Steve Kahn
Die Montagsmillionen
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Steve Kahn
Die Montagsmillionen
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Postamt New York 10022. Diamanten für Tiffany, Fotos für Penthouse, der Monatsscheck für eine süchtige junge Frau, der Vertrag über einen politischen Mord, die Geheimlisten der Fernseh-Gesellschaften und einige Millionen Dollar sind die Beute beim größten Postraub in der Geschichte der USA. ISBN 3-404-19001-7 Originaltitel: New York, N. Y. 10022 Ins Deutsche übertragen von Will Platten © Copyright 1979 by Stephen Kahn und Evelyn Kahn Deutsche Lizenzausgabe 1981 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe Titelillustration und Umschlaggestaltung: Loermann/Schrödter, Essen
Inhalt SONNTAG.............................................................................................................. 6 JEFF GRANT..................................................................................................... 6 DIE GREEN SPADES ................................................................................... 10 CAL VAN DELLA ......................................................................................... 11 BOB RUDMAN .............................................................................................. 13 MELANIE HAIGHT ...................................................................................... 17 MALCOLM WILEY ...................................................................................... 20 MONTAG ............................................................................................................. 22 DIE GREEN SPADES ................................................................................... 22 FRED DICKINSON ....................................................................................... 27 JEFF GRANT................................................................................................... 30 DWIGHT JOHNSON ..................................................................................... 31 JEFF GRANT................................................................................................... 37 BOB RUDMAN .............................................................................................. 46 CAL VAN DELLA ......................................................................................... 51 JEFF GRANT................................................................................................... 55 FRED DICKINSON ....................................................................................... 59 DIE GREEN SPADES ................................................................................... 61 CAL VAN DELLA ......................................................................................... 63 FRED DICKINSON ....................................................................................... 66 MELANIE HAIGHT ...................................................................................... 68 KEN FORBES ................................................................................................. 70 BOB RUDMAN .............................................................................................. 73 FRED DICKINSON ....................................................................................... 77 CAL VAN DELLA ......................................................................................... 80 THE GREEN SPADES .................................................................................. 83 KEN FORBES ................................................................................................. 88 DAVID KNIGHT ............................................................................................ 91 JEFF GRANT................................................................................................... 95 BOB RUDMAN .............................................................................................. 99 JEFF GRANT.................................................................................................102 CAL VAN DELLA .......................................................................................105 JOHN MURPHY...........................................................................................108 JANE GALOBIC...........................................................................................110 JOHN MURPHY...........................................................................................112 JORGE VEGA ...............................................................................................113 MYLES TEMPLETON IV..........................................................................116 MARY PARKE.............................................................................................119
ROY MORGAN............................................................................................124 MELANIE HAIGHT ....................................................................................129 DIE GREEN SPADES .................................................................................133 MALCOLM WILEY ....................................................................................134 MONTAG ...........................................................................................................136 ROY MORGAN............................................................................................136 DIE GREEN SPADES .................................................................................138 RHODA LEVINE.........................................................................................143 DIE GREEN SPADES .................................................................................145 DWIGHT JOHNSON ...................................................................................148 IRF ...................................................................................................................152 JEFF GRANT.................................................................................................156 MILES TEMPLETON IV............................................................................159 BOB RUDMAN ............................................................................................161 DIE GREEN SPADES .................................................................................164 IRF ...................................................................................................................170 BOB RUDMAN ............................................................................................171 JEFF GRANT.................................................................................................179 JACK COHEN...............................................................................................181 KEN FORBES ...............................................................................................186 CAL VAN DELLA .......................................................................................192 JORGE VEGA ...............................................................................................195 JEFF GRANT.................................................................................................196 BOB RUDMAN ............................................................................................202 CAL VAN DELLA .......................................................................................204 JEFF GRANT.................................................................................................206 MONTAG ...........................................................................................................207 MELANIE HAIGHT ....................................................................................207 RHODA LEVINE.........................................................................................211 KEN FORBES ...............................................................................................213 JACK COHEN...............................................................................................216 KEN FORBES ...............................................................................................218 STEVE BARRINGTON ..............................................................................221 HANK LEONARD.......................................................................................224 STEVE BARRINGTON ..............................................................................226 MYLES TEMPLETON IV..........................................................................230 MELANIE HAIGHT ....................................................................................234 DIE GREEN SPADES .................................................................................237 DAVID KNIGHT ..........................................................................................239 MARY PARKE.............................................................................................240 IRF ...................................................................................................................241
HANK LEONARD.......................................................................................242 MELANIE HAIGHT ....................................................................................244 MYLES TEMPLETON IV..........................................................................245 JACK COHEN...............................................................................................248 DIENSTAG - DONNERSTAG.......................................................................251 JEFF GRANT.................................................................................................251 JORGE VEGA ...............................................................................................254 BOB RUDMAN ............................................................................................257 CAL VAN DELLA .......................................................................................259 MALCOLM WILEY ....................................................................................260 DIANE RUDMAN........................................................................................263 DIE GREEN SPADES .................................................................................265 JEFF GRANT.................................................................................................269 DONNERSTAG UND DANACH..................................................................274 HANK LEONARD.......................................................................................274 MELANIE HAIGHT ....................................................................................279 JORGE VEGA ...............................................................................................285 STEVE BARRINGTON ..............................................................................288 DIANE RUDMAN........................................................................................292 MYLES TEMPLETON IV..........................................................................297 DWIGHT JOHNSON ...................................................................................301 HANK LEONARD.......................................................................................304 BOB RUDMAN ............................................................................................306 JORGE VEGA ...............................................................................................313 MELANIE HAIGHT ....................................................................................317 BOB RUDMAN ............................................................................................318 JEFF GRANT.................................................................................................321 BOB RUDMAN ............................................................................................323 CAL VAN DELLA .......................................................................................324 MALCOLM WILEY ....................................................................................331 JEFF GRANT.................................................................................................333 DAVID KNIGHT ..........................................................................................337 MALCOLM WILEY ....................................................................................340 NACHWORT .................................................................................................342
In New York City werden jährlich mehr als fünf Milliarden Brief- und Paketsendungen zugestellt. Vierhundert Millionen allein durch ein einziges Postamt: New York, N. Y. 10022. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag sind die »ruhigen« Tage der Woche. Danach wird es hektisch. Der Höhepunkt ist am Montagmorgen erreicht. Freitag abend verläßt der größte Teil der eingegangenen Post New York, N. Y. 10022 wieder. Am Samstagmorgen, wenn die Nachtmaschine aus Kalifornien und die Trucks aus Connecticut eintreffen, steigt die Flut der Briefe und Pakete erneut an, und am Montagmorgen sind die Fächer der Verteilungsanlage, in der die Diamanten für Tiffany und die Hochglanzfotos für das Penthouse-Magazin liegen, zum Bersten gefüllt. Mehr als zwei Millionen Postsendungen warten dann auf die Weiterbeförderung, und ganze Heerscharen von Briefträgern und Paketboten machen sich auf den Weg, um sie ihren Empfängern zuzustellen. Der schlimmste Betrieb herrscht stets am ersten Montag des Monats, dann schwillt allein die Menge der Briefe auf zwei, drei Millionen an. Der nächste Tag war der erste Montag im Monat.
SONNTAG JEFF GRANT Die Flughäfen waren am Samstag morgen für mehrere Stunden geschlossen, denn der undurchdringliche Nebel, der sich über die Stadt gelegt hatte, wollte nicht weichen. Besorgt hatte Grant sich gesagt, ob diese Tatsache den normalerweise zu erwartenden Umfang der Brief- und Paketeingänge beeinträchtigen werde, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Er und Jennifer waren am Samstag zweimal am FDR-Postamt vorbeispaziert. Jedesmal hatte er gespürt, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte und wie Jennifers Griff um sein Handgelenk sich verkrampfte. Beim erstenmal hatte Jen sich eine Bemerkung nicht verkneifen können. »Wenn die wüßten, was ihnen bevorsteht«, hatte sie gemurmelt, »wenn die auch nur die geringste Ahnung davon hätten!« Grant hatte auf den Wachtposten gedeutet, der schläfrig neben dem Eingangstor in der 55th Street an der Wand lehnte. »Ihre Sorglosigkeit ist mir unbegreiflich. Sie drücken einem alten Mann eine Kanone in die Hand, ohne sich überhaupt davon überzeugt zu haben, ob er wenigstens weiß, an welchem Ende die Kugel herauskommt. Dann stellen sie ihn vor eins der größten Postämter der Welt und glauben, damit ein Höchstmaß an Sicherheitsvorkehrungen getroffen zu haben. Mein Gott, so ein alter Knacker kann nicht mal eine einzige Postkarte gegen einen Zwölfjährigen verteidigen!« »Wenn das so ist«, hatte Jennifer gefragt, »weshalb stürmt ihr -6-
dann den Laden nicht einfach, anstatt darauf zu warten, bis die Leute zu euch rauskommen?« Ärgerlich war Grant stehengeblieben. »Bitte, Jen, wie oft haben wir das schon durchgekaut? Dieses Gebäude hat Hallen so groß wie ein Footballfeld, und Hunderte von Menschen laufen darin herum. Eine Kontrolle wäre ganz und gar unmöglich. Und Kontrolle wird für uns am Montag groß geschr ieben, nicht wahr?« Das Bestreben, alle Dinge unter Kontrolle zu haben, war der beherrschende Zug in Grants Charakter. Grant war stolz auf die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen die Übersicht zu behalten, und jede Chance, die sich ihm bot, in Sekundenschnelle zu erkennen. Auch jetzt, am Vorabend seines seit langem geplanten Rachefeldzuges, vermochte er das Zittern nicht zu unterdrücken, das ihn jedesmal befiel, wenn er an jenen Augenblick dachte, in dem er ein einziges Mal in seinem Leben die Kontrolle verloren hatte. Grants Blick wanderte über den Stadtplan, der vor ihm auf dem Frühstückstisch ausgebreitet lag. Die bis in die kleinsten Einzelheiten genaue Karte enthielt »alles, was man schon immer über New York, N. Y. 10022 hatte wissen wollen, sich jedoch nicht zu fragen traute«, wie Cal Van Della es in seiner sarkastischen Art auszudrücken pflegte. Die rotköpfige Nadel steckte in der unteren rechten Hälfte des dichten Straßennetzes Ecke 57th Street und Park. Genauer: 444 Park Avenue, Hauptverwaltungsgebäude der Inter-Continental CATV Corporation, der erfolgreichsten Kabelfernsehgesellschaft der Welt. Fünf Jahre lang hatte Grant in diesem Gebäude sein Büro gehabt. Die ersten zwei Jahre als Regional Developement Manager, danach als jüngster Vizepräsident des Unternehmens. -7-
Von einem Tag auf den anderen war alles zu Ende gewesen. Dank Gordon Patton, leitender Beamter des Crane Countys und Schlüsselfigur bei der Vergabe lukrativer Regierungsaufträge. Patton hatte kein Blatt vor den Mund genommen. »Ich verlange fünfzigtausend für den Vertrag«, hatte er Grant geradeheraus erklärt. »Alles in großen Scheinen. Die eine Hälfte erhalte ich sofort, also noch bevor ich Ihre Gesellschaft dem Ausschuß als die zuverlässigste empfehle. Die zweite Hälfte ist zahlbar nach Auftragserteilung. Ein Klacks dieser Betrag, wenn Sie sich vor Augen halten, daß es sich bei unserm County um ein äußerst dicht besiedeltes Gebiet handelt, in dem auf jedem Haushalt einskommasieben Fernsehgeräte entfallen. Oder sind Sie da anderer Meinung?« »Eigentlich schon«, hatte Jeff Grant geantwortet. »Das Crane County zählt knapp fünfzigtausend Einwohner. Wäre also ein Buck pro Kopf. Ein stolzer Preis, wenn Sie mich fragen.« »Nehmen Sie an oder vergessen Sie das Ganze«, hatte Patton ungerührt geantwortet. Jeff hatte angenommen, denn so lauteten seine Direktiven. Natürlich wußte Patton nicht, daß Grants Limit bei fünfundsiebzigtausend gelegen hatte. Jeff dagegen wußte zu dieser Zeit noch nicht, daß Patton, der Schmiergelder annahm, seit er als Mitglied der Schulbehörde die Beschaffung der Lehrmittel und Einrichtungsgegenstände für die County-Schulen unter sich hatte, beabsichtigte, die CATV wegen dieser fünfzigtausend an den Pranger zu stellen und sich selbst durch diesen Akt der Öffentlichkeit als Kandidat für das Amt des Gouverneurs zu empfehlen. Die CATV ließ ihren jüngsten Vizepräsidenten kaltblütig ins offene Messer laufen. Grant stand ohne Rückendeckung da. Auf Rat seines Anwalts legte er freiwillig ein Schuldgeständnis ab und verzichtete vor Gericht auf eine Verteidigung. -8-
Der Richter, ein Freund Pattons, verdammte Jeff in Grund und Boden, während er Patton als leuchtendes Beispiel der Unbestechlichkeit lobte. Jeff Grant wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die dann in acht Monate mit Bewährung umgewandelt wurden. Es gelang Grant nicht, die Erinnerung an diese sinnlos verbrachten Monate loszuwerden. Aber an diesem Abend war nicht die Zeit, sich in die Hölle des Zellenblocks zurückzuversetzen. Er griff nach der roten Markierungsnadel, zog sie heraus und stieß sie ingrimmig wieder in die mit einem Kreis gekennzeichnete Stelle auf dem Stadtplan zurück. Mit einem Gefühl der Genugtuung dachte Grant, daß David Knight, der Präsident der Inter-Continental CATV, am nächsten Morgen den sehnsüchtig erwarteten Brief nicht erhalten würde. Grant brauchte nur an diesen Brief zu denken, und schlagartig erhöhte sich sein Adrenalinspiegel. Das Leben erschien ihm wieder lebenswert. Das einzige, was ihn an der ganzen Sache störte, war der Umstand, daß Knight nie erfahren sollte, wem er sein Pech zu verdanken hatte. Er, Grant, mußte unbedingt einen Weg finden, diese Wissenslücke bei Knight zu schließen, ohne Van Della und Rudman dadurch in Gefahr zu bringen. Die Green Spades waren Manns genug, für sich selbst zu sorgen.
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DIE GREEN SPADES Keiner der drei Dutzend Bandenmitglieder, die man eine Generation zuvor einfach als Gruppe irischer Rabauken bezeichnet hätte, hatte Pat Milligan folgen können, als er der Bande ihren Namen gab. »Hört zu, Leute, wir sind Iren, Abkömmlinge der Grünen Insel, die unsere Heimat ist. Aber hier leben wir unter lauter Spades: Niggern, Puertoricanern, und Mexikanern. Und in den Augen der achtbaren Bürger sind wir nichts anderes als minderwertiges Kroppzeug, als Niggergeschmeiß und stinkende Gringos. Na ja, eben Spades. Bleiben wir also dabei, was macht's schon aus. Trotzdem ist es notwendig, sich gegenüber den anderen hier in der Gegend abzuheben. Nennen wir uns also die Spades von der Grünen Insel, die Green Spades, verstanden?« Es hatte keinen Widerspruch gegeben. Dies war nie der Fall, wenn Pat Milligan das Wort ergriff. Milligan, dreiundzwanzig, Produkt einer der besten kirchlichen Schulen Manhattans, war der unbestrittene Anführer der Bande. Er hatte die Verhandlungen mit Jeff Grant geführt und, obwohl er den Namen des anderen nicht kannte, die Aufgabe, die der Bande in dem Coup zufiel, akzeptiert. Milligan und seine Leute bildeten gleichsam das fehlende Glied in der Kette, die sich am Montag morgen um New York, N. Y. 10022, schließen würde.
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CAL VAN DELLA Bei Cal Van Della schrillte das Telefon. Er hörte es nicht. Er stand unter der Dusche; das Wasser rann über seinen Rücken, während Olivia Heywood ihm mit Hingabe die Brust schrubbte. Er hatte die kleine, äußerst bereitwillige Rotblonde in Friday's Bar aufgegriffen. Sie hatte keine Schwierigkeiten gemacht und war wie selbstverständlich mitgekommen. Cal sah das als ein gutes Omen an. Obwohl sein augenblickliches Junggesellenleben ihm zu schaffen machte, hatte er sich in Anbetracht der bevorstehenden Ereignisse entschlossen, an diesem Abend früh und allein ins Bett zu gehen. Aber nach genauerer Überlegung hatte er seinen Entschluß geändert: Selbstquälerische Enthaltsamkeit und ausgiebiger Schlaf würden ihm nicht helfen. Alle Vorbereitungen für den morgigen Tag waren getroffen, und seinen Part spielte er nicht besser, wenn er sich durch eine sinnlos auferlegte Askese die Nerven ruinierte. »He, Baby, du wirkst so abwesend«, schmollte Olivia. »Bin ich so uninteressant für dich?« Sie lachte und fuhr fort, sich voller Eifer mit seiner breiten, dichtbehaarten Männerbrust zu beschäftigen. »Ein Mädchen könnte in diesem Dickicht ersticken«, flüsterte sie hingebungsvoll und preßte ihre Lippen in das dunkle Haargewirr. »Warum trocknen wir uns nicht ab und sorgen dafür, daß du wieder ruhig atmen kannst?« Cal hörte das Telefon, als er die Tür des Badezimmers öffnete, aber ehe er den Apparat erreichte, war das Klingeln verstummt. Er nahm an, daß Jeff es war, der mit ihm ein weiteres Mal die -11-
bereits bis zum Überdruß durchgekauten Punkte des morgigen Coups durchgehen wollte. Jeff Grant besaß ausgezeichnete Führungsqualitäten, aber er hatte die Eigenart, seine Entscheidungen dauernd kritisch zu überprüfen, seine Anweisungen ständig zu wiederholen und sich unablässig zu vergewissern, ob jeder Teil des Puzzles sich am Platz befand. Cal entschloß sich, nicht zurückzurufen. Er legte den Hörer auf und drehte sich zu dem Mädchen um. »Erwartest du mitten in der Nacht einen Anruf?« fragte sie. »Ja«, antwortete er und zog ihren festen Körper mit einer lässigen Bewegung an sich. »Ich habe ein paar ziemlich verrückte Freunde.«
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BOB RUDMAN Seit Bob ihr gestanden hatte, daß er in einen neuen Coup einsteige, träumte Diane Rudman Nacht für Nacht den gleichen Traum. Sie lag einge schlossen im Laderaum eines Postfahrzeugs, eingezwängt zwischen Paketen und Briefsäcken, unfähig zu atmen. Plötzlich wurde die Tür zum Laderaum aufgerissen. Ein Strom frischer Luft quoll ins Innere, und vor ihr stand Bob, ihr Mann, und blickte sie, ein Maschinengewehr im Anschlag, mit steinerner Miene an. Er lächelte, zielte und mähte sie nieder. Doch stets erwachte sie, bevor die erste Kugel sie traf. »Bob, wach auf, um Himmels willen, wach auf!« Sie kroch unter das Laken und rüttelte ihren Mann. »Wach auf, verdammt noch mal!« Bob Rudman regte sich träge. »Hast du wieder diesen blödsinnigen Traum gehabt?« brummte er verschlafen. »Vergiß es. Ich werde nicht mal morgen eine Waffe tragen.« »Wach auf«, bettelte Diane, »und sprich mit mir!« »Okay, okay.« Er setzte sich auf und lehnte sich mit dem breiten Oberkörper gegen das Kopfende des Bettes. »Ich spreche mit dir.« »Sag's mir noch einmal«, bat sie und versuchte krampfhaft, ihre Stimme vor dem Überkippen in ein hysterisches Kreischen zu bewahren. »Sag mir, warum man dich morgen nicht töten wird und warum ich dich noch einmal wiedersehen werde, nachdem du unsere Wohnung durch die Tür da verlassen hast!« »Warum?« wiederholte Rudman geduldig. »Warum? Weil alles bis ins kleinste Detail durchdacht und geplant ist, weil wir längst über alle Berge sind, bevor irgend jemand dahinterkommt, was, zum Teufel, überhaupt geschehen ist; und -13-
vor allem darum, weil Jeff, Call und ich cleverer sind als alle Cops, FBI-Agenten und Postinspektoren zusammen.« »Das hast du auch beim letztenmal gedacht.« »Diesmal wird niemand mit einer versteckten Kamera auf mich lauern!« Rudmans Antwort kam hastig und ärgerlich. Aber beide, er sowohl als auch Diane, wußten, daß er damit den Nagel auf den Kopf traf. Beim »letztenmal« hatte Robert Roswell Rudman den ersten Versuch unternommen, den Zaun der Rechtmäßigkeit zu übersteigen. Bis dahin war er ein korrekter Staatsbürger gewesen, der pünktlich seine Steuern zahlte, jeden Strafzettel noch am selben Tag beglich und jedem Wahlaufruf mit Feuereifer Folge leistete. Rudman war ein mathematisches Genie. Die schwierigsten Berechnungen machte er im Kopf, und sein Gedächtnis für komplizierte Zahlenfolgen grenzte an Zauberei. Diese Fähigkeiten, gepaart mit einem phänomenalen Organisationstalent und der vielseitigen Begabung auch auf anderen, nichtmathematischen Interessengebieten, hatten ihn zum erfolgreichen Absolventen der Brooklyn Technical High School, des Queens College und der Columbia School of Business gemacht. Auch die First Long Island Trust Bank erkannte sehr rasch Bob Rudmans außergewöhnliche Begabung, und achtzehn Monate nach seiner Einstellung wurde er bereits einstimmig zum Vizepräsidenten und Leiter der Datenverarbeitung gewählt. Das Gehalt eines Bankangestellten ist bekanntermaßen seit eh und je recht bescheiden gewesen, und Bob verdiente im Jahr nur 28000 Dollar. Das Ansehen und der Einfluß, die ihm der Job verschaffte, waren dafür umso größer, und seine Zukunft als Mitarbeiter der Bank war gesichert. Mitten in dieser schwindelerregend steilen Karriere, entschloß -14-
sich Bob Rudman, das mühsame und zeitraubende Erklettern der beruflichen Stufenleiter zu umgehen. Er entwickelte ein ausgeklügeltes System der Kontenverschiebung, mit dem er für alle Zeit unentdeckt bleiben würde. Drei Monate dauerten seine Manipulationen. Dann, am neunzigsten Tag, trug er 750000 Dollar nach Hause. Der einzig sichere Ort in der Bank war der Tagungsraum des Verwaltungsrates. Ihn hatte Rudman benutzt, um Woche für Woche seine betrügerischen Buchungen und Kontenverschiebungen vorzunehmen. Wenn Hank Franklin, der Bankpräsident, nicht einen ähnlichen, allerdings noch umfangreicheren Betrug geplant hätte, wäre Rudman mit seiner Gaunerei niemals aufgeflogen. So aber hatte der Sicherheitsbeamte der Bank - in der Absicht, sich gege n Franklin die nötigen Beweise zu verschaffen versteckte Kameras und Mikrophone mit angeschlossenen Tonbandgeräten installiert. Per Zufall und ganz versehentlich stieß er dabei auch auf Rudmans unlautere Aktivitäten. Rudman erklärte sich zur völligen Wiedergutmachung bereit, aber der Bankaufsichtsrat kannte kein Pardon und bestand auf Strafverfolgung. Rudman wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Er saß sie im Zuchthaus Danbury, Connecticut, ab, das zu dieser Zeit auch den vorübergehenden und unfreiwilligen Aufenthalt von Jeff Grant und Cal Van Della darstellte. Diane erinnerte sich nur mit Grauen an Bobs Haft, und der Gedanke an den bevorstehenden neuen Coup bereitete ihr Höllenqualen. »So«, sagte Diane voll beißender Schärfe, »und was habt ihr Jungs diesmal übersehen?« »Nichts, Liebling«, antwortete Rudman besänftigend. »Absolut nichts. Diesmal bauen wir das perfekte Verbrechen, Baby, und danach werden wir uns wegen Geld nie wieder den Kopf zerbrechen.« -15-
»Den Nerzmantel, den ich bei Saks gesehen habe, wann werde ich ihn kaufen können?« fragte sie, während ihre Stimme einen unerwartet ausgelassenen und übermütigen Ton annahm. »Sobald ich an einen Teil der Piepen herankomme.« »In Ordnung«, entgegnete Diane, plötzlich müde und ohne eine Spur von Begeisterung. »Aber ich werde dabei nicht einmal meinen richtigen Namen nennen dürfen. Und es macht mir keinen Spaß, wenn die Verkäuferin nicht zu mir sagt: ›Mrs. Rudman, Sie besitzen einen ausgezeichneten Geschmack!‹ Ich werde ihr nicht verraten dürfen, daß ich Mrs. Robert Roswell Rudman bin und daß ich mir endlich einen Pelzmantel kaufen kann, von dem ich träume, seitdem ich vierzehn bin.« Diane Rudman löschte das Licht und legte sich schluchzend in die Kissen zurück. Bob Rudman beugte sich über sie, küßte sie und zog die Bettdecke über die Schultern. Dafür, fragte er sich, dafür werde ich morgen mein Leben riskieren? Er war zu sehr Verstandesmensch, um dieser Frage noch weiter nachzuhängen. Aus Furcht, er könne dabei unausweichlich auf die einzig folgerichtige Antwort stoßen.
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MELANIE HAIGHT Auch Melanie Haight weinte in dieser Nacht, aber nicht weil ihr das Geld zu einem Nerzmantel fehlte. Mäntel von dieser Sorte hingen drei in ihrem Kleiderschrank. Vier sogar, wenn man den nerzgefütterten Regenmantel mitzählte, den sie sich an dem Morgen zulegte, an dem Mark sie das letzte Mal verlassen hatte. Für diese Art von Gedächtnisgabe hätte eine Frau wie Diane Rudman kein Verständnis aufgebracht: Wenn schon Nerz, dann nicht auf der Innenseite eines unauffälligen Popelinemantels. Auch Mark hatte Melanie einen erstaunten Blick zugeworfen, als er die Rechnung bezahlte. »Ich kann den Nerz spüren«, hatte Melanie gesagt, »und das allein ist wichtig.« »Wichtig?« hatte Mark erwidert. »Du weißt immer noch nicht, was dieses Wort bedeutet?« Mark hatte natürlich recht mit seinem Vorwurf. In diesem Augenblick und die ganzen sieben Monate hindurch, die sie in einem Zustand gegenseitiger Quälerei verbrachten. Inzwischen waren sie jetzt fast genauso lange auseinander, wie sie zusammen gelebt hatten, aber Melanie litt immer noch unter dem Schmerz der Trennung wie am ersten Tag. Und weder die sündhaft teuren Guccischuhe noch die flüchtigen Abenteuer, denen sich Melanie hingegeben hatte, vermochten es, diesem Schmerz auch nur etwas von seiner Schärfe zu nehmen. Nur die kleinen gelben Tabletten hatten das fertiggebracht. »Entweder, du hörst auf, das Zeug zu nehmen«, hatte Mark gedroht, »oder ich sperre dir das Geld, und du kannst sehen, wie du zurechtkommst. Du bist süchtig geworden, Mel, ein Junk y, und ich habe nicht vor, deinen endgültigen Selbstmord auch noch -17-
tatkräftig zu unterstützen. Ich gebe dir noch eine letzte Chance. In spätestens drei Monaten bist du bei Dr. Birch. Wenn er mir sagt, daß du von dem Zeug immer noch nicht losgekommen bist, ist es endgültig aus zwischen uns.« Sie erhob sich von ihrem zerwühlten Luxusbett. Ein hysterisches Lachen schüttelte sie, als sie sich Marks Worte in Erinnerung rief. Es ist doch schon längst alles aus zwischen uns, dachte sie, während sie aufstand und zum Ankleidetisch hinüberging. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihr, daß sie immer noch das Aussehen einer ungewöhnlich attraktiven Frau besaß. Das Gesicht mit den hochangesetzten Wangenknochen war weich und faltenlos. Das schwarze Haar fiel lang und schimmernd auf die runden Schultern, und ihr Körper, der sich verzehrte nach Marks Nähe, hatte noch nichts von seiner festen, schlanken Biegsamkeit verloren. Nur die großen dunkelbraunen Augen spiegelten Angst. Sie wirkten starr und leblos, und nicht einmal die Tränen gaben ihnen auch nur die Spur des früheren Glanzes zurück. Der große, farbenprächtige Raum bot ein Bild des Chaos. Nur auf der Platte des Ankleidetisches herrschte peinliche Ordnung. Wie Zinnsoldaten standen die Töpfe und Fläschchen für die tägliche Schönheitspflege in Reih und Glied, davor, in einer Linie, Parfümzerstäuber mit den verschiedensten Duftrichtungen. Melanie griff nach einem der Glasbehälter von der Argent Pharmacy und stellte fest, daß er leer war. Mit einer heftigen Bewegung warf sie das Fläschchen in Richtung Abfallkorb. Lautlos landete es auf dem zitronengelben Zottelteppich. Melanie öffnete den Schraubverschluß einer anderen Flasche, nahm zwei der gelben Kapseln heraus und ging ins Badezimmer. Sie füllte ein Glas mit lauwarmem Wasser und schluckte die Kapseln hastig hinunter. Sie ließ ihr Nachtgewand zu Boden fallen und kehrte ins Bett zurück. Für die meisten alleinstehenden Frauen war die Nacht von -18-
Samstag auf Sonntag die schrecklichste der ganze Woche. Sie haßten jenen Augenblick am Sonntagmorgen, in dem sie erwachten und feststellen mußten, daß sie allein waren. Aus diesem Grund sorgten die meisten dafür, daß sie in einem der zahllosen Einsame-Herzen-Schuppen Manhattans Gesellschaft für diese Nacht auftrieben. Für Melanie besaß der Sonntagmorgen keine Schrecken, dafür aber die Sonntagnacht. Sie war der Anfang einer weiteren Woche der Langeweile und der nicht enden wollenden Leere. Die letzte Sonntagnacht im Monat war stets die schlimmste. Zu der Angst, die Melanie unablässig quälte, gesellten sich eine tiefe Schwermut und ein bittersüßes Gefühl der Erwartung. Am ersten Montag eines jeden Monats traf Marks generöser Scheck ein. Mark hatte nie versucht, sich um die Zahlung des monatlichen Unterhalts zu drücken, und das Geld war stets pünktlich eingetroffen. Es war das einzige Beständige in Melanies unbeständigem Leben. Damit verbunden war noch eine weitere Gewißheit: Am letzten Sonntag des Monats würde sowohl Melanies Kontenstand als auch ihr Tablettenvorrat erneut den Nullpunkt erreicht haben. Der Tranquilizer begann zu wirken, und Melanie ließ sich wohlig in die Kissen zurücksinken. Leise summte sie die Melodie des Liedes ›Oh Monday, sweet Monday...‹. Der Gedanke an den nächsten Tag brachte Melanie den Schlaf, und ihr Gesicht nahm einen ge lösten, unschuldsvollen Ausdruck an, während ihr schöner Körper sich in die seidenen Laken schmiegte.
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MALCOLM WILEY Wiley hatte ein ruheloses Wochenende hinter sich. Er ertappte sich dabei, daß er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit unablässig die drei Stockwerke seines nüchternen Backsteinhauses auf und ab gewandert war. Normalerweise saß er stundenlang gemütlich in seinem Sessel und beschäftigte sich in Gedanken mit seinem bevorstehenden Mordauftrag. Er genoß die totale Konzentration, die Fähigkeit, sic h gegen alles abzuschirmen, was mit diesem Auftrag nichts zu tun hatte. Dabei verspürte Wiley nicht den kleinsten Hauch von Angst. Menschen zu töten, war ein Kinderspiel. Die wenigsten, auch die nicht, die allen Grund hatten, sich zu furchten, konnten sich vorstellen, Zielscheibe eines Mordanschlags zu werden. Das einzige Gefahrenmoment war hinterher die Flucht, bei der es darauf ankam, nicht die geringste Spur zu hinterlassen. In der Zeit zwischen den Aufträgen, von denen er durchschnittlich nicht mehr als zwei im Jahr übernahm und jeder ihm ein feststehendes Honorar von einhundertfünfzigtausend Dollar einbrachte, kam Wiley dem Job eines äußerst cleveren und erfolgreichen Börsenmaklers nach. Wiley hatte bei dem augenblicklichen Auftrag kein gutes Gefühl. Die Erteilung einer Order per Post zu erhalten, paßte ihm ganz und gar nicht. Doch sein Auftraggeber, der Premierminister eines kleinen, aber strategisch wichtigen Scheichtums im Mittleren Osten hatte auf dieser Form bestanden. Jede andere Art der Kommunikation könne abgehört werden. Auch der politische Aspekt gefiel Wiley nicht. Bis dato waren seine Aufträge unpolitischer Natur gewesen. Der Gedanke, in das Geschehen eines Staates verwickelt zu sein, ging ihm an die Nerven. Und es gab sonst kaum etwas, das Wiley nervös -20-
machen konnte. Der Brief sollte von der Bank des Premiers in Zürich abgesandt werden. Er würde gleichzeitig die Bestätigung enthalten, daß sein Honorar bereits seinem Nummernkonto gutgeschrieben war. Datum und Ortsangabe eines beigefügten ungültigen Wechsels bezeichneten Zeitpunkt und Ort von Wileys Auftrag. Wiley hatte den Brief bereits am Samstag erwartet, aber er war nicht eingetroffen. Seitdem saß Wiley wie auf heißen Kohlen. Inzwischen war es Montagmorgen geworden. Obwohl Wiley schon seit fü nf Jahren in diesem Haus wohnte, hatte er den Briefträger noch nie zu Gesicht bekommen. Zu Weihnachten hinterlegte er im Briefkasten einen Umschlag mit fünf Dollar, darüber hinaus sah er keine Veranlassung, sich mit dem Mann zu beschäftigen. Doch an diesem Montag würde er eine Ausnahme machen und dem Postboten die Haustür öffnen. Doch dann fiel ihm ein, daß er gar nicht wußte, wann die Post eigentlich gebracht wurde. Wenn er gewöhnlich am Nachmittag nach Hause kam, steckte die Post schon im Kasten. Wiley hatte keine Ahnung, ob sie um neun oder elf kam. Bisher gab es keinen Grund, sich darum zu kümmern. Das einzige, was er wußte, daß die Post genau wie sein Finger am Abzugsbügel noch nie versagt hatte.
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MONTAG Mitternacht bis 8 Uhr 11 morgens
DIE GREEN SPADES Nur widerwillig hatten die Green Spades die Nacht zusammen verbracht, und nun wachten sie, einer nach dem anderen, gähnend und fluchend auf. Die Hälfte des Obergeschosses eines zweistöckigen Gebäudes am oberen Broadway war das Clubhouse. Es maß dreiundzwanzig Fuß in der Breite und vierundneunzig Fuß in der Länge. Zwei schmutzverklebte Fenster, die zur Straße hinaus lagen, gaben dem Tageslicht keine allzugroße Chance. Die in goldenen Lettern angebrachte Schrift war trotz der hellen Straßenbeleuchtung kaum noch zu entziffern: »Robert MacNamara, Rechtsanwalt.« Mister MacNamara, der in den Räumen des obersten Stockwerks zweiundvierzig Jahre sein Anwaltsbüro betrieben hatte, lebte nicht mehr. Seine Erben waren die Eigentümer. Mit dem Haus hatten sie eine buntgewürfelte Schar von Mietern übernommen, von denen die wenigsten Muster an Pünktlichkeit genannt werden konnten, was die Mietzahlungen anging. Im Erdgeschoß gab es bis vor einigen Jahren einen TanteEmma-Laden, jetzt beherbergten die Räume einen Schnellimbiß. Spezialität: Gebratene Hähnchen und Pommes frites, die genauso vor Fett trieften, wie der stiernackige Inhaber selbst. Die zweite Hälfte des oberen Stockwerks bewohnte ein farbiger Dentist, den noch nie ein Patient aufgesucht hatte, eine Beratungsstelle für Schwangerschaftsunterbrechungen, die in -22-
dem vorwiegend katholischen Viertel ein ebenfalls sehr klägliches Dasein fristete, und eine Import-Export-Firma, bei der jede Woche fünfzehn metallbeschlagene Holzkisten eintrafen. Ursprünglich hausten die Green Spades im Keller des Apartmenthauses, das Brian McWhirters Vater gehörte. Beschwerden und Drohungen der Mieter hatten sie von dort vertrieben. Pat Milligan entdeckte dann die neuen Räume, die seit dem Tod des alten MacNamara vor zwei Jahren leerstanden. Der Sohn, ein Captain der City-Feuerwehr, hatte sich zunächst dagegen gesträubt, an Milligan zu vermieten. »Mein alter Herr würde sich im Grab herumdrehen, wenn ich eine Horde Punks in die Räume ließe, in denen er sein Lebtag in Würde und Ehrenhaftigkeit dem Gesetz diente.« Milligan hatte nicht lockergelassen, und eines Tages wurde MacNamara weich, nachdem er es satt war, jahrelang vergeblich auf den idealen Mieter zu warten. »Aber keine krummen Dinger, und keinen Ärger mit den Nachbarn«, warnte er. »Der Hausverwalter ist ein Vetter von mir, und wenn er mir ein einziges Mal berichtet, daß die Polizei wegen euch in meinem Haus auftauchte, ist es aus. Ich werde keinen Mietvertrag mit euch abschließen, aber ich behalte euch so lange, wie ihr mir keinen Anlaß zum Ärger gebt.« In der Woche darauf zogen die Green Spades um und machten sich die Wohnung nach ihren Bedürfnissen zurecht. Der zur Straße gelegene Teil mit den beiden Fenstern wurde der eigentliche Clubraum. Eine schreiend grüne Plastikbar befand sich in Türnähe. Davor waren sechs rustikale Holzhocker aufgereiht. Außerdem gab es noch vier Sessel und zwei Sofas, deren Bezugstoffe die verschiedensten Abstufungen von Grün aufwiesen. Der rückwärtige Teil der Wohnung war in eine Reihe kleiner -23-
Zimmer aufgeteilt. Einige davon dienten als »Spielsäle«. In letzter Zeit hatte Backgammon das Poker an der Spitze der Beliebtheitsskala abgelöst. Am Ende des Korridors lagen die Wasch- und Schlafräume. Die Schlafräume glichen sich wie ein Ei dem anderen: ein Doppelbett, ein Nachttisch, ein Pappkleiderschrank, eine rote Stofflampe und ein Klappstuhl. Mitten im Flur befand sich ein langer Tisch, auf dem Stapel alter Pornomagazine, Spielkarten und Blechbehälter mit Marihuana herumlagen. Während der ersten Monate erfreuten sich die Schlafzimmer eines ständigen Zuspruchs, und der Prozentsatz an schmutziger Bettwäsche in Chens Waschanstalt schnellte auffallend stark in die Höhe. Aber in neuester Zeit verzeichnete Chen wieder eine rückläufige Entwicklung. Wie Keith Ripley es ausdrückte: »Um Backgammon zu spielen, braucht man nicht unbedingt die Bettlaken zu wechseln.« Milligan hatte angeordnet, daß in dieser Nacht alle im Clubhaus schliefen. Nur so konnte er sicher sein, die Leute am nächsten Morgen bis auf den letzten Mann beisammen zu haben. Er und Grant hatten keine Möglichkeit, einen Ersatz zu beschaffen. Achtunddreißig Männer waren für den Job notwendig, und das war genau die Zahl, über die Grant, sich selbst mit eingeschlossen, verfügte. Milligan machte sich Sorgen. Carters Husten klang nicht gut. »Hey, Mac, bist du in Ordnung? Das hört sich an, als wolltest du dir die Lunge aus dem Leib kotzen!« »Ich bin ganz in Ordnung. Morgens hör' ich mich nie anders an.« »Um Himmels willen, und da findest du immer noch eine, die mit dir ins Bett steigt?« »Zum Teufel, du hast ja keine Ahnung, was die erst für Töne ausstößt.« Milligan ging weiter und knipste in den anderen Zimmern das -24-
Licht an. Ein Schwall von Flüchen empfing ihn. »Tut mir leid, Leute, aufstehen! Es wird Zeit! Heute ist es soweit!« Es war genau vier Uhr. Milligan hatte eine Stunde für Waschen, Anziehen und Frühstück angesetzt. Mit nur zwei Baderäumen war das verdammt knapp, fürchtete er, aber jetzt konnte der Plan nicht mehr umgeworfen werden. Um fünf war eine letzte Einsatzbesprechung vorgesehen, und fünfzig Minuten später würden sie ihren Posten bei der NYPSGarage beziehen. Während es in den Clubräumen lebendig wurde und sich rasch eine spannungsgeladene, hektische Atmosphäre entwickelte, goß Milligan sich einen Becher Kaffee ein und ließ sich in einem der Sessel nieder. Brian McWhirter, der als erster mit Waschen und Rasieren fertig geworden war, setzte sich zu ihm. »Ticken wir eigentlich noch richtig?« fragte Milligan, ohne eine Antwort zu erwarten. »Natürlich, zum Teufel!« erwiderte McWhirter. »Ein Stück von dem Kuchen wird für uns schon abfallen. Dieser Typ hat gute Vorarbeit geleistet, und sein Plan ist nicht schlecht. Das Ding müßte hinhauen, wenn wir uns nicht dämlicher anstellen, als wir sind.« »Well, um sicher zu sein, werde ich das ganze Programm gleich noch mal Punkt für Punkt durchgehen.« »Sag' nur, dir flattern die Nerven. Du bist der einzige, der es fertigbringen konnte, uns die Sache schmackhaft zu machen. Wir haben uns hundertprozentig auf dich verlassen. Erzähl mir jetzt nur nicht, daß du inzwischen die Hosen voll hast. Pat Milligan und die Hosen voll! Vater im Himmel, das ist das letzte, was ich für möglich hielt!« Milligan lief dunkelrot an. -25-
»Ich hab' nicht die Hosen voll, Bri. Jedenfalls denke ich nicht dran, abzuspringen. Es ist einfach nur wie vor einer Schlacht. Du merkst, daß es ernst wird. Die Sandkastenpiele sind vorbei, und du spürst, wie's in deinen Gedärmen rumort, das ist alles.« »Hoffentlich, Mister Milligan! Denn wenn du ausflippst, können wir uns alle begraben lassen.«
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FRED DICKINSON Die grauen Trucks des New-York-Pakete-Service waren den New Yorkern genauso vertraut wie die braunen Wagen des United Parcel Service. Letzterer, kurz UPS genannt, versorgte das Land, NYPS die Stadt. Genaugenommen, jenes Gebiet, das sich in einem Umkreis von fünfundsiebzig Meilen um den Schnittpunkt von 42nd Street und Fifth Avenue erstreckte. Die NYPS Trucks waren nicht wegzudenken aus der riesigen Blechschlange, die sich Tag für Tag ratternd, hupend und stinkend durch das verstopfte Straßenlabyrinth der Stadt bewegte. Der Wagenpark des Unternehmens befand sich in Long Island City am anderen Ufer des East River, von Manhattan über die 59th Street Bridge zu erreichen. Jeden Morgen zwischen 9.15 Uhr und 9.45 Uhr wurden die drei Fahrspuren der Brücke in Richtung Manhattan eine geschlagene halbe Stunde nur von den grauen Trucks und Lieferwagen der NYPS benutzt. Die drei parallel verlaufenden grauen Fahrzeugkolonnen glichen einer in breiter Front vorrückenden feindlichen Heeresmacht, die zur Eroberung der Stadt ansetzte. Fred Dickinson, sechsunddreißig und Nachtwächter in der NYPS-Garage, war niemals Zeuge dieser gewaltigen Prozession aus grauem Blech geworden. Genau um acht jeden Morgen verließ er das Gebäude des NYPS und ging die sieben Häuserblocks bis zu seinem in einem Industriegebiet gelegenen Zweifamilienhaus zu Fuß. Acht Stunden und fünfzehn Minuten früher hatte er die sieben Blocks in der Gegenrichtung zurückgelegt. Obwohl die Gegend einen trostlosen Eindruck machte, empfand Dickinson niemals so etwas wie Furcht. Nicht einmal eine schwarze Katze war ihm in den elf Jahren über den -27-
Weg gelaufen. Er hatte zwei Erklärungen dafür, daß ihm bis jetzt nie etwas zugestoßen war. Erstens hielt ihm die Uniform, die er trug, jeden Ärger vom Leib. Und zweitens mußte es sich unter den Straßenmardern herumgesprochen haben, daß er nie mehr bei sich hatte, als ein Thunfisch-Sandwich, zwei Quarter für den Getränkeautomaten und die große Stablampe. Gelegentlich hatte es allerdings einigen Ärger in der Garage selbst gegeben. In einem Sommer hatten irgendwelche Burschen von der High School die roten Backsteinwände des Gebäudes mit grünen Farbbomben beworfen. Schließlich hatte die Polizei die Übeltäter gefaßt. Dickinson war mit seiner Tätigkeit zufr ieden, zumal sie eine beachtliche Auffrischung seiner Rente und die beste Therapie gegen seine Schlaflosigkeit darstellte, die er sich in der Army zugezogen hatte. Die Bewachung des Wagenparks setzte ein Minimum an Personal voraus. Ein computergesteuertes Netz von versteckt eingebauten Kameras und Schallmeßgeräten übernahm diese Aufgabe. Die Anlage wurde von einer Nebenstelle der All-CitySicherheits-Gesellschaft beaufsichtigt, und die All-City war in der Lage, auf einen Alarm bereits zweieinhalb Minuten später zu reagieren. Dickinson hatte man die Stelle mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit gelassen. Überdies wollte man der Versicherung den guten Willen beweisen. Ständig befanden sich Waren im Werte von zehn- bis zwanzig Millionen Dollar in dem Gebäude, und Dickinson stellte für den Versicherer gewissermaßen das Moment des menschlichen Engagements dar. Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens war Dickinson gewöhnlich allein. Gegen sechs trudelten dann die ersten Fahrer ein, und gegen sieben befanden sich mehr als dreihundert Menschen im Haus. Ihre Aufgabe war es, denjenigen unter den -28-
zehn Millionen New Yorkern, die in den letzten drei Tagen größere Einkäufe getätigt hatten, ihre Sachen zuzustellen. Die Nächte von Sonntag auf Montag waren stets die ruhigsten in Dickinson’s Job. Noch nie hatte es zu dieser Zeit irgendeinen ungewöhnlichen Vorfall gegeben. Bevor er in den morgendlichen Nebel hinaustrat, drückte er die Kontrolluhr am rückwärtigen Gebäudeausgang. Er wußte, daß es auf den Schlag fünf war und daß er in genau drei Stunden und fünfzehn Minuten im Bett liegen würde.
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JEFF GRANT Jeff Grant war die ganze Nacht aufgewesen. Er hatte keinen Schlaf gefunden, und die Wohnung war ihm enger vorgekommen als die Zelle in der Haftanstalt. Jennifer hatte sich gegen eins hingelegt. Sie schien sich keinerlei Sorgen zu machen. Grant beneidete sie um ihre offensichtliche Gelassenheit, als sie sich in das kanariengelbe Kopfkissen kuschelte, die geblümte Steppdecke über die Ohren zog und sofort danach mit ruhigen Zügen zu atmen begann. Ihre Worte nach dem Einkauf der Bettwäsche fielen ihm ein. »Gelb ist die Farbe der Verrücktheit, Darling, und wir sind beide ein bißchen verrückt, nicht wahr... besonders im Bett. Also hab' ich mich für dieses gelbe Blümchenmuster entschieden. Es wird furchtbar anregend auf mich wirken.« Alles an Jennifer wirkte anregend auf Jeff, und er wünschte sich, er könne einfach zu ihr ins Bett steigen, sich an sie schmiegen und erst am Dienstag wieder aufstehen. Aber das war unmöglich. Zuerst kam der Montag.
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DWIGHT JOHNSON Der Dienst der beiden Patrolmen William Burk und Dwight Johnson begann um Mitternacht. Fünf Stunden lang fuhren sie mit ihrem Streifenwagen die dunklen, ruhigen Straßen von Upper Manhattan auf und ab. Die Nächte von Samstag auf Sonntag waren erfahrungsgemäß ziemlich aufregend und hektisch. Von Sonntag auf Montag dagegen gab es kaum jemals einen Zwischenfall. So war es auch in dieser Nacht. Burke und Johnson hatten zwanzig Minuten den Verkehr um eine Brandstelle herumgeleitet, hatten für einen Betrunkenen die Ambulance gerufen und den Abschleppdienst für einen Personenwagen kommen lassen, der unbefugt an einer Bushaltestelle parkte. Die beiden Imbißhallen, die sonst die ganze Nacht geöffnet hatten, waren sonntag nachts geschlossen. Aus diesem Grund brachte Burke stets eine Thermosflasche mit schwarzem Kaffee von zu Hause mit, und Johnsons Frau steuerte ein Paket Sandwiches bei. Die beiden Polizisten zogen den Wagen an den Bordstein etwa einen halben Häuserblock vom Clubhouse der Green Spades entfernt -, schalteten das Licht aus, stellten den Motor ab und machten sich mit Heißhunger über ihr verfrühtes Frühstück her. »Verdammt, Barbara hat wieder den Senf vergessen!« stieß Johnson unwillig hervor, nachdem er den Deckel der Aluminiumdose geöffnet hatte. »Kein Grund zur Panik, mein Freund, bei mir sind Sie an der richtigen Adresse. New Yorks feinstes Delikatessengeschäft wird selbst dem verwöhntesten Gaumen gerecht.« Burke kramte im Handschuhfach und brachte einen stark -31-
zerbeulten, aber unbeschädigten Senfbeutel von McDonald zum Vorschein. »Da! Mit den besten Empfehlungen von Ronald McDonald.« »Du bist in einer beneidenswerten Verfassung, Partner. Was ist los mit dir?« »Nichts ist mit mir los, Bill. Das ist es ja! Die Untätigkeit macht mich nervös. Es ist mir einfach zu ruhig in der letzten Zeit. Ich komme mir vor wie ein Wal, den man auf den Strand gezogen hat, verstehst du?« »Aber du siehst nicht so aus, mein Junge. Im Gegenteil, ich hab' den Eindruck, du hast einige Pfunde verloren.« »Stimmt. Ich hab' kaum gegessen. Und Barbara und den Kindern hab' ich das Leben schwergemacht.« »Und was ist dir über die Leber gelaufen, alter Junge?« Johnson lehnte sich hinter dem Steuer zurück und starrte hinaus in die Dunkelheit. Kein Schatten bewegte sich auf der Straße. Ab und zu kam ein Taxi auf dem Weg zur Garage an ihnen vorbei, und ein Fahrer von der Times warf in regelmäßigen Abständen dicke Zeitungspacken aus dem Wagen. »Ich weiß es wirklich nicht, Bill. Schon seit Tagen hab' ich so ein seltsames Gefühl, daß irgendwas in der Luft hängt. Nichts Greifbares. Nur dieses undefinierbare Gefühl im Magen. Jedenfalls war dies die ruhigste Woche, die ich bei der Polizei erlebt habe. Wir müßten den Steuerzahlern ihr Geld zurückerstatten.« Burke lachte. »Natürlich. Und um dein Gewissen zu beruhigen, beantragst du am besten die Versetzung ins Dreiundzwanzigste. Das wird die Lösung deines Problems sein.« Das 23. Polizeirevier erstreckte sich über den südöstlichen Teil von Harlem. Ruhige Nächte waren dort unbekannt. »Das ist es nicht. Es stört mich nicht, daß weniger passiert als -32-
sonst. Es war einfach zu ruhig. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Und ich zerbreche mir andauernd den Kopf darüber, aus welcher Ecke der Sturm losbrechen wird.« »Ich sprach mit einigen Kolle gen von der Jugend, bevor wir heute nacht losfuhren. Sie sind auch der Meinung, daß die Gangs sich im Augenblick verdächtig ruhig verhalten. So, als wäre irgendein großes Ding im Busch. Dabei gibt es keinerlei konkrete Anzeichen. Sie rätseln alle herum.« Die Stimmung seines Partners beunruhigte Burke. Dwight Johnson war ein guter Cop, mit einem ausgeprägten Gespür für atmosphärische Veränderungen in seinem Revier. Wenn er sich Sorgen machte, tat Burke gut daran, sie ebenfalls höllisch ernst zu nehmen. Dennoch, diesmal sah Burke wirklich keinen Grund zur Sorge. »Das geht hier wie auch sonst im Leben. Eine Zeitlang passiert gar nichts, dann kommt es wieder knüppeldick. Im Moment haben wir eben mal wieder 'ne Pause. Die Green Spades haben sich den nötigen Respekt verschafft. Niemand wagte es, ihnen in die Quere zu kommen. Die Puerto Ricans spielen die frischentwöhnten Fixer und sahnen fleißig bei den Rehabilitationsstellen in der Stadt ab. Und die Schwarzen sind vollauf mit ihren Führungsproblemen beschäftigt. Mohammed Zebra gilt seit zwei Wochen als vermißt, und Charlie ist sicher, daß sie in den nächsten Tagen seine Leiche finden werden. Er kann es gar nicht mehr abwarten, die Saviors endlich hopszunehmen.« Burkes Analyse verfehlte nicht ihre Wirkung auf Johnson. Besonders der Gedanke an den äußerst aktiven Detective Sergeant der Sonderabteilung zur Bekämpfung von Jugendbanden, Charlie Morrison, schien ihn zu beruhigen. »Jesus, in Charlies Haut möchte ich wirklich nicht stecken.« »Das Picknick ist beendet«, sagte Burke, der hoffte, dem -33-
Kollegen wenigstens etwas von seiner Nervosität genommen zu haben. »Fahren wir los, und kümmern wir uns wieder um den Schutz dieser generösen Steuerzahler, die nicht einmal wissen, daß wir in unserem Job auf nicht wiedergutzumachende Weise überbezahlt werden!« Johnson betätigte den Anlasser und lenkte den Wagen auf die Fahrbahn, die um fünf Uhr fünfzehn am Montag morgen menschenleer und wie ausgestorben vor ihnen lag. In diesem Augenblick bemerkte Johnson die Lichter im Club der Green Spades. »Möchte wissen, was bei denen da oben los ist.« Burke spürte eine leichte Verärgerung über den sonst so kühl und vernünftig reagierenden Kollegen. »Nichts ist da los, Mann. Die haben sich einfach mal wieder die Nacht um die Ohren geschlagen, das ist alles!« »Von wegen, nichts ist da los! Das ist ganz ungewöhnlich. Diese Knaben sind noch nie um eine solche Zeit aufgewesen. Ich werde an den Straßenrand fahren und mir die Sache ein wenig aus der Nähe ansehen.« Johnson brachte den Wagen neben einem Hydranten dicht beim Eingang der ehemaligen Anwaltskanzlei zum Stehen und wartete. Burke schloß unwillkürlich die Augen und schwieg. Jedes weitere Wort von ihm konnte der langbewährten Freundschaft mit dem Mann, der seit vier Jahren sein Partner war, ein Ende bereiten. Wenige Minuten später stieß Johnson ihn in die Seite. »Mister Milligan verläßt das Haus.« »Na und?« »Und die übrige Meute folgt getreulich hinterher.« »Hochinteressant, doch was soll's?« Milligan und alle anderen trugen einen Plastikbeutel, in dem -34-
sich je eine NYPS-Uniform befand. Grant hatte ausdrücklich Anweisung gegeben, die Uniformen nicht schon im Club anzulegen, um jede Art von Aufsehen zu vermeiden. Außerdem hatte er angeordnet, auf die Uniform ein T-Shirt und eine Jeanshose zu legen, damit auch die kleinste Gefahr einer Panne ausgeschaltet war. Johnson ließ kurz die Sirene aufheulen und verließ den Wagen. Er baute sich vor Milligan auf und sagte: »Hallo, Gentlemen! Schon so früh auf den Beinen heute morgen?« Milligan hatte mit einem solc hen Zwischenfall nicht gerechnet. Für Sekunden verlor er die Haltung. »Mister Milligan verschlägt's die Sprache, das will was heißen, wie?« Milligan hatte sich wieder gefangen und lächelte. »Hallo, Officer, wir fahren zum Camping ins Grüne.« »Sie fahren zum - was?« »Zum Camping. Die Green Spades unternehmen heute ihren traditionellen Wandertag. Einen Ausflug aufs Land.« »Und das in aller Hergottsfrühe?« »Well, Officer, sonst hat man doch nichts von einem solchen Tag.« Johnson blieb skeptisch. »Und was ist in den Beuteln drin?« »Ein paar persönliche Dinge«, antwortete Milligan beiläufig. »Was für persönliche Dinge?« »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, oder löchern Sie gesetzestreue Bürger immer mit derartigen Fragen?« Milligan hielt den Beutel auf. »Bitte sehr, damit Sie sehen, daß wir nichts zu verbergen haben. Werfen Sie einen Blick in die Tasche. Jeder von uns hat ein paar Klamotten zum Wechseln dabei. Für alle Fälle, wissen Sie.« -35-
Johnson wußte, daß er für eine Durchsuchung keine Handhabe besaß, blickte in die geöffnete Tasche, machte jedoch keine Anstalten, den Inhalt näher zu prüfen. »Können wir jetzt vorbei, Officer? Oder warten Sie auf eine Einladung mitzukommen?« Johnson winkte ab, drehte sich um und kehrte zum Wagen zurück. Er fühlte sich unbehaglich und kam sich gedemütigt vor. »Na?« fragte Burke, als Johnson sich neben ihm in den Sitz fallen ließ und die Tür heftig ins Schloß warf. »Diese Bastarde haben etwas vor«, entgegnete er. »Die können doch Kuhscheiße nicht von Hundescheiße unterscheiden.« »Was sagst du da?« »Milligan erzählte mir, sie fahren aufs Land. Das will der mir wirklich weismachen. Himmelarschundzwirn, die Green Spades sind zu Frischluftfanatikern geworden. Und das ausgerechnet an diesem Montag morgen!« Hundert Schritte von den beiden Polizisten entfernt beruhigte sich Milligan wieder. Brian McWhriter legte einen Trab ein und setzte sich neben den Boß. »Zum Teufel, was wollte Johnson von dir? Schwierigkeiten?« »Keine Ahnung, Bri. Aber eins weiß ich todsicher: Ein Polizeizeuge ist in unserem Plan nicht vorgesehen.« »Nun mach dir nicht gleich in die Hose, Mann! Falls was ist, wir waren zum Campen raus. Und selbst wenn der Coup morgen in der Zeitung steht, uns kann niemand damit in Zusammenhang bringen.« »Wahrscheinlich hast du recht, aber mir schmeckt das nicht. Wir haben die Garage noch nicht erreicht, schon erleben wir die erste Überraschung. Und Überraschungen können wir heute wirklich keine gebrauchen.«
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JEFF GRANT Grant haßte Uhren, und er haßte das, was man mit ihnen mißt: die Zeit. In der modernen Gesellschaft spielt die Zeit die alles entscheidende Rolle, und ihr Wert wird maßlos übertrieben. Grant dachte an die vielen abgedroschenen Redensarten: »Zeit ist Geld. Zeit ist kostbar. Geize mit jeder Sekunde.« Er dachte an die randvollen Terminkalender, die auf die Minute festgelegten Verpflichtungen: Konferenz um zehn Uhr fünfzehn; Lunch zwölf Uhr fünfundvierzig; Filmvorführung drei Uhr dreißig. Es war lächerlich, dieses Wettrennen mit der Zeit, dieses Feilschen um jede Sekunde! Für ihn, Jeff Grant, würde das alles morgen schon der Vergangenheit angehören. Gut, Zeit hatte wirklich etwas mit Geld zu tun, und er war auf dem Wege, sich welches zu beschaffen. Mehr, als er jemals ausgeben konnte. Und dieses Geld würde ihn in die Lage versetzen, die Fesseln der Zeit ein für allemal von sich abzuschütteln. Allerdings, noch war es nicht soweit. An diesem Montagmorgen, siebenundvierzig Minuten nach vier, spielte Zeit für ihn noch die alles beherrschende Rolle. Grant wurde von einer jähen Unruhe erfaßt. Er hatte Angst. Nicht vor dem Coup, sondern Angst vor sich selbst. Angst, weil er nicht geschlafen hatte. Angst, er könne bei der halsbrecherischen Gratwanderung, die heute vor ihm lag, einen falschen Schritt tun und abstürzen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es für jeden in seiner Lage unmöglich gewesen wäre, in dieser Nacht Schlaf zu finden. Jennifer hatte darin eine glücklichere Natur. Sie schlief mitten im Auge des Sturms. Diese Fähigkeit, in jeder Situation völlig -37-
abschalten zu können, verriet eine ungewöhnliche innere Stärke. Jeff wußte, daß es nur dieser Eigenschaft zuzuschreiben war, daß Jennifer die Monate seines Gefängnisaufenthalts ohne Schaden überstanden hatte. Genauso, wie sie die Fähigkeit zum Abschalten besaß, war Jennifer auch in der Lage, zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder voll aktiv zu sein. Und an diesem Morgen hatte sie sich vorgenommen, Punkt vier Uhr fünfundvierzig aufzuwachen. Jeff erwartete sie noch nicht, umso angenehmer empfand er ihren schlafwarmen Körper, der sich gegen seinen preßte. Er zitterte, als sie die Arme um ihn schlang und mit spielerischer und zugleich leidenschaftlicher Wildheit seinen Nacken küßte. »Guten Morgen, Tiger.« Er drehte den Kopf. Sein Mund suchte den ihren. Er mußte sie ansehen, wenn er sie bege hrte. »Guten Morgen, Baby. Ich liebe dich.« »Du bist die ganze Nacht aufgewesen, nicht wahr?« »Ja. Ich konnte keinen Schlaf finden. Um es genau zu sagen, ich hab's nicht einmal versucht. Ich hab' die Zeit damit verbracht, alles nochmals durchzugehen. Und ich hab' keinen Fehler entdecken können.« »Natürlich nicht, Dummerchen. Du hast den Plan für das perfekte Verbrechen entwickelt.« »Unsinn! Niemand in der Welt ist vollkommen. Du ausgenommen. Das schlimme ist, ich kann nirgends einen Fehler entdecken. Fürchte nur, daß das passiert, wenn wir mittendrin sind.« Jennifer glitt neben ihm aufs Sofa. Ihr Gesicht war ernst. »Du möchtest es noch einmal durchsprechen? Um ganz sicherzugehen?« »Dazu ist keine Zeit mehr, Baby. Ich muß dich gleich -38-
verlassen.« »Okay. Ich mache den Kaffee fertig, während du dich rasierst und umziehst.« Grant küßte sie und stand auf. Dann ging er ins Schlafzimmer, warf das Hemd aufs Bett und verschwand im Bad. Jennifer hatte in der Küche schon alles vorbereitet. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, die schon mit Wasser gefüllt war. Auch der frische Max-Pax-Filter war eingelegt. Jeff mochte keinen Filter. »Wenn ich Papiergeschmack will, dann nehme ich Papier. Was ich am Morgen brauche, ist eine starke Tasse Kaffee, ungefiltert und mit reinem, ehrlichem Aroma«, sagte er immer. Jennifer hoffte, er würde den Verstoß gegen seine Wünsche nicht bemerken. Danach kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und nahm die dünne Mappe in die Hand, die Jeffs sämtliche Karten und Aufzeichnungen enthielt. Das Deckblatt war ein normaler, gelber, mit Linien versehener Briefbogen. Auf der Mitte des Blattes, dick mit Rot unterstrichen, stand in Blockschrift ein einziges Wort. Dahinter ein Doppelpunkt und darunter elf weitere Worte: INHALT: Plan zum Raub der gesamten Postzustellung des Postamtes New York, N.Y. 10022 Diese zwölf Worte bildeten die Quintessenz alles dessen, was bereits geschehen war und heute noch geschehen würde. Sie faßten wie in einem Brennspiegel Jeff Grants verbrecherischen Plan zusammen: Die Montagmorgenpost eines der dichtbesiedeltsten und heterogensten Zustellbezirke der Vereinigten Staaten zu rauben. New York, N.Y. 10022 Ein erstaunlich symmetrisches Gebilde, das sich von der 5oth Street bis zur 60th Street und vom East River bis zum Ostteil der -39-
Fifth Ave nue erstreckte. Diese achtzig Häuserblocks bildeten den Kern Manhattans, und während der Geschäftsstunden hielt sich hier eine Viertelmillion Menschen auf. New York, N.Y. 10022, hatte noch einen anderen, einen historischen Namen: Franklin D. Roosevelt Station. Die FDR Station lag an der Third Avenue zwischen der 54th Street und 55th Street, genau im Zentrum von New York, N.Y. 10022. Ein vielstöckiges Gebäude, das von den Postbediensteten der Einfachheit halber nur »909« genannt wurde. Aus dem Labyrinth der unterirdischen Verteilerhallen nahmen allmorgendlich Millionen Briefe und Pakete durch die tunnelartigen Tore von 909 Third Avenue hindurch ihren Weg in die privaten und geschäftlichen Kanäle des Bezirks. Zwischen 8 Uhr 11 und 8 Uhr 57 morgens erhielt New York, N.Y. 10022, seine Post. In nicht mehr ganz fünf Stunden würde diese eherne Gesetzmäßigkeit rücksichtslos aufgehoben werden. Die abrupte und vollständige Unterbrechung eines wesentlichen Kommunikationsflusses im Leben der zweihundertfünfzigtausend ahnungslosen Steuerzahler war nicht das eigentliche Ziel des Grantschen Planes. Es ging Jeff ausschließlich darum, den Inhalt der Postsäcke - Geld in einer vermuteten Höhe von vier Millionen Dollar, Juwelen und Wertpapiere - in seine Gewalt zu bringen. Vor allem aber brannte er darauf, einen einzigen Menschen unter den zweihundertfünfzigtausend vernichtend zu treffen: David Knight, der zum erstenmal in seinem peinlich geordneten und störungsfrei verlaufenden Leben etwas nicht bekommen würde, obwohl er es sehnsüchtig erwartete. Sobald Grant zu der Überzeugung gekommen war, daß es gegen seinen Plan keine wirksame Verteidigung gab, hatte er sich darangegeben, ihn schnellstens in die Tat umzusetzen. Wie vermutet, hatten Rudman und Van Della auf der Stelle -40-
zugesagt. Wie Grant konnten auch sie die Umstände ihrer Inhaftierung nicht verschmerzen, und sie warteten nur auf eine Gelegenheit, ihre Rachsucht in einer Weise zu befriedigen, die ihrer Intelligenz und Vorstellungskraft gemäß war. Grants ungeheuerliche Idee fand ihre ganze Zustimmung, ja faszinierte sie regelrecht. Zunächst legten sie eine genaue Karte des Bezirks an und unterteilten sie in einzelne Planquadrate. Dann ermittelten sie die Zustellzeiten innerhalb des Gebietes. Dabei stellten sie fest, daß die Ankunftszeiten der Mail Trucks an ihrem Bestimmungsort von Tag zu Tag höchstens um drei Minuten differierten. Grant benötigte außer Rudman und Van Della noch weitere achtunddreißig Männer zur Ausführung seines Plans. Die zu finden, erschien Grant unmöglich, bis er sich an seine Jugend erinnerte. Er stammte aus Upper Manhattan, war dort geboren und aufgewachsen, und die Green Spades waren der moderne Abklatsch jener Bande, zu der er einmal gehört hatte. Für einen Sechstelanteil der Beute waren sie bereit mitzumachen. Zunächst gab es bei den Spades zwar einige Schwierigkeiten bezüglich der Aufteilung, da sie der Meinung waren, der Beuteanteil stehe in keinem Verhältnis zu ihrer Mannschaftsstärke, erklärten sich dann jedoch mit Grants Angebot einverstanden. Grant hatte die Hälfte des Fangs für sich beansprucht. Von der anderen Hälfte sollten Rudman und Van Della je ein Drittel erhalten. Der Rest war für die Green Spades vorgesehen. Allerdings stimmte Grant nach längerem Zögern der Forderung zu, jedem Mitglied der Bande einen Mindestanteil von zehntausend Dollar zu garantieren. Wie die meisten wirklich originellen Ideen, war Grants Plan skrupellos und von verblüffender Einfachheit. Vor allem aber versprach er ein hundertprozentig sicheres Gelingen. -41-
Weder die Briefträger noch die Fahrer der Mail Trucks, die stets eine unvorstellbar große Anzahl mit Bargeld gefüllter Briefumschläge oder Päckchen mit sich führten, standen in direkter Verbindung mit ihrer Postdienststelle. Es gab also kein Alarmsystem, das einen Überfall auf die zu ihrem Zustellbereich unterwegs befindlichen Wagen oder Beamten der Dienststelle meldete. Erst wenn es feststand, daß diese nicht zur Station zurückgekehrt waren, würde der Verdacht eines Verbrechens auftauchen. Diese Tatsache gab Grant wenigstens einige Stunden Vorsprung. Er konnte New York N.Y. 10022 längst verlassen haben, bevor der Raub entdeckt worden war. Bis man dessen ungeheuerliche Ausmaße begriffen hatte, würden weitere Stunden vergehen, und eine Ewigkeit vermutlich, bis man auf die Lösung des Falles gestoßen war. Jeder der Akteure - Grant, Van Della und Rudman ausgenommen - trug die graue Uniform des New Yorker PaketeService, war durch rosagetönte Brillengläser und angeklebten Schnurrbart in seinem Aussehen verändert worden. Jeder würde jeden mit »Charlie« anreden, und jeder echte Postbedienstete würde zwanzig Sekunden nach seiner Entführung die Augen mit einer Binde verdeckt haben. Sie benötigten elf mittelschwere geschlossene Lieferwagen und acht Trailer Trucks. Jeder Lieferwagen würde in einer der vom Fluß zur Fifth Avenue führenden Straßen, jeder Lastzug in einer der in NordSüd-Richtung verlaufenden Avenues eingesetzt werden. Die Fahrzeuge sollten aus der Garage des New Yorker PaketeService in Long Island entwendet werden, nachdem jeder der Fahrer bei seinem Eintreffen im Gebäude festgenommen worden war. Normalerweise begann die Paketzustellung durch den NYPS -42-
nicht vor zehn Uhr morgens. Der Überfall würde längst gelaufen sein, bevor der erste Empfänger ungeduldig wurde und Alarm schlug. Auch das ungewöhnlich frühe Auftauchen der NYPSFahrzeuge in den Straßen dürfte keinerlei Verdacht erregen, da sie einen nicht wegzudenkenden Bestandteil des Straßenbildes von Manhattan Midtown ausmachten. Die Zahl der notwendigen Akteure ergab sich aus einer sehr einleuchtenden und konsequenten Überlegung: Elf quer durch die Stadt verlaufende Straßen, die sogenannten Crosstown Streets, erforderten elf Lieferwagen. Ein Wagen war mit zwei Leuten zu besetzen. Die acht von Norden nach Süden führenden Hauptverkehrsadern erforderten acht Trailer Trucks und ebenfalls zwei Mann pro Fahrzeug. Auf den Crosstown-Straßen waren die Briefträger mit ihren zweirädrigen Karren und Umhängetaschen unterwegs. Man würde die Leute unauffällig aus dem Verkehr ziehen und sie im Inneren der Wagen verschwinden lassen. Gefesselt und geknebelt würden sie danach die Reise zur NYPS-Garage antreten. Auf der Avenue würden die Trailer Trucks sich wie gewöhnlich neben die Postlaster setzen, von denen je einer einen Häuserblock zu beiden Seiten der Straße bediente. Man würde der drei- oder vierköpfigen Besatzung in aller Ruhe bedeuten, die wäschekorbartigen Postbehälter am Rand des Bürgersteigs abzustellen. Die Fracht würde in den Truck umgeladen und die Besatzung gefesselt und geknebelt in ihre Fahrzeuge gesperrt werden. Zwischen neuneinhalb und zehn Uhr morgens erregte ein verschlossener und vorschriftsmäßig parkender Postlaster in diesen Straßen weder die Aufmerksamkeit der Passanten noch die der Polizei. Ein solch methodisches Vorgehen würde Grant in die Lage versetzen, innerhalb sechsundvierzig präzis genutzter Minuten die gesamte Montagmorgen-Zustellung des Postbezirks New York, N.Y. 10022, in seinen Besitz zu bringen. -43-
Während dieser sechsundvierzig Minuten fiel Grant die Aufgabe zu, in den Straßen umherzukreuzen und die Aktion zu beaufsichtigen. Rudman kontrollierte den Streckenabschnitt Queensborough Bridge, und Van Della bezog Posten in der NYPS-Garage. In der Garage würden die Ladungen der neunzehn Fahrzeuge in drei Wohnmobile, die wie Postwagen eingerichtet waren, umgepackt. Dann steuerte jeder der drei Männer eines dieser unauffällig aussehenden Fahrzeuge mit auswärtigen Nummernschildern zu drei verschiedenen Trailer-Parkplätzen im Osten Long Islands. Jennifer lächelte, während sie die gelbe Mappe durchblätterte und die Ereignisse des bevorstehenden Tages vor ihrem geistigen Auge Revue passieren ließ. Es mußte gelingen. Es konnte einfach nichts schiefgehen. Grant hatte sich rasiert. Im Gegensatz zu Van Della, seinem eitlen, gutaussehenden und auf Wirkung bei Frauen versessenen Partner, legte er keinerlei Wert darauf, wie er angezogen war. Alle Stücke seiner umfangreichen Garderobe waren von erstklassiger Qualität, aber Grant war der Meinung, sie ließen sich ohne weiters beliebig miteina nder kombinieren. Für gewöhnlich lag er mit dieser Annahme richtig. Manchmal jedoch ging die Sache ins Auge, und Jennifer erzwang in letzter Minute eine dramatische Korrektur seines Äußeren. »Das Rennen kann losgehen, Kleines! Wünsch mir Glück!« Jennifer wandte sich prüfend zu ihrem wie aus dem Ei gepellten Ehemann um. »Alles wird laufen wie am Schnürchen, Tiger. Hemd und Krawatte passen tadellos.« Grant rückte lächelnd den Knoten der dezent gestreiften Krawatte zurecht. »Ja, ich wünsche dir Glück«, sagte sie und küßte ihn auf die -44-
Wange. »Heute wirst du eine ganze Menge davon nötig haben.«
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BOB RUDMAN
Rudman glaubte nicht an das Glück. Glück war für ihn einfach das Ergebnis sorgfältiger Planung. Unglück nichts anderes als die Konsequenz der Dummheit. Von vornherein hatte er Grant und Van Della seine Überzeugung von der Richtigkeit des Rudmanschen Gesetzes dargelegt: Wenn eine Sache schiefgehen kann, dann geht sie auch schief. Das war nach Rudmans Ansicht die grundlegendste Lebenswahrheit. »Nein, Bob, das stimmt nicht«, widersprach ihm seine Frau immer wieder. »Jede Wolke hat einen silbernen Rand.« »Dummes Zeug«, war die stereotype Antwort. »Wenn es dir nicht gelingt, den Wolken auszuweichen, stehst du im Regen.« Rudman war sicher, daß sie heute nicht in den Regen kommen würden. Grants fast krankhafter Zwang zur Gründlichkeit, gepaart mit Rudmans ausgeprägtem Sinn für Planung und Zeiteinteilung, waren ein zuverlässiges Gegengewicht zu Van Dellas charakterbedingter Unbekümmertheit. In der Tat brachte Rudmann für einen Typ wie Van Della keinerlei Verständnis auf, dennoch war er der Meinung, daß jede Gang wenigstens über ein Mitglied mit Van Dellas Wurstigkeit und Talent zum Optimismus verfügen sollte. »Hör zu, Bob, ich mag dich«, hatte Cal einmal zu ihm gesagt. »Doch du mußt zugeben, daß du ein verdammt verkniffener Hund bist. Das ist nichts, dessen man sich zu schämen braucht, aber du wirst es als Tatsache hinnehmen müssen. Vielleicht hattest du eine schwere Kindheit oder standest dauernd unter Leistungszwang, während Jungs wie ich draußen Ball spielten -46-
oder sich sonst irgendwo Umtrieben. Jedenfalls das Resultat steht fest: Aus dir ist ein Kerl geworden, dem der Ärger geradezu am Hintern klebt.« Sogar Grant hatte gelächelt über Van Dellas unverfrorene, aber treffende Charakteranalyse. Van Dellas Diagnose erwies sich besonders an diesem Morgen als äußerst hellsichtig, an dem Rudman vierzig unbequeme Minuten im Bad zubrachte. Er saß dort im Dunkeln und grübelte. Diane behauptete, der Lichtstreifen, der am unteren Rand der Badezimmertür durchschimmerte, reiße sie aus dem Schlaf. Also hatte Rudman es sich wohl oder übel zur Gewohnheit gemacht, Zeiten der Schlaflosigkeit im Dunkeln zu verbringen. An diesem Morgen empfand er seine Lage noch unbefriedigender als sonst. Rudman litt unter der Furcht, ausgerechnet während des Raubzuges kontrolliert zu werden. In Zeiten starker Überbelastung verlor er leicht die Nerven, und obwohl sich seine Befürchtungen stets als falscher Alarm herausstellten, war die Wirkung nicht weniger verheerend und ließ Rudman als totales seelisches Wrack zurück. Aus diesem Grunde konnte gerade heute die kleinste, unvorhergesehen auftretende Schwierigkeit eine Katastrophe heraufbeschwören. Kummer machte ihm vor allem eins: Die Möglichkeit eines Unfalls auf der 59th Street Bridge, der den Verkehr während der kritischen Phase der Rückkehr zur NYPS Garage zum Erliegen bringen konnte. Natürlich war auch für einen solchen Fall Vorsorge getroffen worden: Von seinem Standort bei der Brücke aus konnte er die Fahrzeuge, wenn nötig, auf die andere, von dem Unfall nicht betroffene Verkehrsebene umdirigieren. Die obere und untere Fahrbahn der Brücke waren bisher nur ein einziges Mal gleichzeitig gesperrt worden. Damals hatte die Polizei eine Bombendrohung mitten während der Rush- hour erhalten. Rudman hielt eine Wiederholung dieses Vorfalls für ausgeschlossen. In der Dunkelheit des Badezimmers bemächtigte sich seiner -47-
das gespenstische Gefühl des »déjà vu«,. Rudman war in einem Zustand, als hätten die Ereignisse dieses Ta ges bereits stattgefunden. »Bob, bist du auf der Toilette?« »Ja, Liebste, aber ich hab' das Licht nicht angemacht, um dich nicht zu stören.« »Ja, ich weiß. Aber ich bin schon seit einiger Zeit wach. Dein Magenknurren hat mich aufgeweckt.« »Tut mir leid, Diane. Aber es gibt eben einige Dinge, die der Mensch nicht unter Kontrolle hat.« Er hörte, wie seine Frau sich im Schlafzimmer bewegte. Irgendetwas anderes als sein Magenknurren mußte sie geweckt haben, denn für gewöhnlich erwachte sie nicht vor zehn aus ihrem ohnmachtsähnlichen Schlaf. »Wie spät ist es, Bob?« »Keine Ahnung, ich sagte dir schon, es ist stockdüster hier drin!« »Was für eine ungute Stunde!« »Wer hat dir gesagt, du sollst aufstehen?« Rudman streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Vielleicht half ihm die Lektüre der Times von gestern! »Bitte, mach das Licht aus!« »Aber du bist doch auf, Liebes!« »Ich mag auf sein, aber ich bin noch nicht wach, und das Licht raubt mir alle Müdigkeit.« »Mist!« »Was hast du gesagt?« »Nichts, Liebes. Geh wieder ins Bett. Wir sehen uns später.« Als er das Licht ausknipste, wurde die Tür des Badezimmers geöffnet. Diane stand im grauen Rechteck des Türrahmens. »Mach das Licht bitte nicht mehr an. Ich möchte dir nur einen -48-
Kuß geben und dir Glück für heute wünschen.« Sie stolperte über die Badematte und fiel gegen ihn. »Gott«, sagte sie mit jenem Ton des Erstaunens, das sie immer überkam, wenn ihr etwas Unvorhergesehenes zustieß, »das nenne ich Zusammengehörigkeitsgefühl.« Sie küßte ihn auf die Stirn und wünschte ihm Glück. Dann bat sie ihn, ihr ebenfalls Glück zu wünschen. »Wozu?« fragte er und fuhr mit der Hand über die feuchte Stirn. »Wozu? Na, deinetwegen!« »Meinetwegen?« »Natürlich deinetwegen. Daß du bei dieser Geschichte nicht ums Leben kommst, und ich heute keine Witwe werde.« »Keine Angst, das ist in unserem Plan nicht vorgesehen.« »Natürlich nicht. Aber du hättest eine Kopie des Plans an die Cops schicken sollen. ›Liebe Polizei, würden Sie die Freundlichkeit besitzen, ihre Beamten heute morgen aus dem Bezirk zwischen der 50th und der 60th Street fernzuhalten, damit jede Möglichkeit, auf mich zu schießen, ausgeschlossen bleibt und die Gefahr, von einer Ihrer Kugeln getroffen zu werden, gebannt ist.‹ Was haben Pläne schon für einen Sinn?« »Sie haben den Sinn, daß ich heute abend wohlbehalten nach Hause zurückkomme, so als wäre ich noch in der Bank beschäftigt. Nur eben um mehrere Millionen Dollar reicher.« »Oder tot.« »Richtig - oder tot«, gab er zur Antwort, nur um die Unterhaltung zu beenden. Rudman zog die Tür hinter Diane wieder ins Schloß. Normalerweise ignorierte er die hysterischen Anfälle seiner Frau, und auch jetzt bemühte er sich, der soeben geführten Unterhaltung keine weitere Beachtung zu schenken. -49-
Dennoch entschloß er sich, für alle Fälle den 38er mitzunehmen, den Grant ihm gegeben hatte.
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CAL VAN DELLA
Das Schrillen des Weckers bohrte sich in Van Dellas Unterbewußtsein, und automatisch blinzelte er zu der DunhillUhr hinüber, die auf dem Nachttisch stand. In der Dunkelheit sah er den rechteckigen Lichtbalken der Zeitanzeige. Die grünlich leuchtenden Ziffern zeigten 4:45. Van Della streckte die Hand aus und betätigte die Stoptaste. Das Schrillen verstummte. Als er sich zurückfallen ließ, berührte er Olivias nackten Körper. Die Kühle der samtenen Haut erregte ihn. »Nicht jetzt, Kumpel«, wies er sich selbst zurecht. »Wir haben noch einen anstrengenden Tag vor uns!« Olivia drehte sich zu ihm und gab ein leises Schnurren von sich, das schlaftrunkene Bereitwilligkeit verriet. Aber Van Della zog sich zurück und riet ihr, weiterzuschlafen. »Wie spät ist es?« murmelte sie. »Zu früh für dich, um aufzustehen«, antwortete er. Unter der Brause überfiel ihn der Drang, lauthals aufzulachen. Eine Frage war ihm eingefallen, auf die er keine Antwort fand: ›Was zieht man an dem Tag an, an dem man vorhat, das perfekte Verbrechen zu begehen?‹ Er wählte eine graue Hose, ein blau-rot gestreiftes PaulStuart-Hemd mit verdeckter Knopfleiste, einen klassischen, dunkelblauen Blazer und eine rote, mit winzigem Schweinchenmuster und weißgestickten MCP-Initialien versehene Krawatte. Die Socken waren aus anthrazitgrauer Wolle, zum Schutz gegen den Fußschweiß, der ihm heute bestimmt noch zu schaffen machen würde. Die Schuhe aus kamelfarbenem Leder hatten flache, bequeme Absätze. »Jetzt frage ich dich allen Ernstes«, sagte er grinsend, während er in den mannshohen Spiegel an der Rückseite der -51-
Badezimmertür blickte, »sieht so ein skrupelloser Gangster aus?« Van Della machte den Eindruck eines Schriftstellers, der sich an diesem Tag mit seinem Verleger treffen würde. Das dunkle, leicht gewellte Haar fiel ihm locker bis in den Nacken, und die leicht verschleierten achatgrünen Augen blickten freundlich und wachsam. In Wirklichkeit war er ein Exsträfling, der im Begriff stand, sein erstes wirkliches Verbrechen zu begehen. Den Schuldspruch, der ihn nach Danbury geschickt hatte, verdankte er einer rachsüchtigen Familie und einem von Bibelsprüchen triefenden Richter mit vier heiratsfähigen Töchtern. Er war mit der Begründung verurteilt worden, eine Minderjährige zum Zwecke der Unzucht über die Staatsgrenze geschafft zu haben. Das angebliche Opfer sandte ihm immer noch Grüße zum Weihnachtsfest. Van Della war mit dem, was der Spiegel ihm zeigte, zufrieden. Nicht anders erging es Olivia, die sich im Bett aufgerichtet hatte und mit dem blaßblauen Seidenlaken die kleinen, festen Brüste bedeckte. »Mußt du wirklich schon gehen?« fragte sie. »Du siehst umwerfend aus!« »Ja«, gab er zur Antwort und kämpfte gegen das aufsteigende Begehren. »Ich habe einen ziemlich frühen Termin außerhalb der Stadt. In einigen Tagen bin ich wieder zurück und rufe dich an.« »Du hast ja nicht einmal meine Telefonnummer«, sagte Olivia gekränkt. »Laß sie auf dem Küchentisch liegen«, meinte er ungerührt. »Und setze ein großes O darunter.« »O, für Olivia?« »Ja, und für all die anderen Os, die du hast.« -52-
Sie lächelte versöhnt und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Im Wohnraum versicherte sich Van Della, daß keine Gegenstände herumlagen, die ihn verraten konnten. Er steckte die Stoppuhr ein und nahm die Karte an sich, die Jeff so sorgfältig markiert hatte. Er faltete sie und schob sie in die Innentasche seines Jacketts. Dann blickte er auf die Uhr. Es war 5 Uhr 14. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Aber er brauchte einen Schluck Kaffee, deshalb ging er in die schmale, fensterlose Küche und stellte den Wasserkessel auf. Während er auf dem Hocker saß und darauf wartete, daß das Wasser kochte, versuchte er sich vorzustellen, was Grant und Rudman in diesem Augenblick machten. Jeff hatte bestimmt nicht geschlafen, sondern die Nacht damit verbracht, immer und immer wieder die Einzelheiten des Plans durchzugehen. Inzwischen würde er die Ecke 57th Street und Park mit dem CATV-Verwaltungsgebäude auf seiner Karte völlig zerstochen haben. Wenn Jeff über das Unternehmen sprach oder das Gelände beschrieb, war er stets unverändert sachlich und ruhig geblieben - bis er zur Ecke 57th und Park kam. Dann hatte er die Nadel jedesmal mit solcher Wut in die Karte gestoßen, als habe er einen Menschen vor sich, den er zu töten gedachte. Einmal hatte er danebengetroffen, und die Nadel bohrte sich tief in seinen rechten Schenkel. Ohne ein Wort zu sagen, hatte Jeff den Raum verlassen, die blutbefleckte Hose gewechselt und ein Pflaster auf die Wunde geklebt. Danach war er zurückgekommen, als sei nichts geschehen. Rudman hatte besorgt gefragt, ob er sich schlimm verletzt habe. »Diese Bastarde werden mich nie wieder verletzen können«, hatte Grant heftig hervorgestoßen. Dann hatte er die Nadel genommen und sie mit Wucht in die Karte gebohrt. Wenn das Rudman passiert wäre, dachte Van Della, hätte er wahrscheinlich durchgedreht. Alle Farbe war aus seinem -53-
Gesicht gewichen, als Grant die Nadel aus dem Oberschenkel zog. Van Della fragte sich, wie Rudman den heutigen Tag überstehen würde, wenn auch nur ein einziger Tropfen Blut vergossen würde. Grant und Van Della würden für alle Fälle mit einem 38er ausgerüstet sein. Rudman, so war ausgemacht, trug keine Waffe bei sich. Jetzt, in diesem Moment, küßte er vielleicht gerade sein ungepflegt mit Lockenwicklern und Haarnetz gekröntes Weib und verließ das Haus, als gehe er zur Bank. Der Wasserkessel pfiff, und Van Della goß heißes Wasser in den Becher. Es war 5 Uhr 19. Es wurde knapp, aber erst mußte er in Ruhe seinen Kaffee trinken. Vor 5 Uhr 50 wurde er nicht an der Garage des NewYork-Pakete-Service erwartet. Und er brauchte höchstens fünfzehn Minuten bis dahin. Grant würde um 5 Uhr 49 dort eintreffen, Rudman genau um 5 Uhr 50 und er, Van Della, ein, vielleicht zwei Minuten später. Manche Gewohnheiten änderte man nie. Van Della konnte sich nicht erinnern, jemals pünktlich zu einer Verabredung erschienen zu sein.
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JEFF GRANT
Carlos, der Doorman, der von Mitternacht bis acht Uhr morgens Dienst tat, war dabei, die Eingangshalle zu kehren, als Jeff den Aufzug verließ. »Guten Morgen, Mister Grant! Sie sind schon früh auf den Beinen heute!« »Guten Morgen, Carlos. Ich hab' eine wichtige Sitzung vor mir und möchte mich ohne Hast darauf vorbereiten.« »Well, einen guten Tag und viel Erfolg, Mister Grant.« »Danke, Carlos, ich hoffe, das habe ich.« Jeff hatte seinen dunkelgrünen Porsche auf der Straße stehen, weil die Parkhäuser nicht vor sieben öffneten. Als erstes würde er zur NYPS-Garage fahren und anschließend in die Stadt zurückkehren, um zwische n 8 Uhr 11 und 8 Uhr 57 in den Straßen auf und ab zu spazieren. Kurz nach neun würde er den Wagen wieder in der Nähe des Gebäudes abstellen. Dann würde er zum erstenmal nach vierzehn Jahren eine Fahrt mit der Subway machen. Es war eine unangenehme Entscheidung gewesen, die er zu fällen hatte. Ein Taxi durfte er nicht nehmen, um damit zur NYPS-Garage zurückzufahren, weil der Cab-driver sich später an die Zeit, an den Ausgangspunkt und das Ziel der Fahrt erinnern konnte. Sein eigener Wagen kam erst recht nicht in Frage. Wenn die Polizei ihn zufällig entdeckte, würde sie ihn gründlich auf Spuren untersuchen. Bei einem Mietwagen hätte er einen gefälschten Führerschein gebraucht. So etwas war kostspielig und schaffte unnötige Komplikationen. In Jeffs Vorstellung formten sich die Bilder einer düsteren, verdreckten Subway Station, dichtgedrängt, voller Menschen. -55-
Mit obszönen Bildern und Sprüchen bekritzelte Zugabteile, feuchte, rissig gewordene Tunnelwände unter dem East River. Die Fahrt von Manhattan nach Long Island City dauerte sieben Minuten, so lange, wie man brauchte, um langsam bis vierhundertzwanzig zu zählen. Er erinnerte sich noch deutlich an seine letzte Fahrt in der Subway. Es war in jenem Sommer gewesen, in dem er sein Studium an der Columbia's School of Business abgeschlossen hatte - an einem dampfendheißen Julitag. Einige seiner Kommilitonen hatten es sich in den Kopf gesetzt, vor ihrer Heimreise nach St. Louis bei Nathan's auf Coney Island unbedingt noch einen Hot-dog zu verzehren. »Nathan's gibt's doch auch am Time Square«, hatte Jeff zu bedenken gegeben. Coney Island war die Endstation der Linie, die Fahrt dorthin dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten, und der Zug hielt an Haltestellen, deren Namen Jeff nie zuvor gehört hatte. Den Leuten aus St. Lo uis machte die Sache einen Mordsspaß, und sie nahmen sich vor, eine Nathan's Niederlassung so schnell wie möglich auch in ihre Stadt zu holen. Jeff ärgerte sich über jede Minute dieser Hot-dog- Expedition und schwor, niemals wieder mit der Subway zu fahren. An diesem Tag würde er seinen Schwur brechen, doch wenn er an die Alternativmöglichkeiten und an den Grund der Fahrt dachte, kam ihm der Wortbruch nicht einmal besonders unmoralisch vor. Der Porsche sprang mühelos an, und Jeff steuerte den Wagen geschickt aus der engen Parklücke. Während er über die First Avenue ruhig in Richtung 59th Street dahinglitt, prägte er sich nochmals die Stellen ein, an denen drei Stunden und fünfunddreißig Minuten später die einzelnen Postlaster stehen würden. Auf der Avenue herrschte außer einigen blau-weißen Streifenwagen der Polizei kaum Verkehr. In Höhe der 57th -56-
Street bog Jeff plötzlich mit quietschenden Reifen nach links in die vierspurige Durchgangsstraße ein und fuhr nach Westen auf die Park Avenue zu. Während er an der Lexington Avenue auf Grün wartete, sah er einen Häuserblock weiter das Inter-Continental CATV Building. Die dunkelgraue Fassade bildete einen erdrückenden Kontrast zu den hellerleuchteten Häusern, die das mächtige Gebäude geduckt umgaben. Er fuhr bis zu dem Hydranten, der sich genau vor den mit graugetönten Glasscheiben versehenen Eingangstüren befand. »Auf diese Weise haben wir immer einen Platz für unseren Caddy«, hatte David Knight zu ihm gesagt, als man Jeff zum erstenmal mit einem Firmenwagen zum Office gebracht hatte. »Planung, Jeffrey, Planung, mehr braucht's nicht, um im Leben weiterzukommen. Sie dürfen niemals mit Nachdenken und Überlegen aufhören, wenn Sie vorhaben, die Nummer eins zu werden.« Well, Mister Nummer eins, dachte Jeff, während er zu den Eckfenstern im zweiunddreißigsten Stockwerk hinaufblickte, hinter denen Knights Direktionsräume lagen, ich habe Ihren Rat befolgt. Wieder quietschten die Reifen des Porsche gequält, als Jeff vom Bordstein abstieß, den Wagen wendete und ihn mit aufheulendem Motor in Richtung 56th Street jagte. Grants Griff um das Steuer verkrampfte sich, und er spürte das leise Zittern, das seinen ganzen Körper ergriffen hatte. Es war ihm nie mehr gelungen, David Knigth völlig aus seinen Gedanken zu verbannen, und wenn Jeff, wie in diesem Augenblick, besonders intensiv an Knight erinnert wurde, konnte er es nicht verhindern, daß sich sein Magen schmerzhaft verkrampfte. Aber am Ende dieses Tages, so hoffte Jeff inständig, würde sein Hunger nach Vergeltung für alles, was dieser Mann ihm -57-
angetan hatte, endgültig gestillt sein. Jeff hatte sich bald wieder in der Gewalt. In langsamer Fahrt überquerte er die Brücke. Dabei gab er sich der triumphierenden Vorstellung hin, daß sie bald der Weg sein würde, über den ein Transport mit vier Millionen Dollar rollte. Ein grauer Truck, der wie ein NYPS-Fahrzeug aussah, kam ihm entgegen, doch beim Näherkommen erkannte Jeff die Aufschrift »Eastern Van Lines«, und seine Spannung ließ nach. In dieser Zeit hatten NYPS-Laster noch nichts in den Straßen verloren, und das unplanmäßige Auftauchen eines solchen Fahrzeugs hätte ihn aufs höchste beunruhigt. Jeff war kein Mann, der unliebsame Überraschungen mochte. Bei ihm mußte alles nach einem genau festgelegten Programm ablaufen. Jeff fuhr bis zum Ende des Garagen- und Lagergebäudes, weit genug von der Ausfahrt mit der Kontrollstelle entfernt. Im Sicherheitsbüro brannte Licht, und er sah die Gestalt eines Mannes neben dem Cola-Automaten. Der Mann wandte sich um, als Jeff auf das Grundstück einbog. Jeff parkte den Wagen in einer Zone neben den Verladerampen. An dieser Stelle würde man den Porsche nicht bemerken, es sei denn, man fiel buchstäblich über ihn. Jeff stellte den Motor ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 5 Uhr 51. Doch Jeffs Armbanduhr, die nach der Zeit des MarineObservatoriums gestellt war, hatte genau 5 Uhr 50.
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FRED DICKINSON
Die Cokedose fiel durch den Automatenschacht nach unten, und Dickinson ärgerte sich, daß sie mit solcher Wucht im Ausgabebehälter ankam. Jetzt, dachte er, muß ich warten, bis das verdammte Zeug sich beruhigt hat, oder die Brühe spritzt wie verrückt durch die Gegend. Fluchend ergriff er die Dose und stellte sie auf den leeren Schreibtisch. Aus eigener schlechter Erfahrung wußte er, daß es wenigstens fünf Minuten dauern würde, bis das schäumende Aufwallen im Inneren der Dose sich beruhigt hatte und er sie öffnen konnte. Aber er hatte Durst, und sein Hals war wie ausgetrocknet. So riß er ungeduldig an dem Öffnungsring, und die kreisförmige Aluminiummembrane löste sich aus dem Dosendeckel. Wie vorauszusehen entfuhr die braune Flüssigkeit zischend und schäumend der Öffnung, ergoß sich über Dickinsons Hand und über die Ecke des Schreibtisches. »Scheiß doch der Hund ins Feuerzeug«, fluchte er, schüttelte seine Hand und verschwand in dem schmalen Waschraum, um ein paar Papiertaschentücher zu holen. Er hörte, wie ein Wagen auf das Gelände fuhr und hielt ihn für das Fahrzeug der Sechs-Uhr-Streife. Die Leute von der AllCity-Protective würden beim Verlassen des Gebäudes vor dem Office anhalten, so wie sie es nach jeder Kontrolle machten. Automatisch warf Dickinson einen Blick auf die Taschenuhr und war überrascht, daß sie erst 5 Uhr 52 anzeigte. All-City kam normalerweise nie vor sechs, eher noch ein bis zwei Minuten später. Es war für sie die letzte Kontrolle in dieser Nacht. Vielleicht habe ich mir das Motorengeräusch auch nur eingebildet, dachte Dickinson, oder es war draußen auf der -59-
Straße. Aber um sicherzugehen, nahm er die Stablampe, verließ den Raum und trat hinaus in den grauenden Morgen. Kein ungewohntes Geräusch war zu hören, keine verdächtige Bewegung wahrzunehmen. Etwa fünfzig Yard legte er in Richtung Verladerampe zurück. Der starke Strahl der Scheinwerfer wanderte langsam über die verschlossenen Eisentore. Nichts rührte sich. Vor ihm lag der langgestreckte Bau, den er achtmal in der Nacht auf diese Weise zu kontrollieren hatte. Wieder im Office, wischte er die Tischplatte sauber und warf die leere Cokedose in den Abfallkorb. In vier Minuten würde die All-City-Streife ihm bestätigen, daß er eben das Geräusch eines auf dem Vernon Boulevard vorbeifahrenden Wagens gehört hatte.
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DIE GREEN SPADES
Außer der unerwarteten Begegnung mit Johnson gab es für die Green Spades keine weiteren Komplikationen. Die Fahrt im A-Zug von der Dyckman Street hinunter zur 59th Street verlief rasch und reibungslos. Der Kontrolleur war nicht bis zum letzten Wagen durchgekommen, und die anderen Fahrgäste hatten kaum Notiz von ihnen genommen. An der 59th Street stiegen sie in den B-Zug um, erreichten nach einem einmaligen Zwischenaufenthalt die 7th Avenue. Dort nahmen sie den E, der sie zur Queens Plaza bringen würde. Das zweimalige Umsteigen vollzog sich ohne die geringste Störung. Grant hatte ihnen eingeschärft, die NYPS-Uniformen auf der Herrentoilette an der Queens Plaza anzuziehen. Er wollte, daß sie den Weg von der Haltestelle zur Garage bereits in der vorgesehenen Kluft zurücklegten. Milligan schloß die Tür der Herrentoilette hinter sich und holte das Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb« hervor, das Grant ihm mitgegeben hatte. In einem Raum, der höchstens für neun Personen vorgesehen war, entledigten sich achtunddreißig Männer ihrer Straßenkleidung und legten ihre Arbeitskluft an. Abgesehen von einigen blauen Flecken durch wild rudernde Ellenbogen vollzog sich die Verwandlung glatt und in bester Stimmung. Sie verließen den Waschraum, ohne Aufsehen zu erregen, und verließen die Station durch den südlichen Ausgang. Von dort marschierten sie an dem im Ba u befindlichen Parkhaus vorbei über die 27th Street bis zur Crescent Street. Hier bogen sie nach rechts ab, schlugen die Richtung nach Westen ein und gingen wieder genau auf Manhattan und den East River zu. Der Vernon -61-
Boulevard liegt am Ende der Crescent, und am Vernon Boulevard befindet sich der NYPS-Komplex. Garage und Warenlager sind von einem Maschendrahtzaun umgeben, aber weder der Zaun noch der Grasstreifen zwischen Zaun und Gebäude sind elektronisch bewacht. Sämtliche Sicherheitsanlagen beschränken sich ausschließlich auf den Schutz des Gebäudes selbst. Das Übersteigen des Zaunes bot also keine Schwierigkeiten. An einer Stelle, die etwa hundert Meter von Dickinsons Wachstube entfernt war, kletterten sie auf das NYPS-Gebäude und huschten dann zu den Verladerampen hinüber, wo Grant seinen Wagen geparkt hatte. Milligan traf als letzter ein. »Good Morning«, sagte er zu Grant. »Die Marineeinheit ist gelandet.«
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CAL VAN DELLA
Dreieinhalb Stunden später würde der Ort, an dem Cal Van Della rastlos auf und ab lief, von New Yorkern wimmeln, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden. In diesem Augenblick war Van Della jedoch weit und breit der einzige, der den Subway-Bahnsteig unter der verkehrsreichsten Straßenkreuzung des Landes, der sogenannten »Crossroads of America«, bevölkerte. Seit acht Minuten hielt er sich auf diesem Bahnsteig auf, und in diesen acht Minuten hatte ihn eine absolute Stille umgeben. Kein anderer Fahrgast hatte sich sehen lassen, kein Zug war in dieser Zeit eingelaufen oder abgefahren. Cal hatte vor Verlassen des Apartments nochmals sorgfältig die Subway-Karte studiert. Es bestand kein Zweifel, daß er mit der Linie 4 und der 33rd Street, wo er zu Hause war, bis zum Grand Central zu fahren hatte. Von dort aus würde er dann mit der 7 zur Queens Plaza gelangen. Unsicher geworden, warf Van Della noch einmal einen Blick in die Karte und bemerkte plötzlich den winzigen Stern dicht neben der Linie 7. In einer Fußnote fand er folgende Erklärung: Für Pendelverkehr, Rush-hour-Züge und sonstige Besonderheiten gelten die Aushänge in den Subway-Stationen. In Zweifelsfällen wählen Sie die Nummer UL 2-5000 und richten ihre Nachfrage an die Travel Information. Der Aushang beantwortete sein Problem mit der knappen Angabe: Züge der Linie 7 werden nur zu den Hauptverkehrszeiten eingesetzt. -63-
Cal Van Della war wie vom Blitz getroffen. Nur langsam dämmerte ihm die Erkenntnis, daß er schleunigst mit der 4 zur Street zurück mußte. Dort konnte er in den EE-Zug umsteigen, der ihn nach Long Island City bringen würde. Als er in Queens Plaza ankam, war es 5 Uhr 57. Von hier brauchte er wenigstens zehn Minuten, um zum Vernon Boulevard zu gelangen. Schuldgefühl beschlich ihn. Seine Verspätung würde die anderen in einige Unruhe versetzen. So schlug er Grants Warnung, nur ja nirgendwo irgendwelche Spuren zu hinterlassen, in den Wind, hielt vor der Station ein vorbeifahrendes Taxi an und stieg ein. »Wohin?« fragte der Fahrer. »Hoffentlich nicht zu weit, ich bin auf dem Weg zur Garage.« »Keine Bange«, antwortete Cal. »Nur ein paar Blocks weiter bis zur Beschaffungsstelle des Erziehungsministeriums.« Das Gebäude lag etwa hundert Yard hinter dem NYPSWarenlager. »Nicht ein bißchen früh, um mit der Maloche anzufangen?« fragte der Fahrer und drehte sich zu seinem Fahrgast um. »Da sagen Sie was«, entgegnete Van Della lächelnd. »Aber man hat uns mal wieder eine außerordentliche Bestandsaufnahme aufgebrummt. Die Stadt möchte unbedingt wissen, ob wir nicht zu viele Bleistifte ausgegeben haben.« »Hölle«, sagte der Driver, »haben die denn keine anderen Sorgen?« Cals Haltung entspannte sich. Der Fahrer schien keinen Verdacht geschöpft zu haben. Als der Wagen vor dem unbeleuchteten Gebäude der Beschaffungsstelle anhielt, verkündete der Fahrer: »Wir sind da. Sieht so aus, als wären Sie der erste, Sir.« »Das bin ich gewöhnlich«, sagte Cal und lächelte entwaffnend. Verdammt, dachte er, wenn der Mann wüßte, daß -64-
ich in Wirklichkeit zwei Minuten zu spät dran bin. Er zahlte und stieg aus. Der Wagen fuhr an. Cal blickte einen Moment hinterher, dann machte er kehrt und setzte sich Richtung NYPS-Garage in Trab. Als er die Verladerampe erreichte, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß er nicht der letzte war. Rudman, der einmal zugegeben hatte, daß er an einem regelrechten Pünktlichkeitsinstinkt leide, fehlte.
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FRED DICKINSON
Diesmal war Dickinson sicher, daß ein Wagen das Eingangstor passiert hatte. Er rannte aus dem Office, die Taschenlampe in der Hand, und gab dem Fahrzeug Zeichen, anzuhalten. Martin, der All-City-Lieutenant, zu dessen Dienstbereich das NYPS-Gebäude gehörte, drehte die Scheibe herunter und sah Dickinson fragend an. »Was ist los, Fred?« »Vielleicht nichts, Jack«, sagte Dickinson, knipste die Lampe aus und befestigte sie am Gürtel. »Aber ich meine, vor ein paar Minuten einen Wagen gehört zu haben, der hier aufs Gelände fuhr. Bin dann gleich nach draußen und hab' mich umgesehen. Konnte aber nichts feststellen. Ich wär dir dankbar, wenn du ebenfalls mal danach schauen würdest.« »Geht in Ordnung, Fred«, versprach Martin. »Ich halte an und sage dir Bescheid, bevor ich rausfahre.« »Danke.« »Schon gut.« Martin legte den Zeigefinger an die Mütze und fuhr Richtung Verladerampe weiter. Er schaltete den Scheinwerfer an der linken Seite des grüngelben Streifenwagens ein und glitt langsam an dem langgestreckten Lagerhaus entlang. Er sah nichts, was ihm Anlaß zur Beunruhigung gegeben hätte. Grant, Van Della und die Green Spades waren hinter dem niedrigen Mauersockel, der unter der Rampe entlanglief, in Deckung gegangen. Keiner von ihnen bewegte sich, und keiner wurde vom Lichtkegel des wandernden Scheinwerfers erfaßt. Grant hatte ihre Position mit einem tieffliegenden Flugzeug -66-
verglichen, das in den Abtastbereich einer Radarantenne gerät. »Niemand rechnet damit, daß du derart tief fliegst«, hatte er gesagt. »Deshalb sucht auch niemand nach dir.« Martin suchte sie nicht unter der Rampe, und deshalb fand er sie nicht. Er umrundete den langgestreckten Bau und fuhr dann zum Sicherheits-Office zurück, wo Dickinson auf ihn wartete. »Nichts Auffälliges gesehen, Fred!« berichtete Martin. »Du und ich, wir sind die einzigen Lebewesen hier, und ich mach' jetzt Feierabend!« »Muß ein Wagen auf dem Vernon gewesen sein«, murmelte Dickinson. »Danke, daß du nachgesehen hast. Wohl nicht nötig, daß ich eine Eintragung ins Wachbuch mache, glaube ich.« Martin lachte. »Weshalb, zum Teufel, führst du ein Wachbuch, Fred? Du bist hier genauso allein wie der Mann im Mond.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, entgegnete Dickinson. Dann setzte er nachdenklich hinzu: »Hoffentlich ändert sich das nicht mal ganz plötzlich!«
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MELANIE HAIGHT
Irgendwo hatte Melanie einmal gelesen, daß die meisten Menschen zwischen vier und sechs Uhr morgens sterben. Als sie an diesem Morgen aufwachte und feststellte, daß es kurz nach fünf war, stieß sie einen angsterfüllten Schrei aus. »Mein Gott«, sagte sie halblaut zu sich selbst, »ich schlafe weinend ein und wache schreiend wieder auf. Was ist nur los mit mir?« Sie konnte keinen Schlaf mehr finden und schaltete das Radio an. Sie hörte sich einen Bericht über Kartoffelpreise und den Markt für Mastschweine an. Radiostationen mit großen Absatzmärkten wie New York brachten die vorgeschriebenen Sendungen zu einer Zeit, in der die meisten ihrer Hörer noch schliefen. Melanie hatte einmal den stellvertretenden Direktor einer Rundfunkanstalt kennengelernt und ihn auf dieses Thema angesprochen. »Wenn man uns fragt, weshalb wir solche Sendungen schon um fünf Uhr morgens bringen«, hatte er geantwortet, »erklären wir den Leuten immer, die Farmer seien allesamt Frühaufsteher.« Melanie dachte an das kleine Städtchen Menemsha, in dem sie einige Sommer ihrer glücklichen Kindheit verbracht hatte. Sie dachte an den altmodischen Generalstore, zu dem auch ein Post Office gehört hatte. Ein Laden wie aus dem Bilderbuch, und Norman Rockwell, der berühmte Maler, hatte ihn sogar als Vorlage für ein Titelbild auf der Saturday Evening Post benutzt. Eine winzige Episode aus jener Zeit fiel ihr ein, die jetzt, da sie mit solcher Ungeduld auf einen Brief von Mark wartete, eine unheilvolle Bedeutung erhielt. -68-
In einem Sommer hatte der Posthalter ihr erlaubt, den engen Schalterraum zu beteten und ihm beim Sortieren der eingegangenen Post zuzuschauen. Sämtliche Briefe und Päckchen für Menemsha waren in einem winzigen Postsack gewesen. »Ich hab' eine Cousine in Boston«, hatte der Posthalter ihr erzählt, »die sagte mir, in ihrem Apartmenthaus würden am Tag mehr Briefe verteilt als in ganz Menemsha.« »Die Leute hier sind wohl nicht besonders schreibfreudig«, hatte Melanie geantwortet. Sie erinnerte sich noch deutlich an die zahlreichen Ablagefächer, in die der Posthalter die Briefe, Päckchen und Zeitschriften einsortierte. Einmal war ihm dabei ein Brief hinter die Kästen gefallen. »Wenn ich das jetzt nicht gemerkt hätte, würde George Crockett nie erfahren, daß seine Schwester ihm geschrieben hat.« Der Posthalter hatte die Stirn gerunzelt und hinzugefügt: »Was glaubst du, wie viele Briefe täglich in einer Stadt wie Boston verlorengehen?« Ein jäher Schauer lief Melanie über den Rücken, als sie sich an diese Worte erinnerte. Wenn in Boston Briefe verlorengingen, weshalb nicht auch in New York? Damals in Menemsha hatte die Post nur eine höchst beiläufige Rolle in ihrem Leben gespielt. Heute, in New York, Bezirk 10022, war die Post eine Art Tor, das den Zugang zu den gelben Glücksbringern darstellte, ohne die sie nicht mehr existieren konnte und ohne die es kein Morgen mehr für sie gab. Die Vorstellung, Marks Brief könnte verlorengehen, versetzte Melanie in einen unerträglichen Zustand der Erregung und Angst. Mit aller Gewalt zwang sie sich dazu, weiterzuschlafen.
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KEN FORBES
Nancy Forbes glaubte an die Wahrheit der Horoskope, und es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, den Tag zu beginnen, ohne in den Daily News Joyce Jillisons Horoskop studiert zu haben. Ken Forbes lachte über den astrologischen Aberglauben seiner Frau, aber an seinem Bio-Rhythmus-Tick fand er durchaus nichts Lächerliches. Er war davon überzeugt, daß der gefühlsmäßige, intellektuelle und körperliche Kreislauf des Menschen seit der Geburt vorgegeben war, und mit Freude hielt er daran fest, daß der biologische Rhythmus die Ursache für das Auf und Ab des menschlichen Verhaltens darstelle. Aber Forbes war sich ebenso darüber im klaren, daß die Post der Vereinigten Staaten, sein Brötchengeber, einen feuchten Dreck auf seinem Biorhythmus gab, der die Erklärung dafür war, daß Forbes des öfteren mit den beruflichen Notwendigkeiten auf der FDR-Station, in der er als Aufsichtsbeamter tätig war, in Konflikt geriet. Heute, so hatte er voller Unbehagen feststellen müssen, war wieder einer dieser kritischen Tage. Seine Seiko-Uhr zeigte nämlich nicht nur an, daß es im Augenblick sechs Minuten nach sechs war, sie erinnerte ihn ebenfalls daran, daß heute Montag war. Montag, der Vierte. Der Montag war der schwerste Tag der Woche, und der erste Montag im Monat war einfach die Hölle. Besonders dann, wenn der vorausgegangene Freitag der Erste gewesen war. Für die meisten Leute war Freitag, der Dreizehnte, der Unglückstag, für Forbes war es Freitag, der Erste. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, sich krank zu melden, verwarf die Idee jedoch wieder, weil er fürchtete, das -70-
könne seine Ferienpläne durcheinanderbringen. Er wußte, was auf ihn zukam. Als erstes würde die ausgehende Post umfangmäßig größer sein als sonst. Das hatte zur Folge, daß es auf der ganzen Linie verstärkt zu Beschwerden kommen würde, vom Sortierbeamten bis zum Briefträger. Zweitens konnte er damit rechnen, daß es schon in der Frühe Telefonanrufe nur so hageln würde. An einem solchen Tag erwarteten viele Le ute Geld, und Hunderte davon würden völlig unnötigerweise nachfragen, ob die Post auch pünktlich ausgetragen werde. Forbes hatte den Vorschlag gemacht, alle Anrufe bis zu einer bestimmten Uhrzeit, etwa zehn Uhr morgens, durch einen telefonischen Anrufbeantworter abfertigen zu lassen, da es sich in den überwiegenden Fällen doch nur um eher unerfüllbare Anliegen handle. »Kommt nicht in Frage«, hatte man ihm geantwortet. »Die USPS ist ein öffentlicher Dienstleistungsbetrieb, und wir sind gehalten, unseren Kund en einen persönlichen Service zu bieten. Andernfalls gehen sie zur Konkurrenz.« »Zu welcher Konkurrenz?« hatte er gefragt. »Well«, hatte die Antwort gelautet, »wir möchten nicht, daß sie noch ärgerlicher auf uns werden, als sie es tatsächlich schon sind.« Was blieb Forbes daraufhin übrig, als die Kunden möglichst lange läuten zu lassen, so daß sie zu guter Letzt die Geduld verloren und einhingen - verärgert, wie man annehmen mußte. »Ich arbeite im Zustelldienst«, rechtfertigte sich Forbes halblaut vor sich selbst, »und nicht in der PR-Abteilung. Und solange die Leute pünktlich ihre Post bekommen, vergessen sie ihren Ärger wieder.« Bis zum heutigen Tag hatte sich seine Theorie tatsächlich noch stets bewahrheitet. -71-
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BOB RUDMAN
Er erinnerte sich daran, das Haus verlassen und an der Continental Avenue in Forrest Hills den Zug bestiegen zu haben. Und ebenso erinnerte er sich daran, an der Queens Plaza - genau nach Anweisung - ausgestiegen zu sein. Aber sein Erinnerungsvermögen versagte völlig, wenn er sich vergege nwärtigen wollte, was er danach gemacht hatte. Bobs Hände zitterten. Krampfhaft hielten sie die 38er umspannt, deren Mündung auf den Boden gerichtet war. Es gelang ihm nicht, den Griff um die Waffe zu lösen, und er fürchtete, sie könne losgehen, sobald er sie auch nur einen Inchbreit anhob. Die Luft war erfüllt mit dem schweren Duft von gebackenem Brot. Als Rudmans Lungen sich mit einem tiefen Atemzug füllten, löste sich der Krampf, und die Pistole fiel zu Boden. Das scheppernde Geräusch erschreckte ihn. Eine Zeitlang starrte er auf die Waffe, ohne Impuls, sie aufzuheben. Dann hob er den Kopf und schaute sich um. Links von ihm befand sich eine verschlossene Tür, darüber erkannte er ein Schild. Im Licht des heller werdenden Tages entzifferte er blinzelnd die Aufschrift: »Silvercup Thrift Shop.« Bob fühlte sich besser. Die Silvercup-Bäckerei lag nicht weit von der NYPS-Garage. Aber während er vor dem Laden auf der Bürgersteigkante saß, dachte er nicht an die Garage, nicht an Grant, Van Della oder die irische Gang, die Grant angeheuert hatte. Bob Rudman dachte in diesem Moment an Weißbrot. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er niemals Weißbrot gegessen. »Weißbrot«, pflegte seine Mutter zu sagen, »ist was für die Reichen. Die essen Weißbrot. Sie packen Schinken drauf, -73-
schmieren sich eine halbe Tube Mayonnaise drüber und glauben, sie wüßten, was gut für sie ist. Nichts wissen sie, gar nichts. Sonst würden sie nämlich Roggenbrot oder Challah essen. Weißbrot ist wie Bier, das - wenn man sieht, in welchen Mengen sie's runterkippen, Robert - nur dick und behäbig macht. Ich werde in meinem Haus niemals auch nur eine Schnitte Weißbrot dulden, und wenn dir jemand in der Schule was davon mitgeben will, sag ihm, daß deine Mutter es nicht erlaubt, hörst du? Es ist nicht koscher.« So kam es, daß Robert Roswell Rudman in den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens nur Roggenbrot aß. Tag für Tag, außer Freitag, an dem es die Challah-Fladen gab, und außer Sonntag, an dem die Bagelbrezel für ein wenig Abwechslung auf dem Frühstückstisch sorgten. Als er in Billy Smiths Imbißstube zum erstenmal ein Weißbrotsandwich aß, begriff er nicht, wie man davon so viel Aufhebens machen konnte. Weißbrot war weicher, und es beeinträchtigte nicht den Thunfischgeschmack. »Das Ungewöhnliche ist nicht, daß ich heute zum erstenmal Weißbrot gegessen habe«, hatte er seiner entsetzten Mutter erklärt, »das Ungewöhnliche ist vielmehr, daß ich zum erstenmal festgestellt habe, wie Thunfisch schmeckt.« Obwohl das Silvercup-Schild ihm dies alles mit großer Eindringlichkeit wieder ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, war Rudman sich bewußt, daß es nicht das Weißbrot war, das seine Gedanken so ausschließlich beschäftigte. Was ihn wirklich beschäftigte, war das Leben des Robert Roswell Rudman, den ein launenhaftes Schicksal auf verschlungenen Pfaden bis an diesen ungewöhnlichen Wendepunkt geführt hatte. Auf der High School hatte er als einer der besten der Klasse gegolten. Er war die absolute Leuchte gewesen, so wie Vincent Rossini das absolute Rücklicht gewesen war. Niemand war überraschter gewesen als Vinnie selbst, als er schließlich doch -74-
noch die Abschlußprüfung bestand. Das letzte, was Rudman von ihm gehört hatte, war, daß Vinnie die Autowerkstatt seines Vaters übernommen und es inzwischen zum Besitzer einer Tankstellenkette in Long Island gebracht hatte. »Vinnie Rossini hat auf ehrliche Weise seinen Weg gemacht, und ich bin dabei, einen Millionenraub abzuziehen.« Rudman begriff die Welt nicht mehr, sich selbst am wenigsten. »Was ist geschehen?« stieß er laut hervor. »Was ist geschehen, daß es soweit mit mir kommen mußte?« Als er sich vorbeugte, um die Waffe aufzuheben, sah er, daß es schon fünfzehn nach sechs war. Er war zwanzig Minuten über die Zeit. Grant muß denken, ich sei nicht mehr am Leben, sinnierte er. Nach Dianes Meinung bin ich bereits so gut wie tot. Vielleicht sollte ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen, damit sie endgültig recht bekommt. Rudman empfand den Gedanken, sich selbst zu töten, als tröstend. Es würde die Lösung all seiner Probleme bedeuten. »Nein!« schrie er über die leere Straße. »Nein! Bob Rudman ist kein Feigling!« Er zwang sich aufzustehen und rannte los. Milligan sah ihn als erster. »Da kommt er!« Milligan zeigte auf die graue Gestalt, die im diffusen Licht des Morgens über den Zaun stieg. »Wird sich verlaufen haben, nehme ich an.« Rudman war völlig außer Atem, das Gesicht dunkelrot und verquollen vor Anstrengung. »Sorry, Gentlemen«, sagte er ausdruckslos. »Anstatt links bin ich rechts abgebogen.« »Zum Glück stimmt unser Zeitplan noch«, entgegnete Grant ruhig. -75-
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FRED DICKINSON
Dickinson fuhr herum, als die Tür aufgestoßen wurde. »Keine Bewegung, Mister Dickinson! Bleiben Sie, wo Sie sind, und tun Sie keinen Muckser!« Grant trug eine rosa getönte Sonnenbrille, wie er sie auch jedem der Green Spades gegeben hatte; in der Rechten hielt er den 38er. Er ging auf Dickinson zu, der auf einem Holzstuhl hinter dem Schreibtisch saß. »Reg dich ab, mein Junge. Kein Grund, die Nerven zu verlieren. Wir wollen uns lediglich für kurze Zeit ein paar Trucks ausleihen.« »Was wollen Sie?« fragte Dickinson. Vergeblich versuchte er, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich sagte es bereits«, erwiderte Grant lächelnd. »Wir sind nur hier, um uns für einige Stunden ein paar von euren Fahrzeugen auszuleihen.« »Ihr müßt total verrückt sein.« Dickinson bemühte sich, den unerschrockenen Sicherheitsmann hervorzukehren. »Was habt ihr Burschen vor?« »Das dürfte für dich kaum von Bedeutung sein«, entgegnete Grant ruhig. »Je weniger du weißt, desto besser für dich.« »Verrücktheit!« Dickinson schüttelte verständnislos den Kopf. »In einer knappen Stunde werden Hunderte von Leuten durch dieses Tor strömen. Was wollt ihr mit denen anfangen?« »Nichts«, erklärte Grant. »Das heißt, wenn du vernünftig bist und ihr Leben nicht in Gefahr bringst.« »Ihr Jungs macht allerhand Wirbel, um an ein paar Trucks heranzukommen«, sagte Dickinson forsch. »Weshalb laßt ihr mich nicht ein paar Leihwagen für euch bestellen?« -77-
»Das reicht!« Van Della hatte sich eingemischt. »Er hat recht, Fred«, bestätigte Grant. »Das reicht wirklich. Nun sperr die Ohren auf und hör zu, was wir dir zu erzählen haben!« Dickinson ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. Seine Widerstandskraft schien erschöpft. »Es ist alles ganz einfach, Fred!« Grant ließ den 38er in seiner Jacke verschwinden. »Ich steck' den Ballermann weg, weil ich sicher bin, daß du keine Dummheiten machen wirst. Liege ich da richtig?« Dickinson gab keine Antwort. »Du solltest doch etwas mehr Bereitschaft zur Kooperation zeigen, Fred, andernfalls könnte das ein ganz miserabler Morgen für dich werden.« Grants Stimme klang gefährlich sanft. »Okay, okay«, erwiderte Dickinson. »Ich hab' nicht vor, den Helden zu spielen. Was also soll ich tun?« »Na, endlich verstehen wir uns«, sagte Grant. »Genauso hatte ich mir das auch vorgestellt, Fred. Du und ich, wir werden keine Probleme miteinander haben.« Grant lächelte freundlich. »Als erstes möchte ich, daß du den Seiteneingang der Garage aufschließt, damit die Gentlemen hier an ihre Wagen können.« Grant deutete mit einer weitausholenden Handbewegung auf die Green Spades, die dichtgedrängt den kleinen Raum füllten. Jetzt erst fiel es Dickinson auf, daß sie alle die Uniform der NYPS-Fahrer trugen, und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag. »Die Schlüssel stecken im Zündschloß, nicht wahr?« Dickinson nickte. »Nachdem du sie in die Garage hineingelassen hast, wirst du zurückkommen und tun, was du jeden Morgen tust.« »Und was ist das?« fragte Dickinson. -78-
»Du wirst in deinem Office bleiben und den Leuten wie gewohnt zuwinken, wenn sie hier vorbei zum Parkplatz fahren. Einer von uns wird dir die ganze Zeit Gesellschaft leisten, und falls du auch nur den kleinsten Fehler machst, war es dein letzter. Haben wir uns darin verstanden, Fred?« »Ja.« »Noch Fragen?« »Nein.« »Wenn alles vorüber ist, wirst du tot oder lebendig sein, was ausschließlich in deiner Hand liegt. Du kannst also wählen!« »Lebendig«, antwortete Dickinson. »Lebendig, aber ohne Job.«
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CAL VAN DELLA
Van Della, der ehemalige Jurastudent, hatte sich einen Sinn für Harmonie und Gleichgewicht bewahrt. Auch dann noch, als er die Überzeugung gewonnen hatte, daß die Waage in der Hand der Göttin Justitia, gemessen an der Ungerechtigkeit der Welt und der Ohnmacht menschlicher Rechtsprechung, nur eine verlogene Farce war. So hatte Van Della auch eine Schwäche für mathematische Gleichungen. Etwa für folgende: Eins ist gleich hundertfünfundzwanzig. In dieser Gleichung war er die Eins, und die Hundertfünfundzwanzig waren die NYPS-Leute, die er zwischen 7 Uhr 35, wenn die Fahrzeuge die Garage verließen, und 9 Uhr 25, wenn die Wagen mit ihrer ungewöhnlichen Fracht wieder dorthin zurückkehrten, in Schach zu halten hatte. Bob Rudman gefiel diese Gleichung gar nicht. »Es gibt mir zu viele veränderliche Größen darin«, gab er zu bedenken. »Zu viele Leute sind auf zu großem Raum zu bewachen. Cal schafft das nicht allein. Er braucht unbedingt noch einige von den Spades, die ihn bei seinem Job in der Garage unterstützen.« Van Della teilte Rudmans Ansicht nicht. Aus zwei Gründen. Erstens war er wie Grant entschlossen, die Zahl der am Coup Beteiligten so niedrig wie möglich zu halten. Zweitens liebte er das Spiel mit der Gefahr, besonders dann, wenn er glaubte, in diesem Spiel der Sieger zu bleiben. Grant entschied den Streit zu Van Dellas Gunsten, nachdem er einen Plan entwickelt hatte, der das Problem auf genauso einfache wie überzeugende Weise löste. -80-
So wie die Fahrer und die übrigen Angestellten das Gebäude betraten, sollten sie von den Spades gefesselt, geknebelt und durchsuc ht werden. »Weshalb durchsuchen?« hatte Van Della wissen wollen. »Waffen werden sie keine bei sich tragen.« »Das stimmt«, hatte Grant geantwortet. »Aber die Fahrer haben Schlüssel, Taschenmesser oder ähnliche Dinge bei sich. Ich möchte nicht, daß sie Gebrauch davon machen, falls es ihnen gelingt, sich von ihren Fesseln zu befreien.« Es war vorgesehen, die Gefangenen, um sie aus dem Weg zu haben, in zwei Kastenwagen zu sperren, die im rückwärtigen Teil der Garage standen. Die Fahrer trafen zwischen 6 Uhr 45 und 7 Uhr 15 ein. Das Garagen- und Lagerpersonal erschien zwischen 7 und 7 Uhr 30. Mit den zwei oder drei Leuten, die sich regelmäßig um wenige Minuten verspäteten, mußte Van Della allein fertig werden, da Grant, Rudman und die Green Spades dann schon auf der Fahrt nach Manhattan waren. Die anderen Probleme, die Van Della in der Garage zu meistern hatte, waren die Telefonzentrale und der Raum des Sicherheitspersonals. Jeden Abend nach Betriebsschluß wurden alle Telefonleitungen außer der einen, die auf den Apparat in der Wachstube umgestellt wurde, unterbrochen. Die Leitungen blieben tot bis zum nächsten Morgen um acht, wenn die Telefonistin ihren Dienst antrat. An diesem Morgen würde Van Della sie im Sicherheitsbüro einquartieren. Nur die Nachtleitung blieb in Betrieb, und nur über diese eine Leitung würde die Telefonistin die eingehenden Anrufe annehmen. Sie würde antworten, als säße sie in der Zentrale, und dabei den Lautsprecher einschalten, so daß Van Della die Gespräche genau kontrollieren konnte. Das einzige Risiko war, daß einige der Anrufer, die im allgemeinen ihre Verbindung sofort erhielten, diesmal über das Besetztzeichen -81-
nicht hinauskamen. Aber bei dem total überlasteten Telefonnetz in New York waren derartige Pannen an der Tagesordnung, und niemand würde Verdacht schöpfen. Dickinsons Ablösung kam gewöhnlich gegen 7 Uhr 45. Wie Dickinson war auch dieser Wachmann unbewaffnet. Van Della machte sich seinetwegen keine Sorgen. Sorgen machte er sich nur wegen Dickinson. Scheinbar schien Fred Dickinson sich in das Unvermeidliche gefügt zu haben, aber Van Della hatte immer noch die Worte des Wachmannes in den Ohren: »Lebendig, aber ohne Job.« Und war Dickinson wirklich hundertprozentig davon überzeugt, daß man ihn ungeschoren ließ? Letzten Endes war er der einzige, der Grant, Rudman und Van Della gesehen hatte und eine Beschreibung von ihnen liefern konnte.
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THE GREEN SPADES Milligan war sich darüber im klaren, daß die Green Spades für Grant keine gleichwertigen Partner waren. Grant sah in ihnen höchstens so etwas wie Kulis, die die Dreckarbeit machten. Frontschweine, die ihren Kopf hinzuhalten hatten, oder Gelegenheitsarbeiter, die man für spezielle Aufgaben nicht gebrauchen konnte. Aber Pat wußte es besser, die Spades waren eine harte, bestens aufeinander eingespielte Mannschaft, und bevor der Morgen vergangen war, würden sie gezeigt haben, was an verborgenen Fähigkeiten in ihnen steckte. Gewiß, die erste Rolle, die sie zu übernehmen hatten, war noch ein Kinderspiel, aber wenn sie in einer Stunde und fünf Minuten mit den schweren Fahrzeugen aus der Garage rollten, würde jede Zweier-Besatzung ganz allein auf sich gestellt sein. Milligan hatte für sich selbst die Park-Avenue-Route gewählt. Der Gedanke, den Banken, die seinen Vater um die Existenz gebracht hatten, eins auszuwischen, versetzte ihn in eine rauschhafte Erregung. Sein Blick wanderte durch die weite, kahle Halle. Die meisten Fahrzeuge waren in langen Reihen draußen auf dem Parkplatz abgestellt. In der Garage befanden sich nur solche Wagen, die einen Motorschaden hatten oder sonstwie defekt waren. Die Spades standen in mehreren Gruppen zusammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Unruhe hatte sie erfaßt, und das Warten zerrte an ihren Nerven. »Wie steht's denn so, Charlie?« Pat näherte sich einer Gruppe und wandte sich an Keith Riley, der, wie sie alle, seinen Namen und seine Identität für die nächsten Stunden vergessen hatte. »Alles in Ordnung, Charlie«, antwortete Keith. »Ich wünschte -83-
nur, es würde bald losgehen.« »Ich auch«, stimmte Pat zu. »Aber tröste dich, das wird sich rasch ändern, und dann bist du froh, wenn du so schnell wie möglich wieder aus der Sache raus bist.« »Irrtum. Ich bin wirklich ganz scharf drauf, daß wir endlich loslegen.« »Was wirst du mit deinem Anteil anfangen?« »Wie du zu dem Cop gesagt hast: Nichts wie ab aufs Land. Lucille wollte immer schon mal in den Westen, und ich denke, wir stoßen irgendwo in New Mexiko oder Oregon auf eine Kommune, bei der es sich eine Zeitlang leben läßt.« »Einen Vorgeschmack davon hast du diese Nacht ja schon gehabt. Wie hat dir unsere Kommune gefallen?« »Shit, Mann, das war keine Kommune, das war ein Zoo.« Pat lachte und steuerte auf die nächste Gruppe zu. In diesem Moment erscholl Grants unpersönliche, durchdringende Stimme und ließ sie alle herumfahren. »Okay, Gentlemen, hier geht's lang!« Zwei Männer hatten die Garage betreten und steuerten die Umkleidekabinen an. »Morgen, Gentlemen!« Das war Van Dellas Stimme. »Morgen«, murmelten die beiden, ohne aufzublicken. »Morgen, Gentlemen«, wiederholte Van Della, diesmal mit einem derart gefährlichen Unterton, daß die beiden stehenblieben und sich überrascht nach ihm umschauten. Mit einem Seitenstep war Van Della hinter ihnen, so daß sie ihn nicht sehen konnten. Dafür aber erblickten sie die beiden Gestalten in NYPS-Uniform, die geradewegs auf sie zukamen. »Wenn ihr tut, was diese Männer euch sagen, habt ihr nichts zu befürchten!« Der Kleinere machte einen Schritt vorwärts, als wolle er die -84-
beiden Green Spades angreifen. »Zum Teufel, was hat das Ganze zu bedeuten?« »Bleib, wo du bist!« »Weshalb?« »Weil ich es dir sage!« »Und wenn ich drauf pfeife?« »Wirst du sterben.« Sein Kollege packte ihn am Rock und zog ihn zurück. Nachdem er beruhigend auf den Kleinen eingeredet hatte, setzte er die Unterhaltung fort. »Okay, wir werden keinen Widerstand leisten. Wie soll's weitergehen?« Van Della antwortete nicht. Gespannt sah er zu, wie Riley und Milligan mit geschickten Griffen die Taschen der beiden Männer leerten, ihnen die Hände auf den Rücken bogen und die Handschellen einschnappen ließen. Danach knebelten sie die Gefangenen und sperrten sie in den Kastenwagen im hinteren Teil der Garage. Die beiden Fahrer ließen alles widerstandslos über sich ergehen, und die ganze Aktion hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Rudman, der neben Grant stand, war begeistert. »Genau, wie du gesagt hast. Wir brauchen nicht mal Gewalt anzuwenden. Unsere Anwesenheit genügt, um sie gefügig zu machen.« »Natürlich«, sagte Grant. »Aber warte ab, einer ist bestimmt darunter, der glaubt, den Helden spielen zu müssen.« »Den toten Helden«, stieß Rudman heftig hervor und brachte die Waffe heraus, die in der Hand zu halten, ihm ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit vermittelte. »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Grant warnend. -85-
Dann wurde ihm bewußt, daß Rudman und nicht Van Della gesprochen hatte. Er wandte sich zu Bob um. »Seit wann bist du so schießwütig?« fragte er scharf. »Du warst doch stets dagegen, eine Waffe bei dir zu tragen.« »Ich habe meine Meinung eben geändert«, antwortete Rudman. »Und wieso das?« »Weil ein Krieger nicht ohne Lanze den Dschungel betritt.« Grant lachte über den seltsamen Vergleich. Rudman fiel in Grants Lachen ein. Dann sagte er: »Im Ernst, Jeff, ich hab' sie eingesteckt, weil ich zur Überzeugung gekommen bin, daß du recht hast. Für alle Fälle, wie du es ausdrückst. Und nebenbei bemerkt, bei einem Wettschießen habe ich einmal den ersten Preis gemacht.« »So wie die Dinge laufen«, stellte Grant fest, »glaube ich nicht, daß einer von uns heute auf seine Schießkünste angewiesen sein wird.« Einzeln und in kleineren Gruppen fanden sich die NYPSLeute ein und wurden von den Spades rasch und reibungslos festgenommen. Das Fahrpersonal setzte sich ausschließlich aus Männern zusammen, aber unter den Angestellten und Arbeitern waren einige Frauen. »Was fangen wir mit denen an?« fragte Milligan Grant. »Nimm ihnen die Handtasche ab, fessele und kneble sie«, wies Grant ihn an. »Also keine Leibesvisitationen. Es sei denn, sie hätten etwas bei sich, das dir gefährlich erscheint.« »Und was ist, wenn...« »Das überlasse ich dir.« Milligan grinste. »Vielleicht schaffen wir die Gutaussehenden zurück ins Clubhaus.« »Einverstanden«, sagte Grant. »Aber damit wartet ihr, bis ihr mehr Zeit für die Damen habt.« -86-
Grant blickte auf die Uhr. Rudman saß auf der Stoßstange eines Lasters und schob die Pistole von einer Hand in die andere. Van Della machte einen Kontrollgang um das Gebäude und prüfte, ob alle Türen verschlossen waren. Die Spades spielten ihren Part meisterhaft. Bis jetzt hatte noch keiner der Ankömmlinge Widerstand geleistet. Ein paar von ihnen stellten einige Fragen, die unbeantwortet blieben, aber die meisten waren einfach so geschockt durch die unerwartete Unterbrechung ihrer täglichen Routine, daß sie sich fast hilflos und ohne Erregung in das Unvermeidliche fügten. Van Della kehrte von seinem Kontrollgang zurück. »Sobald sie erkennen, daß ihnen keine Gefahr droht«, sagte er zu Grant, »weicht die Angst von ihnen, und sie finden sich damit ab.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Teufel, dabei ist es für die meisten der aufregendste Tag ihres Lebens. Sobald die Cops hier auftauchen, werden alle Frauen behaupten, sie wären von uns schlimmen Jungs vergewaltigt worden, und die Männer werden damit herumprahlen, wie mutig sie sich uns entgegengestellt haben.« »Sind wir das wirklich, schlimme Jungs?« fragte Grant. »Natürlich«, entgegnete Van Della, »aber es ist wie beim Football: Die netten Jungs gewinnen nie.«
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KEN FORBES
Gewöhnlich schenkte Ken Forbes dem Gebäude nicht die geringste Beachtung, das er am Morgen wie selbstverständlich betrat und am Abend fluchtartig wieder verließ. Doch als er an diesem Tag von der 53rd Street in die Third Avenue einbog, wanderte sein Blick wie magnetisch angezogen die riesige Fassade hinauf. Der rechteckige Bau mit der wabenartigen Fensterfront erhob sich über einem quadratförmigen Sockel steil in den Himmel von Manhattan. Von der Straße aus schien dieser Sockel nichts anderes zu sein, als ein besonders solide ausgeführtes Fundament. Aber Forbes wußte, daß sich dort zwei Kellergeschosse und sechs fensterlose über der Erde liegende Stockwerke verbargen, die zusammen ein verwirrendes Labyrinth aus Hallen, Gängen, Rampen und Treppenaufgängen bildeten. Und dieses achtstöckige Labyrinth, in das niemals auch nur der kleinste Sonnenstrahl drang, war sein Arbeitsplatz. Ken Forbes verhielt den Schritt und starrte auf das düstere Gebäude. Das war sie, die Franklin O. Roosevelt Station, New York, N. Y. 10022. Das Leben, dachte er, ist ungerecht. Während ich da unten in diesem Orkus schufte wie ein Kuli, sitzen die Bonzen auf ihren breiten Ärschen und warten gemütlich auf den Feierabend. Einen Moment lang hatte er den Wunsch, zum zwanzigsten Stock hinaufzufahren und nachzusehen, ob die Burschen überhaupt schon an ihren Schreibtischen saßen. Aber dann siegte das Pflichtbewußtsein in ihm, und er vergaß die Chefetage. Er entschloß sich, wie jeden Morgen, zunächst die -88-
Verladerampen auf Plattform zwei zu kontrollieren und sich anschließend ein Stockwerk höher auf Plattform drei zu begeben, wo die First-class-Post für Bezirk 10022 abgefertigt wurde. »Good Morning, Ken«, rief einer der vorbeieilenden Kollegen ihm zu. »Good Morning.« Der Mann, dessen Gesicht er sich nicht gemerkt hatte, war fast schon an ihm vorbei, aber Forbes fing eben noch die halblaut hervorgestoßenen Worte auf: »Heute ist die Hölle los!« Es war nicht nötig, Forbes daran zu erinnern, daß heute Montag war. Die wilde Aktivität sprach eine deutliche Sprache. Überall auf den Verladerampen türmten sich die braunen und weißen Postsäcke. Die braunen waren meist für die First-classZustellung bestimmt, die weißen für die normale. Doch wurde dieser Unterschied nicht allzu genau gehandhabt. Die rot-weiß-blauen Trucks standen, die Türen weit geöffnet, mit dem Heckteil dicht an den Rampen, bereit ihre Ladungen aufzunehmen. Während der Nacht waren sie in der einen Stock tiefer liegenden Werkstatt einer Inspektion unterzogen und in der ebenfalls dort befindlichen Waschanstalt auf Hochglanz gebracht worden. Die Waschanlage wurde von den meisten Bediensteten als zusätzliche Sozialeinrichtung angesehen und als solche für ihre Privatwagen eifrig in Anspruch genommen. Forbes hatte von dieser Möglichkeit nie Gebrauch gemacht. Er benutzte die Subway für die Fahrt zur Arbeit, und am Wochenende hatte er keine Lust, mit dem Wagen in die City zu fahren nur um in den Genuß einer Gratis-Autowäsche zu gelangen. Forbes verließ den Verladebereich und stieg in den Aufstieg. Er fuhr eine Etage höher. Wie an jedem Morgen, warf er als -89-
erstes einen Blick auf die Dienstrangtafel, die an exponierter Stelle an der Rückwand der riesigen Halle angebracht war. Es beruhigte ihn immer wieder aufs neue, wenn er seinen Namen im Spitzenfeld der zweiten Namenssäule entdeckte. Das gab ihm die Gewißheit, daß es nicht allzu viele Leute in der FDR-Station gab, die ihm das Leben schwermachen konnten. Die dritte Etage war nicht weniger mit Postsäcken vollgestopft als die zweite. An diesem Morgen lagerte in den beiden Hallen eine größere Menge Briefe und Pakete als in den meisten Städten des Landes. Forbes blickte auf die Uhr zu seiner Linken. Es war Punkt 7 Uhr 30. In einer halben Stunde würde die lange Kette der rotweiß-blauen Fahrzeuge das Gebäude verlassen, um die Post zu ihren Empfängern zu bringen. Natürlich hatte Forbes keine Ahnung, daß diese heute nicht mit den Adressaten auf den Briefen und Paketen identisch sein würden.
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DAVID KNIGHT
David Knight vermißte Jeff Grant vor allem am Montagmorgen. Knight vermißte Grant natürlich auch sonst, aber am Montagmorgen empfand er Grants Abwesenheit besonders schmerzlich. Eine Reihe ziemlich unfähiger Nachfolger hatten die Tatsache erhärtet, daß Jeff ein einzigartiger und fast unersetzlicher Mitarbeiter gewesen war - fast unersetzlich. Aber Knight, ein dunkelhäutiger, untersetzter Mann von Fünfzig bedauerte seine Entscheidung nicht, Grant geopfert zu haben. Welche Wahl hatte er gehabt, als das Crane County Anklage gegen die Inter-Continental CATV erhob? Letzten Endes ging es um einen Auftrag in Höhe von siebenundvierzig Millionen Dollar. Niemand, nicht einmal Jeff Grant, durfte diesem Geschäft im Weg stehen. Knights rasches und resolutes Dementi, in dem er jegliche Verbindung zwischen Grants Bestechungsversuch und der Firma leugnete, hatte die Wallstreet-Meute beruhigt und ein Scheitern des bevorstehenden Riesengeschäftes verhindert. »Inter-Continental CATV hat es nicht nötig, sich auf ungesetzliche Praktiken einzulassen«, hatte Knight verkündet. »Wir sind eine gemeinnützige Gesellschaft, die ihre Verantwortung gegenüber ihren Aktionären stets ernstgenommen und immer so gearbeitet hat, daß sie sowohl ihren Aktionären als auch ihren Kunden jederzeit vollen Einblick in sämtliche Geschäftsvorgänge gewähren kann.« Gleichzeitig mit dieser Verlautbarung setzte Knight alle Hebel in Bewegung, um auf der Stelle das Geheimkonto mit der Vierhunderttausend-Dollar-Bestechungssumme zu löschen, das -91-
er mit der Absicht eingerichtet hatte, einflußreichen Regierungsbeamten die Vorzüge einer Zusammenarbeit mit der IC-CATV aufzuzeigen. Seit dem Tag, an dem Knight seine öffentliche Erklärung abgab, hatte er Jeff nicht mehr gesehen oder gesprochen. Knight hatte dafür gesorgt, daß man Jeff noch sechs Monate lang sein Gehalt zahlte, was ein ganz schöner Batzen Geld gewesen war. Jeff hatte nicht einmal den Empfang der Zahlungen bestätigt, obwohl der Scheck stets eingelöst worden war. Den Verlust empfand Knigth wie den Verlust eines Sohnes. Knight hatte nie die Zeit gefunden, eine Familie zu gründen. Einen Monat nach seinem dreißigsten Geburtstag hatte er die IC-CATV gegründet und sie mit großer Fähigkeit zur größten Kabelfernseh-Gesellschaft der Welt ausgebaut. Während seine Konkurrenz sich nur um den Markt in den Vereinigten Staaten kümmerte, entwickelte er Systeme, die sich selbst in den Ländern der dritten Welt durchsetzten. IC-CATV arbeitete mit ungewöhnlichem Gehirn, und Jeff war am Zustandekommen der hohen Erfolgsbilanzen maßgeblich beteiligt. Wie sehr er daran beteiligt war, konnte Knight aus der Tatsache ersehen, daß die Gewinne der Gesellschaft seit Jeffs Ausscheiden schlagartig zurückgegangen waren. Jeden Montagmorgen erhielt Knigth von allen Zweigniederlassungen per Einschreiben ausführliche Berichte über die Aktivitäten der vergangenen Woche. Die wichtigste Information enthielt die Rubrik, die mit den Worten »Neue Kunden« überschrieben war. Sie bildeten gleichsam den Gradmesser der Gewinne und des Wachstums der Gesellschaft. Knight verbrachte jedes Wochenende damit, das zu erwartende Resultat vorauszuberechnen, indem er anhand verschiedener Statistiken Vergleiche anstellte, Trends studierte und Hochrechnungen anfertigte. -92-
Am Montagmorgen war er dann bereits um sieben im Büro, eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Jeff traf um sieben Uhr dreißig ein, und dann besprachen er und Knight bei einer Tasse Kaffee die noch ausstehenden Wochenzahlen. Die morgendliche Zusammenkunft fand ihren feierlichen Höhepunkt im öffnen der Einschreibebriefe. Wenn die Leiter der einzelnen Niederlassungen Quoten meldeten, die mit Knights Berechnungen übereinstimmten, sah Jeff seinen Chef erst am nächsten Montagmorgen wieder. Wenn die Berichte Knights Mißfallen erregten, konnte Jeff sich auf eine schwierige Woche gefaßt machen. Nach Jeffs Ausscheiden aus der Firma öffnete Knight die Briefe allein. Und er mußte zugeben, daß die MontagmorgenZeremonie ihm längst kein solches Vergnügen mehr bereitete, wie früher. Und trotzdem war sie für ihn immer noch der aufregendste und bedeutsamste Teil der Woche. An diesem Morgen hatte Knight das Office einige Minuten nach sieben betreten. Er war aufgewühlt wie während des ganzen Wochenendes. Verursacht hatte diese Stimmung der Artikel über die »Midlife-crisis« in einem seiner Fachmagazine. Demzufolge stellten sich um die Vierzig herum vorwiegend bei Topmanagern deutliche Streßerscheinungen in Form von Enttäuschung und Unzufriedenheit ein. Knight, bereits seit zehn Jahren aus dem kritischen Alter heraus, hatte den Artikel mehr zum Vergnügen als zur Information gelesen. Aber seltsamerweise wirkte das Gelesene in ihm nach, und er verbrachte den Sonntag damit, über das Nachlassen seiner Kräfte, über das Sterben und ähnliche bedrückende Dinge zu grübeln. Knight erkannte plötzlich, wie einspurig sein Dasein verlief, wie ausschließlich alles nur um die IC-CATV kreiste. Er hatte keine Kinder, keine Familie, nur eine Handvoll Freunde. ICCATV war der Inhalt seines Lebens. Und daneben gab es nichts, gar nichts. -93-
Die Briefe, die er in zwei Stunden öffnen würde, bedeuteten den Inbegriff seines Daseins. Es war unvorstellbar für ihn, ohne diese Berichte eine Woche zu beginnen.
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JEFF GRANT
Die Wandkästen neben der Kontrolluhr in der NYPS-Garage hatten Platz für einhundertsiebzehn Stechkarten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten hundertzwölf der Angestellten das Gebäude betreten und waren von den Spades entsprechend in Empfang genommen worden. Grant holte die fünf Karten, die noch nicht gedrückt worden waren, aus ihrem Fach, verließ damit die Garage und ging zur Wachstube, wo Dickinson von Mike Bond, einem der jüngsten Bandenmitglieder, bewacht wurde. »Okay, Fred«, grüßte Jeff und legte die fünf Stechkarten vor Dickinson auf den Schreibtisch. »Sag mir, wer noch fehlt.« »Also, Ramirez, einer der Fahrer, ist krank. Shasky ist die Telefonistin. Sie kommt nicht vor acht. Clayton ist meine Ablösung, er wird in fünfzehn Minuten hier sein. Und Walton und Anderson, zwei Fahrer, müßten jeden Augenblick aufkreuzen.« Grant wandte sich zu Bond um. »Wie benimmt sich Fred?« »Ausgezeichnet, Charlie, ganz ausgezeichnet. Bis jetzt hat er jedenfalls noch keine Mätzchen versucht.« »Wie kommt ihr Burschen alle zu dem Namen Charlie?« fragte Fred. »Weil es gefährlich sein kann, Fred zu heißen«, entgegnete Grant. »Hey«, rief Dickinson und blickte zu Bond hinüber, »der Typ macht verdammt komische Witze, muß ich sagen.« »Werd nur nicht frech, Mann!« stieß Grant wütend über sich selbst hervor. Es ärgerte ihn, daß Dickinsons Bemerkung ihn -95-
wenn auch nur für Augenblicke - aus der Reserve gelockt hatte. »Okay, Charlie«, sagte er zu Bond, »du bleibst hier bei Fred, bis wir abfahrbereit sind. Ich werde jetzt mit Charlie die beiden Trucks abschließen und wieder zurückkommen. Wenn Anderson und Walton auftauchen, kann er sie herbringen und in den Lokus sperren. Fred wird ihnen Gesellschaft leisten, sobald Clayton kommt, und Miß Shasky kann hier ihre Mini-Telefonzentrale einrichten.« »In Ordnung«, erwiderte Bond. Grant wandte sich zum Gehen, hielt mitten in der Bewegung inne und sah Dickinson an. »Hey, Fred, wie wär's mit ein paar Schrammen, bevor wir starten? Damit man sieht, wie gewaltig du dich ins Zeug gelegt hast.« Dickinson grinste. »Besten Dank für die Idee. Aber irgendwie ist es doch bald an der Zeit, den Job an den Nagel zu hängen.« Grant verließ den Raum und kehrte zur Garage zurück. Er ging zu Van Della hinüber. »Okay, Charlie, sperren wir ab.« »Und was geschieht mit den fehlenden fünf?« »Keine Aufregung. Einer davon ist krankt, einer Dickinsons Ablösung, und das Girl ist von der Telefonzentrale. Die beiden anderen sind Fahrer, die entweder zu spät kommen oder krankfeiern. Du kannst sie mit Leichtigkeit ins Office schaffen.« »In Ordnung.« Van Della schloß die Hintertür des ersten Großraumwagens, nachdem er einen Blick ins Innere geworfen und festgestellt hatte, daß alle vierundfünfzig Gefangenen sich vorschriftsmäßig gefesselt und geknebelt an ihrem Platz befanden. Im zweiten Wagen befanden sich achtundfünfzig Personen. In der linken Reihe bemerkte Van Della eine verdächtige Bewegung. Er stützte die Handflächen auf den Rand der -96-
Plattform und flankte ins Wageninnere. »Und wohin, zum Teufel, glaubst du, daß du laufen könntest?« Der Mann schüttelte den Kopf und stieß ein paar unverständliche Laute hinter dem vorgebundenen Stoffetzen hervor, als Cal ihn aus wilden Augen fixierte. Dann schlug Cal zu, seine Rechte traf den Magen des Mannes, der gegen die Seitenwand des Großraumwagens geschleudert wurde. Cal blickte in die Runde. »Der nächste, der auf dumme Ideen kommt, erhält eine Kugel. Ohne lange zu fragen.« Ein murmelnder Chor bestätigte die Drohung, und Cal verließ das Wageninnere. Donnernd fiel die Tür ins Schloß. »Was war los da drinnen?« wollte Grant wissen. »Nichts von Bedeutung. Irgendein Schwanz glaubte, er könne sich von den Fesseln befreien. Der Himmel mag wissen, was er vorhatte oder wohin er wollte. Jedenfalls hab' ich dafür gesorgt, daß er auf andere Gedanken kam. Und ich bin sicher, mit denen da drinnen werden wir keinen Ärger mehr haben.« »Vielleicht solltest du auch in dem anderen Wagen ein Exempel statuieren!« »Nicht nötig. In dem Wagen hier sind sämtliche Frauen, und der Knabe wollte vor ihnen den Helden spielen.« Das Geräusch startender Fahrzeuge und der Qualm der Auspuffgase erfüllte die Halle. Fünf der acht Lastzüge mußten aus der Garage hinausgefahren werden. Die übrigen vier und die elf Kleintransporter waren draußen abgestellt. Die Spades hatten hinter den Steuern der neunzehn Wagen ihren Platz eingenommen und warteten auf das Zeichen zur Abfahrt. »Okay, Cal, von jetzt ab bist du auf dich allein gestellt!« -97-
»Klar.« »Wir sehen uns in einigen Stunden.« »Sicher.« Rudman wartete bereits in Grants Porsche. Er spielte immer noch mit seiner Waffe. »Willst du nicht endlich diese verdammte Dings da wegstecken?« fragte Grant. »Zu Hause wäre es besser aufgehoben!« »Natürlich«, sagte Rudman und ließ die Pistole in der Tasche verschwinden. »Aber die Waffe gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.« »Und Sicherheit ist das, was wir heute brauchen.« »Du sagst es.« »Okay.« Grant hielt Rudman die Hand hin. »Also, auf geht's!« sagte er ernst. Er drückte zweimal auf die Hupe, dann lenkte er den Wagen vom Parkplatz auf den Vernon Boulevard hinaus. Im Rückspiegel sah er, wie das erste Fahrzeug das Tor passierte und hinter ihm auf die Fahrbahn einbog. Es war sieben Uhr sechsunddreißig. Sie lagen eine Minute hinter dem Zeitplan. Die Würfel waren gefallen.
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BOB RUDMAN Rudman wurde von Grants Geste überrascht. Er fand nicht mehr die Zeit, sich die Handflächen an der Hose abzureiben, als Grant ihm die Hand entgegenstreckte. Er konnte spüren, wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang, und die beschämendste Bemerkung, die andere jemals über ihn gemacht hatten, kam ihm in den Sinn: »Bob Rudman hat feuchte Hände!« Seit den High-School-Partys litt er darunter, und selbstverständlich wurde das Übel umso schlimmer, je höher die Zahl der Tänze wurde, während derer er sich einsam und verlassen an der mit Kreppapier geschmückten Turnhallenwand herumdrückte. Grant ließ sich nichts anmerken, obwohl er den feuchten Film auf der Innenfläche von Rudmans Hand bemerkt haben mußte. Eigentlich war es immer so gewesen. Kaum jemand hatte einmal auf Rudmans schüchterne Art, einem anderen die Hand zu geben, angespielt. Und doch war Rudman nie von seinen Komplexen losgekommen. Rudman saß zusammengesunken in dem Schalensitz von Grants Porsche, der Sicherheitsgurt reichte ihm bis zum Brustkorb. Grant fuhr durch das Labyrinth menschenleerer Seitenstraßen, die wie steinerne Adern das Industriegelände von Long Island City durchziehen und schließlich in die Queens Plaza einmünden. Von hier führt eine breite Durchgangsstraße schnurgerade zur 59th Street Brid ge. »Schau, da drüben, Jeff!« Rudman zeigte zur Nordseite der Plaza. »Und?« -99-
»Was siehst du denn da?« »Eine Menge Banken«, antwortete Grant leicht verdrießlich. »Genau«, bestätigte Rudman. »Es ist unglaublich! Nebeneinander hast du hier Bankers Trust, Chase, Manufacturers Hanover, Long Island Savings, Chemical und Citybank.« »Ja«, brummte Grant, »und was soll's damit?« »Mir kam soeben der Gedanke, daß uns eine Menge Ärger erspart geblieben wäre, wenn wir heute nacht den Block einfach in die Luft gejagt hätten.« »Sonst noch was?« »Ist natürlich Blödsinn, Jeff. Aber mir kam plötzlich diese Vorstellung.« »Dazu ist keine Zeit mehr«, sagte Jeff hart. »Jetzt wird's ernst, Bob.« »Werd's mir merken.« Grant bog nach links ab, auf die westlich verlaufende Fahrbahn, die zur unteren Verkehrsebene der Brücke führte. »So kann ich dich am einfachsten an der Second Avenue absetzen«, erklärte er. »Zurück steigst du dann in das letzte Fahrzeug. Ich werd' dich nicht mitnehmen, denn ich lasse den Wagen in der Stadt und fahre mit der Subway.« »Klar«, erwiderte Rudman. »Wir haben das alles bereits des öfteren durchgesprochen.« »Eine Wiederholung kann nicht schaden.« »Du redest fast schon so wie ich.« Einige hundert Yard vor der Brückenauffahrt geriet der Verkehr ins Stocken. Grant drückte auf die Hupe. »Nur die Ruhe, Jeff«, meinte Rudman beruhigend. »Wir sind oft genug über diese Brücke gefahren, um zu wissen, daß hier -100-
der einzige Engpaß auf dieser Strecke ist. Und auf dem Rückweg benutzen wir die Gegenrichtung!« »Du hast recht«, stimmte Grant zu. »Mir geht's immer so, wenn ich in einen Stau gerate. Ich denke, er löst sich nie wieder auf.« Fünf Minuten später hatte Grants Porsche die Autoschlange hinter sich gelassen. »Am besten läßt du mich hier schon raus«, sagte Rudman. »In Ordnung.« Grant bremste an der Bordsteinkante. »Bis bald, und mach's gut, Jeff.« »Hey, Mac, was, zum Teufel, fällt Ihnen ein!« Der Verkehrspolizist hatte Rudman erspäht, der aus dem Wagen stieg. »Bin auf dem Weg zur Arbeit, Officer«, schrie Rudman zurück. Die Antwort des Polizisten ging unter im Lärm des aufheulenden Porschemotors, als Grant anfuhr und in die Brückenausfahrt einbog.
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JEFF GRANT
Grant blickte in den Rückspiegel. Er sah Rudman, der die vierspurige Avenue überquerte und auf Bun & Burger, Ecke 58th und Second, zustrebte. Van Della hatte vorgeschlagen, Rudman solle in einer Cafeteria einen Kaffee trinken, anstatt sofort seinen Beobachtungsposten auf der Ecke zu beziehen und dort eine geschlagene Stunde auf die Rückkehr der Lastfahrzeuge zu warten. »Ich trinke nur koffeinfreien«, hatte Rudman erklärt. »Gewöhnlicher Kaffee macht mich wach.« »Was, zum Teufel, kannst du dir Besseres wünschen morgens um acht?« hatte Van Della gefragt. »Hast du vor, dich wieder aufs Ohr zu legen?« »Nein, das ist es nicht, Cal«, hatte Rudman mit leichter Gereiztheit erwidert. »Nur werde ich dann schon aufgedreht genug sein.« »Gut, dann bestelle dir statt dessen etwas Brim«, hatte Grant vorgeschlagen, um dem Geplänkel ein Ende zu machen. »Ich danke, ich bestelle mir ein Glas Tee«, entschied Rudman. »Meine Mutter war der Überzeugung, wenn die Leute alle Tee tränken, gäbe es keine Probleme in der Welt.« »Falls das wahr ist«, hatte Grant gesagt, »dann laß dir gleich zwei Teebeutel bringen.« Grant lächelte, während er Rudman im Spiegel immer kleiner werden sah. Vielleicht wird er tatsächlich zwei Teebeutel bestellen, dachte Grant, und vielleicht wird er noch alles mögliche sonst verlangen, weil es zu Mamis Teerezept dazugehört. Und daran -102-
wird der Mann hinter der Theke sich erinnern, wenn die Cops bei ihm auftauchen und Fragen an ihn stellen sollten. Grant bremste, weil die Ampel an der 56th Street auf Rot sprang, und er sah in der Ferne die beiden ersten grauen Fahrzeuge die Brücke verlassen. Es war acht Uhr zwei. Die Aktion lief planmäßig. An der 55th Street riß Grant das Steuer ziemlich abrupt herum, um nach Westen abzubiegen. Das waghalsige Manöver zwang einen entgegenkommenden Emery Express Truck zur Vollbremsung. »Warum die Eile, Charlie?« schrie der Driver aus seinem Fahrerhaus. Du würdest es mir doch nicht glauben, Kumpel, dachte Grant. Dann rief er laut: »Tut mir leid!« »Schon gut, Charlie«, antwortete der besänftigte Fahrer. »Kannst nur froh sein, daß die Kiste so gute Bremsen hat.« Nachdem Grant die Kurve genommen hatte, konnte er einen halben Häuserblock entfernt das FDR-Gebäude vor sich sehen. Aus den weitgeöffneten Toren strömte das Heer der Briefträger in ihren grauen Uniformen, und ein rot-weiß-blauer Postlaster nach dem anderen rollte auf die Straße hinaus. Auch sie waren planmäßig, und - wie es in einer Broschüre der Hauptpostdirektion hieß - nichts würde sie daran hindern, ihre vorgeschriebene Route einzuhalten. Grant zog seinen Wagen an den tunnelartigen Ausgängen vorbei und warf einen Blick in die 54th Street, die das gleiche bewegte Bild einer ausrückenden Heeresmacht bot. Immer länger wurde die Prozession schwatzender und lachender Briefträger, die eilig ihre Handkarren über den Bürgersteig schoben, die Straßen überquerten und sich in alle Himmelsrichtungen verteilten. Die Fahrer der Trucks winkten amüsiert den wartenden -103-
Autofahrern zu, die gezwungen waren, der auslaufenden Wagenkolonne die Vorfahrt zu lassen. Grant lächelte, als er an die Überraschung dachte, die den Leuten bevorstand und von der sie in diesem Moment nicht die geringste Ahnung hatten. »Himmel«, sagte er halblaut zu sich selbst, »ich fange schon an, wie Van Della zu denken.« Die Wagen hinter ihm stimmten ein Hupkonzert an und brachten ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Ampel war auf Grün gesprungen. Hastig fuhr er an und überquerte die Third Avenue.
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CAL VAN DELLA
Um acht hatte der letzte Angestellte die NYPS-Garage betreten. Anderson und Walton, die fehlenden Fahrer, waren durch einen Stau auf dem Long Island Expressway aufgehalten worden. Jetzt lagen sie geknebelt und gefesselt im Waschraum. Alice Shasky, die Telefonistin, kam pünktlich und hatte sich erstaunlich rasch in der veränderten Situation zurechtgefunden. »Keine Sorge«, versprach sie Van Della. »Sie können auf mich zählen. Ich habe immer alles getan, was man mir aufgetragen hat. Nur so hatte niemand einen Grund, sich über mich zu beklagen. Sie können beruhigt sein.« Clayton Dickinsons Wachablösung zeigte nicht die Spur von Alices Bereitwilligkeit. Wie Dickinson trug auch er keine Waffe. Aber im Gegensatz zu ihm war er nicht glücklich darüber. »Tut mir leid, Mister, daß ich Ihnen keine Kugel in den Schädel jagen kann«, knurrte er Van Della an. »Ungeziefer wie Sie gehört ausgerottet.« Van Della hatte Order, Dickinson einzusperren und Clayton bei sich im Office zu behalten, damit alles so normal wie möglich aussah. Aber Claytons Verhalten gefiel ihm nicht, und er entschloß sich, ihn einzusperren und Dickinson draußen zu lassen. »Falls es Fragen gibt, du bist hiergeblieben, weil Clayton sich krank ge meldet hat und du seine Vertretung machst«, erklärte er Dickinson. »Okay«, stimmte Dickinson zu. »Irgendwie bin ich froh, daß Sie mich anstelle von Clayton draußen lassen. Ich möchte -105-
wissen, was für ein Spiel ihr Kerls euch ausgedacht habt.« Cal lächelte und warf einen Blick auf seine Uhr, dann sah er aus dem Fenster. Nichts rührte sich. Nur ein dünner Antennenstab schwankte leicht im Wind. Cal erinnerte sich an den Kauf dieser CB-Antenne, die er jetzt an der Fensterkante des NYPS-Sicherheitsoffice befestigt hatte. Sie bildete den Baustein einer Funksprechanlage, mit deren Hilfe Grant, Rudman und Van Della miteinander in Verbindung treten sollten. Nur zwei Kontakte waren vorgesehen. Sobald sämtliche NYPS-Fahrzeuge die Brücke hinter sich hatten, sollte Rudman eine aus zwei Buchstaben bestehende Nachricht an Grant durchgeben, der sich in Empfangsnähe befand. »P.O.« Die Idee kam von Rudman und hieß »Party's over«. Grant hatte danach mit Van Della Verbindung aufzunehmen und ihm mitzuteilen: »Wir sind alle bald zu Hause.« Keiner, der diese Botschaft mithörte, würde irgendetwas damit anfangen können. Die NYPS-Fahrzeuge waren über einen öffentlichen CBKanal mit dem Fahrdienstleiter im Long-Island-City-Kaufhaus verbunden. Aber Grant wußte aus sicherer Quelle, daß man sie an der kurzen Leine hielt. Raymond Lambert, Präsident von NYPS und leidenschaftlicher Funk- und Radioamateur, hatte seine Fahrer oft genug wegen ihrer Privatgespräche während der Dienstzeit gemaßregelt, und jeder Funkspruch am frühen Morgen würde seinen Verdacht erregen. Aus diesem Grunde hatte Grant für die Green Spades einen Code ausgearbeitet, dessen sie sich im Notfall bedienen konnten. Unter den dreiundzwanzig Kanälen des CB-Spektrums gab es -106-
den Kanal 9, der für dringende Mitteilungen und Notrufe vorgesehen war. Falls Milligan oder sonst jemand aus seiner Mannschaft in Schwierigkeiten geraten sollte, konnten sie über diesen Kanal eine kurze Nachricht übermitteln, die von Van Della mit Sicherheit aufgefangen wurde. Der Code war knapp und leicht zu behalten. Er bestand lediglich aus dem Erkennungswort: »Störung« und zwei nachfolgenden Ziffern. Kam es zum Beispiel an der Ecke 51th Street und Third Avenue zu irgendeiner Komplikation, würde die Nachricht heißen: »Störung 51-3«. Lag die Krisenstelle Ecke 58th Street und Park Avenue, lautete die Code-Meldung »Störung 58-P«. Aber Van Della war sicher, daß es dazu nicht kommen würde.
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JOHN MURPHY
Murphy fühlte sich miserabel. Die drei Bier, die er am vergangenen Abend während des Spiels der Mets gegen Pittsburgh vor dem Fernseher getrunken hatte, konnten daran unmöglich schuld sein. Es lag auch nicht am Frühstück, das er kaum angerührt hatte. Marie war überrascht gewesen, als er den Schinken stehenließ, und er hatte ihr erklärt, daß sein Magen wieder mal verrückt spiele. »Magen?« hatte sie lachend geantwortet. »Ich würde eher Bierbauch dazu sagen!« Marie war immer noch so rank und schlank wie vor sechzehn Jahren, als er sie geheiratet hatte. Auch John befand sich für einen Mann von achtunddreißig in bester Verfassung, aber als er im letzten Winter eine neue Uniform brauchte, kam er mit der alten Konfektionsgröße nicht mehr zurecht. Beim Laufen machte er seinen Söhnen immer noch etwas vor, und die fünfunddreißig Pfund schweren Posttaschen schleppte er spielend wie eh und je, aber er war nicht unglücklich darüber, daß die Direktion eines Tages dreirädrige Handkarren zum Transport der Post anschaffte. Murphy trug die blaugraue USPS-Uniform voller Stolz, und sein Job machte ihm Spaß. Die meiste Zeit jedenfalls. Er mochte den Umgang mit den Menschen der 59th Street zwischen der First und der Second Avenue. Er mochte den kurzen Plausch an der Wohnungstür oder an der Ladentheke. Für die Post waren diese Leute nichts anderes als »Empfänger«, wie es in der Amtssprache hieß. Unpersönliche Räder innerhalb einer Riesenmaschinerie zur pünktlichen und reibungslosen Beförderung von Briefen und Paketen. Für Murphy waren sie Freunde. -108-
Sogar Even Alioto, der Bäcker, der unter der Flut von Drucksachen und Rechnungen stöhnte und den Briefträger als Eindringling in seine Privatsphäre ansah. Eine Zeitlang hatte er sich ein Postfach gemietet, um sich vor Murphys »Belästigungen« zu schützen, aber das gab er bald wieder auf, weil er für die Post, die er haßte, nicht auch noch bezahlen wollte. Nun war Murphy wieder für ihn zuständig. Mit ausdruckslosem Gesicht ließ Alioto das Unvermeidliche über sich ergehen, und ein Lächeln hatte er für Murphy nur, wenn dieser ihm von weitem zurief: »Nichts dabei heute, Mister Alioto!« Aber Typen wie Alioto waren die Ausnahme. Viele, vor allem die Empfänger von Sozial- Renten, freuten sich auf das Erscheinen des Briefträgers. Murphy dachte an Jane Galobic. Sein Vertreter in der vergangenen Woche hatte die Umschläge der Sozialrentenversicherung am Samstag nicht ausgetragen. Für die alte Frau und eine Reihe anderer bedeutete das zwei Tage quälenden Wartens und unnötige Aufregung. Der Gedanke trieb Murphy zur Eile an, und er verließ das FDS-Gebäude an diesem Morgen vier Minuten früher als gewöhnlich.
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JANE GALOBIC
Um acht öffnete Jane Galobic den Eisschrank, in dem zwei Dosen Katzenfutter und ein Stück Käse lagen. Ihre Vorräte waren zusammengeschrumpft. Auch heute würde sie sich mit einer Tasse Tee, ein paar Löffeln Corn-Flakes mit Magermilch und den beiden grüne n Tabletten, die Dr. Meyers ihr verschrieben hatte, zufriedengeben. Gewiß, sie besaß noch eine Fünf- Dollar-Note, aber die wollte sie nicht anbrechen, bevor der Scheck eingetroffen war. Mit dem Scheck kam ihre monatliche Sozialrente. Alles in Jane Galobics Leben drehte sich um dieses Stück Papier. Sobald sie die Überweisung der 253,77 Dollar in Händen hielt, waren weitere dreißig Tage ihres Daseins gesichert. Für Jane gab es keine schlimmere Zeit als die letzten Tage des Monats. Dann war sie voller Unruhe und Furcht, man könne sie vergessen haben. Der Scheck hätte eigentlich schon am vergangenen Samstag da sein müssen, aber Samstag war John Murphys freier Tag, und sein Vertreter hatte wohl nur einen Teil der eingegangenen Post ausgetragen. Sicher würde der he ißersehnte Umschlag heute morgen mit dabei sein, und John würde ihn ihr mit den Worten überreichen: »Uncle Sam vergißt die Seinen nicht. Sie wissen, Jane, wir beide stehen auf derselben Lohnliste. Nur, daß ich für meine Mäuse noch was tun muß.« Das war seine ständige Rede, wenn er ihr den Umschlag mit dem Scheck brachte, obwohl er genau wußte, daß sie sich das bißchen Geld redlich verdiente hatte. Zweiundvierzig Jahre lang war sie Woche für Woche die fünf -110-
Treppen des roten Backsteinhauses im Schatten der 59th Street Bridge hinabgestiegen, hatte die Madison überquert und den Bus zur 34th Street bestiegen. Dort durchschritt sie den AngestelltenEingang von B. Altman Co. und fuhr mit dem Aufzug zur Wäscheabteilung hinauf. Während einer Depressionszeit, zwei Rezessionen und dreier Weltkriege hatte sie an mehrere Generationen New Yorker Frauen Tischdecken, Handtücher und Taschentücher verkauft. Es war ein ruhiges und im ganzen gesehen sorgenfreies Leben an der Seite ihres Mannes Michael Galobic gewesen, der für die alte Rupper-Brauerei Ecke 93rd und Third das Bier ausgefahren hatte. Sie hatten zwei prächtige Kinder. Tom war Buchhalter bei Campbells-Suppen in Camden, New Jersey, und Alice war glückliche Mutter eines sechsjährigen Jungen und eines achtjährigen Mädche ns. Sie lebte mit ihrem Mann, der als Verkaufsleiter bei Xerox beschäftigt war, in Grand Rapids, Michigan. Nach Michaels Tod vor zwei Jahren hatte Jane es strikt abgelehnt, die Wohnung aufzugeben und zu einem der Kinder zu ziehen, obwohl die beiden ihr Angebot durchaus ehrlich gemeint hatten. Jane Galobic war siebenundsechzig, und sie fragte sich immer öfter, ob 253,77 Dollar tatsächlich die Ernte eines ganzen Arbeitslebens darstellen konnten. Denn meist reichte es vorne und hinten nicht, und in der letzten Woche des Monats stand sie immer vor der Wahl, ob sie das ihr noch verbleibende Geld für sich selbst oder für die Ernährung ihrer Katze verwenden sollte. Vielleicht würde sie es sich eines Tages doch überlegen und Toms oder Alices Angebot annehmen. Aber das waren alles Fragen von gestern. Heute würde die Welt wieder ganz anders aussehen. Sobald John Murphy mit dem Scheck gekommen war.
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JOHN MURPHY
Die vorgeschriebene Gewichtsgrenze für Postsäcke war fünfunddreißig Pfund. Aber Murphy war der Meinung, daß irgendwo in den Bestimmungen für den Montag eine Ausnahme gemacht wurde. Für gewöhnlich schob er den Handkarren mit Leichtigkeit durch die Straßen. Heute hatte er den Eindruck, daß die Räder schleiften und der Wagen sich gefährlich zur Seite neigte. Innerha lb der überschweren Ladung befand sich Jane Galobics Scheck von der Rentenversicherung. John war das für ihr Haus bestimmte Bündel durchgegangen und hatte den Umschlag erleichtert an sich genommen. Er wußte, die alte Frau würde am Hauseinang stehen und auf ihn warten, dann wollte er ihn parat haben. Allerdings würde er die gewohnte Route deswegen nicht ändern. Murphy begann stets Ecke Second Avenue, und Jane wohnte in der Mitte des Blocks. Tut mir leid, dachte Murphy, aber Jane wird die paar Minuten auch noch warten können.
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JORGE VEGA
Die Squeanish, ein Charterboot aus der Sheepshead Bay, verließ Morgen für Morgen pünktlich um sechs ihre Anlegestelle. Nur montags stach sie eine halbe Stunde später in See. An diesem Morgen war Jorge Vega für diese dreißig Minuten regelrecht dankbar, denn als er zwei Minuten vor halb sieben den Kai erreichte, hatte die Squeanish noch nicht abgelegt. Jetzt saß er bequem in einem Klappstuhl und glich aus der Entfernung einem kleinen Jungen, der sich auf eine Schiffstour freut. Dabei war er bereits achtundfünfzig, und sein Job ließ ihm nicht viel Zeit, die angenehmeren Dinge des Lebens auszukosten. Heute jedoch hatte Vega seinen freien Tag, und obwohl er den Vorschriften gemäß eine Waffe bei sich trug, verschwendete er keinen Gedanken an seinen Job. Er dachte überhaupt an nichts in diesem Augenblick, sondern genoß mit Hingabe die salzige Seeluft, die er tief in seine Lungen einsog. Reine Luft und ein endloser Horizont gehörten nicht zu den Dingen, die ihm von Kindheit an vertraut gewesen waren. Er kannte nur die stickige Luft der Hinterhöfe und die riesigen Mietshäuser in der 104th Street oder der Manhattan Avenue, die nur ein winziges Stück Himmel freigaben. »Schau zum Fenster hinaus«, hatte seine Mutter immer gesagt. »Was siehst du? Nichts als Fixer. Ausgeflippte Typen, die sogar die eigene Mutter beklauen, um an ihren Stoff zu kommen. Was du auch anstellst im Leben, lieber Gott, werde keiner von ihnen. Weißt du was? Du solltest Jockey werden. Du hast die richtige Figur dazu. Ja, das ist genau das Passende für dich, Jockey.« Als es soweit war, stellte sich heraus, daß Jorge bei den -113-
Pferden kein Glück hatte. Also entschied er sich für einen Job, der völlig außerhalb der Vorstellungswelt seiner Mutter lag. Jorge Ramon Vega wurde Cop. Ein sehr guter Cop. So gut, daß er es mit siebenundzwanzig bereits zum Detective zweiten Grades im New Yorker Police Department gebracht hatte. Nicht viele Puertoricaner konnten das von sich sagen. Jorge war dem 17. Polizeirevier in der East 51th Street zwischen Third Avenue und Lexington zugeteilt. Es lag ganz in der Nähe von New York, N.Y. 10022, nur einen Häuserblock von dessen Südgrenze entfernt. Der Grund dafür, daß Jorge an diesem Morgen so spät zur Anlegestelle gekommen war, lag in einem Gefühl der Unruhe, das ihn plötzlich befallen hatte. Irgendwas lag in der Luft. Eine Bedrohung. Eine Gefahr, die kurz vor dem Ausbruch stand. Und falls es »losging«, wollte er sich nicht irgendwo auf See befinden, isoliert von dem Geschehen. Dieses Gefühl von nahender Gefahr hatte er nicht oft, aber wenn es auftrat, nahm er es stets hundertprozentig ernst. Dieser Tatsache verdankte er es nicht zuletzt, innerhalb von sechs Jahren vom einfachen Streifenbeamten zum Detective aufgestiegen zu sein. Doch während er sich rasierte und wusch, war das innere Warnsignal verstummt. Und Jorge hielt das Ganze für eine Regung seines Gewissens, weil er seinen freien Tag nahm, obwohl sich auf seinem Schreibtisch Stapel unerledigter Akten türmten. Jetzt war es zu spät für Grübeleien dieser Art. Er saß auf dem Deck des Charterbootes, unterwegs zu den Fischgründen, und vor sieben Stunden würde er nicht wieder an Land gehen können. Jorge lehnte sich im Liegestuhl zurück und genoß die warmen Strahlen der Morgensonne. Die rechte Hand -114-
hielt den Schaft der Angelrute umschlossen, und Jorge hoffte, daß der Fisch klug genug war, dem Köder keine Beachtung zu schenken. »He, Jorge, dieser Typ hat mir gerade eine Bierdose geklaut!« Nick Barr, der Kapitän, deutete mit gespielter Entrüstung auf einen der Männer im hinteren Teil des Schiffes. Barr führte stets einen geheimen Vorrat an Cours-Bier, das in New York nicht zu haben war, zum eigenen Gebrauch mit, während seine Passagiere sich mit Schaefer oder Miller begnügen mußten. Der Mann auf dem Achterdeck hielt deutlich sichtbar eine Dose des exquisiten Cours in der Hand. Jorge lachte. »Weißt du was, Nick?« antwortete er. »Du solltest die Polizei rufen!«
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MYLES TEMPLETON IV
Cleveland White, der im Postzimmer Dienst tat, traute seinen Augen nicht. »Sind Sie es, Mister Templeton?« fragte er aufgeregt und blickte auf die elegant gekleidete Gestalt, die vor der Frankiermaschine auf und ab ging. »Guten Morgen, Cleveland«, sagte der andere mit fester Stimme, in der eine gewisse innere Anspannung mitschwang. »Nein, Sie sehen kein Gespenst vor sich!« »Jawohl, Sir«, entgegnete White. »Was kann ich für Sie tun?« »Nichts Besonderes. Sagen Sie mir nur, um welche Zeit die Post heute kommt.« White zog seine Taschenuhr hervor, eine vergoldete Bulova, die er vor zehn Jahren zu seinem silbernen Angestelltenjubiläum bei Whyle, Spencer, Templeton & Miller erhalten hatte. »Es ist zehn nach acht, Mister Templeton«, verkündete er. »Die Post dürfte in etwa zehn Minuten hier sein, und dann wird es noch eine Stunde dauern, bis wir sie sortiert haben.« »Rufen Sie mich an, sobald sie eingetroffen ist«, verlangte Templeton. »Warten Sie nicht bis nach dem Sortieren. Geben Sie mir sofort Bescheid. Ich bin in meinem Office.« »Jawohl, Sir.« Templeton verließ den Raum. Kopfschüttelnd blieb White zurück. Sein Erstaunen war durchaus verständlich. Normalerweise betrat Myles Templeton IV das Postzimmer nur ein einziges Mal im Jahr, und zwar am Nachmittag vor Heilig Abend, um White und dessen fünf Kollegen Frohe Weihnachten zu wünschen und ihnen für ihre treue Mitarbeit in der Firma zu danken. White fragte sich also mit Recht, was -116-
Mister Templeton an diesem Morgen hierher getrieben hatte. Whyle, Spencer, Templeton & Miller war eine der bedeutendsten Anwaltsfirmen Manhattans. Sie vertrat die Interessen einer Großbank, zweier führender Investmentgesellschaften, einer Reihe kleinerer Sparkassen und zahlreicher alteingesessener Familien der Stadt. Doch auch für sie stellte sich immer wieder das Problem, das allen Unternehmen dieser Art zu schaffen machte: das Eintreiben der Gelder ihrer Klienten. Mit sechsunddreißig Partnern, achtunddreißig freiberuflichen Anwälten und hundertneunundsiebzig Angestellten beliefen sich die Kosten für die wöchentliche Gehaltszahlung auf beinahe hundertfünfzigtausend Dollar. Normalerweise betrugen die wöchentlichen Einkünfte zweihundertfünfzigtausend, so daß es selten zu irgendwelchen Zahlungsengpässen kam. In der letzten Zeit jedoch waren die Geldeingänge spürbar zurückgegangen, und in der vergangenen Woche sogar auf hunderttausend Dollar abgesunken. Um die Gehälter zahlen zu können, war Templeton gezwungen gewesen, von einem der Treuhandvermögen, die das Anwaltsbüro verwaltete, fünfundneunzigtausend Dollar auf kurze Zeit abzuzweigen. Templeton war sich der Tragweite seines Tuns durchaus bewußt: Er hatte den Ruf vorbildlicher Korrektheit, den die Firma seit ihrem Bestehen genoß, mit diesem illegalen Transfer bedenklich in Gefahr gebracht. Aber Templeton war der Überzeugung, diese Gefahr noch rechtzeitig bannen zu können. Er erwartete einen Scheck in Höhe von zweihundertzwölftausend Dollar. Mit ihm würde es ein leichtes sein, die unerlaubte Kontenmanipulation rückgängig zu machen und zusätzlich die für diese Woche fälligen Gehälter auszuzahlen, ohne daß irgendwelche geschäftsschädigenden Gerüchte an die Öffentlichkeit drangen. Seine Teilhaber hatten -117-
der Manipulation zugestimmt, Templeton rechnete fest mit ihrer Verschwiegenheit. Noch mehr aber rechnete er im Augenblick mit dem Eintreffen der Montagspost.
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MARY PARKE
Unter allen Formen der Kommunikation hielt Mary Parke am wenigsten von der Briefpost. Sie zog den persönlichen Kontakt von Mensch zu Mensch vor. Bot sich dazu einmal keine Möglichkeit, griff sie zum Telefon. Die Post brachte ihr nur Rechnungen ins Haus oder seitenlange Jeremiaden ihrer Mutter aus Columbus. Mary konnte ganz gut leben, ohne ständig an alle möglichen Verpflichtungen erinnert zu werden, und aus diesem Grund schenkte sie ihrem Hausbriefkasten oft tagelang keinerlei Beachtung. Der Hausmeister hatte sie immer wieder gebeten, diese Gewohnheit in ihrem eigenen Interesse abzustellen, denn damit locke sie gleichsam die Diebe an wie der Honig die Bienen. Es gebe keine deutlicheren Hinweise auf die Abwesenheit der Hausbewohner als überquellende Briefkästen. Mary war es gewohnt, daß ihr stets irgend jemand mit Klagen oder Bitten in den Ohren hing, und, um die Wahrheit zu sagen, sie machte sich nichts daraus. Mary war dreiundzwanzig, einszweiundsiebzig groß, hatte weizenblondes Haar und wog hundertneun Pfund, die von der Natur in meisterhafter Weise genau auf die richtigen Stellen ihres Körpers verteilt worden waren. Für gewöhnlich war Mary kein Kind von Traurigkeit, aber im Augenblick war alle Lebenslust von ihr gewichen. Sie hatte Angst. Wahnsinnige Angst. Seit ihrem elften Lebensjahr hatte sie mit unerträglicher -119-
Regelmäßigkeit alle neunundzwanzig Tage ihre Periode bekommen. Und deshalb machte Mary sich ernstliche Sorgen, als beim letzten Mal ihre Blutung bereits nach siebzehn Tagen einsetzte. Die Tatsache, daß die Blutung nicht aufzuhören schien und daß Abgespanntheit und Rückenschmerzen sich ständig verstärkten, versetzte sie in regelrechte Panik. Dr. Richmond, ein sehr geduldiger und verständnisvoller Frauenarzt, stellte eine gründliche Untersuchung an und redete beruhigend auf sie ein. Der Bluttest würde sicherlich bald die gewünschte Klarheit darüber bringen, daß es sich nicht um etwas Ernsthaftes handelte. Dr. Richmond, ein vielversprechender junger Mann, hatte seine Praxis im ersten Stock des Apartmenthauses auf der 54th Street, das Mary bewohnte. »Ich erwarte den Laborbericht am Montag morgen«, sagte er zu Mary. »Warum geh'n Sie nicht etwas später aus dem Haus. Gegen Viertel nach neun hoffe ich die Ergebnisse hier zu haben. Wir gehen sie dann gleich miteinander durch, und Sie sind endlich Ihre Sorgen los.« »Kommt die Post schon so früh?« fragte Mary. »Ich hab' nämlich keine Ahnung, da ich um diese Zeit nie zu Hause bin, und außerdem hasse ich Post.« »Gewöhnlich ist sie noch vor neun hier. Und Frank, der Briefträger, bringt die Sachen, die für mich bestimmt sind, noch bevor er die Briefkästen in der Eingangshalle füllt.« »Ist das der Langhaarige?« »Ja. Kennen Sie ihn?« »Nur vom Hörensagen.« Für Mary hieß »einen Menschen kennen«, mit ihm geschlafen zu haben. Der junge Briefträger gehörte nicht zu der Gruppe von Auserwählten, auf die Marys differenzierte Antwort anspielte. -120-
Sie gab offen zu, daß Sex ihr Spaß machte, und sie hatte zu Sex das gleiche Verhältnis wie Anita Bryant zu FloridaOrangen: Ein Tag ohne Liebe war für sie ein Tag ohne Sonnenschein. Ihre Partner hatten allerdings ein Zugeständnis zu machen, wollten sie in den Genuß von Marys Liebeskünsten kommen: Sie mußten Kondome benutzen. Mary vertrug die Pille nicht, und Schaum hielt sie für unwirksam. Kondome jedoch bedeuteten nur eine winzige Unannehmlichkeit gegenüber dem Vergnügen, das Mary zu bieten hatte, und es gab kaum einen Freier, der sich durch die ein wenig altmodische Bedingung jemals hatte abschrecken lassen. Und noch keiner, der darauf eingegangen war, hatte seinen Entschluß jemals bereuen müssen. Die erste Ausnahme war Tom Edwards, der das letzte Wochenende mit Mary verbracht hatte. Tom, gutaussehend, draufgängerisch, aber nicht abgebrüht, war sehr schnell dahintergekommen, daß Mary nur mit halbem Herzen dabei war. »Was ist los mit dir, Baby?« »Nichts. Ich bin einfach nicht richtig in Stimmung heute.« »Bist du sicher, daß nicht ich der Grund dafür bin?« »Ja, ganz sicher«, sagte Mary. »Der Grund bin ich selbst.« Glücklich, mit jemandem sprechen zu können, hatte Mary Tom ihre Probleme und Ängste mitgeteilt, und Tom hatte sich als erstaunlich mitfühlend erwiesen. Er hörte ihr zu, ruhig und mit ungewöhnlichem Verständnis. Den ganzen Sonntag über und auch noch nach dem Aufstehen an diesem Montagmorgen. Als Tom gegen halb sieben zu seiner Wohnung fuhr, um einige Sachen für eine Geschäftsreise zu packen, war Mary sich erschreckend allein und verlassen vorgekommen. Ihre Furcht stieg ins Riesenhafte, und anderthalb Stunden später stand sie -121-
kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Sie ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Dr. Richmonds grüner Triumph parkte vor dem Eingang. Der Arzt war also schon in seiner Praxis. Obwohl es gerade erst acht war, entschloß sie sich, ihn anzurufen. Vielleicht war der Bericht schon am Samstag eingetroffen. »Hallo, Doc. Hier spricht Mary Parke vom zwölften Stock. Gibt's schon was Neues?« »Noch nicht, Mary«, antwortete er. »Vor einer Stunde wird die Post nicht hier sein.« »Ich dachte, vielleicht war' schon am Samstag was dabeigewesen.« »Nein, leider nicht. Aber nur keine Aufregung. Alles wird in Ordnung gehen. Bisher habe ich noch keinen Patienten verloren.« »Danke, Doc. In einer Stunde werd' ich bei Ihnen reinschauen.« »Fein, Mary. Bis gleich dann. Und machen Sie sich keine Sorge. Der Bericht wird bestimmt okay sein.« »Hoffentlich.« »Aber natürlich. Jedenfalls mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit.« »Nochmals besten Dank. Bis nachher.« Marys Hände mit den sorgfältig geformten, rotlackierten Fingernägeln zitterten, als sie den Hörer wieder auf die Gabel legte. Sie sagte sich, daß es Zeit war, ins Badezimmer zu gehen, zögerte jedoch, denn sie fürchtete den Anblick des von ihrem Blut gefärbten Badewassers. In der Küche goß sie sich eine Tasse Kaffee auf. Sie konnte -122-
den Blick nicht von der Uhr losreißen, deren Zeiger mit unerträglicher Langsamkeit der Neun entgegenwanderte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wartete Mary auf die Post. Es war das einzige, das sie tun konnte. Und für Mary gab es nichts Unerträglicheres als Warten.
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ROY MORGAN
Roy Morgan fühlte sich blendend. Heute war sein erster Arbeitstag nach einem zweiwöchigen Angelurlaub an der Jersey-Küste. Nach vierzehn Tagen der Ruhe und Abgeschiedenheit war der Lärm im FDR-Gebäude wie Balsam für seine Ohren. Die beiden regulären Beifahrer hatten sich für eine Woche freigenommen. Und deshalb sprangen an diesem Morgen zwei Ersatzleute ein, die ihn auf seiner Tour begleiten würden. Beide waren Schwarze, einer davon eine Frau. »Sie müssen Roy Morgan sein«, ertönte eine tiefe Stimme hinter seinem Rücken. »Der Star der 54th Street, der Mann, der schon wieder auf dem Heimweg ist, wenn die anderen mit ihren Ärschen noch in den halbvollen Postsäcken sitzen.« Morgan drehte sich um und sah an dem hochgewachsenen, ganz auf Afrolook getrimmten Neger empor. Der Mann trug die blaugraue Uniform der Postbediensteten, die ihm ein schneidiges Aussehen verlieh. Mit einem gewinnenden Lächeln blickte er auf Morgan hinab. »Ich bin Jazz Johnson, Ihr Ersatzmann für diese Woche!« »Nicht mein Ersatzmann, sondern der von San Vitale.« »Natürlich, natürlich. Was ist da der Unterschied? Jedenfalls werden wir in den nächsten Tagen gemeinsam unsere Tour machen. Ich weiß alles über Sie. Man sagt von Ihnen, daß Sie Ihre Strecke schneller abreißen, als eine Nutte die Nummer mit ihrem Freier.« Morgan zögerte mit seiner Entgegnung. Sollte er wütend werden oder ruhig bleiben? Er entschied sich für das letztere. »Und ich trage noch nicht mal Hot-Pants dabei«, erwiderte er. -124-
Johnson grinste und streckte Morgan die Hand hin. »Freue mich, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Roy. Bin sicher, daß ich meinen abgebrochenen Schlaf bald fortsetzen kann.« »Aber nicht heute«, gab Morgan zu bedenken. »Heute ist Montag, und wir haben mehr Post auszuliefern, als du jemals in deinem Leben gesehen hast. Heute werden wir schuften müssen wie die Berserker.« »Was ist ein Berserker, Mann?« »Das ist ein Typ, wie du ihn eben beschrieben hast, Jazz. Ein Kerl, der mit seinem Hintern in einem Postsack sitzt.« »Du sprichst von Hintern, Roy, warte ab, bis du Wilma siehst. Du wirst anfangen, über die Vorzüge einer Mischehe nachzudenken.« »Ist das nicht ein bißchen stark, Jazz?« »Wilma ist stark, Mann! Und genau an den richtigen Stellen.« Morgan blickte auf seine Uhr und stutzte. »Hey, Jazz, mit deinem Gelaber bringst du meinen ganzen Zeitplan durcheinander. Also, packen wir die Karre voll, und sehen wir zu, daß wir endlich ans Tageslicht kommen! Bei der Gelegenheit die Frage: wo steckt eigentlich diese sagenhafte Wilma Dingsbums?« »Pünktlichkeit gehört nicht zu ihren Vorzüge n. Aber wenn sie einmal da ist, beherrscht sie die Bühne.« »Die ›Bühne‹ bot keinen bemerkenswerten Anblick. Sie bestand lediglich aus dem stark ramponierten Inneren eines Großraumlasters, dessen dicke Holzwände neue Kerben und Schrammen erhielten, als Morgan und Johnson die hochbeladenen Postkarren auf die Packfläche schoben. »Jesus, die Kiste bricht auseinander!« stöhnte Johnson. »Mach dir mal nicht in die Hosen, mein Junge«, entgegnete Morgan ruhig. »Am Montag ist hier immer die Hölle los.« -125-
Der letzte Karren hatte nur knapp auf der Ladefläche Platz gefunden, und Morgan knallte mit Wucht die Tür zu. »Das war's, Jazz. Wir sind abfahrbereit. Aber das ist ein DreiMann-Laster, und unser dritter Mann fehlt noch? »Da drüben kommt sie!« rief Johnson und zeigte auf eine Gestalt, die mit gemächlichen Schritten auf die Verladerampe zukam. »Das Weib scheint den sechsten Sinn zu haben. So wie wir mit dem Laden fertig sind, kreuzt sie auf.« Das aufreizende Klappern ihrer Plateauschuhe drang an Morgans Ohr. Er drehte sic h zu ihr um. Was er zu sehen bekam, ließ ihn einen überraschten Pfeifton ausstoßen. Sie trug die Uniform ein bis zwei Nummern zu klein. Ihre wohlgeformten Schenkel und der kappe Bikini-Slip zeichneten sich unter dem blaugrauen Baumwollkleid deutlich ab. Die Knöpfe ihrer Hemdbluse standen offen und gewährten einen Blick auf die samtene Bräune ihrer Haut und den Ansatz ihrer festen Brüste, deren Spitzen Morgan aufzuspießen drohten, falls er es wagen sollte, ihnen nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Das kleine Gesicht wurde von zwei großen ausdrucksvollen Augen beherrscht und wirkte wesentlich unschuldiger als das, was sich darunter befand. Roy Morgan begegnete Wilma White. Die Frau hielt Morgan die Rechte hin, und als er sie ergriff, war er überrascht von ihrer Weichheit. »Ihre Hände sind zart wie ein Kinderpopo, Wilma«, sagte er. »Wie machen Sie das bei diesem Job?« Wilma gab keine Antwort auf diese Frage und schaute Morgan sekundenlang in die Augen. Dann lächelte sie und sagte: »Wie kann ich Ihne n helfen, Gentlemen?« »Schwing deinen hübschen Hintern in den Wagen, Baby«, sage Jazz mit gespielter Entrüstung. »Wir haben dafür gesorgt, daß auch heute nichts an deine samtenen Patschhändchen -126-
kommt.« Roy nahm hinter dem Steuer Platz, und Wilma rutschte in die Mitte der Fahrerbank. Johnson stand auf dem Trittbrett in der geöffneten rechten Tür des Lasters. »Schau dich noch mal gründlich um«, empfahl Morgan. »So schnell siehst du diesen Ort nicht wieder. Jedenfalls nicht bei der Ladung, die wir heute morgen auf den Achsen haben.« »Ich mag Männer mit 'ner mächtigen Ladung.« Wilmas provozierende Äußerung veranlagte Morgan, einen Blick durch das Rückfenster des Fahrerhauses in den Laderaum zu werfen. Dann nahm er den Fuß von der Kupplung, und der Truck setzte sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. »Nur keine Schweißausbrüche, Morgan«, riet Johnson. »Wilma nimmt stets die Backen voll. Aber reden ist nicht das einzige, was sie tut.« »Das hängt ganz davon ab, zu wem ich was sage, Baby. Zu einem Laumann, wie du es bist, oder zu einem gutaussehenden Gentleman wie Mister Morgan«, belehrte ihn Wilma. »Es heißt Roy, Wilma. Nicht Mister Morgan. Im übrigen aber weiß ich jetzt, daß du maßlos übertreibst. Von gutaussehend kann bei mir keine Rede sein. Jedenfalls nicht mehr seit dem Tag, an dem man mir bei den Vorkämpfen im Golden Glove die Nase gebrochen hat. Na ja, das ist schon 'ne Ewigkeit her. Du warst damals bestimmt noch nicht auf der Welt.« Am Ausgang des Tunnels bremste Morgan, um einen Personenwagen vorbeizulassen. Dann bog er in die 55th Street ein und fuhr westwärts. »Ein herrlicher Tag«, stellte Morgan fest. »Die letzten Tage in Jersey hat's geregnet, und kaum bin ich zurück, ist schon das prächtigste Wetter. Das hab' ich gern!« Die Ampel sprang auf Rot, als Morgan die Ecke von P. J. Clarke's erreichte. Das gab ihm Gelegenheit, Seiten- und Rückspiegel einzustellen. -127-
Als er in den Seitenspiegel blickte, glaubte er, hinter sich eines der NYPS-Fahrzeuge zu sehen. »He, Jazz, wer ist da hinter uns?« Johnson drehte den Kopf. »Nichts Besonderes, nur 'n paar Cabs.« »Nein, die nicht. Weiter rückwärts in Höhe der Second Avenue etwa.« »Meinst du den grauen Laster?« »Sieht aus wie ein NYPS-Wagen, würd' ich sagen.« »Möglich. Kann's von hier aus nicht erkennen. Aber was ist damit?« »Nichts weiter, nur daß sie normalerweise so früh am Morgen noch nicht unterwegs sind.« »Scheiß doch was drauf, Mann. Vielleicht kommt der Wagen aus der Werkstatt, oder er fährt eine Sondertour.« »Vielleicht, aber so früh bin ich denen eigentlich noch nie begegnet.« »Vergiß es, Roy, uns geht das sowieso nichts an!« »Recht hast du.« Die Ampel wechselte auf Grün. Morgan fuhr an und überquerte langsam die Third Avenue. Dabei wich er dem riesigen Schlagloch aus, das ihn seit dem Frühjahr jeden Morgen neu in Rage versetzte. Als er einen Blick in den Rückspiegel warf, hatte der Laster hinter ihm aufgeholt. Deutlich erkannte Roy, daß es tatsächlich ein NYPS-Fahrzeug war. Niemand sonst hatte seinen Wagen in diesem unauffälligen Mausgrau gestrichen. Was, zum Teufel, hatte die Kiste um elf nach acht schon auf der Straße zu suchen?
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MELANIE HAIGHT
Der Vorhang stand einen Spaltbreit offen, und das Licht fiel über Melanies Bett wie ein niederzuckendes Schwert. Melanie wußte nicht, wo sie war. Der Traum hatte sie weit übers Land getragen und irgendwo auf einer verlassenen Bahnstation abgesetzt. Sie trug ein hauchdünnes Nachthemd, die Angst schnürte ihr die Kehle, und kein Laut drang über ihre ausgetrockneten Lippen. Melanie versuchte die Augen zu öffnen. Der Lichtstrahl löste in ihrem Kopf eine Explosion von Angst und Schmerz aus. Unsicher berührte die Frau mit den Fingerkuppen Stirn, Schläfen und Wangen. Nirgends war Blut, nirgends auch nur die kleinste Schwellung. Stöhnend richtete sie sich auf, schwang die Füße über die Bettkante und wankte zum Fenster. Mit zitternden Händen ergriff sie die Vorhangschnur, um das Tageslicht einzulassen, das die grausigen Gespenster der Nacht vertreiben würde. Es muß ein Traum gewesen sein, sagte sie sich. Einfach die Ausgeburt meines gequälten Unterbewußtseins. Das einzige, an das sie sich noch erinnern konnte, war das Abteil des Pullman-Wagens, in dem sie gesessen hatte. Der Schaffner hatte immer und immer wieder denselben Satz heruntergeleiert: »Alle Schlafwagenplätze sind belegt, Madam, und alle sonstigen Liegeplätze sind besetzt. Ich muß Sie daher auffordern, den Zug an der nächsten Station zu verlassen!« Schließlich war sie aus dem Abteil getaumelt, hatte sich den Kopf an der Tür gestoßen und war aus dem fahrenden Zug -129-
gestürzt. Nackt und allein stand sie auf der verlassenen Bahnstation, als sie aus ihrem Traum erwachte. Melanie begann zu lachen, und plötzlich fand sie ihre Stimme wieder. »Hast du nichts Besseres zu tun, als solch einen Blödsinn zu träumen. Schlafwagen und Liegeplätze ! Um Gottes willen, eindeutiger kann es ja gar nicht mehr werden!« Als das Tageslicht ins Schlafzimmer flutete, rieb Melanie die schlafverklebten Augen und blickte hinunter auf die Straße. Nach dem Wochenende erwachte der Verkehr wieder zum Leben. Der Lärm der Autohupen drang gedämpft an ihr Ohr, und über das betongraue Band der Fahrbahn schob sich Wagen an Wagen. Wenn ich jetzt das Fenster aufreiße und springe, sagte sie sich und ließ auch an diesem Morgen ihrer überreizten Phantasie freien Lauf, wird keiner von denen da unten was davon merken. Und ein Fußgänger, der mich mit verbogenen Gliedern auf dem Bürgersteig liegen sieht, wird etwas von einem betrunkenen Weibsbild murmeln und weitergehen. Die Vorstellung, zerschmettert und blutbesudelt auf der Straße zu liegen, ließ sie erschauern. Erschreckt trat sie vom Fenster zurück und ging ins Badezimmer. Die Arzneiflaschen waren immer noch leer, kein Wunder hatte sie über Nacht gefüllt. Melanie stieß einen gequälten Schrei aus. »Mark, du Bastard. Ich brauche diese Dinger. Du und Dr. Birch, ihr könnt mich mit eurem Gelaber am Arsch lecken. Ich brauche die Glücksbringer, um schlafen zu können, und ich brauche sie, um leben zu können.« In knapp zwei Stunden würde es ihr bessergehen. Dann, wenn die Post ihr den Sche ck brachte. Als erstes würde sie die ArgentApotheke anrufen, um ihre Bestellung durchzugeben. Danach würde sie zur Zweigstelle der Chase Manhattan hinüberlaufen, -130-
den Scheck einlösen, sich einen Teil des Geldes auf ihrem Konto gutschreiben und den Rest als Bargeld auszahlen lassen. Das meiste davon würde Mr. Vardamin, der Inhaber der Apotheke, einstreichen, der ihr schon lange keinen Kredit mehr gewährte. »Ich schätze Sie als Kundin, Mrs. Haight«, hatte er mit Bedauern erklärt. »Aber mein Buchhalter setzt Zweifel in Ihre Kreditwürdigkeit, und meine Frau glaubt, ich wünsche ein Techtelmechtel mit Ihnen. Sie werden also sicher Verständnis dafür haben, wenn ich von heute ab auf Barzahlung bestehen muß.« Melanie hatte Verständnis gehabt, und die Idee mit dem »Techtelmechtel« war ihr gar nicht so übel erschienen. Jedenfalls als letzter Ausweg für den Notfall. Von der Küche aus gab es einen Ausblick auf die First Avenue, und nachdem Melanie das Kaffeewasser aufgesetzt hatte, trat sie an das Fenster (das mit den verschiedenartigsten Kakteen, Symbolen des Überlebens unter härtesten Bedingungen vollgestellt war) und blickte auf die Straße hinunter. Mitten im Strom der gelben Cabs schwammen einige Lieferfahrzeuge, die auch Melanie mit Waren versorgten. Unter anderem machte sie auch einen NYPS-Truck aus. Es fiel ihr nicht auf, daß er ungewöhnlich früh unterwegs war. Sie dachte nur an die neue Strickjacke, die sie sich bestellt hatte und die heute geliefert werden sollte. Dann sah sie den Postwagen. Endlich! Da kommt Marks Brief, dachte sie. Er muß dabeisein! Er muß einfach in diesem Fahrzeug sein! Der Truck fuhr weiter, ohne anzuhalten, und Melanie spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Der Wasserkessel gab einen Pfeifton von sich, und Melanie -131-
ging zurück zum Herd. Der Kaffee würde die Trockenheit ihres Mundes vertreiben, aber nur der Scheck konnte ihren Körper und ihre Seele vor dem Austrocknen bewahren. »Mark«, flehte sie halblaut, »ich weiß, ich habe schäbig an dir gehandelt. Aber ich beschwöre dich beim allmächtigen Gott, laß es mich nicht entgelten. Nicht heute! Bitte, nicht heute, an diesem Montagmorgen!«
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DIE GREEN SPADES
Die Green Spades hatten sich genauestens auf ihre Aufgabe vorbereitet. Jeder von ihnen hatte die Strecke, die sie an diesem Morgen zu fahren hatten, vorher mehrmals zu Fuß zurückgelegt. Wie die meisten Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, besaßen sie ein ausgeprägtes Gespür für Gefahr, eine Art innere Warnanlage, die demjenigen, der sie besitzt, das Überleben garantiert. Dieser Fähigkeit, die durch die minutiösen Instruktionen Grants und Milligans noch verschärft worden war, verdankten sie eine umfassende und bis in die kleinsten Details präzise Kenntnis ihres Operationsfeldes. Milligan zum Beispiel wußte, daß er auf seiner Fahrt an zwei nebene inander geparkten Trucks der Silvercup-Brotfabrik vorbeikommen würde. McWhirter hatte zwei Extraminuten eingeplant für den freundlichen, aber energischen Schülerlotsen an der Kreuzung 15th Street und First Avenue. Riley wußte, daß zwei Cops von der Morgenstreife in einer Cafeteria saßen, während er nur fünfzig Yard von dem am Straßenrand abgestellten Streifenwagen entfernt das Umladen der Post zu besorgen hatte. Nach menschlichem Ermessen drohte keiner der Zweierbesatzungen auf dem Weg zu ihrem Einsatzort eine ernst zu nehmende Gefahr. New York, N. Y. 10022 war ahnungslos, und zu diesem Zeitpunkt - genau neun Minuten vor dem entscheidenden Zugriff - glich der Bezirk einem jungen Mädchen, das keine Ahnung von seiner bevorstehenden Entführung hat.
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MALCOLM WILEY
Das Telefon in Wileys Schlafzimmer befand sich zwölf Schritt von seinem Bett entfernt auf einem runden Knoll- Tisch, der direkt vor dem Fenster stand. Nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht hatte ihn ein Mädchen gefragt, weshalb er dem Apparat einen derart unpraktischen Standort gegeben habe. »Ganz einfach, meine Liebe«, hatte Wiley ihr erklärt. »Bis ich abgehoben habe, bin ich wenigstens halbwegs wach.« An diesem Morgen versagte seine Theorie kläglich, und Wiley preßte den Hörer ans Ohr, ohne zu begreifen, was die Stimme am anderen Ende der Leitung von ihm wollte. »Würden Sie das Gesagte noch mal wiederholen!« bat er die Telefonistin. »Gewiß, Sir. Ich gab Ihnen den Wortlaut eines Nachtbrieftelegramms von Buttonwood Advisors durch. Möchten Sie, daß ich den ganzen Text wiederhole?« »Ich bitte darum!« Gewiß, Sir. Die Nachricht lautet: Empfehlen unverzüglichen Ankauf von Banco-Mining-Aktien bei Börsenöffnung am Montag.« »Das ist alles?« »Ja, Sir.« »Gut, danke für den Anruf. Übrigens, wie spät ist es jetzt?« »Sieben Uhr fünfundzwanzig, Sir. Wir versuchen, alle Kunden zu erreichen, bevor die Börse öffnet.« »Well, meine Liebe, falls es Sie tröstet: Ich bin überzeugt, das wird Ihnen ganz bestimmt gelingen.« »Oh, danke, Sir!« -134-
Buttonwood Advisors war eine der zahlreichen Anlageberatungen, die Wiley für sich arbeiten ließ, um seiner Scheintätigkeit als Full-time-Anleger die nötige Reputation zu geben. Ihr »Börsenbrief« war ein seitenstarkes Informationsblatt, das vierzehntägig erschien. Danach gab es die hochaktuellen Telegramme, die von Fall zu Fall verschickt wurden. Dies war das zweite Mal, daß eine übereifrige Telefonistin ihn mit einem Buttonwood-Bulletin aus dem Schlaf riß. Im ersten Moment hatte Wiley geglaubt, es handle sich um das Telegramm seines Auftraggebers, und die Vorstellung hatte ihn total aus der Fassung gebracht. Aber nicht einmal ein Premierminister konnte so dämlich sein, auf diese Weise mit einem Killer Kontakt aufzunehmen. Dabei gestand Wiley sich durchaus ein, daß er die Nachricht des Premiers mit Ungeduld erwartete, denn dann erst würde er Gewißheit darüber haben, wann seine Aufgabe in dieser Stadt abgeschlossen war. Für ihn bestand das Wesentliche eines Auftrages immer noch darin, daß er rasch und zügig über die Bühne ging. Wiley stieg die Treppe zum Erdgeschoß hinunter und öffnete die Tür des Foyers. Times und Wall Street Journal lagen auf der Fußmatte. Er hob sie auf und nahm sie mit nach oben. Im Badezimmer drehte er den Wasserhahn auf, ließ Wasser in die Wanne laufen, stieg ein und widmete sich genußvoll der morgendlichen Zeitungslektüre, während der warme Strahl des zulaufenden Wassers angenehm seinen Körper umspülte. Wenn er das Studium der beiden Zeitungen beendet hatte, würde die Post dagewesen sein.
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MONTAG Montag 8 Uhr 12 bis 9 Uhr 32
ROY MORGAN »Das ist jetzt schon der dritte heute morgen!« Roy Morgan hinter dem Steuer des vollbeladenen Postwagens schrie es fast. »Der dritte was?« fragte Jazz Johnson. »Der dritte Truck vom Paketdienst, verdammt noch mal«, knurrte Morgan gereizt. »Die haben nämlich um diese Zeit überhaupt noch nichts auf der Straße verloren!« »Und jetzt?« »Was jetzt? Nichts jetzt.« Morgan wirkte nachdenklich. »Oder vielleicht doch?« »Nämlich?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen!« »Was zum Teufel, bringt dich dann auf die Palme?« »Ich weiß es selbst nicht, Jazz. Aber irgendwas ist faul an der Sache. Ich bin jetzt schon elf Jahre hier in Manhattan, und noch nie ist mir auf meiner ersten Tour ein NYPS Truck begegnet. Noch nie, verstehst du?« »Dann mach dir ein Kreuz in den Kalender, Roy«, schlug Jazz vor, »damit du nie vergißt, was für ein wichtiger Tag das heute für dich war.« Der Ton seines Beifahrers gefiel Morgan nicht. -136-
»Übrigens, Johnson, hab' ich dir schon gesagt, daß ich Klugscheißer nicht ausstehen kann?« »Klugscheißer oder Scheißnigger?« »Klugscheißer, Mann«, stieß Morgan wütend hervor. »Egal ob schwarz oder weiß.« Johnson gab keine Antwort. Er drehte sich ostentativ zum Fenster und starrte auf die Straße. »In den Geschäften war wirklich allerhand los am Sams tag, Roy.« Wilma suchte zu vermitteln.« Ich hatte Mühe bei Gimbel's in der Sechsundachtzigsten überhaupt reinzukommen. Vielleicht fangen die Wagen vom Paketservice heute früher an, weil sie es sonst nicht alles schaffen. Du weißt doch, wie leicht wir Fraue n die Geduld verlieren, wenn die neue Reizwäsche zu lange auf sich warten läßt.« Morgan lachte gepreßt. »Mag sein, du hast recht, Wilma, aber seltsam genug ist es. Ich sag' dir, was ich tun werde. Ich vergesse das Thema, bis wir an Ort und Ziel sind. Falls wir aber noch einem einzigen NYPS Truck begegnen, werde ich Charlie Smith interviewen. Er fährt seine Strecke genausolange wie ich, und er wird mir schon sagen können, was los ist.« »Das halte ich für eine gute Idee«, stimmte Wilma zu. »Und falls du mit ihm sprichst, vergiß nicht, ihn nach meiner Luxuswäsche zu fragen.«
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DIE GREEN SPADES
Brock McKenzie sah ihn, noch bevor er mit seinem Postkarren ganz um die Ecke gebogen war. »Er ist pünktlich auf die Sekunde«, stellte Mike Gallagher, sein Begleitmann in dem NYPS-Fahrzeug, fest. Gallagher und McKenzie parkten in der 52nd Street direkt hinter der Fifth-Avenue-Kreuzung. Sie befanden sich an einem der Standorte, die Grant als »sicher« bezeichnete. Schräg gegenüber lag die Warenannahmestelle von Carrier's, wo den ganzen Tag über Fahrzeuge des Paketdienstes zum Be- und Entladen vorfuhren. An dieser Stelle würden die Green Spades nicht auffallen, nicht einmal morgens um acht. »Denk dran«, warnte McKenzie, »es muß zügig gehen, zügig, aber ohne Nervosität. Und vergiß nicht, außer ihm da vorne haben wir noch fünf weitere einzusammeln!« »Sonst noch was?« fragte Gallagher gereizt. »Ich mach' das schon alles völlig cool, Mann, glaub's mir. Ich kenne jeden verdammten Quadratmeter der Zweiundfünfzigsten von hier bis runter zum River.« »Tut mir leid, Mann«, entschuldigte sich McKenzie. »Ich wollte dir nicht auf die Zehen treten. Es war nur sicherheitshalber, weißt du?« »Schon gut, Brock, wir behalten die Nerven. Wenn irgend jemand Scheiße baut, dann nicht wir.« McKenzie ent spannte sich. Der Druck in der Magengrube ließ nach, der schlagartig eingesetzt hatte, als der Briefträger um die Ecke bog. »Das ist doch nicht zu fassen, der Hundesohn frißt Schokoladenriegel im Dienst!« rief Gallagher. -138-
»Und beschmiert den Leuten die Briefe mit dem Zeug!« knurrte McKenzie. Im selben Augenblick, so als kümmere er sich nicht um McKenzies Bemerkung, fuhr sich Byron Trask, der Zusteller, mit der Rechten durch die Haare, und dann holte er einen neuen Riegel aus der Tasche. »Vielleicht ist er bekannt wegen seiner Schmiererei«, meinte McKenzie. »Ich werde also darauf achten, daß ihm das Ding nicht auffällt, wenn ich ihn gleich verhafte und in den Laderaum verfrachte.« »Wird nicht nötig sein«, beruhigte ihn Gallagher. »Bis der hier ist, wird er das Beweisstück längst aufgegessen haben.« Trask befand sich nur noch fünfzig Schritte von dem NYPSFahrzeug entfernt, und McKenzies Haltung spannte sich. »Du brauchst nur an eins zu denken, Brock«, erinnerte ihn Gallagher. »Und das wäre?« fragte McKenzie. »Nach jeder Festnahme die Tür wieder zu verriegeln.« »Das ist das zweite, woran ich zu denken habe. Zuerst muß ich dran denken, die Tür zu öffnen.« Sie lachten beide, und die Spannung löste sich. »Okay, Mann, es ist soweit!« McKenzie drückte den Türknopf nach unten und stieg aus. Er ging um den Wagen herum und schloß die Tür zum Laderaum auf. Der Schlüssel drehte sich mühelos im Schloß, und die Tür schwang auf. Trask war bis auf wenige Schritte an das Fahrzeug herangekommen, und McKenzie blieben nur noch wenige Sekunden, bis sein Part begann. Trask befand sich neben dem Führerhaus, als er den Kopf drehte, um den Gruß einer Passantin zu erwidern. »Guten Morgen, Miss Levine! Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen. Sie haben einen Riesenpacken dabei heute morgen!« -139-
»Danke, Byron. Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?« »Ich glaube fast, Sie können Gedanken lesen, Miss Levine. Eine heiße Tasse Kaffee könnte ich gebrauchen. Vielen Dank!« »Mach ich doch gern für Sie, Byron! Mit Milch und Zucker, nicht wahr?« »Ja, mit reichlich Milch und Zucker. Sie sind ein Schatz, Miss!« Mit raschen Schritten entfernte sich Miss Levine in Richtung Madison. In der Mitte des Blocks verschwand sie in ihre Boutique. Trask war inzwischen auf McKenzies Höhe angelangt, der dicht neben dem Bürgersteig auf ihn wartete. Ein Schritt zur Seite, und McKenzie versperrte dem Postmann den Weg. »Ganz ruhig, Byron. Du wirst heute morgen eine kleine Stadtrundfahrt machen.« Trask verschlug es die Sprache, seine Kinnbacken mahlten, aber kein Laut drang über die zitternden Lippen. »Nur keine Panik, Byron. Dir wird nichts geschehen. Falls du nicht vorhast, den Helden zu spielen. Und nun rein mit dir in die Kiste.« Trask machte einen Schritt vom Bürgersteig auf die Straße. Den Karren zog er hinter sich her. Mehrere Magazine rutschten aus dem bis zum Rand gefüllten Postsack und fielen in den Rinnstein. »Liegenlassen!« befahl McKenzie scharf. »Du wirst unterwegs sowieso nicht zum Lesen kommen.« Mit einer schnellen Bewegung stieß er Trask in das Wageninnere. Den Postkarren stemmte er hinterher. Im nächsten Moment war er neben Trask, der fassungslos auf die Handschellen starrte, die sich mit einem metallischen Klicken um seine Handgelenke schlössen. McKenzie drängte Trask gegen die Bordwand und verband ihm den Mund mit einem -140-
Tuch. Dann schob er den Karren in die hintere Ecke des Laderaums. Dann sprang er nach draußen, schloß die Tür hinter sich und hob die Zeitschriften auf, die aus Trasks Postsack gefallen waren. Als er sich neben Gallagher auf den Sitz fallen ließ, hörte er, wie Mikey sagte: »Du hast viel zu lange gebraucht! Dreißig Sekunden waren vorgesehen, fünfunddreißig hat's gedauert.« »Schon gut, Mann, ich weiß. Geb's ja zu, daß ich zuviel mit dem Bastard gequasselt habe.« McKenzie Worte klangen zerknirscht. »Hattest du Schwierigkeiten mit ihm?« »Zum Teufel, nein. Er guckte nur blöd aus der Wäsche. Das Gelaber hätt' ich mir sparen können.« »Den nächsten übernehme ich!« »Tritt dir nicht ins Hemd. Alles läuft bestens. Es besteht also gar kein Grund, die Nerven zu verlieren.« Gallagher ließ den Motor an und fädelte sich geschickt in den ruhig fließenden Verkehr ein. »Alles läuft wie am Schnürchen. Genauso, wie er es vorhergesagt hat.« »Du hast recht«, stimmte Gallagher zu, während er seine Aufmerksamkeit auf die Ampel an der Madison richtete. »Wer, zum Teufel, ist am Montagmorgen schon richtig wach, und wer rechnete in dieser Verfassung schon mit einem Überfall?« Die Ampel vor ihnen wechselte auf Grün. Gallaghers Blick wanderte vorwärts auf sie. Sein Karren stand am Fuß einer breiten Sandsteintreppe. Der Zusteller war gerade dabei, die Briefbündel für die Hauptgeschäftsstelle einer bekannten Wohlfahrtseinrichtung herauszusuchen. »Ei, da ist er ja! Und genau an der Stelle, die wir für ihn vorgesehen haben!« -141-
»Stimmt. Aber wir hängen hinter dem Zeitplan her. Und wir müssen ihn zu fassen kriegen, ehe er die Stufen da vorne hochklettert.« »Reg dich nicht auf, Mick! Diesmal werden meine Hände schneller sein als mein Mundwerk.« »Das möchte ich erleben!« »Du wirst es erleben, Mann. Ich werde die Schnauze nicht mehr aufmachen, bis wir die Bank hinter uns haben!« McKenzie und Gallagher hatten den ersten Teil ihrer Aufgabe erledigt. Fünf weitere Stationen lagen noch vor ihnen.
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RHODA LEVINE
Rhoda Levine wußte, daß sie keine Schönheit war. Doch ihre warmherzige Art und ihre ungewöhnliche kaufmännische Begabung ließen das nichtssagende Gesicht, die flachen Brüste und die dünnen Storchenbeine vergessen. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war Rhoda Levine eine erfolgreiche Geschäftsfrau: alleinige Inhaberin und beseelende Kraft von »L für Levine«, einer extravaganten Boutique in der 52nd Street. Innerhalb eines halben Jahres war ihr Laden zu einem der heißen Tips in Manhattan geworden, und Rhodas Bild hatte bereits zweimal im New York Magazine und einmal auf der Frauenseite der New York Times gestanden. Doch obwohl sich die sogenannten Beautiful People in ihrer Boutique drängten und ausgefallene Preise für ausgefallene Sachen zahlten, galt Rhodas Sympathie eher denjenigen, die nicht über ein hübsches Gesicht, einen attraktiven Körper und ein unerschöpfliches Bankkonto verfügten. Byron Trask, ihr Briefträger, gehörte zu dieser Kategorie, und in den sechs Monaten, in denen er ihr die Post brachte, waren die beiden sich nähergekommen, näher als Rhoda es eigentlich gewünscht hatte. »Das einzige, was Sie noch nicht von mir wissen, Miss Levine, ist, wie gut ich im Bett bin«, hatte Byron eines Tages zu ihr gesagt. Mühelos wies sie seine gelegentlichen und äußerst schüchternen Annäherungsversuche zurück, obwohl sie eigentlich ganz versessen auf Sex war. Früher, als sie noch an die These glaubte, nachts seien alle Katzen grau, hatte sie erstaunliche Aktivitäten auf diesem Gebiet entwickelt. Im Laufe der Zeit hatte sie sich dann einer subtileren -143-
Philosophie zugewandt, und von da ab ging sie nur noch mit gutaussehenden Männern ins Bett. »Bumsen ist die beste Form der Rache«, hatte sie ihrer besten Freundin anvertraut. Männern wie Byron Trask begegnete sie auf rein platonischer Ebene, kameradschaftlich, nett und distanziert. In diesem Augenblick stand Rhoda hinter ihrer Ladentür und fragte sich, wo Byron blieb. Nirgends auf der Straße entdeckte sie seinen Postkarren, und das war ungewöhnlich. Rhoda spielte mit dem Gedanken, das Postamt anzurufen, ließ ihn aber wieder fallen. Denn was sollte man bei diesem Anruf schon sagen? »Hallo, hier spricht Rhoda Levine aus der East 52nd Street. Ich möchte Ihnen den Verlust eines Briefträgers melden.« Absurd, entschied sie. Byron hatte einfach noch eine Besorgung zu machen, oder er war aufgehalten worden. Vielleicht ließ er sich gerade einen Einschreibebrief quittieren. In wenigen Minuten würde er bei ihr auftauchen und eine ganz naheliegende Erklärung für seine Verspätung haben. Das Dumme war nur, daß sein Kaffee inzwischen kalt und sie, Rhoda Levine, immer nervöser geworden war. »Hey, Byron«, murmelte sie vor sich hin, »ich hoffe, du bist okay. Und hör zu, wenn du das nächste Mal wieder eine deiner schüchternen Andeutungen machst, werde ich vielleicht sogar mit dir ins Bett gehen.«
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DIE GREEN SPADES
Trasks Magen knurrte, und die Binde vor dem Mund ließ sein fleischiges Gesicht noch gedunsener erscheinen. Er saß auf dem harten Blechboden des Laderaums und versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Verkehrsgeräusche und die Stimmen der Passanten, die von draußen zu ihm drangen, klangen vertraut und verwirrend zugleich. Noch begriff Trask nicht, was mit ihm geschehen war. Falls sie es auf die Post abgesehen haben, dachte er, hätten sie's nur zu sagen brauchen. Zum Teufel, ich bin kein Held. Was also haben sie mit mir vor?« Die Frage erstaunte ihn? Denn bisher hatte nie jemand wirklich etwas von Trask gewollt. Mit einer Ausnahme. Miß Levine, die nette Boutiquebesitzerin, war die einzige, bei der er das Gefühl hatte, wer zu sein. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, sie empfinde echtes Interesse an ihm. Jetzt wartete sie mit einer Tasse Kaffee auf ihn. Was würde sie tun, wenn er nicht kam? Die Tasse mit dem kaltgewordenen Kaffee einfach in den Spülstein gießen, oder würde sie versuchen, den Grund seines Verschwindens herauszufinden? Die einzigen, die wußten, was mit Byron Trask geschehen war, waren Brock McKenzie und Mickey Gallagher. »Möchte wissen, wie er sich fühlt?« fragte Brock. »Beschissen vermutlich. Wie würdest du dich fühlen, wenn du völlig ahnungslos über die Straße gehst und plötzlich taucht ein Kerl neben dir auf, der dich einfach in den Laderaum eines -145-
Trucks einsperrt?« »Du hast recht«, gab Brock zu. »Ich frage mich, ob er auch nur den Dunst einer Ahnung hat, was hier gespielt wird.« »Wie soll er?« antwortete Mickey, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Seine Aufmerksamkeit bewahrte sie vor einem Unfall. Mit aller Wucht trat Mickey auf das Bremspedal. Nur wenige Schritte vor einer älteren Lady kam das schwere Fahrzeug zum Stehen. »Jesus, das hätte uns noch gefehlt«, stieß Mickey hervor. »Was, zum Teufel, geschieht eigentlich, wenn einer von uns einen Unfall baut?« »Reg dich nicht auf, Mann«, erwiderte Brock verstört. »Es ist ja noch mal gutgegangen.« »Natürlich! Weil ich aufgepaßt habe, mein Junge.« Hinter der Madison nahm der Verkehr ab. Die Strecke zwischen Madison und Park war fast frei. »Da vorne!« Brock deutete zum rechten Gehsteig. »Er sortiert noch seine Packen!« Der Mann in der blaugrauen Uniform stand gebückt über dem dreirädrigen Handkarren, streifte mit flinken Fingern die Gummibänder von den Briefbündeln und hatte die Welt um sich herum vergessen. Mickey lenkte das Fahrzeug an die Bordsteinkante. Noch bevor sie ganz zum Stehen gekommen waren, stieß Brock die Tür des Führerhauses auf und sprang auf den Gehsteig. »Keine verdächtige Bewegung!« befahl er. »Schieb deinen Karren langsam an den Straßenrand und steig hinten ein. Falls du irgendwelche Mätzchen versuchst, waren es die letzten.« Der Briefträger machte keine Schwierigkeiten. Mit einem Seufzer, der absolutes Unverständnis ausdrückte, stieg er in den Laderaum. Brock folgte mit dem Handwagen. Bevor der Mann -146-
aus seiner Fassungslosigkeit erwachte, war er gefesselt und geknebelt. Trask fuhr zusammen, als der fremde Körper gegen ihn stieß. Dann begriff er. Allmächtiger, durchfuhr es ihn, die Dreckskerle kassieren einen nach dem andern von uns. Was haben die vor? Die gottverdammten Bastarde werden doch nicht den ganzen Außendienst von 10022 umbringen wollen! In einem Anfall panischer Angst machte er einen Satz zur Hecktür. Er kam nicht weit. Mit einem Ruck fuhr der Laster an, und Trask wurde hart gegen die Bordwand geschleudert. Als der Schmerz nachließ, hörte er den Mann neben sich weinen. Brock McKenzie stieß ein verächtliches Lachen aus. Dann meinte er: »Von dem alten Sack droht uns keine Gefahr.« »Vorsicht!« warnte Mickey. »Die sind nicht alle so. Wenigstens die Hälfte der Jungs wird uns den Arsch aufreißen, sobald wir uns nur die kleinste Blöße geben. Ein Glück, daß wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Und bete, daß wir nicht noch unser blaues Wunder erleben!« »Himmel, du redest, Mick, wie die Nonnen von Sankt Josef. Wir werden das Kind schon schaukeln. Das ist ein Versprechen!« Mickey zuckte die Schultern. »Hör' mir auf mit Versprechen!« sagte er. »Sie werden gemacht, um gebrochen zu werden.«
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DWIGHT JOHNSON
Sie hatten ihren Dienst beendet, aber Dwight Johnson war immer noch beunruhigt. Ausgerechnet die Green Spades machten einen Ausflug ins Grüne? Unvorstellbar. Es war wenige Minuten nach acht, und Johnson fühlte sich genauso müde und geschlaucht wie jeder der sechsunddreißig Männer, die soeben von der Nachtstreife zurückgekommen waren. »Können wir gehen?« fragte sein Partner Bill Burke. »Nein, Bill. Du mußt den Abflug heute morgen allein machen. Ich hab' noch einiges vor, weißt du?« »Was soll das denn, Dwight? Wir hatten keine Verhaftungen in dieser Nacht, es gab keine Zwischenfälle, alles war ruhig.« »Du vergißt die Green Spades!« »Sag nur, du kaust immer noch auf dem Brocken herum. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Großer Gott, wie kann man dir nur diesen verdammten Zahn ziehen?« »Ich muß mir Gewißheit verschaffen, Bill, verstehst du das nicht?« »Okay, mach, was du willst, aber rechne nicht damit, daß ich auf dich warte, mein Junge!« »Nicht nötig, Bill. Ich komme schon irgendwie nach Haus. Danke jedenfalls.« »Und was hoffst du zu finden, Dwight?« »Ich weiß es nicht, Bill. Ich weiß nur, daß die Spades keine Pfadfinder sind.« Johnson dachte an die Green Spades. Sie gehörten noch zu den einigermaßen zivilisierten Banden. Aber vielleicht war es nur die irische Erscheinung, die die Spades weniger kriminell -148-
wirken ließ als die Nigger- und Greasergangs in ihrer Umgebung. Als Johnson das Clubhaus der Green Spades erreichte, brannte irgendwo Licht in den Räumen. Keine verdächtige Bewegung war zu sehen. Johnson beschloß, in das Haus hineinzugehen und an der Wohnungstür zu klopfen. Doch obwohl er gegen die Tür hämmerte, daß ihm die Knöchel schmerzten, rührte sich nichts dahinter. Er war drauf und dran, das Schloß aufzubrechen und sich gewaltsam Einlaß in den Club zu verschaffen, aber der Gedanke an die Verfassung hielt ihn davon ab. Auch die Green Spades waren amerikanische Bürger und hatten ihre Rechte. Verdrossen kehrte Johnson um. Auf der Treppe wäre er bald in Marty Taylor, ein Mitglied der Spades, hineingelaufen. »Nett, Sie hier zu treffen, Mister Taylor«, sagte Johnson sarkastisch. Sind Sie kein Naturbursche?« »Was soll ich sein?« fragte Ta ylor unsicher. Er wußte, was Milligan und die ändern an diesem Tag vorhatten, aber er wußte nichts von der Begegnung zwischen Milligan und Johnson am frühen Morgen und nichts von dem Märchen, das Milligan dem Polizisten aufgetischt hatte. »Ich hab' mich doch deutlich genug ausgedrückt, oder?« fragte Johnson gereizt. »Natürlich, natürlich«, stotterte Taylor, während sein Gesicht dunkelrot anlief. »Einem Cop sollte man niemals widersprechen!« »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon ich rede, Mann«, fuhr Johnson ihn an. »Doch, doch, ich bin ein Naturbursche und ich liebe Hunde und Katzen.« »Zweibeinige Katzen meinst du wohl, wie? Aber Spaß -149-
beiseite, Mister Taylor, wo steckt ihr Brüder alle heute morgen?« »Ausgeflogen, Officer.« »Ausgeflogen wohin?« »Ausgeflogen, um auf ehrliche Weise an ein paar Piepen zu kommen.« »Und du bist nicht dabei?« »Ich hab' mich verschlafen.« Das Gespräch machte Taylor sichtlich nervös, und er versuchte, der peinlichen Befragung ein Ende zu machen. »Spielen Sie wieder Ihren Zwanzig-Fragen-Quiz, Officer? Noch ziemlich früh für ein Verhör, wie?« »Oder für die richtigen Antworten, Mister Taylor!« gab Johnson scharf zurück. Johnson erkannte, daß sich die Unterhaltung festgefahren hatte, dennoch erhärteten Taylors unsichere und bewußt mehrdeutige Antworten den Verdacht des Polizisten. »Bestell Pat einen schönen Gruß. Ich stehe morgen bei ihm auf der Matte. Und dann will ich Erde an seinen Schuhen sehen.« »Werd's ihm ausrichten, allerdings dürfte es kaum was nützen.« »Warum, Mister Taylor?« »Weil wir in unserem Clubhouse keinen Dreck dulden.« »Das ist außerordentlich erfreulich, Mister Taylor. Es geht nichts über eine gute Kinderstube, nicht wahr?« Johnson hatte genug. Wütend stieg er die letzten Treppenstufen hinunter und wäre auf der untersten beinahe ausgerutscht. »Passen Sie auf Ihre Füße auf, Officer«, rief Taylor hinter ihm her. »Die meisten Unfälle passieren zu Haus.« -150-
»Ich bin hier nicht zu Haus.« »Aber wir«, erwiderte Taylor hämisch. »Und unsere Haftpflicht zahlt nichts an neugierige Bullen, die sich auf fremden Treppen den Hals brechen.«
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IRF
»Von heute ab wird man uns ernst nehmen!« Die harte und fanatisch klingende Stimme stand im krassen Gegensatz zu der Sprecherin. Nancy Hong, braunhäutig, mit glattem blauschwarzem Haar wirkte sanft und unschuldig wie die Blumen auf ihrem knöchellangen Baumwollkleid. Dennoch galt sie mit ihren neunzehn Lenzen schon als Veteranin der Studentenrevolution. Engagiert, kämpferisch und abhold allem leeren Gerede. Philip Sage, das männliche Mitglied von Nancys IRF-Zelle, nickte zustimmend, aber seine Gedanken beschäftigten sich immer noch mit dem, was seinem Freund Allan Devlin zugestoßen war. Allan Devlin war in der vergangenen Woche mit Jean Salvo in die Zweigstelle der Chemical Bank in der 86th Street eingedrungen und hatte versucht, sie auszuräumen. Jean bewachte die Tür, während Allan an den Schalter trat und der Kassiererin einen Zettel hinschob mit der Aufforderung: Zehntausend Dollar - und keinen Muckser. Das ist ein Überfall der IRF. Die Kassiererin hatte nicht die Absicht, die Heldin zu spielen, aber etwas an Allans Benehmen ließ sie zögern und fragen: »Was ist das, IRF? Ich habe nie davon gehört.« Allan hatte den Fehler gemacht, der Frau auf ihre Frage zu antworten. Ein Bankwächter witterte Verdruß und näherte sich Allan. Instinktiv griff Allan in die Rocktasche, während er zum Ausgang zurückwich. Der Wächter schoß. Die Kugel traf Allan zollbreit unter dem Herzen. Er starb auf der Stelle. Jean gelang die Flucht. Der Polizeibericht entlastete den Guard, obwohl Allan nichts weiter als eine Nagelfeile und zwei Subway-152-
Scheine bei sich trug. Sprecher des Polizeidepartments und des FBI erklärten unabhängig voneinander, daß ihnen eine Organisation mit dem Namen IRF unbekannt seien. »Der Bankräuber hat diese Abkürzung wahrscheinlich gebraucht, um im Falle einer Verhaftung die Tat als politisch motiviert auszugeben. Aber...«so hieß es in dem Bericht der Polizei weiter, »er mußte am eigenen Leib erfahren, daß Kugeln jeder Art von Politik ein Ende machen.« Sage stöhnte hörbar. »Hast du was gesagt, Phil?« »Nein, Nancy, ich hab' nur an Allan denken müssen.« »Der Dummkopf hätte den Mund halten sollen.« »Es war nicht der Mund, Nancy, es waren die Augen, die ihn verraten haben. Etwas in seinem Blick muß der Kassiererin verraten haben, daß er ihr nichts tun würde. Daß er es nicht konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Allan konnte keiner Fliege was zuleide tun, er war nicht fähig, jemand anzulügen. Seine Augen haben ihn jedesmal verraten.« »Well, Baby, diesmal haben sie ihm den Tod gebracht.« »Deshalb bin ich hier, Nancy, ich will seinen Tod rächen sein Andenken reinwaschen.« »Ich will hoffen, das ist nicht dein Ernst, Phil. Allans Tod bedarf keiner Sühne. Allan ist nur ein weiteres Opfer eines permanenten Krieges, und er wußte, wofür er starb. Eines Tages werden wir alle an der Reihe sein, Phil. Es ist nur eine Frage des Wann und des Wozu. Allan hat es hinter sich. Und wir alle wissen, daß sein Tod nicht sinnlos war.« Sage erhob sich vom Sofa, um ein Glas Wasser zu holen. »Wohin gehst du?« »Will mir nur ein Glas Wasser aus der Küche holen. Soll ich dir etwas mitbringen?« »Nein, danke, Baby. Beeile dich, es ist bald Zeit für die Anrufe.« -153-
Die Anrufe sollten an die Associated Press, an die United Press International, die Daily News, die Times, den WINS, den WCBS und an das FBI gehen. Die Botschaft würde stets denselben Wortlaut haben: »Heute morgen Punkt neun Uhr werden irgendwo in Manhattan drei Bomben explodieren. Drei Bomben - drei Buchstaben. IRF. Ihr habt einen vo n uns getötet. Nun sind wir an der Reihe!« Die drei Pakete mit dem Sprengstoff waren von Phil am vergangenen Samstag auf dem FDR-Postamt in der 54th Street aufgegeben worden. Sie waren sämtlich an drei europäische Konsulate im Zustellbezirk New York, N. Y. 10022 adressiert, und dadurch, daß sie von derselben Station befördert wurden, verringerte sich das Risiko einer vorzeitigen Auslieferung. Jedes Paket trug als Absender die Bezeichnung: IRFUhrendienst. Sie waren als Einschreibesendung ohne Rücksendungsauftrag aufgegeben worden. »Wünschen Sie keine Rücksendung?« hatte der Schalterbeamte Phil gefragt. »Nein, nicht nötig«, hatte er geantwortet. »Wir brauchen nur einen Beleg dafür, daß wir sie abgeschickt haben.« Die Zeitzünder waren auf neun Uhr eingestellt. Ob Menschen dabei zu Tode kommen würden, interessierte nicht. Für die beiden Attentäter waren die Folgen unerheblich. Sie wollten ein Exempel statuieren. Diese drei Bomben sollten dazu dienen, der Welt den Geburtstag der IRF anzukündigen. IRF Internatio nale Revolutionäre Front. Mit Widerstandszellen in möglichst jeder Stadt der Vereinigten Staaten und in den meisten Ländern der Erde. Nancy Hong und Phil Sage waren ein sehr ungleiches, aber von der gleichen Idee besessenes Paar. Nancys Eifer und Phils Gründlichkeit ergänzten sich aufs beste. Nancys Interesse galt -154-
dem Inhalt der Botschaft, Phil kümmerte sich um die Weiterleitung. Jeder respektierte die Fähigkeit des anderen und war bemüht, sie zusammen mit der eigenen wirksam für das gemeinsame Ziel einzusetzen. Mit Zuversicht sahen sie den Ereignissen des heutigen Tages entgegen, und ihre Zuversicht war durchaus gerechtfertigt. Sogar die Anführer der Bewegung würden mit Phil und Nancys Aktion zufrieden sein.
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JEFF GRANT
Grant hatte das CB-Empfangsgerät auf Kanal 9 eingestellt. Ab und zu drang ein langgezogener Summton aus dem MonitorLautsprecher und trieb Jeff den Adrenalinspiegel in die Höhe. Aber weder die Spades noch Rudman, noch Van Della meldeten sich. Die nachfolgende Stille beruhigte Grant wieder. Sie zeigte an, daß bei jedem alles nach Plan verlief. Die dünne, aber auffallend lange Antenne seines Sportwagens zog vor einer Ampel jedesmal die Aufmerksamkeit der anderen Autofahrer auf sich. Die Blicke verrieten Neid oder Bewunderung, jedoch keineswegs Verdacht oder Drohung. Grant ertappte sich dabei, daß er aufrechter als gewöhnlich hinter dem Steuer saß. Seine Nackenmuskeln hatten sich gespannt. Nicht aus Verkrampfung, sondern aus Eitelkeit. Beim drittenmal wurde es Grant bewußt, und er mußte über sich selbst lächeln. Das darf doch nicht wahr sein, dachte er. Du bist tatsächlich ein regelrechter kleiner Angeber. Ich wette, kein Mensch wäre imstande, ein Verbrechen in einem Raum voller Spiegel zu begehen. Er wäre viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst anzustarren. Während andere ihm nachblickten, behielt Grant aufmerksam die Straße im Auge. Soweit er feststellen konnte, lief die Kidnapping-Aktion reibungslos und ohne Aufsehen zu erregen. Nur zweimal hielt Grant sekundenlang den Atem an. Ecke 56th Street und Park war ein Cab einem Personenwagen in die Flanke gerast. Mehrere Streifenwagen hatten sich an der Unfallstelle eingefunden. Offensichtlich war niemand verletzt worden, denn die Cops ließen die beiden schrottreifen Fahrzeuge bereits abschleppen. Ecke Lexington und 53rd Street -156-
sah Grant ein Patrol-car, das dicht hinter einem NYPS-Truck herfuhr. Doch als der graue Lastwagen die Geschwindigkeit verlangsamte, um vor einer Bank anzuhalten, setzte der Streifenwagen die Fahrt fort, ohne daß die beiden Polizisten darin auch nur den Kopf nach dem Truck umgedreht hätten. Grant genoß die Runden durch die Stadt. Schon immer war es sein Wunsch gewesen, den andern gegenüber einen Vorsprung zu haben, mehr zu sein als sie. Und in diesen Minuten war er dabei, seinen Traum endlich zu verwirklichen. Der ganzen Welt würde er es zeigen! Plötzlich ertönte ein Knistern aus dem Empfänger. »Mike ruft Basis! Mike ruft Basis! Hören Sie mich?« »Verschwinden Sie augenblicklich aus dem Kanal, verdammt!« schrie Mike ins Mikrophon. »Dieser Kanal ist ausschließlich für Notrufe reserviert!« »Nun mal langsam, Bruder! Das ist ein Notruf. Ich habe meinen Zielort vergessen.« »Heb endlich deinen Arsch hoch und verschwinde. Oder ich sorge persönlich dafür, daß du nie dort ankommst, wo du hin willst!« »Mike ruft Basis! Mike ruft Basis! Können Sie mich hören?« »Kumpel«, rief Grant mit scharfer Stimme, »ich zähle bis zehn, wenn du dann nicht den Kanal geräumt hast...« Jeff hörte ein gedämpftes Klicken und wußte, daß er den Eindringling vertrieben hatte. Er konnte nur hoffen, daß niemand den Wortwechsel mitbekommen hatte. Die nachfolgende Stille ließ darauf schließen. Dennoch war Grant aufgewühlt. Obwohl keine ernsthafte Bedrohung vorlag, hatte die erste außerplanmäßige Durchsage seine Beherrschung und Selbstsicherheit ins Wanken gebracht. Grant spürte die Hitze, die in ihm aufstieg, und er zwang sich, mehrmals tief Luft zu holen. Bald hatte er sich wieder unter -157-
Kontrolle. Doch zum erstenmal wünschte er sich, es sei Dienstag.
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MILES TEMPLETON IV
Miles Templeton stand am Eckfenster seines Büros, sah zum acht Block entfernten Pan Am Building hinüber und dachte an Elf Black. Während der letzten Tage hatte er das immer wieder getan. Black, ein äußerst dynamischer Geschäftsmann, hatte United Brands innerhalb kurzer Zeit zu einem multinationalen Unternehmen ausgebaut. Und dann, eines Morgens, war er aus dem Fenster seines Büros im Pan Am Building gesprungen. Monatelang hatte Templeton die Frage beschäftigt, was einen Menschen dazu bringen konnte, freiwillig den Tod zu suchen. Nun begann Templeton langsam zu begreifen, und es machte ihm Angst. Er hatte den entscheidenden Punkt zwar noch nicht erreicht das glaubte Templeton wenigstens -, aber der Gedanke an Selbstmord kam ihm fast genauso verdammungswürdig vor wie die Tat selbst. Unwillkürlich wich er einen Schritt vom Fenster zurück. Der Autolärm, der von der Park Avenue zu ihm hinaufdrang, wurde durch die dicken Glasscheiben gedämpft, aber Templeton konnte sehen, wie der Rush-Hour-Verkehr von Minute zu Minute dichter wurde. Unwillkürlich wanderte sein Blick die Wagenschlangen entlang auf der Suche nach dem weiß-blauen Postfahrzeugen. Bis zum heutigen Tag hatte sich Templeton in seinen Gedanken nie mit der Post als einem gesonderten Phänomen befaßt. Zu Hause legte der Fahrstuhlführer die Post vor der Wohnungstür ab. In Pound Ridge, wo sie das Wochenendhaus -159-
hatten, ging er stets selbst über den Gartenweg zum Briefkasten an der Straße hinunter, um dort die einzige Postsendung zu holen, die er am Samstagmorgen erhielt: die Business Week. Und hier im Office galt der tägliche Posteingang als selbstverständlicher Teil des Tagesablaufs. Mit einem Mal war das anders geworden. Alles drehte sich plötzlich um dieses eine. Es war ihm, als hinge sein Leben davon ab, und irgendwie entsprach dieses Gefühl ja auch durchaus den Tatsachen. Mitten in seinen finsteren Gedanken überkam Miles Templeton der unwiderstehliche Drang, schallend loszulachen. Er erinnerte sich daran, daß der Generalpostmeister der Vereinigten Staaten ein Princeton-Studienfreund von ihm war, und daß diese Tatsache an seiner brisanten Lage dennoch nicht das geringste ändern würde. An diesem Morgen erging es Myles Templeton IV, Princeton-Jahrgang 36, Yale-Absolvent des Jahres 39, nicht anders als dem kleinsten Renten- oder Wohlfahrtsempfänger: Verzweifelt und mit seinen Nerven völlig am Ende, wartete er auf das Eintreffen der Post, die er brauchte um einen weiteren Tag überleben zu können.
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BOB RUDMAN
Bob Rudman war sicher, daß er im Laufe des Morgens noch Schwierigkeiten mit seiner Blase bekommen würde. Die Darmblähungen hatte er dank einer lebenslangen Gelusilabhängigkeit einigermaßen im Griff. Den Bluthochdruck hielt er in Grenzen, ohne in ständiger Furcht vor einem Schlaganfall zu leben. Nur die Blase widersetzte sich erfolgreich einer medikamentösen Knebelung und spielte in Streßsituationen nach einer gewissen Zeit einfach verrückt. Kein Wunder, daß Rudman auch an diesem Tag mit irgendwelchen unangenehmen Überraschungen rechnete. Jedesmal, wenn Bob einen graufarbenen Truck im Verkehrsgewühl auftauchen sah, verstärkte sich der Druck in seiner Magengrube. Und jedesmal, wenn das Fahrzeug einen Standort passiert hatte, ließ dieser Druck wieder nach. Rudman befand sich auf der Westseite der Second Avenue, zwischen der 59th und 60th Street, genau vor der Mündung der oberen Brückenfahrbahn, über die sich der Verkehr in die fast völlig verstopften und überlasteten Straßen Manhattans ergoß. Wenn alles nach Plan verlief, durfte er vor der Rückkehr sämtlicher Fahrzeuge nach Long Island City nur zwei NYPSWagen zu Gesicht bekommen: den Lastzug, dessen Route die 59th Street bildete, und zwar das Stück von der Fifth Avenue runter bis zum Sutton Place. Der Lieferwagen war erst in einunddreißig Minuten fällig. Der Truck hatte Rudman bereits vor acht Minuten passiert haargenau nach Plan, wie Bob zu seiner großen Erleichterung feststellte. »Falls sie nüchtern sind«, hatte er gemurmelt, »kann man sich -161-
auf die Iren hundertprozentig verlassen!« Das Gebiet am oberen Rand des FDR-Zustellbezirks war kein ausgesprochenes Geschäftsviertel, und die Post wurde auch in den Hauptdurchgangsstraßen von Briefträgern besorgt, die den Weg vom Postamt zu Fuß zurücklegten. Auf der Second Avenue dagegen hatte die FDR Station Mailtrucks im Einsatz, weshalb für diese Strecke ein NYPSLastzug benötigt wurde. Die beiden Green Spades machten ihre Sache ausgezeichnet, ohne die geringste Aufmerksamkeit der Passanten oder Autofahrer auf sich zu ziehen. Nicht einmal der Cop, der den Verkehr bei der Brücke regelte, schöpfte Verdacht. Rudman versuchte, den Blick von der Szene abzuwenden, es gelang ihm nicht. In diesem Augenblick stand der Briefträger mit seinem Handkarren noch vor dem vierzig Yard entfernten Barbershop, und Sekundenbruchteile später war er wie vom Erdboden verschluckt. Rudman mußte warten, bis sie den nächsten Block erreichten, um mitzubekommen, wie der Vorgang des Einsammelns sich im einzelnen abspielte. Er beobachtete, wie der Truck an der Bordsteinkante hielt. Die Hecktüre befand sich genau in der Höhe des Briefträgers, der dabei war, die Gummibänder von den vorsortierten Bündeln zu streifen. Doch auch diesmal kam Rudman um den Genuß der entscheidenden Szene. Ein Bus zog bis zur Kreuzung vor, und in der kurzen Zeitspanne, in der er Rudman die Sicht versperrte, waren beide, Truck und Briefträger, verschwunden. Das grenzt an Zauberei, dachte Rudman anerkennend. Seine Handflächen waren feucht geworden, und er schob das CB Walkie- Talkie von einer Hand in die andere, um den -162-
Schweiß an der Hose abzuwischen. Unauffällig setzte er seine Wanderung den Block auf und ab fort. Er kam sich nackt vor. Ihm war, als trage er nur das CB-Gerät bei sich - und den 38er, dessen Druck auf dem rechten Oberschenkel er beinahe wie den Schmerz einer Brandwunde empfand. Aber selbst wenn er wirklich nackt gewesen wäre, wem fiel das schon auf? Letzten Endes befand er sich mitten in Manhattan und nicht irgendwo in Cleveland oder Spokane.
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DIE GREEN SPADES
Cliff Neal und Dick Madigan befuhren mit ihrem Fahrzeug die 55th Street. Sie hatten bei dem Block zwischen Sutton Place und First Avenue begonnen und arbeiteten sich planmäßig zur Fifth Avenue vor. Es war eine der drei Routen, die direkt am FDR-Gebäude vorbeiführten. Die zwei ersten Aktionen waren glatt und reibungslos verlaufen. Keiner der Postbediensteten hatte Widerstand geleistet, und keinem der Passanten war der blitzschnelle Transfer von der Bordsteinkante ins Innere des NYPSFahrzeuges aufgefallen. Kritisch wurde es beim nächsten Block, und vor der Ampel an der Second Avenue schickte Cliff ein Stoßgebet zum Himmel, daß ihr Glück weiter anhalten möge. Zwischen der Second und der Third Avenue genau in der Mitte des Blocks lag der große dunkle Eingang zum Gebäude 919 Third Avenue, das der FDR Station direkt gegenüberlag. Wegen der unmittelbaren Nähe zum Postamt verzichtete man auf den Einsatz von Fahrzeugen, um das vierzig Stockwerke hohe Bürohaus mit Post zu versorgen. Eine kleine Gruppe von Briefträgern übernahm die Zustellung auf direktem Weg. Für gewöhnlich trafen sie in mehreren Abteilungen und mit Abständen von fünfzehn oder zwanzig Sekunden dort ein. Wenn Grants Beobachtungen stimmten, handelte es sich um dreimal vier Zusteller. Für diesen speziellen Fall hatten die Spades - um die Operation vor den Augen der Post-guards auf der anderen Straßenseite abzuschirmen - nicht die Hecksondern die Seitentür des Trucks zu benutzen. Außerdem hatte Grant Anweisung gegeben, daß diesmal beide Mitglieder der Truckbesatzung bei der Festnahme mitwirkten. Neal würde die -164-
Männer in den Laderaum locken und Madigan sie außer Gefecht setzen. Den Luxus, ihre Opfer einzeln zu fassen und zu knebeln konnten sie sich in diesem Fall nicht erlauben. Als Madigan das Fahrzeug vor dem Eingang von 919 anhielt, war von dem Posten, der den Tunnelausga ng bewachte, nichts zu sehen. Vermutlich trank der Mann in der Kantine gerade einen Kaffee. »Bleib, wo du bist, Mann!« flehte Madigan halblaut, »und laß dir deinen Kaffee schmecken!« Drüben verließen die ersten vier Briefträger den Gehsteig und strebten eiligen Schrittes über die Fahrbahn auf 919 zu. Die zweite Gruppe folgte in einem Abstand von nicht ganz drei Yard. »Sie kommen früher als gewöhnlich«, sagte Neal nervös. »Okay, dann laß die Handkanten zucken«, entgegnete Madigan lächelnd. »Stell dir vor, du bist der Sechs-MillionenDollar-Mann.« Der Briefträger an der Spitze der ersten Vierergruppe erreichte die Kühlerhaube des Trucks. Neal stieg aus und öffnete die Seitentür. Die vier waren nun genau auf seiner Höhe. »Hey, Jungs, habt ihr 'nen Augenblick Ze it?« fragte Neal. Der Postmann an der Spitze - ahnungslos, weil es sich um den Beifahrer eines der bekannten NYPS-Fahrzeuge handelte –kam Neals Einladung ohne Zögern nach. Seine Kollegen folgten ihm auf dem Fuß. »Na schön, rein mit euch!« Neal, den 38er in der Rechten, deutete unmißverständlich in das Innere des Trucks. Verstört gehorchten die vier. Ihre Handkarren kamen polternd hinterher. Drinnen wurden die völlig verdutzten Männer von Madigan übernommen. In zwölf Sekunden war die Aktion -165-
beendet. »Weiter im Text«, erscholl Madigans Stimme vergnügt aus dem Laderaum. »Gemach, gemach!« erwiderte Neal, der seine Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte. Die zweite Gruppe erreichte den Gehsteig. Neal wechselte die Waffe in die Linke und sprang aus dem Wagen. Als der erste nahe genug war, rief er wieder: »Hey, hast du 'ne Sekunde Zeit für mich?« »Natürlich«, antwortete der Postmann und kam auf Neal zu. Die anderen wollten weitergehen, und Neal rief: »Ihr auch, Leute, 'nen Augenblick nur!« Bereitwillig folgten sie seiner Aufforderung. Neals Linke kam zum Vorschein, und die Mündung der Waffe wies ins Innere des Wagens. Innerhalb von fünfzehn Sekunden waren die vier festgenommen. »Und weiter geht's!« rief Madigan. »Hey, ihr Penner, schlaft nicht ein!« Neal kletterte ins Fahrerhaus und blickte durch die Windschutzscheibe. »Shit«, stieß er hervor. Laut genug, daß Madigan es hören konnte. »Die Bastarde unterhalten sich mit dem Wachtposten. Das kann ja heiter werden!« »Mach dir nicht in die Hose«, beruhigte ihn Madigan. »Was ist schon dabei?« »Nichts, ich weiß«, gab Neal zurück. Dann sah er, daß die dritte Gruppe sich in Bewegung setzte. »Sekunde, Dick«, meldete er. »Sie kommen.« »Was macht der Posten?« »Shit, er starrt ihnen nach, während sie die Straße überqueren.« -166-
Die letzte Gruppe näherte sich dem Truck. Neal sprang auf den Gehsteig. Seine knappe, aber wirkungsvolle Vorstellung funktionierte ein drittes Mal. Im Handumdrehen waren die vier Postmänner aus dem Verkehr gezogen. Der Wächter schien aus irgendeinem Grund beunruhigt. Er verließ seinen Standort beim Tunnelausgang, um einen besseren Blick auf die andere Straßenseite zu haben. »Hey, Dick, der Bulle glotzt rüber zu uns!« Madigan hatte wieder hinter dem Steuer Platz genommen. »Keine Sorge, ich zische gleich los!« Der Posten - mißtrauisch, weil er die letzten vier Briefträger nicht mehr sah - stürzte sich Hals über Kopf auf die Straße, wand sich zwischen den hupenden Wagen hindurch und hielt auf das graue Fahrzeug zu, das sich langsam von der Bordsteinkante löste. »Anhalten!« schrie er wild gestikulierend. »Wo sind meine Leute hin verschwunden?« Madigan lehnte sich lässig aus dem Seitenfenster. »Wovon, zum Teufel, reden Sie, Mann? Welche Leute?« »Die vier Zusteller, mit denen ich gerade noch gesprochen habe!« »Woher soll ich das wissen?« »Ich hab' nicht gesehen, daß sie in Neunhundertzehn reingegangen sind!« »Das ist dein Problem, Mann! Nicht unseres!« »Da bin ich nicht so sicher!« Der Posten blieb hartnäckig. Seine Rechte fuhr zur Halfter. »Nun halte schon endlich an!« brüllt er. »Okay, Mann, wenn's dich beruhigt«, erwiderte Madigan. Dann wandte er sich an Neal. »Sobald er die Tür aufmacht, greifst du ihn dir!« »Großartig«, sagte Neal. »Jetzt greifen wir uns nicht nur die -167-
Plattfüße von der Post, sondern auch noch die Bullen von der Bundesregierung.!« »Verdammter Mist«, fluchte Madigan. »Aber welche Wahl haben wir anders?« Mit gezückter Waffe riß der Guard die Tür auf Neals Seite auf. »Raus mit euch!« befahl er mit vor Wut bebender Stimme. »Ich will einen Blick in den Wagen werfen.« »Ganz wie der Herr es wünschen«, entgegnete Neal und stieg aus. Als der Mann den Fuß auf das Trittbrett setzte, war Neal hinter ihm und schlug mit dem Kolben des 38ers zu. Blutüberströmt sackte der Guard in sich zusammen. »Schaff ihn nach hinten, und leg allen dreizehn Handschellen und Knebel an!« drängte Madigan. »In Ordnung.« Neal ließ die Waffe in der Hosentasche verschwinden, hievte den Bewußtlosen in den Laderaum. »Glaubst du, jemand hat uns gesehen?« »Nein!« Madigan erspähte eine Lücke und ordnete sich in den Strom der Wagen ein. »Was mir Kummer macht, ist was anderes. Ich frage mich, wann der erste auf die Idee kommt, nach unserm Helden zu sehen. Jesus, das war' ein Hammer! Das ganze gottverdammte Postamt stünde Kopf, und das war' genau das, was wir auf alle Fälle verhindern wollten.« »Jetzt mal ganz locker, Dick«, empfahl Neal ruhig. »Schlimmer, als sie ist, kann die Sache gar nicht werden. Im übrigen bleiben diese Typen nie die ganze Zeit auf ihrem Posten. Zigarettchen, Pinkelpause oder was weiß ich. Außerdem ist ja kaum noch ein Aas in dem Bau drin, der das Verschwinden des Penners bemerken könnte. Innerhalb der nächsten Stunde haben wir garantiert nichts zu befürchten, da bin ich sicher.« »Dein Wort in Gottes Gehörgang.« Madigans Stimme klang -168-
immer noch besorgt. »Ist ja auch egal, Mann«, erklärte Neal schicksalsergeben. »Wir haben sowieso keine Zeit, uns deswegen graue Haare wachsen zu lassen.« »So kann man's auch sehen«, gab Madigan ihm recht. »Na, dann, Volldampf auf alle Kessel! Hier kommt der Long Island City Express.«
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IRF
Trotz des Wissens um die Katastrophe, die sich an diesem Morgen durch ihre Schuld ereignen würde, war Nancy Hong von einer erstaunlichen Gelassenheit. In wenigen Minuten würde sie mit den Anrufen beginnen. Den Zeitpunkt hatte sie so gewählt, daß es von da ab höchstens noch fünf Minuten waren, bis die Zünder die Explosion auslösten. Ein verhinderndes Eingreifen der Polizei war ausgeschlossen. Nancy war sich der Tatsache bewußt, daß sie mit den Anrufen niemand wirklich warnen wollte. Ihr ging es um eine Strafaktion. Die Bastarde, die Allan Devlin getötet hatten, sollten dafür büßen. Im Gegensatz zu Philip hatte Allans Tod die junge Frau nicht erschüttert. Ein Menschenleben, so hatte sie gelernt, bedeutete nichts. Es war der Preis, den für eine gerechte Sache zu zahlen, man bereit sein mußte. Nancy war voller Verbitterung darüber, daß die Öffentlichkeit sich weigerte, die eigentliche Bedeutung von Allans Tod anzuerkennen. Doch bevor sie die Anrufe machte, würde sie sich durch eine kurze Meditation darauf vorbereiten. Unfähig, mit seinem analytischen Verstand den Zeitpunkt der Übung zu begreifen, sah Philip Sage, wie Nancy Hong ihren schlanken, biegsamen Körper in den Kopfstand brachte und in dieser Stellung minutenlang reglos verharrte.
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BOB RUDMAN
Elf NYPS Vans! Acht NYPS Trucks! Neunzehn Fahrzeuge insgesamt! Neunzehn. Die Zahl erinnerte Bob Rudman an die Episode in Amy Barichs engem, quietschendem Eisenbett. Und an Maurice Rudmans Grabstein aus grauem Marmor. Neunzehn, achtzehn, siebzehn. Eins, zwei, drei. Für Bob Rudman waren Zahlen die einzig wahre Sprache auf der Welt. Anders als Worte wurden sie überall verstanden, hatten überall die gleiche Bedeutung. Elf plus acht ist neunzehn. Auf dem Rechenbrett in Peking, auf der Schultafel in München und auf dem Computerschirm in Dallas. Und genauso hier, an der Auffahrt zur Queensborough Bridge in New York. Sobald das neunzehnte Fahrzeug des New Yorker PaketeService die nach Osten führende untere Fahrbahnebene der Brücke erreicht hatte, würde Rudman das verabredete Signal geben und mit dem letzten Wagen nach Long Island City zurückkehren. Allerdings war es noch nicht soweit. Noch stand Bob Rudman an der Second-Avenue-Kreuzung und vertrieb sich die Zeit mit Zahlenspielen. Er hatte sich an der Zahl neunzehn festgebissen. Er stellte ihre Ziffern um, multiplizierte sie mit- und dividierte sie durcheinander. Seine Rechenmanöver wurden immer komplizierter und verwickelter, zuletzt überschritten sie die Grenzen der mathematischen Realität, glitten ins Unterbewußte und festigten in Rudman die fast schon krankhafte -171-
Überzeugung, daß die Neunzehn in seinem Leben eine schicksalhafte Rolle spielte. Zum erstenmal hatte sich das gezeigt, als er neunzehn alt war. Ein Spätentwickler, ohne die geringste sexuelle Erfahrung mit Frauen oder Mädchen. Er hatte sich damals ein Ultimatum gesetzt: In den nächsten zwölf Monaten bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag mußte er diesen kläglichen Zustand beendet haben. Tatsächlich erreichte er noch vor Ablauf der gesetzten Frist, daß Amy Barich ihn zu sich in ihr schmales Jungmädchenbett hinter der Küche der elterlichen Wohnung in Forest Hill ließ. Rudmans Muskeln spannten sich unwillkürlich bei der Erinnerung an dieses bittersüße Erlebnis. »Nicht so wild, Robert,« hatte Amy geflüstert. »Das Bett quietscht so, und wir wecken noch meine Eltern auf.« Zum Glück besaßen die Barichs einen gesunden Schlaf, und Amy kam voll und ganz auf ihre Kosten. Beim zweiten Mal - im Studentenwohnheim und ohne Geräuschbeschränkung - schien sie längst nicht so zufrieden mit ihm gewesen zu sein. Dem zweiten entscheidenden Ereignis in seinem Leben haftete nichts von dieser Süße an. Es war der Tod seines Vaters. Er starb am neunzehnten des Monats Tischri, der mit dem jüdischen Neujahrsfest beginnt. Der neunzehnte Tischri. Wieder diese Zahl. Neunzehn. Elf plus acht. Was würde sie ihm heute bescheren? Leben oder Tod? Erfolg oder Mißlingen? Rudman gebot seinen Gedanken Einhalt, bevor sie ihn völlig gelähmt und demoralisiert hatten. Er blickte auf die Uhr. Es war 8 Uhr 36. In drei Minuten mußte der erste Wagen auftauchen. -172-
8 Uhr 50 - mit einer Minute Verspätung also - überquerte er die Kreuzung und rollte die Brückenauffahrt hinauf. Das erste Fahrzeug war ein Lieferwagen gewesen. Als nächstes standen drei Lastzüge auf dem Plan. Der erste passierte Rudmans Kontrollpunkt um 8 Uhr 52, der zweite dreißig Sekunden später. Dann jedoch registrierte Rudman einen Lieferwagen, der sich leicht verfrüht hatte. Wo blieb der dritte Truck? Das Fahrzeug, das die LexingtonRoute gefahren hatte? 8 Uhr 56. Zwei weitere Lieferwagen rollten dicht hintereinander die Brückenauffahrt hoch. Zwei Drittel der Wagen konnte Bob Rudman damit bereits abhaken. Punkt neun hatte sich die Zahl auf acht Vans und fünf Trucks erhöht. Drei Vans und drei Lastzüge standen noch aus. Die Vans und zwei der drei Lastzüge lagen noch innerhalb der Zeit. Sorgen machte Bob nur der Truck, der die Lexington Avenue befuhr. Auf der Lexington-Route wurde das meiste Bargeld zugestellt. Außerdem befanden sic h zwei Großbanken in dieser Straße. Angespannt spähte Rudman die 59th Street hinunter. Aufatmend erkannte er die drei Lieferwagen und zwei der schweren Lastzüge. Die Lieferwagen wurden vor der Ampel an der Third Avenue aufgehalten. Die Trucks hatten schon den Straßenabschnitt unmittelbar vor der Brücke erreicht, hingen jedoch hinter einem Bus fest, der seine Fahrgäste aussteigen ließ und den Verkehr auf der rechten Spur blockierte. Bis der Bus weiterfuhr, konnten einige Minuten vergehen. Doch falls nichts anderes dazwischenkam, würde der erzwungene Aufenthalt den Zeitplan nicht ernstlich gefährden. War einer der beiden Lastzüge das Lexington-Avenue-173-
Fahrzeug, hieß das, daß nur der Fifth-Avenue-Truck noch fehlte. Zu diesem Zeitpunkt - genau zwei Minuten nach neun - wäre das noch kein Grund zur Besorgnis gewesen. Der Bus fuhr an, und die zum Stillstand gekommene Autoschlange setzte sich schleppend in Bewegung. Die entstandene Verzögerung war nur geringfügig, wie Rudman erleichtert feststellte. Als die fünf Fahrzeuge an Rudman vorbei auf die Brücke zufuhren, standen die Zeiger seiner Uhr auf sechs nach neun. Zu diesem Zeitpunkt sollte Rudman laut Plan die Alles-klarMeldung über den CB-Kanal durchgeben. Bob Rudman preßte das Sprechfunkgerät fest gegen den Körper. Schweiß perlte auf seiner Stirn, die Handflächen waren feucht. Der Lexington-Avenue-Wagen hatte inzwischen zwölf Minuten Verspätung. Rudman spähte verzweifelt die Straße hinauf. Dann wanderte sein Blick in die Runde. Der Anblick traf ihn wie ein Blitz. Völlig unvorhergesehen und unplanmäßig erschien der überfällige Truck anstatt in der 59th Street in der Second Avenue. Rudman hatte nicht einmal einen Hauch einer Ahnung, wie der Wagen dorthin gekommen war. Nur eins wußte er: Um dort hinzugelangen, mußte die Bordbesatzung wenigstens drei Häuserblocks weit nicht die vorgeschriebene Route benutzt haben. Doch im Moment konnte sich Rudman diesem Problem nicht widmen. Er mußte zusehen, daß er schleunigst über die Kreuzung kam und den Truck erreichte, bevor dieser nach links in die untere Brückenfahrbahn einbog. Rudman zerrte das CB-Gerät aus der Tasche, zog mit einer heftigen Bewegung die Antenne heraus und drückte die Sprechtaste, daß ihn der Daumen schmerzte. Mit heiserer Stimme gab er die vereinbarte Meldung durch. Dann spurtete er los, während er im Laufen die Antenne -174-
wieder einschob. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Fahrzeug, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen zu zittern begann. Eine gewaltige Explosion erfüllte die Luft. Das Sprechfunkgerät entglitt Rudmans Händen und fiel zu Boden. Autos gerieten ins Schlingern, hatten sich Sekundenbruchteile später in ein bizarres Gebilde aus verbeultem Blech verwandelt. Einer der Queensbusse geriet ins Schleudern und prallte seitwärts gegen den Mast einer Bogenlampe. Mitten auf der Queensborough-Brücke schoß eine gewaltige Stichflamme in den Himmel. Rauch breitete sich in schweren schwarzen Wolken aus. Das Chaos war perfekt. Gewaltsam riß Rudman sich von dem Bild des Grauens los, das sich vor ihm abspielte. Sein Blick suchte den neunzehnten Truck, der sich zum Glück noch nicht von der Stelle bewegt hatte. Rudman spürte wie ihm der Schweiß in Bächen aus allen Poren drang. Die anvertraute Reaktion seines Körpers im Moment der Gefahr. Seine Furcht verstärkte sich. Noch einmal flog sein Blick die Brückenrampe hinauf. Die Explosionswolke hatte sich etwas verzogen. Schemenhaft waren Einzelheiten zu erkennen. Die Unfallstelle - etwa zweihundert Yard von ihm entfernt war sichtbar geworden. Was Rudman sah, ließ ihm den Atem stocken. Das brennende Wrack eines Lastzuges, aus dem nach allen Seiten hin die Flammen schlugen, versperrte die beiden Spuren der unteren Fahrbahnebene. Kein Zweifel, daß es sich um einen der NYPS Trucks handelte. Rudman spürte die innere Lähmung, die von diesem grauenhaften Anblick ausging. Er mußte sie auf der Stelle von sich abschütteln, sollte sie nicht vollends Gewalt über ihn gewinnen. Das einzige, woran Rudman denken konnte, war der Truck, -175-
der immer noch an der Spitze einer langen Autoschlange in der Second Avenue hielt. Das letzte der neunzehn Fahrzeuge. Er, Rudman, mußte zugestiegen sein, bevor der Lastzug sich wieder in Bewegung setzte. Und er mußte - vor allem - dafür sorgen, daß die Kiste so schnell wie möglich über diese verdammte Brücke kam. Bill Mulcahy, der Fahrer, saß wie versteinert hinter dem Steuer. Der Schrecken, der sein Gesicht leichenblaß färbte, bewahrte ihn vor der Erkenntnis, daß dort vor ihm auf der Brücke zwei seiner Freunde aller Wahrscheinlichkeit nach in den Trümmern ihres Fahrzeuges bei lebendigem Leib verbrannten. »Charlie!« schrie Rudman ihm zu. »Nun fahr schon endlich los! Nimm die nächste Abfahrt links, und sieh zu, daß du auf die obere Fahrbahn kommst! Hörst du, Charlie?« Der Deckname löste Mulcahys Erstarrung. Wie in Trance gehorchte er. Mit der steifen Bewegung einer Marionette legte er den Gang ein. Der rechte Vorderreifen radierte wimmernd über die Bordsteinkante, als der Green-Spade-Mann den Truck vor den entsetzten Augen des Verkehrspolizisten wendete und in der Gegenrichtung davonbrauste. Sie bogen in die 58th Street ein, die in die Auffahrt zur oberen Brückenebene mündete. Die Upper Level war frei. Nur ein einzelner Personenwagen lag, umgeben von dunkeln Rauchschwaden, auf dem Mittelstreifen. Zum Zeitpunkt der Explosion mußte er sich genau oberhalb der Unglücksstelle befunden haben. Als Mulcahy den PKW vor sich erkannte, blickte er zum erstenmal auf die untere Brückenebene hinunter. »Allmächtiger Himmel«, stieß er hervor, »das müssen welche von uns sein!« Rudman erkannte die Gefahr. Mulcahy war drauf und dran durchzudrehen. »Es gibt 'ne ganze Menge grauer Trucks auf der Welt, -176-
Charlie. Fahr zu, und mach, daß wir von hier wegkommen!« »Aber da gibt's noch ein Hindernis vor uns«, entgegnete Mulcahy. »In der Karre da vorne sitzt niemand mehr drin. Nimm sie einfach auf die Hörner, und durch! Wir müssen endlich von dieser verdammten Brücke runter, Mann!« In einer Reflexbewegung preßte Mulcahy den Fuß auf das Gaspedal. Der schwere Motor heute gequält auf, und der Lastzug raste in den querstehenden PKW wie in einen Haufen zusammengekehrtes Herbstlaub. Das kleine Fahrzeug brach auseinander. Zerfetzte Blechteile wirbelten umher. Und als der Truck in die Kurve einbog, war die Brückenfahrbahn mit den Trümmern eines ehemals schnittigen orangefarbenen Toyotas übersät. Plötzlich erfüllten die durchdringenden Heultöne der New York City Police die Luft und ließen die Männer im Führerhaus des Lastzuges zusammenfahren. Aber nichts geschah. Ohne Zwischenfall verließ der Truck die Brückenausfahrt und jagte in Richtung Long Island City davon. Mulcahy wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Mit weitgeöffnetem Mund saß er hinter dem Steuer. Rudman fuhr mit der Beschäftigung fort, die ihm am Morgen eine Stunde und sechzehn Minuten lang die Wartezeit verkürzt hatte: Er zählte bis neunzehn. Immer und immer wieder. Wie in einer endlosen Litanei. Neunzehn. Die Stunden in Amy Barichs Bett. Neunzehn. Der Tag, an dem sein Vater starb. Eingemeißelt in den grauen Marmor eines Grabsteins. Neunzehn. Das Resultat aus elf plus acht. Nein! Nein! Inzwischen hatte eine grausige Wirklichkeit die mathematische Wahrheit korrigiert: Neunzehn, das war acht -177-
plus elf - minus eins.
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JEFF GRANT
Er überquerte die 51th Street unmittelbar hinter dem 17. Polizeirevier, in dem Jorge Vega Dienst tat. Da es ihm unmöglich war, den ganzen Bezirk gleichzeitig zu überwachen, hatte Jeff Grant sich die Straßen mit dem größten Risiko ausgesucht. Und es gab einfach keinen Streckenabschnitt, der risikoreicher war als der Block in der 51st Street, der zwischen der Lexington und der Third Avenue lag. Hier wimmelte es derart von Gefahren für das gesamte Unternehmen, daß Grant lange Zeit überlegt hatte, ob er dieses Stück nicht kurzerhand aus dem Coup ausklammern sollte. Den Ausschlag hatte die Überlegung gegeben, daß der Größe des Risikos auch die Menge der zu erwartenden Beute entsprach. Aus diesem Grund entschied sich Grant zuletzt dazu, die Strecke genauso wie jede andere zu behandeln. Hier irgendwelche Ausnahmen zu machen, hätte tiefgreifende psychologische Auswirkungen mit sich bringen und das Gelingen des Ganzen in Frage stellen können. Neben dem Polizeirevier befand sich das Feuerwehrgebäude, und die Stunde der Wahrheit würde da sein, wenn um Punkt acht der Schichtwechsel erfolgte. Als Grant den Block ausgekundschaftet hatte, waren ihm zu seiner Beruhigung keine außergewöhnlichen Kontakte zwischen Polizisten und Briefträgern aufgefallen. Die Männer von der Post bildeten einfach einen Teil der morgendlichen Straßenszene, und die Cops schenkten ihnen keine besondere Aufmerksamkeit. Zweimal hatte Grant beobachtet, wie ein Polizist in Zivil einen Briefträger gegrüßt hatte, das war alles gewesen. Als Grant am Revier vorbeiging, schien die Luft rein zu sein. -179-
Er sah den NYPS-Wagen, der die Ampel an der Park Avenue erreicht hatte und auf Grün wartete. Bisher mußten also sämtliche Aktionen glatt verlaufen sein. Grant empfand ein Gefühl der Erleichterung. Dies war die letzte Kontrolle, die er durchführte, danach würde er seinen Porsche parken und in die Subway nach Queens steigen. Wieder kam ihm der Gedanke, zu Fuß bis zur Brücke zu marschieren und zusammen mit Rudman auf den letzten Truck zu warten. Aber er verwarf den Gedanken, weil es gegen sein Prinzip war, Entscheidungen in letzter Minute umzuwerfen.
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JACK COHEN
Der silberfarbene Mercedes 450 SEL sprang nicht an, und Jack Cohens rosiges Gesicht nahm bei jeder vergeblichen Drehung des Zündschlüssels eine dunklere Färbung an. Schließlich gab er es auf und kehrte in das im Pseudo-TudorStil errichtete Wohnhaus zurück. »Sheila!« schrie er voll kaum gebändigter Wut. »Wo sind die Schlüssel für den Skylark? Der verdammte Mercedes streikt mal wieder, und es wird höchste Zeit, daß ich ins Büro komme! Du weißt, was am Montagmorgen los ist.« »Sie liegen in der grünen Kaffeekanne im Küchenschrank«, antwortete eine hysterische Frauenstimme. »Aber womit soll ich denn dann fahren?« »Nimm dir einen Leihwagen«, schrie Cohen zurück. »Der Bastard von der Werkstatt soll den Mercedes abholen und dir solange einen Ersatzwagen überlassen. Verdammt noch mal, für neunzehntausend Dollar müßte der Kerl uns eigentlich auch noch den Fahrer stellen.« Cohens dunkelrot angelaufenes Gesicht hatte erst seine gewohnte Farbe wiedergewonnen, als er in den Long Island Expressway einbog. Seine Stimmung allerdings hatte sich noch nicht gebessert. Während eines waghalsigen Überholmanövers, drehte er das Radio an. »Wir stehen am Beginn einer neuen großen Rennwoche«, scholl es ihm aus dem Lautsprecher entgegen. »Und sämtliche Fans brennen darauf, zu erfahren, ob die unglaubliche Glückssträhne Angel Corderos noch weiter anhalten wird. Der beliebte Starjockey holte sich allein am vergangenen Samstag dreimal den Siegeslorbeer, und für heute erwarten die -181-
Rennveranstalter eine Rekordbesucherzahl, denn Angel Cordero wird von vier Läufen wiederum in dreien mit von der Partie sein. Und nun die übrigen Sportnachrichten! Die Yankees schlugen...« Cohen drehte den Senderknopf, bis die harten Rockrhythmen des WABC durch das Wageninnere drohten. Weder liebte noch verstand er diese Art von Musik, aber er hatte die Erfahrung gemacht, daß sie ihm den Weg in die Stadt erträglich machte. Weshalb, wußte er nicht. Er wußte nur, weshalb er die hektische und überdrehte Stimme des Sportansagers zum Verstummen gebracht hatte. Noch mehr von Angel Cordero konnte Cohen an diesem Morgen nicht verkraften. Er beschäftigte sich in seinen Gedanken sowieso schon viel zu sehr mit dem Starjockey. Von Anfang an hatte er dessen Karriere mit Begeisterung verfolgt und war ein regelrechter Cordero-Fan geworden. Doch immer, wenn Cohen auf den Jockey setzte, verlor dieser. In der vergangenen Woche hatte Cordero an sechs Tagen elfmal den ersten Preis geholt. Es waren genau die Rennen gewesen, bei denen sich Cohen nicht zu eine m Wetteinsatz hatte entschließen können. Mit Spannung sah er dem heutigen Renntag entgegen. Heute würde er das Schicksal herausfordern. Wäre doch gelacht, wenn es Cordero nicht gelingen sollte, Cohens Wettverluste aus der vergangenen Woche auf einen Schlag wieder auszugleichen! Aber der Wettplatz mußte warten. Cohens Firma hatte den Vorrang. Jack Cohen war der Präsident der Bangle Merchandising Corporation, eines sehr erfolgreichen Versandhauses mit dem Hauptsitz im Penthouse eines respektablen Wolkenkratze rs mitten im Herzen von New York, N.Y. 10022. Von seinem geräumigen Arbeitszimmer aus konnte er alle fünf Stadtteile, zwei Bundesstaaten und die Rollbahnen dreier internationaler Flughäfen überblicken. Das Dumme dabei war nur, daß er dem grandiosen Panorama gewöhnlich den Rücken zukehrte, weil die Tabellen der Zahlungseingänge auf dem Bildschirm seine ganze -182-
Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Montag war der hektischste Tag der Woche. Gemessen an dem Werbeaufwand der letzten Tage mußten die zu erwartenden Einnahmen heute etwa zwischen 85000 und 135000 Dollar liegen, ein Drittel davon in Bargeldbeträgen. Früher, als die Banken noch nicht die Werbetrommel für den bargeldlosen Zahlungsverkehr rührten, hatte bei wenigstens der Hälfte aller Bestellungen der Betrag in Scheinen beigelegen. Wie pflegte Cohens Vater, der Besitzer des Delikatessengeschäftes, zu sagen? »Geld ist gut, Bargeld ist besser!« Die Bangle Merchandising Corporation bestand nun seit zehn Jahren. Cohen war es in dieser Zeit gelungen, das Unternehmen ständig auszubauen. Im vergangenen Jahr hatte Bangle einen Umsatz von fast fünfzehn Millionen Dollar zu verzeichnen. Mit einem Nettogewinn von elf Prozent. Cohen war der alleinige Aktieninhaber der Firma. Eine Million achthundertfünfzigtausend Dollar flossen ausschließlich in seine Tasche. Das eigene Jahreseinkommen von 115000 Dollar, die Geschäftsspesen, die Kosten für den Mercedes und das wöchentliche »Schmugeld« waren nicht in dieser Summe einbegriffen. Für Cohen war das Leben eine äußerst unbeständige Angelegenheit, und obwohl er seit sechsundfünfzig Jahren überlebte, war die Angst vor dem Nichts geblieben. Geld, noch genauer gesagt: Bargeld, war und blieb für ihn die einzig wirkliche Sicherheit. Aus diesem Grund unterließ es Cohen an keinem Montagmorgen, den Posteingängen zunächst einmal eine Summe von akkurat tausend Dollar zu entnehmen. Fünfhundert davon steckte er gleich in die Brieftasche. Fünfhundert legte er in den Safe hinter dem Arzneischränkchen in seinem privaten Badezimmer. -183-
Während der Rennsaison setzte er fünfhundert Dollar nach einem wohlüberlegten und ausgetüftelten Plan an den ZehnDollar-Schaltern des Wettbüros. An allen wettfreien Tagen ließ er - genauso wohlüberlegt - zweihundert Dollar auf die seidene Bettdecke von Anita Essex flattern. Im Gegensatz zu den Pferden war Anita eine völlig sichere Geldanlage, aber wie die meisten sicheren Dinge im Leben längst nicht so aufregend. Cohen warf einen Blick auf seine Digitaluhr, als er die Rampe zur Tiefgarage des Bürohauses hinunterfuhr. Es war 8 Uhr 45 Minuten und 37 Sekunden. Die Post mußte bereits eingegangen sein. Nach einer Besprechung mit der Werbeagentur über die neue Strumpfhosenkollektion und nach einer Reihe wichtiger Anrufe, würde Cohen sich die fünfhundert Bucks einstecken und zum Rennplatz fahren. Angel Cordero sollte die Chance haben, seine Versäumnisse wiedergutzumachen. »Guten Morgen, Mister Cohen!« »Guten Morgen, Tony. Bitte, sorg dafür, daß der Wagen um die Mittagszeit für mich bereitsteht!« »Geht in Ordnung, Mister C. Einen schönen Tag wünsche ich.« Cohen schloß die unauffällige Eisentür auf und betrat den schmalen, mit blauem Samt ausgeschlagenen Aufzug, der direkt zu Bangles Penthouse hinauffuhr. Nach kurzer Zeit schob sich die Aufzugtür lautlos zur Seite. Cohen trat über die Schwelle und befand sich mitten in seiner Privatsuite, der die gelungene Kombination von Gold- und Rottönen eine Atmosphäre erlesener Wohnkultur verlieh. Cohen schritt in sein Office, nahm in dem Pollock Chair hinter dem ovalgeformten Rosenholzschreibtisch Platz und drückte die Taste der Sprechanlage. -184-
»Morgen, Linda. Ist die Post schon da?« »Nein, Mister C, noch nicht. Sie ist ziemlich spät dran heute morgen.« Cohen schlug mit der Faust auf den Tisch, der Kaffee in der Tasse aus Meißner Porzellan schwappte über. Heute morgen schien einfach alles schiefzugehen. Aber bei dem Wagen konnte er wenigstens noch etwas unternehmen. Bei dieser verdammten Post blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Und das Post Office stellte auch keinen Ersatz zur Verfügung.
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KEN FORBES
Im Innern des Gebäudes, das Neal und Madigan mit ihren bewußtlos geschlagenen Gefangenen immer weiter hinter sich ließen, rechnete Ken Forbes auch nicht im entferntesten mit einem Blackout. Der dienstälteste Inspektor der FDR Station starrte auf die in aufreizender Regelmäßigkeit aufleuchtenden »Warte«-Tasten der Telefonanlage. Am andern Ende einer jeden Leitung hing einer der vielen Millionen New Yorker, die um diese Zeit voller Ungeduld und Spannung auf das Eintreffen der Montagsmorgenpost warteten. Forbes war an die überfallartig einsetzenden Anrufe gewöhnt, und er fand das Spiel der stumm aufleuchtenden Amts-Tasten erträglicher als das schrille, an den Nerven zerrende Geräusch der Klingelzeichen. Aus diesem Grunde machte es ihm nichts aus, jeden der Anrufer zunächst einmal eine Zeitlang auf die Folter zu spannen. Wie die Erfahrung zeigte, legte der allergrößte Prozentsatz der Anrufer nach einer wohlbemessenen Wartezeit wieder auf, bevor Forbes zum zweitenmal die Verbindung zu ihnen herstellte. Zufrieden nahm Forbes zur Kenntnis, daß drei der vier Leuchttasten nacheinander erloschen. Nur der Teilnehmer unter der zweiten Taste verriet keinerlei Ermüdungserscheinungen. Die Taste blinkte weiter, bis Forbes den Finger auf das schmale Plastikrechteck drückte und den Hörer aufnahm. - »Forbes. Post-Kundenservice. Kann ich Ihnen helfen?« »Das hoffe ich bestimmt, Mr. Forbes.« Forbes lächelte. Der Anrufer war betont höflich. »Ich habe meine Post noch nicht bekommen.« »Das ist nicht ungewöhnlich, Ma'am. Es ist noch ziemlich -186-
früh, und ihr Zusteller hat allerhand Briefe auszutragen an diesem Morgen. Bitte, haben Sie noch ein wenig Geduld und geben Sie ihm diesmal noch ein paar Extraminuten!« »Sind Sie sicher, daß er mich nicht vergessen hat?« »Erlauben Sie eine Frage, Ma'am. Hat er das bislang schon einmal getan?« »Nein, das nicht. Walter hat mich bisher noch kein einziges Mal vergessen.« »Walter?« »Ja! Walter Bailey, mein Briefträger.« »Ich kenne Mister Bailey, Ma'am, und ich bin mit Ihnen ganz einer Meinung. Wie jeder unserer Männer im Außendienst, ist er äußerst korrekt und zuverlässig. An Ihrer Stelle würde ich mir da überhaupt keine Sorgen machen.« »Das tue ich normalerweise ja auch nicht, Mister Forbes, aber es ist fast neun, und Walter war bisher noch nie so spät!« Die letzten Worte ließen Forbes zusammenfahren. Fast neun? Er warf einen Blick auf die Seiko an seinem Handgelenk, dann einen zweiten auf die Normaluhr über dem Waschbecken. Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Die Zeitangabe der Anr uferin stimmte. Hastig beendete Forbes das Gespräch. »Kein Grund zu irgendwelcher Aufregung, Ma'am, wirklich nicht. Walter wird gleich bei Ihnen auf der Matte stehen. Ich bedanke mich für den Anruf. Und wie gesagt, es besteht wirklich nicht der geringste Anlaß zur Sorge!« Ohne die Antwort seiner Gesprächsteilnehmerin abzuwarten, legte Forbes auf und sah noch einmal auf die Uhr. Es war 8 Uhr 58. Forbes hatte sich nicht nach der Adresse der Anruferin erkundigt. Er konnte sich denken, wo sie wohnte. Es mußte sich um den ganz in der Nähe gelegenen Wohnblock zwischen Second und Third Avenue handeln. Über neunzig Jahre alte -187-
Sandsteingebäude, eingekeilt zwischen neue Apartmenthäuser und riesige Bürotürme. Sie beherbergten die letzten Vertreter einer aussterbenden Generation New Yorker Bürger. Einer Generation, die sich noch an Straßenbahnen, an Streifenpolizisten zu Fuß und an Ein-Penny-Postkarten erinnerten. Die alte Dame zahlte wahrscheinlich dreißig Dollar Miete im Monat und erhielt ihre Post Morgen für Morgen Punkt Viertel vor neun, während diejenigen, die das Sechsfache für ihre Wohnung zahlten, nicht viel früher an die Reihe kamen. Aber das, dachte Forbes, war nicht mehr als recht. Die Alten aus der Sandstein-Generation besaßen sonst nicht viel Privilegien. Walter Bailey mußte bereits vor einer halben Stunde mit dem Austragen begonnen haben, und die alte Lady wohnte nicht mehr als zweihundert Yard vom Ostausgang des Postamtes entfernt. Vielleicht hatte sie tatsächlich einen Grund, sich Sorgen zu machen, und Forbes mußte zugeben, daß Baileys Verspätung zumindest höchst ungewöhnlich war. Einen wirklichen Anlaß zur Beunruhigung allerdings sah er darin nicht. Er streckte die Hand nach dem Pappbecher aus und nahm einen Schluck Kaffee. Dabei ließ er den Blick nicht von den der Reihe nach nervös aufzuckenden Ruftasten. Er wartete ab, bis sich auf allen vier Leitungen wieder ein Teilnehmer eingefunden hatte. Dann betätigte er nacheinander jede Taste und sprach viermal denselben Wortlaut in die Sprechmuschel. »Augenblick, bitte! Haben Sie eine Minute Geduld!« Eine Leitung nach der anderen »verstummte«, und das gleichmäßige Blinken der »Warte«- Tasten setzte ein. Nun konnte er sich Zeit lassen. Den Anrufern würde es zu lang werden, sie würden die Geduld verlieren und auflegen. Dieses allmorgendliche Ritual nahm erfahrungsgemäß etwa eine halbe -188-
Stunde in Anspruch. Danach hatte Forbes Ruhe, bis auf die unvermeidlichen Frager, die wissen wollten, wie hoch die Gebühren für eine Drucksache nach Australien oder für ein Päckchen mit Herrensocken nach Italien wären. Ob es eigentlich in Italien keine vernünftigen Herrensocken zu kaufen gab? An diesem Morgen hatte Forbes von Anfang an ein Gefühl der Unruhe. Und tatsächlich, die Anrufer ließen sich nicht abwimmeln wie sonst an den Tagen. Keiner ging mehr aus der Leitung, alle blieben sie hartnäckig. Schließlich gab Forbes nach. Er wählte die dritte Taste und drückte sie nieder. »Forbes, Post-Kundenservice. Kann ich Ihnen helfen?« »Wer ist da?« »Forbes, Post-Kundenservice. Kann ich Ihnen helfen?« »Sehr gut. Ich bin Postkunde und beanspruche Ihren Service.« Der Ton klang verärgert, die Stimme jedoch war dünn und zart. Forbes brachte es nicht fertig, auf die forcierte Schärfe darin zu reagieren. »Ja, Ma'am, was kann ich für Sie tun?« Forbes kannte Bangle Merchandising, mit deren Kunden sie häufig Ärger hatten. Das Versandhaus war manchmal ziemlich nachlässig in der Erledigung der Aufträge, und die Leute machten stets die Post für die Verzögerung verantwortlich. Forbes zwang sich, den aufsteigenden Ärger zurückzudrängen. »Ich bin sicher, daß sie jeden Moment bei Ihnen eintrifft. Wann ist das normalerweise der Fall?« »Normalerweise ist sie um diese Zeit längst hier. Die Mädchen warten schon in ihren Käfigen, um mit dem öffnen zu beginnen, und Mister Cohen sitzt auf heißen Kohlen.« »Entschuldigen Sie, Ma'am, aber sprachen Sie von Käfigen? Und wer ist Mister Cohen?« -189-
»Mister Cohen ist mein Chef. Und mit den Käfigen sind keine Zookäfige oder etwas Ähnliches gemeint, sondern der mit einem Drahtgeflecht abgegrenzte Teil unseres Großraumbüros, in dem die Briefe geöffnet und das beigefügte Bargeld herausgenommen werden. Seit fünfzehn Minuten sitzen die Damen da und drehen Däumchen. Mister Cohen tobt und steht kurz vor einem Gehirnschlag. Also bitte, sagen Sie mir jetzt endlich, was los ist. Wann können wir mit unserer Post rechnen?« »Ich sagte es Ihnen bereits, Ma'am. Unser Zusteller muß jeden Augenblick bei Ihnen sein. Heute morgen konnten wir die Menge der eingegangenen Post kaum bewältigen, so viel war es. Er wird einfach ein paar Minuten länger fürs Ausladen brauchen.« »Aber was kann ich Mister Cohen ausrichten?« »Richten Sie ihm aus, er möge sich wieder beruhigen!« »Sie kennen Mister Cohen nicht. Er würde mich achtkantig zur Tür hinauswerfen.« »Ich bin Postbeamter, Ma'am, kein Psychiater. Ich habe mich um die Post zu kümmern, und ich befürchte, Sie werden sich um Mister Cohen kümmern müssen.« »Na schön, werde sehen, daß mir was Plausibles einfällt.« Dieser Anruf setzte Forbes noch mehr zu als der erste. Er wußte, daß Bangle Merchandising eine bevorzugte Route war. Die Männer, die dort eingesetzt wurden, erhielten jedes Jahr ansehnliche Weihnachtsgeschenke und bedienten die Versandhauszentrale mit äußerster Pünktlichkeit. Bangle lag in der Lexington Avenue. Der zuständige Postlaster fuhr also in westlicher Richtung und mußte das Postamt durch die Ausfahrt in der 55th Street verlassen haben. Forbes zögerte, aber dann wählte er die Nummer des Postens, um sich zu vergewissern, daß der Wagen das Gebäude -190-
planmäßig verlassen hatte. Er wußte nicht, welcher Guard an diesem Tor Dienst tat, aber das spielte keine Rolle. Das Rufzeichen ertönte, doch niemand hob ab. Normalerweise nichts Ungewöhnliches, dachte Forbes. Die Guards verließen häufig die Wachstube, und Forbes hatte nicht damit gerechnet, daß sich gleich beim ersten Versuch jemand melden würde. Er legte auf. Was war zu tun? Ihm fiel die Grundregel aller Bürokraten ein: »Im Zweifelsfall raushalten!« Wahrscheinlich würde es das beste sein, wenn er sich danach richt ete.
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CAL VAN DELLA
Van Della hatte zwei unerwartete Besucher. »Ich kann nur hoffen, daß dieser bitterböse Scherz nicht lange dauern wird, Freund«, flötete der Inhaber von Chevalier Boots, als Van Della ihn in den Gepäckwagen sperrte. Bevor er seinen eleganten Schuhsalon öffnete, war er persönlich zum Lagerhaus des Paketdienstes herausgekommen, weil er einem seiner Kunden für Dienstag ein Paar Wildlederstiefel versprochen hatte. »Wissen Sie, mein Kunde braucht die Stiefel unbedingt«, versuchte der Mann Van Della klarzumachen. »Er gibt morgen abend eine Party, und es würde für ihn gleichsam wie ein Tritt in den... es würde eine furchtbare Enttäuschung für ihn sein, wenn ich mein Versprechen nicht einhielte.« »Sie wollen also sagen«, kommentierte Van Della grinsend, »daß, wenn Sie Ihr Wort brechen, Ihr Kunde Ihnen den Arsch aufreißt.« »Er ist mehr als nur ein Kunde«, gestand der Mann geziert, »er ist ein ganz spezieller Freund von mir.« Van Della widerstand der Versuchung, die Unterhaltung fortzusetzen. Er verachtete Homos und ließ keine Gelegenheit verstreichen, sie auf den Arm zu nehmen. Der zweite Besucher war Bezirksverkaufsleiter einer Firma, die Autoreifen runderneuerte. In glänzendweißen Lackschuhen, eine Polaroid SX-40 in der Hand, tauchte er auf dem Ho f des Paketdienstes auf, um Aufnahmen von den Reifenprofilen einiger NYPS Trucks zu schießen. »Die Decken wurden von uns runderneuert«, erklärte er eifrig, »und NYPS hält einen sensationellen Rekord. Stellen Sie sich vor, vierzigtausend Meilen, und immer noch fahrtüchtig. Wir haben vor, einen Artikel darüber in unserer Firmenzeitschrift zu -192-
bringen, und ich soll ein Foto dazu liefern. Sie trägt den bedeutungsvollen Namen ›Spur‹«, fuhr er begeistert fort, »und ist das einzige Originalerzeugnis, das wir herausbringen.« Er hätte noch endlos weitergemacht, aber Van Della war mit ihm bei dem Großraumwagen angelangt. Schmunzelnd sperrte er ihn zu dem Schuhladeninhaber. Den beiden würde die Zeit nicht lang werden. Von weiteren Überraschungen blieb Van Della verschont. Wie Grant vorhergesagt hatte, schien am Montagmorgen tatsächlich kaum Betrieb in der Garage zu sein. Gegen Viertel vor neun erfaßte Van Della eine spürbare Unruhe. Immer häufiger blickte er auf die Uhr. Er wartete auf Rudmans Durchsage, die ihm den erfolgreichen Abschluß der Kidnapping Aktion meldete. Um neun sprang Van Della von seinem Platz auf und begann nervös in der Wachstube hin und her zu wandern, »Nimm's nicht so tragisch, Charlie«, sagte Dickinson. »Ihr schafft es sowieso nicht.« »Und daß wir es schaffen«, erwiderte Van Della ohne Überzeugung. »Mag sein, daß du ungeschoren davonkommst. Aber für deine Freunde sehe ich schwarz. Die werden hier nicht wieder aufkreuzen.« »Warte ab, Fred, es wird nicht mehr lange dauern.« Um 9 Uhr 06, dem Zeitpunkt, zu dem Rudmans Durchsage erfolgen sollte, rannte Van Della immer noch rastlos hin und her. Er prüfte den tragbaren CB-Monitor. Das Gerät funktionierte einwandfrei. Er sah nach der Antenne. Sie befand sich an Ort und Stelle. Er blickte auf die Uhr. Sie zeigte acht Minuten nach neun. Um 9 Uhr 09 - drei Minuten später als geplant - kam endlich Rudmans Durchsage. Sekundenbruchteile später drang ein -193-
unerträglich prasselndes Geräusch aus dem Lautsprecher. So, als wäre ganz in Rudmans Nähe der Blitz eingeschlagen. Van Della drehte den Lautstärkeregler bis zum Widerstand auf. Er glaubte, etwas wie Schreie zu hören. Dann trat Stille ein. Van Della wechselte von Kanal 9 auf Kanal 19, die beliebteste Welle auf dem CB-Band. »Allmächtiger Himmel!« hörte er eine vor Entsetzen heisere Stimme. »Ich dachte schon, die ganze verdammte Brücke fliegt in die Luft!« Andere Stimmen fielen ein, erregt, gehetzt, schrill vor Panik. Ein Chor von wild durcheinanderschreienden Menschen, denen die Erschütterung über eine Katastrophe deutlich anzuhören war. Van Della schaltete wieder auf Kanal 9 um, versuchte Grant oder Rudman zu erreichen. Vergeblich. Er ging auf 19 zurück. Rätselhafte Gesprächsfetzen unverständlicher, hysterisch klingender Stimmen. Auf der 5901 Street Bridge mußte es eine Katastrophe gegeben haben.
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JORGE VEGA
Der Radiosprecher unterbrach die Werbung der Eastern Airlines. »Soeben meldet die Manhattan Police eine Explosion auf der Queensborough Bridge. Sie rät allen Kraftfahrern dringend, den gesamten Brückenbereich zu meiden. Nähere Einzelheiten waren nicht zu erfahren, aber der WCBS ist sicher, Sie in Kürze über die Vorgänge genau informieren zu können. Unsere Reporter Irene Cornell und Art Athens sind bereits mit dem WCBS-Sendewagen auf dem Weg zum Katastrophenort. Halten Sie sich in der Zwischenzeit von der Brücke fern. Meiden Sie die 59th Street und die Second Avenue in Manhattan und die Queensborough Plaza in Long Island City. Auf der Brücke fand eine Explosion statt, deren Ursache noch nicht bekannt ist. Kraftfahrern, die sich in Queens befinden, empfiehlt die Polizei die Benutzung des Queens-Midtown-Tunnels nach Manhattan. Von Manhattan in Richtung Queens stehen der Midtown-Tunnel oder die Triborough Bridge zur Verfügung...« Die Nachricht riß Vega aus seinem Halbschlaf. »Verdammter Mist«, fluchte er. »Ausgerechnet heute muß das passieren!« Die Queensborough Bridge lag auf der Grenze zwischen dem 17. und dem benachbarten 19. Polizeirevier. Beide Belegschaften würden dort zum Einsatz kommen, während er sich acht Meilen weit draußen auf See befand, eine Endlosigkeit vom Ort des Geschehens entfernt. Mißmutig starrte er in die Wellen. Die Chance, in diesem Fall sein Können unter Beweis zu stellen, war verspielt. Jorge Vega ahnte nicht, wie falsch er mit seiner Annahme lag.
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JEFF GRANT
Jeff Grant saß in einer Plastikmulde, die von den NewYorker-Verkehrsbetrieben als Fahrgastsitz bezeichnet wurde. Er ging noch einmal die Geschehnisse des Morgens durch, während der Subwayzug durch den Tunnel unter dem East River in Richtung Long Island City dahindonnerte, pünktlich und genau nach Plan. Grant war zufrieden. Aus seiner Sicht war an diesem Morgen alles genau nach Plan und ohne Störung verlaufen. Jetzt brauchten sie nur noch genügend Zeit, um die Beute in die bereitstehenden drei Wagen umzuladen. Dann... Grants Gedanken wanderten noch weiter in die Zukunft. Bald würden er und Jennifer die Steinwüste New Yorks hinter sich gelassen haben. Ein neues Leben, weit weg an den sonnenbeschienenen Küsten Costa Ricas, vom Festland durch den Riegel der Central American Peninsula getrennt, wartete auf sie. Außerdem würde ihr Aufenthalt durch eine Reihe günstiger Landesgesetze gesichert, die eine Auslieferung in die Staaten - falls er überhaupt gefaßt werden sollte unmöglich machten. Doch dann verblaßte das Bild von der glücklichen und sorgenlosen Zukunft plötzlich. Vor Grants geistigem Auge stand die Gestalt David Knights. Der Gedanke an Knight verfolgte ihn, seit er den Porsche abgestellt und den Weg zur Subway eingeschlagen hatte. Kein Wunder, denn eigentlich war Knight die Ursache für alles, was heute in Gang gekommen war. »Verdammt, du elender Mistkerl!« murmelte Grant haßerfüllt, »heute ist der Tag, an dem ich dir heimzahle, was du mir angetan hast.« -196-
Die Lichter eines Bahnhofs waren zu sehen. Der Zug fuhr in die Queensborough Plaza Station ein. Grant stieg aus. Beim Verlassen des Bahnsteigs schollen ihm die Heultöne mehrerer Einsatzfahrzeuge der Polizei entgegen, die in Richtung Brücke zu rasen schienen. Er ging auf den Zeitungsverkäufer am Ausgang der Subway Station zu. »Was passiert?« fragte er beiläufig. »Keine Ahnung, Mann«, war die Antwort. »Jemand sagte, auf der Brücke habe es 'ne Explosion gegeben. Muß die reinste Hölle sein. Ein Unfallwagen nach dem andern rast hier vorbei. Und die Cops spielen ebenfalls verrückt.« »Und was ist explodiert?« »Ich sagte es Ihnen schon, Mann, keine Ahnung. Ich verkaufe Nachrichten, ich mache sie nicht!« »Schon gut. Besten Dank jedenfalls!« Grant fragte sich, wie er mehr erfahren konnte, sah aber keine Möglichkeit, weil die Zeit drängte. Er machte sich auf den Weg zum NYPS-Gebäude. Der Unfall auf der Brücke bereitete ihm leichtes Unbehagen. Ernste Sorgen machte er sich nicht deswegen. Alle neunzehn Fahrzeuge mußten zum Zeitpunkt der Explosion die Brücke bereits passiert haben. Während Grant mit raschen Schritten das Straßengewirr des Industrieviertels durchquerte, kreisten seine Überlegungen um den Punkt, der als nächster auf dem Programm stand. Hoffentlich warteten die drei Wohnmobile bei seiner Ankunft fertig beladen in der vorgesehenen Parkbucht. Die Stelle war von der Straße aus nicht einsehbar. Flüchtig mußte er an die künstlichen Schnurrbärte denken, die jeder der Akteure trug. Eigentlich mußte der Mastix, mit dem sie angeklebt waren, halten. Aber selbst für den Fall, daß einer seine Gesichtstarnung verlieren sollte, hatte Grant vorgesorgt. Jeder -197-
hatte einen Ersatzbart in der Tasche. Die Idee, für den Transport der Post nicht einen einzigen Lastzug, sondern drei Wohnmobile zu verwenden und sie unauffällig in drei schnell erreichbaren Trailer Parks in Nassau und Suffolk abzustellen, war von Van Della gekommen. Grant hat die Zielorte ausgewählt. Für Rudman einen Platz in Westbury unmittelbar bei der Roosevelt-Pferderennbahn. Als Berufswetter und Pferdenarr getarnt, würde Bob dort keinerlei Aufsehen erregen. Van Della kampierte in Farmingdale, ganz in der Nähe des Militärflughafens Grumman. Ihm würde man den Regierungsbeamten, der die Maßnahmen der Flugsicherheit und Luftverteidigung verbessern sollte, ohne weiteres abnehmen. Für sich selbst hatte Grant einen einsam gelegenen Campingplatz auf Montauk, am äußersten Ende von Long Island, ausgesucht. Grant war sich darüber im klaren, daß Van Della versuchen würde, soviel wie möglich für sich persönlich abzusahnen. Aus diesem Grund hatte er Van Dellas Möglichkeiten von vorneherein kräftig beschnitten. Die Spades hatten Anweisung, alle für die Banken bestimmten Postsäcke in Grants und Rudmans Wagen zu verstauen. Van Dellas Ladung würde die leichteste und uneinheitlichs te sein. Ein Lächeln umspielte Grants Lippen, während er an Van Della dachte. Das Lächeln erstarb, als er das Tor des NYPSGeländes durchschritt. Rudman stand in der Wachstube, krebsrot im Gesicht, einem Schlaganfall nahe. »Mensch Cal, wir müssen schleunigst machen, daß wir von hier fortkommen! Wie lange kann es dauern, bis sie auf der Suche nach der gestohlenen Post auf uns stoßen? Sie haben auf der 59th Street Bridge einen auseinandergeflogenen Truck gefunden. Die Fahrbahn ist mit Briefen übersät. Sogar der -198-
dümmste Cop wird sich seinen Reim darauf machen und versuchen, zwei und zwei zusammenzuzählen!« »Sie können zusammenzählen, soviel sie wollen, bis sie zu einem Resultat gekommen sind, rollen wir längst über den Long Island Expressway.« Van Della - im Gegensatz zu Rudman - war die Ruhe in Person. »Wir sitzen in der Tinte!« rief Rudman mit überschnappender Stimme. In diesem Moment erblickte er Grant im Türrahmen und wandte sich ihm zu. »Hast du eine Vorstellung, was da passiert ist? Irgendeine Spur einer Vorstellung?« »Natürlich«. Grant trat in den Raum. »Wir haben unsern Beitrag zur katastrophalen Verkehrssituation in New York geleistet, Bob.« Grants Ironie gab Rudman den Rest. »Es ist unsere Katastrophe. Wir können nicht hierbleiben!« »Die Post mietet Tausende von Trucks«, entgegnete Grant. »Was soll ein mit Briefen beladenes NYPS-Fahrzeug schon für einen Verdacht erregen? Sie werden annehmen, es wäre einer dieser Vertragslaster, das ist alles!« »Ich hab' die Meldungen im Radio verfolgt«, sagte Van Della zu Grant gewandt. »Alles was die Sender wissen, ist, daß es auf der Brücke eine Explosion gegeben hat.« »Okay, dann läuft alles weiter, wie besprochen«, ordnete Grant an. »Ich werde den Jungs sagen, daß sie ihre Ärsche bewegen. Aber wir brechen nicht eher von hier auf, bis der letzte Postsack in den Wagen verstaut ist. Ich mache nur eine Konzession. Alle, die nicht beim Verladen gebraucht werden, können das Gelände schon jetzt verlassen.« Die Hecktüren der Trucks standen weit offen. Die Hälfte der Wagen war bereits ausgeladen. Die Green Spades hatten eine Kette gebildet, und die Postsäcke wanderten von Mann zu -199-
Mann. Grant schlenderte durch die weite Halle. Plötzlich bemerkte er einen der gefesselten Briefträger, bei dem einige Umschläge aus der Gesäßtasche hervorschauten. Er ging auf den Mann zu und zog ihm die Briefe aus der Tasche. »Die wolltest du dir wohl selbst untern Nagel reißen, wie?« fragt er voller Sarkasmus. Die Antwort des Postmannes wurde von dem Knebel erstickt. Grant Lockerte das Tuch, und der Mann sagte eingeschüchtert: »Nein, hier bewahre ich die Einschreiben und die Schecks auf. Erleichtert mir das Sortieren.« »Ich werde dir die Verantwortung dafür abnehmen und für die Weiterbeförderung sorgen«, versprach Grant höhnisch. »Mag sein«, erwiderte der andere. »Aber ich bin gewohnt, daß man mir unterschreibt, was ich aus der Hand gebe.« Grant traute seinen Ohren nicht. Mit vor Wut zitternden Händen zog er dem Briefträger den Knebel über den Mund. »Ich unterschreibe niemals mehr für etwas!« stieß er wild hervor. Hastig wandte er sich ab und kehrte in den Wachraum zurück, angefüllt von einer blinden Wut. Rudman saß auf einem Stuhl, und Dickinson, der Wachmann, sprach beruhigend auf ihn ein. Van Della hing mit dem Ohr am Radio. Abwechselnd schaltete er von 880 auf 1010, die beiden Sender mit dem Dauernachrichten-Programm. Als Grant den Raum betrat, läutete das Telefon. »Okay, Fred«, rief Grant, »nimm ab! Du weißt, was du zu sagen hast!« Es war das örtliche Polizeirevier. Einer der NYPS-Trucks sei in einen Unfall verwickelt worden, und man hielte es für notwendig, daß jemand aus der Garage am Unfallort erschiene. Sie würden einen Wagen vorbeischicken, der den Mann -200-
mitnehmen sollte. »Sekunde, Sergeant, bleiben Sie am Apparat!« sagte Dickinson und rückte die »Warte«- Taste. »Sag ihm, er braucht keinen Wagen vorbeizuschicken. Es würde gleich jemand von uns hier losfahren«, wies Grant den Guard an. »Halt uns nur ja den Bullen vom Hals, Mann!« Dickinson nickte, und während er mit dem Polizisten sprach, überlegte Grant, daß ihnen höchstens noch sieben Minuten blieben, um zu verschwinden. Drei Minuten nach dem Anruf der Polizei verließen die Green Spades in Gruppen zu zwei und zwei das NYPS-Gelände. Eine Minute später bog Rudman mit seinem Fahrzeug auf die Straße ein. Van Della folgte unmittelbar hinterher. Grant wandte sich an Dickinson. »Muß ich dich fesseln, Fred? Oder rührst du dich nicht vom Fleck?« »Ich rühr' mich nicht vom Fleck«, versprach Dickinson. »Das solltest du inzwischen wissen, Charlie.« »Nein, es ist besser, ich lege dir Fesseln an«, sagte Grant nach kurzem Nachdenken. »Besser für dich, Fred. Sonst kommst du noch in den Verdacht, du stecktest mit uns unter einer Decke.« Nachdem er Dickinson an Händen und Füßen gefesselt hatte, verließ Grant den Wachraum. »Paß gut auf dich auf, Fred«, sagte Grant, ohne sich umzublicken. Er schwang sich hinter das Steuer des Wohnmobils, betätigte den Anlasser und jagte mit aufheulendem Motor über den Hof. Seit dem Anruf des Desk Sergeants waren genau sieben Minuten verstrichen, als Grant das Tor passierte.
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BOB RUDMAN
»Diesmal hat wenigstens niemand ein Foto von mir geschossen«, brummte Rudman. Die Erinnerung an seinen letzten, mißlungenen Coup ließ ihn lächeln. Er befand sich auf der rechten Spur des Long Island Expressway in Richtung Westbury. Das Steuern des schweren Fahrzeugs bereitete ihm unerwartete Schwierigkeiten in dem dichten Verkehr, deshalb hielt er sich auf dem äußersten Fahrstreifen hinter einem mit Stahlrohren beladenen Schwerlastzug, der die Blinklichter eingeschaltet hatte. Rudmans Gedanken wanderten zu Diane. Wahrscheinlich schlief sie noch. Träumte ihren Maschinengewehr-Alptraum. Siehst du, Diane, dachte er, du hattest unrecht. Die MailTrucks waren unbewaffnet. Es war einer von unseren eigenen Wagen, mit dem wir Ärger hatten. Rudman staunte über sich selbst. Die unangenehmen Reaktionen seines Körpers, die gewöhnlich jeder Art von Aufregung auf dem Fuß folgten, waren ausgeblieben. Abgesehen von den grauenhaften Bildern des Unfalls auf der Brücke, die sich nur schwer verdrängen ließen, hatte er sich erstaunlich gut unter Kontrolle. Rudman hielt das für ein gutes Zeichen. Vielleicht ging alles doch noch gut aus! Er wühlte nicht selbstquälerisch in der Vergangenheit, er versuchte nicht, voller Pessimismus die Zukunft zu ergründen - zwei Beschäftigungen, die ihm schon zur zweiten Natur geworden waren -, nein, er lebte in der Gegenwart und nahm sie so, wie sie war. Und im Augenblick bestand die Gegenwart darin, daß er sich stur hinter einem Schwerlastzug auf der rechten Fahrbahn des Long Island Expressways hielt und darauf achtete, die Ausfahrt Clen Cove -202-
Road South nicht zu verpassen. Robert Roswell Rudman lächelte. Zum erstenmal in seinem Leben verspürte er etwas wie Zufriedenheit mit sich selbst.
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CAL VAN DELLA
Es hatte funktioniert! Es hatte wirklich funktioniert! In Gedanken wiederholte Van Della diese Worte wie einen endlosen Refrain. Was als unverbindliche Unterhaltung dreier Strafgefangener in einem Staatsgefängnis begonnen hatte, war zu einem der tollkühnsten Verbrechen in der Geschichte der Nation geworden. Van Della war mit dem Ausgang des Unternehmens vollauf zufrieden. Aber er kam nicht los von jenen Stunden, in denen alles begonnen hatte. Drei ungleichere Zellengenossen, als sie es waren, hätte man sich nicht vorstellen können. Dennoch gab es etwas, das sie auf schicksalhafte Weise miteinander verband: ihre Unzufriedenheit über die in Danbury gehandhabte Briefzensur. Rudman litt darunter, daß Fremde ihre Nase in Dianes neurotisches Geschreibsel steckten. Grant empfand es als Besudelung, wenn andere Hände als seine eigenen die von Jennifer beschriebenen Briefbogen berührten. Und Van Della betrachtete es als Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte, daß Fremde in dem äußerst freizügigen Inhalt seiner Post herumschnüffelten. Aus den zahllosen Gesprächen über dieses Thema, war der Anstoß gekommen für das, was sich heute als Supercoup erwiesen hatte. Van Della hatte stets gefürchtet, Enttäuschung könne sich bei ihm einstellen, wenn alles vorüber wäre. Statt dessen stellte er ein unbändiges Glücksgefühl fest, weil die ganze Sache derart glatt und erfolgreich über die Bühne gegangen war. Es hatte funktioniert! -204-
So, wie er es von Anfang an vorausgesehen hatte.
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JEFF GRANT
Rudman und Van Della würden die nächsten Wochen allein verbringen. Allein mit einer Ladung Post im Werte von einer Million Dollar. Grant hatte die Million - und er würde Jennifer haben. Jennifer war immer mit von der Partie gewesen, und sie in diesem Moment in New York zurücklassen zu müssen, wäre für Grant undenkbar gewesen. Cal und Bob hatten Einwände erhoben, aber ihr Widerstand war an Grants Unnachgiebigkeit zerbrochen. »Während der Vorbereitungen und der Durchführung des Unternehmens bin ich bereit, mir Einschränkungen aufzuerlegen«, hatte Grant erklärt, »aber danach will ich meine Frau bei mir haben!« Aber noch war es nicht soweit. Während Rudman und Van Della sich schon auf dem LIE befanden, und die eigentliche Gefahrenzone hinter sich gelassen hatten, war Grant noch mitten in der Stadt. Auf dem Weg nach Forest Hills, wo Jennifer Ecke Continental Avenue und Queens Boulevard auf ihn wartete. Noch drei Programmpunkte, und der Coup war ein voller Erfolg. Jennifer mußte zusteigen. Das Geld mußte gezählt und geteilt werden. Und zuletzt würde David Knight an die Reihe kommen. Aber dazu mußte er, Grant, sich noch etwas einfallen lassen.
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MONTAG 9 Uhr 33 morgens bis 15 Uhr mittags
MELANIE HAIGHT »Könnte ich bitte die Nummer des Postamtes an der Third Avenue und der 54th Street haben?« Melanie Haights Stimme zitterte vor Erregung. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. »Ich habe mehrere Nummern für die FDR Station«, antwortete die Telefonistin unbeteiligt. »Welche davon möchten Sie? Ma'am?« »Ich weiß nicht, welche Nummer ich haben möchte«, rief Melanie ungeduldig. »Ich weiß nur, daß ich nicht bereit bin, noch länger auf meine Post zu warten.« Ungerührt begann die Telefonistin in leierndem Ton: »Ich habe eine Nummer des Schalters für Nachnahmesendungen, ich habe...« Melanie schnitt ihr das Wort ab. »Unsinn, Lady, ich habe nicht vor, für meine Post auch noch zu zahlen. Ich warte darauf. Haben will ich sie, verstanden?« »Ich habe eine zweite Nummer für Einschreibe- und Wertsendungen...« »Verdammt, Sie reden zuviel! Nennen Sie mir jetzt endlich eine Nummer. Irgendeine, bei der sich irgendeine Stelle des Postamtes meldet!« »Ich habe außerdem noch zwei Nummern für gewöhnliche Briefsendungen. Beabsichtigen Sie, vor oder nach vier -207-
anzurufen?« »He, haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Hören Sie auf damit, mir ihre Litanei vorzubeten. Ich will eine Auskunft, und zwar jetzt, in diesem Augenblick, meine Liebe!« »Dann wählen Sie die Nummer fünf, sieben, drei Strich, sechs, null, drei, eins. Und das nächstemal benutzen Sie bitte das Telefonbuch, falls Sie sich die Gebühren für die Beanspruchung des Auskunftdienstes ersparen wollen.« »Verdammt, jetzt hab' ich über Ihrem dämlichen Gequatsche die Nummer schon wieder vergessen. Könnten Sie sie nochmals wiederholen, bitte!« »Fünf, sie-ben, de-rei, sechs, null, de-rei, eins.« Melanie wählte die Nummer, ohne zu ahnen, daß Ken Forbes am andern Ende der Leitung keine Eile hatte, abzuheben. Das Rufzeichen erscholl acht- oder neunmal und erstarb dann. Melanie stieß einen Fluch aus und knallte den Hörer auf die Gabel. Dann nahm sie ihn wieder auf und wählte ein zweites Mal. Das Rufzeichen tönte ihr schmerzhaft ins Ohr, aber Melanie blieb hartnäckig. Beim zwölften Läuten meldete sich jemand. »Forbes, Post-Kundenservice. Kann ich Ihnen helfen?« »Da können Sie ihren entzückenden Hintern drauf verwetten. Mister Forbes!« Forbes, der Beschimpfungen und Gemeinheiten aller Art gewohnt war, ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Außerdem hatte er den Eindruck, daß die kraftvollen Worte nicht zu der kläglichen Stimme paßten. »Was verdirbt einer netten jungen Dame, wie Sie es zweifellos sind, Ma'am, so früh schon die gute Laune?« fragte er besorgt. Melanie, die nach ihrem Ausbruch nicht mit so viel Freundlichkeit gerechnet hatte, brach in lautes Schluchzen aus. -208-
Forbes lockerte den Griff um den Hörer und wartete geduldig, bis der Weinkrampf nachließ. Dann fuhr er mit sanfter Stimme fort: »Nun versuchen Sie ganz ruhig zu sein, meine Liebe, und dann sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann!« »Meine Post ist noch nicht da, und ich erwarte gerade heute einen sehr wichtigen Brief. Nein, ich muß mich verbessern. Ich erwarte heute morgen den wichtigsten Brief meines Lebens. Glauben Sie mir, Mister Forbes, es geht dabei um Leben und Tod. Mein Leben und meinen Tod!« »Well, meine Liebe, wir möchten ganz bestimmt nicht, daß Ihnen irgendetwas zustößt. Also beruhigen Sie sich, und sagen Sie mir nochmals, was Sie auf dem Herzen haben!« »Ich habe meine Post noch nicht bekommen!« »Das ist nichts Ungewöhnliches am Montagmorgen, Ma'am. Montags ist bei uns der Teufel los, müssen Sie wissen. Da kann es mit dem Austragen der Post schon einmal etwas später werden. Sie können sich nicht vorstellen, welche Unmengen von Briefen und Paketen am Wochenende bei uns eingegangen sind. Sie werden ihre Post jeden Moment erhalten. Da bin ich ganz sicher. Wirklich, ich garantiere es Ihnen, Ma'am.« Melanie war Garantien gegenüber äußerst skeptisch. Bisher war noch jede Garantie verletzt und jedes Versprechen gebrochen worden. »Ich glaube Ihnen nicht, Mister Forbes.« »Sagen Sie das nicht, Ma'am!« beschwor Forbes sie. »Ich spreche die Wahrheit. Haben Sie nur noch einen Augenblick Geduld. Sie werden sehen. Und bitte rufen Sie mich an, sobald Sie Ihre Post erhalten haben. Damit ich mir Ihretwegen keine Sorgen mehr zu machen brauche.« »Well, um Ihnen ebenfalls die Wahrheit zu sagen: Ich fühle mich ein wenig besser nach dem Gespräch mit Ihnen. Danke, Mister Forbes.« -209-
»Das freut mich, Ma'am. Und bitte, machen Sie sich nicht unnötig Ihre Nerven kaputt.« Langsam legte Melanie den Hörer nieder. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und brach erneut in lautes Weinen aus. Zwei Dinge standen für Melanie fest: Ihre Post würde sie niemals mehr bekommen. Und wenn sie aufhörte mit Weinen würde das ihr Ende sein.
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RHODA LEVINE Rhoda Levine hatte sich inzwischen zu dem Entschluß durchgerungen, ihren Briefträger als vermißt zu melden. Allerdings fand sie den Gedanken absurd. Was erklärt, weshalb sie den Hörer schon mehrmals wieder aufgelegt hatte, ohne ihre Absicht wahrzumachen. Briefträger gingen nicht verloren! Aber wo - so fragte sie sich - war Byron Trask dann geblieben? Rhoda fand keine Ruhe, und nachdem sie zum Hundertsten Mal die Straße hinauf- und hinuntergeschaut hatte, gab sie sich einen Ruck. Sie wollte jetzt endlich Gewißheit haben, selbst auf die Gefahr hin, mit einem schallenden Gelächter begrüßt zu werden. Aber Ken Forbes blieb ernst. »Von wo aus rufen Sie an, Ma'am?« »Sechzehn, zweiundfünfzigste Straße Ost, Erdgeschoß, Modeboutique ›L für Levine‹, wenn Sie schon davon gehört haben.« »Nein, muß ich gestehen, Ma'am. Aber ich bin überzeugt, daß es ein ganz reizendes Geschäft ist«, erwiderte Forbes galant. Dann fuhr er fort: »Well, sie sagten, Sie seien Mister Trask bereits begegnet. Aber er ist noch nicht mit der Post bei Ihnen erschienen, habe ich Sie da richtig verstanden?« »Ganz richtig. Ich traf ihn draußen auf der Straße und versprach, ihm eine Tasse Kaffee einzugießen. Die inzwischen natürlich völlig kalt geworden ist.« »Nun, Ma'am, ich würde mich an Ihrer Stelle trotzdem nicht beunruhigen. Vielleicht ist er unterwegs aus irgendeinem Grund aufgehalten worden. Vielleicht von jemandem, der genauso nett und freundlich ist wie Sie!« -211-
»Aufgehalten - mag sein. Einladung durch jemand anders ausgeschlossen. Byron hat mir immer wieder versichert, ich sei die netteste Person in der ganzen Straße.« »Davon bin ich überzeugt, Ma'am, aber es wäre eine Möglichkeit.« »Möglichkeit - vielleicht. Alles ist möglich. Aber vernünftig? Nein! Ich kenne Byron. Und die Antwort ist: Nein! Mit großem N!« »Well, wie ich Ihnen schon sagte, es ist Montag heute. Und es ist sicher, daß er mehr Post auszutragen hat als gewöhnlich. Ich bin überzeugt, er wird in der nächsten Sekunde bei Ihnen auftauchen und sich dafür entschuldigen, daß er Ihren schönen Kaffee kalt werden ließ.« »Der Kaffee ist mir schnuppe, Mister. Ich mache mir Sorgen um Byron.« »Er wird glücklich sein, dies gleich aus Ihrem Mund zu hören.« »Falls es überhaupt dazu kommen wird. Ich habe nämlich das dumpfe Gefühl, Byron sei etwas Furchtbares zugestoßen.« »Aber Ma'am, was sollte einem Zusteller am hellichten Tag auf einer der verkehrsreichsten Straßen Manhattans schon zustoßen?« »Das, Mister Forbes, ist es, was ich schon die ganze Zeit herauszufinden versuche.«
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KEN FORBES
Walter Bailey - überfällig. Auf einer Route, die direkt hinter dem Postamt beginnt. Byron Trask - überfällig. Auf der 52nd Street, zwischen Fifth und Madison. Bangle Merchandising - ohne Post. Diese übernervöse, hysterische Lady - ohne Post. Zwölf weitere Anrufer - ohne Post. Ein Situationsmuster, das Ken Forbes keineswegs gefiel. Eine ganze Menge Post und eine ganze Reihe Zusteller, die überfällig waren! Die bewährte bürokratische Ausrede fiel ihm ein: Nicht mein Job. Und, in der Tat, es war wirklich nicht sein Job. Es gab Außendienstinspektoren, deren Aufgabe darin bestand, die Zustellung zu kontrollieren und für die reibungslose Abwicklung Sorge zu tragen. Er war dem Innendienst zugeteilt. Mit dem, was draußen geschah, hatte er nichts zu tun. Höchstens insofern, daß er aufgebrachte Postkunden beruhigte und sie mit einigen netten Worten abspeiste. Heute morgen jedoch war er mit den üblichen Floskeln nicht ausgekommen, und eine Entwicklung der Dinge bahnte sich an, die in seinem Textbuch nicht vorgesehen war. Forbes war ernstlich beunruhigt. Diese Boutique-Lady hatte recht. Postzusteller lösten sich nicht einfach in Luft auf. Also entschloß er sich, den Sicherheitsposten an der 55th Street anzurufen. »Hallo, hier spricht Ken Forbes. Ist einer der Jungs schon zurück?« -213-
»Nein. Dazu ist es noch zu früh.« »Hör mal, du hast noch keinen einzigen gesehen? Auch Walter Bailey nicht?« »Auch Walter nicht. Ich hab' ihn gesehen, als er das Gebäude verließ. Aber er ist von seiner Tour noch nicht wieder zurück.« »Danke. Hey, bei der Gelegenheit... tust du mir den Gefallen und rufst mich kurz an, sobald der erste wieder zurück ist?« »Was ist los, Mann? Willst du neuerdings den Kontrolleur spielen?« »Nein, beruhige dich, nichts Derartiges. Ich bin nur neugierig, das ist alles.« »Schon gut, Ken. Ich sag' dir in ein paar Minuten Bescheid. Walter wird wie gewöhnlich als erster zurück sein. Und wie gewöhnlich werde ich ihn an seinem Husten erkennen, noch ehe er das Tor passiert hat.« »Jesus, hat der alte Schlot das Qualmen immer noch nicht aufgegeben! Er muß sich für unsterblich halten.« »Nein, das nicht. Vielleicht denkt er nur, er sei zu alt dazu, seine Laster aufzugeben. Weißt du, er trägt stets auch noch einen Flachmann in der Tasche.« »Was du nicht sagst! Jetzt fehlt nur noch, daß er sich außerdem mit fremden Weibern abgibt!« »Das glaube ich nicht. Zwei Laster dürften genügen.« »Würde ich auch sagen. Okay, besten Dank nochmals.« »Keine Ursache, Ken. Ich rufe dich an, sobald Walter um die Ecke biegt.« Als Forbes den Hörer auflegte, stellte er fest, daß sich die Lichter sämtlicher vier Leitungen wieder in hektischer Tätigkeit befanden. Forbes faßte einen Entschluß. Sollte sich jeder dieser Anrufer über das Ausbleiben der Morgenpost beschweren, würde er -214-
etwas unternehmen.
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JACK COHEN
»Was, zum Teufel, soll dieser Quatsch heißen: ›Die Zustellung der Post verzögert sich aus Gründen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen‹, meine Dame?« »Ich habe keine Ahnung, Mister Cohen, aber das genau sind die Worte des Auskunftsbeamten beim Post Office. Er schien selbst ziemlich verwirrt zu sein.« »Ich werd' mich selbst darum kümmern. Das wollen wir doch mal sehn!« Cohen kochte. »Verbinden Sie mich mit der Postauskunft!« »Forbes, Post-Kundenservice. Kann ich Ihnen helfen?« »Hier spricht Cohen, Bangle Merchandising. Meine Sekretärin erklärte mir soeben, daß ihr Burschen vorhättet, heute morgen keine Post auszutragen, stimmt dieser Blödsinn?« »Ja und nein, Sir. Natürlich bringen wir Ihnen auch an diesem Morgen die Post, allerdings wird es etwas später werden als gewöhnlich.« »Und Sie haben dafür eine gute Entschuldigung?« »Offen gesagt, Sir, noch wissen wir hier auf dem Amt nicht genau, was geschehen ist. Aber aus irgendeinem Grund muß bei unseren Zustellern auf dem Weg zum Bestimmungsort eine Verzögerung eingetreten sein.« »Haben die Leute das Gebäude pünktlich verlassen?« »Wenn Sie das Post Office meinen, lautet die Antwort: Ja. Die Schwierigkeit ist für uns, festzustellen, was sich danach ereignet hat.« »Was meinen Sie mit ›ereignet‹? Was, in drei Teufels Namen, kann sich denn da schon ereignen?« »Das ist genau das, was wir versuchen herauszufinden. -216-
Weshalb rufen Sie uns nicht in einer Stunde wieder an? Falls Sie Ihre Post dann noch immer nicht erhalten haben?« Cohen schleuderte den Hörer auf die Gabel. An diesem Tag ging auc h buchstäblich alles daneben.
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KEN FORBES
An diesem Morgen brach die Flut der Anrufe nicht ab. Sie kamen aus allen Teilen von 10022, und alle ließen sich auf einen Nenner bringen: An keinem einzigen Punkt des Zustellbezirks war die Post ausgetragen worden. Ken Forbes hatte die Entscheidung ständig vor sich hergeschoben. Der dritte Anruf von Rhoda Levine beendete schlagartig seine Unentschlossenheit. Ihre ernste, besorgte Stimme und die Tatsache, daß einer der zuverlässigsten Männer des Außendienstes Gegens tand ihrer Beunruhigung war, überzeugten Forbes, daß der Zustellungsablauf an diesem Morgen zumindest spürbar aus dem Rhythmus geraten war. Forbes dachte an Norman Seldon, seinen unmittelbaren Vorgesetzten. An ihn würde er sich wenden. Er war sich darüber im klaren, daß es ihn allerhand Mühe kosten würde, Seldon zu irgendeiner Initiative zu bewegen. Seldon war in seinem Büro. »Guten Morgen, Norman«, begann Forbes vorsichtig. »Hättest du eine Minute Zeit für mich?« »Für dich den ganzen Tag, Ken. Was hast du auf dem Herzen?« »Well, ich glaube, wir haben ein Problem.« »Was meinst du mit ›wir‹? Ich für meine Person möchte mich da ausgeklammert wissen. Ich habe nicht das kleinste Problem. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals ein solches gehabt zu haben. Und ich bin verdammt sicher, daß ich nicht den Wunsch verspüre, ausgerechnet an diesem Montagmorgen mit etwas in dieser Richtung konfrontiert zu werden.« »Okay, Norman, ich werde versuchen, es dir zu erklären. Noch ist es nicht so, daß es Schwierigkeiten gäbe, aber es könnte sein, daß sich das sehr bald ändert. Laß dir berichten, -218-
was geschehen ist.« Seldon biß die Spitze seiner Zigarre ab, spuckte sie aus und sah Forbes mit dem Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit an. Sein Schreibtisch war leer. Bis auf einen riesigen Aschenbecher und zwei säuberlich ausgerichtete Behördenumschläge, die in der rechten oberen Ecke der Tischplatte lagen. »Na gut, Forbes, du scheinst entschlossen zu sein, mit mir zu reden, gleichgültig, ob ich dir zuhören will oder nicht. Bringen wir's hinter uns. So rasch wie möglich, wenn ich bitten darf. Ich habe zwei Berichte für die Jungs im Olymp anzufertigen, und mittags bin ich zu einem Arbeitsessen der höheren Postbediensteten eingeladen.« In knappen Worten berichtete Forbes von den Anrufen am heutigen Morgen, die alle nur den einen Inhalt hatten. Er erwähnte vor allem Rhoda Levine, da Seldon Byron Trask für seinen besten Mann hielt. Forbes hoffte, daß Seldon wenigstens über Trasks rätselhaftes Verschwinden beunruhigt sein würde. »Ich habe den Eindruck, du solltest ein paar Tage ausspannen, Ken!« Seldons Antwort auf Kens Schilderung war beängstigend sanft. »Wir wissen also jetzt, daß eine Reihe Leute sich Sorgen wegen ihrer Post macht. Hast du noch nicht lange genug den Prellbock in 10022 gespielt, um zu wissen, was bei uns am ersten Montag im Monat los ist?« »Natürlich, Norman«, erwiderte Forbes. »Das ist ja auch der Grund, weshalb ich bis jetzt mit einer Meldung gewartet habe. Aber inzwischen haben wir kurz vor zehn, und die Anrufe reißen nicht ab. Das ist ungewöhnlich, um nicht zu sagen anormal. Gut, vergessen wir Trask, vergessen wir meinetwegen auch Bangle. Aber was ist mit Walter Bailey. Seine Tour beginnt gleich hinter der Station, und diese alte Dame, der er die Post bringt, hat ebenfalls schon zweimal angerufen!« Obwohl Seldon jede Art von Verwicklungen verabscheute, -219-
spürte er, daß Forbes' Argumente nicht von der Hand zu weisen waren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu reagieren. Geschickt warf er Forbes den Ball zurück. »Was schlägst du vor, Ken?« »Schwierig, Norman. Eine Patentlösung fällt mir nicht ein. Ich weiß nur, daß wir etwas tun müssen.« Seldon entschied sich für die Lösung, die am wenigsten Mühe machte. »Rufen wir Miß Levine an. Ich möchte mit ihr reden.« Zum erstenmal, seit er das Büro seines Vorgesetzten betreten hatte, entspannte sich Forbes. Jetzt hatte ein anderer den schwarzen Peter in der Hand. Egal, wie die Sache weiterging.
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STEVE BARRINGTON
Als die Nachricht von der Explosion auf der Queensborough Bridge eintraf, hatte Steve Barrington einen Moment lang gezögert. Einfache Raubüberfälle gehörten nicht in die Zuständigkeit des FBI. Aber irgendwie schien die Post mit in den Fall verwickelt, und das gab Special Agent Steve Barrington das Recht zum Eingreifen. Bereits sechs Blocks vor der Brücke war an ein Weiterkommen mit dem Wagen nicht mehr zu denken. Barrington stellte seinen Plymouth vor einem Antiquitätengeschäft ab und lief das letzte Stück zu Fuß. Das Chaos war unbeschreiblich. Barrington sprang auf einen Abschleppwagen, der auf der Gegenfahrbahn der Brückenmitte zujagte, wo die Explosion stattgefunden hatte. Ein Polizeileutnant aus Queens leitete die Untersuchung. »Barrington, Special Agent«, stellte der G-Man sich vor. »Mazzo, Queens Central. Ich hab' Ihnen Bescheid sagen lassen, weil es sich offensichtlich um einen Fall handelt, der in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Sehen Sie sich das an! Überall Tausende von Briefen und was das Furchtbarste ist - mehrere tote oder verletzte Postmänner, die sich ebenfalls im Innern des Trucks befunden haben müssen.« Zum erstenmal hörte Barrington, daß es auch Tote gegeben hatte. »Der Reihe nach, bitte, Lieutenant!« Mazzo nickte. »Nach unserem Eintreffen haben wir uns als erstes die Fahrerkabine vorgenommen. Es war nichts mehr zu machen. Zwei Tote. Auffallend war, daß sie aussahen wie Zwillinge. Dann kümmerten wir uns um die Ladung. Plötzlich stieß einer -221-
meiner Männer einen Schrei aus. Es war grauenhaft! Zwischen den Postsäcken lagen wenigstens sechs Postbediens tete - oder das, was von ihnen übriggeblieben ist. Die zum Teil Schwerverletzten haben wir nach Lenox Hill in Manhattan oder nach Maria Immaculata nach Queens geschafft.« »Werden sie durchkommen?« »Möglich. Rechnen würde ich nicht damit.« »Was ist mit dem New Yorker Paket Service? Hat er einen Vertrag mit der Post?« »Genau kann ich's nicht sagen, bezweifle es jedenfalls. Bisher war mir nicht bekannt, daß NYPS auch Post befördert. Sie haben genug damit zu tun, meiner Frau pünktlich die neuen Blusen und Röcke zu liefern. Auf alle Fälle haben wir in der Garage angerufen, und einer ihrer Leute ist auf dem Weg hierher.« »Okay, ich möchte mit dem Mann reden, sobald er hier auftaucht. Bis dahin... gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für die Explosionsursache?« »Noch nicht, Barrington. Wir haben uns zunächst um die Toten und Verletzten gekümmert.« »Wissen die Zeitungen schon Bescheid?« »Ich glaube nicht. Eine Reihe von Radiogesellschaften ist mit den Sendewagen hier. Aber die meisten werden im Stau steckengeblieben sein.« »Okay, Mazzo, hören Sie zu. Wir tappen also noch völlig im dunkeln, und ich halte es für das beste, wenn wir die Presse vorläufig aus der Geschichte heraushalten. Ich möchte keinen der Burschen am Unfallort sehen. Sagen Sie ihnen, der Truck sei explodiert und wir steckten noch in den Ermittlungen.« »Das Gelände ist abgeriegelt, und wir werden dafür sorgen, daß keiner die Absperrung durchbricht.« Barrington wandte sich ab und ging zu einem Streifenwagen. -222-
Er bat den Officer um die Benutzung des Sprechfunkgerätes. »Hier spricht Barrington vom FBI. Stellen Sie die Verbindung zu Inspektor Hank Leonard für mich her. - Nein, die Nummer weiß ich nicht. Er gehört zum Office des Chief Postal Inspectors. Rufen Sie, falls notwendig, die Auskunft an!« Trotz des grausigen Anlasses stahl sich ein dünnes Lächeln auf Barringtons Gesicht. Hank, dachte er, du wirst dir mit deiner Pensionierung noch etwas Zeit lassen müssen.
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HANK LEONARD
Eingekeilt in den nur noch kriechend sich fortbewegenden Verkehr auf der Eigth Avenue, saß Hank Leonard am Steuer seines Wagens und schnüffelte das nahende Unheil. Der Anruf von der FDR Station war zumindest ungewöhnlich, bei genauerem Hinsehen sogar alarmierend gewesen. In den sechsunddreißig Jahren, die er als Kontrollinspektor im Postdienst tätig gewesen war, hatte er mit Hunderten von Raubund Diebstahlaffären zu tun gehabt. Aber in den ganzen vierhundertundzweiunddreißig Monaten, die er auf der Besoldungsliste der Bundesregierung gestanden hatte, handelte es sich stets nur um den Verlust eines einzigen Paketes oder Wertbriefes. Doch jetzt, am Ende seiner Laufbahn und nur achtundfünfzig Tage vor der Pensionierung, schien sein Image in Gefahr. Es sei denn, Seldon und Forbes litten mit einem Mal unter Halluzinationen. Oder eine ganze Morgenschicht von Zustellern hatte sich entschlossen, in einen wilden Streik zu treten. Leonard hatte Seldon und Forbes hart ins Gebet genommen. Beide schienen besonnene Männer zu sein, und beide waren auf Grund der erdrückenden Zahl der Verdachtsmomente äußerst beunruhigt. Sollten ihre Vermutungen zutreffen, stand der Post von New York ein regelrechtes Desaster bevor. Zunächst hatte Leonard vorgehabt, die Fahrt zum FDRGebäude fortzusetzen. Barringtons Anruf hatte ihn von diesem Entschluß abgebracht. Hank wußte nämlich, daß der New Yorker Paketdienst keinen Kontrakt mit der Post hatte. Danach war das schlimmste zu befürchten, und vor allem war keine Zeit mehr zu verlieren. Hank Leonard schaltete die Sirene ein und bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch das -224-
Verkehrsgewühl. Er hatte Barrington gebeten, bis zu seiner Ankunft auf der Brücke alles unverändert zu lassen. Er werde jedoch zunächst nach Lenox Hill fahren und versuchen, mit einem der Überlebenden zu reden. Seldon bat er, zum Hospital zu fahren und dort auf ihn zu warten. Seit er vor vierzig Jahren als Streifencop in der Bronx Dienst gemacht hatte, war Leonard in keinem Leichenschauhaus mehr gewesen. Er hatte es nie für möglich gehalten, daß er am Schluß seiner Laufbahn im Postdienst noch einmal auf diese Weise an die alten Zeiten erinnert werden könnte.
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STEVE BARRINGTON
Lieutenant Mazzo wollte auf der Brücke mit den Aufräumungsarbeiten beginnen, doch Barrington bat ihn, noch damit zu warten. »Himmel«, stöhnte Mazzo, »wir werden die größte verdammte Verkehrsstockung kriegen, die New York je erlebt hat.« »Macht nichts«, erklärte Barrington schroff. »Jagen Sie einfach eine Ausweichempfehlung hinaus. Die Leute sollen bis auf weiteres die Triborough oder den Queens Midtown benutzen.« »Darüber werden sie nicht allzu glücklich sein.« »Mir liegt mehr daran, daß Leonard glücklich ist. Der Ärmste hat schon genug Ärger am Hals.« »Ärger? Dafür werden wir bezahlt, Baby«, entgegnete Mazzo. »Oder hat man euch das auf der Akademie nicht beigebracht?« »Beigebracht hat man uns eine ganze Menge«, gab Barrington zurück. »Unter anderem auch dies: daß es von entscheidender Wichtigkeit für unsere Arbeit ist, nach Möglichkeit auch mit Klugscheißern, wie Sie einer sind, zurechtzukommen.« Abrupt machte Mazzo auf dem Absatz kehrt und ging zu dem WCBS-Sendewagen hinüber. Barrington wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Hey!« rief er hinter Mazzo her, »ist dieser Typ vom Paketdienst schon aufgetaucht?« »Soweit ich weiß, noch nicht. Meine Männer haben Anweisung, ihn sofort zu mir zu bringen.« »Vielleicht sollten Sie einen Wagen hinschicken, der ihn -226-
abholt!« »Wozu?« fragte Mazzo gereizt. »Der Mann kann hier doch nichts mehr für uns tun.« »Er könnte uns höchstens eine Erklärung dafür geben, wie, zum Teufel, die Post und die Briefträger in einen ihrer Trucks gekommen sind.« »Okay, okay«, lenkte Mazzo ein, »ich schicke einen Wagen hin.« »Ich hab' eine bessere Idee. Wir steigen ein und fahren mit. Bis Leonard eintrifft, gibt's für uns hier sowieso nichts zu tun.« Auf der Fahrt zur NYPS-Garage bemühte sich Barrington, eine Versöhnung mit Mazzo herbeizuführen. »Hey, Lieutenant, nun arbeiten wir schon fast eine halbe Stunde am selben Fall, und ich kenne noch nicht mal Ihren Vornamen.« »Frank. Reimt sich auf Knallfrosch.« »Steve. Reimt sich auf Giftschisser.« Sie lachten beide. »Mir gehen schon mal die Nerven durch«, gab Mazzo zu. »Immer dann, wenn eine Sache mich fertigmacht. Und mich hat lange nichts mehr so fertiggemacht wie diese Geschichte.« »Langsam, Frank, noch wissen wir nichts Genaues. Vielleicht ist es nur ein scheußlicher Unfall, der in wenigen Minuten seine Aufklärung findet.« »Himmel, ich hoffe, Sie haben recht, Steve. Aber es sieht mir nicht danach aus. Bedenken Sie, wir haben acht Tote, einen Lastzug, dessen Trümmer die verkehrsreichste Brücke der Welt versperren, und eine ganze Menge unbeantworteter Fragen.« »Sie sind ein Schwarzseher, Frank. Bisher dachte ich, das sei ein Privileg des FBI.« »Well, wie dem auch sei, wir sind da«, rief Mazzo, während der Streifenwagen in die Einfahrt zum NYPS-Gelände einbog. -227-
Die Szene wirkte verdächtig ruhig. Hof und Gebäude lagen wie ausgestorben. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, drangen vom East River zu den Männern hoch. Wortlos stiegen Barrington und Mazzo aus und schritten auf den Wachraum zu. Als sie die Tür öffneten, sahen sie Dickinson. Aus dem Wachmann war nichts herauszukriegen! »Ich kann nichts sagen«, stammelte er immer wieder. »Hab' versprechen müssen, daß ich den Mund halte...« »Schon gut, schon gut!« unterbrach Mazzo ihn. »Du hast es versprechen müssen. Well, es ist an der Zeit, Mann, dein Versprechen zu brechen. Niemand ist da, der dir was tun könnte. Nein! Stimmt ja gar nicht. Ich bin hier, und ich reiße dir den Arsch auf, wenn du nicht augenblicklich ein paar Antworten ausspuckst!« Während Mazzo sich mit Dickinson beschäftigte, betrat Barrington die Fahrzeughalle und kam sich mit einem Mal wie bei einem Anwesenheitsappell auf dem Hauptpostamt vor. Schlagartig erfaßte sein computerschneller Verstand das Ausmaß der Katastrophe. Mazzo hatte recht. Aber selbst dieser pessimistische Cop konnte nicht ahnen, wie viele unbeantwortete Fragen auf sie warteten. Die gefesselten und geknebelten Postmänner waren kaum zu halten. Keiner von ihnen war verletzt. Niemand hatte sie bedroht oder geschlagen, aber als Barrington ihnen die Knebel abnahm, kannte ihre Wut und Enttäuschung keine Grenzen. Dennoch drang die Ungeheuerlichkeit des Vorgefallenen erst langsam in ihr Bewußtsein. Etwas Unmögliches war geschehen. Keiner von ihnen würde die Erinnerung an diesen Alptraum und an die Rolle, die sie darin gespielt hatten, jemals loswerden. Barrington wartete, bis der erste Schock vorbei war, dann verschaffte er sich mit seiner befehlsgewohnten Stimme Gehör. »Okay, Gentlemen!« rief er, »ich kann ihre Erregung sehr gut verstehen, aber niemand von Ihnen scheint verletzt zu sein, und -228-
wir haben noch einen langen Tag vor uns. Ich möchte, daß Sie irgendwo Platz nehmen und versuchen sich zu beruhigen. Sie werden noch eine Weile hierbleiben müssen. Ich werde sehen, daß Sie schleunigst von Ihren Fesseln befreit werden, lasse Ihnen Kaffee und Sandwiches kommen und dann werden Sie uns und dem Kontrollbeamten der Post eine Zeitlang zur Verfügung stehen müssen.« »Wer sind Sie eigentlich?« wollte einer der Männer wissen. »Entschuldigung, mein Name ist Steve Barrington - FBI.« »Wie haben Sie uns gefunden?« »Eine gute Frage, aber eine, die ich jetzt nicht beantworten kann. Ich muß Sie nämlich einen Moment allein lassen, um eine Meldung an meine Zentrale durchzugeben.« Das Stimmengewirr schwoll wieder an, als Barrington die Halle verließ, um in die Wachstube zurückzukehren. Mazzo hatte Barrington die Arbeit schon abgenommen. Die Meldung war heraus. »Was sagen Sie nun zu dem scheußlichen kleinen Unfall, Steve«, fragte Mazzo. »Sie lesen doch Zeitung, Frank«, erwiderte Barrington gelassen. »Heutzutage irrt sogar das FBI.«
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MYLES TEMPLETON IV
Cleveland White blickte auf seine Jubiläumsuhr, bevor er an die Tür klopfte, die ein schmales Messingschild mit der Aufschrift »Mr. Templeton« trug. »Herein!« Die Einladung klang fest, aber keineswegs lautstark. White trat ein. »Ah, Cleveland, ich warte bereits auf Ihr Kommen. Sie bringen mir sicherlich die Morgenpost!« White zögerte mit der Antwort. »Eigentlich nicht, Mister Templeton. Aus diesem Grund hielt ich es für besser, persönlich zu kommen - anstatt Sie anzurufen. Sie werden es mir nicht glauben, Sir - ich selbst kann es auch kaum glauben -, das gesamte Postzimmer glaubt es nicht...« »Nicht glauben? Was nicht glauben...« Templeton hielt inne. »Verflixt, nun rede ich schon genauso ein verworrenes Zeug wie Sie, Cleveland. Was stottern Sie sich da zusammen?« »Die Post ist noch nicht da. Ich habe bereits beim Postamt angerufen. Sie haben dort keine Ahnung, was los ist, und sagten mir nur, die Post müßte jeden Moment kommen. Aber nichts kam, Mister Templeton, gar nichts. Also habe ich nachgehakt. Immer wieder. Schließlich sagten sie mir, die Zustellung habe sich verzögert, ich solle mich nicht aufregen. Mir paßte das nicht, deshalb rief ich meinen Neffen an, der auf der FDR Station beschäftigt ist. Er machte einen ziemlich aufgeregten Eindruck und erklärte, er dürfe nicht mit mir darüber reden. Worüber, fragte ich ihn. Über den Postraub, sagte er. Endlich rückte er dann doch mit der Sprache heraus. Stellen Sie sich vor, man hat die Postlaster und die Briefträger überfallen, und ist damit über alle Berge. Auf alle Fälle können wir unsere Post vergessen, Mister Templeton!« Templeton ließ sich in den Schreibtischsessel zurücksinken. -230-
Er war aschfahl im Gesicht. »Danke, daß Sie heraufgekommen sind, Cleveland. Sie haben sich völlig korrekt verhalten. Das ist alles.« Templeton war nicht abergläubisch, aber es sah tatsächlich nach einer Verschwörung des Schicksals aus. Dennoch würde er sich nicht unterkriegen lassen. Er richtete sich auf. Entschlossen wählte er die sieben Ziffern, die ihn direkt mit Angus Roywaton verbinden würden. »Angus, bist du es? Guten Morgen, hier spricht Myles.« »Myles! Mein Gott, ich wußte ja gar nicht, daß Ihr ParkAvenue-Anwälte so früh schon auf den Beinen seid. Guten Morgen, alter Junge. Was kann ich für dich tun?« »Wie kommst du auf die Idee, für mich etwas tun zu sollen?« »Ganz einfach. Es ist noch keine zehn. Du benutzt meine Privatleitung. Und du gibst dich reserviert. Was eigentlich nur dann der Fall ist, wenn Myles Templeton einmal auf ein Problem keine Antwort findet.« »Du hast den Beruf verfehlt, Angus. Psychiater hättest du werden sollen, anstatt der einzige District Attorney der Republikaner in Manhattan seit Tom Dewey. Im übrigen hast du mal wieder genau ins Schwarze getroffen. Ich habe eine Frage. Bist du bereit, sie mir zu beantworten?« »Das, Mister Anwalt, kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich Ihre Frage kenne.« »Natürlich, Angus. Also: Hat es heute morgen in Midtown Manhattan einen Postraub gegeben?« Am andern Ende der Leitung herrschte sekundenlange Stille. »Was, zum Teufel, veranlaßt dich, mir eine solche Frage zu stellen, Myles?« »Was? Oder besser wer? Mein Postzimmerclerk, Angus. Er behauptet, aus sicherer Quelle zu wissen, daß die gesamte Post aus diesem Bezirk gestohlen worden wäre. Stimmt das?« -231-
»Mein Gott! Und ich glaubte die Klappe sei noch dicht! Heutzutage kann man wirklich kein Geheimnis mehr bewahren!« »Wolltest du das, Angus?« »Ja. Für kurze Zeit wenigstens, Myles. Solange, bis wir uns ein Bild von der Situation machen konnten. Im Augenblick stehen wir vor einer Fülle verworrener und gegenteiliger Informationen.« »Gegenteiliger Informationen?« »Ja, Myles. Wir haben nicht einmal die kleinste Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Eine mit der Post verschickte Zeitbombe explodiere mitten auf der Queensborough Bridge. Eine zweite im Post Office an der East 55th Street. Zum Glück wurde dort wenigstens niemand verletzt. So, wie es aussieht, gibt's irgendwo noch eine dritte Bombe. Sie soll im Rinnstein vor dem Polizeirevier in der East 54th Street liegen. Die Männer vom Katastrophenschutz sind unterwegs dorthin. Der Allmächtige allein weiß, was wir sonst noch alles finden werden, bis der Tag vorbei ist. Aber ich bin vom Thema abgewichen. Ich wollte dir eine Antwort auf deine Frage geben. So unglaublich es klingen mag: Ja, es spricht tatsächlich alles dafür, daß die gesamte Post in deinem Bezirk heute morgen geraubt wurde. Aber bitte, behalte das für dich. Das FBI und die zuständigen Stellen der Post werden alles tun, um Klarheit in die Sache zu bringen.« »Natürlich werde ich die Auskunft vertraulich behandeln, Angus. Und danke für deine Offenheit.« »War doch selbstverständlich, Myles. Übrigens, weshalb nimmst du einen solch persönlichen Anteil an dem Ganzen?« »Ich warte auf einen sehr wichtigen Brief.« Templetons untertriebene Antwort erregte in dem District Attorney keinerlei Verdacht. Roywaton dachte nicht im Traum daran, sein ehrenwerter Freund und Kollege könnte eines der -232-
Gesetze gebrochen haben, die zu schützen er auf seinen Eid genommen hatte.
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MELANIE HAIGHT
»Post-Kundenservice, Vasquez. Kann ich Ihnen helfen?« »Mister Forbes bitte«, verlangte Melanie. »Ich muß unbedingt mit Mister Forbes sprechen!« »Bedaure, Ma'am, aber Mister Forbes ist im Augenblick nicht zu erreichen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Mister Forbes sagte mir eben, die Post müsse jeden Moment da sein. Das ist aber nicht der Fall.« »Wir wissen es Ma'am, und wir tun unser Bestes, Sie so bald wie möglich zufriedenzustellen.« »Das hört sich ja an, als sei irgendetwas geschehen. Stimmt das? Hat es Probleme gegeben? Ist mit meiner Post etwas passiert?« »Wir sind nicht ganz sicher. Jedenfalls traten heute morgen einige Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der Zustellung auf, deren Ursachen sich unserer Kontrolle entzogen.« »Und was ist mit meiner Kontrolle? Für mich geht's um Leben und Tod?« »Mister Forbes hat Ihnen sicherlich geraten, sich nicht aufzuregen. Sehen Sie, Sie werden es bestimmt noch kein einziges Mal erlebt haben, daß die Post Sie draufgesetzt hat, Ma'am.« »Nein, das nicht«, gab Melanie zu. »Aber ich habe sie auch noch nie so dringend gebraucht wie heute. Und immer fehlen die Dinge mir gerade dann, wenn ich sie am nötigsten brauche.« Melanie ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Der Gedanke, Marks Scheck nicht zu erhalten, ließ sie am ganzen Leibe zittern. Was sollte sie tun? Ohne ihre Tabletten war sie am Ende. Mit fliegenden Fingern wählte sie die Nummer der Argent -234-
Pharmacy. »Argent Pharmacy, Mister Vardamin.« »Guten Morgen, Mister Vardamin«, sagte Melanie mit sanfter Stimme. »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Mit wem spreche ich?« wollte der Apotheker wissen. »Melanie Haight«, antwortete sie. »Erkennen Sie meine Stimme nicht mehr?« »Ah, Miß Haight. Guten Morgen! Nein, ich habe Sie nicht erkannt, wenn ich ehrlich sein soll. Sie klingen irgendwie anders. So weit von hier entfernt, möchte ich sagen.« »Ich bin weit entfernt von hier, Mister Vardamin, und ich werde mich immer noch weiter entfernen, wenn Sie mir nicht helfen. Ich brauche meine Tabletten. Und zwar sofort. Sie haben sicher von der Verzögerung bei der Postzustellung gehört, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Vardamin zögernd. »Es sieht so aus, als sei die Post geraubt worden oder so. Mich juckt das nicht sonderlich, Miß Haight. Die Post bringt mir doch stets nur Rechnungen und Anzeigen der Pharmafirmen.« »Aber mich juckt es, wie Sie es ausdrücken. Der Scheck meines Mannes ist heute fällig. Und ohne ihn kann ich Ihnen die Tabletten nicht bezahlen, die ich dringend brauche. Ich brauche diese Tabletten wirklich, Mister Vardamin. Verstehen Sie das? Ich brauche sie.« »Miß Haight, vielleicht rufen Sie am Nachmittag nochmals an. Dann ist meine Frau hier, und Sie können ein KreditArrangement mit ihr treffen.« »Diese Arrangement würde ich lieber mit Ihnen treffen, Mister Vardamin. Und zwar heute morgen noch. Ohne meine Tabletten überstehe ich diesen Tag nicht mehr. Wollen Sie mein Leben auf dem Gewissen haben?« »Miß Haight, ich habe Ihnen schon früher meine -235-
Schwierigkeiten dargelegt. Ich bin natürlich an Ihrem Wohlergehen interessiert und möchte mir in Ihnen eine zufriedene Kundin erhalten, aber mit meiner Frau muß ich leben, und Sie wissen, wie starrsinnig sie sein kann!« »Was glauben Sie, wie starrsinnig ich sein kann, Mister Vardamin. Warum stellen Sie mir nicht noch einmal dasselbe wie im letzten Monat zusammen und bringen mir die Sachen in die Wohnung. Persönlich. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist dies: Es gibt mehr als eine Möglichkeit, einen Apotheker zu bezahlen.« »Miß Haight, ich muß doch bitten!« Vardamins entrüstete Reaktion amüsierte Melanie und ließ sie gleichzeitig Hoffnung schöpfen. »Ich will Ihnen nicht zuviel versprechen, Mister Vardamin, aber ich glaube, ich wäre einem Menschen noch nie so dankbar gewesen wie Ihnen, falls Sie mir meine Tabletten bringen würden. Meine Freunde wissen, wie großzügig ich sein kann. Und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, ich habe Sie stets für einen besonders anziehenden Mann gehalten. Ich erwarte Sie bei mir!« Es machte Melanie Spaß, sich Vardamins Verwirrung vorzustellen, und sie fragte sich, ob er auf den Köder anspringen würde. Auf den Köder ihres schönen Körpers.
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DIE GREEN SPADES
Bis auf zwei hatten sic h alle Green Spades im Clubhouse versammelt. Die beiden fehlenden Mitglieder der Gang, Jimmy Ryan und Marvin Greene, waren aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Pat Milligan rang nach Worten. »Was ist geschehen? Was, zum Teufel, ist da nur geschehen?« Brock McKenzie, der im Rückspiegel die Stichflamme gesehen hatte, beschrieb die Szene. »Es muß eine Bombe gewesen sein. Sie hatten keine Chance. Der ganze verdammte Truck brach auseinander. Holz- und Blechtrümmer wirbelten durch die Luft. Sie müssen auf der Stelle tot gewesen sein. Greene lebte allein und besaß keine Verwandten, aber die Ryans waren eine große Familie, und Jimmys Tod würde ihnen nahegehen. Sie würden Fragen stellen. »Wenn es so ist, wie du sagst, Brock«, meinte Pat nachdenklich, »gäbe es die Chance, daß man ihre Leichen nicht mehr identifizieren kann.« »Was macht das für einen Unterschied? Wir wissen, wer sie sind, und ich werde nicht zulassen, daß man sie auf dem CityFriedhof wie ein paar unbekannte Penner verscharrt.« »Okay«, sagte Pat, »überlegen wir also, was zu tun ist. Wir können uns wegen ihnen nicht in Gefahr bringen. Ich bin überzeugt, daß sie das nicht von uns verlangen würden. Und lebendig macht es sie auch nicht mehr.« Drückendes Schweigen breitete sich aus. Niemand fand eine Lösung. Schließlich ergriff Pat erneut das Wort. »Okay, viel können wir nicht tun. Im Grunde überhaupt -237-
nichts, wenn man's richtig ansieht. Wir werden also nach Haus gehen und uns ruhig verhalten. Irgendwann heut nacht oder morgen früh wird vermutlich Mrs. Ryan hier auftauchen und nach Jimmy fragen. Ich werde im Clubhouse sein, und ich werde ihr erklären, wir wüßten nicht, wo Jimmy steckte. Allerdings hätte er davon gesprochen, einen Teilzeitjob als Truckfahrer anzunehmen. Das wird sie eine Zeitlang beruhigen, doch eines Tages wird sie zwei und zwei zusammenzählen. Mehr können wir jetzt nicht tun. Bis auf das eine: an Jimmys Beerdigung teilzunehmen.« »Und was ist mit Marvin?« »Marvin lebte allein«, erwiderte Pat schroffer, als beabsichtigt, »und im Tod wird er ebenfalls allein sein. Wenn wir mit ihm in Verbindung gebracht werden, kann das ins Auge gehen. Halten wir uns also aus allem raus, was ihn betrifft. Mir gefällt das ja auch nicht! Aber was sollen wir tun?« »Und was geschieht mit ihrem Anteil?« »Jimmys Anteil werden wir den Ryans geben. Allerdings müssen wir uns eine plausible Erklärung einfallen lassen.« »Und Marvins Anteil?« »Ich werde ihn am Sonntag auf den Kollektenteller legen und Father Maguire die Überraschung seines Lebens bereiten. Es wird der Sonntag sein, an dem wir alle ein Gebet für Marv sprechen sollten.« »Und wer«, fragte Brock McKenzie, »spricht ein Gebet für uns?«
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DAVID KNIGHT
David Knight blickte zum Pan Am Building hinüber. Er langweilte sich. Der Montagmorgen war stets einem feierlichen Ritual gewidmet, dem Durchsehen der Post. Heute fand diese Zeremonie nicht statt, denn heute morgen gab es keine Post. Seine Sekretärinnen rechneten jeden Moment damit, daß die Tür auffliegen und Knight wütend aus seinem Office stürzen würde. Aber der erwartete Ausbruch blieb aus. »Er trägt es mit Fassung«, sagte Marilyn. »Ich dachte schon, er würde wie ein Berserker über uns herfallen.« Barbara, Knights Privatsekretärin, kannte ihn besser. »Vermutlich sitzt er brütend in seinem Sessel und überlegt, wie er das Postamt auf Schadenersatz verklagen kann. Mister Knight ist ein Mann, der nicht vergeben kann. Und einer, der niemals vergißt.«
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MARY PARKE
Mary Parke konnte es nicht mehr länger aushalten. Sie nahm den Aufzug nach unten, durchquerte die Eingangshalle und betrat Dr. Richmonds Praxis. Das Wartezimmer war voller Patientinnen. Die meisten davon waren schwanger, und einige hielten ein plärrendes und quakendes Bündel auf dem Arm. Mary schritt geradewegs auf das Empfangspult zu und fragte die Helferin nach dem Doktor. »Sie werden warten müssen, Miß Parke. Der Doktor hat eine Patientin im Sprechzimmer, und alle diese Frauen waren vor Ihnen da. Ich will sehen, daß ich Sie irgendwann dazwischenschieben kann.« »Bitte, sagen Sie dem Doc, daß ich hier bin«, bat Mary. »Ich bin sicher, er wird mich auf der Stelle sprechen wollen.« Die Helferin war fassungslos, als der Doktor Mary tatsächlich sofort hereinholte. Dr. Richmond verlor keine Zeit. Er rief das Labor an, blickte zu Mary hin und beendete lächelnd das Gespräch. »Alles in bester Ordnung, Mary. Sie haben die Ergebnisse am Freitag auf die Post gegeben. Ich nehme an, die Post ist nur noch nicht hier.« Mary bedankte sich überschwenglich und verließ erleichtert die Praxis. Wahrscheinlich war sie der einzige Mensch im ganzen Zustellbezirk 10022, der sich keine Sorgen machen würde, falls die geraubte Post nicht mehr auftauchen würde.
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IRF
Nancy Hong hatte die Bombendrohungen durchgegeben, Philip Sage rief nun die drei Konsulate an. »Seltsam, sie reagierten, als sei nichts geschehen.« »Das ist unmöglich«, rief Nancy ungläubig. »Alle drei Pakete können doch nicht falschgelaufen sein!« »Vielleicht tun sie nur so, als sei nichts geschehen.« »Nein, dazu sind sie viel zu blöd«, entgegnete Nancy. »Wir haben versagt, Philip, und es wird uns nichts übrigbleiben, als nochmals von vorn zu beginnen.« »Von vorn beginnen?« »Ja, und beim nächstenmal, das garantiere ich dir, wird nichts schiefgehen.« »Woher willst du das wissen?« »Ganz einfach. Wir werden die Bomben persönlich abliefern, Philip. Unsere Genossen zählen auf uns, und wir haben Mist gebaut. Wir haben die Sache der Revolution verraten.« Acht Postangestellte und zwei Green Spades würden Nancy Hongs Meinung nicht teilen.
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HANK LEONARD Noch bevor er das Lenox Hill Hospital erreichte, erhielt Leonard eine Antwort auf die Frage, die er den Überlebenden zu stellen gedachte, falls es überhaupt welche geben sollte. Leonard durchquerte den Central Park, als Barrington sich meldete. Die Neuigkeiten, die der FBI-Agent für ihn hatte, waren so bestürzend wie unglaublich. Leonard, der maßgeblich an der Ausarbeitung der Sicherheitsbestimmungen für die Postzustellung beteiligt gewesen war, konnte und wollte nicht begreifen, daß an diesem Morgen auf die Post ein Anschlag verübt worden war, den er für völlig undurchführbar gehalten hatte. Er erinnerte sich an die Sicherheitskonferenz in Washington, auf der einer der Teilnehmer den Vorschlag eingebracht hatte, die Postlaster in den Großstädten mit Sprechfunk auszurüsten. Schallendes Gelächter ließ den Mann verstummen. Genauso war der Vorschlag, die einzelnen Zusteller wie Streifencops mit Walkie-Talkies auszustatten, vom Plenum abgewiesen worden. Die Route eines jeden Briefträgers lag fest und wurde gleichsam von Anfang bis Ende unter den Augen der Öffentlichkeit zurückgelegt. Außerdem galt es als feststehende Tatsache, daß die Bedrohung der postalischen Sicherheit von innen kam. So hatte man bereits beim Bau des FDR-Gebäudes ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem installiert. Keiner der zahlreichen Angestellten wußte, wann und auf welche Weise er unter Kontrolle stand. Rund um die Uhr patrouillierte Sicherheitspersonal durch die Gänge und Hallen. Von unsichtbaren Kanzeln kontrollierten Aufsichtsbeamte Menschen und Maschinen in den Sortier- und Verladehallen. -242-
Diebstähle waren selten, und die Übeltäter wurden rasch gefaßt. Die Möglichkeit eines Überfalls auf einzelne Trucks oder Zusteller wurde natürlich nicht ausgeschlossen. Aber Aktionen größeren Stils erschienen derart unwahrscheinlich, daß die Sicherheitsmaßnahmen im Außendienst eher den Charakter des Zufälligen besaßen und weniger effektiv waren als in den Tagen des Pony Expreß. Damals fuhr wenigstens ein bewaffneter Begleitmann mit. Noch immer völlig verwirrt, stieg Leonard vor dem Lenox Hill Hospital aus dem Wagen. Er haßte Krankenhäuser, und sein Besuch sollte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. »Ich hab' nie zuvor einen Postinspektor gesehen«, sagte die Schwester am Empfang, als Leonard seine Legitimation vorzeigte. »Was macht ihr Jungs eigentlich? Rückt ihr den Leuten auf die Pelle, die das Geld für ihre Telefonrechnung unfrankiert in den Briefkasten werfen?« »Nein, Ma'am«, erwiderte Leonard. »Briefe, die nicht ordnungsgemäß freigemacht sind, werden außerdem gar nicht zugestellt.« »Aha? Was macht ihr denn?« »Wir sorgen dafür, daß die Beförderung Ihrer Post möglichst reibungslos funktioniert, Ma'am.« Leonard zuckte zusammen, kaum daß er die Worte ausgesprochen hatte. Zu spät war ihm bewußt geworden, welcher Abgrund im Augenblick zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte.
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MELANIE HAIGHT
Melanie liebte ihren Körper. Sie genoß die Lust, die er ihr und ihren Liebhabern schenkte. Sex bedeutete für sie Freiheit und Abenteuer, niemals etwas, das sie als eine Art Ware ansah. Auch Mark gegenüber hatte sie Sex niemals als Waffe, Druckmittel oder Belohnung eingesetzt. Ihr verstecktes Angebot an Vardamin bedrückte sie. Doch der Apotheker erschien nicht, wie Melanie erleichtert und zugleich mit wachsender Verzweiflung feststelle. Sie würde nicht gezwungen sein, das beschämende Versprechen einzulösen. Gleichzeitig jedoch schwand ihre letzte Hoffnung, in den Besitz der lebenswichtigen Tabletten zu gelangen. Natürlich hätte sie Mark anrufen können. Aber das wäre nicht weniger erniedrigend gewesen, als Mister Vardamin ins Bett zu locken. Sie konnte die Bar im Erdgeschoß aufsuchen und sich dort einen Geschäftsmann mit gefüllter Brieftasche angeln. Sie konnte sich ins Bett legen und hoffen, nie wieder aufzuwachen. Sie konnte aber auch - wie schon die ganze Zeit - untätig die Hände in den Schoß legen und auf das Wunder warten, das sich nie ereignen würde. Gelähmt vor Angst und Erschöpfung verharrte sie in ihrer qualvollen Lethargie, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß dieser Zustand nicht mehr lange andauern würde.
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MYLES TEMPLETON IV
Samuel Hodgkins, stellvertretender Vizepräsident einer New Yorker Großbank, saß mit seinem Vetter, Myles Templeton, beim Lunch. Der große, mit kostbaren Möbeln ausgestattete Raum strömte eine Atmosphäre der Ruhe und des gediegenen Reichtums aus. Der äußere Rahmen ließ durch nichts den bedrückenden Anlaß dieser Zusammenkunft erahnen. Umständlich - so als wolle er die Dauer des Essens und der unverfänglichen Unterhaltung noch weiter ausdehnen - wickelte Hodgkins eine Zigarre aus ihrer Stanniolhülle, befeuchtete sie und setzte sie sorgfältig in Brand. Fünfundvierzig Minuten lang waren beide Männer peinlich darauf bedacht gewesen, das Problem, das sie zusammengeführt hatte, in ihren Gesprächen zu vermeiden. Das Problem bestand in 212000 Dollar, die sich aus unentschuldbaren Gründen zur falschen Zeit auf dem falschen Konto befanden. Myles, der spürte, wie unangenehm es seinem Vetter war, zur Sache zu kommen, öffnete die Büchse der Pandora. »Es war ein ausgezeichnetes Frühstück, Sam«, begann er. »Aber wir wissen beide, daß uns ein anderer Anlaß heute morgen zusammengeführt hat. Ich möchte dich deshalb jetzt ohne Umschweife fragen: Welche Frist bleibt mir noch?« »Well, Myles.« Hodgkins räusperte sich. »Wie dir bekannt ist, werden sämtliche Konten unserer Bank turnusmäßig in einem Monatsauszug erfaßt. Nicht einmal dem Papst in Rom zu Gefallen könnte ich auch nur einen einzigen Posten in diesem Auszug unter den Tisch fallenlassen. Diese Kontoauszüge werden am nächsten Montag erstellt, und sie enthalten sämtliche -245-
Transaktionen bis zum Geschäftsschluß am Freitag nachmittag. Du hast also bis Freitag um drei die Möglichkeit, die Sache auszugleichen. Einschränkend muß ich allerdings bemerken: Falls der erste Transfer bis dahin unentdeckt bleibt. Alle Treuhandkonten sind nämlich einer in unregelmäßigen Abständen erfolgenden Kontrolle durch unsere interne Kontenüberwachung unterworfen. Dennoch glaube ich, daß du es bis Freitag schaffen kannst. Nach Ablauf dieses Tages kann ich dir nicht mehr helfen. Und offen gesagt, Myles, bis dahin kann mir niemand helfen. Wir sitzen im selben Boot, und wenn es sinkt, ersaufen wir beide.« Templeton fühlte sich äußerst unbehaglich. Er hatte sich und seinen Vetter in eine höllische Lage gebracht. »Es ist die verdammte Post, Sam«, versetzte er kleinlaut. »Ich hatte einen Scheck zu bekommen, der den besagten Transfer mehr als abgedeckt hätte. Aber du weißt, was geschehen ist.« »Natürlich weiß ich das, Myles. Auch bei uns in der Bank richtete das Ausbleiben der Post ein totales Chaos an. Wir konnten uns bislang über die Höhe der entstandenen Verluste nicht mal ein annähernd genaues Bild machen. Du hast ja keine Ahnung, was nicht alles an Bargeld und Wertpapieren mit der Post geschickt wird.« »Könnten wir das Durcheinander nicht irgendwie für uns ausschlachten?« »Leider nicht, Myles. Das weißt du besser als jeder andere. Erstens fand die Kontenverschiebung vor dem Postraub statt, und zweitens ist jede Entnahme von Treuhandvermögen zu mißbräuchlichen Zwecken ungesetzlich - egal, mit welcher Begründung es geschieht.« »Der größte Teil des Kontos blieb unangetastet, aber ich werde gezwungen sein, es diese Woche nochmals um einen weiteren Betrag zu verkürzen, wenn ich die Gehälter an meine Leute auszahlen will.« -246-
»Das, Myles, geht in gar keinem Fall. Ich versuche wirklich, dir gefällig zu sein. Ohne Rücksicht auf mein persönliches Risiko. Aber du kannst nicht verlangen, daß ich mich zum Narren mache - nicht einmal für meinen Lieblingscousin.« Myles machte einen Rückzieher. »Du wirst das Geld bis Freitag um drei haben, Sam. Beruhige dich!« »Beruhigen! Das ist leichter gesagt, als getan. Aber ich werde diese Woche mit dir durchstehen. Bei dieser Gelegenheit: Weshalb bittest du deinen Klienten nicht, dir einen Zweitscheck auszustellen?« »Das hab' ich bereits getan«, erwiderte Templeton, »doch man ist auf meine Bitte nicht eingegangen. Nicht für die nächsten zehn Tage. Die Leute werden es keineswegs bedauern, über ihr Geld noch weitere zehn Tage verfügen zu können. Ich hoffe nur, daß sie in dieser Zeit nicht Bankrott machen werden.« Hodgkins zeigte sich beunruhigt, als er in das aschfahle Gesicht seines sonst so rosig und blühend aussehenden Vetters blickte. »Schlag dir doch solche Gedanken aus dem Kopf, Myles. Die Firma wird dich und mich überleben. Sie ist gewissermaßen eine feste Einrichtung unserer Stadt.« »Du hast recht, Sam, natürlich. Laß es mich anders ausdrücken: Ich hoffe, daß ich in zehn Tagen noch im Geschäft bin.« Beim Abschied nahm Hodgkins sich vor, seinen Vetter von nun an wenigstens einmal am Tag anzurufen. So, wie er es auch mit Grandmother hielt. Wenn Templeton sich dann meldete, konnte man zumindest einer Sache sicher sein: daß er noch am Leben war.
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JACK COHEN
Jack Cohen dachte an Anita Bryant und an Bernie Feldman, und plötzlich packte ihn erneut eine unbändige Wut. Für die Sängerin, die für Florida-Orangen Reklame machte, war ein Tag ohne Orangensaft wie ein Tag ohne Sonne. Für Jack Cohen war ein Montag ohne Bargeldeinnahmen eine Folter. Die einzige wirkliche Folter außer der seiner Ehe. Und der einzige Mensch, der das wußte, war Bernie Feldman, Cohens Expartner und gefährlichster Konkurrent. Die Idee, Bangles Montagspost abzufangen, hätte durchaus dem Gehirn Bernie Feldmans entspringen können, nur gab das in diesem Fall wenig Sinn, denn auch Feldmans Office lag in N. Y. 10022. Dennoch würde Cohen etwas tun, was er die ganzen drei Jahre seit Feldmans Weggang nicht mehr getan hatte: Er würde ihn anrufen. Noch ehe Cohen sein »Hallo!« in die Muschel geschrien hatte, wußte Feldman, wen er am andern Ende der Leitung hatte. »Cohen, es kann doch nur einen einzigen Grund für deinen Anruf geben«, dröhnte Feldman. »Du mußt dich in der gleichen Lage befinden wie ich. Und du möchtest sicher sein, daß mich die Geschichte genauso fertigmacht wie dic h. Well, du Mistkerl, das zu deiner Beruhigung: Wenn mir plötzlich mitten auf dem Times Sqare ein Ei aus der Hose gefallen wäre, ich könnte mich nicht elender fühlen. Zufrieden?« Cohen mußte unwillkürlich lächeln. »Du hast recht, Bernie, und ich bin froh, dich angerufen zu haben. Es tut gut, wieder mal deine meschugge Stimme zu hören. Du warst schon verrückt, als du damals in den Sack -248-
gehauen hast, und du bist es auch heute noch...« »Verrückt, aber zufrieden«, unterbrach ihn Feldman. »Sehr zufrieden! Kein Partner, kein Ärger. Statt dessen nichts als bündelweise Bargeld in der Post. Und die ersten Eingänge werden abgezweigt für ein Vergnügen, das du besser kennst als sonst jemand außer mir, nicht wahr, Baby?« Cohen versuchte, das Thema zu wechseln. »Was hat man dir bei der Post gesagt?« »Nichts, Cohen, gar nichts. Sie hielten sich daran, ich sollte mir keine Sorgen machen. Well, die Kerle können mich mal. Ich mache mir nämlich Sorgen, und zwar ganz gewaltige. Ich hatte am Wochenende zwei Anzeigen im TV Guide gestartet, und heute sollte ich die ersten Zahlen bekommen. Übrigens, deine Strumpfhosenwerbung ist eine verdammt heiße Sache. Mein Kompliment, du Bastard!« »Man tut, was man kann, Bernie«, erwiderte Cohen geschmeichelt. »Aber du kannst dich trösten, auch wir haben in verschiedenen regionalen Fernsehzeitschriften Werbung gemacht und benötigen unbedingt genaue Zahlen.« Im Versandhausgeschäft war der Montag der kritische Tag der Woche. Die Menge der Montagspost gab Auskunft über Erfolg und Mißerfolg der ganze n Woche. Außerdem war es der Tag, an dem die Inserenten die Auswertung der Anzeigenaktion erhielten. »Wenn die Post nicht bald kommt, werde ich mich entweder besaufen oder mir irgendeine scharfe Puppe aufreißen.« Wie Cohen quälte auch Feldman die Vorstellung, die mit Banknoten gefüllte Montagspost könnte verlorengegangen sein. »Mir steht nur noch eine dieser beiden Möglichkeiten offen«, erwiderte Cohen deprimiert. »Wann hast du aufgehört mit Saufen?« fragte Feldman. -249-
»Du meinst, seit wann ich das Bumsen drangegeben habe?« »Mach keine Scherze, Baby!« rief Feldman dröhnend. »Ich mache keine Scherze, Bernie. Ich bin einfach nur zu der Überzeugung gekommen, daß Anita - du erinnerst dich doch an Anita - ihr Geld nicht wert ist.« Feldman brach in schallendes Gelächter aus. »Dein Fehler, Baby, daß du immer noch mit Sheila verheiratet bist. Sieh mich an! Es genügt vollauf! Und ich mache jede Wette, daß Janice längst nicht so viel kostet wie Anita. Dabei ist Janice obendrein noch eine ausgezeichnete Köchin.« »Ich hab' nie behauptet, daß du nicht zu leben verständest, Bernie. Das war vielleicht unser Kardinalproblem. Wir waren ein ausgezeichnetes Gespann bei der Arbeit, aber nur einer wußte mit seinem Geld wirklich etwas anzufangen. Wie dem auch sei, Ex-Partner, heute sitzen wir beide wieder mal gemeinsam in einem Boot. Was gedenkst du zu tun?« »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.« »Well, Bernie, es hat gutgetan, noch mal mit dir zu reden. Wie wär's, wenn wir irgendwann in den nächsten Tagen gemeinsam essen gingen?« »Essen? Um Gottes willen, sprich mir nicht davon! Ich hab' das Gefühl, sobald ich aufgelegt habe, fällt mir das ganze Frühstück aus dem Gesicht. Mach's gut, du Bastard! Und hör auf den Rat eines Freundes: Fang endlich an, dir was im Leben zu gönnen.« Jack Cohen ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Feldman hatte recht. Es war höchste Zeit, sich was im Leben zu gönnen. Aber wie sollte das gehen - ohne daß er die Einnahmenhöhe der Montagspost kannte?
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DIENSTAG - DONNERSTAG JEFF GRANT Hinter zugezogenen Vorhänge n hockten Jennifer und Jeff Grant auf Bergen von Postsäcken, die sich im Innern des Wohnmobils teilweise bis unter die Decke türmten. Sie trugen Handschuhe. Eine Vorsichtsmaßnahme, die auch von Rudman und Van Della befolgt wurde. »Ene mene mine mu, Postsack auf und Postsack zu«, sang Jennifer ausgelassen. »Welchen öffnen wir zuerst, Grant?« Grant gab keine Antwort. »Grant, hörst du nicht?« Jeff wandte sich zu Jennifer um. »Was hast du gesagt?« »Ich sagte, welchen Postsack wir zuerst öffnen sollen. Was ist mit dir? Du wirkst so abwesend.« »Ich mußte an Knight denken.« »Willst du den Mistkerl nicht endlich vergessen? Was haben wir mit ihm noch zu tun?« »Du hast recht, Jen. Welchen Sack hast du ausgesucht?« »Den blauen da drüben!« Jennifer zeigte auf einen Postsack, der die ersten frischen Kratzer aufwies. Dann löste sie hastig die Verschnürung und machte sich über den Inhalt her. Ihre Wangen glühten wie im Fieber. »Sei nicht so zimperlich!« sagte Jeff. »Uns interessieren nur Scheine und Wertpapiere. Worte gehen uns nichts an.« »Natürlich, Jeff«, stimmte Jennifer zu. »Das ist mir auch -251-
lieber so. Geld ist neutral. Worten haftet etwas Persönliches an. Ich werde keinen einzigen dieser Briefe lesen.« Sie begannen damit, die Briefumschläge aufzureißen. Dabei hielten sie sich strikte an die sich selbst auferlegten Regeln. Nur einmal sah Jennifer, wie Jeff einen braunen, mit ausländischen Marken versehenen, offiziell wirkenden Umschlag beiseite legte. Sie war versucht, ihn daraufhin anzusprechen, ließ es aber sein. Vielleicht hatte es nichts Besonderes mit diesem Brief auf sich. Falls doch, würde Jeff schon noch mit ihr darüber sprechen. Jennifer war überrascht, wie viele Leute ihr Geld mit der Post verschickten. Zahlreiche Briefe enthielten Banknoten. Eltern schickten Geld an ihre Kinder, Liebhaber an die Geliebte, Käufer an den Verkäufer. Sie hatte den Postsack erst zur Hälfte geleert und kam bereits auf 800 Dollar in bar. »In meinem nächsten Leben werde ich ins Versandhausgeschäft einsteigen«, sagte sie aufgeregt. »Dies hier ist dein nächstes Leben«, antwortete Jeff ruhig. Fieberhaft setzten sie ihre Tätigkeit fort. Gegen Mittag zog Jeff erste Bilanz. 86 504 Dollar in bar, für knapp 900 Dollar Briefmarken, 26000 Dollar an Barschecks oder nicht eingetragenen Gutscheinen. Nur acht nicht übertragbare Wertpapiere waren darunter gewesen. Dabei hatten sie erst etwa ein Fünfzigstel der Beute gesichtet. Mit Hilfe seines Taschenrechners stellte Grant die Hochrechnung auf. Das Resultat war derart verblüffend, daß er seine Berechnungen dreimal wiederholte. »Wenn mir kein Irrtum unterlaufen ist«, verkündete er endlich, »werden wir in dieser Nacht auf vier Millionen sechshundertsiebzigtausend Dollar schlafen. Und wenn Bob und Cal mit ihren Zahlen ähnlich liegen, haben wir eine Summe vo n siebzehn Millionen Dollar unter uns aufzuteilen.« -252-
Ursprünglich hatte er mit drei bis vier Millionen gerechnet, und plötzlich war der Betrag um das Dreifache gestiegen. »Und ich hätte geschworen, einen Mann nie wegen seines Geldes zu heiraten.« »Kleine Mädchen sollten nicht schwören.« »Das ist absolut richtig, Mister Grant. Sie sollten den ganzen Tag nichts anderes tun als Geld zählen.« »Das war doch schon immer deine Lieblingsbeschäftigung.« »Zugegeben. Allerdings kenne ich noch schönere Dinge, Mister Grant. Betrachten wir das Geldzählen einfach als eine Art Vorspiel. Übrigens wäre für den Fall etwas Wichtiges zu bedenken.« »Und das wäre?« »Daß Handschuhe nur hinderlich sind, wenn wir uns lieben.«
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JORGE VEGA Die Nachricht vom Postraub schlug in der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Die Politiker versprachen eine schnelle und zufriedenstellende Klärung. Dabei hatte niemand eine Ahnung, wovon er eigentlich redete. Die Männer, die sich auf dem 17. Polizeirevier versammelt hatten, wußten das, und ihr Gefühl der Ohnmacht wurde durch dieses Wissen nur noch verstärkt. Die Zuständigkeiten in diesem Fall überschnitten sich, und um sämtliche Kräfte sinnvoll zu koordinieren, hatte man das 17. Polizeirevier zur Aktionszentrale erklärt. Leonard war verantwortlich für die Arbeit der Postinspektoren, Barrington leitete die Ermittlungen des FBI und Jorge Vega, der ehrgeizige junge Detective, vertrat die New Yorker Stadtpolizei. Vega war gleich nach seiner Rückkehr von Sheepshead Bay aufs Revier gerufen worden, und er hatte sich nicht einmal die Zeit gelassen, seine zwei Blaufische in die Gefriertruhe zu legen. Die ganze Nacht war er auf der Suche nach Augenzeugen unterwegs gewesen. Vega sah seine Chance im Befragen der Straßenpassanten, jener Leute also, die ein Postinspektor nicht kannte, und die einem FBI-Agenten gleichgültig waren. Inzwischen war es ihnen gelungen, aus zahlreichen Bruchstücken den Ablauf des Verbrechens zusammenzufügen. Und das, trotz der mageren Zeugenaussagen. Die Leute vom Paketdienst konnten kaum mit brauchbaren Angaben dienen. Nur Dickinson lieferte drei detaillierte Personenbeschreibungen, die jedoch durch die geschickte Tarnung der Täter wieder an Bedeutung verloren. Jeder der -254-
Posträuber hatte eine riesige Sonnenbrille und einen buschigen Schnurrbart getragen, und jeder hatte jeden mit Charlie angeredet. Die Terrororganisation IRF hatte die Verantwortung für den Bombenanschlag übernommen, und das FBI machte sich an die Verfolgung dieser Spur. Leonard und seine Mitarbeiter konzentrierten sich auf die Befragung der Zusteller, und Vega leitete die Operationen der Streifencops. »Also, Gentlemen, wie weit sind wir mit unseren Ermittlungen?« Eine rhetorische Frage, auf die Vega keine Antwort erwartete. Sie standen vor einem ebenso tollkühnen wie erfolgreichen Verbrechen und vor einer Spur, die auf der einen Seite der Queensborough Bridge begann und auf der andern Seite endete. Sie besaßen nicht den kleinsten konkreten Hinweis auf die Täter und - was das schlimmste war - nicht einmal den Hauch einer Ahnung, in welcher Richtung sie zu suchen hatten. Allerdings hielt Barrington auch nichts von Ahnungen. Er verließ sich ausschließlich auf die Daten, die der Computer ausspuckte. Allerdings saß er genauso auf dem trockenen wie seine Kollegen. »Also, Gentlemen, was bleibt unterm Strich?« Vega versuchte mit seiner Frage, die immer hitziger werdende Debatte zwischen Leonard und Barrington über den Einsatz elektronischer Hilfsmittel bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit zu unterbrechen. Als beide zu ihm aufsahen, erklärte er: »Ich gehe jetzt nach Hause. Ich hab' mir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, mir reicht's jetzt. Ich muß mich unbedingt ein paar Stunden hinhauen. Und außerdem muß ich meine Blaufische einfrieren, wenn sie nicht grün werden sollen.« Er machte eine Pause. Dann fuhr er grinsend fort: »Übrigens, ich kann Ihnen wenigstens eine freudige Nachricht geben, daß an diesem Morgen die Post wieder pünktlich zugestellt wurde.« -255-
Er wandte sich zur Tür. Mit einem gequälten Lächeln blickten Leonard und Barrington ihm nach.
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BOB RUDMAN
Rudmans Ladung war noch ergiebiger als die von Grant, und nach Rudmans Berechnungen wuchs die Endsumme inzwischen auf zwanzig Millionen an. »Du bist mit einem Sechs-Millionen-Dollar-Mann verheiratet«, verkündete er am Telefon seiner Frau, die sich gänzlich unbeeindruckt zeigte. »Na und?« war die knappe Antwort. »Ich freue mich über deine Begeisterung, Diane. Da sieht man doch, wozu man lebt.« »Und wann, mein millionenschwerer Ehemann, sehe ich dich wieder?« »Morgen. Ich werde in aller Frühe den Wagen abliefern und dir danach eine kleine Überraschung bereiten.« Die Überraschung bestand in einem Bündel Zwei-DollarScheinen, die einen Betrag von genau 1848 Dollar ergaben. Sie stammten aus der Wohltätigkeitssendung »Aus zwei mach fünf!«, die von einer New Yorker Radio-Station gesponsert wurde. Aus jedem Paar Zwei-Dollar-Scheinen machten sie fünf Dollar und sandten das Geld an eine vom Einsender bestimmte Wohlfahrtseinrichtung in New York. Für neunhundertvierundzwanzig dieser Scheine war das Rudman-Heim zu einer solchen Wohlfahrtseinrichtung geworden. »Bitte, Diane, gib das Geld im Moment noch nicht aus«, bat Rudman seine Frau, die sofort mit dem Nachzählen der Scheine begann, bevor sie das Bündel in ihrer Wäscheschublade verschwinden ließ. »So, wie geht's nun weiter?« fragte sie, ohne das Geschenk -257-
auch nur mit einem Wort zu erwähnen. »Wann kommst du nach Hause?« »In ein paar Tagen, Liebes. Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem öffnen der Post, außerdem wollen Cal, Jeff und ich uns noch ein letztes Mal treffen. Bald ist alles vorüber. Oder besser gesagt, bald kann alles beginnen. Unser Leben beginnt noch einmal von vorne, nur mit dem einen wundervollen Unterschied, daß wir diesmal ungeheuer reich sein werden!« »Du schnappst noch über!« warnte Diane. »Es wird nicht lange dauern, bis wir wieder arm sind. Wir haben nämlich ein Abonnement auf die Armut, wie Sie wissen müßten, Mister Sechs-Millionen-Dollar-Mann. « Rudman blickte seine Frau an, dann wanderte sein Blick langsam und wie abschiednehmend durch die in blassen Farben gehaltene Wohnung. Ein untrüglicher Spiegel für Dianes Wesen. Beide waren eintönig und langweilig. Ein paar Dinge, die ihm in den Jahren des Eingesperrtseins mit Diane ans Herz gewachsen waren, hätte er gerne mitgenommen. Aber er verzichtete darauf und wandte sich zum Gehen. »Wann werde ich dich sehen, Mister Armer-Mann-reicherMann?« Er blickte über die Schulter und sah seine Frau an, ohne zu antworten. Doch auch auf diese Weise war alles gesagt, was zwischen ihnen noch zu sagen gewesen war.
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CAL VAN DELLA
Van Della litt unter Depressionen, seit er das Wohnmobil auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Früher als erwartet, stellte sich bei ihm das altgewohnte Leerlauf-System ein. »Okay, Baby, das wäre geschafft, aber wie soll's nun weitergehen? Dich auf deinen Lorbeeren ausruhen, kannst du nicht. Du wirst dir also schleunigst eine neue Beschäftigung einfallen lassen müssen«, murmelte er. Nach langem Nachdenken kam er zu folgendem Resultat: Der Größenordnung nach mußte es sich um eine Sache wie den Postraub handeln, das Risiko durfte geringer sein. Der Schlüssel zu seinem neuen Plan, so glaubte er, steckte irgendwo zwischen den Stapeln von Post, die sich in seinem Wohnwagen rings um ihn herum auftürmte. Während Rudman sich mit Geldzählen vergnügte und die Grants die Wonnen der Liebe genossen, erregte sich Van Della an der Idee der kreativen Erpressung, wie er es nannte. Ungeahnte Möglichkeiten taten sich vor ihm auf. Die Möglichkeiten enger und engster Kontakte mit den Opfern, deren Briefe er geöffnet und gelesen hatte. Er war sich darüber im klaren, daß er mit äußerster Vorsicht vorzugehen hatte. Wahrscheinlich würde er mit der Durchführung warten müssen, bis Gras über den Postraub gewachsen und bis die Beute ausgezählt und verteilt worden war. Aber schon die Aussicht auf einen neuen Raubzug genügte, um Van Della mit einem Schlag von seinen Depressionen zu befreien.
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MALCOLM WILEY
Wenn Grant, Rudman und Van Della geahnt hätten, mit welcher Verbissenheit sich Malcolm Wiley für die Posträuber interessierte, wäre es mit ihrer Selbstzufriedenheit zu Ende gewesen. Wiley war einer der Geschädigten des Postraubs, und die Tatsache, daß dadurch die Verbindung mit seinem Schweizer Nummernkonto und mit seinem Klienten im Mittleren Osten abgebrochen war, hatte ihn derart in Rage versetzt, daß er wild entschlossen war, die Quelle seines Ärgers ausfindig zu machen und zu vernichten. Von diesem Augenblick an suchte Wiley den Kontakt mit seinem Briefträger Phil Morena. »Sie müssen Phil Morena sein«, begrüßte er den Postmann, als dieser ein wenig außer Atem und stets zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe heraufkam. »Und Sie müssen Mister Wiley sein«, erwiderte Morena freundlich. Sie musterten einander, und jeder verspürte ein deutliches Unbehagen beim Anblick des andern. »Sagen Sie, Phil, wo genau hat man Sie gestern morgen gekidnappt? Oder hatten Sie gerade Ihren freien Tag?« »Ich wünschte, es wäre so gewesen, Mister Wiley. Sie schnappten mich, kurz bevor ich um die Ecke bog. Ich konnte einfach nicht glauben, was da geschah, und um ehrlich zu sein, es ist mir immer noch völlig schleierhaft. Ich bin ziemlich reaktionsschnell, normalerweise. Aber mir blieb nicht die Zeit, an Flucht oder etwas Ähnliches zu denken. So überraschend geschah das alles. Eine Blitzaktion, sage ich Ihnen.« »Wurden Sie von der Polizei befragt, nachdem alles vorüber war?« -260-
»Du lieber Himmel, ja, Mister Wiley. Dreimal hat man mich ausgequetscht. Zunächst drehten die Cops mich durch die Mangel, dann kam ein Typ vom FBI, und zuletzt versuchte ein Postinspektor sein Glück. Ich habe mir Mühe gegeben, mich an alles zu erinnern, mir jede einzelne Sekunde ins Gedächtnis zurückzurufen, aber das einzige, woran ich mich erinnern konnte, war dies, daß die Kerle mir verdammt cool vorkamen. Mit einer Ausnahme: Später in der NYPS-Garage war einer, der einen seltsam fanatischen Eindruck auf mich machte.« »War er der Anführer?« »Er und noch zwei andere. Sie gaben die Befehle. Die Jungs, die uns gekidnappt haben, die in den NYPS-Uniformen, sahen mehr nach Befehlsempfängern aus.« »Was meinen Sie, Mister Morena, was sind das für Leute, die einen solchen Raubzug planen und in die Tat umsetzen?« »Interessant, daß Sie diese Frage stellen, Mister Wiley. Meine Frau hat mich das nämlich auch schon gefragt. Mein erster Gedanke war, eigentlich könne jeder auf diese Idee kommen. Aber dann sagte ich mir, daß es Leute sein müssen, die diesen Bezirk wie ihre Hosentasche kennen. Sie müssen also in 10022 wohnen oder zumindest hier arbeiten. Aber das werden wir wohl niemals erfahren. Wenn sie mich fragen, sind die Kerle längst über alle Berge.« Wiley schüttelte den Kopf. Nach seiner Meinung war es nicht so einfach, die Riesenbeute aus der Stadt zu schaffen. »Übrigens, Mister Wiley, weshalb interessieren Sie sich so für die Sache?« »Ich bin einer der Beraubten, Phil, das ist alles. Die Geschichte läßt mich nicht los, denn ausgerechnet gestern erwartete ich einige ziemlich wichtige Briefsendungen.« »Vielleicht sind sie heute dabei.« »Das hört sich ja so an, als wüßten Sie das schon, Phil.« -261-
»Na ja, vielleicht ist das Erwartete in der heutigen Post, falls Sie einen Brooks-Brothers-Katalog als etwas Wichtiges ansehen.« »Ich dachte immer, ein Zusteller interessiert sich nicht für die Sachen, die er austrägt.« »Ah, Mister Wiley, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen. Sie versuchen, einen aufs Glatteis zu führen.« »Ah, Mister Morena, auch Sie scheinen es faustdick hinter den Ohren zu haben, und wissen vielleicht mehr, als Sie sagen. Vielleicht haben Sie gestern noch einiges gesehen, wollen aber nicht mit der Sprache heraus. Sollten Sie Ihre Meinung ändern, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mich wissen ließen. Auch was Sie sonst über die Sache in Erfahrung bringen, sollten Sie mir nicht vorenthalten - Gespräche unter den Kollegen, Vermutungen, Beobachtungen, Gerüchte, und wären sie noch so abwegig. Verstehen wir uns?« Morena blickte Wiley an wie ein Hoteldiener, der auf sein Trinkgeld wartet. Wiley lächelte. »Es wird Ihr Schaden nicht sein, Phil. Glauben Sie mir!« Morenas Haltung entspannte sich. Er war sicher, daß er für seine Informationen nicht schlecht bezahlt werden würde. Dennoch hatte er gleichzeitig das Gefühl, daß er im Begriff war, einen Job beim Teufel persönlich anzunehmen. »Es war mir ein Vergnügen, Mister Wiley.« »Ganz meinerseits, Phil. Sie werden an mich denken, nicht wahr?« »Mister Wiley«, entgegnete der Postmann, »ich bin sicher, daß ich dieses Gespräch mit Ihnen niemals vergessen werde.«
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DIANE RUDMAN
Eine solche Menge Geld hatte Diane Rudman zum letztenmal an ihrem Hochzeitstag in der Hand gehabt. Bob hatte damals die bankfrischen Scheine aus den schmierigen Umschlägen herausgenommen, die seine Vettern und Onkel ihm in die feuchten, fest zupackenden Hände drückten. Auf Bobs Wunsch hatte Diane die Scheine anschließend zwar gezählt, war sich jedoch über die Höhe der Geldgeschenke nie wirklich klargeworden. Schon damals verdächtigte sie Bob, einen beachtlichen Teil davon in die eigene Tasche abgezweigt zu haben. Immer wieder ließ sie die Zwei- Dollar-Scheine raschelnd durch ihre Finger gleiten, doch die Endsumme blieb die gleiche: 1848 Dollar. Diane dachte an den Pelzmantel, den sie kürzlich in einem Schaufenster gesehen hatte. Ihr Entschluß stand fest. Bob hatte sie zwar gebeten, vorerst mit dem Ausgeben der Banknoten noch zu warten, aber wann hatte sie jemals auf die Worte ihres Ehemannes gehört? Der Mantel kostete 1850 Dollar, und Diane würde die fehlenden zwei Dollar und die hundertachtundvierzig für die Luxussteuer wohl oder übel aus ihren eigenen Ersparnissen zulegen müssen. Der Gedanke, bald im Besitz eines Zweitausend-Dollar-Mantels zu sein, ließ sie wohlig erschauern. Die Verkäuferin blickte leicht verwirrt, als Diane ihr mit dramatischer Geste fünfhundert Zwei- Dollar-Banknoten auf den Ladentisch blätterte - die Hälfte des Mantelpreises. »Sie müssen ja ein riesiges Sparschwein aufgebrochen haben«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »So ähnlich ist es«, erwiderte Diane. »Es ist meine -263-
Pelzmantelkasse, und Sie sind die Glückliche, die den gesamten Inhalt erhält. Das he ißt, zunächst ist es nur die Hälfte. Den Rest zahle ich, wenn Sie die Änderungen fertig haben. Und bitte, tun Sie mir den Gefallen, und zählen Sie das Geld erst später nach. Ich bin in Eile.« Diane war davon überzeugt, daß die Barzahlung keinerlei Verdacht erregte. Es war bekannt, daß Frauen den Betrag für den heißersehnten Pelzmantel auf die abenteuerlichste Weise zusammenbrachten. Sie ahnte nicht, daß die Zwei-DollarScheine sie in die größte Gefahr bringen sollten.
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DIE GREEN SPADES Helen Ryan wußte nic ht viel über die Green Spades, aber sie wußte, daß ihr Jimmy niemals auf die Idee kommen würde, New York zu verlassen, ohne ihr ein Wort davon gesagt zu haben. Allerdings hatte er kürzlich ein seltsames Zeug zusammengefaselt, und sie fragte sich, ob dies irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte. Er hatte ihr gesagt, er werde in der Nacht von Sonntag auf Montag nicht zu Hause schlafen. »Wir ziehen schon in aller Herrgottsfrühe los. Deshalb übernachten wir alle zusammen im Clubhouse.« »Wer ist wir?« hatte sie gefragt. »Wir ist wir. Die Green Spades.« »Oh, diese verdammte Gang, die deine zweite Familie geworden ist!« »Wie oft muß ich dir noch sagen, wir sind keine Gang? Gangs führen Krieg und sind ständig in irgendwelchen Ärger verwickelt.« »Nun nimm mal die Backen nicht so voll, James Xavier Ryan junior! Seit du zehn bist, ist doch keine Woche vergangen, in der du nicht in irgendeinen Ärger verwickelt warst.« »Das wird anders von jetzt ab, Mom. Keinen Ärger mehr, glaub es mir. Laß nur den morgigen Tag vorbei sein.« »Was soll das heißen?« »Nichts, Mom. Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen. Ich will nur sagen, daß alles in bester Ordnung ist. Zum Beweis dafür werde ich morgen höchstwahrscheinlich schon am Nachmittag wieder zu Hause sein.« Da Jimmy ein ziemlich gestörtes Verhältnis zur Zeit hatte, -265-
war Mrs. Ryan nicht sonderlich beunruhigt gewesen, als er auch nach den Elf- Uhr-Nachrichten am Montag abend noch nicht wieder erschienen war. Aber als sie am Dienstag morgen ein unbenutztes Bett vorfand, begann sie sich ernstlich Sorgen zu machen. Bisher hatte sie das Clubhouse nur von außen gesehen. Jimmys Warnung, es sei nur für Clubmitglieder bestimmt, hatte sie von einem Besuch abgehalten. Doch nun war sie entschlossen, das Versäumte nachzuholen. Pat Milligan öffnete ihr die Tür. »Guten Morgen, Pat.« »Guten Morgen, Mrs. Ryan. Wie geht's Ihnen heute?« »Nicht so gut, fürchte ich. Deshalb bin ich hier, Pat. Darf ich reinkommen?« »Natürlich, Mrs. Ryan. Fühlen Sie sich ganz wie zu Haus.« »Laß mich gleich zur Sache kommen, Pat. Ich mache mir Sorgen wegen Jimmy. Er ist zwei Tage und Nächte nicht mehr daheim gewesen, und ich hab' keine Ahnung, wo er sein könnte. Ich hatte gehofft, ihn hier zu finden oder wenigstens von euch zu erfahren, wo er stecken kann.« »Tut mir leid, Mrs. Ryan, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« »Das ist sonderbar, denn als er am Sonntagabend die Wohnung verließ, sagte er mir, er gehe ins Clubhouse. Ihr würdet am Montagmorgen in aller Frühe losziehen. Wohin, hat er mir allerdings nicht verraten.« Pat war enttäuscht über Jimmys Geschwätzigkeit, aber als er in Mrs. Ryans hellblaue Augen schaute, konnte er Jimmy verstehen. Ein Blick in diese unschuldsvollen, gütigen Augen, die von einem feinen Geflecht winziger Sorgenfalten umgeben waren, genügte. Diese Frau konnte man nicht anlügen. Gewaltsam riß Pat Milligan sich zusammen. -266-
»Das ist richtig, Mrs. Ryan. Eine Reihe von uns waren am Montag den ganzen Tag zum Picknick weg, und sie übernachteten hier im Club, um sicher zu sein, daß niemand sich verschlief. Jimmy kam nicht mit, aber er machte eine Bemerkung, als habe er einen Job in Aussicht.« Diese Auskunft deckte sich mit Jimmys sonderbaren Andeutungen, dennoch blieb Mrs. Ryan skeptisch. »Weißt du, wohin er wegen des Jobs gegangen ist?« »Nein, Mr. Ryan.« »Und du weißt bestimmt, daß er nicht doch noch mitgekommen ist?« »Ganz bestimmt«, Mrs. Ryan. Weshalb sollte ich es Ihnen sonst nicht sagen?« »Ihr Jungs habt manchmal so seltsame Ideen im Kopf, Pat.« »Der Eindruck ist nicht ganz richtig, Mrs. Ryan. Es ist einfach so, daß wir hier oben gerne zusammenhocken. Und Jimmy war immer ein feiner Kumpel.« Mrs. Ryan stutzte. »Was soll das heißen ›war‹? Das klingt ja, als sei er nicht mehr da?« »Nein, nein, Mrs. Ryan, nun malen Sie den Teufel mal nicht an die Wand! Natürlich ist Jimmy noch da. Wir wissen im Moment nur nicht, wo er steckt. Sie kennen ihn doch. Er wird schon wiederkommen. Und zwar genau dann, wenn Sie ihn am wenigsten erwarten.« »Das ist wahr, Pat«, gab Mrs. Ryan zu, erleichtert bei dem Gedanken an Jimmys Unzuverlässigkeit. »Es tut mir leid. Pat, ich wollte euch nicht zu nahe treten. Es ist nur... ich bin so voller Unruhe, weißt du.« »Das verstehe ich sehr gut, Mrs. Ryan, und ich werde eine Nachricht für Jimmy hinterlassen, daß er Sie anrufen soll, sobald er zurück ist. « »Danke, Pat. Ich bin sicher, du hast recht. Jimmy ist immer -267-
gut für eine Überraschung. Wenn er nur wüßte, was er mir damit antut!« Pat Milligan spürte ein Zittern, als er Mrs. Ryan nachschaute, die vorsichtig die steilen Treppenstufen hinabstieg. Er hatte sie angelogen, aber er zweifelte daran, ob er dies noch ein zweites Mal fertigbringen würde.
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JEFF GRANT
Der Gang vor Schalter 22 im Wettgebäude auf dem Roosevelt-Rennplatz war als Treffpunkt vorgesehen. Als sich Grant, Rudman und Van Della dem Ort ihres Rendezvous näherten, konnte keiner von ihnen die Eigenart seiner Persönlichkeit verleugnen. Van Della, das Haar dick mit Pomade beschmiert und die Augen blasiert zusammengekniffen, schlenderte durch die dichten Menschentrauben mit der Arroganz des geborenen Wettsiegers. Rudman bewegte sich zögernd. Sein Blick huschte gehetzt über die Köpfe der Menge. Er erinnerte an einen Buchhalter, der soeben das todsichere Wettsystem gefunden hat und in der panischen Furcht lebt, jemand wolle ihm sein Geheimnis in letzter Minute entreißen. Grant trug einen Rollkragenpullover. Er wirkte völlig harmlos. Jemand, den der Zufall hergeführt hatte, der anstatt beim Basketballspiel seines Colleges auf dem Rennplatz gelandet war. Nur weil er die falsche Abzweigung genommen hatte. Doch trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinung glichen sie sich in einem Punkt wie ein Ei dem ändern. Jeder von ihnen war von einer starken inneren Spannung erfaßt, brannte darauf, die beiden anderen endlich wiederzusehen und von ihnen zu erfahren, daß ihr verbrecherischer Plan gelungen war. Rudman rannte im Erdgeschoß des Wettgebäudes regelrecht in Grant hinein. Er murmelte eine Entschuldigung, bevor er den Mann erkannte, mit dem er zusammengestoßen war. »Tu so, als seien wir uns fremd!« flehte er. »Hier unten kann ich mich nicht mit dir sehen lassen!« -269-
Grant lachte. Dann sagte er: »Zum Teufel, welchen Unterschied macht es, ob wir uns hier oder ein Stockwerk höher treffen, Bob? Niemand weiß, daß wir hier sind, und niemand beobachtet uns.« Jetzt lachte Rudman. »Das stimmt nur, wenn du das FBI, die City Police und die Schnüffler von der Post außer acht läßt.« »Du verstehst schon, was ich meine, Bob«, entgegnete Grant. »Niemand beobachtet uns hier in diesem Menschengewühl. Aber ich will nicht, daß du die Nerven verlierst. Ich werde also weitergehen und mich ein Stockwerk höher mit dir treffen. Tut mir leid, alter Junge. Paß beim nächsten Mal besser auf, wohin du rennst!« Van Della wartete bereits, lässig an einen Pfeiler gelehnt, auf dem Gang im Obergeschoß. Sein Blick hing fasziniert an der Gestalt eines schlanken dunkelhaarigen Mädchens, das einem von Charlies Engeln glich. Er dachte an Olivia, die Frau, mit der er zuletzt geschlafen hatte. Die aufreizende Gegenwart der schönen Schwarzhaarigen erinnerte ihn erneut mit schmerzhafter Deutlichkeit an die unfreiwillige Enthaltsamkeit der letzten Tage. Eine Situation, die er schleunigst ändern würde. Van Della hatte auch schon seine Wahl getroffen, obwohl die Auserwählte von ihrem Glück noch keine Ahnung hatte. Sie wartete nur mit steigender Ungeduld auf den Brief, den Van Della beim Aussortieren gefunden hatte. »Sie sind mit Ihren Gedanken aber auch nicht beim Geschäft, Mister!« Grants unerwartete Anrede ließ Van Della zusammenfahren. »Ah, Mister Grant, guten Abend«, erwiderte Van Della, der sich rasch wieder gefaßt hatte. »Im Gegenteil, ich denke an nichts anderes. Nur daß die Kleine da drüben eben ein erfreulicherer Anblick ist als die Kerls hinter den Wettschaltern.« -270-
»Das allerdings«, stimmte Grant zu, wobei ihm wieder einmal bewußt wurde, wie selten ihn der Anblick einer attraktiven Frau wirklich zu reizen vermochte. Jennifer genügte ihm einfach. Rudman unterbrach das Geplänkel der beiden. Wieder rempelte er Grant heftig an, diesmal jedoch mit voller Absicht. »Leute wie du sind schuld daran, daß die Unfallversicherung dauernd steigt«, sagte Grant lächelnd. »Hallo, Bob!« grüßte Van Della, »du siehst wirklich nicht aus wie das Mitglied des raffiniertesten Verbrechertrios, das sich jemals auf dem Roosevelt-Rennplatz ein Stelldichein gegeben hat.« Rudman blickte auf und sah die beiden nacheinander an. »Habt ihr das Gefühl, jemand beobachtet uns?« fragte er mit gehetzter Stimme. »Los, bilden wir einen Kreis, damit wir sie nicht aus den Augen verlieren!« »Sie? Wen meinst du damit?« wollte Van Della wissen. »Sie? Ganz einfach, Cal. Sie sind alle, die nicht wir sind!« erklärte Rudman flüsternd. »Okay, Jungs, kommen wir zur Sache«, drängte Grant mit leichter Schärfe in der Stimme. »Ich schätzte, wir haben etwas über fünfzehn Millionen kassiert, vielleicht sogar knapp siebzehn. Davon liegen bei Jen und mir rund fünfeinhalb.« »Damit kannst du richtig liegen«, bestätigte Rudman. »Aber ich glaube fast, wenn wir fertig sind mit Zählen, werden wir auf zwanzig Millionen kommen.« Van Della, der noch nicht einmal mit Zählen begonnen, sondern sich bisher auf andere und wesentlich interessantere Entdeckungen konzentriert hatte, schwieg. »Und du, Cal«, fragte Grant ungeduldig, »wie ist es bei dir?« »Bestens, Jeff. Ich nehme an, ihr beiden habt den Vogel abgeschossen.« »Was soll das heißen?« fuhr Jeff ihn an. »Wir sind hier nicht -271-
beim Wettschießen, sondern beim Aufstellen einer Bilanz. Also, wie hoch schätzt du deinen Anteil?« »Um ehrlich zu sein, ich hab' noch nicht na chgezählt«, gestand Van Della. »Bin erst beim öffnen und Sortieren.« »Was?« rief Rudman aus. »Das ist ja 'n Ding! Wir haben einen Postangestellten unter uns!« Van Della gab sich unbeeindruckt. »Na und? Ist das was Schlimmes? Ich jedenfalls bin mit meinem Brötchengeber durchaus zufrieden.« »Laßt den Blödsinn«, mischte Grant sich ein. Dann fragte er zu Van Della gewandt: »Du weißt also wirklich nicht, wieviel du in deinem Wagen hast?« »Nein«, gestand Van Della. »Aber was regt ihr euch auf? Ich werde schon nic ht unterm Schnitt liegen. Nach dem, was ich eben gehört habe, ist jeder von uns ein Sechs-Millionen-DollarMann.« »Ich bin enttäuscht, Cal«, erklärte Grant, »aber nicht überrascht. Überrascht war ich nur, als du am Montag morgen tatsächlich auf der Bildfläche erschienst.« »Ich hab' noch nie einen Zug verpaßt«, erwiderte Van Della lächelnd. »Ich bin der lebende Beweis für die Richtigkeit der These, daß nette Jungs nie unter den Verlierern sind.« »Zug verpaßt, wenn ich das schon höre!« stieß Rudman wütend hervor. »Wir spielen hier keine Eisenbahn, mein Junge. Aber wenn du die ganze Sache unbedingt mit einem Spiel vergleichen willst, dann mit einem, in dem es um höchste Einsätze geht. Doch das begreifst du wohl nie, fürchte ich!« »Ich werd' mir Mühe geben, Baby«, sagte Van Della ruhig. »Du magst ja recht haben, aber was soll diese Hetze?« Wieder mischte sich Grant ein. »Reg dich ab, Bob. Irgendwie muß ich Cal zustimmen. Bei diesem Treffen heute sollte es noch nicht um endgültige Ergebnisse gehen. Wir wollten einen ersten -272-
Kontakt aufnehmen oder einander einfach nur in den Arm kneifen, um sicher zu sein, daß wir es tatsächlich geschafft haben.« »Na schön! Wie also soll's weitergehen?« fragte Rudman schroff. »In einer Woche sehen wir uns wieder. Nicht früher. Es sei denn, es tritt ein Notfall ein, dann kennt jeder von uns die Nummer, die er anzurufen hat. Beim nächstenmal allerdings weiß jeder von uns das endgültige Ergebnis - und zwar bis auf den Penny genau. Dann werden wir unsere und die Anteile der Spades ausrechnen. Jeder wird sein Geld nehmen und damit verschwinden. Keine Kontakte mehr untereinander. Wir sind füreinander gestorben. Und für den Rest der Welt. Für ›sie‹, wie Bob es ausdrückte.« Grant machte eine Pause. »Noch irgendwelche Fragen?« »Eine noch«, sagte Van Della, »wann wirst du mich endlich in den Arm kneifen?«
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DONNERSTAG UND DANACH HANK LEONARD Die Festangestellten erwiesen sich als die brauchbarsten Zeugen. Ihre Aussagen waren genau und wurden stets mit offensichtlicher Ernsthaftigkeit vorgetragen. Beim Kreuzverhör machten sie nur selten einen Rückzieher, und den Beamten, die die Untersuchung leiteten, begegneten sie mit freundschaftlichem Respekt. Leonard war sicher, daß es der Beobachtungsgabe und dem Erinnerungsvermögen seiner Kollegen zu verdanken sein würde, falls es zur Aufklärung des Verbrechens käme. Barrington gehörte zu der neuen Generation von FBIAgenten, die mit dem Computer verheiratet waren und glaubten, seine blitzschnell ausgeworfenen Informationen brächten innerhalb kürzester Zeit die Lösung. Gewiß, ohne Informationen ging es nicht, das Problem bestand nur darin, daß es kaum etwas gab, womit man den Computer speichern konnte. Denn nicht einmal die hochmodernen Zauberschränke der Firma IBM spuckten Resultate aus, falls man sie vorher nicht mit harten Tatsachen gefüttert hatte. Vega, der auf der Straße aufgewachsen war und jahrelang Erfahrung als Streifencop besaß, setzte auf den Mann aus dem Volk. Leonard fand diese Einstellung sympathisch, versprach sich aber keinen besonderen Erfolg davon. Die Leute von der Straße waren wenig zuverlässig, ihre Phantasie spielte ihnen zu oft einen Streich. Natürlich stieß man durch sie hier und da auf eine Spur, die sonst nie entdeckt worden wäre, aber das war in Leonards Augen nur die Ausnahme, die die Regel bestätigte. -274-
Normalerweise hatte der Postinspektor sein Büro im Gebäude des General Post Office auf der Eighth Avenue, aber für die Dauer der Untersuchung bezog er einen Raum in der FDR Station. Um ihn zu kennzeichnen, nahm er ein Stück gelben Karton, malte darauf mit großen Lettern den Namen »Charlie« und befestigte es außen an der Tür. Das Schild erwies sich als »Eisbrecher«, wie Leonard es nannte. Fast jeder der zur Zeugenaussage eintretenden Postmänner machte eine scherzhafte oder amüsierte Bemerkung darüber. Dennoch kam die Untersuchung nicht von der Stelle. Trotz des erstaunlichen Erinnerungsvermögens seiner Kollegen gelangte Leonard nicht über die bereits bekannten Tatsachen hinaus. Die Männer waren überrumpelt worden. Alles, was sie in den wenigen Sekunden zwischen Festnahme und Knebelung wahrgenommen hatten, war ein Mann in der Uniform des New Yorker Paket-Service mit dunkelgetönter Sonnenbrille und falschem Schnurrbart gewesen. Sein Komplize hatte ihn Charlie genannt. Pete Tulloch brach den Bann. Tulloch hatte sich in Korea eine zeitweilige Erblindung zugezogen und in dieser Zeit die Fähigkeit entwickelt, Menschen an ihren Stimmen, an typischen Redewendungen oder Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks wiederzuerkennen. Inzwischen hatte Tulloch das Augenlicht längst wiedergewonnen. Seit zwanzig Jahren war er im Postdienst tätig, und die damals erworbene Fähigkeit machte ihn zu einem besonders wertvollen Zeugen. Leonard sah dem Eintretenden an, daß ihn etwas beschäftigte. »Sie lachen gar nicht über mein Schild vor der Tür«, beklagte er sich lächelnd. »Ich schleppe was mit mir rum, Mister Leonard. Und das seit dem Tag des Überfalls.« -275-
»Als erstes möchte ich, daß Sie Hank zu mir sagen, Pete. Zum zweiten: Was beschäftigt Sie?« »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich werde den Gedanken nicht los, eine der Stimmen schon mal gehört zu haben.« »Wo, Pete?« »In der NYPS-Garage, kurz bevor die Kerle sich in höchster Eile aus dem Staube machten.« »Können Sie die Stimme beschreiben?« »Das ist der leichte Teil der Aufgabe. Schwierig wird es, wenn ich versuche, der Stimme ein Gesicht zuzuordnen. Um die Wahrheit zu sagen, ich tappe hier völlig im dunkeln.« »Gut, lassen wir das für den Augenblick, Pete. Erzählen Sie mir, was geschehen ist!« »Also, ich hatte die Einschreibebriefe und Wertsendungen bereits aussortiert und in die Gesäßtasche gesteckt, als ich festgenommen wurde. Die beiden Männer in dem NYPS Truck hatten das übersehen. Doch in der Garage bemerkte einer der Anführer die Briefe, und...« »Entschuldigen Sie, Pete, wenn ich unterbreche, aber wie kommen Sie dazu, ihn für einen der Anführer zu halten?« »Er gab die Befehle, kontrollierte jeden von uns, sah die Briefe bei mir und zog sie aus meiner Tasche. Er war wütend, daß die Uniformierten sie übersehen hatten. Er stieß mich gegen die Wand des Fahrzeugs, obwohl ich mich weder zur Wehr gesetzt noch ihn angegriffen hatte. Er sah rot. Nur weil ich zu ihm sagte, wenn er die Briefe an sich nehme, dann müsse er auch unterschreiben. Es rutschte mir einfach so heraus. Eine Art Scherz aus Notwehr. Seine Reaktion kam überraschend. Wuterfüllt schrie er mich an: ›Ich unterschreibe niemals mehr für etwas!‹ Ich entschuldigte mich, aber alles, was ich hören konnte, war, daß er schwer atmend die Halle verließ, offensichtlich immer noch aufgewühlt durch den Zwischenfall.« -276-
»Das war's?« »Ja, das war's, Hank. Ich gebe zu, besonders vielversprechend klingt es nicht. Dennoch bin ich der Meinung, es könnte, was draus werden, wenn es mir gelingen würde, die Stimme mit einem Gesicht in Zusammenhang zu bringen. Außerdem ist es nicht nur die Stimme, die mir bekannt vorkommt. Es sind auch die Worte. Ich bin sicher, daß der Mann schon einmal so oder ähnlich zu mir gesprochen hat - zu einer Zeit, als er mir ohne Sonnenbrille und falschen Schnurrbart gegenüberstand.« Leonard spürte die Erregung, die ihn erfaßte. »Wenn das so ist, müssen Sie ihn schon einmal für irgendetwas um seine Unterschrift gebeten haben.« »So ist es.« »Haben Sie jemals Schalterdienst gemacht?« »Nein, ich war immer nur als Briefträger eingesetzt, Hank. Wie ich vor zwanzig Jahren schon zu meiner Frau sagte: Ich mag den Außendienst.« »In welchen Zustellbezirken haben Sie gearbeitet, Hank? Nur in 10022 oder auch anderswo?« »Nur in diesem Bezirk.« »Das heißt also: Falls Sie diesem Mann jemals begegnet sind, dann muß es hier im FDR-Bezirk gewesen sein.« »So ist es!« »Ich denke, wir haben eine Spur, Pete.« »Noch nicht ganz, Hank. Erst müßte ich eine Antwort auf die Frage finden, wo das gewesen ist. Aber sosehr ich mir das Gehirn zermartere, das einzige, was dabei herauskommt, sind ein Brummschädel und eine Reihe schlafloser Nächte. Gar nicht zu reden von einer Frau, die mich am liebsten auf die Wohnzimmercouch verbannen würde, bis ich mit der Sprache herausgerückt bin.« »Sagen Sie Ihrer Frau, daß man ihr unter Umständen noch -277-
eine Medaille dafür überreichen wird, weil sie weiter mit Ihnen das Schlafzimmer teilt.« »Wüßte nicht, wozu das gut sein sollte nach sechs Jungs.« Die Erregung des Jägers hatte Leonard ergriffen. Gleichzeitig fühlte er sich frustriert, da er keine Möglichkeit sah, Tullochs Gedächtnis nachzuhelfen. Eins jedoch stand fest: Einer der Posträuberbosse schien aller Wahrscheinlichkeit nach im Postbezirk 10022 zu wohnen oder zu arbeiten. Das würde Jorge Vegas Theorie bestätigen, daß die meisten Kriminellen ihre Verbrechen dort begehen, wo sie sich am besten auskennen, nämlich in den Vierteln, in denen sie aufgewachsen sind. »Legen Sie sich heute nacht nur nicht auf die Couch, Pete. Und sehen Sie zu, daß Sie end lich wieder einmal etwas Schlaf finden. Ausgeschlafen sieht man vieles anders. Ich bin sicher, es wird Ihnen noch einfallen. Wenn Sie sich nicht an das Gesicht erinnern, dann wenigstens an die Umstände, unter denen Sie dem Kerl das erste Mal begegnet sind.« »Werde mir Mühe geben, Hank.«
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MELANIE HAIGHT
Melanie rechnete nicht mit einem Anruf. Der schrille Klingelton des Telefons ließ sie zusammenfahren wie unter einem Peitschenhieb. Beim sechsten Läuten nahm sie ab. »Melanie Haight?« »Ja, wer ist dort?« »Das ist aber keine sehr freundliche Eröffnung eines Gesprächs!« »Das stimmt. Ich habe keinen Grund freundlich zu sein, bevor ich nicht weiß, mit wem ich spreche.« »Sie sprechen mit einem Freund.« »Und Sie sprechen in Rätseln. Hören Sie, ich lege auf, wenn Sie jetzt nicht sofort Ihren Namen nennen.« »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun.« Die Stimme hatte plötzlich einen drohenden Unterton angenommen. Melanie begann, am ganzen Leib zu zittern. »Das klingt ebenfalls nicht sehr freundlich, Mister. Im Gegenteil, es hört sich fast schon wie eine Drohung an.« »Am besten, wir beginnen unser Gespräch noch mal ganz von vorne, Melanie. Und zwar so richtig locker vom Hocker, was meinen Sie? Also! Hallo, spreche ich mit Melanie Haight?« »Sie hören sich nicht an, als seien Sie noch jung genug, für diese Art von Albernheiten. Kommen Sie also zur Sache! Vorausgesetzt natürlich, Sie belästigen mich jetzt nicht mit irgendwelchen keuchend hervorgebrachten Obszönitäten anstelle dieses blödsinnigen Geschwafels.« »Nichts liegt mir ferner, als Sie zu belästigen, Melanie - jetzt -279-
nicht und in Zukunft nicht. Ich wollte Ihnen nur einige Dinge mitteilen. Weshalb hören Sie mir also nicht zu? Ich bin sicher, Sie werden allerhand Fragen haben, wenn ich fertig bin.« Melanie empfand Angst und Verwirrung zugleich. Die Stimme klang tief und angenehm, aber die Worte waren rätselhaft, und der drohende Unterton war nicht zu überhören. Doch was hatte sie zu verlieren? Sie entschloß sich zuzuhören. »Okay, keine Antwort ist eine gute Antwort. Glauben Sie mir, Melanie, es war klug von Ihnen, nicht aufzulegen. Sie werden bald wissen warum. Übrigens klingt Ihre Stimme noch erfreulicher, als ich erwartet habe, und ich kann Ihnen verraten, daß meine Erwartungen ziemlich hoch waren.« Melanie schwieg, und der Unbekannte fuhr fort: »Ich weiß, daß Sie Probleme haben, Melanie Haight, und daß Sie auf einen Brief warten. Ich weiß auch, daß dieser Brief Ihnen aus Ihren Schwierigkeiten heraushelfen kann. Und ich weiß, wie verzweifelt sie auf Hilfe hoffen. Aber ich weiß noch mehr! Ich weiß, daß Sie sich nicht verkaufen wollen, um aus Ihrer Notlage herauszukommen, und daß Sie bereit sind, alles zu tun, damit Ihr Geheimnis ein Geheimnis bleibt.« Melanie schwieg noch immer. Nach einer kurzen Pause drang die wohltuende Stimme des Anrufers erneut aus dem Hörer. »Also, Melanie, ich möchte Ihnen helfen, und ich möchte nicht, daß Ihr Geheimnis bekannt wird. Aber dazu ist es notwendig, daß wir beide Vertrauen zueinander haben und Freunde werden. Und dies, schöne Lady, ist der Grund, weshalb ich anrufe.« Die Worte des Mannes trafen Melanie unvorbereitet wie Faustschläge. »Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll«, brachte sie unter Tränen hervor. »Ich soll also weitersprechen?« fragte die Stimme sanft. -280-
»Ja«, rief Melanie gehetzt. »Spricht dort Mark? Bist du es, Mark? Verdammt, sag endlich, ob du Mark bist!« »Was, glaubst du denn, wer ich bin?« »Nein, zum Teufel! Natürlich bist du nicht Mark!« Melanie stockte einen Moment. »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben! Ich bin schon völlig durcheinander!« »Oh, ich wollte dich nicht aufregen. Wenigstens nicht jetzt am Telefon und nur mit Worten.« Melanie begann erneut zu zittern. Doch diesmal nicht aus Angst. »Sehen Sie, ich hab' doch recht gehabt! Das Ganze dient nur dazu, mir einige schweinische Dinge zu sagen.« »Schweinische Dinge? Wie kommst du darauf? Mir geht's um was anderes - wenn ich auch das, was du mit schweinisch bezeichnest nicht ausschließen möchte.« Der sanfte und verständnisvolle Klang seiner Stimme beruhigte Melanie. »Für einen Perversen hören Sie sich gar nicht so übel an. Fast normal, kommt es mir vor. « Mit einemmal ging Melanie ein Licht auf. »Allmächtiger, jetzt weiß ich, wer Sie sind!« »Wirklich?« »Sie sind einer von den Posträubern, nicht wahr?« »Bin ich das?« »Natürlich, wie sollten Sie sonst etwas von dem Brief wissen. Haben Sie ihn tatsächlich?« »Ist das so wichtig? Wichtig ist doch nur, daß du ihn erhältst und alles andere, worauf du außerdem noch wartest, nicht wahr?« »Ja! Was verlangen Sie von mir?« »Wie ich schon sagte: Zunächst möchte ich, daß wir Freunde -281-
werden. Danach sehen wir weiter. In keinem Fall möchte ich, daß du irgendetwas für mich tust, was du selbst nicht willst. Was du willst, weiß ich. Du willst, daß ich niemandem dein Geheimnis verrate.« »Ja. Aber noch lieber ist mir der Scheck.« »Ich weiß, Melanie, und ich weiß auch warum. Ich weiß eine ganze Menge von dir, nur eins weiß ich nicht: Ich weiß nicht wie du aussiehst. Wie wär's, wenn du mir helfen würdest, diese Wissenslücke zu füllen?« »Da gibt's nicht viel zu füllen. Ich bin ausgemergelt, müde und total mit den Nerven runter. Und außerdem frage ich mich, weshalb ich über Ihren Anruf nicht noch viel mehr beunruhigt bin.« »Weil du längst gespürt hast, mit welch einem prächtigen Jungen du es zu tun hast.« »Seit wann rauben prächtige Jungens die Post anderer Leute?« »Du fängst ja schon wieder damit an, die falschen Schlüsse zu ziehen. Übrigens, da fällt mir ein, Baby, bist du denn gar nicht neugierig auf mein Aussehen?« »Vermutlich schon, aber ich bin noch nicht soweit, es zuzugeben. Vor mir selbst nicht und vor Ihnen nicht.« »Hey, Baby, so gefällst du mir! Wie mußt du erst sein, wenn es dir gutgeht!« »Gut, mein lieber Mister Unbekannt, wird es mir gehen, wenn ich endlich diesen verdammten Scheck in Händen habe.« »Es wird alles in Ordnung kommen, Melanie. Das verspreche ich dir. Vorausgesetzt du machst keine Dummheiten.« »Sie meinen, daß ich die Polizei anrufe, sobald Sie aufgelegt haben, wie? Glauben Sie nur nicht, ich hätte daran noch nicht gedacht. So naiv bin ich nicht, Mister Postmann, aber ich weiß genau, daß ich mir das im Augenblick nicht leisten kann. Sie -282-
halten alle Trümpfe in der Hand.« »Melanie, Baby, ich bin überzeugt, wir werden uns bestens verstehen.« »Und wie soll's weitergehen?« »Du wirst bald von mir hören. Dann besprechen wir die Einzelheiten.« »Und wie soll ich nach Ihrer Meinung bis dahin über die Runden kommen?« »Denk, du seist Norman Vincent Paele, und mach dir ein paar hübsche Gedanken. Übrigens, von Mark solltest du keine Hilfe erwarten.« »Sie erschrecken mich schon wieder.« »Das war nicht meine Absicht. Aber ich bin da ganz sicher!« »Ich weiß es, verdammt! Ich hab' ihn angerufen. Sie glauben nicht, wie demütigend es für mich war. Er erklärte mir, die Post würde schon wieder auftauchen. Und das Warten bis dahin wäre ganz heilsam für mich. Es würde mir helfen, einmal gegen meine Laster anzukämpfen. Ich habe ihm die unflätigsten Namen gegeben, und er sagte mir, das sei ein weiterer Beweis dafür, in welch jämmerlicher Verfassung ich mich befände. Er wollte mir weismachen, das alles versuche er nur, um mir das Leben zu retten, und ich sagte ihm, nein, er tue im Gegenteil alles, um mich möglichst schnell ins Grab zu bringen.« »Also, Melanie, wenn du meinen Eindruck wissen willst: Du hörst dich äußerst lebendig an. Und ich bin froh, auf diese Weise von dir gehört zu haben, wie es zwischen Mark und dir steht.« »Was soll das heißen?« »Na ja, das soll heißen: Ich bin jetzt völlig sicher, daß wir uns sehen werden.« »Und wann wird dieser zauberhafte Augenblick gekommen sein?« »Bald, Melanie, bald. Aber jetzt muß ich auflegen. Paß gut -283-
auf dich auf, und laß den Mut nicht sinken.« Das Trenngeräusch drang an Melanies Ohr, es klang wie das Einschnappen eines Schlosses, das sich nie mehr öffnen lassen würde. Melanie wurde sich der Tatsache bewußt, daß sie wahrscheinlich den Schlüssel zum größten Postraub der Vereinigten Staaten besaß und daß sie eigentlich verpflichtet wäre, auf der Stelle die Polizei oder das FBI zu benachrichtigen. Aber war sie nicht noch viel stärker sich selbst und ihrem gequälten Körper verpflichtet? Aufs neue beschloß Melanie, sich ruhig zu verhalten. Und das fiel ihr leichter als der Entschluß, Mister Vardamin noch einmal anzurufen.
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JORGE VEGA
Dickinson, der NYPS Guard, war seiner Sache hundertprozentig sicher. »Und Sie haben absolut keinen Zweifel daran?« fragte Vega zum drittenmal. »Absolut nicht«, entgegnete Dickinson im Brustton der Überzeugung. »Es war weder ein Nigger noch ein Greaser dabei.« Er verstummte, und nach einem Blick auf Vegas dunkelhäutiges Gesicht verbesserte er sich hastig. »Ich wollte sagen, kein einziges Mitglied der Bande war ein Schwarzer oder ein Puertoricaner.« »Nur keine Verrenkungen, Fred«, sagte Vega, »ich bin als Greaser auf die Welt gekommen, und ich fühle mich heute noch als solcher.« »Ich wollte Sie keineswegs beleidigen!« Dickinson schien sich nicht beruhigen zu können. »Das weiß ich doch, Fred. Und als nächstes werden Sie mir bestimmt erzählen, daß einer Ihrer besten Freunde ein Greaser ist.« »Nein, nein, ich wollte Ihnen nur zu verstehen geben, daß man als alter Mann von seinen schlechten Gewohnheiten einfach nicht mehr loskommt, und daß ich niemanden beleidigen wollte.« »Ich glaube Ihnen ja, Fred. Machen wir also weiter. Was Sie mir gesagt haben, ist viel wichtiger als die Worte, mit denen Sie es ausgedrückt haben.« »Leider ist das aber auch schon alles, Mister Vega.« »Glauben Sie, daß wir es bei diesen Leuten mit einer Bande zu tun haben?« -285-
»Das ist schwer zu sagen. Je länger ich darüber nachdenke, umso unsicherer werde ich. Sie benahmen sich nicht wie Mitglieder einer Gangsterbande. Eher wie eine Gruppe von Jungens, von denen jeder seine Aufgabe hatte und die bemüht waren, sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.« Dickinsons Bemerkung konnte Vega nicht von der Oberzeugung abbringen, daß eine der zahlreichen Straßenbanden in die Sache verwickelt war. Der Raubzug war mit einer derartigen Präzision über die Bühne gegangen, daß man den Gedanken an eine Gruppe zufällig zusammengestellter Jugendlicher ausschließen konnte. Und was die Gangs betraf, kannte Vega sich aus. Der größte Teil der Stadt wurde von schwarzen oder puertoricanischen Straßenbanden kontrolliert. Nur wenige Bezirke blieben für die traditionellen weißen Gangs übrig. Vier dieser Bezirke fielen Vega auf Anhieb ein: Bay Bridge in Brooklyn, Victor Boulevard in Staten Island, Hell's Kitchen in Mid-Manhattan und Inwood in Upper-Manhattan. Staten Island und Hell's Kitchen klammerte Vega aus seinen Überlegungen aus. Staten Island bot bei einer späteren Verfolgung durch die Polizei zuwenig Fluchtmöglichkeiten, und in Hell's Kitchen gab es nur kleinere Gangs, die für einen solchen Coup einfach nicht genug Leute auf die Beine stellen konnten. Bay Ridge und Inwood kamen schon eher in Frage. Allerdings war zu beachten, daß die Kerle in der Tarnung der NYPS-Fahrer sämtlich als groß, hager und blondhaarig beschrieben wurden. Damit schied Bay Ridge aus. Es galt als Wohngebiet mit vorwiegend italienischstämmiger Bevölkerung, und man traf dort eher den untersetzten, dunkelhaarigen Menschentyp an. Also gab es für Jorge Vega keinen Zweifel, daß er seine Ermittlungen ausschließlich auf Inwood zu konzentrieren hatte. Inwood, 34. Polizeirevier, stellte Vega fest. Die Feststellung -286-
erfreute ihn. Dwight Johnson, sein Kursgenosse von der Polizeiakademie, tat dort Dienst. Und Dwight, das mußte Vega zugeben, war fast ein so guter Cop wie er selbst.
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STEVE BARRINGTON
Während Leonard die Männer von der Post befragte und Jorge Vega weiter die Straßen abklapperte, saß Barrington in seinem Büro und versuchte, den Fall auf seine Weise zu lösen. Nebenan, hinter den schalldichten Wänden seines Arbeitsraumes, drehten sich surrend die Spulen der Computermaschinen, fielen engbeschriebene Lochstreifen aus den Spenderschlitzen, während Barrington sich mit Sylvia Moore, einer Spezialistin in psychiatrischen Fragen, unterhielt. Warum die Zeit mit dem Befragen unzuverlässiger Zeugen verschwenden, wenn Sylvia praktisch jeden dieser Leute ersetzen konnte? »Gehn wir das Ganze noch mal durch, Baby!« sagte Barrington. »Halten Sie die Anrede ›Baby‹ einem G-Man gegenüber für besonders geeignet?« erwiderte Sylvia Moore mit dem Ton leichter Gereiztheit. »Einmal Pascha, immer Pascha, und zum Teufel mit all dem Gleichberechtigungsschwindel!« Barrington grinste entschuldigend. »Spaß beiseite, Doktor, vergessen Sie den Ausrutscher. Es soll nicht wieder vorkommen. Im übrigen wissen Sie, wie sehr ich Ihre qualifizierte Mitarbeit schätze, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie die Ergebnisse aus Ihrer Sicht nochmals kurz zusammenfassen würden.« Sylvia Moore lächelte versöhnt. »Okay Steve. Wir haben es also mit einer Armee zu tun, die von zwei oder drei Generälen angeführt wurde. Die Armee wollen wir zunächst einmal außer acht lassen, denn sie besteht im Grunde nur aus Befehlsempfängern. Es sind die Führer, auf die es ankommt. Leider wissen wir nicht allzuviel von ihnen. Außer, daß es sich -288-
um äußerst intelligente und selbstsichere Typen mit einem gemeinsamen Background in der Vergangenheit handeln muß. Ich will nicht behaupten, sie seien alle frühere Postangestellte, halte es jedoch für höchstwahrscheinlich, daß ihr Coup mit irgendjemand oder irgendetwas in diesem Postbezirk zu tun hat. Das würde dann auch erklären, weshalb sie sich anstelle von 10022 nicht die Wall Street oder die Church Street vorgenommen haben, zwei Postämter also, über die nach deiner Auskunft täglich noch ganz andere Summen von Bank- und Immobiliengeldern laufen.« »Schon möglich«, gab Barrington zu. »Aber vielleicht kamen diese Bezirke mit ihren engen und belebten Downtown-Straßen für einen präzis geplanten motorisierten Raubüberfall nicht in Frage.« »Zugegeben«, erwiderte Sylvia Moore. »Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß hinter diesem Verbrechen ein ganz bestimmtes, fast zwanghaftes Motiv zu suchen ist. Allerdings habe ich nicht die geringste Ahnung, worin dieses Motiv bestehen könnte.« »Aber bei der Durchführung gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür«, warf Barrington ein. »Die Kerle zogen das Ding ab wie einen Job. Sauber, professionell und eiskalt. Keinerlei Anzeichen für einen Racheakt oder ähnliches.« »Die Aktion selbst genügte ihnen, Bedürfnisse dieser Art zu stillen, nehme ich an. Wenn das so ist, und wenn sie wirklich so clever sind, wie ich den Eindruck habe, dann kann dieser Fall eine entscheidende Bedeutung für Ihre Karriere haben, Steve.« »Da werden die Maschinen da draußen auch noch ein Wörtchen mitreden. Im Moment checke ich sämtliche Bewohner und Pendler von 10022 auf Kreuz- und Querverbindungen ab. Ich stelle eine Liste mit allen Ex-Sträflingen aus diesem Gebiet zusammen. Ich versuche jeden zu erfassen, der irgendwann einmal gegen Behörden, ausländische Konsulate und vor allem -289-
gegen Einrichtungen der Post tätlich wurde oder Drohungen gegen sie ausgestoßen hat. Meine Männer protestieren bereits, sie seien keine Archivwürmer, aber ich sage ihnen: Und wenn Sie sich die Finger blutig suchen, diese verdammten Maschinen brauchen ihr Futter, bevor sie ein paar Antworten ausspucken. Ich gebe zu, bis jetzt ist das Ergebnis noch beängstigend mager. Vega und Leonard glauben, sie hätten eine Spur entdeckt, aber ich bin sicher, sie machen sich beide was vor. Und so mühsam die Sache sich bei mir auch anläßt, ich werde mit der Lösung rauskommen, ehe sie wissen, wie überhaupt die Frage lautet.« »Sie sind nicht nur ein eingefleischter Egoist und Frauenfeind, Sie sind obendrein auch noch ein ganz engstirniger Technokrat«, bemerkte Sylvia Moore sachlich. »Von der altmodischen und altbewährten Polizeiarbeit scheinen Sie wohl gar nichts zu halten, wie?« »Ich habe sie mit einer Menge anderem Gerümpel auf der Akademie zurückgelassen, Doktor. Hier geht es nicht um verstaubte Schulweisheit, hier geht's um die Realität. Und unsere moderne Welt wird von Computern beherrscht.« »Und was ist mit den Menschen?« »Sie sind lediglich die Unbekannten in der Gleichung, die von den Maschinen gelöst wird.« »Und was ist, wenn die Maschinen mit Ihren Gleichungen nicht zurechtkommen?« »Dann muß ich mich auf die Versetzung nach Bute, Arizona, gefaßt machen.« »Ich werd' Ihnen mal schreiben, wenn Sie dort sind.« »Aber vergessen Sie die Leitzahl des Postbezirks nicht!« Zum erstenmal spielte ein Lächeln um Sylvia Moores Lippen. »Zum Teufel mit der Postleitzahl! Ich werde Ihre Versicherungsnummer vor die Anschrift setzen und es dem -290-
Computer überlassen, Sie in Bute ausfindig zu machen!«
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DIANE RUDMAN
Obwohl Michelle Trendlers am liebsten den WNWN hörte, den Radiosender, bei der die Wohltätigkeitsaktion »Aus zwei mach fünf!« lief, war sie nicht im entferntesten auf die Idee gekommen, Diane Rudmans Tausend-Dollar-Anzahlung damit in Verbindung zu bringen. Aber eine Viertelstunde, nachdem Diane Rudman das Geschäft verlassen hatte, wiederholte die Stimme des Ansagers die Bitte der Radiostation, wegen des Postraubs keine Zwei- Dollar-Noten mehr per Brief einzusenden. Ihre Kundin hatte weder einen beschränkten Eindruck gemacht, noch hatte sie wie eine Posträuberin ausgesehen, dennoch ging Michelle Trendler zum Telefon und rief die Polizei in Queens Central an. Eine Polizistin wurde abgestellt, Diane Rudman in Augenschein zu nehmen, wenn diese in den Laden kommen würde, um ihren Mantel abzuholen und die Restschuld zu begleichen. Tagelang wartete die Polizistin vergebens. Als Diane Rudman dann endlich den Laden betrat, konnte Michelle nur mühsam ihre Erregung beherrschen. »Sie kommen genau zur rechten Zeit. Ihr Mantel ist eben fertig geworden. Sie werden begeistert sein, Madam!« »Fein! Wissen Sie, ich hab' Tag und Nacht an nichts anderes mehr denken können«, gestand Diane Rudman glücklich. »Ich nenne ihn nur noch mein Zwei-Dollar-Prachtstück.« »Ich werde ihn gleich holen. Sie möchten ihn sicher noch einmal anprobieren. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!« Michelle verschwand in einem Hinterzimmer. Doris Gill, Dienstmarke Nr. 6890532, kam lächeln auf Diane zu. »Stellen Sie sich vor, als Kind habe ich lauter Zwei-DollarScheine gesammelt. Ich war immer der Meinung, sie brächten -292-
mir Glück. Vielleicht stimmte das auch, aber ich bin mir nicht wirklich sicher. Jetzt, wo man sie wieder in Umlauf gesetzt hat, wird meine Sammlung vermutlich nicht mehr allzuviel wert sein. Allerdings konnte ich mich noch nicht von ihr trennen, obwohl ich schon mit vierzehn aufgehört habe zu sammeln.« »Wie nett«, sagte Diane. »Ich finde, jeder Mensch sollte irgendein Hobby haben.« »Mich würde interessieren, wie Sie zu ihrer Sammlung gekommen sind.« Diane war auf eine solche Frage nicht vorbereitet, und der Gedanke, eine Auskunft über das geraubte Geld geben zu müssen, trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie schwieg. GUI blieb hartnäckig. »Haben Sie mir nicht zugehört?« fragte sie mit unschuldiger Miene. »Doch, doch. Entschuldigen Sie, aber ich träume manchmal am hellichten Tag. Wie ich sie gesammelt habe, möchten Sie wissen. Was soll ich Ihnen sagen? Einfach so! Ich hab' sie nun mal gesammelt.« »Aber warum ausgerechnet Zwei- Dollar-Scheine? Warum keine Fünf- oder Zehn-Dollar-Noten?« »Tja, warum eigentlich? Das ist so ähnlich, wie wenn jemand die Angewohnheit hat, das ganze Wechselgeld ins Sparschwein zu stecken. Ich hab' mir eben eines Tages vorgenommen: Alle Zwei- Dollar-Scheine, die mir in die Finger kommen, wandern in die Pelzkasse!« »Und seit wann sparen Sie schon daran?« »Oh, das sind bestimmt schon einige Jahre. Eintausendachthundertachtundvierzig Dollar kriegen Sie nicht über Nacht zusammen.« Das war der Moment, auf den Gill gewartet hatte. Diane Rudman log. Zwei-Dollar-Scheine waren erst kürzlich wieder in Umlauf gesetzt worden. Und wer die Behauptung aufstellte, er -293-
sammle sie schon seit Jahren, sagte nicht die Wahrheit. Er machte sich verdächtig, was allerdings noch keine eindeutigen Schlußfolgerungen zuließ. »Aber bis auf die letzten paar Monate waren Zwei-DollarNoten ziemlich knapp, und es war ungeheuer schwer, an sie ranzukommen. Wie haben Sie es nur fe rtiggebracht, eine solche Menge davon aufzutreiben?« »Ich hab' eben überall danach gefragt«, entgegnete Diane ungeduldig. »Wissen Sie, wenn man es nicht besser wüßte, könnte man auf den Gedanken verfallen, Sie seien ein Detective. So hartnäckig beharren Sie auf Ihren Fragen. Ich bin eine hart arbeitende Frau, die sich endlich den Traum erfüllen konnte, den sie seit ihrem Hochzeitstag träumte. Weshalb also lassen Sie mich nicht in Ruhe und gönnen mir meine Freude?« »Genau das ist es, was ich möchte, Ma'am. Aber Sie haben recht: Ich bin tatsächlich von der Polizei.« »Ich verstehe nicht. Was soll das alles? Warum sind Sie hier, und warum belästigen Sie mich?« »Sie haben doch von dem großen Postraub gehört oder gelesen, nicht wahr?« »Natürlich. Alle Welt spricht ja von nichts anderem. Furchtbar diese Geschichte! Nicht mal auf die Post ist heutzutage noch Verlaß!« »Nun, einer der vielen Gegenstände, die dabei gestohlen wurden, war ein Postsack mit Briefen, die an die Adresse des WNWN gingen...« »Ah, das ist doch der Sender mit dieser Zwei- Dollar-Aktion. Jetzt verstehe ich endlich: Deshalb sind Sie hier. Sie glauben, meine Dollars stammten aus den gestohlenen Postsäcken. Das ist ja unverschämt, verrückt ist das! Sehen Sie sich die Scheine doch an. Steht etwa ein Name drauf? Steht drauf, wem sie gehören? Dies ist mein Geld, meins, verstehen Sie? Und ich bin der Meinung, es ist die höchste Zeit, daß Sie endlich von hier -294-
verschwinden, Mrs. Cop!« In diesem Augenblick betrat Michelle wieder den Laden. Diane stürzte auf sie zu und riß ihr den Mantel aus den Händen. Verzweifelt preßte sie das Gesicht in den Pelz und begann hemmungslos zu schluchzen. »Oh, das sind die schönsten Tränen, die ich kenne!« rief Michelle gerührt. »Tränen der Freude und des Glücks, weil ein langersehnter Wunsch in Erfüllung gegangen ist.« »Nein«, rief Diane aus, »es sind Tränen der Wut und Empörung! Ich hab' meinem superschlauen Ehemann gesagt, er solle die Finger davon lassen. Die Sache könne einfach nicht gutgehen. Aber er glaubte mir nicht, wollte nicht auf mich hören. Und was ist geschehen? Aus meinem Traum wurde ein Alptraum. Mein Leben ist zerstört.« Sie wandte sich zu der Polizistin um. »Ja, Mrs. Cop, Sie sind an die Richtige geraten. Aber ich kann Ihnen nicht verraten, wo Sie meinen Mann finden. Ich weiß es nicht, es kümmert mich nicht, und ich will es auch nie mehr wissen.« Die drei Frauen standen da wie erstarrt. Diane wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Michelles Augen füllten sich mit Tränen. Und Officer Doris Gill schien es noch nicht fassen zu können, daß der entscheidende Durchbruch geschafft war. Plötzlich verstummte Diane und wandte sich zu Michelle um. »Kann ich den Mantel denn wenigstens bis zum Polizeirevier tragen? Bitte, lassen Sie ihn mir doch nur für dieses eine Mal!« Die Polizistin gab ihr die Antwort. »Natürlich. Wir werden ihn sowieso als Beweisstück dabehalten, dann können Sie ihn bis zum Revier auch anziehen.« »Es tut mir leid«, flüsterte Michelle und starrte vor sich hin. »Alles tut mir so furchtbar leid.« »Leid tut es Ihnen? Sie sind zu beneiden, Mrs. Trendler, Sie haben wirksam dazu beigetragen, den größten Postraub aller -295-
Zeiten aufzuklären! Sie haben nur Ihre Pflicht getan.« Michelle blickte die Polizistin kopfschüttelnd an. »Ich habe dieser Lady das Herz gebrochen. Nennen Sie das, meine Pflicht tun?« »Ich bin nur eine einfache Polizistin, Mrs. Trendler, kein Priester. Und soweit ich das Ganze beurteilen kann, haben Sie allen Grund, stolz und nicht schuldbewußt zu sein.« »Und ich habe allen Grund, mir den Tod zu wünschen«, stieß Diane Rudman schluchzend hervor. »Eine andere Rettung gibt es für mich nicht mehr!«
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MYLES TEMPLETON IV
An diesem Morgen war Myles Templeton plötzlich der Name eines ehemaligen Studienfreundes eingefallen. John Carlton war Präsident und Konzernhauptverwalter der Carlton International Corporation, einer Holding-Gesellschaft, die einige ausgesuchte und mit außergewöhnlichem Erfolg arbeitende Unternehmen vertrat. Mit Hilfe seines Diploms der Harvard Business School, seiner Position innerhalb der Konzernspitze und seiner Heirat mit einer der reichsten Frauen des Landes hatte John Carlton auf dramatische Weise alle Brücken zu seiner Vergangenheit abgebrochen. Carltons Geburtsurkunde wies ihn als Giovanni Carlucci aus. Sein Vater, der sich auf den Alterssitz auf Sizilien zurückgezogen hatte, war der Capo einer der mächtigsten Syndikatsfamilien an der Ostküste gewesen, und hatte seinen gutaussehenden und intelligenten Sohn zum Chef der legalen Unternehmungen der Familie gemacht. Keiner von Templetons Partnern kannte Carltons wahre Herkunft, und bis auf den heutigen Tag hatte Templeton es peinlichst vermieden, aus der Kenntnis von Carltons zwielichtiger Herkunft irgendeinen Nutzen zu ziehen. Doch nun, da ihm das Wasser bis zum Hals stand, hatte Templeton zum erstenmal, seit die CIC zu seiner Klientel zählte, Carlton angerufen und ihn mit »Giovanni« angeredet. Carlton hatte den Hilferuf verstanden. »Ich war fast versucht, dich ›Milo‹ zu nennen. Doch dann fiel mir ein, daß so etwas nicht zu dir passen würde.« »Du hast recht«, erwiderte Templeton. Tatsächlich, habe ich nie einen Spitznamen gehabt. Das heißt, am Anfang unserer Ehe nannte meine Frau mich eine Zeitlang ›Myles-pro-Stunde‹. Jetzt, -297-
da ich darüber nachdenke, hätte ich eigentlich beleidigt sein müssen, als sie aufhörte, mich so zu rufen.« Templeton und Carlton saßen im Fond von Carltons silbergrauem Continental, der in westlicher Richtung den Central Park durchquerte. »Irgendwo drückt dich der Schuh, Myles, denn seit einer Ewigkeit hast du mich nicht mehr mit ›Giovanni‹ angeredet. Und da ich dich als einen äußerst selbstbewußten Vertreter der Spezies Mensch kennenlernte, muß es dir verdammt dreckig gehen, wenn du mir plötzlich das vor langen Zeit vereinbarte Notsignal gibst.« »Ich sitze heillos in der Klemme, John, und ich war gezwungen, dich früher um Hilfe zu bitten, als ich gedacht habe. Ich hoffe, du denkst deswegen nicht schlecht von mir!« »Um Himmels willen, John!« rief Carlton aus. »Im Gegenteil! Endlich einmal ein Zeichen, daß Myles Templeton der Vierte ein Mensch aus Fleisch und Blut ist wie alle andern auch. Offen gesagt, dein Problem interessiert mich nicht. Es sei denn, du hättest das Bedürfnis, es mir mitzuteilen. Ich möchte nur eins: Sag mir, wie ich dir helfen kann, deine Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen!« »Danke, John. Ich nehme dein Angebot gerne an. Was ich brauche, sind fünfundneunzigtausend Dollar, die du mir für ein paar Wochen leihen müßtest.« »Ich hätte nie gedacht, daß du ein Spieler bist. Aber was soll's! Wenn das dein ganzes Problem ist, sag mir, wie du das Geld haben möchtest, und ich werde das Notwendige umgehend veranlassen.« »Ich habe gewußt, daß du mir helfen würdest, John. Das Ganze ist ein Bankproblem. Ich habe bereits einen jungen Verwandten mit hineingezogen und in eine gefährliche Lage gebracht. Jetzt geht's mir darum, das angezapfte Konto wieder auszugleichen und gleichzeitig seinen und den eigenen Kopf aus -298-
der Schlinge zu ziehen.« Nach kurzem Nachdenken nickte Carlton. »Noch vor Büroschluß wird ein Bote dir hunderttausend Dollar überbringen, deren Empfang du nur zu quittieren hast. Hunderttausend, weil ich runde Zahlen liebe. Die Zinsen lassen sich besser berechnen. Wenn du mir den vollen Betrag innerhalb einer Woche zurückgibst, verzichte ich auf sie. Meine Freunde sind mir eine solche Gefälligkeit wert. Benötigst du eine längere Zeit, auch gut. Du kannst mit der Rückzahlung warten, so lange du willst. Nur steht dann der Überbringer des Geldes vierzehn Tage später bei dir auf der Matte, um die wöchentlich anfallenden zwei Prozent Zinsen zu kassieren.« »Das sind ja zweitausend Dollar pro Woche!« stieß Myles Templeton mit heiserer Stimme hervor. »Genau dreitausend Dollar weniger als normalerweise üblich«, gab Carlton ungerührt zurück. Templeton akzeptierte das Angebot, obwohl er mit Entsetzen feststellte, daß diese wöchentlichen Zinszahlungen sein wöchentliches Taschengeld gehörig zusammenschrumpfen ließen. »So, das Problem wäre aus der Welt geschafft!« sagte Carlton zufrieden. »Erzähl mir, was es Neues gibt!« »Neues?« Die Frage traf Templeton unerwartet. »Nichts eigentlich...« stammelte er. »Um ehrlich zu sein, ich würde doch ganz gern erfahren, was die Ursache für dein Problem gewesen ist.« »Dieser verdammte Postraub, John. Zeitlich ungünstiger für mich hätte der gar nicht geplant werden können.« »Amateure, Myles«, sagte Carlton. »Keiner der Profis hat eine Ahnung, wer dahintersteckt. Wie ich hörte, wissen nicht mal die Cops, wo sie suchen sollen.« »Mir kam gerade der Gedanke, wenn ihr die Post befördern -299-
würdet, wäre eine solche Schweinerei nie passiert.« Carlton brach in schallendes Gelächter aus. »Verdammt, da hast du recht. Das muß ich demnächst unbedingt meinem Vater erzählen.« Die Limousine kam sanft vor Templetons Bürohaus zum Halten. Myles drehte sich zu Carlton und schüttelte ihm fest die Hand. »Danke!« sagte er ernst. »Nicht der Rede wert«, erwiderte Carlton herzlich. »Wozu sind Freunde sonst da!«
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DWIGHT JOHNSON Die Gefühle, die Jorge Vegas Anruf in ihm geweckt hatten, waren eine Mischung aus Neid und Bewunderung. Sie erfüllten Dwight Johnson stets, wenn er an den ehemaligen Kursgenossen von der Polizeiakademie dachte. Jorge Vega war ein zuverlässiger Freund und ein erfolgreicher Cop. Er arbeitete in der Downtown; dort, wo immer etwas los war, während Johnson sich mit den relativ ruhigen Straßen Inwoods zufriedengeben mußte. Als Vega ihm die Theorie über den Standort der an dem Postraub beteiligten Gang entwickelte, mußte Johnson unwillkürlich an die Green Spades denken. Noch während des Gesprächs warf er einen Blick in seine Eintragungen und stellte fest, daß die Begegnung mit den Spades in der Morgenfrühe jenes ereignisreichen Montags stattgefunden hatte. Er hätte sich ohrfeigen können, daß es des Anstoßes durch Vega bedurfte, um dieses verdächtigte Zusammentreffen mit dem Postraub in Verbindung zu setzen. »Ich glaub', ich kann dir helfen«, erklärte Johnson, der seine Erregung kaum zu bändigen vermochte, »Wenn ja, würde es noch mal so sein wie früher, als wir noch zusammen auf Streife gingen!« entgegnete Vega begeistert. »Ich fand's herrlich, denn irgendwie hast du mir immer gefehlt. Und ich könnte mir keinen besseren Partner vorstellen als dich.« Johnson versprach, Vega auf dem laufenden zu halten, lehnte seine Hilfe jedoch entschieden ab. »Ich werd' schon allein damit fertig, Jorge.« »Sei doch nicht so verdammt empfindlich, alter Junge. Natürlich weiß ich das. Ich dachte nur, es sei nett, noch mal wie in alten Tagen zusammenzuarbeiten, bevor du den Fall aufklärst -301-
und zum Detective aufsteigst.« »Danke, Jorge, aber ich bin da ziemlich abergläubisch. An den Detective glaube ich erst, wenn ich die Ernennung in der Tasche habe. So lange werde ich mit dem Einmotten der Uniform warten.« Johnson war fest entschlossen, den Fall allein und ohne fremde Hilfe zu lösen. Aus diesem Grund würde er die Green Spades auch erst nach Dienstschluß aufsuchen. In seiner Zivilkleidung sah Johnson aus wie ein Bartender in einer Singles Bar. Der Anzug war modisch geschnitten und auffallend farbenfreudig. Er trug gelbe Lackschuhe, und sein Schnurrbart war gestutzt und geschniegelt. Umso erstaunlicher, daß Helen Ryan ihn dennoch in dieser Aufmachung erkannte. »Sind Sie nicht unser Streifenpolizist?« fragte sie ihn, als er in die Straße zum Clubhouse der Green Spades einbog. »Einer davon, Ma'am«, antwortete er. »Und irgendwie kommen Sie mir ebenfalls bekannt vor. Kann ich etwas für Sie tun?« »Ich weiß nicht, Officer.« »Officer Johnson, Ma'am. Dwight Johnson«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. »Und wie ist ihr Name?« »Helen Ryan, Mister Johnson.« »Was heißt, Sie wissen es nicht, Mrs. Ryan?« »Wie soll ich Ihnen das erklären, Officer. Es ist so, daß ich jemanden brauchte, mit dem ich reden könnte. Ich weiß nur nicht recht, ob es ein Priester oder ein Polizist sein sollte. Aber wenn ich's recht bedenke, kann ein Priester mir eigentlich am wenigsten helfen. Jedenfalls jetzt nicht mehr.« »Dann versuchen Sie es doch mit mir, Mrs. Ryan! Schlage vor, Sie begleiten mich ein Stück. Ich hör' mir gerne an, was Sie bedrückt.« Was Helen Ryan ihm anvertraute, beschleunigte Johnsons -302-
Schritte und bestärkte ihn in seinem Verdacht. Bei den beiden bis zu Unkenntlichkeit entstellten Leichen aus dem explodierten NYPS Truck konnte es sich nur um zwei Green Spades handeln. Und einer der Toten war Mrs. Ryans Sohn Jimmy. Aber Johnson schwieg und behielt seine Überlegungen für sich. Vor dem Eingang zum Clubhaus trennte er sich von Mrs. Ryan mit dem Versprechen, über Jimmy auf der Stelle genaue Erkundigungen einzuholen und sie zu benachrichtigen, sobald er etwas über den Verbleib des Jungen erfahren habe. Die Etagentür stand offen, keiner der Green Spades war anwesend. Johnson beschloß, sich in den Räumen umzuschauen, obwohl er keinen Durchsuchungsbefehl hatte. Er mußte ein Beweisstück finden, das die Verbind ung zu dem Postraub herstellte. Lange brauchte Johnson nicht zu suchen. In der Ecke eines der Baderäume entdeckte er einen zusammengeknüllten falschen Schnurrbart. Auf der Ze itschriftenablage fand er Milligans handgeschriebene Notiz mit Bemerkungen zu Jimmys Abwesenheit. Aus der Notiz ging klar hervor, daß seine Mutter sich große Sorgen machte, die es zu zerstreuen galt. Johnson rührte nichts an und verließ die Klubräume wieder unauffällig. Er würde Hilfe brauchen, um die Bastarde hochzunehmen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Gleichgültig, ob er im Alleingang vorging oder seine Kollegen hinzuzog, die Sache war sein Fall geworden.
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HANK LEONARD Einer der Vorzüge der Post - und Hank Leonard war überzeugt, daß sie eine ganze Menge besaß - war die Tatsache, daß sie schriftliche Unterlagen ziemlich lange aufbewahrte. Dazu gehörten auch sämtliche von den Kunden unterschriebenen Empfangsbestätigungen. Pete Tullochs Überzeugung, einen der Posträuber schon einmal gesehen zu haben, ihm einen Brief zugestellt und von ihm eine Unterschrift erhalten zu haben, brachte dem aufmerksamen Postmann eine mühevolle Beschäftigung ein. Leonard ließ ihn sämtliche Empfangsbelege der letzten drei Jahre - denn das war der Zeitraum, der nach Tullochs Meinung in Frage kam - durchsehen. Eine irrsinnige Aufgabe, die Tulloch zu erledigen hatte. Seine Finger wurden wund vom Durchblättern unzähliger Papierbündel. Unlesbare und verblichene Unterschriften und Anschriften tanzten vor seinen Augen, strapazierten sein Erinnerungsvermögen und stellten seine Geduld auf eine harte Probe. Von Zeit zu Zeit tauchte Leonard bei ihm auf. »Wie steht's, Pete?« »Ich weiß jetzt, wie es in einem Computer aussehen muß, Hank. Beim Geier, das ist ein Job, den man einem Menschen eigentlich nicht zumuten sollte!« »Ich kann Sie gut verstehen, Pete. Aber, zum Teufel, was soll ich tun? Sie sind der einzige, der uns weiterbringen kann.« Tulloch nickte und setzte die Suche nach der Nadel im Heuhaufen fort. Am fünften Tag stieß er auf einen Beleg, der an der Stelle, die für die Unterschrift vorgesehen war, ein großes X trug. -304-
»Ich hab's«, verkündete er stolz. »Und ich erinnere mich jetzt ganz genau. Er verweigerte mir nicht nur seine Unterschrift, sondern quittierte stattdessen einfach mit einem Kreuz.« Die Spur stellte sich als falsch heraus: Der Beleg war von dem Mitarbeiter einer Werbeagentur in der Madison Avenue unterzeichnet worden, und der Mann hatte allen Grund in dieser Form den Empfang zu bescheinigen: Er war Analphabet. Tulloch setzte seine Suche fort, und der zweite Belegschein schien vielversprechender zu sein. Das X verriet einen intelligenten, fast künstlerischen Duktus, und die Anschrift wies auf ein Gebäude in der East 52nd Street. Allerdings war der Name des Empfängers nicht mehr zu entziffern. Das schwungvoll ausgeführte Kreuz hatte ihn durchgestrichen und unleserlich gemacht. So konnte Leonard nie erfahren, daß es sich um den Namen handelte, der im Telefonbuch von Manhattan unter genau derselben Adresse mit »Grant, Jeffrey« angegeben war.
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BOB RUDMAN
Bob Rudman hatte sich nie gerne fotografieren lassen. Jorge Vega bekam diese Abneigung zu spüren, denn er mußte sich mit dem einzigen Foto begnügen, das Mrs. Rudman von ihrem Mann besaß, dem Hochzeitsfoto. Es wurde vervielfältigt und an alle Polizeireviere, Tageszeitungen, Funk- und Fernsehstationen verschickt. Die Mitteilung, ein Polizeizeichner arbeite noch an einer aktualisierten Fassung von Rudmans Konterfei, lag bei. Auf dieser Zeichnung erhielt der Gesuchte unter Dianes gewissenhafter Anleitung eine um dreißig Pfund schwerere Gestalt, ein fleischiges, durch dicke Tränensäcke verunziertes Gesicht und dünnes, schütteres Haar anstelle der einstigen Lockenpracht. Falls irgendeiner der Schaulustigen auf dem RooseveltRennplatz das Bild im Gedächtnis behalten hätte, das an diesem Nachmittag auf Seite 5 der Newsday zu sehen war, er wäre nicht im Traum darauf gekommen, es mit der untersetzten Gestalt in der Nähe von Wettschalter 22 in Verbindung zu bringen. Das zweite Treffen zwischen Rudman, Grant und Van Della war vorgesehen. Unvorhergesehen waren die Schlagzeilen in der Nachmittagsausgabe, und sie vertieften nur noch den Abscheu gegen dieses dämliche Weibsstück, das er, Robert Roswell Rudman, einmal geliebt hatte. Grant näherte sich als erster, und er tat so, als wolle er an Rudman vorbeilaufen. Dicht vor ihm blieb er stehen und sagte mit gespieltem Bedauern: »Die Bilder, die man in der Öffentlichkeit von Ihnen bringt, Sir, werden Ihrem Äußeren in keiner Weise gerecht.« Rudmann hätte fast die Rennzeitung fallen gelassen, die er in der Hand hielt. »Sehr witzig!« knurrte er grimmig. -306-
»Nimm's nicht zu tragisch, Bob«, beruhigte ihn Grant. »Du wirst dein Apartment nicht mehr betreten können, aber das ist auch die einzige Konsequenz, die sich aus Dianes idiotischer Handlungsweise für dich ergibt. Zum Glück hat sie keine Ahnung von unserem Coup. Das einzige, was man aus ihr herausholen könnte, wären einige Einzelheiten über unseren gemeinsamen Aufenthalt in Danbury. Aber bis die Polizei dieser Spur nachgegangen ist, sind wir längst über alle Berge. Deine Paranoia wegen dieses saublöden Frauenzimmers war schon verständlich. Man wird den Eindruck nicht los, diese Lady leide an einer Art Todessehnsucht, Bob.« »Wenn du damit sagen willst, sie sehne meinen Tod herbei, kannst du recht haben. Wenn du meinst, sie wünsche sich den Tod, bist du auf dem Holzweg. Denn wenn sie tot ist, kann sie an keinem mehr herummeckern, und das war ihr ganzer Lebensinhalt.« Van Della erschien verspätet und gutgelaunt wie immer. »Drei sind eine Menschenmenge!« rief er warnend, ohne eine Reaktion auf seinen verunglückten Scherz abzuwarten. »Du hast es gut, Bob, du kannst die ganze Nacht hier herumstehen, ohne von jemandem erkannt zu werden. Wäre das mein Bild in der Zeitung gewesen, ich säße längst hinter Schloß und Riegel. Meine Visage mag nicht schön sein, dafür ist sie umso einprägsamer!« »Deine Selbstüberschätzung wird dir auch nicht aus der Patsche helfen, wenn's soweit ist.« »Okay, das reicht!« unterbrach Grant die beiden Streithähne. »Dianes Einlage zwingt uns zu größerer Eile. Die Rückkehr in unsere Wohnungen können wir ebenfalls vergessen. Morgen früh werde ich bei jedem von euch vorbeikommen und die endgültige Anteilsberechnung machen. Danach trennen sich unsere Wege für immer. Jen und ich werden uns nach Costa Rica absetzen, und ich sehe da keine Probleme. Schwieriger ist -307-
es mit dir, Bob. Wo willst du hin, jetzt, da deine umsichtige Frau deine Reisepläne über den Haufen geworden hat?« »Zum hundertfünften Polizeirevier«, sagte Rudman mit düsterer Entschlossenheit. »Ich gebe auf!« »Den Blödsinn will ich überhört haben!« Grants Stimme klang gefährlich sanft. »Das kannst du halten, wie du willst, Jeff. Aber du hast mich richtig verstanden. Diesmal hab' ich nicht damit gerechnet, gefaßt zu werden. Dennoch sieht's so aus, als sei kein Kraut dagegen gewachsen. Ich eigne mich nicht zum Gejagten, und ich habe keine Lust, einen zweiten Richard Kimble abzugeben. Wenn meine Glückssträhne zu Ende ist - und genauso sieht es aus -, dann werde ich sehr bald die Polizei auf dem Hals haben. Diane, dieses gnadenlose Biest, wird sie schon hinter mir herhetzen. Vermutlich sitzt sie jetzt da, stopft sich unentwegt die Kartoffelchips in den Mund und legt ihnen anhand meiner Psyche dar, was ich als nächstes tun werde. Ich komme dagegen nicht an. Warum also soll ich es ihnen und mir noch schwermachen? Bis morgen früh lasse ich sie schwitzen, dann werde ich mich stellen. Aber keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab, und das Geld werden sie auch nicht kriegen.« »Na gut«, sagte Grant ausdruckslos. »In dem Fall wird es besser sein, wenn ich zuerst bei dir vorbeikomme.« »Nicht nötig, Jeff. Ich habe alles bei mir.« »Was? Du hast sechs Millionen Dollar bei dir? Mußt du eine riesige Geldkatze umhaben!« »Nein, so war das nicht gemeint. Ich hab's im Wagen. Sämtliche Wertpapiere und das Bargeld befinden sich in zwei Säcken, die ich dir auf dem Parkplatz übergeben werde. Das einzige, was fehlt, sind diese verdammten Zwei-DollarScheine.« »Es ist ein Elend, Bob. Wenn du diese Scheißsumme nicht abgeschöpft hättest, wärst du nie auf Selbstmordgedanken -308-
gekommen. Diane hast du natürlich damit zur glücklichsten Frau der Welt gemacht. Ist es das, was du wolltest?« »Ich weiß, sie wird unseren Weg nach Danbury mit einem Lächeln auf den Lippen begleiten.« »Danbury. Zum Teufel damit! Diesmal werden sie uns ganz woanders unterbringen. Und im Vergleich zu dem, was wir dort hatten, wird unser nächster Aufenthaltsort die Hölle selbst sein.« »Du kannst mich nicht bange machen, Jeff. Mein Entschluß ist gefaßt.« »Hör zu, Bob, du bist doch ein vernünftiger und gescheiter Mensch. Es will mir nicht in den Kopf. Ich begreife nicht, warum du das tun willst.« »Was ist da zu begreifen? Ich habe keine Lust, wie der ewige Jude durch die Welt zu hetzen, voller Angst vor dem eigenen Schatten. Bei jedem Sirenenton würde ich zusammenfahren, beim Anblick eines Polizeiwagens Höllenqualen erleiden. Nein, das ist kein Leben für mich.« »Du willst also lieber sterben?« »Hör zu, vielleicht fällt mir irgendetwas ein. Vielleicht gelingt es mir, ihnen klarzumachen, daß ich mich zum Kronzeugen eigne, falls sie dich jemals zu fassen kriegen. Ich meine jetzt nicht wirklich dich, ich meine den Jeff Grant, auf den meine erfundene und aus der Luft gegriffene Beschreibung paßt. Kronzeugen können mit Straferleichterung rechnen, und vielleicht wird es gar nicht so schlimm für mich.« Van Della hatte sich mit keinem Wort an der Unterhaltung beteiligt. Jetzt sagte er ruhig: »Geben Sie sich keine Mühe, Mister Grant, den Mann kann niemand mehr umstimmen!« Resigniert zuckte Grant die Schultern. »Okay, Bob, ich werde nicht versuchen, dich an der Ausführung deines Entschlusses zu hindern. Aber ich stelle dir zwei Bedingungen. Die erste: Du mußt schwören, uns niemals -309-
zu verraten. Die zweite: Du wartest mit deinem Vorhaben bis morgen nachmittag um fünf, damit Cal, Jen und ich einen Vorsprung haben.« »Geht in Ordnung, Jeff. Sei ganz beruhigt. Ich werde keinen von euch in die Pfanne hauen. Keinen, außer mich selbst. Das weißt du auch.« »Die Sache gefällt mir nicht, Jeff. Bobs Versprechen in allen Ehren, aber du kennst doch die Bullen. So oder so werden sie die notwendigen Informationen schon aus Bob herausholen. Er ist ein sehr schlechter Lügner. Diane wird ihnen das beibringen. Also, wie gesagt, mir stinkt das alles.« Van Dellas Augen funkelten wild. Grant reagierte nicht auf Van Dellas Worte. Er wandte sich an Rudman. »Du wirst versuchen müssen, ihnen den ganzen Coup als deine alleinige Idee zu verkaufen. Wenn man deine Herkunft und deine Ausbildung berücksichtigt, könnte man es dir tatsächlich zutrauen.« »Für wie blöd hältst du die Bullen eigentlich?« widersprach Van Della zornig. »Schon gut, ich glaub's ja auch nicht. Aber ganz so abwegig ist es nicht, was Bob sagt. Verdammt, du hättest dich vo n Diane scheiden lassen sollen, als du aus Danbury rauskamst, Bob!« »Wem sagst du das, Jeff!« seufzte Rudman. »Okay, vergessen wir's!« sagte Grant abschließend. »Sonst noch irgendwelche Probleme?« »Nicht das ich wüßte, Baby. Ich habe nur vor, noch mal in meine Wohnung zu gehen und auf dem Weg dorthin eventuell einen kleinen Besuch zu machen,« erklärte Van Della. »Was dagegen?« »Das halte ich für keine gute Idee«, erwiderte Grant. »Um ehrlich zu sein, ich halte sie für besonders blödsinnig.« -310-
»Gut oder nicht gut, ich werde mich nicht darum kümmern, Jeff. Ich brauche noch einige Dinge aus meinem Apartment, und ich muß die Kleine unbedingt sehen.« »Seit wann gehst du für eine Frau ein Risiko ein?« Grants Stimme klang überrascht. »Ausnahmen bestätigen die Regel, Baby, und diesmal hat's mich einfach gepackt. Außerdem liegt ihre Wohnung direkt an meinem Weg, ich verliere kaum Zeit dabei. Weißt du, Jeff, ich möchte der Lady den Glauben an die Zuverlässigkeit der Post wieder zurückgeben.« »Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt, Cal. Vielleicht haben die Cops das Haus schon umstellt.« »Das bezweifle ich. Trotzdem werde ich mich absichern, bevor ich reingehe. Im Gegensatz zu gewissen Leuten aus meiner Bekanntschaft bin ich nicht lebensmüde.« Rudman setzte sich Richtung Parkplatz in Bewegung. Grant wollte ihm folgen, aber Van Della faßte ihn bei der Schulter und rief hinter Rudman her: »Wir kommen gleich nach, Bob!« »Was soll das?« fragte Grant erstaunt. »Warum hältst du mich fest?« »Weil wir uns was einfallen lassen müssen, um Bob von seinem Vorhaben abzubringen«, antwortete Van Della ruhig. »Und ich weiß auch schon, wie wir's anfangen.« Van Della berichtete von Marks Brief an Melanie und über den Inhalt einiger weiterer Briefe, die er geöffnet und gelesen hatte. Unter anderem auch über den Mordauftrag aus der Schweiz, auf den Malcolm Wiley wartete. Wie Cal beabsichtigte, die Aushändigung von Marks Brief an gewisse Leistungen von Seiten Melanies zu knüpfen, so wollte er auch Wileys eigenartiges Können für ihre Zwecke einspannen, falls der Killer an der Rückgabe des belastenden Schreibens interessiert war. -311-
Jeff Grant wollte mit dem Plan nichts zu tun haben. Er war empört über das, was Van Della ihm soeben vorgetragen hatte, mußte aber gleichzeitig zugegeben, daß er keine bessere Alternative hatte. Ja, wenn man die Sache unvoreingenommen betrachtete, gab es keine andere Wahl, es sei denn, sie wären bereit, alles bisher Gewonnene und sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. »Wir sind uns also einig?« fragte Van Della. »Ja«, stimmte Grant zu, obwohl er sich ziemlich unbehaglich in seiner Haut vorkam. Auf dem Parkplatz beachtete niemand die beiden Männer, die jeder einen Müllsack in ihrem Auto verstauten. Und niemand sah, daß der Mann, der seinen Abfall losgeworden war, heulend hinter dem Steuer saß. Was Robert Roswell Rudmann betraf, war alles so gekommen, wie seine Frau es Jorge Vegas vorhergesagt hatte.
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JORGE VEGA
In den zehn Tagen, die seit dem Postraub vergangen waren, hatten die Ermittlungen drei Anhaltspunkte ergeben. Es gab eine Zeugin, die sich in Polizeigewahrsam befand, es gab einige Beweisstücke, und die Festnahme der Green Spades stand bevor. Die drei mit der Aufklärung des Falles betrauten Männer hätten allen Grund gehabt, mit der Entwicklung der Dinge zufrieden zu sein. Stattdessen waren sie voller Skepsis gegenüber dem offensichtlich positiven Fortgang ihrer Nachforschungen. Vega war es, der ihre Skepsis in Worte faßte. »Mir gefällt das alles nicht, Jungs. Die Geschichte läuft mir zu glatt, zu reibungslos. Zu viele Teile des Puzzles fügen sich zu rasch ineinander.« »Jorge spricht mir aus der Seele. Man weiß nicht, ob man dem Braten trauen soll.« Barrington schlug in dieselbe Kerbe. »Vielleicht paßt in Wirklichkeit noch gar nichts zusammen.« »Das ist natürlich mö glich, Steve. Deshalb schlage ich vor, wir ziehen eine Zwischenbilanz.« Jorge Vega blickte fragend von einem zum ändern, dann fuhr er fort: »Da wäre zunächst einmal unsere neurotische Lady, Mrs. Rudman. Ich schließe nicht aus, daß ihre Rolle Teil eines raffiniert geplanten Ablenkungsmanövers ist. Rudman hat ihr die Zwei-DollarScheine gegeben, weil er wußte, daß sie damit genau das tun würde, was sie getan hat. Der Grund? Ich bin mir darüber nicht ganz im klaren. Vielleicht wollte er uns auf diese Weise eine Zeitlang in Atem halten. Er wußte, sie hatte von nichts eine Ahnung. Eine Tatsache, die herauszufinden, wir volle sechsunddreißig Stunden gebraucht haben. Zugegeben, wir verfügen nun über ein Bild von Rudman. Aber was taugt es -313-
wirklich? Nach dieser Zeichnung kann man jeden zweiten für Robert Roswell Rudman halten. Was die Danbury-Spur angeht, so ist sie bis jetzt äußerst schwach. Er galt als Einzelgänger, ohne Freund, ohne irgendwelche Interessen. Steve hat ein ganzes Rudel Agenten angesetzt, um nach Querverbindungen zu suchen. Das Resultat war gleich Null.« Barrington unterbrach Vegas Redefluß. »Wie ihr wißt habe ich mit einem Psychiater die Gründe diskutiert, die Rudman dazu gebracht haben könnten, uns seine Frau zum Fraß vorzuwerfen. Nach Doktor Moores Ansicht ergibt das durchaus einen Sinn. Mrs. Rudman ist zweifellos das, was man einen Drachen nennt, neurotisch, ewig unzufrieden und voller Pessimismus. Von daher wäre es ohne weiteres denkbar, daß ihr Mann sich mit dem Gedanken, ihr eins auszuwischen, schon seit dem Tag befaßt hat, an dem sie ihre erste Migräne hatte. Nun endlich bekam er seine Chance. Er handelte sofort; wohl wissend, daß er damit ihre Verhaftung heraufbeschwor. Diane Rudman wurde verhaftet - auf ihr lastete der schwerwiegende Verdacht auf Mittäterschaft -, Rudman hatte endlich gleichgezogen. Sie waren quitt miteinander. Dieses Bewußtsein gibt ihm wahrscheinlich eine größere Genugtuung als der ganze millionenschwere Raubzug.« »In dem Fall«, fuhr Vega fort, »wäre Mrs. Rudman für uns nur ein kleiner Fisch.« »Aber einer, an dem was dran ist«, bemerkte Barrington mit einem gequälten Lächeln. Jorge Vega nickte. »An zweiter Stelle ist da mein Freund Dwight Johnson, der sich für einen Ein-Mann-Feldzug entschieden hat, weil er als Held groß herauskommen will. Ich gebe zu, die Green Spades passen gut ins Bild. Aber ein falscher Schnurrbart und eine Eintragung in sein Notizbuch am Morgen des Raubüberfalls reichen keinesfalls, um der Grand Jury zu imponieren. Und selbst wenn es sich herausstellt, daß die Spades die NYPS-Fahrzeuge gesteuert haben, wäre das alles, was wir -314-
aufweisen könnten. Ein paar Mitläufer. Ich bin der festen Überzeugung, sie wurden für den Coup angeheuert und bezahlt, ohne den eigentlichen Boß jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Selbst wenn sie auffliegen, sind wir damit der Aufklärung des Verbrechens keinen entscheidenden Schritt nähergekommen.« Vega machte eine Pause und nahm einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. Leonard, der bisher geschwiegen hatte, räusperte sich und begann mit der Zusammenfassung seiner Ermittlungsarbeit. »Und dann ist da noch mein Mann, Pete Tulloch. Der arme Kerl ist kreuzunglücklich. Er ist fest davon überzeugt, einem der Anführer früher schon einmal begegnet zu sein. Und er führt dafür durchaus plausible Gründe ins Feld. Hinzu kommt, daß er über ein bemerkenswertes Erinnerungsvermögen verfügt, und daß wir inzwischen eine zweite mit einem Kreuz versehene Empfangsbescheinigung entdeckt haben. Aber auf dem Wisch ist der Name des Adressaten nicht zu entziffern. Den Empfang mit einem Kreuz zu bestätigen, ist nach den Bestimmungen der Post nicht zulässig. Bringt uns der Beleg weiter, ist Tulloch aus dem Schneider, stellt sich heraus, daß es sich wieder um eine Fehlanzeige handelt, hat der arme Teufel auch noch ein Disziplinarverfahren am Hals.« »Warum glaubst du Tulloch?« fragte Barrington. »Überleg doch, Steve! Dieser Ausspruch: ›Ich unterschreibe niemals etwas!‹ erfolgte derart spontan und überraschend, daß man ihn einfach ernst nehmen muß. Es war der einzige Bruch in einem sonst perfekt durchgezogenen Unternehmen, und er wurde verursacht durch die harmlose Bemerkung eines völlig verstörten Postmannes, der mit keinem Gedanken daran dachte, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich vermute daher, daß dieser Mann, der wegen einer Bagatelle die Nerven verliert, eine krankhafte Furcht besitzt, unter irgendetwas seine Unterschrift zu setzen, daß diese Furcht ihre Ursache in der Vergangenheit -315-
hat. Natürlich fehlt mir noch der endgültige Beweis, aber vielleicht bringt dieser zweite Beleg uns weiter.« »Ich hoffe es«, sagte Vega tonlos. »Doch bis jetzt sieht's so aus, als sei eins plus eins plus eins gleich null.« »Da bin ich ganz deiner Meinung, Jorge«, sagte Barrington. »Denn auch der Computer gibt sich immer noch sehr zurückhaltend. Und glaub mir, wenn der nichts ausspuckt, dann gibt es auch nichts, was auszuspucken wäre.«
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MELANIE HAIGHT Vor wenigen Augenblicken hatte Melanie Cal Van Dellas zweiten Anruf erhalten. »Morgen«, hatte er versprochen, »morgen haben deine Sorgen ein Ende.« Erneut mußte Melanie ihm versichern, daß sie mit niemandem über den ersten Anruf gesprochen habe und daß sie allein sein würde, wenn er käme. »Aber bitte, sagen Sie mir nur eins!« hatte sie verlangt. »Sind Sie ein Räuber oder ein Mörder?« »Ich bin ganz bestimmt kein Mörder«, erwiderte er. »Dann sind Sie also nur ein ganz einfacher kleiner Dieb, wie?« »Ich bin ganz sicher nicht einfach«, war die Antwort. »Und du beschäftigst dich immer noch viel zuviel mit Dingen, die dich nichts angehen, Baby!« Wieder endete das Gespräch jäh und ohne die üblichen Förmlichkeiten. Und wieder war das Gefühl einer wohligen Erregung in Melanie stärker als das der Angst.
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BOB RUDMAN
Es war das erste Mal nach dem Postraub, daß Rudman in der Nacht Schlaf fand. Er war erleichtert darüber, endlich das Geld los zu sein, an dem Blut klebte, und er konnte den Anblick kaum noch erwarten, daß er das 105. Polizeirevier betrat, um sich festnehmen zu lassen. Beim Aufwachen bereits quälte ihn der Gedanke, daß bis dahin noch ein halb er Tag verstreichen würde. Da er nichts mehr zu verlieren hatte, wurde er unternehmungslustig. Zuerst kehrte er nach New York zurück und fuhr zu seiner Wohnung. Selbst ihm, dem Amateur, fielen die beiden dunklen Detective-Limousinen auf, die in der Nähe des Gebäudeeingangs parkten. Er mußte sich zwingen, weiterzugehen. Am liebsten wäre er zu einem der Wagen hingerannt und hätte sich abführen lassen. Aber ein Versprechen war ein Versprechen. Und er hatte Jeff sein Wort gegeben, sich der Polizei nicht vor fünf Uhr nachmittags zu stellen. Als nächstes machte er halt vor dem 105. Polizeirevier, das er nicht zufällig ausgesucht hatte. Die Gründe reichten zurück in seine Kindheit. Als Junge hatte er mit seinen Freunden ganze Abende hier verbracht. Dieses Gebäude übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Stundenlang standen sie vor dem Eingang und starrten auf die endlose Prozession der Festgenommenen und der Opfer, die durch den grünlichen Lichtschein der Außenbeleuchtung in das Halbdunkel jener geheimnisvollen und bedrohlichen Welt traten, die vom wachhabenden Sergeanten wie von einem Zerberus bewacht wurde. Rudman spürte den Schauder, der ihn erfaßte. -318-
Bald würde er beides sein, Gefangener und Opfer. Als Rudman nach einer Weile die Fahrt fortsetzte, bemerkte er nicht den schwarzen Cougar, der ihm schon den ganzen Morgen wie ein Schatten gefolgt war. Der Mann hinter dem Steuer des Cougars hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. Er war auf stationäre Ziele spezialisiert und nicht gewohnt, Jagd auf sein Opfer zu machen. Außerdem beunruhigte ihn Rudmans ziellose und unberechenbare Umherkurverei durch die Stadt. Die Aussicht, bis kurz vor fünf mit der Erledigung des Auftrags warten zu müssen, trug ebenfalls nicht dazu bei, seine Stimmung zu verbessern. Rudman lenkte den Wagen in eine Parklücke und zwang den Cougar zu einem plötzlichen Bremsmanöver. Aber selbst dem lauten Kreischen der Reifen schenkte Rudman keine Beachtung. Der Verfolger setzte unbemerkt zurück und wartete am Straßenrand. Er beobachtete, wie Rudman ausstieg, die Straße überquerte und auf ein gelbes Gebäude zuging. Der Mann im Cougar stellte fest, daß es sich um eine Synagoge handelte und blieb sitzen. Nach acht oder neun Minuten erschien Rudman wieder. Keinerlei Veränderung war in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, aber sobald Rudman hinter dem Steuer Platz genommen hatte, preschte er mit wild aufheulendem Motor aus der Parklücke hinaus. Der Mann entschloß sich, ihm zu folgen, obwohl er das Risiko einer Jagd mit überhöhter Geschwindigkeit scheute. Nach kurzer Zeit verlangsamte Rudman das Tempo wieder, um es gleich darauf ohne erkennbaren Anlaß erneut zu beschleunigen. So ging es weiter in unregelmäßigem Wechsel. Der Mann im Cougar kam immer mehr zu der Überzeugung, daß Rud man ohne jedes feste Ziel durch die Stadt kurvte. Das warf natürlich seinen Plan um, Rudman irgendwo außerhalb von -319-
New York zu erledigen. Rudmans Bremslichter leuchteten auf. Der Wagen kam vor einem kleinen Restaurant zum Stehen. »Kaplan's Kosher Delicatessen« las der Verfolger verärgert. Er hatte Hunger, doch er wagte es nicht, auszusteigen und Rudman in das Lokal zu folgen. Er würde in seinem Wagen sitzen bleiben und wohl oder übel warten müssen, bis Rudman zu Mittag gegessen hatte. Verdammt, man stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Der Mann im Cougar faßte einen Entschluß. Man hatte ihm zwar eingeschärft, mit der Erledigung seines Auftrags bis kurz vor fünf zu warten, aber er würde sich über diese Anweisung hinwegsetzen. Sobald sich ihm eine günstige Gelegenheit bot, würde er sie ergreifen. Rudman hatte eine Puterkeule bestellt und verzehrte sie mit Appetit. Er spürte eine gewisse Spannung in sich, aber keinerlei Angst oder Besorgnis. Er hatte seine Entscheidung gefällt. Was also konnte ihm noch passieren? Der Mann im schwarzen Cougar wußte nichts von Rudmans Frage. Aber er wußte die Antwort darauf.
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JEFF GRANT Die Tür von Van Dellas Wohnmobil war abgeschlossen, und Grant stieß einen leisen Fluch aus. »Wo, zum Teufel, steckt der Kerl?« Jeff wandte sich zu Jennifer um, die ihn auf der Fahrt ins Suffolk County begleitet hatte. »Er wird sicher eine Nachricht hinterlassen haben«, antwortete sie. Jennifers Vermutung war richtig. Die Nachricht steckte hinter dem Windschild. Auf einem geöffneten Briefumschlag stand in dicken Balken, die für Van Dellas kühne Handschrift typisch waren: Bin morgen zurück. Regt euch nicht auf! Alles Liebe. »Er wußte genau, daß wir kommen würden und konnte nicht auf uns warten! Verdammt, Cal ist wieder sehr rücksichtsvoll!« Grants Gesicht war dunkelrot angelaufen. »Beruhige dich, Baby!« sagte Jennifer sanft. »Wir hatten eine herrliche Fahrt hierher, und nun, da wir einmal hier sind, werden wir einen langen Spaziergang durch die Dünen machen. Stell dir vor, Jeff, es wird so sein, wie in längst vergangenen Zeiten.« »Dieser krumme Hund!« Grant war immer noch bei Van Della. »Vergiß Cal! Er wird zurückkommen, Baby. Fünf Millionen ketten einen Mann an sein Zuhause.« »Fünf Millionen! Hölle und Verdammnis, jetzt, wo Bob aufgegeben hat, sind es fast acht!« Hand in Hand wanderten Jeff und Jen den Strand entlang. Die Erinnerung an gemeinsam verbrachte Ferientage stieg in ihnen auf. Es war lange her. Damals war Jeffs Leben noch nicht zerstört gewesen, das er nun durch einen ebenso verbrecherischen wie genialen Coup wieder neu aufzubauen -321-
versuchte. »Gibt es auch in Costa Rica einen Strand wie diesen?« fragte Jennifer. »Einen Strand wie diesen«, wiederholte Jeff. »Verglichen mit Costa Rica ist das hier nur ein Vorgeschmack.« Jennifer lächelte bei der Verheißung von Sonne und Abenteuer. »Ist bald wirklich alles vorüber, Baby?« fragte sie zärtlich. »Ja, Liebling. Nur noch ein paar lose Enden, die miteinander verknotet werden müssen. Noch eine wichtige Sache, die zu erledigen ist, und wir haben's geschafft.« Jennifer warf sich Jeff in die Arme. Ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuß. Keiner der beiden bemerkte, daß sie längst nicht mehr allein waren.
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BOB RUDMAN
Für Robert Roswell Rudman war die Uhr endgültig abgelaufen. Es hatte den Anschein, als beabsichtige er, die letzten Stunden in der Freiheit in seinem parkenden Wagen zu verbringen - und zwar in unmittelbarer Nähe des 105. Polizeireviers. Das jedoch machte ihn zu einem stehenden Ziel. Und damit zu einem Objekt, das der Mann im schwarzen Cougar niemals verfehlte. Der Mann hatte die Beifahrertür von Rudmans Wagen geöffnet und richtete den mit einem Schalldämpfer versehenen Lauf der -357er Magnum auf sein Opfer. Der Mittelfinger der rechten Hand krümmte sich um den Abzug, als Rudman den Kopf drehte. »Wer...« Die Schüsse schnitten seine Frage ab. Eine Kugel nach der andern drang mit dumpfem Detonationsgeräusch in den erschlafften Körper. Kein Fußgänger war in der Nähe, und niemand sonst beobachtete den Mann, der ruhig zu seinem schwarzen Cougar zurückkehrte und langsam davonfuhr.
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CAL VAN DELLA
Es gab kaum ein Ereignis in Van Dellas Leben, an das er sich noch lange erinnert hätte. Für manche Leute ist die Vergangenheit so etwas wie ein Prolog, für Van Della war sie nicht mehr als die Zeitungsausgabe von gestern. Cal bewahrte weder Zeitungen noch Erinnerungen auf. Doch als er sich an diesem Tag Manhattan näherte, erfaßte ihn die Erinnerung an die letzten Ereignisse mit ungewohnter Eindringlichkeit. Vor dem Queens-Midtown-Tunnel spürte er plötzlich ein Ziehen zwischen den Schulterblättern. Es war das erste Mal seit dem Postraub, daß er wieder nach Manhattan und nach 10022 zurückkam. Diesmal ging es ihm um Liebe, nicht um Geld. Der Gedanke, irgendwo im Postbezirk 10022 mit einer Frau zu schlafen, während eine Armee von Polizisten, FBI-Agenten und Postinspektoren nach ihm fahndete, steigerte sein Verlangen ins Unerträgliche. Dennoch vergaß er nicht, die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Er nahm die Ausfahrt zur Third Avenue. Es war die Strecke, die er während der letzten Wochen immer wieder zurückgelegt hatte, um den Zeitplan der Briefträger und der Postfahrzeuge zu bestimmen. Eine Zeitlang folgte er dem altbekannten Weg, um dann in die Straße einzubiegen, die zu Melanies Wohnung führte. Van Dellas Blick suchte nach versteckt geparkten Wagen, deren Insassen mit vorgereckten Köpfen durch die Windschutzscheibe nach draußen starrten. Nichts Verdächtiges fiel ihm auf. Er hielt neben einer Telefonzelle, stieg aus und rief Melanie an. -324-
»Sie sind sehr früh«, sagte sie scheinbar ruhig. »Vielleicht kann ich es nicht mehr erwarten«, erwiderte er. »Während einer dreistündigen Fahrt warst du der Star meiner Träume.« »Aber warum rufen Sie jetzt noch mal an. Die Jungs auf der High School waren längst nicht so umständlich, bevor Sie...« »Tut mir leid, dich unterbrechen zu müssen, Baby, aber ich bin gezwungen, mich abzusichern. Ich muß wissen, ob du allein zu Hause bist, oder ob du inzwischen auf die Idee gekommen bist, mir eine Empfangsparty zu geben.« »Mister Postman«, antwortete Melanie, »es liegt wahrhaftig nicht in meinem Interesse, meine Position Ihnen gegenüber noch mehr zu schwächen, aber eins dürfte doch klar sein, daß ich Sie genauso brauche wie Sie mich. Aus diesem Grund habe ich mich strikte an unsere Vereinbarungen gehalten. Sie haben mir Ihr Wort gegeben, daß ich lebend aus der Sache herauskommen werde, und das allein ist wichtig für mich. Sollte sonst noch irgendwas zwischen uns laufen, bin ich zumindest nicht abgeneigt. Alleinstehende Ladies in einer großen Stadt verhalten sich so, wenn es sich um unbekannte Männer handelt. Oder sollten Sie das nicht wissen?« »Okay«, sagte er, »ich glaube dir, Baby!« »Noch etwas, bevor Sie auflegen«, hielt Melanie ihn zurück. »Welchen Namen werden Sie dem Portier angeben? Er wird Sie nicht ins Haus lassen ohne meine Zustimmung.« »Mister Cahill«, entgegnete er. »Bill Cahill.« Das war der Name des Gefängnisdirektors in Danbury. »Okay, Bill«, rief Melanie heiter. »Bis bald dann!« Cal setzte die Fahrt fort. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße. Das letzte Stück zu Melanies Wohnhaus ging er zu Fuß. Er hatte das Gefühl, ein Minenfeld zu überqueren. Aber die Situation wirkte erregend auf ihn. Er genoß die Ungewißheit -325-
und das Risiko, auf die er sich eingelassen hatte. Aber nichts geschah. Der Portier ließ Mister Cahill ungehindert ins Haus. Melanie hatte sich für den Anlaß entsprechend zurechtgemacht. Es war das erste Mal, daß sie erpreßt wurde, und sie hatte sich für den Erpresser gekleidet, als erwarte sie einen Liebhaber. Die hauchdünne Seidenbluse und der weiche Stoff der schwarzen Samthose brachten die Formen ihres grazilen Körpers aufreizend zur Gelhing. Zum erstenmal benutzte sie die Reize ihres Körpers als Waffen. Es war ein Körper, der mit jeder Bewegung und jeder Linie zu verstehen gab, daß er nur auf Zärtlichkeit und nicht auf Gewalttätigkeit reagieren würde. Du kannst ihn dir nehmen, aber beglücken wird er dich nur, wenn er sich dir freiwillig hingibt. Van Della verschlug es die Sprache, als Melanie ihm die Tür öffnete. »Ich habe mir stets allerhand auf meine Vorstellungskraft eingebildet«, sagte er, »aber die Wirklichkeit ist schöner als meine schönsten Träume.« Melanie lachte. Fast augenblicklich hatte sie die seltsamen Umstände, unter denen diese Begegnung zustande gekommen war, vergessen. Voller Herzlichkeit bat sie Cal in den Wohnraum, in dem noch ein schlimmes Durcheinander herrschte. »Sie sind sehr früh«, sagte sie verlegen, »und ich hatte noch keine Zeit, die Wohnung aufzuräumen.« »Hier ist die Post, Lady...« Melanie riß Cal die Sachen aus der Hand. Es war ein Bloomingdale-Katalog, ein Exemplar des New York Magazine und die Monatsaufstellung der Argent Pharmacy. »He, Sie Bastard, wo ist der richtige Umschlag?« »Ich dachte mir, den behalte ich noch eine Weile. Bis ich mir -326-
darüber im klaren bin, ob Sie ihn auch verdient haben. Im übrigen handelt es sich ja auch nur um schnöden Mammon.« Melanie zwang sich zu einem Lächeln und nahm auf dem Sofa Platz. Cals natürlicher Charme und ihr Hunger nach Zärtlichkeit ließen eine spannungsgeladene und doch vertraute Atmosphäre zwischen ihnen entstehen. »Hier hab' ich gesessen an diesem fürchterlichen Montag morgen«, erzählte Melanie. »Ich hab' gewartet und gewartet, bis ich glaubte, ich würde den Verstand verlieren...« »Du meinst«, unterbrach sie Cal, »ich hätte dich vorher schon anrufen sollen, um dir mitzuteilen, daß es bei der Zustellung eine leichte Verzögerung geben werde...« Beide mußten lachen. Cal zog Melanie an sich, und sie sah sein Gesicht durch einen Schleier aus Tränen. Ihre Arme umschlangen seinen Nacken. Langsam ließ er den bebenden Körper zu Boden sinken, dann nahmen seine Hände Besitz von ihr. Mit einem leisen Stöhnen duldete Melanie die lang entbehrten Liebkosungen. Wild drängte sie sich gegen Cal. Ermutigte ihn immer hemmungsloser, in sie einzudringen. Nach kurzer Zeit lagen sie eng umschlungen und schweratmend auf dem Teppich unter dem Fenster. »Es ist noch nicht mal ein Eisbärfell«, flüsterte Cal ihr zwischen zwei Küssen ins Ohr. »Du Bastard!« Melanie gab sich gekränkt. »Wann hast du Zeit gehabt, das festzustellen?« Cal begann zu lachen. »Was, zum Teufel, ist daran so lustig?« wollte Melanie wissen. »Mir fiel plötzlich ein, daß ein Verbrechen sich ganz schön lohnen kann. Ich hätte dich sonst niemals kennengelernt.« »Du bist also einer von den ganz Schlimmen«, flüsterte Melanie glücklich. »Als wenn ich es gewußt hätte!« -327-
»Natürlich! Und es macht mich noch erregender, nicht wahr?« »Sie sind schon erregend genug, Mister Postman!« »Danke für das Kompliment, Lady.« Cal stand auf, ohne auf seine Nacktheit zu achten. »Dafür sollst du auch belohnt werden. Mit dem Rest der Post.« »Ich finde es lustig. Gerade erst hab' ich mit dir geschlafen, und gleich darauf gibst du mir den Brief mit dem Scheck meines Ex-Mannes. Irgendwie scheint das nicht fair zu sein.« »Ihm oder mir gegenüber?« »Dir gegenüber! Aber das macht dir wohl nichts aus, wie? Vermutlich bist du nur ein gefühlloser alter Rohling.« »Alt?« »Da haben wir's schon! Du sagst nichts gegen das Wort ›gefühllos‹. Also gibst du zu, ein Rohling zu sein.« »Nein, das tue ich nicht. Und im übrigen gibt es da noch einen Unterschied.« »Und der wäre?« »Ich kenne den Brief und dessen Inhalt bereits.« Lächelnd nahm Melanie den Scheck aus dem Umschlag und las aufmerksam den Brief. Es war ein harter Brief, voller Warnungen und unverhüllter Drohungen. Melanie brach in Tränen aus. Erst als Cals leidenschaftliche Zärtlichkeit sie erneut in den Strudel des Vergessens hineinriß, schwanden der Schmerz und die Furcht, die der Brief in Melanie geweckt hatte. Eigentlich wollte Cal noch in derselben Nacht wieder zu seinem Wohnmobil zurückkehren, um sich - wie in der Nachricht versprochen - am nächsten Tag mit Grant zu treffen. Aber das war, bevor Melanie ihn in ihren Bann gezogen hatte. »Ich hab' nur eine einzige schlechte Gewohnheit«, gestand sie ihm nach dem Nachtessen. »Ich kann nicht eher ins Bett, bevor ich nicht die Elf-Uhr-Nachrichten gesehen habe. Es ist so etwas wie mein Schlaftrunk, verstehst du?« -328-
»Heute nacht werde ich dein Schlaftrunk sein.« »Ja, Cal. Doch zuschauen lassen mußt du mich trotzdem.« »Einverstanden. Aber eins verspreche ich dir...« »Was?« »Daß du auch danach noch keinen Schlaf finden wirst!« Die Nachrichten brachten die längst bekannten Tagesereignisse. Es folgte Marv Alberts Sportschau, die plötzlich von Chuck Scarborough, dem Nachrichtensprecher unterbrochen wurde. »Tut mir leid, Marv, daß ich mitten in deine Sendung hineinplatze, aber soeben erreichte uns eine sensationelle Story...« »Macht nichts, Chuck, war sowieso heute nichts Weltbewegendes dabei...« Der Ton brach ab, und die Kamera schwenkte zum Mikrophon des Nachrichtenredakteurs, der sein Manuskript ordnete. »Soeben erhalten wir eine Mitteilung der Polizei in Queens. In einem parkenden Personenwagen wurde die Leiche eines weißen Mannes gefunden. Obwohl die Identifizierung des Toten formal noch nicht abgeschlossen ist, geht die Staatsanwaltschaft von der Annahme aus, daß es sich bei ihm um Robert Roswell Rudman handelt. Rudman wird wegen Beteiligung an dem großen Postraub gesucht, der vor knapp zwei Wochen die gesamte Midtown Manhattan lahmlegte. Die Frau des Gesuchten befand sich zur gleichen Zeit auf dem Polizeirevier in Gewahrsam, da sie vor zwei Tagen mit einem Teil des erbeuteten Geldes gefaßt worden war. Laut Polizeibericht hat Mrs. Rudman die Leiche einwandfrei als die ihres Mannes identifiziert. Eine ins einzelne gehende Befragung konnte nicht stattfinden, da Mrs. Rudman anschließend einen Nervenzusammenbruch erlitt. Meine Damen und Herren, -329-
bleiben Sie weiter auf Kanal vier, wir werden sie laufend über die neueste Entwicklung unterrichten. Bob Teague ist bereits zum Fundort der Leiche unterwegs, und wir hoffen, Ihnen nach der Talkshow mit Johnny Carson einen umfassenden Bericht des Geschehens geben zu können.« Van Della rührte sich nicht. Sein Gesicht war aschfahl. »Bist du in Ordnung?« fragte Melanie besorgt. »Hattest du mit ihm zu tun?« Van Della gab keine Antwort. Dann löste sich seine Starre, und er sagte leise: »Ja, ich hatte damit zu tun!« »Womit?« »Mit beiden.« »Was soll das heißen: mit beiden? Meinst du, wir haben uns hier geliebt, und du wußtest, daß in der gleichen Zeit jemand deinen Partner umlegen würde?« »Ich hab' dir doch gesagt, daß ich kein Killer bin!« »Was bist du dann, Mister Postman? Was, zum Teufel, bist du?« »Nur ein Mann, Baby. Ein Mann, der unsterblich in eine Frau verliebt ist.« »Und ein Dieb...« »Hab' ich dir irgendetwas weggenommen, Baby?« »Ja, alles«, sagte Melanie. »Aber nein, du hast es mir nicht weggenommen, ich hab' es dir freiwillig gegeben. Du hast also recht: Du bist kein Dieb. Aber du bist ein Teufel von einem Mann!« Langsam hob Van Della die Hand und strich mit dem Handrücken sanft über Melanies Wange.
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MALCOLM WILEY
Das zweite Mal in zwei Tagen sah Wiley sich gezwungen, jemanden aus nächster Nähe zu töten. Er stieg die breiten Steinstufen vor dem General Post Office Ecke Eighth Avenue und 3ist Street empor. Über dem Eingang des mächtigen Gebäudes prangten die Worte, an die alle Postbediensteten der Vereinigten Staaten wie an ein Evangelium geglaubt hatten, bis der spektakuläre Raubzug vor zwei Wochen diesen Glauben in seinen Fundamenten erschütterte: Weder Regen noch Schnee, weder die Hitze des Tages noch die Dunkelheit der Nacht können die Männer der Post von der raschen und gewissenhaften Erledigung Ihres Auftrags abhalten. Der Mann, mit dem Wiley sich treffen sollte, war einer derjenigen, die es fertiggebracht hatten, die Wahrheit dieses Satzes mit einem tollkühnen Coup zu widerlegen. Unglücklicherweise fiel dieser Widerlegung auch das Schreiben des Premiers zum Opfer, auf das Wiley mit Ungeduld wartete. Nun, nachdem dieses Schreiben dazu benutzt worden war, Wiley zu einem Mord zu zwingen, wartete er auf die versprochene Aushändigung desselben. Das Treffen war für 4 Uhr 30 angesetzt. In der Instruktion hatte es klar und deutlich geheißen: Finden Sie sich an der fünften Säule des General Post Office ein, in der Reihenfolge von Süden nach Norden, von der 34th zur 33rd Street. Die Uhr zeigte zehn Minuten nach vier, und Wiley stieg mit langsamen, aber zielstrebigen Schritten die menschenleere Freitreppe hoch, die von der belebten Eighth Avenue zu den neunzehn Drehtüren der prunkvollen Eingangshalle des GPO führte. -331-
Zwanzig Säulen, jede von ihnen mit einem goldenen Adler geschmückt, unterbrachen wirkungsvoll das Nebeneinander der Drehtüren. Es gab kaum einen Zwischenraum zwischen Säule und Außenmauer. Wiley würde seinem Wild offen gegenübertreten müssen. Alles würde darauf ankommen, den Überraschungsmoment zu nutzen, um einen schnellen und sicheren Schuß anzubringen.
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JEFF GRANT
Jeff Grant hatte sich entschlossen, an Van Dellas Stelle zu dem Treffen mit Wiley zu gehen. Der Gedanke an Rudmans Tod bedrückte ihn, gleichzeitig empfand er eine maßlose Wut über Van Della, der sich irgendwo in der Stadt mit seiner neuen Puppe herumtrieb, anstatt sich um den Killer zu kümmern. Van Della hatte das General Post Office als Treffpunkt gewählt, weil er der Überzeugung war, der weiträumig angelegte Vorplatz schließe jede Gefahr eines Hinterhalts aus. Aber Van Della hatte übersehen, daß es sich bei Wiley um einen eiskalten Profi handelte, der gewohnt war, aus jeder Situation das Beste für sich herauszuholen. Mit jäher Deutlichkeit erkannte Grant, daß ihm nur noch wenige Minuten blieben, sich einen taktischen Gegenzug einfallen zu lassen. Die Idee kam ihm, während er dem dritten Wermutbruder auswich, der ihn wegen eines Almosens anbettelte. Die aufdringlichen Straßenbettler wurden immer zahlreicher, je mehr Jeff sich dem General Post Office näherte. Die Kerle auf der Sixth Avenue hätte man beinahe noch höflich nennen können, die auf der Seventh Avenue waren von einer widerwärtigen Arroganz. Als Jeff die 34th Street, die breiteste und belebteste Straße auf dem Weg zum Hauptverwaltungsgebäude der Post, entlangging, lösten sich aus einer Einfahrt drei abgerissene Gestalten, versperrten ihm den Gehsteig und schienen entschlossen, ihn nicht eher zu verlassen, bis er seinen Wegzoll entrichtet hatte. Grants Plan schloß ein Risiko ein. Diese halbbetrunkenen -333-
Gestalten konnten sich in Luft auflösen, sobald er jedem von ihnen ein Fünf-Dollar-Stück in die Hand gedrückt hatte. Aber dieses Risiko mußte er eingehen. Jeff unterbreitete den dreien sein Angebot. Grinsend hörten sie ihm zu. Erheitert und keineswegs argwö hnisch gingen sie auf seinen Vorschlag ein. Indessen hatte Wiley den Ort des ungewöhnlichen Rendezvous erreicht. Seine Hand umschloß die Magnum in der Tasche des Regenmantels, den er trug. Der Sicherungsbügel der Waffe war umgelegt, die Kugel ruhte im Lauf, bereit, das dichte Leinengewebe zu durchstoßen und sich in den Körper des Gegners hineinzubohren. Wileys Blick wanderte gespannt die riesige Freitreppe entlang. Von Zeit zu Zeit schaute er auf die Rolex an seinem linken Handgelenk. Es war 4 Uhr 30, als drei Männer in abgerissener Kleidung die Treppe betraten. Langsam stiegen sie die Stufen empor, direkt auf Wiley zu. Wiley schaute prüfend auf die Uhr. Der Griff um den Kolben der Magnum verstärkte sich. Jeder der Näherkommenden schien irgendetwas in der Hand zu halten, so wie der Erpresser es angekündigt hatte. Aber Wiley konnte nicht erkennen, was es war. Es konnten Briefe sein oder mit einer Banderole zusammengehaltene Zeitungen. Die drei Männer schienen keine Eile zu haben. Einer von ihnen zeigte ein leicht höhnisches Grinsen, doch niemand nahm die geringste Notiz von Wiley, der seine ganze Aufmerksamkeit auf die sich nähernden abenteuerlichen Gestalten gerichtet hatte. Wiley ertappte sich dabei, wie er ihre Schritte zählte. »Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig...« Der Mann in der Mitte hatte nur noch zwei Schritte bis zur Plattform. Wiley - im Rücken die fünfte Drehtür - starrte ihm gebannt entgegen. -334-
Als der Stadtstreicher die oberste Stufe erreichte, trat Grant aus der Drehtür. Mit einem blitzschnellen Satz war er hinter Wiley. Hart stieß er ihm einen länglichen Gegenstand in die Seite. »Nimm die Hand aus der Tasche!« befahl er scharf. »So, und jetzt einen Schritt nach links! Aber ganz ruhig und ohne die Nerven zu verlieren!« Wiley gehorchte. Er sah, wie die drei Männer vor ihm sich hastig zurückzogen. Augenblicke später war die Treppe wie leergefegt. Der Druck in Wileys Seite verschwand, gleich darauf spürte Wiley ihn zwischen den Schulterblättern. »So weit, so gut«, sagte Grant. »Und jetzt werde ich in deine rechte Manteltasche greifen und den Ballermann an mich nehmen, den du todsicher bei dir trägst. Halt die Luft an, bis ich ihn herausgeholt habe!« Grant griff in Wileys Manteltasche. Jetzt endlich war er im Besitz einer Waffe. Der Lamy-Filzschreiber hatte seine Schuldigkeit getan. »Ich werde ihn mir eine Zeitlang ausleihen«, erklärte Grant. »Und hier...«Er reichte Wiley den belastenden Brief des Premiers. »... hier hast du den Grund deines Kommens.« Wiley streckte den linken Arm seitwärts aus, und Grant legte den Brief in die geöffnete Handfläche. »Nicht wegstecken!« befahl Grant. »In der Hand behalten, und keine Bewegung! Bleib stehen, wie du stehst! So, und nun zählst du langsam bis zehn. Danach kannst du machen, was du willst. Wir sind quitt.« Geschmeidig wich Grant zurück. Blitzschnell verschwand er durch die Drehtür. Er durchquerte die Eingangshalle des GPO und verließ sie durch einen der Ausgänge an der 33rd Street. Wiley zählte bis vier, dann wirbelte er herum und stürmte in die Halle. Er entdeckte Grant, als dieser gerade auf die Straße -335-
hinaustrat. Am Ausgang verlangsamte Wiley seine Schritte und folgte Grant, der in Richtung Eighth Avenue davoneilte. Wiley war entschlossen, den Mann, der ihn soeben überrumpelt und ausgetrickst hatte, nicht aus den Augen zu verlieren. Der Verlust seiner Magnum beunruhigte ihn, aber er bewertete den Erfolg des Gegners als Anfängerglück. Wiley würde sich an die Fersen des anderen heften. Über kurz oder lang würde der Amateur schon einen Fehler machen, und dann würde Wiley dasein.
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DAVID KNIGHT
David Knight saß auf der Veranda seines Wochenendhauses hoch über dem Atlantik. Das Geräusch eines näher kommenden Wagens schreckte ihn aus seinen Träumen. Knight erwartete keine Besucher. Beunruhigt stand er auf, ging ins Haus und zur Haustür. Als die Glocke nicht ertönte, öffnete er und spähte in die blauschwarze Dunkelheit. Niemand war zu sehen. Knights Haltung entspannte sich. Vermutlich ein paar junge Burschen, die zum Strand runter wollten, dachte er. Nachdenklich kehrte er auf die mit dicken Holzbohlen ausgelegte Veranda zurück. Er ließ sich im Liegestuhl nieder und lauschte dem gedämpften Donnern der Brandung. Der unangemeldete Besucher war an einem der in den Sand gerammten hölzernen Stützpfeiler hochgeklettert und verharrte bewegungslos am Ende der Veranda. Aus haßerfüllten Augen starrte er auf den Mann, der sein Leben zerstört hatte. Grant war sich über den Ausgang der bevorstehenden Begegnung nicht im klaren. Klar war er sich nur über eins: daß sie unausweichlich war. Er wollte, daß David Knight erfuhr, wer ihm die Morgenpost geraubt hatte. Knight sollte wissen, daß Grant es war, dem er seinen Ärger verdankte. Grant löste sich vom Verandageländer und trat in Knights Blickfeld. Langsam hob er den Arm mit der Magnum. Knight blickte auf. Die Adern an seinem Hals traten dick hervor. Er hatte Angst. »Steh auf!« befahl Grant scharf. Knight gehorchte. Er stand mit dem Rücken zum Haus. -337-
Der Lauf von Grants Waffe zeigte genau auf Knights Magengrube. Knight vermied es, Grant anzuschaue n. Wie hypnotisiert starrte er auf die Magnum in der Hand seines ehemaligen Vizepräsidenten. »Ich sehe, du kommst nicht allein«, sagte Knigth endlich. Es waren die ersten Worte, die er seit drei Jahren an Grant richtete. »Halt's Maul!« Grants Stimme war kalt. Knight schien seine Fassung zurückgewonnen zu haben, er hob den Blick und sah Grant in die Augen. »Du bist kein Killer, Jeff Grant. Ein Gauner, ja. Ein Killer, nein. Ich weiß das besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Erinnere dich, Jeff! Keiner kennt dich so gut wie ich...« »Verschone mich damit«, unterbrach ihn Jeff Grant. Ein milchiger Halbmond beleuchtete die beiden Gestalten, die sich nur schwach vor dem Hintergrund der silbrig aufschimmernden Schaumkronen abhoben. Knight, überzeugt, daß Grant gekommen war, ihn zu töten, reagierte unerwartet und mit dem Mut der Verzweiflung. Wild sprang er Grant an. Grant taumelte rückwärts und krachte gegen das Geländer. Die oberste Stange zerbrach unter dem Anprall. Die Waffe entglitt seinem Griff, fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden und rutschte zwischen zwei Holzbohlen. Grant beugte sich vor und griff nach der Waffe. Knight wartete ab, bis Grants Nacken ungeschützt vor ihm lag. Die Hände ineinander verschränkt, holte er zum Schlag aus. Er war entschlossen, den anderen außer Gefecht zu setzen und ihn durch das zerbrochene Geländer hinunter in die gurgelnde Brandung zu stoßen. In diesem Augenblick ertönte der peitschende Klang eines Schusses. Eine Kugel zerschmetterte Knights Rückgrat. Fassungslos blickte er auf Grant. Seine Lippen bewegten sich -338-
lautlos, während er stürzte. Schwer krachte Knights Körper auf die Holzplanken. Die Veranda erzitterte. Noch einmal bäumte der Sterbende sich auf, dann sank er kraftlos in sich zusammen.
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MALCOLM WILEY
»Er hatte wirklich recht: Sie sind kein Killer!« Kriechend entfernte sich Grant vom Rand der Veranda. Die nicht abgefeuerte Waffe in der Rechten, blickte er in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie gehörte Wiley, der eine andere Magnum im Anschlag hielt. »Damit wären wir quitt«, stellte Wiley sachlich fest und ließ die noch rauchende Waffe sinken. »Ich war Ihnen noch etwas schuldig für heute nachmittag vor dem General Post Office. Jetzt, denke ich, dürfte das ausgeglichen sein zwischen uns.« »Sie sind mir hierher gefolgt?« »Ja, wie Sie sehen. Und ich muß sagen, Sie haben es mir nicht leichtgemacht. Schließlich bin ich es gewohnt, für einen Auftrag mein Honorar zu kassieren.« »Sie können Rudmans Anteil haben«, sagte Grant. »Einverstanden.« Wiley nickte. »Nach diesem Nachmittag brauche ich eine Ruhepause. Hoffentlich reicht's für einen längeren Urlaub!« »Ich glaube schon. Falls Sie keine zu großen Ansprüche stellen.« Grant lächelte. »Nach meiner Schätzung werden Sie mit einer Summe von fünf Millionen Dollar rechnen könne n.« Wileys Miene verriet Überraschung. »Übrigens, wie ist es mit meinen Garantien?« fragte Grant, der immer noch Wileys Magnum in der Faust hielt. »Bin ich sicher vor Ihnen? Einige Stunden zuvor wollten Sie mich noch umlegen...« »So sicher wie jeder andere auch«, erwiderte Wiley ausdruckslos. »Das ist keine Antwort.« -340-
»Es ist die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann. In meiner Branche macht man keine Versprechungen.« »Also keine Garantien?« »Keine.« Plötzlich empfand Grant den Wunsch, so schnell wie möglich von Wiley wegzukommen. »Hier!« Grant rieb die Magnum an seiner Hose ab, um die Fingerabdrücke zu beseitigen. »Nehmen Sie!« Er hielt dem anderen die Waffe hin. »Ich krieg' das Ding doch nicht durch die Flughafenkontrolle. « Es war spät geworden, und Jennifer wartete auf ihn. Sie hatte versprochen, das gelbe Neglige zu tragen, wenn er zurückkam.
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NACHWORT Wochen später, nachdem man die verlassenen Wohnwagen entdeckt und die geraubte Post sichergestellt hatte, fanden die Bewohner des Postbezirks New York, N.Y. 10022 - unter ihnen auch Rhoda Levine, die immer noch unschlüssig war, ob sie Byron Trask verführen sollte oder nicht, und Jane Galobic, die den Entschluß gefaßt hatte, zu ihrem Sohn zu ziehen - neben der lange vermißten Post folgende Mitteilung in ihren Briefkästen: FRANKLIN D. ROOSEVELT STATION NEW YORK, N.Y. 10022. Vor einiger Zeit führten Umstände, die außerhalb unserer Kontrolle lagen, zu einer zeitweiligen Unterbrechung des Zustelldienstes. Als Folge davon verzögerte sich die Beförderung der heute ausgeteilten Brief- und Paketsendungen. Wir geben der Hoffnung Ausdruck, daß Ihnen durch diese Verzögerung keine Unannehmlichkeiten entstanden sind. Ihr Post Office hat alle notwendigen Maßnahmen getroffen, um die Wiederholung einer solchen Betriebsstörung in Zukunft zu vermeiden. ENDE
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