Das Buch Die spannungsgeladene Fortsetzung zu Alistair MacLeans Meisterwerken ›Die Kanonen von Navarone‹ und ›Geheimkom...
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Das Buch Die spannungsgeladene Fortsetzung zu Alistair MacLeans Meisterwerken ›Die Kanonen von Navarone‹ und ›Geheimkommando Zenica‹: Der Seekrieg erreicht 1944 eine neue Dimension. Ein britisches Patrouillienflugzeug sichtet drei gigantische deutsche U-Boote, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Die U-Boote liegen an der spanischen Küste vor Anker, was besonders delikat ist: Spanien ist ein neutrales Land, ein ›offizieller‹ Angriff per Luft oder Wasser kommt deshalb nicht in Frage. Doch auch der zu Hilfe gerufene britische Special Air Service (SAS), eine kleine Sabotagekampftruppe, schafft es nicht, die U-Boote des gefährlichen ›Unternehmens Werwolf‹ zu neutralisieren. In letzter Minute tritt Captain Jensen mit seinem erfolgreichen Sonderkommando ›Storm Force‹ auf den Plan – und den wohlbekannten Helden Captain Mallory, Corporal Miller und Oberst Andrea …
Die Autoren Alistair MacLean hat 30 Bücher veröffentlicht, von denen die meisten zu Bestsellern wurden. Titel wie ›Die Kanonen von Navarone‹ oder ›Agenten sterben einsam‹ sind weltberühmt. Alistair MacLean starb am 2. Februar 1987. In seinem Nachlaß fand man mehrere Filmexposes, und da das Einverständnis des Autors vorlag, wurden diese Filmvorlagen zu Romanen umgearbeitet, wie hier ›Die Männer von Navarone‹ durch Sam Llewellyn. Sam Llewellyn ist der Autor mehrerer Seeromane. Er lebt in Herefordshire/England.
erfolgreicher
SAM LLEWELLYN
Alistair MacLean’s
DIE MÄNNER VON NAVARONE Roman Aus dem Englischen von Gunter Marek Für David Burnett Deutsche Erstausgabe HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10783 Titel der Originalausgabe STORM FORCE FROM NAVARONE Redaktion: Redaktionsbüro Dr. Andreas Gößling 4. Auflage Copyright © Characters and Ideas: Devoran Trustees Ltd. 1996 Copyright © Text: Devoran Trustees Ltd. and Sam Llewellyn Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1999 Umschlagillustration: Bavaria Bildagentur/FPg, Gauting Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg Non-profit scan, 2002 ISBN 3-453-14719-7
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Prolog März 1944 »Kontakt. Herr im Himmel, drei verdammte Sichtkontakte«, sagte der Mann am Bordradar. Unvermittelt kippte die Liberator über einen Flügel und taumelte heftig, während sie den Wolkennebel durchschnitt, der über den Atlantik in Richtung Cabo Ortegal in Nordwestspanien zog. »Das liegt an seiner Ausdrucksweise«, erklärte der Pilot sanft. »Bombenschütze?« Unten in der Bombernase antwortete der Kanonier: »Fertig.« Die lederbehandschuhten Finger des Piloten bewegten sich zum Leistungshebel. Das Brummen der vier Pratt-andWhitney-Motoren steigerte sich zu einem mächtigen Dröhnen. Vorsichtig schob der Pilot den Hebel nach vorn. Der Rumpf der Maschine knarrte, als die Liberator durch die Wolkenschichten nach unten sank. Dicke Schwaden, grau wie der Rauch eines Kohlenfeuers, strömten an den Rundscheiben des Kanonierausgucks vorbei. Auf einer Höhe von einhundertfünfzig Metern lichtete sich die Wolkenmasse. Unter ihnen lag das Meer, die mit einem Netz aus Schaum bedeckte graue See. Der Mund des Kanoniers war trocken. Schon der Anblick der rollenden Wellen bereitete ihm Übelkeit. Aber da war noch etwas: eine breite, glatte Straße, die sich wie hingebügelt durch die rauhe See zog … »Schon gesehen, die Dinger?« fragte der Pilot. Der Bombenschütze konnte seinen Herzschlag trotz des Knisterns in der Bordsprechanlage und der dröhnenden 5
Motoren hören. »Sind in Sicht«, antwortete er. Am Ende der glatten Straße wühlten drei große Fahrzeuge Schaumberge im Wasser auf. Die Schiffe waren schlank und grau, mit stromlinienförmigen Geschütztürmen. Schlanke graue Enten, die auf den Wellen schwammen. »Verdammt groß«, sagte der Mann am Radar und spähte über die Schulter des Piloten. »Was, zum Teufel, ist das?« Es waren U-Boote. Aber sie waren sicher doppelt so groß wie alle britischen oder deutschen Schiffe, die dem Piloten während seiner vierjährigen Zeit als Flieger über den unruhigen Meeren zu Gesicht gekommen waren. Diese Zeit hatte ihn zum U-Boot-Experten gemacht. Die grauen Ungetüme sahen in der Tat riesig aus. Stirnrunzelnd blickte der Pilot auf die schaumbekrönten Wellen ihres Kielwassers. Natürlich war es schwierig einzuschätzen, aber die Dinger schienen gut und gern ihre fünfunddreißig Knoten zu machen. Wenn sie zur Gegenseite gehörten, konnten sie verdammt viel Unheil anrichten. Blieb zu hoffen, daß sie zu den eigenen Leuten gehörten … Glühende rote Bälle hoben sich träge aus den Geschütztürmen und blitzten an der Pilotenkanzel vorbei. »Gehören nicht zu uns«, stellte der Pilot fest und riß die Maschine in einen Einhundertachtzig-Grad-Turn herum. Die Leuchtspurgeschosse hatten seine Ruhe vertrieben. »Angriff vorbereiten.« Die Luft war erfüllt vom Rauch der Leuchtspurgeschosse, der das Cockpit der Liberator umwehte, vermischt mit den schwarzen Wolken der schweren Flak. Die tragenden Teile ächzten unter der Spannung, als die Liberator im feuerglühenden Himmel heftig ruckte. Der Kanonier versuchte, nicht an seinen ungeschützten Bauch zu denken, und verdrängte den Gestank der explodierenden Bomben nach faulen Eiern und das Rattern des Browning-MGs des
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Bordschützen in der Bugkanzel über seinem Kopf. Es lagen noch gute drei Kilometer zwischen den Bomben und ihrem Ziel, zwanzig endlose Sekunden bei über dreihundertdreißig Stundenkilometern. »Komisch«, murmelte der Pilot. »Warum tauchen sie nicht?« Der Bombenschütze starrte in sein Zielgerät. »Bombenklappen offen«, sagte er. Als die Klappen das Strömungsverhalten an der Maschinenaußenwand veränderten, spürte er, wie ein erneutes Rucken den Flugzeugkörper erschütterte. Im Sucher seines Zielgeräts erschien die graue, aufgewühlte See. In V-Formation schwammen die U-Boote die gestufte Trittleiter der Markierungslinie entlang nach unten, auf den Auslösepunkt zu, ahnungslos wie drei Forellen in einem Fluß. Abgesehen von den trägen roten Blasen, die aus ihren Geschütztürmen stiegen. Stirnrunzelnd preßte der Kanonier das Gesicht an die Okulare seines Zielfernrohrs. Mit dem U-Boot in der Mitte stimmte etwas nicht. Das Deck vor dem Geschützturm sah verbeult und eingedrückt aus. Heilige Jungfrau, dachte er, jemand hat den Kahn gerammt. Ist dabei fast in zwei Teile zerlegt worden. Deshalb taucht er nicht … Draußen an der Backbordseite krachte etwas mit hellem Klang gegen die Metallhaut. Plötzlich fuhr dem Kanonier eisige Luft um Hals und Ohren. Die kleinen U-Boote im Zielfernrohr trieben nach Steuerbord ab. »Etwas mehr nach rechts«, dirigierte er ruhig über das Hämmern seines Herzschlags hinweg. »Mehr nach rechts.« Die drei grauen Fische glitten zurück auf die Ziellinie. »Recht so.« Sein Lederdaumen fand den Auslöseknopf. Der Rauch der Leuchtspurgeschosse war mittlerweile unerträglich geworden, grau und dick wie ein Wirbelsturm. Der Bombenschütze konzentrierte seine Gedanken auf die Hoffnung, daß Pearl in der Messe sein Ei nicht wieder zu lange kochte. Gestern war es
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hart wie Zement gewesen … »Maschine ruhig halten«, befahl er. Das graue Dreieck befand sich kaum mehr als einen Zentimeter vom Auslösepunkt entfernt. »Los«, gab er das Kommando. »Bomben los …« Wie ein riesiger Hammer krachte ein Geschoß in den Flugzeugrumpf irgendwo hinter ihm, und er spürte einen furchtbaren Schmerz in seinem linken Bein. Getroffen, dachte er. Der Mistkerl hat uns getroffen. Seine Hand umklammerte noch den Abwurfauslöser. Als sich die Last aus ihrem Bauch entlud, spürte er, wie die Maschine ruckartig nach oben schnellte. Zu früh, ging es ihm durch den Kopf. Dann verloren sich alle Gedanken, denn sein Gesicht war von Rauch umgeben, und in seinem Kopf herrschte nur noch der Schmerz, der von seinem Bein ausging, das an vier Stellen gebrochen war. Dazu heulte jemand wie ein Hund. Als die grauen Wolken sich niedersenkten und die Liberator umfingen, wurde ihm klar, daß er den Radau veranstaltete. Zehn Minuten später hatte der Funker das Bein geschient und warf die Morphiumspritze durch eines der Löcher, das die Granate in den Rumpf gerissen hatte. Insgeheim dachte er, daß der Bombenschütze furchtbar aussah, aber schließlich war ein mehrfacher Bruch auch nicht gerade ein Grund zum Lächeln. Um ihn aufzumuntern, hob der Funker beide Daumen. »Treffer!« sagte er. Durch rosa Morphiumwolken sah der Bombenschütze, wie sich die Lippen seines Kameraden bewegten, und versuchte, interessiert auszusehen. »Hast eins erwischt«, sagte der Funker. »Ich hab’ Rauch gesehen. Eins von den Dingern war schon beschädigt. Sah aus, als hätte jemand das Boot gerammt. Und wir haben zumindest ein zweites getroffen.« Der Funker hätte ebensogut mit sich selbst reden können, denn bei dem Motorenlärm und dem Loch im Maschinenrumpf war kein Wort zu verstehen. Außerdem
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schlief der Bordschütze. Wirklich verflucht große U-Boote, dachte der Funker. Solche Dinger hatte er noch nie vorher gesehen. Nicht so große. Und nicht so schnelle. Die Liberator flog oberhalb der geriffelten Wolkendecke Richtung Norden und dann nach Westen über den Golf von Biscaya auf den Küstenstützpunkt Saint-Just zu. Dort wurde die Besatzung, die sich in Gedanken wieder mit der Härte ihrer Frühstückseier befaßte, umfassend aufgeklärt.
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1. Sonntag, 10.00 bis 19.00 Uhr Andrea starrte Jensen an. Das Gesicht des riesigen Griechen war von Entsetzen verzerrt. »Sagen Sie das noch mal«, stieß er hervor. »Ein Auftrag«, erwiderte Jensen. Er war von einem Lichtkegel italienischer Sonne umgeben, die seine scharfen weißen Zähne und die Goldtresse auf dem Mützenschirm zum Glänzen brachte. »Nur ein ganz kleiner Auftrag. Ehrlich. Ich dachte, da Sie drei ohnehin hier sind …« Wie immer machte Jensen in seiner strahlendweißen Uniform, mit der aufrechten, wachsamen Haltung und dem unschuldigen, leicht piratenhaften Ausdruck in seinem bärtigen Gesicht einen erschreckend frischen und ausgeruhten Eindruck. Die drei Männer in den Sesseln dagegen wirkten alles andere als frisch. Ihre Gesichter waren hohl vor Erschöpfung, und sie saßen, als wären sie von oben auf die Stühle geworfen worden. Die unbedeckten Teile ihrer Körper waren mit Heftpflaster beklebt und rot vom Desinfektionsmittel. Sie sahen aus, als würden sie im nächsten Moment tot zusammensinken. Aber Jensen wußte es besser. Es hatte ihn beträchtliche Anstrengungen gekostet, diese Mannschaft zusammenzustellen. Da war als erstes Mallory, vor dem Krieg ein weltberühmter Bergsteiger, bekannt für seine Himalajaexpeditionen und Bezwinger der meisten unbestiegenen Gipfel in den Südalpen seiner Heimat Neuseeland. Er hatte achtzehn Monate in Kreta hinter den feindlichen Linien verbracht, zusammen mit dem Mann, der neben ihm saß, Andrea. Der riesige Andrea, stark wie eine Herde Bullen, still 10
wie ein Schatten und Oberst in der griechischen Armee, war einer der gefährlichsten verdeckt operierenden Soldaten, die jemals einen Wachposten getötet hatten. Neben ihm saß Corporal Dusty Miller aus Chicago, zur Fernaufklärung ›Wüste‹ abkommandiert und gelegentlich als Fahnenflüchtiger, Goldsucher oder Schmuggler unterwegs. Ganz egal, auf was man ihn ansetzte, Miller konnte es zerstören. Seinem herausragenden Geschick für die Durchführung von Sabotageakten kam nur noch seine ebenso herausragende Neigung zum Ungehorsam gleich. Aber Jensen beurteilte Soldaten nur nach ihrer Kampfkraft, nicht nach ihren moralischen Taten. In seinen Augen waren diese Männer wertvoll. Jensens glänzende Raubtierzähne verursachten Andreas Augen Schmerzen, aber nach vierzehn nahezu schlaflosen Tagen würde ihn beinahe jeder Anblick schmerzen. »Ein netter, kleiner Auftrag«, sagte Mallory. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt. Wie Andrea benötigte er nach militärischen Maßstäben dringend eine Rasur. »Könnten Sie uns vielleicht mehr darüber verraten?« Jensens Grinsen verbreiterte sich. »Ich dachte, Sie wären nicht so ganz aufnahmefähig.« Corporal Dusty Miller hatte beinahe waagerecht in seinem dick gepolsterten Ledersessel gelegen und mit unakademischem Interesse die gemalten Nackten an der Decke der Villa studiert, die Jensen zu seinem Hauptquartier erkoren hatte. »Das hat Sie noch nie aufgehalten«, mischte er sich in das Gespräch ein. Jensens buschige Brauen hoben sich ein wenig. Das war nicht der Ton, mit dem Captains der Royal Navy normalerweise von einfachen Corporals angesprochen wurden. Aber Dusty Miller war kein gewöhnlicher Marine-Corporal, so wenig wie Captain Mallory ein normaler Captain oder
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Andrea ein gewöhnlicher griechischer Widerstandskämpfer waren. Deshalb mußte Jensen ihnen einen gewissen Respekt entgegenbringen, den gleichen Respekt, den er todbringenden Waffen entgegenbrachte, mit denen er dem Feind größtmöglichen Schaden zufügen wollte. Denn auch Jensen war kein gewöhnlicher Captain der Navy. Als achtzehnjähriger Lieutenant hatte er erfolgreich ein Q-Ship kommandiert und im Ersten Weltkrieg acht U-Boote versenkt. Zwischen den Weltkriegen arbeitete er – um der Wahrheit die Ehre zu geben – als Spion. Er führte schiitische Aufstände im Irak an, deckte einen Plan zur Blockade des Suezkanals auf und brachte als Beobachter bei der Kaiserlich-Japanischen Marine einige erschreckend falsche, absichtlich ungenaue Seekarten des Zulu-Sees in Umlauf. Jetzt, im vierten Jahr des Krieges, war er Operationsleiter der Sabotagetruppen. Manche behaupteten, der Sieg der Alliierten bei El-Alamain sei teilweise der Sabotageabteilung zu verdanken, die in einem Treibstofflager heimlich das Maschinenöl durch Silikonkarbid ersetzt habe … Während des vergangenen Monats hatte die Sabotageeinheit die erfolgreiche Zerstörung der uneinnehmbaren Kanonenfestung von Navarone und den Ablenkungsüberfall in Jugoslawien geplant, der zum Fall der Gustav-Linie in Italien und zum Ausbruch aus dem Brückenkopf von Anzio geführt hatte. Aber Jensen war nur für die Planung verantwortlich gewesen. Diese drei Männer – Mallory, der schweigsame neuseeländische Bergsteiger, hart wie die Stahlschneide eines Kampfmessers, der Amerikaner Dusty Miller, ein Einstein unter den Saboteuren, sowie Andrea, das zweihundertfünfzig Pfund schwere, massige Muskelpaket, leise wie eine Katze und stark wie ein Bär – waren seine Waffen gewesen. Wenn es auf der Welt todbringendere Kämpfer gab, hatte Jensen sie nicht ausfindig machen können. Und er war dafür
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bekannt, bei seinen Nachforschungen gründlich vorzugehen. »Nun denn«, fuhr er fort. »Spricht einer der Herren Französisch?« Mallory runzelte die Stirn. »Deutsch«, erwiderte er. »Und Griechisch.« Andrea gähnte und bedeckte den Mund mit seiner riesigen Hand, an der er noch den Verband über den Abschürfungen trug, die er davongetragen hatte, als er sich an den Eisensprossen einer Leiter festhielt, während die tosenden Wassermassen nach dem Bruch des Zenicadamms über ihn hinwegbrausten. »Ich«, sagte Dusty Miller. »Fließend?« »Ich habe mal in Montreal gearbeitet«, antwortete Miller, einen unschuldigen Ausdruck in den blauen Augen. »Türsteher in einem Puff.« »Danke, Corporal Miller.« »Il n’y a pas de quoi«, entgegnete Miller mit europäischer Grazie. »Wir haben ein paar Dolmetscher für Sie aufgetrieben«, sagte Jensen. Mallory seufzte innerlich. Er kannte Jensen. Wenn Jensen einen Mann an Bord haben wollte, bekam er ihn, und es blieb dem Auserwählten nur noch übrig, den Platz ausfindig zu machen, wo die Schwimmwesten aufbewahrt wurden, bevor er die Reise antrat. Er sagte: »Wenn Sie mir die Frage erlauben, Sir, warum müssen wir Französisch können?« Jensens Grinsen hätte einem Hai alle Ehre gemacht. Er schritt über den bronzefarbenen Teppich zu einem riesigen, mit Blattgold überzogenen Tisch, der bis auf zwei Telefone – das eine rot, das andere schwarz – leer war. »Ich möchte Sie jemandem vorstellen.« Er hob den Hörer des schwarzen Telefons ab. »Sergeant, bitte schicken Sie die Herren aus dem
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Warteraum herein.« Mallory blickte auf die Äderung einer Marmorsäule. Über ihren Köpfen dröhnten Flugzeuge, die den Luftnachschub für die nach Norden über die durchbrochene Gustav-Linie vorrückenden Truppen transportierten. Er zündete sich erneut eine Zigarette an, obwohl er den bitteren Geschmack der letzten noch im Mund hatte. Was gäbe er für eine Woche Schlaf. Oder besser einen Monat … Die Tür wurde geöffnet, und zwei Männer traten ein. Einer von ihnen war ein hochgewachsener Major mit penibel gestutztem Oberlippenbart. Der andere war kleiner, untersetzt und stiernackig und trug drei Sterne auf seinen Schulterklappen. »Major Dyas, Geheimdienst«, stellte Jensen vor. »Und Captain Killigrew, Special Air Service.« Major Dyas nickte, während Captain Killigrew einen Anwesenden nach dem anderen mit prüfendem Blick musterte. Sein Gesicht war ziegelrot von der Sonne – und vor Ärger, wie Mallory mutmaßte. Der Neuseeländer erwiderte den militärischen Gruß. Andrea nickte, und da er Ausländer war, kam er damit davon. Dusty Miller blieb ausgestreckt in seinem Sessel liegen und würdigte Killigrew, indem er ein Auge öffnete und eine seiner knochigen Hände hob. Killigrew blies sich wie eine Kröte auf. Jensens Augen flogen zwischen beiden Männern hin und her, und er beeilte sich zu sagen: »Nehmen Sie Platz, meine Herren, und lassen Sie uns hören, was ansteht.« Steif ließ sich Killigrew auf einem harten Stuhl nieder. Er blieb kerzengerade sitzen, ohne die Rückenlehne zu berühren. »Nun gut«, sagte er. »Sie haben die Erlaubnis zu rauchen.« Mallory und Miller rauchten bereits. Mit der Hand fuhr Dyas über seine hohe Denkerstirn. Er hätte Arzt sein können oder Professor der Philosophie.
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»Major Dyas ist so freundlich, Sie über den Hintergrund dieses … kleinen Auftrags zu informieren«, erklärte Jensen. Mallory lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er fühlte sich noch immer müde, aber bald würde etwas geschehen, das seine Müdigkeit vertriebe. Er kannte das Gefühl von seinen Klettereien in den neuseeländischen Südalpen – nach einem zermürbenden Aufstieg zwei Stunden Schlaf in der Berghütte, dann Aufstehen in der Morgenkälte, noch vor dem Hellwerden. Es gab einen Punkt ohne Widerkehr, nach dem er nur noch weiterklettern und die Sache hinter sich bringen konnte. Klettern und Kämpfen hieß, ein Vorhaben zu planen und mit zusammengebissenen Zähnen durchzuziehen oder umzukommen. Die Parallelen zum Kommandounternehmen der ›Sturmkolonne‹ waren offensichtlich. »Nun gut«, wiederholte Dyas. »Eines vorweg. Was Sie jetzt zu hören bekommen, ist bisher nur sieben Personen auf der Welt bekannt, und mit Ihnen werden es zehn sein. Andere Beteiligte kennen verschiedene Bruchstücke und Einzelheiten, aber was zählt, ist … die Gesamtheit der Fakten.« Er machte eine Pause, um Tabak in eine geschwärzte Pfeife zu stopfen, und zog ein großes Benzinfeuerzeug aus der Tasche. »Der Juni wird ein wichtiger Monat in diesem Krieg werden«, sagte er aus dem paffenden Inneren einer blauen Rauchwolke heraus. »Wahrscheinlich der bislang wichtigste.« Millers Augen hatten sich geöffnet. Andrea saß nach vorne gebeugt in seinem Sessel, die mächtigen Unterarme auf die fleckigen Knie der Khakihose gelegt. »Wir werden ein Hasardspiel riskieren«, sagte Dyas. »Ein großes Spiel. Und Sie sollen uns die richtigen Vorgaben dafür liefern.« »Gehen Sie davon aus, daß Captain Jensen Ihnen ein Mordsspiel liefern wird«, warf Miller ein. »Wie bitte?« fragte Dyas. Mallory schaltete sich ein. »Der Corporal wollte nur seine
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Begeisterung zum Ausdruck bringen.« »Aha.« Wieder eine Qualmwolke. Mallory konnte das aufgeregte Kribbeln in seinem Magen spüren. »Dieses Spiel«, fragte er, »handelt es sich dabei um eine neue Front?« »Man könnte es so nennen«, erwiderte Dyas. »Wir werden die vollständige Seehoheit benötigen. In der Luft sind wir gut, auch am Boden. Aber es gibt einen Haken.« Killigrews Gesicht verdunkelte sich. Er sah aus, als würde ihm gleich ein Blutgefäß platzen, dachte Mallory und fragte sich, was er mit der Sache zu tun hatte. »Unterseeboote«, fuhr Dyas fort. »UBoote. Allgemein wurde angenommen, daß wir in der Lage wären, sie mit Radarüberwachung aus der Luft, Sonarortung und Funkpeilgeräten zu erwischen.« Eine neue Qualmwolke. »Das dachten wir zumindest alle. Bis vor wenigen Monaten. Im März hatten wir Ärger mit einigen Konvois über den Atlantik. Unsere Schiffe gingen reihenweise unter, wie seit zwei Jahren nicht mehr.« Das professorenhafte Gesicht wurde grimmig und hart. »Merkwürdig daran war, daß es in einem Umkreis von, sagen wir, zweihundert Seemeilen eine Serie von Explosionen gab. Man hätte vermuten können, daß es sich um Altbekanntes handelte. U-Boote, die sich im Verband bewegen, ein Wolfsrudel. Aber es war kein Rudel, weil es keinen Funkverkehr untereinander gab und die versenkten Schiffe zu weit auseinander lagen. Also tippten wir auf Minen. Aber auch Minen schienen nicht die Ursache gewesen zu sein, denn eines Tages, gegen Ende März, fing die HMS Frantic, ein GeleitZerstörer, siebenhundert Seemeilen vor Cap Finistère ein Echo auf, nachdem es im Konvoi zwei Untergänge gegeben hatte. Der Zerstörer nahm die Verfolgung auf, verlor die Spur jedoch wieder.« Dyas widmete sich wieder seiner Pfeife. »Nichts Ungewöhnliches, soweit«, bemerkte Mallory. Dyas nickte mild. »Außer, daß der Zerstörer Volldampf
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voraus fuhr und ihm das U-Boot einfach davonraste.« »Wie bitte?« fragte Miller. »Der Zerstörer lief mit fünfunddreißig Knoten«, sagte Dyas. »Das U-Boot machte fünf Knoten mehr.« »Warum erzählt er uns diesen Blödsinn?« mischte sich Miller ein. »Ich glaube, Corporal Miller möchte gern wissen, was das zu bedeuten hat«, warf Mallory ein. »Entschuldigen Sie bitte, Major Dyas«, bemerkte Jensen. Er bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren. »Nur zu Ihrer Information. U-Boote müssen die meiste Zeit aufgetaucht fahren und ihre Dieselmotoren laufen lassen, damit sie höhere Fahrt machen und ihre Batterien neu aufladen. Unter Wasser lag ihre Höchstgeschwindigkeit bislang bei knapp zehn Knoten, wobei sie nicht lange durchhalten, weil die Kapazität der Batterien begrenzt ist.« Er blickte kalt und grimmig in die Runde. Sein Gesicht zeigte tief eingeschnittene Furchen wie das einer Steinstatue. »Wir haben es also mit folgender Lage zu tun: Im Ärmelkanal liegt die größte Flotte aller Zeiten versammelt, und diese U-Boote – riesige Ungetüme, groß genug, um Hunderte von Torpedos zu laden – laufen mit vierzig Knoten. Unter Wasser, wohlgemerkt. Wir wissen, daß die Deutschen mindestens drei dieser Dinger besitzen, die unter der Bezeichnung ›Werwölfe‹ laufen. Das könnte dreihundert versenkte Schiffe bedeuten und Gott weiß wie viele Verluste an Männern.« »Sie haben also ein kurzes Echo aufgefangen«, mischte sich Miller ein. »Nicht gerade viel, um wilde Panik zu verbreiten. Wie schnell schwimmen Wale?« »Passen Sie auf, was Major Dyas mitzuteilen hat, und halten Sie den Mund«, schnappte Jensen. Erst jetzt begriff Mallory, unter welcher Anspannung der
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erfahrene Soldat stand. Der Jensen, den er kannte, war locker und gelöst und strahlte die übliche Kaltblütigkeit der Marineoffiziere aus. Wild wie ein Seeräuber und angriffslustig, aber immer ruhig. Seit Mallory den Captain kannte, hatte dieser noch nie einen Wutanfall bekommen, nicht einmal Dusty Millers wegen, der auf Offiziere allergisch reagierte. Jetzt hingegen wirkte Jensen angespannt, als müßte er auf einem rasiermesserscharfen Grat das Gleichgewicht halten. Mallory fing Millers Blick auf und zog die Stirn kraus. Dann sagte er: »Der Einwand von Corporal Miller ist berechtigt, Sir.« »Wale«, begann Dyas. »Ehrlich gesagt, haben wir auch schon daran gedacht. Aber dann … blieb uns nichts anderes übrig, als zwei und zwei zusammenzuzählen.« Auf die blankliegenden Nerven der Versammelten unter der freskenbemalten Villendecke wirkte der Klang seiner milden Stimme wie Balsam. »Wir erhielten die Meldung, eine weitere Eskorte habe ein riesiges U-Boot gerammt. Dann wurde eine Liberator beim Bombardieren von zwei U-Booten beschossen, die ein drittes eskortierten, das deutliche Anzeichen eines Zusammenstoßes aufwies. Diese Schiffe waren von gewaltigem Ausmaß und pflügten mit dreißig Knoten durch die Wellen. Die Liberator meldete sie als beschädigt. Aber als wir weitere Flugzeuge losschickten, um nach ihnen zu suchen, waren sie verschwunden. Allem Anschein nach konnten die U-Boote nicht mehr tauchen, also nahm man an, sie wären gesunken. Doch dann wurde eine Meldung aufgefangen – es spielt keine Rolle, woher die Meldung kam, aber Sie können mir glauben, sie war zuverlässig –, die besagte, sie lägen nach Beschädigungen durch den Feind in Reparatur. Es hieß, die Instandsetzungsarbeiten wären bis Mittwoch, zwölf Uhr, in der zweiten Maiwoche beendet.«
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Heute war Sonntag, morgen begann die zweite Maiwoche. Unter dem bemalten Deckengewölbe breitete sich Schweigen aus, bis Mallory sprach. »Also U-Boote. Was hat es damit auf sich?« »Schwer zu sagen«, antwortete Dyas kühl, als wäre sein Interesse an den feindlichen U-Booten rein akademischer Natur, was Mallory in Rage gebracht hätte, wenn er zu Gefühlsausbrüchen geneigt hätte. »Die Geheimhaltung von Seiten der Kriegsmarine funktionierte ziemlich gut, aber wir konnten einiges an Informationen zusammenfügen. Wir wissen, daß die Deutschen ein verbessertes Batteriesystem für die Tauchfahrt besitzen, womit sich Energie in größerem Umfang speichern läßt. Eine ziemliche Menge, um genau zu sein. Aber es gab noch weitere Gerüchte. Höchstwahrscheinlich haben die Deutschen etwas Neues entwickelt, und zwar nach der Idee eines Mannes namens Walter. Sie arbeiten bereits seit den dreißiger Jahren daran. Es handelt sich um einen Verbrennungsmotor, der unter Wasser läuft. Mit Dieselöl.« Mittlerweile hatten Millers Augen sich wieder geöffnet, und er befand sich in einer Position, die bei ihm als aufrecht gelten konnte. »Wo?« fragte er. »Wo?« wiederholte Dyas stirnrunzelnd. »Man kann unter Wasser kein Dieselöl verbrennen. Dazu braucht man Sauerstoff.« »Ah. Ja. Ganz richtig. Gute Frage.« Miller fühlte sich nicht geschmeichelt. Motoren waren sein Gebiet. Er wußte, wie man sie zum Laufen brachte. Noch mehr wußte er darüber, wie man sie zerstörte. »Nichts Definitives. Aber der Geheimdienst vermutet, daß es sich um Wasserstoffperoxid oder etwas Vergleichbares handelt. An der Oberfläche wird natürlich Luft für die Motoren angesaugt. Beim Tauchen erfolgt eine automatische Umkoppelung, vermutlich durch einen
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Schwimmerschalter, der die Luftzufuhr stoppt und einen Desintegrator in Gang setzt, der aus einer Substanz wie Wasserstoffperoxid Sauerstoff gewinnt. Als Abfallprodukt entsteht Kohlendioxid, das sich im Meerwasser auflöst. So jedenfalls lautet die Theorie.« Jensen stand auf. »Theorie hin oder her«, sagte er, »die Dinger werden gerade repariert. Bevor sie wieder in See gehen, müssen sie zerstört sein. Und für die Vernichtung sind Sie zuständig.« »Wo liegen sie?« fragte Mallory. Dyas entrollte eine Karte, die an der Wand hinter ihm hing. Sie zeigte Frankreich und Nordspanien mit den dazwischenliegenden Pyrenäen. Über die braunen Auffaltungen, die vom Mittelmeer bis zum Atlantik reichten, schlängelte sich die rote Grenzlinie. »Von Cabo Ortegal wurden sie weggebombt. Da die U-Boote nicht tauchfähig waren, können sie kaum nach Norden ausgewichen sein. Wir glauben, daß sie sich hier befinden.« Dyas hob ein Queue vom Billardtisch und fuhr an dem langen, geraden Küstenstück entlang, das sich von Bordeaux über Biarritz und Saint-Jean-de-Luz bis zur spanischen Grenze erstreckte. Mallory blickte auf den Zeigestock. Auf dieser Strecke gab es drei Häfen: Hendaye, Saint-Jean-de-Luz und Bayonne. Ansonsten bildete die Küste eine einzige gerade Linie, die aussah, als wäre sie als Badestrand erschaffen worden. »Wo?« fragte er. Mallorys Blick vermeidend, befingerte Dyas seinen Oberlippenbart. Seit er sich in diesem Raum befand, irritierten ihn die Gelassenheit dieser Männer und der wachsam entspannte Blick aus ihren tiefliegenden Augen zunehmend. Der Große mit dem schwarzen Schnurrbart war schweigsam und gefährlich. Von ihm ging eine bedrohlich wirkende, furchterregende Macht aus. Was die beiden anderen
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anbelangte, so schien der eine schlampig, der andere widerspenstig zu sein. Richtige Gangster, fand er. Reichlich unmilitärische Typen. Aber Jensen wußte, was er tat. Dafür war er berühmt. Trotzdem gefiel Dyas Mallorys Frage nicht. »Nun, Spanien ist ein neutrales Land«, sagte er und zwang sich, nicht nervös zu lachen. »Und über Bordeaux besitzen wir präzise Informationen. Wir wissen, daß sich die U-Boote nicht dort aufhalten.« Sein Husten klang nervöser als beabsichtigt. »Um es genau zu sagen: Wir haben keine Ahnung, wo sie stecken.« Drei Augenpaare musterten ihn schweigend. Schließlich ergriff Mallory das Wort. »Demnach haben wir bis Mittwoch Mittag Zeit, um ein paar U-Boote zu finden und zu zerstören. Das einzige Problem dabei ist, daß wir nicht wissen, wo wir sie suchen sollen. Was uns zu der Frage führt, ob sie überhaupt existieren.« »Oh, keine Sorge. Das zumindest wissen wir sicher«, entgegnete Jensen. »Man wird Sie abspringen lassen, und ein Empfangskomitee …« »Abspringen?« wiederholte Miller, das Gesicht in düsterem Entsetzen verzerrt. »Mit Fallschirmen.« »Heilige Jungfrau«, sagte Miller mit hoher Schwulenstimme. »Wenn Sie allerdings weiter dazwischenreden, können wir die Fallschirme auch weglassen.« In Jensens Freibeutergesicht erschien eine Härte, die sogar Miller klarmachte, daß er genug gesagt hatte. »Ein Empfangskomitee also. Unsere Verbindungsleute werden Sie zu einem Mann namens Jules bringen, der einen Fischer kennt, der über den Aufenthaltsort der UBoote Bescheid weiß. Dieser Fischer verkauft Ihnen die Information.« »Er verkauft sie?« »Ja. Man wird Sie mit Geld ausstatten.«
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»Wo ist dieser Fischer?« »Sein Aufenthaltsort ist uns bis jetzt unbekannt.« »Aha.« Mallory rollte die Augen zu den Deckengemälden, bevor er sich eine weitere Zigarette anzündete. »Dann sollten wir uns auf eine nette Überraschung freuen, meine ich.« Über Millers trübsinnige Züge legte sich ein begeistertes Lächeln. »Donnerwetter, Mann«, sagte er. »Wenn sie genauso überrascht sind wie wir, werden sie nur noch staunen.« Dyas blickte schräg zu Jensen. Mallory fand, er sah aus wie jemand, der von persönlichen Zweifeln gequält wurde. Jensen nickte und zeigte sein grimmiges Lächeln. Anscheinend hatte er seine gewohnte Haltung zurückgewonnen. »Kann man nur hoffen«, sagte er. »Diese U-Boote müssen unbedingt zerstört werden. Egal wie. Es spielt keine Rolle, was Sie dafür tun müssen. Sie haben völlig freie Hand.« Jensen machte eine Pause. »Das heißt, solange Sie die Operation im Alleingang durchführen.« Er hustete. Wenn ein in Nelsons Kriegstaktiken geschulter englischer Marineoffizier jemals gerissen ausgesehen hatte, dann Jensen in diesem Augenblick. »Was den Überraschungseffekt anbelangt … da muß ich Sie leider enttäuschen«, fuhr er fort. »Vermutlich jedenfalls. Tatsächlich ist letzte Woche ein Team des Special Air Service verschwunden, und seitdem hat niemand mehr etwas von den Jungs gehört. Wir nehmen an, daß sie in Gefangenschaft geraten sind.« Mallory erlaubte sich, die Lider über seine trockenen Augäpfel sacken zu lassen. Er wußte, was das bedeutete, wollte aber, daß Jensen es aussprach. »Gut möglich«, fuhr Jensen fort, »daß die Deutschen Sie bereits erwarten.« Das schien Killigrew für sein Stichwort zu halten. Er war klein und wie ein Stier gebaut und besaß die gleichen, gefährlich blinzelnden Augen. Jetzt erhob er sich und schritt in
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die Mitte des Raums. Dort pflanzte er sich breitbeinig auf den Mosaikboden und ließ den Kopf zwischen seine massigen Schultern sinken. »Hören Sie mir gut zu«, bellte er mit einer Stimme, die zeigte, daß er daran gewöhnt war, sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jensen blickte zu Mallorys hagerem Kreuzfahrergesicht hinüber. Der Neuseeländer hielt die Augen geschlossen. Andrea strich sanft über seinen Schnurrbart und sah aus dem Fenster auf das gelbgrüne, in der Morgensonne glänzende Weinlaub. Dusty Miller hatte seine Zigarette aus dem Mund genommen und gestikulierte damit. »Der SAS?« sagte er. »Die Jungs landen mit gottverdammten Haubitzen und Jeeps und machen einen Heidenlärm, als würde ein rumpelnder Güterzug vorbeirasen. Ortskundige Führer oder Dolmetscher hält diese Truppe gewöhnlich für überflüssig, und erst recht, Fremdsprachen zu lernen. Ihre Schädeldecken sind aus Zement, und keiner besitzt auch nur den geringsten Funken Verstand … aber was will man machen?« Mit purpurrot angelaufenem Gesicht stand Killigrew über ihm. »Sagen Sie das noch mal«, herrschte er Miller an. Miller gähnte. »Nicht den geringsten Funken Verstand«, wiederholte er. »Elefanten im Porzellanladen.« Mallory hatte die Augen wieder geöffnet. An Killigrews Hals traten die Adern hervor wie Efeuranken an einem Baumstamm, und in seinen Augen sammelte sich das Blut. Er hatte das Kinn vorgeschoben wie die Ramme eines Eisbrechers und – zu Mallorys Überraschung – die rechte Faust zurückgezogen, bereit, Miller im nächsten Moment die Zähne auszuschlagen. »Dusty«, warnte Mallory. Miller sah ihn an. »Miller entschuldigt sich, Sir«, sagte Mallory. »Hat mich eben aufgeregt«, erklärte Miller.
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»Du bist im Einsatz«, erinnerte Mallory sanft. »Ja, Sir«, antwortete der Corporal. Jensens Stimme krachte wie ein Peitschenschlag dazwischen. »Captain!« Killigrews Hacken schlugen zusammen. Sein blühendes Gesicht wurde plötzlich aschgrau. Um Haaresbreite hätte er einen anderen Dienstgrad angegriffen. Man hätte ihn vor das Kriegsgericht gebracht … Mallory drückte die Zigarette in einem Marmoraschenbecher aus, während seine Augen unruhig den Raum absuchten, um die Situation einzuschätzen. Der Captain des SAS mußte unter ungeheurem Streß stehen, immerhin hätte er beinahe einen Corporal verprügelt. Jensen, das sah er, verbarg hinter der Maske militärischer Empörung eine brennende Neugier auf das, was nun folgen würde. Inzwischen war Andrea aufgestanden und durch den Raum zu Killigrew gegangen, doch man hatte den Eindruck, er hätte sich überhaupt nicht bewegt. Locker und entspannt stand er da, der massige, bärengleiche Körper eingesunken und die Hände schlaff an den Seiten hängend. Mallory wußte, daß Killigrew nur eine halbe Sekunde von einem gewaltsamen Tod trennte. Er suchte Millers Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf, einen Millimeter nach links, dann nach rechts. Miller gähnte. »Danke auch, Captain Killigrew.« Mit vortretenden Augäpfeln starrte Killigrew starr geradeaus. »Ich habe verstanden. Mir ist gerade eine Fliege über mein Ohr gekrochen«, sagte Miller und wies auf einen Brummer, der zum Kronleuchter hochschwirrte. »Und der Captain wollte so freundlich sein, den kleinen Blutsauger für mich zu erledigen.« Jensen hatte die Brauen hochgezogen. »Übernehme die volle Verantwortung«, schloß Miller. Jensen zögerte keinen Augenblick. »Nicht nötig«, sagte er. »Kein Vorwurf. Machen Sie weiter, Captain.«
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Killigrew schluckte. »Sir …« Sein Gesicht gewann wieder an Farbe. »Richtig«, sagte er. »Unsere Leute. Fünf Mann. Sie ließen sich letzten Dienstag mit einem Jeep und Funkausrüstung südlich von Lourdes absetzen. Sie meldeten noch ihre Landung und gaben an, sie würden in Richtung Hendaye aufbrechen. Entsprechend der Absprache sollten sie sich alle acht Stunden über Funk melden. Aber nichts. Keine verdammte Nachricht.« Wieder fing Miller Mallorys Blick auf. Mit dem Jeep, dachte er. Um Himmels willen. Hatten die denn noch nie etwas von Straßensperren gehört? »Bis gestern Abend«, sagte Killigrew. »Da kam ein Kerl von der Resistance über den Äther. Sagte, es hätte in einigen Bergdörfern dreißig Kilometer westlich von Saint-Jean-de-Luz Schießereien gegeben. Verluste. Wir glauben, daß es unsere Leute waren. Aber mit der Funkmeldung gab es Probleme. Keine Verschlüsselung. Könnte natürlich bedeuten, daß der Funker in Eile war. Oder die Organisation ist unterwandert.« Mallory bemerkte, daß er sich noch eine Zigarette anzündete. Wie lange hatte er keinen Atemzug mehr gemacht, der nicht mit Tabakrauch vermischt war? Er mied Millers Blick. In diesen Kommandotrupps waren tapfere Burschen. Aber Miller hatte recht. Sie kämpften wie die Stiere, ohne nachzudenken, und immer durch die Mitte. Das war nicht Mallorys Art. Ein Krieg, so lautete seine Devise, mußte leise geführt werden. Es gab eine alte Partisanenweisheit, nach der er lebte: Wenn du ein Messer hast, kannst du eine Pistole bekommen. Hast du eine Pistole, kommst du an eine Büchse. Mit einem Gewehr verschaffst du dir ein Maschinengewehr … »Das wär’s, meine Herren«, sagte Jensen. »Danke für Ihre Mitarbeit.« Dyas und Killigrew verließen den Raum. Um nicht Millers hämischem Blick zu begegnen, reckte Killigrew das blutig
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aufgedunsene Gesicht starr geradeaus. »Also«, sagte Jensen und zeigte sein furchterregendes Raubtiergrinsen. »Glauben Sie, daß Sie die Sache erledigen können?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Hören Sie«, fuhr er fort. »Ihnen mag der Plan blödsinnig vorkommen. Das ist nicht zu ändern. Aber es könnte sein, daß das Leben einer Million Männer davon abhängt, ob diese U-Boote wieder in See gehen oder nicht. Ich fürchte, der SAS hat Mist gebaut. Sie sollen nur diese verdammten Dinger finden. Wenn Sie die Ungetüme nicht in die Luft jagen können, funken Sie eine Positionsmeldung. Um den Rest kümmert sich die Royal Air Force.« »Entschuldigen Sie die Frage, Sir«, sagte Mallory. »Aber was ist mit der Resistance?« Jensen zog die Stirn in Falten. »Gute Frage. Zwei Dinge. Erstens: Sie haben diesen Idioten Killigrew gehört. Und zweitens: Es könnte sein, daß die U-Boote an einem Ort versteckt liegen, den die Royal Air Force nicht erreichen kann.« Er grinste. »Heute morgen habe ich zu Mr. Churchill gesagt, daß ich es Ihrem Haufen zutraue, ein ganzes Bombergeschwader zu ersetzen. Er stimmte mir zu.« Jensen erhob sich. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet. Sie haben zwei erstklassige Einsätze für mich durchgeführt. Und jetzt erledigen Sie den dritten ebensogut. Genauere Anweisungen später auf dem Flugplatz. Am Nachmittag kommt eine Albemarle für Sie. Start um neunzehn Uhr.« Jensen blickte in die Gesichter hinunter. Mallory war erschöpft, aber zum Schlag bereit wie ein scharfes Kriegsbeil. Andrea strahlte hinter seinem schwarzen Schnurrbart Ruhe und Sicherheit aus. Und Dusty Miller kratzte sich den Bürstenhaarschnitt, als wollte er damit seine Abneigung gegen jede militärische Disziplin demonstrieren. Jensen kam nicht auf die Idee, besorgt zu sein, weil sie in den letzten vierzehn Tagen
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bei einem Sturmeinsatz kaum Schlaf gefunden hatten. Die Männer waren Werkzeuge und hatten ihren Job zu erledigen. Mehr interessierte ihn nicht. »Noch Fragen?« sagte er. »Ja«, antwortete Miller müde. »Ich nehme nicht an, daß sich hier im Haus irgendwo ein Tropfen Brandy auftreiben läßt?« Eine Stunde später schlugen die Wachen auf der von Marmorsäulen umstandenen Freitreppe vor der Villa die Hacken zusammen und nahmen Haltung an, als die drei Männer in den Hof hinunterkamen, wo ein Stabsfahrzeug auf sie wartete. Den Wachen gefiel der Anblick der Soldaten nicht. Mit über vierzig Jahren wirkten die Männer, gemessen an militärischen Maßstäben, zu alt. Ihre Uniformen waren schmutzig, und die Stiefel sahen furchtbar aus. Ihr Äußeres forderte dazu auf, nach Papieren und Soldbüchern zu fragen. Aber sie hatten etwas an sich, das die Wachen warnte, besser vorsichtig zu sein und sich ruhig zu verhalten. Die drei bewegten sich verhalten und geschmeidig wie wilde Tiere, die sich unregelmäßig ernährten; aber wenn sie fraßen, hatten sie ihre Beute zuvor geduldig über große Entfernung verfolgt und ohne viel Aufhebens und Bedauern getötet. Mallorys Gedanken weilten nicht beim Essen. »Nicht schlecht, dieser Brandy«, sagte er. »Fünf Sterne«, versetzte Miller. »Nur das Allerbeste für die alten weißhaarigen Jungs.« Verglichen mit Jensens Villa fehlte es dem Flugfeld von Termoli an Stil. Typhoons heulten über ihren Köpfen und starteten und landeten, wirbelnde Staubwolken hinter sich lassend, auf der halbfertigen Landebahn. Natürlich gab es auch hier einen Besprechungsraum. Er war in einer Hütte aus Pappwänden und Fenstern mit zusammengeklebten Scheiben
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untergebracht, durch die der von den Propellern ausgelöste Staubwirbel sowie die im Flugpark hin- und herrollenden Jagdbomber zu sehen waren. Unter ihnen befand sich auch ein Bomber mit der langen, klumpigen Nase eines Warzenschweins, der aus einem khakifarben gestrichenen Tankwagen mit Treibstoff versorgt wurde. Mallory wußte, daß es eine Albemarle war. Es war offensichtlich, daß Jensen sich um den reibungslosen Ablauf der Operation kümmerte. Evans, einer von Jensens jungen, wohlerzogenen Lieutenants, hatte sie am Wagen abgeholt. »Ich nehme an, Sie haben eine Einkaufsliste.« Der Junge hatte ein rosafarbenes Gesicht und zeigte einen Eifer, der Mallory das Gefühl gab, tausend Jahre alt zu sein. Doch er zwang sich, seine Müdigkeit, den Brandy und die vierzig Jahre, die er schon auf dem Buckel hatte, zu vergessen. Er setzte sich neben Andrea und Miller an den Tisch und füllte die Requisitionsformulare in dreifacher Ausführung aus. Dann rollten sie in einem Dreitonner zum Waffenlager, in dem auch Jensens Schmuckstück, ein Gestell mit Waffen und ein auf dem Rücken tragbares B2-Funkgerät, zu bewundern war. Außerdem standen dort zwei messingbeschlagene Kisten, deren Inhalt Miller interessiert prüfte. Eine enthielt Sprengstoff: Gelignit und Blöcke einer Substanz, die aussah wie Butter, bei der es sich aber in Wahrheit um Zyklonid mit einem Weichmacher handelte – Plastiksprengstoff. Die andere Kiste enthielt Zündmaterial und bunte Sprengkapseln mit Zeitzünder, die wie Kindermalkreide wirkten. Mit geübten Fingern sortierte Miller den Inhalt und tauschte aus, was ihm notwendig erschien. Es gab andere Stoffe, die als Einzelsubstanzen ziemlich harmlos waren, aber in den Händen eines Experten wie Miller für feindliche Fahrzeuge und Soldaten verheerend sein konnten. Schließlich befand sich noch ein flacher Zinnbehälter im Lager, der tausend Pfund in gebrauchten Bradbury-Fünfern enthielt.
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Andrea stand vor einem Gestell mit SchmeisserMaschinenpistolen und bewegte seine Hände darüber wie jemand, der Blindenschrift las, während er seine schwarzen Augen in die Ferne richtete. Er ließ zwei MPs liegen und wählte drei andere, zusammen mit einer Bren, einem leichten Maschinengewehr. Er nahm die Bren auseinander, setzte sie wieder zusammen, nickte und füllte dann einen Proviantsack mit Granaten. Mallory überprüfte zwei Rollen eines Seiles mit Stahlkern und einen Sack mit Kletterausrüstung. »Okay«, sagte er. »Ladet alles auf.« Im Besprechungsraum warteten drei Männer. Sie saßen einzeln an Tischen, die zur Schulung dienten, jeder von ihnen sichtlich in Gedanken versunken. »Alles in Ordnung?« fragte Lieutenant Evans. »Einsatzbesprechung für das Team.« Die Männer an den Tischen blickten auf, mit dem ergebenen Ausdruck der Gewißheit in den Augen, daß diese Fremden in wenigen Stunden die Entscheidung über Leben und Tod bei ihnen treffen würden. »Keine echten Namen, kein volles Marschgepäck«, sagte Evans und wies auf den Mann zu seiner Rechten. Er war klein, mit ausgemergelten Wangen, den Mund hinter einem schwarzen Schnurrbart verborgen, und er besaß das harte, asketische Aussehen von jemandem, der sein Leben lang in den Bergen gelebt hatte. »Das ist Jaime«, stellte Evans vor. »Jaime hat in den Pyrenäen gearbeitet. Er kennt sich dort aus.« »Gearbeitet?« fragte Mallory. Jaimes Gesicht war blaß und undurchdringlich, die Augen voller Mißtrauen. »Ich habe Waren befördert. Geschmuggelt, wie Sie sagen würden. Ich bin den Faschisten entkommen. Spanischen Faschisten, deutschen Faschisten. Auch sie sind sterblich, man muß sie nur erschießen.« Mallory setzte eine ausdruckslose Miene auf. Fanatiker
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konnten Kameraden sein, die durch dick und dünn mit einem gingen, aber das war die Ausnahme und nicht die Regel. »Und das«, sagte Evans ruhig, »ist Hugues. Hugues ist unser persönlicher Verbindungsmann. Kennt die Resistance von Grund auf. Weiß einfach alles. Er sieht aus wie ein Deutscher, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Vor dem Krieg war er in Oxford. Danach kehrte er in die Normandie zurück, um das Familienschloß zu übernehmen. Nachdem er in den Untergrund gegangen war, hat die SS seine Frau und zwei Kinder erschossen.« Hugues war groß und breitschultrig, hatte hellbraunes Haar, ein freundliches, nordisches Gesicht und blaue Augen. Als er Mallorys Hand schüttelte, war seine Handfläche feucht vor Nervosität. »Sprechen Sie Französisch?« fragte er. »Nein.« Mallory suchte Millers Blick und hielt ihn fest. »Keiner von Ihnen?« »Korrekt.« Viele Grundsätze hatten zusammengewirkt, um Mallory, Miller und Andrea die letzten Wochen am Leben und kampfbereit zu halten. Der wichtigste lautete, niemals sein ganzes Pulver zu verschießen und keinem Menschen zu trauen. »Erfreut, Sie kennenzulernen«, fuhr Hugues fort. »Aber kein Französisch? Du lieber Himmel.« Mallory gefiel die Professionalität des Franzosen. »Das Reden können Sie übernehmen«, sagte er. »Schon hinter den feindlichen Linien gewesen?« fragte Hugues. »Kurz.« In Hugues Augen stand etwas Wildes, überlegte Mallory. Was er davon halten sollte, wußte er nicht. Evans räusperte sich. »Ein Wort unter uns, Hugues«, sagte er und nahm den Résistance-Mann beiseite. Hugues zog die Stirn in Falten, als der Marineoffizier etwas in sein Ohr murmelte. Dann lief er rot an und wandte sich an Mallory. »Du liebe Güte. Fürchte, ich habe mich lächerlich
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gemacht, Sir.« »Macht nichts«, erwiderte Mallory. Hugues war in Ordnung. Er wirkte gesund, eifrig und aufgeweckt. Bis auf diese Wildheit in den Augen … Kein Wunder, bei seinem Schicksal. Ein Verbindungsmann der Resistance würde als Pfadfinder und für die Funkverbindung unersetzlich sein. Hugues schien der richtige Mann dafür zu sein. Der letzte Mann war beinahe so massig wie Andrea und trug einen zerfetzten, städtisch anmutenden Strohhut. Evans stellte ihn als Thierry vor, einen erfahrenen Funker der Resistance. Dann ließ er die Jalousien herunter und zog eine Kiste zu sich heran, in der sich offenbar Kleidungsstücke befanden. »Das mit dem Französisch macht nichts«, sagte er. »Sie können gleich beim Deutschen bleiben.« Aus dem Karton entnahm er Kniehosen und Waffenröcke, die nach einem Schnitt gearbeitet waren, den Mallory zuletzt in Kreta gesehen hatte. »Ich hoffe, wir haben die richtige Größe. Und Sie bleiben einstweilen lieber hier drinnen.« Evans hatte recht, dachte Mallory gequält. In einer Air Base der Alliierten gab es nur wenige bessere Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als in der Uniform der Waffen-SS herumzuspazieren. »Probieren Sie sie an«, sagte Evans. Der Franzose sah desinteressiert zu, während Mallory, Miller und Andrea die deutschen Uniformen über ihre khakifarbenen Kampfanzüge zogen. Wer in einer feindlichen Uniform angetroffen wurde, ging das Risiko ein, standrechtlich erschossen zu werden. Das gleiche galt für die Mitgliedschaft in der Resistance oder Operationen in britischer Uniform hinter den deutschen Linien. Im besetzten Frankreich konnte der Hauch des Todes jeden zu jeder Zeit treffen, ohne lange Nachprüfungen. »Okay«, sagte Evans und betrachtete den Feldwebel mit
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Mallorys Gesicht und die beiden Gefreiten. »Äh, Colonel, würden Sie sich die Mühe machen, den Schnurrbart abzurasieren?« »Nein«, versetzte Andrea mit unbeweglicher Miene. »Es ist nur, weil …« »SS-Männer tragen keinen Schnurrbart«, fiel ihm Andrea ins Wort. »Das weiß ich. Aber ich habe nicht vor, mich unter SSMännern zu bewegen. Meine Absicht ist, sie zu töten.« Jaime betrachtete den Griechen interessiert. »Colonel?« fragte er. »Ist ihm so rausgerutscht«, erklärte Mallory. Für einen Augenblick wirkte Evans leicht verwirrt. Er schritt geschäftig zum Podium und entrollte die vertraute Karte der westlichen Pyrenäen. Am oberen Ende sah man ein blaues Stück Atlantik. Über das Rückgrat der Berge schlängelte sich die rote Linie der spanischen Grenze. »Hier werden wir Sie absetzen«, sagte er und wies energisch mit dem Zeigestock auf eine Stelle, die wie ein Hochtal über Saint-Jean-Pied-du-Port aussah. »Absetzen?« fragte Mallory. »Na ja, Sie springen ab.« Miller sagte: »Ich habe schon zu Captain Jensen gesagt, daß ich große Höhen nicht vertrage.« »Die Höhe wird nicht das Problem sein«, versetzte Evans. »Sie werden hundertfünfzig Meter tief fallen.« In seinem Gesicht erschien das glückliche Lächeln dessen, der nicht mit ihnen abspringen würde. Er entrollte eine Karte in größerem Maßstab, die das Landschaftsprofil zeigte. »In diesem Tal gibt es eine kleine Ebene. Ziemlich abgelegen. Dort verläuft eine Straße, die von Jonzère kommt. Sie führt zur spanischen Grenze hinauf. Dort oben werden Sie auf einen Grenzposten und Patrouillen stoßen. Wir möchten nicht, daß Sie nach Spanien eindringen. Im Augenblick verhält Franco sich uns
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gegenüber wohlgesonnen, und wir wollen nicht, daß irgend etwas passiert, das ihn, sagen wir, veranlassen könnte, uns zu beweisen, was für ein toller Bursche er ist. Außerdem würden Sie interniert werden, und die Lager dort sind alles andere als ein Vergnügen. Wenn Sie also die Absprungstelle verlassen, gehen Sie bergab. Jaime wird Sie daran erinnern. Bergauf liegt Spanien. Bergab Frankreich.« Andrea blickte stirnrunzelnd auf die Karte. Die Auffaltungen zu beiden Seiten des Tals lagen dicht beeinander. Sehr dicht. Tatsächlich wirkten die Talhänge mehr wie steile Klippen. Er sagte: »Das ist kein guter Platz zum Abspringen.« »Den gibt es heutzutage in ganz Frankreich nicht«, versetzte Evans. Es herrschte Stille. »Wie auch immer«, sagte er forsch. »Ein Mann namens Jules wird auf Sie warten. Hugues kennt ihn.« Der blonde Franzose nickte und sagte: »Guter Mann.« »Jules hat die Werwolf-Operation zu seinem Spezialgebiet gemacht. Er wird Sie einweihen und alles Weitere mit Ihnen besprechen. Danach sind Sie auf sich allein gestellt. Aber wie ich höre, ist das Alltag für Sie.« Er blickte in die grimmigen Gesichter und dachte mit der Arroganz seiner Jugend: Sie sind alt und müde. Ob Jensen weiß, was er tut? Dann fiel ihm ein, daß Jensen immer wußte, was er tat. Mallory blickte auf Evans’ rosa Wangen und seine tadellose Uniform. Wir wissen alle, daß man Ihnen aufgetragen hat, dies zu sagen, dachte er. Und auch, daß es nicht stimmt. Wir sind alles andere als auf uns allein gestellt – sondern diesen Franzosen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Es gibt ein Losungswort«, erklärte Evans. »Wenn jemand ›L’Amiral‹ zu Ihnen sagt, antworten Sie ›Beaufort‹. Und umgekehrt. Die Losung wurde von uns über BBC gesendet. Das SAS-Team hat sie bereits verwendet, fürchte ich. Die Zeit reichte nicht, eine andere Parole auszugeben. Gehen Sie also
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vorsichtig damit um.« Er reichte einen dicken braunen Umschlag herüber. »Senderkennungen. Befehle. Karten. Was Sie so brauchen. Prägen Sie sich alles ein, und zerstören Sie die Unterlagen anschließend. Noch Fragen?« »›Sturmkolonne‹«, sagte Miller, der den Umschlag aufgerissen hatte. »Was bedeutet das?« »Das sind Sie. Es handelt sich um die ›Operation Sturmkolonne‹«, antwortete Evans. »In Jugoslawien waren Sie ›Kolonne 10‹.1 Dieser Auftrag knüpft daran an. Außerdem …« Er zögerte. »Ja?« fragte Mallory. »Kleiner Scherz. Nichts Wichtiges«, entgegnete Evans und lächelte schwach errötend. »Aber Captain Jensen meinte, wir könnten Sie ruhig mit einem Begriff aus der Meteorologie benennen.« »Großartig«, bemerkte Miller. »Das ist einfach wunderbar. Und die Sache mit den Fallschirmen natürlich sowieso.«
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Siehe Alistair MacLean, Geheimkommando Zenica, Heyne-Taschenbuch 01/8406 (Anm. d. Ü.)
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2. Sonntag, 19.00 Uhr bis Montag, 09.00 Uhr »Meine Damen und Herren. Oh, tut mir leid. Meine Herren«, begann Lieutenant Maurice Hartford. »Bis zum Absprung bleibt uns noch eine Stunde. Air Pyrénées wünscht Ihnen in der Zwischenzeit einen angenehmen Flug. Ich persönlich halte Sie allerdings für komplett übergeschnappt.« Natürlich konnte ihn niemand hören, denn die Sprechverbindung war abgeschaltet. Aber die Bemerkung entlastete seine Gefühle. Warum, überlegte der Pilot, muß immer ich solche Aufträge bekommen? Der Start war glatt verlaufen. Sechs Männer, dazu die Flugzeugbesatzung, nur wenig Ausrüstung. Eine einfache Ladung für die Albemarle, die sich vom Flughafen Termoli in die Luft erhob und über die zerklüfteten Gipfel des Appeningebirges in den roten Sonnenuntergang flog. Hartford schaltete die Sprechverbindung ein. »Captain Mallory«, sagte er. »Könnten Sie mal nach vorne in die Kanzel kommen?« Mallory bewegte sich in seinem stählernen Schalensitz. An diesem Nachmittag hatte er einige Stunden geschlafen. So wie auch Andrea und Dusty Miller. Ein Soldat hatte sie schließlich zum Abendessen geweckt, das aus Steak und Rotwein bestand und über das sie wie die Wölfe hergefallen waren, während die Franzosen die Mahlzeit kaum anrührten. Niemand sprach. Jaime blieb mürrisch. Hugues hatte, wenn Mallory sich nicht gründlich täuschte, eine Heidenangst gepackt. Daran war nichts Schlimmes. Die tapfersten Männer waren nicht jene, die keine Furcht kannten, sondern jene, die wußten, was Angst war, und 35
sie besiegten. Im Flugzeug blieben die Franzosen wach, während Andrea sich mit dem Kopf auf den Sprengstoff legte und Miller tief in seinen Schalensitz sank, die endlos langen Beine auf das Funkgerät gelegt, und mit den laut donnernden Merlin-Motoren der Albermarie um die Wette schnarchte. Mallory fiel nur in einen leichten Schlaf. Jetzt sehnte er sich nach zehn Tagen völliger Bewußtlosigkeit, die im vierstündigen Rhythmus nur von riesigen Mahlzeiten unterbrochen waren. Aber das würde warten müssen. In den Südalpen Neuseelands, zwischen Steinschlag und Lawinen, und während der langen, gefahrvollen Monate auf Kreta hatte er gelernt, wie ein wildes Tier vor sich hinzudämmern und innerhalb von Sekundenbruchteilen zu völliger Wachheit zurückzukehren. Mühsam erhob er sich aus seinem Sitz und ging zum Cockpit. Der Pilot wies auf den Platz des Kopiloten. Mallory setzte sich und stöpselte die Sprechverbindung ein. »Wollen Sie eine Tasse Tee?« fragte der Pilot, dessen rötlicher Schnurrbart zehn Zentimeter über seine Maske hinausragte und teilweise die Flugbrille verdeckte, die er offenbar trug, um sich den üppigen Bartwuchs aus dem Gesichtsfeld zu halten. »Ja, gern«, entgegnete Mallory. »Unser Kopilot hält gerade ein Nickerchen.« Der Pilot schwenkte die Thermosflasche über einen Becher. »Sonnenuntergang«, sagte er und wies nach vorn. Und was für ein Sonnenuntergang. Am westlichen Horizont glühte ein Archipel leuchtender Inseln, von den letzten Strahlen der Sonne in goldenes Licht getaucht. Der Himmel darüber war mit Zirruswolken getüpfelt. Und unter ihnen lag das Mittelmeer, dessen stahlblaue Farbe dunkel wie Tinte wurde. »Glühendes Abendrot«, sagte Hartford, »ist des Piloten Tod.«
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Das Flugzeug machte einen Satz. Mallory nahm einen Schluck Tee, und seine Lippen berührten heißes Email. »Warum?« fragte er. Stiller Typ, dachte Hartford. Nicht schüchtern, nur ruhig. Wie eine Bombe, die noch nicht scharf gemacht ist. Braune Augen, mit denen er um sich blickte, als fände er sich überall zurecht. Kompetent und völlig Herr der Lage. Das hagere, müde Gesicht war reglos, als wollte er jede unnötige Anstrengung vermeiden. Gefährlich aussehender Bursche, sann Hartford heiter. Ein Glückspilz. »Das Wetter«, sagte er. »Verdammt schlechte Aussichten da oben. Es kommt eine Front auf uns zu. Für Schafhirten kein Problem. Schafhirten sind zu Fuß unterwegs. Wir dagegen fliegen mitten hinein in das Gewühl. Es wird ziemlich rumpeln.« »Wie steht’s mit dem Abspringen?« »Keine Sorge. Wir kriegen Sie runter«, entgegnete Hartford. In Wirklichkeit sprach alles dagegen, aber er hatte den Befehl, diese Leute abzusetzen, egal wie. »Sagen Sie Ihren Kameraden, daß sie sich anschnallen sollen.« Aus der Brusttasche seines Fliegeranzugs nahm er eine riesige Bryèrepfeife, stopfte sie mit Tabak und zündete sie an. Das Cockpit füllte sich mit beißendem Qualm. Hartford öffnete die Schiebefenster und ließ das ohrenbetäubende Röhren der Motoren herein. »Riechen Sie das Meer?« fragte er und atmete tief ein. »Fantastisch. Ja, wirklich. Wir gehen auf hundertfünfzig Meter hinunter, wenn wir hineinfliegen. Schönes, breites Tal. Sie müssen nur auf das Licht achten. Wenn die Lampen aufleuchten, springen Sie. Alle auf einmal.« »Hundertfünfzig Meter?« »Kleinigkeit.« »Sie werden uns kommen hören.« Der Pilot grinste und entblößte seine Raubtierzähne, die er in die eingebissenen Löcher am Pfeifenstiel gegraben hatte.
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»Nein, es sei denn, sie wären Spanier.« Als sie über der Küste waren, trafen sie auf die Wetterfront und flogen weiter, eine endlose Minute nach der anderen, bis aus den Minuten Stunden wurden. Die Albemarle sackte durch und senkte sich nach vorn, während die Tragflächen von den Turbulenzen heftig geschüttelt wurden. Durch das dunkelgraue Licht, das durch die kleinen Kabinenfenster kroch, blickte Mallory auf seine Mannschaft. Auf Andrea und Miller konnte er zählen. Bei den Franzosen war er nicht so sicher. In Jaimes Augen konnte er das Weiße aufblitzen sehen, und Thierry bewegte nervös den Mund, während er von innen an seinen Lippen kaute. Hugues, der seine Hände betrachtete, an denen die Nägel tief abgebissen waren, hielt starr die Knie umkrallt. Plötzlich empfand Mallory tiefe Müdigkeit. Er war in zu vielen engen Räumen zwischen Metallwänden eingeschlossen gewesen, hatte zu viele Menschen beobachtet und sich zu oft gefragt, wie sie sich verhalten würden, wenn es hart auf hart ging und sie ihr wahres Gesicht zeigten … Die Albemarle war steil nach Backbord und gleich darauf nach Steuerbord gekippt. Mallory hatte den Eindruck, daß etwas Neues zu den Turbulenzen draußen gekommen war. Das waren nicht nur wirbelnde, aufeinanderprallende Luftmassen, sondern der in harten Stößen nach oben pressende Aufwind, wenn die Luft sich an nackten Felswänden brach. Er blickte in die Runde. Der Durchgang zum Cockpit stand offen. Hinter der Glasverkleidung in der Flugkanzel teilten sich die flanellgrauen Wolken und stoben in Fetzen zur Seite. Plötzlich sah er in ein Tal hinunter, dessen steile Felswände sich zu beiden Seiten seines Blickfeldes erhoben. Die oberen Hänge waren weiß vom Schnee. Darüber schmiegte sich ein graues Dorf in die Felsen – es lag über ihnen, oberhalb ihrer Flughöhe. Einige gelbe
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Lichter durchdrangen die Finsternis. Keine Verdunkelung. Spanien, dachte Mallory … Vor ihnen ragte eine Pinie auf. Sie kam mit dreihundertsiebzig Kilometern in der Stunde näher. Mallory sah, wie sich die Schultern des Piloten bewegten, als er am Steuerknüppel zog. Der Baum war höher als das Flugzeug. He, dachte Mallory, das gibt einen Zusammenstoß … Aber die Albemarle hob sich dröhnend über den Baum hinweg. Unter Mallorys Füßen schlug etwas gegen das Deck. Dann war der Baum verschwunden, und das Flugzeug drehte scharf nach Backbord, im Anflug auf das nächste Tal. Mallory stand auf und schloß die Tür. Er mußte nicht unbedingt alles mitbekommen. Wie groß konnten Pinien werden? Vielleicht dreißig Meter? Bestenfalls. Wenn es sein Schicksal war, an einem Berg zu zerschellen, wollte er wenigstens nicht zusehen, wie das Felsmassiv näher kam. Der Wind heulte weiter, die Maschine wurde noch immer hin und her geschüttelt, und die Motoren lärmten ohrenbetäubend. Mallory schlief ein. Als ihn jemand an der Schulter rüttelte, stellte Mallory fest, daß sich an dem Spektakel nichts geändert hatte. Er fühlte sich furchtbar. Sein Kopf schmerzte, und sein Gehirn arbeitete langsam wie ein Motor mit kaltem Öl. Der Bombenschütze der Albemarle schob ihm eine Tasse Tee vor das Gesicht. Benzedrin, dachte Mallory. Nein, noch nicht. Die Operation stand erst am Anfang. Er war in einer anderen Welt erwacht, der Übelkeit-imMagen-Welt voll drohender Gefahren, die auf ihn warteten. Ihn überkam die drängende Sehnsucht nach einer Zigarette. Doch mit dem Rauchen würde er noch eine Weile warten müssen. Im Flugzeugrumpf brannte ein schwaches gelbes Licht. Massige Gestalten in Tarnkleidung fluchten und stießen gegeneinander, während sie sich in ihre Fallschirmgurte
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mühten und die Ausrüstung zusammensuchten. »Fünf Minuten«, sagte der Bombenschütze mit widerwärtiger Fröhlichkeit, nachdem er den Sitz der Gurte überprüft hatte. »Auf die Rinne.« »Rinne?« fragte Miller. Der Schütze wies auf einen langen Schlitz im Flugzeugboden. »Gehen Sie dort hinauf«, sagte er. »Stehen Sie locker, einen Fuß auf jeder Seite.« Er richtete den Finger auf zwei Leuchtbirnen. »Wenn das grüne Licht angeht, Achtung!« »Ja, ja, vielen Dank auch«, sagte Miller und schlurfte in Position. Die erste Birne begann zu leuchten. Rot. Hugues stand hinter ihm. Sein normannischer Verstand wollte keine Ruhe geben. Immer wieder, mit ermüdender Eindringlichkeit, durchlief er im Geist die vergangenen zwei Jahre. Nach allem, was die SS seiner Familie angetan hatte, war es ihm gleichgültig gewesen, ob er weiterlebte oder starb. Bis er Lisette begegnet war. Und mit Lisette hatte er einen neuen Lebenssinn gefunden … In einer Nacht wie dieser war ein Grund zum Weiterleben das letzte, was ein Mann gebrauchen konnte. Erinnere dich daran, was du in der Ausbildung gelernt hast, dachte Hugues. Sei verschlossen. Zeige niemandem, was du denkst oder fühlst … Lisette. Wann werde ich dich Wiedersehen? Die Angst ließ sein Gehirn beinahe zerspringen. Aus Angst wurde Entsetzen. Der Inhalt seiner Eingeweide verdünnte sich zu Wasser, und eiskalter Schweiß rann an seinem Körper entlang. Zuerst stand ihnen der Fallschirmabsprung bevor, und natürlich gab es die Möglichkeit, daß sich der Schirm nicht öffnete. Dann – falls doch – trug dieser große, dünne Mann namens Miller zwei Kisten bei sich, direkt an seinen Körper geschnallt. Kisten voll mit Sprengstoff! Hugues durfte überhaupt nicht daran denken. So würden sie alle zusammen
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aus diesem Flugzeug fallen, sechs Männer und eine lebende Landmine. Jesus. Er würde überall in der Gegend verstreut sein und Lisette niemals Wiedersehen … Unter seinen Füßen spürte Hugues eine neue Vibration, als würden Rollen betätigt. Der Spalt öffnete sich. Schwarz und stürmisch heulte die Nacht herein. Hugues fühlte sich gefangen wie in einer Falle, eingezwängt in diese verdammten Fallschirmgurte, die MP vor dem Körper, den Rucksack und die Ausrüstung als schwere Last auf dem Rücken. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Hugues wandte so rasch den Kopf, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Die Hand gehörte dem riesigen Mann, der nicht sprach, dem Bären mit dem Schnurrbart. Das große Gesicht war reglos. In den schwarzen Augen spiegelte sich die kleine rote Leuchtbirne. Ein Auge zwinkerte. Jesus, dachte Hugues. Er weiß, was ich denke. Was wird er jetzt von mir halten? Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß seine Angst nachgelassen hatte. Jaime fühlte sich ebenfalls nicht wohl in seiner Haut, aber aus anderen Gründen. Er besaß die kurzen Beine der Gebirgsbewohner und war im Geist die Route durchgegangen, hinauf ins Valle de Tena, dann nordwärts, über den Col de Pourtalet. Diesen Weg hatte er selbst schon zurückgelegt, zuerst mit Zigarettenkisten, dann mit Mulis, auf denen er in den letzten Tagen des Bürgerkriegs Waffen für die Republikaner transportiert hatte. Jaime vermutete, daß sie in Colbis herunterkommen würden. Das Wetter dort draußen gefiel ihm überhaupt nicht. Das unbehagliche Gefühl verstärkte sich bei dem Gedanken, daß sie in den Wolken mit dreihundertsiebzig Kilometern in der Stunde auf eine fünfzig Grad steile Bergflanke zuflogen. Mit festem Boden unter den Füßen fühlte sich Jaime sicher, und Mulis bedeuteten noch mehr Sicherheit.
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Jaime wollte wieder zur Erde zurückkehren. Seine Beine schmerzten, während er über der geöffneten Bodenklappe stand, und er spürte die Angst, die von Thierry ausging. Thierry mit der umgehängten Funkerausrüstung, der seinen Strohhut in den Rucksack gestopft hatte und dessen großes Gesicht unnatürlich gesund im roten Licht leuchtete … Plötzlich färbte sich Thierrys Gesicht grün. Achtung. Sechs Fußpaare schlugen aneinander. Die feststehenden Konturen um sie herum zerflossen und streckten sich. Dann war der Laderaum leer. Durch die Bombenklappen erspähte der Bombenschütze gelbe Lichtpunkte, die ein schwaches T bildeten. »Alle weg«, sagte er ins Mikrofon. Der Pilot zog am Steuerknüppel, und die Wolken tauchten wieder auf. Dann drehte die Albemarle steil ab und richtete ihre Nase Richtung Italien. Der Boden bremste Mallory wie ein riesiger, nasser Hammer. Während er abrollte, tanzten Lichter vor seinen Augen. Ein Felsbrocken ließ seine Ohren klingen. Im Dunkeln unsichtbar, befreite er sich vom Fallschirm, legte sich flach auf den Bauch und betätigte die Sicherung der MP, dabei immer auf dem Sprung wie ein in die Enge getriebenes Tier. Für einen Augenblick hörte er nur das Stöhnen des Windes. Auf seiner Wange fühlte er groben Sand. Dann sprach jemand dicht neben ihm: »L’Amiral.« »Beaufort«, antwortete Mallory. Rufe wurden laut. Licht folgte, eine Menge Lichter, lächerlich viele nach Mallorys Einschätzung. Er legte die MP an. Die Lichter schwankten von ihm weg, und jemand rief: »Non! Non! L’Amiral Beaufort. Willkommen in Frankreich, mon officier.«
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Unnötige, hilfreiche Hände zogen Mallory auf die Füße. »Wo sind die anderen?« fragte er. »In Sicherheit.« Eine Flasche fand den Weg in seine Hand. »Buvez. Trinken Sie. Vive la France!« Mallory trank. Es war Branntwein. Der Alkohol trieb ein Loch in die Kälte und den Regen. Um ihn herum wurden Zigaretten angezündet. Dem Lärm nach waren viele Zivilpersonen anwesend und eine Menge Flaschen im Umlauf. Eine dunkle Gestalt erschien an seiner Seite, dann noch eine. »Jetzt kann es nur noch Augenblicke dauern, bis jemand anfängt, Akkordeon zu spielen«, ertönte Millers Stimme. »Alle da?« Aus der Dunkelheit kam bestätigendes Murmeln. Zu viele Menschen waren anwesend, machten zu viel Lärm, und die Disziplin war miserabel. »Hugues?« »Sir.« »Sagen Sie diesen Leuten, daß sie ihre verdammten Lichter löschen sollen. Wo ist Jules?« Es folgte eine Unterhaltung auf französisch. Hugues sprach mit erhobener, zurechtweisender Stimme. »Merde«, sagte er schließlich. »Was ist los?« »Diese Idioten. Diese gottverdammten Trotzkisten, verfluchte Hunde …« »Rasch.« Mallorys Stimme unterbrach seinen Redefluß abrupt. »Jules wird in Colbis festgehalten. Es gab einen Zwischenfall letzte Woche. Die Deutschen sind nervös.« Das mußte das SAS-Team gewesen sein, das sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt hatte, überlegte Mallory. »Aber Colbis ist nicht weit von hier entfernt, es liegt im nächsten Tal. Sie werden uns hinbringen, sobald sie eine Transportmöglichkeit haben. Es gibt ein Problem mit den Fahrzeugen. Sie wissen nicht, woran es liegt. Aber es wird bald
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ein Lastwagen kommen, versprechen sie. Franchement«, sagte Hugues mit erhobener Stimme. »Ich glaube diesen Leuten nicht. Sie sind wie die Spanier, immer manana …« »Fragen Sie, wie bald.« Und sorgen Sie dafür, daß sie leise sind, dachte Mallory. »Bringen Sie die Leute zum Schweigen.« »Sie sagen, daß wir warten sollen«, sagte Hugues, überhaupt nicht leise. »Es sind zehn Kilometer bis zum Dorf. Es könnten Patrouillen unterwegs sein. Sie kennen eine Höhle. Da ist es trocken, und die deutschen Patrouillen kommen nicht bis dorthin. Sie sagen, es wäre ein guter Ort zum Warten. Der Lastwagen wird kommen, um sie abzuholen, in einer Stunde, vielleicht zwei.« Mallory blickte auf seine Armbanduhr. Regentropfen bildeten Schlieren auf dem Ziffernblatt. Kurz nach Mitternacht. Schon Montag. Und nun sollten sie auf einem einsamen Berggipfel im Regen warten, während das Werwolfrudel Mittwoch mittag auslief. »Wo ist diese Höhle?« fragte er. »Ich kenne sie«, antwortete Jaime. Mallory seufzte. Geduld. »Also los. Gehen wir«, sagte er. Andrea erschien an seiner Seite. Die Gegenwart des mächtigen Griechen wirkte tröstlich auf Mallory. »Das ist nicht gut«, warnte Andrea über dem aufgeregten Geplapper der Eskorte. »Wir werden es besser machen«, entgegnete Mallory. »Hugues, sagen Sie diesen Leuten, daß sie ruhig sein sollen.« Hugues begann zu schreien. Die Menge wurde still. Im strömenden Regen begannen sie ihren Marsch. Jaime schlug einen raschen Schritt an und führte sie auf einem Pfad talaufwärts in Richtung Spanien. Der Weg schlängelte sich durch ein Geröllfeld mit brusthohen Steinblöcken, die zu beiden Seiten heruntergestürzt waren. Die Karte hatte das Gelände richtig gezeigt. Statt sanft ansteigender Berghöhen ragten steile Felswände neben ihnen auf. Von
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weiter hinten vernahm Mallory die Stimme von Hugues, der auf französisch heftig mit jemandem stritt. Mallory bekam Bedenken wegen Hugues. Um hinter den feindlichen Linien zu überleben, mußte man vor allem Ruhe bewahren. Und er begann ernsthaft zu bezweifeln, ob der Franzose die notwendige Gelassenheit und Geduld besaß. Da hörte Hugues zu reden auf, und die Gruppe setzte ihren Weg schweigend fort. »Was hatte das zu bedeuten?« wollte Miller von Mallory wissen. »Er hat jemanden gesucht. Eine Person, die nicht da ist.« Innerhalb von zehn Minuten hatte sich der Talboden auf weniger als fünfzig Meter verengt, und aus den Felswänden waren senkrechte, am Fuß vom Wasser ausgewaschene Mauern geworden, die in tintenschwarzem Schatten lagen. »Hier«, kam Jaimes Stimme aus dem Dunkeln. Der Strahl einer Taschenlampe beleuchtete einen düsteren Eingang. Andrea tauchte an Mallorys Seite auf. »Schlechter Platz«, sagte der Grieche. Die Höhle besaß nur einen Ausgang, der zum Tal führte. Und das Tal ähnelte eher einer Schlucht. Wie eine Falle. »Hugues«, sagte Mallory, ohne sich umzublicken. »Sagen Sie den Leuten, daß dieser Platz nichts taugt.« Er wandte sich um. »Hugues«, wiederholte er. »Sagen Sie diesen Leuten …« Er brach ab. Dort waren keine Leute mehr. Hugues stand allein vor dem blassen Grau der Felsen. »Sie sind weg«, sagte Hugues. »Weg?« fragte Mallory. »Ja, um den Transport zu organisieren. Außerdem … gibt es eine Person, die ich gern gesehen hätte und die nicht gekommen ist. Deshalb hatte ich eine … kleine Auseinandersetzung.« Seine Stimme hob sich. »Diese Leute sind wirklich Bauern …«
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»Genug jetzt«, sagte Andrea. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, hörte Hugues auf zu reden. Mallory wandte sich an Andrea und Miller. »Wir sitzen fest. Auf das Fahrzeug sind wir angewiesen. Wenn wir den Standort wechseln, verlieren sie uns. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu warten. Versteckt euch irgendwo.« Andrea und Miller verschwanden in der Dunkelheit. Statt in die Höhle zu gehen, suchten sie zwischen den Felsblöcken im Talgrund Deckung. Bis auf das Seufzen des Windes, den herabplätschernden Regen und das einschläfernde Bimmeln von Ziegenglocken aus dem Höhleninneren war die Nacht still. Hier stimmt überhaupt nichts, dachte Mallory. Wir sind unzutreffend informiert worden und hängen von einer Widerstandsbewegung ab, die völlig unorganisiert ist. Wie es aussieht, hat das SAS-Team bereits alles verraten. Wenn der Feind das Tal heraufkommt, gibt es keinen Ausweg – es sei denn, in ein Internierungslager der Spanier. Mallory lag da und lauschte gespannt in den kalten, dunklen Regen, den Wind und die Glocken der Ziegen … Ein anderes Geräusch kam dazu. Ein mechanisches Sirren, das aber nicht von einem Motor herrührte. Es klang wie das Reiben von Metall auf Metall, als würde sich ein Räderwerk bewegen. Ein Fahrrad näherte sich. Plötzlich krachte es. Dann kehrten die vorigen Geräusche wieder, zusammen mit dem Scharren eines durchrutschenden Hinterrads, das abrupt stillstand. Mallory wartete, bis er den kurzen, unheimlichen Ruf einer Bergeule hörte. Bisher gab es diese Eulenart in den Pyrenäen nicht, dafür auf Kreta, als Mallory mit Andrea dort Dienst getan hatte. Etwas bewegte sich an seiner Schulter. Es war riesig und schwärzer als die Nacht. »Ich habe etwas gefunden«, sagte
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Andrea und ließ neben ihm eine Last auf den glitschigen Boden fallen. Das Etwas atmete und stieß ein Krächzen aus. Mallory hielt die Mündung seiner MP sanft in die Höhlung unter dem Ohr der Person. »Ruhe«, befahl er. Das Etwas wurde still. »Ich bin britischer Offizier«, sagte Mallory. »Was wollen Sie?« »Hugues«, antwortete das Etwas. »Großer Gott«, entfuhr es Mallory. Das Etwas war eine Frau. Die Frau fand ihre Stimme wieder und schlug mit den Händen auf Mallory ein. Sie war stark. »Laissez-moi«, sagte sie in heftigem, entschiedenem Ton. Von weiter hinten drang Hugues Stimme durch den Regen und die Dunkelheit. »Mon Dieu!« Mallory glaubte, etwas Neues darin zu entdecken, das nach Schrecken und Bewunderung klang. Im Dunkeln hörte er Hugues’ Schritte. »Lisette!« »Hugues!« rief die Frau. »C’est bien toi?« Hugues umarmte sie. Seine Angst war verflogen. Alle schrecklichen Gedanken verschwanden. In seinem vergangenen Leben hatten die Menschen Hugues genommen, was er geliebt hatte, aus Gründen, die für sie logisch, ihm aber unverständlich geblieben waren. Sie hatten ihm seine Eltern genommen und ihn auf eine alberne englische Schule geschickt. Und sie hatten Mireille und die Kinder weggeholt, weil er ein Saboteur war. Dann hatte er Lisette kennengelernt, in der Resistance, und war ihr Geliebter geworden. Als das Einsatzkommando ihn rausgeholt hatte, hatte er gedacht, daß ihm nun auch Lisette genommen werden würde. Aber jetzt war sie hier. In seinen Armen. Lebensgroß. »Mein Liebling«, sagte Hugues. Lisette küßte ihn auf die Wange und murmelte Worte, die
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wie Kosenamen klangen. Dann hörte Mallory, daß sich ihr Ton veränderte. Sie klang außer sich. »Merde«, sagte Hugues mit einer anderen, festen Stimme. »Wir müssen weg. Sofort.« Mallory fragte ruhig und leise: »Wer ist das?« »Lisette«, sagte Hugues. »Eine Freundin. Ein Mitglied der Resistance.« »Ist das die Person, die Sie treffen wollten und die nicht da war?« »Ja. Eine alte Freundin. Sie kennt die wichtigen Leute hier. Es ist sehr gut, daß sie uns gefunden hat. Eine Fügung des Schicksals. Lisette sagt, daß sechzig Deutsche das Tal heraufkommen.« »Drei Lastwagen«, ergänzte die Frau. Sie sprach mit starkem Akzent, aber verständlich. »Die, die bis nach Jonzère gekommen sind, sagten mir, die Deutschen hätten zwei Leute von Ihrem Empfangskomitee abgefangen. Sie haben sie mit den Fallschirmen erwischt.« »Wann war das?« »Vor einer halben Stunde«, antwortete Lisette. »Mir wurde aufgetragen, Sie zu warnen.« Mallorys Magen fühlte sich an, als wäre er zu einer Walnuß zusammengeschrumpft. Eineinhalb Stunden, nachdem sie in Frankreich angekommen waren, war die Operation bereits so gut wie beendet. Er verdrängte den Gedanken. »Jaime!« rief er. Aus der Dunkelheit erschien Jaime. »Lisette«, sagte er ohne Überraschung. »Bonjour, Jaime.« Ohne Umschweife beschrieb Mallory die Situation. »Wir müssen nach Spanien«, sagte Jaime. »Es ist vorbei. Aus.« In seiner Vorstellung sah Mallory einen Soldaten, das Gepäck auf dem Rücken, mit Seekrankheit im Bauch und
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Furcht in der Seele, der gegen die Stahlwände eines Schiffes gekauert saß, zusammen mit Tausenden anderer Soldaten. Und plötzlich, ganz unvermutet, schlug etwas durch die Schiffswand, zerschmetterte den Soldaten wie ein Ei, und dann strömte das kalte, grüne Wasser hinein. Einmal, im Mittelmeer, hatte Mallory in dem engen Stahlbauch eines Schiffes Granaten überprüft. Doch plötzlich hatte es einen Knall gegeben. »Torpedo«, hatte er jemanden sagen hören. Dann begann sich der Raum mit Wasser zu füllen, und durch das Schiff hallten Schreie, die schnell abbrachen. Mallory war einer von vier Überlebenden gewesen. Vier von dreihundert. Wenn das Werwolfrudel unversehrt auslief, könnte es Hunderte solcher Katastrophen geben. »Gibt es keine andere Möglichkeit?« fragte er. »Nein.« Jaime schien zu zögern. »Außer dem Engelsweg.« »Was ist das?« »Nichts. Ein Ziegenpfad. Er beginnt in Jonzère, steigt vom Talgrund zur Kammlinie hinauf und verläuft dort in der Höhe, wie die alten Straßen. Die Pilger benutzten ihn früher auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela, wenn im Tal Räuberbanden lauerten. Sie wissen schon, die Männer mit der Jakobsmuschel am Hut. Der Pfad ist gefährlich. Er hat fast ebenso viele Pilger umgebracht wie wegelagernde Räuber.« »Wo ist er?« Vor dem dunklen Himmel schienen Jaimes Schultern zu zucken. Er wies nach oben. »Auf dem Grat. In diesem Abschnitt verläuft er dreihundert Meter über dem Tal. Oberhalb der Felswand. Dann überquert er den Berg und führt nach Colbis hinunter. Aber wir können nicht nach Jonzère, um den Aufstieg von dort zu beginnen. Dort werden die Deutschen sein …« »Wir klettern die Felswand hoch«, sagte Mallory, als würde
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er einen Spaziergang im Park vorschlagen. Zum zweitenmal folgte Stille, bis Jaime das Wort ergriff: »Sie wollen den Engelsweg hier aufnehmen? Unmöglich.« »Wir haben keine Alternative«, sagte Mallory. Die Kälte in seiner Stimme brachte Jaime für einen Augenblick zum Schweigen. »Aber Sie verstehen nicht«, sagte er dann. »Niemand kann diese Felswände hinaufklettern.« »Das denken die Deutschen auch. Miller?« Miller hatte auf einem Felsblock gesessen. Er wußte, was Mallory sagen würde und fand die Aussicht niederschmetternd. »Ja, Boß?« »Versammle die Leute. Andrea und ich werden die Wand hinaufsteigen. Wir gehen voran, sichern den Weg und werfen dir ein festes Seil herunter. Stell sicher, daß alle hier sind.« Miller schob seinen SS-Helm in den Nacken und blickte nach oben. Für einen Augenblick wirkten die Felsen wie ein Tunnel. Dann, weit oben, sah er, daß sich Wolken bewegten, und zwischen den beiden Felsmassiven erschien ein nadelfeiner Spalt, durch den der freie Himmel sichtbar wurde. Der Wind blies vom Tal herauf. Miller konnte keine Lastwagen hören. Mallory nahm sich wie eine dunkle Masse aus. Er schwang sich das aufgerollte, drahtverstärkte Seil über die Schulter und ging auf die Felswand zu. Müde machte sich Miller auf den Weg, um Hugues und Lisette zu holen, dann Jaime und Thierry, den Funker. Er suchte die Rucksäcke zusammen und schleppte sie gemeinsam mit der Funkausrüstung und den beiden Sprengstoffkisten an den Fuß der Felswand. Mallory und Andrea schienen im Fels zu verschwinden. Unter ihnen, am Talboden, hockte die restliche Gruppe zusammengekauert im eisigen Regen. Von oben hörten sie in unregelmäßigen Abständen Geräusche. Worte, metallisches Schlagen, wenn der Hammer auf die Kletterhaken traf, und das Scharren der genagelten Bergstiefel auf felsigem Grund. Wie verdammte
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Fliegen in Menschengestalt, dachte Miller düster. Was ihn betraf, hatte er keine Gummisauger unter den Füßen und auch nicht die Absicht, sich welche wachsen zu lassen. Er stand auf, spannte den Hahn seiner MP und ging im Regen gut hundert Meter talabwärts. Jemand mußte Wache schieben, und die einzige Person in diesem verfluchten Tal, der Miller traute, war er selbst. Was kam dabei heraus, wenn man an schlechte Kameraden geriet? Das werde ich dir sagen, antwortete er sich selbst, während er hinter einer natürlichen Kerbe im Fels, die ihm als Schießscharte dienen würde, Position bezog und sich auf den ersten der vorbeikommenden sechzig Deutschen vorbereitete. Nichts als Probleme, das war Millers Meinung. In Mallorys Leben hatte es Zeiten gegeben, in denen er den raschen und kurz entschlossenen Aufstieg auf einen Kalksandsteinfelsen im Dunkeln genossen hätte. Vielleicht an einem kalten Morgen, nachdem er um ein Uhr nachts aufgestanden war, in einer Schlucht der Südalpen, wenn die Sterne wie flüssiges Silber am Himmel blinkten und um ihn herum eine Kette weißer, von ewigem Schnee und Eis bedeckter Gipfel aufragte. Jetzt waren die Zeiten anders. Vor ihm erhob sich in fast völliger Dunkelheit eine senkrechte Felswand. Er mußte sich wie ein Blinder vorantasten, als kletterte er nach Brailleschrift, indem er auf der Suche nach Einkerbungen und pockennarbigen Löchern Finger und Füße über die glatte Oberfläche führte, Kletterhaken in schmale Haarspalten trieb und mit der Stiefelspitze Halt auf Felsrändern suchte, die kaum breiter als eine Gänsefeder waren. Doch Mallory wußte, daß der Ansporn, diese im Dunklen
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liegende Felswand zu besteigen, größer war als der Wunsch, im strahlenden Weiß auf den höchsten Gipfeln der Welt zu stehen. Hier ging es darum, sich selbst und seine Leute vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen, die sich in drei Lastwagen näherten. Er kletterte die vom Regen triefende Wand hinauf, bis seine Fingernägel abgebrochen waren, der Schweiß in den Augen brannte und sein Atem in der vom Tabakrauch versengten Kehle keuchte. Nach fünfzehn Metern fand er einen Kamin. Es war ein praktischer Kamin, die Abbruchkante eines riesigen Felsstücks, das sich in einigen hundert Jahren ganz vom Massiv lösen und in die Schlucht stürzen würde. Mallory sicherte sich, gab Andrea weiter unten Bescheid und erklomm den Kamin, als würde er eine Treppe hinaufsteigen. Zuerst verlief der Schacht senkrecht. Nach ungefähr fünfzehn Metern begann er sich nach links zu neigen, und plötzlich traf Mallory auf eine Barriere. Ein riesiger, von der Wand heruntergestürzter Felsblock hatte sich in der Spalte festgeklemmt. Unsichtbar vom Talboden aus, bildete er eine Art Balkon, der an beiden Seiten von stützenden Felspfeilern getragen wurde. Das war mehr, als Mallory zu hoffen gewagt hatte. Dort oben hätten sich fünfzig Menschen verstecken können, während die Deutschen das Tal durchkämmten und ihre Nase an der spanischen Grenze plattdrückten, dem Fluchtweg der ›Sturmkolonne‹, wie sie vermuten würden … In Mallory stieg ein Gefühl auf, das er kaum erkannte. Hoffnung. Nur nicht zu früh freuen. Jaime kam als erster an. Er trug den sperrigen Tornister mit dem Funkgerät. Im Gebirge war Jaime ein nützlicher Begleiter. Kurz darauf erschien Andrea und brachte das zweite Seil mit. »Alle am Fuß des Kamins«, sagte er, heftig atmend. »Zusammen mit dem Material.«
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»Gut«, erwiderte Mallory, sicherte das Seil und ließ es herunter. Nun gab es zwei Seile, das beschleunigte die Kletterei. An einem kam Thierry herauf. Er hatte sich den Strohhut in die Stirn gedrückt, wirkte wehleidig und rang ängstlich nach Luft. Der Anstieg am zweiten Seil schien eine Ewigkeit zu dauern. »Das ist die Frau«, sagte Andrea. »Sie hat keine Kraft in den Armen.« Mallory sah den riesigen Rücken des Griechen, der sich dunkel gegen den Himmel abhob, als Andrea sich zum Seil vorbeugte. Es war eine dickleibige Frau. Im Frankreich der Kriegszeit gab es nicht viele Dicke, aber sie gehörte dazu. Sie wog mindestens hundertfünfzig Pfund. Doch Andrea hievte sie herauf, als wäre sie ein Zuckersack, stellte sie auf die Füße und klopfte über ihren massigen Körper. »Merci«, sagte die Frau. Unter dem Schnurrbart blitzten Andreas Zähne auf. Dieser griechische Riese besaß das Lächeln eines Musketiers. Selbst jetzt, bei strömendem Regen und der Gefahr durch die Deutschen im Tal, fühlte sich Lisette von einem schützenden Mantel aus Höflichkeit und Verständnis umgeben. Sie verneigte sich, als wäre sie eine Dame aus Versailles und nicht das formlose Bündel in dicken Mänteln, das auf einer Felskante kauerte. Dann ließ Andrea das Seil wieder hinunter. Zu atemlos, um sich zu beklagen, kam Hugues nach oben und ging sofort zu Lisette. Einen Moment lang nagte Sorge in Mallory. Hugues’ Interessen sollten bei der Operation liegen und nicht bei seiner Freundin. Mallory wußte nicht genug über diese Frau. So wenig wie über Hugues. Sollte ihre Information richtig sein, hatte sie ihnen für den Augenblick die Haut gerettet. Aber wenn ihn sein Instinkt nicht täuschte, würde Lisette die Gruppe ablenken. Und Ablenkungen konnten sie bei dieser Operation nicht brauchen. Ihr Auftrag kannte nur eine
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Priorität, und die lautete, die verdammten Werwölfe zu finden und zu zerstören. Besser, sie behielten Hugues im Auge. Mallory wandte sich ab und zog die Sprengstoffkisten und mehrere Rucksäcke nach oben. Der Regen war noch eisiger geworden und fühlte sich jetzt körnig an. Bald würde es zu schneien beginnen, dachte er. Seine Hände waren aufgeplatzt und wund, und über den wieder aufgebrochenen Wunden hatte sich das Pflaster gelöst. Wie sich Andrea fühlen mochte? Wenigstens hatten sie das Material inzwischen nach oben geschafft. Es lag gestapelt auf der Felskante. Auch Miller war bereits unterwegs, aber bisher ohne Seil. Ich muß ihm ein Seil besorgen, dachte Mallory. Miller war kein guter Kletterer. Der Wind stöhnte und erstarb. »Hört mal«, sagte Andrea. Durch die feuchtkalte, nach Schnee riechende Luft drang ein neues Geräusch. Lastwagenmotoren. Während der ersten hundert Meter die Felswand hinauf hatte Miller den drohenden, leeren Raum unter seinen Füßen gespürt, als säße ihm ein Ungeheuer auf den Fersen. Der Wind umwehte ihn eisig, doch unter seiner Uniform flossen Ströme von heißem Schweiß. Seine Knie fühlten sich weich an, und seine Hände zitterten. Er war in den weiten Ebenen des amerikanischen Mittelwestens aufgewachsen. Immer mit einer Hand nach der anderen in den Stein greifen, ermahnte er sich. Denk nicht an den Anblick unter dir … Den Fels über seinem Kopf betastend, suchte Miller nach Rissen und Spalten. Mallory mußte welche entdeckt haben. Aber was Miller betraf, hätte er ebensogut versuchen können, eine glatte Glaswand hochzusteigen. Beide Seile waren in Gebrauch … Der kalte, pappige Schneeregen schlug ihm ins Gesicht. Was er von der Felswand erkannte, war dunkel und feucht glänzend,
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und der Kamin zog sich wie ein schwarzer Streifen in die Höhe, bis der Felsblock ihn verstopfte. Miller hatte Mallory im Kamin beobachtet. Die Schultern gegen eine Felsseite gestemmt und die Fersen an die andere, hatte er sich mit der ihm eigenen schwerelosen Behendigkeit nach oben bewegt. Doch für diesen Kletterstil waren Millers Glieder zu schlaksig, und sein Körper wollte sich an den Fels pressen, statt wie der Mallorys über dem Abgrund zu reiten und das Gewicht auf Finger und Zehen zu verlagern, wo es gebraucht wurde … Ohne Seil sah Miller keine Möglichkeit, in den Kamin zu gelangen. Er drückte das Gesicht gegen den Fels. Der erdige Geruch des nassen Gesteins stieg ihm in die Nase. Plötzlich wurden die Wände heller. Unten im Tal näherte sich Scheinwerferlicht. Miller bewegte die Hände wieder. Der Fels war rauh, aber nirgends gab es eine Stelle, wo er Halt fand. Es sei denn, er wäre eine menschliche Fliege wie Mallory. Keine Chance, es da hinauf zu schaffen, dachte er. Und runter ging’s auch nicht. Also konnte er nur an seinem Platz bleiben, sich festklammern und der Stimme in seinem Kopf widerstehen, die ihm befahl, panisch zu schreien, nach hinten wegzukippen und sich ins Leere fallen zu lassen. Unter Millers Füßen tanzten Lichter, und die Schlucht dröhnte vom Motorenlärm. Von oben hörte er eine Stimme: »Seil kommt!« Jetzt waren die Lastwagen direkt unter ihm. Dem Brummen der Motoren nach bewegten sie sich im Schritttempo. Suchend. Niemand dachte daran, nach oben zu blicken. Das war gut. Sie sahen nie nach oben. Vor allem nicht, wenn dort senkrechte Felsen aufragten. Nicht einmal die Deutschen taten das. Ganz gleich, wie gewissenhaft sie sonst waren. Hoffentlich.
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Mit einem leisen Geräusch berührte das Seil sein Gesicht. Miller schickte ein geflüstertes, höfliches Danke hinauf. Dann schlang er das Seil um die Hände und begann zu klettern. »Er kommt jetzt rauf«, sagte Andrea mit seiner samtigen, unerschütterlichen Stimme. Sie standen hinten auf dem Felssims, das durch den Klemmblock gebildet wurde. Die Kante bildete ihren Horizont, dessen Linie sich im Gegenlicht der Lastwagenscheinwerfer abzeichnete. Darauf erkannte man einen eckigen, dunklen Gegenstand. Das Funkgerät. »Nehmen Sie das weg«, befahl Mallory dem Funker. Schlurfend bewegte sich Thierry vorwärts, und seine massige Gestalt wurde im Licht sichtbar. Der Mann mit dem feuchten Strohhut war müde, dachte Mallory. Erschöpft und verängstigt. Wäre er selbst weniger müde gewesen, hätte Mallory vielleicht verhindern können, was nun geschah. Thierry hob das Funkgerät auf und schulterte es. Beim Umdrehen traf sein Fuß auf etwas, das wie ein Grasbüschel aussah, aber ein Stein war, der über die Felskante rollte. Er schwirrte an Dusty Millers Kopf vorbei, traf unten auf den Kaminboden und stieß an einen größeren Felsbrocken. Als er den Talgrund erreicht hatte, war ein mittlerer Steinschlag daraus geworden. Krachend landete die Lawine aus Geröll fünf Meter rechts neben dem zweiten Lastwagen des Konvois. Gegen die Fahrerkabine prasselten kleinere Steine. Der Lastwagen hielt, und der Suchscheinwerfer auf dem Dach schickte eine weiße Lichtscheibe auf die dunkle Steinfläche der Felswand. Schwitzend und keuchend, befand sich Miller knapp fünf Meter unterhalb der Gesimskante. Eine Hand um das Seil klammern. Den Körper hochziehen, und die Füße weiterschieben. Dann die andere Hand an das Seil. Unter ihm wurden Rufe laut. Wieder die Hand wechseln. Wie graue
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Spinnenbeine spreizten sich seine Finger auf dem Fels. Sie hätten jemand anderem gehören können, wenn nicht der Schmerz und sein heftig pochender Herzschlag gewesen wäre. Plötzlich war eine Hand nicht mehr grau, sondern leuchtete blendend hell und fleischfarben, und jede Faser des Kletterseils hob sich mikroskopisch fein vor dem Felsen ab. Miller war eine Motte, die hilflos im kreisrunden Strahl des Suchscheinwerfers zappelte. Schüsse aus MPs erklangen. Steinsplitter stoben Miller ins Gesicht, sein Rücken bog sich in der Erwartung, vom Kugelhagel getroffen zu werden. Plötzlich begann das Seil zwischen seinen Händen zu leben, und Miller wurde wie mit einem Skilift nach oben gezogen. Als er aufblickte, erkannte er oberhalb der Felskante den Umriß einer riesigen Gestalt, deren Schultern kräftig arbeiteten. Andrea. Andrea zog ihn die letzten dreißig Meter hoch, als hätte er zwanzig Kilo statt neunzig gewogen. Als Miller wieder festen Boden unter den Füßen spürte, befand er sich in Deckung. Er rollte sich zur Seite und nahm die MP ab. Jetzt saßen sie in der Klemme. Er war keine gottverdammte Fliege, und was hieß das? Sie steckten bis zum Hals in Schwierigkeiten. Hinter dem Klemmblock leuchtete die Bergwand blendend weiß. Im Licht der Scheinwerfer konnte Miller erkennen, wie Andrea die Bren entsicherte. »Ich gebe dir Deckung«, sagte der Grieche in der gelassenen Stimme eines Meisters, der sein Fach versteht. »Granaten?« Aus ihren Gürteltaschen nahmen Miller und Mallory je zwei Granaten und zogen die Zünder. »Zwei, drei«, sagte Mallory. »Abwurf.« Es folgte ein Augenblick der Stille, nur durch das metallische Klappern unterbrochen, mit dem die Granaten über den felsigen Abgrund nach unten hüpften, zwei nach rechts und
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zwei nach links. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Dort unten würden sie damit beschäftigt sein, den Mörser aufzubauen. Die Deutschen gingen in Position und riefen über Funk Verstärkung. Andererseits mußte die Funkverbindung in einer Schlucht wie dieser miserabel sein … Dann erhellten weiße Blitze die Nacht, und vier Explosionen krachten auf einmal los, gefolgt von einem dumpfen Knall. Andrea kroch auf dem Sims nach vorn zur Kante. Die Lichter waren erloschen. Statt dessen leuchtete es orange, vermischt mit schwarzem Rauch. Ein Lastwagen stand in Flammen, und das MP-Feuer wurde schwächer, bevor es erneut anschwoll. »Gib uns fünf Minuten Deckung«, sagte Mallory. »Wir sehen uns am Gipfel.« Vor dem orangefarbenen Flackern des brennenden Treibstofftanks hob sich Andreas Kopf schwarz ab. Der Kopfumriß nickte. Für einen Augenblick waren die riesigen Schultern mit der Bren im Gegenlicht erkennbar. Dann verschmolz die Gestalt mit den Felsen. Die fünf anderen Männer und Lisette nahmen das Gepäck wieder auf. Mit einer Stimme, in der keine Furcht zu hören war, sagte Jaime: »Es gibt einen Pfad. Etwas weiter oben.« »Miller«, sagte Mallory. »Diese Lastwagen dürfen auf keinen Fall umkehren. Auch nicht, um eine anständige Funkverbindung herzustellen. Kannst du das erledigen?« Miller zuckte mit den Achseln. »Ich versuche den alten Trick«, sagte er. Seine Hände kramten bereits geschäftig in der ersten messingbeschlagenen Kiste. Er tastete nach einem der Fünf-Pfund-Stücke Plastiksprengstoff, legte die geformte Masse auf den Boden, verschloß die erste Kiste und öffnete die zweite. Sie war dick mit Filz ausgelegt. Miller zog eine Taschenlampe aus der Brusttasche seines Kampfanzugs und leuchtete in die Kiste, um eine grüne Sprengkapsel mit Zeitverzögerung herauszusuchen. Dreißig Sekunden. Sorgfältig
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preßte er den Stift in den Zünder und blickte auf das radiumerhellte Leuchtziffernblatt seiner Armbanduhr. Dann löste er die Sicherung mit einem Knacken, gähnte und zündete sich vorsichtig eine Zigarette an. Als er das Feuerzeug wieder eingesteckt hatte, waren fünfundzwanzig Sekunden vergangen. Er nahm die Bombe in beide Hände und schleuderte sie in weitem Bogen auf die Fahrzeuge im Tal unter ihnen. Große Höhen waren Miller verhaßt. Aber bei einer sauberen, gut ausgeführten Sprengaktion fühlte er sich wie zu Hause. Es war ein großartiges Gefühl, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Für die kurze Zeit zwischen zwei Atemzügen herrschten Dunkelheit und Stille, nur unterbrochen von den rufenden Stimmen der Deutschen unten im Tal, in die sich das Kratzen von Stahl auf Fels vom Aufbau der Geschütze mischte. Dann färbte sich die Nacht weiß, weißer als die Suchscheinwerfer es vermochten. Ein ohrenbetäubender, metallischer Knall folgte. Mallory wurde von der gewaltigen Druckwelle gegen die Felswand geschleudert. Er hatte den Eindruck, als würden seine Trommelfelle ins Gehirninnere gepreßt. »Los jetzt«, sagte er. Er hörte seine Stimme leise und entfernt hinter dem singenden Geräusch in seinen Ohren. Im Gänsemarsch setzten sie den Aufstieg fort, weiter den felsigen Steilhang hinauf. Mallory führte den Zug an, gefolgt von Jaime, Lisette und Hugues. Miller bildete den Schluß. Andrea erklomm die fünfzig Grad steile Wand oberhalb der Felsplatte, bis er einen weiteren Absatz fand. Dort blieb er stehen, entfaltete den Dreifuß seiner Bren und suchte auf dem Gestein nach einer Standfläche. Im Tal brannte es noch immer. Die Flammen warfen flackerndes Licht gegen die zerklüfteten Felsen, auf das verbogene Metall und die zahlreichen, reglos liegenden, in Feldgrau gekleideten Körper. Zwei der drei Lastwagen standen
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in Flammen. Der dritte lag wie ein zerquetschter Käfer unter einem riesigen Felsblock, der bei der Explosion in der Schlucht aus dem Felsmassiv gebrochen war. Am hinteren Ende der Talenge lagen drei Gestalten über einen Felsblock gestreckt, neben den Überresten eines Mörsers. Eine Gestalt bewegte sich. Andrea hielt die Bren an seine Schulter, legte an und feuerte. Das schwere Dröhnen des Maschinengewehrs hallte als Echo von den Felsen zurück. Die graue Gestalt kippte nach hinten, fiel um und rührte sich nicht mehr. Dann herrschte Stille, sah man vom Stöhnen des Windes und dem platschenden Geräusch ab, mit dem der Schneeregen auf den Fels traf. Ohne auf den eisigen Regen zu achten, der durch die Uniformjacke in seinen Kampfanzug sickerte, beobachtete Andrea geduldig für weitere fünf Minuten den Talgrund. Nichts bewegte sich. Soweit er sehen konnte, waren die Funkgeräte zerstört, und er entdeckte keine Überlebenden. Sicherlich gab es einige, und Andrea wäre ohne Skrupel hinuntergestiegen, um ihnen die Kehle durchzuschneiden. Aber dann würde er den Anschluß an die Gruppe verlieren. Mit der Sorgfalt eines Weinbauers, der darüber entscheiden mußte, an welchem Tag er seine Trauben ernten wollte, erwog Andrea diese Frage. Jetzt wäre der Zuckergehalt vielleicht etwas gering, aber wenn er noch eine Woche wartete, gab es womöglich Regen … Natürlich würden die Deutschen annehmen, daß sich die feindlichen Agenten, von denen sie angegriffen worden waren, nach Spanien abgesetzt hatten. Andrea warf einen letzten Blick auf die Flammen, das Metall und die leblosen Körper. Nichts in ihm regte sich. Der Kampf im Untergrund war sein Geschäft, und darin kannte er sich gut aus. Er stellte seine Kraft und Intelligenz als Waffen in den
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Dienst an seinen Kameraden und den Verbündeten seines Landes. Deutsche Soldaten zu töten gefiel ihm nicht. Aber wenn es sein Auftrag erforderte, Menschen umzubringen, erledigte Andrea das mit tödlicher Präzision. Was er sah, erschien ihm wie ein Stück guter Arbeit. Er schulterte die Bren und begann in federnden Schritten den steilen Berg hinaufzusteigen. Es hatte zu schneien begonnen. Der Schnee war feucht und fiel in beinahe tellergroßen Flocken. Jeder einzelne Schneefladen landete mit einem eisigen Klatschen auf Haut, Stoff oder Metall. Die schmelzenden Flocken glitten in die Stiefel und unter den Kragen und wurden seltsamerweise kälter, während sie tauten. Innerhalb von zehn Minuten war die gesamte Gruppe bis auf die Haut durchnäßt. Für einen Zeitraum, der wie eine Ewigkeit schien, hörte man nur den rasselnden Atem in den Kehlen, das Hämmern des Herzschlags und das feuchte Reiben der Stiefel an den Füßen, während die sechs Männer und die Frau im Gänsemarsch den fünfundvierzig Grad steilen Abhang in der eisigen schwarzen Kälte erklommen. In Millers Kopf tobte die Angst. »Was meinst du?« fragte er Andrea. Andrea wußte, was Miller wissen wollte. »Sie werden denken, daß wir über die spanische Grenze verschwunden sind.« »Vielleicht.« »Und sie werden Patrouillen losschicken. Für den Fall, daß wir uns nicht nach Spanien abgesetzt haben.« »Exakt.« Immer einen Fuß nach dem anderen setzen. Dazu der schwer pochende Herzschlag und die wunden Füße. Bald würden sie anhalten müssen. Sie brauchten etwas zu essen und Wärme. Aber je weiter sie nach oben kletterten, desto geringer schien
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die Aussicht auf Nahrung und ein warmes Dach über dem Kopf. Sie drangen immer tiefer in unbekanntes Gelände ein, auf dem Weg zu Jules, der, wie man ihnen versichert hatte, sie an einem warmen, trockenen Ort erwartete. Die Auskunft stammte von Lisette. Mallory mußte sich auf Menschen verlassen, die er nicht kannte. Und das machte ihn nervös. »Wir sollten hinten aufpassen, für den Fall, daß jemand zurückbleibt«, sagte er ruhig. Andrea trat zur Seite. Die Bergwanderer schritten an ihm vorbei. Zuerst Jaime, Miller und Thierry. Dann, weit hinter ihnen, zu weit, Hugues und Lisette. Hugues, der über Lisette gebeugt war, schien sie beinahe zu tragen. Beider Umrisse stachen seltsam aus dem weißen Schnee hervor, wie ein einziges unförmiges Tier. Andrea konnte Hugues’ Atem hören. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Natürlich«, entgegnete Hugues mit einer Stimme, deren Klang die Erschöpfung nicht verbergen konnte. Andrea zog die Stirn kraus. Dann setzte er sich an den Schluß der Gruppe und stieg weiter bergauf. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. In Wirklichkeit war nur wenig mehr als eine Stunde vergangen, bevor Jaime einen befriedigten Ruf ausstieß: »Voilà!« Seit einiger Zeit war das Gelände nur noch leicht angestiegen. Durch die Schneeböen erkannte Mallory eine silbrig glänzende Linie, den schneebedeckten Grat, der sich waagerecht über den bleischwarzen Himmel zog. Zwischen den Bergsteigern und der Kammlinie zeichnete sich auf vorstehendem Fels ein schmales Band ab, das sich in Serpentinen nach oben wand. Die Umrisse des Steigs waren durch eine zentimeterhohe Schneedecke verwischt. Jaime stieß mit dem Fuß an die talwärts liegende Seite und legte eine
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Mauerbekränzung von roh behauenem Stein frei. »Der Engelsweg«, stellte er fest. Der Weg war leicht zu gehen und folgte den Erhebungen und Senkungen der Felsenlandschaft, immer dicht an atemberaubenden Abgründen entlang, deren Anblick Miller krampfhaft vermied. Sie wanderten darauf, bis sie den Grat erreichten. Wegen der geringeren Anstrengung spürten sie in ihrer durchnäßten Kleidung die Kälte. Die Gruppe machte halt, damit Lisette und Hugues aufschließen konnten. Mallory nahm seine in Öltuch gewickelten Zigaretten aus der Jackentasche und gab Miller eine. In der aufflackernden Flamme des Feuerzeugs zeichneten sich ihre hageren Gesichtszüge ab. Hugues und Lisette kamen näher. »Lisette braucht etwas zu essen«, sagte Hugues. »Und Ruhe und Wärme …« »Sei nicht albern«, unterbrach ihn Lisette. Ihre Stimme klang schwach, doch entschieden. »Aber Liebling …« »Nenn mich nicht Liebling«, fuhr sie ihn an. »Können wir jetzt weitergehen?« Mallory sagte nichts. Den Kampfgeist dieser Frau hätte er bewundern können. Weniger bewundernswert war die Geschwindigkeit, mit der sie vorankam. Zu langsam, dachte er. Sie kamen viel zu schleppend voran, dabei mußten sie noch eine ziemliche Strecke zurücklegen, bevor sie überhaupt die Startlinie erreicht hatten. Das Ziffernblatt zeigte zwei Uhr nachts. »Wie lange noch?« fragte er Jaime. »Zwei Stunden. Immer bergab. Der Weg verläuft nicht mehr so steil wie vorhin.« Mallory konnte das Klappern von Hugues’ Zähnen hören. Hier oben blies ein scharfer, eisiger Wind, und der Schnee
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fühlte sich kälter an. »Gibt es unterwegs einen trockenen Unterschlupf?« »Zehn Minuten von hier entfernt. Eine Schäferhütte. Dort wird niemand sein.« »Wir machen zwanzig Minuten Pause.« »Gott sei Dank.« Die Schäferhütte bestand aus einem Dach und drei Wänden und lag glücklicherweise von der Windrichtung abgewandt. Der Boden war mit dungverklebtem Stroh bedeckt, das aber trocken war und nach dem Schnee so willkommen wie ein türkischer Teppich. Sie krochen in das schmutzige Stroh, rauchten und ließen ihre durchnäßte Kleidung von der Körperwärme durchströmen. Jaime zog eine Flasche Branntwein heraus. Lisette lag halbvergraben im Stroh neben Hugues. Als Mallory sie mit der Taschenlampe anleuchtete, erkannte er, daß ihr Gesicht aschgrau war. Er nahm Thierry die Branntweinflasche aus der Hand und brachte sie ihr. »Hier«, sagte er. Der Flaschenhals klapperte gegen Lisettes Zähne. Sie hustete. »Danke«, antwortete sie, als sie wieder sprechen konnte. »Es war gut, daß Sie uns gefunden haben«, sagte Mallory. »Liebe«, bemerkte Hugues. »Es war die Macht der Liebe. Ein sechster Sinn …« »Da war noch was anderes«, entgegnete Lisette trocken. »Reiß dich zusammen, Hugues.« »Ja«, stimmte Mallory zu. Lisettes Stärke gefiel ihm. »Wie haben Sie es also geschafft?« Sie schüttelte den Kopf, während ihr zitternder Körper das Stroh leicht rascheln ließ. »Die Partisanen von der Resistance unterhielten sich. Einen von ihnen kannte ich. Sie sagten, in der Funknachricht, mit der Ihre Ankunft angekündigt worden war, sei die Rede von Geld gewesen, das Sie bei sich trügen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie machten ein Geschäft mit einem
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deutschen Offizier. Einige dieser Deutschen hier in den Bergen sind korrupt. Und in der Resistance gibt es natürlich auch Verräter. Manche résistants sind nicht besser als Banditen. Es war geplant, daß der Deutsche Sie umbringt. Dann sollte er den résistants das Geld geben. Er selbst hätte wahrscheinlich eine Auszeichnung erhalten.« Lisettes Zähne glänzten im blassen Widerschein der Schneedecke von draußen. »Ich sah sie zurückkommen, um dem Offizier Bescheid zu geben. Ich wußte, woher sie kamen. Also setzte ich mich auf mein Fahrrad und fiel an der richtigen Stelle runter. Damit war der Plan dieser Dreckskerle geplatzt.« »Gott sei Dank«, sagte Hugues hitzig. Mallory bemerkte, daß er lächeln mußte. »Ich danke Ihnen«, sagte er. Als er aufstand, wollten seine erschöpften Knie ihn nicht tragen. Wie es schien, hatten sie Zuwachs bekommen. Tapferen Zuwachs, wenngleich langsam und schwerfällig. Mallory hoffte, daß Hugues seinen Eifer unter Kontrolle bekam und wieder vernünftig wurde. »Wir marschieren weiter«, sagte er. Eineinhalb Stunden später führte Jaime sie einen verschneiten Pfad bergab, durch die Bäume oberhalb eines Dorfes. In dem Gehölz stand ein scheunenartiges Gebäude. Als Jaime die Tür öffnete, sagte er: »Warten Sie hier.« »Wohin gehen Sie?« wollte Mallory wissen. »Ein paar Freunde aufsuchen.« In dem Unterstand gab es eine Feuerstelle. Jaime riß ein Streichholz an, um das aufgehäufte Reisig anzuzünden, bevor er einen Armvoll Scheite dazuwarf. »Machen Sie es sich bequem. Trocknen Sie Ihre Kleider.« Ein Schatten unter seinen dichten Brauen verdeckte die Augen. Mallorys Blick begegnete dem von Andrea. Ihm gefiel die Sache nicht. Und er sah, daß es Andrea ebenso ging. Aber er
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konnte nichts tun. Jaime verschwand in der Nacht. Lisette ließ sich vor dem Feuer nieder und begann ihre Stiefel auszuziehen. »Wir gehen alle nach draußen«, sagte Mallory. Lisette sah ihn an, als wäre er verrückt geworden. »Was, wenn Jaime mit einem deutschen Spähtrupp zurückkommt?« »Mais non«, sagte Thierry. »Jaime?« fragte Lisette. »Niemals. Er haßt die Deutschen.« Hugues’ Gesicht war rosa und wirkte nervös. »Wie willst du das wissen? Wie will das überhaupt jemand wissen? An der Absprungstelle waren die Deutschen innerhalb von dreißig Minuten. Jemand hat uns verraten …« »Ich habe dir gesagt, was geschehen ist«, beharrte Lisette. »Und jetzt, um Gottes willen …« »Wir gehen nach draußen«, sagte jetzt auch Hugues. In Lisettes Gesicht veränderte sich etwas. »Non«, beharrte sie. »Non, non, non, non. Ich bleibe.« »Und ich auch«, schloß sich Thierry an, dessen dickes Gesicht unter dem Strohhut die bleiche Farbe von Schmalz angenommen hatte. »Frauen«, sagte Hugues. »Ich bin nicht Frauen«, schnappte Lisette. »Ich bin jemand, der Jaime kennt und ihm vertraut.« »Ah, ça!« entgegnete Hugues. »Nun …« »Aber vielleicht traust du deinen Freunden mehr«, fuhr Lisette fort. Als Hugues sich umblickte, stellte er fest, daß dort, wo Mallory, Miller und Andrea gestanden hatten, nur noch feuchte Fußabdrücke zu sehen waren. Draußen im Wald lag Miller zitternd auf einer Schicht verrotteter Tannennadeln und dachte sehnsüchtig an das warme
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Herdfeuer in der Scheune. Er hatte beobachtet, wie Hugues herausgestürmt kam und die Tür zuschlug. Dann nahm er nichts mehr wahr, bis auf das eisige Regenwasser, das seinen Nacken hinunterrann, und den fauligen Geruch der Tannennadeln in seiner Nase. Eine halbe Stunde später hörte der Regen auf. Bis auf einzelne Tropfen, die von den Zweigen fielen, war es still. Durch das leichte Tröpfeln drang das Schnaufen und Klappern eines Motors. Ein Lastwagen mit unbestimmtem Fabrikat bog ohne Licht um die Ecke. Auf der Fahrerkabine sichtete Miller ein Schmeisser-Maschinengewehr. Drei Männer stiegen aus. Soweit Miller erkennen konnte, handelte es sich um einen kleinen Lastwagen, der nicht den Deutschen gehörte. Eine Stimme sagte: »L’Amiral Beaufort!« Eine andere Stimme antwortete: »Vive la France!« Die Scheunentür wurde geöffnet und schloß sich wieder. Mallory sah Hugues aus dem Gebüsch treten, in dem er sich versteckt hatte, und zur Scheune hinübergehen. Wie es schien, kannte er die Männer. Also erhob Mallory sich und trat ebenfalls ein. Die Männer, die Jaime mitgebracht hatte, trugen ausladende Schnurrbärte und riesige Baskenmützen, die sie dicht über die Augen gezogen hatten. Sie waren mit Gewehren bewaffnet. Zwei von ihnen unterhielten sich in raschem Französisch mit Hugues. Mallory fand, daß sie eine Spur zu selbstzufrieden wirkten. »Im Dorf sind keine Deutschen«, erklärte Jaime. »Aber es gibt ein kleines Problem. Offenbar hatte Jules einen Unfall. Einen tödlichen Unfall, wie meine Informanten sagen. Er wurde gestern Abend bei Jonzère erschossen.« Mallory starrte ihn an. »Wie?« fragte er. »Eine Frage von zu großer Kampfbegeisterung«, erwiderte Jaime.
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Hugues unterbrach sein Gespräch und wandte sich an Mallory. »Oder, um die Wahrheit zu sagen, ein verdammtes Schlamassel.« Jaime zuckte mit den Achseln. »Die résistants haben erfahren, daß wir gelandet sind«, sagte er. »Es verbreitete sich die Nachricht, daß wir ein ganzes Regiment wären, vielleicht sogar mehr, weil in der Schlucht nur zwei Mitglieder des deutschen Spähtrupps überlebt haben. Jules hatte das alles gehört und sich auf den Weg nach Jonzère gemacht, um die Hitzköpfe davon abzuhalten, sich in den Tod zu stürzen. Aber er kam zu spät. Die Resistance nahm die Deutschen unter Feuer, und die Deutschen schossen zurück. Na ja, das kostete die Partisanen das Leben. Und Jules hat es mit ihnen erwischt.« Hugues stieß verächtlich den Atem aus. »Hier ist es nicht wie im Norden. Diese Bergbewohner haben zuviel Gefühl und zu wenig Verstand.« Jules hatte den Mann gekannt, der wußte, wo das Werwolfrudel repariert wurde. Mit Jules war die Kette der Informanten unterbrochen. Mit einer Milde, die er nicht spürte, fragte Mallory: »Und wie sollen wir die Operation jetzt fortsetzen?« »Ah«, erklärte Jaime. »Marcel hat eine Überraschung für Sie, in Colbis.« Er sah nicht aus, als würde er Überraschungen mögen. »Marcel, der Bäcker?« fragte Hugues. »Genau der.« Hugues nickte anerkennend. »Ein guter Mann.« Mallory hatte das Gefühl, an einem Klatsch über Personen teilzunehmen, die er nicht kannte. »Ich brauche Informationen über die Werwolf-U-Boote, nicht über Brot.« »Voilà«, sagte Jaime. »Marcel schlägt ein Frühstück in … seinem Café vor. Dann wird er Ihnen eine Transportmöglichkeit verschaffen, an den Ort, den Sie wünschen. Sie
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hören sicher gern, daß er einen Engländer bei sich beherbergt, der Nachrichten für Sie haben könnte.« Könnte, dachte Mallory. Nur vielleicht. Resigniert machte er einen tiefen Atemzug. »Oh, gut«, sagte Miller und rückte näher zum Feuer. »Und wo sind die Tanzmädchen?« »Sie werden vielleicht auch Tanzmädchen vorfinden.« »Frühstück wäre auch in Ordnung«, erklärte Miller. Mallory winkte Jaime zu sich. Als klebten sie an seiner Seite, folgten ihm die Männer mit den Baskenmützen. »Warum gibt es im Dorf keine Deutschen?« Einer der Baskenmützenträger grinste und sprach rasch. Jaime übersetzte. »Weil die Deutschen alle in Jonzère sind. Zuerst gab es diese Schießerei. Und jetzt jagen sie in den Bergen hinter ein paar Verbrechern her, bevor die sich nach Spanien absetzen können.« Die Unterhaltung ging weiter, aber nicht auf französisch. Baskisch, vermutete Mallory. »Dieser Mann sagt, es hätte ein Gefecht stattgefunden. Viele Deutsche sind umgekommen. Es könnte Vergeltungsmaßnahmen geben. Es heißt, in den Bergen liegt eine Armee der Alliierten. Im nächsten Tal.« Mallory hob die Brauen. »Eine Armee«, sagte er. Vom Regiment zu einer ganzen Armee, und das innerhalb von drei Minuten. »Ja«, bestätigte Jaime mit ernsthaftem Gesicht, das im schwachen Schein der Taschenlampe zu erkennen war. »Und sie sagen, wir haben Glück gehabt, daß wir nicht zwischen die Linien geraten sind. Immerhin sind wir nicht viele und haben eine Frau bei uns.« Mallory blickte Jaime fest an. War das die Andeutung eines Augenzwinkerns? Andreas Gesicht blieb ausdruckslos. Er hatte es ebenfalls bemerkt. Sein großer Kopf bewegte sich beinahe unmerklich. Er nickte. Plötzlich stellte Mallory fest, daß er
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gefährlich nah daran war, Jaime zu trauen. Mallory machte sein Herz wieder hart. »Hören Sie«, sagte er. »Ich bin Ihnen für Ihr gastfreundliches Angebot dankbar. Aber ich will nicht ins Dorf, Frühstück oder nicht. Für mich zählt nur, daß wir hier wegkommen, zur Küste. Je länger wir in den Bergen bleiben, desto mehr verschlechtert sich unsere Situation, und die Gerüchte werden immer wilder. Wir wollen diesen Auftrag schnell und geräuschlos erledigen. Mir gefällt das Gerede nicht, so wenig wie die Gefechte und Vergeltungsaktionen. Ich will nur die richtigen Informationen, und dann nichts wie weg. Alles noch vor Tagesanbruch. Sagen Sie diesen Leuten, sie sollen das Marcel ausrichten …« »Ich weiß nicht …«, begann Jaime. »… und beeilen Sie sich«, ergänzte Mallory. Jaime blickte in die tief eingesunkenen Augen über den knochigen, unrasierten Wangen und sah das gleichmäßige Brennen, das darin stand. Er mußte an die Felswand denken, die niemand ersteigen konnte, und dieser Mann hatte sie bezwungen. Dann fielen ihm die zerstörten und ausgebrannten deutschen Lastwagen und die vergebliche Verfolgungsjagd zur spanischen Grenze ein. Es war nicht leicht, diesem Mann den Gehorsam zu verweigern. Vielleicht hatte Jaime ihn unterschätzt. »Bon«, sagte er. »Und jetzt, Thierry«, fuhr Mallory fort, nachdem die Männer mit den Baskenmützen nach draußen gegangen waren, »sagen Sie den Kameraden zu Hause, daß wir angekommen sind.« Thierry nickte. Der massige Funker wirkte blaß und erschöpft. Er trug noch immer den zerdrückten Hut, aus dem einige Strohhalme steil hervorstachen. Als hätte er einen steifen Hals, bewegte er den Kopf nur langsam. Dabei schoben sich am Nacken dicke Fettwülste zusammen, um sich dann wieder zu entrollen. Thierry packte das Funkgerät aus. Miller lag in der Ecke, der Länge nach im Stroh ausgestreckt, und
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summte eine Melodie von Glenn Miller. Andrea wirkte entspannt, saß aber dicht vor einem Astloch in der Tür, durch das er die Basken draußen beobachten konnte. Mallory lehnte den Kopf gegen die Wand. Er spürte, wie seine Kleidung in der Hitze, die das Feuer ausstrahlte, zu dampfen begann. »Was wissen Sie über diesen Marcel?« fragte er ruhig. »Jules’ zweiter Mann«, antwortete Hugues. »Die Widerstandsgruppen hier unten bestehen schon lange. Alte Strukturen und schlecht gesichert. Aber es sind tapfere Männer.« »Und wir vertrauen ihnen?« Hugues lächelte. »Haben wir eine andere Wahl?« fragte er. Mallory hörte wieder Jensens Stimme. Gut möglich, daß die Deutschen Sie bereits erwarten. Dieser verdammte Jensen. Was wußte er, und was hatte er ihnen verschwiegen? Es begann erneut zu regnen, sie hörten das stetige Prasseln auf dem Scheunendach. Im Gebirge würde der Schnee ihre Spuren verdecken. Vielleicht waren sie bereits vollständig zugeschneit, und die Deutschen erwarteten sie nicht. Möglich, daß sie Glück hatten. Aber Mallory hielt nicht viel vom Glück. Thierry sagte: »Kontakt hergestellt und bestätigt.« »Nachrichten? « »Keine Nachrichten.« Mallory schloß die Augen. Der Schlaf wollte ihn einhüllen. Trotz des Feuers fror er. Zwei Stunden später würde er sich mit wehmütigen Gefühlen daran erinnern, daß ihm kalt gewesen war. Im Augenblick aber lag er zitternd da und döste. Dann war er hellwach. Draußen brummte ein Lastwagenmotor. Blitzschnell packte Mallory seine MP und kam auf die Füße. Er sah, daß Miller die Tür sicherte. Andrea war weg. Was …
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Die Tür flog krachend auf. Ein Mann stand in der Öffnung. Seine kleinen schwarzen Augen flogen zwischen den MPs, die ihn in Schach hielten, hin und her. Dazu grinste er breit. »Meine Herren«, sagte er. »Colbis heißt seine Verbündeten von der anderen Seite des Ozeans willkommen. Allons, l’Amiral Beaufort.« »Wer sind Sie?« fragte Mallory. »Ich heiße Marcel«, antwortete der Mann. »Hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Nur zu bedauerlich, daß Sie gestern Abend auf ein kleines Problem gestoßen sind, von dem ich bereits gehört habe.« Er verneigte sich. »Meinen Glückwunsch. Und jetzt ab in den Lastwagen. Es wird bald hell, und es gibt viele Augen, zu denen ein Mund gehört, der reden könnte.« Draußen prasselte der Regen gleichmäßig herunter. Im trüben Dämmerlicht ragten die Pinien an den steilen Hängen schwarz in eine tiefhängende, schmutzig-graue Wolkenschicht. Der Lastwagen erwies sich als alter, auf Holzgas umgestellter Citroën, der, keuchend und dunkle Rauchwolken ausstoßend, vor der Scheune stand. »Messieurs«, sagte Marcel. »Machen Sie es sich bequem.« Mallory schloß die Mitglieder der ›Sturmkolonne‹ auf der planenbedeckten Ladefläche des Pritschenwagens ein und kletterte dann in das Fahrerhaus. Knirschend legte Marcel den Gang ein und rumpelte mit dem Gefährt einen schmalen Weg hinunter, der sich zwischen den tropfenden Bäumen hindurchschlängelte. »Ziemlich viel Aufregung«, sagte Marcel. »Es heißt, die Deutschen hätten eine Armee von maquisards aufgespürt. Nun gut …« »Und ich bin auf der Suche nach drei U-Booten«, entgegnete Mallory. »Natürlich«, sagte Marcel. »Ich kenne einen Mann, der Sie dorthin bringen wird. Wir fahren jetzt zu ihm. Zum Frühstück.«
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»Ein Mann?« »Warten Sie ab«, sagte Marcel und umkurvte mit dem Lastwagen ein Schwein, das über die Straße lief. Sie durchquerten jetzt offenes Wiesenland ohne Bäume, dafür übersät mit kleinen, erdfarbenen Bauernhütten. Vor ihnen lag eine Ansammlung von Häusern, mit dem bogenverzierten Glockenturm einer Kirche in der Mitte. Es war halb fünf Uhr morgens, und nichts rührte sich. Aber Mallory gefiel die Ruhe nicht. »Wohin fahren wir?« »Ins Dorf natürlich. Frühstücken.« »Nicht ins Dorf.« Dörfer waren Rattenfallen. In den vergangenen acht Stunden hatte Mallory in so vielen Fallen gesessen, daß es für den Rest seines Lebens reichte. Marcel sagte: »In Colbis sind keine Deutschen. Auch keine Kollaborateure. Es ist wichtig, daß wir ins Dorf fahren, um diese Person zu treffen.« »Wer ist es?« »Wie ich sagte«, wiederholte Marcel mit gewinnendem Lächeln. »Das wird eine Überraschung.« Mallory sagte sich, daß es keinen Sinn hatte, ärgerlich zu werden. »Entschuldigen Sie, aber die Zeit drängt. Ich möchte nicht in eine Lage gebracht werden, aus der es keine Rückzugsmöglichkeit gibt.« Marcel sah Mallory an. Über den fröhlichen Wangen des Franzosen blickten die Augen wissend und hart. Es war der Blick eines Soldaten, dessen Kommandeur in der vergangenen Nacht getötet worden war. Mallory begann sich besser zu fühlen. »Diese Person, die Sie sprechen müssen, ist nicht transportfähig. Glauben Sie mir.« Mallory gab auf. Er schob den SS-Helm in die Stirn, überprüfte das Magazin seiner MP und lehnte sich im Sitz zurück. Langsam und keuchend ließ der Lastwagen die Wiesen
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hinter sich und fuhr weiter durch gewundene Gassen, die für lasttragende Maultiere angelegt waren, bis ins Zentrum von Colbis. Der quadratische Dorfplatz wurde an seiner Südseite von der Außenmauer des Kirchenschiffs umgrenzt. In der Mitte standen zwei Platanen. In deren Ästen gluckten schläfrig brütende Hühner. Es gab ein Rathaus und eine Ansammlung von Geschäften – Fleischer, Bäcker, Eisenwarenhändler. An einer Ecke glänzte eine regenüberströmte, große Fensterreihe, über der auf einem Schild der verblichene Schriftzug Café Des Sports stand. »Wir sind da«, sagte Marcel fröhlich. »Alles aussteigen.« Stiefel klapperten auf dem nassen Kopfsteinpflaster. In den geschliffenen Glasscheiben des Cafés spiegelten sich eine Gruppe von Zivilisten und drei Soldaten der Waffen-SS mit schwerem Gepäck und MPs. Die Zivilisten hätten Gefangene sein können. Ihr Anblick hätte die zur Seite geschobenen Gardinen hinter den Scheiben sich rasch wieder schließen lassen. Doch keine Bewegung verriet, daß irgendwo an einem Vorhang gezupft wurde. Die deutschen Besatzungstruppen im Grenzgebiet waren sehr streng, wenn es um raschelnde Gardinen ging. Grinsend und schubsend drängte Marcel seine Passagiere in das Café und führte sie durch den Glasperlenvorhang hinter der Bar, der den Zugang zu einem Treppenhaus abtrennte. Millers Nasenlöcher weiteten sich. »Kaffee, richtiger Kaffee«, sagte er. »Aus Spanien«, entgegnete Marcel. »Mit den señoritas und den Orangen. Aber vor allem mit den señoritas. Folgen Sie mir nach oben.« Miller stieg die Treppe hinauf. Mallory hielt sich direkt hinter ihm. Plötzlich blieb Miller stehen. Mallorys Finger glitten zum Abzug der Maschinenpistole. Auf dem Vorplatz
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am Ende der Treppe standen Sofas und Sessel, dahinter lag ein Korridor, von dem viele Türen abführten. Es roch schal und nach ungewaschenen Körpern. »Ein Bordell«, stellte Miller fest. »Also wirst du dich wie zu Hause fühlen«, versetzte Mallory. Sie waren fast die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Völlig durchnäßt, zitterte Mallory vor klammer Kälte. Seine Hände fühlten sich wie rohes Fleisch an, und die nassen Stiefel hatten die Blasen an den Füßen wundgerieben. Er wollte die Zielobjekte ihrer Operation finden und den Auftrag ausführen, bevor es zu spät war. Statt dessen mußten sie an einer Frühstücksrunde in einem Bordell teilnehmen. »In diesem kleinen Nest ein Puff?« fragte Miller mißtrauisch. Das hatte mit Sicherheit mehr zu bedeuten. Doch der Kaffeeduft nahm Mallorys Sinne gefangen. Er kannte nur noch einen Gedanken – er wollte Kaffee trinken oder sterben. Draußen war es hell, kalt und grau. Doch hier oben im Haus standen auf einer Anrichte Kaffee, Brot und Ziegenkäse bereit, dazu dünnflüssiger, hochprozentiger Branntwein für jeden, der Durst hatte. Mallory trank eine Tasse Kaffee, bevor er sich an Marcel wandte: »Sie sagten, wir könnten hier jemanden treffen.« Marcel nickte. »Er wird jetzt schlafen. Noch ein Croissant? Ich backe sie selbst.« »Wir werden ihn wecken.« Achselzuckend öffnete Marcel eine der Türen, die auf den Korridor führten. Der Geruch nach Schweiß und Parfüm verstärkte sich. Es war ein mit schmutzigem rosa Satin ausgestattetes Schlafzimmer. Im Bett lag ein Mann in Khakiuniform. Er ruhte auf dem Rücken wie ein aufgebahrter Kreuzritter. Unter dem aufgeknöpften Taillenbund seines Kampfanzugs war ein Verband zu sehen, weiße Stoffstreifen mit rostfarbenen
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Flecken. Auf dem Stuhl neben dem Bett entdeckte Mallory eine Felduniformmütze mit dem geflügelten Abzeichen des SAS. Mallory warf einen Blick auf die Sterne an den Schulterstücken. »Guten Morgen, Lieutenant.« Der Soldat im Bett bewegte sich unter Stöhnen. Er öffnete halb die Augen und richtete den Blick auf Mallory. Vor ihm stand ein Mann mit Stahlhelm und der Uniform der Waffen-SS, bewaffnet mit einer MP. »Unterkriechen in einem Bordell«, sagte Mallory. »Das würde manchem gefallen.« Die Hand des Engländers kroch zum Kopfkissen. Mallory schlug darauf, und seine Finger umschlossen Metall. Er zog die automatische Browning-Pistole heraus. »Nur ruhig«, beschwichtigte er. Der Lieutenant starrte ihn mit wildem, fanatisch glühendem Blick an. Sein Gesicht war weiß, von grauen Schatten unterlegt. Schmerzen. Der Mann war schwer verwundet. »Sondereinsatzkommando«, sagte Mallory. »Wir sind gekommen, um Sie herauszuholen.« Innerlich sank sein Herz. Das mußte einer von Killigrews Leuten sein. Einer dieser jungen Draufgänger, die man abgesetzt hatte und die sich dann im Einsatzgebiet verirrt hatten. Wahrscheinlich hatte der junge Lieutenant die Operation bereits aufs Spiel gesetzt. Auch ohne einen Verwundeten des SAS, der sie zusätzlich aufhielt, standen die Dinge schlecht. Außerdem war der Engländer allem Anschein nach schwer verwundet. Vielleicht könnte er über die Grenze nach Spanien geschmuggelt werden. »Wie soll ich wissen, ob Sie die Wahrheit sagen?« fragte der Lieutenant. »Admiral Beaufort wird Sie über alles informieren«, entgegnete Mallory. »Ebenso ein kleiner Mann, der Captain Killigrew genannt wird.« Mallory öffnete die Knöpfe seiner
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SS-Uniformjacke. »Und das ist ein britischer Kampfanzug. Scheint aber irgendwie unklug, draußen darin herumzulaufen.« »Woher wußten Sie, daß ich hier bin? Marcel …« »Marcel war sehr verschwiegen«, erklärte Mallory tröstend. Langsam verloren die blauen Augen das kampflustige Glänzen. Der schmerzerfüllte Ausdruck blieb. »Killigrew«, sagte der Junge. »Ja. Wann sind Sie angekommen?« »Gestern abend, mit einer Albemarle«, antwortete Mallory. Die Zeit reichte nicht für eine höfliche Plauderei. »Ich muß wissen, was Ihnen zugestoßen ist.« »Wir sind auf einem Plateau gelandet … nicht weit von hier«, berichtete der junge Lieutenant vom SAS. Offensichtlich wollte er so wenig wie möglich verraten. »Mit einem Jeep.« Ein Jeep, der vom Himmel fiel, dachte Mallory. Mit Fallschirmen abgeworfen. Beeindruckende Leistung. Das war der Stil des Special Air Service. »Wir waren in Richtung Küste unterwegs und gerieten in einen Hinterhalt. Die anderen hat es erwischt. Ich bekam einen Schlag auf den Kopf und eine Kugel in die Eingeweide.« »Was ist passiert?« fragte Mallory weiter. »Wir fuhren bergab«, erwiderte der Engländer. »Plötzlich traf uns Maschinengewehrfeuer. Von beiden Seiten der Straße. Vielmehr weiß ich nicht. Die Resistance hat mich hierher gebracht.« Seine Stimme zitterte leicht. Er war noch ein Junge. »Eine Straßensperre also?« »Nichts Besonderes.« Mallory nickte. Gütiger Himmel, dachte er. Sich durch einen Kontrollpunkt hinter den feindlichen Linien zu mogeln, das war typisch für Killigrews Leute. Zwei Granaten, und dann Vollgas. »Sie wollten an die Küste. Wohin?« »Das ist nicht von Bedeutung«, entgegnete der Lieutenant. Dies war sein erster Einsatz, und er fühlte sich fast wie bei einem Rugby-Turnier in seiner Collegezeit. Man gehörte zur
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Mannschaft und mußte dichthalten. Die abgesprochene Taktik ging nur das eigene Team etwas an. Der einzige Unterschied zwischen Krieg und Sport war diese verdammte Kugel. Falls ihm vor Schmerz wieder übel werden sollte, würde er versuchen, seine Gedanken nicht zu nah heranzulassen. Die Stelle da unten fühlte sich an, als säße ein Kricketball in seinen Eingeweiden. Und sie tat weh. Seit einiger Zeit verstärkte sich der Schmerz … Der Junge konzentrierte sich auf seine Abneigung gegen diesen alten Mann in SS-Uniform, der in das Zimmer eingedrungen war, ein paar Namen fallengelassen hatte und nun glaubte, das Recht zu haben, ihn auszufragen, die U-Boot-Sache an sich zu reißen und den Ruhm selbst einzuheimsen. Sollte er die Spur doch allein finden. Das Gesicht des Alten war ganz nah an seinem. Der Engländer sah die weite Stirn und sehr junge braune Augen. Augen, wie sie der alte Brutus hatte, der in Shrewsbury Latein unterrichtete und im Sommer Kletterkurse in den Alpen gab. Beim Blick in diese Augen schienen die Vorbehalte des Lieutenants zu schwinden. Sein Inneres öffnete sich, als würde der Deckel von einer Konserve gehoben. Der alte Mann sagte: »Wohin waren Sie unterwegs, und mit wem wollten Sie zusammentreffen?« Noch einmal sammelte der Lieutenant seine Kraft. »Spielt keine Rolle.« Die Augen verhärteten sich. »Seien Sie nicht kindisch«, sagte der Alte. »Wir haben nur sehr wenig Zeit.« Der Lieutenant preßte die Zähne zusammen. Er hatte den verzweifelten Wunsch, mit jemandem zu reden. Dann wäre er weniger einsam, denn er fühlte sich furchtbar allein. Aber ein Geheimnis blieb ein Geheimnis. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich darf nicht … ich habe keine Erlaubnis.« Für einen Augenblick ließ Mallory seine Augen auf dem Lieutenant ruhen. Er war entsetzlich jung und erfüllt von
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draufgängerischer Tapferkeit und dem unbändigen, rasenden Kampfgeist eines Berserkers. Wenn dieser Junge der Gestapo in die Hände fiel, würde er wie ein Zweig zerbrechen. Mallory seufzte innerlich. Er stand auf, öffnete die Tür und steckte seinen Kopf nach draußen. Auf dem Korridor schien eine Party gefeiert zu werden. »Andrea«, rief er. Der riesige Grieche erhob sich aus einem Sessel, von dem aus er den Gang hatte überblicken können, und schritt durch die Tür. Seine breiten Schultern schienen das Licht in dem kleinen Zimmer auszulöschen. Mallory sagte: »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, dann vielleicht dem Colonel hier.« Der Verletzte legte die Stirn in Falten. Er sah keinen Offizier, sondern einen unrasierten Koloß mit einem gewaltigen Schnurrbart und Augen, die so schwarz waren wie bei byzantinischen Ikonen. Solche Augen konnten alles verstehen und alles vergeben. »Colonel?« fragte der junge Engländer. »Andrea ist Offizier der griechischen Armee.« »Und wer sagt mir, daß das keine verdammte Lüge ist?« Andrea setzte sich in den rosa Plüschsessel. Plötzlich spürte der Lieutenant, wie schwach und krank er war, und er fühlte sich wie ein Vierzehnjähriger. »Sie haben Angst«, sagte Andrea. »Das habe ich nicht, verdammt«, antwortete der Junge. Noch während Andrea gesprochen hatte, hatte der Junge bemerkt, wie alles von ihm abfiel, sein Teamgeist, die tollkühne Verwegenheit, der Gedanke, daß dies nicht der Krieg, sondern nur ein Rugbyspiel war. Er sah sich auf einmal, wie er wirklich war. Verwundet und ein halbes Kind, das allein in einem schmutzigen kleinen Zimmer sterben würde. »Nicht vor dem Tod«, sagte Andrea. »Aber vor sich selbst. Sie fürchten sich vor dem Versagen. Ich habe auch Angst, die ganze Zeit. Also kann ich gar nicht scheitern.« Dieser Riese redete, wie noch kein Offizier mit ihm
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gesprochen hatte. Er klang, als wäre er voller Wärme und gesunden Menschenverstands, wie ein Freund. Vorsicht, warnte eine Stimme im Kopf des Lieutenants. Aber es war eine schwache Stimme, die rasch leiser wurde. Andreas Augen wurden hell, während er die grobe Holzkrücke betrachtete, die aus einem Stück Zaunpfahl bestand, um das aus Stoff eine provisorische Armstütze gewickelt war. »Gehört die Ihnen?« fragte er. »Ich benutze sie«, erwiderte der Junge. »Es geht ganz gut damit.« Das war keine direkte Lüge. Er konnte sich bewegen. Was ihn störte, war dieses Metallstück in seinem Bauch, das ihm innere Verletzungen zufügte, sobald er sich bewegte. Aber das war nicht das Problem. Es ging darum, im Krieg zu kämpfen. »Noch ein paar Tage«, sagte er. »Dann verschwinde ich in die Berge.« »Warum kommen Sie nicht mit uns?« fragte Andrea taktvoll. Dieser Junge würde mit seiner Krücke keine Stunde im Gebirge durchhalten. Das erkannte er an seinem Gesicht. »Wir werden Sie mitnehmen«, sagte Andrea. »Sie, ich, Miller und Mallory bringen die Operation zu Ende.« Die Augen des Lieutenants wanderten zu dem ersten Mann zurück, dem dünnen. »Mallory?« sagte er. In seiner Erinnerung sah er Titelseiten, die an das Schwarze Brett hinter den Sportplätzen geheftet waren. In den Zeitungen waren Fotos von diesem Mann abgedruckt, mit einer schneebedeckten Bergpyramide im Hintergrund. Dieser Mallory. Der Lieutenant vom SAS traf eine Entscheidung. »Ich weiß es von Jules«, sagte er. »Guy Jamalartégui. Im Café de l´Océan in Saint-Jeande-Luz. Wir hätten sie informiert. Aber … es gab zu viele deutsche Aktivitäten. Wir hatten den Befehl, Funkstille zu halten, bis auf Notfälle. Die Deutschen sind sehr schnell.« Mallory nickte. Funkortungswagen waren nicht der einzige Grund. Der SAS behielt seine Erkenntnisse gern für sich,
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besonders wenn es um Informationen ging, die Jensen und seiner Sabotageeinheit genützt hätten. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank.« Durch die Tür drang fröhlicher Lärm. »Darf ich Ihnen jetzt etwas zum Frühstück bringen?« Nachdem die Angst verflogen war, hatte Miller sich beinahe wohl gefühlt. Der Kaffee war zweifellos echt und das Brot noch ofenwarm. Obwohl er kein ausgesprochener Liebhaber von Ziegenkäse war, hätte er in seiner gegenwärtigen Stimmung begeistert die ganze Ziege einschließlich der Hörner verspeist. Als er mit dem Essen fertig war, hörte er, daß sich hinter einer der Türen etwas regte. Den anschließenden Cognac schenkte ihm ein dunkelhaariges, in ein rotes Seidennachthemd gekleidetes Mädchen ein. Für Miller ein Beweis, daß das Land zwar besetzt sein mochte, aber immer noch Frankreich war. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und lauschte, an seinem Cognac nippend, dem pausenlosen Geplapper der maquisards, die sich auf französisch und baskisch unterhielten. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit blieb bei dem Mädchen im roten Nachthemd, aber der größte Anteil galt dem Dorfplatz draußen. Er ließ den Blick in die Dunkelheit unter den Bäumen und in die Ecken gleiten. Bald würde das Dorf erwachen. An einem solchen Ort gab es zu viele neugierige Augen und redselige Zungen. Wurde Zeit, daß sie von hier verschwanden. Als das Mädchen im roten Nachthemd mit den Fingern durch seinen militärischen Bürstenhaarschnitt strich, lächelte Miller kokett. Jeder, der ihn nicht kannte, hätte meinen können, daß er völlig entspannt war. Und in gewisser Hinsicht stimmte das auch. Solange Mallory glaubte, daß sie hier sicher waren, blieb Miller ruhig. Er kannte keinen anderen Menschen, dem er mehr vertraute als dem Neuseeländer. Und er hatte reichlich Erfahrung, was brenzlige Situationen anbelangte. Wie zuverlässig die Franzosen waren, konnte er noch nicht
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sagen. Jaime saß, die Kaffeetasse zwischen den Händen, in einer Ecke. In der Gegend schien er sich zumindest auszukeimen. Millers Blick wanderte zu Hugues, der sich mit übertriebener Aufmerksamkeit um Lisette kümmerte. Da Miller ein Leben unter Bedingungen führte, bei denen die Persönlichkeit des einzelnen mehr zählte als das Gesetz, war seine Wahrnehmung dafür geschärft, wie Menschen miteinander auskamen. Jaime schien nicht viel für Hugues übrig zu haben. Auch Miller hatte seine Zweifel, was Hugues betraf. Sicher, er kannte sich in der Resistance aus. Aber er war ein schnell erregbarer, nervöser Typ. Diese vielen Umstände, die er machte. Dann sein Gequassel. Immer viel zu laut. Und jetzt Lisette. Mit Lisette kamen sie nicht weiter. Sie war langsam und schwerfällig. Aber eine zähe Person, das mußte er zugeben … Heilige Jungfrau. Lisette hatte die oberste Schicht Kleider abgelegt. Ein Mantel, zwei Umschlagtücher und einige Bauernkittel, die sie aussehen ließen wie ein Fußball auf Beinen. So gekleidet, war sie die steile Talstraße hinauf geradelt, hatte sie einen senkrechten Felsen erklommen und einen Gewaltmarsch von fünfundzwanzig Kilometern über abschüssiges Gelände und ohne Schlaf durchgestanden. Nicht die Erkenntnis über Lisettes Heldentaten ließ Millers Kinnlade nach unten sacken. Er war starr vor Verblüffung, daß Hugues Freundin auch ohne ihre Wintersachen kaum weniger rund wirkte. Sei ehrlich, dachte Miller. Wäre Lisette dein Mädchen, würde dein Beschützerinstinkt wohl auch verrückt spielen. Lisette sah aus wie ein Gasbehälter auf Beinen, weil sie hochschwanger war. Mindestens im achten Monat. Irgendwo klingelte ein Telefon. Es war das dünne Schrillen
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einer handvermittelten Verbindung. Unten im Haus hob jemand den Hörer ab und begann aufgeregt auf baskisch zu schreien. Miller fiel in eine reglose Haltung und lauschte angespannt. Die Stimmen waren verstummt. Hähne krähten. Ansonsten herrschte Stille. Aber im Hintergrund dröhnten Motoren. Lastwagenmotoren, und zwar sehr viele. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der französischen Grenzregion nur eine Gruppe, die über eine größere Menge an Fahrzeugen verfügte und den notwendigen Treibstoff dafür besaß. Miller packte seine Maschinenpistole und entsicherte sie. Das Mädchen im roten Seidennachthemd schien plötzlich verschwunden zu sein. Lächelnd und mit einem Gesicht, das plötzlich grau und starr wirkte, stand der Bäcker, Marcel, auf. Das Dröhnen der Motoren hatte den Dorfplatz erreicht. Es waren vier Pritschenwagen mit Plane. Die Fahrzeuge hielten, und aus ihrem Laderaum quollen Soldaten mit Stahlhelmen und in feldgrauer Uniform. Ihre Marschstiefel knirschten auf dem feuchten Kopfsteinpflaster des Dorfplatzes. Ein Stabswagen rollte auf den Platz. Ihm entstieg ein schwarz uniformierter Offizier, der etwas sagte und auf Marcels Lastwagen wies. Zwei Soldaten durchstießen mit dem Bajonett die Reifen, so daß der Wagen auf die Felgen sackte. Als Mallory aus der Tür des Zimmers sah, in dem der Mann vom SAS lag, schob Andrea gerade seinen Arm vor und packte Marcel bei den Schultern. Marcel war ein schwergewichtiger Mann, doch Andrea hielt ihn auf Armeslänge von sich gestreckt etwas über dem Boden. »Was machen die hier?« Marcels Gesicht verzerrte sich zu einer entsetzten Maske. »Ich weiß es nicht … Man hat mir versichert …« Mallorys Verstand arbeitete mit rascher Präzision, und er zog seine Schlüsse. »Das hier ist ein Bordell der SS, nicht wahr?«
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fragte er. Marcels Züge blieben ausdruckslos, aber sein Gesicht färbte sich tiefrot. »Es ist ein Versteck«, sagte er. »Ein gutes Versteck. Und jetzt, meine Herren …« Andrea ließ ihn fallen, und Marcel rieb sich die Schultern. »… folgen Sie mir bitte«, fuhr er schließlich fort. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht, wie es sich für einen vollendeten Gastgeber gehörte. Die Mädchen hatten bereits die Reste des Frühstücks abgeräumt. Marcel wies in das Zimmer des verwundeten Engländers. Eines der Mädchen hielt die Schranktür auf. Der Schrank besaß keine Rückseite. Statt dessen erkannte man eine nach unten ins Dunkle führende Treppenflucht. Mallory vertraute Marcel. Aber jemand hatte sie verraten. Wer? Andrea trat zum Bett, um dem Verwundeten aufzuhelfen. Der Lieutenant vom SAS stieß ihn zur Seite, griff nach seiner provisorischen Krücke und hievte sich stöhnend auf die Füße. Miller, der den Schluß der Gruppe bildete, hörte bereits das Hämmern der Gewehrkolben gegen die Vordertür des Cafés. Wieder eine Rattenfalle, dachte er. Und das alles für eine Tasse Kaffee und ein Mädchen im roten Nachthemd. Vielleicht war wenigstens der Kaffee die Sache wert gewesen. Hinter ihm wurde der Schrank geschlossen. Sie schlichen die Treppe hinunter, die nach draußen führte, auf einen kleinen Hof, der feucht und leer unter dem grauen Himmel lag. Hinten auf dem Hof befand sich ein Verschlag, dessen Türsturz rauchgeschwärzt war. Dort entströmte ein würziger Duft nach frischem Brot. Über die Hofmauer drangen kehlige Rufe und Hundegebell. »Vite«, sagte Marcel und scheuchte die Gruppe in den Verschlag. Es war das Backhaus, in dem sich zwei große Backöfen
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befanden. Der linke war geschlossen, die rechte Ofenklappe hingegen stand offen. Vor der Ofentür befand sich ein Steintisch, worauf ein zwei Meter mal einen Meter fünfzig großes Backblech lag. Ein kleiner, einäugiger Mann mit einer schmutzigen Schürze blickte bei ihrem Eintritt nicht einmal auf. »Auf das Backblech«, befahl Marcel. »Immer zwei zusammen.« »Wo sind die anderen?« wollte Mallory wissen. »Im Bordell. Sie sprechen Französisch, bien entendu. Ihre Papiere sind in Ordnung. Vite.« Miller sprang auf das Blech und legte sich mit seinen Kisten auf den großen, paddelförmigen Holzschieber. Mallory kletterte neben ihn. »Wenn das Blech angehalten wird, rollen Sie herunter. Und schützen Sie Ihr Gesicht«, befahl Marcel. Mallory konnte deutsche Stimmen hören. Eine Falle, dachte er. Wieder eine, diesmal enger als die letzte. Hier heraus gab es kein Entkommen, wenn … Mit dem Gepäck auf dem Bauch, legte Mallory sich auf das Blech und hielt die Hände vor das Gesicht. Jemand schob sie nach vorn. Sengende Hitze brannte auf die Handrücken. Mallory dachte an das gewölbte Ziegeldach des Ofens und roch verbranntes Haar. Die Munition, schoß es ihm durch den Kopf. Doch da war die Hitze bereits verschwunden, und sie rutschten vom Backblech auf einen Untergrund, der nur mehr lauwarm war. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Rabenschwärze. Nach zwanzig Zentimetern berührte Mallory mit der Stirn das Dach. Ein Luftstrom schien durch den Ofen zu ziehen. Der Schieber kehrte zurück und brachte Andrea und den Engländer. Der Verletzte atmete schwer und unregelmäßig, als Andrea ihn vom Blech rollte. Irgendwo knirschten Steine. Das
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war’s dann wohl, dachte Miller. Der Ofen war aus Steinen gemauert, und am hinteren Ende gab es eine kleine Tür, durch die sie hereingeschoben worden waren. Nun wurde die Tür geschlossen … Von der Brennkammer drangen Kratzgeräusche herüber. … sie begannen mit dem Brotbacken! Miller hob vorsichtig den Kopf, um herauszufinden, woher der Luftzug kam und prallte gegen die Decke. Zwanzig Zentimeter hoch, dachte er. Und stockdunkel. Wir sind lebendig begraben. Er streckte eine Hand aus, um seine messingbeschlagenen Kisten zu berühren. Dabei streifte er Mallorys Arm. Der Arm fühlte sich starr an und vibrierte, als hätte der Neuseeländer Angst. Nein. Nicht Mallory. Mallory war kalt wie ein Eisblock und hatte die Südklippe von Navarone erklommen, während Miller unten am Fuß vor Panik gebebt hatte. Schön und gut, dachte Miller. Aber tief in jedem Menschen gibt es einen Ort, der fest verschlossen ist, und dort lebt das Ungeheuer, das dieser Mensch am meisten fürchtet. Manchmal versagen die Sicherungen, und das Untier kommt heraus, wütet im Kopf und beherrscht das Denken bis in den letzten Winkel. Mallorys Ungeheuer waren geschlossene Räume. Dusty Miller starrte auf die unsichtbare Decke zwanzig Zentimeter über seiner Nase und lauschte den Geräuschen, die in die gemauerte Ofenkammer drangen. Ein lebhaftes Prasseln war zu hören, und Miller atmete Rauch ein. Im Ofen war ein Feuer entzündet worden, für die nächsten Brote. Wie lange mußten sie sich hier verstecken? überlegte er. Und wenn Mallory das Eingeschlossensein nicht durchstand? Leise begann Miller zu singen: »Backe, backe Kuchen, wer’s nicht glaubt, der wird uns suchen …« »Halten Sie die Klappe«, zischte der Mann vom SAS.
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»Das ist aber gar nicht nett von Ihnen«, antwortete Miller künstlich gekränkt. »Um Himmels willen …« »Im Ooofen ist das Leben schön«, setzte Miller seinen Singsang fort, »nie hat man’s kalt, wir haben Fön …« Mallory wußte, daß die Erinnerung an den Torpedo wieder da war. Der kleine Raum mit den Eisenwänden, in dem vier Männer zusammengepfercht saßen, und das blaue Mittelmeerwasser, das mit donnerndem Brodeln durch den zerfetzten Rumpf eindrang. Vier Gesichter, denen noch zwanzig Zentimeter Raum bis zur Stahldecke blieben, und heiße, verbrauchte Luft, kaum zu atmen … Er würde sterben, an Erstickung, das war klar, aber vorher würde ihn die Panik umbringen … Jemand schien etwas zu sagen. Vollständigen Blödsinn, im weichen, gedehnten Tonfall von Chicago. In dieses Gebrummel drangen von weit her andere Stimmen. Sie klangen deutsch. Miller. Miller spürte Mallorys Hand, die ihn scharf in die Seite stieß. Er verstummte. Auftrag erfolgreich erledigt. Plötzlich bellte ganz in der Nähe ein Hund. Viel näher, als das andere Ende des Ofens entfernt lag. Ihr Versteck hallte wider vom Geräusch kratzender Pfoten auf Stein. Die Luftlöcher, durchfuhr es Miller. Es mußte Luftlöcher geben, und dadurch bekamen die gottverdammten Hunde Witterung von ihnen. In dem vom Lärmen der Hunde erfüllten Dunkel hoben die vier Männer liegend die Köpfe zur unsichtbaren Decke. Ihre kleine Kammer hinter dem Ofen wurde ständig heißer, und sie begannen zu schwitzen. Auch Marcel schwitzte. Er stand vor den Ofen, seine Schürze
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war mit Mehl bestäubt und trug Aschespuren vom Reisig, das er zum Feuermachen verwendet hatte. Aber er dachte nicht ans Brotbacken, sondern blickte den SS-Offizier an, der gegen den Türpfosten gelehnt stand und den Lauf seiner Lugerpistole gegen die Innenfläche seines Lederhandschuhs schlug. Obwohl der SS-Offizier ein warmes Lächeln aufgesetzt hatte, behielten seine steingrauen Augen einen kalten Ausdruck, wie Marcel ihn noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. »Wo sind sie?« fragte der Offizier. »Pardon?« Der Hof war voller Soldaten. Ein Hundeführer trat vor, gezogen von einem riesigen Elsässer, der an seiner Fährtenleine riß. Die Zunge des Suchhundes hing heraus, und er röchelte aufgeregt. »Der Hund kommt aus dem Bordell über dem Café«, erklärte der Offizier mit geheuchelter Freundlichkeit. »Dort hat er die Witterung einer Person aufgenommen, die in einem Sessel saß, und die Spur führt hierher, direkt zu Ihrem Ofen. Wie erklären Sie sich das?« Das Ofenfeuer brannte mittlerweile kräftig. Durch die Tür quoll Rauch, der zum Dach des Verschlags strich, bevor die Schwaden in den regnerischen Himmel über dem Hof aufstiegen. Marcel wies zur geöffneten Ofentür, in den glühenden Feuerschein der brennenden Scheite. »Was soll diese angebliche Person sein? Ein Salamander?« Das Lächeln blieb unverändert. »Wenn es sich bei dieser Person um Einbildung handelt, warum interessiert sich dann der Hund für sie?« fragte der SS-Mann mit aufgesetzter Sanftmut. »Ein Geheimnis.« »Ich habe den Eindruck, daß sich Leute in diesem Dorf aufhalten, die hier nichts zu suchen haben«, fuhr der SS-Mann fort. »Und was vermittelt Ihnen diesen Eindruck?« entgegnete
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Marcel. Der SS-Mann lächelte, ohne zu antworten. Seine Augen glitten über das Backhaus. »Und was befindet sich in dem anderen Ofen?« Marcel gähnte. »Wer weiß?« Der SS-Mann betastete sein langes Kinn. »Ich habe nicht übel Lust, diesen Ofen auseinanderzunehmen.« »Non«, sagte Marcel, die Augen schreckensstarr aufgerissen. »Davon lebe ich. Georges … Im Ofen – was um Himmels willen backst du darin? Sag es diesem Herrn.« »Pains Flavigny«, erklärte der Einäugige. »Ah!« sagte Marcel, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Voilà!« »Wie bitte?« »Georges ist aus dem Elsaß«, erklärte Marcel. »Daher backt er von Zeit zu Zeit pains Flavigny, dessen wichtigste Zutat aus Anissamen besteht, den Hunde lieben. Natürlich verkaufen sich die Brote nicht so gut. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Man muß seine Angestellten bei Laune halten. Es ist verdammt schwer, im Krieg die richtigen Leute zu …« Der SS-Mann richtete die Pistole auf Georges. »Öffnen Sie den Ofen«, sagte er. »Aber die Brote …« »Machen Sie schon auf.« »Sie verderben.« Der Finger des Offiziers wanderte zum Abzug, und Georges zuckte mit den Achseln. »Es ist ein Verbrechen«, sagte er. »Aber wenn Sie darauf bestehen.« Er schlug gegen den Riegel der zweiten Ofentür und schob ein kleines, paddelförmiges Holzbrett hinein. Als er es zurückzog, lag ein rundes, braunes Brot auf dem breiten Ende. »Noch nicht durchgebacken«, sagte er. »Sehen Sie selbst, nom d’un nom. Eine Schande. Das Brot ist hin. Es sackt zusammen. So wie alle zusammensacken
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werden.« Der Offizier nahm das Brot und zerbröselte es mit seinem Handschuh. Der Hund sprang hoch und leckte ihm die Hand. Mit den Feldstiefeln trat der Offizier dem Tier in den Bauch, das jaulend zurückwich, und roch dann vorsichtig an den Krumen. Sie dufteten stark nach Anis. »Hervorragend«, sagte er, noch immer lächelnd. Er wandte sich um und schritt in den Hof zurück. »Ich befürchte, die Hunde haben uns in die Irre geleitet. Aber es gibt andere Methoden, die Wahrheit herauszufinden.« Sich die Hände an der Schürze abwischend, war Marcel ihm gefolgt. »Pardon, monsieur?« »Ihre Landsleute sind sehr dumm gewesen«, sagte der SSMann. »Dumm wie Schweine. Es gibt Regeln. Das wissen wir beide. Und diese Regeln sind gebrochen worden. Gestern Abend gab es in Jonzère ein Gefecht. Ihr müßt lernen, daß Gesetze zu befolgen sind. Ich fürchte, die Lektion wird schmerzhaft für Sie sein.« Der SS-Mann lächelte noch immer. Marcel stand da und lächelte unsicher zurück, während seine Eingeweide unter dem eisigen Blick vor Angst erstarrten. »Es gibt eine Möglichkeit, Schmerzen zu vermeiden. In diesem Dorf befinden sich britische Agenten«, sagte der SS-Mann. »Wenn ich sie finde, werde ich gehen.« Er schritt durch den Bäckerladen auf den Dorfplatz und legte nachlässig die Hand auf das Heck des Stabswagens. »Feldwebel!« Der Untergebene nahm zackig Haltung an. »Klopfen Sie an die Tür jedes Hauses auf diesem Platz«, ordnete er an. »Höflich. Wer aufmacht, den bitten Sie heraus und fordern ihn auf« – die kalten Augen wanderten über den Platz und blieben bei der langen, nackten Nordseite des Kirchenschiffs haften – »sich an diese Wand zu stellen. Während Sie das erledigen, möchte ich, daß unter den Bäumen ein Maschinengewehr aufgebaut wird.«
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Marcels Gesicht war weiß wie Mehl geworden. »Was soll das?« fragte er. »Wir befinden uns im Krieg«, antwortete der Offizier. »Wenn die Leute versammelt sind, wird alle zehn Minuten jemand erschossen, bis ich die Wahrheit erfahren habe. Ihr Brot verbrennt im Ofen, Bäcker.« Er lächelte. »Sie kümmern sich besser darum.«
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3. Montag, 09.00 bis 19.00 Uhr Miller war bei der Fernaufklärung Wüste gewesen, und deshalb kannte er große Hitze. Aber nichts in den verdorrten Ergs oder auf den vom glühendheißen Wüstenwind umheulten Felsklüften der Sahara hatte ihn auf die Feuerhitze hinter dem Backofen vorbereitet. Er redete weiter, da er spürte, daß Mallory die Ablenkung guttat. Es war nicht leicht, eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten, während man bei lebendigem Leib geröstet wurde, aber immer noch besser, als vor Hitze und Panik umzukommen, überlegte er. Andrea begann ebenfalls zu reden. Mit leiser, tiefer Stimme sprach er über die Höhle in Kreta, in der er mit Mallory gehaust hatte. Währenddessen wurde der ummauerte Raum immer heißer, und die Luft versengte ihnen die Haut. Der Duft nach Holzrauch und Gebackenem drang herein. Darüber legte sich ein anderer, stechender Geruch, den Miller gleich erkannte. Es roch nach Bittermandel, das als Zersetzungsprodukt der Nitrozellulose entstand. Einen Trost gab es, dachte Miller. Einen kleinen. Wenn das Cyclo-Trimethyl-Trimtramin in der Kiste durch die Nitrozellulose tatsächlich hochging, würde die Detonation auch ein paar Deutsche mitreißen. Nicht zu vergessen das Dorf Colbis und einen anständigen Brocken der nördlichen Pyrenäen … Ein neues Geräusch drang durch die Wand, ein hartes, durch die gemauerten Steine gedämpftes Rattern. Maschinengewehrfeuer. Mallory wußte, daß er gewonnen hatte. Er hatte seine
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Streßhormone besiegt, oder was ihm sonst weiche Knie und Nervenflattern bereitet hatte. Die Maschinengewehrschüsse hatten ihn in die Außenwelt zurückkatapultiert. Er konnte wieder denken. »Wir brauchen ein Fahrzeug nach Saint-Jean-de-Luz.« »Ein Fahrzeug?« »Es sind an die hundert Kilometer auf der Straße. Die UBoote gehen übermorgen in See. Mittags. Zu Fuß ist es zu weit.« »Fahrräder?« Stille breitete sich aus. Alle dachten das gleiche. Eine schwangere Frau und ein Pionier mit einer Kugel im Bauch waren auf einem Fahrrad kaum vorstellbar. Ein skrupelloser Mann, der schnell vorankommen wollte, würde solche Hindernisse zurücklassen. Doch Mallory wußte nicht, ob er diese Skrupellosigkeit besaß. Zum Glück hatte er keine Wahl, so daß er nicht in die Verlegenheit kam, sich entscheiden zu müssen. Der Mann vom SAS und Lisette wußten zu viel, um den Feinden in die Hände fallen zu dürfen. Ob es ihm paßte oder nicht, sie mußten sie mitnehmen. Um in der Hitze seine Kräfte zu schonen, hatte der Engländer sehr still gelegen, während er zuhörte, wie sich die anderen drei Männer unterhielten. Dieses Geplauder war etwas für Mädchen, Schwächlinge und andere vom SAS verachtete Mitglieder der menschlichen Spezies. Jetzt sagte er: »Es gibt einen Jeep.« Ein Jeep. Wahrscheinlich riesengroß mit dem Union Jack bemalt, ausgerüstet mit Sprechfunk, schweren Maschinengewehren, eingebauter Cocktailbar und Sonnenterrasse. In solchen Wunderdingen war der SAS nicht zu schlagen. Es sei denn, vom Feind. »Gut, gut«, sagte Miller. »Das ist eine erfreuliche Nachricht.«
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»Wo?« fragte Mallory. »In der Scheune hinter der Bäckerei. Es ist der Jeep, der mit uns abgeworfen wurde. Er steht unter dem Reisig versteckt. Marcel hat mir gesagt, daß sie ihn hergebracht haben.« »Danke, eh …« »Wallace.« Miller war überrascht, eine Hand zu spüren, die zu ihm herübergestreckt wurde. Er schüttelte sie. Seine Geste wurde erwidert. Das also hätten wir, dachte er. Die Vorstellungsformalitäten waren erledigt. Und nun lieh der Junge ihnen sogar seinen Wagen. Während sie im Ofen brutzelten und langsam gar wurden! Diese verrückten Briten. Von draußen drangen Laute herein, eine Stimme ertönte an einem der Luftlöcher. Es war Marcel. »Sie müssen herauskommen«, raunte er. »Wir nehmen den Jeep.« »Ja.« Die Stimme klang angespannt. »Sie müssen weg von hier. Wohin, das wissen Sie. Ihre Kameraden sind bei der Scheune. Beeilen Sie sich.« »Machen Sie die Tür auf.« »Ja.« Es folgte eine Pause. Am Ofen entstand Bewegung, die weniger als Geräusch zu ihnen drang, als vielmehr durch die Wände zu spüren war. Jemand harkte das Brennmaterial aus dem Feuerloch. Die Tür, die sie vom Backofen trennte, wurde geöffnet, und ein glühender Lufthauch wehte herein. »Der Schieber kommt«, kündigte Marcel an. Später konnte Mallory sich nicht mehr erinnern, wie sie den Ofen verlassen hatten. Er wußte nur noch, daß es unterwegs höllisch heiß wurde und er den Gestank von verbranntem Haar in der Nase hatte. Dann standen sie im Backhaus, umgeben von wunderbarem, freiem Raum.
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»Die Scheune«, erinnerte Marcel. Er wirkte wie abgemagert, und sein Gesicht sah erschreckend grau aus. »Folgen Sie mir.« Andrea bot Wallace die Schulter, damit er sich abstützen konnte. Sie betraten den Hof und gingen durch eine grüne Tür. Die Scheune war zur Hälfte mit gestapelten Reisigbündeln gefüllt. »Allons«, sagte Marcel und begann hektisch das Reisig auf der rechten Seite wegzuräumen. »Hier.« Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit, und nach wenigen Minuten tauchte die hintere Stoßstange eines Fahrzeugs unter dem Holz auf. »He«, sagte Miller. »Wir lieben euch Jungs vom SAS.« Vor ihnen stand ein Jeep, aber kein gewöhnlicher. Zwar verfügte er weder über eine Cocktailbar, noch besaß er eine Sonnenterrasse, aber mehr fehlte nicht. Am Heck waren zwei Brownings installiert, dazu ein zweites Paar vorne auf dem Kühler, vor dem Beifahrersitz. Die Patronengurte steckten noch in der Zuführung. »Hier sind die anderen Passagiere«, kündigte Marcel an. »Sie lagen im Bett. Vielleicht haben sie geschlafen. Oder auch nicht.« Dazu machte er ein Geräusch, das wie ein Lachen klingen sollte. Thierry, Hugues und Jaime schlurften in die Scheune. Thierrys Hut sah aus, als hätte er ihn sogar im Bett aufbehalten. »Wo ist Lisette?« fragte Hugues. Seine Augen blitzten vor Zorn, und er kaute auf seinen Lippen. Er erntete nur ratloses Schulterzucken und abwehrende Gesten. Jaime sagte: »Sie ist müde. Schläft. Am besten verschwinden wir jetzt.« Er blickte grimmig. »Sie hat gut gefälschte Papiere und ist hier in Sicherheit.« Vielleicht hatte er recht, dachte Mallory. Es war besser so. Sie hatten keine Zeit, sie ausfindig zu machen, wo immer sie sich ausruhte. Die Sache stank ohnehin. Das war kein einfacher
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Fehlschlag gewesen. Hugues sagte: »Non, Merde …« »Jaime hat recht«, erklärte Marcel. Eine neue Maschinengewehrgarbe hämmerte vom Dorfplatz herüber. Marcel sah aus, als würde er im nächsten Augenblick weinen. »Bitte«, drängte er. »Beeilen Sie sich. Einer wird reden.« »Reden?« »Sie erschießen Zivilisten. Alle zehn Minuten einen.« Sein Gesicht sank zusammen, und er hob die Hand an die Augen. Hugues sagte: »Um Gottes willen, seien Sie ein Mann.« Ausdruckslos blickte Marcel ihn an. Seine Wangen waren tränenfeucht. »Die erste Person, die erschossen wurde, war meine Mutter.« Hugues wurde blutrot und dann blaß. »Gott gebe ihrer Seele Frieden«, murmelte Andrea. »Sie ist gestorben, damit andere leben können. Wir danken Ihrer Mutter für ihren großen Mut. Und auch Ihnen«, sagte Mallory. Marcel begegnete Mallorys Blick und sagte: »Vive la France.« Er holte tief Atem. »Um ihretwillen bitte ich Sie, Ihre Mission zu erfüllen.« »Das werden wir.« Mallory schüttelte seine Hand, und Andrea legte ihm seine mächtige Pranke auf die Schulter. »Lisette lasse ich in Ihrer Obhut«, sagte Hugues. »Ich fühle mich geehrt«, antwortete Marcel. »Und jetzt müssen Sie von hier weg. Dann kann ich die Deutschen zum Aufhören bringen.« »Wie?« »Ich werde den Mädchen sagen, sie sollen aussagen, Sie gesehen zu haben.« »Den Mädchen?« »Sie sind mit einigen Deutschen befreundet. Mit denen, die
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in dieses Bordell gehen. Deshalb lassen sie uns in Ruhe. Wenigstens bis jetzt. Die Deutschen werden den Mädchen nichts tun.« »Wie kommen wir hier raus?« fragte Mallory. »Fahren Sie geradeaus«, entgegnete Marcel. »Das Scheunentor befindet sich auf der anderen Seite des Reisigstapels.« »Ich muß mich von Lisette verabschieden«, sagte Hugues. »Sie müssen jetzt gehen«, drängte Marcel. »Bitte.« Er kramte in einer Holzkiste und kehrte mit vier Flaschen Cognac zurück. »Nehmen Sie das, und dann fahren Sie.« »Non«, sagte Hugues mit erhobener Stimme. »Das Kind …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn Andrea hatte seinen Arm ausgestreckt und Hugues an der Schulter gepackt. »Wie dieser tapfere Marcel sind auch Sie Soldat«, erklärte er und stieß den Franzosen in den Fond des Jeeps. Mit schamrotem Gesicht bat Hugues: »Sagen Sie ihr, daß ich sie liebe.« Marcel nickte dumpf. »Miller«, befahl Mallory, »fahr los.« »Über den Dorfplatz?« Mallory richtete seine kühlen, braunen Augen auf ihn. »Das will ich meinen«, sagte er. »Und du?« Der Motor des Jeeps sprang beim ersten Versuch an. Wallace wurde auf den Rücksitz gehoben. Die anderen kletterten hinterher und verteilten sich im Wagen, so gut es ging. In dem abgeschlossenen Raum der Scheune dröhnte der Motor sehr laut. Auch im Dorf würde er viel Lärm machen. In Colbis gab es nicht viele Motorfahrzeuge. Miller schaltete auf Vierradantrieb. Als er Vollgas gab, heulte der Motor auf. Er ließ die Kupplung los, und der Jeep bohrte sich in die getrockneten Reisigstapel. Kleine Laubreste prasselten gegen die Windschutzscheibe und drangen ins
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Wageninnere. Dann erspähte Miller Tageslicht und hielt darauf zu. Bedeckt mit einer Reisighaube schoß der Jeep durch das Scheunentor auf die Straße, nahm auf zwei Rädern eine Kurve und bog nach rechts ab. Am Ende der Straße lag der Dorfplatz. Auf dem platanenbestandenen Teil hockten drei SS-Männer um ein Maschinengewehr. »Zivilisten abtauchen«, schrie Mallory, legte die Browning auf der Haube an und löste die Sicherungshebel. »Feuer frei.« Die Maschinengewehrschützen haßten es, auf unschuldige Zivilisten zu schießen. Eine Pflicht, die ihnen gründlich gegen den Strich ging und die an Unbeliebtheit nur noch vom Latrinenreinigen übertroffen wurde. Aber Befehl war nun einmal Befehl. Da saßen sie nun und ignorierten bewußt die beiden blutigen Kränze aus Einschußlöchern direkt oberhalb der zusammengesunkenen Körper ihrer beiden ersten Opfer an der Kirchenmauer. Jetzt konzentrierten sie sich auf ihr drittes Opfer, die Haushälterin des Pfarrers. Die dürre alte Frau stand in ihrem grauen Flanellbademantel mit hängenden Schultern fast in Habachtstellung vor ihnen. Die Maschinengewehrschützen machten einen furchterregenden und dienstbeflissenen Eindruck. Sie sehnten sich nach einer Zigarette, und je eher sie die Angelegenheit hier hinter sich gebracht hatten, desto besser. Vom hinteren Teil des Dorfplatzes her war auf einmal ein Rattern zu hören, als würde jemand auf eine riesige Schreibmaschine einhämmern. Irgend etwas traf das Spandau, wirbelte es in die Luft einschließlich seines Dreibeins und dann über den ganzen Marktplatz hinweg. Querschläger jaulten in den Himmel. Zwei der Maschinengewehrschützen vollführten plötzlich ruckartige, akrobatisch aussehende Übungen und fielen zu Boden. Dem dritten blieb gerade noch Zeit genug, sich umzudrehen und an einen Angriff mit
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Maschinengewehren zu glauben, als er einen Heuschober auf vier Rädern die Allee entlangrasen sah, aus dem das Mündungsfeuer von Maschinengewehren schlug, das scheinbar das Heu schon in Brand gesetzt hatte. Dann traf eine Serie von Hammerschlägen seine Brust, die Beine wurden kraftlos, der Mund füllte sich mit Blut. Als der Kopf des Soldaten auf das Pflaster des Platzes schlug, sah er seine Kameraden, die in Reihe angetreten waren und jetzt wie Korn unter der Sense schwankten und fielen. Der Schütze nahm noch das typische ›Wumm‹ eines explodierenden Benzintanks wahr, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er starb. Miller riß das Lenkrad des Jeeps nach rechts. Die Hauptstraße, die vom Platz wegführte, lag vor ihnen. Metallisch dröhnte das Rattern der Brownings in seinen Ohren. Plötzlich roch es, als würde trockenes Präriegras brennen. Der Geruch erinnerte Miller an die Zeit, als er für einen Sommer lang auf den Ölfeldern in Kansas gearbeitet hatte. Natürlich gab es hier kein Präriegras. Was er roch, war das Reisig, das durch das Mündungsfeuer der schweren Maschinengewehre in Brand gesetzt worden war. Das Holz war trocken wie Zunder. Mallory und Andrea feuerten noch immer mit kurzen, scharfen Garben. Miller schrie: »Schmeißt das Zeug runter!« Vom Dorfplatz kam ein höheres, schärferes Krachen. Karabinerschüsse. Eine Kugel prallte gegen die Radaufhängung und jaulte als Querschläger gen Himmel. Mallory sagte ruhig: »Tiefer halten.« Eine Gruppe von Deutschen war in der Straße vor ihnen aufgetaucht. Die Brownings dröhnten. Noch mehr Kugeln prasselten gegen den Jeep. Dann lagen die Deutschen zusammengekrümmt am Boden, und die Federung des Jeeps quietschte, als der Wagen über die Körper rollte. Die Straße hinter ihnen verschwand in einem Nebel aus grauweißem Rauch. Allmählich standen nur noch vereinzelt Häuser am
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Straßenrand. Das Knistern der lodernden Reisigreste steigerte sich zu ohrenbetäubendem Lärm. »Weg mit dem Zeug!« brüllte Miller. Hugues’ Mantel qualmte, als er sich vom Wagenboden erhob. Er hustete, und aus seinen Augen rannen Tränen. Er schob die brennenden Reisigbündel mit dem Fuß auf die Straße. Jaime tat das gleiche, während Thierry zaghaft und ängstlich einige brennende Zweige aufhob und zuerst sein kostbares Funkgerät befreite. »Saint-Jean-de-Luz«, übertönte Mallory den Fahrtwind. »Welche Richtung?« »Die Straße hinauf«, antwortete Jaime. »Dann geht ein Weg ab.« Er wischte brennende Zweige von seinem Ärmel. »Merde.« Zwischen den schweren Wolkenmassen zeigte sich in feinen Streifen der blaue Himmel. Die letzten qualmenden Reisigzweige lagen auf der Straße und blieben schnell hinter ihnen zurück. Vor ihnen erstreckte sich schwarzpoliert und in sanften Kurven die gepflasterte Straße. Sie befanden sich auf der Hauptstrecke, die aus dem Tal hinausführte. Eine Straße, auf der es von Deutschen wimmelte. Deutsche, die mittlerweile über Funk erfahren hatten, daß eine Einheit der britischen Armee in einem Jeep geflüchtet war. Zumindest hoffte Mallory, daß sie glaubten, es handelte sich um eine ganze Einheit. Auf diese Weise würde es vielleicht keine Vergeltung unter den Zivilisten geben. Aber wie hatten die Deutschen erfahren, daß sie in Colbis waren? Gut möglich, daß die Deutschen Sie bereits erwarten … Mallory fragte: »Wo im Dorf hat man Sie versteckt?« »Sie haben uns verteilt«, erklärte Jaime. »Ich kam ins Bordell. Dort hat man mich ins Bett gesteckt. Natürlich blieb alles ganz harmlos.«
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»Aber das Bordell wurde durchsucht.« »Meine Papiere sind in Ordnung.« Jaimes Gesicht wirkte dunkel und verschlossen. »Was habe ich zu befürchten?« Mallory nickte. Unausgesprochene Fragen dröhnten in seinem Kopf. »Links«, dirigierte Jaime. Der Jeep bog von der Hauptstraße ab, kroch an einer Bergflanke hinauf in die Wälder, überquerte mit knirschenden Rädern einen verlassenen Hof und folgte einer Straße mit altem Kopfsteinpflaster. »Der Schleichweg nach Saint-Jean-de-Luz«, sagte Jaime, »mündet kurz vor Saint-Jean-de-Luz in die Hauptstrecke ein. Die Landstraße verläuft unten im Tal und trifft am Ende wieder auf die Hauptstrecke nach Saint-Jean-de-Luz. Dieser Weg führt über zwei Berge und schließlich hinunter nach Saint-Jean. Aber er taugt nur für Maultiere oder Geländefahrzeuge. Es ist nur eine kleine Straße. Sie überquert nicht die Grenze, so daß die Deutschen kaum Interesse an ihr zeigen.« Sie saßen vorne zu dritt, hinten befanden sich die anderen vier. Wallace war kreidebleich und hielt die Augen geschlossen. Als der Jeep über einen Stein holperte, spannte er die Kinnmuskeln vor Schmerz. Während der nächsten Stunde arbeitete sich der Jeep knatternd den Berg hinauf. Jaime und Hugues unterhielten sich leise auf französisch. Plötzlich begann Hugues zu schreien. Sein Gesicht lief purpurrot an und war wutverzerrt. Die Finger um Jaimes Hals gekrallt, preßte er dem kleinwüchsigen Basken die Knie gegen die Brust. Dann packte er seinen Kopf, krachte ihn gegen die Karosserie und riß ihn wieder zurück. Als er zum nächsten Schlag ansetzte, schlossen sich Andreas Hände um Hugues Arme, und der Grieche löste ohne offensichtliche Anstrengung die Hände des Franzosen von Jaimes Hals. Hustend und würgend rollte Jaime zur Seite, während Hugues, noch immer
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brüllend, sich machtlos in Andreas Griff wand. Mit einer Stimme, die wie ein Gewehrschuß krachte, befahl Mallory: »Halten Sie den Mund!« Hugues schwieg. »Was ist los?« Hugues’ Augen waren groß wie Untertassen. »Lisette«, sagte er. »Was ist mit ihr?« »Sie ist nicht im Dorf. Ich dachte, daß sie schläft. Aber das stimmt nicht. Jaime hat beobachtet, wie sie weggebracht wurde. Von einem Deutschen in einem Ledermantel. Gestapo.« Hugues vergrub das Gesicht in den Händen. Vor Mitleid bekam Mallory ein hohles Gefühl in der Magengrube. »Ist das wahr?« Jaimes Gesicht hätte aus gelblichem Stein geschnitzt sein können. »Es ist wahr«, sagte er. Plötzlich setzte Hugues sich auf. »Wir müssen nach Bayonne fahren«, sagte er. »Sofort. Ohne Umweg. Mit den Waffen, die wir haben, und dem Sprengstoff können wir das GestapoHauptquartier …« »Wieviel weiß Lisette über unsere Operation?« fragte Mallory. »Sie weiß, daß wir nach Saint-Jean-de-Luz unterwegs sind«, entgegnete Hugues. »Aber sie wird niemals reden.« »Alle reden«, entgegnete Jaime. »Non!« rief Hugues außer sich. »Sie ist schwanger«, sagte Jaime. »Was glauben Sie, wird die Gestapo mit dem Kind machen?« Mit einemmal war Hugues’ Zorn verraucht, und sein Körper schien plötzlich geschrumpft. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Was ist passiert?« wollte Mallory wissen. Jaime blickte starr geradeaus, mit ausdrucksloser Miene. »Ich
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sah sie vom Fenster des Bordells aus. Sie wurde abgeführt. Sie setzten sie in einen großen Wagen und fuhren davon.« »Warum haben Sie uns das nicht früher erzählt?« »Wir haben einen Auftrag zu erledigen. Marcels Mutter hat ihr Leben dafür gegeben. So wie Jules und die anderen in Jonzères. Wir haben Krieg. Ich habe den Mund gehalten, damit unsere Entscheidung davon nicht … beeinflußt wird.« Er warf einen Blick auf Hugues, bevor er wieder Mallory ansah. »Sie hätten ebenso gehandelt.« Hugues sagte: »Nur ein Ungeheuer …« »Halten Sie den Mund«, fuhr Mallory ihn an. Natürlich hatte Jaime recht. Das Ziel der Operation bestand in der Zerstörung der U-Boote und nicht in der Verfolgung von Gestapo-Wagen durch die nördlichen Ausläufer der Pyrenäen. Indem Jaime sie so lange in dem Glauben gelassen hatte, Lisette befände sich in Colbis, bis sie ihr nicht mehr helfen konnten, hatte er Schlimmeres verhindert. Für Lisette allerdings hätte es kaum schlimmer kommen können. Mallory versuchte den Gedanken zu verdrängen, was mit ihr geschehen würde. »Sie wird reden«, sagte er. »Nicht in den ersten zwei Tagen«, entgegnete Jaime. »So lautet die Regel. Sie wird zwei Tage durchhalten, um uns Zeit zum Untertauchen zu geben.« Thierry schob seinen Strohhut über ein Auge und erlaubte sich ein bitteres Schmunzeln. »Das wissen die Deutschen auch. Sie werden sehr überzeugend sein.« »Jesus«, entfuhr es Hugues, und sein Gesicht wurde grau und blutleer. »Beruhigen Sie sich«, fuhr Thierry fort. »Wenn die Gestapo die falschen Fragen stellt, wird sie auch die falschen Antworten bekommen. Und woher sollten die Deutschen die richtigen Fragen kennen?«
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Mallory wußte, daß es im Hauptquartier von Bayonne Spezialisten gab, die jeden dazu brachten, flehentlich um Erlaubnis zu bitten, eine Aussage machen zu dürfen, ohne daß eine einzige Frage gestellt wurde. Er wandte sich an Hugues. »Wir können nichts tun. Es tut mir wirklich leid.« Hugues sah ihn mit gehetztem Blick an. »Alte Frauen haben ihr Leben hinter sich«, sagte er. »Soldaten verteidigen ihr Land. Aber wer hat das Recht, mein ungeborenes Kind als Kriegswaffe zu benutzen? Was hat dieses arme Kind verbrochen?« »Das sind Fragen, die Sie einem Priester stellen müssen«, erklärte Andrea. Mallory blickte ihn nicht an. Der Grieche hatte die Körper seiner toten Eltern in einem Fluß bei Protosami gefunden. Sie waren von bulgarischen Soldaten erschossen worden. Dann hatte man sie zusammengebunden und den Fischen zum Fraß vorgeworfen. Andrea wußte, was totaler Krieg bedeutete. Die Mörder seiner Eltern hatten dies ebenfalls gewußt, bevor sie, sehr plötzlich und alle auf einmal, umkamen. »Aber die Zeit für solche Fragen kommt erst, wenn der Krieg vorbei ist. Jetzt müssen wir einfach nur unsere Befehle ausführen und kämpfen, denn wenn wir zu denken beginnen, werden wir verrückt.« Nachdem Andrea gesprochen hatte, schwiegen alle. Der Jeep fuhr weiter, immer höher den Berg hinauf. Der dunstige Talboden verschwand langsam. Hugues hatte eine der Cognacflaschen geöffnet, die Marcel in den Jeep geladen hatte. Seine blauen Augen wurden allmählich rosa und glasig. Zwischen die Straße und das Tal schob sich ein bewaldeter Bergrücken. Die Sonne brach durch die Wolkenfetzen. Fliegen umsummten die blutige Jacke von Wallace. Die Straße verließ den Wald und wölbte sich über einen sumpfigen Bergsattel zwischen zwei Gipfeln. Hoch über ihnen, im Blau des Himmels, erblickten sie ein Geierpaar, das in den Lüften stand.
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Hier gab es keine Deutschen und kein Anzeichen für den Krieg, der draußen in der Welt tobte. Als die Straße das nächstemal bergauf führte, erkannte Dusty Miller in einem Einschnitt der buckligen Berghöhe eine glitzernde blaue Linie. Das Meer. »Wir kommen voran«, sagte er. »Und das wurde verdammt noch mal Zeit.« Die Straße senkte sich wieder, Baumreihen von Kastanien zogen vorbei, und die blaue Linie verschwand. Während der Jeep weiter bergab ratterte, erwachten Millers Lebensgeister. Endlich näherten sie sich der Küste. Der Tank des Jeeps war noch zu zwei Dritteln gefüllt. Und sie mußten weiter, unbedingt … Aber es lag eine reichlich schwierige Strecke vor ihnen, mitten durch feindliches Territorium, auf dem Weg zu einem Ziel, das bestenfalls als unbestimmt bezeichnet werden konnte. »Einen Kilometer weiter vorn kommt eine große Straße«, sagte Jaime und durchbrach damit das düstere Schweigen wie ein Taucher, der an die Wasseroberfläche zurückkehrte. »Grenzstraße. Wahrscheinlich mit Patrouillen.« »Wir nähern uns lautlos«, sagte Mallory. »Fahr noch ein paar hundert Meter. Dann stell den Motor ab, und wir rollen im Leerlauf weiter.« Leise, bis auf das Knacken der wippenden Stoßdämpfer und Hugues’ Schniefen, rollte der Jeep die Straße hinunter. In den Kastanien seufzte eine leichte Brise. Es war ein wunderbarer Frühlingsmorgen, voll Frieden und Ruhe. Nur die Vögel sangen in den Bäumen. Und man hörte kehlige Stimmen, die weiter unten von der Straße heraufdrangen. Mallory tippte Andrea an die Schulter. Der große Grieche nickte, sprang aus dem Jeep und machte sich bergab auf den Weg. Sofort schienen seine riesigen Schultern mit den Bäumen
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zu verschmelzen. Hugues beobachtete Andrea und erschauerte bei der Erinnerung an die warmen, massigen, starken Hände, die ihn von Jaime zurückgezogen hatten, als wäre er ein Federgewicht. Hugues’ Augen glitten zu Jaime, dem Mann mit dem Gesicht aus Stein, durch den er Lisette verloren hatte. Manchmal war es schwer, Soldat zu sein. Er blickte weg. Jaime anzusehen tat seinen Augen weh. Rasch und geräuschlos bewegte sich Andrea den Pfad hinunter. Als er den dunklen Schimmer der Straße weiter unten erkennen konnte, verschwand er zwischen den Bäumen, vorsichtig Farne und trockene Blätter mit den Füßen vermeidend. Ohne das geringste Rascheln durchquerte er den Wald, wie ein leichter Wind, der über den Boden strich, und nicht als schwergewichtiger Koloß von über zweihundert Pfund. Dort, wo der Wald endete, blieb er stehen. Die Straße war mit polierten Kopfsteinen gepflastert. Ungefähr fünfzig Meter links von Andrea befand sich ein Hufeisenwall aus Sandsäcken, aus dem die Mündung eines Maschinengewehrs ragte. Neben der geschützten MG-Stellung versperrte ein rotweiß gestreifter Schlagbaum die Straße. Das MG wies nach rechts, in Richtung Norden, auf französisches Gebiet. Der Zufall wollte es, daß der Jeep dieses Straßenstück passieren mußte, um die Stelle zu erreichen, wo der Pfad am Fuß eines hohen, von grauen Felsen gekrönten Berges erneut in den Wald eintauchte. Innerhalb von knapp zehn Sekunden nahm Andrea die gesamte Situation in sich auf und ging in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Dann schritt er ruhig hinter die Bäume zurück und folgte im Wald dem Talverlauf, vorbei am Kontrollpunkt. Von oben erkannte er, daß das MG unbemannt war. Die drei Schützen lagen zusammen mit zwei anderen Soldaten am
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Straßenrand im Gras und rauchten. Einer von ihnen erzählte einen schmutzigen Witz, den Andrea in der Stadt auf Navarone schon einmal gehört hatte. Mit raschen Schritten ging er weitere hundertfünfzig Meter durch den Wald, immer parallel zur Straße, in Richtung Spanien. Dann hängte er sich die Maschinenpistole vor die Brust, zog seinen Helm zu den Augen herunter und trat auf das Straßenpflaster. Beim Klang seiner Stiefelabsätze blickten die drei Männer am Straßenrand auf. Leichtfüßig und die Augen unter dem Stahlhelm verborgen, marschierte der riesigste Soldat der Waffen-SS, der ihnen jemals begegnet war, auf sie zu. Einen Soldaten der SS mit Schnurrbart hatten sie noch nie zu Gesicht bekommen. Und als anständige Infanteristen der Wehrmacht mochten sie weder die SS noch Schnurrbärte. Der Feldwebel, der den Witz erzählt hatte, gab folglich vor, den Neuankömmling nicht zu bemerken, bis er direkt über ihm stand. Dann blickte er auf. »Was, zum Teufel, wollen Sie?« fragte er. »Rasiert werden?« Die Männer im Jeep auf der Anhöhe hörten nichts. Eine Drossel sang, und aus einer Kastanie flog lärmend eine Taube auf. Ansonsten herrschte Stille. Eine Stille, die Mallory an das Schweigen hinter der Tür eines Operationssaals erinnerte. Andrea würde sein Bestes geben. Nach fünf Minuten folgte, vermischt mit dem Gesang der Drossel, der kreischende Ruf einer Bergeule. »Abfahrt«, kommandierte Mallory. Miller setzte den Jeep in Gang. Diesmal ließ er den Motor an, denn es gab keine Feinde mehr, die den Wagen gehört hätten. An der Straße wartete Andrea. Er wischte sein langes, gebogenes Messer an einem Grasbüschel ab. Auf der grasbewachsenen Böschung nicht weit von ihm starrten fünf Männer in grauen Uniformen blicklos in den Himmel.
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Zwischen den gelben und weißen Blumen, auf denen sie lagen, leuchtete viel Rot. Doch für Mohnblumen war es in diesem Jahr noch zu früh. Andrea kletterte in den Jeep, und Miller trat das Gaspedal nieder. Oberhalb der Straße stolperte eine Gestalt in Feldgrau zwischen den Bäumen hervor, sich die Hose zuknöpfend. Als der Soldat den Jeep sah, rief er: »Halt!« Mallory rückte den Helm zurecht und griff nach seiner MP. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte er. Doch Hugues war der Cognac, den er getrunken hatte, heiß zu Kopf gestiegen. Der Himmel, die Bäume und die Berge verschwammen ineinander. Es war schwierig, Soldat zu sein und Befehlen zu gehorchen. Wenn das bedeutete, daß diese Frau, die Frau, die er liebte, Lisette … ihre Fingernägel, dachte er, ihre Zähne. Sie reißen sie mit Zangen aus. Und das Baby … In der Mitte seines Gesichtsfeldes bewegte sich plötzlich etwas Neues, Graues. Ein deutscher Soldat. Hugues wußte, daß er vor diesen Kämpfern mit ihren wie aus Granit gemeißelten Gesichtern eine schlechte Figur abgegeben hatte. Aber seine Gedanken wurden von einem neugeborenen Baby beherrscht und von einem Mann mit einer Zange in der Hand. Er hörte Lisette schreien, denn der Mann kam näher. Er bewegte sich aber nicht auf Lisette zu, sondern in Richtung des neugeborenen Kindes … Der Mann war ein Deutscher wie dieser Soldat. Er mußte getötet werden. Und es war Hugues’ Aufgabe, das zu erledigen, denn so konnte er die Achtung der anderen zurückgewinnen. Plötzlich hielt er ein Gewehr in den Händen, und sein Finger umschloß den Abzugsbügel. Das Gewehr schlug zurück, und die Luft war erfüllt vom Krachen der Schüsse. Die Kugeln flogen zu hoch. Jemand riß Hugues die Waffe
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aus der Hand. Der graue Soldat warf sich zu Boden und rollte außer Sichtweite, in einen Graben. Sein Gewehr feuerte dreimal. Der dritte Schuß klatschte gegen den Jeep. »Weiterfahren«, befahl Mallory ruhig. Der Jeep dröhnte die Straße hinauf und bog in einen Weg auf der gegenüberliegenden Seite ein. Nach einem halben Kilometer befahl Andrea: »Halt an.« Miller brachte den Jeep am Fuß eines langen, steilen Abhangs zum Stehen. Andrea schwang die Beine über die Tür, angelte auf dem Rücksitz nach seiner Bren, schulterte das leichte britische MG, als wäre es ein einfaches Jagdgewehr, und sprang den Weg hinunter. Er mußte nicht weit gehen. Diese Seite des Tals war mit großen grauen Sandsteinplatten bedeckt, auf denen nichts wuchs. Andrea fand eine Plattform, von wo aus er die Straße überblicken konnte, warf sich flach dahinter und hob den Kopf gerade rechtzeitig, um die feldgraue Gestalt wie ein Kaninchen in der hufeisenförmigen Festung aus Sandsäcken verschwinden zu sehen. Die Umgrenzung warf dunkle Schatten, doch Andrea wußte – als könnte er hindurchsehen – genau, was der Mann tun würde. Hinter den Sandsäcken mußte es ein Feldtelefon geben, und der Mann würde es benutzen, um Verstärkung anzufordern. Vorsichtig richtete er das leichte MG auf die Deckung gebende Hufeisenform und zielte mit dem Visier etwas höher. Dann feuerte er und setzte vier einzelne Schüsse in den oberen Rand der Sandsäcke, bevor er sich rasch aufrichtete. Unten, in der MG-Stellung, hob sich etwas aus dem Schatten hervor, das wie eine graue Schildkröte aussah oder wie ein Stahlhelm. Der Mann unterbrach das Telefongespräch, um sein Leben zu verteidigen. Andrea sah, wie sich der graue Helm bewegte, während der Soldat mit den Augen die Gegend nach ihm absuchte. Als sie ihn entdeckten, wurde unter dem Helm
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eine menschliche Gestalt sichtbar, die mit aller Kraft das schwere Maschinengewehr auf der Lafette herumriß. Andrea wartete geduldig, ohne Haß. Dummkopf. Hätte am Telefon bleiben sollen, dachte er mit der überlegenen Mißbilligung eines Könners, der einem Dilettanten bei der Arbeit zusieht. Tödlicher Fehler. Das Visier der Bren nahm den Stahlhelm aufs Korn, und Andreas riesiger Finger drückte auf den Abzug. Das Rattern des Maschinengewehrs hallte von den Felshängen und Abgründen wider. Unten in der MG-Stellung warf die kleine Gestalt die Arme auseinander, fuhr hoch und fiel über die Mauer aus Sandsäcken. Dort blieb sie reglos liegen. Andrea roch Benzin, bevor er den Jeep sah. Als er über den Hügel kam, waren die anderen Männer ausgestiegen. »Problem gelöst«, sagte er. »Dafür haben wir ein neues«, erklärte Mallory. In den Gesichtern der Männer, die um den Jeep herumstanden, bemerkte Andrea eine seltsame Ausdruckslosigkeit. »Wir haben eine Kugel im Benzintank. Hatte dein Freund Zeit, sein Hauptquartier zu erreichen?« »Schwer zu sagen«, antwortete Andrea. »Ist alles Benzin weg?« »Bis auf den letzten Tropfen.« Mallory und Jaime stellten sich hinter das Fahrzeug, Miller daneben. Andrea stemmte sich mit der Schulter dagegen. Als der Wagen zu rollen begann, drehte Miller das Steuerrad. Der Jeep gewann an Geschwindigkeit, holperte über einen Felsen und verschwand scheppernd in einem Abgrund. Thierry hatte neben seinem Funkgerät gehockt und mit der Wählscheibe gespielt. »Von jetzt an Funkstille, bitte«, ordnete Mallory an. Thierry nickte und schulterte das Gerät. »Wie weit ist es noch?«
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»Zwanzig Kilometer bis zum Meer«, sagte Jaime. »Ein Gebirgskamm liegt noch dazwischen. Ein hoher Grat.« Mit einem Gähnen nahm Miller seine messingbeschlagenen Kisten auf. »Ganz angenehm, sich nach einer langen Spazierfahrt die Beine vertreten zu können.« Andrea sagte: »Ich werde Wallace stützen.« Der Mann vom SAS stand bereits aufrecht. Sein Gesicht hatte die Farbe von Holzasche, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« »Kommen Sie«, entgegnete Andrea und trat mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Wallace hob die Krücke und stieß sie gegen Andreas Brustknochen. »Ich komme allein zurecht.« »Manchmal ergeben sich die tapfersten Männer«, sagte Andrea. Aber Wallace fühlte sich in seinem Stolz gekränkt. Seine Augen wurden hart, und er bekam erneut diesen wilden Blick, den Mallory schon an ihm kannte. »Verdammt, niemand vom Sondereinsatzkommando sagt mir, was Tapferkeit ist.« Seine Hand fuhr automatisch zum Pistolenhalfter an der Seite. Achselzuckend wandte Andrea sich ab, wobei er für einen Moment dem Blick Mallorys begegnete. Andreas Augen waren ausdruckslos, doch Mallory kannte den Griechen gut genug, um zu wissen, daß er beunruhigt war. Sie befanden sich allein auf einer Kalksteininsel, umgeben von einem Heer feindlicher Deutscher. Das war wahrlich nicht der richtige Moment, um über gekränkten Regimentsstolz zu streiten. »Wir wollen nicht durch Sie aufgehalten werden«, sagte Mallory. Der Engländer preßte beleidigt die Lippen zusammen. »Niemand hält Sie auf.« Dann besann er sich. »Sir.« Mallory zuckte die Achseln. »Jaime geht als erster«, sagte er. »Und dann Marsch.«
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Sie setzten sich in Bewegung. Ihre Lage hatte sich verbessert, dachte Mallory. Die Gruppe war immer noch zu groß. Sie führten einen Betrunkenen und einen Verwundeten mit sich, und obendrein besaßen sie kein Fahrzeug mehr. Aber immerhin hatten sie ein Ziel. Zumindest das stand auf der Habenseite. Auf der Sollseite hingegen prangte, daß sie quer durch die Pyrenäen eine Spur toter Deutscher hinter sich gelassen hatten. Aber daran ließ sich nichts mehr ändern. Sie hatten keine andere Wahl, als weiterzumachen. Vom Talboden stieg der Pfad steil an und führte dann nach Norden. Der Weg war leicht begehbar, da er für Maultiere angelegt worden war und weite, durch Steinkanten befestigte Stufen besaß. Die Vegetation nahm sich spärlich aus. Bis sie eine ausgetrocknete Schlucht zwischen riesigen, überhängenden Klippen erreichten, setzten sich die Kalksteinplatten aus den tieferen Regionen fort, allerdings weniger zerklüftet. Wallace schleppte sich weiter und zuckte jedesmal zusammen, wenn seine Krücke gegen einen Felsen stieß. Die Fliegen umsummten ihn und krabbelten über seinen geschwärzten Verband am Bauch. Zu Beginn ihres Fußmarsches war es heiß. Doch dann trübten Zirruswolken die Sonne ein, bis sie gegen elf Uhr ganz verschwand und sich ein schwarzes Wolkenband über den Himmel zog. Nachdem die Verfolgungsjagd hinter ihnen lag und der Adrenalinspiegel gesunken war, machte sich Mattigkeit breit als Folge der vergangenen, schlaflosen Nacht. Gegen die Schwerkraft ankämpfend, setzten sie einen Fuß vor den anderen und arbeiteten sich über die endlosen Maultiertreppen durch das ausgetrocknete Tal nach oben, auf eine Horizontlinie zu, der immer wieder eine neue, noch höhere folgte. Jaime bewegte sich mit dem stetigen, geraden Schritt der Bergbewohner. Unter dem Gewicht seines
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Funkgeräts stapfte Thierry hinterher. Der Schweiß lief ihm in Strömen über die dicken Wangen und färbte seinen Hemdkragen und das Innenband des Strohhuts dunkel. Hugues hatte den Kopf in den Nacken gelegt und stolperte oft. Wenn er angesprochen wurde, verweigerte er die Antwort. Wallace, dessen Krücke auf dem steinigen Untergrund knirschte, kämpfte sich voran, das Gesicht vor Schmerz und Anstrengung verzerrt. Um Mittag wurde es kalt, Sprühregen setzte ein. Vom Atlantik näherte sich eine neue Wetterfront. »Wie weit ist es noch bis zum Gipfel?« fragte Mallory. »Eine Stunde«, antwortete Jaime. Er preßte die kleinen schwarzen Augen zusammen und blinzelte in die tiefer ziehenden Wolken. »Bald werden wir einen Unterschlupf aufsuchen müssen.« »Warum?« »Schnee«, entgegnete Jaime knapp. »Ich kenne eine Höhle.« »Keine Höhlen mehr«, entgegnete Mallory. »Wir müssen weiter.« »Dies ist … eine besondere Höhle«, erklärte Jaime. »Zwanzig Minuten von hier entfernt.« »Eine besondere Höhle?« fragte Mallory. »Es wird Sturm geben«, sagte Jaime. »Im Augenblick sollten wir unsere Kräfte für den Weg sparen.« »Dann los«, sagte Mallory. »Zwanzig Minuten.« Man hörte Poltern und Krachen. Wallace war gestürzt und lag reglos auf dem Boden. Andrea kauerte sich neben ihn, legte die Hand auf seine Stirn und blickte zu Mallory hoch. Sein Gesicht, dessen Ausdruck normalerweise nicht zu deuten war, wirkte besorgt. »Fieber«, stellte er fest. »Kannst du ihn tragen?« »Natürlich.« Andrea hob den Verwundeten auf, schwang ihn
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sich über die Schulter und marschierte los. Nach kurzer Zeit hörte es wieder auf zu regnen. Die Wolken über ihnen hingen noch hoch, aber an den Felsüberhängen saßen schmutzige Nebelfetzen, und die Luft traf naß und schneidend auf ihre Gesichter. Der Weg durch die Schlucht führte sie immer höher, bis zu einem Abhang aus nacktem Kalkstein, der sich im Winkel von fünfundvierzig Grad vor ihnen erhob. Mallory hörte Andrea atmen. »Hier hinauf«, kommandierte Jaime. Aus dem oberen Ende des Abhangs wuchs eine Felswand empor. Davor lag ein kleines Plateau, das sich zu einer merkwürdigen, engen Rinne verjüngte, die aussah wie eine Schlucht im Embryonalstadium. Die steilen Wände der Rinne führten direkt in das Felsmassiv und endeten vor einem Haufen übereinandergeschichteter Steinblöcke. »Hier rein«, sagte Jaime. »Hinter die Felsbrocken.« Mallory blieb oben auf dem Steilhang stehen. In seinen Ohren klang sein keuchender Atem, und er hörte das pulsierende Blut durch die Adern rauschen. Doch ein weiteres Geräusch drang zu ihm vor. »Hinein in die Höhle«, befahl er. »Schnell.« Auf den losen Scherben des Kalksteins schlitternd, begannen sie zu rennen. Alle hatten es gehört – das gleichmäßige Dröhnen eines Flugzeugmotors. Bis zur Höhle würden sie nicht mehr kommen. »Runter!« brüllte Mallory. Sie ließen sich zwischen den Felsblöcken platt zu Boden fallen. Das Dröhnen wurde stärker. In langsamem Tempo folgte das Aufklärungsflugzeug, eine Fieseler Storch, dem aufwärts führenden Pfad. Aus seinem Versteck zwischen zwei Felsbrocken konnte Mallory deutlich das Blinken der Okularlinsen erkennen, als der Beobachter den Feldstecher
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bewegte, während die Fieseler Storch über dem kleinen Plateau kreiste. Die Maschine flog weiter, die andere Bergseite hinunter. Mit letzter Kraft schleppten sie sich in die Höhle. Der Eingang war nicht viel mehr als ein Riß in der Felswand, doch nach innen vergrößerte sich der Spalt und wurde zu einem Raum, der an ein Zimmer erinnerte. Der Boden war mit Steinschutt und Ziegenkot bedeckt, die hohe Decke verlor sich im Dunkel des Inneren. Bis auf gelegentliche Wassertropfen, die sich von den Felswänden lösten, war es trocken in der Höhle. Aus dem dunklen Bauch des Berges kam ein kalter Zugwind und brachte den muffigen Geruch nach Stein mit sich. »Ob sie uns gesehen haben?« fragte Thierry. Mallory lud den Rucksack von den Schultern. »Keine Ahnung«, entgegnete er. »Zwanzig Minuten. Dann gehen wir weiter.« Andrea suchte Mallorys Blick und verschwand durch den Eingang nach draußen. »Hätten sie uns gesehen, wären sie die gleiche Strecke zurückgeflogen, um Bericht zu erstatten.« Unter der Krempe seines Strohhuts blickte Thierry angsterfüllt hervor. »Glauben Sie nicht?« »Sicher«, entgegnete Mallory, nur um Thierry zu beruhigen. »Wir sollten etwas essen.« Er begann in seinem Proviantsack zu kramen und holte Sardinenbüchsen und Schokoladentafeln heraus. »Soll ich was zusammenbrutzeln?« fragte Miller. »Noch nicht«, antwortete Mallory leichthin. »Sieh zuerst nach Wallace, bitte.« Wallace lag auf dem Steinboden. Andrea hatte ihm einen Rucksack unter den Kopf geschoben. Das Gesicht des Engländers war eingefallen. Die Haut spannte sich wie trockenes Pergament über das hervortretende Nasenbein und
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die Wangenknochen, und sein Körper strahlte eine ungesunde Hitze ab. Er hatte die Augen geöffnet, doch sein Blick war dumpf und glasig. »Schmerzen«, sagte er. Miller kauerte sich neben ihn. »Nur ein kleiner Stich«, erklärte er. »Wie die Kokotte zum Bischof sagte.« Er schob dem Mann vom SAS die Morphiumspritze durch die schneeweiße Haut in den lose herabhängenden Oberarm. Wallace stöhnte und wand sich. Dabei sprach er mit hoher, unverständlicher Stimme. Dann fielen ihm die Augen zu. Miller knöpfte die Jacke des Engländers auf und löste den Verband um seinen Bauch. Als er die Mullstreifen zur Hälfte abgewickelt hatte, verharrte er einen Augenblick mit reglosem Gesicht. Dann zündete er sich eine Zigarette an und sog tief den beruhigenden Rauch ein. Die Wunde machte einen alles andere als beruhigenden Eindruck. Der Krater auf der rechten Bauchhälfte hatte aufgedunsene Ränder, die in ungesundem Rot leuchteten, das sich ins Gelbliche verfärbte. Ein leichter Geruch stieg von ihr auf. Wie aus einem Lagerraum für Fleisch nach einer schwülen Nacht. Und das war nur der äußere Eindruck. Die Wunde sah aus, als wäre die Kugel unter den Bauchmuskeln von der rechten zur linken Körperhälfte gewandert. Sie befand sich noch immer irgendwo in Wallace’ Eingeweiden. Unter den gegenwärtigen Umständen konnte Miller unmöglich feststellen, welche inneren Verletzungen sie angerichtet hatte, und er legte auch keinen Wert darauf. Nach kurzem Kramen im Erste-Hilfe-Kasten holte er eine Dose mit Sulfonamidpuder heraus. Er schüttete eine dicke Schicht auf die Krateröffnung und deckte die Wunde mit frischen Mulltüchern ab. Während Andrea den Oberkörper von Wallace anhob, legte Miller dem Verletzten einen neuen weißen Verband an, damit die Wunde ordentlich versorgt war. »Wie geht es ihm?« frage Mallory.
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Mit der noch brennenden Kippe zündete Miller sich eine neue Zigarette an. »Könnte Glück haben«, antwortete er ohne Überzeugung. »Kannst du was tun?« »Nur das Maul aufreißen und staunen, wie er die tausend Meter den Berg hinauf geschafft hat«, sagte Miller. »Auf das Loch habe ich dick Sulfonamid gestreut. Tja, und wir könnten ein bißchen beten. Wäre nicht verkehrt.« Mallory nickte. Die anstrengenden Wochen, die hinter ihnen lagen, waren Miller anzumerken. Seine Augen traten aus tiefen Höhlen hervor, und in ihnen stand ein eigenartiges Glimmen. Miller hatte schon immer einen ausgeprägten Sinn für Humor besessen, doch jetzt wurde beißender Sarkasmus daraus. »Aber eines sage ich dir«, fuhr Miller fort. »Wenn er mit diesem Loch im Bauch den Berg hochkommt, kann er vielleicht sogar fliegen.« Miller entnahm seinem Rucksack eine Büchse Ölsardinen, schob sich die Fische mit einem Messer in den Mund und kaute schweigend. Mallory setzte sich und streckte die schmerzenden Gliedmaßen aus, während er ebenfalls seine Ölsardinen aß. Er war erschöpft. In achtundvierzig Stunden würden die Werwölfe in See stechen. Höchste Zeit, daß sie weiterkamen … Aber wenn sie Wallace zurückließen, würde er sterben. Schläfrig verhandelte Mallory mit sich selbst. Lisette hatten sie bereits zurückgelassen. Warum nicht auch Wallace? Wenn die Fieseler Storch sie entdeckt hatte, würden die Deutschen ihn hier finden. Und Wallace würde reden. Mallory bemerkte, daß er einnickte. Rasch setzte er sich auf, nahm eine Tablette Benzedrin aus seinem Gepäck und steckte sie in den Mund. Hugues saß dösend über seiner Cognacflasche. Mallory beugte sich zu ihm hinüber, griff nach der Flasche und spülte die Tablette mit einem gierigen Schluck hinunter, bevor er die
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Flasche an Jaime weiterreichte. Andrea würde Wallace tragen müssen. Suchend blickte Mallory sich zwischen den grauen trostlosen Schatten um, doch er konnte den Griechen nirgends entdecken. Wahrscheinlich stand er draußen Wache. Steifbeinig kam Mallory auf die Füße und ging zur Höhlenöffnung. Vor ihm erstreckte sich die Rinne wie ein Korridor, dessen Dach der wölkenverhangene Himmel bildete. Während der zehn Minuten, die sie sich in der Höhle aufgehalten hatten, war die Wolkendecke herabgesunken, und das Schwarz hatte sich in undurchdringliches Grau verwandelt. Milliarden wirbelnder Schneeflocken wurden von bitterkalten Sturmböen durch den Höhleneingang hereingetrieben. Draußen, in der Felsrinne, lagen die Umrisse der Steinblöcke bereits unter einer weißen Hülle und verschmolzen mit der Umgebung. Von Andrea war nichts zu sehen. Jaime erschien an Mallorys Seite. »Jetzt trennt uns nur noch ein kleiner Berg vom Meer.« »Wie weit?« »Zwölf Kilometer.« »Es schneit.« »Weiter unten nicht. Oben schneit es, unten fällt Regen.« Jaime lachte. Der Cognac hatte seinen Augen ein schalkhaftes Glitzern verliehen. »Wenn Sie wollen, können wir mittendurch gehen.« »Was meinen Sie damit?« Mallorys Arm nehmend, führte Jaime ihn in die Höhle zurück und wies auf den ganz im Dunkeln liegenden, hinteren Raum. »Früher trat hier der Fluß aus dem Felsen. Er fließt noch immer durch diesen Berg, hat aber einen anderen Ausgang gefunden. Nun tritt er im Tal, nahe der Straße nach Hendaye, wieder aus. Manche meinen, er entspringt in diesem Berg. Ich kannte einmal einen Mann, der Norbert Casteret hieß. Er
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erzählte mir, er hätte diesen Berg durchquert. Er war ein großer Langweiler und hat mir den Weg in allen Einzelheiten beschrieben, Schächte, Wasserfälle und das ganze Zeug.« »Faszinierend«, sagte Mallory. Die Benzedrin-Tablette ließ seine Ohren in der tiefen, schneegedämpften Stille klingen. Nur Wallace’ rasselnder Atem und das von der Decke tröpfelnde Wasser waren zu hören. Als Jaime vom Fluß sprach, trat ein neues Geräusch hinzu – es klang wie weit entferntes Grollen und Rauschen. Ein unterirdischer Wasserfall vielleicht. Mallorys Muskeln spannten sich, und seine Handflächen wurden feucht. Höhlen und Wasser … Nein, das war nicht Angst, sagte er sich. Nur das Benzedrin. Er blickte auf seine Armbanduhr. Sie hielten sich seit fünfzehn Minuten in diesem Unterschlupf auf. Es war Zeit, daß sie weiterkamen. »Abmarsch in drei Minuten«, ordnete er an. »Die äußere Route.« Hugues und Thierry stöhnten und streckten ihre vor Kälte steifen Gliedmaßen. Miller griff seinen Rucksack und die kostbaren Holzkisten. Mallory schulterte sein eigenes Gepäck und die Waffen. Wieder ging er zur Höhlenöffnung und durchschritt die Felsrinne, um auf dem kleinen Plateau Ausschau zu halten. Wo, zum Teufel, steckte Andrea? Dann bewegte sich etwas im Schneegestöber, ein riesiger Schnurrbart und zwei schwarze Augenbrauen, die langsam größer wurden. Mallory erkannte Andrea, der ihn ansah. Der Grieche hatte ein weißes Schneehemd übergezogen und hielt die Bren im Arm. Seine Stimme klang ruhig, und er bewegte sich schnell voran. »Keith, mein Junge, wir bekommen Besuch von einer deutschen Patrouille.« Mallorys Ohren summten in der weißen Stille. »Wie viele?« »Vielleicht dreißig.« An der Plateaukante tauchte eine ausgefranste Linie dunkler
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Umrisse im Schnee auf. Deutsche Soldaten. Neben ihnen bewegten sich niedrigere Gestalten, die jaulende, bellende Geräusche von sich gaben. Hunde. Es war nicht daran zu denken, den Suchtrupp von der Höhle abzulenken. Die Hunde würden sich nicht täuschen lassen, selbst wenn es gelang, die Hundeführer in die Irre zu leiten. Andrea starrte Mallory an. »Ich klettere nach oben und lenke sie ab.« »Nein«, sagte Mallory. Seine Entscheidung widerstrebte ihm, aber die Hunde würden sich nicht irreleiten lassen. »Zurück in die Höhle.« »Aber in der Höhle sitzen wir in der Falle.« »Es gibt einen Hinterausgang.« Eine Gestalt im Schnee rief etwas, und die Linie kam zum Stillstand. Seufzend legte Andrea mit der Bren auf die Gruppe an. Das Gestammel des Maschinengewehrs klang gedämpft in der weißen, weichen Welt. Eine der Gestalten knickte ein und sank zusammen. Mallory glitt in die Felsrinne zurück. In seinen Händen ratterte die MP, während Andrea hinter ihm blieb. Über Mallorys Kopf prallten Kugeln gegen den Fels. Er spürte Steinsplitter in seine Wange stechen, dann das herunterrinnende Blut. Rasch zog er sich zum Höhleneingang zurück, während Andrea weiterfeuerte und ihm Deckung gab. Als er die Öffnung erreicht hatte, standen vier der feldgrauen Gestalten bereits am Ende der Felsrinne. Mallory und Andrea waren wieder im Höhleninneren. Mallorys MP schlug ratternd in seinen Händen, während Andrea neben ihm an den Gürtel griff. Der Grieche holte mit dem Arm aus und schleuderte einen Handgranate, die wie ein kleines dunkles Ei durch die Luft trudelte und mit einem
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gewaltigen, dumpfen Krach am Anfang der Felsrinne explodierte. Schreie ertönten. Dann setzte ein neuer Kugelhagel ein. Die Geschosse prallten vom Fels der Höhlenöffnung ab und verschwanden im dunklen Innenraum. In Mallorys Kopf begann das Benzedrin zu wirken. Wie haben sie uns gefunden? Hatten die Hunde sie auf ihre Spur gebracht? Oder die Fieseler Storch? Es spielte keine Rolle mehr. Entweder brachen sie jetzt auf, oder die Deutschen würden Verstärkung anfordern. Wahrscheinlich waren bereits zusätzliche Truppen unterwegs. Draußen hämmerte unablässig Gewehrfeuer, und am Eingang spritzten Steinsplitter unter den auftreffenden Kugeln hoch. Ob mit oder ohne Verstärkung, die Deutschen verfügten über mindestens ein schweres Maschinengewehr. Und vielleicht Mörser. Mallory dachte darüber nach, was eine Granate am Höhleneingang anrichten konnte. Er sah die Luft erfüllt von rasiermesserscharfen Stahlpartikeln und dem Steinregen zerspringender Felsen. Die Höhlendecke würde einstürzen … Die einstürzende Decke. »Miller«, sagte er. Der Corporal trat herbei, und Mallory sprach mit ihm. Nach kurzem Nicken schlenderte Miller wieder in den Schatten zurück. Über seine Schulter rief Mallory: »Jaime. Was ist mit dem Ausgang?« »Hab’ ihn gefunden«, kam die Antwort. Oh, großer Gott. Andrea kauerte hinter einem Felsblock und fing Mallorys Blick auf. Sein Gesicht nahm sich aus wie immer, großflächig und ausdruckslos über dem mächtigen, schwarzen Schnurrbart. Doch etwas an seinem breiten, unrasierten Kinn erschreckte Mallory. Andrea war allein von Griechenland nach Bulgarien marschiert, mitten durch das Herz des besetzten Mitteleuropa.
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Er war Oberst der griechischen Armee und hatte in den Reihen dieser Armee die Kapitulation erlebt. Mallory hatte achtzehn Monate mit ihm hinter den deutschen Linien auf Kreta verbracht, auf Navarone und im Zenica-Käfig hatten sie dem Tod direkt in die Augen geblickt. Doch nie hatte Mallory diesen Ausdruck im Gesicht des Griechen gesehen. Hier oben, 1500 Meter über dem Meeresspiegel, in einer muffigen Höhle, unter Massen von schichtweise übereinandergelagerten Kalksteinplatten eingeschlossen, wirkte Andrea zum ersten Mal, als hätte er resigniert. Mallory stellte fest, daß seine Muskeln angespannt waren, und in seinem Kopf bewegte sich etwas, das eilig wieder verschwand wie ein verängstigtes Tier. Er zwang sich, an den Ärmelkanal zu denken, der von einer Armada von Schiffen bedeckt war, in denen Männer dicht gedrängt beisammensaßen. Zwischen diesen Truppentransportern manövrierten riesige, sehr schnelle feindliche U-Boote, vollbeladen mit Torpedos und mit den herkömmlichen Instrumenten nicht aufzuspüren. Die Salve eines Spandau, des MG3-Maschinengewehrs der Deutschen, schlug Löcher in die Höhlenwand über seinem Kopf. »Jaime hat den Hinterausgang gefunden«, sagte er zu Andrea. Andreas Gesicht entspannte sich. Die Resignation wich der gleichmütigen Miene, mit der Andrea alles ausdrückte, von höflicher Neugier bis zu wilder Begeisterung. »Dann sollten wir ihn nehmen«, sagte er. »Bald.« Vier Minuten später saß Miller allein zwischen den Felsblöcken im hinteren Teil der ersten Höhle. Der zum Korridor führende Eingang wirkte wie ein schmales weißes Fenster, das nach oben hin spitz zulief. Durch den Spalt fiel das gleißende Licht der Schneelandschaft von draußen. Alles andere war schwarz. Rabenschwarze Nacht.
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Miller ließ die Helligkeit in seine Augen dringen und versuchte drei Sekunden lang an nichts anderes als an das Tageslicht und den freien Himmel zu denken. Aber seine Hand wurde kalt. Aus der Spalte rechts neben ihm am Boden, aus dem Tor zur Hölle, drang nach feuchtem Stein riechender Zugwind. Es war das Loch, in dem seine Kameraden verschwunden waren und durch welches auch Miller in die Unterwelt abtauchen mußte, wenn er seine Vorbereitungen hier oben abgeschlossen hatte … Wieder prasselte ein Kugelhagel durch den Höhleneingang. Die Querschläger erfüllten den Raum mit ohrenbetäubendem Lärm. Jenseits der Öffnung, im Schnee, erschienen plötzlich graue Gestalten, die feuernd und rennend näher kamen. Miller schoß eine MP-Salve durch den leuchtendweißen Spitzbogen. Dann glitt er in den Spalt und begann an einem doppelten Seil den Abstieg in die Dunkelheit. Die ersten beiden Deutschen standen gegen die Felswände vor dem Höhleneingang gepreßt. Sie zogen die Zündleine von zwei Stabgranaten und warfen sie in die klaffende Öffnung. Mit hohlem Dröhnen explodierten die Sprengkörper, und Rauch quoll aus dem Spalt. In dem schwarzen Innenraum regte sich nichts. Um ganz sicher zu sein, warfen die deutschen Soldaten zwei weitere Granaten hinein und warteten auf den Knall. Sie erlebten ihn nicht. Statt dessen hörten sie ein gewaltiges Dröhnen und sahen eine Flammenwand aus dem Höhleneingang schlagen, die den Schnee im Umkreis von fünfzehn Metern zum Schmelzen brachte. Durch die Druckwelle wurden die Männer, die die Granaten geworfen hatten, hochgewirbelt und wie Kanonenkugeln aus der Felsrinne auf das Plateau geschleudert. Dort blieben sie liegen und wurden unter Felsbrocken begraben, die als dichter Steinregen vom Himmel fielen. Wo vorher die
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Höhle gewesen war, klaffte nur mehr ein Spalt im Berg, zur Hälfte angefüllt mit rauchenden Gerölltrümmern. »Mein Gott«, entfuhr es dem Feldwebel, »was für ein Zeug füllen die bloß in ihre Granaten?« »Egal. Es hat seinen Zweck erfüllt«, antwortete der Sturmbannführer. »Holen Sie die Männer, und dann lassen Sie uns um Himmels willen aus diesem Schneetreiben verschwinden.« Miller hatte sich sieben Meter tief in der Spalte abgeseilt, als die riesige Explosion losdonnerte. Glühende Hitze schlug ihm ins Gesicht und versengte seine Brauen. Das Doppelseil in seinen Händen löste sich in zwei einzelne Seile auf. Für einen endlos scheinenden Moment kam ihm der Gedanke, daß die Kilobombe Plastiksprengstoff mit dem Dreißig-SekundenZünder nicht nur imstande war, eine Kalksteinhöhle in die Luft zu jagen, sondern auch das drahtverstärkte Kletterseil zu zerreißen. Dann war er krachend auf feuchtem Steinboden gelandet, und ein stechender Schmerz im Bein zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Millers Lungen füllten sich mit Staub, während Steinbrocken auf seinen Kopf fielen. Langsam kehrten seine Sinne wieder zurück. Er lag an einem Ort, der vom gelben Licht einer Taschenlampe erhellt wurde, und die Steine, die ihm auf den Kopf prasselten, waren nicht allzu groß. Der Schmerz in seinem Bein ließ bereits wieder nach. Eine Prellung, kein Bruch, dachte er erleichtert. Er suchte in der Brusttasche seines Kampfanzugs nach einer Zigarette und zündete sie an. Im Licht der Taschenlampe sah er senkrecht Rauch aufsteigen, während vor der Sprengung Zugwind in der Höhle geherrscht hatte. »Sieht aus, als ob das Dach eingestürzt wäre«, bemerkte er. »So ungefähr«, antwortete Mallory mit einer Stimme, die
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vielleicht etwas zu heiter klang. »Danke, Dusty.« Jetzt müssen wir nur noch hier herauskommen und die verdammten U-Boote finden, dachte Miller. Mallory zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Der Schachteingang war eng gewesen, beinahe zu eng für Andrea. Weiter unten hatte die Spalte sich geweitet. Hier in der Tiefe fühlte Mallory sich besser, solange er nicht an die gewaltigen Felsmassen dachte, von denen sie eingeschlossen waren, oder an den mit Dynamit zerstörten Eingang … Mallorys Herz hämmerte bis zum Hals. Er konnte kaum atmen. Die tonnenschweren Felsen über ihm legten sich wie ein Alpdruck auf seine Brust. Jetzt nicht in Panik verfallen, ermahnte er sich. Dazu war Zeit, wenn er den Auftrag erledigt hatte. Im Augenblick trug er die Verantwortung für sechs Männer. Das Benzedrin tat ihm gut. Er machte einen tiefen Atemzug. »Taschenlampen aus«, befahl er. »Benutzen Sie immer nur eine, aber nur, wenn wir gehen.« Das Licht erlosch. Schwer und erstickend wie feuchter Samt senkte sich Dunkelheit herab. »Jaime«, sagte Mallory. »Ihr Freund Casteret – was hat er Ihnen erzählt?« »Das war vor zwei Jahren«, entgegnete Jaime. »Versuchen Sie sich zu erinnern.« Es entstand eine Pause, in der Mallory förmlich die Rädchen in Jaimes Gehirn surren hörte. »Er ging in die Höhle«, begann er. »In den Schacht hier. Das alte Flußbett. Er sagte, es gäbe viele Passagen. Der Fluß hätte zuerst diesen Weg genommen, dann einen anderen, der tiefer liegt, und später wieder einen neuen. Deshalb ist der Berg voller Löcher, wie ein Schweizer Käse. Einige Gänge sind verstopft, in anderen steht Wasser. Es gibt eine Passage, denn Casteret hat sie gefunden. Aber er brauchte viele Tage.« »Das ist alles?«
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»Das ist alles.« Viele Tage. In dieser Dunkelheit. Mallory konnte seinen eigenen Atem überlaut hören. »Wenn wir uns bergab halten, können wir also nicht viel falsch machen.« »Vielleicht«, sagte Jaime. »Nun gut«, entschied Mallory. »Ich gehe voran. Hugues und Andrea, ihr tragt Wallace.« Sie bauten eine Art Sänfte aus Tragegurten und der Krücke, die Wallace benutzt hatte. Mallory erhob sich und streckte seine steifen Gliedmaßen. Dann knipste er die Taschenlampe an. Es ging los. Im Lichtkegel der Lampe tauchte eine blankpolierte Galerie auf, die steil abwärts führte. Teilweise war sie so hoch, daß der Lichtschein nicht bis zur Decke reichte. Früher bildete der Durchgang eine Ablaufrinne für saures Regenwasser, das sich seinen Weg durch eine Schicht Kalkstein gebrannt hatte. Inzwischen war das Wasser verschwunden und hatte ein Bett aus grauen Kieseln zurückgelassen, auf dem sie nun mit knirschenden Schritten gingen, immer tiefer, durch den Vorhof der Hölle. Auf diese Weise kamen sie ungefähr sechzig Meter voran, mit einem Gefalle von beinahe vierzig Grad, immer in westlicher Richtung, nach Mallorys Kompaß. Dann machte die Galerie eine Biegung nach rechts. Mallory leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden. Plötzlich erschienen zwei Lichtkegel. Der eine zeigte nach unten wie die Taschenlampe, während der andere zur Galeriedecke strahlte. Der Grund für den zweiten Lichtkegel war eine Spiegelung. Das Licht wurde von einem schwarzen Teich zurückgeworfen, der sich von einer Wand zur anderen erstreckte, bevor die Galerie im Wasser versank. Sie saßen in einer Sackgasse.
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Dusty Miller sah das Licht der Taschenlampe erlöschen. Er hörte das Wassertröpfeln und den rasselnden Atem der Sänftenträger und mußte an Mallorys Panikstarre im Backofen denken. Nach einigem Suchen in seiner Brusttasche zündete Miller sich eine Zigarette an. »Um Himmels willen«, sagte Hugues. Seine Stimme klang mindestens eine Oktave zu hoch. »Sie werden den Sauerstoff verbrauchen.« »Es gibt genug Luft für uns alle«, entgegnete Miller lässig, dachte dabei aber vor allem an Mallory. »Durch den Schacht heult ein kräftiger Zugwind, ist Ihnen das nicht aufgefallen?« Er hörte, daß Mallory sich räusperte, als wagte er es nicht zu sprechen. »Und für Höhlenmaßstäben ist dieses Loch recht anständig. Habe ich Ihnen schon mal von meiner Zeit in der Go-Home-Point-Amethystmine in Ontario erzählt? Kleiner, enger Schacht, und dann überraschte uns auch noch ein Wassereinbruch. Da stecke ich also, zusammen mit einer halben Tonne Dynamit und, wie sich herausstellte, einem tollwütigen Stinktier, dreißig Meter unter dem Kanadischen Schild, während sich dieses Loch schneller füllte als ein Hurenbidet …« »Erzähl uns das wann anders«, sagte Mallory. An der Stimme erkannte Miller, daß sein Boß sich wieder im Griff hatte. »Sicher«, entgegnete er. »Wollen mal sehen. Da oben, oberhalb des Wassers, muß es eine Stelle geben, von wo die Luft kam, bevor wir die Höhle gesprengt haben.« Er zog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er sie wegwarf. Sie fiel funkensprühend zu Boden. »Folglich haben wir kein Problem mit der Luft, sondern mit den Zigaretten. Ich vermute, ich muß sie bald aufrauchen, denn vielleicht werde ich heute noch richtig naß.« Miller schritt voran, neugierig das vom Lichtkegel beschienene Wasser betrachtend, während er seine Jacke aufknöpfte.
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»Nimm ein Seil«, sagte Mallory. »Klar.« Im Halbdunkel war Millers Körper zu erkennen, lang und bleich, mit sehnigen Muskeln. Er band sich das Seil in einem Palstek um die Taille, nahm die wasserdichte Taschenlampe in die Hand und betrat den Teich. Das Wasser war schneidend kalt. Die Lippen fest aufeinandergepreßt, ging Miller weiter. Der Kies unter seinen Füßen führte steil nach unten, und zwar im gleichen FünfundvierzigGrad-Winkel wie der Höhlenboden in der Galerie. Nach drei Schritten stand ihm das Wasser bis zur Brust, und er holte tief Luft. Nach dem vierten Schritt mußte Miller schwimmen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein kälteres Bad genommen zu haben. In der Hoffnung, daß es tatsächlich einen Durchgang zwischen dem Galeriedach und der Wasseroberfläche gab, durch den der Wind blies, schwamm er mit kräftigen Zügen … Vielleicht kam der Luftzug auch von einer anderen Stelle, irgendwo weit oben unter der Galeriedecke, unsichtbar und unerreichbar, und das hier war lediglich ein Felsenbecken ohne Ausgang, so tief wie der Berg hoch war und vollgelaufen mit eiskaltem Wasser. Was für eine Art zu sterben, überlegte Miller. In Mineralwasser zu ersaufen. Wenn ich diesen Einsatz überlebe, versprach er sich selbst, werde ich nur noch Cognac trinken. Er klemmte die Taschenlampe zwischen seine Zähne und tauchte. Vom kiesbedeckten Teichrand aus beobachtete Mallory, wie der Lichtkegel der Taschenlampe im dunklen Wasser schwächer wurde und dann ganz verschwand. Er versuchte nicht an die Kälte dort unten zu denken, nicht an die schwere Drucklast der Decke und die spitzen Grate, an denen man sich verfangen konnte und die einen festhielten, so daß man jämmerlich ertrank, begraben unter tonnenschweren
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Felsmassen … Doch das aufgewickelte Seil glitt langsam durch seine Finger ins Wasser. Miller bewegte sich zügig fort … Dann kam das Seil zum Stillstand. Er wird Luft holen, versuchte Mallory sich zu beruhigen. Es dauerte eine Minute, dann noch eine, und das Seil bewegte sich noch immer nicht weiter. Das war normal, beschwichtigte Mallory sich. Dafür gab es eine Erklärung. Aber tief in seinem Inneren begann das wilde Tier erneut zu rasen. Er sitzt fest, er ist ertrunken, Herr im Himmel … Mallory bemerkte, daß er das Seil gepackt hatte und, einem Besessenen gleich, daran zerrte. Die peitschende Bewegung wühlte die Wasseroberfläche auf. Andrea trat neben ihn und sagte etwas Beruhigendes, aber Mallory konnte nicht hören, was … Plötzlich leuchtete eine Taschenlampe auf, und eine Stimme sagte: »Kälter als ‘ne Hexenbrust da drinnen.« Es war Millers Stimme. Eine Sekunde lang fühlte Mallory tiefe Scham. »Sieht aus wie der Syphon einer Toilette«, erklärte Miller. »Die andere Seite liegt etwas höher, mit Stalagmiten, Stalaktiten und dem ganzen Plunder. Hab’ das Seil um einen Stalagmiten gebunden. Oder war’s ein Stalaktit? Egal. Jedenfalls ist es kalt und feucht, aber auf der anderen Seite kann man wieder atmen.« Mallory schob die Scham beiseite. Es gab viel zu tun, und dazu brauchte er einen klaren Kopf. Miller wickelte seinen Kampfanzug in den wasserfesten Umhang und tauchte durch das Loch im eisigen Wasser auf die andere Seite zurück. Der Rest der Gruppe folgte. Mit angehaltenem Atem schob sich einer nach dem anderen unter das niedrige Galeriedach, die Kleider und Waffen zum Schutz vor dem Wasser eingewickelt. Andrea bildete den Schluß.
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Auf der gegenüberliegenden Seite stiegen sie aus dem Wasser, vor Kälte am ganzen Körper zitternd. Wallace bot den größten Grund zur Sorge. »Bewegen Sie die Arme«, sagte Mallory. »Das verbessert die Durchblutung.« Wallace hob schwach die Hände, bevor er sie wieder fallen ließ. Miller beugte sich über ihn und zog ihm die Jacke an. Der Lieutenant war zu geschwächt, um sich selbst zu helfen. »Gymnastik«, sagte Wallace und versuchte zu grinsen. Selbst sein Grinsen litt unter der schwindenden Kraft. Während sie sich niedersetzten und Suppe tranken, die sie in einem Druckkocher erhitzt hatten, überprüften sie ihre Waffen. Miller stellte das Ölkännchen am Wasserrand ab und säuberte mit einem Stück Reinigungskette das Schloß seiner Schmeisser. Als er mit dem Reinigen fertig war, fiel sein Blick wieder auf das Ölkännchen. Er hatte es einige Zentimeter vom Wasser entfernt abgestellt. Jetzt umleckte das Wasser den Sockel. Draußen, in der Natur, fielen nasser Schnee und Regen vom Himmel. Hier drinnen, in der Unterwelt der Höhle, kam das Wasser aus dem Boden. Am besten erzählte er Mallory nichts von seiner Beobachtung. Fünf Minuten später stand Mallory auf. »In Ordnung«, sagte er. »Wir gehen weiter.« Die Galerie führte wieder bergab. Es folgten noch weitere Wasseransammlungen, aber keiner der Seen reichte ihnen weiter als bis zur Taille. Den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen vergraben und mit schmerzenden Schultern unter dem Druck von Wallace’ Krücke, marschierte Hugues durch die Dunkelheit. Als er eine Hand von Wallace streifte, fühlte sie sich kalt wie Stein an. Für Hugues war klar, daß dieser Mann sterben würde. Warum sollten sie ihn also tragen, wenn sie Lisette im Stich gelassen hatten? Es war Irrsinn, einfach
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verrückt. Als Soldat akzeptierte Hugues, daß der Krieg Opfer forderte. Aber manches im Leben war zu kostbar, um es zu verlieren. Etwa das Leben der Frau, die man liebte, und sein ungeborenes Kind. Tief unten im Berg gab Hugues sich ein Versprechen. Wenn er hier lebendig heraus kam, würde alles anders werden. Er würde sich nur mehr darum kümmern, was er mit eigenen Augen und Ohren sehen und berühren konnte. Wenn sie den Auftrag überstanden hätten, würde er nicht mehr für übergeordnete Interessen kämpfen, sondern ausschließlich für die Menschen, die er liebte. Falls es ein Danach gäbe. In seinem Kopf pochte der Cognac. Hugues marschierte weiter, durchdrungen von Verachtung für Mallory und Miller und diesen Mörder, den Griechen Andrea, Männer mit kalten, eingesunkenen Augen, die sarkastische Witze rissen und gleichgültig gegenüber jedem Einzelschicksal handelten, ausschließlich das Ziel ihrer Operation verfolgend … Andreas Stiefel traf Hugues an der Ferse. Stolpernd und keuchend kam er aus dem Schritt, während das Blut in seinen Ohren laut pulsierte. Doch was er hörte, war nicht allein das Blut. Seit sie das Berginnere erreicht hatten, lag ein entferntes Rauschen in der Luft. Nun wurde das Geräusch immer deutlicher. Hatten sie es zuerst als behäbiges, gleichförmiges Grollen vernommen, so steigerte es sich nun zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll. Der Boden unter ihren Füßen erbebte unter dem Donnern und brachte die stehende Luft in der Galerie zum Vibrieren. Nach ungefähr zwei Kilometern war der Kies unter ihren Füßen feiner geworden, und der Weg führte wieder bergauf. Oben, auf einer kleinen Anhöhe, wurde die Galerie plötzlich von einem Felswall versperrt. Der Strahl von Mallorys Taschenlampe kletterte an der Wand hinauf bis zu einem dunklen Spalt ganz oben. Die Öffnung war
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dreißig Zentimeter breit. Das Röhren dröhnte jetzt so laut wie Flugzeugmotoren. Mallory setzte einen Fuß auf den Fels und begann zu klettern. Die Wand war nur sechzig Meter hoch, aber fließendes Wasser hatte den Stein geglättet und die Trittmöglichkeiten abgerieben. Mallory brauchte fünf Minuten vollster Konzentration, um die Wand zu ersteigen. Oben angekommen, wünschte er sich, es wäre ihm nicht gelungen. Als er den Kopf durch die Felsöffnung steckte, traf ihn das Donnern der herabfallenden Wassermassen wie ein Schlag, und ihm war, als würde er von einer Hand gepackt, die ihn schüttelte. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Dunkelheit. Das Licht verlor sich im Leeren. Mallory hielt den Kopf in das Getöse und blickte nach unten. Früher mußte auch diese abfallende Wand die Schwelle zu einem Wasserfall gebildet haben. Inzwischen aber hatte der Fluß ein niedriger liegendes Bett gefunden, und die Stelle, an der das Wasser hinabstürzte, war ein nackter, glatt wie Elfenbein polierter Felsgrat. Tiefer, als die Taschenlampe auszuleuchten vermochte, lag sie wie ein senkrecht in die Eingeweide der Erde führender Minenschacht vor ihm. Aus der Tiefe drang das Brüllen der fallenden Wassermassen zu Mallory herauf, während ein Schleier aus feinsten aufstobenden Wasserteilchen kühl auf sein Gesicht traf. Seltsamerweise fühlte er sich besser angesichts dieses Höllenlochs im Bauch der Erde. Obwohl unterirdisch und so dunkel wie das Innere eines Banksafes, handelte es sich doch um freien Raum. Mit etwas Fantasie ließ sich das Gelände als eine Herausforderung für Bergsteiger betrachten. Mallory rief nach Miller und Andrea. Sie verschafften sich ebenfalls einen Überblick über die örtlichen Gegebenheiten und kehrten schließlich zum Fuß der Wand zurück. »Ach du dickes Ei«, fluchte Miller. Seine Stimme klang alles
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andere als gelassen. »Wir haben zwei Seile«, erklärte Mallory. »Ich werde sie doppelt nehmen. Wenn ich einen brauchbaren Weg gefunden habe, ziehe ich zweimal. Schickt Wallace als ersten herunter. Die anderen drei lernen von euch, wie sie sich abseilen müssen.« »Idealer Ort, mit der Kletterschule anzufangen«, sagte Miller. Mallory knotete die ersten beiden Seile zusammen, legte eine Schlinge um seine Schultern und verschwand über die Kante. Die Wand war so glatt, wie sie aussah. Die Füße fanden keinen Halt. Das Seil über die Schultern und um den rechten Oberschenkel geführt, balancierte Mallory sein Gewicht gut aus, bevor er die Wand hinunterlief. Als er den ersten Knoten erreichte, befand er sich in völliger Dunkelheit. Der Schein von Millers Taschenlampe war nurmehr ein schwaches Glimmen weit oben. Das Dröhnen des Wasserfalls umgab ihn wie ein tobendes Gewitter. Mallory schaltete seine eigene Taschenlampe ein und leuchtete nach unten. Zwanzig Meter tiefer traf der Strahl auf etwas Schwarzes, Glänzendes. Es sah aus wie der von Muskelringen überzogene Rücken einer riesigen Nacktschnecke. Einen Moment lang konnte Mallory nicht ausmachen, worauf er gestoßen war. Schließlich erkannte er, was es war: ein weiterer Wasserfall. Ein riesiger Fluß, der durch ein gezacktes Loch in der Schachtwand austrat und nach unten in die schwarze, für den Strahl der Taschenlampe unerreichbare Tiefe stürzte. Das unaufhörliche Röhren betäubte Mallorys Sinne. Plötzlich tauchte vor seinen Augen ein Bild auf, in dem er sich selbst erblickte: Wie eine Spinne am seidenen Faden baumelte er über diesem mörderischen Schacht. Er blendete die Vision aus. Vor einer Million Jahren mußte der Schacht ein Strudelkessel gewesen sein, ein großer Bohrer aus Kohlensäure, der langsam ein Loch in den Kalkgestein trieb. Nachdem der Fluß sich
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fünfzig Meter tief durchgenagt hatte, verband er sich mit einem anderen Wasserstrom und nahm dessen Verlauf an. Der neue Wasserfall tauchte zu Mallorys Linken auf, beinahe im rechten Winkel aus der Wand herausschießend. Dort irgendwo, an der Stelle, wo früher der Wasserfall hinabgestürzt war, mußte sich eine Kante befinden. Mallory wußte, daß er bald das Ende des zweiten Seils erreicht hatte. Die Wand war noch immer glatt. Der Luftzug der weiß Gott wohin herabstürzenden Wassermassen streifte ihn an der linken Körperseite, und die Gischt hatte ihn bis auf die Haut durchnäßt. Er fror und fühlte sich geschwächt. Wenn er letztlich kein Gesims entdeckte, sondern nur diese glatte Wand, die direkt zum Grund der Hölle reichte? Etwas traf Mallory von hinten. Vor Schreck schrie er auf, doch dann stellte er fest, daß er mit dem Rücken auf einem Vorsprung gelandet war. Mit der Taschenlampe beleuchtete er den Untergrund. Der Sims war gut einen Meter breit und sechs Meter lang. Er glänzte feucht und war teilweise von übereinandergetürmten, mit Kalkablagerungen überzogenen Steinblöcken bedeckt. Als Mallory den Lichtstrahl über die Kante hinweg gleiten ließ, traf der Strahl noch immer kein eigentliches Ende: nur schwarzes, ohrenbetäubend tosendes Wasser, das an ihm vorbeischoß. Mallory zog zweimal fest am Seil. Dann schüttelte er sich, ging mit dem Rücken zur Wand in die Knie, und aß etwas Schokolade. Wallace traf, von Andrea abgeseilt, als erster unten ein. Ihm folgten zwei Ladungen mit Gepäck, Waffen und dem Funkgerät, und schließlich kamen auch Thierry und Hugues an. Irgendwie hatte Thierry es geschafft, seinen Hut noch immer aufzubehalten. Hugues hingegen war der Abstieg nicht gut bekommen. Er hatte Blutspuren im Gesicht. Noch fehlten Jaime und Miller, der sicherlich aus tiefster Seele fluchen
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würde. Den Schluß bildete Andrea, der die Wand am Seil heruntergesprungen kam wie eine riesige Katze. Als alle auf dem Felsvorsprung versammelt waren, stand Mallory auf, bewegte seine schmerzenden Finger, legte das Seil um einen kalkbedeckten Felsblock und verschwand erneut über die Kante. Diesmal gestaltete sich der Abstieg etwas leichter, denn seine Füße und Hände fanden gelegentlich Halt. Sechs Meter nach der Markierung für die halbe Seillänge erreichte Mallory eine Stelle, an der seine Taschenlampe keinen gelben Kreis mehr auf das schwarze Wasser warf, sondern einen weißen Lichthof bildete, der aussah, als würde er in Nebel leuchten. Die Lärmkulisse ähnelte jetzt eher einer herunterpolternden Lawine. Auch trieb ihm ein Luftzug wie ein Wind in unregelmäßigen Schüben das nach Kalk schmeckende Wasser ins Gesicht. Und plötzlich spürte Mallory wieder festen Boden unter den Füßen. Diesmal war er nicht auf einem Sims gelandet. Das auftreffende Donnern der Wassermassen verriet ihm, daß er den Fuß des Wasserfalls erreicht hatte und sich auf einer Ebene befand. Mallory zog zweimal am Seil. Dann schaltete er wieder die Taschenlampe ein und tastete sich auf der Ebene entlang. Er sah sich einem breiten Hufeisen aus gebrochenen Felsblöcken gegenüber, die eine brodelnde Wasserfläche umgrenzten. Die Wassermassen fielen in einer Breite von sechs Metern und in einer Dicke von ungefähr drei Metern herab und bildeten eine massive Säule, die sechzig Meter tief stürzte und an ihrem Fuß den See zu Schaum schlug. Dem riesigen Abfluß einer Badewanne gleich, bewegte sich der Inhalt des Sees in einem Wirbel … Mallorys Herz pochte dumpf und unbehaglich in der Brust. Er umschritt die aufgetürmten Felsbrocken und ging zum einen
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Ende des Wasserfalls. Dann kehrte er auf dem gleichen Weg zurück, um das andere Ende zu untersuchen. Eigentlich hatte Mallory erwartet, daß der Fluß am Grund des Wasserfalls einen horizontalen Verlauf nahm und durch die Bergflanke nach draußen trat. Aber es gab keinen waagerechten Durchbruch. Der Schacht, in den sie hinabgestiegen waren, war eine einzige senkrechte Röhre ohne Verbindung nach draußen, und der Grund, aus dem das Wasser im Teich wie über einem Badewannenabfluß wirbelte, lag in der Natur des Wassers, das immer einen Ausweg fand … Direkt nach unten. Mallory setzte sich auf einen Felsblock. Vorsichtig tastete er in seiner Montur nach dem Öltuchpäckchen mit den Zigaretten und dem Feuerzeug. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und wollte sie anzünden. Der Zugwind blies die Flamme aus. Mallory versuchte es noch einmal, aber die Zigarette war zu durchnäßt, um Feuer zu fangen. Bald würden die anderen bei ihm ankommen. Das Licht seiner Taschenlampe glomm in schwachem Gelb. Die Batterien waren leer. Schließlich erlosch es ganz. Als Mallory das Feuerzeug anknipste, entzündete sich das Benzin. Aber der Zugwind blies die Flammen sofort wieder aus. Mallory setzte sich hin und konzentrierte sich ganz auf sein Zittern. Die Augen geschlossen und fluchend, kam Miller als dritter, hinter Wallace, herunter. Für jemanden, der große Höhen verabscheute, waren ihm in den vergangenen Tagen weit mehr bergsteigerische Leistungen abverlangt worden, als fair war. Als er festen Boden unter den Füßen spürte, trat er vom Seilende weg. Knapp dem Tod entronnen, hatte er keine Lust,
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von einem herabstürzenden Franzosen erschlagen zu werden. Miller knipste seine Taschenlampe an, die schon zu flackern begann, suchte nach Mallory und entdeckte dann, was der gesehen hatte. Nirgends gab es einen Ausgang. Er begann ebenfalls zu zittern. Wegen des Windes … Natürlich, der Wind! Miller richtete den Lichtstrahl auf Mallory. Das Gesicht des Neuseeländers wirkte bedrückt und blaß. Er kam ihm vor wie jemand, der lange mit einem Ungeheuer gekämpft hatte und nun feststellen mußte, daß es trotz seiner größten Anstrengungen noch immer nicht besiegt war. Am Seil trafen zwei Rucksäcke ein. Miller leuchtete mit der Taschenlampe darüber und dann zu Wallace. Das Gesicht des Engländers war leichenblaß, grau und eingesunken, aber der Lieutenant hob eine Hand. Mit dem Lichtstrahl glitt Miller über seine Verbände. Die Wunde schien nicht zu bluten. Plötzlich wurden seine Gedanken unterbrochen. Der Strahl der Taschenlampe hatte den Wassersaum gestreift. Noch vor kurzem hatte ein ziegelsteingroßer Felsbrocken neben Wallace’ Fuß gelegen. Jetzt war der Stein verschwunden. Nicht, daß er wirklich weg sein konnte. Ziegelsteingroße Felsbrocken lösten sich nicht einfach in Luft auf. Der Stein lag unter der Wasseroberfläche. Folglich stieg das Wasser. Das hier war kein militärisches Problem. Aber streng genommen verfügte Miller ohnehin über wenig militärische Disziplin. Als er in die Küche abkommandiert worden war, nachdem er sich als Freiwilliger bei der Royal Air Force gemeldet hatte, verließ er kurz entschlossen seine Einheit. Nicht aus Feigheit, sondern weil er seine Talente dort einsetzen wollte, wo er dem Feind und nicht den Kartoffeln Schaden zufügen konnte. Später staunte er nicht schlecht, als ihm jemand sagte, das sei Fahnenflucht gewesen. Doch zu diesem
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Zeitpunkt befand er sich bereits hinter den feindlichen Linien und verursachte General Rommel als Mitglied der Fernaufklärungsgruppe Wüste ernsthafte Kopfschmerzen. Und niemand hatte noch Interesse daran, ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen. Als Miller nun auf dem schwarzen, kleiner werdenden Bodenstück stand, dachte er an die Zeit vor seinem Einsatz bei der Wüstentruppe. Nicht, daß er sonderlich stolz war, aber damals hatte er mit den geringfügigsten Mitteln ein Höchstmaß an Zerstörung erreicht. Das war zu Zeiten der Prohibition. Aus Gründen, die besser nicht hinterfragt wurden, nicht einmal von ihm selbst, hatte Miller sich in Orcasville befunden, einem kleinen Städtchen aus weißen Schindelhäusern am südlichen Ufer des Ontariosees. Am Anlegeplatz dieses Ortes wollte ein kanadischer Alkoholschmuggler, Melvin Brassman, seine heiße Ware anlanden. Das hätte Miller eigentlich auch kein Problem bereitet, hätten nicht Brassmans Leute für eine Menge Ärger in der Stadt gesorgt, was in der Vergewaltigung von drei Mädchen gipfelte – eines davon eine Pfarrerstochter – sowie dem Niederbrennen der Lagerhäuser von drei Kaufleuten, die Brassman als seine Rivalen betrachtete. Nachdem die Schurken auf diese Weise die Stadt in Aufruhr versetzt hatten, ließen Brassmans Leute wissen, daß sie jeden Alkoholschmuggler, der ihnen Konkurrenz machte, als Feind betrachteten und sein Schiff mit der Firewater, einem ehemaligen Schlepper, mit dem sie ihre Geschäfte betrieben, rammen und versenken würden. Brent Kent, einer der brandgeschädigten Kaufleute, hatte sich an Miller gewandt, der damals in der Region von Finger Lakes Fichtenstümpfe mit Dynamit aus dem Boden sprengte. Kent erklärte Miller die Lage und betonte, daß die Firewater schnell und spurlos verschwinden müsse, ohne daß jemand zur
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Verantwortung gezogen werden könne. In der Stadt gab es keinen Sprengstoff, dessen Herkunft nicht hätte ermittelt werden können. Aber Miller verstand nicht nur sein Handwerk als genialer Zerstörer, sondern war auch ein guter Chemiker. Er verschaffte sich ein altes, äußerlich noch seetüchtig wirkendes Dampfboot, das er Krakatau taufte und dessen Bordwände er in beeindruckendem Königsblau strich. Er verbreitete die Nachricht, mit dem Schiff nach Kanada fahren zu wollen, um dort eine Ladung Alkohol abzuholen. Mit großem Aufheben legten er und die Krakatau vom Kai in Orcasville ab. Sobald er sich außer Sichtweite des Ufers befand, stoppte er die Maschine. Zwölf Stunden später würde die tatsächliche Ladung der Krakatau bereit sein. Die bestand nicht aus Schnaps, sondern aus mehreren Dutzend Talgfässern und der gleichen Anzahl Korbflaschen, gefüllt mit Schwefel- und Salpetersäure. Mit einer Axt in der Hand stieg Miller die Stiege zum Frachtraum hinunter und hackte Löcher in die Talgfässer. Vorsichtig entkorkte er die Säureflaschen und ließ den Inhalt in den hölzernen Kielraum des alten Kahns entweichen. Anschließend ruderte er in einem Beiboot davon und wurde vom Segelboot des Bürgermeisters aufgenommen. Als sie am Ufer ankamen, sah man Miller bis zum Rand mit Alkohol abgefüllt. Überall in der Stadt prahlte er damit, draußen auf dem See läge eine riesige Menge kanadischen Whiskeys, der im Schutz der Dunkelheit angelandet würde, um Brassmans Monopol auf geschmuggelten Alkohol ein für allemal zu durchbrechen. Die großspurigen Worte erreichten schnell die Ohren von Brassmans Geschäftsführer in Orcasville, der eine Reihe von Ferngesprächen führte. In jener Nacht herrschte Vollmond, und als die Firewater von Norden herandampfte, bereit, die Konkurrenz mit einem Schlag zu vernichten, lag die vor Anker
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gegangene, als marode bekannte Krakatau mit ihrer flachen Silhouette gut sichtbar auf dem Wasser. Die Firewater dampfte volle Fahrt voraus, erreichte Rammgeschwindigkeit und bohrte sich krachend in den Rumpf der Krakatau. Doch der Captain der Firewater hatte seine Rechnung ohne Dusty Miller gemacht. Als Dusty Miller davongerudert war, dünstete das alte Schiff einen sauren Geruch und eine grünliche Chemikalienwolke aus. Jetzt, zwölf Stunden später, waren die Säuredämpfe im Bauch der Krakatau eine fettige Verbindung mit dem Talg eingegangen, und eine neue Substanz war entstanden. Die Firewater rammte also kein Schmugglerschiff, als sie ihren Bug mit zwölf Knoten in die Bordwand bohrte. Statt dessen enthielt das Schiff zehn Tonnen unsauberes und höchst instabiles Nitroglyzerin. Die Explosion, mit der die Firewater in die Luft flog, ließ auch die meisten Fensterscheiben in Orcasville zerbersten und riß den Bürgermeister des hundertfünfzig Kilometer entfernten Toronto aus dem Schlaf. Melvin Brassman verursachte keinen weiteren Ärger mehr. Hugues kam das Seil herab. Im matten Dämmerschein der einzigen Taschenlampe erkannte er, daß Miller, der Amerikaner, zu einigen Felsbrocken gegangen war, die gegenüber von dem Wasserfall lagen. Die aufgetürmten Gesteinsblöcke sahen nach einem Bergrutsch aus. Hugues zitterte im kalten Wind, der von dieser Stelle herüberwehte. Es war ein Wind, der ihn an die Welt draußen erinnerte. Merde, dachte er und starrte in die Dunkelheit. Dieser verdammte Krieg löste überhaupt kein Problem. Und erst recht nicht diese dummen, alten Männer, die ihn an den Grund dieses Wasserlochs gebracht hatten, um dort zu sterben. Der Lichtstrahl auf der anderen Seite des Sees wurde
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plötzlich unruhig und taumelte wie ein betrunkenes Glühwürmchen. Hugues blickte dumpf hinüber. Jemand kam auf ihn zu. Im Laufschritt. Ein harter Körper riß ihn von seinem Felsen und preßte ihn auf den feuchten Grund. Empört und den Mund voller Kiesel wehrte er sich, bis Miller ihn über dem Donnern des Wasserfalls anbrüllte: »Halten Sie sich die Ohren zu!« Plötzlich stand eine Vision vor Hugues’ Augen. Der Schacht verwandelte sich in eine riesige Röhre aus grauem Fels, und aus dem Wasserfall wurde eine silberne Säule, die aus dem steinernen Himmelsdach fiel. Jeder einzelne Felsblock, jede Bruchkante, jeder Sims und jeder Kiesel hob sich rasiermesserscharf vom Hintergrund ab, als der gewaltige Lichtblitz die Unterwelt erhellte. Für einen Moment verschwand das Getöse der herabstürzenden Wassermassen hinter einem neuen Geräusch, das in seiner Wucht die Hörgrenze beinahe überschritt. Es war die Sprenggewalt von fünf Pfund Gelignit, die Dusty Miller zwischen den vom Bergrutsch aufgetürmten Felsblöcken deponiert hatte, dort, wo der Zugwind am kräftigsten wehte. Als keine Felsstücke mehr herunterstürzten, begutachtete Miller das Sprengergebnis. Eindeutig saubere Arbeit, auch wenn er selbst das sagte. Die Felsbrocken hatten sich wie ein Vorhang geteilt. Wo der Explosionsherd gewesen war, klaffte ein ausgezacktes Loch von einem halben Meter Durchmesser, durch das pfeifend der Wind zog, wie Wasser in einem Feuerwehrschlauch. Miller schnupperte hoffnungsvoll und versuchte den Geruch von Krautern und den aromatischen Duft der Macchia darin zu entdecken. Es roch nach feuchten romanischen Kirchen. Na gut, man konnte nicht alles haben, dachte Miller. Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Loch. Das Licht fiel auf durcheinandergewürfelte Felsbrocken, dahinter war freier
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Raum zu ahnen. Ein ehemaliges Flußbett. Eile tat Not, bevor das Wasser hoch genug gestiegen war, um dem freigelegten Lauf zu folgen. Miller ging auf Mallory zu, richtete die Taschenlampe auf seine Hand und hob zum Zeichen den Daumen. Die steinerne Starre in Mallorys Gesicht löste sich. Sie suchten das Gepäck zusammen und verteilten die Lasten. Dann führte Miller die Gruppe durch das Loch im Felssturz. Andrea stieg als letzter hindurch. Als er zur Öffnung klettern wollte, stellte er fest, daß seine Füße bereits im Wasser standen. Der neue Durchgang war wieder eine geglättete Röhre, durch die der Wind heftig gegen die Gesichter der Männer blies. Mallory blickte auf seinen Kompaß. Sie bewegten sich nach Norden. Den Bergrücken mußten sie mittlerweile durchquert haben. Mallory war müde und hungrig. Er fror, und seine Füße fühlten sich wie durchweichte Schwämme an, so lange marschierten sie schon durch Wasser. Immerhin stimmte die Richtung. In dem Sturmwind, der ihn vor Kälte erzittern ließ, witterte er Freiheit. Vorausgesetzt, es gab einen Ausgang. Die Passage wurde flacher. Hugues stolperte, und wieder trat Andrea ihm auf die Fersen. Andrea, der mit der gleichförmigen Exaktheit einer Maschine vorwärts marschierte. Hugues hingegen war erschöpft. Er wollte seine Seite der Krücken fallen lassen, über die Wallace nach unten gesackt war, und anhalten, um seine blasenbedeckten Füße auszuruhen und im Dunkeln zu schlafen. Hinter sich hörte er Andreas Stimme: »Ich werde ihn eine Zeitlang allein tragen.« Er weiß, wie ich mich fühle, dachte Hugues. Dieser Grieche weiß genau, wie schwach ich bin und daß mein Geist keine Ruhe findet, sondern sich im Kreis dreht und immer wieder die gleichen Fragen stellt, auf die es keine Antworten gibt. Darin
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lag etwas Teuflisches. Hugues fühlte sich nackt und ausgesetzt. Um Andrea zu trotzen, erwiderte er: »Es geht schon.« Sie stapften weiter durch die Dunkelheit. Das Licht der letzten Taschenlampe wurde gelb. Kein Laut war zu hören, nur rasselnder Atem und das Rauschen von Wasser über Fels. Andrea wollte nichts sagen, aber der Wasserpegel stieg merklich. Er dachte an die herabstürzende Kaskade und die gewaltigen Wassermassen, die durch diesen Gang fließen würden. In seiner Vorstellung lief eine Kammer mit engem Ausgang voll. Es bildete sich ein See, der in die Passage drückte und sie allmählich anfüllte. Das würde ein Problem für ihre Operation darstellen, überlegte er methodisch. Wenn sie ertranken, konnte sie ihren Auftrag nicht erfüllen. Folglich sollte es besser nicht soweit kommen. Mallory marschierte weiter. Zu seinen Füßen glänzte das Wasser in dem nun orange leuchtenden Strahl der Taschenlampe und rieselte fröhlich bergab. Das Licht wurde ein orangefarbener Punkt und erlosch ganz. Mallory zog sein Feuerzeug heraus und leuchtete damit über seinen Kopf. Die Flamme flackerte im Luftzug. Vor ihnen weitete sich der Tunnel und endete in einer großen, nicht sehr tiefen Wasserfläche vor einer glatten Felswand. Darüber, in der Höhe der Decke einer Kathedrale, führte ein Schacht aufwärts. Durch diesen Schacht heulte der Wind. Die Flamme erlosch. In der sich anschließend erneut ausbreitenden Dunkelheit erspähte er am oberen Schachtende, strahlend wie ein Diamant auf dem kalten, schwarzen Samthintergrund unendlicher Tiefen, einen Lichtpunkt. Ein unerreichbares Glitzern. Als ihre Augen sich an das schwache Dämmerlicht der Umgebung gewöhnt hatten, sahen sie, daß die Kammer, in der sie standen, und der aufwärts führende Schacht einem umgedrehten Trichter ähnelten, an dessen verjüngtem Ende das Tageslicht blinkte.
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In den Zeitungen des gesamten Britischen Empires hatte Mallory mit seinen bergsteigerischen Heldentaten für Schlagzeilen gesorgt. Aber selbst ein Meisterkletterer besaß keine Saugnäpfe an den Füßen. Mallory spürte, wie jemand neben ihn trat. Miller hob sein Feuerzeug. Ein knietiefer Sturzbach direkt zu ihren Füßen speiste den See, der vor ihnen, am Ende der Kammer lag. Stalagtiten warfen rechtwinklige Schatten an die Decke, aus dem See ragten Stalagmiten heraus. Hinter jeder Kalksäule kräuselte sich leicht das Wasser. »Es fließt«, stellte Miller fest. »Aber wohin?« Inzwischen war er so durchnäßt, daß er darauf verzichtete, die Kleidung abzulegen, bevor er sich das Seil um die Taille band und ins Wasser watete. Die ersten zehn Meter stand er nur knietief im Wasser. Dann, mit einemmal, spürte er keinen Boden mehr unter den Füßen und begann zu schwimmen. Seine Bewegungen ähnelten eher dem Wassertreten, denn eine heftige Strömung riß ihn in eine Art Graben und direkt auf die vor ihm aufragende Felswand zu. In diesem Augenblick wußte Miller, daß er sich verrechnet hatte. Er öffnete den Mund, um zu rufen, doch es war zu spät. Statt dessen holte er tief Luft. Dann tauchte er unter. Die Strömung packte ihn, einer Hand gleich, und riß ihn nach unten. Mit dem Kopf voranschießend, spürte er, wie er gegen einen großen Felsen schlug. Dann steckten seine Schultern in einer schmalen Öffnung fest, zu eng für ihn, um durchzukommen. Die Strömung preßte Wasser in seine Nase, das ihm in die Lungen dringen wollte. Miller wand sich ruckartig, kam frei und prallte erneut heftig gegen einen Felsen. Er saß in einer Röhre, die so eng war, daß er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Der Wasserschub war gewaltig. Du gottverdammter Idiot, sagte er sich. Einmal
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konntest du entkommen, auch ein zweites und zehntes Mal. Aber wenn du in Gottes Wasserwerk tauchen gehst, muß es einfach Ärger geben. Und den hatte er jetzt. Seine Brust drohte zu zerspringen. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren, und sein Kopf dröhnte und vibrierte wie ein Wasserfall. Noch dreißig Sekunden länger, und er würde tot sein. Das bedeutete auch das Ende für die ›Sturmkolonne‹. Die U-Boote würden durch die Invasionsflotte schneiden wie heiße Schürhaken durch einen Butterklotz. Seine Brust war vollgepumpt mit Sauerstoff, der sich in Kohlendioxid verwandelte. Er würde ersticken. Mach dich dünner. Ausatmen. Miller atmete aus. Als sich seine Brust zusammenzog, wurde sein Körperumfang kleiner, und der Klammergriff des Tunnels lockerte sich. Wieder trieb ihn die Strömung tiefer in die Röhre hinein, bis er mit dem Kopf in ein Loch stieß. In Nase und Mund drangen Wasser ein. Jetzt würde er sterben. Er starb, während er schon das Tageslicht sehen konnte. Tageslicht? Mit letzter Kraftanstrengung wand Miller sich wie ein Aal. Und was immer seine Schulter festgehalten hatte, gab plötzlich nach, und er entkam der Umklammerung. Auf dem Rücken liegend, fand er sich in einem kleinen Bach wieder, der munter ein bewaldetes Tal hinunterplätscherte, über ihm der Spätnachmittagshimmel, aus dem vereinzelte Schneeflocken fielen. Hustend holte der Corporal zweimal kräftig Luft, bevor er auf das Loch im Berg starrte. Es war nicht größer als die Öffnung eines Dachsbaus. Während Miller noch hinsah, sprengte es auseinander und wurde zu einem Spalt, der groß
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genug war, um einen Bären hindurchzulassen oder sogar Andrea. Gleichzeitig schien der Wasserstrom geringer zu werden. Miller hatte die Röhre, die einem Flaschenhals ähnelte, mit seinem Körper aufgesprengt. Nun konnte man darin möglicherweise sogar atmen. Er zog zweimal an dem Seil. In dem kleinen Tal war es kalt. Zwar blieb der Schnee nicht liegen, aber die weißen Flockenschwärme fielen unaufhörlich, wenngleich zögerlich, aus den schweren schwarzen Wolken, die im westlich wehenden Wind zogen. Mit kalten, klammen Fingern inspizierte und säuberte die Gruppe ihre Waffen. Jaime suchte trockene Zweige zusammen und machte ein Feuer, das beinahe ohne Rauch brannte. Andrea wärmte Suppe auf, und Thierry zog sich den Strohhut wieder über den Kopf, packte das Funkgerät aus und begann die Einzelteile zu überprüfen. Miller brachte Wallace eine Dose mit gewärmter Suppe. Keiner aus der Gruppe machte einen gesunden Eindruck, doch Wallace sah furchtbar aus. Seine Haut erinnerte an graues Pergament und fühlte sich brennend heiß an. Die Augen blickten glasig. Nachdem Miller dem verwundeten Engländer etwas Suppe eingeflößt hatte, übergab der sich sofort. Seine Verletzung sah hell und blutleer aus, denn das Wasser hatte sie ausgespült. Die Ränder jedoch wirkten noch gelblicher und entzündeter als vorher. Die Schwellung war stärker geworden, und von der Wunde ging ein widerlicher, fauliger Gestank aus. »Schmerzen«, stieß Wallace hervor. »Es geht Ihnen verdammt schlecht«, sagte Miller. »Je schneller wir Sie unter ein festes Dach bringen, desto besser.« Wallace öffnete ein trübes, feuchtes Auge. »Lassen Sie mich in Frieden.« »Den Teufel werde ich«, entgegnete Miller, während er die
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Morphiumspritze einstach und die Kanüle leerte. »Wir finden schon einen Platz für Sie. Tut’s noch weh?« »Ich spüre nichts«, antwortete Wallace. »Klar«, erwiderte Miller. »Und jetzt versorge ich Ihre Verletzung.« Er verteilte feuchten Sulfonamidpuder auf der Wunde, erneuerte den Verband und breitete eine mehr oder weniger trockene Decke über den Schwerverletzten. »Wie steht’s um ihn?« fragte Mallory knapp. »Sieht aus, als ginge es bergab«, antwortete Miller mit grimmigem Gesicht. »Und er hat einen Schock, nehme ich an. Keine Ahnung, warum er noch lebt.« Mallorys tief eingesunkene Augen blickten glänzend in die Ferne. Er hielt es für ein Wunder, daß überhaupt noch jemand aus der Gruppe am Leben war. »Wir ruhen uns für zwei Stunden aus«, ordnete er an. »Jaime weiß, wo wir sind. Die Deutschen halten uns für tot. Andrea, zieh den Kopf ein.« Er beobachtete, wie Miller eine Zeltbodenplane über Wallace breitete, sich selbst in seinen Umhang rollte und sofort einschlief. Die Augen verdeckt, saß Andrea mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Es war nicht zu erkennen, ob er wachte oder schlief. Jaime und Hugues schliefen. Nur Thierry war wach. An den Knöpfen herumfingernd, hockte der füllige, hochgewachsene Mann vor seinem Funkgerät und prüfte, ob das Wasser ihm geschadet hatte. »Funktioniert das Gerät noch?« fragte Mallory. Er war leise zu Thierry getreten; eine andere Bewegungsart kannte Mallory nicht. Thierry blickte überrascht auf. Seine Finger legten einen Schalter um, und ein Kontrollämpchen erlosch. Sich vorbeugend, betrachtete Mallory das Gerät. Das Licht zeigte die Sendebereitschaft an. Der Neuseeländer spürte, wie sich seine kurzen Nackenhaare sträubten. Er schlug einen neuen, gefährlich ruhigen Ton an: »Was machen Sie da,
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Thierry?« »Ich teste die Ausrüstung«, erklärte der Funker. »Alles klar. Solange Sie nicht senden«, sagte Mallory laut. »Ich bin nicht taub.« Gereizt zog Thierry sich den Strohhut über die Augen und lehnte sich gegen einen Felsen. Mallory ging zum Talende. Es hatte zu schneien aufgehört, und manchmal rissen die schwarzen, ziehenden Wolken für einen Moment auf und gaben tiefblauen Himmel preis. Die Sonne kam durch, und unter den Bäumen wurde es beinahe warm. Genau das brauchten sie jetzt! Vor allem Wallace hatte die Wärme nötig. In vier Stunden würde die Dunkelheit hereinbrechen, und Mallory nahm an, daß Wallace eine Nacht im Freien nicht überleben würde. Dabei bereitete Wallace ihm nicht die einzigen Sorgen. Mallory nahm an, daß sie bestenfalls den halben Weg talwärts geschafft hatten. Sie mußten immer noch die Ebene erreichen und zum Meer gelangen, wo dieser Guy Jamalartégui auf sie wartete. Die Straßen zur Küste wurden mit Sicherheit von starken Patrouillen kontrolliert, denn vermutlich verließen sich die Deutschen nicht darauf, daß sie in der eingestürzten Höhle umgekommen waren. Mallory bewegte seine aufgeweichten Füße in den Stiefeln und streckte die überdehnten, abgeschürften Hände, um sich von den Schmerzen abzulenken. Die Wirkung des Benzedrins ließ nach. Er fühlte sich erschöpft und nervös. Vor allem mußten sie trocknen. Wenn ihre Kleidung wieder trocken war, würde alles anders aussehen. Aber Mallory war zu unruhig, um untätig sitzen zu bleiben. Den Wald durchquerend, marschierte er bergab, bis sich die Baumreihen lichteten. Zu seinen Füßen lag eine Wiese, die jäh in die dunstig blauen Tiefen des Tals abfiel. Die Sonne war wieder zwischen den Wolken hervorgekommen, und Mallory spürte ihre Wärme
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angenehm im Gesicht. In dieser niedrigen Bergregion war der Schnee im gleichen Moment geschmolzen, in dem er heruntergefallen war, so daß zwischen dem frischen Grün der frühlingshaften Wiese bereits Inseln von Wildblumen leuchteten. Weiter unten, im Talgrund, sah er ein Dorf mit spielzeuggroßen Häusern, einen dahinterliegenden Bergrücken, weitere schwere schwarze Wolken und schließlich die metallisch glänzende See. Mallory war nicht gekommen, um die Aussicht zu genießen. Er trat wieder in den Schutz einer Piniengruppe zurück und hielt das Fernglas an die Augen. Das graubraune Gesicht unter den Bartstoppeln an Wangen und Kinn versteinerte. In den Okularen sah er, daß die tieferen Wiesenhänge von grauen Punkten wimmelten. Die Sonne ließ Windschutzscheiben aufblitzen, die zu Halbkettenpanzern und Lastwagen gehörten. Und zu einem merkwürdigen, kastenartigen Fahrzeug mit einem Stahlgitter auf dem Dach, das aussah wie ein riesiger Tennisschläger. Ein Funkpeilwagen. Die Erkenntnis traf Mallory schlagartig, nicht wie ein Blitz, sondern als Bild einer dunkelrot blinkenden Lampe an Thierrys Funkgerät. Das Sendesignal. Thierry hatte nicht die Ausrüstung überprüft, sondern eine Nachricht abgesetzt. Einzelheiten begannen sich zusammenzufügen. Der verdammte, blöde Strohhut, den Thierry unbeirrbar auf dem Kopf behielt, ob es regnete oder die Sonne schien, hatte nichts mit Eitelkeit zu tun. Das war sein Erkennungszeichen. Zielen Sie nicht auf den Mann mit Strohhut, würden die Befehle lauten. Den Rest erschießen. Aber nicht den Mann mit dem Hut. Gut möglich, hatte Jensen gesagt, daß die Deutschen Sie
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bereits erwarten. Zuerst das SAS-Team mit seinem Übereifer. Und jetzt Thierry. Knapp eineinhalb Kilometer entfernt, am Fuß der Wiesen, hatten drei gepanzerte Fahrzeuge mit heulendem Motor den Berg in Angriff genommen. Bis zur Radnabe im üppigen Frühlingsgras versunken, hinterließen sie eine Spur wie Eisenbahnschienen. Mallory wich in den Wald zurück. In der Felsrinne schliefen alle, bis auf Thierry, der immer noch wie ein fetter Buddha vor seinem Funkgerät hockte. Mallory sah nicht zu ihm hin. Er schüttelte Andrea wach, der heftig schnarchte. »Ich glaube, du solltest deinen Schnurrbart jetzt abrasieren.« »Wie bi …«, setzte Andrea an. »Beeil dich.« Andrea fuhr sich mit der Hand an die Oberlippe. Zum erstenmal, seit Mallory ihn kannte, stand Unentschlossenheit in seinen Augen. »Nein«, sagte er. »Die Deutschen kommen. Fünfhundert Mann. Panzerwagen. Hör selbst.« Andrea lauschte, mit gesenktem Kopf. Dann, endlich, nickte er. Zögernd nahm er einen Rasierapparat aus dem Rucksack und bearbeitete den üppigen Bart an seiner Oberlippe. »Zwanzig Jahre Pflege«, murrte er. Aber Mallory war bereits gegangen, um die anderen zu wecken. Innerhalb von zwei Minuten lag die Oberlippe frei, bis auf einen Schatten schwarzer Stoppeln, der zum Rest des Gesichts paßte. Ein neuer Andrea erhob sich, mit rasierter, olivbrauner Haut, wodurch Nase und Wangen noch stärker hervortraten. Und noch etwas anderes hatte sich in seinem ansonsten immer ausdruckslosen Gesicht verändert. Wenn die Pflicht rief, würde Andrea sogar seinen Schnurrbart opfern, aber glücklich machte
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ihn niemand der dieses Opfer von ihm verlangte: Andrea war wütend. Oben auf seinem Felsen wurde Thierry langsam nervös. Im Lager kam Bewegung auf, obwohl Ruhe angeordnet war. Er blickte die steilen, bewaldeten Abhänge zu beiden Seiten hinab, auf das Tal und den rauschenden Fluß, der aus dem Berg trat. Diese Leute würden bis zum Tod kämpfen. Thierry konnte sich das Rattern der Maschinengewehre und die Explosionsgeräusche der Granaten vorstellen. Dabei arbeitete er für die Deutschen, um in Sicherheit zu sein, und nicht, damit er selbst in Gefahr geriet. Ein dummer Strohhut würde ihn nicht vor den Feuerstößen der MGs und den Schrapnellgeschossen schützen. Thierry bemerkte, daß er unbewußt aufgestanden war und sich seine Füße bewegten. Langsam schlich er in Richtung Wald davon. Mit ganzer Seele wünschte er sich in den schützenden Schatten zwischen den Bäumen. Durch die grünen Blätter leuchtete verheißungsvoll der blaue Himmel. Seine Mission war erfüllt. Wenn er jetzt weglief, war das keine Schande. Er würde das Geld einstecken, das Herr Sachs von der Gestapo ihm versprochen hatte, die Gäste einer Bar freihalten, Tanzmusik hören und sich ein paar Mädchen mit nach oben nehmen. Und ab sofort würde für Thierry der Himmel immer blau sein. Jetzt gab er auch das Schleichen auf. Thierry rannte, sein massiger Körper krachte durch das wilde Himbeergebüsch und die Kastanienschößlinge. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß ihm jemand folgte. In panischer Angst verlor er die Kontrolle über seine Eingeweide. Er glaubte, Motorenlärm zu hören und das Trampeln von Stiefeln im Unterholz. Mit einer Hand sein Erkennungszeichen, den Strohhut, am Kopf festhaltend, rief er auf deutsch: »Hilfe! Hilfe!« Der Hut und das Rufen mußten sein Tempo verringert haben. Thierry spürte, wie ihn etwas hart von hinten traf, links von der
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Wirbelsäule. Er stürzte. Eine Stimme in seinem Ohr flüsterte: »Das ist für Lisette, du Bestie.« Überrascht begriff er, daß es Hugues war. Was geschah hier? Mit dem Schlag im Rücken stimmte etwas nicht. Der Treffer tat zu sehr weh. Er schmerzte so furchtbar, als steckte ein glühendheißer Eisenstab zwischen seinen Rippen. Ein Herzanfall? Der Arzt hatte ihn gewarnt. Er sollte dringend abnehmen. Im Krieg einem Herzinfarkt zu erliegen? Wie lächerlich, dachte Thierry, in kaltem Schweiß gebadet. Einfach lächerlich. Vielleicht konnte er sich davon erholen … Er versuchte seine Atmung zu kontrollieren. Aber seine Lungen waren voller Flüssigkeit. Er hustete. Etwas strömte aus seinem Mund. Blut. Dicht vor ihm stand unvermutet das ausdruckslose Gesicht von Hugues, der mit einem Messer beschäftigt war. Er reinigte es mit Kastanienblättern. Thierry geriet in Panik. Er hat mich erstochen, fuhr es ihm durch den Kopf. Mit einem Messer. Vielleicht muß ich sterben. Dann war er tot. Die SS-Männer im Panzerwagen hielten am Waldrand und warteten, während die Gestapo ein drittes Ortungsfahrzeug in Stellung brachte, um die Position des Funkers genau zu ermitteln. Dann konnten die Terroristen umzingelt und gezielt vernichtet werden. Im Panzerwagen waren die SS-Männer darauf eingerichtet, so lange wie nötig zu warten. Denn es gingen Gerüchte um, die besagten, daß es sehr unklug wäre, auch nur das geringste Risiko gegenüber den Gejagten einzugehen. Allem Anschein nach konnten sie bereits an die hundert Mann auf ihrem Konto verbuchen. Die vernünftigste Art, mit ihnen fertig zu werden,
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war ein massiver Truppeneinsatz. Der SS-Obersturmbannführer gehörte nicht zu den gewöhnlichen Denkern. Verächtlich verfolgte er, wie sich die grauen Gestalten in Uniform verbissen den Berg hinaufkämpften, und kräuselte die Lippe. Seine Soldaten mochten diesen Großeinsatz für richtig halten. Aber dem Obersturmbannführer erschien das Vorgehen, als wollte man mit Kanonen auf Spatzen schießen. Dort oben befanden sich nur fünf oder sechs Leute, Franzosen, Engländer, Mitglieder minderwertiger Mischrassen. In seinen Augen war es Zeit, sie rasch aus dem Weg zu räumen und mit dem Krieg weiterzumachen. Zu diesem Zeitpunkt traten sechs Männer hinter der Waldkante hervor, oder besser gesagt, fünf Männer gingen und transportierten einen sechsten auf einer improvisierten Bahre. Vier der Fußgänger und der Mann auf der Bahre trugen britische Kampfanzüge. Hinter ihnen, in sicherem Abstand, marschierte ein dicker, dunkelhäutiger Mann, eine SchmeisserMP auf seine Gefangenen gerichtet. Zwei weitere Maschinenpistolen hingen um seinen Oberkörper geschlungen, und auf dem Kopf trug er einen Strohhut. Der Riese blickte auf und sah zum Panzerwagen. Seine dunklen Augen nahmen die schwarze Uniform des Obersturmbannführers mit den zwei Blitzzacken am Kragen auf. Mit schwerem Akzent sagte er auf deutsch: »Drei Engländer und zwei französische Schweinehunde.« Der Obersturmbannführer ließ sich herab, den Mann mit verächtlich kaltem Blick zu mustern. Er war dreckig und unrasiert, seine Kleidung saß viel zu weit und triefte vor Nässe. Der Akzent klang französisch, aber nicht ganz. »Es hätten sechs sein sollen«, sagte der Obersturmbannführer. »Einer ist im Berg geblieben«, erklärte der Kollaborateur mit dem Strohhut. »Er wird für immer dort bleiben.«
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»Gut«, sagte der SS-Mann. Seine kalten Augen glitten an den heruntergekommenen Engländern und ihren beiden französischen Kameraden entlang, bevor er von seinem Panzerwagen sprang. »Werner und Groen, holen Sie das MG. Altmeier, stellen Sie die Frequenz des Hauptquartiers ein und geben Sie durch, daß das Problem beseitigt ist.« Er warf seinen Gefangenen einen kalten Blick zu. Vielleicht wollte Herr Gruber von der Gestapo in Saint-Jean-de-Luz sie verhören. Aber Herr Gruber war Zivilist und geübt darin, Frauen die Fingernägel auszureißen. Über einen richtigen Krieg zwischen Männern wußte er wenig. Der Obersturmbannführer rümpfte die Nase. Gegen Ungeziefer wie das hier gab es nur ein Mittel. »Ein sauberer Tod«, sagte er. »Das ist wahrscheinlich mehr, als Sie verdienen. Los jetzt.« Das MG wurde ungefähr zehn Meter vom Panzerwagen entfernt aufgebaut, die Mündung auf einen niedrigen Kalksteinfelsen gerichtet. Dreißig oder vierzig Wehrmachtsoldaten in Feldgrau standen dabei und sahen zu. »Gut«, sagte der Obersturmbannführer zu dem Mann mit dem Strohhut. »Und nun sagen Sie ihnen, sie sollen graben.« »Graben?« »Nicht zu tief«, befahl der Obersturmbannführer. »Dreißig Zentimeter genügen.« Die beiden SS-Männer schnallten Spaten vom Heck des Panzerfahrzeugs und warfen drei davon den Gefangenen zu. Mallory begann zu graben, Hugues und Miller ebenfalls. Auf den Knien hockend, kratzte Wallace schwach in der feuchten Erde. Mit angeekelten Gesichtern schlenderten die Wehrmachtsoldaten davon. »Gut«, sagte der Obersturmbannführer zehn Minuten später, als er die niedrige Grube betrachtete. »Sagen Sie ihnen, sie sollen sich ausziehen.« Langsam legten sie ihre Uniformen ab. Inzwischen hatten
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sich auch die letzten Soldaten in Feldgrau zurückgezogen. Sie haßten die widerwärtigen Methoden der SS. Ein richtiger Mann konnte solche Szenen nicht mitansehen. Das Exekutionskommando und seine Opfer waren allein, im Vogelgezwitscher unter den tröpfelnden grünen Bäumen vor dem Kalkfelsen am Waldrand. Um das MG standen drei Männer versammelt, daneben der Obersturmbannführer und zwei weitere SS-Angehörige. Ihnen gegenüber zitterten nackt, weiß und mit Gänsehaut die Gefangenen in der tiefstehenden Sonne. Mallory fragte auf deutsch: »Wie wär’s mit einer Zigarette?« Der Strohhutträger verlangte: »Geben Sie ihnen eine Zigarette.« »Für einen Verräter sind Sie ziemlich großzügig«, sagte der Obersturmbannführer. Der Mann im Strohhut ging zu Mallory hinüber, reichte ihm eine Zigarette und zündete sie an. Plötzlich beschlich den Obersturmbannführer das ungute Gefühl, daß an dieser Übergabe etwas nicht stimmte. Es war das letzte Gefühl, das er in seinem Leben hatte. Denn als der Mann im Strohhut dem Nackten die Zigarette angezündet hatte, mußte er ihm auch die Maschinenpistole gereicht haben. Plötzlich feuerte die Schmeisser-MP in langen Stößen auf die MG-Truppe und die beiden anderen SS-Männer, die aus der Hocke rückwärts zu hüpfen schienen und zuckend, die blicklosen Augen gen Himmel gerichtet, zu Boden fielen. Übrig blieb der Obersturmbannführer, der seine Luger-Pistole halb aus dem Halfter gezogen hatte. Nun richtete sich die Schmeisser auf ihn, doch der Schlagbolzen traf eine leere Kammer. Der Obersturmbannführer begann zu rennen. Für jemanden in Kniehosen und Uniformstiefeln lief der SSMann gut, nicht gut genug jedoch für jemanden, der um sein
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Leben rannte. Bedächtig griff Andrea in seinen Gürtel und zog ein Messer heraus. Etwas Silbernes blitzte in der Sonne auf, und plötzlich hielt die Gestalt in Uniform mitten im Lauf an und brach als wirres Durcheinander von Armen und Beinen zusammen. Die Schirmmütze rollte zur Seite und blieb vor einer Distel liegen. Durch das kurzgeschorene blonde Haar strich sanft der Frühlingswind. Andrea zog sein Messer aus dem Genick des Obersturmbannführers und wischte es im feuchten Gras sauber, während er die Fliegen verscheuchte, die bereits über der Wunde summten. Mallory und Miller waren schon damit beschäftigt, den toten SS-Männern die Uniformen auszuziehen. Die des Obersturmbannführers paßte Mallory ziemlich genau. Sie rollten die Leichen in das Grab, das sie für sich selbst ausgehoben hatten. Anschließend fuhren sie zurück in das kleine Tal und luden die Ausrüstung und Millers Kisten in den gepanzerten Wagen. Grau und unrasiert saß Mallory kerzengerade, den Kopf durch den Geschützturm gesteckt. »Los«, befahl er. Miller setzte den Fuß aufs Gaspedal. Das Fahrzeug holperte durch die abziehende Truppe der Wehrmacht den Abhang hinunter. Die Soldaten blickten zur Seite. Sie wußten, was diese Totenkopftruppe auf dem Berg erledigt hatte. Oben an der Waldkante war es still, bis auf das Summen der Fliegen über bestimmten Stellen mit frisch aufgeworfener Erde und dem Schrei eines Weißkopfgeiers, der hoch zwischen zwei Wolken seine Kreise zog. Unten im Tal bog das gepanzerte Fahrzeug auf die Kopfsteinstraße und ratterte in aller Öffentlichkeit nach SaintJean-de-Luz.
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4. Montag, 19.00 Uhr bis Dienstag, 05.00 Uhr Die Einwohner von Saint-Jean-de-Luz achteten kaum auf den Panzerspähwagen der SS. Davon sahen sie zu viele. Mallory starrte geradeaus auf die dichter werdende Siedlung und sagte zu Jaime: »Wir brauchen einen sicheren Unterschlupf. Diesmal keine Höhle.« Jaime nickte. Als sie die Außenbezirke der Stadt erreichten, befahl er: »Halten Sie hier an.« Miller bog mit dem gepanzerten Fahrzeug in einen Weg und hielt vor einem rostigen Tor, das mit einer Eisenkette und einem Vorhängeschloß, auf dem das Hakenkreuz angebracht war, gesichert war. Jaime durchtrennte die Kette, ließ die Gruppe durchfahren und hakte die zerbrochenen Glieder hinter ihnen wieder zusammen. Auf der anderen Torseite befand sich ein Bauernhof. Er wirkte, als wäre er in aller Eile verlassen worden. Die Fenster standen offen, und in der vom Meer herüberwehenden Brise klappten die halbzerfallenen Holzläden gegen die Hauswand. Die Viehställe waren ebenfalls leer. »Die Leute sind von den Nazis abgeholt worden«, erklärte Jaime. »Die Männer zur Zwangsarbeit. Später haben die Frauen Mitglieder der Resistance versteckt, und man holte auch sie ab. Seitdem lebt hier niemand mehr.« Mallory schritt den Hof ab. Ein übler Geruch hing in der Luft. In den Futterkrippen lag verfaultes Heu, und hinter den Gattern des Kuhstalls trocknete der Mist. Auf den Betten im Haus lag noch das benutzte Bettzeug, und in der Küche stand eine Pfanne mit verschimmeltem Inhalt auf dem kalten,
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erloschenen Herdfeuer. Das Haus wirkte, als wäre es von einer Seuche heimgesucht worden. Doch Mallory war weniger an der Einrichtung, als an den Fluchtmöglichkeiten interessiert. Die Bedingungen waren hervorragend. Das Haus stand in einem Gehölz aus Stechpalmen, um das sich freies Feld erstreckte, reichlich durchzogen von nützlichen, tiefen Gräben. Bis zum nächsten Nachbarn waren es über sechzig Meter, und die dem Bauernhof zugewandte Hausseite besaß weder Türen noch Fenster. Doch das beste von allem war das Eisentor mit einem offensichtlich ungebrochenen Nazisiegel. Sie fuhren das Panzerfahrzeug in die Scheune und schlossen die schwere Tür. In der Küche setzten sie sich auf wackeligen Stühlen um den Tisch und zündeten Zigaretten an, während die Fliegen am Fußboden die aufgeriebenen Knöchel der Männer attackierten. Die nach Westen gewanderte Sonne warf gelbe Lichtbündel zwischen den kräuselnd aufsteigenden Rauch. Mallory hätte ein Jahr lang schlafen können. »Wir müssen ins Café«, sagte Hugues. Mallory nickte. Hugues’ Gesicht war vor Erschöpfung aufgedunsen. Mallory wünschte sich, er hätte ihm trauen können. Im Café würde es gefährlich sein. »Was ist, wenn Lisette geredet hat?« »Wenn sie geredet hat, hat sie eben geredet«, entgegnete Hugues. »Dieses Risiko müssen wir eingehen.« Nach Colbis hatte Mallory den rotgesichtigen Franzosen als schwaches Glied in der Kette betrachtet, doch dann war er Zeuge geworden, wie er Thierry erledigt hatte. Thierry, der um Hilfe schreiend aus der Deckung kommen wollte, unter den Augen der Deutschen. Es war eine scheußliche Arbeit gewesen, und Mallory war froh, daß Hugues sie ihm abgenommen hatte. Später, vor dem Maschinengewehr der SS, neben den
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Gräbern, die sie selbst ausgehoben hatten, passierte es erneut. Sicher, Hugues hatte Angst. Aber er erwies sich als ein Mann, der den Mut besaß, die Angst niederzukämpfen. Darin zeigte sich, nach Mallorys Maßstäben, wahre Tapferkeit. Doch jetzt ging es nicht um Hugues’ Charakter. Sie mußten herausfinden, wo sich dieser Guy Jamalartégui aufhielt. Tut mir leid, dachte Mallory. Mochte Hugues auch tapfer sein, hundertprozentig vertrauen konnte er ihm nicht. Sobald er ihrer Kontrolle entzogen war, würde er der Versuchung erliegen, Lisettes Leben und das seines ungeborenen Kindes durch einen Handel mit den Deutschen zu retten. In den Rauchnebel blickend, der Millers Kopf umhüllte, lehnte Mallory sich auf seinem Stuhl zurück, legte die Stiefel auf den Tisch und suchte den Blick des Amerikaners. »Ich komme mit«, sagte Miller. »Ein Drink wäre jetzt genau das richtige.« Zehn Minuten später näherten sie sich zu Fuß dem Hafen von Saint-Jean-de-Luz. Mit seiner schwarzen Baskenmütze und dem blauen Arbeitsanzug, dessen Hose um die Beine schlackerte, sah Miller wie ein ungewöhnlich hochgewachsener Franzose aus. Er hatte die Kleidungsstücke in einem Schrank im Bauernhaus entdeckt. Sie stanken nach Ratten. Seine Papiere dagegen stammten vom Sondereinsatzkommando und waren in Ordnung. Hugues trug den Pullover und die Kordhose, in denen er den Berg bewältigt hatte, dazu ebenfalls eine Baskenmütze. Beide Männer waren schmutzig und unrasiert. Sie kauten rohe Knoblauchzehen, und in die Risse und Schrammen ihrer Hände hatten sie Schmutz gerieben. Der Eindruck zweier Bauern auf dem Weg von den Feldern ins Café war überzeugend. Saint-Jean-de-Luz konnte leicht für eine Stadt außerhalb der Kriegszone gehalten werden. Im goldenen Abendlicht lag ein
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besonderes Leuchten, das von der Nähe großer Wasserflächen verursacht wurde. Die Bewohner hielten sich vor ihren Häusern auf, um das schöne Wetter zu genießen. Hochmütig ignorierte ein dunkelhaariges Mädchen Millers Augenzwinkern. Miller seufzte und wünschte, er hätte eine Zigarette. Aber er besaß nur blonden Tabak, und wenn er in dieser Stadt blonden Tabak rauchte, konnte er ebenso die amerikanische Flagge hissen und zum Sturmangriff blasen. Das Café de l’Océan lag strategisch günstig an der Kreuzung von zwei engen Gassen im Quartier Barre, nördlich des Hafens. Am Ende der einen Gasse sah Miller zwei grau uniformierte Deutsche neben einem Motorrad mit Beiwagen, das am Anleger unter einem Schwärm kreischender Möwen parkte. Die beiden Soldaten schienen ihre Zigarettenpause mit Meerblick zu genießen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Unruhe aufkam, weil ein SS-Panzerwagen mit sechs Mann Besatzung keine Funkrufe mehr beantwortete. Miller hoffte, nicht zu bald. Vor dem Café suchte Hugues mit mißtrauischem Verschwörerblick die Gasse ab. »Kommen Sie hier rein«, sagte Miller nicht unfreundlich und stieß die Tür für ihn auf. Das Café de l’Océan war ein Raum von sieben Meter Breite und einer über Eck geschwungenen Bar. Im Gastraum befanden sich ungefähr dreißig Männer, dazu fünf Frauen. Über allen lag dicker Zigarettendunst. An einem abseits stehenden Tisch saßen zwei in Feldgrau gekleidete Deutsche vor einem Damespiel. Als Hugues sie sah, versteifte er sich wie ein Jagdhund, der ein Rebhuhn zu Gesicht bekam. Miller klopfte Hugues auf den Arm und sagte: »Verraten Sie uns nicht.« Er hoffte, daß Hugues durchhielt. Hugues schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte über dem ausgefransten Hemdkragen. Mit den Ellenbogen kämpfte er sich den Weg zur Bar frei, bis er neben einem älteren Mann mit
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Baskenmütze, riesigem grauen Schnurrbart und rot-gelben Augäpfeln stand. Er sagte zu dem dicken Wirt hinter dem Tresen: »Einen Cognac für mich und einen für meinen Freund, den Admiral.« Der Wirt bekam wachsame, dunkel glänzende Augen. »L’Amiral Beaufort?« »Ja, den meine ich.« Feine Schweißperlen erschienen in Hugues’ rosaweißem Gesicht. Die BBC hatte das Losungswort richtig gesendet. Es war immerhin möglich, daß etwas nicht angekommen war und sich dieser undurchdringliche Wirt, den er als Mitglied der Resistance kannte, geweigert hätte, das nächste Glied in der Kette preiszugeben. Aber nun war alles in Ordnung. Der Wirt gab ihnen den Cognac und kritzelte mit einem Bleistiftstummel umständlich die Rechnung. Hugues reichte Miller ein Glas und sagte: »Salut.« Dann sah er auf die Rechnung. Guy Jamalartégui – 7 Rue du Port, Martigny war darauf mit Bleistift notiert. Hugues zog Geld aus seiner Tasche und schob es dem Wirt zusammen mit der Rechnung hin. Der Wirt legte das Geld in die Kasse und riß den Zettel in winzige Stücke, bevor er die Fetzen in den Abfalleimer warf. »Bon«, sagte Hugues. »On s’en va?« Neben ihm flüsterte heiser eine Stimme: »Vive la France!« Hugues’ Herz machte einen Sprung. Die Stimme gehörte dem Mann mit dem grauen Schnurrbart. Er wandte sich ab. »Ich habe das Papier gesehen. Ein guter Mann, dieser Guy«, sagte der Schnurrbärtige. Sein Atem roch wie eine ganze Schnapsbrennerei. »Ein sehr guter Mann. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Commandant Cendrars«, sagte er. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.« Hugues’ Blick ging unruhig zu den Deutschen vor ihrem Damespiel. Er setzte ein gequältes Lächeln auf. »Leider nein«, antwortete er. »Und jetzt entschuldigen Sie …«
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»Croix de Guerre, an der Marne«, sagte der alte Mann. »Ein lange verwahrtes Schwert, aber noch nicht eingerostet. Und bereit, erneut gezogen zu werden.« Er neigte den Kopf näher zu Hugues. Um ihn war es still geworden. Cendrars alkoholisierter Atem roch durchdringend, und sein Gehabe war sichtbar verschwörerisch. »Ich bin nicht der einzige. Von meiner Sorte gibt es noch mehr, die auf den richtigen Augenblick warten. Und der wird kommen. Er ist schon da, jetzt. Der große Kampf für das Wiederauferstehen Frankreichs, das unter den Stiefelabsätzen der Nazis gedemütigt liegt. Wir sind keine Kommunisten, monsieur. Und auch keine Sozialisten, wie die Mitglieder der Resistance. Ich nehme an, Sie sind auch kein Kommunist. Non. Wir sind einfache Franzosen …« »Entschuldigen Sie mich«, sagte Hugues. »Die Ausgangssperre beginnt gleich.« Mit vielsagend zusammengekniffenen, gelblich-roten Augen sagte Cendrars: »Es heißt, heute hätten sie sechs SS-Männer in den Bergen umgelegt.« Die Stille war überdeutlich geworden, eine Stille, in der alles Ohren hatte. Miller leerte sein Glas, packte Hugues fest beim Arm und schob ihn auf die Gasse hinaus. »Was hat er gesagt?« »Total verrückt«, sagte Hugues. »Alter Schwachkopf. Dummer, unverbesserlicher Royalist, con …« »Keine Politik«, mahnte Miller. »Wir gehen nach Hause.« Sie machten sich auf den Weg. Miller blieb etwas hinter Hugues zurück. Ihm gefiel Cendrars nicht. Noch weniger gefiel ihm, daß die Nachricht über die toten SS-Männer auf dem Berg bereits Stadtgespräch war. Die Deutschen saßen nicht still da und trauerten über tote SSAngehörige. Es würde Suchtrupps geben und Vergeltungsmaßnahmen … Vor ihm blieb Hugues plötzlich stehen. Er sprach mit
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jemandem, einer kleinen Gestalt mit Wollhut und dickem Übermantel. Er hatte die Arme um die Person geschlungen und umarmte sie. Dazu machte er ein seltsames, bellendes Geräusch, das ein Lachen hätte sein können, sich aber mehr nach einem Weinen anhörte. Es klang unheimlich und furchtbar, und mit Sicherheit zog Hugues damit die Aufmerksamkeit auf sich. Miller schob seine Baskenmütze tiefer über die Augen und wandte sich in die andere Richtung, um weiterzugehen. Plötzlich sagte die Person auf französisch: »Um Gottes willen, halt den Mund.« Mit überraschtem Gesicht, den Mund aufgerissen, sprang Hugues zurück, als wäre er angeschossen worden. »Sei ein Mann«, sagte die kleine Gestalt. Es war Lisette. Miller sagte: »Hugues. Wir müssen gehen.« Das fehlte gerade noch, dachte er. Hugues starrte Lisette an. Er verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Durch den Schleier seiner Freudentränen schien ihr Gesicht zu leuchten wie das eines Engels. Er hatte vergessen, daß er Soldat war. Er war ein Mann, und diese Frau trug sein Kind. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Nun konnte er glücklich sein bis ans Ende seiner Tage. »Frei«, sagte er. »Genau«, antwortete Lisette. »Und nun, um Himmels willen, mach, daß du weiterkommst.« »Weiter?« Miller räusperte sich. Lisette wirkte heil und unversehrt. Keine Spuren von Gewalt. Sie war im achten Monat schwanger und bei guter Gesundheit. Ein schlechtes Zeichen. Sehr schlecht. »Es hieß, Sie seien von der Gestapo ins Hauptquartier nach Bayonne gebracht worden«, sagte Miller.
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»Dort war ich auch«, antwortete Lisette. Sie blickte hoch und sah in die Gasse. Bis auf die dunkler werdenden Abendschatten war das Pflaster leer. »Sie haben mich gehen lassen. Wegen des Babys.« Lisette sah aus wie immer. Ihr blasses Gesicht war unverändert, mit der gebogenen Nase, den in dunklen Höhlen liegenden Augen und, als Zeichen der fortgeschrittenen Schwangerschaft, der durchscheinenden Haut. So sah keine Frau aus, die man gefoltert hatte. »Was genau ist passiert?« fragte Miller. »Sie haben mich gefragt, was ich weiß und wie ich in das Dorf gekommen bin. Ich sagte, ich wäre zu Besuch und hätte keine Ahnung. Sie … nun, sie schienen mir zu glauben. Sie sagten, eine Frau in meinem … Zustand würde ihnen keine Lügen erzählen, aus Sorge um das ungeborene Kind.« Über ihr Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln, das die dunklen Schatten um die Augen vertrieb. »Natürlich gab ich ihnen recht.« »Natürlich«, bestätigte Miller. »Wie haben Sie uns hier gefunden?« »Ich wußte, daß Sie nach Saint-Jean-de-Luz unterwegs waren. Es ist allgemein bekannt, daß Sie ins Café de l’Océan kommen müssen, um in Saint-Jean an Informationen zu gelangen.« »Tatsächlich?« Das gefiel Miller nicht. Mehr noch. Er war auf der Hut. Kein Gestapo-Mann hätte sich jemals um ein ungeborenes Kind gesorgt, und schon gar nicht, wenn seine Mutter in einer Hochburg der Resistance festgenommen worden war. Es gab nur einen Grund für die Gestapo, sie freizulassen. Lisette zu folgen, um über sie ihre Freunde aufspüren zu können. »Ich muß jetzt gehen«, erklärte Miller. »Nur Sie?« fragte Hugues.
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»Wir haben eine militärische Operation durchzuführen«, sagte Miller. »Mir scheint, es wird heiß werden in dieser Stadt, ziemlich bald. Und wir müssen sofort weiter.« »Also wird Lisette uns begleiten.« Mit betongrauem Gesicht sah Miller ihn an. »Mir bereitet die Frage Kopfschmerzen, wer Lisette von Bayonne hierher begleitet hat.« Hugues’ Gesicht betrachtend, sah er das Stirnrunzeln und verfolgte den inneren Kampf. Er wußte, wie die Antwort lauten würde. Einmal hatte Hugues im Namen der Pflicht Lisette allein gelassen. Ein zweites Mal würde er es nicht tun. Lisette sagte: »Du mußt gehen.« »Nein«, antwortete Hugues. Miller wandte sich ab und setzte sich in Bewegung, die Hände in die Taschen gesteckt. Er zwang sich, nicht zu rennen, sondern den zielstrebigen, schlurfenden Gang eines Bauern beizubehalten, der auf dem Heimweg zu seinem Hof war. Hinter sich hörte er Schritte. Es waren ein Paar kurze Beine und ein Paar lange. In einer Glasscheibe sah er die Spiegelung. Hugues hatte den Arm um Lisettes Schultern gelegt, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Die Schritte verlangsamten sich und kamen zum Stillstand. Miller ging weiter, in schnellerem Tempo, auf den Stadtrand zu. Verflucht, dachte er. Hugues hatte die vom Wirt im Café de l’Océan auf die Rechnung gekritzelte Adresse gesehen. Und die Deutschen würden nicht lange brauchen, sie aus ihm herauszubekommen. Es war ein einziger Mist. Ein Fünf-Sterne-neun-LochLatrinen-Mist. Die Häuser wurden weniger. Auf der Straße vor ihm brummte ein Dieselmotor. Miller ließ sich weich die Böschung zwischen ein paar Sträuchern hinunterrollen. Ein Lastwagen voller Soldaten mit ausdruckslosen Gesichtern unter den
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Stahlhelmen rollte vorbei. Hugues und Lisette waren nicht ins Gebüsch gesprungen. Der Lastwagen hielt mit kreischenden Bremsen neben ihnen. Ein Offizier kletterte aus der Fahrerkabine, und Miller hörte eine bellende, deutsche Stimme: »Papiere?« In Millers Tasche steckten ein Ausweis, eine Arbeitserlaubnis, eine Lebensmittelkarte, eine Tabakkarte, eine Grenzgebietserlaubnis und ein ärztliches Attest, unterzeichnet von einem Doktor Lebayon in Pau, der ihm ein chronisches Lumbago bescheinigte, aufgrund dessen er nicht nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert werden konnte. Diese Dokumente gaben Miller ein gewisses Sicherheitsgefühl, aber er wußte, daß eine detaillierte Befragung über seinen Onkel mütterlicherseits oder die Farbe von Doktor Lebayons Bart ihn schnell ins Schleudern bringen würden. Er hoffte, daß der Geisteszustand von Hugues und Lisette ihnen klares Denken ermöglichte. Obwohl er daran zweifelte. Still wie ein Schatten glitt er durch das Buschwerk davon. Zehn Minuten später war er zurück auf dem Bauernhof. »Wo ist Hugues?« fragte Mallory. Miller sagte es ihm. Mallory zündete sich eine Zigarette an. Im nächsten Moment ließ er sie auf den Boden fallen, trat sie aus und schob die Schultern in seine Tragegurte. »Vorwärts. Wir verschwinden«, sagte er. »Wohin?« fragte Miller. »Martigny.« »Was ist, wenn sie reden?« »Sie werden reden«, sagte Mallory. »Und die Deutschen werden reagieren. Wenn nicht, haben sie nichts gesagt.« Und wenn doch, dachte Miller düster, sind wir tot. Wieder mal.
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Es gab einen Gipfel in den Südalpen, der ihn gelehrt hatte, Risiken einzugehen und seiner Verantwortung gerecht zu werden. Mount Capps war ein trügerischer Berg, voller Gletscherspalten und zerbröselndem Fels. In den oberen Regionen lagen Schneefelder, von denen sich in der frühen Morgensonne Steinschlaglawinen lösten, und später am Tag, wenn der Schnee bis auf den Grund erwärmt war, schlitterten die weißen Massen, brüllend und Wolken von pulverisiertem Eis und Gestein aufwirbelnd, wie Panzergeschwader ins Tal. Am dritten Tag des Aufstiegs hatte Mallory das Basislager verlassen, während seine Kameraden Beryl und George dort blieben und seine Rückkehr erwarteten. Er hatte im Windschatten eines riesigen Felsens seinen Biwak aufgeschlagen, auf halber Strecke ein Eisfeld hinauf. Hinter ihm lag eine kalte, unruhige Nacht, in der das Eis unter Krachen und Knacken wieder zugefroren war. Um vier Uhr wurde Mallory wach und kroch aus dem Zelt. Der Himmel war klar, und der Gipfel des Mount Capps ragte als friedliche, wie mit rosa Zuckerguß überzogene Pyramide vor ihm auf. Über den steilen Konturen hing wie ein silberner Ball die Venus. Ein wunderbarer Morgen. Mallory entfernte sich einige Meter vom Zelt, in den Schutz von ein paar Felsen, die ihm als Toilettenwand dienten. Dort ließ er die Hose herunter. Am Berg begann ein Rumpeln, und der Schnee auf den Felsen vor ihm wirbelte in fedrigen Wolken auf. Als aus dem Rumpeln ein Brüllen wurde, warf Mallory einen Blick auf das Zelt hinter sich. Eine fünfzehn Meter breite Walze aus Schnee, Eis und Fels donnerte an ihm vorbei. Sie mußte mindestens dreihundert Stundenkilometer schnell sein. Der eisige Wind, den die Lawine beim Vorbeirasen erzeugte, schleuderte Mallory gegen
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die Felsen. In seinen Ohren sirrte es, während er wieder auf die Füße kam. Er hatte seinen Rucksack, seine Ersatzseile, Verpflegung, zusätzliche Kleidung und den Schlafsack im Zelt zurückgelassen. Das Zelt war weg. An seiner Stelle befand sich eine tiefe, schottergefüllte Narbe im Berg. Mallory besaß nur noch das Seil, das er mit zur Morgentoilette genommen hatte, seinen Eispickel und die Erfahrung, die er seit seinem zehnten Lebensjahr in den Bergen gesammelt hatte. Er schloß den Gürtel seiner Hose. Dort unten warteten Beryl und George auf ihn. Sie hatten sechs Wochen mit der Planung dieser Expedition zugebracht. Niemand vor ihnen war über die südöstliche Wand auf den Mount Capps gelangt. An jenem Dezembertag, um vier Uhr morgens, dreitausend Meter über dem Meeresspiegel hatte Mallory sich gesagt, daß Beryl und George auf ihn zählten. Es ging nicht einfach um sein Leben. Er trug Verantwortung. Also konnte er ebensogut sterben, während er weiter nach oben kletterte, statt beim vorzeitigen Abstieg umzukommen. Bei diesem Berg war das Risiko in beiden Richtungen gleich groß. Drei Stunden bis zum Gipfel, und dann neun Stunden zurück zum Basislager. Wenn er schon sterben mußte, dann lieber im Kampf um den Gipfel, statt beim Ruckmarsch. Also hatte er das Seil und seinen Eispickel geschultert und den Weg zum Basislager in acht Stunden zurückgelegt. Über den Gipfel. Die Zeitungen schrieben, er sei ein Held. Aus Mallorys Sicht hatte er seine Arbeit getan und das Team nicht im Stich gelassen. Das genügte ihm. Nun befand sich das Team an der Südküste Englands, Hunderttausende Mann stark, und wartete darauf, eingeschifft
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zu werden. Die Operation war riskant. Aber Mallory trug immer noch die Verantwortung. Mit Andrea, der Wallace schleppte, verschwanden sie rasch über die Felder. Der Schlaf war nur kurz gewesen. Genug, um die Männer abgespannt und benommen zu machen, aber nicht ausreichend zur wirklichen Erholung. Als sie durch die Obstgärten und Felder mit frischem Getreide marschierten, regnete es wieder, und ein stürmischer Wind ließ die Zweige gegeneinander schlagen. Unter dem Abendhimmel lag die Stadt in Dunkelheit. Die Nacht brach herein, als Jaime die Gruppe um die südlichen Ausläufer des Ortes führte. Sie kreuzten verdunkelte Straßenzüge, stiegen über ein paar niedrige Hügel und kletterten Terrassen hinunter. In Saint-Jean-de-Luz röhrten Motoren. Auf der anderen Seite der Bucht waren Bewegungen der Deutschen zu beobachten, ohne daß man hätte sagen können, gegen wen und wohin sie gerichtet waren. Die Gruppe konnte nur hoffen, daß die Aktivitäten nichts mit Hugues und Lisette zu tun hatten. Ein Schritt nach dem anderen. »Warten Sie hier«, sagte Jaime. Sie hatten einen kopfsteingepflasterten Weg erreicht, der steil bergab führte. Am Fuß des Wegs schwappte Wasser wie eine dünne Metalloberfläche. Jaime verschwand im Dunkeln. Mallory sagte: »Andrea. Gelände aufklären.« Andrea legte Wallace hinter einer Mauer ab, auf einen ehemaligen Kartoffelacker, wie er vermutete, bevor er ihm sanft eine Maschinenpistole in die Hand drückte. Wallace’ Kopf dröhnte vom Fieber und der Wirkung des Morphiums. Zuerst hatte er geglaubt, diese Leute vom Sondereinsatzkommando
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wären nichts weiter als stümperhafte Amateure. Jetzt dachte er anders, soweit er noch zu denken fähig war. Sie waren das kaltblütigste, überlegenste Team, das er jemals erlebt hatte. In gesundem Zustand wäre er nie zu dieser Erkenntnis gekommen. Nun mußte er offen eingestehen, daß Mallorys Männer um Klassen besser waren als der ganze SAS. Es war wie beim Rugby. Dieses Team hatte seine Erfahrungen nicht durch Laufübungen auf dem Sportplatz gesammelt, sondern durch seine Auftritte in Spitzenspielen. Teamgeist war etwas für Kinder. Diese Männer gehörten zu einer anderen Liga. Wallace wollte ihren Ansprüchen genügen. Aber wie? Er wußte genug über Verwundungen, um zu begreifen, daß es schlecht um ihn stand. Sehr schlecht. Das Morphium verdeckte sein inneres Frieren nur. Ihm war kalt, bis auf den heiß pochenden Klumpen in seinem Bauch. Dieser Klumpen schien immer größer zu werden und griff mit seinen giftigen Fingern in den Rest seines Körpers. Wäre besser gewesen, einfach liegen zu bleiben, im Bordell in Colbis. Aber dann hätten die Deutschen ihn erschossen und wahrscheinlich vorher gefoltert. Eine Folter war es auch so gewesen, durch diese dunklen, feuchten Gänge zu taumeln, während sich das Metall in seinem Bauch weiterfraß und das Fieber immer höher stieg, über Wochen … oder waren es nur einige Stunden gewesen? Aber diese Folter ließ sich ertragen, wenn man zu einem Team erwachsener Männer gehörte. Verdammt aufregend war das Leben plötzlich. Wallace spürte, wie sich die fieberheiße Haut in seinem Gesicht zu einem Grinsen verzog. Da dachte man, im Kindergarten gute Arbeit zu leisten, mit den Bomben, den Jeeps und dem wilden Hurrageschrei. Dann kam man zu den richtigen Männern, und es dauerte nur wenige Minuten, bis man einer von ihnen war.
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Und was folgte danach? Andrea sprang rasch über die Wände der hinteren Hausgärten. Irgendwo begann ein Hund zu bellen, und es dauerte nicht lange, bis alle Hunde losbellten. In einem der Häuser stieß ein Mann fluchend ein Fenster auf. Es fiel ein leichter Nieselregen. Am Fuß des Berges, der eher einer Felsenklippe glich, schaukelte silbrig die See unter dem Nachthimmel. Wenn nicht alle Fenster verdunkelt gewesen wären, hätte durchaus Frieden sein können. Irgendwo in Andreas Kopf tauchte die Erinnerung an eine Hochzeit auf, mit langen Tischen, auf denen Flaschen standen, Gelächter und Tabakrauch stiegen in den Himmel der heißen, ägäischen Nacht auf, und dann erhob sich der Mond aus dem tiefen, blauen Wasser. Diese Szene hätte gut an diesen Ort gepaßt. Und die Zeiten würden wiederkommen. Aber das Bild in seinem Kopf war verschwindend klein. Wie geschrumpft und durch das falsche Ende eines Teleskops betrachtet. Nur war es nicht die Linse, die es kleiner machte, sondern die langen Kriegsjahre. Ein anderes Bild tauchte auf Bild, das die Leichen seiner Eltern zeigte, die ausgeblutet an einem Flußufer lagen. Todesstöhnen löste auch diese Erinnerung wieder ab, und Hunderte von nächtlichen Pirschjagden, als Andrea noch nicht als Oberst in der griechischen Armee gedient hatte … und kaum mehr ein menschliches Wesen gewesen war. Er war ein riesiges, Verderben bringendes Tier geworden, das nur noch den Gedanken an Tod und Gewalt kannte. Andrea glitt über die letzten Gartenmauern und schlich über das Feld zum Rand der niedrigen Klippe. Unterhalb des Dorfes befand sich ein Anleger, eine geschwungene Kaimauer, mit einigen Ruderbooten, die unruhig schaukelnd an der Vertäuung zerrten.
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Der Regen plätscherte sanft herunter. Geduldig wie ein Stein verharrte Andrea auf seinem Beobachtungsposten. Er wurde belohnt. Dort unten, im Windschatten einer Hütte, am Anfang der Kaimauer, flackerte ein Streichholz auf und beleuchtete ein Gesicht unter der scharfen Kante eines Stahlhelms. Dahinter waren die Umrisse eines zweiten Helms zu erkennen. Es regnete weiter, und auch die Hunde bellten noch immer. Andrea kehrte auf dem gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Mallory, Miller und Jaime waren bereits an der Mauer eingetroffen. »Bunker auf dem Hügel gegenüber«, meldete Mallory. »Sichert den Hafen.« »Zwei Wachposten«, sagte Andrea. »An der Kaimauer. Kein Bunker auf dieser Seite.« »Keine Soldaten in der Stadt«, berichtete Miller. »Dieser Guy wohnt im dritten Haus oberhalb der Kaimauer.« »Hol Wallace«, ordnete Mallory an. Die Hunde bellten noch immer, als die fünf über die drei Mauern kletterten und die Rückseite einer Hütte erreichten. Vor Zorn die Zähne fletschend, sprang ein Hund Andrea an. Der legte eine große Pranke auf den Kopf des Tieres und flüsterte einige griechische Worte. Es waren tröstende, einfache Worte, die jemand sprach, der gewöhnt war, mit Tieren umzugehen. Der Hund wurde ruhig. Schnell öffnete Mallory die Hintertür. Bevor der Mann am Tisch etwas bemerkte, standen Miller und Jaime bereits im Raum. Der Mann war klein und schmächtig, hatte einen kahlen, braungebrannten Kopf, eine mehrfach gebrochene Nase und schiefe gelbliche Zähne. In der rechten Hand hielt er einen Löffel, rechts ein Stück Brot. Er aß aus einer Schüssel.
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Mit offenem Mund blickte er auf, während die Augen unruhig hin- und herwanderten, auf der Suche nach einem Fluchtweg, den er nicht fand. Er holte tief Luft, um zu reden. »Wir sind Freunde von Admiral Beaufort«, sagte Jaime. »Monsieur Guy Jamalartégui?« Die schwarzen Augen verengten sich. Dann schloß der Mann den Mund wieder und begann zu kauen. Er nickte und fragte: »Haben Sie das Geld dabei?« »Haben wir.« »Sie sind zu viele«, bemerkte Guy Jamalartégui. »Es darf immer nur einer sprechen. Wir haben Deutsche hier.« »Vier im Bunker. Zwei auf der Kaimauer«, sagte Mallory. »Sind das alle?« Jamalartégui nickte. »Es sei denn, wir kriegen Besuch von einer Patrouille.« Er wirkte besorgt, als Wallace von Andrea zu einem Stuhl am Ofen geführt wurde. Wallace atmete schwer, und sein Gesicht war bläulich weiß. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Nur das Feuer im Herd knackte, und der Regen schlug gegen die Fensterscheiben. Es roch nach Knoblauch, Tomaten, Wein und Holzrauch. »Jaime«, sagte Mallory. »Übersetzen Sie.« Jamalartégui holte dickwandige Trinkgläser und tiefe Teller aus dem Schrank, die er auf dem Tisch verteilte. »Die Deutschen stehlen das Fleisch«, sagte er. »Aber es gibt Eier und viele Fische im Meer.« Er stand auf und gab Zwiebeln, Paprika und Eier in eine Bratpfanne. Der Raum füllte sich mit den Bratdünsten. »Piperade«, erklärte er. Wieder folgte Schweigen. Mallory aß, bis er nichts mehr herunterbrachte. Dann wischte er seinen Teller mit Brot ab und füllte sein Weinglas neu. Zu Jaime gewandt sagte er: »Sagen Sie ihm, daß er Informationen für mich hat.«
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»Ich bin ein armer Fischer«, erklärte Jamalartégui, nachdem Jaime gesprochen hatte. »Ohne Geld kann man nicht essen.« »Und was ist ein Essen ohne Unterhaltung?« entgegnete Jaime. Mallory verstand nicht, was gesagt wurde, aber er hörte den Ton heraus. Er griff in seinen Rucksack, nahm die wasserdichte Kassette und öffnete sie. Im dämmrigen gelben Licht der Öllampe waren viele Papierstücke zu sehen, mit einer Inschrift in Kupferstich und der Unterschrift von Mr. Peppinatt, dem Hauptkassierer der Bank von England. »Eintausend Pfund«, sagte Mallory. »Für die Information und den Transport zum Ziel.« Die Augen des alten Mannes ruhten glitzernd auf den Fünfpfundscheinen. Er machte den Mund auf, um zu feilschen. »Nehmen Sie das Geld, oder lassen Sie es bleiben«, sagte Mallory. »Ich nehme zuerst die Hälfte«, sagte Guy durch Jaime. »Nein.« »Vielleicht gefällt Ihnen die Information nicht, die ich für Sie habe.« »Wir werden sehen. Und jetzt reden Sie.« »Wie soll ich wissen …« Mallory richtete sich auf. »Sagen Sie ihm, daß ein britischer Offizier die Pflicht hat, die Gastfreundschaft eines Verbündeten nicht zu mißbrauchen.« Jaime übersetzte, und Guy zuckte mit den Achseln. Mallory beobachtete ihn. Der Augenblick war gekommen, der alles entscheidende Augenblick, in dem sie erfahren würden, ob sie ihren militärischen Auftrag sauber erledigen konnten oder alles vergeblich war. Für diesen Moment hatten viele Menschen ihr Leben gelassen. Die Stille schien Stunden zu dauern. Mallory bemerkte, daß er den Atem anhielt. Schließlich sagte Guy: »Bien.« Mallory stieß die Luft aus,
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und Guy begann zu reden. »Es ist so«, erklärte Jaime, als er fertig war. »Er hat die UBoote gesehen. Sie befinden sich an einem Ort, der San Eusebio heißt.« Im Geist suchte Mallory die Karte ab. Die französische Küste südlich von Bordeaux war gerade wie ein Strich und flach. Zweihundertsiebzig Kilometer Strand, gegen den unablässig die gewaltige Brandung des Atlantik schlug. Die einzigen Häfen, die Zuflucht boten, waren Hendaye, Capbreton und Arcachon, alle seicht und ungeeignet für drei riesige U-Boote. Mallory erinnerte sich nicht, irgendwo auf der Karte den Namen San Eusebio gelesen zu haben. Wir haben also an der falschen Stelle gesucht, dachte er. Alle diese Menschen sind umsonst gestorben. »Wo ist das?« fragte er. »Fünfzig Kilometer von hier.« Mallory spürte, daß sein Blut wieder in den Adern rann. Nun mußten sie nur noch den genauen Standort finden und die Royal Air Force anfordern. Die Bomber würden den Rest erledigen. Und falls die U-Boote in besonders stabilen Betonbunkern lagen – was unwahrscheinlich war, denn sonst hätte er davon gehört –, gab es diese neuen Sprengbomben … »In Spanien«, sagte Jaime. Mallory spürte kühle Luft in seinem Mund. Sein Kinn hing schlaff herunter. »Spanien ist neutral«, stellte er fest. Jaimes dunkles baskisches Gesicht wirkte ausdruckslos. Er zuckte mit den Achseln. »Aber dort sind sie nun mal. In einem neutralen Land zu operieren, könnte von Vorteil sein, nicht? Und Franco und Hitler sind beide Faschisten, c’est pareil.« »Neutralität ist Neutralität«, beharrte Mallory. »Und U-Boote sind U-Boote«, fügte Andrea ruhig hinzu. Wie so oft, schaffte Andrea Klarheit in Mallorys Kopf. Für einen Augenblick befand er sich nicht in dieser
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Fischerhütte mit dem pfeifenden Herd und den Dachziegeln, über die der Wind strich, den Wachen am Kai und dem Bunker auf dem Hügel. Er kehrte zurück in den zugleich heißen und kühlen Besprechungsraum der Villa in Termoli und zeichnete mit den Fingern die Maserung der Marmorsäule nach. Damals klang es wie ein hingeworfener Satz. Sie haben völlig freie Hand. Das heißt, solange Sie die Operation im Alleingang durchführen, hatte Jensen gesagt. Aber natürlich, so mußte Jensen sich ausdrücken. Er konnte keine Operation gegen einen neutralen Staat befehlen. Die Royal Air Force würde nicht eingreifen, und es gab auch keine andere Unterstützung. Sie waren völlig auf sich gestellt. »Was, zum Teufel, hat das alles zu bedeuten?« fragte Miller. »Wir müssen ein paar U-Boote in die Luft jagen«, entgegnete Mallory. »Sehr, sehr leise.« »Oh«, entfuhr es Miller. Er klang, als wäre ihm eine große Enttäuschung erspart geblieben. »Wirklich? Ich dachte, da Spanien neutral ist, nun ja, du weißt schon … Also gut. Ich kann’s kaum erwarten.« Mallory schenkte sich noch mehr Wein ein und zündete eine Zigarette an. In Augenblicken wie diesen wußte er, daß aus ihm nie ein ordentlicher Soldat wurde. Captain Jensen hatte Deutschen sein Messer zwischen die Rippen gestoßen, und am Abend, bevor die Admiral Graf Spee sich selbst versenkte, Bromid in den Wein des Panzerschiff-Kapitäns Langsdorff gekippt. Aber Jensen war auch Diplomat. Es ging das Gerücht, man habe ihm die Krone von Albanien angeboten, und für viele Beduinenscheichs war er das offizielle Sprachrohr des Britischen Empire. Die Operation trug alle Merkmale von Jensens Handschrift und zeigte die ganze Verschlagenheit des alten Fuchses. Und vielleicht hatte noch ein anderer, mächtigerer Mann seine Finger im Spiel, einer, den man meist mit einer riesigen
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Havanna in der Hand sah. Die spanische Neutralität war bestenfalls schöner Schein. 20000 Spanier kämpften für Hitler an der russischen Front. Das deutsche Konsulat in Tanger – eine spanische Besitzung – beobachtete die alliierten Schiffsbewegungen in der Straße von Gibraltar. Und spanisches Wolfram ging als kriegswichtiger Rohstoff an deutsche Stahlwerke. Aber der britische Botschafter in Madrid, Sir Samuel Hoare, war entschlossen, all diese feindlichen Aktivitäten zu ignorieren, um die Kommunikationswege offen zu halten. Aus Angst, sein Gesicht zu verlieren, lehnte er strikt jegliche Aktivitäten des Sondereinsatzkommandos in Spanien ab. Hoare hatte also wohl keine Kenntnis von ihren Aktivitäten. Bei dieser Operation ging es nicht nur darum, ein wieder instandgesetztes Werwolfrudel daran zu hindern, unter der Invasionsflotte im Kanal verheerende Verwüstungen anzurichten. Die Zerstörung der U-Boote war auch eine Botschaft an General Franco, über den Kopf von Hoare hinweg. Der spanische Diktator sollte wissen, wie gut die Alliierten über seine Regelverstöße Bescheid wußten und worauf er sich gefaßt machen mußte, wenn er die Regeln weiter nach seinem Gutdünken auslegte. Wenn sie ihr Ziel erreichten. Sollte die Operation fehlschlagen … Mallory zündete sich eine weitere Zigarette an und versuchte die Vorstellung zu verdrängen, als Saboteur durch die Straßen von Madrid gefahren zu werden, als Angreifer, der die Rechte eines neutralen Landes verletzt hatte. Kam gar nicht in Frage. Verdammt sollte er sein, dieser Captain Lord Nelson Jensen. Mallory drückte die Zigarette in seinem Weinglas aus und sagte: »Wir brauchen eine Karte.« Hugues und Lisette hatten einen schwierigen Abend hinter
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sich. Die Überprüfung ihrer Papiere am Straßenrand war glimpflich verlaufen. Die Deutschen schienen viel zu sehr in Eile gewesen zu sein, um mehr als einen flüchtigen Blick auf eine offensichtlich schwangere Frau und ihren Geliebten zu werfen. Schließlich war in den Bergen eine SS-Patrouille umgebracht worden, und der Gerechtigkeit mußte Genüge getan werden. Aber Hugues war nervös. Konnte es sein, daß Lisette eine Verräterin war? Bewußt sicher nicht, aber unbewußt … ja, das schien möglich. Hugues traf eine Entscheidung. Die Operation mußte ohne sie beide weitergehen. Er faßte Lisette beim Arm und kehrte mit ihr um, in den Ort zurück. Sie waren ein Liebespaar, das einen Spaziergang gemacht hatte und vom Regen und der herannahenden Sperrstunde überrascht worden war. Was könnte natürlicher sein, als wenn sie nun auf dem schnellsten Weg nach Hause strebten? »Wohin gehen wir?« fragte Lisette. Hugues zwang sich zu einem Lächeln. »Kontakt aufnehmen mit unseren Freunden.« Sie kehrten ins Café de l’Océan zurück, und Lisette setzte sich dankbar an den Tisch, während Hugues zwei Gläser Rotwein bestellte und sich fragte, was er als nächstes tun sollte. Das Café hatte sich geleert. Draußen wütete ein sturmartiger Wind, und auf der Straße, die zum Hafen hinunterführte, peitschten die Böen das Wasser in den Pfützen hoch. Der Commandant saß noch immer an der Bar und unterhielt sich leise und verschwörerisch mit dem Wirt, der unbehaglich dreinblickte. Der Commandant wandte sich zu Hugues um und strich über seine Erdbeernase, als er Lisette ansah, bevor er sein Gespräch fortsetzte. Hundert Meter entfernt, an der Kaimauer, unterhielten sich zwei Männer in Regenmänteln leise auf deutsch. »Sie ist
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hineingegangen«, sagte einer von ihnen. »Der Mann war bei ihr.« »Hat sie Kontakt zu weiteren Personen aufgenommen?« »Nicht, daß ich wüßte. Ich habe sie für zwanzig Minuten aus den Augen verloren.« »Scheiße«, sagte der größere der beiden. »In ein paar Minuten beginnt die Ausgangssperre. Dann verlieren wir sie ganz. Ich denke, es wird Zeit, daß wir unseren Hasen aus dem Stall lassen.« »Wie bitte?« »Sie aufscheuchen und sehen, wohin sie rennt.« »Ach so.« Sie betraten das Haus von Monsieur Walvis, dem Bestattungsunternehmer, der als Spitzel für die Miliz, die Polizei der Vichy-Regierung, arbeitete. Der größere der beiden Männer hob den Telefonhörer ab und rüttelte an der Gabel. Als sich die Vermittlung meldete, sagte der Mann mit schwerem Akzent auf französisch: »Verbinden Sie mich mit dem Kommandanten der Garnison.« Es entstand eine Pause, während die Telefonistin die Verbindung einstöpselte. Dann meldete sich eine rauhe Stimme auf deutsch: »Wer da?« »Café de l’Océan«, sagte der Mann. »Jetzt gleich.« Dann legte er auf. Der Garnisonskommandeur legte ebenfalls auf. In der Vermittlungszentrale hatte die Telefonistin mit angehaltenem Atem mitgehört. Sie holte tief Luft und stöpselte eine neue Verbindung. Zwei Minuten später klingelte im Café de l’Océan das Telefon. Eine Frauenstimme sagte: »Feuer im Bürgermeisteramt.« »Merde«, stieß der Mann hinter der Bar aus. »Die Deutschen kommen. Les boches arrivent.«
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Hugues wußte, daß er auf diesen Augenblick gewartet hatte. Doch als jetzt alles von ihm abhing, fühlte er sich wie gelähmt. Durch das Erlebnis mit den Untergrundkämpfern hatte er alle Willenskraft verloren. Nicht, daß in einer Situation wie dieser Willenskraft von Nutzen wäre. Unentschlossen blieb er stehen, während ihm der Schweiß aus allen Poren trat. »Lisette«, sagte er. »Versteck dich.« »Nicht nötig«, erklärte der Wirt und wischte sich die dicken Hände an seiner riesigen Schürze ab. »Unsere Freundin in der Telefonvermittlung gibt uns zehn Minuten Vorwarnung.« Er schenkte sich einen kleinen Cognac ein. »Wollen Sie auch einen?« Der Commandant zwirbelte seinen Schnurrbart und genehmigte sich ebenfalls noch ein Glas. »In Augenblicken wie diesen ist es wichtig, etwas für die Nerven zu tun«, sagte er. Hugues war außer sich. »Non«, rief er. Glaubte dieser Fettkloß mit seinem Walroßgesicht tatsächlich, daß sie hier sitzen blieben und darauf warteten, erschossen zu werden? Es handelte sich um Mitglieder der Resistance. Wenn Lisette in ihrer Gesellschaft angetroffen wurde, verhaftete man sie sofort. Außerdem vertraute er seinen Papieren nicht. Einer genauen Überprüfung würden sie niemals standhalten … Ein röhrendes, schepperndes Geräusch drang von der Straße herein. Mit quietschenden Reifen kam ein altertümlicher Feuerwehrwagen schlitternd auf dem Kopfsteinpflaster zum Stehen. Der Commandant leerte sein Glas und sagte: »Alle an Bord!« Er sprang auf den Beifahrersitz und schob sich einen riesigen Messinghelm auf den Kopf. »Los, folgen Sie ihm. Allezy«, sagte der Wirt. Hugues starrte ihn an, und der Wirt machte scheuchende
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Bewegungen mit seinen dicken Händen. »Schnell. Vite«, drängte er. Lisette nahm Hugues Hand. »Komm«, sagte sie. Der Commandant half mit seinen rheumageplagten Armen nach. Lisette stieß Hugues in den Lastwagen, und das Feuerwehrauto rumpelte davon. Im Wagen schienen sich sieben oder acht weitere Männer zu befinden, alle älteren Jahrgangs. »Wohin fahren wir?« fragte Hugues den Commandant. »Die Stunde ist gekommen«, entgegnete der Alte. »Wir werden unseren Freunden, den Engländern, zu Hilfe eilen.« »Nein«, sagte Hugues. »Das dürfen Sie nicht.« »Und warum nicht?« gröhlte der Commandant betrunken. »Jeder Mann in diesem Feuerlöschzug hat an der Marne das Vaterland verteidigt. Für den Ruhm Frankreichs. Und nicht für Ihren verdammten Lenin, nom d’un nom …« Hugues fuhr dazwischen. »Ich möchte betonen, daß ich kein Leninist bin.« Alter Schwachkopf, dachte er. Im Café sitzen und große Sprüche machen … »Sir«, sagte der Captain und streckte den Rücken gerade. »Ich bin Soldat, und wir kämpfen einen sauberen Krieg, von Mann zu Mann, ehrenhaft, und nicht aus dem Hinterhalt. Siebzig alte Kameraden, alle handverlesen, werden sich bei Tagesanbruch vor dem Haus von Guy Jamalartégui versammeln. Der Augenblick ist gekommen.« Hugues öffnete den Mund, um dem betrunkenen Veteranen zu sagen, daß er seine kindischen Fantasien für sich behalten solle, doch Lisette war schneller. Sie sagte in versöhnlichem Ton: »Das können Sie nicht tun.« Der Captain zog erregt eine weiße Braue hoch. »Kann ich nicht? Madame, eines sage ich Ihnen: In der Schlacht an der Marne habe ich zusammen mit dreißig Kameraden drei Tage
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lang die Stellung gegen ein ganzes Regiment Deutscher gehalten. Seitdem hat sich überhaupt nichts verändert.« »Mon Commandant«, begann Lisette erneut. »Ich werde Ihnen etwas anvertrauen. Was ich jetzt sage, ist von höchster Bedeutung und geheim.« Die Stellen, an denen das Gesicht des Commandant nicht von den ausladenden Schnurrbartwirbeln verdeckt wurde, röteten sich erfreut. »Sie werden eine wichtige Mission der Alliierten gefährden.« »Meine liebe Kleine, ich danke Ihnen«, antwortete der Commandant. »Ich nehme Ihre Information zur Kenntnis. Und jetzt zerbrechen Sie sich nicht länger Ihr hübsches Köpfchen darüber. Und wenn ich darum bitten darf, Mademoiselle, sprechen Sie mit mir nicht über Kampf und andere Dinge, von denen Sie nichts verstehen. Der Platz einer Frau ist im Schlafzimmer und in der Küche.« Er zwickte Lisette in die Wange. »Überlassen Sie den Männern den Rest.« Das Krachen von Lisettes Handfläche auf seinem Ohr übertönte den Lärm der Feuerglocke. »Vieux con!« sagte sie. »Sie Hanswurst! Fahren Sie wenigstens nicht in Ihrem idiotischen Feuerwehrwagen vor.« »Monsieur«, sagte Hugues. »Diese Dame ist erst heute morgen den Fängen der Gestapo entkommen, während Sie seit dem Mittagessen im Café gesessen haben.« Das Feuerwehrauto rollte an der südlichen Hafenseite entlang. Es regnete. Aus einem Versteck im rückwärtigen Wagenteil hatte einer der ehemaligen Frontsoldaten altertümlich aussehende Gewehre hervorgeholt. »Auch wir im Café können kämpfen«, sagte der Commandant beleidigt und rieb sich das Ohr. Im Hafen lagen einige Fischerboote an der Kaimauer. Hinter dem Feuerwehrauto mit den alten Kameraden bewegten sich zwei große graue Lastwagen durch die Dämmerung. »Sehen Sie«, sagte Hugues und wies mit der Hand hinter
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sich. »Sie folgen uns. Ich flehe Sie an. Gefährden Sie nicht die ganze britische Operation. Geheimhaltung ist unbedingt …« Als wollte er unbedingt Sieger in der Diskussion bleiben, unterbrach der Commandant: »Nein, sie folgen nicht uns, sondern Ihnen.« Lisette sah ihn an. »Mon Commandant, das Ergebnis ist dasselbe.« »Ich werde nicht wie ein Dieb durch die Gegend schleichen«, sagte der Commandant. »Ich mache, was ich will.« Die Straße bog vom Hafenufer ab und wand sich zwischen kleinen Häusern bergauf. »Bien«, sagte Lisette durch die zusammengebissenen Zähne. »In diesem Fall gibt es nur eine Lösung.« Sie beugte sich vor, drehte den Zündschlüssel um und warf ihn in das Gebüsch am Straßenrand. »Jetzt können Sie zu Fuß gehen«, sagte sie. Sie sprang aus der Fahrerkabine, und Hugues folgte ihr. Für eine Frau, die im achten Monat schwanger war, rannte sie schnell. Mein Gott, dachte Hugues, sie ist wirklich eine bemerkenswerte Person. Noch nie hatte er Lisette so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Sie waren frei, sie und er. Lisette hatte den Commandant, diesen alten Narren, sich selbst überlassen und damit die Verfolger abgeschüttelt. Der Commandant würde im Kampf umkommen und die Adresse von Guy Jamalartégui mit ins Grab nehmen. Nun konnte Hugues mit Lisette und ihrem Kind in die Rue du Port in Martigny gehen und wieder mit den Engländern zusammentreffen, ohne daß ihnen jemand folgen würde. Dann waren Lisette und das Kind in Sicherheit. Es herrschte Krieg. Aber für Hugues zählte nur noch Lisette. Es wurde dunkel, und die Sperrstunde war vorbei. Der Hafen von Martigny war mit Sicherheit bewacht. Aber gab es eine andere Wahl? Oben auf dem Hügel blieb Hugues stehen und blickte zurück
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auf den Weg, den sie gekommen waren. Drei Veteranen der Marneschlacht hockten, die dicken Hinterteile ausgestreckt, im Gebüsch und suchten nach dem Zündschlüssel. Neben ihm machte Lisette ein seltsames Geräusch, als würde sie weinen. Aber sie weinte nicht. Sie lachte. Hugues nahm Lisette bei der Hand, und sie begannen den steilen Anstieg auf einen Hügel. Nach fünf Minuten wurden Schüsse hinter ihnen laut. Gut, dachte Hugues. So weit hatten sie es immerhin geschafft. »Nette Gegend«, sagte Dusty Miller. »Meerblick. Baden in geschützten Buchten.« Sie betrachteten die Seekarte, die auf dem Tisch aus Pinienholz in Guy Jamalartéguis Küche ausgebreitet lag. Die Karte zeigte eine wild zerklüftete Felsenlandschaft mit tief eingeschnittenen Meeresarmen, die sich in einem riesigen Bogen um den Golf von Biscaya zog. In der Mitte des Küstenverlaufs war noch etwas anderes zu sehen. Zu einer Zeit, als die Welt noch aus flüssigem Gestein bestanden hatte, mit Felsen, die wie Wasser die Erde bedeckten, war ein gewaltiger Geysir aus flüssigem Gestein nach oben geschossen. Durch diese Granitexplosion war eine Halbinsel entstanden, die sich wie ein schützender Arm um die Bucht von San Eusebio legte. Der Arm war als Cabo de la Calavera in der Karte verzeichnet. Im Eingangsbereich war die Bucht nicht breiter als dreißig Meter. Im Inneren weitete sie sich zu einer ovalen Wasserfläche von beinahe vier Kilometern Durchmesser und war bis zu vierzig Meter tief. Das Dorf San Eusebio lag an der landeinwärts gerichteten Seite der Bucht. An der Spitze der Halbinsel stand auf der Karte FORTALEZA. Unterhalb der Festung waren einzelne Gebäude eingezeichnet. »Die Festung bewacht die Hafenzufahrt«, ließ Guy durch
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Jaime erklären. »Die Deutschen haben neue Kanonen aufgestellt, und in der Festung gibt es ein Munitionslager, gut bewacht, vous voyez. Ich nehme an, daß dort die Munition für die Kanonen und die Torpedos für die U-Boote lagern. Außerdem verläuft hier entlang ein Befestigungswall.« Mit seinem zersprungenen, schmutzigen Daumennagel umfuhr er den Rand der Halbinsel. »Das ist der einzige Zugang zum Cabo. Ein Teil der Verteidigungsanlagen ist alt, wurde ursprünglich gegen die Araber gebaut, der andere, neue, vermutlich von den Deutschen. Zum offenen Meer hin sind die Klippen sehr hoch. Von der Seeseite zum Hafen flacht das Land langsam ab, so daß es gegenüber der Stadt sogar einen Sandstrand gibt. Dieser Strand ist mit Stacheldraht überzogen, der Sand vermint. Die Befestigungen verlaufen von der landeinwärts gerichteten Seite der Festung bis zur alten Sardinenfabrik. Im Hafen liegen zwei Handelsschiffe, die angeblich unter der Flagge von Uruguay fahren und Nachschub gebracht haben. Die Ladung der Schiffe wurde an den Kaimauern der Fischfabrik gelöscht. Nun ankern sie vor dem Fabrikgelände im Hafen. Sie verfügen über eine Menge Maschinengewehre an Deck, um die Hafengewässer zu sichern.« »Und wo liegen die U-Boote?« Guy zuckte mit den Achseln. »Die Fischfabrik ist sehr groß«, sagte er. »Es gab einmal einen Amerikaner, ein gebürtiger Baske, der im Pazifik eine Menge Geld beim Lachsfang verdient hatte und seinem Heimatort helfen wollte. Er ließ vier Kaianlagen bauen, ein Trockendock und eine Menge Schiffe und wollte die Sardinenfischerei ankurbeln. Natürlich schlug das Unternehmen fehl. Es gab nicht genug Sardinen in jenen Jahren, und in dieser Größenordnung auch vorher nicht. Der Mann war verrückt, eben ein Amerikaner. Aber die Gebäude stehen immer noch. Sie sind der ideale Ort, um ein Schiff zu
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reparieren oder ein U-Boot, bien entendu.« Mit einem Streichholz spielend, zog Guy die Weinpfütze auf dem Tisch auseinander. Dann zeichnete er vier Kaimauern in Form einer Gabel ein, die drei Wasserstreifen parallel zur Küste einrahmten. Die innere Kaimauer verlief am Fuß des Felsens. Am Querstück, das die Zacken verband, schraffierte er verschiedene Verschlage. »Dort befinden sich die Kaimauern, die Fabrikgebäude und auch die Ladekräne. Die gesamte Anlage läßt sich gut verteidigen.« Mallory richtete den Blick auf die Karte und die spinnwebförmige Weinpfütze daneben. Die ganze Halbinsel ließ sich tatsächlich gut abriegeln und war schwer einzunehmen. Aber es gab einen Hoffnungsschimmer. Ihr bester Trumpf war die Neutralität Spaniens. »Wie groß ist die Garnison?« fragte er. Guy zuckte mit den Achseln. »Kein sehr gastlicher Ort, um einfach hineinzuspazieren und die Soldaten zu zählen. Vielleicht sind es fünfhundert. Wehrmacht, SS, die U-BootBesatzungen. Dazu kommen Ingenieure und Dockarbeiter für die Reparaturen. Sie wurden aus Deutschland hergebracht, in diesen angeblich südamerikanischen Schiffen, die im Hafen liegen. Insgesamt zweitausend Mann, schätzungsweise. Sie stehen unter dem Befehl von ganz oben, wie man mir sagte. Ein General, glaube ich. Oder ein Admiral. Der Mann tragt eine schwarze Uniform. SS oder Kriegsmarine. Genaueres konnte mir niemand sagen …« »Sie werden also von den Schiffen aus versorgt«, sagte Mallory. »Aber woher beziehen sie ihre Elektrizität?« »Sie haben alles mitgebracht«, sagte Guy. »Hinter der Festung gibt es eine kleine Siedlung mit Holzhütten, in denen die Männer wohnen. Zwischen den Hütten und der Festung steht ein Gebäude, das früher als Wäscherei diente. Jetzt haben die Deutschen dort ihre Dieselgeneratoren aufgestellt. Eine
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ganze Menge. Natürlich schwer bewacht. Außerdem gibt es ein Munitionslager, in einer Felsenhöhle.« Andrea hatte zurückgelehnt auf seinem Stuhl gesessen, die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Nun sagte er: »Sie kennen sich gut aus, was die Festung betrifft, Monsieur. Wie kommt das?« »Meine Freunde arbeiten auf den Fischerbooten an der Küste vor San Eusebio. Sie erzählen mir, was sie wissen.« »Es gibt noch immer Fischerei in San Eusebio?« »Aber natürlich«, sagte Guy. »Der Hafen liegt in einem neutralen Land. Es existiert eine Eisenbahnlinie, um den Fisch nach San Sebastian zu bringen. Die Stadt selbst wurde von den Faschisten zerstört. Aber die Kaianlagen sind in gutem Zustand. Und der Zoll … nun ja … Geld wird immer gebraucht, so nah an der Grenze.« »Was soll das heißen?« fragte Andrea den Basken. »Es gibt Leute, die machen Geschäfte mit den Einwohnern. Nicht ganz legale Geschäfte, bei denen sie auf die Kooperation der Zöllner angewiesen sind.« Jaime räusperte sich. »Das stimmt. Ich kann es bestätigen«, sagte er. »Sie kennen sich hier aus?« fragte Andrea. »Durch meine Geschäfte«, sagte Jaime. »Über die U-Boote weiß ich natürlich nichts. Für mich war es einfach ein nützlicher Hafen für Zigaretten, Wein und andere knappe Güter. Nur ein kleiner Teil der Stadt stand noch, nachdem diese Faschistenschweine dort fertig waren. Ich habe Geschäftskontakte im Ort.« »Die hatten Sie«, sagte Guy. »Pardon?« »Sie sprechen von Juanito«, erklärte Guy. »Von Juanito habe ich die ganzen Informationen erhalten. Vor zwei Monaten.« »Ich war zum letztenmal vor vier Monaten in San Eusebio«,
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sagte Jaime, die Augen auf Andrea gerichtet. Ihm war unangenehm bewußt, was Andrea mit einem Verräter tun könnte, und er hoffte deshalb inständig, bei dem Griechen nicht den Eindruck zu erwecken, daß er etwas verheimlichte. Andrea nickte. »Ihr Wissen wird uns nützen.« »Bon«, sagte Guy. »Juanito wurde auf dem Cabo angetroffen. Er hatte dort bereits zwei- oder dreimal Cognac an die Truppen verkauft. Die Deutschen nahmen ihn gefangen und knüpften ihn oben auf der Festung auf. Dort hängt er noch immer – oder das, was die Möwen von ihm übrigließen. Am Fahnenmast. Als abschreckendes Beispiel für die anderen. Pour encourager les autres.« Sein Blick wanderte zu der Metallkassette mit den Banknoten. »Das hier ist ein gefährliches Spiel.« Andrea nickte. Die Haut an seinem mächtigen Nacken schob sich zusammen und glättete sich wieder wie bei einer Robbe. »In einem Krieg gibt es unglücklicherweise viele Gefahren.« Bis auf das Pfeifen des Windes zwischen den Dachziegeln war es still. Die Franzosen zeigten ungewöhnlich großes Interesse für ihre Hände. Andreas Gegenwart erfüllte den Raum wie das Ticken einer Bombe. Mallory wartete. Jetzt kam der entscheidende Moment. Die wilde Verfolgungsjagd durch die Pyrenäen war vorbei. Die Gruppe hatte Zeit zum Durchatmen und Nachdenken, bevor sie sich bewußt und mit offenen Augen dem Abgrund näherte, um den Sprung zu wagen. Von nun an mußten sie mit absoluter Kaltblütigkeit und Ruhe operieren. Für einen Augenblick ließ Mallory die Präsenz des Griechen auf sich wirken, wie es während der vergangenen achtzehn Monate oft geschehen war, wenn sie sich an beengten, geheimen Zufluchtsorten aufgehalten hatten. Als das Schweigen lange genug gedauert hatte, fragte er: »Und die seewärts gerichteten Verteidigungsanlagen?« Der Themenwechsel erdete die Spannung im Raum wie ein
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Blitzableiter. Guy lachte kurz und bitter auf. »Vor die Kaimauern haben die Deutschen U-Boot-Netze gespannt. Hinter den Netzen beginnen die Klippen«, gab er Auskunft. »Achtzig Meter hoch. Und am Fuß der Felsen bricht sich das Wasser mit hohen Wellen, die den ganzen Weg von Amerika herüberkommen.« »Keine Befestigungen?« Unter der Baskenmütze hob Guy die Braue. Er lächelte wie jemand, der das angenehme Gefühl erlebte, sich wieder auf vertrautem Boden zu bewegen. »Mon Capitaine«, antwortete er. »Bei diesen Klippen und solchen Brechern sind Befestigungsanlagen überflüssig. Erst vor vier Monaten wurde ein Freund von mir, Didier Jaulerry, mit seinem Boot gegen den Fuß der Klippen getrieben, unterhalb der Festungsmauern. Er ertrank mit seiner ganzen Mannschaft. Sein Schiff, oder was davon übrig ist, liegt noch immer dort. Sie können es beim Gezeitenwechsel sehen.« Mallory nickte. »Wie stand das Wasser, als er strandete?« »Hochwasser. Eine Springflut.« »Und das Schiff ist noch da, sagen Sie?« Guys Mund öffnete und schloß sich wieder. »Monsieur. Sie wollen doch nicht …« Mallory schien ihn nicht zu hören. Er rieb sich nachdenklich über die Bartstoppeln und blickte auf die Karte. An ihrer schmälsten Stelle am Eingang war die Halbinsel nicht breiter als dreißig Meter. Dort würde es zweifellos Befestigungen geben. »Woraus bestehen die Felsen?« fragte er. »Granit«, erwiderte Guy. »Aber ziemlich brüchig. Viele Vogelnester am oberen Rand.« »Und unten, am Fuß der Klippe?« Guy sah ihn an, als wäre er verrückt. »Felsen. Brandung. Gewaltige Brecher, haushohe Wellen. Hören Sie, ich an Ihrer
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Stelle würde lieber an die Stadt denken. Sie wurde zerstört, wie ich bereits sagte. Im Bürgerkrieg. Die Republikaner hatten sich hier festgesetzt. Die Faschisten brannten alles nieder. Deshalb ist sie ziemlich verlassen, und die wenigen übriggebliebenen Einwohner leben wie die Ratten zwischen Ruinen. Sie haben nichts zu essen, kein Wasser. Dort sollten sie landen. Wenn Sie die Hafenbefestigungen überwinden, könnten Sie Ihren Angriff …« Unbehaglich schwieg Guy. Diese Männer gaben ihm das Gefühl, zu viel und zu unbedacht zu reden, wie ein plapperndes Kind unter Erwachsenen. »Nun gut«, sagte Mallory schließlich. »Ihr Schiff.« Guys Blick wanderte zu der flachen Metallkassette mit den Banknoten, die Mallory mit seiner Hand bedeckte. »Sie werden bezahlt, wenn wir ankommen«, sagte Mallory. »Aber, Monsieur …« »So lauten die Bedingungen. Natürlich wird der Gedanke Sie beflügeln, durch Ihre Mithilfe wieder eine Welt aufzubauen, in der dieses Geld einen Gegenwert besitzt und ausgegeben werden kann …« »Ah, ça«, sagte Guy und zuckte mit den Achseln. Er war Schmuggler und Realist. Krieg hatte etwas mit Politik zu tun. Aber Geld blieb Geld, und das war etwas anderes. »Einverstanden? « »Einverstanden.« Mallory betrachtete ihn mit seinen kühlen, unbewegten braunen Augen. »Wann können wir auslaufen?« Guy war kein Mann, der sich leicht einschüchtern ließ. Doch er ertappte sich bei dem Gedanken, Gott dafür zu danken, daß er Mallory nicht zu seinem Feind hatte. »Um vier Uhr wird Wasser im Hafen sein«, sagte er. »Zu dieser Zeit sind die Posten nicht sehr wachsam. Es ist zu früh und der Hafen zu unbedeutend. Sie werden vor sich hindösen. Verstecken Sie
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sich in der Nähe der Kaimauer. Wenn es Zeit wird, daß Sie an Bord kommen, werde ich fünf Minuten lang Lichtzeichen geben, rein zufällig.« »Und wenn die Deutschen Sie dabei beobachten?« fragte Andrea. Guy lächelte wie jemand, der sich bereits zu weit vorgewagt hatte und nicht ohne Verluste wieder zurückkonnte, um sich zu retten. »Ich bin sicher, Sie wissen, wie Sie mit den Deutschen umzugehen haben«, antwortete er. »Und sobald Sie an Bord sind … nun, es ist ein Fischerboot, und wir sind nur eine Stunde von der Grenze entfernt. Ich werde die spanische Flagge hissen. Auf hoher See und in den Hoheitsgewässern respektieren die Deutschen ein neutrales Schiff. Das ist nicht zu vergleichen mit den Vorgängen, die sich im Geheimen auf dem Cabo de la Calavera abspielen.« Andrea nickte, und Guy war erleichtert. »Danke«, sagte Mallory und griff nach der Weinflasche. Aus Saint-Jean-de-Luz hörte man Gewehrfeuer, vermischt mit Explosionslärm. Mallory lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Er lauschte dem Regen, der auf das Dach prasselte, und dem Sturm, der an den Fenstern rüttelte. Miller und Jaime schnarchten bereits, und Wallace war still. Die Windböen schienen an Kraft zu verlieren und kamen in größeren Abständen. Das würde Miller freuen, dachte Mallory. Und ihn ebenfalls. Miller haßte das Meer, so wie Mallory eine ausgesprochene Abneigung gegen geschlossene Räume hatte. Mallory nahm Miller diese Eigenart nicht übel, obwohl er sie nicht verstand, und er wollte nicht … Dann schlief auch er ein. Als er wieder erwachte, war es dunkel. Er hatte nicht länger als vier Stunden geschlafen, den Kopfschmerzen und dem Geschmack in seinem Mund nach zu urteilen. In der Dunkelheit neben sich hörte Mallory eine Stimme. Es war
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Andrea. »Draußen sind Leute«, sagte der Grieche. Es klopfte an der Tür, und eine Stimme raunte: »L’Amiral Beaufort.« Hugues. Guy sagte: »Entrez.« Hugues trat ein. Lisette war bei ihm. Sie blickte um sich, in die grauen ausgemergelten, hohlwangigen Gesichter, die nur ungenügend vom gelben Lampenschein beleuchtet wurden. »Bonjour«, sagte Mallory zivilisiert und höflich. Stille machte sich breit. Schließlich nahm Hugues das Wort wieder auf. »Miller hat es Ihnen erzählt, vermute ich. Lisette wurde freigelassen. Wir sind den Verfolgern entkommen und haben uns einige Stunden über dem Dorf in einer Scheune versteckt. Ich habe Wache gehalten. Von dort oben sieht man die ganze Straße, und es hat sich niemand genähert. Die Deutschen haben uns aus den Augen verloren.« Den Kopf auf die Oberkante der Rückenlehne gelegt, sah Mallory zu Hugues, der blaß und nervös wirkte. Lisette hielt seine Hand. »Es sind Schüsse gefallen«, sagte Mallory. »Der Commandant und seine Leute«, erklärte Hugues. »Sie sind schlau, diese Frontkämpfer. Und dumm zugleich. Sie werden die Deutschen eine Zeitlang beschäftigen.« Mallory nickte. Wieder einmal hatte er das Gefühl, daß ihm die Kontrolle über die Ereignisse entglitt. Guys Fischerboot war eine Möglichkeit, wieder Herr der Lage zu werden. Der Wind blies nun in unregelmäßigen Böen, dazwischen war es ruhig, bis auf das entfernte Rauschen des Meeres. »Guy«, sagte Mallory, als würde er eine Partie Tennis vorschlagen, »ich denke, es wird Zeit, daß Sie Ihr Boot klarmachen. Und wir anderen sollten auch von hier verschwinden. Wie lange brauchen Sie?«
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»In einer halben Stunde könnte ich draußen sein. Der Wasserstand ist noch nicht sehr hoch, aber vielleicht reicht es.« Aus der Tasche seiner speckig glänzenden Weste zog Guy eine große, dunkel angelaufene Uhr. »Um halb fünf.« Er räusperte sich. »Wie gesagt, es ist wichtig, daß Sie sich leise verhalten.« »Oh, wirklich?« Das war Miller. »Monsieur«, sagte Guy erregt. »Auch wenn die Wachen träge sind, können Sie sicher sein, daß sie fünf Minuten vor jeder vollen Stunde ihre Meldung durchgeben. Ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein.« Guy verzog das Gesicht flüchtig zu einem nervösen Lächeln und glitt durch die Hintertür in die schwarze Nacht hinaus. Mallory blickte auf seine Armbanduhr. Es war halb drei. Wieder einmal saß er eingesperrt in einem geschlossenen Raum, das Meer im Nacken, und war abhängig von anderen Menschen, die ihn aus der Zwangslage befreien sollten. In der Hoffnung, es würde das letzte Mal sein, sagte er zu Andrea: »Hol Wallace. Wir verschwinden von hier.« Hugues fragte: »Was wollen Sie mit dem Commandant machen?« Mallory hatte plötzlich das Gefühl, nicht genug geschlafen zu haben. »Der Commandant?« »Er wird vor Morgengrauen hier sein«, sagte Hugues. »Mit siebzig Frontkämpfern.« »Er war betrunken«, erklärte Lisette. Hugues seufzte. »Ich kenne diesen Commandant. Wenn er sagt, daß er vor Morgengrauen hier erscheint, wird er auch kommen.« »Dann haben Sie eine Nachhut«, sagte Wallace. »Befehligt von diesem Trunkenbold?« fragte Lisette. »Sie sind verrückt.« »Der Commandant ist außer Dienst. Ich bin aktiver Offizier und werde das Kommando übernehmen«, verkündete Wallace.
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Mallory wandte den Kopf und blickte in das wachsbleiche Gesicht mit den glasigen, fiebrig glänzenden Augen. »Ich bin nicht in der Lage, auf dem Boot mitzufahren«, sagte Wallace. »Vielleicht kann einer dieser Frontkämpfer mich nach Spanien bringen, wenn sich die Aufregung hier gelegt hat.« Jaime meldete sich zu Wort. »Das wäre eine Möglichkeit. Diese alten Narren brauchen jemanden, der sie befehligt. Aber Monsieur kann nicht in Guys Haus bleiben. Die Deutschen werden es zerstören.« »Warten Sie«, sagte Mallory. »Siebzig Mann, die bei Tagesanbruch hier eintreffen?« »Befehligt von einem Betrunkenen«, ergänzte Hugues. Mallory blickte zu Wallace. Er gehörte wirklich nicht aufs Boot. Seine einzige Chance war Ruhe, um später in aller Heimlichkeit über die Grenze gebracht zu werden. Mallory überlegte. »Wir werden den Commandant zu Ihnen schicken. Sie sagen ihm dann, daß er nach Hause gehen und Sie abholen soll, wenn der ganze Aufruhr vorbei ist.« »Ja, Sir«, antwortete Wallace. Hugues blickte zuerst den Engländer und dann Mallory an. »Die Scheune, in der wir uns versteckt haben, liegt ganz ruhig und hat einen Dachboden. Von dort kann man die Straße und den Hafen einsehen. Das wäre ein guter Gefechtsstand.« Mallory betrachtete das durchscheinende Gesicht, die aufgesprungenen Lippen und die glitzernden Augen des Engländers, bevor er durch den Raum ging und Wallace die Hand schüttelte. »Viel Glück, Lieutenant«, sagte er. »Es war gut, Unterstützung vom SAS zu haben. Ohne Sie wären wir nie so weit gekommen.« Wallace grinste. »Das wären Sie sicher, Sir.« »Ich werde den Commandant zu Ihnen schicken«, erwiderte Mallory und faßte Miller beim Arm. »Bring Lieutenant Wallace zur Scheune hinauf.«
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Sie trennten sich, und Mallory blieb mit der Erinnerung an einen Händedruck zurück, der nicht viel mehr als die Berührung einer eiskalten Knochenhand gewesen war. »Tapferer Mann«, sagte Andrea. Lisette sah zu ihnen und nickte. Auf ihrem Gesicht glänzten Tränen. Millers Schritte verhallten auf dem Pfad. Wallace war fort. Zwischen Weinreben und Kartoffeläckern arbeitete Miller sich voran. Er trug seine Last die Straße hinauf, in die Scheune und über die Treppe nach oben. Auf dem Dachboden ließ er Wallace in das staubige, süßlich riechende Stroh sinken. »Rauchen verboten«, sagte Miller. »Klar«, entgegnete Wallace. »Und danke.« »Viel Glück«, wünschte Miller und stellte drei Wasserkanister in Reichweite. Im gelben Licht der Laterne wirkte Wallace wie eine Gestalt auf dem Bild eines alten Meisters – ein verwundeter Soldat mit Rucksack, Maschinenpistole, automatischer Pistole und Sulfonamidpuder, auf dem Gesicht ein schwaches Lächeln, das unheimlich und entrückt wirkte, wie Miller fand. »Grüßen Sie England von mir«, sagte er. »Sie werden vor uns dort sein«, antwortete Miller, so fröhlich er konnte. »Trinken Sie im Ritz einen Bourbon auf mein Wohl.« Mit seinen langen Beinen war Miller in zwei Schritten wieder unten. Er blieb in der Scheunentür stehen. Der Ausblick von hier oben war hervorragend. Am unteren Ende der Straße lag das Dorf. In den Kartoffeläckern rührte sich nichts. Die Nacht war ruhig, denn der Wind hatte abgeflaut, und die Sterne standen klar am Himmel. Miller hörte, wie Wallace sich auf dem Dachboden bewegte und dabei ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrückte. Dann schloß er die in den Angeln
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quietschende Tür. Miller trat auf die Straße hinaus und machte sich auf den Weg zu den Häusern weiter unten. Nach fünfzehn Metern blickte er sich um. Als er Wallace die Treppe hinaufgetragen hatte, war die Dachbodenluke geschlossen gewesen. Nun stand sie offen. Durch die Öffnung konnte Wallace die gesamte Straße bis zum Hafen überblicken. Grüßend hob Miller eine Hand und schritt ruhig ins Dorf hinunter. Hugues sagte zu Mallory: »Lisette wird mit aufs Boot kommen.« Unter den schweren Brauen blickte Mallory ihn an. Seine Augen waren müde, aber Hugues hatte den Eindruck, daß sie alles sahen. »Wenn wir sie zurücklassen, könnte sie reden«, erklärte er. »Und auf Fischerbooten gibt es oft Frauen. Sie wird … unsere Tarnung sein.« Eine Schwangere, dachte Mallory. Verdammt ungewöhnlich für eine geheime Sabotagetruppe, die sich in ein fremdes Land schlich. Lisette kannte weder das Ziel, zu dem die Gruppe unterwegs war, noch den Grund. Aber wenn man sie festnahm, würde sie reden. Das war sicher. Diesmal sorgte die Gestapo dafür. Wenn sie nicht bereits ausgepackt hatte. Mallory sagte: »Nehmen Sie Lisette mit.« Es war zwanzig vor vier, als Miller in Guys Haus zurückkehrte. Auf dem Tisch standen ein schmutziges Glas und ein benutzter Teller. Nichts deutete darauf hin, daß sieben Männer und eine Frau einen Teil der Nacht hier verbracht hatten. Mallory wartete, den Rucksack geschultert, die Maschinenpistole in der Hand. Miller schulterte ebenfalls seine Kisten. Einer nach dem anderen verließen sie das Haus durch den Hintereingang und kletterten über die Gartenmauern des Dorfes, bis sie das Feld
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oberhalb des Felsvorsprungs erreichten, von wo aus Andrea die Wachen beobachtet hatte. Der Wind hatte sich gelegt, und das Meer lag glatt wie Satin vor ihnen. Mit leichtem Klatschen schlugen die Wellen gegen die Hafenmole. Bei einem der Ruderboote hatte sich die Vertäuung gelöst. Aus der verschwommenen Dunkelheit in der Bucht drang das unregelmäßig tuckernde Geräusch alter Dieselmotoren herüber. Es war die Fischerflotte, die mit der Flut auslief. Von den Wachposten gab es keine Spur. Mallory sagte zu Andrea: »Wir warten, bis die Wachen um fünf vor vier ihre Meldung gemacht haben. Anschließend nehmen wir sie uns vor. Das verschafft uns eine halbe Stunde Vorsprung.« »Eine halbe Stunde?« sagte eine Stimme neben ihm. »Monsieur, ich gebe Ihnen mein persönliches Ehrenwort, daß Sie alle Zeit der Welt haben werden.« Mallory fuhr herum. »Mon Capitaine«, sagte die Gestalt, eine scharf nach Cognac riechende Atemwolke ausstoßend. »Erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle. Commandant Cendrars. Zu Ihren Diensten.« »Ich haben Ihnen vom Commandant erzählt«, sagte Hugues rasch. »Ein wertvolles Mitglied der Resistance.« »Verzeihen Sie, bitte«, zischte der Commandant verärgert auf französisch. »Chef de la Résistance der Region …« »Ah, ça!« warf Hugues verächtlich ein. Mallory sprach, bevor Cendrars etwas erwidern konnte. »Commandant, ich bin Ihnen zu höchstem Dank verpflichtet. Hugues, bitte übersetzen Sie. Sagen Sie dem Commandant, daß er gerade im rechten Augenblick eintrifft. Ich bin ihm außerordentlich dankbar für seine Unterstützung und stelle ihn unter den Befehl von Lieutenant Wallace, Captain der Nachhut Seiner Majestät. Hauptquartier der Nachhut ist die Scheune oberhalb des Dorfes. Dorthin soll er sich unverzüglich
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begeben, um weitere Befehle entgegenzunehmen. Ich möchte ihn daran erinnern, daß Verschwiegenheit und Ruhe oberstes Gebot sind.« Der Commandant schwieg. Unten auf der regenschwarzen Hafenmole marschierte eine Gestalt. Es war einer der deutschen Wachposten. Der andere Posten würde im Unterstand sein, neben dem Feldtelefon, um die Meldung von 03 Uhr 55 durchzugeben. Jetzt sagte der Commandant: »Ein Nachhut-Kommando? Befehligt von einem Lieutenant? Ich muß schon sagen …« »He!« rief Miller. »Weg da!« Dunkle Gestalten beugten sich über den Stapel mit der Ausrüstung am Boden. »Kümmern Sie sich um Ihr eigenes Zeug …« Direkt neben Millers Kopf explodierte etwas überlaut in der friedlichen Ruhe der sternenklaren Frühdämmerung. Es dauerte einige Herzschläge, bis Miller begriff, daß sich ein Gewehrschuß gelöst hatte. »Wir sind Frontkämpfer von der Marne und schleichen uns nicht feige an den Deutschen vorbei«, brüllte Cendrars. »Wir erschießen sie!« Und er feuerte ein zweites Mal. Überrascht von der Kugel, die drei Meter rechts von ihm auf die Granitkante der Hafenmauer prallte, hatte der Wachposten sich durch einen Sprung in Sicherheit gebracht. Der zweite Schuß traf die leere Mole. Miller hatte sich flach auf den Boden geworfen, die Maschinenpistole schußbereit angelegt, während ihm das Herz bis zum Hals hämmerte. Diese gottverdammten Idioten, dachte er. Mallory sah die Franzosen, die sich noch immer als deutlich sichtbare Umrisse gegen den Himmel abhoben, ein gutes Ziel für die Maschinengewehrschützen oben in der Bunkerstellung auf der anderen Hügelseite. Wallace, dachte er, nun sind Sie allein.
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Vielleicht hatte der junge Lieutenant es so gewollt. Miller und Andrea waren erwartungsgemäß in Deckung gegangen. »Andrea?« fragte Mallory. »Ich kümmere mich um den Bunker«, kam die Stimme des Griechen aus der Dunkelheit. »Gut. Miller?« »Hier.« »Die Wachposten.« Mallory blickte auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf fünf vor drei. Unter den Hilferufen der Wachen würden die Drähte heißlaufen: Wir stehen unter Beschuß. Schickt sofort Verstärkung. Für sein Auftauchen hätte der Commandant keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können. Es folgte ein Moment unheimlicher Stille, als wäre nichts geschehen. Dann stieg oben auf dem Hügel, der sich auf der anderen Seite über dem Dorf erhob, eine Leuchtspur in den Himmel. Die Deutschen im Bunker rührten sich. Sekundenbruchteile ratterte Maschinengewehrfeuer los, und großkalibrige Kugeln zischten durch die Luft. Einer der Männer des Commandant fiel um wie ein Kegel. Die alten Frontkämpfer von der Marne legten sich mit ihren morschen Knochen auf den Boden. »Merde!« sagte der Commandant. »Was ist das?« Hugues kauerte neben Lisette und drückte ihre Hand. Mit schwacher Stimme sagte er: »Diese dummen alten Männer. Warum wollen sie keine Befehle befolgen?« Jaime spürte eine Hand, als würde ein Windhauch ihn streifen, aber der Wind konnte nicht sprechen. »Kommen Sie in fünf Minuten hinunter zum Hafen. Und bringen Sie die Ausrüstung mit.« Das war unmißverständlich Mallorys Stimme. In regelmäßigen Schritten, um seine Kräfte zu schonen,
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durchquerte Andrea das Dorf und lief auf der anderen Seite den Hügel wieder hinauf. Der Bunker befand sich nun direkt über ihm, und oberhalb seines Gesichtsfeldes flackerten die Leuchtspurgeschosse auf. Andrea beachtete sie nicht. Er hatte den Bunker vor Einbruch der Nacht bereits gesehen. So weit im Süden und mit einem befreundeten, neutralen Staat als Nachbarn, hielten die Deutschen eine Invasion für unwahrscheinlich. Daher handelte es sich nicht um eine stark befestigte Stellung, die tagelangen Belagerungen standhalten sollte wie die auf Kreta. Der Bunker war lediglich eine Betonschachtel mit einer Stahltür und einem Schlitz, durch den das MG die Bucht und die Hafenmole verteidigen konnte. Draußen auf See bewegte sich etwas, das wie ein Fischerboot aussah. Die genauen Umrisse waren schwer auszumachen, denn über dem Ozean hing blasser Nebel, der wie Dampf aus einem Wasserkessel aufstieg und sich über die schwarze Meeresoberfläche legte. Andrea verlangsamte seinen Laufschritt. Dort oben würde ein Wachposten sein. Das Gesicht dicht zum Boden geneigt, sah er die Silhouette eines Mannes, der an der Hügelflanke entlangkroch. Der Umriß bewegte sich nervös und zuckte bei einer verirrten Kugel zusammen, die von den Helden der Marne-Schlacht auf dem gegenüberliegenden Hügel stammte und jaulend über seinen Kopf zischte. Der Wachposten beobachtete die andere Hügelspitze. Seine Versetzung an die ruhige spanische Grenze, wo nie etwas passierte, hatte ihn eine Menge Kniffe gekostet. Er verstand nicht, was jetzt in diese Idioten von der Resistance gefahren war. In kürzester Zeit würde die Verstärkung aus Saint-Jean eintreffen. Morgen früh folgten dann die üblichen Erschießungen und Brandstiftungen. Langsam gingen ihm diese Knallereien auf die Nerven. Oder bedeuteten sie nur den Anfang von etwas
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Schlimmerem? Gerüchte über eine Invasion der Engländer wurden immer lauter, ganz gleich, wie sehr SS und Gestapo solche defätistischen Reden zu unterdrücken suchten. Der Wachsoldat hatte eine dumpfe Vorahnung. Aber um diesen verdammten Krieg zu überleben, blieb Martigny immer noch der sicherste Stationierungsort … Ein Arm legte sich stahlhart um die Luftröhre des Postens. Flink wie der Biß einer Schlange drang das Messer in seinen Hals und wurde wieder herausgezogen. Andrea ließ den leblosen Körper zu Boden sinken, setzte den Stahlhelm auf und näherte sich auf leisen Sohlen der Bunkertür. Aus seinem Uniformrock nahm er drei Granaten. Zwei davon hielt er, noch nicht entsichert, in der linken Hand, die andere rechts. Er wartete auf eine Pause zwischen den Feuerstößen. Dann hämmerte er mit der Granate an die Stahltür. »He!« rief er in akzentfreiem Deutsch. »Wo steckt Ihr verdammter Wachposten?« Von innen kamen gedämpfte Stimmen. »Hier ist Sturmführer Wilp!« brüllte Andrea heiser in teutonischem Zorn. »Das ist eine Übung. Aufmachen!« Die Tür ging auf. Der Soldat, der sie öffnete, sah eine riesige Gestalt mit rundem Stahlhelm, die sich vor dem Sternenhimmel abzeichnete. »Was ist los?« fragte er. Andrea warf ihn die Stufen hinunter und die Granaten hinterher. Als die Flammen aus der Schießscharte schlugen und dumpfe, heftige Explosionen in der Bucht widerhallten, war er bereits fünfzehn Meter den Hügel hinuntergelaufen. Die Posten gehörten nicht zur Elite des Dritten Reichs. Als Mallory und Miller auf der Kaimauer eintrafen, saßen sie hinter der geschlossenen Tür in ihrem Wachhäuschen, schrien sich
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gegenseitig an und riefen dann in ihr Feldtelefon, durch das jemand zurückbrüllte. Mallory hoffte, daß Guy sich beeilte. Im Umkreis von zehn Kilometern gab es eine Menge deutscher Truppen, und die würden in kürzester Zeit hier eintreffen. Das Wachhäuschen diente früher als Schuppen zum Aufbewahren der Fischernetze und besaß eine zweiflügelige Holztür. Mallory stieß beide Flügel auf. Die Deutschen am Telefon fuhren herum. Sie hatten breite, schwammige Gesichter und waren weit über fünfzig. Ohne eine Bewegung in Richtung ihrer Gewehre zu unternehmen, hoben sie die Hände. »Schlüssel«, verlangte Mallory. Der ältere der beiden reichte ihm den Schlüssel. »Gewehre auf den Boden«, befahl Mallory. Die Waffen schlugen klappernd auf das Steinpflaster. »Jetzt herüberschieben, mit den Füßen.« Er hob die Gewehre auf, zertrümmerte das Telefon und schloß die Tür. Falls ein Wunder geschehen war und der Garnisonskommandant in Saint-Jeande-Luz noch nicht durch das Geschrei seiner Wachposten am Telefon alarmiert worden war, konnte ihm ein explodierender Bunker kaum entgangen sein. Die Lastwagen befanden sich vermutlich bereits auf dem Weg hierher. »Nun hören Sie gut zu«, sagte Mallory. »Das ist eine Operation der Briten, nicht der Resistance. Wir werden gleich an Bord eines unserer U-Boote gehen und uns zurückziehen. Die Zivilbevölkerung hat nichts mit der Sache zu tun. Haben Sie verstanden?« Die Wachen nickten. Verblüfft ließen sie den Blick von den hageren, ausgemergelten Gesichtern über die SS-Uniformen zu den Schmeisser-MPs in den harten, zerschundenen Händen wandern. »Sie werden Ihren vorgesetzten Offizier informieren«, sagte
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Mallory. »Sagen Sie ihm, das war ein Kommandoeinsatz, um den Deutschen zu zeigen, wozu wir in der Lage sind. Sagen Sie ihm auch, daß er sich gut merken soll, welche Möglichkeiten wir haben.« Die Wachen nickten. Ihre Gedanken kreisten vermutlich schon um die eisigen Winter an der russischen Front, aber die Botschaft dürfte angekommen sein. Mallory und Miller traten nach draußen auf die leere Kaimauer, und Mallory verschloß die Tür mit dem Vorhängeschloß. Feuchtigkeit lag in der Luft, vermischt mit dem schwachen, nach Pulver riechenden Dunst, der von dem explodierten Bunker herrührte. Bis auf die Wellen, die gegen die Hafenmole schwappten, und das nahe Tuckern eines Fischerbootes war es still. Da drang aus weiter Ferne, noch kaum zu hören, das Geräusch von Lastwagenmotoren zu ihnen. Die Verstärkung rückte an. Mit Jaime, Lisette und Millers Kisten stolperte Hugues den Hügel hinunter zur Hafenmauer. Andrea war ebenfalls zurückgekehrt. Das Fischerboot bewegte sich unter der Horizontlinie, und seine Masten streiften die Deichsel des Großen Wagens. Mallory stellte fest, daß die niedrigeren Sterne am Boden des Großen Wagens bereits verschwunden waren, und überdachte die Lage. Mitten in der schlimmsten Katastrophe mußte es etwas geben, das ihnen nutzen konnte. Er sagte zu Jaime: »Wo sind diese alten Männer?« »Bereiten sich auf ihre letzte Heldentat vor.« »Gehen Sie, und erinnern Sie die Alten daran, daß für jeden Deutschen, den sie umbringen, zehn Franzosen als Vergeltung sterben müssen. Sagen Sie ihnen, daß es sich um eine Operation der Britischen Armee handelt und die Truppe sich
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jetzt zurückzieht. Und machen Sie ihnen klar, daß ich die Wachposten entsprechend informiert habe. Beeilen Sie sich.« Jaime nickte und trottete die Klippe hinauf. Hugues sagte: »Herrje, wo bleibt bloß das Fischerboot?« Ein dunkler Umriß löste sich aus dem Nebel, und das Boot glitt langsam auf die Kaimauer zu. »Ohne Unterstützung von oben werden wir nicht weit kommen«, sagte Andrea. Es war ein allzu wahrer Scherz, über den niemand lachen konnte. Wenn die Lastwagenkolonne mit der Verstärkung eintraf, gab es kein Schiff mehr. Die Maschinengewehre, Granaten und Mörser würden Guys Boot innerhalb von Minuten versenken. Falls die Deutschen schnell genug zum Hafen gelangten. Mallory dachte an Wallace und den Blick in dessen porzellanblauen Augen. Der Engländer war ein Berserker. Viel Glück, Wallace, wünschte Mallory im stillen. Inzwischen legte das Fischerboot als dunkler Umriß an der Kaimauer an. Das Tuckern seiner Maschine klang, als pochte ein Herz aus Metall. Die Lastwagen, die sich mit dröhnenden Motoren auf der steilen Dorfstraße oberhalb der ersten Häuser näherten, waren beinahe ebenso laut. »Bon«, sagte eine kleine Gestalt mit Guys Stimme, die höher als normal klang. »Alle Mann an Bord. Schnell. Beeilen Sie sich.« Jaime tauchte laut keuchend aus der Dunkelheit auf. »Ich habe ihnen Bescheid gegeben«, berichtete er, bevor alle an Deck sprangen. Die Schiffsschraube ließ das Wasser unter dem Heck aufschäumen. Der Bug beschrieb eine Wende, und das Boot tauchte in die tiefschwarze Nacht zwischen Meeresoberfläche und Sternenhimmel. Einen Augenblick lang lag das Festland dunkel und still hinter ihnen, die Häuser des schlafenden Dorfes an die Hügel unter den Sternen geschmiegt. Dann brach im Tal ein Donnern los, als würde der Krater
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eines Vulkans in die Luft fliegen. Der Hauptmann in der Fahrerkabine des ersten Lastwagens war müde und gelangweilt gewesen. Die verdammte Resistance mußte wieder einmal ihre Schlagkraft zeigen. Den SS-Trupp in den Bergen zu erledigen, war gute Arbeit gewesen, wer immer dahintersteckte. Aber nachdem sie die Schweinehunde zusammengeschossen hatten, hatte der Hauptmann gehofft, daß die Franzosen Ruhe gaben, statt in den Vororten von SaintJean-de-Luz für unnötigen Ärger zu sorgen und seine Wachmannschaften in einem unbedeutenden Flachwasserhafen wie Martigny zu Tode zu erschrecken. Als an die Tür seines Privatquartiers gehämmert worden war, hatte er die dicke Suzette bei sich gehabt. Sie mochte ziemlich füllig sein, aber sie besaß erstaunliche Fähigkeiten. Statt ihre Künste bis zur Neige auskosten zu dürfen, saß der Hauptmann nun halb betrunken, hundemüde und vom Koitus interruptus gequält in einem Lastwagen. Er führte eine Kolonne von vier Fahrzeugen mit insgesamt hundert Mann Besatzung an. Sie waren unterwegs, um irgendwelche idiotischen Schwierigkeiten in Martigny zu klären. Wäre er nicht sofort aufgebrochen, dann hätte er es riskiert, an die russische Front versetzt zu werden. Verfluchter Mist, dachte er. Der erste Lastwagen beschrieb eine Kurve und fuhr bergab, auf die ersten Häuser zu. Hundert Meter die Straße hinunter stand auf der rechten Seite eine alte Scheune. Der Hauptmann achtete nicht darauf, weil er auf die südliche Talseite zum Bunker hinauf blickte. Wenn es wirklich Ärger gab, sollte dort die Hölle los sein. Aber der Bunker lag in vollkommener Ruhe. Als der Lastwagen die Scheune passierte, meinte der Hauptmann durch die Schießscharte des Bunkers ein schwaches, orangefarbenes Leuchten zu erkennen. Er verdrängte den Gedanken und schob es auf den Alkohol, der ihm Trugbilder
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vorgaukelte … Doch im gleichen Moment ließ dicht gestreutes Gewehrfeuer aus einer Schmeisser die Windschutzscheibe mit höllischem Klirren auseinanderbersten. Der Fahrer kippte nach vorn durch das Fenster und sackte schlaff zusammen. Sich um die eigene Achse drehend, schlitterte der Wagen über die Straße, zertrümmerte eine Umgrenzungsmauer und prallte gegen einen Felsblock. Einer der Männer auf der Ladefläche sah aufflackerndes Mündungsfeuer in der offenen Bodenluke der Scheune, die an der Straße stand. Als er darauf aufmerksam machen wollte, stach ein Kugelregen in seinen Bauch. Die letzte Kugel traf eine Granate an seinem Gürtel. Durch die anschließende Explosion wurde der Gastank des Lastwagens in Brand gesetzt. Aus den nachfolgenden drei Fahrzeugen sprangen Soldaten und suchten in Gräben und Ackerfurchen Deckung. Zweifellos hatte sich in der Scheune eine beachtliche Zahl feindlicher Elemente verschanzt. Im Sichtschatten eines eingestürzten Schweinestalls rammte ein Maschinengewehrschütze die Stütze seiner Waffe in den Boden und tastete nach dem Abzug. Die Erschütterung der Lastwagenexplosion hatte dem Soldaten schwer zugesetzt, und er war durch die Stichflammen geblendet. Seine erste Maschinengewehrgarbe zielte blind ins Leere. Die Geschosse prallten funkensprühend gegen die Steinfassade der Kaimauer und peitschten das Wasser auf. Einen Moment lang feuerte die halbe Lastwagenbesatzung in die gleiche Richtung, und das schwarze Hafenwasser schäumte unter dem Kugelhagel, bis ein verwundet von der Ostfront heimgekehrter Feldwebel, der die Lage überblickte, einige Befehle brüllte und sich das Einsatzkommando der Bodenluke unter dem Scheunendach zuwandte. In der Scheune mußte mindestens eine ganze Kompanie sitzen, dachten die deutschen Soldaten, während sie sich auf
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die Erde warfen und feuerten, was ihre Gewehre hergaben. In der schwarzen Bodenöffnung wurde es still. Auch der Beschuß durch die Deutschen verebbte. Ein Soldat richtete sich auf und stürzte mit einer Granate vor. Vom Fensterladen kam ein heiseres, gequältes Stöhnen, gefolgt von erneutem Rattern aus zwei leichten Schnellfeuerwaffen. Der Kugelhagel begann niedrig und stieg dann höher, als wäre der Schütze zu schwach, die Mündung nach unten gerichtet zu halten. Der Mann mit der Granate rannte in die erste Salve und fiel zu Boden. Wieder eröffneten die Deutschen das Feuer. Diesmal zielte der Maschinengewehrschütze genau in die offenstehende Bodenluke, jeder dritte Schuß eine Leuchtspurpatrone. Im Scheuneninneren wurde es hell. Gelbes und blaues Licht flackerte auf, und dichter, aufsteigender Rauch verdunkelte den Himmel. Das Heu hatte Feuer gefangen. Plötzlich zeichnete sich eine dunkle Gestalt von dem hell erleuchteten Hintergrund ab, die Gestalt eines Mannes, der auf einer Hand und beiden Knien kroch. In seiner freien Hand hielt er eine Schmeisser-Maschinenpistole, aus der er feuerte, bis das Magazin leer war. Als die deutschen Soldaten den Mann sahen, gelang es ihnen endlich, ihn zu erschießen. Er fiel vor der mittlerweile hell in Flammen stehenden Scheune zu Boden. Das trockene Gras des Vorjahrs wirbelte in der Hitze hoch, und das Feuer griff rasch auf die Dachsparren über. Die Deutschen hielten das Gebäude weiter unter Beschuß. Sicher, sie hatten einen der in der Scheune verschanzten Angreifer erschossen. Doch ein einzelner Mann hatte unmöglich soviel Schaden anrichten können. Also pumpten sie die brennende Scheune voller Blei, während vor ihren Augen die Flammen tanzten. Schließlich brach der Firstbalken, und der Dachstuhl sank zusammen. Eine Fontäne aus orangefarbenen Funken sprühte in den kalten,
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sternenbeglänzten Himmel. Als nur noch ein Haufen glühender Asche übrig war und keine Gefahr mehr bestand, daß im feindlichen Lager jemand am Leben sein konnte, ging einer der Deutschen hinüber und betrachtete die Leiche, die vom Dachboden gefallen war. Der Mann lag auf dem Rücken, das Gesicht friedlich und blaß. Aus dem Mundwinkel rann eine dünne Blutspur. Er trug eine Mütze mit dem geflügelten Abzeichen des britischen SAS. Zwei Rekruten traten heran, zu verängstigt, um ihn zu berühren. »Sieht nicht sehr gesund aus«, sagte einer von ihnen. »Weil er tot ist«, erklärte der andere. Sein Kampfanzug stand offen. Der Verband um den Bauch leuchtete dunkel und feucht. »Ach«, sagte einer. »Stinkt bestialisch.« »Tapferer Kerl«, meinte der erste Deutsche. »So zu kämpfen, wenn einem die Eingeweide zur Hälfte heraushängen.« »Verdammter Idiot«, sagte der andere. Dann bückte er sich und schloß dem Toten die Augen. Es war vier Uhr, als die Deutschen den brennenden Lastwagen aus dem Weg geschafft hatten und zur Kaimauer weiterfuhren. Von nun an waren sie auf der Hut. Als sie am Ufer eintrafen, plätscherten nur die Wellen gegen die Kaimauer, und das von der Flut gefüllte Hafenbecken lag als glänzende Wasserfläche im ersten Morgenlicht. Von dem riesigen Feuerschein am Ende des Tals bemerkte Guy Jamalartégui nichts. Durch das Fenster des Ruderhauses sagte er in gebrochenem Englisch: »Messieurs, ‘dames, willkommen auf der Stella Maris. Und jetzt Capitaine Mallory, zu meinem Geld …« In diesem Augenblick begann der Beschuß, und Jamalartégiu wurde unterbrochen.
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Hatte das Wasser gerade noch dunkel und glatt vor ihnen gelegen, so wurde es im nächsten Moment aufgewühlt vom Gewehrfeuer, das die Deutschen der ersten, ungerichteten Salve hinterherschickten, die ihr Maschinengewehrschütze abgegeben hatte, nachdem es Wallace gelungen war, den Lastwagen in die Luft zu jagen. Ein Jaulen wie von einer Hundemeute erfüllte die Stille, und ein Schwarm Kugeln flog in das Ruderhaus. »Oh«, hob Guy mit einem seltsam pfeifenden Ton an, als würde die Luft nicht nur durch seine Kehle entweichen. Dann fiel er wie ein Sack Kohlen krachend auf das Deck. Weitere verirrte Kugeln folgten, zusammen mit Leuchtspurgeschossen, die wie Feuerwerk in der Luft zischten, vorbei am dünnen Mast der Stella Maris, bis sie in der Dunkelheit verglommen. Miller kniete neben Guys Körper und tastete nach dem Puls an der sehnigen Halsseite. »Er ist tot«, stellte er fest. Mit vom Schlafmangel brennenden Augen blickte Mallory zu Miller und Guy. Dabei bemerkte er, daß der Tag anbrach, denn Miller kauerte klar erkennbar an Deck, den Kopf zwischen die knochigen Knie gesteckt. Neben ihm am Boden, lag Guy in einer Lache, die sich schwarz ausnahm, ohne schwarz zu sein. Guy, der nicht mehr atmete und den einer der ziellos vom Hügel abgegebenen Schüsse in die Brust getroffen hatte. Mallory trat über die Leiche hinweg und ergriff das Steuerrad. Die Karte hatte gezeigt, daß die Küstenlinie in südwestlicher Richtung verlief. Also steuerte er nach Südwesten, die Augen immer geradeaus gerichtet, während es langsam hell wurde. Der Schiffsmotor tuckerte gleichmäßig. Das Meer glänzte schwarz wie Asphalt auf einem Exerzierplatz, während der Horizont in blassem Dunst verborgen blieb. Andrea betastete seine Oberlippe, wo einst der Schnurrbart gesessen hatte, griff nach der Cognacflasche und nahm einen
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kräftigen Zug. »Keine Felsen, mein lieber Keith, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Nur Frieden und Ruhe.« Dann legte er sich im Windschatten des Ruderhauses nieder. Mallory steuerte weiter südwestlichen Kurs, immer auf den Horizont zu, während er auf Motorengeheul wartete, das Dröhnen von Flugzeugen oder Kriegsschiffen, was bedeuten würde, daß ihre Operation endgültig gescheitert wäre. Nach einigen Minuten mußte er feststellen, daß mit dem Horizont etwas nicht stimmte. Statt eine messerscharfe Linie zu bilden, sah er wabernd und zerfetzt aus wie graue Watte. Und plötzlich hob sich die ziehende Masse vor ihm und verband sich mit dem Himmel. Die nasse Luft traf auf sein Gesicht, und Mallory erkannte, was geschehen war. Die Stella Maris war in eine dicke Nebelbank geraten. Die Welt war ein geschlossener Raum, mit Wänden aus grauem Dunst. Dieser Raum bewegte sich mit der Stella Maris in Richtung Südwesten. In dieser Suppe würde kein Flugzeug und kein Schiff sie jemals entdecken. Ein höchst willkommener Raum. Vorausgesetzt, es machte ihnen nichts aus, einer felsigen Küste mit unberechenbaren Strömungen zu folgen, ohne Sicht und mit unbekanntem Ziel.
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5. Dienstag, 05.00 bis 23.00 Uhr Die Sonne ging als blutrote Scheibe über den Nebelbänken auf. Von irgendwoher – wahrscheinlich hinter ihnen – rollte Explosionsdonner über das Wasser. In Mallorys Ohren klangen die wuchtigen Schläge wie Sprengungen. Andrea sagte: »Wallace war ein guter Mann, Keith.« Mallory nickte. Seine Augen schmerzten vom Starren in den Nebel. Wallace hatte seine Pflicht erfüllt und mehr als das. Nun war er ein weiteres Opfer auf dem Altar des Krieges. Im Gegensatz zu vielen anderen Gefallenen war sein Tod nicht umsonst gewesen. Mallory spürte Trauer und Dankbarkeit. Und etwas verwirrte ihn. Wallace hatte keinen Sprengstoff bei sich gehabt. Die Deutschen aber würden kaum ein derartiges Feuerwerk veranstalten. Das mußten Cendrars und seine Frontkämpfer sein. Wahrscheinlich hatten sie über dunkle Kanäle Dynamit aus einem Steinbruch organisiert und ließen es nun in einem wilden Feuerzauber gegen die Deutschen hochgehen. Mallory hoffte inständig, daß er sich irrte. Wenn sich der Kampf zwischen den Deutschen und den Helden der Marne-Schlacht zuspitzte, hätte wieder die Zivilbevölkerung unter den anschließenden Schrecken zu leiden. Er lenkte seine Gedanken entschieden von solchen Spekulationen ab. Jetzt zählte nur, was vor ihnen lag – in San Eusebio. Es wurde immer heller. Sie wickelten Guy in eine Persenning und banden als Gewicht ein Stück verrostetes Eisen aus dem stinkenden Bauch der Stella Maris an seine Füße. Jaime nahm
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seine Mütze ab und sprach auf baskisch einige Gebete, die Hugues mit: »Vive la France!« beendete. Der Körper durchschnitt die schwarze Meeresoberfläche, ohne große Wellenbewegungen zu verursachen, und verschwand. Das Meer machte Mallory zu schaffen. Die graue Nebelbank war eine Oase der Ruhe und Abgeschiedenheit inmitten einer Wüste aus Kampf und Gewalt, die er wie ein Nomade durchwanderte. Aber ihm mißfiel der Frieden auf See. Er haßte ihn, wie ein Tuareg den Aufenthalt in einer Oase beklemmend finden würde. Die friedliche Stimmung verursachte in ihm die gleiche nervöse Übelkeit, die ein Nomade unter grünen Palmen, inmitten von Menschen empfinden mochte, die er nicht kannte, während er sein Kamel tränkte und sich danach sehnte, in seinen Lebensbereich zurückzukehren, den heißen Wüstenwind und die Dünen aus glutrotem Sand. Einen Augenblick lang empfand Mallory Heimweh nach den Felsen und Eiswüsten der Berge. Es war eine grausame Landschaft, deren Gesetze und Gewohnheiten er aber verstand. In den Bergen war er weder Jäger noch Zerstörer. Dort hatte er nur sein eigenes Versagen zum Feind, wenn seine Hand oder sein Fuß nicht den richtigen Halt fanden oder ihm der Wille fehlte, sich weiter zum Gipfel emporzuarbeiten. Mallory sah nach unten zu Andrea. Neben dem Ruderhaus liegend, rauchte der Grieche und betrachtete die ölig wirkende Dünung. Er spürte Mallorys Augen auf sich ruhen und blickte hoch. »Das ist ein ganz widerlicher Ozean«, sagte er. Mallory nickte. »Diese Gezeiten«, meinte Andrea. »Das ist was für kulturlose Barbaren. Wie kann ein Mensch vernünftig denken, wenn die Welt, in der er lebt, vom Mond einmal in die eine und dann in die andere Richtung gezogen wird? Seid ihr aus dem Norden deshalb so ruhelos?«
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Mallory lachte. Knapp einem flammenden Inferno im Dorf entkommen, waren sie unterwegs zu einer unzugänglichen Felsenfestung, in die sie eindringen mußten. Und Andrea beklagte sich über den Wechsel der Gezeiten. Als Mallory wieder in das Gesicht seines Freundes blickte, sah er etwas, das sein Lachen verstummen ließ. Obwohl Andrea das Gegenteil behauptete, hatte er weder Angst vor dem Feind noch vor seinen Kugeln. Der Krieg schreckte ihn nicht. Aber wenn Mallory sich nicht gründlich irrte, fürchtete Andrea sich vor den kalten schwarzen Fluten des Atlantiks. Mallory zündete sich eine Zigarette an. Der Wind wehte jetzt kräftiger und trieb den Rauch davon. Die Sonne war wieder verschwunden, und der Himmel hing bleiern über ihnen. Er lehnte sich in die Ecke des Ruderhauses. Zwölf Stunden, überlegte er und analysierte die Situation. Die Stella Maris war knapp vierzehn Meter lang. Am vorderen Ende ragte ein hoher Mast empor, am hinteren ein kleinerer. Die Anordnung der Masten machte sie praktisch zu einer Ketsch. Die Segel waren an den Bäumen angeschlagen, und Mallory hoffte inständig, sie nicht setzen zu müssen. Mittschiffs befand sich ein großer Fischkasten, ein schmutziges kleines Logis und ein Maschinenraum, der achtern des Ruderhauses lag. Die Maschine war ein Einzylinder-Glühkopfdiesel mit einem rostüberzogenen Schwungrad, so groß und schwer wie ein Mühlstein. Im von Kugeln durchsiebten Ruderhaus gab es einen Kompaß von unbestimmter Genauigkeit, und dort lag auch die blutbeschmierte Seekarte, die Guy wochenlang – bis noch vor wenigen Stunden – auf seinem Küchentisch ausgebreitet hatte. Die Stella Maris tuckerte durch den Nebel auf Südwestkurs, mit ungefähr fünf Knoten Fahrt, wie Mallory schätzte. Mittlerweile sollten sie die französischen Hoheitsgewässer verlassen haben und sich in spanischen Gewässern befinden. Sie würden mit Patrouillen-
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booten zu rechnen haben. Mallory bot Andrea eine Zigarette an. Den finsteren Blick unter den buschigen schwarzen Brauen auf die graue, sonnenlose Wasserfläche gerichtet, nahm Andrea die Zigarette und zündete sie an. »Eine kalte Hölle«, sagte er und begann entschlossen in den Schrankfächern zu kramen, bis er eine volle Branntweinflasche fand. Er schnupperte daran, nahm einen Schluck und reichte die Flasche Mallory. Eine Schublade enthielt nur Flaggen. Andrea zog ein gelbes Tuch heraus. »Quarantäne«, sagte er. »Wenn an Bord eine Krankheit ausbricht.« Zwischen den schwarzen Bartstoppeln glänzten seine weißen Zähne. »Oder wenn man unverzollte Ware an Bord hat. Die Flagge ist noch nie benutzt worden, vermute ich.« Er hat es überwunden, dachte Mallory. Andrea war niemand, der erlaubte, daß sich irrationale Ängste in ihm festsetzten, schon gar nicht, wenn Grund genug für echte Besorgnis bestand, wie die Befürchtung, vor dem Feind zu versagen. »Guy erwähnte eine spanische Flagge«, sagte er. Andrea kramte weiter, bis er die rotgelbe Nationale hervorzog. Das Fahnentuch war ziemlich groß und sah aus, als hätte es schon lange gute Dienste geleistet. Mallory übergab Andrea das Ruder, verließ das Ruderhaus und hißte die Flagge am Besanmast. Jetzt war die Stella Maris ein spanisches Schiff, und ihre einzige Sorge galt den Klippen Nordspaniens, auf die sie mit voller Kraft zusteuerten. Der Wind hatte deutlich aufgefrischt, und vor ihnen wurde der Nebel dünner. Die schwache Dünung des Atlantiks verwandelte sich in wuchtige Wellen, die sich immer höher auftürmten und mit zunehmender Gewalt heranrollten. Hinter dem Ruderhaus streckte sich Miller und schlug die Augen auf. Er blieb einen Moment liegen und betrachtete die
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spanische Flagge, die in der frischen Brise am Mast knatterte. Dann setzte er sich auf und zündete eine Zigarette an. »Buenos dias«, sagte er. »Wie wär’s mit Kaffee?« »Gern«, antwortete Mallory. Miller stolperte die Stufen hinunter in die schmutzige, ölverschmierte Kombüse. Während zuerst der Geruch nach Paraffin den Raum durchzog, strömte schon bald Kaffeeduft herauf. Miller brachte Mallory und Andrea Becher, in denen mit Kondensmilch und Branntwein vermischter Kaffee schwappte. »So erholsam die Reise auch ist«, sagte er, »wie lange dauert es noch?« »Mindestens bis zum Einbruch der Nacht.« Die Stella Maris tuckerte weiter, heftig in den von Westen heranbrechenden Wellenbergen schaukelnd. Durch den stärker wehenden Wind riß der Dunst auf und teilte sich in einzelne Nebelbänke. Eine besonders dicke Bank hing südlich vor ihnen. Wenn Mallorys Rechnung aufging, lag die graue Suppe direkt vor der Küste und verdeckte den Blick auf das Festland. Miller trank eine weitere Tasse Kaffee und rauchte schnell hintereinander zwei Zigaretten. Sein knochiges Gesicht, das bereits blaß vor Erschöpfung war, nahm unter den Augen eine grünliche Färbung an. »Laß besser Miller das Steuer nehmen«, sagte Mallory zu Andrea, bevor er sich auf die Bank hinter dem Ruderhaus legte. Der Schlaf kam prompt und ließ ihn wie in einem See versinken. Alles fiel von Mallory ab, die U-Boote, der Nebel und die näherkommenden Klippen Spaniens. Ein friedlicher Schlaf überkam ihn, kein Dämmern an der Oberfläche, jederzeit zur Rückkehr in die Realität bereit, sondern ein tiefer, schwerer und erholsamer Schlaf zwischen den Aufregungen der Pyrenäen und der Unternehmung, die sie auf dem Cabo de la Calavera erwartete. Andrea beobachtete Mallory und sah, wie sich die breite
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Stirn nach der Anspannung der letzten drei Tage allmählich glättete und die verkrampfte Kinnlade entspannte. Ruh dich gut aus, mein Freund, dachte er. Du hast uns schon einen langen Weg geführt, und das, obwohl die eigentliche Operation gerade erst beginnt. Mallory träumte. Er hielt sich irgendwo in den Bergen auf, in einem Tal aus grauem Gestein, durch das sich ein Gletscher zog. Über ihm zogen große Vögel ihre Kreise, aber diese Vögel waren keine Vögel, sondern Flugzeuge. Stukas. Die Stukas schossen im Sturzflug herunter und ließen ihre Bomben fallen, die um ihn herum als rotflammende Blütenkelche explodierten. Doch Mallory fühlte und hörte nichts, denn er war von allem getrennt. Eine Stimme sagte zu ihm: »Du sitzt im Eis.« Wallace’ Stimme. Und Mallory erkannte, daß er recht hatte. Er war in einen riesigen Eisblock eingeschlossen, der ihn vor den Bomben schützte. Doch gleichzeitig hinderte ihn das Eis daran, etwas zu fühlen, und das mißfiel ihm … Dann wurde er geschüttelt, und Mallory ließ das Eis hinter sich. Sein Bewußtsein kehrte in den Wachzustand zurück, und ihm wurde klar, daß sich etwas verändert hatte. Die Maschine arbeitete noch, und das Schiff rollte wie vorher in den Wellen. Aber er schien naß geworden zu sein, und er nahm ein neues Geräusch wahr, ein schrilles Jaulen, ein Heulen. So klangen Stukas … Mallory schwang die Füße auf das Deck, während seine Augen den Himmel absuchten. Dort gab es keine Stukas. Er sah nur Wolken, die sich in langen Bänken übereinanderschoben und aus deren Unterseite Regen fiel. Vor diesem Himmel tanzten die Masten der Stella Maris in wilden Sprüngen auf und ab, während sich der runde Bug wie ein stumpfer Hammer hob, bevor er krachend in die Wellentäler zurückfiel, so daß die Gischt aufsprühte und das Wasser wie
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aus Kübeln über das Deck flutete. Das heulende Geräusch aus seinem Traum kam von dem Wind in der Takelage, und die Explosionen waren das Knattern der spanischen Flagge am Mast. »Ahoi! Land in Sicht«, rief Miller. Mallory stand auf und bemerkte, daß die Nebelbank vor der Küste kleiner und heller geworden war und, wie von unsichtbarer Hand bewegt, zitterte. Dann schien die Hand den Nebel zu packen und schob ihn zur Seite. Fünf Seemeilen entfernt, jenseits der grauen aufgewühlten Wasserfläche, erhoben sich klar und gewaltig die schwarzen Klippen Spaniens. Durch sein Fernglas konnte Mallory die Bucht erkennen, mit einer Ansammlung grauer Häuser sowie einer Ruine, die auf einer der vorspringenden Landzungen stand, wahrscheinlich Überreste einer ehemaligen Festung. Er nahm eine Peilung vor und überprüfte sie mit der Karte. »Noch vierzig Seemeilen«, stellte er fest. Miller nickte ohne große Begeisterung, denn er haßte das Meer. Vier Seemeilen wären ihm lieber gewesen, auch wenn danach zwei SS-Regimenter auf ihn gewartet hätten. »Hol Jaime an Deck«, sagte Mallory. Miller ging nach unten, während Mallory das mit dem Bug seewärts gerichtete Schiff steuerte und sich die Gischt aus den Augen blinzelte. Fast bedauerte er es, daß sich der Nebel verzogen hatte. Unter dem leergefegten Himmel fühlte er sich schutzlos, und wie es aussah, hatten sie noch einen ganzen Tag Fahrt vor sich. Mit ihren bestenfalls vier Knoten arbeitete sich die Stella Maris schwerfällig und ächzend durch die hoch aufgetürmten Brecher und erinnerte ihn an eine herzkranke Putzfrau, die schweratmend ein Treppenhaus hinaufkeuchte. Mit trüben Augen erschien Jaime an Deck. Er sah sich um und blinzelte. »Cabo de la Lobo. Noch ziemlich weit.« »Was ist mit Patrouillenbooten?« fragte Mallory.
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Jaime zuckte mit den Achseln. »An der Grenze machen sie großen Arger. Aber so weit die Küste herunter kümmern sie sich vielleicht nicht um uns. Egal, Geld sehen sie alle gern.« »Bleiben Sie an Deck«, sagte Mallory. Jaime nickte. »Noch eins. Wenn Sie hier draußen fahren, werden die Leute mißtrauisch. Die Stella Maris ist ein Fischerboot. Deshalb sollten wir uns dicht an den Klippen halten. So fischt man. Niemand kann uns von Land aus sehen. Und wenn wir doch Probleme bekommen, werfen wir einfach ein paar Hummerreusen ins Wasser.« »Sie kennen sich gut aus«, sagte Mallory. Jaime grinste wie ein Mann, der in seinem Element war. »Grenzen sind mein Geschäft.« Mallory nickte. Ohne Jaime hätten sie den Bergpfad nicht gefunden und auch nicht die Passage durch das Höhlensystem. Ohne Jaime wären sie jetzt tot. Die Stella Maris hielt sich dicht an der Küste. Zweihundert Meter graue unruhige See trennte sie von den neunzig Meter hohen Klippen, die schroff und umflogen von weißen Schwärmen unzähliger Seevögel in den schmuddeligen Himmel wuchsen. Miller gefiel der Anblick überhaupt nicht. Als sie mit ihrer Kajike an der Südklippe von Navarone gestrandet waren, war es wenigstens dunkle Nacht gewesen. Wenn die Brandung ihn schon zu Brei zerschmettern mußte, dann wenigstens nicht bei hellem Tageslicht. Hugues stand an Deck. Er wirkte so nervös, wie Miller sich fühlte. »Alles in Ordnung«, beruhigte Lisette ihn und zeigte ihre weißen Zähne. »Jaime ist diese Route viele Male gefahren.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie Fischer sind«, sagte Miller. Jaime grinste, und seine dunklen Augen glitzerten unter der Baskenmütze. »In der Zigarettenfischerei arbeiten viele Leute«, entgegnete er. »Manchmal geht man mit einem Maultier auf
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Fischfang, ein anderes Mal paßt ein Boot besser.« »Hier unten finden Sie nicht nur Hummer in den Körben«, sagte Lisette. Auch wenn Miller speiübel war, bemerkte er, daß Lisette verändert war. Sie zeigte ein Selbstvertrauen, das sie in Frankreich nicht besessen hatte. Natürlich, wenn er der Gestapo entkommen wäre, würde er auf neutralem Boden und vor allem unter Jaimes Führung auch wieder neuen Mut fassen. Ein hoher Wellenkamm schob sich unter den Bug der Stella Maris und ließ sie in ein Tal rutschen. Einen Moment lang fühlte Miller sich wieder schwerelos. Seewärts hatte sich ein großes Loch im Wasser aufgetan, an dessen Grund grünbewachsener Fels schimmerte. »Caja del Muerto«, erklärte Jaime. »›Kiste des Toten Mannes‹.« Krachend schlugen die Wellen über dem Loch zusammen, und eine schneeweiße Gischtwehe stieg empor, die dreißig Meter mit dem Wind getrieben wurde. Während der nächsten zwei Stunden pflügte sich die Stella Maris in einem dicht vor der Küste gelegenen Kanal voran, vom Festland aus nicht zu sehen. Mallorys Zuversicht stieg wieder. Er ging zu Miller, der im Speigatt längsseits des Ruderhauses lag, und sagte: »Vier Stunden Schlaf. Dann such deine Ausrüstung zusammen, und alle erhalten Anweisungen.« Miller stöhnte auf und schleppte sich zum Logis, wo Hugues in einer Koje schnarchte. Der Amerikaner warf sich auf die Koje darunter und fiel in bleiernen Schlaf. Mallory stand gegen das Ruderhaus gelehnt, als würde er die Möwen betrachten. Er hatte Guys Karte vor sich und betrachtete das Cabo de la Calavera und den Hafen von San Eusebio. Von der Kaimauer der Stadt durch den Hafen und über den befestigten Strand auf das Cabo zu den Instandsetzungsdocks für die U-Boote. Das war der offensichtliche Weg. Viel zu offensichtlich.
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Kurz nach Einbruch der Dunkelheit würde die Ebbe kommen und der Strand frei und leicht zugänglich daliegen. Zu einfach. Mallory zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich mit dem Kopf gegen den Türpfosten des Ruderhauses. Auf der Karte von San Eusebio gab es Anhaltspunkte, die seine Gedanken immer wieder zu den Klippen lenkten, vor allem, wenn der Wind, wie es den Anschein hatte, weiter von Westen blies. »Capitaine«, sagte Jaime plötzlich aufgeregt und zeigte mit der Hand. Mallorys Blick folgte der Richtung. Auf halbem Weg vor dem Horizont war die Silhouette einer grauen Barkasse aufgetaucht. Während Mallory hinsah, verkürzte sich der Abstand rasch, bis er den aufgewühlten Schaum zu beiden Seiten des Bugs erkennen konnte. Mallory spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. San Eusebio schien plötzlich in weite Ferne zu rücken. »Nun gut«, sagte er mit einer Stimme, die so ruhig klang wie das Wasser in einem Goldfischteich. »Ich denke, es wird Zeit, daß wir die Hummerkörbe auswerfen.« El Teniente Diego Menendez y Zurburan hatte die denkbar schlechteste Laune. Schuld war nicht sein Dienst in dieser feuchten, grünen Ecke Spaniens. Im Bürgerkrieg hatte er für die Nationalisten gekämpft. Deshalb störten ihn weder die zerstörten baskischen Städte noch die hungernden Kinder auf den Straßen. Sein Ärger wog schlimmer als der Regen und das ganze Baskenland zusammen. Vor einer Woche hatte er in einem unerfreulichen Gespräch mit Almirante Juan de Sanlucar, seinem Cousin und Kommandeur, die Anweisung erhalten, seine Patrouillen zu verdoppeln und allgemein die Wachsamkeit zu erhöhen. Der Teniente betonte daraufhin, er zeige immer höchste Wachsamkeit und sei mit seinem
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Patrouillenboot, von der Mannschaft Cacafuego genannt, so viele Stunden unterwegs, wie die alte Maschine und die morschen Nieten es erlaubten. Sanlucar setzte einen strengen, unerbittlichen Blick auf und teilte ihm mit, daß solche Einwände nicht gegen Anweisungen von oben vorgebracht werden könnten. Es war der Wille … einer hochgestellten Persönlichkeit (an dieser Stelle formten Sanlucars Lippen die Worte El Caudillo), die Patrouillen an dem Küstenabschnitt, für den der Teniente verantwortlich war, erheblich zu verstärken. Als er den erhabenen Titel des Diktators, der kaum jemals laut ausgesprochen wurde, von den Lippen seines Vorgesetzten las, hatte das Herz des Teniente unangenehm heftig zu schlagen begonnen. Zunächst hatte er die neue Anweisung als allgemeinen Rüffel für seine Nachlässigkeit aufgefaßt. Der Sold eines Marineoffiziers reichte in dieser trübseligen Gegend mit ihren bösartigen Bewohnern, die für alles überhöhte Preise forderten, kaum zum Leben. Deshalb nahm er die freiwilligen Zuwendungen der Schmuggler gern in Empfang. Nach einem Gespräch mit Jorge, seinem Bootsmann, wurde ihm klar, daß mehr hinter der plötzlichen Gründlichkeit steckte. Jorge waren in Cabo de la Calavera militärische Aktivitäten aufgefallen. Er hatte den Wachen am Tor die Dienste bestimmter baskischer Frauen angeboten, die er in der Calle Brujo in Bilbao beherbergte. Die Soldaten in der Uniform des ErstenSaragossa-Regiments hatten ihn fortgejagt und dazu in einer Sprache geflucht, die kein Spanisch war. Jorge erläuterte dem Teniente seine Schlußfolgerung, daß nämlich aufgrund bestimmter Militärfahrzeuge und schwarzer Uniformen, die er durch das schwerbefestigte, die Halbinsel abriegelnde Tor erspäht hatte, auf dem Cabo de la Calavera eine deutsche Garnison liegen müsse. Und vor sechsunddreißig Stunden, kurz vor seiner
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Patrouillenfahrt, erfuhr der Teniente, daß die übliche Mannschaft seiner Bordschützen auf dem Vorschiff abgelöst wurde, ebenso wie die Maschinengewehrschützen an Backbord und Steuerbord. Als die Ersatzleute auftauchten, stellte sich heraus, daß es sich um Deutsche handelte. Gegen Deutsche hatte der Teniente nichts einzuwenden. Es war nur so, daß er außer sich selbst niemanden mochte. Aber die Anwesenheit der Deutschen auf dem Cabo de la Calavera machte ihn nervös, und daß sie an seinen Geschützen standen, verletzte seinen Stolz. Der Teniente hielt viel von der Neutralität Spaniens, denn dadurch war sein Leben nicht in Gefahr. Er brauchte die Schmiergelder. Und er hatte es dem Almirante übelgenommen, ihn für einen belehrenden Vortrag bezüglich seiner Dienstpflichten auf dem zerschlissenen Teppich vor seinem Schreibtisch stehen zu lassen, unter den kalten grauen Augen eines offensichtlich Homosexuellen aus der Deutschen Botschaft in Madrid. Dieser Küstenstreifen war das persönliche Jagdrevier des Teniente. Daß die neueste Schreckhaftigkeit seiner vorgesetzten Offiziere durch die Deutschen ausgelöst wurde, machte ihn rebellisch, soweit ein Faschist überhaupt zu Aufsässigkeit fähig war. Deshalb steuerte er ohne großen Diensteifer auf den vertrauten schwarzen Umriß der Stella Maris zu, die unterhalb der Klippen ihre Hummerkörbe ins Meer warf. Auf dreißig Meter herangekommen, schnauzte der Teniente seinen Steuermann Paco an, die Barkasse auf Kurs zu halten. Breit und schwarz wie immer lag die Stella Maris mit dem Bug vor dem Wind. An Deck sah er einige unbekannte Gesichter. Es waren zwei hochgewachsene, schlaksige Männer, vielleicht aus dem Norden Portugals oder sogar aus Deutschland. Trotz des schneidenden Westwinds trugen sie ärmellose Unterhemden. Sie wankten unsicher über das morsche Deck der Stella Maris, und der Teniente hatte den Eindruck, daß sie
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nicht daran gewöhnt waren, Hummerkörbe ins Meer zu lassen. Aber sie arbeiteten fleißig. Hinten im Ruderhaus, das aussah, als wäre es irgendwie beschädigt, winkte, breit grinsend unter seiner Baskenmütze, Jaime Baragwanath. Er schien eine Frau bei sich zu haben. Der Teniente kannte Jaime schon lange als Schieber und Schmuggler. Er brachte Kaffee von Spanien nach Frankreich, und in der anderen Richtung Bordeauxweine über die Grenze herein, um das Leiden am spanischen vino negro zu lindern. Wenn Jaime sich persönlich an Bord der Stella Maris befand, würde das Schiff voll mit hochwertiger Ware wie Wein beladen sein. Der Teniente sagte niemals nein zu einigen Flaschen, um sich den Abend zu versüßen. Normalerweise hätte er seinen Anteil an der Ladung beansprucht. Aber heute sah er in der Stella Maris eine Chance, seine neuen Bordschützen und damit vermutlich auch den Almirante, mit seinem Diensteifer zu beeindrucken. Der Teniente zündete sich eine dünne schwarze Zigarre an und zog seine Kappe verwegen über das rechte Auge. Er löste das Megafon aus der Verankerung an der Brücke und führte das grüne Sprechgerät an den Mund. »Halt!« rief er. »Ich komme an Bord.« Auf dem Vorschiff schwenkte die Mannschaft ihr 75-mm-Geschütz, um die Stella Maris ins Schußfeld zu bekommen. Mallory führte die Leine ein paarmal um einen Poller und sicherte sie durch einen Knoten, der mehr mit dem Bergsteigen als mit der Seefahrt zu tun hatte, bevor er wie ein Fischer nach Achtern schlurfte und Jaime fragte: »Was hat das zu bedeuten?« »Routineinspektion«, antwortete Jaime, Mallorys Blick vermeidend und keine Regung in seinem dunklen Gesicht
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zeigend. »Der Offizier läßt sich bestechen. Er hat es sich angewöhnt, die Stella Maris als spanisches Schiff anzusehen, solange er sein Geld bekommt. Vielleicht nimmt er heute Geld. Oder auch Tabak, Alkohol. Wer weiß das schon?« »Jaime weiß es«, sagte Hugues. Mallory beachtete ihn nicht. »Bedroht er Sie immer mit dem Gewehr?« fragte er Jaime. »Normalerweise nicht.« Jaime sah stirnrunzelnd zu den Männern auf dem Vorschiff der Cacafuego. »Er hat neue Bordschützen.« Mallory nickte und verzog das Gesicht. Es war das einfache, gutmütige Grinsen eines Fischers, für alle, die vom Kanonenboot herübersahen. Seine Augen wirkten nicht freundlich, als er die vom Rost durchsetzte graue Farbe am Bug betrachtete und die beiden blonden Männer, die breitbeinig an Deck hinter dem 75-mm-Geschütz standen. Der Captain befand sich auf der Brücke. Achtern, hinter der Brücke, sah er zwei weitere Männer an Maschinengewehren. Spandau-MGs. Spandaus gehörten zu den leichteren Maschinengewehren, doch konnten sie ein Boot von der Größe der Stella Maris leicht wie ein Sieb durchlöchern. Ein 75-mmGeschoß würde sie womöglich mit einem Schlag versenken. Aber die Geschütze waren nicht das Hauptproblem. Was Mallory wirklich beunruhigte, war das Netz der Funkantennen zwischen den Masten. Im Geist verfolgte er die Spur der Verwüstung bis in die Pyrenäen zurück. Wenn die guarda costa einen Funkspruch über ungewöhnliche Vorfälle im Golf von Biscaya aussandte, würde jeder Deutsche, der Augen im Kopf hatte und eine Karte besaß, erkennen können, welches Ziel die gestrichelte Spur der Verwüstung haben mußte. Es gab nur eine Lösung. Mallory schlurfte nach vorn und rief durch die Luke nach
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unten. Jaime brüllte auf spanisch etwas zu dem Patrouillenboot, und von der Barkasse schallte die Antwort zurück. Mallory machte das Tau an den Hummerkörben los. Dann ging er nach achtern zum Ruderhaus und sagte zu Lisette: »Gehen Sie bitte unter Deck.« Höflich nahm er Jaime das Ruder aus der Hand, wirbelte es hart nach Steuerbord herum und lenkte die Stella Maris direkt mittschiffs auf das Patrouillenboot zu. Der Teniente brüllte wild in sein Megaphon. Das war ein Fehler. Als ihm klar wurde, daß Schreien nichts einbrachte, war die Stella Maris bereits auf drei Meter herangekommen. Das 75-mm-Geschütz donnerte. Am Ruderhaus der Stella Maris vorbeisausend, explodierte das Geschoß an der schwarzen Klippenwand dreißig Meter hinter ihnen. Die Schützen an den Spandaus eröffneten das Feuer, und Kugeln fegten durch die Luft, während ihr Boot sich in den schweren Wellen hin und her bewegte. Aus der Luke im Vorschiff der Stella Maris sprangen unvermutet Andrea und Miller. Andrea nahm die Bordschützen an der Kanone mit seiner Bren unter Beschuß. Einige Mitglieder der Besatzung des anderen Schiffes zogen sich zurück. Ob getroffen oder nicht, spielte im Augenblick keine Rolle. Wichtig war nur, daß sie sich von ihrem Geschütz fernhielten. Miller nahm die Spandau-Schützen ins Visier. Als er seine Salve abgefeuert hatte, befand sich die Stella Maris in einem Wellental, während das andere Boot auf einer hohen Welle ritt. Mit entsetzlichem Krachen traf die graue Barkassenwand auf den Vordersteven der Stella Maris und blieb stecken. Die Bordschützen auf dem Patrouillenboot konnten ihre Visiere nicht tief genug neigen, um die Stella Maris hinein zu bekommen. Mittlerweile feuerte Andrea pausenlos aus der Bren und hämmerte ein dichtes Lochmuster in die Außenwand der Barkasse, dorthin, wo er das Funkgerät
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vermutete. Miller entsicherte die Stifte von vier Granaten, warf sie seitwärts auf das spanische Patrouillenboot und hörte sie auf das Deck fallen, bevor der Wind das Krachen der Explosion herübertrug. Noch hingen beide Schiffe wie ein T ineinandergekeilt, während sie in der kurzen, unregelmäßigen Dünung vor der Küste schlingerten und gierten, der Bug der Stella Maris mittschiffs in den Rumpf des Patrouillenboots gebohrt. In der Bordwand des spanischen Küstenwacheschiffs klaffte ein Loch. Die Eisenplatten der Cacafuego waren so dünn wie Konservenblech, ein Schiff wie eine rostige Sardinenbüchse … Eine Welle schob sich unter die Schiffe. Die Stella Maris riß sich von der Cacafuego los, und das feindliche Schiff rollte, gequält in den Nähten ächzend, zur anderen Seite weg. Beide Boote waren wieder frei, und der Bug der Stella Maris richtete sich hoch auf, bis Mallory das Schiff herumriß und wegsteuerte. »Feuer!« schrie der Teniente. In seinen Ohren dröhnten noch die Granatenexplosionen. Die Funkantennen waren zerschossen und flatterten im Wind. Der Teniente hörte, wie die Kugeln metallisch aufprallten und durch die Luft pfiffen. Sein Schiff schien sich merkwürdig träge zu benehmen. »Feuer!« schrie er erneut. Die Stella Maris war jetzt dreißig Meter entfernt. Der Teniente sah, daß die MG-Besatzungen auf seinem Schiff über den Gewehren hingen und sich daran festklammerten. Auf dem Vorschiff mit der 75-mm-Kanone hatte das Wasser die Kanoniere weggespült. Da bemerkte er, daß seine Füße naß waren und das Schiff unterging. Die Stella Maris hatte ihn versenkt. Er riß den Mund auf, um nach Hilfe zu schreien. Plötzlich mußte er daran denken, was sein Cousin zu ihm sagen würde, wenn er erfuhr, daß eine Bande Schmuggler sein bewaffnetes Patrouillenboot versenkt hatte.
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Dann wurde dem Teniente klar, daß die Zeit zu sterben gekommen war. Er nahm Haltung an und schloß den Mund. Das Patrouillenboot schlingerte noch einige Male in den Wellen und sank dann innerhalb von zwanzig Sekunden. Gewaltige Schaumwirbel und Blasen stiegen auf, und aus der Tiefe drang ein dumpfes Stöhnen an die Oberfläche. Dann war es vorbei. »Jesus«, sagte Jaime blaß. Mallory wandte den Blick von der Stelle im Wasser ab, an der das Patrouillenboot gesunken war. Andrea sah ausdruckslos vor sich hin. Sein abwesender Blick zeigte weder Schock noch Entsetzen über die gewaltsame Versenkung der Barkasse der guarda costa mit einem halben Dutzend Mann Besatzung an Bord. Seine Gedanken – und auch die Mallorys – galten nur der Frage, ob die Küstenwache über Funk eine Meldung weitergegeben hatte, bevor ihr Patrouillenboot versucht hatte, längsseits der Stella Maris zu kommen. Mallory sagte: »Volle Kraft voraus, schlage ich vor.« Andrea nickte und verschwand im Maschinenraum. Der Bolander-Motor legte mehrere Umdrehungen zu, und Mallory durchschnitt mit dem Messer die Schlepptaue am Bug. Die Stella Maris pflügte sich weiter durch die Wellen, immer westwärts, während ihm der kalte Wind ins Gesicht blies. Jaime kehrte mit Lisette, die sehr bleich aussah, an Deck zurück. Für ihre Blässe gab es einen Grund. »Capitaine«, begann Jaime, »ich muß etwas mit Ihnen besprechen.« Lisette sah den beiden nach, die zum Ruderhaus gingen, Mallory mit geradem Rücken und festen Schritten. Sogar auf diesem schmutzstarrenden Schiff bewegte er sich wie ein Soldat. »Was hier passiert ist, das war nicht normal«, sagte Jaime. »Wie bitte?«
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»Ich kenne diesen Mann«, erklärte er. »Den Kommandanten der guarda costa. Ein Dreckskerl, aber er ist vorsichtig. Die Stella Maris würde er niemals stoppen. Er nimmt Geld von den Schmugglern, aber nicht auf See. Nur in der Bar, nachdem sie an Land gegangen sind. Es gibt nur einen Grund, warum er uns aufgebracht hat. Jemand hat ihm befohlen, alle Schiffe zu kontrollieren, die hier vorbeifahren.« »Also haben die Werwölfe ihren Liegeplatz noch nicht verlassen«, sagte Mallory. »Gut.« »War es notwendig, all diese Menschen umzubringen?« fragte Jaime. Mallory fand die Frage überflüssig. »Wir haben Krieg.« »Also töten Sie diese Männer. Befördern sie vom Leben in den Tod. Wie ein Maultier, das Futter in Scheiße verwandelt.« »Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft«, erwiderte Mallory. »Es gibt nur einen Grund, weshalb wir hier sind: die Zerstörung der U-Boote.« Jaime grinste. In seinen Zügen lag eine Andeutung von Ironie. »Vielleicht gefällt es mir einfach nicht, einen nützlichen Handelspartner umzubringen.« »Wenn wir den Krieg gewonnen haben, steigen auch die Handelschancen wieder«, entgegnete Mallory. »Und jetzt möchte ich gern einige Einzelheiten über das Cabo de la Calavera erfahren.« Um die Tagesmitte überzog ein Schleier weißer Zirruswolken den Himmel, und Miller hatte sich zum vierzehntenmal übergeben. Andrea übernahm seine Schicht an der Lenzpumpe. Er wurde niemals müde. Mallory kam zum Fischkasten herunter. »Besprechung«, sagte er knapp. »Bist du bereit?« Andrea nickte, ohne hinter seinem Dreitagebart eine Gemütsregung zu zeigen. Miller hätte das gleiche getan, wenn
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Nicken nicht zuviel Energie vergeudet hätte. Er hob sich seine Kraft auf, bis sie wirklich gebraucht wurde. Mallory sagte: »An der seewärts gelegenen Seite dieses Cabo de la Calavera gibt es eine Klippe. Guy sagt, sie sei nicht zu besteigen. Also werden die Deutschen dort auch nicht aufpassen. Wenn wir Glück haben.« Stille breitete sich aus, nur unterbrochen durch das Keuchen des Schiffsmotors und das entfernte Donnern der Wellen, die gegen Felsen brandeten. »Und wenn sie doch besteigbar ist, was machen wir dann?«, wollte Miller wissen. Mallory zündete sich die sechzigste Zigarette seit Tagesanbruch an. »Sie besteigen.« Miller schüttelte kraftlos den Kopf. »Wer eine dumme Frage stellt …« »Nach Einbruch der Dunkelheit gehen wir von Bord«, erklärte Mallory. »Wir nehmen das Beiboot. Jaime, Hugues und Lisette werden die Stella Maris in den Hafen bringen. Sie sollen sich wie Fischer benehmen, die ihr Boot reparieren wollen. An der Hafenseite des Cabo haben die Deutschen schwere Befestigungsanlagen gebaut. Im Gegensatz zur seewärts gelegenen Seite, soweit ich sehen kann. Wahrscheinlich denken sie, die Klippen genügen als Bollwerk. Wir steigen im Dunkeln hoch und besorgen uns oben ein paar Uniformen. Dusty, du wirst jetzt deine Ausrüstung überprüfen wollen. Und wir alle brauchen dringend eine Rasur. Noch Fragen?« Miller hörte auf das Donnern der Brecher gegen die Felsen. »Wie kommen wir vom Beiboot auf die Klippe? Verdammt viele Wellen hier.« Mallory breitete die Karte auf dem Filetiertisch aus. »Das Wasser drückt von Westen.« Er wies auf den nördlichen Vorsprung der Küste. »Dahinter, hier drinnen, liegt ein Wrack,
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das Fischerboot von Guys Freund Didier Jaulerry. Lief vor vier Monaten auf Grund. Jaime sagt, bei westlicher Strömung entsteht manchmal im Wellenschatten des Wracks eine ruhige Stelle.« »Manchmal.« »Wenn die Flut kommt. Bis ungefähr 21.00 Uhr heute Abend.« »Um 21.00 Uhr ist es noch nicht völlig dunkel«, gab Andrea zu bedenken. »Aber um 21.30 Uhr.« »Und was ist, wenn die Brecher um diese Zeit schon wieder über dem Wrack zusammenschlagen?« wandte Miller ein. Mallory faltete rasch die Karte zusammen und steckte sie in die Jackentasche seines Uniformrocks. »Oh, ich denke, das kriegen wir hin«, sagte er. Wieder entstand Stille. Es gab viel, worauf sie hoffen mußten – daß die guarda costa keine Funkmeldung abgesetzt hatte, daß das Beiboot nicht von den Deutschen gesichtet wurde oder an den Klippen zerschellte und daß die restliche Besatzung der Stella Maris in San Eusebio kein Aufsehen erregte. Der Wind frischte auf, und auch der Seegang wurde stärker. Lisette streckte die geschwollenen Knöchel aus ihrer Koje und ging zur schmutzigen Kombüse. Hugues hielt sie auf. »Ich werde kochen«, sagte er. »Und du ruhst dich aus.« Mit den dunkelbeschatteten Augen der späten Schwangerschaft sah Lisette ihn an. Hugues erkannte Feindschaft und Frustration darin. »Was ist los?« fragte er und versuchte den Arm um sie zu legen. Sie riß sich los. »Du hast recht«, sagte Lisette. »Ich bin müde.« Sie drehte das Gesicht zur Wand, und Hugues ging mit grimmigem Gesicht in die Kombüse, wo er in den Kisten kramte, die vor dem Schott aufgereiht standen. Eine halbe Stunde später stieg Rauch aus dem Kaminrohr, und der Geruch
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nach gebratenen Zwiebeln mischte sich mit dem penetranten Gestank aus dem Fischkasten der Stella Maris. Nach einer Stunde dampfte ein Eintopf aus Tomaten, hartem Chorizokäse, Zwiebeln und Kartoffeln in der geschwärzten Kasserolle. Jaime zog eine Flasche verdächtig guten Rotweins aus einem Schrankfach. Mallory, Andrea und Miller setzten sich an den Tisch im Salon. Andrea aß lange und ausgiebig. Niemand sprach. Grimmig wurden die Kampfmaschinen aufgetankt. Am Ende schenkte sich Andrea noch ein Wasserglas mit Wein ein, zündete eine Zigarette an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bordwand, die Augen geschlossen, während er ein griechisches Lied mit orientalisch klingender Melodie summte. Mallory sah zu Andrea hinüber, dessen muskulöser Hals auf breiten, mächtigen Schultern ruhte. Sein Gesicht strahlte friedliche Ruhe aus. Dann wandte Andrea den Blick zu Miller. Der Amerikaner saß rauchend, mit blaß-grün verfärbter Haut unter den Augen, vor dem mehr oder weniger unberührten Teller. Sie sahen aus wie Fischer, müde Fischer, die zuviel rauchten und zuviel tranken, wenn sie an genügend Zigaretten und Alkohol kamen. Fischer wie sie würde man auf einem undichten Boot wie dem ihrem, in dessen Fischkasten nicht die geringste Beute lag, erwarten. Außerdem befanden sich ein Schmuggler und eine im achten Monat schwangere Frau an Bord, zusammen mit dem Mann, von dem das Kind war. Mit dem schlagkräftigen Sturmkommando einer Eliteeinheit, die im Dunkeln eine achtzig Meter hohe Klippe besteigen sollte, um in eine stark befestigte, schwer bewachte Garnison einzudringen und die U-Boote des Werwolfgeschwaders zu zerstören, hatten sie kaum Ähnlichkeit. Und doch waren sie die »Sturmkolonne«, dachte Mallory. Niemand würde ihnen glauben, welche Entfernung sie zurückgelegt hatten, um diesen Ort zu erreichen. Aber sie
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waren hier. Und sie mußten weitermachen, die auftauchenden Schwierigkeiten in kleine, handhabbare Schritte unterteilen und nacheinander lösen, mit den Mitteln, die gerade zur Verfügung standen. Und sie brauchten verdammt viel Glück. »Ich denke, ich leg’ mich jetzt aufs Ohr«, sagte Miller. Er schlurfte zu den Kojen. Als sie allein waren, sagte Andrea: »Was meinst du? Wie steht die Sache?« Mallory kannte den Griechen gut genug, um zu wissen, daß er keine Meinungsäußerung, sondern eine Diskussion wollte. Mallory war der Anfuhrer des Kommandos. Das stand außer Frage. Aber Andrea war Oberst der griechischen Armee und einer der gefährlichsten und erfahrensten Untergrundkampfer im Mittelmeerraum. Um seine Fähigkeiten wirklich todbringend einzusetzen, mußte er die Situation verstehen. »Der Platz ist ideal für die U-Boote«, erklärte Mallory. »Als Versteck.« »Genau.« »Gut abgesichert.« »Richtig.« »Und dieses Patrouillenboot. Das gehörte auch zu den Absperrmaßnahmen? « »Die Bordschützen sahen wie Deutsche aus.« »Stimmt«, antwortete Andrea und strich sich über die Stelle, wo sein Schnurrbart gesessen hatte. »Und es handelte sich um eine Routinekontrolle.« »Wie meinst du das?« »Kontrolle ohne besonderen Grund.« Mallory zuckte mit den Achseln. »Wer weiß das schon genau?« »Sehe ich auch so. Vertrauen wir der großen Versammlung an Bord?«
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Diese Frage hatte Mallory sich auch schon gestellt. Als Schmuggler könnte Jaime leicht ein Doppelspiel treiben. Hugues war tapfer, aber sein Hang zu unberechenbarem Verhalten unübersehbar. Und Lisette … Lisette blieb sicherheitshalber bei der ›Sturmkolonne‹. Dort war sie besser aufgehoben, als wenn sie frei herumlief. »Bleibt uns kaum etwas anderes übrig«, erwiderte er. Andrea nickte, und es entstand eine Pause. Dann sagte er: »Mir scheint, die Deutschen haben ihre eigenen Probleme.« Den gleichen Gedanken hatte Mallory auch schon gehabt. Spanien war voller Spione. Um die Besetzung des Cabo de la Calavera geheimzuhalten, würde die Garnison von See aus mit Mannschaften und Nachschub versorgt werden, oder nachts auf dem Landweg über die Pyrenäen. In beiden Fällen mußten die Deutschen verdeckt arbeiten, mit allen Nachteilen, die damit verbunden waren. Ihre Effizienz und Tüchtigkeit verhinderten nicht, daß eine Garnison, die hastig zusammengestellt und im Geheimen versorgt wurde, weniger gut organisiert sein konnte als ein dauernder Truppenstandort in … Navarone beispielsweise. Andrea teilte den letzten Wein mit Mallory und prostete ihm mit seinem Glas zu. »Mein lieber Keith«, sagte er. »Auf den Sieg oder einen schnellen Tod.« »Und anschließend zwei Tage Schlaf«, ergänzte Mallory. Er dachte daran, daß sie in fünf Stunden wieder festen Boden unter den Füßen haben würden. Dann begann die Klettertour. Er hob das Glas zum Toast und trank. Andrea schwang seine Stiefel auf die Bank, legte den Kopf auf den Rucksack und schloß die Augen. Die Tür ging auf, Miller kam herein. Zuerst vermutete Mallory, der Amerikaner wäre angeschossen worden. Sein Gesicht war blutleer, die Lippen grau wie Asche. Aber Miller hielt sich gut auf den Beinen und
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stemmte sich fest gegen das Rollen der Stella Maris. Vor seinem Körper trug er die großen, messingbeschlagenen Kisten für den Sprengstoff und die Zünder. Mallory sagte: »Schlaf erst mal und überprüf die Ausrüstung später.« Wortlos schüttelte Miller den Kopf. Er sah aus, als hätte ihm etwas die Stimme verschlagen. Vorsichtig hob er die Kisten und stellte sie nebeneinander auf die Tischplatte, auf der sonst die Fische ausgenommen wurden. Nachdem er die Lederriemen gelöst und die Deckel hochgeklappt hatte, wies er auf den Inhalt. Betrachtete man die ›Sturmkolonne‹ als bewegliche Bombe, stellte das Team den Zünder, die Ummantelung und die Steuerflossen dar. Der Inhalt dieser beiden messingbeschlagenen Kisten war die Sprengladung, das Zeug, das die eigentliche Arbeit erledigte, damit die drei Werwolf-U-Boote mit Wasser gefüllt auf dem Meeresgrund versanken. Die Schlagkraft der ›Sturmkolonne‹ rettete das Leben all jener Männer, die auf dem Kanal in riesigen Schiffen zusammengepfercht saßen. Mallory blickte in die Kisten, und sein Mund wurde trocken. Im Geist ging er sechs Stunden zurück, in die Bucht von SaintJean-de-Luz, als der rote Ball der Sonne sich durch den Nebel erhoben hatte und vom Festland die schweren Detonationen herübergedröhnt waren. Er hatte vermutet, Cendrars’ alte Kameraden hätten Sprengstoff aus einem Steinbruch organisiert. Das war ein Irrtum gewesen. Die Franzosen waren eine Viertelstunde lang auf der Klippe bei Martigny gewesen, während Andrea den Beobachtungsbunker gesprengt und Mallory und Miller ihre Unterhaltung mit den Wachposten am Hafen geführt hatten. Während dieser fünfzehn Minuten befanden sich die Kisten in der Obhut von
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Cendrars’ kampfbegeisterten Veteranen. Sie hatten die Viertelstunde gut genutzt. Wahrscheinlich brauchten sie Nachschub für die eigenen, schwindenden Vorräte, oder es hatte ihnen vor Übereifer einfach in den Fingern gejuckt. Was immer dahinter steckte, änderte nichts am Ergebnis. Die messingbeschlagenen Kisten, in denen sich der Sprengstoff und die Zünder befunden hatten, mit denen die Werwölfe in die Luft hätten gejagt werden sollen, enthielten neben ein paar feuchten Grashalmen und kleinen Steinchen einen halben Zentner Schlamm aus Martigny. Die Stille schien Jahre zu dauern. Schließlich brach Andrea das Schweigen. »Ach du liebe Zeit«, sagte er. »Jetzt brauche ich wirklich Schlaf.« »Nimm die Koje«, schlug Miller vor. Seine Lippen waren noch taub vor Schreck. »Danke«, sagte Andrea und verschwand schwerfällig wie ein Bär in der Schlafkabine. Er sah aus, als würde er Millers Gefühl, versagt zu haben, verstehen und schien entschlossen, dem Fehlschlag so wenig Bedeutung wie möglich beizumessen, indem er das Angebot des Amerikaners als gleichwertige Entschädigung annahm. »Ich habe die Kisten aus den Augen gelassen«, sagte Miller. Paß auf dein Werkzeug auf, hieß es. Wenn du ein Gewehr hast, trage es immer bei dir. Behalte dein Messer angeschnallt, sogar in der Badewanne. Und vor allem, laß nie und nimmer dein Zyklonid und deine Zünder von den Helden der MarneSchlacht bewachen, wenn sie der Hafer sticht. »Wir haben nur noch Granaten.« »Zehn Granaten«, sagte Mallory. Seine Knie fühlten sich weich an, und er schwitzte. So also sah das Ende aus, dachte er. »Vier«, korrigierte Miller. »Für das Patrouillenboot haben wir acht verbraucht.« Er dachte wieder nach. »Egal, Granaten
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nützen nichts gegen Druckkörper von U-Booten.« Er sprach ohne Nervosität, mit ruhiger, gemessener Stimme wie ein Strafverteidiger, der abwog, wie die Chancen standen, daß ein überführter Mörder mildernde Umstände bekam. Wenn Granaten nichts ausrichten konnten, mußten sie etwas anderes finden, schien seine Stimme auszudrücken. Mallory hatte die Veränderung in Millers Stimme bemerkt. Einen Augenblick lang hatte er sich gefühlt, als würde ihm alles entgleiten. In seiner Erschöpfung war ihm nicht mehr bewußt gewesen, daß er es mit Dusty Miller zu tun hatte, dem Mann, der die Kanonen von Navarone und den Damm von Zenica zerstört hatte, ganz zu schweigen vom Munitionslager des Afrikakorps, das er mit Hilfe der Haarnadeln einer Hure aus Kairo erledigt hatte. Unmerklich kehrte die Zuversicht in seine Gedanken zurück. »Ich nehme an, sie haben dort auch ein Magazin«, sagte Miller. »Und irgendwann müssen sie die Torpedos laden. Die Torpedos nehmen den größten Raum in einem U-Boot ein. Mit Torpedos an Bord kann man keine Reparaturen durchführen, nicht wahr?« Er faltete die Hände. »Das hätten wir also. Nun zu den Maschinen. Waltermotoren. Wasserstoffperoxid, sagtest du. Verbrennen Dieselöl unter Wasser. Interessante Substanz, dieses Wasserstoffperoxid.« Mit seinem langen Rücken lehnte er sich gegen das Schott, die Hände über den flachen Bauch gefaltet und die Füße an die gegenüberliegende Bank gestemmt. Seine Augen waren geschlossen. Er schien nachzudenken. Schließlich hielt Mallory die Spannung nicht länger aus. »Was ist mit dem Wasserstoffperoxid?« Aber Miller war eingeschlafen. Mallory dachte daran, ihn aufzuwecken, entschied sich aber dagegen. Würden die Torpedos nicht bereits an Bord sein, wenn das Werwolfrudel morgen mittag in See gehen sollte?
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Und was war so interessant an diesem Wasserstoffperoxid? Erneut zündete er sich eine Zigarette an. Entspannen, befahl er sich. Miller und Andrea waren der Meinung, daß die Operation durchführbar war. Also ließ sie sich durchführen. So einfach war das. Innerhalb von dreißig Sekunden war auch Mallory eingeschlafen. Die Möwen gaben den ersten Hinweis. Den ganzen Nachmittag lang sahen sie, nachdem die Gezeiten gewechselt hatten, mehr und mehr von ihnen am Himmel. Als Mallory an Deck kam, benommen vom zu kurzen und zu flachen Schlaf, erfüllten ihre Schreie die Luft. Die Stella Maris befand sich wieder auf dem offenen Meer. Aus Nordwest wehte eine steife Brise. Die Möwen ließen sich davon tragen, rauh kreischend und mit souveräner Körperbeherrschung. Der Wind schien direkt von der Sonne zu kommen, die blaß und glänzend unter einem Dach grauer Wolken hervorlugte. In zwanzig Minuten würde sie untergehen, doch fehlte jedes Rot. Grell leuchtend wie ein riesiges metallisches Auge, verlor alles, worauf ihre Strahlen fielen, seine Farbe. Die Stella Maris wurde zu einem schwarzen Umriß auf grauer See, und die Klippen nahmen die unbestimmte Farbe von Schiefer an, während jeder an Land, der aufs Meer blickte, von dem überhellen Licht geblendet wurde. Mallory zündete sich eine Zigarette an, hielt sie zwischen den nikotingelben Fingern seiner linken Hand und zog sein ZeissFernglas aus der Hülle. Er schwenkte die Objektive über die Wellentäler, bis er die schwarze Küstenlinie fand. Wie ein flacher schwarzer Streifen lag die Klippe vor ihm, mit Einkerbungen an manchen Stellen und Felsenpfeilern, über denen die Gischt sprühte und Möwen silbern glänzend ihre
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Kreise zogen. Er bewegte das Fernglas nach Westen. Dort wölbte sich die Küstenlinie plötzlich zu einem kahlen, glatten Buckel, dessen Seiten senkrecht ins Meer abfielen. Das Gebilde sah aus wie ein Stahlhelm oder ein Schädel. Das war das Cabo de la Calavera. Das Schädelkap. Oben auf dem Schädel, am höchsten Punkt, ragte ein weißer Stift wie ein Finger in den Himmel. Der Leuchtturm. Er schien außer Betrieb, denn es blinkte kein Licht. Rechts vom Leuchtturm, an der Schädelstirn, befand sich eine Ansammlung würfelförmiger Gebäude, über denen sich ein massiver Turm erhob. Die Festung. Strategisch geschickt und tief in den Fels gebaut, um den Hafeneingang von San Eusebio zu bewachen. Mallory bewegte das Fernglas nach Osten, weiter die Kammlinie entlang. Um das äußerste Ende, wahrscheinlich den Schlund der Halbinsel, zogen sich Mauern, deren Umrisse aus dieser Entfernung nicht zu erkennen waren. Aber er konnte erraten, worum es sich handelte. Es war ein Steinwall, wahrscheinlich mit Zinnen und einem Wassergraben. Die Deutschen hatten die Anlage vermutlich mit Stacheldrahtzäunen und Schützengräben ergänzt. Soweit Mallory sehen konnte, endete die Befestigung plötzlich über dem Meer. Dort, wo die Klippe senkrecht emporstieg, vermutete er. Am Fuß der Felsen zog sich ein durchgehender, weißer Brandungsstreifen entlang. Mallory ging nach achtern zu Jaime, der am Ruder stand, und sagte: »Sie kommen aus einem fremden Hafen und sind in Schwierigkeiten. Ihre Maschine muß repariert werden. Kennen Sie jemanden in San Eusebio?« »Nur beruflich.« »Das reicht. Fragen Sie, was die Reparatur kostet.« Mallory wies auf das Funkgerät im Ruderhaus. »Funktioniert es?« Jaime grinste. »Das Funkgerät eines Schmugglers funktioniert immer.«
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»Lassen Sie es eingeschaltet. Und jetzt gehen wir an Land.« »Wie?« fragte Jaime. »Das schaffen wir schon«, antwortete Mallory. Zu diesem Zeitpunkt der Operation hatte es wenig Sinn, irgend jemandem auf der Stella Maris mehr zu erzählen, als unbedingt notwendig war. Er blickte auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf 20.15 Uhr. »Wir kehren morgen vor 15.00 Uhr aufs Schiff zurück. Warten Sie am Kai der Fischfabrik. Wir legen ab, sobald alle an Bord sind.« »Wohin?« Mallory setzte ein frommes Gesicht auf. »Das liegt in Gottes Hand«, sagte er. Jaime blickte auf den schwarzen Felsenschädel des Cabo, den dichte Möwenschwärme umflogen. Das Gefieder der Vögel nahm die Färbung der nun zu Rosa wechselnden Sonne an. »Hm … gut«, sagte er. »Bonne chance.« Der Bug der Stella Maris drehte auf den Kurs und steuerte in Richtung der Schädelbraue des Cabo. Die Sonne sank schnell tiefer, und während sie unterging, wechselte das Rosa zu Blutrot, das sich unter der Wolkendecke dunkelrot spiegelte. »Sieht aus wie die Hölle«, sagte Jaime. »Wie bitte?« fragte Mallory. Er betrachtete das Schauspiel lediglich als einen Sonnenuntergang, auf den ein harter Aufstieg im Dunkeln folgte. »No importa«, erwiderte Jaime. Die Nacht brach herein. Eine Stunde später saßen Mallory, Miller und Andrea im Beiboot der Stella Maris und ließen sich von den über zwei Meter hohen Brandungswellen des Atlantik hoch- und niederschaukeln. Im Osten verklang allmählich das Tuckern der Stella Maris. Im Beiboot lagen drei Rollen Kletterseil, drei Schmeisser-MPs mit je fünf Ersatzmagazinen und die restlichen Granaten. Die Männer trugen Uniformröcke der
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Waffen-SS, deutsche Uniformhosen und Stahlhelme. In der Brusttasche von Mallorys Jacke steckten spezielle Kletterhaken, die Jonas Schenk im Jahr 1938 aus den Hinterradfederungen eines Ford A für ihn geschmiedet hatte. Alles weitere würden sie auf dem Cabo finden müssen. So wenigstens stellten sie es sich vor. Miller saß vorn im Boot, die Knie hoch zu den Ohren gezogen und das Schloß seiner Schmeisser umklammernd, damit keine Feuchtigkeit eindrang. Er war ziemlich sicher, daß sein Ende nahe bevorstand. Ihm konnte es egal sein, wenn ihn der Tod nur nicht im Wasser ereilte, denn von Meer, Wind und Wellen hatte er die Nase voll. Eine glänzende schwarze Welle, die aussah wie der Rücken eines menschenfressenden Ungeheuers, trug die kleine Nußschale wieder hoch und nieder, so daß ihm schlecht wurde. Andrea stach die Ruder ins Wasser und machte ein paar Schläge, um das Boot in der Dunkelheit dem senkrecht aufsteigenden Felsen über der schaumbekrönten Brandungslinie näherzubringen. »Hier«, sagte Mallory. In der brausenden, zischenden Mauer aus Gischt tat sich eine Lücke auf, wenngleich nur andeutungsweise. Dort schlug die Brandung weniger hart zu, als wäre die Kraft der Wellen gebrochen, bevor sie auf die Felsen trafen. Gebrochen durch das Wrack eines Fischerbootes, das einmal Monsieur Jaulerry gehört hatte und am Fuß der Felsenklippe gestrandet war. Auf jeden Fall haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite, dachte Miller. Und sollten wir die Operation überleben, würde das niemanden mehr überraschen als mich. Dann machte Andrea einen letzten Pull mit dem Ruder, und das kleine Boot ritt auf der nächsten Welle, die ebenso schwarz und riesig daherkam wie die vorherige. Als sie den Kamm erreicht hatten, brach die Welle weiß und schäumend in sich
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zusammen und trug das Boot nicht länger. Es versackte in der brodelnden Tiefe, mit dem Heck voran. Mit ihm ging die restliche Welt unter, ein Wasserinferno, das wie ein Erdbeben rumorte und ohne jeden Halt schien … Bis sie endlich wieder Boden verspürten. Mit einem plötzlichen, splitternden Krachen, das Miller den Sitz unter dem Hinterteil wegschlug, trafen sie auf Grund. Miller stellte fest, daß alles, woran er sich eben noch festgehalten hatte, verschwunden war. Eine Welle erfaßte ihn und riß ihn mit sich, ohne daß er sagen konnte, wohin. Er wußte nur noch, daß er eine Schmeisser-MP um den Oberkörper trug, deren zusätzliches Gewicht von einigen Kilogramm ihn unweigerlich in sein nasses Grab zwischen den Felsblöcken unterhalb der Klippe ziehen würde. Er war bereit, sich in sein Schicksal zu fügen, wenn es sein sollte. Dann erwischte ihn etwas am Kragen seiner Uniformjacke und zog ihn entgegen der Richtung, wohin das Wasser ihn reißen wollte. Plötzlich war er dem schwarzen Wirbel entronnen und lag auf etwas Hartem, Glitschigem, das er als das Deck des gestrandeten Fischerboots zu erkennen glaubte. Dicht an seinem Ohr vernahm er die Stimme von Andrea: »Wenn wir an Land sind, überprüf die Waffe.« Das war die Rückkehr in die Normalität. Oder was als Normalität gelten konnte, auf der seewärts gelegenen Seite des Cabo de la Calavera. Am Fuß der Klippe lagen Felsbrocken, die aus der Wand gebrochen waren und eine Steinbarriere bildeten, an der sich die Wellen mit weißen Schaumfetzen brachen. Hier war das Fischerboot auf Grund gelaufen und weiter aufwärts gespült worden, wo es, in nordöstliche Richtung weisend, mit dem Bug gegen die von Ost nach West verlaufende Klippe geprallt war. Mallory, Andrea und Miller hockten einen Moment lang zusammengekauert auf dem glitschigen Deck und duckten sich
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vor den donnernden Brechern, die jeden Knochen in ihnen zu erschüttern schienen, als sie über sie hinwegrollten. Dann reichte Mallory Andrea die Maschinenpistole, schlang eine Seilrolle über die Schulter und schritt auf den genagelten Sohlen das schräg liegende Deck hinunter, auf die tintenschwarz emporragende Klippe zu. Die ersten drei Meter führten über tückisch glatte, mit Blasentang bedeckte Felsblöcke, die aber nicht steil waren. Mallory bewegte sich vorsichtig, doch rasch voran, bis seine Hände auf etwas trafen, das sich nicht wie Seetang anfühlte, sondern wie Moos. Dann folgte ein weiches Graskissen auf einem Untergrund aus Sand und Holzresten, der unter seinen Fingern zerbröselte. Seine Hände ertasteten loses Gestein in der Dunkelheit. Die Felsen der Cabo de la Calavera waren nicht so fest, wie sie wirkten. Mallory blickte nach unten. Die zurückströmenden Brandungswellen bildeten eine breite weiße Schneise, die von den Überresten des gestrandeten Bootes unterbrochen wurde. Als ein großer Brecher auflief, spürte Mallory, wie sein Gesicht naß wurde. Er begann zu klettern. Der Fels hier im unteren Bereich war brüchig wie alter Käse, und in den Spalten hatte sich ein spärlicher Bewuchs von Moosen und Seenelken angesiedelt. Jeder Griff bedeutete, daß er zunächst lose Erde wegschieben mußte, bis er die Finger kräftiger einsetzen und mit dem vollen Gewicht belasten konnte, immer an zwei Punkten festen Halt suchend, um dann, langsam und ohne ein Risiko einzugehen, den nächsten Griff vorzubereiten. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich den Felsen hinauf, einen stechenden Schmerz in den Bronchien, nach drei Tagen, in denen er eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte. Seine Finger schmerzten unter der Anstrengung, sich im Fels festzukrallen, und in seinem Ohr
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dröhnte das entsetzliche Geräusch der losen Steine, die auf die Klippe unter ihm polterten. Nach fünf Minuten kletterte er so mechanisch wie gewohnt. Eine leichte Gewichtsverlagerung von Haltepunkt zu Haltepunkt, immer aus den Hüften heraus, so daß Mallory, statt wie eine Fliege zu kriechen, die Wand hinaufzugleiten schien. Der Teil seines Gehirns, der nicht damit beschäftigt war, sichere Griffmöglichkeiten zu erproben und das Gleichgewicht am Fels zu halten, wanderte voraus auf die Halbinsel des Cabo. Dort oben waren Truppen der Totenkopf-SS stationiert, nach allem, was Guy berichtet hatte. Auch mit Wehrmachtsoldaten und Dockarbeitern mußten sie rechnen. Eine hastig zusammengewürfelte Mannschaft, die eine Vielzahl von Uniformen trug und von der keiner den anderen kannte. Wahrscheinlich befanden sich die Instandsetzungsarbeiten im Endstadium, und die Evakuierung der Garnison stand kurz bevor. Es würde ein großes Durcheinander herrschen. Darauf setzte Mallory seine ganze Hoffnung. Inzwischen hatte er gut zwanzig Meter an Höhe gewonnen. Der Wind blies um seine Ohren, und das Tosen der See wurde schwächer, bis er nur noch ein dumpfes, regelmäßiges Grummeln hörte. Wie ein Blinder, der sich vorantastete, suchte Mallory nach dem nächsten festen Halt. Plötzlich tappte er nicht mehr im Dunkeln. Wie eine blasse Spinne, die sich ihren Weg über Quarzgestein und Erdreich in die dunkle Höhlung der nächsten Spalte suchte, tauchte seine Hand aus der Dunkelheit auf. Die Felswand hatte sich in ein seltsames, Schlagschatten werfendes Relief verwandelt, in eine Landschaft senkrecht verlaufender Hügel und Täler, die sich zum Meer erstreckten, dessen Wellen nun nicht mehr schwarz waren, sondern silbrig grau glänzten. Über dem Horizont auf der Klippe, wo der Himmel ein matter, leerer Raum voll ziehender Wolken gewesen war, hatte
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sich ein Wandel vollzogen. Die Wolken hatten sich geteilt. Dazwischen erschien in breiten Streifen der tiefdunkle Nachthimmel, gesprenkelt mit blinkenden Sternen. Und in einem dieser Zwischenräume, der die endlosen Tiefen des Alls ahnen ließ, schwamm wie eine silberne Laterne eine strahlende Mondsichel. Mallory fröstelte, während er sich an der Felswand festklammerte. Tief unter sich erkannte er die weiß schäumende Gischt und das Wrack des Fischerbootes, das als schützende Barriere vor einem kleinen schwarzen Wasserwirbel lag. In einiger Entfernung davon entdeckte er Wrackteile, die sich im Wirbel drehten. Das war schlecht. Sehr schlecht sogar. Ein einziger Blick über die vom Mond beschienene Klippe genügte, um sie am Fels zu entdecken und sie wie lästige Fliegen wegzuwischen. Und morgen mittag würde das Werwolfrudel unbehelligt auslaufen. Der Wind wurde böig, drehte sich und erstarb einen Moment lang ganz. Da hustete jemand direkt über Mallory. Mallory verharrte reglos, bis er mit dem Felsen zu verschmelzen schien. Dann wandte er den Blick nach oben. Der Mond segelte auf eine Wolkenkante zu. Bevor er verschwand und die Klippe wieder im Dunkeln lag, sah Mallory etwas, das ihm vorher entgangen war. Am oberen Ende der Klippe befand sich ein Felsüberhang, der zu regelmäßig aussah, um natürlichen Ursprungs zu sein. Das Husten wiederholte sich. Ein kurzer gelber Lichtschein fiel über die Kante und an Mallorys Kopf vorbei. Ein abgebranntes Streichholz. Mallory entspannte die Füße auf den winzigen Trittflächen und preßte sich gegen die Klippe. Er wartete, das Gesicht nach oben gewandt. Für seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen war das
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gleichmäßige Glimmen der Zigarette so hell wie ein Leuchtfeuer. In diesem Lichtschein untersuchte Mallory die kleine, oberhalb der Klippe hervortretende Mauer. Es war ein Halbmond aus Stein oder Beton, eine halbrunde Plattform, die über einem kleinen Gesims an die Klippe gebaut war. Weiterhin völlig ruhig abwartend, rief sich Mallory die Verteidigungsanlagen auf dem Cabo ins Gedächtnis. Das hier war der seewärts gelegene Endpunkt der Befestigungen, die den Hals der Halbinsel umschlossen. Der Mond trat wieder hinter den Wolken hervor. In seinem Lichtschein konnte Mallory die Fugen im Mauerwerk erkennen. Keine deutsche Arbeit, dachte er. Älter als dieser Krieg. Etwas glänzte im Mondlicht. Es war geformt wie ein kleiner Trichter. Der Mündungsdämpfer eines leichten Maschinengewehrs. Die alten spanischen Verteidigungsanlagen hatten neue Bewohner bekommen. Mallory nutzte den kurzen Augenblick der Helligkeit für eine Bestandsaufnahme. Rechts von ihm war die Klippe glatt, aber kletterbar. Der Mond hatte sie in leuchtendes Grau getaucht. Wer dort hinaufstieg, würde von der halbmondförmigen Plattform aus deutlich zu sehen sein. Zu seiner Linken sah die Klippe leichter bezwingbar aus. Der höchste Punkt lag hier jedoch hinter einem Felsbuckel verborgen. Es war nicht zu erkennen, was sich auf diesem Gipfel verbarg. Nur eines schien sicher. Selbst wenn der Gipfel unbewacht war und er ihn von hier aus unbeobachtet erreichen konnte, befände er sich auf der falschen Seite der Festung und müßte anschließend noch die Tore überwinden. Es gab also nur einen Weg. Direkt nach oben. Mallory strich über das Messer, das in einer Scheide an
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seiner rechten Hüfte hing, und begann wieder zu klettern. Der Mond schwamm jetzt in einem größeren Wolkenmeer. Doch Mallory kletterte rasch und zielstrebig, da er wußte, daß er sich direkt unter dem Mauervorsprung befand und nicht zu sehen war. Er brauchte zehn Minuten, um die dreißig Meter Höhenunterschied zu überwinden, zehn Minuten großer Stille, in denen er sich, tief und regelmäßig durch die Nase atmend, mit der Sorgfalt eines Chirurgen seine Haltepunkte suchte. Das war der Mallory, der unbarmherzig die Südostwand des Mount Cook oberhalb des Caroline-Gletschers bezwungen hatte. Eine brüchige Klippe am Atlantik bedeutete für diesen Mallory nicht mehr als ein Spaziergang im Park. Der Untergrund der halbmondförmigen Plattform bestand aus einer Steinmauer, die im natürlichen Fels verankert war. Auf einem darunterliegenden, dürftigen Vorsprung von dreißig Zentimetern hielt Mallory an und beruhigte seinen Atem. Dann zog er Stiefel und Socken aus und band sich die Schnürsenkel um den Hals. Oben hörte er das Geräusch von Fußtritten. Vier Schritte nach links, Pause, vier Schritte nach rechts, gefolgt von einer weiteren Pause. Er verharrte einen Moment, mit Fingern und Zehen in den Fels greifend und wie auf Sprungfedern balancierend, während er auf die vier Schritte nach links und dann nach rechts wartete … Er holte tief Luft und schob sich die letzten drei Meter wie eine Spinne die Wand hinauf. Hätte man Mallory in diesem Augenblick oder später gefragt, wo er auf diesen letzten Metern Halt gefunden oder welchen Weg er gewählt hatte, er hätte selbst keine Antwort gewußt. Ihm war, als wäre er eben noch unterhalb der Plattform gehangen, und schon im nächsten Moment befand er sich bereits auf gleicher Höhe mit ihr und blickte über die brusthohe Mauer, auf den Umriß einer Gestalt in deutscher Uniform. Die Gestalt wandte ihm den Rücken zu und stand vier Schritte von
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ihm entfernt. Mallory hatte Glück, denn der Soldat blieb an seinem Platz. Er hielt sich leicht nach vorne gebeugt, während die überstehende Helmkante von unten durch ein gelbes Flackern beleuchtet wurde. Der Posten zündete sich eine weitere Zigarette an, nur kurze Zeit nach der letzten … Mallory löste das Messer aus der Scheide, legte die linke Hand auf die Brüstung und die rechte auf den Vorsprung daneben … In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Mallorys rechte Hand landete in einem Haufen aus Zweigen und getrocknetem Tang, neben etwas Weichem und Fedrigem, das plötzlich lebendig wurde und wütende, schrille Schreie ausstieß. Außerdem trat der Mond hinter einer Wolke hervor. Für den Bruchteil einer Sekunde hing Mallory mit der linken Hand an der Klippe und blickte in die Gesichter nicht nur eines, sondern zweier junger deutscher Soldaten, die ihn ungläubig mit offenem Mund anstarrten. Dann wurde ihm bewußt, daß seine Füße keinen Halt fanden, und er fiel, mit den Beinen in die Luft tretend, bis sein linker Arm den Sturz abfing. Dummkopf, schalt er sich. Er spürte die überdehnten Muskeln und Sehnen und preßte die Zahne zusammen, um nicht laut aufzuschreien vor Schmerz, während seine Finger sich fest in den Fels krallten. Der Moment, bis ein Gewehrkolben seine Finger zerschmettern würde und die Deutschen mit ihrem Geschrei Alarm in der Garnison auslösen wurden, erschien ihm wie eine Ewigkeit … Seine rechte Hand klammerte sich an der Felswand fest, krampfhaft nach einem Halt tastend, bis er schließlich einen Spalt fand. Von irgendwo drang das heisere Kreischen einer verängstigten Möwe an sein Ohr, und dazu der keuchende Atem der jungen Deutschen, die in Panik überlegten, wie sie dieses Ding an der Klippe loswurden. Dabei vergaßen sie völlig, daß sie nur laut zu schreien brauchten, damit ihre
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fünfhundert Kameraden die Arbeit für sie erledigten. Da kam Mallory eine Idee. »Hilfe«, rief er. Sein Deutsch hatte er vor dem Krieg, Mitte der glorreichen dreißiger Jahre, an der Universität Heidelberg und in den Alpen gelernt. Seine Aussprache war makellos und so perfekt, daß die Deutschen zögerten. »Reichen Sie mir die Hand«, sagte Mallory. »Ich bin abgestürzt.« Die Soldaten waren verblüfft und erleichtert. Das war kein Feind, sondern ein Kamerad in Not … Ihr Zögern dauerte nur Sekundenbruchteile. Mehr brauchte Mallory nicht. Er hievte sich nach oben und schwang sich zur Hälfte über die Brüstung. Die Deutschen sahen unentschlossen aus. Jetzt kam der Mallory zum Vorschein, der sich nicht von einer Möwe irritieren ließ. Dieser Mallory hatte achtzehn Monate wie ein wildes Tier in den Weißen Bergen von Kreta gehaust. Die Deutschen hatten nicht die geringste Chance. Dem ersten stieß Mallory den Dolch durch das Auge ins Gehirn. Als der zweite den Mund aufmachen und schreien wollte, rammte Mallory ihm die Faust in die Kehle. Er zog sein Messer aus der Augenhöhle des ersten Postens. Als der tote Körper zu Boden fiel, stürzte sich der zweite Deutsche keuchend auf Mallory. Der Hechtsprung trug ihn weiter, über Mallorys Schulter und die Brüstung hinaus. Dort blieb er hängen, mit dem Gesicht nach unten, die Spitze eines Stiefels an einem Felsvorsprung verhakt. Wären seine Stimmbänder noch intakt gewesen, hätte er laut um Hilfe geschrien. Etwas zog an Mallory, und im Mondlicht sah er, daß der Stiefel Millimeter um Millimeter weiter abrutschte. Irgendein Körperteil des Deutschen hatte den letzten Seilrest erfaßt, den er noch um die Schulter geschlungen trug. Wenn der Soldat
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abstürzte, würde er Mallory mit sich in die Tiefe reißen. Mallory bückte sich hinter die Brüstung. Aus der Kehle des Deutschen drang ein stummes, rasselndes Krächzen. Der Stiefel rutschte ab, und das Seil spannte sich ruckartig unter der schweren Last. Mallory wurde vom Boden gehoben, und nur die Brüstung verhinderte, daß er über die Kante gezogen wurde. Vorsichtig suchte Mallory eine Seilschlaufe und befestigte sie an den Eisenstufen der Leiter, die oberhalb der halbmondförmigen Plattform in den Fels gebaut war. Dann befreite er sich aus der Schlinge. Das Seil zog weiter nach unten, und Mallory blickte ihm nach. Der Deutsche hatte sich mit dem Kopf in einer Schlinge verfangen. Mallory ließ ihn hängen, während er seinen Kameraden über die Kante stieß. Dann entwirrte er das Seil. »Alles in Ordnung, Schlegel?« rief eine Stimme von oben. »Alles klar«, antwortete Mallory. Zehn Meter unterhalb der Plattform baumelte die Leiche des zweiten Deutschen wie das Pendel einer Uhr über dem schwindelerregenden Abgrund mit den gischtsprühenden Wellen, die an den Fuß der Klippen schlugen. Der Mond verschwand wieder. Mallory ließ noch ein Stück Seil nachlaufen. Der baumelnde Deutsche wurde zu einem dunklen Fleck, der durch noch größere Dunkelheit auf den weißen Streifen am Grund fiel. Mallory glaubte, ein leichtes Aufspritzen zu erkennen. Dann ließ er den Rest des Seilendes nach unten fallen, wo Miller und Andrea warteten. Während sie kletterten, zog er sich Stiefel und Socken wieder an. Fünf Minuten später standen Miller und Andrea schwer atmend neben ihm auf der gemauerten Plattform. Mallory zog das Seil hoch, wickelte es auf, kletterte über die Brüstung und hängte die Rolle, außer Sichtweite unter der
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Plattform, in die Aste einer verkrüppelten Zypresse. Als er zurückkam, hatte das schwere Atmen aufgehört. »Fertig?« fragte er. Die Umrisse mit den zwei runden Stahlhelmen nickten. Mallory blickte auf seine Armbanduhr. Die radiumbeleuchteten Zeiger standen auf 22.15 Uhr. »Ich bin um Mitternacht bei den Generatoren«, sagte er. »Dort treffen wir uns. Stellt fest, wie die Reparaturhallen bewacht werden. Achtet auf Schichtwechsel und Zeitpläne. Und Dusty, das ist dein Gebiet: Achte auf alles, was mit Sprengstoff zu tun hat.« »Wird gemacht«, entgegnete Miller. »Und es wäre gut, wenn du dich nicht erwischen ließest.« Plötzlich glänzten Andreas Zähne im Mondlicht. »Aber wo soll ich mich ohne meinen Schnurrbart verstecken?« Mallory lachte leise. »Wir treffen uns um Mitternacht.« Lautlos trat er auf die Brüstung der Plattform, hob eine Hand und einen Fuß und kletterte die Wand weiter hinauf. Einen Augenblick hing er dort im Mondlicht, in schwebendem Gleichgewicht, an der glatten Wand. Miller schloß die Augen und nahm die erste Sprosse der Eisenleiter in Angriff, die von der Plattform aufwärts führte. Sein Magen drehte sich, und ihm wurde schwindlig. Das Seil war eine Sache gewesen. Jetzt wie eine Fliege weiterzukrabbeln, machte die Sache nicht besser. Als er die Augen wieder öffnete, gab die kleine Wolke gerade den Mond frei, und die Felswand lag erneut im hellen Lichtschein. Aber von Mallory war nichts zu sehen. »Und wir klettern munter weiter«, sagte Andrea. Andrea führte, während sie den Weg über die Eisensprossen in der Klippe nahmen. Vor ihnen lag ein Anstieg von knapp zwanzig Metern. An dessen Ende befand sich eine Art Trittleiter in der Brüstung. Bevor er sie erreichte, schlang Andrea einen Arm durch die letzte Sprosse, bürstete den
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gröbsten Schmutz von seiner SS-Uniformjacke und zog den Spannhebel seiner Schmeisser. Dieser Teil der Operation war leichter als das Herumirren in den Pyrenäen. Hier wußte er, wem zu trauen war. Sie arbeiteten wieder zusammen, ohne abgelenkt zu werden. Das alte Team, die wohlgeölte Maschine. Die Schultern zusammengezogen, um seine mächtige Gestalt zu verkleinern, trat Andrea auf den Vorsprung. Er sah wahrscheinlich keinem der Männer ähnlich, die Mallory getötet hatte. Aber wenn zwei Männer die Eisenleiter zu dem steinernen Möwennest hinuntergeklettert waren, unter dem nur noch der Abgrund gähnte und das Meer, war es vollkommen logisch, daß von dort dieselben Personen zurückkehren mußten, selbst wenn sie anders aussahen. In perfektem Deutsch sagte er: »Verdammt kalt da unten.« Der Vorsprung bildete den Rand einer ungefähr drei Meter breiten Terrasse unterhalb einer Treppenflucht, die zur nächsten Festungsebene hinaufführte. In den Mauernischen standen altertümliche, vor sich hin rostende Kanonen. Am Ende der Kanonenreihe zeichneten sich die Umrisse von zwei Männern vor einem Maschinengewehr ab. Einer der Männer sagte: »Hier oben auch. Richtig kalt heute nacht.« Rekruten, dachte Andrea. Kein Problem. »Jetzt einen Kaffee«, sagte er. »Es ist noch über eine Stunde bis Mitternacht«, entgegnete eine der Schattengestalten. »Befehl ist Befehl.« Mit den Achseln zuckend, blickte Andrea über die Kante. Der mondbeschienene Abgrund senkte sich direkt ins Meer. Von Mallory keine Spur. »Beeil dich, Mann.« Miller kam hoch und betrat ebenfalls die Terrasse. Andrea sagte: »Wir holen Kaffee und bringen ihn runter.« Der Klang von Autorität in Andreas Stimme war den Rekruten nicht entgangen. Ein Offizier. Offiziere hatten immer ihre Sonderrechte.
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»Marsch«, sagte Andrea. Miller voran, stiegen sie trampelnd die Steintreppe zum Gipfel der Klippe hinauf. »Rechts schwenkt«, befahl Andrea. Jetzt marschierten sie über eine mit Steinen gepflasterte Fläche, die silbrig im Mondschein glänzte. Rechts von ihnen ließ eine Mauerbrüstung die Abbruchkante der Klippe vermuten. Vor ihnen und links neigte sich der Boden als sanfter Abhang bis zu einem schwarzen Loch, in dem die wenigen Lichter von San Eusebio aufblinkten. Direkt zu ihrer Linken drang Licht durch die schlecht geschwärzten Fenster eines Gebäudes, das anscheinend als Wachhaus diente. Unmittelbar dahinter befand sich eine alte Festungsmauer, die oben mit modernem Stacheldraht bestückt war und sich offenbar von den Meeresklippen bis zum Strand vor der Stadt erstreckte. Sie hatten es geschafft, sie waren in der Festung. Doch ihre Umrisse hoben sich viel zu deutlich von der freien Fläche ab. Irgendwo im Wachhaus schrillte ein Telefon, und eine aufgeschreckte Männerstimme brüllte gehorsam eine Bestätigung, wie auf dem Exerzierplatz. Etwas war geschehen, ein Vorfall, der sofortiges Eingreifen verlangte. Lichter gingen an, und der Platz, auf dem Andrea und Miller standen, war plötzlich eine grell erleuchtete Fläche, auf der um jede Gestalt ein Stern aus spitzen Schatten fiel. Männer in Kampfstiefeln quollen aus den Türen der Mannschaftsunterkünfte, reihten sich Schulter an Schulter in einer Linie auf und marschierten mit dröhnendem Stiefelgeklapper über den Granit davon. Miller spürte, wie ihm der Schweiß über den Körper rann, nicht vom Klettern, sondern weil er inmitten von fünfhundert Deutschen stand. Andrea schrie: »Stillgestanden!« Miller schlug die Hacken zusammen.
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Gut, sie hatten die Festung erreicht. Aber ihr Weg war noch nicht zu Ende. Was Miller und Andrea ohne das Flutlicht entgangen war, lag nun deutlich sichtbar vor ihnen. Parallel zur Festungsmauer verlief ein zweiter Zaun, fünf Meter hoch, mit zwischen Isolatoren gespanntem Stacheldraht bekränzt. Er zog sich vom Rand der Klippe bis zum schwarzen Hafenwasser. Der Bereich zwischen den Zäunen war Niemandsland, in kaltes grauweißes Licht getaucht, so daß jedes Körnchen Schmutz, jeder Knopf und jedes Koppelschloß an der Hundertschaft deutscher Soldaten, die zwischen dem Wachhaus und der sandsackgeschützten Maschinengewehrstellung zu beiden Seiten des Haupttors eingefallen waren, deutlich hervortraten. Miller spürte die Schweißtropfen auf seiner Stirn, während Andrea breitbeinig und schweigend neben ihm stand. In die Mitte des inneren Zauns war ein zweites Tor eingelassen. Es stand offen. Auf jeder Seite davon befanden sich weitere Maschinengewehrstellungen. Das Flutlicht glänzte auf den Stahlhelmen neben den Geschützen. Andrea ließ den Blick rasch über den Platz gleiten. Die Soldaten gehörten zur Wehrmacht, nicht zur SS. Seine Schultern strafften sich. Mit volltönender Stimme befahl er: »Marsch!« Die Schmeisser-Maschinenpistolen starr vor die Brust gepreßt, stapften die beiden Männer über den gepflasterten Platz. Wie ein dunkles Loch in den Zaunpalisaden ragte das Tor vor ihnen auf. Miller hatte das Gefühl, als wären die Mündungen aller Maschinengewehre in den Stellungen auf ihn gerichtet. Neben sich sah er Andrea, dessen Helm leicht zur Seite gerutscht war und an dessen deutscher Uniform Schmutz klebte. Wie sollte es anders sein, da er die Klippe hochgestiegen war? In der Wehrmacht haßte man Schmutz. Beinahe ebenso wie die SS … Jemand hatte Alarm gegeben, überlegte Miller. Das mußten
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die Jungs unten an den Kanonen gewesen sein. Die Deutschen hatten gewartet, bis die Eindringlinge mitten ins Hornissennest vorgedrungen waren und dann Alarm ausgelöst. Nun suchten sie nach zwei Männern in SS-Uniform. Hier waren sie, naß und schmutzig in ihrer schwarzen Verkleidung, während sie, von weißem Flutlicht angestrahlt, den Todeskorridor durchschritten. Miller marschierte weiter. Ein Körnchen Hoffnung schlug Wurzeln und begann zu wachsen. Niemand hielt sie auf. Vielleicht, dachte er, handelte es sich nur um einen Übungsalarm. Oder die Wehrmachtsoldaten fürchteten die SS so sehr, daß sie nicht einmal mit den Uniformen in Berührung kommen wollen. Möglich auch, daß es sich um eine ganz normale Nacht in einer größeren Garnison handelte und er zu lange in den Bergen herumgeschlichen war, um die Lage richtig einzuschätzen. Mit jedem Schritt kamen die Sandsackstellungen näher, die die beiden verkleideten Männer wie ein Trichter zum schwarz klaffenden Tor führten. Hinter ihnen brüllte jemand Befehle. Zu ihrer Rechten grüßten drei Rekruten und ein Feldwebel in militärisch starrer Haltung. Miller spürte die Augen des Feldwebels, die unruhig an ihm auf- und abblickten. Es war der Blick eines Pedanten, der das kleinste Schmutzkorn und den winzigsten Fleck auf den Stiefeln seiner Untergebenen entdeckte. Und diese SS-Bonzen marschierten durch sein Tor, in Uniformen, die nach Seetang stanken und an denen der Schmutz von den Klippen klebte. Im regelmäßigen Takt eines Metronoms ging Andrea weiter, aus dem Torbereich heraus, weg von den streng blickenden Augen in die dahinterliegende Dunkelheit. Hier irgendwo im Dunkeln mußten die Reparaturdocks liegen, mit den U-Booten, die darauf warteten, aus dem schützenden Hafen in ihre schwarze Unterwasserwelt zurückzukehren …
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Das Tor lag hinter ihnen. Unter dem Schatten, den sein Helm warf, sah Miller, daß die Lichter langsam verblaßten. Geschafft, dachte er. Verflucht, wir haben es tatsächlich geschafft … Plötzlich durchdrangen metallisch klingende Geräusche die Dunkelheit. Vor ihnen und zu ihrer Linken blinkten grell leuchtende Lichtkegel auf. Eine Stimme sagte auf englisch: »Finger weg von den Gewehren. Strecken Sie die Hände vom Körper. Sie sind umstellt.« Miller blinzelte in das Licht auf einer Seite, konnte aber nichts erkennen. Hinter dem blendenden Schein könnte ein einzelner Mann oder eine ganze Hundertschaft verborgen sein. Eine Hundertschaft erschien ihm realistischer. Als sollte er gekreuzigt werden, breitete Miller langsam und zögernd die Arme aus. So also sah das Ende aus, dachte er. Aus dem Dunkeln tauchten Gestalten in SS-Uniform auf. Die Männer zogen den Gewehrriemen von Millers Schmeisser über seinen Kopf und stellten sich auf die Zehenspitzen, um auch Andrea zu entwaffnen. »Willkommen, meine Herren«, sagte der SSHauptsturmführer. Er sprach ausgezeichnetes Englisch. »Wir haben Sie bereits erwartet.« Dann wurden sie abgeführt.
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6. Dienstag, 23.00 Uhr bis Mittwoch, 04.00 Uhr Die SS brachte sie an einem stacheldrahtumzäunten Betongebäude vorbei und durch ein kleines Holzhüttendorf, in dem Dieselmotoren pochten. Unterkünfte, dachte Miller, und der Schuppen mit den Generatoren. Er sammelte Informationen, die er nicht mehr brauchen würde. Weiter unten links klang das Rattern von Niethämmern, und der sanfte blaue Schein von Lichtbogenschweißgeräten flammte im Dunkeln auf. Von hier oben besaß man einen hervorragenden Blick über die gesamte Anlage. »Halt!« schrie der diensthabende Hauptsturmführer ihrer Eskorte. Sie blieben auf einer Brücke vor einem Durchgang in einer hohen, fensterlosen Granitmauer stehen. Das Tor war mit Eisenriegeln beschlagen. Darüber befanden sich Zinnen. Kalter Schweiß rann Miller über den Körper, und ihm tat alles weh. Er war erschöpft. Im Tor öffnete sich eine kleine Pforte. Der Hauptsturmführer trat vor und zeigte dem Torwächter einen Ausweis. Eine Pause entstand, und sie hörten, daß telefoniert wurde. Dann öffneten sich die Doppeltore, und Miller spürte den Lauf einer Maschinenpistole in der Nierengegend. Die Gruppe marschierte hinein, und hinter ihnen fielen die Tore ins Schloß. Sie befanden sich in einem granitgepflasterten Hof, von drei Maschinengewehren gesichert, deren Läufe aus den Brustwehren ragten. Das übliche Bild, dachte Miller. »Keine Fantasie«, sagte er. »Aber sehr praktisch«, entgegnete Andrea, während seine
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Augen den Hof abmaßen. »Und effektiv.« »So sind die Deutschen«, bemerkte Miller. »Was sie tun, erledigen sie gründlich.« Der Gewehrlauf hinter ihm bohrte sich schmerzhaft in seine Niere. »Maul halten!« brüllte der Hauptsturmführer. »Was meint er?« fragte Andrea. »Spreche keine Deutsch«, sagte Miller. Sie mochten sich in den Händen des Feindes befinden und vielleicht das Ziel ihrer Mission nie erreichen, aber bei dem Gedanken, noch etwas in der Hinterhand zu haben, wurde ihnen wieder wärmer. Zwei Tatsachen machten ihnen Hoffnung: Mallory war irgendwo, und er befand sich in Freiheit. Die Tür in der Wand gegenüber wurde geöffnet. Diesmal kein eisenbeschlagenes Eichenholz wie in einer mittelalterlichen Trutzburg, sondern solide Panzerplatten aus dem 20. Jahrhundert, zwölf Zentimeter dicker Nazistahl. Die Tür stand weit offen, und ein Luftzug wehte den Gestank nach feuchtem Gestein und Abwässern zu ihnen herüber. Dann wurden sie von der klaffenden Öffnung verschlungen, und die Stahlplatte schloß sich krachend hinter ihnen. Über Stufen aus Granit stiegen sie in die Tiefe, durch Korridore mit bombensicheren Decken und Verputz, der schimmelig glänzte. Und weiter hinab, eine Wendeltreppe, die dem Eingang zu einer Gruft glich. An ihrem Ende führte ein grell beleuchteter Gang an einer Reihe von Stahltüren entlang. Eine dieser Türen stand offen. »Hier hinein«, befahl der Hauptsturmführer. »Sehen wir uns den Schuppen mal an«, sagte Miller. »Wenn uns die Bettwäsche nicht gefällt, können wir uns immer noch beim Hotelmanager …« Der Soldat hinter Miller schlug ihm den Lauf der Schmeisser gegen das Ohr. Ihm summte der Kopf vor Schmerz. Ein
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Stiefeltritt beförderte ihn durch die Tür. Andrea folgte. Dann fiel die Zellentür krachend ins Schloß, und draußen im Korridor verhallten die Stiefeltritte. Sie standen im grellweißen Licht, von Schmutz und Stille umgeben. Alle Wärme war gewichen. Der Ort lag tief in den steinernen Eingeweiden der Erde, und ihnen war kalt. Am schlimmsten war die Stille. Vielleicht diente der Raum ursprünglich als Lager oder als Burgverließ. Die Decke war gewölbt, und die Wände hatten kein Fenster. Am Boden lagen Granitplatten, deren Lücken mit Zement ausgebessert worden waren. In einer Ecke befand sich ein Bodengitter. Wahrscheinlich die Toilette. Durch den Gitterrost drang ein übler Geruch herein. Das tonnenschwere Mauerwerk und der natürliche Fels über ihnen sorgten für eine undurchdringliche Stille, in der jede Hoffnung auf Entkommen erstarb. Hier gab es keine Geheimgänge, die ins Freie führten. Und irgendeinen Wachposten zu überwältigen, hatte auch keinen Sinn. Sie waren bei lebendigem Leib in einer Gruft begraben. Mallory hätte dieses Loch gehaßt, überlegte Miller. Andrea gähnte. »In der Tat, eine höchst unangenehme Lage«, stellte er fest, bevor er sich einen sauberen Platz am Boden suchte, seinen massigen Körper niederlegte und mit der Anmut eines wilden Tieres, das jeden Gedanken an die Zukunft ablehnte, die Augen schloß. Die Deutschen hatten Miller seine Zigaretten gelassen. Er zog das Päckchen aus der Tasche, fand einen trockenen Stummel und zündete ihn an. Dann wartete er. Die Zeiger seiner Armbanduhr sprangen auf 11.30 Uhr. Um 11.31 Uhr klapperte ein Schlüssel an der Tür, und fünf Männer traten herein.
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Vier von ihnen gehörten zur Waffen-SS. Ihre Uniformen umspannten straff ihre Körper. Der fünfte war ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, der Zivilkleidung trug, einen blauen zweireihigen Anzug mit gestärktem Hemdkragen und dunkelblauer Krawatte. Sein Haar war blond gewellt. Der Mund sah aus wie eine kleine Rosenknospe, und die Augen bildeten zwei blaue Punkte, die wie Schnecken über das Gesicht der Gefangenen krochen. Er wedelte mit einem Taschentuch unter seiner Nase. »Wirklich«, bemerkte er in affektiertem, kaum akzentgefärbtem Englisch. »Sie sollten etwas gegen diesen Geruch unternehmen.« Auf seinem Gesicht erschien ein engelgleiches Lächeln. »Gentlemen«, fuhr er fort, »ich bin Herr Gruber.« Er schnippte mit dem Finger. »Stuhl bitte.« Einer der stämmigen SS-Männer schlurfte durch den Korridor und kehrte mit einem harten Stuhl zurück. Bevor er sich hinsetzte, wischte Herr Gruber mit dem Taschentuch über den Sitz. Andrea und Miller hockten nebeneinander gegen die Wand gelehnt. Miller gähnte, während Andrea es schaffte, Gruber mit einem Blick zu mustern, der feindselig und herablassend zugleich wirkte. Bei ihren Unternehmungen im besetzten Griechenland hatten beide ihre Erfahrungen mit der Gestapo gemacht, und keiner von ihnen verstand, warum sie noch immer am Leben waren. Herr Gruber würde ihnen womöglich die Antwort darauf geben. Miller sagte: »Sie meinen also, daß wir Ihnen helfen können. Zu dumm nur, daß ich so müde bin und …« Gruber gab einem der SS-Männer ein Zeichen. Der Gewehrlauf des Postens sauste herunter und traf das bereits verletzte Ohr von Miller. Der Schmerz, als das Metall den Knorpel gegen den Schädel trieb, war höllisch. Millers Augen begannen zu tränen. Er kämpfte seinen Zorn nieder, mit dem Vorsatz, ihn
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für später aufzusparen. Wenn es ein Später gab. »Nun«, hob Herr Gruber erneut an, »ich nehme an, daß Sie mich und diese Soldaten am liebsten umbringen würden.« Er lächelte wieder wie ein Engel. »Und die SS ist nicht mehr die Organisation, die sie einmal war. Sie könnten es also schaffen. Trotzdem möchte ich Ihnen klarmachen, welche überwältigenden Tatsachen gegen Ihr Vorhaben sprechen. Selbst wenn Sie aus dieser Zelle gelangen, hätten Sie keine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Aber wenn Sie auf mich hören, könnte ich vielleicht etwas für Sie tun.« Gruber beobachtete die beiden Männer eindringlich. Normalerweise schlugen sich seine Gefangenen förmlich darum, als erster ein Geständnis abzulegen, und waren bereit, jeden zu verraten, wenn er ihnen in Aussicht stellte, ihre Haut retten zu können. Nicht dagegen diese beiden. Er betrachtete die ausgemergelten Gesichter unter der wettergegerbten, sonnenbraunen Haut. Es waren alte Männer, sicher über vierzig, tatsächlich wirkten sie noch älter. Gruber mochte kaum glauben, daß sie für die Taten verantwortlich waren, die man ihnen zuschrieb. Sie waren der Belagerung durch ein Regiment von Panzerjägern entkommen, hatten eine Abteilung der SS ermordet und dann sogar das Versteck auf der Felsenhalbinsel entdeckt. Aber sie waren es. Gruber triumphierte innerlich, denn durch ihren Erfolg hatte sich eine gewöhnliche Geheimwaffe in etwas noch viel Bedeutsameres verwandelt. Ohne es zu wollen, hatten sie ihm, wie es so schön hieß, direkt in die Hände gearbeitet. Jetzt aber saßen sie da, als würden sie niemandem einen Gefallen tun, der Große mit dem starren, nichtssagenden Blick in den schwarzen Augen, und dieser dünne Amerikaner, dem das Blut in einem roten Rinnsal vom Ohr in den Kragen seiner
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Uniformjacke lief. »Sie sind hier eingedrungen, um bestimmte Waffen zu zerstören«, sagte Gruber, »was wir natürlich nicht zulassen können. Nicht nur, weil diese Waffen für uns von großem Wert sind, sondern auch wegen der diplomatischen Verwicklungen, die das für unsere Freunde in Madrid bedeuten würde.« Das Lächeln stand immer noch in seinem Gesicht. »Es dauert nicht mehr lange, bis wir diesen Ort wieder verlassen. Sie werden wohl hierbleiben müssen, wenn wir abziehen. Wie es scheint, finden Sie den Aufenthalt recht angenehm. Nach den vielen Anstrengungen haben Sie Erholung verdient. Später wird die Guardia Civil einen anonymen Anruf erhalten, vermute ich, in dem es heißt, einige Soldaten der Alliierten … wären hier eingesperrt. Was natürlich sehr unangenehm für Sie ist. Ich hoffe, Sie sind dann noch am Leben.« Das Lächeln verschwand. Gruber hatte feuchte, glänzende Lippen, und seine Augen blickten eisig. »Allerdings bezweifle ich, daß Sie in einem spanischen Internierungslager lange überleben werden. Dafür sitzt den Spaniern der Finger zu locker am Abzug. Außerdem ist die Verpflegung weder nahrhaft noch ausreichend. Und Sie könnten sich leicht mit Typhus anstecken, der dort sehr verbreitet ist.« Das Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück. »Ich glaube kaum, daß die britische Botschaft nach den Peinlichkeiten, die Sie verursacht haben, allzu sehr darauf erpicht ist, Sie zurückzuholen. Immerhin ist Spanien ein neutrales Land, und man wird Ihr Eindringen als höchst zynische Verletzung dieser Neutralität werten.« Gruber befeuchtete sich die Lippen. Vor ihm erstrahlte eine siegreiche Zukunft mit glänzenden Beförderungsaussichten und überwältigenden Erfolgen. »Gerade jetzt drängen Ihre Diplomaten die spanische Regierung, ihre Wolframexporte nach Deutschland einzustellen und die spanischen Truppen von
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der russischen Front abzuziehen. Ihr Besuch hier könnte alles ändern, denke ich. Scheint mir gar nicht abwegig, daß Deutschland, wenn dieses Abenteuer zu Ende ist … einen neuen Verbündeten gewonnen hat.« Er seufzte. »Einen Wermutstropfen gibt es natürlich. Die politischen Prioritäten verbieten, daß ich Sie auf der Stelle erschießen lasse.« Andrea spie in die Richtung des Bodengitters aus. Der Gestapomann schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Sparen Sie sich Ihren Speichel. Sie werden ihn noch brauchen«, sagte er. »Und jetzt zum nächsten Punkt. Wo ist Ihr Kamerad?« »Kamerad?« wiederholte Andrea fragend. Miller blickte zu ihm herüber. In der Haltung des Amerikaners erkannte der Gestapomann die Verbitterung der Niederlage, denn Miller sagte zu Andrea: »Was versuchst du zu beweisen?« »Wir sind nur zu zweit«, sagte Andrea. Miller schien von einem lästigen Zucken in seiner rechten Wange befallen worden zu sein, und er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Gestapomann bemerkte die Anzeichen von Furcht. Angst war ein Gefühl, das er mit seinem geübten Blick sofort erkannte. Miller sagte: »Es hat keinen Sinn.« Er wandte sich an Gruber. »Hören Sie«, begann er. »Er ist …« In Andrea kam Bewegung. Unvermittelt, aber mit der schwerfälligen Behäbigkeit eines Bären, kroch er über den schmutzigen Boden, packte Miller am Hals und riß seinen Kopf von der Wand. Gruber wußte, daß der massige Mann im nächsten Moment dem Dünnen den Schädel zertrümmern würde. Der Anblick, wie ihm das Hirn herausspritzte, wäre ein Genuß gewesen. Aber soweit durfte es nicht kommen. Gruber gab den Wachen ein Zeichen. Je ein Soldat packte Andrea am Arm und zog ihn von Miller weg. Es war nicht so
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schwierig, wie der Gestapomann befürchtet hatte. Der bullige Kerl mochte dick sein, aber er besaß keine Kraft. So waren diese Südländer. Heißblütig, aber ohne Muskeln. Miller rieb sich den Hals. »He!« jammerte er. »Kein Grund, einen armen Kameraden zusammenzuschlagen …« »Verräter!« zischte Andrea. »Elender Feigling!« »Ruhe«, befahl Gruber. Der Grieche gehorchte. Dann sprach der Amerikaner. »Der dritte Mann. Er ist tot.« »Ach wirklich?« höhnte der Gestapomann. »Können Sie nichts Besseres erfinden?« »Das ist die Wahrheit.« Die feuchten blauen Augen blickten so ungerührt wie die Scheinwerfer eines zerschossenen Panzers. »Wie kam das?« »Er ist an der Klippe abgestürzt.« »Was hatte er an der Klippe zu suchen?« »Er wollte sich verstecken.« Ruhig Blut, dachte Miller. Die Stella Maris lag im Hafen. Kein Grund, das Schiff ins Spiel zu bringen. »Er hat uns vom Festland herübergeführt. Als er das Kletterseil befestigte, stürzte er in die Tiefe, der arme Hund. Hat sich am eigenen Seil erhängt. Sehen Sie unten an der Klippe nach. Dort werden Sie die Leiche finden. Anschließend wurden wir festgenommen.« Der Gestapomann betastete sein Kinn. Sicher war es möglich, von diesen Klippen zu stürzen. Er sagte: »Keine sehr gute Idee von Ihnen, über die Klippen zu kommen. Das verursacht viel Lärm. Natürlich mußten Sie entdeckt werden.« Miller ließ den Kopf hängen. Das entsprach nicht dem, was er vom Hauptsturmführer gehört hatte. Denn dieser hatte gesagt, sie seien bereits erwartet worden, und Miller war geneigt, ihm zu glauben. »Das war Pech.« »Sieht ganz danach aus«, entgegnete Gruber und stand auf. »Nun gut. Ich kann nicht behaupten, daß es mir ein Vergnügen war, Sie kennenzulernen.« Er schnippte mit den Fingern.
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»Stuhl weg.« Einer seiner SS-Leute trug den Stuhl aus der Zelle. Gruber trat zu Andrea, der gegen die Wand gelehnt stand. »Auf Wiedersehen, Grieche«, sagte er. Der Rohrstock in seiner Hand hob sich wie eine Schlange, die sich aufbäumte und traf Andrea über dem Auge. Die Muskeln an der äußeren Kinnpartie des Griechen spannten sich. Vor Vorfreude lächelnd zeigte er seine blendend weißen Zähne, während von den schweren schwarzen Augenbrauen das Blut herabrann. »Dafür«, sagte er, »werden Sie sterben.« Gruber setzte ein überlegenes Lächeln auf und schritt aus der Zelle. Die Tür schlug zu, und das Schloß rastete ein. Dann ging das Licht aus, und sie befanden sich im Dunkeln. Miller sagte: »Andrea?« »Miller.« Die Stimme klang gedämpft. »Siehst du was?« »Ja.« »Dann siehst du mehr als ich«, entgegnete Miller. Ein seltsames Geräusch hallte durch das Zellengewölbe. Sie mochten im Dunkeln eingeschlossen sein, das Scheitern ihrer Mission, die Vernichtung der Invasionsflotte und eine diplomatische Katastrophe vor Augen. Aber irgendwo da draußen war Mallory. Miller lachte. Für Mallory war es eine Art Befreiung gewesen, allein auf der Klippe zu sein. Nach den vielen Tagen und Wochen mit wenig Schlaf und nur gelegentlicher Nahrungsaufnahme wirkten der Fels, an dem er mit Händen und Füßen klebte, und das Gefühl von Freiheit angesichts des weiten, senkrechten Raums unter ihm wie ein Lebenselixier. Er traute den anderen beiden zu, die landwärts gelegene Seite der Festung und die Lage der U-Boot-
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Bunker zu erkunden. Aber auf der Seeseite verließ er sich nur auf sich selbst. Es gab einige Dinge, die mußte er persönlich in Augenschein nehmen. Mallory war ein Teamspieler, aber Andrea wog zu viel, und Miller litt an Höhenangst. Manchmal mußte er im Alleingang klettern. Der Mond glitt hinter eine Wolke. In der Dunkelheit bewegte Mallory sich rasch seitwärts über die Felswand. Er hatte dreißig Meter zurückgelegt, als er den Aufruhr oben bemerkte. Eine Glocke schrillte, Stimmen riefen, Stiefel klapperten auf Granit, dann der weitentfernte Doppelschritt von Kampfstiefeln und Andreas brüllende Stimme: »Marsch!« Das Stiefelgeräusch verstummte. Danach hörte Mallory nichts mehr. Aber er brauchte keine Ohren, um zu begreifen, daß es Schwierigkeiten gab. Gespannt lauschte er auf die beginnende Schießerei. Sie fand nicht statt. Für einen Augenblick verharrte er in der Klippenwand und wartete, daß das auf den Fels fallende Mondlicht verschwand. Die Wolke kehrte zurück. Von der Brüstung aus war er diagonal nach oben weitergeklettert. Aber der Himmel über dem vorspringenden Halbrund glänzte im gleißenden grauweißen Flutlicht der Garnison. Daher hielt Mallory sich tiefer, in Richtung Meer, während er sich mit dem leicht bröselnden Fels vertraut machte und darauf achtete, daß der Überhang einer ausladenden Felskante ihn vor neugierigen Blicken von der Brüstung herunter verbarg. Bald erlosch das Flutlicht wieder, und das Cabo de la Calavera erhob sich erneut als dunkler, drohender Koloß in den Nachthimmel. Was auch geschehen war, es ließ sich nicht mehr ändern. Mallory holte tief Atem. Er wußte, daß niemand an der verabredeten Stelle bei den Generatorenschuppen auf ihn warten würde. Er war auf sich allein gestellt. Nur die Ruhe bewahren.
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Es war Zeitverschwendung, sich wegen Miller und Andrea Sorgen zu machen. Mallory mußte seine Gedanken auf die Operation konzentrieren. Eine einzelne Person mußte anders vorgehen als drei Mann. Für weitere Erkundungen blieb jetzt keine Zeit mehr. Er mußte in das Cabo eindringen, und das ging nur, wenn er einen Schwachpunkt entdeckte. Da fiel ihm eine Möglichkeit ein. Er begann wieder aufwärts zu klettern. Der spanische Grande, der die fortaleza aus Haß auf die Spitze des Cabo de la Calavera gebaut hatte, hatte den Standort gut gewählt. Die Klippen ragten schroff aus dem Meer empor, einige so schroff, daß sie überhaupt keinen Halt boten. Mallory konzentrierte sich auf die Wand. Hier oben war das Gestein weniger porös, so daß Gras und Strandnelken sich nicht ansiedeln konnten. Es gab nur kleine Spalten und Ritzen, in denen sich nicht einmal eine Fliege niedergelassen hätte, die noch einen Funken Verstand besaß. Aber Mallory war verzweifelt. Also bestieg er die Wand, sich langsam und zielstrebig aus der Hüfte bewegend, elegant und beinahe ohne Anstrengung. In stetem Gleichmaß arbeitete er sich immer höher und nach Westen voran, direkt auf die dicken Mauern der fortaleza zu. Die Wolken verdichteten sich wieder, und der Mond war verschwunden. Die Dunkelheit kam Mallory entgegen, auch wenn er jetzt nach Gefühl klettern mußte. Tief unter sich hörte er das dumpfe Grollen des Meeres, während der von hinten kommende Wind in seinen Rücken drückte. Nach vielleicht einer Stunde trieb die Brise den Gestank von Abwässern zu ihm herüber. Als Mallory das nächstemal nach oben blickte, sah er, daß sich das Aussehen der Klippe über ihm verändert hatte. Sie bestand nicht länger aus natürlichem Granit, sondern war zur Außenwand der Festung geworden. Er hielt inne und machte eine kleine Pause auf dem glatten
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Fels zwischen Himmel und Meer. Die Klippen stellten für ihn keine Schwierigkeit dar, und mit den Steinwänden wurde er ebenfalls fertig. Es war der Übergang zwischen dem lebendigen Fels und den behauenen Fundamenten der Festungsmauer, der ihm Probleme bereiten würde. Dort, wo die Mauer und der Felsen sich verbanden, verlief eine breite, schwarze Linie über die dunkle Wand. Die Außenseite der Festung ragte auf vorspringenden Trägern über den Fels hinaus. Mallory versuchte sich an die richtige Bezeichnung zu erinnern. ›Erker‹ oder ›Pechnasen‹? Egal, wie die Dinger hießen, die Schwierigkeit blieb die gleiche. Dort oben galt es einen riesigen Mauervorsprung zu meistern, und Mallory mußte es allein schaffen, ohne Seil und mit nur vier Kletterhaken. Normalerweise hätte er nach einer anderen Route Ausschau gehalten, um den Vorsprung zu umgehen. Aber hier gab es keine Ausweichmöglichkeit. Plötzlich fühlte er sich entsetzlich müde. Für einen Augenblick blieb er reglos in der Wand hängen, den Gestank nach Abwässern stechend in der Nase. Als er den nächsten Griff vorbereitete, landete seine Hand in fauligem Schlamm. Dieser Dreck mußte irgendwo herkommen. Im nächsten Moment war Mallorys Mattigkeit wie weggewischt. Gott segne die Spanier für diese Sanitäranlagen, dachte er. Er dankte dem Allmächtigen, daß die Araber mit ihrer Zivilisation auch ihre neuartigen Abwassersysteme ins mittelalterliche Europa gebracht hatten. Mit ein bißchen Glück würden sie Mallory noch oben auf die Zinnen der Fortaleza de la Calavera führen. Er begann wieder zu klettern und hielt sich etwas weiter links, weg von den Abwässern. Innerhalb von zwei Minuten befand er sich unterhalb der Erker. Von hier aus konnte er den Mauervorsprung in seinen
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Einzelheiten erkennen. Er sah aus wie eine umgekehrte Treppe mit sieben Stufen, jeweils dreißig Zentimeter hoch und mit einer Neigung von fünfundvierzig Grad nach außen gekippt. Ohne Seil nicht zu ersteigen. Aber rechts von Mallory, drei Meter entfernt, verlief eine dunkle, senkrechte Linie und teilte die Stufen. Sie war etwa sechzig Zentimeter breit. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, daß es sich nicht um eine einfache Linie, sondern um eine Rinne handelte, die von den Erbauern der fortaleza zur Entsorgung der körperlichen Abfälle der Bewohner angelegt worden war. Ein Kletterer wie Mallory sah in dem Abwasserkanal einen praktischen Kamin, der es ihm ermöglichte, einen ansonsten unbezwingbaren Überhang zu ersteigen. Alle Müdigkeit war von ihm gewichen. Er hatte einen Weg gefunden. Angesichts einer möglichen Kletterroute konnte er unmöglich müde sein. Auf einen beinahe unsichtbaren Felsvorsprung gekauert, überprüfte er seine Haken. Er zog Stiefel und Socken aus, um die nackten Füße wieder in die Stiefel zu stecken, bevor er die Socken darüberstreifte. Dann wandte er sich mit dem Gesicht zur Wand und begann auf den Kamin zuzukriechen. Am durchdringenden Geruch nach Urin und Ammoniak erkannte er, daß er sich direkt unter dem Schacht befand. Er hob den Kopf und blickte mit tranenden Augen hinauf. Die Einkerbung in den Auskragungen reichte bis zu den letzten zwei Stufen. Wenn er diese beiden Stufen erreichte, konnte er mit einer Hand das Mauerwerk der senkrechten Wand ergreifen und eine Stelle für einen Haken suchen. Kanalisation hin oder her, ihm stand ein entsetzlich schwieriges Unternehmen bevor. Aber dieser Gedanke hielt Mallory nicht auf. Er stand vor einer Herausforderung seines bergsteigerischen Könnens, und Probleme waren da, um gelöst zu werden.
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In die Tasche seiner Uniform greifend, suchte er nach den Kletterhaken und dem lederumwickelten Bleischlegel, der ihm als Hammer diente. Dann begann er seinen Weg durch das stinkende Innere der Kanalisation. Wie er bereits vermutet hatte, handelte es sich bei dem Schacht um einen Kamin, der aus dem Fels herausgeschlagen worden war. Zuerst kletterte er über glitschigen Naturfels. Dann ging der Fels in behauenen Stein über, und Mallory lehnte sich mit den Schultern an die eine Seite, während er die Füße an die andere stemmte, bevor er sich weiter nach oben schob. Die Socken über den Stiefeln verschafften ihm einen gewissen Halt auf dem rutschigen Untergrund der behauenen Steinblöcke. Ein leichter Kletterkamin, wenn man vom Gestank einmal absah. Der Weg führte Mallory jetzt nach außen, und er folgte den hervortretenden Stufen. Am Anfang hatte das glatte Felsgestein der Klippe auf ihn abschreckend gewirkt, doch mit jeder Minute, die er weiterkletterte, begann er sich wohler zu fühlen. Er war ganz in seinem Element. Solange er nicht an das schwarze Loch über sich dachte, und an das, was ihm von dort auf den Kopf fallen konnte. Die Schulter anpressen. Die Füße fest an die gegenüberliegende Kaminseite drücken, damit die Socken auf dem Schmierfilm Halt finden und die Spikes unter den Sohlen sich in den harten Fels bohren. Und noch einmal, und ein weiteres Mal … Mallorys Helm prallte gegen Stein. Der Kamin war zu Ende. Er befand sich, flach atmend, mit Schultern und Fußen im Schacht verkeilt. Siebzig Meter unter ihm umkrauselten weiße Schaumzungen die schroffen Felsen im Meer und schwappten gegen den Fuß der Klippe. Mallory suchte in seiner Tasche nach einem Haken. Vor dem Krieg hätte er nicht daran gedacht, Kletterhaken zu verwenden.
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Kletterhaken waren etwas für die Deutschen, wenn sie die Eigernordwand bezwingen wollten oder den Kanchenjunga angingen, alles zum höheren Ruhm des Deutschen Reichs. Einmal war Mallory die Große Wand des Mount Cook hinaufgestiegen, um die Haken wieder zu entfernen, die eine deutsche Expedition zurückgelassen hatte. Aber in Zermatt war er Schenck begegnet, einem amerikanischen Schmied und Kletterer, der auf der Ladefläche seines Lastwagens eine Schmiede betrieb. Schenck hatte den Krieg kommen sehen und geahnt, welche Aufgaben man an Mallory herantragen könnte. Er zwang Mallory ein halbes Dutzend seiner Spezialhaken auf. Zwölf Zentimeter dicke Stahlschäfte aus den hinteren Stoßdämpfern eines Ford A, in die ein Loch getrieben war, um die Seilschlinge durchzuführen. Mallory äußerte Bedenken, doch Schenck erklärte, was auch immer er über die Verwendung von Felshaken bei der Bergbesteigung denken möge – als Waffe gegen die Deutschen seien sie ein legitimes Mittel. Gottes Segen über dich, Schenck, wo immer du gerade sein magst, dachte Mallory, während er in dem stinkenden Kamin saß. Er wickelte einen Haken mit der Seilschlinge um sein Handgelenk. Dann griff er nach oben, über die letzten beiden Stufen des Vorsprungs, und strich mit der Hakenspitze über das Gestein, bis er Reibungswiderstand spürte, der auf eine Mörtelfuge schließen ließ. Vorsichtig, mit einer Hand arbeitend, begann er, den Haken in die Spalte zu treiben. Er hämmerte langsam, mit unendlicher Vorsicht, um Lärm zu vermeiden, aber vor allem, weil er nur vier dieser zwölf Zentimeter dicken Haken besaß, der Rest des ursprünglichen halben Dutzends. Von diesen vier Haken hing viel ab. Sein Leben, das von Andrea und Miller und der Soldaten der Invasionsflotte. Mallory hämmerte volle zwei Minuten, bis er sicher war, daß
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der Haken hielt. Dann trieb er in Augenhöhe, an der Innenseite des Kamins, den nächsten Haken in das Gestein. Dieser ließ sich leichter einschlagen. Mallory mußte nicht mit ausgestrecktem Arm arbeiten, und in der Abflußrinne war der Mörtel weicher als an der Außenseite der Wand. Das im Regenwasser gelöste Kohlendioxid und die Urinsäure hatten das Mauerwerk über Hunderte von Jahren porös werden lassen. Als der Haken steckte, zog Mallory vorsichtig daran, um zu überprüfen, ob er hielt. Dann griff er nach oben und ertastete die Seilschlinge, die durch die Öse des ersten Hakens lief, schob die Hand hindurch und belastete den Sicherungshaken, ohne seinen Halt an den Kaminwänden aufzugeben. Der Haken hielt. Mallory holte tief Atem. Dann griff er die Seilschlinge und pendelte sich mit seinem Gewicht über dem Abgrund aus. Einen Augenblick lang baumelte er frei, wie eine Spinne an einem Dachgesims, eine winzige Kreatur aus Fleisch und Blut, die an einem Metallhaken und einem kaum zentimeterdicken Seil siebzig Meter über dem Meer hing, dessen weiße Brandung im trägen Rhythmus der auslaufenden Brecher die dunklen, spitzen Felsen umspülte. Dann zog er sein linkes Bein nach und suchte den vorhin in die Mauer getriebenen Haken. Er setzte den Fuß auf den Metallschaft, als würde er mit seinem ganzen Gewicht ein Fahrradpedal belasten, und streckte das Bein, bis er stand, das Bein schräg unter dem Überhang, den Oberkörper parallel zur gemauerten Wand, die nach oben in den schwarzen Himmel führte. Mit der linken Hand griff er in die Tasche und zog einen weiteren Haken hervor. Er hielt ihn über den ersten und machte wieder die tastenden Bewegungen, als führte er einen Bleistift über das Mauerwerk, bis er die richtige Stelle fand. Dort klemmte er den Haken fest, bis er hielt, setzte den Hammer darauf und begann zu schlagen. Die gestrafften Muskeln an seinem rechten Arm und im linken
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Bein rebellierten wütend gegen die Überanstrengung, als wollten sie Mallory im nächsten Moment durch einen schmerzhaften Krampf außer Gefecht setzen. Er zwang sich, nicht auf das qualvolle Ziehen zu achten, und befahl sich, den Haken vorsichtig einzuschlagen und sich ausreichend Zeit zu lassen … Unter der Sohle seines linken Stiefels spürte er eine beinahe unmerkliche Bewegung. Und plötzlich fiel er, eine Armeslänge tief, bis ihn die Schlinge unter dem Krachen der Bänder in der Achselhöhle auffing und er erneut an der Gesimskante baumelte, bedroht von den spitzen Felsen in der Tiefe. Der Haken unter seinem Fuß war herausgefallen. Beim Fallen neigten die Hände dazu, sich reflexartig zu öffnen, so daß die Finger wie Federn geformt waren. Arme und Beine breiteten sich aus in dem Versuch, aus der trägen Körpermasse ein gleitfähiges Objekt zu machen, um der Gefahr mit Flügeln entfliehen zu können. Mallory kannte diese Reflexe. Er wußte, daß die einzige Richtung, in die der menschliche Körper fliegen konnte, senkrecht nach unten führte. Sogar als er jetzt frei baumelte, hielt er mit der linken Hand den Hammer umklammert. Nach einer Zeit, die ihm wie zehn Stunden vorkam, aber kaum zehn Sekunden dauerte, hörte das Schwingen auf. Mallory hing ruhig über dem Abgrund. Ausruhen, verlangte sein Körper. Aber Mallory wußte, daß seine Kräfte rasch schwinden und das Blut aus seinem Arm fließen würde, wenn er in dieser Position verharrte. Die Muskeln des rechten Arms brauchten so viel Blut, wie sie bekommen konnten. Selbst wenn durch die Bewegung, die dazu nötig war, der Haken oben in der Wand herausbräche und Mallory durch den riesigen, freien Raum nach unten auf die Felsen fiele. Verdammt, du kannst hier nicht hängen bleiben. Wäre besser,
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du würdest etwas unternehmen. Vorsichtig steckte Mallory den Hammer in die Tasche. Dann hob er den linken Arm und griff neben die rechte Hand, bevor er sich wie ein Turner am Barren hochzog. Seine Armmuskeln schienen zu reißen, und Mallory entblößte vor Anstrengung die Zähne. In seinem Schädel pochte das Blut. Dann sah er die Kletterhaken und die ersehnten Felsblöcke in Augenhöhe vor sich. Er hielt sich mit der rechten Hand fest, zog ein Stück Jackenstoff über den hervortretenden Hakenschaft und senkte sich ab, bis er, durch deutsches Uniformtuch gesichert, festhing. Mit äußerster Vorsicht holte er den letzten Felshaken und den Hammer aus der Tasche, hob die Arme über den Kopf und begann zu klopfen. Zwei Minuten später war er oben, ergriff mit der linken Hand den nächsten Haken, den rechten Stiefel auf den Tritt darunter gestellt, schlug mit der Rechten einen weiteren Haken ein. Der Mauervorsprung befand sich jetzt gute sechzig Zentimeter tiefer. Er sah nicht mehr hin und hatte ihn schon vergessen. Über Mallory ragte die Festungsmauer auf, fünfundzwanzig Meter glattes Mauerwerk bis zur oberen Turmkante. Unbeirrt schlug er seine Haken ein. Pausen gaben den Nerven Zeit zum Reagieren. Das löste Zittern aus, was nicht ratsam war, wenn man auf zwei kleinen Stahlschäften stand, für die es keinen Ersatz gab. Also kletterte Mallory weiter, immer höher hinauf. Seine Bewegungen wurden zu einem festen Rhythmus. Haken einschlagen. Auf festen Sitz überprüfen. Mit der anderen Hand nachgreifen. Fuß hinterher. Den unteren Haken lösen, um ihn ein Stück weiter oben erneut einzuschlagen … Und weiterklettern. Für einen Beobachter hätte es ausgesehen, als glitte Mallory
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mühelos die Wand hinauf, gegen alle Gesetze der Schwerkraft. Aber natürlich beobachtete ihn niemand. Das Murmeln der See wurde immer leiser. Links und rechts kam er an kleinen, in dicke Maueröffnungen eingelassenen Fenstern vorbei. Er achtete nicht darauf. Er hörte seinen Atem in der Kehle und das Blut in den Ohren, vermischt mit dem Rauschen der See tief unten. Haken einschlagen. Sitz überprüfen. Es hatte zu regnen angefangen. Ein dünnes, stetiges Nieseln, das die Feuchtigkeit von Westen über den Atlantik gegen seinen Rücken trieb. Das Wetter kam ihm gelegen. Er hatte den Aufstieg über diesen runden, steinernen Koloß gewählt, weil er vermutete, daß ein Posten, der hundert Meter über dem Meer auf einem Turm Wache stand, bestenfalls halbherzig bei der Sache war. Und dieser alles durchdringende Regen würde die Halbherzigkeit in Pflichtvergessenheit umschlagen lassen. Nachgreifen mit der anderen Hand. Fuß hinterherziehen. Mallory hatte eine Idee, deren Erfolg davon abhing, wie sehr der Wachposten sich zur Nachlässigkeit hinreißen ließ. Hier oben war die fortaleza nicht länger eine unbestimmte Felswand, die sich im dunklen Nachthimmel verlor, sondern eine deutlich erkennbare, halbrunde Mauer aus behauenem Stein. Mallory hatte beinahe den oberen Rand erreicht. Wie eine Fliege an der Wand klebend, machte er eine Pause. Der Wind fegte um seine Ohren, und der Regen verlieh dem Gestein einen dumpfen, muffigen Geruch. Durch die herunterprasselnden Regentropfen hörte Mallory ein anderes Geräusch. Das Trampeln von Stiefelsohlen. Er wartete. Die Schritte gingen hin und her, während der Regen sich zunächst abschwächte, um dann um so stärker wieder einzusetzen. Eine Stimme über ihm sagte: »Scheiße.« Die Stiefelschritte entfernten sich. Dann folgte das metallische Schiebegeräusch eines Riegels und das Quietschen schwerer
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Türangeln. Der Posten suchte Zuflucht vor dem Regen. Mallory begann wieder zu klettern. Er war jetzt in Eile, ohne den gleichmäßigen Rhythmus seiner Bewegungen aufzugeben. Der Regen fiel noch heftiger und wurde mit voller Wucht durch den Wind herangepeitscht. Nach dem sechsten Hakenwechsel stellte Mallory fest, daß er zur Turmbrüstung greifen konnte. Dann stand er oben. Er hatte die steinerne Plattform im Inneren der Festung erreicht, die Socken noch immer über die Stiefel gezogen, und versuchte vorsichtig seine steifen Finger zu bewegen. Das Dach sah aus wie ein flacher Deckel, bis auf das Türmchen, in dessen Mauer eine Tür zur Treppe führte. Die Öffnung wies zum Festland, weg von der vorherrschenden Windrichtung. Auf dem Türmchen saßen Schornsteine, aus denen Rauch aufstieg. Daneben ragten Antennen in den Himmel. Er zählte vier, drei Stabantennen und einen großen Kurzwellenrichtstrahler. Daneben ein Flaggenmast. An der Mastspitze schwankte etwas im Wind, das keine Fahne war, sondern eine zerfetzte Gestalt, die vage an die Form eines Menschen erinnerte. Bei ihrem Anblick spürte Mallory Übelkeit in sich aufsteigen. Das mußte Juanito sein, der Schmuggler, oder besser gesagt, das, was die Möwen und die Witterung von ihm übriggelassen hatten. Mallory war steif von der einstündigen, gefährlichen Klettertour die Steilwand hinauf. Nun spürte er heißen Zorn in sich aufkochen, gegen einen wahnsinnigen Feind, der die Welt ins Mittelalter zurückstoßen wollte. Seine mit den Wollsocken gepolsterten Stiefel machten dumpfe Geräusche auf dem Steinboden, als er über das Festungsdach ging und sich an die Wand des Türmchens drückte. Innen konnte er einen Mann husten hören, und durch das Schlüsselloch drang Zigarettenrauch nach draußen. Der Wachposten war allein.
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Mit der Geduld eines Raubtiers wartete Mallory, bis der Regen nachließ. Die Tür ging auf. Der Posten erfuhr nie, was ihn getroffen hatte. Er spürte einen plötzlichen, stechenden Schmerz in der linken Brustseite. Danach nahm er nichts mehr wahr. Vorsichtig wischte Mallory die Messerschneide am Uniformrock des Toten ab. Er löste die Schmeisser-MP vom Oberkörper des Soldaten und nahm zwei zusätzliche Magazine aus dessen Patronengürtel. Als er die Taschen des Postens durchsuchte, fand er das Soldbuch. Dann zog er die Leiche über das nasse Dach zur Mauerbrüstung, über die er gekommen war, und beförderte den toten Körper in die Tiefe. Er fiel geräuschlos, so wie Mallory gestürzt wäre, wenn er es nicht geschafft hätte. Mallory blieb nicht stehen, um hinterherzublicken. Er zog die zerrissenen Socken von den Stiefeln. Der Regen hatte einen Teil der Fäkalien aus dem Abwasserschacht von seiner Uniformjacke gewaschen. Die Schultern straffend, überprüfte er die Maschinenpistole. Dann ging er durch die Tür, schloß sie leise hinter sich und schritt die Wendeltreppe im Turminnern nach unten. Er roch Zigarettenrauch, altes Gemäuer und den Schmutz an seiner Uniform. Nach vierzehn Stufen erreichte er einen gotischen Bogendurchgang und eine eisenbeschlagene Tür. Auf einem Pappschild stand in Frakturschrift WACHSTUBE. Gott segne die gewissenhaften Deutschen, dachte Mallory mit neu aufkeimender Hoffnung. Möglich, daß jetzt die Rettung für alle nahte. Unterhalb der Wachstube sah er eine weitere Tür, durch die das Klappern eines Morseapparats zu hören war. Der Funkraum. Von unten drangen neue Geräusche herauf, geschäftiges Telefonklingeln, Stimmengewirr, scharrende Füße
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und gebrüllte Befehle. Es war das aufgeregte Hin und Her eines menschlichen Ameisenhaufens. Wenn die U-Boote heute mittag auslaufen sollten, bedeuteten diese Geräusche die letzten Vorbereitungen. Die Reparaturarbeiten waren beendet, und nun mußte der Abzug aus der Festung organisiert werden. Mallory erlaubte sich ein kleines, grimmiges Lächeln. Mit etwas Überlegung ließ sich diese Geschäftigkeit in Verwirrung verwandeln, die sie für ihre Zwecke ausnutzen konnten. Er nahm die letzte Rundung der Treppe. Vor ihm erstreckte sich ein Korridor mit einer Türflucht an einer Seite. Auf der anderen Seite ließen Fenster auf einen im Dunkeln liegenden Hof schließen. Gelbe Birnen erhellten den Gang nur schwach. Mallory durchschritt den Korridor mit dem gemessenen Schritt eines Wachpostens und näherte sich dem Steingeländer einer Treppe am anderen Ende. Unterwegs verwiesen Pappschilder auf ein Marinebüro, ein Werftbüro und Lagerräume. Hinter den Türen beugten sich Männer über Tische mit riesigen Papierstapeln, rauchten, telefonierten und kritzelten im runden Lichtschein ihrer Schreibtischlampen Notizen auf Zettel. Ein perfekt funktionierendes Räderwerk deutscher Gründlichkeit, kurz vor dem letzten Akt. Zwei Soldaten, blasse Schreibstubengesichter, kamen an ihm vorbei. Einer von ihnen rümpfte die Nase und sagte: »Was für ein Gestank.« Mallory verzog keine Miene. Die Schreiber eilten davon. Langsam und gleichmäßig ging Mallory weiter, zur Treppe am anderen Ende des Korridors. Hinter seinen wohlbemessenen Schritten verbarg er seine Unsicherheit. Er hatte keine Ahnung, wo in der Festung er sich aufhielt oder wie er finden sollte, wonach er suchte. Er brauchte einen Hinweis, irgendeinen Fingerzeig. Müde und ausgelaugt durch die Kommandozentrale des Feindes zu spazieren, würde ihn kaum weiterbringen. Mallory erreichte den oberen Treppenabsatz am Ende des
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Gangs. Ein Kapitän der Kriegsmarine kam die Stufen herauf. Mallory wartete, mit zusammengeschlagenen Hacken und den rechten Arm zum Gruß gestreckt. »Heil Hitler«, sagte er. Der Kapitän der Kriegsmarine berührte lässig mit der Hand seinen Mützenschirm und blickte, statt in Mallorys Richtung, stirnrunzelnd zur Wand. Für einen deutschen Soldaten bedeutete die Uniform mehr als der Mensch, der darin steckte. Außerdem stank er entsetzlich. Im stillen dankte Mallory für den Abwasserschacht, über den er Zugang in die fortaleza gefunden hatte und dessen Gestank die Besatzung auf Abstand hielt. Er begann die Treppe hinunterzusteigen. Dann wurde ihm gnädig der ersehnte hilfreiche Fingerzeig gewährt. Zu dem Gemisch aus Schweißgeruch, Rauch und Abwassergestank war etwas Neues getreten. Es war ein Geruch, der Mallory für Sekundenbruchteile drei Jahre zurück, nach Kairo, versetzte. Er dachte wieder an das Plätschern von Brunnen in Marmorinnenhöfen, das Gemurmel der Stabsoffiziere in Bügelfaltenhosen und die diskreten Händedrücke, mit denen unbegrenzt Drinks im Shepherd’s Hotel erkauft wurden, während die Fronttruppen unter dem sengenden Wüstenhimmel, bei Hitze und von Fliegen gequält, sterben mußten. Es war der Geruch nach teurem türkischem Tabak. Der Duft stieg die Treppe herauf als kaum merkliches, würziges Aroma in dem kalten, feuchten Luftzug. Mallory folgte seiner Nase wie ein Spürhund. Er ging die Treppe mit dem Steingeländer hinunter und gelangte in einen Korridor, der mit dem oberen identisch war, bis auf die Tür, die ihn auf halbem Weg unterteilte. Diesmal handelte es sich nicht um eine Eisentür. Die bestand aus schwarzer Eiche mit fein ziselierter Metallarbeit an den Angeln. Die verschlungenen Bandverzierungen stellten Olivenzweige dar. Es war eine elegante Tür, die das Auge
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erfreute und den Krieg vergessen ließ. Nach der Lage des Korridors zu urteilen, mußten die Räume hinter der Tür nach Süden weisen, zum Hafen hin. Früher einmal hatte hier wahrscheinlich der Festungskommandant residiert. Der Duft nach türkischem Tabak wurde stärker. Hier befanden sich noch immer die Räume des Festungskommandanten. Gerade, als Mallory zur Tür trat, wurde diese geöffnet, und ein Obersturmführer in der schwarzen Uniform der TotenkopfSS verließ eilends den Raum. Er warf Mallory einen desinteressierten Blick zu, bevor er die Tür wieder schloß und sich gemessenen Schrittes entfernte. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, während in seinem Gesicht ein Ausdruck düsterer Eile stand. Eine merkwürdig heisere Stimme bellte hinter ihm her: »Innerhalb einer Stunde!« Es klang, als wäre etwas mit der Kehle des Sprechers nicht in Ordnung. »Jawohl, Herr General!« murmelte der Adjutant und verschwand die Treppe herunter. Mallory stieß die Tür auf. Der Duft von türkischen Zigaretten quoll ihm entgegen. Vor ihm erstreckte sich ein langer Raum, der an einem gotischen Fenster endete, das die dunkle Nacht einrahmte. Auf dem Steinboden lagen marokkanische Teppiche. Der Raum war warm, und nichts hier drin erinnerte an den modrigen Geruch nach feuchtem Stein. Das Licht kam von einem vergoldeten Kandelaber an der Decke. Gemälde von spanischen Heiligen schmückten die Wände. Es waren männliche Heilige, bis zur Taille nackt und mit den Merkmalen der Folter bedeckt. Weiter interessierte Mallory die Inneneinrichtung nicht. An jeder Seite des riesigen Raums gab es zwei Türen, drei davon waren geschlossen. Kaum vorstellbar, daß sich dahinter etwas Vulgäres oder Geschmackloses wie ein Wachposten befinden könnte. Die vierte Tür stand auf.
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Mit seinen vierzehn Metern Seitenmaß war der Raum beinahe ein Saal. Mallory sah ein Sofa, zwei Polstersessel und einen Kaffeetisch. Über dem riesigen Kamin hingen die geschmückten Waffen eines spanischen Herzogs. Am hinteren Ende des Raums war ein Sonnenfenster mit gotischen Bögen in die Wand eingelassen. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit zwei Telefonen, einer grünen Schreibtischgarnitur aus Onyx, einer Tischglocke und einem Aschenbecher, aus dem der Rauch einer türkischen Zigarette senkrecht in die ruhige, warme Luft stieg. Hinter dem Tisch saß ein Mann mit einem runden Kopf. Oben hatte er eine Glatze, und an den Rändern war das graublonde Haar kurz geschnitten. Keine Wachen. War das möglich? Natürlich, wenn niemand in die Festung eindringen konnte, bedurfte es auch keiner Wachposten. Das war logisch. Mallory betrat den Raum und schloß die Tür. Der Mann am Schreibtisch blickte nicht einmal auf. Die Zimmerbeleuchtung ließ die silbernen Rangabzeichen eines SS-Generals aufschimmern, die Doppelblitzrune am Kragen seiner Uniformjacke, dazu den silbernen Schädel mit den gekreuzten Knochen unter dem Adler der riesigen Generalsmütze, die auf dem Schreibtisch lag. Die schlanken Finger des Generals griffen nach der Zigarette. Mit seinen wulstigen Lippen sog er daran und stieß anschließend den Rauch aus. Dann hoben sich seine Augen, und er begegnete Mallorys Blick. Die hoch über den Wangen in seinem fleischlosen Gesicht mit einem geteilten Kinn liegenden Augen hatten die Farbe von Wasser. Am Hals bewegte sich der Adamsapfel. Etwas damit stimmte nicht. An der linken Seite befand sich eine Einkerbung, eine Delle, die so dick und so tief wie ein Finger war. Wahrscheinlich eine alte Kriegsverletzung. Muskelbänder bewegten sich in den eingefallenen Gesichtspartien, wo die Wangen sein sollten.
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»Was ist?« fragte der General mit seinem dünnen, heiseren Krächzen. Er steckte die Zigarette zwischen die Finger der rechten Hand. Jetzt erkannte Mallory, daß die Hand künstlich war, eine unbewegliche Nachbildung aus orangefarbenem Hartgummi. Mallory holte das Soldbuch aus der Tasche, das er dem toten Wachposten abgenommen hatte, trat vor den Schreibtisch und streckte es dem General hin. Der General wischte das Dokument ungeduldig zur Seite und rümpfte die Nase wegen des Geruchs, den Mallory ausströmte. Rekruten rollten sich nicht im Dreck und stürmten anschließend in das Generalsquartier, um sich mit dem Soldbuch auszuweisen. Was um alles auf der Welt dachte sich dieser Idiot dabei? Die orangefarbenen Finger der Prothese glitten zur Tischglocke. Mit einem tölpelhaften Grinsen schob Mallory die Hand von der Glocke weg. Der General blickte zu ihm hoch, und an jeder Halsseite schwoll eine Ader und trat hervor. Ohne die Hand mit dem Soldbuch zu beachten, öffnete der SS-General den Mund, um zu schreien. Die Hand mit dem Soldbuch bewegte sich weiter über den Tisch, ohne daß der General darauf achtete. Er hatte den Blick auf Mallorys Gesicht gerichtet, und sein Zorn verwandelte sich in ein Gefühl, das mehr an Verblüffung erinnerte oder sogar an Angst. Die Hand mit dem Soldbuch war weiter gewandert, als nötig gewesen wäre. Die Finger hatten das kleine Heft losgelassen und ballten sich zu einer harten Schlaghand, die vorschnellte und den Adamsapfel in dem sehnigen Hals des Generals zerschmetterte. Mallory legte sein ganzes Gewicht in den Hieb. Die Wucht sollte den Kehlkopf zerstören. Doch was immer der General hinter dem dümmlichen Grinsen in Mallorys braunen Augen sah, ließ ihn im letzten Moment den Kopf zur Seite reißen, so daß die Fingerknöchel nur die Halsseite trafen. So streifte
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Mallory den Kehlkopf lediglich, ohne ihn endgültig zu zerschmettern. Der General fiel nach hinten, rutschte durch seinen Stuhl mit dem vergoldeten Schnitzwerk und landete in einem der Fensterbögen. Dabei griff er nach der Lasche seines Pistolenhalfters. Mallory hechtete ihm über den Schreibtisch nach, wobei die Spikes in seinen Sohlen Risse in dem roten marokkanischen Lederbezug hinterließen. Der General hatte sich wieder halb aufgerichtet, mit dem Rücken gegen den Stein des gotischen Fensters gelehnt. Mallory hielt ihn mit seiner Schmeisser in Schach. »Nehmen Sie die Hände hoch«, verlangte er. Der General sagte mit rasselndem Flüstern: »Sind Sie verrückt, Mann?« »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, antwortete Mallory. »Sie sind kein deutscher Soldat«, fuhr der General fort. »Nein«, erwiderte Mallory. Der Adamsapfel des Generals hüpfte in seiner Kehle. In die kalten, wässerigen Augen kehrte Selbstbeherrschung zurück. »Wenn Sie mich erschießen, werden zehn meiner Männer hier sein, bevor Sie den Finger vom Abzug genommen haben.« »Und Sie sind tot«, sagte Mallory. »Was nützen Ihnen dann Ihre Männer?« Er sah das kalkulierende Flackern in den Augen des Generals und wußte, daß sein Argument wirkungslos blieb. Bei einem jungen Offizier hätte er mit dem Vernunftargument vielleicht etwas erreicht. Aber für ein Mitglied von Heinrich Himmlers innerem Kreis gab es Schlimmeres als den Tod. »So, so«, flüsterte der General mit einem dünnen Lächeln, das die Lippen über den Zähnen straffte. »Wir haben schon auf Sie gewartet.« »Sehr klug von Ihnen«, antwortete Mallory. »Woher wußten Sie Bescheid?« Der General erwiderte: »Diese Frage wird Sie noch beschäftigen, wenn Sie sterben.«
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Mallory gähnte. »Entschuldigen Sie bitte.« Es war das alte Schachspiel mit Lügen und Finten. »Sie haben zwei Mann gefangengenommen«, sagte er. »Wo sind sie?« Das Gesicht des Generals entspannte sich wieder. Mallory hatte eine Schwäche gezeigt. Der General hatte die Beherrschung über die Situation zurückgewonnen. Seine künstliche orangene Hand lag auf dem roten Ledertisch. »Dort, wo Sie in Kürze ebenfalls sein werden«, antwortete er. Der Klingelknopf war zwanzig Zentimeter entfernt. »Was wollen Sie erreichen?« Diesen dreisten Burschen sollte man an Klaviersaiten aufknüpfen, zischte es wütend in ihm. Oder an einem Fleischerhaken. Er weiß nicht einmal, was er sich anmaßt. Aber das wird er lernen, wenn er am Haken baumelt und sein Leben aushaucht, den starrsinnigen Nacken von spitzem Stahl durchbohrt. »Meine Ziele«, sagte Mallory. Wie eine angreifende Schlange schnellte der Lauf seiner Schmeisser vor und prallte oberhalb des Ellenbogens auf den gesunden Arm des Generals. Der General zog seine Hand zurück. Sie schmerzte unerträglich. Ganz offensichtlich war der Arm gebrochen. »Dafür werden Sie sterben«, flüsterte er heiser vor Qual. »Oh, sicher«, entgegnete Mallory. »Wo sind Ihre Gefangenen?« Der General stand da, seine gesunde Hand mit der Prothese stützend, um den Oberarm zu entlasten. Seit der Säuberung der SA 1934 hatte niemand mehr in diesem Ton mit ihm gesprochen. Der Arm schmerzte mörderisch. Er wollte schreien, aber seine Stimmbänder waren wie gelahmt. Und er befürchtete, daß ihm weitere Körperteile gebrochen werden würden, wenn er die Glocke läutete. Wann kam von Kratow zurück? In einer Stunde. Er hatte dem Adjutanten befohlen, ihn eine Stunde allein zu lassen. Jetzt war er allein und hilflos diesen mitleidlosen Augen
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ausgeliefert. Mit dem sicheren Instinkt der eigenen Unbarmherzigkeit wußte er, daß der Mann, dem diese Augen gehörten, so wenig Gnade wie er selbst walten ließ. In diesem Augenblick erkannte er sein Gegenüber. Die Abwehr hatte seinen Namen und eine Personenbeschreibung verbreitet, zusammen mit Ablichtungen aus der Vorkriegszeit aus der Londoner Times und der Frankfurter Zeitung. Auf den Fotos war das gleiche Gesicht zu sehen, mit Augen, die sich erbarmungslos auf den nächsten zu erobernden Gipfel richteten. In rasselndem Flüstern sagte er: »Mallory.« Der General atmete schwer. »Sie und Ihre Kameraden werden gemeinsam sterben. Und es wird kein leichter Tod sein. Das verspreche ich.« Mallory spürte, wie ihm vor Erleichterung der Schweiß unter der stinkenden Uniform ausbrach. Andrea und Miller lebten noch. Er sagte: »Bitte, legen Sie Ihre Kleidung ab.« Das Gehirn des SS-Generals fühlte sich plötzlich an, als wäre es mit Blut unterversorgt. Er wußte, wozu dieser Mann fähig war. Und auch, in welchen Schwierigkeiten er steckte. »Nein«, antwortete er dennoch. Dann hechtete er mit einem einzigen Sprung zur Klingel. Mallory verfolgte die Bewegung wie in Zeitlupe. Wieder schlug er mit dem Lauf seiner Schmeisser zu und traf den General an der knochenweißen Schläfe. Die Augen rollten nach oben, als der Körper erschlaffte und auf den türkischen Teppich sank. Der Kopf schlug mit einem lauten, satten Krachen auf den Steinboden neben dem Teppich. Dort blieb der General reglos liegen. Mallory legte die Maschinenpistole auf den Schreibtisch. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, nahm sich eine frische aus der silbernen Dose, zündete sie an und inhalierte tief. Dann ging er durch den Raum zur Tür und schob leise den
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schweren Riegel vor. Er bückte sich neben den Körper am Boden und betastete die Halsschlagader. Er fühlte keinen Puls. Mallory machte sich daran, dem Toten die Uniform auszuziehen. Er streifte die Stiefel, die Uniformjacke und die Hose ab, bevor er mit unbewegter Miene und hochgezogenen Brauen einen Augenblick verharrte. Die Uniform war dem General zu groß gewesen. Sein weißer, abgemagerter Körper sah nicht viel besser als ein Skelett aus. Unter der nachtschwarzen Uniform trug der Mann einen hautfarbenen französischen Seidenschlüpfer. Mallory knöpfte den eigenen Uniformrock auf. Die schmutzverschmierte Kleidung warf er hinter den Vorhang und stieg dann in die Generalsuniform. Dem General hatte die Uniform nicht gepaßt, aber an Mallory saß sie wie angegossen. Er hatte den Festungsturm ohne Socken in den Stiefeln bestiegen und davon große aufgescheuerte Wunden an seinen Füßen zurückbehalten. Die Socken des Generals waren sauber und aus Seide und fühlten sich gut an auf seiner Haut. Anders die spiegelblank polierten Uniformstiefel, die drückten. Doch Mallory hatte keine Wahl. Seine eigenen Stiefel sahen zu der Uniform des Generals nicht elegant genug aus, und deshalb mußte er die Unbequemlichkeit in Kauf nehmen. Als er fertig angezogen war, stopfte er den Tascheninhalt seiner alten Uniform in den Rock und die Kniehosen des Generals. Er betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er sah einen schlanken SS-General, das hohlwangige Gesicht von der großen Mütze beschattet, die weit über die Augen reichte, und den narbenfreien Hals vom Hemdkragen verdeckt. Solange er niemandem zu nahe kam, der den General gut kannte, würde er mit der Verkleidung durchkommen. Die Besatzung des Cabo de la Calavera war eine bunt zusammen-
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gewürfelte Mannschaft, und die einzelnen Mitglieder würden sich nicht allzu gut kennen. Hoffen wir das Beste. Halte dich immer im Schatten. Mallory nahm die Mütze ab und schritt den Saal ab. Hinter einer Tür stand ein Kurzwellenfunkgerät auf dem Tisch. Dann ging er ins Bad. Er wusch sich die Hände und das Gesicht. In den Rasierapparat des Toten steckte er eine neue Klinge und rasierte sich damit. Ein General hatte keine zwölf Stunden alten Bartstoppeln im Gesicht. Beim Rasieren dachte Mallory an das eingeschaltete Flutlicht nach der Landung und an Andreas und Millers prompte Festnahme. Und daran, was der General gesagt hatte: Wir haben Sie bereits erwartet. Während er sich die Schaumreste aus dem Gesicht wischte, beschloß Mallory, auf das durchdringend riechende Eau de Cologne des Generals zu verzichten, auch wenn seine Tarnung darunter leiden würde. Mit steifen Schritten, weil die Stiefel drückten, kehrte er in den Funkraum zurück. Jensen hatte dafür gesorgt, daß seine Männer mit der technischen Ausrüstung der Deutschen vertraut waren. Mallory schaltete die Stromzufuhr ein und stellte die Skala auf die Frequenz der Stella Maris ein. »Ici l’Amiral Beaufort«, sagte er. Es folgte ein Knistern und Knacken. Dann antwortete eine leise Stimme: »Monsieur l’Amiral.« Selbst durch die atmosphärische Störung war Hugues zu erkennen. »Ich habe schweren Sprengstoff am Haupttor angebracht. Erwarte Verstärkung von der Landseite«, gab Mallory durch. Hugues wollte etwas sagen. »Was …« Mallory schlug auf die Sprechtaste. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, fiel er ihm ins Wort. »Ignorieren Sie alle weiteren Kontaktaufnahmen. Warten Sie auf das Eintreffen der Haupttruppen. Eine Stunde. Empfang bestätigen.« Er hob den Daumen von der Taste.
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Störwellen knisterten in den Kopfhörern. Für einen Augenblick glaubte Mallory, Hugues hätte die Nachricht nicht empfangen. Dann wurde ihm klar, daß es die Verwirrung war. Oder Verrat. »Empfang bestätigen«, wiederholte er. »Bestätigt«, kam Hugues’ Stimme über den Äther. »Ende«, sagte Mallory und unterbrach die Verbindung. Er humpelte ins Büro zurück. Sehr leise entriegelte er die Tür, ging wieder zum Schreibtisch und zog die Leiche hinter den Vorhang. Dann zündete er sich eine weitere türkische Zigarette aus der Dose auf dem Schreibtisch an, wandte sich von der Tür ab, das Gesicht zum Fenster, während er noch fünf Minuten wartete. Linkerhand war die Nacht plötzlich taghell erleuchtet. Mallory drückte den Klingelknopf auf dem Schreibtisch. Die Tür hinter ihm wurde geöffnet, und eine Stimme sagte: »Herr General?« In der von Regenflecken getrübten Fensterscheibe erkannte Mallory das Spiegelbild eines jungen SS-Offiziers, der in zitternder Beflissenheit Haltung annahm, die Augen starr geradeaus gerichtet. Der Offizier würde Mallory nicht in der Scheibe erkennen, Mallory stand zu dicht davor. Und natürlich war der Offizier ein Deutscher, der auf Uniformen und nicht auf Gesichter achtete. Zumindest lautete so die Theorie, von der Mallorys Leben abhing. Und das von Andrea und Miller. Mit heiserem Krächzen, das die Stimme des Generals imitieren sollte, wie er hoffte, sagte er: »Am Tor scheint es Ärger zu geben. Das Flutlicht ist eingeschaltet. Was ist passiert?« »Wir haben Nachricht über feindliche Aktivitäten erhalten.« »Wie meinen Sie das?« »Geheimdienst«, sagte die Stimme. »Überprüfen Sie die Sache«, befahl Mallory. »Persönlich.
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Und kommen Sie erst zurück, wenn Sie wissen, um welche Aktivitäten es sich handelt und ob der Feind neutralisiert ist. Nehmen Sie so viele Truppen, wie Sie abziehen können. Notfalls die ganze Garnison.« »Aber Herr General, der Evakuierungsplan … wir laufen in der Morgendämmerung aus …« Mallorys Herz schien stillzustehen. »Um wieviel Uhr?« fragte er. »In der Morgendämmerung«, antwortete der SS-Mann unsicher. »Der Herr General wird sich daran erinnern … Herr General persönlich hat den Befehl gegeben …« »Um welche Uhrzeit in der Morgendämmerung, Sie Idiot«, zischte Mallory. »Natürlich.« Der SS-Mann klang nervös. »Ich bitte um Verzeihung. Fünf Uhr, Herr General.« »Sie werden also Großalarm geben«, sagte Mallory. »Und dann begeben Sie sich zum Haupttor.« »Aber Herr General …« »Mit so vielen Männern, wie Sie auftreiben können.« »Aber die Vorbereitungen …« »Schweigen Sie!« schnauzte Mallory den jungen Offizier an. »Lassen Sie nur die Wachen zurück, und einen zusätzlichen Mann. Ich muß die Gefangenen befragen. Dafür brauche ich eine Eskorte. Der Rest der Besatzung sichert das Haupttor. Sie sind persönlich dafür verantwortlich.« »Aber …« »Sie werden jetzt nach draußen gehen«, sagte Mallory, »und sich dem Feind stellen! An der Ostfront gibt es Schlimmeres als ein bißchen spanischen Nieselregen!« Mallory hörte, wie Stiefelfersen gegeneinander geklappt wurden und der Offizier mit gekränkter, angespannter Stimme »Jawohl, Herr General« hervorbrachte. Jetzt würde er nur noch die Uniform wahrnehmen.
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»Schicken Sie die Eskorte in fünf Minuten zu mir«, befahl Mallory. »Wegtreten!« Wieder krachten die Hacken gegeneinander, und die Tür wurde zugeschlagen. Alarmglocken klingelten, lärmend und gebieterisch. Mallory wandte sich um, drückte den Stummel aus und zündete sich eine neue Zigarette an. Fünf Uhr. Die U-Boote würden sieben Stunden früher als erwartet auslaufen. Und die ›Sturmkolonne‹ hatte noch nichts erreicht. Im Korridor draußen klang das Trampeln von vielen Füßen – der Stab des Generals, der zum Tor abmarschierte, panische Angst vor der russischen Front im Nacken. Die Schritte verhallten. Dann klopfte es zweimal an der Tür, und Mallory wandte sich wieder zum Fenster. »Herein«, rief er. Eine nervöse Stimme meldete: »Herr General.« »Wir werden jetzt den Gefangenen einen Besuch abstatten«, sagte er. »Zeigen Sie uns den Weg.« »Den Weg?« »Sie gehen voran«, krächzte Mallory gereizt. »Ich folge. Kehrt!« Der Soldat drehte sich um. Mit am Rücken verschränkten Armen humpelte Mallory hinter dem Schreibtisch hervor. Auf dem Korridor ließ er das Kinn auf den Uniformkragen sinken und schritt steif hinter dem Rekruten her. Jeder, der ihn vorbeikommen sah, hätte angenommen, den General zu sehen, der, mit tief über die Augen gezogener Mütze und in Gedanken versunken, seine Kontrollrunde machte. Tatsächlich waren nurmehr die Büroangestellten da, die ihn hätten sehen können. Die Alarmglocken hatten die gesamte Garnisonsbesatzung zu den Sammelpunkten getrieben. Von dort aus waren sie von den Feldwebeln auf die Festungswälle der Halbinsel abkommandiert worden. Die Schritte der Eskorte hallten im Gewölbe wider und
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knirschten auf den Steinfliesen. Das Stechen in Mallorys Füßen und sein schmerzender Körper waren kleine, kaum in sein Bewußtsein vordringende Unannehmlichkeiten. Er hatte der Stella Maris falsche Informationen hinübergefunkt. Innerhalb von fünf Minuten war diese Falschmeldung in die Garnison gelangt. Jemand auf der Stella Maris war ein Verräter. Lisette befand sich außerhalb Frankreichs, weit entfernt vom langen Arm der Gestapo. Hugues hatte seine Freundin und das Baby, das sie von ihm erwartete, bei sich. Wenn er die Besatzung der Stella Maris verriet, würde Lisette von ihm getrennt und wahrscheinlich getötet werden. Blieb nur Jaime. Jaime, der Düstere, Stille. Ein Schmuggler und Kenner der geheimen Schleichwege. Nicht, daß dies jetzt eine Rolle spielte. Mit einem Aufstampfen blieb der Soldat stehen. »Herr General«, sagte er. Sie befanden sich in einem langen Korridor mit aneinandergereihten Stahltüren. Weißes Licht strahlte grell von der Decke. Es roch nach Feuchtigkeit und Schimmel. Der Wachposten, der starr vor der nächstliegenden Tür Haltung angenommen hatte, hustete. »Schlüssel«, befahl Mallory. Der Posten hustete noch immer. »Schlüssel«, krächzte Mallory barsch und streckte die Hand aus. »Herr General«, erwiderte der Posten und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen, während er Mallorys Hand betrachtete. Plötzlich fühlte Mallory seine Haut eiskalt werden. Beim Anblick seiner ausgestreckten Hand hatte der Posten die Stirn gerunzelt. Mallory hatte die rechte Hand vorgeschoben. Eine Hand aus Fleisch und Blut.
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Die Hand des wirklichen Generals war künstlich und aus orangefarbenem Kautschuk gewesen. »Herr General«, sagte der Posten mit einem Gesicht wie bei einem Nervenzusammenbruch. »Das heißt … Sie sind nicht der General.« »Den Schlüssel«, krächzte Mallory. Doch unter seinem Mützenschirm sah er, daß der Mann nach der Maschinenpistole griff. Die Zelle war noch immer dieselbe, kalt, stinkend und dunkel, das undurchdringliche Schwarz einer in den Fels gehauenen Kammer. Mitternacht in diesem gottverdammten Kerker, dachte Miller. Jetzt spuken die Geister, und Hexen treiben bei diesem Regenwetter ihr Unwesen. Was Miller anging, konnten Geister und Hexen machen, was sie wollten. Für ihn bedeutete Mitternacht, daß es Zeit war, eine zu rauchen. Nachdem er Andrea eine Zigarette gereicht hatte, steckte er sich selbst einen Glimmstengel in den Mund und zündete den Tabak an. Die heißen kleinen Glühpunkte begannen in der Dunkelheit zu leuchten, und für einige Minuten war dieses kalte, stinkende Loch von warmem Licht erfüllt. Aber die Zigaretten gingen zu Ende. Als sie fertig geraucht hatten, war es noch kälter und einsamer. Am unerträglichsten war erneut die Stille. Nach langer Zeit, die ihm wie zwei Stunden vorkam, fragte Andrea: »Wie spät ist es?« Andrea dachte an die Operation, so wie Miller auch. Miller wollte den Auftrag endlich erledigen. Sie brauchten Glück. Er blickte auf die radiumerhellten Zeiger seiner Armbanduhr. »Null Uhr fünf«, antwortete er. »Kann jetzt jede Minute sein«, hörte er Andreas dröhnende Stimme antworten. Und obwohl Miller wußte, daß es reine
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Einbildung war, hatte er das Gefühl, daß in den nächsten Minuten etwas geschehen könnte. Doch nichts tat sich. Wenigstens nicht in den nächsten dreißig Sekunden. Dann wurde die Stille durch ein merkwürdiges Geräusch unterbrochen. Es klang wie ein Preßlufthammer. Draußen vor der Zellentür feuerte jemand mit einer Maschinenpistole. Die Tür wurde aufgestoßen. Grelles Licht vertrieb explosionsartig die Dunkelheit. Im Gegenlicht stand eine schwarze, kantige Gestalt. Verblüfft starrte Andrea auf die Erscheinung. Aus dem farblosen Nebeldunst trat ein schlaksiger Körper hervor, die Füße breit gegen den Boden gestemmt, die Hände an die Hüften gelegt und das Gesicht unter der hohen schwarzen Militärmütze verborgen. Es war ein Umriß, der sich in Andreas Träumen bewegte, die dunkle Gestalt, die im Gegenlicht der Sonne auf dem flachen Hügel in Griechenland gestanden hatte, über der wie ein blauer Saphir funkelnden Ägäis. Unterhalb des Hügels hatte das Haus von Andreas Bruder Iannis gelegen. Es war ein kleines Haus gewesen, mit einem Weinstock, der eine kleine Terrasse aus roten Ziegeln überwucherte, gekühlt von der schwachen, nach Thymian duftenden Brise, die vom Meer herüberstrich. Zu dem Zeitpunkt, als Andrea dort eintraf, war das Unheil bereits geschehen. Sein Bruder war in Verdacht geraten, den Partisanen anzugehören, außerdem hatte man britische Waffen bei ihm gefunden. Unter dem angenehmen grünen Dach der Weinlaube hatte der General eine Flasche von Iannis’ Retsina geöffnet und sich ein Glas eingeschenkt. Dann hatte er sich mit elegantem Schwung auf die Mauer gesetzt, die glänzend polierten Stiefel an seinen Füßen gekreuzt und das Schauspiel
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verfolgt. Es bestand darin, daß ein Holzkohlenfeuer entzündet wurde, auf dem die Familie manchmal im Freien eine Mahlzeit zubereitete. Drei kroatische SS-Angehörige hatten die drei Töchter von Iannis aus dem Haus geholt – die sechsjährige Athene, die achtjährige Eirene und die neunjährige Helena. Als Iannis’ Frau zu schreien begann, hatte der General sie vor den Augen ihres Ehemanns und den noch lebenden Kindern erhängt. Iannis hatten sie am Leben gelassen, die Hände an die Haustür genagelt, damit er sich nicht die Augen auskratzte und das gebrochene Herz aus dem Leib riß, nachdem er diese furchtbaren Dinge mitangesehen hatte. Erst als sie die Kinder neben der Mutter aufgehängt hatten, war es Iannis gelungen, seine Hände loszureißen und wegzurennen, wie ein Wahnsinniger, die Augen tränenblind, immer auf die hohe weiße Klippe zu. Seine Füße bewegten sich noch, als er schon keinen Boden mehr unter sich spürte und an der gleißenden Wand hinab in die Tiefe stürzte, glücklich in der Gewißheit, bald seine Kinder und seine Frau wiederzusehen und seine Eltern, die von den Bulgaren ermordet worden waren … Fünf Minuten, nachdem sich das zugetragen hatte, traf Andrea ein, mit langsamen Schritten, einen Strohhut auf dem Kopf und einen Esel am Zügel, in dessen Körben noch mehr Waffen steckten. Für einen Augenblick hielt er inne, die Augen ungläubig aufgerissen. Er sah die Frau und die drei Kinder am Weinstock hängen, der ihnen bis vor kurzem Schatten bei der abendlichen Runde Ouzo gespendet hatte. Dazu, lachend in der heißen Sonne, die schwarzuniformierten SS-Männer, über deren rote Gesichter Rinnsale von Schweiß liefen. Aus dem Dach des Hauses schlugen Flammen. An der Klippe entdeckte Andrea die Silhouette des Generals. Er stand da und genoß von weitem das Zerstörungswerk, zufrieden lächelnd mit seinem
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Weinglas mit dem in der Sonne glänzenden Retsina. Es roch nach verbranntem Fleisch. Andrea konnte sich nicht mehr erinnern, was dann geschehen war. Als er wieder zu sich gekommen war, hatten fünf tote SSMänner zu seinen Fußen gelegen. Er verfütterte sie an Iannis’ Schweine. Dem General schoß er in die Knie und warf ihn in die Sickergrube, damit er dort ertrank. Es interessierte ihn nicht, aber später hörte er von den Leuten im Dorf, daß es drei Tage gedauert habe. So lange hatte Andrea nicht gewartet. Er hatte die Leichen seines Bruders, seiner Schwägerin und seiner Nichten aufgesammelt und dem Popen übergeben, damit er das Begräbnis für sie ausrichten konnte. Dann war er gegangen, um an anderen Fronten für sein Land zu kämpfen. Andrea konnte SS-Offiziere nicht ausstehen. Drohend kam er jetzt nach vorn, die riesigen Hände geöffnet. Der SS-General ließ die türkische Zigarette fallen, die er geraucht hatte, und trat sie gelangweilt aus. Dann sagte er: »Sollte es euch nicht außergewöhnlich gut gefallen, schlage ich vor, daß wir jetzt gehen.« Die Stimme gehörte Mallory. Es folgte ein Augenblick stummer Verblüffung, die nur durch das stöhnende Geräusch unterbrochen wurde, das vom Korridor hereindrang. Dann sagte Miller: »Ich persönlich finde es hier ziemlich feucht.« Andreas Augen waren zwei schwarze Löcher. Sie bewegten sich von Mallory zu Miller und wieder zurück. Dann entblößte er die Zahne zu einem Lächeln, als würde die Sonne zwischen Gewitterwolken aufgehen. »Mit Kleidern aus zweiter Hand solltest du vorsichtig sein«, sagte er. »Du könntest dir etwas wirklich Unangenehmes einfangen. Zum Beispiel ein Messer in den Bauch.« »Du hast recht«, antwortete Mallory. »Dem vorigen Besitzer
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ging es ziemlich dreckig, als ich ihn verließ.« Auf dem Korridor lagen zwei Leichen. »Zieht die Uniformen an und nehmt die Soldbücher«, sagte Mallory. Andrea zog die Toten in die Zelle und schloß die Tür. »Und jetzt?« fragte er. Mallory blickte zu Miller. »Was brauchst du?« Was Miller wirklich benötigte, war sein Sprengstoff. Aber es hatte keinen Sinn, über vergeudetes Zyklonid zu jammern. »Was auch immer«, entgegnete Miller. »Diese Jungs transportieren Torpedos. Mit Torpedos können häßliche Unfälle passieren. Ich glaube, ich möchte dem Magazin einen Besuch abstatten.« Andrea nickte ernst. Er hatte in den vergangenen Monaten gelernt, den schnoddrigen, lässigen Amerikaner sehr ernst zu nehmen. »Ich habe das unbestimmte Gefühl«, sagte Mallory, »daß dort draußen eine gewisse Verwirrung herrscht. Deshalb würde ich sagen, je eher ihr euch umzieht, desto besser.« Fünf Minuten spater verließ der SS-General die fortaleza durch das Haupttor in Begleitung einer zweiköpfigen Eskorte in einfacher SS-Uniform. Einer der Männer war groß und breit, der andere lang und schlaksig. Sie marschierten, die Augen geradeaus gerichtet, mit quer vor den Oberkörper geschnallter Schmeisser-MP. Die Wachen am Tor salutierten. Der General erwiderte den Gruß mit seiner linken Hand, die künstliche Rechte starr an die Seite gepreßt. Hinter der Brücke, die über den Festungsgraben führte, bog die Gruppe nach links ab, folgte einer breiten Treppe mit flachen Stufen hinunter zu einer Art der Halbinsel vorgelagertem Krater. Im Zentrum des Kraters befand sich ein kantiger Betonbunker, der von Stacheldraht umgeben war. Langsamen, gemessenen Schrittes kam Mallory mit seiner Eskorte die Treppe hinunter. Nur wenige Personen waren zu
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sehen. Die Schweißgeräte schickten noch immer ihre flackernden Blitze in den Himmel über dem Hafen, und der Lärm der Niethämmer hallte unverändert durch die Nacht. Irgendwo brummten Lastwagenmotoren. Die Evakuierung war mittlerweile angelaufen. Doch die bewaffneten Festungsbesatzer befanden sich offenbar noch am Haupttor. Dort würden sie nicht ewig bleiben. Früher oder später kam jemand auf die Idee, daß es sich womöglich um falschen Alarm handelte oder daß es nicht ratsam war, den Rest des Cabo unbewacht zu lassen. Bis dahin verging bestenfalls noch eine Viertelstunde. Sie näherten sich dem Tor zum Bunker. Aus der Nähe betrachtet handelte es sich weniger um einen Bunker als um einen befestigten Eingang, eine Stahltür am Ende einer Reihe von Schutzwänden aus Beton. Die Konstruktion aus Betonplatten führte in eine niedrige, grabhügelähnliche Erhebung, die von einer salzüberkrusteten Grasnarbe bedeckt war. Es war der Eingang zum Munitionslager. Der Soldat am Tor starrte geradeaus. »Kennwort?« fragte er. Mit dem heiseren Flüstern des Generals forderte Mallory: »Öffnen Sie das Tor.« »Aber Herr General …« »Das Wetter in Rußland ist furchtbar um diese Zeit«, flüsterte Mallory. Das Gesicht des Mannes wurde blaß im Flutlicht. »Herr General?« »Vielleicht schicken Sie mir von dort eine Postkarte«, schnarrte Mallory. »Und wenn Sie jetzt bitte so freundlich sein würden, das Tor zu öffnen?« Der innere Kampf des Wachposten dauerte Bruchteile von Sekunden, bis er sich entschloß, das Tor im Stacheldrahtzaun zu öffnen und Mallory einzulassen, der verkrampft humpelnd voranschritt. Der Posten mußte einen verborgenen Knopf
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gedrückt haben, denn die Stahltür öffnete sich mit hydraulischem Geräusch. Ohne anzuhalten, marschierte Mallory mit seiner ›Eskorte‹ weiter, und die Stahltür wurde wieder zurückgeklappt. Vor ihnen lag eine Wendeltreppe, in deren Mitte sich der Aufzug befand, über den die Kanonen der Festung mit Munition beschickt wurden. Mallory blickte in die Gesichter seiner Kameraden. Sie waren blaß, ausdruckslos – und müde, aber zu dieser Müdigkeit war eine Anspannung getreten, die neu war. Die Stahltür hinter ihnen hatte sich geschlossen. Sie befanden sich jetzt im Zentrum der Anlage. Hier gab es keine Sandsäcke, hinter denen sie sich hätten verbergen können, und keine Schatten, die ihnen Deckung geboten hätten. Ihr einziger Schutz vor fünfhundert feindlichen Soldaten war der dünne Stoff ihrer Uniformen und die Form der Abzeichen, die sie trugen. Sie waren winzige, zerbrechliche Maschinen aus Fleisch und Blut, bewaffnet mit kleinen Gewehren. Mit diesen schwachen Gewehren und ihren bloßen Händen mußten sie riesige Ungeheuer aus Stahl zerstören. Es war ein häßliches Gefühl, als wären sie nackt. Ein Gefühl wie in einem Alptraum. Aber das war von jetzt an ihre Realität. Diese Treppe hinunter, und sie fänden alles für ihren Auftrag Notwendige, sagte sich Mallory. Miller brauchte nur in die Nähe von Sprengstoff kommen, und er würde mit bloßen Händen eine ganze Armee in die Luft jagen. Sie mußten sich keine Sorgen mehr machen. Bis auf meine Füße, dachte Mallory und humpelte weiter. Seine Füße fühlten sich an, als würde er nie wieder richtig auftreten können. Die Wendeltreppe führte in den Untergrund des Hügels. Bomben ließen sich mit dem Aufzug nach oben befördern. Aber Torpedos waren groß und schwer und mußten horizontal
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bewegt werden. Der Boden des Munitionslagers würde sich auf gleicher Höhe mit der Kaimauer befinden. Miller stapfte die Stufen hinunter und hoffte, daß sein Trampeln wie das Auftreten eines überzeugten Wehrmachtsoldaten klang. Sich militärisch diszipliniert zu geben, kostete ihn einige Mühe. Miller war ein Kämpfer, aber er wäre der letzte gewesen, der von sich behauptet hätte, ein brauchbarer Soldat zu sein. Als sie die letzte Biegung nahmen, spürte er ein angenehmes Gefühl der Vorfreude in sich aufsteigen. Wieder einmal kam die Zeit zum Improvisieren. Am Fuß der Treppe befand sich eine explosionssichere Tür. Miller stieß sie auf, und dann waren sie endlich im Magazin. Es war ein großes Munitionslager, das sich im harten weißen Deckenlicht der Länge nach vor ihnen erstreckte, der Weinkeller des Teufels, mit grauen Betonabteilen, in denen Bombenbehälter standen und Förderwagen, um die Torpedos zu den Kaianlagen zu schaffen. Dort warteten im kalten Atlantikwasser schwarz und gefährlich die U-Boote. Mallory blickte auf seine Armbanduhr. 3.45 Uhr. Herr im Himmel. Sie traten zu dritt durch die Tür und blickten durch die nackte Betonflucht des Mittelgangs. Hier, in diesem unterirdischen Lager, wurden sie die Mittel finden, um die drei U-Boote zu versenken, die letzte Verteidigung der Nazis gegen eine Invasion der Alliierten. Aber es gab ein Problem. Die Betonbuchten und Abteile des Magazins enthielten nur wenige Munitionskisten. Die Munitionskarren für den Transport der Bomben standen auf ihren Schienen, und die Torpedoregale, fünfhundert insgesamt, waren mit Filz gepolstert. Aber die Kisten waren aufgebrochen, die Munitionskarren trugen keine Ladung, und in den Regalen lag nichts. Lediglich eine Mannschaft von Mechanikern war damit
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beschäftigt, einen Elektromotor auseinanderzumontieren. Bis auf diese Männer war das Magazin verlassen. Mallory, Miller und Andrea standen da und nahmen den Anblick in sich auf. Jetzt half nur Geduld. Die Mittel, um die Operation zum Erfolg zu führen, waren nicht vorhanden. Eine Minute später humpelte Mallory weiter, in Richtung der Schienen, über die der Transport der Torpedos zum Kai erfolgt sein mußte. Die Stella Maris lag am Ende einer Reihe von Fischerbooten an der Kaimauer von San Eusebio. Zwischen den zerstörten Gebäuden hinter dem Hafen bellte wütend eine Meute struppiger, gelber Hunde im Regen. Hugues und Lisette befanden sich außer Sichtweite unter Deck. Jaime war oben, gegen die zersplitterten Überreste des Ruderhauses gelehnt, und rauchte. Neben ihm rauschte leise das Funkgerät. Es waren keine Nachrichten gekommen. Und Jaime erwartete auch keine mehr. Jenseits des schwarzen Hafenwassers, auf dem Cabo de la Calavera, lagen jetzt die Gebäude und Kaimauern der alten Sardinenfabrik im Dunkeln. Noch vor kurzem hatten von dort der Funkenflug von Schleifmaschinen und das Flackern der Bogenschweißgeräte herübergeleuchtet. Es schien, als wären die Arbeiten abgeschlossen. Hin und wieder wurde ein ausschwenkender Kranarm sichtbar, wenn Licht darauffiel. Sie nahmen Ladung auf, dachte er. Würde nicht mehr lange dauern. Auch im Hafenbecken tat sich etwas. Er hörte das murmelnde Tuckern von Booten und Leichtern auf ihrem Weg zu den beiden fünftausend Bruttoregistertonnen großen Frachtschiffen, die eine halbe Seemeile vom Kai entfernt ankerten. Abzug der Garnison, dachte Jaime. Wer wußte, wie alles enden würde?
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»Schneller«, sagte Mallory. »Sie arbeiten viel zu langsam.« Der für die Verschiffung des Munitionslagers verantwortliche Leutnant spürte heißen Zorn über die Ungerechtigkeit der ganzen Unternehmung in sich aufsteigen. Aber es war nicht ratsam, auf einen General wütend zu sein. Also schlug er die Hacken zusammen, senkte den Kopf und sagte: »Wie der Herr General wünscht.« »Der Herr General wünscht es«, sagte Mallory. »Und nun möchte ich das Magazin inspizieren.« »Herr General?« Mallory runzelte die Stirn. »Sie sprechen doch Deutsch, oder nicht?« »Herr General.« Der Mann war soeben für seine Langsamkeit getadelt worden. Mit irgendeinem verdammten Totenkopf-Nazi das Waffenlager zu besichtigen, würde die Arbeiten auch nicht schneller voranbringen. Aber ein General war ein General. »Hier lagerten die Bomben«, sagte der Leutnant. »Wir haben sie alle weggebracht, ganz wie Sie befohlen haben. Und hier waren die Torpedos. Auch sie sind verladen.« Mit einer Hand auf den Tunnel weisend, der zum Kai herunterführte, ging er zum nächsten Verschlag, in dem nur noch die leeren Regale zu sehen waren. Auf dem Fußboden stand ein Stapel grauer Kisten. »Und darin befindet sich die Kleinmunition. Granaten, Mörserbomben. Die letzte Charge wird weggeschafft, wenn das Frachtboot wieder anlegt.« Erneut schlug der Leutnant die Hacken zusammen, die Daumen an die Hosennähte gelegt. »Ich nehme an, der Herr General ist zufrieden.« Mallory betrachtete die drei grauen Holzkisten, auf die der Offizier gezeigt hatte. »Ja, ja. Ganz zufrieden«, sagte er. Er blickte sich um. Niemand war zu sehen. »Andrea?« Der riesige Grieche trat einen Schritt vor und stampfte mit den Stiefeln auf den Boden. Seine Schultern bewegten sich.
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Dann hörte man ein Geräusch, als würde ein Baumstamm von einer Axt getroffen. Der deutsche Offizier seufzte und fiel zu Boden. »Versteck ihn«, sagte Mallory. »Miller, die Kiste mit den Granaten.« Miller stapelte zwei Kisten übereinander. Jede Kiste enthielt zehn Granaten und hatte Seilgriffe an den Seiten. »Wir gehen zum Kai«, befahl Mallory. Sein Gesicht sah aus wie schmutziges Elfenbein. Erschöpfung, dachte Miller. Mallory suchte in seiner Tasche. In der kleinen Folienverpackung waren noch drei Benzedrin-Tabletten. Er gab jedem eine. Nicht gut für die Gesundheit, dieses Benzedrin, dachte Miller und bückte sich, um die Granaten herauszunehmen. Aber nicht ungesünder, als an Bord eines UBoots zu klettern, um es in die Luft zu jagen. Es war schon lange her, seit Miller etwas gegessen hatte. Die Tablette wirkte schnell. Er spürte, wie ihn frische Kräfte durchströmten. Diese verdammten Pillen, dachte Miller, während sein Mund trocken wurde und er zu schwitzen begann. Hinterher wirst du dich fürchterlich fühlen. Wie konnte er unter den gegebenen Umständen überhaupt so weit denken? Miller lachte. Dann betrat er mit seinen beiden Kameraden die Tunnelröhre, die zum Kai führte.
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7. Mittwoch, 04.00 Uhr bis 05.00 Uhr Der Tunnel war fünfzehn Meter lang und mit dem gleichen grellen Deckenlicht beleuchtet wie alles auf dem Cabo. An beiden Seiten verliefen Gleise für die Forderwagen der Torpedos. In der Mitte gab es einen Fußweg. Im Tunnel gingen Manner mit raschen Schritten ein und aus. Wenn sie Mallorys Uniform sahen, wich ihr Blick zur Seite. Beliebter Vorgesetzter, dachte Miller. Die drei Männer des Sturmtrupps marschierten stiefeldröhnend den Fußweg hinunter. Als sie sechs Meter gegangen waren, sagte eine Stimme hinter ihnen: »Halt!« Mallory bekam heftiges Herzklopfen und schob seine allzu lebensechte rechte Hand unter den Uniformrock. Andreas Hände glitten verstohlen zu seiner Schmeisser, während Millers Hände, die in den Seilgriffen der Kisten mit den Granaten steckten, zu schwitzen begannen. Auf den Fersen seiner peinigend engen Stiefel fuhr Mallory herum. Sein Blick fiel auf einen kleinen, glatzköpfigen Mann mit randloser Brille und verkniffenem Mund, der in einer viel zu engen Uniform ohne Dienstgradabzeichen steckte und ein Notizbuch in der Hand hielt. »Was ist?« fragte Mallory. Der kleine Mann ließ sich weder von der Mütze mit dem Totenkopf noch von der schwarzen Uniform oder der heiser krächzenden Stimme beeindrucken, sondern schürzte die Lippen. »Sie müssen das Ausgangsformular ausfüllen«, sagte er. »Für die Entnahme dieser Waffen aus dem Magazin. Sonst gerät die ganze Ordnung durcheinander.«
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»Dann sind Sie der Magazinverwalter«, sagte Mallory. »Jawohl.« »Nun, Unteroffizier, geben Sie mir Ihr Buch, und ich unterzeichne die Lagerentnahme.« Der Verwalter schüttelte tadelnd den Kopf. »Ihre Unterschrift reicht nicht«, sagte er. »Natürlich brauchen Sie auch einen Entnahmeschein, vom diensthabenden Garnisonsoffizier unterzeichnet.« Mit scharfer Stimme, als wäre sie von Glasscherben gespickt, fragte Mallory: »Wissen Sie, wer ich bin?« Der Magazinverwalter befeuchtete mit seiner grauen Zunge den kleinen Mund. »Ja, Herr General. Sie sind der Garnisonskommandant, Herr General.« »Und wer unterzeichnet die Formulare?« »Der diensthabende Garnisonsoffizier.« »Auf wessen Anordnung?« »Auf Ihre, Herr General.« »Sehen Sie«, sagte Mallory. »Ich habe meine Anordnungen«, wiederholte der Verwalter. »Die Entnahmeformulare müssen vom diensthabenden Garnisonsoffizier unterzeichnet sein.« Mallory sah prüfend auf seine Armbanduhr. 4.05 Uhr. Die UBoote würden in fünfundvierzig Minuten auslaufen. In fünfundvierzig Minuten würde er noch immer mit diesem Büromenschen herumstreiten. Es gab nur eine Sache, die größere Autorität als eine Uniform besaß, und das war die befohlene Ordnung. Er sagte: »Herr Unteroffizier, ich weiß Ihre Gründlichkeit zu schätzen. Der diensthabende Garnisonsoffizier befindet sich am Kai. Bitte begleiten Sie uns dorthin.« »Aber …« »Schnell.« Mallorys Stimme war schroff und erlaubte keine Gegenrede.
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Der Magazinverwalter war ein Geschenk des Himmels, erkannte Mallory. Ein kleiner, diensteifriger Mann mit randloser Brille, aber ein Segen. »Gehen Sie voraus, Unteroffizier«, befahl Mallory zufrieden. Der Magazinverwalter führte sie durch den Tunnel. Das Tunnelende war abgesperrt. Auf einer Seite gab es einen Durchlaß für die Torpedo-Förderwagen, auf der anderen eine halbhohe Pforte für die Fußgänger mit einem Wachhaus daneben. Im Wachhaus hoben sich wie Scherenschnitte zwei schwarze Umrisse ab: SS-Leute. Aus dem Augenwinkel sah Mallory, daß Andreas Hände sich nicht von seiner Schmeisser gelöst hatten. Er wünschte, er hätte ebenfalls eine Maschinenpistole bei sich. Aber er hatte nur eine Luger und die Rangabzeichen seiner Uniform. Das mußte genügen … Nur das Gesicht über der Uniform war nicht das richtige. Er zog den Schirm seiner Mütze tiefer. Ihre Stiefelschritte dröhnten im Tunnel. Die Posten im Wachhaus hatten ausdruckslose Gesichter, und ihre Haut glänzte wie schmutziger Talg. Sie trugen zerschlissene Uniformen, die Lederkoppeln waren narbig, und in den Falten ihrer Stiefel sammelte sich das Salz. Ihre Augen waren kalt, tückisch und rastlos. Doch als sie Mallorys Uniform sahen, ging eine Veränderung in ihnen vor. Es handelte sich nicht um die übliche Reaktion anderer Dienstgrade auf eine Offiziersuniform. Der Blick war eine Mischung aus Verschworenheit und Stolz. Korpsgeist, dachte Mallory. Du liebe Zeit. Auf dem Cabo de la Calavera gab es fünfzig SS-Angehörige, die Elite, die über Himmlers Interessen wachte. Sie kannten sich untereinander vermutlich gut. Aber der einzige Zugang zum Kai führte durch dieses schwarze Tor neben dem Wachhaus.
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Mallory rief: »Achtung!« Automatisch nahmen die SS-Posten Haltung an und wandten die Gesichter geradeaus. Die Generalsuniform wirkte. Mit dröhnenden Schritten marschierten Mallory, Miller, Andrea und der Magazinverwalter weiter. Der Magazinverwalter blickte hochmütig vor sich hin, zufrieden mit sich selbst, stolz, an etwas Wichtigem teilzuhaben. Mallory war ihm zutiefst dankbar. Der bebrillte Mann schenkte ihnen Glaubwürdigkeit. Die SS-Posten würden den Magazinverwalter kennen. Inzwischen waren sie ganz nah an die SS-Männer herangekommen, nur noch drei Meter von ihnen entfernt. Den Kopf geneigt, als wäre er tief in Gedanken versunken, hielt Mallory die rechte Hand mit der vorgeblichen Prothese unter der Knopfleiste seiner Uniform verborgen. Durch das Fußgängertor drang der salzige Geruch der See in den Tunnel und vermischte sich mit der kalten, lastenden Luft des Magazins. Es war der Geruch des Endspiels. Nun ruhten die Augen auf ihnen. Zumindest nahmen die Posten ihre Umrisse wahr. Aus dem Augenwinkel sah Mallory die weiße, großporige Haut mit den braunen Augen darunter, in denen Arroganz und Grausamkeit standen. Er konnte die Uniformen riechen, den säuerlichen Dunst nach regennassem, schlecht getrocknetem Tuch und das Leder, auf dem die Politur einen aussichtslosen Kampf gegen den Schimmel führte. Er roch das Gewehröl der Schmeisser-Pistolen, den Tabakqualm und den Knoblauch in ihrem Atem. Dann hatten sie das Wachhaus so gut wie passiert. Und Mallory schwitzte … »Herr General?« fragte eine Stimme, hart, kalt und mit leichtem Zögern. Die Stimme gehörte zu einem der schwarzgekleideten Posten. Mallory machte noch einen Schritt nach vorn. »Würde der General bitte stehenbleiben«, forderte die
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Stimme ihn auf. »Ruhig«, murmelte Mallory auf englisch, bevor er in das rauhe Krächzen fiel, mit dem der General sich verständigt hätte. »Was wollen Sie?« »Wenn der General uns bitte seinen Passierschein zeigen würde?« Mallory stieß ein leises, entnervtes Geräusch aus. »Lagerverwalter«, sagte er. »Zeigen Sie ihm Ihren Passierschein.« Das Gesicht des Schreibstubensoldaten glänzte rosa und durchscheinend hinter den randlosen Brillengläsern, als er in seiner Tasche zu suchen begann. »Beeilen Sie sich«, knirschte Mallory. »Wir verlieren kostbare Zeit.« Der SS-Posten warf einen kurzen Blick auf den Ausweis und reichte ihn dem Lagerverwalter zurück. »Und jetzt Sie, Herr General.« Mallorys Magengrube schien plötzlich nicht mehr vorhanden zu sein. In der Stimme des Postens hörte er das eiskalte Schnurren einer Katze, die ihre Krallen ausgefahren hatte, um sie in das Fell einer Ratte zu schlagen. Miller stellte die Kisten mit den Granaten auf den Boden. Seine Hände umgriffen die Schmeisser. Gelassen und ohne Hast bewegte er die Waffe, bis sie auf den Posten gerichtet war, der bisher nur stumm danebengestanden hatte. Auf dem Gesicht seines Kollegen, der redete, erschien ein merkwürdiger Ausdruck. Miller verstand ihn. Es war der Blick von jemandem, der den General gut kannte, aber darauf gedrillt war, nicht auf Gesichter, sondern auf Uniformen zu achten. Miller wußte, daß etwas Unangenehmes passieren würde. Der SS-Mann fuhr sich mit seiner grauen Zunge über die Lippen und sagte zu Mallory: »Herr General, wie ist der Name des Herrn Generals?« Seine rechte Hand griff unter die
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Tischplatte. Dort würde der Alarmknopf sein. Mit dem Daumen stellte Miller seine Schmeisser auf Einzelschuß und spannte den Abzugshahn. Wie er sah, hatte Andrea die Finger nicht an seinem Gewehr. In einer verzweifelten Pose breitete der Grieche beide Hände aus. »Um Gottes willen, was glauben Sie, wen Sie vor sich haben?« Der SS-Posten öffnete den Mund, um zu antworten. Doch er bekam keine Gelegenheit mehr dazu, denn Andreas Geste hatte sich in etwas anderes verwandelt. Die riesige Rechte landete mit dem Handrücken nach oben im Gesicht des Postens, direkt unter der Nase, und trieb dem SS-Mann das Nasenbein ins Gehirn, während in der anderen Hand, der linken, ein Messer auftauchte, das sich in die Brust des anderen Postens bohrte und wieder herausgezogen wurde. Die beiden Helme fielen scheppernd auf den Beton. Es folgte ein langer, furchtbarer Augenblick der Stille, der ungefähr eine Sekunde dauerte. Dann hastete eine kleine Gestalt verstohlen an Miller vorbei. Der Lagerverwalter. Miller stellte ihm ein Bein, und der kleine Mann fiel flach auf das Gesicht. Die Brille schlitterte über den harten Boden. Als der Verwalter den Kopf zu Miller hob, sah er aus wie ein blinder Maulwurf. »Bitte«, stammelte er. Miller blickte ihn an. Dieser Schreibstubensoldat gehörte nicht zur SS. Er besaß die Bösartigkeit eines Schalterbeamten im Grand-Central-Bahnhof von New York. Aber er konnte die Operation scheitern lassen. Miller sah weg. Der Hieb klang wie ein gut angesetzter Baseball-Schlag. Als Miller den Blick zurückwandte, lag der Lagerverwalter stumm, mit dem Gesicht nach unten, am Boden. Aber er atmete. Dann schritten sie zum Kai hinaus. Sie befanden sich auf dem zur Küste liegenden Ende der Skizze, die der verstorbene Guy Jamalartégui mit einem
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Streichholz in eine Weinpfütze neben der Seekarte auf seinem Küchentisch gemalt hatte. Der baskische Amerikaner, der den Hafen für seine Sardinen fischenden Landsleute gebaut hatte, war nicht kleinlich gewesen. Die Kaianlagen bestanden aus Granitblöcken, deren Größe den respektvollen Neid eines Pharaos geweckt hätte. Der Eingang zum Magazin befand sich in dem niedrigen Felsen auf halbem Weg an der querliegenden, inneren Kaimauer. Drei weitere Anleger verliefen wie die Zacken einer Gabel parallel zum ersten. Am Boden entlang der Kaimauern waren Gleise verlegt, wahrscheinlich für den Transport der Sardinen zu den langen Schuppen am Ende der Hafenmauern, um sie dort in Konserven zu packen, bevor sie erneut auf die Reise gingen, zu den europäischen Gourmets mit einer Vorliebe für Sardinen auf Toast. Jetzt waren auf den schwarzen Wasserstreifen zwischen den Piers aus Granit keine Fischerboote vertäut. Vielleicht hatten dort nie welche festgemacht. Statt dessen lagen unter den Kränen die langen, schlanken Rümpfe der drei riesigen U-Boote mit ihren merkwürdig stromlinienförmigen Kommandotürmen. Drei Männer kamen vorbei, rauchend und durch die Pfützen platschend, die vom nächtlichen Regen übriggeblieben waren. Sie trugen weite, blaue Overalls und hatten das typische unverfrorene Benehmen, das Werftarbeitern auf der ganzen Welt zu eigen ist. Sie achteten nicht auf Mallory und seine beiden bewaffneten Begleiter. Ihre Arbeit war beendet. An Deck des nächstgelegenen U-Boots – wahrscheinlich das gerammte Boot, von dem die Funkberichte gehandelt hatten – war eine Gruppe von Werftarbeitern dabei, ein Schweißgerät zusammenzupacken. Bei dem Rest der Lasten, die an den Kränen hingen, handelte es sich eindeutig um Proviant. Mallory beobachtete, wie eine Palette mit Frischgemüse und
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Milchflaschen an einem Kranarm baumelte. Die letzten Vorbereitungen. Erneut kamen Männer in blauen Overalls den Kai entlang. Etwas weiter hinten stand ein Gebäude mit einer grünen Holzfassade vor einem in den Fels getriebenen Tunnel. Von dort wehte der Geruch nach gebratenen Zwiebeln herüber. Die Kantine, dachte Mallory. Die Männer, die zur Kantine gingen, trugen Werkzeugkästen. Die Zurückkehrenden hatten Taschen und Bündel dabei und ebenfalls Werkzeugkisten. Sie hatten eine letzte Mahlzeit eingenommen und ihre Habseligkeiten geholt. Am Hafenende tuckerten kleine Schiffe im morgendlichen Dämmerlicht. Es waren Fähren, um die Werftarbeiter auf die weiter hinten im Wasser liegenden Frachter zu bringen, an deren Masten die Flagge von Uruguay gehißt war. Mallory wartete, bis zwei weitere Werftarbeiter ihn passiert hatten. Peinlich bemüht vermieden sie seinen Blick, so wie alle Zivilisten, ganz gleich welcher Nationalität, dem Augenkontakt mit einem Mörder und Folterer ausgewichen wären. Wieder näherten sich zwei Arbeiter. Einer davon war ein riesiger Mann, so groß wie Andrea. Darauf hatte Mallory gewartet. »Sie und Sie«, sprach er die beiden an. Die Männer sahen ihn mit der Miene von Schuljungen an, die ein permanent schlechtes Gewissen hatten. Einer von ihnen ließ seine Zigarette fallen und trat sie aus. Die Zigarette des großen Mannes hing unangezündet im Mundwinkel. »Keine Sorge«, krächzte Mallory. »Sie haben nichts verbrochen.« Die Gesichter blieben verschlossen. »Rauchen Sie, wenn Sie wollen«, sagte Mallory. Noch ein Mann kam auf sie zu, unaufgefordert. Mallory zog das Feuerzeug des Generals heraus und zündete mit der linken
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Hand die Zigarette des Großen an. »Es handelt sich um einen kleinen Auftrag«, sagte er. »He! Sie!« Der einzelne Mann blieb stehen. Mallory wies auf den Tunnel zum Munitionslager. »Kommen Sie!« Sie schritten in den Tunnel. Nach der grauen Frühdämmerung draußen war das Licht hier sehr grell. Die Dockarbeiter gähnten träge. Die Nachtschicht war lang gewesen, und sie hatten nur noch den Wunsch, etwas zu essen, bevor sie das Schiff bestiegen und sich schlafen legten. An Aufträgen waren sie nicht mehr interessiert, erst recht nicht, wenn sie von diesem flüsternden Kindermörder mit seinen bösartig aussehenden Leibwächtern kamen. »Worum geht es?« wollte der größere der beiden Arbeiter wissen. »Weiter«, befahl der SS-General. Sie befanden sich jetzt im Magazintunnel. In die Wand waren Stahltüren eingelassen, und es roch noch nach frischem Blut. Der General wies auf eine der Türen. »Hier hinein«, befahl er. Der große Dockarbeiter fuhr herum. »Warum?« In diesem Augenblick sah er, in verkürzter Perspektive, die Gewehrläufe der Leibwächter, die mit ihren todbringenden kleinen, schwarzen Öffnungen direkt zwischen seine Augen zielten. »Ziehen Sie Ihre Arbeitsanzüge aus«, ordnete Mallory an. Der große Arbeiter war ein brutaler Kerl. Er war müde, verkatert und hatte Hunger. Die Aufforderung, seine Sachen auszuziehen, ließ ihn hochgehen, als hätte jemand in ein Wespennest gestochen. So redete niemand mit ihm, auch kein SS-General. Außerdem ging das Gerücht, daß dieser SSGeneral ein Schwuler war. »Ziehen Sie sich die Klamotten doch selbst aus«, widersprach der Große und verpaßte dem General einen Kinnhaken. Was danach geschah, würde er nie mehr erfahren. Er hatte
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nur den undeutlichen Eindruck, als würde sein Kopf in ein Kanonenrohr gesteckt und gegen eine Wand aus Panzerstahl katapultiert. Der Matsch, der übrigblieb, fiel in einen schwarzen, mit weichem Samt gefütterten Sack. Seine beiden Kameraden standen mit offenem Mund da, während Andrea sich die Hände abwischte, den flach auf dem Bauch liegenden großen Kollegen aus seinem Overall schälte und die Werkzeuge in die Kiste zurücklegte. »Ausziehen«, kommandierte Mallory. Die Männer entkleideten sich in höchster Eile, als ginge es um einen Striptease-Wettbewerb. »Die Tür«, sagte Mallory. Miller ging zur Stahltür. Sie war von außen durch einen Riegel verschließbar. Der Raum war ungefähr drei Meter lang und diente als Lager für Farbdosen. »Hier hinein«, befahl Mallory. Einer der Männer fragte: »Wie sollen wir hier jemals wieder herauskommen?« Er sah angsterfüllt aus, ein Zivilist, der in etwas hineingeraten war, womit er nichts zu tun hatte. Mallory glaubte, daß in einem Krieg niemand unparteiisch bleiben konnte. Was ihn betraf, so teilte der Krieg die Menschen in zwei Lager: Jemand war entweder auf seiner Seite, oder er gehörte zum Feind. »Was braucht man, um auf diese U-Boote zu kommen?« lenkte er ab. »Einen Ausweis.« »Was für einen Ausweis?« Der Arbeiter zog eine mehrfach gefaltete Karte heraus, deren Seiten fettig abgegriffen waren. »Noch was?« »Nein. Wer sind Sie?« Mallory trat auf den Deutschen zu, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. »Ich brauche die Information. Wundern können Sie sich später«, sagte er.
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»Wenn ich hier herauskomme, will ich mich frei bewegen können. Sollte man mich festnehmen, werde ich kein Wort über Sie verlauten lassen. Diese Tür ist schalldicht. Sie haben also die Wahl.« Er spürte die Schweißergüsse unter seiner Uniform und sah die reglosen Gesichter von Andrea und Miller. »Sagen Sie mir die Wahrheit, dann haben Sie nichts zu befürchten. Wenn nicht, wird dieser Raum zu Ihrem Grab werden.« Die Kehle des Mannes bewegte sich krampfhaft, als würde er schlucken. Dann stammelte er: »Es fehlt … tatsächlich … noch etwas. Ein Wort.« »Aha«, sagte Mallory. »Ritter«, erklärte der Werftarbeiter. »Sie müssen Ritter zu dem Posten an der Gangway sagen.« »Wenn Sie mich anlügen, werden Sie in ihrer Unterhose sterben«, drohte Mallory. »Es ist die Wahrheit.« »Ihre Arbeitsanzüge«, verlangte Mallory. »Und welche Größe haben Ihre Stiefel?« »Zweiundvierzig.« »Gott sei Dank«, sagte Mallory. »Dann auch die Stiefel.« Fünf Minuten später wanderten drei Werftarbeiter über die Kaimauer zur Fähre. Sie trugen vielbenutzte, blau emaillierte Werkzeugkästen und rauchten Zigaretten. Für Männer, die nach Lissabon aufbrachen, unterwegs in die Heimat und zu den angenehmeren Dingen des Lebens, waren ihre Gesichter erstaunlich grimmig. Aber vielleicht lag das an der Gefahr, die einen Soldaten auf einem U-Boot im allgemeinen erwartete. Vor den Schuppen am Ende der Kaianlagen blieben die drei Männer stehen. Andrea blickte auf. Die Wolken hatten sich verzogen. Der Himmel leuchtete in hellem Blau. Es wurde Tag, ein
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wunderbarer Tag, der sich über diesem Gewühl von Menschen und den todbringenden Kriegsmaschinen erhob. Mit ruhiger, gedämpfter Stimme wandte Mallory sich an Andrea: »Die Stella Maris soll sich bereithalten.« »Ich kümmere mich darum«, sagte Andrea. Mallory blickte am ersten Pier aus Granit entlang. Zu beiden Seiten erstreckten sich schmale Wasserstreifen, in denen die wulstigen Druckkörper und engen Stahldecks der U-Boote zu erkennen waren. Zwei Gangways führten hinunter, eine nach links, die andere nach rechts, wie eine Kreuzungsstraße quer zur Hafenmole. Das war der Zugang zu den U-Booten. Wenn es gelang, an den einzelnen Matrosen vorbeizukommen, die mit geschultertem Gewehr, die Mützenbänder im leichten Morgenwind flatternd, am Ende jeder Gangway standen. Mallory atmete die Morgenluft tief ein und versuchte nicht an die engen Raumverhältnisse zu denken, die ihn hinter der Druckkörperhaut aus Stahl erwarteten, wo er mit den Granaten hinein mußte. »Superoxid«, sagte Miller und schnüffelte. »Wie bitte?« »Wasserstoffperoxid. Riecht wie das Zeug in einem Friseursalon. Hundertprozent. Meine Nase irrt sich nicht. Paß auf, daß du nicht damit in Berührung kommst. Ätzend.« »Wie gehen wir vor? Was empfiehlst du?« fragte Mallory. Miller erklärte ihm seinen Plan. »Faszinierend«, kommentierte Mallory und atmete tief durch. »Ich nehme das rechte Boot. Du das linke.« »Viel Glück«, wünschte Andrea. Mallory nickte. Sicher gab es so etwas wie Glück, aber um das Schicksal zu beschwören, spreizte man besser zwei Finger einer Hand in der Luft. Womöglich war Andreas Aufgabe noch gefährlicher, als sich mit einem Werkzeugkasten voll Handgranaten an zwei U-Boote heranzumachen.
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Nicht, daß die Aufträge sich sonderlich unterschieden. Riskant waren beide. Und der Tod fragte nicht danach, auf welchem Weg er kam. Mallory vergeudete keine Zeit, um über die Lebensgefahr nachzudenken, in der sie sich einmal mehr befanden. Er plante bereits den nächsten Schritt. Andrea mischte sich währenddessen unauffällig unter die Menge der Werftarbeiter an der Fähre. Mallory und Miller schritten den Kai hinunter, auf die Posten zu. Miller hatte die Hände in die Taschen geschoben und pfiff ein Lied. Sonniger Bursche, dachte Mallory. Welcher Situation bedurfte es, damit er sich ernsthaft Sorgen machte? Millers Gedanken bewegten sich in niedrigeren Gefilden. Der Geruch nach Wasserstoffperoxid hatte ihn in Madame Renards Haus in Montreal zurückversetzt, zu Minette, einem französisch-kanadischen Mädchen mit begabter Zunge und leuchtenden gelben Locken. Minette war etwas Besonderes gewesen, und sie hatte ihm gezeigt, was man mit zwei Goldfischen und einem Sack Zement machen konnte … Konzentriere dich. In seiner Erinnerung waren alle Schätze eines Saboteurs aufbewahrt. Miller wußte, daß der Katalysator für Wasserstoffperoxid Braunstein oder Mangandioxid war. Braunstein würde den Wasserstoff vom Sauerstoff trennen und einen Knall erzeugen, neben dem eine Handgranate nur ein leises Säuseln von sich gab. Mangandioxyd war das geeignete Mittel. Dummerweise handelte es sich nicht um eine Substanz, die überall herumlag, so daß er sich nur zu bedienen brauchte. Miller hatte das eine Ende der Gangway erreicht. Er grinste den Wachposten an und zeigte seinen Ausweis. »Ritter«, fügte er hinzu und klapperte mit seinem Werkzeugkasten. »Schwierigkeiten mit dem Klo. Brauch nur zwei Minuten.«
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Der Matrose sagte: »Na, dann Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind.« Miller marschierte über das Fallreep. Andrea schob sich durch die dichter werdende Menge am Kai. In dem allgemeinen Gedränge und Geschiebe der Werftarbeiter und Soldaten war nur wenig von gründlicher deutscher Organisation zu spüren. Der Grieche schritt auf die Kante der Kaimauer zu. Und blieb stehen. Die Schlange mochte schlecht geordnet sein, aber die Einschiffungsprozedur wurde allen Anforderungen gerecht. Es gab vier Eisenleitern, die vom Kai nach unten führten. Am Ende jeder Leiter lag eine Barkasse, und oben stand ein SSOffizier mit einem Schreibblock. Bei jedem Mann, der das vordere Ende der Schlange erreichte, überprüfte der SS-Mann den Ausweis, verglich das Foto peinlich genau mit dem Gesicht und hakte den Namen auf der Liste ab. Erst dann durfte der Betreffende die Leiter besteigen. Wenn die Barkassen voll besetzt waren, legten sie unverzüglich ab und fuhren zu den beiden Frachtschiffen, die im Hafen ankerten, und legten sich längsseits. An Deck dieser Schiffe erkannte man unseemännisch wirkende, aber sehr praktische Sandsackstellungen, über deren Ränder die Mündungen von Maschinengewehren lugten. Auch während der Evakuierung der Garnison wurde nichts dem Zufall überlassen. Andreas Overall und der Ausweis hatten einem Wulf Tietmeyer gehört. Noch so viele ölige Fingerabdrücke konnten nicht verbergen, daß Tietmeyer, obwohl beinahe von Andreas Gestalt, rothaarig war und blaue Augen hatte. Außerdem verspürte Andrea keine Lust, sich auf einem Frachter wiederzufinden, der nach Deutschland unterwegs war.
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Einen Fluch murmelnd, wandte Andrea sich zurück und erkämpfte sich seinen Weg, die wuchtigen, stahlharten Schultern nach beiden Seiten einsetzend, ein Werftarbeiter, der etwas vergessen hatte und umkehrte, um es zu holen. Als er den Anfang der Kaimauer erreicht hatte, stieß eines der U-Boote eine schwarze Qualmwolke aus, und das hohle Röhren eines kalten Diesels erfüllte die Morgenluft. Wenn die Maschinen bereits angelassen wurden, war jede Minute mit dem Auslaufen zu rechnen. Er blickte auf seine Armbanduhr. In achtzehn Minuten, genau gesagt. Sie würden pünktlich sein. Andrea blickte über die Hafenöffnung nach San Eusebio hinüber, dessen Häuser im blassen Schein der Morgendämmerung heller wurden, während die rauchgeschwärzten Fenster den leeren Blick von Toten besaßen. Die beiden Glockentürme ragten wie abgebrochene Zahnstümpfe in die Luft. Aber entlang der Kaimauern, vor den Lagerhäusern mit den blinden Fenstern, die den Hafen säumten, ankerte in zwei Reihen die Fischereiflotte. Außen, nahe der Hafenfront, lag die Stella Maris mit ihrem teergeschwärzten Rumpf und den unfachmännisch eingeholten roten Segeln. Nur hundertzwanzig Meter entfernt. Im Mittelmeer eine kurze Schwimmstrecke. Aber der hundertzwanzig Meter breite Wasserstreifen hier zeigte eine aufgewühlte Oberfläche mit tückisch aussehenden Wirbeln an manchen Stellen. Es herrschte Ebbe, und das Wasser zog sich immer noch aus dem Meeresarm zurück. Andrea hatte den Eindruck, als würden gewaltige Wassermengen durch einen sehr kleinen Auslaß ins offene Meer gesogen. Das könnte tatsächlich ein langer Schwimmausflug werden, befürchtete er. Aber er war an den Küsten der Ägäis aufgewachsen. Unter seinen Vorfahren gab es zahlreiche Schwammtaucher, und er selbst hatte als Kind ebenso viel Zeit im Wasser wie an Land verbracht. Andrea schwamm wie ein Fisch …
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Wie ein Mittelmeerfisch. Langsam und gelassen zog er einen Bleistift und ein Notizbuch aus seiner Overalltasche und schritt zum seewärtigen Ende der letzten Kaimauer. Niemand achtete auf ihn, als er den Posten passierte, der den Zugang zur Gangway auf dem am weitesten außen liegenden U-Boot bewachte. Warum sollten sie? Er war ein hünenhafter Kontrolleur im blauen Overall, der, stirnrunzelnd und die dicken schwarzen Brauen hochgezogen, die Kaimauer inspizierte. Die Deutschen waren eine Nation von Kontrolleuren. Es schien nur natürlich, daß sich in diesem winzigen Stück Deutschland an der nordöstlichen Ecke Spaniens jemand Notizen über den Zustand der Kaimauer machte. Am Ende des Kais führten Eisensprossen in der Granitmauer nach unten. Für alle, die ihn hätten sehen können, steckte Andrea den Bleistift hinter das Ohr, schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Dann begann er die Leiter hinunterzuklettern. Als er unterhalb der Kaimauer verschwand, war er bis auf die Wachen in der fortaleza für niemanden mehr zu sehen. Er hoffte, daß die Posten in den letzten fünfzehn Minuten vor dem Auslaufen schon abgezogen waren. Am Ende der Leiter ließ er sein Notizbuch und den Bleistift von der Strömung davontragen. Er streifte den Overall ab, trat aus den Schuhen und zog den Rest seiner Kleidung aus. Die Sachen trieben eine Weile in der Gegenströmung am Fuß des Anlegers, bis sie mit der Ebbe hinausgeschwemmt wurden. Nackt sah Andrea wie ein brauner Bär aus. Er berührte das goldene Kruzifix an seinem Hals und ließ sich in die grünen Wasserwirbel am Ende der Eisenleiter gleiten. Eisig kalt, dieser Atlantik, dachte er. Dann zog ihn die Strömung mit sich.
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»Ritter«, sagte Mallory zum Matrosen vor der Gangway, direkt gegenüber dem anderen Posten, hinter dem Miller verschwunden war. Der Matrose trug eine Hose aus Leder und ein Strickhemd mit ausgefranstem Saum. Sein Gesicht war blaß, mit einem fettigen Schweißfilm bedeckt, als er auf Mallorys Ausweis blickte und ihm das Papier zurückreichte. Angst, dachte Mallory und schritt die Gangway weiter. Die Werwölfe mochten eine Geheimwaffe sein, aber es handelte sich trotz allem um U-Boote, und U-Boot-Besatzungen hatten ein kurzes Leben. Eingesperrt in einer Stahlkammer zu ertrinken, Zentimeter um Zentimeter versinkend … Ein einziges Mal hatte Mallory sich auf dieses Risiko eingelassen, und er verspürte keine Lust, die Erfahrung zu wiederholen. Doch nun befand er sich auf dem grauen Stahldeck eines UBootes, die abgenutzten emaillierten Griffe des Werkzeugkastens in der schweißfeuchten Hand. Vor ihm klaffte ein Lukendeckel offen. Der Torpedoraum war sicher vorn. Auf einem U-Boot dieser Größe würde eine Handgranate wenig Schaden anrichten. Es sei denn, man benutzte sie, wie Miller vorgeschlagen hatte, als zeitverzögerten Zünder und brachte sie mit dem tonnenweise vorhandenen Amatol oder Torpex zusammen, oder was sonst in den Torpedos steckte. Dann würde das Ergebnis alle Erwartungen befriedigen … Mallory zwang sich, zum Lukendeckel zu gehen. Es wäre ihm leichter gefallen, an Deck zu bleiben und nicht in die enge Stahlwanne hinabzusteigen, die jeden Augenblick abtauchen konnte … Ob es ihm schwerfiel oder nicht, spielte kein Rolle. Die Operation mußte gelingen. Die Luke zum Einstiegsschacht war eine doppelte Stahltür im Deck. Eine Eisenleiter senkte sich in den dämmrigen, gelb
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leuchtenden Innenraum hinab. Am Fuß der Leiter zeichnete sich ein Gesicht ab, blaß, bärtig und mit schwarzen Rändern unter den Augen. Ein Maat. »Was, zum Teufel, wollen Sie?« fragte der Marineunteroffizier. »Die Toiletten überprüfen«, entgegnete Mallory dumpf und halb geistesabwesend. »Von kaputten Toiletten weiß ich nichts«, sagte der Maat. »Melden Sie sich beim Kapitän.« »Wo ist der Kapitän?« Mallory konnte spüren, wie die Sekunden weitertickten. »Kommandoturm. Sie beeilen sich besser.« Mallory kletterte an Deck zurück und über die äußeren Eisenstufen zum Kommandoturm. Er holte tief Luft und stieg das Turminnere zum Kontrollraum hinab. Die Luft war von Öl und Schweiß erfüllt, daneben roch es aber auch noch nach etwas anderem. Wasserstoffperoxid. Ein Mann in einem schmuddeligen weißen Polohemd mit dem Eisernen Kreuz an der Brust diskutierte mit einem anderen Mann. Beide hatten bleiche Gesichter und trugen Bärte. Mallory räusperte sich. »Bin hier, um nach den Toiletten zu sehen«, erklärte er. Der Mann mit dem Eisernen Kreuz trug eine Kapitänsmütze. »Jetzt?« fragte er. »Ich wußte gar nicht, daß sie kaputt sind. Verlassen Sie mein Boot.« »Befehl«, sagte Mallory. Durch die Luke schien der anbrechende Tag als helle, runde Scheibe. »Ich bin der Kapitän …« »Der Herr General war höchst nachdrücklich.« »Ich scheiße auf den General«, brummte der Kapitän. »Verdammt. Dann gehen Sie schon, und sehen Sie sich die Toiletten an. Aber ich warne Sie. Wir laufen in zehn Minuten aus, und wenn Sie dann nicht von Bord sind, schieße ich sie
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durch ein Torpedorohr nach draußen.« Gleichmütig antwortete Mallory: »Das wird nicht nötig sein.« Aber der Kapitän war bereits wieder in seine Diskussion vertieft und hatte keine Zeit für Werftarbeiter. Antrieb im Heck. Torpedos im Bug. Also nach vorn. Mallory stemmte seinen Werkzeugkasten hoch, rannte die Leiter hinunter, vorbei am Sehrohr, und eilte durch den Korridor, der ins Vorschiff führte. Er kam an der Mannschaftsmesse vorbei, sah gelagerte Torpedos und überall Schlafkojen. Im gelben Licht des Schiffsrumpfs schien es von Männern zu wimmeln, die dicht wie Sardinen in eine Büchse gepackt waren, nur mit dem unangenehmen Unterschied, daß die Sardinen dieser Konservendose noch lebten. Es gibt keine Bullaugen, mahnte eine Stimme in seinem Kopf. Du bist unter der Wasserlinie … Sei still, befahl er sich. Das Boot liegt noch immer am Kai. Mallory passierte die offene Luke. Der Maat blickte auf ihn herab und sah dann weg. Vor Mallory erstreckte sich ein Korridor bis zu einem ovalen Durchgang und endete dann. Auf der anderen Seite des Schotts entdeckte er eine lange Kammer, mit zu beiden Seiten aufgereihten dicken Rohren. Der Torpedoraum. Und rechts von ihm befand sich ein winziges Schapp, der Toilettenraum. Hinein. Mallory blickte sich um. Der Marineunteroffizier beobachtete ihn. Mit den Augen in seine Richtung zwinkernd, betrat Mallory den kleinen Raum und schloß die Tür. Seine Hände schwitzten am Griff der Werkzeugkiste. Bis fünf zählen, mahnte er sich. Ein neues Geräusch war hinzugekommen, ein Vibrieren. Die Maschinen wurden angelassen. Irgendwo ertönte eine Hupe. Jetzt oder nie, dachte Mallory. Er eilte in den Korridor zurück, kratzte sich am Kopf und
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wandte sich nach rechts zum Torpedoraum. Dort waren drei Männer damit beschäftigt, die Torpedos zu sichern. In ihren Halterungen erinnerten sie an waagerecht liegende Orgelpfeifen. Beide Männer waren einfache Matrosen. »Scheiße«, sagte einer von ihnen. »Sie beeilen sich besser.« »Überprüfe nur die Dichtungen«, erklärte Mallory. »Welche dieser Dinger feuern Sie als erste ab?« »Diese da«, sagte der Matrose und wies in eine Richtung. »Und wenn Sie jetzt so freundlich sein wollen und von hier verschwinden, damit wir damit fertig werden, diese Aale in ihre verdammten Rohre zu laden.« Die Torpedos, auf die der Matrose gezeigt hatte, lagen in der ersten Reihe, auf gleicher Höhe wie die ovalen Klappen, die zu den Torpedorohren führen mußten. Mallory quetschte sich hinter die Torpedohalterungen, so daß die Matrosen ihn nicht sehen konnten. An der Stahlwand des U-Boots entdeckte er einen Pfosten und hängte die Handgranate am Abzughebel auf. Dann schraubte er die Kappe ab, zog vorsichtig den Porzellanknopf und das Ende der Auslöseleine heraus und band alles um die Propellerwelle des Torpedos. Das war der erste Sprengsatz. Er holte einen Schraubenschlüssel und durchquerte den Raum. Der Matrose blickte nicht auf. Am untersten Torpedo der Backbordseite befestigte Mallory eine zweite Granate, dort, wo es am dunkelsten war. Die dritte und vierte Granate verband er mit der nächsthöheren Reihe. Irgendwo über seinem Kopf bewegten sich Füße auf dem Stahldeck. Das Vibrieren der Maschinen war nun lauter geworden. »Alles in Ordnung«, sagte Mallory. »Schließlich soll nicht überall die Drecksbrühe aus der Toilette fließen, nicht wahr?« Die Matrosen beachteten ihn nicht. Mallory verließ den
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Torpedoraum und schritt wieder den Korridor hinab. Die Luke stand noch immer offen, und er konnte die wunderbare Seeluft riechen. Mallory schob sich an ein paar Männern vorbei und stellte den Fuß auf die unterste Leiterstufe. Eine harte Hand umschloß seinen Arm oberhalb des Ellenbogens, und eine ruhige Stimme sagte: »Wenn Sie hier sind, um die Toiletten zu reparieren, was haben Sie dann im Torpedoraum zu suchen?« Mallory blickte sich um. Die Stimme gehörte dem bärtigen Maat. »Leinen los!« dröhnte eine Stimme an Deck. Die Luke über Mallorys Kopf wurde zugeschlagen. Zehn Meter entfernt befand sich Dusty Miller in einer anderen Welt. Miller war ein erfahrener Saboteur und schätzte, daß ihm noch sieben Minuten blieben. Er war direkt zum Kommandoturm gegangen und hatte sich beim Kapitän und dem Navigationsoffizier gemeldet, die über die Karten gebeugt standen. »Ich soll die Toiletten überprüfen«, sagte er. Mit dem desinteressierten Blick eines Mannes, der in zehn Minuten ein kompliziertes Unterwassermanöver durchführen mußte, sah ihn der Navigationsoffizier an. »Welche Toiletten?« »Einfach die Toiletten, hieß es.« »Sie wissen, wo sie sind.« Miller zuckte mit den Achseln. Sein Werkzeugkasten hing schwer herunter, mit dem Hammer, den Schraubenschlüsseln, und den vier Handgranaten. »Klar«, erwiderte er. Auf der Suche nach den Torpedos war Mallory ins Vorschiff gegangen. Miller ging nach achtern. Auf den meisten U-Booten befand sich im Maschinenraum ein großer Diesel für die Oberflächenfahrt und das Laden der zu riesigen Blöcken zusammengefaßten Blei-Säurebatterien sowie ein Elektroantrieb für die Tauchfahrt. Der Walterantrieb
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funktionierte anders. Hier verrichteten die Dieselmaschinen die gesamte Arbeit. Wenn das U-Boot auf Tauchfahrt ging, bezog die Maschine den Sauerstoff für den Verbrennungsprozeß aus dem aufgespaltenen Wasserstoffperoxid und blies das Kohlendioxid als Abfallprodukt direkt ins Wasser, wo es sich zersetzte. Miller kletterte durch die Luke auf dem Zentraldeck und folgte auf allen vieren dem niedrigen Stahlkorridor. Männer schoben sich an ihm vorbei. Er beachtete sie nicht, sondern bewegte sich weiter, einem der parallel verlaufenden, grau gestrichenen Rohre folgend, die am Schott entlang nach achtern führten. Es dauerte nicht lange, bis er den Maschinenraum erreichte. Was er sah, entsprach seinen Erwartungen. Die dicken Rohre kamen von den Treibstofftanks. Jedes war mit einem Absperrhahn versehen. Öl, Wasser, Wasserstoffperoxid. Im Maschinenraum arbeiteten Männer. Sie waren überaus geschäftig, ölten bewegliche Teile und stellten lange Reihen von Ventilen ein. Der große Diesel lief mit schepperndem Grollen, zu laut, um gehört zu werden. Miller fing den Blick eines Mechanikers auf, zwinkerte und nickte. Der Mechaniker nickte zurück. Um diese Zeit würde sich niemand im Maschinenraum aufhalten, der dort keine Arbeit zu erledigen hatte. Und die Arbeit wäre wahrscheinlich notwendig. Also blieb Miller stehen und überprüfte zum Schein die Rohre, während sein geschulter Blick über das Labyrinth von Kolben und Kammern glitt. Und er traf seine Entscheidung, beziehungsweise bestätigte den bereits getroffenen Entschluß. Über Wasser war der Waltermotor ein auf natürliche Weise mit Luft versorgter Motor. Der Wechsel von Luft zu Wasserstoffperoxid wurde durch einen Schwimmschalter im Kontrollturm erreicht. Es war ein einfaches Prinzip. Wenn das
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Wasser eine bestimmte Höhe erreicht hatte, schloß sich der Schalter und öffnete das Ventil zwischen dem Tank mit dem Wasserstoffperoxid und dem Desintegrator. Wie Miller die Sache sah, würde die Zerstörung des Ventils eine Menge der leicht entflammbaren Substanz in einem Raum mit lästigen Funken freisetzen. Es bestand wirklich höchste Explosionsgefahr, dachte er fröhlich und öffnete seinen Werkzeugkasten. Seine Finger arbeiteten rasch. Der Schwimmschalter regulierte ein einfaches Schiebeventil. Klebe die Granate an das Rohr und binde die Zündschnur an eine der Verstrebungen am Drehgriff des Schieberventils. Wenn sich das Rad dreht, wird die Zündleine in der Granate gezogen. Fünf Minuten später … nun ja, dachte Miller, dann werden die Damen und Herren gebeten, das Rauchen einzustellen. Er befestigte zwei weitere Granaten, eine an der Wasserzufuhr und die andere an der Drosselklappenverbindung, einer Stelle, an der das Rohr im Dunkeln um eine Ecke verlief. Die Länge der Zündleinen veränderte er leicht, um versetzte Zeitabstände zu erreichen. Dann ging er den Weg zurück, kletterte in den Kommandoturm und verkündete: »Alles erledigt.« Der Navigationsoffizier blickte nicht einmal auf. »Verschwinde«, sagte er. »Oh, schon gut«, antwortete Miller. Er stieg die Leiter hoch, in die kühle, nach Diesel riechende Morgendämmerung und trottete die Gangway hinunter auf den Kai. In dem Augenblick, als er die steinerne Mole betreten wollte, wußte er, daß etwas nicht in Ordnung war. Die Gangway vom Boot gegenüber wurde auf den Anleger gehievt. Auf dem Vordeck bewegten sich Matrosen und warteten darauf, die Leinen loszumachen. Miller sah, wie einer sich bückte und eine offene Luke zuklappte. Links und rechts erstreckte sich der Kai
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als graue Steinwüste, gesprenkelt mit vereinzelten Gestalten, die Uniformen oder Overalls trugen. Miller hatte lange genug mit Mallory gearbeitet, um ihn zu erkennen, ganz gleich, welche Kleidung er trug. Keine der Gestalten war Mallory. Also befand sich der Captain noch auf dem Boot, und das legte ab. Auf dem Boot gegenüber zeigten sich einige Köpfe auf dem Kommandoturm. Einer davon trug eine Kapitänsmütze. »He da!« schrie Miller durch das Klopfen und Rattern des Diesels. »Sie haben meinen Kumpel an Bord!« Stirnrunzelnd blickte der Kapitän um sich. Sie waren reiseklar. Das Boot lag nur noch vorn und achtern an der Vertäuung und lief in zwei Minuten aus. Der Kapitän betrachtete die Vogelscheuche auf dem Dock, mit dem blauen, zerkratzten Werkzeugkasten, den schlaksigen Armen und Beinen, die aus dem viel zu kurzen Overall herausragten. Dann rief er einem der Matrosen auf dem schmalen Deck etwas zu. Der Matrose zuckte mit den Achseln und kratzte sich unter der grauen Strickmütze den Kopf, bevor er sich bückte, die Handgriffe der Luke packte und den Deckel hob. Mallorys Körper war schweißüberströmt. Sein Verstand schien nicht mehr zu funktionieren. Tod durch Ertrinken in einer Stahlkammer, dachte er. Nein. Nur das nicht … »Was hatten Sie im Torpedoraum zu schaffen?« fragte der Maat. »Rohrleitungen«, antwortete Mallory. »Habe die Dichtungen überprüft.« »Zum Teufel damit«, entgegnete der Marineunteroffizier. In diesem Augenblick fiel ein Strahl aus grellem weißem Licht vom Himmel wie ein Fingerzeig Gottes und durchdrang die muffige gelbe Luft im U-Boot-Inneren. Die Luke war geöffnet worden.
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Mallory wußte, daß ein Wunder geschehen war. Ein Wunder, das ihn davor bewahrte, in einer geschlossenen Stahlkammer zu ertrinken, und ihn statt dessen unter freiem Himmel den Tod finden ließ, wo es ihm nichts ausmachte, für eine gerechte Sache zu sterben. Mallory wußte auch, daß der Maat nicht überleben würde. Er blickte zur Luke hinauf. Oben erschien ein Kopf. »Ich komme«, rief Mallory. Der Kopf verschwand. Mallory griff hinter sich und umschloß den Griff seines Dolches, den er in einer Hülle am Gesäß trug. Mit niedrig gehaltenem Messer schnellte seine Hand entschlossen vor und stieß dem Maat den Stahl mehrmals zwischen die Rippen. Die Wucht des Aufpralls ausnutzend, stieß er den Mann in eine Koje und zog eine Decke über ihn. Dann stieg er über die Leiter nach oben. Der Matrose an Deck schloß die Luke. Ein Hafenarbeiter hatte die letzten Festmacher gelöst, und der Streifen mit grünem Wasser zwischen U-Boot und Anleger weitete sich. Vom Kommandoturm her dröhnte eine Stimme: »Springen Sie!« Mallory blickte um sich. Er sah den Kapitän und sein kaltes, rachsüchtiges Gesicht oberhalb der grauen Panzerplatten. »Der mag keine Dockarbeiter«, sagte der Mann an der Bugleine. »Ich auch nicht.« Er hob einen Fuß mit einem Segeltuchschuh und trat in seine Richtung. Mallory hätte ausweichen und dem Mann ein Bein brechen können, um seine Würde zu retten. Aber sein nächster Plan hatte nichts mit Würde zu tun. Er mußte von Bord, und zwar schnell. Er sprang. Der Werkzeugkasten prallte hohl dröhnend gegen den Druckkörper des U-Boots, bevor er als blauer Schatten rasch im tiefen Wasser versank. Der Kasten und die drei Granaten, die noch darin lagen.
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Dann drang Wasser in Mallorys Mund und Augen, und er schwamm auf die Kaimauer zu. Das Lachen des Kapitäns schallte hinter ihm her, aber er achtete nicht darauf. Sein einziger Gedanke galt dem dritten U-Boot. Er hatte noch fünf Minuten, um es zu zerstören. Doch wie? Andrea schwamm ebenfalls. Tatsächlich kämpfte er im Wasser ums Überleben. In Griechenland war das Meer blau wie ein Saphir. Sicher, manchmal wühlte der Meltemi die Oberfläche auf, aber es gab keine Gezeiten, die alles mit sich rissen. Die Biscaya war anders. Das Wasser glitzerte smaragdgrün und kalt wie die Augen einer Katze. Und es bewegte sich. Als Andrea von der Eisenleiter in das eisige Wasser eintauchte, erfaßte ihn ein Strudel und wirbelte ihn herum, so daß der Hafen und die Kaimauern sich um seinen Kopf zu drehen begannen. Die Kälte hatte ihm am Anfang fast den Atem geraubt, und er vollführte Tretbewegungen im Wasser, während der Hafen ein zweites Mal um ihn herumwirbelte. Dann richtete er seinen Blick auf die entfernt liegenden Masten der Stella Maris mit ihren schlecht gerefften Segeln, und er begann zu schwimmen. Dem äußeren Anschein nach kein Problem. Aber Andrea wußte, daß es sich als Täuschung erweisen würde, sobald er das offene Wasser erreicht hätte. Sein Atem ging jetzt leichter, und er kam voran. Mit kräftigen Schwimmbewegungen trieb er seinen Körper, dessen dicke Schultermuskulatur sich bei jedem Stoß hob und senkte, durch das kalte Salzwasser. Wenn ihn jemand sah, würde nur der Kopf zu erkennen sein, ein kleiner Kopf, wie bei einem Seehund. Am Ende der Kaianlagen waren für gewöhnlich Netze zur U-Boot-Abwehr gespannt. Weil die U-Boote bald
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den Hafen verlassen würden, lagen sie nun zusammengefaltet im Bauch der Frachtschiffe. Deshalb betrug die Schwimmstrecke bis zur Stella Maris nur hundertzwanzig Meter Luftlinie. Zehn Minuten. Dann würde er die andere Seite erreicht haben. Nur eines hatte er dabei nicht bedacht. Der Gezeitenstrom war wie ein Sog, der ihn aus der Meerenge nach draußen auf die offene See hinausriß. Die stromaufwärts liegenden Masten der Stella Maris wichen rasch vor ihm zurück, erschreckend schnell. Das war für Andrea eine neue und unangenehme Erfahrung. Doch er geriet nicht in Panik, denn keine physische Gefahr, nicht einmal der Tod, konnte ihn schrecken. Andererseits hatte er sein Leben auf den Grundsatz gebaut, andere Menschen nicht im Stich zu lassen und einmal getroffene Verabredungen auch einzuhalten. Andrea zweifelte nicht daran, daß Mallory und Miller ihren Teil des Auftrags erfüllen würden. Ob er selbst diesmal sein Ziel erreichte, begann er inzwischen in Frage zu stellen. Trotz der Benzedrin-Tablette wurde er müde. Sogar er, Andrea, spürte die Erschöpfung. Er wußte, daß seine Kraftreserven verbraucht waren, und beschloß, davon abzurücken, sein Ziel auf direktem Weg zu erreichen. Jetzt war Verstand gefragt, keine Muskelkraft. Andrea wendete, bis er die riesigen schwarzen Bugnasen der im Hafen ankernden Frachtschiffe vor sich hatte. Er hörte das metallische Rasseln der Ankerketten an ihren Winden und sah einige Fährboote, die sich über die glänzende Wasseroberfläche bewegten. Er begann zu schwimmen, direkt in die Strömung hinein, ungefähr zehn Grad nach rechts versetzt. Für jeden anderen wäre es Selbstmord gewesen. Tod durch Erschöpfung. Andrea schaffte es.
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Er schwamm mit kurzen, kraftvollen Stößen gegen die Strömung, während sich vor seiner Nase eine Bugwelle aufbaute. Der Kai, von dem er losgeschwommen war, hatte sich entfernt, als er nach draußen getrieben worden war. Aber jetzt entfernte sich auch die Mauer zu seiner linken Seite. Und das näher am Land liegende Frachtschiff, das er von achtern gesehen hatte, lag mit der Steuerbordseite zu ihm. Die Hoffnung, von der Stelle zu kommen, erlaubte sich Andrea nicht. Er schwamm verbissen weiter, noch einmal zweihundert Züge. Als er einen geriffelten Buckel mit weißen Wellenkämmen durchquerte, schlug ihm das Wasser hart ins Gesicht. Andrea bekam Salzwasser in die Nase und spuckte. Er war erschöpft. Und er mußte sich neu orientieren. Die Stella Maris lag weit von ihm entfernt, hinten im Tidenstrom. Aber sie befand sich nur ungefähr zwanzig Grad rechts von ihm. Er erreichte die andere Seite. Doch damit waren noch lange nicht alle Probleme gelöst. Die Wellen hoben sich stärker, mit regelmäßigem Rollen. Als Andrea neunzig Grad nach links blickte, sah er weder die Kaimauern der Stadt noch die Klippen des Cabo unterhalb der fortaleza, sondern das offene Meer. Andrea schwamm weiter, immer geradeaus. Hier draußen war der Gezeitenstrom schwächer, doch seine schmerzhaft verkrampfenden Beinmuskeln, die ermüdenden Schultern und sein hämmernder Herzschlag sagten ihm, daß er bald am Ende seiner Kräfte angelangt war. Ein Mann überwand alle Grenzen. So stand es in Andreas Buch der Lebensregeln. Irgendwie gelang es ihm, eine letzte Kraftreserve zu mobilisieren. Mit dieser Reserve arbeitete er sich weiter voran, bis er feststellte, daß er sich im ruhigeren Gewässer vor dem Strand von San Eusebio, an der Stadtseite des Meeresarms,
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befand, und daß sich die Kaimauern mit den doppelreihig vertäuten Fischerbooten näherten. Er stellte sich für einen Moment senkrecht ins Wasser und bewegte tretend die Beine. Seine Füße berührten den Grund. Er blickte auf den Weg zurück, den er gekommen war. Mit Ausnahme eines tiefgrunen Streifens in der Mitte der Durchfahrt wurde das Wasser zu beiden Seiten der Meerenge blasser. Es sah aus, als würde der Arm bei Ebbe trockenfallen. Vor ihm wurde das Wasser ebenfalls heller. Nur an der Stelle, an der es gegen die Kaimauern der Stadt schlug, dort, wo auch die Fischereiflotte lag, schimmerte es dunkel. Sein Schwimmausflug war gewaltig gewesen. In fünf Minuten würde er zu Fuß gehen können. Jemand anderes hätte gelacht oder geweint oder wäre erleichtert gewesen. Andrea tat nichts davon. Er hatte ein schwieriges Hindernis überwunden, und an seine Stelle waren einfachere Bedingungen getreten. Das Ziel blieb das gleiche. Er mußte an Bord der Stella Maris gelangen, innerhalb der – er blickte auf seine Armbanduhr – nächsten vier Minuten. Er watete durch das Wasser. Hauptsturmführer von Kratow mochte Spanien nicht. Die Bevölkerung des Mittelmeerraums war ein fauler Haufen, rassisch suspekt und unzivilisiert, auch wenn von Kratow zugeben mußte, daß sie bei einer Operation wie dem WerwolfProjekt ihre Vorteile besaß. Es stimmte, überlegte er, während er die Steinstufen zur fortaleza erklomm, um dem General Bericht zu erstatten, daß etwas in der Luft lag. Eine Einschiffung sollte nicht so schwierig sein. Aber es herrschte eine Stimmung, nun ja … manana wäre wohl das richtige Wort, in der sogar die straffe Ordnung und Organisation der SS ins Wanken geriet.
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Aber jetzt war alles in Ordnung. Bei dem Angriff auf das Haupttor schien es sich um falschen Alarm gehandelt zu haben, und die Einschiffung war beinahe abgeschlossen. Jetzt blieb nur noch die Berichterstattung an den General, der höchst erfreut sein würde. Ein Hundsfott von General, mit seinem türkischen Tabak und, wie seine Truppen meinten, der schlaffsten Gummihand im ganzen Reich. Aber ein Hundsfott, der seine Männer zu schätzen wußte, vor allem, wenn sie gut gebaute Junker wie von Kratow waren und eine schmucke Figur in Uniform abgaben sowie ihre Arbeit korrekt erledigten. Die drei überholten Unterseeboote und eine glatt verlaufende Evakuierung brachten ihm mit Sicherheit eine Beförderung ein. Davon ging von Kratow aus. Er stieß die prunkvolle Tür zum Generalsquartier auf und schnupperte nach dem türkischen Tabak. Es war kein Tabak zu riechen. Von Kratow runzelte die Stirn. Solange er Adjutant gewesen war, hatte immer eine Zigarette zwischen den künstlichen Fingern des Generals geglommen, außer wenn er geschlafen hatte. Jetzt, nachdem die Evakuierung beinahe abgeschlossen war, würde er kaum schlafen. Von Kratow öffnete die Tür. Weiches Morgenlicht drang durch den Teil des gotischen Fensters, der nicht vom Vorhang bedeckt war. Der Tabakqualm hing schal in der Luft, und das Feuer vom Vorabend war zu Asche niedergebrannt. Von Kratow ging durch den Raum zum Schreibtisch und nahm sich eine Handvoll türkischer Zigaretten aus der Dose. Der General würde es nie bemerken. Die Luftwaffe brachte ihm wöchentlich Nachschub. Gott weiß, wo sie heutzutage türkische Zigaretten herbekamen. Von Kratow gähnte und streckte sich. Es war eine lange Nacht gewesen, eine von vielen. Aber nun waren sie fertig
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Hinter dem steinernen Gitterwerk des Fensters glänzte der Hafen wie grünes Glas in der strahlendgelben Sonne, die sich eben über den Bergen im Osten erhob. Die Frachtschiffe lagen bereit, die Anker zu lichten, während die Transportboote ihre letzten Fahrten machten, um die wenigen verbliebenen Männer vom Kai an Bord zu bringen. Unten in den Reparaturdocks pufften die Werwolfboote blauen Abgasnebel in den Himmel. Das erste U-Boot hatte seine Leinen losgemacht, und der Bug schien sich nach draußen zu bewegen. Das war’s also, dachte von Kratow. Mission erfolgreich beendet. Es war an der Zeit, daß auch er sich einschiffte. Und der General. Von Kratow war ein ordentlicher Mensch. Bevor er zur Schlafzimmertür ging, um anzuklopfen, zog er den schweren Brokatvorhang zur Seite, der zur Hälfte das Fenster verdunkelte. Das war der Augenblick, in dem er den General fand. Für vielleicht zehn Sekunden stand der Adjutant wie versteinert, den Blick starr auf die hautfarbene Seidenunterwäsche, das wächserne Gesicht und die schwarze, angetrocknete Blutspur am rechten Ohr gerichtet, bevor sich seine Hand erneut zur Zigarettendose auf dem Tisch bewegte. Seidene Unterwäsche, sinnierte er, als er sich eine Zigarette anzündete. Dann drückte er bedächtig auf den Knopf hinter dem Vorhang. Den Auslöser für Großalarm. Plötzlich schrillten überall auf dem Cabo de la Calavera Sirenen. Wasser spuckend, krabbelte Mallory die Eisensprossen an der Granitmauer hoch. Vor seinen Augen lagen die Kaimauern. Eine granitgepflasterte Fläche mit allmählich austrocknenden Pfützen, mit Kränen versehen und durchbrochen von drei
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großen Einschnitten, die den U-Booten als Docks gedient hatten. Das U-Boot, das dem Ufer am nächsten lag, setzte sich gerade in Bewegung. Dann erhob sich hinter Mallory metallisches Dieselröhren, begleitet von dem zischenden Geräusch, mit dem die Ruderblätter das Wasser aufwühlten. Das nächste U-Boot – seines – verließ ebenfalls das Dock. Das dritte U-Boot lag noch immer ruhig im Wasser. Mallory behielt es im Auge, als er sich oben an der Leiter ausruhte. Er war plötzlich müde, trotz der Benzedrin-Tablette, so müde, daß er es kaum mehr geschafft hätte, sich die letzten Sprossen zum Kai hochzuziehen. In diesem Augenblick sah er etwas Furchtbares. Oben auf dem Kommandoturm stand Dusty Miller, offenbar in eine Diskussion mit einem Mann verwickelt, der eine Mütze trug. Der Bemützte, wahrscheinlich der Kapitän, schalt ihn, er bringe den ganzen Laden durcheinander. Das Boot lege jetzt ab, und deshalb wäre es besser, der Mechaniker beeile sich, wenn er nicht dort festsitzen wolle. Dusty Miller gewann die Auseinandersetzung und tauchte ab. Schnell, dachte Mallory. Um Gottes willen, beeil dich. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war drei Minuten vor fünf. Vor der Zeit. Die Boote liefen zu früh aus. Es war zu spät. Mallory entfernte sich von dem U-Boot, von dem er gekommen war und auf dessen Toilette der tote Marineunteroffizier lag … In diesem Augenblick bemerkte er, daß überall im Hafen Alarmglocken gingen. Der Kommandoturm, in den Miller verschwunden war, glitt seitlich am Kai entlang. Mallory hörte förmlich den Wortlaut des Befehls: Für den Fall, daß es Schwierigkeiten gibt, laufen Sie aus. Also verließen die U-Boote drei Minuten früher als geplant
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ihre Docks. Und auf einem von ihnen befand sich Dusty Miller. In Mallory rückte sich etwas gerade. Er nahm sich zusammen, und alle Erschöpfung war vergessen. Heiser vor Zorn brüllend, rannte er hinter dem aus dem Wasser ragenden Kommandoturm her. Aber das Unterseeboot war schneller, als Mallory die Kaimauer entlanglaufen konnte. Die drei U-Boote versammelten sich im Wendebecken am Ende der Kaianlagen und stemmten sich dem auslaufenden Wasser entgegen. Riesige Grauwale aus Metall, so lang wie Schlachtschiffe, felsenhart mit ihren stromlinienförmig aufsitzenden Kommandotürmen, weißen Schaum mit ihren Schrauben aufwühlend. An Deck liefen geschäftig Matrosen umher und erledigten die letzten Handgriffe, bevor die Boote in See gingen. Mit der heiteren Gelassenheit von Männern, die wußten, daß hundert Meter Wasser über ihnen sie unantastbar machten, unterhielten sich die Kapitäne auf den Kommandotürmen miteinander. Während das hektische Hupen anhielt, blickte Mallory in wilder Verzweiflung über den Steinrand der Kaimauer. Er entdeckte ein Ruderboot. Das Boot war klein und verrottet und stand zur Hälfte voll Wasser. Aber es besaß Ruder und Riemen und wirkte schwimmfähig. Mallory griff nach dem Tau, womit es an einem Poller festgemacht war. Er wickelte das Seil um seine zerschundenen Hände, kletterte daran entlang nach unten und schnitt es dann mit dem Messer durch. Das Boot schwamm frei im Wasser. In seinem Kopf war eine Idee entstanden, ein verrückter Einfall, der ihm in seiner Erschöpfung gekommen war. Fahr zu diesem U-Boot. Hämmere an die Außenhaut. Sag den Kerlen, daß ein Irrtum vorliegt. Werftarbeiter eingeschlossen. Muß von Bord. Schnell. Dann könnten sie weiterrudern, zur Stella Maris, und
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hätten zumindest eine Chance … Er riß an den Riemen, und die kleine Nußschale schoß über den Wasserwirbel am Ende der Kaimauer. Die Strömung packte das Boot. Vier Knoten Strömungsgeschwindigkeit. Mallory erreichte beim Rudern bestenfalls zwei Knoten. Mit beängstigender Geschwindigkeit glitten die U-Boote an ihm vorbei. Mallory wendete das Boot, um umzukehren. Er hatte keine Chance. Die U-Boote hätten ebensogut in Berlin sein können, so unerreichbar waren sie. Das Herz schwer vor Schmerz, pullte Mallory das kleine Boot über den Meeresarm, um die Stella Maris zu erreichen. Es dauerte nicht lange, bis die Luft von sausenden Geräuschen erfüllt war, zusammen mit kleinen Explosionen wie bei einem Feuerwerk. Jemand schoß auf ihn. Tatsächlich waren es viele, die von den Frachtschiffen auf ihn feuerten. Dumpf erinnerte sich Mallory an die Sandsackwälle um die Lukendeckel, die Mündungen der Maschinengewehre und Kanonenrohre. Wahrscheinlich würden die Kugeln ihn treffen. Mallory stellte fest, daß es ihn nicht kümmerte. Etwas war schiefgegangen. Aber was zählte das noch? Sie hatten Miller verloren. Eine Stimme in seinem Kopf, die nach Jensen klang, sagte: Wenn er sterben muß, hätte Miller sich einen Tod wie diesen gewünscht. Blödsinn, antwortete Mallorys eigene Stimme. »Befehl«, schrie Miller dem Kapitän auf dem letzten U-Boot entgegen. »Vom General. Ich muß den Bug inspizieren. Sie dürfen erst in fünf Minuten auslaufen.« Der Kapitän hatte einen runden Kopf mit kurzgeschorenen Haaren, ein gebrochenes Nasenbein, und die Spuren extremer Erschöpfung standen ihm ins Gesicht geschrieben. »Bringen Sie diesen Mann nach unten«, sagte er zum
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Steuermann neben sich. »Und sorgen Sie dafür, daß er auf dem Kai steht, wenn wir abdampfen. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich.« »Zu Befehl, Kapitän«, sagte der Steuermann. Er war ein kleiner, blasser Mann und wirkte nicht begeistert, den Kommandoturm verlassen zu müssen. »Wohin wollen Sie?« »Maschinenraum, vorn«, sagte Miller und klapperte mit seinem Werkzeugkasten. »Im Vorschiff gibt es keinen Maschinenraum.« »Ich habe meine Befehle«, entgegnete Miller. »Ich zeige Ihnen, wo’s langgeht«, erwiderte der Steuermann. Er kletterte die Leiter herunter und eilte nach achtern. Die Kommandoturmluke öffnete sich als kreisrunde, taghelle Fläche über dem Kontrollraum. Als Miller hinter dem Steuermann die Treppe hinunterstieg, meinte er Alarmsirenen und Rufe zu hören. Aber ihm standen fünf Minuten zur Verfügung. Das Sirenengeheul mußte nichts zu bedeuten haben. Ihn beschäftigte vielmehr, wie er den verdammten Steuermann loswerden konnte. Der Mittelgang eines U-Boots war inzwischen vertrauter Boden für Miller. Gelbes Licht, Hitze, verschwitzte Gesichter. Nur das Maschinengeräusch entsprach nicht seinen Erwartungen. Es war noch immer ein lautes, klapperndes Röhren, aber dann wechselte es die Tonhöhe, wurde lauter und heller, hielt sich konstant, bevor es noch mehr anschwoll. Der Steuermann blieb stehen und sah Miller an. Sein Mund bewegte sich, ohne daß durch den Krach des Diesels etwas zu hören war. Aber es war leicht, die Bedeutung von seinen Lippen zu lesen. Millers Herz machte einen schmerzhaften Satz in der Brust. Die Worte, die der Steuermann mit den Lippen formte, lauteten: »Wir legen ab.« Für eine Sekunde war Millers Gesicht vor Schreck erstarrt.
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Dann grinste er. »Tja, wenn das so ist«, sagte er obwohl er wußte, daß der andere ihn nicht verstand. »Dann haben wir jede Menge Zeit.« Sie befanden sich bereits vor dem Maschinenraum, und der Steuermann sagte: »Sehen Sie, nichts mit Vorschiff.« Miller grinste breit, mit übertrieben aufgerissenen Augen. »Tatsächlich. Hätte ich nie gewußt.« Der Steuermann wies hinter sich, den Korridor entlang zur Leiter. Miller konnte beinahe sehen, wie die Gedanken im Kopf des anderen arbeiteten: Meine Schuld ist das alles nicht; wir sind einfach zu früh ausgelaufen. Aber ich muß diesen Idioten jetzt unbedingt zur Brücke zurückbringen. Der Alte hat ihn in der Hitze des Augenblicks anscheinend völlig vergessen. Mehr habe ich nicht damit … Noch immer grinsend, starrte Miller dem Steuermann hinterher, als dieser mit gestikulierenden Handbewegungen zur Leiter lief. Das Verlangen, nach oben zu klettern, quälte ihn wie einen Süchtigen, der sein Heroin nicht bekam. Der Steuermann kehrte zurück und schob ihn zum Niedergang. Miller schlug den Marineoffizier nieder. Er traf ihn hart im Magen. Wäre er Andrea gewesen, würde der Mann nicht mehr leben. Aber Miller war Sabotagespezialist. Er tötete nicht mit bloßen Händen. Der Steuermann stöhnte auf und krümmte sich auf dem Deck zusammen. Miller blickte sich um. Im Mittelgang befanden sich drei Männer, die zugesehen hatten. Miller schritt über den Körper auf dem Deck und marschierte forsch nach achtern. Das Röhren der Dieselmotoren hatte sich jetzt stabilisiert. Er betrat den Maschinenraum durch das Kugelschott und zog es mit den Griffen hinter sich zu. Vor ihm, von der Decke des Bugraums, hing eine Kettenwinde. Wie in einem Bergwerk, dachte Miller und griff nach der Kette. Er hatte Tausende von Stunden unter Tage verbracht,
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und viele davon waren glückliche Stunden gewesen. Als er die Kette um die Türgriffe wickelte, fühlte er sich ganz zu Hause. Draußen wurde jetzt versucht, die Tür mit den Griffen auseinanderzuschieben. Als dies mit bloßen Händen nicht gelang, folgte ein Geräusch, als würde mit einem Vorschlaghammer dagegen gedonnert. Schlagt nur ordentlich zu, dachte Miller. Die Kette ist gute deutsche Wertarbeit, und U-Boote sind nicht gebaut, um den Feind von innen zu bekämpfen. Tatsächlich war noch nie etwas über feindliche Eindringlinge auf U-Booten bekannt geworden. Denn wenn ein U-Boot unterging, versank es mit Mann und Maus, den Feind inbegriffen. Eines Tages mußte es geschehen, sagte Miller zu sich selbst. Aber die Worte halfen nicht. Er bückte sich, öffnete die Werkzeugkiste und nahm die beiden Granaten heraus. Plötzlich roch er Tabakrauch. In diesem Moment kam um die Ecke des Dieselblocks ein blasser, ölverschmierter Mann mit ärmellosem Unterhemd zum Vorschein, im Mundwinkel eine Zigarette. Er sah Miller verblüfft an, wie jemand, der seine Schiffskameraden kannte und sich nun über das plötzliche Auftauchen eines Fremden in ihrer Mitte wunderte. Dann wanderten seine Augen zu Millers Händen. Den Mechaniker angrinsend, schob Miller die Granaten verstohlen in den Werkzeugkasten zurück. Der Blick des Mannes blieb auf die Granaten geheftet. Sein Gesicht wurde kalkweiß. Er nahm einen Schraubenschlüssel in die Hand, ließ die Zigarette zu Boden fallen und kam auf Miller zu. Der Mechaniker war klein, beinahe zwergenhaft, und so breit wie hoch. Der Steuermann von vorhin war durch seine
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Tätigkeit im Kontrollraum körperlich außer Form geraten. Der Mann hingegen, den Miller jetzt vor sich hatte, leistete schwere körperliche Arbeit, und unter der weißen Haut an seinen Schultern traten die schwellenden Muskelpakete hervor. Er packte den Schraubenschlüssel mit beiden Händen, hob ihn, als wäre es ein Baseballschläger und stürmte wie eine ölverschmierte Furie durch den Mittelgang auf Miller zu. Miller stieß dem Mann seine Werkzeugkiste entgegen. Zuviel Benzedrin und zu wenig Voraussicht waren Schuld, daß der Schwinger heftiger als geplant ausfiel und Miller seinen Angreifer völlig verfehlte. Das Kraftpaket schlug krachend mit dem Schraubenschlüssel auf Millers Werkzeugkasten, so daß er Miller aus der Hand flog, über die Bodengitter schlitterte und aufsprang. Werkzeuge und Granaten fielen heraus. Miller blickte kurz den Granaten hinterher, die nicht entsichert und damit nutzlos in den Tunnel rollten, durch den die Antriebswelle des Propellers verlief. Dann warf er sich zur Seite, während der Schraubenschlüssel dort gegen das Stahlschott schlug, wo sein Kopf wenige Sekunden davor noch gelegen hatte. Mit dem Rücken zur Tür blieb Miller stehen und atmete keuchend ein. Der gelbe Widerschein des Deckenlichts glänzte auf dem verschwitzten Gesicht des zwergenhaften Mannes. Voller Zorn starrte er Miller an. Im nächsten Moment konnte er beobachten, wie es im Gesicht seines wütenden Gegenübers zuckte, und er kannte den Grund. Der Klang der Maschinen hatte sich verändert und war zu einem hochtönenden Heulen geworden, während der Boden sich langsam neigte. Das heulende Geräusch kam vom Desintegrator. Die Maschinen hatten auf das Walterverfahren umgestellt. Jetzt wurde der Dieseltreibstoff statt mit Luft mit dem chemisch gewonnenen Sauerstoff vermischt. Das U-Boot war auf Tauchfahrt gegangen.
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Wieder kam der vierschrötige Mann auf Miller zu, der ihm den Fuß in den Magen rammte. Es war, als würde er gegen Eisen treten. Der Mann blieb unbeeindruckt. Weg von der Tür, schoß es Miller durch den Kopf. Aber ich kann nicht, sonst nimmt er die Ketten ab, und der Rest der Mannschaft stürmt herein … Bevor der Schraubenschlüssel gegen das Metall krachte, sprang Miller aus dem Weg. Die Tür war jetzt gleichgültig. Mit in den Stahl gedrücktem Kopf wäre Miller zu nichts mehr zu gebrauchen. Er wußte, daß er den Kampf verlieren würde. Aber das Kraftpaket schien vergessen zu haben, daß die Tür überhaupt existierte. Er war U-Boot-Mechaniker, und wenn jemand mit Granaten in seinen Maschinenraum eindrang, verlor er die Fähigkeit zu rationalem Denken. Wieder schwang er den Schraubenschlüssel. Verbissen wich Miller der Waffe aus. Der Schlüssel traf ihn an der Schulter und lahmte seinen Arm. Er stolperte rückwärts gegen den Maschinenblock, den Kopf zwischen den sich hebenden und senkenden Ventilstößeln, und rollte über das Bodengitter. Dabei entdeckte er einen zweiten Schraubenschlüssel und hob ihn auf. Doch dieser war zu schwer, als daß Miller ihn hätte schwingen können. Immerhin, besser als überhaupt keine Waffe. Der U-Boot-Mechniker kam erneut auf ihn zu. Hastig wich Miller hinter die Maschine zurück. Rückzug, immer wieder Rückzug. Dieser Mann kannte sein Territorium, und er würde Miller wie Jagdwild in die Enge treiben, bis er festsaß. Dann würde er ihn töten. Das wäre das Ende. Ein Werwolf schwamm frei und unbehelligt im Ozean, und alle Anstrengungen waren umsonst. Der Gedanke an die vergeudete Mühe versetzte Miller mit
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einemmal in Rage. Er spürte, wie sich noch einmal alle Energie in ihm sammelte. Als der Mann erneut auf ihn zukam, schwang Miller seinen Schraubenschlüssel. Der Mann sprang zurück, und der schwere Stahlkopf zerschmetterte das Rohr in der Wand direkt unter dem Gewindegang einer Verbindungsstelle. Plötzlich roch es im Maschinenraum wie in einem Friseursalon. Das Gesicht des Technikers hatte sich ebenfalls verändert. Er starrte auf das Rohr, das Miller getroffen hatte, und sein Zorn war verschwunden. Statt dessen stand ihm die nackte Angst ins Gesicht geschrieben. Miller spürte das Gewicht des Schraubenschlüssels in seiner Hand. Er wußte, daß seine Kraft nur noch für wenige Hiebe genügen würde. Einen noch. Mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit war der Maschinist noch bei dem gebrochenen Rohr. Miller nahm den Schraubenschlüssel, holte aus und schlug erneut gegen die Leitung, hob dann ein zweites Mal an und ließ das Werkzeug auf den Kopf des Maschinisten krachen. Mit einem Geräusch, das Miller eher spüren als hören konnte, fiel der Mann wie ein Sack Zement zu Boden, die Augen nach oben gerollt. Tot, dachte Miller. Er ist tot. Jetzt schnell. Aus dem Rohr drang Wasserstoffperoxid und floß über den toten Mechaniker. Als die Flüssigkeit mit dem Körper in Kontakt kam, stieg Rauch auf. Der andere Katalysator, bei dem sich Wasserstoffperoxid in seine Bestandteile zersetzte, war das Enzym Oxidase. Es kam im menschlichen Blut vor. Miller rannte zum hinteren Ende des Maschinenraums. Neben dem Dichtungsstutzen der Propellerantriebswelle befand sich ein Schrank, eine Art Spind mit Stahltüren, auf
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dem Siebe-Gormann stand. Der Maschinenraum füllte sich mit freiem Sauerstoff und Wasserstoff. Auf dem Deckboden hatte die Zigarette des Toten zu glimmen aufgehört und mit heller Flamme zu brennen begonnen. Die Zeit drängt, dachte Miller. Mallory ging alles zu langsam, als würde sich die Welt plötzlich in einer anderen Zeitqualität bewegen, zähflüssig und träge. Er sah den flachen, grünen Spiegel der Wasseroberfläche, die roten und grünen Leuchtspurgeschosse, die sich von den Frachtschiffen in die Luft erhoben, als gemächlich aufsteigende, kleine Ballone über seinem Kopf sammelten, ihn umkreisten und dann niederstürzten, das Wasser zu Schaum aufwühlend. Unter der felsigen Braue des Cabo de la Calavera schwammen die U-Boote, drehten sich und formierten sich zu einer Linie. Miller befand sich auf dem Boot, das die Gruppe anführte. Dann folgte das U-Boot, auf dem sein amerikanischer Kollege vorher gewesen war. Mallorys Boot bildete den Schluß. Das Ruderboot schaukelte auf den kleinen, unruhigen Wellen einer Tidenströmung. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht. Etwas krachte in die Heckverstrebung. Mallory beschirmte die Augen vor den Splittern und spürte, wie das Fleisch an seiner Wange aufgerissen wurde. Etwas lief über seine Wange. Das mußte Blut sein. Das Ruderboot geriet in einen Strudel, und während die Nußschale umhertanzte, sah Mallory die Hafenmauer der Stadt San Eusebio mit den nebeneinander festgemachten Fischerbooten. Von seinem unruhigen Boot aus schienen sich die Masten dort zu bewegen … Ein Mastenpaar rührte sich tatsächlich. Die Masten der Stella Maris.
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Sie bewegten sich langsam vorwärts, krochen an den Takelagen der anderen Boote und den heruntergelassenen Rolläden der Lagerhäuser vorbei. Dann wurde das Schiff schneller, der schwarze Rumpf verjüngte sich, und die Masten verschwammen zu einer Linie, als die Stella Maris – mit wem auch immer am Ruder – den Bug direkt auf Mallory richtete. Sie kamen, um ihn an Bord zu nehmen. Aber nicht Miller. Die U-Boote verließen die Hafenmole und glitten langsam durch das friedlich daliegende und wie grüner Satin glänzende Wasser. Das erste U-Boot befand sich bereits in der Fahrrinne, und über seinem Deck schlugen grüne Wassermassen zusammen. Rasch schickte es sich an, von der Oberfläche zu verschwinden, als sollte niemand sehen, wie es einen neutralen Hafen verließ. Das Boot tauchte, und Miller war noch an Bord. Zu Mallorys Füßen krachte Metall in das Ruderboot, und plötzlich stand Wasser, wo vorher die Bootsplanken gewesen waren, Wasser, das durch drei faustgroße Löcher hereinströmte. Mallory versuchte die Löcher zu stopfen, indem er sich dagegenstemmte, aber seine Füße waren zu klein. Mit einemmal war das Ruderboot ein Teil des Hafens, und das kalte Wasser reichte Mallory bis zum Hals. In nächster Nähe tuckerte ein Bootsmotor. Die teerschwarze Nase der Stella Maris tauchte auf, einen kleinen Schnurrbart aus Schaum vor sich herschiebend. Ein Kopf lehnte sich über den Bug, und eine Stimme sagte: »Bonjour, mon Capitaine.« Der Kopf gehörte Andrea. Andreas Hand griff nach unten und packte Mallory am Handgelenk. Mallory spürte, wie er himmelwärts gezogen wurde. Dann umklammerte er die hölzerne Reeling und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem schmutzigen Deck der Stella Maris. Inzwischen hatte das erste U-Boot den Meeresarm auf halber
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Länge durchquert. Nur der Kommandoturm ragte noch aus dem Wasser. Andreas rätselhafte, byzantinische Augen blickten ausdruckslos. Nur die große Reglosigkeit des Griechen verriet etwas von seinen Gefühlen. Die Stella Maris nahm Kurs auf die Fahrrinne, auf das offene Meer zu. Mallory torkelte nach achtern, um Jaime am Steuer abzulösen. Er richtete das Boot direkt auf die Flanke des letzten U-Bootes. Auf dem Kommandoturm waren noch immer Köpfe zu sehen. Einer dieser Köpfe schrie etwas und gestikulierte dem kleinen schmutzigen Fischerboot, sich fernzuhalten. Die Besatzungen der Frachtschiffe hatten das Feuer eingestellt, aus Angst, die UBoote zu treffen. Und unten im Torpedoraum, dachte Mallory, war die Crew dabei, die Hebezüge über die ersten Torpedos zu manövrieren, die Rohre von innen zu öffnen und zu laden, bereit für den Feind, der draußen in jeder Bucht auf sie lauern könnte. Die Hebezüge würden hochgehen, die Zündschnur der Granate straffziehen und den fünf Minuten verzögernden Zeitzünder aktivieren. Mallory stand in der kühlen Morgenbrise und beobachtete die beiden Kommandotürme vor ihm, der eine bereits halb untergetaucht, der andere mit umspültem Sockel. Zwanzig Meter entfernt kroch das Wasser langsam die Oberfläche des letzten U-Bootes hinauf. Die Köpfe oben auf der Brücke waren verschwunden. Die Explosion blieb aus. Sie haben die Granaten gefunden, dachte Mallory. Wie konnte man auch erwarten, ein U-Boot mit Granaten und Zündschnur zu zerstören? Er drehte das Steuerrad nach Backbord, um die Stella Maris in dem schmalen, türkisfarbenen Streifen zu halten, der den blaßgrünen Flachwasserbereich von der tintenblauen Durchfahrtrinne
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trennte. Der Rumpf des letzten U-Boots lag jetzt ganz unter Wasser. Es entkam. Mallory griff nach einer Zigarette, steckte sie in den Mund und beobachtete die Fahrrinne. Der Tiefwasserkanal explodierte vor seinen Augen. Eine grellweiße Stichflamme schoß bis in den Himmel hinauf und riß Millionen Tonnen Wasser mit sich, Wasser, das immer höher stieg, bis es so aussah, als würde die Fontäne niemals enden. In die entgegengesetzte Richtung entstand ein Wasserfall, der einen Lärm verursachte, gegen den ein Donnerschlag nicht lauter war als eine Stecknadel, die auf einen Perserteppich fiel. Eine Wasserwand polterte auf die Stella Maris, ließ sie bis in die Mastspitzen erbeben und überspülte sie. Als sich das Fischerboot schwankend wieder aufrichtete, war der Hauptmast verschwunden. Aber der Bolander-Motor tuckerte unermüdlich weiter, und Andrea war bereits mit einer Axt oben in der Takelage, um die zerstörten Wanten und Stage abzutrennen. Das verhedderte Tauwerk warf er über Bord. Es schwamm wie ein Seeungeheuer in den Wellen, vermischte sich mit dem Öl, den Matratzen und anderem, weniger leicht zu identifizierendem Treibgut, das noch immer aus der brodelnden Masse von Sand und Wasser auftauchte, die einmal das dritte U-Boot des Werwolfrudels gewesen war. Muß ganz unten in der Rinne gewesen sein, überlegte Mallory. Sonst hätte es uns mit in die Luft gejagt … Von weiter draußen ertönte ein zweiter Donnerschlag, gefolgt von aufbrodelnden Wasserblasen, die mit Rauch gefüllt waren. Als sie platzten, hinterließen sie einen Ölfilm auf der Oberfläche. Hugues fragte: »Was war das?« »Noch ein U-Boot«, antwortete Mallory. Die Blasen stiegen
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eine halbe Minute lang auf, in großer Zahl, und sehr dick. Keine Leichen. Keine Matratzen. Eine Kriegsmaschine aus Stahl hatte sich in Luft und Öl aufgelöst. »Bon Dieu«, murmelte Hugues entsetzt. Jaime sagte: »Die Schiffe.« Er blickte über seine Schulter nach achtern. Die Frachtschiffe hatten die Anker gelichtet. Verschwommen und wie durch ein Vergrößerungsglas hinter der Wolke aus Rauch und Gischt zu erkennen, die noch immer vom letzten UBoot niederregnete, wirkten sie riesig. Von den Maschinengewehren auf ihren Decks begannen wieder Leuchtspurgeschosse emporzusteigen. »Merde«, sagte Jaime. Die Schiffe waren schneller als die Stella Maris. Sie würden das Fischerboot einholen und es versenken. Das wäre noch die beste Alternative. Auch gut, Dusty, dachte Mallory mit neuer, überraschender Heiterkeit. Das Unternehmen ›Sturmkolonne‹ sind wir alle gemeinsam … Andrea hatte die Bren aus ihrer Ummantelung gezogen und nahm, auf dem Achterdeck der Stella Maris liegend, das auf sie zuhaltende Frachtschiff ins Visier. Flammen tanzten aus dem Mündungsrohr. Mit einer einzigen Bren gegen zwei Schiffe kämpfen. Nicht fair, dachte Mallory … Vom Meeresgrund kam ein Rumpeln, das die Stella Maris unter Mallorys Füßen erbeben ließ. Als er sich umblickte, sah er einen weißen Wasserberg vor der Küste in die Höhe steigen. In diesem Moment vergaß er die Frachtschiffe und den ganzen Rest. Denn dieser Wasserberg, der so rasch wieder in sich zusammensank, wie er sich aus dem Meer erhoben hatte, war ein nasser Grabstein für Dusty Miller. Alle drei U-Boote versenkt. Trefferquote einhundert Prozent. Aber Dusty Miller war tot. Kugeln vom Frachtschiff peitschten neben Mallorys Kopf
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durch die Luft und bohrten sich in die übel zugerichteten Spanten des Fischerbootes. Doch Mallory kümmerte sich nicht darum, sondern nahm Kurs auf das offene Meer. Der Ozean lag ruhig vor ihnen. Die smaragdfarbene Glätte wurde nur durch Ölflecken und Treibgut unterbrochen. Das alte Fischerboot tuckerte schwerfällig dem nördlichen Horizont entgegen, nach heißem Metall durch das Luk aus dem Maschinenraum stinkend und schlingernd, wegen der riesigen Wassermengen in seinem Bauch. Der Stella Maris dicht auf den Fersen und mit rasch schwindendem Abstand, folgten die Frachtschiffe, deren uruguayische Nationalen an den Falleinen flatterten. Sie spien Feuerregen von Leuchtspurgeschossen aus. »Was jetzt?« wollte Hugues wissen. Mallory verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. In seinen Augen stand ein Glanz, der Hugues in Furcht versetzte. »Wir gehen in Deckung«, antwortete Mallory. »Entweder versenken sie uns, oder sie entern das Schiff oder beides.« Kugeln prallten auf das Deck der Stella Maris. Die Luft war erfüllt vom Winseln der herumfliegenden Splitter. »Sie wird auseinanderbrechen«, sagte Hugues. »Sehr wahrscheinlich«, antwortete Mallory. Sie hatten den Hafen mittlerweile verlassen. Schwarze, ölige Qualmwolken durch seinen Schornstein ausstoßend, fuhr das erste Frachtschiff in die Meerenge und dampfte die Fahrrinne entlang. Sobald es den Wasserarm hinter sich hatte, würde es Fahrt aufnehmen, und das wäre das Ende der Stella Maris. Sie kümmerten sich nicht mehr um ihre Deckung, sondern blickten auf den Bug des Frachtschiffs, der hoch aufragte und, Gischt aufwühlend, rasch durch das Wasser der Fahrrinne pflügte. Über der Nase befand sich die Brücke, wo dünner blauer Rauch aus den Maschinengewehren zu beiden Seiten aufstieg und die stecknadelgroßen Köpfe von Männern zu
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sehen waren, die nach unten blickten. Die Stella Maris würde sich auf der Bugwelle noch einmal vor der Schiffsnase erheben, bevor der Ozeanriese sie überrollte und in die kalten, grünen Tiefen malmte … Plötzlich hielt Mallory den Atem an. Hugues stand neben ihm und umklammerte seinen Arm mit stahlhartem Griff. Mallory begriff. Die weiße Gischt war verschwunden. Die messerscharfe Bugkante hatte sich im Wasser gehoben und bewegte sich nicht mehr. Das Frachtschiff war über dem U-Boot auf Grund gelaufen, das fünf Minuten zuvor in der Fahrrinne explodiert war. Während sie zusahen, erfaßte der Gezeitenstrom das Heck des Schiffes und schwenkte es herum, bis der Frachter als riesige Stahlmauer die Durchfahrt blockierte, den einzigen Weg vom Hafen nach draußen. Für einen Augenblick verstummte das Gewehrfeuer, und ein gewaltiges Geräusch rollte über die glatte Wasserfläche. Es war Andrea, der lachte. Dann eröffneten die Maschinengewehre erneut das Feuer. Diesmal attackierten die Deutschen sie mit noch größerem Haß, von Wut und Machtlosigkeit genährt. Die Geschosse peitschten das Meer auf, bis es weiß schäumte und das Fischerboot unter dem Kugelhagel erbebte. Mallory kauerte sich im Inneren des Ruderhauses zusammen. Noch fünf Minuten, dachte er. Dann sind wir außer Reichweite. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die durch die Luft fliegenden Metallgeschosse veranstalteten ein Pfeifkonzert. Darunter mischte sich ein anderes Geräusch. Hugues. Das war Hugues. Er stand an Deck und wies schreiend auf einen Punkt im Wasser, etwas Orangenes, das sich bewegte, einen Arm hob und winkte. Ein kaum wahrnehmbares Winken, aber immerhin ein Winken. Etwas, das wie eine Hand aussah, hielt eine orange leuchtende
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Rauchbombe hoch. Als der orangene Rauch sich verzogen hatte, war hinter einem Husten und einem verzerrt aussehenden Gesicht unverkennbar Dusty Miller zu erkennen. Mallory riß das Steuer herum. Die Stella Maris wendete und bot dem vom Frachter herüberpeitschenden Kugelregen die Breitseite. Hugues stand aufrecht, gefährlich gut zu sehen, ohne jede Deckung, während sie sich dem im Wasser treibenden Miller näherten. »Holt ihn rauf!« schrie Mallory. Hugues beugte sich über die Reeling. Als sie an Miller vorbeifuhren, streckte er die Hand herunter, Millers Hand entgegen, und beide Hände ergriffen einander. Die Stella Maris nahm Miller ins Schlepptau, mit Hugues’ Arm als Trosse. Plötzlich erschauerte Hugues, und auf seiner Jacke bildeten sich vier dunkle Flecken. Aber Andrea war bereits zur Stelle und packte Miller mit seiner riesigen Pranke. Er zog kräftig, und endlich lagen alle zusammen an Deck, Andrea, Hugues und Miller. Miller schnappte wie ein Fisch am Haken, während das Wasser allmählich aus seiner Kleidung sickerte. Mallory drehte am Ruder und steuerte das Schiff vom Hafeneingang weg. Achtern verblaßte der orangefarbene Rauch, und bald befanden sie sich außer Schußweite, unbehelligt von weiteren Kugeln. Miller zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht sah grau und weiß aus, und die Säcke, die sich unter seinen Augen gebildet hatten, hätten die Ausrüstung einer mittleren Expeditionstruppe aufnehmen können. »Guten Morgen«, sagte er schließlich. »Gibt es noch was zu trinken?« Mallory reichte ihm aus dem durchsiebten Schrank eine wie durch ein Wunder unbeschädigt gebliebene Branntweinflasche. »Wie bist du rausgekommen?« fragte er. Miller hob die Flasche. »Ich möchte auf die Gesundheit von zwei Deutschen trinken, Herrn Siebe und Herrn Gormann. Und
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auf das niedlichste kleine U-Boot-Tauchrettungsgerät, das der Wissenschaft bekannt ist.« Er nahm einen großen Schluck. Andrea kam nach achtern. »Hugues möchte reden.« Der Franzose lag auf dem Deck, mitten in einer roten Lache, und Mallory hörte das Blubbern in seiner Brust, als er atmete. »Es tut mir leid«, sagte Hugues. Mehr konnte er nicht sagen. »Dieser Mann ist ein Verräter«, erklärte Andrea. Mallory blickte in das blau angelaufene, blasse Gesicht und die von Atemnot gezeichneten Augen. »Warum?« fragte er. Hugues’ Blick glitt von Andrea zu Mallory. Andrea sagte: »Um Lisette und sein Kind zu retten. Die Gestapo folgte ihr nach Saint-Jean. Als sie mit Hugues festgenommen werden sollte, machte er einen Handel. Die Gestapo hat uns dort nicht verhaftet, weil sie mehr daran interessiert war, uns bei der eigentlichen Sabotageaktion zu fassen. Als Hugues dann wußte, daß wir ins Cabo eingedrungen waren, hat er ihnen die Information übermittelt.« Hugues zuckte mit den Achseln. »Ich habe es für mein Kind getan«, sagte er. Dann quoll Blut aus seinem Mund, und er war tot. Lisette stand auf halbem Weg zwischen Luke und Niedergang. Sie wirkte blaß und müde, mit riesigen, dunklen Schatten unter den Augen. Dicke Tränen standen in ihren Augen. »Er war ein Mann, der alles verloren hatte, was er liebte«, sagte sie. »Als er zum erstenmal in den Pyrenäen war, erzählte er mir, was mit seiner Frau und seinen Kindern geschah. Er war ein einsamer Mann, unbeschreiblich einsam. Ich kann nicht beschreiben, wie einsam. Und er war ein guter Mann.« Die Tränen flossen jetzt aus ihren Augen. »Ein Mann voller Leidenschaft. Für sein Land, und für mich. In einem Krieg können solche Dinge geschehen, und sie sind nicht so ungewöhnlich.«
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»Was heißt, er war ein Verräter, enfin«, sagte Jaime. Mallory blickte in das dunkle, ausgemergelte Gesicht mit dem dicken schwarzen Schnurrbart und den undurchdringlichen Augen. Jaime zuckte mit den Achseln, die gleichgültige Geste eines Schmugglers und eines Mannes, der durch Berge hindurchging, wenn er sie von außen nicht bezwingen konnte. Jaime war jemand, der sich gegen alle stellte. Niemand würde jemals wissen, ob Jaime für eine Sache kämpfte, weil er an sie glaubte, oder ob es ihm nur ums eigene Überleben ging. Wahrscheinlich wußte Jaime es selbst nicht. Dann blickte Mallory in Andreas dunkles, verschlossenes Gesicht, und zuletzt betrachtete er Millers hagere Züge mit dem kurzen Stoppelhaarschnitt, auf dem das Salz und das Öl zu trocknen begannen. Vielleicht wußte niemand von ihnen, was letztlich zählte. Womöglich war der Gedanke völlig unwichtig, solange es Dinge gab, die getan werden mußten, und jemand da war, der sie erledigte. Mallory kam mühsam auf die Beine und legte den Arm um Lisettes Schultern. »Ich habe ihn nicht geliebt. Aber er ist der Vater meines Kindes. Und das ist doch etwas wert, oder nicht?« Diese Frage gehörte zu denen, auf die Mallory keine Antwort wußte.
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Epilog Mittwoch, 14.00 Uhr Die Stella Maris nahm nördlichen Kurs auf den breiten blauen Ozean hinaus, während das Cabo de la Calavera unter den südlichen Horizont fiel. Dann setzte die Stella Maris einen Funkspruch ab. Nun war nur noch der blaue und wolkenlose Himmel über ihnen und vorne ein zarter schwarzer Streifen, nicht größer als eine Wimper auf der sauber gekrümmten Linie am Ende der Welt. Aus der Wimper wurde eine Braue, dann eine dicke schwarze Feder. Die Unterseite der Feder stellte sich als der britische Zerstörer Masai heraus, der mit fünfunddreißig Knoten über die flache Dünung des Atlantiks donnerte. Er zog eine ölige Wolke aus schwarzem Rauch hinter sich her und ließ die Dampfdruckanzeige an den Kesseln im roten Bereich erzittern. Der Lieutenant-Commander, der den Befehl über das Schiff führte, blickte auf ein schmutziges schwarzes Fischerboot hinunter, strich sich über den Bart und hoffte, daß keine Dreckspuren seine schöne Farbe verunstalteten. Er trat an die Reeling und sagte: »Captain Mallory?« Der Mann am Steuer des Kahns antwortete: »Das ist richtig.« An Deck befanden sich zwei weitere abgerissen aussehende Gestalten mit rot geränderten Augen, sonnenverbrannt, blutend und unrasiert. Der Lieutenant-Commander begutachtete die von Kugeln zerfetzten Decks und Bordwände und warf einen kurzen Blick auf das offenstehende Luk und den Niedergang. Im Rumpf des Bootes stand eine größere Menge Wasser. Wahrscheinlich der Fischkasten. »Ich frage mich, ob Sie gegen ein kleines Mittagessen etwas einzuwenden hätten«, sagte er
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dann. Mallory machte ein Gesicht, als ob er das Wort Mittagessen nicht kannte. »Könnten wir eine Bahre haben?« fragte er dann zurück. »Haben Sie Verwundete an Bord?« »Nicht direkt«, sagte Mallory. Die Marinesoldaten mit der Krankenbahre trotteten über das zerschossene Deck der Stella Maris, und Mallory wies in den Kojenraum. Ein seltsames Geräusch drang von dort nach draußen, ein hohes, durchdringendes Heulen. Der für die Krankenträger verantwortliche Maat blickte nervös über die Schulter. Er hatte an den Malta-Konvois teilgenommen und kannte den Lärm von Stukas. Mallory schüttelte den Kopf. »Mittagessen für fünf Personen?« fragte der LieutenantCommander. »Sechs«, antwortete Mallory. Der Kapitän runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie hätten einen Mann verloren.« »Man verliert jemanden, und ein anderer tritt an seine Stelle«, sinnierte Miller. Die Bahre wurde an Deck getragen. Hinter ihr ging Jaime. Auf der Trage lag Lisette. Und in ihren Armen, eingewickelt in ein rotes Laken aus dem Krankenrevier, hielt sie ein schreiendes kleines Bündel. Der Commander umklammerte die Reeling. »Verstehe, was Sie meinen«, sagte er. »Ich war etwas mehr schwanger, als der Captain dachte«, erklärte Lisette. »Ich hoffe, meine Anwesenheit verursacht keine Umstände.« »Ganz im Gegenteil«, antwortete der Commander. Sie schritten über das wunderbar sauber gestrichene Deck des Zerstörers. Ein Lieutenant brachte sie in eine winzige, aber
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peinlich gepflegte Messe und schenkte ihnen riesige Gläser mit rosa Gin ein. »Ihre Truppe hat wohl die Puppen tanzen lassen, nehme ich an?« Sie starrten ihn verständnislos an, bis das Gesicht des Lieutenants so rosa leuchtete wie der Gin in seinem Glas. Ein Funkmelder schlurfte herein, mit einer Kopie Durchschreibpapier wedelnd. Der Lieutenant überflog den Text. »Captain Mallory«, sagte er. »Für Sie.« Mallorys Augen waren geschlossen. »Lesen Sie vor«, verlangte er. Das war ein furchtbarer Verstoß gegen die Etikette. »Aber …«, setzte der Lieutenant an. »Nun lesen Sie schon.« Der Lieutenant straffte die Schultern. »Nachricht lautet wie folgt: »GRATULIERE ZUM ERFOLGREICHEN EINSATZ DER ›STURMKOLONNE‹. ZEITPUNKT KÖNNTE NICHT GÜNSTIGER SEIN. HABE NEUEN KLEINEN AUFTRAG FÜR SIE. SOBALD WIE MÖGLICH MELDEN. JENSEN.« Mallory blickte zu Andrea und Miller. In ihren blutunterlaufenen Augen stand blankes Entsetzen. Wahrscheinlich zog er ein ähnliches Gesicht. Mallory sagte: »NACHRICHT AN CAPTAIN JENSEN. BOTSCHAFT NICHT VERSTANDEN. STEHEN VOR RÄTSEL. ›STURMKOLONNE‹.« Er hob sein Glas. »Und bevor wir hier verdursten – könnten wir noch einen Tropfen Gin haben?«
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