache Mannshöhe hatten. Überall dort, wo ein Wall sich zu einem Plateau abflachte und bevor der nächste begann, waren ringsherum tiefe Gräben angelegt, in denen brennbares Material lagerte. Hinter den Gräben erhoben sich steile Wände aus den Stämmen ausgewachsener Bäume, die mit Stacheln bewehrt waren. Die Feste selbst lag oberhalb der Wälle und bestand aus einem mehrere Hektar weiten, ebenen Gebiet. Dort wurden Kasernen und Schlafsäle errichtet, auch wenn die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten kaum sichtbar war, da ohnehin von jedem erwartet wurde, dass er kämpfte. Man hatte Steine hinaufgekarrt und zu Wehrgängen verbaut, die als letzte Verteidigungslinie dienen sollten. Auf einem Dutzend Masten flatterte die Skorpionflagge im böigen Wind. Tausend oder mehr Inselbewohner drängten sich auf den Befestigungen und beobachteten den Verlauf der Seeschlacht. Sie hatten zuerst gejubelt, inzwischen waren sie wieder verstummt. Zwei standen abseits der Menge. Eine war eine hübsche 25
Frau in den besten Jahren. Sie war anmutig und von kräftiger Statur, ohne dabei ihre Weiblichkeit einzubüßen. Das lange, goldblonde Haar war zurückgekämmt, und sie trug die praktische, locker fallende Kleidung einer Kämpferin. Bewaffnet war sie mit einem Schwert und einem passenden Messer mit langer Klinge. Da jederzeit ein Angriff von See her kommen konnte, hatte sie sich außerdem einen Langbogen über die Schulter gelegt und den Köcher umgeschnallt. Ihr Begleiter war höchstens halb so alt wie sie. Das bleiche, jugendliche Gesicht hatte noch nicht ganz die kräftigen Konturen eines Mannes angenommen, und es würde auch noch eine Weile dauern, bis es so weit war. Sein Haar war hellblond, was es seinem spärlichen Bart erheblich schwerer machte, irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Allerdings hatte er durch die ungewohnte körperliche Arbeit eine kräftige Statur bekommen, die sich freilich erst noch festigen musste. Er hielt sich ein magisch verstärktes Fernrohr ans Auge. »Komm schon«, drängte sie. »Du musst doch irgendetwas erkennen können.« »Es ist offensichtlich gut für unsere Seite verlaufen.« »Das war sowieso schon klar. Was ist mit diesem ... mit diesem Geräusch?« Kutch Pirathon reichte ihr das Fernrohr. »Da unten herrscht ein großes Durcheinander. Es kann wer weiß was gewesen sein.« »Nein.« Sie blickte durchs Fernrohr und betrachtete die Szene auf See. »Es war außergewöhnlich, es war unverwechselbar. Und es ... ich weiß nicht, es kam mir irgendwie bekannt vor.« »Vielleicht war es nur der Wind.« »Das glaubst du doch selbst nicht, Kutch.« Sie nickte zur Menge hin, die inzwischen stumm auf den Befestigungen stand. »Die anderen glauben es übrigens auch nicht.« 26 »Also ein magischer Trick der Piraten?« »Es ist schwer einzusehen, was sie mit so einem Trick erreichen wollen.« »Wir haben sie dieses Mal geschlagen. Vielleicht waren sie verzweifelt und ...« »Und was weiter? Und dann haben sie beschlossen, uns etwas vorzusingen?« Kutch gab sich angemessen zerknirscht. Zögernd fragte er: »Geht es vielleicht um etwas ganz anderes?« »Was meinst du?« Jetzt sprudelten die Worte förmlich aus ihm heraus. »Er wird schon zurechtkommen. Reeth kann auf sich aufpassen. Er hat ja reichlich Erfahrung mit Ärger.« Er sah sie schräg von der Seite an und war unsicher, wie sie reagieren würde. Serrah Ardacris musste lächeln. »Du wirst erwachsen, was? Natürlich mache ich mir Sorgen um Reeth. Aber das ist nicht alles. Es gefällt mir nicht, hier festzusitzen, und alles geht schief. Und dann die Überfälle und die Unsicherheit.« Der Bursche nickte energisch. »Aber ich glaube trotzdem, dass das, was wir gehört haben, wichtig war«, bekräftigte sie. »Tja, jetzt hören wir nichts mehr.« Etwas fing seinen Blick ein. Er drehte sich wieder dem Meer zu und zeigte es ihr. »Schau nur.« Darroks fliegende Scheibe kam ihnen entgegen. Aus der Ferne wirkte sie wie ein riesiger schwarzer Vogel, der im Aufwind trieb. Serrah hob das Fernrohr und holte das Bild näher heran. Sie sah Feuer, Wracks und smaragdgrüne Wellen. Dann konzentrierte sie sich auf die Scheibe, die im grellen Sonnenlicht metallisch schimmerte. Sie sah zwei Reiter darauf, einer mit wehendem Haar und einem Umhang, und gab sich keine Mühe, ihre Freude zu verbergen. 27 Auch die Leute auf den Befestigungen bemerkten die Scheibe und begannen wieder zu jubeln. »Lass mich auch mal«, verlangte Kutch. Sie drückte ihm die magisch verstärkte Röhre in die ausgestreckte Hand. Er betrachtete das Schlachtfeld. »Es sieht aus, als hätten wir eine Menge Schaden angerichtet. Es war eine gute Idee, das Drachenblut einzusetzen. Die werden es sich zweimal überlegen, ehe sie uns noch einmal angreifen. Serrah?« Sie hob einen Finger an die Lippen. »Sch-scht!« »Was ist?« »Hör doch.« Alle anderen lauschten schon. Ein Raunen ging durch die Menge, und wieder wurden sie still. Der Wind hatte sich gedreht. Noch einmal hörten sie, was sie schon vorher vernommen hatten, aber dieses Mal war es lauter. Zweifellos handelte es sich um eine menschliche Stimme. Makellos und klar und herzergreifend deutlich. Niemand sprach, und niemand rührte sich, so sehr schlug die Stimme sie in ihren Bann. Schließlich flüsterte Serrah: »Ich bin so dumm. Warum habe ich es nicht gleich erkannt?« Kutch sah sie verständnislos an. »Was denn?« »Erkennst du es nicht?« »Nein.« »Konzentriere dich. Klingt das nicht wie etwas, das du schon einmal gehört hast?«
»Da singt jemand.« »Offensichtlich. Erinnere dich, Kutch. Weißt du noch? Das Konzert in Bhealfa?« Jetzt dämmerte es ihm. »Du meinst doch nicht...« »Ja. Er ist es. Kinsel.« »Ach, hör doch auf.« »Du hast ihn singen gehört. Wie kannst du daran zweifeln?« 28 »Das kann doch nicht sein ...« »Aber wenn er es doch ist?« »Du hast bessere Ohren als ich, Serrah. Aus dieser Entfernung bin ich mir nicht so sicher.« »Vertrau mir, ich habe Recht.« »Aber was macht Kinsel hier? Vorausgesetzt, er ist es wirklich.« »Das weiß ich nicht. Spielt das denn eine Rolle? Er lebt noch, nur darauf kommt es an.« Sie lauschten schweigend und gedankenverloren. Die fliegende Scheibe kam näher und flog so niedrig, dass sie fast die Wellen berührte. »Wir müssen etwas tun«, sagte sie. »Was denn?« »Ihn finden, zum Beispiel. Und genauso wichtig ist es ...« »Ja?« »Wir müssen es Tanalvah sagen.« »Tanalvah?« »Sie hat das Recht, es zu erfahren. Ich weiß, dass es nicht leicht für sie wird, aber wir werden schon einen Weg finden.« »Du vergisst etwas.« Sie drehte sich zu ihm um. »Tanalvah ist mit ziemlicher Sicherheit tot, Serrah.« 29 Die Straßen von Valdarr waren gefährlicher geworden. Vor dem großen Verrat waren die Gesetzeshüter des Imperiums brutal gegen Abweichler vorgegangen, während sie auf das Leben der meisten Bürger, die sich angepasst hatten, kaum Einfluss genommen hatten. Jetzt aber hatten sie die Samthandschuhe ausgezogen und griffen gegen jeden hart durch. Oder vielmehr gegen fast jeden. In den wohlhabenden Vierteln, wo die mächtigen Bürger mit guten Beziehungen lebten, sahen sich die Sicherheitskräfte als Beschützer. In den ärmeren Gegenden neigten sie eher dazu, die Leute zu schikanieren. Notstandsgesetze, Sperrstunden, Razzien und Massenverhaftungen trafen vor allem die Machtlosen und berührten die angesehenen Bürger kaum. Das Ausmerzen des Widerstands und die andauernde Suche der Behörden nach überlebenden Rebellen versetzte die Stadt in Spannung. Es war jedoch ein eigenartiger Bestandteil der Atmosphäre in Valdarr - oder vielleicht der menschlichen Natur ganz allgemein -, dass auch schwierige Zeiten wenig an den Spielen änderten, die die Menschen spielten. Viele reiche Bürger stellten ihren Status zur Schau. Ihre 30 Kleider, ihre Kutschen, ihre schönen Häuser und all die anderen Zutaten spielten dabei eine gewisse Rolle, doch hauptsächlich bewiesen sie ihren Rang durch kostspielige Magie. Sagenhafte Untiere bedienten an ihren Festtafeln, gespenstische Gestalten führten auf den makellos gepflegten Rasenflächen epische Dramen auf, magische Wasserfälle ergossen sich über die prächtigen Fassaden ihrer Villen nach oben und nach unten. Die Armen blieben in ihrem Elend stecken. Wenn sie überhaupt Magie besaßen, dann war es eine sehr gewöhnliche. Vielleicht ein primitiver magischer Spaßmacher, gestohlen oder gefälscht, um ein Kind von seinem Hunger abzulenken. Vielleicht ein magisches Bild als Erinnerungsstück für das mittellose Weib eines Mannes, der von der Wache mitgenommen worden war. Oder, wie an diesem bitterkalten Abend, ein Zauber, der die Gestalt eines Feuers annahm. Die magischen Flammen beleuchteten eine schmutzige Gasse, die zwischen fensterlosen, windschiefen Gebäuden verlief. Sie wirkten durchaus real. Es gab sogar künstliche Funken und das Knacken brennender Scheite, dazu falscher Rauch und der stechende Geruch von brennendem Holz. Doch das Feuer spendete kaum Wärme. Der Zauber war lediglich für Schmuckzwecke gedacht und hielt nicht lange. Dennoch zog er eine Schar von zerlumpten Vagabunden an, die sich über die kleine Wohltat freuten. Sie drängten sich um die Täuschung, streckten zitternde Hände aus und starrten in die Flammen. Eine Frau war unter ihnen, die nicht hierher zu gehören schien. Sie war erst vor kurzem angekommen und hielt sich im Schatten. Sie war besser gekleidet als die anderen. Ihr Haar war pechschwarz und die glatte Haut olivbraun. Die lockere Kleidung konnte die Tatsache nicht verbergen, dass sie hochschwanger war. Sie atmete schwer und sah sich nervös um. Genauso, 31 wie ein gehetztes Tier das nahende Raubtier zu wittern versucht.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Hinter dem Feuer, ein Stück die düstere Gasse hinunter, tauchten mehrere Gestalten auf. Sie schlurften nicht mit gebeugtem Rücken wie die Wanderarbeiter, sie gingen geordnet, und sie hatten ein Ziel. Die Frau zog sich tiefer in die Schatten zurück. Als die Gestalten den Feuerschein erreichten, konnte man sie erkennen, und die Ängste der Frau bestätigten sich. Die auffälligen roten Tuniken ließen keinen Raum für Zweifel. Die Frau schalt sich eine Närrin, weil sie zu glauben gewagt hatte, sie sei den Paladinen entkommen. Ein Aufruhr brach los. Zerlumpte Landstreicher wurden fortgestoßen. Einige der Männer mit den roten Jacken marschierten mitten durch das künstliche Feuer. Die Flammen spuckten, nahmen alle Regenbogenfarben an und erstarben. Jetzt war die aus vier oder fünf Kämpfern bestehende Patrouille deutlich zu sehen. Die Menschen brachten sich eilig vor ihnen in Sicherheit. Die Frau berührte ihre geweihte Perlenkette und murmelte ein rasches Gebet an ihre Göttin. Dann drehte sie sich um und setzte die Flucht fort. Hinter ihr nahm der Tumult sogar noch zu. Sie hörte Rufe und das schleifende Geräusch, mit dem Schwerter aus der Scheide gezogen wurden. Die Gasse, durch die sie eilte, endete an einer Kreuzung. Links und rechts führten schmale, gewundene Straßen weiter. Vor ihr lag eine größere Straße. In jener Richtung konnte sie Menschen erkennen, doch die Menge war nicht groß genug, um sich darin zu verbergen. Sie entschied sich für die rechte Abzweigung. Nach zwanzig Schritten erreichte sie einen Durchgang, der nicht breiter war als ihre ausgestreckten Arme. Die Gebäude zu beiden Seiten waren hoch und der Himmel voller bleierner Wolken. Sie konnte kaum 32 sehen, wohin sie ging. Bald tappte sie durch einen träge fließenden, eiskalten Bach, bei dem es sich dem Geruch nach um Abwasser handeln musste. Trotz der Kälte schwitzte sie. Die Knochen taten ihr weh, und jeder Schritt war eine Tortur. Doch der Lärm hinter ihr, der an eine Verfolgung gemahnte, hielt sie in Bewegung. Sie erreichte eine weitere Kreuzung. Die abzweigende Gasse führte zu einem winzigen, menschenleeren Platz. Sie hielt sich dicht an den Mauern und kam wenig später in einer etwas breiteren Straße heraus. Sie war von ärmlichen Häusern gesäumt, auf einer Seite stand ein verlassener, vernagelter Stall. Niemand war in der Nähe. Sie blieb stehen und lauschte. Abgesehen von den fernen Geräuschen der Stadt war es still. Ohne Orientierung und völlig erschöpft, wollte sie nur noch einen Platz finden, an dem sie sich ausruhen konnte. Sie hoffte, dass ihr niemand gefolgt sei. Alle Türen, die sie sehen konnte, waren geschlossen, die meisten Fenster mit Läden gesichert. Die beste Möglichkeit schien noch eine abzweigende Gasse zu bieten, die ihr direkt gegenüberlag. Dort stand ein Haus an der Ecke, vor dem sie einen niedrigen gemauerten Vorsprung sah. Er war eben und so hoch, dass man gut darauf sitzen konnte, und die Gasse war dunkel. Die Hände ins Kreuz gepresst, humpelte sie hinüber. Seufzend ließ sie sich auf ihrer notdürftigen Sitzgelegenheit nieder. Die Kälte des Steins drang rasch durch ihre Kleidung, und sie schauderte. Sie war unendlich müde und freute sich selbst über diese kleine Ruhepause. Doch wann immer sie auch nur kurz innehielt und über ihre Lage nachdachte, waren die Dämonen wieder da und marterten sie. Ihre Gedanken wanderten wie stets zu den Kindern und zu ihrem Mann, den sie verloren hatte. Sie fragte sich, was aus ihnen geworden sei. Dann dachte sie an das Leben, das sie in sich trug. Es belastete sie, was sie im Na33 men derjenigen getan hatte, die sie liebte. Ihr Gewissen ließ sie nicht mehr in Ruhe, Schuld und Furcht waren ihre ständigen Begleiter. Erschöpft schloss sie die Augen. Eine grobe Hand legte sich auf ihren Mund, ein starker Arm umschlang sie. Sie wollte schreien, bekam jedoch keinen Ton heraus. »Schon gut«, sagte der Mann. »Wehre dich nicht, ich werde dir nichts tun.« Die Stimme kam ihr bekannt vor, auch wenn sie nicht sagen konnte, wem sie gehörte. »Keine Angst«, sagte er noch einmal, um sie zu beruhigen. »Ich werde die Hand wegnehmen. Schrei bitte nicht. In Ordnung, Tan?« Als sie ihren Namen hörte, rauschte das Blut eiskalt durch ihre Adern. Sie nickte steif. Die Hand wurde weggenommen, und ihr Besitzer kam zum Vorschein. Sie hätte beinahe vor Schreck geschnauft. »Denk an mein Kind«, flüsterte sie. »Töte mich nicht.« Er sah sie erschrocken an. »Tan, ich bin es doch, Quinn. Ich würde dir doch nichts tun.« Er weiß es nicht. Sie starrte ihn an. Mit seinen knapp dreißig Jahren war er ungefähr in ihrem Alter und kräftig gebaut. Bis auf einen Schnurrbart war er glatt rasiert. Aus dunklen Augen sah er sie aufmerksam an. »Tan?« Sie blinzelte und sagte nur: »Quinn.« »Alles in Ordnung?« »Ja. Ich war ... ich bin nur überrascht, dich zu sehen.« »Wir suchen dich schon seit Monaten, Frau. Wir hielten dich für tot.« »Nein. Ich ... ich bin nicht tot.« »Offensichtlich.« Quinn Disgleirio lächelte. »Und glücklicherweise. Wo hast du nur gesteckt?«
34 Tanalvah Lahn fragte sich, ob er sich verstellte. Vielleicht wusste er es längst und spielte nur Katz und Maus mit ihr. »Hier und dort«, antwortete sie. »Wo immer ich gerade ...« »Ich verstehe. Es war für uns alle eine schwere Zeit. Was ist mit Teg und Lirrin? Wo sind sie?« »Die Kinder sind in Sicherheit. Bei jemandem, dem ich vertraue.« Er war der Mann, der einst darüber nachgedacht hatte, ihren Geliebten zu ermorden. Wie konnte sie ihm vertrauen? »Gut.« Er sah sich auf der Straße um. Es war niemand in der Nähe. »Wie kommt es überhaupt, dass du in dieser Gegend bist?« »Ich hatte Schwierigkeiten.« Es bereitete ihr Mühe, ihre zitternde Stimme zu beherrschen. »Eine Patrouille.« »Oh, ja.« »Die Paladine.« Disgleirio erschrak. »Da hast du dir aber starke Feinde ausgesucht, Tan.« Besorgt sah er sich wieder um. »Hast du sie abgeschüttelt?« »Ich glaube schon.« Tanalvah wünschte, er werde endlich aufhören, Fragen zu stellen. Sie konterte mit einer Gegenfrage. »Bist du allein hier?« »Ich war mit einigen anderen Mitgliedern der Gerechten Klinge zusammen, aber wir haben Schwierigkeiten bekommen und wurden getrennt. Hör mal, bald ist Sperrstunde. Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Ich nehme doch an, du weißt nicht wohin?« »Nein.« Sie konnte nichts weiter sagen. »Dann wollen wir aufbrechen.« Er hielt noch einmal inne und sah ihr in die Augen. »Noch etwas.« »Was denn?« »Wie bist du nur auf die Idee gekommen, ich wollte dich töten?« Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, und war dankbar für die Unterbrechung. 35 Disgleirio packte unvermittelt ihren Arm und zog sie zur Seite. Tanalvah hätte beinahe aufgeschrien. Dann sah sie, was er bemerkt hatte. Auf der anderen Seite der Straße schritt eine Patrouille der Paladine aus der Gasse, durch die Tanalvah geflohen war. Disgleirio zog sie in den Schatten, doch es war zu spät, die Patrouille hatte sie bereits bemerkt. Sie schwärmten aus und kamen zu ihnen. »Geh weg«, sagte sie. »Lass mich hier.« »Du bist verrückt. Ich helfe dir hier heraus.« Er zog das Schwert und schob sich zwischen sie und die anrückenden Paladine. »Verschwinde. Bring dich in Sicherheit.« Tanalvah wich zurück, wie er es verlangte, doch nach ein paar Schritten blieb sie hinter ihm stehen. Sie konnte nicht einmal sagen, was sie daran hinderte zu fliehen. Der Offizier der Patrouille kam, mit der Klinge in der Hand, an der Spitze seiner Truppe heran. »Identifiziert Euch!«, schnauzte er. »Und werft die Waffe weg!« »Meine Waffe steht nicht zur Disposition«, gab Disgleirio gelassen zurück. »Und ich selbst übrigens auch nicht.« »Ihr schützt eine Verdächtige. Tretet zur Seite.« »Das kann ich nicht tun.« »Wir wollen die qalochische Hure«, fauchte der Mann, »und wir werden sie kriegen.« »Dazu müsst Ihr aber erst an mir vorbei.« Der Offizier verzog wütend das bärtige Gesicht. »Es stehen schwere Strafen auf die Behinderung der Gesetzeshüter. Seid Ihr bereit, sie auf Euch zu nehmen?« Disgleirio zuckte mit den Achseln. »Das werden wir dann ja sehen, oder?« Der Offizier verzichtete auf weitere Worte. Als Disgleirio sein Schwert gehoben hatte, stürzte der Paladin schon auf ihn zu. Ihre Klingen prallten gegeneinander, und das stählerne Geklapper von Schlag und Gegenschlag begann. Zuerst setzten beide Kämpfer alles auf eine Karte, und jeder 36 ließ schon in der ersten halben Minute ein Dutzend potenziell tödliche Schläge los. Der Paladin war ein geschickter Kämpfer, und er wusste es. Sein Umgang mit dem Schwert war beinahe makellos. Doch ihm fehlten Disgleirios Energie und Verzweiflung. Disgleirio blockte einen Hieb ab, parierte und versetzte dem Gegner einen Schnitt in den Oberarm. Ein Blutschwall ergoss sich aus der Wunde, und der Offizier taumelte und ließ sein Schwert fallen. Wut und Empörung verzerrten sein Gesicht. Er wich zurück. Seine Männer hatten auf die Fähigkeiten ihres Offiziers vertraut und sich bisher nicht gerührt. Jetzt griffen sie schlagartig ein. Disgleirio zog sich zurück und hätte beinahe Tanalvah über den Haufen gerannt. Etwas unsanft bugsierte er sie tiefer in die Gasse hinein. Ein anderer Paladin schloss zu ihnen auf und schwang wutentbrannt und heftig das Schwert. Ein hitziger Kampf entbrannte, der umso hektischer wurde, da sich auch der Rest der Streife näherte. Disgleirio verzichtete auf jede Eleganz und prügelte wild auf seinen Gegner ein. Einen Herzschlag lang herrschte ein Patt, dann drang einer seiner Schläge durch und verletzte den Paladin am Hals. Es war eine tödliche Wunde. Der Mann stürzte bewusstlos zu Boden und versperrte seinen Kumpanen den
Weg. Vorübergehend herrschte Verwirrung, und der verletzte Offizier stieß Verwünschungen aus. Disgleirio ergriff die Gelegenheit und packte Tanalvahs Handgelenk. »Nun komm schon!« Sie drehten sich um und rannten die Gasse hinunter. Nach zwanzig oder dreißig Schritten erreichten sie eine Ecke und sahen sich um. Alle vier Angehörigen der Patrouille einschließlich des verletzten Offiziers verfolgten sie, und jetzt waren sie voller Rachsucht. Disgleirio sah Tanalvah an. Es war klar, dass sie den Ver37 folgern nicht weglaufen konnten. Sie bogen um die Ecke und rannten weiter. »Was sollen wir jetzt tun?« Sie war schon außer Atem. Er antwortete nicht. »Rette dich. Ich meine es ernst, Quinn.« »Nein.« Sie erreichten das Ende der Gasse. Ein hohes Eisentor versperrte den Durchgang zur Straße auf der anderen Seite. Disgleirio rüttelte an den Stäben. Das Tor war verriegelt. »Ich kann nicht darüberklettern«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Er nahm wieder ihre Hand und zog sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Sie erreichten eine tief in einem Hauseingang liegende Tür, die er unterwegs bemerkt hatte. Er drückte dagegen, doch auch diese Tür war verschlossen. Die Streife kam um die Ecke gerannt. Er trat heftig gegen die Tür. Sie stöhnte und setzte Staubwolken frei, gab aber nicht nach. Er sah sich über die Schulter zu den rennenden Rotjacken um. Dann packte er auf beiden Seiten den Rahmen und bearbeitete die Tür mit der Hacke. Holz splitterte, und sie flog auf. Er schob Tanalvah hinein. Drinnen war gerade genug Licht, um zu erkennen, dass es ein baufälliges Haus war. Schutt und Trümmer knirschten unter ihren Füßen. Es roch nach Schimmel. Eine Tür ging vom Flur ab, doch der Boden des Raumes dahinter war eingebrochen. Der einzige andere Weg war eine wacklige Treppe. Disgleirio versuchte die Tür zu schließen, doch er hatte sich vorher zu viel Mühe gegeben, sie einzutreten. Sie hing schief in nur noch einem Scharnier. Ein Paladin kam mit gezücktem Schwert herein gerannt. Disgleirio knallte ihm die Tür entgegen. Der Schwertarm des Mannes wurde gegen den Türrahmen gequetscht. Der 38 Mann schrie schmerzvoll auf. Disgleirio hämmerte weiter gegen die Tür, bis die Waffe und der Besitzer am Boden lagen. »Die Treppe!« Tanalvah stieg hinauf, eine Hand auf den geschwollenen Bauch gelegt. Sie bewegte sich langsam und ungeschickt. Draußen war der Teufel los. Die Überreste der Tür bebten. Disgleirio stemmte sich dagegen und versuchte, die Paladine draußen zu halten. Es ging nicht lange gut. Holz splitterte, als die Verfolger die Tür einfach zerfetzten. Disgleirio sprang auf die erste Treppenstufe und stellte sich ihnen. Schulter an Schulter drangen zwei Paladine ein. Er sah ihren Kameraden hinter ihnen in der Gasse knien und sich den gebrochenen Arm halten. Der blutende Anführer brüllte immer noch. Tanalvah hatte das obere Ende der Treppe fast erreicht. Ihre Knöchel waren weiß vor Anstrengung, als sie das unebene Geländer packte. Noch ein paar Schritte, dann hatte sie einen kleinen Absatz erreicht, und dann musste sie um die Ecke und die nächste Treppe hoch. Falls sie überhaupt so weit kam. Disgleirio deckte ihren Rückzug. Der Flur war zu eng, um beiden Paladinen gleichzeitig Raum für einen Angriff zu bieten. Sie ruckten hin und her, bis einer die Führung übernahm, während sein Partner versuchte, übers Geländer zu springen. Disgleirio schlug nach dem Mann und versperrte ihm diesen Zugang, während er sich die Treppe hinauf zurückzog. Der erste Paladin blieb ihm auf Schwertlänge auf den Fersen, der andere ließ vom Geländer ab und folgte ihm. Der Offizier wartete in der zerstörten Tür und trieb seine Männer an. Weitere Gewalttaten lagen in der Luft und ließen nicht lange auf sich warten. Die erste Rotjacke rannte los und griff treppauf mit vorgestrecktem Schwert an. Disgleirio schlug die Waffe zur Seite und entging dem Stich. Ein Dut39 zend grimmiger Schläge folgten. Disgleirio war dank der Höhe im Vorteil und ritzte dem Paladin mit der Schwertspitze das Gesicht auf. Gleich darauf führte er einen wuchtigen Schlag von oben nach unten, der dem Mann den Schädel spaltete. Der Paladin stürzte gegen seinen Kumpan. Beide taumelten zurück und landeten in einem wirren Haufen am Fuß der Treppe. Der Offizier begann wieder zu toben. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Disgleirio die Treppe hoch und holte Tanalvah ein. »Weiter, weiter!«
Sie warf ihm einen schmerzerfüllten Blick zu. Er nahm ihren Arm und schob sie voran. Auf dieser Etage gab es zwei Zimmer, deren Türen offen standen. Sie waren ebenso baufällig wie das untere Zimmer, und die Fenster waren vernagelt. Disgleirio scheuchte Tanalvah zur zweiten Treppe. Der Offizier und der letzte kampffähige Paladin waren ihnen auf den Fersen. Ein grelles blaues Licht zuckte durch die Luft. Disgleirio stieß Tanalvah zur Seite und duckte sich. Direkt über ihren Köpfen begann ein Abschnitt der Wand lichterloh zu brennen. Im Putz erschien ein schmorendes Loch in der Größe einer Faust. Brandgeruch stieg ihnen in die Nase. Als der Offizier erneut den Zauberstab hob, hasteten Disgleirio und Tanalvah zur nächsten Treppe. Wieder zuckte ein kobaltblauer Strahl durchs Treppenhaus. Er schlug eine rauchende Furche in die Wand und ließ ein Stück des Geländers verglühen. Tanalvah kreischte. Disgleirio schob sie um die nächste Ecke. Sie stieg die Stufen empor. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um und sah, dass er noch am Fuß der Treppe war und sich flach an die Wand drückte. Er hielt sich einen Finger vor die Lippen und winkte ihr, weiter hinaufzusteigen. Sie zögerte, dann ging sie weiter, während er den Verfolgern auflauerte. 40 Eine kleine Weile geschah nichts weiter. Dann wurde eine Schwertspitze vorsichtig vorgeschoben. Disgleirio spannte sich. Doch es war nicht der Offizier, der auftauchte. Der noch kampffähige Soldat war vorausgeschickt worden. Es war zu wenig Platz für einen Schwertkampf. Die Männer gingen aufeinander los, packten sich bei den Handgelenken und rangen miteinander. Da der Offizier in der Nähe lauerte und sich wahrscheinlich gleich einschalten würde, musste Disgleirio das Handgemenge schnell beenden. Er brachte einen bösen Kopfstoß an; der Griff des Gegners löste sich, und er taumelte rückwärts gegen die Wand. Disgleirio riss einen Dolch aus dem Gürtel und stach ihn dem Paladin in die Brust. Er wartete nicht, bis der tödlich verletzte Mann gestürzt war. Erleichtert stellte er fest, dass Tanalvah schon das oberste Stockwerk erreicht hatte und nicht mehr zu sehen war. Er folgte ihr eilig die Treppe hinauf. Beinahe hätte er es geschafft. Ein Ruck, als hätte ihn ein Esel getreten, warf ihn von den Beinen. Der Offizier hatte einen weiteren Energiestrahl abgeschossen. Disgleirio hatte Glück, denn der Strahl hatte seine Schwertklinge getroffen, die den größten Teil des Aufpralls abgefangen hatte. Doch die Waffe wurde unerträglich heiß, und er musste sie fallen lassen. Seine Handfläche war verbrannt. Es fühlte sich an, als hätte ein Schwärm brennender Nadeln seinen Arm durchbohrt. Er hielt das Messer fest und rannte die letzten paar Stufen hinauf. Tanalvah kauerte am Boden. Sie starrte seine verbrannte Hand an. »Bei den Göttern, du bist verletzt. Was ist...« »Nicht so schlimm«, log er. »Aber jetzt haben wir nur noch das Messer hier.« »Was sollen wir tun?« Er ließ die Frage unbeantwortet und sah sich um. Die41 ses Stockwerk ähnelte den anderen. Mehrere Räume, einer davon ohne Tür, die Fenster verbarrikadiert. Ein paar billige, beschädigte Möbelstücke standen herum. »Quinn.« Sie deutete zur Decke. Dort gab es eine Falltür, die mit einem einfachen Riegel gesichert war. »Ich glaube aber nicht, dass ...« »Warte mal.« Er sah zur Treppe. Bis jetzt war keine Spur vom letzten Paladin. Dann ging er in ein Zimmer und kam mit einem alten Holzstuhl zurück. »Kommst du damit zurecht?« »Vielleicht.« »Nun ja, wir werden es gleich herausfinden.« Er stellte sich auf den Stuhl, streckte sich, schob den Riegel weg und drückte die Luke auf. Droben war der Abendhimmel zu sehen. Die Sterne kamen gerade heraus. »Kannst du ...« Sie nickte. »Ich versuche es.« Sie nahm seine Hand, um sich abzustützen, und stieg mühsam auf den wackligen Stuhl. Wieder sah er zur Treppe. Dort regte sich nichts. »Setz den Fuß hier drauf«, sagte er. »Auf die Lehne. Keine Sorge, ich halte dich fest. Gut. Jetzt den anderen Fuß.« Es dauerte eine Ewigkeit, bis die schwangere Frau durch die Luke aufs Flachdach geklettert war. Keuchend folgte er ihr und knallte die Falltür zu. Es gab keine Möglichkeit, sie zu sichern. Es war kalt geworden, der Atem stand in Wolken vor ihren Mündern. Auf dem Dach bildete sich bereits Eis. Das Dach wurde von einer niedrigen Mauer begrenzt. Das Gebäude war höher war als die Nachbarhäuser zu beiden Seiten. Die anderen Dächer lagen zu tief, um zu springen, auch hinten war der Abstand zu groß. Nicht weit von der Falltür entfernt stand ein aus Ziegeln gemauerter Schornstein auf dem Flachdach. Tanalvah lehnte sich dagegen, während Disgleirio sich nach einem Fluchtweg umsah. 42 Als er die andere Seite des Dachs überprüfte, schrie sie auf.
Die Falltür hatte sich gehoben, und der Offizier war schon halb heraufgestiegen. Er zielte mit seinem Stab. Disgleirio ging sofort in Deckung und landete der Länge lang schmerzhaft auf dem körnigen Asphalt. Mit einem lauten Knall schlug der Strahl in die Wand, vor der er gerade noch gestanden hatte. Der grelle Lichtblitz ließ Mauerstücke in alle Richtungen fliegen. Er war sofort wieder auf den Beinen und rannte in Deckung. Der Offizier war inzwischen ganz aufs Dach gestiegen, zielte und richtete den Stab auf ihn aus. Disgleirio lief im Zickzack und versuchte, irgendwie zum Schornstein zu kommen. Er sah, dass Tanalvah auf der anderen Seite in Deckung gegangen war und sich eng an die Steine presste. Ein greller blauer Blitz fuhr dicht vor ihm über das Dach. Feurige Bahnen entstanden, und die Oberfläche warf Blasen. Teergestank stieg auf. Disgleirio war noch dreißig Schritt vom Offizier entfernt und sah nur eine Möglichkeit. So gut er es im Laufen konnte, warf er das Messer. Der Offizier duckte sich und entging einem Volltreffer, konnte aber nicht ganz und gar entkommen. Das Messer streifte seinen Handrücken und fügte ihm eine Schnittwunde zu. Vor Schmerz ließ er den Stab fallen, der sich überschlug und wegrollte. Er verzichtete darauf, den Stab zu holen, zog stattdessen sein Schwert und ging mit einem Kampfschrei auf Disgleirio los. Da er außer Fäusten und Füßen keine Waffen hatte, konnte Disgleirio nur auf Abstand bleiben. Diese Strategie war nicht sonderlich aussichtsreich. Der Paladin musste ihn nur irgendwo in die Enge treiben. Disgleirio zog sich vor dem angreifenden Mann zurück, der sich jetzt zusätzlich auch noch mit einem Messer bewaffnet hatte. Es gab nicht viel Platz zum Ausweichen, und bald stand Disgleirio mit dem Rücken zu einer niedrigen Wand. Er sah sich rasch in 43 eine Ecke gedrängt. Der Paladin rückte siegesgewiss weiter gegen ihn vor, und trotz seiner Verletzungen verzog sich sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Na, seid Ihr jetzt bereit zu bezahlen?«, höhnte er. Er kam näher, bis er mit erhobenen Waffen direkt vor Disgleirio stand. »Ihr sollt im Bewusstsein sterben, dass ich mich nach Euch mit der Hure befassen werde«, versprach er und holte mit dem Schwert aus. Der Schlag kam nicht. Stattdessen schlug ein Blitz ein. So schien es jedenfalls. Das Schwert über die rechte Schulter gehoben, hielt der Paladin mit einem verwirrten Gesichtsausdruck mitten in der Bewegung inne. Seine rote Tunika schmorte. Ein Loch, so groß wie ein Krug, erschien auf dem Stoff. Orangefarbene Flammen züngelten aus der Brust. Er ließ die Klinge fallen, schrie und taumelte vorwärts. Disgleirio brachte sich in Sicherheit und konnte den ausgestreckten Armen des Paladins knapp entgehen. Dabei sah er die große Wunde im Rücken des Mannes. Der Geruch von brennendem Fleisch war unverkennbar. Der Offizier schwankte an der Mauer, die Flammen griffen auf seinen Oberkörper über. Dann kippte er und stürzte schreiend in die Gasse darunter. Mit gebrochenen, in unnatürlichen Winkeln abstehenden Gliedern blieb er, immer noch brennend, auf dem Pflaster liegen. Tanalvah stand in der Nähe, sie hielt den Stab mit ausgestrecktem Arm und schien benommen. Disgleirio rief sie, und sie erwachte aus dem Tagtraum und ließ den Stab fallen, als bemerke sie erst jetzt, dass sie ihn überhaupt aufgehoben hatte. »Wie ... wie konntest du das Ding benutzen?«, fragte er erschüttert. »Du weißt doch, wie die Magie ist«, sagte sie. »Das Begehren löst sie aus.« Ihre Worte kamen wie aus weiter Ferne. »Mehr braucht es nicht.« 44 Disgleirio atmete tief durch und nahm sich zusammen. Er blickte in die Gasse hinunter. Der Paladin, dem er den Arm gebrochen hatte, war nirgends zu sehen. »Es wird bald Alarm geben«, sagte er. »Wir müssen hier verschwinden.« »Ja.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen. »Und vielen Dank, Tan.« Sie nickte nur. Wie sie es sah, hatte sie die Waagschalen der Erlösung höchstens um das Gewicht einer Feder zu ihren Gunsten ausgeglichen. 45 Wie weit ist es noch?«, fragte Tanalvah. »Nicht mehr weit«, sagte Disgleirio. »Verlassen wir die Stadt?« »Nicht ganz. Wir fahren nur bis zum Stadtrand.« Er schien nicht bereit, weitere Erklärungen zu geben. Wahrscheinlich ging er von der Regel aus, dass sie, falls etwas schief ging, auch unter Folter nicht mehr als das verraten konnte, was sie wusste. Sie saßen nebeneinander in einem kleinen Einspänner. Da Tanalvah kaum gehen oder reiten konnte, hatte Disgleirio den Wagen gestohlen, sobald sie den Paladinen entkommen waren. Die Schatten wurden länger, die Sperrstunde war nahe. Er fuhr so schnell, wie er es eben wagte. Das Zentrum Valdarrs lag hinter ihnen, und sie erreichten die Vororte der Stadt. Auch hier sah man überall die Spuren der beiden Reiche, die nacheinander Bhealfa besetzt hatten. Rintarah und Gath Tampoor hatten die Insel jeweils über mehrere Generationen hinweg unterworfen, und ihr am deutlichsten sichtbares Vermächtnis war das
Gemisch der Architektur. Wie es Eroberer eben halten, hatten die Reiche Monumente errichtet, die an ihre Siege und natürlich auch daran erinnerten, wer das Sagen hatte. Und wie es den Reichen entsprach, waren viele dieser Bauwer46 ke überladene Demonstrationen imperialer Macht, vor denen die bescheidenen Gebäude der Einheimischen zwergenhaft verblassten. Wann immer ein Reich das andere verdrängt hatte, waren die Gebäude der Verlierer abgerissen worden, um Platz für neue Konstruktionen zu schaffen, oder man hatte sie angepasst, wie es den Wünschen der neuen Herrscher entsprach. Es war ein Kreislauf, der sich wiederholt hatte, so weit man sich zurückerinnern konnte. Die Invasionen, Kriege und auch der jüngste Bürgerkrieg hatten ihre Spuren hinterlassen. Brandstiftung war in der letzten Zeit populär geworden, und die Nebenwirkungen der magischen Waffen trugen nicht dazu bei, die allgemeine Unordnung zu beheben. Wo die Behörden Widerstandsnester vermuteten, was namentlich für ärmere Bezirke galt, wurden ganze Wohnviertel dem Erdboden gleichgemacht. All dies erschwerte die Orientierung in der Stadt. Aber ob wohlhabend oder verarmt, allen Stadtteilen war eines gemein: Überall wurde Magie im Überfluss eingesetzt. Jetzt, da es dunkelte, kamen die Ausdrucksformen der Magie stärker und besonders spektakulär zum Vorschein. Viel heller als normale Lampen und Kerzen flackerten in der ganzen Stadt unzählige helle Punkte. Es gab grelle Lichter und bunte Kaskaden, es blinkte und funkelte, und gelegentlich kam es zu Ausbrüchen, die an Blitzschläge erinnerten. Die Zahl der magischen Entladungen war überall weitgehend gleich, die Qualität jedoch schwankte beträchtlich. Man konnte den Wohlstand eines Bezirks leicht an der Stärke oder Schwäche der magischen Schauspiele erkennen, und als Disgleirio und Tanalvah auf einen Hügel kamen, wurden sie Zeuge eines besonders bemerkenswerten Beispiels. Vor ihnen lagen zwei direkt benachbarte Bezirke, einer wohlhabend und einer verarmt. Die Magie des Ersteren schimmerte rein und hell, in Letzterem waren nur schwache Funken billiger und gefälschter Zauber zu sehen. 47 Disgleirio wählte die Straße, die zum weniger glücklichen Bezirk führte. Sie waren mehr oder weniger schweigend gefahren, was Tanalvah durchaus gelegen kam. Es gab Themen, über die sie lieber nicht reden wollte, und Fallgruben, in die sie nicht zu tappen hoffte. Jetzt aber beschloss Disgleirio, dass er lieber reden wollte, auch wenn er ganz unschuldig begann. »Wie geht es dir?«, sagte er. »Alles in Ordnung.« »Ist dir die Fahrt nicht zu ruckelig?« »Nein.« »Ich dachte, weil du ...« »Quinn, ich erwarte ein Kind, aber ich bin nicht krank.« Er grinste. »Natürlich.« Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte er: »Was hast du eigentlich in den letzten Monaten gemacht, Tan?« Es war eine Frage, die ihr nicht behagte. »Ich bin herumgezogen und habe versucht, die Kinder in Sicherheit zu bringen.« »Wovon hast du gelebt?« »Es ging irgendwie. Eine Weile habe ich nicht lizenzierte Zauber verkauft. In einer Schänke bedient, Kräuter für einen Heiler gemahlen, Böden geschrubbt. In der letzten Zeit ist es natürlich etwas schwieriger geworden. Hin und wieder haben mir auch Leute geholfen.« Ein Teil davon entsprach sogar der Wahrheit. »Hast du nicht versucht, uns zu finden?« »Wie denn? Aus Angst vor Spionen habe ich nicht gewagt, mich den Häusern des Widerstands zu nähern. Außerdem habt ihr sie inzwischen sowieso geräumt.« »Ja, das kann ich verstehen. Aber wie gesagt, wir haben dich gesucht.« »Valdarr ist eine große Stadt.« »Ich meine ... ich wollte dir nur sagen, dass wir dich nicht abgeschrieben haben.« 48 Es war schwer, danach noch etwas zu sagen. »Ich ... ich habe versucht, mich unsichtbar zu machen.« »Bis heute Abend.« »Meine Glückssträhne ist wohl vorbei.« Vielleicht stimmt das sogar, dachte sie. »Warum waren sie eigentlich hinter dir her? Die Paladine, meine ich?« »Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt einen Grund brauchen.« »Das stimmt.« Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Tan ... was Kinsel angeht...« Ihr Herz stockte für einen Moment, und ihre Knöchel liefen weiß an, so fest packte sie das Geländer der Sitzbank. »Es ist...«, stotterte er. »Es ist nur ... ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber ...« »Ich habe es gehört.« Er dachte nicht einmal daran, sie zu fragen, von wem sie es gehört hatte. »Es tut mir so Leid, Tan.«
»Nein, nicht. Wir wissen noch nicht, ob er wirklich ... verloren ist. Wir können nicht sicher sein. Offiziell gilt er einfach als vermisst.« Eiskalt durchfuhr es sie. »Es sei denn, du weißt mehr?« »Nein. Mehr als das haben wir auch nicht gehört. Du hast Recht, solange es noch eine Möglichkeit gibt, können wir noch hoffen.« Beinahe hätte Tanalvah ihm vorgehalten, dass er sich für Kinsels Ermordung eingesetzt hatte. Andererseits war sie kaum in der Position, jemandem Vorwürfe zu machen. Die Häuser, an denen sie jetzt vorbeikamen, standen in größeren Abständen, und die Straßen waren uneben und hatten Schlaglöcher. Zwischen den Gebäuden wuchsen Pflanzen. Hier draußen verlor sich das städtische Gepräge allmählich. Sie fuhren nach Osten. Die niedrige Bergkette, die Val49 darr auf dieser Seite begrenzte, ragte vor ihnen auf. In der frischen, mondlosen Nacht war sie schwarz wie die Seele eines Paladins. Es war kalt, es würde bald schneien. Sie zog den Mantel enger um sich. Disgleirio sah sie an. »Wir haben uns immer noch nicht richtig erholt. Von dem Verrat, meine ich.« Es klang wie ein Geständnis. »Es hat uns fast umgebracht, Tan.« Sie hatte gefürchtet, dass er früher oder später die Katastrophe zur Sprache bringen würde. Es war unvermeidlich. Sie konnte nur nicken. »Wir haben ... ich weiß nicht, wie viele wir verloren haben«, fuhr er fort. »Darunter sind auch ein paar, die du kennen müsstest.« Sie hatte Angst, er könne sich fragen, warum sie sich nicht schon von selbst danach erkundigt hatte. »Ich ... ich versuche, möglichst nicht darüber nachzudenken«, gab sie wahrheitsgemäß zurück. »Das kann ich gut verstehen.« »Was ist mit Serrah und Caldason? Und Kutch? Habt ihr etwas von ihnen gehört?« »Nach allem, was wir wissen, sind sie auf der Diamantinsel. Wir wissen nicht, wie es ihnen geht, aber wenigstens sind sie entkommen.« »Das ist gut. Oh, und was ist mit Phönix?« »Er konnte auch zur Diamantinsel fliehen. Jedenfalls glauben wir das. Die Überreste des Bundes haben ein paar Wochen nach dem Verrat wieder Verbindung mit uns aufgenommen.« Tanalvah hätte die nächste Frage nicht stellen sollen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste es einfach wissen. »Hat jemand eine Ahnung, wer ...« »Wer uns verkauft hat? Es gibt viele Theorien, aber keine echten Beweise. Möglicherweise war es auch keine einzelne Person. Vielleicht haben wir eine unzufriedene Fraktion in unseren Reihen. Gut möglich, dass wir es nie heraus50 finden. Aber ob einer oder hundert, die Mentalität eines Verräters kann ich einfach nicht verstehen.« »Vielleicht sah sich der Betreffende auch ... gezwungen Zu reden.« »Denkst du an Folter?« »Ja.« Es war wirklich eine Art Folter, überlegte sie. »Ich will ja keine unangenehmen Erinnerungen heraufbeschwören, Tan, aber Kinsel wurde gefoltert, und er ist nicht zerbrochen.« Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Das muss man ihm wirklich zugute halten. Aber wie ich schon sagte, wir werden vermutlich niemals erfahren, was geschehen ist.« »Sehen die anderen es genauso? Dass wir es nie erfahren werden? Finden sie sich einfach damit ab?« Kaum dass sie es gesagt hatte, wurde ihr bewusst, wie dumm die aus Verzweiflung geborene Frage eigentlich war. »Mit so etwas kann man sich nicht einfach abfinden, Tan.« »Ich weiß. Das war dumm. Entschuldige.« »Du musst dich nicht entschuldigen. Wir würden es alle gern vergessen, wenn wir könnten. Doch die Aussicht, dass wir vielleicht niemals erfahren werden, wer uns verraten hat, kann unserem Wunsch, es doch noch herauszufinden, keinen Abbruch tun. Es gibt kein Mitglied des Widerstands, das dem Schweinehund nicht liebend gern die Kehle durchschneiden würde, falls sich die Gelegenheit dazu ergäbe.« Das Gespräch wurde ihr entschieden zu ungemütlich. Sie versuchte, das Thema zu wechseln. »Ich habe mich noch gar nicht nach Karr erkundigt. Wie geht es ihm?« »Als es passiert ist, war er dem Tode verdammt nahe. Das Herz. Er ist durchgekommen, aber seine Gesundheit hat sehr gelitten. Da Karr aber nun einmal ist, wie er ist, hat er sich nicht darauf eingelassen, es etwas gemächlicher anzugehen. In diesem Fall glaube ich sogar, dass er 51 Recht hat. Wir arbeiten wie verrückt, nur um am Leben zu bleiben.« Sie wandte den Blick ab. Ihre Augen brannten. Die Schuld fühlte sich so an, als werde ihr ein heißes Messer im Bauch herumgedreht. »Wir sind fast da«, sagte er. »Bald kannst du dich ausruhen.« Wenn ich nur Ruhe finden könnte. Sie riss sich zusammen und tupfte ihre Augen mit einem Tuch ab. Er starrte sie an. »In der kalten Luft tränen mir die Augen«, erklärte sie lahm. »Gewiss«, sagte er und sah weg.
Endlich schien Tanalvah die Umgebung wahrzunehmen. Sie waren jetzt in einer beinahe ländlichen Gegend. Hier standen die Gebäude in weiten Abständen voneinander, und man sah Scheunen und kleine Höfe. Noch ein Stück weiter, und sie hatten auch die letzten Ausläufer der Stadt hinter sich gelassen. »Quinn«, sagte sie, »wohin fahren wir nun eigentlich? Das Einzige, das ich hier kenne ...« »Das Feld des Schlafs. Genau, Tan.« Sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. War es am Ende doch nur ein raffinierter Plan? Eine List, um sie an einen Ort zu locken, an dem ihr eine entsetzliche Vergeltung drohte? Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Kein Grund, so grimmig dreinzuschauen. Ich weiß, dass es nicht unbedingt ein Ort ist, an dem sich viele Leute gern aufhalten, aber es ist ganz in Ordnung dort, glaube mir.« Ein paar Minuten später sahen sie ihr Ziel. Das Feld des Schlafs war Valdarrs älteste und größte Totenstadt. Sie hatte in bescheidener Form bereits existiert, als die Stadt gegründet worden war. Im Lauf der Jahrhunderte war sie gewachsen, und die Monumente und Grabmale waren prächtiger geworden. Bhealfas führende 52 Familien unterhielten hier große Mausoleen für ihre Dynastien. Den weniger Angesehenen und den Armen blieben die Massengräber vorbehalten, die sich über viele Hektar erstreckten. Der Friedhof war inzwischen voll belegt und aus der Mode gekommen; er wurde kaum noch benutzt. Eine hohe Mauer umgab das Gräberfeld, wurde jedoch von den geschmückten Turmspitzen vieler prunkvoller Monumente überragt. Auch die ausgewachsenen Bäume erhoben sich höher als die Mauer. Die kahlen Äste zitterten im böigen Wind. »Es wäre zu gefährlich, den ganzen Weg mit dem Wagen zu fahren«, erklärte Disgleirio. »Wir müssen ihn aufgeben und das letzte Stück laufen. Schaffst du das?« »Es wird schon gehen.« Er lenkte den Einspänner auf ein freies Stück Land, auf dem ein einziges, dunkles Haus stand. Nachdem er Tanalvah heruntergeholfen hatte, ging er nach vorn zum Pferd und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Keine Sorge«, sagte er, weil er annahm, ihr sei am Wohlergehen des Tiers gelegen. »Ich sorge dafür, dass man sich um ihn kümmert.« Dann brachen sie auf. Die Sperrstunde war bereits in Kraft, und die Straßen waren verlassen, doch Disgleirio war deshalb nicht weniger wachsam. Ihr kurzer Gang, wobei sie sich möglichst im Schatten hielten, verlief jedoch ohne Störung, und bald hatten sie das mächtige Eisentor des Friedhofs erreicht. Ein beeindruckender Eingang erforderte ein beeindruckendes Schloss, und das Tor des Friedhofs bildete keine Ausnahme. Der Riegel war breiter als eine Männerhand. »Es gibt einen Alarmzauber«, sagte Disgleirio und wühlte in der Tasche herum. Er zog einen Schlüssel in der Länge eines kleinen Dolchs heraus. Das Tor quietschte schrill, als er es gerade weit genug 53 öffnete, damit sie sich durchquetschen konnten. Dahinter zündete er eine magische Leuchtkugel an, um den Weg zu beleuchten. Auf dem Friedhof herrschte wortwörtlich eine Totenstille. Sie liefen den Hauptweg entlang, einen breiten Boulevard voller gespenstischer Grabstätten. Am hinteren Ende des Weges stand düster und brütend ein beeindruckender, inzwischen allerdings verfallener Tempel. Ein gutes Stück davor führte Disgleirio sie um eine Ecke und einen viel schmaleren Gang hinunter. Dieser Weg war nicht gepflegt; auf beiden Seiten standen schiefe Grabsteine inmitten ungezügelt wuchernder Pflanzen. Es blieb kaum noch genug Platz, um nebeneinander zu gehen. »Vergiss mich nicht!«, grollte eine Stimme. Tanalvah kreischte und hielt sich an Disgleirios Arm fest. »Ruhig, Tan.« Er nahm ihre Hand. »Du brauchst keine Angst zu haben. Das sind lebendige Mahnmale. Schau nur!« Mehrere Grabsteine in der Nähe hatten sich aktiviert und projizierten gespenstische Ebenbilder von den Besitzern der Gräber. Derjenige, der gesprochen hatte, war ein uralter Mann mit kahlem Kopf und einer Haut wie vergilbtes Pergament. »Wenn jemand vorbeikommt, werden sie angeregt«, fuhr Disgleirio fort. »Entschuldige, ich hätte dich warnen sollen.« Sie löste sich von ihm und kam sich dumm vor. »Wie albern von mir«, sagte sie. Sie gingen weiter. Alle paar Schritte lösten sie ein magisches Mahnmal aus und beschworen bewegte Bilder der Toten herauf. Männer, Frauen, alte und junge Menschen, offensichtlich leidend oder scheinbar kerngesund, lächelnd oder finster blickend. Doch nicht alle Gräber wurden aktiviert. »Sie funktionieren natürlich nur, wenn die Angehörigen die Magie wieder aufladen«, erzählte Disgleirio unbefangen. »Mit der Zeit verbraucht sich die Energie.« Viele Zauber der Verstorbenen meldeten sich zu Wort. Sie entboten Grüße und gaben weise Sprüche oder
düstere Warnungen von sich. Manche erzählten die Geschichte ihres Lebens oder rezitierten Gedichte. Andere murmelten Gebete oder formulierten Prophezeiungen. Die Stimmen waren flehend, fröhlich, einschüchternd oder unbeschwert. Ein paar sangen auch oder spielten Musikinstrumente. Tanalvah hasste den Friedhof. Sie musste unablässig daran denken, welche Botschaften wohl die Menschen hinterlassen würden, die sie ins Grab geschickt hatte. Als sie um eine neuerliche Ecke bogen und einen stilleren Bereich betraten, war sie sehr erleichtert. Sie gingen weiter und stießen nur noch hin und wieder auf geschwätzige Grüften. Vor ihnen lag eine dichte Baumgruppe, auf die sie nun zuhielten. »Gleich kommt etwas, vor dem ich dich warnen muss«, sagte Disgleirio. »Wir haben Wächter.« »Sind sie gefährlich?« »Sie sehen gefährlich aus, aber sie sind keine erstklassige Magie. Sie dienen vor allem der Abschreckung. Wenn unsere Feinde wüssten, wie schwach unsere Verteidigung im Grunde ist...« Ein gedehntes, langes Heulen war zu hören. Tanalvahs Nackenhaare sträubten sich. »Ah«, sagte er, »da sind sie schon.« Ein Wesen lief ihnen aus der Baumgruppe entgegen. Aus der Ferne sah es grau aus. Drei weitere, schlank und schnell, gesellten sich zu ihm. Als sie näher heran waren, konnte man sie besser erkennen. Sie hatten mächtige Reißzähne und rasiermesserscharfe Krallen. Der seidige Pelz war rein weiß, und die Augen glühten rosa. Tanalvah fragte sich, warum man Albinowölfe genom55 men hatte. Wahrscheinlich hatte der Widerstand einfach nichts Besseres bezahlen können. Die Wölfe schlichen näher, bildeten einen Halbkreis und taten so, als wollten sie gleich angreifen. Das Knurren und schnüffeln klang recht überzeugend. Disgleirio schnippte nacheinander vor allen Erscheinungen mit den Fingern. Die Wölfe zerfielen zu schwach leuchtendem grünem Dunst, der ein wenig nach Schwefel roch. »Die nächste Verteidigungslinie ist menschlich«, versprach er, »und es ist auch die Letzte. Komm, es ist nicht mehr weit.« Er schritt auf die Bäume zu. Sie musste sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dann betraten sie ein Wäldchen. Die Bäume standen dicht, einen Weg gab es nicht. Hier und dort war das Laub zu beachtlichen Haufen aufgetürmt. Doch Disgleirio wusste genau, wohin er sich wenden musste. »Der Wald erstreckt sich bis zu den Vorbergen«, sagte er. »Und dorthin gehen wir?« »Ja. Wir sind fast da. Kommst du zurecht? Macht dir das Laufen keine Mühe?« »Ich sage es schon, wenn ich Hilfe brauche.« Zwei Bewaffnete tauchten vor ihnen aus dem Unterholz auf. Sie waren schwarz gekleidet und verstellten ihnen mit ernster Miene den Weg. Als sie Disgleirio erkannten, ließen sie die Waffen sinken. Sie sprachen kein Wort, sondern nickten nur und beäugten Tanalvah, die keinen der beiden erkannte. Disgleirio informierte sie über den aufgegebenen Einspänner und befahl den Männern, sich darum zu kümmern. Die Wächter nickten noch einmal und machten ihnen wortlos Platz. Es ging so schnell und reibungslos, dass es Tanalvah wie ein Traum vorkam. Doch sie war mit anderen Dingen beschäftigt, und ihre Befürchtungen wurden mit jedem Schritt stärker. 55 Bald darauf erreichten sie eine Felswand, die von Ranken und Schlingpflanzen überwuchert war. Zwei weitere Wächter tauchten auf, erkannten Disgleirio und begrüßten ihn. Einen Augenblick später hatten sie die Klippe erreicht und schoben einen geschickt mit den Büschen verflochtenen Vorhang beiseite. Dahinter lag der Eingang einer Höhle. Disgleirio produzierte eine weitere magische Kugel und gab sie ihr. Mit einem Knacken flammte sie auf. Als sie die Höhle betraten, sagte er: »Dies hier ist der älteste Teil des Friedhofs. Die Katakomben. Niemand kommt mehr hierher. Die Höhlen sind auf natürliche Weise entstanden, wurden aber in der Vergangenheit stark erweitert. Hier haben unsere primitiven Ahnen zuerst ihre Toten beerdigt.« Er blieb stehen und sah sie an. »Ich hätte vorher fragen sollen. Es macht dir doch nichts aus, eine Höhle zu betreten?« »Ich komme schon damit zurecht, Quinn.« Sie war viel eher wegen der Menschen besorgt, die sie verraten hatte. Doch es war jetzt ohnehin zu spät. »Gut. Ich glaube, Serrah hätte damit Schwierigkeiten gehabt.« »Was?« Sie sah ihn an. »Serrah. Sie mochte keine ...« »Oh, ja. Sicher. Ich glaube, das hätte ihr nicht gefallen.« Sie gingen weiter. Disgleirio erzählte ihr von der Umgebung, während sie tiefer in die Höhle eindrangen. »Das war nur einer von mehreren Eingängen.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »So ist es leichter, im Notfall zu fliehen. Die Gänge selbst sind ebenfalls eine gute Verteidigung. Man kann sich leicht verlaufen, wenn man sich nicht auskennt, und es gibt auch überflutete Kammern.« Sie bogen öfter ab, als Tanalvah zählen konnte. Der abschüssige Tunnel, dem sie folgten, war mehr als kopfhoch
57 und unbeleuchtet. Boden und Wände waren glatt geschliffen vom Wasser, das eine Ewigkeit lang durch diese Gänge geflossen war. Es roch ein wenig muffig und nach Erde, was sie unangenehm fand. Schließlich wurde das Gehen leichter. Die Tunnel waren jetzt mit magischen Leuchtkugeln und Fackeln an den Wänden ausgestattet. Als Tanalvah und Disgleirio tiefer ins Tunnelsystem eindrangen, änderte sich auch die Natur ihrer Umgebung. Die gleichförmigen Erdtöne wichen einem Farbenspiel, mit dem man an diesem Ort nicht gerechnet hätte. Gelbe, rote, purpurne und grüne Adern durchzogen den Fels. Sie kamen durch weite und schmale Gänge, sie betraten und verließen Höhlen, von denen manche riesig waren und gespenstische Felsformationen beherbergten. Sie wanderten durch Wälder von Stalagmiten und Stalaktiten. Tanalvah konnte keine Spuren der Toten entdecken, die vor langer Zeit hier bestattet worden waren. Disgleirio versicherte ihr jedoch, dass es sehr viele waren. Bald hörten sie in der Ferne menschliche Geräusche und hallende Stimmen. An einer Tunnelkreuzung sah Tanalvah einige Leute am Ende der Seitengänge. Männer und Frauen waren mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt, überbrachten Botschaften und trugen Fässer und Kisten. Es herrschte ein geschäftiges Treiben. Endlich erreichten sie den Eingang eines gewaltigen unterirdischen Saals, dessen Decke so hoch war, dass sie im Schatten verborgen blieb. Eine Reihe von Gängen zweigte von der Höhle ab, und Dutzende Menschen eilten eifrig hin und her. Sie stapelten Berge von Vorräten auf oder polierten die Klingen in gut gefüllten Regalen. An einigen Dutzend Bänken wurden Waffen hergestellt und Kleider genäht. Kinder liefen mit Wassereimern umher, Hunde und Schweine rannten frei herum. Kohlenpfannen und Fackeln waren überall verteilt. Im Zentrum der Höhle 58 brannte in einer natürlichen Grube ein großes Feuer. Die Luft roch stechend nach dem Rauch von frischem Holz. Der Duft von bratendem Fleisch mischte sich in den Brandgeruch. »Du siehst nicht gerade glücklich aus, Tan«, sagte Disgleirio, als sie die Höhle betraten. »Was ist denn los?« »Tatsächlich? Nun, ich glaube, es war ein ziemlicher Schock für mich, dich zu treffen und hierher gebracht zu werden.« »Hier bist du sicher. Man wird sich um dich kümmern, und wenn du dir wegen Teg und Lirrin Sorgen machst, dann kann ich dich beruhigen. Wir werden uns auch um sie kümmern. Du bist wieder unter Freunden, Tan.« »Freunde«, wiederholte sie leise. »Ja. Freunde, die sich sehr freuen werden, dich zu sehen.« Sie schwieg. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er lächelnd. Er entfernte sich und ließ sie am Rande des Treibens stehen. Tanalvah spürte, wie alle sie anstarrten. Einige taktvoll, andere mit offener Neugierde. Ein oder zwei Gesichter kamen ihr bekannt vor, die meisten waren ihr fremd. Sie fragte sich, wie viele von ihnen Angehörige verloren hatten. Es war schwer, das Gefühl abzuschütteln, dass diese Menschen wussten, was sie getan hatte. Dass die Leute ihr irgendwie in die Seele schauen und ihr böses Geheimnis erkennen konnten. Sie atmete schwer. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, um den forschenden Blicken zu entgehen. »Tanalvah!« Disgleirio kam zurück, doch es war nicht er, der sie gerufen hatte. Ein älterer Mann begleitete ihn. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn zu erkennen. Hinter den beiden 59 ging eine Frau in den besten Jahren, die Tanalvah sofort erkannte. »Tanalvah«, wiederholte der alte Mann und näherte sich ihr mit ausgebreiteten Armen. »Patrizier«, flüsterte sie. »Heute einfach nur noch Karr«, entgegnete er und umarmte sie. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Quinn Euch gefunden hat, meine Liebe. Wir dachten schon, wir würden Euch niemals wieder sehen.« »Das dachte ich auch.« Sie hatte Mühe, nicht stocksteif dazustehen, als er sie in die Arme nahm. Sie war schockiert. Er war dünner und abgehärmt, und die wenigen Haare auf seinem Kopf waren noch weißer geworden, wenn das überhaupt möglich war. Bei ihrer letzten Begegnung war er ein distinguierter, lebhafter Politiker gewesen. Jetzt war Dulian Karr nur mehr ein Schatten seiner selbst. Die Krankheit hatte einen schweren Tribut gefordert. Tanalvah korrigierte sich. Sie selbst hatte diesen Tribut gefordert. »Macht mal Platz für mich.« Die Frau, die den Männern gefolgt war, drängte sich nach vorn, und auch sie umarmte Tanalvah und pflanzte ihr einen Kuss auf die Wange. Für Karrs engste Mitarbeiterin war dies eine ungewöhnliche Demonstration von Zuneigung. »Goyter«, sagte Tanalvah. »Es ist schön, Euch zu sehen.« »Und ich freue mich auch, Euch zu sehen, Tan.« Die Frau hatte sich kaum verändert. Goyter war für ihr Alter immer noch sehr ansehnlich, und ihr Gesicht blieb auch dann sachlich, wenn sie lächelte. Sie trug das Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Es war leicht ergraut, seit Tanalvah sie das letzte Mal gesehen hatte, und vielleicht hatte sie ein paar Sorgenfalten mehr auf der Stirn, aber
sonst war sie ganz die Alte. »Wir haben Euch so viel zu erzählen«, fuhr Goyter fort. »Und Ihr müsst ja auch eine Menge erlebt haben.« 60 »Ihr würdet es nicht glauben.« »Seht Euch nur an!«, rief Goyter und trat einen Schritt zurück, um Tans Bauch zu bewundern. »Es muss bald so weit sein.« »Es dauert nicht mehr lange.« »Ich hoffe, es geht Euch gut, Tan?«, wollte Karr wissen. »Keine Probleme mit der Schwangerschaft? Und die Kinder? Sind sie wohlauf und in Sicherheit?« »Ja, alles in Ordnung.« Er machte eine ausholende Bewegung. »Nun, was sagt Ihr dazu? Der Vereinigte Revolutionsrat oder das, was davon übrig ist, tagt jetzt in einer Höhle. Ein passendes Symbol für die Verfassung, in der sich der Widerstand heute befindet.« »Es ist... sehr ungewöhnlich.« »Es ist nicht viel, aber es ist unsere Heimat. Und ein Friedhof scheint ein passender Ort, um eine Auferstehung in Szene zu setzen.« »Eine Auferstehung?« »Das Mädchen will das doch gar nicht hören«, unterbrach Goyter. »Könnt Ihr nicht sehen, dass sie Ruhe braucht?« Karr schien erschüttert. »Verzeiht mir, Tan. Wir haben uns viel zu erzählen, aber das kann warten.« Lächelnd nahm er ihren Arm. »Kommt, wir haben ein Bett für Euch.« Disgleirio hatte sich während des Wortwechsels zurückgehalten. Jetzt sah Goyter ihn an. »Quinn, was ist mit Eurer Hand?« »Oh, nichts weiter.« Der schmutzige Verband, den er sich eilig angelegt hatte, wölbte sich, und darunter wuchsen böse Brandblasen. »Ich wäre nicht hier, wenn Tanalvah nicht gewesen wäre.« »Wirklich?«, fragte Karr. »Sie war sehr tapfer, Dulian. Sie hat mir das Leben gerettet.« 61 »Das ist ganz unsere Tan«, verkündete Goyter bewundernd. Lächelnd sahen sie alle an. Die Tränen strömten über Tanalvahs Wangen. Ihre Schultern bebten. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Das ist ganz natürlich-«, tröstete Goyter sie. »Ihr habt so viel durchgemacht und seid sicher völlig am Ende. Aber das ist jetzt vorbei. Ihr seid wieder daheim bei Eurer Familie.« Tanalvah weinte haltlos. Droben überzuckerten die ersten Schneeflocken die gefrorene Erde. 62 Es fing an zu schneien. »Wir hätten Pferde mitnehmen sollen«, knurrte Caldason. »Wir sind fast da. Außerdem willst du doch in Form bleiben, oder?« »Ich kann mir angenehmere Arten vorstellen, dies zu erreichen.« Serrah Ardacris lächelte. »Konzentriere dich lieber auf die Aufgabe, die vor dir liegt, Reeth. Und wechsele nicht dauernd das Thema. Wir haben über Kinsel geredet. Was wollen wir nun tun?« »Du hast über Kinsel geredet. Ich bin nicht überzeugt.« »Er ist irgendwo da draußen, Reeth.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Ich habe Kinsel singen gehört, du nicht. So etwas vergisst man nicht. Glaube mir, er war es.« »Du musst doch zugeben, dass das ziemlich abwegig klingt.« »Was ist so abwegig daran? Kinsels Galeere wurde als vermisst gemeldet. Warum sollen nicht Piraten dafür verantwortlich gewesen sein?« »Das war aber weit weg von hier.« »Na und? Dazu sind Schiffe doch da, oder? Sie werden 63 gebaut, damit die Menschen von einem Ort zu einem anderen reisen können.« »Aber warum sollte er singen?« »Hast du heute einen besonders beschränkten Tag? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat jemand ihn gezwungen. Oder er wollte sich damit bemerkbar machen. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, was wir jetzt damit anfangen.« Er grinste. »Du glaubst wirklich, dass er es war, oder?« »Ja! Das sage ich doch die ganze Zeit, verdammt. Hör mal, Reeth, wenn auch nur eine winzige Möglichkeit besteht, dass ich Recht habe, dann müssen wir etwas unternehmen. Das sind wir ihm schuldig.« »Ja, natürlich. Ich werde mit Darrok und mit dem Rat darüber reden.« »Wir brauchen einen Plan.«
»Wir werden uns etwas überlegen.« Sie nahm seine Hand. »Danke, Liebster.« Zwielicht herrschte, und der Wind war schneidend kalt. Der Himmel war bleiern und versprach viel Schnee. Sie waren im Innern der Diamantinsel. Der Weg, auf dem sie liefen, war in schlechtem Zustand, wie die meisten Wege der heruntergekommenen einstigen Ferieninsel. Einige Gebäude, an denen sie vorbeikamen, waren nach Jahren der Vernachlässigung verfallen. Andere waren intakt und konnten genutzt werden, doch da die meisten als Ferienunterkünfte gedient hatten, waren sie für die Verteidigung der Insel nicht eben brauchbar. Serrah und Caldason hatten sie so oft gesehen, dass sie kaum noch darauf achteten. »Wir sollten Tan sagen, dass wir Kinsel gehört haben«, schlug Serrah vor und wich einem kleinen Gebirge aus gefrorenem Schlamm aus. »Das könnte schwierig werden. Wir sind hier praktisch rundherum blockiert. Die Piraten und die Reiche scheinen die meisten magischen Botschaften, die wir schicken, abzufangen. Ganz zu schweigen davon, dass unsere magi64 sehen Reserven sowieso schon sehr beschränkt sind. Es wäre nicht leicht, den Rat zu überzeugen, einen Teil davon für uns einzusetzen.« »Mir sind die Probleme bekannt, Reeth. Wir sollten es trotzdem versuchen.« »Wäre es nicht besser zu warten, bis wir ganz sicher sind? Bis wir mehr haben als nur deine Überzeugung?« »Lass uns nicht wieder davon anfangen.« »Ich meine es ernst, Serrah. Möglicherweise wecken wir Hoffnungen in Tanalvah, die wir dann doch nicht erfüllen können.« »Wenn ich an ihrer Stelle wäre und darauf wartete, etwas von dir zu hören, dann würde ich es wissen wollen. Wäre es denn so schlimm, ihr einen Strohhalm zu geben, an den sie sich klammern kann?« »Möglicherweise schon, falls die Hoffnung unbegründet ist. Wir sollten darüber nachdenken. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt.« »Sie lebt, Reeth. Tan kann sich durchschlagen.« »Ich rede mit ein paar Leuten darüber. Wir sind übrigens gleich da.« Er nickte zu den Türmen hin, die ihr Ziel waren. Die Spitzen waren hinter dem Hügel, auf den sie stiegen, bereits zu sehen. Wenig später konnten sie das Gebäude überblicken, das die Rebellen großartig und nicht ohne Selbstironie als ihre letzte Zuflucht bezeichneten. Es war eine ursprünglich für reiche Gäste errichtete, sehr große und stabile Unterkunft und zugleich der größte Gebäudekomplex der Insel mit einem halben Dutzend Türmen, verwinkelten Mauern und einem weitläufigen, ummauerten Flachdach. Es gab sogar ein Fallgatter und einen Burggraben, der inzwischen aber trocken und mit Blättern verstopft war. Das Äußere täuschte freilich ein wenig über die wahre Beschaffenheit der Substanz hinweg. Die Außenmauern sahen robust aus, würden einem kon65 zentrierten Beschuss aber sicher nicht lange standhalten können. Auch die Türen und Fenster sahen stabiler aus, als sie es tatsächlich waren. Das Gebäude hatte dem Vergnügen gedient und war keine echte Redoute. Caldason hätte das Gebäude nie als Festung oder als letzte Zuflucht ausgewählt, und auch die Lage sagte ihm nicht zu. Doch es war alles, was sie hatten. Die andere Festung auf dem Hügel am Meer war von Grund auf neu gebaut worden. Ihre Errichtung verschlang so viel Zeit und Ressourcen, dass man nicht noch einmal das Gleiche für eine Zuflucht in der Mitte der Insel tun konnte. Die Rebellen hatten keine andere Möglichkeit, als diese falsche Bastion zu verstärken, so gut sie konnten. Scharen von Menschen schwärmten auf dem eingerüsteten Gebäude und davor herum. Sie hämmerten, sägten und fällten Bäume, um Bauholz zu bekommen, und erzeugten einen ungeheuren Lärm. Wagen lieferten Steine, mit denen die Wälle verstärkt wurden. Mörtel wurde in riesigen Bottichen gemischt. Serrah und Caldason liefen den Hügel hinunter und grüßten die Arbeiter, denen sie begegneten. »Da sind Zahgadiah und Pallidea«, sagte Serrah. Der frühere Besitzer der Insel war auf seiner magisch angetriebenen fliegenden Scheibe kaum zu übersehen. Er inspizierte ein Dutzend Schmiede, die auf einer Reihe von Ambossen Werkstücke bearbeiteten. Seine in Leder gekleidete Begleiterin - mit dem bis zur Hüfte reichenden roten Haar so auffällig wie er selbst - lief neben der Scheibe. Darrok begrüßte sie mit einem heiseren Ruf, Pallidea nickte nur. »Lasst uns aus dem Lärm hier verschwinden«, sagte er. Sie folgten der schwebenden Scheibe an der Mauer entlang, bis der Geräuschpegel halbwegs erträglich war. Der Himmel war noch dunkler geworden, und ein starkes Schneetreiben hatte eingesetzt. 66 »Wie läuft es?«, fragte Caldason. »Nicht schlecht.« Darrok blickte zur Baustelle. »Aber es ist noch eine Menge zu tun.« »Genau wie an allen anderen Plätzen auf der Insel. Was meint Ihr, wie lange es noch dauern wird?« »Ein paar Wochen. Vielleicht noch länger.« Er wandte sich an Serrah. »Wir haben keine Zeit mehr zum Reden
gefunden, seit wir den Überfall abgewehrt haben, nicht wahr?« »Wann hätten wir schon jemals Zeit gehabt?« »Ich wollte nur sagen, dass es eine großartige Idee war, Drachenblut gegen Vances Männer einzusetzen. Das hat das Ruder zu unseren Gunsten herumgeworfen.« »Ich kann das Lob eigentlich nicht für mich in Anspruch nehmen. Die Idee stammt vom Widerstand in Bhealfa.« »Ihr seid zu bescheiden, Serrah.« »Drachenblut?«, fragte Pallidea. Darroks Leibwächterin und Geliebte ergriff nur sehr selten das Wort. »Das Zeug, das die Explosionen verursacht hat«, erklärte Darrok. »Es ist ein Pulver, das explodiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Serrah hat etwas davon mitgebracht und eine Möglichkeit gefunden, es einzusetzen. Ein kleiner, mit Wasser gefüllter Beutel, in dem ein zerbrechlicher Behälter schwimmt, der das Pulver enthält. Und ehe du fragst, es wird zwar Drachenblut genannt, stammt aber nicht wirklich von Drachen.« »Sehr witzig«, bemerkte seine Geliebte trocken. »Ist noch etwas übrig?«, wollte Caldason wissen. Darrok schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Ich habe unsere Magier angewiesen, Nachschub herzustellen.« »Zahgadiah«, sagte Serrah, »Ihr habt doch während des Überfalls auch den Gesang gehört, oder?« Caldason seufzte. Sie sah ihn scharf an. »Ja«, sagte Darrok. »Ich habe es gehört. Reeth meinte, Ihr dachtet, Ihr hättet Kinsel Rukanis gehört.« »Ja.« 67 »Ich habe irgendwann mal eines seiner Konzerte besucht. In Gath Tampoor, glaube ich.« Sie biss sofort an. »Dann glaubt Ihr also auch, dass er es war?« »Verdammt will ich sein, wenn ich das wüsste. Ich habe Blech im Ohr und Blech im Bein.« Er klopfte auf seinen künstlichen Schenkel, es klang gedämpft nach Metall. »Ich habe mir nie viel aus Musik gemacht.« »Warum habt Ihr dann sein Konzert besucht?« Serrah war einigermaßen gereizt. »Es war ein Anlass, bei dem man sich sehen lassen musste. Das ist wichtig für einen Mann in meiner Position. Oder es war wichtig, bis ich hier draußen bei euch zwielichtigen Rebellen hängen geblieben bin.« »Mir ist schon aufgefallen, dass Ihr immer noch nicht aufgebrochen seid«, bemerkte Caldason amüsiert. »Es ist noch nicht zu spät, einfach zu verschwinden.« »Ja, das habt Ihr schon öfter gesagt. Wollt Ihr mich loswerden?« »Nein, aber es ist nicht Euer Kampf. Ihr seid nicht verpflichtet, hier zu bleiben.« »Es ist verdammt schwer, mich zu etwas zu zwingen, das ich nicht will, Reeth. Soweit ich weiß, war es am Anfang auch nicht Euer Kampf. Nein, ich denke, ich werde bleiben. Vorläufig jedenfalls. Ich bin neugierig, wie die Dinge sich entwickeln werden, und ich hatte schon immer ein Herz für die Unterlegenen und für hoffnungslose Situationen.« Caldason lächelte. Seine früheren Ansichten über den Mann hatten sich in den letzten Monaten völlig gewandelt. »Das ist aber alles nebensächlich«, fuhr Darrok fort. »Ich muss Euch etwas erklären. Wie Ihr wisst, haben wir die erste Volkszählung auf der Insel durchgeführt. Nun ja, es war nicht mehr als eine erste schnelle Überschlagsrechnung, aber wir haben gerade die Ergebnisse bekommen, und ich denke, Ihr werdet sie interessant finden.« 68 »Und ob«, bestätigte Serrah. »Die Überlebenden des großen Verrats, die hierher gelangt sind - und dazu rechne ich neben Euch, Reeth und Kutch auch die Vorauskommandos des Widerstands, die schon hier waren, sowie meine eigenen Leute -, zählen alles in allem etwas weniger als zweieinhalbtausend Köpfe. Wir haben seitdem knapp einhundert Leute durch Piratenüberfälle und natürliche Ursachen verloren. Auf der anderen Seite gab es auch Zuwächse. In den Wochen nach Eurer Ankunft sind noch eine Reihe Nachzügler hier eingetroffen. Soweit wir es jetzt sagen können, sind wir etwas mehr als dreitausendsiebenhundert.« »Das ist mehr, als ich erwartet hätte«, sagte Caldason. »Es hat auch meine Erwartungen übertroffen. Gelegentlich kommen immer noch Boote an, aber da es hier so gefährlich geworden ist, sind es nicht mehr viele.« »Wie kann man diese Zahl unterteilen?«, fragte Serrah. »Es ist unausgeglichen, und das könnte in der Zukunft ein Problem darstellen. Immer vorausgesetzt, diese Insel hat überhaupt eine Zukunft. Es gibt etwa zweitausendsechshundert Männer, dagegen nur eintausend Frauen. Die übrigen einhundert Personen sind Kinder, darunter einige Kleinkinder. Die gute Nachricht ist, dass alle bis auf etwa sechzig Männer in den besten Jahren und fähig sind, Waffen zu tragen.« »Habt Ihr eine Vorstellung, wie viele Leute wir brauchen würden, um die Insel zu verteidigen?« »Gegen eine ausgewachsene Invasion von einem der beiden Reiche? Etwa zwanzig- bis dreißigtausend. Mindestens.« »Zur Hölle mit ihnen!«, fauchte Serrah. »Wen meint Ihr?« »Diejenigen, die den Widerstand verraten und uns in diese Lage gebracht haben.« »Ich denke, da würden wohl alle zustimmen.«
69 »Wenn wir überleben, und wenn ich je herausfinde, wer es war, dann werde ich ihnen eigenhändig die Kehle aufschlitzen«, schwor sie. »Und zwar ganz langsam.« »Da müsstet Ihr Euch möglicherweise in einer langen Schlange hinten anstellen«, entgegnete Darrok. Caldason kam auf die Frage der Verteidigung zurück. »Allerdings können wir mit den Kräften, die wir haben, die Piraten abhalten, oder? Vorausgesetzt, sie greifen nicht in größerer Zahl an als bisher.« »Wahrscheinlich.« »Und wir haben bisher aus Rintarah und Gath Tampoor keine Informationen, dass sie Invasionsflotten aufstellen?« »Danach sieht es bisher nicht aus. Wir können dies aber natürlich nur indirekt aus den Berichten von Nachzüglern schließen. Wirklich sicher können wir nicht sein.« Er sah Caldason fragend an. »Worauf wollt Ihr eigentlich hinaus?« »Wenn ich nicht bald etwas unternehme, dann werde ich mit dem, was ich begonnen habe, niemals fertig.« »Die Clepsydra«, sagte Serrah sofort. Er nickte. »Ist es denn der richtige Augenblick, Reeth?« »Es könnte der einzige Augenblick sein.« Er bemerkte ihren besorgten Blick. »Es ist mir wirklich wichtig, Serrah.« »Das musst du mir nicht erklären. Ich frage mich nur, ob es gerade jetzt sinnvoll ist. Eine Menge hat sich verändert, seit du etwas über die Quelle erfahren hast.« »Nicht für mich.« »Wie könnt Ihr sicher sein, dass die Clepsydra nicht nur ein Märchen ist?«, schaltete sich Darrok ein. »Ich bin nicht sicher. Aber es ist meine einzige Möglichkeit, geheilt zu werden.« »Weißt du denn, wo du sie finden kannst? Oder wie sie zu dem Zauberbuch führt, oder was es auch ist, das du suchst? Meines Wissens befindet sich die Clepsydra auf 70 einer Insel, die nicht mehr als ein Staubkörnchen im Meer zwischen vielen anderen ist.« »Phönix hat mir Karten gezeigt. Ich denke, ich kann sie finden. Und was die Quelle angeht... ich muss einfach ein gewisses Risiko eingehen.« »Natürlich kann dich niemand aufhalten, und ich will es dir ganz sicher nicht ausreden, aber du müsstest den Rat überreden, ein Schiff und eine Mannschaft abzuordnen, und das dürfte in der jetzigen Situation sehr schwierig werden.« »Ich kann sehr überzeugend sein.« »Ich fürchte, du wirst enttäuscht werden«, sagte Serrah. »Noch mehr als ohnehin schon?« Er lächelte. »Mit Ausnahme der letzten Zeit«, lenkte er ein. Sie strahlte und erwiderte sein Lächeln. »Wollt Ihr denn zusammen fahren?«, fragte Pallidea. Serrah sah ihren Mann an. »Reeth weiß genau, dass er es ohne mich lieber gar nicht erst versuchen sollte.« Darrok lachte knirschend. »Ich hätte nie gedacht, Euch einmal erröten zu sehen.« Serrah machte daraufhin eine Bemerkung, die sich darauf bezog, wo er sich seine schwebende Scheibe hinstecken könne, was Pallidea ein Grinsen entlockte. Ein seltener Anblick. Es schneite jetzt heftiger. Irgendjemand hatte auf einem Abraumberg in der Nähe ein Banner mit dem Skorpion aufgepflanzt. Die grüne Fahne knatterte laut im bitterkalten Wind. »Wie du dich auch entscheidest, Reeth«, erklärte Serrah, während sie den Mantel enger um sich zog, »du weißt, dass ich dich unterstütze. Aber ich hoffe, wir können vorher etwas wegen Kinsel unternehmen.« »Ich werde nicht aufbrechen, ehe das nicht erledigt ist.« »Gut. Weißt du, Tanalvah hat mir etwas über Kinsel erzählt, das du nicht weißt. Aus seiner Jugend. Sein Vater sei 71 von den Behörden verhaftet worden. Anscheinend eine aufgebauschte Beschuldigung. Sie haben ihn zur Sklavenarbeit gezwungen und dann zum Militärdienst. Es hat ihn umgebracht. Mir ist dabei aufgefallen, und ich denke, es ist auch Tan nicht entgangen, dass dies Kinsels Schicksal sehr ähnlich ist. Wie der Vater, so der Sohn. Nur, dass wir ihn nicht auf die gleiche Weise enden lassen dürfen, nicht wahr?« »Er hat es verdient, dass wir ihm helfen«, meinte Darrok entschieden. »Reeth, wir sollten uns darüber unterhalten.« »Das dachte ich auch. Sagt mir, wenn Kinsel dort draußen ist und Vance ihn gefangen hält, wie deutet Ihr dann den Gesang?« »Oh, es wird Euch vielleicht überraschen, aber für einen Mann, der sich wie ein Wilder aufführt, hat Vance ganz erstaunliche kulturelle Bedürfnisse.« »Meint Ihr wirklich, er geht ihnen während eines Überfalls nach?« »Ihr kennt ihn nicht, Reeth. Er ist durchaus zu so etwas fähig. Vielleicht, um den Ereignissen eine dramatische Kulisse zu geben, auch wenn es schon so dramatisch genug war, wenn Ihr mich fragt. Oder um sich über unseren
Sieg hinwegzutrösten. Er ist unberechenbar. Vielleicht wollte er uns auch einfach nur ärgern.« »Meint Ihr denn, er weiß um unsere Verbindung zu Kinsel?« »Wer kann das schon sagen? Nach einiger Zeit auf der Galeere und nach Vances Aufmerksamkeiten könnte Euer Freund ihm wer weiß was verraten.« »Die Folterknechte des RIS haben ihn nicht zum Reden gebracht und die Paladine auch nicht.« Darrok zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin beeindruckt. Er ist ein tapferer Mann.« »Ich habe mich oft gefragt«, sagte Serrah, »warum sie Kinsel auf die Galeere geschickt haben, statt ihn einfach hinzurichten und fertig.« 72 »Ihr müsst die Denkart unserer Herrscher verstehen«, erklärte Darrok. »Möglicherweise war es eine Beruhigungspille für die Massen. Sie wollten zeigen, dass sie keine Rebellion dulden, ohne sich jedoch damit zu belasten, einen beliebten Mann umgebracht zu haben. Die Politik spielt bei solchen Entscheidungen eine große Rolle. Wenn ich mir den Charakter unserer selbsternannten Anführer anschaue, dann kann es allerdings auch reiner Sadismus gewesen sein. Sie wissen, dass sein Tod auf der Galeere langsam und quälend sein wird.« »Das sähe diesen Schweinehunden ähnlich«, bemerkte Serrah. Darrok wischte sich abwesend einige Schneeflocken vom Umhang und sah blinzelnd zum Himmel hinauf. »Das wird jetzt etwas zu ungemütlich. Wir müssen die Außenarbeiten unterbrechen, verdammt. Lasst uns nach drinnen gehen.« Serrah und Caldason gingen Arm in Arm, Pallidea hielt sich direkt neben der fliegenden Scheibe, als Darrok sie zum Haupteingang der falschen Redoute führte. Unterwegs winkte er den dankbaren Arbeitern zu, das Werkzeug wegzulegen und nach drinnen zu gehen. Das Schneetreiben erweckte den Eindruck, als fielen unzählige Heuschrecken über das Land her. Feuer wurden gelöscht, Pferde mit Decken geschützt. Ein kleines Mädchen, das weggeworfene Nägel in einem Eimer gesammelt hatte, stellte ihre Last ab und rannte in Deckung. »Wir sollten nicht zu lange zögern, was Rukanis angeht«, sagte Darrok. »Was er auf der Galeere erlitten hat, ist nichts gegen das, was Vance ihm antun könnte. Euer Freund tut mir Leid, falls er wirklich in der Hand dieses Teufels ist.« 73 Nun macht schon, nehmt Euch eine Weintraube.« »Danke, nein«, gab Kinsel Rukanis steif zurück. Den Blick hielt er niedergeschlagen, was seiner Ansicht nach das Sicherste war. Kingdom Vance stellte die kristallene Obstschale auf den polierten Eichentisch zurück. Er zupfte eine Weintraube ab, steckte sie sich in den Mund und tat übertrieben genießerisch. »Hmm. Ihr wisst gar nicht, was Euch da entgeht.« »Was mir wirklich abgeht«, gab Kinsel zurück und wagte es nun doch, den Blick zu heben, »ist meine Freiheit.« Der Pirat tat befremdet. »Lässt meine Gastfreundschaft irgendwie zu wünschen übrig? Ist Euch der Wein nicht gut genug? Sind die Seidenlaken in Eurem Bett...« »Ich störe ungern Euer Vergnügen, wenn Ihr mich verhöhnt, Vance, aber beleidigt bitte nicht meine Intelligenz.« »Haltet Ihr es für intelligent, meine Großzügigkeit zu beleidigen? Wenn jemand so mit mir spricht, dann ist das gewöhnlich das Vorspiel für seinen Tod.« »Dann ist mein Leben eben zu Ende. Sogar der Tod wäre Eurer Art von Gastfreundschaft vorzuziehen.« »Ihr könnt Eure Freiheit haben, wann immer Ihr wollt. Oder wenigstens die Gelegenheit, sie zu erringen. Ihr müsst 74 Euch mir lediglich im Kampf stellen. Wir können es jetzt gleich an Deck tun.« »Ich sagte Euch bereits, dass ich mich darauf nicht einlassen werde.« »Ich gebe Euch mein Wort, dass meine Mannschaft Euch freilässt, falls Ihr Euch deshalb Sorgen macht. Wenn es Euch aber darum geht, dass Eure Fähigkeiten nicht mit den meinen vergleichbar sind, dann können wir sicher einen Weg finden, um einen Ausgleich herzustellen. Ich könnte mir beispielsweise eine Hand festbinden.« »Ich werde weder gegen Euch noch gegen irgendjemanden sonst eine Waffe erheben.« Vance lachte. »Ihr seid faszinierend, Rukanis. Ihr seid kein Feigling, aber Ihr glaubt nicht an Gewalt. Ich dagegen habe die Gewalt als unschätzbares Werkzeug kennen gelernt, ganz zu schweigen davon, dass sie mir ein beständiger Quell der Unterhaltung war.« Es war keineswegs übertrieben. Kinsel hatte Vances willkürliche Brutalität gegenüber Feinden und Besatzungsmitgliedern oft genug beobachten können. Auf ihre Weise waren beide Männer beeindruckend. Vance war überdurchschnittlich groß und kräftig gebaut. Ein Urwald von schwarzem Lockenhaar umrahmte das runzlige, vernarbte Gesicht und den Vollbart. Er trug gern prächtige Kleidung, an diesem Tag etwa einen bodenlangen Gehrock mit goldenen Borten und Hosen, die er in schenkelhohe Lederstiefel gesteckt hatte. Außerdem hatte er sich mit Schmuck behängt - Armreifen und Ohrstecker, Ketten und Anhänger und Ringe an jedem Finger. Vance war prunkvoll, Rukanis eher bescheiden. Auch sein Leben vor der Versklavung war kaum verschwenderisch zu nennen. Er war nicht ganz mittelgroß und schwer gebaut, seine Brust war mächtig, um die großen Lungen des Sängers aufzunehmen. Die verschlissene Sträflingsuniform hing ihm inzwischen freilich recht lose am Leib. Sein
75 Haar und der Bart waren dunkel, und früher einmal waren sie kurz getrimmt gewesen. Jetzt wucherten beide. Vance biss in einen roten Apfel. »Wenn Ihr nicht für Eure Freiheit kämpfen wollt«, sagte er kauend, »dann werde ich sie Euch auch nicht gewähren.« Ein weiterer Bissen, und er warf den Apfel achtlos über die Schulter weg. Er landete auf einem Haufen halb gegessener Früchte auf dem Boden seiner prächtig eingerichteten Kabine. »Außerdem seid Ihr mir lebendig viel nützlicher.« »Warum?« »Da wäre zunächst einmal Eure Begabung, Eure Stimme. Trotz allem, was Ihr denken mögt, bin ich kein Wilder.« Er rülpste und wischte sich mit dem Ärmel den Saft aus dem Bart. »Und der zweite Grund?« »Ihr seid für Eure Beteiligung am Widerstand verurteilt worden. Wer wäre besser geeignet als Ihr, um die Bewohner der Insel zum Aufgeben zu bewegen?« »Ich würde mit Fremden reden. Warum sollten sie auf mich hören?« »Ihr unterschätzt Euren Einfluss. Die Diamantinsel wurde von den Rebellen übernommen, und es ist gut möglich, dass Ihr einige von ihnen kennt.« »Das ist eine gewagte Annahme. Aber selbst wenn es zutrifft, warum sollten sie meinetwegen aufgeben? Ihre Vision ist wichtiger als ein einzelner Mann.« »Ihre Vision«, entgegnete der Pirat verächtlich. »Sie haben so viel Vision wie ein Eunuch, der sich in einem Freudenhaus vergnügen will.« Er sah Rukanis scharf an. »Kennt Ihr Zahgadiah Darrok?« »Ich habe den Namen schon einmal gehört«, gab Kinsel vorsichtig zurück. »Darrok steckt hinter dieser Widerspenstigkeit. Er hat sich mit den verdammten Revolutionären verbündet, um mir vorzuenthalten, was mir von Rechts wegen gehört.« 76 »Meint Ihr die Insel? Ich dachte, sie gehört ihm.« Vance explodierte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller tanzten. »Sie gehört ihm nicht, verdammt noch mal! Er hat sie mir praktisch gestohlen!« Kinsel hielt dies für höchst unwahrscheinlich, zog es aber vor zu schweigen. »Ich kenne Darrok von früher«, fuhr Vance etwas ruhiger fort. »Wir haben zusammengearbeitet, um in diesen Gewässern ein Reich aufzubauen.« Er machte ein übertrieben verletztes Gesicht. »Ich dachte, wir wären Freunde. Dann ist er mir in den Rücken gefallen. Es war ein schrecklicher Verrat.« »Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.« »Dann mangelt es Euch an Phantasie, Sänger. Die Insel gehört von Rechts wegen mir und dem Bündnis, das ich mit den anderen Kaufleuten und Abenteurern geschmiedet habe. Wir brauchen sie als Basis, und ich werde tun, was immer nötig ist, um sie zu bekommen. Wenn dies bedeutet, dass ich Euch auf irgendeine Weise benutzen muss, die ich für angebracht halte, dann werde ich es tun.« »Sie werden sich auf keinen Handel einlassen, falls Ihr das meint. Und ich würde es auch nicht wollen.« »Wie edelmütig von Euch«, höhnte Vance. »Seht es doch von ihrem Standpunkt aus. Mein Wohlergehen oder ihrer aller Zukunft. Das ist überhaupt keine Frage.« »Wir werden sehen.« »Das ist doch verrückt, Vance. Ihr verschwendet Menschenleben für - wozu denn eigentlich? Für ein Stück Fels inmitten des Meeres. Es gibt noch andere Inseln. Warum nehmt Ihr nicht eine von denen?« »Menschenleben sind in meiner Branche nichts weiter als ein Kostenfaktor. Die Männer, die sich auf die Seite meines Bündnisses geschlagen haben, haben es freiwillig getan, und sie kennen die Risiken. Menschenleben zählen nicht. Meine Ehre schon.« 77 »Eure Ehre erfordert ein derartiges Blutbad? Es wäre doch sicher besser, irgendeine Übereinkunft mit den Rebellen anzustreben. Vielleicht würden sie sogar ...« »Genug! Eure ... Eure Vernunft regt mich auf.« Kinsel machte sich auf einen Faustschlag gefasst. Oder auf Schlimmeres. Doch es geschah nichts. Vance lehnte sich zurück, legte geräuschvoll die Füße auf den Tisch und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Singt für mich«, sagte er. »So, wie Ihr es neulich nach dem Überfall getan habt. Beruhigt mich.« »Und wenn ich mich weigere?« »Ihr seid doch so besorgt um Menschenleben. Das Schicksal der nächsten - sagen wir mal, zehn - Gefangenen, die mir in die Hände fallen, hängt davon ab, wie Ihr Euch jetzt entscheidet: vorsingen oder umbringen.« Er lachte über seinen müden Scherz. »Nun gut«, gab Rukanis leise zurück. Er stand auf und bereitete sich auf einen Auftritt vor, der eher einem Opfergang gleichen würde. »Etwas Ruhiges«, verlangte Vance. »Dieses Gerede setzt meinen Nerven zu.« Da sein Sklaventreiber das Gemüt eines verdorbenen Kindes hatte, entschied Kinsel sich für ein Wiegenlied. Er begann zu singen. Es war kein besonders kummervolles Lied, doch seine Interpretation gab ihm eine gewisse Melancholie. Unweigerlich dachte er an Tanalvah und die Kinder. Der Gedanke an sie war alles, was ihn noch
aufrecht hielt. Jetzt sang er ein Klagelied über ihren Verlust und fand eine Art Trost darin. Seine Gedanken richteten sich auf die normale Welt, die er hatte hinter sich lassen müssen. Die vertraute Umgebung, die Gewissheiten, all das schien so fern und unwirklich. Kinsel Rukanis sehnte sich nach seinem früheren Leben. Er sehnte sich nach der geordneten Welt von Bhealfa. 78 Irgendwo in den Weiten des westlichen Bhealfa versuchte Prinz Melyobar, ein rohes Huhn zu essen. Er saß am kleinen Esstisch auf der geräumigen Brücke seines Palastes und kaute mit einem angewiderten Gesichtsausdruck auf dem zähen, gummiartigen Fleisch herum. »Bäh!« Er spuckte es aus und verzog das Gesicht. »Das ist ja widerlich! Wessen Idee war es, mir so einen Dreck vorzusetzen?« Ein erschrockener Diener eilte herbei und verbeugte sich tief. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit, aber ... aber Ihr habt es selbst befohlen.« »Was?« Verdutzt blinzelte er den Mann an. »Ihr sagtet ... das heißt, Eure königliche Hoheit haben sogar ausdrücklich befohlen, dass Eure Speisen in Zukunft ungekocht serviert werden müssen. Um Anschläge von Giftmischern zu vereiteln.« »Wann?« »Ihr beliebtet, diesen Befehl erst gestern höchstpersönlich zu erteilen, Hoheit.« »Unsinn!« »Aber, Exzellenz ...« »Unfug, sage ich! Der Dummkopf hat mich falsch verstanden. Oder irgendjemand ist absichtlich aufsässig.« Teller und Besteck flogen durch den Raum. »Schaff das fort!« Der Diener bückte sich, um die Bescherung aufzuheben, und eilte hinaus, wobei er versuchte, gleichzeitig zu katzbuckeln und blitzschnell zu verschwinden. »Lass den Koch auspeitschen!«, rief Melyobar ihm hinterher. »Und lass dich selbst für deine Aufsässigkeit auspeitschen!« Als er den leeren Tisch sah, kam ihm ein schrecklicher Verdacht. »Bei den Göttern«, murmelte der Prinz. »Wache! Wache!« Zwei Wächter eilten mit gezogenen Schwertern herbei. »Hoheit?«, fragte der Hauptmann der Wache. 79 »Ich habe Grund zu der Annahme, dass er sich an Bord befinden könnte.« Sie mussten nicht erst fragen, wen der Monarch meinte. »Ich glaube, er hat seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten benutzt, um sich einzuschleichen. Gebt Alarm. Durchkämmt den Palast nach jemandem, der so aussieht wie ich.« Die Wächter schienen verwirrt, dann sahen sie ihn fragend an. »Also jemand, der ich offensichtlich nicht bin. Idioten. Macht schon!« Die beiden Wächter zogen sich zurück. Weitere Instruktionen waren nicht notwendig. Sie bekamen mindestens einmal täglich den Befehl, den Tod zu suchen. Melyobar war schon unter normalen Bedingungen äußerst nervös, und der jüngste Vorfall trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Er war gerade erst in mittleren Jahren, sah aber erheblich älter aus, und sein schütteres Haar war vor der Zeit ergraut. Sein rasiertes Gesicht war fleischig und fahl, sein Körper schlaff und untersetzt. »Hoheit!«, rief der Steuermann vom Steuerruder herüber. »Wir nähern uns dem Tal!« Melyobar stand auf und ging zu ihm. Die Episode, die ihn gerade noch so aufgeregt hatte, war schon wieder vergessen. Die kurze Aufmerksamkeitsspanne des Prinzen war allgemein bekannt. Die obere Hälfte der Brücke bestand aus einer weiten Fläche von kostbarem, durchsichtigem Glas. Melyobar sah sich um. Vor ihnen lag die Mündung eines tief eingeschnittenen Tals, das im Schneetreiben allerdings kaum zu erkennen war. Mitten hindurch schlängelte sich ein Weg, der zwischen den mit Schnee beladenen Bäumen gerade eben auszumachen war. Für einen Beobachter auf den steilen Klippen, die das Tal begrenzten, wäre es ein Ehrfurcht gebietender Anblick gewesen. Der schwebende Palast des Prinzen war gewaltig. Er war mit seinen Verzierungen mehr als prunkvoll zu nennen, und 80 nun war die ganze Anlage mit einem blendend weißen Mantel bedeckt. Von einer Magie betrieben, die einen beachtlichen Teil von Bhealfas Bruttosozialprodukt verschlang, schwebte der Palast unter Anleitung einer Gruppe erstklassiger Magier dahin. Ähnlich beeindruckend war das Gefolge des Hofes. Mehrere Dutzend geringere Burgen und Herrenhäuser, die sich im Besitz von führenden Höflingen und mächtigen Bürgern befanden, folgten dem Palast. Geringer waren sie freilich nur im Vergleich zu Melyobars gigantischem Aberwitz zu nennen. Ohne diesen Vergleich wären sie immer noch beeindruckend gewesen. Während sie majestätisch schwebte, war die ganze Prozession in knisternde Entladungen von magischer Energie gebadet. Grelle Blitze sprangen von einem Gebäude zum nächsten über und bildeten ein funkelndes, sich ständig veränderndes Netz. Darunter, auf dem Erdboden, hielt ein Heer mit dem Palast Schritt. Eigentlich waren es sogar mehrere Heere. Zunächst einmal eine militärische Streitmacht, die diesen Namen tatsächlich verdiente, außerdem aber auch eine
bunte Truppe von zivilen Gefolgsleuten, deren Zahl in die Zehntausende ging. Sie reisten mit allen Transportmitteln, die man sich nur vorstellen konnte, oder sie ritten auf Pferden. Die Ärmsten gingen zu Fuß. Der schneidend kalte Wind trieb ihnen den Schnee entgegen. »Warum fahren wir so langsam?«, wollte Melyobar wissen, als er sich auf seinen Thron sinken ließ. »Das Wetter, Hoheit«, erklärte der Steuermann nervös. »Schneller können wir unter diesen Bedingungen nicht fahren.« Er deutete zur Scheibe. »Das Tal ist sehr eng, Hoheit. Wenn wir hindurchfahren, dann ist es, als wollte man eine Nadel durch eine Öse führen.« Melyobar schnaubte. Der Steuermann, seine Vorgesetzten und all ihre Unter81 gebenen wären lieber einen ganz anderen Weg geflogen. Doch der Prinz beharrte auf dieser Route, und über die Schlucht hinwegzufliegen, hätte eine ruinöse Menge an Magie verbraucht. Vorsichtig und ein gutes Stück über den Baumwipfeln fuhren sie in den Taleingang hinein. Auf beiden Seiten schienen die steilen Abhänge rasch näher zu rücken. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des stämmigen Steuermanns, der das gewaltige Gefährt manövrierte. Die Navigation erforderte seine ganze Geschicklichkeit, nicht zuletzt weil er mit seinen Befehlen die schwerfälligen Bewegungen der gewaltigen Masse, die er steuerte, vorwegnehmen musste. Es war, als steuerte er ein mächtiges Schiff auf See. Es dauerte stets mehrere Sekunden, bis das enorme Gewicht träge reagierte. Sie verloren an Höhe, und die Unterseite des Palastes strich über die Wipfel einiger besonders hoher Bäume hinweg. Der abgestreifte Schnee stürzte auf die Gefolgsleute hinab, die darunter reisten, und verstärkte noch ihr Unbehagen und ihre Gereiztheit. Protestschreie waren von unten zu hören. Der Steuermann flog behutsam etwas höher. »Ach, nun macht doch schon!«, grollte Melyobar. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden!« Die Konzentration des erschrockenen Steuermanns war gestört. Seine Hand ruckte am Steuerrad, leicht nur, aber doch stark genug, um den Leviathan ein Grad vom Kurs abzubringen. Er korrigierte sofort wieder. Unweigerlich streifte der Palast die Felswand auf der rechten Seite. Es gab ein lautes Krachen, dann ein schreckliches Knirschen, als der Palast an der Klippe entlangscheuerte. Alle Menschen auf der Brücke, mindestens zwanzig Funktionäre und Wächter, bissen die Zähne zusammen. Der ganze Raum bebte. Gläser und Porzellan zerschellten auf dem Boden. Der Prinz schien es überhaupt nicht zu bemerken, 82 oder er war bemerkenswert desinteressiert an den Vorgängen. Langsam korrigierte der Palast seinen Kurs und flog gemächlich geradeaus. Doch die Ruhe dauerte kaum länger als eine halbe Minute. Direkt vor ihnen begann eine scharfe Kurve im Tal. Um sicher herumzufahren, musste der Palast die Geschwindigkeit weiter drosseln. Es war ein kompliziertes Manöver. Wenn die Geschwindigkeit zu gering wurde, konnte der Zustrom der Magie abbrechen und damit der Auftrieb wegfallen. Es fühlte sich für die Zuschauer an, als verginge eine Ewigkeit, während Melyobar offensichtlich immer ungeduldiger wurde, als der Steuermann sie durch die Serpentine lenkte. Zwei Assistenten halfen ihm jetzt und arbeiteten an einer Reihe von Hebeln, mit denen ein kompliziertes System von Rudern betätigt wurde. Als sie endlich wieder geradeaus fuhren und hier und dort ein halb unterdrücktes Seufzen zu hören war, drängte Melyobar sofort wieder, das Tempo zu erhöhen. Der Schnee fiel unablässig. Hinter dem Palast folgte der Hofstaat wie eine Horde Drohnen, die der unförmigen Königin stets auf den Fersen blieb. Sie schwärmten nacheinander um die Kurve, und jeder bremste so weit ab, wie es nötig war, um durch die Windungen des Tals zu manövrieren. Einer der Letzten, ein mit Alabaster verkleidetes Ding, das zahlreiche Türme besaß, war zu schnell. Ein prächtiges Schloss war ihm im Weg. Das schnellere Gebäude bremste ab und wich gleichzeitig aus. Es streifte das Schloss, das schwankend zur Seite gedrückt wurde, und nahm selbst direkten Kurs auf eine Felswand. Eigentlich flogen die Gebäude nicht sehr schnell. Einem Zuschauer wäre es vorgekommen wie ein unbeholfenes Unterwasserballett. Der schnellere Palast prallte gegen die Klippe, wurde zusammengedrückt und verlor gut ein Drittel seiner Ausdeh83 nung. Teile des Gemäuers lösten sich und fielen herunter. Ein Schauer von Ziegelsteinen ging nieder. Einen langen Augenblick schwebte das Bauwerk noch in der Luft, und hellblaue Blitze wanderten über seine Außenflächen. Dann ging das Licht aus, und die Schwerkraft gewann die Oberhand. Es stürzte wie ein Stein. Der Teil der Horde, der das Pech hatte, direkt unter dem Gebäude zu reisen, war verloren. Der Palast löste sich im Fallen auf, kreischende Bewohner fielen heraus und stürzten wie ein menschlicher Wasserfall zu Boden. Der Aufschlag war gewaltig, riesige Staubwolken stiegen auf, die selbst der massive Schneefall nicht niederdrücken konnte. Melyobar stand auf, um einen besseren Überblick über das Chaos zu bekommen, das in der Schlucht ausgebrochen war. »Ich glaube, das war Graf Barazells Residenz«, bemerkte er, ohne sich an jemand
Bestimmtes zu wenden. »So ein Pech aber auch.« Seufzend ließ er sich wieder auf seinen Thron sinken. »Aber immerhin, das sollte den Tod für eine Weile ablenken.« Matt winkte er seiner Besatzung. »Volle Kraft voraus.« Der Palast wurde wieder schneller. Die Prozession hatte das Tal inzwischen fast verlassen. Man konnte bereits den Ausgang und dahinter die offenen, schneebedeckten Felder sehen. Melyobar befahl einen Adjutanten zu sich. Der Mann hatte, wie alle anderen im Raum, ein aschfahles Gesicht, das sich von dem des Prinzen lediglich darin unterschied, dass diese Farbe bei Melyobar der Normalfall war. »Schickt Suchtrupps zurück, sobald wir hier heraus sind«, befahl der Prinz. Der Adjutant verbeugte sich. »Selbstverständlich, mein Lord. Ich lasse Rettungstrupps aufstellen.« »Rettung? Oh. Nun gut, wenn man überlebende Adlige 84 findet, dann sollen sie herausgeholt werden. Aber sagt den Leuten, dass Leichen die höchste Priorität haben.« »Leichen, Hoheit.« Der Adjutant sah beinahe selbst aus wie eine Leiche. »Ein paar nur. Ich könnte ein paar Dutzend gebrauchen.« »Haben Eure Hoheit bestimmte Vorstellungen, welche ... welche Arten von Kadavern bevorzugt werden sollen?« »Ich bin nicht wählerisch. Aber wenn Ihr schon fragt, dann dürfte uns mit den Leichen von Gemeinem am ehesten gedient sein, denke ich.« »Sehr wohl, Sir. Wäre das dann alles, Hoheit?« »Ja doch, ja, nun macht schon.« Als der Beamte sich entfernt hatte, stand Melyobar auf, ging an einem Aufgebot dienernder Hofschranzen vorbei und verließ die Brücke. Draußen stieß eine Eskorte seiner persönlichen Leibwache zu ihm. Die vier Männer marschierten hinter ihm, als er durch einen Flur lief, der vor einer Eichentür endete. Der Magier, der daneben auf einem Stuhl lümmelte, sprang auf. Dienstbeflissen öffnete er dem Prinzen die Tür, ließ ihn und seine Leibwache ein und quetschte sich hinter ihnen durch den Zugang. Sie standen nun in einem quadratischen, mit Holz vertäfelten Zimmer, das nicht geräumiger war als ein großer Schrank. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren eine magische Lichtkugel an der Decke und ein mit Runen verziertes Stück braunes Porzellan, das neben der Tür in die Wand eingelassen war. Auf Melyobars knappen Befehl hin legte der Magier die Hand auf die Porzellanfläche. Der Raum begann zu sinken, langsam zuerst und dann immer schneller. Der prinzliche Magen schoss einen kleinen Purzelbaum. Es war ein Gefühl, das der Herrscher sehr genoss. Sein privater Aufzug war im Grunde nur eine große Holzkiste. Sie befand sich im Innern eines Schachtes, der 85 vom höchsten Punkt des Palastes bis zum tiefsten reichte; unterwegs gab es Zugänge zu verschiedenen Etagen. Magisch erzeugter Druck, gewonnen aus der gleichen Energie, die auch das Schloss antrieb, bewegte die Kammer auf Befehl des magischen Bedieners nach oben oder nach unten. Melyobar war stolz darauf, jederzeit über die neuesten Annehmlichkeiten zu verfügen. Die Kapazität der Kammer war auf sechs Personen begrenzt. Daher standen sie zwangsläufig eng beieinander, Melyobar natürlich in der Mitte des Gedränges. Seine Leibwächter bekamen so die einzigartige Gelegenheit, die exzentrischen Ansichten ihres Herrschers zu Fragen der persönlichen Hygiene aus erster Hand kennen zu lernen. Die Fahrt nach unten verlief in unbehaglichem Schweigen. Als sie schließlich ihr Ziel erreichten und in einem unterirdischen Gang herauskamen, war allenthalben erleichtertes Schnaufen zu hören. Der Zauberer blieb am Aufzug zurück, die anderen betraten ein Labyrinth von Gängen. Ein längerer Marsch, immer wieder unterbrochen durch Kontrollposten und verschlossene Tore, nahm seinen Lauf. Endlich erreichten sie eine gepanzerte Doppeltür, vor der einige Bewaffnete standen. Melyobar befahl seiner Eskorte zu warten und ging allein hinein. Er betrat ein großes, fensterloses Zimmer mit rohen Steinwänden, das einer Höhle ähnelte, auch wenn es mit Dutzenden von magischen Kugeln gut ausgeleuchtet war. Etwa zwanzig Menschen arbeiteten hier, die meisten waren Magier. Ein Zauberer begrüßte ihn. »Ihr werdet das hier brauchen, Hoheit«, sagte er und reichte ihm eine unförmige weiße Maske, die derjenigen glich, die er selbst und alle anderen im Raum trugen. Melyobar musste die Hilfe des Zauberers in Anspruch nehmen, um die Maske richtig über Nase und Mund zu 86 bekommen. Sie war mit einer Art Desinfektionsmittel getränkt und mit einem milden Parfüm versetzt. Der Prinz musste husten. »Wie geht die Arbeit voran?«, fragte er, als er zu husten aufgehört hatte. »Sehr gut, Hoheit. Wenn Ihr es ansehen möchtet?« »Warum sonst bin ich wohl hier?« Der Magier führte ihn zum hinteren Ende des Raumes. Dort standen vier große Metallbehälter, die jeweils ein Fenster besaßen. Melyobar ging zum vordersten und lugte hinein. Drinnen sah er nichts als eine milchige Flüssigkeit. Er wollte sich schon beklagen, als von innen ein rundes, tödliches weißes Objekt gegen das Glas prallte. Der Prinz fuhr erschrocken zurück und quiekte ängstlich. »Kein Grund zur Sorge, Hoheit«, beruhigte der Magier ihn. »Hier kann uns nichts geschehen, solange wir
vorsichtig sind.« Melyobar betrachtete in einer Art morbider Faszination den Kopf der schwebenden Leiche. Es war möglicherweise eine Männerleiche, doch da die Verwesung bereits eingesetzt hatte, konnte man es nicht mehr genau sagen. Ein Auge fehlte, das zweite war vorgewölbt. Das Fleisch war aufgedunsen und grünlich. »Ich bitte um Nachsicht, Hoheit«, fuhr der Zauberer fort, »aber wir benötigen wirklich mehr Versuchspersonen.« »Ich habe das geregelt. Habt Ihr die anderen schon verbraucht?« »Oh, ja, Hoheit. Aber wie Ihr wisst, müssen wir experimentieren, und so war die Ausschussquote sehr hoch.« Der reisende Hof lieferte regelmäßig Tote. Melyobar ließ vermeintliche Feinde in Käfigen an den Zinnen aufhängen, bis sie verhungerten. Andere ließ er willkürlich foltern, weil sie womöglich sein verkleideter gestaltwandlerischer Erzfeind waren. Manche ließ er einfach erstechen, während sie mit ihm zu Abend aßen. Offensichtlich reichten diese To87 desfälle aber nicht aus, um die Bedürfnisse der Magier zu befriedigen. »Was habt Ihr mir sonst noch zu zeigen?«, erkundigte sich der Prinz. »Wir haben unsere erste Destillation, Hoheit«, informierte ihn der Magier hocherfreut. »Dann habt Ihr die Essenz erzeugt?« »Noch nicht ganz, Hoheit. Aber wir sind ganz nahe daran. Kommt mit, Hoheit, und seht es Euch an.« Er führte seinen Herrn zu einem gesicherten Schrank, steckte einen magischen Schlüssel hinein und nahm ein winziges Glasfläschchen heraus. Er betete, dass Melyobar nicht verlangte, es in die Hand zu nehmen, und hielt es hoch, damit der Prinz es sehen konnte. Der Herrscher blinzelte kurzsichtig. »Es ist völlig durchsichtig«, beschwerte er sich. »Wasserklar.« »Lasst Euch dadurch nicht täuschen, mein Lord. Es gibt vieles, was man nicht sehen kann.« »Aber es wird seinen Zweck erfüllen?« »In ausreichender Stärke und Menge, gewiss, Hoheit. Wir haben bereits mit den Tests begonnen.« »Zeigt es mir.« Eine benachbarte Kammer, eine von vielen, beherbergte einen Schweinestall. Betreten konnte man ihn nicht, weil die Tür durch eine dicke Glasplatte ersetzt worden war. Doch Melyobar konnte genug sehen. Der Stall war dreckig. Zwei ausgewachsene Schweine lagen im Stroh. Krämpfe liefen durch ihre Körper, die Beine zuckten. Die Haut war gescheckt und irgendwie schmierig und die Augen glasig. »Wie kommt Ihr dort hinein?«, wollte der Prinz wissen. »Überhaupt nicht, Sir. Sobald die Versuchsobjekte dem Mittel ausgesetzt wurden, versiegeln wir die Kammer. Wir lassen ihnen genug Essen und Trinken darin, damit wir sicher sind, dass sie nicht durch Verhungern sterben. Dann 88 beobachten wir sie. Wir wagen es nicht, den Raum wieder zu öffnen, Hoheit.« »Hmm. Und wie sieht es mit höheren Lebensformen aus?« »Auch da hatten wir gewisse Erfolge zu verzeichnen, Hoheit.« Er führte ihn in einen weiteren, mit Glas abgesperrten Raum. Dieser war zusätzlich vergittert. Drinnen gab es grobe Pritschen. Zwei Männer und eine Frau lagen darauf. Alle sahen aus, als befänden sie sich im Koma, sie wurden von Krämpfen geschüttelt und waren mit Schweiß bedeckt. Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie starrte blicklos ins Leere wie die Schweine. »Ausgezeichnet«, befand Melyobar. Niemand hätte es dem Kriegsherrn übel genommen, wenn er in einem prunkvollen Schlitten gefahren oder auf einem prächtigen Streitross geritten wäre. Doch das war nicht Zerreiss' Art. Er zog es vor zu laufen, und seine Anhänger liebten ihn dafür. Er marschierte an der Spitze eines Heeres, das anders war als alles, was es im Barbarenland jemals gegeben hatte. Die Zahl seiner Kämpfer konnte man nur raten. Die bunt zusammengewürfelte Schar breitete sich auf der weiten Ebene aus, bis man den Schnee nicht mehr sehen konnte. Wie ein Schwärm gefräßiger Insekten bedeckten sie die Erde. So bemerkenswert wie die Größe war auch die Zusammensetzung der Horde. Viele ihrer Mitglieder stammten aus den Ländern, die Zerreiss erobert hatte, doch es war kein Zwang nötig gewesen. Auch gab es keine Söldner in seinem Heer, wie es oft der Fall war, wenn Truppen ausgehoben wurden. Sie marschierten keineswegs, weil ihnen die Peitsche drohte oder weil Belohnungen lockten. Vielmehr hatten sie das Gefühl, sich auf einem Kreuzzug zu befinden. Der Mann, dem sie folgten, hatte viele Beinamen bekommen - die Sichel, die Seidenkralle, der Mann, der von der Sonne fiel. Alle waren ihm verliehen worden, keinen 90 hatte er selbst angenommen. Und kaum ein Mann wurde seinen Titeln so wenig gerecht wie Zerreiss. Er hatte nichts Herausragendes an sich und war nicht einmal eine besonders beeindruckende Erscheinung. Gesicht und Körperbau waren durchschnittlich. Hätte er mit einem Dutzend anderer in einer Reihe gestanden, dann hätte man sich kurz darauf kaum noch an ihn erinnert. Doch sein Äußeres hatte nichts mit dem außerordentlichen Charisma zu tun, das er besaß. Worte konnten seine
Anziehungskraft nicht erklären. Er wusste genau, was die Truppe fühlte, und zeigte eine ansteckende Begeisterung für seine Sache, und die Leute dankten es ihm mit einer Loyalität, die echt und grenzenlos war. Er befand sich immer noch in einer Region, die man als nördliche Einöde bezeichnete, war inzwischen allerdings ein beträchtliches Stück nach Süden vorgedrungen. Bisher hatte keine Macht ihn aufhalten oder seinen Vorstoß auch nur merklich verlangsamen können. Doch obwohl Zerreiss seine Anhänger von ihren weit entfernten Geburtsorten im unwirtlichen Heimatland der Barbaren bis hierher geführt hatte, war das Wetter keine Spur milder als daheim. Die Temperaturen stiegen selten über den Gefrierpunkt, und es hatte mehrere Wochen pausenlos geschneit, bis sie endlich einmal einen seltenen Tag ohne Schneefälle genießen konnten, an dem sich sogar die Sonne blicken ließ und ihre betäubten Seelen erwärmte. Der Kriegsherr ging zwischen zweien seiner wichtigsten Adjutanten. Sephor war der Jüngere der beiden. Man hätte meinen können, dass er zu unerfahren war, um eine derart verantwortungsvolle Position zu bekleiden, doch er hatte seine Fähigkeiten mehr als einmal unter Beweis gestellt. Weilern war ein in Ehren ergrauter Kämpfer, der sich in vielen Schlachten bewährt hatte. Seine Erfahrungen und sein klarer Blick bildeten ein ideales Gegengewicht zu dem noch relativ ungeschliffenen jungen Mann. Beide hatten 91 die Erlaubnis, in Gegenwart ihres Herrschers frei zu sprechen. Zerreiss bestand sogar darauf. Als sie eine Hügelkuppe erreichten, auf der knietiefer Schnee lag, hielten sie inne, um Atem zu schöpfen und sich die Truppe anzuschauen, die ihnen folgte. Die Tundra war schwarz von der ungeheuren Zahl von Kriegern. Hunderte Belagerungstürme bewegten sich in der Menge, und ebenso viele mächtige Katapulte wurden geschleppt. Tausende Trommeln schlugen den Marschrhythmus. »Es muss Euch doch sehr erfreuen, wenn so viele Menschen Eurem Banner folgen«, sagte Weilern. »Wenn man ihnen die Wahrheit zeigt«, entgegnete Zerreiss, »dann folgen sie.« »Könnte es nicht auch sein, mein Lord, dass es die Macht ist, die sie anlockt?«, überlegte Sephor. »Für einen, der so jung ist, hast du durchaus zynische Ansichten über die menschliche Natur.« »Ich hoffe allerdings, dass es nicht wahr ist, Sir«, gab der jüngere Mann ernsthaft zurück. Zerreiss lächelte. »Natürlich ist es nicht wahr. Aber manchmal bist du so ernst, dass ich nicht anders kann, als an den Ketten der Vernunft zu rasseln, mit denen du dich selbst so gern fesselst.« »Unser Ziel ist doch wirklich etwas Ernstes.« »So ist es. Allerdings musst du lernen, mir zu vertrauen, und du musst wissen, dass wir durch mich siegen werden.« »Ich glaube an Euch, Sir. Ich traue aber denen nicht, gegen die wir antreten müssen.« »Damit sagst du jedoch auch, dass du an meiner Fähigkeit zweifelst, sie zu besiegen, Sephor. Hast du mich nicht oft genug siegen sehen, um solche Ängste abzustreifen?« »Oft genug, Sir. Aber dies hier ist etwas anderes. So kühn waren wir noch nie.« »Die Menschen sind immer gleich, ob sie nun die Bürger der beiden Reiche sind oder ob man sie Wilde nennt. 92 Das Geschenk, das ich ihnen bringe, werden sie so oder so zu schätzen wissen.« »Wir haben gewiss erlebt, dass dies bis jetzt der Wahrheit entsprochen hat«, schaltete Weilern sich ein. »Aber Sephor hat nicht ganz Unrecht, wenn ich das so sagen darf, mein Lord. Wir treten dieses Mal nicht gegen irgendeinen Häuptling und seinen Clan oder gegen einen Stadtstaat an. Dieses Mal haben wir mit den imperialen Streitkräften zu tun, und es ist nicht nur ein Reich, sondern es sind beide zugleich.« »Wenn wir die Protektorate von Rintarah und Gath Tampoor gleichzeitig angreifen, haben wir die Gelegenheit, ihren zerbrechlichen Waffenstillstand in dieser Gegend zu zerstören«, erinnerte Zerreiss ihn. »Wenn ihre Herrscher in den jeweiligen Hauptstädten einander gegenseitig die Schuld zuschieben, dann spielen sie uns damit in die Hände. Eine verstärkte Feindschaft zwischen den Reichen kann auf lange Sicht nur nützlich für uns sein.« »Ich sehe durchaus die Vorteile, wenn wir sie beide in den Schwanz zwicken, Sir, aber ich mache mir Sorgen, weil wir dazu unsere Truppen aufteilen müssen.« Zerreiss deutete mit ausholender Armbewegung auf sein Heer. »Glaubst du denn, wir zählten nicht genug Köpfe?« »Ich dachte dabei nicht an die Stärke unserer bewaffneten Streitkräfte. Ich mache mir Sorgen, weil Ihr nicht an zwei Orten gleichzeitig sein könnt.« Der Kriegsherr lachte. »Das übersteigt in der Tat sogar meine Fähigkeiten, Weilern.« »Mein Lord, nehmt es mit Humor, wenn Ihr wollt, aber das Problem schafft Ihr damit nicht aus der Welt.« »Welches Problem?« »Während Ihr hier seid und bei der Erstürmung des Vorpostens von Gath Tampoor mitwirkt, geht der Rest Eures Heeres ohne Euch gegen Rintarah vor. Wie soll es ihnen dabei wohl ergehen?« 93 »Du übersiehst die Tatsache, dass uns mein Ruf vorauseilt. Die Verteidiger dort wie hier wissen von den anderen, die uns unterlegen waren. Unterschätze diesen Vorteil nicht.« »Was ist mit der Moral des Heeres, das gegen die Siedlung von Rintarah marschiert?«, fragte Sephor. »Wenn Ihr nicht bei ihnen seid ...« »Sie sind durchaus fähig, ihre Aufgaben auch ohne mich zu erfüllen. Genau das ist sogar meine Absicht.«
»Sir?« »Weilern hat etwas sehr Wahres gesagt, als er meinte, ich könne nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Wenn unser Feldzug fortschreitet, werden wir jedoch immer öfter an mehreren Fronten zugleich kämpfen müssen. Das Heer soll sich darüber im Klaren sein, dass es auch ohne meine Gegenwart siegen kann. In gewisser Weise muss man ihnen abgewöhnen, sich zu sehr auf mich zu verlassen, denn sonst werden wir unsere Ziele nie erreichen.« »Das kann ich allerdings verstehen, Sir.« »Ich will auch für alle möglichen Fälle Vorsorge treffen.« »Wie meint Ihr das, mein Lord?« »Ich bin genauso verwundbar wie jeder andere auch. Wenn ich mir in dieser Schlacht einen Pfeil einfange oder bei einem Kavallerieangriff niedergestochen werde, dann werde ich sterben. Und ich will sicherstellen, dass mein Werk dann nicht mit mir stirbt.« Ihren Gesichtern war anzusehen, dass die Adjutanten bisher noch keine Sekunde an die Tatsache gedacht hatten, dass Zerreiss sterblich war. »Wie könnten wir ohne Euch weitermachen?«, fragte Weilern. »Wenn Ihr nicht mehr hier seid, die Götter mögen es verhüten, was sollte uns dann beflügeln?« »Es rührt mich, dass du so empfindest«, erwiderte der Kriegsherr mit echter Wärme. »Aber genau diese Einstellung muss sich ändern. Ich will, dass ihr von dem getragen 94 werdet, was ich begonnen habe. Das Schlimmste, was ihr mir antun könntet, wäre, unsere Sache einfach nur deshalb aufzugeben, weil ich sie nicht mit euch bis zum Ende durchstehen kann. Mein Wunsch ist, eine Bewegung ins Leben zu rufen, und nicht die Erhöhung meiner Person.« Sie wussten, dass dies der Wahrheit entsprach. »Ihr könnt aber sicher sein«, fügte er freundlich hinzu, »dass ich nach Osten zu unseren Truppen reisen werde, falls sich herausstellt, dass sie beim Angriff auf Rintarahs Vorposten auf erbitterten Widerstand stoßen. Beruhigt euch das ein wenig?« Seine Adjutanten zeigten sich erleichtert, auch wenn sie nicht verhehlen konnten, dass seine Worte sie getroffen hatten. Sephor wollte noch etwas klarstellen. »Ihr sagtet, unsere heutige Taktik könne dazu führen, dass die Reiche sich gegenseitig an die Kehle gehen. Mehr, als es ohnehin schon der Fall ist. Doch wenn die Nachrichten ihre Hauptstadt erreichen, dann werden sie doch die Wahrheit erfahren?« »Wenn wir Zwietracht zwischen den Reichen säen können, dann gereicht uns dies zum Vorteil. Unser Hauptziel ist es freilich nicht. Und was die Nachrichten angeht, so werden sie genau das hören, was sie hören sollen. Je mehr Eroberungen wir machen, desto besser können wir ihre Nachrichtenübermittlung kontrollieren.« »Dann müssten wir aber beizeiten den ganzen Ozean beherrschen, mein Lord«, wandte Weilern ein. »Die Reiche haben diese Gegend bisher vernachlässigt. Jetzt aber wagen sie sich jeden Tag ein Stück weiter vor, was vornehmlich auf unsere Siege zurückzuführen ist. Die Expeditionen, die Gath Tampoor und Rintarah in unsere Gewässer geschickt haben, sind Beispiele dafür.« »Im Augenblick müssen wir uns vorsichtig bewegen. Wir werden aber bald eine Machtfülle erlangt haben, bei der es keine Rolle mehr spielt, was sie tun. Ihr braucht euch 95 wegen dieser kleinen Flotten keine Sorgen zu machen. Ich habe bereits Schritte gegen sie eingeleitet.-« Er sagte nichts weiter dazu, und sie bedrängten ihn nicht. Nach der kleinen Verschnaufpause zogen sie weiter. Der Himmel verdüsterte sich bereits wieder und versprach neue Schneefälle. Sie zogen die Felle enger um sich. Die Landschaft veränderte sich allmählich. Hier waren Bäume gefällt worden, und in der weiten weißen Ebene sah man Spuren von niedrigen Steinmauern, die das Land in Felder unterteilten. Es waren deutliche Zeichen, dass sie sich ihrem Ziel näherten. »Ich hoffe, Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich ein heikles Thema zur Sprache bringe, mein Lord«, sagte Sephor. »Du bist lange genug bei mir, um zu wissen, dass es bei mir kaum heikle Themen gibt. Worum geht es denn?« »Eure Träume, Sir ...« »Ah, das ist in gewisser Weise wirklich ein heikles Thema, weil die Träume meine Sicht der Welt infrage stellen. Allerdings denke ich immer noch, dass sie ein Teil der Natur und nichts außerhalb der Natur sind, auch wenn sie so unglaublich lebhaft sind. Ganz anders als andere Träume.« »Versteht Ihr sie denn?« »Verstehen kann ich sie nicht, nein. Aber sie haben ... sie üben eine Art Zwang aus. Zweifellos gibt es einen guten Grund dafür, dass ich sie habe. Und ich bin mir der Ironie sehr wohl bewusst, dass ausgerechnet ich unter allen Menschen etwas um flüchtige Träume geben sollte. Aber der Mann, den ich in ihnen sah, obwohl es mir eher wie eine Begegnung denn wie ein bloßer Anblick vorkam, dieser Mann spielt bei dem, was geschehen soll, eine wichtige Rolle. Deutlicher kann ich es leider nicht ausdrücken.« »Es ist seltsam, Euch auf diese Weise reden zu hören, Sir«, bemerkte Weilern. »Ich habe das spirituelle Reich nie verleugnet, ich bin 96
nur gegen den bösartigen Einfluss, den es auf die Menschen ausüben kann. Vielleicht werden wir wirklich aus willkürlichen Motiven von den Göttern gelenkt. Wer weiß das schon?« »Wollt Ihr diesen Mann suchen?«, fragte Sephor. »Vorausgesetzt, er existiert wirklich.« »Ich bin sicher, dass er existiert, und irgendwie habe ich das Gefühl, mich ihm zu nähern, wenn ich nach Süden gehe.« Er lächelte. »Fragt mich aber nicht nach dem Grund.« Sie stiegen auf den nächsten Hügel, der erheblich steiler war als der vorherige. Die Vorhut des Heeres war dicht hinter ihnen. »Habt ihr schon die Kraftlinien in dieser Gegend identifiziert?« »So gut wie möglich, Sir«, erwiderte Sephor. »In der Nähe gibt es allerdings etwas Ungewöhnliches. Wir müssten es gleich sehen können.« Sie stapften zum Hügelkamm hoch und schauten sich um. Direkt vor ihnen, etwa eine Meile entfernt, erstreckte sich eine recht große, von Mauern befestigte Stadt. Eine beeindruckende Festung mit pulsierenden magischen Verteidigungsanlagen erhob sich in ihrem Zentrum. Vor den Toren der Siedlung war ein Heer zusammengezogen, das auf den Angriff wartete. Es war ein faszinierender Anblick, doch bei weitem nicht der auffälligste, den die Männer zu sehen bekamen. Was sie anschauten, lag ihm Westen. Am Horizont spie ein Geysir magische Energie in den Himmel. Man hätte sagen können, dass der Anblick einem verankerten Wirbelsturm entsprach, nur dass er Eigenschaften aufwies, die man bei einem gewöhnlichen Sturm nicht vorgefunden hätte. Alle Farben des Regenbogens kämpften im Wirbel um die Vorherrschaft, und die ganze schwankende Säule schimmerte silbern. An ihrem Fuß entstanden dicke Wolken aus pulsierendem, funkelndem Staub, 97 der ständig seine Farbe änderte. Innerhalb der Wolken bewegten sich Umrisse. Schatten, die miteinander verschmolzen und waberten und sich weigerten, eine feste Gestalt anzunehmen. Die Spitze der Säule war unglaublich hoch. Darüber bildeten die mit Schnee beladenen Wolken eine riesige Leinwand für den Aufzug der Bilder, die von der entweichenden Magie gezeichnet wurden. Sie veränderten sich ständig und gerannen nie zu einer eindeutigen Form. Doch dem Zuschauer boten sich unzählige Deutungsmöglichkeiten dar. Existierende Geschöpfe und Ausgeburten der Phantasie ließen sich dort erblicken, und neben ihnen riesige Insekten, Vögel, Blüten, gespenstische Heere, lodernde Kometen, wunderschöne und groteske Gesichter und Meere, die gegen märchenhafte Küsten brandeten. Es war ein hypnotischer Anblick. »Ein Riss«, bemerkte Zerreiss. »Wie lange geht das schon so?« »Anscheinend mehrere Monate«, erklärte Sephor. »Wir wissen nicht genau, was ihn verursacht hat. Möglicherweise ein Erdrutsch.« »Schaut es an«, sagte der Kriegsherr. »Dort seht ihr das Wesen dessen, was wir angreifen. Ihr könnt kein besseres Bild von dem bekommen, was jene versklavt, die wir befreien wollen.« »Man kann nicht verleugnen, dass es eine gewisse Pracht hat, mein Lord.« »Faszinierend ist es in der Tat. So faszinierend wie eine blaue Grubenspinne, eine goldene Ringschlange oder ein Rudel Barbkatzen. Genauso schön und gefährlicher als alle zusammen.« »Einen Vorteil hat es aber, Sir. Es dürfte die Magie in dieser Gegend schwächen, weil es die Menge der Magie schmälert, die den Verteidigern zur Verfügung steht.« Sephor deutete mit der behandschuhten Rechten zur Siedlung. 98 »Du vergisst, wie unwichtig das für uns ist.« Der Adjutant grinste. »Aber natürlich, Sir. Wie dumm von mir.« »Wie ich schon sagte, Sephor, verliere nicht den Glauben.« »Wie lauten unsere Befehle, Sir?«, wollte Weilern wissen. »Ich sehe keinen Grund, von unserer erprobten Methode abzuweichen. Die Verteidiger sollen eine Gelegenheit bekommen, kampflos die Waffen zu strecken.« »Die Unterhändler wurden mit dem üblichen Angebot ausgesandt, mein Lord.« Er starrte auf die öde Gegend vor der Siedlung. Eine kleine Gruppe von Reitern kam ihnen entgegen. »Ich glaube, dort kehren sie gerade zurück. Sephor, du hast bessere Augen als ich.« Der junge Adjutant schirmte die Augen mit den Händen ab. »Ja, sie sind es. Der Anführer trägt ein Banner. Es ist... rot.« • Zerreiss seufzte. »Das hatte ich befürchtet. Wann werden sie endlich lernen, dass es kein Blutvergießen geben muss?« »Sie fürchten Euch, mein Lord«, sagte Weilern. »Sie haben gewiss gehört, dass Ihr gnädig seid, aber irgendwie glauben sie wohl nicht, dass es auch für sie gilt. Sie nehmen Euch ausschließlich als Eroberer wahr. So ging es ja schon öfter.« »Ja, und sie fürchten ihre Herren offenbar mehr als mich. Wieder einmal entscheidet man sich für den Teufel, den man kennt.« »Berufssoldaten verlassen ihren Posten nicht so ohne weiteres, Sir. Und gewiss nicht allein deshalb, weil es ein Kriegsherr verlangt, über den sie kaum etwas wissen. Es ist kein Wunder, dass sie Widerstand leisten wollen.« »Auf der anderen Seite«, bemerkte Sephor, »möchte ich wetten, dass binnen einer Woche die Hälfte von ihnen
mit uns reitet, ob sie nun Soldaten des Reichs sind oder nicht.« »Das ist eine Ironie, die mir keineswegs entgeht«, warf 99 Zerreiss ein. »Wenn es in meiner Macht stünde, etwas zu verändern, dann würde ich mir wünschen, dass unser Feldzug nicht so viele Menschenleben fordert.« »Wie gehen wir nun weiter vor, Sir?«, fragte Weilern. »Stellt unsere Truppe so auf, dass sie gesehen wird; auch die Belagerungswaffen sollen sichtbar sein. Zeigt ihnen, gegen wen sie antreten. Danach geben wir ihnen eine letzte Gelegenheit, in Ehren zu kapitulieren. Falls sie sich weigern ...« »Dann kämpfen wir.« »Aber erst, wenn ich die Waagschale zu unseren Gunsten verändert habe. Es besteht immer noch die Möglichkeit, ein Gemetzel zu verhindern.« »Wollt Ihr es gleich tun, Sir?« »Es gibt keinen Grund zu warten.« Aus Erfahrung wussten Weilern und Sephor, dass es nicht nötig war, ihren Herrn allein zu lassen, während er die Tat vollbrachte. Dennoch zogen sie sich zurück. Es schien freilich klug, sich zu entfernen, wenn etwas so Ehrfurcht gebietendes geschah. Ein Befehl lief vom Hügel herunter durch die Reihen von Zerreiss' Heer, und es wurde still. Auch die Trommeln verstummten. Sogar die Pferde und Ochsen wurden still, auch wenn sie störrisch bleiben mochten. Der Kriegsherr stand auf dem Hügel, konzentrierte sich auf die belagerte Stadt und hob die Arme. Und die Veränderung nahm ihren Lauf. 100 Im Westen war der Winter etwas milder. Das bedeutete freilich nicht, dass Merakasa, die weitläufige Hauptstadt des Reichs von Gath Tampoor, grundsätzlich von hässlichem Wetter verschont blieb. Nach den Maßstäben von Gath Tampoor erlebte die Stadt sogar einen harten Winter mit schneidend kaltem Wind und unablässigen Schneefällen. Es brauchte aber mehr als niedrige Temperaturen und Graupelschauer, um die Bevölkerung daran zu hindern, voller Leidenschaft ihren Status zur Schau zu stellen. In Merakasa war, wie in den meisten Teilen der so genannten zivilisierten Welt, gesellschaftlicher Status gleichbedeutend mit Reichtum. Und wer etwas besaß, verschwendete seinen Reichtum auf möglichst Aufsehen erregende magische Schauspiele. Wie bei vielen anderen Dingen gab es auch in der Magie gewisse Modeerscheinungen, die festlegten, was jeweils gerade als guter Stil galt. Eine Ausdrucksform war die jahreszeitlich angepasste Magie. Die Zauber, die im Winter beschworen wurden, nahmen Bezug auf die Jahreszeit oder wenigstens auf die Rituale und Gebräuche, die mit ihr verbunden waren. So flogen zu jener Zeit Dutzende Ebenbilder von Jex Rime über der Stadt herum. Jex Rime war ein sagenum101 wobener Geist, der um die Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende Geschenke verteilte. Er fuhr in einer offenen Kutsche durch den Himmel, und sein Gefährt wurde von zwölf schneeweißen Eidechsen gezogen, deren Namen jedes Kind auswendig kannte. Hin und wieder verpufften die Eidechsengespanne, die Kutsche und der wohlwollende Insasse, wenn der jeweilige Zauber verbraucht war oder wenn die Besitzer genug davon hatten. Auf den Gehwegen der Straßen watschelten unförmige Männer herum, die angeblich aus Schnee bestanden, und lächelten freundlich mit pechschwarzen Mündern. Je nach Zauber konnte man sie sogar in einem festgelegten Maß schmelzen lassen. Gar nicht so selten sah man sie auf Stummelbeinen wandern und fröhlich mit Armen ohne Hände winken. Kritiker verwiesen auf die zunehmende Dekadenz des Reichs und merkten an, dass die meisten Menschen dies sogar sehr amüsant fanden. Auf makellos getrimmten Rasenflächen führten kleine Heere von puppengroßen Eiskobolden für warm eingepackte Partygäste Kriege mit Schwertern aus Eiszapfen. Wenn ein tödlicher Schlag sein Ziel gefunden hatte, zersprangen die Kobolde in tausend kristallene Eisbröckchen. Die Verwundeten weinten dagegen Tränen aus Eiskügelchen. Elegante Landauer, gezogen von purpurnen Rentieren, fuhren vorbei. Eiskatzen, die robusten Vettern der bekannteren Barbkatzen, ließen sich oft auf magisch begrünten Prachtstraßen blicken, doch ihr Pelz war gestreift oder gepunktet und nicht weiß wie bei den wilden Vorbildern. Blumensträuße, die nicht zur Jahreszeit passten, brachen aus den Mauern der Anwesen hervor. Magische Bogenschützen feuerten Zauberpfeile ab, die harmlos ihre lebenden Ziele durchbohrten. Gänse sangen, Riesen liefen übers Straßenpflaster, Sternschnuppen gingen auf bebenden Gehwegen nieder. Doch nicht jeder Stadtbezirk war voller Fröhlichkeit 102 und schöner Dinge. In den armen Gegenden diente die komplizierteste Magie dem Staat oft als Kontrollmittel oder Waffe gegenüber der Bevölkerung. Unruhen der jüngsten Zeit hatten das Klima der Unterdrückung noch verschärft. Da man inzwischen von der Existenz einer Widerstandsbewegung wusste, die man zuvor noch für bedeutungslos gehalten hatte, und nachdem man in der Kolonie Bhealfa ein Exempel statuiert hatte, waren die Behörden darauf aus, der Bewegung endgültig den Garaus zu machen. So waren bestimmte Gebiete in Merakasa
ein gefährliches Pflaster geworden. Im Zentrum der Stadt gab es eine großzügig bemessene Enklave, die den Herrschern des Reichs vorbehalten blieb. Auf den höchsten Türmen flatterten Banner mit GathTampoors Symbol, dem Feuer speienden Drachen. Die Tore und die hohen Wehrgänge wurden von konventionellen Truppen und magischen Einrichtungen stark bewacht. Es war ein Ort, den Außenstehende nur selten betreten durften, und ein Ruf dorthin verhieß meist nichts Gutes. Eine Frau stand auf einem hohen Balkon. Ihr genaues Alter war schwer zu erraten, man sah nur, dass sie offensichtlich schon sehr alt war. Sie versuchte, diese Tatsache mit Gesichtsbemalung, Haarfärbetinkturen und anderen künstlichen Hilfsmitteln zu übertünchen, erzeugte damit jedoch einen Eindruck, der beinahe als grotesk zu bezeichnen war. Kaiserin Bethmilno, die fünfundzwanzigste Herrscherin dieses alten Namens, besaß mehr Macht als sonst irgendjemand in ganz Gath Tampoor. Sie schauderte und kehrte ins Prunkzimmer zurück. »Mir ist kalt«, klagte sie, als sie zum großen, geschmückten Kamin trat. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der uns veränderliche Temperaturen nicht viel ausgemacht haben, ganz gleich, wie groß die Schwankungen waren.« »Die Dinge verändern sich eben, Großmutter«, sagte ihr 103 Gast. Wie alle Angehörigen des inneren Kreises war auch er ein Blutsverwandter. Ein unparteiischer Beobachter hätte allerdings bemerkt, dass er für ein Enkelkind bereits ungewöhnlich alt war. »Nicht immer zum Besseren«, gab sie gereizt zurück, während sie die Hände über den Flammen wärmte. »Sieh dir nur die Unordnung an, die in unseren Straßen um sich greift.« »Ist dies nicht einfach nur ein gegenwärtiger Ausdruck von Kümmernissen, mit denen wir uns schon immer herumschlagen mussten?« »Es ist eine Veränderung«, beharrte die Kaiserin, »und zwar eine Wendung zum Schlechteren. Vor gar nicht so langer Zeit hätten unsere Untertanen sich noch nicht erdreistet, die Waffen gegen uns zu erheben.« »Wir kommen damit zurecht. Sieh dir nur an, welche Erfolge Laffons RIS und die Paladine gegen die Leute in Bhealfa zu verzeichnen hatten.« »Wie erfolgreich war es, wenn eine Meute zu dieser verdammten Ferieninsel fliehen konnte? Wir haben ihnen erlaubt, eine Festung zu bauen, von der aus sie ihr Gift verbreiten können.« »Man könnte auch sagen, dass wir sie jetzt hübsch beisammen haben. Dadurch ist es leichter, sie völlig auszulöschen und auch den Teil ihrer Bewegung zu vernichten, den es bei uns noch gibt.« »Je eher wir es tun, desto glücklicher werde ich sein. Wir sind viel zu nachsichtig mit den Rebellen umgegangen. Das gibt ein schlechtes Beispiel.« Sie entfernte sich vom Kamin und setzte sich. »Aber das ist noch nicht alles, was sich verändert hat. Die Störungen im Energienetz werden häufiger und stärker. Das bereitet mir wirklich Sorgen. Die Rebellen können wir mit dem Schwert erledigen. Was jedoch mit der Matrix geschieht, lässt sich nicht so leicht korrigieren, selbst wenn wir wüssten, wo der Fehler liegt.« 104 »Ich muss zugeben, dass dies ein Problem von einer ganz anderen Größenordnung ist, Großmutter. Doch mit den Erfahrungen, die wir über so lange Zeit gesammelt haben ...« »Eigentlich sollte man meinen, dass wir eine Lösung finden könnten. Leider gibt es nicht viele Präzedenzfälle. Es ist nicht das erste Mal, dass die Matrix gestört wird. Der letzte Vorfall liegt allerdings schon viele Jahre zurück, und damals hatten wir eine Vorstellung, wie es dazu kam. Heute gibt es keinerlei Hinweise. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die gegenwärtigen Unruhen die Vorboten von etwas Schlimmerem sind.« Es klopfte an der Tür. Ein Page erschien und kündigte einen Besucher an. Die Kaiserin entließ den Diener mit einem Winken. »Das müsste Talgorian sein. Du kannst den Zeitmesser einstellen, und dann lässt du uns allein.« Ein großes Stundenglas stand auf dem Kaminsims. Der Enkelsohn drehte es um. Feiner goldener Sand strömte hinab. Als er ging, wurde ein jüngerer Mann hereingebeten. Andar Talgorian war in mittleren Jahren, schlank und lebhaft und trug einen gestutzten Bart und die neueste höfische Mode. Entsprechend seiner Rolle als Kaiserlicher Gesandter in Bhealfa war ihm die diplomatische Gelassenheit zur zweiten Natur geworden. Es verdross ihn, dass er in den letzten Monaten so oft in die Hauptstadt zurückgerufen wurde, und seine Verärgerung wurde nicht geringer, als er erfahren musste, dass ihm auch noch eine Audienz bei Bethmilno drohte. In ihrer Gegenwart fürchtete er ständig um sein Leben. »War Eure Reise angenehm?«, begann sie. Er verneigte sich tief. »Erträglich, Euer Gnaden. Vielen Dank.« Sie winkte ihn auf einen niedrigen Stuhl. 105 »Ich hoffe doch, Euch bei guter Gesundheit zu finden, Euer Gnaden«, fügte Talgorian hinzu, als er in den Polstern versank. »Erträglich.« Die ironische Wiederholung seines Worts war ihm unangenehm. Er entschied sich für ein nichts sagendes
Lächeln. »Ich will direkt zur Sache kommen, Botschafter«, fuhr die Kaiserin fort. »Die jüngsten Entwicklungen in Bhealfa kommen uns teilweise sehr gelegen. Die Revolutionäre haben einen starken Schlag hinnehmen müssen, und wir machen Fortschritte dabei, den gehörigen Respekt für unsere Autorität wiederherzustellen.« »Vielen Dank, Hoheit.« Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Die Erfahrung zeigte, dass auf ein Kompliment nicht selten der Absturz folgte. »Gewisse Aspekte der Geschehnisse in Bhealfa sind allerdings alles andere als erfreulich.« »Majestät?« »Eine Reihe von Verrätern konnte zu anderen Gestaden fliehen. Anscheinend gibt es in diesem Gebiet auch danach noch einen harten Kern von Rebellen. Beides ist unbefriedigend.« »Wenn Ihr erlaubt, Hoheit, für diese Fragen sind die Sicherheitskräfte, die einheimischen wie die des Reichs, zuständig.« »Ihr könnt sicher sein, dass ich auch ihnen deutlich meine Meinung sagen werde, Botschafter. Wir reden jetzt allerdings über den Anteil des diplomatischen Corps an dieser Angelegenheit. Es ist Eure Aufgabe, unsere Wünsche an die entsprechenden Behörden zu übermitteln. Es scheint mir in dieser Hinsicht an Zusammenhalt zu fehlen.« Er fand diese Bemerkung ungerecht, zog es aber vor, seine Meinung für sich zu behalten. »Wir müssen alle nur denkbaren Anstrengungen unter106 nehmen, um die Rebellen auszulöschen«, fuhr sie fort. »Ihr werdet in dieser Sache enger mit dem RIS und den Paladinen zusammenarbeiten. Und Ihr werdet jedem, der diese Richtlinie infrage stellt, deutlich machen, dass dies mein ausdrücklicher Wunsch ist. Habt Ihr verstanden?« »Ich verstehe, Majestät.« Wenn sie glaubte, dass die Sicherheitskräfte zu nachlässig vorgingen, dann war Talgorian keineswegs ihrer Meinung. Doch auch dieses Mal hielt er den Mund. Dazu war ihm sein Kopf einfach zu wichtig. »Gut. Und was die so genannte Diamantinsel angeht... nun, dieses Durcheinander müssten wir mal ordentlich aufräumen.« »Gewiss, Madame.« »Möglicherweise bleibt dies jedoch nicht an Gath Tampoor allein hängen.« »Wie meinen, Exzellenz?« »Wir wissen, dass Rintarah von ähnlichen Aufständen geplagt wurde wie wir, und auch von dort sind einige Unruhestifter zur Diamantinsel geflohen. Im Augenblick unterhalten sie in jener Region mehr Protektorate als wir und sehen sich womöglich gezwungen zu handeln. Wir wären zufrieden, wenn sie sich dazu entschlössen.« »Ich ... ich bin überrascht, Majestät. Wir dachten doch immer, vor allem Rintarah stehe im Verdacht, die Aufstände angezettelt zu haben.« »Inzwischen glaube ich jedoch, dass Rintarah nicht mehr als einen kleinen Prozentsatz zu verantworten hat. Umgekehrt gilt dies auch für unsere Rolle bei den Aufständen auf ihrem Gebiet. Es gibt Hinweise, dass der Widerstand weitgehend aus eigenem Antrieb handelt.« Talgorian war verwirrt. »Vor gar nicht so langer Zeit habt Ihr noch von einem möglichen Krieg gegen Rintarah gesprochen, während es jetzt...« »Nichts hat sich verändert«, gab die Kaiserin streng zurück. »Unsere Differenzen existieren nach wie vor. Ich stelle 107 einfach nur fest, dass unsere Ziele nicht immer völlig unvereinbar sind. Wir haben ein gemeinsames Interesse, dieses Krebsgeschwür auszurotten.« »Wollt Ihr damit andeuten, es könne eine gewisse Art von Zusammenarbeit erwogen werden, Majestät?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir uns in diesem Fall Rintarah nicht in den Weg stellen sollten. Wichtig ist, dass die Aufständischen eliminiert werden. Besonders da wir Grund zu der Annahme haben, sie könnten sich mit einer Macht verbündet haben, die ... die uns unangenehm zu werden droht.« Er wollte sich erkundigen, wen sie meinte, doch sie fuhr bereits fort. »Wir dürfen das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren. Beide Reiche haben gemeinsame Interessen, die über die Rebellen hinausgehen. Die Ereignisse müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden.« »Denkt Ihr dabei an etwas Bestimmtes, Madame?« »Uns erreichen Meldungen, dass unsere nördlichsten Vorposten angegriffen werden.« »Ich habe nichts dergleichen gehört, Madame.« »Wir haben unsere Quellen.« Sie meinte die Matrix. Wie alle, die dem inneren Kreis nicht angehörten, wusste er natürlich nichts darüber. »Im Augenblick sind die Meldungen noch unbestimmt, aber unser erster Gedanke war natürlich, dass Rintarah dahintersteckt. Wir haben jedoch erfahren, dass auch deren Siedlungen angegriffen werden. Dies und gewisse Einzelheiten der Angriffe werfen die Frage auf, ob nicht jemand anderes dafür verantwortlich ist.« »Zerreiss.« Er flüsterte den Namen nur. »Das muss man Euch lassen, Talgorian. Ihr wart einer der Ersten, die erkannt haben, welche Gefahr dieser
Kriegsherr darstellen könnte. Wir haben den Verdacht, dass er sein Herrschaftsgebiet ausdehnt, und indem er beide Reiche angreift, hofft er möglicherweise, uns zu stärkeren Feindseligkeiten gegeneinander anzustacheln. Falls er sich mit 108 den Rebellen verbündet, hätten wir es mit einer größeren Störung zu tun. Könnt Ihr erkennen, warum es nicht in unserem Interesse liegt, Rintarah zu behindern, falls man sich dort entscheidet, gegen ihn vorzugehen?« »Das kann ich verstehen, Hoheit. Allerdings ist diese Strategie nicht frei von Risiken. Falls Rintarah und Zerreiss zu einer Übereinkunft gelangen, könnte sie nichts davon abhalten, ein Bündnis gegen uns zu schmieden.« »Er wird schwerlich mit ihnen oder mit uns zu einer Übereinkunft gelangen. Der Mann hat die Instinkte eines Eroberers. Verhandlungen liegen ihm nicht. Er sieht die Reiche als seine natürlichen Feinde.« »Dann wäre also die Expedition, die wir in sein Gebiet geschickt und von der wir seitdem nichts mehr gehört haben ...« »Sie ist als verloren anzusehen, weil er sie vernichtet hat, allerdings. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Expedition aus Rintarah.« »Das allein wäre doch schon ein kriegerischer Akt, Majestät.« »Ich bin mir der Spielregeln durchaus bewusst, Botschafter. Nicht, dass wir uns mit solchen Feinheiten überhaupt abgeben müssten.« Sie blickte zur Sanduhr auf dem Kaminsims. Die Zeit war fast abgelaufen. »Wir haben uns jetzt ausführlich genug über diese Dinge unterhalten. Andere Angelegenheiten erfordern nun meine Aufmerksamkeit.« »Selbstverständlich, Madame.« Er machte Anstalten, sich zu erheben. »Bleibt, wo Ihr seid. Die Audienz ist noch nicht vorbei.« Mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck ließ Talgorian sich wieder auf dem Stuhl nieder. »Ich habe Euch noch etwas zu sagen. Es betrifft die Lage in Bhealfa und eine Aufgabe, die Ihr persönlich übernehmen sollt.« 109 »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Majestät?«, fragte er mit einem unguten Gefühl im Bauch. »Wir haben uns oft über Melyobars Benehmen unterhalten. Es ist kein Geheimnis, dass er die Ressourcen des Protektorats stark belastet, und er zieht Spott und Gelächter auf die Autoritäten.« »Seine Exzentrizität ist durchaus bekannt, Majestät, das ist wahr. Aber der Prinz ist im Grunde harmlos.« Bethmilno war überhaupt nicht amüsiert. »Woher wollt Ihr das wissen?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Unser Geheimdienst berichtet, dass sich an seinem Hofe etwas Ungehöriges tut.« »In seiner Umgebung geschehen stets eigenartige Dinge, Madame.« »Genau. Er ist außer Kontrolle, und das können wir nicht länger hinnehmen. Es wird Zeit, seinen Schrullen Einhalt zu gebieten. Er wird von seiner Position abgelöst, und wir übernehmen die Herrschaft selbst. In der Praxis, wenngleich nicht dem Namen nach, üben wir sowieso schon die Herrschaft aus, aber jetzt werden wir sie auch öffentlich übernehmen.« Talgorian war wie vor den Kopf geschlagen. »Das ist eine gewaltige Veränderung, Madame. Eine Anpassung der Verfassung in diesem großen Ausmaß würde es erfordern ...« »Es erfordert nicht mehr als mein Wort. Ich habe Euch nicht hierher bestellt, um über rechtliche Spitzfindigkeiten zu diskutieren. Ich bin das Gesetz. Nehmt Euch die Kräfte, die Ihr braucht, und entfernt ihn aus dem Amt. Ich sorge dafür, dass die Miliztruppen ebenso mit Euch zusammenarbeiten wie die Paladine.« »Aber ... was tun wir mit ihm, wenn wir ihn abgesetzt haben, Madame?« »Wir sind in dieser Hinsicht nicht unversöhnlich. Immerhin ist er von königlichem Geblüt, wenngleich zum Glück nicht mit meiner Dynastie verwandt. Er wird hierher 110 geschafft und darf bis ans Ende seiner Tage komfortabel leben, allerdings nicht in dem außerordentlichen Luxus, an den er gewöhnt ist.« »Ich fühle mich verpflichtet zu erwähnen, dass eine solche Maßnahme die Bevölkerung noch mehr gegen uns aufbringen könnte, Majestät.« »Hat Melyobar noch ein Gefolge?« »Man kann nicht bestreiten, dass seine unmittelbare Anhängerschaft geschrumpft ist, Majestät.« »Da seht Ihr es.« »Aber was er repräsentiert...« »Er repräsentiert nichts als seinen eigenen unberechenbaren Geist. Er gibt als Oberhaupt ein Beispiel, das keinesfalls wünschenswert ist. Was Ihr in dieser Hinsicht auch empfinden mögt, ich erwarte, dass Ihr tut, was ich Euch sage.« »Exzellenz.« Er verneigte sich höflich. »Es war lediglich mein Wunsch, Eure Hoheit daran zu erinnern, dass der Prinz für unsere diplomatische Strategie in Bhealfa stets als unersetzlich galt.« Sie sah ihn scharf an. »Die Friedhöfe sind voller Gräber von unersetzlichen Menschen, Botschafter.« 111 Der Friedhof war verschneit. Ein eiskalter Wind pfiff um die kahlen Grabsteine und ließ die hageren Bäume schaudern.
Eine kleine Gruppe von Würdenträgern stand vor einem neu errichteten Monument, einem bombastischen Ding aus poliertem Stein von dreifacher Mannshöhe. Es hatte die Form eines Obelisken, eine schwarze Marmorspitze und trug eine Goldblattgravur in Schreibschrift. Über der Inschrift war ein Wappen abgebildet, das einen steigenden Schimmel zeigte, eins der Abzeichen der Paladin-Clans. Blumensträuße waren am Fuß des Obelisken aufgetürmt. Zwei in Mäntel gekleidete Uniformierte lösten sich aus der Trauergesellschaft und zogen sich diskret zurück. Sie schlugen den Weg ein, der zum Ausgang des Friedhofs führte. »Eine bewegende Ansprache, wenn ich so sagen darf, Sir«, meinte der Jüngere der beiden. »Du darfst, Meakin.« »Ich bin sicher, Euer Onkel hätte Eure Totenrede und die Gedenkfeier zu schätzen gewusst.« »Mag sein. Aber wie ich Ivak kannte, wäre er lieber auf dem alten Friedhof am Stadtrand bestattet worden.-« »Wo die Hohen Clanchefs traditionell zur letzten Ruhe gebettet werden.« 112 »Ja. Aber verdammt wollte ich sein, wenn ich ihn auf diesem heruntergekommenen Knochenfeld hätte begraben lassen. Da geht doch heute niemand mehr hin. Und ich habe gewiss nicht die Absicht, dort zu enden.« »Neue Führer, neue Traditionen, nicht wahr, Sir?« »Es wird Zeit, dass ein neuer Besen in den Clans aufkehrt«, erwiderte Devlor Bastorran. »Und ich werde ihn schwingen.« Bastorran, seit kurzem der Hohe Clanchef der Paladine, war makellos herausgeputzt, wie es ihm selbst und der Ehre der Clans entsprach. Sein schwarzes Haar war militärisch kurz geschnitten, seine Galauniform sah aus wie frisch aus der Heißmangel. Seine makellos sitzende Tunika trug die vielfältigen Abzeichen seines hohen Ranges und war rot gefärbt. Diese Farbe hob die Paladine von allen anderen kämpfenden Truppen ab. Er war ein Mann, der keine Reue zeigte. Ganz sicher nicht in Hinblick auf die Art und Weise, wie er seine gegenwärtige Position erlangt hatte. Wie er es sah, war es nicht weiter verwerflich, die Nachfolge im Amt zu beschleunigen, indem er heimlich die Ermordung seines Onkels arrangiert hatte. Bastorrans Adjutant war etwa zwanzig Jahre alt und damit mehr als ein Jahrzehnt jünger als sein Vorgesetzter. Lahon Meakin war blond und glatt rasiert und hauptsächlich in der Verwaltung tätig, hätte aber dank seines Körperbaus ohne weiteres als Kämpfer durchgehen können. Im Gegensatz zu Bastorran trug er jedoch eine schwarze Tunika. Die dreifachen roten Ringe auf dem Ärmel und ein runder roter Fleck auf der linken Brust verrieten, dass er den Clans diente, ohne als deren Angehöriger geboren zu sein. Die fehlenden Blutsbande setzten seinem Aufstieg gewisse Grenzen. Doch Meakin hatte ohnehin nicht die Absicht, weiter aufzusteigen. Sein Ehrgeiz richtete sich auf ganz andere Ziele. 113 Als sie über den Kiesweg schritten, war nicht zu übersehen, dass Bastorran ein wenig humpelte. Eine ständige Erinnerung an seine größte Demütigung. »Ich fühle mich, als sei mit diesem letzten Geleit ein Kapitel meines Lebens abgeschlossen«, sagte er und neigte den Kopf zum Monument hin, das sie verließen. »Das Ende einer Ära und der Beginn einer neuen.« Er schien mit einem Mal sehr nachdenklich. »Doch wenn man sich zu sehr auf die Toten konzentriert, dann vernachlässigt man die Angelegenheiten der Lebenden.« Seine gewohnte Zielstrebigkeit kehrte rasch wieder zurück. »Gibt es Neues von der Frau?« »Ich fürchte nein, Sir.« Die Zurechtweisung, die der Adjutant fürchtete, blieb aus. »Es sieht demnach so aus, als habe sie Hilfe vom Widerstand bekommen?« »Das ist sehr wahrscheinlich, Sir. Sie hätte sonst kaum fliehen können, zumal in ihrem Zustand.« »Nun ja, sie wird wenig Freude in jener Gesellschaft haben.« »Sollen wir die Suche verstärken?« »Nein. Sie soll einfach auf der Liste der meistgesuchten Personen bleiben. Ansonsten kann die Suche etwas zurückgefahren werden.« »Der Mann, der bei ihr war, hat praktisch eine ganze Streife ausgelöscht, Sir.« »Ich weiß, Meakin. Auch das wird auf der Liste erscheinen, wenn die große Abrechnung kommt. Im Augenblick ist es aber sinnlos, unsere Kräfte auf die Suche nach einem einzigen Mann zu verschwenden. Was die Frau angeht, so hat sie ihren Zweck erfüllt. Sie hat mir nichts Wichtiges mehr zu sagen. Im Grunde hatte ich sie bereits von der Leine gelassen. Nur deshalb konnte sie uns ja überhaupt entwischen.« Meakin war beeindruckt, weil sein Vorgesetzter offenbar Schuldgefühle zeigte, was nur äußerst selten vorkam. »Nor114 malerweise würde ich mir nicht anmaßen, mich weiter nach dieser Frau zu erkundigen, Sir ...« Bastorrans rascher, misstrauischer Blick entging ihm keineswegs. »... aber ich frage mich doch, warum jemand seine eigenen Leute verrät, wie sie es getan hat.« »Liebe.« »Sir?« »Liebe und die Anwendung von Druck, der auf ihre kindische Zuneigung zielte. Sie dachte, sie könne etwas
gewinnen, das ihr zu geben niemals in meiner Macht gestanden hat. Ich hätte es auch nicht getan, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Die Menschen sind die Sklaven ihrer Gefühle. Das macht sie schwach. Wenn man sie an der richtigen Stelle packt, dann gibt es nichts, was sie nicht tun würden.« Sie hatten fast die Straße erreicht, auf der Kutschen warteten und Leibwächter herumstanden. »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«, erkundigte sich Bastorran. »Überwiegend Routineangelegenheiten, Sir. Nichts wirklich Dringendes. Oh, Aphri Kordenza hat sich wieder gemeldet. Sie will Euch sprechen.« »Diese verdammte Frau geht mir auf die Nerven.« »Ich kann Euch entschuldigen, Sir, und dafür sorgen, dass sie Euch nicht in die Quere kommt.« »Nein, ich kümmere mich schon um die Verschmolzene. Sie könnte noch nützlich sein. Gib ihr irgendwann morgen einen Termin im Hauptquartier.« »Jawohl, Sir.« Sie hatten das Tor passiert. Als sie sich ihrer wartenden Kutsche näherten, bemerkte Meakin einen Mann, der ihnen mit wehenden Rockschößen entgegenkam. »Das sieht nach Kommissar Laffon aus, Sir.« »So ist es.« Sie warteten, bis der Leiter des Rates für Innere Sicher115 heit sie eingeholt hatte. Der etwa sechzig Jahre alte Laffon war groß und dürr wie ein Skelett, die Schultern waren ein wenig gebeugt. Er war kahlköpfig und hatte ein zerfurchtes Gesicht, dessen Hakennase an einen Geier erinnerte. Seine Lippen waren schmal und fast unsichtbar, die himmelblauen Augen verrieten seinen scharfen Verstand. »Ich bin froh, dass ich Euch eingeholt habe«, rief er, als er sie leicht keuchend erreicht hatte. »Kommissar«, begrüßte Bastorran ihn. »Eine ausgezeichnete Totenrede, Hoher Clanchef. Sehr bewegend.« »Vielen Dank. Wenn, äh, wenn das alles war, was Ihr zu sagen habt, dann werdet Ihr mir hoffentlich verzeihen, wenn ich nicht länger hier verweile. Es gibt dringende Angelegenheiten, die ...« »Ich würde mich freuen, wenn Ihr noch einen Augenblick erübrigen könntet. Es gibt ein oder zwei Dinge, die ich mit Euch erörtern möchte, und vielleicht sogar ein paar Neuigkeiten.« »Dann wollt Ihr vielleicht bei uns mitfahren?« Die drei Männer stiegen in die Kutsche, die sofort anfuhr. Zwei weitere Wagen begleiteten sie, einer vorneweg, der andere dahinter, in denen die bewaffnete Eskorte untergebracht war. Berittene Paladine übernahmen die Vorhut und sorgten dafür, dass die Straßen frei waren. »Es freut mich, Euch mitteilen zu können, Bastorran«, erklärte Laffon, »dass die Vorbereitungen für eine neue Serie von Razzien gegen die Aufständischen gute Fortschritte gemacht haben. Meine Leute stehen bereit, sobald Ihr sie braucht.« »Das ist erfreulich, Kommissar. Aber das ist doch nichts Neues.« Laffon lächelte. »Vielleicht habe ich nicht unbedingt Neuigkeiten im strengen Sinne für Euch, wenn man an harte Tatsachen denkt. Anbieten kann ich aber eine Schluss116 folgerung, die auf Geheimdienstberichten beruht, sowie ein Gerücht.« »Dann lasst mich zunächst die Schlussfolgerung hören.« »Ich glaube, Reeth Caldason hält sich auf der Diamantinsel auf.« Meakin war der Ansicht, dass es seinem Herrn und Meister ausgezeichnet gelang, seine Wut, als der Name des Qalochiers fiel, im Zaum zu halten. »Das dachte ich mir auch schon«, antwortete Bastorran. »Wirklich? Ich war der Ansicht, Ihr hättet eine Menge Ressourcen darauf verwendet, ihn hier in Bhealfa zu finden.« »Man muss stets allen Spuren nachgehen, Kommissar. Aber wie dem auch sei, wie kommt Ihr auf die Idee, dass Caldason sich dort aufhält?« »Wir haben Berichte über seine Abreise aus dieser Gegend erhalten und andere Berichte über seine Anwesenheit auf der Insel. Oder zumindest Hinweise auf jemanden, der ihm unglaublich ähnlich sehen muss.« »Es überrascht mich nicht, dass er weggelaufen ist. Ein Mann, der jemanden in den Rücken sticht, wie er es mit meinem geliebten Onkel getan hat, ist nichts anderes als ein Feigling. Mir ist allerdings schleierhaft, warum einer wie er auf besonderen Wunsch unserer Herrscher verschont werden soll.« »Ihr müsst wissen, dass er nicht völlig unantastbar ist. Vielmehr ist die Anweisung ergangen, besonders vorsichtig mit ihm umzugehen. Ich habe keine Ahnung, warum diese Regeln aufgestellt wurden, aber ich bin sicher, dass unsere Führer ihre Gründe haben.« Meakin wünschte, er könne fragen, wie diese Regeln überhaupt aussahen. »Nun, vielleicht ist es an der Zeit, diese Anweisungen im Hinblick auf Caldason aufzuheben.« »Angesichts ihres Ursprungs war ich stets der Ansicht, dass man sich an sie halten sollte. Die Ermordung einer be-
117 deutenden Persönlichkeit, wie es Euer Onkel war, könnte die Dinge freilich verändern. Ich wäre daher durchaus bereit, unsere Vorgesetzten zu bitten, diese Regelungen noch einmal zu überdenken.« »Ich bin Euch sehr verpflichtet, Kommissar. Die Aufhebung dieser Restriktionen wäre mehr als erfreulich für mich. Es ist allerdings bedauerlich, dass Caldason, falls Eure Informationen zutreffen, außerhalb unserer derzeitigen Reichweite ist.« »Vielleicht trifft dies gar nicht mehr zu.« »Was meint Ihr damit?« »Das Gerücht, das ich gehört habe, drehte sich um eine Flotte, die zur Diamantinsel geschickt werden soll.« »Seid Ihr sicher? Meine Informationen gehen eher dahin, dass Gath Tampoor sich zurückhält, weil man dort hofft, Rintarah werde die Angelegenheit beilegen.« »Meine Quelle ist zuverlässig. Ich kann mir nur vorstellen, dass Gath Tampoor besorgt ist, Rintarah könne in jenem Teil der Welt die Vorherrschaft erlangen, sodass man sich entschloss, ebenfalls präsent zu sein. Zweifellos werden wir bald auf die eine oder andere Weise offiziell informiert werden, obgleich ich sagen muss, dass es keine günstige Jahreszeit für ein solches Unternehmen ist.« »Wenn es zutrifft, dann werden die Paladine natürlich in der Invasionstruppe vertreten sein.« »Und ebenso der RIS. Wir nehmen an, dass sich dort eine Reihe von Straftätern aufhalten, für die wir uns interessieren. Nicht zuletzt die Frau, von der ich Euch erzählt habe. Sie steckt bekanntermaßen mit Caldason unter einer Decke. Wir haben beide auf dieser Insel noch einige Rechnungen zu begleichen.« Bastorran hatte angebissen. »Wenn es dort zu einer Abrechnung kommen sollte«, erklärte er, »dann will ich dabei sein.« »Wollt Ihr denn selbst mitfahren?« 118 »Unbedingt. Ich bin es meinem Onkel schuldig, seine Ermordung zu rächen. Das möchte ich niemand anderem überlassen.« »Ah, eine Frage der Familienehre.« »Der Familie und der Clans. Eine Blutschuld.« »Und eine gute Gelegenheit, Vergeltung für Eure eigenen ... Unannehmlichkeiten mit Caldason zu suchen.« Bastorran sah den Kommissar böse an. »Es geht um den Stolz der Clans, nicht um persönliche Rache.« »Aber selbstverständlich, Hoher Clanchef. Wir können im Augenblick allerdings noch nicht viel tun, um das Problem zu lösen. Vorerst werden wir nur unsere Aktionen gegen die Terroristen hier im Land fortsetzen.« »Wir haben sie bereits vernichtend geschlagen. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis wir sie völlig ausgerottet haben.« »Mag sein. Die Rebellenbewegung ist vielleicht geschwächt, aber sie ist immer noch fähig zurückzuschlagen. In diesem Augenblick, während wir uns unterhalten, gibt es keine zehn Querstraßen weiter schon wieder Unruhen.« Irgendjemand in der Menge warf eine Ladung. Ob magische Munition oder konventioneller Sprengkörper, war nicht wichtig. Das Wurfgeschoss fiel kurz vor einer Reihe von Milizionären, die Schilde trugen, auf die Straße. Es gab einen grellen Blitz, dann eine laute Explosion und einen Ausbruch von giftigem Rauch. Als die Wolke sich auflöste, sah man mehrere Kämpfer in Flammen stehen. Ihre Uniformen waren von zähflüssigem, brennendem Öl bedeckt. Ihre Kameraden kamen herbeigerannt und schlugen die Flammen aus. Die Menge und die Miliz begannen, aufeinander zu feuern. Steine, Pfeile, Geschosse aus Schleudern und gelegentlich ein Speer. Auf beiden Seiten fielen Männer und Frauen. Dann ertönte eine Trompete. Wie ein Mann teilten 119 sich die Reihen der Miliz und ließen eine Abteilung Kavallerie durch, die den Angriff übernahm. Der kleine Krawall wuchs zu einem regelrechten Aufruhr heran. In einem Raum im oberen Stockwerk eines benachbarten Hauses, das halb verfallen und ausgebrannt war, standen zwei Menschen und beobachteten den Aufruhr. Einer von ihnen war Quinn Disgleirio. Er lugte durchs Fenster. »Das kann noch eine Weile dauern.« Dulian Karr setzte sich auf eine wackelige Holzkiste. »Wenigstens hatten wir das Glück, dieses Haus zu finden, in dem wir uns verstecken können. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Konflikt so schnell eskaliert.« »Die Menschen sind reizbar. Und es wird noch schlimmer.« Die Kampfgeräusche nahmen zu. Schreie, Rufe und Explosionen waren zu hören, dazwischen das ständige Brüllen der Menge. »Können wir denn überhaupt nichts tun?«, fragte Karr. »Wir können nur herumsitzen und warten, bis es vorbei ist. Ich wünschte nur, ich hätte nicht eingewilligt, diese Erkundung mit Euch durchzuführen. Wir haben ja nicht einmal etwas Wichtiges herausgefunden.« »Ich bin noch lange nicht tot. Der Tag, an dem ich mich nicht mehr nach draußen wage, ist der Tag, an dem Ihr mich endgültig unter die Erde stecken könnt.« »Glaubt Ihr denn immer noch, wir sollten versuchen, weitere Leute zur Insel zu schaffen? Statt hier zu bleiben und das Beste aus der Situation zu machen?«
»Es war immer unser Plan, so viele Menschen wie möglich zur Insel zu bringen. Wenn es nicht so schrecklich schief gegangen wäre, dann wären wir jetzt auch selbst schon dort.« »Aber die Bedingungen haben sich geändert, nicht wahr? Die Götter mögen mir verzeihen, dass ich es ausspreche, 120 aber die Diamantinsel kommt mir kaum mehr so vor wie eine Zuflucht, sondern viel eher wie eine tödliche Falle. Trotz aller Einschränkungen, denen wir hier in Bhealfa unterliegen, haben wir wenigstens genügend Raum, um uns zu verstecken und die Besatzer anzugreifen.« »Das ist wahr. Wir wollen uns aber nichts vormachen. Wenn wir hier bleiben, werden wir ihnen bestenfalls das Leben schwer machen. Es scheint mir jedoch, als könnten wir dort etwas Neues aufbauen.« »Ihr seid ein alter Romantiker, Karr. Mein Ideal wäre es, hier zu bleiben. Aber ich bin Patriot. Das ist schließlich das Wesen der Bruderschaft der Gerechten Klinge.« »Dann seid Ihr selbst ein Romantiker, Quinn.« Disgleirio lächelte. »Mag sein. Ich will mich einfach nicht damit abfinden, mein Land einer fremden Macht zu überlassen und in einen heruntergekommenen Ferienort zu fliehen.« »Sagt mir nicht, dass Ihr ernsthaft daran denkt, nicht zur Insel zu fahren.« »Nein. Ich bin vielleicht ein Romantiker, aber den Verstand habe ich gewiss nicht verloren. Es gibt eine Möglichkeit, dass wir uns dort halten können. Und vielleicht ergibt sich auch noch etwas, das uns hilft. Fragt mich nur nicht, was es sein soll.« »Wenn wir keine Hoffnung mehr haben, dann haben wir überhaupt nichts mehr.« »Ich mache mir Sorgen, dass wir möglicherweise nicht alle Leute herausbekommen. Wir müssen auswählen, und das erscheint mir grausam und ungerecht.« »Ich weiß. Solche Entscheidungen sind niemals einfach. Das sollte aber nicht diejenigen aufhalten, die glücklich genug sind und eine Möglichkeit bekommen.« »Wir reden darüber, als sei es leicht, die Insel zu erreichen. Vielleicht ist dies aber nichts als eine rein theoretische Frage.« 121 »Das Meer ist groß, Quinn. Solange die Diamantinsel nicht komplett abgeriegelt wird, ist es unmöglich, jedes Schlupfloch zu verschließen.« »Aber das werden sie doch sicher tun, oder? Gath Tampoor oder Rintarah, meine ich. Sie werden die Insel völlig isolieren, und dann ...« »Mag sein. Wir müssen hoffen, dass wir einen Weg finden, es zu verhindern.« Unten auf der Straße nahm die Unruhe weiter zu. Karr stand auf, um sich umzuschauen. Die Sicherheitskräfte setzten jetzt magische Waffen ein. Konzentrierte Energiestrahlen schnitten durch die Menge. Die Miliz streckte Demonstranten mit magischen Betäubungsstäben nieder. Blendgranaten und Betäubungsladungen wurden abgefeuert. Karr setzte sich wieder und schüttelte traurig den Kopf. »So sollte diese edle Kunst nicht eingesetzt werden«, klagte er. »Sie entweihen alles.« »Ihr redet schon wie Phönix. Aber wir tun das Gleiche, wann immer wir können«, erinnerte Disgleirio ihn. »Zur Selbstverteidigung. Es gibt da einen gravierenden moralischen Unterschied.« »Ich wage zu behaupten, dass sie es genauso sehen.« »Dann sind sie Barbaren. Die Besatzer und auch die Kollaborateure. Unter dem Deckmäntelchen der Zivilisation sind sie barbarisch. Auch das ist ein Unterschied, Quinn. Der Unterschied zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie tun.« »Ihr solltet aber doch inzwischen daran gewöhnt sein, dass sie auch die Sprache als Waffe gegen uns einsetzen. Ein fremdes Land besetzen, das ist Befreiung. Das Recht auf freie Rede beschneiden, das heißt Freiheit. Einen Patrioten hinrichten, das dient der öffentlichen Ordnung. Und wer sich gegen sie stellt, ist ein Terrorist.« »Es deprimiert mich zu sehen, wie viele all das tatsächlich glauben. Nehmt noch die Tatsache hinzu, dass die Be122 völkerung dumm gehalten wird, und Ihr habt eine Situation, in der die meisten Bürger des Reichs jederzeit gern Truppen herschicken würden, obwohl sie Bhealfa nicht einmal auf der Landkarte finden könnten.« »Das müssen sie auch nicht. Sie sind auf den ältesten Propagandatrick der Welt hereingefallen. Ihr müsst den Leuten nur einreden, sie würden bedroht, und schon lassen sie die Herrscher alles tun, was sie wollen, wie drastisch es auch sei.« »Und sie nennen die Magie eine verbotene Kunst. Das ist noch gar nichts gegen die subtile Kunst der Täuschung.« »Als ehemaliger Politiker wisst Ihr darüber natürlich gut Bescheid. Wir sollten aber nicht in die Falle tappen, den Bürgern das Verhalten ihrer Reiche zum Vorwurf zu machen. Sie sind ebenso Opfer wie wir.« »Natürlich sind sie das. Wir können nur nicht viel tun, um sie zu retten. Wir können uns allerdings um uns selbst kümmern, so sehr unsere Reihen auch gelichtet wurden. Kleine Triumphe sind das, Quinn. Damit müssen wir uns jetzt zufrieden geben.« Disgleirio nickte. »Tanalvah ist ein gutes Beispiel. Es war reines Glück, dass wir sie gefunden haben.«
»Ah, ja. Falls es jemals jemanden gab, gegen den mehr gesündigt wurde, als er selbst gesündigt hat, dann ist es diese junge Frau. Es wäre schön, wenn wir etwas unternehmen könnten, um ihr tragisches Leben zu verbessern.« »So sehe ich das auch. Tan hat nichts getan, das irgendjemandem geschadet hätte. Sie verdient ein wenig Glück.« 123 In dieser Nacht dachte Tanalvah über den Tod nach. Sie dachte an all die Toten, für die sie, ohne es zu wollen, verantwortlich war, und an Kinsels wahrscheinlichen Tod. Sie dachte an ihren eigenen Tod und wie sie ihn bewerkstelligen könnte. Was in der Einsamkeit einer schlaflosen Nacht verlockend erschienen war, verlor im Morgengrauen an Bedeutung. Sie war schwanger, und zwei weitere Kinder waren von ihr abhängig. Kinsel war vielleicht noch am Leben. Und sie war der festen Überzeugung, dass ihre Göttin Iparrater sogar noch zorniger würde, wenn Tanalvah ihre Sünden durch die des Selbstmordes ergänzte. Die Waage schlug also dahingehend aus, Atem zu schöpfen und sich dem neuen Tag zu stellen. Dieser Tag sollte immerhin etwas bringen, für das aufzustehen sich lohnte. Karr hatte ihr versprochen, dass Teg und Lirrin vom Tempel abgeholt werden sollten, dem Tanalvah sie anvertraut hatte. Die Kinder sollten zu ihr ins Versteck des Widerstands kommen. Nicht gerade der beste Ort für zwei Kinder, aber wenigstens wären sie wieder beisammen. Sie stand von der Pritsche auf und stöhnte unwillkürlich, als die Schwerkraft sie schmerzhaft an ihren Zustand 124 erinnerte. Ihr war schwindlig und übel wie oft am Morgen. Sie musste einen Augenblick tief durchatmen, bis der Schwindel verflog. Dann streckte sie sich, bis sie wieder etwas Gefühl in den Gliedern hatte. Sie zog ein weites Kleid an und schlüpfte mit den Füßen in Lederpantoffeln, die jemand ihr gegeben hatte. Der Raum, den man ihr zugewiesen hatte, war eigentlich kein richtiges Zimmer. Im Grunde war es eine Nische, die man aus dem Fels der Höhle herausgeschlagen hatte. Das Loch war zwanzig Fuß tief und zwölf Fuß breit; eine behelfsmäßige Wand aus einem Holzrahmen und einem aufgespannten Segeltuch versperrte den Ausgang. In der Stoffbahn gab es eine Klappe, die der eines Zeltes nicht unähnlich war Tanalvah nahm an, dass es sich um eine alte Grabkammer handelte, aus der man die Gebeine entfernt hatte, zog es aber vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Man hatte sich Mühe gegeben, es ihr bequem zu machen. Das Bett war mit einer dicken Strohmatratze ausgestattet, und mehrere große Felle sollten sie warm halten. Sie besaß einen Stuhl und ein paar einfache Regale für ihre wenigen Habseligkeiten. Eine geflochtene Matte bedeckte einen Teil des Bodens. Irgendjemand hatte sogar einen alten Wandteppich aufgetrieben und neben ihr Bett gehängt, auch wenn er zu verblichen war, um das Motiv noch erkennen zu können. Verglichen mit anderen Unterkünften in der Höhle war ihre Behausung geradezu luxuriös. Ihre Zelle, wie sie ihre Kammer inzwischen nannte, wurde von einer einsamen Leuchtkugel erhellt. Sie ließ den Leuchtkörper ständig eingeschaltet, was eine ungeheure Verschwendung war, und sie hatte außerdem Kerzen und Laternen in Reserve. Ohne die Kugel wäre es in der Kammer völlig dunkel gewesen, und das hätte sie nicht ertragen. Ein kleiner Steinvorsprung neben der Tür diente als Waschtisch, auf dem eine Waschschüssel und ein Krug 125 standen. Die Temperatur war hier unter der Erde überraschend mild, doch das Wasser war eiskalt, als sie es sich ins Gesicht spritzte. Als Nächstes nahm sie eine Bürste und fuhr sich durch das verfilzte Haar. Die Beschäftigung mit alltäglichen Dingen konnte sie allerdings nicht von den zwanghaften Ideen befreien, die ihren Magen zu einem Eisklumpen gefrieren ließen. Sie sah keine Möglichkeit, wieder gutzumachen, was sie dem Pazifisten Kinsel angetan hatte. Wie sollte er ihr jemals verzeihen, falls er überhaupt überlebt hatte? Insgeheim staunte sie, wie dumm sie gewesen war, Devlor Bastorrans Lügen geschluckt zu haben, als dieser behauptet hatte, den Leuten, die sie verraten hatte, werde nicht viel passieren. Sie erstickte fast an der Angst, was aus den ihr anvertrauten Kindern und dem Ungeborenen werden sollte, falls man es herausfand. Dabei war sie sicher, dass es unweigerlich herauskommen musste. Sie sah sich schon auf die Knie fallen, alles gestehen und um Vergebung bitten. Der Widerstand hatte ihr die Überfahrt zur Diamantinsel angeboten. Sie wollte nicht fahren. Es war schon schwer genug, mit den Leuten hier zurechtzukommen. Da drüben musste Tanalvah sich denen stellen, die ihr am nächsten gestanden hatten, die sich mit ihr angefreundet und die sie beschützt hatten. Namentlich Serrah, vor der sie besonders große Angst hatte. Doch ihre Furcht vor Bastorran und die Möglichkeit, dass sie ihm noch einmal in die Hände fallen könnte, wenn sie bliebe, jagten ihr fast ebenso große Angst ein. Jetzt verstand sie, warum Serrah den Tod damals so verlockend gefunden hatte. Tanalvah riss sich zusammen. Sie musste ihre kleine Höhle verlassen und sich zu den anderen gesellen. Dabei wusste sie jetzt schon, dass sie den Menschen nicht in die Augen sehen konnte. Für sie war es eine Qual, ihre Freundlichkeit, ihre mitfühlenden Blicke und das wissen126 de Lächeln zu sehen. Ein Wunder, dass die anderen nicht sofort erkannten, welche Schuld ihr ins Gesicht geschrieben stand ...
Sie richtete sich auf, zog die Klappe zurück und trat in ihre neue Welt hinaus. Wie üblich herrschte in der Höhle ein geschäftiges Treiben, und wie üblich starrten die Leute sie an, sobald sie bemerkt wurde. Sie fühlte sich nackt. Die Versuchung zu gestehen, was sie getan hatte, es hinauszuschreien und es hinter sich zu bringen, war beinahe übermächtig. Durch das Gedränge kamen einige Menschen auf sie zu. Zwei Erwachsene und zwei Kinder. Es waren Dulian Karr und Goyter, die sie anstrahlten. Sie hatten Teg und Lirrin an den Händen, und als die Kinder Tanalvah sahen, rissen sie sich los und stürmten in ihre ausgebreiteten Arme. In diesem Augenblick wurden all ihre Sorgen von Freudentränen fortgeschwemmt. Nicht weiter als eine Stunde zu Pferd vom Friedhof entfernt, im Herzen von Valdarr, fand ein ganz anderes Wiedersehen statt, das von einem deutlichen Mangel an menschlicher Wärme gekennzeichnet war. Hinter den abweisenden Mauern des Hauptquartiers der Paladin-Clans in Bhealfa, schwer zugänglich in einem Labyrinth voller Durchgänge und gesicherter Türen, befand sich ein Raum, den nur wenige Menschen je zu Gesicht bekamen. Dort gewährte Devlor Bastorran eine Audienz. Ein freundlicher Beobachter hätte seinen Gast als beeindruckend beschrieben. Auf den ersten Blick wirkte die Person asexuell, auf den zweiten Blick erkannte man, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war athletisch und beinahe knochig, das Haar war hellblond und sehr kurz geschnitten. Die Haut war bleich wie Marmor, die Lippen waren schmal und fast farblos, die Augen verblüffend groß 127 und pechschwarz. Es wäre müßig gewesen, sich zu überlegen, ob sie hübsch oder hässlich war, denn ihr Aussehen sprengte die normalen Vorstellungen von Schönheit. Im Augenblick war ihr Gesicht jedenfalls vor Wut verzerrt. »Ich habe die Warterei satt«, zischte sie und zielte mit einem Finger auf seine Brust. »Wir haben eine Abmachung, und Ihr habt nie gesagt, dass es so lange dauern würde, bis Ihr Euren Teil erfüllt.« »Das ist richtig. Aber lasst mich ...« »Ich hätte gleich wissen sollen, dass man einem Paladin nicht trauen kann. Ihr seid verlogene Schweinehunde, Ihr alle, trotz Eures Geredes über Ehre und Loyalität.« »Das ist nicht...« »Vergesst nicht, mein allerhöchster Lord, dass wir aneinander gebunden sind, Ihr und ich. Aneinander gekettet durch das, was ich in Eurem Auftrag getan habe.« Ihre Augen blickten ebenso kalt wie leidenschaftlich. »Es gibt einen Preis für meine Verschwiegenheit in dieser Sache, Bastorran. Wann werdet Ihr ihn bezahlen?« »Ich dachte, heute wäre eine gute Gelegenheit.« »Was?« »Wenn Ihr mich ab und zu mal etwas sagen lassen würdet«, knirschte er, »dann könnte ich es Euch erklären. Wie Ihr schon sagtet, haben wir eine Abmachung getroffen. Ich bin bereit, meinen Teil zu erfüllen.« Aphri Kordenza beäugte ihn misstrauisch. »Ihr werdet tun, was Ihr zugesagt habt?« »Eure magische Symbiose mit ... mit Eurem Gefährten soll dauerhaft fixiert werden. Nun schaut nicht so überrascht drein. Dachtet Ihr denn wirklich, ich wollte mein Wort nicht halten?« »Wie werdet Ihr es tun?«, fragte die Verschmolzene, ohne seine Frage zu beantworten. »Auf die Art und Weise, die meine Magier für die beste halten. Hiermit.« Er schob eine Hand in die Tasche seiner 128 Tunika und zog ein flaches, hauchdünnes Objekt heraus. Es sah aus wie Terrakotta und passte bequem in eine Hand. Auf die Oberfläche waren hunderte winziger Runen geritzt. Er hielt es ihr hin. »Wie geht das vor sich?« Sie wog das Ding in der Hand. »Im Augenblick haltet Ihr Eure Symbiose aufrecht, indem Ihr regelmäßig die Magie auffrischt. Ich nehme an, Ihr müsst alle paar Wochen einen Magier aufsuchen, der die notwendigen Fähigkeiten besitzt, um den Spruch zu erneuern.« Sie nickte. »Und dafür zahlen wir ein hübsches Sümmchen.« »Ich kann mir auch vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, einen Magier zu finden, der bereit ist, diese Arbeit zu tun, wenn man berücksichtigt, dass Ihr Euch in einer Art gesetzlicher Grauzone befindet.« »Das ist bedeutungslos. Es gibt so wenig Verschmolzene, dass die Gesetzgebung uns einfach ignoriert. Aber wir kommen vom Thema ab.« »Dieses Ding hier«, Bastorran deutete auf das Objekt, das sie festhielt, »ersetzt den Helfer. Ihr bleibt dadurch ständig mit dem magischen Netzwerk verbunden und bezieht von dort die notwendige Energie, um Euren jetzigen Zustand beizubehalten. Es ist nicht mehr nötig, die Sprüche zu erneuern, und Ihr werdet keine weiteren Ausgaben mehr haben.« »Was soll ich damit machen? Soll ich es herunterschlucken?« »Nur wenn Ihr ersticken wollt. Aber es muss sich in der Tat in Eurem Körper befinden. Es kommt an der linken Ferse direkt unter die Haut. Ein einfacher chirurgischer Eingriff, der nur wenige Minuten dauert. Die Ärzte stehen schon bereit, und sie sind die Besten. Es sind meine eigenen. Ihr seid besorgt? Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ihr bekommt ein Betäubungsmittel und werdet überhaupt nichts spüren.« 129
»Ich brauche keins.« »Ich habe mir sagen lassen, dass es ohne Betäubung recht schmerzhaft werden kann.« »Ich bleibe lieber wach.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie Ihr wollt. Aber ich denke wirklich ...« »Ich hoffe, Ihr seid ehrlich, Bastorran. Denn falls es ein Trick sein sollte, dann werden alle erfahren, dass Ihr ein Mörder seid. Ich habe die Einzelheiten über den Tod Eures Onkels bei einem Vertrauten hinterlegt, und falls mir etwas zustößt, dann ...« »Wir wissen beide, dass Ihr das nicht getan habt, Kordenza. Und falls Ihr wider Erwarten doch jemandem diese Informationen anvertraut habt, wem werden die Leute wohl glauben? Dem trauernden Anführer der PaladinClans oder einem zwielichtigen Ganoven? Außerdem ist es durchaus in meinem Sinn, dass Ihr bei Kräften seid.« »Warum?« »Ich habe einen neuen Auftrag für Euch. Einen Auftrag, der sich für Euch wirklich lohnen wird. Ihr könnt mir glauben. Euer Misstrauen ist unangebracht.« Sie dachte darüber nach. »Also gut. Ihr könnt mich eine Närrin nennen, aber ich will Euch beim Wort nehmen.« »Gut. Ich würde sagen, wir sollten es mit Handschlag besiegeln, aber irgendwie würde ich Euch lieber nicht berühren.« »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm zur Tür. »Wollen wir gehen?« »Gleich. Ich sagte, ich akzeptiere Euer Versprechen. Es gibt aber jemanden, mit dem ich mich beraten muss.« Bastorran war verblüfft, dann wurde ihm klar, was sie meinte. »Oh. Aphrim.« »Natürlich. Wir sind Partner, wie Ihr wisst. In jeder Hinsicht.« 130 »Nun gut«, seufzte er. Er lümmelte sich auf seinen Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. Er fand das Schauspiel eigentlich nicht sehr erbaulich, auch wenn es eine perverse Faszination auf ihn ausübte. Aphri Kordenza spaltete sich auf. Sie trat rasch zur Seite und ließ ein Abbild ihrer selbst in der Luft schwebend zurück. Der Umriss ähnelte einer Frau, die mit einem glänzenden Seil in die Luft gezeichnet war, als wäre ein Lassotrick mitten in der Bewegung erstarrt. Dann bildeten sich in Aphris Spiegelbild Knochen, Sehnen, Blut und Fleisch heraus. Eine Sekunde lang schimmerte die Figur und war verschwommen, dann gerann sie und bekam eine feste Form. Der Neuankömmling in Bastorrans Büro sah seiner Partnerin zum Verwechseln ähnlich. Ein schärferer Blick offenbarte jedoch einige Unterschiede. Es war ein männliches Wesen, das Aphris Zwillingsbruder hätte sein können. Er war wie sie mit einem Lederwams, Kniehosen und hohen Stiefeln bekleidet. Doch er hatte eine Ausstrahlung, die nicht ganz menschlich war. Eine beinahe durchsichtige, fein geäderte und glänzende Membran verband Kordenza mit ihrem Zwillingsbruder. Dann ruckte sie, der feuchte Film löste sich und wurde sofort von ihrem Zwillingsbruder mit einem unangenehmen, schmatzenden Geräusch absorbiert, bis er in seinem Körper verschwunden war. Sie sahen einander hingerissen an. »Hast du alles gehört, mein Lieber?«, fragte Aphri. »Ja.« Die Stimme ihres Gefährten klang nicht ganz natürlich. Irgendwie wirkte sie etwas hohl und bestätigte, dass er ein Produkt der Magie war. »Was meinst du?« »Es ist das, was wir immer wollten. Aber können wir ihm vertrauen?« Bastorran wurde wütend, als man über ihn sprach, als sei er überhaupt nicht anwesend. Doch er hielt den Mund. 131 »Darüber haben wir uns schon unterhalten, Aphrim«, sagte Aphri. »Ich denke, das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Stell dir nur vor, du hättest dann genügend Energie für all die schönen neuen Waffen, die du dir ausgedacht hast. Nun, sind wir uns einig?« »Wenn du es für das Beste hältst, Liebes, dann bin ich einverstanden.« Sie warf sich ihm in die Arme. »Ist das nicht wundervoll, Aphrim? Wir werden nie wieder getrennt sein.« Sie drängten sich aneinander und küssten sich. Ein ausgedehnter, leidenschaftlicher Kuss wie zwischen Liebenden. Bastorran fand es geschmacklos und sogar abstoßend. Als sie sich voneinander lösten, waren ihre Münder mit einem durchsichtigen, klebrigen Strang verbunden. Sie sahen aus wie zwei Hunde, die an einem grauen Seidentuch herumzerrten. Möglicherweise war es das gleiche Material wie die Membran, die sie vorher verbunden hatte. Als die Verbindung entzweiriss, atmeten beide ihre Hälfte schlürfend ein. Der Paladin wandte den Blick ab. Er schwieg, bis sie endlich wieder ansprechbar waren, und räusperte sich. Sie drehten sich gleichzeitig zu ihm um und sahen ihn an. »Können wir jetzt zur Sache kommen?«, fragte er. »Ja«, antworteten sie im Chor. »Aphrim wird dabei sein«, fügte Aphri hinzu, »und über mich wachen.« »Dann habt Ihr Euch die Sache mit dem Betäubungsmittel überlegt?« »Nein. Was einen von uns betrifft, das betrifft auch den anderen. Wie ich schon sagte, wir bleiben lieber wach.« »Wie Ihr wünscht.« Sie gingen zur Tür.
Aphri warf Bastorran einen neugierigen Blick zu. »Ihr habt einen neuen Auftrag erwähnt.« »Ah, ja. Es ist ein Auftrag, den Ihr vermutlich mehr als Vergnügen denn als Arbeit betrachten werdet.« 132 »Unsere Arbeit macht uns immer Freude«, versicherte Aphrim ihm. »Worum geht es denn?«, bohrte Aphri. »Ihr wollt Euch rächen«, erklärte Bastorran, »und das will ich auch. Ich will aber nicht die offiziellen Kanäle benutzen. Deshalb benötige ich Eure Dienste. Es wird allerdings damit verbunden sein, dass wir eine kleine Reise unternehmen.« »Wovon redet Ihr?« »Ich weiß, wo Caldason ist.« Er wusste nicht, wo er war. Er hatte ein Gefühl dafür, wer er war, eine Vorstellung von seinem Wesen und seiner Identität, und er besaß eine gewisse Folgerichtigkeit in seinen Gedanken, hatte aber keine Ahnung, welcher Ort ihm gezeigt wurde. Es gab dort viel Schnee, der es schwer machte, die Landschaft zu erkennen. Man sah nur, dass es ein zerklüftetes Land war. Ausgemergelte Bäume durchbrachen das Weiß, ihre knorrigen Aste zeigten wie dunkle Finger auf den finsteren Himmel. Schwarze Berge, deren Gipfel mit Schnee bedeckt waren, begrenzten an drei Seiten den Horizont. Ein beständiger Wind wehte und trieb die Schneeflocken vor sich her. Er wusste, dass es bitterkalt war, auch wenn er die Kälte nicht fühlen konnte. Das überraschte ihn. Sein Instinkt sagte ihm, dass in dieser Einöde etwas Wichtiges geschah. Ein Bild drang in sein Bewusstsein, ungerufen und bis eben noch vergessen. Vor sehr, sehr langer Zeit, als er noch ein Kind war, hatte man ihn zu einer weisen Frau gebracht. Er konnte sich nicht erinnern, wer sie war, und wusste auch nicht mehr, wie sie ausgesehen hatte. Auch konnte er nicht mehr sagen, wer ihn aus welchem Grund dorthin gebracht hatte. Erinnern konnte er sich allerdings an etwas, das sie ihn gelehrt hatte. Er hatte es in seinem ganzen Leben als 133 Krieger als gegeben genommen, in einem Leben, das jetzt so fern und unwirklich schien. Damals an jenem Tag hatte er das Prinzip des Nichtbewusstseins gelernt. Es war ein Zustand, den man viel leichter erleben als erklären konnte. Das Nichtbewusstsein drehte sich darum, ein Ziel zu erreichen, ohne es bewusst anzustreben. Die Betonung lag dabei auf »bewusst«. Es hatte nichts mit dem Wunsch zu tun, das Ziel zu erreichen, sondern ausschließlich mit dem Wie. Seine Lehrerin benutzte als Beispiel einen Mann, der einen Speer schleuderte oder einen Pfeil abschoss und das Ziel nicht traf. Sobald er es nicht mehr bewusst versuchte, hatte er Erfolg. Um zu triumphieren, musste der Wille ausgeschaltet werden. War das eine echte Erinnerung oder nur die Erinnerung an einen Traum? Er wusste es nicht. Dennoch hielt er sich daran. Er leerte seinen Geist und ließ die Entschlossenheit los. Sofort begann er aufzusteigen. Bald sah er die verwachsenen Bäume unter sich. Sie wirkten wie dunkle Ölspritzer auf der weißen Decke. Während er stieg, bewegte er sich nach vorn in Richtung der Gebirgskette, der er sich zugewandt hatte. Er wusste, dass hier sogar noch stärkere Winde wehten, die ihn bis auf die Knochen ausgekühlt hätten, wenn er für die Einflüsse der Umgebung empfänglich gewesen wäre. Er schwebte über Schwärmen widerstandsfähiger Vögel, deren kräftige Schwingen sie durch die eiskalte Luft nach Süden trieben. Dann waren die großen, mit Schnee bedeckten Gipfel unter ihm, und er konnte sehen, was hinter ihnen lag. Er blickte in ein weites Tal hinab, das auf der anderen Seite von einer weiteren Gebirgskette begrenzt wurde. Auch im Tal lag Schnee, und an den steilen Felswänden hatten sich hohe Schneewehen aufgetürmt. Ein überfrorener Fluss wand sich durchs Tal, der wie ein polierter Spiegel mit dünnen Rissen aussah. Was aber seinen Blick einfing und ihn anzog, 134 war eine Siedlung. In der Mitte des Tals war eine kleine Stadt entstanden, die sich zu beiden Seiten des Flusses erstreckte. Mitten durch die Gebäude verlief ein Dammweg, der den Hafen mit einer weitläufigen Festung in der Mitte der Stadt verband. An einem Ende öffnete sich das Tal in der Nähe des Passes, der den einzigen Eingang bildete, zu einer weiten Ebene hin. Als er rasch hinabsank, konnte er dort die Überbleibsel eines Gemetzels sehen. Viele tote Männer und Pferde lagen im aufgewühlten, schmutzigen Schnee. Scheiterhaufen brannten. Gefangene saßen eng beisammen, eingekreist von Speerträgern. Die Eroberer wanderten in Gruppen rasch übers Schlachtfeld und kümmerten sich um die Aufgaben, die ihnen der Sieg auferlegt hatte. Er bewegte sich schnell durch das Tal in Richtung der Stadt und der Burg, die von ihr lebte. Jetzt änderte er bewusst die Richtung und flog über den Hafen hinweg, in dem mehrere Schiffe brannten. Dann glitt ein Gewirr von Dächern unter ihm vorbei - mit Stroh oder Holz gedeckt oder sogar mit Dachpfannen. Es gab Straßen, Fahrwege und gewundene Gassen. Viele Menschen waren unterwegs; sie schlurften niedergeschlagen vorbei oder scheuchten die Besiegten vor sich her. Sie trugen Lasten, führten Vieh und schoben Karren. Viele wanderten wie benommen umher. Niemand sah ihn. Vor ihm erhob sich die Festung. Er bewegte sich so schnell, dass es schien, er werde gleich gegen die mächtigen Mauern prallen. Doch noch während ihm der Gedanke kam, wurde er langsamer. Die Redoute war eine ausgedehnte, mehrstöckige Anlage, an der viele Generationen gebaut hatten. Eine hoch
gelegene, lange Terrasse mit Brustwehr schloss sich vorne an. Dort stand eine einzelne Gestalt. Zuerst war sie kaum mehr als ein dunkler Fleck, doch aus der Nähe zeigte sich, dass es ein Mann war. Mit unergründlichem Gesichtsausdruck 135 betrachtete er, was sich vor ihm abspielte. Die Hände hatte er auf die Brustwehr gelegt. Körperlich war er wenig bemerkenswert, und er war eher unauffällig gekleidet. Dennoch hatte der Mann etwas Erstaunliches an sich. Er war jetzt nahe genug, um den Mann anspucken zu können, wenn er es gewollt hätte, und schwebte reglos vor ihm. Zuerst schien der Mann wie alle anderen seine Gegenwart nicht zu bemerken. Dann dämmerte etwas wie Erkennen in seinem Gesicht, und er drehte den Kopf herum und starrte ihn an. Die Augen des Mannes waren bodenlose Löcher. Er hatte keine Erinnerung daran, die eigenen Augen geschlossen zu haben. Als er sie wieder öffnete, war er an einem anderen Ort. Die Höhen, in die er vorher gestiegen war, waren nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt sah. Er schwebte an einem Firmament voller Sterne. Die Welt lag weit unter ihm wie eine entrollte Landkarte, die so groß war, dass sich die Ecken weit in der Ferne verloren. Er sah alle Reiche, die es gab, und das weite, grünblaue Meer zwischen ihnen. Eine große Landmasse im Norden erregte seine Aufmerksamkeit. In ihrem Innern blinkte etwas, klein wie ein Stecknadelkopf Das Flackern eines Feuersteins, der angeschlagen wurde. Der Funke wuchs zu einem hellroten Fleck auf dem Rotbraun heran. Er breitete sich aus, ließ Fäden über das ganze Land und bis in andere Länder wachsen. Er bewegte sich und schien über das Land zufließen, bis er große Abschnitte gefärbt hatte - ganze Regionen, Länder, Kontinente. Es war eine rote Flut, die an Blut erinnerte. Oder vielleicht war es auch ein Licht. Es schien beide Qualitäten in sich zu vereinen. Seitenäste wuchsen und verbanden sich mit anderen, bis wieder ein Stück braunes oder grünes Land gefärbt war. Je weiter es sich ausbreitete, desto schneller und stärker schien es zu werden, als sei eine Säule unter einem 136 Tempeldach zusammengebrochen und reiße eine ganze Reihe von Säulen mit, die nacheinander umstürzten. Aber es war kein Tempel. Es war eine Welt. Eine Welt, die von Blut und Licht überflutet wurde. Vielleicht hätte er sich deshalb schlecht fühlen müssen. Erfühlte sich nicht schlecht. 137 Du hast die Welt in Blut getränkt gesehen und fandest es angenehm?« »So habe ich es nicht ausgedrückt.« »Aber beinahe, Reeth. Für mich klingt deine Beschreibung wahrhaftig nicht angenehm.« »Ich habe nicht behauptet zu verstehen, was ich gesehen habe. Du hast mich gefragt, wie ich mich dabei fühle, und ich habe es dir gesagt.« Serrah kuschelte sich tiefer ins warme Bett. Das Fenster stand einen Spalt offen, und draußen begann die fahle Dämmerung eines neuen Wintertages. »Es muss Zerreiss sein, oder?«, fragte sie schließlich. »Der Mann aus deinem Traum.« »Er hat kein Namensschild am Hals getragen.« »Aber es ist doch logisch, oder? Alles, was du beschrieben hast, deutet daraufhin, dass es der Kriegsherr war, den du gesehen hast.« »Man hätte ihn nicht als das erkennen können, was er ist. Ich habe noch nie einen so ... einen so durchschnittlichen Menschen gesehen. Nicht gut aussehend, aber auch nicht hässlich. Nicht klein und nicht groß, nicht dick und nicht dünn, weder alt noch jung. Er erinnerte mich an einen Topf, den man zu früh aus dem Brennofen genommen hat. Einfach nur ... völlig gewöhnlich.« 138 »Das klingt ja nicht gerade so, wie man sich einen Kriegsherrn vorstellt.« »Aber genauso ist es. Trotz seines Äußeren hat er etwas ... ich weiß nicht, er hat etwas an sich, das einem sofort verrät, dass er der Anführer ist. Erklären kann ich es nicht.« »Und er hat dich gesehen?« »So hat es sich angefühlt.« »Wie oft kommt es vor, dass Menschen dich im Traum erkennen, Reeth?« »Ich würde nicht sagen, dass er mich erkannt hat. Ich glaube, er war sich meiner Gegenwart bewusst, und so etwas ist mir bis auf diese jüngsten Träume oder Visionen, oder was es auch ist, noch nie passiert. Und diese neuen Träume werden immer häufiger. Die alten Visionen, in denen ich mich als Kind sehe, habe ich kaum noch.« »Mein armer Liebster. Etwas Neues, das dich quält.« Serrah legte den Kopf auf seine Brust, und er nahm sie in den Arm. »Ob er es auslöst? Zerreiss?«, überlegte sie. »Ist er dafür verantwortlich, dass dies mit dir geschieht?« Caldason zuckte mit den Achseln. »Wer weiß schon, wozu er fähig ist? Aber warum sollte er so etwas tun?« »Das können wir nur vermuten.« Sie richtete sich auf und tastete nach dem kleinen Tisch am Bett, auf dem ihre Utensilien lagen.
»Du bist so unruhig.« »Es wundert mich, dass du es nicht auch bist. Wenn ich solche Erfahrungen machen würde wie du, dann wäre ich völlig durch den Wind.« Sie fand die Wasserflasche und trank einen Schluck. »Willst du auch?« Er nahm die Flasche und stillte seinen Durst. »Ich bin daran gewöhnt. Die neuen Träume sind allerdings ein Rätsel, das ein Geheimnis überdeckt.« »Genau.« Serrah richtete sich auf und wurde ernst. »Lass es uns durchgehen.« 139 Er seufzte. »Glaubst du denn, ich hätte das nicht schon tausendmal gemacht?« »Zwei Köpfe können besser denken als einer. Tu mir den Gefallen. Du hast diese ... nennen wir sie einfach Visionen, weil wir kein besseres Wort dafür haben. Seit wann hast du sie?« »So lange ich mich zurückerinnern kann.« »Und wir sind uns einig über das, was sie dir zeigen? Szenen aus deiner Kindheit?« Er nickte. »Ich habe lange gebraucht, um es mir zusammenzureimen. Ehrlich gesagt, komme ich mir ziemlich dumm dabei vor.« »Du bist nicht dumm, Reeth.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Jeden anderen hätte es umgehauen.« »Es war das Letzte, was mir dazu einfallen wollte. Dass sie sich um mich drehen, meine ich. Wahrscheinlich gerade weil es so nahe lag.« »Also gut. Ich glaube nicht, dass wir endgültig klären können, warum du die Visionen hast. Vielleicht können wir aber über einige Dinge nachdenken, die du in ihnen gesehen hast.« »Wie meinst du das?« »Wer war der alte Mann, den du so oft gesehen hast? Wer war es, der dich beinahe getötet hätte, als dein Volk abgeschlachtet wurde, und wie hat dies dazu geführt, dass du jetzt beinahe unsterblich bist?« »Hm, nun ja, auch darüber habe ich schon oft nachgedacht.« »Und deine Geburt, Reeth - die Vision, dass deine Mutter starb, als du auf die Welt kamst. Ich glaube, du bestrafst dich unnötig selbst dafür. Es ist nicht die Schuld des Kindes, wenn die Mutter bei der Geburt stirbt.« »Vielleicht ist es so.« »Es gibt da kein vielleicht, Liebster. Du kannst dir nicht etwas vorwerfen, das du nicht getan hast. Glaube mir, ich 140 weiß, wovon ich rede. Das ist eine Lektion, die ich im Zusammenhang mit Eithne gelernt habe, auch wenn ich sehr lange dafür gebraucht habe.« Caldason antwortete nicht, und so fuhr sie fort. »Der alte Mann war offensichtlich eine Art Hüter. Er hat sein Leben riskiert, um dich zu schützen. Aber warum?« »Diese Frage ist noch wichtiger als das Wie, nicht wahr? Warum werden mir diese Dinge gezeigt? Was ist der Grund?« »Muss es denn immer einen Grund geben? Gibt es einen Grund dafür, dass die Sonne jeden Tag aufgeht oder dass die Vögel singen? Vielleicht ist es einfach so.« »Viele Menschen glauben, dass diese Dinge geschehen, weil die Götter es so wollen. Das würde jedenfalls Tanalvah sagen.« »Aber was sagst du? Glaubst du wirklich, die Götter seien für das verantwortlich, was mit dir geschieht?« »Die ehrliche Antwort wäre, dass ich es nicht weiß. Ich bin nicht einmal sicher, was ich von der Idee halte, dass Götter existieren.« »Hmm. Dann gibt es also eine Serie von Visionen, die dich seit Jahren heimsuchen, und sie haben irgendwie mit Eindrücken aus deinem Leben zu tun. Und es besteht irgendeine Verbindung zu den Tobsuchtsanfällen, unter denen du leidest. Ist das bis hierhin richtig?« »Oft hängen sie zusammen, aber nicht immer. Der Ausbruch beim letzten Piratenüberfall ging beispielsweise nicht mit Visionen einher.« »Jetzt hast du neue Visionen, aber sie sind anders, und sie haben irgendwie mit Zerreiss zu tun.« »Das wissen wir nicht.« »Es ist eine nahe liegende Vermutung. Und du bekommst immer noch die Wutanfälle, obwohl du neue Visionen hast, und ...« »Wohin soll das führen?« 141 »Ich weiß es nicht. Vielleicht nirgendwohin. Aber es ist mir wichtig, alles klar zu durchdenken. Wie ich schon sagte, haben sich die Visionen verändert, aber du hast immer noch die Anfälle. Und jetzt ist jemand, den du in den Visionen siehst, auf dich aufmerksam geworden.« »Kannst du aus alledem irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen?« »Nein. Jedenfalls nichts, was über die offensichtlichen Tatsachen hinausgeht.« »Und die wären?« »Magie. Die Magie muss die Verbindung sein.« »Ich habe schon immer angenommen, dass ich unter irgendeiner Art von Zauberbann stehe, das überrascht mich also nicht weiter.« »Es muss eine ziemlich mächtige Magie sein, meinst du nicht auch? Es ist anders als alles, was ich bisher erlebt
habe. Ganz zu schweigen davon, dass derjenige, der dafür verantwortlich ist, seit mehr als siebzig Jahren den Zauber nicht aufgehoben hat. Das scheint eine schrecklich lange Zeit zu sein, um einen Racheakt durchzuhalten, ohne irgendetwas davon zu haben.« »Der Fluch selbst, oder was es auch ist, scheint bereits das erwünschte Ergebnis zu sein. Wer auch immer für meinen Zustand verantwortlich ist, er hat die Befriedigung, dass ich sehr lange leiden muss.« »Das ist doch sinnlos, Reeth. Kein gewöhnlicher Mensch lebt lange genug, um sich an deinen Qualen weiden zu können. Es sei denn, du wurdest nacheinander von mehreren Generationen von Magiern verflucht. Oder ...« »Fahre fort.« »Oder es gibt noch andere, die sind wie du. Menschen mit einer unglaublich langen Lebensspanne, für die Jahrhunderte nichts bedeuten.« »Wir kennen mindestens einen. Phönix. Er ist jetzt im hundertsten Jahr.« 142 »Das ist etwas anderes. Ein Sonderfall. Er hatte Zugang zum Wissen der Gründer, und das hat es möglich gemacht.« »Vielleicht ist er nicht der Einzige. Wer weiß schon, ob nicht Teile ihres Wissens auch anderen in die Hände gefallen sind? Teufel, ich sehe ja selbst aus wie eine Schatzkiste voller Wissen der Gründer.« »Was natürlich die Frage aufwirft, ob jemand anders schon etwas gefunden hat.« »Du weißt genau, wie du meine Stimmung heben kannst, Serrah.« »Allerdings denke ich, dass dies nicht zutrifft.« »Wie kannst du so sicher sein?« »Völlige Sicherheit gibt es nicht. Aber erinnere dich an das, was Phönix und Karr gesagt haben. Wenn die Quelle entdeckt worden wäre, dann könnten wir die Auswirkungen überall beobachten. Wer Zugang zu ihr bekommt, wird sich nicht damit begnügen, sein Leben zu verlängern. Er würde die Welt regieren. Oder wir wären alle tot.« »Vielleicht können sie die Kräfte nur noch nicht beherrschen.« »Nach siebzig Jahren? Das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass du verhext worden bist. Ich meine, was für eine Art Fluch soll das sein, der das Opfer fast unsterblich macht? Ja, ich weiß schon, das ist für dich ein zweischneidiges Schwert, aber du verstehst schon, was ich meine. Ich denke, wir haben es mit etwas ganz anderem zu tun als mit dem Zauber eines Feindes. Allerdings will ich verdammt sein, wenn ich wüsste, was es ist.« Caldason lächelte. »Du scheinst allmählich einzusehen, dass es kein Problem ist, für das man im Handumdrehen eine Lösung findet.« Auch Serrah musste lächeln. »Ich habe nicht erwartet, sie in fünf Minuten zu finden, du Trottel.« Er lachte. »Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass 143 irgendein größeres Problem es wagt, dir länger zu widerstehen.« »Du verdammter ...« Sie schnappte sich ein Kissen und schlug ihn damit, bis es platzte und eine Wolke winziger Federn entließ. »Reeth«, sagte sie etwas ernster, während sie sich die Federn von den Lippen pflückte. »Hat Kutch die letzten Visionen wieder mit dir geteilt?« »Die erste oder die ersten beiden hat er mitbekommen. Das hat aber anscheinend aufgehört, seit er die Ausbildung zum Aufklärer abgebrochen hat.« »Da hast du es wieder - Magie. Es gibt da irgendwo einen Zusammenhang. Ich bin sicher, dass diese Dinge miteinander in Verbindung stehen.« »Ich konnte mir bisher allerdings nicht zusammenreimen, wie diese Verbindung aussehen sollte.« »Wir müssen mit Kutch reden. Man kann nie wissen, vielleicht fällt ihm ja etwas ein. Irgendein Hinweis oder ...« Er nahm sie in die Arme und knabberte zärtlich an ihrem Ohr. »In Ordnung. Aber das wollen wir erst einmal verschieben, ja?« Ihre Lippen fanden sich. In einem entlegenen Teil der Diamantinsel, genauer gesagt an der östlichen Spitze, wirkten Steilklippen als natürliche Barriere gegen den Ansturm der See. Oben auf der Klippe standen auf einem Stück Wiese mehrere Häuser, die noch aus der Zeit stammten, als die Insel ein Feriendomizil war. Hier versammelten sich die paar Magier des Bundes, die aus Bhealfa hatten fliehen können, und die wenigen Magier, die schon vorher auf der Insel gelebt hatten. Es war ein Ort des Rückzugs und der Meditation, dessen Privatsphäre von allen Menschen auf der Insel respektiert wurde. Die Häuschen waren verfallen. Ringsum war der Schnee zu Matsch zertreten. Eine kleine Gruppe von Bäumen dien144 te als Windschutz, doch kahl, wie sie im Winter waren, konnten sie nicht viel ausrichten. Insgesamt war der Eindruck eher trostlos. Eine Hütte stand abseits von den anderen. Der Schnee davor war fast unberührt, nur wenige Fußabdrücke waren zu sehen. Alle Fenster waren verrammelt.
Drinnen beendete Kutch Pirathon gerade eine Unterrichtsstunde bei seinem Ersatzlehrer, der an diesem Tag auf magische Verkleidungen verzichtet hatte. Er sah so aus, wie er war - alt, weißhaarig und mit faltigem Gesicht. »Und du bist sicher, dass du in der letzten Zeit keine Visionen von Reeth Caldason mehr übernommen hast?«, fragte Phönix. »Nein«, entgegnete Kutch gereizt, weil der alte Mann nachgebohrt hatte. Er knallte das dicke Buch zu, in dem er gelesen hatte. »Ich lüge nicht bei solchen Dingen. Darauf hat mein Meister immer bestanden.« »Dann hat er dich etwas Wichtiges gelehrt. Sei nicht beleidigt, mein Junge. Ich bin nur so nachdrücklich, weil es so wichtig ist.« »Wie ich schon sagte, wir haben seit einigen Monaten keine gemeinsamen Visionen mehr.« »Seit du aufgehört hast, das Aufklären zu lernen.« »Ja.« »Und deine Träume? Was ist mit den Träumen?« Kutch zierte sich. »Nun ja ...« »Was war es noch gleich, worauf dein Meister immer bestanden hat?« Der Bursche seufzte. »Manchmal ... ja, manchmal entsteht eine Verbindung in Träumen. Aber nicht oft, und die Bilder sind bei weitem nicht so mächtig wie die Visionen, die ich früher hatte. Es ist kein Problem, aber ... ich dachte, ich wäre frei, wenn ich die Ausbildung zum Aufklärer einstelle.« »Nun ja, größtenteils hat es ja aufgehört, wie du selbst 145 sagst. Ich vermute aber, zwischen dir und Caldason wird eine Verbindung bestehen bleiben, solange du auf irgendeine Weise die Magie praktizierst.« »Oh«, meinte der Bursche niedergeschlagen. »Das ist aber ein deprimierender Gedanke.« »Weil du glaubst, das zwinge dich, eine Entscheidung zu treffen? Zwischen deiner Freundschaft für Caldason und deiner Hingabe an die Magie?« Kutch sah ihn hoffnungsvoll an. »Bin ich denn nicht dazu gezwungen?« »Ich glaube, du missverstehst mich. Die Verbindung wird bestehen bleiben, solange du dich mit der Magie beschäftigst. Es ist sogar denkbar, dass wir die Auswirkungen auf dich dämpfen können, aber nichts, was du tust, einschließlich der völligen Aufgabe der magischen Kunst, wird für Caldason irgendetwas ändern, falls es das war, was du gehofft hast. Seine Verbindung zur Magie geht über alles hinaus, was du tun könntest.« »Aber das scheint so ungerecht. Reeth hasst die Magie.« »Ich hasse den Regen, aber das ändert nichts daran, dass ich nass werde.« Etwas ernster fügte er hinzu: »Gebrauch doch deinen Verstand, mein Junge. Caldasons Gefühle sind in dieser Sache so belanglos wie die Ansicht eines Verurteilten über das Seil, mit dem er gehenkt werden soll.« »Könnt Ihr nicht irgendetwas für ihn tun?« »Unsere Bemühungen haben zu nichts geführt. Jetzt setzt er seine ganze Hoffnung auf die Quelle, falls er sie finden kann, und darauf, dass die Angehörigen des Bundes, die noch leben, in der Lage sind, sie zu entziffern. Beides wird nicht leicht.« »Dann müssen wir alles tun, um ihm zu helfen.« »In der Tat. Denn wenn er scheitert, gibt es nur eine einzige andere Möglichkeit, diese Bindung aufzulösen.« »Welche ist das?« »Sein Tod.« 146 »Aber er kann doch nicht getötet werden.« »Du weißt, dass dies nicht ganz wahr ist. Er ist nahezu unsterblich, aber eben nur nahezu. Es wäre schwierig, seinem Leben ein Ende zu setzen, aber nicht unmöglich.« »Was Ihr da sagt, macht mich nicht gerade glücklich, Meister.« »Es ist nicht meine Aufgabe, dich glücklich zu machen. Aber an deinem Überleben liegt mir durchaus sehr viel. Deshalb muss ich auch genau wissen, wie deine Verbindung zu Caldason beschaffen ist.« »Mein Überleben? Wie könnte ein kleiner Einblick in Reeths Visionen denn ...« »Erkennst du trotz all deiner Studien nicht die potenziell zerstörerische Kraft der Magie? Caldason ist an irgendeinen Aspekt der mächtigen Kunst gekettet, den nicht einmal wir verstehen. Vergiss nicht, was ich dir über meine Brüder im Bund erzählt habe, die getötet wurden, als sie einen freigelegten Energiekanal untersuchten. Diese Sache mit Caldason könnte für dich nicht minder gefährlich werden.« »Wir werden sowieso alle auf dieser Insel sterben«, murmelte Kutch. »Mag sein.« »Wäre es dann nicht besser, etwas zu unternehmen, statt...« »Uns sind die Hände gebunden, wenn man davon absieht, unsere Verteidigung so stark wie möglich zu machen. Ich könnte vielleicht versuchen, dich von der Insel zu schmuggeln. Es könnte klappen.« »Nein! Ich würde ... ich will lieber das Risiko eingehen und hier bei den Leuten bleiben, die ich kenne.« Phönix' alte Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wenn es das ist, was du willst, dann soll es so sein. Aber ich wollte dir eigentlich erklären, dass du Caldason nicht hilfst, indem du deine Studien vernachlässigst, und es hilft
147 ganz gewiss auch nicht dir selbst. Es ist eine Schande, dass du das Aufklären aufgegeben hast, wenn man bedenkt, wie selten diese Gabe ist. Davon abgesehen, besitzt du eine Begabung für die Kunst, und du bist klug genug, um den Status des Vollmagiers zu erlangen, wenn du daran arbeitest. Wirf das nicht einfach weg.« Der Bursche strahlte. »Meint Ihr das wirklich?« »Ich neige nicht zu hohler Schmeichelei.« »Es freut mich sehr, dass Ihr das sagt. In der letzten Zeit habe ich mir manchmal gewünscht, ich wäre Varees Weg gefolgt.« »Varee?« »Mein Bruder. Er ging fort und schloss sich dem Heer an, als ich noch ein Kind war.« »Ah, ja. Nun, ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Es wäre ein Verlust für die Kunst gewesen.« »Danke.« »Und zweifellos wäre auch dein Meister sehr enttäuscht gewesen.« »Ja, ich glaube, Domex wäre wütend gewesen. Aber ich bin froh, dass Ihr so viel Vertrauen zu mir habt, Phönix. Es bedeutet mir viel, dass Ihr ...« »Sch-scht!« »Was ist?«, flüsterte Kutch. »Jemand kommt«, warnte der Magier. »Ich kann aber nichts ...« Phönix brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Kutch strengte die Ohren an und lauschte. Zuerst hörte er nichts und zweifelte an den Sinnen des Magiers. Dann bewunderte er sie. Ganz schwach waren in der Ferne Hufschläge zu hören. Als sie lauter wurden, trat der Magier ans Fenster und spähte durch einen Riss im Fensterladen hinaus. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er. »Es sind Freunde.« Er ging zur Tür und öffnete sie; Kutch folgte ihm. Eine kalte Bö schlug ihnen entgegen. 148 Zwei Reiter kamen. Sie ritten schnell und trieben die Pferde mit Schlägen der Zügel an. Einer war Caldason, der sich im schneidenden Wind weit vorgebeugt hatte. Sein Mantel flatterte hinter ihm. Serrah ritt neben ihm, das blonde Haar wehte frei im Wind. Wenige Sekunden später waren sie da, und ihre dampfenden Pferde warfen gefrorene Erdbrocken hoch, als sie angehalten wurden. Caldason und Serrah stiegen rasch ab. »Reeth, Serrah«, grüßte Kutch sie. »Was wollt ihr denn hier?« »Wir wollten eigentlich etwas mit dir besprechen«, erklärte Serrah, »aber die Ereignisse haben uns überrollt.« »Was meint Ihr?«, wollte Phönix wissen. Er war offensichtlich ungehalten über die Störung. »Kommt und seht es selbst«, forderte Caldason ihn auf. Sie zogen Mäntel an und folgten ihm. Er führte sie von den Hütten weg bis zum Rand der Klippe. »Da unten.« Er deutete zum Meer. Zwei Schiffe näherten sich der Insel mit prallen purpurnen Segeln. »Schon wieder ein Angriff!«, rief Kutch. Die Piratengaleonen hissten die schwarzen Flaggen und schlugen den Kurs zu einem weniger abweisenden Strand der Insel ein. Serrah seufzte müde. »Es geht schon wieder los.« 149 Ein kleiner Krieg tobte zwischen unzähligen Quecksilbertropfen. Jede schimmernde Perle reflektierte ein Teilstück des Ereignisses. Sie zeigten Meuten, die durch zerstörte Straßen zogen. Steine werfend, kämpfend, Brände legend. Magische Entladungen schössen wie feurige Lanzen umher und setzten die Menschen in Brand. Die Zinnkügelchen gerannen und verdichteten sich zu einer glänzenden Flüssigkeit. Dann spalteten sie sich wieder auf, und andere, ähnliche Ereignisse wurden dargestellt. Ausgebrannte Gebäude, brandschatzende Horden. Kavallerieangriffe und Verhaftungen. Mehrmals durchlief die Flüssigkeit diesen Zyklus und strömte, formte sich neu, um Szenen von zivilem Ungehorsam zu zeigen. Leichen lagen auf den Plätzen der Stadt. Gefangene wurden mit Schwertern in Wagen getrieben. Exekutionen am Straßenrand. Die graue Substanz, durch die das Drama dargestellt wurde, brodelte und wallte am Boden einer Grube mit glatten Wänden. Zwei Männer standen am polierten Geländer, das den Schacht umgab, und blickten auf das sich ständig verändernde Schauspiel hinab. Sie trugen schöne Kleider aus magisch verstärkten Stoffen, über die Farben und feine Muster liefen. 150 Beide Männer waren alt. Schminke und Gesichtszauber konnten ihr Äußeres in gewissen Grenzen verbessern, doch überzeugend war es nicht. Die glatte Haut und das volle Haar waren bei näherem Hinschauen leicht als Fälschung zu erkennen. Der Älteste, Felderth Jacinth, der am meisten gefürchtete Mann im ganzen Reich, war geringfügig älter als der andere. Doch es war schwer zu entscheiden, wer von ihnen grimmiger dreinschaute.
»Genug«, entschied er und zog die Hand quer durch die Luft. Die Bilder in der Grube lösten sich auf, und die ewig unruhige Flüssigkeit fiel zusammen und brodelte etwas leiser weiter. »Glaubst du immer noch, diese Tumulte seien unwichtig, Rhylan?«, fragte der Älteste. Sein Bruder schien nicht sonderlich beunruhigt. »Wir wollen es doch nicht überbewerten. Es ist nicht so schlimm, wie die Visualisierungen zu zeigen scheinen. Die Störungen sind auf einzelne Orte begrenzt.« »Aber sie sollten eigentlich überhaupt nicht da sein.« »Unser System ist zu gut geordnet, als dass sich solcher Ungehorsam lange halten könnte. Außerdem ...« »Was?« »Außerdem wird der größere Teil der Massen durch ihre Verehrung für uns zurückgehalten.« »Bitte, Rhylan, wir wollen die Gutgläubigkeit nicht zu weit treiben.« Er wandte sich von der Grube und den schwefelartigen Dämpfen ab. Sein Bruder folgte ihm. Sie gingen in die Mitte einer gewaltigen, fensterlosen Kammer. Das Gewölbe war aus kostbarem Marmor gebaut, zwanzig Säulen erhoben sich anmutig zur hohen Decke. Eine Unzahl magischer Kugeln erfüllte den Raum mit einem weichen Licht. Den alten Überlieferungen entspre151 chend, war der Verlauf der unterirdischen Kraftlinien mit farbigen Pigmenten gekennzeichnet. Rot, blau, grün, golden. Ein Netzwerk von Linien überzog den Boden der Kammer. Ein Tisch, wie ein Schild geformt und groß wie eine Kutsche samt Gespann, nahm die Mitte des Raumes ein. Die gebündelten Kraftlinien liefen zu seinen kräftigen Beinen und erfüllten die Eiche mit magischer Essenz, um all die zu stärken, die sich am Tisch beraten wollten, und um das Motiv zu speisen, das in die Oberfläche des Tischs eingelassen war. Dem Abzeichen des Reichs - ein fliegender Adler vor zuckenden Blitzen - wurde so ein Scheinleben eingehaucht. Der Adler bewegte die mächtigen Schwingen wie im Flug, während rings um ihn die Blitze krachten. Mehr als zwanzig Mitglieder des Zentralrats von Rintarah saßen am Tisch. Wäre ein gewöhnlicher Bürger eingelassen worden, was jedoch niemals geschah, dann hätte er bemerkt, dass die anwesenden Männer und Frauen offensichtlich miteinander verwandt waren. Blutsverwandtschaft und nicht etwa gleichberechtigte Wahlen bestimmten die Zusammensetzung des Rates. Felderth Jacinth nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. Rhylan setzte sich auf den letzten freien Stuhl. »Einige von euch, darunter auch mein Bruder hier, sind der Ansicht, die gegenwärtige Störung der öffentlichen Ordnung sei nicht mehr als ein vorübergehendes Ärgernis«, begann der Älteste ohne Einleitung. »Ich bin anderer Ansicht. Was wir in den Straßen von Jecellam und in ganz Rintarah sehen, ist vielleicht nicht weit verbreitet, aber es ist bemerkenswert.« »Wichtiger als die Unruhen, die wir in der Vergangenheit überstanden haben?«, warf ein skeptischer Verwandter ein. »Ja, und zwar aus zwei Gründen. Zuerst einmal haben wir eine neue Wendung zu berücksichtigen: die Diamantinsel. Als man es den Dissidenten hier und in Gath Tam152 poor erlaubte, die Insel zu erreichen, wurden in der Brust eines jeden Radikalen Hoffnungen geweckt. Dieser verdammte Ort ist ein Leuchtfeuer für jeden Unzufriedenen, Unruhestifter und Revolutionär.« »Aber wir reden jetzt über eine verhältnismäßig kleine Zahl von Leuten«, wandte Rhylan ein. »Normalerweise würde uns dies in der Tat nicht weiter stören. Ich muss jetzt jedoch auf den zweiten Faktor zu sprechen kommen, den ich eigentlich nicht einmal zu nennen brauchte. Der Qalochier.« »Ah, ja. Ein Problem, mit dem man sich schon vor langer Zeit hätte befassen sollen.« »Wären wir imstande gewesen, unsere Differenzen über ihn beizulegen, dann wäre das Problem längst gelöst. Jetzt aber hat er sich mit den Abweichlern eingelassen, und das Ergebnis ist das Gleiche, als hätte man Öl auf glühende Scheite gegossen.« »Laufen wir nicht Gefahr, Caldasons Bedeutung zu überschätzen?«, warf ein weiterer Skeptiker ein. »Dieses Argument hat uns schon zu lange in die Irre geführt«, erwiderte der Älteste. »Wenn wir seine Herkunft und seine Möglichkeiten, Schaden anzurichten, außer Acht lassen, dann gereicht uns dies nur zum Nachteil.« »Ich stimme zu«, warf eine Teilnehmerin ein. »Caldason und die Abtrünnigen ergeben eine gefährliche Mischung. Es ist keine Frage, dass man dringend handeln muss.« »Aber wir wissen nicht einmal, ob er sich seiner latenten Fähigkeiten bewusst ist«, entgegnete Rhylan. »Ganz zu schweigen davon, sie auch einzusetzen.« »Da haben wir es. Wir wissen es nicht«, entgegnete Felderth Jacinth. »Sind wir bereit, dieses Risiko einzugehen?« »Wir müssen nicht von der möglichen Gefährlichkeit dieses Mannes überzeugt werden«, versicherte ihm jemand anderer. »Es sind die anzuwendenden Methoden, die viele von uns mit Besorgnis erfüllen.« 153 Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Beinahe die Hälfte der Anwesenden am Tisch nickte beifällig. »Da wir zugelassen haben, dass die Situation sich bis zu dieser Krise zuspitzt«, erklärte der Älteste ihm, »bleiben uns nicht viele Möglichkeiten.«
Rhylan sprach für die Zweifler. »Aber sollen wir uns wirklich mit unseren Todfeinden zusammentun? Das erscheint vielen von uns als sehr außergewöhnliche Maßnahme, Bruder.« »Wir tun uns nicht mit ihnen zusammen. Wir wollen ein gemeinsames Ziel erreichen, das trifft es wohl besser.« »Wie du es auch nennst, es ist beispiellos.« »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.« »Mag sein. Aber willst du wirklich sagen, dass die Situation auf der Diamantinsel die Kräfte von Rintarahs bewaffneten Streitkräften übersteigt? Wozu brauchen wir Gath Tampoor?« »Wir brauchen es nicht. In militärischer Hinsicht gibt es keine Probleme.« »Warum dann dieses ... dieses Bündnis?« »Gath Tampoor wird ohnehin handeln, ganz egal, was wir tun, und politisch ist dies aus ihrer Sicht auch sinnvoll. Sie müssen ihren Untertanen zeigen, dass Abweichler bestraft werden. Wenn wir unsererseits darauf verzichten zu handeln, dann könnte man das als Schwäche deuten, was unsere eigenen Unruhestifter nur noch weiter ermuntern würde.« »Das Argument hat einiges für sich«, murmelte ein Unterstützer. »Ich betone noch einmal, dass es sich nicht um ein Bündnis handelt«, fuhr der Älteste fort. »Es ist eine Frage des Eigeninteresses beider Reiche. Die Notwendigkeit erzeugt seltsame Gemeinsamkeiten, und ganz gleich, wie tief greifend unsere sonstigen Differenzen sind, die einzige Frage, auf die es wirklich ankommt, ist das Überleben.« 154 Das brachte die Versammlung wirkungsvoll zum Schweigen. Der Älteste wartete einen Augenblick, ehe er die Erklärung fortsetzte. »Es sollte keine Befürchtungen geben, dass unsere stille Übereinkunft mit Gath Tampoor uns in irgendeiner Weise kompromittiert. Ein Gedankenaustausch auf allerhöchster Ebene hat stattgefunden, und unsere Position wurde verdeutlicht. Es kann dort keinerlei falsche Vorstellungen etwa in der Hinsicht geben, dass wir zu Zugeständnissen irgendeiner Art bereit wären.« »Das ist beruhigend«, gab ein Kritiker zurück, der offenbar noch nicht ganz überzeugt war. »Wie gut sind denn eigentlich unsere Informationen über die Sicherheitslage in Gath Tampoors Einflussbereich?« »Anscheinend sind ihre Schwierigkeiten noch größer als unsere. Sie haben allerdings auch einige notorisch aufsässige Kolonien, namentlich Bhealfa. Wo im Übrigen Caldason geboren wurde.« »Hmm. Und die Rebellen? Wissen wir, wie es um sie steht?« »Unsere Informationen sind nicht mehr so gut wie früher. Sie wurden dezimiert, und viele Überlebende wurden verstreut. So wird es schwieriger, Erkenntnisse zu sammeln. Nicht, dass es jemals leicht gewesen wäre, Spione in ihren Reihen zu platzieren.« »Aber wir hatten doch einen Informanten, der sogar Zugang zum innersten Führungskreis hatte.« »Ja, und es war eine nützliche Quelle. Aber der Kontakt ist abgebrochen, gerade als einige sehr wichtige Informationen durchkamen. Wir wissen nicht, was aus diesem Informanten geworden ist. Wir vermuten, dass er während der Säuberungen von den Sicherheitskräften von Gath Tampoor getötet wurde.« »Welche Ironie«, bemerkte Rhylan. Sein Bruder nickte. »In der Tat.« 155 »Andererseits könnte der Informant auch einfach die Seiten gewechselt haben.« »Was meinst du damit?«, fragte der Älteste. »Es liegt doch nahe, dass auch Gath Tampoor hochrangige Quellen im so genannten Widerstand hatte, denn sonst hätten sie nicht so hart zuschlagen können. Vielleicht war es ein und dieselbe Person.« »Das ist möglich. Es spielt jetzt allerdings keine Rolle mehr. Unsere einzige Sorge ist Rintarahs innere Sicherheit, und wir wissen, dass die Rebellen zwar dezimiert sind, aber immer noch eine Gefahr darstellen. Damit kommen wir wieder auf die Maßnahmen zurück, die ich zu ergreifen gedenke.« Unruhe brach aus. Er bat mit erhobener Hand um Schweigen. »Für diejenigen, die hier nicht mitspielen wollen, möchte ich noch einen weiteren Faktor nennen.« Er drehte sich um und deutete zur Grube. Es war eine absichtlich dramatische Geste. »Wir wissen alle, dass im Energienetz seltsame Dinge geschehen. Ich fürchte, die Störungen werden noch zunehmen, wenn wir nicht sehr schnell etwas unternehmen, um deren Ursprung zu finden.« »Du willst doch nicht andeuten, dass eine Verbindung besteht?«, rief Rhylan aufgeregt. »Welche Beziehung könnte es zwischen den Rebellen und der Matrix geben?« »Ich weiß es nicht. Aber man kann sich leicht vorstellen, dass möglicherweise eine Verbindung zu Caldason existiert. Und auch Zerreiss dürfen wir nicht außer Acht lassen.« »Den Kriegsherrn? Es ist sicher angeraten, vorsichtig zu sein, mein Bruder, aber gehst du jetzt nicht etwas zu weit? Was hat er mit dem Bild zu tun, das du für uns gezeichnet hast?« »Vielleicht überhaupt nichts. Er könnte aber auch der Dreh- und Angelpunkt dieser Angelegenheit sein.« »Ach, nun hör schon auf, Felderth ...« 156 »Lass mich ausreden. Wir wissen, dass er in den Einöden im Norden ein Reich aufbaut, und allein deshalb ist er schon eine Bedrohung. Dann ist da noch die Expedition, die wir ausgeschickt haben, um seine Aktivitäten zu erkunden, und ebenso die von Gath Tampoor ausgesandte Expedition. Es gibt wohl keinen großen Zweifel mehr,
dass beide verloren sind, und es spricht vieles dafür, dass Zerreiss dafür verantwortlich ist. Falls sich Caldason, die Rebellen und Zerreiss zusammentun, dann sehen wir uns einer Bedrohung gegenüber, die viel gefährlicher ist als ein paar Verräter.« »Falls es so kommt, ja. Wir wollen aber doch nicht wegen rein hypothetischer Möglichkeiten in Panik geraten. Welche gemeinsamen Interessen haben sie denn schon?« »Der Hass auf die Imperien scheint mir ein recht gutes Motiv zu sein. Zerreiss empfindet für uns oder Gath Tampoor keinerlei Achtung. Er hat unsere und ihre Kolonien mit der gleichen Entschlossenheit angegriffen. Vielleicht sieht er einen Vorteil darin, sich mit unseren Feinden zu verbünden. Und ich vermute, so sieht es auch Gath Tampoor.« »Das sind doch alles nur Mutmaßungen. Wo sind die Beweise?« »Eindeutige Beweise habe ich keine. Ich habe allerdings einige eher indirekte Hinweise.« Er zog eine Pergamentrolle aus dem Gewand und legte sie auf den Tisch. »Ich habe in der letzten Zeit eine Anomalie beobachtet. Die letzten drei oder vier Gelegenheiten, als die Matrix gestört wurde, fielen mit bedeutsamen Daten zusammen. Ich habe es überprüft und herausgefunden, dass die Störungen mit Zerreiss' Eroberungen zusammenfielen. Daraufhin habe ich unsere Beamten angewiesen, eine Liste mit den Daten seiner Siege und wichtiger Schlachten anzufertigen. Alle fallen mit Störungen der Matrix zusammen. Es steht alles hier drin.« Er nickte zur Schriftrolle hin. 157 Rhylan nahm sie in die Hand. »Und was genau soll das nun belegen?« Seine Stimme verriet eine Unsicherheit, die vorher nicht da gewesen war. »Ich muss abermals gestehen, dass ich es nicht weiß. Es gibt aber einen eindeutigen Zusammenhang. Bei jeder seiner Eroberungen und bei jedem Schritt, mit dem er sich unserem Einflussbereich nähert, werden die Störungen stärker.« »Es gibt keinen Zweifel?« Sein Bruder studierte aufmerksam die Schriftrolle. »Nein.« Der Älteste wandte sich wieder an die Versammlung. »Könnt ihr es erkennen? Wir haben es hier mit einer beispiellosen Entwicklung zu tun. Wenn auch nur die geringste Gefahr besteht, dass dies unsere Position berührt, dann müssen wir handeln. Wir haben so lange überlebt, weil wir stets Bedrohungen früh genug erkannt und beim ersten Anzeichen einer Auflehnung gegen unsere Macht schonungslos durchgegriffen haben. Ihr solltet euch eine Frage stellen: Was haben wir zu verlieren, wenn wir handeln, abgesehen vom Leben einiger Untertanen? Stillhalten könnte hingegen verhängnisvoll sein.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich am Konferenztisch. »Ich schlage vor, dass wir darüber abstimmen«, sagte ein Unterstützer. »Wer für militärische Maßnahmen in der umrissenen Form ist«, sagte Jacinth, »der möge die Hand heben.« Er musterte die Runde. »Gegenstimmen?« Eine rasche Zählung folgte. »Angenommen.« Aber nur knapp. Rhylan erhob sich. »Ein Wort im Namen der Antragsgegner, mein Bruder?« Der Älteste nickte. »Wie üblich liegt Weisheit in dem, was du hier gesagt hast. Aber ich weiß, dass du die Vorbehalte, die einige von 158 uns haben, achtest. Vor diesem Hintergrund möchte ich die Entscheidung des Rates ergänzen.« »Selbstverständlich.« »Wir sollten über alle Schritte der Operation vollständig informiert werden.« »Das bedarf keiner Erörterung.« »Und im Falle eines ungünstigen Verlaufs, falls wir also Hinweise bekommen, dass die Unternehmung scheitern könnte, soll eine weitere Abstimmung darüber stattfinden, ob unsere Kräfte sofort zurückbeordert werden. Der Ausgang dieser Abstimmung wäre dann auf jeden Fall bindend.« »Du bittest um nicht mehr als das, was ohnehin freiwillig gewährt worden wäre, Rhylan. So sei es.« Er stand auf. »Wir haben viel zu tun, und jeder kennt seine Aufgaben. Wenn niemand mehr das Wort ergreifen will... gut. Dann schlage ich vor, dass wir uns vertagen und unsere jeweiligen Aufgaben erledigen.« Der Rat löste sich zu tuschelnden Gruppen auf. Die Brüder blieben noch und kehrten gemeinsam zur Grube zurück. Dort machte der Älteste eine Geste und reaktivierte die silberne Flüssigkeit. Wieder erschienen Visionen. Anblicke der Straßen, Plätze und Parks von Jecellam, der einst ruhigsten aller Hauptstädte, in der jetzt allenthalben das Chaos losbrach. Es hatte wieder zu schneien begonnen, die Schultern von Abweichlern und Gesetzeshütern wurden bestäubt und die ungesetzlichen Feuer gelöscht. Doch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit konnte der Schnee nicht ersticken. Auf einen stummen Befehl vom Ältesten erschien der größte Hafen des Reichs. Eine gewaltige Invasionsflotte lag dort vor Anker. Lange Ketten von Schauerleuten luden Vorräte von hunderten von Wagen, die sich auf der Mole 159 drängten, auf die Schiffe. Trupps von Hafenpolizisten wanderten in der Menge umher und bereiteten die
Einschiffung des wartenden Heeres vor. Die Schiffe waren so zahlreich, dass sie bis in die Bucht hinaus hintereinander warten mussten. Es war eine endlose Reihe von nickenden Masten und flatternden Segeln. Dahinter lag das weite, unruhige Meer. 160 In Sichtweite der Diamantinsel lagen ein Dutzend Schiffe mit den Farben des Freibeuterbündnisses vor Anker. Die kleine Flotte war unlängst reduziert worden. Nicht durch Verluste im Kampf, sondern durch eine weniger vorhersehbare Ursache, die eine gewisse Wut erzeugte. Auf dem Deck des größten Schiffs machte Kingdom Vance seinem Ärger Luft. »Drei Schiffe! Drei verdammte Schiffe und vierzig Männer!« »Das sagtet Ihr schon«, gab Kinsel Rukanis zurück. Vance drehte sich von der Reling zum Sänger um. »Findet Ihr das etwa komisch?« »Aufschlussreich wäre das bessere Wort.« Er schauderte in der Kälte. Seine verschlissene Kleidung bot ihm wenig Schutz. »Aufschlussreich? Das Einzige, was ich hier sehe, sind einige Verräter, die sich auf die andere Seite geschlagen haben.« »Habt Ihr denn schon über den Grund nachgedacht?« »Der Grund?« Seine Stimme klang drohend. »Sie sind Feiglinge, das ist der Grund!« »Ist es nicht denkbar, dass sie desertiert sind, weil sie eingesehen haben, dass Ihr etwas Unmögliches versucht?« 161 »Das ist nur eine andere Art zu sagen, dass sie kein Rückgrat haben. Ich bin ohne diesen Abschaum besser dran.« »Oder könnte es sein, dass sie die Position der Rebellen als eine gerechte Sache angesehen haben?« Vance lachte höhnisch. »Sie sind Narren, wenn sie das denken, und Feiglinge sind sie sowieso. Die haben einander verdient.« »Ihr überrascht mich, Kapitän. Ich dachte, Ihr fühlt Euch den Rebellen verbunden, da sie wie Ihr selbst gegen die Großmächte antreten.« »Da seid Ihr aber im Irrtum, Sänger. Ich empfinde keine Liebe für die Reiche, aber bei denen weiß man wenigstens, woran man ist. Sie haben die Macht und keine Skrupel, diese Macht auch einzusetzen. Das kann ich respektieren. Das Einzige, was in dieser Welt zählt, ist das, was man mit beiden Händen packen kann.« »Wenn Ihr das wirklich glaubt, dann tut Ihr mir Leid.« »Hebt Euch das Mitleid für Euch selbst auf, Rukanis. Und denkt über Folgendes nach: Die Menschen auf dieser Insel haben sich entschieden, ihre Heimat zu verlassen und hierher zu kommen. Dadurch haben sie uns das Land genommen, das wir für uns selbst haben wollten. Damit sind sie meine Feinde.« »Wer bedauert sich jetzt selbst? Ihr habt Euch für Eure Lebensart entschieden. Hat man Euch gezwungen, ein Pirat zu werden? Hat Euch jemand eine Klinge an den Hals gesetzt? Nein. Trefft eine Übereinkunft mit den Inselbewohnern, Vance, wie es die Deserteure getan haben. Beendet diesen Wahnsinn.« »Das bekomme ich von Euch öfter zu hören als irgendeine andere Eurer Arien, und ich bin es allmählich leid. Es gibt keinen Waffenstillstand und kein Entgegenkommen. Und diejenigen, die weggelaufen sind, werden dafür zahlen, wenn ich die Insel einnehme.« »Falls Ihr sie einnehmt.« 162 Blitzschnell schlug Vance mit der Faust zu und traf Rukanis seitlich am Kopf. Es war ein unbeherrschter Schlag, der den Sänger umgeworfen hätte, wenn er nicht mit dem Rücken am Mast gelehnt hätte. Seine Wange rötete sich sofort, ein Blutfaden rann aus der angeschwollenen Lippe. »Ihr vergesst die Natur unserer Beziehung«, zischte Vance und beugte sich drohend über den Sänger. »Wir sind Gefangener und Herr, keine Gleichgestellten. Und erst recht seid Ihr niemand, von dem ich einen Rat annehmen würde.« Rukanis spuckte Blut aufs Deck und erwiderte den Blick des Mannes. »Ist die Wahrheit für Euch wirklich eine so unvertraute Erfahrung?« Der Pirat machte Anstalten, Rukanis noch einmal zu schlagen, dann hielt er inne und beruhigte sich etwas. »Zum Teufel damit.« Er wandte sich ab und ließ Rukanis stehen, der sich den Mund mit einem Hemdsärmel abtupfte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich bekomme, was ich will«, versprach Vance. »Und Ihr werdet mir dabei helfen.« »Tut sich etwas?« Serrah blickte zu den Schiffen hinaus, die ein Stück vor der Küste vor Anker lagen. »Nein.« Caldason bot ihr das Fernrohr an. »Sieh selbst.« »Es ist ziemlich sinnlos, überhaupt nichts zu beobachten, was? Komm, wir können hier sowieso nichts tun. Es sind genügend Späher aufgestellt.« Sie liefen weiter über die Sandbank. Ein steifer Wind wehte, der sie trotz der Pelzmäntel und der dicken Handschuhe und Kapuzen auskühlte. »Irgendwie kann ich das kaum glauben«, sagte sie. »Meinst du die Piraten?« »Ja. Als sie mit weißen Flaggen kamen, dachte ich, es sei wieder nur ein Trick.«
»Darrok war überzeugt davon.« 163 »Vielleicht hat er sogar Recht.« »Meinst du, sie setzen uns eine Natter an die Brust? Ich glaube es nicht. Das wäre zu plump. Aber die Überläufer werden unter Beobachtung bleiben, bis wir sicher sind.« »Es verrät uns etwas über die Moral unter Vances Kommando, wenn so viele die Seiten wechseln, was?« »Es verrät uns nur, dass dreiundvierzig seiner Kumpane entmutigt genug waren, um zu desertieren. Das ist nicht unbedingt eine Schwächung für Vance. Möglicherweise macht es ihn sogar noch gefährlicher.« »Wieso das?« »Er wird noch erbitterter sein, er hat noch mehr Grund, uns zu hassen und die Insel zu erobern. Außerdem gibt es jetzt keine unsicheren Kandidaten mehr in seinen Reihen, und die Streitmacht, die er gegen uns ausschickt, ist in sich gefestigt.« »Nun ja, wenigstens haben wir dadurch drei Schiffe mehr. Da wir gerade davon reden ...« Sie deutete nach vorn. Sie konnten eine kleine Bucht überblicken, die von den Inselbewohnern als Hafen benutzt wurde. Ein Zweimaster mit Rahsegeln ankerte im Flachwasser. Ein halbes Dutzend kleinerer Schiffe bildete eine behelfsmäßige Mole. »Das ist eine Brigg«, verkündete Caldason. »Bist du auf einmal ein Experte für Schiffstypen?« Er lächelte. »Nein. Das ist das Schiff, das mich hergebracht hat.« »Es kam mir doch gleich bekannt vor. Ist es groß genug für die Reise, die du vor dir hast?« »Darrok behauptet es. Es muss reichen, weil wir nicht gerade viele Schiffe übrig haben.« »Was ist mit den Galeonen, mit denen die Piraten gekommen sind?« »Das sind Kriegsschiffe, die wir hier brauchen. Die Brigg ist auf Schnelligkeit gebaut, nicht für Seeschlachten.« 164 »Aber du weißt nicht, wie die Clepsydra verteidigt wird. Ein Kriegsschiff könnte ...« »Wir können nur das einsetzen, was wir haben, Serrah. Außerdem, je schneller das Schiff, desto schneller die Reise. Es ist wichtig, so schnell wie möglich zurückzukommen, falls die Insel tatsächlich blockiert werden sollte.« »Glaubst du, es kommt so weit?« »Das würde ich an Stelle der Reiche jedenfalls tun. Das Geschwür isolieren.« »Vielleicht sollten wir die Schiffe nehmen und einfach von hier verschwinden.« »Wohin? Wir haben nicht viele Möglichkeiten, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Nein, es muss die Insel sein oder gar nichts.« »Aber natürlich.« Sie nahm seine Hand. »Was auch immer geschieht, wenigstens sind wir zusammen. Verdammt, jetzt werde ich noch ganz gefühlsduselig. Warum bringst du mich auch in so eine Verfassung?« »Ich? Ich habe doch nicht...« »Schau mal! Sind das nicht Zahgadiah und Pallidea? Da drüben an der Landungsbrücke? Lass uns runtergehen.« Sie begannen den Abstieg. Nachdem sie einander knapp begrüßt hatten, verkündete Darrok die Neuigkeiten. »Wir haben von den Deserteuren etwas Interessantes erfahren«, erklärte er, »und ich denke, es dürfte Euch ein wenig Mut machen.« »Dann spuckt es aus«, sagte Caldason. »Vance hält tatsächlich Euren Freund Rukanis gefangen.« »Ich wusste es!«, rief Serrah. »Wie geht es ihm? Konnten sie das auch sagen?« »Es ist gewiss keine angenehme Erfahrung, Vances Gefangener zu sein. Er hat natürlich einiges einstecken müssen. Aber er ist am Leben.« 165 »Ihr wisst gar nicht, welche Erleichterung das ist.« Pallidea, die eine Hand auf den Rand der schwebenden Scheibe gelegt hatte, mahnte zur Vorsicht. »Vielleicht solltet Ihr Euch nicht zu früh freuen. Das ist noch nicht alles.« »Nun erzählt schon.« »Ich sagte ja, dass es Euch ein wenig Mut machen würde«, fuhr Darrok fort. »Die weniger gute Nachricht ist, dass Vance und sein Bündnis glauben, sie könnten Rukanis als Verhandlungsmasse einsetzen, um uns zu bewegen, die Insel aufzugeben.« »So ein Handel kommt nicht infrage«, sagte Caldason. »Das müssten sie eigentlich wissen.« Er bemerkte Serrahs Gesichtsausdruck. »Das geht auf keinen Fall. Wie könnten wir es tun? Und Kinsel wäre der Erste, der sagt, dass dieses Unternehmen wichtiger ist als das Leben eines einzigen Menschen.« »Vance sieht es ähnlich«, stimmte Darrok zu. »Aber gerade weil ihm das Leben eines Mannes nicht viel bedeutet, könnte er denken, dass es einen Versuch wert ist.« »Was hat er vor?«, fragte Serrah. »Nun, wir wissen keine Einzelheiten, aber Ihr könnt darauf wetten, dass es eindrucksvoll und brutal sein wird. Übergebt mir die Insel oder seht zu, wie euer Freund an der Rah in einem Käfig langsam verbrannt wird. So
ungefähr würde Vance vorgehen.« »Wir müssen Kinsel da rausholen, Reeth.« »Ja.« »Und zwar bald. Sofort. Bevor wir uns auf die Reise begeben, die du planst.« »Natürlich, Serrah. Auch wenn ich, was das >wir< angeht, noch nicht sicher bin.« »Darüber haben wir doch schon geredet. Ich komme mit, und Kutch kommt auch mit. Du hast es versprochen.« »Es kann gefährlich werden.« »Warum fährst du dann damit?« Sie deutete mit dem 166 Daumen zur Brigg. »Wenn die Reise gefährlich wird, solltest du dir ein Kriegsschiff und eine größere Mannschaft nehmen.« »Ich habe es dir doch schon erklärt, es ist...« »Schön. Dann wäre das ja geregelt.« »Serrah, wenn du vielleicht einen Augenblick darüber nachdenken würdest, dann würdest du einsehen ...« Darrok räusperte sich. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber glaubt Ihr nicht, es sei sinnvoll, dies auf eine andere Gelegenheit zu verschieben? Außerdem bekommen wir Gesellschaft.« An der Landungsbrücke traf ein Wagen ein. Phönix lenkte ihn, Kutch saß neben ihm. Der Bursche kletterte herunter und kam zu den anderen gerannt, während der Magier das Pferd festband. »Rate mal, was ich gerade gehört habe, Kutch«, sagte Serrah statt einer Begrüßung. »Kinsel ist am Leben.« »Das haben wir auch schon gehört. Wundervoll, nicht wahr?« »Es wäre wundervoll, wenn wir ihn aus Vances Klauen befreien könnten«, sagte Caldason. »Können wir das?« Phönix kam ein wenig keuchend zu ihnen. »Das ist eine gute Frage. Haben wir schon einen Plan?« »Wir haben es doch gerade erst erfahren«, informierte Caldason ihn. »Ich berufe für heute Nachmittag eine Sondersitzung des Rates ein«, schlug Darrok vor. »Uns wird schon etwas einfallen.« Caldason nickte. »In Ordnung. Aber wir wollen nicht zu lange herumreden. Wir müssen schnell handeln.« »Ich garantiere, dass heute noch eine Entscheidung fallen wird. Unternehmt aber unterdessen nichts auf eigene Faust, habt Ihr verstanden?« »Als ob ich das jemals getan hätte.« 167 »Er meint es ernst, Reeth«, schärfte Serrah ihm ein. »Ich bin sehr dafür, Kinsel so schnell wie möglich zu retten, aber es ist wenig sinnvoll, unüberlegt loszuschlagen.« »Ich unternehme nichts auf eigene Faust. Es gibt aber eine Grenze, wie lange ich mich hinhalten lasse. Um Kinsels und um meiner selbst willen. Ich werde nicht ewig warten, wenn damit verbunden ist, meine Reise noch viel länger aufzuschieben.« »Da wir erst in ein paar Stunden über Rukanis entscheiden werden«, sagte Phönix, »können wir natürlich die Zeit nutzen und Eure Expedition vorbereiten.« »Deshalb sind wir hier«, erinnerte Darrok ihn. »Ich für meinen Teil habe genügend Vorräte zusammengebettelt, um Euch etwa zwei Wochen Zeit zu geben, Reeth. Es war allerdings eine höllische Aufgabe, den Rat zu bewegen, sich davon zu trennen. Und es sind keine luxuriösen Esswaren. Eiserne Rationen, die Ihr streng einteilen müsst. Ihr braucht auch warme Kleidung, da Ihr nach Norden fahrt.« »Wer ist der Kapitän?« »Rad Cheross, mit dem Ihr schon aus Bhealfa hierher gekommen seid.« »Gut. Und die Besatzung?« »Überwiegend seine eigenen Leute, ausnahmslos Freiwillige. Etwas mehr als ein Dutzend, was meines Wissens ein wenig knapp ist, aber ausreichen sollte, um ein Schiff dieser Größe zu führen.« »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?« »Ihr werdet eine kleine Menge Gold an Bord haben. Nicht gerade ein Vermögen, aber es könnte nützlich sein, falls Ihr etwas bezahlen müsst... für welche Gegenleistung auch immer.« »Gold? Ich dachte, die Schatzkammer des Widerstands sei leer.« »Ist sie auch.« »Ist es Euer eigenes Geld?« 168 »Ich habe Euch noch nie so verlegen gesehen, Zahgadiah«, mischte sich Serrah ein. »Seid doch still«, gab Darrok zurück. Seine Wangen verfärbten sich sichtlich. »Es scheint, als wüchsen Eure Sympathien für die Sache der Rebellen mit jedem Tag«, hakte Caldason nach. »Das ist ein Darlehen. Ich will es zurückhaben, wenn Ihr es nicht braucht.« »Das ist großzügig, vielen Dank.« »Tut nicht so freundlich, Reeth, das halte ich nicht aus. Passt nur auf mein verdammtes Gold auf.« »Was die Bruderschaft der Magier angeht«, schaltete sich Phönix ein, »so werden wir Euch einen gewissen magischen Schutz und einen kleinen Vorrat an Munition geben. Nicht viel, aber eben so viel, wie wir entbehren
können.« »Ich weiß es zu schätzen«, sagte Caldason, »auch wenn ich mich mit einem ordentlichen Stück gehärtetem Stahl in der Hand meist erheblich besser fühle.« »Ihr wisst nicht, worauf Ihr da draußen trefft. Vergesst nicht, dass Ihr nach Artefakten der Gründer sucht. Wir haben keine Ahnung, wie sie verteidigt werden. Ihr braucht alle Unterstützung, die Ihr nur bekommen könnt.« »Wer wird an Bord sein, um mit der Magie umzugehen?« »Das wäre ich am liebsten selbst, aber leider war das dem Rat nicht zuzumuten. Man war der Meinung, ich müsse hier bleiben und die magische Verteidigung der Insel überwachen. Das Gleiche gilt für die anderen Magier, die wir haben, da ihre Zahl so bedauernswert klein ist.« »Wer ist es dann?« »Kutch.« »Mann, das ist aber eine höllische Verantwortung für den Burschen. Ist nicht persönlich gemeint, Kutch.« »Ich schaffe das schon, Reeth«, protestierte er. »Phönix hat mich ausgebildet. Du hast sowieso gesagt, ich dürfe 169 mitkommen, also kann ich mich auch nützlich machen. Ich werde dafür sorgen, dass wir keinen Ärger bekommen.« »Und wer sorgt dafür, dass du keinen bekommst?« »Ich«, bemerkte Serrah. »Ich behalte Kutch im Auge. Du konzentrierst dich auf die Suche.« »Ihr habt Euch alles schon ausgedacht, was?« »Ja. Ihr wisst ja, wie knapp wir mit allem sind. Es ist ein Wunder, dass wir den Rat überzeugen konnten, diesem Unternehmen überhaupt zuzustimmen. Der Nachteil ist, dass Ihr nehmen müsst, was Ihr bekommt. Wie dieses Schiff dort.« Caldason grinste. »Es sieht aus, als hätte ich keine andere Wahl.« »So ist es. Damit müsst Ihr leben.« »Ich bringe Euch ja nicht gern auf den Boden der Tatsachen zurück«, unterbrach Phönix, »aber Euch ist doch klar, dass dies alles möglicherweise rein akademische Fragen sind, oder?« »Ich weiß, dass es nicht leicht wird«, meinte Caldason ernst. »Wir wollen uns einmal genau überlegen, was das bedeutet, ja? Der Bund und einige andere Gelehrte der edlen Kunst glauben, dass die Alten einen Fundus von Wissen hinterlassen haben, den wir die Quelle nennen, auch wenn dies nicht der Begriff sein dürfte, den die Gründer selbst verwendet haben. Selbst wenn wir annehmen, dies sei eine Realität und kein bloßes Wunschdenken, wissen wir noch nicht, was es ist und ob es überhaupt überlebt hat.« »Das habe ich alles schon einmal gehört.« »Es ist wichtig, es zu wiederholen. Wir glauben, dass die Quelle auf irgendeine Weise mit der Clepsydra in Verbindung steht. Wir wissen aber nicht einmal, was dieses Ding überhaupt ist. Wir haben eine Ahnung, die wir großzügig in den Rang einer Theorie erheben. Sie beruht auf winzi170 gen Bruchstücken der Überlieferung der Gründer, die Raum für vielfältige Deutungsmöglichkeiten lässt, und wir haben eine Vorstellung, wo diese Geheimnisse versteckt sein könnten. Wir haben dagegen überhaupt keine Ahnung, wie sie gegebenenfalls verteidigt werden. Und falls die Quelle jemals entdeckt wird, sind wir weit davon entfernt, sie zu verstehen, ganz zu schweigen davon, sie sinnvoll einzusetzen.« »Das klingt ganz nach den Realitäten, mit denen ich mich täglich abfinden muss.« »Es gibt überhaupt keinen Grund, so schnodderig damit umzugehen, Caldason.« »Ich meine es völlig ernst. So gering die Möglichkeit für mich und für das, was vom Widerstand noch übrig ist, auch sein mag, ich will sie ergreifen.« »Sehr gut. In diesem Fall kann ich vielleicht ein wenig dabei helfen, die Gegend einzugrenzen, in der Ihr suchen müsst.« Er zeichnete mit dem Zeigefinger ein schimmerndes Rechteck in die Luft und machte eine Geste. Die Figur füllte sich mit Farben und Formen und zeigte schließlich eine blaugrüne Fläche mit zahllosen kleinen Punkten. »Dies ist das Seegebiet, in dem wir die Insel der Clepsydra vermuten«, erklärte Phönix. »In den letzten Monaten haben meine Kollegen und ich intensiv alle entsprechenden Aufzeichnungen untersucht, um den Standort näher einzugrenzen. Wir waren nicht völlig erfolgreich, ganz und gar nicht. Ich will Euch auch warnen, dass dies eine rein theoretische Überlegung ist, die völlig falsch sein kann. Wir glauben aber, dass wir das Gebiet folgendermaßen eingrenzen können.« Er berührte die obere rechte Ecke der magischen Karte, wo besonders viele Pünktchen konzentriert waren. Sofort löste sich die Karte auf und wurde durch eine Vergrößerung des Ausschnitts ersetzt. Die Punkte wuchsen zu Flächen mit unregelmäßigen, aber klar erkennbaren 171 Rändern heran. »Wir vermuten, dass Euer Ziel in dieser Inselgruppe liegt.« »Wie viele sind es? Vierzig oder fünfzig?«, schätzte Caldason. »So ungefähr, ja. Immer noch eine große Zahl, aber erheblich weniger als die hunderte von Inseln, die im gesamten Gebiet verteilt sind.« »Wie groß sind sie?«, wollte Pallidea wissen. Sie starrte neugierig die schwebende Karte an.
»Die größten Inseln erreichen etwa ein Zehntel der Größe der Diamantinsel. Die meisten sind viel kleiner, einige sind kaum mehr als Felsblöcke. Das könnte Auswirkungen auf Eure Suche haben, Reeth, wenn man annimmt, dass die kleinsten auch die unwahrscheinlichsten sind. Aber da wir nicht wissen, welche Form die Quelle hat und wie die Clepsydra beschaffen ist, haben wir nicht mehr als vage Vermutungen.« »Tja, das ist immerhin besser als nichts«, meinte Caldason. »Ich sorge dafür, dass Euer Kapitän eine Kopie bekommt«, versprach Phönix. Er winkte, und die Karte zerstob zu goldenen Funken, die langsam verglühten. Ein Hauch von Schwefel blieb in der kalten Luft zurück. »Anscheinend geht es gut voran«, meinte Darrok. »Es sieht so aus, als solltet Ihr bald aufbrechen können, Reeth. Jedenfalls, wenn wir umgehend etwas wegen Rukanis unternehmen.« »Ich hätte wohl vorher fragen sollen, aber ich hoffe, meine Abwesenheit hindert Euch nicht daran, die Piraten abzuwehren.« »Ich glaube, wir kommen eine Weile ohne Euch zurecht«, meinte Darrok trocken. »Schließlich habe ich die Insel jahrelang ohne irgendwelche Hilfe von außen verteidigt.« »Autsch«, machte Serrah. 172 »Außerdem«, fuhr Darrok fort, »habe ich, wie Ihr wisst, mit Vance noch ein Hühnchen zu rupfen, und das würde ich gern persönlich tun.« »Das kann ich verstehen«, räumte Caldason ein. »Ich denke also, es wäre im Augenblick das Beste, wenn wir ...« »Was, zum Teufel, ist das da?« Serrah deutete ins Landesinnere. Sie blickten alle zu einem Stück ebenem Grasland hinter dem Strand. Ein seltsames Gerät bewegte sich dort langsam über das Grün. Es war ein offener Wagen, der für sich genommen noch nicht bemerkenswert war. Allerdings besaß er weder Deichsel noch ein Pferd, das ihn zog. Ein blau gekleideter Mann saß auf dem Kutschbock, aber er hatte die Hände in den Schoß gelegt, weil es keine Zügel gab. »Ach«, sagte Phönix. »Das ist Frakk, ein Magier, der aus Bhealfa hierher geflohen ist. Er ist unabhängig, kein Mitglied des Bundes oder so.« »Aber was macht er da?«, wollte Serrah wissen. »Er probiert eine geniale Idee aus. Eine Kutsche, die von der magischen Essenz angetrieben wird. Möglicherweise ist er der Einzige, der nicht aus Überzeugung, sondern aus persönlicher Verärgerung hierher gekommen ist.« »Was meint Ihr damit?« »Er hat in Bhealfa versucht, verschiedene Leute für seine Erfindung zu interessieren. Anscheinend hat er sie sogar den Bastorrans vorgeführt. Sie haben es für einen Witz gehalten und ihn öffentlich gedemütigt, und beinahe wäre er sogar ausgepeitscht worden. Er war so wütend, dass er sich auf die Seite des Widerstands geschlagen hat und mit der Idee zu uns gekommen ist.« »Das ist doch verrückt.« »Aber klug«, meinte Darrok. »Eine dieser Ideen, die so einfach sind, dass man sich fragt, warum noch niemand 173 vorher darauf gekommen ist. Phönix hat ihm bei der Weiterentwicklung geholfen.« »Ja«, bestätigte der Magier. »Vorher ist der Apparat mit einem Vorrat an magischer Energie gelaufen, die an Bord mitgeführt wurde. Jetzt versuchen wir, die Antriebskraft direkt aus dem magischen Netz zu gewinnen.« »Ich dachte, es sei interessant genug, um einige Mittel darauf zu verwenden«, erklärte Darrok. »Einfallsreich ist es gewiss«, stimmte Caldason zu, während er den Wagen über die schlammige Wiese holpern sah. »Aber wozu soll es gut sein?« Darrok zuckte mit den Achseln. »Verdammt will ich sein, wenn ich das wüsste.« 174 Der östliche Teil Bhealfas bestand überwiegend aus mäandernden Flüssen und Buschwerk. Für Prinz Melyobars Hofstaat, der über der Erde schwebte, spielte das Gelände keine Rolle. Es stellte allerdings das zahlreiche Gefolge, das den fliegenden Palästen folgte, vor große Probleme. So musste schließlich auch der Hof sein Tempo drosseln. Jede Verminderung der Geschwindigkeit machte den Prinzen nervös, Devlor Bastorran und Lahon Meakin empfanden dies dagegen als kleine Erleichterung. Sie saßen in einer Kutsche, die mit hoher Geschwindigkeit durch die unwirtliche Landschaft rollte. Der mit Schlamm bespritzte Wagen holperte und bockte, warf sie auf ihren Plätzen hin und her und schüttelte ihre Knochen durch. »Zum Teufel mit dem Mann!«, fluchte Bastorran. »Sir?« »Melyobar. Ich muss dieses Elend jedes Mal über mich ergehen lassen, wenn ich gezwungen bin, ihm meine Aufwartung zu machen.« »Dann wurde Euch schon früher einmal eine Audienz gewährt, Sir?« »Mehrmals sogar, als ich meinen Onkel begleitet habe. Es war stets eine Posse.« 175
»Aber dieses Mal ist es doch etwas anderes, nicht wahr? Euer erstes Treffen mit Seiner Hoheit, seit Ihr zum Hohen Clanchef ernannt wurdet.« »Ich mache es nur, weil ich es nicht länger aufschieben konnte. Wenn es das Protokoll nicht von mir verlangen würde, dann wäre ich überhaupt nicht hier. Du siehst so schockiert drein, Meakin. Findest du meine Haltung etwa gewissenlos?« »Äh, aber nein, Sir. Es ist nur ... nun ja, ein wenig überraschend vielleicht.« »Ich bin der Monarchie als Institution ebenso verpflichtet wie jeder andere, jedoch gilt dies eher für die Institution als für den Amtsinhaber selbst. Sei doch ehrlich, du kannst nicht vorgeben, dir seien die Geschichten über ihn nicht bekannt.« »Es gibt immer Gerüchte, Sir, und zugegebenermaßen klingen die meisten recht eigenartig.« »Alles, was du über Melyobar gehört hast, entspricht der Wahrheit, und es war noch längst nicht alles. Er ist kein würdiger Nachfolger des alten Königs Narbetton. Man kann die beiden überhaupt nicht vergleichen. Und sei gewarnt. Du wirst keinesfalls den Prinzen aus eigenem Antrieb ansprechen. Sollte er seinerseits mit dir reden, dann sei in deinen Antworten kurz und ausweichend. Du lächelst, aber dies ist eine ernste Angelegenheit.« »Sir.« Meakin wurde sofort wieder ernst. »Der Mann hat... sagen wir einmal, er hat einige recht ungewöhnliche Ansichten. Wenn du sie missachtest, oder, die Götter mögen es verhüten, sie sogar infrage stellst, dann ist das mehr als ein leichtes Vergehen. Es ist ausgesprochen gefährlich. Also halte den Mund und richte dich nach mir.« »Jawohl, Sir.« Sie rumpelten durch ein besonders tiefes Schlagloch. Bastorran stieß einen halblauten, heftigen Fluch aus. Mea176 kin beugte sich zum Fenster und blickte zum schwebenden Palast. Es war eine riesige, erstaunliche Anlage, die eine Prozession von kleineren, aber immer noch unförmigen schwebenden Gebäuden anführte, welche beinahe den ganzen Himmel einnahmen. »Hast du das schon einmal gesehen?«, fragte Bastorran. »Einmal, als ich ein kleiner Junge war. Zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder, und aus großer Entfernung. Ich habe es nie vergessen.« Sein Herr und Meister grunzte abfällig und gelangweilt. »Du wirst es bald aus nächster Nähe sehen können.« Wenn der fliegende Konvoi Erstaunen hervorrief, dann war das, was sich unter ihm abspielte, geeignet, eine ganz andere Art von Ehrfurcht zu wecken. Ihr Wagen holperte in einem Zug verschiedenartiger Gefolgsleute einher. Ringsherum war, so weit das Auge reichte, die Narrheit in jeder nur denkbaren Erscheinungsform unterwegs. Unzählige Mengen von Wagen, Kutschen, Fiakern, Landauern und Karren rumpelten durchs Land. Wie seetüchtige Schiffe schnitten sie durch ein Meer von uniformierten und zivilen Berittenen. Weit hinter den Fahrzeugen und den Pferden bemühte sich eine Vielzahl von Menschen, zu Fuß Schritt zu halten. Es erinnerte an einen Goldrausch, bei dem jeder sich beeilte, um sich seinen Anteil möglichst schnell zu schnappen. In diesem Fall war das Ziel allerdings, mit dem Spektakel mitzuhalten, das sich ein ganzes Stück oberhalb abspielte. »Ah«, machte Bastorran. »Da ist unsere Eskorte. Festhalten. Die Fahrt wird sogar noch ungemütlicher.« Meakin blickte zum Chaos auf der Seite seines Herrn hinaus, konnte aber nicht verstehen, was dort vor sich ging, und eine Eskorte konnte er auch nicht erkennen. Dann fiel ihm eine seltsame gegenläufige Bewegung auf. Eine Kutsche, die ihrer eigenen nicht unähnlich war, schob sich seitwärts durch die Flut der Menschen. Meakin konn177 te das königliche Wappen auf der Seite erkennen, und der Kutscher trug die Uniform der Palastwache. »Sie verstehen sich wirklich darauf, eine Kutsche durch dieses Durcheinander zu steuern«, erklärte Bastorran. »Ich hoffe, du bist gut in Form, Meakin.« »Ich denke schon, Sir.« »Es wird auch nötig sein. Mach dich bereit.« Die königliche Kutsche fuhr jetzt neben ihrer eigenen. Ihr Fahrer und Bastorrans Kutscher riefen sich etwas zu, das im allgemeinen Lärm nicht zu verstehen war. Dann öffnete sich die Tür der Kutsche. Drinnen winkte ein weiterer Uniformierter. Bastorran öffnete seine Tür. Ein Schwall kalter Luft wehte herein. »Komm jetzt«, sagte er. »Und zögere nicht, wenn du dir nicht den Hals brechen willst.« Der Paladin packte die Hand, die ihm von der anderen Kutsche entgegengestreckt wurde, und sprang. Meakin rutschte zur offenen Tür hinüber. Er schaute hinaus und versuchte, ihre Geschwindigkeit und das Tollhaus ringsum zu ignorieren. Bastorran rief ihm aus der anderen Kutsche etwas zu und winkte. Eine Hand wurde ausgestreckt. Meakin griff danach und sprang. Einen Herzschlag später war er auf der anderen Seite und saß benommen auf einem Sitz, beobachtet von einem grimmigen Hauptmann der Wache. »Gut gemacht«, beglückwünschte Bastorran ihn kühl. »Aber wir können uns noch nicht ausruhen. Wir müssen immer noch an Bord des Palastes selbst kommen.« Sie entfernten sich von der Kutsche der Paladine und verloren sie im galoppierenden Wirrwarr rasch aus den Augen. Ihre neue Kutsche bewegte sich abermals quer zur allgemeinen Strömung. Sie wurde zwar geschickt, aber völlig ohne Rücksicht auf die Sicherheit der anderen gelenkt. Reiter, die ihr in die Quere kamen, wurden aus dem Sattel geworfen und niedergetrampelt. Wagen, die der Kutsche
178 ausweichen wollten, krachten gegeneinander, dass die Achsen brachen und die Fahrgäste durch die Gegend flogen. Überall gab es Kollisionen, und herrenlose Pferde rannten panisch umher. »Ich muss sagen, es ist doch immer wieder aufregend, nicht wahr, Meakin?«, meinte Bastorran. »Äh, jawohl, Sir.« Der Adjutant musste sich festhalten, um nicht vom Sitz geschleudert zu werden. Nach einer halben Ewigkeit fuhren sie im Schatten des königlichen Palasts. Die Unterseite schwebte, dreimal oder viermal so hoch wie ihr Wagen, direkt über ihnen. »Was nun, Sir?«, erkundigte sich Meakin. »Es kommen nicht mehr allzu viele Zumutungen«, erwiderte Bastorran bissig. Der Offizier, der ihnen schweigend gegenübergesessen hatte, öffnete die Tür, die dem Palast am nächsten war. Die Kutsche machte eine Reihe komplizierter Manöver. Wenige Minuten später fuhren sie neben einer hölzernen Plattform, die an zahlreichen starken Seilen vom Palast herunterhing. »Da müssen wir rüber«, erklärte Bastorran. Sie wechselten zur wackligen Plattform hinüber und packten das Geländer, um sich festzuhalten. Sofort entfernte sich die Kutsche. Die Plattform hing einen Augenblick schwankend in der Luft, dann wurde sie hochgezogen. Meakin hielt sich am Geländer fest, bis die Knöchel weiß wurden, ließ sich den Wind um die Nase wehen und blickte zur Szenerie unter sich. Doch selbst von seiner erhöhten Position aus konnte er das Ende des Zuges nicht sehen. Etwa hundert Fuß höher erreichten sie eine weite Terrasse. Hier wurden sie von einer Abteilung der Wache in Empfang genommen und zu einem geschmückten Eingang begleitet, durch den sie den eigentlichen Palast betreten konnten. Sie wurden oberflächlich durchsucht. Bastorran ließ die Demütigung in finsterem Schweigen über sich er179 gehen. Danach wurden sie durch ein Gewirr von exzentrisch dekorierten Gängen geleitet und mussten eine anscheinend endlose Serie von Treppen hinaufsteigen. Schließlich liefen sie durch weitläufige Flure, die mit grotesken Statuen gesäumt waren. In gebührendem Abstand von ihrer Eskorte flüsterte Bastorran: »Na, was sagst du? Du kannst frei sprechen, aber sprich leise.« »Es ... es ist...« »Der helle Wahnsinn?« »Ich wollte sagen, dass es riesig ist, Sir.« »Das ist ein Teil des Wahnsinns.« Sie liefen durch eine armierte Doppeltür und betraten einen breiten Wehrgang. »Dabei haben wir erst ein Viertel des Weges hinter uns.« Bastorran deutete zu dem Ungetüm, das sich über ihnen erhob. »Deshalb habe ich nach deiner körperlichen Verfassung gefragt.« »Ich verstehe, Sir.« Über den Wehrgang erreichten sie den nächsten Abschnitt des Palasts. Hier standen ein Dutzend große Katapulte nebeneinander in einer Reihe. »Die sind neu«, bemerkte der Paladin. »Anscheinend legt man hier Wert auf gute Verteidigung, Sir.« »Ja«, entgegnete Bastorran nachdenklich. »Aber warum Katapulte? Das sind Belagerungswaffen, die nicht sehr gut zur Verteidigung geeignet sind.« »Vielleicht ist das eine weitere ... Absonderlichkeit Seiner Hoheit«, meinte Meakin leise. »Wahrscheinlich. Eigentlich sollte ich mich über nichts mehr wundern, was er tut.« Sie wurden wieder ins Gebäude geführt, und es ging durch weitere Flure und weitere Treppen hinauf. Endlich wurden sie in einen Vorraum gebeten, in dem sie warten sollten. 180 Bastorran setzte sich und bedeutete seinem Adjutanten, seinem Beispiel zu folgen. Meakin räusperte sich. »Ich frage mich nur ...« Bastorran versetzte ihm einen Rippenstoß und deutete zur Decke. Dort schwebte ein messingfarbener Spionzauber. »... wie lange es dauern mag, bis seine Hoheit die Güte hat, uns zu empfangen«, beendete Meakin den Satz etwas lahm. »Das kann man nie vorher sagen.« Sie blieben in unbehaglichem Schweigen sitzen, bis ein Lakai eintrat und sie in den Audienzsaal des Prinzen führte. Es war ein langer, elegant möblierter Raum. Am hinteren Ende saß Melyobar auf einem Thron, der auf ein Podium montiert war. Er trug einen roten Umhang mit Hermelinbesatz, dessen Wirkung durch das schmuddelige Hemd, die staubigen Hosen und die angestoßenen, mit Schlamm bespritzten Stiefel etwas litt. Bastorran verneigte sich. Meakin folgte seinem Beispiel und grüßte ebenfalls mit einer tiefen Verbeugung. Der Prinz hob müde eine Hand und winkte sie zu sich. »Eure königliche Hoheit«, begann Bastorran. »Vielen Dank, dass Ihr mich empfangt.« Der Prinz nickte abwesend, sein Blick irrte zum Begleiter des Paladins. »Wer ist...«
»Mein Adjutant, Hoheit. Lahon Meakin.« »Lahon?«, wiederholte Melyobar offensichtlich verwirrt. »Ich dachte, sein Name sei Devlor? Und er ist jetzt Euer Adjutant, Hoher Clanchef?« »Hoheit?« »Ich dachte, Euer Neffe solle Eure Nachfolge antreten«, erklärte der Prinz ein wenig gereizt. »Somit ist er doch gewiss mehr als ein bloßer Adjutant?« Jetzt dämmerte es Bastorran. »Ich fürchte, hier liegt ein 181 Missverständnis vor, Hoheit. Es ist allein mein Fehler. Ich bin Devlor, der Hohe Clanchef der Paladine. Ihr denkt gewiss an meinen verstorbenen Onkel Ivak.« Melyobar blinzelte sie an und versuchte, mit seinen kurzsichtigen Augen etwas zu erkennen. »Verstorben?« »Leider ja, Hoheit. Mein Onkel ist vor einigen Monaten verstorben. Er fiel einem berüchtigten Radikalen zum Opfer. Ihr wurdet damals entsprechend unterrichtet, Majestät.« Der Prinz seufzte. »Wieder ein Triumph für ihn.« »Bei allem Respekt, Hoheit, ich glaube nicht, dass man den Anschlag des Meuchelmörders als Triumph bezeichnen sollte.« »Ein Meuchelmörder? Ja, das ist er in gewisser Weise. Der große Schnitter ist eine Art vollkommener Meuchelmörder. Ja, das gefällt mir.« Bastorran und Meakin wechselten einen Blick. Ersterer war entnervt, Letzterer völlig durcheinander. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, entgegnete Bastorran. »Ich habe Euch missverstanden. Ihr sprecht natürlich vom Tod.« »Aber selbstverständlich. Von wem denn sonst? Der Kummer über den Verlust Eures Onkels hat anscheinend Euren Scharfsinn getrübt.« »Gewiss«, wiederholte der Paladin mit zusammengebissenen Zähnen. »Das muss die Erklärung sein.« »Wie schade, dass Euer Onkel nicht dem Beispiel meines eigenen lieben Vaters folgen konnte«, überlegte Melyobar. »Meines Wissens ist er der einzige Mensch in der Geschichte, dem es gelang, der Herrschaft des Schnitters zu trotzen. Wahrlich ein leuchtendes Beispiel für uns alle.« »Gewiss, Hoheit.« »Nun denn, warum seid Ihr hier?«, fragte der Prinz fröhlich. Der abrupte Wechsel von Thema und Laune überrum182 pelte Bastorran. »Ich bin gekommen, um offiziell als neuer Hoher Clanchef anerkannt zu werden, Majestät.« »Um meinen Segen zu bekommen.« »Äh, ja. In gewisser Weise. Es ist natürlich nur eine Formalität, aber ...« »Und was für eine Art von Anführer wollt Ihr sein?« »Was für eine Art von Anführer, Majestät?« »Im Vergleich zu Eurem Onkel.« »Ich werde mich bemühen, allen seinen Qualitäten nachzueifern, Hoheit. Auch wenn ich in gewisser Weise von seiner Art der Führerschaft abweichen werde.« »Inwiefern?« »Eine der vielen Tugenden meines Onkels war, dass er zu viel Herz hatte, Majestät.« Dies überraschte Meakin sehr, doch er war klug genug, den Mund zu halten. »So vorbildhaft diese Eigenschaft auch war«, fuhr Bastorran vorsichtig fort, »sie hatte doch die bedauerliche Folge, die Feinde Eurer Hoheit zu ermutigen.« »Ist er etwa zu nachsichtig mit den Terroristen umgegangen?« »Ich glaube nicht, dass dies seine Absicht war, Hoheit, aber so wurden seine Handlungen wahrgenommen.« »Wohingegen Eure Politik entschiedener sein wird.« »Beträchtlich entschiedener. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die jüngsten Ereignisse unter meiner Führung einen anderen Ausgang genommen hätten.« »Dann hättet Ihr diesen Auszug der Rebellen verhindert, von dem ich gehört habe?« »Ich nehme an, Eure Königliche Hoheit beziehen sich auf gewisse verräterische Elemente, die sich dem Zugriff der Justiz durch die Flucht auf die Diamantinsel entzogen haben. Das war kaum ein Auszug.« »Aber wie hättet Ihr sie aufgehalten?« »Einfach, indem ich dafür gesorgt hätte, dass es keine 183 Rebellen mehr gibt, die fliehen können, Majestät. Im Gegensatz zu meinem Onkel, und wenn ich so sagen darf, auch im Gegensatz zu gewissen anderen Entscheidungsträgern in den Sicherheitsbehörden, hätte ich niemals zugelassen, dass Verräter dieser Art überhaupt existieren konnten.« »Es scheint, als seien wir in dieser Hinsicht ähnlicher Ansicht, Hoher Clanchef.« »Es freut mich, Eure Billigung zu finden, Hoheit.« »Oh, aber sicher. Wenn ein Feuer wütet, dann muss man die Bäume abschlagen, von denen es zehrt.« »Ganz genau, Sir.«
»Mein Vater sagt oft, die beste Möglichkeit, einen Fisch zu fangen, bestehe darin, das Gewässer trockenzulegen.« Bastorran und Meakin fanden das Bild, ohne sich darüber austauschen zu müssen, mehr als eigenartig. Ganz zu schweigen davon, dass Melyobar in der Gegenwartsform über seinen Vater gesprochen hatte. Beide nickten pflichtschuldigst. »Ich frage mich nur, wie sie mit ihm während der Traumzeit umgegangen sind«, sagte der Prinz. »Wie bitte, Majestät?«, gab Bastorran zurück. »Mit dem Tod. Ob er auch damals schon durchs Land gezogen ist?« Offenbar irrte er wieder ab. »Ich habe keine Ahnung, Majestät«, meinte der Paladin. »Geht der Tod nicht schon immer in der Welt um?« »So muss es sein, nicht wahr? Ich meine, wenn er nicht hier umgegangen wäre, dann wären ja die Gründer noch da, oder?« »Ja, man kann wohl annehmen, dass dies ...« »Es ist ein ernüchternder Gedanke, nicht wahr? Selbst die mächtigen Gründer waren seinen Launen unterworfen. Das zeigt, dass er wahrlich ein fast unbezwingbarer Gegner ist, findet Ihr nicht auch?« 184 »Wie Ihr meint, Hoheit.« Der Prinz kam wieder zu sich. »Aber das ist jetzt natürlich alles nebensächlich. Oder es sollte nebensächlich sein.« »Hoheit?« Er lächelte beinahe schalkhaft. »Ihr werdet es schon sehen.« 185 In den nördlichen Einöden hatten schwere Schneefälle eingesetzt. Zerreiss' Heer hatte angehalten, und sogar der Kriegsherr selbst, gewöhnlich ein geduldiger Mann, wurde unruhig. Doch am Abend des dritten Tages beruhigte sich das Wetter langsam. Der Kriegsherr stand in seinem Zelt im weichen Schein von Öllampen und Kerzen vor einer Staffelei mit einer aufgespannten, auf Leder gemalten Karte. »Was Ihr vorschlagt, macht allerdings nicht die Zeit wett, die wir verloren haben, Sir«, bemerkte Sephor, der jüngere seiner beiden Adjutanten. »Es verzögert den ursprünglichen Plan sogar erheblich.« »Das ist mir bewusst. Aber ist es logistisch zu schaffen? Weilern?« »Unmöglich ist es nicht, es erfordert jedoch große Anstrengungen und umfangreiche Vorbereitungen. Ihr wollt immerhin den größten Teil des Heeres zum ersten Mal überhaupt verschiffen, und das ist ein sehr kompliziertes Unternehmen.« »Aber es war doch schon immer unsere Absicht.« »Ja, mein Lord, aber noch nicht so früh in diesem Feldzug. Die Zahl der Schiffe, die wir brauchen ...« »Deshalb schlage ich vor, hier, hier und ... und hier die 186 Hafenstädte einzunehmen«, sagte Zerreiss, während er auf die entsprechenden Stellen der Karte deutete. »Selbst wenn wir in allen drei Hafenstädten alle Schiffe einnehmen«, bemerkte Sephor, »was voraussetzt, dass die Verteidiger sie nicht abziehen oder verbrennen, hätten wir immer noch nicht genug Schiffe.« »Dann bauen wir neue. Wir haben genügend Arbeiter, und die Kenntnisse haben wir auch.« »Aber das Material?«, wandte Weilern ein. Der Kriegsherr blickte wieder auf die Karte. »Hier und hier sind Wälder. Sie sind nicht zu weit entfernt, um von dort Holz zu beschaffen, falls uns das Wetter gewogen ist.« »Ihr habt den Einwand sicher schon einmal gehört, mein Lord, aber ich frage mich, ob wir uns nicht zu sehr zersplittern. Ihr schlagt vor, drei Belagerungen mehr oder weniger gleichzeitig durchzuführen und außerdem noch ein möglicherweise sehr umfangreiches Schiffsbauprogramm in Gang zu setzen. Dies einmal ganz abgesehen von den Kräften, die wir brauchen, um die bereits eroberten Orte zu halten.« »Die Rekrutierungen gehen recht schnell vonstatten«, erklärte Zerreiss. »Es bleibt immer ein Überschuss. Wohin wir auch kommen, die Leute strömen zu uns.« »Schneller, als wir sie ausbilden und ausrüsten können.« »Die beste Ausbildung, die sie bekommen können, ist die auf dem Schlachtfeld. Dort habe auch ich die meine bekommen. Und vergiss nicht, dass die meisten Männer, die wir überzeugen, für unsere Sache zu kämpfen, ohnehin schon militärisch ausgebildet sind. Es sind keine Anfänger.« »Sir«, meldete sich Sephor verunsichert zu Wort, »Ihr habt uns gesagt, was wir tun sollen, aber Ihr habt uns nicht den Grund verraten.« Ein Augenblick verstrich, ehe Zerreiss ihm antwortete. »Ich hatte wieder einen Traum«, erklärte er schließlich. »Ich stand auf der Terrasse einer Festung. Es war jene Festung, 187 die wir vor kaum einer Woche erobert haben. Im Traum sah ich mich, wie ich nach der Eroberung dort gestanden habe, um das besiegte Land in Augenschein zu nehmen. Da habe ich ihn wieder gesehen.« »Den Mann, von dem Ihr schon einmal geträumt habt?«
»Ja. Falls man überhaupt von Träumen reden kann.« »Was ist geschehen?« »Was geschehen ist? Eigentlich nichts. Oder nichts und doch sehr viel. Ihr seht mich fragend an, meine Freunde, aber das ist die einzige Möglichkeit, wie ich es ausdrücken kann.« »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, wer dieser Mann ist?«, fragte Weilern. »Ich bin dieser Frage noch nicht näher gekommen als bei seinem ersten Eindringen in meinen Schlaf.« »Seid Ihr immer noch sicher, dass es sich um eine lebende Person handelt? Und nicht um ... verzeiht mir, mein Lord, nicht um eine Fabrikation Eures Geistes?« »Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Mann existiert.« »Dann solltet Ihr vielleicht in Erwägung ziehen, dass Ihr das Opfer eines magischen Angriffs seid«, wandte der alte Krieger ruhig ein. »Ich denke nicht, dass du dich deshalb sorgen musst. Wer dieser Mann auch sein mag, ich glaube nicht, dass er ein Zauberer ist. Allerdings spüre ich, dass es in gewisser Weise eine magische Verbindung gibt.« »Ist das nicht ein Widerspruch, Sir?« »Bin ich nicht selbst ein wandelnder Widerspruch, Weilern? Warum sollte dieser Mann weniger rätselhaft sein als alles andere?« »Aber was hat er nun mit unseren neuen Befehlen zu tun, Sir?«, wollte der jüngere Adjutant wissen. Zerreiss lächelte. »Ich kann mich doch immer darauf verlassen, dass du mich auf den Boden zurückholst, Sephor. Nein, sei nicht verlegen. Es ist manchmal nötig, dass ich an 188 das Wesentliche erinnert werde. Einfach ausgedrückt, ist er der Grund für meine neuen Befehle.« »Ihr habt Eure Pläne und die ganze Richtung des Feldzuges geändert, nur weil Ihr von jemandem geträumt habt?« »Nicht so sehr verändert, sondern eher beschleunigt.« »Aber warum, mein Lord?« »Ich spüre, dass er jetzt näher ist als noch vor einiger Zeit. Frage mich nicht, woher ich es weiß oder warum ausgerechnet ich auf einmal an solch unerklärliche Eingebungen glaube. Ich weiß nur, dass ich, falls sich eine Gelegenheit ergeben sollte, in die Nähe jenes Mannes zu gelangen, diese auch ergreifen sollte.« »Was glaubt Ihr dadurch zu gewinnen?« »Habe ich euch je auf einen Irrweg geführt?« »Nein, Lord«, antworteten die beiden wie aus einem Munde. »Dann vertraut mir weiter, wie ihr mir bisher vertraut habt.« »Das ist keine Frage«, versicherte Sephor ihm. »Wir wollen es nur verstehen.« »Ich auch. Das versuche ich ja zum Ausdruck zu bringen.« Er seufzte. »Ich kann nur sagen, dass er ... dass er irgendeine Bedeutung für mich hat. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es eine Verbindung zu einem bestimmten Gedanken gibt, der mich schon seit längerer Zeit nicht mehr loslässt.« »Mein Lord?« »Es ist der Gedanke, ob es noch jemanden wie mich geben könnte.« Offensichtlich war seinen Adjutanten dieser Gedanke noch nicht gekommen. Sephor fing sich als Erster wieder. »Wir haben Euch immer für einzigartig gehalten, Herr.« »Ich mich auch. Oder vielmehr, ich habe es stets befürchtet. Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, ob 189 ich der Einzige bin, der die Gabe besitzt. Und wenn ich der Einzige bin, warum ist dies so? Warum gerade ich? Ich habe gehofft, dass es noch andere gäbe, aber im Lauf der Jahre schwand alle Hoffnung dahin. Doch angenommen, ich bin gar nichts Besonderes. Könnt ihr erkennen, was dies bedeuten würde?« »Verbündete?«, fragte Weilern. »Mehr als das. Ich habe mich nicht bewusst für diese meine Gabe entschieden, und manchmal wird mir die Bürde sogar etwas schwer. Wie viel leichter wäre es doch, wenn es noch andere gäbe, auf die sich die Last verteilen könnte.« »Ich habe nie an Euren Fähigkeiten gezweifelt, mein Lord.« »Ich weiß. Aber aus meiner Sicht stellt sich die Sache etwas anders dar.« »Ihr habt doch uns«, versicherte Sephor ihm. »Und nicht nur uns. Es gibt tausende, die inzwischen an Euch glauben und Euch unterstützen wollen.« Der Kriegsherr legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Meine Dankbarkeit dafür ist größer, als ich es mit Worten ausdrücken kann. Es gibt jedoch etwas, das ihr mir nicht geben könnt. Trotz eurer Loyalität und eures Vertrauens könnt ihr nicht wirklich mitfühlen, was in mir vorgeht. Nicht in vollem Umfang. Ihr wisst nicht, wie es ist, auf die Art und Weise allein zu sein, wie ich es bin. Wenn ihr es wüsstet, dann könntet ihr verstehen, warum ich ihn finden muss.« Auch in Bhealfa setzte der Schneefall vorübergehend aus. Nicht, dass die Witterung irgendeinen Einfluss auf die Zahl der Menschen, die sich in den Straßen von Valdarr drängten, oder auf die zugehörigen magischen Ausbrüche hatte. Doch den Bürgern wurden die Alltagsverrichtungen ein wenig schwerer, wenn sie missmutig durch den Matsch
190 marschierten und auf vereisten Gehwegen ausrutschten, und auch der Verkehr wurde stark behindert. Andar Talgorians Kutsche brauchte für die Fahrt zum Hauptquartier der Paladine, die sonst nur wenige Minuten gedauert hätte, fast eine Stunde. Kein Wunder, dass er in recht missmutiger Stimmung dort eintraf. Bastorran wies dem Diplomaten mit einem Nicken einen Stuhl zu. »Nun, wie war es in Merakasa?«, fragte er. Da auch Kommissar Laffon zugegen war, der augenblicklich die Gunst der Kaiserin genoss, wählte Talgorian seine Worte mit Bedacht. »Es war wie immer eine Freude, mit ihrer kaiserlichen Hoheit zusammenzutreffen. Ich muss allerdings gestehen, dass ich die Aussicht, es könnte sehr bald schon zu einem militärischen Schlag kommen, etwas deprimierend finde.« »Unsinn«, schnaubte Bastorran. »Das ist genau die richtige Reaktion auf die Lage auf der Diamantinsel. Ich bedauere nur, dass es nicht schon viel früher dazu gekommen ist.« »Der Krieg sollte immer das letzte Mittel sein.« »Diesen Punkt haben wir längst erreicht.« Er reichte Talgorian einen Kelch mit Wein. »Was hättet Ihr denn getan? Sie zu Tode geschwatzt?« »Falls Ihr damit fragen wollt, ob ich der Ansicht bin, es sei immer noch Zeit, zu einer Verhandlungslösung zu kommen, dann läutet meine Antwort >ja<.« »Mein verstorbener Onkel hat euch oft als Friedenstaube bezeichnet. Es war natürlich nicht böse gemeint.« »Ich betrachte mich selbst eher als Pragmatiker«, konterte Talgorian. »Mir kommt es eben so vor, als könne man mit einem Gespräch meist mehr erreichen als mit Blutvergießen.« Sie wechselten frostige Blicke. »Ich muss dem Hohen Clanchef zustimmen«, schaltete sich Laffon ein. »Wenn Ihr mit diesen Leuten verhandelt, dann gebt Ihr ihnen damit viel zu viel Raum.« 191 »In den Augen unserer Vorgesetzten haben sie diesen Raum bereits besetzt. Denn wenn es anders wäre, brauchte man ja keine kostspielige Invasionsflotte gegen sie auszuschicken.« »Gewalt ist die Sprache, die sie verstehen. Das beweist nur die Richtigkeit meiner Sichtweise.« »Der Kommissar hat Recht«, stimmte Bastorran zu. »Und wir sollten daheim mit ihnen genauso rücksichtslos umspringen, wie wir es in Übersee tun werden.« »Ist es denn überhaupt möglich, noch brutaler vorzugehen als jetzt?«, staunte Talgorian. Nun setzte Laffon ein falsches Lächeln auf. »Wenn ich es nicht genau wüsste, Botschafter, dann könnte ich am Ende gar auf die Idee kommen, Ihr empfändet Sympathie mit diesen Unzufriedenen.« »Niemand ist entschiedener gegen eine Störung der öffentlichen Ordnung eingestellt als ich, Kommissar. Ich hinterfrage nur die Methoden, zu denen man greifen soll.« »Wie auch immer Ihr den kommenden Konflikt seht«, sagte Bastorran und hob sein Glas, »wir sind sicher einer Meinung darin, dass es angebracht ist, auf den Erfolg der Mission anzustoßen.« Sie beäugten einander und tranken. Talgorian war der Erste, der sein Glas wieder sinken ließ. »Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass das diplomatische Korps bereit ist, jegliche Hilfe zu gewähren, die Eure Organisationen bei dieser Reise brauchen können.« Bastorran musste schallend lachen. »Verzeiht mir, aber sobald die Feindseligkeiten beginnen, bleibt nicht mehr viel Raum für die Dienste der Diplomaten.« »Dann könnt Ihr vielleicht umgekehrt mir behilflich sein.« »Was meint Ihr damit?«, wollte Laffon wissen. Talgorian trank seinen Wein aus und lehnte mit einer 192 Geste ab, als Bastorran ihm aus der Karaffe nachschenken wollte. »Sagt mir, habt Ihr Prinz Melyobar in der letzten Zeit gesehen?« »Wie es der Zufall will, war ich gerade bei ihm«, antwortete Bastorran. »Wie fandet Ihr ihn?« »Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier überrascht wäre, wenn ich sage, dass er ... schwierig ist.« »Unberechenbar wie immer, um es anders auszudrücken.« »Ja. Aber Melyobars Geisteszustand ist nichts Neues. Warum fragt Ihr danach?« »Ihre Kaiserliche Hoheit hat beschlossen, dass es an der Zeit sei, in Hinblick auf den Prinzen gewisse Schritte einzuleiten.« »Gewisse Schritte?«, wiederholte Laffon verständnislos. Talgorian zückte zwei gefaltete Dokumente mit dem persönlichen Siegel der Kaiserin. »Dies hier sollte alles erklären.« Er reichte jedem der beiden Anwesenden ein Dokument. Als sie die Siegel aufbrachen, fügte er hinzu: »Ihr seht, dass Ihre Majestät die Paladine und den Rat für Innere Sicherheit zu einer uneingeschränkten Zusammenarbeit auffordert.« Bastorran las das Dokument rasch durch und schaute auf. »Ihr leitet diese Operation?« Talgorian nickte. »Warum gerade Ihr?«, wollte Laffon wissen.
»Es steht mir nicht zu, die Entscheidungen der Kaiserin infrage zu stellen. Vielleicht war sie aber der Meinung, der RIS und die Paladine seien ohnehin schon stark beansprucht. Genau genommen ist es auch eine diplomatische Frage. Melyobar ist der verfassungsmäßige Herrscher Bhealfas.« »Natürlich beuge ich mich in dieser Angelegenheit der Weisheit Ihrer Majestät. Ich rechne sogar damit, auch 193 selbst recht bald zu einer Audienz gerufen zu werden. Zweifellos wird sie mir dann ihre Wünsche noch einmal ausführlich darlegen.« »Inzwischen könnt Ihr alles, was Ihr wissen müsst, dem Brief entnehmen.-« »Ich bin erfreut, dass man sich endlich des Prinzen annimmt«, erklärte Bastorran. »Um diesen Mann hätte man sich schon lange kümmern müssen. Wann wollt Ihr ihn packen, Botschafter?« »Ich bin noch nicht sicher. Es ist offensichtlich eine delikate Situation, die diskretes Vorgehen erfordert.« »Ich an Eurer Stelle würde nicht zu lange warten. Als ich das letzte Mal im Palast war, habe ich etwas sehr Seltsames gesehen.« »Oh? Ihr meint, es war noch seltsamer als alles andere?« »Schon gut. Ich weiß nicht, ob es als ungewöhnlich bezeichnet werden muss oder nicht, da wir über Melyobar sprechen. Jedenfalls hat er eine Batterie von Belagerungskatapulten aufstellen lassen, und es sah aus, als seien auch die Befestigungen noch weiter verstärkt worden. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, was der Grund dafür sein mag.« »Wie Ihr schon sagtet, es ist eigenartig. Allerdings habe ich nicht die Absicht, den Palast zu erstürmen. Ich dachte an ein etwas taktvolleres Vorgehen.« »Was wollt Ihr denn tun? Ihm gut zureden?«, entgegnete Bastorran bissig. »Im Grunde ja. Aber ich bin nicht so naiv zu glauben, dass er einfach so auf den Vorschlag Ihrer Majestät eingeht. Deshalb brauche ich eine ansehnliche Eskorte als Begleitschutz. Ich glaube, angesichts der heiklen Natur dieser Operation sollte sie aus verschiedenen Diensten gemischt sein. Wir müssen in dieser Sache zusammenarbeiten.« »Es müsste eine umfangreiche Truppe sein, wenn er nicht kooperiert.« 194 »Ich glaube nicht, dass es zum Äußersten kommt. Es ist ja nicht so, dass das Reich ihn gefangen nehmen will. Er wird den Status eines Ehrengastes haben.« »Es könnte schwierig werden, ihn davon zu überzeugen. Unterschätzt nicht seine Machtgelüste. Bisher hat noch niemand versucht, ihn an die Kandare zu nehmen.« Talgorian wollte darauf etwas entgegnen, wurde aber von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. »Herein«, knurrte Bastorran. Lahon Meakins Kopf tauchte in der Tür auf. Der Paladin sah ihn böse an. »Ich sagte doch, dass wir nicht gestört werden dürfen.« »Es tut mir Leid, Sir, aber es ist etwas passiert.« Bastorran stand auf, murmelte eine Entschuldigung und ging zu seinem Adjutanten nach draußen auf den Flur. »Ich hoffe für dich, dass es wichtig ist, Meakin«, zischte er. »Es gibt schon wieder Unruhen auf den Straßen.« »Ist das alles? Dafür braucht man mich nun wirklich nicht zu ...« »Es ist etwas anderes, Sir, und ich denke, Ihr solltet Euch persönlich darum kümmern.« 195 Jemand lief durch die Straße und zerstörte Fensterscheiben mit einer Kette. Eine Barrikade aus Kutschen sperrte ein Ende der Straße ab. Vier Milizionäre mit mürrischen Gesichtern bemannten sie. Vom anderen Ende kam ihnen eine wütende Meute entgegen. Ab und zu rannte jemand vor und warf einen Stein. Häuser und ein Geschäft brannten, und niemand machte Anstalten, sie zu löschen. Hinter der Straßensperre trafen berittene Soldaten ein. Quinn Disgleirio und zwei Mitglieder der Gerechten Klinge standen nicht weit entfernt in der Mündung einer Gasse und beobachteten die Auseinandersetzung. »Wie hat es anfangen?-«, fragte Disgleirio. »Es gab eine Razzia in einem Haus in der Nähe. Die Miliz ist wie üblich hart vorgegangen, und dann hat sich diese Menge gesammelt.« »Es braucht heute nicht mehr viel, um einen Aufruhr auszulösen«, fügte der andere hinzu. »Wir können das nicht gebrauchen«, erklärte Disgleirio ihm. »Es gibt schon genug Unterdrückung auf den Straßen, wir müssen nicht noch eine Verschärfung provozieren.« »Ich wüsste nicht, wie wir das jetzt aufhalten sollten«, gab der erste Kämpfer zurück. 196 »Nein, aber wir können versuchen, den Schaden zu begrenzen.« An der Straßensperre entstand Unruhe. Uniformierte Reiter drängten sich durch die Menge und schlugen mit Knüppeln und Säbeln um sich. »Wir sind wohl zu spät gekommen«, meinte der zweite Kämpfer. Das Gerangel verwandelte sich rasch in eine wilde Prügelei. Die Leute verstreuten sich und wurden von der
Miliz verfolgt, die die Knüppel schwang. Die ersten Fliehenden näherten sich der Gasse, in der sich Disgleirio mit seinen Männern versteckt hatte. »Was sollen wir tun?«, fragte einer seiner Begleiter. »So viel beschützen, wie ihr könnt.« Sie traten auf die mit Matsch bedeckte Straße und zogen die Schwerter. Der Strom der fliehenden Demonstranten schwoll zu einer Flut an. Einige wurden von den Kavalleristen im Rennen niedergemacht, andere stürzten und wurden von den herannahenden Pferden niedergetrampelt. Disgleirio und seine Männer schwärmten aus, drei Felsen im Strom der panischen Menschheit. »Haltet die Stellung«, wies er sie an, »und achtet auf Angriffe von hinten.« Eine kreischende Frau rannte vorbei, zwei Milizionäre folgten ihr mit gezückten Schwertern. Sie verloren jedoch sofort das Interesse an ihr, als sie die drei Kämpfer der Gerechten Klinge sahen. Disgleirio überließ es seinen Kameraden, sich um die Milizionäre zu kümmern. Er konzentrierte sich auf einen Kavalleristen, der durch die Straße stürmte und die fliehenden Bürger niedermachte. Die Gerechten Klingen und die Miliz trafen aufeinander. Wer fliehen wollte, wich in weitem Bogen aus, als zwei hektische Duelle vom Gehweg auf die Straße übergriffen. 197 Disgleirio beobachtete das galoppierende Pferd des Angreifers. Als es auf gleicher Höhe mit ihm war, schlug er nach dem Reiter und traf das Bein des Mannes. Der Reiter stieß einen Schrei aus und stürzte aus dem Sattel. Er prallte schwer auf den Boden, überschlug sich mehrmals auf dem Pflaster und blieb reglos liegen. Sein Pferd verschwand in der Menge. Disgleirio blieb keine Zeit, sich über seinen Treffer zu freuen. Schon kam eine weitere Gruppe von Milizionären in seine Richtung gerannt. Er drehte sich wieder zu seinen Männern um und sah, dass der eine seinen Gegner niedergestreckt hatte. Der andere hatte bereits gesiegt und beugte sich soeben über seinen liegenden Widersacher. »Da kommen noch mehr!«, rief Disgleirio. »Zusammen!« Auf seinen Befehl führten sie ein oft geübtes Manöver durch und stellten sich zusammen auf. Sie standen mit dem Rücken nach innen und den Waffen nach außen, ihre Schultern berührten sich. In einer Hand hatten sie das Schwert, in der anderen den Dolch. Diese Aufstellung bezeichneten sie als >Stachelschwein<. Als die nächste Gruppe von Gesetzeshütern angerannt kam, sah sie sich auf einmal einem Verteidigungsring mit stählernen Stacheln gegenüber. Doch da sie der Gerechten Klinge im Verhältnis zwei zu eins überlegen waren, rechneten sie damit, mit ihren Gegnern leichtes Spiel zu haben. Einer der Milizionäre stürzte gleich am Anfang mit durchbohrter Lunge zu Boden. Der Zweite wich mit einer klaffenden Schnittwunde zurück. Der Dritte fiel nach einem Hieb in seine Brust. Als die Zahl der Angreifer und Verteidiger ausgeglichen war, lösten die Gerechten Klingen ihre Formation wieder auf und stürzten sich ins Getümmel. Eine schnelle und blutige Runde im Schwertkampf folgte, bis den Teilnehmern in der kalten Luft der Atem als Dampf vor dem Munde stand. 198 Kurz nacheinander bekamen zwei weitere Gegner tödliche Hiebe ab. Die letzten beiden Milizionäre waren nur leicht verwundet und suchten das Weite. Die Gerechten Klingen bekamen eine Atempause. Der Schweiß gefror ihnen auf der Stirn. »Sie kommen mit Verstärkung zurück«, keuchte Disgleirio. »Wir können hier nicht mehr viel tun. Ich glaube, es ist Zeit ...« »Was ist denn, Sir?« »Wer ist das da?« Sie folgten seinem Blick. Eine schlanke, geschmeidige Gestalt mit hellem Haar war aufgetaucht. Er oder sie - man konnte es nicht genau erkennen - war bewaffnet und griff die Leute scheinbar willkürlich an, ob sie nun Widerstand leisteten oder nicht. »Ist das ein Zauber?«, fragte einer von Disgleirios Männern. »Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden. Ihr zwei haltet euch heraus.« »Aber, Sir ...« »Wir gehen schon dadurch ein Risiko ein, dass wir überhaupt hier sind. Tut, was ich euch sage.« Er lief zu der Erscheinung hinüber. Aus der Nähe konnte er die Gestalt etwas deutlicher erkennen und kam zu der Ansicht, dass sie insgesamt eher weiblich wirkte. Er bemerkte auch ihr höchst eigenartiges, bleiches und beinahe krank wirkendes Gesicht mit den ungewöhnlich großen, strahlenden Augen. Wenn sie jedoch auf alles einschlug, was ihr vor die Klinge kam, wirkte sie keineswegs schwach. Eine Schwertlänge vor der Frau blieb Disgleirio stehen. Er betrachtete die Leichen und die stöhnenden Verletzten. »Ja?«, sagte Aphri Kordenza. Es klang gereizt, als habe sie es mit einem lästigen Bettler zu tun. »Wer seid Ihr?« 199
»Eine besorgte Bürgerin. Was wollt Ihr?« »Seid Ihr bei der Miliz?« »Sehe ich so aus?« »Warum macht Ihr dann deren schmutzige Arbeit?« »Weil es mir so gefällt.« »Es erfreut Euch, Unschuldige zu ermorden?« »Ihr redet wie ein Priester. Versucht doch, mich aufzuhalten, wenn es Euch nicht passt.« »Genau das war meine Absicht.« »Warum sagt Ihr das nicht gleich? Ich habe keine Zeit für müßiges Geschwätz.« Sie bewegte sich so schnell, dass er nur mit knapper Not ihren ersten Hieb abwehren konnte. Der zweite und dritte Schlag folgte sofort danach. Sie war nicht nur wendig, sondern auch kräftig. Die Erschütterungen von ihren Hieben liefen Disgleirio durch den ganzen Körper. Er musste zurückweichen und wurde in die Defensive gedrängt. Zwar konnte er ihre Schläge abwehren, doch er war nicht in der Lage, seinerseits anzugreifen. Ihre Geschicklichkeit und Beweglichkeit erschreckten ihn. Er war ein meisterhafter Schwertkämpfer, aber sie war ihm mindestens ebenbürtig. Er riss sich zusammen und kämpfte. Jetzt konnte er sogar einige offensive Schläge anbringen. Doch je mehr er sich bemühte, desto heftiger wurden die Angriffe der Frau. Ihre Stiche wurden aggressiver und sogar noch genauer. Disgleirio konnte abblocken und schlug genauso hart zurück, auch wenn er sein ganzes Können aufbieten musste. Er hielt die Stellung, kam aber nicht voran. Als sie kämpften, bemerkte er etwas Seltsames an der Frau. Wenn sie den Fuß hob, sah er einen Lichtschimmer unter ihrer Hacke. Zuerst dachte er, er habe es sich nur eingebildet, doch dann musste sie einem seiner Hiebe mit einem Sprung ausweichen, und er sah einen Lichtbogen aus winzigen blauen Funken zwischen dem Boden und ihrem Fuß entstehen. Vielleicht war sie auf irgendeine 200 Weise magisch verstärkt, doch er war zu beschäftigt, um weiter darüber nachzudenken. Sie schlugen und tanzten umeinander und wichen immer wieder kreischenden Passanten und reiterlosen Pferden aus. Die Bewegungen der Frau waren fließend, und er konnte meist nicht einmal ihre Klinge treffen, ganz zu schweigen davon, einen wirkungsvollen Schlag anzubringen. Im Vergleich zu ihr fühlte er sich schwerfällig, und er fürchtete, bald einen entscheidenden Treffer einstecken zu müssen. Auf einmal war er nicht mehr allein. Seine Kameraden tauchten auf und stürzten sich in den Kampf. Die Frau schien unbeeindruckt. Wenn man nach dem Ausdruck ihres seltsamen Gesichts gehen konnte, dann freute sie sich sogar über die Herausforderung. Sie bezog die Neuankömmlinge in ihren Angriff ein und ging rasch und energisch mit der Klinge gegen sie vor. Das Klappern des Stahls begleitete die Kämpfer, während sie sich duckten, zur Seite sprangen und eine Blöße suchten. Dann traf sie Fleisch. Einer der Schwertkämpfer taumelte und presste sich eine Hand auf die Brust. Das Blut spritzte zwischen seinen Fingern hindurch. Tödlich getroffen sank er zu Boden. Disgleirio schrie. Sein zweiter Gefährte ging wild auf die Frau los. Ohne mit der Wimper zu zucken, lenkte sie seine Klinge ab und schnitt ihm den Arm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen auf. Er heulte vor Schmerzen und zog sich zurück. »Ich habe euch doch gesagt, dass ihr euch heraushalten solltet!«, brüllte Disgleirio und stieß ihn zur Seite. Der Verwundete humpelte davon und hielt seinen blutenden Arm. Disgleirio drehte sich um und wollte den Kampf wieder aufnehmen. Die Frau war verschwunden. Er sah sich auf der Straße um und versuchte, die schlanke Gestalt im Durcheinander zu finden. Dann sah er sie. Sie stand im breiten Eingang 201 eines aufgegebenen Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Er drängte sich zu ihr hinüber. Doch nach ein paar Schritten blieb er wie angewurzelt stehen. Im Hauseingang spielte sich eine bizarre Szene ab. Die Frau trat rasch einen Schritt zur Seite und ließ ihren Umriss als leuchtende Form in der Luft zurück. Schlagartig füllte sich der Umriss. Knochen, innere Organe, Arterien und Venen erschienen, dann legte sich die Haut als Hülle darum. Ihr zweites Ich bekam klare Konturen, und das Gesicht war ein Spiegelbild ihres eigenen, wenngleich es bei näherem Betrachten eher männlich wirkte. Schließlich bildeten sich auch Kleider heraus, die denen der Frau ähnlich waren. Das Wesen, das so entstanden war, hätte ihr Zwillingsbruder sein können. Der Eingang, in den die beiden sich zurückgezogen hatten, war dunkel. Disgleirio brauchte einige Augenblicke, um noch etwas anderes zu erkennen. Die Zwillinge waren mit einem feinen Netz verbunden. Es war feucht und gallertartig, und Disgleirio wurde den Gedanken nicht los, dass es sich um einen riesigen Mutterkuchen handelte. Dann riss das Netz auseinander und wurde vom Körper der Frau absorbiert. Er hatte noch nie eine Verschmolzene gesehen, erkannte die Frau aber sofort als das, was sie war. Die Zwillinge lächelten sich liebevoll an und traten gemeinsam wieder auf die Straße hinaus. Inzwischen waren die meisten Menschen verschwunden, die Meute und ihre Verfolger waren weitergerannt. Doch es waren noch genügend Leute unterwegs, um deren Sicherheit Disgleirio nun fürchten musste. Seine Sorge war berechtigt.
Die Zwillinge starrten ihn an. Sie machte eine Bemerkung, die Disgleirio nicht hören konnte, und sie lachten. Dann kam die Frau zu ihm. Gleichzeitig geschah etwas Bemerkenswertes. 202 Zuerst bewegte sich ihr Zwillingsbruder überhaupt nicht. Dann erhob er sich mit der Leichtigkeit und Eleganz eines Kinderdrachens vom Boden. Als er in Höhe der Fenster im ersten Stock schwebte, breitete er die Arme und Beine aus. Im nächsten Augenblick sauste er durch die Luft. Quinn duckte sich. Der Zwillingsbruder flog knapp über seinem Kopf vorbei, doch der Angriff, mit dem Quinn gerechnet hatte, blieb aus. Vielmehr bog Aphrim ab und flog die Straße hinunter. Er wollte offenbar zu einer Gruppe von Demonstranten, die ihre Wunden versorgten. Dort sank er wieder zu Boden. Als sie ihn kommen sahen, versuchten diejenigen, die noch laufen konnten, sich in Sicherheit zu bringen. Der Zwillingsbruder blies die Wangen auf und spuckte eine Flamme aus, die die Menschen einhüllte. Die Nachzügler gerieten in Brand und taumelten als lebende Feuerbälle umher. Aphrim drehte sich um und hielt auf eine weitere Gruppe von Menschen zu, die ihn beobachtet hatten und ihm zu entkommen versuchten. Disgleirio sah entsetzt zu. Er war so gefesselt, dass er beinahe die Frau vergessen hätte. Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie hatte ihn fast erreicht und griff an, und er konnte sich vor ihrem wilden Schwertstreich nur mit einem Sprung retten. Ihre Klingen prallten aufeinander, und das Duell begann von neuem. Aphrim schwebte unterdessen über kauernden Gruppen von Bürgern und deckte sie mit Feuer ein. Ein Einspänner tauchte auf, der Kutscher versuchte hastig zu fliehen. Der Zwillingsbruder spuckte Feuer auf den Wagen. Kutsche und Kutscher begannen lichterloh zu brennen, und das verängstigte Pferd, das auf einmal einen Scheiterhaufen zog, stieg panisch. Mit lautem Krachen kippte der Einspänner um und verteilte seine grässliche Fracht auf der Straße. Das Pferd galoppierte weiter und zog die brennenden Überreste hinter sich her. Die Zuschauer zerstreuten sich. 203 Irgendjemand schoss aus einem offenen Fenster einen Pfeil auf Aphrim ab. Sein feuriger Atem verkohlte den Schaft, bevor er ihn überhaupt erreichte. Er flog einen Bogen und kehrte zurück. Ein zweiter Pfeil kam geflogen, war aber viel zu ungenau gezielt, um ihm gefährlich zu werden. Jetzt ließ er seinen Zorn an dem Bogenschützen aus, fauchte seine Flammen durchs offene Fenster und verbrannte den Mann zu Asche. Der Raum ging in Flammen auf, fettiger Rauch stieg auf. Disgleirio bemerkte das Gemetzel nur am Rande. Er war in einen Schwertkampf verwickelt, von dem er glaubte, er könne ihn nicht gewinnen. Die Frau kämpfte fehlerlos und erbittert, was seinen Verdacht verstärkte, dass sie ihre Kräfte mit magischen Hilfsmitteln erneuerte. Sie kämpften und lauerten, ob sie Lücken in der Deckung des Gegners fänden. Wäre einer von ihnen weniger begabt gewesen, dann wäre der Kampf längst beendet gewesen. Disgleirio fürchtete inzwischen, ihre Ausdauer werde letzten Endes den Ausschlag geben. Doch während sie kämpften, kam ihm ein Gedanke. Vielleicht täuschte er sich, doch er hatte das Gefühl, dass sie mit ihm größere Schwierigkeiten hatte, als sie sich anfangs gedacht hatte. Selbsttäuschung oder nicht, es machte ihm Mut, und er legte noch etwas zu. Er wagte wieder zu hoffen. Seine Entschlossenheit wurde indes nicht bis zum bitteren Ende auf die Probe gestellt. Er spürte Erschütterungen unter den Füßen. Gleich drauf hörte er donnernde Pferdehufe. Eine große Truppe von Reitern näherte sich. Auch Aphri hörte es. Als gehorchten sie einem stillen Befehl, stellten sie den Kampf ein und wichen zurück. Andere Geräusche überlagerten die Hufschläge. Rufe, Schreie, das Trampeln von Stiefeln auf dem Pflaster. Disgleirio und die Frau sahen sich zum Ursprung des Lärms um. Mehrere hundert Menschen kamen in ihre Richtung ge204 rannt. Sie wurden von einer Kavallerieabteilung gejagt, die das auffällige Rot der Paladin-Clans trug. Die Ersten rannten an Quinn und Aphri vorbei. Weitere und immer mehr Menschen folgten, bis sie inmitten eines Haufens von erschreckten Bürgern standen. Disgleirio verlor die Frau aus den Augen, und nachdem er sich anfangs dagegen gestemmt hatte, folgte auch er schließlich dem allgemeinen Strom der Bewegung. Es herrschte ein schreckliches Durcheinander, und er wurde in einem Meer erschreckter Gesichter und brüllender Stimmen mitgerissen. Er bekam Tritte vor die Schienbeine und Ellbogenstöße in die Rippen. Er wurde herumgestoßen und geschubst. Irgendjemand packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Er wehrte sich heftig, dann erkannte er den verletzten Schwertkämpfer, den er weggeschickt hatte. Er folgte dem Mann und ließ sich durch die kämpferische Menge zerren. Endlich kamen sie an der Seite des menschlichen Stroms heraus. Der Schwertkämpfer zerrte Disgleirio sofort weiter in eine Lücke zwischen zwei baufälligen Hütten. »Danke«, keuchte er. »Ihr habt mir zwar gesagt, ich solle verschwinden, Sir, aber ...« »Vergiss es. Es ist gut, dass du noch da bist.« Er betrachtete das mit Blut befleckte Tuch, mit dem der Mann sich einen Notverband angelegt hatte. »Wie sieht es aus?« »Ich werde es überleben. Was, zum Teufel, war dieses fliegende Ding? Und wer war die Frau?«
»Ich glaube, wir sind gerade einer Verschmolzenen begegnet.« »Ich dachte, die seien nur eine Legende.« »Anscheinend wohl doch nicht.« Disgleirio blickte auf die vorbeirennende Menge und die Paladine, die sie scheuchten. »Wir können hier nichts mehr tun, wir sollten verschwinden.« Sein Begleiter nickte. »Äh, was ist das da, Sir?« 205 »Was denn?« »Da, in Eurer Tunika.« Er deutete darauf. Es war ein Stück Papier, das halb aus Disgleirios Tasche ragte. Er nahm es und faltete es auf. Es war mit Blockbuchstaben beschrieben: INVASION DER DIAMANTINSEL STEHT UNMITTELBAR BEVOR. ERWARTET MEHR RAZZIEN GEGEN DEN WIDERSTAND. »Was ist das?«, fragte der Schwertkämpfer. »Lies es selbst.« Disgleirio gab ihm den Zettel. »Woher kommt das?« »Ich habe keine Ahnung. Es muss ... Wahrscheinlich hat es mir jemand in der Menge zugesteckt.« Ratlos blickte er auf das Gedränge. Zwei Blocks weiter drückten sich Aphri und Aphrim in den Eingang eines Stalls und küssten sich innig. »Wir können hier nicht lange verweilen, mein Lieber«, flüsterte sie und sah ihm tief in die leeren Augen. Er nickte. In der einfachen Bewegung lag etwas, das man als Trauer hätte deuten können. »Bald«, versprach sie ihm. Er versank in ihrer Umarmung. Nicht bildlich, sondern wörtlich. Sein Körper verschmolz mit dem ihren, sie trank ihn. Aphri streckte sich und rülpste. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Sie fuhr herum und zog das Schwert. »Was, zum Teufel, habt Ihr hier zu suchen?«, wollte Devlor Bastorran wissen. Sie entspannte sich und steckte das Schwert wieder in die Scheide. »Ich mische mich ein.« »So eine Dummheit. Habt Ihr denn keine Vorstellung, wie gefährlich es ist, wenn Ihr Euch in aller Öffentlichkeit herumprügelt? Ganz zu schweigen davon, dass Ihr in meiner Nähe gesehen werden könntet.« 206 »Ihr macht Euch zu große Sorgen. Wir haben nur ein paar Unzufriedene erledigt. Ihr solltet dankbar sein.« »Dankbar, verdammt. Wir sind durchaus fähig, auch ohne Eure Hilfe mit diesem Pöbel fertig zu werden. Verschwindet hier.« »Schon gut, schon gut, ich gehe schon.« »Oh, nein. Ich will lieber ganz sicher sein. Ihr werdet unter Begleitschutz gehen. Mein Adjutant wird Euch begleiten.« Er sah sich um. »Wo steckt der Mann, zum Teufel? Wo ist Meakin?«, brüllte er zwei Leutnants an, die zwanzig Schritt entfernt standen. Sie zuckten mit den Achseln und schüttelten die Köpfe. »Verdammt, dann sucht ihn1.«, blaffte er. Sie eilten davon. »Es ist wundervoll«, erklärte Aphri ihm. »Was?« »Der neue Zustand, in dem ich bin. Die Verbindung mit dem Energienetz. Ich habe mich noch nie so stark gefühlt.« »Ich weiß«, sagte Bastorran. »Aber tut mir einen Gefallen, Kordenza. Hebt es Euch für Caldason auf.« 207 Träge schwappte das Wasser an den Strand der Diamantinsel. Der Winterhimmel war bedeckt, die Luft eiskalt. Überall herrschte reges Leben. Späher besetzten die Hügelkuppen, Wächter patrouillierten am Ufer, Zivilisten wurden mit Speer und Schwert ausgebildet. Befestigungen und Verteidigungsanlagen wurden auf der ganzen Insel eingerichtet. Mehrere Dutzend Männer und Frauen mühten sich im Schatten der Terrassen unterhalb der Festung am Strand ab. Kohlenpfannen, Kessel und Ambosse standen herum. Einige gruben mit Spaten, die lange Griffe hatten, andere knieten und mörtelten mit Kellen. Zimmerleute schleppten Stapel schmaler Bretter. Zwei dick eingemummte Gestalten schauten von einem Vorsprung aus zu. »Was machen die da?«, wollte Kutch wissen. »Sie sind erfinderisch«, erklärte Caldason. »Das ist etwas, das die Menschen ziemlich gut können, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen.« Er deutete auf die Abteilung, die Löcher grub. »Sie benutzen den Sand als Gussformen für Pfeilspitzen, Speerspitzen und sogar für Schwertklingen. Das Metall wird in den Öfen da drüben erhitzt, und mit den 208 Holzblöcken transportieren sie die Schmelztiegel. Das ist primitiv, aber es funktioniert.« »Haben wir denn nicht schon genug Waffen?« »In einer Lage wie dieser kann man nie genug Waffen haben. Ganz besonders solche, die - wie Pfeile - meist verloren gehen, wenn man sie gebraucht. Du musst vorsichtshalber annehmen, dass du sie nur einmal benutzen kannst. Deshalb haben wir uns das Ziel gesetzt, zwanzigtausend Pfeilspitzen herzustellen.«
»Das ist aber eine Menge.« »Es ist bei weitem nicht genug. Denk doch drüber nach. Sagen wir mal, zweihundert Bogenschützen schießen jeweils fünfzig Pfeile ab, und die Hälfte davon geht verloren. Wir können den ganzen Vorrat bei einem einzigen Angriff verlieren.« »Wenn du es so ausdrückst, dann scheint es gar nicht mehr so viel zu sein.« »Das Gleiche gilt für die Zahl der Menschen, die die Insel verteidigen. Aber darüber will ich lieber gar nicht erst nachdenken.« Er wandte sich von der Szene am Strand ab. »Wenn wir uns beeilen, können wir in der Redoute zu Abend essen. Was meinst du?« »Ich bin am Verhungern.« »Gut, dann lass uns gehen.« Sie hatten einen kleinen, zweirädrigen Bauernkarren und eine Stute, die ihn zog. Da die meisten Straßen auf der Insel schlecht unterhalten und nicht mehr als einfache Fahrwege waren, wurden sie ordentlich durchgeschüttelt. Fünf Minuten später sahen sie eine Gruppe, die dicht an der Straße einen kleinen Wald rodete. »Wir hacken anscheinend eine Menge Bäume ab«, sagte Kutch. »All die Pfeilspitzen benötigen Schäfte«, erinnerte Caldason ihn. »Und wir brauchen auch Bogen und Speerschäfte. Ganz zu schweigen vom Brennstoff.« 209 »Was ist, wenn uns das Holz ausgeht?« »Es hängt davon ab, wie lange wir hier festsitzen. Eigentlich gibt es genügend Holz. Ich mache mir eher Sorgen wegen der Ernährung. Wasser haben wir dank der Brunnen. Aber das Essen könnte ein Problem werden. Darrok hat ein Lager für Trockenwaren gebaut, aber wir haben nicht viele frische Produkte, vor allem im Winter. Natürlich haben wir Fisch, aber allmählich werden die Gewässer zu gefährlich zum Fischen.« »Glaubst du immer noch, es wird eine Invasion geben?« »Es gibt nichts, was mich vom Gegenteil überzeugen könnte.« »Sind wir in der Lage, sie zu überstehen?« »Willst du eine ehrliche Antwort?« »Ich erwarte immer ehrliche Antworten von dir, Reeth.« »Also gut. Nun ja ... wahrscheinlich nicht.« »Oh.« »Aber das steht gewissermaßen nur auf dem Papier. Wie ich schon sagte, werden die Menschen sehr erfinderisch, wenn sie in der Klemme stecken. Sie können auch unglaublich tapfer werden. Und es gibt eine Menge Dinge, die das Blatt zu unseren Gunsten wenden können.« »Du meinst, wenn wir die Quelle finden?« »Du weißt, dass ich meine ganze Hoffnung darein setze, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass wir so gerettet werden. Wir wissen nicht, was es ist, und vielleicht finde ich sie auch nicht.« »Du hast dich schon immer gegen alle Wahrscheinlichkeit behauptet, Reeth.« Caldason lächelte. »Mag sein. Aber ich versuche, auf das Risiko vorbereitet zu sein, auf das ich mich einlasse. Da wir gerade dabei sind ... Ich wünschte, ich könnte dich ein wenig im Schwertkampf unterrichten.« »Ich glaube nicht, dass ich dazu der Richtige bin.« »Jeder kann ein paar Lektionen vertragen, und du bist 210 jung und recht gut in Form. Mir wäre wohler, wenn du angesichts der Dinge, die auf uns zukommen, wenigstens einige grundlegende Verteidigungsmanöver beherrschtest.« »Nun ja, vielleicht kannst du mir die Grundbegriffe beibringen. Aber ich glaube, die Magie hilft mir mehr.« »Die Waffengewalt wird höchstwahrscheinlich der entscheidende Faktor bei der Verteidigung der Insel sein. Die Magie nützt uns möglicherweise nicht viel.« »Sie werden doch die Magie gegen uns einsetzen, oder? Wir müssen etwas dagegenhalten. Du hast eine eigenartige Einstellung zur Kunst, Reeth. Einerseits hasst du die Magie, andererseits suchst du sie, um dich zu retten.« »Nur weil ich keine andere Wahl habe. Wir haben gerade aber nicht über mich geredet, sondern über das, was hier geschehen wird. Ich war in viele Kämpfe verwickelt, und die meisten wurden mit der Klinge und nicht mit der Magie entschieden.« »Die Magie formt unsere Welt, Reeth. Sie kann erstaunliche Dinge für uns tun. Das habe ich schon gesehen, als ich kaum mehr als ein Kind war.« »Was hast du denn gesehen?« »Melyobars fliegenden Palast. Ich glaube, ich war mit meiner Mutter dort, aber ich weiß es nicht mehr genau. Den Palast werde ich jedenfalls nie mehr vergessen. Er war ... ich weiß nicht, er war sehr weit weg, und die Sonne ging strahlend rot hinter ihm unter. Es war sagenhaft.« »Ich kann mir vorstellen, dass dies bei einem Kind einen starken Eindruck hinterlässt.« »Der Eindruck war so stark, dass ich nicht sehr unglücklich war, als Meister Domex kam und mich mitnahm. Ich meine, ich habe meine Mutter und alles andere nicht gern verlassen, aber ich dachte, wir könnten Paläste zum Fliegen bringen.« Er grinste. »Natürlich war es dann doch etwas anders.«
»Ich erinnere mich an die Zeit, bevor der Palast gebaut 211 wurde. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich sogar die Bauarbeiten gesehen.« »Ich vergesse immer, wie alt du bist, Reeth. Es muss verrückt sein, Erinnerungen zu haben, die so weit zurückreichen.« »Eines Tages hast du vielleicht auch selbst so weit zurückreichende Erinnerungen«, erwiderte der Qalochier trocken. »Falls du das Glück hast, alt genug zu werden. Aber wenn dein bestes Beispiel für das, was die Magie leisten kann, das Werk eines Irren ist...« »Nein, das meinte ich nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass sie erstaunliche Dinge tun kann.« »Wie etwa die Bevölkerung zu unterwerfen? Sie mit Illusionen blenden? Ihre Wertvorstellungen korrumpieren?« »Das ist doch nicht die Schuld der Magie. Es kommt auf die Leute an, die sie verwenden. Wenn du die Quelle findest, würdest du sie ja auch zum Guten hernehmen.« »Und wie willst du die menschliche Natur ändern?« »Ich glaube, die Leute können auch gut sein, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen.« »Es gibt immer Leute, die schlecht sind, Kutch, ganz egal, was du tust.« Sie erreichten die Redoute. Die Renovierung und die Befestigungen waren fast vollendet, auch wenn immer noch einige Dutzend Leute bei der Arbeit waren. Caldason hielt den Wagen an. Als sie abstiegen, fügte er hinzu: »Die Wahrheit ist, dass ich die ehrliche Arbeit mit der Klinge vorziehe. Die Magie ist, abgesehen von allem anderen, einfach zu kompliziert.« »Nicht, wenn du dich auf sie eingestimmt hast«, erklärte Kutch. Er sah sich um und bemerkte einen kleinen Holzstapel. »Schau nur.« Er machte eine seltsame Geste und starrte das Holz an. Einer der Stämme bewegte sich ein wenig und hob sich 212 an einer Seite. Dann stieg der Balken aus dem Haufen hoch und schwebte in der Luft. Kutch bewegte den ausgestreckten Finger, der Balken folgte der Bewegung und schwankte hin und her, als schwebe er auf unruhigem Wasser. Gleich darauf fiel er mit einem dumpfen Knall auf den Stapel zurück. Kutch machte den Eindruck, als habe er sich körperlich sehr angestrengt. Strahlend wandte er sich an Caldason. »Beeindruckend. Aber damit kannst du doch keine Invasionsflotte aufhalten, oder?« Caldason ging zum weiten Eingang der Redoute. Kutch folgte ihm, innerlich kochend. Ein breiter Flur teilte das Gebäude im Erdgeschoss in zwei Abschnitte. Die Tür des Speisesaals, zu der sie wollten, lag am anderen Ende des Ganges. Bevor sie dort ankamen, hörten sie erregte Stimmen. Es waren Stimmen, die sie kannten, und sie kamen aus einem Raum, an dem sie gerade vorbeigehen wollten. Reeth und Kutch wechselten einen Blick. Caldason öffnete die Tür. »... und ich sage, dass es dafür keinerlei Rechtfertigung gibt!«, tobte Serrah. Als die beiden eintraten, hielt sie inne. Darrok war zugegen, seine Scheibe parkte auf einer Bank. Pallidea stand neben ihm. »Reeth«, sagte Serrah. »Gut. Du wirst mich dabei sicher unterstützen.« »Wobei soll ich dich unterstützen?« »Hier.« Sie nickte zu einer großen offenen Kiste hin, die auf einem Tisch stand. Er ging hinüber, Kutch folgte ihm. Die Kiste war voller faustgroßer Stoffbeutel. Einer war aufgeschlitzt. Drinnen kamen winzige, fast durchsichtige, bläulich weiße Kristalle zum Vorschein. Kutch verstand es nicht. »Was ist das?« »Ramp«, sagte Caldason. »Ja, verdammt, das ist Ramp«, bestätigte Serrah, die vor 213 Wut kaum noch sprechen konnte. »Es gehört Zahgadiah.« Sie sah ihn böse an. »Was ist hier los, Darrok?«, wollte Caldason wissen. »Nichts, was irgendjemanden wütend machen müsste.« »Wirklich nicht?«, zischte Serrah aufgebracht. »Wie kommt Ihr nur darauf?« »Ich bestreite ja nicht, dass es mir gehört. Oder, genauer gesagt, der Insel.« »Ich wusste ja, dass Ihr früher ein Gauner wart, aber ich dachte, Ihr hättet doch wenigstens darauf verzichtet, mit diesem Mist zu handeln.« Darrok hob eine Hand. »Hört zu«, knirschte er. »Das gefällt mir so wenig wie Euch. Tatsache ist aber, dass ich es geerbt habe. Genauer gesagt, war es eines der beweglichen Güter, die ich beim Kauf der Insel übernommen habe.« »Bewegliche Güter? Das Zeug hat meine Tochter umgebracht!« »Ich weiß, Serrah, und das tut mir Leid. Aber Ihr müsst verstehen, was die Diamantinsel damals war. Die Menschen haben ein Vermögen bezahlt, um hierher zu kommen. So war es jedenfalls in der Blütezeit. Dafür haben sie erwartet, sich allen Vergnügungen hingeben zu können, die ihnen nur einfallen wollten. Ramp war eines der Dinge, die sie haben wollten. Aber ich habe es nie von mir aus angeboten, sie mussten fragen.« »Es ist illegal.« »Hier nicht. Die üblichen Gesetze haben hier nie gegolten, weil wir uns immer außerhalb der Rechtsprechung
der anderen Staaten befanden. Die einzigen Regeln waren die, die wir uns selbst auferlegten. Ich glaube, genau deshalb wollten einige Gäste auch Ramp probieren. Etwas Gefährliches, das sie daheim nicht bekommen konnten. Bei den meisten war es reine Neugierde.« »So hat es auch bei Eithne begonnen.« »Sie war noch ein Kind, Serrah«, gab Darrok behutsam 214 zurück. »Ich rede hier über Erwachsene. Menschen, die alt genug waren, ihre Entscheidungen selbst zu treffen.« »Das ist doch spitzfindig. Und es entspricht nicht der Einstellung meiner alten Arbeitgeber in Gath Tampoor. Trotz all ihrer Fehler, und es sind nicht wenige, hatten sie keine Nachsicht mit Drogenhändlern. Vergesst nicht, dass es zu meinen Aufgaben gehört hat, gegen diese Leute vorzugehen.« »Wisst Ihr eigentlich, woher das Ramp gekommen ist?« »Woher es gekommen ist? Was meint Ihr damit?« »Es ist keine natürliche Substanz, das müsst Ihr doch wissen. Es besteht aus einer Reihe von natürlichen Zutaten, doch es muss verarbeitet werden, es muss hergestellt werden. Was glaubt Ihr, wer damit begonnen hat? Wisst Ihr das? Reeth?« »Keine Ahnung.« »Ich auch nicht«, gab Kutch zu. »Verbrecherbanden«, sagte Serrah. »Die gleichen Leute, die ich verfolgt habe.« »Ich habe zu einer Verbrecherbande gehört«, erinnerte Darrok sie. »Nicht, dass wir viel mit Drogen zu tun hatten, obwohl wir Piraten waren. Aber ich weiß, dass das Ramp nicht aus der kriminellen Unterwelt gekommen ist.« »Woher denn dann?«, wollte Caldason wissen. »Aus einem der Reiche.« »Was?«, rief Serrah. »Einige sagen, es sei Gath Tampoor gewesen, andere geben Rintarah die Schuld. Vielleicht sind sie auch unabhängig voneinander darauf gekommen. Wahrscheinlich werden wir die Wahrheit nie erfahren.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Kutch. »Welchen Grund hatten sie, etwas so Schreckliches zu erfinden?« »Als Waffe. Eine geheime Waffe im Krieg zwischen den Reichen. Es sollte die Bevölkerung des Feindes treffen und die Moral schwächen, es sollte die Kriminalität fördern 215 und die Institutionen korrumpieren. Ganz zu schweigen von den Mitteln, die man aufwenden muss, um es zu bekämpfen.« »Aber das ist doch böse«, sagte Serrah. »Die Reiche haben sich noch nie besonders moralisch verhalten. Es ist eine verschlagene Art zu denken, aber es war brillant, es richtete großen Schaden an. Andererseits war es dumm. Denn trotz ihrer Gerissenheit haben die Reiche nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass es außer Kontrolle gerät. Sie konnten nicht vorhersehen, dass es das Leben der Menschen, die ihnen dienten, beeinflussen würde. Und dass es auch ihre Kinder treffen würde. Dieser junge Mann, dessen Tod man Euch in die Schuhe geschoben hat, Serrah - wie war noch gleich sein Name?« »Chand Phosian«, flüsterte sie. »Der Sohn des gewählten Prinzipals.« »Phosian, richtig. Er ist indirekt am Ramp gestorben.« »Und dadurch wurden mir die Augen geöffnet, und ich ging zum Widerstand.« »Ist das nicht ironisch?« »Wenn das der Wahrheit entspricht, dann haben sie auch Eithne umgebracht. Genauso zuverlässig, als hätten sie ihr eine Klinge ins Herz gestoßen.« Darrok nickte. »Wenn Ihr noch weitere Beweise für die Bösartigkeit der Reiche benötigt habt, dann habt Ihr sie jetzt. Es spielt auch keine Rolle, ob es Rintarah oder Gath Tampoor war.« »Woher wisst Ihr das alles?«, fragte Caldason. »Wenn Ihr außerhalb des Gesetzes lebt, dann befindet Ihr Euch in einer anderen Welt. Ihr seht und hört Dinge, die den gewöhnlichen Menschen verborgen bleiben. Ich habe die Geschichte über das Ramp viele Male von Menschen gehört, deren Wort ich vertrauen konnte. Ich habe sogar mit alten Handlangern geredet, die behaupteten, das Ramp sei ihnen damals in den frühen Tagen, als es aufkam, 216 von Agenten der Regierung als Konterbande angeboten worden. Ich hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben.« »Sie hatte keine Aussichten«, murmelte Serrah. Ihre Augen wurden feucht. »Es macht so schnell süchtig.« Caldason nahm sie in den Arm. »Es könnte einen Grund dafür geben, wenn man von den berauschenden Eigenschaften mal absieht«, meinte Darrok. »Es ist vielleicht nur eine Geschichte, aber das Gerücht ging um, dass in die Formel eine Art Zauberspruch eingearbeitet wurde, um das Verlangen der Benutzer noch zu verstärken.« Caldason warf einen Blick zu Kutch, der errötete und den Blick abwandte. »Als ich das hier gefunden habe«, Serrah deutete auf die Kiste, »da war auf einen Schlag alles wieder da. Eithne
und alles andere. Was ich jetzt höre, ist nicht geeignet, mich ruhig schlafen zu lassen. Ihr müsst es vernichten, Zahgadiah.« »Das kann ich nicht tun, Serrah.« »Warum nicht?« »Weil wir es möglicherweise selbst als eine Art Waffe einsetzen müssen.« »Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« »Ihr wisst doch, was das Ramp mit den Leuten anstellt, die es nehmen. Es stärkt die Körperkraft und die Ausdauer und macht aggressiv. Es verwandelt die Menschen in furchtlose ... Tiere. Für eine Weile jedenfalls. Ich habe gehört, dass es einige Mitglieder des Widerstands in Bhealfa während der Säuberungen aus Verzweiflung genommen haben. Sollte es hier zum Letzten kommen, dann sollte es denen zur Verfügung stehen, die es haben wollen. Es sollte für diejenigen greifbar sein, die es haben wollen.« »Wenn ich kämpfend untergehe, dann will ich das lieber ohne diesen Mist im Kopf tun.« »Ich auch. Ich kann es aber denen nicht verwehren, die 217 das anders sehen. Und unter gewissen Umständen könnte es das Blatt wenden.« »Was wollt Ihr denn tun? Wollt Ihr es an alle ausgeben?« »Nein. Es wäre sowieso nur ein Verzweiflungsakt, für den Fall, dass es völlig hoffnungslos aussieht. In diese Kategorie fällt auch ein Vorrat an Gift, den ich für die aufbewahre, die ihn haben wollen.« »Ihr malt ein sehr aufmunterndes Bild unserer Aussichten.« »Ich versuche nur, in Bezug auf das, was noch kommt, realistisch zu sein.« »Es stinkt, Zahgadiah, und es gefällt mir überhaupt nicht.« »Es ist nicht der richtige Augenblick, untereinander zu streiten«, sagte Pallidea. »Ihr sprecht nicht oft, aber wenn Ihr sprecht, dann habt Ihr gewöhnlich Recht«, sagte Caldason. »Hört, hört«, meinte Darrok. »Es tut mir Leid, dass Ihr so empfindet, Serrah, und ich kann den Grund verstehen. Aber in dieser Angelegenheit hat auch der Rat zugestimmt. Wir wollen das Thema also besser fallen lassen, ja?« »Bist du seiner Meinung, Reeth?« »Was wir denken, spielt jetzt keine große Rolle mehr, Serrah. Es ist entschieden.« »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Wir sind in einer Ausnahmesituation. Die Menschen auf dieser Insel müssen damit rechnen, bald zu sterben. Wer sind wir, dass wir ihnen vorschreiben wollen, wie sie sich ihrem Tod zu stellen haben?« Sie seufzte. »Schafft mir das verdammte Zeug wenigstens aus den Augen.« »Ich lasse es entfernen«, versprach Darrok. »Es soll versteckt werden. Und hoffentlich wird es nie gebraucht.« »Ich glaube, wir haben auch noch über angenehmere 218 Dinge zu reden, nicht wahr, Zahgadiah?«, warf Pallidea ein. »Allerdings. Reeth und ich haben einen Plan ausgearbeitet, um Euren Freund Kinsel zu befreien.« »Wie wollt Ihr das anfangen?«, fragte Kutch. »Gute Frage. Lasst es uns beim Essen besprechen.« 219 Dann glaubt Ihr also, es sei die gleiche Verschmolzene gewesen, der auch Reeth und Serrah begegnet sind?«, fragte Karr. »Wie viele davon gibt es denn?«, entgegnete Disgleirio. »Es hat mich erschüttert, das könnt Ihr mir glauben. Ich habe noch nie einen so starken und geschickten Gegner gehabt. Und sie hat einen unserer besten Männer getötet, was ich so schnell nicht vergessen werde.« »Hat sie die Miliz unterstützt?« »In gewisser Weise, weil sie die Zivilisten angegriffen hat. Aber ich glaube nicht, dass sie direkt mit den Behörden zusammenarbeitete. Sie wirkte eher wie eine freie Mitarbeiterin.« »Aber offenbar keine völlige Einzelgängerin. Auch Reeth war der Ansicht, sie stehe irgendwie mit den Paladinen in Verbindung.« »Wer sie auch ist - sie hat heute da draußen eine Menge Schaden angerichtet.« Goyter schob den Kopf zur Tür herein und setzte den üblichen besorgten Gesichtsausdruck auf. »Kommt schon, ihr beiden, ihr müsst etwas essen. Ich werde es nicht zweimal sagen.« Karr lächelte ironisch. »Ich glaube, wir sollten tun, was 220 sie sagt. Der Zorn einer Verschmolzenen ist nichts gegen ihren.« Disgleirio musste grinsen. Er wusste, dass es mindestens zur Hälfte der Wahrheit entsprach. Sie verließen Karrs kleines behelfsmäßiges Arbeitszimmer. Der ehemalige Patrizier ging steifbeinig, und so sehr er auch versuchte, seine Schmerzen zu überspielen, seine Augen konnten nicht lügen. Disgleirio schob entschieden den Gedanken beiseite, dass ihr Anführer und sein Freund wohl nicht mehr lange zu leben haben. Ein größerer Seitenraum der Höhle war als Speisesaal eingerichtet worden. Er war mit einem halben Dutzend langen, stabilen Bänken gefüllt. Die meisten Leute hatten um diese Zeit allerdings schon gegessen, nur einige Nachzügler saßen noch vor ihrem
Mahl. Karr und Disgleirio hatten keine Mühe, einen freien Tisch zu finden. Sobald sie saßen, sagte der Anführer der Gerechten Klinge: »Seltsam war vor allem ihr Fuß. Ich glaube, sie hat die magische Energie direkt aus dem Netz bezogen. Habt Ihr schon einmal so etwas gehört?« »Ja, aber es ist sehr selten. Als ich ein junger Mann war, gab es einen Fall, der ein ziemliches Aufsehen erregte. Es war ein nicht sehr bedeutender Abkömmling der Königsfamilie, ein Vetter des Königs oder der Königin, ich erinnere mich nicht mehr genau. Jedenfalls war er leidend. Er hatte eine Art von zehrender Krankheit, mit der die Heiler überfordert waren. Irgendjemand kam dann auf die Idee, ihn zu verjüngen, indem man ihn direkt mit der magischen Quelle verband.« »Hat es funktioniert?« »Eine Weile schon. Aber es hat das Unausweichliche nur hinausgeschoben. Im Grunde war es tragisch.« »Es klingt so, als sei es kostspielig.« »Oh, ja. Die Verschmolzene, mit der Ihr zu tun hattet, 221 muss sehr reich sein oder reiche Gönner haben. Ganz zu schweigen vom magischen Wissen.« »Ich wünschte, Phönix wäre hier, und wir könnten ihn fragen.« Goyter kam mit einem Tablett. Sie stellte das Essen vor ihnen ab, dazu einen Krug und Becher. Karr bedankte sich mit einem Nicken. »Wo ist Tanalvah?«, fragte er. »Sie ist bei Teg und Lirrin. Ich kann versuchen, sie hierher zu holen. Sie ist immer noch am Boden zerstört, das arme Ding. Stimmt was nicht mit Eurem Essen?« Er starrte missmutig auf seinen Teller. »Nichts«, seufzte er. »Hier könnt Ihr keine großzügigen Festgelage erwarten, Dulian. Ganz zu schweigen davon, dass Ihr auf Eure Gesundheit achten müsst.« Mit dem Tablett unter dem Arm zog sie sich wieder zurück. »Festgelage«, grollte Karr. »Wenn ich wenigstens die Gelegenheit dazu hätte. Man bekommt Pampe, wenn man diese Welt betritt, und Pampe, wenn man sie verlässt.« Er betrachtete Quinns Teller. »Euer Essen sieht auch nicht viel appetitlicher aus.« Disgleirio wollte etwas zum Verlassen der Welt anmerken, entschied sich dann aber dagegen. Karr hatte keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten. »Ich bin erstaunt, dass es hier überhaupt regelmäßige Mahlzeiten gibt.« »Ja, die Lagerverwalter und Köche leisten Bewundernswertes. Ich verwandle mich in einen alten Nörgler, Quinn.« »Aber Ihr doch nicht.« Karr probierte einen Löffel und verzog das Gesicht. »Erzählt mir von der Nachricht, die Ihr bekommen habt.« Disgleirio setzte seinen Becher ab. »Hier.« Er zog das Blatt aus der Tasche und gab es Karr, der es blinzelnd überflog. 222 »Hmm, was da steht, ist eigentlich nichts Neues. Es ist kein Geheimnis, dass die Diamantinsel wahrscheinlich angegriffen wird oder dass unsere Operation hier gefährdet ist.« »Ja, aber warum sollte jemand sich die Mühe machen, es uns eigens zu sagen? Es muss jemand sein, der einen tieferen Einblick hat, und er ist ein großes Risiko eingegangen, um es mir zuzustecken. Ich halte es für echt. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wer dafür verantwortlich ist und welchen Grund es dafür gibt.« »Wir haben immer noch Unterstützer, darunter auch Leute, die uns helfen wollen, ohne in Erscheinung zu treten.« »Wie viele Menschen wissen, dass ich beim Widerstand bin?« »Guter Einwand. Aber es war allein schon deshalb nahe liegend, weil Ihr versucht habt, Unschuldige vor der Miliz zu beschützen. Wie auch immer, ich denke, wir sollten die Mitteilung ernst nehmen.« Er reichte den Zettel zurück. »Ich schicke eine Warnung an alle Zellen raus.« »Und wenn die Meldung sich auf eine Razzia hier im Hauptquartier bezieht?« »Ich muss annehmen, dass der Informant, so gut er auch Bescheid weiß, diesen Ort hier nicht kennt. Dazu achten wir zu sehr auf die Geheimhaltung.« »Haben wir das nicht auch vor dem Verrat gesagt?« »Ich werde nicht nachlässig, Quinn. Ich werde ganz gewiss die Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Aber ich denke, dass es zu aufwändig wäre, das Hauptquartier schon wieder zu verlegen, besonders da wir so dicht davor stehen, den neuen Plan in Kraft zu setzen.« »Wir sollten schneller arbeiten.« »Ich bin nicht sicher, ob wir das können. Schon jetzt arbeiten alle bis an die Grenzen ihrer Kräfte. Es könnte anders aussehen, wenn wir mehr Leute hätten.« 223 »Wie wäre es, der Diamantinsel eine Warnung zukommen zu lassen?« »Das könnten wir versuchen, aber Ihr wisst ja, wie schwer es ist, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wenn die Behörden nicht jetzt schon alle magischen Boten zerstören, dann werden sie gewiss bald damit anfangen. Die Leute auf der Insel sind nicht dumm. Wir müssen ihnen nicht eigens sagen, dass sie in einer überaus gefährlichen Lage sind.« Tanalvah kam zu ihnen. Sie hatte den langsamen, leicht wiegenden Gang einer hochschwangeren Frau. Sie
wirkte erschöpft. Disgleirio stand auf und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Wo sind die Kinder?«, fragte Karr. »Sie schlafen«, entgegnete Tan. Sie seufzte müde. »Wer, sagtet Ihr, ist in einer gefährlichen Lage?« »Wir haben über die Diamantinsel geredet«, erklärte Disgleirio. »Allerdings hat er damit etwas gesagt, das sowieso schon jeder weiß, fürchte ich«, fügte Karr hinzu. »Es ist ja wirklich nichts Neues, dass die Insel sehr gefährdet ist.« »Wenigstens haben sie keinen Verräter in ihrer Mitte, soweit wir wissen«, murmelte Disgleirio. Tanalvah errötete. Sie war sicher, dass aller Augen auf ihr ruhten. Goyter kam mit Tanalvahs Essen und lenkte sie einen Augenblick ab. Tanalvah betete, dass die Ablenkung ausreichte, um das Thema zu vergessen. »Wir sind alle wegen des Verrats verbittert, Quinn«, sagte Karr. »Aber wir müssen darüber hinwegkommen. Das ist jetzt Geschichte.« »Nicht, wenn der Verräter noch in unseren Reihen verweilt.« Tanalvahs Herz sank wie ein Stein. »Wenn es so ist, warum hat es dann keine weiteren 224 Schwierigkeiten gegeben?«, überlegte Karr. »Warum haben sie uns nicht endgültig erledigt?« »Vielleicht spielen sie auf Zeit.« »Es wäre sinnvoll für sie, uns zu treffen, während wir schwach und schlecht organisiert sind. Das ist aber nicht geschehen. Meiner Ansicht nach ist der Verräter geflohen oder tot.« »Das war ja schon immer Eure Lieblingstheorie, Dulian.« »Ja. Und ich glaube, es spricht einiges dafür, dass es Kayne war.« Tanalvah schaute auf. »Wer?« »Mijar Kayne«, antwortete Disgleirio. »Dulian bezieht sich auf eine bedauerliche Episode in der Geschichte der Gerechten Klinge, auf die wir nicht besonders stolz sind. Kayne war ein Galgenstrick. Er hat seine Position benutzt, um sich zu bereichern. Er hat Geld für den Schutz von Leuten verlangt, die zu schützen wir sowieso schon geschworen hatten. Und wir glauben, dass er gewisse Erkenntnisse an die Behörden verkauft hat.« »Was ist aus ihm geworden?« »Etwas, das in der Geschichte der Bruderschaft nur sehr selten vorgekommen ist. Er wurde ausgeschlossen. In dem Gemetzel nach dem großen Verrat wurde er in einem Gefecht mit den Paladinen getötet. Es ist bezeichnend, dass er in diesem Augenblick gerade mit Plünderungen beschäftigt war. Wir haben ihn damals auch selbst gesucht, und es gab ein Gedrängel, wer ihm als Erster die Klinge geben durfte.« »Und deshalb hat es keinen weiteren Verrat gegeben«, fügte Karr hinzu. »Ein toter Mann kann nichts Böses mehr tun.« »Er war geldgierig und eitel, aber diese geringeren Verbrechen bedeuten nicht, dass er einen Verrat von diesem Ausmaß begangen hat. Ich glaube nicht, dass es Kayne war.« 225 Karr wandte sich an Tanalvah. »Ihr esst ja gar nichts, meine Liebe.« »Ich habe keinen Appetit.« »Ihr müsst aber bei Kräften bleiben.« »Ja.« Sie machte keine Anstalten, ihr Essen anzurühren. »Es sind nicht sehr angenehme Dinge, über die wir da reden, besonders nicht für jemanden in Eurem Zustand. Bitte verzeiht uns.« »Oh, nein ... ich ... es interessiert mich ja.« »Nun ja, wir haben noch eine Neuigkeit, die Euch vielleicht etwas aufmuntert. Wir haben die Vorbereitungen fast abgeschlossen und können bald zur Diamantinsel auslaufen. Ich sage nicht, dass es leicht wäre, dorthin zu gelangen, aber wir haben einen Plan, und ...« »Fahren alle dorthin?« »Nein. Leider mussten wir eine Auswahl treffen. Aber diejenigen, die bleiben, wollten ohnehin nicht zur Insel. Oder sie bleiben freiwillig, weil sie glauben, dass sie später noch eine Gelegenheit bekommen werden, wenn die Wogen sich wieder geglättet haben.« »Wie viele fahren mit?« »So viele, wie auf ein Schiff passen. Es könnten durchaus ein paar hundert sein. Wir werden uns aber bemühen, es Euch so bequem wie möglich zu machen, und ...« »Ihr wollt, dass ich mitkomme?« »Natürlich.« »Ich kann nicht.« »Wir verstehen, dass Ihr Euch Sorgen um Eure Sicherheit und um die der Kinder macht«, entgegnete Disgleirio. »Aber wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um Euch zu beschützen.« »Ich kann nicht gehen«, beharrte sie. »Es muss Euch verrückt vorkommen, wenn wir Euch an einen möglicherweise so gefährlichen Ort bringen, Tanalvah«, fügte Karr hinzu. »Wir haben aber Grund zu der An-
226 nähme, dass es hier noch viel schlimmer wird. Auf der Insel wärt Ihr wenigstens mit Freunden zusammen.« »Darum geht es nicht. Ich will nicht hier weg.« Die Verwirrung war ihnen deutlich anzumerken. »Ich will nicht undankbar sein«, erklärte sie, »aber ich kann nicht weggehen.« Disgleirio fasste sich als Erster wieder. »Warum denn nicht?« »Wenn ... wenn Kinsel zurückkommt, dann kommt er hierher, nach Bhealfa.« »Tan ...« »Ich weiß, was Ihr sagen wollt, aber das ist mir egal. Ich vertraue auf Iparrater. Die Göttin wird ihn beschützen und zu uns zurückbringen.« »Euer Glaube ist bewundernswert«, entgegnete Karr sanft, »und Ihr bezieht Eure Kraft daraus. Aber Ihr müsst auch realistisch sein. Es könnte doch sein, dass Kinsel nicht...« Tanalvah stand ungeschickt auf und warf dabei ein Glas um. Disgleirios hilfreich angebotene Hand stieß sie weg. »Kinsel wird mich und die Kinder hier suchen«, wiederholte sie störrisch. »Wohin sonst sollte er gehen?« Mit diesen Worten entfernte sie sich. Disgleirio wollte ihr folgen, aber Karr hielt ihn auf. »Lasst sie«, riet er. »Sie braucht Zeit.« »Wozu?« »Um sich damit abzufinden, dass sie Kinsel verloren hat.« Kinsel Rukanis konnte nicht schlafen. Daran war, für sich genommen, noch nichts Ungewöhnliches. Er hatte seit seiner Verurteilung in keiner Nacht mehr als ein paar Stunden Ruhe gefunden. Allerdings hatte er gehofft, dass diese Nacht anders verlaufen könnte. Aus irgendeiner Laune heraus hatte Vance befoh227 len, ihn aus der schmutzigen Koje im Bauch des Schiffs zu holen und ihm eine eigene Kabine zu geben. Natürlich war die Tür verriegelt und bewacht, und Kinsel konnte nicht aufstehen, weil er an die Koje gekettet war. Dennoch war seine neue Umgebung luxuriös im Vergleich zu der Unterkunft, an die er sich gewöhnt hatte. Trotz seiner Erschöpfung wollte aber der Schlaf einfach nicht kommen. Er wunderte sich über seine Gedanken. Wie konnte er auch erwarten, angesichts dieser Umstände überhaupt schlafen zu können? Warum sollte er überhaupt jemals wieder schlafen können? Einmal ganz davon abgesehen, dass er überhaupt schon so lange überlebt hatte. Er kam sich beinahe selbstsüchtig vor, weil er etwas so Natürliches wie Schlaf wollte. Mitten in der Nacht war es schlimmer. Nicht, dass es tagsüber wirklich besser gewesen wäre, aber in den Stunden der Dunkelheit war die Abwehr ausgeschaltet. Die Haut war irgendwie dünner, und man spürte die Ängste viel deutlicher. In diesen Stunden triumphierte die Hoffnungslosigkeit, und der Gedanke an Selbstmord gewann an Anziehungskraft. Die Kabine war keine Augenweide. Sie war spartanisch und fast leer und enthielt kaum mehr als die Koje, auf der er lag, und die war am Boden festgeschraubt. Das einzige Licht kam vom Dreiviertelmond, dessen fahle Strahlen durch ein winziges Bullauge hereinfielen. Es war still. Er hörte nur das Knarren des vor Anker liegenden Schiffs und die Schritte des Wächters draußen vor der Tür. Der Mann nahm seine Pflichten sehr ernst, oder er bewegte sich, weil ihm kalt war. Auf jeden Fall waren die gemessenen Schritte der schweren Stiefel auf den verwitterten Brettern hypnotisierend. Kinsel lag da, starrte die niedrige Decke an, lauschte dem Rhythmus der Schritte des Wächters und versuchte, an nichts zu denken. Er zählte die Schritte. Acht Schritte, 228 bis der Wächter die Grenze seines Territoriums erreicht hatte. Darauf folgten eine Pause, ein Scharren und acht Schritte zurück. Dann wiederholte sich der Ablauf. Kinsel fand es nicht besonders beruhigend und entspannend, aber es hatte etwas Tröstliches. Vielleicht, weil er auf diese Weise eine - wenngleich stark eingeschränkte Beziehung zu einem anderen Menschen hatte, obwohl ihm der Wächter alles andere als wohlgesonnen war. So lauschte er, zählte die Schritte und versuchte, seinen Geist so gut wie möglich zu leeren. Eins ... zwei... drei... vier ... fünf... sechs ... sieben ... acht. Pause. Das Scharren. Eins ... zwei... drei... vier ... fünf... sechs ... sieben ... acht. Kinsel schwebte, wie es schien, unendlich lange in diesem halbwachen Zustand, hypnotisiert von den Schritten des Fremden, der draußen herumspazierte. Eins ... zwei... drei... vier ... fünf... sechs ... sieben ... acht. Pause. Das Scharren. Eins ... zwei... drei... vier ... fünf... Die Unterbrechung war wie ein Schlag ins Gesicht. Eine Verletzung seiner Wirklichkeit. Er erschrak und richtete sich auf. Jetzt waren neue Geräusche zu hören. Kampfgeräusche und etwas, das nach einem erstickten Schrei klang. Der Aufprall von etwas Schwerem auf dem Deck, dann wieder Bewegungen, ein Stück weiter entfernt. Männer rannten und riefen, Stahl klirrte. Er zog die Knie an und legte die Arme darum. Die Kette, die ihn festhielt, war straff gespannt. Die Tür erzitterte, der Griff wurde bewegt, jemand hämmerte dagegen. Kinsel blieb still, weil er nicht wusste, ob
es klug war zu rufen oder nicht. Ohnmächtig zerrte er an der Kette. Das Hämmern hatte sich inzwischen zu gezielten Schlägen entwickelt. Es war keine Faust, sondern etwas 229 aus Metall. Mit einem Krachen drang eine Axtschneide durchs Holz. Einige weitere Schläge, dass die Splitter flogen. Kinsel duckte sich. Die Tür gab nach. Sie sprang nach innen auf, prallte gegen die Wand und federte zurück, wobei sie sich beinahe wieder schloss. Jemand schob sich herein. Im schwachen Licht war nichts zu erkennen, doch dann traf ein Strahl des Mondlichts seine doppelschneidige Axt. Der Stahl schimmerte. »Kinsel?« Rukanis glaubte die Stimme zu erkennen, wollte aber seinen Sinnen nicht trauen. Er blieb stumm. »Kinsel?« Der Mann kam näher, bis er im schwachen Licht aus dem Bullauge stand. Es reichte, um sein Gesicht zu erkennen. Kinsel konnte es nicht fassen. Er wollte etwas sagen, konnte aber nur krächzen. Er schnappte nach Luft und versuchte es noch einmal. »Reeth?« Es war nicht mehr als ein Keuchen. Caldason war sofort bei ihm. »Du bist aber schwer zu finden«, sagte er. »Reeth?«, sagte Kinsel noch einmal und riss die Augen auf. »Bist du es, oder träume ich nur?« »Es ist kein Traum. Aber es kann ein Albtraum werden, wenn wir dich nicht schnellstens vom Schiff bekommen.« »Aber wie ...« »Für Fragen haben wir später noch Zeit.« Er betrachtete den geschwächten Sänger und das ausgemergelte Gesicht. »Teufel, Kinsel, du siehst mitgenommen aus.« »Ja, das kann ich mir denken.« Seine Augen wurden feucht, er begann zu zittern. Caldason legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Immer mit der Ruhe. Es wird alles wieder gut. Ich hole dich hier raus. Kannst du laufen?« »Ja, also ...« Er nickte zur Kette hin, die sein Fußgelenk festhielt. 230 Caldason ging zum Fußende der Koje und schlug mit der Axt nach dem hölzernen Stützbalken. Die Klinge zerteilte ihn beim ersten Schlag. Er zog die Kette frei und legte sie um Kinsels Fußfessel. »Den Rest entfernen wir später. Komm jetzt.« Er half ihm beim Aufstehen. Draußen wurde der Lärm lauter. Kinsel wischte sich über die Augen. Er war benommen. »Du bist nicht allein?« »Nein. Aber wir sind lange nicht so stark wie Vances Mannschaft.« Rukanis zuckte sichtlich zusammen, als der Name des Piraten fiel. »Wir haben es nicht weit. Schaffst du es?« »Ich komme schon zurecht.« »Gut, dann lass uns gehen.« Er nahm den Arm des Sängers. »Nicht nötig, ich kann allein laufen. Es geht schon.« »Wirklich?« »Ja, lass mich. Aber, Reeth ...« »Ja?« »Tanalvah und die Kinder. Wie ... wo ...« »Es geht ihnen gut.« Caldason wusste es nicht genau, aber er war der Ansicht, dass eine wohlwollende Lüge zu diesem Zeitpunkt angebracht war. »Du brauchst dir ihretwegen keine Sorgen zu machen. Tu jetzt einfach nur, was ich dir sage.« Caldason vergewisserte sich, dass ihr Fluchtweg frei war, dann verließen sie die Kabine. Die Tür öffnete sich direkt zum Deck hin. Draußen war es kalt, eine steife Brise wehte. Kinsel schauderte. Caldason nahm seinen Mantel ab und legte ihn dem Sänger um die Schultern. Kinsel protestierte nicht. Der tote Wächter lag in einer Blutlache zusammengesunken an der Wand. Kinsel starrte ihn an, sagte aber nichts. »Geh weiter«, drängte Caldason ihn. 231 Kinsel ging unsicher wie ein Mann, der zu lange an einem beengten Ort eingesperrt gewesen war, was in vielerlei Hinsicht ja durchaus zutraf. Als sie sich von den Kabinen entfernten und sich dem Hauptdeck näherten, sahen sie eine Hand voll Männer. Hinter ihnen kämpfte eine größere Gruppe mit der Piratenmannschaft. »Die gehören zu uns.« Caldason deutete auf die vordere Gruppe. Zwei Männer lösten sich von den anderen und liefen ihnen entgegen. »Wo ist Darrok?«, wollte Caldason wissen. »Mittschiffs«, antwortete einer von ihnen. »Kinsel, du gehst mit diesen Männern.« »Aber, Reeth ...« »Du kannst ihnen vertrauen. Sie führen dich zu einem Boot, das wir längsseits vertäut haben. Tu, was sie dir sagen, sie werden auf dich aufpassen.« »Und was ist mit dir?«
»Ich komme bald nach.« »Warum nicht jetzt gleich?« »Ich muss vorher noch etwas erledigen. Hör mal, wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren. Dir wird schon nichts passieren.« Er wandte sich an die beiden Männer. »Gebt auf ihn Acht.« Sie nickten und nahmen Kinsel in ihre Obhut. Der Sänger ließ sich zum Heck führen. Caldason sah ihnen nach, dann rannte er nach vorn. Als er das Ende des Kabinenhauses fast erreicht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Zwei stämmige Piraten kamen vor ihm um die Ecke. Sie waren gut bewaffnet und wirkten mordlustig. Sie sahen ihn und griffen sofort an. Er hätte sie gern mit den Schwertern bekämpft, aber die steckten in der Scheide, und so musste er mit der Axt vor232 lieb nehmen. Er schwang sie, bevor der erste Mann ihn erreichte. Der Mann blieb knapp außer Reichweite der Axt stehen und wartete, bis der Hieb den höchsten Punkt überschritten hatte. Dann drangen beide vor und zwangen Caldason, sich zurückzuziehen. Er setzte jedoch sofort zum nächsten Schlag an und hielt sie auf. Sie nahmen ihn in die Zange und hackten von links und von rechts auf ihn ein. Reeth parierte und zerrte sich die Muskeln, als er die schwere Waffe schwang. Das Gefecht wurde wilder, seine Gegner gerieten nun ernstlich in Rage. Der Kampfrausch machte sie unvorsichtig. Einer der Piraten kam ihm zu nahe. Caldason lenkte die Klinge des Mannes mit einem kräftigen Schlag ab und ließ einen zweiten folgen, der ihn aus dem Gleichgewicht warf. Dann zog er die Axt rasch in einem Bogen herum und zerschmetterte dem Piraten den Schädel. Eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, hätte nicht schneller fallen können als er. Der zweite Pirat, der verblüfft beobachtet hatte, was seinem Kameraden passiert war, brachte sich eilig in Sicherheit. Doch dann war ihm erneut die Wut wichtiger als die Vorsicht, und er stürzte sich wieder in den Kampf. Caldason holte mit der Axt weit aus und schleuderte sie mit aller Kraft. Sie flog und drehte sich um sich selbst, Holz und Stahl überschlugen sich, bis die Schneide die Brust des Mannes traf. Tödlich getroffen taumelte er zurück. Caldason sah sich um. Kinsel war schon an der Reling und kletterte, unterstützt von Rettern, darüber. Er ließ die Axt in der Leiche stecken, zog ein Schwert und setzte seinen kurzen Rundgang übers Deck fort. Die Gruppe der Inselbewohner, auf die er mittschiffs traf, hatte die Gegner inzwischen erledigt. Die Leichen von etwa einem Dutzend Piraten lagen herum. 233 Caldason wollte gerade nach Darrok fragen, als dieser auf seiner magischen Scheibe eilig geflogen kam. »Habt Ihr ihn gefunden?«, fragte er. »Ja.« »Und?« »Er lebt, aber er ist ziemlich ramponiert.« Caldason warf einen Blick zu den Toten. »Das können doch nicht alle sein, oder?« »Wir hatten großes Glück. Seht mal, da drüben.« Er deutete zu einem großen Gitter, das ein Stück weiter ins Deck eingelassen war. »Ich würde allerdings nicht zu nahe herangehen.« Caldason lief hinüber. Die Luke war mit einer Kette und einem schweren Schloss versperrt. Sobald er sich näherte, wurde es unten laut. Er beugte sich vor, worauf ein Brüllen ertönte und Messer durchs Gitter nach oben gestoßen wurden. Caldason zog sich zurück, nachdem er mehrere Dutzend Piraten gesehen hatte. Darrok flog zu ihm. »Die meisten haben unter Deck geschlafen, als wir an Bord gekommen sind, und wir haben es geschafft, sie unten einzusperren. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass es noch lange hält.« Ein kräftiger Stoß ließ das Gitter beben und bestätigte, was Darrok gesagt hatte. »Was ist mit dem Rest des Schiffs?« »Gesäubert. Alles bis auf den Bereich rund um das Ruderhaus.« »Ist dort auch Vances Kabine?« »Ja, sie ist unter der Brücke. Jedenfalls war sie dort, und die Deserteure aus seiner Mannschaft haben es bestätigt. Ich habe den Bereich gut bewachen lassen. Wir sind bisher aber noch nicht eingedrungen.« »Dann wird es höchste Zeit. Lasst uns Vance erledigen, und dann verschwinden wir.« »Darauf warte ich schon sehr lange, Reeth.« Darrok gab 234 den wartenden Inselbewohnern einige Befehle und trug ihnen auf, die Evakuierung des Schiffs vorzubereiten. Die meisten reagierten enttäuscht. Dann machte er sich auf zum Ruderhaus. Caldason lief neben Darroks fliegender Scheibe her. »Warum die mürrischen Gesichter?« »Einige unserer Männer wollen auch die Piraten unter Deck erledigen«, sagte Darrok. »Sie glauben, wir verzichten unnötigerweise auf eine Möglichkeit, sie endlich auszuschalten.« »Damit haben sie vielleicht gar nicht so Unrecht.« »Ich bringe es nicht über mich, wehrlose Männer einfach abschlachten zu lassen.«
»Nach allem, was sie Euch angetan haben?« »Oh, versteht mich nicht falsch, ich hasse sie. Aber es ist ein Unterschied zwischen einem gerechten Kampf und dem Aufspießen eines Fischs im Eimer. Ich möchte nachts gern ruhig schlafen können.« »Ich fände es auch ehrlos. Andererseits würde ich es tun, wenn ich es für nötig hielte.« »Da müsste ich schon sehr unter Druck stehen. Aber bei Vance habe ich keine solchen Hemmungen. Außerdem würde ich damit der Schlange den Kopf abschlagen. Ohne ihn bricht das Bündnis der Piraten auseinander.« Sie erreichten das Ruderhaus im Heck. Die Brücke war inzwischen von Inselbewohnern besetzt, tote Wächter lagen auf den Planken. »Tja, da wären wir dann.« Darrok deutete auf eine einzelne Tür unter der Brücke. »Da kommt Ihr mit Eurer Scheibe nicht hinein.« »Doch, es geht, wenn ich sie kippe. Seht mich nicht so an. Wenn ich dabei auf den Hintern falle, bin ich trotzdem drin. Ich warte schon viel zu lange auf diese Abrechnung.« »Na gut. Aber lasst uns erst die Tür aufbrechen. Keine 235 Sorge, Ihr könnt Euch Vance als Erster vornehmen. Was wollt Ihr eigentlich mit ihm tun?« »Ich wäre in Versuchung, ihm die Kehle durchzuschneiden. Aber ich werde ihn herausrufen, und dann kann er sich mir im Kampf Mann gegen Mann stellen.« »Und wenn er sich weigert?« »Er wird kämpfen, wenn er keine andere Möglichkeit sieht. Ich werde ihm sagen, dass Ihr ihn gehen lasst, wenn er gewinnt.« »Glaubt Ihr, das würde ich tun?« »Das wäre dann Eure Entscheidung. Ich wäre ja nicht mehr da, um Einwände zu erheben.« »Danke«, gab Caldason trocken zurück. »Einen Augenblick.« Er winkte ein paar Männer zu sich, die diesen Bereich des Schiffs bewachten. »Wir müssen durch die Tür. Könnt ihr eine Art Rammbock besorgen? Gut. Und holt noch ein paar Leute, die uns helfen. Lauft!« Sie rannten los. »Wie könnt Ihr mit diesem Ding eigentlich kämpfen?«, fragte Caldason mit einem Blick zu Darroks Scheibe. »Das gibt Euch doch einen Vorteil, oder?« »Haltet Ihr es wirklich für einen Vorteil, in einem Kampf keine Beine zu haben? Aber eigentlich ist mir das gleich. Ich will einfach nur mit dem Mann abrechnen. Und überhaupt, zum Teufel mit dem Vorteil, er ist mir was schuldig.« »Es ist sowieso Eure Sache.« Sie hörten ein Geräusch, als werde Holz gehackt. »Es könnte natürlich sein, dass Vance dort drinnen nicht allein ist«, meinte Caldason. »Damit werden wir fertig. Wo bleiben die nur mit dem Rammbock?« »Da kommen sie schon.« Sechs oder sieben Männer kamen torkelnd mit ihrer Last herbei. Sie trugen einen kräftigen Balken. 236 »Was ist das?«, rief Caldason. »Wir haben am Bug in einem Lagerraum einen beschädigten Mast gefunden«, erklärte ein kräftiger Inselbewohner. »Das sollte ausreichen.« Sie stellten sich vor der Tür auf. »Seid Ihr sicher, dass es keinen anderen Ausweg gibt?«, fragte Caldason. Darrok schüttelte den Kopf. »Nur ein Bullauge in der Größe von Vances Kopf. Ich würde einen Haufen Geld dafür zahlen, wenn ich sehen könnte, wie er dort durchgequetscht wird.« »Also los.« Reeth gab das Signal. Die Männer mit dem Rammbock liefen zur Tür, es gab einen gewaltigen Knall. Die Tür hielt. »Noch einmal!«, brüllte Darrok. Der Rammbock prallte noch einmal gegen die Tür. Sie hielt immer noch. Sie warteten nicht, bis sie den nächsten Befehl bekamen. Der dritte Aufprall brach durch, und die Tür splitterte. Caldason rannte nach vorn und stürmte gebückt und mit erhobenem Schwert durch den Eingang. Die anderen Männer folgten ihm. Es war eine große Kabine, doch obwohl sie nur schwach beleuchtet war, konnte man sofort sehen, dass sie leer war. Ein großes, mit Schnitzwerk verziertes Bett stand an einer Wand. Unter den bestickten Seidendecken sah man den Umriss eines Körpers. Caldason näherte sich vorsichtig. Mit erhobener Klinge bückte er sich und zog die Decken weg. »Platz da!« Darrok bugsierte seine fliegende Scheibe durch die Tür. Sie war gefährlich gekippt, und er kam gerade eben hindurch. »Nun?«, sagte er, als er neben Caldason schwebte. »Das ist alles.« 237
Unter den zurückgeworfenen Decken waren ein paar abgestoßene, mit Stroh ausgestopfte Säcke zu sehen. »Mist«, murmelte Darrok enttäuscht. »Es sieht aus, als seien unsere Informationen doch nicht auf dem neuesten Stand gewesen.-« »Ich hätte gleich wissen sollen, dass er nicht so leicht zu schnappen ist.« »Es wird noch andere Gelegenheiten geben.« »Ich hatte mich ganz und gar darauf eingestellt, Reeth. Ich wollte es dem Bastard heimzahlen, versteht Ihr?« »Ihr werdet Eure Gelegenheit bekommen. Aber jetzt müssen wir verschwinden.« Sie kehrten aufs Deck zurück. Draußen zog Darrok einen Stoffbeutel hervor, der eine Portion des rostroten Pulvers enthielt, das Drachenblut genannt wurde. Er stellte ihn geöffnet an den Hauptmast des Schiffs. Dann band er, mit dem Stöpsel nach unten, darüber eine Wasserflasche fest. »Wollt Ihr damit das Schiff versenken?«, fragte Caldason. »Nein, dazu reicht es bei weitem nicht aus. Aber es wird eine nützliche Ablenkung schaffen.« Er zog eine kleine Flasche aus der Tasche. »Das ist Vitriol. Ein Tropfen auf dem Stöpsel der Flasche wird sich in einer Minute oder noch schneller durchbrennen. Dann gelangt das Wasser aufs Pulver, und - bumm!« »Was ist mit denen da?« Caldason deutete zur vergitterten Ladeluke. Drunten lärmten die eingesperrten Piraten. »Vielleicht sollten wir ihnen eine Gelegenheit geben zu entkommen. Oder?« »Ich würde liebend gern jeden Einzelnen von ihnen töten, wenn ich ihnen unter anderen Begleitumständen begegnete.« »Das fasse ich als Ja auf. Könntet Ihr das erledigen, während ich mich um dies hier kümmere?« 238 »In Ordnung. Aber schickt erst unsere Leute von Bord.« Darrok gab Befehl, das Schiff zu räumen. Die Männer rannten zur Reling. »Ich warte noch, bis Ihr am Gitter seid. Aber lasst Euch nicht zu viel Zeit, Reeth. Das Vitriol ist unberechenbar, man weiß nie, wie lange es dauert.« »Gut.« »Ihr werdet das hier brauchen.« Er gab ihm einen eisernen Schlüssel. »Und bringt Euch schnell in Sicherheit. Die Matrosen werden keine gute Laune haben, wenn sie da herauskommen.« »Bin gleich wieder da.« Er steckte das Schwert weg und trabte davon. Darrok sah Caldason nach, bis er die Luke erreicht hatte. Dann vergewisserte er sich, dass alle anderen das Deck verlassen hatten, und öffnete vorsichtig das Fläschchen. Caldason näherte sich der Kette auf Händen und Knien und versuchte, außer der Reichweite der Schwerter zu bleiben, die durch das Gitter gestoßen wurden. Er bekam das Schloss zu packen und schob den Schlüssel hinein. Am Rande seines Gesichtsfeldes bewegte sich etwas. Darroks Scheibe war gestartet und flog aufs Meer hinaus. Caldason drehte den Schlüssel herum und öffnete den Bügel des Schlosses. Dann sprang er auf und rannte. Hinter ihm flog die Luke auf, und wütend heulende Männer stürzten heraus. Als er zur Reling rannte, pfiff ein Pfeil an seinem Kopf vorbei. Ein anderer verfehlte ihn noch knapper. Er hörte die Stiefel der Männer hinter sich poltern, die ihn verfolgten. Jetzt war die Reling vor ihm. Er sprang, rutschte mit den Hacken darüber und fiel. Der Sturz kam ihm lang vor, dann folgte der Aufprall ins eiskalte Wasser, und ein paar Sekunden lang hatte er Mühe, sich zu orientieren. Hilfreiche Hände zogen ihn aus dem Wasser und beförderten ihn auf ein großes Ruderboot, ein altes Walfangboot, das Platz für zwanzig Ruderer hatte. Irgendjemand 239 legte ihm eine Decke über die Schultern, und er wurde zu einer leeren Bank geführt. Kinsel saß schon dort, ebenfalls in eine Decke gehüllt, und starrte mit glasigen Augen ins Leere. Rings um das Boot schlugen Pfeile zischend ins Wasser. Einige landeten in der Bordwand des Bootes, und einer durchschlug den Schenkel eines Ruderers. Mehrere Männer nahmen Bogen auf und schössen zurück. Dann setzte Darrok zum Sturzflug an, und die Piraten auf dem Schiff verstreuten sich. So gewann das Walfangboot ein wenig Zeit. Der Kapitän Rad Cheross war am Ruder des Bootes. Ans Heck und an die Seiten waren dicke Metallröhren angeschraubt worden, deren vordere Enden fest verschlossen waren. Cheross saß an einem behelfsmäßigen Ventil. »Ich hoffe, Euer Freund Phönix hat sich das richtig ausgerechnet«, rief er Caldason zu. »Die Ruder hoch! Festhalten!« Er drehte am Ventil. Meerwasser strömte in die Röhren und traf auf das im Innern gelagerte Drachenblut. Das Boot erbebte heftig, und einen Augenblick lang, der wie eine Unendlichkeit schien, fürchteten alle Insassen, in die Luft zu fliegen. Doch das Boot machte einen Satz nach vorn, und aus den Röhren brachen Flammenzungen hervor. Schneller und schneller bewegte es sich, der Bug stieg aus dem Wasser, und die Männer wurden von der Beschleunigung nach hinten gedrückt. Cheross hatte Mühe, die Ruderpinne gerade zu halten. Hinter ihnen ertönte eine Explosion. Eine Feuerkugel stieg vom Piratenschiff auf. Anscheinend stand der Hauptmast in Flammen. Auf Deck rannten die Männer panisch umher. Auf dem Walfangboot brach übel aus. Dann setzte sich Darroks Scheibe über sie und hielt mühelos Schritt mit
dem schnellen Boot. Vor ihnen tauchten die Umrisse 240 der Diamantinsel vor dem tiefblauen, samtigen Nachthimmel auf. Das Walfangboot behielt seine Geschwindigkeit bei und schoss schnell wie ein Pfeil übers Wasser. Caldason schlug der Wind ins Gesicht, und die eiskalte Gischt biss in seine Haut, doch das konnte sein Hochgefühl nicht dämpfen. Und er war nicht allein damit. Grinsend wandte er sich an seinen Gefährten. Kinsel schluchzte. 241 Ein Flügel der Redoute wurde als Krankenstation benutzt. Kinsel verlegte man angesichts seiner schlechten Verfassung jedoch in einen benachbarten Raum. Caldason und Darrok warteten draußen. »Ich habe Euren Freund bisher nur einmal gesehen«, erklärte Darrok. »Es war vor vielen Jahren auf dem Konzert, das ich erwähnt habe. Ich kann es also kaum vergleichen, aber er scheint mir nur noch ein Schatten des Mannes zu sein, der er früher einmal war.« »Da habt Ihr Recht. Ich hoffe bloß, die letzten Monate haben lediglich körperliche Spuren hinterlassen.« »Er kann von Glück reden, dass er Vance lebendig entkommen ist. Das ist an sich schon eine Leistung.« »Ihr müsst es ja wissen.« »Ja, und ich weiß auch, dass Vance sich dafür rächen will. Er dürfte jetzt Gift und Galle spucken.« »Dann hat sich ja nichts verändert.« »Und ich bedauere die versäumte Gelegenheit, ihm alles heimzuzahlen. Das ärgert mich.« Darroks fliegende Scheibe schwankte, als teile sie die Erregung ihres Besitzers. »Es sieht allerdings so aus, als solltet Ihr bald eine neue Gelegenheit bekommen.« 242 »Vorausgesetzt, es trifft nicht vorher eine Flotte der Reiche hier ein.« »Das würde das Problem lösen, was?« »Nicht ganz auf die Weise, auf die ich gehofft hatte.« Darrok blickte zum Fenster. Die Dämmerung begann mit einem blassen Rosa. »Können wir es überstehen, wenn ein Reich gegen uns losschlägt?«, überlegte er. »Sie werden auf jeden Fall angreifen, da könnt Ihr sicher sein. Ob wir den Angriff überstehen ... nun, da könnte die Quelle der entscheidende Faktor sein, aber das haben wir ja schon oft genug durchgekaut.« »Vergesst die Quelle. Ich will nicht unken, aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass Ihr sie findet. Und allein mit Waffengewalt können wir eine Invasion wohl kaum abwehren, oder was meint Ihr?« »Ich glaube, Ihr kennt die Antwort. Wir könnten sie im besten Fall eine Weile hinhalten.« Darrok seufzte. »Ich hätte es gern gehört, wenn Ihr etwas anderes gesagt hättet.« Eine Tür knallte, und sie hörten eilige Schritte. Kutch und Pallidea kamen herein. »Ist es wahr?«, platzte Kutch keuchend heraus. »Habt ihr Kinsel gerettet?« »Ja, wir haben ihn«, bestätigte Caldason. »Klasse! Wie geht es ihm?« »Kinsel hat viel durchgemacht, Kutch. Das hinterlässt Spuren.« »Er ist doch nicht verstümmelt oder dem Tode nahe, oder?« »Nein, aber er ist entkräftet und niedergeschlagen.« »Wird er wieder gesund?«, fragte Pallidea. Bevor jemand antworten konnte, ging die Tür zu Kinsels Zimmer auf. Serrah und Phönix kamen heraus. »Wie geht es ihm?«, fragte Darrok. »Unterernährt, ausgezehrt und deprimiert«, erwiderte Serrah. »Ungefähr so, wie man es auch erwarten konnte.« 243 »Er ist völlig durcheinander«, fügte Phönix hinzu. »Ich habe ihm einen starken Schlaftrunk gegeben. Er ist vorläufig nicht zu sprechen.« »Wir haben auf dem Weg hierher nicht viel aus ihm herausbekommen«, erklärte Caldason. »Hat er denn mit Euch geredet?« »Er ist verwirrt«, antwortete Serrah. »Wir dürfen nicht vergessen, dass eine Menge passiert ist, seit Kinsel entführt wurde. Nicht nur ihm, sondern uns allen. Er hat von der Auswanderung hierher gehört, aber viel mehr als das wusste er nicht. Eine große Sorge hatte er allerdings.« »Tanalvah.« »Ja. Tan und die Kinder. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass wir keine Ahnung haben, wo sie stecken.« »Ich konnte es auch nicht.« »Aber wir müssen davon ausgehen, dass sie wohlauf sind, Reeth, und wir müssen Tan Bescheid geben, dass wir Kinsel befreit haben. Das sind wir ihr schuldig.« »Wie denn? Es ist nicht gerade leicht, Mitteilungen von der Insel abzuschicken.« »Vielleicht kann ich dabei helfen«, bot Darrok an. »Wirklich?«, fragte Serrah. »Woran denkt Ihr?« »Eine Kleinigkeit, über die ich nachgedacht habe. Ich muss überprüfen, ob es möglich ist.«
»Doch nicht noch ein Schnellboot, oder?«, fragte Caldason. »Das war übrigens eine brillante Idee, Phönix.« Der Magier nickte bescheiden. »So etwas können wir nicht einfach wiederholen«, sagte Darrok. »Wir dürfen nicht so verschwenderisch mit dem Drachenblut umgehen.« »Schade, es wäre mir bei meiner Reise sicher nützlich gewesen.« »Ihr müsst wohl oder übel herkömmliche Mittel benutzen. Wir brauchen das Pulver hier.« 244 »Seit wann bist du so von der Magie eingenommen, Reeth?«, fragte Serrah. Kutch sah aus, als habe ihm das Gleiche auf der Zunge gelegen. »Ich bin nicht so beschränkt, einen Antrieb zu ignorieren, der die Reise beschleunigen könnte«, widersprach Caldason. »Aber das ist dann auch schon alles. Freiwillig würde ich die Magie nicht einsetzen.« »Demnach willst du bald aufbrechen?«, fragte Serrah. »Ich sagte doch, ich würde warten, bis wir unser Möglichstes für Kinsel getan haben. Wir haben es geschafft, und jetzt kann mich nichts mehr aufhalten.« »Wann willst du fahren?« »In ein oder zwei Tagen.« »So bald schon?« »Du musst wirklich nicht mitkommen, Serrah. Das gilt auch für Kutch. Ihr wisst ja, wie ich darüber denke, dass ...« »Nein, ich komme auf jeden Fall mit.« »Ich auch«, warf Kutch ein. »Das ist ja alles gut und schön«, schaltete sich Phönix ein. »Aber was machen wir mit Kinsel?« Wie ein Eisberg zeigte Prinz Melyobars Hof der Welt nur ein Zehntel seiner Ausmaße. Dies allerdings nicht körperlich, sondern in Hinblick auf die Hierarchie der Beamten, Diener und Arbeiter, die gebraucht wurden, um ihn zu betreiben. Natürlich wurden die untersten Ränge der Hackordnung von Handlangern besetzt, auf deren anstrengende Tätigkeiten die höheren Ränge keinen Gedanken verschwendeten, ganz zu schweigen davon, sie selbst zu erledigen. Zwei solcher Arbeiter, die in der Palastwache als einfache Soldaten beschäftigt waren, hatten eine der eher unangenehmen Aufgaben zu erfüllen. Ihre Pflichten führten sie in die tiefsten Tiefen des Palasts, in unbeachtete und so245 gar gefürchtete Regionen, in denen die eher unerfreulichen Verrichtungen ihren Lauf nahmen. Es war kalt, als sie am Morgen durch die feuchten, schlecht beleuchteten und unbeheizten Gänge liefen. Die Winterkälte drang durch die mit Flechten bewachsenen Wände. »Nur einer von gestern Nacht, Nechen«, erklärte der ältere der beiden. Er war muskulös und hatte graue Haare. »Den Göttern sei Dank dafür«, erwiderte sein etwas jüngerer, nicht ganz so grauer und nicht ganz so kräftiger Gefährte. »Ich hasse es, wenn wir gleich am Morgen einen ganzen Haufen davon abarbeiten müssen.« »Es werden noch mehr, wenn der Tag älter wird, glaube mir.« Er hustete und spuckte aus. »Verdammt, die Luft hier ist Gift für meine Lungen.« »Ihre Zahl wird nie geringer, nicht wahr, Weist? Ich meine, wann war der letzte Tag, an dem wir keinen einzigen von ihnen gesehen haben?« »Es liegt an der Natur dieses Ortes. Wenn man sieht, wie Prinz Melyobar regiert, wird einem klar, dass der Nachschub nicht abreißt.« »Ja, aber ...« »Es steht uns jedoch nicht zu, über die Gründe zu richten«, warnte ihn der Ältere. »Wir tun einfach, was man uns aufträgt, denn wir wollen ja nicht selbst hier unten enden und kalt und steif werden, wenn du verstehst, was ich meine.« »Also, ich hätte jedenfalls nichts dagegen, wenn mir andere Aufgaben zugewiesen würden, das kann ich dir sagen«, entgegnete Nechen. »Diese Art von Arbeit macht mich fertig.« »Die besten Beförderangsaussichten haben wir, wenn wir unsere Arbeit gut machen.« Er sah seinen Kollegen durchdringend an. »Und wenn wir nicht jammern.« Schweigend gingen sie weiter; ihre Schritte hallten in den öden Gängen zwischen den Steinwänden. Schließlich 246 erreichten sie eine Gangbiegung und standen vor einer massiven Doppeltür. Eine Abteilung Wächter saß daneben auf Bänken. Die Wächter kannten die Soldaten gut und winkten sie ohne Formalitäten durch. Einer der Wächter stand auf und nahm einen riesigen Schüsselbund vom Haken. Die Türflügel wurden entriegelt und gaben ein dumpfes Knarren von sich, als der Wächter sie öffnete. Dahinter begann ein Labyrinth von Gängen, in denen die Verliese des Palastes untergebracht waren. Der Schließer übernahm die Führung, und einige Minuten später standen sie vor einer Zellentür, neben der schon hochkant eine Bahre aufgestellt war. »Er ist da drin«, verkündete der Schließer. Er beugte sich vor und öffnete die Tür, dann wich er zurück. »Dieser
hier ist ein wenig ... überreif. Ich, äh ... ihr macht das schon.« Damit eilte er davon. »Wie üblich«, murmelte Nechen. »Es bleibt immer an der armen Infanterie hängen. Dann wollen wir es hinter uns bringen, was?« Weist legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Nicht so schnell.« Er zog zwei schmierige Gesichtsmasken hervor. »Vergiss nicht, dass wir die hier tragen sollen.« »Wenn es sein muss«, seufzte Nechen. Sie banden sich die Stoffmasken vors Gesicht, bis Mund und Nase bedeckt waren. Weist nahm eine Fackel aus der Klammer und stieß die Zellentür auf. Auch mit den Masken vorm Gesicht war der Gestank noch überwältigend. Drinnen war es stockdunkel, deshalb hob Weist die Fackel, um etwas Licht zu machen. Kleine Tiere verschwanden in den dunklen Ecken. »So, da wären wir.« Er nickte zur Pritsche hin, dem einzigen Möbelstück der Zelle. Quer über die Pritsche und mit dem Gesicht nach unten lag dort ein Toter; die Hände berührten auf einer Seite den 247 Boden, die Füße auf der anderen. Stinkendes Stroh knirschte unter ihren Füßen, als sie sich der Leiche näherten. »Gute Kleidung«, bemerkte Nechen. »Muss ein Adliger sein. Ich frage mich, was der arme Kerl ausgefressen hat, dass der Prinz ihn hier runtergeschickt hat.« »Vielleicht hat er den falschen Teelöffel benutzt. Wie ich schon sagte, es steht uns nicht zu ...« »Ja doch, ja, ich weiß schon.« »Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Dreh ihn herum.« »Warum ich? Bist nicht du an der Reihe?« »Ich hab's beim letzten Mal getan.« »Nein, hast du nicht. Gestern habe ich es auch schon getan. Warum muss ich immer ...« »Nun mach schon. Je schneller wir das erledigen, desto eher kommen wir hier wieder raus.« Nechen seufzte und drehte die Leiche auf den Rücken. »Bei den Göttern, der ist aber in einem miesen Zustand, was?« »Ich würde meinen, dass er schon länger als nur ein paar Tage hier liegt. Geh und hol die Bahre.« »Ach, bin ich damit auch schon wieder dran?« Weist sah ihn noch einmal scharf an. Nechen tappte innerlich kochend aus der Zelle. Weist sah ihm nach, dann beugte er sich über den Toten. Rasch durchsuchte er die Kleidung des Mannes. Mehr als ein paar Münzen und einen magischen Anhänger, der das animierte, lächelnde Gesicht einer Frau zeigte, konnte er jedoch nicht finden. Der Schmuck war zu gefährlich, deshalb steckte er ihn zurück. Grollend über die schlechte Ausbeute, ließ er die Münzen in seine Tasche gleiten. »Was war das?«, sagte Nechen, der die Bahre hereinzerrte. »Nichts. Nur ... ich habe nur ein Gebet für den armen Teufel gesprochen.« 248 »Wirklich? Oh, das ist aber nett von dir. Ich wusste gar nicht, dass du ein so gefühlsseliger Typ bist, Weist.« »Tja, ich bin eben ein stilles Wasser. Nun lass uns endlich sehen, dass wir vorankommen, ja?« Sie hoben den Toten hoch, legten ihn auf die Bahre und warfen eine schmutzige Decke über die Leiche. Dann bugsierten sie ihre Last durch die Tür. Die Wächter am Ausgang hielten sich die Nasen zu, als die Soldaten vorbeikamen. Sie hatten einen längeren Fußmarsch vor sich. Es ging zurück durch gewundene Gänge, Treppenfluchten hinauf und hinab und durch zahlreiche Türen. Doch wenn man bedachte, dass tausende Menschen im Palast lebten, begegneten ihnen überraschend wenige Leute. In einem langen, völlig verlassenen Flur, der von magischen Leuchtkugeln schwach erhellt wurde, setzten sie die Bahre ab und schnappten Luft. Weist hockte sich auf ein Sims und nahm die Tonpfeife heraus, in die er dunklen, groben Tabak stopfte. »Was glaubst du, was sie mit denen da oben machen?«, überlegte Nechen. »Mit den Leichen? Verdammt will ich sein, wenn ich das wüsste. Dabei bin ich nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wissen will.« Er schlug einen Feuerstein an, entfachte die Pfeife und paffte beißende Rauchwolken. »Wenn du klug bist, dann zeigst du kein zu großes Interesse daran.« »Aber komisch ist es schon, oder? Diese Leichen und der seltsame Zoo, den wir neulich an Bord genommen haben.« »Ach, das kann ich sogar verstehen. Unsere Vorgesetzten haben eben exotische Hobbys.« »Stinkende Biester, die gefüttert werden müssen? Warum nehmen sie keine Zauber? Das verstehe ich nicht.« »Wer kann schon ergründen, was in den Köpfen der Reichen vorgeht?« Dicke Wolken wallten aus Welsts Pfeife. 249 »Und all das, während wir überall im Land Unruhen haben.« »In dieser Hinsicht sind wir noch am besten dran. Es gibt wohl kaum einen Ort auf der Welt, der so sicher ist wie dieser.« »Seit wann ist Melyobar in dieser Welt?« »Sch-scht! Hier haben die Wände Ohren«, hauchte er. Er klopfte die Pfeife aus. »Komm schon.«
Grunzend hoben sie die Bahre an und setzten ihre Reise fort. Das Schlimmste waren die Treppen. Sie mussten allein schon sieben Stockwerke hochsteigen, um die Ebene zu erreichen, die als Erdgeschoss galt. Ihr Ziel war noch einmal doppelt so weit entfernt. Endlich, nach viel Schuften und Schimpfen, erreichten sie ihr Ziel. Es war ein Bereich, der den Arbeitszimmern und Werkstätten der kleinen Armee von Magiern vorbehalten war, die für den Prinzen arbeiteten. Da dieser Bereich besonders gefährdet schien, wurde er gut bewacht, was bedeutete, dass sie mit den Sicherheitskontrollen eine weitere Viertelstunde vergeuden mussten. Endlich standen sie vor dem Eingang des Raumes, in dem sie die Leiche abliefern sollten. Weist klopfte an die Eichentür. Fast sofort wurde ein Spion geöffnet, und sie wurden eingehend gemustert. Dann öffnete ihnen ein Diener die Tür und ließ sie eintreten. Er wies sie an, die Last abzusetzen und zu warten, während er seinen Vorgesetzten holte. Obwohl sie schon viele Male hier gewesen waren, fanden Weist und Nechen die hier herrschende Geschäftigkeit immer wieder faszinierend. Der Raum hatte ein Kuppeldach, und der größte Teil des Bodens wurde von Arbeitstischen eingenommen, an denen zahlreiche Magier beschäftigt waren. Sie hatten Flakons, Retorten, Kräuter und Pulver um sich versammelt und bedienten geheimnisvolle 250 Apparate, deren Zweck man nicht einmal erahnen konnte. Lehrlinge wanderten umher und bedienten die Meister. An den Wänden waren Käfige aufgereiht, doch sie waren zu weit entfernt, um zu sehen, was sich darin befand. Auf großen Feuerstellen brodelten unbekannte Gebräue in riesigen Eisenkesseln. Die ganze Kammer war von einem klebrigen Dunst und von süßen und üblen Gerüchen erfüllt. Ein Magier in blauem Gewand erschien. Er war für einen Zauberer noch recht jung und glatt rasiert. Der blasierte Gesichtsausdruck hätte beinahe den Eindruck großer Wichtigkeit erwecken können. Weist begrüßte ihn mit einem höflichen Nicken. »Magier Okrael, Sir.« Nechen, der sich in der Gegenwart von Vorgesetzten immer unsicher fühlte, rang sich zu einem schlampigen Salut durch. Der Zauberer erwiderte den Gruß mit abwesendem Nicken und betrachtete die Bahre. »Wisst ihr, wie dieser hier ums Leben gekommen ist?« Er bückte sich und zog die Decke weg. »Das hat man uns nicht gesagt, Sir«, entgegnete Weist. »Nun gut. Bringt ihn hier herüber.« Sie hoben die Bahre und folgten ihm. Kaum jemand nahm Notiz von ihnen, als der Magier sie durchs Gedränge führte. Okrael zeigte ihnen einen Tisch, auf den sie die Leiche legen mussten. Der Magier untersuchte sie oberflächlich. »Keine offensichtlichen Zeichen von Krankheit«, murmelte er. »Ich würde sagen, dass er aus Brutalität und Vernachlässigung gestorben ist, der arme Teufel.« Er schien verwirrt. »Dann ist er für Euch geeignet, Sir?«, fragte Nechen. »Wahrscheinlich nicht. Aber das ist ja nun wirklich nicht eure Sorge, nicht wahr?« »Nein, Sir.« 251 »Danke, meine Herren, das war dann alles.« »Sir.« Sie drehten sich um und gingen. Der Zauberer winkte einige Lehrlinge zu sich, die den Toten entkleiden sollten. Draußen sagte Weist: »Dieser Magier muss sich noch ein wenig abhärten.« »Meinst du?« »Es ist nicht gut, wenn man zu viel Mitgefühl mit den Verstorbenen zeigt. Das ist hier eher von Nachteil.« »Was nun, Weist?« »Wir müssen wieder hinunter. Es ist gut möglich, dass sie inzwischen schon wieder einen für uns haben.« Sie liefen die Treppen hinunter und begegneten vier anderen Soldaten, die einen großen offenen Karren schoben. Ein totes Kamel lag darauf. Einer der Männer erkannte sie. »Der Prinz wird nicht sehr erfreut darüber sein«, bemerkte Weist, als sie vorbei waren. Die Kollegen schoben ihren Karren zu der Tür, durch die Nechen und Weist gerade gekommen waren. »Siehst du, das meinte ich doch«, sagte Nechen. »Ein Zauber tritt eben nicht so einfach ab.« »Doch, das tut er, wenn dir das Kleingeld ausgeht«, erinnerte Weist ihn. Auf dem Rückweg kamen sie in der Nähe der prinzlichen Gemächer vorbei, dem am schärfsten bewachten Bereich des Palastes. Misstrauische Blicke und nervös zuckende Schwerthände entmutigten jeden, der hier länger verweilen wollte. Weist und Nechen beeilten sich, nach unten zu steigen. Hinter den Leibwachen mit den harten Gesichtern und den aufmerksamen Magiern, hinter den Stahltoren und den magischen Sprengfallen lagen Melyobars Privatgemächer. Hinter einer besonders verstärkten Tür und von verzauberten Schlössern geschützt, ruhte der nicht wirklich 252
tote und auch nicht ganz lebende König Narbetton. Neben dessen Bett saß der Sohn und klagte. »Und jetzt meldet man mir auch noch, dass Talgorian hierher kommt«, jammerte er. »Der Botschafter, mein Vater. Jawohl, genau der. Hat man mich konsultiert? Hat man um Erlaubnis gefragt? Nein. Niemand hört auf mich. Alle denken, dass - was denken sie? Dass ich keine Ahnung habe, warum er kommt. Niemand war so höflich, es mir zu sagen. Ja, das ist einfach unerhört. Was meinst du?« Er lauschte und legte sich die Finger an die Schläfen. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir zustimmen soll, mein Vater. Ich neige eher dazu, ihn einfach nicht zu empfangen. Es ist ja nicht so, als gäbe es offizielle Angelegenheiten, also warum sollte ich ihn vorsprechen lassen? Ich verstehe ja, dass man vorsichtig sein muss, aber ... ah, ja. So ist das.« Melyobar dachte über den Rat des Königs nach. »Du hast Recht«, stimmte er zu. »Er kann kommen. Ob er wieder fortgehen darf, das ist eine ganz andere Frage. Wie du schon sagtest, das wird bald keine Rolle mehr spielen. Nichts ist dann noch wichtig.« Er beugte sich vor und lauschte. »Ja, sehr bald schon. Aber ich verstehe, was du meinst. Je eher wir beginnen, desto besser.« Er stand auf. »Danke, mein Vater. Wie immer war dein Rat äußerst wertvoll. Verzeihung? Ja, natürlich halte ich dich auf dem Laufenden.« Der Prinz zog sich mit einer Verbeugung zurück, drehte sich um und verließ den Raum. Draußen gesellten sich sofort seine Begleiter zu ihm. Acht handverlesene Leibwächter, ein persönlicher Sekretär, ein Diener, ein Schreiber, ein Seniormagier, der Lehrling des Magiers, ein Heiler, zwei Boten und zwei Stöcke schwingende Männer als Vorhut, die dafür sorgten, dass sein Weg frei war. Das übliche Personal eben. Er nannte sein Ziel, und die Meute nahm ihn in die Mitte und setzte sich in Bewegung. 253 Es dauerte nicht lange, bis sie die Quartiere der Zauberer erreicht hatten. Als sie sich der Tür näherten, die vorher auch Weist und Nechen benutzt hatten, wurde sie von innen geöffnet, und der Magier Okrael trat heraus. Wie gelähmt starrte er die Prozession an, die sich ihm näherte. Er hatte gerade noch genug Geistesgegenwart, um sich zu verbeugen. »Genau der, den ich suche«, schnaufte Melyobar, der nach dem kurzen Marsch bereits außer Atem war. Er ließ seine Leute den Magier überprüfen, ob er auch wirklich echt sei, und verscheuchte sie. »Majestät«, grüßte Okrael ihn unsicher. »Wie geht die Arbeit voran? Läuft alles nach Plan?« »Es geht gut voran, Majestät. Es ist nur ...« »Ja? Ich hoffe doch, es gibt keine Verzögerungen?« »Nein, Sir. Es ist nur ...« »Nun spuckt es schon aus, Mann!« »Es ist gefährlich.« »Das weiß ich doch.« »Ich meine, Sir, es stellt eine Gefahr für jedermann dar, nicht nur für einen Feind, gegen den Eure Majestät es zu richten beliebt.« »Es ist nicht das erste Mal, dass Ihr es wagt, den Sinn dieses Projekts infrage zu stellen, nicht wahr ...« Der Prinz brach ab. »Okrael, Sir.« »Nicht wahr, Okrael?« »Ich würde es nicht wagen, Eure Entscheidungen infrage zu stellen, Hoheit. Meine Sorge gilt einzig und allein der Sicherheit Eures Volkes.« »Nehmt Ihr etwa an, mir liege nichts am Wohlbefinden meiner Untertanen?« »Aber nein, Sir, natürlich nicht.« »Zwingt mich nur nicht, Eure Loyalität etwa infrage zu stellen, Magier. Ihr seid ein kleines Rädchen in dem Ge254 triebe, das ich hier laufen habe. Es dreht sich auch ohne Euch.« »Ja, Majestät.« Jegliche Farbe war aus Okraels Gesicht gewichen. »Es gibt doch keinen Grund, warum das, was Ihr erzeugt, nicht wirken sollte?« »Nein, Sir.« »Und die Arbeit geht gut voran, wie Ihr sagt?« »Es gab keine Hindernisse, Sir.« »Gut. Dann dürfte es ja auch nicht schwer sein, den Zeitplan etwas zu beschleunigen.« »Sir?« »Eure Helfer trödeln schon viel zu lange herum. Ich habe die Absicht, einen Termin zu setzen, an dem Eure Arbeit fertig sein muss.« »Darf ich fragen, wann dies sein soll, Majestät?« »Ich denke, die Zeit um den nächsten Neumond dürfte richtig sein.« »Aber ... aber das sind nur noch ein paar Wochen, Sir.« »Ja.« Melyobar grinste fröhlich. »Ist das nicht wundervoll?« 255
Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um den Dunst zu vertreiben, der über dem Meer hing. Trotz der frühen Stunde herrschte an der Mole schon ein reges Treiben. Drei Schiffe lagen vor Anker. Eins war dasjenige, das Caldason zur Diamantinsel gebracht hatte, die anderen beiden waren von ähnlicher Größe. Die Arbeiter hatten Ketten gebildet, um die Vorräte zu bunkern. Weiter hinten auf der Mole standen fünf Beobachter beisammen: Caldason, Serrah, Kutch, Darrok und Pallidea. »Glaubt Ihr wirklich, es funktioniert?«, fragte Serrah. »Es muss«, gab Darrok zurück. »Es hat mich ein kleines Vermögen gekostet.« »Dann ist es sehr freundlich, dass Ihr es beigesteuert habt.« »Ich hatte es für Notfälle beiseite gelegt. Ich glaube, wir können hier durchaus von einem Notfall reden.« »Woher weiß der Zauber denn, wohin er sich wenden soll?«, fragte Caldason. »Der Widerstand müsste doch inzwischen die Verstecke gewechselt haben.« »Er ist auf eine Person und nicht auf einen Ort eingestimmt. Wie ich schon sagte, es ist ein Spitzenzauber.« »Wen soll er suchen? Karr?« »Auch wenn wir ihm alles Gute in der Welt wünschen, 256 er war nicht bei bester Gesundheit, als wir ihn das letzte Mal gesehen haben. Deshalb dachte ich, wir sollten auf jemanden zielen, der jünger und besser in Form ist und der die Nachricht weitergeben kann. Quinn Disgleirio schien mir eine gute Wahl zu sein.« Caldason nickte. »Das klingt vernünftig.« »Aber es ist ironisch.« »Warum?«, fragte Serrah. »Ich hatte den Eindruck, dass Disgleirio mich nicht besonders leiden konnte.« »Er hängt an der Tradition«, erklärte Caldason. »Und es fällt ihm schwer, einen Mann mit Eurem Leumund zu akzeptieren.« »Er wäre nicht der Erste, der schlecht von mir denkt. Das bringt die Sache so mit sich.« »Worauf warten wir noch?«, fragte Serrah. »Wir warten auf Phönix. So einen Zauber kann nicht jeder einfach scharf machen. Dazu braucht man einen Magier.« »Er wird schon kommen«, meinte Kutch. »Er vollendete soeben seine Studien, als ich ihn vorhin sah.« »Ich wünschte, er würde sich beeilen. Es ist verdammt kalt hier draußen.« »Ihr werdet schon nicht erfrieren«, beruhigte Caldason ihn. »Und da kommt er auch schon.« Eine Kutsche hielt vor ihnen, aus der Phönix stieg. Mit dem Schwung eines viel jüngeren Mannes kam er zu ihnen, und sein Gewand flatterte im Wind. »Habt Ihr es?«, fragte er unvermittelt. »Hier.« Darrok hielt ihm einen rötlichen Würfel hin, der aus einem nicht erkennbaren Material bestand, wobei er weichem Holz noch am ähnlichsten schien. Auf den Flächen waren komplizierte Symbole eingeritzt. Phönix nahm ihn in die Hände, als wolle er Wachs anwärmen. Als er die Hände wieder öffnete, war der Würfel 257 verformbar. Er holte eine schwarze Strähne aus der Tasche und arbeitete sie in das weiche Material ein. »Was ist das?«, fragte Caldason. »Eine Locke von Disgleirios Haaren«, erklärte der Zauberer. »So etwas habt Ihr einfach so zur Hand, wenn Ihr es braucht?« »Ich habe eigens für Fälle wie diesen eine ganze Sammlung von Proben von wichtigen Mitgliedern des Widerstands - Haare, abgeschnittene Fingernägel, Hautschuppen. Auf diese Weise kann man dafür sorgen, dass der Zauber garantiert das richtige Ziel findet. Ich sehe schon, was Ihr denkt, Reeth. Keine Sorge, von Euch habe ich nichts archiviert.« »Das freut mich zu hören.« »Wenn es Euch nichts ausmacht...« Sie verstummten, während Phönix seine Vorbereitungen fortsetzte. Als er die Haarsträhne in die Masse gedrückt hatte, wirkte er mit Gesten und einem kurzen Gesang den Spruch. »Es ist bereit«, sagte er und hob den Würfel mit Daumen und Zeigefinger. »Ist die Nachricht schon drin?«, fragte Darrok. »Aber natürlich.« Phönix schien etwas pikiert. »Genau so, wie Ihr sie diktiert habt.« »Dann wollen wir es hinter uns bringen.« Phönix ging zum Ende der Mole, die anderen folgten ihm. Darrok schwebte auf seiner silbernen Scheibe. »Bereit?«, sagte der Magier. »Nun macht schon«, drängte Caldason ihn. Phönix warf den Würfel ins graue Wasser, das gegen die Mauer schwappte. Es gab eine Explosion von Blasen, unter den Wellen blitzten Farben auf. Langsam erhob sich eine Gestalt aus dem Wasser.
Es war die vordere Körperhälfte eines Meereswesens. Es war blauschwarz und schlank und hatte einen Schnurrbart 258 sowie eine lange Schnauze. Die Hände waren wie Paddel geformt, die Augen groß und dunkel wie Kohle. Es sah aus wie eine Mischung zwischen einer Robbe, einem Delfin und einem Otter, wenngleich diese Beschreibung mehr als unzureichend war. Das magische Tier starrte sie an. »Geh!«, befahl Phönix. Das Tier versank und drehte sich gleichzeitig um. Es war eine anmutige Bewegung. Eine Umdrehung um die eigene Achse, dann zog es elegant durchs Wasser, wendete und nahm Kurs auf die offene See. Sie sahen ihm nach, bis es tauchte und verschwand. »Gute Reise«, murmelte der Zauberer. Darrok entfernte sich mit der Scheibe ein Stück von der Kante. »Das war es dann. Entweder es kommt an - oder eben nicht. Wir werden es vielleicht nie erfahren.« »Das ist aber ein sehr aufmunternder Gedanke«, meinte Serrah. »Es ist schlichtweg die Wahrheit. Ich würde vorschlagen, dass wir es einfach vergessen. Wir haben heute Morgen viel zu tun.« Caldason betrachtete die Schiffe. »Wie verläuft das Laden?« »Das können wir Cheross fragen.« Darrok lenkte seine Scheibe zu den Hafenarbeitern, die anderen folgten ihm. Unterwegs schloss Phönix zu Caldason auf. »Ich wollte Euch schon länger etwas fragen«, sagte er mit vertraulichem Unterton. »Wie sieht es mit Euren Visionen aus?« »Ich habe sie immer noch.« »Sind sie noch von der gleichen Art?« »Sie scheinen jetzt gewissermaßen eher auf den Punkt zu kommen, was auch immer dieser Punkt sein mag, und meist sind sie kürzer. Warum?« »Ich könnte Euch einen Trank anbieten, der ihre Wirkung dämpft. Etwas, das Euch in einen tiefen, traumlosen Zustand versetzen würde.« 259 »Könnte, würde. Was bin ich, Phönix? Ein Versuchstier für Eure Zaubertränke?« »Ich mache die Vorbehalte nur, weil ich mit Euch rede. Bei einem gewöhnlichen Menschen würde der Trank wirken. Bei Euch kann man es nie genau sagen. Aber es ist einen Versuch wert. Es könnte Euch jedenfalls nicht schaden, ob es nun die Visionen abblockt oder nicht.« »Ich habe keine Träume. Deshalb würde es nichts ändern, und wenn ich noch so tief schlafe. Außerdem will ich sie nicht abblocken.« »Nein? Nach allem, was Ihr getan habt, um sie loszuwerden?« »Da sie sich jetzt gerade verändert haben, sind sie für mich eher spannend als lästig.« »Das aus dem Munde des Mannes, der die Magie so sehr verachtet.« »Natürlich würde ich sie gern loswerden. Aber es scheint so, als bekäme das, was ich sehe, eine Bedeutung.« »Und ich dachte, Ihr könntet die Visionen nicht verstehen.« »Ich sage auch nicht, dass ich sie verstehe, ich sage nur, dass sie mir irgendetwas zu vermitteln scheinen. Und sie sind unglaublich lebendig geworden und so wirklichkeitsgetreu, als wäre ich wach.« »Wisst Ihr, es gibt unter den Magiern eine alte Weisheit: Wer weiß schon, was wirklich ist, unser Wachleben oder unsere so genannten Träume? Die Zauberkunst hat schon immer die Ansicht vertreten, dass die Reiche des Unbewussten sich uns mitteilen. Vielleicht wollen Euch diese Visionen irgendetwas sagen.« »Wenn Ihr es so ausdrückt, dann klingt es beinahe, als verursachte ich sie selbst.« »Wollt Ihr denn sagen, dass Ihr es nicht wert seid, dass man Euch zuhört? Würdet Ihr Euch für Eure innersten Ängste und Hoffnungen taub stellen?« 260 »Nein, Phönix, es kommt nicht aus meinem Inneren, es kommt von außen.« »Wenn Ihr so sicher seid, werde ich nicht weiter versuchen, Euch von dem Trank zu überzeugen.« »Ich bin sicher.« Kutch und Serrah waren ein gutes Stück vor ihnen. Darrok hatte, mit Pallidea an seiner Seite, die Führung übernommen. »Im Augenblick«, fuhr Caldason leise fort, »mache ich mir vor allem Sorgen um den Jungen. Glaubt Ihr, er ist für diese Reise bereit?« »Kutch ist jung und unerfahren, und er kann mitunter voreilig sein. Aber ausgerechnet Ihr solltet doch erkennen können, dass er mutig und beherzt ist. Vor allem hat er eine natürliche Begabung für die Kunst. Ich denke, er kommt zurecht.« »Er lädt sich eine Menge auf die Schultern.« »Wart Ihr nicht sogar noch jünger, als Ihr Euch ganz allein der Welt stellen musstet? Ich verstehe, was Ihr meint, und um sicherzugehen, habe ich magische Spürgeräte an Bord installiert. Kutch weiß Bescheid, und er weiß, wie er sie abzulesen hat.« »Was spüren diese Geräte denn auf?« »Im Grunde sind sie eine primitive Version der Fähigkeit, die Kutch von Natur aus hat. Sie erspüren magische Aktivität. Sie könnten sich bei Eurer Suche als nützlich erweisen.«
Sie erreichten das belebte Ende der Mole, und Caldason hatte keine Gelegenheit mehr, weitere Fragen zu stellen. Als Rad Cheross, der Kapitän des Schiffs, sie bemerkte, eilte er sofort zu ihnen. »Wie läuft es?«, fragte Darrok. »Wir sind bald bereit zum Auslaufen. Das ist erfreulich, weil ich den Nebel gern als Deckung benutzen würde, solange er sich hält.« »Wann legen wir ab?«, fragte Caldason. »In ein oder zwei Stunden«, schätzte Cheross. 261 »Wird es schwer, uns an Vances Schiffen vorbeizuschleichen?« »Das Meer ist groß, sie können nicht überall sein. Glücklicherweise ist unser Schiff schnell, und falls wir wirklich Ärger bekommen, haben wir noch ein paar Täuschungszauber an Bord.« »Wie viel Proviant nehmen wir mit?«, wollte Serrah wissen. »Genug für einen Monat. Etwas mehr, wenn wir streng rationieren. Aber das ist es dann auch, es sei denn, Ihr mögt Fisch. In der Gegend, in die wir fahren, gibt es nichts anderes.« »Ich hoffe, es wird bei weitem nicht so lange dauern«, meinte Caldason. »Soll mir recht sein.« Cheross blickte zu den Schauerleuten. »Entschuldigt mich jetzt bitte. Ich möchte gern den Überblick behalten.« Er wandte sich ab. »Es sieht so aus, als liefe alles nach Plan«, meinte Darrok. »Haben wir noch irgendetwas übersehen? Wer etwas einzuwenden hat, soll es jetzt tun, sonst ist es zu spät.« »Meine einzige Sorge ist, dass wir Kinsel so bald nach seiner Rettung wieder allein lassen«, sagte Serrah. »Besonders angesichts seines Zustands.« »Er ist bei uns gut aufgehoben«, versprach Phönix ihr. »Er bekommt die beste Pflege, ob Ihr nun hier seid oder nicht.« »Wir werden alle auf ihn aufpassen«, fügte Pallidea hinzu. »Ihr dürft jetzt nicht länger daran denken, Serrah«, schaltete sich Darrok ein. »Konzentriert Euch auf Eure Aufgabe, und seht zu, dass Ihr wohlbehalten zurückkommt.« »Danke, Zahgadiah. Das werden wir tun.« »Also gut, ich werde mal sehen, ob ich die Dinge noch etwas beschleunigen kann.« »Können wir sonst noch etwas tun?« 262 »Seht nur zu, dass Ihr bald aufbrecht.« Er kippte die Scheibe und streckte eine behandschuhte Hand aus. »Pallidea.« Seine Geliebte kletterte geschickt an Bord. Die Scheibe schwankte leicht, dann schoss sie davon. Phönix spürte, dass Caldason und Serrah einen Augenblick allein sein wollten, und nahm Kutch beiseite, um ihm einige letzte Instruktionen zu geben. »Wann kommt eigentlich der Wendepunkt bei dieser Reise, Reeth?«, fragte Serrah. »Was meinst du damit?« »Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie lange es dauern darf.« »Du hast gehört, was Cheross gesagt hat. Wir haben Essen und Wasser für einen Monat.« »Das ist eine lange Zeit, und das weißt du auch. Ich würde es dir übrigens zutrauen, dass du uns zwingst, Fisch zu essen und Regenwasser zu trinken, wenn du meinst, die Reise müsste verlängert werden.« »Phönix hat das Gebiet auf eine bestimmte Zahl von Inseln eingegrenzt, und das sollte etwas Zeit sparen.« »Es sind immer noch fünfzig Inseln.« »Eigentlich sind es sogar noch ein paar mehr.« »Ich frage mich, ob du unendlich lange weitersuchen willst, wenn du die Insel nicht findest.« »Das werde ich nicht tun, Serrah. Es gibt eine zeitliche Grenze, und das weiß ich auch.« »Ich will ja nicht deine Begeisterung dämpfen, aber ich möchte auch nicht, dass du zu enttäuscht bist, wenn nichts bei dem Ganzen herauskommt.« »Ich bin an Enttäuschungen gewöhnt.« »Nicht in jeder Beziehung, hoffe ich.« Sie lächelte. Darrok kehrte eilig zurück, dieses Mal allein, und hielt schwebend vor ihnen an. »Es scheint so, als wären sie in weniger als einer Stunde fertig, also haltet Euch bereit. Und 263 wir können keine tränenvollen Abschiedsszenen gebrauchen, also benehmt Euch.« Zwei Stunden später waren sie unterwegs. Die Insel war nur mehr ein schwarzer Streifen am Horizont, und die schmutzig weißen Möwen boten die einzige Abwechslung im Grau von Himmel und Meer. Der Nebel lichtete sich langsam. Im Heck standen Caldason, Serrah und Kutch an der Reling und sahen zu, wie die beiden Schiffe, die zur Ablenkung gleichzeitig ausgelaufen waren, nach Osten und Westen hinter Landzungen der Insel verschwanden. »Ich kann gar nicht glauben, dass wir endlich aufbrechen«, sagte Kutch. »Reeth dürfte sogar noch erfreuter sein als du«, erwiderte Serrah. »Oder etwa nicht, Liebster?« »Es ist gut, dass wir unterwegs sind«, stimmte Caldason zu.
»Du könntest ruhig etwas mehr Begeisterung zeigen.« Er lächelte leicht. »Ich bin einfach nur müde.« »Du siehst wirklich erledigt aus. Mach ein Schläfchen, im Augenblick kannst du sowieso nichts tun.« »Vielleicht mache ich das. Aber du musst mich rufen, wenn ...« »Was soll denn in den nächsten paar Stunden passieren?« »Vance. Wir sind noch nicht in Sicherheit.« »Wenn er uns an die Kehle geht, dann werde ich dich wecken. Aber jetzt schlaf ein wenig.« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Caldason nickte müde, drehte sich um und ging in ihre Kabine. Es war eine winzige Mannschaftskabine unter Deck. Als er drinnen war, machte er sich nicht einmal die Mühe, die Stiefel abzustreifen. Er löste die Schwertscheide, legte sie 264 beiseite und streckte sich auf der Koje aus. Kaum, dass sein Kopf ins Kissen sank ... ...flog er. Weit unter ihm lag grau und kabbelig das Meer. Das Schiff pflügte mit geblähten Segeln durch die Wellen. Es wirkte in der Weite zerbrechlich wie ein Kinderspielzeug. Er flog schneller, als irgendein Schiff fahren konnte. In wenigen Augenblicken hatte er es überholt, und es fiel hinter ihm zurück. Er wurde nach Norden gezogen, in die Richtung, in die auch das Schiff fuhr. Seine Geschwindigkeit nahm zu, er schwebte in schneidend kalten Luftströmungen, die ihm nichts anhaben konnten, als sei er durch eine unsichtbare Hülle geschützt. Er bemerkte auch nicht das Stechen der Eiskristalle, als er in die niedrigen Wolken eindrang. Es kam ihm vor, als lege er eine ungeheure Entfernung zurück, ohne ein anderes Schiff zu sehen. Seine Geschwindigkeit war allerdings so hoch, dass er etwas Winziges wie ein Schiff in diesem riesigen Ozean leicht übersehen konnte. Auch auf Landmassen achtete er nicht. Am Rande bemerkte er allerdings eine Reihe dunkler Umrisse, die über dem Meer zu kauern schienen. Einige konnte man Inseln nennen, andere waren nur kleine Punkte. Letztere gab es in großer Zahl. Möglicherweise war es die Inselgruppe, zu der das Schiff unterwegs war, doch die Flecken waren so schnell verschwunden, dass er es nicht genau sagen konnte. Dann wurde er langsamer, konnte aber den Grund dafür nicht erkennen. Nirgends war Land in Sicht. Unter ihm streichelten die vom Wind aufgetriebenen Wellen das Meer mit Schaumfingern wie schon zuvor. Bald bewegte er sich nur noch so schnell, wie er mit der Kraft seiner Muskeln hätte schwimmen können. Endlich bemerkte er etwas. Am Himmel, noch ein Stück vor ihm, war etwas, das er zunächst für eine schwarze Wolke hielt. Es schien, als wüchse sie und würde dabei dunkler. 265 Dann erkannte er, dass sie sich ihm näherte, und schließlich sah er, dass sie aus hunderten einzelner Punkte bestand, die sich aus eigener Kraft bewegten. Je näher die dunkle Menge kam, desto deutlicher konnte er ihre Einzelteile ausmachen. Doch erst als sie ihn beinahe erreicht hatten, erkannte er sie als das, was sie waren. Die Wolke kam, und eine chaotische Welt umfing ihn. Überall wild flatternde Flügel und zerzaustes Gefieder, Knopfaugen und spitze Schnäbel. Ein unsäglicher, schriller Lärm schlug ihm in die Ohren. Er war inmitten des Sturms, im Zentrum eines Orkans aus verschreckten Wesen. Schlagartig war es wieder vorbei. Die Vögel waren hinter ihm, zu einem wirbelnden Chaos von flatternden Punkten geschrumpft. Weitere Schwärme kamen ihm entgegen, und wie derjenige, durch den er gerade geglitten war, wirkten sie unnatürlich. Sie bestanden aus unterschiedlichen Arten von Vögeln. Auch das Meer war unruhig. Riesige Fischschwärme waren zu sehen, die sich knapp unter der Oberfläche hielten. Es waren viele verschiedene Arten, von jungen und kleinen Fischen bis hin zu großen Raubfischen. Tiere, die, genau wie die Vögel, niemals freiwillig zusammenfinden würden, es sei denn, sie hatten ein überragendes, gemeinsames Ziel. Es war keine Wanderung von Tieren. Die Vögel und Fische flohen vor irgendetwas. Weiter im Norden, am fernen Horizont, war ein Lichtfunke zu sehen. Er wuchs heran, bis er so groß war wie die aufgehende Sonne. Seine Flammen berührten das Meer, als sei brennendes Öl vom Himmel gefallen. Eine feurige Flutwelle rollte ihm entgegen. In ihrem Innern sah er Gestalten. Aus seiner erhöhten Position versuchte er, sie zu erkennen. Er glaubte ein Heer von Engeln zu sehen. Vielleicht auch eine Horde von Dämonen. Und dann wurde ihm klar, dass es eine Flotte war. Tausend oder mehr Schiffe, in Flammen gebadet. 266 Ein Mann stand am Bug des führenden Schiffs. Ein Mann, den er kannte, auch wenn sie sich noch nie begegnet waren. Ein Mann, der eine außergewöhnliche Macht besaß. Ihre Blicke trafen sich, und er verstand. Der Kriegsherr kam. 267 Darroks schwimmender Zauber brauchte mehrere Tage, um die Küste von Bhealfa zu erreichen. Dort bog er in eine Flussmündung ein und bewegte sich durch das Flusssystem der Insel weiter. Die Fische
wichen ihm aus, oder vielleicht konnten sie ihn nicht einmal sehen. Da er nicht rasten und nicht essen musste, kam er im winterkalten Wasser schnell voran. Die magischen Instinkte halfen ihm, den richtigen Weg zu dem Seitenarm des Flusses zu finden, der durch die Hauptstadt strömte. Doch als er Valdarrs Haupthafen erreicht hatte, war ihm in seiner derzeitigen Gestalt der weitere Weg versperrt. So wurde eine Verwandlung ausgelöst. Es gab Unruhe im Wasser, Blasen stiegen auf, und Lichter zuckten. Ein ganz anderes Wesen brach aus dem Wasser hervor und entstieg ihm. Von den ausgebreiteten Schwingen tropfte das Wasser. Der Vogel ähnelte einem Raben, er hätte jedoch keinen Beobachter täuschen können. In einer Stadt, in der es vor magischen Erscheinungen wimmelte, fiel ein Zauber wie dieser allerdings kaum auf. Er stieg hoch und kreiste und witterte nach der psychischen Fährte. Dann hatte er die Richtung gefunden und machte sich schnell auf den Weg. 268 Das Hafenviertel war heruntergekommen, hier gab es schmale, gewundene Gassen und lärmende Schenken. Das Pulsieren der Magie war schwach, die Miliz patrouillierte nur in größeren Trupps. Die Pferche des Viehhofs in der Nähe waren von vielfarbigen magischen Leuchtkugeln erhellt. Hinter dem Gewerbegebiet erstreckten sich Wohnviertel. Es waren wenig bemerkenswerte Vororte, in denen eine zurückhaltende, respektable Magie vorherrschte. Dahinter wiederum lagen die reicheren Viertel, wo die magische Beleuchtung beinahe extravagant zu nennen war. Die Illusion eines Raben flog weiter. Ob in reichen oder armen Vierteln, die Begeisterung der Stadt für die Magie war ungebrochen. Warenhäuser der Illusionen versorgten die wohlhabenden Bürger, während die weniger begüterte Kundschaft in einfachen Zauberläden oder bei zwielichtigen Straßenhändlern einkaufte. Die magisch unterstützten Spielcasinos machten gute Geschäfte. Dort drehten sich durch Zauberei angetriebene Glücksräder, und Karten wurden von magischen Händen ausgeteilt. Auf den Straßen wühlten die Bedürftigen in den Abfällen. Der Rabe näherte sich einem sicheren Haus. Er war bereit, seine Geschichte zu erzählen und zu sterben. Auf der anderen Seite der Stadt lag, etwa eine Stunde nach dem Ende des Zaubers, das Feld des Schlafs im Licht der Wintersonne. In den Höhlen darunter war freilich nichts davon zu sehen. Nur das von Menschen oder von der Magie erzeugte Licht vertrieb dort die Finsternis. Eine magische Leuchtkugel spendete weiches Licht in einem Raum, in dem zwei Kinder sich eine Liege teilten. Tanalvah saß auf dem einzigen Stuhl und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Hätte sie schluchzen müssen, dann hätte sie es lautlos getan, um die Kinder nicht zu wecken. Doch sie war in einem Stadium, in dem sie keine Tränen mehr hatte. Nur Teg und Lirrin hatten sie bisher davor bewahrt, ihr 269 Geständnis abzulegen. Ihre Angst vor dem, was dann geschehen würde, und die Angst um das Kind, das sie in sich trug, hatten sie bis jetzt davon abgehalten, ihre Schuld einzugestehen. Doch das Geheimnis belastete sie schwer, und nach und nach veränderte sich ihr Blickwinkel. Wie konnte sie den Kindern ein Leben mit einer Mörderin zumuten? Welche Art Leben hätten die Kinder, wenn eines Tages herauskäme, was sie getan hatte? Und vor allem: Wie konnte sie selbst damit leben? Und so sehr sie den Gedanken auch hasste, sie musste sich allmählich damit abfinden, dass sie Kinsel verloren hatte. Langsam stand sie auf und unterdrückte das Stöhnen, das der vertraute Schmerz im Kreuz ihr entlocken wollte. Schwerfällig beugte sie sich vor und hauchte jedem Kind einen Kuss auf die Stirn. Dann drehte sie sich um und schlurfte aus der Kammer. Wie jederzeit Tag und Nacht waren draußen Menschen unterwegs. Irgendjemand nickte oder winkte. Sie achtete nicht darauf. Nach ein paar Schritten hatte sie die große Höhle im Herzen des Tunnelsystems erreicht. Karr und Goyter hatten sich in eine Ecke zurückgezogen und waren mit Papierkram beschäftigt. Tanalvah ging zu ihnen hinüber. Karr sah sie und begrüßte sie mit einem Ruf. »Alles klar, Tan?«, fragte Goyter. »Darf ich mich zu Euch setzen?« »Aber natürlich«, sagte Karr. »Es ist doch hoffentlich alles in Ordnung?« »Ich muss Euch etwas Wichtiges sagen.« Goyter schien besorgt. »Was ist es denn, meine Liebe? Ihr seht schrecklich aus. Kommt und setzt Euch, wie Dulian gesagt hat.« Tanalvah ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Seid Ihr krank?«, wollte Karr wissen. »Nein, es geht mir gut.« Sie holte tief Luft. »Nein, eigentlich doch nicht.« 270 »Also seid Ihr krank?« »Nein, das nicht. Ich ...« »Ihr wisst doch hoffentlich, dass Ihr mit allen Sorgen zu uns kommen könnt, Tanalvah.« »Ich möchte nur, dass Ihr zuhört. Und dass Ihr versucht, mir zu verzeihen.« »Euch verzeihen? Aber warum denn?«
»Hört einfach nur zu.« Sie betrachtete die verwirrten, erwartungsvollen Gesichter. »Wie Ihr mich seht ... was Ihr von mir haltet... das stimmt nicht.« »Das verstehe ich nicht.« »Bitte, Dulian. Es fällt mir so schwer. Ich muss Euch sagen ... ich meine ... ich war nämlich diejenige, die ...« Irgendjemand rief etwas. Aus einem Tunnel tauchte jemand auf und kam zu ihnen gerannt. »Das ist Quinn«, sagte Goyter. »Ich frage mich, was jetzt schon wieder los ist.« Disgleirio kam atemlos bei ihnen an. »Gut, dass Ihr hier zusammen seid.« »Wir wollten uns gerade mit Tanalvah über etwas Persönliches unterhalten«, sagte Karr, der über die Störung nicht erbaut war. »Wenn es also nicht sehr dringend ist...« »Das ist es«, keuchte Disgleirio. »Bei allem Respekt, Tan, ich glaube, das, was ich zu sagen habe, ist wichtiger als alles andere.« »Wirklich? Was könnte das denn sein?« »Kinsel lebt.« »Was?«, flüsterte Tanalvah. Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. »Es ist wahr. Er lebt, und er ist auf der Diamantinsel.« Tanalvah war leichenblass; sie schwankte und sah aus, als werde sie gleich ohnmächtig werden. Die anderen nahmen sie in die Mitte. Disgleirio fasste sie bei den Schultern und hielt sie fest, Goyter fächelte ihr mit einigen Schriftstücken frische Luft zu. 271 »Hier, trinkt das.« Karr hielt ihr einen Becher mit Wasser an die Lippen. Sie nahm einen kleinen Schluck. »Es geht schon«, quetschte sie hervor. »Ich ... es ... es tut mir Leid ...« »Woher wisst Ihr das, Quinn?«, fragte Karr. »Ein Zauber, und ein ziemlich teurer dazu. Ich habe eine Botschaft von Darrok bekommen.« »Wie lautete sie?« »Es war nicht viel. Anscheinend wurde Kinsel aus der Gewalt von Piraten befreit.« »Piraten? Bei den Göttern. Wie geht es ihm?« »Es hieß nur, dass er lebt.« »Ich wusste, dass Iparrater ihn beschützen würde«, sagte Tanalvah leise. »Ich wusste, dass die Göttin uns nicht im Stich lassen würde.« Karr drückte ihre zitternde Hand. »Und Euer Glaube scheint sich bewahrheitet zu haben, meine Liebe.« »Wie sieht es nun aus, was die Diamantinsel angeht, Tan?«, fragte Disgleirio grinsend. Sie sah ihn benommen an. »Ich fahre mit. Natürlich fahre ich mit.« Sie strahlten sie alle an. »Und ich bin sicher, dass es Kinsel gut geht, wenn wir ihn treffen.« »Wann fahren wir denn?« Er lachte. »So bald wir können.« »Ihr wolltet uns doch etwas sagen, Tanalvah«, erinnerte Goyter sie. »Bevor Quinn gekommen ist.« »Ich ... nein, schon gut. Das war nicht so wichtig.« Ihre Freude war sofort wieder zerstört, und auf einmal war alles wieder da. Der einzige Trost war nur, dass sie eine Gelegenheit bekommen sollte, sich mit Kinsel auszusprechen, bevor es zu Ende ging. Und sie wusste, dass das Ende unausweichlich war. 272 »Nun ja, wenn Ihr meint«, sagte Goyter. Sie wirkte ein wenig misstrauisch. »Ja, es ist gut.« »Ihr seht so traurig aus.« »Wirklich?« »Es muss ein Schock für Euch sein. Eure Gefühle sind sicher völlig durcheinander. Vergesst nur nicht, dass wir immer für Euch da sind.« »Das werde ich nicht vergessen. Danke, Goyter. Aber jetzt muss ich es den Kindern sagen.« Sie wollte aufstehen. Goyter streckte eine Hand aus und hielt sie auf. »Das kann noch einen Augenblick warten. Kommt doch erst einmal zu Atem.« Widerstrebend und seufzend setzte Tanalvah sich wieder hin. Mehr als alles andere wollte sie jetzt allein sein. »Hat die Botschaft auch etwas über die anderen enthalten, Quinn?«, fragte Karr. »Reeth, Serrah und Kutch?« »Nein, überhaupt nichts.« »Dann wollen wir hoffen, dass keine Nachrichten in diesem Fall gute Nachrichten sind«, bemerkte Goyter. »Achte auf die Verteidigung!« »Das ist leichter gesagt als getan.« Kutch wich zurück und ließ das Schwert sinken. »Du bist daran gewöhnt, ich nicht.« »Also gut«, kam Caldason ihm entgegen. »Wir machen eine Pause.« Sie übten auf Deck. Je weiter sie nach Norden kamen, desto ungemütlicher wurde es, und inzwischen war der Wind, der übers Meer wehte, schneidend kalt. Sie setzten sich auf ein paar Fässer.
»Ich schwitze«, klagte Kutch. Er wischte sich mit einem Ärmel die Stirn ab. »Das lässt sich nicht vermeiden. Der Schwertkampf ist anstrengend, und zwar besonders, wenn du nicht daran 273 gewöhnt bist. Dir müssten auch die Arme und Beine wehtun.« »Und ob. Ich glaube, aus mir wird kein Kämpfer, Reeth.« »Nein, sicher nicht.« »Oh.« »Aber ich will dich ja auch nicht zu einem Meister im Schwertkampf ausbilden. Es reicht, wenn du ein paar einfache Techniken kennst, um dich zu verteidigen.« »Ich denke immer noch, dass mein größter Beitrag die Magie ist.« »Das wird dir mit einer Klinge im Bauch nicht so leicht fallen.« »Äh, ja. Das ist wahr.« »Es liegt bei dir. Aber mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass du eine Vorstellung hast, wie du dich verteidigen kannst.« »Ich will es ja lernen, Reeth. Es ist nur ... um ehrlich zu sein, der Gedanke, vor jemandem mit einem Schwert zu stehen, ängstigt mich.« Er errötete und starrte seine Stiefelspitzen an. »Ich komme mir vor wie ein Feigling.« »Das ist gut.« »Was?« »Die Leute meinen immer, tapfer zu handeln bedeute, ohne Furcht zu handeln. Das stimmt nicht. Echter Mut ist es, wenn jemand trotz seiner Angst handelt. Du bist kein Feigling, Kutch. Ich kenne dich lange genug, um das zu wissen.« Der Bursche lächelte, halb stolz und halb verlegen. »Danke, Reeth. Ich fühle mich nicht sehr tapfer, das kann ich dir sagen.« »Wenn du dich tapfer fühlst, musst du anfangen, dir Sorgen zu machen. Wie auch immer, ich denke, wir haben für heute genug geübt. Wenn du morgen noch eine Fechtstunde willst, dann sag mir Bescheid.« »Die will ich. Ich meine ... ja, bitte. Und ich werde mich etwas mehr bemühen.« 274 »Wir können alle nur unser Bestes geben. Wie sieht es eigentlich mit deinen Pflichten als Schiffsmagier aus?« »Es gibt nicht viel zu tun. Ich wirke regelmäßig die Spürsprüche, die Phönix mich gelehrt hat, aber das war es auch schon.« »Hast du etwas gefunden?« »Nein. Nichts außer der Hintergrundstrahlung der Magie, die immer vorhanden ist. Hier draußen ist es natürlich weniger.« »Hintergrundstrahlung?« »Die Magie, die in der Welt beschworen wird, hinterlässt eine Art Rückstand. Er ist immer da.« »Und den kannst du spüren? Wie denn? Mit diesen Spürsprüchen oder durch deine eigene Aufklärerbegabung?« »Ein bisschen von beidem, nehme ich an. Phönix hat mit seiner Ausbildung meine natürliche Wahrnehmung verbessert, und das ist geblieben, auch wenn ich die Übungen nicht mehr mache.« »Wie ist... wie drückt man das aus? Wie fühlt es sich für dich an?« »Das ist schwer zu sagen. Es ist ein wenig wie ... wie ein Musikstück, das leise in einem Nachbarzimmer gespielt wird. Oder wie ein Hauch von Geißblatt im Sommerwind.« Er grinste. »Nur, dass es eigentlich ganz anders ist. Man muss die Kunst praktizieren, um es zu verstehen.« »Dann muss ich wohl unwissend bleiben.« »Ich wünschte, du wärst der Magie gegenüber nicht so ablehnend eingestellt, Reeth. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich weiß, dass du missbilligst, was ich tue.« »Es wäre mir tatsächlich lieber, du würdest es nicht tun. Mir wäre es lieber, es würde sich überhaupt niemand mit der Magie beschäftigen. Aber wenn ich die Magie ablehne, dann lehne ich nicht dich ab, Kutch. Ich hoffe, das ist dir klar.« 275 »Ja, das weiß ich. Die Magie hat jedoch auch ihre Vorzüge, Reeth. Sie bringt vielen Menschen viel Gutes.« »Dagegen könnte ich einiges einwenden.« »Du bist auch ein besonderer Fall.« »Wirklich? Was ist mit denen, die es sich nicht leisten können? Und darunter leiden? Sind sie auch besondere Fälle? Wenn das so ist, dann gibt es eine Menge besondere Fälle.« »Ich sage ja nicht, dass alles vollkommen ist. Aber das liegt am System, in dem wir leben, und nicht an der Kunst.« Er hob die Waffe, die er noch immer in der Hand hielt. »Es ist wie mit der Klinge hier. Sie kann in der Hand eines Tyrannen oder in der Hand eines Freiheitskämpfers liegen. Das Schwert hat keinen Einfluss darauf.« »Ist es nicht eine Schande, dass so viele in den Händen von Tyrannen sind?« »Ich verstehe schon, was du meinst, Reeth.« »Ja. Ich denke aber, die Logik ist fragwürdig. Du übersiehst auch, dass ich mir auf dieser Reise von der Magie helfen lasse. Das zeigt, dass ich mich nicht völlig dagegen sperre.« »Das ist ein Anfang, ja. Aber ich würde es gern sehen, wenn du zugibst, dass die Magie viele gute Dinge tun
kann.« »Du wirst niemals erleben, dass er dir darin zustimmt, Kutch.« Serrah hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt. »Vielleicht nicht«, erwiderte Kutch, »aber es ist einen Versuch wert.« Er stand auf. »Ich habe Phönix versprochen, meine Studien fortzusetzen, und genau das werde ich jetzt tun.« »Bleib aber nicht zu lange auf«, warnte Serrah ihn und nahm seinen Platz auf dem Fass ein. »Keine Sorge. Oh, das Schwert.« Er wollte es zurückgeben. »Es gehört dir«, erklärte Caldason ihm. »Gewöhne dir an, es zu tragen.« 276 »Wirklich? Danke, Reeth.« Er steckte es in die Scheide und lächelte. »Glaubst du, das ist klug?«, fragte Serrah, als Kutch außer Sicht war. »Würdest du auch nur einen Schritt ohne deine Klinge tun?« »Ich? Teufel, nein. Ich würde mich nackt fühlen. Aber er ist doch noch ein Junge.« »Ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Waffen ich besessen habe, noch bevor ich sein Alter erreicht habe.« »Du kommst aus einem Kriegervolk, von dir hat man es erwartet. Er aber war schon immer eher ein Geistesarbeiter.« »Dann wird es Zeit, dass er lernt, auf sich aufzupassen. Besonders wenn man bedenkt, was auf uns zukommt. Er ist inzwischen auch mehr ein Mann als ein Kind. Hast du bemerkt, wie er mir inzwischen widerspricht?« »Er vertritt seinen Standpunkt energischer als früher. Du hast natürlich Recht, er sollte bewaffnet sein. Auch wenn ihm das vielleicht nicht mehr viel nützt.« »Höre ich da eine Spur von Hoffnungslosigkeit heraus?« »Du weißt doch selbst, wie unsere Aussichten sind. Wir haben Glück, wenn überhaupt irgendeiner auf der Diamantinsel diese Sache überlebt. Vorausgesetzt, sie ist nicht sowieso schon überrannt, wenn wir zurückkommen.« »Willst du mir damit sagen, dass unsere Reise länger dauern könnte, als dir lieb ist?« »Du weißt doch, dass ich lieber auf der Diamantinsel wäre und bei der Verteidigung helfen würde.« »Falls wir die Quelle finden ...« »Ja, falls wir sie finden, falls wir herausfinden, wie wir sie einsetzen müssen, falls wir rechtzeitig wieder zurück sind, dann können wir vielleicht eine Invasion abwehren. Wir können nicht unsere ganzen Hoffnungen in eine Legende setzen, Reeth.« 277 »So siehst du das also?« »Natürlich hoffe ich, dass es anders kommt. Für den Augenblick können wir die Insel vergessen und hoffen, dass wir am Ende des Regenbogens irgendwo einen Topf voll Gold finden. Gewöhnlich gibt es eine Schatzsuche wie die unsere jedoch nur in den Geschichten der Dichter und in Märchen, Reeth.« »Was meinst du damit? Sollen wir umkehren?« »Aber nein. Ich habe hinsichtlich der Quelle nicht weniger Hoffnungen als du, auch wenn es jetzt vielleicht anders klingt. Wir haben uns aber nie überlegt, wie lange die Reise höchstens dauern sollte. Ich hätte gern eine klare Vorstellung.« »Ich habe dir versprochen, dass wir nicht länger unterwegs sind, als es unbedingt sein muss. Warum auf einmal diese Eile?« »Ich muss an deine letzte Vision denken. Daran, dass du Zerreiss hast kommen sehen. Sollte uns das nicht sehr beunruhigen?« »Du unterstellst, dass es eine prophetische Vision war.« »Zweifelst du daran?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann ist es vielleicht nicht sehr klug, seinen Weg zu kreuzen.« »Er ist weit entfernt... in der Vision wusste ich das. Wir könnten hier fertig sein, ehe er kommt.« »Oder eben auch nicht.« »Hör mal, es dauert nicht mehr lange, bis wir die Inselgruppe erreichen. Eigentlich sollten wir sie jeden Augenblick sehen.« Der Ausguck rief etwas aus dem Krähennest herunter. »Das ist jetzt aber zu schön, um ein Zufall zu sein«, meinte Serrah. »Das ist keine Sichtung von Land. Es ist etwas anderes.« Sie standen auf. Ein gutes Stück vor dem Bug war ein 278 Schiff zu sehen. Es war ein Dreimaster, der selbst aus der Entfernung recht groß wirkte. Caldason und Serrah eilten nach vorn. Red Cheross war am Bug und beobachtete das Schiff durch ein magisches Fernrohr. »Was ist es?«, fragte Serrah. »Das ist ein Schiff des Reichs«, erklärte der Kapitän ihnen. »Welches Reich?« »Rintarah, den Abzeichen nach.«
»Müssen wir mit einem Angriff rechnen?«, fragte Caldason. »Ich glaube nicht. Die Segel sind nicht richtig gesetzt, und ich sehe niemanden auf Deck.« Einer von Cherross' Leuten erschien mit zwei Handflaggen an Deck und gab dem anderen Schiff Signale. Ein paar Minuten vergingen, ohne dass das andere Schiff Kurs oder Geschwindigkeit geändert hätte. »Keine Reaktion«, berichtete der Kapitän und ließ das Fernrohr sinken. »Ich schätze, es ist vom Kurs abgekommen.« Jetzt gesellte sich auch Kutch zu ihnen. »Was ist denn los?« »Wir sind nicht sicher«, berichtete Serrah. »Es könnte sein, dass das Schiff Schwierigkeiten hat.« »Könntest du nach magischen Aktivitäten forschen, Kutch?«, fragte Caldason. Das Schiff war jetzt näher. Es wirkte völlig ruhig. Das Adlersymbol von Rintarah war deutlich auf dem Hauptsegel zu erkennen. Kutch schloss die Augen und konzentrierte sich. »Spürst du etwas?« »Nichts«, entgegnete Kutch. »Aber ich bin nicht sicher, ob es nicht zu weit weg ist.« Cheross hob wieder das Fernrohr. »Was tun wir jetzt?« »Wir fahren rüber«, entschied Caldason. 279 Sie nahmen das größte Rettungsboot ihres Schiffs. Caldason führte die Gruppe an, Serrah, Kutch und neun Leute von Cheross' Besatzung begleiteten sie. Reeth wies einen Matrosen an, das Schiff zu rufen, aber es kam keine Antwort. »Fängst du etwas auf, Kutch?« »Nein, Reeth. Überhaupt nichts.« »Also gut.« Er wandte sich an die Mannschaft. »Alle bis auf dich gehen an Bord.« Er nickte zum Rudergänger hin. »Es könnte eine Falle sein, möglicherweise müssen wir also schnell verschwinden. Wenn ihr auf Deck seid, zieht ihr sofort die Waffen. Falls es Ärger gibt, greifen wir an. Alles klar? Gut. Dann lasst uns gehen.« Das Rettungsboot prallte gegen den Rumpf des Schiffs aus Rintarah. Enterhaken wurden geworfen und Seile gespannt. Caldason und Serrah stiegen als Erste hinauf. Kutch, der an solche körperlichen Anstrengungen nicht gewöhnt war, kam als Letzter und nahm die Hilfe eines Mannschaftsmitglieds in Anspruch. An Bord war alles still bis auf die knarrenden Balken des Schiffs. Caldason teilte seine Leute in drei Gruppen auf. Vier Männer sollten das Schiff vom Bug bis zum Heck durchsuchen, vier weitere sollten sich unter Deck umsehen. Er selbst ging mit Serrah und Kutch zur Brücke, wo auch die Kapitänskajüte sein musste. An der ersten Tür blieb er stehen. »Du bleibst hier, während wir uns drinnen umsehen, Kutch. Wenn du etwas Feindseliges spürst, dann rufst du.« »In Ordnung.« »Und sollte es zum Kampf kommen, so versuche dich herauszuhalten.« Der Bursche nickte. Caldason legte die Hand auf den Türgriff. Sie war un verschlossen. Er öffnete sie mit einem Tritt und drang mi Serrah rasch in die Kabine ein. 280 Sie standen in einem wenig bemerkenswerten Raum. Das Bett war ungemacht, und es lag eine gewisse Menge alltäglicher Krimskrams herum. Eine rasche Durchsuchung förderte nichts Ungewöhnliches zutage. Die nächste Kabine unterschied sich kaum von der ersten. Ein Schwert ohne Scheide lag, offenbar hastig weggeworfen, neben einer offenen Kiste mit Kleidern. Dies war das einzige Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung war. Als sie einen dritten, viel größeren Raum betraten, offenbar die Offiziersmesse, ging Kutch mit ihnen hinein. Drinnen gab es einen langen Eichentisch, in Regalen waren Krüge und Geschirr aus Steingut untergebracht. Mehrere Stühle waren umgekippt. Unter ihren Füßen knirschten Glassplitter. Auf dem Tisch sahen sie ein Durcheinander von Tellern und Besteck, als sei eine Mahlzeit unterbrochen worden. Stapel von altem Brot und Teller mit ranzigem Fleisch bestätigten diese Vermutung. Caldason tauchte den Finger in ein Glas Wein und kostete vorsichtig. »Sauer«, bemerkte er. »Was ist hier geschehen?«, fragte Serrah. »Ich weiß es nicht. Aber es muss schnell und unerwartet passiert sein.« Der Anführer eines Suchtrupps kam zu ihnen. Er hatte einen Vollbart und war kräftig gebaut; sein rotes Gesicht sprach von vielen Jahren, die er auf See verbracht hatte. Er hatte ein dickes, in Leder gebundenes Buch unter dem Arm. »Das Schiff ist völlig verlassen«, meldete er. »Tote?«, fragte Caldason. »Wir haben keine gefunden.« »Zeichen von Gewalt?« »Eigentlich nicht.« Er sah sich um. »Es sieht eher aus wie hier. Als hätten sie alles stehen und liegen lassen, weil es Alarm gab oder so etwas. Unten in den Mannschaftsquartieren sind die Hängematten noch aufgespannt. So etwas
281 sieht man nicht auf einem gut geführten Schiff, ganz zu schweigen von einem Schiff des Reichs. Es sei denn, es ist etwas Unerwartetes geschehen.« »Was ist das da?« Caldason deutete auf das Buch. »Wir haben es am Ruder gefunden. Es ist das Logbuch des Kapitäns.« Er gab es Caldason. Caldason fegte den Kram vom Tisch und legte das Buch darauf. Schnell blätterte er es durch und fand den letzten, kurzen Eintrag. »Das ist schon Monate her.« »Was steht denn da?« »Alltägliche Sachen. Das Wetter, eine Bemerkung über zu Ende gehende Vorräte und so weiter.« Er wandte sich an den Seemann. »Weißt du, was diese Zahlen hier bedeuten?« Der Mann beugte sich vor. »Das ist die Position des Schiffs an dem Tag, an dem der Eintrag geschrieben wurde. Wenn das stimmt, dann ist es verdammt lange steuerlos getrieben.« »Wo waren sie denn?« »Weiter im Norden. Sehr viel weiter im Norden.« Caldason und Serrah wechselten einen Blick. »Du weißt, was für ein Schiff es ist, Reeth«, sagte sie. »Es gehörte der Expedition, die Rintarah geschickt hat, um herauszufinden, was es mit Zerreiss auf sich hat. Auch Gath Tampoor hat ein Schiff geschickt, sagte der Widerstand.« »Wir können wohl annehmen, dass es ein ähnliches Schicksal erlitten hat.« »Ja, aber welches Schicksal? Was ist hier passiert?« Caldason wandte sich an den Zauberlehrling. »Du bist so still, Kutch. Kannst du uns helfen?« »Was ich spüre, ist sehr eigenartig. Oder vielmehr, was ich nicht spüre.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht. Erinnerst du dich an das, was ich gesagt 282 habe? Dass es überall winzige magische Partikel gibt? Hier sind keine.« »Und?« »Du verstehst es nicht, Reeth. Hier sind überhaupt keine. Es ist, als sei die Atmosphäre des Schiffs oder auch das Holz des Schiffs gründlich ... als sei alles gründlich gereinigt worden. Es gibt keine Spur von Magie. Auf einem Schiff dieser Größe hat es ganz sicher Abteilungen von Magiern gegeben, und es gab zahlreiche Produkte der Kunst, und davon müsste ich jetzt noch etwas spüren.« »Ist das von Bedeutung?« »Ob es von Bedeutung ist? Reeth, das ist unmöglich.« 283 Wo die rivalisierenden Reiche um die Vorherrschaft rangen, war die Außenpolitik oft nur das Vorspiel bewaffneter Konflikte. Ständig stritten sie um Gebiete, schlugen Aufstände nieder und unterdrückten aufmüpfige Völker. Gelegentlich brachen offene Kriege aus, die von Stellvertretern für die Reiche geführt wurden. Doch diese Kriege wurden nur selten als das bezeichnet, was sie waren, sondern in der Öffentlichkeit als beherzter Freiheitskampf winziger Nationen gegen feindliche Aggressionen dargestellt. Welche Begriffe auch verwendet wurden, um diese Auseinandersetzungen schönzureden, eines änderte sich nie: Es gab Tote. Die Krieg führenden Parteien mochten das Zerstörungswerk zur edlen Kunst erhoben haben, doch auf die Not der vielen unschuldigen Opfer verschwendete man keinerlei Gedanken. Der Zorn über diese Verhältnisse ließ eine Bewegung entstehen, deren Pioniere die Frauen waren - die Mütter, Ehefrauen und Schwestern der Opfer. Ein Ableger dieser überwiegend pazifistischen Gruppe waren die Barmherzigen Töchter. Diese wohltätige Organisation trat öffentlich als Verband ehrenamtlicher Heiler auf und nannte sich »Sternennetz-« nach den goldenen Sonnen, mit denen ihre Uniformen und Fahrzeuge gekennzeichnet waren. Anfangs 284 hatte die Gruppe ausschließlich aus Frauen bestanden, später öffnete sie sich auch für männliche Helfer. Im Gedenken an die Anfänge behielt man den ursprünglichen Namen allerdings bei. Die Barmherzigen Töchter verweigerten niemandem ihre Hilfe, ob er nun dem Militär angehörte oder ein Zivilist war und egal, auf welcher Seite er kämpfte. Ihre einzige Aufgabe war es, Linderung zu bringen. Sie erduldeten Feindseligkeit und Misstrauen, und sie hatten ihre Märtyrer, doch im Laufe der Jahre gelang es ihnen, die Achtung der meisten Menschen zu erringen. So verstand es sich von selbst, dass ihre Vertreter auch die Heere auf Kriegszügen begleiteten. Oder, wie in diesem Fall, eine Flotte, die eine Invasion durchführen sollte. Die aus mehreren hundert Schiffen bestehende Armada lief aus verschiedenen Häfen Bhealfas aus. Dennoch war sie nur der Beitrag einer einzigen Kolonie zur großen Flotte von Gath Tampoor. Etwa ein halbes Dutzend Schiffe des Sternennetzes waren mit dabei. Eines dieser Hospitalschiffe, das mit gelben Sonnen geschmückt war, blieb so weit wie möglich von der Hauptstreitmacht entfernt. Eine nähere Begutachtung hätte gefährlich werden können. »Tja, damit haben wir uns also der Flotte ohne große Schwierigkeiten angeschlossen«, sagte Disgleirio. »So
weit, so gut.« »Wir haben noch nicht einmal die Hoheitsgewässer Bhealfas verlassen«, erinnerte Karr ihn. »Es gibt noch reichlich Möglichkeiten aufzufliegen, bevor wir in Aktion treten.« Sie trugen gefälschte Uniformen, auf deren Brust und Rücken die Sonnen des Ordens gemalt waren. Ringsum sahen sie nichts als Schiffe. »Glaubt Ihr denn, es funktioniert?« »Es muss funktionieren. Es ist nicht sinnvoll, zusammen mit der Flotte einzutreffen. Wir müssen schneller sein. 285 Glücklicherweise ist das Schiff auf Geschwindigkeit ausgelegt, die Kriegsflotte aber nicht. Es kommt einfach nur darauf an, dass wir uns unbemerkt absetzen.« Goyter gesellte sich zu ihnen. Sie trug eine Frauenuniform, deren goldene Sterne sich glänzend vom weißen Tuch ihrer Jacke abhoben. »Quinn«, sagte sie. »Ich habe Euch schon gesucht. Man könnte Eure Hilfe bei der Einteilung des Wachdienstes brauchen. Ein klein wenig Aufsicht würde dort nicht schaden, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Disgleirio nickte. »Ich erledige das. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt?« »Nur zu«, ermunterte Karr ihn. Als er fort war, fragte Karr, wie es Tanalvah ging. »Sie ruht sich mit den Kindern aus, auch wenn es unter Deck nicht gerade still und friedlich ist, da wir so viele Leute hineingestopft haben.« »Wir lassen sie heraus, sobald wir uns von der Flotte abgesetzt haben«, versprach Karr ihr. »Sagt mir, wie schätzt Ihr Tans Stimmung ein?« »Wechselhaft. Sie schwankt zwischen Begeisterung und Schwermut und neigt in beiden Zuständen zu Tränenausbrüchen. Aber das ist wohl nicht anders zu erwarten, wenn man überlegt, was sie durchgemacht hat. Ich habe sie gefragt, ob sie inzwischen Bedenken hat, weil sie uns begleitet, da wir ja in ein Kriegsgebiet fahren und sie für die Kinder verantwortlich ist.« »Ich kann mir schon denken, was sie geantwortet hat.« »Ja, sie ist fest entschlossen, die Insel zu erreichen. Aber das macht mir auch Sorgen, Dulian. Ich meine, für uns ist das richtig, wir sind alt. Aber haben wir das Recht, eine schwangere junge Frau und zwei Kinder hineinzuziehen?« »Das muss sie selbst entscheiden. Aber wenn ich in so einem Augenblick einen Partner hätte, dann wollte ich bei ihm sein. Ihr nicht?« 286 »Oh, gewiss.« »Es tut mir Leid, Goyter. Ihr denkt sicher an Brek.« »Es gibt kaum einen Tag, an dem ich nicht an ihn denke.« »Wie lange ist es jetzt her?« »Dass sie ihn getötet haben? Drei Jahre, vier Monate und beinahe zwei Wochen. Ja, natürlich hätte ich ihn gern hier. Da es nicht möglich ist, mache ich das Zweitbeste und gehe allein. Ich glaube, das gibt mir auch das Gefühl, dass Brek nicht ganz umsonst gestorben ist.« »Euer Mann ist keinesfalls umsonst gestorben. Er hat sein Leben für den Kampf gegen die Unterdrückung gegeben und ist für ein edles Ziel gefallen.« »Das sage ich mir auch immer, aber jetzt hört auf damit. Ich werde sonst noch ganz wehleidig, und ich würde lieber Glassplitter fressen, als die trauernde Witwe zu spielen. Außerdem seht Ihr verdrossen genug für uns beide aus. Was ist denn los?« »Ich fühle mich nicht wohl dabei, die Barmherzigen Töchter als Deckung zu benutzen.« »Aber das haben wir wirklich oft genug durchgesprochen. Es ist eine brillante Idee, Dulian. Ich wüsste gar nicht, wie wir sonst aus Bhealfa hätten herauskommen können.« »Aber wenn es schief geht, und es fällt auf sie zurück? Es sind anständige Leute, und sie haben genügend Feinde in beiden Reichen, die nur auf eine Gelegenheit warten, sie in Misskredit zu bringen.« »Manchmal müssen wir zum Wohl des Ganzen eben Dinge tun, die wir lieber lassen würden. Sich Sorgen zu machen, nützt jedenfalls überhaupt nichts. Dazu ist es jetzt zu spät, es ist entschieden.« »Da habt Ihr wohl Recht.« »Ihr wisst, dass ich Recht habe. Was geht Euch sonst noch durch den Kopf?« »Ist das nicht offensichtlich? Seht Euch nur die Größe dieser Flotte an. Ein Vorschlaghammer, der eine Nuss zer287 quetscht - das beschreibt es richtig. Wir segeln dem fast sicheren Tod entgegen, und wir nehmen verdammt viele Menschen mit.« »Es ist, wie Ihr es in Bezug auf Tanalvah bereits gesagt habt. Jeder muss für sich selbst entscheiden. Wir wissen alle, worauf wir uns einlassen. Außerdem gibt es noch etwas, das gerade Ihr niemals vergessen solltet.« »Was denn?« »Dass immer Hoffnung besteht.« Ein guter Bogenschütze hätte von dem Kriegsschiff, das dem Schiff des Sternennetzes am nächsten war, einen
Pfeil hinüberschießen können. Wäre ein Pfeil in umgekehrter Richtung geflogen, mitten ins Herz der Flotte hinein, dann hätte er ein Schiff getroffen, dem der Widerstand unbedingt ausweichen wollte. Die Armada aus Bhealfa bestand aus vielen verschiedenen Schiffsklassen. Eine Kategorie von Schiffen gehörte den Paladinen, und die Macht und der Reichtum der Clans war so groß, dass sie buchstäblich eine eigene Flotte innerhalb des Verbandes stellten. Der Anführer ihrer Abteilung befand sich - zwei Bogenschussweiten vom getarnten Schiff des Widerstands entfernt - auf einem besonders prächtigen Flaggschiff. Auf dessen Brücke, außer Hörweite der Rudergänger und der anderen Mannschaftsmitglieder, standen zwei Personen und schauten aufs Meer hinaus. »Wir waren noch nie auf einem Schiff«, gab Aphri Kordenza zu. »Ach, wirklich?« Devlor Bastorran gab sich keine Mühe, sein mangelndes Interesse zu verbergen. »Wie sieht hier das Protokoll aus? Ich meine, müssen wir uns an irgendwelche Regeln der Marine halten oder so? Nicht, dass wir es tatsächlich tun würden.« »An Bord dieses Schiffs gibt es für Frauen nur eine einzige Regel: Benehmt Euch.« 288 Ihre dunklen Augen blitzten gefährlich. »Wir sind ein Paar«, sagte sie. »Ich hasse es, wenn man uns nicht als Paar sieht.« »Was diese Reise angeht, so seid Ihr kein Paar. Ihr seid einfach nur Ihr selbst. Ich wünsche Eure ... Eure bessere Hälfte nicht zu sehen. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr seine Ausflüge auf Eure gut verriegelte Kabine beschränken könntet.« »Das wird Aphrim nicht gefallen.« »Dann hat er Pech gehabt. Wir sind Teil einer Invasionsflotte und nicht auf einem Vergnügungsdampfer unterwegs. Es fehlte wirklich noch, dass Ihr und Euer Freund auf diesem Schiff Amok lauft. Haltet Euch bedeckt, bis wir da sind.« »Und dann?« »Dann könnt Ihr loslegen. Auf der Diamantinsel gibt es reichlich Ziele für Euer Schwert.« »Das ist nur die Vorspeise. Was ist mit dem Festmahl?« »Caldason ist der wichtigste Grund dafür, dass ich diese Reise überhaupt unternehme.« »Und Ihr wollt ihn uns überlassen?« »Das werden wir dann sehen. Ihr sollt bei seinem Tod auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen.« »Wir wollen aber die Hauptrolle spielen«, maulte sie. »Ihr bekommt, was sich den Umständen nach anbietet. Wenn Ihr in einer besseren Position als ich seid, um ihn zu töten, dann habt Ihr meine Erlaubnis.« »Aber Ihr versucht, es selbst zu tun, nicht wahr?« »Da ist noch eine Ehrenschuld zu begleichen.« »Auch für uns, vergesst das nicht.« »Man könnte es für anmaßend halten«, gab Bastorran kalt zurück, »dass Ihr die Ehre des Anführers der PaladinClans mit dem vergleicht, was man unter gedungenen Mördern als Ehre bezeichnet.« Sie warf sich in die Brust. »Auch wir haben unseren Stolz.« 289 »Schluckt ihn hinunter. In diesem Fall müsst Ihr nach meinen Regeln spielen.« »Ich weiß gar nicht, warum Ihr Euch überhaupt die Mühe gemacht habt, uns mitzunehmen.« »Weil ich jemanden brauche, der mir hilft, mit meiner ... mit unserer Rache an Caldason zum Zuge zu kommen. Jemanden, der Eure besonderen Fähigkeiten besitzt, und jemanden, dem ich vertrauen kann.« »Ihr meint, jemanden, der beim Tod Eures Onkels eine gewisse Rolle gespielt hat.« »Redet leise!«, zischte Bastorran. Er sah sich nervös um. »Ihr habt mehr als nur eine Nebenrolle gespielt, vergesst das nicht. Und erwähnt das Thema niemals wieder. Wenn Ihr Euch nicht daran haltet, dann werdet Ihr bald wünschen, Ihr wärt nie geboren. Das gilt für Euch beide.« »So viel zur Gleichberechtigung unter Verschwörern und Verbrechern«, erwiderte Kordenza säuerlich. »Auf dieser Mission seid Ihr meine Angestellte. Tut, was ich Euch sage, und Ihr seid eine gut bezahlte Angestellte, ganz abgesehen von dem Geschenk, das ich Euch schon gemacht habe. Außerdem bekommt Ihr die Gelegenheit, es dem Qalochier heimzuzahlen. Ist das wirklich so unangenehm?« »Wohl nicht.« »Wenn Ihr die Sache vermasselt, dann werdet Ihr es bereuen. Glaubt ja nicht, ich könnte Euch das Ding nicht wieder aus dem Fuß nehmen lassen. Ganz langsam.« Kordenza schmollte eine Weile, dann sagte sie: »Ich dachte, Euer kahlköpfiger Freund wäre auch dabei.« »Was?« »Dieser große, dürre Kerl. Der Oberste irgendeiner Spionageeinheit.« »Achtung vor Euren Vorgesetzten gehört wohl nicht gerade zu Euren vornehmsten Tugenden, was? Ich nehme an, Ihr meint Kommissar Laffon.« 290 »Genau den meine ich. Den Gruseligen.« »Die Redewendung, dass man im Glashaus nicht mit Steinen werfen sollte, ist Euch offenbar nicht bekannt.«
»Verzeihung?« »Vergesst es. Der Kommissar wurde im letzten Augenblick nach Gath Tampoor gerufen, falls es Euch interessiert.« »Das muss ihm aber sehr ungelegen gekommen sein.« »Allerdings. Besonders, da er ein ganz persönliches Interesse an jemandem hat, der sich auf der Diamantinsel aufhalten könnte. Übrigens habe ich eingewilligt, ihn in dieser Hinsicht zu unterstützen. Ihr könnt auch dabei helfen.« Sie beäugte ihn misstrauisch. »Wirklich?« »Ich glaube, Ihr seid hervorragend für diese Aufgabe geeignet. Laffon will eine gewisse Person festnehmen.« »Wir sind auf Liquidierung spezialisiert, nicht auf Gefangennahme. Warum die Nachsicht?« »Die fragliche Person wird in Gath Tampoor gebraucht. Sie gehörte früher selbst den Sicherheitskräften an, deshalb sind politische Interessen im Spiel. Sie muss verhört werden, und im Hinblick auf die öffentliche Meinung wäre ein entsprechendes Verfahren angebracht.« »Wer ist es?« »Es kann gut sein, dass Ihr die betreffende Person sogar kennt. Laffon glaubt, sie stehe mit Caldason in Verbindung. Das bedeutet natürlich auch, dass sie ein Weg zu Caldason sein kann.« »Das ist aber interessant. Erzählt uns mehr.« »Ich kann sogar noch mehr als das tun, ich kann es Euch zeigen. Mein Adjutant bringt uns alles, was Ihr braucht.« Er deutete mit dem Daumen zum unteren Deck. Lahon Meakin kam zu ihnen, er hatte sich einen Gegenstand unter den Arm geklemmt. »Da wäre eine Gelegenheit, Eure neu entwickelte Diskretion zu üben«, fügte Bastorran bissig hinzu. Kordenzas Antwort war ein Blick, der töten konnte. 291 Meakin stieg die Treppe herauf und verneigte sich ehrerbietig. »Von Kommissar Laffon, Sir.« Er bot seinem Vorgesetzten eine Lederhülle an, die mit rotem Band verschlossen war. Bastorran schnappte sie sich. »Das ist die RIS-Akte der verdächtigen Person«, erklärte er Kordenza, als er das Band löste. Meakin zog sich diskret ein oder zwei Schritte zurück. »Hier.« Der Paladin holte ein dünnes, viereckiges Objekt aus der Hülle, das etwa die Größe seiner Handfläche hatte. Die Beschaffenheit erinnerte an roten Schiefer. Er reichte ihr den Gegenstand. Kordenza starrte die grauen Wirbel auf der Oberfläche an, die sich allmählich verdichteten. Ein Gesicht schälte sich heraus, stieg aus der Fläche empor und drehte sich langsam hin und her, bis der Kopf von allen Seiten dargestellt worden war. Dann bekam das Gesicht einen Miniaturkörper, der sich langsam drehte wie ein Werkstück auf der Töpferscheibe. »Kommt sie Euch bekannt vor?«, fragte Bastorran. »Oh, ja. Laffon hat Recht, sie war bei Caldason. Und wir sind ihr noch eine Abreibung schuldig.« »Vergesst nicht, dass sie lebendig geschnappt werden muss. Allerdings wäre es durchaus akzeptabel, wenn sie dabei ein wenig ramponiert würde.« »Wie heißt sie?« Bastorran hob die Hülle. Das aufgestickte Etikett war mit Kupferdruck beschriftet: Serrah Ardacris. 292 Zwölf Faden!« Der Matrose holte das Lot ein und hielt sich bereit, es auf Befehl des Kapitäns wieder auszuwerfen. »Ab wann machen wir uns Sorgen wegen des Tiefgangs?«, fragte Serrah. »Ab einem Faden oder weniger«, entgegnete Cheross, »wenn wir Unebenheiten im Meeresgrund berücksichtigen. Die Strömungen sind in dieser Gegend besonders tückisch, deshalb kommen auch keine Schiffe hierher.« Er nickte dem Matrosen zu, noch einmal zu messen. Das Schiff befand sich in einem Gebiet, das mit kahlen Inseln besprenkelt war. Manche waren kaum mehr als nackte Felsblöcke, die aus dem eiskalten Wasser ragten. »Jetzt sind wir also da«, meinte Serrah an Caldason gewandt. »Wie finden wir, was wir suchen?« »Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung.« »Das überrascht mich aber.« »Zehn Faden!« »Es sollte allerdings möglich sein, die Suche durch Eliminierung etwas einzuengen.« »Was eliminieren wir denn?« »Es scheint einleuchtend, dass sich die Clepsydra nicht auf einem dieser winzigen Inselchen befindet.« 293 »Warum denn nicht? Wir wissen nicht, was die Clepsydra ist, ganz zu schweigen von der Gestalt, die sie annehmen könnte.« »Um das zu klären, müssen wir Mutmaßungen anstellen und überlegen, wo wir beginnen.« »Mutmaßungen?«, wiederholte sie spöttisch. »Acht Faden!«
»Nenne es plausible Annahmen, wenn du willst. Es gibt hier hunderte von Inseln. Wir können nicht alle absuchen. Daher konzentrieren wir uns auf die wahrscheinlichsten, und die Größe ist ein logischer Weg, sie zu sortieren.« »Das heißt aber doch, dass wir den ganzen Archipel nach Inseln in der richtigen Größe absuchen müssen. Allein das könnte schon Wochen dauern.« »Nein, nicht unbedingt. Ich habe auf den Karten, die Phönix mir gezeigt hat, etwas bemerkt, und der Kapitän kann es bestätigen. Rad?« »Es gibt eine alte Sage über diese Gegend«, erklärte Cheross. »Oder vielleicht keine richtige Sage, sondern eher eine Geschichte. Es heißt, zwei Götter hätten sich bekriegt, und einer von ihnen ... ich weiß nicht mehr, welcher es war, aber es spielt auch keine Rolle ... einer von ihnen nahm einen Berg und schleuderte ihn auf den anderen. Er verfehlte ihn aber, und der Berg fiel hier ins Meer. Da das Wasser flach ist, zerbarst der Berg, und seine Einzelteile wurden zu dieser Inselgruppe.« Serrah runzelte die Stirn. »Wie soll das ...« »Wenn du dir die Karten anschaust«, meinte Caldason, »dann sieht es tatsächlich so aus, als sei ein großer Fels vom Himmel gefallen, von dem die Stücke abgesprungen sind. Die größten Inseln liegen im Zentrum der Inselgruppe. Die meisten jedenfalls. Nach außen hin werden die Inseln immer kleiner. Deshalb fahren wir zuerst ins Zentrum, und da die ganze Inselgruppe recht geschlossen ist, dürfte es nicht lange dauern.« 294 »Und wie lautet deine Definition einer großen Insel, da wir ja nichts über die Clepsydra wissen? Wie groß ist groß genug?« »Einige der größeren Inseln besitzen eine Vegetation und haben Süßwasserquellen. Das könnte ein Hinweis sein, wo wir nachschauen sollten. Wir werden aber eine Mindestgröße festlegen. Sagen wir mal ... die Inseln müssen so groß sein wie ein kleines Dorf.« »Wie viele fallen in diese Kategorie?« »Vierzig oder fünfzig«, schätzte Cheross. »Vielleicht mehr.« »Das ist doch lächerlich«, wandte Serrah ein. »Wie können wir das weiter eingrenzen?« »Ich hoffe, dass Kutchs Aufklärergabe uns hilft«, entgegnete Caldason. »Fünf Faden!« »So sieht also der Plan aus? Wir suchen nach dem größten Felsen und hoffen, dass der Junge das Rätsel lösen kann?« »Mehr haben wir nicht. Abgesehen von dem hier.« Er tippte sich an die Stirn. »Ich will ja Eure Sorgen nicht noch vergrößern«, unterbrach Cheross. »Aber schaut mal nach oben. Da braut sich ein Sturm zusammen. Es dürfte eine unruhige Fahrt werden.« Der Regen prasselte aus dem Nachthimmel nieder. Das Schiff rollte und stampfte. Aber sie kamen voran und schlichen durch das Gewirr der Inseln. Caldason, Serrah und Kutch hatten sich unter der überstehenden Brücke versammelt und auf Kisten niedergelassen. Sie trugen Pelze und Kapuzen, um Kälte und Regen abzuhalten. Über das schräge Deck polterte eine Wasserflasche. Caldason hielt sie mit dem Stiefel fest. Er sah blinzelnd in den Dunst hinaus. »Die Felsen werden endlich größer.« 295 Serrah stopfte sich eine nasse Haarsträhne unter die Kapuze. »Das will ich doch hoffen, nachdem wir einen Tag und die halbe Nacht gefahren sind.« »Ruht euch aus, ihr zwei. Ihr müsst nicht hier bleiben.« »Ich dachte, wir sind nicht mehr weit vom Zentrum entfernt«, sagte Kutch. »Das ist richtig. Aber wegen des schlechten Wetters können wir nur noch schleichen.« »Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile«, beschloss Serrah. »Ich auch«, stimmte Kutch zu. »Wie ihr wollt.« Ein Augenblick verging in feuchter Stille. »Reeth ...«, sagte Kutch nach einer Weile. »Ja?« »Ich glaube ... ich glaube, ich kann etwas spüren.« Serrah und Caldason richteten sich auf, die Müdigkeit war wie weggeblasen. »Was denn?«, wollte Serrah wissen. »Nichts Bestimmtes, und zuerst war ich auch nicht sicher. Aber ... ich spüre eine Zunahme der magischen Entladungen. Wie kleine Nadelstiche.« Er grinste sie unsicher an. Serrah legte ihm eine Hand auf den Arm. »Stärker als das Hintergrundrauschen, das du sonst wahrnimmst?« »Oh, ja. Viel stärker.« »Könntest du nicht einen von Phönix' Erkundungssprüchen wirken?«, schlug Caldason vor. »Ich glaube, das ist nicht nötig. Andererseits könnte das bei der Ortsbestimmung helfen.« »Versuch es lieber«, sagte Serrah. »Können wir irgendetwas tun?« »Nein. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.« Er wollte aufstehen.
Sie hielt ihn am Arm fest. »Kutch, bist du deiner Sache sicher?« 296 »Ziemlich. Auf jeden Fall ist da etwas im Gange. Lasst es mich überprüfen.« Er duckte sich und eilte mit gesenktem Kopf im Regen übers Deck. Die Morgendämmerung begann. Der Rand der Sonne lugte über den Horizont und färbte ihn kirschrot. »Vielleicht dauert es doch nicht so lange, wie wir dachten«, bemerkte Caldason. »Du musst vorsichtig mit dem Jungen umgehen, Reeth«, ermahnte Serrah ihn streng. »Du musst aufpassen, dass ihm nichts passiert.« »Glaubst du wirklich, ich bringe ihn in Gefahr, wenn ich es irgendwie vermeiden kann?«, fragte er pikiert. »Wenn du es vermeiden kannst, nein. Aber wir haben keine Ahnung, womit wir es zu tun haben. Wer weiß schon, wie die Quelle bewacht wird?« »Es war nicht meine Idee, Kutch auf diese Reise mitzunehmen. Oder dich, da wir schon einmal dabei sind. Aber jetzt seid ihr beiden da, und ich will alles in meinen Kräften Stehende tun, damit euch nichts zustößt.« »Ich kann selbst auf mich aufpassen, vielen Dank.« »Könntest du dann auch gleich auf mich aufpassen?« Sie lächelte. »Blödmann.« Leise sprach sie weiter. »Ich weiß natürlich, dass du Kutch nicht bewusst in Gefahr bringst. Entschuldige.« Er nahm sie in den Arm. »Schon gut. Wir sind alle sehr angespannt.« »Er ist nur so jung und verletzlich. Wenn ich ihn ansehe, dann muss ich immer ...« Er musste es für sie aussprechen. »Du denkst an Eithne.« Sie nickte. »Ich habe sie im Stich gelassen. Ich will nicht das Gleiche noch einmal mit Kutch tun.« »Du hast sie nicht im Stich gelassen. Vergiss endlich all die Schuldgefühle, du kannst sie nicht ewig mit dir herumschleppen.« »Das ist ein eigenartiger Ratschlag von einem Mann, 297 der selbst so viel mit sich herumschleppt«, erwiderte sie sanft. »Uns beiden hängt die Vergangenheit wie ein Mühlstein am Hals. Was wir suchen, könnte uns helfen, sie abzuwerfen.'« »Setze nicht zu viele Hoffnungen in die Quelle, Reeth. Es besteht die Möglichkeit, dass du enttäuscht wirst.« »Dann bin ich nicht schlechter dran als jetzt. Sogar besser. Ich habe ja dich.« Er wollte sie auf die Wange küssen, doch sie drehte sich zu ihm und presste ihre Lippen auf seine. Schließlich sagte sie: »Glaubst du, wir haben Aussichten, die Clepsydra zu finden?« »Ich wäre nicht aufgebrochen, wenn ich das nicht glaubte. Ich muss aber zugeben, dass es eine sehr dünne Aussicht ist.« »Rechnest du damit, dass sie bewacht wird?« »Davon müssen wir ausgehen. Aber das weißt du doch alles schon, Serrah. Was soll die Inquisition?« »Ob du es glaubst oder nicht, ich möchte gern verstehen, worauf ich mich einlasse.« Sie hielt inne. »Und ich glaube, ich will überzeugt werden. Nein. Ich will Sicherheit. Ich will sicher sein, dass wir etwas Vernünftiges tun.« »Ich weiß nicht, ob ich dazu der Richtige bin. Ich glaube aber, es ist so vernünftig wie alles andere, was wir getan haben.« »Das will nun nicht gerade viel heißen, Reeth.« »Nein«, stimmte er zu. »Wohl nicht.« Sie lachten. Das Schiff fuhr langsam weiter, der Regen ließ allmählich nach. Die Morgendämmerung machte jetzt Ernst, auch wenn ihr Licht trostlos war. Die Inseln waren hier größer und erhoben sich als dunkle Umrisse aus dem gefährlichen Gewässer. Kutch kam zu ihnen geeilt, sein Atem stand als weißer Dampf vor seinem Mund. »Hast du etwas herausgefunden?«, fragte Caldason. »Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, mehr als zwei 298 Sprüche zu wirken, aber sie haben bestätigt, dass hier eine starke Magie existiert.« »Kannst du die Richtung angeben, aus der sie kommt?« »Das lässt sich nicht genau bestimmen. Die Atmosphäre ist derart gesättigt, dass nicht einmal ein sehr raffinierter Zauber die Richtung festlegen könnte.« »Ist es nicht logisch, dass der Ursprung der Magie im Zentrum der Inselgruppe liegen muss?« »Mit Logik kommen wir hier nicht unbedingt weiter. Die Magie könnte ebenso gut aus den Randgebieten wie aus dem Herzen kommen. Es könnte ein winziger Flecken Land oder eine der größten Inseln sein. Es könnte sogar von einer Reihe von Inseln gleichzeitig kommen. Die Größe und der Ort spielen eigentlich keine Rolle.
Das Wesen der Magie ist hingegen von Bedeutung. Nachdem ich dies also ...« »Du glaubst aber doch, dass sie aus dem Kern kommt?« »Ja.« »Ich auch.« »Ich spüre es«, sagte Kutch. »Worauf gründet sich dein Gefühl?« Caldason zuckte mit den Achseln. »Es ist nur so eine Ahnung.« Serrah starrte die beiden nachdenklich an. »Wollen wir im Zentrum beginnen und uns nach außen vorarbeiten?«, fragte Kutch. »Klingt wie ein guter Plan.« Gheross kam zu ihnen. Er war nass und müde wie alle anderen. »Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis wir die innere Inselgruppe erreichen«, sagte er. »Ihr solltet versuchen, etwas Schlaf zu bekommen.« Weniger als zwei Stunden später versammelten sie sich, kaum erholt, wieder im Bug. Das Morgenlicht war hier im Norden grau, und die Luft war erbärmlich kalt. Wenigstens regnete es nicht mehr. 299 Das Schiff hatte vor einer Insel geankert. Sie hatte schroffe Klippen und Gipfel aus Granit, und man konnte ein Stück Kiesstrand sehen. »Haben sie eigentlich Namen?«, fragte Serrah. »Die Inseln?«, antwortete Cheross. »Nicht, dass ich wüsste.« »Ich frage mich, ob die Gründer ihnen überhaupt Namen gegeben haben«, überlegte Kutch. »Warum hätten sie das nicht tun sollen?«, entgegnete Caldason. »Manche Gelehrten glauben, sie hätten eine Kultur entwickelt, die über die Worte und Bilder, wie wir sie verstehen, weit hinausgegangen sei. Vielleicht haben es die Gründer nicht für nötig gehalten, die Welt auf die Art zu benennen, wie wir es getan haben.« Cheross schüttelte den Kopf. »Eine Welt ohne Namen? Das wäre das Chaos.« »Sie hatten einen anderen Blickwinkel, der nicht dem unseren entspricht.« Serrah schaltete sich ein. »Das Wort >Clepsydra< ist aber doch ein Name, oder?« »Das schon, aber wir wissen nicht, ob die Gründer ihn geprägt haben«, erklärte Kutch. »Es gibt in unserer Sprache nur sehr wenige Worte, die wir von ihnen geerbt haben, und selbst die sind strittig.« »Was willst du damit sagen? Dass sie keine Worte gehabt hätten? Cheross hat Recht, das wäre das Chaos.« »Nicht unbedingt für die Gründer selbst. Wie auch immer, ich sage ja nicht, dass sie überhaupt keine Namen verwendet haben. Vielleicht haben sie nur das benannt, was ihnen besonders wichtig war. Die wenigen Beweise, die sie hinterlassen haben, die Fragmente ihres Wissens, scheinen das zu bestätigen.« »Wie sehen denn die Beweise aus, die sie hinterlassen haben?« 300 »Nun ja, sie sind nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Diese Bruchstücke, mehr haben wir ja nicht, wurden im Lauf der Jahrhunderte viele Male kopiert. Wir haben sie auf Papier notiert, wissen aber nicht, welche Form sie ursprünglich hatten. Was die Sprache angeht ... also, Sprache kann man es eigentlich nicht nennen. Die Schriften der Gründer sind eine Mischung aus Symbolen, mathematischen Andeutungen und ... und magischem Zeugs.« »Dein korrekter Umgang mit den treffenden Begriffen würde Phönix sicher mit Stolz erfüllen.« Sie lachten alle, auch wenn es ein wenig gezwungen klang. Kutch bekam ein rotes Gesicht. »Ich wollte nur niemanden langweilen.« »Schon gut«, hauchte Serrah freundlich. »Die Gründer hatten möglicherweise keine Namen für diese Inseln«, warf Caldason ein, »aber sie haben vielleicht etwas anderes hinterlassen.« »Sprengfallen zum Beispiel.« Serrah wurde schlagartig wieder ernst. Caldason nickte. »Wenn die Beute so wichtig ist, wie viele Leute glauben, dann ist sie bewacht. Die Frage ist nur, wie sie bewacht wird.« »Mit Magie«, bemerkte Kutch sofort. »Vergiss nicht, dass wir über die Gründer reden.« »Welche Form könnte dieser Schutz annehmen?« »Wer weiß das schon?« »Ob er nach so langer Zeit überhaupt noch wirkt?«, fragte Serrah. »Diese Fragen kann ich nicht beantworten«, räumte Kutch ein. »Ich kann nur versuchen, feindselige Magie aufzuspüren.« »Obwohl im Hintergrund diese andere Magie lärmt?« »Ich bin dazu ausgebildet worden, es herauszufiltern. 301 Außerdem ist diese Magie von einer ganz anderen Art. Die Struktur ist anders.« »Um wieder aufs Thema zurückzukommen«, sagte Cheross, »wir werden eine Rumpfmannschaft an Bord behalten und den größten Teil der Leute mit Euch an Land schicken.« »Vielen Dank«, entgegnete Caldason, »aber lieber nicht. Wir brauchen nur ein paar Leute, die uns da hinüberrudern.« »Aber es wäre doch sicher besser ...« »Ich will Eure Mannschaft nicht in noch größere Gefahr bringen. Da sie
keine Meistermagier sind und auch nicht über Kutchs Aufklärergabe verfügen, können sie nicht viel tun, um uns zu helfen. Was auch da draußen ist, Serrah, Kutch und ich werden es allein suchen.« »Jeder Mann an Bord würde Euch liebend gern begleiten.« »Ich weiß das, und wir sind dankbar dafür. Wenn wir jemanden brauchen, kommen wir darauf zurück - und sobald wir sicher sind, dass keine Gefahr mehr droht. Zuerst wollen wir das Risiko aber allein eingehen.« »Seid Ihr sicher, dass dies die richtige Insel ist?« Der Kapitän nickte zum hoch aufragenden Felsen hin. »Völlige Sicherheit gibt es nicht«, erwiderte Kutch, »aber hier scheint die Magie am stärksten zu sein.« »Wir wollen uns nichts vormachen«, warnte Serrah. »Die erste Insel, wo wir an Land gehen, und die offensichtlichste dazu? So einfach kann das doch nicht sein.« »Irgendwo müssen wir ja anfangen«, erklärte Caldason. »Und ich habe so eine Ahnung, was diese Insel angeht.« Sie sah ihn neugierig an, sagte aber nichts. »Ich werde veranlassen, dass Ihr sofort übergesetzt werdet«, kündigte Cheross an. »Wenn Ihr das Boot verlassen habt, wird es einige Stunden warten. Solltet Ihr uns danach noch brauchen, werden wir auf Euer Signal hin kommen. Falls wir innerhalb zwölf Stunden nichts von Euch gehört haben, segelt dieses Schiff zur Diamantinsel zurück.« 302 Caldason nickte. »In Ordnung.« »Dann lasst uns anfangen.« Cheross drehte sich um und gab die Befehle. »Alles klar, ihr zwei?«, fragte Caldason leise. »Mir geht's gut«, sagte Serrah. »Ich bin ziemlich aufgeregt«, gab Kutch zu. Die Mannschaft machte sich an die verschiedenen Aufgaben, und der Lärm an Bord nahm zu. »Es wäre nicht schlecht, wenn wir noch einige Waffen mitnähmen«, schlug Caldason vor. »Gegen die Magie?«, fragte Serrah. »Das ist vielleicht nicht alles, worauf wir stoßen.« »Ich habe einen Satz Wurfmesser, dazu meine beiden gewohnten Klingen. Wenn das nicht reicht, dann reicht überhaupt nichts.« »Kutch? Kann ich dich überreden, eine Waffe zu tragen?« »Ich habe schon eine, Reeth.« Der Bursche griff in sein Lederwams und zog einen Dolch hervor. »Erinnerst du dich daran, Serrah? Du hast ihn mir gegeben, als wir aus Bhealfa geflohen sind.« »Den hatte ich ganz vergessen. Gott sei Dank musstest du ihn an diesem Tag nicht benutzen. Aber bereite dich darauf vor.« »Ich weiß nicht, ob ich es könnte. Ich verlasse mich lieber auf die Kunst.« »Die Magie ist nicht allmächtig. Manchmal braucht es Stahl.« Sie wandte sich an Caldason. »Wie sieht es mit Vorräten aus? Wollen wir uns damit belasten?« »Wasserbehälter und ein paar Notrationen. Es ist sinnlos, viel mehr als das mitzunehmen.« »Du rechnest nicht damit, dass wir lange auf der Insel sind?« »Entweder es geht schnell, oder wir sind tot. Wie auch immer, es ist sinnlos, uns zu belasten.« Sie wurden gerufen. Das Boot war schon zu Wasser ge303 lassen, und die acht Ruderer warteten auf sie. Caldason führte Serrah und Kutch zur Reling, wo sie Wasserschläuche in Empfang nahmen. Dann stiegen sie über Strickleitern zum schwankenden Boot hinunter. Die Überfahrt war kurz, die See hatte sich wieder beruhigt. Doch sie standen unter großer Spannung, weil sie mit einem Hinterhalt oder mit Fallen rechneten. Die Insel war zwar die größte der Gruppe, aber immer noch klein zu nennen. Serrah, die in der Stadt aufgewachsen war, hätte gesagt, dass sie etwa die Größe von neun oder zehn Häuserblocks hätte. Kutch hätte es in ebenso vielen urbaren Feldern ausgedrückt. Caldason konnte die Größe in drei guten Speerwurfweiten messen. An einem Ende der Insel gab es Klippen, im Innern einige bescheidene Felsgipfel. Im Grunde aber war die Insel flach, und das Ufer bestand zum größten Teil aus Kiesstränden. Sie landeten ohne Zwischenfall, bedankten sich bei den Ruderern und ließen sie am Strand zurück. Caldason, Serrah und Kutch spürten die Blicke der Matrosen im Rücken, als sie aufbrachen. Außer Hörweite der Männer sagte Kutch: »Die Magie ... ich kann sie spüren. Sie ist sehr stark.« Serrah warf ihm einen besorgten Blick zu. »Kannst du denn weitergehen?« »Ja. Ja, das ist kein Problem.« Sie erreichten das obere Ende des Strandes. Hinter einem Hügelkamm, den die nervösen Ruderer vom Strand aus nicht überblicken konnten, lag eine mit Büschen bewachsene Ebene. »Wohin gehen wir?«, fragte Serrah. Reeth und Kutch deuteten gleichzeitig und ohne jede Unsicherheit nach Norden ins Innere der Insel. »Tja«, sagte sie, »das scheint dann wohl ziemlich klar zu sein.« 304 »Da kommt die Magie her«, erklärte Kutch. Caldason sagte überhaupt nichts.
Nach einer Weile liefen sie nicht mehr durch Büsche, sondern über Gras, und einzelne Büsche und Bäume waren zu sehen. »Kaum zu glauben, dass sich die Pflanzen an so einem Ort halten können«, bemerkte Serrah. »Das liegt an der Magie«, erklärte Kutch. »Durch die Inseln laufen sehr starke Energiekanäle. Sie bringen Fruchtbarkeit, und dies besonders dort, wo sich zwei oder noch mehr kreuzen. Ist dir nicht aufgefallen, wie mild es hier ist?« »Jetzt, da du es sagst...« »Was ist das da?«, unterbrach sie Caldason. Im Unterholz waren weiße Steinbrocken zu sehen. »Das könnte ein Weg sein«, überlegte Serrah. »Es sind die Überreste einer Straße«, bestätigte Kutch, »und sie scheint wirklich alt zu sein. Was für ein Stein ist das?« »Es ist eine Sorte, die ich noch nie gesehen habe«, erwiderte Serrah, während sie mit der Fußspitze einen Brocken aus dem Boden lockerte. »Wenn das eine Straße ist, dann scheint sie genau hier zu beginnen, und sie führt in die Richtung, in die wir uns bewegen.« Sie folgten ihr. Die Landschaft wurde sogar noch grüner und die Luft wärmer. Seltsamerweise trugen die Bäume Blätter, und es gab eine Unmenge an wilden Blumen, die so gar nicht zur Jahreszeit passen wollten. Schließlich sahen sie, wohin die Straße führte. Sie endete vor einem hohen Felsen, in dem sich eine Öffnung befand. Es war kein natürlicher Riss von der Art eines Höhleneingangs, sondern ein ausgeschnittener Eingang, der groß genug war, um mit einem Fuhrwerk hindurchzufahren. Falls es jemals Türen gegeben hatte, dann waren sie längst verrottet. Rings um den Felsen lagen Trümmer. Reeth und die an305 deren beiden konnten umgestürzte Säulen, geborstene Sockel und möglicherweise die Überreste eines Steinbogens erkennen. »Das sieht aus wie der Eingang eines Tempels«, sagte Serrah. »Es ist nicht gerade ein Ort, an dem man etwas versteckt«, stimmte Caldason zu. »Fehlt nur noch ein Hinweisschild.« »Vielleicht sollte das, was sich dort befindet, überhaupt nicht versteckt werden«, überlegte Kutch. »Was meinst du damit?« »Wir haben angenommen, die Clepsydra und die Quelle seien absichtlich versteckt worden. Aber vielleicht wurden sie gar nicht versteckt, sondern eher ... zurückgelassen. Aufgegeben.« Serrah hatte Zweifel. »Und niemand ist hergekommen und hat es gefunden?« »Was ist denn, wenn wir die Einzigen sind, die es sehen können?« »Das ist doch Unsinn, Kutch. Ich bin kein Aufklärer, und Reeth ist auch keiner.« »Vergiss meine Aufklärerbegabung. Nimm doch mal an, die Tatsache, dass wir diesen Ort sehen können, ist ein Teil der Gründermagie.« »Das verstehe ich nicht.« »Vielleicht sollten wir es finden.« »Wie kann das sein?« »Wie ich schon sagte, sie haben nicht wie wir gedacht.« »Das sind voreilige Schlussfolgerungen«, sagte Caldason. »Serrah könnte Recht haben. Es ist möglich, dass jemand vor uns hier war. Lass es uns überprüfen.« Sie standen vor dem Eingang. Im Innern war es stockdunkel. Kutch und Serrah nahmen kleine Leuchtkugeln aus den Taschen. Caldason musste verschiedene Taschen abklopfen, ehe er eine fand. Dann traten sie ein. 306 Muffige Luft schlug ihnen entgegen. Uralter Staub. Nach zwanzig oder dreißig Schritten erreichten sie eine breite Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führte. Mit der Hand am Griff ihrer Klingen stiegen sie vorsichtig hinunter. Hundertfünfzig Schritte tiefer ging es geradeaus weiter. Vor ihnen erhob sich eine Mauer, die nicht ganz bis zur Decke reichte. Links und rechts gab es zwei Durchgänge ohne Türen. »Welchen nehmen wir?«, fragte Caldason. »Hilf mir mal rauf«, bat Serrah. Er formte mit den Händen einen Tritt. Sie ließ sich bis zur Mauerkante heben und spähte mit der magischen Leuchtkugel in der Hand über die Barriere. Sie sah weitere Wände und im Zickzack verlaufende Wege. »Es ist ein Labyrinth.« »Wie groß?«, fragte Caldason. »Ich kann das Ende nicht sehen. Es ist zu weit entfernt, und es ist dunkel. Aber ganz hinten ...« »Ja?« »Da leuchtet etwas. Mehr kann ich nicht erkennen. Pass auf, ich komme wieder runter.« »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Caldason. »Wenn es da drinnen Fallen gibt oder ...« »Entschuldige«, unterbrach Kutch. »Wir ziehen schon wieder voreilige Schlussfolgerungen. Es sieht aus, als sei dies ein öffentliches Gebäude gewesen. Eine Gedenkstätte oder so etwas. Keine geheime Anlage, die verteidigt werden musste. Weißt du, wofür Labyrinthe stehen? Für den Weg zur Erleuchtung. Eine Landkarte für die
höheren Bewusstseinszustände. Es ist eine symbolische Reise, keine Falle und keine Barriere.« »Was schlägst du vor?« »Ich sage ja nicht, dass wir nicht auf Ärger gefasst sein sollen. Aber wir sollten so gehen, wie die Gründer gegan307 gen wären. Als Pilger oder Anwärter, oder wie sie sich auch gesehen haben, als sie hierher kamen.« »Dann gehen wir einfach los?«, fragte Serrah. »Gibt es da eine bestimmte Technik?« »In Labyrinthen ist es üblich, auf dem Hinweg links abzubiegen und auf dem Rückweg rechts.« »Das kommt mir mehr als unsinnig vor.« »Es ist so gut wie alle anderen Ideen«, beschloss Caldason. »Also gehen wir durch die ... durch die linke Tür?« »Durch die rechte«, sagte Kutch. »Denk drüber nach.« »Das versuchte ich gerade zu vermeiden«, gab Serrah zurück. »Davon tut mir der Kopf weh.« Caldason ging als Erster, Serrah bildete die Nachhut, und so konnte Kutch sicher zwischen ihnen laufen. Meist waren die Gänge aber breit genug, um nebeneinander herzugehen. Der Schein ihrer magischen Kugeln beleuchtete die Wände, den Boden und die Decke, die einförmig grau und fugenlos schienen. »Sie ist so glatt«, murmelte Serrah, während sie mit den Fingern über die Wand strich. »Was ist das?« Caldason schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber obwohl das Gestein so glatt ist, gibt es Reibung. Habt ihr bemerkt, dass der Boden abschüssig ist, ohne dass wir hinabrutschen?« »Ich habe es bemerkt«, erwiderte Kutch. »Es geht hinab. Und es wird viel wärmer.« »Wie fühlt sich die Magie für dich an?«, fragte Serrah ihn. »Sie ist... bedrückend. Es wird eindeutig stärker.« Sie bogen erneut nach links ab. »Bilde ich es mir nur ein, oder wird es da vorn heller?«, fragte Serrah. Kutch wischte sich mit dem Handrücken die schweißnasse Stirn ab. »Wir sind jetzt viel näher dran.« 308 »Sch-scht!« Caldason hob einen Finger an die Lippen. »Hört ihr das?« Serrah lauschte angestrengt. »Da ist etwas.« »Was meint ihr? Fließendes Wasser?« »Nein. Es ist zu ... zu glitschig.« Sie gingen weiter. Das Licht wurde heller, die Luft wurde heißer. Sie bogen ab, bogen noch einmal ab und bogen ein letztes Mal ab. Abrupt endete das Labyrinth. Sie standen vor einer Wand. Sie hatte nur einen Durchgang, der demjenigen ähnelte, durch den sie gekommen waren. Dahinter brannte Licht, es gab unbestimmbare Geräusche, und sie spürten die Aura eines Ehrfurcht gebietenden Wesens. Alle wussten es. Sie spürten es. Caldason ging mit gezogenem Schwert weiter. Serrah folgte seinem Beispiel. Sie warf einen Blick zu Kutch, sah seinen Gesichtsausdruck und blieb stehen. Lächelnd steckte sie ihre Leuchtkugel weg und gab ihm die Hand. Er nahm sie, drückte kräftig, und dann folgten sie Reeth. Eine Sekunde lang zögerten die drei an der Schwelle. Dann traten sie hindurch. 309 Der Knochentempel am Ende der Welt. Gazalls Brücke über das Tal der Tränen. Die fünf noch stehenden Türme von Akhom-Behtz. Die Statuen von Crae und Fornarr am Drachenberg. Sie alle jagten dem Betrachter Schauer über den Rücken, weil sie so gewaltig waren, und etwas Gewaltiges ist immer einschüchternd. Hauptsächlich aber war ihr hohes Alter beunruhigend. Es hatte damit zu tun, dass sie Äonen überdauert und unzählige Sterbliche überlebt hatten. Als zögen sie wie Vampire die Lebenskraft kurzlebiger Geschöpfe in sich hinein, um ihre monolithische Existenz zu verlängern. Es war, als tränken sie den Abfall der Äonen. Jede vom Wind verwehte Hautschuppe und jedes ausgefallene Haar eines Menschen. Jedes Tröpfchen von Schweiß oder vergossenem Blut. Sie nahmen es in sich auf. Kutch, Serrah und Caldason spürten diese Furcht. Sie kannten die Schrecken, die von unermesslich alten, gigantischen Anlagen ausging. Verstärkt wurde das Gefühl noch durch die Tatsache, dass der Anblick, den sie nun vor sich hatten, unendlich fremd war. So groß die Höhle auch war, ein einzelner Artefakt dominierte den Raum. Er hatte die Größe eines Berggipfels, und er schien aus gewachsenem Stein und einer Vielzahl 310 anderer Materialien geformt zu sein, darunter Stahl, Quarz, Zink, Keramik und sogar Gold. Die mächtige, breite Frontpartie des Bauwerks war mit unbekannten Symbolen in lebhaften Farben geschmückt, die ihre Leuchtkraft trotz des ungeheuren Alters nicht verloren hatten. Noch verblüffender war ein riesiger steinerner Zapfen, so dick wie ein ausgewachsener Baum und so lang wie eine Straße, der irgendwo weit droben befestigt war. Obwohl er stark an ein Pendel erinnerte, schien er
stillzustehen. Bei näherem Hinsehen zeigte sich allerdings, dass er sich bewegte, wenngleich unendlich langsam. Der Ausgangspunkt war hinten links, der Endpunkt seiner Bahn auf der rechten Seite. Ein grünes Zeichen markierte den Anfangspunkt, ein rotes das Ende. Die Spitze des Pendels hatte den Endpunkt fast erreicht. Die unmerkliche Bewegung ging mit einem tiefen, rhythmischen Pochen einher, das ihnen die Fußsohlen massierte. »Ich weiß nicht, wie ich mir die Clepsydra vorgestellt habe«, flüsterte Serrah, »aber ganz gewiss nicht so.« Von vorne betrachtet, sah das Relikt aus, als befinde es sich auf einer Insel. Dieser Eindruck entstand nicht zuletzt durch einen kleinen Bach, der zwischen zwei gegenüberliegenden Öffnungen an dessen Basis entlangfloss. Es war jedoch kein gewöhnlicher Wasserlauf. Die Flüssigkeit war Quecksilber. Er strömte auch nicht auf geradem Wege von einer Öffnung zur anderen; der silbrig glänzende Strom drang in die Clepsydra ein, so wie Wasser in eine Mühle fließt. Träge und zähflüssig, schmatzend und gluckernd glitt er in die kunstvoll geschlagenen Kanäle. »Kein Wunder, dass dies schon so lange steht«, sagte Kutch ehrfürchtig. »Es bezieht seine Kraft direkt aus der Quelle der Magie. Die Energie, die dazu nötig ist... Ich würde nicht zu nahe herangehen, Reeth! Diese Energie ist wirklich gefährlich.« 311 Caldason antwortete nicht. Er war tief in Gedanken. »Reeth?« Serrah trat zu dem Qalochier und schüttelte ihn am Arm. »Reeth!« Er kam wieder zu sich. »Was ist denn?« »Du warst weggetreten.« Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. »Es ist warm hier unten, und die Magie ...« »Sie ist ziemlich überwältigend«, stimmte Kutch zu. »Ich spüre nur die Hitze«, sagte Serrah. »Hier.« Sie reichte Caldason ihren Wasserschlauch. Er trank ausgiebig und schien sich danach besser zu fühlen. Dann wandte er sich an Kutch. »Was meinst du? Was ist das hier?« »Ich glaube, die Gelehrten hatten Recht. Es ist ein Zeitmesser.« »Was misst er denn?«, wollte Serrah wissen. »Stunden? Tage?« »Du musst in größeren Maßstäben denken.« Er blickte zu der Vorrichtung hinauf. »Schau dir nur die Zeichen an.« »Kannst du sie denn lesen?« »Die meisten nicht. Aber ein oder zwei von ihnen finden sich auch in den überlieferten Fragmenten der Gründer, und wir glauben ihre Bedeutung zu kennen.« Er deutete nach links. »Seht ihr das dort? Am Anfang der Bahn des Pendels?« »Das Zeichen, das aussieht wie die Zahl Acht mit einem Fleischerhaken in der Öse?« »Ja, das grüne Symbol. Es bedeutet... nun ja, es hat verschiedene Bedeutungen, aber vor allem steht es für etwas wie Geburt oder Anfang. Eine Deutung ist der Same, die andere eine Quelle oder ein Brunnen.« »Also ist es nicht allzu schwer zu verstehen.« »Nein, es ist offensichtlich ein Anfangspunkt. Alle anderen Symbole, an denen das Pendel vorbeigezogen ist, dürften wichtige Stadien oder Ereignisse markieren.« 312 »Ereignisse in welchem Zusammenhang? Im Leben eines Menschen?« Caldason hatte die ganze Zeit schweigend zugesehen. Jetzt sagte er: »In unser aller Leben.« »Was meinst du damit?« »Kutch beginnt es zu verstehen, nicht wahr, Kutch?« Der Zauberlehrling nickte. Er war trotz der Wärme erbleicht. »Nun spannt mich nicht so auf die Folter«, beschwerte sich Serrah. »Was ist es denn?« »Das Zeichen ganz dort oben, das schwarze und orangefarbene«, erklärte Kutch zögernd, indem er auf ein Bild von der Größe eines Wagenrades deutete. »Es ist das Bildzeichen der Gründer für alles. Buchstäblich alles.« »Und alles bedeutet...« »Für die Gelehrten bedeutet es genau das, was du gehört hast. Alles und jedes. Die ganze Welt.« »Ich verstehe immer noch nicht...« »Schau nur, wo das Pendel jetzt gerade ist«, sagte Caldason. »Siehst du es? Wohin die Spitze des Pfeils zielt? Ich gehe jede Wette ein, dass ich weiß, was dieses Zeichen bedeutet.« »Es ist das Ende«, bestätigte Kutch. »Nicht unbedingt der Tod, weil die Gründer dafür offenbar kein eigenes Symbol hatten. Aber es bedeutet aufhören, zu Ende gehen, abschließen. Es ist ein Symbol, das wir immer in Verbindung mit der Vorstellung der Gründer von den Letzten Tagen sehen.« »Ach, wie schön«, rief Serrah. »Wir kommen her und suchen Hilfe und stellen fest, dass es mit der Welt zu Ende geht. Vorausgesetzt, die Gründer wussten überhaupt, wovon sie geredet haben.« »Sie waren ein außerordentlich klarsichtiges Volk«, erwiderte Kutch.
»Daraus folgt noch nicht, dass sie in jeder Hinsicht 313 Recht haben. Ich meine, wenn sie so klug waren, warum sind sie dann nicht mehr da?« »Ich denke, auch die Gründer waren nicht unfehlbar. Doch sie haben die fortschrittlichste Zivilisation aufgebaut, die es je auf der Welt gab. Gut möglich, dass sie hiermit richtig lagen.« Sie schniefte skeptisch und betrachtete das Pendel. »Was heißt das deiner Ansicht nach in unseren Zeitbegriffen? Wie viel Zeit haben wir noch?« »Diese Vorrichtung wurde gebaut, um Äonen zu messen. Wer kann das schon sagen? Jahrhunderte? Wochen?« »Eher Wochen als Jahrhunderte«, sagte Caldason. »Wie kommst du darauf?«, fragte Serrah. »Weil wir genau in diesem Augenblick hier angekommen sind.« »Das klingt aber für deine Begriffe sehr mystisch, Reeth.« »Es ... es fühlt sich richtig an.« Kutch nickte zustimmend. »Willst du damit sagen, dass unsere Ankunft hier irgendwie vorbestimmt war?«, bohrte sie. »Ich weiß selbst nicht, was ich damit sagen will. Es scheint nur so, als ob ... es scheint irgendwie genau zu passen.« »Es ist also eine glückliche Fügung, dass wir hier eintreffen, wenn es mit der Welt zu Ende geht?« »Wie du schon sagtest, vielleicht haben sie sich in dieser Hinsicht auch geirrt.« »Aber du glaubst, es wird etwas geschehen?« »Ich hoffe, wir finden die Quelle.« »Das hoffen wir alle. Deshalb sind wir ja hergekommen.« Sie sah sich in der riesigen Höhle um. »Aber wo ist sie denn nun?« Sie konnte nicht anders, ihre Stimme klang ein wenig abfällig. Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht kann Kutch mit seinem Aufklärertalent...« 314 »Ich glaube nicht«, gestand der Bursche. »Ich dachte, du wurdest dazu ausgebildet, verschiedene Dinge herauszufiltern«, sagte Serrah. »Das ist richtig. Aber dieser Ort hier ist so übersättigt mit Magie, dass es nicht funktioniert.« »Also haben wir keinen Plan.« »Doch, wir haben einen«, widersprach Caldason. »Den ältesten der Welt. Wir suchen.« »Wo denn?« »Diese Höhle ist sicher nicht alles, was es hier unten gibt.« Er nickte in Richtung der hinteren Felswand, die in tiefem Schatten lag. »Das soll mir nur recht sein. Das Ding jagt mir eine Gänsehaut ein, und ich bin froh, wenn ich davon wegkomme.« Sie kehrten dem schrecklichen, vibrierenden Relikt den Rücken und machten sich auf den Weg. Als sie sich der Wand näherten, aktivierten sie ihre Leuchtkugeln und konnten die Eingänge mehrerer Tunnel erkennen, die dunkler waren als das umgebende Zwielicht. »Welchen nehmen wir?«, fragte Kutch. »Wir könnten uns aufteilen«, schlug Serrah vor. Caldason schüttelte den Kopf. »Das wäre keine gute Idee.« »He«, sagte Kutch, »seht euch das mal an.« Er kratzte mit der Stiefelspitze über den staubigen Boden. »Das habe ich noch gar nicht bemerkt.« Serrah blickte nach unten. »Was ist das?« »Eine markierte Kraftlinie.« Er hatte den größten Teil eines dunkelblauen Streifens freigelegt, der auch nach einer Ewigkeit immer noch lebhaft glänzte. »Hier ist noch einer.« Serrah kratzte einen gelben Flecken frei. »Das überrascht mich nicht«, sagte Caldason. »Schließlich haben doch die Gründer diese Tradition ins Leben gerufen, nicht wahr, Kutch?« 315 »Hm, ja, das glaubt man.« Er war noch damit beschäftigt, den Schmutz zu entfernen. Nachdem sie eine Weile gescharrt hatten, waren ein halbes Dutzend oder mehr farbige Bänder freigelegt. Rot, grün, orange, purpurn liefen sie im Zickzack durch die Höhle und mündeten in die Clepsydra. »Mindestens drei laufen in diesen Tunnel hinein.« Kutch deutete auf eine Gangmündung. Caldason folgte seinem Blick. »Dann lasst uns in diese Richtung gehen.« »Das würde ich nicht gerade als systematische Suche bezeichnen«, protestierte Serrah. »Es ist verrückt, und das weißt du auch, Reeth.« »Hast du denn eine bessere Idee?« Die hatte sie nicht. Sie gingen zur Mündung des Ganges und hielten Leuchtkugeln und Waffen bereit. Der Eingang, für den sie sich entschieden hatten, war recht groß, er war breit und hoch genug, um unbeengt hindurchzuschreiten. Doch wohl war ihnen dabei nicht.
Nach einer Weile bog der Tunnel scharf nach rechts ab. Er war abschüssig; es ging sanft, aber stetig abwärts. Dann ging es wieder geradeaus, und nach hundert weiteren Schritten mündete der Gang erneut in eine Kammer. Auch diese war groß, aber bei weitem nicht so gewaltig wie die große Höhle weiter oben. Alles sah hier natürlich aus, ganz anders als die unbekannte Substanz, aus der das Labyrinth bestand. Stalagmiten und Stalaktiten starrten wie die Zähne von Schlangen, Steine waren zu kleinen Hügeln aufgetürmt, droben spannten sich Granitbögen. Aus allen Richtungen mündeten Gänge in die Höhle. Stellenweise erinnerte die Zeichnung der Wände an graue, gefrorene Wellen, als wäre das Gestein vor dem Aushärten geflossen. Die Luft roch muffig 316 »Ich frage mich, wie groß die Höhlen sind«, sagte Serrah. »Es könnten Meilen sein«, überlegte Caldason. »Wie setzen wir unsere Suche jetzt fort?« Reeth wandte sich an Kutch. »Was sagen dir deine Sinne jetzt?« »Die Magie ist hier weniger bedrückend, aber ich fühle mich immer noch, als hätte ich mir eine Decke über den Kopf gezogen. Nur ...« »Was?« »Da drüben scheint es etwas schwächer zu werden.« Er nickte in eine Richtung. »Also gut, dann kommt.« Serrah hielt ihn am Arm fest. »Sollten wir wirklich dorthin gehen, wo es schwächer wird?« »Wir gehen dorthin, wo es sich ändert. Mehr haben wir im Augenblick nicht.« Sie wanderten schweigend neben ihm in die Richtung, in die Kutch gezeigt hatte. Während sie über den unebenen Boden liefen, wurde ihnen bewusst, wie feucht die reglose Luft war. Dann blieb Caldason stehen und hob eine Hand. »Spürt ihr das?« Ein kühler Wind wehte sanft aus einem Seitentunnel. Der Lufthauch strich über Serrahs Wange. »Dann gehen wir also jetzt in diese Richtung?« Der Gedanke missfiel ihr offensichtlich. »Ja, wir wollen unseren Ahnungen folgen.« »Du meinst wohl eher, wir folgen deinen Ahnungen, Reeth.« Sie drangen in den Tunnel ein. Er war schmal und gewunden und weckte Serrahs Angst vor engen Räumen. Schließlich öffnete er sich aber zu einer weiteren, recht großen Kammer, die der letzten nicht unähnlich war. »Wie viele wohl noch kommen mögen?«, fragte Kutch. Serrah hieß ihn schweigen. 317 Sie hörten ein Rauschen, und das Licht ihrer Leuchtkugeln ließ einen unterirdischen Fluss schimmern. Sie dachten, es sei abermals Quecksilber, doch es war Wasser, und es war trotz der schwülen Hitze kalt. Serrah kniete am Ufer nieder und schöpfte ein wenig Wasser mit der Hand. Es war brackig, und sie spuckte es wieder aus. »Was hast du erwartet?«, neckte Caldason sie. »Mit Honig gesüßten Wein?« Sie stand auf und sah sich um. »Es ist hoffnungslos, Reeth. Wir könnten hier unten ewig herumlaufen.« »Vielleicht sollten wir etwas methodischer vorgehen«, räumte er ein. »Es wäre sicher gut, wenn wir irgendein System hätten. Vielleicht könnten wir ...« Ein Geräusch ließ sie innehalten, dann bemerkte sie am Rande ihres Gesichtsfeldes eine Bewegung. Irgendetwas verschwand in einer Tunnelmündung. Caldason sah es auch. »Bleib bei Kutch!«, rief er und rannte los. »Den Teufel werde ich tun! Komm schon!« Sie rannte ihm hinterher und zerrte den Burschen mit. Caldason stürmte in den Tunnel, Serrah und Kutch folgten ihm dichtauf. Sie rannten Hals über Kopf durch Biegungen und an Abzweigungen vorbei. Ihre Schatten zeichneten sich riesig und grotesk an den zerklüfteten Wänden ab. Serrah hörte Kutch schwer atmend hinter sich laufen. Sie konnte ein Stück vor sich noch Reeths Rücken erkennen, doch er entfernte sich von ihnen. Sie verlor ihn aus den Augen. Caldason war nicht sicher, was er jagte. Es war eine geschmeidige Gestalt, die sich schnell bewegte. Nach der Gewandtheit zu urteilen, mit der sie durch die Tunnel lief, schien sie sich hier gut auszukennen. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, da hatte die Gestalt Pech. Sie stolperte, taumelte und stürzte. Er legte 318 noch etwas an Tempo zu und hoffte sie zu erreichen, bevor sie wieder auf die Beine kam. Es gab einen Zusammenprall, ein Gewirr von Gliedmaßen. Er rang und kämpfte mit einem wilden, entschlossenen Gegner. Mit jemandem, der kratzte und spuckte, der spitze Zähne und scharfe Fingernägel hatte. Und ein Gestrüpp von schwarzem Haar. Er hatte ein Mädchen gepackt. Zuerst hielt er sie für ein Kind, dann wurde ihm klar, dass sie jung, aber eindeutig eine Frau war. Schlank und offenbar halb verhungert. Sie hatte ein Messer, dessen gekrümmte Klinge er blitzen sah. Er packte ihr Handgelenk und hielt es fest. Sie war dünn, aber kräftig. Weiter hinten im Tunnel regte sich etwas. Caldason hielt das tobende Mädchen fest und schaute auf. Aus der
Dunkelheit näherte sich jemand und sagte etwas. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, doch das Mädchen gab nach. Sie ließ das Messer los und erschlaffte. Caldason bemerkte es kaum. Er konnte den Neuankömmling inzwischen deutlich sehen, und starrte ihn wie gebannt an. Serrah und Kutch trafen keuchend bei ihm ein. Sie hatte das Schwert gezogen, er seinen Dolch. »Was ist?«, sagte sie. »Wer ...« Caldason achtete nicht auf sie. Er starrte nur den Neuankömmling an. Er konnte sich nicht erinnern, ihm je begegnet zu sein, doch er kannte ihn gut. Er hatte ihn schon tausendmal gesehen. Es war der alte Mann aus seinen Träumen. 319 Ein Beobachter hätte sie für eine Figurengruppe im Wachsfigurenkabinett halten können. Dann sagte Serrah: »Was, zum Teufel, ist hier los, Reeth? Wer sind diese Leute?« Caldason schwieg. Der alte Mann machte einen zögernden Schritt, er schien bestürzt. »Reeth? Ist es möglich?« Caldason erhob sich langsam und ließ die Frau los, die er festgehalten hatte. Sie huschte davon, hob ihr Messer auf und lief zu dem alten Mann. Sie hatte Augen wie Blaubeeren und zottiges Haar und baute sich mit wachsam gehobener Klinge trotzig neben ihm auf. Sie war mager und schmutzig und mit braunen Lumpen bekleidet. Der alte Mann sah nicht besser aus, er trug zerlumpte, grob gewebte Sachen. Er hatte zahlreiche Leberflecken und einen weißen Bart. »Reeth?«, wiederholte er. »Bist du es wirklich?« »Erkennst du mich?«, flüsterte Caldason, der endlich seine Stimme wieder fand. Der alte Mann schob sanft den schützenden Arm des Mädchens fort und trat ins Licht. Seine Augen waren milchig und entstellt, er war offensichtlich blind. 320 »Mein Gott«, entfuhr es Kutch. »Es sind drei«, erklärte die junge Frau, die sie unverwandt anstarrte. Sie sprach ausschließlich mit dem alten Mann, als könnten die anderen sie nicht hören und verstehen. Ihre Stimme hatte trotz der heiseren Untertöne etwas überraschend Reines. »Danke«, antwortete er. An die anderen gewandt, fügte er hinzu: »Ihr müsst Wendah entschuldigen. Es ist lange her, dass wir hier Gesellschaft hatten.« Er machte wieder ein paar Schritte, bis Caldasons ausgestreckte Hand ihn aufhielt. »Darf ich?«, fragte er und nahm das Schweigen des Qalochiers als Zustimmung. Er hob die Hand zu Caldasons Gesicht und tastete mit den Fingern sachte dessen Linien ab. »Du bist es wirklich. Ich dachte ... ich fürchtete schon, du wärst tot.« Er umarmte ihn. Caldason antwortete linkisch: »Und ich hätte nie gedacht, dass du wirklich existierst.« Der alte Mann wich zurück, seine zerstörten Augen waren feucht. »Verwirrung über die Vergangenheit, Gedächtnislücken, das war zu erwarten nach allem, was du durchgemacht hast.« »Eine Sache, die ich weiß, ist, dass du immer gleich ausgesehen hast. Du bist keinen Tag gealtert. Was tust du hier? Und was ist mit deinen Augen passiert?« »Wir haben viel zu besprechen, Reeth. Viel zu erklären. Und deine Freunde, diese Leute, die du mitgebracht hast, sie müssen verwirrt sein.« »Jede Wette«, versicherte Serrah ihm. »Diese Freundin hier will beispielsweise wissen, worüber, zum Teufel, ihr zwei redet. Das beginnt schon mal mit der Frage, woher ihr euch kennt.« »Aus meinen Träumen«, erklärte Caldason ihr. »Aus - wie bitte?« Kutch und das Mädchen waren nicht weniger verblüfft. »Wie ich schon sagte«, unterbrach der alte Mann, »es 321 gibt viel zu erklären. Ich habe erwartet, dass jemand kommt und Antworten sucht.« »Wirklich?«, sagte Serrah. »Warum?« »In den letzten Jahren gab es Störungen in der Essenz, die die Clepsydra antreibt, und in der Anlage selbst. In den letzten Monaten sind sie stärker geworden. Es musste etwas geschehen.« »Gibt es irgendeinen anderen Ort, an dem wir darüber reden können?«, fragte sie. »Irgendwo außerhalb dieser Tunnel?« »Selbstverständlich.« Er wandte sich an das Mädchen. »Schon gut, Wendah.« Zielsicher fand er die Klinge, die sie hielt, und schob sie sanft zur Seite. »Wir müssen unsere Gäste so freundlich wie möglich empfangen.« Nach kurzem Zögern steckte sie das Messer weg und sagte: »Kommt mit, es ist nicht weit.« Er ging vor, eine Hand leicht auf die Schulter des Mädchens gelegt. Sie blickte zurück und runzelte die Stirn. Es schien Kutch, als wolle sie besonders ihn im Auge behalten. Die Prozession zog durch endlose Tunnel und verwirrende Biegungen und Windungen. Schließlich betraten sie eine Grotte mit niedriger Decke. Ein großer, raffiniert eingesetzter Stein verbarg den Eingang einer Höhle, durch den sie sich quetschten.
Die Höhle war geräumig und mit Kerzen und Öllampen erhellt. In diesem Licht konnten die Besucher ein geordnetes Chaos sehen. Nicht zusammenpassendes Bettzeug, Kisten, die als Möbel dienten. Langustenschalen als Teller, angeschlagene Töpfe. Ein primitiver Bogen lehnte in einer Ecke, daneben lagen ebenso einfache Pfeile. Treibholz und Reste, angepasst an die Notwendigkeit des Überlebens. »Unsere Behausung«, verkündete der alte Mann. »Mehr haben wir nicht. Macht es euch bequem.« »Wohnt ihr etwa hier?«, rief Kutch. 322 »Soweit man das wohnen nennen kann.« Der alte Mann schien atemlos. Er legte eine Hand auf seine Stirn und verzog das Gesicht. »Was ist denn?«, fragte Serrah besorgt. »Können wir etwas tun?« »Danke, nein. Ich bin ... ich habe ständig Beschwerden.« Das Mädchen, das immer noch misstrauisch die Besucher beäugte, half ihm zu einem Felsblock, der vage an einen Thron erinnerte. Er ließ sich mit einem erleichterten Seufzen auf den einfachen Sitz sinken. Sie holte eine gesprungene Tasse und goss aus einer Flasche etwas Wasser ein. Dann hockte sie sich aufmerksam neben ihn. »Macht es euch bequem«, sagte der alte Mann noch einmal. Er trank, seine Hände zitterten leicht. Kutch und Serrah hockten sich ins Durcheinander, Caldason setzte sich auf ein Fass. »Ich hätte nie gedacht ...«, begann der alte Mann. Er unterbrach sich und lächelte schmal. »Ich wollte sagen, ich hätte nie gedacht, dass wir uns einmal wieder sehen, Reeth. Nicht in dieser Welt. Es scheint so, als hätte ich damit Recht behalten.« Einen Augenblick schien er in Erinnerungen verloren. »Ich bin ein schlechter Gastgeber«, sagte er schließlich. »Es ist unhöflich, dass ich noch nicht einmal nach den Namen deiner Freunde gefragt habe.« »Nein«, erwiderte Galdason. »Niemand fühlt sich zurückgesetzt. Dies ist Serrah Ardacris, und das ist unser Freund Kutch Pirathon.« Das unser verriet dem alten Mann alles, was er über Reeths und Serrahs Beziehung wissen musste. »Wendah«, stellte er das Mädchen vor, dessen Arm er drückte, »meine Freundin und meine zuverlässige Gefährtin. Sie ersetzt mir in jeder Hinsicht die Augen. Sie ist seit ihrer Kindheit bei mir.« »Wie ist es dazu gekommen?«, fragte Serrah. »Sie war die einzige Überlebende eines Schiffsunglücks. 323 Die meisten Schiffe meiden diese Gegend, und viele, die hierher kommen, erleiden Schiffbruch. Alles, was ihr hier seht, wurde aus Wracks geborgen. Erinnerst du dich an meinen Namen, Reeth?«, fragte er unvermittelt. Die Frage traf den Qalochier völlig unvorbereitet, er konnte nur noch überrascht den Kopf schütteln. »Praltor Mahaganis«, half ihm der alte Mann. »Sagt dir das etwas?« »Nein. Oder ... nun ja, vielleicht. Ach, ich weiß nicht. Es tut mir Leid.« »Keine Sorge, die Erinnerungen werden schon wieder kommen.« »Wie könnt ihr hier überhaupt überleben?«, fragte Serrah. »Der Regen liefert uns das Trinkwasser. Die meisten Pflanzen, die an der Oberfläche wachsen, sind essbar, wenngleich nicht unbedingt eine Delikatesse, und wir fangen Fische. Hin und wieder bekommen wir sogar Geflügel. Wendah ist mit dem Bogen und der Schlinge ziemlich geschickt, aber sicher nicht mit dir zu vergleichen, Reeth. Und es gibt Strandgut und Treibgut, das wir durchsuchen können. Doch jetzt erzählt mir von euch. Wie seid ihr hergekommen?« »Die Quelle«, erklärte sie ihm. »Ah.« Falls die Antwort ihn irgendwie überraschte, so ließ er es sich nicht anmerken. »Warum sucht ihr danach?« »Sie ist möglicherweise unsere einzige Hoffnung. Wie viel wisst ihr über das, was da draußen in der Welt vor sich geht?« »Nicht viel. Wir sind schon lange hier.« »Der Widerstand hat es aufgegeben, gegen die Reiche eine Revolution in Gang zu bringen«, fasste Serrah zusammen, »und versucht, einen Freistaat aufzubauen. Der Plan wurde verraten und ist inzwischen fast gescheitert.« »Es gibt also einen organisierten Widerstand?« 324 »Wie lange bist du schon hier?« »Ungefähr seit Reeth erwachsen geworden ist.« »Und wie ist es dazu gekommen?« Caldason deutete auf die armselige Umgebung. »Du weißt nicht, was du bist, oder?«, fragte der alte Mann. »Nein, natürlich weißt du es nicht. Wir hätten es längst bemerkt, wenn es dir klar wäre.« Caldason war verblüfft. »Was, zum Teufel, redest du da?« Der alte Mann tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Woran erinnerst du dich? Ich meine jetzt deine Zeit mit mir.« »Es sind nicht so sehr Erinnerungen als ... als vielmehr Träume von dieser Zeit. Du hast mich in den Kriegskünsten ausgebildet und unterrichtet. Du hast mich darauf vorbereitet, dass ich überleben konnte. Ich
verdanke dir mein Leben.« »Das war das Mindeste, was ich tun konnte.« »Wie das?« »Ich stehe in deiner Schuld.« »Das kann nicht sein. Ich stehe in deiner Schuld.« »Vielleicht würdest du anders darüber denken, wenn dir die Wahrheit bekannt wäre?« »Welche Wahrheit?«, unterbrach Serrah gereizt. »Du machst ständig Andeutungen, aber ...« »Reeths Volk wurde von meinem massakriert«, erklärte Mahaganis unumwunden. »Ich glaube, das reicht aus als Schuld, oder?« Niemand sprach, bis Caldason als Erster seine Bestürzung überwand und wieder etwas sagen konnte. »Du sitzt schon viel zu lange hier fest«, sagte er leise. »Du machst dir etwas vor.« »Es ist keine Einbildung, Reeth, und es gibt keine freundliche Art, es zu sagen. Meine Leute haben versucht, die Deinen auszurotten. Ich hätte es dir schon längst erzählt, doch 325 wir wurden durch verschiedene Ereignisse voneinander getrennt.« Jegliche Farbe war aus Caldasons Gesicht gewichen. »Wenn es stimmt, was du sagst, dann bedeutet dies, dass du ...« »Er ist ein Paladin«, fiel Serrah ihm ins Wort. Mahaganis nickte. »Ich wurde als Mitglied der Clans geboren. Ich gehörte sogar zu den Anführern.« Caldason war aufgesprungen, seine Hand tastete nach dem Heft des Schwerts. Wendah schob sich zwischen ihn und den alten Mann und zog ihr Messer. Dann ging Serrah dazwischen, packte Caldasons Handgelenk und versuchte, ihn zu beruhigen. »Was soll das?«, fragte sie ihn. Er sah durch sie durch, und sie fürchtete schon, er werde zu toben beginnen. In diesem Fall wären sie alle ihm unterlegen. Auch Kutch bemühte sich, den Qalochier zu besänftigen. Langsam drangen sie zu ihm durch. »Der Reeth, den ich kenne, kämpft nicht gegen blinde Männer«, erinnerte Serrah ihn, »und auch nicht mit Mädchen.« Sie warf einen Blick zu Wendah, die ihre Verteidigungshaltung nicht aufgegeben hatte. »Schon gut.« Caldason riss sich zusammen. »Schon gut.« Sie führten ihn zu dem Fass zurück, auf dem er gesessen hatte, und das Mädchen zog sich zurück. »Ich kann es dir nicht vorwerfen, Reeth«, sagte Mahaganis. »Ich habe deinen Zorn verdient, nachdem mein Stamm dir dies angetan hat.« Caldason hob den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht.« »Ich weiß«, gab der alte Mann nicht unfreundlich zurück. »Also reden wir über die Tatsachen.« Er hielt inne und ordnete seine Gedanken. »So schwer es heute auch zu glauben ist, die Clans waren einst eine ehrenwerte Organisation. Sie waren stolz darauf, die Schwachen gegen die Räuber zu 326 verteidigen. Doch wie so viele in dieser Welt wurden sie korrumpiert.« »Du aber nicht.« »Ich habe mich dagegen gewendet, dass Verrat und Grausamkeit in ihren Reihen immer schlimmer wurden. Du darfst nicht vergessen, es war mein eigenes Volk. Mein eigenes Volk.« Verbitterung stieg wie Galle in ihm empor und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Was sie mit deinem Stamm getan haben und was sie dir antun wollten, brachte das Fass zum Überlaufen. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, dir zur Flucht zu verhelfen. Zur Strafe schickten sie mich hierher.« »Das war deine Strafe? Das Exil?« »Glaubst du denn, ich wäre freiwillig auf diese Insel gegangen?« »Warum haben sie dich nicht einfach umgebracht?«, fragte Kutch neugierig. »Um mich für meine Auflehnung leiden zu lassen. Mein hoher Rang war der zweite Grund. Die Clans verehren ihre Anführer.« »Das dürfte sich inzwischen ein wenig verändert haben«, meinte Serrah trocken. »Bei denen könnte mich keine Verderbtheit mehr überraschen«, stellte Mahaganis nüchtern fest. »Wie auch immer, ich wurde verbannt, und meine Fraktion wurde aufgelöst. Nachdem ich Reeth geholfen hatte, schnappten sie mich und brachten mich hierher, und ich hatte mich um ein verwaistes Kind und die Quelle zu kümmern.« »Also existiert sie.« Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Oh, ja.« »Wo ist sie?«, fragte Caldason, der wieder aufgestanden war. »Und was ist sie?« Der alte Mann hob beschwichtigend eine Hand. »An deiner Geduld musst du noch arbeiten, Reeth. Das war schon immer eine Tugend, die dir fehlte.« 327 »Die Quelle könnte entscheidend für das sein, was da draußen vor sich geht, Praltor. Sie könnte für eine Menge Leute, mich selbst eingeschlossen, die Rettung sein.« »Sie könnte auch dein Untergang sein.«
»Verweigere uns nicht die Möglichkeit, selbst darüber zu entscheiden.« »Das betrifft nicht nur dich. Es könnte gewaltige Nebenwirkungen geben. Ihre Macht ist... unaussprechlich groß. Ihre Nähe allein kann bereits verhängnisvoll sein.« »Ihr zwei habt anscheinend nicht sehr darunter gelitten.« »Meinst du? Na gut, Reeth. Wenn du sie unbedingt haben willst, dann nimm sie.« »Wo ist sie?«, fragte Serrah. »Wie können wir sie finden?« Kutch hatte schweigend zugeschaut. »Ich weiß es«, sagte er schließlich. »Wirklich?« »Ich kann es spüren.« Er nickte zum alten Mann hin. »Er ist es.« Caldason starrte ihn an. »Was?« »Der Junge hat eine feine Wahrnehmung«, bestätigte Mahaganis. »Willst du jetzt wieder dummes Zeug erzählen?«, fragte Serrah. »Denn wenn du das tust...« »Kutch fragte, warum meine Feinde in den Clans mich nicht einfach umgebracht und erledigt haben«, erinnerte Mahaganis sie. »Teilweise lag es an meinem Rang, doch dies allein ließe sie in einem allzu freundlichen Licht erscheinen. Sie haben mein Leben verschont, um mich weiter zu quälen.« »Was hat dein Leiden mit der Quelle zu tun?« »Was glaubst du denn, was die Quelle ist, Reeth? Eine Sammlung von Wissen, ja, aber welche Form hat sie? Ein Zauberbuch vielleicht? Eine ganze Bibliothek? Stapel von Papyrus oder Tontafeln? Im Laufe der Äonen, seit die 328 Gründer dieses Wissen sammelten, kann sie all dies gewesen sein. Doch zugleich ist sie etwas, das viel schwerer fassbar ist. Im Grunde ist die Quelle ein okkultes System, ein Gedanke. Eine Idee. Inzwischen glaube ich allerdings, dass sie noch etwas mehr ist als dies.« »Was denn?« »Die Quelle ist eine Art Verkörperung der Magie. Ich glaube, sie ist... intelligent.« »Das ist aber eine recht gewagte Schlussfolgerung«, antwortete Serrah. »Wo sind die Beweise?« »Sag ihnen, was sie mit dir gemacht haben«, platzte Wendah heraus. Sie hatten sich an das Schweigen des Mädchens gewöhnt und waren einen Augenblick lang verblüfft. Dann ergriff Mahaganis das Wort. »Als Strafe dafür, dass ich Reeth geholfen habe«, sagte er, »und als Strafe für meinen Verrat an den Paladinen steckten sie mir den Spruch der Quelle hier hinein.« Er tippte auf seine Schläfe. »In meinen Kopf.« »Und sie haben mit Feuer seine Augen zerstört«, fügte Wendah hinzu, »um die Strafe noch grausamer zu machen.« »Das war ein sadistisches Meisterwerk«, meinte der alte Mann fast bewundernd. »Ich konnte nur noch in mich hineinschauen. Deshalb sehe ich jetzt nur noch den Inbegriff der Bösartigkeit der Gründer und die sich windende, widerliche Lebensform, die sie angenommen hat. Du fragst nach Beweisen. Ich habe das Zeugnis meines eigenen, starrenden inneren Auges. Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass ich die Quelle bin.« Wieder gab es ein Schweigen. Dieses Mal war es Serrah, die es als Erste brach. »Auf der Insel gibt es Leute, die dir helfen können«, versprach sie. »Magier und Gelehrte ...« Er schüttelte den Kopf. »Die Clans wurden trotz all ihrer Möglichkeiten nicht damit fertig, obwohl sie die 329 Quelle nur zu gern gezähmt hätten. Bei allem Respekt vor deinen Magiern, aber welche Möglichkeiten hätten sie schon?« »Wenn sie so mächtig ist«, fragte Kutch, »warum haben die Gründer dann zugelassen, dass die Quelle überhaupt entdeckt wurde? Warum haben sie sie nicht selbst vernichtet oder wenigstens besser versteckt?« »Vielleicht kam die Katastrophe, die sie ausgelöscht hat, zu schnell. Ich vermute aber, der wahre Grund ist der, dass selbst die Gründer mit ihr überfordert waren. Ich glaube, man kann sie nicht verstehen, und sie kann nicht zerstört werden, solange sie von der Magie gespeist wird.« »Das ist aber mal eine nette Aussicht«, gab Serrah bissig zurück. »Daran ist überhaupt nichts Nettes«, berichtigte Mahaganis sie. »Es sei denn, du findest es nett, dass mich die in meinem Kopf eingesperrte Magie viel älter werden ließ, als es meiner natürlichen Lebensspanne entsprochen hätte. Aber das ist ein zweifelhafter Segen, nicht wahr, Reeth?« Caldason ging nicht darauf ein und stellte eine Gegenfrage. »Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum die Clans meinen Stamm abschlachten wollten.« »Dein Volk war nicht wichtig, oder nur insofern, als es dich beschützt hätte. Für den Kunden, der das Gemetzel in Auftrag gab, spielte dein Volk jedenfalls keine Rolle. Du warst das einzige Ziel, auf das es ankam.« »Aber warum? Und wer ...« »Es gibt einige Dinge, die du erfahren musst, und für andere bist du noch nicht bereit.« Er massierte sich die Stirn. »Im Augenblick haben wir genug darüber geredet.« »Wirklich? Ist es wirklich genug? Ich bin kein Kind mehr, Mahaganis. Ich muss nicht verhätschelt und angelogen werden.« »Nicht jetzt, Reeth. Ich fühle mich nicht gut.« »Zum Teufel damit. Antworte mir.«
330 »Lass ihn in Ruhe!«, verlangte Wendah. »Kannst du nicht sehen, dass er krank ist?« »Würde es ihm etwa wehtun, es mir zu erzählen?« Caldason wurde wütend. Serrah hielt ihn am Arm fest. »Was willst du denn tun, Reeth? Willst du es aus ihm herausprügeln?« Caldason seufzte. Er betrachtete den hinfälligen alten Mann und das ausgehungerte Mädchen an seiner Seite. »Nein«, sagte er. »Wir müssen euch zwei hier herausholen.« 331 Kaum war die Insel in Sicht gekommen, da begann der Ärger. Es wurde knapp, obwohl das Hospitalschiff der Barmherzigen Töchter klein und wendig und auf hohe Geschwindigkeit ausgelegt war. Mit der trüben Sonne im Rücken liefen zwei Piratenschiffe auf das getarnte Rebellenschiff zu. Kurz danach tauchten zwei weitere auf- die zweite Seite der Zange, die sie bilden wollten. Das Schiff der Barmherzigen Töchter nahm Fahrt auf. Backbord und Steuerbord rückten weitere Piratengaleonen mit geblähten Segeln an und pflügten durchs eiskalte Wasser. An Bord des Hospitalschiffs wurde der Befehl gegeben, alle überflüssige Fracht abzuwerfen. Kisten, Kästen und Körbe fielen über Bord. Auf diese Weise erleichtert, wurde das Schiff noch schneller. Ein Wettlauf begann. Das Hospitalschiff versuchte, freundlichere Gewässer zu erreichen, bevor die Piratenschiffe ihm den Weg versperren konnten. Doch es wurde eng. Das gehetzte Schiff konnte der Blockade um Haaresbreite entgehen. Jetzt war es eine Jagd, und das kleinere Schiff versuchte, einer Piratenflotte zu entkommen, die es einholen wollte, ehe es den Strand erreichte. Dann tauchten andere geblähte Segel auf, die sich von 332 der Insel aus näherten. Eine kleine Flotte lief aus, die jener der Piraten ebenbürtig war. So marode und auf die Schnelle zusammengewürfelt sie auch war, sie schlug die Piraten in die Flucht. Auf diese Weise erreichten Dulian Karr und die Reste der Widerstandsbewegung die Diamantinsel. Für Karr und Goyter, Quinn Disgleirio und ein paar hundert weitere war es ein Augenblick fröhlichen Wiedersehens. Für Tanalvah Lahn sah die Sache ganz anders aus. Im Schatten der großen, mehrstöckigen Festung gönnten sich die Inselbewohner eine kurze Phase der Freude, obwohl ihre Lage hoffnungslos schien. Es gab Feiern, Ausgelassenheit und Trinksprüche auf gefallene Kameraden. Doch Tan konnte sich für all das nicht erwärmen und beteiligte sich nicht daran. Karr sorgte dafür, dass sie ohne Verzögerung zu Kinsel gebracht wurde, während Goyter sich um Teg und Lirrin kümmerte, die völlig erschöpft waren. Tanalvah wurde in eine Kutsche gesetzt, die sie zur Redoute fahren sollte, und so bequem untergebracht, wie es angesichts ihres Zustandes geboten schien. Sie überstand die kurze, holprige Reise mit einer Mischung aus Vorfreude, Verwirrung und Furcht. Und bald darauf befand sie sich in der befestigten, letzten Zuflucht der Insel. Ein kleines, mit Holz vertäfeltes und spärlich möbliertes Zimmer wurde eilig für sie hergerichtet. Die Fenster waren zum Schutz gegen Angriffe vernagelt, und der Raum musste mit Kerzen und einer Laterne beleuchtet werden, obwohl das Tageslicht draußen noch nicht verblasst war. Tan wurde zum einzigen brauchbaren Stuhl bugsiert, worauf sich ihr Empfangskomitee verabschiedete. Sie war dankbar für das trübe Licht im Zimmer. Die Schatten waren wie ein Schutz, wie ein Schleier, hinter dem sie ihre Schande verbergen konnte. Die Stille war dagegen weniger willkommen. Nun hatte sie nur noch ihre eigenen 333 Gedanken zur Gesellschaft, und es war eine Gesellschaft, die sie hasste. Auf der Überfahrt hatte sie den Entschluss gefasst, sich ein für alle Mal ihrer unerträglichen Bürde zu entledigen und ein Geständnis abzulegen, aber nur vor Kinsel. Es gab viele, nach deren Vergebung es sie verlangte, doch bei keinem war das Bedürfnis so stark wie bei ihm. So sehr sie sich sehnte, ihn zu sehen, so sehr fürchtete sie sich auch vor diesem Augenblick. Mit ihren Gedanken allein gelassen, verstrich die Zeit unendlich langsam. Eine Minute verging, vielleicht auch eine Stunde, bis sie draußen Geräusche hörte. Schritte. Ein loses Brett knarrte. Das leise Klappern des Türgriffs. Tanalvah stand unbeholfen auf und wollte die Tür von innen öffnen, doch sie konnte sie nur anstarren. Sie hörte den Puls in ihren Ohren pochen. Dann war er da, ein Schattenriss im Türrahmen. Sie erschrak über sein Aussehen. Er hatte abgenommen und wirkte ausgezehrt. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Haut war ungesund bleich. Er war offensichtlich so erschüttert wie sie und sah erschrocken auf ihren dicken Bauch mit dem Kind, das bald zur Welt kommen musste. Sie standen wie betäubt voreinander und verarbeiteten, was sie sahen. Und dann, wie auf ein wortloses Kommando, fielen sie sich in die Arme. Sie umarmten sich, streichelten sich und schluchzten. Endlich fanden sie ihre Stimmen wieder, doch ihre tränenvollen Worte wären für jeden Lauscher unverständlich geblieben. Als sie wieder einigermaßen bei Sinnen
waren, murmelten sie Beteuerungen und Liebeserklärungen und erzählten sich, welche Angst sie ausgestanden hatten. Schließlich lösten sie sich mit glänzenden Augen wieder voneinander und hielten sich bei den Händen. 334 Kinsel betrachtete lächelnd ihren angeschwollenen Bauch. »Schau dich nur an. Du bist ja eine doppelte Portion geworden.« »Und du schwindest dahin.« »Ach was, das hat mir gut getan.« Sie lachte und begann sofort wieder zu schluchzen. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wieder sehe.« »Ich hatte auch Angst, dich verloren zu haben.« »Und das Kind. Unser Kind. Ich dachte ...« »Ich weiß.« Er nahm sie in die Arme. »Es ist alles gut«, tröstete er sie. »Wir sind wieder zusammen. Wo sind Teg und Lirrin? Wie geht es ihnen?« Sie nickte und blinzelte mit feuchten Augen. »Es geht ihnen gut. Sie werden so schnell größer. Sie haben dich vermisst.« »Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.« Liebevoll und tröstend sprach er mit ihr und gab ihr ein Gefühl , wie es noch kein anderer Mann vermocht hatte. So verblasste der Gedanke, ihm alles zu gestehen. Das konnte noch warten. Morgen vielleicht. Warum diesen Augenblick zerstören? »... und unsere Freunde aus Bhealfa?«, fragte Kinsel. »Dulian, Quinn ...« »Es geht ihnen gut«, erwiderte sie etwas unwirsch. Sie wurde nicht gern an den Widerstand erinnert. Dann nahm sie sich zusammen und stellte eine Gegenfrage. »Was ist mit Serrah, Reeth und Kutch?«, fragte sie. »Ich habe sie nicht gesehen, als wir gelandet sind.« »Reeth hat sich endlich durchgesetzt und ist aufgebrochen, um die Clepsydra zu suchen. Serrah und der Bursche begleiten ihn.« Tan war erleichtert, dass sie nicht auf der Insel waren. Stolz war sie nicht auf dieses Gefühl, aber das schien belanglos im Vergleich zu ihrem großen Verbrechen. 335 »Du hast dich in Bezug auf ihn geirrt«, erklärte Kinsel ihr sanft. »Wen meinst du?« Er lächelte. »Reeth. Du hattest Zweifel an ihm, doch er war derjenige, der mich befreit hat.« Das war mehr, als sie ertragen konnte. Dankbarkeit und Schuldgefühle überwältigten sie. »Ich schäme mich so«, sagte sie. »Sei nicht albern«, schalt er sie sanft. »Wessen solltest du, ausgerechnet du, dich schämen?« »Ich habe ihn falsch eingeschätzt.« »Du hast eine völlig vernünftige Einschätzung seines Charakters abgegeben, die auf dem Wenigen beruhte, was wir über ihn wussten. Ein Fehlurteil ist keine Todsünde, Tan. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass wir wieder zusammen sind. Wir können noch einmal von vorne anfangen, wir können mit den Kindern glücklich werden, und ...« »Am Ende kommt nur Kummer heraus.« »Es gibt keinen Grund, so pessimistisch zu sein, meine Liebe. Wir haben eine zweite Gelegenheit bekommen. Lass uns sie ergreifen, solange wir es noch können.« »Eine Flotte von Schlachtschiffen ist aus Gath Tampoor hierher unterwegs. Und soweit ich weiß, schickt auch Rintarah eine Flotte.« »Bist du sicher?« Kinsel sah sie erschrocken an. »Wir sind ihr mit knapper Not entkommen.« »Uns war immer klar, dass es hier gefährlich wird«, sagte er. Er fing sich wieder. »Aber was auch geschieht, wir sind wenigstens zusammen.« »Du verstehst es nicht«, flüsterte sie. »Wir haben vielleicht nicht einmal ...« Sie verzog schmerzvoll das Gesicht und keuchte lautlos. Sie presste die Hände auf den Bauch. »Was war das?«, fragte Kinsel erschrocken. »Nichts. Nur ... nur ein Krampf.« 336 Er half ihr zum Stuhl. Seufzend ließ sie sich darauf sinken. »Soll ich einen Heiler holen?«, fragte er, während er ihre Hand festhielt. »Nein. Ich ... es geht schon.« »Was ist los, Tan? Stimmt etwas nicht?« Sie bekam ein schwaches Lächeln zustande. »Nein, Liebster, das ist ganz natürlich.« Sie legte seine Hand auf ihren geschwollenen Bauch. »Es bedeutet nur, dass es jetzt nicht mehr lange dauert.« Serrah holte scharf Luft, schnitt eine Grimasse und legte die Hand auf ihren Bauch. »Stimmt was nicht?«, fragte Caldason.
»Nur ... nur ein Stich oder so was.« »Wirklich?« »Es ist nichts weiter, Reeth.« Sie richtete sich wieder auf, der Schmerz war vorbei. »Vielleicht liegt es an der miesen Verpflegung.« »Du bist blass.« »Du auch. Nach ein paar Wochen auf diesem Seelenverkäufer sehen wir alle nicht mehr so gut aus. Ich weiß gar nicht, wie die Matrosen es ertragen.« »Wir müssten bald wieder auf der Diamantinsel sein.« »Ich kann's kaum erwarten.« Sie blickte wieder zum trostlosen Horizont. Sie waren auf Deck, gut eingepackt gegen die Kälte, und die Brigg rollte in der Strömung. Nicht sehr heftig, aber stark genug, um es den Landratten ungemütlich zu machen. Ständig fiel ein leichter Nieselregen. Fünfzehn Schritte entfernt saßen Kutch, Mahaganis und Wendah unter einem Dach aus Segeltuch. Der blinde alte Mann nahm das Wetter stoisch hin. Seine junge Gefährtin, die endlich zu sprechen begonnen hatte, war in eine ernste, geflüsterte Unterhaltung mit Kutch vertieft. 337 »Sie verstehen sich ganz gut«, meinte Caldason kühl. »Ja, seit sie erkannt haben, was sie verbindet«, erwiderte Serrah. »Was denn?« »Du warst aber in der letzten Zeit nicht sehr aufmerksam, Reeth. Anscheinend besitzen Kutch und das Mädchen ganz ähnliche Kräfte. Es hat mit der Magie zu tun, aber das kümmert dich ja nicht.« »Anscheinend bist du besser im Bilde als ich.« »Nur, weil ich mit ihnen rede.« Sie nickte zu Mahaganis hin. »Der alte Mann reizt dich zur Weißglut, was?« »Er will mir nicht verraten, was er über mich weiß.« »Du solltest ihm dankbar sein.« »Ich bin ihm dankbar. Ich verdanke ihm mein Leben. Aber ich hinterfrage seine Motive.« »Ich glaube, da liegst du falsch. Falls er etwas zurückhält, dann tut er es, um dich zu schützen.« »Ich brauche seinen Schutz nicht.« »Du brauchtest ihn, als du noch ein Kind warst.« »Der Mann war ein Paladin, Serrah. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich damit fühle?« »Was er auch war, hat er es nicht wieder gutgemacht, indem er dich beschützte? Oder willst du sagen, er sei ein für alle Mal verurteilt?« Caldason dachte eine Weile darüber nach. Dann sagte er versöhnlicher: »Wie fühlst du dich jetzt?« »Mir geht es gut.« Sie war dankbar, dass sie jemanden hatte, dem etwas an ihr lag. »Komm, lass uns zu ihnen gehen.« »Geh nur vor. Ich will ...« »Dich wegschleichen und brüten? Das Leben ist zu kurz dazu, Reeth. Das meine ich ganz wörtlich. Denk an die Clepsydra. Wenn sie wirklich eine Art Weltuntergang ankündigt, dann haben wir keine Zeit zu verschwenden, sondern sollten schleunigst unser Leben auf die Reihe bekommen.« 338 Ein wenig widerstrebend nahm er ihre Hand und ließ sich zu den anderen führen. Als sie dort ankamen, standen Kutch und Wendah gerade auf und wollten gehen. »Ich hoffe, das ist nichts Persönliches«, bemerkte Serrah. Kutch war verlegen. »Oh ... aber nein. Natürlich nicht. Wir wollten nur ...« »Ich verstehe«, sagte Serrah lächelnd. »Dann verschwindet.« Der Junge nickte dankbar, und Wendah wirkte für einen Augenblick nicht ganz so mürrisch wie sonst. Als sie vorbeigingen, zupfte Kutch geschickt etwas aus dem Nichts und warf es sanft in Serrahs Richtung. Der Zauber hatte die Form einer strahlenden Blüte auf einem Stiel. Die Blüte war ein Kaleidoskop berauschender, sich ständig verändernder Farben, und sie verströmte ein ausgesprochen sinnliches Parfüm. Die Blüte hing in der Luft und drehte sich langsam, damit Serrah sie betrachten konnte. Dann drehte Wendah sich um, blies die Wangen auf und pustete den Zauber fort. Er zersprang zu tausend goldenen, wirbelnden Funken, die tanzten und sich auflösten. Serrah war entzückt, doch Caldason war nicht ganz so amüsiert. Kutch und Wendah gingen, in ihr Gespräch vertieft, zum Heck. »Die jungen Leute haben so eine unerschütterliche Vitalität, nicht wahr?«, sagte Mahaganis, als hätte er beobachtet, was sich ereignet hatte. »Genau wie du als junger Bursche, Reeth.« »Meine Jugend war recht ungewöhnlich, wie du dich sicher erinnern wirst.« »Mag sein. Dennoch glaube ich, dass es Ähnlichkeiten gibt. Du und ich, wir hatten etwas Gemeinsames, da wir 339 Ausgestoßene waren, und auch zwischen ihnen beiden besteht eine solche Verbindung.« »Das hörte ich gerade. Nicht, dass es mir jemand erklärt hätte.« »Es sieht dir gar nicht ähnlich, auf einmal aufs Sammeln von Informationen zu verzichten«, gab der alte Mann
zurück. »Soweit ich weiß, ist Kutch ein Aufklärer. So selten dies auch vorkommt, es scheint so, als habe Wendah eine ähnliche Begabung. Ich glaube, es ist gut für beide, wenn sie jemanden finden, der so ist wie sie selbst.« »Kann sie die Magie sehen, oder was es auch ist, das Aufklärer tun?« »Ja, in gewisser Weise schon. Was sie tut, unterscheidet sich allerdings auf subtile Weise vom Aufklären. Man könnte sagen, dass sie Zugänge schafft.« »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Serrah. »Er meint den Zugang zur Quelle«, sagte Caldason. »Das stimmt doch, Praltor, oder?« »Ja. Aber man darf das nicht überbewerten. Wendahs Fähigkeiten sind in dieser Hinsicht recht beschränkt.« »Aber du kannst dich mit diesem Ding verbinden, das in dir steckt?« »Verbinden kann man es eigentlich nicht nennen. Jede direkte Verbindung mit der Quelle wäre mehr, als ein Mensch überhaupt ertragen könnte. Ich bin nicht einmal sicher, ob eine ganze Legion erstklassiger Magier sich gefahrlos in ihre Tiefen vorwagen könnte.« »Was ziehst du denn nun für dich heraus?«, bohrte Caldason. »Ich ziehe überhaupt nichts heraus«, gab Mahaganis wütend zurück. »Das Gegenteil ist richtig. Wendah bietet mir eine Verteidigung.« »Verteidigung?« »Der Schmerz wird gelindert. Es ist eine Abschirmung gegenüber den Qualen in meinem Kopf. Ihre Begabung ist 340 nichts im Vergleich zur Macht der Quelle, aber sie hat mir geholfen, bei Verstand zu bleiben.« »Das begreife ich nicht. Und wogegen wirst du abgeschirmt?« »Wo Kutch nur sehen kann, ist Wendah fähig ... zu blockieren. Sie hat die Fähigkeit, in gewissem Maße magische Energie abzuwehren, und sie hat ihre Begabung eingesetzt und mir geholfen, damit ich nicht verrückt wurde. Was die Frage angeht, wovor sie mich beschützt - habt ihr irgendeine Vorstellung von der Bösartigkeit der Gründer? Was rede ich da. Eigentlich solltest du das doch genauer als jeder andere wissen.« »Da haben wir es wieder«, grollte Caldason. »Du machst Andeutungen, ohne irgendetwas preiszugeben.« »Wir wollen einfach sagen, dass wir beide unter ganz ähnlichen Flüchen leiden müssen.« »Nein, das wollen wir nicht sagen. Wie wäre es stattdessen mit der Wahrheit?« »Es gibt einige Dinge, für die du noch nicht bereit bist.« »Ich bin kein Kind mehr, Praltor. Du musst nicht auf meine Gefühle Rücksicht nehmen.« Der alte Mann schwieg. »Haben deine Andeutungen mit der Art und Weise zu tun, wie wir voneinander getrennt wurden?«, bohrte Caldason weiter. »Ich habe keine Erinnerung, wie es kam, dass wir verschiedene Wege gingen.« »Wie gesagt, deine Erinnerungen sind zwangsläufig lückenhaft.« »Warum?« »Es war eine schwierige Zeit. Es gab Schlachten und Scharmützel ...« »Was trennte uns voneinander?« »Wir erreichten einen Punkt, an dem ich nicht mehr viel tun konnte, um dir zu helfen.« »Du lügst.« 341 »Reeth!«, rief Serrah. »Etwas mehr Respekt!« »Nein«, sagte Mahaganis zu ihr, »er hat ja Recht. In Wirklichkeit habe ich ... habe ich dich verlassen.« »Wie bitte?«, fragte sie. »Glaube mir, zu diesem Zeitpunkt konnte er längst auf sich selbst Acht geben. Und es gab gewisse Umstände.« »Was für Umstände?«, fragte Caldason. Er sprach jetzt leise und drohend. »Ich hatte inzwischen Angst vor dir«, gestand der alte Mann. »Du hattest Angst vor mir?« Der Qalochier war entsetzt. »Warum denn?« »Weil du bist, was du bist. Und ich hatte Angst vor den Dingen, zu denen du fähig bist.« »Schon wieder sprichst du in Rätseln. Könntest du nicht einmal so freundlich sein, mir zu erklären, was du eigentlich meinst?« »Reeth, ich ...« »Bitte.« Mahaganis seufzte. »Na gut. Aber du musst versuchen zu verstehen, was ich dir sage, und du musst versuchen, dich zu beherrschen.« »Nun mach schon.« »Ich bin vor allem wegen deiner Abstammung besorgt.« »Meinst du die Tatsache, dass ich ein Qalochier bin?« »Nein.« »Nun ... was dann?« »Was mir Angst macht, Reeth, ist dein Gründerblut.« 342 Die Grube war ein brodelnder Hexenkessel. In ihrer Tiefe wallte ein graues, schäumendes Gebräu.
»Es wird immer schlimmer, Bruder.« Felderth Jacinth nickte. »Eine weitere Rechtfertigung für die von uns ergriffenen Maßnahmen, falls es einer solchen überhaupt bedurft hätte.« »Selbst wenn es so beispiellose Maßnahmen sind wie diese?« »In der gegenwärtigen Situation ist jede Maßnahme gerechtfertigt, Rhylan.« »Es gibt viele im Rat, die in dieser Hinsicht ihre Zweifel haben.« »Ich denke, sie stellen nicht die Mehrheit. Und die Abweichler haben auch keine echten Alternativen zu bieten.« Sie starrten wieder die gummiartige, silbrige Flüssigkeit an, die am Grund der Grube siedete. »So unruhig war es noch nie«, erklärte Rhylan. »Genau wie ich«, gestand der Älteste. »Was mich auf die Frage bringt, ob es nicht unserer Reaktion auf den Kriegsherrn abträglich ist, wenn wir uns zu sehr auf diese Rebellenhorde auf der Diamantinsel konzentrieren.« »Im Grunde sind sie ein und dasselbe. Wir vernachläs343 sigen die Bedrohung nicht, die Zerreiss darstellt, doch wir müssen uns auch um die Aufständischen kümmern. Ich denke an die Gefahr, dass sie sich verbünden könnten, und deshalb hat der Angriff auf die beiden Gegner den gleichen Stellenwert. Wie auch immer, deine Einwände kommen etwas spät.« »Es sind keine Einwände, es ist nur eine Bemerkung.« »Nun, meine Bemerkung dazu ist, dass wir keine andere Wahl haben, als dem Kurs zu folgen, den ich eingeschlagen habe.« In der Grube gab es eine weitere Eruption. Energieströme schössen durch die eingefärbten Kraftlinien, die den Boden der riesigen Kammer durchzogen. Ihre zornige Kraft erhellte den großen Tisch des Rates, und der Adler, das Symbol von Rintarah, begann zu knistern. Der Energiestoß breitete sich durch die Kanäle unter Jecellams geschäftigen Straßen weiter aus. »Wir schreiben Geschichte, Rhylan«, meinte Felderth. »Genau das bereitet manchen Leuten große Sorgen.« »Warum?« »Deine Kritiker betrachten dies als eine Art Kapitulation vor Gath Tampoor. Wenigstens bewerten sie es als Annäherung an sie. Und das wäre natürlich inakzeptabel.« »In dieser Hinsicht besteht keine Gefahr. Wie oft soll ich es noch sagen? Wir arbeiten in dieser Angelegenheit einfach zusammen, weil es uns beiden passt.« »Glaubst du nicht, damit einen Präzedenzfall zu schaffen?« »Das wird nicht geschehen.« »Wie kannst du da so sicher sein? Denn wenn du dich in dieser Hinsicht irrst, Bruder, dann könnte man am Ende sogar deine Führerschaft in Frage stellen.« »Willst du damit sagen, es könnte eine Art Rebellion geben? Einen Staatsstreich? Es wäre das erste Mal in unserer Geschichte, dass so etwas geschieht.« 344 »An so etwas Dramatisches dachte ich gar nicht. Aber es gibt Fraktionen im Rat, die jede Gelegenheit, deine Machtausübung zu behindern, gern ergreifen würden. Das weißt du so gut wie ich.« »Sie werden sich schon fügen, wenn sie sehen, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen.« »Viele denken auch daran, dass die wichtigste Aufgabe des Rates - die vornehmste Pflicht, die wichtiger ist als alles andere - darin besteht, unser Überleben zu sichern.« »Glaubst du, mir sei meine Verantwortung nicht bewusst? Jeder andere außer dir, der auch nur andeutet, ich sei in dieser Hinsicht nachlässig gewesen, Rhylan, bekäme meinen Zorn zu spüren.« »Ich deute natürlich nichts dergleichen an, aber du kennst die Einwände. Allein der Anschein, wir würden Gath Tampoor helfen, reicht womöglich schon aus, um unsere eigene Sicherheit zu gefährden.« »Umgekehrt helfen sie auch uns. Es ist eine Gegenleistung. Letzten Endes wird sich das Gleichgewicht nicht verändern. Es hilft uns nur, einen Störenfried loszuwerden.« »Was geschieht das nächste Mal, wenn eine Bedrohung auftaucht? Arbeiten wir dann wieder mit dem Feind zusammen, bis wir die Unterschiede zwischen uns vergessen haben? Wirklich, Bruder, einige glauben, genau dies sei dein Ziel.« »Sie können glauben, was sie wollen. Aber vergiss nicht, dass der Rat nicht gegen meinen Vorschlag gestimmt hat, obwohl er sehr unpopulär war.« »Wie du schon sagst, sie haben keine Alternativen anzubieten. Und vielleicht...« »Ja?« »Vielleicht spüren sie auch, dass du verborgene Beweggründe hast.« »Welche wären dies?« »Sobald Gath Tampoor uns nicht mehr nützlich ist, sind 345 wir in einer besseren Position, ihre Naivität auszunutzen. Ein Schlag trifft besonders schwer, wenn er unter einem vermeintlichen Waffenstillstand geschieht.« Das verschwörerische Lächeln war wieder da. »Ich muss
natürlich einräumen, dass die Absichten eines Anführers nicht immer offen zur Sprache kommen können.« »So ist es. Ich wage sogar zu behaupten, dass die Herrscher in Gath Tampoor ähnliche Probleme haben. Da wir gerade davon sprechen ...« »Ja, natürlich. Es ist fast Zeit.« Er wich einige Schritte zurück. Felderth machte einige kleine Gesten, eine Beschwörung, die auf den brodelnden Inhalt der Grube ausgerichtet war. Die Flüssigkeit verweigerte sich seinem Befehl und brodelte störrisch weiter. »Brauchst du Hilfe, Bruder?«, fragte Rhylan. Der Älteste kniff konzentriert das Gesicht zusammen. »Ich glaube, jetzt habe ich es.« Die silbrige Flüssigkeit beruhigte sich, nur an einer Stelle regte sich die Oberfläche noch. Nach wenigen Sekunden schwand die Unruhe, und ein Bild erschien. Es verdichtete sich zu einem Gesicht, dann nahm das Gesicht erkennbare Züge an. Das Ebenbild der Imperatorin Bethmilno schälte sich heraus. »Seid gegrüßt«, begann Jacinth. »Es ist lange her.« »Wir wollen besser gleich zur Sache kommen«, erwiderte die Kaiserin kühl. »Das entspricht durchaus meiner Absicht«, erwiderte der Älteste. »Ich erwarte nicht, dass wir vergangene Animositäten auf der Stelle begraben, zumal man berücksichtigen muss, wie tief sie reichen. Aber im Augenblick sollten wir in einigen wichtigen Dingen zusammenarbeiten.« »Ganz meine Meinung.« 346 »Unsere Flotten werden bald aufeinander treffen. So weit sind wir bisher schon gekommen, ohne das Ausmaß unserer Kooperation genau zu bestimmen. Dies muss nun geklärt werden.« »Ich stimme zu, dass wir gewisse Richtlinien brauchen. Ich schlage vor, wir beschränken dieses Bündnis ...« »Das vorübergehende Bündnis«, korrigierte Bethmilno ihn. »Wie Ihr meint. Ich schlage vor, dieses vorübergehende Bündnis ausschließlich auf die ursprünglichen Ziele zu beschränken. Einfach ausgedrückt, arbeiten wir zusammen, bis diese Ziele erreicht sind. Dann, zu einem zu bestimmenden späteren Zeitpunkt, können die üblichen Feindseligkeiten zwischen unseren Staaten wieder aufgenommen werden.« »Das wäre akzeptabel. Obwohl natürlich die Versuchung, die Phase zwischen dem Triumph und dem Ende unseres Paktes zu nutzen, sehr stark sein könnte.« Rhylan schwieg. Er sah zwischen dem Abbild der Imperatorin und dem strengen Gesicht seines Bruders hin und her. »Es könnte eine Versuchung für Gath Tampoor sein«, erklärte Felderth herablassend. »Rintarah dagegen hält seine Abmachungen ein.« Die Kaiserin schnaubte. »Ich werde dies keiner Antwort würdigen und begnüge mich mit dem Hinweis, dass wir ein gemeinsames Interesse haben, nämlich unser Überleben, wie ja auch die Geschichte zeigt. Wir müssen darauf vertrauen können, wenn es darum geht, Abmachungen zu erfüllen.« »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Ihr damit meint.« »Dann will ich deutlicher werden. Jeder voreilige Angriff würde die volle Kraft von Gath Tampoors Militär auf den Plan rufen. Das soll ein Stützpfeiler unserer Übereinkunft sein.« »Und ich kann eine ähnliche Zusicherung machen, was Rintarahs Streitkräfte angeht.« »Wie ich sehe, verstehen wir uns, Ältester.« 347 »Klarheit ist stets mein Ziel, Majestät.« »Bleibt nur noch die Frage, wann unser provisorisches Bündnis beendet werden soll.« »Wollen wir sagen, achtundvierzig Stunden nach der Vernichtung der Ziele?« Bethmilno überlegte, ob ihre Zustimmung den Gegnern irgendeinen Vorteil verschaffen würde. »In Ordnung«, entschied sie dann. »Wir werden unseren Flottenkommandanten entsprechende Befehle geben.« »Und wir den unseren«, erwiderte Felderth mit erhobener Hand. Die Verbindung wurde unterbrochen, Bethmilnos Abbild löste sich auf. Auch sie konnte sehen, wie Felderths Bild in der zähflüssigen Masse zerfiel. Der Thronraum in ihrem Palast in Merakasa war nur trüb beleuchtet und menschenleer. Mehrere Darstellungen des Drachen von Gath Tampoor schmückten den Raum, und der größte, der eine ganze Wand in Anspruch nahm, pulsierte vor magischer Energie. Die Kaiserin entfernte sich von dem Loch, in dem das Quecksilber brodelte, und wandte sich an den einzigen anderen Menschen im Raum. »Wozu brauchten wir Rintarah, Großmutter?«, fragte er. Ein Lauscher hätte die familiäre Anrede bizarr gefunden, da der Sprecher selbst schon ein alter Mann war. »Wir brauchen sie nicht. Unsere Gegenwart wird sie jedoch daran hindern, sich mit den Rebellen oder Zerreiss gegen uns zu verbünden. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.« »Dann werden wir sie hintergehen?« »Selbstverständlich. Sobald sie uns nicht mehr nützlich sind.« »Es gibt bei Hofe eine gewisse Unruhe wegen dieser Angelegenheit.«
348 »Unruhe?« »Man fragt sich, ob es klug sei, mit dem Feind zusammenzuarbeiten.« »Ich habe gerade deutlich gemacht, worauf diese Kooperation hinausläuft.« »Ja, aber es gibt Gerede darüber, ob du die Prioritäten richtig setzt.« Bethmilnos Antwort fiel recht unwirsch aus. »Stellst du denn meine Entscheidungen in Frage?« »Im Leben nicht, Großmutter. Einige äußern sich jedoch besorgt über gewisse Entwicklungen, die nicht die Rebellen betreffen.« Sie nickte wissend. »Du meinst die Clepsydra.« »Ja. Ist es wahr, dass sie entdeckt wurde?« »Sie war nie wirklich verloren. Wir wussten immer ungefähr, wo sie war, wir machten uns jedoch nicht die Mühe, sie aufzuspüren. Es ist erst jetzt ans Licht gekommen, weil unsere Agenten ein Schiff der Diamantinsel beschattet haben, das sie hingeführt hat.« »Markiert die Clepsydra denn wirklich einen ... einen Endpunkt?« »Sie war nicht weit davon entfernt, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Und das ist schon sehr lange her.« »Meinst du denn, wir haben nichts zu befürchten, Großmutter?« »Ich sage nur, dass ich an der Zuverlässigkeit der Clepsydra zweifle. Denn trotz aller Kunst, mit der sie geschaffen wurde, war sie eine Ewigkeit lang unbeaufsichtigt. In dieser Zeit muss es zahlreiche Veränderungen in der Erdkruste gegeben haben, von extremer Witterung ganz zu schweigen. Diese Veränderungen können ihre Funktionstüchtigkeit beeinträchtigen. Und natürlich ist kein heute lebender Mensch imstande, sie zu reparieren.« »Was ist mit der so genannten Quelle? Wenn die Rebellen auch sie gefunden haben ...« 349 »Auch das ist eine grundlose Sorge.« Die Kaiserin wurde ungeduldig. »Aber ihre Macht«, sagte ihr Enkel unbeeindruckt. »Wäre es nicht eine erschreckende Macht in der Hand der Feinde?« »Das gilt nur für Hände, die fähig sind, damit umzugehen. Der Pöbel versteht vom Umgang mit einem Artefakt aus der Ära, die man die Traumzeit nennt, so viel wie ein Hund vom Wagenlenken. Wenn wir anderer Meinung gewesen wären, dann hätten wir die Clepsydra schon längst gesucht und zerstört.« »Ich sage es noch einmal, Großmutter, ich mache mir vor allem Sorgen wegen der Quelle.« »Und ich sage noch einmal«, erwiderte sie gereizt, »dass sie keine Möglichkeit haben, sie zu benutzen. Dank der Erfindungsgabe und Bosheit der Paladine ist sie ohnehin nicht in ihrer Reichweite. Und nun höre auf, dir Sorgen zu machen.« »Ich will es versuchen. Wie geht es jetzt weiter?« »Zuerst löschen wir die Rebellen aus. Dann vernichten wir den Kriegsherrn. Das ist keine große Sache«, versicherte sie ihm. »Es ist ganz einfach«, wiederholte Zerreiss geduldig. »Ich will nur einen Umweg machen, und nicht einmal einen sehr großen.« Er deutete auf die lederne Karte, die vor ihnen aufgespannt war. »Von hier bis etwa ... hier. Das wird unseren Vormarsch nur um wenige Tage verzögern. Höchstens eine Woche.« »Bei allem Respekt, Sir«, sagte Weilern, »es geht vor allem um praktische Erwägungen.« Er deutete mit dem Daumen zum Heck. »Eine Kursänderung ist keine Kleinigkeit.« Ihr Flaggschiff fuhr an der Spitze einer riesigen Flotte. Es war ein einzigartiger Verband unterschiedlichster Schiffe, die gekapert, in Dienst genommen und hastig gebaut 350 worden waren. Die meisten waren Truppentransporter, auf deren Decks sich Kämpfer und festgezurrte Kriegsmaschinen drängten. Begleitende Versorgungsschiffe bewegten sich, mit Vorräten beladen, durch die eiskalten Fluten. »Abgesehen davon, dass wir unseren Kurs neu bestimmen müssten«, fuhr Weilern fort, »müssten wir auch die Aufteilung der Rationen neu festlegen. Dies und ein Dutzend weiterer Probleme machen es zu einem versorgungstechnischen Albtraum.« »Das alles ist mir bewusst«, erwiderte Zerreiss. »Die Schwierigkeiten sind jedoch bei weitem nicht so unüberwindlich, wie du es erscheinen lässt, alter Freund. Ich weiß aber deine Bemühungen zu schätzen, mich vor mir selbst zu beschützen, wie du es wohl ausdrücken würdest.« »Herr, ich würde doch niemals ...« Der Kriegsherr brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen und fügte freundlich hinzu: »Aber natürlich würdest du. Dieser Umweg hat allerdings große Auswirkungen auf unseren Kampf.« »Ein Fels mitten im Meer, den einige Radikale besetzt haben? Brauchen wir wirklich so dringend Verbündete?« »Geht es Euch vielleicht gar nicht darum, Leute anzuheuern, mein Lord?«, warf Sephor ein, der jüngere Adjutant des Kriegsherrn. »Es geht um ihn, nicht wahr? Um den Mann aus Euren Träumen.« »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht«, bestätigte Zerreiss. »Ich fälle auch keine strategischen Entscheidungen aus Ahnungen oder meiner Intuition heraus. Das wisst ihr. Dennoch habe ich das starke Gefühl, dass es für alles andere, was wir tun müssen, wichtig ist, zur Insel zu fahren und den Mann zu treffen.« »Ich kann nicht einmal so tun, als verstünde ich es«, räumte Sephor ein, »aber ich vertraue in dieser Hinsicht
Euren Instinkten, Sir. Ihr habt uns noch nie in die Irre geführt.« 351 »Und ich habe nicht die Absicht, jetzt damit anzufangen«, versicherte Zerreiss ihm. »Ihr wisst, dass wir nicht die Einzigen sind, die dorthin fahren«, warnte Weilern. »Unsere Spione berichten, dass mindestens ein Reich seine Flotte in diese Gewässer geschickt hat.« »Das ist ein wichtiger Einwand«, überlegte Sephor. »Wir würden uns zum ersten Mal im offenen Kampf der Streitmacht eines Reichs stellen.« »Vertraut mir«, sagte der Kriegsherr. »Wir haben uns lange genug darauf vorbereitet, unsere Botschaft in ihre zivilisierte Welt zu tragen. Es ist Zeit, dass wir uns begegnen.« Er sah sie kühl und gelassen an. »Signalisiert den neuen Kurs.« Man sagt oft, die Götter hätten eigenartige Ideen hinsichtlich der Führung ihrer menschlichen Ebenbilder. Skeptiker halten alles für einen Zufall, die Gläubigen denken an göttliche Eingriffe, und beide stimmen darin überein, dass in der Anordnung der Spieler im großen Spiel des Lebens häufig eine grausame Ironie zum Vorschein kommt. So geschah es, dass in diesen weiten Gewässern noch eine weitere bunt zusammen gewürfelte Truppe zur Diamantinsel unterwegs war. »Seht es Euch genau an«, sagte Devlor Bastorran. »Ihr werdet zu Zeugen historischer Ereignisse.« »Ach, wirklich?« Aphri Kordenza gähnte demonstrativ hinter vorgehaltenem Handrücken. »Es kommt mir vor wie ein Haufen Boote, weiter nichts.« »Es sind Schiffe«, berichtigte der Paladin sie. »Boote oder Schiffe, es sind langweilige Dinger, die zufällig im Wasser schwimmen.« »Ihr habt keinen Sinn für Geschichte.« »Äphrim und ich haben Wichtigeres im Sinn. Wir besitzen einen Sinn fürs Überleben.« 352 »Dann solltet Ihr Euch vielleicht stärker für das erwärmen, was rings um Euch vorgeht.« »Wir nehmen genug wahr, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Alles andere wäre eine überflüssige Belastung.« »Es interessiert Euch wirklich nicht, dass wir an etwas beteiligt sind, das kein lebender Mensch je gesehen hat?« »Nein. Und wir glauben auch nicht, dass es für Euch wirklich von Bedeutung ist. Wir glauben, dass Ihr uns ähnlich seid. Wenn es wirklich darauf ankommt, interessiert Ihr Euch nur für den Qalochier und dafür, es ihm heimzuzahlen.« »Die Rebellen auszulöschen, ist ein durchaus anziehender Gedanke.« »Sicher, aber das ist nichts Persönliches wie bei Caldason, nicht wahr?« »Ich habe es nie bestritten. Jedenfalls nicht Euch gegenüber.« »Dann verschont uns mit diesem Unsinn über geschichtsträchtige Augenblicke, Bastorran.« »Falls Ihr vielleicht glaubt, Ihr könntet ihn vor mir finden und mich um meine Rache bringen, Missgeburt, dann seid Ihr selbst Geschichte. Alle beide.« »Macht Euch deshalb keine Sorgen. Wir geben uns damit zufrieden, Rebellenhälse durchzuschneiden und diese Ardacris zu schnappen.« »Vergesst nicht, dass sie überleben muss. Ich habe Laffon versprochen, sie ihm zum Verhör zu liefern.« »Spielverderber.« »Ich sage nur, dass sie verhörfähig sein muss. Ich habe nicht gesagt, sie müsse völlig unversehrt bleiben.« »Das ist immerhin ein kleiner Trost.« »Ein größerer Trost dürfte es sein, dass Ihr mir helfen könnt, Caldason zu töten. Jedenfalls, solange ich ihm den Todesstoß versetzen darf.« 353 Die Symbiontin war sichtlich erfreut. »Das ist wirklich etwas, worauf wir uns freuen können. Aphrim wird ganz sicher ...« Jemand hüstelte diskret. Sie drehten sich um und sahen Bastorrans Adjutanten, der sich ihnen näherte. »Was gibt es, Meakin?«, knurrte der Paladin. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber der Kapitän schickt seine Grüße und lässt ausrichten, dass unsere Flotte und die von Rintarah kurz vor dem offiziellen Rendezvous stehen. Direkt voraus, Sir.« Er hob ein magisch verstärktes Fernglas. »Dies könnte Euch nützlich sein.« Bastorran grunzte und schnappte es sich. »Ein erstaunlicher Anblick, nicht wahr, Sir?«, fügte Meakin hinzu. »Da wird Geschichte geschrieben.« »Und ob«, meinte Bastorran knapp. Kordenza verdrehte die Augen zum Himmel. »Der Kapitän sagte auch, wir müssten in weniger als einem Tag in Sichtweite der Diamantinsel sein«, fügte Meakin hinzu. »Keine Minute zu früh«, murmelte die Symbiontin. Ringsherum war das Meer von unzähligen Schiffen jeglicher Größe bedeckt. Ein Wald aus tanzenden Masten verdeckte den Horizont. Voraus vereinigten sich die beiden mächtigen Flotten unter magischem Glanz.
354 Rede mit mir, Paladin, oder du musst den Rest des Weges schwimmen!« Caldason hatte Praltor Maha-ganis am Genick gepackt und gegen die Reling der Brigg gepresst. Serrah schob sich zwischen sie. »Reeth! So beruhige dich doch.« »Geh mir aus dem Weg.« »Das ist doch nicht dein Ernst.« »Wirklich nicht? Sieh mir in die Augen und sag das noch einmal.« »Lass ihn in Ruhe.« Es klang mühsam beherrscht und drohend. »Nein«, sagte Mahaganis, »Reeth hat schon Recht. Ich hätte von Anfang an nichts zurückhalten dürfen.« Sie achteten kaum auf ihn. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, Reeth«, sagte Serrah, »wir haben eine verdammt große feindliche Flotte vor uns, die uns den Weg zu versperren droht!« Von Steuerbord näherte sich eine anscheinend unendlich große Zahl von Schiffen. Sie waren noch ein Stück entfernt, doch die führenden Schiffe waren weit genug gekommen, um der Brigg den Weg abzuschneiden, und dies würde schon sehr bald geschehen. 355 »Dies ist nicht der richtige Augenblick für eine Geschichtsstunde«, fügte sie hinzu. »Es könnte der einzige Augenblick sein, den wir überhaupt noch haben«, erwiderte Caldason. »Er hat Recht«, sagte Mahaganis. Seine Stimme klang müde und resigniert. »Du sollst alles erfahren.« Kutch und Wendah kamen gerannt. Rad Cheross, der Kapitän, und zwei Matrosen waren dicht hinter ihnen. »Was soll das Theater?«, keuchte Kutch. »Was machst du da mit ihm?«, fragte das Mädchen wütend. Ihr Gesicht war gerötet, und sie schien drauf und dran, sich handgreiflich einzumischen. »Schon gut, Wendah«, beruhigte Mahaganis sie. »Niemand will mir etwas tun.« »Doch, der da.« Sie sah Caldason böse an. »Nein, das will er nicht«, sagte Kutch. »Das würde Reeth nie tun.« »Wirklich nicht? Er ist ein Killer, oder nicht?« Caldason ließ den alten Mann los. Serrah legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. »Kutch sagt die Wahrheit, Wendah. Niemand wird hier verletzt. Wir wollen uns jetzt alle beruhigen, ja?« Cheross kam zu ihnen. »Könntet Ihr das vielleicht woanders erledigen? Ihr seid uns im Weg.« Er nickte zur näher kommenden Flotte hin. »Können wir irgendetwas tun?«, fragte Serrah. »Nicht, wenn Ihr nicht über außerordentliche seemännische Fähigkeiten verfügt, von denen Ihr mir noch nichts erzählt habt. Das Beste ist, Ihr lasst uns einfach unsere Arbeit tun. Geht in die Messe, da werdet Ihr nicht gestört.« »Können wir ihnen entkommen?« »Wir haben durchaus die Aussicht darauf, aber ich kann nichts versprechen. Macht Euch bereit, das Schiff zu verteidigen, falls ich den Befehl geben muss.« »Gegen die alle?«, platzte Kutch heraus. 356 »So weit wird es nicht kommen«, versprach Serrah. »Wir halten Rad davon ab, seine Arbeit zu tun. Lasst uns gehen.« Sie führte die anderen fort. Wendah nahm den alten Mann am Arm und bugsierte ihn übers Deck. Kutch wich nicht von ihrer Seite, Caldason folgte hinter ihnen. Das Deck war glitschig von der Gischt, und eine beständige, steife Brise wehte. Sie waren froh, sich in die größte Kabine des Schiffs zurückziehen zu können, und setzten sich an den langen Eichentisch, der dort stand. »Was ist denn eigentlich los, Reeth?«, fragte Kutch. »Du weißt doch, was Praltor über mein Gründerblut gesagt hat. So etwas kann man nicht einfach sagen und sich dann weigern, es näher zu erklären. Ich will jetzt auch den Rest hören. Jetzt sofort, solange noch Zeit dazu ist.« Wendah riss die Augen auf. »Meinst du, bevor wir sterben?« »Reeth meint, in der Zeit, die wir noch haben, bis wir die Insel erreichen«, log Serrah. Sie warf ihm einen harten Blick zu. »Das meintest du doch, Reeth, oder?« »Das ist richtig«, antwortete er nach einer kleinen Pause. »Ich hätte es dazusagen sollen.« Er wandte sich an Mahaganis. »Nun erkläre mir, was du mit dem Gründerblut meintest. Bitte.« »Ja. Hm, zuerst hätte ich gern etwas zu trinken, wenn jemand so freundlich wäre.« Wendah schenkte ihm mit Wasser verdünnten Wein aus einem Krug ein. Er lächelte. »Danke, Kind.« Er tastete nach ihrer Hand, drückte sie und trank. Dann setzte er den Becher entschlossen ab. »Was ich dir gesagt habe, Reeth«, begann er, »war die reine Wahrheit. In deinen Adern fließt das Blut der Gründer.« »Wie kann das sein?«, wollte Kutch wissen. »Die Gründer sind schon vor Jahrtausenden ausgestorben.« »Da irrst du dich.«
357 »Machst du dich über mich lustig?«, fragte Caldason. »Oder benebelt dir das hohe Alter das Gehirn?« »Weder - noch«, erwiderte Mahaganis. »Ich habe es noch nie so ernst gemeint wie jetzt.« Serrah hob beschwichtigend eine Hand. »Das ist schon sehr verwirrend, Praltor. Beginne doch einfach ganz von vorne, ja?« »Na schön.« Er trank noch einen Schluck Wein und sammelte seine Gedanken. »Niemand weiß, wie oder warum die Gründer ihre Vorherrschaft verloren haben. Wir wissen nur, dass sie eine bemerkenswerte Zivilisation aufgebaut hatten, deren Errungenschaften größtenteils unser Verständnis übersteigen. Die Gründer waren einst die unumstrittenen Herrscher der Welt, bis sie in Ungnade fielen oder gestürzt wurden und ihr Volk ausgerottet wurde. Das glauben jedenfalls die meisten Menschen.« »Aber du bist anderer Meinung?« »Oh, ja. Die Katastrophe, die den Gründern den Garaus gemacht hat, löschte sie nicht alle aus. Ich weiß nicht, wie viele überlebt haben und ob ihre Nachkommen verstreut weiterleben oder auf irgendeine Weise organisiert sind. Ich vermute Letzteres. Ich glaube, sie existieren als eine Art Geheimgesellschaft weiter. Vielleicht in einem weit entfernten Land, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt sind und ...« »Bist du sicher, dass dies zutrifft?« Serrah konnte sich den skeptischen Unterton nicht ganz verkneifen. »Ich kann nicht mehr als spekulieren, wo sie sind und wer sie sind, aber ich weiß genau, dass sie existieren, weil ich Reeth vor ihnen beschützt habe. Wie sie sich auch heute darstellen mögen, sie sind mächtig genug, um jedem gefährlich zu werden, der ihnen in die Quere kommt.« Caldason sah ihn prüfend an. »Du sagst, ich hätte ihr Blut in den Adern. Warum muss ich dann vor ihnen beschützt werden?« 358 »Die Reinheit ihrer Art zu erhalten ist eines ihrer höchsten Ideale. Du warst der erste Mischling. Oder wenigstens der erste, von dem ich hörte, der überlebt hat. Ihr Blut fließt durch deine Adern, aber damit wirst du nicht zu einem von ihnen. In ihren Augen bist du etwas Obszönes. Etwas, das vernichtet werden muss.« Caldason schwieg. »Wie kam es überhaupt dazu, dass Reeth so unterschiedliche Eltern hatte?« »Reeth ist aus der Verbindung seiner qalochischen Mutter mit einem Mann entstanden, der von den Gründern abstammte. Ich weiß nicht, ob auf einer oder auf beiden Seiten Liebe im Spiel war oder ob es nur ein oberflächliches Verhältnis war. Ich weiß aber, dass dieser Mann eines der wichtigsten Tabus der Gründer gebrochen hat, als er ein Kind mit ihr zeugte. Wie du weißt, starb sie bei der Geburt des Kindes, und es ist gut möglich, dass sie starb, weil ihr Volk und unseres sich nicht vermischen sollen. Doch ihr Tod reichte ihnen nicht aus. Auch Reeth musste beseitigt werden, da er ihrer Ansicht nach eine wandelnde Abscheulichkeit war.« »Du warst bei meiner Geburt anwesend«, erinnerte Caldason sich. »Ich sah es im Traum.« »Ja. Ich war gerade von den Paladinen desertiert. Die Korruption hatte sich in den Clans weit ausgebreitet, und ich war einer derjenigen, die sich zurückzogen. Ich hielt wie andere zu den Qalochiern und wandte mich gegen die Verfolgungen und die Ungerechtigkeit, unter der dein Volk litt. Da ein großer Teil der Angriffe von den Paladinen ausging, also von meinem Volk, fühlte ich mich verpflichtet, wenigstens zu versuchen, diese Verbrechen wieder gutzumachen.« »Wusstest du da schon, dass Nachkommen der Gründer existierten?« »Nur durch meine Verbindung zu deinem Volk. Die Qa-lochier waren die Ureinwohner Bhealfas und konnten auf 359 eine lange Geschichte zurückblicken. Ihr Weg hatte sich in der Vergangenheit oft mit dem der Gründer gekreuzt. Ich vermute, dass die Qalochier von den Gründern benutzt wurden. Es gab weise Menschen in euren Stämmen, die die Wahrheit kannten. Niemand glaubte ihnen, und mit der Zeit äußerten sie sich vorsichtiger.« »Sie wurden benutzt?«, fragte Serrah. »Das glaubte ich damals, und ich glaube es heute. Frauen der Qalochier wurden benutzt, um den Männern der Gründer Freude zu bereiten. Die Qalochier waren schon immer die Opfer von Verfolgungen, und man fürchtete sie wegen ihrer kriegerischen Art. So gesehen waren die Qalochier eine gute Wahl. Kaum jemanden kümmerte es, was mit ihnen geschah, und noch weniger wären bereit gewesen, sich ihre Klagen anzuhören.« »Was für eine schreckliche Art, ein Volk auszubeuten. Die Gründer müssen ausgemachte Lumpen gewesen sein.« »Für sie war es sicher recht bequem«, sagte Caldason, der seine kalte Wut kaum beherrschen konnte. »Was hat sich dann geändert?« »Die Schwangerschaft deiner Mutter löste einen Konflikt aus«, erwiderte Mahaganis. »Ich glaube, so etwas kam nur äußerst selten vor. Vielleicht niemals vorher. Wie ich schon sagte, diese beiden Völker sollten sich eigentlich nicht vermischen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Clans beauftragt, die Qalochier auszurotten und dich zu töten. Man brauchte nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die Gründer die Auftraggeber waren. Die Paladine, das muss man zu ihrer Schande sagen, dachten nicht weiter darüber nach, oder es war ihnen gleich, woher das Geld kam.« Caldason, dem man nur selten ansah, was in ihm vorging, war sichtlich erschüttert. »Sie haben mein ganzes Volk
massakriert, obwohl es eigentlich nur um mich ging?« »So eifersüchtig verteidigen sie ihr Blut. Das ist schwer zu verstehen, und du könntest nun dazu neigen, wegen des 360 Schicksals deines Volks Schuldgefühle zu entwickeln. Es war aber nicht deine Schuld, mein Junge. Wenn schon nichts anderes, dann musst du wenigstens dies in deinen Dickschädel bekommen.« »Aber warum war das für sie so wichtig?«, fragte Serrah. »Warum musste Reeth sterben? Das scheint mir eine harte Strafe für einen Tabubruch zu sein. Es muss doch mehr dahinterstecken.« »Alle Kulturen haben ihre Verbote, auch unsere«, erinnerte der alte Mann sie, »und manchmal sind die Strafen der Imperien recht drakonisch.« »Vielleicht ...«, murmelte Wendah leise und unsicher. Dann hielt sie inne und sah sich schüchtern um. Alle waren überrascht, dass sie überhaupt das Wort ergriff. »Fahre fort, meine Liebe«, ermunterte Mahaganis sie. »Was wolltest du sagen?« »Vielleicht ... vielleicht ging es nicht nur darum, dass eine Regel gebrochen wurde.« Sie warf Caldason einen besorgten Seitenblick zu. »Vielleicht hassen sie ihn, weil sie ihn fürchten.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, warf Kutch ein. »Was meinst du damit?«, wollte Mahaganis wissen. »Hat Reeth so lange gelebt, weil er zur Hälfte ein Gründer ist?« »Es muss so sein. Auf die gleiche Weise hat die Quelle auch mein Leben verlängert.« »Das gilt wohl auch für Phönix.« »Für wen?« »Jemand, den wir kennen«, erklärte Serrah. »Auch er ist mit Hilfe der Gründermagie viel älter geworden, als man hätte erwarten können. Entschuldige, Kutch. Was wolltest du sagen?« »Ich wollte fragen, was es eigentlich bedeutet, das Blut der Gründer in den Adern zu haben. Abgesehen davon, dass man länger lebt.« 361 »Es könnte Reeths Visionen erklären«, antwortete Mahaganis, »und die Verbindung, die er anscheinend zu diesem Kriegsherrn Zerreiss hat. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum das so ist.« »Es scheinen sehr ähnliche Anzeichen zu sein«, überlegte Kutch. »Ich habe auch mich gefragt, ob du, wenn du schon ihr Blut hast, vielleicht auch über ihre Kräfte verfügst?« »Die Gründer waren nicht menschlich. Manche Gelehrte glauben, sie seien vor langer Zeit gewesen wie wir, hätten sich dann aber zu etwas anderem entwickelt. Wer weiß schon, was herauskommt, wenn man mit einem von ihnen ein Kind zeugt?« »Nehmen wir an, es verleiht dem Betreffenden magische Kräfte oder Fähigkeiten, die sie nicht preisgeben wollen? Etwas, das ihnen gefährlich werden könnte.« »Ich kann ... ich kann etwas in Reeth sehen«, fügte Wendah hinzu. »Mit meiner Begabung«, ergänzte sie überflüssigerweise. »Was kannst du sehen?«, fragte Caldason alles andere als freundlich. Sie blinzelte ihn an, als versuche sie, einen Dunstschleier zu durchdringen. »Ich kann es nicht erklären. Etwas, das ich noch nie gesehen habe.« »Du hattest auch nicht mit vielen Menschen Kontakt«, erinnerte Serrah sie. »Das ist wahr. Aber es fühlt sich trotzdem seltsam an.« »Was ist mit dir, Kutch?« »Ich habe mit Aufklären aufgehört, weil ich nicht mit dem zurechtgekommen bin, was ich von Reeth aufgefangen habe. Das scheint es zu bestätigen.« »Nein, keineswegs«, widersprach Caldason. »Ihr gebt alle möglichen Mutmaßungen über mich zum Besten. Aber wie steht es mit der Alternative?« »Welche Alternative?«, fragte Mahaganis. 362 »Dass mein Leiden, was auch immer es ist, nichts mit der Magie der Gründer zu tun hat.« »Was sollte es sonst sein?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht ein Fluch, der mir von einem Feind auferlegt wurde, oder ...« »Ein Fluch, der anders ist als alles, was man zuvor gesehen hat? Nun hör schon auf. Du suchst nach Erklärungen, obwohl dir die Wahrheit ins Gesicht starrt. Man kann dir nicht vorwerfen, dass du nicht bereit bist, dies zu akzeptieren, aber was dich umtreibt, hast du von deinem Vater geerbt, und er gehörte zu den Gründern.« »Was weißt du über ihn? Bist du ihm je begegnet?« »Nein, und ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Vielleicht wurde über ihn die Todesstrafe verhängt. Wir wissen nicht, wie sie einen ihrer eigenen Leute in einer solchen Lage behandeln. Aber ...« »Was denn?« »Ich habe keine Beweise, aber nachdem ich erlebt habe, wie die Nachkommen der Gründer sich verhalten, und nach allem, was ich von den Qalochiern gehört habe, die das große Massaker überlebten ...« »Nun weiche nicht schon wieder aus, alter Mann.«
»Ich glaube, er war derjenige, der dich zu töten versuchte.« Jemand klopfte an die Tür der Messe, und Rad Cheross trat ein. »Wir sind den feindlichen Flotten mit knapper Not entkommen. Von den Piraten ist weit und breit nichts zu sehen. Ich glaube, sie halten sich aus nahe liegenden Gründen bedeckt. Wenn jetzt kein Unglück mehr geschieht, werden wir die Diamantinsel in ein oder zwei Stunden knapp vor den Flotten erreichen. Macht Euch bereit, eilig von Bord zu gehen.« Er wartete nicht, ob sie etwas erwidern wollten. Caldason stand auf. Serrah war um ihn besorgt. »Reeth?« 363 »Ich brauche frische Luft.« Er ging zur Tür, sie folgte ihm. Die anderen begriffen, dass die beiden unter sich sein wollten, und blieben, wo sie waren. Auf Deck ging Caldason zur Reling und blickte zur mächtigen Flotte, die am Horizont zusammengezogen wurde. Der Himmel war dunkler geworden. Serrah legte ihm einen Arm um die Hüfte. »Wie fühlst du dich?« »Ich habe gehört, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist. Mein Vater wollte mich töten, und mein Volk wurde bis auf mich so gut wie ausgelöscht. Was glaubst du, wie sich das anfühlt?« »Kompliziert?« Wider Willen lächelte er. »Auf deinen Galgenhumor kann ich mich immer verlassen.« »Manchmal ist das alles, was wir noch haben.« Ihr Gesicht wurde hart. »Weißt du, ich bin skeptisch in Bezug auf einige Dinge, die Praltor da drinnen gesagt hat.« »Als da wäre?« »Vor allem seine Annahme, die Gründer existierten als eine Art Geheimgesellschaft weiter. Ich habe in meiner Zeit beim Rat für Innere Sicherheit keinen einzigen Hinweis darauf bekommen, und es gehörte zu meinen Aufgaben, mich um geheime Gruppen zu kümmern.« »Der RIS hat dir aber auch einiges verschwiegen.« »Das ist wahr. Selbst wenn in dem, was Praltor sagt, ein Körnchen Wahrheit liegen mag, meiner Ansicht nach weiß auch er nicht alles.« »Bist du auch skeptisch hinsichtlich der Frage, ob ich ein bösartiges Krebsgeschwür der Gründer in mir habe?« »Ich ... ich weiß nicht, Reeth. Aber ich neige zu der Vermutung, dass der alte Mann damit Recht haben könnte.« »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.« Sie zuckte mit den Achseln. »Die meisten Fragen sind 364 aber eher akademischer Natur. Schau mich nicht so an. Sie sind akademisch, weil sie uns im Augenblick nicht helfen. Schau dich nur um, was da auf uns zukommt.« Sie nickte in Richtung der Invasionsflotte. »Spielt das alles noch eine Rolle, wenn wir unserem Grab entgegensegeln?« 365 Sie erreichten wohlbehalten den Hafen, jedoch nur knapp vor der Vorhut der vereinigten Flotte. Da die feindlichen Schiffe sich vor der Küste sammelten und in immer größerer Zahl eintrafen, fiel die Begrüßung leidenschaftlich, aber zwangsläufig sehr kurz aus. Eilig begannen sie mit den Vorbereitungen. Kämpfer liefen zu ihren Verteidigungsstellungen. Waffen wurden ausgegeben, Posten besetzt. Hunderte rannten zur fast vollendeten Festung und zertrampelten den gefrorenen Bode zu Schlamm. »Hast du gehört?«, rief Serrah, als sie sich einen Weg über die überfüllte Mole bahnten. »Tanalvah ist hier!« »Ich hab's gehört«, antwortete Caldason. »Anscheinen haben es auch Karr und Disgleirio geschafft, und dazu ein paar hundert weitere Leute aus Bhealfa.« »Wenn man vom Teufel spricht.« Sie nickte, als ein Wagen sich näherte. Disgleirio lenkte ihn, Karr saß neben ihm. Sie beförderten eine Gruppe von Kämpfern, die rasch abstiegen und sich auf ihre Posten begaben. Disgleirio half Karr beim Absteigen, und die beiden kamen herüber. »Gott sei Dank«, rief Karr. »Ich fürchtete schon, wir würden Euch nie wieder sehen.« 366 »So leicht werdet Ihr uns nicht los«, sagte Serrah. Sie umarmten sich fest. »Möglicherweise seid Ihr aber von der Hölle ins Fegefeuer geraten«, meinte Disgleirio und gab Caldason die Hand. »Ich hab's gern warm«, erwiderte der Qalochier. »Nun ja, es sieht so aus, als sollte es bald sehr heiß hergehen.« »Wir haben gehört, dass auch Tan auf der Insel angekommen ist«, sagte Serrah. »Ja, und wir müssen Quinn danken, dass er sie ausfindig machen konnte«, erklärte Karr. »Wirklich? Gut gemacht, Quinn.« Der Kämpfer der Gerechten Klinge lächelte nur und schien sogar etwas verlegen. »Wie geht es Kinsel?« Disgleirio war dankbar für den Themenwechsel. »Körperlich geht es ihm gut.«
»Was wohl bedeutet, dass es ihm in anderer Hinsicht nicht ganz so gut geht«, sagte sie. »Was er durchgemacht hat, hinterließ natürlich Spuren, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Das ist nur verständlich.« »Wo ist Darrok?«, wollte Caldason wissen. »Er beaufsichtigt die Verteidigung auf der anderen Seite der Insel«, sagte Karr. »Und was die anderen angeht... ah, da kommt Phönix.« Der alte Magier näherte sich in Begleitung einiger Jünger, die hinter seinem flatternden Mantel fast verborgen waren. »Willkommen daheim!«, polterte er. »Wie ist Eure Mission verlaufen?« »Es war ... recht aufschlussreich«, antwortete Reeth. »Bei Euch verläuft nichts reibungslos, was, Reeth? Also habt Ihr die Clepsydra gesehen?« »Ja, wir haben sie gesehen.« 367 »Ihr seid ein Glücklicher - was ist mit der Quelle?« »Die haben wir gefunden.-« Der Magier sah aus wie ein Kind, das mit einer Tüte Süßigkeiten im Spielzeugladen eingeschlossen wird. »Bei den Göttern, Reeth! Welche Gestalt hat sie angenommen? Wurde sie auf irgendeine Weise verteidigt? Musstet Ihr ... Euer Gesichtsausdruck gefällt mir nicht. Habt Ihr uns Hilfe mitgebracht oder nicht?« »Vielleicht.« »Spannt ihn nicht zu sehr auf die Folter, Reeth«, warnte Disgleirio. »Ich mache keine Ausflüchte. Es ist nur ... ich weiß es einfach nicht.« »Wo ist sie? Zeigt sie mir«, drängte Phönix. Caldason deutete mit dem Daumen zum Fallreep vor der Brigg. Kutch und Wendah kamen gerade herunter, sie führte den offensichtlich blinden Mahaganis. Phönix begriff es nicht. »Die beiden haben sie?« »Kutch erklärt es Euch. Und mit Wendah, dem Mädchen, müsst Ihr vorsichtig sein.« »Ich störe Euch ja nur ungern«, unterbrach Disgleirio, »aber wir müssen jetzt eine Invasion abwehren.« Ringsum wurde es allmählich hektisch. Immer mehr Leute eilten vorbei, viele in Richtung Strand. Verteidiger kamen auf Pferderücken und mit Kutschen. Die Leute ketteten Kisten und Fässer zu Barrikaden zusammen. Karr sagte: »Reeth, Serrah, wir brauchen Euch. Dringend. Wir haben nicht viele Kämpfer mit Euren Fähigkeiten und Eurer Erfahrung. Ihr sollt beide die Führung einiger Abteilungen übernehmen.« »Wir werden tun, was wir können«, erwiderte Caldason. »Aber im Augenblick, im Anfangsstadium, wollen wir uns ohne festen Auftrag frei bewegen und dort sein, wo wir gebraucht werden. Wir glauben, dass wir auf diese Weise nützlicher sind.« 368 »In Ordnung. Was Ihr das Anfangsstadium nennt, dauert aber möglicherweise nicht sehr lange, falls sie auf einen Schlag loslassen, was sie aufgeboten haben.« »Umso mehr ein Grund, uns nicht mit Einzelheiten aufzuhalten. Wenn sie vernünftig sind, werden sie ohnehin unsere Verteidigung prüfen, ehe sie ihre ganze Streitmacht einsetzen. Sie wissen ja nicht, was wir haben.« »Nein, aber sie können es vermuten.« Karr wandte sich an den Magier. »Phönix, setzt das, was Reeth mitgebracht hat, so gut ein, wie Ihr könnt. Wenn Ihr eine Art Waffe daraus machen könnt...« »Wir können nichts Derartiges versprechen, und schon gar nicht in so kurzer Zeit, aber wir werden uns bemühen.« »Mehr kann man nicht verlangen.« »Ich will Tanalvah sehen«, erklärte Serrah. »Es geht ihr gut«, versicherte Disgleirio ihr. »Den Kindern auch. Ihr braucht Euch ihretwegen keine Sorgen zu machen.« »Das glaube ich gern. Ich würde sie trotzdem gern sehen.« »Sie ist mit Kinsel sicher in der Redoute untergebracht«, erklärte Karr. »Vielleicht könnt Ihr Euch nützlich machen und sie hierher zur Festung holen.« »Worin lag eigentlich der Sinn, die Redoute auszubauen, wenn Ihr nicht die Absicht habt, sie zu benutzen?«, fragte Caldason. »Darüber haben wir uns während Eurer Abwesenheit tatsächlich gestritten. Darüber, wie man diese Festung hier am besten einsetzt.« »Die Festung lädt zu einer Belagerung förmlich ein. Ich schlage vor, dass Ihr dort alle sammelt, die nicht kämpfen können - die Alten und Schwachen, Kinder und Kranke. Ordnet ein Minimum an kampffähigen Leuten ab, um sie zu verteidigen. So bleiben die Eindringlinge im Ungewissen über die Stärke der Garnison. Wenn wir überrannt werden, verfahren die Feinde vielleicht gnädig mit den Nichtkombattanten.« 369 »Und die Redoute?« »Die soll denen, die noch kämpfen können, als Schlupfloch dienen. Ich muss ja nicht eigens betonen, dass wir uns dem Angriff nicht stellen können wie ein reguläres Heer. Die Guerillataktik ist unsere einzige Möglichkeit. Wir brauchen bewegliche Banden, die zuschlagen und wieder verschwinden, sobald die Feinde an Land gehen.
Und sie werden an Land gehen, da mache ich mir keine falschen Vorstellungen.« »Wo passen da Tan und Kinsel hinein?«, fragte Serrah. »Sie gehören eindeutig zu den Nichtkombattanten. Aber das sollten sie vielleicht selbst entscheiden.« »Tan bekommt sehr bald schon ihr Kind. Je sicherer sie untergebracht ist, desto besser.« »Sicherheit ist hier neuerdings ein ziemlich bedeutungsloser Begriff geworden«, erinnerte Disgleirio sie. »Dann fahre ich sofort rüber. Kommst du mit, Reeth?« »Ich muss hier bleiben und mir die Verteidigung ansehen. Macht es dir etwas aus?« »Nein, tu das nur.« »Ich könnte Euch im Wagen mitnehmen«, bot Disgleirio an. »Ich muss sowieso dorthin. Und ich könnte Euch alle zurückbringen, falls das nötig ist.« »Schön.« »Aber haltet euch nicht zu lange auf«, warnte Caldason sie. »Wir wissen nicht, wie lange wir noch Zeit haben, bis der Angriff beginnt.« Serrah küsste ihn. »Bis später.« Sie und Disgleirio liefen zum Wagen und stiegen hinauf. Kaum war der Hafen außer Sicht, da spürte Serrah winzige kalte Nadelstiche im Gesicht. »Oh, wundervoll.« Sie zog den Mantel eng um sich. »Schlechtes Wetter könnte sogar günstig für uns sein«, überlegte Disgleirio. »Für die Angreifer ist dies ein unbekanntes Gebiet. Die Aussicht, in einem Schneesturm kämpfen zu müssen, könnte sie etwas aufhalten.« 370 »Ihr versucht anscheinend, jeder Lage etwas Positives abzugewinnen.« »Nicht immer. Aber ich neige dazu, je schwieriger die Lage wird. Lieber so als andersherum.« »Wie schwierig ist die Lage denn? Ihr wisst, dass Ihr mich nicht schonen müsst, Quinn.« »Es könnte kaum schlimmer sein, abgesehen davon, dass wir alle ein Schwert an der Kehle haben, womit wir in allernächster Zukunft sowieso rechnen müssen. Sie haben so viele Schiffe, dass wir uns viel zu sehr verteilen müssen, um sämtliche Landestellen abzusichern. Wenn es Mann gegen Mann geht, sind wir vermutlich zwanzig zu eins unterlegen. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, können wir eigentlich nur noch auf einen ehrenhaften Tod hoffen.« »Das ist aber eine angenehme Aussicht.« »Ihr wolltet es ja wissen.« Sie fuhren an Kolonnen bewaffneter Männer vorbei, die zur Küste marschierten. Lange Ketten von Eseln transportierten Waffen und Vorräte. Auf den Hügeln und den weiter entfernten Klippen wurden Signalfeuer angezündet. Nach zwanzig Minuten, die in fast völligem Schweigen verstrichen waren, tauchten die Türme der Redoute auf. Auch hier herrschte reges Treiben. »Soll ich mit reinkommen?«, fragte Disgleirio. »Andernfalls könnte ich mich um ein paar dringende Angelegenheiten kümmern und Euch, sagen wir, in spätestens einer Stunde wieder abholen?« »Ja, geht nur, und vielen Dank.« »Erinnert Ihr Euch an das Zimmer, in dem Kinsel war, als Ihr aufgebrochen seid? Sie müssten jetzt zwei Türen weiter untergebracht sein.« Die Wächter erkannten sie und winkten sie durch das schwere, halb geöffnete Tor. Auch drinnen waren viele Menschen unterwegs, doch sobald Serrah die Redoute selbst betreten hatte, wurde es 371 erheblich ruhiger. Sie lief durch einen hallenden Flur und erreichte den Raum, den Kinsel vorher bewohnt hatte. Kurz dahinter fand sie die Tür, die Disgleirio ihr beschrieben hatte. Sie stand ein wenig offen. Serrah klopfte leise an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Tanalvah saß in einem dick gepolsterten Lehnstuhl, in Decken gepackt und die Füße auf einen Hocker gelegt. Sie schien zu schlafen. Serrah fand, dass sie für eine hochschwangere Frau zu blass und etwas zu hager aussah. Das Zimmer war nur spärlich möbliert und hätte abweisend gewirkt, hätte nicht im großen Kamin ein munteres Feuer gebrannt, das leicht nach Kiefern und Vanille roch. Auf einem kleinen Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit, die kaum angerührt worden war, und auf den unebenen Dielenbrettern lag Holzspielzeug verstreut. Eine Tür, die zu einem benachbarten Zimmer führte, stand ein Stück weit offen. Von dort waren leise Stimmen zu hören. Die schlafende Frau und die heimelige, wenngleich spartanische Umgebung kamen Serrah angesichts der Vorgänge draußen mehr als unpassend vor. Tanalvah schlug die Augen auf. Einige Atemzüge lang sah sie aus, als träume sie noch. »Tan«, flüsterte Serrah. Jetzt riss Tanalvah die Augen auf, und ihr Gesicht wurde, wenn überhaupt möglich, noch bleicher. Sie machte Anstalten aufzustehen. Serrah eilte zu ihr. »Nein, nein! Bleib, wo du bist, Tan. Ich bin es doch, Serrah.« »Serrah«, wiederholte Tanalvah. Ihre Stimme klang flach, bar jeglichen Gefühls.
Serrah kniete nieder, umarmte sie und küsste sie auf die Wange. Ihre Haut war kalt, und Tanalvah verkrampfte sich und wehrte sich beinahe gegen die Berührung. »Ich bin so froh, dass du es geschafft hast«, sagte Serrah. »Ich ... ich freue mich, dass du da bist.« 372 »Ich habe dich erschreckt, ich bin hereingekommen, als du noch nicht richtig wach warst. Entschuldige. Aber ich musste dich unbedingt sehen.« Tanalvah wollte anscheinend etwas sagen, doch sie schwieg und starrte Serrah nur an. Serrah hätte nicht geglaubt, dass ihr Wiedersehen so verlaufen würde. Doch als sie an das dachte, was ihre Freundin durchgemacht hatte, beschloss sie, nachsichtiger zu sein. Zu ihrer Erleichterung wurde das unbehagliche Schweigen gleich darauf gebrochen. Kinsel kam aus dem Nachbarzimmer herein, begleitet von zwei aufgeregten Kindern. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört ... Serrah!« »Hallo, Kinsel.« Sie ließ sich umarmen, dann bückte sie sich und begrüßte Teg und Lirrin, die schon ungeduldig an ihrem Hemd zupften. Als sich alle wieder beruhigt hatten und die Kinder schwiegen, ergriff Serrah die Gelegenheit und fragte: »Wie geht es dir, Tan?« Die Antwort kam unter Tränen. »Gut. Einfach ... gut.« Serrah und Kinsel wechselten einen kurzen, viel sagenden Blick. »Es muss bald so weit sein«, sagte Serrah. Tanalvah nickte. »Sie ist müde.« Kinsel sprach das Offensichtliche aus. »Wir tun, was wir können, um es ihr leichter zu machen. Nicht wahr, Kinder?« Die Geschwister nickten feierlich. »Sie waren alle so wundervoll«, schniefte Tanalvah. »Das habe ich nicht verdient.« Kinsel nahm ihre Hand. »Sei nicht albern, Liebste. Du verdienst nur das Beste.« »Und wie geht es dir selbst, Kinsel?«, fragte Serrah, um die Gefühlsduselei so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. 373 »Ach, ich habe etwas abgenommen.-« »Das ist mir schon aufgefallen.« »Verzeih mir, ich habe noch gar nicht gefragt... Wie ist eure Mission verlaufen?« »Seltsam. Ich erzähle es dir später.« »Wie geht es Reeth? Und Kutch?« »Wir sind wohlbehalten zurückgekommen, und ich glaube, Kutch hat bald seine erste Liebesaffäre.« »Wirklich? Mit wem denn?« »Mit einer jungen Frau, die wir auf unserer Reise getroffen haben. Hoffentlich lernst du sie auch bald kennen.« »Die armen jungen Leute. In so einem Augenblick hier zu sein.« Er warf einen verstohlenen Blick zu seinen Adoptivkindern. »Wir haben noch nicht viel über die heutigen Ereignisse gehört. Kannst du uns informieren, was draußen los ist?« Aber drück dich vorsichtig aus wegen der Kinder, sagten seine Augen. »Etwas, das wir schon seit langer Zeit erwarten. Die Reiche sind mit einer großen Streitmacht gekommen.« »Die Reiche? Beide?« »Sie haben ihre Flotten vereinigt und scheinen zusammenzuarbeiten.« »Halten sie uns denn wirklich für ein so großes Ärgernis?« »Das ist anscheinend der Fall, und deshalb bin ich hergekommen. Nun ja, ich bin natürlich auch gekommen, weil ich euch alle sehen wollte, aber vor allem will ich fragen, wie ihr darüber denkt, in die Festung umzuziehen.« »In die Festung?« Tanalvah schien erschrocken. »Muss das sein?« »Nein. Ich meine, es ist kein Befehl oder so. Aber dort wärst du besser geschützt.« »Sind wir hier nicht sicher? Ich dachte, dies ist auch eine Festung.« »Das ist sie. Es gibt jedoch die Überlegung, alle Nicht374 kombattanten dort zusammenzuziehen und dieses Gebäude hier den Verteidigern -Tan?« Tanalvah zuckte zusammen und verzog das Gesicht. »Tan? Was ist los?« »Was ist los, Liebste?«, fragte Kinsel. »Schon gut. Es ... es sind die ersten Wehen.« Kinsel holte ein Tuch und tupfte ihr die Stirn ab. Die Kinder sahen erschrocken zu. »Wie oft kommen sie?«, fragte Serrah. »Ein ... paar Mal ... am Tag.« Serrah kam der gemeine Gedanke, dass dies ein denkbar ungünstiger Augenblick sei. Dann schämte sie sich dafür. »Wenn du schon Wehen hast, ist es vielleicht doch keine so gute Idee, dich zu transportieren.« »Tanalvah geht es gut«, erklärte Kinsel den Kindern. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Jetzt kommt, es ist Zeit, dass ihr schlaft.« Er scheuchte die protestierenden Kinder in die Betten. »Bin gleich wieder da«, flüsterte er.
Serrah wandte sich wieder an Tanalvah. »Geht es dir auch wirklich gut, Tan? Du siehst nicht so gut aus, um ehrlich zu sein.« »Doch, mir geht es gut. Ich würde allerdings lieber hier bleiben.« »Wahrscheinlich bist du hier nicht stärker gefährdet als an irgendeinem anderen Ort auf der Insel, und du kannst hier auch eine angemessene ärztliche Versorgung bekommen; unter den gegenwärtigen Umständen wird dies allerdings schwierig werden können. Du solltest dir wirklich überlegen, ob du nicht die Kinder in die Festung schickst. Da haben sie den größten Schutz.« »Wir wollen nicht mehr getrennt werden, aus welchem Grund auch immer.« Kinsel war zurückgekehrt. »Wir haben schon darüber gesprochen.« »Ich will nicht mit euch streiten. Aber gebt mir Bescheid, falls ihr es euch doch noch anders überlegt. Vielleicht kön375 nen wir euch dann immer noch dorthin bringen, wenn ihr nicht zu lange zögert.« »Wir verstehen«, sagte er. Es gab ein Geräusch, das nach Donnergrollen klang. Die Kinder tauchten in der Türe auf, sie hielten sich ängstlich bei den Händen. »Schon gut«, sagte Kinsel. »Macht euch keine Sorgen.« Die Kinder liefen zu Tanalvah. Serrah und Kinsel traten, ein Stück von den anderen entfernt, an ein Fenster. Sie konnten nicht viel sehen außer der untergehenden Sonne. »Was, zum Teufel, war das?« »Ich glaube, das war der Beginn eines Krieges«, sagte Serrah. Die Sonne ging unter. Es sollte ein kalter, ereignisreicher Abend werden. »Es wundert mich, dass sie sich so viel Zeit gelassen haben, ehe sie mit offenen Feindseligkeiten begannen«, sagte Disgleirio. »Das ist nur ein Scharmützel, um unsere Stärke zu prüfen«, erwiderte Caldason. »Ein Vorgeplänkel.« »Nicht für die armen Teufel, die da draußen ihr Leben lassen.« Sie hatten sich in einem Graben auf einer Anhöhe verschanzt, von dem aus sie den Hafen und die Bucht überblicken konnten. Ein paar hundert weitere Kämpfer waren über den Graben verteilt, hielten ihre Waffen bereit und warteten ab. Es war sehr kalt, und es wäre noch kälter gewesen, hätte nicht ein leichter Schneefall eingesetzt. Auf dem Meer kämpften eine Hand voll Schiffe der Diamantinsel gegen eine Gruppe feindlicher Schiffe. Die Inselbewohner, die hoffnungslos in der Unterzahl waren, zogen stolz ihre Rebellenflagge mit dem grünen Skorpion auf. Ihre Gegner zeigten Drachen und Adler in ungefähr glei376 eher Anzahl und bezeugten die unheilige Allianz der Imperien. Zu Caldasons Überraschung - und zu seinem Bedauern - beteiligte Rad Cheross sich mit seiner Brigg am Kampfgeschehen. Er musste schon bald für seinen Mut bezahlen. Das Schiff lag unnatürlich schief, die Segel waren zerfetzt und brannten, und Wasser schwappte aufs Deck. Magisches Feuer regnete auf das Holz herab. Schiffe brannten, einige stießen zusammen, Männer gingen über Bord. Andere wurden in blutige Handgemenge verwickelt, als sie versuchten, Enterkommandos abzuwehren. Eine Kakophonie des Kämpfens und Sterbens, von brechender Eiche und den Einschlägen magischer Geschosse hallte zu den stummen Zuschauern herüber. Es war beinahe ein Schaukampf. Im Grunde hatten die Schiffe der Verteidiger keine Aussicht zu bestehen, und man gewann rasch den Eindruck, dass die Angreifer nur mit ihnen spielten. Es war eine Demonstration ihrer Verachtung. Überall vor der Küste der Insel waren ähnliche Gefechte im Gange. Das Hauptziel der Imperien war, so viele feindliche Schiffe wie möglich zu zerstören und jeden Fluchtversuch der Inselbewohner von vornherein zu vereiteln. Die Verteidiger dagegen gingen davon aus, dass ihre kleine, bunt zusammen gewürfelte Flotte ohnehin verloren war. Sie konnten die Schiffe sowieso nicht an Land ziehen, um sie zu schützen, und so zwangen sie die Gegner wenigstens, einen Blutzoll für jedes einzelne Schiff zu entrichten, obschon dieser Preis aus der Sicht der Angreifer nicht eben hoch war. Einige Schiffe wurden auch in Brand gesetzt und ohne Mannschaft losgelassen, um die feindlichen Schiffe niederzubrennen. Dieses Manöver war nicht sonderlich erfolgreich, auch wenn sich nach einiger Zeit der trübe Himmel über der Küste rötlich verfärbte. 377 »Es läuft nicht gut für uns«, sagte Caldason. Disgleirio nahm einen Schluck aus seiner Flasche und bot sie Caldason an, der den Kopf schüttelte. »Es verschafft uns ein wenig Zeit. Sie haben nicht erwartet, mehr auszurichten als dies.« »Ich hoffe, wir wissen diese Zeit auch zu nutzen.« Während er sprach, kamen mehrere Trupps Inselbewohner im Laufschritt herbei, um die Verteidigungslinien zu verstärken. Viele von ihnen waren Mitglieder der Gerechten Klinge, die auf der Insel das Rückgrat der
Verteidigung bildeten. »Ich glaube schon«, sagte Disgleirio. »Was glaubt Ihr, wie lange sie noch brauchen, um anzulanden?« »Da die Kämpfe jetzt begonnen haben, würde ich sagen, recht bald. Und diese Gegend hier wird danach in Trümmern liegen.« »Wir werden nicht so lange warten. Wir behindern sie, solange es geht, dann brechen wir ab und rennen.« »Denkt Ihr an eine bestimmte Richtung?« »Die meisten gehen geradewegs ins Landesinnere. Wir haben ein oder zwei Hinterhalte geplant, um sie aufzuhalten, und dann verstreuen wir uns und schlagen nur noch in kleinen Gruppen zu. Es wird einige Konfrontationen an festgelegten Orten geben, wie etwa hier am Strand, aber hauptsächlich versuchen wir ihnen auszuweichen. Guerillataktik, wie Ihr schon sagtet.« »Was ist mit der Festung? Ist sie schon gesichert?« »Bis auf einige gut bewachte Eingänge für Nachzügler. Verdammt, da fällt mir etwas ein. Wir müssen die Zauberer umquartieren.« »Wen?« Ein ungewöhnlich heller Blitz tauchte den Graben eine Sekunde lang in rotes Licht. Dann hallten wieder Detonationen von der Seeschlacht herüber. Disgleirio blinzelte. »Phönix und seine Leute vom Bund. 378 Sie sind da drüben in der Hafentaverne am Ende der Mole. Der alte Mann, den Ihr mitgebracht habt, Kutch und das Mädchen sind bei ihm. Ich glaube, sie sind dort in Gefahr, wenn die ersten Landungsboote kommen.« »Ich hole sie da raus.« Caldason stand auf und fügte hinzu: »Falls Serrah zurückkommt...« »Halte ich sie hier für Euch fest.« Caldason nickte und rannte los. Er lief an den Menschen vorbei, die sich auf der Mole drängten und auf Befehle warteten, und an weiteren Kolonnen von Verteidigern, die zum Ufer unterwegs waren. Es kam ihm vor wie eine bejammernswert kleine Zahl. Schwer atmend und mit einer Dampfwolke vor dem Mund lief er weiter. Die Magier und ihre Helfer drängten sich vor der Tür der Hafentaverne, weil sie unbedingt die Quelle sehen wollten. Er bahnte sich unsanft einen Weg durch sie hindurch in die Schänke. Phönix befand sich in einem Hinterzimmer, zu dem die meisten keinen Zutritt hatten. Niemand zeigte jedoch die Neigung, auch Caldason dieser Einschränkung zu unterwerfen. Praltor Mahaganis war dort, er lag auf einem Sofa und schlief anscheinend. Kutch und Wendah waren ebenfalls anwesend; einige Adepten des Bundes, die duftende Gebräue zubereiteten oder Notizen machten, vervollständigten die Gruppe. »Ich fürchte, es gibt noch nicht viel zu berichten«, verkündete Phönix, als der Qalochier den Raum betrat. »Wir haben gerade erst begonnen.« »Es ist faszinierend, Reeth«, sagte Kutch. »Phönix will mit einer Art tiefer Hypnose etwas von der Quelle herausziehen. Die Inhalation von Kräutern und ...« »Ihr müsst hier verschwinden.« Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch, und es wurde schlagartig still im Zimmer. »Und alle Magier, die nicht unmittelbar mit Eurer 379 Arbeit zu tun haben, Phönix, müssen die Insel verteidigen.« »Wir geben hier unser Bestes, Reeth«, widersprach der ältere Magier. »Jede Störung unserer Bemühungen vermindert die Aussicht, etwas zu finden, das uns hilft.« »Ich weiß, und Ihr dürft nicht vergessen, dass ich auch selbst großes Interesse daran habe. Wir können aber nicht für die Sicherheit dieses Gebäudes garantieren.« »Wir dachten, wir hätten viel mehr Zeit, bis ...« »Danach sieht es nicht aus. Unsere Verteidigung auf See, soweit man sie überhaupt so nennen kann, ist kein großes Hindernis für die Feinde. Sucht Euch die Helfer aus, die Ihr braucht, und geht mit Praltor zu der Festung im Landesinneren. Brecht sofort auf. Wenn Ihr trödelt, fallen die Feinde über uns her.« Plötzlich setzten hektische Aktivitäten ein. Die Magier sammelten ihre Habseligkeiten und packten ihre Bücher zusammen. Caldason drängte sich zu Kutch und Wendah hindurch. »Ihr sollt sie begleiten«, sagte er. »Ihr seid im Landesinneren bei Phönix sicher. Ich versuche, so bald wie möglich nachzukommen. Wenn ich nicht selbst kommen kann, schicke ich jemand anderen. Alles klar?« »Ist es wirklich so schlimm?« »Es wird sogar noch schlimmer. Ich habe immer versucht, ehrlich mit dir zu sein, Kutch. Was jetzt kommt, wird grausamer und blutiger, als du es dir vorstellen kannst. Ihr zwei sollt euch so lange wie möglich heraushalten.« Ihm fiel auf, dass Kutch und Wendah sich bei den Händen hielten, und er fügte leise hinzu: »Passt auf euch auf. Es hilft gegen die Angst, wenn man jemanden bei sich hat.« Caldason sollte wieder einmal eine Überraschung erleben. Wendah kam zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Bevor er etwas sagen konnte, erhob sich draußen eine Art Gesang. Er brauchte einen 380 Augenblick, um zu erkennen, dass sie seinen Namen sangen. Es war nicht so sehr ein Mantra, sondern eher eine
Folge von Rufen verschiedener Stimmen, die sich näherten. Anscheinend wurde er auf der Mole gebraucht. Er drückte Kutchs Schulter und bahnte sich einen Weg zum Ausgang. Draußen in der kalten Nachtluft hatten viele Leute die Arme ausgestreckt und deuteten nach oben. Aus dem Himmel kam eine Scheibe herabgeflogen. Auf dem Metall spiegelten sich die bunten Explosionen, die sich draußen auf dem Meer ereigneten. Wenige Augenblicke später schwebte sie direkt vor ihnen. Darrok saß in der Mulde, Pallidea mit wehendem rotem Haar direkt hinter ihm. »Willkommen daheim, mein Freund«, polterte Darrok. »Ihr werdet mir verzeihen, dass ich so kurz angebunden bin, aber wir haben ein Problem, bei dem ich Eure Hilfe brauchen könnte. Soeben sind die ersten Feinde an Land gegangen.« 381 Ein scharfer Wind und ein Schneetreiben. Schwerer, feuchter Sand unter den Füßen. Klirrender Stahl und die Schreie sterbender Männer. Sie kämpften im Halbdunkel am Strand. Zwei Gruppen waren es - eine kam vom Meer, die andere verteidigte das Land. Sie prügelten sich im eiskalten Flachwasser. Über ihnen zeigte sich die Mondsichel, und einige wenige Sterne tauchten auf. Caldason spaltete einem Gegner den Schädel, fuhr herum und durchbohrte einem zweiten die Brust. Der leere Raum, den er damit geschaffen hatte, wurde gleich wieder von zwei weiteren gefüllt, die darauf aus waren, ihn niederzuringen. Sie sollten enttäuscht werden. Dem Ersten wurde mit kaltem Stahl die Kehle durchgeschnitten, sein Kumpan wurde mit durchbohrter Lunge außer Gefecht gesetzt. Doch aus der Dunkelheit kamen wie eine Horde mordlustiger Phantome immer neue unterschiedlich uniformierte Eindringlinge heran. Zwischen die Angreifer mischten sich auch magische Phantome - es war der Ausdruck des parallelen Kampfes, der zwischen den wenigen anwesenden Magiern stattfand. In diesem Kampf fuhren Blitze magischer Energie hin und 382 her, und die Männer stürzten mit brennenden Löchern im Brustkorb zu Boden. Die Gruppe, der Caldason sich angeschlossen hatte, war höchstens halb so stark wie die der Angreifer und nicht gerade überreichlich mit geschickten Kämpfern gesegnet. Doch sie kämpften mit größerer Entschlossenheit und dem Mut der Verzweiflung, und sie hatten Darrok auf ihrer Seite, der dem Feind mit seiner fliegenden Scheibe zusetzen konnte. So wurde der Landungstrupp aufgehalten, bekämpft und schließlich zum Rückzug gezwungen. Darrok stieß auf Caldason herunter und traf gerade ein, als der Qalochier einen weggeworfenen Speer aufhob und einem fliehenden Gegner in den Rücken warf. Die anderen Inselbewohner verfolgten die fliehenden Angreifer, von denen viele bereits wieder in die Boote kletterten. »Wären es mehr gewesen«, sagte Darrok, »dann hätten wir uns wahrscheinlich nicht halten können.« »Es sind viel mehr. Sehr viel mehr.« Caldason nickte zum Meer hin. »Da draußen.« Er hob eine Hand voll feuchten Sand auf und wischte die blutige Klinge ab. »Das war nur ein kleiner Vorgeschmack.« Der Strand war mit Leichen übersät. Die toten Feinde trugen tätowierte Drachen und Adler und zeigten, in welchem Ausmaß die beiden angeblich rivalisierenden Reiche zusammenarbeiteten. »Ihr hättet nie gedacht, dass wir so etwas einmal sehen, was?«, meinte Darrok. Caldason deutete auf einen Toten. »Seht Euch den da an. Und den dort.« Die Toten, die er meinte, trugen keine Uniformen, oder jedenfalls nicht die gleichen Uniformen wie die meisten anderen. »Piratenkluft«, bestätigte Darrok. »Sind es Vances Männer?« »Natürlich. Ich habe mich schon gefragt, wie lange er 383 braucht, um mit den Hunden ein Bündnis zu schließen. Zweifellos besteht seine Belohnung darin zu plündern, was hier übrig bleibt.« »Er ist, was unsere Lage angeht, nur ein Tropfen im Ozean. Wir sind so oder so hoffnungslos in der Unterzahl.« Darrok schien vor allem mit seinem eigenen Kummer beschäftigt. »Wieder etwas, das auf Vances Konto geht. Wenn ich jemals eine Gelegenheit bekomme, es ihm heimzuzahlen ...« Er hielt inne und blickte zum Himmel. »Was ist das?«, fragte Caldason. »Ich hoffe, es ist freundlich.« Ein fliegendes Objekt näherte sich vom Landesinneren und bog in ihre Richtung ab. Nach einem Augenblick fügte Darrok hinzu: »Das dachte ich mir.« Es war eine Fledermaus, größer als jede bekannte Art. Ihre Flügelspannweite war unnatürlich groß, und die schwarze Haut hatte orangefarbene und gelbe Flecken, sodass sie wie eine fliegende Wildkatze aussah. »Bin gleich wieder da«, versprach Darrok. Er eilte davon und flog dem Wesen entgegen. Die Fledermaus schwebte reglos in der Luft und trotzte der Schwerkraft, obwohl ihre Flügel nicht mehr schlugen. Am Ufer gab es Unruhe, ein letztes Scharmützel mit den fliehenden Angreifern. Als die Unruhe erstarb, eilte Darrok wieder zurück, und hinter ihm lösten sich die glitzernden Reste der magisch übermittelten Botschaft auf. Sein Gesicht war ernst.
»Sie versuchen, eine Abteilung Kampfmaschinen an Land zu bringen. Unsere Leute halten sie auf, sind aber nicht sehr erfolgreich.« »Wo?« »Nicht weit von hier. Die geschützte Bucht im Westen. Jetzt beginnen die ernsthaften Landungsunternehmen, Reeth.« 384 »Und der Feind bringt Belagerungsmaschinen mit.« »Ich habe etwas, das sie aufhalten könnte.« »Wirklich?« »Es ist aber nicht ganz unproblematisch.« »Da hätten wir es.« Darrok schwebte neben dem geöffneten Scheunentor und deutete auf den Apparat, der drinnen stand. Es war ein gewaltiges Holzgerüst mit Pfeilern und Querstreben aus dicken Balken. Ein Ausleger konnte mit Rollen und Seilzügen zurückgebogen werden. An seinem Ende war mit dicken Lederriemen ein Beutel befestigt. Es war eine überdimensionierte Schleuder. Darrok schwebte über das Trebuchet und tätschelte es liebevoll. »Sie nennen es die Kralle. Der Schleuderkorb ist groß genug, um Felsen in der Größe von Sesseln aufzunehmen, und der Mechanismus ist stark genug, um sie über weite Entfernungen zu befördern.« »Woher habt Ihr es?« »Vor einigen Jahren war ein kleiner Kriegsherr mit seinem großen Gefolge bei mir zu Gast. Als die Zeit des Abschieds kam, konnte er seine Rechnung nicht bezahlen. Ich ließ seine Leute dies hier als Bezahlung konstruieren. Dabei dachte ich an Vance. Ich nahm an, es könnte nützlich sein, um die Insel zu verteidigen.« »Warum ist das Ding nicht schon längst da draußen und wird eingesetzt?« »Der Kriegsherr war ein lausiger Anführer. Er hatte aber einige großartige Handwerker dabei, besonders die Waffenschmiede. Das Gerät ist schön entworfen und gebaut und braucht nur eine Hand voll Leute zur Bedienung. Aber es braucht Dutzende, um es zu bewegen. Ob Männer oder Pferde, wir können sie nicht erübrigen.« »Welche Ironie.« »Das könnt Ihr wohl sagen. Wir könnten mit diesem 385 hübschen Ding eine Menge Schaden anrichten, aber ich weiß nicht, wie wir es dorthin schaffen sollen, wo es gebraucht wird. Das Enttäuschende dabei ist, dass es nicht einmal weit ist. Habt Ihr Vorschläge?« »Nein. Das heißt ...« »Was meint Ihr?« »Dieser Magier - wie hieß er noch gleich?« »Wer?« »Derjenige, von dem alle sagen, er sei verrückt.« »Damit habt Ihr die Auswahl nicht gerade eingeschränkt.« »Frakk.« »Frakk?« »Den könnt Ihr doch nicht vergessen haben. Der Magier mit dem pferdelosen Wagen.« Darrok schnippte mit den Fingern. »Ach, der. Wir hatten gehofft, seine Erfindung beim Pflügen einzusetzen, oder ...« »Oder um etwas zu transportieren.« »Wie könnten wir das schaffen? Praktisch, meine ich?« Caldason sah sich in der Scheune um. »Ihr habt hier reichlich Räder, die man am Trebuchet oder dem Rahmen befestigen kann. Ich denke, wir könnten mit jedem Rad eine seiner magischen Kisten verbinden. Oder mit der Achse? Ich weiß nicht, wir müssen uns die Einzelheiten noch überlegen.« »Das ist eine gute Idee, Reeth. Wenn dies eine Folge davon ist, dass das Gründerblut in Euren Adern ...« Caldasons Gesichtsausdruck setzte diesem Gedankengang ein abruptes Ende. »Wisst Ihr, wo dieser Frakk ist?« »Er müsste einer der Gruppen von Magiern zugeteilt worden sein. Ich kann es herausfinden.« »In der Zwischenzeit würde ich gern Serrah finden.« »Wir brauchen Euch hier, um den Transport zu beaufsichtigen. Ich hatte gehofft, Ihr könntet die Abteilung an386 führen, die sich um den Apparat kümmert. Glaubt mir, Serrah ist in der Redoute gut aufgehoben.« »Davon würde ich mich gern selbst überzeugen.« »Falls es Euch tröstet, auch Pallidea ist irgendwo dort draußen, und mir wäre nichts lieber, als sie zu finden. Wir haben einfach zu wenig Leute. Die beiden können aber selbst auf sich Acht geben, Reeth. Unsere Aufgabe ist es, die Eindringlinge aufzuhalten.« »Na gut. Aber ich sehe nach ihr, sobald ich eine Gelegenheit dazu bekomme.« »In Ordnung. Und jetzt wollen wir hier alles organisieren.« Läufer wurden geschickt, um Frakk zu holen, und eine Gruppe von Tischlern wurde für die Arbeit am Trebuchet
abgestellt, um den Apparat möglichst schnell mit Wagenrädern auszurüsten. Nach getaner Arbeit empfing Darrok eine weitere magische Botschaft. Dieses Mal kam sie, völlig unpassend im Winter, als Schwärm von Wespen, die in der Gegend herumsummten. »Irgendjemand im Hauptquartier hat Langeweile oder ist sehr verzweifelt«, meinte Darrok. »Was gibt es Neues?«, fragte Caldason. »Im Westen können wir die Landungstruppen mit Mühe und Not aufhalten. Das zieht aber viel zu viele Verteidiger von den anderen Fronten ab.« »Wie viele Landungsversuche gibt es?« »Eine ganze Reihe. Aber das müssen wir den anderen überlassen. Wir wollen uns auf unsere Aufgabe konzentrieren.« Er drehte seine fliegende Scheibe herum und blickte zum Scheunentor. »Wo bleibt denn nur dieser Magier?« Wie auf Stichwort erschien Frakk in Begleitung einer kleinen Abteilung jüngerer Kämpfer. Er sah zerzaust und verwirrt aus. 387 »Hat man Euch über den Plan unterrichtet?«, fragte Darrok ohne Vorwarnung. »Äh ... ja. Nun, das heißt, in Grundzügen.« »Wir müssen dieses Ding hier zur nächsten Bucht bewegen«, sagte Caldason und nickte zum Katapult hin. »Ist das möglich?« »Nun ja, ich habe noch nie versucht, etwas so Großes zu bewegen, aber theoretisch müsste es funktionieren.« »Habt Ihr genug von Euren ...« »Energiewürfeln. Ja, die habe ich.« »Wie können wir das Ding kontrollieren und steuern?« »Mit einem Rad wie ...« Frakk sah sich in der Scheune um. »Wie dem da.« Er ging zu einem Wagenrad, das aufrecht stand, und legte die Hände darauf. »Wir verbinden es mit einer Achse, und dann steuert es die Fuhre hierhin und dorthin. Nach links ... und rechts. Seht Ihr?« »Wie kann man anfahren und anhalten?« »Ah, dies und die Regulierung des Energiestroms ist eine magische Funktion. Man braucht einen Magier, um es zu kontrollieren.« »Dann kommt Ihr mit«, entschied Caldason. Darrok beteiligte sich nicht am Transport des Trebuchet. Da beide vielfältige Aufgaben hatten, kamen sie überein, dass Caldason allein die Aufsicht übernehmen sollte. Er hatte, Frakk eingeschlossen, nicht mehr als zehn Leute bei sich. Die Kralle polterte schwerfällig einher; der Magier steuerte das Fahrzeug und hatte das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Caldason fuhr mit und hatte einen Arm um einen mächtigen Balken geschlungen. Die übrigen Helfer waren beritten oder fuhren auf einem offenen Wagen. Sie hatten keine Fackeln angezündet. Auf den Schiffen der Invasoren dagegen sah man kei388 nen Grund zur Heimlichkeit. Sie wurden mit Öllampen, Kerzen und Magie erhellt und strahlten wie eine Märchenstadt. Der Abend war gekommen, und die dunkle Winternacht legte sich über die Insel. Doch überall am Ufer loderten Brände und knallten bunte Explosionen. »Können wir nicht schneller fahren?«, rief Caldason. Frakk schluckte und nickte. Das Trebuchet beschleunigte. Sie bemühten sich, Schlaglöchern auszuweichen, und mussten mehrmals Umwege in Kauf nehmen, um steile Hänge zu umfahren, doch die Kraft, die das Gerät antrieb, versagte nicht. Noch eine halbe Stunde lang wurden sie bis auf die Knochen durchgeschüttelt, dann hatten sie das Ziel erreicht. »Gut gemacht, Frakk«, sagte Caldason zu ihm. Der Magier errötete verlegen. Eine Truppe von Verteidigern jubelte, als sie das Trebuchet sahen. Sie konnten die Aufmunterung gut gebrauchen. Die meisten Inselbewohner waren auf einigen Höhenzügen stationiert, von denen aus sie die Bucht überblicken und die einzige Straße sichern konnten. Die Bucht selbst wurde von Laternen auf Pfählen, Feuern und Leuchtkugeln beinahe taghell beleuchtet. Die Angreifer brauchten Licht, wenn sie einen Brückenkopf errichten wollten. Barkassen transportierten Männer und Belagerungsmaschinen von den Schiffen zum Strand. Vier oder fünf Kriegsmaschinen waren bereits gelandet. Man stellte sie sich am besten als kleine, bewegliche Häuser vor. Oder, besser noch, als kleine Festungen. In ihnen steckten Männer, in den größeren bis zu fünfzig, und Pferdegespanne. Letztere waren an das erfindungsreiche mechanische System angeschirrt, das den Vortrieb erzeugte. Außen waren die Geräte mit Eisen verkleidet, und wahrscheinlich wurden sie auch durch Sprüche geschützt. Ihr 389 Antrieb war, im Gegensatz zum Trebuchet, nicht magischer Natur, doch ihre Abschirmung schloss auch äußerst gefährliche magische Waffen ein. Sie bewegten sich langsam, waren aber ungeheuer schwer aufzuhalten.
Die Hauptstrategie der Inselbewohner bestand darin, Pfeile auf den Strand hinabzuschießen. Angesichts ihrer spärlichen Bewaffnung konnten sie nicht viel tun, und ihre Abwehr konnte die Angreifer kaum aufhalten. Caldason hatte mehrere von Darroks Männern bei sich. Sie hatten früher dem Privatheer angehört, das auf der Insel als Polizei gedient hatte. Einige hatten das Trebuchet bereits benutzt, wenngleich nicht im Kampf. Er übertrug ihnen die Bedienung und hieß sie die Maschine noch ein Stück nach vorn schieben. Frakk hatte nun nichts mehr zu tun, denn zahlreiche Helfer rückten den schweren Apparat an die richtige Stelle. Der Wurfarm wurde zurückgezogen und gesichert. Dann wurde der große Ledersack ausgebreitet. Im unebenen Gelände fanden sie einen Felsblock, der so groß war, dass acht Männer zupacken mussten. »Was ist das Ziel?«, fragte einer aus der Bedienungsmannschaft. »Das da.« Caldason deutete auf eine Belagerungsmaschine, die gerade ausgeladen worden war und langsam den Strand heraufholperte. »Und macht euch bereit, schnell nachzuladen.« Die Bediener richteten die Kralle ein, drehten an Rädern und drückten Hebel herunter. »Feuert«, rief Caldason. Der Wurfarm kam hoch und bewegte sich so schnell, dass man mit dem Auge kaum folgen konnte. Der Stein flog in hohem Bogen durch die Luft, seinem Ziel entgegen. Auf dem Strand liefen die Leute auseinander, als das Projektil herunterkam. Es verfehlte das Ziel. 390 Der Stein landete einige Fuß von der Belagerungsmaschine entfernt und fällte eine Hand voll Krieger, ohne die Maschine zu beschädigen. »Nachladen!«, brüllte Caldason. Die Bediener arbeiteten hektisch, um den Apparat neu einzustellen. Vom Strand flogen Pfeile herauf, außerdem einige magische Geschosse. Die Inselbewohner antworteten auf ähnliche Weise, wenngleich nicht ganz so heftig. »Feuer!« Das Trebuchet feuerte den nächsten Felsbrocken ab. Dieses Mal traf er das Ziel. Es war kein Volltreffer, in gewisser Weise aber sogar noch besser. Der Felsen traf die Rückseite der Kriegsmaschine, als diese gerade einen Abhang hinunterfuhr. Der glückliche Winkel und die Wucht des Aufpralls warfen das gepanzerte Fahrzeug um wie ein Spielzeug. Als es auf der Seite lag, krabbelten Männer heraus. Einige führten verletzte Pferde fort. Die Inselbewohner zögerten nicht lange und nutzten den Glückstreffer zu ihrem Vorteil. Sie ließen einen Hagel brennender, mit Pech getränkter Pfeile los. Dutzende trafen die ungeschützte, verletzliche Unterseite des Kampfwagens. Er fing sofort Feuer, und beißender schwarzer Rauch stieg auf. Abermals gingen Pfeilsalven und knisternde Energiestrahlen auf den Höhenzügen nieder. Abermals erwiderten die Inselbewohner das Feuer nach Kräften und konnten jubelnd beobachten, wie mehrere Eindringlinge von Flammen eingehüllt wurden. »Neues Ziel!«, befahl Caldason und zeigte den Männern, was er meinte. Sie schössen rasch hintereinander mehrere Steinbrocken ab. Der erste Schuss war ein traumhafter Erfolg. Er landete mit ohrenbetäubendem Krachen mitten auf dem Dach eines Fahrzeugs. Trotz der Panzerung hatte die 391 Kriegsmaschine einem solchen Angriff wenig entgegenzusetzen und wurde auf zwei Dritteln ihrer Länge eingedrückt. Vielleicht war Übermut der Grund für das, was als Nächstes geschah. Der zweite Felsblock verfehlte sein Ziel deutlich, prallte jedoch gegen ein Fuhrwerk und zerstörte es. Caldason sah sich nach einem neuen Ziel um und spähte aufs Meer hinaus. Gerade kam eine Barkasse mit zwei weiteren Kampfwagen und einer Reihe Soldaten herein. Er beschloss, die Taktik zu ändern. »Könnt ihr die treffen?«, fragte der den Vorarbeiter der Bedienungsmannschaft. »Das ist am Rande unserer Reichweite. Wenn wir kleinere Steine nehmen, könnten wir es schaffen, und vielleicht müssen wir mehr als einmal treffen.« Caldason sagte ihnen, sie sollten es versuchen. Der erste Schuss saß genau im Ziel. Sie hatten Glück, und er traf eine der wenigen freien Flächen auf dem Deck der Barkasse. Auf das Krachen der Balken folgte eine Wasserfontäne. Als das Trebuchet nachgeladen war, ging die Barkasse bereits unter. Auch der zweite Schuss war ein Treffer. Er durchschlug nicht das ganze Schiff wie der vorherige, richtete aber genügend Schaden an, um das Ziel zu versenken. Die Kampfwagen rutschten über das knarrende Deck, und die Männer sprangen über Bord. Die Inselbewohner jubelten. Caldason teilte Gruppen ein, die massenhaft passende Steine suchen und zum Trebuchet schleppen sollten. Auf Vorschlag des Vorarbeiters schössen sie auch ein Gemisch aus kleinen Steinen und Trümmern ab. Die Ladung ging wie tödlicher Hagel nieder und war bemerkenswert effektiv. Den Kriegsmaschinen konnte dies natürlich nicht schaden, aber es nagelte die feindlichen Truppen fest. Einige Stunden, nachdem sie die Bucht erreicht hatten, 392 feuerte seine Mannschaft ohne weitere Anleitung in regelmäßigen Abständen Geschosse ab, und Caldason kam
zu der Ansicht, dass er sie allein lassen konnte. Er übergab das Kommando am Trebuchet dem höchstrangigen Rebellen, den er finden konnte, und suchte sich ein schnelles Pferd. Als er noch einmal zurückschaute, dachte er daran, dass sie keine Hoffnung hatten, mehr zu tun, als die Landung etwas zu verzögern. Alle wussten es. Er ritt mitten durch die Insel und sah nichts von den Kämpfen. Doch er begegnete vielen Inselbewohnern, die unterwegs waren, um die Verteidigung zu verstärken. Noch mehr Leute, die Alten und Kranken und Jungen, eilten in die verschiedenen Zufluchtsstätten. Über der ganzen Küste war der Himmel rot gefärbt. Mitten in der Nacht kam er in der Redoute an. Niemand hielt ihn auf, er wurde sofort erkannt und eingelassen. Er war nicht der einzige Inselbewohner, der hier Schutz suchte. Die meisten, so erfuhr er, hatten sich in die Festung am Strand zurückgezogen. Er fragte sich zu den Räumen durch, in denen Kinsel und Tanalvah wohnten, und traf Serrah auf dem Flur, der zu ihnen führte. Als sie sich aus der Umarmung lösten, setzte er sie über die jüngsten Ereignisse in Kenntnis, dann fragte er: »Was ist hier los?« »Viel Unruhe, aber im Grunde ist nichts weiter passiert, wenn du weißt, was ich meine. Tan und Kinsel wollen nicht zur Festung. Das ist vielleicht gar nicht so schlimm, zumal wir davon hörten, dass es dort erfolgreiche Landeversuche gab. Es ist alles ziemlich wirr, aber die Festung könnte bereits belagert werden.« Er dachte an die Leute, die zu ihrer vermeintlichen Zuflucht unterwegs waren, und an Disgleirio, der sie zu schützen versuchte. Höchstwahrscheinlich war ihr Schick393 sal bereits besiegelt. »Uns war von Anfang an klar, dass sie an Land kommen würden. Unsere Verteidigung beruht hauptsächlich auf der Guerillastrategie und nicht auf der Hoffnung, wir könnten sie von der Insel fern halten.« »Vorausgesetzt, es sind noch genug von uns da, die kämpfen können. Hast du die Feuer - oder was es auch war an der Küste gesehen?« »Du weißt doch, dieser Zauber soll uns vor allem in Angst und Schrecken versetzen.« »Ich glaube, ich habe von beidem genug, vielen Dank.« »Nun ja, vergiss nicht, dass wir hauptsächlich unsere Köpfe einsetzen müssen, wenn wir heil hier herauskommen wollen.« »Kommen wir denn hier heraus, Reeth? Wird auch nur einer herauskommen?« »Vielleicht, wenn ein Wunder geschieht.« »Ach, wie schön!« »Glaube mir, so etwas geschieht zuweilen wirklich. Schließlich bin ich dir begegnet, nicht wahr?« Sie lächelte und drückte seine Hand. »Du bist ein erstklassiger Schmeichler. Das weißt du, oder?« »Ich sage nur die Wahrheit.« Er erwiderte das Lächeln. »Aber erzähl doch, wie geht es Tanalvah?« Serrahs Gesicht verdüsterte sich wieder. »Die ersten Wehen haben eingesetzt oder werden sehr bald einsetzen. Ich mache mir Sorgen um sie. Sie ist nicht mehr die Tan, die wir damals in Bhealfa kennen gelernt haben.« »Sie hat auch eine Menge durchgemacht.« »Das sagen alle. Es steckt aber mehr dahinter, Reeth. Ich weiß nur nicht genau, was es ist. Es macht auch Kin-sel fertig, obwohl er zu freundlich ist, es auszusprechen.« »Wie geht es den Kindern?« »Sie sind verwirrt. Und sie haben natürlich Angst. Aber alles in allem halten sie sich recht gut. Übrigens, man hat auch Praltor hierher gebracht.« 394 »Hierher?« »Die Leute vom Bund dachten, dies sei der sicherste Ort. Er ist ja sehr wertvoll, oder? Vielleicht wirkt er das Wunder, das wir brauchen.« »Mach dich nicht darüber lustig.« »Das wollte ich gar nicht. Kutch und das Mädchen sind übrigens auch hier.« »Das ist gut.« »Und natürlich Phönix, und Goyter ist ebenfalls da. Wie immer organisiert sie alles sehr fähig.« »Karr?« »Ich habe gehört, er beaufsichtigt die Verteidigung am Hafen. Wo Quinn ist, weiß ich nicht.« »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er hier.« Keiner von ihnen sprach aus, was beide über das Gebiet am Hafen dachten. »Ich würde gern Kutch sehen«, sagte er, »und herausfinden, wie es um Mahaganis steht. Wo sind sie?« »Ganz in der Nähe. Aber willst du nicht zuerst Tan besuchen?« Als er zögerte, sagte sie: »Ich weiß, ihr hattet früher gewisse Meinungsverschiedenheiten ...« »Das ging nicht von mir aus. Sie schien mich immer abzulehnen.« »Gab es nicht auch Streit wegen eures gemeinsamen Erbes?« »Es stimmt, wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was es bedeutet, ein Qalochier zu sein.« »Glaubst du nicht, dies wäre ein guter Augenblick, das Kriegsbeil zu begraben?«
Er nickte. »Ich habe nichts gegen die Frau. Obwohl sie die Götter von Rintarah anbetet.« »Ja, das schon. Aber du kannst deine Meinung auch mal für dich behalten. Komm schon.« Sie führte ihn zur Tür der Wohnung und klopfte leise. Sie hörten eine gedämpfte Einladung, einzutreten. Drin395 nen begrüßte Kinsel sie und zeigte sich besonders erfreut, da Caldason wohlbehalten zurückgekehrt war. Tanalvah lag hinten im Zimmer, möglichst weit von den verrammelten Fenstern entfernt, in einem Bett. Sie war immer noch sehr bleich, und ihr Gesichtsausdruck, als sie den Qalochier sah, war unergründlich. »Wie geht es dir, Tan?«, fragte Serrah. »Alles in Ordnung«, erwiderte sie wenig überzeugend. Ihr Blick ruhte auf Caldason. »Schön, dich zu sehen«, sagte er. »Reeth«, flüsterte sie und hob die Hand. Caldason brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er ihr die Hand geben sollte. Ihre Hand war kalt, und als er sie drückte, stachen ihn ihre Fingernägel. »Es tut mir Leid, Reeth«, schnaufte sie. »Es tut mir so Leid.« »Es ist doch nicht nötig ...« »Oh, doch, es ist nötig.« Sie sah ihn scharf an. »Bitte verzeih mir.« Caldason schwieg. Nach einem Augenblick ließ sie seine Hand los und erweckte den Eindruck, sie sei eingeschlummert. Kinsel kam und flüsterte eine verzagte Entschuldigung. »Schon gut«, sagte Serrah. »Wir wissen ja, dass sie viel durchgemacht hat. Ihr alle hattet es nicht leicht. Wie geht es Lirrin und Teg?« Er nickte. »Gut. Oder jedenfalls so gut, wie wir es angesichts der Begleitumstände hoffen können. Wie läuft es draußen?« »Durchwachsen«, erwiderte Caldason. »Am besten, du bleibst hier bei deiner Familie und tust, was dir gesagt wird, falls wir euch evakuieren müssen.« »Wird es denn so weit kommen? Ich meine, wo sollen wir dann noch hin?« »Ich bin sicher, dass es nicht dazu kommen wird«, be396 ruhigte Serrah ihn. »Aber jetzt konzentriere dich darauf, dich um Tan zu kümmern, und überlasse alles andere uns.« Sie küsste den Sänger auf die Wange. In gedrückter Stimmung verabschiedeten sie sich und gingen hinaus. Als sie weit genug von der Tür entfernt waren, sagte Serrah: »Was denkst du?« »Sie kommt mir nicht vor wie eine glückliche werdende Mutter.« »Nein. Da stimmt etwas nicht, aber die Heiler können nichts Konkretes finden. Offensichtlich geht irgendetwas in ihr vor.« »Was meinst du damit?« »Ich würde wohl dem zustimmen, was du vorher gesagt hast. Nach ihren Erlebnissen ist sie niedergeschlagen. Melancholisch. Aber sie hat wenigstens versucht, mit dir ins Reine zu kommen.« »Wirklich?« »Ja, sie hat sich für die früheren Meinungsverschiedenheiten entschuldigt.« »Glaubst du, es war so gemeint?« »Was denn sonst?« »Lass uns Kutch suchen, ja?« Die Magier des Bundes hatten einen Seitenflügel der Redoute bezogen. Auf dem Weg dorthin liefen Serrah und Reeth Goyter über den Weg, die nach ihnen suchte. Nachdem sie Caldason begrüßt hatte, sagte sie: »Phönix will Euch sehen. Anscheinend hat er eine Art Durchbruch erzielt.« Sie eilten zum Quartier der Magier und wurden sofort eingelassen. Im großen Saal, wo das Zubehör des magischen Handwerks auf zahlreichen Tischen aufgetürmt war, begrüßte Phönix sie zwischen behelfsmäßigen Nachtlagern und kreuz und quer aufgestellten Stühlen. Kutch tauchte 397 breit strahlend aus dem Durcheinander auf und gesellte sich zu ihnen. Wendah, die ihm neuerdings folgte wie ein Schatten, kam gleich danach. »Was ist geschehen?«, wollte Caldason wissen. »Die Hypnose und die Infusionen und ... nun ja, die verschiedenen Techniken, die wir bei Praltor angewendet haben, haben die ersten kleinen Ergebnisse gezeigt«, erklärte Phönix. »Aber da er die ganze Bürde zu tragen hat, ist es nur recht und billig, dass er es Euch selbst erzählt.« »Kleine Ergebnisse?«, wiederholte Serrah. »Also noch nichts Entscheidendes?« »Ein kleiner Teil des ungeheuren Wissens, das die Quelle zweifellos birgt«, erklärte der ältere Magier, »aber aus anderer Sicht durchaus eine Offenbarung. Kommt mit und hört es Euch an.« Neugierig geworden, folgten sie ihm. Phönix führte sie zu einem von mehreren Schlafzimmern, die abseits des Saales an einem Seitenflur lagen. Kutch und Wendah kamen mit.
Praltor Mahaganis lag verloren in dem riesigen Himmelbett. Doch sein Gesicht wirkte lebendiger, weil er gut gegessen und stärkende Kräuter zu sich genommen hatte. Die blicklosen Augen strahlten eine Kraft aus, die beinahe beunruhigend war. Wendah setzte sich neben ihm aufs Bett und nahm seine Hand. »Ihr müsst verstehen, dass wir praktisch nichts Greifbares aus Praltors Gehirn herausholen konnten«, sagte Phönix. »Ich weiß auch nicht, ob dies jemals möglich sein wird, zumal unsere Arbeit jetzt unter starken Behinderungen leidet. Wir haben es jedoch geschafft, ein Segment zu öffnen, was möglicherweise ebenso einem glücklichen Zufall wie unseren Erkundungen zu verdanken ist, und wir konnten gewisse Informationen in sein Bewusstsein zurückfließen lassen. Praltor?« 398 »Es war, als sei ein ganzer Strom von Erinnerungen in meinen Kopf geschwappt.« Die Stimme des alten Mannes klang verwundert. »Das ist unsinnig, weil ich bei den Ereignissen, um die es geht, gar nicht anwesend war. Und doch ... ich sehe Dinge vor meinem inneren Auge, die wundervoll und schrecklich sind, und ich weiß nicht, ob ein Sterblicher überhaupt solchen Dingen ausgesetzt werden sollte.« »Fahre fort«, drängte Wendah ihn sanft. »Ich habe mich geirrt«, gestand der alte Mann. »Ich dachte, die Nachkommen der Gründer hätten als ein Geheimbund überlebt, der sich vor der ganzen Welt versteckt. Ich hatte mich darauf eingerichtet, dass die Wahrheit so bequem ist.« Er hielt inne und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Die Gründer waren einst so wie wir«, fuhr er fort. »Dies ist so unvorstellbar lange her, dass die Sterne am Himmel noch andere Bilder formten. Auch ihre Zivilisation beruhte, wie die unsere, auf der Magie, nur dass sie ihre Magie ständig weiterentwickelten und verfeinerten, statt sie lediglich zu konsumieren. Im Laufe einer sehr langen Zeitspanne gewannen sie ein immer größeres Wissen der edlen Kunst. Und durch ihre Anwendung entwickelten sie sich zu ... zu etwas anderem. Irgendwie überwanden sie die materielle Existenz, oder sie transzendierten diese Ebene und legten ihre Hüllen aus Fleisch und Blut ab, um auf einer nichtkörperlichen Ebene weiterzuleben. Dies ist das Reich, das wir die Traumzeit nennen. Sie ist uns in jeder Hinsicht fremd. Es ist der Ort, den du, Reeth, in den Visionen besucht hast, die dich heimgesucht haben. Das ist ein Vermächtnis deines Gründerbluts.« »Ich habe es auch gesehen«, erinnerte Kutch sie. »Ich habe Reeths Träume miterlebt.« »In der Tat«, räumte Mahaganis ein. »Für kurze Zeit. Das liegt an deiner natürlichen Aufklärergabe und an der 399 Ausbildung, die deine Anlagen gefördert hat. Magie zieht die Magie an, wie man sagt, und was Reeth in sich trägt, stellt eine Verbindung zu deiner Gabe her, Kutch. Ich würde erwarten, dass Wendah die gleichen Erfahrungen macht, wenn sie sich längere Zeit in Reeths Nähe aufhält, obwohl deine Begabung etwas anders aussieht.« »Willst du uns vielleicht auch etwas sagen, das wir nicht längst wussten oder vermuten konnten?«, fragte Caldason. »Hör zu und entscheide selbst. Die Gründer formten die Existenz nach ihren eigenen Vorstellungen. Sie trotzten sogar dem Tod und erlangten die Unsterblichkeit oder kamen ihr zumindest sehr nahe. Du, Reeth, Phönix und ich selbst, wir alle haben einen Vorgeschmack davon bekommen, und wir haben bildlich gesprochen gerade erst den Rocksaum der Gründer berührt. Man könnte sagen, sie haben sich eine Art Himmel erschaffen. Sie selbst sahen es vermutlich so. Doch in ihnen war noch genug vom Tier übrig, eine Spur von Wildheit aus jenen früheren Zeiten, als sie noch so waren wie wir. Also taten sie, was alle Wilden tun, und begannen zu streiten. Sie hatten zwei grundlegende Philosophien, gegensätzliche Arten, mit dem Leben umzugehen. So kam es zu einer Spaltung. Im Himmel brach ein Krieg aus. Das Ergebnis der Zerstörungen, die sie anrichteten, war nicht ihre eigene Vernichtung, wie man es vermuten könnte, sondern sie haben ihren Himmel verloren.« »Das verstehe ich nicht«, gestand Serrah. »Es ist ganz einfach. Sie sind gestürzt. Sie verloren die Höhe, die sie erreicht hatten. Ihre gewaltigen Triumphe waren vergessen. Sie fielen wieder in fleischliche Hüllen zurück, was sie widerlich fanden. Doch sie besaßen immer noch große Macht und überlebten, und ihr Streit ging weiter. Äonenlang waren die beiden Gruppen in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt wie zwei Skorpione. Sie haben gegeneinander gekämpft und Menschen als Schach400 Figuren eingesetzt und ihren alten Krieg fortgesetzt. Erst jetzt, da sie eine starke Bedrohung sehen, haben sie sich zusammengeschlossen, um sich zu schützen.« »Willst du damit sagen, was ich ahne?«, fragte Serrah. »Die Gründer sind nicht ausgestorben. Sie haben auch nicht in Form von Nachkommen mit verdünntem Blut überlebt. Sie haben mit Hilfe ihrer noch verbliebenen Magie die Reiche gegründet. Und jetzt wollen sie uns an den Kragen.« 401 Im größten Teil von Bhealfa, und besonders an der Ostküste, herrschte entsetzliches Wetter. Scharfer Wind, Schneetreiben und Hagelschauer. Bei so einem Wetter sollte man nicht reisen, und vernünftige Leute taten es auch nicht. Vor allem nicht in der Nacht.
Prinz Melyobars Hof jedoch blieb unter keinen Umständen stehen. Die Bewegung war sein Daseinszweck, der einzige Grund für seine Existenz. Wenigstens in der Theorie war er besser geschützt als jedes andere Transportmittel und durchaus fähig, sich auch in widriger Witterung zu behaupten. Nichts davon hielt Andar Talgorian ab, den Prinzen zu verfluchen. Es war schon in guten Zeiten recht schwierig, in den Palast zu gelangen. An Bord zu gehen, wenn die Elemente tobten, und dann noch bei Dunkelheit, war ein Albtraum. Der Gesandte wurde von einer Abteilung handverlesener Soldaten des Reichs begleitet. Er hatte sich über die Größe des Palasts Sorgen gemacht, doch am Ende beschlossen, dass Melyobars Verhaftung am besten mit zwanzig erfahrenen Männern zu bewerkstelligen sei. Er hatte natürlich auch einen erfahrenen Magier mitgebracht. Eine größere Truppe hätte Misstrauen erregt und möglicherweise sogar Feindseligkeiten heraufbeschworen. Seine klei402 ne Truppe konnte hingegen noch als Leibwache in schwierigen Zeiten durchgehen. Auf jeden Fall hatte er die Absicht, seine Aufgabe so schnell und effizient wie möglich zu erledigen. Er hoffte sogar, dass viele am Hofe des Prinzen erleichtert wären, wenn der Herrscher entfernt wurde, und den Erlass des Reichs unterstützten. Doch obwohl er vorab eine Botschaft geschickt und in einer dringenden Angelegenheit um eine Audienz gebeten hatte, da es um wichtige Staatsangelegenheiten gehe, musste er warten. Der Botschafter schalt sich einen Narren, weil er unterstellt hatte, Melyobar werde verstandesmäßig reagieren. Er hätte darauf bestehen sollen, sofort eine Audienz zu bekommen, oder seine Männer hätten sich mit Gewalt Zugang verschaffen können. Stattdessen hatte er seinen diplomatischen Instinkten vertraut. Er hatte die närrische Vorstellung, seine Mission ließe sich auf zivilisierte Weise erledigen und der Prinz werde der höheren Autorität weichen, die Talgorian repräsentierte. Jetzt saß der Botschafter in einem Vorzimmer in der Nähe der königlichen Gemächer fest, während seine Soldaten in der schlichteren Umgebung eines benachbarten Wachzimmers warteten. Er schritt in dem schwülstigen Zimmer umher und stand kurz davor, doch noch aktiv zu werden. Dann erregte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit, und er hielt inne. In der hinteren Ecke hatte sich eine Geheimtür ein Stück weit geöffnet. Talgorian machte sich innerlich auf einen Hinterhalt gefasst. Verstohlen kam ein junger Mann herein. Er war an seiner Kleidung unschwer als Magier zu erkennen, und zwar als Magier, der im Dienst des Herrschers stand. Für einen so hochrangigen Magier schien er recht jung zu sein, und im Gegensatz zu den meisten seiner Standesgenossen war er glatt rasiert. 403 »Keine Angst«, flüsterte er, indem er beschwichtigend die Hände hob. »Ich will Euch nichts tun.« »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?« »Ich heiße Okrael. Ich gehöre zur magischen Besatzung des Palastes. Wir sind uns auch schon einmal begegnet. Ich glaube, wir haben sogar einige Worte gewechselt.« »Ihr kommt mir bekannt vor. Aber warum nähert Ihr Euch mir so verstohlen?« »Ich muss mit Euch sprechen, Botschafter.« »Es gibt offizielle Kanäle. Wenn Ihr Euch vielleicht mit jemandem in Verbindung setzen könntet, der ...« »Ich muss jetzt sofort mit Euch sprechen.« »Dies ist kein günstiger Zeitpunkt. Ich erwarte, jede Augenblick zum Prinzen gerufen zu werden.« »Genau deshalb muss ich jetzt sofort mit Euch sprechen, bevor Ihr Seine Königliche Hoheit seht. Ich muss Euch etwas sagen.« »Was denn?« Der junge Magier zögerte. »Ich gehe jetzt ein sehr großes Risiko ein ... Kann ich Euch wirklich vertrauen? Kann ich mich darauf verlassen, dass Ihr etwas unternehmen werdet?« »Was denn?« Okrael sah sich nervös um. »Es geht um den Prinzen.« Talgorian fragte sich, ob er erklären sollte, dass er genau aus diesem Grund gekommen war. Er hielt es jedoch für ratsam, vorsichtig zu sein. »Was ist mit ihm?«, fragte er, und fügte hinzu: »Alles, was Ihr sagt, wird vertraulich behandelt. Ihr könnt mir vertrauen.« »Ich glaube, mir bleibt wohl auch nichts anderes übrig. Aber andererseits, was könnte ich schon verlieren? Wenn er mit seinem Plan weitermacht, werden wir sowieso alle sterben.« »Ich weiß, dass die Methoden Seiner Majestät manchmal ein wenig drakonisch scheinen, aber ...« 404 »Nein, nein. Ich rede nicht über die kleinen, alltäglichen Grausamkeiten. Ich meine etwas Einschneidendes.« Talgorian blickte zur Decke und den verschiedenen Objekten, die dort stumm schwebten. »Ist dies nicht ein höchst unangemessener Ort und Zeitpunkt für ein solches Gespräch?« »Keine Sorge, ich habe die Spionzauber vorübergehend ausgeschaltet. Wir können frei sprechen, aber nicht sehr lange.« Talgorian kam auf die Idee, dass dies ein raffinierter Trick sein könnte, der ihn verleiten sollte, etwas Unvorsichtiges zu sagen.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Okrael: »Falls Ihr Euch Sorgen macht, dies sei eine Hinterlist - seit wann kümmert Melyobar sich um Kleinigkeiten wie Beweise?« »Wollt Ihr damit andeuten, Seine Majestät könnte auch über mich ohne Federlesens die Todesstrafe verhängen? Immerhin bin ich der imperiale Botschafter von Gath Tampoor.« Es fiel ihm schwer, dies zu sagen, ohne sich in die Brust zu werfen. »Glaubt Ihr wirklich, das könnte ihn abhalten, Euch die Kehle durchzuschneiden, falls er es will?« Die offensichtliche Wahrheit brachte den Gesandten rasch von seinem hohen Ross herunter. »Nun gut, ich höre zu. Ich hoffe nur, Ihr werdet nicht meine Zeit verschwenden.« »Ich fasse mich kurz. Der Prinz lässt uns schon seit Monaten an einem besonderen Projekt arbeiten. Es ist ein Projekt, das nur ein einziges Ziel hat: Massenmord.« »Aber er hat keine Legionen, die seinem Befehl unterstehen. Kein Heer, um ein solches Zerstörungswerk zu vollbringen. Im Grunde hat er nur seine Palastwache. Wie will er ein solches Gemetzel veranstalten?« »Ihr denkt zu konventionell. Melyobar hat nicht die Absicht, die Opfer mit Waffengewalt zu töten.« 405 »Wie dann? Mit Magie?« »Die Magie spielt eine Rolle dabei. Aber man könnte sagen, hauptsächlich setzt er die Natur ein.« »Erklärt Euch.« »Ein großer Teil der Bemühungen richtete sich in der letzten Zeit darauf, den Palast noch unabhängiger von der Außenwelt zu machen, als er es sowieso schon war. Wir haben nicht nur genügend Vorräte aufgenommen, um eine ganze Stadt zu versorgen, sondern auch alles, was der Prinz erhalten will.« »Was will er denn erhalten?« »Tiere beispielsweise. Tiere aller Arten in Paaren. Die unteren Etagen sind voller Käfige und Ställe. Da unten ist ein richtiger Zoo.« »Das sind doch sicher nur Zerstreuungen, die Seiner Hoheit zur Unterhaltung dienen?« »Nein. Sie sind nicht zu seiner Erbauung da. Er hat sie an Bord genommen, weil er will, dass sie überleben. Sie sollen die neue Welt bevölkern.« »Wie will er denn ...« »Er ist natürlich besessen vom Tod. Er will seinen alten Gegenspieler besiegen. Wie Melyobar es sieht, gibt es keinen besseren Weg, einen Mann im Wald zu finden, als die Bäume niederzubrennen.« »Ihr sagt also, er plant einen Massenmord. Aber wie?« »Er ließ uns Leichen sammeln. Verwesendes Fleisch, alle Arten von üblen, verfaulten Dingen. Das Ziel war, die Säfte zu identifizieren, die im Unrat gedeihen und Krankheiten auslösen, und wenn sie isoliert sind, sollte ein Konzentrat der Pestilenzen gebraut werden. Der Plan sieht vor, die Welt durch die Verbreitung einer Seuche zu reinigen. Er behauptet, sein toter Vater habe ihm diese Idee eingegeben.« »Könnte es funktionieren?« »Oh, ja. Wir haben eine besonders ansteckende Spielart 406 der Seuche entdeckt. Wir wissen, dass es funktioniert, es wurde mit lebendigen Versuchspersonen getestet.« »Es ist also Melyobars Ziel, diese ... dieses Konzentrat in die Welt zu entlassen?« »Er denkt daran, es mit den Katapulten zu verschießen, die Ihr auf den Wehrgängen gesehen habt. Es könnte natürlich ebenso gut in Brunnen oder Flüsse eingebracht werden, und es gibt noch viele andere Wege. Man müsste einfach nur die Menschen zwingen, das Konzentrat zu trinken, und sie infiziert hinausschicken, um die Krankheit zu verbreiten.« »Und wie sähe das Ergebnis aus?« »Da es keinen bekannten Schutz vor der Krankheit und keine Heilung gibt, muss man mit zahlreichen Todesfällen rechnen. Vielleicht würde tatsächlich die ganze Menschheit auf der Welt ausgelöscht, wie Melyobar es sich erträumt. Alle außer ihm, seinen Dienern und den unterwürfigen Höflingen.« »Und das alles nur, um den Tod zu sehen.« »Allerdings. Letzten Endes wird der Feind des Prinzen kein Versteck mehr haben.« »Warum erzählt Ihr mir das alles?« »Ich bin kein Magier geworden, um dabei zu helfen, mein eigenes Volk zu massakrieren. Man muss dem Einhalt gebieten. Es kommen nur wenige Menschen von draußen her, und Ihr, Botschafter, seid in der letzten Zeit der Einzige, der über einen gewissen Einfluss verfügt und dennoch nicht seinem Bann unterliegt. Wenigstens hoffe ich das.« Talgorian bekam weiche Knie. Okraels Geschichte klang erschreckend einleuchtend. »Wie es scheint«, sagte er, »sind unsere Ziele, was den Prinzen angeht, gar nicht so unterschiedlich. Ich bin hier, um eine Veränderung herbeizuführen.« »Das erleichtert mich mehr, als ich mit Worten sagen 407 kann. Ihr müsst Euch aber beeilen. Das Konzentrat ist fast fertig.« »Ihr sagtet, auch die Magie habe dabei eine Rolle gespielt. Dies kann ich aber bisher noch nicht erkennen.« »Die Essenz ist instabil. Große Hitze oder Kälte kann sie unschädlich machen. Magie bindet sie, damit sie nicht
zerstört wird.« »Ihr seid ein Magier. Könnt Ihr diese Bindung zerstören?« »Ich bin keineswegs der Einzige, der daran arbeitet, und sicher nicht derjenige mit der größten Erfahrung. Nur ein oder zwei meiner Kollegen sind meiner Meinung, während die meisten zu viel Angst haben, um sich überhaupt zu äußern. Ich weiß nicht, wer auf meiner Seite steht und wer nicht. Ich kann nicht mehr tun als das, was ich getan habe, Botschafter. Jetzt liegt es bei Euch.« »Nun gut. Bevor der Tag vorbei ist, wird die Lage sich sehr verändert haben, Okrael. Das kann ich Euch versprechen.« Sie verabschiedeten sich und versprachen einander, später unter einem neuen Regime noch einmal miteinander zu reden. Dann huschte der Magier davon und überließ es Talgorian, allein über dem Gehörten zu brüten. Eine lange Zeit schien zu vergehen, bis sie ihn endlich holten, obwohl es in Wirklichkeit kaum mehr als zehn Minuten waren. Er wurde von zwei livrierten Dienern begleitet, die natürlich völlig teilnahmslos blieben. Zu seiner Überraschung wurde er nicht in den Thronraum geführt, wo gewöhnlich die Audienzen stattfanden. Vielmehr begleiteten sie ihn mehrere Treppenfluchten hinauf zu einer höheren Ebene. Er fragte seine Führer, was dies zu bedeuten habe, doch sie wollten es nicht verraten. Seine Unsicherheit wuchs, und er fummelte nervös an dem Dokument herum, das er in der Tasche hatte. Schließlich erreichten sie eine Ebene, die Talgorian für 408 die Brücke hielt. Es war der Bereich, von dem aus die Bewegungen des Palasts gesteuert wurden. Der große Raum hatte ein riesiges Panoramafenster, das sich beinahe über drei Seiten erstreckte. Draußen war nur graue Suppe zu sehen, durch die Schneeflocken wirbelten. Die magischen Leuchtkugeln waren gedämpft, um die Sicht nach draußen zu verbessern. Eine Reihe von Leuten waren hier beschäftigt, vor allem Magier, außerdem einige Wächter und verschiedene Diener. Es sah mehr oder weniger so aus wie bei den anderen Gelegenheiten, als Talgorian hier gewesen war. Melyobar saß auf einem erhöhten, thronartigen Stuhl, nicht weit entfernt von dem Steuerrad, das die Bewegungen des riesigen Palasts lenkte. Er sprach mit einem Mann, den Talgorian als den Hauptsteuermann erkannte. Mit dem Kapitän, um den Begriff aus der Seefahrt zu gebrauchen. Der Botschafter hörte nur noch das Ende ihres Gesprächs, doch offenbar hatte der Kapitän Einwände hinsichtlich der Route erhoben, die der fliegende Hofstaat einschlagen sollte. »Genug!«, rief der Prinz. »Ich bin nicht an Euren wehleidigen Befürchtungen interessiert! Wir schlagen einen Kurs durch das Gebiet der großen Seen ein, und damit ist die Sache erledigt. Es sei denn, Ihr wollt, dass man Eure Loyalität in Frage stellt.« Der Mann unterwarf sich, entschuldigte sich und zog sich niedergeschlagen zurück. Niemand schien sich um seine Demütigung zu kümmern - ein Beleg dafür, wie häufig solche Dinge geschahen. Erst jetzt bemerkte der Prinz Talgorian. »Ah, der Botschafter ist eingetroffen«, verkündete er laut. »Kommt her, tretet näher. Wir wollen uns unverzüglich den Staatsgeschäften widmen.« Der Gesandte tat, wie ihm geheißen, und fand, dass der Monarch womöglich etwas besser bei Sinnen war als 409 sonst. »Seid gegrüßt, Euer Hoheit. Ich hoffe, Ihr seid wohlauf.« Der Prinz ignorierte die Floskel. »Was führt Euch denn mit solcher Dringlichkeit an meinen Hof?« »Es sind schwierige Zeiten, Majestät. Wie Ihr sicher wisst, Sir, sind Eure und meine Nation mit einer militärischen Mission von großer Bedeutung befasst.« »Ach, sind wir das?« Der Prinz sah ihn verwirrt an. Dieser Ausdruck kam oft in Melyobars Gesicht, wenn Talgorian mit ihm über die Angelegenheiten der Außenwelt sprach, und in diesem Augenblick fand er es sogar tröstlich. »In der Tat. Eine Flotte aus Gath Tampoor, die durch Vertreter unserer bhealfanischen Verbündeten verstärkt wird, befasst sich in diesem Augenblick mit einer Enklave von Rebellen.« »Und was soll ich Eurer Ansicht nach jetzt tun?« »Nichts, Euer Hoheit, überhaupt nichts. Ich lenke nur Eure Aufmerksamkeit auf diese Ereignisse, damit Ihr meine folgenden Erläuterungen in den richtigen Zusammenhang stellen könnt.« »Wir haben also wieder Krieg. Was ist dieses Mal anders als sonst?« War die Haltung des Prinzen etwa eine Spur aggressiver als sonst? Zeigte er am Ende gar Tatkraft? »Es geht dabei nicht so sehr um die Unterschiede, Hoheit. Ich erwähne dies nur, um die große Belastung zu verdeutlichen, der unsere geliebte Kaiserin in solchen Zeiten ausgesetzt ist, und um zu betonen, wie schwierig die Entscheidung war, die sie zu fällen hatte.« »Welche Entscheidung?« Talgorian holte das Dokument hervor, das er behütet hatte, und faltete es auf. »Ich glaube, Majestät, es wäre das Beste, wenn Ihr den Erlass, den die Ratgeber Ihrer Kaiserlichen Hoheit aufgesetzt haben, selbst lest.« Er sah sich um und bemerkte, dass er verstohlen beobachtet wurde. »Angesichts der Tatsache, dass es um delikate verfassungs410 rechtliche Fragen geht, möchte Eure Majestät vielleicht lieber in vertraulicher Umgebung unterrichtet werden.«
»Nein«, gab Melyobar barsch zurück. »Nun gut.« Talgorian räusperte sich. »Gemäß den mir von den zuständigen Behörden verliehenen Befugnissen verkünde ich, Andar Talgorian, Imperialer Gesandter von Gath Tampoor, hiermit förmlich und öffentlich, dass Prinz Melyobar von seiner Position als ...« »Das dachte ich mir!«, brüllte der Prinz. »Verrat!« »Ich bin sicher, dass wir vernünftig über diese Situation sprechen können, und ...« »Wachen!«, rief Melyobar. »Wachen!« Männer stürmten mit gezogenen Schwertern herbei und nahmen den Gesandten fest. »Lasst mich los!«, verlangte er. »Wisst ihr nicht, wer ich bin?« »Ihre Loyalität gilt mir«, erklärte Melyobar. »Ich wünschte freilich, ich könnte dies über alle meine Untertanen sagen.« Er hob einen Arm und schnippte mit den Fingern. Auf sein Signal schob eine Gruppe von Wächtern einen gefesselten Gefangenen herein. Talgorians Herz sank. Okrael konnte kaum noch laufen. Sein Gesicht war zerschlagen und blutig. »Euer Mitverschwörer«, verkündete Melyobar. »Nein«, erwiderte Talgorian. »Es gibt keine Verschwörung, nur den Erlass einer höheren Autorität. Ich handle auf Befehl, Majestät. Ich übermittle nur die Wünsche meiner Herrscherin.« »Ihr müsst mich wohl für sehr dumm halten«, schnaubte der Prinz. »Ich bin nicht allein hier. Ich habe eine Eskorte von ...« »Eure Handlanger können Euch nicht helfen. Glaubt Ihr wirklich, ich erlaube es einer Bande von Meuchelmördern, frei im Palast herumzulaufen?« »Meuchelmörder? Exzellenz, wenn diesen Soldaten et411 was zugestoßen ist, dann wird Ihre Kaiserliche Hoheit äußerst ungehalten reagieren. Das Gleiche gilt für diesen Mann.« Er nickte zu Okrael hin, der blinzelte, ohne seinen Blick erwidern zu können. »Er verfügt über Beweise, die für meine Mission von Bedeutung sind, und steht insofern unter dem Schutz des Reichs.« »Dann gebt Ihr zu, dass Ihr unter einer Decke steckt.« Eine eiskalte Faust legte sich um Talgorians Gedärm. Er musste einsehen, dass er so nicht weiterkam. »Bitte macht Euch klar, Majestät«, sagte er und spielte seine letzte Trumpfkarte aus, »dass ich die Unterstützung der Kaiserin selbst habe.« »Also die Unterstützung meines Feindes! Ein Agent des Todes!« »Das ist doch lächerlich, Hoheit! Ihr begeht einen schrecklichen Fehler!« Der Prinz sah ihn böse an. »Wir werden schon sehen, wie groß der Fehler ist, wenn die Folter die Wahrheit aus Euch herausholt. Werft sie in die Zellen!« Es schneite immer noch auf der Diamantinsel, obschon nicht mehr ganz so heftig. Starke Explosionen und das Flackern magischer Strahlen erhellten die Nacht. Serrah und Caldason standen auf einem Wehrgang der Redoute und blickten zum Meer hinaus. Sie konnten gerade eben eine Vielzahl von Masten erkennen, an denen weißes Tuch hing. »Es ist mir egal, wer deine Eltern sind, Reeth«, sagte Serrah. »Ich liebe dich. Alles andere ist unwichtiges Geschwätz.« »Sieh es doch von meinem Standpunkt aus. Ich bin stolz, ein Qalochier zu sein, und schäme mich für mein Gründerblut. Dieses Erbe der Gründer hat mich immer wieder heimgesucht und beunruhigt. Meine Wutausbrüche sind offensichtlich darauf zurückzuführen. Zwei Seiten in 412 meinem Wesen liegen miteinander im Krieg, das ist mir jetzt klar. Vielleicht gibt es noch andere kleine Geschenke, von denen ich noch gar nichts weiß.« »Hätte das Blut nicht dein Leben verlängert, dann wärst du jetzt ein alter Mann. Oder schon tot. Wir wären uns nie begegnet.« »Über diese Ironie des Schicksals habe ich oft nachgedacht, Serrah, glaube mir. Ich habe mir auch über den großen Altersunterschied zwischen uns Gedanken gemacht.« »Ach, nun fang doch nicht wieder damit an, Reeth. Für mich ist das kein Problem, und für dich sollte es auch keins sein. Wir wollen einfach dankbar sein, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat.« »Du hast Recht. Aber es ist schon ironisch, oder? Dass wir uns ausgerechnet zu einer Zeit finden, in der die Zukunftsaussichten nicht gerade rosig sind. Vorausgesetzt, wir haben überhaupt eine Zukunft.« »Wir haben einander, und wir haben diesen Augenblick. Das ist mehr, als viele andere Menschen bekommen. Hör mal, lass uns all das einen Augenblick vergessen und über größere Zusammenhänge nachdenken. Was kannst du mit dem anfangen, was Praltor darüber gesagt hat, dass die Gründer überlebt hätten?« »Ich frage mich, ob das nicht ein Irrtum war oder ob er sich nur alles eingebildet hat.« »Reeth, es ist schwer zu akzeptieren, aber nun verleugne es nicht. Es war nicht Praltors Meinung, es kam von der Quelle. Das konnte er nicht fälschen.« »Ich weiß. Wie du schon sagtest, es ist nicht leicht, gewisse Dinge über sich selbst herauszufinden.« »Es hat auch eine positive Seite. Man findet ja nicht jeden Tag heraus, dass man so einflussreiche Verwandte hat.«
Caldason musste lächeln. Sie küssten sich. 413 Ein Chor von Rufen erhob sich. Die Posten auf den Wehrgängen schlugen Alarm. »Was ist da los?«, fragte Serrah. »Schau nur.« Er deutete hinunter. Ein Wagen, der von einer berittenen Gruppe begleitet wurde, näherte sich der Redoute. Sie ritten wie der Teufel. Serrah hatte ein Fernglas dabei. »Reeth! Im Wagen sind Dulian und Quinn.« Sie wurden verfolgt. Mehrere Dutzend berittene Soldaten waren ihnen auf den Fersen. Der Atem stand als weißer Dampf vor den Nüstern der Tiere. Ein oder zwei Wachtposten begannen von der Redoute aus zu schießen. Serrah und Caldason liefen zur Treppe und eilten Hals über Kopf nach unten. Als sie im Erdgeschoss ankamen, sahen sie, dass die Tore schon geöffnet waren. Die Verteidiger stießen ermutigende Rufe aus, während der Wagen sich näherte, und deckten die Verfolger mit Pfeilen ein. Letztere waren langsamer geworden und vorsichtig genug, sich der Festung nicht weiter zu nähern. Als der Wagen und seine berittenen Begleiter fast in Sicherheit waren, tauchten zwischen den Bäumen neue Gegner auf. Ihre Uniformen hoben sich grau vor der schwarzen Nacht ab. »Was meinst du, wie viele es sind?«, fragte Caldason. »Vierzig oder fünfzig, vielleicht mehr. Verdammt, sie haben uns schon erreicht. Die Insel ist längst überrannt.« »Nicht unbedingt. Es ist eine übliche Taktik, Stoßtrupps vorzuschicken. Die da drüben sind vermutlich Späher. Eine geringe Anzahl, aber Veteranen.« Der Wagen und die Reiter donnerten in die Redoute und wurden mit Jubelrufen empfangen. Die Verteidiger stemmten sich gegen die Tore und schlössen sie rasch wieder. Karr und Disgleirio waren erschüttert, aber unverletzt. 414 Einige ihrer Begleiter hatten kleine Verletzungen davongetragen. »Was ist passiert?«, fragte Caldason. »Wir wurden einfach überwältigt«, erklärte Disgleirio. »Wir konnten gerade noch herauskommen.« »Was ist mit der Festung?« »Sie hält stand, und sogar recht gut, muss ich sagen. Aber die Feinde müssen natürlich einfach nur abwarten.« »Die Situation da draußen ist chaotisch«, fügte Karr hinzu. »Die Verteidiger halten einige Teile der Insel besetzt, die Angreifer einige andere. Auf der ganzen Insel gibt es isolierte Gruppen unserer Leute. Es ist die reinste Anarchie.« »Habt Ihr eine Ahnung, wo Darrok ist?« »Nein.« »Gibt es überhaupt noch gute Nachrichten?«, fragte Serrah. Bevor jemand etwas sagen konnte, meldeten sich wieder die Posten lautstark zu Wort und schrien Warnungen. »Das da sind bestimmt keine guten Neuigkeiten«, sagte Caldason und setzte sich zur Mauer in Bewegung. Serrah, Disgleirio und viele andere folgten ihnen. Sie drängten sich um die Gitter und die Schießscharten. Was sie sahen, war ein einsamer Reiter, der in ihre Richtung kam und eine Meute von Eindringlingen auf den Fersen hatte. »Sieht nach einem Nachzügler aus«, sagte Disgleirio. Serrah hob ihr magisches Fernglas. »Bei den Göttern, das ist Pallidea.« »Seid Ihr sicher?« »Diese rote Mähne kann man nicht verwechseln. Hier, schaut selbst.« Sie reichte ihm das Fernglas. Das weiße Pferd der Reiterin schwenkte ein wenig ab, um einer Reihe von Eindringlingen zu entgehen, die ihr den Weg abschneiden wollten, und lief in Richtung des halb zerstörten Festplatzes. 425 Serrah packte Caldasons Arm. »Wir müssen ihr helfen, Reeth.« »Los, komm.« Sie eilten durch den Hof zurück und sahen, dass Phönix und Goyter sich zu Karr gesellt hatten. Rasch erzählten sie ihnen, was sie gesehen hatten. »Wir können nicht viele Leute entbehren, um ihr zu helfen«, sagte Karr. »Eigentlich können wir überhaupt keinen schicken, ganz gleich, wer gerettet werden muss.« Die Entscheidung bereitete ihm offensichtlich Qualen. »Tut mir Leid, aber die Verteidigung dieser Anlage steht an erster Stelle.« »Natürlich«, erwiderte Serrah. »Aber Ihr habt doch nichts dagegen, dass wir hinausgehen?« »Eigentlich schon. Ich will nicht riskieren, Euch beide zu verlieren. Aber ich weiß natürlich, dass meine Antwort überhaupt nichts ändert. Versprecht mir nur, dass Ihr aufgebt, wenn es hoffnungslos aussieht, und wieder hereinkommt.« Goyter winkte einem Burschen, der zwei Pferde führte. An den Sätteln waren Brustharnische und Helme befestigt. »Die trage ich nicht«, sagte Caldason.
»Ihr braucht jede Hilfe, die Ihr nur bekommen könnt«, beharrte Goyter. »Ihr beide. Und die Rüstung ist überraschend leicht. Macht schon und zieht sie an.« »Ich habe noch etwas anderes, das nützlich sein könnte.« Phönix zeigte ihnen einen kleinen schwarzen Würfel. »Was ist das?«, fragte Caldason. »Ein persönlicher Schutzschild. Er hat genug Reichweite, um Euch beide zu decken, falls Ihr dicht zusammenbleibt. Er schützt vor den meisten Klingen und Geschossen. Habt Ihr so etwas schon einmal benutzt?« »Noch nie«, sagte Caldason. »Einige Male«, sagte Serrah. Sie befestigte bereits den Riemen ihres Helms. 416 »Dann kann ich das Euch überlassen«, entschied der Magier und gab ihr den Würfel. »Aber vergesst nicht, dass er nicht lange hält.« »Wie lange?« »Ungefähr zehn Minuten.« »Können wir uns endlich in Bewegung setzen?«, drängte Caldason. Sie saßen auf. Das Tor wurde geöffnet. »Alles Gute!«, rief Karr. Caldason und Serrah galoppierten hinaus. Mit einem satten Knall wurde das Tor hinter ihnen geschlossen. Die feindlichen Fußsoldaten blieben auf Abstand und beschränkten sich auf spöttische Rufe und Drohgebärden. Die berittenen Truppen stellten die größte Gefahr dar. »Sieht aus, als wären noch nicht allzu viele Kavalleristen unterwegs«, sagte Serrah. »Die paar, die wir gesehen haben, wollten vor allem Pallidea schnappen. Komm schon, sie ist hier entlanggeritten.« Reeth trieb sein Pferd an. Sie ritten weiter ins Landesinnere zu einer Ansammlung verlassener Vergnügungsstätten und Spielhallen Überreste aus der Zeit, als die Diamantinsel ihre Blüte erlebt und den Reichen als Ferienort gedient hatte. Zuerst sahen sie nichts außer halb zerstörten Gebäuden, die von Unkraut und Ranken überwuchert waren. Dann erspähten sie Bewegungen im Durcheinander. Als Serrahs und Reeths Augen sich umgestellt hatten, sahen sie Reiter, die mit gezogenen Schwertern die Ruinen durchsuchten und aufs Unterholz einhackten. Bisher waren sie selbst noch nicht bemerkt worden. »Was jetzt?«, flüsterte Serrah. Bevor er antworten konnte, wurde ihnen die Entscheidung abgenommen. Ein Reiter brach aus der Deckung und hielt auf sie zu; das wehende rote Haar war unverwechselbar. 417 »Los jetzt, Reeth!«, rief Serrah. Sie schlug den kleinen schwarzen Würfel auf ihren Schenkel, wo er wie ein rohes Ei zerbrach und den Spruch freigab. Als sich der fast unsichtbare Zauber um sie legte wie ein Mantel, kribbelte es auf ihrer Haut. »Vergiss nicht, bleib in der Nähe!« Sie ritten Pallidea entgegen und wurden mit einem Pfeilhagel begrüßt. Die Schäfte prallten vom Schutzschild ab, einige brachen unter der Wucht des Aufpralls entzwei. Caldason und Serrah eilten weiter. Pallideas Pferd wurde getroffen und warf ihre Reiterin ab. Sie humpelte nach dem Sturz, doch sie lief immer noch schnell wie eine Sportlerin. Ein Trupp Reiter war ihr auf den Fersen und holte rasch auf. Serrah und Caldason kamen herbei. Er beugte sich mit gestrecktem Arm seitlich aus dem Sattel, Pallidea packte zu. Mit einer großen Anstrengung hob Caldason sie hoch und hievte sie auf sein Pferd. Er und Serrah ritten im Bogen, und als Pallidea richtig auf dem Pferd saß, hatten die Tiere schon gewendet und liefen wieder in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Das Manöver erlaubte es den Feinden jedoch, weiter aufzuschließen. Jetzt war es eine einfache Verfolgungsjagd. Immer noch prallten Pfeile vom Schutzschirm ab. Serrah und Reeth trieben ihre Pferde an und vergrößerten den Vorsprung wieder. Der Zauber war verbraucht. Sie bemerkten es erst, als ein Pfeil das Hinterbein von Serrahs Pferd traf. Das Tier wieherte, stolperte und stürzte. Serrah flog in hohem Bogen aus dem Sattel und rollte über den gefrorenen Boden. Caldason zügelte sein Pferd und glitt von seinem Rücken. Er gab Pallidea zu verstehen, dass sie warten solle, und betrachtete Serrah, das verletzte Pferd und die anrückenden Verfolger. Sofort entschied er sich. »Los!«, rief er. 418 Pallidea war schockiert. »Nein, Reeth! Ich kann euch doch nicht...« »Reite weiter zur Redoute! Wir kommen schon zurecht! Los jetzt, los!« Er gab dem Pferd einen Klaps aufs Hinterteil, und es schoss davon. Serrah hockte auf Händen und Knien und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. »Alles klar, Liebste?« »Ich ... ja.« Er zog sie auf die Beine. »Dann mach dich bereit.« Die ersten Reiter der Imperien hatten sie fast erreicht. Caldason zog ein Messer mit kurzer Klinge aus dem Gürtel und warf es. Die Klinge traf den vordersten Reiter mitten in die Brust. Sein Sturz verursachte
vorübergehend ein Durcheinander unter den anderen Reitern. Einer fiel vom Pferd, mehrere andere mussten scharf abbiegen. Caldason blickte kurz zur Redoute. Pallidea hatte das Tor fast erreicht, und einige Reiter kamen heraus, um sie abzuschirmen. Pallidea hatte Glück gehabt. Jetzt aber kamen feindliche Fußsoldaten quer über die Ebene und schnitten Reeth und Serrah den Rückweg zur Redoute ab. »Flier entlang!«, rief er und zog sie am Arm mit sich. Sie rannten im Zickzack zu einer anderen Gruppe von Ruinen, die von einem Turm überragt wurden. Hinter ihnen donnerten Hufe. Pfeile, Speere und sogar ein Wurfbeil flogen hinter ihnen her. Ein Pfeil traf Serrahs Brustpanzer, der Aufprall war hart wie ein Faustschlag. Reeth zerrte sie weiter, sie mussten in Bewegung bleiben. Der Turm schien das einzige halbwegs stabile Gebäude in der Nähe zu sein. Sie hielten darauf zu und beteten, dass die Tür nicht versperrt war. Einige bange Augenblicke später erreichten sie keuchend vor Anstrengung den Fuß des Turms und stellten erleichtert fest, dass die Tür ein Stück offen stand. Sie knallten sie hinter sich zu, buchstäblich vor 419 den Nasen der Verfolger, und sicherten sie mit einer Eisenstange. Das Gebäude war ein Wachturm, teils aus Stein und teils aus Holz gebaut. Er war jedoch nicht zur Verteidigung errichtet und diente im Grunde überhaupt keinem praktischen Zweck. Wie so vieles auf der Insel war der Turm reine Dekoration. Eine Kulisse, die den Urlaub in einem Land der Phantasie verschönern sollte. Einem konzentrierten Angriff konnte er nicht lange standhalten. Die Tür wurde bereits von wuchtigen Schlägen erschüttert und würde nicht mehr lange halten. Sie sahen sich um. Es gab nur eine wacklige Holztreppe, die im Turm nach oben führte. Serrah und Caldason liefen hinauf. Die Stufen krachten und schwankten. Drunten wurden die Schläge lauter. Als sie den ersten Absatz erreichten, gab die Tür nach. Die Eisenstange bog sich durch, Splitter flogen. Sie stiegen weiter hinauf, und als sie oben ankamen, atmeten sie schwer. Auf den Turm war ein Glockengerüst aufgesetzt, eine Holzkonstruktion, die eine große eiserne Glocke hielt. Sie war geräumig genug, dass sich ein Büffel in ihr hätte wälzen können, und hing über einer offenen Luke. Hüfthohe Steinmauern umschlossen den Glockenturm, und darüber saß ein hölzernes Dach, doch ansonsten war die Glocke den Elementen ausgesetzt. Ein schneidend kalter Wind wehte und trieb die Schneeflocken umher. »Sie werden die Tür jeden Augenblick aufbrechen-«, sagte Serrah. »Ich war schon in schwierigeren Situationen.« »Wirklich?« »Nun ja, nicht sehr oft.« Die Tür hatte inzwischen ein Loch. Sie sahen die Spitzen von Speeren und Hände, die nach dem Riegel tasteten. »Was tun wir jetzt?« 420 »Mach Platz«, sagte er. Mit einer Hand am Glockenturm stieg er aufs wacklige Treppengeländer. Dann zog er sein Breitschwert. Er streckte sich und schlug nach dem dicken Seil, das die Glocke hielt. Der Schlag beschädigte das Seil, konnte es aber nicht durch trennen. Er schlug noch einmal und vertiefte die Scharte. Einzelne Stränge rissen, als sie die Last nicht mehr halten konnten. Unten nahm der Lärm zu, die Reste der Tür wurden eingetreten. Caldason wollte noch einmal zuschlagen, doch es war nicht mehr nötig. Das ganze Seil riss entzwei; die Schwerkraft gewann die Oberhand und zog die Glocke durch die offene Falltür hinab. Jenseits der Luke fiel die Glocke allerdings nicht mehr ganz so reibungslos. Sie prallte gegen ein Geländer und zerstörte es. Dann krachte sie gegen die Wand, aus der sich Steine lösten, und gab ein hässliches Dröhnen von sich. Und dann stürzte sie vollends hinab. Mit einem gewaltigen, fast melodischen Krachen schlug die Glocke unten ein. Sie kam schief herunter, eine Kante drang tief in den Boden ein, und die Wölbung legte sich vor den Eingang. Staub wallte hoch. Die Treppe bebte heftig. Caldason konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten, und sprang leichtfüßig auf den Boden des Glockenturms hinab. Dann blieb er wie angewurzelt stehen und lauschte mit Serrah dem tödlichen Dröhnen der Glocke. Sie warteten darauf, dass die Treppe zusammenbrach. Nach einer anscheinend sehr langen Zeit flüsterte Serrah: »Ich glaube, sie bleibt wohl doch stehen.« Caldason kroch zum Rand der Luke und spähte nach unten. Sicher war er nicht, aber er glaubte, leblose Gliedmaßen unter der Glocke zu sehen. Serrah schlich zu ihm. »Es scheint da unten schrecklich still zu sein.« 421 »Das war nur ein Vorgeplänkel. Glaube ja nicht, wir hätten sie abgeschreckt.« »Mal sehen.« Sie führte ihn geduckt zur Mauer des Glockenturms. Jetzt erst bemerkte sie, dass in jeder Ecke ein schön geschnitzter Wasserspeier stand und die Insel überblickte. Sie und Reeth kauerten sich hinter eine Figur, dann lugten sie nach unten. Sofort erhob sich unten ein Gebrüll, worauf ein Pfeilhagel folgte. Einer traf den Kopf
des Wasserspeiers und schlug ein verwachsenes Ohr ab. Reeth und Serrah duckten sich. »Ich habe zwanzig oder noch mehr gesehen«, meinte sie. »Ich auch. Dazu kommen noch diejenigen, die wir nicht gesehen haben, und ...« »Also eine Menge mordlustiger Banditen, die hier herein wollen.« »Wir sind dagegen nur zwei. Sie müssten doch etwas Wichtigeres zu tun haben. Vielleicht geben sie es einfach auf.« »Glaubst du das wirklich?« »Eigentlich nicht.« Er nahm den Helm ab und löste seinen Brustpanzer. »Ich hasse es, diese Sachen zu tragen.« »Ich bin dankbar dafür.« Dennoch nahm auch sie die Rüstung ab und begutachtete die Prellung vom Einschlag des Pfeils. Im Mittelpunkt der Prellung war die Haut abgeschürft. »Du wirst auch ein blaues Auge bekommen«, sagte er. »Aber mach dir keine Sorgen, ich mag Frauen mit dunklen Augen.« »Sehr witzig.« Sie tupfte die Prellung mit einem Tuch ab und zuckte zusammen. »Gib mal her.« Er zog eine Taschenflasche hervor und befeuchtete das Tuch. »Was ist das?«, fragte sie. »Branntwein. Ziemlich guter. Darrok hat ihn mir gegeben.« 422 »Der hat mit Sicherheit den besten, den es gibt. Autsch!« »Das dürfte eine Infektion verhindern.« Er presste das Tuch auf die Wunde. »Im Augenblick ist das nicht unbedingt unsere größte Sorge. Ich meine, Infektionen brauchen doch eine Weile, ehe sie ausbrechen, oder? Und Zeit ist etwas, das wir vielleicht gar nicht mehr haben.« Sie schwiegen eine Weile. Dann fügte sie hinzu: »Glaubst du, Pallidea hat es geschafft?« »Es sah so aus, als sei sie knapp entkommen. Aber was ich noch sagen wollte ...« »Was denn?« »Habe ich mich richtig entschieden? Ich habe ja im Grunde auch für dich gehandelt. Vielleicht hätte ich dir das Pferd überlassen sollen.« »Wir hatten nicht viel Zeit für Diskussionen, Reeth. Und es war richtig. Du entscheidest fast immer richtig. Das ist eins der Dinge, die ich an dir mag.« »Ich habe noch mehr Ironie für dich. Jahrzehntelang wollte ich nichts lieber tun als sterben. Jetzt habe ich dich gefunden und will leben, und gerade jetzt...« Sie legte ihm die Finger auf die Lippen und brachte ihn zum Schweigen. »Wer sagt denn, die Götter hätten keinen Humor?« »Dieses Mal machen sie sich leider über uns lustig.« »Nein, Reeth. Solange wir noch atmen können, und solange wir zusammen sind, gibt es noch Hoffnung.« »Und je länger wir hier bleiben, desto mehr Gegner sammeln sich draußen.« Die Morgendämmerung kam, und der Schneefall hatte fast aufgehört, aber es war kälter denn je. Sie hörten unten Lärm und riskierten einen weiteren Blick über die Brüstung. Dieses Mal gab es kein Gejohle, und es kamen keine Pfeile geflogen. Die Angreifer waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Sie schleppten 423 Holzstützen, Eimer und Schaufeln und Reisigbündel zum Turm. »Jede Wette, dass in den Eimern Öl und Schweinefett ist«, sagte Caldason. »Sie wollen uns ausräuchern.« »Der Gedanke, mich auf der Spitze eines Scheiterhaufens zu befinden, gefällt mir überhaupt nicht.« »Dazu wird es nicht kommen. Der Turm wird lange vorher zusammenbrechen.« »Wie schön. Und was tun wir jetzt, Reeth?« Er zögerte und sah sie scharf an. Dann wühlte er in der Tasche herum und zog einen kleinen grauen Beutel hervor. »Was ist das?«, fragte Serrah. »Ein Zauber? Irgendeine Magie, die uns hier herausholt, oder ...« »Nein.« Er war jetzt sehr ernst. »Auch dies hat Darrok mir gegeben.« Er öffnete den Beutel und zeigte ihr den Inhalt. »Was, zum Teufel...«, flüsterte sie und wich einen Schritt zurück. Sie war leichenblass geworden. »Hör zu.« »Soll das ein Witz sein?« »Es ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, wenn wir hier herauskommen wollen.« »Willst du wirklich, dass ich diesen Dreck einnehme? Weißt du nicht, was mit Eithne passiert ist?« »Ich schlage es dir sicherlich nicht leichtfertig vor, Serrah.« »Warum, zum Teufel, schlägst du es überhaupt vor?« »Weil mir nichts anderes einfallen will, das uns helfen könnte, lebendig hier herauszukommen.« »Ach, ja, in so einer Situation hilft es sicher, eine gefährliche Droge zu nehmen, was?« »Denk nach. Als du beim RIS warst, hattest du mit Banden zu tun, die dieses Zeug genommen haben. Erinnerst du dich, wie sich ihre Kampfkraft erhöhte? Wie aggressiv sie waren?« 424
»Sie waren Banditen. Abschaum.« »Das ist nicht der entscheidende Punkt. Ramp kann dir den Vorteil verschaffen, der ausreicht, um durchzukommen.« »Das verdammte Zeug hat mir so viel genommen.« »Dann lasse dir von ihm etwas zurückgeben.« »Mir fällt gerade auf, dass du nur davon sprichst, ich solle es nehmen. Was ist mit dir?« »Wer von uns hat einen beinahe unsterblichen Körper? Wer von uns bekommt Tobsuchtsanfälle? Wer braucht das Ramp dringender, um hier herauszukommen?« »Ich habe Angst«, gestand sie. Ihre Augen wurden feucht. Er umarmte sie. »Natürlich. Aber glaubst du, ich würde dich darum bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe?« »Es ist gefährlich.« »Nicht gefährlicher als das, was uns da draußen bevorsteht, wenn du es nicht nimmst.« Sie zog sich zurück. »Also gut, ich tu's. Aber dann sofort, und sage kein Wort mehr dazu, Reeth. Ich will keinen Grund finden, es mir doch noch anders zu überlegen.« »Gib mir deine Hand.« Sie zitterte leicht. »Ich bin bei dir«, beruhigte er sie. Er schüttete ihr ein Häufchen Kristalle in die hohle Hand. Sie starrte das Pulver an. »Hier, spüle es damit herunter.« Er reichte ihr die Taschenflasche. »Du weißt doch, wie es abläuft, oder? Du wirst ein paar Stunden lang toben, bis es abklingt. Danach fühlst du dich ziemlich erschöpft, aber ansonsten dürfte dir nichts passieren.« »Kann sein, dass ich dir das niemals verzeihen werde, Caldason.« Sie hob die Hand zum Mund und leckte die Kristalle ab. Dann verzog sie das Gesicht. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und musste husten. »Was jetzt?«, fragte sie heiser. »Wir warten. Die Wirkung müsste bald einsetzen.« »Wie erkenne ich es?« »Du wirst es erkennen.« 425 Oh, »Was ist?« »Mein Herz«, sagte Serrah und legte sich eine Hand auf die Brust. »Es hat einen Schlag ausgesetzt.« »Atme einige Male tief durch«, riet Caldason ihr. Sie tat es. »Alles klar?« »Mir geht es gut.« Ihre Augen sahen seltsam aus. »Wir sollten die Rüstungen wieder anlegen.« »Ach, lass mich in Ruhe damit.« »Ich glaube, das Ramp wirkt schon, Serrah.« Sie rieb sich ein paar Sekunden lang die Stirn. »Du hast wohl Recht.« »Wie fühlst du dich?« »Ich fühle mich ... ein wenig schwindlig. Als könnte mir übel werden. Und als wollte ich tanzen. Oder kämpfen, rennen, weinen, lachen ... ich weiß nicht.« »Ja, es wirkt.« »Was passiert jetzt?« »Du wirst bald eine Woge von Kraft und Wohlbefinden spüren. Deine Reflexe werden schneller. Erheblich schneller. Wahrscheinlich wirst du waghalsig. In dieser Hinsicht 426 musst du aufpassen, Serrah. Wir können es uns nicht erlauben, unvorsichtig zu sein.« »Äh, was? Ich hab nicht aufgepasst. Was hast du gesagt?« Er sprach betont langsam. »Ramp verändert die Art, wie du denkst. Es kann auch dein Urteilsvermögen trüben. Verstehst du das?« »Bei den Göttern, bin ich scharf auf einen guten Kampf.« »Ich glaube, du hast meine Frage gerade beantwortet.« Er fasste sie fest bei den Schultern. »Das Ramp gibt dir Ausdauer, und es lässt dich wild kämpfen, wenn es so weit ist. Aber angesichts der Umstände sollten wir die Kraft lieber dazu nutzen, um wegzulaufen.« »Das macht aber keinen Spaß.« »Wir müssen bald ausbrechen, Serrah, und dazu brauchen wir einen Plan.« »Zum Weglaufen? Braucht man dazu einen Plan? Wir müssen ... oooh!« »Was ist los?« »Ich glaube, ich bekomme noch einen Schub.« »Die Wirkung wird noch stärker werden.« Er sah sich in der Morgendämmerung um. »Wir müssen uns bald in Bewegung setzen, bevor es ganz hell ist. Wie siehst du das?« »In Ordnung. Wie gehen wir vor?«
»Möglichst einfach. Wir brauchen eine Ablenkung, um herauszukommen, und im Idealfall schnappen wir uns zwei ihrer Pferde.« »Wie stellst du dir die Ablenkung vor?« »Ich dachte, wir könnten das hier benutzen.« Er wühlte noch einmal in seiner Hosentasche herum. »Du bist ein Füllhorn. Wieder etwas, das Darrok dir gegeben hat?« Reeth zog ein kleines, in Tuch gewickeltes Bündel hervor. »Nein, dies haben wir dir zu verdanken.« Er öffnete das Tuch und zeigte es ihr. 427 »Drachenblut? Es braucht Salzwasser, um zu zünden. Hast du Salzwasser?« »Nein. Aber braucht es wirklich Salzwasser?« »Das weiß ich nicht. Wir haben es nie mit etwas anderem versucht.« »Vielleicht funktioniert es auch mit jeder anderen Flüssigkeit, und wir haben den Branntwein.« »Und das Salz? Hast du vielleicht auch eine Portion Salz dabei?« »Nein, aber du.« »Habe ich nicht.« »Doch, in gewisser Weise schon. Das Ramp lässt deine Körpertemperatur steigen. Wenn du nicht völlig anders reagierst als alle anderen, die es genommen haben, dann müsstest du bald schwitzen.« Sie lächelte, und es sah ein wenig irre aus. »Schweiß und Branntwein. Hübsch. Vielleicht klappt es ja.« »Alles in Ordnung mit dir?« »Die Götter mögen mir helfen, Reeth, aber das Zeug ist nett. Also beeil dich. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.« »Die Droge macht dich unruhig. Atme weiter tief durch, während ich das Drachenblut vorbereite.« Er kippte ein wenig Pulver auf zwei dünne Tuchstreifen und fügte ein paar Steinchen aus der Mauer als Ballast hinzu. Dann wickelte er alles zusammen und verknotete das Tuch. »Wir werfen die Dinger da runter und beschäftigen sie, und dann?«, fragte Serrah. »Ich meine, wir haben da eine verdammt große Glocke vor dem Eingang. Wie kommen wir da raus?« »Außen runter.« Er nickte zum Glockenturm hin. »Wir haben reichlich Seil.« Er wickelte es ab. »Du könntest vielleicht einen Teil deiner Energie einsetzen, indem du mir hilfst.« 428 Als sie zwei lange Seile zusammengeknotet hatten, fragte sie: »Und worauf warten wir jetzt?« »Halte still.« Er drückte eins der Päckchen auf ihre Stirn. Als er es wegnahm, war es feucht von ihrem Schweiß. Er wiederholte den Vorgang mit der zweiten Ladung und reichte sie ihr. »Bereit?« Sie nickte. Er nahm die Branntweinflasche und benetzte beide Päckchen. »Du wirfst auf dieser Seite, ich auf der anderen. Wir gehen zu der Wand da drüben. Alles klar?« Sie wurde ernst, ihre Augen waren hart. »Lass es uns hinter uns bringen.« Ihre Päckchen begannen zu schwelen. »Verdammt«, sagte er. »Wir haben vergessen, die Rüstungen anzulegen. Dazu ist es jetzt zu spät.« »Die würden uns sowieso nur behindern«, sagte sie gleichgültig. Er küsste sie. »Alles in Ordnung? Los jetzt!« Sie warfen die brennenden Päckchen über die niedrige Mauer und packten sofort die Seile. Es gab einen lauten Knall und einen grellen Blitz, dann gleich noch einen. »Jetzt!«, rief er. Sie rannten zur Wand und schauten hinüber. Wie sie gehofft hatten, waren die meisten Angreifer zur anderen Seite des Turms gelaufen, um nachzusehen, was dort explodiert war. Nur eine Hand voll Männer waren noch unten, und nicht zu weit hinter ihnen waren mehrere Pferde festgebunden. Sie mussten sich beeilen. Reeth und Serrah seilten sich ab. Bis knapp über dem Boden dachte Caldason, sie kämen unbemerkt hinunter. Dann wurde es unangenehm. Irgendjemand rief. Ein weiterer Soldat stimmte ein, dann noch einer. Als sie die Seile losließen, waren schon 429 ein Dutzend oder mehr Männer in ihre Richtung unterwegs. Ihre Hoffnung, im Durcheinander heimlich zu entwischen, war zunichte. Sie zogen rasch die Klingen und stellten sich den Feinden. Ihnen blieb keine Zeit für die hohe Kampfkunst. Caldason ging den ersten Gegner direkt und brutal an. Mit einem einzigen, wuchtigen Schlag auf den Kopf fällte er den Mann. Ohne Pause nahm er sich die nächsten beiden vor und brachte ihnen Wunden bei, die schwer und vielleicht sogar tödlich waren. Er arbeitete sich weiter vor wie eine Art Automat, der keinen anderen Zweck kannte, als Gegner abzuschlachten. Rücksichtslos machte er die Gegner nieder, ließ ihr Blut spritzen und trennte Gliedmaßen ab. Serrah kämpfte ebenso gnadenlos. Den Soldaten, die sie aufhalten wollten, kam es vor, als bewege sie sich schneller, als das Auge folgen konnte. Sie fing die Schläge mühelos ab und ahnte anscheinend Angriffe voraus, bevor sie überhaupt begannen. Die meisten Männer scheiterten schon, wenn sie nur versuchten, einen Hieb ihrer Klinge abzuwehren.
In ihrem durch Ramp beschleunigten Zustand hatte sie den Eindruck, sich durch ein Wachsfigurenkabinett zu bewegen. Die Puppen, denen sie auswich und die sie niedermachte, waren träge, dumpfe Geschöpfe, deren Reaktionen viel zu langsam kamen. Es kam ihr fast so vor, als wäre es eine größere Herausforderung gewesen, auf Vogelscheuchen einzuhacken. Seltsamerweise arbeitete ein Teil ihres Bewusstseins losgelöst von ihrem blutigen Werk. Ein Teil, der sich fühlte wie ein Vogel im goldenen Käfig und der mit der Distanz eines Zuschauers beobachtete, was draußen vor sich ging. Und welche Unannehmlichkeiten es auch geben mochte - wobei die meisten sowieso durch ihre rot gefärbte Klinge verursacht wurden, so hatte die Welt doch etwas Hinreißendes. Besonders gefiel ihr der hübsche grüne und purpurne Glanz am Rande ihres Gesichtsfeldes. 430 »Serrah! Serrah!« Reeth schüttelte sie heftig. »Komm schon, Serrah!« Sie nahm sich zusammen und sah sich um. Sie waren von Leichen und stöhnenden Verwundeten umgeben. »Die anderen kommen«, erklärte er ihr. »Wir müssen verschwinden!« Er packte sie am Arm und zerrte sie vom Turm weg. Hinter ihnen schrie jemand, und die Verfolger setzten sich in Bewegung. Caldason zog sie zu den angebundenen Pferden, die sie von oben gesehen hatten. Jemand baute sich mit erhobener Axt vor ihnen auf dem Weg auf. Ein paar schnelle Schwertstreiche, und das Hindernis war aus dem Weg geräumt. Im zertrampelten Schnee breitete sich ein roter Fleck aus. Die Meute war ihnen auf den Fersen. Caldason hatte eigentlich die Absicht gehabt, für jeden ein Pferd zu nehmen, doch er war nicht sicher, ob Serrah in ihrem Zustand überhaupt reiten konnte. So band er nur eines los, schob sie hinauf und setzte sich hinter ihr in den Sattel. Jetzt flogen wieder Pfeile. Er duckte sich, um ihnen zu entgehen, und trieb das Pferd scharf an. Sie galoppierten in den grauen, kalten, neuen Tag hinein. Eine Gruppe Reiter, es waren etwa zwanzig, hetzten sie bis zur Redoute. Doch auf halbem Wege ließen sie sich zurückfallen, weil ihnen vermutlich dämmerte, dass es sinnlos war, ihre ganzen Kräfte auf zwei Flüchtige zu verschwenden. Zweifellos freuten sie sich schon auf die Aussicht, dass ihre Beute so oder so ihrem Schicksal nicht mehr entrinnen konnte. Auf dem Rückweg zur Redoute sahen Serrah und Reeth an mehreren Stellen der Küste mächtige schwarze Rauchwolken aufsteigen. Es schien so, als setzten sich die Inselbewohner beherzt zur Wehr. Auf der Ebene vor der Festung hatten sich mehrere feindliche Verbände gesammelt. Es war noch nicht die volle Kraft der feindlichen Heere, es 431 waren immer noch Vorausabteilungen, doch sie zählten bereits nach hunderten. Die gesicherte Zone vor der Redoute war groß genug, um Reeth und Serrah wohlbehalten zurückkehren zu lassen. Sie hatten Glück gehabt. Von jetzt an waren solche Unternehmungen nicht mehr möglich. Drinnen herrschte helle Aufregung, Leute liefen in alle Richtungen durcheinander. Männer und Frauen verstärkten Schwachpunkte der Verteidigungsanlagen mit Sandsäcken, Gruppen von Magiern versiegelten die Eingänge mit Sprüchen und bereiteten magische Munition vor. Es gab keine Nichtkombattanten mehr. Jetzt wurden auch an die Alten und Schwachen Waffen ausgegeben. Sogar Kinder nahmen ihre Positionen auf den Wehrgängen ein und hielten sich an Speeren fest, die doppelt so groß waren wie sie selbst. Pallidea stürmte ihnen aus dem Gedränge entgegen. Sie umarmte Serrah und Reeth und bedankte sich bei ihnen. »Hast du etwas von Darrok gehört?«, fragte Caldason sie. »Ja, er ist, den Göttern sei Dank, ebenfalls zurückgekommen. Ich suche ihn gerade.« »Da ist auch Karr«, sagte Serrah. Sie entschuldigten sich und gingen zu dem alternden Patrizier, der mit Goyter, Disgleirio und einem Quartett von Kämpfern der Gerechten Klinge unterwegs war. Karr war sichtlich erleichtert, als er Caldason und Serrah erkannte, obwohl so viele andere Sorgen auf ihm lasteten. Er sah nicht gut aus. »Wenn ich mir vorstelle, dass wir vor einiger Zeit über Währung und Straßen gesprochen haben«, bemerkte er traurig. »Jetzt kann es nur noch darum gehen, möglichst rasch und würdevoll zu sterben.« »Das reicht jetzt«, ermahnte Goyter ihn streng. Dann sagte sie vertraulich: »Es sieht dir doch überhaupt nich 432 ähnlich, so pessimistisch zu sein, Dulian. Also fang nicht jetzt damit an.« Er lächelte, dankbar für ihre Kraft und Nähe. Trotz ihrer strengen Art nahm Goyter seine Hand. »Ihr seht ein wenig wild aus, meine Liebe«, sagte sie nicht unfreundlich zu Serrah. »Ich hoffe, es geht Euch gut?« »Könnte nicht besser sein.« Serrah bemerkte, dass die ältere Frau mit einem Schwert bewaffnet war. »Das steht Euch, Goyter. Gibt es etwas Neues von Tanalvah?« Goyter wurde schlagartig ernst. »Das Mädchen macht uns allen große Sorgen. Mit ihr stimmt etwas nicht. Ich wünschte, wir könnten mehr Leute erübrigen, die ihr Gesellschaft leisten und Kinsel etwas entlasten. Nicht, dass er in so etwas überhaupt einwilligen würde.«
»Ich sehe mal nach, wie es ihnen geht.« »Versucht doch, sie tiefer in die Redoute hineinzubringen. Wir müssen hier mit dem Schlimmsten rechnen, und drinnen sind sie besser aufgehoben.« Reeth nahm Serrah zur Seite. »Bleib nicht zu lange«, sagte er. »Nein. Ich sehe nur nach, wie es ihnen geht. Irgendjemand muss sich doch um sie kümmern.« »Wie fühlst du dich?« »Immer noch so, als könnte ich mit bloßen Zähnen einen Löwen erlegen.« »Das geht bald vorbei. Du spürst zwar keinen Hunger, aber versuche, etwas zu essen. Das hilft auch, das Ramp schneller abzubauen.« Serrah nickte. »Ich bin bald zurück«, versprach sie. Sie war kaum gegangen, da tauchten Kutch und Wendah auf. »Ihr zwei solltet nicht hier sein«, sagte Caldason. »Sucht euch ein Versteck.« »Wir haben unsere Magie«, sagte Wendah. 433 »Wir können helfen«, fügte Kutch hinzu. »Phönix hat mich einer Gruppe von Verteidigern zugeteilt.« »Das ist gefährlich«, warnte Caldason. Wendah deutete zu den Wällen. »Da stehen Kinder, die noch jünger sind als wir.« Diesen Einwand konnte er schlecht entkräften. »Also gut, aber seid vorsichtig, und ...« Auf den Wällen erhoben sich Schreie, dann wurden Alarmglocken geschlagen. »Auf die Posten!«, befahl Karr. Seine Stimme wurde durch Magie verstärkt. Disgleirio und seine Männer liefen schon an Caldason vorbei. »Wo seid Ihr postiert?«, fragte der Qalochier. »Wir bewegen uns und helfen aus, wo es nötig ist.« »Das mache ich dann auch. Viel Glück.« Die Verteidiger der Redoute verfügten über Katapulte, wenngleich nicht sehr viele, und begannen, die anrückenden Truppen zu bombardieren. Unsicherheitszauber und Schreckensmagie wurde von der Festung losgelassen. Bogenschützen feuerten in hohem Bogen tödliche Pfeilsalven ab. Als die ersten Belagerer die Mauern erreichten, wurden siedendes Öl und erhitzter Sand durch die Mörderlöcher der Festung auf die Angreifer ausgekippt. Caldason war ständig unterwegs. Er kümmerte sich um jeden Durchbruch und half, die Eindringlinge zurückzuschlagen. Wie alle Verteidiger kämpfte er unermüdlich und musste zusehen, wie seine Kameraden mit Pfeilwunden oder durch magische Brände fielen. Es änderte nichts. Nach erschreckend kurzer Zeit standen die Feinde vor dem Tor. Ihre Anzahl, ihre Bewaffnung und die überlegene Magie zahlten sich aus. Und jetzt brachen sie durch. Disgleirio hatte Karr und Goyter in einen besser gesicherten Bereich geführt, obwohl die beiden erbittert protestierten. Als die Tore und Mauern nachgaben, begannen 434 die Rebellen mit einem vorher geplanten Rückzugsmanöver. Einige setzten sich in befestigte Nebengebäude ab, andere verschanzten sich im Haupthaus mit seinem Labyrinth von Fluren, Verstecken, Türmen und unterirdischen Gängen. Sie konnten wenigstens dafür sorgen, dass die Angreifer einen hohen Preis zu zahlen hatten. Sobald er sah, dass er nichts mehr tun konnte, um die Mauern zu verteidigen, zog sich auch Caldason zurück. Als er hinabstieg, gaben die Tore nach. Im Hof herrschte ein organisiertes Chaos. Die ersten Feinde drangen bereits ein und versuchten, die Befestigungen zu erklimmen. Kutch und Wendah waren nicht sehr weit gekommen. »Kommt mit«, sagte Caldason. »Wir sollen doch bei der Verteidigung helfen«, protestierte Wendah. »Vergiss es. Wir müssen uns zurückziehen. Nun kommt schon.« Die Eindringlinge strömten herein. Er führte Kutch und Wendah zu einem Stall der Redoute. Es war nicht der größte, aber er war immer noch recht groß. Er dachte, mit einem Pferd könne es ihm womöglich leichter fallen, die Eindringlinge abzuwehren, oder er könnte die Tiere in Panik versetzen und die Angreifer überrennen lassen. Er hoffte auch, eine Stelle zu finden, an der sich die beiden jungen Leute verstecken konnten. Doch vor allem dachte er an Serrah und daran, dass sie möglicherweise voneinander getrennt sterben mussten. Im Stall waren keine Pferde zu sehen. Vermutlich wurden sie in den Kämpfen eingesetzt, die überall auf der Insel tobten. Noch wahrscheinlicher war, dass sie an Pferden so knapp waren wie an allem anderen. Caldason wollte Kutch und Serrah gerade sagen, dass sie sich ein anderes Versteck suchen sollten, als er hinter 435 sich eine Tür knallen hörte. Die Hand auf den Schwergriff gelegt, drehte er sich um. Devlor Bastorran stolzierte in den Stall. Die eigenartige Verschmolzene begleitete ihn, außerdem ein junger Uniformierter.
»Wie schön, Euch wieder zu sehen, Caldason«, verkündete Bastorran. »Ich hoffe doch, Ihr habt Zeit für einen kleinen Plausch.« Kutch starrte wie gebannt, doch sein Blick fiel nicht auf den Paladin. Sein erstaunter Blick galt dem jungen Adjutanten, der mindestens ebenso erstaunt den Blick erwiderte. Caldason verbarg seine Überraschung. »Ich freue mich immer über Gäste, die weit gereist sind, um mich zu sehen«, erwiderte er gelassen. »Wir wollen hoffen, dass Euer Besuch nicht enttäuschend verläuft.« Bastorran griff grinsend nach seiner Klinge. »Es sieht nicht danach aus.« Als Serrah durch einen der vielen Gänge der Redoute eilte und an einer offenen Tür vorbeikam, bemerkte sie, dass jemand ein Tablett mit Essen auf einem Tisch stehen gelassen hatte. Hungrig war sie nicht, doch sie erinnerte sich an Reeths Empfehlung und trat ein. Das Tablett stand wohl schon seit einigen Tagen dort, das Fleisch und die Früchte wirkten verdächtig. Sie begnügte sich mit einem Stück trockenem Brot, das sie mit Wasser herunterspülte. Die Wirkung des Ramp ließ allmählich nach, und sie fühlte sich geschwächt. Dies war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, sich hängen zu lassen. Sie zwang noch einige Bissen in sich hinein. Draußen war Lärm zu hören. Die Entfernung und die dicken Wände dämpften die Geräusche, doch es war unverkennbar: Der Angriff hatte mit voller Wucht begonnen. Serrah warf die knochentrockene Rinde weg und lief rasch weiter. Alle, denen sie begegnete, schienen, was nur zu ver436 ständlich war, mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt, und ignorierten alles außer ihrer Aufgabe. Als sie ihr Ziel erreichte, traf sie Kinsel vor der Tür. »Serrah, ich bin so froh, dass du da bist.« Er war offensichtlich sehr erleichtert, sie zu sehen. »Was ist denn los?« »Man hat uns einen Heiler versprochen, aber es ist niemand gekommen.« »Wenn man sieht, was draußen passiert, würde ich auch nicht mehr unbedingt damit rechnen.« »Ich weiß, und ich fühle mich egoistisch, weil sowieso schon alle so belastet sind. Aber ich mache mir Sorgen um Tan.« »Geht es ihr so schlecht?« »Ich weiß nicht.« Er seufzte. »Ich hatte ja gehofft, das könnte ein Arzt klären.« Er trat näher zu ihr und senkte die Stimme. »Ich glaube allmählich, sie könnte vielleicht eher einen Priester als einen Heiler brauchen.« »Ist es so schlimm?«, fragte Serrah erschrocken. »Nein, nein, du missverstehst mich. Es ist nur so, dass ihr Leiden ... es scheint eher spirituell als körperlich zu sein.« Flüsternd fügte er hinzu: »Damit meine ich ihren Geisteszustand.« »Ich habe sie kaum gesehen, seit sie wieder hier ist, aber sie scheint ... nun ja, ein anderer Mensch zu sein. Was ist nur passiert, Kinsel? Hast du eine Ahnung?« »Sie hat natürlich in Bhealfa viel durchgemacht, bevor sie fliehen konnte. Ich habe nicht genau herausfinden können, was es war, wobei sicher ist, dass sie es nicht leicht hatte. Ich tappe ebenso im Dunkeln wie du.« »Vielleicht ist es wegen des Kindes. Es ist ihr erstes Kind, und das ist manchmal schwierig. Vielleicht ändert es sich, wenn das Kind geboren ist...« »Ja, natürlich.« Er sah sie an, als hätte er sich aus seinem eigenen Kummer gerissen und nähme sie jetzt erst wirklich 437 wahr. »Es tut mir Leid, Serrah, du musst mich für schrecklich selbstbezogen halten. Ich habe dich nicht einmal gefragt, wie es dir geht.« »Mir geht es gut.« »Wirklich? Du siehst etwas erschöpft aus, wenn ich das sagen darf. Was hast du gemacht?« »Das ist eine komplizierte Geschichte, die uns jetzt nur aufhalten würde. Draußen wird es kritisch. Deshalb bin ich hergekommen.« »Wir sind hier nicht gerade gut aufgehoben, aber ...« »Es wird noch viel schlimmer. Ihr müsst möglicherweise bald alle hier verschwinden. Diesmal wird es ernst.« »Ich dachte, du hättest gesagt, wir wären hier sicher.« »Das habe ich auch gesagt. Ihr seid hier sicher. Aber noch sicherer seid ihr im Zentrum der Redoute. Hier seid ihr zu nahe an der Außenseite des Gebäudes.« »Was ändert das schon? Die Lage ist hoffnungslos, oder?« »Diese Einstellung wird Tan nicht helfen, und den Kindern auch nicht. Welche anderen Möglichkeiten habt ihr schon, abgesehen davon, aufzugeben und euch die Kehlen durchzuschneiden? Man kann immer noch hoffen. Halte dich daran.« »Du redest so wie ich früher.« »Das ist gut. Versuche es auch selbst wieder, das passt zu dir.« Sie drückte liebevoll seinen Arm und spürte, wie knochig er geworden war. »Wir werden es schon irgendwie schaffen.« »Mit der Quelle?« »Mit unserer Geheimwaffe?« Sie musste sich den Zynismus verkneifen, wenn sie nicht die Wirkung ihrer kleinen Ansprache wieder aufheben wollte. »Die ist im Augenblick nicht besonders hilfreich, aber es sind einige
interessante Tatsachen ans Licht gekommen.« Es war nicht nötig, ihn mit den Schreckensgeschichten über die Gründer zu belasten. 438 »Auch das kann ich dir später noch erzählen.« Vorausgesetzt, es gab überhaupt noch ein Später. »Mir macht noch etwas anderes Sorgen.« »Kriegst du denn nie genug?« »Ernsthaft. Ich frage mich, was ich tun würde, falls ich der Letzte wäre, der sich schützend vor Tan, die Kinder und die Eindringlinge stellen könnte. Was nützt mir da noch mein Pazifismus? Wie könnte ich sie dann beschützen? Dann denke ich daran, dass ich das Kämpfen den anderen überlasse, und ich denke, dass ich vielleicht einfach nur ein Feigling bin.« Er ließ den Kopf hängen. Sie legte die Hand unter sein Kinn und zog sanft seinen Kopf wieder hoch. Es war eine Geste, die auf eine seltsame Weise männlich wirkte. »Das musst du mit deinem Gewissen abmachen, Kinsel. Ich weiß, was ich in so einer Situation tun würde. Aber wir haben unterschiedliche Standpunkte, und du bist kein Feigling. Ich könnte nicht tun, was du tust. Das Hinhalten der anderen Wange erfordert viel mehr Mut, als ich je aufbringen würde. Macht das einen von uns zum Feigling?« Er lächelte dankbar. »Wir müssen hoffen, dass die Feinde sich ehrenhaft verhalten und mit Frauen und Kindern Nachsicht üben.« »Ich bin sicher, dass sie es tun werden, falls es so weit kommt.« Es wäre schön, dachte sie, wenn sie selbst daran glauben könnte. »Kinsel, die Zeit drängt. Kann ich Tan sehen?« »Ja, natürlich.« Er trat zur Seite und ließ sie vorbei. Wie zuvor lag Tanalvah im Bett. Ihr Aussehen hatte sich seit der letzten Begegnung kaum verändert. Ihr Gesicht wirkte immer noch teigig und krank, und ihr Atem ging so flach, dass man ihn kaum bemerkte. Sie hatte die Augen geschlossen. Im schwachen Licht im Zimmer sah sie aus wie eine Leiche. Von den Kindern war nichts zu sehen. Serrah nahm an, 439 dass sie hinter der verschlossenen Tür im Nachbarzimmer waren und hoffentlich schliefen. Tanalvah spürte Kinsels und Serrahs Gegenwart, bevor die beiden etwas sagten, und öffnete die Augen. Ihr war anzusehen, dass sie Schmerzen hatte, doch sie lächelte Kinsel an. »Anscheinend verbringe ich mein ganzes Leben damit, diese Frage zu stellen«, sagte Serrah, »aber trotzdem wie geht es dir, Tan?« »Es wird mir bald besser gehen«, erwiderte sie. Die Antwort kam mit einer Entschlossenheit, die Tanalvah lange nicht an den Tag gelegt hatte. »So ist es richtig, Liebste«, lobte Kinsel sie. »Es wird mir besser gehen, sobald ich mich ausgesprochen und um Vergebung gebeten habe.« »Iparrater erwartet nicht, dass du um Vergebung bittest«, erwiderte Serrah, die glaubte, Tanalvah habe auf ihren Glauben angespielt. »Du hast doch oft gesagt, sie sei eine wohlwollende Göttin.« »Mit ihr habe ich meinen Frieden geschlossen. Ich will es zufrieden annehmen, wenn sie mir eine Strafe auferlegt. Nein, ich dachte an eine eher weltliche Vergebung.« »Du hast nichts getan, wofür du um Vergebung bitten müsstest. Falls du deinen früheren Beruf meinst, nun ja, du hattest wohl kaum eine Wahl, oder? Komm schon, Tan. Die Geburt eines Kindes sollte ein freudiger Augenblick sein, was immer auch sonst in dieser verrückten Welt geschehen mag.« »Es wird freudig für mich sein, wenn mein Kind nicht mit meiner Sünde belastet zur Welt kommt. Deshalb muss ich mein Geständnis ablegen und ...« »Tan? Tan?« Tanalvahs Gesicht verzerrte sich, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich vor Schmerzen. Kinsel beobachtete sie besorgt. »Meine Liebe?« 440 »Es ... kommt... jetzt«, sagte Tanalvah mit zusammengebissenen Zähnen. Eine neue Schmerzwelle lief durch ihren Körper. »Sie hat Recht«, sagte Serrah. »Das sind Wehen.« »Wir brauchen einen Heiler.« »Die sind alle beschäftigt.« »Dann müssen wir es tun. Serrah, du ...« »Weil ich eine Frau bin, muss ich auch eine erfahrene Hebamme sein, was?« »Hast du so etwas noch nicht getan?« »Nur bei meinem eigenen Kind.« »Wen sonst hat sie denn noch außer uns?« »Ach, verdammt.« Serrah war etwas beschämt, und sie hatte auch Angst. Sie wollte dringend zurück zu Reeth. Und wenn sie ehrlich war, dann rief sie das Ramp, das sie noch im Körper hatte, zum Kampf. »Hole heißes Wasser und Handtücher«, sagte sie. Als er ging, rief sie ihm hinterher: »Und halte die Kinder draußen!« »Ein gerechtes Verhältnis«, sagte Caldason mit einem Blick zur Verschmolzenen und zum jungen Offizier. »Sie haben Anweisung, dies mir zu überlassen«, erklärte Bastorran ihm.
»Ach. Ich meinte eigentlich nur Euch drei zusammen gegen mich. Ein gerechtes Verhältnis.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch das freche Maul zu stopfen.« »Dann solltet Ihr vielleicht aufhören, Eures zu bewegen, und beginnen.« Kutch gaffte immer noch den uniformierten Fremden an, und Wendah starrte wiederum ihn verblüfft an. Bastorran nahm die Herausforderung an, schwenkte sein Schwert hin und her und ging auf Reeth los. Ihre Klingen prallten gegeneinander, und das Klirren hallte laut durch den leeren Stall. 441 Nach den ersten paar Stößen und Gegenstößen hätte eigentlich geklärt sein müssen, wer der Stärkere war. Doch nun zeigte sich, dass sie ebenbürtige Gegner waren. Gleichzeitig erinnerte Reeth sich in den ersten Augenblicken des Kampfes an etwas, das ihm schon bei ihrer früheren Begegnung aufgefallen war. Ihre Fähigkeiten mochten mehr oder weniger gleich sein, doch ihr Kampfstil unterschied sich erheblich. Wie alle Paladine war auch Bastorran im klassischen Schwertkampf ausgebildet. Caldason dagegen war eher ein Straßenkämpfer. Er verließ sich weit mehr auf seine Instinkte und weniger auf Standardmanöver und Finten aus dem Lehrbuch. Nicht, dass die klassische Ausbildung bedeutete, dass Bastorran sauber kämpfte. Die Kampftechnik des Paladins war nicht weniger brutal als die des gemeinsten Straßenvagabunden. Bastorran führte seine Klinge geschickt und sogar mit einer gewissen Eleganz, doch sein Ziel war es, dem Gegner möglichst schnell den Stahl in den Bauch zu stoßen. »Dieses Mal ist es nicht so einfach, was, Caldason?«, höhnte er. »Kein dahinrasender Wagen, von dem Ihr Euer Opfer werfen könnt. Keine Banden von Verrätern, die Euch helfen könnten.« »Ihr dagegen habt zwei Helfer mitgebracht. Oder sind es vielleicht drei, wenn man das Ungeheuer mitzählt?« Caldason nickte zu Kordenza hin. Die Verschmolzene, die an der Tür Wache hielt, erwiderte böse seinen Blick. Bastorran griff wieder an. Sie hackten aufeinander ein, prüften ihre Verteidigung und suchten eine Lücke. Doch während die Wucht ihrer Schläge zunahm, wurden ihre Bewegungen insgesamt langsamer. Die meisten Zweikämpfe waren kurze, heftige Angelegenheiten, die rasch und leidenschaftlich ausgetragen wurden. Wenn zwei Schwertkämpfer mit vergleichbaren Fähigkeiten aufeinander trafen, war dagegen oft die Ausdauer der entscheidende Faktor. Caldason wollte eine ausgedehnte Prügelei vermeiden 442 und legte ein höheres Tempo vor, um den Kampf rasch zu beenden. Bastorran versuchte mitzuhalten, geriet aber allmählich ins Hintertreffen. Während sie kämpften, warf Caldason einen kurzen Blick zu dem namenlosen Offizier, der sich abseits hielt wie ein unbeteiligter Zuschauer. Seine Aufgabe bestand wohl vor allem darin, Kutch und Wendah daran zu hindern, sich in den Kampf einzumischen, obwohl er keine Klinge gezogen hatte. Caldason hatte sogar den Eindruck, er blinzele Kutch zu, verwarf diesen unsinnigen Gedanken aber sofort wieder. Der Kampf wurde hitziger, und beide bewegten sich nun wieder schneller. Stöße und Paraden, Schläge und Finten wechselten in rascher Folge. Sie kämpften fieberhaft, und keiner wollte das Nachsehen haben. Es war jedoch unverkennbar, dass Bastorran zunehmend unsicher wurde. Er hatte große Mühe, eigene Schläge anzubringen, und schien vollauf damit beschäftigt, Caldasons Schwertstreiche abzuwehren. Seine Prahlerei, er werde allein gegen Caldason kämpfen, war bald vergessen, da die Wirklichkeit für den Hohen Clanchef schwieriger aussah als erwartet. Seine Augen verrieten es, und seine Signale waren auf seinen Adjutanten und Kordenza gerichtet. Es waren kleine Gesten, doch Kutch entgingen sie nicht. Der junge Offizier rührte sich nicht und gab nicht zu erkennen, ob er die stillen Anweisungen seines Herrn verstanden hatte. Kutch interessierte sich ohnehin nicht mehr für ihn, sondern konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Aphri Kordenza. Die Verschmolzene hatte Bastorrans Befehle verstanden und bereitete sich darauf vor, in den Kampf einzugreifen. Kutch war nicht weit von ihr entfernt. Als sie das Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagerte, wahrscheinlich, um sich vor dem Kampf etwas zu lockern, be443 merkte er etwas Seltsames. Sobald sie einen Fuß ein Stück vom Boden hob, glühte es unter der Hacke. Es war ein deutlich erkennbarer, purpurner Schimmer. So bizarr es schien, das Licht wirkte wie eine gummiartige Substanz. Eine Sekunde lang war der Fuß durch einen Lichtfaden mit dem Boden verbunden, als zuckten dort winzige Blitze. Kutch erkannte magische Energien, wenn er sie sah. Nun setzte er seine Aufklärergabe ein und ging der Sache auf den Grund. Wendah folgte heimlich seinem Blick, und auch sie konnte es sehen. Kutch schob eine Hand in die Manteltasche und spielte mit dem Messer, das Serrah ihm vor der Flucht aus Bhealfa gegeben hatte. Serrah hatte es vergessen, und er hatte es seitdem behalten. Es machte ihm Angst wie die meisten Waffen, doch was er in der Verschmolzenen sah, machte ihm noch mehr Angst. Caldason und Bastorran setzten unterdessen ihren Kampf fort. Der Paladin schien inzwischen schon fast mit dem Mut der Verzweiflung zu kämpfen. Seine Streiche waren wild, und er zielte nicht mehr sehr genau. Doch hin und wieder konnte man nur zu gut erkennen, dass er im Grunde ein brillanter Kämpfer war. Er ließ eine Reihe von Hieben und Finten los, die Caldason auf dem falschen Fuß erwischten. Einen Augenblick lang war alles im Fluss.
Kordenza ergriff die Gelegenheit und setzte sich in Bewegung. Für Kutch war sie zu schnell, aber nicht für Wendah. Das Mädchen holte eine Hand voll grüner Kügelchen aus der Tasche und warf sie vor der Verschmolzenen auf den Boden. Diese Schreckschüsse waren im Grunde ein recht harmloser Zauber, eigentlich nur Spielzeug, doch sie explodierten mit beeindruckender Lautstärke. Caldason und Bastorran erschraken wahrscheinlich genauso sehr wie alle anderen, doch sie waren zu erfahren, um in ihrem Kampf auch nur einen Herzschlag lang nachzulassen. 444 Kordenza jedoch zuckte zusammen, zog sich hastig zurück und sah verblüfft in die Runde. Wendah hatte instinktiv gehandelt, ohne groß darüber nachzudenken. Ihr Eingreifen hatte Kordenza daran gehindert, Bastorran zu helfen, doch sie hatte damit auch den Zorn der Verschmolzenen auf sich gezogen. Wütend ging Kordenza auf Wendah los und versetzte ihr einen bösen Schlag ins Gesicht, der sie zu Boden stürzen ließ. Die Verschmolzene griff nach dem Schwert. Kutch war schon bei ihr und wollte sie mit zitternder Hand mit seinem Dolch in Schach halten. »Lasst sie in Ruhe«, sagte er. Die Verschmolzene lächelte höhnisch. »Glaubst du wirklich, du kannst mich aufhalten, kleiner Junge? Das wollen wir doch mal sehen.« Sie hob die Klinge. Und wurde von einer anderen Klinge aufgehalten, die dem schweigsamen jungen Offizier gehörte. »Wie könnt Ihr es wagen, mich zu stören?«, fauchte Kordenza. »Auf wessen Seite steht Ihr?« »Gewiss nicht auf Eurer Seite.« Es war das erste Mal, dass er überhaupt das Wort ergriff. »Wenn Ihr Kutch haben wollt, müsst Ihr erst mich besiegen.« Ihre Schwerter trafen sich, und ein weiterer Kampf begann. »Was, zum Teufel, tut Ihr da, Meakin?«, brüllte Bastorran. »Sieht aus, als könntet Ihr nicht mit der Loyalität rechnen, die Ihr erwartet habt«, spottete Caldason. Sie kämpften weiter. Kutch zog sich mit erhobenem Messer ein Stück zurück und half Wendah auf die Füße. Ihre Lippe blutete, und sie schien erschüttert, aber nicht schwer verletzt zu sein. Er nahm sie schützend in die Arme. Meakin fand in Kordenza eine geschickte Gegnerin. Doch er schlug sich gut und sogar tapfer, zumal er wusste, dass er es mit einer professionellen Meuchelmörderin zu 445 tun hatte. Die Verschmolzene war drauf und dran, die Oberhand zu gewinnen, doch sie entschied sich, das Gleichgewicht noch weiter zu ihren Gunsten zu verschieben. Sie zog sich einige Schritte zurück und setzte den widerlichen Prozess in Gang, mit dem ihr Zwillingsbruder freigegeben wurde. »Lass sie das nicht tun!«, rief Kutch, denn er hatte sie als das erkannt, was sie war, und wusste, was gleich geschehen würde. Meakin rannte los, wich dem Schwert der Verschmolzenen aus und nahm sie in die Arme wie ein Bär. Sie stürzten zappelnd zu Boden. Diese Störung kam für Caldason in einem denkbar ungünstigen Augenblick. Er wehrte einen Schlag zu ungenau ab und musste einen zweiten einstecken, der aus einem gefährlichen Winkel kam. Das Ergebnis war, dass ihm das Schwert, das einzige, das er an diesem Tag trug, aus der Hand gerissen wurde. Es landete mit der Spitze voraus und blieb zitternd im festgestampften Lehmboden des Stalls stecken. Er sprang hinterher und landete auf allen vieren, verfehlte es aber um die Länge eines Fingers. Bastorran war der Klinge näher. Verächtlich trat er sie fort. Sie überschlug sich und war nun endgültig außerhalb von Galdasons Reichweite. Caldason war ihm schutzlos ausgeliefert. Der Paladin baute sich vor ihm auf und hob das Schwert zum tödlichen Schlag. »Ihr wisst gar nicht, wie lange ich mich danach gesehnt habe«, verkündete er hämisch. Er kostete seinen Sieg aus. Der Puls hämmerte in Caldasons Ohren. Kutch rief etwas, das klang wie: »Das Schwert, Reeth!« Er blickte zur Waffe. Sie war fast zum Greifen nahe, aber eindeutig außerhalb seiner Reichweite. Bastorran holte zum tödlichen Schlag aus. Wendah stieß einen kleinen, entsetzten Schrei aus. 446 Caldasons Blick kehrte zu seinem Schwert zurück. Ein unbeschreiblich mächtiges Wollen entstand in ihm. Das Schwert bewegte sich. Zuerst ruckte es, als werde es von einer unsichtbaren Hand gezogen. Dann flog es, elegant wie ein Wurfpfeil, und landete mit dem Heft zuerst in seiner wartenden Hand. Bastorran sah starr vor Schrecken und mit erhobenem Schwert zu. Reeth ergriff die Gelegenheit. Er führte einen nach oben gerichteten Stoß aus. Der Stahl fuhr in Bastorrans Bauch und drang tief ein. Caldason riss die Klinge heraus und war bereit, sofort noch einmal zuzuschlagen. Hellrot sprudelte es aus der Wunde. Der Paladin verzog ungläubig das Gesicht, da ihn so kurz vor dem vermeintlichen süßen Sieg sein Schicksal ereilt hatte. Das Schwert rutschte ihm aus der Hand, das Blut sprudelte aus seinem Körper. Er stürzte. Caldason war wie betäubt. Nach der Art zu urteilen, wie er sie anschaute, hätte die Klinge in seiner Hand eine Giftschlange sein können.
Dann kam Bewegung in die Szene. Kordenza rannte mit wehendem Mantel zur Tür. Meakin rappelte sich wieder auf und machte Anstalten, sie zu verfolgen. »Lass sie laufen!«, rief Caldason. Seiner Ansicht nach konnte sich der junge Mann glücklich schätzen, dass er die erste Begegnung mit ihr überlebt hatte. Schon die zweite konnte tödlich ausgehen. Der junge Offizier gehorchte. Er wandte sich jetzt an Kutch, die beiden rannten aufeinander zu und umarmten sich. Es schien, als sei die Welt soeben noch eine Spur verrückter geworden. Caldason stand auf und sagte: »Kutch, wer ist das?« Der Bursche drehte sich strahlend zu ihm um. »Das ist Varee, Reeth. Varee. Mein Bruder.« 447 »Was?« »Es ist wahr«, erklärte Varee. »Kutch und ich sind Brüder, und wir haben uns lange nicht gesehen. Bis vor kurzem glaubte ich sogar noch, er wäre tot.« »Und ich dachte, du wärst tot.« Kutchs Stimme brach beinahe. »Varee Pirathon?«, fragte Reeth. »Bastorran hat dich aber anders genannt.« »Meakin. Lahon Meakin. Unter diesem Namen bin ich seit sechs Monaten sein Adjutant.« »Das musst du mir aber ausführlich erklären.« Draußen vor dem Stall waren Kampfgeräusche zu hören, die sie daran erinnerten, dass der Krieg noch nicht vorbei war. »Aber nicht jetzt. Später. Später, wenn wir dann noch leben.« »Er hat Recht, Reeth«, sagte Kutch. »Er ist mein Bruder. Du hast doch gesehen, wie er die Verschmolzene angegriffen hat.« »Dafür bin ich dir dankbar, Varee«, räumte Reeth ein. Er wandte sich an Wendah und Kutch. »Euch beiden auch.« »Vergiss das«, erwiderte Kutch aufgeregt. »Was war das für eine Magie, die du da eingesetzt hast? Das war beeindruckend, Reeth!« »Nein. Nein, ich habe da nichts gemacht. Es war ein Zufall, ein ... in Wirklichkeit warst du es, Kutch, nicht wahr? Oder du, Wendah?« Beide schüttelten den Kopf. »So etwas können wir nicht«, berichtigte Wendah ihn. »Das warst du selbst, Reeth«, fügte Kutch hinzu. »Du bist ein Naturtalent. Das Blut der Gründer.« Caldason bekam es mit der Angst. Er betrachtete sein Schwert. Varee schien gründlich verwirrt. Mit brüderlichem Mitgefühl sagte Kutch: »Keine Sorge, ich erklär's dir später. Es gibt eine Menge zu erzählen.« »Einige Dinge weiß ich schon. Ich habe versucht, den 448 Widerstand zu unterstützen, so gut es ging. Und jetzt will ich euch helfen.« »Dann zieh die Uniform aus«, riet Caldason ihm. Er fing sich allmählich wieder. »Da draußen sind ein paar hundert Rebellen, die nur darauf warten, dich mit Pfeilen zu durchlöchern.« »Gern.« Der ältere Pirathon zog die Jacke aus, unter der ein schlichtes Hemd zum Vorschein kam. Kutch sah ihm mit einer Regung zu, die an Bewunderung grenzte, und Wendah freute sich ganz offensichtlich für Kutch. »Die Kämpfe sind noch lange nicht vorbei«, erinnerte Caldason die anderen nüchtern. »Ganz zu schweigen davon, dass die Verschmolzene noch da draußen herumläuft. Lasst uns geordnet aufbrechen und haltet eure Waffen bereit. Kutch und Wendah, bleibt hinter mir.« Sie liefen an Bastorrans Leichnam vorbei zur Tür. Unterwegs hob Varee eine alte Pferdedecke auf, die er sich als Schutz vor der Kälte über die Schultern legte. Draußen war es inzwischen erheblich ruhiger geworden. Die Eindringlinge waren mit Mühe und Not zurückgeschlagen worden, doch die Inselbewohner hatten einen hohen Preis dafür bezahlt. Jetzt räucherten sie die letzten feindlichen Stellungen aus. Die meisten Gegner waren gezwungen, sich durch die Tore oder über die Mauern zurückzuziehen. Kordenza war nirgends zu sehen, vermutlich war sie irgendwo im Gedränge verschwunden. Caldason musste immer noch an das denken, was gerade mit seinem Schwert passiert war, und an Kutchs Kommentar dazu. Er lief weiter und ließ Wendah und die Brüder hinter sich zurück, die instinktiv dicht beisammen blieben. Darrok stieß mit seiner fliegenden Scheibe herab. »Schön, Euch zu sehen, Reeth.« Caldason begrüßte ihn abwesend. 449 »Danke, dass Ihr meine Frau gerettet habt«, fügte Darrok hinzu. »Und jetzt seht Euch das an«, fuhr er fort, ehe Reeth antworten konnte. Er deutete auf eine Leiche, die halb in einer Pferdetränke lag. Der Mann trug die Piratenkluft. »Noch mehr Männer von Vance, die sich auf die Seite der Imperien geschlagen haben.« Er war über die Maßen aufgebracht. »Wir können das Attribut >nützlicher Idiot< auf die Liste seiner Charaktermängel setzen.«
»Man sollte da etwas unternehmen«, erwiderte Caldason zerstreut. Darrok war in der Stimmung, dies wörtlich zu nehmen. »Und ob. Und ich bin derjenige, der es tun wird. Schließlich bin ich dem Schwein noch etwas schuldig.« Caldason ging weiter, und Darrok sah ihm einen Augenblick nach, ehe er wieder fortflog. Der Qalochier ging zu einer Mauer, die von Eindringlingen gesäubert war, und fand einen kleinen Bereich, in dem er vorübergehend allein war. Die Soldaten, die vertrieben worden waren, liefen dem feindlichen Heer entgegen, das sich draußen auf der Ebene sammelte. Die Streitmacht war größer als die gesamte Rebellenbevölkerung der Insel, und immer noch trafen neue Verbände ein. Was bisher geschehen war, konnte man höchstens ein Scharmützel nennen. Wendah kam zu ihm. »Die beiden wollen reden«, erklärte sie. »Sie brauchen mich jetzt nicht.« Sie sagte es ohne Groll und betrachtete die Szenerie auf der Ebene. »Das sieht übel aus, was?« Er nickte. »Ja.« Er dachte an Serrah. Er wollte bei ihr sein, und er wollte sie suchen. »Du hast die Kraft in dir«, erinnerte Wendah ihn. »Benutze sie, um uns zu helfen.« Er wollte es bestreiten, doch dann sagte er: »Ich weiß nur nicht, wie.« 450 Es war ein tiefes, erschreckendes und Ehrfurcht erweckendes Erlebnis gewesen, und es war noch nicht vorbei. Die Wirkung des Ramp klang viel zu langsam ab, und Serrah war inzwischen alles andere als begeistert. Sie hätte bei der Geburt lieber mit klarem Kopf geholfen. Doch jetzt war Tanalvahs Kind geboren. Es war ein anscheinend völlig gesunder Junge. Seiner Mutter ging es weniger gut. Im Laufe der langen, schwierigen Geburt hatte Tanalvah die Kraft und auch den Willen verloren, es durchzustehen. Erst als ihre Helfer sie erinnert hatten, dass das Wohlbefinden des Kindes von ihrer Mitwirkung abhing, war es besser geworden. Doch die Geburt hatte sie an das Ende ihrer Kräfte gebracht. Sie hatte große Qualen auf sich genommen und abgesehen von ein paar Schlucken Branntwein kein Schmerzmittel bekommen, und zudem hatte sie eine Menge Blut verloren. Serrah und Kinsel halfen ihr, so gut sie es ohne Hebamme und Heiler konnten, und legten sie schließlich wieder ins Bett. Doch Tanalvahs Zustand besserte sich nicht. Glücklicherweise bekamen Teg und Lirrin nichts von ihren Schwierigkeiten mit. Kinsel hatte eine ältere Frau 451 überreden können, die Kinder in einer benachbarten Wohnung zu beaufsichtigen. Die ganze Angelegenheit wurde durch das Bewusstsein, dass die Eindringlinge jederzeit durchbrechen konnten, nicht leichter. Die Geräusche von Kampf und Zerstörung waren während der Wehen ständig zu hören gewesen. Jetzt war es draußen glücklicherweise erheblich ruhiger. Allerdings war ihnen allen klar, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm sein konnte. Sobald das Kind geboren war, brachte Serrah es in das kleine Badezimmer, das zur Wohnung gehörte, und untersuchte es, ob es gesund war. Tanalvah war schon verstört genug, und Serrah wollte nicht in ihrer Gegenwart womöglich irgendwelche unangenehmen Dinge entdecken. Dann badete sie das Neugeborene behutsam, und süße Erinnerungen an die kleine Eithne erwachten in ihr. Auf dem Fuße folgten andere, weniger glückliche Erinnerungen. Kinsel kam zu ihr herüber. Sein Gesicht spiegelte das Wechselbad der Gefühle, in dem er steckte, doch als er den kleinen Jungen sah, wurden seine Augen feucht. »Geht es ihm gut?« »Ja, alles in Ordnung.« »Ich weiß nicht, wie wir dir jemals danken können, Serrah. Wenn du nicht gewesen wärst ...« »Vergiss es.« Sie betrachtete das kleine Bündel, das sie wiegte. »Das war es wert.« »Sie will ihn sehen.« »Gut. Ich hätte mir auch Sorgen gemacht, wenn sie es nicht wollte. Wir sind hier fast fertig. Nicht wahr, mein Lieber?«, sagte sie zu dem Kind. »Hier, dein Papa nimmt die jetzt.« »Oh.« Unsicher nahm Kinsel das Kind entgegen, dann strahlte er es an. »Typisch Mann. Keine Sorge, er bricht nicht entzwei.« 452 Sein Lächeln verschwand. »Ich wünschte, wir könnten das Gleiche über Tan sagen.« »Keine Verbesserung?« »Ich glaube, es wird immer schlimmer. Jedenfalls, was ihre seelische Verfassung angeht.« »Sie ist auch körperlich in schlechter Verfassung. Als ich sie näher anschauen konnte, bin ich erschrocken, wie sehr sie sich vernachlässigt hat. Aber ich hoffe, wir können noch heute einen Heiler finden, und ...« »Nein. Ich meine, ja, ihr körperlicher Zustand macht auch mir Sorgen. Aber im Augenblick denke ich eher über die Dinge nach, die sie gesagt hat.« Er war offensichtlich sehr beunruhigt. »Sie hat in der letzten Zeit öfter irgendwelchen Unsinn erzählt, das ist wahr. Aber nach allem, was sie durchgemacht hat, ist es kein Wunder, dass sie die Orientierung verliert.« »Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Es ist etwas ganz Bestimmtes.« »Meinst du ihre Besessenheit, dass sie beichten müsste?« »Ja. Ich glaube, es gibt vielleicht wirklich etwas, das sie sich von der Seele reden muss.« »Wir wissen, dass Tan in Rintarah einen gewalttätigen Kunden getötet hat. Sie hat aber keinen Grund, deshalb
Schuldgefühle zu bekommen. Das war Selbstverteidigung.« »Das meint sie sicher nicht.« »Worum geht es dann?« Das Kind begann zu weinen. »Er hat die Lungen seines Vaters«, sagte Serrah. »Es ist schon gut, er hat nur Hunger. Ich fürchte aber, Tan ist noch nicht so weit. Ich habe hier etwas Milch, die wir ihm aufwärmen können.« »Das mache ich, und dann bringe ich sie euch.« »Wirklich?« »Ich bin jetzt Vater, ich muss das lernen. Hier.« Er gab ihr das Kind. »Geh schon mit ihm hinüber.« 453 In Serrahs Armen beruhigte sich das Kind fast sofort. Tanalvah war weiß wie die frischen Laken, die Kinsel auf ihr Bett gezogen hatte. Doch der leere Gesichtausdruck hellte sich etwas auf, als sie das Kind sah. »Da ist er.« Serrah gab sich Mühe, fröhlich zu sprechen und die Stimmung zu heben. »Geht es ihm gut?« »Er ist ein kräftiger, schöner kleiner Junge, Tan. Schaffst du das?« Sie ließ das Kind sanft in Tans Arme sinken. Tanalvah betrachtete ihr Kind mit der Bewunderung einer jungen Mutter. Dennoch war ihre Trauer nicht zu übersehen. Sie küsste das Kind und flüsterte liebkosende Worte. Kinsel kam mit der Milch. Er hatte sie in eine kleine Tonflasche gefüllt und eine Art Schnuller aus dicker Wolle eingesetzt. »Lass mal sehen«, sagte Serrah. Sie schüttete sich ein paar Tropfen Milch auf den Handrücken. Der Ersatzschnuller funktionierte recht gut. »Sehr gut, und nicht zu heiß. Ich kann jetzt schon sehen, dass du bestens damit zurechtkommen wirst.« Sie ließ die beiden mit ihrem Kind allein und kehrte ins Badezimmer zurück. Mit lauwarmem Wasser aus einem Krug wusch sie sich das Gesicht. Sie war erschöpft. Schlafmangel, die Droge und große, starke Gefühle, das konnte jeden schaffen, dachte sie. Sie wagte aber zu hoffen, dass es Tanalvah wieder besser ging, da sie jetzt ihr Kind in den Armen halten konnte. Serrah trocknete sich gerade ab, als Kinsel zu ihr kam. »Kannst du bitte mitkommen? Ich brauche dich.« Sein Tonfall und sein Blick duldeten keine Widerrede. Serrah ließ das Handtuch fallen und folgte ihm. Tanalvah hielt noch das Kind, doch sie hielt es weit vor sich. Anscheinend ging es ihr körperlich sogar noch schlechter als vor zehn Minuten. 454 »Was ist los?«, fragte Serrah. »Wirst du müde?« Eine völlig unpassende Frage. Tanalvah war offensichtlich am Boden zerstört, aber das war nicht das Entscheidende. »Ich verdiene ihn nicht«, sagte sie. »Ich bin es nicht wert.« »Wie bitte?« »Das wirst du auch denken, wenn du es gehört hast.« Serrah konnte sehen, dass Tans Arme schmerzen mussten, weil sie ihren Sohn so weit vor sich hielt, ganz zu schweigen von der Belastung, der sie ausgesetzt war. Deshalb nahm sie ihr das Kind wieder ab und gab es Kinsel. So hatte er wenigstens etwas zu tun und keine Zeit mehr, in Gefühlen zu vergehen. Doch er fand rasch einen Ausweg. Er huschte durch den Raum und legte den Kleinen in das Kinderbett, das sie irgendwo aufgetrieben hatten. Serrah hatte sich unterdessen auf die Bettkante gesetzt. »So, und was, bei allen Göttern, war das jetzt für ein Unsinn, dass du deines Sohnes nicht würdig wärst?« »Es ist wahr, Serrah. Er wird durch mich besudelt.« »Hör mal, Tan, ich weiß, dass Mütter sich nach der Geburt manchmal schlecht fühlen, aber das geht vorbei. Dein Junge ist keinesfalls durch dich besudelt. Er wird geliebt, und nur darauf kommt es an.« Tanalvah lachte. Doch es lag ganz und gar nichts Fröhliches in ihrem Lachen. Es klang schwach und zynisch und verzweifelt. »Du würdest das nicht sagen, wenn du wüsstest, was ich ...« »Was ist es denn nun, das wir wissen sollten?« Serrah war müde und reagierte trotz ihres Mitgefühls allmählich gereizt. »Du machst immer nur Andeutungen, Tan, aber du sagst uns nichts. Was gibt es denn Schreckliches zu erzählen? Sage es uns, und dann lass uns selbst entscheiden, wie schrecklich wir es finden.« »Es geht um den großen Verrat.« Sie sprach leise, fast flüsternd. 455 »Ist dir damals etwas zugestoßen, Liebste?«, fragte Kinsel freundlich. »Etwas Schlimmes?« »So könnte man es ausdrücken.« Ihre Augen suchten Serrah. »Du hast geschworen, den Verräter zu töten, nicht wahr?« »Allerdings.« »Dann ... dann tu es.« »Das verstehe ich nicht, Tan.« »Du kannst deinen Schwur erfüllen, Serrah.«
»Karr hat mir erzählt, jemand namens Mijar Kayne stehe unter Verdacht«, sagte Kinsel. »Ein Kämpfer der Gerechten Klinge. Er soll tot sein.« »Aber wenn du etwas weißt, Tan«, warf Serrah ein, »wenn du ihn irgendwo lebend gesehen hast, dann ...« »Hört mir zu«, verlangte Tanalvah. »Hört mir beide zu. Ich bin die Verräterin.« Es gab ein kurzes Schweigen, dann sagte Kinsel: »Das ist aber ein ausgesprochen schlechter Scherz, Liebste.« »Ich war es«, wiederholte sie. Serrah und Kinsel wechselten einen besorgten Blick. »Warum solltest du so etwas tun?«, fragte er. »Ich habe es für dich getan, Liebster, für dich und die Kinder. Für uns, für unsere Familie. Ich wollte damit Leben retten und nicht in Gefahr bringen.« Sie hustete krampfhaft. Kinsel legte ihr eine Hand in den Nacken und bot ihr einen Becher mit Wasser an. Es schien zu helfen. »Was hast du getan?«, wollte Serrah wissen. »Ich bin zu den Clans gegangen. Irgendwann traf ich Devlor Bastorran. Ich gab ihm einige Informationen und erzählte ihm, dass ich Verbindungen hatte. Er ließ sich rasch überzeugen.« »Was hast du als Gegenleistung verlangt?« »Kinsel. Ich wollte ihn von dieser schrecklichen Galeere herunterholen. Bastorran sagte, er könne es tun. Und er sagte mir, niemand werde zu Schaden kommen, wenn ich 456 ihm etwas über den Widerstand erzählte. Also habe ich es getan. Aber er hat gelogen.« »Wie konntest du irgendetwas anderes von ihm erwarten?« »Warte mal, Serrah«, fiel Kinsel ihr ins Wort. »Du nimmst das doch nicht ernst, oder?« Sie antwortete nicht. Ihre Instinkte sagten ihr: Nein, das ist doch verrückt. Tan würde so etwas im Leben nicht tun. Doch nach und nach akzeptierte sie, was unmöglich schien. »Komm schon«, flehte Kinsel, »das ist doch nur Hysterie oder so etwas.« »Es war ein schrecklicher, schrecklicher Fehler«, sagte Tanalvah, »für den ich in der Hölle schmoren werde.« Ihr Gesicht sah unendlich müde aus. »Du verlangst von uns, etwas Unglaubliches über dich zu glauben«, meinte Serrah. »Wäre es nicht noch abwegiger, wenn ich es nur erfunden hätte?« Serrah war schon fast überzeugt. Allerdings gab es noch eine andere Möglichkeit. »Du warst krank und hast unter großem Druck gestanden. Woher wissen wir, dass jetzt nicht deine Krankheit aus dir spricht?« »Weil es ein Geständnis auf dem Totenbett ist, Serrah.« »Unsinn«, sagte Kinsel ganz und gar nicht überzeugend. »Oder, Serrah? Das ist doch Unfug. Du bist nur erschöpft.« Einer Eingebung folgend, griff Serrah zur Bettdecke. Tanalvah versuchte nicht, sie aufzuhalten. Ihre Blicke trafen sich, und Serrah entdeckte eine Spur der alten Tan. Sie zog die Bettdecke zurück. »Bei den Göttern, nein«, keuchte Kinsel. Er wandte vor Schreck den Blick ab. Das Bett war ebenso nass vor Blut wie Tanalvahs Nachthemd. Serrah betrachtete es entsetzt. Sie wusste nicht, wo sie beginnen und was sie tun sollte. 457 »Glaubt ihr mir jetzt?«, sagte Tanalvah. Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Du hast nichts gesagt. Wenn du uns gesagt hättest, dass du wieder Blut verlierst, hätten wir dir helfen können. Bei den Göttern, Tan, wir stehen hier und reden mit dir, und die ganze Zeit...« »Mir ist nicht mehr zu helfen.« Die Kräfte verließen sie. »Wir brauchen einen Heiler«, sagte Kinsel. »Kinsel ...« »Schau mich nicht so an, Serrah. Was weißt du schon darüber? Du bist kein Doktor.« »Nein, aber eine Kämpferin. Ich weiß, was Blutverlust ist.« »Wir können doch nicht einfach ...« »Kinsel«, flüsterte Tanalvah. Er kniete nieder, nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Meine Liebste.« »Es tut mir so Leid, Liebster.« »Was uns angeht, so muss dir nichts Leid tun.« »Du bist der wundervollste Mann, den sich eine Frau nur wünschen kann. Mir ist jeder Augenblick teuer, den wir zusammen verbracht haben. Sage Lirrin und dem kleinen Teg, dass ich sie liebe. Lass sie nicht im Hass auf mich aufwachsen.« »Das kann ich dir versprechen.« »Verzeih mir, Kin.« »Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir, und ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.« Die Tränen strömten jetzt ungehindert. Tanalvahs Blick irrte ab, als betrachte sie eine Szene, die nur für sie selbst sichtbar war. Doch dann sagte sie deutlich: »Verzeih mir, Serrah. Verzeih mir, und sei es nur dafür, dass ich so dumm war.« Serrah konnte sich nicht bewegen und nicht sprechen. Kinsel schaute zu ihr auf. »Sie hat nicht mehr viel Zeit«, sagte er flehend.
458 »Ich weiß«, flüsterte sie. »Tu ihr diesen letzten Gefallen, Serrah. Bitte.« »Du meinst, meine Freundin und deine Frau sei für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich, die ich kannte, und ich solle ihr trotzdem vergeben?« »Versuche dir doch vorzustellen, wie ich mich fühle. Sie hat es für mich getan.« Er konnte kaum noch sprechen. »Das Leiden kann man nicht mehr aufheben. Aber können wir irgendetwas ungeschehen machen, indem wir sie noch elender in den Tod gehen lassen?« Dicke Tränen rannen über seine Wangen. »Wir haben in dieser Welt nicht viel Macht. Das Einzige, das uns wirklich eigen ist, ist die Fähigkeit zu verzeihen.« »Es fällt mir so schwer. Ich war so lange voller Hass auf den Verräter. Ich habe geschworen, ihn zu töten, wenn ich es konnte. Aber herauszufinden, dass ...« Sie schluchzte jetzt auch und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Ich weiß. Aber ich sage es noch einmal: Wir können ihr jetzt nur noch ein einziges Geschenk machen, das überhaupt etwas bedeutet.« Serrah nickte und schniefte. Sie kniete sich wie er vor das Bett. »Tan? Tan?« Sie hatte die Augen geschlossen, die sich jetzt flatternd wieder öffneten. Sie erkannte Serrah und lächelte. »Weine nicht. Meinetwegen wurden schon genug Tränen vergossen.« Dann fragte sie bangend: »Verzeihst du mir?« »Ich kann dir nicht die Absolution erteilen. Das bleibt höheren Mächten überlassen. Aber ja, ich ... ich verzeihe dir.« Tanalvah sah Kinsel an, und ihr Lächeln wurde breiter. Keiner sagte etwas. Das Licht wich aus ihren Augen. Er beugte sich vor und küsste sie. Als er seine Lippen von ihren nahm, war sie tot. Kinsel und Serrah blieben, wie es ihnen schien, noch 459 lange dort. Bis das Neugeborene weinte und sie zu sich rief. Der Kummer war einer Art Betäubung gewichen. Serrah bemühte sich, für Kinsel alles zu organisieren. Er war am Boden zerstört, und einen Augenblick lang packte sie die irrationale Angst, er könne beschließen, seiner Geliebten in den Tod zu folgen. Doch die Kinder verlangten, dass er am Leben blieb. Serrah dachte daran, wie schwer es für Teg und Lirrin gewesen war. Es war schon schlimm genug, dass sie ihre leibliche Mutter verloren hatten. Jetzt auch noch die Adoptivmutter zu verlieren, war schrecklich. Zum zweiten Mal in ihrem jungen Leben musste man ihnen etwas mitteilen, das ihnen das Herz brechen konnte. Sie beneidete Kinsel nicht um seine Aufgabe. Sie tröstete ihn ein wenig, indem sie ihm sagte, dass die Kinder wenigstens einen freundlichen, anständigen und liebenden Vater hatten. Doch beide schwiegen sich über die Tatsache aus, dass auch dies sehr fraglich wurde, sobald die Heere der Reiche die Insel erobert hatten. Serrah suchte für ihn und die Kinder ein neues Quartier im Innern der Redoute. Die Zimmer waren nicht so groß wie diejenigen, die sie aufgaben, doch hier waren mehr Menschen in der Nähe, die helfen und sie ablenken konnten. Außerdem waren sie hier erheblich sicherer untergebracht. Sie vergewisserte sich, dass Lirrin und Teg warten würden, und begleitete Kinsel dorthin. Er trug ein paar Taschen mit ihren Habseligkeiten, und sie nahm das Neugeborene. Nach einer Weile ließ sie ihn mit den Kindern allein, die sich um den Säugling drängten und die schlechten Neuigkeiten noch nicht gehört hatten. Sie hatte Kinsel versprochen, zurückzugehen und Tan ordentlich aufzubahren. Sie hatte auch versucht, einen 460 Priester und Totengräber aufzutreiben, doch das war mitten in einem Krieg nicht leicht. Davon abgesehen, gab es noch einige Dinge, die er aus der alten Wohnung brauchte. Er brachte es nicht über sich, noch einmal hinzugehen. Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie durch die endlosen Flure lief. Und Reeth natürlich. Eine Ewigkeit schien vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie hatte eigentlich keine Angst um ihn, doch sie sehnte sich danach, ihn zu sehen. Das war der letzte zusammenhängende Gedanke, den sie für eine ganze Weile fassen sollte. Als sie den Gebäudeflügel erreichte, in dem sich die Wohnung befand, bog sie falsch ab und lief geradewegs ins Verderben. Kaum dass sie um die Ecke gegangen war, wurde der Flur von einem grellen Lichtblitz erhellt. Sein langsamer Bruder, der Lärm einer schrecklichen Explosion, folgte auf dem Fuße. Zusammen legten sie den Flur in Schutt und Asche. Der Boden bäumte sich auf wie ein Lebewesen. Türen implodierten, Fenster zersprangen, Lüster fielen herab. Ziegel und Balken flogen in alle Richtungen. Staubwolken wallten auf. Dann kam das Dach herunter. Mehrere Trümmerbrocken prallten gegen sie und warfen sie hin und her. Schließlich lag sie auf dem Rücken und konnte sich nicht mehr bewegen, eingequetscht von einem fast unerträglichen Gewicht. Sofort wurden all ihre Ängste, in einem engen Raum gefangen zu sein, zur schrecklichen Realität. Doch das Bewusstsein ist ein seltsames, erstaunliches Ding, und dies ganz besonders in extremen Situationen. Statt in Panik zu geraten, befasste sie sich mit der Frage, wem der Widerstand eigentlich das Drachenblut
gestohlen hatte. Ihre Einschätzung der Lage war im Grunde richtig. 461 Draußen auf der Ebene und auf den Gipfeln einiger benachbarter flacher Hügel hatten die Invasoren mächtige Katapulte und magische Geschütze aufgebaut. Sie setzten eine Mischung aus Felsbrocken in der Größe von Häusern und magische Munition zum Bombardement ein. Eine magische Ladung hatte den Teil der Redoute getroffen, in dem Serrah sich gerade befand. Caldason rannte so schnell er konnte zur Festung; ihm war egal, wer ihm dabei in die Quere kam. Ein Stück hinter ihm folgten Kutch und Wendah Hand in Hand. Die ganze Zeit über ging der Beschuss weiter. Schwere zackige Projektile pflügten durch die fliehenden Inselbewohner und krachten durch die Dächer. Magische Ladungen fielen wie Hagel vom Himmel und verbreiteten ein Chaos aus Feuer, Säure und lähmenden Gasen. Im Innern der Redoute arbeiteten die Leute schon hektisch daran, die Trümmer wegzuräumen und die Verletzten zu bergen. Mehrere Tote lagen herum. Inmitten des Durcheinanders stieß Reeth auf Kinsel. Caldason wusste nichts von dessen Verlust und hielt die Benommenheit des Sängers für eine Folge des Blutbads. »Hast du Serrah gesehen?« Er hielt ihn am Ärmel fest. »Reeth! Ja. Das heißt, ich wollte sie suchen, als ich hörte, wie ...« »Weißt du, wo sie sein könnte?« Kutch und Wendah trafen keuchend ein. »Sie wollte in unsere alte Wohnung zurück«, erklärte Kinsel. »Aber es heißt, genau dort sei die Granate eingeschlagen.« »Bleib bei den Kindern«, wies Caldason ihn an. Er rannte in die Richtung des Einschlags, stieß Menschen zur Seite und bahnte Kutch und Wendah, die ihm atemlos folgten, einen Weg. An der Stelle, wo das Dach heruntergekommen war, hielten sich nicht viele Menschen auf. Die Rettungstrupps 462 waren noch nicht eingetroffen, und wer im Augenblick des Einschlags hier gewesen war, hatte genug eigene Probleme. Caldason betrachtete die eingeknickten Wände und die Trümmerberge. Der Staub legte sich gerade erst wieder. Hätte nicht ein unbeschreiblicher Lärm geherrscht, dann hätte er Serrah rufen können. »Wo suchen wir?« »Wir können dir helfen«, sagte Kutch. »Oder vielmehr Wendah kann es.« »Wirklich, Wendah?« »Meine Gabe ist der von Kutch recht ähnlich, aber es ist nicht genau das Gleiche«, erklärte sie. »Ich konnte für Praltor verschiedene Dinge ausfindig machen.« »Kannst du Serrah finden?« »Ich kann es versuchen.« Sie lief in den zerstörten Flur hinein. »Aber sei vorsichtig«, warnte Reeth sie. Ein paar Minuten später blieb sie vor einem Schutthaufen stehen, der nicht anders aussah als alle anderen. »Da«, sagte sie und deutete darauf. »Bist du sicher?« Caldason legte die Hände vor den Mund. »Serrah!«, rief er. »Serrah!« Ein paar Schritte entfernt war eine gedämpfte Antwort zu hören. Caldason wühlte sich durch die Trümmer. Kutch kam ihm zu Hilfe. Sie riefen weiter und grenzten anhand der Antworten das Gebiet ein. Endlich erreichten sie eine Tür, die fast völlig vom Schutt begraben war. Sie hoben sie an, und auch Wendah half mit, so gut sie konnte. Endlich schafften sie es, die Tür ein wenig zu verschieben und einen Hohlraum darunter freizulegen. Der bleiche weiße Fleck, den sie in der Dunkelheit erkennen konnten, war Serrahs Gesicht. »Den Göttern sei Dank«, sagte sie. Caldason kroch auf allen vieren hinein und streckte die 463 Hand aus. Er berührte ihr Gesicht, und sie küsste seine Hand. »Ich bin eingeklemmt«, sagte sie. »Ich kann keinen Finger rühren. Kannst du mich rausholen?« »Natürlich können wir das, Liebste. Bist du verletzt? Ist etwas gebrochen?« »Das ist schwer zu sagen, wenn man sich nicht rühren kann. Aber ich glaube nicht.« Ein Beben lief durch den ganzen Gebäudeflügel. Stuck und kleine Brocken Mauerwerk fielen herab. »Der Schutt, der auf mir liegt, ist nicht sehr stabil«, erklärte sie ihm. »Ich spüre, wie er rutscht. Und wenn er in die falsche Richtung rutscht...« »Wir holen dich raus«, versprach er. »Bleib ganz ruhig. Wir sind hier, und wir arbeiten daran.« Dann sah er sich um, und ihm wurde bewusst, wie groß die Aufgabe war. Steinbrocken lagen herum, mit denen selbst ein Dutzend Männer Schwierigkeiten gehabt hätten. Das Ausmaß der Trümmer war Furcht einflößend. Wieder gerieten die Trümmer ins Rutschen. Serrah schrie auf. Er kletterte durch das Loch zurück. »Es wird eng hier unten«, klagte sie. »Wenn du Ideen hast, wäre es gut, wenn du sie bald hast.« Er beruhigte sie noch einmal. Seine Frustration brauchte ein Ventil. Wie im Kampf spürte er, dass er kurz davor war, zum Berserker zu werden. In der gegenwärtigen Situation konnte ihm das jedoch nicht helfen, und er versuchte, sich wieder zu beruhigen.
Er wandte sich an Kutch und Wendah. »Wie sollen wir das schaffen? Wie können wir sie dort herausholen? Im günstigsten Fall braucht man eine ganze Truppe, um den Schutt wegzuräumen. Und jeden Augenblick könnte alles zusammenbrechen und sie erdrücken.« »Du bekommst einen Anfall«, sagte Kutch. »Ich kenne die Anzeichen.« 464 »Ich bemühe mich, es zu vermeiden.« Gereizt fügte er hinzu: »Und überhaupt, was hat das damit zu tun?« »Nein, nein«, antwortete Kutch. »Es ist schon gut. Ich meine ... es ist nicht gut, aber vielleicht ist es in dieser Situation gut.« »Ich kann dir nicht folgen, Kutch. Worauf willst du hinaus?« »Wendah und ich haben darüber gesprochen. Deine Tobsuchtsanfälle sind auf das Erbe der Gründer zurückzuführen, und es könnte vielleicht sinnvoll sein, wenn du eine Verbindung zu diesem Aspekt in dir herstellst.« »Warum sollte ich das tun?« »Wegen der Ereignisse im Stall«, erklärte Wendah ihm. »Wenn du die Verbindung zur Magie der Gründer herstellst, kannst du vielleicht Serrah dort herausholen.« »Wie denn?« »Das wissen wir nicht«, räumte Kutch ein. »Aber wir wissen, dass die Gründer über eine wirklich starke Magie verfügten. Wer weiß schon, wozu sie fähig ist? Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.« »Ich kann selbst nicht glauben, dass ich das sage, aber ... ja, es ist einen Versuch wert. Was soll ich tun?« »Ach, da sind wir nicht ganz sicher.« »Oh, wie schön, Kutch.« »Nein, warte mal. Du bist schon halb dabei, zum Berserker zu werden, also bist du vermutlich in der richtigen Verfassung. Jetzt brauchen wir eine Art Katalysator.« »Was?« Kutch zuckte mit den Achseln. »Verdammt, ich bin völlig ratlos, Junge. Wenn es ein Schwertkampf wäre, wüsste ich, was ich zu tun hätte.« »Das ist es.« »Was ist es? Soll ich den Schutthaufen mit der Klinge angreifen?« »Weißt du noch, was du mir über das Nichtbewusstsein 465 erzählt hast, das beim Kampf so wichtig sein soll? Das ist ein bestimmter Geisteszustand wie die Tobsuchtsanfälle. Wenn du die beiden zusammenbringen könntest...« »Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Aber ich bin nicht sicher, ob ich einen meditativen Zustand erreichen kann, während sich ein Tobsuchtsanfall zusammenbraut. Das ist, als würde auf kabbeliger See ein Boot hin und her geworfen.« »Versuch's«, drängte Wendah ihn. »Vielleicht könntest du es wie eine Übung in der Kampfkunst angehen und dein Schwert ziehen ...«, schlug Kutch vor. »Was ist da oben los?«, wollte Serrah wissen. »Wir müssen ... wir müssen uns etwas überlegen«, antwortete Caldason. »Halte durch.« Er entfernte sich kriechend von der Öffnung und zog sein Schwert. »Wendah, Kutch - ihr versucht, sie zu beschäftigen. Ich muss mich konzentrieren.« Er entfernte sich ein Stück und nahm die Haltung ein, die er brauchte, um sich dem Nichtbewusstsein zu öffnen. Er hielt das Schwert in der Hand, das vorher sein Leben gerettet hatte. Dabei wusste er nicht, was er eigentlich tun sollte, was auf der Ebene des Nichtbewusstseins jedoch eher von Vorteil war. Wendah und Kutch waren am Loch, trösteten Serrah und berichteten ihr, was im Gange war. Wieder war ein Rumpeln zu hören, irgendwo brachen Balken, und Glas splitterte. Serrah schrie. Doch Kutch und Wendah beachteten sie nicht. Sie drehten sich wie auf ein Kommando zu Reeth um, und was sie sahen, raubte ihnen den Atem. Er kam. Nichts an seiner Haltung hatte sich geändert. Nichts bis auf seine Augen, doch man hätte kaum erklären können, worin die Veränderung bestand. Nur dank ihrer Begabungen konnten sie es überhaupt wahrnehmen. Was 466 sie sahen, war zugleich erschreckend und mitreißend. Als er sich ihnen näherte, wurde ihnen jedoch klar, dass sie ihre Fähigkeiten nicht brauchten. Auch jeder andere hätte spüren können, welche Kräfte Caldason jetzt verkörperte. Er sagte nichts, sondern winkte ihnen nur, ihm Platz zu machen. Als sie sich zurückgezogen hatten, packte er die Tür und riss sie hoch wie ein Stück Papier. Wie eine gepflückte Blume warf er sie zur Seite. Sie flog in hohem Bogen durch den Flur und fiel krachend herunter. Dann wühlte er sich scheinbar mühelos in die Trümmer hinein, die Serrah einklemmten, und räumte sie weg. Nichts behinderte ihn, ob Stein, Holz, Fliesen oder Glas. Er riss Eisenstreben entzwei und schob Mauerstücke weg, die doppelt so groß waren wie er. Nach wenigen Augenblicken hatte er Serrah befreit, und sie umarmten
sich. Auch sie wusste es. Man brauchte keine besondere Gabe, um das Offensichtliche zu erkennen. »Du hast es getan, Reeth«, sagte sie wie betäubt. »Ich fühle mich ... allmächtig«, erklärte er ihr. Sie sah ihm in die veränderten Augen und erkannte, was in ihm vorging. Der Krieg von Gut und Böse. Sein zweischneidiges Erbe, und jede Seite kämpfte um die Vorherrschaft. »Du bist voller Widersprüche«, sagte sie zu ihm. »Ja. Ich muss im Gleichgewicht bleiben. Wenn ich auf die dunkle Seite abrutsche ...« Sie hatten nicht bemerkt, dass der Lärm außerhalb der Redoute zugenommen hatte. Jetzt waren die Kampfgeräusche unverkennbar, und sie hörten die Einschläge weiterer Geschosse. Irgendwie zweifelte niemand daran, dass Caldason noch viel mehr hören konnte. »Verstehst du es nicht?«, fragte Kutch. »Das versuchen sie zu verbergen! Es ist das, was in dir steckt. Die Gründer wollten verhindern, dass du entdeckst, was du jetzt spürst. Dein gemischtes Erbe hat alles verändert. Vielleicht hast du 467 sogar besonders viel Macht, weil in dir ihre bemerkenswerte magische Kraft mit der Menschlichkeit zusammenfällt.« »Du kannst etwas tun, Reeth«, sagte Serrah zu ihm. »Du kannst gegen diese Horde da draußen antreten, bevor sie uns alle töten. Uns und unseren Traum.« »Aber wie?« »Du wirst es wissen.« Er schaute zum zerstörten Dach und zu den dunklen Wolken hinauf. Dann blickte er in sich selbst hinein und verstand. Reeth Caldason war ein Blitz. Er raste zum Himmel hinauf. Es war wie in seinen Visionen. Mitreißend, unglaublich real, voller Möglichkeiten. Er wusste, dass die Traumzeit so gewesen sein musste wie dieses Erlebnis. Er schwebte hoch über dem Land und all den kleinen Angelegenheiten der Menschen. Majestätisch und erhaben, empfand er nur Verachtung für sie. Dann widersprach sein menschlicher Verstand, und er sah die Unterschiede, die große Trennung zwischen Edelmut und Bosheit. Er achtete auf die Dinge, die am Boden vor sich gingen, und wählte rasch seine Ziele aus. Er konnte jetzt nur noch ein Rachegeist sein, ein Todesengel, eine Naturgewalt. Er fiel wie ein Stein, er stürzte hinab wie ein Vogel, er bewegte sich von Luftpartikel zu Luftpartikel und war kein Mensch mehr. Die großen Belagerungsmaschinen der Feinde, die Katapulte und die magischen Geschütze waren wie kleine Späne unter ihm. Er fegte sie von den Ebenen und Hügeln in die Vorhut des anrückenden Heeres hinein. Er ließ Feuer auf die Eindringlinge regnen. Er verwandelte die schwarzen Wolken ihrer Pfeile in Seidentücher. Er jagte nadelscharfe Eissplitter in ihre nach tausenden zählenden Reihen. Er zerstörte ihre Nachschubwege und verbreitete Angst und Schrecken. 468 Dann bewegte er sich zum Meer hinaus und konzentrierte sich auf ihre Schiffe, verbrannte und versenkte sie. Er ließ Quarzstücke und Rohdiamanten auf sie herabregnen. Er fuhr mit giftigen Schlangen und einem Regen aus Blut durch die Reihen der Seeleute. Dann erregte draußen auf dem Meer etwas seine Aufmerksamkeit. Er stieg hoch und sah eine weitere mächtige, bunt zusammen gewürfelte Flotte, die mit den Reichen nichts zu tun hatte. Sie hielt auf die Insel zu. Und kaum hatte er sie gesehen, da fühlte er sich stark von ihr angezogen. Er wollte zu ihr. Doch irgendetwas veränderte sich. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Seine körperliche Existenz trat wieder in den Vordergrund. Erfühlte sich nicht länger unbezwingbar. Schnell flog er zum Boden zurück, als seine Energie nachließ. Die Insel wuchs heran, wurde zu einer Landkarte, enthüllte Einzelheiten. Er sah die Redoute und die feindlichen Heere, die zu dezimieren er gerade erst begonnen hatte. Der Innenhof der Festung tauchte auf, und mit einem Mal erkannte er dort auch Menschen. Caldason war fast wieder bei sich und kam langsam auf einer Fläche herunter, die die Inselbewohner für ihn freigemacht hatten. Er hörte Jubel und Applaus, doch zugleich herrschten auch stummes Erstaunen und Furcht. Eine kleine Gruppe schob sich nach vorn. Karr hatte die Führung übernommen, Disgleirio und Phönix waren an seiner Seite. Kutch und Wendah kamen herbei, und vor allem Serrah. Sie umarmte ihn. »Das war ... unglaublich, Reeth«, sagte Karr erstaunt. »Das war brillant. Ihr habt ihnen einen schweren Schlag versetzt und ihre Reihen in Unordnung gebracht.« »Du warst großartig«, stimmte Kutch zu. »Aber was ist passiert?«, fragte Phönix. »Warum habt Ihr aufgehört?« 469 »Ich hatte keine Wahl. In einem Augenblick hatte ich die Kraft, im nächsten wurde sie mir genommen. Kurz nachdem ich die neue Flotte gesehen hatte.«
»Eine neue Flotte?«, fragte Disgleirio. »Es ist noch eine Flotte unterwegs, die aus keinem der Reiche kommt. Ich weiß nicht, wem sie gehört.« »Eine weitere Streitmacht naht, und unsere Kräfte sind erschöpft. Was soll uns jetzt noch schützen?« »Es lag wohl an meiner mangelnden Erfahrung«, sagte Caldason. »Vielleicht, wenn ich es noch einmal versuche ...« »Nein«, sagte Phönix. »Lieber nicht. Irgendetwas hat sich verändert. Das bisschen Gründermagie, das ich in mir habe, lässt es mich spüren. Ihr müsstet es auch erkennen, Reeth.« Caldason erinnerte sich an sein Gefühl beim Anblick der unbekannten Flotte und an die Anziehung, die er gespürt hatte. »Vielleicht habt Ihr Recht.« »Auch wir spüren etwas«, warf Wendah ein. »Also, eigentlich eher ich als Kutch, weil ich empfindlicher reagiere.« »Ein bisschen bekomme ich auch mit«, ergänzte Kutch. »Könnt ihr es beschreiben?«, fragte Karr. »Es gefällt mir nicht«, erwiderte Wendah. »Ich kenne das Gefühl nicht, und da stimmt irgendetwas nicht.« »Genau«, sagte Phönix. Danach schwiegen sie alle, als warteten sie darauf, dass jeden Augenblick etwas Wichtiges, Eigenartiges geschehen werde. »Hört ihr das?«, sagte schließlich jemand. Sie lauschten angestrengt. Eigentlich konnten sie es eher fühlen als hören. Es war ein tiefes Grollen, das sie an ein Erdbeben denken ließ. Auch in Rintarah wurde man auf dieses Grollen aufmerksam, das ein Erdbeben anzukündigen schien. 470 Allerdings wäre ein Erdbeben in vielfacher Hinsicht vorzuziehen gewesen. Es wäre vermutlich freundlicher verlaufen. Es begann mit dem Energienetz. Die Kraftlinien begannen zu glühen, sie pulsierten und rissen schließlich, und stellenweise entstanden Springbrunnen reiner Magie. Die Vorfälle waren so zahlreich, dass die lizenzierten Magier und die Rettungskräfte der Lage nicht mehr Herr wurden. Die reine Magie, die ungezielt hervorbrach und keinen Beschränkungen mehr unterworfen war, manifestierte sich in Form von Scharen willkürlicher Zauber. Durch die Pflasterstraßen der Städte und Dörfer schwärmten exotische, groteske, surreale und zuweilen auch gefährliche Albträume. Über den Himmel zogen ihre fliegenden Brüder. Alles, was von der Magie abhing, funktionierte nicht mehr richtig oder fiel gleich ganz aus. Lampen erloschen, überirdisch schöne Kurtisanen zerfielen zu nach Lavendel duftenden Rauchwolken. Magisch belebte Statuen erstarrten oder liefen Amok. Fontänen spien flüssige Lava aus. Prächtige, schimmernde Gewänder verblassten zu tristen Lumpen. Und die ganze Zeit über wurde die Bevölkerung von rennenden kriechenden, fliegenden, schwimmenden, explodierenden, schmelzenden, siedenden, eiskalten Ungeheuern behelligt. Als die Magie in immer größeren Mengen entwich, wurde ihr Fehlen in der ganzen Umgebung spürbar. Es war einem Erdbeben sehr ähnlich. Hohe Türme traf es zuerst, da ihr großes Gewicht nicht mehr stabil stehen konnte. Gebäude brachen zusammen, Brücken schwankten. Risse erschienen in Landstraßen und auf den Boulevards der Städte, groß genug, um Pferdekutschen zu verschlingen. Wer es beobachten konnte, begriff sofort, dass die Magie aufgehoben wurde. Sie versickerte nicht, sondern schwand dahin. Und mit ihr ging, und zwar in jeglicher Hinsicht, alles unter, was sie gestützt hatte. Anarchie und 471 ziviler Ungehorsam verstärkten noch das Chaos im sonst so wohl geordneten Rintarah. In der Hauptstadt, hinter den abweisenden Mauern des Palasts, standen für die Herrscher die Dinge kaum besser. Jacinth Felderth, der mächtigste Bürger des Imperiums, hielt sich in seinem geliebten Rosengarten auf, als die Katastrophe ihren Anfang nahm. Es war kein erbaulicher Anblick, als seine grazilen Blüten verwelkten und zu Staub zerfielen, zumal er wusste, dass ihm selbst das Gleiche zustoßen würde. In ganz Rintarah, aber besonders in der Hauptstadt, waren auf einmal die Angehörigen der herrschenden Elite, oder anders ausgedrückt, die noch lebenden Gründer, so zu sehen, wie sie wirklich waren. Der rasch einsetzende Alterungsprozess machte die unzähligen Jahrhunderte wett, um die er betrogen worden war, und zeigte der wütenden Bevölkerung die Wahrheit. Tyrannei hätten sie noch hinnehmen können. Doch von Wesen beherrscht zu werden, die nicht ganz menschlich waren, das war eine ganz andere Angelegenheit. Wie Schuppen fiel es ihnen von den Augen, und es gab einen allgemeinen Aufstand, der von den Überbleibseln des Widerstands angefacht wurde. Ihre Auflehnung wurde dadurch begünstigt, dass nun auch die magischen Schutzschilde der Herrscher zusammenbrachen . In Gath Tampoor bekam man einen Vorgeschmack der kommenden Ereignisse, als ein tiefes Grollen ertönte, das einem Erdbeben nicht unähnlich war. Überall spielten sich Dinge ab, die den Ereignissen in Rintarah sehr ähnlich waren. Die Stadt und das Land erlebten einen großen Ausbruch von Magie, Risse und Geysire entstanden, und eine Landplage von magischen Erscheinungen trieb ihr Unwesen. Die stolzen Gebäude und auch die elenden Hütten stürzten ein. Dämme brachen,
472 Wälder verbrannten, und die Straßen wurden von den Gewalten aufgerissen. Wie die Bürger des rivalisierenden Reichs sahen auch diese Menschen ihre Herrscher nun so, wie sie wirklich waren. Einige kamen sogar durch die Hände ihrer eigenen Untertanen zu Tode, obwohl der rasch einsetzende Alterungsprozess ohnehin sein Werk getan hätte. Es gab, wie in Rintarah, ein großes Klagen über den Verlust der Magie. Auch hier brachen Unruhen aus, die von den Überbleibseln des Widerstands angefacht wurden. Man musste mit einer längeren Phase der Unsicherheit und Verwirrung rechnen, und das Schicksal des Reichs war mehr als ungewiss. Auch in dieser Hinsicht gab es Ähnlichkeiten zwischen Gath Tampoor und Rintarah. Kaiserin Bethmilno befand sich im Thronraum ihres Palasts in der Grube der Matrix und versuchte, Felderth zu erreichen, ihr Gegenstück in Rintarah, als die Grube explodierte. Die spätere Entdeckung dessen, was von ihrer Leiche übrig blieb, konnte die Vorgänge nicht erhellen. Ihre Angehörigen erlitten ein ähnliches Schicksal oder alterten rasch und zerfielen zu Staub. Kommissar Laffon, der Leiter des berüchtigten RIS, befand sich anlässlich einer Audienz bei der Kaiserin in Merakasa. Es hieß, eine rachsüchtige Menge habe ihn erkannt und durch die Straßen gehetzt. Er sei ums Leben gekommen, als seine Flucht ihn in die Nähe einer zusammenbrechenden, vierzig Tonnen schweren Schmucksäule geführt habe. Die Säule hatte das Hauptquartier des Justizministeriums von Gath Tampoor geschmückt. 473 In Prinz Melyobars fliegendem Palast wusste man nichts von drohenden Erdbeben. Der Hofstaat schwebte über einer fast rein weißen Landschaft, und immer noch schneite es stark. Zu beiden Seiten der fliegenden Prozession erhoben sich hohe Berge, und nicht weit unter ihr erstreckten sich zahlreiche recht große, zugefrorene und verschneite Seen. Melyobar hatte persönlich befohlen, diesen Kurs einzuschlagen, ohne zu erkennen zu geben, welche Gründe ihn dazu bewogen hatten. Doch das Wetter zwang die Magier, die den Giganten steuerten, sehr niedrig zu fliegen. Tausende Gefolgsleute, die auf nichtmagische Transportmittel angewiesen waren, mussten über die vereisten Seen hinweg einen Weg finden. Viele entschlossen sich jedoch, lieber einen weiten Umweg in Kauf zu nehmen. Talgorian war in einem Kerker gefangen, man hatte ihn verprügelt und hungern lassen, er hatte jedoch ein wenig Wasser bekommen. Er hatte keine Ahnung, was aus den Soldaten geworden war, die er mitgebracht hatte, oder wie es Okrael ging, dem jungen Magier, der ihn vor dem verrückten Plan des Prinzen gewarnt hatte. Bisher hatte Talgorian auch noch nicht die Folter erlitten, die man ihm bei seiner Verhaftung angedroht hatte. 474 Sie kamen ohne Vorwarnung oder Erklärung. Man gab ihm einen dicken Pelzmantel, den er anziehen sollte, und dicke Handschuhe, was ihn überraschte. Der Grund wurde ihm klar, als er nicht in einen Audienzsaal oder den Thronraum, sondern nach draußen auf die oberen Befestigungen des Palasts geführt wurde. Dort waren auf Anweisung des Prinzen mächtige Katapulte errichtet worden, deren Zweck Okrael ihm bereits genannt hatte. Ein Stück von den Katapulten entfernt stand eine Konstruktion, die verdächtig an einen Galgen erinnerte. Es war bitterkalt. Er fragte sich, wie irgendjemand auf die Idee kommen konnte, an einem solchen Ort eine Amtshandlung vorzunehmen. Dann erinnerte er sich, dass dieser Jemand Prinz Melyobar hieß. Der Prinz saß, ein lächerlicher Anblick, auf einem Thron, der auf ein Podium montiert war, über das man wiederum einen Baldachin gespannt hatte. Verschiedene Adlige, Beamte und Offiziere standen wie üblich herum. Die Bedeutendsten hatten eigene Schirme mitgebracht. Aber natürlich hatte niemand sonst einen Baldachin, von einer Sitzgelegenheit ganz zu schweigen. Talgorian wurde Melyobar wie ein gewöhnlicher Krimineller vorgeführt. Er hatte die Absicht gehabt, auf Förmlichkeiten wie eine Verbeugung zu verzichten, um seine Empörung über diese Behandlung zum Ausdruck zu bringen. Leider verschaffte einer der brutalen Wächter mit einem Schlag auf Talgorians Hinterkopf dem Protokoll Geltung. Auch die nächste, von ihm geplante Schmähung konnte nicht in die Tat umgesetzt werden. Er hatte dem Prinzen die zeremonielle Begrüßung verweigern wollen, was durch die einfache Tatsache vereitelt wurde, dass Melyobar selbst gegen die Etikette verstieß und als Erster das Wort ergriff. »Ich hoffe, eine Nacht in der Zelle hat Euch zu Verstand gebracht«, sagte der Prinz. »In welcher Hinsicht genau, Euer Hoheit?« Talgorian 475 wagte es nicht, aus Protest ebenfalls auf die förmliche Anrede zu verzichten. »Eure Verschwörung. Euer niederträchtiges Bündnis mit den Feinden meiner Regentschaft.« »Diese Anklagen, sofern es sich um offizielle Anklagen handelt, Majestät, sind völlig unsinnig. Ich habe mich an keiner Verschwörung beteiligt, und ich habe mich auch nicht mit den Feinden Eurer Amtsgewalt verbündet.« »Nun, es ist ja verständlich, dass Ihr alles abstreitet, nicht wahr?« »Ich muss dieser Unterstellung mit allem Nachdruck widersprechen, Majestät. Und wenn ich es so ausdrücken darf, dieser ganze Vorfall ist eine mehr als unangemessene Behandlung für einen Botschafter des Imperiums. Ich habe die Absicht, mich mit allergrößtem Nachdruck bei der Kaiserin zu beschweren.« »Sagt lieber, Ihr wollt Euch bei meinem Erzfeind beschweren. Ihr wollt Euch beschweren ...« Der Prinz senkte wie immer die Stimme, wenn er vom Tod sprach.»... bei ihm. Wollt Ihr es bestreiten?«
»Ja! Oder vielmehr, was genau soll ich bestreiten, Hoheit?« »Eure Versuche, in diesem Verhör Verwirrung zu stiften, sind typisch für die Methoden, mit denen man bei Euresgleichen rechnen muss.« »Verhör? Inwiefern ist dies ein ordentlich zusammengesetzter, rechtmäßiger Gerichtshof, Hoheit?« »Er ist offiziell und rechtmäßig eingesetzt, da er den Regeln meines Hofes entspricht.« Anders ausgedrückt, verfuhr der Prinz, wie es ihm gerade in den Sinn kam, dachte Talgorian. »Falls dies ein Prozess ist, dann verlange ich bei allem Respekt einen ordentlichen juristischen Beistand.« »Das ist nicht nötig. Ich gebe Euch etwas viel Besseres.« 476 »Hoheit?« »Ihr dürft für Euch selbst sprechen. Wer wäre denn besser geeignet, Euren Fall darzulegen, als Ihr selbst?« »Welchen Fall? Wie kann ich mich verteidigen, wenn mir nicht einmal klar ist, welche Verfehlungen ich angeblich begangen haben soll?« »Ihr wollt Euch also nicht verteidigen und gebt Eure Verbrechen zu? Es wird kein gutes Ende mit Euch nehmen.« Talgorian hätte beinahe laut gekreischt. Doch er besann sich und versuchte, mit dem Prinzen zu sprechen wie mit einem Kind, was in der Vergangenheit stets funktioniert hatte. »Ich weiß nicht, was ich getan haben soll, Euer Hoheit. Wenn Ihr so freundlich sein könntet, mich darüber aufzuklären, dann könnte ich Eure Hoheit vielleicht unterstützen.« Der Prinz hob ein Pergament von seinem Schoß und ließ sich sehr viel Zeit, um es zu studieren. Schließlich sagte er: »Das ist eindeutig Hochverrat.« »Aber ich bin nicht einmal ein Bürger Bhealfas!« »Ah, und das ist er auch nicht. Ihr räumt also weiterhin ein, dass Ihr wie mein Feind kein Untertan Bhealfas seid. Das klingt doch alles ziemlich belastend, nicht wahr?« Der Botschafter holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ihr habt eine Verschwörung erwähnt, Majestät. Wärt Ihr vielleicht so freundlich, mir die Natur dieser Beschuldigung zu erläutern?« »Ihr seid der Verschwörung gegen mich und damit auch gegen das Volk von Bhealfa angeklagt.« »Wenn das die Grundlage der Anklage gegen mich ist, Hoheit, dann muss ich Eure Aufmerksamkeit auf den Plan lenken, den Ihr, wie ich hörte, selbst angeregt habt. Ein Plan, dessen Ziel es ist, eine große Zahl Untertanen Eurer Majestät auszurotten. Ist das nicht erst recht eine Verschwörung gegen das Volk von Bhealfa?« »Ihr sagt Verschwörung, ich nenne es ein Projekt. Ich 477 fürchte, Eure eigene Wortwahl verrät Euch. Denn wer würde ein Projekt als Verschwörung bezeichnen, wenn er sich nicht selbst als deren Opfer betrachtet? Und wenn Ihr Euch als Opfer betrachtet, dann kann dies nur bedeuten, dass Ihr tatsächlich ein Feind meiner Regentschaft seid. Allein schon die Tatsache, dass Ihr von diesem Projekt wisst, lässt auf Spionage schließen, was eine weitere Anklage gegen Euch rechtfertigen würde. Ihr könnt Euch also noch glücklich schätzen.« Er sackte auf seinem Thron in sich zusammen und war mit seiner unwiderlegbaren Logik sehr zufrieden. »Habt Ihr noch etwas zu sagen, ehe das Urteil verkündet wird?«, fragte er. »Ich ...« »Wie Ihr wollt. Nach eingehender Würdigung der Beweislage kann es für diese schweren Vergehen nur ein Urteil geben: schuldig. Und für Verbrechen dieses Ausmaßes kann es nur eine Strafe geben: Ihr werdet am Halse aufgehängt, bis dass der Tod eintritt. Außerdem werden Eure sterblichen Überreste für die Produktion der Essenz dienen, mit der ich das Land zu reinigen gedenke.« So schockiert er auch war, Talgorian dachte daran, dass er einen Mantel und Handschuhe bekommen hatte, damit er bei seiner Hinrichtung wenigstens nicht fror. »Hören wir ein Gnadengesuch?«, fragte der Prinz. »Will der Verurteilte seine Schuld gestehen, Einzelheiten über die Verschwörung preisgeben und sich unserer Gnade unterwerfen?« »Das ist eine Unverschämtheit!«, rief der Gesandte und spielte die letzte Trumpfkarte des Diplomaten aus, die gerechte Empörung. »Die Kaiserin wird davon hören!« »Ich sehe keinen Grund, die Vollstreckung aufzuschieben«, entschied Melyobar. »Aber im Grunde ist es eine Schande, weil Ihr den Beginn des Projekts nicht mehr erleben werdet. Es wird umgesetzt, sobald das Wetter besser wird. Wachen!« 478 Talgorian wurde, während er Verwünschungen ausstieß, zum Galgen geschleppt. Der Prinz winkte einem Beamten, der an einer Tür stand, die in den Palast führte. »Es freut mich sehr, Euch mitteilen zu können«, verkündete er den Anwesenden, »dass wir anlässlich dieser Hinrichtung die Ehre haben, unser großes Vorbild, den Inbegriff moralischer Gesinnung, den Gründer unserer Nation und den Urheber des Projekts begrüßen zu dürfen, mit dem wir bald beginnen werden. Bitte heißt meinen Vater, König Narbetton, willkommen.« Unter höflichem, durch Handschuhe gedämpftem Applaus kam eine kleine Prozession aus der offenen Tür heraus. Zuerst schien es ein Begräbniszug zu sein, was Talgorian einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Genau genommen trugen die sechs uniformierten Träger einen Schrank mit einer Glastür und keinen Sarg. Er enthielt den Körper des im Koma liegenden und noch nicht ganz verstorbenen Monarchen, der mit kostbarer Kleidung und einem mächtigen Breitschwert geschmückt war. Der Schrank wurde aufrecht abgestellt und mit Stützen gesichert, sodass er, wenngleich etwas tiefer als sein Sohn, zu stehen schien. Talgorian wurde auf seine eigene Bühne geschoben, um mit einer Vorstellung zu beginnen, die er freiwillig nie gegeben hätte. Seine Hände wurden gefesselt. Dazu musste man die Handschuhe von seinen sowieso schon blau gefrorenen Händen ziehen. Sie stellten ihn unter den Galgen neben die Falltür, die sich öffnen und dafür sorgen sollte, dass sein Hals gebrochen wurde. Die Falltür war so groß wie ein kleines Scheunentor. Anscheinend wurde der Galgen auch für Massenhinrichtungen benutzt. Irgendjemand legte ihm die Schlinge über den Kopf und zog ein wenig an. Wenigstens schneite es nicht mehr so stark. 479 Jetzt mussten sie nur noch auf den Königlichen Scharfrichter warten. Seine Abwesenheit sorgte unter Talgorians Wächtern für eine gewisse Belustigung und veranlasste sie zu geflüsterten Kommentaren, dass Melyobar womöglich versehentlich seinen wichtigsten Mitarbeiter habe hinrichten lassen. Talgorian hielt diese Witze angesichts der Begleitumstände für recht geschmacklos. Andererseits hatte er keine Einwände dagegen, dass der Scharfrichter sich verspätete. Von seiner erhöhten Position auf dem Galgen konnte er über die Wälle hinweg die Winterlandschaft betrachten. Wenn er den Kopf ein wenig drehte, sah er die anderen schwebenden Paläste, die Melyobars Hofstaat bildeten. Sie folgten der königlichen Residenz ihrer üblichen Hackordnung entsprechend und erinnerten, wie sie schneebedeckt hintereinander fuhren, an eine riesige Perlenkette. Der Prinz und seine Höflinge wurden allmählich unruhig, als der Scharfrichter weiter auf sich warten ließ. Talgorian war in Sorge, Melyobar könne die Geduld verlieren und einem einfachen Soldaten den Befehl geben, als Henker einzuspringen. Wenn er schon erhängt werden sollte, dann konnte der Botschafter wenigstens verlangen, vom Königlichen Scharfrichter persönlich hingerichtet zu werden. In dieser Hinsicht wollte er nicht das Gesicht verlieren. Er stand auf seinem zugigen Podest und genoss einen Ausblick, auf den die anderen verzichten mussten, und so bemerkte der Gesandte zunächst als Einziger etwas Seltsames. Vor ihnen schmiegte sich ein kleiner Ort in den Ausgang des nächsten Tals. Im grauen Dunst war er nur dank seiner Beleuchtung gerade eben zu erkennen. Doch während Talgorian hinüberschaute, begannen die Lichter gleichzeitig zu flackern. Nicht einzeln oder abschnittsweise, was man noch hätte verstehen können, sondern alle zugleich. Er konnte sich nicht vorstellen, warum sämtliche 480 magischen Lichter einer Stadt gleichzeitig zu flackern begannen. Dann geschah es wieder, und dann noch zweimal rasch hintereinander. Beim vierten Mal erloschen die Lichter und gingen nicht wieder an. Seine Wächter hatten noch nichts bemerkt. Sie trampelten von einem Fuß auf den anderen und hauchten sich in die Hände. Nach ihren griesgrämigen Blicken zu urteilen, wollten sie den Scharfrichter viel dringender sehen als er. Die Beamten umringten Melyobars Thron und berieten sich in kleinen Gruppen. Boten wurden losgeschickt. Talgorian blickte zur Stadt. Die Lichter waren wieder da, doch sie hatten sich verändert. Sie blinkten, pulsierten und schimmerten und waren bunt. Einige waren nur kurze, heftige Ausbrüche und verschwanden wieder. Vielleicht fand dort ein Fest statt. Ein melancholischer Gedanke für einen Mann, der gehenkt werden sollte. Dann glaubte er, auf den Berghängen in der Nähe der Stadt eine Bewegung zu erkennen. Er war nicht ganz sicher, doch es sah so aus, als glitte eine riesige Schneefläche herab. Eine Lawine? In der Festungsmauer öffnete sich eine Tür, und ein Mann eilte zum Prinzen. Seine Gewänder wiesen ihn als Elitemagier aus, der für die Steuerung des Palasts zuständig war. Er verneigte sich tief vor Melyobar, dann begann eine lebhafte Unterhaltung. Die Lichter des Palasts flackerten. Auch die Lichter der anderen Paläste flackerten und gleichzeitig wieder die in der fernen Stadt. Ein seltsames Geräusch ging mit diesen eigenartigen Vorfällen einher. Es klang wie das Summen eines riesigen Insektenschwarms. Eigentlich war es ein Murmeln - die erschrockenen Bemerkungen der vielen Menschen im Palast und im Gefolge. Die Gebäude schwebten lautlos, und die Schneedecke dämpfte alle natürlichen Geräusche, und so 481 konnte man die Stimmen weit hören. Es kam sogar recht häufig vor, dass die Leute einander von Palast zu Palast mit voller Lungenkraft etwas zuriefen. Andererseits gab es auch Bewohner, die dieses Geschrei für ordinär hielten. Das unzuverlässige Licht sorgte jedenfalls in Melyobars Gefolge für Unruhe. Leute kamen und gingen, und der Magier, der Melyobar unterrichtet hatte, verschwand sogar noch schneller, als er gekommen war. Talgorian sah zu und fürchtete, sie hätten ihn völlig vergessen. Er verwarf den Gedanken. Im Grunde hatte er noch größere Angst, sie hätten ihn nicht vergessen. Als die Lichter wieder flackerten, rückten Melyobars Leibwächter instinktiv näher an den Herrscher heran.
Melyobar dagegen näherte sich instinktiv seinem Vater. Narbettons mit Magie beheizter Schrank fühlte sich an diesem Wintertag angenehm an. Melyobar umarmte ihn und begann ein hektisches, geflüstertes Gespräch mit dem alten König. Einige der Höflinge traten an die Brüstungen und schauten zum Heer des Gefolges hinab. Auch dort unten geschah etwas Ungewöhnliches. Es brannten mehr Lichter als nötig, viele von ihnen sogar sehr grell, und man sah, dass die Leute in Aufruhr waren. Die Bewegungen gingen mit Geräuschen einher, die als ununterscheidbarer Lärm heraufschallten. »Vater sagt, es sei alles in Ordnung«, berichtete der Prinz. »Nur eine kleine Störung der Magie. Das liegt am ... am schlechten Wetter«, schloss er lahm. Der ganze Palast bockte. Für einen Augenblick, der allen viel länger vorkam, sank er hinab. Mägen gerieten in Aufruhr, man hörte Glas splittern und laute Flüche. Leute schrien. »Vater meint, es sei sinnvoll, den Palast so dicht wie möglich über dem Boden schweben zu lassen«, verkündete der Prinz. »Nicht, dass irgendeine Gefahr besteht. Ich 482 gebe einen dementsprechenden Befehl.« Ein kleiner Botenjunge rannte los, um die Nachricht zu überbringen. Eine halbe Minute verging, ehe der nächste Schrecken kam. Wieder lief eine Erschütterung durch den ganzen Palast, diesmal mit noch schlimmeren Folgen. Das Gebäude sank abrupt hinab wie zuvor, kam aber zum Schrecken der Bewohner auch stark vom Kurs ab. Rechts neben ihnen und ungemütlich nahe erhob sich die steile Bergwand. Die anderen Paläste hatten ähnliche Schwierigkeiten. Mehrere verloren erheblich an Höhe. Einer drehte sich unkontrolliert um sich selbst. Kleine Explosionen blühten auf den Außenmauern auf und ließen Trümmer und einmal auch einen Balkon herabstürzen. Im königlichen Palast herrschte mühsam unterdrückte Panik. Einer der Offiziere, die sich um den Prinzen drängten, sagte: »Der Scharfrichter taucht ja wirklich genau im richtigen Augenblick auf.« Melyobar hörte die Bemerkung und folgte dem Blick des Offiziers. Über den Wehrgängen verliefen aus Stein gebaute Wandelgänge rings um den Palast. Auf dem untersten stand eine Gestalt. Sie wirkte irgendwie männlich, obwohl man das Geschlecht im Grunde nicht erkennen konnte. Sie war groß und schlank und ganz schwarz gekleidet. Der Mantel umhüllte sie völlig; sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, und das Gesicht war nicht zu erkennen. Die Hände waren der einzige sichtbare Körperteil. Sie waren erschreckend bleich und hatten lange Finger. Fast wie ein Skelett, so schien es. Die Gestalt bewegte sich nicht. Sie stand einfach dort und sah den Prinzen an. Seine Haltung erinnerte tastsächlich stark an einen Scharfrichter, der sein Gesicht verbarg und gekommen war, um seine Münze zu verdienen. 483 Melyobar sah allerdings noch eine andere, viel schrecklichere Möglichkeit. Er schmiegte sich an den Schrank seines Vaters, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. »Der richtige Augenblick für den Scharfrichter, Vater? Wirklich? Oder der richtige Augenblick, um unseren Plan zu vereiteln?« Sein Atem ließ das Glas beschlagen. Der Palast schwankte beunruhigend. Er drehte sich unbeholfen um sich selbst und sah aus, wie sich ein Kind im Albtraum ein Karussell vorstellt. Säulen, Statuen und anderer Zierrat lösten sich und fielen hinab. Ein Katapult wurde aus den Klammern gerissen, rollte in Richtung der Brüstung, ließ die Leute auseinander stieben und krachte gegen die Mauer. Als der Palast sich in die andere Richtung neigte, rollte es wieder zurück. Jetzt brach Panik aus. Die Leute flohen kreischend und schreiend in alle Richtungen. Die wenigen, die für Ordnung sorgen wollten, wurden von der panischen Mehrheit einfach überrannt. Im Boden und in den Mauern entstanden Risse. Auch die anderen fliegenden Paläste hatten Schwierigkeiten. Türme knickten ein, Rampen brachen zusammen. Brände brachen aus. Mehrere Paläste prallten gegeneinander, der Aufprall ließ tausende Fenster bersten und zerstörte die Marmorfassaden. Zwei Gebäude kollidierten frontal mit donnerndem Krachen. Angst und Schrecken griffen um sich. Viele Bewohner des königlichen Palasts reagierten irrational oder einfach nur verzweifelt, verließen die Wehrgänge und rannten ins Innere. Niemand, nicht einmal die Leibwache, war bereit, beim Prinzen zu bleiben und ihn zu beschützen. »Vater?«, flüsterte er und umarmte innig den Schrank. »Vater? Was soll ich nur tun?« Er lauschte aufmerksam und sagte schließlich nur: »Oh, ja.« 484 Der Prinz hob den Blick zum Gang, auf dem die Gestalt gestanden hatte, und er sah, was er erwartet hatte. Melyobar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Schrank und auf das strenge Antlitz seines Vaters. »Schau nur, Vater, schau. Schau mir zu. Sieh zu, Vater.« Er lächelte. »Bist du bereit? Jetzt pass auf. Wir ... stürzen ... alle ... ab!« Die Magie ließ sie im Stich. Sie schwebten nicht sehr hoch über dem Boden, nicht höher als eine bescheidene Klippe oder einige jener bemerkenswerten hohen Bäume, die man in tropischen Regionen findet. Doch die Höhe ist nicht von Bedeutung,
wenn die fallenden Objekte viele tausende Tonnen wiegen. Auch das Gelände, über dem sich der Palast befand, spielte eine gewisse Rolle. Der königliche Palast und die Schlösschen, Herrenhäuser und Zitadellen, die ihm folgten, stürzten wie Kieselsteine, die ein gelangweilter Gott geworfen hatte, und sie stürzten in einer Region, in der es viele Seen gab. Seen, die sehr tief und sehr breit waren. Nicht alle Gebäude landeten auf vereisten Seen. Einige stürzten in Sümpfe und aufs Ackerland, einer auch auf eine Straße. Doch dies war nicht das Schicksal der Mehrheit, zu der Melyobars Palast gehörte. Sie brachen durchs Eis, das beim Aufprall sofort nachgab, und versanken im eiskalten Wasser. Eine Sintflut ergoss sich in die Flure, Prunkgemächer, Wohnungen und Audienzsäle. Der See war gierig. Er verschluckte alles. Oder beinahe alles. Melyobar kam in schrecklich kaltem Wasser zu sich. Ein Gegenstand stieß ihn an. Es war König Narbettons gläserner Sarg, der unbeeindruckt vorbei trieb. Das unergründliche Gesicht seines Vaters war das Letzte, was der Prinz sah, ehe er unterging. Ein Kopf brach durch die Wasseroberfläche. 485 Andar Talgorian schnappte angestrengt nach Luft, seine Lungen brannten. Er war so betäubt von der Kälte, dass er am ganzen Körper nur noch Schmerzen empfand. Irgendwie hatten sich die Riemen gelöst, die seine Hände gefesselt hatten. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er in dieser Kälte länger als einige Minuten überleben sollte. Die Ironie, dass er zweimal kurz nacheinander dem Tode entronnen war und jetzt am letzten Hindernis scheitern sollte, entging ihm nicht. Vielleicht waren die Götter darauf aus, ihn umzubringen. Er hatte Mühe, über Wasser zu bleiben und einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Kräfte schwanden, seine Glieder wurden schwach. Die Kälte war unerträglich und drang ihm bis in die Knochen. Erstaunlich fand er nur, dass ein Objekt von der Größe einer Kleinstadt spurlos im See verschwunden war. Er konnte nichts mehr davon sehen. Dann hörte er ein Geräusch. Oder er glaubte es. Seine Ohren hätten ebenso gut abgeschnitten sein können, es war kein Gefühl mehr darin. Doch da kam es noch einmal. Eine Stimme. Nein, mehrere Stimmen. Sie riefen. Vor ihm war nichts zu sehen. Mühsam und unter Schmerzen drehte er sich im Wasser um. Irgendetwas näherte sich ihm. Er konnte nicht sehen, was es war. Es kam ihm vor, als wandelten zwei Gestalten auf dem Wasser. Nein, sie hockten eher, als sie sich näherten. Sie riefen und winkten. Dann zogen sie ihn heraus. Er lag keuchend auf dem behelfsmäßigen Floß, das Seil des Henkers lag noch um seinen Hals. Einer seiner Retter setzte ihm eine Flasche an die Lippen. Der Schnaps brannte sich in seinen Körper hinein und erweckte ihn wieder zum Leben. Als er wieder bei Sinnen war, erkannte er, dass die nassen Kleider der beiden Männer Uniformen waren. 486 »Nechen und Weist, Soldaten der Palastwache«, sagte einer von ihnen. »Wie geht es Euch, Sir?« »Danke ... danke«, quetschte Talgorian heraus. »Wir sind froh, dass wir das gleiche Glück haben wie Ihr, Sir«, sagte der andere. »Wäre nicht dieses Trümmerstück gewesen, dann wären wir selbst nicht hier.« Talgorian betrachtete das Holzstück, auf dem sie trieben. Es war die Falltür des Galgens. Viele Geschichten erzählte man sich über den Tag, an dem die Reiche und ihre zahlreichen Protektorate vernichtet wurden. Manche von ihnen wurden Legenden. Eine betraf einen berüchtigten Piratenkapitän, der sich mit den Imperien gegen den entstehenden Rebellenstaat verbündet hatte. Es hieß, an diesem Schicksalstag sei ein Mann gekommen, der mit dem Piraten abrechnen wollte. Ein Mann, den der Piratenkapitän betrogen und dem er übel mitgespielt hatte. Der Mann kam nicht übers Meer, sondern durch die Luft, und er flog auf einer wundersamen fliegenden Scheibe. Allein besiegte er die Piratenbande, ließ von oben Magie herabregnen, die alles sprengte und versengte, bis am Ende nur noch der Piratenkapitän und er selbst übrig waren. Die Freisetzung der Magie erzeugte in vielerlei Hinsicht starke Erschütterungen. Das Gleichgewicht der Natur selbst geriet aus den Fugen. Viele Katastrophen wurden ausgelöst, und Erdbeben brachen aus, als die Welt sich auf den Verlust der Magie einstellte. Wo die Erdbeben sich unter dem Meer ereigneten, entstanden Flutwellen. Als der Pirat und sein Gegner auf Leben und Tod kämpften, rollten einige Brecher, die so hoch waren wie die Berge, in ihre Richtung. Sie zerschmetterten die Flotte des Freibeuters und versenkten alle Schiffe bis auf sein eigenes. Dieses Schiff aber wurde von der größten Welle erfasst und 487 in ein Dorf am Hafen der Diamantinsel geschleudert. Nun hatte der Pirat die Insel erreicht, die er haben wollte, wenngleich nicht auf die Weise, die er sich vorgestellt hatte. Viele glaubten, auch der Rächer sei dabei ums Leben gekommen und habe den höchsten Preis dafür bezahlt, dass er den Raubzügen seines Feindes ein Ende setzte. Auf der Diamantinsel selbst neigten sich die Dinge ihrem Ende zu. Ganz eigene Unruhen gab es auf der Insel, doch die Redoute blieb von ihnen eher unberührt. Endlich einmal erwies es sich als Vorteil, wenn man zu arm
war, um sich die Magie leisten zu können. Anfänglich wussten die Inselbewohner nicht, was sich draußen in der Welt ereignete. Dies war nur zu verständlich, da sie vollauf damit beschäftigt waren, eine Invasion abzuwehren. Auch in ihrer unmittelbaren Nähe geschahen viele bemerkenswerte Dinge, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Als die Unruhe nachließ, folgte eine angespannte Kampfpause, die den Anschein erweckte, der Feind bereite den entscheidenden Angriff vor. Serrah und Reeth meldeten sich freiwillig als Späher und wurden auf einem Wehrgang der Redoute stationiert. Es war das erste Mal seit vielen Stunden, dass sie wieder für sich allein waren. Auf der Ebene waren die vereinten Heere der Reiche unterdessen in noch größerer Zahl angetreten. »Sie könnten jederzeit hier hereinmarschieren-«, meinte Caldason. »Wir könnten nichts dagegen tun, abgesehen davon, sie einen hohen Preis zahlen zu lassen. Warum halten sie sich zurück?« »Das ist dir zu verdanken, Reeth. Du hast in ihren Reihen großen Schaden angerichtet.« »Gerade genug, um sie ein wenig zu behindern. Was auch immer mich aufgehalten hat, es ist geschehen, bevor ich fertig war.« 488 »Fertig? Du willst doch nicht allen Ernstes sagen, du hättest eine Horde wie die dort allein erledigen können, oder?« »Ich weiß nicht, wozu ich in diesem Zustand fähig gewesen wäre. Aber ich weiß, dass es sich anfühlte wie ... es ist schwer zu erklären, Serrah. Es fühlte sich an, als könnte ich einfach alles tun. Diese Möglichkeiten, diese Macht... deshalb haben die Gründer mich so lange bekämpft, und deshalb wollten mich einige von ihnen umbringen.« »Aber du kannst es nicht noch einmal tun.« »Ich habe es versucht. Es hat sich angefühlt, als wäre nichts mehr da.« »Vielleicht musst du dich erholen und deine Kräfte sammeln, oder ... ich weiß nicht. Hier passiert viel zu viel, Reeth. Da verliert man leicht die Orientierung.« »Das kann man wohl sagen. Und was Tanalvah angeht... es ist unglaublich.« »Das dachte ich zuerst auch.« »Also gibt es keinen Zweifel?« »Ich glaube nicht. Es war ein Geständnis auf dem Totenbett. Und ich habe ihr geglaubt. Du hättest ihr auch geglaubt, wenn du dabei gewesen wärst.« »Warum hat sie das nur getan?« »Sie dachte, sie könnte Kinsel damit retten. Sie tat es aus Liebe.« »Manchmal glaube ich, dass im Namen der Liebe ebenso viel Schaden angerichtet wird wie aus Hass.« »Das klingt zynisch.« »So war es nicht gemeint, es ist nur eine Beobachtung.« »Lass uns dafür sorgen, dass unsere Liebe nie etwas Böses hervorbringt, ja?« »Das ist völlig ausgeschlossen.« Er nahm sie in die Arme, und sie küssten sich. »Wie auch immer«, sagte sie, »ich kann mir nicht vorstellen, dass Tanalvah böse war. Ich weiß ... Nach allem, 489 was sie getan hat, klingt es verrückt, aber irgendwie sehe ich sie nicht als bösen Menschen.« »Auch da geht es wieder um Potenziale, was?« »Wie meinst du das?« »Wir alle sind fähig, etwas Gutes oder Böses zu tun. Manchmal beides. Die Saat von Gut und Böse ist in uns und wartet nur auf eine Gelegenheit, zur Blüte zu kommen.« »Meinst du, wir sind alle fähig zu morden?« »Das ist für dich und mich eine seltsame Frage, oder? Es war dein Beruf, und ich habe das Meinige getan.« »Das waren keine Morde. So wenig, wie es bei dieser Belagerung ein Mord war, einen Feind zu töten. Die Leute, die wir getötet haben, hatten böse Absichten.« »Ein Pazifist wie Kinsel würde sagen, dass du es damit nicht rechtfertigen kannst.« »Manchmal muss man Schwächere verteidigen oder sein eigenes Leben schützen, oder ...« »Mich musst du nicht überzeugen. Ich bin Qalochier. Nun ja, mindestens ein halber, und viel kämpferischer kann man kaum werden. Aber wir wären beleidigt, wenn du uns Mörder nennen würdest. Ich will damit nur sagen, dass unter den richtigen Bedingungen und mit dem richtigen Antrieb jeder zum Mörder werden könnte. Ein Killer, der Böses tut. Praltor meinte, sogar die Paladine seien einst edelmütig gewesen.« »Stört es dich, dass Tan Qalochierin war?« »Ob es mich stört? Meinst du, ob es mich bekümmert oder so?« »Ja, das meine ich.« »Qalochier zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, besser zu sein als alle anderen. Wir sind keine Heiligen.« »Du hast dich nie sehr gut mit ihr verstanden.« »Und jetzt meinst du, ihr Verrat habe mich in meiner Haltung bestärkt? Aber das war überhaupt nicht meine 490 Meinung. Es war wohl eher so, dass sie mich nicht leiden konnte. Ich muss allerdings zugeben, dass ich sie
verunsichert und an unsere Herkunft erinnert habe.« »Ihr wurde ihre Geschichte genommen. Gerade du müsstest das doch verstehen. Sie wuchs in Rintarah auf, und es war verständlich, dass sie sich an die Gebräuche des Landes angepasst hat.« »Ich frage mich, wie die Beerdigung verläuft.« »Meinst du den Gottesdienst? Ein Priester der Sekte von Iparrater wird ihn leiten. Kinsel hat darauf bestanden.« »Eigentlich sollten doch die qalochischen Götter angerufen werden.« »Das klingt aus deinem Munde ein wenig seltsam, Reeth. Ich dachte, du könntest mit Göttern jeglicher Art nichts anfangen.« »So ist es auch. Aber es ist seltsam, den Geschichten, die man in der Kindheit gehört hat, auf einmal einen tieferen Sinn zu verleihen. Wie geht es Kinsel überhaupt?« »Wie zu erwarten. Ich glaube, vor allem das Neugeborene und die Kinder halten ihn auf den Beinen. Er schämt sich. Er schämt sich für das, was Tan getan hat. Er hat das Gefühl, es fällt auch auf ihn zurück.« »So sollte er nicht fühlen. Er war für ihre Taten nicht verantwortlich.« »Du hast Recht. Oh, warte mal. Halte still.« Sie streckte die Hand aus und zupfte etwas von seinem Kopf. »Was war das?« »Ein graues Haar. Mir will einfach nichts einfallen, was man tun könnte, um Kinsel zu helfen, Reeth. Wie hilft man jemandem, der so etwas durchgemacht hat?« »Indem man für ihn da ist. Aber gerade das ist vielleicht nicht möglich.« Er blickte zu den wartenden feindlichen Kräften. »Vergiss nicht das neue Problem. Eine Flotte, die keinem der Reiche gehört, ist hierher unterwegs. Wir wis491 sen nicht, in welche Richtung sie das Kräfteverhältnis verschieben wird.« »Wessen Flotte könnte es sein?« »Ich glaube, das können wir erraten.« Disgleirio tauchte auf und sprang mit gewohnter Beweglichkeit die Treppe zum Wehrgang herauf. Er kam auf geradem Weg zu ihnen. »Was ist los, Quinn?«, fragte Serrah. »Phönix hat mich gebeten, Euch abzulösen.« »Warum?« »Das weiß ich nicht. Er kommt gleich und wird es erklären.« Er blickte über die feindlichen Reihen hinweg. »Das ist ernüchternd, was?« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Caldason. »Ich verstehe nur nicht, worauf sie warten.« »Darüber haben wir uns auch schon gewundert.« Irgendjemand ging auf den Wehrgängen die Reihe der Verteidiger ab und schenkte aus einem Eimer Wasser aus. Es stellte sich heraus, dass es Kutchs gerade wieder aufgetauchter Bruder war. »Schön, dass du nicht glaubst, Wassertragen sei unter deiner Würde«, sagte Serrah zu ihm. »Ich bin froh, wenn ich helfen kann.« Varee stellte den Eimer ab. »Aber wenn die Kämpfe wieder beginnen, will ich eine aktivere Rolle spielen.« Er klopfte auf seine Schwertscheide. »Wir brauchen jeden Kämpfer, den wir bekommen können. Oh, ich glaube, ihr kennt euch noch nicht. Dies hier ist ...« »Ich weiß«, sagte Varee. »Quinn Disgleirio. Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.« Er gab ihm die Hand. Disgleirio schlug ein. »Und Ihr seid Kutchs Bruder? Freut mich. Aber woher kennt Ihr mich?« »Ich habe Euch mehrmals in Bhealfa gesehen. Einmal bin ich sogar sehr nahe an Euch herangekommen.« 492 »Wirklich? Ich erinnere mich nicht.« »Ihr solltet es auch nicht bemerken. Es war während eines Aufstands. Ich habe Euch eine Nachricht in die Tasche gesteckt.« »Ach, Ihr wart das. Ich habe mich seitdem immer gefragt, wer Einblick genug hatte, um uns zu warnen. Angesichts Eurer Verbindung zu Bastorran wird es verständlich. Nun, dafür bin ich Euch dankbar.« »Ich werde immer noch nicht schlau aus dir, Varee«, sagte Caldason. »Wie sieht deine Geschichte aus?« »Das wollen alle wissen.« »Erzähl es einfach nur uns«, sagte Serrah. »Wir sind berühmte Klatschtanten.« Varee lächelte. »Ich muss mich kurz fassen. Hier warten durstige Leute auf mich.« »Wie kam es, dass du den Paladinen den Rücken gekehrt hast?«, wollte Caldason wissen. »Das habe ich nicht getan. Ich habe sie schon immer gehasst. Ich bin bei ihnen eingetreten, weil ich sie gehasst habe. Ich wurde nicht als Angehöriger eines Clans geboren, aber sie nehmen eine gewisse Zahl von Außenstehenden auf, um Verwaltungsposten zu besetzen. So habe ich mich bis zu Bastorran hochgearbeitet.« »Warum?« »Wir haben etwas gemeinsam, Reeth. Wir wollten uns beide an den Paladinen rächen. Der einzige Weg schien mir zu sein, in ihrer Organisation möglichst weit aufzusteigen und anonym Informationen an den Widerstand durchsickern zu lassen.«
»Zu welchem Zweck?« »Ich wollte so nahe wie möglich an den höchsten Offizier herankommen und ihn töten. Freundlicherweise hast du es mir abgenommen.« »Es tut mir Leid, wenn ich dich um dein Vergnügen gebracht habe.« 493 »Du musst dich nicht entschuldigen. Im offenen Kampf hätte ich Bastorran nie besiegen können. Du weißt doch, dass er seinen Onkel getötet hat, um der Anführer zu werden?« »Das war nicht schwer zu erraten.« »Die Verschmolzene hat es für ihn erledigt. So konnte Devlor zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen - er wurde der Clanchef und konnte dich als Sündenbock hinstellen.« »Aber warum wolltest du dich unbedingt an ihm rächen?«, fragte Serrah. »Bei allem Respekt für Reeth, die Qalochier waren nicht die Einzigen, die unter den Paladinen zu leiden hatten. Die Pirathons waren seit vielen Generationen Bauern. Dann beschloss ein kleiner Lord aus der Gegend, dass er unser Land und das aller anderen Bauern in der Nähe übernehmen wollte. Die Paladine wurden angeheuert, um die Schmutzarbeit zu erledigen, und man muss wohl nicht eigens betonen, dass sie mit äußerster Brutalität vorgegangen sind. Wir waren nur ein unbedeutendes Dorf auf dem Land, und niemand außerhalb unserer Gemeinde hat sich darum gekümmert.« »War das, bevor Kutch und du zur Welt gekommen seid?« »Er war noch nicht geboren, ich war damals zwei Jahre alt. Aber das war noch nicht alles. Unser Vater konnte die Ungerechtigkeit nicht ertragen und verbrachte Jahre damit, Gerechtigkeit zu finden. Er schickte Petitionen an Beamte, bat um Audienzen bei Gouverneuren und versuchte, irgendeinen einflussreichen Menschen zu finden, der ihm zuhören wollte. Ich bin völlig sicher, dass ihn dies umgebracht hat. Er wurde lästig, und irgendwann verschwand er einfach. Nach allem, was ich seitdem aus den Akten der Clans erfahren konnte, ist ziemlich klar, dass sie ihn einfach beseitigt haben.« 494 »Kutch hat es nie erwähnt.« »Er weiß es nicht. Unsere Mutter hat es ihm nicht gesagt, und offenbar hat sie es ihm auch nicht gesagt, nachdem ich fortgegangen war, um mich den Clans anzuschließen. Sie dachte, ich sei zum Militär gegangen.« »Hast du sie nie wieder besucht?« »Das habe ich nicht gewagt. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass sie auf Kutch und meine Mutter stoßen. Deshalb schickte ich Geld, wann immer ich konnte, und wartete ab. Ich werde Kutch alles erzählen, aber noch nicht gleich. Er braucht wohl noch etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ich wieder da bin.« »War es Teil deines Plans, hierher zur Insel zu kommen?« »Nein, eigentlich nicht. Bastorran befahl mir, ihn zu begleiten. Da wusste ich schon, dass Kutch beim Widerstand war, deshalb kam es mir gelegen. Bastorran hatte natürlich die Absicht, dich zu töten, und die Verschmolzene sollte seine Rückendeckung sein. Oder, da mir klar ist, wie Devlor dachte, eine Art Sündenbock.« »Wo ist dein Bruder?«, fragte Caldason. »Das weiß ich nicht. Aber da kommt der Mann, der es vermutlich weiß.« Phönix traf ein, und sein Gesicht war ernst. Er kam sofort zur Sache. »Serrah, Reeth - kommt mit.« »Jetzt sofort?« »Ich will Euch etwas zeigen.« Er führte sie zu einer Gruppe von Holzbauten auf der anderen Seite des Platzes. Einer davon war ein wenig beeindruckender, fensterloser Silo mit einer einzigen Tür. Drinnen hatten sich ganz hinten, hinter einem Kistenstapel, einige Rebellen um irgendetwas versammelt. Sie machten Platz, als Phönix und die anderen kamen. »Jetzt wissen wir, was aus Kordenza geworden ist«, sagte Serrah. 495 »Wirklich?«, fragte Caldason. Die Verschmolzene lag, zweifellos tot, ausgestreckt auf dem Boden. Ihr Gesicht war grässlich verzerrt, und in der linken Seite hatte sie eine riesige klaffende Wunde, aus der die Eingeweide quollen. Eine Blutspur und eine schimmernde, schleimige Bahn führten zu einem großen verbrannten Fleck in einer Ecke. Phönix deutete darauf. »Das muss ihr magischer Zwillingsbruder gewesen sein ...« »Aphrim«, erklärte Caldason. »Was ist hier passiert?« »Offenbar hat der Zwillingsbruder seine Wirtin getötet, als er aus ihrem Körper fliehen wollte. Entweder dies, oder es ging irgendetwas schief, als sie versuchte, ihn auf die übliche Weise hervorzubringen. Seht Euch das hier an.« Sie kehrten zu Aphris Körper zurück. Erst jetzt bemerkten sie, dass einer ihrer Füße nackt war. »Sie hat den Stiefel selbst ausgezogen«, erklärte Phönix. »Wenn Ihr die Ferse untersucht, dann werdet Ihr feststellen, dass dicht unter der Haut ein Objekt eingeführt wurde.« »Ich glaube es Euch auch so«, versicherte Serrah ihm. »Es ist ein Gerät, das dem Bund bekannt ist, auch wenn es nicht viele davon gibt. Es hat die Aufgabe, Energie
aus dem Energienetz zu ziehen, was mit ziemlicher Sicherheit dazu diente, ihren symbiotischen Zustand dauerhaft zu fixieren. Offensichtlich hat es versagt.« »Kein schöner Tod«, bemerkte Caldason. »Ganz und gar nicht«, stimmte Phönix zu. »Kommt mit, es gibt noch mehr zu sehen.« Er führte sie zum Ausgang. Als sie ihm folgten, wandte Serrah sich leise an Reeth. »Du bist ein wenig blass geworden, Liebster.« »Ich fühle mich kraftlos. Sonst geht es mir gut.« »Vielleicht ist es das, was ich vorhin gesagt habe. Du musst dich erholen.« »Kann sein.« 496 Dieses Mal führte der Magier sie in die Redoute zurück. Der Schaden nach den Angriffen war unübersehbar, auch wenn die meisten Trümmer inzwischen fortgeräumt worden waren. Phönix ging in das Zimmer, in dem Praltor Mahaganis untergebracht war. Kutch und Wendah waren schon dort und saßen am Bett des alten Mannes. Er sah nicht gut aus. Es schien, als sei er binnen weniger Stunden um Jahre gealtert, und seine Haut sah aus wie altes Pergament. Doch sein Gesichtsausdruck zeugte von einem Frieden und einer Gelassenheit, die man vorher vergeblich gesucht hatte. Die Augen waren geschlossen, doch sein Atem ging gleichmäßig. »Er sagt, es sei fort«, berichtete Kutch. »Was denn?«, wollte Caldason wissen. »Die Quelle. Praltor sagt, sie sei nicht mehr in ihm.« »Sie ist nicht mehr da«, bestätigte Wendah sichtlich erschüttert. Der alte Mann öffnete die Augen. Die Anzeichen der Blindheit waren noch vorhanden, doch seine leeren Augen hatten jetzt einen anderen, einen friedlicheren Ausdruck. »Es ist wahr«, sagte er. »Die Last ist von mir genommen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich bin.« Serrah beugte sich über ihn. »Wie ist das passiert, Praltor?« »Weder ich noch die Magier hier haben etwas dazu beigetragen. Es wurde einfach fortgerissen. Es war schmerzhaft, aber das ist kein Vergleich zu dem, was vorher war.« »Aber dein Leben geht zu Ende«, murmelte Wendah aufgebracht. »Meine Liebe«, beruhigte sie der alte Mann. Er tastete nach ihrer Hand. »Ich habe länger gelebt, als es mir eigentlich zugestanden hätte. Länger, als ich es verdient hätte.« »Nein, das ist nicht wahr.« 497 »Sch-scht. Ich habe lange und gut gelebt, Wendah, und nachdem ich meine Bürde so viele Jahre getragen habe, heiße ich den Frieden willkommen.« »Aber was soll ich ohne dich tun?« »Du kommst schon zurecht. Du bist nicht allein. Du hast jetzt Kutch, und einen angenehmeren jungen Mann könntest du dir gar nicht wünschen.« Sie griff nach Kutchs Hand, und eine Träne rollte über ihre Wange. Phönix winkte Reeth und Serrah, ihm nach draußen zu folgen. Leise gingen sie hinaus. Auf dem Flur zog Phönix sie zur Seite und sagte: »Es tut mir Leid, Reeth. Mir ist klar, dass er Euch nahe steht und dass es Euch beunruhigen muss. Bei den Göttern, wir mussten in den letzten Tagen schon genug Verluste ertragen.« »Es sind beunruhigende Zeiten, Phönix. Und Ihr habt Recht, ich wäre nicht hier, wenn er nicht gewesen wäre.« »Er wird bald sterben«, verkündete der Magier offen. »Das ist nicht zu übersehen.« »Kommt schon, Reeth, Ihr müsst doch erkennen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.« »Was meint Ihr damit?«, fragte Serrah. »Die Magie. Es gab eine beispiellose Fehlfunktion oder noch Schlimmeres. Ich spüre, wie die Magie erlischt. Kutch und Wendah spüren es auch, und Praltor hat es ganz sicher bemerkt, wie Ihr gerade gehört habt. Dieser Vorgang hat auch die Verschmolzene getötet.« »Fahrt fort«, drängte der Qalochier. »Ihr und ich und Praltor, wir sitzen im selben Boot, Reeth. Es ist sehr ähnlich. Die Gründermagie ließ uns älter werden, als es uns zugestanden hätte. Jetzt müssen wir die Rechnung begleichen. Sagt Euch das etwas?« »Ich ... ich weiß nicht.« »Du hast gesagt, du fühlst dich schwach, Reeth«, erinnerte Serrah sie. 498 »Ja, ich habe keine große Ausdauer mehr.« »Seht Euch Eure Handrücken an«, schlug Phönix vor. Caldason tat es. Er sah braune Flecken, die er dort vorher nicht bemerkt hatte. Leberflecken. »Wie Praltor söhne auch ich mich mit meinem Ende aus«, fuhr Phönix fort. »Ich habe ein erfülltes Leben hinter mir, und ich weiß, was nun kommen wird. Wie ist es mit Euch, mein Freund?« Reeth starrte ihn an.
Draußen entstand ein Tumult, Alarmglocken wurden angeschlagen. »Da sind sie wieder.« Sie verabschiedeten sich von Phönix und rannten los. Wie viele andere liefen sie zu den Wällen. Auf dem Wehrgang fanden sie Karr und Goyter, die die anrückenden Feinde beobachteten. Die Ebene war schwarz vor Soldaten. »Jetzt wird also das letzte Kapitel aufgeschlagen«, sagte Karr. Doch das große Heer wurde langsamer und blieb stehen. Nur zwei Männer kamen zur Festung, einer schwenkte eine weiße Flagge. »Müssen wir mit ihnen verhandeln?«, fragte Goyter. »Das ist eine Parlamentärsflagge«, erinnerte Karr sie. »Die müssen wir respektieren. Ich gehe hinaus.« »Bist du sicher, Dulian?« »Das ist mein Platz. Reeth, kommt Ihr mit und tragt unsere Flagge?« »Es ist mir eine Ehre.« Irgendjemand spendete ein weißes Hemd, aus dem sie rasch eine Flagge bastelten. Die Tore wurden einen Spalt weit geöffnet, damit Karr und Reeth die Redoute verlassen konnten. Als sie sich der kleinen Delegation und den stummen Tausenden dahinter näherten, sagte Karr: »Und wenn ihre 499 Bedingungen nun zu hart sind? Weigern wir uns und kämpfen weiter?« »Das müsst Ihr entscheiden. Ich für meinen Teil will keine Kapitulation hinnehmen, die mit einer Vergeltung gegen unsere Leute einhergeht.« »Ich auch nicht.« Sie erreichten die beiden Männer. Beide trugen Uniformen, einer die von Rintarah, der andere die von Gath Tampoor. Letzterer fragte Karr: »Tragt Ihr hier die Verantwortung?« »Sofern man überhaupt sagen kann, dass wir einen Anführer haben, ja.« »Wir sind die beiden überlebenden Offiziere mit den höchsten Rängen unserer Truppen«, erklärte der Soldat aus Rintarah. »Wir sind gekommen, um über die Kapitulation zu verhandeln.« »Ich will klarstellen, dass wir keinesfalls einer Kapitulation zustimmen, die damit verbunden ist, dass es Hinrichtungen zur Vergeltung oder drakonische Strafen gibt.« »Das freut uns zu hören«, erklärte der Mann aus Rintarah. »Wir hatten befürchtet, Ihr könntet einen noch höheren Preis fordern, als Ihr es ohnehin schon getan habt.« »Wie könnten wir, wenn wir Eure Gefangenen sind?« »Unsere Gefangenen? Ich glaube, wir missverstehen uns. Wir sind hier, um über die Kapitulation zu reden.« »Das sagtet Ihr schon.« »Unsere Kapitulation«, ergänzte der Mann aus Gath Tampoor. Karr war zu verblüfft, um zu sprechen. Caldason sagte: »Damit ich das richtig verstehe - Ihr ergebt Euch?« »Natürlich. Ihr müsst wissen, dass bei uns ein großes Durcheinander entstanden ist. Einige Herrscher haben uns begleitet. Als wir sahen, was mit ihnen geschehen ist ... 500 nun, offen gestanden sind viele von uns nicht mehr bereit, noch weiterzumachen, ganz zu schweigen davon, dass sie keinen Sinn mehr darin sehen.« »Sagt mir«, fügte der andere Mann hinzu, »wie habt Ihr das geschafft? Wie habt Ihr die Magie ausgelöscht?« »Das haben wir nicht«, gab Caldason zu, »aber ich glaube zu wissen, wer es war.« Es war beispiellos für alle Kriege, dass ein kapitulierendes Heer, das vielfach größer war als das der Sieger, seine Gefangenschaft selbst regeln musste. Doch da die Inselbewohner nicht genug Leute und Kräfte hatten, um ihre Gefangenen zu bewachen, geschah genau dies. Am Abend traf die Flotte ein, die Caldason gesehen hatte, und vor der Diamantinsel ankerte die größte Versammlung von Schiffen, die dort je zu sehen gewesen war. Inzwischen wussten alle, wer zu Besuch kam. Der Kriegsherr verlangte nicht, dass irgendjemand kam und ihm die Ehre erwies. Er machte sich selbst auf den Weg, um die Rebellen zu begrüßen. Es war kein Triumphzug mit marschierenden Soldaten und Trommeln, sondern eine bescheidene Fahrt in einem einfachen offenen Wagen. Nur zwei Adjutanten begleiteten ihn, von denen einer den Wagen lenkte. Sein gewöhnliches Äußeres war bemerkenswert. Er verzichtete auf feine Stoffe und Schmuck, doch seine Persönlichkeit schlug die Inselbewohner umso stärker in ihren Bann. Als er den Innenhof der Redoute betrat, wurde er von einer Abordnung empfangen, die von Karr angeführt wurde. Doch es war Disgleirio, der als Erster das Wort ergriff. »Müssen wir uns verneigen?«, fragte er, und seine Stimme klang trotzig. »Nein«, erklärte Zerreiss ihm. »Keine Verbeugungen. Keine Vergeltung. Ich komme nicht als Eroberer.« Der 501 Kriegsherr sah sich um, während er sprach, bis sein Blick schließlich auf Caldason fiel. »Ich dachte, Ihr wärt wie ich«, sagte er. »Das bin ich.«
»Ich meine im Hinblick auf meine Begabung.« »Ich meinte unsere Abneigung gegen die Magie.« »Und doch hat uns die Magie in unseren Träumen verbunden.« »Das liegt wohl daran, dass unsere Beziehung zu ihr zwar unterschiedlich, aber ähnlich stark ist.« »Das klingt einleuchtend.« »Habt Ihr dies alles geschehen lassen?« Caldason machte eine ausholende Geste. »Dies und noch viel mehr.« »Seid Ihr ein Gott?«, fragte Wendah dazwischen. Zerreiss lachte, und seine Adjutanten hinter ihm lächelten. »Das denken viele Menschen. Nein, meine junge Dame, ich bin kein Gott.« »Was seid Ihr dann?« »Ich bin ein Mann.« »Wie tut Ihr das, was Ihr tut?«, fragte Serrah. »Das ist eine Frage, die ich nicht ohne weiteres beantworten kann. Ich kann nur spekulieren. Ich wurde mit einer sehr einfachen Gabe geboren, doch ich halte mich nicht für eine Abnormität, sondern eher für jemanden, der seiner Zeit voraus ist.« Phönix drängte sich vor. »Könnt Ihr das erklären?« Der Kriegsherr bemerkte Phönix' Gewand. »Ah, ein Magier. Ich hatte früher gelegentlich Zusammenstöße mit Vertretern Eures Standes. Heute kann ich nur mein Mitgefühl ausdrücken, dass Euer Beruf sich überlebt hat.« »Ich hatte mich gerade daran gewöhnt«, beklagte sich Kutch. »Es hat dich in den Bann geschlagen, junger Mann. Hoffentlich wirst du das einsehen. Um die Fragen zu beant502 Worten: Ich glaube, ich bin ein Beispiel für das, was kommen wird. Seht Euch in der Welt um. Die Natur wählt die Lebensformen aus, die am besten geeignet sind, zu überleben und zu gedeihen. Sie begünstigt diejenigen, die sich am besten anpassen können, und im Augenblick braucht die Menschheit eine große Anpassungsfähigkeit, um die erdrückende Hand der Magie abzuschütteln. Wir müssen wieder frische Luft atmen, frei denken und unser Leben vernünftig organisieren.« »Hattet Ihr diese Gabe schon immer?«, fragte Karr. »Seit meiner Geburt, und meine Eltern waren in keiner Hinsicht ungewöhnliche Menschen. Ich fand schon früh heraus, dass ich die Magie beeinflussen konnte, doch die Gabe war schwach ausgebildet, solange ich noch ein Kind war. Sie wuchs, während ich älter wurde. Ich lernte, diese Fähigkeit in gewissem Maße zu kontrollieren und ihren Einfluss immer weiter auszuweiten. Wenn ich es will, reicht es heute bereits aus, mich einem Ort zu nähern, um die Magie auszulöschen. Ich habe mich nicht bewusst für diesen Weg entschieden. Fromme Menschen würden sagen, ich sei ausgewählt worden, um als Katalysator zu dienen, und ich hätte nie eine Wahl gehabt. Ich neige zu einer rationaleren Sichtweise, wie Ihr Euch sicher denken könnt, aber im Grunde weiß ich es nicht genau. Was ich weiß, ist, dass ich der Erste von vielen weiteren bin. Eines Tages werden die meisten so sein wie ich, und schließlich alle.« »Es ist traurig«, sagte Kutch, »dass die Magie verschwindet.« »So muss es dir vorkommen. Ja, die Magie hat viele wunderbare und schöne und auch gute Dinge geschaffen. Aber sie ist eine Illusion. Sie hielt uns in ihrem Bann, wir' waren wie die Motten vor der Flamme. Was nun ohne die Magie kommen wird, ist ein noch viel größeres Abenteuer. Doch vorher müssen gewisse Dinge getan werden.« 503 Er wandte sich an den Patrizier. »Ihr seid der Mann, der sich Karr nennt?« »Der bin ich.« »Habt Ihr hier die Befehlsgewalt?« »Ich glaube schon.« »Dann müsst Ihr vieles organisieren, und zwar in großem Maßstab. Erschreckt nicht, Ihr bekommt die Hilfe, die Ihr braucht. Die Reiche sind zerstört. Wenn sie es noch nicht wissen, dann werden sie es wissen, sobald ich die letzten Nester ausgeräuchert habe. Wir brauchen eine neue Ordnung, doch dabei werde ich keine Rolle spielen. Ich wollte nie die Macht, ich wollte immer nur meine Aufgabe erledigen. Es scheint so, als sei der Widerstand jetzt die einzige rechtschaffene, gut organisierte Kraft. Ich weiß, dass er schreckliche Rückschläge hinnehmen musste, doch er existiert noch, und es gibt viele Sympathisanten. Es liegt jetzt bei Euch, die Verantwortung zu übernehmen und die Welt wieder aufzubauen. Hier auf der Diamantinsel wird der Kern einer neuen Zivilisation entstehen.« »Mit Kleinigkeiten gebt Ihr Euch nicht zufrieden, Hoher Herr.« »Nennt mich bitte einfach nur Zerreiss. Ich glaube nicht, dass irgendjemand höher stehen sollte als seine Mitmenschen, und ich hoffe, Ihr baut eine Welt auf, die dies verkörpert. Aber das liegt bei Euch. Ich kann nur die Vorbedingungen schaffen.« »Im Augenblick herrscht Chaos.« »Alle Schöpfung kommt aus dem Chaos, sagen uns die Priester. Ihr solltet fähig sein, eine Zivilisation aufzubauen. Ich weiß, es wird nicht leicht, und es wird eine Weile dauern. Aber habt Ihr eine andere Wahl?«
»Wollt Ihr dabei mitwirken?«, fragte Caldason. »So gut ich kann. Aber hauptsächlich werde ich mich mit dem zufrieden geben, was ich habe tun können.« Er 504 wandte sich an Caldason. »Was ist mit Euch? Ihr seid in einer schwierigen Lage.« »Wirklich?« »Ihr seid schon nicht mehr der Mann aus meinen Träumen. Eure Blüte ist vorbei. Nachdem Ihr die Magie verloren habt, holen Euch die Jahre ein. Wenn Ihr an einem Ort bleibt, wo ich zuvor war, müsst Ihr früher oder später sterben.« »Könnt Ihr nicht dafür sorgen, dass es Reeth nicht trifft?«, flehte Serrah. »Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich könnte es. Ich kann jedoch nur nehmen, nicht geben. Ich will Euch aber unterstützen und meine Leute anweisen, Euch zu helfen. Es gibt auch Orte auf der Welt, die ich noch nicht besucht habe und die ich für längere Zeit nicht besuchen werde. Denkt darüber nach.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich bin froh, Euch kennen gelernt zu haben, Reeth Caldason.« Früh am nächsten Morgen zog Zerreiss mit dem größten Teil seines Gefolges weiter. Einige blieben zurück, um bei der Bewachung der gefangenen Soldaten zu helfen und mit der Arbeit zu beginnen. Gegen Mittag fuhr ein Wagen in die Redoute, der Zahgadiah Darrok trug, jedoch ohne die Scheibe. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte er, nachdem Pallidea ihn mit Küssen eingedeckt hatte. Er konnte ihnen berichten, wie es Vance ergangen war und dass er selbst mit knapper Not mithilfe der restlichen Magie in seiner fliegenden Scheibe entkommen konnte. Er war buchstäblich im letzten Augenblick und etwas unsanft gelandet. Einige Inselbewohner hatten ihn erschrocken, aber praktisch unverletzt gefunden. »Deine Scheibe«, klagte Pallidea. »Wie kommst du ohne sie zurecht?« »Das konnte ich früher auch, bevor ich sie mir leisten 505 konnte. Ich lasse mir etwas einfallen. Vorausgesetzt, du willst mir dabei helfen. Ich nehme an, du hast nicht plötzlich eine Abneigung dagegen, einen Krüppel zu begleiten?« »Das wird nie geschehen.« Darrok war gerade rechtzeitig gekommen, um an der hastig angesetzten Zeremonie teilzunehmen, für die es mehrere Anlässe gab. Der Erste war die Taufe von Kinsels und Tanalvahs Kind. »Ich habe mich entschlossen, den Jungen Dulian zu nennen«, erklärte Kinsel. Teg und Lirrin sahen mit großen Augen zu. Es war eine Wahl, die allgemein auf Zustimmung stieß, und die Leute applaudierten. »Ich bin verblüfft«, erwiderte Karr, »und zugleich ist es mir eine Ehre. Dulian Rukakis. Das klingt schön, was?« »Rukakis-Lahn«, berichtigte Kinsel ihn. »Ihr habt doch keine Einwände, hoffe ich? Oder sonst jemand?« Niemand schwieg betreten, niemand erhob Einwände. Es war Kinsels erster kleiner Schritt auf dem Weg zur Heilung. »Dulian Rukakis-Lahn, der erste Bürger der neuen Welt«, erklärte Karr. Der zweite Anlass war Karrs Erklärung, dass sein Alter und sein Gesundheitszustand ihn zwangen, den Vorsitz im Vereinigten Revolutionsrat abzugeben. Es kam nicht unerwartet, doch die Neuigkeit wurde mit erschrockenen Rufen und Gesten echter Zuneigung aufgenommen. Goyter wollte ihm im Ruhestand Gesellschaft leisten, und ihre Beziehung sollte durch öffentliche Gelübde einen offiziellen Charakter bekommen. Karr nominierte Quinn Disgleirio als seinen Nachfolger, und es galt als sicher, dass der Rat zustimmen würde. Auch diese Ereignisse kamen für die meisten Inselbewohner nicht überraschend. Der letzte Anlass war die Verabschiedung von Reeth und Serrah. f|* 506 Man hatte ein Schiff aufgetrieben. Es war klein, aber schnell, und die Mannschaft aus Freiwilligen war die beste, die man nur finden konnte. Da Zerreiss auf halbem Wege in den Süden war, schlugen sie diese Richtung ein. Sie wollten Inseln besuchen, die kaum bekannt waren, und vielleicht ein sagenhaftes Land hinter ihnen finden, falls es keine bloße Legende war. Für Phönix und Praltor Mahaganis wäre Platz auf dem Schiff gewesen, doch keiner von ihnen zog es ernsthaft in Erwägung. Mit beiden ging es zu Ende, besonders Praltor war hinfällig, doch sie versicherten, sie seien es zufrieden. Die schwerste Entscheidung war, Kutch nicht anzubieten, sie zu begleiten. Serrah meinte, es sei ungerecht, den Jungen zu fragen, weil dies seine knospende Beziehung zu Wendah zerstören würde, falls sie nicht mitkäme. Und Varee? Wollte er mitkommen und riskieren, seinen Bruder noch einmal zu verlieren? Und was wäre, wenn sie keine Zuflucht fanden, und wenn Kutch zuschauen musste, wie Caldason starb, und dessen trauernde Geliebte trösten musste? Die Diamantinsel bot ihm Stabilität und die Aussicht auf eine Zukunft. Reeth musste zustimmen. Niemand hielt eine Ansprache. Sie verabschiedeten sich leise und ohne Aufsehen. Dann standen sie auf dem Deck ihres Schiffs und warteten auf die Flut und auf die letzten Abschiedsworte. »Bist du ganz sicher?«, fragte Caldason.
»Natürlich. Welchen Sinn hätte mein Leben ohne dich?« Er war sichtlich geschwächt. Falten waren im Gesicht und am Hals erschienen. Serrah hatte noch einige graue Haare mehr ausgezupft. »Wenn ich es mir recht überlege, dann wird mir jetzt klar, dass ich dich schon in Bhealfa geliebt habe, damals, als du dir das Leben nehmen wolltest. Da wurde mir klar, dass ich dich nicht mehr verlieren wollte.« 507 »Das hast du auch nicht. Wir sind zusammen, was immer geschehen mag.« »Ist es nicht ironisch? Ich habe mein Leben damit verbracht, der Magie zu entkommen, und jetzt suche ich sie.« »Wie gesagt, die Götter lieben solche Scherze.« »Diese Schweinehunde.« »Ah, da kommen sie, Reeth.« Kutch, Wendah und Varee tauchten auf der Mole auf. Serrah winkte vom Fallreep hinunter. Wendah und Varee verabschiedeten sich als Erste. Sie spürten, dass die anderen allein sein wollten, und zogen sich rasch zurück. Dann fand Serrah plötzlich die Vorgänge auf Deck äußerst faszinierend. Sie umarmte Kutch, küsste ihn und ließ ihn dann mit Reeth allein. »Was meinst du, wie eure Aussichten sind?«, fragte Kutch. »Ich dachte, das könntest du vielleicht besser beantworten als ich. Du bist hier im Augenblick der einzige Experte für die Magie.« »Das nützt mir nichts mehr. Sie ist weg.« Er war immer noch untröstlich. »Zerreiss treibt die Magie irgendwie aus dem Land, wenn er sich nähert. Als ließe man den Wein aus einem Schlauch fließen. Deshalb ist es möglich, einen Ort zu finden, an dem die Magie noch existiert. Ich hoffe, es gelingt dir«, fügte er leise hinzu. »Ich selbst werde sie vielleicht nie wieder spüren.« »Du wirst eine andere Art von Magie erleben. Du hast dein Leben noch vor dir, ein Leben mit Wendah und deinem Bruder, und du kannst damit anfangen, was immer du willst. Ohne Magie wird es besser gehen, glaube mir.« »Aber nicht ohne dich.« »Danke, Kutch. Ich bin so froh, dich kennen gelernt zu haben.« Der Junge stürzte zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. »Geh nicht weg«, flehte er, und die Tränen rollten über sein Gesicht. 508 »Ich muss. Das weißt du doch.« Er schob ihn sachte von sich und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Du warst der beste Freund und Gefährte, den sich ein Mann nur wünschen kann. Und jetzt kümmere dich um dein eigenes Leben.« Kutch sah aus, als wolle er etwas sagen. Doch er starrte Reeth nur an und wandte sich dann ab. Er machte drei Schritte, sah noch einmal zurück und sagte: »Ich werde dich nie vergessen.« Er rannte zum Fallreep und auf die Mole hinunter. Als sie kurz danach ablegten, stand er immer noch auf dem Kai. Er rief etwas, das sie schon nicht mehr verstehen konnten. Bald verschwand die Diamantinsel im Dunst. Reeth und Serrah brachen auf in eine neue Welt. 509 DANKSAGUNG Ich danke Stella Gemmell für ihre Fähigkeit, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen. Freundschaftlich und ebenso wehmütig wie liebevoll denke ich an Michael Anft, Dave Baldock-Ling, Ken Brooks, Jean Dempsey, John Eggeling, Gamma, David und Shirley Griffiths, Ernest Harris, Alan Moore, Steve Moore, Cathy Nugent, Michel Parry, Cliff Perriam, Derek Stokes, Martin Walsh, Di Wathen und Jenny und Daphne.