Angela Sommer-Bodenburg
Die Moorgeister Mit Zeichnungen und Bildern von Reinhard Michl
Ebook by »Zerwas«
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Angela Sommer-Bodenburg
Die Moorgeister Mit Zeichnungen und Bildern von Reinhard Michl
Ebook by »Zerwas«
Rowohlt ISBN: 3-499-20429-0
Für alle, die sich noch be-geistern können; für Katja und ganz Besonders für Burghardt.
Inhalt Der Fremde im Zug 4 Der Händler der verkauften Träume 8 Träumst du? 18 Tante Mimi 24 Lydia 31 Der Herdgeist 35 Der Weg ins Moor 38 Am Schwarzen Geistersee 48 Wenn das Moor leben soll 61 Das Haus mit den drei Messern 70 Frau Holde 77 Armer Timo! 90 Auf der Suche nach dem Schwarzen Spiegel 90 Holunderblüten 108 Das Theater in Peest 115 Die Botschaft 120 Der Abschied 128 Anhang: Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff 130 Der Fremde im Zug
Der Fremde im Zug Es war Sommer, und Timo hatte Ferien - große Ferien, auf die er sich monatelang gefreut hatte. Aber nun verging Woche um Woche, ohne daß etwas Aufregendes passierte, und mit jedem Tag wuchs Timos Langeweile. Das fiel sogar seinen Eltern auf. Wenn sie abends von der Arbeit heimkamen, wunderten sie sich über Timos schlechte Laune. Als dann auch noch Timos einziger Freund verreiste, fragte Timos Mutter, wie es wäre, wenn er zu Tante Mimi nach Moorkaten führe. »Zu Tante Mimi? Aufs Land?« sagte Timo wenig begeistert. Er kannte Tante Mimi kaum, und das gottverlassene Moordorf, in dem sie wohnte, lockte ihn auch nicht. Aber nach einigem Überlegen fand er die Idee doch gar nicht so schlecht. Jedenfalls war es besser, zu Tante Mimi zu fahren, als noch drei Wochen zu Hause herumzusitzen! Und so fuhr Timo zum erstenmal in seinem Leben allein mit der Bahn. Er stand am offenen Abteilfenster, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und dachte voller Neid an seine Klassenkameraden, die weite Reisen machen durften. »Willst du nicht das Fenster schließen?« sagte da auf einmal eine dunkle Stimme hinter ihm. Timo drehte sich um und sah einen hageren, graugekleideten Mann neben der Tür Platz nehmen, die er jetzt mit seinen langen dünnen Beinen versperrte. Hastig schob Timo das Fenster hoch und setzte sich. Dann spähte er voller Unbehagen zu dem Fremden hinüber. Der hatte seinen dicken grauen Mantel um sich gewickelt, als würde er frieren.
Vielleicht war er krank? Das würde auch seine ungesunde blasse Gesichtsfarbe und die tiefen Schatten unter seinen Augen erklären Jetzt räusperte er sich und fragte: »Und du fährst auch nach Peest?« »Ich?« Timo zuckte zusammen. »Nein. Ich fahre nach Kümmerling. Zu meiner Tante.« »Nach Kümmerling?« wiederholte der Fremde und sog die Luft mit einem scharfen, zischenden Laut ein. »Diesen Ort werde ich nie vergessen!« »Ist es so schlimm da?« fragte Timo erschrocken.
»Nein«, antwortete der Fremde dumpf und fuhr sich über die Stirn, als müßte er eine böse Erinnerung verscheuchen. »Es ist eine nette kleine Stadt, mit engen Gassen und alten Häusern. Nur mir - mir hat sie kein Glück gebracht!« Danach schwieg er und starrte auf seine mageren Hände. Timo hätte nur allzugern gewußt, was dem Mann in Kümmerling widerfahren war, aber er traute sich nicht zu fragen. Verlegen sah er aus dem Fenster. Eine Weile verging, bis der Mann mit rauher Stimme fragte: »Und was willst du in Kümmerling?« »Ich soll Ferien machen bei meiner Tante -« »In Kümmerling?« »Nein. Sie wohnt auf dem Land, in Moorkaten.« »In Moorkaten -« sagte der Fremde gedankenvoll. »Kennst du das Gedicht: ›Der Knabe im Moor‹ von Annette von Droste-Hülshoff?« (Zu finden im Anhang des Buches) Timo schüttelte den Kopf. Der Mann räusperte sich wieder, und dann begann er mit seltsam singender Stimme zu sprechen: »O schaurig ist's übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist's, übers Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche!« Timo merkte, wie es ihn kalt überlief. »Aber Moorkaten liegt nicht direkt im Moor«, sagte er. Das hatten ihm seine Eltern erzählt. »Man muß noch mindestens
zehn Minuten laufen bis zum Moor.« Doch der Fremde ging nicht darauf ein. »Im Moor leben Geister und Dämonen«, flüsterte er. »Willst du wissen, wie sie heißen?« Timo machte eine unbestimmte Bewegung mit den Schultern. Er hätte am liebsten nein gesagt, aber das wagte er nicht. »Die unselige Spinnerin«, wisperte der Mann. »Der gespenstische Gräberknecht. Die verdammte Margret.« Und indem er wieder in seinen eigenartigen Singsang verfiel, fuhr er fort: »Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: ›Ho, ho, meine arme Seele!‹« Timo seufzte erleichtert auf. »Ach so, die sind aus dem Gedicht!« Der Fremde warf ihm einen abgründigen Blick zu. »Glaub nicht, daß sie deshalb weniger lebendig sind!« Und mit einem unheimlichen Glühen in seinen dunklen Augen fügte er hinzu: »Aber es gibt noch viel schrecklichere Wesen - dort in Kümmerling!« Timo schauderte. »Und welche?« fragte er mit Herzklopfen. Der Mann lehnte sich zurück und schloß für einen Moment seine Augen. »Den Händler der verkauften Träume zum Beispiel«, antwortete er mit tonloser Stimme. »Wenn du willst, erzähle ich dir von ihm.« Timo war nicht sicher, ob er die Geschichte wirklich hören wollte. Aber bevor er etwas sagen konnte, begann der Mann:
Der Händler der verkauften Träume Es war ein Sommertag, so wie heute. Und wie heute saß ich
in der Bahn und fuhr gen Norden - nach Kümmerling, wo ich am Stadttheater vorsprechen sollte. Ich bin nämlich Schauspieler. Mein Blick glitt über die satten grünen Wiesen, auf denen Kühe grasten, über die leuchtendgelben Felder, und ich fühlte mich heiter und unbeschwert. Ja, ich war voller Zuversicht, daß ich das Engagement bekommen würde - obwohl ich wußte, daß auch noch andere Schauspieler vorsprechen würden. So kam ich in Kümmerling an und ging frohgestimmt durch die engen Gassen zum Theater. Doch kaum hatte ich das hohe weiße Haus betreten, waren meine Sicherheit und mein Selbstvertrauen dahin. Ich hatte entsetzliches Lampenfieber, und wie ein Mühlrad ging es mir im Kopf herum: Du schaffst es nicht, du schaffst es nicht. ›Ist Ihnen nicht gut?‹ fragte der Pförtner. ›Die Sonne -‹ sagte ich und stürzte an ihm vorbei zur Bühne. In meinen Ohren sauste es. Ich biß die Zähne aufeinander und versuchte, ruhiger zu werden. Doch es half nichts. Das Mühlrad hörte nicht auf, sich zu drehen. Ich erreichte die Bühne. In der ersten Reihe saßen der Regisseur und ein paar andere Leute. Sie musterten mich, und ich hörte, wie einer sagte: ›Der hätte die richtige Figur für die Rolle!‹ Ich! Er meinte mich! Für einen Augenblick konnte ich wieder frei atmen. Aber dann begann aufs neue das Brausen
in meinem Kopf, und der Text, den ich Tag und Nacht - ja, Tag und Nacht! - gelernt hatte, war wie fortgeblasen. Ich stand auf der Bühne, die Arme hingen mir schlaff am Körper herab, ich setzte an, wollte sprechen - aber nur unzusammenhängende Worte kamen über meine Lippen. Wie durch einen Nebel sah ich, daß die Leute dort unten in der ersten Reihe belustigte Blicke wechselten. Ich mußte mich setzen und mit anhören, wie andere Schauspieler den Text mühelos und ohne zu stocken sprachen. Ich saß da, vollständig vernichtet, und nahm es zunächst gar nicht wahr, daß mir jemand auf die Schulter tippte. Als ich mich schließlich umdrehte, sah ich einen kleinen Mann, der mich mit hellen Augen aufmerksam fixierte. ›Mein Herr, ich kann ihm helfen!‹ flüsterte er. ›Helfen? Mir?‹ erwiderte ich mit der Gleichgültigkeit dessen, der alle Hoffnung aufgegeben hat. ›Ja‹, flüsterte er aufgeregt. ›Wenn der Herr mir die Ehre gibt, heute mittag mein Gast zu sein, werde ich ihm alles erklären!‹ Seine seltsame Rede verwirrte mich. ›Ihr Gast? Wie das?‹ fragte ich. ›Wenn der Herr erlauben, möchte ich ihn in den Ratskeller einladen. Dort wird sich dann alles finden!‹ Ich begriff zwar nicht, was er damit meinte - aber soviel hatte ich verstanden: daß er mich zum Essen einladen wollte. Und das war für mich sehr verlockend, denn ich hatte kaum noch Geld. Ich sagte zu, und so saßen wir eine halbe Stunde später im alten Ratskeller, abseits in einer dunklen Nische. Vor uns auf dem Tisch brannte eine Kerze, und bei ihrem Schein sah ich mir meinen Gastgeber genauer an. Er hatte ein spitzes Gesicht mit einer langen Nase und flinke Augen, denen nichts entging. Sein Haar war rotblond - so wie deins - und zu
einer altmodischen Stirnlocke frisiert. Auch seine Kleidung entsprach der Mode vergangener Zeiten: er trug ein Hemd mit Rüschen und langen Manschetten. An seinem Samtjackett hing eine große goldene Uhr. Natürlich war ich begierig zu erfahren, wie er mir helfen wollte. Doch er bestand darauf, daß wir zuerst speisen sollten. Nachdem wir ein überaus reichliches Mahl verzehrt hatten - ich für meine Person hatte lange nicht mehr so gut gegessen -, sprach er, indem er sich mit einem Spitzentaschentuch die Nase tupfte: ›Wenn der Herr gestatten, will ich ihm jetzt erzählen, wie ihm auf ganz einfache Weise geholfen werden kann.‹ ›O ja, ich bitte darum!‹ rief ich, erhitzt vom Essen und vom Wein. Er legte einen Finger auf den Mund. ›So mäßige er sich doch!‹ sagte er und spähte zu den anderen Tischen hinüber. ›Große Taten müssen im Verborgenen geschehen!‹ ›Ja, natürlich‹, stimmte ich hastig zu - aus Furcht, ihn zu verärgern und mir damit vielleicht seine Gunst zu verscherzen. Flüsternd eröffnete er mir: ›Ich wüßte ein besseres Theater als das hiesige.‹ ›Ich auch!‹ sagte ich, und die Verbitterung über die letzten Wochen, in denen ich von Ort zu Ort gereist war und mich vergeblich um ein Engagement bemüht hatte, stieg in mir hoch. ›Aber keins, das mich einstellen würde.‹ ›O doch‹, erwiderte er. ›In dem Theater, von dem ich spreche, würde der Herr mit offenen Armen aufgenommen werden.‹ ›Und wenn ich meinen Text wieder vergesse - so wie heute?‹ warf ich ein. ›Das wird nicht geschehen‹, antwortete er, ›sofern der Herr Vertrauen zu mir hat.‹
›Vertrauen? Nur ein Wunder könnte bewirken, daß ich den Text nicht vergesse!‹ sagte ich düster. Der Mann drehte an den Knöpfen seines Jacketts und machte ein geheimnisvolles Gesicht. ›Ich würde es nicht Wunder nennen‹, erklärte er, ›sondern lieber: ein Geschäft.‹ ›Ein Geschäft?‹ sagte ich und riß meine Augen auf. ›Was wollen Sie von mir?‹ Ohne zu zögern, antwortete er: ›Die Träume des Herrn.‹ ›Meine Träume?‹ ›Trinken wir noch etwas‹, sagte er und bestellte eine weitere Flasche von dem vorzüglichen Wein. ›Was kostet es den Herrn schon, mir seine Träume zu überlassen‹, sagte er leichthin, während wir tranken. ›Er braucht seine Träume nicht, sie kommen zu ihm, wenn er schläft also: was schadet es ihm, wenn er sie weitergibt? Weitergibt an einen, der ihm einen guten Preis bezahlt!‹ Ich weiß nicht: war es der Wein, war es sein verrückter Vorschlag - ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. ›Einen guten Preis? Für meine Träume?‹ lachte ich. ›O ja‹, antwortete er mit ernster, feierlicher Miene. ›Der Herr wird nie wieder einen Text vergessen. Und er wird ein Engagement bekommen an dem Theater, von dem ich sprach. Ist dem Herrn der Preis zu gering?‹ ›Nein, nein‹, versicherte ich eilig. Immer stärker hatte ich den Eindruck, daß der Mann ein Spaßvogel war. ›Und wo liegt das Theater?‹ fragte ich. ›Das wird der Herr erfahren, sobald der Handel perfekt ist.‹ ›Und Sie wollen weiter nichts dafür? Nur meine Träume?‹ ›Nur die Träume des Herrn!‹ ›Und ich bekomme ein Engagement? Und ich werde nie wieder einen Text vergessen?‹
›So ist es.‹ ›Gut!‹ sagte ich. ›Lassen Sie uns den Handel abschließen.‹ Für einen Augenblick schien es mir, als blitzte eine teuflische Freude in seinen Augen auf. Doch gleich darauf lächelte er wieder so verbindlich wie zuvor. Da tat ich, was er mir sagte: Ich schloß die Augen und dachte an meine Träume. Und dann strich ich mit den Fingerspitzen über meine geschlossenen Lider, und dabei wiederholte ich, was er mir vorsprach: ›Träume, verlaßt mich.‹ Mir schwanden die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, war ich allein. Hinter meinen Augen spürte ich einen bohrenden Schmerz, und nur mit Mühe konnte ich die Goldbuchstaben auf der Karte entziffern, die vor mir auf dem Tisch lag: Jakob von Windheim An- und Verkauf von Träumen Darunter stand noch etwas, flüchtig mit dem Bleistift hingeworfen: Stadttheater Peest. Berufe der Herr sich auf mich. Widerstreitende Gefühle regten sich in mir. Sollte ich mich freuen? Sollte ich wirklich glauben, daß sich mein Schicksal durch dieses absonderliche Geschäft doch noch zum Guten wenden würde? Oder war es nur ein böser Scherz, den sich jemand mit einem Unglücklichen wie mir erlauben wollte? Während ich so dasaß und grübelte, trat die Kellnerin zu mir an den Tisch, und mit den Worten, das sei soeben für mich abgegeben worden, überreichte sie mir einen Umschlag.
Ich öffnete ihn und fand darin eine Fahrkarte nach Peest und die Mitteilung, man habe mir für die Nacht ein Zimmer im Ratshof in Kümmerling bestellt und bezahlt. Es war wie im Märchen! Die Ereignisse trugen mich mit sich fort, und ich konnte mich nur ihrem Lauf überlassen - und wünschen, daß alles einen guten Ausgang nehmen würde! Ich ließ mir das Zimmer zeigen. Es war ein kleiner, dunkler Raum, den das große Bett, das in der Mitte stand, fast ausfüllte. Aber mir war es gerade recht so, denn ich hatte nur noch ein Verlangen: mich hinzulegen und zu schlafen. Ich streckte mich auf der Matratze aus, und eh ich mich versah, war ich eingeschlafen. Doch schon nach kurzer Zeit erwachte ich und setzte mich verwirrt im Bett auf. Irgend etwas hatte mich aus dem Schlaf gerissen - mit einem heftigen, schmerzhaften Ruck, als hätte mich jemand an der Schulter gepackt. Ich machte Licht und blickte mich um. Doch ich war allein, und nichts im Zimmer hatte sich verändert. Ich löschte das Licht und legte mich wieder hin. Noch einmal zog der vergangene Tag an mir vorüber, und ich sah mich auf der Bühne in Kümmerling stehen: ich öffnete die Lippen - und diesmal konnte ich den Text sprechen. Ich sprach ihn fehlerfrei, ohne zu zögern oder zu stocken, mit fester, klarer Stimme. Der Händler hat mich nicht betrogen! jubelte es in mir, und abermals sagte ich mir den Text auf. Und wirklich: als läge das Rollenbuch geöffnet vor mir, wußte ich jedes Wort. Darüber schlief ich ein. Aber der schmerzvolle Ruck wiederholte sich, und erneut fand ich mich verstört, am ganzen Körper zitternd, im Bett sitzen.
Was war geschehen? Vielleicht war mir der Wein zu Kopf gestiegen? Vielleicht hatte ich zu reichlich gegessen? Oder waren es meine überreizten Nerven, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen? Nach einer Weile schlief ich wieder ein - aber auch diesmal nicht für lange. Im Schlaf spürte ich aufs neue den quälenden Ruck, der mich hellwach in die Wirklichkeit zurückbeförderte. Und so blieb es die ganze Nacht: wann immer mich der Schlaf überkam, wurde ich bald darauf peinvoll geweckt. Als der Morgen dämmerte, erhob ich mich wie gerädert. Ich hatte stechende Kopfschmerzen, und aus dem Spiegel blickte mir ein müdes, graues Gesicht entgegen. Sollte ich in dieser Verfassung überhaupt nach Peest fahren? War nicht jeder Versuch, mein Schicksal zum Besseren zu wenden, von vornherein zum Scheitern verurteilt? Aber vor mir auf dem Tisch lag die Fahrkarte. Ich nahm sie und machte mich auf den Weg nach Peest, ohne Hoffnung, daß man mich einstellen würde. Doch das Unglaubliche geschah: ein Darsteller war erkrankt, und nachdem ich vorgesprochen hatte, ohne ein einziges Mal zu stocken, bekam ich die Rolle. Oh, Glück dieser ersten Tage in Peest! Ich stand endlich wieder auf der Bühne, ich spielte Theater ... und selbst die qualvoll unruhigen Nächte und die Kopfschmerzen, die ich nun ständig hatte, konnten dieses Glücksgefühl nicht trüben. Aber nicht für lange! Weil ich keine Nacht mehr richtig schlafen konnte und jeden Morgen wie zerschlagen aufwachte, war ich bald nur noch ein Nervenbündel. Und obwohl ich meinen Text Wort für Wort im Kopf hatte, war ich nach kurzer Zeit so zermürbt und so fahrig, daß ich während der Vorstellung Sätze vergaß und gegen meinen Willen gähnen mußte. Und schließlich -
verlor ich die Rolle!« Der Mann lehnte sich zurück und schwieg erschöpft. Timo, der seiner Geschichte in atemloser Spannung gefolgt war, fragte teilnahmsvoll: »Und warum können Sie nicht mehr schlafen? Hängt das mit dem Geschäft zusammen, das Sie mit dem Händler abgeschlossen haben?« Der Mann nickte traurig. »Ich habe keine Träume mehr. Sobald ich schlafe und zu träumen beginne, werde ich geweckt mit diesem schrecklichen Ruck, den ich in allen Gliedern spüre. Und dann sitze ich hellwach im Bett. Und das Nacht für Nacht! Ach, wie oft habe ich den Tag verflucht, der mich nach Kümmerling führte - und meinen Leichtsinn, der mich in diesen Handel einwilligen ließ!« Er machte eine Pause und atmete schwer. »Und jetzt habe ich nur noch eine Hoffnung«, fuhr er schließlich fort, »daß ich den Händler der verkauften Träume eines Tages wiedertreffen werde und daß ich dann meine Träume zurückfordern kann!« »Das wäre möglich?« fragte Timo. »Mir würde es schon reichen, wenn er mir nur meine schlechten und bösen Träume zurückgäbe«, antwortete der Mann. »Jeder Traum, sogar ein Alptraum, wäre eine Erlösung für mich! - Und deshalb fahre ich, sooft ich nur kann, zwischen Peest und Kümmerling hin und her - so lange, bis ich ihn gefunden haben werde!« Timo sah den Mann erschrocken an und wußte nicht, was er sagen sollte. Jemand, der sich freiwillig Alpträume wünschte... »Und Sie haben ihn noch nicht wiedergesehen?« fragte er schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Aber du kannst mir helfen, wenn du willst!« »Ich?« »Ja! Sieh dich auf dem Bahnsteig in Kümmerling nach ihm
um! Und wenn du ihn entdeckst, gibst du mir ein Zeichen!« Timo überlief es kalt. Auf einmal war es viel mehr als nur eine Geschichte... »Und jetzt solltest du deine Sachen nehmen«, hörte er den Mann sagen. »In wenigen Minuten halten wir in Kümmerling.« »Schon?« rief Timo und sprang auf. Er riß seine Reisetasche von der Gepäckablage herunter und stürzte zur Tür. »Und denk daran!« sagte der Mann. »Wenn du ihn siehst, gibst du mir ein Zeichen.« »Ja«, stammelte Timo und wollte die Tür aufschieben. Doch sie klemmte. Er biß sich auf die Zunge und rüttelte an dem Griff, aber es war wie verhext: die Tür bewegte sich nicht! »Ziehen!« sagte der Mann. »Ganz leicht ziehen.« Und als sei es das Einfachste von der Welt, öffnete er die Tür mit zwei Fingern. »Danke«, keuchte Timo und rannte los. Und wenn ich die Zugtür nun auch nicht aufkriege? dachte er voller Angst. Doch er hatte Glück: vor dem Ausgang wartete bereits eine kräftig aussehende Frau mit einem breitkrempigen grünen Hut. Als der Zug hielt, drückte sie den Türgriff ohne große Mühe nach unten, und er konnte hinter ihr aussteigen.
Träumst du? Und da stand Timo nun auf dem Bahnsteig in Kümmerling! Er stellte die Reisetasche auf den Boden und blickte sich zaghaft um. Der Bahnsteig war voller Menschen. Er sah die Frau mit dem breitkrempigen Hut, Leute mit großen Koffern und eine Frau, die versuchte, einen sich heftig sträubenden Rehpinscher zum Ausgang zu zerren. Plötzlich fiel Timos Blick auf einen Mann, der etwas abseits auf jemanden zu warten schien. Timo blieb fast das Herz stehen. Der Mann sah genauso aus, wie der Fremde im Zug den geheimnisvollen Händler beschrieben hatte: er war nicht sehr groß und hatte eine rotblonde Stirnlocke. In seinem spitzen Gesicht fielen besonders die lange Nase und die hellen Augen auf, die unruhig hin und her schweiften - bis sie Timo erspäht hatten. Da auf einmal lächelte der Mann, und dann kam er zu Timos Entsetzen mit schnellen, festen Schritten auf ihn zu. Nein, nicht! hätte Timo am liebsten geschrien, aber er war wie versteinert. Und selbst als der Mann vor ihm stand, konnte er ihn nur mit schreckgeweiteten Augen sprachlos anstarren. »Träumst du?« fragte der Mann. »Träumen?« stieß Timo hervor. »Nein! Ich ... ich träume nicht - nie!« Der Mann musterte ihn befremdet. »Aber du bist doch Timo, der Neffe von Tante Mimi?« »Wo - woher kennen Sie meine Tante?« »Woher? Sie ist meine Nachbarin!« »Ihre Nachbarin?«
»Ja. Und sie hat mich gebeten, dich in meinem Auto mitzunehmen. « »Ach so -« murmelte Timo. Allmählich begriff er, daß der Mann nicht der Händler der verkauften Träume war... »Und Sie handeln wirklich nicht mit Träumen?« fragte er. »Womit soll ich handeln? Mit Träumen?« Nun lachte der Mann. »Nein! Ich verkaufe nur Eier.«
Erst jetzt wurde Timo bewußt, daß die Kleidung des Mannes auch gar nicht zu der Beschreibung paßte: er trug kein Samtjackett und kein Rüschenhemd, sondern eine braune Cordjacke und eine graue Hose. In diesem Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung. Timo sah zu, wie die Wagen an ihm vorbeifuhren - in der bangen Erwartung, dem forschenden Blick des Fremden zu begegnen. Doch hinter keinem der Fenster entdeckte Timo sein blasses Gesicht. Er atmete auf. Jetzt war es, als hätte er das alles nur geträumt. Geträumt - Timo schauderte. Er ahnte, daß ihn die unheimliche Geschichte des Fremden nie wieder ganz loslassen würde. »Gehen wir!« schreckte ihn der Mann aus seinen Gedanken, und bevor Timo etwas erwidern konnte, nahm er die Reisetasche und strebte dem Ausgang zu. Timo hatte Mühe, ihm zu folgen. »Warum ist meine Tante nicht selbst gekommen?« fragte er, als er den Mann auf der Treppe eingeholt hatte. »Es ging ihr nicht so gut«, antwortete der. »Und ich hatte ohnehin in Kümmerling zu tun. Heute war nämlich Markt.« »Ist sie krank?« »Nein. Aber sie ist eben nicht mehr die Jüngste.« Vor dem Bahnhof zeigte der Mann auf einen alten blauen Lieferwagen. »Das ist meiner«, erklärte er. Eiermaxe, Moorkaten las Timo auf dem Wagen. Dann stimmte es also, daß der Mann aus Moorkaten kam und Eierverkäufer war! Halbwegs beruhigt stieg er ein. »Lydia erwartet dich schon«, sagte der Eiermann und drehte den Zündschlüssel herum. Es gab ein schepperndes Geräusch, dann sprang der Motor an.
»Lydia?« Timo versuchte sich zu erinnern. Aber es waren mehr als sechs Jahre vergangen, seit er Tante Mimi das letzte Mal besucht hatte. »Wer ist das?« »Meine Tochter«, antwortete der Mann und fügte hinzu: »Ihr könntet Geschwister sein!« »Geschwister?« wunderte sich Timo. »Wie meinen Sie das?« »Ihr seid beide rothaarig - du und Lydia.« »Ach, wirklich«, murmelte Timo und wandte verärgert den Kopf ab. Daß er überall, wohin er auch kam, auf seine roten Haare angesprochen werden mußte! Sie fuhren jetzt durch eine Geschäftsstraße. Die Läden, die Timo sah, machten gar keinen so hinterwäldlerischen Eindruck, wie er erwartet hatte. »Ist Kümmerling groß?« wollte er wissen. »Klein ist es nicht«, antwortete der Eiermann, »denn immerhin haben wir hier sogar ein Theater.« »Ein Theater?« »Ja. Der hohe weiße Bau da drüben.« Timo fröstelte. Dabei sah das Theater gar nicht furchteinflößend aus - falls man nicht die Geschichte vom Händler der verkauften Träume kannte. »Waren Sie schon mal drin?« »Im Theater? Nein. Aber du kannst ruhig ›du‹ zu mir sagen. Ich heiße Max.« »Ja«, antwortete Timo verlegen und war überzeugt davon, daß er es nie schaffen würde, einen Erwachsenen, den er kaum kannte, mit »du« anzureden. So sagte er lieber nichts und blickte aus dem Fenster. Kümmerling konnte wirklich nicht groß sein, denn schon waren sie auf der Landstraße. Timo sah nur noch Wiesen, Kühe, manchmal auch Schafe
und Pferde und vereinzelt ein paar Häuser. Der Himmel war wolkenlos und so strahlend blau, daß er blinzeln mußte. »Und wie war die Reise?« fragte der Eiermann, der sich anscheinend gern unterhalten wollte. »Die Reise?« wiederholte Timo zögernd. »Ja. Tante Mimi hat mir erzählt, daß du ganz allein gefahren bist.« »Ich war nicht allein«, widersprach Timo. »In meinem Abteil saß ein Schauspieler.« »Ach, tatsächlich?« »Er war früher in Peest, hat er mir erzählt - am Stadttheater.« »In Peest, sagst du, am Stadttheater?« Der Eiermann streifte Timo mit einem überraschten Blick. »Das wundert mich. In Peest gibt es nämlich gar kein Theater.« »Nicht?« rief Timo bestürzt. »Nein! Peest ist noch viel kleiner als Kümmerling. Es könnte sich nie ein eigenes Theater leisten.« »Aber früher hat es vielleicht mal eins gehabt«, wandte Timo zaghaft ein. »Bestimmt nicht!« erwiderte der Eiermann. »Das einzige größere Gebäude, das ich in Peest kenne, ist die Nervenklinik.« »Nervenklinik?« »Ja. Für Leute mit - na, eben mit kranken Nerven!« Timo schwieg betroffen. Er sah das müde Gesicht des Fremden aus dem Zug vor sich und hörte wieder seine leise, eindringliche Stimme. »Nein«, sagte er langsam, »das glaube ich nicht.« »Was glaubst du nicht?« »Daß er kranke Nerven hat! Er ist bestimmt Schauspieler. Vielleicht liegt das Theater in einer anderen Stadt, und er hat nur den Namen vergessen.« Der Eiermann warf ihm einen spöttischen Blick zu.
»Wir sind alle Schauspieler«, antwortete er. »Das ganze Leben ist ein Theater! - Und jetzt sind wir gleich da«, fügte er hinzu und bog nach links in eine schmale Straße ein. Timo sah ein großes rotes Bauernhaus mit einem Storchennest auf dem Dach. »Ist das Moorkaten?« fragte er. »Ja«, nickte der Eiermann. »Am Ende der Straße wohnt Tante Mimi.«
Tante Mimi Auf den ersten Blick war es ein Dorf wie viele andere auch. Es gab eine asphaltierte Dorfstraße, aber die war so schmal, daß sie nach rechts ausweichen mußten, als ihnen ein Auto entgegenkam. Die meisten Häuser lagen direkt an der Straße und unterschieden sich kaum von denen in der Stadt. Nichts Besonderes, nichts Unheimliches war zu sehen oder zu hören: keine wallenden Nebel, keine Käuzchenschreie, keine Irrlichter, keine Moorleichen. Timo spürte eine leichte Enttäuschung. Er war zwar eher ängstlich - aber auf das Moor war er doch gespannt gewesen, denn es schien ihm das einzig Aufregende zu sein, was ihn in Moorkaten erwarten könnte. »Wo ist denn das Moor?« fragte er. »Noch vor zweihundert Jahren war alles, was du hier siehst, Moor«, antwortete der Mann. »Es gab keine Wege, keine Straßen - nur ein fast unzugängliches schwimmendes Moor.« »Ein Moor, das schwimmt?« fragte Timo erstaunt. »Ja. Du mußt dir das so vorstellen: es war eine Moorschicht, die auf einem großen, flachen See schwamm. Diese Moorschicht konnte man nur an wenigen Stellen betreten, und nur unter Lebensgefahr. Bei starken Winden wurde sie auf dem Wasser hin und her getrieben.« »Und wie ist daraus festes Land geworden?« »Das war harte Arbeit! Aus Süddeutschland wurden Ansiedler ins Land geholt, die die Moore kultivieren sollten. Sechshundert Arbeiter waren monatelang damit beschäftigt, ein Netz von Kanälen zu graben. Durch diese Kanäle wurde
das Moorwasser in die benachbarten Flüsse abgeleitet. Erst danach konnten sie beginnen, Häuser zu bauen, aber auch das war auf dem moorigen Grund sehr schwierig. Viele Häuser mußten abgebrochen werden, weil sie zu schwer waren und einsanken. Und dann stellte sich heraus, daß der schwarze Moorboden für den Ackerbau völlig ungeeignet war. Die meisten Siedler verließen das Land wieder. Man sagt: Die ersten fanden den Tod, die zweiten die Not und erst die dritten das Brot.« »Und jetzt gibt es überhaupt kein Moor mehr?« fragte Timo. »Doch«, sagte der Eiermann. »Du mußt nur aus dem Dorf hinausgehen, und schon stehst du mittendrin. So, und jetzt sind wir da. Siehst du das Efeuhaus? Dort wohnt Tante Mimi.« Er hielt, und sie stiegen aus. Überrascht blickte Timo zu dem Haus hinüber, das ein wenig versteckt zwischen Bäumen lag. »Es sieht richtig verwunschen aus, nicht wahr?« sagte der Eiermann. »Fast wie ein Dornröschenschloß!« Er nahm Timos Reisetasche und ging auf das Haus zu. Timo folgte ihm - verwundert, daß Tante Mimi noch immer nicht vor die Tür kam. Sie wußte doch, wann sein Zug in Kümmerling eintraf und wie lange die Fahrt von Kümmerling nach Moorkaten dauerte! Als hätte der Mann seine Gedanken erraten, drehte er sich zu Timo um und meinte: »Vielleicht schläft sie.« »Schlafen? Um diese Zeit?« sagte Timo. »Gucken wir mal nach!« Ohne ein sichtbares Zeichen der Unruhe öffnete der Eiermann die Haustür, die nicht verschlossen war. Timo trat hinter ihm in einen Vorraum. An den Wänden hingen viele Bilder, große und kleine - ganz anders als bei ihm zu Hause, wo alles so kahl und nüchtern war.
»Tante Mimi?« fragte der Eiermann und machte nacheinander die drei Türen auf, die vom Flur abgingen. Hinter der dritten Tür hörten sie ein schläfriges: »Ja?« »Ich bin's - Max. Und ich habe Timo mitgebracht.« »Timo?« Die Stimme belebte sich. »Oje - und ich liege hier und schlafe!« Eilige Schritte näherten sich, und dann stand Tante Mimi vor ihnen. Sie war nicht viel größer als Timo und trug einen bunten Morgenmantel. »Timo! Ich freue mich, daß du da bist!« rief sie aus und drückte ihn an sich. Sie fühlte sich rund und warm an. »Und groß bist du geworden!« »Findest du?« sagte Timo. »Aber ja! Bald wirst du mir über den Kopf gewachsen sein! Und wie prachtvoll dein Haar ist! Rot wie ein Kupferkessel.« »Prachtvoll?« sagte Timo zweifelnd. Sie lachte. »Bestimmt hast du Hunger! Komm, ich zeige dir die Küche.« Der Eiermann verabschiedete sich, und Timo ging mit Tante Mimi in die Küche. Es war ein hoher, heller Raum, der ganz anders eingerichtet war als die Küchen, die Timo kannte. Staunend betrachtete er die alten Kacheln an den Wänden, den großen schwarzen Herd mit den goldglänzenden Griffen, die bemalten Teller im Bord, den Holztisch. »Setz dich!« sagte Tante Mimi freundlich. Timo nahm Platz und sah zu, wie sie einen Schokoladenkuchen aus dem Schrank holte. Noch immer trug sie ihren Morgenmantel, der mit gelben und roten Blumen bestickt war, und ihre nackten Füße steckten in kleinen Stoffpantoffeln. Sie war irgendwie - seltsam, und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, mochte Timo sie.
Er hatte auf einmal das Gefühl, es könnten doch noch schöne Ferien werden. »Sind die Bilder alle von dir?« fragte er. »Die Bilder?« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Gefallen sie dir?« »Ja!« »Und du? Malst du gern?« »Ich?« Timo räusperte sich verlegen. »So schön wie du jedenfalls nicht.« »Ach, auf Schönheit kommt es nicht an!« widersprach Tante Mimi lebhaft. »Viel wichtiger ist, daß du Freude am Malen hast.« »Ja, Spaß macht es mir schon«, gab Timo zu. »Siehst du! Und nur das zählt«, sagte Tante Mimi. Eine Pause entstand. Timo nahm einen Schluck von dem süßen roten Tee. »Eigentlich wollte ich gar nicht herkommen«, sagte er dann. »Ich dachte, es wäre langweilig bei dir.« »Viel los ist hier nicht«, stimmte Tante Mimi ihm zu. »Aber bei dir im Haus...« Timo wußte nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. »Hier gibt es so viel zu sehen. Und alles ist so anders - deinen Herd zum Beispiel, den finde ich viel schöner als unseren. Wir haben einen ganz modernen.« »Euer Herd ist aber bestimmt praktischer«, antwortete sie. »Meinen mußt du kennen, und du mußt ihn gut behandeln.« »Gut behandeln? Den Herd?« staunte Timo. »Vor allem den Herdgeist, der in der Ecke hinter dem Herd wohnt.« »Was? Ein Geist?« »Zu jedem alten Herd gehört ein Herdgeist. Wußtest du das nicht?«
»Nein!« sagte Timo. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, erklärte sie. »Herdgeister sind umgängliche Wesen.« »Du -« Timo zögerte, »du hast ihn schon mal gesehen?« Er blickte wieder zum Herd, und diesmal war es ihm, als hätte etwas Rotes aufgeblitzt - etwas, das aussah wie eine kleine rote Kappe. Aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. »Gesehen?« Tante Mimi lächelte. »Nein! Aber manchmal höre ich, wie er hinter dem Herd rumpelt und poltert. Weißt du, nicht jeder kann die Geister sehen. Nur bestimmte Menschen können das - und Lydia, die Tochter vom Eiermax, gehört dazu. Sie ist ungefähr so alt wie du, und sie unterhält sich oft mit dem Herdgeist.« »Ach, wirklich?« fragte Timo ungläubig. Tante Mimi mußte ihm seine Zweifel von den Augen abgelesen haben, denn sie sagte: »Du denkst, daß es keine Geister gibt, nicht wahr?« »Naja«, sagte Timo gedehnt. »Als Oma gestorben war, hat Papa gesagt, sie kommt nicht wieder - nie. Und Geister sind doch verstorbene Menschen, oder nicht?« »Es gibt noch eine andere Art von Geistern«, antwortete Tante Mimi, »die Naturgeister! Man nennt sie auch Elben, und sie sind Teil der Natur.« Timo sah Tante Mimi fragend an und wußte nicht, was er davon halten sollte. »Naturgeister?« sagte er schließlich. »Dann - müßten sie ja überall vorkommen.« »Früher taten sie das auch. Aber heute haben sie sich von den lauten Städten der Menschen mit ihrer verpesteten Luft und ihren verseuchten Flüssen zurückgezogen.« »Das mit der verpesteten Luft sagt Mama auch immer«,
erklärte Timo nachdenklich. »Sie glaubt, daß ich deshalb so viel huste.« »Ja - und blaß bist du auch!« sagte Tante Mimi. »Am besten, du gehst jetzt gleich an die Sonne. Deine Sachen kannst du nachher auspacken.« »Blaß bin ich immer«, antwortete Timo. »Ich werde nie richtig braun.« »Dann wird dir aber die frische Luft guttun«, meinte Tante Mimi. »Und du?« fragte Timo. »Kommst du mit?« »Ich räume zuerst noch ein bißchen auf.« »Soll ich dir nicht helfen?« fragte Timo, dem der Gedanke, allein in den großen, fremden Garten zu gehen, nicht sonderlich gefiel. Doch Tante Mimi schien von seinem Unbehagen nichts zu bemerken. »Geh nur schon voraus«, sagte sie und öffnete die Terrassentür. »Na gut, wenn du meinst«, murmelte Timo, und zögernd trat er hinaus ins Freie.
Lydia H inter Tante Mimis Haus grünte und blühte es so verschwenderisch, daß Timo unwillkürlich den Atem anhielt. Nein, das war kein Garten mehr - das war eine Wildnis, ein kleiner Dschungel! Wenn ihm nur seine Mutter nicht erzählt hätte, daß es in Moorkaten Kreuzottern gab... Langsam und vorsichtig machte er ein paar Schritte - und blieb erschrocken stehen, als ein heiseres Lachen ertönte und eine Stimme rief: »Schau an, der feine Timo aus der Stadt!« Timo hob den Kopf und spähte nach oben - in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch das Laubwerk der Bäume war so dicht, daß er niemanden entdecken konnte. Angst hatte er nicht, denn es konnte nur jemand aus dem Dorf sein, der Timo noch von früher kannte. Aber warum versteckte sich dieser Jemand vor ihm? »Wer ist da?« rief er. Es raschelte im Laub, und dann kam ein Kopf zum Vorschein - ein Kopf mit roten Haaren. Das mußte Lydia sein! Ihre Haare waren von einem viel dunkleren Rot als Timos und umstanden ihr Gesicht wie ein Flammenkranz. Timo starrte sie an, sprachlos und verblüfft. Nie hätte er geglaubt, daß ihm ein rothaariges Mädchen gefallen könnte! Auch Lydia musterte ihn, doch ihr Blick war kühl und abschätzend. Keinen Funken von Freude entdeckte Timo darin. »Da bist du also!« stellte sie nüchtern fest. »Ich frag mich nur, was du hier willst.« »Was ich hier will?« wiederholte Timo verdutzt. »Ja! Was sucht ein eingebildetes, verzärteltes Stadtkind wie
du in Moorkaten!« sagte sie angriffslustig und ließ sich vom Baum herabgleiten. Als sie vor Timo stand, waren ihre Augen auf derselben Höhe. Er hatte das Gefühl, daß ihr Blick ihn förmlich durchbohrte. »Ich - soll hier Ferien machen.« Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein. »Ferien?« Sie lachte verächtlich. »Mit den Klamotten?« Timo blickte an sich herunter - auf den weißen Pullover und die schwarze Hose, die er nur seiner Mutter zuliebe angezogen hatte. »Ich hab auch noch andere Sachen mit«, sagte er verlegen.
»Die wirst du auch dringend brauchen!« erwiderte Lydia, und hocherhobenen Hauptes spazierte sie davon. Verwirrt sah Timo ihr nach. Dann ging er langsam zum Haus zurück. »Du bist schon wieder da?« sagte Tante Mimi überrascht. »Ich habe Lydia getroffen«, antwortete Timo. »Lydia? Aber dann wundert es mich erst recht, daß du so schnell zurückgekommen bist!« »Ich glaube, sie mag mich nicht«, sagte Timo. »Sie hat gesagt, ich wäre eingebildet und verzärtelt.« »Ach, das würde ich nicht so ernst nehmen«, beruhigte Tante Mimi ihn. »Im Grunde freut sie sich, daß du da bist.« »Meinst du?« »Ja. In Moorkaten gibt es keine Kinder in ihrem Alter. Deshalb ist sie etwas zurückhaltender als andere.« »Zurückhaltend?« Auf Timo hatte Lydia einen ganz anderen Eindruck gemacht! »Vielleicht ist sie auch eifersüchtig«, meinte Tante Mimi. »Eifersüchtig? Auf wen denn?« »Auf dich!« »Das verstehe ich nicht.« »Vielleicht denkt sie, ich würde sie jetzt weniger gernhaben deinetwegen.« »Ach so -« »Aber es wird nicht lange dauern, bis sie merkt, daß sie einen Freund dazugewonnen hat!« »Na, ich weiß nicht«, sagte Timo, der es nach dem ersten Zusammentreffen mit Lydia nicht unbedingt verlockend fand, sie näher kennenzulernen. »Bestimmt!« sagte Tante Mimi zuversichtlich. »So, und jetzt ziehe ich mich an, und anschließend gehen wir zusammen in den Garten.«
Der Herdgeist Timo blieb allein in der Küche. Er setzte sich an den Tisch und überlegte, was Lydia wohl gegen ihn haben könnte - als er plötzlich ein kratzendes Geräusch aus der Ecke hörte, in der Tante Mimis alter Herd stand. Und dann - Timo traute seinen Augen nicht! - kam ein kleines Männchen hinter dem Herd hervorgeklettert. Es hatte eisgraues Haar, auf dem eine rote Kappe saß, und ein braunes, runzliges Gesicht. Bekleidet war es mit einem Kittel aus blauem Stoff und mit roten Stiefeln. Timo starrte es fassungslos an und wußte nicht, was er denken sollte. War das - der Herdgeist? Ohne Scheu lief das grauhaarige Männchen über die Herdplatte auf Timo zu. »Guten Tag, Timo!« sagte es und musterte ihn aus hellen, neugierigen Augen. »Du - du kennst mich?« stammelte Timo. »Natürlich! Einem Herdgeist bleibt nichts verborgen«, antwortete das Männchen vergnügt. »Und deshalb weiß ich auch, daß du etwas Besonderes bist!« »Ich? Etwas Besonderes?« sagte Timo verlegen. »Ja! Wie sonst wäre es möglich, daß du mich sehen kannst!« »Aber - wieso gerade ich?« »Deine roten Haare«, antwortete der Herdgeist, »sie sind das Besondere an dir. Wenn du die roten Haare nicht hättest...« Er sprach nicht weiter, sondern blickte zur Tür. »Ein andermal!« flüsterte er, und bevor Timo etwas sagen konnte, war er wieder hinter dem Herd verschwunden. Jetzt
hörte Timo Schritte, die sich näherten, und gleich darauf stand Tante Mimi, fertig angezogen, in der Küche. »Gehen wir?« fragte sie. »Ich...« murmelte Timo, der noch immer ganz durcheinander war. »Interessiert dich der Garten nicht?« »Doch -« »Dann komm!« »Und Geister... Gibt es Geister auch im Garten?« Timo fragte es mit Herzklopfen und spähte in die Ecke, aus der eben der Herdgeist gekommen war. Doch jetzt war nicht einmal seine rote Kappe zu sehen. »Die ganze Natur ist voller Geister«, antwortete Tante Mimi. »Sind es gute oder böse Geister?«
»Sie sind wie die Natur selbst - launisch und wechselhaft wie der Frühling oder sanft und lieblich wie der Sommer oder rauh und hart wie der Winter.« Timo überlegte gerade, ob er Tante Mimi von seiner Begegnung mit dem Herdgeist erzählen sollte, als das Telefon klingelte. Tante Mimi ging in den Flur und nahm den Hörer ab. »Ach, du bist es, Lydia«, hörte Timo sie sagen. »Timo ist auch hier, ja, in der Küche. Du möchtest ihm morgen das Moor zeigen? Das ist aber lieb von dir. Darüber wird er sich bestimmt freuen. Auf Wiedersehen, Lydia.« Timo stand da, starr vor Schreck. Er spürte, daß irgendein Plan hinter Lydias plötzlicher Freundlichkeit steckte. Während er noch grübelte, was es sein könnte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Er fuhr herum und erblickte den Herdgeist. »Hab keine Angst wegen morgen!« flüsterte der Herdgeist. »Dir wird nichts passieren. Versuche nur, keine Angst zu haben. Und denk daran: Du bist etwas Besonderes!« Damit war er verschwunden. Timo hörte Tante Mimi zurückkommen. »Ist das nicht nett?« sagte sie. »Lydia will dir das Moor zeigen.« »Nett?« wiederholte Timo dumpf. »Ja! Und nun gehen wir in den Garten!«
Der Weg ins Moor Am nächsten Morgen hatte Timo überhaupt keinen Appetit. »Schmeckt es dir nicht?« fragte Tante Mimi. »Doch -« »Hast du schlecht geträumt?« »Geträumt?« Timo zuckte zusammen. »Nein. Ich - ich habe überhaupt nicht geträumt.« Tante Mimi lachte. »Das gibt es nicht. Jeder Mensch träumt, auch wenn er am Morgen nichts mehr davon weiß.« »Jeder?« sagte Timo zweifelnd. »Ja. Träume heißen auch Hüter des Schlafs«, erklärte Tante Mimi. »Hüter des Schlafs...« sagte Timo nachdenklich. »Bedeutet das: sie bewachen den Schlaf?« Tante Mimi nickte. »Wenn wir nicht mehr träumen könnten, würden wir sehr bald krank werden.« Timo schwieg betroffen. In diesem Punkt stimmte es also, was ihm der Fremde im Zug erzählt hatte! »Und kann man seine Träume auch...« Er zögerte. Sollte er sagen: verkaufen? Er fürchtete, daß Tante Mimi ihn dann nicht mehr ernst nehmen würde, und so sagte er: »...verlieren?« »Verlieren? Seine Träume?« Tante Mimi schaute ihn gedankenvoll an. Sie findet meine Frage nicht albern! dachte Timo erleichtert. »Ja, in gewisser Weise schon«, meinte sie. »In welcher Weise?« »Nun - wie soll ich das erklären? Wir haben ja auch Träume,
wenn wir wach sind - Hoffnungen, Sehnsüchte. Und diese Träume, die kann man leicht verlieren...« Sie brach ab und blickte in den Garten. »Da kommt Lydia!« sagte sie freudig. Gerade hatte ihr Timo vom Händler der verkauften Träume erzählen wollen - doch als er Lydia sah, war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Sie trug ein grünes Hemd, eine grüne Hose und grüne Gummistiefel, und in der Sonne leuchtete ihr Haar rot wie Feuer. Tante Mimi öffnete die Terrassentür. »Willst du nicht hereinkommen?« Lydia schüttelte den Kopf. »Ist Timo fertig?« fragte sie. »Gleich«, sagte Tante Mimi. »Ich - ich habe keinen Hunger mehr«, murmelte Timo und erhob sich. »Du solltest Gummistiefel anziehen«, riet ihm Tante Mimi. Lydia verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Hat er überhaupt welche?« Timo gab keine Antwort. Er ging in den Flur und holte seine Gummistiefel. »Seid zum Mittagessen wieder da«, sagte Tante Mimi. Ohne eine Wort zu wechseln, gingen Timo und Lydia die Dorfstraße entlang und bogen in einen Feldweg ein. Zu beiden Seiten waren Gräben gezogen, in denen braunes, schlammiges Wasser stand. »Sind die Gräben tief?« fragte Timo mit belegter Stimme. »Tief?« wiederholte Lydia und maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Für dich würde es jedenfalls reichen.« Timo kniff die Lippen zusammen und dachte an die Worte des Herdgeistes: Dir wird nichts passieren. Versuche nur, keine Angst zu haben.
Ja, das wollte er versuchen: stark zu sein und sich von Lydia nicht einschüchtern zu lassen. Dann würde sie schon merken, daß er nicht so schwach und ängstlich war, wie sie glaubte! In diesem neuen, ganz ungewohnten Selbstgefühl ging Timo hinter Lydia her, bis sie ein kleines Birkenwäldchen erreichten. Sie durchquerten das Wäldchen - und da erblickte Timo eine weite, mit Binsen und Gras bewachsene Fläche, aus der hier und da schwarze, abgestorbene Bäume aufragten. Etwas Wildes, Urwüchsiges ging von dieser Landschaft aus, das Timo das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Ihm fiel das Gedicht ein, das der Fremde im Zug gesprochen hatte: »O schaurig ist's übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche...« Er dachte an die Geister und Dämonen, von denen im Gedicht die Rede war: die unselige Spinnerin, den Gräberknecht, die verdammte Margret. Ob es die wirklich gab - irgendwo dort vor ihm in den Sümpfen? Ein Steg aus Holzbohlen führte über einen Graben ins Moor hinein. Als Lydia ihn betrat, bewegten sich die Bohlen, und das dunkelbraune Wasser schlug mit einem Geräusch, das wie ein Schmatzen klang, dagegen. Timo sträubten sich die Haare, doch Lydia schien es nichts auszumachen. Leichtfüßig erreichte sie das andere Ufer. »Komm schon!« rief sie Timo ungeduldig zu. Er machte einen zögernden Schritt auf den Steg. Die Holzbohlen sahen uralt und morsch aus, und an einigen Stellen waren sie schwarz vor Nässe, so daß Timo Angst hatte auszurutschen.
Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und vermied es sorgsam, in das Wasser zu sehen. Er atmete auf, als er bei Lydia ankam. »Der Steg ist ja lebensgefährlich!« meinte er. »Es ist auch kein gewöhnlicher Steg«, erwiderte Lydia in feierlichem Ernst. »Es ist die Brücke zum Reich der Geister. Du kannst übrigens froh sein, daß sie dich hereingelassen haben«, fügte sie hinzu. »Nicht jedem gestatten sie es, die Brücke zu überqueren.« Noch gestern hätte Timo über Lydias Worte nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Doch jetzt spürte er selbst, daß er eine Welt betreten hatte, in der andere Gesetze galten, in der eine grüne Wiese vielleicht gar keine Wiese war, sondern ein tückischer Sumpf, ein Baumstumpf vielleicht ein übelwollender Geist Er zeigte auf die vielen herzförmigen Blätter, die auf der Oberfläche eines Moorteiches schwammen und zwischen denen eine schmale Spur hindurchführte. »Was ist das?« fragte er. »Das ist Froschbiß«, antwortete Lydia, »und die Spur stammt von einer Maus.« »Von einer Maus? Im Wasser?«
»Ja, von einer Schermaus. Oder dachtest du von einem Geist?« »Wieso nicht?« meinte Timo. »Du hast selbst gesagt, hier sei das Reich der Geister.« Lydia lachte heiser. »Glaubst du, die Moorgeister wären so unvorsichtig, ihr Reich nur wenige Schritte vom Weg entfernt zu errichten? Nein, ihr Reich liegt versteckt tief im Moor. Es ist ein Ort der Geheimnisse, den kein Unbefugter betreten darf, ohne daß er fürchten müßte, grausam bestraft zu werden!« »Bestraft? Wie denn?« »Oh, darin sind sie sehr erfinderisch«, antwortete Lydia, während sie langsam durch das hohe Gras weiterging und Timo ihr mit weichen Knien folgte. »Die Irrlichter zum Beispiel. Sie winken dir mit ihren flackernden Lichtern, und wenn du dich verleiten läßt, ihnen nachzugehen, versinkst du im Moor.« Timo überlief es kalt. »Und die Nebelfrauen«, fuhr Lydia fort, »sie hüllen dich ein, so daß du alles vergißt: wie du heißt, wo du herkommst...« »Und die leben alle hier im Moor?« fragte Timo beklommen. »Oder die kleinen grünen Binsengespenster«, sagte sie, ohne auf Timos Frage einzugehen. »Sie können dich zu Tode kitzeln, wenn es ihnen gerade so einfällt.« Sie warf Timo aus den Augenwinkeln heraus einen forschenden Blick zu. »Hast du jetzt Angst bekommen? Willst du lieber ins Dorf zurücklaufen und dich bei Tante Mimi verkriechen?« »Ich - ich bin nicht so ängstlich, wie du glaubst«, erwiderte Timo. »Ach, wirklich?« sagte Lydia spöttisch und blieb stehen. Sie zeigte auf eine Blechplatte, die vor ihren Füßen lag. »Was denkst du, was passieren wird, wenn ich die wegnehme?« Timo spürte einen Stich in der Magengrube.
»Ich weiß nicht -« Sie bückte sich, und mit einer blitzschnellen Bewegung hob sie das Blechstück hoch. Was dann geschah, ereignete sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Timo sah drei Schlangenkörper, die zu entkommen versuchten, er sah Lydia zugreifen - und plötzlich hielt sie einen der Schlangenkörper in ihrer Hand. Timo blieb fast das Herz stehen. »Na?« sagte Lydia. »Jetzt ist es wohl vorbei mit deinem Mut.« Sie trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand mit dem Schlangenkörper entgegen. »Oder traust du dich, sie anzufassen?« »Anfassen? Eine Schlange?« rief Timo voller Abscheu und schüttelte sich. Lydia seufzte laut. »O je, bist du dämlich! Das ist keine Schlange! Hast du etwa noch nie eine Blindschleiche gesehen?« »Nein«, antwortete Timo wahrheitsgemäß. »Dachtest du, es wäre eine Kreuzotter?« »Naja, es hätte doch sein können«, sagte Timo verlegen. »Er glaubt, ich würde eine Kreuzotter aufheben!« Lydia lachte schrill. »So blöd können wirklich nur Stadtkinder sein.« Sie strich über das glänzende, gelbbraune Schuppenkleid der Blindschleiche. »Nicht wahr, du tust niemandem etwas«, sagte sie zärtlich zu der Blindschleiche. »Vor dir braucht man keine Angst zu haben... Außer, man heißt Timo und ist so dumm, daß man eine Blindschleiche nicht von einer Kreuzotter unterscheiden kann!« Sie setzte die Blindschleiche behutsam auf die Erde zurück, wo sie im Nu zwischen den hohen Gräsern verschwunden war. »Ich weiß sehr wohl, wie Kreuzottern aussehen«, erwiderte Timo. »Ach, tatsächlich?«
»Ja. Sie haben ein Zickzackband auf dem Rücken.« »Du bist aber ein Schlaukopf!« spottete Lydia. »Und warum hast du dann eine harmlose Blindschleiche mit einer Kreuzotter verwechselt?« »Das habe ich gar nicht!« wehrte sich Timo. »Du hast sie so gehalten, daß ich sie überhaupt nicht richtig erkennen konnte.« Gegen ihren Willen mußte Lydia grinsen. »Eins zu null für dich«, sagte sie und schüttelte ihr Haar. »Aber warten wir ab, wie du die nächste Mutprobe bestehst!« »Die nächste Mutprobe?« »Ja!« Sie hüpfte ein paarmal auf und ab. »Spürst du, wie der Boden vibriert? Von hier an wird es gefährlich! Wer jetzt noch weitergehen will, muß sich verdammt gut auskennen!« »Und du kennst dich aus?« fragte Timo mit Herzklopfen. »Vielleicht...« sagte Lydia und genoß es sichtlich, ihm angst zu machen. »Vielleicht tue ich aber auch nur so «, fügte sie mit einem boshaften Lächeln hinzu. »Wäre doch möglich, daß ich überhaupt keine Ahnung habe und daß wir beide gleich im Moor versinken werden.« »Das glaube ich nicht«, sagte Timo entschieden. »Tante Mimi hätte mir nie erlaubt, mit dir ins Moor zu gehen, wenn du dich nicht auskennen würdest.« »Auf den Mund gefallen bist du nicht«, meinte Lydia, und eine leise Anerkennung schwang in ihrer Stimme mit. Doch dann fuhr sie in ihrem gewohnten spöttischen Ton fort, als wäre es ihr unangenehm, Timo etwas Nettes gesagt zu haben: »Aber Leute, die ein großes Mundwerk haben, sind auch meistens die größten Feiglinge.« »Ich bin kein Feigling«, widersprach Timo. »Sonst wäre ich überhaupt nicht mitgekommen.« »Das behauptest du jetzt! Aber ob du noch genauso prahle-
risch daherreden würdest, wenn du allein um den Schwarzen Geistersee herumgehen müßtest...« »Um den Schwarzen Geistersee?« Timo vermutete, daß sie ihn damit wieder nur auf die Probe stellen wollte. »Und wo ist dieser See?« »Sag erst, ob du dich traust!« verlangte Lydia. »Allein? Ich glaube nicht, daß Tante Mimi damit einverstanden wäre.« »Ach, so ist das!« rief Lydia hitzig. »Du willst nachher zu Tante Mimi gehen und mich bei ihr verpetzen!« »Ich habe noch nie jemanden verpetzt!« entgegnete Timo aufgebracht. »Und Angst, um den Geistersee herumzugehen, habe ich auch nicht«, fügte er hinzu und versuchte, seine Stimme forsch und unerschrocken klingen zu lassen. Doch er merkte selbst, daß ihm das nicht gelang. Und Lydia blieb es natürlich ebenfalls nicht verborgen. »Du zitterst ja wie Espenlaub«, sagte sie verächtlich. »Am besten, wir gehen ins Dorf zurück, damit du dich an Tante Mimis Rockzipfel festhalten kannst!« »Nein!« sagte Timo schroff - mit einer ihm ganz fremden, energischen Stimme. »Nein, ich will, daß wir jetzt zum Geistersee gehen!« Lydia sah ihn ungläubig an. »Ist das dein Ernst?« Timo schluckte. »Ein Feigling bin ich jedenfalls nicht«, erklärte er. »Und ein Petzer erst recht nicht.« Sekundenlang zeigten sich Verwunderung und beifälliges Erstaunen auf Lydias Gesicht. Doch gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt, und so schnippisch wie immer sagte sie: »Na prima. Dann komm!« »Ist es - noch weit?« fragte Timo beklommen. »Nein.« Sie wandte sich zum Gehen. »Aber wir müssen
erst die Sümpfe durchqueren. Bleib direkt hinter mir und mach keinen Schritt zur Seite!«
Am Schwarzen Geistersee Der Weg, den Lydia einschlug, war überwuchert von Gräsern und Binsen. Daß es überhaupt ein Weg war, konnte man nur an den Sträuchern erkennen, die ihn säumten. Vor jedem Schritt warf sie einen prüfenden Blick auf den Boden, der nun immer weicher und feuchter wurde. Nach einigen Metern endete der Weg ganz unvermittelt, und sie standen vor einer weiten, mit Rohrkolben und Schilf bewachsenen Wasserfläche. »Ist das der Geistersee?« fragte Timo mit aufgeregter Stimme. »Nein«, antwortete Lydia, »der Schwarze Geistersee liegt drüben, auf der anderen Seite. Dies sind die Sümpfe, durch die wir gehen müssen.« »Aber ... da ist ja überall Wasser!« sagte Timo und spürte Panik in sich aufsteigen. Lydia kräuselte verächtlich die Lippen. »Na und?« sagte sie. »Bist du wasserscheu?« »Nein -« Timo zögerte. Er blickte zuerst auf die Wasserfläche und dann auf Lydia, deren Miene erstaunlich gelassen war. Sie machte nicht den Eindruck, als fürchtete sie sich. Vielleicht war der Gang durch die Sümpfe doch nicht so gefahrvoll? »Ist es sehr tief?« fragte er vorsichtig. »Das kommt darauf an, wohin du trittst«, erwiderte Lydia. »Der Graben ist bestimmt zwei Meter tief.« »Zwei Meter?« rief Timo und versuchte, zwischen den Binsen und Grasbüscheln einen Graben zu entdecken. Aber alles sah so gleich aus -. »In der Mitte ist das Wasser nur knöcheltief«, fuhr Lydia
fort. »Man bekommt nicht mal nasse Füße - falls man keinen verkehrten Schritt macht. Wenn man allerdings danebentritt und in eine Senke gerät...« Timo hatte plötzlich einen trockenen Mund. »Und woher weiß man, wo Senken sind?« »Woher man das weiß? Keine Ahnung. Aber ich weiß es!« »Und der Graben!« rief Timo. »Wo ist der?« »Genau vor deinen Füßen«, antwortete Lydia. »Noch einen Schritt weiter, und du wärst versunken!« Timo wurde blaß. »Keine Sorge«, meinte sie leichthin. »Ich hätte dich schon festgehalten. So, und jetzt komm«, fügte sie ungeduldig hinzu. »Der Graben ist nicht breit. Siehst du den Baumstumpf? Bis dahin müssen wir springen.« Sie nahm Anlauf und landete auf einem Grasstück. Timo sah, wie das Wasser aufspritzte und wie ihre Gummistiefel mit den Absätzen einsanken. Das Wasser da drüben schien also wirklich flach zu sein! Timo seufzte erleichtert. Er holte noch einmal tief Luft - und dann sprang er über den Graben. »Bravo!« sagte Lydia, als er neben ihr stand. »So viel Mut hätte ich dir gar nicht zugetraut.« »Wieso nicht?« tat Timo selbstbewußt. In Wirklichkeit fühlte er sich äußerst unwohl. Ringsum das braune Moorwasser und darin die Inseln mit mannshohem Schilfrohr... Ohne Lydia würde er nicht wagen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Während er das dachte, sah er plötzlich, wie sich die schwimmenden Gräser und Moose auf dem Graben teilten und der Kopf einer Frau aus dem Wasser heraufkam. Timo fand, daß sie sehr schön war: mit langen, grünen Haaren, die wie Binsen auf dem Wasser lagen, und einer hellschimmernden
grünlichen Haut. Sie lächelte ihm zu, und dann begann sie zu singen - eine gleichmäßige, einschläfernde Melodie. Eine seltsame Anziehungskraft ging von dieser Melodie aus und ohne daß Timo etwas dagegen tun konnte, bewegte er sich auf die Frau zu. »Nicht!« hörte er Lydia rufen. »Es ist sehr tief dort!« Er spürte, wie sie ihn bei der Schulter packte und zurückriß und da verschwand der Kopf der Frau wieder. »Bist du verrückt geworden?« rief Lydia. »Die Frau...« stammelte Timo. »Du hast sie gesehen?« fragte Lydia ungläubig. »Sie hatte lange grüne Haare. Und sie hat gesungen -« »Du hast sie wirklich gesehen?« »Ja!« »Das ist merkwürdig«, sagte Lydia leise, wie zu sich selbst. »Wieso konntest du sie sehen?« »Sie hat mir sogar zugelächelt!«
»Sie hat dir zugelächelt?« Der Blick, mit dem Lydia ihn musterte, ging Timo durch und durch. Zum erstenmal sah sie ihn nicht spöttisch und herablassend an, sondern aufmerksam und neugierig, fast mit Hochachtung. »Deine Haare...« murmelte sie, »du hast ja rote Haare -« »Dasselbe hat der Herdgeist gesagt!« entfuhr es Timo. »Den hast du auch gesehen?« »Ja.« Jetzt wirkte Lydia noch verwirrter. »Der Herdgeist, die Grüne Frau... Außer der alten Elfrun ist mir noch nie jemand begegnet, der sie gesehen hat. Und ausgerechnet du!« fügte sie hinzu. Timo schaute sie überrascht an - unsicher, ob sie das lobend oder abwertend meinte. Sie war so anders als die Mädchen, die er kannte - irgendwie rätselhaft! Und ihre Stimmung konnte von einem Augenblick zum anderen umschlagen, so wie jetzt: als hätte sie schon zuviel von sich preisgegeben, nahm ihr Gesicht auf einmal wieder einen verschlossenen Ausdruck an. »Aber noch sind wir nicht am Schwarzen Geistersee!« sagte sie mit rauher Stimme. »Komm!« Abrupt drehte sie sich um und ging los. Timo folgte ihr, ängstlich bemüht, genau in ihrer Spur zu bleiben. Daß sie unbeschadet, mit trockenen Füßen das andere Ufer erreichten, kam ihm wie ein Wunder vor. Jetzt mußten sie noch einen Damm hinaufklettern, und als sie oben standen, sah Timo einen großen See, pechschwarz und von spärlich belaubten und seltsam schief gewachsenen Bäumen umstanden. Der Ort wirkte unheimlich und gespenstisch - noch düsterer als das Moor und die Sümpfe, durch die sie gekommen waren. Wenn es das Reich der Moorgeister tatsächlich gab - dann
mußten seine Geheimnisse in den Tiefen dieses schwarzen Sees verborgen liegen! Schaudernd fiel Timo ein, was Lydia ihm von grausamen Strafen erzählt hatte, von Irrlichtern, die den Eindringling ins Wasser locken, von Binsengespenstern, die ihn zu Tode kitzeln, von Nebelfrauen, die ihn umhüllen, bis er alles vergißt »Die Bäume...« begann er stockend, um die Angst zu vertreiben, die von ihm Besitz ergreifen wollte. »Sie sehen so merkwürdig aus.« »Du solltest sie dir mal ganz aus der Nähe angucken«, antwortete Lydia. »Dann wirst du sie noch viel merkwürdiger finden.« »Aus der Nähe?« Timo zögerte. »Kommst du denn mit?« »Ich?« Lydia lachte hell auf. »Du bist doch der Held!« Ein Held, ich? Bestimmt nicht! dachte Timo. Wenn er um den Geistersee herumginge, dann nur, um ihr zu beweisen, daß er kein Feigling war! Er biß die Zähne zusammen, und dann stieg er langsam, mit weichen Knien den Damm hinunter. Plötzlich wurde ihm bewußt, wie außergewöhnlich still es war. Er hörte keine Vogelstimmen mehr, und selbst das Zirpen der Grillen war verstummt - als hielte die Natur den Atem an! Um so lauter klang ihm das leise schmatzende Geräusch in den Ohren, das seine Gummistiefel verursachten, wenn er sie aus dem weichen, morastigen Boden zog. Auf einmal war da noch ein Geräusch; ein Klopfen, das aus einem abgestorbenen Baum zu kommen schien. Vielleicht saß ein Specht in dem Stamm und klopfte mit seinem harten Schnabel gegen das Holz? Auf jeden Fall war das Klopfen ein Zeichen von Leben - etwas Tröstliches in dem bedrückenden Schweigen rundum, und so ging Timo mit einer gewissen Erleichterung, aber dennoch zögernd darauf zu. Er erwartete, jeden Augenblick einen verschreckten Vogel
auffliegen zu sehen - doch nichts dergleichen geschah. Nur das Klopfen dauerte an. Es hörte selbst dann nicht auf, als Timo sich bis auf wenige Schritte genähert hatte. Falls es wirklich ein Specht war - hätte er nicht längst durch die Geräusche, die Timos Stiefel machten, gewarnt sein müssen? Unschlüssig sah Timo am Stamm empor. Der Baum war nicht sehr hoch. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, könnte er hineinspähen Widerstreitende Gefühle regten sich in ihm: einerseits war er stolz, daß er sich so weit vorgewagt hatte. Andererseits fürchtete er sich vor dem, was er möglicherweise im Innern des Baums erblicken würde. Er wandte den Kopf, so daß er Lydia sehen konnte, die ihn vom Damm aus beobachtete. Wahrscheinlich glaubte sie, daß er zu feige sein würde, in den Baum hineinzugucken, und daß er kleinmütig zu ihr zurückgelaufen käme. Aber diesen Gefallen würde Timo ihr nicht tun! Nein, er würde jetzt nachsehen, wer da klopfte - und wenn er es nur deshalb täte, um ihr zu zeigen, daß sie ihn noch immer unterschätzte. Er hielt sich an der rissigen Baumrinde fest und reckte sich auf die Zehenspitzen, bis er über den morschen Rand in das Innere des Baums spähen konnte. Im selben Augenblick erstarb das Klopfen, und eine Stimme rief: »Wer wagt es, mich zu stören?« »Äh - ich!« stammelte Timo, der nur die Umrisse einer nicht sehr großen Gestalt erkennen konnte. »Merkst du nicht, daß ich beschäftigt bin?« kam die unwirsche Antwort. »Bis zum Abend muß ich diese faule Stelle hier abgeklopft und mit heilender Moorerde ausgekleidet haben. Und da stehst du herum und hältst mich mit deinen Reden auf!« »Ich - hab doch gar nichts gesagt«, antwortete Timo. Seine
Augen hatten sich jetzt soweit an die Dunkelheit gewöhnt, daß er die Gestalt dort drinnen genauer sehen konnte. Es schien ein uralter Mann zu sein, denn seine Haut war so zerfurcht wie die Rinde des Baums. Er trug eine Kappe und einen Kittel aus Leder. »He, du bist mir im Licht!« zeterte er jetzt weiter. »Glaubst du, ich könnte im Dunkeln arbeiten?« »Entschuldige«, murmelte Timo und zog seinen Kopf ein Stück zurück - aber nur so weit, daß er den alten Mann noch sehen konnte. »Was machst du da eigentlich?« erkundigte er sich vorsichtig. »Was ich da mache?« wiederholte der Mann und schlug mit einer kleinen Axt ein paarmal heftig gegen das Holz. »Ich klopfe das faule Holz heraus, weil sich der Baumalb kein bißchen darum schert, ob der Stamm hier zerfällt oder nicht.« »Der Baumalb?« »Das ist der Strolch, der sich in diesem Baum eingenistet hatte. Mit seinem Schnauben und Prusten hat er das Holz ganz feucht und morsch gemacht! Und jetzt ist er losgezogen, um sich einen neuen Baum zu suchen! Aber zum Glück gibt es mich - mich, den Bruder der Bäume! Ich helfe den Bäumen, wo ich nur kann, und pflege ihre Wunden mit meinem Zaubermittel!« »Mit der heilenden Moorerde?« fragte Timo. »Wer hat dir das verraten?« schrie der Bruder der Bäume auf. »Du - du selbst hast es gesagt!« antwortete Timo erschrocken. »Ich?« »Ja. Du hast gesagt: Bis zum Abend muß ich diese faule Stelle abgeklopft und mit heilender Moorerde ausgekleidet haben.« »Tatsächlich?« murmelte der Bruder der Bäume. »Na schön,
dann weißt du es eben. Aber verrate es niemandem!« »Wieso nicht?« »Sie würden kommen und die heilende Moorerde wieder abklopfen.« »Wer?« »Die Geister aus dem Moor.« »Und warum?« »Warum, warum! Weil sie keine Bäume mögen. Weil sie mich nicht mögen.« »Aber man soll doch für die Erhaltung der Bäume kämpfen!« meinte Timo betroffen. »Und ob!« bestätigte der Bruder der Bäume. »Deshalb werde ich auch nie aufgeben!« Und leise, fast flüsternd fuhr er fort: »Es ist ja nicht nur der Baumalb. Genauso schlimm sind die Erdmuhmen. Sie nagen an den Wurzeln, bis der Baum verhungert und verdurstet. Und dann die Moorfledern! Sie kratzen die Rinde auf und trinken den Saft... ...und deshalb darf ich meine Zeit nicht länger mit Schwatzen vergeuden!« setzte er unwillig hinzu. »Los, geh mir aus dem Licht, damit ich weiterarbeiten kann!« Und als Timo zögerte, herrschte er ihn an: »Verschwinde endlich!« »Bin ja schon weg«, brummte Timo. Er trat einen Schritt zurück, und sogleich begann der Bruder der Bäume, von neuem verbissen und grimmig gegen den Stamm zu schlagen - als müßte er seine Anstrengungen verdoppeln, um die verlorene Zeit aufzuholen. Kein Wunder, daß die Moorgeister ihn nicht mögen! dachte Timo. Nur eins verstand er nicht: Warum mochten die Moorgeister auch die Baume nicht? Vielleicht wußte Lydia den Grund?
Timo blickte zum Damm hinüber. Vor dem hohen weiten Himmel sah er nur die Umrisse ihrer Gestalt und ihr wildes rotes Haar. Wie sie so reglos dastand, wirkte sie wie ein Teil dieser geheimnisvollen, in Schweigen gehüllten Landschaft. Timo spürte, daß er ihr jetzt keine Fragen stellen durfte und daß die Antworten, die er suchte, von ihm selbst gefunden werden mußten - dort, am Schwarzen Geistersee. Langsam ging er auf den See zu. Bei jedem Schritt sanken seine Stiefel bis zu den Knöcheln ein, und sein Herz klopfte zum Zerspringen - aber Timo ging trotzdem weiter. Erst als er das mit Binsen bewachsene Ufer des Geistersees erreicht hatte, blieb er stehen, und bebend vor Aufregung blickte er in das schwarze Wasser vor seinen Füßen. Etwas bewegte sich darin, wollte ans Licht... Timo schaute und schaute, und das Ungeheuerliche, was dort geschah, nahm ihm beinahe den Atem. Gesichter, Hunderte von Gesichtern, fahl und verschwommen unter der schwarzen Wasserfläche, sahen zu ihm herauf. Und dann - erkannte er zwischen den Gesichtern Lydias Gesicht. Ruhig musterte sie ihn, und ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Timo konnte seinen Blick nicht abwenden Und plötzlich löste sich ein Gesicht aus dem Kreis der anderen, näherte sich ihm - und dann schaute Timo in sein eigenes Gesicht. Er schrie auf. Da kräuselte sich das Wasser, und die Gesichter verschwanden. Timo taumelte zurück. »Was ist?« hörte er Lydia rufen. »Die Gesichter...« keuchte Timo. Er drehte sich um und rannte los. Außer Atem kam er bei Lydia an.
»Es waren unsere Gesichter«, stammelte er. »Sie schwammen im See, und ich habe sie gesehen!« »Unsere Gesichter?« erwiderte Lydia zweifelnd. »Im See? Du hast dich bestimmt getäuscht.« »Nein! Zuerst sah ich ganz viele Gesichter, aber sie waren blaß und verwischt. Auf einmal erkannte ich dein Gesicht, viel deutlicher als die anderen. Und dann...« Er brach ab. »...und dann sah ich mein eigenes Gesicht«, fügte er schaudernd hinzu. »War es nicht vielleicht dein Spiegelbild?« »Nein. Es bewegte sich, ganz unabhängig von mir.« Lydia kniff den Mund zusammen und schwieg. Ihr Blick wanderte zum Schwarzen Geistersee. »Ich muß darüber nachdenken«, sagte sie langsam. »Komm, gehen wir ins Dorf zurück!« »Und die Gesichter?« drängte Timo. »Was haben sie zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht - noch nicht«, antwortete Lydia.
Auf dem Heimweg sprachen sie kein Wort. Verwirrt von den vielen Eindrücken ging Timo hinter Lydia her. Ohne Zwischenfälle erreichten sie die Dorfstraße. Am Gartentor vor Tante Mimis Haus blieb Lydia stehen und sagte mit rauher Stimme: »Ich werde es bald erfahren haben!« Dann ging sie hastig davon. Timo sah ihr nach, bis sie in einem kleinen, dichtbewachsenen Weg verschwunden war.
Wenn das Moor leben soll Du bist schon wieder da?« sagte Tante Mimi überrascht, als Timo die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. »So früh habe ich dich nicht zurück erwartet!« »Früh?« Timo blickte auf die große alte Uhr, die an der Wand hing - und erschrak. Ihm war es vorgekommen, als hätte der Gang durchs Moor eine Ewigkeit gedauert, und jetzt sah er, daß er nicht länger als zwei Stunden fort gewesen war. »Wo ist Lydia?« wollte Tante Mimi wissen. »Lydia?« sagte Timo geistesabwesend. »Sie ist nach Hause gegangen.« »Nach Hause? Aber warum denn?« »Weil ... sie wollte nachdenken.« »Habt ihr euch gestritten?« »Nein.« »Aber etwas muß doch passiert sein«, meinte Tante Mimi. »Ich sehe es deinem Gesicht an!« Timo schwieg. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Erlebnisse im Moor. Unmöglich konnte er jetzt darüber sprechen! »Willst du es mir nicht erzählen?« fragte Tante Mimi. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Timo ausweichend. Tante Mimi versuchte zu lachen. »Du kommst allein zurück, bist blaß, sprichst kaum ein Wort - also muß doch etwas vorgefallen sein!« Timo schwieg noch immer und sah verlegen auf seine Fußspitzen. »Und das Moor?« versuchte Tante Mimi es noch einmal. »Willst du mir nicht erzählen, wie es im Moor war?«
»Im Moor?« antwortete Timo gedehnt. »Ja. Zum erstenmal in deinem Leben warst du im Moor, Lydia hat dich überall herumgeführt - da müßtest du doch eine Menge zu berichten haben!« »Es war so viel, was Lydia mir gezeigt hat«, wehrte Timo ab. »Möchtest du mir vielleicht später davon erzählen?« »Ja.« Timo nickte erleichtert. »Wahrscheinlich bist du nur müde«, meinte Tante Mimi mit einem Lächeln. »Du hast dich noch nicht daran gewöhnt, so lange draußen zu sein. Am besten, du gehst in dein Zimmer und ruhst dich ein bißchen aus.« Dankbar befolgte Timo den Vorschlag - aber nicht, um sich auszuruhen, sondern um ungestört über die Ereignisse im Moor nachdenken zu können. Doch kaum hatte er sich auf dem Bett ausgestreckt, da schlief er schon. Als Timo erwachte, wußte er im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand und was geschehen war. Er sah sich um. An den langen gelben Vorhängen, den hellen Tapeten und den vielen Bildern erkannte er, daß er in Tante Mimis Gästezimmer war. Aber warum hatte er geschlafen, am hellichten Tag? Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück: Er dachte an die Sümpfe und an die Grüne Frau und ihren Gesang, an die Gesichter im Wasser und an sein eigenes und Lydias Gesicht zwischen den anderen. Doch hier, in Tante Mimis Zimmer, erschien ihm das alles so unwirklich - wie ein Traum. Er schloß einen Moment lang die Augen - aber die Eindrücke verblaßten nicht. Als wäre er noch immer im Moor, so deutlich konnte er alles vor sich sehen.
Nein, er hatte nicht geträumt. Die Moorgeister lebten, und er, Timo, den Lydia verächtlich »Stadtkind« genannt hatte, er hatte sie gesehen! War er vielleicht wirklich etwas Besonderes - wie es der Herdgeist behauptet hatte? Langsam und in Gedanken versunken ging Timo zur Tür. Im Flur roch es nach frisch gebackenem Kuchen. Plötzlich merkte er, wie hungrig er war. »Du hast dich aber tüchtig ausgeschlafen!« begrüßte ihn Tante Mimi lächelnd in der Küche. »Fühlst du dich nun besser?« »Ja.« Timo setzte sich an den Tisch, auf dem ein großer, wunderbar duftender Apfelkuchen stand. »Jetzt habe ich nur Hunger!« Sie lachte. »Du kannst den ganzen Kuchen essen, wenn du willst. Oder möchtest du, daß ich dir das Mittagessen aufwärme?« »Nein!« sagte Timo hastig, der nichts lieber als frischen, noch warmen Apfelkuchen aß. Tante Mimi goß Kakao ein und legte ihm ein Stück Kuchen auf den Teller. »Erzählst du mir jetzt vom Moor?« Natürlich hatte Timo damit gerechnet, daß Tante Mimi ihn wieder nach seinen Erlebnissen im Moor fragen würde. Auf dem Weg in die Küche hatte er überlegt, worüber er gefahrlos sprechen könnte und was er ihr besser verschweigen sollte. Auf keinen Fall wollte er, daß Lydia ihm vorwerfen könnte, er hätte sie bei Tante Mimi verpetzt! Sein Erlebnis mit dem Bruder der Bäume war ihm ziemlich unverfänglich vorgekommen, und so hatte er beschlossen, Tante Mimi davon zu erzählen. »Im Moor -« begann er, »da war ein abgestorbener Baum. Er hatte kaum noch Äste. Und in diesem Baum...« Er machte eine Pause. Sollte er wirklich sagen, daß er einen
Geist gesehen hatte? Würde Tante Mimi ihn nicht auslachen? Aber dann erinnerte er sich daran, wie ernsthaft sie mit ihm über den Herdgeist und die anderen Naturgeister gesprochen hatte, und so fuhr er mit belegter Stimme fort: »Und in diesem Baum war ein Geist!« Tante Mimi musterte ihn überrascht, aber nicht spöttisch. »Du hast einen Geist gesehen?« »Ja. Es war ein alter Mann, ziemlich klein, und er sah aus wie...« Timo stockte. Er fand es gar nicht so einfach, den Bruder der Bäume zu beschreiben. »Er hatte eine Haut wie Rinde«, sagte er dann. »Sie war voller Runzeln und Furchen, und seine Kleidung war braun und grün wie der Baum.« »Und du hast ihn richtig vor dir gesehen - so, wie du mich jetzt siehst?« »Zuerst hörte ich nur, wie jemand immer wieder gegen das Holz hämmerte. Ich dachte, es sei ein Specht, und ging näher und dann sah ich den Bruder der Bäume.« »Wen?« »Den Bruder der Bäume. Er sagte, er sei der einzige im Moor, der den Bäumen helfen würde. Die anderen Geister würden sich kein bißchen darum kümmern, ob die Bäume eingingen oder nicht.« »Und wie hilft er den Bäumen?« »Er klopft die faulen Stellen ab und trägt heilende Moorerde auf.« »Das sollte er lieber nicht tun!« »Warum nicht?« fragte Timo verwundert. »Man soll sich doch für die Erhaltung der Bäume einsetzen.« »Schon«, meinte Tante Mimi. »Aber nicht im Moor.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Timo. »Ich will es dir erklären: Das Moor ist ein Feuchtgebiet. In
diesem feuchten Lebensraum hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine einzigartige Gemeinschaft von Pflanzen und Tieren entwickelt, die nur hier - im Moor - leben können. Und Bäume haben in dieser Lebensgemeinschaft keinen Platz.« »Aber es gibt doch Bäume im Moor«, sagte Timo. »Schließlich habe ich den Bruder der Bäume bei seiner Arbeit gesehen.« »Sicher gibt es Bäume im Moor«, bestätigte Tante Mimi. »Aber dort, wo Bäume wachsen, ist das Moor auch nicht mehr das Moor, das es ursprünglich einmal war. Denn Bäume entziehen dem Moorboden das Wasser und trocknen ihn mit der Zeit aus.« Tante Mimi machte eine Pause. »Weißt du«, fuhr sie dann fort, »wenn der Moorboden austrocknet, müssen die Tiere und Pflanzen sterben, die sich ganz auf das Leben in einem Feuchtgebiet eingestellt haben. Und diese Pflanzen und Tiere sind heute schon sehr selten geworden. Deshalb ist es so wichtig, die Moore zu schützen damit diese einzigartige Lebensgemeinschaft erhalten bleibt!« Timo machte ein betretenes Gesicht. »Dann ist der Bruder der Bäume überhaupt kein nützlicher Geist!« »Doch, er kann sehr nützlich und hilfreich sein«, widersprach Tante Mimi, »in Wäldern, in Parks - aber eben nicht im Moor!« »Deshalb mögen ihn die Moorgeister nicht!« sagte Timo betroffen. »Und ich wollte ihm sogar noch helfen -« »Sei froh, daß du es nicht getan hast«, meinte Tante Mimi. »Mit den Naturgeistern ist nicht zu spaßen, jedenfalls mit einigen von ihnen nicht. Wenn du die gegen dich aufbringst, dann...« »Was dann?« fragte Timo atemlos und vergaß, von dem Stück Apfelkuchen abzubeißen, das er schon in der Hand hatte. »Ach, das kann dir Lydia viel besser erklären«, antwortete Tante Mimi. »Ich kenne mich in der Welt der Naturgeister nur wenig aus, und was ich weiß, das habe ich von Lydia erfahren -
und von der alten Elfrun, die hier im Dorf wohnt.« Eine Pause entstand. Timo dachte über Tante Mimis Worte nach und versuchte sich vorzustellen, wie sich der Zorn der Naturgeister wohl äußern könnte. Durch Gewitter vielleicht? Nein, Gewitter hatten etwas mit der Elektrizität in der Luft zu tun. Ob sie nachts ins Dorf kamen, um sich an denen zu rächen, die ihnen etwas angetan hatten? Aber Tante Mimi hatte ja gestern gesagt, daß sich die Naturgeister immer weiter von den Menschen zurückgezogen hätten »Oder willst du sie nicht fragen?« unterbrach Tante Mimi seine Überlegungen. »Wen?« »Lydia! Findest du nicht, daß ihr euch wieder vertragen solltet?« »Aber wir haben uns nicht gestritten! Sie ist nach Hause gegangen, weil sie nachdenken wollte.« »Und worüber?« Timo zögerte, bevor er antwortete: »Über mich. Warum ich den Geist sehen konnte.« »Und wie lange sie nachdenken will, weißt du nicht?« »Nein. Sie hat nur gesagt, sie würde es bald erfahren haben.« Doch zwei Tage vergingen, ohne daß Lydia kam. Auch den Herdgeist sah Timo in dieser Zeit nicht, obwohl er sich, sooft es nur ging, in der Küche aufhielt. Er deckte den Tisch, machte freiwillig den Abwasch - aber nicht ein einziges Mal zeigte sich der kleine Geist. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Dabei wollte Timo unbedingt hören, was er zu seinen Erlebnissen im Moor sagen würde. »Der Herdgeist...« brachte Timo am zweiten Tag zaghaft das Gespräch darauf. »Ist er eigentlich immer da? Zieht er nicht vielleicht auch mal weg?«
»O nein«, erwiderte Tante Mimi. »Herdgeister sind sehr treu. Sie gehen nur fort, wenn man seinen alten Herd durch einen neuen ersetzt.« »Kochst du deshalb immer noch auf dem alten Herd?« »Ja. Und weil ich ihn einfach mag, meinen großen alten Herd, der mir seit vielen Jahren so treue Dienste leistet.« »Aber er ist bestimmt schwierig sauberzuhalten«, meinte Timo und dachte dabei an seine Mutter, die sich oft beschwerte, wieviel Arbeit ihr schon der kleine, moderne Herd machte. Tante Mimi lächelte verschmitzt. »Dafür habe ich den Herdgeist! Wenn ich ihm stets seinen Teller Grütze mit einem großen Stück Butter darin gebe, hält er mir den Herd wunderbar in Ordnung.« »Der Herdgeist ißt die Grütze?« staunte Timo. Er hatte sich schon gefragt, für wen Tante Mimi jeden Abend einen Teller mit Grütze auf den Herd stellte.
»Ja. Und wehe, wenn ich es einmal vergessen würde! Dann wären am nächsten Morgen alle Tassen und Teller im Schrank umgestoßen, das Mehl verschüttet und die Eier zerschlagen.« »Das würde er tun?« »Ein Herdgeist kann noch schlimmere Sachen anrichten!« »Und was?« »Oh - einmal hat im Nachbardorf ein Herdgeist, der schlecht behandelt wurde, das ganze Haus angezündet«, antwortete Tante Mimi. »Dann ist man ja dumm, wenn man seinen alten Herd behält!« sagte Timo. »Nein!« widersprach sie. »Wenn man richtig mit dem Herdgeist umgeht, sorgt er dafür, daß die Milch nicht überkocht, der Braten nicht anbrennt, der Kuchen nicht schwarz wird. Und vor allem: er hält die bösen Geister fern!« »Die bösen Geister?« wiederholte Timo beklommen. »Kommen die auch ins Haus?« »Nicht, wenn dort ein Herdgeist lebt«, sagte Tante Mimi. Timo spähte zum Herd hinüber - doch der Herdgeist blieb unsichtbar. Unsichtbar ... plötzlich hatte Timo eine Idee. »Können sich die Geister tarnen, so daß man sie nicht sieht?« fragte er aufgeregt. »Bestimmt können sie das«, antwortete Tante Mimi. »Aber das müßtest du besser Lydia fragen. Übrigens - allmählich mache ich mir Sorgen! Seit zwei Tagen ist sie nicht mehr hier gewesen. Wenn sie morgen nicht kommt, solltest du zu ihr gehen!« »Ich? Zu ihr?« sagte Timo abwehrend. Aber dann stand Lydia am nächsten Morgen vor der Terrassentür.
Das Haus mit den drei Messern Es war ein grauer, trüber Tag. Timo saß am Küchentisch und
malte mit den Wasserfarben, die ihm Tante Mimi gegeben hatte. Er malte einen See. Auf einmal merkte er, daß sich etwas vor der Glastür bewegte. Er hob den Kopf und erblickte Lydia. Ihr Gesicht war gerötet, als wäre sie gelaufen. Sie lächelte und winkte ihm zu, die Tür zu öffnen. Langsam stand er auf und schob den Riegel nach oben. Sie kam in die Küche. »Ist Tante Mimi nicht da?« fragte sie. Etwas an ihr hatte sich verändert. Timo spürte es sofort, aber er hätte nicht sagen können, was es war. Vielleicht ihre Stimme? Sie klang nicht mehr so rauh und herausfordernd, sondern eher weich und ein wenig unsicher. Oder war es ihr Blick? Sie schaute Timo so freundlich an, daß ihm ganz komisch zumute wurde. »Tante Mimi ... sie, äh, kommt gleich«, stotterte er. »Du malst?« Lydia trat an den Tisch und betrachtete das Bild. »Ist das der Schwarze Geistersee?« »Ja - oder eigentlich nein.« Am liebsten hätte Timo das Blatt umgedreht oder zugedeckt. »Es ist nichts geworden.« »Nichts geworden? Mir gefällt das Bild!« sagte Lydia, und es hörte sich an, als meinte sie das ehrlich. Timo war zu verwirrt, um etwas zu erwidern. Daß ausgerechnet Lydia ihn lobte »Aber warum hast du die Gesichter nicht gemalt?« fragte
sie und blickte ihn forschend an. »Die Gesichter?« Timo zögerte. »Ja! Ich war bei der alten Elfrun und habe mit ihr über die Gesichter gesprochen. Sie hat mir gesagt, daß nur besondere Menschen sie sehen können.« Timo spürte, wie ihm warm wurde. »Und du bist so ein Mensch, hat sie gesagt«, fuhr Lydia fort, »denn du konntest dein eigenes Gesicht zwischen den anderen sehen.« »Ich?« fragte Timo mit heiserer Stimme. »Ja. Weil du anders bist und weil du rote Haare hast!« »Aber...« verlegen faßte sich Timo an den Kopf, »es gibt Tausende von Menschen mit roten Haaren!« »Und viele von ihnen haben besondere Fähigkeiten!« sagte Lydia. »Nur - die meisten wissen es nicht!« Timo schwieg - unsicher, ob er das glauben sollte. Andererseits - auch der Herdgeist hatte gesagt, daß Timo etwas Besonderes sei. Während er noch darüber nachdachte, hörte er Schritte, und dann trat Tante Mimi in die Küche. Als sie Lydia sah, leuchteten ihre Augen. »Schön, daß ihr euch wieder vertragen habt«, sagte sie. »Ja, wir haben Frieden geschlossen«, antwortete Lydia und lächelte Timo zu. Frieden? Timo preßte die Lippen aufeinander. Nein, er traute dem Frieden nicht! Sein Argwohn verstärkte sich noch, als Lydia fragte: »Darf Timo mit zu mir kommen? Ich möchte ihm unser Haus zeigen.« »Eine gute Idee!« meinte Tante Mimi. Und zu Timo gewandt, sagte sie: »Lydias Haus ist ein richtiges Museum.« »Ein Museum?« sagte Timo abweisend. Ihn verlockte der Gedanke, zu Lydia zu gehen, überhaupt nicht. »Etwa mit
Moorleichen?« »Nein!« Tante Mimi und Lydia lachten. »Aber mit interessanten alten Moorwerkzeugen«, antwortete Tante Mimi. »Kommst du denn mit?« erkundigte sich Timo. »Nein. Ich bereite das Essen vor. Und außerdem würde ich euch nur stören!« Timo seufzte. Was blieb ihm auch anderes übrig, wenn Tante Mimi und Lydia sich wieder einmal einig waren! Auf dem Weg zu Lydias Haus versuchte er sich vorzustellen, was für Werkzeuge das wohl sein mochten. Vielleicht alte Instrumente, die mit den Moorleichen in Zusammenhang standen? In einem von Tante Minus Büchern hatte Timo gelesen, daß früher, vor zweitausend Jahren, Menschen zur Strafe für bestimmte Taten im Moor versenkt wurden. Sogar das Bild einer solchen Moorleiche hatte er in dem Buch gesehen. Es war ein junges Mädchen gewesen, dem man vorher die Haare abgeschnitten hatte. Viele dieser Toten, so hatte Timo gelesen, wurden mit Haken und angespitzten Stangen im Boden verankert, weil man fürchtete, sie könnten sonst zurückkehren und den Lebenden Schaden zufügen. Timo überlief es eiskalt... Nein, solche Haken und Stangen gab es in Lydias Haus sicherlich nicht! Dinge, die so alt waren, würde man nur in einem wirklichen Museum finden - genauso wie die Moorleichen! Trotzdem - unheimlich fand er Lydias Haus schon! Es war ein großes Gebäude mit einem Haupthaus und einem langen flachen Anbau, der nur halb so hoch war. Dort, wo das Haupthaus in den Anbau überging, hatte jemand drei Lanzen oder Messer in einem Halbkreis auf dem Dach befestigt.
»Zur Abwehr böser Geister«, erklärte Lydia, die Timos Blick bemerkt hatte. Dazu lächelte sie, als sei es das Natürlichste auf der Welt, drei lange Messer auf dem Dach zu haben. Aber irgendwie paßten sie zu dem merkwürdigen Haus, das eine Außenwand aus wuchtigen Feldsteinen hatte und mehr den Eindruck einer Festung machte! Auch die große Tür, die mit riesigen Scharnieren versehen war, schien eher zu einer Burg als zu einem Wohnhaus zu gehören. Doch Lydia ging nicht zu dieser Tür, sondern sie schloß eine andere, kleinere Tür auf, die in den Anbau führte. Ein Namensschild oder eine Klingel entdeckte Timo nicht - aber den seltsamsten Türklopfer, den er je gesehen hatte: er war aus zwei Hufeisen geschmiedet! »Darf ich mal?« fragte er und hob das obere Hufeisen ein Stückchen an. Lydia zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Von mir aus. Es ist sowieso keiner da.« »Was? Wir sind allein?« Vor Schreck ließ Timo das Hufeisen los und zuckte zusammen, als es mit einem Krachen auf das andere schlug. »Ja, wieso nicht«, sagte Lydia. »Und dein Vater?« fragte Timo und dachte an den freundlichen, gesprächigen Mann, der ihn in Kümmerling abgeholt hatte. »Mein Vater ist zum Markt gefahren.« »Und - deine Mutter?« Timo stand noch immer unschlüssig neben der Tür, die Lydia ihm einladend offenhielt. »Meine Mutter?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Meine Mutter ist gestorben, schon bei meiner Geburt«, sagte sie knapp. Damit drehte sie sich um und ging ins Haus. »Das - das wußte ich nicht«, murmelte Timo verlegen und
folgte ihr. Er kam in einen großen Raum mit einer niedrigen dunklen Holzdecke. Auch der Fußboden war aus Holz - aus klobigen, schwarzgestrichenen Bohlen. Bei jedem Schritt gaben sie knarrende, ächzende Geräusche von sich. »Klingt gruselig, nicht?« meinte Lydia, die stehengeblieben war und sich nach Timo umsah. »Mein Vater sagt immer: Der Fußboden ist ein alter Mann, der sich beklagt, daß ihm die Knochen weh tun!« Timo warf ihr einen verblüfften Blick zu. Einen Fußboden mit einem alten Mann zu vergleichen, fand er reichlich seltsam. Aber eigentlich war nichts hier so, wie man es gewohnt war, nicht einmal die Wände: sie bestanden aus rohen, weiß gestrichenen Steinen. Und an diesen Wänden hingen die merkwürdigsten Dinge.
Staunend blickte Timo sich um. Da gab es ausgestopfte Vögel, die ihn aus ihren Glasaugen anstarrten, so daß er eine Gänsehaut bekam. Am unheimlichsten fand er einen großen Raubvogel. »Das ist ein Mäusebussard«, erklärte Lydia. »Wenn du willst, kannst du ihn anfassen. Er fühlt sich ganz weich an.« Timo musterte den kräftigen Schnabel und die langen scharfen Krallen des Raubvogels. »Nein, lieber nicht«, sagte er und ging hastig weiter. »Und die?« fragte er und zeigte auf eine Reihe von Messern, die so ähnlich aussahen wie die auf dem Dach. »Das sind alte Moorwerkzeuge«, antwortete Lydia. »Oder besser gesagt: Torfwerkzeuge. Damit wurde früher Torf gestochen.« »Torf?« fragte Timo. »Ist es das, was man in großen Tüten kaufen kann?« »Ja, leider!« sagte Lydia heftig, und Timo erschrak über die Bitterkeit und den Zorn in ihrer Stimme. »Da werden ganze Moore in Tüten abgepackt und verkauft!« »Torf kommt aus dem Moor?« »Ja, natürlich. Torf - das sind Reste von Moosen und Gräsern, die sich zersetzt haben. Es dauert ungefähr tausend Jahre, bis sich eine Torfschicht von einem Meter Dicke gebildet hat!« »Solange?« »Ja! Und die Menschen brauchen nur ein paar Wochen, um alles zu zerstören.« Lydia preßte die Lippen zusammen. »Aber dazu haben sie kein Recht«, fuhr sie mit rauher Stimme fort. »Die Moore gehören ihnen nicht und auch die Tiere und Pflanzen nicht, die dort leben! Mein Vater sagt: Die Menschen verhalten sich so, als wäre alles in der Natur nur für sie da. Doch das ist ein verhängnisvoller Irrtum, sagt er, und wenn
die Menschen das nicht bald einsehen, dann werden sie die Grundlagen für ihr eigenes Leben zerstört haben. Man braucht nur an die kranken Wälder zu denken oder an die vergifteten Flüsse und die verschmutzte Luft!« »Aber - immer mehr Menschen fangen an, sich für die Erhaltung der Natur einzusetzen«, wandte Timo zaghaft ein. »Ja, zum Glück!« antwortete Lydia. »Und es ist auch gar nicht so schwer! Jeder kann für ein paar Pflanzen sorgen. Mein Vater sagt: Wer sich um Pflanzen kümmert, wird viel aufmerksamer für alles, was der Natur heute angetan wird.« Timo nickte stumm. »Und dazu braucht man gar keinen Garten, sagt er«, fügte Lydia nach einer Pause hinzu, »es reicht auch schon ein kleiner Balkon. Und wenn man keinen Balkon hat, stellt man einfach ein paar Töpfe mit Pflanzen auf die Fensterbank!« Sie ging zu einer niedrigen Holztür. »Komm!« rief sie Timo mit veränderter, lebhafterer Stimme zu. »Jetzt zeige ich dir, was bei uns alles wächst und blüht!« Timo war froh, den großen, dunklen Raum verlassen zu können, der ihn mit all den merkwürdigen Gegenständen darin fast erdrückt hatte. Und auch das Gespräch mit Lydia hatte etwas Beklemmendes gehabt.
Frau Holde I m ersten Augenblick war Timo enttäuscht, als er Lydias Garten sah. Er hatte sich vorgestellt, daß er noch wilder, noch verwunschener sein würde als der von Tante Mimi. Statt dessen sah er einen sorgsam eingezäunten Garten, der in viele rechteckige Beete aufgeteilt war. Dazwischen verliefen schmale Wege, die von niedrigen, beschnittenen Hecken gesäumt wurden. Alles wirkte gepflegt und ordentlich - viel zu ordentlich! fand Timo. Lydia schien seine Enttäuschung zu spüren, denn sie sagte: »So wild wie Tante Mimis Garten ist unser nicht!« »Ich dachte, ihr hättet einen Naturgarten!« antwortete Timo. »Einen Naturgarten?« Sie lachte. »Sicher haben wir einen Naturgarten! Oder glaubst du, Natur sei nur das, was man verwildern läßt?« »Ich - ich weiß nicht«, murmelte Timo verlegen, der fürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben. »Wenn man die Natur ganz sich selbst überlassen würde, gäbe es hier bald nur noch Brennesseln und Löwenzahn«, erklärte Lydia. Sie zeigte auf das Gartenstück hinter dem Zaun. »So, wie dahinten. Aber die Brennesseln dort mähen wir nicht. In die Blätter der Brennesseln legen nämlich die Schmetterlinge ihre Eier. Und auch das Laub und die alten Äste lassen wir liegen - für die Igel.« »Ihr habt Igel?« »Sogar zwei! Und Schleiereulen - ein Pärchen, zwei Fledermäuse, Kaninchen...« »Fledermäuse? Die würde ich gern mal sehen!« rief Timo.
»Jetzt?« »Warum nicht?« »Weil sie tagsüber schlafen«, antwortete Lydia und lachte. »Wußtest du das nicht?« Timo wurde rot. »Dann wollte ich sie eben schlafend sehen«, sagte er. »Sie hängen doch mit dem Kopf nach unten in den Ästen, oder nicht?« »Nein, sie schlafen in Baumritzen«, erklärte Lydia. »Aber wenn du wartest, bis es dunkel wird, kannst du sie fliegen sehen.« »Lieber nicht«, sagte Timo hastig, dem der Gedanke, den ganzen Tag bei Lydia zu verbringen, äußerst unbehaglich war. »Ich komm dann noch mal wieder.« »Willst du etwa schon gehen?« rief Lydia. »Ich...« Am liebsten hatte Timo ›Ja‹ gesagt. Doch er tat es nicht. »Aber du hast dir unseren Garten überhaupt noch nicht
angesehen!« Entschlossen öffnete Lydia die hölzerne Gartenpforte. »Wir haben viele seltene Pflanzen, die ich dir unbedingt zeigen möchte!« »Seltene Pflanzen?« wiederholte Timo zweifelnd und zeigte auf die Sonnenblumen, die am Zaun standen. »Solche gibt es in der Stadt auch!« »Die Sonnenblume habe ich nicht gemeint! Die seltenen Pflanzen, das sind die unauffälligen, die man erst beim genauen Hinsehen bemerkt.« Sie ging in den Garten hinein und blieb vor einem Beet stehen. »Hier wächst zum Beispiel Rainfarn. Früher galt er als heilige Pflanze.« Sie brach ein paar der goldgelben Blüten ab und hielt sie Timo unter die Nase. »Riechst du? Diesen kräftigen Duft mögen Mücken und Motten nicht. Deshalb hängen bei uns im Haus überall Sträuße mit getrocknetem Rainfarn.« Timo fand den strengen, würzigen Geruch sogar angenehm. Er erinnerte ihn an Kamille. »Und wieso galt der Rainfarn als heilig?« fragte er. »Man benutzte ihn als Mittel gegen Darmkrankheiten«, erklärte Lydia. »Und außerdem glaubte man, daß er Kinder vor bösen Geistern schützen würde.« Staunend und ein wenig ungläubig betrachtete Timo die halbhohen Stauden mit den vielen gelben Blüten. Ob der Rainfarn wirklich gegen böse Geister half? Auf jeden Fall konnte er es mal ausprobieren... Er wartete, bis Lydia weiterging - dann pflückte er sich schnell eine Handvoll Blüten und steckte sie in die Hosentasche. Lydia war vor ein paar niedrigen Pflanzen mit hellrosa Blüten stehengeblieben.
»Das ist Seifenkraut«, sagte sie. »Aus der Wurzel wurde früher ein Waschmittel für Wolle gewonnen - und Hustensaft. Und auch als Heilmittel bei Hautkrankheiten wurde sie verwendet.« Sie machte eine Pause und strich vorsichtig über die länglichen Blätter. »Heute ist das Seifenkraut fast vergessen«, fuhr sie dann fort, »genauso wie das Herzgespann, das da drüben wächst, der Flachs, die Gartenmelde. Aber in unserem Garten gibt es sie alle noch. Mein Vater sagt: Diese alten Pflanzen sind Schätze aus der Vergangenheit, die wir nicht verlieren dürfen. Sie verbinden uns mit dem Wissen unserer Vorfahren und mit unserer Geschichte.« »Helfen die auch gegen böse Geister - Herzgespann und die anderen?« fragte Timo. »Nein, die nicht. Aber Liebstöckel!« antwortete Lydia. »Liebstöckel?« Der Name kam Timo zwar bekannt vor, aber er hatte keine Ahnung, wie die Pflanze aussah. Lydia ging an den Zaun und deutete auf eine große Pflanze mit vielen dunkelgrünen, glänzenden Blättern. »Das ist Liebstöckel«, sagte sie. »Seine Blätter benutzt man zum Würzen.« Sie kniff ein Blatt ab, rieb es ein wenig zwischen den Fingern und reichte es Timo. Es roch sehr aromatisch. »Und das ist gut gegen böse Geister?« fragte er. »Ja. Man sollte immer ein paar Blätter bei sich tragen. Dann ist man bei allen Menschen beliebt, und die bösen Geister können einem nichts anhaben.« Timo sah sie von der Seite an - unschlüssig, ob er ihr das glauben sollte oder nicht. Vielleicht wollte sie nur herausfinden, ob er alles für bare Münze nahm, was sie sagte? So zögerte er, bis sie zu einem anderen Beet gegangen war
- und erst dann pflückte er sich rasch ein paar Blätter vom Liebstöckel und steckte sie zu den Rainfarnblüten. Lydia hatte sich hingehockt und zupfte Löwenzahnblätter aus der Erde. »So ein Garten macht bestimmt viel Arbeit«, meinte Timo. »Ach - nicht so viel, wie man denkt«, erwiderte Lydia. »Und das Unkraut? Was ist mit dem?« fragte Timo. »Unkraut?« Lydia sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wildkräuter solltest du besser sagen! Es gibt überhaupt keine Un-Kräuter. Alle Kräuter sind wichtig, auf ihre Art!« Sie erhob sich und zeigte auf ein paar große Pflanzen, an denen runde Früchte hingen - viele grüne und ein paar rote. »Hast du schon mal frische Tomaten gegessen?« fragte sie. »Das sind Tomaten?« staunte Timo. Er hatte geglaubt, sie würden in der Erde wachsen - wie Kartoffeln. Lydia lachte. »Natürlich sind das Tomaten. Hier, für dich!« Sie gab Timo eine. Eher widerwillig biß er hinein, denn eigentlich mochte er
keine Tomaten. Aber diese schmeckte ganz anders - nicht so fade und wässerig wie die, die es in der Stadt zu kaufen gab. Auch Lydia aß eine Tomate. »Und gespritzt wird unser Gemüse nicht!« erklärte sie, während sie kaute. »Wie - gespritzt?« fragte Timo. »Mit Gift!« erwiderte Lydia. »Viele Leute spritzen ihr Gemüse - gegen Blattläuse, Raupen und andere Schädlinge. Aber dann ist das Gift auch in ihrem Boden und in ihrer Nahrung.« Timo holte tief Luft. »Sag mal - woher weißt du das bloß alles?« Doch bevor Lydia antworten konnte, ertönte ein lautes »Ha-ha-wuscha!« Jemand hatte ganz in ihrer Nähe geniest. Timo blickte sich verblüfft um und konnte niemanden entdecken. Hilfesuchend sah er Lydia an - da nieste es schon wieder. »Der Holundergeist!« flüsterte Lydia und zeigte auf einen Busch mit gelblichweißen Blüten. »Frau Holde!« Jetzt sah auch Timo zwischen den Blüten eine kleine Gestalt sitzen, die das Gesicht kläglich verzog und nun zum drittenmal niesen mußte. »Auu!« hörte er sie jammern. »Wie das sticht, wie das kratzt!« »Arme Frau Holde!« sagte Lydia mitfühlend. »Was sie nur hat?« Timo brachte keinen Ton heraus. Daß es sogar im Holunderbusch einen Geist gab - noch dazu einen, der nieste... »Komm, wir fragen sie, ob wir ihr helfen können!« flüsterte Lydia und ging vorsichtig auf den Busch zu. Timo schloß sich ihr an. Aber schon nach wenigen Schritten blieben sie betroffen stehen: das Gesicht von Frau Holde hatte
sich blau verfärbt, und sie rang nach Luft. »Dieser Geruch!« keuchte sie. »Wenn ich nur wüßte...« Plötzlich fiel ihr Blick auf Lydia und Timo. »Ihr seid das!« schrie sie auf. »Ihr macht diesen schrecklichen - ha-ha-wuscha! - Geruch!« »Wir?« sagten Lydia und Timo wie aus einem Mund. »Ja, ihr!« rief Frau Holde. »Wer sonst? Ihr riecht - ha-haha-ha-wuscha - ganz entsetzlich!« Timo und Lydia wechselten einen ratlosen Blick. »Wir sind es bestimmt nicht!« versicherte Lydia. Frau Holde sah sie aus roten, tränenden Augen an. »Und ob ihr das seid! Und nun macht, daß ihr - ha-ha-ha wegkommt - wuscha!« Doch Lydia und Timo blieben stehen und starrten Frau Holde erschrocken an. Das schien Frau Holde noch mehr in Wut zu bringen. »Verschwindet endlich!« rief sie. »Oder wollt ihr, daß ich mir die Seele aus dem Leib niese?« Und wie zur Unterstreichung ihrer Worte trompetete sie dreimal hintereinander ein lautes »Ha-wuscha!« »Wir gehen ja schon«, sagte Lydia hastig. »Und laßt euch hier nicht wieder blicken!« rief Frau Holde ihnen nach, während Timo und Lydia zum Haus zurückliefen. Erst als sie die Gartenpforte hinter sich geschlossen hatten, hielten sie an. Lydia neigte den Kopf und horchte. »Fällt dir etwas auf?« fragte sie. »Frau Holde niest nicht mehr!« Timo nickte. »Ist das nicht merkwürdig?« sagte sie nachdenklich. »Man könnte wirklich glauben, sie hätte unseretwegen geniest!« »So merkwürdig ist das gar nicht«, widersprach Timo. Beim
Anblick des Rainfarns war ihm nämlich klargeworden, weshalb Frau Holde so viel geniest hatte. »Jetzt wissen wir wenigstens, daß sie ein böser Geist ist!« erklärte er. »Wie meinst du das?« Statt einer Antwort griff Timo in die Hosentasche und holte die Rainfarnblüten und die Liebstöckelblätter heraus. Sie waren zerdrückt und krümelig, und ein stechender Geruch ging von ihnen aus. »Was ist das?« rief Lydia. »Liebstöckel und Rainfarn!« antwortete Timo. »Hast du nicht gesagt, die würden gegen böse Geister helfen?« »Die hattest du zusammen in einer Tasche?« Lydias Stimme klang so schrill und mißfällig, daß Timo erschrocken zusammenzuckte. »Ja -« murmelte er. Er hatte plötzlich das Gefühl, eine Dummheit begangen zu haben. »Ich dachte: Schaden können sie nicht...« »Du Idiot!« schrie Lydia. »Das kannst du vielleicht nie wiedergutmachen, was du da angerichtet hast!« Timo sah sie bestürzt an. Er verstand zwar, daß sie sich ärgerte, weil er, ohne sie zu fragen, etwas von ihren Pflanzen abgepflückt hatte. Aber daß sie sich dermaßen aufregte... »Sie wachsen doch wieder nach«, wandte er zaghaft ein. »Du hast nichts begriffen, überhaupt nichts!« rief Lydia erregt. »Du bist genauso wie die anderen, du - du Stadtkind!« Timo fühlte sich wie an dem allerersten Nachmittag, als sie in Tante Mimis Baum gesessen und ihm nur höhnische Bemerkungen an den Kopf geworfen hatte. Und auch diesmal verstand er nicht, warum sie das tat! Er überlegte noch, was er zu seiner Rechtfertigung sagen
könnte, als Lydia rief: »Worauf wartest du noch? Los, verschwinde!« Da preßte Timo die Lippen zusammen und ging. »Frieden geschlossen ... von wegen!« sagte er, als er wieder bei Tante Mimi war. Sie saß in ihrem Zimmer am Fenster und strickte. »Aber vorhin habt ihr euch doch so gut verstanden!« meinte sie und schaute ihn über ihre Brille hinweg bekümmert an. »Gut verstanden?« Timo schüttelte heftig den Kopf. »Oder nennst du das ›gut verstanden‹, wenn sie mich als Stadtkind beschimpft?« »Nein. Aber Lydia hatte bestimmt einen Grund dafür!« Timo schwieg. »Willst du mir den Grund nicht sagen?« forschte Tante Mimi. Timo blickte sie finster an. »Du bist ja doch immer auf Lydias Seite!« Erschrocken ließ sie ihr Strickzeug sinken. »Das darfst du nicht sagen, Timo!« »Und warum nicht?« erwiderte er trotzig. »Weil das ungerecht ist«, sagte sie. »Lydia ist auch ungerecht!« verteidigte er sich. »So?« »Ja! Vorhin hat sie mich angeschrien - und nur, weil ich etwas von ihren Kräutern abgepflückt habe. Dabei hat sie mir selbst gesagt, daß man immer ein paar Blätter davon in der Tasche haben soll, zum Schutz gegen böse Geister!« »Was für Kräuter?« »Rainfarn und Liebstöckel.« »Die sollen tatsächlich vor bösen Geistern schützen«, bestätigte Tante Mimi. »Allerdings, wenn man sie zusammenbringt...«
»Wie - wenn man sie zusammenbringt?« »Nun -« Tante Mimi zwinkerte belustigt mit den Augen, »Lydia hat mir erzählt, daß sie einen fürchterlichen Geruch entwickeln, wenn man sie vermischt.« Timo wurde blaß. »Wenn man sie vermischt?« stammelte er. Er klaubte die zerdrückten Blätter und Blüten aus der Tasche und legte sie vor Tante Mimi auf die Fensterbank. »Hier!« sagte er mit rauher Stimme. »Ich habe sie vermischt, weil ... ich wußte nicht...« »Das sind Rainfarn und Liebstöckel?« fragte Tante Mimi und roch daran. Dann lachte sie. »Zusammen riechen sie aber wirklich gräßlich! Daß dieser Geruch die Geister vertreibt, überrascht mich nicht!« »Etwa auch die guten Geister?« rief Timo. »Ich glaube, dieser Geruch vertreibt alle Geister!« Tante Mimi schob die zerdrückten Blätter und Blüten auf ein Stückchen Seidenpapier. »Am besten, wir werfen sie gleich hier in den Papierkorb«, meinte sie, »denn sonst verjagen wir noch den Herdgeist! Und du solltest dir eine frische Hose anziehen, bevor du in die Küche gehst.« »Jetzt verstehe ich, warum Frau Holde ständig niesen mußte«, murmelte Timo. »Und ich dachte, sie sei ein böser Geist!« »Oh, ganz im Gegenteil«, erwiderte Tante Mimi. »Holundergeister sind ganz besonders nützliche und hilfreiche Geister. Früher war es sogar üblich, den Hut zu ziehen, wenn man an einem Holunderbusch vorbeikam.« »Den Hut ziehen? Vor einem Busch?« »Ja. Aus Ehrfurcht und um die Geister freundlich zu stimmen. Denn sonst konnte es passieren, daß sie verschwanden - und mit ihnen das Glück!«
»Das Glück?« Voller Schrecken dachte Timo daran, daß es seine Schuld sein würde, wenn Frau Holde verschwände und mit ihr Lydias Glück! »Und man kann sie überhaupt nicht wieder versöhnen?« fragte er. »Wen?« »Frau Holde!« »Doch, ein Mittel gibt es schon«, meinte Tante Mimi. »Welches?« rief Timo. Tante Mimi lächelte. »Sie ißt gern frischen Apfelkuchen so wie du.« Timo sah sie halb erstaunt, halb ungläubig an. »Das hilft?« »Bestimmt! Und nimm am besten noch zwei Kuchenstücke extra mit - für Lydia und ihren Vater!« »Wenn du meinst -« Timo konnte zwar nicht recht glauben, daß Apfelkuchen eine so außergewöhnliche Wirkung haben sollte - aber da er selbst keine bessere Idee hatte, ließ er sich von Tante Mimi ein Tablett mit drei Stück Apfelkuchen geben, zog eine neue Hose an und machte sich, nun schon zum zweitenmal an diesem Tag, auf den Weg zu Lydia. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er vor dem großen dunklen Haus stand und auf die Mauer aus Feldsteinen blickte. Es wirkte auf ihn genauso abweisend und verschlossen wie Lydia - ein Haus, in dem man wenig Wert auf Besucher zu legen schien, wenn es nicht einmal eine Klingel gab... Langsam und mit weichen Knien ging Timo zu der Tür, die in den Anbau führte, und ergriff das obere Hufeisen. Kalt und schwer lag es in seiner Hand. Timo schauderte. Doch er nahm sich zusammen und schlug einmal kräftig gegen das untere Hufeisen. Der dumpfe Laut, der ertönte, ging ihm durch Mark und Bein. Eine Weile geschah nichts. Dann kündigte das Knarren der
Holzdielen an, daß sich jemand näherte. Ein Schlüssel wurde umgedreht, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. »Ach, du«, hörte er Lydia sagen. Jetzt ging die Tür ganz auf, und Lydia stand ihm mit finsterer Miene gegenüber. »Was willst du?« fragte sie barsch. »Ich ... Tante Mimi...« brachte er mühsam heraus. Lydias Blick wanderte zu dem Tablett mit Kuchen. »Was soll das?« Timo holte tief Luft. »Tante Mimi hat mir den Kuchen gegeben, für Frau Holde. Ich ... es tut mir so leid!« »Es tut dir leid?« Lydias Stimme klang überrascht. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß Rainfarn und Liebstöckel zusammen...« Timo brach ab. Mit einer hastigen Bewegung stellte er das Tablett auf die Erde. »Hier, für Frau Holde und für euch!« Dann drehte er sich um und stürzte davon. Doch er war noch nicht weit gekommen, als er Lydia rufen hörte: »Warte!« Zögernd hielt er an und blickte zum Haus zurück. Lydia stand neben der Tür, sie hatte das Tablett in der Hand - und sie lächelte! »Vielen Dank für den Kuchen!« rief sie ihm zu. »B-bitte«, antwortete Timo - verblüfft über ihre plötzliche Freundlichkeit. Ob der Apfelkuchen bewirkt hatte, daß sie ihm nicht mehr böse war? Doch bevor Timo sich darüber klarwerden konnte, war Lydia im Haus verschwunden. Nachdenklich kam Timo bei Tante Mimi an. »Nun?« fragte sie neugierig. »Hat es geholfen?« »Ich weiß nicht...« murmelte Timo. Tante Mimi lächelte zuversichtlich. »Keine Sorge!« meinte sie. »Apfelkuchen ist ein wahres
Zaubermittel!« »Ein Zaubermittel?« »Und ob! Manchmal muß man allerdings ein bißchen Geduld aufbringen, bis es wirkt.«
Armer Timo! Geduld brauchte Timo wirklich, denn es verging fast eine Woche, bevor er wieder etwas von Lydia hörte. In dieser Zeit hatte er sich eine Baumhöhle in dem großen knorrigen Apfelbaum gebaut, der vor Tante Mimis Haus stand. Timo saß in seiner Höhle, als an einem Nachmittag der alte blaue Lieferwagen von Lydias Vater vor dem Gartenzaun hielt. Durch die Zweige beobachtete er, wie Lydia und ihr Vater ausstiegen und den Weg heraufkamen. Dann gingen sie ins Haus. Nach einer Weile trat Tante Mimi vor die Tür. »Timo?« rief sie. »Besuch für dich!« »Für mich?« brummte er, und widerwillig kletterte er vom Baum herunter. Daß Lydia ihren Vater mitgebracht hatte, konnte seiner Meinung nach nur eins bedeuten: eine Strafpredigt. Doch es kam ganz anders. Lydia und ihr Vater saßen auf dem roten Sofa und lächelten freundlich. »Lydia hat mir viel über euch beide erzählt«, begann Lydias Vater das Gespräch. »So?« sagte Timo mißtrauisch. »Ja! Wie gut ihr euch versteht und daß du Naturgeister sehen kannst.« Timo war sprachlos. »Und jetzt will sie, daß ich mit euch ins Moor gehe, wenn es schon dämmert«, fuhr Lydias Vater fort. »Ins Moor?« Timo durchzuckte ein eisiger Schreck. »Aber...« Sollte er sagen, daß er beschlossen hatte, nie wieder mit Lydia ins Moor zu gehen?
Andererseits - wenn Lydias Vater mitkam... Konnte Timo dann nicht ziemlich sicher sein, daß ihm nichts passieren würde? »Im Moor ist es nämlich erst in der Dämmerung richtig aufregend«, unterbrach Lydia seine Überlegungen, und dabei lächelte sie Timo so innig zu, daß er gar nicht mehr wußte, was er denken sollte. War das noch dieselbe Lydia, die ihn angeschrien und beschimpft hatte? »Ich - ich weiß nicht«, murmelte er und sah Tante Mimi hilfesuchend an. »Wenn Tante Mimi es erlaubt...« Vielleicht würde sie Lydias Vater von seinem Vorhaben abbringen! Doch Tante Mimi schien nicht den geringsten Argwohn gegen Lydia und ihren Vater zu hegen. »Natürlich erlaube ich es!« sagte sie. »Und wann soll es losgehen?« »Morgen abend«, antwortete Lydias Vater. »Falls Timo Lust hat.« »Lust?« Timo seufzte kaum hörbar. Er würde zwar mitgehen, aber das bedeutete keineswegs, daß er sich darauf freute! An diesem Abend konnte Timo lange Zeit nicht einschlafen. Er lag im Bett, hatte die Augen geschlossen und versuchte, nicht an das Moor zu denken - doch vergeblich. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den düsteren, schaurigen Orten zurück: den versteckten Teichen, den Sümpfen, dem Geistersee - und zu den Wesen, die dort lebten. Auf einmal sah er einen Mann neben seinem Bett stehen. Er trug einen grauen Mantel, und sein Gesicht war geisterhaft blaß. Es war - der Fremde aus dem Zug! »Glaubst du mir nun?« fragte er. »Was? Was soll ich glauben?« erwiderte Timo. »Daß es ihn gibt!« »Wen?« »Den Händler der verkauften Träume! Du dachtest, es sei
nur eine Geschichte. Aber jetzt weißt du, daß es die Wahrheit war. Jetzt, wo du ihm deine Träume verkauft hast, genauso wie ich!« »Aber ich habe ihm meine Träume nicht verkauft!« Timos Stimme überschlug sich. Doch der Mann lächelte nur ungläubig. »Ich habe euch beobachtet«, sagte er, »dort, auf dem Bahnsteig in Kümmerling. Ich habe gesehen, wie er deine Tasche genommen hat und wie ihr zusammen weggegangen seid.« »Es war nicht der Händler der verkauften Träume!« »Das denkst du, weil er nicht so gekleidet war, wie ich ihn dir beschrieben habe. Aber Kleider kann man wechseln. Was bleibt ist das Gesicht. Und sein Gesicht würde ich unter Tausenden erkennen: die lange Nase, die unruhigen Augen, das spitze Kinn! Glaub mir: es war der Händler der verkauften Träume!« »Nein!« schrie Timo. »Nein!« Auf einmal fand er sich aufrecht im Bett sitzen. Der Platz, an dem eben noch der Fremde gestanden hatte, war leer. Verstört rieb Timo sich die Augen. Sollte er doch eingeschlafen sein? Und hatte er die Begegnung mit dem Fremden nur geträumt? Mit unsicheren Schritten ging er ans Fenster, schob die Vorhänge zur Seite und spähte hinaus. Es war Vollmond, und in seinem bläulichen Licht sahen Tante Mimis Garten und die Wiesen dahinter seltsam unwirklich aus. Nichts regte sich. Hatte Timo erwartet, den Fremden zu entdecken, wie er durch die Wiesen davonlief? Er wußte es selbst nicht. Während er auf die wie verzaubert daliegende Landschaft blickte, fiel es ihm schwer zu unterscheiden, was
Traum und was Wirklichkeit war. Irgendwo dort am Ende der Wiesen mußte das Moor beginnen Timo schauderte, und hastig zog er die Vorhänge zu. Wenn doch Tante Mimi wach wäre! dachte er. Aber im Haus war es totenstill - so still, daß Timo das Ticken der alten Uhr hören konnte, die unten im Flur stand. Und obwohl es gar nicht kalt war, fror er plötzlich. Zitternd legte er sich ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn. Er schloß die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. »Armer Timo!« klang ihm von neuem die Stimme des Fremden in den Ohren. »Du hast ihm deine Träume verkauft. Nie mehr wirst du richtig schlafen können.« »Nein, nein!« stöhnte Timo. »Es war nicht der Händler der verkauften Träume, der mich abgeholt hat. Es war Lydias Vater!« »Was ist mit Lydias Vater?« hörte er da Tante Mimis Stimme. Timo blinzelte. Auf dem Bettrand saß Tante Mimi. »Was ist mit Lydias Vater?« fragte sie noch einmal. »Ich - ich habe wohl geträumt«, murmelte Timo. »Das muß aber ein schlimmer Traum gewesen sein! Du hast so laut geschrien, daß ich im Zimmer nebenan wachgeworden bin.« »Ja, es war ein scheußlicher Traum!« »Und wovon hast du geträumt?« fragte sie teilnahmsvoll. Timo zögerte. Von dem Fremden aus dem Zug und seiner unheimlichen Geschichte wollte er Tante Mimi besser nichts erzählen. Also sagte er: »Vom Moor.« »Von eurem Spaziergang morgen abend?« Timo nickte. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er: »Willst du nicht mitkommen, Tante Mimi?«
»Ins Moor? Ich?« Sie lachte. »Nein. Dafür bin ich zu alt. Und außerdem - einen besseren Führer durchs Moor als Lydias Vater wirst du nirgendwo finden. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben!« Doch trotz dieser tröstlichen Versicherung nahm Timos Angst eher noch zu. Den ganzen nächsten Tag war er unruhig und nervös. Als er am Abend Lydia und ihren Vater den Weg heraufkommen sah, fühlte er sich so elend, daß er sich am liebsten verkrochen hätte. Lydia trug Gummistiefel und einen grünen Parka, genauso wie ihr Vater, und ihr Haar leuchtete so rot wie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Kaum merklich begann es nun zu dämmern. »Wir bekommen heute eine klare Nacht«, sagte Lydias Vater zu Tante Mimi. »Unsere Taschenlampen werden wir gar nicht brauchen.« »Und - die Nebel?« fragte Timo mit belegter Stimme. »Nachts steigen im Moor doch Nebel auf!« »Ja, über den Sümpfen vielleicht. Aber dort, wo wir gehen, werden keine Nebel sein«, antwortete Lydias Vater. Und mit einem Schmunzeln fügte er hinzu: »Ganz ohne Nebel wäre eine Nachtwanderung durchs Moor doch nur halb so aufregend. Nebel und Irrlichter gehören dazu.« »Irrlichter auch?« rief Timo und dachte mit Schrecken an das, was Lydia ihm erzählt hatte: Sie winken dir mit ihren Lichtern, hatte sie gesagt, und wenn du ihnen nachgehst, versinkst du im Moor... Lydias Vater lachte. »Wenn wir hier noch lange stehen und reden, werden wir gar nichts Aufregendes mehr zu sehen kriegen. Kommt, gehen wir!« »Ja, gehen wir endlich!« stimmte ihm Lydia voller Taten-
drang zu. Timo zog sich seine Gummistiefel an, und dann ging er mit schweren Beinen hinter Lydia und ihrem Vater her. Als sie den Holzsteg erreicht hatten, der ins Moor führte, war der Himmel tiefblau, fast schwarz geworden. Timo blickte auf das Moor, das jetzt noch viel unheimlicher wirkte. Beim erstenmal hatte ihn das Wilde, Ungebändigte dieser Landschaft beeindruckt, das viele Grün. Nun, im Mondlicht, sah das Moor nur noch fremd und bedrohlich aus. Ein Zittern überlief ihn. »Du hast doch keine Angst?« erkundigte sich Lydias Vater. »Das wäre nämlich schlecht. Wer Angst hat, macht leicht einen falschen Schritt.« »Angst?« Timo schluckte und wußte nicht, was er antworten sollte. »Nein, Timo hat keine Angst!« sagte Lydia an seiner Stelle. »Du wirst dich wundern, Papa, wie mutig er ist!« Timo sah sie überrascht von der Seite an - in der Erwartung, daß sie sich wieder über ihn lustig machen wollte. Doch ihr Gesichtsausdruck war ernst. Auf einmal überkam ihn ein warmes, freudiges Gefühl. Ja, Lydia hatte recht: Er war mutig - wenn er es nur wollte und wenn er selbst daran glaubte! Hatte nicht der Herdgeist dasselbe gesagt? »Ich - ich habe keine Angst!« erklärte er. »Ich bin nur aufgeregt.« »Das ist ganz natürlich«, meinte Lydias Vater. »Jedem ergeht es so, wenn er ins Moor kommt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Menschen früher Opfergaben im Moor versenkt haben.« Vorsichtig ging er über den Steg und winkte Lydia und Timo, ihm zu folgen.
Zaghaft betrat Timo hinter Lydia die rutschigen Holzbohlen. Ihm fiel ein, was Lydia über den Steg gesagt hatte: ›Es ist die Brücke zum Reich der Geister.‹ Doch die Moorgeister schienen auch diesmal freundlich gestimmt zu sein, denn er kam wohlbehalten auf der anderen Seite an. »Und nun gehen wir zum See!« sagte Lydias Vater. »Zum See? Zum Schwarzen Geistersee? Aber dann müssen wir ja durch die Sümpfe!« rief Timo voller Entsetzen. »Nein. Es gibt einen Weg außen herum«, antwortete Lydias Vater. Timo traute seinen Ohren nicht. Überrascht und ungläubig sah er Lydia an. »Wußtest du das?« Sie nickte - ein wenig schuldbewußt, wie es Timo schien. »Ja. Aber ich mußte ja erst mal sehen, ob du wirklich so mutig bist, wie du behauptet hast!« Sie hatte es gewußt... Timo schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte ihn Todesängste ausstehen lassen - und nur, um herauszufinden, wie mutig er war... »Das war gemein von dir!« rief er. Lydias Vater versuchte zu lachen. »Was war gemein? Ich verstehe nicht...« »Daß sie mit mir durch die Sümpfe gegangen ist!« antwortete Timo. »Um Himmels willen - ihr seid durch die Sümpfe gegangen?« Lydias Vater holte tief Luft. »Das - das ist unglaublich!« »Ich kenne den Weg!« verteidigte sich Lydia. »Ich bin ihn schon öfter gegangen. Ein Moorgeist hat ihn mir gezeigt.« »Davon hast du mir nie etwas erzählt!« »Ja! Weil ich genau wußte, daß du mir verboten hättest, durch die Sümpfe zu gehen.« »Und trotzdem - obwohl du das wußtest! - bist du mit Timo
diesen gefährlichen Weg gegangen...« Lydias Vater atmete schnell und heftig. »Und ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen! Ich dachte, ich hätte eine große, verantwortungsvolle Tochter, der ich vertrauen könnte!« Seine Worte klangen so anklagend, so enttäuscht, daß Timo fast ein schlechtes Gewissen bekam. Konnte Lydia ihm jetzt nicht mit Recht vorwerfen, sie bei ihrem Vater verpetzt zu haben? Andererseits - sie hatte ihn durch die Sümpfe geführt, nur um seinen Mut zu testen. Und das fand Timo noch viel gemeiner! Er sah, daß sich Lydias Augen mit Tränen gefüllt hatten. »Immer müßt ihr auf mir herumhacken!« rief sie. »Warum habt ihr mich überhaupt mitgenommen! Geht doch ohne mich weiter! Ich bin euch ja sowieso egal!« Sie schluchzte laut auf - und dann rannte sie an ihrem Vater vorbei ins Moor hinein. »Lydia! Bring dich nicht in Gefahr!« rief ihr Vater erschrocken und wollte hinterherlaufen. Doch er blieb mit seinem Stiefel in dem sumpfigen Untergrund stecken. Als er sich wieder befreit hatte, war Lydia in der Dunkelheit verschwunden. »Lydia! Komm zurück!« rief er, aber Lydia gab keine Antwort. »Warte hier, Timo«, sagte er mit rauher, gepreßter Stimme. »Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du? Warte, bis ich wieder da bin!« Timo war wie betäubt. Das Gefühl, mit daran schuld zu sein, daß Lydia ins Moor gerannt war, lähmte ihn, und so konnte er nur hilflos zusehen, wie Lydias Vater davonlief, ins Dunkel hinein.
Auf der Suche nach dem Schwarzen Spiegel Nun war Timo allein. Ein Schauer lief ihm über den Rücken,
und angstvoll blickte er sich um. In dem bläulichen Licht wirkte alles fahl und gespenstisch. Sogar die Binsen, die Rohrkolben am Wegrand sahen wie abgestorben aus. Und wie unheimlich das Mondlicht auf den kleinen Tümpeln und Teichen blitzte und funkelte Plötzlich strich etwas Weiches an seinem Gesicht vorbei. Er schrie auf - und sah, wie ein großer schwarzer Vogel - oder war es eine Fledermaus - merkwürdig taumelnd vorüberflog und in den Nebel eintauchte, der aus dem Moor herankroch. Nebel... Timo fielen die Nebelfrauen ein, von denen Lydia ihm erzählt hatte - und schon glaubte er, Gestalten zu erkennen, die sich hin und her bewegten, Frauen mit verschleierten Gesichtern und langen weißen Kleidern. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück - da löste sich der Nebel auf, und an seiner Stelle sah er drei kleine Lichter, die sich durch das hohe Schilfgras näherten. Timo erstarrte: Waren das - Irrlichter? Dann erkannte er, daß sie getragen wurden. Drei Wesen in dunklen Umhängen trugen die Lichter vor sich her. Das erste dieser Wesen war nicht viel größer als ein dreijähriges Kind, aber sein Gesicht, das unter der Kapuze hervorschaute, war das Gesicht einer sehr alten Frau. Hinter der alten Frau kam ein Mann mit einem langen, dünnen Bart. Auch er hatte ein Gesicht voller Falten und Runzeln. Ihm folgte ein höchst sonderbares Wesen: es hatte
eine spitze Schnauze und war über und über mit grauen Haaren bedeckt. Es sah aus wie ein alter, struppiger Wolf - aber es trug einen Umhang, und es ging aufrecht auf zwei Beinen. »Sei gegrüßt, mein Sohn!« sagte die alte Frau zu Timo, und der alte Mann fragte: »Willst du nicht mit uns kommen? Wir haben noch einen beschwerlichen Weg vor uns, und wir sind dankbar für jeden, der mit uns geht.« »Wo-wohin wollt ihr denn?« stammelte Timo. »Ins Land der Elben«, antwortete sie. »Aber wir finden den Schwarzen Spiegel nicht, unter dem es verborgen liegt.« »Einen schwarzen Spiegel sucht ihr? Hier, im Moor?« »Ja. Aber unsere Lichter sind so schwach«, klagte die alte Frau. »Habt ihr denn keine stärkeren Lichter?« fragte Timo. »Nein.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. Dann sagte sie leise, fast flüsternd: »Es sind ja unsere Seelen! Und die sind genauso alt und müde wie wir.« »Eure - Seelen?« »Ja. Die müssen wir vor uns hertragen, bis wir den Schwarzen Spiegel gefunden haben, in den wir sie eintauchen lassen dürfen.« »Eintauchen?« sagte Timo verwundert. »Dann sucht ihr gar keinen richtigen Spiegel? Ich meine, keinen aus Glas?« »Das wissen wir nicht«, antwortete der alte Mann. »Aber wir fragen jeden, der uns begegnet, ob er nicht mit uns gehen will.« »Ich kann auf gar keinen Fall mitgehen!« sagte Timo hastig. »Und warum nicht?« fragte die alte Frau. »Ja, warum nicht?« rief das seltsame behaarte Wesen mit einer Stimme, die eher einem Bellen glich. »Vielleicht bist gerade du es, der uns helfen kann.« »Nein, bestimmt nicht!« erwiderte Timo und zeigte ihnen
seine leeren Hände. »Seht ihr? Ich habe meine Seele noch. Also kann ich auch nicht mit euch gehen!« Sie starrten auf Timos Hände. »Aber was machst du dann überhaupt im Moor?« rief die alte Frau. »Ich - ich warte auf jemanden...« »Und auf wen?« fragte sie argwöhnisch. »Auf uns!« bellte das haarige Wesen. »Er wartet auf uns, weil er mit uns gehen soll.« »Nein!« schrie Timo auf. »Nein! Ich warte auf Lydia und ihren Vater.« Kaum hatte er das gesagt, hätte er sich selbst ohrfeigen können. Nun hatte er ihnen verraten, daß es außer ihm noch zwei Menschen im Moor gab Er sah, wie sie freudige, aufgeregte Blicke wechselten, und dann hörte er, wie der alte Mann der Frau zuraunte: »Noch zwei, die wir mitnehmen können!« »Und wo sind deine Freunde?« knurrte das haarige Wesen und entblößte sein kräftiges Gebiß. Verzweifelt überlegte Timo, was er sagen könnte, um sie von Lydia und ihrem Vater abzulenken. Auf einmal hatte er eine Idee. »Ihr - ihr sucht doch einen schwarzen Spiegel, in den ihr etwas eintauchen lassen könnt«, begann er. Gegen seinen Willen zitterte seine Stimme. »Etwas, sagst du?« rief die alte Frau entrüstet. »Unsere Seelen!« »Ja.« Timo wurde rot. »Aber ihr könnt sie doch nur in einen Spiegel eintauchen lassen, der nicht aus Glas ist!« »Wie meinst du das?« knurrte das haarige Wesen. Timo atmete tief durch, bevor er antwortete: »Der Spiegel, den ihr sucht, kann unmöglich aus Glas sein! Er muß aus
einem anderen Stoff sein!« »Aus einem anderen Stoff?« wiederholte die alte Frau. »Zum Beispiel aus - Wasser!« sagte Timo. »Aus Wasser?« rief die alte Frau. »Ja. Habt ihr noch nie erlebt, daß man sich im Wasser spiegeln kann?« »Doch«, sagte die alte Frau. »Du hast recht!« Aufgeregt fragte sie: »Aber wo finden wir schwarzes Wasser?« »Der Schwarze Geistersee!« antwortete Timo und senkte seine Stimme zu einem Flüstern: »Er hat das schwärzeste Wasser, das ich je gesehen habe.« »Ein See! Daß wir nicht selbst daran gedacht haben!« sagte der alte Mann erregt. »Und wo ist der Schwarze Geistersee?« rief die alte Frau. Timo zögerte. Er mußte auf jeden Fall verhindern, daß sie mit Lydia und ihrem Vater zusammentrafen. »Ihr - ihr müßt durch die Sümpfe gehen«, sagte er. »Durch die Sümpfe?« wiederholte die alte Frau. »Ja! Auf der anderen Seite ist ein Damm, und dahinter liegt der Schwarze Geistersee.« »Aber es ist gefährlich, durch die Sümpfe zu gehen«, wandte der alte Mann ein. »Warum nehmen wir den Jungen nicht mit!« meinte die alte Frau. »Ja, nehmen wir ihn mit!« rief das haarige Wesen, und der alte Mann stimmte zu: »Wenn auch seine Zeit noch nicht gekommen ist, so kann er uns doch sehr nützlich sein!« Timo wurde angst und bange. »Aber - ich muß hier warten!« stammelte er, als plötzlich das haarige Wesen schrie: »Mein Licht!« Timo sah, daß sein kleines Licht heftig zitterte. »Es wird verlöschen!« schluchzte das haarige Wesen.
»Um Himmels willen, schnell! Wir müssen von hier fort, bevor sein Licht ausgegangen ist!« rief die alte Frau. »Wir hätten niemals so lange stehenbleiben dürfen!« In allergrößter Aufregung und ohne sich weiter um Timo zu kümmern, liefen sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Sobald sie verschwunden waren, spürte Timo eine ungeheure Erleichterung. Und diese Erleichterung nahm noch zu, als er jetzt aus der Richtung, in die Lydia und ihr Vater gegangen waren, eine Mädchengestalt mit roten Haaren auf sich zukommen sah. »Lydia!« rief er. »Psst! Verrate nicht, daß ich hier bin!« antwortete sie halblaut und blieb einige Schritte von ihm entfernt stehen. Ihre Stimme klang eigenartig kratzend, fand Timo. »Ich bin gekommen, um dich abzuholen!« sagte sie in feierlichem Ton. »Abholen? Wohin denn?« »In den Palast der Feen!« »In den Palast der Feen?« wiederholte Timo und spürte eine seltsame Beklemmung - als wollte ihn eine innere Stimme warnen. Zögernd fragte er: »Und wo liegt dieser Palast?« Sie lächelte geheimnisvoll. »Mitten im Moor, Klopf an das Tor, Tauch in die Flut, Alles wird gut!« Timo schaute sie bestürzt an. Ihre merkwürdige Wegbeschreibung verwirrte und beunruhigte ihn.
»Und - was wollen wir da?« Wieder lächelte sie. »Tanzen!« »Tanzen? Ich kann nicht tanzen!« »Oh - jeder, der zu den Feen kommt, kann tanzen«, erwiderte sie. »Und ich will auch gar nicht tanzen!« »Du wirst es aber müssen!« »Müssen?« Aufs neue spürte Timo ein Gefühl der Beklemmung. »Wieso?« rief er. Sie antwortete: »Alles bereit, Morgen ist weit, Vergessen die Zeit, Wertloses Kleid.« »Ich verstehe kein Wort!« sagte Timo. »Warum fragst du auch soviel!« erwiderte sie sanft tadelnd. »Gib mir deine Hand, dann bringe ich dich zum Palast der Feen!« »Nein!« Er empfand auf einmal einen heftigen Widerwillen dagegen, ihr die Hand zu reichen, sie zu berühren. »Wo - wo ist eigentlich dein Vater?« lenkte er hastig ab. Sie machte ein finsteres Gesicht. »Was kümmert es mich, wo er ist!« sagte sie, und verächtlich fügte sie hinzu: »Soll er sich doch zum Teufel scheren!« Timo starrte sie erschrocken an. »Komm schon!« rief sie, und als könnte sie ihre Ungeduld nicht länger bezähmen, trat sie auf ihn zu und streckte verlangend die Hand nach ihm aus - und voller Entsetzen erkannte Timo, daß sie zwischen ihren Fingern - Schwimmhäute hatte!
»Du bist gar nicht Lydia!« schrie er auf. »Du bist ein Moorgeist!« Kaum hatte er das gesagt, ging eine schreckliche Veränderung mit ihr vor: Die zarte helle Haut wurde grau und rissig, und ihr Kopf überzog sich mit Schuppen. Die Stirn wurde flacher, das Kinn trat zurück. Dafür quollen die Augen hervor - wässerig und blau glotzten sie Timo an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Am Hals bildeten sich tiefe Falten, die wie Kiemen aussahen, und die Lippen, die eben noch so verlockend gelächelt hatten, wölbten sich wulstartig nach vorn - wie ein Fischmaul! Und dieses Maul öffnete sich jetzt und stieß ein paar gurgelnde Laute aus, während die Hände mit den Schwimmhäuten versuchten, Timo zu packen. Da drehte er sich um und rannte. Er rannte wie um sein Leben, und erst als er Tante Mimis Haus erreicht hatte, wagte er es, anzuhalten und einen Blick zurück zu werfen.
Fast hatte er erwartet, das gräßliche Wesen zu sehen, wie es am Gartenzaun stand und ihm winkte - mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Doch die Dorfstraße war leer. Timo drückte auf die Klingel. Er zitterte und war in Schweiß gebadet. Als Tante Mimi öffnete, stürmte er wortlos an ihr vorbei in den Flur und drückte aufatmend die Haustür hinter sich zu. »Was ist mit dir?« rief Tante Mimi und musterte ihn erschrocken. Doch Timo war zu erschöpft und zu durcheinander, um ihr von seinen Erlebnissen zu berichten. Mit matter Stimme erzählte er, daß Lydia und ihr Vater ohne ihn weitergegangen wären und daß er, als ihm das Warten zu lange gedauert hätte, allein zurückgelaufen wäre. Dann ging er auf wackeligen Beinen nach oben, zog sich aus und fiel todmüde ins Bett.
Holunderblüten Am nächsten Morgen schien die Sonne durch die Vorhänge, und alles wirkte so freundlich und heiter, daß Timo die Ereignisse der vergangenen Nacht wie ein Alptraum vorkamen. Wenn es doch nur ein Traum gewesen wäre! dachte er, und bei der Vorstellung, daß Lydia vielleicht etwas zugestoßen war, fühlte er eine unbestimmte Angst. Schnell stand er auf, streifte Pullover und Hose über und lief zu Tante Mimi in die Küche. »Ist Lydia wieder da?« rief er ihr schon an der Tür entgegen. »Ja. Aber setz dich erst mal!« antwortete Tante Mimi. Sie hatte den Tisch gedeckt, und die Terrassentür stand offen. Widerwillig nahm Timo auf der Küchenbank Platz. Er hatte überhaupt keinen Hunger, und er war auch viel zu aufgeregt, um etwas zu essen. »Hast du mit Lydia gesprochen?« fragte er drängend. »Ihr Vater hat angerufen«, sagte Tante Mimi. »Es ist alles in Ordnung.« »Alles in Ordnung?« Timo seufzte tief. »Und ihr ist wirklich nichts passiert?« »Nein - jedenfalls nichts Ernstes. Sie ist in ein Moorloch gefallen und bis zu den Hüften naß geworden. Es kann sein, daß sie einen Schnupfen bekommen wird.« »Sie ist in ein Moorloch gefallen?« rief Timo bestürzt. »Dann hätte sie ja versinken können -« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Tante Mimi. »Viele dieser Moorlöcher sind nur einen halben Meter tief. Allerdings steckte Lydia fest, und wenn ihr Vater sie nicht gefunden hätte, säße sie vielleicht noch immer in dem Loch.«
»Und da behauptest du, ihr sei nichts passiert!« rief Timo empört. Tante Mimi lächelte. »Es ist schön, daß du so besorgt um sie bist.« Timo wurde rot. »Du findest es ja anscheinend lustig, daß sie in einem Moorloch festsaß!« wehrte er sich. »Lustig finde ich es nicht«, widersprach Tante Mimi. »Aber es ist für Lydia eine gute Lehre, daß sie die Gefahren im Moor nicht unterschätzen darf. Bislang ist sie viel zu leichtsinnig gewesen! Wenn ich mir vorstelle, daß sie mit dir durch die Sümpfe gegangen ist...« »Das weißt du?« »Ihr Vater hat es mir am Telefon gesagt. Und ich war genauso erschrocken wie er, als ich das erfuhr! Warum hast du mir nichts davon gesagt, Timo?« »Ich - ich wollte sie nicht verpetzen.« »Und wenn euch etwas zugestoßen wäre? Hast du daran nicht gedacht?« »Doch. Ich hatte ja auch Angst! Aber ich wollte nicht, daß sie mich weiter als Angsthasen und Feigling beschimpfen konnte.« »Das hat sie zu dir gesagt: Angsthase und Feigling?« »Ja!« »Aber davon hast du mir auch nichts erzählt!« »Du hättest sie doch nur in Schutz genommen und eine Entschuldigung für sie gehabt«, erwiderte Timo. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Und jetzt ist sie wütend auf mich. Weil ich verraten habe, daß wir durch die Sümpfe gegangen sind.« »Sie war nur im ersten Moment wütend«, antwortete Tante Mimi. »Inzwischen hat sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Und ich bin sicher, daß sie sich mit dir wieder vertragen möchte.« »So, glaubst du?« sagte Timo zweifelnd. »Ganz bestimmt. Sie hat nämlich vorgeschlagen, am nächsten Samstag ein Picknick zu machen - an ihrem Lieblingsplatz im Moor, zu dem sie sonst nie jemanden mitnimmt.« »Ein Picknick? Im Moor?« wiederholte Timo mißtrauisch. »Wir wollen mit der Pferdekutsche hinfahren!« sagte Tante Mimi. »Wir?« »Ja. Es wird ein Picknick zu viert - du, Lydia, ihr Vater und ich!« Timo war sprachlos. »Weißt du, wir möchten, daß du mit einer schönen Erinnerung an das Moor und an Moorkaten nach Hause fährst«, fuhr Tante Mimi fort. »Nach Hause -« sagte Timo betroffen. An sein Zuhause und an das Ende der Sommerferien hatte Timo die ganze Zeit nicht denken wollen - und so war es ihm vorgekommen, als würden die Ferien nie aufhören. »Am Samstag ist mein letzter Ferientag«, murmelte er und dachte an all das, was ihn erwartete: die Schule, die Lehrer, Hausaufgaben, Klassenarbeiten - und die Mitschüler, die ihn mit seinen roten Haaren und seiner Schwächlichkeit aufzogen. Und erst jetzt hatte er sich bei Tante Mimi und in Moorkaten richtig eingelebt »So schlecht sind meine Erinnerungen gar nicht«, sagte er und hörte zu seiner Verwunderung eine helle Stimme antworten: »Immerhin weißt du nun, daß du etwas Besonderes bist!« Überrascht wandte er den Kopf - und sah gerade noch, wie der Herdgeist in der Ecke hinter dem Herd verschwand. Hatte Tante Mimi ihn auch gesehen? Aufgeregt schaute Timo zu ihr
hin, doch sie rührte gleichmütig in ihrer Tasse und schien nichts bemerkt zu haben. »Du - du hast es nicht gehört?« »Was soll ich gehört haben?« antwortete Tante Mimi und blickte ihn fragend an. »Das - Vogelgezwitscher«, stotterte Timo. »Das höre ich schon die ganze Zeit«, sagte sie. »Die Terrassentür steht ja offen.« »Und sonst hast du nichts gehört?« »Doch. Ich glaube, es kommt jemand durch den Garten. Vielleicht ist es Lydia!« »Lydia?« Timo sah nach draußen - und erschrak. Denn wie in der vergangenen Nacht erblickte er eine Gestalt mit feuerroten Haaren und einem zarten, blassen Gesicht. Timos Herz begann wie rasend zu schlagen: war das jenes gräßliche Fischwesen aus dem Moor, das nun doch gekommen war, um ihn abzuholen zum Palast der Feen? Aber dann fiel sein Blick auf ihre Hand, in der sie einen Strauß hielt - und diese Hand hatte keine Schwimmhäute zwischen den Fingern! »Lydia!« sagte er erleichtert. Sie lachte und kam in die Küche. »Du hast mich angestarrt wie ein Gespenst. Dabei will ich dir nur etwas bringen - ein Geschenk von Frau Holde!« »Ein Geschenk von Frau Holde?« Timo war noch immer ganz verwirrt. »Dann - ist sie mir nicht mehr böse?« »Nein.« Sie gab ihm den Strauß, der aus ein paar Zweigen mit kleinen gelben, süßlich duftenden Blüten bestand. »Und ich hoffe, du bist es auch nicht mehr mit mir«, fügte sie leise und ein wenig verlegen hinzu. Timo senkte den Kopf, um sie nicht merken zu lassen, daß er rot wurde.
»N-nein.« »Das sind ja Holunderblüten!« sagte Tante Mimi lebhaft.
»Dann backe ich heute mittag für uns Pfannkuchen mit Holunderblüten!« »Die Blüten kann man essen?« fragte Timo. »Aber ja! Der Holunder liefert die herrlichsten Zutaten für die Küche.« »Und Frau Holde hat nichts dagegen?« staunte Timo. »Man muß sie vorher um Erlaubnis bitten«, antwortete Lydia. »Aber man sollte bei jedem Baum fragen, bevor man etwas abpflückt.« »Bei jedem Baum?« sagte Timo betroffen und dachte an die Baumhöhle, die er sich gebaut hatte und für die er Äste abgebrochen und Nägel eingeschlagen hatte. »Und - wenn man es mal vergißt?« »Dann könnte man Ärger mit dem Baumgeist bekommen«, sagte Lydia. »Ärger mit dem Baumgeist?« wiederholte Timo. Nein, Ärger hatte er nicht bekommen. Er seufzte erleichtert. »Und womit würde man den Baumgeist wieder versöhnen?« erkundigte er sich trotzdem - für alle Fälle! »Mit Apfelkuchen«, antwortete Lydia. »Frau Holde hat er
übrigens ausgezeichnet geschmeckt«, fügte sie hinzu. »Und uns auch!« Tante Mimi lächelte. »Siehst du, Timo«, sagte sie, »Apfelkuchen ist ein Zaubermittel! « Timo schwieg dazu. Aber nach dem Mittagessen legte er doch ein Stück Apfelkuchen in die Baumhöhle. Und als er am nächsten Morgen nachguckte - war der Kuchen verschwunden!
Das Theater in Peest Die letzten Tage in Moorkaten vergingen für Timo viel zu
schnell, und je näher der Abreisetag rückte, desto stiller wurde er. Aber nicht nur der bevorstehende Abschied von Tante Mimi und Lydia bedrückte ihn - es war auch die Angst vor der Bahnfahrt und einem möglichen Wiedersehen mit dem unheimlichen Fremden. Und so sagte er am Samstagmorgen, als er Tante Mimi bei den Vorbereitungen für das Picknick half: »Du, Tante Mimi... Können wir nicht meine Eltern anrufen, damit sie mich abholen?« Tante Mimi musterte ihn überrascht. »Sie sollen dich abholen? Warum denn?« »Ja, weil...« Timo zögerte. »Es - es könnten doch komische Leute im Zug sein.« »Komische Leute? Was für Leute meinst du?« »Na ja - Männer...« Tante Mimis Gesicht nahm auf einmal einen ernsten, besorgten Ausdruck an. »Männer? Das klingt, als hättest du auf der Herfahrt etwas Unangenehmes erlebt. Stimmt das, Timo?« Er merkte, daß er rot anlief. »Na ja - nicht direkt...« »Was ist passiert?« fragte Tante Mimi drängend. »Du mußt es mir sagen!« »Passiert ist nichts«, erwiderte Timo - beschämt, daß Tante Mimi nun denken mußte, er hätte ihr noch etwas verheimlicht. »Da war ein Mann, und der hat mir eine gruselige Geschichte
erzählt.« Tante Mimi schien erleichtert zu sein. »Er hat nichts weiter getan - dir nur eine Geschichte erzählt?« Timo nickte. »Aber es war eine schreckliche Geschichte! Von einem Händler, der ihm seine Träume abgekauft hat. Und seitdem kann der Mann keine Nacht mehr richtig schlafen.« »Das hat er dir erzählt?« »Ja. Und daß er jetzt immer zwischen Peest und Kümmerling hin und her fährt, um den Händler wiederzufinden. Er wäre schon glücklich, wenn er nur seine schlechten und bösen Träume zurückbekäme, hat er gesagt.« »Träume verkaufen...« Tante Mimi lachte ungläubig. »Aber der Händler hat ihm dafür eine Stelle beim Theater besorgt!« »Er ist Schauspieler?« »Jedenfalls hat er das gesagt.« »Und wo - an welchem Theater?«
Timo zauderte, bevor er antwortete: »In Peest.« »In Peest?« wiederholte Tante Mimi. Timo hatte erwartet, daß sie - genauso wie Lydias Vater sagen würde: Peest hat gar kein Theater, nur eine Nervenheilanstalt. Doch statt dessen meinte sie: »Das müßte ja schon eine Ewigkeit her sein!« »Wieso?« »In Peest gab es einmal ein Theater - aber vor hundert Jahren! Ein Graf hat es sich bauen lassen. Nach seinem Tod ist aus dem Theater ein Sanatorium geworden. Heute ist es eine Heilanstalt für Menschen mit kranken Nerven.« »Aber es gab ein Theater!« Timo mußte tief durchatmen. »Dann hat der Fremde nicht gelogen!« »Von Lügen sollte man bei diesen Menschen nicht sprechen«, erwiderte Tante Mimi. »Sie leben in ihrer eigenen Welt und haben ihre eigene Wahrheit.« Timo verstand kein Wort. »Wer?« »Die Kranken aus der Nervenheilanstalt.« »Du glaubst auch, er war einer aus der Anstalt?« Tante Mimi nickte. »Meinst du, ein gesunder Mensch würde einem Kind so eine Geschichte erzählen?« »Ein gesunder Mensch?« wiederholte Timo nachdenklich. Ohne es zu wissen, hatte Tante Mimi damit genau das ausgesprochen, was er die ganze Zeit geahnt hatte Ihm fiel ein, wie geisterhaft blaß der Fremde ausgesehen hatte. Und seine altmodische Sprache - wie aus einer längst vergangenen Zeit! Nein, der Fremde war kein gesunder Mensch gewesen und auch kein Kranker aus der Anstalt, wie Tante Mimi glaubte.
Während Timo darüber nachsann, wurde ihm plötzlich bewußt, daß der Fremde im Zug - ein Gespenst gewesen sein mußte! Er spürte ein eisiges Frösteln. Wie aus weiter Ferne vernahm er Tante Mimis Stimme: »Timo, was ist mit dir? Du bist ja kreidebleich geworden!« »Ich - ich möchte auf keinen Fall mit der Bahn fahren!« stammelte er. »Ja, das kann ich verstehen - nach dem, was du erlebt hast«, sagte Tante Mimi. »Willst du nicht gleich deine Eltern anrufen und sie bitten, dich abzuholen?« »Könntest du das nicht machen?« fragte Timo. »Na gut!« Tante Mimi lächelte. Sie ging in den Flur, nahm den Telefonhörer ab und wählte. In atemloser Spannung lauschte Timo - da zupfte ihn jemand am Ärmel. Erschrocken drehte er den Kopf herum und sah den Herdgeist vor sich stehen.
»Ich muß dir noch etwas Wichtiges sagen!« flüsterte der kleine Geist aufgeregt. »Mir?« fragte Timo. »Ja! Geh noch einmal zum Schwarzen Geistersee, bevor du abfahrst, und schau in das Wasser!« Und als fürchtete er, Timo könnte ihn nicht verstanden haben, wiederholte er: »Geh zum Schwarzen Geistersee und schau in das Wasser!« »Ich - ich soll zum Geistersee gehen?« Timos Stimme zitterte. Nach kurzem Zögern fragte er: »Und Lydia... Kann sie mitkommen?« »Das mußt du selbst entscheiden«, antwortete der Herdgeist und verschwand wieder in der Ecke hinter dem Herd, denn in diesem Augenblick kam Tante Mimi zurück. »Sie haben zugesagt!« verkündete sie schon an der Tür. »Wer?« fragte Timo verwirrt. Tante Mimi lachte. »Deine Eltern! Wo bist du denn mit deinen Gedanken?« »Ich? Äh - beim Picknick«, murmelte Timo. »Freust du dich gar nicht?« fragte Tante Mimi verwundert. »Freuen? Auf das Picknick?« Vor dem Erscheinen des Herdgeists hatte Timo sich sogar sehr darauf gefreut. Aber nun... »Nein! Daß deine Eltern dich abholen wollen!« erklärte Tante Mimi. »Ach so. J-ja, natürlich«, stammelte Timo, den jetzt nur eine Frage beschäftigte: Was würde ihn erwarten, wenn er in den Schwarzen Geistersee blickte?
Die Botschaft Auch am Nachmittag konnte er an nichts anderes denken. Die Fahrt mit der Pferdekutsche, bei der Timo neben Lydias Vater auf dem Kutschbock saß, der Weg zu der Wiese im Moor, das Auspacken der Picknickkörbe - all das nahm Timo kaum wahr. Und nicht einmal Tante Mimis frisch gebackener Zitronenkuchen konnte ihn verlocken. Ohne Appetit aß er ein Stück und hatte das Gefühl, der Kuchen würde ihm wie ein Stein im Magen liegen. »Fühlst du dich nicht wohl?« fragte Tante Mimi besorgt. »Doch -« »Aber du bist so ruhig. Und du ißt fast nichts!« »Spielt doch etwas«, meinte Lydias Vater und nickte Timo und Lydia aufmunternd zu. »Ich - ich würde gern Spazierengehen«, sagte Timo mit heiserer Stimme. »Spazierengehen?« Tante Mimi machte ein überraschtes Gesicht. Dann sagte sie: »Ja, warum nicht. Gehen wir spazieren!« »N-nein«, erwiderte Timo hastig, »ich - ich wollte mit Lydia...« Er brach ab und wurde rot. Hoffentlich hatte er Tante Mimi nicht gekränkt. Aber sie schmunzelte. »Gut, wenn ihr lieber allein sein wollt -« meinte sie. »Schließlich ist es euer letzter Nachmittag!« Auch Lydia war rot geworden. »Erlaubst du es mir?« fragte sie ihren Vater. »Hm -« Er zögerte. »Eigentlich solltest du nicht wieder mit
Timo ins Moor gehen! Aber Tante Mimi hat recht: es ist euer letzter gemeinsamer Nachmittag. Du mußt mir allerdings versprechen, daß ihr auf den Wegen bleibt!« »Ich verspreche es«, sagte Lydia, und jetzt hatte sie es sehr eilig, mit Timo den Picknickplatz und die Wiese zu verlassen. Als sie außer Sichtweite waren, blieb Lydia stehen. »Was hast du vor?« fragte sie und blickte Timo forschend an. »Ich glaube dir nämlich nicht, daß du nur Spazierengehen willst!« »Ich...« Timo war ebenfalls stehengeblieben und sah nun unruhig über die weite Fläche des Moores hinweg. Irgendwo dort hinten mußte der Schwarze Geistersee sein »Ich soll zum Schwarzen Geistersee gehen«, sagte er mit belegter Stimme. »Zum Schwarzen Geistersee?« fragte Lydia verwundert. »Und wieso sollst du dahin gehen?« »Weil ... der Herdgeist hat es mir gesagt.« »Du hast wieder mit dem Herdgeist gesprochen?« Timo nickte. »Ja, und?« fragte sie. »Was hat er gesagt? Und was ist mit dem Schwarzen Geistersee?« »Er hat gesagt: ›Geh zum Schwarzen Geistersee und schau in das Wasser‹«, antwortete Timo. Halblaut wiederholte Lydia die Worte des Herdgeists. »Es klingt sehr geheimnisvoll!« sagte sie. »Vielleicht sollst du in den See eintauchen und...« »Eintauchen? Niemals!« schrie Timo auf. »Vielleicht gibt es da unten einen Palast...« meinte Lydia. »Nein, bestimmt nicht!« erwiderte Timo, der an das gräßliche Fischwesen denken mußte. »Und selbst wenn es einen Palast geben sollte, so möchte ich ihn nie, nie, nie betreten!« fügte er heftig hinzu. »Es war ja nur ein Gedanke von mir«, antwortete Lydia
beschwichtigend. Nach kurzem Zögern sagte sie: »Wahrscheinlich ist es etwas, das wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Wir sollten zum Schwarzen Geistersee gehen und ins Wasser sehen, genauso wie es der Herdgeist gesagt hat! - Das heißt, wenn du mich überhaupt dabeihaben willst!« »Natürlich will ich dich dabeihaben«, erklärte Timo. »Ich ich weiß den Weg ja gar nicht.« »Ach, so ist das!« Lydias Stimme klang erbost. »Du brauchst mich als Fremdenführerin!« »Nein!« widersprach Timo. »Ich brauche dich als...« Er holte tief Luft. »Ich brauche dich als Freundin!« Seine Stimme zitterte, als er das sagte. Auch Lydia machte ein verlegenes Gesicht. »Na schön, dann komm!« sagte sie und wandte sich hastig zum Gehen, als müßte sie verbergen, wie erfreut sie war. Eine Weile gingen sie schweigend hintereinander her. Der Boden war weich und federnd, und je tiefer sie ins Moor hineinkamen, desto feuchter wurde er. Als sie bei jedem Schritt ein Stückchen einsanken, beschlich Timo ein schrecklicher Verdacht. »Wir gehen doch nicht etwa durch die Sümpfe?« rief er. »Nein!« Lydia drehte sich zu ihm und lächelte. »Aber wir sind jetzt mitten im Moor.« Sie zeigte auf eine große Wasserfläche, die mit Gras und Moosen bewachsen war. »Das ist der Hauptgraben«, sagte sie. »Er ist viele Meter tief!« »Hauptgraben?« fragte Timo und blickte schaudernd auf die Wasserfläche, die eher wie eine sumpfige Wiese aussah. »Ja, er ist der größte und tiefste Graben im Moor«, erklärte Lydia. »Warum gibt es hier eigentlich so viele Gräben?« fragte
Timo. »Die stammen aus der Zeit, als das Moor trockengelegt wurde«, antwortete Lydia. »Der Hauptgraben ist bestimmt zweihundert Jahre alt.« »Und - der Schwarze Geistersee?« fragte Timo beklommen. »Ist der auch so alt?« »Er ist viel älter!« »Noch alter?« »Ja! Mein Vater sagt, er ist seit Urzeiten hier im Moor.« »Seit Urzeiten?« »Vielleicht schon seit tausend oder zweitausend Jahren«, sagte Lydia. »Die Gräben wurden künstlich - von Menschen angelegt. Der Schwarze Geistersee aber war schon immer da!« »Und die Wesen, die in ihm leben, auch«, ergänzte Timo und unwillkürlich flüsterte er. »Ist es noch weit bis zum Geistersee?« fragte er mit Herzklopfen. »Nein«, antwortete Lydia. »Siehst du den kleinen Hügel da vorn?« Timo nickte. »Dahinter liegt der Schwarze Geistersee!« Timo spürte, wie seine Beine immer schwerer wurden, je näher sie dem Geistersee kamen. Doch Lydia schien keine Angst zu haben. Sie bahnte sich ihren Weg durch das hohe Gras und hielt nicht einmal inne, als etwas Großes, Dunkles mit lautem, erschrecktem Flügelschlag neben ihnen aufflog. »Was war das?« fragte Timo beklommen. »Ein Rebhuhn«, antwortete Lydia. »Ach so.« Timo seufzte. Er hatte schon befürchtet, es sei ein fliegender Moorgeist gewesen, der den Geistersee bewachen sollte. Sie erreichten den kleinen Hügel und stiegen hinauf. Und
wiederum war das erste, was Timo bemerkte, die ungeheure Stille. Der vielstimmige Chor der Vögel und Insekten - jetzt war er plötzlich verstummt. Kein Lufthauch regte sich, und der Geistersee lag schwarz und unergründlich da. Der Schwarze Spiegel! dachte Timo und erschrak bei der Erinnerung an die alte Frau, den alten Mann und das seltsame haarige Wesen, die durch das Moor irren mußten, bis ihre Seelen erlöst wurden. Aber vielleicht hatten sie den Schwarzen Geistersee in der Zwischenzeit gefunden, vielleicht hatten sie ihre Seelen schon in das Wasser eintauchen lassen? Dann könnte es sein, daß Timo sie sehen würde, wenn er in das schwarze Wasser blickte... Er merkte, wie ihn ein Schauer überlief. »Unheimlich, nicht wahr?« hörte er Lydia neben sich sagen. »Wenn ich am Schwarzen Geistersee bin, bekomme ich jedesmal eine Gänsehaut.« »Du?« Ungläubig sah Timo sie an. »Dachtest du etwa, ich hätte nie Angst?« erwiderte sie. »Ja, das dachte ich.« »Ich habe auch manchmal Angst - genau wie du! Aber das zeige ich nicht.« Eine Pause entstand. »Fürchtest du dich auch vor den Geistern?« fragte Timo dann. »Vor manchen schon«, antwortete Lydia. »Aber man muß gegen seine Angst ankämpfen, sagt mein Vater. Wenn man das tut, kann man die Angst überwinden, sagt er. Und deshalb darfst du nicht länger zögern: Geh und schau in das Wasser!« »Du kommst nicht mit?« fragte Timo erschrocken. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das letzte Stück mußt du allein gehen.« »Und - wenn ich versinke?« stammelte Timo. »Du wirst nicht versinken«, erwiderte Lydia. »Geh jetzt!«
Timo preßte die Lippen zusammen. Er ahnte, daß es zwecklos war, weiter in sie zu dringen. Sie würde ihn nicht begleiten. Aber vielleicht sollte es so sein. Vielleicht sollte er wirklich das letzte Stück allein gehen Langsam und vorsichtig bewegte er sich auf den Geistersee zu. Der Boden unter seinen Füßen wurde feuchter und mooriger, und bei jedem Schritt gluckste es so schauerlich, daß sich ihm die Haare sträubten. Und dann stand er am Schwarzen Geistersee und schaute in das schwarze Wasser. Ruhig lag es unter dem niedrigen wolkenverhangenen Himmel, und das Grau der Wolken spiegelte sich in dem nachtschwarzen Wasser. Oder waren es gar nicht die Wolken, die Timo dort im Wasser sah? Sie schienen sich zu vergrößern, schienen heller zu werden... Würde er die Gesichter wiedersehen - und sein eigenes und Lydias Gesicht in ihrer Mitte? Und würden die Irrlichter dort im Kreis der Gesichter sein? Timo wagte kaum zu atmen. Aber seltsam - er spürte keine
Angst, nur eine große Neugier und Anspannung. Dieses helle Licht auf dem Wasser - jetzt nahm es eine warme, gelbliche Färbung an. Nein, es war kein Licht, eher ein Leuchten. So weit Timos Blick reichte, war der Geistersee mit einem warmen, gelben Glanz überstrahlt - wie mit Gold. Timos Herz pochte schnell und heftig, aber auch jetzt hatte er keine Angst. Da vernahm er eine Stimme, die aus der Tiefe des Geistersees zu kommen schien. »Timo!« sprach sie. »Du wirst Moorkaten verlassen, aber Moorkaten wird dich nicht verlassen. Sei du selbst! Und höre niemals auf, zu hoffen, zu wünschen und - zu träumen!« Dann schwieg die Stimme. Das Leuchten verblaßte, und der See lag wieder schwarz und undurchdringlich da. Timo fröstelte. Hastig wandte er sich ab und war froh, Lydia dort auf dem Hügel stehen zu sehen. So schnell es ihm der moorige Untergrund erlaubte, lief Timo zu ihr zurück. Ohne ein Wort zu wechseln, machten sie sich auf den Rückweg. Aber es war kein feindliches Schweigen. Nie zuvor hatte Timo sich Lydia so nah gefühlt. Erst als sie den Picknickplatz schon fast erreicht hatten, brach Lydia das Schweigen. »Hattest du Angst?« fragte sie mit teilnahmsvoller Stimme. Timo schüttelte den Kopf. »Nein. Es war so festlich und feierlich...« Und während er das sagte, verstand er plötzlich, was die Stimme aus dem Geistersee mit dem rätselhaften Satz gemeint hatte: Du wirst Moorkaten verlassen, aber Moorkaten wird dich nicht verlassen. Er würde in die Stadt zurückkehren - aber das Moor und die Moorgeister würde er nie vergessen!
Der Abschied Timos Eltern kamen am Sonntagmittag - nicht gerade erfreut, daß sie seinetwegen bis Moorkaten in ihrem alten, klapprigen Auto fahren mußten. »Ein bißchen selbständiger könntest du ruhig sein!« meinte seine Mutter, und sein Vater brummte: »Und das nur wegen einer albernen Geschichte, die dir jemand erzählt hat!« Timo nahm ihre Vorhaltungen ziemlich gelassen hin. Für ihn zählte nur, daß sie überhaupt gekommen waren - und daß er nicht mit dem Zug fahren mußte! Tante Mimi und Lydia standen am Straßenrand und winkten, als Timo mit seinen Eltern abfuhr. »Ist das deine Freundin?« fragte Timos Vater. »Wer? Tante Mimi?« antwortete Timo, verstimmt über den spöttischen Ton seines Vaters. »Nein! Der Rotschopf!« »Du solltest nicht so abfällig über rote Haare sprechen«, gab Timo zurück. »Rothaarige sind nämlich etwas Besonderes!« Einen Moment lang war sein Vater zu verblüfft, um etwas zu entgegnen. Dann meinte er lachend: »Das sind ja ganz neue Töne!« und zwinkerte Timos Mutter zu. »Es sind nicht nur Töne!« erwiderte Timo - aber das würden seine Eltern schon noch merken! Er zog den Brief aus der Tasche, den Lydia ihm zum Abschied gegeben hatte. Kommst Du bald wieder nach Moorkaten? hatte sie geschrieben. Ich würde mich freuen! Lydia. »Du bist ja so schweigsam!« hörte er seine Mutter sagen. »Schweigsam?« antwortete er. »Ich überlege nur, was ich euch
zuerst erzählen soll.« Sie lachte. »Überleg nicht zu lange! Wir sind schon sehr gespannt!«
Anhang Annette von Droste-Hülshoff (geb. 1797 auf Schloß Hülshoff bei Münster, gest. 1848 in Meersburg)
Der Knabe im Moor O schaurig ist's, übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist's, übers Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob man es jage; Hohl über die Fläche sauset der Wind Was raschelt drüben am Hage? Das ist der gespenstische Gräberknecht, Der dem Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage. Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knistert darin! Das ist die unselige Spinnerin. Das ist die gebannte Spinnlenor', Die den Haspel dreht im Geröhre!
Voran, voran! nur immer im Lauf, Voran, als woll es ihn holen! Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstige Melodei; Das ist der Geigenmann ungetreu, Das ist der diebische Fiedler Knauf, Der den Hochzeitheller gestohlen! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: »Ho, ho, meine arme Seele!« Der Knabe springt wie ein wundes Reh; War nicht Schutzengel in seiner Näh, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Moorgeschwele. Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimatlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre wars fürchterlich, O schaurig wars in der Heide!