Die Monde von Mirrodin MIRRODIN ZYKLUS · BAND 1
Will McDermott Aus dem amerikanischen Englisch von Timothy Stahl
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Die Monde von Mirrodin MIRRODIN ZYKLUS · BAND 1
Will McDermott Aus dem amerikanischen Englisch von Timothy Stahl
Prolog
DER WÄCHTER
M
emnarch stand im Wachhaus und sah zu, wie Karn und Jeska verschwanden. Es war ein seltsames Phänomen. Im einen Moment waren sie noch da und im nächsten schon fort. Es war, als hätte sich die Welt zusammengefaltet und wäre binnen eines Augenblicks an ihnen vorübergezogen. Und nach diesem Augenblick war Memnarch allein. Ein Metallmann, allein in einer Metallwelt, einer kalten und unfruchtbaren Welt. Memnarch ließ den Blick über Argentum, Karns Welt, wandern. Sie war schön. Sie war so perfekt wie eine Gleichung, die bis auf die allerletzte Dezimalstelle gelöst war. Doch der Mathematiker hatte sich einem neuen Problem zugewandt und Memnarch hier zurückgelassen, damit der sich um all die Theoreme und Formeln kümmerte. »Jetzt bin ich der Wächter«, sagte Memnarch, als er das Wachhaus verließ, um den Palast zu inspizieren. »Mal sehen, was diese Welt zu bieten hat.« Die Größe und Vielfältigkeit des Palastes erfüllten den Metallmann mit Ehrfurcht. Jede Wand, jedes Fenster, jeder Pfeiler war jeweils nur eine einzelne Facette in einem komplizierten Muster oder ein kleiner Teil einer komplexen Gleichung. Mi-
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narette ragten in schier unmöglichen Winkeln auf, Wände wölbten sich umeinander und waren doch von oben bis unten miteinander verbunden, und viele der Pfeiler und Bogen schienen in Wirklichkeit zu schweben. Silberne Wände und durchscheinende Fenster trafen in einem Raum aufeinander, der sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Es war ein Wunder aus komplizierten Algorithmen und Fraktalmathematik, ein Wunder für das Auge. Der neue Wächter hatte das Gefühl, tausend Lebzeiten damit zubringen zu können, die Geheimnisse der Welt seines Herrn und der unfassbaren Burg, die Karn erbaut hatte, zu ergründen. Er stand in der Anlage und betrachtete die Fraktalfacetten der Wände, die unglaublichen Schwünge der Bogen und die Eleganz der außerweltlichen Geometrie, die Karn als Weltenwanderer zu meistern verstand. Zeit war jedoch ohne wirkliche Bedeutung für Memnarch. Er war ein künstliches Wesen auf einem künstlichen Planeten ohne Bezugspunkt für den linearen Verlauf der Zeit. Argentum kannte weder Sonnen noch Monde, keine Rotation, die dem Metallmann den Eindruck vermittelt hätten, dass die Zeit verging. Ein Beobachter von außen hätte den Wächter womöglich für eine Statue in den Anlagen der fantastischen Burg gehalten. Nach einiger Zeit – einem Jahrzehnt, hätte man eine gängige Form der Zeitmessung angewandt – drehte Memnarch sich um und blickte auf das Land hinaus, das den Galdroon-Palast umgab. Galdroon. So hatte Karn die Burg genannt, so wie er der Welt den Namen Argentum gegeben hatte. Jetzt war Karn nicht mehr hier. Memnarch konnte die Welt und ihre Orte neu benennen, wenn es ihm beliebte, aber wäre das nicht zu anmaßend? Zu überheblich? Karn war ein Weltenwanderer,
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ein Gott den meisten Definitionen dieses Wortes zufolge. Welches Recht hatte Memnarch, auf Karns Welt die Rolle eines Gottes zu spielen? Dennoch, als er durch die Anlagen ging, stellte Memnarch nach und nach fest, dass selbst Karn kein perfektes Wesen war. Seine Gärten etwa waren weniger beeindruckend als die Burg – fad und steril. Die silbernen Bäume, Büsche und Blumen waren in mathematischer Präzision angeordnet. Jedes Blatt eines jeden Baumes schien einzigartig zu sein, doch als Memnarch sie genauer untersuchte, begriff er allmählich die Mathematik, die hinter ihrer Gestaltung stand. Die möglichen Variationen begrenzten die Blätterzahl eines jeden Baumes, Strauches und jeder Blume auf höchstens acht je Sorte. Karns Mathematik vermochte keine Natur zu erschaffen, sie konnte seiner Welt nur die Illusion von Wirklichkeit verleihen. Memnarch aber sehnte sich nach mehr. Er verließ die Burg und wagte sich in die Welt hinaus. Das steinartige Metall und die silberne Vegetation der Palastanlagen wichen einem monochromen Land aus perfekten Winkeln und fraktaler Komplexität. Der Palast thronte auf einem großen silbernen Tafelberg, und Memnarch sah Schluchtenwände, die sich bis zum Horizont erstreckten. Auf den ersten Blick wirkte Karns Welt natürlich, aus der Nähe jedoch konnte Memnarch die silbernen Oberflächen der allzu perfekten Felsformationen erkennen. An scheinbar wahllosen Stellen am Grund der Schlucht ragten Plateaus auf, aber Memnarch entdeckte die subtile Konstante, mit welcher der Plateau-Zufallsgenerator zu Werke gegangen war. Nach einer Weile – der menschlichen Zeitmessung zufolge nach einigen Jahren – bereitete es ihm kein
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Problem, die gesamte Schlucht zu kartografieren, obwohl er sich nur diesen kleinen Teil ansah. Memnarch dachte nach, während er dem trägen Quecksilberfluss folgte, der sich in komplexen Windungen durch die Mitte der Schlucht schlängelte. Diese Reise würde seine Karte verifizieren, war aber eigentlich unnötig. Seine Berechnungen waren korrekt. Das wusste er auch ohne Beweis. Während sein Blick durch die Schlucht wanderte, bemerkte er, dass am Horizont Regen fiel. Er schaute nach oben. Am Himmel waren keine Wolken. Und es gab auch keine Sonne, die dieser Welt Licht spendete. Natürlich hatte Memnarch schon immer über diese Information verfügt, aber es fiel ihm erst jetzt richtig auf, so als sähe er es zum ersten Mal. Die Sterne am Himmel spendeten alle Helligkeit, die nötig war, da ihr Licht von tausenden spiegelnden Oberflächen auf Karns Welt reflektiert wurde. Aber wenn es keine Wolken gab, wie konnte es dann regnen? Der Regen schien unmittelbar von den Sternen zu kommen. Memnarch betrachtete nun die Sterne so, wie er die Burg und die Schlucht betrachtet hatte. Er starrte zu ihnen hinauf und sann über ihre Erschaffung nach. Ein weiteres Jahrzehnt verstrich, während Memnarch sich über die Daten, die Karn ihm eingegeben hatte, den Kopf zerbrach und sie in Einklang mit physikalischen Einzelheiten brachte, die er selbst beobachtet hatte. In diesem Fall standen ihm ausgesprochen wenig Informationen zur Verfügung. Die Sterne waren nicht einer Formel folgend am Himmel verteilt. Ihre Anordnung war rein willkürlich, nicht anders als ihre Bewegung. Die Sterne drehten sich nicht um die Welt, wie die Beobachtung eines Jahreslaufs bewies. Sie bewegten sich ohne Plan, wie aus eigener
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Kraft. Die Bewegung war überhaupt kaum auszumachen, und Memnarch fiel sie nur dank der intellektuellen Fähigkeit auf, die Karn ihm hatte zukommen lassen. Während Memnarch fasziniert von dem unauffälligen Tanz der Sterne am Himmel über Argentum dastand, war er sich einer Sache gewiss: Diese winzigen Lichtpunkte waren nicht von Karn erschaffen worden. Sie waren lebende Wesen, wenn auch von einer Art, wie Memnarch sie auf Dominaria nie gesehen hatte. »Wo hat Karn euch gefunden?«, fragte er den Himmel. Memnarch verfügte noch über die Erinnerung an alles, was er in seinem vorherigen Leben auf Dominaria gesehen hatte. An dieses Leben hatte er nicht mehr gedacht, seit Karn ihn als Wächter von Argentum neu erschaffen hatte. Die Tatsache, hier auf dieser unfruchtbaren, mathematisch perfekten Welt Lebewesen zu finden, hatte eine Flut von Bildern zurückgebracht. Memnarch war einst eine vollkommen runde Spiegelkugel gewesen, die grundlegendste geometrische Form und mithin auch die stabilste – das hatte Karn zumindest angenommen. Memnarch war Karns Augen und Ohren auf Dominaria gewesen. Ein Jahrhundert nachdem eine Invasion jener Welt zurückgeschlagen worden war – jene Invasion, die Karn zum Weltenwanderer gemacht hatte – hatte der Silbergolem eine Sonde dorthin geschickt. Eine Sonde, die Mirari hieß. Das war Memnarchs erstes Leben gewesen. Kugelförmig oder nicht, der Mirari hatte versagt. Kraft sickerte daraus hervor und infizierte die Bewohner der Welt mit Größenwahnsinn. Streit und Tod waren aus dem Einfluss des Miraris auf das Volk von Otaria, wo er gelandet war, hervorge-
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gangen. Memnarch ließ diese Erinnerungen durch seinen Geist fließen und empfand Trauer. Er war nicht mehr der Grund dieser Schwierigkeiten. Er war jetzt ein anderes Wesen. Nicht mehr nur eine Sonde; er besaß einen eigenen Willen, den Karn ihm gegeben hatte, damit er mit der Kraft seines Körpers besser umgehen konnte. Trotzdem regte sich in Memnarch das unbehagliche Gefühl, dass er für das Chaos, das seine Anwesenheit auf Dominaria verursacht hatte, verantwortlich war. Während er dastand und die kaum merkliche, planlose Bewegung der Sternwesen beobachtete, konnte Memnarch nicht anders, als darüber nachzudenken, dass Karns bestens geordnete Welt sich noch verbessern ließe, wenn man ihr nur ein bisschen mehr Chaos angedeihen ließe. »Es war ein Fehler von Karn, den Einfluss Dominarias bei der Erschaffung dieser Welt außer Acht zu lassen«, stellte er fest, als er zum Palast zurückkehrte. Ja, es hatte Tod und Vernichtung auf Dominaria gegeben. Vielleicht hatte Karn ja recht daran getan, den Blick von jener Welt abzuwenden, aber Dominaria barg auch viele Wunder. Memnarch entsann sich saftig grüner Wälder. Er hatte bunte Korallenstädte unter den Wellen gesehen und rostfarbene Berge, die von Schnee gekrönt waren, der den azurblauen Himmel zu erobern drohte. Er war über weite Grasebenen und Kornfelder gegangen, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten. Und er hatte Völker gesehen, deren Haut bronzen und schwarz und blau und braun gewesen war. Als Mirari hatte er Informationen über Wesen jedweder Form und Farbe aufgezeichnet. Jene Welt war lebendig und voller Farben gewesen. Sicher, dachte er, die Wesen von Otaria waren letzten Endes
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verantwortlich für die Zerstörung und Kriege, die ich als Mirari ausgelöst habe, aber Wesen erschaffen auch Leben, und das ist es, was ich auf Argentum vermisse. Ohne Leben ist diese Welt ein toter Ort – eine schöne, aber tote Welt. Wäre es denn so gefährlich, etwas von jener Welt hierher zu bringen? Würde die mathematische Perfektion von Karns neuer Welt denn nicht noch perfekter werden, wenn man ihr die besten Elemente seiner alten Welt hinzufügte? Memnarch wurde den Gedanken nicht los, dass diese fade, einfarbige Welt einen Farbklecks brauchte, eine kleine Lebensinfusion, nur eine winzige Unsicherheit, um ihrer fraktalen Fassade die Schärfe zu nehmen. »Es gibt so viele andere Welten, die von Karns Sonden erkundet wurden«, sagte Memnarch, als er die Tore des Palastes erreichte. »Warum sollte man es dabei belassen, sie nachzuahmen? Mir steht das gesamte Multiversum zur Verfügung. Karns sämtliche Forschungsergebnisse und Daten lagern zwischen diesen Wänden. Er brachte die Sternwesen von irgendwo hierher. Vielleicht kann ich ja auch lernen, wie man Sonden ausschickt und andere Wesen hierher bringt. Ich kann diesen Ort zu einer lebenden, atmenden, pulsierenden Welt machen.« Als Memnarch das Tor zum Palast aufstoßen wollte, bemerkte er einen schwarzen Schmierstreifen im Wachhaus. »Was könnte das sein?«, wunderte sich der Metallmann. »Eine Unvollkommenheit in der vollkommenen Welt? Das können wir nicht zulassen.« Memnarch betrat das Wachhaus und bückte sich, um den öligen Fleck aufzuwischen. Sein silberner Finger nahm die geschmeidige Flüssigkeit problemlos auf. Dann rieb er das Öl
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zwischen Zeigefinger und Daumen, bis es verschwand. »So«, sagte der Wächter. »Und jetzt – an die Arbeit. Es ist an der Zeit, dass ich Argentum meinen Stempel aufdrücke.« Ein plötzlicher Gedanke ging Memnarch durch den Kopf. »Argentum ist ein schrecklicher Name für dieses Land«, sagte er zu sich selbst. Er hatte keine Ahnung, wo der Gedanke herkam, weil er sich so schnell durch seine gesamte Matrix verbreitete, aber er schien so überaus richtig zu sein, dass er sich ihm nicht verweigern konnte. Eine weitere Idee entstand in ihm. »Ich werde diese Welt nach mir selbst benennen«, verkündete er, »nach meinem früheren Leben ebenso wie nach meinem neuen Leben. Sie soll Mirrodin heißen.« Summend betrat Memnarch die Burg.
$ Das Öl war bereits in den Geist des Wächters gesickert, aber es blieb später noch Zeit, um ganz die Kontrolle darüber zu übernehmen. Zunächst musste es sich teilen und wachsen. Teilen und wachsen. Das war die oberste Regel eines jeden Organismus, vor allem eines Organismus, der als Waffe geschaffen worden war. Scheinbar eine Ewigkeit lang hatte das Öl gleichsam geschlummert und darauf gewartet, auf eine neue Welt losgelassen zu werden. Der Krieg, für den es erschaffen worden war, war längst vorbei, doch als zwei Reisende des Weges kamen, war es wieder erwacht und ihnen in diese neue, makellose Welt gefolgt. Teilen und wachsen. Teilen und wachsen. Das war die o-
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berste Regel. Teilen und wachsen, bis das Öl sich über die ganze Welt ausgebreitet hatte. Zum Kontaminieren und Kontrollieren war später noch genug Zeit. Jetzt musste es einfach nur sich teilen und wachsen.
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Kapitel 1
DAS KNÄUEL
G
lissa hielt inne und hob die Hand, damit auch Kane hinter ihr stehen blieb. Die beiden Elfen duckten sich am Rande der Erhebung und durchforsteten mit Blicken das grünspanige Laubwerk vor sich nach dem Vorrac. Glissa fuhr sich mit ihren metallenen Krallen durchs Haar, um die langen, schwarzen Strähnen hinter die Spitzen ihrer Ohren zu streichen. Den ganzen Morgen über hatten sie dem Tier durch das Knäuel nachgespürt, und das schwere Atmen, das Glissa hinter sich hörte, verriet ihr, dass Kane der Jagd allmählich überdrüssig wurde. »Für mich ist es auch anstrengend, mein Freund«, sagte sie flüsternd, während sie sich über den gezackten Rand der Erhebung beugte. Vorsichtig, damit nicht Metall über Metall kratzte, während sie sich auf die Unterarme stützte, spähte Glissa über den Rand hinab. Der stumpfgrüne Vorsprung unter ihr war zerklüftet und uneben und ragte als breiter, halbkreisförmiger Absatz aus dem metallenen Stamm hervor. Aus den Rändern staken hier und da in seltsamen Winkeln dünne Spitzen auf. Es war ein typischer Knäuelbaumvorsprung, mit einem Unterschied allerdings: Es war eine Sackgasse. Das Tier konnte
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nicht viel weiter gekommen sein. Glissa hatte es mit Bedacht hierher getrieben, weil sein einziger Fluchtweg in einem dreißig Meter tiefen Absturz bestand. Glissa machte den Vorrac genau dort aus, wo sie ihn zu finden erwartet hatte. Das Tier scharrte über das Metall nahe eines Faltenwurfs im Stamm des gewaltigen Baumes. Dampffetzen stiegen aus seiner Schnauze in die kühle Luft, während es schnaubte und schnüffelte. Seine roten Augen durchdrangen den Dampf, die Blicke schossen hin und her und suchten nach einem Weg von diesem Vorsprung herunter. Glissa wusste, dass es keinen solchen Weg gab. Die Beine des untersetzten Tieres waren zu kurz, um zurück auf die Erhebung zu springen, auf der sie und Kane sich versteckten, und nicht einmal die harten Stoßzähne und Hörner des Tieres konnten ein Loch in einen Knäuelbaum stoßen. Der Vorrac wich nach hinten, schnaubte noch einmal, dann kratzte er mit den Hufen über den metallenen Vorsprung und raste kopfüber auf den Baum zu. Als das Tier sich dem Stamm näherte, senkte es den Schädel und stieß sich mit den Hinterbeinen ab, sodass es mit der Seite gegen den Baum prallte. Die kurzen Hörner über seinen Beinen glitten von dem Metall ab, während sich ein hoch an seiner Flanke angesetztes Horn in der Falte verfing und abbrach. Einen Augenblick lang lag das Tier wie benommen von dem Aufprall da. »Das ist unsere Gelegenheit«, zischte Glissa und zog den Dolch aus der Scheide, die sie am Oberschenkel trug. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang sie auf den tiefer gelegenen Vorsprung hinunter, rollte sich ab, um dem Aufprall die Wucht zu nehmen, kam hoch und rannte auf das Tier zu. Sie sah, wie sich dessen rote Augen zusammenzogen, legte aber
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noch an Tempo zu. Der Vorrac stieß sich vom Stamm des großen Baumes ab und stürmte schnaubend auf Glissa zu. Ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Sie wurde eine Spur langsamer und beobachtete das Tier. Sobald der Vorrac den Kopf senkte, warf Glissa sich darüber hinweg und konnte dabei den Hörnern, die aus dem Rückgrat des Tieres wuchsen, um Haaresbreite entgehen, als dieses sich abstieß und den Körper bog, um sie im Sprung zu erwischen. Glissa rollte sich abermals ab, und kaum lag sie auf dem Rücken, rammte sie den Dolch nach oben. Der Stoß fuhr in die ungeschützte Flanke des Vorracs. Ein mächtiger Blutschwall verriet Glissa, dass sie das Herz getroffen hatte. Sie rollte sich auf den Bauch und wollte den Dolch noch tiefer in die Wunde treiben, aber das Tier entzog sich ihr und wankte auf den Rand des Vorsprungs zu, wobei es eine Blutspur hinterließ. »Halt ihn auf!«, rief Glissa, während sie sich aufrappelte. Kane schleuderte seinen Dolch nach dem fliehenden Vorrac, aber die Klinge prallte von einem der Hörner ab und klapperte zu Boden. Glissa setzte dem Tier nach, das keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, sondern sich immer weiter dem Rand näherte. Die viridische Elfin warf sich nach vorn und packte das verletzte Tier genau in dem Moment am Huf, wo es über den Rand hinausgeriet. Glissa schlug hart auf das grüne Metall auf und rutschte vor. Das Gewicht des Vorracs drohte sie über den Rand zu ziehen. »Bist du in Ordnung?«, rief Kane, während sie sich abmühte, das immer noch um sich schlagende Tier festzuhalten. Seine Stimme klang, als würde sie aus einer tiefen Höhle zu Glissa herandringen. Die Stimme hallte um sie her wider, und
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seine Schritte schienen kein Ende zu nehmen. Sie schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, doch dann wurde das schwache Licht der fernen Monde kalt und schwarz, und Glissa stürzte in Dunkelheit hinab.
$ Glissa öffnete die Augen. An die Stelle des stumpfgrünen Metalls des Knäuelbaums waren seltsame braune Stämme getreten. Kurze grüne Ranken mit bunten weichen Spitzen sprenkelten den Boden um sie her, und von oben strömte goldenes Licht durch tausende kräftiger grüner Blütenblätter herab. Sie wurde in Licht und Wärme gebadet, wie sie sie im Knäuel nie erlebt hatte, wo das einzige Licht von den Sternen am Himmel und fernen Monden kam, die sich nie über die Baumwipfel erhoben. Dennoch schien ihr diese helle, farbenfrohe Welt irgendwie vertraut zu sein. Der Boden unter ihr war weich und feucht, und brauner Sand klebte an ihrer Kleidung und in ihrem Gesicht. Glissa stand auf und streifte das Zeug von ihren Kleidern und Gliedern. Sie sah an sich hinab und erkannte sich selbst nicht wieder. Anstelle des Kupfers ihrer Unterarme sah sie jetzt blasse, weiche Haut. Ihre Metallkrallen waren verschwunden, und ihre Beine waren rosig, nicht mehr vom fahlen Grün angelaufenen Kupfers. An ihrem Körper gab es überhaupt kein Metall mehr. Stattdessen schien sie in eine weiche rosafarbene Haut gehüllt zu sein, die ihr vor der Rauheit und den scharfen Kanten des Knäuels wohl kaum Schutz bieten konnte. Auch Glissas Wams aus Vorracleder war verschwunden. Jetzt war sie in Stränge brauner Reben gekleidet, die mit grünen Blättern durchwoben waren und auf diese Weise eine wallende Bluse nebst Rock bildeten. Sie strich mit ihren aus Fleisch bestehenden, krallenlosen Händen über den Rock und fühlte die Weichheit der Blütenblätter unter der Wärme ihrer neuen Hände.
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Ein Wort kam ihr unaufgefordert in den Sinn. »Blätter«, sagte sie. Im Knäuel gab es solcherlei Dinge nicht, nur Metall, Kupfer, das wie von Schimmel bedeckt war, jenem stumpf grünen Bewuchs, der allem im Wald den Glanz nahm. Glissa inspizierte den sonderbaren Wald und versuchte, einen Orientierungspunkt zu finden, den sie vielleicht wiedererkannte, aber dieser Ort war von einer bemerkenswerten Eintönigkeit. Jeder der braunen Bäume wuchs schnurgerade in den Himmel und verzweigte sich in unzählige mit Blättern bedeckte Äste, die in alle Richtungen wiesen. Keine Erhebungen, die sich hoch in den Lüften erstreckten, keine gewundenen Spitzen, die den Weg markierten, keine leuchtenden Gallertfrüchte, die von den Bäumen hingen und einem den Heimweg wiesen. Es gab nur Blätter und dieses hellgelbe Licht, das von oben kam. Und dann sah sie es – ein merkwürdiges Glühen, das durch die Bäume drang. Erst dachte Glissa, es sei das Licht des blauen Mondes, aber das Licht war zu weiß, und der blaue Mond war nie so hell, wenn er so tief am Himmel stand. Ohne das glühende Licht aus den Augen zu lassen, begann Glissa, darauf zuzugehen. Es war ihr nicht einmal bewusst, dass sie sich bewegte, bis sie etliche der seltsamen braunen Bäume passiert hatte und das Glühen noch weiter angewachsen war. Sie befahl ihren Beinen, stehen zu bleiben, besaß jedoch keine Kontrolle mehr über ihren Körper. Sie stolperte durch den Wald und bewegte sich immer weiter auf das merkwürdige Licht zu. Glissa versuchte sich an einem der Bäume oder Äste festzuhalten, die sie passierte, aber deren raue Oberflächen stachen ihr ins weiche Fleisch und schnitten ihr in die Handflächen, während ihre Beine sie unaufhaltsam weitertrugen. Vor ihr zeichnete sich das Glühen ab. Jetzt schien es bis zu den Wipfeln der sonderbaren Bäume hinaufzureichen. Entmutigt hob Glissa die Arme dem goldenen Licht entgegen, das vom Himmel floss, und schrie auf. Wie zur Antwort darauf umschlossen Ranken aus grüner Energie, heller 18
noch als Gallertfrüchte, ihre Hände und fingen an, sich an ihren Armen entlangzuwinden. Glissa schüttelte die Hände und versuchte die Energie abzuwerfen, aber sie wuchs weiter und verzweigte sich genau wie die Äste der Bäume ringsum. Sie verschlangen ihre Arme und streckten sich nach ihrem Hals und ihrem Gesicht. Glissa schrie abermals.
$ Glissa fand sich im Knäuel wieder. Sie lag am Rande des Vorsprungs, das Bein des zappelnden Vorracs noch in den Händen. Sie konnte sich noch immer selbst schreien hören, obwohl ihr Mund geschlossen war. Glissa schaute zu dem verletzten Tier hinab und sah grüne Energieranken um ihre krallenbewehrten Fingerspitzen fließen. Sie keuchte auf, zuckte zurück und ließ den Vorrac los, der daraufhin dem Boden in der Tiefe entgegenstürzte. Die Energieranken verweilten noch einen Augenblick lang auf ihren Krallen, um sich schließlich in den Vorsprung zu entladen. Sie spürte, wie sie ein leichter elektrischer Stoß durchlief. Als sie aufblickte, kniete Kane neben ihr, der die Augenbrauen vor Sorge zusammengezogen hatte. Hatte er die Energie ebenfalls gesehen? Sie wagte nicht einmal zu fragen. »Mir geht’s gut«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Hattest du wieder ein Aufflackern?«, fragte Kane und bot ihr die Hand dar. Glissa nickte und ergriff Kanes Arm, um sich in die Höhe zu ziehen, doch dann starrte sie ihrer beider ineinander verschlungenen Glieder an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Das
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Aufflackern war ihr so wirklich vorgekommen, dass ihr der Anblick von Metall, das in Fleisch überging, und Fleisch, das sich mit Metall verband, irgendwie unwirklich erschien. Ihre Arme blinkten, während sich das trübe Licht der Monde auf dem stumpfen, geschmeidigen Metall brach. Kanes metallische Haut dehnte sich, als er den Ellbogen anwinkelte und die Muskeln spannte. Das Metall verschmolz auf natürliche Weise mit dem weichen, blassen Fleisch der Schulter des Elfen – derselben Haut, von der Glissa ihren ganzen Körper bedeckt gesehen hatte. Warum schien es ihr jetzt so sonderbar zu sehen, wie sich ihre Metallteile auf diese Weise bewegten? Warum schien ihr die Vision aus dem Aufflackern … normaler? »In letzter Zeit kommen sie öfter«, sagte sie schließlich, um das unangenehme Schweigen zu brechen. Sie versuchte, Kanes Blick zu meiden, aber war es das seltsame Aufflackern, das sie heimgesucht hatte, oder das zusätzliche Kribbeln, das sie gespürt hatte, als sie und Kane einander berührten, was sie schweigen ließ? »Das ist immer so, wenn die Zeremonie des Zurechtweisens naht«, antwortete er. Offenbar ungerührt ging Kane über den Vorsprung voran. »Ich bin heute Morgen im Dienst vor dem Baum der Sagen beinahe hingefallen. Einer der Trollältesten musste mich auffangen, als er den Baum betrat.« Kane musste die Sorge in ihrer Miene bemerkt haben, denn er fuhr fort: »Kein Grund zur Sorge. Das Aufflackern ist nichts anderes als alte Erinnerungen, die wieder hochkommen. Die Zeremonie des Zurechtweisens wird da Abhilfe schaffen.« »Das ist es ja, was mir Sorgen macht«, platzte es aus ihr heraus. »Das verschiedene Aufflackern, das ich bisher hatte,
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kann nicht von Erinnerungen herrühren. Ich bin dabei immer in diesem komischen Wald, über dem ein leuchtend gelber Mond steht, und … und …« Sie verstummte, weil sie an ihrem Körper hinabgesehen hatte – der war echt; der Körper während des Aufflackerns nicht. Wie konnten Arme und Beine aus Fleisch natürlich sein? Und was war mit dieser Energie? Das war vorher noch nie passiert. »Und was?«, fragte Kane. Glissa sprang hoch, fand Halt an dem höher gelegenen Absatz und grub ihre langen Klauen mühelos in das gezackte Metall, während sie mit dem Gedanken spielte, Kane auch den Rest zu erzählen – von dem sonderbaren Körper aus Fleisch, dem magischen Leuchten, den Energieranken. Sie schüttelte den Kopf. Kane war seit über hundert Zyklen ihr bester Freund – der einzige Freund, der ihr nach der letzten Zeremonie des Zurechtweisens geblieben war, wie Glissa sehr wohl wusste. Zu jener Zeit hatte sie geglaubt, die Zeremonie sei eine Verschwörung der Trolle, um die Elfen zu beherrschen, indem sie ihnen ihre Vergangenheit verweigerten, und sie hatte den Fehler begangen, ihre Freunde zu bedrängen, der Zeremonie fernzubleiben. Zu guter Letzt hatte sie an der nächsten Zeremonie nur aus dem Grund teilgenommen, um sich dieser Erinnerung zu entledigen. Die meisten ihrer alten Freunde, die wütend über das entgangene Zurechtweisen waren, hatten sie daraufhin gemieden – alle außer Kane. Sie fasste ihren Entschluss. Diesmal würde sie ihre Gedanken für sich behalten. »Nichts«, sagte Glissa, nachdem sie sich auf dem höheren
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terrassenartigen Vorsprung aufgerichtet hatte. »Es war nichts. Nur ein dummes Aufflackern, ein komisches, dummes Aufflackern.« Innerlich jedoch suchte sie weiter nach Antworten. Wenn dieses Aufflackern auf nichts anderes als alte Erinnerungen zurückging, die aus dem zurechtgewiesenen Teil des Geistes hervorquollen, warum sah sie dann eine Welt, die nicht die hiesige war? Warum sah sie sich selbst fortwährend als bleiches Wesen aus Fleisch in einem Wald aus weichen Farbtönen? Sie hatte ihr ganzes Leben im Knäuel zugebracht und nie etwas wie jene Welt gesehen. Ganz gewiss gab es da etwas, was die Trolle den Elfen nicht verrieten, aber diesmal würde sie der Wahrheit allein nachspüren. »Komm«, sagte sie. »Holen wir uns den Vorrac, bevor jemand anders Anspruch auf unsere Beute erhebt.« »Er wird wohl nur noch als Eintopf taugen«, meinte Kane. »Deine Mutter braucht das Fleisch nicht einmal mehr zu zerkleinern.« Während die beiden Krieger zum Kadaver des Vorracs hinunterstiegen, dachte Glissa an die bevorstehende Zeremonie des Zurechtweisens und ihren Entschluss, diese zu meiden. Sie wusste, dass sie das Richtige tat. Sie musste ihre Erinnerungen bewahren, wenn sie je die Wahrheit über die Trolle herausfinden wollte. Erinnerungen waren wichtig. Warum konnten die anderen Elfen das nur nicht begreifen? Aber wenn sie vom Zurechtweisen Abstand nehmen wollte, musste sie lernen, die körperliche Auswirkung des Aufflackerns zu unterdrücken. Es würden lange hundert Zyklen werden, wenn sie bei jedem Aufflackern, das sie hatte, zu Boden ging. Glissa sah Kane an, während sie den Vorrac gemeinsam
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häuteten. Vielleicht sollte sie ihm ja doch von ihren Plänen erzählen, nur eben nichts über den Inhalt der Anfälle des Aufflackerns. Vielleicht konnte er ihr helfen. Vielleicht würde er sie irgendwie verstehen. Vielleicht würde er sich ihr sogar anschließen und die Zeremonie ebenfalls sausen lassen. Andererseits aber war er ein Auserwählter des Tel-Jilad – Beschützer der Trolle und des Tel-Jilad, des Baumes der Sagen. Was, wenn er die Trollältesten über ihren Plan informierte? Dann würde man sie womöglich zwingen, an der Zeremonie teilzunehmen. Dieses Risiko musste sie aber eingehen, entschied sie. Sie musste jemandem davon erzählen, und Kane war nun mal ihr einziger Freund. Sie brauchte ihn an ihrer Seite. »Warum kommst du heute Abend nicht zum Eintopfessen rüber?«, fragte sie so beiläufig, wie sie konnte. Kane zog seinen Dolch aus den Rippen des Vorracs und lächelte Glissa zu. »Klingt gut«, sagte er. »Ich habe die ganze Nacht über Dienst. So ein heißer Vorrac-Eintopf wird mich warmhalten.«
$ Kane stand in der Tür und wirkte, wie wenn er sich in seiner Wachuniform unbehaglich fühlte. Sie war aus den Panzerschuppen des Brammenwurms gefertigt und schloss am Hals höher und an den Beinen kürzer ab als seine lederne Jagdkleidung. Die Schuppen waren ineinander verhakt und rasselten leise, als Kane sein Gewicht hin und her verlagerte. Es war eine auffallende Rüstung, ein stumpfes Rot im grünen Meer des Knäuels. Nur den Kriegern, die den Baum der Sagen bewach-
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ten, war es erlaubt, sie zu tragen, obwohl die Schuppen der Rüstung eine gewisse Steifheit verliehen, welche die Bewegungen eines Kriegers ziemlich beeinträchtigen musste, wie Glissa glaubte. Aus diesem Grund habe sie den Posten, als man ihn ihr antrug, auch abgelehnt, hatte sie Kane einmal erzählt. Den wahren Grund, dessen war sie sich sicher, hätte Kane wahrscheinlich nicht verstanden. Sie lächelte ihrem Freund zu und sagte: »Komm rein. Du brauchst doch nicht wie ein Fremder an der Tür herumzutänzeln. Das Abendessen ist gleich fertig.« Als Kane an ihr vorüberging, fiel ihr auf, dass er nach ihrem Jagdausflug sein kurzes schwarzes Haar gekämmt und die Arme und Beine poliert hatte. Das in Kupfer gestochene Runenrelief, das er erhalten hatte, als man ihn in den Kreis der Auserwählten aufnahm, glänzte im Licht der Gallertfrüchte, die in der Hauptkammer hingen. Wieder lief Glissa ein Kribbeln über das Rückgrat. Sie fragte sich, ob der Glanz sie, ihre Mutter oder die Trolle beeindrukken sollte. Vermutlich sowohl als auch, dachte sie, auch wenn sie hoffte, dass die Absicht nur ihr allein galt. Sie führte ihren Freund in den Hauptraum und setzte sich mit ihm an den Tisch. Glissa wusste, dass ihr Haus Kane seit jeher Ehrfurcht einflößte. Es war größer als die meisten anderen viridischen Wohnstätten. Der Hauptraum wirkte wie ein riesiges Astloch, das aus dem Knäuelbaum geschnitten worden war. Der runde Eingang führte in einen Raum, der groß genug war, um Platz für Küche, Esszimmer und Salon zu bieten. Die üblichen Gewindespitzen unterteilten den Raum in seltsamen Winkeln und bildeten Schlafzimmer und Vorratsräume. Sie waren zwar nur zu viert – Glissa, ihre Mutter, ihr Vater
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und ihre jüngere Schwester Lyese –, aber Vater war immerhin eine wichtige Persönlichkeit im Knäuel und hätte die Bequemlichkeit und den Schutz, den dieses Hauses bot, nie aufgegeben, obwohl es für ihre Bedürfnisse eigentlich zu groß war. Sie wohnten nahe des Zentrums des Knäuels hoch oben in den Terrassen, wo sich die Gleichmacher nie hinwagten. Glissa liebte das Haus und den Stand ihrer Familie, der ihnen hier zu wohnen erlaubte, obgleich die Belastung, die es bedeutete, ihres Vaters Tochter zu sein, sie oft von Gleichaltrigen fern gehalten hatte. »Wo sind denn die anderen?«, fragte Kane und weckte Glissa damit aus ihren Träumereien. »Sie werfen sich so wie du in Schale«, sagte Glissa. Sie trug immer noch ihr Jagdwams, aber sie hatte zumindest Zeit gefunden, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Mutter hatte ihr sogar etwas von dem kostbaren Wasser zugestanden, damit sie sich das Blut von Gesicht und Händen waschen konnte. »Ich … äh … ich muss gleich nach dem Essen zum Dienst«, sagte Kane. »Ich musste meine Uniform …« Glissa stupste Kane in die Rippen und lachte. »Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen«, sagte sie. »Du gibst viel zu leicht eine Zielscheibe ab, wenn du das tust. Also, Mutter holt noch etwas Wasser aus dem Regenbecken, und Vater musste zu einer dringenden Ratsangelegenheit. Lyese allerdings ist oben in ihrem Gewinde und macht sich hübsch. Ich glaube, sie mag dich.« Kane errötete. »Sie ist gerade mal halb so alt wie ich. Sie hat noch nicht einmal eine einzige Zeremonie des Zurechtweisens hinter sich. Ich…« Glissa lachte abermals. »Mach dir wegen ihr keine Gedan-
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ken. Sie ist noch ein Mädchen. Sie weiß noch nicht, dass es im Leben wichtigere Dinge als Männer gibt.« Kane sah drein, als erwartete er, dass Glissa gleich wieder lachte, doch stattdessen schob sie ihren Stuhl näher zu seinem hin. »Hör zu«, sagte sie. »Ich bin froh, dass wir einen Moment allein sind. Ich muss mit dir über etwas sehr Ernstes reden.« »Aha?«, sagte Kane. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Gibt es da jemanden …?« Glissa hob die Hand. »Nein«, sagte sie. »Darum geht es nicht. Ich bin nicht bereit, jemandes Gefährtin zu sein, noch nicht jedenfalls. Ich bin eine Kriegerin, keine Ehefrau.« »Warum hast du dich dann nicht den Auserwählten angeschlossen?« »Ich weiß nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Ich hatte immer das Gefühl, dass mein Weg anderswohin führt.« »Ich weiß«, sagte Kane. »Irgendwohin, wo dir kein anderer hinfolgen kann. Aber du lebst da ein Leben, das von der Welt abgeschieden ist, Glissa. Wann wirst du dich uns anderen endlich anschließen, um richtig hier im Knäuel zu leben?« »Darüber möchte ich ja mit dir reden«, sagte Glissa. Sie sah auf ihre Hände hinab und erinnerte sich an das Aufflackern, die blasse Haut und die magischen Energieranken. »Ich werde nicht an der Zeremonie des Zurechtweisens teilnehmen.« »Du wirst was?«, entfuhr es Kane. Er stand auf und stieß dabei fast seinen Stuhl um. Glissa sah zu ihrem Freund auf. »Warum haben wir diese Anfälle des Aufflackerns?«, fragte sie ihn. Kane schnaubte ob der Einfachheit dieser Frage. »Wir haben sie, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft sind, um sie länger
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in uns zurückzuhalten«, antwortete er. »Darum brauchen wir auch die Zeremonie des Zurechtweisens: um uns von diesen Erinnerungen zu befreien und den Schmerz auszutreiben.« Glissa griff nach Kanes Hand, um ihn wieder auf seinen Sitzplatz zu ziehen. »Das erzählen uns die Trolle, aber warum nehmen die Trolle selbst nicht an der Zeremonie teil? Warum schreiben sie unsere Geschichte im Baum der Sagen nieder? Wenn die Erinnerung so schmerzhaft ist, warum zeichnet man sie dann auf?« »Das ist es also wieder?«, sagte er und wiegte den Kopf. »Die Trolle sind nicht unsere Feinde, Glissa. Sie zeichnen unsere Geschichte im Baum der Sagen auf, damit wir vergessen können. Jene, die etwas über unsere Vergangenheit erfahren möchten, können sich dann an die Trollältesten wenden. Und wir anderen sind davon befreit.« Glissa hielt Kanes Hand und schaute ihm in die Augen. »Ich möchte, dass du mich verstehst«, sagte sie. »Ich habe den Baum gelesen – alles. Der Baum der Sagen reicht nur ein paar hundert Zyklen zurück. Die ältesten Runen wurden entfernt. Ich weiß, dass unsere Geschichte mehr umfasst, als man uns erzählt. Und die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was uns die Trolle vorenthalten, besteht darin, die Zeremonie nicht mitzumachen. Ich muss es tun, Kane, und ich möchte gern, dass du es mit mir tust. Ich brauche deine Hilfe. Ich … ich brauche dich.« Kane sah lange Zeit zu Boden. Glissa fragte sich, ob seine Zuneigung für sie stark genug war, um lebenslangen Gehorsam zu überwinden. Sie war es nicht. »Ich … kann nicht«, sagte er schließlich. »Schau, ich glaube an die Trolle. Sie waren immer gut zu uns. Um des Auffla-
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ckerns willen, ich diene ihnen. Ich kann mich nicht einfach über sie hinwegsetzen.« »Du wirst es doch niemandem verraten, oder?«, wollte Glissa von ihm wissen und fragte sich, ob ihr Vertrauen um ein weiteres Mal ihr Verderben sein würde. Kane holte tief Luft. »Nein«, sagte er. »Du bist meine Freundin. Ich werde dein Geheimnis bewahren. Aber warum hast du mir überhaupt davon erzählt?« »Weil ich … weil du mir etwas bedeutest, Kane«, sagte Glissa. Und bevor er darauf reagieren konnte, fügte sie noch rasch hinzu: »Und meine Anfälle des Aufflackerns sind schlimmer geworden. Ich brauche Hilfe.« Hinter ihnen erklang eine fröhliche Stimme. »Guten Abend, Kane.« Glissa schaute auf und sah, wie ihre kleine Schwester aus einem der Gewinderäume kam. Sie stieß einen langen Seufzer aus. »Wir unterhalten uns morgen weiter«, sagte sie leise zu Kane. »Ich glaube, deine Zeit wird gleich mit Beschlag belegt.« Lyese war schön. Das musste Glissa zugeben. Sie war größer als Glissa und sorgte dafür, dass ihre Arme und Beine stets glänzten. Das Gallertfrüchtelicht des Raumes glitzerte förmlich auf ihren kupfernen Gliedern. Glissa machte sich nie die Mühe, ihre Arme und Beine zu polieren, weil der Grünspan ihr in den Knäuelbäumen zur Tarnung gereichte. Aber Lyese war keine Jägerin, es sei denn, Kane war zugegen. Glissa wusste, dass sie ihren einzigen Freund an ihre hartnäckige jüngere Schwester verlieren würde, wenn sie davon absähe, ihren stärkeren Gefühlen für Kane nachzugeben. Heute Abend hatte Lyese sich kleine Gallertfrüchte ins Haar geflochten, was ihr eine strahlende, beinahe engelhafte Er-
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scheinung verlieh, als sie in den Raum herabstieg. Ja, sie ist auf Beutezug, dachte Glissa. »Mir gefällt deine Uniform wirklich überaus, Kane«, sagte Lyese, während sie ihn vom Tisch fort in den Salonbereich nahe der Tür zog. »Erzähl mir von den Trollen. Vater spricht nie über sie.« Kane warf Glissa einen verzweifelten Blick zu, aber zu ihrer beider Glück kam gerade ihre Mutter mit dem Wasser zurück. »Guten Abend, Kane«, sagte sie, während sie durch den Sitzbereich zur Küche ging. »Das Essen ist bald fertig. Lyese, hilfst du Glissa bitte beim Tischdecken?« Kane nahm Platz und seufzte erleichtert. Glissa musterte ihn kurz. Wäre es denn so schrecklich, sich niederzulassen und mit Kane eine Familie zu gründen?, dachte sie. Nein, es wäre ganz und gar nicht schrecklich. Sie wäre dann nur nicht mehr sie selbst. Sie könnte niemals wie Lyese sein. Für Glissa bedeutete das Leben mehr als nur Auftreten, Manieren und Bequemlichkeit. Wenn sie und Kane zusammenleben sollten, dann müssten sie einander gleichberechtigt sein … vorausgesetzt, er würde dann mit ihr Schritt halten können.
$ Als Glissas Vater nach Hause Karn, nahmen sie alle am Tisch Platz. Glissas Mutter schenkte jedem einen halben Becher Wasser ein, dann reichte sie einen Teller mit knusprigen Moderschnecken als Vorspeisen herum sowie eine Platte, die mit gegrillten Brammenwurm-Steaks beladen war. Kane nahm einen Bissen von seinem Steak und sagte: »Ich hatte wirklich
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geglaubt, Sie würden aus diesem Vorrac, den Glissa in den Abgrund hat fallen lassen, Eintopf machen, Ma’am.« Glissa trat unter dem Tisch nach Kane, aber der auserwählte Krieger hatte seine Beine bereits weggezogen. »Hätte ich gern getan«, antwortete Glissas Mutter, »aber wir haben in dieser Woche den größten Teil unserer Wasserration schon aufgebraucht, und da Lyese Bluteintopf verabscheut, habe ich den Kadaver zusammen mit einer Ration Wasser gegen diese Steaks eingetauscht. Ich hoffe, sie sind nicht zu trocken.« Kane sah auf das halb gegessene Steak auf seinem Teller hinab und lächelte ein bisschen verlegen. »Sie sind ganz ausgezeichnet, Ma’am.« Glissa wandte sich an ihren Vater und fragte: »Hat der Rat heute Abend auch über die anhaltende Dürre gesprochen, Vater?« Ihr Vater antwortete zwischen zwei Bissen. »Ja. Wir werden einstweilen weiter rationieren müssen, bis uns die Sterne mehr Regen bescheren. Brynn hat die Sterne studiert, und er behauptet, dass jetzt weniger davon am Himmel sind als noch nach der letzten Zeremonie des Zurechtweisens. Er meint, dass das der Grund ist, weshalb es weniger regnet.« »Glaubst du das auch?«, sagte Lyese. »Das heißt, wie können es jetzt weniger Sterne sein? Wohin sollen die anderen denn verschwinden?« »Ich weiß es nicht«, sagte ihr Vater, »aber mit jedem Zyklus, der vergeht, bekommen wir weniger Regen, und inzwischen ist der Wasserstand in den Bassins erschreckend niedrig. Ich habe dem Rat heute Abend vorgeschlagen, die Rationen noch knapper zu bemessen, um unsere Reserven über die kom-
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menden Wochen zu strecken. Wir brauchen einen Überschuss, bevor die Zeremonie des Zurechtweisens beginnt. Die ersten paar Wochen danach sind immer chaotisch.« »Das klingt vernünftig«, meinte Glissa. »Und was hat der Rat dazu gesagt?« »Brynn steht hinter der Idee, aber die meisten anderen haben nur gemurrt«, antwortete ihr Vater. »Sie sorgen sich wegen der Reaktionen. Viele Viridianer haben schon Probleme mit den momentanen Rationen.« »Wie lange dauert es eigentlich noch bis zur Zeremonie?«, fragte Lyese. »Sechs Wochen. Du musst die Monde beobachten, Lyese. Wir sehen mit jeder Umdrehung weniger von ihnen. Deshalb ist es auch schon so viel dunkler geworden. Wenn die vier Monde überhaupt nicht mehr aufgehen, werden sich die Viridianer zur Radix im Zentrum des Knäuels begeben.« Alle Viridianer bis auf eine, dachte Glissa. Der Rest des Abends verlief etwa in gleicher Weise. Glissa, ihr Vater und Kane sprachen über Ratsangelegenheiten, die Trolle und die bevorstehende Zeremonie, derweil sie das Mahl ihrer Mutter genossen. Das war der Teil von Glissas Leben, der ihr am besten gefiel: Die Jagd war vorbei, und sie konnte sich mit ihrer Familie entspannen – selbst in Lyeses Beisein. Vielleicht hatte sie das Angebot, den Auserwählten beizutreten, deshalb abgelehnt. Glissa wusste es wirklich nicht. Sie hatte monatelang über diese Entscheidung nachgedacht. Ein Posten bei den Auserwählten hätte ihr einen direkteren Zugang zu den Geheimnissen der Trolle ermöglicht, aber es schien ihr irgendwie nicht richtig gewesen zu sein. Vielleicht war es einfach nicht ihre Bestimmung, eine der Auserwählten zu sein.
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Aber wenn es das nicht war, was dann? Als Glissa in dieser Nacht schlafen ging, lasteten viele Gedanken auf ihr: Kane, ihre Familie, die Auserwählten, die Zeremonie und vor allem dieses seltsame letzte Aufflackern. Morgen erzähle ich Kane von den Anfällen, sagte sie sich, während sie sich herumdrehte und die Augen schloss. Vielleicht willigt er dann ein, die Zeremonie bleiben zu lassen, um mir dabei zu helfen, die Wahrheit über die viridische Geschichte herauszufinden. Einige Zeit später erwachte Glissa von dem Gefühl, nicht allein zu sein. »Mutter?«, rief sie in den dunklen Gewinderaum. »Lyese?« Sie konnte hören, wie sich etwas bewegte, und meinte, mehrere Umrisse im Dunkeln auszumachen, aber ihr Blick war noch vom Schlaf verschleiert, und selbst die eigenen Hände wirkten auch noch unmittelbar vor dem Gesicht unscharf. Glissa schloss die Augen und überließ ihrem Kriegersinn die Kontrolle. Unleugbar bewegte sich da etwas in ihrem Zimmer, mehrere große Wesen kamen auf sie zu. Sie streckte die Hand nach ihrem Dolch aus, aber noch bevor sie ihn ergreifen konnte, sprang die Gestalt, die ihr am nächsten war, auf ihr Bett und drückte sie mit Gewalt in die Tierhautlaken. Der durchdringende Geruch von Pelz stieg ihr in die Nase. Das Ding auf ihr war riesig, packte sie an Armen und Beinen und nagelte sie förmlich auf dem Bett fest. Es schien nur aus Händen und Pelz zu bestehen. Glissa holte tief Luft, um zu schreien, aber das Tier drückte ihr eine weitere Hand auf den Mund. Oder war das ein zweites Tier? Wie viele Hände hatten diese Wesen? Glissa spürte, wie sie vom Bett hochgehoben wurde, und wand sich im Griff
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ihrer Angreifer. Sie bekam eine Hand frei und zog ihre Krallen über etwas, von dem sie hoffte, dass es das Gesicht des Tieres war. Sie hörte das Geräusch reißenden Fleisches, aber dann wurde ihre Hand auch schon wieder festgehalten. Bevor sie sich abermals befreien konnte, wurde ihr ein Sack über den Kopf gezogen und um die Hüften zugebunden, sodass ihr die Arme an die Seiten geschnürt wurden. Sie schrie, aber das Leder musste das Geräusch dämpfen, weil es innerhalb der Gewindekammer weder eine Reaktion noch ein Echo gab. Glissa bemühte sich, ihre Arme frei zu bekommen, aber eines der Wesen hob sie hoch und drückte ihr die Arme noch fester gegen den Körper. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn schreien oder auch nur zappeln, als die Kreatur sie aus ihrem Gewindezimmer hinaus nach unten, tiefer hinein in das Knäuel trug.
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Kapitel 2
BAUM DER SAGEN
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lissa konzentrierte sich, während sie durch das Knäuel getragen wurde – Bäume hinauf und hinunter und über Terrassen hinweg –, und versuchte, die Route im Geiste nachzuvollziehen. Das Wesen, das sie trug, schien sehr behände zu sein, jedenfalls kletterte es genauso mühelos an den Bäumen rauf und runter, wie es sich über die Terrassen bewegte. Keiner ihrer Angreifer hatte einen Laut von sich gegeben, aber dem Geruch und ihrem Gefühl nach handelte es sich um Trolle, dessen war Glissa sich fast sicher. Sie hatte sie allerdings immer nur bei den Zeremonien gesehen. Sie waren die Priester des Knäuels und blieben, abgesehen von heiligen Tagen, im Baum der Sagen unter sich, weshalb Glissa bislang nicht gewusst hatte, dass sie klettern konnten. Während der Rituale bewegten sie sich stets langsam und feierlich, und wurden dabei von den Auserwählten des Tel-Jilad flankiert. Niemand außer Elfen und Trollen kannte das Knäuel so gut, um es in diesem Tempo zu durchqueren. Die beiden Völker lebten seit hunderten von Zyklen miteinander im Knäuel. Es ging Glissa durch den Kopf, dass Kane ihnen von ihren Plänen erzählt haben könnte, aber sie mochte nicht glauben, dass er sie tatsächlich verraten hatte.
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Sie hatte es beinahe geschafft, eine Hand aus dem Ledersack zu befreien, als ihre Entführer auf einmal anhielten. Der Strecke, die sie zurückgelegt hatten, und der Zahl der Bäume, die sie hinaufgeklettert waren, nach zu schließen, vermutete Glissa, dass sie sich hoch oben im Baum der Sagen befand, aber sie kannte keine anderen Zugänge in den großen Baum als den Haupteingang an seinem Fuß, wo die Auserwählten Wache standen – wo Kane just in diesem Augenblick Wache stehen musste. Hinter sich vernahm Glissa ein kratzendes Geräusch. Es klang wie ein Dolch, der über einen Knäuelbaumast sägte. Dann waren sie wieder in Bewegung. Glissa verlor allmählich die Orientierung. Sie gewannen an Höhe, aber nicht, indem sie von einer Terrasse zur nächsten kletterten oder sprangen. Die Schritte des Wesens glichen denen einer normalen Gangart, aber Glissa spürte mit jedem einzelnen einen harten Stoß. Sie kannte nichts im Knäuel, was diese Bewegung erklärt hätte. Es war ein Gefühl, als liefen sie ein Gewinde hinauf, aber das konnte nicht sein, nicht über eine so lange Wegstrecke. Glissa schrie wieder, und das Wesen packte ihre Beine und ihren Rücken fester, damit sie still war. Die Kraft der Arme des Tieres zwang ihr die Luft aus der Lunge. Ihr Magen drückte auf kleine Hörner und Kämme auf dem Rücken des Wesens nieder. Der Schmerz raubte ihr fast die Besinnung, aber dann wurde sie rücklings zu Boden geworfen und konnte wieder atmen. Sie schrie noch einmal. Der Beutel wurde ihr vom Kopf gezogen. »Wo bin ich?«, verlangte sie sofort zu wissen. »In Sicherheit«, kam die raue Antwort. Glissa schaute sich um. Vier Trolle standen um sie herum,
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gedrungen wirkende Wesen, obgleich sie so hoch gewachsen waren wie Elfen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Köpfe tiefer lagen als ihre metallischen Schultern, wodurch sie aussahen, als hätten sie einen Buckel. Zwei hatten sich jetzt vornübergebeugt. Ihre mit Kupfer überzogenen Knie hatten sie weit gespreizt und ihre langen, metallverkleideten Arme gegen den Boden gestemmt, damit sie nicht nach vorn kippten. Glissa hatte Trolle bei den langen Zeremonien über Stunden so hocken sehen. Es schien die bevorzugte Haltung dieser breitschultrigen, buckligen Wesen zu sein. Sie mussten sich wirklich im Baum der Sagen befinden, dachte sie. Und die Trolle hatten sie bestimmt durch einen geheimen Zugang hereingebracht. Sie waren schnell und beweglich, konnten genauso gut klettern wie viridische Elfen – wenn nicht sogar besser als diese – und sie hatte gehört, dass die Trolle tatsächlich Geheimeingänge benutzen sollten, um Dissidenten zu entführen. »Was wollt ihr von mir?«, sagte sie. »Dich beschützen«, antwortete der Troll, der auch schon zuvor gesprochen hatte. »Die Annäherung naht.« Sein grauer Kopf war bis auf drei kupferne Beulen blank, und er hatte keine Stirn. Der flache Schädel schien übergangslos in die schwammige Nase überzugehen, die den größten Teil des Gesichts einnahm. Glissa hatte den Trollen noch nie getraut, teils auch, wie sie sich eingestand, weil sie sich in ihrem Aussehen so von den Elfen unterschieden. Unter ihren riesigen Nasen konnte man noch nicht einmal einen Mund erkennen, bis sie ihn aufmachten. Wie konnte man jemandem trauen, von dem man nicht einmal den Mund sah? »Mich beschützen? Wovor?«, sagte sie, während sie eine
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Hand langsam der Scheide ihres Dolches näherte. »Vor meinen gefährlichen Erinnerungen? Und welche Annäherung? Meinst du die Zeremonie des Zurechtweisens? Wollt ihr mich zur Zeremonie des Zurechtweisens zwingen, nur um eure Geheimnisse zu schützen?« Die Trolle sahen sie an. Glissa wusste nicht zu sagen, ob sie gelangweilt, wütend oder glücklich waren. Sie hatte deren Mienen noch nie zu deuten vermocht. »Daraus wird nichts«, sagte sie. »Ihr könnt mich nicht zwingen, am Ritual teilzunehmen. Letzten Endes werde ich die Wahrheit herausfinden.«
$ »Dessen bin ich gewiss«, sagte nun jemand anders. Ein weiterer Troll war in einem Durchgang aufgetaucht, der einen Augenblick zuvor noch nicht dort gewesen war. Glissa konnte ihn hinter den anderen Trollen kaum ausmachen, aber etwas an ihm war anders, das konnte Glissa spüren. Seine Stimme hatte einen seltsamen Ton. Die anderen verbeugten sich leicht, kaum dass der Neuankömmling sprach. Sie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, als würde er lächeln. Allerdings ließ sich so etwas bei den Trollen immer schlecht sagen. »Wer seid Ihr?«, wollte Glissa wissen, die mit der Hand mittlerweile schon fast am Dolch war. Sie versuchte, einen besseren Blick auf den neu hinzugekommenen Troll zu werfen, aber die beiden Trolle vor ihr waren so breit, dass sie nur sein Gesicht sehen konnte.
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»Lasst uns allein«, befahl der neue Troll den vier Entführern. »In meiner Obhut wird ihr nichts geschehen.« Die Trolle verbeugten sich, wandten sich um und stiegen den abfallenden Tunnel wieder hinab. Jetzt konnte Glissa erkennen, dass der Tunnel nicht natürlichen Ursprungs war. Es war kein Gewinde. Er war geradewegs in den Metallbaum hineingeschnitten worden. Als sie wieder zu dem Neuankömmling aufblickte, stellte sie überrascht fest, dass nirgends an ihm Metall zu sehen war! Seine Arme, sein Kopf und seine Beine zeigten nur bloße, graue Haut. Er trug einen langen ledernen Umhang, der sich beim Gehen bauschte. Als er sich umdrehte, um in den Raum hinter sich zurückzukehren, konnte Glissa sehen, dass auch sein Rücken kein Metall aufwies. Außerdem fiel ihr auf, dass er nicht von jener buckligen Gestalt wie die anderen Trolle war. Der Lederumhang hing ihm in einer geraden Bahn vom Nacken bis zum Boden. »Komm«, sagte er über seine Schulter hinweg zu ihr. »Wir haben vieles zu bereden.« »Ich bin noch nicht zum Reden bereit«, murmelte Glissa vor sich hin. Jetzt war ihre Gelegenheit gekommen. Sie sprang auf die Füße und griff nach ihrem Dolch – aber die Waffe steckte nicht in der Scheide! Natürlich! Sie lag neben ihrem Bett. Sie hielt inne, weil der Troll nun zu ihr zurückblickte. Abermals glaubte sie zu sehen, dass sein Gesicht ein Lächeln zeigte. Sie lächelte zurück. Sie musste im Moment eben mitspielen und auf eine andere Gelegenheit warten, um ihren Entführer zu überwältigen. Die Elfin betrat den Raum und hatte das Gefühl, ein weiteres Aufflackern zu erleben. Die Wände und Böden waren mit Tierhäuten bedeckt, und das Bett und die Stühle des Trolls be-
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standen nicht aus Metall, sondern aus Knochen und Fell. Mehr noch, im ganzen Raum gab es nicht ein einziges Stück Metall. Glissa hob eine der an der Wand hängenden Häute an, und der Anblick des vertrauten grün getönten Kupfers darunter beruhigte sie beinahe. In das Metall waren Runen graviert, ganz ähnlich der Historie, die in den Stamm des Baumes eingraviert war. »Ich verabscheue das Metall unserer Welt«, sagte der Troll, »darum halte ich es mir so weit wie möglich vom Leibe.« Glissa ließ die Haut wieder gegen die Wand fallen, als sie abermals hörte, wie Metall über Metall kratzte. Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie sich hinter ihr die Tür schloss. »Setz dich, und ich werde deine Fragen beantworten«, sagte der Troll. Er deutete auf die zwei Stühle zu beiden Seiten des Tisches, der in der Mitte des Raumes stand. Das einzige Licht kam von einer Gallertfrucht, die in einen aufwändigen knöchernen Halter eingelassen war, der auf dem Tisch thronte. »Ich heiße Chunth. Ich bin der Erste.« »Was bedeutet das, der ‚Erste’?«, fragte Glissa. »So eine Art Anführer? Ich habe Euch noch nie gesehen oder auch nur von Euch gehört.« Sie ging unruhig vor der Tür auf und ab. »Warum habt Ihr mich hierher gebracht?« Chunth nahm gegenüber der Tür Platz und schlug sich seinen Umhang um den Leib. »Ja. Anführer. Diese Bezeichnung ist so gut wie jede andere«, sagte er mit jenem sonderbaren Lächeln, das Glissa allmählich missfiel. »Ich halte mich hier drinnen auf, fern des Metalls. Ich verlasse den Raum kaum noch. Das ist besser für meine Gesundheit. Und warum wir dich hierher gebracht haben? Ich versichere dir, auch das ist
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zum Wohle deiner Gesundheit geschehen.« Glissa blieb stehen. »Was meint Ihr damit – ,zum Wohle meiner Gesundheit’? Metall kann nicht schlecht für uns sein. Wir sind Metall. Metall und Fleisch.« »Ich sagte, es sei schlecht für mich, nicht für dich«, sagte Chunth. »Die Gefahr, die dir droht, kommt von außerhalb des Knäuels. Bitte, setz dich. Es gibt keinen Weg aus diesem Raum hinaus.« Glissa hatte die Tierhaut vor der Tür beiseite gezogen und suchte nach einem Griff, aber sie konnte nicht einmal mehr die Tür finden. Sie ließ die Haut wieder los und drehte sich um. »Na schön«, sagte sie, »aber hört auf, in Rätseln zu sprechen. Sagt mir einfach nur, warum Ihr mich hierher gebracht habt.« »Wie du wünschst«, sagte Chunth. »Also, wir haben Grund zu der Annahme, dass bald ein Mordanschlag auf dich verübt werden soll, wahrscheinlich schon heute Nacht.« Glissa starrte ihn an. »Ein … ein Mordversuch auf … Von wem?« »Von außerhalb des Knäuels.« »Wie ist das möglich? Außerhalb des Knäuels gibt es nichts außer metallenem Ödland. Ich war am Waldrand. Ich habe es gesehen.« »Außerhalb des Knäuels gibt es sehr viel mehr, als du weißt, Glissa«, sagte Chunth. Er hob die Hand. »Das soll kein Rätsel sein, sondern nur die schlichte Feststellung einer Tatsache. Jenseits des Knäuels liegt eine weite, gefährliche Welt, und du musst mir einfach glauben, dass dich jemand oder gar mehrere dort tot sehen möchten.« Glissa setzte sich und blickte den geheimnisvollen Troll fest
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an. »Wie wollt Ihr all das wissen, wo Ihr diesen Raum doch nie verlasst?«, sagte sie. »Wir sind die Hüter der Geschichten, oder nicht?«, entgegnete Chunth. »Ich zeichne die Geschichte des Knäuels seit einer Zeit auf, die noch vor der deines Vaters liegt. Und obschon es stimmt, dass wir in all dieser Zeit kaum Verbindung zu den anderen Völkern von Mirrodin hatten, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht existieren oder dass ich keine Möglichkeiten kenne, um herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hat.« »Dann verratet mir doch, o großer Bewahrer des Wissens«, sagte Glissa schroff, »wer meinen Tod will.« »Das weiß ich nicht«, sagte Chunth. »Ich habe seit der letzten Annäherung nach einer Antwort dafür gesucht, aber sie entzieht sich noch immer meiner Kenntnis.« »Annäherung?«, sagte Glissa. »Was soll das sein, und was hat das mit mir zu tun?« »Die Annäherung ist die Zeit der Zeremonie des Zurechtweisens. Alle hundert Zyklen stehen die vier Monde einträchtig in einer Linie um die Welt, jeder über seinem Land. Während dieser Rotationsphase geht kein Mond über dem Knäuel auf, weil das Knäuel selbst keinen Mond hat. Es ist ein Tag der Dunkelheit und ein Tag großer Kraft und Macht in der Radix. Wie du weißt, nehmen alle Elfen an der Zeremonie in der Radix teil und läutern sich von ihren unangenehmen Erinnerungen.« Glissa nickte. »Und was hat das mit mir zu tun?« Chunth schwieg einen Moment lang, und Glissa fragte sich, ob er wohl je auf den Punkt kommen und ob er sie jemals aus seinem Quartier hinauslassen würde. Als sie sich im Raum
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umsah, bemerkte sie im Licht der Gallertfrucht etwas Glitzerndes. Es war der Knauf eines Schwerts, der unter dem Bettzeug hinter Chunth hervorlugte. Vielleicht war es ja an der Zeit, wieder auf und ab zu gehen, dachte sie. Endlich fuhr der Troll fort. »Genau eine Mondphase vor den vergangenen beiden Annäherungen wurde der jeweils größte Krieger des Knäuels brutal ermordet«, sagte er. »Wir glauben, dass es wieder passieren wird. Und die letzte Phase vor der Annäherung beginnt heute Nacht.« Glissa war einen Augenblick lang sprachlos, dann brach sie in Gelächter aus. »Ich bin also der größte Krieger des Knäuels?« Sie stand auf und ging wieder im Raum umher. »Das ist nicht Euer Ernst.« »Du würdest es niemals zugeben«, sagte Chunth, »nicht einmal dir selbst gegenüber, aber du bist nun einmal unser größter Krieger. Möglicherweise sogar der größte Krieger, den es im Knäuel je gab. Du hast eine Bestimmung, mein Kind, und deshalb muss ich dich heute Nacht vor den Gleichmachern beschützen.« »Vor den Gleichmachern?«, sagte Glissa und blieb inmitten ihrer Wanderung durch das Zimmer stehen. Das Schwert war nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt. »Heute Nacht sind die Gleichmacher hinter mir her?« »So geht es vonstatten«, sagte Chunth. »Genau eine Phase vor der Annäherung dringen die Gleichmacher ins Knäuel ein und töten unseren größten Krieger. Aber hier bist du in Sicherheit. Die Gleichmacher werden dich nicht finden.« »Was ist mit meiner Familie?«, fragte Glissa. Ein Anflug von nervöser Angespanntheit mischte sich in ihre Stimme. »Die Gleichmacher wollen doch nur mich haben, oder? Meine El-
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tern und meine Schwester werden sie in Ruhe lassen, oder? Oder?« »Die Gleichmacher machen keine Unterschiede«, antwortete Chunth bedächtig. »Das weißt du. Für gewöhnlich wählen sie ihre Ziele willkürlich aus, aber in dieser Nacht werden sie dein Zuhause und nichts anderes angreifen, befürchte ich.« Chunths Antwort traf Glissa wie ein Dolch in die Kehle. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte kaum atmen. Sie lehnte sich gegen die mit Tierhäuten bedeckte Wand und schlang die Arme um sich. »Warum?«, sagte sie schließlich mit leiser, heiserer Stimme. »Wir wissen nicht, warum«, antwortete Chunth. »Wir wissen nur, dass es heute Nacht geschehen wird und dass du ihr Opfer sein sollst.« Glissa straffte sich. Zorn und Schmerz spiegelten sich in ihrer Miene wider. »Nein«, sagte sie. »Warum wollt ihr mich retten und meine Familie sterben lassen? Was für ein Spiel treibt ihr hier?« »Du hast eine Bestimmung«, sagte Chunth. »Deine Familie nicht.« »Nun, meine Bestimmung schließt meine Eltern mit ein.« Glissa spie den letzten Satz geradezu hervor und warf sich gleichzeitig in Richtung des Bettes. Chunth sprang auf und machte eine Drehung, um ihr den Weg abzuschneiden, aber Glissa hechtete an ihm vorbei und kam purzelbaumschlagend hinter ihm wieder in die Höhe. Kaum stand sie wieder, zog sie auch schon das Schwert unter den Bettdecken hervor und drückte Chunth die Spitze unter die flache Nase. »Wenn du zukünftig noch eine Annäherung erleben willst, Alter«, knurrte sie, »dann machst du jetzt diese
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Tür auf und rufst deine Wachen wieder herein.« Chunth leistete keinen Widerstand. Die beiden begaben sich zu der verborgenen Tür, und Glissa beobachtete, wie der Troll das Fell anhob, die Hand ausstreckte und mit einem angewiderten Grunzen einen kleinen Vorsprung im Metall wie einen Hebel betätigte. Die Tür bewegte sich und schwang langsam nach innen. Glissa trat hinter die Tür, wobei sie das Schwert fest unter Chunths Rippen gedrückt hielt. »Ruf sie«, zischte sie ihm zu, »aber denk dran, ich bin der größte Krieger im Knäuel, und mein Schwert befindet sich nur wenige Fingerbreit von deinem Herzen entfernt.« »Wachen!«, rief Chunth. »Kommt her und bringt unsere Besucherin in ihre Unterkunft!« Glissa drückte mit dem Schwert noch etwas fester zu. »Und jetzt geh zurück und lass sie hereinkommen«, sagte sie. Die Trolle kamen, und Chunth bedeutete ihnen mit einem Wink, ihm in sein Quartier zu folgen. Kaum hatte der vierte die Tür passiert, stieß Glissa den alten Troll gegen die anderen. Die fünf Trolle stürzten zu Boden, rissen dabei den Tisch und die Stühle um, und die Gallertfruchtkugel flog durch die Luft. Die Kugel zerplatzte auf Chunths Schädel, und der Raum versank in fast völliger Dunkelheit. Glissa wandte sich zur Tür um und rammte den Schwertknauf auf den Metallvorsprung, den Chunth betätigt hatte, um die Tür zu öffnen. Er brach ab und klapperte zu Boden. Die Elfin wollte zur Tür hinaushuschen, aber als sie den Haufen ineinander verschlungener Trollleiber passierte, packte eine der Wachen sie am Fußgelenk. Glissa zerrte an ihrem Bein, aber der Griff des Trolls war kräftig, weshalb sie das Gleichgewicht verlor und nun selbst zu Boden fiel. Sie trat mit
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dem freien Fuß zu und traf die flache Stirn der Wache. Der Troll grunzte, hielt sie aber weiterhin fest. Die anderen Trolle krochen voneinander weg. Sie trat von neuem zu, fester diesmal in das ihr zugewandte Gesicht des Trolls, und hörte etwas knacken. Der Troll jaulte auf und fasste sich mit beiden Händen an die Nase. Glissa war frei. Sie rappelte sich auf, rannte aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. Eine große Hand schoss aus der schmaler werdenden Öffnung hervor. Glissa zog so fest, wie sie konnte, aber der Troll war stärker und drückte die Tür wieder auf. Ohne weiter darüber nachzudenken, stieß Glissa das Schwert durch den breiter werdenden Spalt. Sie hörte einen Aufschrei, und die Hand verschwand. Nun konnte sie die Tür zuschlagen. Sofort wandte sie sich zum Tunnel um. Glissa zählte im Laufen die Schritte und blieb stehen, als sie bei 139 anlangte. So weit hatte sie auf dem Weg zu Chunths Unterkunft gezählt. Sie musterte die Wand neben sich, fuhr mit der Hand über das Metall und suchte nach einem Vorsprung wie jenem in Chunths Quartier. Nach einer quälend langen Minute fand die Elf in neben der unteren Stufe endlich eine Unebenheit auf der Wand. Sie drückte sie hinunter, worauf sich quietschend ein Durchgang öffnete. Glissa wartete nicht, bis sich die Tür ganz geöffnet hatte. Sie zwängte sich hindurch und rannte sofort hinaus ins Knäuel. Diese Stelle kenne ich, dachte Glissa, als sie vom Baum der Sagen aus einen kleinen Absatz erreichte. Es war eine Sackgasse, dieselbe Sackgasse, in der sie erst am heutigen Tag den Vorrac in die Enge getrieben hatten, was inzwischen allerdings eine Ewigkeit her zu sein schien. Glissa rannte zu der Stelle
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hinüber, von der sie und Kane herabgesprungen waren, und wollte sich gerade in die Höhe ziehen, als ihr ein fürchterliches Geräusch in den Ohren dröhnte. Ein Horn schmetterte durch das Knäuel – das Horn der Warnung. Die Gleichmacher waren ins Knäuel eingedrungen!
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Kapitel 3
DIE GLEICHMACHER
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lissa erstarrte. Die eine Hand lag auf dem Sims über ihr, in der anderen hielt sie das Schwert, das sie Chunth entwendet hatte. Sie wartete, so kam es ihr vor, eine Ewigkeit auf das antwortende Horn und hoffte dabei, dass es sich bei dem Signal des ersten Horns lediglich um einen Fehlalarm oder eine Täuschung des Windes gehandelt hatte. Die Gleichmacher machten ihr Angst. Sie suchten sie seit ihrer Kindheit in ihren Träumen heim. Ihr Vater hatte ihr ein ums andere Mal versichert, dass die Familie in ihrem Heim, so hoch oben in den Bäumen und in unmittelbarer Nähe der Radix, sicher sei. Dennoch erwachte Glissa jedes Mal schreiend, wenn das Horn der Warnung in ihren Träumen erscholl. Und jetzt lähmte sie diese Angst. Sie wusste inzwischen, dass die Gleichmacher es diesmal auf sie abgesehen hatten. Chunth hatte das jedenfalls behauptet. Aber sie würden sie nicht in ihrem Bett vorfinden, wo sie sich zitternd unter den Vorracfellen versteckte. Sie würden nur Vater, Mutter und Lyese antreffen. Sie war vom hiesigen Baum nicht weit von dem ihres Vaters entfernt, aber es gab keinen einfachen Weg dorthin. Früher am Tag hatten sie und Kane mindestens fünf Minuten ge-
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braucht, um zu dem Kadaver des Vorracs hinabzuklettern. Und so viel Zeit hatte sie nicht. Ihre Familie brauchte sie jetzt in diesem Augenblick, und doch konnte sie sich nicht vom Fleck rühren. Ein zweites Horn dröhnte. Im Geiste konnte Glissa die schimmernden Gleichmacher den Knäuelbaum zum Haus ihres Vaters hinaufklettern sehen, genau so, wie sie es in den Albträumen ihrer Kindheit getan hatten. Aber diesmal war es wirklich, und sie war kein verängstigtes kleines Mädchen. Glissa zwang die Furcht aus ihren Beinen und ließ ihren Kriegerinstinkt die Beherrschung über sie übernehmen. Die Elf in ließ sich auf die Terrasse weiter unten hinabfallen und rannte dann los. Als sie die Stelle erreichte, wo sie den Vorrac erwischt hatte, machte sie drei weite Sätze und stieß sich fest von der Terrasse ab. Glissa rannte mit wie wild wirbelnden Beinen durch die Luft, nachdem sie sich von dem Vorsprung in die Höhe katapultiert hatte. Sie passierte den Sackgassenabsatz und stürzte gleich darauf durch das Knäuel, wobei sie sich noch weiter vom Baum der Sagen entfernte. Im Fallen drehte die Elf in das Schwert und hielt es mit der Spitze nach vorn über den Kopf. Sie umklammerte den Griff. Sie drückte den Rücken durch und spreizte die Beine, um den Fall zu verlangsamen, und stürzte solchermaßen auf einen Absatz eines nahen Baumes zu. Die Schwertspitze traf den Stamm des Knäuelbaums und grub sich in das Metall. Als ihr Körper herumschwang, zog Glissa die Beine an, um den Aufprall abzufangen. Sie stieß mit den Füßen gegen den Baum und prallte zurück, aber das Schwert hielt und riss eine gezackte Linie in den Stamm, wäh-
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rend sie auf die Terrasse weiter unten zuschoss. Glissa staunte darüber, wie mühelos das Schwert durch das Metall des Knäuelbaums schnitt. Sie hatte erwartet, dass es ihren Fall abbremsen würde, aber die Terrasse unten kam ihr schnell entgegen. Viel zu schnell. Mit beiden Füßen trat sie sich kräftig vom Baum ab, zog das Schwert heraus und flog abermals durch die Luft, als sie auf einmal ein Gewinde passierte. Sie packte das Gewinde mit einer Hand, kreiselte einmal darum herum, hing dann einen Augenblick lang da und löste den Griff schließlich, um die letzte Strecke im freien Fall zu überwinden. Sie hatte zwar wertvolle Zeit gutgemacht, aber sie war immer noch zwei Bäume von zu Hause entfernt. Der nächste Sprung war um einiges einfacher. Diesen Satz hatte sie schon hundertmal gemacht. Als sie das Ende der Terrasse erreichte, stieß sie sich wie schon zuvor ab, auf dem Scheitelpunkt ihres Sprunges warf sie diesmal jedoch die Beine nach hinten und flog einen Moment lang mit dem Gesicht nach unten dahin, ehe sie Kopf, Beine und Arme einzog und sich in der Luft überschlagend auf den näher kommenden Absatz weiter unten zuhielt. Sie wollte auf den Schultern landen, um sich abzurollen, hatte aber leider das Schwert vergessen. Glissa schlug also auf und rollte sich ab, aber die Schwertklinge drang in den Terrassenboden, was sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie prallte hart gegen den Baumstamm, bevor sie auf der Terrasse zusammensackte. Auf Händen und Knien drehte sie sich um und wollte sich aufrappeln, aber ihr Kopf erschien ihr auf einmal zu schwer, und zwischen ihren Schulterblättern spürte sie einen sengenden Schmerz. Sie blickte auf und versuchte sich auf den nächsten Baum zu konzentrie-
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ren, weil sie fast daheim war. Das trübe Licht der Gallertfrüchte wirbelte in Kreisen vor ihr. Glissa schüttelte den Kopf und rieb sich mit dem Handrükken über die Augen. Mit einem Ächzen zwang sie sich in die Höhe und schaute noch einmal nach oben. Sie konnte die dunkle Öffnung, die in das Haus ihres Vaters führte, unmittelbar über sich sehen, aber sie nahm auch mehrere schimmernde Schemen wahr, die an der Seite des Knäuelbaums emporkletterten. Die Gleichmacher erinnerten an riesige silbrige Käfer. Sie waren etwas größer als Vorracs, anstelle von Hörnern verfügten sie jedoch über Klingen, die halb so lang waren wie ihre Körper. Diese speerartigen Zangen fuhren schlitzend hin und her, wenn sie sich bewegten, während unterhalb des Mauls mehrere Reihen rasiermesserscharfer Klingen wirbelten. Sie konnten alles – und jeden – niedermachen, was ihnen in die Quere kam, und ließen nichts zurück außer einem blutigen Fleck. Drei dieser Gleichmacher trippelten auf langen dreigelenkigen Beinen den Stamm hinauf zu Glissas Heim. Die Beine liefen in dornenartige Krallen aus, die sich beim Klettern in den Stamm gruben. Glissa verdrängte den Schmerz zwischen ihren Schultern und zwang ihre Füße, sich wieder in Bewegung zu setzen; erst trabte, dann rannte sie über die Terrasse. Sie bewegte sich jetzt schwerfälliger und fragte sich, ob ihre Geschwindigkeit reichte, um den letzten Sprung zu vollführen. Sie musste es versuchen. Sie sprang vom Rand der Terrasse und segelte durch die Luft auf die Gleichmacher zu. Weil das Schwert zuvor so leicht durch den Knäuelbaum gefahren war, wollte sie es diesmal
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anders anfangen. Sie hob es im Flug über den Kopf, um es dann im letzten Moment nach vorn zu rammen und den Kopf des untersten Gleichmachers zu durchbohren. Die Klinge drang mühelos schließlich auch durch das Metallwesen hindurch und bohrte sich unterhalb der Bestie in den Stamm. Glissa landete auf dem Rücken des Gleichmachers und trieb die Klinge mit ihrem Gewicht durch den Leib des Gleichmachers, bevor sie sich wieder abstieß und eine Falte des Baumes zu packen bekam. Der aufgeschlitzte Gleichmacher stürzte vom Baum herab auf die unter ihnen liegende Terrasse. Glissa kletterte den Baum hoch und nutzte dabei die ihr bekannten Griff- und Trittmöglichkeiten, um rasch zum nächsten Gleichmacher aufzuschließen. Die Kreatur hatte den Verlust ihres Gefährten noch nicht einmal bemerkt. Unbekümmert kletterte das Ding weiter den Baum hinauf. Als sie nahe genug war, schlug Glissa mit dem Schwert nach den Hinterbeinen des Gleichmachers. Die wundersame Klinge schnitt, ohne zu verlangsamen, durch beide Beine. Das Untier kletterte weiter und ließ die Hinterpfoten einfach hinter sich im Baum stecken. Erst nach ein paar weiteren Bewegungen hielt der Gleichmacher inne, um nach hinten zu blicken. Er drehte sich um die eigene Achse, bis er Glissa ins Gesicht sah. Die Kriegerin erstarrte. Nie zuvor hatte sie einem Gleichmacher Auge in Auge gegenübergestanden. In ihrem Innern schrie das verängstigte kleine Mädchen. Die Bestie hatte keine Augen, nur ein gewaltiges, aufklaffendes Maul, das mit scharfen Zähnen gesäumt war. Es öffnete und schloss sich immer wieder, während das metallene Ungeheuer auf sie zukam. Die Elfin war so unfähig, sich zu bewegen, wie eine Fliege, die in
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einem Netz gefangen war. Die geschwungenen Krallen des Tieres befanden sich unmittelbar über ihr. Glissa entfernte sich mit einem Sprung und fand Halt an einem Gewinde, das seitlich aus dem Baumstamm ragte. Der Gleichmacher wandte sich um und klappte das Maul zu. Glissa zwang ihren Blick fort von der entsetzlichen Fratze des Ungeheuers. Während sie sich mit einer Hand an dem Gewinde festhielt, stützte sie sich mit den Füßen am Stamm ab und spießte den Gleichmacher mit der Spitze ihres Schwerts auf. Indem sie das Schwert erst nach oben riss, schnitt sie eine riesige Wunde ins Maul und zog dem Biest die Waffe dann durch Klingen und Beine, weil es nach ihr greifen wollte. Nachdem der Gleichmacher jetzt nur noch eine Pfote zum Krallen hatte, konnte er sich nicht länger halten. Er stürzte ab und verschwand aus dem Blickfeld. Glissa sah nun zum letzten Gleichmacher hinauf. Er war fast schon an der Eingangstür. Nachdem die Elfin ihre Zweifel und Ängste sorgsam beiseite gelegt hatte, zog sie sich auf das Gewinde hinauf, kauerte sich hin und sprang dann auf das Unding zu. Mit ihrer freien Hand packte sie eines der Hinterbeine der Kreatur und trieb ihre Klinge durch das Becken des Tieres. Das Bein, das sie festhielt, löste sich vom Körper, die Klauen jedoch blieben im Stamm verhakt, sodass Glissa jetzt an der abgetrennten Gliedmaße baumelte. Der Gleichmacher kletterte unverdrossen weiter am Stamm empor. Die Vorderbeine hatten den Sims des Eingangs zu Glissas Wohnstätte bereits erreicht. Sie musste ihn unbedingt aufhalten, bevor er hineingelangen konnte. Sie drehte das Schwert in der freien Hand herum, packte die Klinge unmit-
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telbar über der Parierstange und schleuderte die Waffe dann wie einen Speer. Mühelos durchdrang das Schwert den Hinterleib des Wesens, bohrte sich in den Stamm des Baumes und nagelte den Gleichmacher dort fest. Die Kreatur wand sich und strampelte mit den Beinen, aber das Schwert hielt. Glissa griff nach einer Falte des Baumes und fand auch mit den Füßen wieder Halt. Sie langte hinüber und zog das abgeschlagene Bein aus dem Stamm, dann kletterte sie zu dem festgenagelten Gleichmacher hinauf. Als sie nahe genug heran war, schlug sie mit der klauenbewehrten Pfote auf das Ungeheuer ein, zertrümmerte die rote Kuppel, die dessen Rücken bedeckte, und riss ein großes Stück Metall heraus. Die Bestie versuchte trotzdem immer noch weiterzuklettern. Glissa versetzte ihr einen weiteren Hieb. Nach dem dritten Schlag konnte Glissa in das Untier hineinschauen. Seltsamerweise sah sie dort kein Blut. Der Gleichmacher bestand komplett aus Metall, ganz ohne Fleisch! Im Gegensatz zu den Knäuelbäumen besaßen alle im Wald heimischen Lebewesen neben ihren metallenen Teilen zumindest etwas Fleisch. Wenn man das Metall durchtrennte, fand man darunter Fleisch, Knochen und Blut. Im Körper des Gleichmachers jedoch sah sie nur miteinander verbundene Metallstäbe, die sich hin und her bewegten. Glissa hieb die provisorische Keule zwischen die Stäbe. Ein entsetzlich kreischendes Geräusch drang aus dem Gleichmacher hervor. Das Gestänge verbog sich, brach und kratzte dann über das darin steckende Bein. Rauch stieg aus dem Loch auf. Der Gleichmacher versuchte sich herumzudrehen. Glissa zog an dem Bein, aber es klemmte fest. Waffenlos musste Glissa voller Entsetzen zusehen, wie
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die Kreatur herumfuhr, wie seine hin und her zuckenden Zangen immer näher kamen und das Knirschen der wirbelnden Klingen lauter wurde. Die Elf in griff nach einem Astloch, konnte es aber nicht erreichen. Gerade als sie loslassen und sich aus der Reichweite der Kreatur fallen lassen wollte, brach aus dem Rücken des Untiers Feuer hervor. Die Wucht der Explosion drosch den Gleichmacher gegen den Baum und zerstörte zwei seiner noch verbliebenen Beine. Die Klingen, nur noch zwei Fingerbreit von Glissas Gesicht entfernt, hatten aufgehört, sich zu bewegen. Sie spürte einen Schmerz und entdeckte einen Schnitt, der sich über ihren Unterarm zog. Ein warmes Blutrinnsal hinterließ eine rote Spur, die sich von ihrem Arm zur Schulter zog. Das Ungeheuer schien tot zu sein, aber Glissa wollte kein Risiko eingehen. Sie ließ sich hinab, um mit den Füßen sicheren Halt zu finden, dann kletterte sie in die Höhe und in weitem Bogen um die Kreatur herum. Als sie den Sims über dem toten Gleichmacher erreicht hatte, griff sie hinunter und packte ihr Schwert. Sie zog es aus dem Tier heraus und konnte dann beobachten, wie der Kadaver seinen beiden toten Brüdern in die Tiefe folgte. In Hochstimmung ob ihres Sieges betrat Glissa ihr Zuhause.
$ Als Glissa durch die Tür trat, schlug ihr das Herz mit einem Mal bis in den Hals. Mindestens ein halbes Dutzend Gleichmacher kroch im Hauptraum umher. Sie zermalmten alles, was ihnen im Weg stand, und warfen mit ihren zuckenden Zangen die Möbel herum. Sie machten den Eindruck, als such-
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ten sie etwas. Und aus den Gewinderäumen hörte Glissa die Geräusche weiterer dieser Ungeheuer. Stühle, Tische und Gallertfrüchte lagen von den Klingen der Gleichmacher in Stücke gerissen auf dem Boden. Töpfe und Pfannen, zu unidentifizierbaren Formen zerknüllt, lagen inmitten der Scherben der Knochenteller ihrer Mutter. Im schwachen Licht, das von draußen hereinfiel, konnte Glissa unterhalb des Zugangs in das Schlafzimmer ihrer Eltern einen dunklen Schemen erkennen. Dunkle Spritzer auf dem Boden und den Wänden in unmittelbarer Nähe des Körpers verrieten Glissa alles, was sie wissen musste. Sie riss das Schwert vor sich hoch und schrie. Beinahe synchron ließen die Gleichmacher von ihrer Suche ab und kamen auf sie zu. Aus den Gewinden tauchten noch mehr der schimmernden Kreaturen auf. Von den Zangen eines der Ungeheuer hingen gallertfruchtgeschmückte Strähnen von Lyeses Haar. Glissas Schläfen pochten, ihre Ohren dröhnten, weil das Blut wie wild durch ihren Körper raste. Tränen stiegen ihr in die Augen, ihre Hände zitterten. All ihre Ängste und Albträume hatten sich schließlich bewahrheitet. Die Gleichmacher waren gekommen, um sie zu holen, aber sie war nicht zu Hause gewesen, und ihre Familie hatte dafür büßen müssen. In ihrem Innern tobte ein Kampf, während die Gleichmacher auf sie zukamen. Die Schreie des kleinen Mädchens ließen sich nicht unterdrücken, aber die Erwachsene wusste, dass Gefühle sich zügeln ließen. Sie wandelte die Angst und das Leid des kleinen Mädchens in einen Zorn um, der die Tränen erstickte und die zitternden Hände beruhigte. Als der erste Gleichmacher sich ihr näherte, rannte die Elfin los, sprang über die funkelnden Klingen hinweg und landete
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auf dem silbrigen Rücken der Kreatur. Sie stieß das Schwert durch die Seite der roten Kuppel über dem Maul des Ungeheuers, dann riss sie das Heft nach unten, um die Kuppel vollständig zu zerstören. Darunter konnte sie facettierte Edelsteine auf metallenen Stängeln sehen, die sich drehten und zu ihr aufzublicken schienen. Sie schlug mit ihrer Klinge danach. Das Schwert durchtrennte beide Augenstängel, und die beiden Steine fielen in das Untier hinein. Die Kreatur zögerte kurz, dann wandte sie sich um, als wollte sie Glissa folgen. Die Elf in stand jedoch nach wie vor auf dem Gleichmacher, weshalb er beim Sichumdrehen in die wirbelnden Schneiden eines Artgenossen geriet. Metall scharrte über Metall, als die Klingen ineinander schnitten. Eine der Klingen des blinden Gleichmachers grub sich tief in den Leib der anderen Kreatur und trennte ihr die Zangen sowie ein Vorderbein ab. »Stirb!«, schrie Glissa, als der blinde, hirnlose Gleichmacher seinen Kameraden erledigte. Die Elfin sprang von ihrem erhöhten Platz und landete auf dem Rücken des nächsten Tieres. Sie hatte vor, es ebenfalls zu blenden, um die Biester dazu zu treiben, sich gegenseitig auf gleiche Weise zu zerreißen, wie sie es zuvor mit Glissas Eltern und ihrer Schwester getan hatten. Als Glissa aufsetzte, bog sich das Wesen jedoch durch und griff mit den Scheren nach ihr. Glissa verlor den Halt und fiel nach hinten. Ihr Fuß rutschte über den Schädel des Ungeheuers und geriet in die Nähe der wirbelnden Klingen. Sie zog die Füße an und rollte rückwärts zu Boden, wo sie inmitten der Küchentrümmer hart aufschlug und schließlich mit dem Rücken zur Wand sitzen blieb. Die Gleichmacher drehten sich um – alle bis auf den blin-
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den, der es irgendwie in einen der Gewinderäume hinaufgeschafft hatte. Glissa stemmte Hände und Füße gegen den Boden und schob sich stückchenweise an der Wand hoch. Es gab keinen Ausweg mehr. Die Gleichmacher näherten sich ihr, einer hinter dem anderen. Glissa dachte kurz daran, über die rotierenden Klingen der vordersten Kreatur hinwegzuspringen, um dann über die Rücken dieser Killer zu laufen und so zu entkommen. Aber die Kriegerin in ihr brachte es nicht fertig, sich im Angesicht der Mörder ihrer Familie zurückzuziehen. »Das war’s«, sagte sie. Ihre Familie war tot. Ihr Leben war vorbei. Alles, was sie noch hatte, war dieser Augenblick. »Ihr werdet teuer für den Tod meiner Familie bezahlen, bevor ich sterbe!«, knurrte sie. Glissa hielt ihr Schwert vor sich in die Höhe. Die Spitze bebte etwas. Sie machte sich zum Angriff bereit, dann richtete sie den Blick auf die Spitze des Schwerts. Sie leuchtete schwach. Blassgrüne Energieranken umspielten die Klinge. Es war dieselbe Energie, die sie in ihrem Aufflackern gesehen hatte, und sie gewann an Kraft. Inzwischen war die gesamte Klinge leuchtend grün, und die Energie kroch an Glissas Arm hinauf. In einem blendenden Blitz zuckte eine Energieranke von der Schwertspitze auf den nächsten Gleichmacher zu und hüllte ihn in grünes Feuer. Glissa konnte die intensive Hitze der Flamme spüren. Das Feuer erlosch rasch wieder und hinterließ an der Stelle, wo sich eben noch das Untier befunden hatte, nichts als Schlacke. Die anderen Gleichmacher rückten unbeirrt näher und fegten mit ihren Klingen von einer Seite zur anderen. Sie schienen nicht gemerkt zu haben, dass Glissa gerade einen der ih-
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ren in eine Lache geschmolzenen Metalls verwandelt hatte. Wie Jäger, die die Witterung ihrer Beute aufgenommen hatten, würden sie nie aufgeben, bevor die Jagd nicht vorbei war. Die Elfin versuchte eine weitere Energieranke von der Spitze des immer noch glühenden Schwertes zu schleudern, aber die Energie schien ihrem Befehl nicht gehorchen zu wollen. Während sie das Schwert vor sich hin und her schwenkte, ließ das Glühen allmählich nach. »Nein!«, schrie sie. Die grüne Energie war verschwunden. Sie versuchte, sie von neuem heraufzubeschwören, während die Gleichmacher Stück für Stück näher rückten, aber es war zwecklos. Was immer die Energie heute auch zweimal aus ihr hervorgebracht hatte, es ließ sich nicht von ihr beherrschen, da konnte sie noch so auf die Klinge starren. Auf einmal geschah etwas Merkwürdiges. Staunend sah Glissa mit an, wie die Gleichmacher plötzlich stehen blieben, um dann gleichzeitig kehrtzumachen und sich auf die Tür zuzubewegen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Was war passiert? Warum zogen sie sich zurück? Fürchteten sie sich vor dem Schwert oder der grünen Energie? Eigentlich glaubte sie das nicht. Die Biester hatten ihren Angriff auch noch fortgesetzt, nachdem sie einen Gleichmacher mit ihrer Klinge geblendet und einen zweiten mittels dieser seltsamen Energie vernichtet hatte. Wurden sie irgendwie von außen gesteuert? Und wenn ja, von was oder wem? All diese Fragen gingen Glissa durch den Sinn, aber sie entschied, dass sie keine Antworten darauf brauchte. Sie wollte nur Rache. Jetzt, da sie ihr den Rücken zuwandten, waren die
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Gleichmacher verwundbar. Die Elfin hieb mit dem Schwert auf die sich zurückziehenden Bestien ein, trennte Beine, Scheren und Krallen ab, alles, was sie erwischte. Sie verfolgte sie bis zur Tür, aber kein Einziger machte Anstalten, sich gegen ihre Attacken zu wehren. Die Kadaver etlicher Gleichmacher lagen in Fetzen um sie herum, aber die meisten der silbrigen Kreaturen entkamen und flohen den Baum hinunter. Während Glissa der Schweiß übers Gesicht strömte und sich mit den Tränen vermischte, spielte sie schwer atmend mit dem Gedanken, ihnen hinterherzuklettern. Der Gedanke an ihre Mutter und ihre Schwester ließ sie jedoch an der Tür stehen bleiben. Vielleicht hatte ja wenigstens eine von beiden überlebt. Sie hatte nur eine Leiche gesehen. Sie musste zurückgehen und nachschauen. Sie wandte sich wieder dem Hauptraum zu und hörte auf einmal, wie sich etwas bewegte. Der blinde Gleichmacher warf sich auf sie. Sie hatte keine Zeit, auszuweichen oder davonzulaufen. Das Metallungeheuer prallte gegen Glissa, worauf sie haltlos über seinen Rücken stürzte. Mit einem Fußgelenk verfing sie sich in den abgebrochenen Klingen des Gleichmachers. Sie versuchte, den Fuß frei zu bekommen, aber die Klinge schnitt ihr dabei zu sehr in die Achillessehne. Sie schrie vor Schmerzen, weil die Klingen durch ihre Metallhaut drangen. Das Biest stürzte sich über den Sims vor der Tür und machte sich daran, den Baum hinunterzuklettern. Glissa hielt sich am Rücken des Gleichmachers fest. Sie konnte nichts anderes tun, bis das Ungeheuer den Boden erreicht hatte, wo sie es töten und ihren Fuß befreien konnte. Der Gleichmacher langte am Waldboden an. Der Schmerz in ihrem Bein ließ Glissa zusammenzucken, aber sie richtete sich
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auf ein Knie auf, brachte das Schwert in die Höhe und stieß es der Kreatur in den Rücken – was diese nicht einmal zu bemerken schien. Glissa schlug noch einmal zu, diesmal mit so viel Kraft, wie sie aufbringen konnte. Eine Bewegung neben ihr im Knäuel zog Glissas Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht war Kane gekommen, um ihr zu helfen. Vielleicht hatte Chunth seine Einsiedlerklause verlassen, um zuzuschauen, wie die vom Schicksal Bestimmte starb. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie jemanden … oder etwas … den oder das sie noch nie gesehen hatte. Was es auch sein mochte, es war etwa von der Größe eines Trolls, stand jedoch aufrecht und war in eine schwarze Kutte gehüllt. Das Gallertfruchtlicht schimmerte in einer Weise auf dem Kopf des Fremden, die daraufhindeutete, dass er weder aus Fleisch noch Metall war. Und sie hätte schwören können, dass sie vier Arme sah. Dann war er oder es verschwunden. Glissa starrte in das Knäuel, suchte nach der Gestalt, sah aber nichts außer Bäumen, die jetzt in unfassbarem Tempo um sie her peitschten, weil der Gleichmacher rannte. Sie blickte auf das Ungeheuer hinab und sah, wie es seine Füße so schnell bewegte, dass sie nur noch als Schemen auszumachen waren. Glissa senkte die Hand, um das Schwert herauszuziehen und dem Untier einen weiteren Hieb zu versetzen. Etwas traf ihren Kopf und warf sie auf den Rücken des Ungeheuers. Ringsum wurde alles dunkel. Als Glissa ihren schmerzenden Kopf drehte, um nach hinten zu schauen, war das Letzte, was sie sah, bevor ihr die Sinne schwanden, ein tief hängendes Gewinde, das infolge eines wuchtigen Aufpralls hin und her schwang.
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Kapitel 4
SLOBAD
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lissa stöhnte und drehte sich im Schlaf herum. Es fühlte sich an, als hätte sich ihr Fuß in der Lederdecke verfangen, also versuchte sie, sie abzustreifen … und schrie auf. Vom Knöchel aus schoss in Glissas Bein ein Schmerz hoch. Etwas schnitt ihr ins Fleisch. Sie öffnete die Augen, aber es war stockdunkel, und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie stemmte sich in die Höhe und stieß sich daraufhin den Kopf an der Decke. »Was zum Aufflackern ist hier los?«, brummelte die Elfin. Allmählich erinnerte sie sich: Trolle, Gleichmacher, ihre Eltern, Lyese. Alles stürmte wieder wie ein Albtraum auf sie ein. Aber es war keine Zeit, sich diesem Schmerz oder dem in ihrem Knöchel zu widmen. Sie steckte in den zerbrochenen Klingen eines Gleichmachers fest. Wo hatte er sie hingebracht? Glissa blinzelte ins Dunkel und versuchte irgendetwas auszumachen. Als sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, konnte sie unter sich den gewölbten Rücken des Gleichmachers erkennen. Gleichermaßen gewölbte Formen befanden sich rings um sie herum. Wo bin ich?, dachte sie. Bin ich in ihrer Höhle? Die Gleichmacher bewegten sich nicht, und Glissa hatte Angst, sie zu
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wecken, sosehr sie diese Ungeheuer auch alle töten wollte. Es war besser, sich zu befreien und einen Weg nach draußen zu suchen, solange sie schliefen. Im Dunkeln würde sie mit ihrem verletzten Knöchel keine Chance haben, wenn sie mit ihnen kämpfen wollte. Glissa schob sich behutsam auf die Klingen zu, wobei sie jedes Mal, wenn ihr Knöchel sich zwischen den Klingen bewegte, zusammenzuckte. Mehr als nur einmal stieß sie mit dem Kopf gegen die niedrige Decke. Schließlich nahm sie ihren schmerzenden Fuß mit beiden Händen und versuchte, ihn aus dem schraubstockartigen Griff der zerbrochenen Klingen zu lösen. Das Leder hatte die Wucht der Klingen abgefangen, sodass ihr Knöchel nicht allzu schlimm verletzt war. Zumindest fühlte sie kein heruntertropfendes Blut. Vielleicht konnte sie ihren Fuß ja aus dem Stiefel ziehen. Als sie es versuchte, biss sich Glissa auf die Lippe, um einen weiteren Aufschrei zu unterdrücken. Schon die geringste Bewegung drückte ihr die Klinge ins Fleisch. Ihr Fußgelenk musste im Stiefel angeschwollen sein. Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte Stiefel und Bein aus den Klingen herausreißen, musste dabei aber riskieren, sich den Fuß abzuschneiden, oder sie konnte das Schwert benutzen. Im Dunkeln konnte sie sich allerdings mit einer falschen Bewegung der Schwertklinge den Fuß noch mehr verletzen, als er es ohnedies schon war, oder – schlimmer noch – die Gleichmacher in der Höhle aufwecken. Sie wog die Alternativen gegeneinander ab und beschloss, es mit der Waffe zu probieren. Wenigstens war sie dann bewaffnet, sollten sie aufwachen. Langsam schob Glissa sich nach hinten zu ihrem Schwert, das, wie sie hoffte, nach wie vor im Rücken des Untiers steck-
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te. Sie ertastete den Griff und zog es heraus. Das kratzende Geräusch von Metall auf Metall hallte in der Höhle wider und verursachte Glissa ein Kribbeln im Nacken, aber keines der Ungeheuer wachte auf. Damit Glissa mit dem Schwert nicht gegen die Decke stieß, streckte sie es waagrecht von sich und schob es vorsichtig auf die Klingen des Gleichmachers zu. Sie glaubte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen, aber als sie den Blick durch die Höhle wandern ließ, konnte sie nichts als tiefschwarze Schatten ausmachen. Sie beugte sich zu ihrem Fuß hinab und streckte die freie Hand aus, um die Entfernung bis zu ihrem Knöchel abzumessen. Dann holte sie mit dem Schwert aus, um zuzuschlagen. »Tu das lieber nicht, he? Tu das nicht. Du könntest mich mit dem Ding treffen, he?« Glissa erstarrte inmitten der Ausholbewegung und stierte in die Dunkelheit. Die schnell sprechende Stimme Karn unzweifelhaft von außerhalb ihres Kopfes. Sie konnte das letzte »He« noch durch die Finsternis hallen hören. »Wer spricht da?«, sagte sie. »Wer ist da?« »Ich bin’s nur«, kam die Antwort. »Slobad«, ergänzte die Stimme, als würde das alles erklären. »Du brauchst Hilfe, he? Slobad hilft dir, wenn du Hilfe brauchst. Brauchst du Hilfe, he?« »Ich kann dich nicht sehen«, sagte Glissa, die über die Art von Hilfe, die Slobad ihr anbieten mochte, etwas beunruhigt war. Er sprach so schnell, dass sie ihm kaum folgen konnte. Sie hoffte, dass er sich nicht auch so schnell zu bewegen vermochte. »Sind deine Augen kaputt, he? Ich seh dich gut. Ich seh
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Mädchen, das in Klingen feststeckt und Hilfe braucht. Also, soll ich dir helfen, he?« »Nein«, sagte Glissa. »Ich meine, ja, ich brauche Hilfe, aber nein, meine Augen sind nicht kaputt. Es ist stockfinster hier. Meine Augen sehen nicht gut im Dunkeln.« Es kam keine Antwort. Glissa hörte nur schlurfende Geräusche sowie das gedämpfte Klirren von Metall, aber sie konnte nicht feststellen, was der geheimnisvolle Fremde tat. Sie hob das Schwert zur Abwehr. »Na, na. Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit dem Ding herumfuchteln«, sagte Slobad schroff. »Du hast mir fast das Ohr abgeschnitten. Warte auf das Licht, he? Ich mach Licht, damit du sehen kannst. Blöde Augen, die nicht im Dunkeln sehen können. He.« Einen Moment später hörte Glissa ein Klicken, und gleich darauf loderte eine leuchtend rote Flamme auf. Daneben stand eine seltsam aussehende Kreatur, die ein Metallrohr in der Hand hielt. Die kleine, aber helle Flamme drang mit einem schwachen Zischen aus dem oberen Ende des Rohres. Als Glissas Augen sich auf das Licht eingestellt hatten, konnte sie Slobads Gestalt besser erkennen. Er war von kleinem Wuchs, seine Arme jedoch reichten ihm bis zu den Knien. Sie endeten allerdings nicht in Händen, sondern eher in etwas wie Fangrenklauen. Seine Nase und Ohren waren lang und spitz. Die Enden schimmerten im flackernden Licht. Slobads Nase und Ohren waren metallen wie ihre eigenen Arme und Beine. Gekleidet war er in zerlumpte Lederfetzen, die seine rostfarbene Haut kaum verhüllten. Eine große Ledertasche, die er um den Hals hängen hatte, bedeckte weit mehr als seine eigentliche Kleidung.
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»Was … was bist du?«, fragte Glissa. Sie war noch nie außerhalb des Knäuels gewesen. Bis jetzt hatte sie die Geschichten, die die gebrechlichen Alten über andere Völker der Welt erzählten, nie wirklich geglaubt. Ihr Vater hatte immer gesagt, diese Geschichten seien durch das Aufflackern heraufbeschworene Halluzinationen. »Du hast noch nie einen Goblin gesehen, he?«, sagte Slobad. »Ich kenne dich. Du bist eine Elfin, eine Elfin, die auf dem Rücken eines Gleichmachers aus dem Knäuel gekommen ist. Du bist eine verrückte Elfin, he?« »Was willst du?«, fragte Glissa. »Bist du der Herr dieser widerlichen Kreaturen?« Slobad schnaubte. »Mit Anschuldigungen bist du schnell bei der Hand, he?« Glissa verkrampfte sich der Magen. Kane hatte sich immer darüber lustig gemacht, dass sie unter Verfolgungswahn litt, aber jetzt versuchte wirklich jemand, sie umzubringen. Vorschnelle Anschuldigung hin oder her, konnte der Goblin der Übeltäter sein? Sie war ihm gegenüber klar im Nachteil. Er wusste, was sie war und wo sie herstammte, und er schien hier, mitten in der Höhle der Gleichmacher, recht entspannt sein zu können. »Slobad ist nur Slobads Herr, he? Nicht Herr der Gleichmacher oder irgendwelcher anderer Wesen«, sagte der Goblin. »Für mich zu sorgen ist Ganztagsarbeit, aber in meiner Freizeit kann ich doch einer verrückten Elfin helfen, he? Dann kann ich wenigstens eine Zeit lang mit jemandem reden.« Slobad ging auf das vordere Ende des Gleichmachers zu. »Was hast du vor?«, fragte Glissa. »Ich befreie dich, he?«, sagte Slobad. »Davon haben wir
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doch geredet. Willst du da oben bleiben oder mit mir kommen und dich verstecken?« Slobad legte seine Feuerröhre auf den Boden und griff in die Ledertasche, die er vor der Brust trug. Er kramte darin herum, wobei er beinahe den ganzen Kopf in den Beutel steckte. Schließlich förderte er ein kupferfarbenes Werkzeug zutage. Jetzt konnte Glissa erkennen, dass der Goblin doch richtige Finger hatte, allerdings welche, die in langen, dicken Krallen ausliefen. Die Hände waren wie Haken gekrümmt, und die Finger waren nur um einiges kürzer als die Krallen, die ihnen entsprossen. Er konnte jedenfalls geschickt damit umgehen. Wenn er auch nicht der Herr dieser Kreaturen war, so wusste er doch zumindest mehr über sie als Glissa. Sie entschied, dass sie ihm vertrauen musste. Sie konnte sich nicht selbst befreien. Außerdem besaß sie noch immer ihr Schwert, das sie weiterhin zum Schlag bereit vor sich hielt. Slobad kroch unter die Klingen, legte sich auf den Rücken und sah zu dem Gleichmacher hoch. Glissa lehnte sich vor und konnte auf diese Weise gerade noch die Spitze des zweizinkigen Werkzeugs sehen. Einen Augenblick später klapperte das Gerät auf den Boden der Kammer, und Slobad packte mit beiden Händen nach einer der Klingen. »Nicht anfassen!«, sagte Glissa. »Die sind scharf.« »Keine Sorge, he?«, sagte Slobad. »Goblins schneiden sich nicht so leicht. Wir sind dick und stark wie die Berge. Hast du schon mal Berge gesehen? Ich zeig dir welche, wenn wir hier rauskommen.« Der Goblin zog die halbe Klinge beiseite, und Glissas Fuß war frei. Er verstaute die zerbrochene Klinge in seiner Tasche, dann schob er sich unter dem Gleichmacher hervor.
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Glissa rutschte vom Rücken des Gleichmachers. Sie keuchte, als sie am Boden aufkam, und verlor beinahe das Gleichgewicht, weil ihr Knöchel unter ihr nachgab. Die Elfin streckte die Hand aus und schlug sie gegen die Seite des Gleichmachers, damit sie nicht stürzte. Mit einem Blick auf das verletzte Ungeheuer murmelte sie: »Weckt diese Biester denn gar nichts aus ihrem Schlummer?« Slobad richtete sich neben Glissa auf und streckte ihr seine klauenartige Hand entgegen. Die Feuerrohre in der anderen Hand des Goblins verbreitete genug Licht, damit sie die drei nächsten Gleichmacher erkennen konnten. »Die schlafen nicht, he? Die sind abgeschaltet. Das sind keine Tiere. Du glaubst, das sind Tiere, he? Verrückte Elfin.« »Die leben gar nicht?«, sagte Glissa und lehnte sich Halt suchend gegen den Goblin. »Siehst du ihre Metallklingen und -beine? Ihre Glaskuppeln? Aber siehst du Fleisch, he? Irgendwo?«, fragte Slobad und deutete auf den Gleichmacher. »Nun ja, ich lebe, und ich habe Metallarme und -beine. Und du hast eine metallene … äh … Nase.« »Gleichmacher bestehen ganz aus Metall«, sagte Slobad, »innen wie außen. Ich weiß das, he? Ich mach sie auf und guck rein.« »Dann sind sie Konstruktionen?«, fragte Glissa, und es dämmerte ihr, was das bedeutete. »Jemand hat diese … Dinger … gemacht und schickt sie aus, um zu töten?« Sie löste sich von dem Goblin und hob das Schwert. »Holla, verrückte Elfenmaid«, sagte Slobad. »Hier sind wir sicher, he? Das ist der sicherste Ort auf Mirrodin. Klingen schalten sich ab, sobald sie hier hereinkommen. Sie jagen nur außerhalb der Höhle. Darum lebt Slobad hier. Sicherster Ort,
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den ich kenne.« Glissa schenkte ihm keine Beachtung. Der Zorn über den Tod ihrer Familie war zurückgekehrt. Jemand hatte diese Tötungsmaschinen erschaffen! Und sie würde dem ein Ende bereiten. »Aus dem Weg, Slobad.« Sie balancierte auf ihrem unversehrten Fuß und schlug mit ihrem Schwert nach dem Gleichmacher, der sie gefangen gehalten hatte. Funken stoben, als die Klinge durch den metallenen Leib fuhr. Ihr erster Hieb hackte das vordere Ende der Konstruktion ab und ließ den Rest der zerbrochenen Klingen zu Boden scheppern. Sie schwang das Schwert unter der Kreatur hindurch und trennte deren Beine ab. Als der Gleichmacher vor ihr zu Boden sackte, drosch Glissa ein weiteres Mal zu und schlug ihm ein großes Loch in die Seite. Sie hieb unablässig zu, bis nur noch ein Haufen Metall vor ihr lag. Schnaufend hörte sie endlich auf. »Bist du fertig?«, fragte Slobad. »Geht’s dir jetzt besser, he?« »Sie haben meine Familie getötet«, knurrte die Elfin. »Der hier hat meine Schwester umgebracht. Mir wird’s nicht besser gehen, bis ich sie alle zerstört habe.« »Und dann?«, sagte Slobad. »Es werden mehr kommen. Ist immer so, he? Kaputte werden repariert, fehlende werden ersetzt. Es ist besser, sich zu verstecken und zu leben, als Rache zu suchen und zu sterben, he?« Glissa nickte. Innerlich beschloss sie, den wahren Herrn dieser Biester zu finden, um ihre Rache dort zu verüben, wo sie etwas ausrichtete. Unterdessen … Sie griff nach Slobads Schulter und humpelte neben dem Goblin her. Ihr Knöchel war so sehr angeschwollen, dass er in ihrem Stiefel unablässig wehtat. Selbst der leichte Druck,
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den das Hinken ausübte, sandte sengenden Schmerz durch ihr Bein. Vielleicht hatte der Goblin ja doch Recht. Sie musste sich verstecken und erst einmal ausruhen, bevor sie sich rächte. Auf dem Weg durch die Höhle sah Glissa im Feuerlicht des Goblins etwas blinken. Sie richtete den Blick auf das glänzende Etwas, dann blieb sie stehen und starrte entsetzt darauf. »Was ist jetzt los, he?«, sagte Slobad. »Willst du den auch zerstören? Das bringt dir deine Familie nicht zurück. Wird uns nur noch mehr Ärger machen. Komm schon, he?« »Ich werde gar nichts zerstören«, sagte Glissa mit leiser, beherrschter Stimme, während sie im Licht ihrer Entdeckung darum rang, die Ruhe zu bewahren. »Einen Moment, ja?« Sie ließ den Goblin stehen und hüpfte zu einem in der Nähe befindlichen Gleichmacher. Sie lehnte sich gegen dessen Seite und streckte die Hand nach den Klingen aus, die an seiner Vorderseite angeordnet waren. Der Gegenstand, den sie entdeckt hatte, war noch immer außerhalb ihrer Reichweite, also lehnte sie sich noch weiter vor. Gerade als sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, packte sie das Ding, und dann drückte sie sich von dem Gleichmacher fort, um wieder die Balance zu erlangen. »Was hast du gefunden, he?«, fragte Slobad, als sie zu ihm zurückhüpfte. Glissa zeigte es ihm. Es war eine abgetrennte Hand. Eine Elfenhand mit langen, zarten Fingern, die mit scharfen Krallen besetzt waren. Das Gelenk war rot und feucht, obwohl die Hand längst ausgeblutet war. »Das ist der Ehering meiner Mutter«, sagte Glissa. »Über Generationen hinweg wurde er stets von der Mutter an den
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Sohn weitergegeben. Niemand weiß mehr, was das für ein Edelstein ist, und auch das Metall kennt man nicht mehr.« Glissa zog den Ring von der Hand und steckte ihn sich selbst an. Sie küsste die Finger der abgetrennten Hand und legte sie dann behutsam beiseite. »Das ist alles, was mir von ihnen geblieben ist.«
$ Niedergeschlagen ließ Glissa sich von Slobad in den hinteren Teil der Höhle und weiter durch ein in der Wand verstecktes Loch fuhren. Hinter Slobad kroch sie durch das Loch in einen kleinen Raum, in dem der Goblin offenbar wohnte. Es gab nicht viel zu sehen. In einer Ecke hatte er ein paar Felle auf dem Boden ausgebreitet. In der Mitte standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl, und ein weiterer, größerer Tisch, der mit kleinen Werkzeugen und Metallteilen bedeckt war, befand sich an der gegenüberliegenden Wand. Nachdem Slobad das Loch mit einem kleinen Mauerstück verborgen hatte, legte er die Flammenröhre auf den Tisch und nahm ein Messer zur Hand. Glissa rückte von ihm ab und richtete das Schwert auf ihn. »Meins ist größer«, sagte sie. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Ding wegstecken, he?«, sagte Slobad. »Du bist vielleicht eine verrückte Elfin, weißt du das? Leg dich hin, damit ich deinen Stiefel aufschneiden und mir dein Bein ansehen kann.« Glissa atmete auf. »Ich weiß einfach nicht mehr, wem ich trauen kann«, sagte sie entschuldigend. »Sei vorsichtig. Mein
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Knöchel ist so angeschwollen, dass er den ganzen Stiefel ausfüllt.« Slobad trat mit dem Messer zu ihr. Glissa hielt ihr Schwert griffbereit – nur für alle Fälle. Den Ring ihrer Mutter drückte sie sich gegen die Brust, als wollte sie sich Trost suchend an die Vergangenheit klammern. Der Goblin indes erwies sich mit dem Messer so geschickt, wie er es schon mit seinen Werkzeugen gewesen war. Er schnitt den Stiefel bis zur Ferse auf, ohne ihre Metallhaut darunter auch nur ein einziges Mal zu berühren. Als Slobad das Leder wegzog, sah Glissa, dass ihr Knöchel auf das doppelte seiner normalen Größe angeschwollen war. Die Klingen waren ihr zudem in das metallene Schienbein gedrungen. Grüner Eiter quoll aus den Wunden zu beiden Seiten ihres Beines hervor. Slobad ging zum Tisch und brachte von dort eine mit Wasser gefüllte Metallschüssel zurück. Er schnitt einen Lederstreifen von den Fellen ab, befeuchtete ihn mit dem Wasser, und dann wusch er mit dem nassen Leder den Eiter ab. Anschließend schnitt der Goblin zwei weitere Streifen zurecht und band sie um Glissas Knöchel. »Das sieht schlimm aus, he?«, meinte Slobad. »Ich hab noch nicht viele Elfen gesehen, aber ich glaube nicht, dass dein Knöchel so eine Farbe wie jetzt haben sollte. Was denkst du? Ich denke, du verlierst dein Bein, wenn es nicht aufhört zu eitern.« »Lass mich mal sehen, was ich tun kann«, sagte Glissa. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, ließ ihr Schwert in den Schoß fallen und legte die Hände über die Wunden. Sie kannte sich ein bisschen mit Heilmagie aus, aber hier drinnen konnte sie die Kraft der Bäume kaum spüren. Das Wenige, das
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sie aufzubringen vermochte, sandte sie durch ihre Finger hinab, und ein paar winzige grüne Energieschwaden flossen von ihren Händen auf ihr verletztes Bein über. Ihr Knöchel leuchtete einen Moment lang auf, und die Schwellung ging etwas zurück. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie. »Meine Magie kann Wunden heilen, aber das hier muss etwas anderes sein, eine Art Krankheit.« »Ruh dich jetzt aus«, sagte Slobad. »Wir brechen am Morgen auf.« Plötzlich war Glissa wieder misstrauisch. »Warum?«, wollte sie wissen. »Hast du nicht gesagt, hier wäre es sicher?« »War es, bis du herkamst, he?«, antwortete Slobad. »Ich hab dir doch gesagt, kaputte Gleichmacher werden repariert. Fehlende werden ersetzt. Niemand hat Slobad je gestört, wenn repariert wurde, he? Ich verstecke mich, bis die Reparaturen fertig sind. Das hier war der sicherste Ort auf Mirrodin, he? Aber du hast in der Höhle einen Gleichmacher zerstört. Sie werden wissen, dass jemand hier ist. Sie werden nach uns suchen. Sie werden Slobad und dich finden.« »Tut mir Leid«, sagte Glissa. »Ich wollte dich nicht aus deinem Zuhause vertreiben.« »Slobad hat kein Zuhause«, sagte der Goblin achselzuckend. »Verrückte Elfin sollte sich nicht um Slobad kümmern. Kümmere dich darum, dein Bein zu retten, he? Und Slobad kümmert sich um Slobad.« »Ich heiße übrigens Glissa«, sagte sie. »Wenn du mir hilfst, Slobad, werde ich dir im Knäuel ein Zuhause besorgen, weit weg von den Gleichmachern.« »Hmpf«, machte Slobad. »Große Worte von verrückter, einbeiniger Elfin. Schlaf jetzt. Wir brechen auf, bevor die zweite
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Sonne aufgeht.« »Sonne?«, sagte Glissa ungläubig. »Du weißt schon«, sagte Slobad, »runde Dinger am Himmel. Vier Stück. Sie gehen auf. Sie gehen unter. Machen die Welt hell, machen die Welt dunkel.« Der Goblin fuhrwerkte mit den Armen in einem komischen Muster durch die Luft. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du nicht weißt, was Sonnen sind, he?« »Wir nennen sie ,Monde’«, sagte Glissa. »Das ist ein altes Wort für Himmelskörper, die um die Welt kreisen. Ich weiß, was eine Sonne ist. Ich habe schon welche gesehen, in meinen … Träumen. Sonnen sind viel heller und heißer, glaube ich.« »Sonnen spenden Licht und Wärme, he?«, sagte Slobad. »Das ist richtig. Das ist es, was Goblins über Sonnen wissen. Wir haben vier Sonnen. Keine Monde. Nur Sonnen.« »Na schön«, sagte Glissa, die nicht streiten wollte. »Dann sind es eben Sonnen. Kann ich jetzt schlafen gehen?« Slobad nickte, und Glissa legte sich auf den Fellen zurück und schloss die Augen. Ihr blieb keine andere Wahl, als dem merkwürdigen, schnell sprechenden Goblin zu vertrauen. Sie brauchte Ruhe, und sie würde seine Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um hier herauszukommen. Dennoch tat sie eine Zeit lang nur so, als würde sie schlafen, nur für den Fall, dass Slobad versuchen sollte, über sie herzufallen. Nach einer Weile jedoch schlief Glissa wirklich ein. Sie träumte von Gleichmachern, die sie im Knäuel angriffen. Sie war umzingelt, und die Bestien kamen mit wirbelnden Klingen auf sie zu. Sie sah die Leichen ihrer Eltern, die nicht weit entfernt übereinander lagen. Die Hand und der Ring ihrer Mutter waren nirgends zu sehen. Lyeses langes Haar war abgeschnit-
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ten worden, und auf ihrem Kopf war eine blutige Narbe zurückgeblieben. Glissa stiegen die Tränen in die Augen, und sie rieb sich mit den Armen übers Gesicht, um sie fortzuwischen. Auf einmal verwandelten sich die Gleichmacher in fliegende Ungeheuer, die um ihren Kopf herumsummten. Sie schlug mit ihrem Schwert nach ihnen, aber sie ließen nicht nach. Glissa hörte ein Lachen und schaute dorthin, wo eben noch ihre toten Eltern gelegen hatten, jetzt aber eine Gestalt in einer Kutte stand. Aus dem Lachen wurde Schreien, und Glissa sah, dass die Gestalt Kane am Nacken in die Luft gehoben hatte. Kane schrie. Glissa rief etwas, und dann sah sie, wie grüne Energieranken aus ihren Händen drangen und sich an ihren Armen heraufschlängelten.
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Kapitel 5
DIE GLIMMERLEERE
I
n kalten Schweiß gebadet schreckte Glissa aus dem Schlaf. War das ein Traum oder ein Aufflackern?, fragte sie sich. Aber wie hätte es ein Aufflackern sein können? Die Ereignisse, von denen sie geträumt hatte, waren ihr nie widerfahren, soweit sie wusste. Wer war diese Gestalt in der Kutte? Sie war auch in der Nacht, als ihre Eltern gestorben waren, im Knäuel gewesen. War diese Gestalt der Herr der Gleichmacher? Glissa setzte sich auf und blickte auf ihre Hände hinab, sah jedoch keine grüne Energie, die sie umflossen hätte. »Du bist wach, he?«, sagte Slobad, der am Tisch saß und aß. »Gut. Kannst du laufen? Wir brechen bald auf, aber Slobad kann dich nicht nach Hause tragen. Zu groß. Nicht gut, he?« Glissa betrachtete ihr Bein. Die Schwellung war fast verschwunden, aber der Knöchel tat immer noch weh. Sie löste den Lederverband und stellte fest, dass das Kupfer um die Wunden herum seltsam aussah. Es war grün, aber das war nur Grünspan, der auch den Knäuelbäumen ihre Grünfärbung verlieh. Alles Kupfer sah so aus, wenn es nicht regelmäßig poliert wurde. Nein, das Metall schien um die Wunden herum Blasen geschlagen zu haben. Als Glissa den Lederstreifen abnahm, blätterte ein Teil des Metalls ab, und es quoll wieder Eiter aus
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den Verletzungen. Die Elfin wischte sich den Knöchel sauber, zuckte kurz unter dem Schmerz zusammen und legte dann einen neuen Verband an. Sie stemmte sich hoch und belastete den Knöchel probeweise. Er trug ihr Gewicht, und der Schmerz ließ sich ertragen. »Ich kann laufen«, sagte sie. Slobad kam zu ihr und knuffte mit seiner Klauenhand gegen den Verband. »Au! Warum hast du das gemacht?« »Auf dem Bein kannst du nicht lange laufen«, sagte Slobad. »Ich hab’s gesehen, he? Das Metall korrodiert. Entzündung breitet sich aus. Du schaffst es nie und nimmer bis zum Knäuel, he? Zu weit. Du brauchst bald einen Heiler. Wir gehen zu Leoniden.« »Leoniden?«, fragte Glissa. »Wer ist das? Ist es weit bis zu ihm?« »Dumme Elfin«, sagte Slobad. »Weißt du denn gar nichts über die Welt außerhalb des Knäuels? Die Leoniden sind eure Nachbarn, he? Ihre Stämme leben in der Glimmerleere. Wir werden zwei oder drei Umkreisungen brauchen, um die Stadt der Leoniden zu erreichen. Dort werden wir einen Heiler finden.« Der kleine Goblin trat an seine Werkbank und begann, Werkzeuge und ein paar der größeren Metallstücke in seinen Beutel zu packen. »Wir brechen bald auf. Iss etwas, he?« »Zwei oder drei Umkreisungen?«, sagte Glissa, als sie zum Tisch hinüberhoppelte. Er sah aus, als würde er jeden Moment zerbrechen, aber er hielt ihr Gewicht aus, als sie sich dagegen lehnte. »Das nennst du ,nicht weit’? Und woher willst du wissen, dass sie mir helfen werden? Wir sollten lieber ins Knäuel
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zurückkehren. So weit kann es doch nicht weg sein, oder?« Slobad schüttelte den Kopf. »Dumme, verrückte Elfin«, grummelte er. »Knäuel ist doppelt so weit weg, he? Dauert mindestens sechs, vielleicht auch acht Umkreisungen, um dich von hier aus nach Hause zu bringen, vor allem mit dem schlimmen Bein. Nach längstens vier Umkreisungen müssen wir das Bein abschneiden. Wenn du das willst, dann gehen wir zum Knäuel.« »Es gibt keinen Heiler, der näher ist?«, fragte Glissa. Auf dem Tisch sah sie die Kadaver von zwei kleinen Tieren. Sie hatten je vier winzige Beine, einen drahtigen Schwanz, und auf ihrem Rücken mischte sich graues Fell mit Metallplatten. »Was ist mit den Goblins? Die müssen doch in der Nähe leben, oder?« Slobad suchte auf der Werkbank nach etwas. Glissa hatte keinen Schimmer, wozu die Werkzeuge, die dort lagen, alle dienten. Mit Slobads Messer schnitt sie sich ein Stück Fleisch ab und aß, so viel sie konnte, während sie auf eine Antwort von ihm wartete. Von der Kunst der Konversation schien der Goblin jedoch nicht sonderlich viel zu verstehen. Oft beantwortete er seine eigenen Fragen, ohne auf eine Erwiderung zu warten, und jetzt wiederum schien er ihre Fragen schlicht zu ignorieren. Das Fleisch war scharf und zäh, aber Glissa hatte Hunger. Sie schnitt sich ein weiteres Stück ab, und bald darauf hatte sie beide Tiere verzehrt. »Goblins haben keine Heiler, die für dieses Bein etwas tun können, he?«, sagte Slobad. Der Goblin hatte seinen Beutel fertig gepackt, jetzt warf er sich ein Fell um die Schultern und band es sich mit mehreren Lederstreifen um den Hals. »Elfenmagie heilt nur Wunden. Das hast du selber gesagt. Go-
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Goblinmagie schafft selbst das nur mit Müh und Not. Elfen und Leoniden sind die einzigen brauchbaren Heiler. Du entscheidest, he?« »Schön«, sagte Glissa. Einmal mehr blieb ihr keine andere Wahl, als diesem Wesen zu vertrauen, das ganz allein in der Höhle der gefährlichsten … Konstruktionen dieser Welt lebte. Warum half er ihr? Woher wusste er so viel über die Welt? Es schien, als wüssten Leute, die ihre ganze Zeit in kleinen Räumen zubrachten, viel mehr über Mirrodin als sie. Vielleicht konnte Slobad ihr ja irgendwann von Nutzen sein, aber zuerst wollte sie mehr über ihn und seine Beweggründe erfahren. »Wir gehen zu den Leoniden-Heilern.« Slobad nickte. Er warf Glissa eine Schwertscheide zu. »Hier, nimm das. Ich habe es in den Klingen eines Gleichmachers gefunden. Vielleicht kannst du es besser gebrauchen als sein vorheriger Besitzer, he?« Glissa ergriff die Scheide. Sie hatte keinen Gürtel, und so nahm sie das Messer des Goblins, schnitt einen langen Lederstreifen ab und band sich die Scheide damit um die Hüften. Mit ein paar weiteren Streifen schnürte sie ihren Stiefel am Bein fest. »Fertig.«
$ Slobad öffnete eine weitere geheime Öffnung in der Wand und führte Glissa durch einen viereckigen Metalltunnel. Slobad konnte in dem Tunnel aufrecht gehen, aber die Elfin musste entweder kriechen oder sich ducken. Der Weg verlief
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im Zickzack, und sie passierten unterwegs viele Seitentunnel. Glissa kam es so vor, als würde sie schon eine Ewigkeit lang kriechen. An vielen Kreuzungen bog Slobad nach links oder rechts ab, wurde aber nie langsamer. Glissa wusste, dass sie den Weg zurück zu Slobads Unterkunft niemals wiederfinden könnte. Sie musste dem Goblin weiter folgen. Endlich wurde es vor ihnen heller, und sie traten aus dem engen Tunnel in eine größere Höhle. »Da lang«, sagte Slobad, während er auf das Licht zuhielt, das durch den Höhleneingang hereinströmte. Glissa trat hinaus und blieb dann angesichts des Landes um sie herum verblüfft stehen. Der Boden leuchtete. Er bestand aus silbrigem Metall, nicht dem grünfleckigen Kupfer des Knäuels. Ringsum formte der Boden Hügel und Täler, die sich in Wellen bis zum Horizont erstreckten. Die Höhle hinter ihr befand sich allerdings nicht in einem solchen Hügel, sondern in einer Erhebung, die wie ein Pilz geformt war. Rostfarbene, ineinander verschlungene Rohre ragten aus dem silbrigen Boden zu einer großen, kegelförmigen Spitze empor. Um sie herum fanden sich etliche dieser Gebilde, und in der Ferne konnte Glissa hinter sich einen großen Berg von ähnlicher Art sehen, der dem Himmel entgegenstieg. »Lebt dort dein Volk?«, fragte sie Slobad. »Ich hab’s dir doch gesagt, he?«, sagte Slobad, der bereits den Hang hinabstieg. »Slobad hat kein Volk. Slobad ist sein eigenes Volk. Goblins leben in Bergen, Leoniden leben in Rasierklingenfeldern. Berge dort oben. Rasierklingenfelder dort unten. Wir gehen da lang, he?« Glissa schloss humpelnd zu dem Goblin auf und sah ihn an. Er hatte die Augen zusammengekniffen und blickte stier zu
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Boden. Es mochte sein, dass er sich nur auf den Weg konzentrierte, aber Glissa vermutete eher, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte. »Warum lebst du allein, Slobad?«, fragte sie. »Lange Geschichte«, sagte Slobad. Das war eine untypisch kurze Antwort. »Wir haben drei Tage Zeit«, sagte sie. »Das wird doch sicher genügen.« »Lass mich in Ruhe, du verrückte Elfin«, sagte Slobad in einem schroffen, endgültigen Ton. »Du hättest mich da hinten in Ruhe lassen und rundum glücklich sein können in deinem kleinen Reich«, sagte Glissa. Sie stupste ihn mit ihren Krallenspitzen. Langsam begann die Sache Spaß zu machen. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich bei ihm an Kane erinnert. »Komm schon«, fuhr sie fort. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Du hast mir geholfen und dein Zuhause verlassen, um mich zu den Leoniden zu bringen. Du bist mir da schon was schuldig.« Slobad ging schweigend weiter und wollte offenbar warten, bis sie aufgab. »Ich hör nicht auf zu fragen, bis wir die Stadt der Leoniden erreicht haben«, sagte sie und stupste ihn wieder, »also kannst du es mir ebenso gut jetzt gleich erzählen. Schau, ich hatte auch nie sehr viele Freunde. Es ist keine Schande, allein zu sein. Mir gefällt das sowieso besser. Man muss sich um niemanden kümmern und braucht sich nicht darum zu sorgen, was jemand einem antun könnte.« »Elfen reden zu viel«, grunzte Slobad. Glissa dachte schon, er würde wieder in längeres Schweigen verfallen, aber nach ein paar Schritten fuhr er fort: »Du weißt nicht, wovon du re-
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dest, he? Du hast dich dafür entschieden, allein zu sein. Slobad wurde ausgestoßen. Habe keine Familie, keine Freunde. Slobad ist verflucht. Ist es das, was du wissen willst, he?« »Tut mir Leid«, sagte Glissa. »Manchmal glaube ich auch, verflucht zu sein. Ich war schon immer anders als die anderen. Ich bin auch so eine Art Ausgestoßene. Vielleicht liegt es ja genau daran, dass ich dich mag, Slobad. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich dir vertrauen will.« Den Rest des Tages ging das Paar schweigend durch die Hügellandschaft der Glimmerleere und ließ den Berg hinter sich zurück. Staunend sah Glissa mit an, wie der gelbe Mond fast direkt über ihr vorüberzog. Den roten, den schwarzen und den blauen Mond konnte sie ebenfalls sehen. Der rote blieb den ganzen Tag über hinter ihnen, während der blaue rechts an ihnen vorbeizog. Der schwarze war weiter entfernt vor ihnen, aber doch näher, als sie ihn jemals gesehen hatte. In der Nacht, als sie um ein kleines Feuer saßen, begann Slobad endlich wieder zu reden. »Slobad ist schon lange allein«, sagte er, während sie von ein paar stinkenden Nagetieren aßen, die der Goblin erlegt hatte. »Zu lange, he? Das ist der wahre Fluch – allein zu leben, abgeschieden von der Welt.« »Warum?«, fragte Glissa. Das Fleisch war hart und zäh. Sie war froh, dass der Goblin endlich mit seiner Geschichte begonnen hatte. Das gab ihr einen Grund, mit dem Essen aufzuhören. »Ich hab’s dir doch gesagt, he?«, sagte Slobad. »Slobad ist verflucht. Geboren unter dem Auge des Verderbens – der blauen Sonne. Ist die Geistersonne. An Slobads Geburtstag hat das Auge des Verderbens über der Großen Schmelze geschwebt.
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Zeichen von Unheil, he? Mutter sollte Slobad der Schmelze opfern. So ist das Gesetz der Goblins, he? Alle, die unter dem Auge des Verderbens geboren werden, sind verflucht und müssen der Schmelze zurückgegeben werden. Stattdessen hat sie mich aber in einen Luftschacht, geradewegs in einen Luftschacht geworfen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, mich selbst zu töten. Fand, es ist besser, mich sterben zu lassen, damit das Metall für einen guten Zweck benutzt werden kann, he? Dann hätte mein Leben wenigstens einen Sinn …« Slobads Stimme verebbte. Diesmal drängte Glissa ihn nicht zum Weiterreden, sondern wandte sich wieder ihrem langschwänzigen Nager zu. Sie nahm einen Bissen, dann steckte sie sich einen Finger in den Mund, um ein zähes Stück Metall zwischen ihren Zähnen herauszupulen. Ein Schnurrhaar. »Slobad hat einen Goblin gefunden, der Dwugget heißt«, sagte Slobad nach einer Weile. »Er war auch verstoßen worden. Führer eines Kults von Abtrünnigen, he? Führer des KrarkKults. Lebt in einer geheimen Höhle am Ende der Lüftungsrohre. Dwugget hat Slobad auf dem Heimweg gefunden, he? Hat mich bei sich aufgenommen. Mir ein Zuhause gegeben. Ich arbeitete für den Kult, hörte mir ihre Geschichten an, he? Aber Slobad passte nie dazu. Wir waren alle Ausgestoßene, aber sie hatten sich dafür entschieden, so zu leben, und das nur wegen einer dummen Geschichte, die keiner glaubt.« »Was war das für eine Geschichte?«, fragte Glissa. »Nicht wichtig«, sagte Slobad. »Ein Goblin mit Namen Krark hat behauptet, in Mirrodin eine andere Welt gefunden zu haben. Nur Spinnerei. Slobad passte nie dazu. Sie waren gut zu mir, aber wir wurden nie wirklich miteinander vertraut. Sie waren religiös. Glauben noch an den Fluch. Eines Tages finden
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Priester den Kult und greifen ihn an. Slobad wollte da fort, he? Wollte Familie verlassen und durch die Welt wandern. Lebt eine Zeit lang in der Nähe des Knäuels, aber Elfen trauen niemandem. Slobad geht weg und zieht durch die Glimmerleere.« »Und dabei bist du den Heilern begegnet?«, fragte Glissa. Sie beendete ihr Mahl und warf die Knochen fort. Slobad nickte. »Und Raksha, einem jungen Leonidenkrieger, einem Kha. Slobad wurde Raksha als Spielzeug geben, he? Zum Üben. Wir kämpfen die ganze Zeit. Raksha gewinnt immer. Slobad wurde immer verletzt. Aber die Heiler bringen mich wieder in Ordnung, he? Und dann konnte Raksha wieder üben.« »Das klingt ja schrecklich«, sagte Glissa. »Und du willst wirklich zurück zu diesen Leuten?« »Raksha war gut zu Slobad. Er sorgt immer dafür, dass ich wieder richtig gesund werde, he? Dann greifen die Nim häufiger an. Raksha wird in richtige Schlachten geschickt. Das Kämpfen folgt Slobad überallhin, he? Teil des Fluches. Andere Leoniden waren nicht so gut zu Slobad. War nicht mehr willkommen, nachdem Raksha die Stadt verlassen hat. Ich bin wieder fort, bevor die Heiler mich hinauswerfen konnten, he? Ich finde die Höhle der Gleichmacher und beschließe, allein zu leben. Dort können mich keine Schlachten einholen. Niemand wagt sich in die Nähe.« Außer mir, dachte Glissa. Aber ich glaube ja auch nicht so ganz an das Schicksal, ganz gleich, was Chunth gesagt hat. Schlimme Dinge geschehen, weil Leute sie geschehen lassen. Sie wandte sich Slobad zu und sagte: »Und seitdem lebst du allein und isst diese … wie nennt man diese Dinger?« »Glimmerratten«, sagte Slobad mit vollem Mund. Er hatte
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während seiner Erzählung nicht gegessen und schien jetzt aufholen zu wollen, was er versäumt hatte. Glissa sah zu, wie Slobad sich eine weitere Ratte in den Mund stopfte und verschlang. Sie konnte hören, wie die Knochen des Tieres brachen, während er kaute. Der Goblin machte sich nicht einmal die Mühe, die Metallstückchen auszuspucken. Waren diese Essgewohnheiten eine Folge seines Alleinseins? Naja, möglicherweise aßen Goblins eben so. »Es tut mir Leid, dass ich dein Leben in Aufruhr gebracht habe, Slobad, aber ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Vielleicht kannst du ja zur Höhle der Gleichmacher zurückkehren, wenn mein Bein wieder in Ordnung ist.« »Vielleicht«, sagte Slobad mit immer noch vollem Mund. Als er den Bissen hinuntergeschluckt hatte, fuhr er fort: »Es gibt dort eigentlich nichts, was mich hält, he? Nur ein Ort zum Leben. Kein Zuhause. Niemanden, mit dem ich reden kann. Slobad fängt an, mit sich selbst zu reden. Ganz schlecht. Lange her, seit ich nach Taj Nar gegangen bin, he?« »Taj Nar?«, wiederholte Glissa. Slobad bot ihr die letzte Ratte an, aber Glissa winkte ab. Darauf steckte er den Kopf der Ratte in den Mund und biss ihn ab. »Taj Nar ist die große Stadt von den Leoniden. Wo Raksha herrscht. Er ist jetzt der Anführer, he? Kha.« »Bist du sicher, dass er mir helfen wird?«, fragte Glissa. Slobad nickte und zerkaute den Rest der Ratte. »Raksha steht in meiner Schuld. Die meisten Leoniden mögen Außenstehende nicht besonders, he? In der Hinsicht sind sie Elfen sehr ähnlich. Raksha ist anders. Er mochte Slobad. Slobad arbeitete viele Male für ihn. Repariert Stadtmauern. Fertigt heilige Fackel. Raksha ist Slobad etwas schuldig. Er wird helfen.«
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»Nun, ich bin nicht wie andere Elfen«, sagte Glissa mit einem Lächeln, das erste Lächeln, das sie zeigte, seit die Trolle sie entführt hatten. »Und ich mag dich auch, Slobad.« »Ich weiß«, sagte Slobad. »Darum helfe ich dir ja. Slobad hat nicht viele Freunde, aber er hilft denen, die er findet.« Glissa begann sich zu fragen, ob an Chunths Worten vielleicht doch etwas dran war. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie Slobad – das einzige Wesen auf der Welt, das noch einsamer war als sie – genau in dem Moment begegnet war, wo sie ihn bitter gebraucht hatte? Die Leoniden waren ihre erste Station. Wenn sie denjenigen finden wollte, der hinter dem Mord an ihrer Familie stand, würde sie in dieser fremden Welt außerhalb des Knäuels einen Begleiter und Führer brauchen.
$ Die nächsten zwei Umkreisungen vergingen für Glissa wie im Flug. Sie und Slobad trotteten durch die Glimmerleere. Slobad zeigte auf Hügel, von denen er behauptete, sie seien LeonidenBehausungen, aber Glissa konnte keinen Unterschied zwischen ihnen und dem Rest der Landschaft feststellen. Sie sahen unterwegs keinen einzigen Leoniden, aber Glissa glaubte jedes Mal, wenn sie nachts lagerten, Bewegung in der Nähe ausmachen zu können. Einmal war sie sich sogar sicher, wieder einmal die in eine Kutte gewandete Gestalt aus dem Knäuel zu sehen, aber es mochte vielleicht auch nur ein Traum oder ein Aufflackern gewesen sein. »Leoniden mögen keine Fremden«, sagte Slobad in der zweiten Nacht noch einmal, als Glissa fragte, warum sie bis-
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lang noch keinen Vertreter dieses scheuen Volkes gesehen hatten. »Sie wissen, dass wir hier sind, he? Wir lassen sie in Ruhe, sie lassen uns in Ruhe. Bleiben unter sich, he?« Glissa saß da und ließ ihre Heilmagie wirken, damit sich die Fäule an ihrem Bein nicht zu weit ausbreitete. Die Verletzung sah mit jeder Umkreisung schlimmer aus. Die grüne Energie machte die Schmerzen erträglich, die Infektion konnte sie allerdings nicht aufhalten. Sie hatte sich mittlerweile fast schon über ihre halbe Wade ausgedehnt. Jeden Tag blätterte weiteres Metall von ihrem Unterschenkel ab, und es quoll nach wie vor Eiter aus den Schnitten an ihrem Fußgelenk. Mehrere Male führte Slobad sie unterwegs um Stellen mit hoch gewachsenen Pflanzen herum. Die Pflanzen waren schlank und von hellem Silber. Sie schwankten im Wind und erzeugten dabei ein unheimliches Pfeifen, das um sie herum in der Luft hing. Am dritten Tag sah Glissa, wie ein Stück weiter vor ihnen eine Glimmerratte in solch einem silbrigen Schilf verschwand. Sie wurde von einem Raubtier mit kräftigen Beinen und spitzen Metallohren gejagt. Glissa zog ihr Schwert und wartete. Die Ratte tauchte auf der anderen Seite des Schilfs wieder auf, und ein Windstoß brachte die Rohre zum Schwingen und Singen. Die dünnen Pflanzen fuhren schlitzend hin und her, und ein schmerzvolles Heulen fiel in den Chor mit ein. Die Elf in rannte vor zum Rand des Schilfbewuchses. Das Raubtier lag mitten darin, und sein Blut sammelte sich um die Überreste seines Körpers zu einer Lache. Blut und zerfetztes Fleisch und Eingeweide konnte sie auch an den klingenartigen Schilfrohren um den Kadaver herum sehen. Glissa streckte die Hand aus, um eine der Pflanzen zu berühren. Die Kante schnitt ihr
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sofort ins Fleisch. »Was sind denn das für Pflanzen?«, schrie sie auf. Sie wich von der Stelle zurück, weil sie fürchtete, ein weiterer Windstoß könnte auch ihr zum Verhängnis werden. »Rasierklingengras«, sagte Slobad. »Die schneiden dich glatt durch. Tödlich im Wind, he? Am besten macht man irgendwie einen Bogen um sie.« Kurz nachdem sie die schwankenden Schilfrohre passiert hatten, sah Glissa zu dem gelben Mond auf, den Slobad als den Bringer bezeichnete. Er stand jetzt sehr tief am Himmel. Die anderen drei waren bereits untergegangen. Ohne das Licht der anderen Monde warf Slobad einen langen Schatten, der fast bis zurück zu jenem Rasierklingenfeld reichte. Glissa wollte gerade sagen, dass sie sich bald eine Stelle zum Lagern suchen sollten, als sie gegen den Goblin prallte, der auf dem Kamm einer Erhebung stehen geblieben war. »Was ist?«, fragte sie. »Wir sind da«, sagte Slobad und zeigte den Hügel hinunter. »Taj Nar, große Stadt der Leoniden. Könnte eine Schwierigkeit sein, he?« Glissa schaute dort hinunter, wo Slobad hindeutete. Sie befanden sich über einem weiten Tal, das von Hügeln gesäumt wurde. In der Mitte des Tales ragte eine Art gewaltiger Turm aus einem gewaltigen Hügel auf. Metallene Säulen erstreckten sich in die Höhe und Breite und stützten hoch droben in der Luft mehrere kegelförmige Etagen. Aus den Spitzen der Säulen rings um die Stadt wuchsen Metallstacheln. Alles erinnerte an eine krallenbewehrte Hand, die Taj Nar auf ihrer Fläche trug. Als Glissas Blick auf den Fuß des Turmes fiel, sah sie dort eine Ansammlung dunkler Gestalten, die sich langsam um
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beide Seiten des Hügels bewegten. Einen Moment lang hielt Glissa sie für Gleichmacher, aber dazu waren die Gestalten zu klein und zu langsam. Es sah aus, als versuchten sie, die Stadt einzukreisen. Wenn sie rannten, konnten sie und Slobad es vielleicht schaffen, den Kreis dieser Armee zu durchbrechen, ehe er sich ganz schloss, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie in die Stadt gelangen sollten, wenn sie den Turm erst erreicht hatten. Ihr verletztes Bein pochte, seit der erste Mond untergegangen war, und sie wusste demnach nicht, wie weit sie rennen konnte. In der Stadt schmetterte ein Horn.
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Kapitel 6
DIE NIM
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ir »müssen in die Stadt!«, sagte Glissa. »Los!« Weil Slobad nicht reagierte, versetzte Glissa dem Goblin einen Stoß, der ihn die Hügelflanke hinabstolpern ließ. Sie rannte ihm nach und verzog bei jedem Schritt vor Schmerz das Gesicht. »Verrückte Elfin!«, rief Slobad. Mit wirbelnden Armen versuchte er seinen überstürzten Lauf ins Tal hinunter zu stoppen. »Du bringst uns beide um, he?« Glissa begriff nicht, was Slobad meinte, bis sie eine große, mit Rasierklingengras bewachsene Stelle direkt unterhalb von ihnen sah. Glissa zog ihr Schwert aus der provisorischen Scheide und eilte an Slobad vorbei. Sie erreichte das Rasierklingenfeld unmittelbar vor dem Goblin und schwang das Schwert im Laufen so vor sich hin und her, dass sie auf diese Weise einen Pfad durch die tödlichen Pflanzen schnitt. Rasiermesserscharfe Halme, die länger als ihr Schwert waren, flogen rings um die Elfin herum durch die Luft. Sie hob den Arm, um ihr Gesicht zu schützen. »Ah!«, kreischte Slobad hinter Glissa, aber sie konnte jetzt nicht zurückschauen. Nur noch ein paar Schritte, dann hatte sie das Feld durchquert. Ein Halm schnitt ihr in den erhobe-
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nen Arm, und Blut spritzte ihr in die Augen. Kaum war Glissa auf der anderen Seite aus dem Rasierklingenfeld gestürzt, blieb sie stehen und blickte sich nach ihrem Gefährten um. Slobad war unmittelbar hinter ihr und schien unverletzt zu sein. Ein einzelner Halm des Rasierklingengrases hatte sich in den Beutel des Goblins gebohrt, der ihn wie einen Schild vor sich hielt. »Das hätte mein Kopf sein können, he?«, knurrte der Goblin, während er den Halm aus dem Beutel zog. »Mein Kopf! Tu das nicht noch mal, verrückte Elfin!« Glissa lächelte. »Tut mir Leid«, sagte sie. Sie sah in Richtung der Leonidenstadt und der vorrückenden Armee. Sie und Slobad waren immer noch ein paar hundert Schritte vom unteren Ende des Turmes entfernt. Die den Turm einkreisenden Flanken der Invasoren waren ungefähr noch genauso weit weg, aber der Ring schloss sich allmählich. »Das wird knapp«, sagte sie. »Komm. Wir haben keine Zeit.« Glissa rannte los. Ihren verletzten Knöchel spürte sie jetzt nicht mehr, weil inzwischen alles taub geworden war. Sie wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war, aber wenigstens behinderte sie der Schmerz nun nicht mehr so. Sie und Slobad spurteten durch das Tal. Als sie sich dem Turm näherten, konnte Glissa die Angreifer deutlicher erkennen. Was von oben wie eine vielgestaltige dunkle Masse gewirkt hatte, wurde jetzt zu einer Armee düsterer Kreaturen. Erst dachte sie, dass es sich um Wesen wie sie selbst handelte, aber bald schon konnte sie sehen, dass sie sich zwar auf zwei Beinen fortbewegten und Arme und einen Kopf besaßen, sonst jedoch wenig Ähnlichkeit mit Elfen, Goblins oder auch Trollen hat-ten.
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»Was sind das für Wesen?«, rief Glissa über die Schulter nach hinten. »Die Nim«, antwortete Slobad. »Wesen aus dem Mephidross.« Die Nim bewegten sich schlurfend voran und waren dabei so weit vornübergebuckelt, dass es aussah, als wüchse ihnen der Kopf aus der Brust. Die langen Arme reichten bis zum Boden und verliehen ihnen den Anschein einer seltsamen vierbeinigen Gangart. Ihre Fingerknöchel kratzten über den metallenen Boden. Vom Kopf aus verlief ein Rückenschild bis ins Kreuz. Es war, als hätte ihr Schöpfer die Wirbelsäule aus den Leibern der Nim gerissen, um sie auf der Haut statt darunter zu haben. Die zwei Flanken der Nim-Armee liefen aufeinander zu. Als Glissa und Slobad die Armee erreichten, war nur noch ein schmaler Streifen offen. Die Elfin spurtete durch die Lücke. Ein fauliger, beißender Geruch stieg ihr in die Nase, als sie an den sich langsam bewegenden Nim vorbeirannte. Jetzt konnte sie auch Röhren erkennen, die aus den Seiten der Kreaturen hervortraten, Röhren, aus denen grünliches Gas in die Luft stieg. »Gut, dass die so langsam sind«, keuchte Glissa, als sie zur Hälfte an der näher rückenden Armee vorbei war. »Bewegen sich langsam, ja«, schnaufte Slobad hinter ihr. »Aber kämpfen schnell. Pass auf!« Der Nim, der ihnen am nächsten stand, schwang einen seiner langen Arme nach Glissa. Die Bewegung war so schnell, dass sie keine Zeit hatte, richtig auszuweichen. Sie riss ihre Klinge hoch, um den Hieb zu parieren, und erwischte den Arm des Nim unmittelbar hinter seiner Krallenhand. Die Klinge
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schnitt so mühelos durch das Handgelenk des Nims, wie sie das Rasierklingengras durchtrennt hatte. Die Klaue fiel zu Boden. Aus dem verletzten Arm des Nims drang noch mehr von jenem widerlichen Dampf, dazu auch eine zähe bräunlich grüne Flüssigkeit, von der Glissa annahm, dass es sich dabei um das Blut der Kreatur handelte. Sie hatte keine Zeit, über die sonderbare Physiologie des Ungetüms nachzusinnen oder sich über die Macht ihres neuen Schwerts zu wundern. Ein Dutzend weiterer Nim griff nach ihr. »Bleib dicht bei mir, Slobad!«, rief sie beim Weiterrennen. »Ich halte sie uns irgendwie vom Leib.« Im Laufen beschrieb Glissa mit ihrer Klinge vor sich eine Acht in der Luft und schlug so eine Bresche in die zupackenden Nim. Die Hiebe, die von allen Seiten auf sie zufuhren, Karnen schneller, je mehr Nim zu ihnen aufschlossen. Glissa konnte nichts anderes tun, als nach deren Händen und Armen zu hacken. Sie hatten die Meute fast schon hinter sich gelassen, da entging ein Nim ihren Verteidigungsschlägen und erwischte Glissa an der Schulter, indem er ihr seine Klaue tief in die Haut bohrte. Die Wucht des Hiebes ließ sie nach vorn stolpern. Die Elfin rang noch kurz um ihr Gleichgewicht, aber ihr tauber Knöchel ließ sie im Stich, und sie stürzte zu Boden. Glissa rollte sich herum und rechnete schon damit, von einem weiteren Schlag getroffen zu werden, aber sie war der Nim-Armee entkommen. Der Schlag hatte sie außerhalb der Reichweite der Horde befördert. Slobad hatte nicht so viel Glück. Glissa konnte den Goblin nirgends mehr sehen. Hinter ihr vereinigten sich die beiden
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Flanken der Nim bereits und rückten weiter vor. »Slobad!«, rief sie, während sie sich aufrappelte. Wie zur Antwort ging ein Nim, der sich etliche Reihen weiter hinten befand, in Flammen auf. Glissa hörte das vertraute Zischen von Slobads Feuerröhre. Sie humpelte in Richtung des brennenden Nims, um dem Goblin zu helfen, sich aus der Horde herauszukämpfen, aber dazu musste sie sich erst einmal wieder hineinkämpfen. Die Elfenkriegerin trennte einem Nim den Arm ab, holte dann mit dem Schwert aus und spaltete die Kreatur in zwei Hälften. Sie musste sich ducken, weil drei weitere Arme in Richtung ihres Kopfes flogen. Glissa bückte sich tief, schwang das Schwert in einem Bogen um sich herum und schlug dabei allen drei Angreifern die Beine weg. Was wie ein kluger taktischer Zug erschien, erwies sich beinahe als Glissas Verhängnis. Die drei Nim kämpften weiter, indem sie sich mit jeweils einer Hand auf ihren Beinstümpfen hochstemmten, während sie mit der anderen nach ihr schlugen. Aus ihrer geduckten Haltung heraus sprang Glissa über die zupackenden Klauen hinweg. Sie landete hinter einem der beinlosen Nim. Sie biss wegen der Schmerzen die Zähne zusammen und trat mit ihrem gesunden Bein nach hinten aus, damit die angreifende Kreatur gegen die anderen beiden stürzte. Schließlich wandte sie sich wieder dem Zischen der Feuerröhre Slobads zu und sah sich auch sofort dem brennenden Nim gegenüber. Er schlurfte vorwärts und schien die Flammen kaum zu bemerken. Glissa parierte seinen Angriff, und ein in Flammen stehender Arm flog einem anderen Nim ins Gesicht. Als das Ungeheuer auf sie zusprang, wich sie zur Seite aus,
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schwang das Schwert von unten durch den Rückenschild des brennenden Nims, womit sie der Kreatur den Kopf von den buckligen Schultern schlug. Als der kopflose Leib des Nims zu Boden sackte, rannte Slobad an Glissa vorbei und hechtete über das Gewirr aus beinlosen Nim. Die Elfin folgte ihm und ließ dabei ein blutiges Durcheinander zurück. Der Schmerz in Glissas Knöchel war nach ihrem letzten Sprung mit Macht zurückgekehrt. Jetzt fühlte sich ihr ganzes Bein an, als würde es selbst in Flammen stehen. Slobad kam zurück, um ihr beizustehen, und gemeinsam humpelten sie vor der vereinten Armee her auf den Turm zu. Glissa warf einen Blick nach hinten auf die sich langsam voranbewegenden Nim. Sie selbst waren kaum schneller als die Kreaturen. »Bist du dir sicher, dass sie nicht hinter uns her sind?«, rief sie über den Lärm der näher rückenden Armee hinweg. »Nein«, antwortete der Goblin, »aber das ist Slobad egal. Lauf weiter, he?« Auf den Mauern hoch über ihnen konnte Glissa Gestalten ausmachen, aber sie waren zu weit entfernt, als dass sie Details hätte erkennen können. Als sie nach oben sah, regnete ein Pfeilhagel herab. Die meisten der Pfeile bohrten sich in die Reihen der Nim, aber ein paar schlugen auch so nahe um Glissa und Slobad herum in den Boden, dass ihr angst und bange wurde. »He!«, rief Glissa. »Wir sind nicht eure Feinde.« Eine weitere Salve folgte der ersten, und Glissa zog den Kopf ein, während sie und Slobad weiter auf das riesige Tor zueilten, das in die Seite des Turmes geschnitten zu sein
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schien. Der obere Rand lag etwa zwölf Meter über ihnen. Frische Kratzspuren auf dem Boden zeigten, wie weit das Tor herausreichte, wenn es geöffnet wurde. Jetzt wurde Glissa klar, was das Signal des Horns bedeutet hatte. Bis vorhin hatte das Tor offen gestanden. Hinter ihnen ging wie ein Regenschauer eine dritte Pfeilsalve nieder. Glissa und Slobad wurden zwar von Stützen und Pfeilern geschützt, aber sie hatten ein Problem. Das Tor war geschlossen. Sie rannten geradewegs auf eine Wand zu und hatten eine Armee auf den Fersen. Glissa hämmerte mit dem Knauf ihres Schwerts gegen das metallene Tor. »Lasst uns rein!«, rief sie. »Wir sind nicht eure Feinde.« Sie glaubte zu hören, wie sich hinter dem blanken Metall etwas bewegte, aber es erfolgte keine Antwort. Die Horde hatte sie beinahe erreicht. Glissa wandte sich um, um dem Tod ins Auge zu sehen. Sie verlagerte den größten Teil ihres Gewichts auf ihr gesundes Bein, hob ihr Schwert und stellte sich vor Slobad. »Mach deine Flamme bereit, Goblin«, sagte sie. »Wir werden auf keinen Fall Kampflos sterben.« Sie hörte, wie die Röhre hinter ihr gezündet wurde, aber Slobad trat nicht neben sie. »Gib uns Schutz, he?«, sagte er zu ihr. »Wir sind noch nicht tot. Slobad hat einen Ausweg … oder einen Weg hinein. Ja – hinein.« Glissa blickte zurück und sah, wie der Goblin mit der Hand über das Tor fuhr, als würde er etwas suchen. »Was tust du denn da?«, schrie sie. »Diese kleine Flamme brennt sich doch durch kein Tor.« »Gib uns einfach nur Deckung, he?«, sagte Slobad und warf
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ihr einen Blick zu. »Verrückte Elfin. Lass Slobad tun, was er zu tun hat. Du tust, was du zu tun hast. Schwing das große Schwert. Pass auf!« Glissa duckte sich instinktiv, noch bevor sie sich nach den vorrückenden Nim umdrehte. Eine Krallenhand zerzauste ihr Haar und verpasste ihren Kopf nur knapp. Die Elf in stieß ihre Schwerthand vor und traf den angreifenden Nim in den Bauch. Ein schneller Ruck, und die Klinge schnitt durch die Eingeweide des Wesens. Es fiel hintenüber, aber sofort nahmen zwei andere Nim seinen Platz ein und trampelten über ihren gestürzten Kameraden hinweg, um zu ihr zu gelangen. Die Elfin riss das Schwert wieder hoch, schlug dem vorderen Untier einen Arm ab, bevor sie einen waagrechten Hieb führte. Als diese beiden Nim vor ihr zu Boden gingen, wunderte sich Glissa einmal mehr über die Kraft ihres neuen Schwerts. Sie hatte seit ihrem Kampf mit den Gleichmachern nicht groß darüber nachgedacht, aber dieses Schwert, das sie Chunth entwendet hatte, war wirklich erstaunlich. Eine weitere Klaue fuhr auf sie zu. Sie wehrte den Hieb ab, und die Hand des Nims flog über dessen Kopf hinweg davon. Glissa nutzte die Lücke und hüpfte einen halben Schritt vor, um den verletzten Nim aufzuspießen, als dessen andere Kralle auch schon auf sie zuraste. Das Ungeheuer erschlaffte auf ihrem Schwert. Glissa spannte die Armmuskeln an und schleuderte die Kreatur gegen zwei andere näher kommende Nim. Dieses Unterfangen brachte die hinkende Elfin fast zu Fall. Glissa schrie auf, weil ihr wieder einmal der Schmerz durch den Knöchel schoss. Die Nim schienen die eigene Schwäche zu spüren und nä-
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herten sich Glissa nun von drei Seiten. Ihr ging der Platz, um sich zu bewegen, aus. Die drängenden Leiber trieben sie nach hinten zu Slobad und dem Tor. Sie konnte nichts anderes tun, als die zupackenden Klauen irgendwie abzuwehren. Von rechts traf sie ein Hieb, der ihr in die ohnedies schon blutende Schulter drang. Eine andere Kralle schlitzte ihr die Stirn auf. Das Blut rann Glissa in die Augen, weshalb sie die Klinge fortan halb blind führen musste. Die Nim drangen von allen Seiten her auf sie ein und mit ihnen der Gestank der Gasdüsen, die grüne Wolken mit giftigem Dampf ausstießen. Glissa hustete. Sie wusste nicht, ob sie sich der Dämpfe wegen übergeben oder gleich ganz ohnmächtig werden würde. Lange konnte sie sich jedenfalls nicht mehr halten. »Wenn du etwas vorhast«, rief sie, während sie sich Blut aus den Augen wischte, »dann tust du es am besten jetzt!« »Ich hab’s fast«, sagte Slobad. »Noch einen Augenblick, he? Nicht leicht zu finden. Soll geheim sein. Slobads Geheimnis.« »Wir haben keinen Augenblick mehr«, sagte Glissa spitz. »Hör auf zu quatschen und tu endlich was!« Sie duckte sich wieder, hatte die auf sie zurasende Klaue kaum noch rechtzeitig gesehen. Sie schwang ihr Schwert, konnte aber nicht einmal sagen, ob sie etwas traf. Die Luft war von grünem Dunst erfüllt, und zudem floss ihr das Blut weiterhin in die Augen. Hinter ihr erklang ein seltsames Geräusch. Es klang, wie wenn Metall auf Metall traf, allerdings so, als würde man es nur aus weiter Ferne hören. Sie führte einen weiteren Streich vor sich durch die Luft, um die Nim auf Distanz zu halten. Auf einmal spürte sie, wie sie von hinten gezogen wurde. »Komm schon, he?«, sagte Slobad. »Beeil dich. Wir gehen
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jetzt rein. Worauf wartest du, verrückte Elfin? Beweg dich.« Glissa ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schwang ihr Schwert vor sich hin und her, während sie zurückwich, wobei sie jetzt bei jedem Schritt vor Schmerz zusammenzuckte. Sie erwartete, jeden Moment über Slobad zu stolpern oder gegen das Tor zu prallen. Nach ein paar Schritten wurde die verschwommene Welt um sie herum dunkler. Abermals hörte sie Jenes Geräusch, nur war es diesmal viel lauter und schärfer. Jetzt klang es wie Schwerter, die aufeinander prallten. Glissa hielt das eigene Schwert zur Verteidigung hoch, während sie sich über Stirn und Augen wischte. Als sie etwas klarer sah, fiel ihr Blick auf eine Wand vor ihnen. Von weither hörte sie das Scheppern von Waffen. Sie waren drin. »Wie ging denn das?«, sagte sie. »Das wüssten wir auch gern«, sagte hinter ihr jemand mit einer donnernden Stimme. Glissa drehte sich um. Sie und Slobad waren von Leonidenwachen umringt. Ein hoch gewachsener Leonide stand mit in die Hüften gestemmten Händen da. Slobad hatte ihr die Leoniden beschrieben, aber die skizzenhafte Beschreibung des Goblins kam dem tatsächlichen Aussehen dieser Wesen nicht im Entferntesten nahe. Sie sahen eher wie Tiere als wie Menschen aus. Ihre flache Nase trat wie eine Schnauze aus der fliehenden Stirn hervor, und die Augen saßen weit hinten nahe den spitzen Ohren. Dennoch wirkten sie majestätisch. Die langen Mähnen aus wallendem Haar – bei manchen war es auch geflochten – schienen im Fackellicht zu funkeln, genau wie das auf Hochglanz polierte Silber und Gold ihrer Arme und Beine. Die Wachen trugen allesamt glänzende Rüstungen und große, spie-
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gelnde Schilde. Der Anblick war beeindruckend, und Glissa fühlte sich verlegen. Der Leonide, der gesprochen hatte, war weit über eins achtzig groß. Seine mächtige Mähne, viel größer und voller als die der anderen ringsum, floss ihm über Schultern und Brust. Die wie gemeißelt wirkenden Arme hatte er vor sich verschränkt, und Glissa konnte selbst jetzt die gewaltige Kraft erkennen, die darin stecken musste. Metall und Muskeln wölbten sich auf der silbergewandeten Brust des Leoniden. Die Aura eines geborenen Anführers umgab ihn. Die Wachen verströmten ein Gefühl gelassener Überlegenheit und standen so da, wie sie Kane hatte Wache stehen sehen. Der Anführer musterte Glissa und Slobad kühl und blickte über seine flache Nase hinweg auf sie hinab. »Bringt sie weg«, sagte er zu den Wachen, dann wandte er sich um und ging wortlos von dannen. Glissa sah Slobad an, der aber nur die Achseln zuckte. Als die Wachen auf sie zutraten, übergab Glissa ihnen ihr Schwert. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, es hier mit Kämpfen zu versuchen. Zwar war das Blut auf ihrer Stirn mittlerweile geronnen, aber ihr Knöchel stand in Flammen, und zudem tat ihr die Schulter weh. Sie befanden sich jetzt in der Hand der Leoniden. Sie waren zwar Gefangene, aber sie lebten, und das war besser als die Alternative.
$ Glissa löste den Verband um ihren Knöchel und schluckte heftig. Die Infektion hatte sich fast bis zu ihrem Knie hinauf aus-
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gebreitet. Fetzen grünen Metalls bedeckten das Leder und Webten am Verband fest, als sie ihn von der Wunde zog. Ihre Wade war noch immer geschwollen, und ihr ganzes Bein brannte. Grüner Eiter quoll überall aus ihrem Bein, nicht nur aus der Wunde. Alles unterhalb ihres Knöchels hatte sich schwarz verfärbt und fühlte sich kalt an. Sie drehte sich von Slobad weg, damit er nicht sah, wie schlimm die Verletzung geworden war. Die Wachen hatten sie in einen kleinen Raum gebracht und die Tür geschlossen. Glissa hatte das mittlerweile vertraute metallische Klicken der Tür gehört und wusste, dass sie eingesperrt waren. Sie saß Slobad in ihrem Gefängnis gegenüber und machte sich Sorgen – um ihren Fuß, um Slobad und Raksha und aufgrund der jüngsten Bedrohung ihres Lebens. »Was waren das für Kreaturen vor dem Tor?«, fragte sie. »Ich hab’s dir doch gesagt«, antwortete Slobad. Er ging im Raum auf und ab und hatte offenbar nicht gemerkt, wie Glissa mit ihrem Verband hantierte. »Leoniden kämpfen gegen die Nim. Kämpfen immer gegen die Nim. Das hat Raksha von Slobad getrennt. Schlachten gegen die Nim. Hat sie in den Mephidross zurückgeschlagen, aber sie kommen immer wieder. Weiß nicht, warum.« »Mephidross?« »Schlimmer Ort unter Ingle«, sagte Slobad. »Die schwarze Sonne … äh … der schwarze Mond, wo Goblins hingehen, wenn sie in der Großen Schmelze verbrannt werden. Slobad ist nie in den Mephidross gegangen. Zu nahe bei Ingle. Raksha hat mir davon erzählt, he? Überall grüner Dreck. In der Luft ist Gas, das einen krank macht, he? Nim erheben sich aus dem Boden. Greifen Leoniden an. Schlimm.«
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»Zombies?«, fragte Glissa. »Ich habe Geschichten über Tote gehört, die aus ihren Gräbern steigen – Vater nannte sie Zombies –, aber diese Nim haben nicht tot ausgesehen. Sie sahen nur aus, als wären sie von innen nach außen gewendet worden.« Glissa konzentrierte sich auf ihre Hände und ließ eine kleine Kugel grünes Mana dazwischen entstehen. Sie brachte ihre Hände über ihr Bein, als wollte sie die Energie in die Wunden massieren. »Weiß nicht«, sagte Slobad von der anderen Seite des Raumes her. »Hab sie heute zum ersten Mal gesehen. Manche sagen, der grüne Dreck oder das stinkende Gas verwandelt Leute in Nim. Möcht’s nie herausfinden, he? Slobad ist gern ein Goblin.« »Du hast vorher noch nie einen gesehen?«, sagte Glissa. »Ich dachte, Raksha hat die ganze Zeit gegen sie gekämpft.« Das Mana breitete sich über ihr Bein aus und sickerte in das verwesende Fleisch. Die Metallhaut um ihr Knie herum sah daraufhin gleich etwas besser aus, der Fuß jedoch blieb schwarz und kalt. Sie schaute zu Slobad auf, ob er etwas bemerkt hatte, aber er ging unverändert auf und ab. Es war offenkundig, dass es dem Goblin nicht gefiel, eingesperrt zu sein. »Draußen an der Grenze zum Mephidross«, sagte Slobad. »Sind bisher noch nie ganz bis nach Taj Nar gekommen. Irgendwas Komisches geschieht in der Welt, he? Gleichmacher, Nim, verrückte Elfen. Merkwürdig, he?« »Ich nehme an, das ist alles meine Schuld!«, sagte Glissa bissig. »Willst du etwa das damit sagen?« Slobad blickte Glissa an und blinzelte ein paarmal. »Du bist seltsam, verrückte Elfin. Das habe ich nicht gesagt. Wie sollte
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es deine Schuld sein, he? Nur merkwürdig, mehr nicht. Verrückte Elfin. Welt dreht sich nicht um dich, he?« Glissa senkte den Kopf. Sie wusste nicht, was sie zu diesem Ausbruch hingerissen hatte. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Seit dem Angriff der Gleichmacher denke ich wohl nicht mehr ganz klar …« Sie hielt inne. »Nein, das stimmt nicht. Mir geht es schon die ganze Zeit so – ich sehe Dinge, die es nicht wirklich gibt. Ich misstraue wohl nur dem Zufall. Entschuldige.« Slobad kam zu ihr herüber und besah sich ihren Fuß. Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Du verlierst den Fuß, wenn wir nicht bald zu einem Heiler kommen, he? Müssen einen Weg finden, hier rauszukommen. Müssen bald raus, oder du verlierst den Fuß. Das ist sicher.« Glissa widersprach nicht. Mit ihrer Magie konnte sie nichts mehr ausrichten. Wenn sie nicht bald einen Heiler aufsuchte, würde sie sich den Fuß selbst amputieren müssen, um den Rest ihres Beines zu retten. »Ich dachte, dieser Raksha schulde dir noch einen Gefallen?«, knurrte sie. »Nette Art, das zu zeigen – indem er uns hier einsperrt.« »Raksha mag keine Überraschungen, und Leoniden trauen Fremden nicht«, sagte Slobad. »Slobad hat Raksha wahrscheinlich verärgert, weil ich eine Fremde durch den geheimen Eingang hereingebracht habe, he?« Glissa tauchte ihren Verband in eine Schüssel mit Wasser, die auf dem Tisch stand. »Raksha war der Anführer, dem wir bei unserer Ankunft begegnet sind, stimmt’s?« Slobad nickte. »Wusste er denn nichts von dem Eingang?« Der Goblin grinste. »Nein«, sagte er. »Slobad hat vor vielen
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Zyklen geholfen, das Tor für die Leoniden zu bauen. Hat eine Extratür eingebaut. Slobad hat immer gern mehr als nur einen Weg hinein oder hinaus, he?« Glissa lachte, während sie sich das Blut von Stirn und Schulter wusch. Nachdem sie den Verband noch einmal ausgespült hatte, wollte sie ihre anderen Wunden mit ihrer Heilmagie behandeln, doch diesmal zeigte sich die Energie nicht. Die Infektion und ihre fehlgeschlagenen Versuche, sie einzudämmen, hatten sie geschwächt. »Wir müssen sofort zu Ushanti«, sagte Slobad. »Können nicht warten, bis Raksha sich wieder beruhigt hat, he? Slobad wird einen anderen Weg hier herausfinden.« Er begann, an die Tür zu hämmern. Sie ging auf, und ein leonidischer Wächter trat in das Rechteck des Türrahmens. Slobad sprach kurz mit der Wache, worauf diese vor Schreck die Augen aufriss. Der Leonide schloss die Tür, und Glissa hörte, wie er davonrannte. »Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte sie. »Slobad hat ihn an die Strafe erinnert, die bei Verlust eines Gefangenen droht«, sagte der Goblin. »Wenn du stirbst, stirbt er auch. Versuch noch etwas kränker auszusehen, wenn er zurückkommt, he? Hab ihm gesagt, du würdest beim Aufgang des ersten Mondes tot sein. Zeig ihm einfach dein Bein. Dann glaubt er’s schon, he?« Ein paar Minuten später wurde die Tür geöffnet, und zwei Wachen traten ein. Glissa ließ den Kopf hängen, atmete schwer und bemühte sich, so krank wie möglich auszusehen. Was ihr nicht schwer fiel. Die Wachen führten sie aus dem Raum. Glissa hinkte, von Slobad gestützt, zwischen den beiden Leoniden einher.
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$ Die Leonidenstadt war wunderschön. Glissa hatte noch nie so viel auf Hochglanz poliertes Metall gesehen. Der Schimmel im Knäuel verlieh dem Wald ein flaumiges, grünliches Aussehen, das Glissa eigentlich behaglich fand, die Leonidenstadt hingegen war mit poliertem Kupfer, Silber und Gold geschmückt. Selbst die Schilde der Wachen waren Spiegel, die beim Gehen das von vorn auf sie fallende Licht reflektierten. Die Gefangenen wurden durch eine Reihe breiter Gänge geführt, die aus Kupfer bestanden und deren Türen und Fußleisten mit Silber eingefasst waren. In goldenen Halterungen entlang den Gangwänden steckten silberne Feuerröhren von der Art, wie auch Slobad eine besaß. Der ganze Gang glitzerte im reflektierten Licht der zahllosen Flammen. Sie gingen an einer offenen Tür vorbei, und Glissa warf einen Blick hinein. Der Raum dahinter war nicht etwa eine Zelle wie die, in der sie und Slobad gesteckt hatten. Er war groß und hell und mit herrlichem Mobiliar ausstaffiert. Im Vorüberhumpeln sah Glissa auch ein verziertes Bett, das aus den großen, metallenen Knochen eines Tieres gefertigt war, das Glissa nicht bestimmen konnte. Neben dem Bett standen ein dazu passender Knochentisch und ein Knochenstuhl. Die Tischplatte bestand aus Gold, während die Knochenbeine und die Stuhllehnen zur Gänze mit Silber überzogen waren. Alles in dem Zimmer – selbst die Knochen des Tisches und des Bettes – war auf Hochglanz poliert und reflektierte das Licht der Feuerröhren, die das Zimmer ausleuchteten. Die Wirkung war ü-
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berwältigend. Die Wachen geleiteten sie hinaus auf einen großen Hof nahe dem Stadtrand. Von den Schlachtfeldern unter ihnen hörte Glissa Kampflärm über die Mauern dringen, aber es waren keine Krieger zu sehen. Die Leonidensoldaten mussten die Wehrgänge verlassen haben und hinausgegangen sein, um sich dort den Nim zu stellen. Glissa blickte nach oben und sah, dass ein großer Teil der Stadt noch über ihnen lag. Sie konnte ummauerte Terrassen sehen, die auf verschieden hohen Ebenen lagen. Jede war hell erleuchtet, und die Wände der ganzen Stadt schimmerten in der Nacht. Als sie den Hof überquerten, gingen sie auf Platten aus Silber und Gold. Die Platten waren so angeordnet, dass sie spitz zulaufende goldene Linien bildeten, die von einem großen goldenen Kreis in der Mitte des Hofes ausstrahlten. In der Mitte des Kreises wiederum stand die Statue eines Leonidenkriegers, der einen verzierten Schild auf dem Rücken trug und einen großen, mit einer Klinge besetzten Stab hielt. In der ausgestreckten Hand des Kriegers befand sich eine Feuerkugel, die den gesamten Hof ausleuchtete, aber Glissa konnte nichts sehen, was dieses Feuer gespeist hätte. »Dein Werk?«, fragte sie Slobad. Der Goblin schüttelte den Kopf, dann nickte er. »Nicht gemacht Statue, he? Slobad ist Bastler, kein Bildhauer. Kunst nicht praktisch. Hilft einem nicht zu überleben, he? Slobad macht Feuer. Wie Röhren im Gang. Leoniden verehren Feuer. Sagen, dass sie das Feuer am Brennen halten, um ihrem Gott näher zu sein, he? Ich glaube, sie haben nur Angst vor dem Dunkeln.« Auf der anderen Seite des Hofes blieben die Wachen ste-
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hen. Sie nahmen zu beiden Seiten der Tür Aufstellung und hielten einen dicken, dunklen Vorhang auf. Glissa und Slobad hinkten, gefolgt von ihren Begleitern, durch den Eingang. Der Raum war dunkler als alles andere, was Glissa bislang in der Stadt gesehen hatte. Überall hingen Vorhänge aus gewebtem Leder, und in der Luft lag ein beißender, rauchiger Geruch. Es war ein drastischer Unterschied zum Rest der hell erleuchteten Stadt. »Setzt euch«, sagte einer der Wächter und deutete auf eine niedrige Bank neben der Tür. Glissa nahm Platz, und hinter einem der Vorhänge traten zwei weibliche Leoniden hervor. Als sie näher kamen, fiel Glissa auf, dass die Frauen nur unwesentlich kleiner waren als die Männer, die sie gesehen hatte, ihre Gesichter jedoch waren noch beeindruckender. Sie besaßen keine Mähnen, die ihr Haupt bedeckten, weshalb Glissa den eleganten Schwung ihrer Hälse und Wangen sehen konnte, der bei den Männern verborgen war. Noch beeindruckender war die Augenfarbe einer der beiden Frauen. Das eine war kupferfarben wie die Augen aller Leoniden, die Glissa bis jetzt gesehen hatte. Das andere aber war strahlend blau. Die Frau mit den sonderbaren Augen ergriff das Wort. »Sie ist keine Leonidin«, sagte sie. »Warum bringst du dieses Wesen hierher?« Glissa fürchtete sofort, die Leoniden würden sie doch nicht heilen wollen. »Sie ist eine Gefangene von Raksha«, antwortete einer der Wächter. »Sie darf nicht sterben, bevor er aus der Schlacht zurückkehrt.« Nach einem Moment des Zögerns beugten sich die beiden
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Heilerinnen über Glissa und betrachteten deren Verletzungen. Eine der beiden berührte Glissa an Stirn und Schulter, während die mit dem einzelnen blauen Auge den schwarz gewordenen Fuß und das verrottende Metall, das sich an ihrem Bein hinaufzog, in Augenschein nahm. Glissa sah ein weißes Leuchten um die Finger der ersten Heilerin, als diese eine der Wunden berührte. Der Schmerz in ihrer Schulter verschwand, ebenso wie ein dumpfer Kopfschmerz, dessen sie sich nicht einmal bewusst gewesen war, bis sie ihn nicht mehr spürte. Glissa blickte hinunter zu der anderen Heilerin und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Hand der Leonidin leuchtete, aber Glissa konnte keine Veränderung in ihrem Fuß fühlen. Nach einer geraumen Zeit gab die Heilerin mit den seltsamen Augen den Versuch auf und erhob sich. »Sie muss zu Ushanti«, sagte sie. »Ich habe nicht die Macht, eine solche Wunde zu heilen.« »Steht auf«, sagte der Wächter. Slobad half Glissa wieder auf die Füße, dann folgten sie den Heilerinnen durch das Labyrinth aus Vorhängen in die Mitte des großen Raumes. Aus einem Becken, das über rot glühenden Kohlen hing, kräuselte sich Rauch zur Decke empor. Eine weitere Leonidin stand mit dem Rücken zu der Gruppe und streute Sand in den rauchenden Kessel. Ein gelber Blitz schoss daraus hervor und zerstob an der Decke. »Ushanti«, sagte die Heilerin mit den seltsamen Augen. »Rakshas Gefangene bedarf deiner Heilkraft.« »Raksha und seine Gefangene müssen warten«, entgegnete Ushanti. »Es gibt Wichtigeres auf der Welt als eine gefangene Nim.« Sie tauchte ihre Hand wieder in eine Schüssel, die ne-
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ben ihr stand, und nahm eine weitere Hand voll Sand. Glissa konnte das Gesicht der Seherin nicht erkennen, doch das Zittern in ihrer Stimme und ihr gebeugter Rücken verrieten ihr, dass die Leonidin alt war, älter als all die anderen Leoniden, die sie in der Stadt gesehen hatte. »Sie ist keine Nim, Ushanti«, sagte die Heilerin. »Ich glaube, sie ist eine Elfin.« Ushantis geballte Hand verhielt auf halbem Wege zwischen der Schüssel und dem Becken. »Eine Elfin, sagst du?« Die Stimme der Seherin wurde deutlich lauter. Glissa war sich nicht ganz sicher, aber sie glaubte sehen zu können, dass die Frau zitterte. »Ja, Ushanti.« Ushanti wandte sich nach Glissa und Slobad um. Kaum traf ihr Blick den Glissas, schrie die Seherin auf und taumelte rückwärts. Der Sand, den Ushanti noch in der geballten Hand hielt, verteilte sich um sie herum, während sie zu Boden sackte.
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Kapitel 7
RAKSHA UND USHANTI
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as hast du mit meiner Mutter getan, Elfenhexe?«, schrie die Heilerin mit den seltsamen Augen, während sie vorstürzte und neben Ushanti niederkniete. Glissa griff im Reflex nach ihrem Schwert, aber die Waffe war natürlich nicht da. »Ich habe nichts getan«, sagte sie. Sie drehte sich etwas um und machte einen halben Schritt nach hinten, damit sie die beiden Heilerinnen und die Wachen im Auge behalten konnte. »Ihr habt doch gesehen, was passiert ist. Ich habe mich ja nicht einmal bewegt.« Niemand rührte sich. Die Wachen schienen darauf zu warten, dass die Heilerin mit den seltsamen Augen ihnen sagte, was sie tun sollten, aber diese war ganz damit beschäftigt, sich um ihre Mutter zu kümmern. Glissa stand da und hoffte, dass die Heilerin bald wieder erwachte. Die Heilerin mit den seltsamen Augen hielt Ushanti in den Armen und strich mit der Hand über das Gesicht der alten Leonidin. Ein energetischer Glanz umgab die bewusstlose Heilerin wie eine Blase. »Sie ist in Ordnung. Ich spüre kein Übel, keine Knäuelmagie.«
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Ushantis Tochter streckte die Hand nach dem Tisch aus und ergriff eine der Schüsseln ihrer Mutter. Sie nahm eine Prise rotes Pulver und streute es unter die Nase ihrer Mutter. Ushanti hustete und nieste, dann setzte sie sich auf und entzog sich dem Griff ihrer Tochter. »Warum hast du diese Elfin zu uns gebracht, Rishan?«, fragte sie. »Sie ist Rakshas Gefangene, Mutter«, antwortete die junge Heilerin. »Die Wachen haben sie zu uns gebracht. Sie ist schwer verletzt, und ihr Bein ist von einer Krankheit befallen. Die Wachen fürchteten, sie könnte sterben, bevor der Kha Gelegenheit hat, sie zu verhören.« »Bringt Raksha umgehend zu uns, damit er sie verhören kann«, fauchte die alte Heilerin. »Wir werden sie nicht heilen, es sei denn, der junge Kha befiehlt es selbst.« Rishan sah zu den Wachen auf. »Holt Raksha«, befahl sie. Die Wachen bewegten sich nicht. »Los!«, schrie sie. »A-aber unser Kha ist in der Schlacht«, stammelte der eine. »Das könnte eine Weile dauern.« »Die Schlacht ist vorbei«, sagte Ushanti. »Wir haben es im Feuer gesehen. Bringt Raksha her, sofort.« Ob die alte Heilerin nun die Wahrheit sprach oder nicht, Glissa hatte keinen Zweifel daran, dass diese Wachen sie mehr fürchteten als den Zorn ihres Anführers. Einer von ihnen war klug genug und machte sich durch das Vorhanglabyrinth auf den Weg. »Fessle sie«, sagte Ushantis Tochter zum verbliebenen Wächter. Sie stand auf und wischte sich den Staub von den Kleidern. Glissa streckte die Hände vor. Sie hasste es, gefesselt zu sein. Sie konnte ihren Fuß nicht mehr spüren, sie hatte keine
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Waffe, und zwischen ihr und der Freiheit standen zwei Armeen. Sie ließ sich also fesseln, drückte aber die Hände ein wenig auseinander, damit sie sich eventuell von den Fesseln befreien konnte. Der Wächter band anschließend auch Slobad die Hände zusammen. »Darf ich mich setzen?«, fragte Glissa. »Die Wunde tut weh.« Eigentlich war der Schmerz durch die Bemühungen der Heilerin erträglicher geworden, aber sie wollte verletzlicher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit war. Ihr einziger Vorteil lag jetzt noch in der Überraschung. Sie musste sich nur gedulden. Rishan deutete auf eine Bank hinter Glissa. Nachdem die Elfin sich gesetzt hatte, erhob sich Ushanti endlich vom Boden und ging langsam auf sie zu. Glissa bemerkte, dass die alte Heilerin zwei blaue Augen hatte, und fragte sich unwillkürlich, wer wohl ihre Tochter mit den seltsamen Augen gezeugt haben mochte. »Ja, ja«, sagte die alte Frau, während sie vor Glissa auf und ab ging. »Wir glauben, dass sie es ist.« Sie sah die Wache an. »Sie hatte ein Schwert, richtig?« Der Wächter riss kurz die Augen auf, als Ushanti ihn so direkt ansprach. Dann nickte er. »Aus Silber. So leuchtend wie die Mittagssonne. Die Klinge fließt wie Wasser aus der Scheide, ja?«, fuhr Ushanti fort. Die Wache nickte abermals. »Ja, sie ist es«, sagte Ushanti, während sie zu dem Becken über den Kohlen zurückging. »Lass sie nicht aus den Augen. Das Schicksal unserer Welt hängt davon ab.« Glissa warf Slobad einen Blick zu, der ein kaum sichtbares Grinsen zeigte. Offenbar genoss er dieses Schauspiel. Glissa
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war sich da nicht so sicher. Diese Ushanti schien sie zu kennen, obgleich Glissa nie zuvor außerhalb des Knäuels unterwegs gewesen war. »Was geht hier vor?«, fragte sie. »Sei still, Elfin«, sagte Rishan. »Mutter arbeitet. Unterbrich sie nicht noch einmal.« Glissa wollte schon aufbegehren, aber Rishan bedeutete der Wache mit einer Geste, sich zwischen die Elfin und den Kessel zu stellen. Glissa atmete tief durch und zwang sich zur Geduld. Ushanti warf nun in großen Mengen farbigen Sand in das Becken. Als Rauch in den dunklen Raum aufstieg, wurde die Luft um Glissa herum heiß, und die Wände schienen auf sie zuzunicken. Das Atmen fiel ihr schwerer, und sie musste sich zusammenreißen, um bei Besinnung zu bleiben. Die ganze Szenerie kam ihr unwirklich vor. Nicht einmal Chunth hatte sich so merkwürdig verhalten. Sie spürte, wie sie wegdämmerte, sosehr sie auch dagegen ankämpfte.
$ Glissa schreckte hoch, als die Vorhänge mit einem Ruck beiseite gerissen wurden und Raksha in den dunklen Raum trat. Sie wusste nicht, ob sie eingeschlafen war oder nicht, aber es schien einige Zeit vergangen zu sein. Der Rauch hatte sich halbwegs verzogen, und der Wächter von vorher war nicht mehr da. Raksha stand, flankiert von zwei Wachen, bei den Vorhängen und starrte auf den Rücken der alten Leonidin. Glissas Blick wanderte zwischen Raksha und Ushanti hin und
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her. Keiner von beiden schien willens, die Anwesenheit des anderen zur Kenntnis zu nehmen. Raksha stand mit einer leuchtenden Metallmaske unter dem Arm da und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf. Ushanti starrte angestrengt in den Rauch, der aus dem Becken aufstieg. Der Leonidenanführer konnte nicht länger warten. »Warum hast du uns aus der Schlacht zurückgerufen, Seherin?«, brüllte er. »Was könnte wichtiger sein als die Sicherheit von Taj Nar?« »Die Sicherheit der ganzen Welt, junger Kha«, sagte die Seherin, hob ihren über das Becken gesenkten Kopf und teilte den neuerlich aufsteigenden Rauch. Ushanti wandte sich nach ihrem Anführer um, verbeugte sich aber nicht, und Glissa fand weder in ihrer Stimme noch in ihrem Gebaren irgendwelche Anzeichen von Ehrerbietung. »Unsere letzte Trance liegt zwar Wochen zurück, aber der Schrecken dessen, was wir im Feuer gesehen haben, sucht uns noch immer in unseren Träumen heim. Wir sahen, wie die heilige Sonne über Taj Nar stehen blieb. Wir sahen gewaltige grüne Feuer aus der Welt hervorbrechen. Wir sahen, wie die Leoniden vom Antlitz der Welt gefegt wurden.« Ushanti hielt inne. Das Licht der Kohlen und der Rauch aus dem Becken hüllten sie in ein unheimliches Leuchten. Sie näherte sich Glissa, und die Elfin, die die Feindseligkeit in den Augen der alten Frau erkannte, werkelte an den Fesseln herum, um sie weiter zu lockern. »Wir sahen das Ende unserer Welt, Raksha«, fuhr Ushanti fort. »Und wir sahen diese Elfin mitten im Zentrum dieser Vernichtung.« Glissa erinnerte sich an das, was Chunth ihr in jener Nacht, als ihre Eltern gestorben waren, erzählt hatte. Er sagte, dass
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Glissa eine Bestimmung habe. Gewiss hatte Chunth nicht versucht, sie vor den Gleichmachern zu retten, damit sie die Welt vernichten konnte. Die alte Frau war irre. »Das ist lächerlich«, sagte sie. »Ich bin nur eine einzelne Elfin, und noch dazu fußlahm. Wie könnte ich die Welt zerstören?« »Wir wissen nur, was wir im Feuer sehen«, sagte Ushanti. »Das Feuer verrät uns, dass du gefährlich bist. Wir sind der Ansicht, dass du getötet werden solltest … um der Leoniden willen, um der ganzen Welt willen.« »Naja«, sagte Glissa, »glaubt dem Feuer meinetwegen, was Ihr wollt, aber ich bin nicht Eure Feindin. Das Ganze begann vor vier Nächten, als ich und meine Familie von den Gleichmachern angegriffen wurden. Meine Familie ist tot, und ich konnte nichts tun, um es zu verhindern. Und jetzt erzählt Ihr mir, dass ich die Welt vernichten werde? Wenn ich solche Macht besäße, wäre meine Schwester dann tot?« Während sie sprach, nestelte Glissa weiterhin an ihren Fesseln herum. »Hört zu. Irgendjemand will mich umbringen. Ich habe ihn nach dem Angriff im Knäuel gesehen und gestern noch einmal. Groß, trägt eine Kutte und verbirgt das Gesicht hinter einer Art spiegelnder Maske. Soweit ich weiß, ist es einer von euch, aber Slobad hat mir erzählt, dass ihr gute Leute seid und dass ihr mich heilen könnt. Jemand hat diese Gleichmacher ins Knäuel geschickt und auf mich gehetzt. Vielleicht solltet Ihr in Eurem Feuer und Rauch lieber nach demjenigen suchen, der mich verfolgt.« Sie hatte die Hände fast befreit. Natürlich brauchte sie noch eine Waffe, wenn sie eine echte Chance haben wollte, aus der
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Stadt zu entkommen. Ganz in ihrer Nähe war ein Wächter postiert. Wahrscheinlich konnte sie ihn überwältigen, bevor Raksha Gelegenheit hatte, selbst einzugreifen. Glissa sah zu Raksha auf und hielt inne. Er starrte sie an. Hatte er gesehen, wie sie ihre Fesseln lockerte? »Du behauptest, die Gleichmacher haben dich vor vier Nächten angegriffen?«, sagte er. »Hast du einen Beweis für diesen Angriff?« »Slobad kann es bezeugen, Eure … Eure Khaschaft«, sagte Slobad. »Ich finde sie in der darauf folgenden Umkreisung, he? Sie steckt in den Klingen eines halb zerstörten Gleichmachers fest. Slobad hat sie befreit. Neue Freundin gewonnen, he? Darum bringe ich sie her, um alte Freunde zu besuchen. Dann greifen die Nim an …« Raksha blickte den Goblin an, und Slobad verstummte. »Mit dir befassen wir uns später, Goblin«, sagte Raksha. »Du wirst unser Tor reparieren – oder sterben. Jetzt aber sprechen wir zunächst mit der Elfin. Erzähle uns von diesem Angriff.« Glissa fand nichts dabei, Raksha vom Angriff der Gleichmacher zu erzählen, aber ihr war unwohl, dabei irgendwie im Nachteil zu sein. Erst hatte es so ausgesehen, als würde Ushanti sie kennen, und jetzt verlangte Raksha, Einzelheiten über die schlimmste Nacht ihres Lebens zu erfahren. Ihr wäre wohler gewesen, wenn sie ihr Schwert in der Hand gehabt hätte. Immerhin, vielleicht konnte sie ja sein Vertrauen gewinnen, indem sie kooperierte. Slobad hatte jedenfalls behauptet, Raksha sei ein anständiger Leonide. Vielleicht würde er da sogar erst einmal zögern, falls es wirklich zu einem Kampf kommen sollte. »Sie sind bei Nacht gekommen, wie sie es immer tun«, sagte
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sie, »aber so weit ins Knäuel waren sie noch nie vorgedrungen. Sie mussten viele andere Heime passieren, um zu unserem zu gelangen.« »Wenn sie wirklich angegriffen haben, wie du behauptest, wie hast du dann überlebt?«, fragte der Kha. »Eine Elfin kann es doch nicht mit den Gleichmachern aufnehmen. Du lügst uns doch nicht an, oder?« Glissa knirschte ob dieser Beleidigung und der schmerzvollen Erinnerung an jene Nacht mit den Zähnen. »Ich war … nicht zu Hause, als der Angriff kam.« Sie sah keinen Grund, dem Leoniden jetzt schon von ihrer Unterhaltung mit Chunth zu erzählen. »Ich habe mir den Weg in den Baum freigekämpft, aber es war zu spät. Meine Eltern, meine Schwester … sie waren bereits tot. Alles, was mir von ihnen blieb, ist der Ring meiner Mutter.« Glissa zeigte Raksha den Ring, dann ließ sie den Kopf in die Hände sinken. Die Gefühle, die sie zeigte, waren zur Hälfte vorgetäuscht. Sie zog an den Fesseln, die jetzt unter ihrem Haar vor den Blicken der anderen verborgen waren, und dabei fuhr sie fort: »Ich wollte alle Gleichmacher umbringen, sie büßen lassen für das, was sie getan haben, aber es waren zu viele. Sie haben mich in die Enge getrieben. Ich dachte schon, ich würde das Schicksal meiner Familie teilen, aber dann … dann machten sie kehrt und zogen ab. Ich wollte ihnen noch folgen, aber da habe ich mich mit dem Fußgelenk in den zerbrochenen Klingen eines der Gleichmacher verfangen. Das Ungeheuer hat mich daraufhin bis in seine Höhle mitgeschleift. Slobad rettete mich schließlich und brachte mich hierher, damit mir geholfen würde.« Glissa hob den Kopf und schaute Raksha an. Sie versuchte,
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die Miene des Leoniden zu deuten, aber diese wirkte so ausdruckslos wie eh und je. »Wenn ihr uns nicht helfen wollt, dann gehen wir eben wieder. Vielen Dank.« Glissa warf einem der Wächter die gelösten Fesseln ins Gesicht, rollte sich von der Bank und kam dann hinter der anderen Wache wieder hoch. Bevor dieser Leonide reagieren konnte, hatte sie schon den krallenbewehrten Stab von seinem Rücken gepflückt und ließ ihn durch die Stricke fahren, die um Slobads Hände gebunden waren. Sie stieß den Wächter in einen der Vorhänge. Er stolperte zu Boden und verhedderte sich in dem riesigen Ledertuch. Der andere Wächter ging in Angriffsposition. Glissa warf Raksha einen Blick zu, der ihn aber kaum erwiderte. »Ich will Euch nicht verletzen«, sagte sie zu ihm, während sie den Stab zwischen Raksha und dem verbliebenen Wächter hin und her schwenkte. »Lasst uns einfach gehen.« »Du brauchst niemanden zu verletzen«, antwortete der Anführer der Leoniden, »und du brauchst auch noch nicht zu gehen.« Rasend schnell stürzte Raksha vor und duckte sich behände, als Glissa nun mit dem Stab nach ihm schlug. Er wischte den Stab beiseite und warf sich auf die Elfin. Bevor sie die lange Waffe wieder in Position bringen konnte, packte der Leonidenanführer sie am Handgelenk und entwand ihr den Stab. Wie beiläufig wirbelte er Glissa dann herum und drückte sie zurück auf die Bank. Als Glissa sich wieder umdrehte, stand der Kha so teilnahmslos vor ihr wie zuvor. Er griff sich an die Stirn und tippte mit dem Finger gegen den Schnitt, den sie ihm beigebracht hatte. »Beeindruckend«, sagte Raksha. »Wir haben noch nie
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jemanden gesehen, der sich so schnell bewegt.« Glissa dachte über den Kha dasselbe. »Wie wir bereits sagten, es besteht kein Grund, jemanden zu verletzen.« Der Leonidenanführer wandte sich an Ushanti, die sich während der Auseinandersetzung hinter ihrem Kessel verkrochen hatte. »Kümmere dich um das Bein dieser Kriegerin, alte Frau«, sagte er. »Sie ist unser Gast und auch als solcher zu behandeln.« »Aber die erste Trance«, protestierte Ushanti und warf die Hände in die Luft. »Die Visionen …« »Können oft irreführend sein«, brummte Raksha, »wie du sehr wohl weißt.« »Ich verstehe nicht«, sagte Glissa. »Was ist denn auf einmal los? Ich habe Euch attackiert, und jetzt bin ich Euer Gast?« »Wir verzeihen dir den Angriff«, sagte Raksha, »dieses Mal jedenfalls. Wir leben in schwierigen Zeiten, und mithin ist ein solches Verhalten verständlich, allerdings sind die schwierigen Zeiten nicht der Grund, weshalb du jetzt unser Gast bist.« Ushanti kam hinter dem Kessel hervor, suchte verschiedenfarbigen Sand und Öle von ihrem Tisch aus und vermengte alles in einer Schüssel. Raksha sagte ein paar Worte zu dem bereitstehenden Wächter, der seinem Kameraden dann auf die Beine half und anschließend aus dem Raum eilte. Raksha wandte sich wieder an Glissa. »Vor vier Nächten kamen die Gleichmacher nach Taj Nar«, fuhr er fort. »Sie erkletterten den Turm und brachen durch die Mauern, gleich nachdem der letzte Mond untergegangen war. Es wurde Alarm ausgelöst, und unsere Krieger kämpften tapfer, aber die Gleichmacher kamen trotzdem … bis in unsere Kammern. Wir vernichteten fünf der elenden Dinger, aber es
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drangen weitere durch unsere Tür vor. Wir dachten schon, dass wir Dakan, dem ersten Kha, ins ewige Licht folgen würden, doch in unserer dunkelsten Stunde blieben die Gleichmacher plötzlich stehen. Wir wagten nicht zu atmen, aus Angst, es könnte eine Finte sein. Aber in einer einzigen Bewegung drehten sich die Gleichmacher um und flohen dann über denselben Weg, den sie gekommen waren.« »Genauso war es auch im Knäuel«, sagte Glissa. »Ich hatte ihnen von meiner Kraft zu kosten gegeben, aber sie rückten trotzdem weiter vor, trampelten sich gegenseitig nieder, um zu mir zu gelangen. Dann machten sie kehrt und flüchteten.« Sie zögerte kurz, dann sagte sie: »Man hat mir erzählt, dass sie geschickt worden sind, um den mächtigsten Elfenkrieger des Knäuels zu töten. Vielleicht kamen sie hierher, um auch den mächtigsten Leonidenkrieger zu töten.« »Dein Feind ist unser Feind, Elfin«, sagte Raksha. »Das macht uns zu Verbündeten.« Der Wächter kehrte mit Glissas Schwert und Slobads Werkzeugbeutel zurück. »Nimm dies zum Zeichen unseres Vertrauens«, sagte Raksha, »und als Symbol unseres neuen Bündnisses gegen diesen gemeinsamen Feind.« Er legte das Schwert in Glissas Hand. Es war eine herrliche Klinge, und die Waffe glitzerte und schimmerte über ihre gesamte Länge, selbst in dem schwachen Licht, das von den Kohlen unter Ushantis Kessel herrührte. Die geschwungene Klinge schien wie Wasser aus dem Heft zu fließen.
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Ushanti hatte ihre Mischung zusammengestellt und hinkte nun zu Glissa herüber. Die Elfin glaubte, die alte Frau missmutig grummeln zu hören, aber möglicherweise war es auch ein Zauberspruch. »Heb dein Bein hoch, Elfin«, sagte Ushanti. »Es wird wehtun.« Die leonidische Heilerin goss Glissa die Hälfte der widerlich aussehenden Mixtur übers Knie. Dampf stieg von Glissas Wade und Knöchel auf, als das Gebräu an ihrem Bein hinabrann. Es schien sich durch das korrodierte Metall zu brennen. Glissa konnte mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als das Feuer in ihrem Bein explodierte und ihr eisig heiße Schmerzblitze durch den Schenkel jagte. Ushanti stellte die Schüssel vor Glissa auf den Boden. »Tauche deinen Fuß in die Schüssel«, wies sie die Elfin an. Der Dampf erschwerte es Glissa, die Schüssel auszumachen. Sie brauchte den größten Teil ihrer Konzentration, um gegen den Schmerz anzukämpfen, der durch ihr Bein rann. Schließlich schaffte sie es jedoch, den Fuß in die Schüssel zu stellen. Erst spürte sie nichts außer dem immer noch anhaltenden Schmerz, den die Behandlung ausgelöst hatte. Ihr ganzer Fuß war taub. Dann begann es zu kribbeln. Das Kribbeln wurde zum Stechen, dann zu bohrendem Schmerz. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand lange Nadeln ins Fleisch treiben. Glissa hielt die Luft an und biss die Zähne zusammen. Aus der Schüssel stieg Dampf auf und vereinigte sich mit dem, der ihren Unterschenkel umgab. Die Elfin atmete aus und holte noch einmal tief Luft. Das Brennen in ihrem Knöchel und Unterschenkel ließ Stück um Stück nach, während der Dampf sich auflöste. Die Erinnerung an diesen gewaltigen Schmerz blieb allerdings noch eine Weile zurück. Es dauerte einige Zeit,
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bis sich die Muskeln im Schenkel so weit entspannten, dass Glissa glaubte, wieder laufen zu können. »Die Infektion ist ausgebrannt«, sagte Ushanti. »Unsere Tochter kann die zurückgebliebene Wunde heilen. Wir müssen uns jetzt zurückziehen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Eines noch, Schamanenälteste.« Raksha hielt die alte Frau zurück. Glissa war sich sicher, dass sie ein höhnisches Grinsen auf den Lippen der Heilerin sah, als diese sich umdrehte, von dem jedoch keine Spur mehr zu erkennen war, als sie ihren Anführer anblickte. »Ja, Kha?«, sagte sie mit einer tiefen Verbeugung. »Dieser Fremde, den die Elfin im Knäuel gesehen hat«, sagte Raksha. »Finde ihn für uns, damit unsere neue Freundin …« »Glissa«, sagte die Elfin, weil Raksha sich Hilfe suchend an sie wandte. »Damit wir und unsere neue Freundin Glissa uns seiner annehmen können.« »Ihr wünscht, dass wir uns in Feuertrance versetzen?«, fragte Ushanti. »Nachdem wir die Vernichterin geheilt haben, sollen wir uns abermals der Vision stellen, in der sie unsere Welt zerstört?« »Ja.« Ushanti blickte Raksha einen Moment lang an, aber es war offensichtlich, dass all ihr aufbrausendes Gehabe von der mächtigen Gegenwart ihres Anführers fortgespült worden war. Sie schlurfte zurück zu ihrem Kessel und nahm zwei Hand voll Sand – eine mit gelbem, eine mit blauem. Als Ushanti den Sand durch die Finger ihrer geballten Fäuste in den Kessel rieseln ließ, veränderte sich die Farbe des Rauches. Hell umran-
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dete himmelblaue Schwaden schlängelten sich zu der niedrigen Decke empor. Ushanti beugte sich tief über den Kessel, bis der Rauch ihren Kopf einhüllte. Augenblicke vergingen, und Glissa sah Raksha, Rishan, die Tochter der Heilerin, und die andere junge Heilerin an. Niemand schien sich auch nur im Geringsten darum zu sorgen, dass die alte Frau in dem Rauch ersticken könnte. Ushanti begann zu stöhnen. »Kutte«, schrie sie. »Schimmernde Kutte. Spiegelung. Gesichtslos. Beobachtet. Wartet.« »Wo ist er?«, fragte Raksha. Rishan trat an den Kessel. »Sieh hinter die Kutte, Mutter. Sieh durch die gesichtslose Gestalt hindurch. Sieh den Ort. Sieh dahinter.« »Kann nicht«, sagte die alte Seherin. »Er hält uns fest. Bannt uns. Können uns nicht bewegen. Können den Blick nicht abwenden. Keine Augen. Nur Spiegelung.« »Sieh in die Spiegelung«, sagte Rishan. »Schwärze. Nur Schwärze«, sagte Ushanti. »Sie saugt das Licht in sich auf. Warte … eine Sonne geht auf. Schwarze Sonne an schwarzem Himmel. Wirft ihr Licht … auf einen Schlot. Schwarzer Schlot. Riesig. Reckt sich der Sonne entgegen. Schmutziges Wasser ergießt sich daran herab. Überall Knochen. – Nim!« Das letzte Wort kam als Schrei, und Ushantis Knie gaben unter ihr nach. Raksha fing die alte Seherin auf und hob sie aus dem Rauch. Ihr zerfurchtes Gesicht wirkte noch eingesunkener und blasser als zuvor. Ihre Augen standen offen, aber es war kein Leben darin. Raksha trug sie hinter die Vorhänge, und Rishan folgte ihm. Er hielt die Heilerin wie ein Vater sein Kind, das ihm in den
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Armen eingeschlafen war. Kurz darauf kehrte der Kha zurück. »Komm mit uns, Glissa.« Glissa warf einen Blick in Richtung Slobad. »Ja, der Goblin auch.« Glissa stand vorsichtig auf und belastete ihren Fuß zunächst sehr behutsam. Er war immer noch empfindlich, aber sie konnte bereits laufen, ohne stark zu hinken. Sie steckte ihr Schwert in die Scheide und folgte Raksha dann durch den Irrgarten aus Vorhängen zurück auf den Hof. Die Monde waren alle untergegangen, aber das Licht der Feuer war so hell, dass Glissa die Sterne über ihnen nicht sehen konnte. Der Leonidenanführer ging zu der Statue und blickte in die Flammen. »Das ist Dakan, der erste Kha«, sagte Raksha und zeigte auf die Statue. »Er war es, der den Bestien die Rasierklingenfelder abrang. Er war es, der Taj Nar erbaute. Er war es, der die Maske der Sonnen fertigte.« Glissa stellte fest, dass die Maske der Statue eine Nachbildung derjenigen war, die Raksha nun an einer Schnur über die Schulter geschlungen hatte. »Dakan brachte die Leoniden ins Licht und lehrte die Stämme, wie man das Feuer während der dunklen Stunden am Brennen hält«, fuhr Raksha fort. »Dieses Feuer bringt uns Dakan näher, genau wie die Maske der Sonnen, die wir in der Schlacht tragen, und es bewahrt die Sonne in unseren Herzen, selbst wenn sie nicht am Himmel steht. Wir schüren das Feuer bei Tag und Nacht, um unseren Feind abzuwehren – um die Dunkelheit zurückzuhalten.« Er drehte sich zu Glissa um. »Du bist heute Zeugin der Dunkelheit geworden«, sprach er weiter. »Du hast dich ihr entgegengestellt und sie lange genug zurückgeschlagen, sodass
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dieser Goblingauner eine Tür durch unseren Verteidigungswall öffnen konnte.« »Wir wollten nicht …« »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen«, sagte Raksha. »Slobad wird diesen Mangel beheben.« Er maß Slobad mit einem Blick, der den Goblin erzittern ließ. »Nein, du hast tapfer gekämpft, obwohl dich eine Wunde behinderte, mit der die besten unserer Krieger heulend im Bett liegen geblieben wären. Wir heißen dich in Taj Nar willkommen, und zwar als Meisterin, die uns im Kampf gegen die Nim beistehen wird.« Der Leonide verstummte. »Aber?«, hakte Glissa nach. Sie hatte das Gefühl, dass sie die Gastfreundschaft der Leoniden nicht allzu lange genießen würden. »Komm«, sagte Raksha, während sie auf die Befestigungsanlagen zugingen. »Unser beider Feind ist ein und derselbe. Heute haben wir Leoniden hunderte von Nim hingeschlachtet.« Er deutete nach unten. Auf dem Hang unterhalb der Turmwände konnte Glissa die Umrisse toter Nim sehen. »Aber morgen schon könnten tausend weitere aus dem Mephidross kommen.« »Und Ihr könnt Taj Nar nicht verlassen«, sagte Glissa, als ihr die Last der Führung, die schwer auf diesem jungen Leoniden zu liegen schien, bewusst wurde. »Das können wir nicht«, sagte er. »Und ebenso wenig können wir Krieger in den Mephidross entsenden.« »Ihr werdet hier zur Verteidigung gebraucht.« Glissa nickte verstehend. »So ist es«, sagte Raksha. »Und selbst wenn wir Truppen entbehren könnten, dürften unsere besten Krieger nicht einmal hoffen, im Mephidross lange genug zu überleben, um die
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Gruft des Geflüsters zu erobern. Dort werdet ihr beide unseren gemeinsamen Feind finden. Der schändliche Ort ist der Schlot, den Ushanti in ihrer Feuertrance sah.« »Wir beide?«, fragte Slobad und sprach damit zum ersten Mal, seit Raksha ihm zu schweigen befohlen hatte. »Ich nicht. Slobad verfügt über keine besonderen Kräfte, um an diesem Ort zu überleben, he? Bleibe hier und repariere Tür. Slobad ist nichts Besonderes.« Glissa klopfte dem Goblin auf die Schulter. »Ich möchte Slobad nicht in Gefahr bringen«, sagte sie. »Er hat mir das Leben gerettet … bereits zweimal. Kann er nicht hier auf meine Rückkehr warten?« Raksha schüttelte den Kopf, wenngleich ein trauriger Ausdruck in seinen Augen lag. »Du brauchst ihn als Führer, um den Nim und den Schnittern auszuweichen. Mach dir keine Sorgen. Slobad wird einen Weg finden, um zu überleben. Das tut er immer.« Raksha sah kurz zu Slobad und wandte sich dann wieder an Glissa. »Es ist von größter Wichtigkeit, dass du diese nächste Prüfung überlebst, Glissa. Wir glauben nicht, dass du eine Weltenzerstörerin bist, aber Ushantis Visionen dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Dunkelheit umkreist uns, und wir – du und ich – stehen im Auge dieses Sturmes.« Glissa blickte den jungen Kha an. Es war das erste Mal, dass sie hörte, wie er von sich in der Einzahl sprach. »Wie meint Ihr das?«, fragte sie. »Unsere Schicksale sind miteinander verwoben«, sagte Raksha. Er fasste Glissa bei den Schultern und schaute ihr in die Augen.
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»Ich habe das niemandem erzählt«, sagte er. »Aber ich habe diese Kuttengestalt in jener Nacht auch gesehen – und seitdem verfolgt mich dieser Fremde in meinen Träumen. Wir … ich habe Angst vor dem Schlaf in der Nacht.« Slobad sog hörbar Luft ein. »Und du wirst darüber kein Wort verlieren, Goblin«, knurrte Raksha, »oder wir werden dir höchstpersönlich den Kopf abreißen. Niemand darf davon erfahren. Die Leoniden würden wahrscheinlich in Panik geraten, wenn sie wüssten, dass ihr Kha jetzt in Angst vor einem verborgenen Feind lebt. Finde unseren Feind, Glissa. Finde ihn und halte ihn auf. Es steht weit mehr auf dem Spiel als nur unser beider Leben und Schicksal.«
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Kapitel 8
MEPHIDROSS
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ie Himmeljäger werden euch an die Grenze unseres Landes bringen«, sagte Raksha am nächsten Morgen. »Sie werden zu ihrer täglichen Patrouille aufbrechen, sobald ihr fertig seid, aber sie können euch nicht ganz in den Mephidross bringen und dürfen an der Mephidross-Grenze auch nicht lange am Boden bleiben.« »Wie finden wir diese Gruft des Geflüsters?«, fragte Glissa. Sie musterte den Pteron, auf dem sie mitreiten sollte. Er bestand aus wenig mehr als Haut, die über Knochen gespannt war. An einen Metallpflock gebunden, hüpfte das Tier auf langen Beinen hin und her. Es überragte Glissa, aber seine Beine waren nicht dicker als Slobads magere Arme. Sie hatte keine Ahnung, wie es sich vom Boden erheben, geschweige denn seinen Reiter samt einem Passagier tragen sollte. »Ihr müsst der schwarzen Sonne in den Morgen folgen«, sagte Raksha. »Am Mittag geht sie über der Gruft auf, ehe sie hinter der Glimmerleere untergeht.« »Was Ihr Sonnen nennt, bezeichnen wir Elfen als Monde«, sagte Glissa. »Und der schwarze Mond ist schwer zu sehen, selbst am Mittag. Sein Licht wird oft von Eurem gelben Mond … Eurer gelben Sonne überlagert.«
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»So, wie es sein soll«, sagte Raksha lächelnd. »Im Mephidross wird sie leichter zu sehen sein. Der dichte Dunst, der über den Karninen liegt, dämpft Dakans Sonne zwar, aber er lässt auch den verderblichen schwarzen Himmelskörper verschwimmen.« »Slobad kann Ingle gut sehen, he?«, sagte der Goblin. Er stand hinter Glissa. Sie wusste nicht, wovor er mehr Angst hatte – vor Raksha oder den Pterons. »Goblins sehen Ingle auch an sternlosen Tagen. Sitzt wie ein dunkles Loch am Himmel und greift nach Goblinseelen.« »Das wissen wir«, sagte Raksha. »Deshalb schicken wir dich ja auch auf diese Mission. Du sollst im Dross Glissas Auge sein. – Es ist jetzt für die Himmeljäger Zeit zum Aufbruch.« Raksha ergriff Glissas Hand und schüttelte sie kräftig. »Glissa, geh mit der Sonne!«, sagte er. Mit einer raschen Bewegung packte der Kha dann Slobad, hob ihn hoch und umarmte ihn. »Und du«, sagte er, »bleib am Leben und kehre zu uns zurück. Wir haben dich vermisst.« Glissa hatte den Eindruck, dass Slobads Gesicht nun noch röter wurde, als es sein normaler rostiger Teint ohnedies schon war. Raksha setzte den Goblin hinter die Himmeljägerin auf den Pteron. Glissa schaute zu ihrer Begleiterin hinauf, einer zierlich gebauten Leonidin. »Nimm dich vor dem Schnabel in Acht«, sagte die Himmeljägerin zu Glissa, als diese an der Flanke des Tieres hochkletterte. »Ein Pteron kann einen in zwei Hälften schneiden, selbst hier hinten.« Die Elfin schob ihre Füße in die Hautfalten unter den Vorderbeinen des Tieres. Augenblicklich kreischte der Pteron auf und schwang den Kopf herum, um Glissa anzublicken. Sie sah
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dutzende scharfer Zähne, die am Rand des Schnabels hervorstanden. »Vorsicht mit seinen Flügeln«, sagte die Himmeljägerin. »Die sind empfindlich.« »Das sind seine Flügel?«, sagte Glissa mit einem Blick auf die Haut, die unter den langen Armen des Tieres zusammengefaltet war. Glissa rückte sich hinter der Himmeljägerin zurecht. Im Sattel selbst war kein Platz, also musste sie mit dem knochigen Rücken des Pterons vorlieb nehmen. »Wie lange werden wir bis zur Grenze unterwegs sein?«, fragte Glissa die Leonidin. »Ein paar Stunden«, antwortete diese. »Wir sollten euch vor Aufgang der letzten Sonne auf dem Boden haben.« Und damit versetzte die Himmeljägerin dem Pteron einen Tritt und zog an den Zügeln. Staunend beobachtete Glissa, wie das Tier seine Flügel auseinander faltete. Sie bestanden aus Haut und erstreckten sich von den langen Krallen an den Vorderbeinen bis hinunter zu den knochigen Hüften des Tieres. Die Flügel waren gewaltig, jeder dreimal so lang wie Glissa. Der Pteron schlug bereits mit den Schwingen, aber noch hoben sie nicht vom Boden ab. »Fertig?«, fragte die Himmeljägerin über den Lärm der schlagenden Flügel hinweg. »Wofür?«, rief Glissa. Zu spät. Der Pteron trat von der Wehrmauer und stürzte dem Tal unter dem Leonidenturm entgegen. Glissa wollte noch einmal schnell Luft holen, aber der Wind, der an ihrem Gesicht vorbeipfiff, machte das Atmen unmöglich. Träge schlug der Pteron weiter mit den Flügeln, bis sich – schon auf
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halbem Wege zum Boden – der Wind darunter fing. Das Tier ging in einen waagrechten Flug über und entfernte sich in einer weiten Kurve von Taj Nar. Von oben sah Glissa, wie die Leoniden zahlreiche tote Nim abtransportierten. In der Ferne machte sie Rauch aus, der von einem großen Feuer aufstieg. »Ihr verbrennt die Leichen eurer Feinde?«, rief sie und deutete auf das gewaltige Feuer. »Nein!«, rief die Himmeljägerin zurück. »Das Feuer ist den gefallenen Leoniden vorbehalten, um ihre Seelen ins Licht zu schikken. Die toten Nim lassen wir für die Dämmerungsarbeiter liegen. Die fressen alles. Die Leichen der Nim helfen uns, die Dämmerungsarbeiter unter Kontrolle zu halten.« »Ihr stillt ihren Hunger, damit sie keine Leoniden angreifen?«, sagte Glissa. Sie wagte nicht zu fragen, was für Kreaturen diese Dämmerungsarbeiter genau waren. »Wir vergiften sie, um ihre Zahl gering zu halten«, antwortete die Himmeljägerin. »Hast du schon einmal das stinkende Gas gerochen, das ein Nim ausstößt?« Was für ein pragmatisches Volk, dachte Glissa. Als sie dann über die Glimmerleere hinwegflogen, begann sie jedoch, die Leoniden besser zu verstehen. Außerhalb von Taj Nar lebten die meisten Leoniden in kleinen Siedlungen. Sie waren durch weite Flächen mit blankem Metall und Rasierklingengras voneinander abgeschnitten. Welch ein Unterschied zum Knäuel, dachte Glissa, während die Meilen unter ihr nur so vorüberzogen. Im Knäuel leben wir über unseren Nachbarn. Wir zählen in jeder Hinsicht auf sie, vom Sich-gegenseitig-Schützen bis hin zum Wasserholen. Glissa befand, dass sie nicht wie die Leoniden leben könnte. Und auch nicht so, wie Slobad gelebt hatte. Glissa blickte
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zurück zu dem Goblin, der sich so verzweifelt festhielt, dass sie selbst über die große Entfernung hinweg seine Fingerknöchel weiß hervortreten sehen konnte. Sie empfand eine seltsame Zuneigung zu dem seltsamen kleinen Kesselflicker, die über den Dank hinausging, den sie ihm dafür schuldete, dass er ihr das Leben gerettet hatte. Er selbst führte ein schweres und einsames Leben.
$ Stunden später wurden die sanften Hügel von zerklüftetem Terrain abgelöst. Wo Glissa zuvor jene halbmondförmigen Erhebungen erblickt hatte, die die Wohnstätten der Leoniden bildeten, sah sie jetzt nur noch zerborstene Gewinde – möglicherweise die Kamine, von denen Raksha gesprochen hatte – und gelegentlich eine Anhöhe, die geplündert und zerstört worden zu sein schien. Die Kamine waren dunkel, viel schwärzer als die umliegende Silberfläche der restlichen Glimmerleere. Sie ragten wie Säulen aus der flachen Ebene auf, mit breiten Sockeln, die zu gezackten Spitzen zuliefen. Als sie an ihrer Begleiterin vorbeischaute, sah Glissa, dass sie auf einen schwarzen Vorhang zuflogen, der wie eine dunkle Linie durch die Glimmerleere schnitt. Es war, als würde der Schein der Monde nicht über diese Linie hinausreichen. Jenseits dieser Grenze zwischen hell und dunkel konnte Glissa keine Einzelheiten ausmachen. Dicker grüner Nebel verschleierte die Luft über dem Land. Alles, was sie sehen konnte, war ein glitzernder Schein am Boden nahe der Trennlinie, die der dunstige Vorhang zog. Das Land fiel schräg in
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Richtung des Nebels ab, und Glissa glaubte zu sehen, dass sich die Grenze leicht bewegte. »Was ist das?«, rief sie der Himmeljägerin zu und zeigte nach vorn zu Boden. »Der Mephidross«, rief die Leonidin. »Sich da hindurchzuplagen ist wahrlich kein Vergnügen.« Ein paar Minuten später ließ die Himmeljägerin den Pteron um einen der letzten Kamine vor dem Nebelvorhang kreisen. »Ich muss da oben landen, sonst kommen wir nicht wieder in die Luft«, sagte sie zu Glissa. Glissa behielt den Dunst im Auge, während sie immer tiefer sanken. Der andere Pteron kreiste um einen zweiten Kamin. Schließlich landeten sie auf einem schmalen Sims an der Spitze des Kamins. Glissa kletterte zwar geschickter von der fliegenden Echse herunter, als sie hinaufgestiegen war, landete schließlich aber trotzdem auf dem Hintern, weil das Tier seine Flügel just in dem Moment wegzog, als sie danach griff. Sie hatte das sichere Gefühl, dass der Pteron sie dabei angrinste. Er breitete die Flügel aus und ließ sich vom Rand des Kamins fallen. Die Elfin stand auf, wischte sich den Staub ab und suchte nach einem Weg, der vom Kamin hinunterführte. Die Außenseite war steil und glatt. Sie würde viel schwieriger hinunterzuklettern sein als ein Knäuelbaum. Sie spähte ins Innere des Kamins hinab, aber da der gelbe Mond noch immer tief am Himmel stand, konnte sie nichts erkennen. Sie konnte auch von außen nicht feststellen, ob es am unteren Ende einen Weg gab, der irgendwie aus dem Kamin hinausführte. Sie sah sich nach Slobad um und entdeckte ihn am Boden. Er hatte es also irgendwie nach unten geschafft. Auf einmal
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bemerkte sie eine Bewegung im Dunst. Einen Augenblick später tauchte auch schon ein Trupp Nim auf, der direkt auf sie zukam. Der Kamin mochte ja zu verteidigen sein, aber Slobad befand sich bereits am Boden. Sie konnte ihn unmöglich allein lassen. Glissa zog also ihr Schwert und sprang über den Rand des Kamins. Im Fall drehte sie sich in der Luft und rammte das Schwert mit beiden Händen in das metallene Gebilde. Ich hoffe, das funktioniert noch mal, dachte Glissa, als ihre Füße hart gegen die Seite des Kamins stießen. Sie stürzte dem Boden entgegen. Das Schwert schnitt so mühelos durch den Kamin, wie es auch durch den Knäuelbaum gefahren war. Glissa rutschte in halsbrecherischem Tempo an der Schnittlinie nach unten. Das Schwert bremste den Fall kaum ab. Sie stieß sich mit den Füßen ab und grub die Klinge tiefer hinein. Allmählich wurde sie zwar langsamer, hielt sich aber immer noch für zu schnell. Dicht vor dem auf sie zurasenden Boden spannte sie die Muskeln an und beugte die Knie. Dann ließ sie das Schwert los und stieß sich kräftig mit den Beinen ab. Die Richtungsänderung verminderte zwar ihre Geschwindigkeit nicht, aber anstatt vertikal auf den Boden zu rammen, schlitterte die Elf in darüber hinweg und kam nach einer Rolle auch schon zum Stehen. Slobad rannte zu ihr. »He, verrückte Elfin«, rief er, »warum benutzt du nicht die Treppe wie ein normales Wesen, he? Hast du die Treppe mit deinen schlechten Elfenaugen nicht gesehen, he? Verrückte …« »Halt die Luft an«, sagte Glissa, die von der Anstrengung keuchte. »Das Begrüßungskomitee ist dicht hinter mir.«
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Slobad stieß einen leisen Pfiff aus. Glissa stand auf und drehte sich um. Die Nim tauchten aus dem Dunst auf und hielten geradewegs auf sie zu. »Lässt sich der verteidigen?«, fragte sie und deutete auf den Kamin, von dem Slobad heruntergekommen war. »Wir könnten die Nim draußen halten«, sagte der Goblin, »aber das würde nichts nützen. Nim fressen nicht. Sie warten, bis wir rauskommen, he? Wir verhungern oder sterben – such’s dir aus.« »Dann lauf zum Mephidross!«, rief Glissa und deutete in einem Winkel, der von der sich nähernden Horde wegführte, auf den grünen Dunst. »Ich komme nach.« Sie rannte zurück zum Kamin und zog ihr Schwert heraus. Die Nim hatten sie fast erreicht. Der Anführer griff bereits nach ihr, aber Glissa duckte sich unter der Klaue hinweg und rannte zu Slobad. Sie warf einen Blick zurück und stellte mit Freude fest, dass sie die Nim weit hinter sich ließ. Sie waren so langsam, dass man sie leicht abhängen konnte. Am Rand des Dunstschleiers holte sie Slobad ein. Der Goblin war stehen geblieben. »Komm schon!«, rief sie, als sie an ihm vorbeilief. »Die mögen zwar langsam sein, aber sie haben noch nicht aufgegeben.« »Warte«, sagte Slobad. »Verrückte Elfin, geh nicht …« Es war zu spät. Glissa betrat den Mephidross … und versank bis zu den Knien in einer stinkenden, grünlich violetten Brühe. Der Sumpf erstreckte sich vor ihr so weit, wie sie in diesem Nebel sehen konnte. Dahinter schien die Luft zu wirbeln, fast so, als wäre sie flüssig. Dunkle Schleimfahnen hingen in der Luft und vermischten sich mit dem grünen Gas. Glissa holte Luft, um nach Slobad zu rufen, aber der Gestank
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raubte ihr fast das Bewusstsein. Er war hundertmal schlimmer als vor dem Tor von Taj Nar, wo sie von Nim umzingelt gewesen waren. Aber sie hatte keine andere Wahl. Um zur Gruft des Geflüsters zu gelangen, mussten sie durch den Mephidross. »Komm schon!«, rief sie noch einmal, aber dann musste sie husten. Schleim fing sich in ihrem Hals, und sie musste sich beinahe übergeben. »Wenn wir nicht stehen bleiben, erwischen sie uns auch nicht.« Slobad zögerte noch einen Moment und warf einen Blick über die Schulter auf die heranschlurfende Meute. Dann trat auch er endlich in den Dunst. Wo der Schlamm Glissa bis an die Knie reichte, ging er dem kurzen Goblin fast bis zur Brust. »Raksha nennt das hier den Dross«, sagte er. Er hielt seinen Beutel über den Kopf, damit er trocken blieb. »Sagt, das bleibt tagelang an einem kleben, he?« Glissa konnte unschwer sehen, dass er alles andere als glücklich war. »Geh einfach so schnell, wie du kannst«, sagte sie. »Die Nim müssen genauso hindurch waten.« Die beiden Gefährten schoben sich durch die schlammige Brühe. Glissa musste sich auf das Atmen konzentrieren, damit ihr die Galle nicht in der Kehle hochstieg. Nach einer Weile hörten wenigstens ihre Augen auf zu brennen, und sie konnte in dem tintigen Nebel tatsächlich ein bisschen besser sehen. Vor ihnen befanden sich mehrere Kamine. Jetzt verstand sie, warum Raksha sie so nannte. Die dunklen Schwaden in der Luft schienen geradewegs aus ihren Spitzen zu steigen. Im Gegensatz zu den Kaminen draußen schienen diese hier jedoch aktiv zu sein, mehr noch, beinahe zu leben. Ihr dunkles Äußeres glühte mit einer purpurnen Energie, während aus ih-
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ren Spitzen schwarze Rauchwolken drangen. Die Kabelstränge, die die oberen Enden der Kamine miteinander verbanden, konnte Glissa kaum erkennen. Sie war sich dessen nicht sicher, aber sie glaubte, eine Kugel aus purpurfarbener Energie über die Kabel von einem Kamin zum nächsten laufen zu sehen. Das unheimliche Summen, das in der Luft surrte, ließ allmählich ihre Zähne schmerzen. »Warum sollte hier jemand leben wollen?«, brummte Glissa und ging auf den nächstgelegenen Kamin zu. Vielleicht bot er ihnen ja einen Weg aus dem Dross, und sei es nur für eine Weile. Der Boden stieg an, als sie sich dem Kamin näherten. Der zähe Schlamm reichte Glissa nur noch bis zu den Knöcheln. Das Summen jedoch nahm an Intensität zu, und der Schmerz schoss ihr in die Schläfen hinauf. Glissa schaute nach hinten. Die Nim schlossen langsam auf. Sie schienen regelrecht durch den Mephidross zu gleiten. Auf dem festen Boden der Glimmerleere waren die Nim mit ihren schlurfenden Schritten langsam gewesen. Hier im Mephidross allerdings hielten ihre langen Beine sie über dem Schlamm, und mit ihren langen Armen schoben sie die Brühe aus dem Weg. Glissa und Slobad würden ihnen auf Dauer nicht entrinnen können, schon gar nicht mit den kurzen, mühevollen Schritten, die Slobad machte. »Steig auf meine Schultern«, sagte sie zu dem Goblin und bückte sich in den Dross. »He?«, machte Slobad. »Reit auf meinen Schultern, du dämlicher Goblin!«, rief sie. »Ich kann dich schneller tragen, als du rennen kannst.« Slobad reichte Glissa seinen Beutel und kletterte ihr auf die Schultern. Glissa schlang sich die Tasche um den Hals und rannte
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dann mit Slobad um den Kamin herum. Dahinter lag ein weiterer Kamin, auf den sie sofort zuhielt. Dabei versuchte sie so weit wie möglich auf höher gelegenem Boden zu bleiben. Sie eilte von Kamin zu Kamin. Die Elfin war zwar selbst mit dem Gewicht des Goblins auf dem Rücken sehr schnell, aber die Nim holten immer noch auf. Die Kombination aus der flüssigen Luft in ihrer Lunge und dem Summen der Kamine setzte ihr zu. Sie würde ihr Tempo nicht mehr lange durchhalten können. »Geben die denn nie auf?«, keuchte sie, während sie die beißende Luft einatmete. »Slobad weiß nicht viel über Nim, he?«, sagte der Goblin. »Raksha sagt, sie sind hirnlos. Machen nie Halt, bevor sie ihr Ziel erreichen. Hören nie auf. Nie müde, he? Hirnlos.« »Wenn sie hirnlos sind, woher wissen sie dann, wo sie hingehen und warum sie angreifen müssen?«, fragte Glissa. »Könnte es sein, dass sie aus der Ferne von jemandem gelenkt werden?« »Raksha sieht im Kampf manchmal Wesen wie uns hinter den Nim«, sagte Slobad. »Weiß nicht, ob die sie lenken. Slobad denkt immer, dass sie sich immer nur in Nim verwandeln, he?« »Wenn sie gelenkt werden«, schnaufte Glissa im Laufen, »dann können wir sie vielleicht stoppen, wenn wir denjenigen ausschalten, der sie beherrscht.« »Was, wenn sie nicht stehen bleiben, he?«, sagte Slobad. »Was, wenn sie gar nicht gelenkt werden? Wir bleiben stehen … sie bleiben nicht stehen … wir sterben, he?« »Immer noch besser, als wenn wir uns zu Tode rennen.« Sie waren um einen weiteren Kamin herumgelaufen. Glissa
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blieb stehen. Sie bückte sich, sodass Slobad von ihrem Rücken rutschen konnte. »Du läufst jetzt weiter«, sagte sie zu ihm. »Klettere auf einen Kamin, dort bist du sicher. Ich lass die Nim passieren und versuche dann den zu finden, der sie lenkt.« Slobad machte den Eindruck, als wollte er widersprechen, aber Glissa ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Das ist unsere einzige Hoffnung. Wir können sie nicht abhängen, und wir könnten sowieso nicht die ganze Strecke bis zur Gruft des Geflüsters rennen. Jetzt geh schon, und sorg dafür, dass sie dir folgen.« Glissa reichte Slobad seinen Beutel und schob ihn in den Dross. Er schaute zu ihr zurück, hob kurz die Schultern und trottete dann in den Dunst davon. Glissa drehte sich um und nahm die steile Flanke des Kamins in Augenschein. Sie zog ihr Schwert und schlug mehrere Kerben in den Kamin. Sie kletterte daran empor, wobei sie unterwegs immer wieder Löcher für ihre Hände und Füße hineinschnitt. Als sie hoch genug über dem Sumpf war, verharrte sie und wartete. Sie hoffte, dass die Nim so hirnlos waren, wie Slobad es behauptete. Wenn sich auch nur einer von ihnen umdrehte, nachdem sie den Kamin passiert hatten, war sie geliefert.
$ Von ihrem Ausguck auf dem Kamin aus beobachtete Glissa den Goblin. Er hielt sich seinen Beutel über den Kopf und plagte sich durch den Dross. Das Summen wurde noch intensiver, während sie sich am Kamin festklammerte, und die Zähne vibrierten ihr nun fast im Mund. Unter ihr strömten die
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Nim um den Kamin herum. Glissa sah zu, wie Reihe um Reihe unter ihr vorbeizog. Aus den Düsen an ihren Seiten waberte Gas zu ihr herauf und verstärkte den Gestank des Dunstes noch. Glissa schloss die Augen und musste sich wieder konzentrieren, dass ihr die Galle nicht in der Kehle hochstieg. Nachdem die Nim vorbei waren, öffnete sie die Augen, um nachzusehen, wie nahe sie dem armen Slobad kamen. Sie konnte den Goblin nicht mehr entdecken. Die Elfin war sich sicher, dass er den nächsten Kamin noch nicht erreicht haben konnte, aber es gab auch kein Anzeichen eines Kampfes in den Reihen der Nim. Dann sah sie in der Ferne, wie sich der Schlamm kräuselte. Slobad tauchte unmittelbar vor der NimArmee aus dem Dross auf. Der Goblin schrie auf und watschelte dann so schnell, wie er konnte, vor den Nim davon. Glissa konnte nicht länger warten. Wenn sie die Nim jetzt nicht angriff, würden sie Slobad einholen und ihn zerreißen. Niemand schien die Kreaturen zu steuern. Sie würde eben kämpfen müssen. »Idioten!«, erklang da eine Stimme hinter Glissa. »Sie ist hier hinten! Kehrt um, los!« Glissa drehte sich um. »Ich nehme an, du hast nicht mit mir gesprochen«, knurrte sie. Sie sah einen schlaksigen Mann vor sich. Er war fast so groß wie die dahinschlurfenden Nim und hatte dieselbe stumpf purpurne Haut, die halb mit Dross bedeckt war. Wie bei den Nim klaffte auch der Mund dieses Mannes wie eine Wunde in seinem Gesicht, allerdings fehlten bei ihm das Ektoskelett und die Gasdüsen der Nim. Seine Züge waren annähernd humanoid – nicht menschlich, aber auch nicht die eines Nims …
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noch nicht jedenfalls. Glissa konnte in seinen Augen einen Funken von Intelligenz erkennen. Es sah ganz so aus, als hätte sie den Lenker der Nim gefunden. »Hierher zurück!«, rief er. Glissa warf einen Blick hinter sich. Die Nim kehrten um und machten sich nun daran, zu ihr zurückzuschlurfen. »Ich weiß, wie lange sie brauchen werden, um hierher zu gelangen«, sagte sie. »Blas den Angriff ab, und wenn du nicht sterben willst, sag mir lieber, warum du hinter uns her bist.« Der Mann blickte über ihre Schulter und grinste. Glissa konnte das Platschen der Nim hinter sich hören. »Wer hat dich geschickt?«, schrie sie. »Spuck’s aus oder stirb.« »Es ist egal, was du mit mir tust«, sagte er. Er sprach undeutlich, so als könnte sein unförmiger Mund die Worte nicht richtig formen. »Du bist so gut wie tot.« »Du auch!«, schrie Glissa. Sie schwang ihr Schwert mit beiden Händen. Die Klinge erwischte den Lenker der Nim dicht unter der Schulter und schnitt auf ihrem Weg zum Hals des Mannes durch dessen Oberarm. Die silberne Klinge glitt ebenso mühelos durch sein Rückgrat, wie es durch den eisernen Kamin gefahren war. Einen Moment lang stand der Lenker noch mit einem auf seinem Gesicht festgefrorenen Grinsen da, dann rollte sein Kopf zur Seite, und er sackte in den Dross. Glissa sprang sofort zu dem Kamin, griff in die Halterungen, die sie hineingeschnitten hatte, und kletterte wieder nach oben. Sie wusste nicht, was die Nim tun würden, aber wenn sie wirklich hirnlos waren, sollten sie, ihrem letzten Befehl folgend, eigentlich an ihr vorbeiziehen. Wenn nicht, dann hatte der Mann, der die Wesen gesteuert hatte, Recht gehabt, und
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sie war so gut wie tot. Gespannt wartete Glissa, bis die erste Reihe sie erreicht hatte. Sie schienen ihr keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Ihre Blicke waren stur geradeaus gerichtet. Sie fürchtete schon, die Nim würden schließlich stehen bleiben, wenn sie den Leichnam ihres toten Herrn erreichten, aber der Tote war schon fast zur Gänze im Dross versunken. Die Horde zog am Kamin vorbei und stampfte die Leiche nur noch tiefer in den Schlamm. Glissa klammerte sich am Kamin fest, bis die Nim in dem wogenden Dunst verschwunden waren, dann ließ sie sich hinunterfallen und rannte los, um Slobad zu suchen. Er stand noch dort, wo er zuvor kurz aufgetaucht war, und wischte sich gerade Schlamm von seinem Beutel. »Was ist passiert, he?«, fragte er. »Wo sind die Nim hin? Kommen sie zurück? Du hast sie getötet? He?« »Sie kehren um«, sagte Glissa. »Genau so, wie es ihnen befohlen wurde.« Sie berichtete Slobad von dem Lenker und dem blinden Marsch der Nim in den Nebel hinein. Der Goblin sah furchtbar aus. Der Dross klebte an ihm wie schorfige Haut. Während sie sprach, fielen ganze Stücke ab und plumpsten in den Sumpf. »Was war vorhin denn mit dir los?«, fragte sie. »Bist du hingefallen?« Slobad gab es auf, seinen Beutel säubern zu wollen. »Ja«, antwortete er. Seine Augen leuchteten, und ein Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. »Irgendwas Großes hier unten. Groß und aus Metall. Bin über Bein oder so was gestolpert, he? Bin obendrauf gefallen. Irgendwas sehr Großes. Bin in den Dross gerollt, he? Glaube, es ist irgendeine große Maschine,
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he?« »Eine Maschine? Mit Beinen? So wie bei einem Gleichmacher?« Einem ersten Impuls folgend wollte sie das Ding finden und gleich zerstören, doch dann kam ihr eine Idee. »Wenn es ein Gleichmacher ist und du ihn reparieren kannst, könnten wir dann darauf durch den Mephidross reiten?« »Slobad kann alles reparieren, he?«, sagte der Goblin. »Alles. Repariere Rakshas Tor. Repariere den Kessel des Kults. Habe mal einen Gleichmacher zerlegt …« »Ist ja gut, ist ja gut«, sagte Glissa. »Schauen wir mal, was du gefunden hast.« Sie griff in den Dross hinab und tastete umher. Schließlich bekam sie etwas zu packen und hob es an. Unter großer Anstrengung zog sie ihren Fund aus dem Dross. Es sah aus wie ein Metallstiefel, der von den Zehen bis zur Ferse mindestens zwei Fuß maß, und er schien mit einem gewaltigen Bein verbunden zu sein. Slobad keuchte auf, worauf Glissa den Stiefel sofort fallen ließ. »Was ist?«, schrie sie. »Was ist los?« Sie wirbelte herum, um nachzusehen, ob die Nim zurückkamen, aber im Dunst regte sich nichts. Glissa sah Slobad an. Der Goblin wirkte, als würde er gleich explodieren. »Was ist?«, fragte sie ihn noch einmal. »Ich habe Geschichten gehört«, sagte Slobad, »habe sie aber nie geglaubt. Legenden. Nichts weiter. Habe immer gedacht, es sind nur Geschichten wie ‚Krarks Reise in den Schoß der Mutter’. Aber wir haben einen gefunden. Wir haben einer gefunden.« Er hüpfte freudig erregt im Dross herum. »Was denn?«, schrie Glissa. »Komm schnell«, sagte Slobad. »Wir ziehen ihn aus den Dross.«
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Slobad kämpfte sich zum nächsten Kamin vor und öffnete seinen Beutel. Er zog ein ledernes Seil und ein metallenes Gerät mit einer Anzahl von Rädern und einem Griff daran heraus. Er versuchte, ein Ende in den Kamin zu schrauben, schaffte es aber nicht gleich. Glissa durchforstete mit Blicken den Dunst und hielt nach irgendeinem Anzeichen eines Angriffs Ausschau, aber Slobad bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. Sie watete durch den Schlamm zu ihm. Der Goblin drehte das Gerät endlich in ein Loch hinein und zog anschließend das Seil durch die Räder der Apparatur. Das eine Ende des Stricks reichte er Glissa. »Bind’s um den Fuß«, sagte er. »Mach schon, mach schon. Beeil dich, verrückte Elfin, bevor die Nim zurückkommen.« »Um den Fuß?«, sagte Glissa. Sie schüttelte den Kopf und stapfte zurück in den Dross. Sie sah sich um und fragte sich immer noch, ob die Nim wohl zurückkehren würden, nach ihrem Herrn zu suchen. Dann machte sie sich daran, den Stiefel wieder herauszuziehen. Sie band das Seil um den Stiefel, schaute noch einmal in die Runde und kehrte zum Kamin zurück. Slobad mühte sich ab, eine Kurbel zu drehen, aber diese ließ sich nicht bewegen. Glissa nahm ihm die Arbeit ab. Das Seil spannte sich, als sie die Kurbel zu drehen begann. Sie fürchtete schon, das Seil würde gleich reißen, aber dann ließ sich die Kurbel zunehmend leichter drehen, und das Seil bewegte sich. Sie schaute zurück und sah, wie ein großes metallenes Objekt aus dem Dross auftauchte. Das ist ja ein Riese, dachte Glissa. Sie konnte eine breite, tonnenförmige Brust erkennen sowie Arme und Beine, und auch ein gewaltiger Kopf näherte sich ihnen. Als der Dross von dem Körper abfiel, sah Glissa, dass er ganz und
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gar aus Metall bestand. »Was zum Aufflackern ist das?«, fragte sie. »Ein Golem«, sagte Slobad.
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Kapitel 9
SCHNITTER
I
n dieser Nacht fand Glissa kaum Schlaf. Nachdem sie den gewaltigen Golem in den Kamin geschleppt hatten, war sie durch den Dross zurückgestapft, um sich ein für alle Mal davon zu überzeugen, dass die Nim nicht wiederkamen. Als sie zurückkehrte, hatte Slobad die Brust des Golems geöffnet und war praktisch hineingekrochen. Die brennende Feuerröhre in einer Hand, spähte der Goblin in die Brusthöhle und lärmte mit seinen Werkzeugen. Das Innere des Kamins war heller, als Glissa angenommen hatte. Die purpurne Energie, die durch die Wände des Kamins strömte, sorgte für ein unheimliches Glühen, das den gesamten Raum ausleuchtete. Da von allen Seiten Licht auf sie fiel, warf Glissa hier im Innern des Kamins keinen Schatten. Das Gebilde war bis auf eine Röhre in der Mitte, die bis zur Spitze des Kamins verlief, völlig hohl. Da Glissa keinen Rauch sehen konnte, ging sie davon aus, dass er durch die Röhre aufstieg. Stränge desselben Kabels, das draußen die verschiedenen Kamine miteinander verband, spannten sich auch zwischen der Innenwand und der Mittelröhre. Energiekügelchen liefen an diesen Kabeln entlang, und zwar immer in dieselbe Richtung – nach innen zur Mittelröhre hin. Während Glissa die
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Stränge im Auge behielt, sah sie, wie ein Teil der Energie über die Wände glitt, dann auf ein Kabel übersprang und zu der Röhre hinfloss. »Ich glaube, wir sollten nicht zu lange in diesen Kamins bleiben«, sagte sie zu Slobad. Der Goblin grunzte zur Antwort nur etwas. Glissa wusste nicht, welchen Zweck diese Kamine erfüllten, aber offenbar spien sie etwas Giftiges nach draußen in die Luft. Hatte Slobad Recht? Erschuf der Dross selbst die Nim aus anderen Lebewesen? Dieser Lenker der Nim war jedenfalls nicht mehr humanoid gewesen. Möglicherweise war er es ja auch nie gewesen. Auf halbem Wege um den Kamin herum fand Glissa eine Treppe, die in die Wand geschlagen worden war. Sie schraubte sich an der Innenseite des Kamins entlang in die Höhe. Glissa stieg die Stufen hinauf, duckte sich regelmäßig unter den Kabeln hindurch und erreichte schließlich eine Galerie, die den Kamin umlief. In die Außenwand waren Löcher geschlagen, und Glissa konnte in den Dunst hinausschauen. Es wurde dunkel, und sie konnte ringsum nur noch die Umrisse der Kamine erkennen. Glissa stieg wieder hinunter und rollte sich am Eingang zusammen, um ein bisschen zu schlafen. Es war keine erholsame Nacht. Jede Stunde erwachte sie vom Fluchen des Goblins oder durch das laute Klappern eines zu Boden fallenden Werkzeugs. Sie wusste, dass Slobad zu sehr in seine Basteleien vertieft war, um etwas so Wichtiges wie eine angreifende NimArmee zu bemerken, weshalb sie ihre Wachzeiten nutzte, um sich in der Umgebung umzuschauen. Sie sah durch die Fenster der Galerie hinaus und patrouillierte die umfliegenden Kamine. Es gab kein Anzeichen von Aktivität, das sie allerdings
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mehr beunruhigte, als wenn sie eine sich nähernde Armee gesehen hätte. Der Lenker und seine Nim würden doch sicher vermisst werden. Im schwachen Licht des frühen Morgens erwachte Glissa und fand Slobad schlafend neben dem Eisenmann. Der Brustkorb des Golems war wieder geschlossen, und Slobad hatte den größten Teil des Dross von der metallenen Gestalt abgewischt. Sosehr sie ihren Freund auch schlafen lassen wollte, wusste Glissa doch, dass jetzt die beste Zeit war, um aufzubrechen. Noch war keiner der Monde aufgegangen, und die Dunkelheit würde ihnen Dekkung gewähren. »Slobad«, rief sie ihm zu. Der Goblin drehte sich herum und begann zu schnarchen. »Slobad, wach auf.« Sie ging zu ihm hinüber und trat ihm in die Seite. »Slobad!« Der Goblin setzte sich kerzengerade auf. Die Feuerröhre hielt er einsatzbereit in Händen. »Was? Was? Was ist, he?« Er drehte die Feuerröhre auf und schaute sich um. »Was ist los, verrückte Elfin? Siehst du mich nicht im Dunkeln? Geh schlafen, he? Slobad ist müde.« »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Glissa. »Wir sollten jetzt aufbrechen. Ich glaube, dieser alte Blechriese ist verlorene Liebesmüh.« Slobad sah Glissa an. Langsam kroch die Erkenntnis, wer sie war und wo sie waren, in sein vom Schlaf zerknautschtes Gesicht. »Ja. Wir gehen«, sagte er. »Wenn Slobad mehr Zeit hätte, könnte er ihn reparieren. Schade. Großartige Maschine. Noch nie so was gesehen, he? Schade. Brauche mehr Zeit.« »Tut mir Leid«, unterbrach ihn Glissa, »aber wir sollten wirklich gehen. Du kannst eben nicht alles reparieren.« »Hab alles repariert«, sagte Slobad, der unterdessen sein
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Werkzeug einsammelte. »Innen und außen gesäubert. Müsste funktionieren, he? Brauche mehr Zeit, um herauszufinden, was Slobad übersehen hat. Muss etwas übersehen haben. Müsste funktionieren.« »Tja, tut es aber nicht«, sagte Glissa. »Und jetzt sollten wir von hier verschwinden, bevor die Nim zurückkommen.« Sie begab sich zum Eingang und schaute hinaus in den Dunst. Sie konnte nicht weit sehen, aber sie hörte auch nichts Verdächtiges, und der Dross um den Kamin herum lag reglos da. Glissa warf einen Blick zurück zu Slobad. Er starrte immer noch den Golem an, als wollte er ihn mit bloßer Willenskraft zum Leben erwecken. »Komm schon, Slobad«, sagte sie. »Lass gut sein.« »Elfin versteht nicht«, sagte Slobad. »Die Golems sind aus der Vorzeit. Die Golems waren vor den Goblins, den Elfen und überhaupt allem hier, he? Der Golem war für Slobad immer nur ein Mythos, aber jetzt ist er Wirklichkeit. Brauche mehr Zeit.« Glissa ging zu Slobad zurück und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast es doch selbst gesagt«, begann sie. »Das waren nur Mythen und Legenden – Geschichten, die man Kindern erzählt hat –, mehr nicht. Dieses Ding ist vermutlich nur eine alte Nim-Konstruktion, die im Dross verloren gegangen ist. Vergiss das Ding, und lass uns gehen, bevor uns noch eine Nim-Patrouille findet.« Slobad tätschelte kurz die Brust des Riesen und ging dann zum Eingang. Glissa folgte ihm, und gemeinsam traten sie hinaus in den Dross. »Die Gruft müsste dort liegen«, sagte Slobad und zeigte mit dem Finger in eine Richtung. »Bist du dir da sicher?«, sagte Glissa. »Für mich sehen diese
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Kamine alle gleich aus. Ist Ingle schon aufgegangen? Ich kann nirgends einen der Monde sehen.« »Nein, Ingle ist noch nicht aufgegangen, he?«, sagte Slobad. Er zeigte auf einen anderen Kamin, der im Dunst kaum zu erkennen war. »Dort hat Elfin den Nim-Lenker bekämpft. Wir sind von den Rasierklingenfeldern geradewegs hierher gerannt. Die Gruft liegt tiefer im Mephidross, he? Komm, wir gehen.« Glissa wusste nicht so recht. Die Kamine sahen wirklich alle gleich aus. Sie waren von bläulichem Schwarz und gänzlich zerklüftet. Ein paar wiesen große, rötlich orange Stellen blättrigen Metalls auf, das wie die Infektion aussah, die ihr Bein befallen hatte. Die Unterschiede wurden jedoch von der deprimierenden Ähnlichkeit in der tintigen Nebligkeit und dem allgegenwärtigen Dross weit überwogen. Slobad schien über einen natürlichen Richtungssinn zu verfügen, der wahrscheinlich daher rührte, dass er sein Leben lang durch irgendwelche Tunnel gekrochen war. Während Glissa dem Goblin in den Dross folgte, betrachtete sie den Kamin, den sie gerade verlassen hatten, und versuchte, ihn sich einzuprägen. Vielleicht konnten sie ja später hierher zurückkehren, um noch einmal nach dem Golem zu sehen. Als sie wieder nach vorn schaute, erstarrte sie. Was sie für einen weiteren Kamin gehalten hatte, der vor ihnen aufragte, hatte sich gerade bewegt. »Slobad«, flüsterte Glissa. »Hast du das gesehen?« »Was gesehen?«, fragte der Goblin. »Dieser Kamin da«, sagte Glissa. »Er hat sich bewegt.« »Der Nebel lässt verrückte Elfin Gespenster sehen, he?«, sagte Slobad im Weitergehen.
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Der dunkle Schemen im Dunst bewegte sich abermals – bewegte sich auf sie zu –, und Slobad blieb wie angewurzelt stehen. »Jetzt sieht verrückter Goblin Gespenster!«, sagte Slobad und rieb sich die Augen. Der Schemen bewegte sich nun schneller und hielt geradewegs auf sie zu. Wegen des Nebels konnte Glissa nicht feststellen, worum es sich handelte, nur dass es so groß war wie ein Kamin. Sie sah sich nach allen Seiten um, aber da war nichts außer Dunst und Dross, so weit das Auge reichte. Auf keinen Fall konnten sie diesem Ding entkommen, was es auch sein mochte. »Zurück zum Kamin«, rief sie. »Schnell!« Glissa packte Slobad um die Hüfte und hob ihn aus dem Dross. Sie hielt den Goblin wie einen erlegten Vorrac unterm Arm und rannte zurück in die Rich-tung des Kamins. Die riesenhafte Gestalt kam ihnen mit jedem Schritt näher. Glissa war sich nicht sicher, ob sie es rechtzeitig bis zum Kamin schaffen würden. Der Boden bebte unter ihren Füßen, und der Dross umspülte ihre Hüften und machte sie langsamer. Glissa schob sich weiter und warf sich just in dem Moment durch den Eingang in den Kamin, als ihr eine Drosswelle in den Rücken klatschte. Sie sprang auf die Füße und rannte zur Treppe. »Hinter den Golem«, rief sie Slobad zu. »Vielleicht tut er ja jetzt etwas für dich.« Glissa erreichte die Galerie und schaute durch ein Fenster hinaus. Das Monster befand sich direkt vor dem Kamin. Es sah zwar aus wie ein Nim, war aber mindestens sechs Meter groß. Seine gräulich purpurne Haut wirkte ausgemergelt. Sie konnte jede der riesigen Rippen des Ungeheuers aus dem Brustkorb
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ragen sehen. Die Knorpel auf seinem Rücken – die Glissa bei den Nim für ein Ektoskelett gehalten hatte – maßen gut einen Meter in der Höhe und anderthalb in der Breite. Aber es war etwas Seltsames daran. Das Rückgrat sah auf alle Fälle anders aus als die der Nim, die Glissa bislang gesehen hatte. Das Ungetüm glitt um den Kamin herum und spähte dabei in alle Richtungen, als wollte es seine Beute ausfindig machen. Es bewegte sich nun in die Richtung des Kamins, bei dem Glissa auf den Nim-Lenker gestoßen war. Während das Wesen sich entfernte, fiel der Elfin auf, dass es einen langen Stab in Händen hielt. Die Spitze des Stabes bog sich zu einem gefährlich aussehenden Haken. Wenn es nur noch ein bisschen weiterging, dachte Glissa, konnten sie es vielleicht bis zum nächsten Kamin schaffen, um sich dort zu verstecken, bis das Monster verschwand. Das Ungeheuer blieb stehen und schlug mit dem Hakenende des Stabes in den Dross. Als der Haken wieder auftauchte, steckte etwas an der Spitze. Es waren die Überreste des Lenkers. Das riesige Ungetüm hob den Haken nun über seinen Rücken. Mit einem furchtbaren saugenden Geräusch klappten die Rückenknorpel beiseite und offenbarten eine Art Hohlraum. Das Ungeheuer schüttelte den Stab, bis der Leichnam vom Haken rutschte und mit einem grässlichen Platschen in den Hohlraum fiel. Glissa stand wie festgefroren da. Sie beobachtete, wie sich die Öffnung wieder schloss, worauf sich das Ungeheuer umdrehte und durch den Dross zurückstapfte. Es erreichte den Kamin. Sein Gesicht befand sich nun in nächster Nähe vor Glissa. Sie wollte sich umdrehen und davonrennen, aber es war zu spät. Das Ding krachte gegen den Kamin und warf Glis-
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sa von der Galerie. Die Elfin schrie beim Fallen. Sie konnte sich nirgends festhalten, nirgends mit den Füßen abstoßen. Sie stürzte geradewegs in den Tod. Auf einmal endete ihr Sturz sanft. Jemand musste sie aufgefangen haben. Sie schaute auf und sah in das flache Gesicht des Golems. Seine roten Augen waren geöffnet und starrten sie an. Auf seiner Schulter hockte Slobad, der von einem Spitzohr zum anderen grinste. »Was, zum Aufflackern …?«, rief Glissa aus. »Wie …« »Weiß nicht, wie«, sagte Slobad. »Hat sich einfach aufgesetzt und mich angeguckt, he? Wie ich gesagt … habe nur mehr Zeit gebraucht.« Glissa blieb möglichst ruhig. »Ist er ungefährlich?« »Slobad glaubt schon«, sagte der Goblin. »Hab dem Golem gesagt, er soll verrückte Elfin auffangen, he? Hat er gemacht. Siehst du? Dich aufgefangen, he?« »Toll. Sag ihm, er soll uns von hier wegbringen. Los!« Der Kamin erbebte, weil das Ungetüm nun abermals von außen dagegenprallte. »Bevor dieses Ding noch den Kamin über uns zum Einstürzen bringt!« »Golem, lauf«, sagte Slobad und deutete auf den Eingang. Der Golem lief mit Glissa unter dem Arm zum Eingang. Slobad hockte weiterhin auf seiner Schulter. Die Elfin konnte sehen, dass sie nicht alle zugleich durch den schmalen Eingang passen würden. Er war ja kaum groß genug gewesen, um den Golem hereinzuschleifen. Jetzt, wo die Konstruktion aufrecht stand, sah Glissa erst, wie groß sie wirklich war. Als der Golem jedoch den Eingang erreichte, stieß er einfach den anderen Arm vor und durchschlug die Wand. Trümmer regneten auf sie herab, aber sie waren draußen.
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»Golem, renn!«, schrie Slobad. Glissa reckte sich, um einen Blick nach hinten zu werfen. Die riesenhafte Kreatur kam gerade um den Kamin herum. Der Golem verfiel in einen Trab, aber selbst mit seinen langen Beinen konnte er sich nicht schneller durch den Dross bewegen als das sechs Meter große Ungeheuer. Die Kreatur schloss mit jedem Schritt dichter zu ihnen auf. »Ich muss ihn irgendwie aufhalten«, rief Glissa. »Sag deinem Golem, er soll mich absetzen.« »Golem«, rief Slobad. »Fallen lassen.« Sofort fand sich Glissa mit dem Gesicht voran im Dross wieder. Sie stemmte sich auf Hände und Knie hoch und sah sich nach dem Ungetüm um. Sie musste sich sofort wieder in den Dross werfen, um seinem Fuß auszuweichen. Kaum war das Monster an Glissa vorbei, stand sie auf und folgte ihm mit gezücktem Schwert. Sie warf sich mit aller Kraft nach vorn und hoffte, die Klinge in den Schwanz des Ungeheuers stoßen zu können. Aber es bewegte sich so schnell, dass sie es nicht erreichte. »Hilfe!«, schrie Slobad über ihr. Glissa schaute auf und sah, dass der Goblin mit seinem Beutel am Haken des Ungeheuers hing. Der Hohlraum in seinem Rücken öffnete sich, und Glissa konnte nichts tun, außer entsetzt zuzusehen, wie Slobad in die Öffnung fallen gelassen wurde. »Nein!«, schrie sie und stürzte wieder vorwärts. Ihre Stimme veranlasste das Monster, sich umzudrehen und auf sie zuzukommen. Sein Haken schwang in einem Bogen auf Glissa herab, aber sie wehrte ihn mit ihrem Schwert ab, rannte weiter und versuchte, so nahe an das Monster zu
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kommen, dass es mit dem Haken nichts ausrichten konnte. Abermals schlug sie mit ihrem Schwert nach dem Schwanz des Ungetüms. Die Klinge schnitt mühelos durch die blasse Haut und die sehnigen Muskeln des Monsters, blieb jedoch auf halbem Wege durch den Schwanz stecken. Glissa wollte das Schwert herausziehen, um noch einmal zuzuschlagen, aber die Klinge klemmte im Knochen fest und rührte sich nicht. Glissa blickte nach oben und hechtete zur Seite, weil der Haken wieder auf sie zufuhr. Sie wusste, dass sie nicht den ganzen Tag um dieses Ding herumtanzen konnte. Der Dross schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein, und jetzt hatte sie auch keine Waffe mehr. Glissa atmete schwer und überlegte. Wieder tauchte sie in den Dross. Sie versuchte, nach vorn zu schwimmen, aber der Sumpf war zu zäh dazu. Sie kam genau in dem Moment hoch, um Luft zu holen, als der Haken auf sie herabsauste. Plötzlich verharrte die Waffe. Glissa sah auf. Der Golem hatte den Arm des Ungeheuers mitten im Schwung abgefangen. Jetzt wandte das Wesen seine Aufmerksamkeit dem größeren Ziel zu. Es schlug mit der Hand gegen den Golem. Der Golem mühte sich, das Ungetüm nicht loszulassen, als dessen Hand gegen seine metallene Brust hieb. Der Golem schaute Glissa an, seine roten Augen schienen um Hilfe zu flehen. Die Elfenkriegerin rappelte sich hoch und rannte zu ihrem Schwert. Statt es herauszuziehen, sprang sie aber in die Luft und trat mit beiden Füßen nach dem Griff. Auf diese Weise trieb sie die Klinge durch den Knochen auf der anderen Seite heraus und trennte dabei den Schwanz in zwei Hälften. Glissa landete auf den Füßen und hechtete nach ihrem Schwert. Hinter ihr versuchte das Monster wankend, sein Gleichgewicht zu
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wahren. Glissa packte ihr Schwert und machte kehrt, um dem Golem beizustehen. Er schien mit der Hand, die den Haken hielt, zu ringen, aber als Glissa näher kam, hörte sie etwas brechen und sah, wie sich der Haken wieder hob. Ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte, fuhr der Haken kraftvoll herab und schlitzte durch den ausgemergelten Bauch des riesigen Monsters, Eiter und Eingeweide brachen explosionsartig aus dem Rücken des Ungetüms und übersäten den Dross um Glissa herum mit einem stinkenden Regen aus Blut. Das Ungeheuer stürzte in den Matsch, in zwei Hälften gespalten durch einen Hieb mit seinem eigenen Haken. Der riesige Metallmann stand da und hielt die Waffe, wirkte jedoch so ruhig wie in dem Moment, als Glissa und Slobad ihn aus dem Dross gezogen hatten. »Golem«, rief Glissa, »heb ihn auf!« Der Golem trat vor, hob den Torso des Ungetüms aus dem Dross und drehte ihn um. Glissa schnitt unterhalb der Knorpel in den Rücken und stemmte den Hohlraum auf. Ein Schwall säurehaltigen Saftes ergoss sich aus der Öffnung, zusammen mit Slobad und einer Anzahl nur teilweise verdauter Leichen. Slobad war mit rotem Schleim bedeckt, und der Trageriemen seines Beutels hatte sich vollständig aufgelöst. Glissa half dem Goblin auf die Füße. »Bist du in Ordnung?« Slobad nickte. »Das machen wir aber nicht mehr, he? He?« Er musterte seinen Beutel. »Brauche einen neuen Riemen. Muss einen Strick abschneiden. Dolch holen …« »Später«, sagte Glissa. »Erst mal überzeugen wir uns, dass dir wirklich nichts fehlt.« Slobad sah zu der Hälfte des Ungetüms hinauf, die der Golem in Händen hielt. »Wie hast du …?«
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Glissa schüttelte den Kopf. »Das war dein Golem«, sagte sie. »Er scheint sich nun doch noch als recht nützlich zu erweisen.« Der Golem ließ die Hälfte des Monsters fallen, und im selben Augenblick sah Glissa, wie irgendetwas hinter einen der Kamine schoss. »Golem«, sagte sie und streckte den Finger aus, »hol!« Slobad wollte schon widersprechen, aber Glissa warf ihm einen Blick zu, worauf er verstummte. Kurz darauf kehrte der Golem zurück und hielt einen Mann im Genick gepackt. Die Augenpartie und Stirn des Mannes waren mit einer Metallhaube bedeckt, die ihn eher wie einen Nim aussehen ließen als wie ein humanoides Wesen. Glissa erinnerte sich, dass der Nim-Lenker eine ähnliche Haube getragen hatte, nur hatte der sie nach hinten gezogen gehabt. Die Elfin schob ihm die Haube aus dem Gesicht. Sein zerfranster Mund war verzerrt, und sein knochiger Leib zitterte, während er im Griff des Golems baumelte. »Wer bist du?«, fragte sie ihn. »Was tust du hier?« »Yert. Ich heiße Yert«, stieß er hervor, und dann begann er zu heulen. Als das Schluchzen zu einem Wimmern wurde, bedeutete Glissa dem Golem, ihn fallen zu lassen. Kaum war er in den Dross gestürzt, eilte der Mann zu dem gefällten Ungetüm und begann wieder zu heulen. »Sie hat dich getötet, mein Schatz«, jammerte er. »Ist das dein … Monster?«, fragte Glissa. Der Mann sah zu ihr auf. »Das ist kein Monster«, sagte er. »Es ist… es war ein Schnitter, der gefürchteste Vollstrecker im Mephidross. Ohne ihn bin ich nichts. Ich werde nie einen anderen bekommen. Ohne ihn bin ich wertlos. Töte mich.«
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»Später vielleicht«, sagte Glissa und schüttelte den Kopf über diese jämmerliche Gestalt. »Erst erzählst du mir, wer dich geschickt hat. Dann lass ich dich vielleicht sterben.« »Geth«, sagte der Mann. Er schniefte. Glissa fragte sich, wie ein derart erbärmliches Wesen die Beherrschung eines Monsters erlangen konnte. »Geth sagte: ,Töte den Goblin. Bring mir die Elfin.’ Von einem riesigen Metallmann hat er nichts gesagt.« »Wer ist Geth?«, fragte Glissa. »Und was will er von uns?« Es war zu spät. Yert schluchzte schon wieder haltlos. Glissa würde nichts aus ihm herausbekommen, bis er sich beruhigt hatte. Unterdessen warf er sich über den Leichnam des Schnitters. Glissa schaute zu Slobad hinüber, der aber nur die Achseln zuckte. Sie ging neben dem törichten Beherrscher des Monsters in die Knie und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Pass auf«, sagte sie. »Bring uns einfach zu diesem Geth, dann werden wir dir helfen. Wir werden ihn zwingen, dir einen anderen … Schnitter zu geben, einverstanden? Sag uns nur, warum Geth uns haben will.« Yert schauderte, dann wischte er sich über die Augen. Er sah Glissa an. »Das würdet ihr für mich tun?« Glissa nickte. »Wir versuchen hier doch alle nur zu überleben, oder?«, sagte sie. »Wir befolgen nur Befehle. Sag uns, warum Geth uns haben will, und wir werden dir helfen.« »Das kann ich euch aber nicht sagen«, antwortete er schniefend. »Ich weiß es nämlich nicht. Geth gibt nur die Befehle, und wir hinterfragen unsere Anführer nicht. Wir befolgen Befehle, sonst werden wir in den Dross verbannt. Ich kann euch aber zu ihm bringen. Dann könnt ihr ihn selbst fragen.«
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Glissa seufzte. »Na schön. Und wo ist dieser Geth?« »Er ist in der Gruft des Geflüsters.«
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Kapitel 10
DIE GRUFT DES GEFLÜSTERS
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er dunkle Mond – die »Sonne«, in der laut Slobad die Seelen gelagert wurden und die er Ingle nannte – hing wie ein riesiges Himmelsloch über der Gruft des Geflüsters. Die Spitze des gewaltigen Kamins war in den allgegenwärtigen Dunst des Mephidross gehüllt. Eine zähe purpurne und grünliche Flüssigkeit ergoss sich wie ein Wasserfall über eine Seite der Gruft. Die Quelle lag irgendwo im Nebel verborgen. Der Rest der Gruft sah aus wie von Säure verätzt. Ein Netz aus miteinander verbundenen Linien und Spiralen hatte sich hineingefressen. Das Netzwerk um die Gruft pulsierte ganz ähnlich den Kamins. Glissa spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sie das düstere Gebilde betrachtete. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Gruft auf irgendeine Weise lebte. »Willst du das auch wirklich tun, he?«, fragte Slobad noch einmal. »Sieht gefährlich aus. Könnte Falle sein. Muss Falle sein, he? Sehr gefährlich.« »Deshalb werdet ihr zwei auch hier draußen bleiben«, sagte Glissa. »Falls ich nicht zurück bin, wenn Ingle hinter der Gruft verschwindet, kommst du mit dem Golem rein und holst mich raus.«
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Slobad nickte. »Lasst euch also möglichst nicht blicken, bis ich wieder da bin«, sagte Glissa, während sie Yert auf den Kamin zudrängte. Die Reise zur Gruft des Geflüsters war dank Yerts Führung und der langen Beine des Golems zügig vonstatten gegangen. Und jetzt würde der schniefende kleine Mann sie in Geths Quartier führen. »Hier«, sagte Glissa und reichte Yert ihr Schwert. »Nimm das. Dein Befehl lautete, die Elfin zu Geth zu bringen. Und genau das wirst du tun.« Unbesorgt ging sie an ihm vorbei. Der kleine Mann konnte das Schwert kaum halten, geschweige denn damit zuschlagen. Die beiden gingen durch den Dross auf die Gruft zu. Yert dirigierte sie zu dem widerlichen Wasserfall, und ihre Besorgnis nahm zu. Die Flüssigkeit würde sie gewiss blind machen, wenn sie hindurchging. Führte Yert etwas im Schilde? Als sie näher kamen, sah sie jedoch den Pfad, der hinter dem Wasserfall verborgen auf eine dunkle Öffnung zuführte, die von zwei Nim bewacht wurde. Sie traten ein. Glissa musterte die beiden Wachen und hielt sich bereit, sich ihr Schwert zurückzuholen, sollte einer der beiden sie angreifen. Aber keiner der Nim rührte sich vom Fleck. Sie starrten geradeaus und schienen auf einen Befehl zu warten. Glissa und Yert betraten eine große Halle, die sich über die ganze Länge der Gruft zu erstrecken schien. Über sich sah Glissa die Wände im Dunst verschwinden, der hier genauso dicht in der Luft hing wie draußen. Ein paar Nim liefen umher, alle offenbar mit einer Aufgabe betraut. Die meisten trugen irgendeinen Gegenstand vor sich her und schlurften in gerader Linie hin und her, erschienen aus dunklen Öffnungen, die die Wände der Halle säumten, und verschwanden
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wieder darin. Auch ein paar Lenker gingen in der Halle umher. Hier in der Gruft hatten sie ihre Hauben zurückgeschoben, sodass Glissa ihre Gesichter erkennen konnte. Doch selbst ohne die Hauben sahen diese Männer mehr wie Nim als wie Menschen aus. Viele der Lenker wurden von Nim begleitet. Glissa sah sogar einen, der einen Schnitter mit sich führte. Dieser Lenker blieb nun mitten in der Halle für einen Moment stehen, um das seltsame Duo zu betrachten. Glissa war schon drauf und dran, Yert ihr Schwert wieder abzunehmen, aber schließlich zog der Mann unverrichteter Dinge weiter. Sie folgte ihm mit ihrem Blick, bis er die Gruft verlassen hatte. »Warum stellt uns niemand Fragen?«, wollte Glissa wissen. Keiner der Lenker schien in Yerts Angelegenheiten verstrickt werden zu wollen, aber Glissa wusste, dass ihr Täuschungsmanöver nicht so überzeugend sein konnte. Sie konnte hören, wie das Schwert hinter ihr über den Boden klapperte, und ebenso vernahm sie Yerts gelegentliches Schniefen. »Wie gesagt, wir tun, was man uns aufträgt«, antwortete Yert. »Wir befolgen Befehle. Weniger zu tun, würde Geths Zorn wecken. Mehr zu tun, würde Geths Macht beleidigen.« Die Lenker unterscheiden sich also nicht allzu sehr von den Nim und den Schnittern, stellte Glissa fest. Sie tun nichts anderes als das, was man ihnen befiehlt. »Hat denn niemand den Befehl, die Gruft vor Eindringlingen zu bewachen? Macht Geth sich keine Sorgen um seine Sicherheit?« »Geth herrscht über das furchtbarste Ungeheuer im Mephidross«, sagte Yert. »Magie schützt ihn vor Eindringlingen.« Glissa blieb stehen. »Und wann wolltest du mir davon erzählen?«, fragte sie ungehalten. Ein paar der anderen Lenker
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waren stehen geblieben, um dem Dialog zu lauschen, weshalb Glissa. nun die Stimme senkte. »Wie schützt er sich? Und was ist das genau für eine Kreatur?« »Es gibt eine magische Barriere, die Feinde daran hindert, sein Quartier mit Waffen zu betreten.« »Und die Kreatur?« »Ist ein Vampir.«
$ Sie hatten die große Halle fast zur Hälfte durchquert. Nim und Lenker schlenderten zu beiden Seiten hin und her. Glissa war jetzt schon zu weit in die Gruft vorgedrungen, um sich ihren Weg nach draußen freizukämpfen. Sie würde es jedenfalls nicht tun, bevor sie sich nicht mit Geth auseinander gesetzt hatte. »Schön«, sagte sie. »Und wo ist Geth?« Yert zeigte auf einen Durchgang vor ihnen, der mindestens doppelt so groß war wie die anderen. Seine Ränder leuchteten schwach. Das, dachte Glissa verzagt, kommt eben davon, wenn man schlau sein will. Wenn Yert mit ihrem Schwert nicht durch die Barriere gelangte, würde sie waffenlos einem Vampir gegenüberstehen. Aber sie musste das Risiko eingehen. Sie brauchte Antworten, und die lagen hinter dieser Tür. Sie passierten den Durchgang, aber weder ihr noch Yert geschah etwas. Und vor ihr, das musste Geth sein. Er entsprach ganz und gar nicht dem, was Glissa erwartet hatte. Bislang hatten alle Bewohner des Dross gleich ausgesehen – ausgemergelt, mit stumpfer grauer Haut und Rücken-
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schilden oder Hauben aus Metall, mit denen sie ihr Gesicht verbargen. Und jene Gesichter, die sie gesehen hatte, zeigte verzerrte Züge und Münder, die wie Wunden wirkten. Geth sah beinahe humanoid aus. Seine Haut hatte noch was Farbe und Leben in sich. Er trug keine Haube, und einzige Andeutung eines Rückenschilds war ein Metallstreifen, der von seinem Hinterkopf aus in den Falten der grauen Kutte verschwand, die er trug. Er saß auf einem Metallthron und blickte Glissa grinsend an, als hätte er ihr Kommen irgendwie erwartet. Hinter ihm stand ein großes Wesen mit grauer Haut, dikkem Hals und einer kräftigen Brust. Es trug eine lange schwarze Robe, und Glissa konnte bis auf das Gesicht kaum etwas von ihm sehen. Die tief liegenden Augen reflektierten kein Licht. Auf der bloßen Stirn glühte ein geheimnisvolles purpurnes Zeichen. Blutrote Schläuche verliefen von seinen Mundwinkeln in die Robe hinab. Als Glissa sich dem Thron näherte, grinste der Vampir höhnisch und entblößte gelbe Zähne, die wie spitze Nägel aussahen. »Gut, Yert«, sagte Geth. »Ich hatte nicht erwartet, dass du so früh zurückkehren würdest … und so erfolgreich.« »Nicht so erfolgreich, wie du vielleicht glaubst«, sagte Glissa. Mit einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte sie herum, sprang hinter Yert, schnappte sich ihr Schwert und drückte die Schneide der langen Klinge gegen den Hals des schniefenden Mannes. »Erwartest du etwa, dass ich jetzt Angst habe, kleine Elfin?«, sagte Geth. Der Herrscher der Gruft hatte trotz des Plötzlichen Rollentausches nicht einmal gezuckt oder gar geblinzelt. »Nein, ich erwarte, dass du mir sagst, was du von mir
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willst.« »Und wenn ich das nicht tue?«, sagte Geth, der immer noch lächelte. »Wenn du nicht anfängst zu reden«, antwortete Glissa, »dann töte ich Yert.« Geth lehnte sich auf seinem Thron vor und sah Glissa in die Augen. »Töte ihn ruhig. Er ist nur ein Geschwür auf der Oberfläche des Dross. Ich habe hunderte Yerts.« Vergebens versuchte Glissa in Geths Augen irgendetwas zu lesen, aber entweder sagte er die Wahrheit, oder er war schlicht kalt und berechnend. Irgendwie war das aber auch einerlei. Sie starrte ihn noch einen Augenblick lang an, dann stieß sie den Lenker gegen die Wand hinter sich. Yert schlug mit dem Kopf gegen die Mauer und sackte bewusstlos zu Boden. Glissa wandte sich wieder dem Thron zu. »Und wie viele Geths hast du?« Geth klatschte in die Hände. Der Vampir stand hohngrinsend hinter dem Herrscher. »Gut gemacht«, sagte der Herr der Gruft. »Ein geringeres Wesen ließe sich von deiner Demonstration vielleicht sogar einschüchtern.« »Er hat mich eigentlich gebeten, ihn zu töten«, sagte Glissa. »Ich hätte es sogar getan, wenn er es verdient hätte. Verdienst du vielleicht den Tod? Oder willst du mir lieber erzählen, warum du mich töten lassen wolltest?« »Ich wollte dich nicht töten lassen«, sagte Geth. »Ich hatte gehofft, dein Leben für einen größeren Preis eintauschen zu können, aber dich zu fangen erwies sich als zu aufwändig. Jetzt wird es mir ein Vergnügen sein, dich zu töten. Erwarte keine Gnade von mir.« Geth schnippte mit den Fingern, und der grünhäutige Vampir ließ seine Robe zu Boden fallen. Die
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Brust der Kreatur war in der Tat breit, seine Arme jedoch sahen aus, als wäre Haut über blanke Knochen gezogen worden. Die Schläuche aus dem Mund des Vampirs verliefen über seine Schultern und wanden sich an beiden Armen bis zu den Handgelenken hinab, wo sie in metallene Sensen mündeten. Ohne Vorwarnung sprang der Vampir hinter dem Thron hervor und warf sich auf Glissa, wodurch sie beide sofort zu Boden gingen. Mit den Knien drückte er ihr die Beine zusammen und schlug dann die Klinge beiseite, die Glissa nach ihm schwang. Bevor sie das Schwert zu einer weiteren Attacke heben konnte, packte der Vampir sie am Handgelenk und drückte zu, bis sie die silberne Klinge fallen ließ. »Um deine Frage zu beantworten«, sagte Geth von seinem Thron aus, »es gibt nur einen Geth, weil es nur einen Vampir im Mephidross gibt. Ich beherrsche den Dross, weil ich den Vampir beherrsche.« Der Vampir hob den Arm und rammte die Sense mit der Spitze voran in Glissas Schulter. Die Elfin schrie erst vor Schmerz und dann vor Entsetzen auf, als sie sah, wie Flüssigkeit durch den Schlauch aufstieg und zur Schulter der Kreatur hinauffloss. Der Vampir saugte ihr Blut ab! Schwäche überkam sie. Sie hob die freie Hand und schlug dem Vampir damit ins Gesicht, aber es war, als würde sie den Golem schlagen. Sie packte das Handgelenk des Vampirs und versuchte, die Metallspitze aus ihrer Schulter zu ziehen, aber er war zu stark. Ihr wurde kalt, und ihr Blick verschwamm. Sie sah, wie ihr Leben durch den Schlauch entschwand, konnte aber nichts dagegen tun. Sie schlug nach dem Arm, aber die Kreatur war zu stark, und sie selbst wurde immer schwächer. Dann ertastete sie ei-
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nen dünnen Schlauch, der aus der Spitze der metallenen Sichel kam. Sie umfasste ihn mit ihren Krallen und zog. Zunächst rührte sich der Schlauch um keinen Deut, und Glissa verlor schon die Hoffnung, aber einen Moment später spürte sie, wie er sich doch ein bisschen bewegen ließ. Sie sah auf und suchte in den Augen des Vampirs, ob er irgendetwas merkte, aber er genoss das Töten zu sehr, als dass er sich um etwas anderes kümmerte. Glissa zog mit all ihrer Kraft. Stück um Stück rutschte der Schlauch aus seiner Befestigung. Und plötzlich löste er sich ganz. Der Schlauch peitschte durch die Luft, und das Blut spritzte nur so über Glissa und den Vampir. Der Vampir brüllte auf, weil ihm das Blut nun nicht länger in den Mund floss. Glissa nutzte die Gunst des Augenblicks. Sie wickelte den gelösten Schlauch um ihr Handgelenk und zog daran wie an einem Seil. Mit dem gespannten Schlauch riss sie den Kopf des Vampirs brutal nach hinten. Das Wesen fiel von Glissa herunter, wobei sich auch die Sense aus ihrer Schulter löste. Glissa rollte herum und griff nach ihrem Schwert. Sie kam auf die Knie und schlug kraftvoll nach dem Handgelenk des Vampirs. Das Schwert durchtrennte die Sense und schnitt dann durch das Handgelenk der Kreatur. Der Vampir brüllte vor Schmerz. Das schwarze Blut des Vampirs ergoss sich aus seinem Armstumpf und vermischte sich mit Glissas rotem Blut zu einer braunen Lache. Glissa rappelte sich von den Knien hoch und stellte den Fuß auf den unversehrten Arm des Vampirs. Sie fühlte sich ein bisschen wacklig auf den Beinen, versuchte aber, sich keine Schwäche anmerken zu lassen. »Und jetzt«, sagte Glissa bedächtig und sah zu Geth auf, »er-
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zählst du mir, was ich wissen will, sonst schneide ich ihm auch noch den anderen Arm ab. Du hast selbst gesagt, dass es nur einen Vampir gibt, und ich werde ihm nicht die gleiche Gnade erweisen wie Yert.« »Er verblutet«, keuchte Geth, der sorgenvoll auf den Armstumpf seines Vampirs blickte. »Dann rede schnell«, sagte Glissa. »Warum hast du meine Familie umgebracht?« »Ich habe deine Familie nicht umgebracht«, sagte Geth. »Bis vor ein paar Umkreisungen wusste ich noch nicht einmal deinen Namen. Wir wurden dafür bezahlt, dich und den Führer der Leoniden anzugreifen.« »Wer bezahlte euch? Wie heißt derjenige?« »Das habe ich nie erfahren«, knurrte Geth. Er blickte Glissa an und dann wieder hinab auf seinen blutenden Vampir. »Lass mich seinen Arm verbinden, dann erzähle ich dir alles, was ich weiß. Wenn er aber stirbt, verrate ich dir überhaupt nichts!« Glissa schüttelte den Kopf. »Derjenige, der dich bezahlt hat«, sagte sie und dachte an die Gestalt, die sie und Raksha in der Nacht des Angriffs der Gleichmacher gesehen hatten. »Trug er eine graue Kutte und hatte einen birnenförmigen Kopf?« »Ich weiß es nicht«, knurrte Geth. Der Schweiß lief ihm nur so über die Stirn. »Ich habe ihn nie gesehen. Meine Anweisungen und die Bezahlung wurden mir von fliegenden Artefakten zugestellt – Silbervögeln mit kugelförmigen Köpfen ohne Schnäbel. Den, der sie kontrolliert, habe ich nie kennen gelernt. Für den Angriff auf Taj Nar habe ich zehn Phiolen mit Serum erhalten. Für deine Ermordung sollte ich fünfundzwanzig bekommen. Ich dachte, ich könnte neu verhandeln, wenn ich dich lebend fange.«
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»Warum sollte ich dir glauben?«, sagte Glissa. Sie verstärkte den Druck auf den Arm des Vampirs etwas, und ein neuerlicher Schwall schwarzen Blutes ergoss sich auf den Boden. »Der Beweis ist in meinem Thron«, schrie Geth. »Und jetzt lass mich meinem Vampir helfen, sonst hetze ich dir die gesamten Streitkräfte der Gruft auf den Hals!« Es war zu spät. Der Vampir hörte auf, sich am Boden zu winden, und die Blutung versiegte. Geth sprang von seinem Thron und stürzte vorwärts. Glissa schlug ihm den Griff ihres Schwerts ins Gesicht. Etwas knackte, und dann fiel Geth vor ihr zu Boden. Glissa trat Geth gegen die Brust, um sicher zu sein, dass er wirklich bewusstlos war, und ging dann, zufrieden, dass er keine Bedrohung mehr darstellte, zu seinem Thron hinüber. Was war das für ein Serum, das er da erwähnt hatte? Ein Fach in der Armlehne enthielt eine durchsichtige Phiole, die mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt war; das Fläschchen war nicht größer als ihr Daumen. »Hmmpf«, machte Glissa. »Für einen so geringen Preis hast du wahrlich eine Menge Ärger angerichtet. Ich nehm das mal mit, wenn es dir nichts ausmacht.« Geth schwieg. Glissa ließ die Phiole in die Dolchscheide in ihrem Stiefel rutschen, dann trat sie über den Herrn der Gruft und seinen Vampir hinweg. Aus dem Armstumpf des Vampirs floss noch ein letztes dünnes Rinnsal schwarzen Blutes. Ich möchte nicht noch einen Feind zurücklassen, dachte Glissa. Sie kniete neben dem Vampir nieder. Das Schwert in der einen Hand und sowohl Geth als auch dessen Kreatur im Auge behaltend, beschwor Glissa die Macht der fernen Bäume. Eine
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Kugel aus grüner Energie füllte ihre Handfläche, die sie sofort auf das Handgelenk des Vampirs niederdrückte. Das Gelenk leuchtete einen Moment lang grün auf, während sich die Wunde schloss. Glissa zog die Schläuche aus dem Mund des Vampirs, band Geth Hände und Beine nach hinten und knebelte ihn auch damit. Dann ging sie zu Yerts regloser Gestalt hinüber und rüttelte ihn wach. Sie hielt ihm die Spitze ihres Schwerts an die Kehle und einen Finger auf ihre Lippen. Yert nickte zum Zeichen, dass er verstand. Glissa ging zurück zu Geth und schlug dem Anführer ein paarmal ins Gesicht, bis er die Augen öffnete. »Ich hätte dich töten können«, sagte sie, »aber ich glaube nicht, dass du meine Familie umgebracht hast.« Hinter Geths Augen tobte ein wildes Feuer, während er an seinen Fesseln zerrte. »Ich habe deinen Vampir geheilt, damit du weiter über den Mephidross herrschen kannst, aber ich rate dir, niemals zu vergessen, wer dir das Leben gerettet hat, Geth. Suche dir deine Verbündeten in Zukunft etwas sorgfältiger aus. Verstehen wir uns richtig?« Der gefesselte Anführer blickte Glissa an, nickte aber nicht. »Komm her, Yert«, sagte Glissa. »Der gute Yert hat seinen Schnitter verloren. Entweder willigst du ein, deine Nim innerhalb deiner Grenzen zu halten, oder ich lasse dich gefesselt hier zurück und übertrage Yert die Verantwortung, wenn ich gehe.« Geth starrte sie noch einen Augenblick lang an, dann nickte er schließlich doch. Glissa zog ihm die Schläuche aus dem Mund. »Ich werde weder dir noch dem Anführer der Leoniden
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etwas zuleide tun«, sagte er. »Gut«, sagte Glissa. »Ich glaube dir. Aber eines noch: Du solltest schnellstmöglich einen neuen Schnitter für Yert finden. Er ist dir treu ergeben.« Geth nickte abermals. »Du kannst mir vertrauen.« »Ich sagte, ich glaube dir. Aber ich vertraue dir nicht.« Glissa schob ihm daraufhin die Schläuche wieder in den Mund und hieb ihm den Knauf ihres Schwerts gegen die Stirn, damit er wieder bewusstlos wurde. Anschließend gab sie Yert ihr Schwert zurück und drängte ihn durch die verzauberte Tür. Glissa folgte dem Lenker in die Haupthalle. Die Nim verrichteten nach wie vor ihre niederen Aufgaben und schenkten ihr keine Beachtung. Sie entriss dem jungen Lenker schließlich wieder ihr Schwert und rannte in Richtung des Eingangs. Rufe wurden hinter Glissa laut, als sie den Wasserfall erreichte. Die Nim-Wachen wandten sich um, waren aber zu langsam. Glissa schnitt sie in zwei Hälften, ohne innezuhalten. Sie wich dem trüben Wasservorhang aus und rannte in den Dross. Jeder Schritt brachte sie ihren Gefährten näher und weiter weg von der Gefahr. Als sie sich dem Kamin näherte, wagte sie es endlich, nach hinten zu schauen, und war überrascht, dass ihr niemand folgte. Was sie jedoch stattdessen sah, ließ sie auf der Stelle stehen bleiben. Dort, genau am Rand der Gruft des Geflüsters, stand die Gestalt aus dem Knäuel. Der birnenförmige Kopf des Fremden reflektierte das matte Licht des pulsierenden Gebäudes. Über ihm schwirrten zwei vogelartige Kreaturen hin und her; das schwache Licht schimmerte auf ihren blauhäubigen Köpfen. »Slobad! Golem!«, schrie sie. »Kommt her, schnell!«
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Ihre Gefährten erschienen im Eingang des Kamins, aber bevor die beiden sie erreichten, spürte Glissa, wie sich eine allzu vertraute Dunkelheit um sie schloss. »Bitte nicht jetzt«, stöhnte sie und fiel dann mit dem Gesicht voran in den Dross.
$ Als Glissa aufsah, befand sie sich nicht mehr im Mephidross. Anstatt purpurfarbenen Schleimes und grünen Nebels sah sie braunen Erdboden und grüne Pflanzen. Anstatt zerklüfteten Kamins war sie von hohen Bäumen umgeben, die sich einem gelben Mond entgegenstreckten … nein, einer Sonne. Ja, das war ohne Zweifel eine Sonne. Ihr Glanz schmerzte Glissa in den Augen, als sie direkt hinsah. Sie erhob sich. Sie war wieder in jenem Wald, den sie aus dem Aufflakkern kannte. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte – grün und golden, hell und warm. Wassertröpfchen hingen an dem Moos und den Blumen zu ihren Füßen und glitzerten in den hellen Strahlen des Sonnenscheins, der, von den Blättern gefiltert, herabfiel. Das Metall an ihren Armen und Beinen war verschwunden. Stattdessen war sie in Ranken und Blätter gehüllt. Sie empfand Ruhe, die Aufregung des Dross schmolz von ihr ab, zusammen mit der Erinnerung an ihr anderes Leben. Sie gehörte hierher. Sie setzte sich in Bewegung. Eine innere Stimme lockte sie. Ihre innere Gelassenheit wurde mit einem Mal von Furcht abgelöst, aber Glissa wusste, dass sie nicht umkehren konnte. Ihre Bestimmung lag vor ihr. Nach einer Weile wichen die Bäume einer Lichtung. Im Hain sah sie viele Elfen, die in Ranken und Blätter gekleidet waren. An den Rändern erschienen noch mehr, und sie gingen ohne ein Wort oder auch nur eine Regung auf ein hel-
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les Leuchten inmitten der Lichtung zu. Glissa spürte, wie ein Gefühl des Verderbens über sie kam, als sie die Kugel aus Licht ansah. Die Kugel gehörte nicht in den Wald. Es gehörte nicht in diese Welt. Glissa versuchte stehen zu bleiben, zurückzuweichen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie hob die Hände, um ihre Augen zu beschirmen, und rief: »Nein! Halt. Geh weg!«, aber es war zu spät. Die Lichtkugel blitzte auf und dehnte sich aus, um anschließend die gesamte Lichtung zu vereinnahmen. Glissa fiel. Und die Körper der anderen Elfen, nur Silhouetten in dem strahlenden Licht, fielen mit ihr.
$ Glissa war wieder im Mephidross, in Schlamm gebadet. Sie sah auf und schaute in das Gesicht des Golems, und Slobad lugte dahinter hervor. Sie wurde durch den Dross getragen. »Wieder wach, he?«, sagte Slobad. »Verrückte Elfin sucht sich komischen Zeitpunkt für ein Nickerchen aus. Mit dem Gesicht in den Dross gefallen, he? Nicht gut. Slobad weiß das, he? Slobad weiß das.« »Es war ein Aufflackern«, sagte Glissa. »Eine Vision, die wir Elfen haben.« Sie warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wo sie hingingen, konnte die Gruft des Geflüsters jedoch nicht mehr ausmachen. »Wo sind wir? Was ist mit dem Fremden geschehen?« »Wir haben nichts gesehen, nur dass du in den Dross gefallen bist«, sagte Slobad. »Plumps. Mit dem Gesicht voran. Zum Glück hast du uns gerufen, sonst wärst du noch dort, he? Der Golem hat dich herausgezogen, und wir sind jetzt auf dem
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Weg zurück zur Glimmerleere.« Glissa wollte sich aus dem Griff des Golems befreien. »Nein!«, sagte sie. »Wir müssen noch mal zurück. Ich habe die Gestalt aus dem Knäuel gesehen, den Fremden aus Ushantis Vision. Über ihm sind silberne Vögel geflogen, genau wie die, die Geth beschrieben hat.« In aller Kürze erzählte Glissa, was sie von dem Herrn der Gruft erfahren hatte. »Die Nim sind aus der Gruft geschwärmt, nachdem du hingefallen bist«, sagte Slobad. »Plumps. Mitten rein in den Dross. Keine Gestalt in einer Kutte und keine Silbervögel, he? Nur eine Menge Nim und noch ein Schnitter. Schlecht, wenn wir geblieben wären, he? Mussten gehen.« »Du hast Recht, natürlich«, sagte sie. »Tut mir Leid, Slobad. Und wenigstens habe ich das.« Glissa zog die Phiole mit dem Serum aus ihrer Dolchscheide und zeigte sie dem Goblin. »Was ist das, he?« »Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen. Das war der Lohn, den Geth für seinen Angriff auf Taj Nar erhalten hat. Du hast so etwas noch nie gesehen? Geth nannte es Serum.« Kaum hatte Glissa das Wort ausgesprochen, blieb der Golem stehen. Glissa fiel dem Metallmann wegen des plötzlichen Stopps beinahe von der Hand. Sie sah nach oben in das Gesicht des Golems. Seine Augen waren schmäler geworden. Er starrte die Phiole in ihrer Hand an. »Was ist, Golem?«, fragte Glissa. »Was ist los?« »Memnarch«, sagte der Golem. Glissa blickte den Golem an. »Hat er gerade gesprochen?«, sagte sie zu ihm. »Ja«, sagte Slobad. »Hat er das schon mal getan?« Slobad schüttelte den Kopf. »Nein.« »Und was bedeutet deiner Meinung nach ,Memnarch’?«,
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fragte Glissa. »Ich weiß nicht.« »Tja.«
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Kapitel 11
RISHAH
D
ie Reise nach Taj Nar verlief schnell und ereignislos. Obgleich er Slobad und Glissa zu tragen hatte, kam der Golem doppelt so schnell voran, wie Glissa es zu Fuß gewesen wäre. Der Metallmann kannte keine Müdigkeit. Am Morgen erreichten sie den Rand des Rasierklingenfelds, ohne unterwegs auf Widerstand gestoßen zu sein. Einige Male sah Glissa zwar Gruppen von Nim, aber jedes Mal änderten diese beim Näherkommen ihren Kurs und schwenkten ab. Vielleicht hatte Geth ihre Worte ja beherzigt. Vielleicht wurde er auch nur nicht mehr bezahlt und ließ deshalb von ihr ab. Wie auch immer, Glissa war froh, dass sich eine Auseinandersetzung vermeiden ließ. Nachdem sie den Dross verlassen hatten, bewegte sich der Golem natürlich noch schneller. Die Reise dauerte nur eine Umkreisung. Der Golem war nach seiner bislang einzigen Äußerung stumm geblieben, und als sie in Taj Nar anlangten, war Glissa der Lösung des Rätsels um das Serum und das Wort »Memnarch« um keinen Deut näher, als sie es beim Verlassen des Mephidross gewesen war. »Vielleicht weiß Raksha, was dieses Serum ist, he?«, meinte Slobad, als sie über den Hügel stiegen, der Taj Nar umlief.
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»Ich bin mehr daran interessiert, mit Ushanti darüber zu reden«, sagte Glissa. »Diese Phiole ist irgendwie etwas Magisches.« Als sie Taj Nar erreichten, stand das Tor offen. Als die Wachen Glissa und Slobad auf dem Golem reiten sahen, gingen sie sofort in Stellung und zogen ihre Waffen. »Halt!«, sagte einer. »Kommt nicht näher. Wer seid ihr?« Glissa sprang von den Händen des Golems herab und machte eine tiefe Verbeugung. »Ich bin Glissa aus dem Knäuel, und das ist Slobad«, sagte sie, davon ausgehend, dass der Goblin noch auf den Schultern des Golems hockte. »Wir kommen aus dem Mephidross und bringen Nachricht für Raksha.« »Oh, selbstverständlich. Eure Namen sind uns bekannt«, sagte der Wächter. »Ihr seid willkommen. Raksha wird euch sofort empfangen. Aber dieses Wesen ist uns nicht bekannt. Es darf Taj Nar nicht betreten.« Glissa runzelte die Stirn. »Der Golem?«, sagte sie. »Der tut keinem was. Im Gegenteil, dieser Metallmann hat uns im Dross das Leben gerettet. Ich bürge für ihn.« »Ich bitte um Verzeihung«, sagte der Wächter. »Aber unsere Befehle sind unmissverständlich. Du und der Goblin, ihr beide dürft eintreten. Sonst niemand.« »Aber, aber«, sagte Glissa. »Glaubt ihr denn, ihr würdet noch hier stehen, wenn der Golem nicht harmlos wäre? Er könnte euch in Stücke reißen, bevor ihr euch auch nur vom Fleck rührt …« Slobad hustete hinter Glissa und ließ sie mitten im Satz abbrechen. Sie sah sich nach ihm um, und er bedeutete ihr mit einer Geste, still zu sein. »Kein Problem, he?«, sagte Slobad und blinzelte Glissa zu.
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»Slobad bleibt mit dem Golem hier. Du redest mit Raksha, he? Kein Problem.« Glissa holte tief Luft und nickte. Als der Wächter sie in die Stadt vorließ, dachte sie darüber nach, wie merkwürdig ihr Trio wirken musste – eine Elfin, ein Goblin und ein Golem, die vor einem birnenköpfigen Mann davonliefen. Und vielleicht war sie mit dem Vertrauen, das sie anderen entgegenbrachte, ja doch etwas zu voreilig. Was wusste sie denn schon Genaues über Slobad und den Golem? Andererseits hatten ihr beide das Leben gerettet. Es musste ja nicht unbedingt immer jeder gleich ein Feind sein. Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als der Wächter sie in Rakshas Thronsaal führte. Sie war beeindruckt. Der Saal war groß und reich verziert. Strahlende Schilde reihten sich an den Wänden, und in jeden davon war ein Muster eingraviert. Strahlende Sonnen waren dabei ein häufiges Motiv. Einige zeigten einen stolzen Krieger, der im Licht badete, auf anderen waren Darstellungen von Taj Nar oder große Schlachten zu sehen, die unter dem leuchtenden Rund stattfanden. Das Sonnenmotiv fand sich auch auf dem Boden wieder. In ein Podium am Ende des Saales war ein goldener Kreis eingelegt, dessen Strahlen auf die Wände zuliefen. Anstatt auf dem Podium, wie man es erwarten würde, stand der Thron hinter einem großen silbernen Tisch in der Mitte des Raumes. Der Tisch war mit Karten und Papieren bedeckt. Raksha saß auf seinem Thron, den Blick auf die Papiere gesenkt. Glissa und der Wächter verharrten schweigend und warteten darauf, dass der Anführer der Leoniden seine Arbeit beendete. Als er schließlich aufsah, bedeutete er Glissa, auf einem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen, ehe er sich wie-
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der seiner Arbeit widmete. Ganz geschäftsmäßig, bemerkte Glissa. Die Leoniden hielten offenbar nichts von Zeremonien, was ihren Kha anging. »Es freut mich, dich wohlauf zu sehen«, sagte Raksha, während er weiter Notizen machte. Er sog schnüffelnd die Luft ein. »Es ist offensichtlich, dass du im Dross warst. Du hast viel davon mit dir zurückgebracht. Aber es scheint dir nichts zu fehlen. Wo ist der kleine Goblin? Wir wissen, dass er die Reise überlebt haben muss. Nichts auf der Welt ist imstande, ihn umzubringen.« Glissa konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Slobad hatte zwar gesagt, dass Raksha mit seinem Vertrauen nicht leichtfertig umging, aber sein Vertrauen ging unzweifelhaft sehr tief. »Slobad wartet unten mit unserem neuesten Verbündeten – einem Golem, den wir im Dross gefunden haben. Eure Wachen waren misstrauisch. Der Golem ist allerdings auch ziemlich imposant.« Raksha gab dem Wächter einen Wink mit der Pranke. »Bring den Goblin und diesen Golem unverzüglich zu uns.« Das Gesicht des Wächters wirkte schmerzvoll. »Sire«, flehte er, »der Golem ist ungeheuer groß. Wir können nicht für Eure Sicherheit garantieren.« Raksha sah Glissa an. »Ich garantiere für Eure Sicherheit, Lord Raksha«, sagte sie. »Ich würde mein Leben darauf verpfänden.« »Geh. Bring sie zu uns«, sagte Raksha zu dem Wächter und wandte sich dann wieder an Glissa. »Man wird dich beim Wort nehmen. Und nun erzähle uns, was du im Mephidross erfahren hast.« Glissa begann mit ihrem Bericht. Sie erzählte von dem ers-
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ten Angriff und der Entdeckung des Golems. Sie erzählte Raksha auch von den Lenkern und wie sie deren Anführer Geth gefunden hatte. »Wir können ihre Armeen also kopflos machen, wenn wir diese Lenker töten«, fasste Raksha zusammen. »Wir haben uns oft mit der Frage befasst, wer die Nim wohl steuert.« »Es gibt da allerdings Probleme«, sagte Glissa. »Wenn sie ihre Hauben tragen, dann sehen die Lenker den Nim sehr ähnlich. Und die Nim folgen immer dem Befehl, den sie zuletzt erhalten haben, das heißt, sie würden einen Angriff fortsetzen, selbst wenn ihre Lenker dabei getötet würden.« »Dennoch ist diese Information von Nutzen«, sagte Raksha. »Was ist mit diesem Geth, den du erwähntest?« Bevor Glissa antworten konnte, öffnete sich die Tür zum Thronsaal. Slobad kam, gefolgt vom Golem, herein. Raksha musterte den Golem von Kopf bis Fuß. »Großer Dakan«, sagte er schließlich. »Er ist wirklich riesig.« Er schob den schweren Thron zurück, schritt um den Tisch herum und umkreiste den Golem. Slobad sah interessiert zu. Den großen Leoniden wie einen Zwerg neben dem Golem zu sehen machte Glissa die ungeheure Macht des Metallmanns erst richtig bewusst. Wirklich, was wussten sie schon über den Golem? Sein vorheriger Besitzer konnte gut auch genau derjenige sein, der darauf aus war, sie und Raksha zu töten. Raksha betrachtete den Golem von allen Seiten und kehrte dann wieder zu seinem Thron zurück. »Vielleicht wäre es von Vorteil für uns, wenn wir ein Quartier für euren metallenen Freund fänden«, sagte er zu Slobad. »Seine Gegenwart könnte Beunruhigung wecken.« Er wandte sich an den Wächter, der
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zwar schweigend dagestanden hatte, dem aber ganz offenbar unbehaglich zumute war. »Such unserem Gast eine passende Unterkunft.« Der Wächter nickte und wandte sich zum Gehen. »Ich bleib bei ihm, he?«, sagte Slobad. »Sorge dafür, dass der Golem Raksha keinen Ärger macht. Kein Problem. Keinen Ärger machen.« Er führte den Golem aus dem Saal und folgte dem Wächter den Gang hinunter. Glissa setzte ihre Geschichte fort und erzählte Raksha von ihrer Begegnung mit Geth und davon, wie sie schließlich den birnenköpfigen, in eine Kutte gekleideten Fremden gesehen hatte. »Ich glaube, er war es auch, der Geth für die Angriffe bezahlt hat«, sagte sie. »Und zwar mit Phiolen wie dieser.« Glissa zog das Fläschchen mit der blauen Flüssigkeit hervor. »Man nennt es Serum. Wisst Ihr, wo es herkommt und wozu es dient?« »Nein. Wir haben so etwas nie zuvor gesehen«, sagte Raksha. »Aber vielleicht weiß Ushanti da etwas.« »Wird sie uns denn überhaupt helfen wollen?«, fragte Glissa. »Ich glaube, sie traut mir nicht.« Raksha lachte. »Das stimmt«, sagte er. »Aber wir haben sie darüber unterrichtet, dass sie dich auf jede ihr mögliche Weise unterstützen muss. Und abgesehen davon, wenn du die Angriffe der Nim gestoppt hast, sind wir dir alle zu großem Dank verpflichtet … auch Ushanti.« Er streckte sich. »Die Sonne steht fast über uns. Wir wollen zuerst schmausen, und dann suchen wir Ushanti auf.«
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Bei dem Schmaus handelte es sich, wie sich erwies, teils um Ritual, teils um Mahlzeit. Raksha führte Glissa und Slobad auf den Haupthof, wo bereits eine Schar von Leoniden wartete. Der Kha trat bis zur Mitte des Hofes vor und nahm seinen Platz neben der Statue des Dakan ein. Er hob seinen Schild dem gelben Mond – ihrer Sonne – entgegen und richtete ihn so aus, dass er das Licht auf die Flamme reflektierte, die Dakan in der Hand hielt. Die am Schmaus teilnehmenden Leonidenkrieger umringten ihren Anführer und benutzten ihre Schilde, um den Mondschein auf Raksha zu lenken, sodass er und die Statue des ersten Kha in einen perlartigen Glanz getaucht wurden. Raksha legte den Kopf in den Nacken und brüllte gen Himmel. Die umstehenden Krieger fielen mit ein, und der Lärm echote über die Glimmerleere. Anschließend trugen Leonidenjunge und Leonidinnen große Silberplatten herbei, die mit Fleisch beladen waren. Glissa fragte sich, welche Rolle die Frauen in dieser Gesellschaft wohl genau spielten. Sie hatte bislang keine weiblichen Verteidiger gesehen, andererseits aber auch keine männlichen Himmeljäger und Heiler ausmachen können. Die Gesellschaft der Leoniden schien in ihrem Kastensystem der Geschlechter sehr streng zu sein. Glissa glaubte nicht, dass ihr ein Leben unter den Leoniden angenehmer wäre, als es für Slobad gewesen war, als er noch hier gewohnt hatte. Während des Schmauses beging Raksha den Fehler, Slobad nach dem Golem zu fragen. Der Goblin brachte den Rest des Mahles damit zu, dem Leoniden zu erzählen, wie er den Golem repariert hatte, wobei er minutiös ins Detail ging, was das Zusammenschweißen und Neuverbinden metallischer Muskeln betraf. »Ich habe alles gemacht, he?«, sagte er. »Aber ver-
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dammter Metallhaufen liegt immer noch leblos da. Hab ihn sogar ein paarmal getreten, aber nichts hat geholfen. Nicht mal das Treten, he?« »Aber Glissa erzählte uns, dass du den Metallmann gerade rechtzeitig wieder zum Leben erwecktest, damit er euch beide retten konnte«, sagte Raksha zwischen zwei Bissen. Er genoss die Geschichte offensichtlich mehr als Glissa. Slobad strahlte. Glissa dachte schon, er würde gleich voller Stolz auf eines der Silbertabletts springen. »Etwas Erstaunliches ist passiert«, sagte Slobad und fuchtelte mit den Armen. »Erstaunlich. Ich ducke mich hinter Golem. Schnitter stampft um den Kamin herum. Slobad merkt, dass Dross aus dem Ohr von Golem läuft. Öffnet Kopf von Golem, wischt Dross heraus. Augen öffnen sich und gucken Slobad an, he? Erstaunlich. Nur Dross rausgewischt. Das war alles.« »Aber«, sagte Raksha, »Glissa berichtete uns, dass er nicht sprach, bis er dieses … dieses Serum sah. War das so?« »Das stimmt«, sagte Slobad. »Er sagt ,Memnarch’. Wir wissen nicht, was es bedeutet, he? Vielleicht Golems alter Besitzer. Vielleicht Ort, wo er herkommt, he? Könnte Gestalt in Kutte sein. Wir wissen es nicht, und mehr hat Golem nicht gesagt, he? Seltsam …« Glissa unterbrach ihn. »Was ,Memnarch’ auch bedeutet«, sagte sie, »es muss etwas mit dem Serum zu tun haben. Wir müssen herausfinden, was es ist und welche Verbindung es zwischen dem Serum und uns beiden gibt.« »Nun gut. Wir sollten jetzt mit Ushanti darüber reden«, sagte Raksha.
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$ Raksha ging mit Glissa in die verrauchte Kammer der Seherin, während Slobad sich in seine Unterkunft zurückzog, um am Golem herumzubasteln – auf Rakshas sanftes Drängen hin. Die Heilerinnen empfingen die Ankömmlinge an der Tür. Beide verbeugten sich sofort beim Anblick Rakshas. Als sie sich wieder aufrichteten, konnte Glissa ihre stählernen Blicke schließlich auf sich ruhen spüren. Keine der beiden schien froh darüber zu sein, die Elfin wiederzusehen. Als ihre Blicke sich begegneten, glaubte Glissa in Rishans Augen neben Hass auch einen Hauch von etwas anderem zu entdecken, aber es mochte auch nur eine vom Rauch hervorgerufene Täuschung gewesen sein. »Willkommen in Ushantis Gemächern, Kha«, sagte Rishan und verbeugte sich tief. »Eure Anwesenheit ehrt uns.« Raksha gab ihr einen Wink. »Erhebe dich, Rishan«, sagte er. »Wir haben als Junge miteinander gespielt. Du brauchst dich vor uns nicht zu verneigen.« Rishan richtete sich auf. Glissa fand, dass die junge Heilerin so wirkte, als ob sie sich bei der besonderen Behandlung durch ihren Kha unbehaglich fühlte. Sie wandte sich abrupt um und führte Raksha und Glissa durch das Labyrinth aus Vorhängen nach hinten zu Ushantis Kessel. Beim Anblick ihres Herrschers ließ Ushanti sofort die Hand voll Sand, die sie gerade genommen hatte, zurück in eine Schüssel fallen und humpelte herbei, um sie zu begrüßen. »Ah, Glissa«, sagte sie. »Wir wussten, dass du kommen würdest. Du hast etwas, was du uns zeigen möchtest, nicht wahr?« Ushanti streckte die Hand aus.
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Glissa bemerkte abermals, dass Ushanti dem Kha gegenüber keinerlei Ehrerbietung zeigte. Sie traute der Heilerin nicht, aber ihr blieb keine Wahl. Das Serum war die einzige Verbindung zu der Kuttengestalt und dem Tod ihrer Familie-Sie brauchte Ushantis Hilfe. »Woher wusstet Ihr, dass ich damit kommen würde?«, fragte die Elfin und holte die Phiole hervor. »Mutter war in Trance, seit du fortgegangen bist«, sagte Rishan. »Sie kehrte erst heute Morgen vom Feuer zurück und sagte, dass du wiedergekommen seist.« »Hast du in deiner Vision irgendetwas gefunden, was uns gegen diesen neuen Feind helfen könnte?«, fragte Raksha. »Wir haben viel gesehen von den Dingen, die da kommen werden, aber nur wenig verstanden«, sagte Ushanti. Sie nahm die Phiole von Glissa entgegen, hielt sie hoch und musterte sie im Licht des Kohlebeckens. »Das Schicksal der Welt liegt in diesen Phiolen. Wir sind in einem Mahlstrom gefangen, den wir nicht kontrollieren können.« »Sprich so, dass es für uns Sinn ergibt, Frau«, sagte Raksha schroff. »Das können wir nicht.« Ushanti öffnete das Fläschchen und starrte auf das Serum, als würde sie in die Tiefen eines blauen Sees blicken. »Das Feuer zeigt nur flüchtige Eindrücke der Wahrheit.« Sie tauchte eine Kralle in die blaue Flüssigkeit und führte sie danach an die Lippen. Ushanti berührte die glänzende Kralle mit der Zunge. Plötzlich riss sie die Augen auf, und ihre dunklen Pupillen schrumpften auf die Größe von Stecknadelköpfen zusammen. »Eines jedoch können wir dir offenbaren, junger Herrscher«, sagte Ushanti mit einer seltsamen Stimme. »Deine Regent-
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schaft wird das Ende dieser Welt sehen, es sei denn, die Elfin stirbt. Mag auch nicht sie die Welt zerstören, so wird sie doch das Instrument desjenigen sein, der es tut.« »Ushanti«, sagte Glissa und sah der alten Leonidin offen in die großen weißen Augen. »Ich weiß nicht, ob man Euren Visionen Glauben schenken kann, aber ich möchte diese Welt nicht zerstören. Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, das zu verhindern?« »Stirb«, sagte Ushanti. »Stirb vor dem Ende. Das ist der einzige Weg, den wir sehen.« Eine bedrückende Stille legte sich über den Raum. »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, diesen Feind zu bezwingen?«, fragte Raksha schließlich. »Seine Macht ist älter als die Glimmerleere, älter als das Knäuel und der Mephidross«, sagte Ushanti. Ihre Worte wurden undeutlich. Ihr Kopf fiel nach hinten, bis sie zu der rauchigen Decke emporstarrte. »Nur eine Macht, die älter ist als die Welt, vermag ihn aufzuhalten.« »Wie lautet sein Name?«, fragte Glissa. »Ist es Memnarch? Hat dieser Name in diesem Zusammenhang irgendeine Bedeutung?« Ushanti fiel vornüber. Glissa fing die alte Leonidin auf und packte die Phiole, bevor sich deren Inhalt auf den Boden ergießen konnte. Raksha nahm Ushanti so mühelos, wie er seinen Schild angehoben hatte, auf die Arme. Glissa verschloss die Phiole wieder, während der Kha die Heilerin zwischen den Vorhängen hindurch forttrug, gefolgt von der beunruhigten Rishan. Als die beiden Leoniden zurückkehrten, fragte Glissa sie: »Kommt sie wieder in Ordnung?«
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»Sie braucht Ruhe«, sagte Rishan. Sie rang ihre Pfoten und sah immer wieder über die Schulter in Richtung des hinteren Raumes. »Irgendwie hat diese blaue Flüssigkeit gedroht, eine neuerliche Trance auszulösen. In ihrem geschwächten Zustand könnte sie eine solche Belastung jedoch nicht ertragen.« »Ich muss unbedingt wissen, woher diese Flüssigkeit stammt«, sagte Glissa, »und wen sie in dieser Vision gesehen hat. Wird es ihr möglich sein, uns da weiterzuhelfen?« »Dann glaubst du ihr jetzt also?«, fragte Rishan. Der Ausdruck ihrer Augen stand im Widerspruch zu ihrem Zorn. Ihr Blick suchte den Rakshas und wurde weicher. »Kommt morgen wieder. Wenn Mutter wieder bei Kräften ist, werde ich sie bitten, euch zu helfen.« Der Wandel der jungen Heilerin überraschte Glissa, aber als sie von ihr zu Raksha sah, begann sie zu verstehen. Die zwei jungen Leoniden hatten nur Augen füreinander.
$ Schreie drängten sich in Glissas Schlaf. Sie träumte von der Lichtung, die sie neulich in jenem Aufflackern gesehen hatte. Elfen stürzten schreiend in den Schlund aus Licht. Glissa sah, wie sie fielen, konnte aber nicht zu ihnen gelangen. Die Schreie wurden lauter, je tiefer sie in dieses weiße Loch hinabstürzten. Glissa reckte sich vom Rand aus, versuchte ihre Fingerspitzen den fallenden Elfen ein klein wenig zu nähern. Und dann fiel auch sie. Sie erwachte auf dem Metallboden neben dem weichen Bett, die Decken um ihren Körper gewickelt. Die Schreie dau-
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erten an. Einen Augenblick darauf wurde ihr bewusst, dass die Schreie von außerhalb ihres Zimmers kamen. Sie rappelte sich auf und schnappte sich Stiefel und Schwert. Als sie die Tür öffnete, wurde sie von einer Gruppe vorbeihasten der Krieger, die gerade Rüstung und Schild anlegten, beinahe umgerannt. Glissa rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Was ist los?«, rief sie einem der hastig vorbeilaufenden Soldaten zu. »Wir werden angegriffen.« Glissa zog ihre Stiefel an und folgte den Soldaten dann hinaus auf den Haupthof. Entlang der Brustwehr standen schon Krieger, die ihre Speere bereithielten. Raksha stand in der Mitte der Reihe. Sein Gesicht war unter der Kampfmaske verborgen. Glissa stampfte ihre Füße noch einmal fester in die Stiefel hinein und eilte an seine Seite. »Sind es die Nim?«, fragte sie. »Nein«, kam die dröhnende Antwort. Rakshas Stimme schien durch die Maske noch verstärkt zu werden. Es war merkwürdig, seine Stimme zu hören, aber nicht zu sehen, wie sich sein Mund bewegte. »Unsere Pteron-Reiter gerieten mit Silber-Raptoren aneinander, bevor der erste Mond aufging. Nur ein einziger Reiter kehrte lebend zurück. Die Ungeheuer sind ihm gefolgt. Sieh dorthin!« Er zeigte in Richtung des aufgehenden roten Mondes. Glissa konnte im Schein des Mondlichts irgendwelche Flecken ausmachen. Und sie wurden zusehends größer. Eine Minute später konnte sie schon sehen, wie sich das Licht auf ihren Schwingen brach. Und in der nächsten Sekunde hörte sie ein unheilvolles Heulen, das so klang, als kratzten Krallen über Metall.
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Glissa hob ihr Schwert und harrte der Ankunft der Untiere. Sie versuchte die Entfernung zu schätzen, aber im Licht des roten Mondes war es unmöglich, die Vögel klar zu erkennen. Ihre Nakkenhaare begannen zu kribbeln, und gleich darauf fuhr ein blauer Blitz über den Himmel, der vom Leitvogel geschleudert wurde. Der Blitz schlug unterhalb der Brüstung ein. Ein Leonide schrie auf, weil vor ihm das Metall auseinander brach und er durch das entstandene Loch dem Tod entgegenstürzte. An Glissas Haaransatz kribbelte es abermals, und ein weiterer Blitz kreischte durch die Luft. Er traf einen Krieger, riss ihm ein Loch in die Brust und setzte sich hinter ihm noch bis in den Hof fort. Blitz um Blitz jagte nun durch die Luft, weshalb die Leonidensoldaten von der Brüstung zurückweichen mussten. Glissa und Raksha hielten ihre Stellung. Die Elfin spürte ein weiteres Kribbeln im Nacken und schaute nach oben. Sie sah dort einen Blitz als Punkt statt als Strich: Der Blitz hielt direkt auf sie und Raksha zu! Sie warf sich zur Seite, stieß dabei den Leonidenanführer zu Boden und landete auf ihm. Der Blitz explodierte hinter ihnen im metallenen Pflaster, schmolz das Silber und riss den Boden auf. Glissa rollte von Raksha herunter und suchte den Himmel nach den Angreifern ab, aber die silberflügligen Kreaturen waren inzwischen vorbeigezogen. Jetzt konnte die Elfin sie in allen Einzelheiten sehen, aber keines der Wesen war nahe genug, um es mit dem Schwert zu erreichen. Die Schwänze und Flügel erweckten den Eindruck, als wären diese Tiere eher im Wasser zu Hause als in den Lüften. Ihre schlangenartigen Schwänze mündeten in ein vertikales, stachliges Blatt, das als
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Ruder dienen mochte. Synchron drehte der Schwarm die Schwänze zur Seite, und die Tiere glitten gemeinsam in eine sanfte Kurve. Ihre schlanken Flügel blieben dabei steif und schimmerten in den roten Strahlen des aufgehenden Mondes. Aber es waren die Köpfe der Kreaturen, die Glissas Blick bannten. Sie hatten keine Augen, keine Münder, waren nichts als blaue Kugeln, die vor Energie zu pulsieren schienen. Sie hatte diese Wesen schon einmal gesehen. Das waren die Artefakte, von denen Geth gesprochen hatte. Das waren die silbernen Vögel, die sie im Mephidross über der Kuttengestalt hatte schweben sehen. Raksha erhob sich und rief: »Speere! Jetzt!« Ein Dutzend Speere flog auf die sich zurückziehenden Ungetüme zu. Mehr als die Hälfte trafen ihr Ziel, bohrten sich durch Flügel und Schwänze, aber nur eines der geflügelten Schreckenswesen stürzte ab. Der Speer, den Raksha geschleudert hatte, traf den kugelförmigen Kopf einer Kreatur. Die Kugel explodierte und übersäte den Hof mit Glasscherben. Der Leib des Tieres krachte gegen eine Wand und dann hindurch in den dahinter liegenden Raum. Die silbernen Wesen vollendeten ihren Schwenk und fegten herab, um ein weiteres Mal anzugreifen. In Glissas Nacken begann es wieder zu kribbeln. »Aufpassen!«, schrie sie. Blitze hämmerten in den Boden. Glissa schob ihr Schwert in die Scheide und packte einen der Speere. Sie zielte auf die Kreatur, die ihr am nächsten war, und warf, aber der Speer verfehlte sein Ziel. Die Kreaturen schwenkten abermals ab, ohne sich dem Boden genähert zu haben. Rakshas Truppen schleuderten ihre
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Speere nach den sich zurückziehenden Vögeln. Die Speere flogen zwar geradere Bahnen, aber keiner davon hatte die Wucht, um die Metallhaut der Angreifer zu durchdringen. »Ich kann sie von hier aus nicht bekämpfen!«, rief die Elfin Raksha zu. »Hier am Boden fühle ich mich nutzlos. Wo befindet sich dieser Pteron, der zurückgekommen ist?« »Dort«, sagte Raksha und zeigte in die entsprechende Richtung, »aber sei vorsichtig.« Glissa rannte um den Hof herum zur Treppe. Hinter einer der Türen sah sie Slobad hervorspitzen. »Hol den Golem!«, rief sie ihm zu. »Beschützt Raksha!« Sie hetzte die Treppe hinauf und nahm dabei drei Stufen auf einmal. Kaum hatte sie den Pteron erreicht, sprang sie auf dessen Flügel, schlug seinen Schnabel beiseite, als er nach ihr schnappte, und kletterte in den Sattel. Sie grub ihre Füße so in den Rücken des Vogels, wie sie es die Reiterinnen hatte tun sehen. Der Pteron warf sich daraufhin vom Sims. Während sie in die Tiefe stürzten, wurde Glissa bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie tun musste, um diesen Sturzflug zu beenden. Sie zog versuchshalber an den Zügeln, und der Pteron hob den Kopf. Einen Augenblick später schlug er mit den Flügeln, und sie flogen in der Waagrechten dahin. In der Hoffnung, den Pteron lenken zu können, zog die Elfin das Tier in einem weiten Bogen herum auf das obere Ende des Turmes zu. Dabei suchte sie den Himmel nach den blauköpfigen Vögeln ab. Der Schwarm hatte kehrtgemacht und hielt nun wieder auf den Turm zu. Glissa riss an den Zügeln und trat dem Pteron in die Seite, um ihn anzuspornen. Der große Raptor schlug mit seinen gewaltigen Schwingen. Sie
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wurden schneller, aber sie würden den Turm nicht rechtzeitig erreichen. Die silberflügligen Kreaturen entfesselten ihre Blitze und jagten sie dem Hof entgegen. Glissa sah ein halbes Dutzend Explosionen. Leoniden spritzten auseinander. Raksha hielt mit dem Speer in der Hand die Stellung. Im letzten Moment warf er die Waffe. Sie pfählte einen herabstürzenden Angreifer genau in dem Augenblick, da sein blauer Schädel aufleuchtete. Blitze knisterten über die Oberfläche der Kugel und das sehnige Rückgrat der Kreatur. Das Tier verhielt einen Augenblick lang mitten in der Luft, eingehüllt in blaue Energie, dann explodierte es. Scherben regneten in den Hof hinab. Glissa sah, wie der Golem genau in dem Moment vor Raksha hintrat, als die Trümmer die Brüstung erreichten. Die Glasscherben prasselten nur so gegen die breite Brust des Metallmanns. Glissa trieb ihr Reittier an, als sie nun hinter den niedergehenden Angreifern auftauchte. Sie beugte sich nach vorn über die Schulter des Pterons und schlug mit dem Schwert nach dem letzten Vogel in der Phalanx. Die Klinge schnitt durch seinen metallenen Flügel und fuhr in den Schwanz. Das verletzte Tier geriet ins Trudeln, und Glissa zog an den Zügeln, um den Pteron zum nächsten Tier in der Reihe zu lenken. Gerade als sie nahe genug für einen weiteren Hieb war, drehte der Schwarm im Gleichtakt die Schwänze und jagte steil in die Tiefe. Die metallenen Wesen bewegten ihre Flügel, drehten sich und flogen zurück nach Taj Nar. Glissa zerrte an den Zügeln, aber unter ihrer unerfahrenen Führung reagierte der Pteron zu unbeholfen und langsam, um den Silbervögeln sofort zu folgen. Als sie ihnen schließlich hinterhereilte, setzten die sil-
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bernen Flugwesen bereits eine weitere Blitzsalve ab. Es war jedoch nur die Hälfte der acht verbliebenen Angreifer, die schoss. Bevor Glissa sich fragen konnte, warum, brachen die anderen vier aus der niedergehenden Formation aus und stiegen wieder in die Höhe. Glissa folgte zwar weiterhin dem Rest des Schwarms, behielt die Tiere der neuen Gruppe jedoch im Auge. Sie flogen weiter, bis sie sich direkt über ihr befanden, dann neigten sie die Schwänze, vollzogen eine Wende und attackierten die Elf in dann von oben. Glissa trat den Pteron, um ihn anzutreiben, und beugte sich nach vorn, um seine Schnauze nach unten zu zwingen. Sie musste schneller werden. Sie wusste, dass sie diesen Blitzen sonst nicht würde ausweichen können. In rasendem Tempo hielt sie geradewegs auf Taj Nar zu. Sie hatte nur eine Chance, aber sie war sich nicht sicher, ob sie den Pteron dazu bringen konnte, das zu tun, was nötig war. Ihr blieb keine andere Wahl. Ein einziger Blitz würde völlig ausreichen, den Pteron und sie zu zerfetzen, sollten die Verfolger ihnen nahe genug kommen. Die Elfin manövrierte den Pteron hin und her und verfluchte die Kreatur jedes Mal, wenn sie zu weit auswich. Vor sich konnte Glissa eine schmale Kluft zwischen den Gebäuden auf der anderen Seite des Hofes sehen. Von hinten folgten ihnen nach wie vor vier Paare silberner Flügel. Die Verfolger kamen allmählich gefährlich nahe. Glissa trat den Pteron ein letztes Mal in die Seiten und drückte sich dann flach gegen den Rükken des Tieres. Sie rasten auf die enge Lücke zwischen den Gebäuden zu. Im letzten Moment riss Glissa die Zügel ruckartig zurück und rammte die Füße in die Schultern des Pterons, damit das Tier seine Schwingen eng anlegte.
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Sie segelten durch die schmale Öffnung. Die Flügelspitzen des Pterons streiften über beide Wände, während er durch den Durchlass glitt. Glissa warf einen Blick nach hinten. Die Kreaturen, die ihr wütend folgten, peitschten ihre Schwänze hin und her und versuchten verzweifelt, den Wänden auszuweichen. Es schien zu funktionieren! Glissa schaute wieder nach vorn und – schrie auf. Rishan war unmittelbar vor dem Pteron aus einer Tür getreten. »Zurück!«, schrie sie. Es war zu spät. Der Flügel des Pterons riss Rishan von den Füßen, als sie an ihr vorüberflogen. Glissa rollte über den Schwanz des Pterons nach hinten ab. Der Schwung des Vogels beförderte sie bis auf den Hof. Sie rappelte sich auf und rannte zu Rishan zurück, aber die kugelköpfigen Flugwesen waren bereits in dem Durchlass. Sie versuchten, Seite an Seite hindurchzufliegen, prallten aber von den Wänden ab. Die Leittiere stießen gegeneinander, und unter dem Aufprall zerbarsten beider Kugelschädel. Der gesamte Durchlass explodierte im Aufbrüllen blauer Flammen, die Glissa wieder auf den Hof zurückschleuderten. Sie schlug gegen die Beine der Statue des Dakan und purzelte betäubt zu Boden. Durch das Rauschen ihrer klingenden Ohren hörte sie zwei weitere Explosionen. Ihre Taktik war aufgegangen. Sie hatte alle vier Tiere getötet. Aber um welchen Preis? Erschöpft stemmte sich Glissa wieder hoch und rannte zur Tür am Rand des Durchlasses. Immer noch leckte Feuer nach den Wänden, aber die Elfin hatte jetzt andere Sorgen. Mit ihren metallenen Unterarmen schirmte sie ihre Augen ab und drängte sich an den Flammen vorbei. Ihre Arme und Beine
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fühlten sich an, als stünden sie selbst in Flammen, aber sie gab nicht nach. Schwarzer Rauch drohte sie zu ersticken. Im Rauch stieß sie gegen etwas Weiches und ließ sich sofort auf die Knie fallen. Es war Rishan. Glissa packte die junge Heilerin bei den Schultern und zog sie aus dem Feuer. Als sich der Rauch etwas klärte, sagte ihr jedoch ein einziger Blick, dass es keine Hoffnung gab. Alles, was von Ushantis Tochter übrig geblieben war, war ein verkohlter Leichnam. Glissa saß da und barg Rishans von Blasen verunstalteten Kopf in ihrem Schoß. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten ihr über die Wangen. Sie wusste, dass sie Raksha benachrichtigen sollte, wusste, dass die Schlacht noch längst nicht geschlagen war, aber sie vermochte sich nicht zu bewegen. Und sie konnte die junge Heilerin nicht allein lassen. Sie konnte Raksha nicht in die Augen sehen, nun, da sie den Tod nach Taj Nar gebracht hatte. Hinter ihr brach Jubel aus. Sie schaute auf und sah, wie die übrigen Tiere mit schlagenden Schwingen ins blutrote Licht des Mondes zurückflogen. Glissa wusste, dass der Jubel bald in Tränen umschlagen würde, und sie konnte sich ihrer Verantwortung nicht länger verweigern. Die Elfin schluchzte leise, als sie Rishans verkohlte Leiche hochhob und auf den Hof hinaus zu Raksha trug.
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Kapitel 12
CHUNTH
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ir glauben, ihr solltet jetzt gehen«, sagte Raksha nach der Gedenkfeier. Seine Schultern waren herabgesunken, und er ließ den Kopf hängen. Er wirkte weit weniger imposant als beim ersten Mal, da Glissa ihm am Tor begegnet war … aber das schien mittlerweile ein Leben lang her zu sein. Mit einem Feuerritual, das auf dem Hof abgehalten wurde, hatten sie die Leichen von Rishan und den Kriegern, die am Morgen gestorben waren, dem gelben Mond überantwortet. Die Leoniden heulten gen Himmel, während die Toten zu Asche wurden, aber der Chor klang nicht jubelnd wie beim Mittagsritual am Tag zuvor. Hier handelte es sich um ein Heulen des Leides. Glissa, Slobad und der Golem standen in dem ausgebrannten Durchlass, ein gutes Stück entfernt von der Leonidenmenge, die sich um die Statue des Dakan und die ewige Flamme versammelt hatte. »Ich glaube, Ihr habt Recht«, sagte Glissa. Die Augen des Kha wirkten leer, so als hätte er sich verirrt und suche vergebens nach dem Heimweg. Es überraschte sie, dass er sie nicht längst schon zum Tor hinausgeworfen hatte. »Euer Verlust schmerzt mich sehr.« Sie wollte noch mehr sagen, aber sie wusste, dass eigentlich schon alles gesagt war.
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»Leb wohl, Glissa«, sagte Raksha. »Du wirst hier stets willkommen sein.« Glissa zögerte einen Moment, dann umarmte sie den großen Leoniden. Raksha stand teilnahmslos da. In Glissas Augen stiegen wieder Tränen auf. »Ich werde nicht wiederkommen«, sagte sie. »Nicht, bis die Gefahr, die mir folgt, verschwunden ist. Nicht, bis ich denjenigen gefunden habe, der für Rishans Tod verantwortlich ist, und ihn dafür zur Rechenschaft gezogen habe.« Ushanti erschien hinter dem Kha. »Du bist diejenige, die dafür verantwortlich ist, Elfin!«, schrie die Seherin. Sie starrte Glissa mit einem Zorn an, wie die Elfin ihn noch nie zuvor in jemandes Augen gesehen hatte. »Du hast meine Tochter getötet, nicht anders als du uns alle töten wirst!« Sie schlug Glissa ins Gesicht. Blut strömte aus einer langen Wunde auf der Wange der Elfin und vermischte sich mit ihren Tränen. Ushanti hob den Arm von neuem, und Glissa sah Blut von den Krallen der alten Seherin tropfen. Ushantis Klauen stoppten zwei Fingerbreit vor Glissas Bauch. Raksha hielt das Handgelenk der Seherin umklammert und schob sie mit sanfter Gewalt von Glissa fort in die Arme eines bereitstehenden Kriegers. »Nein«, sagte er. »Kein Blutvergießen mehr.« Ushanti wand sich im Griff des Kriegers. »Ihr!«, kreischte sie. »Ihr würdet diese Elfin in Eurem Heim noch einmal willkommen heißen? Der Tod folgt ihr wie eine Seuche. Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet es alle sehen!« »Wir sind hier der Kha, Ushanti«, knurrte Raksha. »Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.« Er gab dem Leoniden, der Ushanti festhielt, einen Wink, worauf dieser die alte Sehe-
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rin zurück in ihr Quartier zerrte. »Macht ihr keine Vorwürfe«, sagte Glissa. Sie wischte sich Blut und Tränen von der Wange. »Sie hat alles Recht, mich zu hassen.« Sie sah zu Slobad und dem Golem. »Wir sollten … wir sollten gehen. Es tut mir alles so Leid.« Sie wischte sich über die Augen und überquerte den Hof. Slobad folgte ihr mit dem Golem. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie aus der Sichtweite von Taj Nar waren.
$ »Wo gehen wir jetzt hin, he?«, fragte Slobad. »Ich weiß es nicht«, antwortete Glissa niedergeschlagen. Sie war ziellos dahingelaufen, seit sie aufgebrochen waren. Sie hatte keine Ahnung, ob sie in Richtung Mephidross, zu Slobads alter Höhle oder sonst wohin unterwegs war. »Das Serum ist unsere einzige Verbindung zu der Kuttengestalt, aber Ushanti wird uns in dieser Sache wohl kaum noch weiterhelfen wollen. Ich nehme es ihr nicht übel, wir müssen eben irgendwie anders herausfinden, wo das Serum herkam.« »Krark-Kult hat geheimen Ort, he?«, sagte Slobad. »Wir bleiben bei ihnen, solange ich den Golem repariere. Repariere den Golem ganz, und er verrät uns, was ,Memnarch’ bedeutet. Vielleicht macht dieser Memnarch das Serum, he? Vielleicht ist dieser Memnarch die Gestalt in der Kutte.« »Vielleicht ist Memnarch auch nur der Name des Golems selbst oder eines Haustiers, mit dem er früher immer gespielt hat«, meinte Glissa trocken.
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Schweigend gingen sie weiter, bis Glissa am Rand eines Rasierklingenfelds stehen blieb und sich nach dem Goblin umsah. Er hockte auf der Schulter des Golems und starrte zu Boden. »Was glaubst du? Wirst du ihn letzten Endes irgendwie zum Reden bringen können?«, fragte sie und deutete auf den Golem. »Muss nur richtig sauber gemacht werden«, sagte Slobad lustlos. Glissa überlegte kurz. »Was brauchst du also? Nur etwas Zeit, um ihn zu säubern?« Slobad nickte. »Dross hat da drinnen alles verklebt, he? Ich glaube sogar, der Golem kann sich selbst reparieren, wenn wir Rast machen. Teile, die ich sauber mache, reparieren sich von selbst.« Seine Miene begann sich aufzuhellen. »Erstaunlich, he? Slobad hat noch nie eine Maschine wie diese gesehen. Repariert sich selbst. Kann sich nur nicht selber sauber machen. Dumm, he? Aber auch schlau.« »Du brauchst also Zeit, um ihn zu putzen«, hielt Glissa fest. Slobad nickte. »An einem Ort, wo wir vor den Nim, den Gleichmachern und den kugelköpfigen Silbervögeln sicher sind.« Slobad nickte abermals. »Und ich brauche Antworten von jemandem, der genauso viel über die Welt weiß wie Ushanti.« Slobad wollte noch einmal nicken, doch dann legte er den Kopf schräg und sah Glissa an. »Du kennst so einen Ort, he?« Glissa nickte. »Tel-Jilad, der Baum der Sagen. Er ist uneinnehmbar. Kein Gleichmacher hat ihn je betreten – wenngleich viele es versucht haben. Es gibt nur zwei Eingänge, einer ist schwer bewacht, und der andere ist geheim und nur den Trollen bekannt – und mir. Außerdem ist es an der Zeit, dass Chunth mir endlich alles erzählt, was er über mein Schicksal
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weiß.« Glissa lächelte fast, als sie in die großen Hände des Golems kletterte. »Slobad«, sagte sie, »es geht heimwärts.«
$ Sie brauchten fast drei Umkreisungen, um allein den Rand des Knäuels zu erreichen. Kurz nachdem Slobad den Golem kehrtmachen ließ, um Kurs auf das Knäuel zu nehmen, erspähte Glissa silberne Punkte, die über ihnen am Himmel kreisten. »Wir bekommen Ärger.« Sie deutete auf die Flugwesen. »Sie suchen uns, he?«, sagte Slobad. »Schlecht, wenn sie uns finden. Sehr schlecht, he?« »Wir müssen uns verstecken«, sagte die Elfin. »Ich weiß nicht, ob sie uns suchen oder nicht, aber hier könnten wir keinesfalls gegen sie kämpfen, falls es dazu käme. Und zum Entkommen ist die Gegend einfach zu flach und offen.« Slobad dirigierte den Golem über einen kleinen Hügel. Glissa und der Goblin rutschten dort zu Boden und legten sich flach auf den blanken Metallhügel. Der Golem ließ sich neben ihnen zu Boden sinken. Glissa linste über die Hügelkuppe und beobachtete die Silberwesen. Sie schienen nach etwas zu suchen, jedenfalls flogen sie in Schlangenlinien am Himmel hin und her. Die Flugroute führte den Schwarm auf die Reisenden zu. Glissa wandte sich an Slobad. »Sie kommen näher!« Slobad zeigte den Hügel hinunter. »Folgt Slobad, he?«, sagte er. »Wir verstecken uns in alter Leonidenhöhle.« Der Goblin
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kroch los, und der Golem folgte ihm. Glissa warf noch einen Blick zu den Flugkreaturen hinauf, dann krabbelte sie den Hügel hinab. Sie überquerten das hügelige Terrain und hielten sich dabei dicht am Boden, bis sie eine Erhebung erreichten, die nun auch Glissa als Leonidenhöhle erkannte. Sie sah aus wie all die anderen, die sie gesehen hatte – ein abgerundeter Hügel aus Metall, der oben mit Rasierklingengras bewachsen war, das eine Öffnung schützte. »Woher weißt du, dass sie verlassen ist?«, fragte sie. »Sie sieht aus wie all die anderen Höhlen, die wir gesehen haben.« »Rasierklingengras hat die obere Seite überwachsen, he?«, sagte Slobad. »Sieht verrückte Elfin das nicht?« Glissa sah hinauf zu dem Flecken aus scharfen Halmen auf der Oberseite des Hügels. Für sie sah er aus wie alle anderen. Sie zuckte die Achseln und folgte Slobad die Schräge hinauf. Oben angekommen schaute sie sich nach den Silbervögeln um. Nach wie vor zogen sie systematisch über den Himmel. Glissa nahm ihr Schwert zur Hand und schlug eine Bresche in das Rasierklingengras. »Keine gerade Linie, he?«, sagte Slobad. »Leoniden schneiden schmale Pfade durchs Gras. Erschwert es Feinden anzugreifen. Sieht natürlich aus.« Glissa nickte. Eine breite Schneise im Gras würde sicher die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger erregen. Sie schnitt nun also einen schmalen, gewundenen Pfad auf die Einstiegsöffnung zu. Es war eine langwierige Angelegenheit, und sie hatte keine Zeit, um sorgfältig zu Werke zu gehen. Etliche Male schnitt sie sich die Beine, weil ihr beim Weitergehen Rasierklingenhalme in den Weg fielen. Schließlich erreichten sie den Einstieg und kletterten in die Höhle hinab.
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Die Höhle strahlte nicht wie die Räume in Taj Nar, aber Glissa konnte noch Überbleibsel vergangenen Glanzes ausmachen. Der Boden zeigte eine eingelegte leonidische Sonne, und der große Tisch in der Ecke schien aus Gold zu bestehen. Das meiste andere Mobiliar war entfernt worden. Unterhalb der Öffnung gab es allerdings noch eine große Feuergrube, über der eine seltsame sechsbeinige Bratspießvorrichtung angebracht war. Der Spieß selbst sah nicht so stabil aus, als könnte er einen Topf tragen. »Spiegelhalter, he?«, sagte Slobad und zeigte auf den Spieß. »Leoniden stellen Spiegel über Grube, wenn Sonne am Himmel steht. Beleuchtet die Höhle. Nach Sonnenuntergang nimmt man die Spiegel ab, he? Entzündet Feuer, um Dunkelheit bei Nacht fernzuhalten. Sie mögen das Dunkel noch weniger als du, he?« »Jetzt brauchen wir die Dunkelheit allerdings«, grunzte Glissa. »Wir bleiben heute hier und reisen bei Nacht weiter. Ich hoffe nur, dass diese fliegenden Scheusale im Dunkeln nicht besser sehen können als ich.« Slobad nickte.
$ Zwei Umkreisungen lang wanderten sie unter den Sternen durch die Glimmerleere und rasteten in verlassenen Höhlen, während die Monde am Himmel standen. Morgens und abends hielt Glissa nach den kugelköpfigen Vögeln Ausschau. Sie kreisten am Himmel, zogen in Schlangenlinien über die Glimmerleere, suchten.
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Als die Reisenden dem Knäuel näher kamen, blieben die vier Monde und die Vögel jedoch hinter ihnen zurück. Glissa, Slobad und der Golem betraten das Knäuel, lange nachdem der letzte Mond zum vierten Mal untergegangen war. Sie waren fast den ganzen Nachmittag übergelaufen. Glissa war froh, dass es Nacht war. Sie würden den Schutz der Dunkelheit benötigen, um den Golem durch das Knäuel zu schmuggeln. »Kann er klettern?«, fragte sie. »Du weißt über den Golem so viel wie ich, he?«, antwortete Slobad. »Er tut viele Dinge. Vielleicht kann er auch klettern.« Glissa sah den Goblin an und zeigte auf den Knäuelbaum neben ihnen. »Schon gut, schon gut. Ich frag ihn. Krieg dich ein, he?« Von seinem Platz auf der Schulter des Metallmanns aus deutete Slobad auf den Baum und sagte: »Golem, klettern.« Der Golem streckte die Arme aus und packte den Metallstamm. Stacheln schoben sich aus seinen Fingerspitzen und Füßen, und gleich darauf stieg er mühelos den Baum hinauf. Er war fast so schnell wie die Gleichmacher, selbst mit Slobad, der sich an seinem Rücken festhielt. Der Goblin klammerte sich fest, während der Golem stetig den Baum hinaufkletterte. Schließlich hängte er dem Golem seinen Beutel um den Hals und schob den Oberkörper unter den Riemen. Glissa benutzte die Löcher, die der Golem hinterließ, um hinter dem seltsam aussehenden Duo herzuklettern. Als sie in den Baumwipfeln waren, führte die Elfin Slobad und den Golem durch die Höhen des Knäuels. Sie wählte ungewohnte Routen, weil sie sich nicht sicher war, ob die dünneren Gewinde das Gewicht des Golems tragen würden. Zudem wollte sie Terrassen meiden, auf denen sich Elfen nach dem
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Abendessen gern trafen. Die Folge davon war, dass sie für eine Strecke, die sie normalerweise in einer Stunde zurückgelegt hätte, jetzt fast die ganze Nacht brauchten. Als der Himmel heller zu werden begann, sah sie unter ihnen eine Patrouille von Tel-Jilad-Auserwählten vorüberziehen. Sie duckte sich in die nächste Öffnung und hielt den Atem an. Sie war zu Hause. Die Trümmer waren weggeräumt worden, darunter auch die Überreste des Gleichmachers, den sie zerstört hatte. Am Boden allerdings konnte Glissa noch immer dunkle Flecken erkennen. Sie schnaufte schwer und sank gegen die Wand hinter ihr. »Alles in Ordnung, he?«, erkundigte sich Slobad. Der Golem kroch durch den Eingang, und Slobad glitt von seinem Rücken. »Außer Atem? Möchtest du auf Golem reiten? Slobad glaubt, er kann uns beide tragen, he?« »Sieh mal nach, ob die Patrouille schon vorbei ist«, sagte sie. »Mir geht’s gleich wieder besser.« Glissa schloss nun die Augen und versuchte die Dämonen aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie keuchte immer noch, als Slobad zurückam. »Luft ist rein, he?«, sagte er. »Seh niemanden im Baum oder darunter. Alles in Ordnung jetzt? Gehen wir, he?« Glissa holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Sie nickte, begab sich zur Tür und hielt die Augen geschlossen, bis sie die kühle Luft des Knäuels auf ihrem Gesicht spürte. Während sie den Rest des Weges zum Baum der Sagen zurücklegten, sahen sie niemanden mehr. Als sie den Absatz über dem geheimen Eingang erreichten, schoben sich gerade die Monde über den Horizont herauf. »Dort unten«, sagte die Elfin. »Wir sind gleich da. Irgendein Anzeichen von unserem Freund in der Kutte oder seinen flie-
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genden Spionen?« »Slobad hat seit unserer Ankunft hier nichts gesehen außer der verdammten Lichtfrucht. Warum in so einem dunklen Wald leben und ihn dann mit verrückter Frucht beleuchten, he? Kein Wunder, dass Elfen im Dunkeln nicht sehen können.« Glissa lachte. »Ich weiß, dass du müde bist, Slobad«, sagte sie. »Ich verspreche dir, gleich hinter dieser Terrasse wartet ein hartes Bett in einem hübschen Zimmer auf dich.« Sie sprang auf den Absatz hinunter, der für sie so viele Erinnerungen barg, und lief zum Stamm hinüber. Der Golem ließ sich hinter Glissa auf den Absatz fallen, während sie in dem Astloch nach dem Schalter tastete. Nach kurzer Zeit hörte sie ein metallisches Klicken und dann ein knirschendes Geräusch, als sich die Tür öffnete. Sie schlüpfte hinein und winkte Slobad zu sich. Der Goblin ließ sich vom Rücken seines Metallfreundes fallen und führte den Golem dann zur Tür. Es war eng, aber nach einigem Hin-und-her-Ruckeln konnte der Golem schließlich hineinkrabbeln. Glissa ließ den Schalter los, und die Tür glitt hinter ihnen zu. »Bleibt hier«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass der alte Troll einen Anfall kriegt.« Sie ging den Tunnel zu dem Raum vor Chunths Schlafzimmer hinauf. Sie wollte gerade an die Wand klopfen, die seine Unterkunft verbarg, als hinter ihr die Rufe von Trollen und das unverwechselbare Zündgeräusch von Slobads Feuerröhre erklangen. Sie hörte das metallische Kratzen, mit dem Waffen gezogen wurden. Glissa wandte sich wieder Chunths Tür zu, aber die stand bereits offen.
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»Guten Morgen, Chunth«, sagte die Elfin, als die gebückte Gestalt eines Trolls in der Tür erschien. »Ich bin wieder da.« »Und fast so, wie du gegangen bist«, sagte der alte Troll und schaute den Tunnel hinunter. »Komm herein. Wir haben viel zu bereden. Die Annäherung rückt mit jedem Tag näher.« »Ich habe Freunde mitgebracht«, sagte Glissa und deutete die Stufen hinunter. »Ich möchte nicht, dass ihnen etwas passiert.« »Das geht schon in Ordnung«, sagte Chunth. Er kicherte. »Ich werde veranlassen, dass deine Freunde in Gastquartiere gebracht werden.« Er machte Anstalten, ihr einen Arm um die Schultern zu legen. »Langsam, alter Mann!«, knurrte Glissa. Sie entzog sich seiner Umarmung. »Noch dürft Ihr nicht den gütigen Onkel spielen.« Sie trat in den Raum und ließ sich auf Chunths Stuhl fallen, der zur Tür hinwies. »Ihr habt mich entführt und zugelassen, dass meine Familie getötet wurde. Bevor wir irgendetwas bereden, werdet Ihr mir verraten, warum das nötig war und wer mich umzubringen versucht.« Chunth rief die Treppe hinunter: »Lasst sie. Das sind unsere Gäste. Gebt ihnen Quartiere und was sie sonst noch brauchen. Ich möchte nicht gestört werden.« Er drehte sich um, trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. »Tut mir Leid, mein Mädchen«, meinte er. »Was hast du gesagt?« »Meine Eltern. Warum mussten sie sterben?« »Ich habe es dir bereits erklärt, Glissa«, sagte der alte Troll in traurigem Ton. »Du bist derzeit die wichtigste Person auf Mirrodin. Wir mussten dich in Sicherheit bringen. Es tut mir Leid, dass deine Familie getötet wurde, aber wenn du geschla-
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fen hättest, als die Gleichmacher kamen, wärst du mit ihnen gestorben.« »Ihr habt also gehofft, die Mörder glauben machen zu können, dass ich tot bin«, fauchte Glissa, »indem Ihr zugelassen habt, dass meine Eltern und meine Schwester von diesen Maschinen in Stücke gerissen wurden.« Chunth zögerte gerade lange genug, um die Elfin wissen zu lassen, dass sie Recht hatte. »Wir haben lediglich versucht, dich zu retten.« »Lügner!« Chunth ging zum Tisch hinüber. Das Licht der Gallertfrucht fiel auf das ledrige Gesicht des alten Trolls. In seinen Augen glitzerte es, und Glissa glaubte, eine Träne über die Wange rollen zu sehen. »Glissa«, sagte er. »Es tut mir Leid um deine Familie. Ich tat, was ich tun musste, um unsere Welt zu retten. Das Schicksal aller ruht nun auf dir.« Glissa schüttelte den Kopf. Es war beinahe zu viel, um es zu begreifen. »Warum? Was ist so besonders an mir?« »Du wirst jetzt alles erfahren müssen.« »Ja«, sagte Glissa gedehnt. »Das finde ich auch.« Der Troll setzte sich ihr gegenüber und schenkte ihnen beiden einen Becher Wasser ein. »Du bist ein Nexus, Glissa«, sagte er, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. »Ein Nexus großer Macht, die darauf wartet, entfesselt zu werden.« »Wovon, zum Aufflackern, redet Ihr da?« »Apropos«, sagte Chunth. »Deine Anfälle von Aufflackern. Sie waren ungewöhnlich, nicht wahr?« »Woher wisst Ihr das?« »Das ist eines der Zeichen deiner Macht«, sagte der Troll. »Erzähl mir von ihnen.« Glissa schüttelte wütend den Kopf. »Dafür habe ich keine Zeit. Jemand versucht mich umzubringen!«
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»Es ist aber wichtig«, sagte Chunth. »Hier kann dir niemand etwas zuleide tun. Erzähl mir von deinen Aufflackern. Dann erkläre ich dir alles, was mir möglich ist.« Glissa seufzte. »Na gut«, sagte sie. »In letzter Zeit war es immer wieder dieselbe Szene an einem Ort, an dem ich selbst noch nie gewesen bin. Ich befinde mich in einem seltsamen Wald, der weich und hell ist. Es gibt keine Monde, aber eine große… Sonne – ein Wort, das ich nie gehört hatte, bis ich das Knäuel verließ. Und ich trage andere Kleidung. Ich bin anders. Meine Arme und Beine bestehen ganz und gar aus Fleisch.« »Und wie endet es?«, fragte Chunth. Ihre Schilderung schien ihn nicht zu überraschen. Natürlich, er selbst hatte ja auch kein Metall an seinem Körper. Möglicherweise kam es ihm deshalb nicht so seltsam vor. »Ich werde zu einer Lichtung hingezogen. In der Mitte leuchtet eine merkwürdige Energie. Um mich herum sind Elfen, die auf diese Energie zugehen.« »Und dann blitzt sie auf?« »Ja«, sagte Glissa. Sie blickte den alten Troll an. »Woher wisst Ihr das? Trolle haben doch keine Anfälle von Aufflakkern.« »Das sind kollektive Erinnerungen, Glissa«, antwortete Chunth. »Du bist auf einer ursprünglichen Ebene mit den Elfen und dem Mana des Waldes verbunden. Deine Anfälle des Aufflackerns zeigen dir keine Visionen deines Lebens, sondern des Lebens deines Volkes … sogar aus der Zeit vor dem Knäuel.« »Vor dem Knäuel?« Sie lachte. »Vor dem Knäuel gab es nichts.« »Du weißt, dass das nicht wahr ist, oder?«, sagte Chunth.
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»Du hast den grünen Wald gesehen, die leuchtend gelbe Sonne und die in Ranken und Blätter gekleideten Elfen.« »Dann hattet Ihr diese Visionen also auch?« »Nein«, sagte Chunth. »Die Erinnerungen, die ich an die Zeit vor dem Knäuel habe, sind meine eigenen. Ich war dort. Ich erinnere mich an meinen Wald. Ich erinnere mich an die Welt der Trolle vor dem Knäuel.« Glissa schwieg einen Moment lang, während sie darum rang, alles Neue zu verarbeiten. »Und die Energie?«, fragte sie dann. »Das Blitzen des weißen Lichts? Erinnert Ihr Euch auch daran?« »Ja. Es war zwar anders für die Trolle, aber doch dasselbe.« »Fangt nicht wieder an, in Rätseln zu sprechen, Alter«, schalt sie ihn. »Drückt Euch klar aus, sonst ziehe ich zu den Goblins, um mit denen zu leben, das schwöre ich.« »Ich weiß nicht, was es mit dieser Kugel aus Energie wirklich auf sich hatte«, sagte Chunth, »oder wie sie funktionierte. Jedenfalls veränderte sie die Welt der Trolle. Wir tauschten unsere Welt gegen seine Welt … diese Welt.« Die rasche Korrektur war Glissa nicht entgangen. »Seine Welt?« Glissa erinnerte sich an etwas, was Slobad über die Golems gesagt hatte. Dass sie aus der Zeit vor den Elfen und Goblins stammten. Sie sah Chunth an. »Meint Ihr etwa Memnarchs Welt?« Chunth starrte sie an und ließ den Wasserbecher auf halbem Wege zwischen dem Tisch und seinem Mund verharren. »Wo hast du diesen Namen gehört?«, fragte er schließlich. »Kennst du ihn aus einem deiner Anfälle des Aufflackerns?« »Nein«, antwortete Glissa. Endlich hatte sie dem Troll die Führung des Gesprächs wieder abgerungen, worüber sie ein
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sonderbares Triumphgefühl empfand. »Der Golem nannte ihn, als er das hier sah.« Sie zog die Phiole aus ihrer Stiefelscheide und stellte sie auf den Tisch. »Wer oder was ist Memnarch? Ist er derjenige, der mich zu töten trachtet? Wer dieses Serum auch hergestellt hat, er hat die Nim damit bezahlt, dass sie uns angreifen.« Chunth ließ seinen Becher zu Boden fallen und nahm die Phiole mit dem Serum in die Hand. »Ich hätte dich nie allein in die Welt hinausziehen lassen dürfen«, sagte er leise. »Hör zu, Glissa. Du trägst eine Macht – eine Gabe – in dir, die andere für ihre Zwecke einsetzen wollen. Wenn du nicht vorsichtig bist …« »Ja, ich weiß«, unterbrach Glissa ihn. »Ende der Welt, unser aller Tod. Dasselbe habe ich schon von einer alten LeonidenSeherin gehört. Von Euch hatte ich allerdings eine konkretere Antwort erwartet. Warum solltet Ihr mich vor den Gleichmachern retten, wenn der Tod alles ist, was ich dieser Welt geben kann?« »Der Tod ist nicht deine Gabe«, sagte Chunth. »Ich sagte dir ja, du bist ein Nexus der Macht. Du musst nur noch vor der Annäherung lernen, diese Macht zu beherrschen, sonst könnte es sehr wohl das Ende der Welt bedeuten.« »Dann lehrt mich, o Weiser«, sagte Glissa. »Zeigt mir, wie ich meine Macht nutzen kann, und ich werde die Welt retten. Das wollt Ihr doch, oder?« »So einfach ist das nicht«, sagte Chunth. Die Dringlichkeit in seiner Stimme ließ Glissa ihren Sarkasmus zügeln und zuhören. »Du wirst unter Umständen nicht wissen, was zu tun ist, wenn die Zeit kommt.« »Dann helft mir, alles zu verstehen«, sagte Glissa leise. »Ich
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weiß, dass Ihr mich mit diesem Schwert habt ziehen lassen, um meine Familie zu retten. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber ich brauche ein paar Antworten. Wer ist dieser Memnarch? Was hat es mit dem Serum auf sich? Wer will mich umbringen? Und wie kann ich all dem ein Ende machen?« Chunth holte tief Luft, ließ sich auf seinen Sitzplatz sinken und schloss die Augen. »In Ordnung. Keine Rätsel mehr«, sagte er. »Ich werde dir erzählen, was ich weiß. Derjenige, der hinter allem steckt, muss einer der Vedalken sein.« »Vedalken?« »Sie leben auf der Quecksilbersee, jenseits des Mephidross. Die Vedalken sammeln das Serum, das du da hast. Sie gieren nach Macht und sind bereit, alles zu tun, um sie zu erlangen.« »Selbst zu töten«, sagte Glissa. »O ja«, sagte Chunth. Er kräuselte die dicken Lippen zu einem unangenehmen Lächeln. »Die Vedalken haben im Laufe der Jahre Millionen getötet … vielleicht auch mehr. Diese mit Serum gefüllte Phiole allein kostete das Leben einer Unmenge von Blinkmotten.« »Was sind Blinkmotten?« »Sie sind das, was du bei Nacht siehst. Du hältst sie üblicherweise für die Sterne am Himmel und die Glühwürmchen, die durch das Knäuel schwärmen. Es sind Lebewesen, die den Himmel mit ihren serumgefüllten Körpern erleuchten und Wasser auf das Land niederregnen lassen. Seit hunderten von Zyklen werden sie von den Vedalken gefangen.« »Warum tun sie das?« »Die Vedalken trinken das Serum, um Wissen über die Welt und Wissen über Memnarch zu erlangen«, sagte Chunth. Sein Blick wanderte in eine unbestimmte Ferne. »Auch ich habe
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einmal von diesem Serum getrunken. Vor langer Zeit, als erst ein paar wenige Runen in den Fuß des Baumes der Sagen geschnitzt waren, erfuhr ich von den Blinkmotten und vielen anderen Geheimnissen dieser Welt. Es ist eine wundersame Flüssigkeit. Sie erschließt das Wissen der Welt, ihrer Entstehung und ihres Schöpfers. Eine kleine Kostprobe schon beschert einem Visionen der Mysterien des Kosmos. Der Inhalt einer Phiole wie dieser hier kann der Beginn einer Reise zur Entschlüsselung dieser Geheimnisse sein.« »Das klingt ja wunderbar«, meinte Glissa. »Warum benutzen wir das Serum nicht, um ein besseres Leben zu führen? Wir könnten lernen, wie man die Gleichmacher kontrolliert, könnten es häufiger regnen lassen und anfangen, diesen Planeten zu beherrschen … Oh! Ich verstehe.« »Ja«, sagte Chunth. »Du verstehst. Wo wäre das Ende? Selbst die Uneigennützigsten unter uns würden die Macht letztlich zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen. Und dieser Weg führt unweigerlich in den Untergang. Macht und Gier zusammen sind stets zerstörerisch, und der Preis für die Macht ist zu hoch. Die Vedalken haben Millionen von Blinkmotten getötet, um ihre gegenwärtige Größe zu erreichen.« »Sind diese Vedalken hoch gewachsene Leute, die Kutten tragen und birnenförmige Köpfe haben?« Chunth nickte. »Sie waren nicht immer so, wie sie jetzt aussehen. Ihr Volk hat sich nur weit über alle anderen auf Mirrodin hinaus entwickelt.« »Wegen des Serums?« Chunth nickte abermals. »Aber warum wollen die Vedalken meinen Tod?«, beharrte die Elfin auf ihrer Frage. »Wenn sie doch über all diese Macht
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verfügen, was wollen sie dann von mir?« »Das weiß ich eben nicht«, sagte Chunth. »Sie spielen Gott. Sie besitzen das Wissen der Alten, aber nicht die Macht, es zu gebrauchen. Vielleicht fürchten sie deine Macht. Vielleicht möchten sie sie nutzen. Ich weiß es nicht.« »Oder vielleicht wollen sie mich nur davon abhalten, die Welt zu vernichten«, sagte Glissa trocken. »Wenn Ushanti von den Leoniden die Macht dazu hätte, würde sie mich umbringen. Was ist mit diesem Memnarch? Ist er der Anführer der Vedalken?« Chunth wirkte müde. Er hielt die Augen geschlossen und rieb sich mit den Fäusten die Schläfen. Glissa war sich nicht einmal sicher, ob er ihre Fragen überhaupt gehört hatte. Vielleicht sollte sie den alten Troll sich zunächst ausruhen lassen, um es später noch einmal zu versuchen. Aber dann sprach er doch. »Seit vielen hundert Zyklen habe ich versucht, im Knäuel für die Sicherheit der Elfen und Trolle zu sorgen. Ich habe das Wissen über die Blinkmotten geheim gehalten, um zu verhindern, dass unsere Völker der Verlockung ihrer Macht zum Opfer fallen. Ich habe jede Erwähnung der alten Welt aus der Geschichte gelöscht, damit die Elfen und Trolle nicht nach ihrer Vergangenheit suchen. Aber du musst von Memnarch erfahren. Du musst die Wahrheit erfahren.« Hinter Chunth schabte die Metalltür über den Boden, und der alte Troll drehte sich um. Glissa sah auf. In der offenen Tür stand ein Troll, der aber nicht zu den Wachen gehörte. Er trug die Kutte eines Ältesten. Chunth fuhr ihn an: »Ich habe die Anweisung erteilt, nicht gestört zu werden. Was ist denn so dringend?«
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Der Troll an der Tür sagte kein Wort. Stattdessen hob er seinen metallumhüllten Arm und drehte die Hand um. Glissa sah, dass er etwas in der Faust barg – eine blaue Kugel, die im schwachen Licht der Gallertfrucht schimmerte. »Was ist das?«, fragte Chunth. »Was tust du da?« »Sie muss sterben«, antwortete der Älteste mit schwacher Stimme. Er öffnete die Faust, und die Kugel blitzte auf. Ein blauer Lichtstrahl fuhr durch den Raum. Glissa warf sich von ihrem Stuhl, während Chunth vor ihr aufsprang. Der Blitz hieb in die Brust des alten Trolls und schleuderte ihn rücklings auf den Tisch. Er krachte zu Boden, wobei er den Tisch, die Becher und die Gallertfrucht mit sich riss. Die Phiole mit dem Serum fiel ihm aus der Hand. Glissa versuchte sich zu bewegen, aber ihr Fuß war unter dem zerbrochenen Tisch eingeklemmt. Hilflos musste sie mit ansehen, wie der Älteste an der Tür die Kugel abermals vorstreckte; seine Handfläche wies in Glissas Richtung. Aber nichts geschah. Er schüttelte die Kugel, versuchte sie zum Funktionieren zu bringen. Sein Blick fiel zu Boden, und er riss die Augen weit auf, als er dort die Phiole mit dem Serum liegen sah. Glissa zerrte wie wild an ihrem Fuß, bekam ihn aber nicht frei. Der Älteste grinste Zähne starrend, hob die Phiole auf, wandte sich um und floh den Tunnel hinab. Glissa sah von der leeren Türöffnung zu Chunth, der quer auf ihrem Bein lag. In seiner Brust klaffte ein riesiges Loch. Er schnappte keuchend nach Luft. »Glissa …«, schnaufte er. »Ich muss dir … sagen …« Glissa hob den fleischigen Kopf des alten Trolls an und bettete ihn in
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ihre Arme. »Sprecht nicht«, sagte sie. »Ich hole Hilfe.« Mit einem schmerzhaften Ruck befreite sie ihren Fuß. »Keine Zeit«, keuchte er. »Du musst … erfahren …« »Was?«, fragte Glissa. Sie spürte Tränen auf ihrem Gesicht. »Die Welt«, sagte Chunth. Blut rann ihm beim Sprechen aus dem Mund. »Nicht … was sie zu sein scheint. Sie ist …« »Was?« »Hohl.« Chunths Augen schlossen sich, und sein Kopf sackte schlaff in Glissas Arme.
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Kapitel 13
ATTENTÄTER
G
lissa ließ Chunths Kopf zu Boden sinken und erhob sich, wobei sie ihren Knöchel nur vorsichtig belastete. Chunth war tot. Ein weiteres Opfer auf einer immer länger werdenden Liste des Todes, der eigentlich für sie bestimmt war. Es gab nur eine Person, die ihr verraten konnte, warum das diesmal geschehen war. Schreiend rannte sie den Tunnel hinunter, dem Meuchelmörder hinterdrein. »Wache, Wache!«, rief sie. »Chunth ist ermordet worden.« Als sie die Geheimtür erreichte, wurde sie von Wachen umringt. »Chunth ist tot«, keuchte sie. »Ein Ältester mit einer blauen Kugel … hat ihn einer von euch hier vorbeikommen sehen?« Glissa drehte sich um, ließ den Blick über die Wand schweifen und suchte nach dem Hebel, der die Geheimtür öffnete. Hinter ihr brüllte einer der Wächter Befehle. »Ihr vier, bringt die Ältesten in Sicherheit«, bellte er. »Der Rest von euch eskortiert die Elfin zu ihren Freunden.« »Nein«, schrie Glissa, während sie die Wand abtastete. »Wir müssen den Ältesten finden. Er hat Chunth getötet. Habt ihr nicht verstanden? Ein Ältester hat Chunth ermordet, und dann ist er hier runtergerannt.«
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Der Wächter fuhr zu ihr herum. »Woher sollen wir wissen, dass nicht du Chunth getötet hast? Immerhin hast du ihn schon einmal angegriffen.« Glissa starrte ihn an. Er musste einer der Wächter sein, die sie in Chunths Quartier gesperrt hatte, als sie das letzte Mal hier war. In ihren Augen sahen sie jedoch alle gleich aus. »Ganz einfach – wenn ich es getan hätte«, sagte sie bedächtig, »dann würde ich nicht so herumschreien … und ihr wärt mittlerweile alle tot.« Der Wächter schluckte hart und ließ ihren Arm los. »Wie hat der Älteste ausgesehen?« Glissa wandte sich wieder der Geheimtür zu. Sie fand schließlich den Hebel, aber die Tür wollte sich nicht öffnen lassen. »Es war ein alter Troll«, erklärte sie. »Er trug eine blaue Kugel bei sich, die Blitze verschoss.« Sie schlug mit dem Schwertknauf gegen den Hebel und fluchte. »Zum Aufflackern! Warum geht das nicht auf?« Der Wächter griff über ihre Schulter hinweg. »Der Riegel klemmt.« Abermals hieb Glissa mit dem Schwertgriff dagegen, aber der Hebel rührte sich nicht. Sie warf sich mit der Schulter gegen die Tür und versuchte sogar, den Baum mit ihrem Schwert aufzuschneiden. Aber er war offenbar auf ganzer Fläche verstärkt worden. »Er ist da durchgegangen«, schrie sie. »Ich muss da rein, und zwar sofort!« Der Wächter wandte sich den übrigen Wachen zu. »Geht zum Haupteingang hinaus. Klettert den Baum hinauf und öffnet diese Tür von außen.« Glissa spürte, wie ein Schrei in ihr hochstieg, und zwang
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sich, ihn zu unterdrücken. »Das dauert zu lang.« Sie hatte eine Idee. »Wo ist der Goblin?« »Ein kleines Stück weiter den Tunnel hinunter«, sagte der Wächter. »Slobad!«, schrie Glissa so laut, wie sie konnte. »Golem! Ich brauche euch!« Einen Augenblick darauf hörte sie dröhnende Schritte den Tunnel heraufkommen. Als der Metallmann um die Biegung herumkam, schnappte Glissa hörbar nach Luft. Ihm fehlte ein Arm. »Was ist passiert?« »Das frage ich dich, he?«, gab Slobad zurück. »Ich putze den Golemarm, dann höre ich Schreien, he? Was willst du? Ich dachte, das hier ist ein ruhiges Plätzchen. Zeit zum Saubermachen und Schlafen.« Er hielt inne und musterte Glissa. Sie kochte vor Wut, und ihr Gesicht war tränenverschmiert. »Was ist los?« »Chunth ist tot«, sagte Glissa. »Der Mörder ist durch diese Tür verschwunden. Jetzt klemmt sie. Mach sie auf!« Der Golem kam heran, und Glissa wich zurück, damit er Platz hatte. Der Golem trat an die Tür, holte mit dem einen Arm aus und drosch die Hand dagegen. Die Geheimtür flog davon und landete weit draußen auf der Terrasse. Glissa rannte durch die Tür. Dabei rief sie dem Wächter zu: »Der Goblin wird die Tür später reparieren. Geht zu den Ältesten. Schützt sie. Und finde unterdessen heraus, welcher von ihnen fehlt.«
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Die Elfin ließ den Blick über die Terrasse schweifen. Trolle waren sehr gute Kletterer, dafür aber nicht so behände wie Elfen. Glissa war sich sicher, dass der Älteste nicht so gesprungen war, wie sie es vor so vielen Nächten getan hatte. Er war entweder auf den nächsten Absatz gestiegen oder den Stamm hinaufgeklettert. Letzteren besah sie sich zuerst. Frische Krallenspuren führten von der Terrasse um den Stamm herum. Glissa winkelte die Finger an, grub die Krallen in den Baum und zog sich auf diese Weise, so gut sie konnte, um den Baum herum. Sie war eine ganz ordentliche Kletterin, den Baum der Sagen aber hatte sie zuvor noch nie bestiegen. Sie beugte sich vor und schnupperte an den Krallenspuren, die der Älteste hinterlassen hatte, um seine Witterung aufzunehmen. Sie mochte vielleicht nicht so gut klettern können wie ein Troll, aber sie war die beste Jägerin im Knäuel. Auf halbem Wege um den Baum herum verlor Glissa die Witterung. Über ihr waren keine Krallenspuren mehr zu sehen, der Trollälteste musste also nach unten geklettert sein. Die Elfin stemmte die Füße gegen den Baum und drückte ihre Krallen fester hinein. Sie konnte ihr Gewicht aber nicht länger halten, und so begann sie, den Baum hinabzurutschen. Glissa blickte nach unten, damit sie sah, was sie dort erwartete. Es ging schnurgerade den ganzen Baum hinab. Keine Vorsprünge oder Gewinde ragten in ihren Weg zum Boden des Knäuels. Sehr ungewöhnlich, fand Glissa. Handelte es sich hier vielleicht um einen Fluchtweg der Trolle? Sie zog ihre Krallen halb aus den Furchen, die sie hinterließen, und wurde sofort schneller. Niemand außer mir wäre dumm genug, so was zu tun, dachte sie und lächelte schief. Als die Elfin sich dem Boden das letzte Stück näherte, stürz-
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te sie ihm praktisch im freien Fall entgegen. Der Stamm wischte verschwommen an ihr vorbei. Glissa wartete so lange wie möglich, dann grub sie die Krallen wieder tiefer in den Baum und stemmte die Stiefelsohlen gegen den Stamm, um ihren Fall abzubremsen. Kurz vor dem Aufprall stieß sie sich kraftvoll ab, löste die Krallen aus dem Stamm und schoss vom Baum weg. Sie war genau im richtigen Augenblick gesprungen und flog nun auf das Ende eines gebogenen Gewindes zu. Sie griff zu, bohrte ihre Krallen hinein und wirbelte einige Male um das spitz zulaufende Gewinde herum, damit sie an Schwung verlor. Dann ließ sie sich die letzten Meter zum Knäuelboden hinabfallen. Sofort hielt sie nach einer Bewegung Ausschau. Hinter ihr erklangen Schritte. Sie kreiselte herum, zog ihr Schwert und schlug zu. Kane warf sich zu Boden, bevor er seinen Kopf verlieren konnte. »Schöne Art, seinen besten Freund zu begrüßen.« Er wollte sich umdrehen, um aufzustehen, aber in seiner Brammenwurm-Rüstung konnte er die Hüften nicht beugen. »Kane, was tust du denn hier?«, sagte Glissa. Sie steckte das Schwert weg und half ihm auf die Beine. »Ich hatte Wachdienst am Haupteingang. Aber was machst du hier, und was, zum Aufflackern, ist da im Baum los?« »Keine Zeit für Erklärungen, aber ich bin froh, dass du da bist. Ist hier in den letzten paar Minuten ein Ältester vorbeigekommen?« »Ja«, sagte Kane ruhig. »Es war Strang, der Hohepriester.« Glissa sah Kane an. »Wie kannst du die eigentlich auseinander halten?«, fragte sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Egal. Hilf mir, ihn zu finden.«
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»Er war unterwegs zur Radix.« »Folg mir«, sagte Glissa. Sie trabte zum Zentrum des Knäuels davon. »Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen.« Kane rannte ihr nach, um sie einzuholen. »Warum? Was ist passiert?« »Strang hat Chunth ermordet«, sagte Glissa. »Und mir hat er etwas gestohlen, das ich zurückhaben will.« »Chunth?« Kane rannte japsend neben seiner Freundin her. »Ich dachte, der existiert nur in Legenden. Die Elitewache der Trolle spricht manchmal von ihm, aber ich habe ihn noch nie gesehen.« »Und woher kennst du Strang?«, wollte Glissa wissen. »Ich war ihm bei Ritualen ein paarmal zugeteilt. Es ist eine große Ehre, dem Hohepriester zu dienen. Strang ist praktisch der Oberste im Tel-Jilad.« Glissa und Kane wichen einem Regenfass aus. Kane fuhr fort: »Ich kann deshalb auch nicht glauben, dass Strang jemanden umgebracht haben soll! Er ist der angesehenste Älteste im ganzen Baum. Er leitet die wichtigsten Rituale. Warum sollte er Chunth töten?« »Ich weiß es nicht«, sagte Glissa, während sie sich der Radix näherten. Sie sagte Kane nichts von Strangs Versuch, auch sie zu töten. Die Kugel, die er benutzte, hatte es in ihrem Nacken genau so, wie das bei den Angriffen der Spionagevögel der Fall gewesen war, kribbeln lassen. Arbeitete Strang, wie wahrscheinlich auch Geth, für die Vedalken? Chunth hatte gesagt, dass er das Serum vor den Trollen und Elfen geheim gehalten hatte. Woher wusste Strang davon? Diese und andere Fragen wälzte sie in Gedanken, während sie neben Kane herrannte. »Macht«, sagte sie schließlich. »Es läuft immer auf Macht
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hinaus. Chunth hatte sie, und Strang wollte sie.«
$ Glissa blieb stehen. Sie befanden sich am Rand der Radix. Sie duckte sich hinter einen Knäuelbaum und zog Kane zu sich heran. Sie atmete seinen moschusartigen Geruch ein, als sein Gesicht sich dem ihren näherte. Sie hatte ganz vergessen, wie gut er roch. »Kane«, flüsterte sie, »ich brauche deine Hilfe. Wenn Strang mich sieht, wird er fliehen. Geh rein und lenk ihn ab. Ich übernehme dann den Rest.« Kane zögerte und richtete den Blick zu Boden. »Er ist ein Ältester. Der Hohepriester. Sollte sich nicht der Rat darum kümmern?« »Der Rat ist nicht hier«, zischte Glissa. »Hör zu, du musst mir vertrauen. Nachdem er Chunth getötet hat, hat Strang mir eine Phiole gestohlen. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass er ihren Inhalt trinkt. Glaube mir, sobald ich die Phiole wieder habe, bringen wir ihn zurück zum Baum der Sagen und übergeben ihn dem Rat. Aber wir müssen ihn jetzt schnappen.« Kane rückte seine Panzerweste zurecht und sah Glissa an. Einen Augenblick lang dachte sie, er würde gleich vor ihr salutieren. »In Ordnung.« »Beschäftige ihn eine Weile mit irgendwas«, sagte Glissa, »aber sei vorsichtig. Er ist ein in die Enge getriebenes Tier.« Kane nickte, dann wandte er sich ab und ging um den Baum
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herum. Glissa erkletterte den Stamm. Sie passierte zwei Gewinde, bevor sie sich um den Stamm herum auf die andere Seite schob. Sie schaute in die Radix hinunter. Kane sprach gerade mit Strang. Glissa konnte allerdings weder die blaue Kugel noch die Phiole sehen. Sie ließ sich auf ein anderes Gewinde fallen, das sich über den Rand der Radix bog, und legte sich flach auf den Bauch. Vorsichtig schob sie sich über die Radix und wunderte sich dabei, wie kahl sie wirkte. Die Lichtung war vollkommen rund und bar jedweder Bäume oder Gallertfrüchte. Glissa hatte hier auch noch nie einen Vorrac oder sonst ein Tier gesehen. Die Elfen mieden diesen Bereich ebenfalls, benutzten ihn allenfalls als Müllhalde. Alles, was man dort auf dem Boden zurückließ, war am nächsten Morgen verschwunden. Strang will hier wahrscheinlich alle Beweise loswerden, dachte Glissa. Na, das werden wir ja sehen. Als sie sich weiter hinaus- und näher auf den Elf und den Troll zuschob, konnte Glissa die beiden reden hören. »Was ist denn?« »Es scheint einen Angriff gegeben zu haben«, sagte Kane. »Diese abtrünnige Elfin Glissa hat offenbar den Baum der Sagen angegriffen. Ihr müsst mit mir kommen, damit ich Euch in Sicherheit bringen kann.« Gut gemacht, Kane. Glissa schob sich weiter auf das Ende des Gewindes zu. Wiege ihn nur weiter in Sicherheit. »Ich komme, sobald ich hier fertig bin, Auserwählter«, sagte Strang. »Du kannst einstweilen beruhigt auf deinen Posten zurückkehren.« »Mein Befehl lautet, Euch in Sicherheit zu bringen, Hohepriester«, beharrte Kane. »Bitte, kommt mit mir. Euer Leben
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könnte in Gefahr sein.« Er drehte sich um, entfernte sich von Strang und ging voran. Glissa spannte sich und wartete auf die Reaktion des Trolls. Er hatte schon einmal getötet. Er würde es wahrscheinlich wieder tun, um seine Spur zu verwischen. Strang zögerte. Glissa sah, wie er unter seine Kutte griff. Dann folgte der alte Troll Kane, der stehen geblieben war, um auf ihn zu warten. Die beiden kamen geradewegs auf Glissa zu. Komm schon, Kane, dachte Glissa. Nur noch ein bisschen näher. Als Kane unter ihr vorbeiging, ließ Glissa sich von dem Gewinde fallen, landete auf Strangs gebeugtem Rücken und riss ihn zu Boden. Sie rollte zur Seite, sprang auf und zog ihr Schwert, aber Strang war nicht weniger schnell als sie. Er kam wieder auf die Füße und sprang einen Schritt zurück. Glissa drang auf ihn ein, aber der alte Troll überraschte sie abermals. Mit einem raschen Hieb seiner Klauen schlug er ihr das Schwert aus der Hand. »Steh nicht einfach nur da, Auserwählter!«, rief er Kane zu. »Verteidige deinen Ältesten gegen diese abtrünnige Elfin!« Kane sprang vor, um Glissa den Weg zu verstellen. Dabei zog er seine Klinge, während er sich vor Strang stellte. »Ich möchte dich nicht verletzen, Glissa«, sagte er, »aber ich muss dich zum Rat bringen, damit du für deine Verbrechen büßt.« Die Worte verblüfften sie kurz, dann sah sie, wie er ihr zuzwinkerte. »Du weißt, dass du mir nicht gewachsen bist, Kane«, fuhr sie ihn an. »Auch ohne mein Schwert könnte ich dein Tel-Jilad-Auserwählten-Gesicht quer durchs Knäuel treten. Geh mir aus dem Weg.« Glissa setzte auf Kane zu, und er hob seinen Schwertarm,
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um sie abzuwehren. Sie schlug seinen Arm beiseite und stieß gegen ihn. Kane stolperte nach hinten. Er rammte den Knauf seines Schwerts in Strangs Gesicht und schlug den alten Troll auf diese Weise zu Boden. Der mörderische Troll griff nach dem Schwert, aber Kane rollte genau in dem Moment herum, wo Glissa sich auf den Ältesten warf und ihn am Boden festnagelte. »Halt seine Arme fest, Kane.« Strang wollte Glissa Gesicht und Hals zerkratzen, aber sie hielt ihn zwischen ihren Knien nieder, während sie seine Angriffe abwehrte. Kane griff nach den Armen des Ältesten. Endlich erwischte er beide und drückte sie zu Boden. Glissa griff in die Kutte des Trolls und fand die Phiole, die noch mit der blauen Flüssigkeit gefüllt war, sowie die blaue Kugel. Sie schwenkte ihren Fund vor den stierenden Augen des Trolls. »Ich brauche keine Vedalkenmagie, um zu töten, Strang«, sagte sie. Angst und Erkenntnis loderten in Strangs Augen auf, als sie den Namen nannte. Sie hatte also Recht gehabt mit ihrer Vermutung, wo der Troll sein kleines Spielzeug herbekommen hatte. Es war eine blaue Kugel, genau so wie die Köpfe der silbernen Vögel, die Taj Nar angegriffen hatten, wie die Vögel, die sie in der Gruft des Geflüsters zusammen mit dem in eine Kutte gekleideten Vedalken gesehen hatte. »Nichts würde mir mehr Freude bereiten, als Euch mit bloßen Händen das Genick zu brechen«, knurrte sie. »Aber ich habe Eurem Auserwählten-Wächter hier versprochen, Euch dem Rat zu übergeben. Es liegt bei Euch: Ihr könnt friedlich zum Baum der Sagen zurückgehen oder hier im Knäuel durch
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meine Hand sterben. Wofür entscheidet Ihr Euch?« »Ich bin so oder so tot«, sagte Strang schließlich. »Soll mir Recht sein.« Die Elf in griff nach seinem Hals. »Nein!«, heulte er auf. Glissa ließ ihre Hände zu beiden Seiten des dicken Halses des Trolls ruhen. »Sagt mir, wer Euch bezahlt hat, um mich zu töten, vielleicht bitte ich den Rat dann, Euch im Exil leben zu lassen.« Es entstand eine lange Pause, bevor er antwortete: »Du hattest Recht. Es waren die Vedalken.« »Ich will einen Namen«, fauchte Glissa. »Er hat mir nie gesagt, wie er heißt«, brummte Strang. »Dann werdet Ihr mir eine Zeichnung von ihm anfertigen, sobald wir wieder im Tel-Jilad sind. Steht auf.« Sie stieg von dem Trollältesten herunter, ließ es sich aber nicht nehmen, ihm beim Aufstehen in die Rippen zu treten. So würde er den ganzen Weg zum Baum vor Schmerzen vornübergebeugt zurücklegen müssen. Kane zerrte Strang auf die Beine und drückte dem Ältesten dann das Schwert gegen den Rücken, während Glissa sich ihre Waffe zurückholte. »Warum das alles, Strang?«, fragte Kane, während sie dann durch das Knäuel gingen. »Chunth war zu alt, um uns noch führen zu können«, sagte Strang. »Er dachte, er könnte die Elfen und die Trolle von der ganzen Welt isolieren, obwohl die Welt jenen, die bereit sind, ihre Chance zu ergreifen, doch so viel zu bieten hat. Was war schon eine tote Elfin im Vergleich zu einem neuen goldenen Zeitalter der Macht für das Knäuel?« »Der Preis für ihre Macht ist zu hoch«, sagte Glissa. »Chunth wusste das.«
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»Ich verstehe das nicht«, sagte Kane. »Ihr wolltet doch auch Glissa töten, oder? Aber warum eigentlich, wo es doch Chunth war, der Euch im Weg stand?« »Der Vedalken sagte, dass sie ein Problem sei«, antwortete Strang. »Sie kam zu früh. Er braucht mehr Zeit …« Glissas Nackenhaare stellten sich auf. Sie warf sich zur Seite und riss Kane mit sich um, genau in dem Augenblick, in dem ein blauer Blitz durch das Knäuel raste. Er fuhr dort vorbei, wo sie eben noch gestanden hatte. Einen Moment später fiel Strang neben ihnen zu Boden. Wo sein Kopf gewesen war, rauchte nun zwischen seinen Schultern ein verkohlter Stumpf.
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Kapitel 14
ANGRIFF
W
as, zum Aufflackern, war das?«, rief Kane. »Red nicht lang!«, entgegnete Glissa. »Renn!« Sie sprang auf und zog Kane mit sich auf die Beine. Die beiden Elfen rannten ins Knäuel. Als sie den nächsten Baum umrundet hatten, standen sie Angesicht zu Kugelschädel vier der Flugkonstruktionen gegenüber, die Taj Nar angegriffen hatten. »Trennen!«, rief Glissa. Sie schwenkte nach rechts ab. Das Kribbeln kehrte zurück, und sie warf sich zu Boden und rollte sich ab. Zwei Blitze versengten den Boden neben ihr. Glissa kam mit dem Schwert in der Hand wieder hoch und schwang es nach der ersten Bewegung, der sie gewahr wurde. Ihre Klinge erwischte den silbrigen Schwanz eines der Ungetüme und schnitt das stachelige Ende ab. Die zweite Kreatur schwenkte nach links, um einem Knäuelbaum auszuweichen, und machte kehrt, das Wesen jedoch, das Glissa verletzt hatte, konnte die scharfe Wende nicht vollziehen. Es drehte seinen gekürzten Schwanz nach links und hob den rechten Flügel, aber das reichte nicht. Das Ungeheuer krachte mit dem Kugelschädel voran gegen den Baum. Die himmelblaue Explosion, die kurz darauf folgte, schleuderte Glissa beinahe zu Boden.
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Sie drehte sich um, um nachzusehen, wie Kane sich gegen die anderen beiden schlug. Er hatte hinter einem Baum Deckung bezogen. Glissa entdeckte zwei Brandspuren an dem Stamm, die metallenen Vögel konnte sie allerdings nirgendwo sehen. »Wenn du ein Kribbeln im Nacken spürst, duck dich!«, rief sie, während sie nach den zurückkehrenden Flugwesen Ausschau hielt. »Verstanden!«, rief Kane zurück. »Kommen da etwa noch mehr von deinen Freunden?« »Gib einfach auf dich Acht, ja?«, antwortete sie. »Das ist kein Spiel. Das ist eine Jagd, und wir sind die Beute.« Das inzwischen nur zu vertraute Kribbeln meldete sich wieder. Glissa ließ sich fallen und rollte um den Stamm herum, aber es kam kein Blitz. Sie hörte zwei krachende Geräusche von dem anderen Baum her. Die Kreaturen mussten sich Kane zum Ziel gewählt haben. Die Elfin sprang auf und kletterte den Baum schnell bis zum untersten Gewinde hinauf. Dort duckte sie sich und ließ den Blick durch den Wald wandern. Die beiden Flugkreaturen, die Kane aufs Korn genommen hatten, verschwanden gerade hinter einem anderen Baum. Er befand sich immer noch am Boden. Glissa durchforstete die Bäume und machte schließlich den dritten Flieger aus. Er hielt direkt auf Kane zu. Sie schrie auf, stieß sich von dem Gewinde ab und warf sich in Richtung des Ungetüms, als es gerade an ihr vorbeiflog, aber die silberflüglige Kreatur war schneller, als Glissa dachte. Sie hatte gehofft, das Unding mit sich zu Boden reißen zu können, aber sie verfehlte es. Verzweifelt streckte sie eine Hand aus und erwischte das Untier an der Schwanz-
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spitze. Elfin und Flieger schlugen zu Boden. Der Schwanz der Kreatur entglitt beim Aufprallen ihrem Griff, weshalb sie ihr Schwert fallen ließ und mit der anderen Hand zupackte. Glissa rollte mit dem Ungetüm herum und hielt es mit beiden Händen fest. Es zappelte in ihrem Griff, um sich zu befreien. Sie wollte es zu Boden schmettern, fürchtete aber, es könnte dabei explodieren. Stattdessen kämpfte sie sich auf die Beine, während sie versuchte, die Kreatur unter Kontrolle zu bekommen. Als sie auf einem Knie hockte, drehte das Untier abermals seinen Schwanz. Glissa verlor das Gleichgewicht und taumelte wieder zu Boden. Als sie aufsah, stand Kane neben ihr. Er hatte sein Schwert erhoben und war bereit, das Wesen aufzuspießen. »Nicht den Kopf«, schrie sie, aber es war zu spät. Kanes Schwert fuhr in den kugelförmigen Kopf des Ungeheuers nieder. Glissa rollte zur Seite und bedeckte ihr Gesicht. Die Kugel explodierte in einem Schauer aus elektrischer Energie. Von der Wucht der Explosion blieb sie verschont, aber ihre Arme und Beine waren blutig von Glasscherben. Die Elfin rappelte sich auf und suchte nach ihrem Freund. Sie fand ihn mit ausgestreckten Gliedern unter einem in der Nähe stehenden Baum. Die Teile seines zerbrochenen Schwertes lagen verstreut um ihn herum. Als sie sich über ihn beugte, spürte sie wieder das Kribbeln. Die Ungetüme kamen schnell, schneller, als sie es zuvor erlebt hatte. Offenbar waren sie des Spielens mit den flinken Elfen müde und hatten vor, ihre Aufgabe ein für alle Mal zu erledigen. Glissa warf sich von ihrem Freund fort und hetzte auf einen Baum zu. Dicht hinter ihr schlugen zwei Blitze in den Bo-
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den. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die nächsten Blitze folgten, und konnte nur hoffen, den Baum rechtzeitig zu erreichen. Die Flieger kamen ihr mit jedem Schritt näher. Sie konnte das Schlagen ihrer Flügel hinter sich hören. Sie waren nur noch drei Meter entfernt … zwei einen. Als Glissa den Baum erreichte, spürte sie, wie das Kribbeln in ihrem Nacken sich meldete. Die Blitze würden gleich zuschlagen. Glissa sprang hoch in die Luft. Hinter ihr spien die Ungeheuer nun tatsächlich ihre Blitze aus. Sie packte ein tief hängendes Gewinde und schwang die Beine aus der Bahn ihrer Verfolger. Ihr Schwung trug Glissa um das Gewinde herum. Sie zog die Beine an, um an Geschwindigkeit zu gewinnen, und stieß dann im Herumschwingen wieder vor. Ihre Füße krachten den Fliegern in den Rücken und ließen die Untiere zu Boden trudeln. Glissa ließ sich fallen und duckte sich hinter den Baum. Beide Flieger prallten auf dem Boden auf und explodierten sogleich. Glassplitter prasselten gegen den Stamm. Ihre Arme und Beine zitterten, als die freigesetzte Energie über sie hinwegflutete. Sie spähte um den Baum herum, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich beide Kreaturen abgestürzt waren, dann sprang sie auf, rannte zurück zu Kane und hob unterwegs ihr Schwert auf. Als Glissa sich dem auf dem Bauch liegenden Kane näherte, gingen ihr all die versäumten Gelegenheiten durch den Kopf. Kane war ihr bester Freund gewesen, die einzige Person, abgesehen von ihren Familienangehörigen, an die sie sich nach ihrer ersten Zeremonie des Zurechtweisens erinnerte. Im Laufe
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der vergangenen hundert Zyklen waren sie noch enger zusammengewachsen. Und jetzt hatte sie ihn womöglich verloren, ohne ihm ihre wahren Gefühle offenbart zu haben. Ein Loch tat sich in ihrem Herzen auf. Als sie näher kam, stöhnte Kane und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Glissa lächelte breit und wischte sich die Tränen von den Augen und Wangen. Sie eilte an seine Seite und umarmte ihn fest, während er sich aufzusetzen bemühte. »Wofür, zum Aufflackern, war denn das?« »Ich dachte schon, du bist tot«, sagte Glissa. »Ich … ich freu mich nur, dass mit dir alles in Ordnung ist.« »Das bleibt abzuwarten«, grunzte er. »Mein Kopf zerspringt gleich.« Glissa half Kane auf, dann gab sie ihm eine kleine Ohrfeige. »Der sollte auch wehtun, du dickköpfiger Elf!« »Au«, machte Kane. »Du … Ach, schon gut. Was waren das eigentlich für Dinger?« »Das war die Macht, für die Strang uns verkauft hat«, sagte Glissa. »Konstruktionen. Werkzeuge meines Feindes. Sie haben mich schon einmal angegriffen und den ganzen Weg zurück zum Knäuel verfolgt. Zwei dieser Dinger habe ich auch zusammen mit einer Kuttengestalt gesehen, die Chunth einen Vedalken nannte – von irgendeinem üblen Volk, das meinen Tod will. Und denk jetzt bloß nicht, dass ich unter Verfolgungswahn leide. Das ist nämlich genau derjenige, an den Strang uns verraten hat. Hör zu, ich glaube nicht, dass er nur vier dieser Ungetüme geschickt hat. Wir sollten zum Baum der Sagen zurückkehren. Kannst du rennen?« »Ich glaube schon«, sagte Kane. Er sah sich um. »Mein Schwert!«, rief er plötzlich. »Was ist mit meinem Schwert pas-
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siert?« »Dasselbe, was beinahe mit deinem Kopf passiert wäre. Komm. Wir besorgen dir ein neues. Ein Glück für dich, dass das alles ist, was wir ersetzen müssen.«
$ Während die beiden Elfen durch das Knäuel rannten, stellte Kane die Fragen, die Glissa sich bereits selbst gestellt hatte. »Wer sind diese Vedalken? Warum wollen sie deinen Tod?« »Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Glissa. »Aber ich habe vor, es herauszufinden.« Unweit des Baumes der Sagen wurde Glissa langsamer, packte ihren Freund bei den Schultern und zog ihn hinter einen Baum. Er machte den Mund auf, aber sie hob einen Finger. »Hörst du etwas?«, fragte sie ihn. »Nein. Es ist still.« »Stimmt. Und genau das macht mir Sorgen«, sagte Glissa. Kane überlegte. »Es ist noch ziemlich früh.« »Ja«, sagte sie, »aber wenn der Tel-Jilad im Moment von weiteren dieser Konstruktionen angegriffen würde, müssten wir doch Kampfgeräusche hören. Und wenn nicht das glaubst du nicht auch, dass Chunths Tod zumindest etwas Aufruhr ausgelöst haben müsste?« »Kann sein«, sagte Kane. Er wirkte nicht sonderlich überzeugt. »Lass mich erst mal nachsehen«, sagte Glissa. »Du bleibst hier – und sei diesmal vorsichtig!«
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»In Ordnung«, sagte Kane. »Ich gebe dir Rückendeckung.« Glissa zögerte. Nach allem, was in den vergangenen paar Tagen passiert war, wollte sie eigentlich keinen Augenblick länger warten, um Kane zu sagen, wie viel er ihr bedeutete. Aber jetzt war nicht der passende Zeitpunkt. Sie musste sich darauf konzentrieren, am Leben zu bleiben. Sie gab ihm noch einen raschen Kuss auf die Wange. »Wofür, zum Aufflackern, war denn das?« »Das war für später«, sagte Glissa lächelnd. Sie schlüpfte mit gezücktem Schwert um den Baum herum und ließ den Blick über die kleine Lichtung vor dem Baum der Sagen schweifen. Am Haupteingang standen keine Wachen. Kanes Fehlen hätte inzwischen eigentlich bemerkt worden sein müssen. Der Rat hätte die Wache am Haupteingang mit einem Trupp Tel-Jilad-Auserwählter oder Troll-Elitegarden verstärkt haben müssen. Irgendetwas stimmte hier ganz offensichtlich nicht. Glissa schlich auf den Eingang zu und hielt dabei das Schwert vor sich her. Sie wartete auf das Kribbeln in ihrem Nacken, das die Ankunft der silberflügligen Konstruktionen ankündigte, aber sie spürte nichts. Im Knäuel blieb es still, bis auf das dumpfe Geräusch ihrer eigenen Schritte. Auf halbem Weg über die Lichtung blieb sie stehen und lauschte noch einmal. Über ihr raschelte et-was, aber es mochte nur der Wind sein, der durch die Gewinde strich, oder ein Vorrac, der über eine Terrasse lief. Die Elfin ließ den Blick über die Bäume und Gewinde wandern, beobachtete und wartete. Sie wollte gerade Kane aus seinem Versteck rufen, als sie hinter dem Baum der Sagen auftauchten: Ein Dutzend oder mehr der kugelköpfigen Flieger
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schwärmte zu beiden Seiten des gewaltigen Baumes hervor. Sie mussten sich hinten an den Baum geklammert und auf ihre Rückkehr gewartet haben. Glissa rannte auf den Eingang zu. Die Flieger fegten um den Baum herum, zwei geschwungene Linien des Todes kamen flügelschlagend auf sie zu. Das Kribbeln rann ihr über den Rücken. Die Luft um die Silbervögel herum lud sich knisternd mit Energie auf. Einer nach dem anderen entfesselten sie grelle Blitze. Glissa duckte sich nach allen Seiten, während die Blitze rings um sie her einschlugen. Sie ließ sich zu Boden fallen, als einer der Vögel kreischend auf sie zuraste. Sie rollte sich zweimal um die eigene Achse, dann warf sie sich zur Seite. Ein weiterer Blitz fetzte genau dort ein Loch in den Boden, wo sie sich eben noch befunden hatte. Die flinke Elfin kam auf die Beine und hetzte im Zickzack auf den Eingang des Tel-Jilad zu. Als um sie her drei weitere Blitze in den Baum einschlugen, sprang sie durch die offene Tür. Drinnen rollte sich Glissa zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ein einzelner Silbervogel flog zum Eingang herein. Glissa riss ihre Klinge nach oben und schnitt dem Ungetüm durch Flügel und Rückgrat. Die blaue Kugel flog weiter und krachte gegen die rückwärtige Wand des Eingangbereichs. Glissa schirmte ihre Augen gegen die darauf folgende Explosion ab. Sie ließ sich auf ein Knie nieder und lehnte sich um die Ecke des Eingangs herum, um nachzusehen, ob noch mehr versuchten, in den Baum vorzudringen. Die Konstruktionen, die sie sehen konnte, entfernten sich jedoch von der kleinen Lichtung. Bereiten sich wohl auf einen weiteren Angriff vor, dachte Glissa. Sie hatte die Taktik dieser Flieger gesehen und wusste, dass sie ein paar Augenblicke brauchen würden, um kehrtzu-
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machen und ein weiteres Mal zu attackieren. »Kane«, rief sie. »Komm jetzt! Bevor sie zurückkommen. Du kannst es schaffen!« Er raste hinter dem Baum hervor. Glissa hielt sich bereit, hinauszulaufen und die Silbervögel abzulenken, falls sie zurückkehrten. Was sie stattdessen sah, ließ sie jedoch vor Angst erschauern. Eine in eine Kutte gekleidete Gestalt trat hinter einem der Bäume hervor. Sie hob einen verzierten Stock und richtete ihn auf den Auserwählten-Wächter. Glissa schrie, aber die Warnung kam zu spät. Mit einer raschen Bewegung seines Handgelenks versprühte der Magier blaue Energie, die auf den rennenden Elfen zuströmte. Der Blitz hieb in Kanes Rücken und hüllte ihn gänzlich ein. Er stieß einen Todesschrei aus und fiel zu Boden. Als Glissa vom Baum aus auf ihn zueilte, konnte sie sein schmerzverzerrtes Gesicht sehen. Seine Nackenmuskeln traten hervor, und seine Arme schlugen unkontrolliert umher, während die Energie an seinem Körper auf und ab floss. Entsetzt blieb Glissa stehen. Die Metallteile seines Körpers – seine Arme, Schenkel und Schultern – schmolzen! Glissa ließ sich neben ihrem sich windenden Freund zu Boden fallen. Sie hatte Angst, ihn zu berühren, während die Energie weiter über seinen Körper knisterte, und konnte nichts tun, als machtlos zuzusehen. Unterdessen hatte sich der Körper des Kriegers zur Hälfte in Flüssigkeit verwandelt, die sich in Lachen um das verbliebene Fleisch sammelte. Kane hörte auf zu schreien, aber sein Körper zuckte weiter, bis nur noch sein Kopf und ein blutiger Rumpf übrig waren.
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$ Glissa starrte auf Kanes Überreste, während der Magier herankam. Als er sich näherte, sah sie auf. Was sie irrtümlich für einen birnenförmigen, leuchtenden Kopf gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Kugelhelm wie die Schädel der silbernen Flieger. In dieser Kugel sah sie ein missgestaltetes, haarloses Gesicht mit hervortretenden Wangenknochen und einem übergroßen Hinterkopf. Die Kutte verbarg ein zusätzliches Armpaar, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Der Fremde stand da, hielt seinen Stab und lächelte sie an. »Ich dachte mir, dass dich das aus deinem Versteck locken würde«, sagte er. »Jetzt bist du an der Reihe.« Der Vedalken – Glissa nahm jedenfalls an, dass er einer war – hob den Stab über seinen Kopf. Der Magier begann zu murmeln, und die Spitze seines Stabes erglühte in blauem Licht. Glissa starrte reglos hinein und dachte daran, wie einfach es doch wäre, den Vedalken gewinnen zu lassen. Sie blickte hinab auf die blutigen Überreste ihres Freundes, und in ihr brach irgendetwas. All die Gefühle, die sie während der vergangenen zweihundert Zyklen für Kane gehegt hatte – die langsame Entwicklung von Freundschaft zu etwas, das mehr war – kochten über und verwandelten sich in Zorn. »Neeiin!«, schrie sie den Magier an. Ihr Schwert fuhr nach oben und beschrieb so blitzartig einen Kreis, dass es mit dem Auge nicht nachzuvollziehen war. Grüne Energieströme leckten nach Glissas Händen, als sie die Klinge durch den Stab des
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Magiers trieb und die Waffe direkt über dessen oberer Hand durchtrennte. Blaue Energie sammelte sich an der Spitze des Stabes, als die abgeschlagene Hälfte zu Boden fiel, und explodierte vor dem Kugelschädel des Magiers. Die Wucht der Explosion schmetterte Glissa zu Boden und schleuderte den Vedalken-Magier rückwärts in die Bäume. Glissa rappelte sich auf. Die Energieranken flackerten an ihren zerschrammten, blutigen Armen auf und ab. Ihr Gesicht war von der Explosion und der Wut, die in ihr tobte, gerötet. Sie wollte ihr Schwert mit dem Blut des Mörders beflecken, der ihr jedes Stück ihres Lebens geraubt hatte, aber er war nirgends zu sehen. Sie konnte ihn aber lachen hören. Das Geräusch echote durch die Bäume. »Ein Punkt für dich, Glissa«, sagte die lachende Stimme, »aber meine Aerophins werden dieses Spiel rasch zu Ende bringen.« »Das ist kein Spiel«, murmelte Glissa. »Es ist eine Jagd.« Sie ging auf die umliegenden Bäume zu, aber dann begann es wieder, in ihrem Nacken zu kribbeln. Ein Dutzend Aerophins stürzten auf sie zu. Sie hatten sich verteilt und rasten ihr jetzt aus jeder Ecke der Lichtung entgegen. Sie konnte nirgendwohin fliehen. Die grünen Energiestränge umhüllten Arme und Brust der Elfin, aber in ihrer blinden Wut nahm sie es nicht zur Kenntnis. Sie stieß das Schwert in die Luft, bereit, den ersten Flieger aufzuspießen, der ihr zu nahe kam. Sie wusste, dass es dazu nie kommen würde. Das Kribbeln warnte sie, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Blaue Blitze brachen aus den silberflügligen Aerophins hervor. Ein primitiver Zorn stieg in der Elfenkriegerin auf, und sie brüllte ihre Angreifer an.
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Zwölf Blitze rasten auf sie zu. Die Energie, die ihren Körper umgab, floss über ihre Arme in den Griff ihres Schwerts. Die Klinge leuchtete heller als der gelbe Mond über Taj Nar zur Mittagszeit. Die Blitze bogen sich der Spitze des glühenden Schwerts zu, als würden sie von der Kraft angezogen. Als die Blitze die Waffe trafen, rasten smaragdfarbene Energieentladungen die blauen Linien entlang und schlugen in die Aerophins. Die Energie fuhr aus Glissas Schwert in die blauen Kugelschädel der silberflügeligen Ungetüme, und eines nach dem anderen explodierte. Glasscherben, zerfetzte Silberflügel und Schwänze fielen rings um Glissa zu Boden, als sie über dem Leichnam Kanes zusammenbrach. Ihrem Körper war sämtliche Energie entzogen, und so lag sie ausgebreitet über den Überresten ihres besten Freundes da und weinte.
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Kapitel 15
KULT VON KRARK
G
lissa lag benommen auf der Lichtung. Im Knäuel war es still, nichts rührte sich. Die Schlacht war vorbei, und der Aufruhr, der im Tel-Jilad herrschte, drang nicht zu ihr durch. Die Trolle waren offenbar entweder tot oder vertrieben worden. Die Elfen waren verschwunden. Sie hatte den ganzen Wald für sich. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich allein und fehl am Platz im Knäuel. Glissa hatte nie viele Freunde besessen, aber sie hatte ein Zuhause, eine Familie und Kane gehabt. Jetzt hatte sie nichts mehr. Nein, verbesserte sie sich. Jetzt hatte sie eine Bestimmung … eine Bestimmung und ein Vermächtnis des Todes. Sie starrte zu Boden und war sich ihrer Umgebung kaum bewusst. Sie hörte Slobads Stimme nach ihr rufen; sie hallte wider, als stünde Glissa am Rande eines tiefen Abgrundes. Sie schaute nach unten. Da war kein Abgrund. Nur Blut und geschmolzenes Kupfer. Ein Finger und ein Daumen lagen neben den Trümmern des Magierstabs, blaugrau und ausgemergelt. Das waren nicht die Finger eines Elfen. Glissa hob sie auf und hielt sie, sich hin und her wiegend, fest mit der Faust umschlossen. »Glissa«, rief Slobad. Er klang, als wäre er weit entfernt.
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Seine Stimme echote um sie her. »Glissa. Wo bist du, he?« Hatte sie sich verirrt?, dachte Glissa. »Heb sie auf«, hörte sie jemanden wie aus weiter Ferne sagen. »Wir bringen sie in Sicherheit, he? Dann finden wir heraus, was hier passiert ist.« Glissa fiel in die Tiefe des riesigen Loches. Der Rand des Abgrunds glitt an ihr vorbei, und sie stürzte ins Nichts. Ihr einziger Begleiter war der Wind, der an ihren Ohren vorbeirauschte. Wirbelnde Formen tanzten vor ihr und verschwanden dann in der Schwärze. Sie sah ihre Mutter und ihren Vater. Sie sah Lyese. Sie streckten ihre Hände nach Glissa aus, ihre Münder öffneten sich, als schrien sie vor Schrecken. Glissa konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nicht zu ihnen. Es gab kein Geräusch außer dem des Windes. Ihre Schreie waren stumm. Glissa versuchte zu schreien, aber sie besaß keine Stimme. Sie sah Chunth, friedlich, aber tot. Seine Augen waren geschlossen. Sie konnte das verbrannte Loch in seiner Brust sehen. Der verkohlte Leichnam von Rishan trieb vorüber, wand sich in Todesschmerzen. Die Elfenkriegerin wollte darauf zurennen, aber sie rannte bloß wirkungslos in der Luft. Sie sah Kane. Er rannte ebenfalls, rannte mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf sie zu. Dann verschwand er mit einem Ausdruck des Staunens in den Augen, und die Finsternis kehrte zurück. Glissa hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon fiel. Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Es gab nur noch die Dunkelheit und den Wind. War das ihre Bestimmung? Ein endloser Sturz ins Dunkel? Oder war das eine Strafe? Vielleicht war sie nicht zu töten, weil sie eine Bestimmung hatte. Jeder in ihrem Umfeld hatte für ihre Bestimmung mit dem Leben be-
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zahlt. Ihre Strafe war es nun, mit der Erinnerung an ihr Versagen in der Dunkelheit zu leben. Als Nächstes sah sie Slobad und den Golem in der Finsternis. Slobad rief nach ihr. Sie sah, wie sein Mund die Worte ,Glissa, Glissa’ formte, aber sie konnte ihn nicht hören. Nur den Wind. Irgendetwas jedoch war anders. Slobad war nicht tot, jedenfalls nicht, soweit Glissa sich erinnern konnte. Und der Golem lebte nicht im eigentlichen Sinne. Was also hatten die beiden in ihrem persönlichen Fegefeuer zu suchen? Sie konzentrierte sich auf Slobad, versuchte ihn dazu zu bringen, näher zu kommen … oder zu verschwinden. Während sie sich konzentrierte, vernahm sie allerdings seine Worte. »Glissa«, sagte er. »Glissa. Bist du da drin? Komm zurück, he? Glissa!« Er schien besorgt zu sein, genau wie der Golem. Irgendwie wirkte das sonst so stoische Gesicht des Metallmanns zerfurcht, und er hatte die Augen zusammengekniffen. Er sah Slobad an und öffnete den Mund. »Was nun?«, fragte der Golem.
$ Die kratzige Stimme riss Glissa zurück in die Wirklichkeit. Der Golem hatte gesprochen. Glissa öffnete langsam die Augen und sah den Goblin und den Golem. Sie standen so vor ihr, wie sie es in ihrem Traum getan hatten. Oder war es ein Aufflackern gewesen? Glissa konnte es nicht sagen. Hinter ihren beiden Gefährten löste sich die Schwärze in dunkle Röte auf.
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Wo war sie? Was war mit dem Knäuel geschehen? Wann hatte der Golem zu sprechen gelernt? Glissa öffnete den Mund, um diese Fragen zu stellen, aber alles, was herauskam, war ein Gurgeln. Sie hustete und versuchte es noch einmal. »Slobad«, sagte sie. »Wo sind wir?« Der Goblin lächelte und schlug dem Golem auf eines seiner eisernen Knie. »Sie ist wieder da, he?«, sagte er. »Sie ist wieder da.« »Das sehe ich«, sagte der Golem. Tausend Fragen kreisten durch Glissas Kopf. »Wo war ich?«, fragte sie schließlich. »Sag du uns das, he?«, antwortete Slobad. »Glissa hat nach dem Angriff der Fliegdinger im Wald abgeschaltet. Drei Umkreisungen lang kein Wort gesprochen. Der Golem hat uns an einen sicheren Ort gebracht.« »Fliegdinger? Drei Umkreisungen?« Jedes Wort schmerzte ihr in der Kehle, und ihr Mund war trocken. »Gibt es hier Wasser?« Slobad sah den Golem an, der sich daraufhin entfernte. »Wir sind in die Berge gegangen«, sagte er. »Zu den Kultisten, von denen ich dir erzählt habe. Zu Dwugget. Hier sind wir jetzt sicher.« »Nein«, sagte Glissa. »Wir sind nicht sicher. Sie sind nicht sicher. Niemand ist sicher, nicht, wenn ich in der Nähe bin.« Der Golem kam mit einem Becher Wasser zurück. Glissa nahm ihn entgegen und trank mit großen Schlucken. »Ich sollte von hier fortgehen«, sagte sie. »Ihr hättet mich im Knäuel lassen sollen.« »Trolle haben uns gesagt, wir sollen gehen, he?«, erklärte Slobad. »Nachdem Slobad ihre Geheimtür repariert hat. Sie sa-
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gen, es ist besser für dich, den Wald zu verlassen. Sagen es mit viel mehr Worten, vielen Verbeugungen und Lächeln konnten sehen, dass die Trolle Angst haben. Slobad kennt diesen Ausdruck, he?« »Dann hättet ihr mich eben in der Glimmerleere lassen sollen«, sagte Glissa. »Hier ist es nicht sicher. Es ist nirgends sicher. Dieser Vedalken-Magier hat überall Spione. Er hat sich Strang gekauft, und jetzt ist Chunth tot. Er bezahlte Geth dafür, uns anzugreifen. Es würde mich nicht überraschen, wenn er auch Ushanti auf seine Seite gezogen hat. Sie hat das Serum erkannt. Das konnte ich ihr ansehen. Wir können auch ihr nicht mehr trauen. Wir können niemandem mehr trauen.« »Wir trauen Dwugget, he?«, sagte Slobad. »Kultisten sehen nie andere Völker. Sie sind Ausgestoßene wie wir, he? Ausgestoßene.« »Perfekte Ziele für Verrat«, meinte Glissa. Sie erhob sich von dem Stapel aus Tierhäuten, auf dem sie gelegen hatte, und lokkerte die Beine. Sie befanden sich in einer kleinen Höhle, die von einem Feuer erhellt wurde, das in einem seltsamen metallenen Ding in der Ecke brannte. Auf wackligen Beinen ging Glissa durch den Raum, um diesen Leuchter in Augenschein zu nehmen. »Auch wenn der Magier in der Kutte diesen Dwugget nicht beeinflusst hat, wette ich doch darauf, dass diese verdammten Vögel uns verfolgt haben, seit wir den Mephidross verlassen haben.« Sie kam sich vor wie ein eingesperrtes Tier. »Wir haben sie immerhin auch direkt zu Rishan und Kane geführt. Und jetzt habt ihr die Kultisten in Gefahr gebracht. Du meinst, wir sind hier in Sicherheit? Wir werden niemals in Sicherheit sein.«
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Behutsam führte der Golem die Elfin zu den Tierhäuten zurück. Er setzte sie hin und berührte ihre Schultern. Sie kratzte für eine Weile eine Stelle ihres Beines und schabte den Grünspan vom Kupfer, dann zupfte sie den grünen Dreck unter ihren Krallen hervor. Etwas befand sich in ihrer Faust. Es war ihr nicht aufgefallen, dass sie diese Hand die ganze Zeit über zur Faust geballt hatte. Die Elfin öffnete die Hand. Der Daumen und der Finger, die sie nach dem Kampf aufgehoben hatte, lagen darin. Jetzt waren sie noch verschrumpelter und grauer, als sie beides in Erinnerung hatte. »Die hab ich der Kuttengestalt abgeschnitten«, sagte sie. »Ich werde sie behalten, bis ich ihn mit seinen toten Fingern vereinen kann.« Glissa riss einen Lederstreifen von den Häuten hinter ihr ab. Sie bohrte ihre Klauen durch die abgetrennten Glieder, fädelte das Lederband durch die entstandenen Löcher und band sich die grausige Kette dann um den Hals. »Hör zu, verrückte Elfin«, sagte Slobad. »Du benimmst dich noch verrückter als sonst, he? Du musst dich ausruhen. Wieder zu Kräften kommen. Mach dir keine Sorgen um Krark-Kult. Dwugget hält ihn seit fünfzig Jahren verborgen. Hier findet uns niemand, he? Niemand. Und morgen reden wir. Überlegen, was als Nächstes zu tun ist, he? Wie Bosh gesagt hat. Und dann gehen wir. Wir gehen, und der Kult ist weiter in Sicherheit.« Der Golem gab ihr mehr Wasser. Sie zitterte am ganzen Leib, während sie den Becher leerte. Das Wasser half ihr, sich etwas zu beruhigen, das und die sanfte Schultermassage, die ihr der Golem verabreichte. Irgendwo tief in sich wusste sie, dass sie sich dumm benahm. Nicht jeder war darauf aus, sie
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umzubringen. Aber solange sie diesen Magier nicht fand und zu Ende brachte, was er mit ihr begonnen hatte, würde niemand sicher sein. Irgendetwas nagte in ihrem Hinterkopf, und sie fingerte an ihren schrecklichen Anhängern herum. »Bosh?«, fragte sie dann. War das ein neuer Feind, den sie ihrer länger werdenden Liste hinzufügen musste? »Wer ist dieser Bosh, und was hat er genau gesagt?« »Golem ist Bosh«, sagte Slobad. »Seine Name ist Bosh. Hat er mir unterwegs erzählt, he? Bosh.« »Er … Bosh … spricht?«, sagte Glissa. »Wie kommt das?« »Slobad hat ihn im Knäuel und während der Reise vom Rest des Dross gesäubert, he?«, sagte der Goblin. »Und eines Morgens fängt er an zu sprechen.« Glissa trank noch einen Becher Wasser. Sie war müde. Zwar hatte sie drei Tage geschlafen, aber sie war nicht ausgeruht. Das war alles. Sie sah ihre Freunde an. Es waren gute Freunde. Sie konnte die Sorge in ihren Gesichtern sehen. Es war Zeit, aus der Dunkelheit hervorzukommen und sich der Welt wieder anzuschließen. Glissa holte tief Luft und sah zum Golem auf. »Du kannst jetzt also reden?«, fragte sie ihn. »Ja«, antwortete Bosh. Glissa hielt den Blick auf ihn gerichtet, wartete darauf, dass er noch etwas sagte, dann schaute sie zu Slobad hin und hob die Augenbrauen. »Ich sagte, er spricht«, erklärte Slobad. »Ich sagte nicht, dass er viel spricht, he?« Glissa lachte. Sie fühlte sich allmählich besser, doch die Zweifel und die Furcht, die sie eingehüllt und in jenen Abgrund gestoßen hatten, lauerten noch immer in den Schatten
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ihres Geistes. Je eher sie die Kultisten verließ, desto besser, dachte sie – für die Kultisten jedenfalls. Vielleicht sollte sie auch am besten Slobad und Bosh verlassen – zumindest bis die Gefahr vorüber war. Später, nachdem Glissa traumlos noch ein bisschen geschlafen hatte, erzählte sie Slobad und Bosh, was am Baum der Sagen geschehen war, was sie von Chunth und seinem Mörder erfahren hatte. Sie erzählte ihnen, dass die Vedalken die Quelle des Serums waren. Sie erzählte ihnen von Strangs Verrat und von der Kuttengestalt im Wald. Und sie erzählte ihnen von Kanes Tod. Was ihr am schwersten von allem fiel. »Es tut mir Leid, das zu hören«, sagte Slobad und senkte den Kopf. »Wir konnten nicht Schritt halten. Slobad baut den Golem wieder zusammen, he? Haben uns so schnell, wie wir können, vom Baum entfernt. Tut mir Leid.« »Das macht doch nichts«, sagte Glissa. Sie wiegte sich hin und her und bemerkte, dass sie wieder mit den abgetrennten Fingern spielte. Sie schob die Halskette unter ihre Kleidung und schüttelte sich, um die Dunkelheit zu vertreiben, die sie zu verschlingen drohte. »Es war besser, dass ihr nicht bei mir wart«, sagte sie nach einer Weile. »Sonst wärt ihr jetzt auch tot.« »Vielleicht«, sagte Slobad. »Vielleicht auch nicht. Tut mir trotzdem Leid. Würde Leben geben, um Freund zu retten, he?« »Nein!«, fuhr Glissa auf. »Keine Toten mehr. Nicht meinetwegen. Wir verschwinden jetzt von hier. Wir gehen zu diesem Kult und bringen das Ganze zu Ende.« Glissa erhob sich von den Tierhäuten. Ihre Beine und Arme schmerzten angesichts des zweitägigen Nichtstuns, und sie wäre beinahe hingefallen. Bosh streckte einen Arm vor und fing sie an der Schulter auf.
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»Wir gehen bald, he?«, sagte Slobad. »Sobald du dazu in der Lage bist. Iss. Ruh dich aus. Dann gehen wir, he?« Die Elfin seufzte. »Wohin? Wir können zwar zum Kult gehen und mit ihnen reden, aber wir haben nicht die geringste Ahnung, wie wir danach die Vedalken finden sollen.« Slobad hustete kurz, als wollte er sich die Kehle freiräuspern. »Slobad hat schon von den Vedalken gehört, he? Nicht viel zwar, nein. Aber so manches.« »Was denn?« »Vedalken leben an der Quecksilbersee. Das ist weit weg von hier, he? Slobad war noch nie dort. Langer Weg für verrückte Elfin, Slobad und Bosh. Aber wir können es schaffen.« »Was schaffen?« »Die Vedalken an der Quecksilbersee zu finden, so wie ich es dir gesagt habe.« Der Goblin schien langsam die Geduld angesichts Glissas beschränkter Intelligenz zu verlieren. »Vielleicht gehen wir nach unserem Treffen mit Dwugget dorthin.« In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit Schüsseln darauf. Glissa bemerkte jetzt, wie ausgehungert sie war. Mit der Hilfe des Golems ging sie zu dem Tisch, wo sie ein wenig Eintopf vorfand. Sie aß ihn gierig auf, dann nahm sie sich aus einem großen Topf Nachschlag. Über die Fleischbrocken, die sie nicht näher nach ihrer Herkunft bestimmen konnte, machte sie sich keine Gedanken. Glissa fragte sich, ob sie Slobad und Bosh von Chunths letzter Offenbarung erzählen sollte, davon, dass die Welt hohl war. Die beiden würden dann vielleicht glauben, sie hätte diesen Teil der Unterhaltung nur geträumt. Sie wusste ja selbst nicht mehr, ob das alles real gewesen war. Aber diese Enthüllung erinnerte sie an etwas, was Slobad ihr über Krark erzählt
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hatte. Dass er die innere Welt gesehen habe. »Erzähl mir noch mal von diesem Kult, Slobad«, bat sie ihn. »Warum verstecken sie sich so? Was hat Krark alles gesehen?« Slobad setzte sich und tat sich etwas Eintopf auf. »Krark war ein Goblin-Schamane, he? Krark wird als Ketzer gebrandmarkt, weil er die Stahlmutter verletzt«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Wird hingerichtet, weil er die Stahlmutter verletzt. Aber die Geschichte von Krark verbreitet sich. Ein Kult bildet sich, um seinen Worten zu folgen, um ihm zu folgen und nach dem Herzen der Mutter zu suchen.« »Der Stahlmutter?«, fragte Glissa, während sie ihre Schüssel zum dritten Mal mit Eintopf füllte. »Der Welt«, sagte Slobad. Er überlegte kurz, dann fuhr er fort, als rezitiere er eine Litanei, die er einmal als Kind gelernt hatte. »Goblins kommen von der Stahlmutter, halten während ihres Lebens die Große Schmelze für sie am Brennen und kehren nach ihrem Tod zur Stahlmutter zurück.« »Und dieser Krark hat die Mutter verletzt?«, sagte Glissa. »Er fand ihr Herz? Wie kam es dazu?« »Krark betrat den Schoß der Stahlmutter.« »Den Schoß?«, fragte Glissa. Trotz der verstörenden Vorstellung interessierte die Geschichte sie. »Slobad hat ihn nie gesehen«, sagte der Goblin. »Der Kult sagt, der Schoß sei ein wundersamer Ort – ein riesiger, dunkler Tunnel, der geradewegs in die Stahlmutter hinabführt. Alle Goblins leben in der Nähe des Schoßes.« »Ein Loch?«, fragte Glissa. »Ein riesiges Loch in der Welt?« Slobad nickte. »Erzähl mir von diesem Herzen, das Krark gefunden haben soll«, sagte die Elfin. »Es befand sich in diesem Schoß?«
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»Ja«, antwortete Slobad. »Krark sagt, er fand das Herz der Mutter, he?« Er zitierte ein weiteres Mal. »Ich stand in einem abschüssigen Raum ohne Dach, umgeben von uralten Korallentürmen. Eine Riesensonne hing über mir und leuchtete wie Himmelstyrann und Bringer und Ingle und Auge des Verderbens. Ich hatte Mutters Herz gefunden.« »Das sind die Monde, stimmt’s?«, fragte Glissa. »Dieser Krark fand also in der Welt einen Raum mit einem fünften Mond?« »Sonne«, korrigierte Slobad. »Nur scheint sie in allen Farben. Das sagt jedenfalls der Kult, he? Slobad hat es nie wirklich geglaubt. Aber sie geben mir ein Zuhause, darum hört Slobad zu. Jeden Tag hört Slobad zu.« »Memnarch«, sagte Bosh. Glissa und Slobad wandten den Kopf und blickten den Golem an. »Was?« »Memnarch«, wiederholte der Golem. Er hielt inne, als versuchte er, sich mit Mühe an etwas Wichtiges zu erinnern. »… lebt innen in der Welt.« Glissa und Slobad starrten einander an. »Bosh«, sagte Glissa, »ist Memnarch etwa einer von diesen Vedalken?« Bosh konzentrierte sich von neuem und stand eine ganze Weile stumm da. Glissa sorgte sich schon, dass sie den Metallmann überfordert haben könnte. Schließlich sah er sie an und sagte: »Ich weiß es nicht. Ich habe nie von den Vedalken gehört … bis heute.« »Erinnerst du dich sonst noch an etwas, was mit dem Serum oder Memnarch zu tun hat?« »Nein«, sagte Bosh. »Noch nicht.«
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Glissa tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Ich muss unbedingt mit dem Anführer des Kults sprechen.« »Warum?«, fragte Slobad. »Über etwas, was Chunth gesagt hat, bevor er gestorben ist. Er sagte, er hätte ein Geheimnis bewahrt. Hat behauptet, die Welt sei hohl. Die Kultisten glauben, dass Krark durch ein Loch in eine Welt mit einem einzigen Mond hinabgestiegen ist … einer Sonne … Und Bosh erinnert sich, dass Memnarch in dieser Welt lebt. Wir müssen Boshs Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Und vielleicht können uns die Kultisten etwas über Krarks Reise erzählen, was Bosh hilft, sich zu erinnern.« »Dann gehen wir also nicht zur Quecksilbersee?«, fragte Slobad. »Jedenfalls noch nicht«, sagte Glissa. »Wir wissen nicht, wer hinter mir her ist – die Vedalken oder Memnarch. Zum Aufflackern, Memnarch könnte tatsächlich ein Vedalken sein.« Glissa fiel etwas ein. »Bosh, hatte Memnarch vier Arme?« »Vier Arme?«, sagte Slobad. Glissa nickte. »Die Kuttengestalt im Knäuel hatte vier Arme und einen kahlen, missgestalteten Kopf.« Wieder stand Bosh eine ganze Weile schweigend da. Diesmal war Glissa sich sicher, dass sie ihm wirklich zu viel zugemutet hatte. Schließlich richtete er sein Augenmerk jedoch wieder auf sie und sagte: »Ich erinnere mich nicht.« Glissa seufzte. »Es hilft alles nichts. Wir müssen zum Anführer des Kults.« »Das muss warten, bis der erste Mond aufgeht, he?«, sagte Slobad. »Du hast drei Umkreisungen lang geschlafen, aber Slobad muss sich noch ausruhen. Ich bring dich nach dem Frühstück zu Dwugget, he? Schlafen, essen, Dwugget.«
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Die Elfin nickte. »Ich kann noch etwas Schlaf gut gebrauchen.« Aber eigentlich fühlte sie sich wie neugeboren. Ihr Herz schlug kräftig, und sie war hellwach. Was sie jetzt erfahren hatte, änderte alles. Wenn Memnarch sich unter ihr befand und es ein Loch in den Höhlen der Goblins gab, dann mussten sie die Berge vielleicht gar nicht verlassen, um die Berge zu verlassen.
$ Trotz ihrer Aufregung schlief Glissa ein, kaum dass sie sich hingelegt hatte. Gnädigerweise schlief sie diesmal, ohne zu träumen. Als sie Boshs Stimme nach ihr rufen hörte und im Dunkeln die Augen öffnete, verspürte sie einen Anflug von Panik, so als ob sie wieder in den Abgrund gestürzt wäre. »Slobad, Glissa«, wiederholte der Golem laut. »Wacht auf. Irgendetwas stimmt nicht.« »Was ist?«, fragte Glissa. Sie setzte sich auf, kniff fest die Augen zusammen und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Hoch über sich machte sie zwei rote Punkte aus, die nur Boshs Augen sein konnten. »Eine Schlacht naht.« Glissa hörte etwas, was wie eine kleine Explosion klang, und ihre Nackenhaare richteten sich auf. »Aerophins«, sagte sie. »Bosh, schnapp dir Slobad. Wir werden angegriffen. Wir müssen sofort zu den Kultisten.« Bosh hob den Goblin hoch, der schnarchend weiterschlief. »Weck ihn auf«, zischte Glissa. »Ich brauche Licht.« Glissa schob sich an der Wand entlang auf die Tür zu. Sie
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konnte kaum die Umrisse erkennen. In der Tiefe des Gangs draußen blitzte ein Licht auf. »Ich geh mal nachsehen«, flüsterte sie. Sie schlich mit dem Rücken an der Wand den Gang hinunter, und spähte dann um die Ecke. Lichtinseln, die von Goblin-Feuerröhren geschaffen wurden, flackerten hier und da im anschließenden Gang. In dem schwachen Licht sah Glissa einen Haufen Goblins, die auf sie zurannten. Sie wurden von Wesen gejagt, die wie große, gehende Aerophins aussahen. Die Kreaturen besaßen die gleichen blauen, kugelförmigen Köpfe, ihre silbernen Körper jedoch waren viel größer – mannsgroß. Jedes der Wesen verfügte über zwei Arme, die mit ihren tonnenförmigen Leibern verbunden waren. Die Beine waren lediglich Stümpfe, die unten aus diesen Tonnen ragten, dennoch bewegten sie sich erstaunlich schnell. Einer der silbernen Killer wies mit einem Arm auf die fliehenden Goblins. Der Arm hatte keine Hand, doch dafür schoss ein riesiger metallener Pfeil daraus hervor, der gleich darauf zwei Goblins durchbohrte. Ihre Leichen rissen etliche vor ihnen herlaufende Artgenossen mit sich zu Boden. Eine andere Kreatur schoss ein zweites stacheliges Geschoss ab, worauf ein dritter Goblin fiel. Dann waren die Goblins an Glissa vorbei und rannten den Gang hinunter. Ein weiteres Wesen feuerte einen Blitz ab, der in die Masse der gestürzten Goblins einschlug. Glissa fiel auf die Knie. »Nein!«, schrie sie. »Nicht schon wieder!« Die silbernen Angreifer blieben stehen und suchten nach der Quelle der Schreie, dann drangen sie weiter vor. Sie glitten den Gang entlang, ohne dass sie mit den Stummelbeinen den eisernen Boden berührten.
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Glissa konnte nichts anderes tun, als entsetzt zuzusehen, wie sie näher kamen. In dem Haufen von Goblins sah sie nur die Gesichter von Kane, Rishan, Chunth und ihrer Familie. Ihre Trauer lähmte sie. Zwei der schwebenden Angreifer erreichten die Ecke und spähten ins Dunkel. Glissa rollte sich zusammen. Teils hoffte sie, dass die Kreaturen sie nicht sehen würden, teils, dass man sie doch sehen würde. Etwas traf sie und riss sie den Gang hinunter, wo sie zu Boden stürzte. Sie schaute gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie eines der Silberwesen seine tödliche Waffe auf sie richtete. Der Pfeil flog auf sie zu. Sie unternahm keinen Versuch, ihm auszuweichen. Dicht vor ihrem Gesicht stoppte die Harpune: Bosh hatte sie aus der Luft gefangen. Der Golem drehte den Speer in der Hand um und schleuderte ihn den Gang zurück. Das gewaltige Geschoss schlug in den Kristallschädel des schwebenden Ungetüms. Die folgende Explosion warf das kopflose Wesen zu Boden und schleuderte seinen Gefährten durch die Gangwand. »Heb Glissa auf«, sagte Slobad. »Und dann folge mir. Ich bring uns hier raus, he?« Bosh nahm Glissa vom Boden auf und barg sie in seinen Armen. In ihrem Nacken kribbelte es, aber sie brachte keinen Schrei zustande. Blitze schlugen in die Wände und den Boden hinter ihnen, während sie davonrannten. Bosh stolperte und stürzte beinahe. Glissa fühlte, wie ein Energiestoß ihren Körper durchlief. Der Golem fand sein Gleichgewicht wieder und rannte weiter. Sie hetzten durch sich schlängelnde dunkle Gänge, verfolgt von den Geräuschen krachender Blitze und scheppernder Har-
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punen. Schließlich blieben sie stehen, und Bosh setzte Glissa ab. Sie schaute auf und sah, wie Slobad mit einer Platte an der Wand rang. Der Goblin grunzte, während er versuchte, sie mit einem seiner Werkzeuge aufzustemmen. Bosh trat zu ihm, schob zwei seiner dicken Finger hinter die Abdeckung und riss sie von der Wand. »Da rein«, sagte Slobad. »Schnell, he?« Glissa kletterte in den engen Tunnel. »Weiter«, zischte Slobad. Glissa gehorchte. Die Finsternis des Luftschachts schien sie willkommen zu heißen. Und sie erwiderte den Gruß im Geiste. Slobad zog seine Feuerröhre hervor, zündete sie und warf sie in den Schacht. Glissa ergriff das Licht und schob sich weiter. Jetzt konnte sie zwar etwas sehen, aber die Dunkelheit schloss sich trotzdem dicht um sie. Der Abgrund war nahe, und sie konnte nichts anderes tun, als darauf zuzukriechen. Abermals hörte sie wie durch Nebel hindurch das Klappern von Harpunen, dann Boshs Stimme. »Ich passe nicht hinein«, sagte der Metallmann. »Geht ohne mich weiter. Ich werde euch den Rücken decken.« Stille kehrte ein. Glissa schaute nach hinten und sah, wie Slobad ein Bein des gigantischen Golems umarmte. »Auf Wiedersehen, Bosh«, sagte er. »Leb wohl, Freund«, sagte Bosh. Bosh drehte sich um. Neben einer riesigen Brandnarbe ragten zwei Harpunen aus seinem Rücken. Er stapfte den Gang zurück. »Weiter, he?«, sagte Slobad nach einem tiefen Atemzug und einem unterdrückten Schniefen. »Geh weiter.« Slobads Anweisungen folgend, kroch Glissa durch das Netz der Schächte. Je weiter sie in das Labyrinth aus engen Tunneln
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vordrang, desto näher kam sie dem Abgrund. Nach einer Weile konnte sie Slobads Befehle durch den Nebel in ihrem Kopf kaum noch hören. Vor sich sah sie Licht. Noch ein paar Kehren, und dann erreichten sie das Ende des Tunnels. In der Ferne ging der gelbe Mond auf. Glissa sackte zusammen. Sie hörte, wie Slobad hinter ihr zu Boden fiel, aber sie blickte nur schweigend den Mond an.
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Kapitel 16
DIE GROSSE SCHMELZE
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as nun, he?«, fragte Slobad hinter Glissa. Sie blickte zu dem Goblin auf. »Was hast du gesagt?« »Was nun, he?«, wiederholte er. »Wir sind entkommen. Was machen wir nun?« Glissa sah den Goblin an. Sie hatte keine Ahnung, wo sie waren und was los war. Dieselbe Frage hatte sie zuvor schon einmal gehört, aber es war nicht Slobad gewesen, der sie gestellt hatte. Es war … »Wo ist der Golem?« Jetzt war es an Slobad, Glissa anzustarren. »Was redest du da, verrückte Elfin?«, sagte er. »Wir haben Bosh in den Höhlen des Kults zurückgelassen.« Glissa sah Tränen über das Gesicht des Goblins laufen. Weil sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Kult wurde angegriffen, he? Erinnerst du dich? Fliegende Silberwesen mit blauen Köpfen. Goblins sind gestorben. Wir sind davongerannt. Bosh ist zurückgeblieben, damit wir fliehen können. Erinnerst du dich nicht? Wenigstens an irgendetwas davon? Bosh hat Glissa das Leben gerettet – wieder mal.« »Bosh ist der Golem?«, sagte Glissa mehr zu sich selbst als zu Slobad. »Und er spricht jetzt …« Bruchstücke der vergangenen paar Tage wirbelten in ihrem Kopf umher. Kanes Tod. Ihr
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Sturz in den Abgrund. Boshs Stimme, die sie zurückholte. Der Angriff. Die toten Goblins. Bosh, der einen Blitz abfing, der eigentlich für sie bestimmt war. »Du hast ihn dort gelassen?«, fragte sie. Slobad wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte. Glissa wich von dem Goblin zurück und zog ihr Schwert. »Die Vedalken haben auch dich beeinflusst, stimmt’s?«, sagte sie. »Was?«, sagte Slobad. »Nein! Bosh ist mein Freund, he?« »Genau wie die Kultisten deine Freunde waren«, knurrte Glissa. »Du hast sie mit Bosh zum Sterben zurückgelassen. Die ganze Zeit hast du mir gesagt, du seist verflucht, aber du bist doch derjenige, der immer überlebt, wenn alle um dich herum sterben. Wie kommt das wohl, Slobad? Hm? Du bist gut darin, wenn es darum geht, ungeschoren davonzukommen, darum, deine Freunde sterben zu lassen. Du hast die Kultisten schon mal zum Sterben zurückgelassen. Das hast du mir selbst erzählt.« »Hör auf, he?«, sagte Slobad ängstlich. »Du redest irre. Du weißt nicht, was du sagst.« »Ach, tu ich nicht? Mein Leben ist eine einzige Katastrophe, seit ich dir begegnet bin.« »Slobad hat deine Familie nicht getötet, Glissa«, sagte der Goblin sanft. »Hat auch die Trolle und deinen Elfenfreund nicht getötet. Und hat Taj Nar nicht angegriffen.« »Wer war es dann?«, schrie Glissa. »Ich muss irgendjemandem die Schuld geben. Wenn nicht dir, wem dann? Mir? Willst du das sagen? Dass es alles meine Schuld ist?« Glissas Gesicht lief rot an, als sie fortfuhr: »Ich habe eine Bestimmung, Slobad. Eine Bestimmung. Hörst du? Und diese Bestimmung besteht
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darin, alle, die ich liebe, sterben zu sehen, einen nach dem anderen.« Sie atmete keuchend. »Ist das meine Schuld? Ich sage, es ist deine Schuld. Es ist dein aufgeflackter Fluch, der das alles ausgelöst hat!« Glissa brach plötzlich ab. Sie rang nach Atem. Und dann weinte sie. Sie versuchte sich die Tränen mit den Händen aus den Augen und von den Wangen zu wischen, aber sie flossen immer weiter. Sie ballte beide Hände zu Fäusten und rammte sie sich gegen die Augen, als wollte sie damit den Tränenfluss verpropfen. »Es ist meine Schuld, nicht wahr?«, flüsterte sie nach einer Weile. »Die Angriffe sind nicht deine Schuld«, sagte Slobad und ließ sich neben ihr nieder. »Und auch nicht Slobads Schuld. Nicht die Schuld des Fluches. Nicht die Schuld der Bestimmung. Es war der kugelköpfige Magier, he? Memnarch. Vedalken. Jemand versucht dich umzubringen. Deine Bestimmung zu stoppen.« »Aber sieh doch nur, was ich deiner Sippe angetan habe. Es ist gefährlich, in meiner Nähe zu sein.« »Du bist jetzt meine Sippe, he?«, sagte Slobad. »Meine Familie. Ich habe lang allein gelebt. War nicht glücklich, hab nur überlebt, he? Dann hat verrückte Elfin Slobad aus seinem Loch geholt und in Gefahr gebracht. Hat Slobad gezeigt, wie man um sein Leben kämpft, statt sich davor zu verstecken. Hat Slobads Leben einen Sinn gegeben, he? Und das Gefühl, zur Familie zu gehören.« »Und ich bringe Slobad den Tod«, seufzte Glissa. »Vielleicht.« Der Goblin zuckte die Achseln. »Aber dann bin ich für etwas gestorben, he? Im Kampf gegen das Böse gestorben.
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An der Seite meiner besten Freundin gestorben. Besser, als sicher und allein in einem Loch zu leben. Das erste Mal habe ich den Kult verlassen, um Slobad zu retten, he? Diesmal verlasse ich ihn, um Freund zu retten. Komm. Wir finden den Vedalken-Magier. Oder Memnarch. Wer auch immer hinter den Angriffen steckt. Wir finden ihn, he? Lassen ihn für Glissas Familie und Freunde und Slobads Kultsippe und Bosh büßen.« Glissa nickte. Der kleine Goblin hatte es geschafft, ihr die Augen für die Wahrheit zu öffnen. Sie sah überall nur noch Intrigen und Betrug. Er sah das Leben und die Wahrheit. Die Wahrheit bestand darin, dass wirklich jemand versuchte, sie umzubringen, und es würde nicht aufhören, bis sie selbst dem ein Ende setzte. Sie war es ihm schuldig, seinen Freund und seine Familie zu retten. Glissa umarmte Slobad. »Verrückte Elfin.« Er schob sie von sich. »Komm, auf uns wartet Arbeit.« Sie sprang auf und ging zurück zum Tunnel. »Wo gehst du hin, he?«, fragte Slobad. »Die Quecksilbersee liegt in dieser Richtung.« Slobad deutete über die zerklüfteten Hügel, die sie umgaben, in die offene Weite der Glimmerleere. »Die Vedalken können warten«, sagte Glissa. »Unsere Freunde nicht. Erst retten wir Bosh und Dwugget, dann lassen wir Memnarch büßen.«
$ Glissa und Slobad kehrten durch das Netz der Schächte zurück in die Höhlen des Krark-Kults. Slobad ging mit der erloschenen Feuerröhre voran. Glissa folgte ihm blindlings und hielt sich
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an Slobads Beutel fest, damit sie ihn in den gewundenen Tunneln nicht verlor. Nachdem sie eine Weile durchs Dunkel gekrochen waren, stieß die Elfin den Goblin an. »Hat das auf dem Hinweg auch schon so lange gedauert?« »Nein«, sagte der Goblin. »Ich bringe uns in den geheimen Teil der Kulthöhlen, he? So geheim, dass nicht einmal sie davon wissen.« »Wieder eine deiner persönlichen Verbesserungen?«, fragte Glissa. »Ja. Ein Versteck, he? Von dort aus überblickt man den größten Teil der Höhlen. Dort habe ich mich versteckt, als vor langer Zeit die Krieger des Schamanen angriffen. Keine Zeit, die anderen in Sicherheit zu bringen. Dort gehen wir jetzt hin. Um nach Gefahr Ausschau zu halten, he?« »Guter Plan«, sagte Glissa. »Damit umgehen wir mögliche Wachposten, die sie in unserem Fluchttunnel zurückgelassen haben könnten.« »Das auch«, sagte Slobad. »Und jetzt sei still, verrückte Elfin. Wir sind direkt unter der Höhle.« Eine Weile krochen die beiden noch schweigend weiter. Nach ein paar weiteren Kehren verhielt der Goblin. Glissa konnte ihn grunzen hören. Einen Augenblick später vernahm sie das Schaben von Metall. Dann setzte Slobad sich wieder in Bewegung. Glissa wurde mit dem Beutel nach oben gezogen, bis sie den Rand eines Lochs ertastete. Die Elfin zog sich in einen großen Raum hinauf. Sie konnte kaum etwas sehen, obwohl ringsum Licht durch kleine Öffnungen in Bodennähe hereinsickerte. »Slobad«, zischte sie. »Wo bist du?« »Hier drüben, he?«
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Glissa tastete sich durch die Dunkelheit auf die Stimme des Goblin zu. Unterwegs stieß sie gegen etwas, das sich wie ein Tisch anfühlte, dann gegen einen Stuhl. »Von hier aus werfen wir einen Blick in die Höhle, he?« sagte Slobad. »Knie dich hin. Guck durch das Loch. Das Loch zeigt den Raum, in dem der Angriff begonnen hat, he? Schau.« Glissa kniete nieder und blickte durch die Öffnung. Es war von derselben Größe und Form wie die Abdeckung, die Slobad hatte entfernen müssen, um in die Tunnel zu gelangen, die Glissa für Luftschächte hielt. Raffinierter kleiner Goblin. Durch das Loch sah Glissa die Kreuzung zweier Gänge. Der gegenüberliegende Korridor war dunkel. Das muss die Stelle sein, wo wir geschlafen haben, dachte sie. Rechterhand lag die Stelle, wo die Goblins angegriffen worden waren. Glissa konnte die Brandspuren und das Blut am Boden sehen, aber sonst war der Gang leer. »Wo sind die Leichen?«, flüsterte sie. »Dort wurden doch mindestens fünf Goblins getötet. Wo sind sie hin?« »Gute Frage. Vielleicht haben die Silbermonster sie mitgenommen.« »Vielleicht«, sagte Glissa, »aber warum? Tote Goblins können ihnen doch nicht helfen, mich zu finden. Aber das muss der richtige Gang sein. Ich habe das Blut gesehen.« »Guck durch die anderen Löcher, he?«, meinte Slobad. Glissa und Slobad umkreisten den großen Raum und schauten abwechselnd durch jedes Guckloch. An jeder Wand befanden sich mehrere davon. Und durch jedes sahen sie dasselbe. Verlassene Gänge, Brandspuren und etwas Blut. Es gab kein Anzeichen von Goblins, schwebenden Ungetümen oder Bosh. »Wo, zum Aufflackern, sind die alle?«, sagte Glissa. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Slobad, »und das ist nicht
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gut. Gar nicht gut. Ganz schlecht sogar.« »Was meinst du denn?« »Sieh dir das an, he?«, sagte der Goblin. Glissa lief an den Wänden entlang um den Raum herum, bis sie gegen Slobad stieß, dann beugte sie sich vor und schaute durch das Loch. Der Gang dort draußen sah aus wie die anderen. Brandspuren an den Wänden und Blut am Boden. »Was soll ich mir denn ansehen?«, fragte sie. »Siehst du das Symbol?«, fragte Slobad. »Nein. Welches Symbol?« »Schau dir die schwarze Stelle an der Wand an, he?«, sagte Slobad. »Dort wurde etwas hingezeichnet. Symbol. Siehst du’s? He?« Glissa betrachtete die Brandspur noch einmal. Und ja, dort war ein seltsames Symbol in die Wand gekratzt worden. Der schwarze Ruß, den der Blitz hinterlassen hatte, verbarg es fast. Selbst nachdem Slobad sie darauf hingewiesen hatte, konnte sie das Bild kaum erkennen. Es sah aus wie ein Auge über einem Berg. »Was bedeutet es?« »Das heißt, dass der Goblin-Schamane wieder hier ist«, sagte Slobad. »Ist gekommen und hat Höhle gereinigt. Das ist das Zeichen des Auges des Verderbens. Schamane hinterlässt es, um unreine Höhlen zu markieren.« »Das kann kein Zufall sein, Slobad«, sagte Glissa. »Du hast doch gesagt, dass sich der Kult seit fünfzig Zyklen verbirgt. Es ist unmöglich, dass diese Vedalken-Ungetüme und der GoblinSchamane diesen Ort zur gleichen Zeit gefunden haben. Der Schamane muss von den Vedalken gekauft worden sein, genau wie Geth und Strang. Aber warum hat der Goblin-Schamane
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die Leichen mitgenommen?« »Schafft alle zur Großen Schmelze. Sämtliches Metall muss dem Clan wieder zugeführt werden.« »Sie verbrennen sie in der Schmelze?«, sagte Glissa. Ein panischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit, als sie zu begreifen begann. »Ach du liebes Aufflackern! Bosh!« »Wir müssen uns beeilen«, sagte Slobad. »Keine Zeit für Elfenschleicherei.« Der Goblin zündete seine Feuerröhre und rannte zurück zu dem Loch in der Mitte des Bodens. Er ließ sich hineinfallen, ehe Glissa sich auch nur vom Fleck rühren konnte. Das plötzliche Licht hatte sie geblendet. Durch die Punkte, die in ihrem Blickfeld tanzten, taumelte Glissa auf das Loch zu, das im Licht der Fackel darunter schimmerte. Sie folgte Slobad zurück in das Netz der Schächte, hatte aber Mühe, mit dem kleinen Goblin Schritt zu halten. An der Oberfläche mochte sie zwar schneller sein als er, aber für diese Umgebung waren ihre Beine nicht geschaffen. Über eine Stunde lang bewegten sie sich durch die gewundenen Tunnel. Im Licht der Feuerröhre konnte Glissa sehen, dass nicht einmal die gerade verlaufenden Gänge ganz gerade und eben waren. Es sah aus, als wäre das rostige Metall mit Hämmern zurechtgeformt worden. Die beiden passierten viele Öffnungen. Meistens konnte Glissa darin nichts außer Dunkelheit sehen. Manchmal beleuchtete eine Feuerröhre hinter dem Schacht eine offene Höhle oder einen kleinen Raum, der mit Metall und Werkzeugen gefüllt war. Sie sah Goblins, die sich abschufteten, um Metall zu erhitzen und mit Hämmern zu bearbeiten, oder Wände und Böden von Höhlen abschlugen. Es sah aus, als bauten sie Metall von den Bergen ab, um dann das daraus herzustellen,
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was immer sie brauchten. Nach über zwei Stunden musste Glissa stehen bleiben. Ein Krampf schoss von ihrem Unterschenkel her ins Knie hoch, und sie fiel auf den Tunnelboden. Als Slobad sie stöhnen hörte, blieb er ein Stück weiter stehen. Glissa streckte ihr Bein aus, aber in dem engen Tunnel konnte sie nicht hinunterfassen, um den Muskel zu massieren. Und schlimmer noch, der Gang wurde wärmer. »Nicht mehr weit«, sagte Slobad. Er kam zurück und setzte sich vor sie hin. Sein Kopf drückte gegen die Tunneldecke, und er sah sie aus einem seltsamen Winkel an. Er kann sich wenigstens umdrehen und hinsetzen, dachte Glissa. »Nur einen Moment«, sagte sie. »Warum wird es hier eigentlich so heiß?« »Wir sind in der Nähe der Schmelze, he?«, antwortete Slobad. »Die Schächte leiten warme Luft zu den Goblins. Kühlt die Schmelze und heizt die Wohnstätten. Schlau. Goblins kennen sich mit Maschinen gut aus.« »Kommen wir durch die Schächte unmittelbar bis zur Schmelze?« »Nein«, sagte Slobad. »Zur Schmelze kommen wir nicht durch die Schächte. Die Luft an der Schmelze ist zu heiß, he? Die Goblins tauschen die Schächte über der Schmelze jeden Zyklus einmal aus. Weil sie schmelzen. Schmelze sehr heiß.« »Wo gehen wir dann hin?« »Zu den Zellen«, sagte Slobad. »Dort finden wir Dwugget, vielleicht auch Kultisten. Zellen sind in der Nähe der Schmelze. Wenn wir sie dort nicht finden, dann sind wir sowieso zu spät gekommen.« Glissas Bein tat immer noch weh, aber sie konnte sich wie-
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der bewegen. »Geh voraus«, sagte sie. Wenig später blieb Slobad vor einer abgedeckten Öffnung im Tunnelboden stehen. Er löste die Abdeckung, dann zog er sie aus der Öffnung, stellte sie aufrecht vor sich hin und löschte die Feuerröhre. Glissa konnte nur die Silhouette seines Kopfes sehen. Er lehnte sich vor und steckte den Kopf durch die Öffnung. »Niemand hier«, sagte er. »Sicher. Komm, he? Beeilung.« Glissa folgte ihm durch die Öffnung und landete in einem Gang, der von rostigen Zellengittern gesäumt war. Am Ende des Gangs brannten Feuerröhren und spendeten schwaches Licht. Die meisten Zellen waren leer, aber in einer befand sich etwa ein Dutzend zusammengepferchter Goblins. Die Gefährten krochen auf den besetzten Käfig zu. »Dwugget«, rief Slobad. »Bist du da drin, Dwugget?« »Hier«, kam eine heisere Antwort. »Wir sind alle hier, mein Sohn. Bist du das, Slobad?« »Ich bin’s«, sagte der Goblin. »Kommen, um euch da rauszuholen, he? Lassen euch frei.« »Wie bist du davongekommen, kleiner Slobad?«, fragte der Kult-Schamane. Er drängte sich an die rostigen Gitterstäbe vor. Dwugget trug etwas, was Glissa für ein Schamanengewand hielt. Für Goblins bestand das anstelle eines schlichten Lendenschurzes aus einer Lederweste, die ihm bis zu den Knien hing. »Warum bist du zurückgekommen? Hier ist es sehr gefährlich für dich, he?« »Hab ich doch gesagt«, sagte Slobad. »Wir sind hier, um euch rauszuholen. Ich und Glissa. Meine Freundin. Golem hat uns zu entkommen geholfen. Jetzt lassen wir euch frei, he?
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Das sind alle, die überlebt haben?« »Ja«, sagt Dwugget. »Die Toten sind bereits zur Großen Schmelze gebracht worden. Möge Krark sie zum Herzen der Mutter geleiten.« »Was ist mit Bosh?«, fragte Glissa. »Der Golem – wo ist er?« Dwugget richtete den Blick auf Glissa. »Ich freue mich zu sehen, dass du wach bist«, sagte er. »Slobad hatte sich Sorgen um dich gemacht, he? Du warst an einem finsteren Ort. Aber jetzt bist du ins Licht zurückgekehrt. Es ist der Mutter Wille, dass du lebst.« Weiß denn jeder mehr über mein Leben Bescheid als ich selbst?, fragte sich Glissa. Sie lächelte und nickte dem Schamanen zu. »Der Golem?«, fragte sie noch einmal. »Ach, natürlich«, sagte Dwugget. »Entschuldige. Euer Metallmann wurde mit den Toten zur Schmelze geschafft. Wir sind die Nächsten, die ins Feuer kommen.« Slobad drehte sich um und ging in Richtung des anderen Gangendes davon. »Slobad!«, rief Glissa. »Wo willst du denn hin?« »Bosh retten«, sagte Slobad. »Bin gleich zurück, he?« Glissa rannte Slobad hinterher und packte ihn bei der Schulter. »Wir können sie doch nicht hier lassen«, sagte sie. »Man wird sie umbringen.« »Ich lass nicht zu, dass sie ihn einschmelzen, he?«, schrie Slobad. »Aus Bosh wird kein Kessel und keine Schachtverkleidung gemacht!« Glissa ließ ihn los und klopfte ihm auf den Rücken. »Geh und finde Bosh«, sagte sie. »Ich bringe Dwuggets Leute erst einmal in den Schacht, dann komme ich nach.« Slobad öffnete die Metalltür, die dabei entsetzlich quietsch-
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te. Er lugte einen Augenblick lang durch die Öffnung, dann schlüpfte er hinaus. Glissa wandte sich wieder der Zelle zu, zog ihr Schwert und trat an das Gitter heran. »Geht zurück«, sagte sie. Die Goblins wichen vom Gitter zurück, so weit sie konnten. Wimmernd drängten sie sich gegen die rückwärtige Wand. Glissa trat zurück und maß die Entfernung. Kraftvoll hieb sie mit dem Schwert auf die Eisenstangen ein. Es durchtrennte vier Stangen und kam nur dicht von Dwuggets Kopf entfernt zum Stehen. Glissa schwang das Schwert ein zweites Mal und zielte diesmal tiefer. Die Eisenstangen klapperten zu Boden und hinterließen eine Öffnung, die groß genug für die Goblins war. »Schnell«, sagte sie. »Hier lang.« Die überlebenden Krark-Kultisten eilten zu der Öffnung in der Schachtdecke. Glissa hob Dwugget in das Loch hinauf und stützte ihn, während er sich hochhievte. Einem nach dem anderen half sie dann auch dem Rest der Kultisten. »Schließt die Abdeckung und geht den Tunnel hinunter«, sagte sie zu Dwugget. »Wartet, bis wir zurück sind – und verhaltet euch um des Aufflackerns willen still.« Anschließend rannte die Elfin den Gang hinab, schnappte sich die Feuerröhre und öffnete die Tür einen Spaltbreit, um hinauszuschauen. Die Hitze des nächsten Raumes schlug ihr wie ein steifer Wind ins Gesicht. Sie rang in der erstickenden Hitze um Atem, als sie durch die Tür schlüpfte. Glissas Blick wanderte durch den Raum hinter den Zellen. Sämtliche Höhlenbereiche, die sie bislang gesehen hatte, waren von Goblins angelegt worden. Es waren kleine quadratische Räume gewe-
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sen, die aus gehämmertem Metall bestanden, das zusammengeschweißt worden war. Dieser Raum allerdings war ganz anders. Es war eine riesige kreisförmige Höhle, deren Durchmesser fünfzig Schritte oder mehr betrug. Die Wände bestanden aus Eisen, das jedoch nicht gehämmert war. Sie sahen beinahe aus, als bestünden sie aus ineinander verschlungenen Knäuelbäumen. Rohrartige Adern aus rostigem Eisen wuchsen vom Boden bis zur Decke hoch über ihr empor und schlängelten sich ineinander. Hier und da steckten Feuerröhren in Spalten zwischen den Adern, aber der größte Teil des Lichts – sowie der sengenden Hitze – kam von der Schmelze in der Mitte des Raumes. Die Schmelze sah aus wie ein gewaltiger Knoten aus Eisenröhren, die aus dem Boden dieser Höhle ragten. Hunderte, wenn nicht tausende dieser Eisenrohradern sprossen aus dem Boden, verflochten und verästelten sich und reichten mindestens zehn Meter in die Höhe. Die Schmelze hatte den gleichen Umfang wie Tel-Jilad, der Baum der Sagen. Rauch und Feuer drangen in unregelmäßigen Abständen aus den oberen Enden der Röhren. Der Großteil des Raumes war in das rote Licht des Feuers und des rostigen Eisens getaucht, die Decke jedoch war pechschwarz von weiß das Aufflackern wie vielen Feuer-Zyklen. Glissa stand über dem Boden der Schmelzehöhle. Die Tür, durch die sie gekommen war, war direkt in die Röhrenwand geschnitten worden. Ein gehämmerter Pfad führte über den unebenen Boden zur Schmelze hinunter. Überall in dem Raum hatte man Wege geebnet. Einige der Pfade sahen aus wie Simse oder Brücken, die sich über einen dunklen Graben spannten. Sie konnte Goblins umherwuseln sehen, die irgendwel-
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chen Aufgaben nachgingen, aber es war nahezu unmöglich, Slobad von einem der anderen Goblins zu unterscheiden, die rings um die Schmelze herum beschäftigt waren. Das ist einer der Vorteile, die Slobad hier genießt, dachte Glissa. Er fällt nicht auf. Sie ging in die Knie, damit sie nicht so gut gesehen wurde, während sie in der Höhle nach ihrem Freund Ausschau hielt. Inmitten eines großen Schutthaufens nahe der Rückseite des Raumes machte sie einen Goblin mit einem Beutel aus. Aber Beutel trugen viele der Goblins bei sich, daher konnte sie sich nicht sicher sein. Sie sahen sich alle wirklich überaus ähnlich. Dieser bewusste Goblin jedoch schien in dem Haufen nach etwas zu suchen. Sie ging ein ganzes Stück um den Raum herum, damit sie eine bessere Sicht hatte. Als sie näher kam, sah Glissa, wie die Gestalt ein paar Trümmer aufhob und beiseite schleuderte. Darunter konnte sie auch etwas Großes erkennen. Der Goblin warf Metallstücke zur Seite, um es noch weiter freizulegen. Glissa schlich noch näher, bis sie sehen konnte, dass es sich bei dem großen Gegenstand um Boshs Brust handelte. Die Elfin schaute sich nach einem Weg um, der hinunterführte. Drüben, in der Nähe des Haufens, führte ein Pfad zum Boden der Schmelze hinab, aber Glissa beschloss, sich nicht zu zeigen, um die Aufmerksamkeit nicht auf Slobad zu lenken. Sie würde von hier oben aus auf Gefahren achten. Mit etwas Glück konnte Slobad den Golem aktivieren und auf ihm hinausreiten, bevor die anderen Goblins auch nur merkten, was hier geschah. Als Glissa ihren neuen Aussichtspunkt erreichte, hatte Slobad den Golem bereits größtenteils freigelegt. Glissa sah, dass
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Bosh in Teile zerlegt worden war. Und schlimmer noch, mehrere Goblins schienen sich nun für Slobad zu interessieren und bewegten sich auf ihn zu.
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Kapitel 17
FLUCHT
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lissa duckte sich und beobachtete die näher kommenden Goblins. Sie schienen nicht sonderlich in Eile zu sein und schwangen keinerlei Waffen. Solange sie Slobad nicht erkannten, war es wahrscheinlich besser, wenn sie sich versteckt hielt. Sie zog ihr Schwert aus der Scheide und machte sich bereit. Slobad sah auf, als sich die drei Goblins ihm näherten. Er ließ seine Hand in seinen Beutel gleiten. Ruhe bewahren, dachte Glissa. Lächle und bleib ruhig. Wimmle sie ab und mach dich wieder an die Arbeit. Uns bleibt nicht viel Zeit, bis jemand merkt, dass die Kultisten verschwunden sind. Die Goblins im Raum waren alle mit unterschiedlichen Aufgaben befasst. Eine große Gruppe arbeitete an einer aufgerissenen Röhre, während mehrere kleinere Gruppen irgendwelches Metall zur Schmelze schleppten oder ähnliche Schrotthaufen durchwühlten, die sich hier und da in der Höhle türmten. Glissa richtete den Blick wieder auf Slobad und sah, dass er seinen vorigen Platz verlassen und sich von Boshs Körper entfernt hatte, um der näher kommenden Gruppe entgegenzugehen. Sie sprachen miteinander. Slobad zeigte auf etwas, worauf das Trio gemeinsam über den Schutt hinweg in
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diese Richtung kletterte. Zwei von ihnen hoben die Leiche eines Goblins von dem Haufen hoch und zerrten ihn herunter. Der dritte Goblin klopfte Slobad auf die Schulter, dann folgte er den beiden anderen. Slobad schlenderte den Hügel wieder empor zu Bosh. Die drei Goblins entfernten sich mit ihrer toten Last in Richtung der Schmelze. Als sie eine der Brücken überquerten, stolperte der vorangehende Goblin, und die Leiche entglitt seinem Griff. Der tote Goblin fiel auf den Weg und stürzte beinahe über den Rand, wobei er den zweiten Goblin mit sich riss. Der ungeschickte Goblin erwischte einen der Arme und konnte so ein Unglück verhindern. Der dritte Goblin rannte herbei, verpasste dem tollpatschigen einen Schlag auf den Kopf und schrie ihn an. Slobad hatte unterdessen Boshs Kopf und Rumpf wieder zusammengefügt und arbeitete nun an den Beinen. Während Glissa ihm zusah, wie er die Beine des Golems befestigte, fragte sie sich, wie sie hier herauskommen sollten. Slobad musste die Kultisten durch die Schächte führen, in die Bosh aber nicht hineinpassen würde – ein Umstand, dem der Metallmann sein momentanes Dilemma ja überhaupt erst zu verdanken hatte. Glissa warf einen Blick nach hinten zu der Tür, die zu den Zellen führte, und sah, wie eine Gruppe von Goblins eine Rampe hinauf in Richtung des Gefangenentrakts ging. Sie sahen anders aus als diejenigen, die rings um die Schmelze arbeiteten. Sie waren in lange Lederwesten gekleidet, ganz ähnlich dem Gewand, das Dwugget trug. Der an der Spitze hielt eine verzierte Feuerröhre, die eher zeremoniell als funktionell wirkte. Sie schien aus mehreren ineinander geflochtenen und miteinander verschweißten Eisenröhren zu bestehen und er-
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innerte an das Aussehen der Wände und der Schmelze. Bei diesen Goblins handelte es sich vermutlich um Schamanen, die Dwugget und die Kultisten zu deren Verhandlung geleiten wollten … oder vielleicht auch direkt zur Hinrichtung. Wie auch immer, Slobad und Bosh hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Sobald die Schamanen die leere Zelle entdeckten, würden sie Alarm schlagen. Die Elfin verließ ihr Versteck und rannte die Rampe hinunter zu Slobad und Bosh, wobei sie hoffte, dass niemand sie sah. Dass die Aufmerksamkeit auf Slobad gelenkt wurde, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, aber es schien, als wäre ihre Glückssträhne vorbei. Der Goblin, der zuvor den Toten hatte fallen lassen, ging jetzt mit seiner Last rückwärts. Glissa sah genau in dem Moment zu dem Trio hinüber, als dessen Anführer aufschaute. Ihre Blicke trafen sich. »Zum Aufflackern«, brummte Glissa, weil die drei Goblins nun umkehrten und wieder auf den Schutthaufen zukamen. Im Laufen zogen sie ihre Feuerröhren. Glissa beeilte sich, aber die Pfade waren schmal, und ein einziger Fehltritt würde sie auf den schroffen Boden oder, schlimmer noch, in eine der Gruben hinabstürzen lassen. Der Alarm ertönte, als sie den Boden der Schmelzehöhle erreichte. Die Schamanen kamen schreiend aus dem Gefangenentrakt gerannt und schlugen mit ihren Feuerröhren gegen die eisernen Wände. Der Lärm hallte durch die Höhle. Ringsum reagierten die Goblins darauf, indem sie ebenfalls gegen Wände und Boden hämmerten. Es war ein seltsames Alarmsystem, aber es funktionierte offensichtlich. Glissa hielt auf die drei Goblins zu, um die Aufmerksamkeit noch ein klein wenig länger von Slobad fernzuhalten. Das Trio
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war zu sehr mit dem Rennen beschäftigt, um gegen den Boden zu hämmern. Sie schienen fest entschlossen zu sein, sich selbst um den Eindringling zu kümmern. Schlechte Entscheidung, dachte Glissa, als sie bemerkte, wo sie standen. Sie steckte ihre Schwert ein und spurtete ihnen so schnell, wie sie es wagte, entgegen. Die Goblins taten genau das, was Glissa gehofft hatte. Sie blieben stehen, wo sie waren, und wappneten sich zur Verteidigung – genau in der Mitte einer Brücke. Der Anführer der Gruppe schob die beiden Träger vor sich. Als Glissa nicht mehr weit von ihnen entfernt war, hechtete sie nach vorn und rollte sich anschließend ab. Als sie zwischen den beiden vorderen hindurchrollte, streckte sie die Ellbogen aus und riss ihnen die kurzen Beine unter dem Leib weg. Die beiden Goblins stürzten von der Brücke in die Finsternis hinab. Glissa prallte gegen den Anführer, riss ihn um und kam mit einer letzten Rolle wieder auf die Beine. Wie beiläufig versetzte sie ihm einen Tritt, der ihn von der Brücke beförderte. Sie konnte noch sehen, wie seine Feuerröhre in der tintigen Schwärze verblasste. Die Elfin drehte sich um und rannte zurück zu dem Schutthaufen. Überall um sie herum hallte das Klappern wider, als sie über den Hügel hinwegkletterte, um sich dahinter zu verstecken. »Ich bin wieder da«, rief sie Slobad zu. »Hab ich gemerkt«, schnaufte der Goblin. »Wie lange noch?« »Ein bisschen«, sagte Slobad grunzend. »Dumme Goblins. Zerlegen so eine erstaunliche Maschine wie Bosh… Wissen gar nicht, was sie da haben … Dumm … Dauert eine Weile, ihn zu reparieren …«
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»Wir haben nicht viel Zeit«, mahnte Glissa. Sie spähte über die Hügelkuppe und sah, wie Slobad sich gegen ein Werkzeug stemmte, das im Kniegelenk des Golems steckte. »Arbeite … so schnell … wie ich kann, he?«, keuchte Slobad. »Viel zu reparieren … Dumme Goblins …« »Red nicht so viel. Arbeite lieber«, sagte Glissa. Ringsum hielt das Hämmern an. Glissa sah zu den Zellen hinauf. Die Schamanen kamen gerade zum Schmelzeboden herunter. »Vielleicht kann ich dir ja etwas mehr Zeit verschaffen. Sie werden dich nicht bemerken, wenn sie hinter mir herjagen müssen.« »Und wie kommst du wieder raus?« »Schick Bosh zu mir, wenn er fertig ist«, sagte Glissa. »Und du führst Dwuggets Leute dann durch die Schächte zurück. Sie warten dort auf dich.« »Du weißt nicht, wie man hier rauskommt, verrückte Elfin«, sagte Slobad. Er hatte das erste Bein befestigt und platzierte jetzt das zweite an den Rumpf. »Ich weiß es«, sagte Bosh. Glissa starrte den Golem an. Sie wusste nicht, wer sie mehr überraschte – Slobad oder Bosh, beide waren gleichermaßen bemerkenswert. »Gut«, sagte sie. »Bosh wird mich hier rausbringen. Und du führst wie gesagt Dwugget und die seinen hinaus. Wir treffen uns in der Höhle des Kults.« Slobad schüttelte den Kopf. »Nicht sicher dort.« »Darum kümmern wir uns, wenn wir so weit gekommen sind«, sagte Glissa. Sie folgte einem Weg, der hinter dem Haufen auf den rückwärtigen Teil der Schmelze zuführte, und entfernte sich so schnell wie möglich von Slobad und Bosh, bevor man sie noch
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sah. Die meisten Arbeiter hielten sich vor und seitlich der Schmelze auf, weshalb der eingeschlagene Weg frei war. Als sie zu einer Weggabelung kam, nahm sie den Weg in Richtung Schmelze. So war sie vor Blicken einigermaßen geschützt. Außerdem hoffte sie, dass der Pfad sie dorthin führte, wo sie hinwollte. Als Glissa um die Schmelze herumging, sah sie einen einzelnen Goblin vor sich, der mit seiner Röhre auf den Pfad einhämmerte. Als er sie seinerseits erblickte, änderte er sofort den Rhythmus seiner Schläge. Der allgemeine Alarm, den die Schamanen ausgelöst hatten, war langsam und gleichmäßig, dieser Goblin aber beschleunigte sein Tempo zu einem steten Strom von Schlägen. Das restliche Gehämmer in der Höhle verstummte. Er gibt den Schamanen ein Zeichen, dachte Glissa. Ziemlich ungünstiger Zeitpunkt. Sie zog ihr Schwert und rannte auf den hämmernden Goblin zu. Als sie die Waffe schwang, versuchte der Arbeiter nicht einmal, den Schlag abzuwehren, sondern signalisierte weiter, bis ihm das Schwert in die Seite fuhr. Der tote Goblin sank zu Boden und begrub seine Feuerröhre unter sich, die sofort seine Lederkleidung und Haut in Flammen setzte. »Ach du liebes Aufflackern«, murmelte Glissa, während sie über den brennenden Leichnam sprang. »Jetzt wissen sie, wo ich bin.« Die Elfin ging weiter um die Schmelze herum und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte – das aufgerissene Lüftungsrohr, das gerade repariert werden sollte. Die meisten der Arbeiter suchten mittlerweile nach Eindringlingen. Einige waren bereits in ihre Richtung unterwegs, während ein halbes
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Dutzend noch zurückblieb. Als sie die Elfin sahen, fingen sie alle an, den »Ich habe sie gefunden«-Rhythmus zu klopfen. Und schlimmer noch, Glissa befand sich auf dem falschen Pfad, und die nächste Brücke, die zu dem Rohr führte, lag hinter den Arbeitern. Aber für einen Umweg hatte sie keine Zeit. Sie trat von dem Pfad herunter und schrie auf. Die Röhren im Boden waren glühend heiß. Jetzt wusste sie, warum man die Wege brauchte. Die Goblins kamen näher. Sie hatte keine andere Wahl. Sie sprang so weit, wie sie konnte, von dem Pfad weg, landete auf den Zehen und sprang abermals. Die Ledersohlen ihrer Stiefel verbrannten, und ein stechender Schmerz schoss ihr in den Beinen hoch. Zwei weitere Sprünge, und sie hatte es bis zum richtigen Weg geschafft. Zwei Goblins hielten mit Feuerröhren in den Händen auf sie zu. Die langen Flammen, die aus den Röhren schlugen, glühten weiß. Glissa hatte nie gesehen, dass Slobads Röhre eine derart heiße Flamme produziert hätte. Der erste Goblin kam heran und schwang seine Röhre. Glissa stieß den Arm vor, um den Hieb abzublocken, und die Flamme sengte über ihren metallenen Unterarm. Sie schlug mit dem Schwertknauf nach dem Arm des Goblins und zertrümmerte den Knochen. Er ließ die Feuerröhre fallen. Dann schlug sie ihm ins Gesicht. Der Hieb brach dem Goblin die Nase, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn gegen seinen nachfolgenden Artgenossen. Glissa wirbelte mit ausgestrecktem Schwert um die eigene Achse, sodass die Waffe einen Kreis beschrieb. Nach einer Umdrehung packte sie den Griff mit beiden Händen und schwang die Waffe mit aller Kraft nach dem taumelnden Goblin. Das Schwert durchtrennte beiden Goblins den Hals, ohne gebremst zu werden. Glissa kreiselte noch einmal herum, be-
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um, bevor sie zum Stehen kam. Die Attacke hatte ihr einiges abverlangt. Glissas Füße schienen zu brüllen. Sie senkte den Blick und sah die zerfetzten Überreste ihrer Stiefel, die nur noch von den Riemen zusammengehalten wurden. Die Seiten und Sohlen ihrer Füße waren bloß. Blasen bildeten sich in der gewaltigen Hitze des Bodens der Schmelzehöhle. Aber sie hatte keine Zeit, sich um Heilung zu kümmern. Glissa hielt weiter auf ihr Ziel zu und biss bei jedem Schritt vor Schmerzen die Zähne zusammen. Wenige Augenblicke später erreichte sie das gerissene Rohr. Die Arbeiter waren über das Metall hinweggeklettert, um sich ihr zu stellen, und schwenkten wie wild ihre Feuerröhren. Einer schlug mit seiner Röhre nach Glissa, die sie sofort mit einem Schwerthieb durchtrennte. Eine riesige Flammenwolke platzte aus der Seite des Rohrs hervor und versengte ihr den Arm. Der plötzliche Flammenausbruch riss jedoch auch die Röhre des Goblins herum. Er verlor das Gleichgewicht und fiel vom Pfad auf die heißen Rohre. Glissa ließ ihn auf den Rohren schreien und zappeln und trat auf den nächsten Goblin zu. Die Angreifer zögerten, und die Elfin machte sich diese Unentschlossenheit zunutze. Sie schwang ihr Schwert, um sie zurückzutreiben, dann startete sie einen tief angesetzten Angriff. Mit der Schulter stieß sie gegen die beiden Goblins. Zwei Feuerröhren flogen über das Lüftungsrohr davon. Die Goblins schlugen mit den Armen um sich, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Glissa trat mit einem Bein zur Seite hin aus, während sie nach der anderen Seite einen Schlag führte. Mit dem Fuß traf sie das Knie eines ihrer Gegner, und gleichzeitig erwischte sie den anderen mit dem Schwertknauf. Sie konnte hören, wie das Knie brach,
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während ihr Hieb dem anderen Goblin das Kinn zertrümmerte. Beide Goblins stürzten auf den Boden des Schmelzeraums. Glissa richtete sich auf. Der nächste Goblin stand schon parat. Er schwang seine Feuerröhre nach ihr, brannte einen Streifen Leder am Bauch weg und verletzte ihre Haut. Glissa zog das Schwert in gerader Linie nach oben, fast instinktiv, und sah dann entsetzt mit an, wie der Goblin vor ihr auseinander fiel. Die beiden Hälften kippten links und rechts vom Pfad. Das Blut ergoss sich auf den Boden und verdampfte. Die letzten beiden Goblins musterten Glissa, ließen ihre Röhren dann fallen und gaben Fersengeld. Die Elfin untersuchte ihren Bauch. Die Flamme war nur über ihren Brustkorb gestrichen und hatte lediglich etwas Haut weggesengt. Glissa hob die Röhren auf und machte sie aus, während sie auf das Lüftungsrohr zuging. Der metallene Schacht kam aus der Schmelze und verlief durch die Höhle und an der Wand hinauf. Aus der anderen Seite des Schachtes, dort wo die Goblins gearbeitet hatten, drang eine nicht abreißende Dampfwolke. Sie kletterte über das Rohr hinweg, wobei sie sich auf der flachen Seite ihrer Schwertklinge abstützte, damit ihre Hände nicht das heiße Metall berührten. Glissa betrachtete den Schacht und überlegte, wie sie den größtmöglichen Schaden anrichten konnte. Ihr Blick wanderte hinauf zum Zellentrakt, wo sich immer noch ein paar Schamanen herumtrieben. Es bedurfte eines großen Ablenkungsmanövers, um alle zu ihr herzulocken, damit Slobad freie Bahn zurück zu den Zellen hatte. Als sie den Blick wieder auf den Schacht richtete, sah sie, wie einer der Goblins, die sie zuvor vom Weg gestoßen hatte, auf sie zuschlich. Blitzschnell schwang sie ihr Schwert über den Schacht hinweg. Die Klinge
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drang dem Goblin zwischen die Rippen. Er fiel nach hinten, aber dafür kamen andere heran, darunter auch die übrigen Schamanen. Glissa hatte keine Zeit mehr zu verlieren. »Das wird wehtun.« Sie nahm die beiden Feuerröhren, die sie erbeutet hatte, und legte sie nebeneinander auf den Schacht. Dann hob sie das Schwert mit beiden Händen über sich, neigte den Kopf zur Seite und barg ihn hinter ihren Armen und trieb die Klinge dann durch die Röhren in den Schacht. Die Röhren explodierten in zwei Feuerbällen. Die Wucht der Explosion drang durch den Schlitz, den Glissa geschlagen hatte, in den Schacht hinunter. Die Elfin wurde vom Schacht in die Höhe fortgeschleudert. Am Rand einer nahen Brücke landete sie hart auf dem Rücken, wobei ihr das Schwert aus den Händen fiel. Benommen und orientierungslos infolge der Explosion, stand sie just in dem Moment auf, da die Nahtstellen des Schachts zu beiden Seiten des Lochs aufrissen. Dampf brach aus dem aufgeplatzten Schacht hervor. Eine gewaltige Wolke heißer Luft traf Glissa ins Gesicht und stieß sie nach hinten. Sie glitt mit den Füßen vom Rand des Pfades ab. Blindlings streckte sie die Hände aus und bekam die Brükke zu fassen. Sie grub ihre Krallen in das rostige Metall, spannte die Muskeln an und schwang sich unter die Brücke. Unter sich sah sie nichts als Schwärze. Sie konnte durchaus über dem Schoß der Stahlmutter hängen. Wenn sie jetzt losließ, würde sie womöglich geradewegs ins Zentrum der Welt hinabstürzen. »Aber nicht heute.« Sie versuchte sich wieder auf die Brücke hinaufzuziehen,
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aber das Metall bröckelte unter ihren Krallen weg. Sie beschloss, ihr Bein so hoch zu schwingen, dass sie einen Fuß auf die Brücke bekam, aber bevor sie das ausführen konnte, hörte sie Schritte über sich. Glissa ließ die Beine nach unten sinken und atmete leiser. Es war zu spät. Die Schritte stoppten unmittelbar über ihr. Glissa hörte, wie Metall über Metall kratzte, schaute nach oben und sah einen Schamanen über sich stehen, der wie der Oberpriester wirkte. In einer Hand hielt er seine zeremonielle Feuerröhre, in der anderen Glissas Schwert. »Du hast die Große Schmelze beschädigt«, sagte der Schamane. »Dafür allein solltest du schon sterben, he? Bist du auch diejenige, die meine Gefangenen befreit hat?« »Was für Gefangene?«, fragte Glissa. »Ich glaube, das weißt du recht genau. Ich bin mir auch sicher, dass das alles hier kein Zufall ist, he? Ein Eindringling zerstört die Große Schmelze, während Gefangene befreit werden? Das hängt doch zusammen.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, keuchte Glissa. Sie versuchte von neuem, ein Bein auf die Brücke zu schwingen, aber der Schamane schlug mit der Breitseite des Schwerts nach ihr. »Sag mir, wo die Kultisten sind. Dann lasse ich dich am Leben, he?« »Gib mir mein Schwert zurück«, entgegnete Glissa, »und ich lasse dich am Leben.« »Dieses Schwert?«, rief der Schamane und schwang die Waffe. »Ich habe es auf der Brücke gefunden! Jetzt gehört es mir.« »Hilf mir hinauf, und ich zeige dir, wo deine Gefangenen
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sind.« »Ich habe dich kämpfen sehen, he?«, sagte der Schamane. »Ich glaube, es ist sicherer für mich, wenn du da unten bist. So, und jetzt verrate mir, was ich wissen möchte. Ich habe hier die Oberhand.« »Möglich«, knurrte Glissa, »aber ich habe deinen Fuß.« Sie grub die Krallen einer Hand tiefer in die Brücke, und mit der anderen packte sie den Schamanen am Fußgelenk. Mit einem schnellen Ruck riss sie das Bein des Schamanen über den Rand. Aus dem Gleichgewicht geraten, fiel er über Glissa ganz unzeremoniell auf den Rücken. Sie riss noch einmal an seinem Bein und zerrte ihn von der Brücke herunter. Der Schamane baumelte nun kopfüber unter Glissa an ihrem Arm. Sie hielt ihn fest, spürte jedoch, wie ihr sowohl der Griff von seinem Knöchel als auch der von der Brücke abglitten. Der Goblin packte ihr Schwert mit beiden Händen. »Wenn du dieses Schwert so sehr willst«, sagte er, »dann gebe ich es dir, he?« »Tu das, und wir sterben beide.« Glissa hörte, wie über ihr die niederen Schamanen herbeieilten. »Bleibt zurück, oder ich lasse euren Oberpriester in die Eingeweide der Mutter stürzen«, rief sie. Die hastigen Schritte verstummten. Der Schamane sah mit einem herausfordernden Blick zu ihr herauf. »Lass mich fallen, und du verlierst das Schwert.« »Ich hab keine Zeit für diese Spielchen«, murmelte Glissa. Weitere, diesmal schwerere Schritte ertönten. Über ihr schrien die Goblins auf. Einer nach dem anderen fielen sie über den Rand herab. Glissa sah eine gewaltige Keule, die über ihr hin und her schwang und Goblin um Goblin von der Brücke fegte.
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Sie sah wieder hinab zu dem Schamanen und lächelte. »Meine Mitfahrgelegenheit ist da. Ich muss los.« Der Goblin-Schamane schrie und schlug mit dem Schwert nach Glissa, aber die Elfin war zu schnell für ihn. Sie trat mit den Füßen nach seinen Händen und ließ dadurch das Schwert in die Höhe wirbeln. Dann löste sie ihren Griff um den Knöchel des Goblins und packte das Schwert. Der Schamane stürzte schreiend und mit den Armen schlagend in die Schwärze hinab. Im nächsten Augenblick fasste Boshs riesige Hand über den Brückenrand und zog Glissa hinauf. Bosh bückte sich, um seine Keule aufzuheben. Es handelte sich um den anderen Arm des Golems. Mit einem komisch anmutenden Händedruck ergriff er die eigene Hand und richtete sich auf. »Keine Zeit, um die Rekonstruktion abzuschließen«, sagte er. »Du brauchtest Hilfe.« »Danke«, sagte Glissa. »Ist Slobad hinausgekommen?« Der Golem nickte. »Wir gehen jetzt am besten auch«, sagte sie. »Wir dürfen uns in der Hinsicht schließlich nicht so einfach von ihm schlagen lassen.«
$ Glissa kletterte auf die Schultern des Golems. Bosh rannte anschließend schnurstracks durch die Schmelzehöhle. Pfade benutzte er nur, wenn er eine Kluft überqueren musste. Goblins, die sich in ihre Nähe wagten, machten mit dem riesigen Eisenarm des Golems Bekanntschaft. Bosh schwang die behelfsmäßige Keule beim Rennen vor sich hin und her.
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Als sie den Schmelzeraum verlassen hatten, kamen sie durch mehrere von Goblins angelegte Gänge. Glissa sah zu beiden Seiten Höhlen, aber keine war mehr so groß wie der Schmelzeraum. Der Golem blieb auf einmal stehen, und Glissa blickte ihm über die Schulter. Sie standen am Eingang zu einer Höhle, gegen die wiederum der Schmelzeraum geradezu winzig wirkte. Glissa konnte weder die gegenüberliegende Seite noch die Decke der riesigen Höhle sehen, dafür aber ein gewaltiges Loch in der Mitte. Sie hatte sich zuvor wohl geirrt. Der Schoß der Stahlmutter befand sich gar nicht unter der Schmelze. Er lag genau hier vor ihr. Hunderte oder gar tausende von Goblins erschaffene Bauten jeglicher Größe umgaben das Loch. Eine kleine Armee von Goblins hatte die Stadt am Rand des Schoßes verlassen. Sie marschierten nun den Pfad zum Eingang herauf, geradewegs auf Bosh und Glissa zu. »Warum bist du stehen geblieben?«, fragte die Elfin. »Ich kenne diesen Ort«, antwortete der Golem.
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Kapitel 18
DIE INNERE WELT
F
ührt dieser Weg hinaus?«, fragte Glissa. Sie zeigte auf die näher rückende Goblin-Armee. »Nein«, sagte der stoische Golem. »Erzähl mir später, was du über das Loch weißt«, schrie Glissa, »und bring uns endlich hier raus!« Bosh wandte sich von der Schoß-Höhle ab und rannte den Gang hinunter. Bald wichen die gehämmerten Wände natürlichen Metallformationen. Röhren verliefen über Wände und Decke. Der gehämmerte Boden setzte sich noch ein Stück weiter fort, wurde aber schließlich von den rostigen Eisenröhren abgelöst, die sich durch den gesamten Goblinkomplex zu erstrecken schienen. Der Gang hatte sich zu einer Höhle geweitet, und endlich konnte Glissa den Eingang vor sich sehen. Das Licht des roten Mondes spülte wie Blut über den Boden. Inmitten eines Gebirges traten sie aus der Höhle heraus. Röhrenartige Metallformationen breiteten sich vor ihnen in alle Richtungen aus. Die Berge sahen der Schmelze sehr ähnlich. Eisenrohre sprossen aus dem Boden, wanden sich um einen zentralen Kern herum und bildeten metallene Stummel, die die Landschaft übersäten. Viele dieser Rohrberge waren größer als Taj Nar. Der Boden bestand aus einer ineinander
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verflochtenen Masse von Eisenröhren. Alles war von einer Rostschicht überzogen, die den Bergen ein stumpfes rotes Aussehen verlieh. Glissa schaute zum Eingang zurück, um nachzusehen, ob sie verfolgt wurden, aber dank Boshs langen Beinen und seiner Unermüdlichkeit hatten sie die Goblin-Armee weit hinter sich gelassen. Der hinter ihnen aufragende Berg war gewaltig. Gegen ihn wirkten die umliegenden Stummel geradezu zwergenhaft. Sie befanden sich etwa auf einem Viertel seiner Höhe und dennoch entzog sich sein Gipfel ihrer Sicht und verschwamm im Himmel und in den Sternen über ihnen. Der ganze Berg bestand aus demselben röhrenförmigen Metall, das Glissa schon in den Höhlen gesehen hatte. Sämtliche Formationen um sie herum schienen mittels einer endlosen eisernen Pipeline miteinander verbunden zu sein. »Wer, zum Aufflackern, hat das alles so gestaltet?«, fragte sie laut. »Memnarch«, sagte Bosh. »Memnarch hat das alles erschaffen?«, sagte Glissa. »Die Berge, die Schmelze, das große flackernde Loch?« »Er formte die Welt, um für alle ein Heim zu erschaffen.« »Was ist er denn?«, fragte Glissa. »Ein Gott? Ein Weltenwanderer?« »Ich kann mich nicht … erinnern.« »Na, überanstreng dich da lieber nicht.« Glissa gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Es fällt dir schon wieder ein. Das dauert eben seine Zeit. Aber jetzt erzähl mir erst einmal von diesem großen Loch – dem Schoß der Stahlmutter.« »Ich entstieg einem Loch, das dem … Schoß ähnlich war«, sagte Bosh. »Ich erinnere mich an die innere Welt, von der
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Slobad gesprochen hat. Ich erinnere mich, aus einem solchen Loch gekommen zu sein und die Sterne und den Mond über mir gesehen zu haben.« »Moment mal. Du sagtest ,ein Loch, das diesem ähnlich war’. Gibt’s denn davon noch mehr?« »Ja«, sagte der Golem. »Ich glaube schon.« »Wie viele?« »Drei«, sagte Bosh. »Vielleicht vier.« »Erinnerst du dich an sonst noch etwas?«, fragte Glissa. »Nein.«
$ Bosh rannte schweigend weiter. Glissa wandte sich um und sah, wie der rote Mond hinter dem Berg verschwand. Im schwachen Licht des blauen Mondes, den die Goblins das Auge des Verderbens nannten, nahm sie sich kurz selbst in Augenschein. Die Wunde über ihren Rippen hatte sich bereits wieder geschlossen, aber im Laufe der Stunden, die seit dem Kampf auf dem Schmelzeboden vergangen waren, waren ihre Füße geschwollen. Sie beschwor Mana aus dem fernen Knäuel herbei und ließ es auf ihren Handflächen pulsieren. Sie rieb ihre Füße leicht mit der Energie ein. Sie sickerte in ihr blasiges Fleisch und stillte den Schmerz. Ihre Füße würden heilen. Sie hatte Glück gehabt, auch wenn sie nun neue Stiefel brauchte. Glissa sah wieder zum Auge des Verderbens empor. Als Nächstes mussten sie in Richtung des Auges gehen, das stets über dem Horizont zu schweben schien. Chunth sagte, dass die Monde einer Annäherung zustrebten. Jeder Mond würde
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dann, wie sie wusste, über seinem ureigenen Land aufgehen. Während ihrer Zeit bei den Leoniden hatte sie den gelben Mond – den die Leoniden als Sonne bezeichneten – hoch über Taj Nar aufgehen sehen. Der rote Mond – der Himmelstyrann, wie Slobad ihn nannte – hatte fast direkt über ihnen gestanden, als sie die Höhlen der Goblins verließen. Sie war sich sicher, dass das Auge des Verderbens über der Quecksilbersee am hellsten schien. Dort würden sie die Vedalken finden. Dort würde sie ihre Antworten finden. Schließlich wurde Bosh langsamer. »Wir sind in der Nähe des Eingangs zur Höhle des Kults«, sagte er. Glissa blickte sich um. Das einzige Licht kam von den fernen Blinkmotten-Sternen. Im Dunkeln sahen ihre Augen zwar wenig, im schwachen Dämmerlicht jedoch konnte sie sich einigermaßen auf ihre Sehkraft verlassen. Sie machte ein schwach erleuchtetes Rechteck aus, das von Röhren umrahmt wurde. »Dort«, sagte sie und deutete auf die getarnte Tür. Bosh drückte auf eine Röhre neben der Tür, um sie zu öffnen, und sie schlüpften hinein. Glissa rutschte von den Schultern des Golems und ging durch die Gänge voran. Sie kannte zwar den Grundriss der Höhlen nicht, war sich aber sicher, dass sie jene Innenwand finden würde, die Slobads Geheimraum verbarg. Sie hielt nach Schachtabdeckungen Ausschau. Nach einer Weile fand sie einen langen Gang, in dem es in regelmäßigen Abständen Schachtöffnungen gab, die jeweils einem Quergang gegenüberlagen. »Das ist die Stelle«, sagte sie. »Nur weiß ich nicht, wie man hineinkommt.« »Ich kann die Wand durchbrechen«, sagte Bosh. »Ich glaube nicht, dass Slobad darüber erfreut wäre«, mein-
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te Glissa. »Am besten, wir warten einfach auf ihn.« Hinter ihnen öffnete sich ein Teil der Wand, und Slobad spitzte heraus. »Du hast Recht, Elfin«, sagte er. »Geheimraum wäre nicht sehr geheim mit Loch in der Wand, he?« »Slobad!«, rief Glissa. Sie rannte zu ihm und ging in die Knie, um den kleinen Goblin zu umarmen. »Du hast es geschafft.« »Natürlich.« Er schob die Elfin von sich und wischte sich die Kleidung ab. »Slobad überlebt immer. Das kann er am besten, he? Alles in Ordnung?« »Ich könnte ein Paar neue Stiefel und eine Mütze voll Schlaf gebrauchen«, antwortete Glissa. »Wie geht’s Dwugget und den anderen?« »Wir leben«, sagte Dwugget und trat hinter Slobad hervor. »Dank dir, mein Mädchen.« »Dankt Slobad. Er hat mich aufgerichtet. Er hat mich wieder in Ordnung gebracht, genau wie Bosh.« Slobad sah Bosh an. »Ich muss Arbeit beenden. Bessere Arbeit bei Elfin geleistet, he?« Der Goblin führte den Golem und Glissa in den Geheimraum und machte sich dort sofort über den Arm des Golems her. Bosh hielt seinen Arm fest, während Slobad auf die Schultern des Metallmanns kletterte, um daran zu arbeiten. Glissa saß ihnen gegenüber und legte die zerlumpten Reste ihrer Stiefel ab. Die Stiefelscheide tat sie beiseite, dann legte sie das Leder aus, um zu sehen, was davon noch zu gebrauchen war. Dwugget nahm Glissa das Leder ab. »Lass uns helfen«, sagte er. »Wir reparieren es, bevor wir gehen.« »Danke, Dwugget«, sagte sie. »Ich werde sie brauchen. Diesmal habe ich eine lange Reise vor mir.«
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»Wo gehst du hin?«, fragte Dwugget. »Was für eine große Mission führt dich und Slobad durch ganz Mirrodin, he?« Glissa lachte fast auf. »Ich will zur Quecksilbersee«, sagte sie. »Um denjenigen ausfindig zu machen, der hinter dem Angriff von letzter Nacht steckt.« »Wir dachten, das waren die Goblin-Schamanen«, sagte Dwugget, »die gekommen sind, um den Krark-Kult ein für alle Mal zu läutern.« »Sie haben wahrscheinlich mitgeholfen«, sagte Glissa. »Aber diese silbernen Ungetüme gehörten zu jemandem, der versucht hat, mich umzubringen. Ich habe ähnliche Wesen schon zuvor gesehen.« Während Slobad den Arm des Golems reparierte, erzählte die Elfin Dwugget ihre Geschichte. Sie erläuterte, wie Slobad sie vor dem Gleichmacher gerettet hatte und wie sie Bosh im Dross gefunden hatten. Und sie erzählte ihm vom Tod ihrer Freunde und Familienangehörigen. »Diese Toten gehen nicht auf dein Metall, he?«, sagte Dwugget. »Du trägst keine Schuld an ihrem Tod. Mach dir keine Vorwürfe wegen der Korrosion anderer.« Glissa nickte. »Wir wollen die Korrosion ausmerzen, damit sie unser Metall nicht länger angreifen kann«, sagte sie. »Deshalb gehen wir auch zur Quecksilbersee: um den Verantwortlichen zu finden.« »Slobad erzählt mir, deine Bestimmung hat etwas mit dem großen Schamanen Krark und dem Herzen unserer Mutter zu tun«, sagte Dwugget. »Ich weiß es nicht genau«, antwortete Glissa. »Es mag alles irgendwie miteinander verknüpft sein. Mein Schamane, ein Trollpriester namens Chunth, hat mir erzählt, dass die Welt
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hohl ist. Er glaubte, das zu wissen sei für meine Bestimmung sehr wichtig. Was kannst du mir diesbezüglich über die innere Welt sagen, die Krark fand?« »Krark führte während der Reise Tagebuch«, sagte Dwugget. »Goblin-Schamanen haben es zerstört, aber zuvor konnte ich den größten Teil davon kopieren, he? Wir nennen es das Buch von Krark. Ich lass es dich lesen.« »Danke.« Dwugget brachte ihre Stiefel zu den Kultisten, die sich auf der anderen Seite des Raumes ausruhten. Glissa wandte sich an Slobad, dessen Hand im Gelenk zwischen Boshs Arm und Schulter verschwunden war. »Wohin können wir Dwuggets Leute in Sicherheit bringen?«, fragte sie. »Wir bringen sie zur Gleichmacherhöhle, sobald Bosh repariert ist«, antwortete Slobad. »Dort müsste es wieder sicher sein, he?« »Also gut, du und Bosh bringt sie hin«, sagte Glissa. »Ich gehe zur Quecksilbersee.« »Gleichmacherhöhle nicht weit weg«, sagte der Goblin. »Wir gehen alle. Slobad kennt Weg. Bosh bringt uns schnell hin, he?« Dwugget kam mit einem in dunkles Leder gebundenen Buch zurück. Der Deckel war gewölbt und bestand aus einem in Leder geschlagenes Stück Bergeisen. Darunter waren lederne Seiten mit Schnüren zusammengebunden, die man durch die eiserne Halbröhre gefädelt hatte. Glissa nahm das Buch so, wie sie Trolle bei Zeremonien mit religiösen Objekten hatte umgehen sehen. Es zu berühren erfüllte sie mit einem wundersamen Gefühl, wie sie es nie zuvor verspürt hatte. Sie neigte den Kopf vor Dwugget, dann wandte sie sich
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wieder an Slobad. »Ihr beide bleibt«, sagte sie. »Es ist zu gefährlich.« »Darum gehen wir ja mit«, grunzte Slobad, während er sich in Boshs Schulter gegen irgendein Werkzeug stemmte. »Um verrückte Elfin vor Gefahr zu schützen.« »Du brauchst unsere Hilfe«, sagte der Golem. Boshs befehlende Stimme wirkte beinahe komisch, wie er so dasaß und den eigenen Arm im Schoß hielt, während Slobad schnaufend auf seinem Rücken hockte und in der Schulter des Golems hantierte. Glissa wollte eigentlich widersprechen, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte. Schließlich waren die beiden genauso stur wie sie. Und so begann sie erst einmal damit, im Buch von Krark zu lesen:
Gestern Nacht rief mich die Große Mutter wieder. Sie sandte mir eine Vision ihres Herzens. Ich schwebte durch ihren Schoß, ihre Gebärmutter hinab in eine innere Welt. Ihr Herz hing tief am Himmel und leuchtete mit der Kraft der vier Sonnen. Ich griff danach, aber das Herz befand sich gerade so außerhalb meiner Reichweite. Es hing da und erfüllte die innere Welt mit Kraft und Licht. Mir war warm, als stünde ich vor der Schmelze. Ich empfand Zufriedenheit, als hätte ich mein wahres Zuhause gefunden.
$ Glissa schaute von dem Buch auf und sah eine fremdartige Landschaft vor sich. Sie stand auf blankem Metall. Der Boden ringsum war eintönig: flach, glatt und grau, so weit das Auge reichte. Das Buch von Krark war aus
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ihren Händen verschwunden, aber sie besaß noch ihren metallumhüllten Körper. Riesenhafte pflanzenartige Gebilde aus kristallinem Material durchsetzten die Metallebenen um sie herum. Die Kristallpflanzentürme ragten weit in die Höhe, einer gewaltigen Energiekugel entgegen, die den Himmel dominierte. Sie glitzerten und reflektierten das Licht des Herzens in alle Richtungen und erzeugten Regenbogen, die über den Himmel fegten und miteinander kollidierten. Glissa wusste, dass dies ein Aufflackern war, obwohl sie bislang noch nie eines als solches erkannt hatte, wenn sie mittendrin war. Wie konnte diese Szene ihrem Leben entstammen oder einer Erinnerung ihres Volkes? Die Elfen waren noch nie in der inneren Welt gewesen. Oder erlebte sie Krarks Reise nach? Sie steckte doch in ihrem Körper, nicht in dem eines alten Elfen oder Goblins. Die Vision begann sich um sie herum aufzulösen, während sie über deren Realität nachsann. »Nein!«, schrie sie. Der Laut hallte seltsam über die Ebenen. Er wurde zwischen den Kristalltürmen hin und her geworfen, vervielfachte sich zu hunderten von Neins, die durch die innere Welt schwangen. Die Vision wurde wieder deutlicher, als Glissa sich auf die Echos konzentrierte. Sie ging zwischen den Kristalltürmen einher. Sie schienen bis in den Himmel und zum zentralen Mond hinaufzureichen … oder war es eine Sonne? Hoch über sich konnte Glissa weiße Flecken durch die Luft schweben sehen. Blinkmotten? Sie wusste es nicht genau. Sie schienen zu leuchten, aber vielleicht war es auch nur das Licht der Kugel, das sie durchdrang. Die Kugel pulsierte wie ein schlagendes Herz in der Brust der Welt. Jeder Schlag sandte eine andere Farbkaskade um die Kugel herum – blau, rot, weiß, schwarz, grün. Die Flecken begannen zu kreisen. Das pulsierende Licht im Herzen wandelte sich schneller, und die winzigen Stäubchen wirbelten ebenfalls schneller. Die Wirkung war Schwindel erregend. Glissas Knie gaben unter 293
ihr nach, und sie stürzte zu Boden. Sie blickte zum Herzen hinauf. Das farbige Licht raste so schnell über das Herz, dass es nur noch verschwommen auszumachen war. Die Wolke aus weißen Flecken verwandelte sich in einen Mahlstrom, der wie ein Tunnel zum Herzen über ihr wirbelte. Das Herz wurde am jenseitigen Ende des Sturms kurz strahlend blau und zerbarst dann in einem Farbenregen. Eine blaue Energiekugel raste den zuckenden Tunnel herab. Ein gewaltiger Donnerschlag ließ den Boden erbeben und warf Glissa in die Luft. Als die Elfin aufschlug, sah sie nach oben und schrie kurz auf, bevor die blaue Kugel in die Oberfläche der inneren Welt einschlug … und in sie.
$ Glissa schreckte aus dem Schlaf. Das Buch von Krark klapperte zu Boden. Der Raum um sie herum war dunkel. An der jenseitigen Wand brannte über den Köpfen der Kultisten eine einzelne Feuerröhre. Die Goblins schliefen auf dem Boden. Glissa nahm das Buch auf und legte es auf den Tisch. Sie erhob sich und ging im Raum umher. Bosh saß in einer Ecke. Seine roten Augen glühten im Finstern. Glissa sah Slobad, der sich auf den Beinen des Golems zusammengerollt hatte. Er schnarchte wieder. »Geht es dir gut?«, flüsterte Bosh. »Ja«, sagte sie, »aber warum müssen sie immer mit meinem Tod enden?« »Wie bitte?« »Nichts«, sagte Glissa. »Habe nur schlecht geträumt.« »Du solltest lieber weiterschlafen«, sagte der Golem. »Ich halte Wache, bis die Sonnen untergehen.«
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Glissa lachte glucksend. »Du hast von Slobad gelernt«, sagte sie. »Wir Elfen nennen sie nämlich Monde.« »Warum?« »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Uns kommen sie eben einfach wie Monde vor. Über dem Knäuel gehen sie nie auf, und sie spenden uns herzlich wenig Licht. Eine Sonne sollte hell am Himmel scheinen und einem das Gesicht wärmen, wenn man zu ihr aufsieht.« »Du solltest jetzt wirklich schlafen«, sagte der Golem noch einmal. »Wir brechen auf, wenn die … Monde untergegangen sind.« Glissa musterte die schlafenden Kultisten. Ihre reparierten Stiefel standen neben Dwugget auf dem Boden. Sie hob sie auf und setzte sich an den Tisch, um sie anzuziehen. Glissa sah noch einmal auf das Buch von Krark hinab, dann zu den verbliebenen Kultisten hinüber. Es waren nicht viele übrig, aber sie hielten noch immer an ihrem Glauben fest – obgleich dieser Glaube sie fast das Leben gekostet hatte. Diese Goblins gaben ihr früheres Zuhause, ihr früheres Leben auf und riskierten alles, weil sie an etwas glaubten, was größer war als sie selbst. Konnte sie da zurückstehen? Etwas Schlimmes geschah in ihrer gemeinsamen Welt. Chunth hatte es gewusst. Ushanti hatte davon geträumt. Glissa hatte Bruchstücke davon in ihren Anfällen von Aufflackern gesehen. Ob sie den Stab nun wollte oder nicht, sie war zur Kämpferin sowohl für die Goblins als auch für die Trolle und Elfen geworden – vielleicht auch für die Leoniden, die Nim und alle anderen auf dieser Welt. Es gab eine innere Welt. Das wusste sie jetzt. Und irgendwie wusste sie auch, dass sie sich dorthin wenden musste, um sich ihrer Bestimmung zu stellen.
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Bosh hatte Recht gehabt. Sie brauchte Slobad und den Golem in diesem Kampf. Es stand zu viel auf dem Spiel. Hier ging es nicht nur um sie und einen Mörder. Sie kämpfte für die Zukunft ihrer aller Welt. In Boshs Kopf befanden sich Informationen über die innere Welt und Memnarch. Sie musste die richtigen Entscheidungen treffen, um Ushantis Vision zu verhindern. Slobad wusste, wie man überlebte. Er hatte einen Instinkt fürs Leben, einen Instinkt, den sie in den nächsten Tagen brauchen würde. Bosh hatte Recht. Sie brauchte die beiden. Wenn schon nicht um ihretwillen, dann auf jeden Fall für die Krark-Kultisten, für die Leoniden, die Elfen und die Trolle. Glissa nahm das Buch von Krark auf und trug es zu Bosh hinüber. Sie legte sich hin und rollte sich neben dem Metallmann zusammen, das Buch fest an die Brust gedrückt. Bosh streichelte ihr mit seinem frisch befestigten Arm über den Kopf. Den Arm des Golems wie eine Decke um sich gewickelt, schlief sie ein.
$ Sie brachen auf, nachdem der rote Mond hinter den Bergen untergegangen war. Das Terrain flachte etwas ab, als sie sich auf die Glimmerleere zubewegten. Noch immer wurden sie von rostfarbenen Gebilden umgeben, aber die Eisenröhren verliefen nicht mehr durch den Boden unter ihnen. Sie waren flachen Metallplatten gewichen, die augenscheinlich zu so etwas wie einem riesigen roten Fliesenmosaik zusammengefügt worden waren. Die Platten bewegten sich bisweilen unter ihren Füßen, verlangsamten den Abstieg und machten ihn zu
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einer Tortur. Während sie um die rostigen Nähte herumgingen, konnte Glissa die hügelige Metallebene der Glimmerleere in der Ferne im Sternenlicht glitzern sehen. Bosh und Slobad waren ein Stück vorausgegangen, um sich umzuschauen, und kehrten gerade in dem Augenblick zurück, als Glissa den oberen Rand des gelben Mondes zwischen zwei Auswüchsen sah. Der Goblin und sein Golem führten Glissa und die Kultisten zu einer verlassenen Höhle, die sie entdeckt hatten. In dieser Nacht las Glissa wieder im Buch von Krark. Als Schamane, dem Visionen seiner Gottheit zuteil geworden waren, hob sich Krark von den anderen ab und machte sich einen Schamanenältesten zum Feind, der sich eher um seine eigene Macht zu sorgen schien, anstatt irgendwelche Weisheiten mit den Goblins zu teilen. Eine Passage fiel ihr besonders auf:
Ich habe den Schamanenältesten um Erlaubnis gebeten, den Schoß betreten zu dürfen. Ich berichtete ihm von meinen Visionen und meinem Wunsch, das Herz der Mutter zu suchen. Er verfluchte mich, weil ich angeblich Lügen über die Mutter verbreitete, und schwor mir, mich in die Schmelze zu schicken, sollte ich noch einmal solch ketzerische Reden führen. Er ist blind für die Herrlichkeit der Mutter. Ich muss ihm die Augen öffnen. Ich muss das Herz sehen. Sie ruft nach mir. Am nächsten Abend kam Glissa zu der Stelle, die Slobad ihr gegenüber vor dem Angriff in der Kult-Höhle zitiert hatte.
Ich stand in einem abschüssigen Raum ohne Dach, umgeben von uralten Korallentürmen. Eine Riesensonne hing über mir und leuchtete wie Himmelstyrann und Bringer und Ingle und Auge des Verderbens. Ich hatte Mutters Herz gefunden. Das Herz schlug am Himmel und schenkte der Welt Leben. Die
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Sterne tanzten um das Herz herum, froh, in ihrem göttlichen Schein zu leben. Ihre Hitze wärmte mir Gesicht und Herz. Ich war zu Hause. Auf der nächsten Seite befand sich eine Zeichnung von der Szene, die Krark beschrieb. Glissa erkannte sie, sowohl aus Krarks Worten als auch aus ihrem eigenen Aufflackern, das sie zwei Nächte zuvor heimgesucht hatte. »Sieh dir das an, Bosh«, sagte sie. »Das ist ein Bild der inneren Welt. Dwugget muss es aus dem Originaltagebuch abgemalt haben. Siehst du die Flecken, die rings um diese … Türme aufsteigen? Krark sagt dazu: Sie regneten nach oben, dem Herzen entgegen. Ich habe diese Dinger neulich selbst in einem Traum gesehen. Sind das Blinkmotten? Chunth hat mir erzählt, dass der Regen von den Blinkmotten kommt, den Sternen, die wir über uns sehen.« Bosh betrachtete das Bild im Buch. Er kniff die Augen zusammen, und Glissa sah ihm an, dass er sich an weitere Dinge aus seinem Leben in der inneren Welt zu erinnern versuchte. Auf einmal riss er die Augen wieder auf, als sähe er eine verstörende Vision. »Myco … Mycosynth. Das sind Mycosynth-Sporen, keine Blinkmotten. Die Mycosynth-Kristalle produzieren Sporen. Blinkmotten gibt es seit Ewigkeiten. Die Mycosynth dagegen kamen erst später.« »Was meinst du damit?«, fragte Glissa. »Memnarch erschuf die Mycosynth, aber nicht die Blinkmotten? Du sagtest doch, er habe alles erschaffen.« »Memnarch formte die Welt nach seinen Wünschen. Erschaffen hat er sie nicht«, sagte Bosh. »Die Blinkmotten gab es noch vor Memnarch. Die Mycosynth kamen später, wie eine
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Seuche. Ich glaube, ich bin erschaffen worden, um die Mycosynth-Verseuchung zu bekämpfen, aber ich verlor den Kampf. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Alles andere ist leer, bis du und Slobad mich im Mephidross fandet.« Glissa ließ Bosh mit seinem Flickwerkgedächtnis allein und wandte sich wieder dem Buch zu. Sie befanden sich kaum noch eine Nachtreise von der Gleichmacherhöhle entfernt, und sie hatte das Buch von Krark beinahe durchgelesen. Es las sich wie ein Aufflackern. Krark war wie von einer Bestimmung geleitet zum Schoß und zum Herzen der Mutter gezogen worden. Er betrat das riesige Loch und schritt hinab in eine andere Welt, eine Welt innerhalb der Welt, die sich in alle Richtung erstreckte.
Es ist, als wäre man in einem Tal, das von Hügeln umgeben ist, die bis zum Himmel hinaufreichen. Und an diesem Himmel hängt Mutters Herz wie eine einzelne Sonne, die sich nie bewegt. Chunth hatte die Wahrheit gesagt. Krark hatte sie gesehen. Bosh hatte sie erlebt, und Glissa hatte davon geträumt, aber was hatte das alles zu bedeuten? Wenn es doch riesige Löcher gab, die zu dieser inneren Welt führten, warum war niemand außer Krark je hinabgestiegen? Bosh sagte, die Mycosynth seien eine Seuche, aber wenn sie so weit verbreitet waren, warum hatte sie nie jemand in der Welt hier draußen gesehen? All das waren Teile eines Puzzles, von dem Glissa keine Ahnung hatte, wie es zusammenzusetzen war. Glissa holte die Phiole mit dem Serum hervor. Befanden sich die Antworten hier drinnen? Sie dachte daran, das Serum zu trinken, um das Wissen jener uralten Macht zu erlangen, die die Blinkmotten erschaffen hatte. Aber Chunth hatte seine Geheimnisse gehü-
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tet, um die Elfen und die Trolle vor dem Serum zu schützen. Er war gestorben, weil er seine Geheimnisse geschützt hatte – und sie, Glissa. Deshalb würde sie das Serum nur benutzen, wenn ihr gar keine andere Wahl mehr blieb.
$ Sie erreichten die Gleichmacherhöhle, lange bevor am Morgen die Monde aufgingen. Glissa und Slobad gingen hinein, um sie zu inspizieren, während Bosh als Wache bei den Kultisten zurückblieb. Slobad zündete seine Feuerröhre, als sie den dunklen Raum betraten, der einmal sein Zuhause gewesen war. Die Höhle war durchsucht worden. Der Tisch, die Stühle und die Werkbank lagen in Trümmern. Als Slobad den Durchgang zur Gleichmacherhöhle überprüfte, fand er ihn blockiert. »Du hattest Recht«, sagte Glissa. »Derjenige, der sich um diese Monster kümmert, hat dein Quartier gefunden. Machst du dir gar keine Sorgen darum, dass sie wiederkommen könnten?« »Nur wenn eine gewisse verrückte Elfin noch mehr Gleichmacher zerstört, he?«, sagte Slobad. »Und das wirst du doch nicht tun, oder?« Er lächelte. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt«, sagte Glissa. Sie schaute sich um. »Hier ist nicht viel Platz.« »Mehr Räume dort und dort, he?«, sagte Slobad und deutete auf die Wände beiderseits des kleinen Raumes. Er schoss die Überreste seiner Werkbank aus dem Weg und öffnete ein Paneel, dann ging er quer durch den Raum und öffnete ein zweites. »Sie werden überleben.« Die Räume dahinter waren
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unberührt. Glissa kroch hinaus, um die Kultisten zu holen. »Es ist nicht viel Platz«, sagte sie zu Dwugget, »aber hier seid ihr in Sicherheit. Hier wird der Schamanenälteste niemanden herschicken. Und wenn das alles vorbei ist, dann kann Slobad euch vielleicht noch ein paar mehr Räume zur Verfügung stellen.« »Ich danke dir noch einmal«, sagte Dwugget. »Du hast viel für uns getan, he? Wir folgen von nun an Krark und Glissa.« »Na ja, ich bin mir noch gar nicht so sicher, ob ich Krark wirklich in dieses Loch hinunterfolgen soll«, sagte sie. »Das wirst du«, sagte der Kultanführer. »Alle Antworten liegen im Herzen der Mutter.«
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Kapitel 19
BRUENNA
S
ie brachen umgehend zur Quecksilbersee auf. Es blieben noch ein paar Stunden Dunkelheit, bevor der gelbe Mond über der Glimmerleere aufging. Slobad ritt auf Bosh, und Glissa hatte ihren Stammplatz in der Beuge des eisernen Armes des Golems eingenommen. Eine Weile gingen sie auf dem Weg zurück, auf dem sie aus den Bergen heruntergekommen waren, dann schwenkten sie in eine andere Richtung ab. Zu ihrer Linken konnte Glissa zwischen den Bergen die Glimmerleere ausmachen. »Wir werden Informationen über die Vedalken brauchen«, sagte Glissa zu Slobad. »Weißt du irgendetwas über die Quecksilbersee?« »Weiß, dass Menschen am Meeresufer leben, he?«, sagte der Goblin. »Die meisten davon Zauberer. Haben keinen Bedarf an Goblinreparaturen, darum hat Slobad sie in Ruhe gelassen. Bin nie zurückgegangen, he?« »Zauberer?«, sagte Glissa. »Die Kuttengestalt war ein Zauberer, aber er war ein Vedalken. Zumindest nehmen wir das an. Aber er war auf keinen Fall ein Mensch – nicht mit seinen vier Armen. Wenn diese Menschen allerdings in der Nähe des Meeres leben, dann wissen sie vielleicht etwas über die Vedal-
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ken. Für den Anfang ist dieser Ort so gut wie jeder andere. Wir suchen uns einen Zauberer und stellen ihm ein paar Fragen. Wie weit ist das Meer entfernt?« »Nicht weit«, sagte Slobad. »Nicht auf Boshs Schultern, he? Wir werden in einer Umkreisung dort sein, vielleicht noch früher.«
$ Am nächsten Tag ließen Glissa, Slobad und Bosh die Berge hinter sich. Kleine Auswüchse röhrenförmigen Eisens sprenkelten den Abhang vor ihnen, aber dahinter lag ein flaches Tal, das zu den Ufern des Meers führte. Glissa ließ ihren Blick über den Gebirgszug wandern. Zu ihrer Linken lief der Bergkamm aus, um sich nahe des Horizonts mit der Glimmerleere zu vereinen. Das Tal und das Meer schlängelten sich am Rande der Berge entlang. Rechter Hand konnte sie sehen, dass sowohl die Berge als auch das Meer gerade am Rande ihres Blickfelds vor einem Vorhang aus grünem Dunst abrupt endeten – die Glimmerleere. Glissa suchte nach Anzeichen von Bewohnern. Sie wusste nicht, ob die Menschen in den Bergen, im Tal oder am Meer zu Hause waren. Sie hoffte nur, dass sie nicht im Dross lebten. Immer wieder schweifte ihr Blick zurück zur Quecksilbersee. Sie glitzerte im Licht der Monde und schien irgendwie lebendig zu sein. Von ihrem Aussichtspunkt in den Hügeln über dem Tal aus konnte sie sehen, wie sich die silbrige Oberfläche in einem hypnotisierenden Muster aus blauen, roten, gelben
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und schwarzen Schatten wellte und kräuselte. Das Kräuseln folgte einem chaotischen Muster. Als Kinder hatten Glissa und Kane kleine Metallstücke in Regenfässer geworfen und zugesehen, wie sich winzige Wellen bildeten, über die Oberfläche liefen und sich an den Rändern brachen. Die Quecksilbersee jedoch wogte ganz zufällig, als würde etwas dicht unter der Oberfläche oder das Meer selbst leben. Glissa riss den Blick vom Meer los und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Tal. Als sie die letzte der Eisenformationen passierten, sah sie am Rande des Meers eine Art Stadt oder Dorf. Um ein zentrales Gebäude herum, das viel größer war als die anderen, waren in einem Kreis Unterkünfte errichtet worden. Am Stadtrand ragte eine Reihe großer Planken über das Ufer hinaus. Zwischen diesen Planken sah Glissa Transportmittel, die wohl benutzt wurden, um das Meer zu befahren. »Dort«, sagte sie und deutete auf die Menschenstadt. »In dieser Siedlung werden wir unsere Antworten finden.« »Du glaubst, die reden mit Goblin, Elfin und Golem?«, sagte Slobad. »Nie Elfen so weit weg vom Knäuel gesehen. Niemand hat den Golem zuvor gesehen, he? Und Goblins und Menschen sind noch nie miteinander ausgekommen, he?« Glissa überlegte. »Du könntest Recht haben«, sagte sie schließlich. »Man wird uns keine Antworten geben, wenn man glaubt, dass sie nur für die Goblins bestimmt sind, und Bosh wird sie nur erschrecken.« »Fangen wir einen?« »Nein. Wenn die Menschen nicht mit den Vedalken zusammenarbeiten, wollen wir sie nicht vor den Kopf stoßen. Und falls sie es doch tun, könnte es uns verraten, wenn wir
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einen gefangen nehmen.« »Was machen wir dann, he?« »Glissa kann als Mensch auftreten«, meinte Bosh. »Muss nur ihre Ohren verstecken.« »Und ihre Krallen, he?«, ergänzte Slobad. »Die sind auch erschreckend.« Er lächelte. Glissa blieb stehen und sah sich nach ihren Gefährten um. »Ist das euer Ernst?«, sagte sie. »Ich habe noch nie einen Menschen gesehen. Wie könnte ich also so tun, als wäre ich einer?« »Hast du einen besseren Plan, he?«, fragte Slobad. »Willst du darauf warten, dass die Schwebevögel zurückkommen, und ihnen folgen?« Glissa zog diesen Vorschlag einen Moment lang in Erwägung. »Nein«, sagte sie dann. »Also gut. Wir versuchen sie zu täuschen. Es könnte klappen, wenn ich nicht zu lange bleibe. Ich stell nur ein paar Fragen und verschwinde dann sofort wieder. Aber ich brauche etwas, um meine Ohren zu verbergen. Ich kann mir ja nicht einfach nur einen Schwertgürtel um den Kopf binden.« »Überlass das mir, he?«, sagte Slobad.
$ Nachdem die Monde untergegangen waren, schlich sich Slobad in die Stadt, während Glissa und Bosh um die Hafenanlage herum in Richtung einiger Gebäude gingen, die laut Slobad als Lager genutzt wurden. Glissa umrundete den Lagerschuppen. Darin befanden sich mehrere zerlegte Schiffe und Boote. Glis-
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sa wusste nicht, ob sie erst gebaut, abgewrackt oder repariert wurden. Anhand ihres Aussehens konnte sie allerdings feststellen, dass sie nicht vedalkisch waren. Diese Schiffe waren nämlich im Vergleich zu den schwebenden Ungetümen, gegen die sie gekämpft hatte, ziemlich plump. Sie sahen eher wie etwas aus, was von Slobad zusammengebastelt worden war. Die Seiten waren gehämmert, die Verbindungsnähte deutlich zu sehen. Die Schwebeungeheuer hingegen waren schnittig gewesen und völlig makellos. Glissa kletterte auf das Deck eines der Schiffe. Es bestand lediglich aus zusammengenähten Lederhäuten, die über einen Rahmen aus Metall und Knochen gespannt waren. Zwei große Eisenröhren stützten das Lederdeck. Glissa nahm an, dass diese Rohre aus den Bergen stammten. Kein Wunder, dass sie mit den Goblins nicht auskommen, dachte Glissa. Die Menschen müssen das Goblinmetall gestohlen haben. Sie hörte ein Geräusch und ließ sich sofort auf das Deck fallen, aber es war nur Slobad, der zurückkam. Die Elfin kletterte vom Schiff herunter und nahm das Bündel entgegen, das er ihr reichte. Sie packte es aus und fand eine dunkle Kutte mit Kapuze und einen dazu passenden Kittel und Stiefel darin. »Wo hast du die Sachen her?«, fragte sie. »Hab sie geborgt, he?«, sagte der Goblin grinsend. Die Kleidung ähnelte nichts, was Glissa je gesehen hatte. Sie roch wie Leder, war aber geschmeidig und fühlte sich in ihren Händen so fließend wie Wasser an. Sie betrachtete das Material genauer. Es schien, als wäre das Leder in dünne Streifen geschnitten und miteinander verwoben worden. Glissa legte ihr Wams ab und nahm den neuen Kittel. Slobad wandte sich abrupt ab, und Glissa hatte den Eindruck, als
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würde sich der Hals des Goblins zu einem noch dunkleren Rot verfärben. »Keine Zeit für Sittsamkeiten, Slobad«, sagte sie und streifte sich den neuen Kittel über den Kopf. Sie zog ihre zerlumpten Stiefel aus. Die Kultisten hatten bei der Reparatur gute Arbeit geleistet, aber lange würden die Treter nicht mehr halten. Sie zog die neuen Stiefel an. Weil sie etwas zu groß waren, schnürte Glissa sie mit ein paar Lederstreifen fester um die Beine. Danach schob sie die Dolchscheide in die neuen Stiefel und stand auf. »Ich habe den Namen des Anführers herausgefunden«, sagte Slobad, der immer noch mit dem Gesicht zur Wand dastand. »Es ist eine Frau namens Bruenna. Lebt in dem großen Gebäude, he? Mitten in der Stadt. Großes Gebäude, he?« »Du kannst dich wieder umdrehen, Slobad«, sagte Glissa. Sie warf sich die Kutte über. »Also, dann statte ich dieser Bruenna mal einen Besuch ab.« »Warte, bis die erste Sonne aufgeht«, sagte Bosh. »Warum?«, sagte Glissa. »Jetzt ist sie allein. Das ist die beste Zeit, um unter vier Augen mit ihr zu reden.« »Aber bei Nacht erwartet sie bestimmt keinen Besucher«, erwiderte Bosh. »Das wird sie argwöhnisch machen. Geh zu ihr, wenn sie frühstückt. Dann meidest du die Menge, machst dich aber auch nicht groß verdächtig.« »Na schön«, sagte Glissa. »Wie du meinst. Ich werde warten.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und ging in die hintere Ecke des Schuppens, um sich hinzulegen. »Weck mich, wenn es Zeit ist.«
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$ Bosh rüttelte Glissa wach. »Die blaue Sonne geht auf«, sagte er. Glissa sah den Metallmann aus verquollenen Augen an. »Was?«, sagte sie. »Die blaue Sonne«, wiederholte er. »Sie wird jeden Moment über der Quecksilbersee aufgehen.« »Oh. Gut.« Sie ging zur Tür und rückte die Kapuze zurecht, um ihre Ohren und den größten Teil ihres Gesichts zu verbergen. Dann verschränkte sie ihre Arme in den Falten der Kutte, um ihre Krallen zu verstecken. Die Teile ihrer Haut, die noch zu sehen waren, bedeckte sie mit Schlamm und hoffte, dass dadurch niemand ihren grünen Teint bemerkte. Slobad öffnete die Tür, und Glissa lugte hinaus. »Die meisten Schiffe sind aus dem Hafen verschwunden.« »Fischer vielleicht? Das sind Frühaufsteher, he?«, sagte Slobad. »Sind alle aufgebrochen, während du geschlafen hast.« »Was ist ein Fischer?«, fragte sie. »Ein Mensch, der fischt, he?«, sagte Slobad. Als Glissa ihn mit verständnisloser Miene ansah, fuhr er fort: »Bist du wieder verrückt, Elfin? Menschen fangen Fische – Nahrung – im Meer. Bringen sie nach Hause, um sie zu essen, he? Mensch, der Fische fängt, ist ein Fischer.« Glissa nickte. »Na gut. Also, sucht euch ein gutes Versteck, bis ich zurück bin«, sagte sie. Sie schlüpfte durch die Tür hinaus und schlich an der Seite des Schuppens entlang. In den Straßen zwischen den Unterkünften sah sie niemanden umhergehen. Es schien, als hätte
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Bosh Recht gehabt. Sie bog um die Ecke und ging langsam und bedächtig in Richtung Stadtmitte. Dabei hielt sie den Kopf gesenkt und die Hände in der Kutte verborgen. Auf ihrem Weg durch den Häuserring, der das Hauptgebäude der Stadt einfasste, passierte sie ein paar Menschen, die zum Hafen unterwegs waren. Sie nickte ihnen im Vorübergehen zu, aber die meisten schenkten ihr keine Beachtung. Glissa wusste nicht, wie ein Fischer aussah, aber diese Leute trugen alle Kutten wie sie, und es umgab sie ein Hauch von Magie. Sie fragte sich, ob die Menschen Magie benutzten, um Fische zu fangen. Bruennas Haus fand sie ohne Schwierigkeiten. Es war das größte Gebäude in der Stadt, größer als zwei Lagerschuppen. Während die Unterkünfte, die darum herum standen, schlichte Metallkisten mit Ledervorhängen als Türen waren, war dieses Gebäude reich verziert. Metallsäulen trugen das Dach, und in die Wand über der polierten Doppeltür waren Symbole eingraviert. Glissa stieg vorsichtig die Stufen zur Tür hinauf und klopfte. Die Tür öffnete sich, und eine alte Menschenfrau stand vor Glissa. Sie hatte langes weißes Haar, und ihr Gesicht war fast so runzlig wie das eines Trolls. Die alte Frau trug dunkle Kleidung, ähnlich der, die Slobad für Glissa gestohlen hatte, wenngleich ihre Kutte blau gefärbt war und silberne Fäden durch das gewebte Leder verliefen. Das Kleid glitzerte im Licht des blauen Mondes, der hinter Glissa aufging. »Bruenna«, begann Glissa. »Ich …« »Bist du hier, um Mistress Bruenna zu sehen?«, unterbrach die Frau sie. »Ja«, sagte Glissa. »Richte ihr bitte aus, dass ein Bote Nachricht von den Vedalken bringt.«
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»Hier entlang«, sagte die Frau. Sie führte die Elfin zunächst zu einem Stuhl. »Warte hier, während ich Mistress Bruenna von deiner Ankunft unterrichte. Darf ich dir deine Kutte abnehmen?« »N-nein!«, stammelte Glissa. »Ich … mir ist noch kalt von meiner Reise durch die Nacht. Ich lass sie einstweilen noch an.« »Wie du wünschst.« Die alte Frau verließ den Raum. Glissa sah sich in dem Raum um. Er war karg. Taj Nar hatte gestrahlt vor Gold- und Silberschmuck. Die ganze Stadt hatte wegen all des polierten Metalls im Mondlicht geglänzt. Dieses Haus allerdings, das von außen so prachtvoll wirkte, war im Inneren schlicht gehalten. In Bruennas Heim fanden sich nur wenige Möbel und kein Schmuck an den Wänden. Für ein Oberhaupt eines Volkes führt diese Bruenna ein einfaches Leben, dachte Glissa. Die alte Frau kehrte zurück. »Mistress Bruenna ist jetzt bereit, dich zu empfangen.« Glissa folgte der Frau einen kurzen Gang hinunter. Sie betraten einen anderen Raum, wo eine hübsche junge Frau beim Essen saß. Langes blondes Haar lockte sich um ihr Gesicht. Sie trug das gleiche blaue Gewand wie die ältere Frau, nur war ihres überall mit goldenen Fäden durchwirkt, nicht mit silbernen. Bruenna las gerade in einer ledernen Schriftrolle. Auf dem Tisch türmten sich ganze Berge solcher Schriftrollen. Es hatte den Anschein, als würde die Anführerin der Menschen diesen Raum kaum einmal verlassen. »Ja? Was ist?«, fragte Bruenna, ohne auch nur zu Glissa hinzusehen.
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»Ich überbringe eine wichtige Nachricht der Vedalken.« »Was wollen die denn jetzt schon wieder?«, fragte Bruenna. »Noch mehr Zauberer? Mehr Goblin-Erz? Nun, ich habe keine Zauberer mehr, die ich ihnen schicken könnte, und die nächste Schiffsladung Erz trifft erst in ein paar Tagen ein. Geh und richte ihnen das aus, und lass mich wieder in Ruhe arbeiten.« »Sie wünschen eine Audienz bei Euch, Mistress Bruenna«, sagte Glissa. »Um … den Zeitplan zu besprechen.« Bruenna sah zu Glissa auf. »Man… man ruft mich vor die Synode?« »Ja«, sagte Glissa. »Ich soll Euch persönlich hinbringen.« Sie war erstaunt, wie gut Slobads Plan funktionierte. Konnte sie Bruenna wirklich dazu bringen, sie zu den Vedalken zu führen? Bruenna war offensichtlich aufgebracht. Sie knallte die Schriftrolle auf den Tisch und warf dabei fast einen Teller mit Essen um. »Ich habe alles getan, was man von mir verlangte. Was können sie denn noch wollen?« »Vielleicht mehr Serum?«, sagte Glissa. Die Frau starrte sie kalten Blickes an. »Wer bist du? Wer hat dich geschickt?« »Das sagte ich doch schon«, antwortete Glissa. »Ich bin nur eine einfache Botschafterin der Synode.« »Hat Lord Xauvrer dich gesandt?« »Aber ja«, sagte Glissa. »Ich glaube, es war Lord Xauvrer höchstpersönlich, der mich entsandte.« Bruenna lächelte grimmig. »Es gibt keinen Lord Xauvrer. Jeder – jeder Mensch – wüsste, dass dies nicht einmal ein vedalkischer Name ist. Wer bist du?« Mit einer raschen Handbewegung zauberte Bruenna eine Kugel blaues Mana in die Luft. Die Kugel dehnte sich aus und fuhr über Glissa hinweg wie
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ein kalter Wind, zerrte ihr die Kapuze vom Kopf und riss ihr die Kutte vom Leib. Glissa zog ihr Schwert und sprang auf den Tisch. »Ich bin kein Mensch«, sagte sie, »aber du wirst mit mir zu dieser Synode gehen.« Bruenna machte eine weitere Handbewegung, und ein steifer Wind schleuderte Glissa und den Tisch gegen die Wand. Inmitten eines Regens aus Schriftrollen fiel Glissa zu Boden. Ihr Schwert schepperte neben ihr. »Bei den Winden, was bist du?«, fragte Bruenna. »Ich bin eine Elfin«, antwortete Glissa. »Eine Elfin, die dich nicht töten will, die es aber tun wird, wenn es sein muss.« Sie schnappte sich ihr Schwert vom Boden und sprang auf. »Das möchte ich sehen.« Bruenna bewegte abermals die Hand. »Du brauchst mehr als ein bisschen Wind, um mich aufzuhalten«, knurrte die Elfin. Ein weiterer Windstoß schlug Glissa entgegen, aber sie stemmte sich mit einem Fuß gegen den umgekippten Tisch und wich nicht von der Stelle. Als sich der Wind legte, warf sie sich auf Bruenna und riss die Frau mit sich zu Bo-den. »Vielleicht ist deine alte Dienerin ja eher bereit, mich zu deinen Vedalkenherren zu bringen«, schnaufte Glissa und presste die Beine zusammen, um Bruenna festzuhalten. »Lass meine Mutter aus dieser Sache heraus«, rief Bruenna. »Ich werde nicht zulassen, dass du ihr etwas antust.« Die Frau brachte ihre Hände zwischen sich und Glissa in die Höhe. Glissa versuchte das Handgelenk der Magierin zu packen, um sie daran zu hindern, weitere Zaubertricks zu vollführen. Die beiden Frauen wanden sich am Boden, aber bevor
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sie Bruennas Arme zu packen bekam, spürte Glissa ein seltsames Kribbeln im Nacken. Sie warf sich von Bruenna herunter und rollte sich in eine Ecke des Raumes. Hinter der Frau brach die Wand auf. Metallfetzen prasselten in den Raum. Elektrizität tanzte über die Reste der aufgeplatzten Metallwand. Einen Augenblick später kreischte ein zweiter Blitz durch das Loch und zertrümmerte den umgestürzten Tisch. »Aerophins!«, rief Glissa. »Wusste ich doch, dass du mit den Vedalken im Bunde stehst. Wie hast du sie so schnell hierher rufen können?« »Wie ich sie gerufen habe?«, sagte Bruenna. »Schau doch, was sie mit meiner Wand gemacht haben.« Sie krabbelte in die andere Ecke des Raumes und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Du musst sie mitgebracht haben!« »Die Mordgesellen deines Herrn kommen, um dir zu helfen, mich zu besiegen«, schnaubte die Elfin. »Nun, ich habe schon zuvor gegen Aerophins gekämpft. Sie machen mir keine Angst.« »Mir machen sie eine windmäßige Angst«, sagte Bruenna. »Warum sollten sie dich angreifen?«, fragte Glissa. »Bist du nicht mit den Vedalken verbündet?« »Verbündet? Nein. Wir sind kaum mehr als Sklaven.« Glissa musterte Bruenna einen Augenblick lang. Sie wusste nicht, ob sie den Worten der Frau trauen konnte. Die Aerophins nahmen Glissa die Entscheidung ab. Das Kribbeln im Nacken meldete sich wieder. »Sie unternehmen einen zweiten Angriff«, rief sie. »Komm.« Die Elf in rappelte sich auf und rannte aus dem Raum, wobei sie ihr Schwert durch die Überreste des Tisches trieb. Hin-
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ter sich konnte sie Bruenna rennen hören. Unmittelbar vor dem nächsten Einschlag warf Glissa sich im vorderen Raum zu Boden. Als sie den Gang hinabblickte, konnte sie nur Rauch und nachklingende Elektrizität sehen, wo zuvor noch die Gangwand gewesen war. Bruennas Mutter kam in den Raum gelaufen und schrie: »Sie sind wieder da, sie sind wieder da, sie sind wieder da! Warum sind sie denn wieder da?« Die Anführerin der hiesigen Menschen rannte zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie. »Ich weiß es nicht, Mutter. Wir müssen den Unmut der Synode erregt haben.« Glissa verharrte und schob das Schwert in die Scheide. »Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Sie sind hinter mir her. Wenn ihr mir helft, kann ich im Gegenzug vielleicht euch helfen.« Bruenna sah ihre Mutter an, dann blickte sie den Gang hinunter auf die Trümmer. »Das wäre gefährlich für mich und mein Volk.« »Gefährlicher als hier zu bleiben?«, entgegnete Glissa. Sie verspürte das vertraute Kribbeln. »Entscheide dich sofort. Die Aerophins kommen bereits zurück.« Bruenna und ihre Mutter zitterten vor Angst, dennoch fand die junge Magierin den Mut zu antworten. »Bezwinge die Aerophins und rette mein Volk. Danach werden wir uns weiter unterhalten.« »Schön.« Glissa rannte zur Eingangstür. »Wenn ich erst mal draußen bin, sollten sie euer Haus eigentlich in Ruhe lassen. Allerdings könnte ich deine Hilfe gebrauchen.« Die Elfin trat in den blauen Dämmer hinaus und hastete die Stufen hinunter. Sie spürte die menschliche Magierin mehr hinter sich, als dass sie sie sah. Die beiden eilten auf
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den Ring aus Unterkünften zu, der Bruennas Haus umgab. Glissa hörte, wie die Aerophins hinter ihnen über die Häuser brausten. »Versuch, ob du sie mit deinem Wind aufhalten kannst!«, rief sie im Laufen. »Tue ich!« Als hinter Glissa plötzlich der Luftdruck abfiel, schmerzten ihr die Ohren. Sie schaute zurück und sah, wie zwei Aerophins sich in der Luft überschlugen und in Richtung Bruennas Haus geschleudert wurden. »Gut gemacht!« »Du hast sie noch nicht besiegt«, rief Bruenna. »Unten am Hafen warten Freunde von mir. Wenn wir es bis dorthin schaffen, können sie uns Verstärkung bieten.« Seite an Seite rannten die beiden Frauen durch die Stadt. Leute eilten umher und suchten nach Schutz vor den Angriffen. Ein paar Bewohner riefen Bruenna zu, sie möge ihnen helfen. Während des Laufens befahl sie ihnen, in ihre Häuser zurückzukehren. Hinter ihnen flogen Blitze, aber Bruennas Magie gewährte ihnen lange genug Schutz, um den Hafen zu erreichen. Die Elfin stieß die Tür zum Lagerschuppen auf, schlüpfte hinein und schlug sie anschließend hinter Bruenna wieder zu. »Slobad, Bosh!«, rief sie. »Wo seid ihr? Wir brauchen euch. Auf der Stelle!« Aber es befand sich niemand im Schuppen. Zudem schien eines der Boote zu fehlen. Verzweifelt durchsuchte Glissa den Schuppen. »Ich suche draußen nach ihnen«, sagte sie schließlich. »Du bleibst hier.«
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Bruenna widersprach nicht. Glissa öffnete die Tür, überlegte es sich dann aber doch anders. Mindestens zehn der silbernen Killer waren unmittelbar über dem Hafen in Stellung gegangen. Sie schwebten der Tür zugewandt in der Luft. Glissa warf die Tür zu. »Wir hätten da ein kleines Problem.«
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Kapitel 20
QUECKSILBERSEE
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lissa winkte Bruenna zur Tür. »Aerophins«, sagte sie. »Eine ganze Menge, und meine Freunde sind verschwunden. Wir sind auf uns allein gestellt.« »Warum, meinst du, hast du sie diesmal nicht gespürt?«, fragte Bruenna. »Ich weiß es nicht«, antwortete Glissa. Bruenna schritt mit zusammengezogenen Augenbrauen hin und her. »Du kannst spüren, wenn sie das Mana aufbauen. Sie müssen sich erst aufladen, bevor sie Blitze verschießen können. Deshalb dauert es so lange zwischen den Angriffen. Irgendjemand hat herausgefunden, dass du das spürst, und darum haben sich die Aerophins jetzt noch nicht aufgeladen.« »Warum schweben sie dann da draußen?«, sagte Glissa. »Sie haben uns hier in der Falle. Warum greifen sie nicht an?« Die beiden Frauen blickten einander an. »Weil sie uns hier in der Falle haben«, wiederholte Glissa langsam die eigenen Worte. Bruenna nickte. »Sie halten uns hier fest, bis etwas – oder jemand – eintrifft.« »Wir müssen hier weg. Irgendwelche Vorschläge?« »Rennen«, sagte Bruenna. »Das ist dein Plan?«
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»Nun ja«, sagte Bruenna, »die Aerophins brauchen Zeit, um sich aufzuladen. Unterdessen schaffen wir es zur Tür hinaus. Ich bremse sie mit einem Windstoß, und dann rennen wir davon.« Glissa schüttelte den Kopf. »Sie werden uns folgen, wo wir auch hinrennen. Wo würden wir überhaupt hinrennen?« »Ich weiß nicht«, antwortete die Magierin. »Aus der Stadt hinaus. In die Berge. Irgendwohin. Aber hier zu bleiben wäre Selbstmord und bringt mein Volk in Gefahr.« »Gut.« Glissa nickte. »Du hast Recht. Wir laufen in die Berge. Dort ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass wir meine Freunde finden. Möglicherweise kann ich auch ein paar von den Ungeheuern zerstören. Das habe ich schon mal geschafft.« »Wie hast du das gemacht?«, fragte Bruenna. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Glissa und begab sich wieder zur Tür. »Es ist einfach passiert. Könnte aber sein, dass du zuerst sterben musst. Fertig?« Bruenna ging zur Tür, verschränkte die Arme vor sich und nickte. Glissa zog die Tür auf, und die Magierin riss ihre Arme weit auseinander. Glissa spürte, wie ein kräftiger Windstoß an ihr vorüberpeitschte. Der Türrahmen erbebte unter der Wucht. Bruenna rannte zur Tür hinaus, und die Elfin folgte ihr. Der plötzliche Wind wirbelte die Aerophins durcheinander. Bruenna rannte mit Glissa an ihrer Seite am Ufer entlang und sah nach hinten, um ihre Verfolger im Auge zu behalten. Zwei der Aerophins stürzten in das Meer. Das Quecksilber war zäh und trug die Körper. Die Aerophins gingen zwar nicht unter, aber sie konnten sich aus eigener Kraft auch nicht befreien. Hinter einem der Aerophins brach auf einmal ein schlanker Hals durch die Oberfläche des Quecksilbers, fast ohne sie zu kräuseln. Das Tier sah aus wie eine Riesenschlange. Es riss
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sein Maul auf und fletschte Reihen glänzender Zähne, dann fuhr der Schädel aufs Meer hinab, und das Maul schloss sich um den Schwanz der silbernen Kreatur. Das Raubtier verschwand wieder unter der Oberfläche. Als sie das Hafengebiet verließen, hörte Glissa Geschrei aus dem Dorf. Kleine Kinder rannten brüllend durch die Straßen, während Erwachsene sie einzufangen und zu beruhigen versuchten. Ein kleiner Junge lief weinend geradewegs auf Glissa zu, gefolgt von einem grauhaarigen Mann. »Riley, komm wieder her! Es ist gefährlich«, rief der Mann. »Geht in eure Häuser!«, rief Glissa, ohne stehen zu bleiben. »Beeilt euch.« Sie verdoppelte ihr Tempo. Der Mann erwischte Riley just in dem Moment, als die Aerophins über ihre Köpfe hinwegrauschten. »Wir müssen aus der Stadt raus!«, rief Bruenna. »Dann laufen wir in Richtung Berge.« »Im Tal gibt es aber nicht viel Deckung.« »Ich verlasse mich darauf, dass du mir rechtzeitig Bescheid sagst, wann ich ausweichen muss.« »Großartig«, sagte Glissa und verspürte auch prompt jenes vertraute Kribbeln. »Jetzt wär’s übrigens ganz gut, das zu tun. Sie laden sich auf.« Bruenna schwenkte vom Ufer ab und warf sich zu Boden. Glissa dachte daran, kurzerhand einfach in das Quecksilber zu springen, aber dann fiel ihr die Seeschlange wieder ein. Die Aerophins hielten ihre Ladung noch zurück. Entweder waren sie schlauer geworden, oder sie wurden diesmal irgendwie gesteuert. Glissa glitt mit einem Fuß ins Quecksilber und rutschte aus. Sie landete flach auf dem Gesicht – ein leichtes Ziel. Die Aerophins waren jetzt fast über ihr. Sie rollte sich vom
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Ufer weg und griff nach ihrem Schwert. Sie kamen heran, schnell und tief, ihre Kugelschädel leuchteten und knisterten unter der Blitzenergie. Glissa hatte keine Fluchtmöglichkeit. Ein Blitz fuhr über Glissas Kopf hinweg und schlug um sie herum in den Boden und das Quecksilber. Die Elfin schaute sich um und suchte Bruenna. Stattdessen sah sie ein Menschenboot durch den Schwarm rasen. Slobad stand am Bug des Bootes und starrte angestrengt auf ein Brett, das sich direkt vor ihm befand. Bosh stand unmittelbar hinter ihm. Als das Boot durch die niedrig fliegenden Aerophins schnitt, schlug Bosh nach den Silbervögeln und schleuderte zwei von ihnen mit einem einzigen Hieb seiner großen Eisenhand in die See. Der Rest des Schwarms flog sofort himmelwärts. Glissa rappelte sich auf und rannte dem Boot nach. Sie hoffte, dass der Goblin wenden konnte, ehe die Aerophins zurückkamen. Bruenna rannte herbei. »Was war das?«, fragte sie. »Meine Freunde«, erwiderte Glissa. »Komm.« Die beiden rannten dem Boot hinterher zum Hafen zurück. Slobad beherrschte das Wasserfahrzeug nicht gänzlich. Es schlingerte nahe dem Ufer hin und her. Riley, der kleine Junge, schrie, als das Boot auf sie zuraste. Der alte Mann packte den Jungen und warf sich aus der Bahn des Bootes. Slobad steuerte vom Ufer weg und schleuderte seitlich in die Hafenanlage. Glissa sah nach hinten. Die übrigen Aerophins hatten sich neu formiert. »Geht ins Haus!«, rief sie dem alten Mann zu. »Hier draußen seid ihr nicht sicher.« Der alte Mann starrte sie zitternd an. Glissa hetzte auf das Boot zu. Hinter sich hörte sie Bruennas Stimme. »Ist schon in Ord-
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nung, Jerry. Sie ist eine Freundin … Bring deinen Enkel in Sicherheit.« »Beeilung!«, rief Glissa. Das Kribbeln in ihrem Nacken setzte wieder ein. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Elfin machte zwei Schritte ins Meer hinein. Das Quecksilber zog an ihren Füßen. Sie streckte die Arme aus, um nach der Bordwand des Bootes zu greifen, verfehlte sie jedoch. Ihre Fingerspitzen kratzten über das eiserne Rohr an der Seite, als sie sah, wie das Quecksilber zu ihrem Gesicht hochstieg. Eine Hand schoss über die Reling hinweg und packte ihren Arm. Bosh zog Glissa hoch. Ihr Bauch rammte gegen die rostige Röhre, und ihr blieb kurz die Luft weg. Bosh zerrte Glissa nun vollends ins Boot und ließ sie auf das lederne Deck fallen. Sie rollte sich zusammen und presste die Arme gegen den Bauch. Glissa rang um Atem, damit sie sprechen konnte. »Beschütze … Bruenna«, keuchte sie. »Ich habe sie«, sagte der Golem ruhig. »Slobad … dann los!«, wimmerte Glissa. Sie hörte die Schwingen der näher kommenden Aerophins. Sie versuchte aufzustehen, wurde jedoch wieder aufs Deck geschleudert, weil das Boot sich nun schlingernd vom Ufer entfernte. Glissa schaute nach oben und sah, wie Bruenna die Arme in Richtung der Ungetüme schwenkte. Als sich über ihr der Wind von Bruennas Händen löste, spürte sie wieder den Druck auf den Ohren. »Hat es geklappt?«, fragte die Elfin. Sie stemmte sich hoch. Ihr Bauch schmerzte, und sie harte Mühe, auf dem sich bewegenden Boot das Gleichgewicht zu wahren. Bruenna schüttelte den Kopf. »Die meisten haben den Windstoß unterflogen. Er hat sie aufgehalten, aber nicht ge-
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stoppt. Glissa sah die Aerophins hinter ihnen. Sie glitten dicht über dem Meer dahin.« »Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Versuch’s noch einmal, aber ziel diesmal auf das Quecksilber. Schnell. In meinem Nacken kribbelt es schon wieder.« Bruenna warf die Arme hoch und spreizte die Finger. Glissa sah, wie den Händen der Magierin die Energie entsprang, als diese einen Windstoß entfesselte. Der Wind traf die See und schleuderte hinter dem Boot eine Quecksilberwelle in die Höhe. »Mehr«, rief Glissa. Bruenna führte dem Wind mehr Mana zu. Die Welle wuchs an und breitete sich aus. Die Aerophins versuchten über die heranrollende Woge hinwegzufliegen, gewannen jedoch nicht schnell genug an Höhe. Die Quecksilberwelle ergoss sich über den Schwarm und umhüllte die Leitvögel, bevor sie ausweichen konnten. Einer nach dem anderen verschwanden die Aerophins in der auslaufenden Welle, bis nur noch zwei übrig waren. Sie stiegen in die Höhe und rasten auf das Boot zu. »Fährt dieses Ding denn nicht schneller?«, rief Glissa. »Frag nicht mich, he?«, knurrte Slobad. »Ich hab gerade erst gelernt, damit umzugehen.« »Ich kann mehr herausholen«, sagte Bruenna. Sie ging zum Bug des Bootes und hakte ihre Füße unter ein Eisenrohr, das über das Lederdeck verlief. Dann schob sie den Goblin beiseite. Glissa sah zwei weitere Eisenröhren, die am Bug des Bootes aus dem Deck aufragten und etwa in Kopfhöhe des Goblins aufeinander zugebogen waren. Dazwischen saß eine große Quecksilberkugel. Bruenna rief Mana in ihre Handfläche und
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ergriff die Kugel. Das Boot schlingerte abermals vorwärts, diesmal aber viel schneller als zuvor. Glissa hakte einen Fuß unter das eiserne Geländer und stützte sich an Bosh ab. Slobad, der nichts hatte, um sich festzuhalten, rutschte in Richtung Heck. Glissa streckte den freien Fuß aus und fing den Goblin ab, als er sie passierte. »Duckt euch am besten«, rief Bruenna. »Ich werde versuchen, sie zwischen den Kristallinseln abzuschütteln.« Glissa langte hinunter und zog Slobad zu der Fußhaltestange heran. Der Goblin packte die Eisenröhre mit beiden Händen. Sein kleiner Körper hüpfte auf dem Lederdeck auf und ab, während das Boot über das Quecksilber raste. Glissa bückte sich und hielt sich an dem Eisenrohr fest, um nicht zu stürzen. Sie sah sich nach den Aerophins um. Windböen stiegen von den Enden der beiden eisernen Schwimmkörper auf, die das Lederdeck stützten. Quecksilber sprühte hinter ihnen in die Luft, während das Boot über die See hüpfte. Die Aerophins fielen hinter dem Gischt zurück, hielten jedoch mit dem dahinrasenden Boot mit. Glissa hatte keine Ahnung, wie schnell sie waren, aber nachdem Bruenna die Steuerung des Schiffs übernommen hatte, war die Uferlinie bald verschwunden. Das Boot schlingerte heftig nach links, und Glissa richtete ihr Augenmerk hastig wieder nach vorn. Sie näherten sich rasch den Kristallinseln, die eher wie Türme als wie Inseln aussahen – riesenhafte silberne Gewinde, die aus dem Meer aufragten. Die Inseln wanden sich gen Himmel wie die Quecksilberschlange, die Glissa zuvor gesehen hatte. Vor ihnen lag eine Gruppe von zehn dieser Inseln, und in der Ferne ragten noch mehr aus dem Meer. Die Türme waren faszinierend. Sie sahen
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aus wie kristallisiertes Quecksilber. Das Licht der beiden Monde am Himmel brach sich auf den Gewinden ebenso wie auf der Oberfläche der See und verwandelte die Luft zwischen den Inseln in Farbkaskaden. Sie peitschten um die erste Insel herum und glitten zwischen zwei der silbernen Säulen hindurch, die sich von dem Turm über ihnen herabbogen. Glissa sah empor, als sie darunter hindurchrasten. Dutzende abgerundeter Vorsprünge ragten hoch über ihnen aus dem Gewinde. Zwei silberne Brücken verbanden diesen Turm mit den beiden nächsten Inseln der Gruppe. Glissa glaubte, Menschen auf den Brücken und Vorsprüngen zu sehen, während sie auf die nächste Insel zurasten, aber ganz sicher war sie sich da nicht. Sie waren zu hoch über ihnen, und das Boot bewegte sich zu schnell. Bruenna schlingerte scharf um die nächste Insel herum und dann weiter durch die Kette. Glissa bemerkte eine Öffnung am Inselsockel, die groß genug war, um das Boot aufzunehmen. Als sie vorbeirasten, spähte sie hinein und sah eine glitzernde Höhle, in der eine Anzahl von Menschenbooten festgemacht war. »Können wir uns nicht in einer dieser Höhlen verstecken?«, rief Glissa, während sie auf die nächste Insel zuhielten. Die Aerophins schwangen in einem weiten Bogen um das silberne Gewinde herum, waren aber immer noch dicht hinter ihnen. »Vielleicht. Wenn ich sie abhängen kann«, gab Bruenna zurück. »Sollten sie uns nämlich in die Höhle folgen, sitzen wir in der Falle.« Glissa schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Fahr langsamer«, rief sie. »Bist du verrückt? Sie haben sich aufgeladen und sind zum
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Angriff bereit. Ein einziger Blitz könnte uns versenken.« »Lass sie nur ein klein wenig näher kommen«, sagte Glissa. »Lock sie heran, und dann beschleunigst du und fährst in die nächste Höhle. Sie können nicht so eng wenden wie du. Vertrau mir. Das klappt.« Bruenna schüttelte den Kopf. »Klingt verrückt.« »Auf verrückte Sachen versteht sie sich am besten«, rief Slobad von dort, wo er sich an Glissas Bein klammerte. Bruenna löste ihre Hand von der Quecksilberkugel, die das Boot antrieb, worauf es sofort langsamer wurde. Glissa ließ die Aerophins nicht aus den Augen, während sie auf die nächste Insel zurasten. Sie kamen immer näher. Das Kribbeln in Glissas Nacken meldete sich zurück. Jede Sekunde würden sie ihre Blitze entfesseln. Die Insel war immer noch ein Stück entfernt. »Volle Kraft voraus!«, rief sie. »Sie sind schon ganz nah.« Bruenna wölbte die Hand um die Kugel, und das Boot machte einen Satz nach vorn. Die Aerophins holten immer noch leicht auf, griffen aber noch nicht an. »Halt das Boot so dicht wie irgend möglich an der Seite der Höhle.« Bruenna manövrierte das Boot um eine Kristallinsel herum, ein einzelnes Gewinde, das kerzengerade aus dem Meer aufragte. Als sie um die andere Seite herumjagten, sah Glissa einen silbernen Bogen, der sich vor ihnen von dem Turm aus in die See wölbte. Bruenna zwang das Boot nach rechts und schrammte haarscharf an dem Bogen vorbei, bevor sie in die Höhle glitten. Der erste Aerophin krachte gegen den Bogen und explodierte. Trümmer regneten herab. Der zweite Vogel schaffte die Kehre, aber sein Schwung trieb ihn geradewegs auf die andere
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Seite der Höhle zu. »Duckt euch!«, schrie Glissa. Sie ließ sich genau in dem Moment aufs Deck fallen, als der Aerophin gegen die Wand prallte und in einem Regen aus Elektrizität und Glas explodierte. Als die Elfin wieder aufsah, raste das Boot noch immer durch die Höhle, schnurstracks auf eine Reihe festgemachter Boote zu. »Bruenna!«, schrie sie. Die Magierin sprang auf und legte ihre Hand wieder auf die Quecksilbersteuerung. Das Boot wurde langsamer, aber Glissa wusste nicht, ob es reichen würde. Bruenna bewegte ihre Hand, und das Boot glitt zur Seite. Sie kamen zum Halten und stießen dabei gegen die letzten beiden Boote in der Reihe. »Das hat sie von mir gelernt, he?«, sagte Slobad. »Ich hab das als Erster gemacht, he? Wisst ihr noch? So hab ich’s im Hafen gemacht.« Glissa beachtete den Goblin nicht weiter. »Sind alle in Ordnung?« Slobad und Bosh nickten. Bruenna wirkte besorgt. »Was ist?« »Mir fehlt nichts«, sagte Bruenna, »aber wir sind noch längst nicht in Sicherheit. Die Vedalken werden jemanden herschicken, der die Explosionen untersucht.« »Gibt es denn einen Ort, wo wir sicher wären?«, fragte Glissa. »Wir haben noch einiges zu bereden.« »Ja, das stimmt«, sagte Bruenna. »Aber bevor ich in irgendetwas einwillige, wüsste ich gern, wer ihr seid und in was für Schwierigkeiten ihr mein Volk gebracht habt.« »Also«, sagte Glissa und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf das lederne Deck. »Wo können wir hin?«
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»Ich kenne einen Ort«, sagte die Magierin.
$ Bruenna fuhr zwischen den Inseln hindurch hinaus in die offene See. Glissa hielt nach hinten Ausschau, um sicherzugehen, dass ihnen niemand folgte. Während die Magierin das Boot auf eine Gruppe ferner Gewinde zusteuerte, erzählte Glissa von ihren Abenteuern, beginnend mit dem Tod ihrer Eltern und endend mit Kanes Tod und der Beschreibung des vierarmigen Magiers, der ihn umgebracht hatte. Erläuterungen zum Goblin-Kult und der inneren Welt sparte sie sich. Nach einer Weile erreichten sie eine einsame Insel, die unweit der Grenze zwischen den Bergen und dem Nebel des Mephidross aus dem Meer ragte. Die Insel war ein einfaches Gewinde, das sich korkenzieherartig aus dem Quecksilber schraubte. Glissa fiel auf, dass es, anders als die Türme der Kristallinseln, nicht glänzte. Mehr noch, das silberne Gewinde wirkte geradezu schmutzig. »Die Vedalken haben diese Insel vor langem verlassen«, erklärte Bruenna, als sie das Boot in die Höhle am Fuß der Insel lenkte. »Sie war zu nahe am Mephidross und wurde von Necrogennebel befallen – das ist dieser grüne Dunst, der über dem Dross hängt. Hier müssten wir in Sicherheit sein.« Die Höhle schien den gesamten Inselsockel einzunehmen. In der Mitte schraubte sich eine Treppe von einem Vorsprung aus in die Höhe. Sie legten jenseits des Vorsprungs an, sodass die Treppe dem Boot Sichtschutz gewährte, und stiegen dann das Gewinde hinauf. Das Innere der Kristallinsel war vom Ne-
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Necrogen ganz stumpf und schmutzig, dennoch faszinierte es Glissa. Das Licht der Monde drang durch die Wände, aber sie brachen das Licht auf seltsame Weise und streckten und verzerrten die Außenwelt. Wenn sie lange genug hinsah, verschwamm ihr Blick, und ihr Kopf begann wehzutun. »Wären wir in der Nähe des Bootes nicht sicherer?«, fragte Bosh. Bruenna starrte den Golem an. »Das Ding kann reden?« Glissa lächelte. »Ich vergaß, das zu erwähnen«, sagte sie. »Entschuldige.« Bruenna grunzte. »Du hast ja vielleicht komische Diener.« »Das sind keine Diener«, sagte Glissa. »Das sind meine Freunde.« »Danke, Glissa«, sagte Bosh. Bruenna warf Glissa einen Blick zu und zuckte die Achseln. »Wir gehen zu einer der Terrassen hinauf«, sagte sie. »Von dort aus können wir sehen, wenn jemand kommt.« Sie traten auf eine Terrasse hinaus, die das Gewinde zur Gänze umschloss. Bosh und Slobad schoben Wache, während Bruenna und Glissa ihre Unterhaltung fortsetzten. »Du hattest Recht«, sagte Bruenna. »Der Magier, der deinen Freund tötete, war ein Vedalken. Aber warum jagen sie dich? Ich habe nie zuvor erlebt, dass so viele Aerophins gegen eine einzige Person eingesetzt wurden.« »Ich weiß es nicht«, sagte Glissa. »Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen, es herauszufinden.« »Warum sollte ich dir helfen?«, sagte die Magierin. »Ich habe dich hierher gebracht, um dich von meinem Dorf zu entfernen. Wenn ich dir noch weiter helfe, wird die Synode die Vernichtung meiner Stadt befehlen.«
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Glissa seufzte. »Sieh mal«, sagte sie, »du traust mir nicht, und ich traue dir nicht, aber ich habe keine andere Wahl. Die Vedalken wollen meinen Tod, und ich brauche deine Hilfe. Gib mir nur ein paar Informationen, und dann kannst du gehen, wenn du willst. Zunächst: Um was handelt es sich bei dieser Synode genau?« »Die Synode ist der herrschende Rat der Vedalken«, antwortete Bruenna. »Wenn sie dich finden, werden sie wissen, dass ich dir geholfen habe. Es muss ein Mitglied der Synode sein, das hinter dir her ist. Nur sie haben Zugriff auf so viele Aerophins.« »Dann hilf mir, sie zu besiegen, damit sie es nicht herausfinden«, bat Glissa. »Sie haben mein Volk schon zweimal angegriffen. Wenn ich diese Sache nicht zu Ende bringe, werden noch viel mehr sterben, darunter auch die Menschen deines Dorfes. Hilf mir, und ich werde das zu verhindern suchen.« »Womit denn?«, fragte Bruenna. »Mit solch einem rostigen Eisenwesen und einem dreckigen Goblin?« »Schön. Dann hilfst du uns eben nicht. Bring uns zurück ans Ufer, und wir werden einen anderen Weg finden.« Glissa wandte sich um und starrte über die Weite der Quecksilbersee. »Du kannst in die auferzwungene Dienerschaft der Vedalken zurückkehren. Sag mir nur eines – warum arbeitest du für sie? Ihr Menschen scheint doch ein einigermaßen intelligentes Volk zu sein, und zudem verfügt ihr über magische Kräfte. Warum arbeitet ihr nicht für euch selbst?« »Genau das hat auch mein Vater gesagt«, erwiderte Bruenna. »Sie haben ihn dafür getötet.« »Was ist geschehen?«, fragte Glissa. Bruenna blickte auf die sich sanft kräuselnde See hinaus.
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»Wir waren einmal wie die anderen menschlichen Siedler«, sagte sie. »Wir arbeiteten mit den Vedalken zusammen … oder jedenfalls dachten wir das. Aber unsere Lebensbedingungen wurden immer schlechter, weil sie alles, was wir zu erschaffen halfen, nur für sich behielten. Mein Vater hatte schließlich die Nase voll. Sein Lebenswerk war vollendet, und diese Bastarde von der Synode stahlen es ihm. Er führte unsere Stadt in eine Revolte gegen die Vedalken. Wir weigerten uns, noch länger für sie zu arbeiten. Da schickten sie die Aerophins … fünfzig an der Zahl. Diese silbernen Mörder verheerten die Stadt und töteten jeden, der zurückzuschlagen wagte. Und darum … Ja, wir arbeiten noch für die Vedalken, aber wir geben uns bezüglich unserer Rolle keinen Illusionen mehr hin. Wir sind ihre Sklaven, und nichts kann daran etwas ändern.« »Ich schon«, sagte Glissa. »Wie willst du das schaffen?« »Ich habe Macht«, sagte die Elfin. »Ich verstehe sie zwar noch nicht, aber ich kann die Aerophins vernichten. Mit deiner Hilfe könnte ich lernen, die Macht zu kontrollieren. Wenn du mir hilfst, werde ich euer Dorf beschützen.« »Ich weiß nicht«, sagte Bruenna. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Wir leben seit fast dreißig Zyklen in Frieden mit den Vedalken.« »Du meinst, ihr lebt in Sklaverei. Was würde eigentlich dein Vater jetzt an deiner Stelle tun?« Bruenna blickte Glissa lange an. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Und schließlich fragte sie: »Was brauchst du alles?«
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Kapitel 21
VORBEREITUNGEN
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lissa ergriff Bruenna mit beiden Händen bei den Schultern. »Danke«, sagte sie. »Also, ich muss zunächst herausfinden, wer mich umzubringen versucht und warum derjenige das tun will.« »Über ihre Motive weiß ich nichts«, entgegnete Bruenna. »Das vielleicht nicht«, sagte Glissa, »aber du weißt, wie sie vorgehen.« »Ich weiß etwas über ihre magische Forschung Bescheid«, sagte die Magierin, »jedenfalls über die Projekte, an denen meine Leute arbeiten. Aber nicht viel mehr. Ich habe keine Ahnung, was sie denken, und ich weiß nichts über die inneren Strukturen der Synode.« »Irgendetwas ziemlich Großes ist hier im Gange«, sagte Glissa und tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Die Vedalken haben Pakte mit den Nim und den Goblins geschlossen. Sie haben die Leoniden angegriffen, die Trolle und die Elfen. Es hat etwas mit einem großen dunklen Geheimnis über die Welt zu tun, das die Vedalken entdeckt haben. Es muss jemanden geben, der etwas darüber weiß.« Bruenna zuckte die Achseln. »Die Vedalken sind weit schlauer als wir Menschen. Sie behandeln uns, als wären wir
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nicht besser als Tiere. Aber es war nicht immer so. Ich habe Geschichten aus uralter Zeit gehört, als Menschen und Vedalken noch gleichberechtigt zusammenarbeiteten, bis das Serum alles verändert hat. Es hat die Vedalken verändert.« Glissa nickte. »Ich habe auch schon von dem Serum gehört. Es erweitert den Geist und gewährt einem Einblick in die Schöpfung der Welt.« »Das Serum vermag mehr als nur das. Es schärft sämtliche Sinne. Man wird sich der Verbindungen zwischen allen lebenden Dingen bewusst. Ich habe gehört, dass es sogar die kollektive Erinnerung eines Volkes erschließen kann. Man kann alles erfahren, was die Vorfahren wussten. Leider ist diese Wirkung zeitlich beschränkt, weshalb die Vedalken ja auch ständig Nachschub brauchen. Ein großer Teil ihrer Forschung gilt der Suche nach schnelleren Wegen, das Serum herzustellen.« »Ich habe außerdem gehört, dass man einen schrecklichen Preis dafür bezahlen muss«, murmelte Glissa. »Auf die Vedalken trifft das sicherlich zu«, antwortete Bruenna. »Sie wurden grausam und benutzten das Wissen, das sie durch das Serum gewannen, um die Herrschaft über die See und alles, was sich darin befindet, an sich zu reißen.« »Es hat noch einen anderen Nachteil«, sagte Glissa. »Die Vedalken müssen Millionen von Blinkmotten töten, um ihren steten Nachschub zu gewährleisten.« »Das wusste ich nicht. Ich bin nur froh, dass ich das Serum nie genommen habe.« Glissa sah ihre Begleiterin einigermaßen überrascht an. »Woher weißt du von dem Serum, wenn du es nie genommen hast? Geben die Vedalken es denn an Menschen weiter?« »Bei den Winden, nein!«, rief Bruenna. »Es ist den Men-
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schen verboten. Die Vedalken behalten es für sich. Aber mein Vater arbeitete einst an der Herstellung des Serums mit. Später wurde er Forschungsmitarbeiter und war in der Lage, mehr über das Serum herauszufinden.« »Dennoch geben sie ihren Verbündeten kleine Mengen davon«, sagte die Elfin. Sie zog die Phiole aus ihrer Stiefelscheide. »Das habe ich dem Anführer der Nim abgenommen. Es sollte seine Bezahlung für meine Ermordung sein. Die Vedalken nehmen vermutlich an, dass ein paar veräußerte Phiolen keinen Schaden anrichten können, wenn die Wirkung so schnell nachlässt.« »Du hast eine Phiole voll Serum?«, sagte Bruenna. Sie griff begierig nach dem Fläschchen, aber Glissa zog es fort. »Ich würde es nur sehr ungern benutzen«, sagte sie, »aber es ist mein einziger Hinweis auf den Magier, der meinen Freund umgebracht hat.« Bruenna zog die Hand mit einem verlegenen Gesichtsausdruck zurück. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich will es eigentlich auch nicht. Ich habe es vor langer Zeit aufgegeben, so sein zu wollen wie die Vedalken. Es könnte jedoch eine Möglichkeit geben, wie du mit dieser Phiole an deine Antworten kommen kannst.« »Muss ich das Serum dazu trinken?« »Ja«, sagte Bruenna, »aber nicht hier. Nicht jetzt. Erst müssen wir dich nach Lumengrid bringen.« »Was ist Lumengrid?« »Lumengrid ist die Kristallfestung der Vedalken. Dort hat die Synode ihren Sitz. Und dort bewahren sie ihren kostbarsten Besitz auf – das Becken des Wissensvorrats.« »Ein Becken des Wissensvorrats?« Glissa war skeptisch.
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»Muss ich etwa darin baden, um auf magische Weise Antwort auf all meine Fragen zu erhalten?« »So ungefähr«, sagte Bruenna lächelnd. »Ich weiß auch nicht genau, wie es funktioniert. Mein Vater erzählte mir Geschichten darüber, bevor er ermordet wurde. Er hat sogar einmal versucht, es zu benutzen.« »Hat es geklappt?«, fragte Glissa. »Wurde deinem Vater das Wissen der Vedalken zuteil? Brachten sie ihn deshalb um?« »Er sah nur aufblitzende Bilder«, sagte Bruenna traurig. »Aber das war ihm genug, um zu erkennen, wie furchtbar die Vedalken sind. Deshalb wollte er unser Dorf ja auch von ihrer Herrschaft befreien.« Glissa strich sich mit den Fingern übers Kinn. »Wie soll mir das helfen?« »Als ich jünger war, habe ich selbst ein paar Nachforschungen angestellt«, sagte ihre menschliche Gefährtin. »Nach der Revolte nahm ich den Platz meines Vaters als Forschungsmitarbeiterin ein. Ich glaube, die Vedalken wollten mich im Auge behalten. Nach ein paar Zyklen war ich für sie dann aber nicht mehr als ein Forschungsinstrument unter vielen, während ich dagegen nie vergaß, was sie meinem Vater angetan hatten. Als mein Vedalkenherr einmal nicht aufpasste, las ich seine Tagebücher und persönlichen Forschungsnotizen. Dem, was ich dabei erfuhr, nach zu schließen, entfaltet der Wissensvorrat nur dann seine Wirkung, wenn die Person, die ihn benutzt, das Serum zu sich genommen hat.« »Und deshalb wolltest du das Serum?« »Das war einmal«, sagte Bruenna. »Ich hatte vor, mir das Wissen anzueignen, nach dem mein Vater gesucht hatte, damit ich es zum Zwecke meiner Rache an denjenigen, die für
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seinen Tod verantwortlich waren, einsetzen konnte. Aber im Laufe der Zeit lernte ich, dass es wichtigere Dinge als Rache gibt. Die letzten zehn Zyklen habe ich mich ganz meinem Volk und meiner Mutter gewidmet.« »Rache ist eine hervorragende Motivation«, sagte Glissa trocken. Sie streckte die Hand aus und berührte Bruenna an der Schulter. »Wenn ich in den vergangenen ein, zwei Wochen etwas gelernt habe, dann war es allerdings die Erkenntnis, dass Rache von Vernunft gedämpft werden muss – sonst verschlingt sie einen.« Die Pause, die nun in ihrer Unterhaltung entstand, dehnte sich zu quälender Länge. Schließlich sagte Glissa: »Dann trinke ich die Phiole also nur aus und springe in dieses Becken? Das klingt eigentlich ganz einfach.« »Ganz so einfach ist es nicht«, sagte Bruenna. »Lumengrid ist uneinnehmbar, und der Beckenraum wird streng bewacht.« »Aber du hast schon einen Plan, stimmt’s?« »In der Tat«, sagte Bruenna. »Nach dem Tod meines Vaters habe ich lange geplant. Zunächst müssen wir zurück ins Dorf.« »Was ist dort?« »Das Vermächtnis meines Vaters.«
$ Bruenna steuerte das Boot, während Glissa, Slobad und Bosh sich am Heck duckten und miteinander sprachen. »Du glaubst, wir können ihr vertrauen, he?«, sagte Slobad. »Ich weiß nicht«, sagte Glissa. »Ich glaube schon. Sie hat ihren Vater durch die Vedalken verloren.«
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Slobad verschränkte die Arme. »Sie mag keine Goblins, he?« »Du doch auch nicht«, entgegnete Glissa. »Ihr Volk kämpft seit ewigen Zeiten mit den Goblins um Minenrechte. Das ist alles, was sie über Goblins weiß.« »Sie könnte dich in eine Falle locken«, meinte Bosh. »Sie hätte uns an die Vedalken ausliefern können, nachdem wir die Aerophins vernichtet hatten«, sagte Glissa. »Hat sie aber nicht. Und jetzt riskiert sie ihr Leben und das Leben aller Menschen in ihrem Dorf – einschließlich ihrer Mutter –, um uns zu helfen. Ich glaube, wir können ihr vertrauen.« Bruenna pfiff leise. »Wir sind fast da«, sagte sie. »Ich lege ein Stück von der Stadt entfernt an.« Glissa trat zu ihr. »Und dann?« Bruenna wirkte nervös. »Ich habe eine Nachbildung des Tauchers meines Vaters gebaut«, sagte sie. »Ich brauchte fünf Zyklen, um ihn fertig zu stellen, aber ich fand nie eine Energiequelle, die stark genug war, um ihn anzutreiben. Ich kenne die Bauten der Vedalken. Vor allem die großen von der Größe dieses Golems« – sie deutete auf Bosh – »sind mit einer starken Manaquelle ausgestattet, für gewöhnlich ein Kristall oder eine Art Stein. Ich dachte, wir könnten den Golem … Bosh … vielleicht deaktivieren, um seine Energiequelle für den Taucher zu benutzen.« »Kommt nicht infrage«, sagte Glissa. »Ich töte auf keinen Fall meinen Freund, um mich an den Vedalken rächen zu können.« »Ich wäre bereit, dieses Opfer zu bringen«, sagte Bosh. »Meine Manabatterie sollte genügen.« Er öffnete eine Höhlung in seiner Brust und wollte hineingreifen. »Nein«, sagte Glissa. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.
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»Ich weiß, dass du bereit bist, für mich zu sterben. Das hast du längst bewiesen. Aber ich brauche dich als Kämpfer an deiner Seite. Du musst dich an deine Vergangenheit erinnern. Wir werden einen anderen Weg finden, um nach Lumengrid zu gelangen.« »Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Bruenna. »Wir brauchen den Taucher, um nach Lumengrid zu kommen. Und der Taucher braucht eine Energiequelle.« »Bring uns einfach nur zurück in die Stadt«, sagte Glissa. »Uns wird schon etwas einfallen.« »Ich habe eine Idee, he?«, sagte Slobad. »Wenn jemand überhaupt hören will, was ein Goblin zu sagen hat.«
$ »Bist du sicher, dass das klappt?«, fragte Bruenna später. »Einfache Goblinlösungen sind oft die besten, he?«, sagte Slobad, während er am Taucher arbeitete. »Goblins brauchen keine Magie, um Maschinen zum Laufen zu bringen. Goblins schlauer als Magie.« Glissa kicherte. Sie überließ das ungleiche Paar seiner Arbeit und spazierte durch den Lagerschuppen. Nachdem sie mit dem Boot angelegt hatten, waren sie zu Bruennas Privatschuppen gegangen. Die Anführerin der Menschen hatte den Taucher hinter einigen Booten versteckt, die sich in verschiedenen Reparaturstadien befanden. Der Taucher machte nicht viel her. Mehr noch, er sah eher aus wie eine Goblinapparatur als sonst etwas. Bruenna erklärte, dass sie zwar die Pläne ihres Vaters benutzt hatte, das dün-
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ne silberne Vedalkenmetall aber durch Goblineisen hatte ersetzen müssen. Der Taucher war ein riesiger Zylinder aus rostigem Eisen. Er reichte von einer Seite des Schuppens zur anderen und war etwas höher als Bruenna. Er sah aus wie eines der Rohre in den Wänden der Goblintunnel, hatte aber einen weitaus größeren Umfang und war an beiden Enden verschlossen. Slobad werkelte mit seiner Feuerröhre emsig an einem Ende des Tauchers herum. Eine dünne weiße Flamme stach aus der Röhre, genau wie die Flamme, die Glissa die Goblins an dem Lüftungsrohr neben der Großen Schmelze hatte benutzen sehen. Bosh hielt einen Eisenring gegen die Vorderseite des Tauchers, während Slobad eine Silberstange über den Ring und den Taucher schweißte. Einen Ring von gleicher Art hatten sie bereits am anderen Ende befestigt. »Komm hier herauf«, rief Bruenna von der Oberseite des Tauchers herab. Glissa kletterte an der Flanke empor. Die Magierin stand neben einer runden Öffnung auf der Oberseite des Tauchers. »Wir werden im Taucher fahren«, sagte sie. »Ich benutze meine Windmagie, um ihn mit Luft zu füllen und das Quecksilber draußen zu halten. Sobald dein Golem … ich meine, sobald Bosh uns nach Lumengrid hineingebracht hat, können wir zum Wissensvorrat vordringen.« »Werden die Vedalken uns denn nicht aufhalten?« »Es wird zwar schwierig werden, in die Beckenkammer hineinzugelangen, aber dorthin zu kommen sollte eigentlich kein Problem sein. Die Vedalken schenken Menschen, die in ihren Türmen umherlaufen, keine Beachtung, es sei denn, wir erledigen Arbeiten für sie. In solchen Fällen werden wir halbwegs
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zur Kenntnis genommen – oder bestraft, wenn wir zu langsam sind oder der betreffende Vedalkenherr schlecht gelaunt ist.« Glissas rieb sich den Kopf. »Es gibt doch sicher auch in anderen Dörfern Magier, die den Vedalken genauso ablehnend gegenüberstehen wie du und einstmals dein Vater.« »Ein paar, ja, aber die meisten sind zufrieden damit, wie Tiere für die Vedalken zu arbeiten und das bisschen Macht, das sie erhaschen können, mitzunehmen. Man lernt sehr früh, immer das zu tun, was einem gesagt wird. Unterwürfigkeit wird mit leichterer Arbeit und besseren Arbeitsbedingungen belohnt. Widerstand wird mit Zwangsarbeit in den Serumsprozessoren bestraft, oder man bekommt die Schwebgardisten auf den Hals gehetzt.« »Das ist ja schrecklich«, sagte Glissa. »Ja«, sagte Bruenna, »aber das bedeutet auch, dass wir uns halbwegs frei bewegen können, wenn wir erst einmal in Lumengrid sind. Menschen sind angehalten, nicht miteinander zu sprechen. Die Vedalken werden uns wie gesagt nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Lass einfach nur deine Kapuze auf.« »Und du glaubst, mit diesem Taucher kommen wir unbemerkt nach Lumengrid hinein?« Bruenna nickte. »Ich hatte vor, den Taucher durch die Abwasserrohre unter Lumengrid zu steuern, aber ohne Energiequelle ist er kaum mehr als ein Eisenrohr. Darum muss ich für Luft sorgen. Ich werde mich die ganze Zeit, während der wir unter der Oberfläche sind, konzentrieren müssen.« »Wie lange kannst du das durchhalten?« »Lange genug«, sagte Bruenna. »Den größten Teil der Strecke werden wir den Taucher ziehen. Dann wird Bosh uns zum
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Grund hinunterbringen.« Glissa rief hinab zu Slobad und Bosh: »Seid ihr zwei sicher, dass Bosh unter dem Quecksilber keine Schwierigkeiten haben wird? Ist nicht auch der Dross in seinen Körper eingedrungen und hat sein Getriebe verstopft?« »Aber erst nach langer Zeit«, sagte Slobad. »Wahrscheinlich hunderten von Zyklen. Eine kurze Strecke schafft Bosh mit Leichtigkeit.« Glissa sah zu Bruenna auf. »Mit der Zeit gewöhnt man sich an ihn.« »Muss man wohl.«
$ Bosh machte einen Weg durch den Schuppen frei, während Bruenna eine Kiste öffnete und dort eine große Rolle mit geknüpftem Leder herausholte. Glissa hatte gesehen, dass solche Seile an den Booten und den Piers draußen befestigt waren. Bruenna band die beiden Enden des Seiles fest an die eisernen Ringe und reichte es dann Bosh. »Wickle dir das um den Oberkörper«, sagte sie zu dem Golem. »Ich lasse den Taucher schweben, und du ziehst ihn mit dem Seil. Glissa und Slobad, ihr müsst den Taucher auf beiden Seiten führen.« Bosh schlang sich das Seil ein paarmal um den Körper, dann begab er sich zur Tür. Glissa trat an das Heck des Tauchers. Kurz darauf schwebte er in die Luft empor und begann sich zu bewegen. Es war ein langsamer Prozess. Bruenna konnte sich nicht allzu schnell bewegen, während sie den Taucher in der
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Luft hielt, und Glissa und Slobad hatten Mühe, ihn zu lenken. Ein paarmal presste Glissa zu fest, und Slobad ging zu Boden, weil der Taucher über seinen Kopf schwang. Nachdem sie den Taucher am Boot festgebunden hatten, ging es leichter. Slobad steuerte es vom Ufer weg, während Bruenna den Taucher nach wie vor in der Schwebe hielt. Als der Taucher über dem Quecksilber war, ließ Bruenna ihn herunter. Er versank etwa zur Hälfte in der silbrigen See, ging jedoch nicht unter. Die Magierin manövrierte Boot und Taucher vom Hafen weg. »Können wir nicht schneller fahren?«, fragte Glissa. »Wir belasten das Boot schon jetzt bis aufs Äußerste«, sagte Bruenna. »Ich habe Angst, die Manakugel auszubrennen. Dann säßen wir fest, bis meine Leute am Morgen zu den Kristallinseln hinausfahren. Wir sollten es aber unbedingt bis zu der verlassenen Insel schaffen, bevor die blaue Sonne aufgeht.« »Und was machen wir dann?« »Tauchen.«
$ Sowohl der blaue als auch der rote Mond waren aufgegangen, als sie in die Höhle unter dem verlassenen Turm einfuhren. Glissa war sich sicher, dass niemand sie gesehen hatte. »Wie weit ist es bis Lumengrid?«, fragte sie. »Mit dem Boot würde es nicht lang dauern«, antwortete Bruenna. »Mit dem Taucher aber wohl fast den ganzen Tag.« »Warum fahren wir nicht einfach weiter ran, he?«, sagte Slobad. »Dann verbringen wir auch nicht so viel Zeit unter
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dem Silberwasser. Kommt Slobad gefährlich vor.« »Weil jemand das verlassene Boot sehen und misstrauisch werden könnte«, sagte Glissa. Sie wandte sich wieder an Bruenna. »Kannst du das Quecksilber denn lange genug draußen halten?« »Es wird nicht die ganze Zeit über nötig sein«, sagte die Magierin. »Die Quecksilbersee ist nämlich recht flach. Wir müssten den größten Teil des Weges nach Lumengrid deshalb an der Oberfläche zurücklegen können.« »Dann mal los.« Slobad half, das Seil, das Bosh um sich geschlungen hatte, zu sichern. »Wenn du Schwierigkeiten siehst«, sagte der Goblin, »zieh an diesem Seil, um es zu lösen, he?« »Gut«, sagte Bosh. Er drehte sich um und wollte in die Flüssigkeit springen. »Sei vorsichtig, he?« »Du auch«, sagte der Golem. Bosh trat über die Kante hinaus und versank im Quecksilber. Glissa konnte gerade noch den oberen Teil seines Kopfes sehen. Das Quecksilber wirbelte um ihn herum und leckte über seinen eisernen Kopf, während er sich voranbewegte. Die anderen drei kletterten auf den Taucher. Bruenna glitt durch die Öffnung nach unten, und Glissa und Slobad folgten ihr. Im Innern des Tauchers war es eng und dunkel. Glissa konnte kaum aufrecht stehen, und dann auch nur direkt unter dem Loch. Slobad hingegen fühlte sich in dem engen Raum heimischer. Er krabbelte umgehend ins Heck des Tauchers, wo er sich neben dem Proviant, den Bruenna eingepackt hatte, zusammenrollte, um zu schlafen. »Wie sehen wir denn, wohin wir fahren?«, fragte Glissa.
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»So«, sagte Bruenna. Sie beschrieb mit der Hand einen Bogen um ihren Körper, und der eiserne Zylinder verschwand. Glissa sah, wie sich das Quecksilber an dem unsichtbaren Taucher brach, doch über diese Grenze hinaus konnte sie nichts sehen, auch Bosh nicht. Sie fragte die Magierin danach. »Das Quecksilber ist absolut lichtundurchlässig«, sagte Bruenna. »Normalerweise kann man überhaupt nicht durchsehen. Das war der schwierigste Teil des ganzen Taucherprojekts. Aber mein Vater und der Vedalken, für den er arbeitete, haben diesen Zauber perfektioniert.« Sie machte eine neuerliche Handbewegung, und es schien, als hätte sich die See rings um sie her bis weit hinter Bosh geteilt – oder zumindest über die Stelle hinaus, an der er sich eigentlich befinden musste. Glissa konnte ihn nämlich noch immer nicht sehen. Der Golem war zusammen mit dem Quecksilber verschwunden. Das Seil allerdings konnte sie sehen. Es war ein paarmal um etwas herumgeschlungen, das scheinbar gar nicht da war. »Wo ist Bosh?«, fragte sie. »Unsichtbar«, sagte Bruenna. »Es handelt sich um eine Blase der Unsichtbarkeit. Bosh und das Quecksilber sind noch da. Wir können sie nur nicht mehr sehen.« »Funktioniert das auch bei uns?«, fragte Glissa. »Damit wäre es doch um einiges einfacher, in die Beckenkammer zu gelangen.« »Nein«, sagte Bruenna. »Es funktioniert nur bei Metall. Sieh dir mal deine Arme an.« Glissa blickte auf ihre Hände hinab. Sie konnte sie nicht mehr sehen. Die Unterarme wurden von dem Menschengewand bedeckt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich dar-
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an gewöhnt hatte, wo ihre unsichtbaren Hände waren, damit sie die Ärmel hochschieben konnte. Nachdem sie es getan hatte, keuchte Glissa auf. Ihre Arme endeten dicht über ihren Ellbogen. Sie tastete nach ihrem Schwert. Es war ebenfalls unsichtbar. »So laufen wir aber lieber nicht herum«, sagte sie. »Es wäre ziemlich schwierig zu kämpfen, wenn ich meine Hände und meine Waffe nicht sehen kann.« Ihre Reise durch die Quecksilbersee beanspruchte den größten Teil des Tages. Das Seil blieb gespannt, und wenn Glissa aufstand, konnte sie sehen, wie sich der Horizont über der Oberfläche bewegte. Hin und wieder kletterte Bruenna nach oben und zog an den Seilen, um Bosh in die eine oder andere Richtung zu dirigieren. Die »Landschaft« war ziemlich eintönig, befanden sie sich doch auf offener See. Die Berge jenseits des endlosen Silbermeers konnte Glissa kaum ausmachen. Sie fragte sich, woher Bruenna überhaupt wusste, an welcher Position sie sich gerade befanden. Ziemlich am Anfang ihrer Reise war Bosh einmal von einer Gruppe silberner Aale angegriffen worden. Irgendwie konnten sie spüren, wo er war. Sie bestanden offenbar nicht aus Quecksilber – zumindest nicht zur Gänze –, jedenfalls konnte Glissa sie sehen. Wenn nötig, wäre sie aus dem Taucher gesprungen, um Bosh zu Hilfe zu eilen, aber die Aale konnten dem Metallmann nichts anhaben. Sie versuchten, ihn zu beißen und sich um seinen unsichtbaren Körper zu schlingen, schienen aber keinerlei Schaden anrichten zu können und ließen schließlich von dem Golem ab, um sich dem Taucher zuzuwenden. Es war merkwürdig, sie durch das unsichtbare Quecksilber schwimmen zu sehen. Es sah aus, als flögen die Aale auf sie zu. Glissa
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zuckte zusammen, als die Aale ihre Mäuler öffneten, um anzugreifen. Die Attacken wurden jedoch rechtzeitig gestoppt: Sie prallten von der Wandung des unsichtbaren Tauchers ab. Die Aale griffen noch ein paarmal an, dann flogen sie durch die Quecksilberwand davon. Während der blaue Mond hinter ihnen am Himmel versank, stieg Lumengrid vor ihnen auf. Es sah aus wie ein gewaltiger Pilz, der auf dem Meer saß. Der Mittelturm allein war von größerem Umfang als die gesamte Kette der Kristallinseln. Rasch füllte er Glissas Blickfeld aus. Die Kuppel erstreckte sich vom Mittelturm aus nach allen Seiten und schien bis zum Horizont zu reichen. Oben auf der Kuppel befand sich eine riesige Kugel. Sie sah aus wie ein fünfter Mond – ein silberner Mond –, der am Himmel stand. Elektrizität ging in Bogen davon aus und erfüllte den Himmel mit einem Netz aus Blitzen, das sich bis zu den umliegenden Inseln erstreckte, einige Dutzend kleinere Türme, die sich um die Festung gruppierten. Ein Brückensystem verband die niedrigeren Türme miteinander. Die Blitze, Türme und Brücken sahen so aus, als wären sie alle wie bei einem gigantischen Spinnennetz miteinander verknüpft.
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Kapitel 22
TAUCHFAHRT
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eit zum Tauchen«, rief Bruenna. »Um Lumengrid herum wird das Meer tiefer. Bosh wird uns gleich nach unten ziehen. Ich muss mit meinem Luftzauber anfangen.« Bruenna saß im Heck des Tauchers und begann ihre Hände in einem komplizierten Muster zu bewegen. Ihre Handflächen tanzten umeinander, während sie die Handgelenke verdrehte und die Arme geschmeidig über- und untereinander schob. Glissa spürte, wie der Druck ringsum zunahm, während die Arme der Magierin ihren Zauber woben. Zunächst war es ein unangenehmes Gefühl, und Glissa hatte Mühe zu atmen. »Entspann dich!«, sagte Bruenna. Sie sprach langsam und deutlich. »Atme normal. Schließ die Augen. Leg dich hin. Das hilft.« Slobad kam zu Glissa und half ihr, sich auf dem Boden des Tauchers hinzulegen. »Warum … hast du … keine … Schwierigkeiten?«, keuchte sie. »Unter der Erde, unter Wasser«, sagte Slobad, »kein Unterschied für Goblins, he?« Er massierte Glissas Schläfen. Ein paar Minuten später konnte sie fast wieder normal atmen. Die Elfin setzte sich auf und schaute nach hinten zu Bruenna. Die schlang die Arme
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immer noch in- und umeinander. Die Augen der Magierin waren glasig geworden. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte Bruenna. Ihre Stimme klang, als käme sie von weit her, so als befände sich die Magierin nicht mehr im Taucher. »Mir geht’s gut«, sagte Glissa. »Danke. Vielen Dank euch beiden.« Glissa wandte den Blick, um zu sehen, wohin sie fuhren, aber Lumengrid war nicht mehr zu sehen. Sie sah das gespannte Seil, das um den unsichtbaren Golem vor ihnen gewickelt war, aber sie befanden sich jetzt vollständig unter der Oberfläche. Alles, was sie jetzt noch sehen konnte, war Quecksilber, das an der Außenhaut der Unsichtbarkeitsblase wirbelte. »Weiß er, wo wir hinmüssen?«, fragte sie Bruenna und deutete auf das Ende des Seils. »Schwer zu verfehlen, he?«, meinte Slobad. »Lumengrid ist riesig. Und Bosh braucht nichts zu sehen, um geradeaus zu laufen.« »Hoffen wir es«, sagte Glissa und sprach so, dass nur der Goblin sie hören konnte. »Ich fühl mich hier drinnen wie in einer Falle. Was ist, wenn Bosh oder Bruenna etwas zustößt? Wir sollten uns für den Notfall einen Plan zurechtlegen.« »Wenn Pläne dich glücklich machen, he?«, sagte Slobad, »dann plan ruhig. Ich setz mich hin und ruh mich für uns beide aus, he?« Glissa starrte zum Bug des Tauchers hinaus und beobachtete, wie das Seil auf- und abhüpfte. Während die Minuten verstrichen und der Taucher sich durch das unsichtbare Quecksilber bewegte, wurde Glissa zunehmend bewusst, dass sie
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sich hier ganz und gar nicht mehr in ihrem Element befand. Sie musste sich auf ihre Freunde verlassen. Es war ein seltsames Gefühl. Ein Schwarm Aale glitt aus dem lichtundurchlässigen Quecksilber hervor. Die Tiere schnappten nach dem unsichtbaren Golem. Zunächst verlief die Attacke wie zuvor. Glissa konnte sehen, wie die offenen Mäuler schlagartig gestoppt wurden und abprallten, wenn sie auf das trafen, was Boshs Beine sein mussten. Einer der Aale schlang sich um den Hals oder Kopf des Golems – jedenfalls befand sich die Stelle ein gutes Stück über dem Seil und war schmaler als seine Brust. Es war merkwürdig, mit anzusehen, wie der Aal etwas zu zerquetschen versuchte, das Glissa nicht einmal sehen konnte. Keiner der Aale schien Bosh jedoch zu stören. Schließlich unternahm er rein gar nichts gegen sie. Das Seil hüpfte unverdrossen weiter auf und ab, und der Taucher bewegte sich weiter vorwärts. Glissa fragte sich, wie lange es diesmal wohl dauerte, bis die Aale wieder aufgaben. Mehrere Artgenossen schlossen sich demjenigen an, der sich um Boshs Kopf beziehungsweise dessen Hals geschlungen hatte. Sie schienen miteinander zu verschmelzen und länger zu werden. Nachdem sich vier oder fünf zusammengetan hatten, konnte Glissa sehen, wie die Silberaale die Umrisse des Kopfes und Halses des Golems nachzeichneten. Die Aale, die Boshs Füße attackierten, verschmolzen ebenfalls miteinander und wickelten sich um seine Beine. Glissa hätte beinahe gelacht, als sie den sonderbaren Golem mit Silberkopf und -beinen, aber ohne Rumpf sah. Bosh blieb auf einmal stehen: Er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Glissa sprang auf. »Slobad, Bruenna!«, rief sie.
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»Bosh ist in Schwierigkeiten.« »Ich kann ihm nicht helfen«, sagte Bruenna mit bleichem Gesicht. »Ich muss mich auf die Luft konzentrieren.« »Was ist los, he?«, fragte Slobad müde. »Er wird von diesen Silberaalen angegriffen«, sagte Glissa. »Sie haben sich um seine Beine geschlungen. Er kann sich nicht mehr bewegen.« »Was können wir schon tun?«, sagte Slobad. »Bosh da draußen. Wir hier drinnen, he?« Glissa sah, wie sich Boshs von Aalen umwickelter Kopf senkte. Die Meereswesen, die sich um seine Beine gewickelt hatten, begannen sich zu lösen. Auch der Aal um den Kopf des Golems löste sich nun ein klein wenig und schwamm nach oben, wobei er Boshs Kopf wieder nach oben riss. Die Aale um seine Beine verstärkten ihren Griff wieder. Etliche weitere Aale verschmolzen miteinander und schlangen sich um die Mitte des Golems. »Jetzt wickeln sie sich um seine Arme!«, schrie Glissa. »Er braucht Hilfe! Ich muss zu ihm.« »Das kannst du nicht«, sagte Bruenna. »Da draußen ist keine Luft.« »Du beherrschst doch den Wind«, rief Glissa. »Erschaffe etwas Luft!« Zwei der Aale lösten sich von Bosh und hielten auf den Taucher zu. Diesmal zuckte Glissa nicht zusammen, als die Aale sich auf sie zuschlängelten. Wahrscheinlich wollten sie sich jetzt auch zusammentun, um den Taucher anzugreifen. Stattdessen hielten sie aber dicht vor dem Taucher und durchbissen die Seile, die ihn mit Bosh verbanden. Der Taucher begann von Bosh fort nach oben zu treiben.
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»Das ist doch zum Aufflackern!«, rief Glissa. »Wir steigen zur Oberfläche hoch.« »Warte«, sagte Bruenna. »Ich möchte nur schnell etwas versuchen.« Sie beschleunigte das Tempo ihres Händetanzes und murmelte ein paar Worte. Der Druck, den Glissa auf der Brust gespürt hatte, seit sie untergetaucht waren, ließ nach. Der Taucher sank zum Grund des Meers hinab. Der plötzliche Ruck erschreckte Glissa. Sie zwang sich, ein paarmal langsam ein- und auszuatmen. »Habe die Luftblase … bis zu Bosh hin ausgeweitet«, keuchte Buenna. »Schnell. Kann sie … nicht lange … halten.« »Slobad«, rief Glissa. »Komm mit!« Die Elfin streifte ihr Gewand ab und kletterte aus dem Taucher. Sie brauchte mehrere Versuche, um den Rand zu ergreifen. Sie konnte weder ihre Hände noch den Taucher sehen. Sie musste nach der Öffnung tasten und sich dann hochziehen. Slobad herauszuholen erwies sich als noch schwieriger. Sie konnte seine Hände nicht sehen, und er nicht ihre. Schließlich hielt er seinen Beutel in die Höhe. Sie griff danach und zog den Goblin daran durch das Loch nach oben. Glissa sprang vom Taucher herunter auf den Meeresgrund, wo sie sofort bis zu den Knöcheln im Schlamm versank. Slobad landete neben ihr. Seine breiten Füße bewahrten ihn davor, so tief einzusinken. Glissa wollte die Füße heben, aber sie steckten fest. Sie stemmte die Hände in den Schlamm, um an den Beinen zu zerren. Als sie einen Fuß endlich aus dem Schlamm gezogen hatte, konnte Glissa auch ihre Hände wieder sehen. Der Schlamm hatte sie umhüllt. Sie zerrte nun auch ihren anderen Fuß frei, zog dann ihr Schwert und verteilte Schlamm
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auf der Klinge. Sie wandte sich Bosh zu. Er war inzwischen fast vollständig mit dicken Aalen bedeckt. Die Luft, die den Golem mittlerweile umgab, schien sie nicht im Geringsten zu stören. Sie schlangen sich immer fester um ihn. Glissa konnte jetzt seine ganze Gestalt ausmachen. Jene Aale, die noch umhergeschwommen waren, als sich die Luftblase ausgeweitet hatte, schlängelten sich nun über den Meeresboden auf den Golem zu. Slobad stand wie unbeteiligt da. Glissa wusste nicht, was er tat, bis eine Flamme aus seiner Faust leckte. Seine Feuerröhre war ebenfalls unsichtbar, aber die Flamme konnte sie sehen. Slobad fummelte an der Röhre herum, bis die Flamme zu einer blendend weißen Klinge aus Feuer wurde, dann bewegte er sich auf einen der Aale zu, der sich am Boden schlängelte, und stieß mit der Flammenklinge nach ihm. Die dünne Flamme glitt durch den Aal und schnitt ihn in zwei Hälften. Die Hitze der Flamme verkohlte beim Durchtrennen die Ränder der beiden Teile. Die zwei Hälften zuckten unkontrolliert. Die Schwärze breitete sich nun über den Leib des silbrigen Aales aus. Einen Augenblick später war nichts übrig außer einem Häufchen Asche auf dem Schlamm. Glissa drang hinter dem Goblin vorsichtig auf Zehenspitzen weiter vor, damit sie nicht noch einmal einsank. »Setz dein Feuer gegen die Aale ein, die Bosh bedecken!«, rief Glissa. »Ich halt dir die anderen vom Hals.« Glissa stach auf einen Aal ein, der auf die Füße des Goblins zuglitt, und durchtrennte ihn in der Mitte. Sie spießte noch einen zweiten und dritten Aal auf, während Slobad die zuckende Masse abflammte, die an Bosh hing. Glissa warf einen Blick zu Bosh und Slobad hinüber. Der Goblin hatte die Beine
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des Golems inzwischen zum größten Teil befreit, jetzt waren sie mit Asche bedeckt. Der Rest der Aale wand sich aber noch immer um Bosh. Glissa durchforstete das Quecksilber mit Blicken, ob noch weitere Aale in die Luftblase geschwommen kamen. Sie sah zwar ein paar Aalköpfe aus dem silbrigen Vorhang ragen, aber einen Augenblick später waren sie auch schon wieder verschwunden. Die Elfin schaute zurück zum Taucher, ob sie möglicherweise von dieser Seite her attackiert wurden. Sie sah die zuckenden Hälften der Aale, die sie durchtrennt hatte und die sich jetzt über den Schlamm schoben. Jeder der Hälften war ein neues Ende gewachsen. Eben waren es noch drei Aale gewesen, jetzt hatte Glissa es mit deren sechs zu tun. Weitere Aale streckten ihren Kopf hinter dem Taucher aus dem Quecksilber. Sie schoben sich nicht ganz hervor, aber Glissa sah, dass diejenigen, die mit ihnen in der Luftblase festsaßen, weiter angriffen. Es war seltsam. Die folgen wohl einem Instinkt, dachte Glissa. Sie konnten offenbar an der Luft überleben, für eine Weile zumindest, waren aber von sich aus nicht bereit, das Quecksilber zu verlassen. Glissa begab sich zu dem ersten Halb-Aal und trat ihn zum Rand der Blase. Er landete dicht vor der Quecksilberwand, prallte vom Boden ab und weiter in die silberne Masse. Kaum hatte der Aal das Quecksilber berührt, zog er sich zurück und kam nicht wieder. Glissa trat noch drei Mal zu und ließ die Aale durch die Luftblase in die Quecksilberwand fliegen. Irgendwie machte ihr das Ganze sogar Spaß. Zwei waren noch übrig. Sie drehte sich um. Die letzten beiden waren gerade wieder zu einem großen Aal verschmolzen. Sie trat trotzdem danach. Das Tier besaß jedoch so viel Masse, dass sie es nicht wegkicken konn-
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te. Es schlang sich um ihren Fuß. Als sich die beiden Ende hinter ihrem Knöchel berührten, begann sich der Aal zusammenzuziehen. Der Blutfluss war unterbrochen, und der Fuß wurde taub. Sie stürzte in den Schlamm. Sie konnte den Aal nicht mit der Klinge durchtrennen, weil sie fürchtete, sich dabei ins Bein zu schneiden. Das Tier öffnete das Maul und schnappte nach ihren Händen, als sie es zu packen versuchte. Sie brauchte Slobad an ihrer Seite. »Glissa!«, rief Slobad da auf einmal. »Was ist?« »Wir haben da Problem, he?« Glissa schaute sich über die Schulter nach Slobad und Bosh um. Der Goblin hatte bereits die meisten Aale vom Golem heruntergebrannt. Bosh zerrte mit seinen aschebedeckten Händen an den verbliebenen Aalen, die sich noch um seinen Kopf schlangen. Glissa konnte nicht erkennen, was Slobad so erschreckt hatte. Doch dann sah sie, wie sich das Quecksilber hinter Bosh auf sie zubewegte. Sie dachte schon, dass vielleicht Bruennas Konzentration nachließ – bis der Quecksilbermasse dann aber Tentakel wuchsen. »Was, zum Aufflackern, ist das denn?«, schrie Glissa. Sie hatte keine Zeit, sich länger mit dem Aal herumzuschlagen, der sich um ihren Fuß geschlungen hatte. Glissa griff nach unten. Als der Aal nach ihr schnappte, rammte sie ihm die Faust in den Rachen. Der Aal schlug sein Maul zu und grub die Zähne in das unsichtbare Metall von Glissas Unterarm. Sie spreizte im Inneren des Tieres ihre Krallen und bohrte sie ihm durch den Hals. Mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen zog Glissa den Arm hoch, weg von ihrem Bein. Der Aal zerriss, aber das Maul kaute unwillkürlich weiter an ihrem
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Arm. Glissa rappelte sich auf und trat die sich zu ihren Füßen windende Masse in die Quecksilberwand. Dann rannte sie mit dem halben Aal am Arm zu Bosh hinüber. Das Quecksilbermonster ragte vor Bosh auf. Es war ein riesiger Silberklumpen, mindestens drei Meter hoch, aus dem sich windende Tentakel sprossen. Auf der silbrigen Haut des Wesens konnte sie die Spiegelbilder von Bosh und Slobad erkennen. Die Enden der Tentakel verschwanden, als das Ding sich voranbewegte. Die Luft muss über die Unsichtbarkeitsblase hinausreichen, dachte Glissa. Sie griff dieses Ungeheuer am besten an, bevor es noch vollends verschwand. Sie stapfte so schnell, wie sie konnte, durch den Schlamm. Hinter Bosh geriet Slobad ins Wanken. Er sah aus, als wollte er davonrennen, konnte dem Golem aber nicht von der Seite weichen – sein Selbsterhaltungstrieb rang mit seiner Zuneigung zu Bosh. »Slobad«, rief Glissa. »Komm her.« Sie bewegte sich vor und winkte mit dem aalumhüllten Arm nach dem Goblin. »Brenn dieses Viech ab, und ich kümmere mich gleichzeitig um dieses Ding dort.« Als sie näher kam, schlug das Monster mit seinen Fangarmen zu. Bosh zog immer noch an den Aalen, die sich um seinen Kopf gewickelt hatten, und sah den Angriff nicht kommen. Und auch Glissa sah ihn nicht. Die Tentakel verschwanden, bevor sie den Golem erreichten. Aber sie zogen sich nicht zurück. Glissa sah, wie Boshs aschebedeckte Arme von seinem Kopf weggezogen wurden. Dann wurde der Golem nach vorn bewegt. Bosh grub seine Füße in den Schlamm und warf sich nach hinten. Glissa schrie auf. Sie schaute nach unten und sah, wie Slo-
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bad die Reste des Aals, die noch an ihrem Arm hingen, wegbrannte. Asche vermengte sich mit Blut aus dutzenden von Einstichwunden in ihrem unsichtbaren Arm. Weitere Tentakel fuhren aus dem Quecksilberungetüm hervor und verschwanden in der unsichtbaren Luft rings um Bosh. Glissa stampfte vorwärts, um anzugreifen, aber das Monster trat durch den silbernen Vorhang aus der Luftblase heraus. Einen Augenblick darauf zerrte das Ungeheuer auch schon Bosh aus dem Bereich heraus, in dem der Unsichtbarkeitszauber wirkte. Er war vollständig von Tentakeln umwickelt. Sie lagen um den Rumpf des Golems wie das Lederseil, das ihn mit dem Taucher verbunden hatte. Der Golem schwenkte seine gefesselten Arme, versuchte sie zu befreien, aber es ergoss sich noch mehr Quecksilber in die Tentakel und verstärkte die Fangarme, in deren Griff Bosh festhing. Bevor Glissa auch nur schreien konnte, zogen die Tentakel den Golem durch die Quecksilberwand und hinterließen dabei nichts als eine Furche im Schlamm. Glissa schaute zu Slobad hinab. Er war ihr gefolgt und blickte nun zu ihr herauf. Sie sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Ich konnte ihn nicht retten«, sagte der Goblin dumpf. »Ich hab es gesehen, aber ich konnte mich nicht rühren, he?« »Ich weiß«, sagte Glissa. Sie sah zu der Wand aus Silber hin. »Ich hole ihn zurück.« »Aber wie?«, sagte Slobad. »Siehst doch nichts da drin, he? Kannst nicht mal atmen. Wie willst du da überleben?« Glissa zog die Phiole mit dem Serum aus ihrer Stiefelscheide. »Das wird mir helfen.« Sie entkorkte das Fläschchen. »Du brauchst das Serum aber für später, he?«, sagte Slobad.
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»Brauchst es für das Lernbecken.« Glissa lächelte. »Aber Bosh ist wichtiger.« »Wie willst du atmen, he?« »Ich werde die Luft anhalten«, sagte Glissa. »Wie lange kannst du Luft anhalten, he? Wie lange?« »Lange genug.« Glissa führte die Phiole an die Lippen und goss sich die zähe blaue Flüssigkeit in den Mund. Sie schmeckte süß, salzig, bitter und sauer zugleich. Das Serum aktivierte sämtliche Geschmacksknospen, während es sich in ihrem Mund ausbreitete. Sie spürte, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann. Sie brannte wie ein dickflüssiges heißes Getränk. Als sich die Hitze in ihrem Körper ausbreitete, schien sie jeden Zoll wie in eine warme Umarmung zu hüllen. Glissa wurde sich ihrer gesamten Umgebung genauestens bewusst. Sie konnte fühlen, dass Slobad neben ihr stand, spürte, wie schnell sein Herz schlug, wie flach sein Atem in der Pressluft von Bruennas Blase ging. Sie konnte die Magierin im Taucher hinter ihnen spüren. Ihre Hände vollführten noch immer diesen verschlungen, rhythmischen Tanz. Schweiß lief ihr über das Gesicht. Der Bereich unmittelbar um die Blase herum wimmelte von Aalen, die sich in- und umeinander wanden. Vor sich konnte Glissa den Golem und das Monster »sehen«, gleich außerhalb der Blase. Das Quecksilberungeheuer hatte Bosh komplett ummantelt. »Gib mir deine Feuerröhre«, sagte Glissa zu Slobad. Sie konnte die eigene Stimme sowohl in ihrem Kopf als auch durch die Luftblase vibrieren hören. Es war verstörend. »Bring mein Schwert zurück zum Taucher. Sag Bruenna, dass sie die Blase zusammenbrechen lassen soll.«
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»Was tust du, he?«, sagte Slobad. »Ich hole Bosh«, sagte Glissa, während sie die unsichtbare Feuerröhre von Slobad entgegennahm. »Ich komme wieder.« Die Elfin bewegte sich auf den Quecksilbervorhang zu. Sie konnte die weichen Stellen im Schlamm erspüren und mied sie. Als sie den Rand der Luftblase erreichte, hielt sie die Feuerröhre vor sich. Die Flamme brannte ein Loch in die wirbelnde Oberfläche und erwischte den Aal, von dem Glissa wusste, dass er sich darin wand. Sie holte Luft und folgte der Feuerröhre in das Quecksilber. Sie musste ihren Körper in die zähe Flüssigkeit hineinschieben. Das Quecksilber umhüllte sie wie Wasser und drückte wie ein steifer Wind gegen sie. Das Gefühl war bei weitem intensiver als bei den plötzlichen Winden, die Bruenna durch Zauber entstehen lassen konnte. Ihr ganzer Körper schien von dem Quecksilber zusammengepresst zu werden. Glissa unterdrückte den Drang, nach Luft zu schnappen. Ihre Ohren fühlten sich an, als würden sie gleich platzen. Die Brust wurde ihr eng. Sie konzentrierte sich auf die Aale und das Monster. Die Feuerröhre schnitt einen Aschepfad durch das Quecksilber vor ihr und zerschmolz jeden Aal, der es wagte, in ihre Nähe zu schwimmen. Sie konnte fühlen, wie Bosh in dem Ungetüm um sich trat und schlug, aber sie wusste, dass die Attacken des Golems keine Wirkung auf das Monster hatten. Nach jedem Schlag streckte und formte es sich kurzerhand neu. Das Monster war nur noch ein kleines Stück entfernt, aber Glissa konnte sich nur in Zeitlupe bewegen. Das Wesen hielt sich gerade außerhalb ihrer Reichweite. Die Elfin begann nach oben zu treiben, sich vom Meeresgrund zu entfernen, weil auf einmal
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wirbelnde Strömungen an ihr zerrten. Sie versuchte nach vorn zu schwimmen, ruderte mit den Armen und trat mit den Beinen durch das Quecksilber, aber sie erreichte damit nur, dass sie mit der Feuerröhre ein verwirrendes Muster aus Asche erschuf. Die Strömung schien einen eigenen Willen zu haben. Sie drängte Glissa hin und her und wirbelte sie herum. Sie drehte sich wieder um und konzentrierte sich auf die Strömungen zwischen ihr und dem Monster. Sie konnte es vor sich spüren. Der Meeresboden befand sich dicht unter ihr. Glissa streckte ihre Beine aus und stemmte sich vom Boden ab. In der Strömung, die sie über sich ausgemacht hatte, schoss sie ein Stück nach oben. Die Strömung riss sie auf das Monster zu. Sie hob die Feuerröhre über den Kopf und streckte ihre Zehen, als sie sich ihm näherte. Die Strömung ließ Glissas tödliches Feuer über die Schulter des Ungeheuers streichen. Als das Monster vor Schmerz aufbrüllte, erbebte das Quecksilber. Glissa hörte den Schrei mehr in ihrem Kopf als über die Ohren. Die Vibrationen pflanzten sich durch das Meer fort. Die Strömung drohte sie an dem Ungeheuer vorbeizutragen. Glissa streckte die Hand aus und packte einen der silbernen Tentakel. Glissa konnte spüren, wo das Quecksilber aufhörte und das Ungeheuer anfing. Es besaß eine Festigkeit, die dem formlosen Meer fehlte. Sie hielt sich fest und schwang die Feuerröhre herum, um sie in das Monster zu treiben. Wieder heulte es auf. Das Brüllen des Monsters und der Sauerstoffmangel bescherten Glissa allmählich Kopfschmerzen. Das Quecksilbermonster spie Bosh aus und ließ Quecksilber in ein Dutzend Tentakel strömen. Arme schlugen durch das
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Meer nach Glissa. Mit ihren verstärkten Sinnen sah Glissa den Angriff des Monsters, fast noch bevor er erfolgte. Sie schwang die Feuerröhre in einem langsamen Bogen durch das Quecksilber und trennte drei der Tentakel ab, bevor diese sie erreichten. In der zähen Flüssigkeit war sie jedoch zu langsam, um einen zweiten Schlag zu führen, weshalb sich die anderen Tentakel um sie wickeln konnten. Sie prallte von Bosh ab. Der Golem griff nach Glissa, aber sie schlug seine Hand beiseite. Sie konnten dem Ungetüm nicht entkommen, nicht in dessen Element. Sie musste es töten. Und sie musste es jetzt tun. Sie ließ sich an den silbrigen Leib des Monsters heranziehen. Das Ungeheuer drückte gnadenlos zu, presste ihr die Brust zusammen und trieb ihr die Luft aus der Lunge. Blasen drangen Glissa aus dem Mund und vereinten sich um ihren Kopf herum zu einer kleinen Lufttasche. Das Monster drückte noch fester zu, machte es Glissa unmöglich, noch einmal Luft zu holen, und zog sie näher zu sich heran. Jetzt hatte sie ihre Chance. Glissa strengte sich an, ihren Arm hochzubringen. Stückchenweise glitten Tentakel an ihr empor. Sie bekam ihren Ellbogen frei und rammte dem Monster die Feuerröhre tief in die Brust. Das Wesen schrie auf und verstärkte seinen Griff um Glissa. Der Druck in ihrer Brust nahm zu, während das Brüllen der Kreatur in ihrem Kopf hämmerte. Das Monster versuchte dem Feuer zu entrinnen. Glissa drückte heftiger zu. Sie behielt ihre Hand – und die Feuerröhre – in dem Ungetüm. Das schmelzende Feuer breitete sich im Körper des Ungeheuers aus. Glissa sah, wie sich der Rumpf des Monsters in schwarze Asche verwandelte. Die Quecksilbersee trug die A-
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sche fort und trat an ihre Stelle. Bald folgte der Kopf der Kreatur, woraufhin das markerschütternde Geschrei endlich verstummte. Zuletzt erreichte das Feuer die Tentakel, die sich um Glissa herum auflösten und dadurch aus ihrem Griff entließen. Nachdem der Druck von ihrer Brust gewichen war, fiel Glissa ihrem angeborenen Trieb zum Opfer. Augenblicklich versuchte sie nämlich, Luft zu holen. Stattdessen sog sie aber Quecksilber in die Lunge. Sie hustete unwillkürlich, und jedes Husten endete in einem Japsen, das ihr noch mehr Flüssigkeit in die Lunge trieb. Sie ließ die Feuerröhre fallen und fasste sich an den Hals. Aber sie konnte nichts dagegen unternehmen. Glissas verstärkte Sinne erloschen. Die Welt begann schwarz zu werden. Das Letzte, was sie sah, war bedrohliche Dunkelheit, die von oben auf sie herabsank.
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Kapitel 23
LUMENGRID
G
lissa spazierte durch den Wald und badete im warmen, hellen Sonnenschein, der durch die Blätter herabsickerte. Ein Eichhörnchen flitzte einen Baum hinauf, als sie vorbeiging, und schimpfte dann vom untersten Ast zu ihr herab. Sie fühlte sich frei und lebendig. Der Morgentau spritzte zwischen ihren Zehen hindurch, während sie barfuss durch Gras und Moos dahinlief. Lichtstrahlen glitzerten auf taufeuchten Blumen, verwandelten sich in Regenbogen, die von Blüte zu Blüte sprangen. Ihr Leben war perfekt. Der Wald bot alles, was die Elfen brauchten, und schützte sie vor den Kriegen und der Verheerung der Menschen und Götter. Und ihr Volk existierte, um den Wald zu schützen. Das wusste sie jetzt. Wann hatte sie das vergessen? Der Wald existierte, um die Elfen zu schützen. Es war eine wahrlich symbiotische Beziehung. Die Elfen sollten es sich nicht anders wünschen. Eine Wolke trieb über den Himmel, schob sich vor die Sonne und warf einen Schatten über den Wald. Sie schaute nach oben, um zu sehen, wann das warme Licht zurückkehren würde, aber die Wolke wurde dunkler und größer. Bald schon drohte eine holzkohleartige Masse brodelnder Sturmwolken den ganzen Himmel auszufüllen. Blitze spielten über die Bäuche der aufgewühlten Wolken. Die Luft lud sich mit roher Energie auf, und Blitze knisterten über den Himmel. Glissa konnte spüren, wie die Energie des Waldes aufwallte, während der Sturm aufzog. Zehrte der Sturm vom Mana des 361
Waldes oder entließ er überschüssige Energie in den Wald? Sie konnte es nicht sagen. Ein Blitzstrahl schoss aus der Wolke herab und fuhr vor ihr in den Wald. Der Donner machte Glissa fast taub, und die Wucht der Schockwelle warf sie zu Boden. Sie sprang auf und rannte in Richtung der Einschlagstelle. Blitze setzten die Bäume oft in Brand. Der Wald musste beschützt werden. So lautete das Gesetz der Elfen. Nichts sonst zählte. Sie rannte durch den dunklen Wald. Aus den Sturmwolken fiel kein Regen, und die Blitze schienen einstweilen zufrieden damit zu sein, in den Wolken zu bleiben. Glissa roch, dass vor ihr etwas brannte, aber der Geruch war nicht der von Holz, das zu Holzkohle wurde. Er war urtümlicher, machtvoller. Sie erreichte die Lichtung, wo der Blitz eingeschlagen hatte, und stellte überrascht fest, dass sich dort bereits eine große Menge von Elfen versammelt hatte, als hätte der Blitz sie bewusst zu dieser Stelle hingezogen. In der Mitte der Lichtung sah Glissa schwarzes Gras, einen Flecken von mindestens zwanzig Schritten im Durchmesser, den der Blitz in Asche verwandelt hatte. Eine glühende Energiekugel schwebte über der Asche. Die Elfen, die sich darum herum drängten, schienen von der Kugel wie hypnotisiert zu sein. Sie rückten nicht näher, um sie sich genauer zu betrachten, aber sie unternahmen auch keinen Versuch, vor ihr zu fliehen. Glissa wollte den Blick von der Kugel abwenden, wusste, dass sie verloren war, wenn sie nicht von der Lichtung floh, aber sie konnte ihren Körper nicht dazu bringen, sich zu bewegen. Die Kugel blitzte auf und hüllte die versammelten Elfen in grelles weißes Licht. Glissa schrie auf. Es fühlte sich an, als würde ihre Haut verbrennen, als würde Glissa vom Licht verschlungen. Sie fiel, schlug aber nicht zu Boden. Sie konnte nichts sehen außer Licht und funkelnden Staub, der vor ihren Augen vorbeiflog, während sie in ein weißes Nichts stürzte. Dann war sie am Boden, in fötaler Haltung zusammengekauert, ihre Beine mit den Armen umschlossen und an die Brust gezogen. Ihre Augen waren geschlos362
sen, und hinter ihren Lidern war selige Dunkelheit. Nach einer Weile wagte Glissa, die Augen zu öffnen. Sie erwartete, schwarze Stümpfe vorzufinden, wo einst die Bäume gestanden hatten. Sie fürchtete, dutzende verbrannter und verunstalteter Leichen um sich herum zu sehen. Sie fragte sich, ob sie wahrhaftig noch am Leben war oder längst Gaeas Lohn erhalten hatte. Doch nichts, was sie sich hätte vorstellen können, bereitete die Elfin auf das vor, was sie schließlich sah, als sie die Augen öffnete. Rings um sie herum lagen Elfen. Die meisten zusammengekauert wie sie selbst eben noch. Niemand war von dem Blitz verbrannt oder verletzt worden. Ein paar hatten sich vom Boden hochgestemmt oder saßen da und betrachteten den Schaden, den der Wald erlitten hatte. Der Wald war jedoch verschwunden. Die Bäume, die Blumen, die Sonne, selbst die schwarze Wolke, alles war verschwunden. Glissa senkte den Blick und sah blankes Metall unter sich. Sie schaute nach oben und sah riesige Türme aus verbogenem Metall, die die Elfen umgaben. Am Himmel fand sie nichts außer Sternen, doch selbst diese wirkten nicht vertraut. Glissa fühlte sich innerlich ganz krank. Die Metallwelt drehte sich um sie herum, als sie aufzustehen versuchte. Eine Woge von Übelkeit überkam die Elfin. Sie stützte sich auf Hände und Knie und schloss die Augen, damit die Welt aufhörte, sich um sie herum zu drehen. Sie hoffte, dass alles nur ein Traum war, der vorbei sein würde, sobald sie die Augen öffnete. Die Elfin riskierte einen neuerlichen Blick, aber die Metallwelt war immer noch da. Glissa ließ den Kopf zwischen die Arme sinken und übergab sich.
$ Glissa kniete auf dem Boden des Tauchers und erbrach sich. Sie zuckte krampfhaft, weil ihr ein Schwall silbriger Flüssigkeit
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aus dem Magen und der Lunge emporstieg. Die Krämpfe hörten erst auf, nachdem ihr die letzten Quecksilbertropfen aus Mund und Nase geronnen waren. Sie blieb über eine silberne Lache gekauert am Boden hocken, atmete hechelnd und spuckte hin und wieder noch etwas Quecksilber in die Pfütze. Schließlich kroch sie zum Bug des Tauchers, tastete sich an dem unsichtbaren Metall entlang und setzte sich hin. »Ich glaube, das war der letzte Rest«, sagte sie und wischte sich über Mund und Nase. »Was ist passiert?« »Sag du uns das, he?«, antwortete Slobad. »Bosh hat dich im Taucher abgeladen. Glaube, es war Bosh. Konnte ihn nicht sehen. Du hast nicht geatmet. Überhaupt nicht geatmet. Mensch hat Zauber gemacht, und du hast angefangen zu husten. Hast das ganze Meer ausgespuckt, he?« Glissa schaute nach hinten zu Bruenna. Die Magierin konzentrierte sich immer noch auf ihren Luftzauber. »Du hast mich gerettet?«, fragte Glissa. »Ich habe deinen Körper mit Luft versorgt«, sagte Bruenna. »Bosh hat dich gerettet.« »Danke«, sagte Glissa. Sie schaute sich um. »Und wo ist Bosh?« »Da draußen«, sagte Slobad. Er zeigte an Glissa vorbei. »Zieht uns nach Lumengrid, he? Hat einfach wieder angefangen zu ziehen, als wäre nichts gewesen, he?« Glissa sah zum Bug des Tauchers hinaus. Sie konnte die abgetrennten Enden des Seils über dem Meeresgrund hängen sehen, unmittelbar über Boshs schlammbedeckten Füßen, die weiter durch den See stapften. »Irgendein Zeichen von Aalen oder anderen Ungeheuern?«, fragte Glissa.
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Slobad schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht mehr weit von Lumengrid entfernt«, sagte Bruenna. »Ich spüre es.« Glissa nickte. Im Augenblick konnte sie nichts tun, als abzuwarten. Sie saß da und dachte über das Aufflackern nach, das sie heimgesucht hatte, während sie … tot gewesen war. Der Anfall war derart intensiv gewesen, alles hatte so echt gewirkt. Sie hatte Dinge gesehen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Hatte das Serum ihren Geist für eine andere Zeit und einen anderen Ort geöffnet? Oder war es nur eine Halluzination gewesen, ausgelöst durch ihren Flirt mit dem Tod? Nach Chunths Tod war das Becken des Wissensvorrats ihre einzige Chance, die Wahrheit herauszufinden, nur dass sie jetzt kein Serum mehr hatte, um es zu aktivieren. Ihre Überlegungen wurden von einem lauten Scheppern unterbrochen, das von vorn zu ihnen drang. Glissa wandte den Kopf, um nachzusehen, was passiert war. Sorge überkam sie, als sie sah, wie die Seile zu Boden sanken. Doch dann bemerkte sie die Füße des Golems, die auf den Taucher zugestapft kamen. Die Füße krachten gegen die Flanke des unsichtbaren Tauchers, dann kletterten sie daran hoch, wobei sie schlammige Schmierstreifen hinterließen. Über sich hörte die Elfin Boshs dröhnende Stimme. Er hatte die Eisenröhre erklommen und steckte jetzt den Kopf durch die Öffnung herein. »Ich freue mich, dass du dich wieder erholt hast, Glissa«, sagte der körperlose Golem. »Danke, Bosh«, sagte Glissa leise. »Ich verdanke dir mein Leben.« »So wie ich dir meines verdanke. Ich glaube, wir sind am Ziel. Ich bin gegen eine Metallwand gestoßen. Wie soll ich wei-
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ter vorgehen, Bruenna?« »Zieh uns um das Fundament herum«, sagte Bruenna. »Dann wirst du ein Rohr sehen. Dort bringst du uns hinein.« »Wie soll er dieses Rohr denn sehen?«, fragte Glissa. »Gute Frage«, sagte die Magierin. »Ich habe noch nicht alle Probleme bezüglich des Tauchers gelöst.« Die beiden Frauen sahen einander ausdruckslos an. »Warum benutzen wir nicht die Luftblase, he?«, sagte Slobad schließlich. »Wie zuvor. Haben damit ja auch das Metallmonster hinter Golem gesehen.« Glissa nickte. »Gute Idee, Slobad.« Sie wandte sich an Bruenna. »Kannst du die Größe der Unsichtbarkeitsblase kontrollieren?« Bruenna bewegte ihre Hände im Zaubertanz. »Wie viel Kontrolle meinst du?« »Beschränk die Unsichtbarkeitsblase auf den Taucher, und erweitere die Luftblase über Boshs Seile hinaus. Dann können wir ihn sehen, und er kann die Festungswand sehen.« »Das könnte ich schaffen. Ich weiß allerdings nicht, wie lange ich imstande bin, sie aufrechtzuerhalten.« »Gib einfach dein Bestes.« Glissa sah zu, wie Bruenna ein paar Worte murmelte und das Muster veränderte, dem ihre Hände folgten. Das Quecksilber stürzte kurz auf sie zu, und Glissa keuchte auf, doch dann sank der Luftdruck, und das Quecksilber flutete über die Enden des Seiles hinaus von ihnen fort. Eine Silberwand, die sich über die Ränder der Blase hinaus bis in den Schlamm hinab erstreckte, erschien vor ihnen. Glissa hörte, wie Bosh von dem Taucher herunterkletterte, und sah ihn dann vor der durchsichtigen Wand des Tauchers
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erscheinen. Er nahm die Seile auf und zog den Taucher schließlich um den Rand von Lumengrid herum. Glissa sah, wie die Wände an ihnen vorüberglitten. Die Größe des Ortes versetzte sie in Staunen. Sie konnte am Rand der Blase nur einen kleinen Teil der Vedalkenfestung ausmachen, aber sie schien kein Ende nehmen zu wollen. Sie schaute nach hinten zu Bruenna. Die Hände der Magierin waren nur verschwommen zu erkennen, so schnell bewegten sie sich. Ihr Gesicht war rot angelaufen, und Schweiß tropfte ihr vom Kinn. Bald konnte Glissa das Rohr sehen, von dem Bruenna gesprochen hatte. Es war riesig. Nur der Boden des Rohres war in der Luftblase sichtbar. Er wölbte sich an den Rändern nach oben und verschwand im silbernen Vorhang. Bosh zog sie in das Rohr hinein. Kurz darauf konnte Glissa spüren, wie der Taucher anstieg. Sie fiel nach hinten, weil Bosh das Fahrzeug nun eine Rampe hinaufzog. Schließlich kamen sie wieder in die Waagrechte, und das Rohr, in dem sie sich befanden, wurde allmählich kleiner. Sie konnte sehen, wie die Wände des Rohres um den Taucher herum aufragten, bis sie sich über ihnen vereinten, unmittelbar über Boshs Kopf. »Stopp«, sagte Bruenna. »Hier müssen wir halten.« Glissa drehte sich um und schlug gegen die Wände des Tauchers. Sie verknackste sich dabei einen Finger, weil sie die Entfernung zwischen den beiden unsichtbaren Objekten falsch geschätzt hatte. Bosh schaute zurück, und Glissa winkte mit einer Hand, doch dann wurde ihr bewusst, dass er sie ja nicht sehen konnte. Sie nahm ihre Schwertscheide und zeigte damit zur Oberseite des Tauchers. Bosh ließ die Seile fallen
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und kam zurück zum Taucher, aber er passte nicht zwischen die Decke des Rohres und die Oberseite des Tauchers. Glissa warf Bruenna einen Blick zu. »Was nun?«, sagte sie. Bruenna deutete über Bosh auf eine Platte in der Decke des Rohres. »Dort müssen wir durch.« Glissa gab Bosh mit der Schwertscheide ein Zeichen und zeigte dann auf die Platte. Der Golem nickte. Er ergriff die Seile und zog den Taucher nach vorn. Die Platte verschwand, als der Taucher darunterglitt. Bruenna ließ die Unsichtbarkeitsblase zusammenfallen. Um Glissa herum wurde der Taucher sichtbar. Sie begab sich zur Mitte und sah nach oben. Über der Öffnung geriet die Platte in ihr Blickfeld, und der Taucher stoppte. Bruenna sprach ein paar Worte, worauf der Taucher der Platte entgegenstieg. Glissa hob Slobad hoch und setzte ihn auf ihre Schultern. Der Goblin zog ein Werkzeug aus seinem Beutel und machte sich damit an der Platte zu schaffen. Nach einigem Grunzen hörte Glissa, wie Metall über Metall kratzte. Durch ein Loch über Slobad flutete Licht in den Taucher. »Hilf mir mal, he?«, rief Slobad. Glissa schob Slobad durch die Öffnung und wandte sich dann an Bruenna. »Du bist die Nächste«, sagte sie. Bruenna ging zu Glissa. Sie bewegte die Arme weiterhin in jenem verschlungenen Muster, während Glissa sie an den Hüften packte und durch die Öffnung hievte. Slobad beugte sich herab und ergriff sie bei den Schultern, während Glissa von unten schob. Nachdem Bruenna über ihr in Sicherheit war, schnappte sich Glissa ihr Gewand, das sie vor dem Angriff der Aale abgelegt hatte, und kletterte ebenfalls nach oben. Dort angelangt, warf sie die Kutte beiseite, lehnte sich hinun-
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ter und klopfte wieder gegen den Taucher. Bosh schob ihn von der Öffnung im Rohr fort und kletterte dann selbst durch das Loch herauf. Sie waren in Lumengrid.
$ Glissa sah sich um, weil sie fürchtete, es könnte sie jemand beobachtet haben, wie sie durch den Boden heraufgeklettert waren, aber sie waren offenbar in der hintersten Ecke eines Lagerbereichs gelandet. Hier war niemand. Sie waren von silbernen Kisten umgeben. Die Kisten und die Wände bestanden aus demselben silbrigen Material wie die Türme. Glissa vermutete, dass die Vedalken eine Möglichkeit gefunden hatten, das Quecksilber in ein strapazierfähigeres Material umzuwandeln. Es schien jedenfalls das einzige Metall zu sein, auf das sie Zugriff hatten. Sie öffnete eine der Kisten. Sie war mit leeren Serumphiolen gefüllt. Bosh schob einen Stapel Kisten aus dem Weg, und Glissa zog sofort ihr Schwert. An der Wand standen drei Konstruktionen. Sie glichen jenen, von denen die Kultisten angegriffen worden waren. Glissa trat auf sie zu, dann bemerkte sie, dass einer der Konstruktionen ein Arm fehlte, während eine andere keinen Kopf mehr hatte. Sie nahm die Konstruktionen in Augenschein. Alle drei waren mit Staub bedeckt. Als die Elfin sich nun weiter umsah, bleib ihr die Spucke weg. Der Rest des Raumes war riesig, größer als Bruennas ganzes Haus. Überall auf dem Boden ringsum standen Kisten, und alles lag unter einer dicken Staubschicht. Die Mitte des Rau-
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mes wurde von einer großen Apparatur eingenommen. Glissa ging darauf zu. Die Maschine erstreckte sich fast durch den gesamten Raum und war fest in kompliziert aussehende Teile gepackt. »Was ist das für ein Ort?« »Das ist ein alter Herstellungsraum für das Serum«, sagte Bruenna. Sie begab sich zu der Maschine und streckte die Hand danach aus, zog sie dann aber wieder zurück. »Vater hat während seiner Jugend hier unten gearbeitet. Er hielt diese Verarbeitungsmaschine am Laufen.« Bruenna wischte sich über die Augen. »Er hat die Anlage sogar etwas verbessert. Das hat natürlich die Aufmerksamkeit der Vedalken erregt. Kurz darauf arbeitete er mit dem besten Forscher der Vedalken zusammen.« Glissa sah Bruenna an. Die Magierin hatte zuvor geschwiegen, als sie alle den Raum betreten hatten. Jetzt wusste Glissa, warum. Dieser Ort war für sie voller Gespenster der Vergangenheit, voller Erinnerungen. Bruenna missdeutete die Gedanken der Elfin offensichtlich. »Ich wusste nichts von den Blinkmotten«, sagte sie in verteidigendem Ton. »Nicht, bis du mir davon erzählt hast. Vater hat mir nie gesagt, wo das Serum herkam.« »Vielleicht hat er sich geschämt«, sagte Slobad. »Geschämt, weil er für die Vedalken getötet hat, he?« »Vielleicht«, sagte Bruenna. »So wie sie uns ja immer gezwungen haben, ihre Drecksarbeit zu erledigen. Aber das hat sich geändert. Diese Anlage haben sie seit zwanzig Zyklen nicht mehr benutzt. Die Vedalken trauen den Menschen nicht mehr, was das Serum angeht. Nicht, nachdem mein Vater es bis zum Wissensvorrat geschafft hatte.«
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Glissa überließ Bruenna ihren persönlichen Dämonen, öffnete eine weitere Kiste und inspizierte die darin befindlichen Phiolen. Nach einer Weile kam Bruenna zu ihr. Glissa sah auf. Die Tränen waren verschwunden, und eine stählerne Entschlossenheit war in ihre Augen zurückgekehrt. »Glaubst, dass in einer dieser Phiolen noch etwas Serum ist?«, sagte die Elfin. »Wir brauchen davon, bevor wir zum Becken gehen.« »Was ist mit der Phiole geschehen, die du hattest?«, fragte Bruenna. Glissa sah zu Slobad hinüber, der aber nur die Achseln zuckte. »Oh«, sagte sie, »ich dachte, Slobad hätte es dir erzählt. Ich habe das Serum benutzt, als ich in das Quecksilber gegangen bin, um Bosh zu retten.« Bruenna bekam vor Zorn ein rotes Gesicht. »Warum, bei allen Winden, hast du das getan?«, rief sie. »Wir brauchten dieses Serum. Ohne das Serum werde ich … werden wir die Einzelheiten, nach denen dich verlangt, nie bekommen!« »Ich hatte keine andere Wahl«, sagte Glissa ruhig. »Wenn ich das Serum nicht benutzt hätte, dann hätten wir Bosh verloren.« »Und?«, kreischte Bruenna. »Ohne das Serum wirst du im Becken nur zufällige Bilder empfangen. Das ganze Unternehmen ist ohne das Serum sinnlos. Dachtest du etwa, dass du es einfach durch eine Phiole ersetzen kannst, die du zufällig in einer der Kisten hier findest?« »Nein«, sagte Glissa. »Ich habe die Entscheidung getroffen, den Wert des Lebens meines Freundes über den Wert des Serums zu stellen.« Bruenna hörte ihr kaum noch zu. »Es ist unmöglich, mehr
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Serum zu bekommen. Wenn ich selbst etwas Serum hätte finden können, wäre ich schon vor langer Zeit hierher gekommen. Ich habe dreißig Zyklen – dreißig Zyklen – auf diese Chance gewartet! Alles, was mir fehlte, war eine Phiole mit Serum, und du hast alles weggeworfen, um das Leben einer Konstruktion zu retten. Er lebt nicht einmal richtig, um Windes willen!« »Hör auf!« Glissa starrte Bruenna finster an. »Ich weiß, dass du ihn nur als Konstruktion betrachtest, nicht anders als diese leblosen Dinger hier. Aber er ist mein Freund. Und das ist mir wichtiger als das Serum oder Wissen oder gar Macht. Vielleicht ist es ja das, was die Vedalken in ihrer Eile, die Welt beherrschen zu wollen, vergessen haben. Vielleicht ist das der Grund, warum die Menschen jetzt Sklaven sind, anstatt den Vedalken ebenbürtig zu sein.« Bruenna schlug mit der Hand auf die Kiste. Die Phiolen hüpften und klimperten gegeneinander. »Das war meine einzige Chance«, sagte sie matt. »Meine letzte Chance, das zu Ende zu führen, was mein Vater begonnen hat.« Sie sah zu Bosh hinüber. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Es tut mir Leid. Glissa. Slobad. Bosh. Es tut mir Leid. Dieser Raum. Die Phiole. Ich dachte, wir könnten es diesmal wirklich schaffen. Es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint, wie ich es gesagt habe. Ohne Bosh wären wir nicht einmal hier. Ich weiß das, aber es gibt keine Möglichkeit, an eine andere Phiole heranzukommen. Ich habe längst alles versucht.« »Ja«, sagte Glissa, »aber du hattest keinen Goblin und keinen Golem, die die Vedalken für dich ablenken konnten.« Sie legte den Arm um Bruenna und führte sie von den Kisten weg zur Tür. »Wir können es noch schaffen. Du musst mir glauben.
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Du musst Vertrauen in deine Freunde haben.« Bruenna fröstelte in Glissas Umarmung, aber sie widersprach nicht. An der Tür blieb Glissa stehen und drehte sich zu Slobad um. »Du weißt, wo du hinmusst?«, fragte sie. Slobad nickte. »Du wirst nicht enttäuscht sein, he?« »Bestimmt nicht«, sagte Glissa. »Ganz bestimmt nicht.« Bosh öffnete die Tür. Slobad duckte sich unter den Arm des Metallmanns und spähte in den Gang hinaus. Er nickte Bosh zu, doch dann zögerte er und wandte sich nach Glissa um. »Glissa«, sagte er. »Ich … wie kommen wir von diesem Fels wieder runter, he?« Glissa sah Bruenna an. »Am Ufer stehen Transportmittel der Vedalken. Dort treffen wir uns wieder.« »Gut«, sagte Slobad. Er sah Glissa noch einmal an, nickte und schlüpfte dann zur Tür hinaus. Glissa ergriff Boshs Arm. »Wartet nicht zu lange auf uns«, sagte sie. »Das werden wir nicht«, sagte Bosh, während er durch die Tür hinaustrat. »Wenn ihr euch verspätet, werden wir euch holen.« Die Tür schloss sich, ehe Glissa widersprechen konnte.
$ Glissa wandte sich an Bruenna. »Bist du bereit?«, fragte sie. Bruenna nickte und warf Glissa ihre Kutte zu. Glissa streifte sie über und zog dann die Kapuze über ihre Ohren. »Na ja«, sagte sie, »das hat schon beim ersten Mal nicht besonders gut funktioniert.« »Keine Sorge«, sagte Bruenna. »Wie gesagt, die Vedalken nehmen Menschen, die hier herumlaufen, nicht einmal zur
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Kenntnis. Wir sind für sie noch geringer als Tiere. Dabei sind hier die Menschen den Vedalken gegenüber wahrscheinlich sogar in der Überzahl.« »Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Glissa. »Du jedenfalls warst klug genug, meine Verkleidung zu durchschauen.« »Mach dir keine Sorgen«, sagte Bruenna. »Du hattest ja keine Freundin bei dir, die wusste, was zu sagen ist, wenn es darauf ankommt. Solange wir den Eindruck erwecken, dass wir hierher gehören, wird uns niemand behelligen. Überlass das Reden nur mir.« Lumengrid ähnelte dem verlassenen Turm, den sie am Tag zuvor aufgesucht hatten, kein bisschen. Die Wände waren vollkommen lichtundurchlässig. Glissa konnte ihr Spiegelbild auf den silbrigen Oberflächen sehen, aber nichts von dem, was dahinter lag. Vielleicht waren sie ja dicker, oder es befanden sich auch nur mehr Wände zwischen ihr und der Außenwelt. Glissa konnte es nicht sagen. Die Wände leuchteten und verbreiteten genug Licht. Zwischen den Wänden und dem Boden schien es keine Fugen zu geben. Das Metall wirkte flüssig – fast lebendig, ähnlich wie das Quecksilbermonster, das Bosh angegriffen hatte. Die Knäuelbäume, die Bergzüge, die Leonidenhügel und selbst die Kamine im Mephidross wirkten und fühlten sich von außen organisch an. Aber im Inneren zeigten sie alle Anzeichen, dass sie bearbeitet und geformt worden waren. Glissa hatte oft gesehen, wie Elfen Kammern für neue Wohnstätten in Knäuelbäume geschlagen hatten. Die Böden und Wände der Goblintunnel waren in Form gehämmert worden. Die Leoniden ließen überall in ihrer Stadt Fliesen aus Gold und Silber
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ein. Selbst Geth hatte eine Tür gehabt, die zurechtgeschnitten und eingesetzt worden war, um ihn vor Eindringlingen zu schützen. Aber die Räume und Gänge in Lumengrid gingen fließend ineinander über und reflektierten das Licht überall zugleich. Wenn Glissa zu lange auf eine Stelle blickte, begann sie sich selbst mehrere Male auf der Wand zu sehen. Vielleicht war es eine Täuschung des Lichts, aber sie hatte das Gefühl, als könnte sie ihre Hand direkt durch die Wand strecken, um eines ihrer zahllosen Abbilder zu berühren. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Lumengrid und den anderen Türmen bestand allerdings in der Größe. Der Gang, den sie hinunterliefen, erstreckte sich offenbar endlos vor ihnen. In der Ferne machte er zwar eine leichte Biegung, schien aber auch danach kein Ende zu nehmen. Hin und wieder passierten sie eine Tür, aber der generelle Anblick blieb stets der gleiche. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, entdeckte Glissa in der Ferne etwas. Noch war ihnen in diesem Komplex niemand begegnet, und dies war nun der erste Hinweis darauf, dass sie nicht einfach nur im Kreis um den Fuß der Festung herumliefen. Bruenna erklärte, dass diese Ebene hauptsächlich für die Herstellung des Serums genutzt worden und jetzt größtenteils verlassen war. Das Etwas in der Ferne erwies sich als Treppe, die zur nächsten Ebene emporführte. Bruenna ging die Stufen als Erste hinauf. »Zieh deine Kapuze tiefer ins Gesicht«, sagte sie. »Auf dieser Ebene werden wir Menschen und Vedalken begegnen.« Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, war Glissa fast enttäuscht, nur einen weiteren langen Gang zu sehen, der sich
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leicht geschwungen vor ihnen hinzog. Niemand war zu sehen. Sie fragte sich, ob Lumengrid nichts weiter als ein Labyrinth aus sich windenden Gängen war. Bei diesem Tempo würden sie ewig brauchen, um zum Wissensvorrat zu gelangen, und Slobads Überraschung würde zu früh erfolgen. »Warum dauert das denn so lange?«, fragte Glissa, während sie einen weiteren endlosen, geschwungenen Korridor hinabtrotteten. »Es gibt keine direkten Wege zum Zentrum von Lumengrid«, sagte Bruenna. »Ich weiß auch nicht, warum. Das ist auch eines der Geheimnisse, die die Vedalken strengstens hüten. Es muss etwas mit dem Wissensvorrat zu tun haben. Der Raum dazu liegt, das weiß ich genau, in der Mitte der Festung auf der höchsten Ebene. Wenn wir weiter oben sind, werden wir schneller vorankommen. Allerdings werden wir auch mehr Vedalken über den Weg laufen.« »Oder überhaupt mal einem«, murmelte Glissa. Halbwegs fürchtete sie sich sogar davor, einem Vedalken zu begegnen. Sie hatte Angst, dass man ihre fadenscheinige Verkleidung irgendwie gleich durchschauen würde. Die Vedalken schienen ja überhaupt von Anfang an über jeden ihrer Schritte Bescheid gewusst zu haben. Warum also sollten sie nicht wissen, dass sie jetzt hier war? Aber mehr noch sorgte sich Glissa, dass die Vedalken am Ende vielleicht gar nicht hinter den Angriffen steckten, sondern dass die vierarmige Kuttengestalt etwas ganz anderes war, etwas noch Schlimmeres. Irgendwo tief in sich glaubte Glissa immer noch, dass derjenige, der wirklich hinter den Angriffen stand, der sagenumwobene Memnarch war, von dem Bosh gesprochen hatte. Nach einer Weile kamen sie an Menschen vorbei, die den
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Gang entlangliefen. Einige eilten in aller Hast vorüber, möglicherweise hatten sie etwas Dringendes für ihren Herrn zu erledigen. Andere gingen paarweise oder in Gruppen und redeten oder scherzten sogar, während sie durch den Gang spazierten. Offensichtlich litten nicht alle Menschen so sehr unter ihrer Versklavung wie Bruenna. Wann immer sie eine Gruppe von menschlichen Magiern passierten, senkte Glissa den Kopf ein wenig, um ihre elfischen Züge zu verbergen, während Bruenna die Entgegenkommenden mit einem Lächeln und einem Kopfnicken grüßte. Auf etwa halbem Wege um den Turm herum weitete sich der Gang zu etwas, was wie ein großer Marktplatz aussah. Hunderte von Menschen liefen hier herum oder standen neben irgendwelchen Tischen. Es war gewaltig. Glissa konnte die andere Seite des Raumes nicht einmal sehen, und die Decke, die im Gang bereits überaus hoch gewesen war, lag über dem Markt gut dreimal so hoch. Glissa hatte das Gefühl, die Festung verlassen zu haben, obwohl sie sich nach wie vor darin befanden. Als sie den Markt betraten, sagte Bruenna: »Wir Menschen fertigen alles, was die Vedalken brauchen. Im Gegenzug erlauben uns die Vedalken, den Überschuss untereinander zu verkaufen. Diese ganze Sache macht mich krank.« »Warum?«, fragte Glissa. Sie passierten ein paar der Stände. Sie waren mit Nahrungsmitteln, Geschirr, Bestecken, Stoffen und Leinen, gewebter Lederkleidung, wie Bruenna sie trug, und sogar hochwertigen Lederstiefeln bestückt. »Das sind erstklassige Handarbeiten. Ihr könntet mit anderen Völkern Handel treiben, mit den Leoniden etwa, um bessere Lebensbedingungen für euch zu schaffen.«
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»Nur, dass das nicht erlaubt ist«, sagte Bruenna. »Wir stellen die Sachen her. Wir verkaufen sie untereinander, aber die Vedalken sind diejenigen, die davon profitieren. Jeder dieser Stände gehört einem Vedalken. Sie bezahlen uns dafür, dass wir für sie arbeiten, und dann bezahlen wir sie für das, was wir selbst brauchen. Es ist kaum besser als Sklaverei.« Als sie den Markt durchquerten, kam eine kleine Gruppe von Magiern auf sie zu. Sie kauften nichts, schienen aber auch nicht in Eile, einen Auftrag zu erledigen. Glissa fragte sich, wo all die Vedalkenherren dieser untätigen Arbeiter sein mochten. Einer der Menschen, ein älterer Mann, lächelte, als die Gruppe sich Glissa und Bruenna näherte. Er überholte seine Begleiter und blieb vor Bruenna stehen. »Bruenna«, sagte er. »Es ist lange her. Wie geht es dir?« Bruenna streckte die Hand aus und ergriff den Arm des Mannes. »Hallo, Daven«, sagte sie. »Mir geht es gut.« Daven umfasste im Gegenzug Bruennas Arm. »Was führt dich nach Lumengrid?«, fragte er. Bruenna zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Eine Angelegenheit, die ich mit der Synode besprechen muss«, sagte sie dann. Daven war sichtlich beeindruckt. »Ich habe bereits gehört, dass dein Mond am Steigen sei. Du trittst in die Fußstapfen deines Vaters, wie ich sehe.« Bruenna lächelte. »So könnte man sagen.« Sie wollte ihre Hand zurückziehen und weitergehen, aber Daven hielt sie fest. »Wer ist deine Freundin?« Bruenna sah zu Glissa, dann wieder zu Daven. Aber bevor sie etwas antworten konnte, hörten sie Tumult vom Rande des Raumes her. Glissa schaute hinüber. Das Menschenmeer teilte
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sich wie das Kielwasser eines Schiffes, sodass ein breiter Weg durch den Markt entstand. Glissa schluckte heftig, als sie Zeuge dieser Gewalt wurde, die Menschen so mühelos wie Quecksilber zu bewegen vermochte. Eine Kuttengestalt schritt über den Markt, und sie kam direkt auf Glissa zu. Glissa spürte, wie Panik in ihr aufwallte. Es handelte sich unzweifelhaft um einen Vedalken. Sein behelmter Kopf überragte die Menschen ringsum, und seine wallenden Gewänder wogten hin und her, enthüllten und verdeckten seine zusätzlichen Arme, während er durch die Menge schritt. Nicht ein einziger Mensch näherte sich dem Vedalken, der sich rasch durch die Masse bewegte, und er selbst schien die Menschen, die ihm hastig aus dem Weg gingen, kaum wahrzunehmen. Glissa spannte sich an und griff unter ihrem Gewand nach dem Schwert. War er derjenige, der Kane getötet hatte? Sie konnte es nicht sagen, und es kümmerte sie im Grunde auch nicht. Sie war willens, alle umzubringen, nur um sicher sein zu können, dass sie auch den Richtigen erwischt hatte. Wenn jemand diesen Menschen zeigte, dass sie zurückschlagen konnten, würden sie vielleicht rebellieren. Bruenna musste ihre Absicht gespürt haben, jedenfalls ergriff sie nun Glissas Arm und schüttelte den Kopf. Glissa ließ den Griff ihres Schwerts los und drehte sich ein wenig zur Seite, als der Vedalken nun an Daven herantrat. »Was ist denn los, Daven? Ich habe dich vor einer Stunde losgeschickt, um die Phiole zu holen, die ich für mein Experiment brauche. Jetzt war ich gezwungen, meine Arbeit liegen zu lassen, um nach dir zu suchen, und wo finde ich dich? Hier auf dem Markt, wo du ein Schwätzchen hältst.« Glissa konnte den Schrecken in Davens Augen sehen, als er
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Bruennas Arm losließ. Hinter dem Vedalken schloss sich der von Menschen gesäumte Pfad wieder, aber alle, die in der Nähe von Glissas Gruppe standen, schienen in die Menge wegzuschmelzen, selbst die Menschen, die an den Ständen verkauften. Daven senkte den Kopf und sagte: »Ich werde sie gleich besorgt haben, mein Lord. Ich war sozusagen schon auf dem Weg, sie Euch zu bringen.« »Dann tu das endlich. Wenn du mit der Phiole nicht in meinem Quartier bist, wenn ich zurückkomme, wird deine Bezahlung für eine ganze Phase lang einbehalten«, sagte der Vedalken. Glissa wagte es nicht, sich umzudrehen. Die Stimme besaß denselben tiefen Hall wie jene, die sie im Knäuel gehört hatte, als Kane starb. Der befehlende Ton und die dräuende Erinnerung ließen Glissa schaudern. Sie traute sich kaum zu atmen. Auf die Menschen musste die Stimme wohl dieselbe Wirkung haben, Daven hatte sich nämlich noch immer nicht bewegt. »Bring sie ins Labor«, sagte der Vedalken, »und beeil dich.« Daven und seine Freunde verschwanden in der Menge. Bruenna wollte ihnen folgen, nicht zuletzt um sich von dem Vedalken zu entfernen, und auch Glissa setzte sich in Bewegung. Sie hatten gerade erst ein paar Schritte getan, als hinter ihnen die Stimme des Vedalken erklang. »Halt«, sagte er. »Ich erinnere mich nicht, dich schon entlassen zu haben, Bruenna, oder drängt deine Angelegenheit so sehr, dass du keinen Augenblick deiner Zeit für den alten Arbeitgeber deines Vaters erübrigen kannst?« Bruenna drehte sich um. »Wir haben etwas mit der Synode zu besprechen, Lord Pontifex.« »Man hat mir nicht gesagt, dass du nach Lumengrid
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kommst, aber wenn du geschäftlich mit der Synode zu tun hast – ich bin selbst auf dem Weg zu den oberen Ebenen, du darfst mich begleiten.« Bruenna nickte. »Danke, Lord. Wir freuen uns, dass Ihr Euch Zeit für uns nehmt.« »Was tust du denn da?«, flüsterte Glissa, aber Bruenna antwortete nicht. Pontifex drehte sich um und ging durch die Menge zurück. Diejenigen, die dem Vedalken am nächsten standen, mussten ihn beobachtet haben. Sie wichen augenblicklich beiseite, um Pontifex Platz zu machen. Abermals teilte sich die Menschenmenge auf dem Marktplatz vor dem Vedalken, und Bruenna und Glissa folgten in seinem Fahrwasser. »Ich hatte nie Gelegenheit, dir zu sagen, wie Leid mir der Tod deines Vaters tat«, sagte Pontifex, als er sie aus dem Markt hinaus in einen der langen, gewundenen Gänge führte. »Danke, mein Lord«, sagte Bruenna. Glissa verstand sich noch nicht ausreichend darauf, die Sprachgewohnheiten der Vedalken zu deuten, um sagen zu können, ob Pontifex’ Bedauern ernst gemeint war; Bruennas Antwort jedoch besaß eine unüberhörbare Spitze. »Ich werfe seit vielen Zyklen ein Auge auf deinen Werdegang, und wie ich sehe, hast du dich seit seinem Tod gut gemacht«, fuhr Pontifex fort. »Ich lebe, um zu dienen, mein Lord«, sagte Bruenna. Ihre Unterhaltung besaß nun unleugbar eine gewisse Schärfe. Glissa spürte, dass zwischen den beiden böses Blut herrschte. Hier ging es um mehr als nur um ein zufälliges Wiedersehen alter Bekannter. Warum folgten sie ihm also? Sie kamen natürlich schneller voran, weil der Vedalken Zutritt zu kürze-
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ren Wegen zwischen den Treppen besaß, aber Glissa wusste, dass Slobad und Bosh bald bereit sein würden. Sie mussten sich irgendwie absetzen. Glissa wartete auf eine Gelegenheit, aber auf den oberen Ebenen waren sehr viel mehr Vedalken unterwegs. Sie war schon drauf und dran, den Vedalken zu erstechen, als er vor einer Tür stehen blieb. »Ich muss einen kurzen Umweg machen, aber es wird nicht lange dauern. Wartet hier, ja?« Pontifex fuhr mit der Hand über die Tür, worauf sie sich vor ihm auflöste. Er trat durch die Öffnung, und sofort erschien hinter ihm die Tür wieder. »Was soll das?«, fragte Glissa. »Ich muss irgendwie mitspielen«, sagte Bruenna. »Wie hätte ich mich denn weigern sollen? Das hätte doch Verdacht erregt. Außerdem kann er uns auf kürzestem Weg zum Becken führen.« »Ich weiß nicht«, sagte Glissa. »Zwischen euch beiden geht etwas vor, das mir nicht gefällt. Wer ist dieser Pontifex überhaupt?« »Pontifex ist der angesehenste Forscher der Vedalken«, sagte Bruenna. »Er war der Herr meines Vaters. Und er … war auch für Vaters Tod verantwortlich.« »Warum folgen wir ihm dann?«, sagte Glissa. »Hauen wir lieber ab, solange wir noch können.« »Ich glaube …« Vor ihnen öffnete sich die Tür wieder. Die beiden Frauen blickten auf und sahen drei Wachen aus der Tür treten, die sie sofort umzingelten. Glissa schlug ihre Kutte zurück und zog das Schwert. Aber kaum hatte sie es aus der Scheide, wurde ihr die Waffe auch schon von einer unsichtbaren Kraft wieder aus der Hand gerissen. Die silberne Klinge flog an den Wachen vorbei in die wartenden Hände von
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Pontifex. »Sei bitte etwas gesitteter, meine liebe Glissa«, sagte Pontifex und senkte einen Stab, »schließlich bist du jetzt mein Gast.«
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Kapitel 24
PONTIFEX
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ontifex ließ sie den Gang hinunterführen. Glissa und Bruenna wurden hinter dem Vedalken von zwei Wachen festgehalten. Ihre Füße baumelten über dem Boden, während die Wachen durch die endlosen Gänge von Lumengrid flogen. Der dritte Wächter schwebte neben Pontifex und trug Glissas Schwert. Die Elfin warf Bruenna einen Blick zu. Der Wächter hatte seine Arme um sie geschlungen und presste ihr die Arme an die Seiten. Soweit sie gesehen hatte, glaubte Glissa nicht, dass Bruenna Zauber wirken konnte, wenn ihre Hände nicht frei waren. Glissa konzentrierte sich deshalb auf die eigenen Hände. Sie versuchte die Macht heraufzubeschwören, die sie im Knäuel eingesetzt hatte, um die Aerophins zu vernichten. Die Kontrolle über diese Macht entzog sich ihr jedoch immer noch. Sie starrte auf ihr Schwert, das sich ein bisschen außerhalb ihrer Reichweite befand. Sie konnte nicht auf Slobad oder Bosh warten. Die beiden waren überfällig. Sie musste Pontifex ablenken, um irgendwie ihr Schwert in die Finger zu bekommen. »Wohin bringt Ihr uns?«, fragte sie. »Nun, zur Synode natürlich«, antwortete Pontifex. »Denn du, meine Liebe – und ich muss dir, Bruenna, dafür danken,
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dass du sie zu mir geführt hast – wirst mir endlich einen Sitz im Rat einbringen.« Glissa sah zu Bruenna auf. Die Magierin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich wollte nicht …« »Natürlich wolltest du nicht«, sagte Pontifex, »aber ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Bruenna hat sich danach gesehnt, den Wissensvorrat zu betreten, seit ihr Vater für seine Unbedachtsamkeit gestorben ist.« »Wenn Ihr schon so lange von ihrem Verrat wusstet, warum habt Ihr sie dann nicht einfach umgebracht?« »Weil es viel leichter ist, in ihrem großen Haus ein Auge auf sie zu haben«, sagte Pontifex. »Betrachte es als Experiment – ein Experiment mit der menschlichen Natur. Meine Hypothese – und es scheint, als hätten sich die Daten als richtig erwiesen – war, dass Bruenna, wenn man ihr nur genug Zeit ließ, mir das verschaffen würde, was ihr Vater nicht vermochte.« »Einen Sitz in der Synode«, sagte Glissa. Pontifex wandte sich an Glissa und lächelte. »Du bist intelligent, zumal für eine Kriegerin. Es könnte interessant sein, wenn all das erst vorbei ist, dein Volk einmal auf seinen möglichen Nutzen hin zu untersuchen.« Glissa ignorierte die Drohung. Stattdessen bohrte sie nach weiteren Informationen. Der Vedalken schien sich ziemlich leicht aushorchen zu lassen. »Ihr habt ihren Vater entlarvt«, sagte Glissa. »Ihr habt ihn töten lassen, um die Gunst der Synode zu erringen.« »Eigentlich war es die Entscheidung der Synode, Donal töten zu lassen«, sagte Pontifex, »was eine Schande war, und ich sah es mit Bedauern, weil er ein fähiger Mitarbeiter und her-
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ausragend dazu war – für einen Menschen jedenfalls. Nun ja, mich hätte mehr interessiert, wie sich eine Kostprobe des Wissens letztlich auf seine Fähigkeiten ausgewirkt hätte.« »Ihr habt ihn dort hineingeschickt«, sagte Bruenna vorwurfsvoll. »Er respektierte Euch, sagte, Ihr wäret anders als die anderen Vedalken, aber Ihr habt ihn in das Becken geschickt, nur um einen Sitz in der Synode zu erhalten.« Pontifex starrte Bruenna einen Augenblick lang an, dann grinste er spöttisch. »Ihr Menschen erstaunt mich doch immer wieder. Eure Sicht ist derart beschränkt, dass ihr nicht imstande seid, die größeren Auswirkungen eures Tuns zu sehen. Der Tod deines Vaters war für mich nicht der Weg in die Synode – wie du ja siehst, da ich immer noch hinter einer solchen Position her bin. Nein, ich hatte viel größere Pläne mit deinem Vater, nachdem er das Becken aufgesucht hatte. Aber ich war stets geduldig – deshalb bin ich ja auch so ein angesehener Forscher – und diese Geduld hat sich ausgezahlt. Wenn ich Glissa ausliefere, ist mir mein Sitz in der Synode sicher.« »Warum bin ich denn so wichtig?«, fragte Glissa. Sie gingen eine geschwungene Treppe hinauf, und Pontifex verfiel wieder in Schweigen. Glissa fragte sich, ob der Vedalken die Antwort nicht wusste oder ob er es ihr einfach nicht sagen wollte. Dann sah sie einen anderen Vedalken, der ihnen auf der Treppe entgegenkam. Unterwegs waren sie an vielen Menschen vorbeigekommen, aber niemand hatte Glissa und Bruenna auch nur einen Blick zugeworfen, als sie einander passierten. Pontifex hatte die Menschen offenbar nicht einmal bemerkt, als sie an ihnen vorübergingen. Aber es kümmerte Pontifex offensichtlich, ob ein anderer Vedalken wusste, was er tat. Glissa hoffte irgendwie, dass sich
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ein Streit darüber entspann, wer sie der Synode ausliefern durfte. Vielleicht würde sich dadurch eine Gelegenheit ergeben, an ihr Schwert zu gelangen. Der andere Vedalken schenkte jedoch weder Pontifex noch den Wachen einen zweiten Blick. Offenbar war es an der Tagesordnung, dass Menschen diszipliniert wurden. »Willst du mir etwa erzählen, dass du noch nicht herausgefunden hast, warum du so wichtig bist, meine Liebe?«, sagte Pontifex auf einmal. »Vielleicht habe ich mich hinsichtlich deiner Spezies ja doch geirrt.« »Ich weiß, dass es etwas mit dem Serum zu tun hat«, sagte Glissa. »Habt ihr etwa Angst, dass ich euren Massenmord an den Blinkmotten offenbaren könnte?« Das Lachen des Vedalken tat Glissa in den Backenzähnen weh. Es klang, als würde jemand mit dem Horn eines Vorracs über einen Knäuelbaum schrappen. »Wem könntest du davon erzählen, der dir glauben würde und genug Macht hätte, uns aufzuhalten?« »Memnarch?«, sagte Glissa. Pontifex blieb am oberen Ende der Treppe stehen. Er wandte sich um und baute sich bedrohlich über Glissa auf. »Was weißt du über Memnarch?«, fragte er. »Ich weiß, dass ihr ihn fürchtet«, sagte Glissa, ohne sich vom Vedalken einschüchtern zu lassen. »Ihn fürchten?«, schnaubte Pontifex. »Memnarch ist unser Gott. Wir verehren seinen Namen und folgen seinen Befehlen. Würde Memnarch deinen Tod befehlen, wäre es mir eine Freude, die Tat höchstpersönlich auszuführen.« Demnach hatte Memnarch ihren Tod also nicht befohlen? Glissa verstand das Ganze nicht. Sie erinnerte sich an etwas,
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was Strang unmittelbar vor seinem Tod erwähnt hatte. Er hatte gesagt, dass Glissa ein Problem für die Vedalken sei, weil sie irgendwie zu früh gekommen sei. Vielleicht konnte sie das Wissen in ihrem Sinne nutzen. »Memnarch hat meinen Tod nicht befohlen, oder? Aber irgendjemand hat es getan. Es war die Synode, nicht wahr? Warum haben die Vedalken wider ihren Gott gehandelt, Pontifex?« Pontifex ging eine Stufe tiefer auf Glissa zu und wies mit seinem Stab in ihr Gesicht. »Allein für diese Behauptung werde ich dich eigenhändig töten.« Aber bevor der Vedalken seinen Zauber entfesseln konnte, hörte Glissa von tief unten ein Rumpeln. Die Zeit war gekommen. Bosh und Slobad hatten mit ihrem Ablenkungsmanöver begonnen. Das Rumpeln wurde lauter, und Pontifex strauchelte, weil der Boden unter ihm heftig zu beben anfing. Explosionen erschütterten das Fundament von Lumengrid. Der Turm schwankte hin und her. Die Wachen rempelten gegeneinander, während ihre Korrekturtriebwerke versuchten, die Bewegung des Bodens und der Wände auszugleichen. Eine weitere, diesmal sogar heftigere Explosion erschütterte den Turm. Pontifex verlor auf der wackligen Treppe den Halt und fiel kopfüber die Stufen hinunter. Der stürzende Vedalken prallte gegen Glissa und den Wächter. Pontifex griff nach der Wache, aber Glissa trat ihn weg. Er ließ seinen Stab fallen und stolperte die Treppe hinab. Durch die Wucht ihres Tritts stieß der Wächter gegen die Wand. Glissa rutschte ihm aus dem Griff und fiel auf die Stufen. Die Elfin trat sofort nach dem Wächter, der Bruenna festhielt, und stieß ihn gegen die andere Wand. Er ließ die Magierin los.
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»Bruenna«, rief Glissa. »Mein Schwert. Schnell.« Bruenna wedelte mit den Händen in Richtung des dritten Wächters und murmelte hastig einen Zauberspruch. Der Wächter flog in die Luft empor und zertrümmerte sich den Kristallschädel an der Decke. Glissa schloss die Augen und bedeckte ihr Gesicht, weil die Wache explodierte. Als sie die Augen wieder öffnete, befand sich das Schwert vor ihr. Sie packte die Waffe, schwang sie nach dem Wächter hinter ihr und durchtrennte den silbrigen Arm des Wächters, gerade als er sie wieder ergreifen wollte. Ein zweiter Hieb schnitt ihm den Kopf ab. Der Körper des Wächters fiel zu Boden, und sein Kopf rollte die Treppe hinunter an Pontifex vorbei. Der Forscher griff nach seinem Stab. Aus den Augenwinkeln sah Glissa, wie der letzte Wächter seinen Waffenarm hob und auf sie richtete. Sie warf sich, kurz bevor der Wächter schoss, an dem Vedalken vorbei. Sie rollte herum, kam zum Halten und schaute zurück. Der Vedalken war an der Treppenwand festgenagelt worden. Ein Harpunenschaft ragte aus seiner Kutte. Bevor der Wächter einen weiteren Schuss abgeben konnte, bewegte Bruenna die Hände und schleuderte ihn mittels eines Windstoßes die Treppe hinunter. Die darauf folgende Explosion verriet den Frauen, dass sie nun mit Pontifex allein waren. Der Vedalken hatte alle vier Arme an der Harpune und bemühte sich, sie herauszuziehen. Seine Arme waren dünn und zerbrechlich. Glissa fragte sich, ob die Körper der Vedalken unter den Kutten genauso lächerlich aussahen. Sie hob seinen Stab auf und sah ihm zu, wie er sich anstrengte. »Ich nehme an, diese dürren Arme können nicht viel mehr, als diesen Stab zu halten«, sagte sie zu dem festgenagelten
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Forscher. »All Eure Macht steckt da drin, stimmt’s?« Glissa zerbrach den Stab über dem Knie und warf die Trümmer die Stufen hinunter. »Eure einzige Chance, hier lebend rauszukommen«, fuhr Glissa fort, »besteht darin, genau das zu tun, was wir sagen.« »Töte ihn«, sagte Bruenna und trat hinter Glissa. »Wenn du es nicht tust, dann geh mir aus dem Weg.« Bruenna gestikulierte mit den Händen und jagte einen Windstoß in Richtung des Vedalken. Er wurde gegen die Wand und tiefer auf den Harpunendorn geschmettert. Pontifex schrie vor Schmerz. Zum Glück war sein Schrei nur einer von vielen, die durch die Gänge hallten. Menschen rannten treppauf und treppab, während weitere Explosionen durch die Anlage hallten und alles erzittern ließen. Niemand schien zu wissen, was geschah oder was er tun sollte. Das Geschehen auf diesem kleinen Treppenabsatz war nur ein nebensächliches Drama inmitten des Chaos von Lumengrid. Glissa wandte sich an Bruenna. »Wir brauchen ihn lebend«, sagte sie. »Er hat meinen Vater umgebracht. Er verdient den Tod.« »Dann ist dein Vater umsonst gestorben«, sagte Glissa. »Pontifex kann uns in den Beckenraum bringen. Er kann uns wahrscheinlich auch das Serum besorgen, das wir brauchen. Wir können miteinander ins Becken gehen. Wir benutzen den Mann, der deinen Vater betrogen hat, um den Traum deines Vaters zu verwirklichen.« »Warum sollte ich euch helfen?«, stöhnte Pontifex. »Weil ich Euch am Leben lassen werde, wenn Ihr uns helft.« »Und warum sollte ich dir trauen, dir, die du unseren Gott lästerst und hierher gekommen bist, um uns zu vernichten?«,
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fragte Pontifex. »Gute Frage«, sagte Glissa. Sie ergriff die Harpune und drehte sie zur Seite. Pontifex schrie wieder laut auf. »Aber Eure einzige Alternative besteht darin, jetzt und hier zu sterben.« »Gut«, sagte Pontifex. »Ich bringe euch zum Beckenraum und beschaffe euch das Serum, aber ihr werdet hier niemals lebend herauskommen.« »Das werden wir schon sehen«, sagte Glissa. »Aber jetzt solltet Ihr lieber einmal die Klappe halten. Ihr redet zu viel.« Sie drehte sich zu Bruenna um. »Halt seine Arme fest.« Bruenna wirkte einen Zauber, und ein Wirbelwind umhüllte den Vedalken und presste ihm alle vier Arme an den Körper. Glissa hatte unmittelbar vor dem Wirbelwind nach der Harpune gegriffen. Mit einer raschen Bewegung brach sie den Schaft ab. Dann nahm sie ihr Schwert und schlug hinter Pontifex die Spitze des Pfeils ab. Pontifex sackte vornüber. Möglicherweise war er durch den Blutverlust geschwächt. Der Wirbelwind verhinderte, dass er stürzte. Glissa brachte ihre Hände auf Höhe der Wunde und beschwor ihr eigenes Mana. In ihren Handflächen leuchtete es grün auf, worauf sie den abgebrochenen Schaft ergriff. Sie ließ ausreichend Heilkraft an dem Pfeil hinabfließen, um die Wunde darum zu schließen. »Ich werde den Pfeil ganz entfernen, sobald Ihr uns das Serum gegeben habt«, sagte sie. »Bis dahin wird er Euch daran erinnern, wer hier das Sagen hat.« Glissa drehte den Schaft noch einmal, bevor sie ihn losließ, dann zog sie Pontifex’ Kutte über das abgebrochene Ende der Harpune, um sie zu verbergen. »Geht voraus.« Sie folgten Pontifex durch das Chaos und die Panik, die im
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Turm herrschten. Glissa hielt das Schwert unter ihrer Kutte zum Schlag bereit und trug Bruenna auf, eine Manareserve bereitzuhalten für den Fall, dass sie Pontifex wieder fesseln musste. Die meisten Menschen, die sie sahen, eilten an dem Trio vorbei und schlugen einen weiten Bogen um den Vedalken. Zum Glück traf die Gruppe auf keinen weiteren Vedalken. Nach einer Weile hörten die Explosionen auf, aber das Chaos dauerte an. Der Turm schwankte immer noch, und die Menschen schienen entschlossen zu sein, ihn so schnell wie möglich zu verlassen. Der bebende Turm erschwerte Pontifex das Gehen. Für ihn schien es ungleich schwerer zu sein als für Glissa und die Menschen. Immer wieder stürzte er gegen die Wand. Sie hoffte, dass dies auch der Grund war, weshalb sich die anderen Vedalken in ihren Quartieren verschanzt hatten. Sie erreichten eine weitere Treppe, aber sie war mit Menschen verstopft, die zu den unteren Ebenen des schwankenden Turmes hinabdrängten. Als die Menschen jedoch Pontifex sahen, verstummten sie und teilten sich vor ihm genau wie auf dem Markt. Hinter dem Vedalken schloss sich das Menschenmeer jedoch sehr viel schneller, weil Panik die Menschen verwegen machte, selbst in der Nähe eines ihrer Herren. Bruenna und Glissa mussten sich ihren Weg freikämpfen, um mit Pontifex Schritt zu halten. Als sie einen weiteren gewundenen Gang entlangliefen, kam ihnen auf einmal ein Vedalken entgegen. Auch ihm bereitete das Gehen Schwierigkeiten. »Wer ist das?«, zischte Glissa. »Iapetus«, sagte Pontifex. »Mitglied der Synode?«, fragte Glissa. »Nein«, antwortete Pontifex. »Er ist irgendein unbedeuten-
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der Forscher.« »Wimmelt ihn ab«, sagte Glissa. Pontifex blieb vor Iapetus stehen. Glissa bedeutete Bruenna, hinter Pontifex zu bleiben, während sie neben ihn trat, um Zeuge des Wortwechsels zu sein. »Was geschieht hier, Lord Pontifex?«, fragte Iapetus. »Ich weiß es nicht«, antwortete Pontifex, »aber ich habe Gerüchte über eine Invasion gehört, und ich glaube, du solltest dich lieber zu den unteren Ebenen begeben und für die Sicherheit der Menschen sorgen.« Glissa warf Pontifex einen Blick zu und versetzte ihm unter ihrer Kutte einen Stoß mit dem Schwertknauf. In knapperen Worten fuhr Pontifex fort: »Ich werde die oberen Ebenen sichern.« Iapetus wandte sich ab, um an ihnen vorüberzugehen, aber Pontifex hielt den jüngeren Forscher mit einer Hand an der Schulter fest. »Wenn du Janus siehst …«, begann er, doch Bruenna stieß gegen ihn und bewegte die Harpune, die in seinem Leib steckte. Pontifex stöhnte. »Sag ihm, dass ich die Lage hier unter Kontrolle habe. Und jetzt geh. Beeil dich.« Iapetus trottete den Gang hinunter und verschwand hinter einer Biegung aus ihrem Blickfeld. Glissa versetzte Pontifex einen weiteren Stoß mit dem Schwertknauf. »Hütet Eure Zunge«, sagte sie. »Wer ist Janus?« »Lord Janus ist der Führer der Synode, der …« Glissa schob Pontifex voran. »Das ist alles, was ich wissen muss«, sagte sie und folgte dem Vedalken, während sie den Gang hinunterliefen. »Klingt wie jemand, den ich gern kennen lernen würde.« »Ich glaube, das hast du bereits«, sagte Pontifex, »aber wenn ihr zwei euch das nächste Mal begegnet, dann wirst du wo-
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möglich nicht so viel Glück haben.« »Geht weiter«, sagte Glissa. »Wie weit ist es noch bis zum Beckenraum?« »Wir sind gleich da«, sagte Pontifex. Als sie der Biegung weiter folgten, kam eine Tür in Sicht. Zu beiden Seiten der Tür stand eine Wache. Pontifex begann zu rennen und schrie: »Wachen. Greift euch diese Menschen!« »Zum Aufflackern«, fluchte Glissa. Sie streifte die unbequeme Kutte ab und hob ihr Schwert. Sie rannte Pontifex nach, wobei sie seine wehende Kutte als Deckung vor den Wachen benutzte. Zwei Harpunen flogen beiderseits des rennenden Vedalken vorbei. Hinter sich hörte Glissa das Rauschen von Wind. Die Elfin stieß ihr Schwert zwischen die Beine des Vedalken, um ihn zu Fall zu bringen, und warf sich dann sofort zur Seite, als er stürzte. Eine weitere Harpune raste direkt auf Glissa zu, aber sie konnte sich von der Wand abstoßen und so dem Geschoss ausweichen. Der große Pfeil prallte gegen die Wand und riss ein Stück des silbrigen Materials heraus, bevor er zu Boden klapperte. Glissa trat auf Pontifex und sprang den nächsten Wächter an. Sie flog mit vorgestrecktem Schwert durch die Luft und trieb der metallenen Kreatur die Klinge in die Brust. Glissa fiel zu Boden und stemmte den Wächter an ihrem Schwert in die Höhe. Er war erstaunlich leicht. Der Wächter versuchte sich mittels seines Schwebtriebwerks zur Seite zu drehen. Glissa wurde herumgezogen und drohte ihre Balance zu verlieren. Sie glich die Bewegung aus und nutzte den zusätzlichen Schwung, um den aufgespießten Wächter gegen seinen Kameraden zu schleudern. Er krachte gerade in dem Moment gegen die zweite Wache, als diese einen Blitz entfes-
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selte. Die Wachen stürzten ineinander verschlungen zu Boden. Der Blitz schoss schräg nach oben und versengte die Wand über Glissas Kopf. »Das war zu knapp«, fauchte die Elfin. Sie riss das Schwert hoch und sprang über den am Boden liegenden Wächtern in die Luft. Beim Herunterkommen ließ Glissa ihr Schwert durch die beiden Wachen fahren. Sie drehte sich um und sah, dass Bruenna ihre Geisel mit einer Wand aus Wind am Boden festhielt. »Du scheinst alles unter Kontrolle zu haben«, sagte Bruenna. Glissa lächelte. »Sieht aus, als hättest du damit Recht«, sagte sie. »Lass ihn aufstehen. Es ist Zeit, dass er die Tür hier öffnet.« Glissa packte Pontifex an der Schulter und zerrte ihn auf die Beine. Eine Hand beließ sie auf dem Harpunenschaft, der weiterhin unter seiner Kutte versteckt war, nur für den Fall, dass er noch einmal etwas Verwegenes tat. Sie schob den Vedalken auf die Tür zu. »Macht sie auf«, sagte sie. »Tut mir Leid, das könnte etwas problematisch sein …«, begann Pontifex. Glissa drehte den Pfeil, und der Vedalken stöhnte vor Schmerz auf. »Warum?«, fragte sie. »Weil die Wachen meine Identität nicht bestätigen können«, antwortete er. »Diese Tür öffnet sich nur für Mitglieder der Synode.« »Versucht es trotzdem«, sagte Glissa. Pontifex fuhr mit der Hand über die Tür und murmelte ein paar Worte. Glissa sah, wie Mana von seiner Hand zur Tür flitzte, worauf ein weiterer Manablitz zurückkam und sich über seine Finger ausbreitete. Aber nichts geschah. Die Tür
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blieb zu. Er kann also auch ohne seinen Stab Magie wirken, stellte Glissa fest. Ich möchte zu gern wissen, wie hilflos er im Moment tatsächlich ist … »Nur ein Mitglied der Synode kann diese Tür jetzt für euch öffnen.« Er grinste sie an. »Zu dumm, dass mir dein Vater keine größere Hilfe war, meine liebe Bruenna, sonst besäße ich die Macht, die ihr im Moment so dringend benötigt.« »Mal sehen, ob Ihr noch so grinst, wenn ich Euren Schädel geknackt habe«, sagte Bruenna. Sie trat auf Pontifex zu und bewegte ihre Hände. Mana entstand auf ihren Handflächen. »Warte«, sagte Glissa. »Warum?«, fragte Bruenna. »Er ist uns nicht mehr groß von Nutzen.« »Vielleicht doch«, sagte Glissa. »Ich habe da eine Idee.« Glissa hob die Hand und zerrte an dem Lederstreifen, den sie um den Hals trug. Das Leder riss, und Glissa zog die Reste des Streifens unter ihrem Hemd hervor. Zwei verschrumpelte Finger, ein Daumen und ein Zeigefinger, baumelten am Ende des Lederbands. Wenn Pontifex bezüglich ihrer schon einmal erfolgten Begegnung mit Janus die Wahrheit sprach, gehörten diese dem An-führer der Synode. Glissa warf Pontifex den Lederstreifen zu. »Nehmt die und probiert es noch mal«, sagte sie. Schaudernd betrachtete Pontifex die abgetrennten Finger. »Woher hast du …?« Glissa ruckte abermals am Harpunenschaft. »Das braucht Euch nicht zu kümmern. Tut einfach, was ich Euch gesagt habe.« Pontifex legte seinen Daumen um die Enden der abgeschnittenen Finger und hielt seine Handfläche wieder der Tür entgegen. Die Hand zitterte, als er den Türöffnungszauber
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wirkte, aber als sich die Energie diesmal über seine Finger ausbreitete, schien sie auch eine Sekunde lang auf dem zusätzlichen Zeigefinger und Daumen zu verweilen. Die Tür vor ihnen verschwand. »Rein da«, sagte Glissa. Sie schob Pontifex durch die Tür und folgte ihm in den Raum. Die Beckenkammer war kreisrund und größer als der große innere Hof von Taj Nar. Die Decke war gewölbt und vermittelte Glissa irgendwie das Gefühl, in einer umgestürzten Schüssel zu stehen. Der gesamte Raum bestand aus demselben schimmernden Silber wie der Rest des Komplexes. Das Licht von den Wänden jedoch schien zu flackern. Erst dachte Glissa, es könnte ein Problem geben, weil Slobads Explosionen irgendwelche Auswirkungen auf die Kammer zeigten, aber dann erkannte sie, dass es sich nur um die Reflexionen des Beckens handelte. Der Wissensvorrat beherrschte die Mitte des großen Raumes. Aber es war schwer zu erkennen, wo der Boden endete und das Becken begann. Es ähnelte sehr der Quecksilbersee – silbrig wie der umgebende Boden, aber lebendig. Wellen bewegten sich hie und da über die Oberfläche, verliefen in mehrere Richtungen gleichzeitig und berührten einander oft. Zu beobachten, wie die Wellen gegen die Seite schlugen und zur Mitte hin zurückschwappten, war die einzige Möglichkeit, den Rand des Beckens auszumachen. Das Licht der Wände brach sich auf den Wellen und wurde durch den ganzen Raum reflektiert. Glissa ging zum Rand vor und schaute in das Becken hinab. Anders als bei der Quecksilbersee konnte man in den Wissensvorrat hineinsehen. Ihr Blick wurde allerdings von umhertreibenden Bildern abgelenkt. Sie sahen beinahe aus wie Re-
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flexionen, nur dass die Bilder sich bewegten und veränderten, wenn die Wellen darüber hinwegspülten. Glissa sah sich selbst durch den Raum gehen, obwohl sie sich nicht vom Becken entfernte. Es war irgendwie hypnotisierend und ein bisschen unheimlich auch. Sie trat vom Rand zurück und schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Auf der anderen Seite des Beckens entdeckte Glissa eine weitere Tür. »Wo führt die hin?«, fragte sie. »Dort bewahren wir das Serum auf«, antwortete der Vedalken, »das, wie du weißt, nötig ist, um das Becken zu aktivieren. Ohne das Serum kannst du das Becken nicht kontrollieren, kannst du dich nicht auf die Visionen einstellen, die du zu sehen wünschst. Du bist dem Becken ausgeliefert und …« »Seid endlich still«, sagte Glissa. »Bruenna, geh mit Pontifex und hol zwei Phiolen mit Serum. Aber sei vorsichtig.« Pontifex ging um das Becken herum auf die andere Seite des Raumes. Bruenna folgte ihm dichtauf. Glissa sah ihnen nach, behielt aber auch die Tür zum Gang im Auge. Pontifex schwenkte die Hand über der Tür, worauf sie verschwand. Glissa warf einen Blick hindurch und sah, dass der Raum dahinter größer war als ein simples Lager. »Pass auf!«, rief sie. Aber es war zu spät. Pontifex warf sich zur Seite. Eine Harpune jagte an ihm vorbei. Bruenna versuchte noch, aus der Bahn zu springen, aber das Geschoss schlug ihr in den Schenkel. Die Wucht wirbelte die Magierin herum. Sie stürzte neben der Tür hart zu Boden. Die Spitze des Pfeils und ein Teil ihres Knochens staken hinten aus dem Bein hervor. Ein Wachtrupp glitt in den Raum, gefolgt von einem weite-
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ren Vedalken. »Hallo, Glissa«, sagte der Vedalken. »Ich freue mich, dich wiederzusehen.«
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Kapitel 25
JANUS
»
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anus«, sagte Glissa. Sie richtete das Schwert auf den Vedalken, der auf der anderen Seite des Beckens stand. »Euch habe ich gesucht.« Die Wachen teilten sich in zwei Vierergruppen auf und strömten beiderseits um das Becken herum. »Spar dir ruhig deine gespielte Tapferkeit«, sagte der Vedalkenanführer. »Damit schreckst du weder mich noch meine Wachen.« Glissa wartete. Janus schien sich damit zu begnügen, dass sich seine Wachen um sie kümmerten. Sein Fehler. Sie wartete, bis die beiden Gruppen das Becken zur Hälfte umrundet hatten, dann trat sie in Aktion und rannte auf eine der Gruppen zu. Die Wachen hoben ihre Waffenarme und schossen. Glissa duckte sich unter den Harpunen weg. Sie vollführte eine Rolle, kam wieder hoch, rannte weiter und warf sich gegen die Wächter, bevor diese noch einmal schießen konnten. Mitsamt einem der Wächter stolperte Glissa zu Boden. Das Schwert entglitt ihr und rutschte über den Boden außerhalb ihrer Reichweite. Der Wächter schlang seine Arme um sie und hielt sie fest. Sie stemmte sich gegen den Boden und versuchte sich zu befreien, aber der Griff der Wache war zu stark. Viel-
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leicht hatte ja sie einen Fehler begangen? Unter ihren Nackenhaaren begann es zu kribbeln. Die anderen Wächter hatten sich erholt. Kräftig drückte sie mit einer Hand zu, rollte sich herum und zerrte die Konstruktion über sich. Ein Blitz schlug in den Wächter ein und schleuderte ihn von Glissa herunter. Aber jetzt war sie ohne Deckung, und zudem hatte sich das Kribbeln noch nicht wieder gelegt. Glissa rollte über den Boden, während hinter ihr zwei weitere Blitze einschlugen. Sie packte ihr Schwert, während sie sich darüber rollte, und schlug damit nach dem nächsten Wächter. Die Klinge fraß sich in den Fuß der Konstruktion und blieb darin stecken. Glissa wälzte sich noch einmal herum und riss den aufgespießten Wächter zu Boden. Als der Wächter aufschlug, brach dessen Waffenarm ab. Glissa sprang auf, zog ihr Schwert heraus und trat den erledigten Wächter über den Boden auf seine beiden Gefährten zu. Während die beiden Wachen der heranrutschenden Konstruktion auswichen, sah Glissa zu der zweiten Gruppe hinüber. Die Wächter hatten die andere Tür erreicht. Bald würden sie in einer guten Schussposition für ihre Harpunen sein. Glissa lief die Zeit davon. Aber sie hatte eine Idee. Sie nahm eine der Harpunen des abgebrochenen Armes auf und schleuderte sie dem nächsten Wächter an den Kopf. Das Geschoss durchschlug den Kugelschädel der Kreatur. Blitze knisterten über den Schaft. Als der Kopf der Wache explodierte, warf Glissa sich zur Seite. Glasscherben und Metallfetzen zerrissen den daneben stehenden Wächter. Die Überreste der beiden Wachen fielen zu Boden und kullerten in das Bekken des Wissensvorrats. Glissa rappelte sich wieder auf und bewegte sich um das
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Becken herum, weg von der zweiten Wächtergruppe. Janus setzte sich in Bewegung. »Habt Ihr denn keine Angst, dass Memnarch von Eurem Privatfeldzug, mich zu töten, erfahren könnte?«, fragte sie, während sie sich ihm näherte. Der Vedalken schien weder von ihren Worten noch davon, wie schnell sie die Hälfte seiner Wachen erledigt hatte, eingeschüchtert zu sein. »Ich weiß nicht, was du zu wissen glaubst«, sagte er, »aber wenn du die Wahrheit über diese Welt wüsstest, würdest du dich in der Astgabel eines deiner Knäuelbäume zusammenkauern und in den Schlaf weinen wollen. Warum überlässt du die Herrschaft über Mirrodin nicht deinen Herren?« Glissa schlich weiter um das Becken herum und hielt sich dabei immer außerhalb der Reichweite der ihr folgenden Wachen. Pontifex wich ebenfalls zurück, der Vedalkenanführer jedoch blieb stehen. »Dann seid Ihr jetzt also mein Herr?«, sagte sie. »Wohl kaum.« »Ha, ich weiß sehr wohl, wie du zu kontrollieren bist, was ich in deinem kleinen, finsteren Wald ja wohl auch bewiesen habe«, sagte Janus. Pontifex trat an Bruenna vorbei. Die Magierin drückte sich gegen die Wand. Sie band sich gerade einen Streifen ihrer Kutte um den Schenkel, um die Blutung zu stoppen. »Pontifex«, sagte Janus, »ergreife diese menschliche Verräterin und bring sie zu mir, wenn du so freundlich sein möchtest.« »Lasst sie da raus«, sagte Glissa. Sie begann zu rennen. »Halt«, sagte Janus, »oder ich töte sie, und du weißt, dass ich das kann – auch das habe ich im Knäuel bewiesen.« Glissa blieb stehen. »Werdet ihr es eigentlich nie müde,
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euch selber reden zu hören?«, sagte sie spöttisch. Die Wachen kamen weiter auf sie zu. Janus lächelte. »Du hast sie da hineingezogen – sie an deine Bestimmung gekettet«, sagte er, »also bezichtige nicht mich, wenn du ihren Tod verschuldest.« Pontifex ging auf Bruenna zu. Als er sich bückte, um sie zu packen, warf sie die Arme hoch und entfesselte einen gewaltigen Windstoß. Von Bruennas Wirbelwind getragen, flog der Vedalkenforscher in die Luft empor. Über dem Becken krachte er gegen die Decke. Augenblicklich löste Bruenna den Zauber auf und ließ ihn fallen. Eine riesige Welle silbriger Flüssigkeit spülte durch den Raum, durchnässte Glissas Beine und drängte die Wachen gegen die Wand. Glissa sah zu, wie Pontifex versank. Vom Gewicht seiner Kutte in die Tiefe gezogen, entschwand er ihrer Sicht. »Noch bin ich nicht tot!«, fauchte Bruenna. Die zurückflutende silberne Flüssigkeit zerrte sie jedoch auf einmal über den glitschigen Boden auf den Rand des Beckens zu. Glissa setzte sich in Bewegung. Plötzlich kribbelte es wieder in ihrem Nacken. Sie sah zu den näher kommenden Wachen hin. Ihre Köpfe leuchteten vor knisternder Energie. Sie kreiselte herum und schleuderte ihr Schwert in Richtung der Gruppe. Die vier Wachen wichen ein paar Schritte zurück und schossen ihre Blitze auf das Schwert ab. Es klapperte zu Boden, und die Energie verschwand aus der Klinge. Glissa schaute wieder zu Bruenna hinüber. Janus war vorgestürmte und packte die Menschenfrau nun im Nacken. Er hob die Magierin vom Boden hoch und schleuderte sie gegen die Wand. Bewusstlos sackte Bruenna zu Boden. Die Wachen näherten sich wieder mit erhobenem Waffen-
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arm. Glissa musste sie schnellstens loswerden, damit sie sich ohne weitere Störungen Janus stellen konnte. Sie rannte auf die Wächter zu und duckte sich dabei nach allen Seiten, um den Harpunen auszuweichen. Als Glissa den ersten Wächter erreichte, stieß sie einen Arm hoch, um seinen Angriff abzublocken. Metall schlug auf Metall. Ein großer Schmerz schoss in ihrem Arm hoch. Glissa schlang die Arme um die Mitte der Konstruktion und drehte sie herum, damit deren Waffen weg von ihr wiesen. Sie wirbelte herum und wandte sich den anderen Wachen zu. Da sie nun keine freie Schusslinie auf die Elfin mehr hatten, zögerten die Wächter. Glissa machte den ersten Zug und stürmte vorwärts. Sie rammte den Wächter, den sie als Schild benutzte, gegen den nächsten und schob sie beide über den Rand des Beckens. Über der glitzernden Flüssigkeit starteten sie ihre Triebwerke, aber die richteten nun nicht mehr aus, als große Wellen zu erzeugen, die über den Rand spritzten. Die beiden Wachen fielen in den Wissensvorrat und schossen mit ihren Harpunen wild um sich, bevor sie versanken und nicht mehr zu sehen waren. Glissa stand zwischen den letzten beiden Wächtern. Sie hoben ihre Arme, um zu schießen. Glissa trat nach dem Wächter hinter ihr, während sie sich unter dem Harpunenarm desjenigen hinwegduckte, der vor ihr stand. Sein Schuss ging über Glissa hinweg, traf den wankenden Wächter hinter ihr und trieb auch ihn über den Rand des Beckens, wo er wie seine Gefährten versank. Beim Aufrichten griff Glissa ihr Schwert, drehte sich um die eigene Achse und schwang die Waffe dabei in einem flammenden Bogen. Noch immer knisterte Elektrizität an der Klinge auf und ab, als sie unmittelbar unterhalb des
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Kopfes durch den letzten Wächter fuhr. Glissa drehte sich um und starrte Janus an. Der Vedalken stand über die bewusstlose Bruenna gebeugt da und hielt mit einer Hand ihren Kopf an den Haaren hoch, während er mit einer anderen den Stab auf ihr Gesicht richtete. Mit seinem zweiten Händepaar klatschte er ganz langsam Beifall. »Beeindruckend«, sagte er. »Aber letzten Endes doch sinnlos. Ich glaube nicht, dass du noch jemandes Tod verschulden willst. Ergib dich mir, und ich werde sie verschonen.«
$ Janus bewegte seine Hand, worauf der Stab aufblitzte. Die Türen zu beiden Seiten des Beckens öffneten sich. Je sechs weitere Wachen flogen durch die Türen herein und umzingelten Glissa. Sie saß in der Falle. Zudem schmerzte ihr der Arm vom Schlag des einen Wächters. Mit einem weiteren Dutzend Wachen würde sie nicht fertig werden. Einen Moment lang dachte Glissa daran, einfach in das Becken zu springen, aber wenn sie sich absetzte, würde Bruenna ganz gewiss sterben. »Woher weiß ich, dass ich Euch trauen kann?«, fragte sie. »Dafür gibt es keine Garantie«, sagte Janus, »aber du hast keine andere Wahl, oder?« »Und Ihr werdet alle meine Freunde freilassen?«, fragte sie. »Ja.« »Und andere Völker in Ruhe lassen?« »Du hast mein Wort.« Die Wachen reihten sich zu beiden Seiten Glissas auf. Sie konnte spüren, wie deren Energie über ihre Nackenhaare pul-
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sierte. Sie hatte wirklich keine andere Wahl. »Dann ergebe ich mich«, sagte sie. »Ergreift sie«, sagte Janus. Zwei Wächter traten vor und packten Glissa an den Armen. Schmerz schoss in ihrem verletzten Arm empor, als der Wächter ihn verdrehte. Die anderen zehn Wachen zogen einen Kreis um sie. »Und jetzt haltet sie so, damit sie zuschauen kann, wie ich einen weiteren ihrer Freunde zerschmelze!« »Nein!«, schrie Glissa. Janus begann mit seinem Zauber. Um die Spitze seines Stabes herum entstand Mana. Glissas Wut und Angst lösten etwas in ihr aus, was auch schon nach Kanes Tod geschehen war. Binnen eines Augenblicks umhüllten grüne Energieranken ihren Körper und liefen an ihren Armen und Beinen auf und ab. Ohne nachzudenken, entfesselte Glissa die Kraft. Die Ranken sammelten sich um ihre Hände und sprangen als Blitze auf die Wachen, die sie festhielten, über. Beide Wächter erstarrten und begannen dann zu zittern, als die Energie sich um und durch ihre Körper wand. Einen Moment später schossen Ranken aus den beiden Wächtern hervor und sprangen auf die zehn anderen Wachen über. Ein Spinnennetz aus smaragdgrüner Energie pulsierte rings um Glissa, während die Wachen durchgeschüttelt wurden und unter dem magischen Ansturm entzweigingen. Auf einmal hörte alles so schnell auf, wie es begonnen hatte. Alle zwölf Wächter lösten sich um Glissa herum in Häufchen puderigen Silbers auf. Das alles war noch geschehen, bevor Janus seine Beschwörung des Mana beenden konnte. Ausgelaugt sank Glissa zu Boden. Ihre Arme und Beine fühlten sich wie tot an. Ihr Herz raste, und sie bekam kaum Luft. Sie
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kauerte auf Händen und Knien da und starrte Janus über das Becken hinweg an. Der Vedalken schwieg. Er ließ nur Bruennas Körper los und kam um das Becken herum auf Glissa zu. Das Ende seines Stabes pulsierte vor Energie. »Warum?«, fragte Glissa, während sie immer noch nach Atem rang. »Warum wollt Ihr mich umbringen?« »Weil du unsere Art zu leben gefährdest, unsere Herrschaft über diese Welt«, sagte Janus. »Weil Memnarch dich benutzen wird, um Mirrodin zu vernichten, und es ist unsere Pflicht als herrschendes Volk, die anderen Völker zu beschützen – vor dir!« »Lügner!«, schrie jemand. Pontifex stieg hinter Janus aus dem Becken empor. Er schwebte über der Flüssigkeit. Seine nasse Kutte klebte ihm am Leib und glänzte im flackernden Licht des Raumes. »Lügner!«, schrie er noch einmal. Mit einer Handbewegung flog Pontifex auf seinen Anführer zu. Flüssigkeit sprühte hinter ihm wie Gischt von der Kleidung, als er gegen Janus prallte und ihn gegen die Wand des Raumes drängte. Pontifex packte Janus’ Stab und warf ihn hinter sich zu Boden. Der Anführer der Synode griff nach der nassen Kutte des Forschers und versuchte ihn von sich zu schieben. Aber Pontifex packte den behelmten Kopf des Anführers mit beiden Händen und stieß ihn gegen die Wand. Glissa hörte ein lautes Knacken. Flüssigkeit quoll aus Janus’ Kugelhelm. Der Anführer ließ Pontifex los, griff mit allen vier Händen nach seiner Kopfbedeckung und versuchte panisch, das Leck zu finden. Pontifex, der Janus immer noch festhielt, wandte sich zu Glissa um, die nach wie vor am Boden kniete
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und das seltsame Spektakel mit ansah. »Er hat die Synode dazu überredet, die Meister aller Völker zu vernichten«, erklärte Pontifex, »und machte den Mitgliedern weis, es geschehe zur Sicherheit unserer Macht. Dass wir unsere Macht verlören, wenn Memnarch obsiegte.« »Das stimmt auch!«, schrie Janus. »Memnarch wird die Welt vernichten. Wir werden alle untergehen.« »Alle außer dir – nicht wahr, Janus?« Pontifex wandte sich anklagend zu seinem Anführer um. »Ich habe alle deine Lügen gesehen, die tief im Wissensvorrat verborgen sind. Du wolltest die Stelle unseres Gottes einnehmen und uns und alle, die auf Mirrodin leben, dem Untergang anheim geben – alles zu deinem eigenen Ruhm.« Janus’ Gewand färbte sich von der Flüssigkeit, die aus seiner Kopfbedeckung floss, dunkel. Der Flüssigkeitspegel innerhalb des Kugelhelms war schon unter die Schädeldecke des Anführers gesunken. Janus begann unkontrolliert zu zittern. Glissa warf Bruenna einen Blick zu. Sie lag immer noch bewusstlos dort, wo Janus sie hatte fallen lassen. Sie befand sich gefährlich nahe am Rand des Beckens. »Du hattest Recht, Glissa«, fuhr Pontifex fort. »Memnarch will deinen Tod nicht, braucht er dich doch für die letzte Phase seines großen Experiments lebend. Janus befahl, dich zu töten, weil du viel zu schnell aufgetaucht bist und seine Pläne in Gefahr gebracht hast. Diese Schlange hatte nämlich vor, Memnarchs Platz im Großen Plan einzunehmen. Aber er war noch nicht bereit, gegen unseren Gott vorzugehen, und deshalb musstest du ausgelöscht werden.« Die Flüssigkeit war inzwischen unter Janus’ flache Nase abgesunken. Glissa konnte ihn nach Luft schnappen hören. Sei-
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ne Augen, die dunkel und tief eingesunken gewesen waren, traten jetzt aus ihren Höhlen hervor. Er wehrte sich gegen Pontifex und bemühte sich verzweifelt, sich aus dem Griff des Forschers zu befreien, um die beschädigte Haube zu reparieren. Die beiden Vedalken rangen miteinander. Ihre Arme fuhrwerkten herum, um irgendwie die Kleidung des anderen zu packen. Janus stieß den Kopf nach vorn und ließ seine angeknackste Kugelhaube gegen die Front von Pontifex’ Kugelhelm krachen. Der Kopf des Forschers ruckte nach hinten, und er kam ins Straucheln. Im Fallen versuchte Pontifex nach der Kutte des Anführers zu greifen, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, aber Janus schlug Pontifex’ Arme beiseite und stieß ihn zu Boden. »Für diese Unverschämtheit werde ich dich töten, Pontifex«, schrie Janus. Seine Stimme schmetterte, während ihm die Flüssigkeit um den Mund schwappte. Janus trat über Pontifex hinweg und ging auf seinen Stab zu, der immer noch vor lauter beschworenem Mana pulsierte. Glissa krabbelte nach vorn und warf sich auf den Stab zu. Janus griff danach, stürzte aber dicht davor zu Boden. Glissa klaubte den Stab auf und rollte sich herum. Pontifex packte wieder die Kutte seines Anführers und zerrte ihn von dem Stab weg. Glissa kam mühsam auf die Beine, senkte die Spitze des Stabes und berührte Janus’ zersprungene Haube damit. »Überlass ihn mir«, sagte Pontifex. »Ich werde dafür sorgen, dass Janus für seine Lügen und für seine Verbrechen gegen die Vedalken und unseren Gott büßt.« »Ich glaube Euch nicht«, sagte Glissa. »Er soll jetzt gleich für die Verbrechen an meinem Volk bezahlen – an meiner Fami-
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lie.« Sie bewegte ihre Handgelenke so, wie sie es Janus in jener Nacht im Knäuel hatte tun sehen. Sie war sich nicht sicher, ob der Stab in ihren Händen funktionieren würde. Immerhin hatte Janus keine Worte verwendet, als er die Macht des Stabes zuvor aktiviert hatte. Es schien alles in den Händen zu liegen. Ein Strom blauer Energie fuhr aus dem Stab und hüllte Janus ein. Der Vedalken schrie auf und griff sich an die Brust. Pontifex ließ die Kutte des Anführers los und wälzte sich zurück zur Wand. Glissa hielt den Stab unverrückbar fest und speiste die Wirkung mit Mana. Die in der Haube verbliebene Flüssigkeit begann zu kochen. Blasen füllten die Haube und zerplatzten an dem gesprungenen Glas. Rauch stieg aus Janus’ Kleidung auf, während er mit den Händen am Stoff riss. Glissa pumpte unvermindert Mana aus dem Stab in den Zauber. Die Haut auf den Armen des Vedalken bildete Blasen und schälte sich ab. Lage um Lage löste sich, bis die Muskeln des Vedalken bloßlagen. Diese schmolzen von den Knochen und hinterließen klebrigen Schleim auf seiner rauchenden Kutte. Es war ein grässlicher Anblick. Die Erinnerung an Kane wallte in ihr auf, als Glissa zusah, wie Janus vor ihr zerschmolz. Tränen liefen ihr übers Gesicht, aber sie wandte sich nicht ab. Sie musste es bis zum Ende mit anschauen. Ihre Rache erfüllen. Die Glashaube um Janus’ Kopf zerbrach, und Glissa konnte seine Augen sehen. Er schien sie beinahe damit anzuflehen, ihn doch endlich sterben zu lassen. Nach all dem lebte der Anführer also noch. Glissa hätte seine Qualen mit einem schnellen Schwertstreich beenden können, aber sie tat es nicht. Er verdiente keinen ehrenhaften Tod durch die Klin-
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ge ihres Schwerts. Er verdiente Schmerzen. Schließlich war nichts mehr übrig von Janus außer der Kutte, Knochen und einem Schädel, der in der zerbrochenen Haube herumklapperte. Glissa zerbrach den Stab des Vedalken und ließ ihn auf sein Gewand fallen. Sie schaute zu Pontifex, der sich gegen die Wand kauerte. Sie schüttelte den Kopf und ging hinüber zu Bruennas verkrümmter Gestalt. Glissa setzte sich neben Bruenna, hob den Kopf der bewusstlosen Magierin an und bettete ihn in ihren Schoß. »Es ist vorbei«, sagte sie. »Noch nicht, meine Liebe«, sagte Pontifex. Er war aufgestanden und ging zu der Tür, die auf den Gang hinausführte. Der Forscher strich mit der Hand über einen dunklen Kreis an der Wand, und draußen im Gang begann ein Alarm zu schrillen. »Du solltest wissen, dass ich Memnarch treu ergeben bin. Und ich habe vor, dich ihm für die letzte Phase seines großen Experiments zu übergeben.«
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Kapitel 26
DER WISSENSVORRAT
B
ruenna stöhnte. Sie war ganz bleich, und ihr Atem ging nur noch flach. Glissa bettete den Kopf der Magierin auf den Boden und beugte sich vor, um deren Bein zu untersuchen. Die Lederstreifen, die Bruenna um die Wunde gebunden hatte, waren blutgetränkt. Die Widerhakenspitze der Harpune ragte hinten aus ihrem Schenkel, dazu auch das gezackte Ende eines Knochens. Glissa musste die Harpune herausziehen, um das Bein richten zu können. Nur dann konnte sie die Heilmagie des Waldes anwenden. Aber die Harpune herauszuziehen würde die Verletzung noch verschlimmern. Die Spitze hatte sich hinter dem Knochen verhakt. Sie konnte nicht daran ziehen oder drücken, ohne den gebrochenen Knochen aus Bruennas Bein zu reißen. Glissa sah zu Pontifex auf, der um das Becken herum auf sie zukam. »Helft mir«, sagte sie. »Sie wird sterben, wenn wir diese Harpune nicht herausholen.« »Vielleicht hast du mich ja nicht gehört«, sagte Pontifex im Näherkommen. »Du bist jetzt meine Gefangene. Lass sie hier. Sie ist nicht wichtig.« Glissa starrte zu Pontifex hoch. »Mir ist sie aber wichtig«, erwiderte sie. »Außerdem habe ich Euch gerade das Leben ge-
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rettet. Ihr wärt mir Eure Hilfe schuldig.« »Und ich habe dein Leben gerettet«, sagte Pontifex. »Also schulde ich dir gar nichts.« »Na schön«, sagte Glissa und nickte. »Dann sind wir eben quitt. Helft ihr, und ich werde mit Euch gehen, ohne mich zu widersetzen.« »Das nehme ich dir nicht ab, aber du wirst trotzdem mit mir gehen, ob du dich nun widersetzt oder nicht. Während wir reden, sind nämlich bereits mehrere Wachtrupps auf dem Weg hierher.« Pontifex trat neben Glissa. »Nach Janus’ Tod und mit meinem Wissen über seinen Verrat ist mir mein Platz in der Synode jetzt sicher. Sag mir also, warum ich mit dir handeln sollte, mit dir, die du nichts weiter zu geben hast außer deinem Leben?« Glissa zog ihr Schwert. Sie schlug dem Vedalken die flache Seite der Klinge gegen das Bein und brachte ihn dadurch zu Fall. Die Wucht des Schlages ließ wieder Schmerzen in ihre Schulter hochschießen. Glissa biss die Zähne zusammen und sprang auf den Forscher. Sie drückte ihm die Klinge gegen den Hals und starrte ihm in die Augen. »Ich kann Euch Euer Leben schenken«, zischte Glissa. »Oder ich kann es Euch nehmen, lange bevor Eure ach so tollen Wachen diese Tür öffnen.« »Womit du nichts gewinnen würdest«, sagte Pontifex. Seine Miene blieb selbst im Angesicht des Todes stoisch. »Deine Freundin würde dennoch sterben, und die Synode würde dich entweder töten oder dich zu Memnarch schicken.« Neben Glissa fuhr ein Zittern durch Bruennas Leib. Sie hatte nicht viel Zeit. Glissa presste die Schneide ihres Schwerts gegen Pontifex’ Hals. Es war ihr einziger Vorteil, und sie musste ihre Hoffnung darauf setzen, dass der Überlebensinstinkt
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des Vedalken irgendwann dessen übergroßes Ego überwog. Blut trat um die Klinge herum hervor und rann zu Boden. Glissa drückte fester zu. Schließlich geriet Pontifex’ ruhige Haltung etwas ins Wanken. »Ich werde dir helfen, deine Freundin zu retten«, sagte er, »aber nur, wenn du versprichst, dein Schwert niederzulegen und mich zu Memnarch zu begleiten. Wenn ich dich selbst zu Memnarch bringe, werde ich nicht nur einen Sitz in der Synode erhalten, ich werde über sie herrschen.« Glissa sah Bruenna an und dachte an Slobad und Bosh, die irgendwo tief unter ihr auf sie warteten. Sie hatte diese Reise allein begonnen, getrieben von ihrer Angst vor dem Unbekannten. Sie hatte auf ihrer Suche nach ihrer Bestimmung Familie und Freunde verloren, doch in ihren neuen Freunden hatte sie auch eine neue Familie gefunden. Sie verließ sich auf sie und vertraute ihnen weit mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte. Aber jetzt war die Zeit gekommen, da sie ihre Reise allein fortsetzen musste – um ihrer Freunde willen. Sie nahm das Schwert vom Hals des Vedalken und ließ von ihm ab. »Ich verspreche es«, sagte Glissa. »Ich werde mit Euch gehen, aber erst, wenn alle meine Freunde in Sicherheit und weit weg von hier sind. Bis dahin behalte ich mein Schwert lieber.« Glissa zog Pontifex auf die Beine, dann drückte sie ihn neben Bruenna nieder. »Und jetzt helft mir, diese Harpune herauszuziehen.« »Es besteht kein Anlass für derlei barbarische Maßnahmen«, sagte Pontifex, »wenn es doch nicht mehr bedarf als einer schlichten Anwendung von Magie.« Pontifex ergriff die Harpune. Er konzentrierte sich einen Augenblick lang, und Glissa sah,
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wie sich um seine Finger herum das Mana aufbaute. Sie hielt ihr Schwert für den Fall bereit, dass der Forscher versuchen sollte, ihrer Freundin etwas anzutun. Aber Pontifex sagte nur ein einziges Wort, und die Harpune verschwand. Aus Bruennas Bein begann Blut zu fließen. Glissa legte eine Handfläche auf die Wunde und nahm den hervorstehenden Knochen behutsam in die andere Hand. Sie beschwor so viel Mana, wie sie konnte. Das Knäuel war weit entfernt, jenseits der Goblinberge, aber sie konnte seine Macht dennoch spüren. Grüne Energieranken umtanzten ihre Finger. Mit ihrem Willen zwang Glissa sie in die Wunde, während sie den Knochen durch die Haut zurückschob. Sie schloss die Wunde mit ihrer Willenskraft und tat ihr Möglichstes, um den gebrochenen Knochen darunter zu heilen. Nach einer Weile hörte die Blutung auf. Glissa löste die Lederstreifen um Bruennas Schenkel und warf sie beiseite. Sie besah sich die Wunde, die sich inzwischen vollständig geschlossen hatte. Die Haut war noch rot und dünn, aber sie würde halten. Der Knochen selbst würde noch mehr Zeit und Heilmagie brauchen, um wieder richtig zusammenzuwachsen, aber zumindest würde ihre Freundin nicht sterben. Glissa wandte sich an Pontifex. »Danke«, sagte sie. »Warum habt Ihr das eigentlich nicht getan, als Ihr auf dem Gang selbst von einer Harpune getroffen wurdet?« »Das habe ich«, sagte Pontifex. »Letztlich.« Er öffnete seine Kutte. Die Harpune, die die Schulter des Forschers durchbohrt hatte, war verschwunden. »Warum die Verstellung?« »Ich wollte, dass du das Gefühl hast, die Oberhand zu ha-
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ben«, antwortete er. »Du hättest mir nie vertraut, wenn du nicht geglaubt hättest, mich völlig im Griff zu haben.« »Dann habt Ihr das alles hier arrangiert?«, fragte sie und deutete auf das Schlachtfeld, zu dem der Raum geworden war. »Warum?« »Ich habe lediglich eine Gelegenheit zu meinem Vorteil genutzt«, sagte Pontifex. »Ich hatte Janus schon seit langem im Verdacht, aber er war zu mächtig, um ihm gegenüberzutreten. Ich brauchte Beweise … Ich musste in den Beckenraum – genauso dringend wie du – und dein Angriff bot mir die beste Gelegenheit dazu.« »Woher wollt Ihr wissen, dass ich Euch jetzt nicht umbringe?«, fragte Glissa. Sie richtete ihr Schwert auf den Vedalken. »Weil du noch Antworten brauchst«, sagte Pontifex. »Du willst wissen, warum du so wichtig bist – was so besonders an dir ist. Du willst die Geheimnisse dieser Welt erfahren, und diese Antwort kannst du nur von Memnarch erhalten. Außerdem hast du mir dein Wort gegeben, und ich nehme an, dass dir das mehr bedeutet als dein eigenes Leben.« Glissa hielt das Schwert ruhig, bereit, es durch den Gesichtsschild des Vedalken zu stoßen. »Das Einzige, was mir mehr wert ist als mein Leben, ist das Leben meiner Freunde«, sagte sie. »Ihr werdet Euer Wort halten – Ihr werdet Bruenna auf freien Fuß setzen und meine Freunde lebend von hier ziehen lassen –, andernfalls verzichte ich auf meine Antworten, und Ihr werdet auf Euren Preis verzichten müssen.« Pontifex nickte. »Woher weiß ich, dass ich Euch vertrauen kann?« »Du hast keine andere Wahl«, sagte Pontifex. »Jeden Augenblick werden fünfzig Wachen durch diese Türen kommen.
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Sie können entweder dich gefangen nehmen und deine Freunde töten oder sie und die anderen nach Hause begleiten. Nun, was wird es sein?« »Wie wär’s mit der dritten Möglichkeit, he?«
$ Glissa und Pontifex sahen gleichzeitig auf. Bosh stand am Rande des Beckens. Glitzernde Flüssigkeit rann von seiner Gestalt und sammelte sich um seine Füße. Die Brust des Golems stand offen. Slobad kletterte aus einer Kammer in der Brust des Eisenmanns und schlug die Brustplatte anschließend zu. »Pack ihn, Bosh«, sagte der Goblin. Pontifex drehte sich um. Glissa sah, wie sich in seiner Hand eine Manakugel bildete. »Pass auf, Bosh!«, rief sie. Pontifex hob seine Hand, um einen Zauber zu wirken, aber der Golem war schon über ihm. Er packte das Handgelenk des Vedalken und hob ihn am Arm vom Boden hoch. Pontifex schrie auf. Glissa hörte das Knacken, mit dem die Schulter des Forschers brach. Blut befleckte seine Kutte dort, wo die Harpune ihn durchbohrt hatte. Das Mana in Pontifex’ Hand verging, weil seine Konzentration auf den Zauber zerbrach. »Töte ihn, he?«, sagte Slobad. »Dann gehen wir.« »Nein«, sagte Glissa. Sie stand auf und sah Bosh an. »Niemand wird mehr getötet. Heute stirbt keiner mehr. Er hat mir das Leben gerettet … und Bruenna. Lass ihn am Leben.« Bosh schleuderte Pontifex gegen die Wand. Der Vedalken
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krachte gegen die Seite des Raumes und sackte zu Boden. Glissa ging zu ihm und untersuchte ihn. Seine Augen waren geschlossen, aber seine Haube zeigte keine Sprünge. Sie wandte sich wieder an Bosh und Slobad. »Wie seid ihr hierher gekommen?«, fragte sie. »Lange Geschichte, he?«, sagte Slobad. »Nachdem wir dich zurückgelassen haben, suchen wir die Energiequelle der Vedalken. Bosh und ich gehen …« »Dafür ist jetzt keine Zeit«, unterbrach Glissa ihn. »Kommen wir durch das Becken auch hinaus?« »Ja«, sagte Bosh. »Du wirst nicht glauben, was wir gefunden haben, he?«, sagte Slobad. »Erstaunlich. Unter dem Becken…« »Später«, sagte Glissa. »Bosh, nimm Bruenna. Wir gehen.« »Zurück in das Becken?«, fragte Slobad. »Ja«, sagte Glissa. »Es sind weitere Wachen im Anmarsch. Viele Wachen.« Slobad nickte. Er öffnete den Hohlraum in der Brust des Golems und kletterte wieder hinein. Bosh hob Bruenna auf und drehte sich zum Becken um. »Halte deine Hand über ihren Mund und ihre Nase«, sagte Glissa. »Ich folge dir.« Bosh legte seine riesenhafte Hand über das Gesicht der bewusstlosen Magierin und trat an den Rand des Beckens. Er machte einen weiteren Schritt und ließ sich in die wirbelnde Flüssigkeit fallen. Zu beiden Seiten Glissas öffneten sich die Türen. Sie schaute auf und sah eine Horde von Wachen hereinstürmen. Sofort rannte sie zum Rand des Beckens und sprang in die Flüssigkeit. Sie hörte das laute Schnappen abgefeuerter Harpunen, aber im nächsten Moment war sie bereits
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untergetaucht. Um sie herum klatschten Harpunen in die Flüssigkeit, während sie dem Boden zuschwamm.
$ Glissa konnte Bosh weit unten sehen. Er lief am Grund des Beckens entlang in Richtung eines Durchgangs an der Seite. Auf einmal ersetzte aber ein anderes Bild diese Szene vor Glissas Augen. Sie sah den Golem durch eine Palastanlage schreiten. Am Himmel standen zwar keine Monde, aber das Licht von Millionen Sternen badete die Landschaft in einem fahlen Schein. Es war Mirrodin. Irgendwie wusste Glissa das einfach. Aber es war ein anderes Mirrodin als jenes, das sie in den vergangenen Wochen gesehen hatte. Es war perfekt. Es war wunderschön. Die Bäume trugen metallene Blätter und Äste anstatt spiralförmiger Gewinde und unebener Terrassen. Der Brunnen war von Blumen umgeben. Alles strahlte und glitzerte im Sternenlicht. Die silbrige Oberfläche des Palastes erinnerte Glissa an Lumengrid. Aber der Palast war an Land errichtet worden. Die Teile passten präzise zueinander und reflektierten Licht und Bilder in perfekter Proportion. Die spiegelnden Wände von Lumengrid hingegen verzerrten alles, was sich auf ihrer Oberfläche brach. Der Silbermann wandte sich zu Glissa um. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber dann verschwand er. An seiner Stelle sah Glissa eine neue Gestalt. Sie bestand aus Silber wie die zuvor, aber etwas stimmte nicht mit ihr. Die Unterarme dieser neuen Gestalt bestanden aus Fleisch, ebenso wie ein
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Teil ihres Gesichts und ihres Halses. Die Kreatur schien große Schmerzen zu leiden. Ihr fleischiger Mund war offen und verzerrte sich, als würde sie schreien. Die metallischen Augen der Gestalt jedoch schienen leidenschaftslos, kalt zu sein. Sie griff nach Glissa. Hinter dem Fremden sah Glissa kristallene Gewinde, die aus einer seltsam geschwungenen Landschaft ragten. Licht schien von oben herabzukommen. Glissa sah zu einem strahlenden, vielfarbigen Mond auf, der unmöglich tief am Himmel hing. Das Licht blendete Glissa, und als sie den Blick wieder senkte, befand sie sich auf einmal im Knäuel. Das Nachglühen eines grellen Lichtes brannte noch auf ihrer Netzhaut. Überall lagen Elfen am Boden. Entweder waren sie bewusstlos oder schliefen nur. Glissa sah auf ein Elfenmädchen hinab, das zu ihren Füßen lag. Das Mädchen hatte ein engelhaft weiches Gesicht und langes, fließendes Haar. Sie trug ein grünes Gewand, das von blätterbewachsenen Ranken zusammengehalten wurde. Es war das Mädchen aus Glissas Aufflakkern. »Was tust du hier?«, fragte Glissa. Das Mädchen sah auf und schrie. Glissa schaute nach oben und schrie ebenfalls. Über ihnen befand sich eine schreckliche Gestalt. Sie besaß das Gesicht eines Menschen oder vielleicht auch eines Vedalken, der Rest des Körpers jedoch sah aus wie einer der Schrecken aus dem Mephidross oder ein gewaltiger Gleichmacher. Er bestand gänzlich aus Beinen, Stacheln und Greifern, und mittendrin schwebte ein menschenähnlicher Kopf. Glissa wollte davonrennen, aber die Kreatur packte sie mit ihren Greifzangen und setzte sie auf einen großen Stuhl. Sie senkte den Blick und
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sah, dass sie bereits festgeschnallt war, ihre Arme und Beine wurden von metallenen Bändern festgehalten. Ein weiteres Band senkte sich auf ihre Stirn nieder. Das entsetzliche menschengesichtige Insekt ragte bedrohlich über ihr auf. Glissa öffnete den Mund, um zu schreien, aber über ihre Lippen drang nichts außer Blasen.
$ Glissa befand sich wieder im Becken. Bosh zog sie durch die Öffnung am Boden. Er strich mit der Hand über einen Kreis an der Wand, worauf eine Tür erschien und sie vom Rest des Beckens abschottete. Einen Augenblick später lief die Flüssigkeit aus dem kleinen Raum ab. Glissa sah zu Bosh auf. »Danke«, sagte sie. Der Golem nickte. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Du schienst in Schwierigkeiten zu sein.« Glissa wrang die Flüssigkeit aus ihrem Haar. »Mir geht’s gut«, sagte sie. »Ich habe Bilder gesehen. Unzusammenhängende, flüchtige Bilder. Ohne das Serum konnte ich sie nicht kontrollieren. So wie es Bruennas Vater ergangen ist. Es war, als kontrollierten die Bilder mich.« Bosh sah sie weiter an. »Mit mir ist alles in Ordnung. Wirklich.« Sie schaute sich in dem kleinen Raum um. »Wo ist Bruenna?«, fragte sie dann. »Im nächsten Raum«, sagte Bosh. »Ich habe sie in Slobads Obhut gegeben. Sie ist in Sicherheit.« Bosh fuhr mit der Hand über einen weiteren Kreis, diesmal auf der gegenüberliegenden Wand. Ein Teil der Wand löste sich auf und schuf einen Durchgang. Aus dem Raum dahinter
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drang ein seltsames Leuchten, aber Glissa konnte noch nicht sehen, was jenseits der Tür lag. Bosh ging durch die Öffnung. Aber während er das tat, kippte sein Körper nach vorn. Es sah aus, als wäre er mit dem Gesicht voran in ein Loch gefallen. Den silbernen Rücken des Golems konnte Glissa noch sehen. Er schien senkrecht nach unten zu steigen. Glissa ging zu dem Durchgang und spähte hinaus. Der kleine Raum weitete sich zu einem Tunnel, der schnurstracks nach unten führte, ins Innere von Lumengrid hinein. Leuchtmoos wuchs an den Tunnelwänden und sorgte für Licht. Was Glissa schließlich sah, drehte ihr den Magen um. Bosh stand in der Waagrechten unter ihr auf der Wand des Tunnels. Neben ihm saß Slobad, der Bruennas Kopf in seinen Schoß gebettet hatte. Sie befanden sich alle unter ihr, standen, saßen und lagen auf der Seite des Tunnels. »Kann da auch nichts passieren?«, fragte Glissa. Sie konnte natürlich sehen, wie die drei irgendwie an der moosbedeckten Tunnelwand festgehalten wurden, aber ihr Gehirn weigerte sich zu glauben, dass sie selbst nicht fiel, sobald sie durch die Tür trat. »Es passiert nichts«, sagte Bosh. Slobad nickte. Er streichelte Bruennas Haar. Glissa unterdrückte ein Kichern. Sie war sich sicher, dass die Magierin, wäre sie wach, die Zuwendung, die ihr der Goblin gerade zuteil werden ließ, ganz bestimmt nicht genießen würde. Glissa holte tief Luft und trat über den Rand. Genau wie Bosh drehte sie sich über dem Rand der Tür. Ihr Fuß kam auf der Tunnelwand zu ruhen, aber ihr Magen versuchte ihr aus dem Hals zu springen. Neben Slobad brach sie zusammen und übergab sich. »Hilft, wenn du die Augen zumachst, he?«, sagte Slobad.
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Glissa schloss kurz die Augen und wartete, bis ihr Magen sich wieder beruhigt hatte. Als sie die Augen öffnete, sah die Welt ringsum eigentlich ganz normal aus. Sie hatte den Eindruck, sich in einem langen Tunnel zu befinden … einem langen Tunnel mit einer Tür im Boden. »Wo führt dieser Tunnel hin?«, fragte sie. »Nach unten«, sagte Bosh und deutete von der Tür weg. »Wie weit?«, fragte Glissa. »Durch den Boden von Lumengrid hindurch, he?«, sagte Slobad. »Haben Eingang dort unten gefunden. Erstaunlich. Der Tunnel ist dort unten so groß wie Mutters Schoß. Geht endlos weiter.« »Das muss der Grund sein, weshalb alle Gänge um die Mitte von Lumengrid herumführen«, sagte Glissa. Sie sah Bosh an. »Ist das eines der anderen Löcher, die in die innere Welt hinunterführen? Du hast gesagt, dass es mehr als den Schoß, den Krark in den Bergen benutzte, gibt.« Bosh nickte. »Wir sollten jetzt weitergehen«, sagte er. Er hob Bruenna auf und entfernte sich von der Tür. Slobad und Glissa standen ebenfalls auf und folgten dem Eisengolem. »Was ist mit dir passiert?«, fragte Slobad sie. »Visionen«, sagte Glissa. »Wie sie Bruennas Vater gehabt hat. Zufällige Visionen, die ich nicht kontrollieren konnte.« »Irgendwas Nützliches dabei?«, fragte Slobad. »Nein«, sagte Glissa. »Oder vielleicht doch. Ich weiß es einfach nicht. Es war ein einziges Durcheinander.« Glissa trat nach dem Moos, das einen großen Teil von Lumengrids innerem Kern bedeckte. »Das ist doch zum Aufflackern!«, grummelte sie. »Wir haben den ganzen Weg umsonst auf uns genommen. Bruenna
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wäre fast gestorben … und wofür? Die Vedalken wollen mich vielleicht nicht mehr umbringen, aber dieser Memnarch hat offenbar vor, mich zu benutzen, um die Welt zu vernichten. Ich weiß nicht einmal, wo er zu finden ist, geschweige denn, wie er aufzuhalten ist. Wir sind Chunths großem Geheimnis um keinen Deut näher gekommen, als wir es bei unserem Aufbruch aus dem Knäuel waren.« »Die Reise war nicht gänzlich vergebens«, sagte Bosh. »Was meinst du damit?«, fragte Glissa. »Der Wissensvorrat hat mir geholfen, meine Erinnerung zurückzugewinnen«, sagte Bosh. »Das ist ja großartig«, sagte Glissa. Sie rannte an der Wand des Loches hinunter, um zu dem Golem aufzuschließen. »Und? Woran erinnerst du dich?« »An alles.«
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DANKSAGUNG
Der Autor möchte den folgenden Personen danken, die bei der Entstehung dieses Romans eine wichtige Rolle spielten: seinen Kollegen Jess Lebow und Cory Herndon für ihr ausgeprägtes Verständnis und ihre Kreativität beim Auftakt dieses Zyklus, J. Robert King für die Vorbereitungen des Übergangs von Otaria nach Mirrodin im ruhmreichen Rock Bottom in Milwaukee, Daneen McDermott, weil sie in spätnächtlichen BrainstormSessions mein Testpublikum war, meinem Lektor und dem Kreativ-Team von Wizards, ohne die es nie zu diesem Roman gekommen wäre, und Jeff Sloboda, der alles reparieren kann, auch am Labor-Day-Wochenende.
DER AUTOR
Will McDermott hat sich binnen weniger Jahre aus völliger Obskurität zu relativer Obskurität durchgeboxt. Die Monde von Mirrodin ist der zweite MAGIC: THE GATHERING-Roman des früheren Chefredakteurs der US-Magazine Duelist und TopDeck. Zu seinen weiteren Werken zählen Judgement, das dritte Buch des Odyssey-Zyklus sowie drei MAGIC-Kurzgeschichten: »The Lady of the Mountain« aus der The Myths of MagicAnthologie, »Journey Home« aus der The Secrets of MagicAnthologie und »Ach! Hans, Run!« aus der The Monsters of Magic-Anthologie. Will lebt mit seiner Frau, drei kleinen Strolchen und einem großen durchgeknallten Hund in Hamburg im US-Bundesstaat New York.