Geisterfänger Band 10
Die Mordgeister greifen an von Mike Burger ... denn Angela ist keine Frau für die Ewigkeit.
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Geisterfänger Band 10
Die Mordgeister greifen an von Mike Burger ... denn Angela ist keine Frau für die Ewigkeit.
Mary Podgrim hatte Mühe, ihre plötzlich aufsteigenden Tränen zu un terdrücken. Depressionen quälten sie. Und sie fühlte sich auch be droht. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie. Unsichtbare Augen schie nen auf sie gerichtet zu sein, schienen jede ihrer Bewegungen lauernd zu verfolgen. Larry, wenn du jetzt doch nur bei mir sein könntest, dachte sie traurig. Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie es sich angewöhnt, auf diese Art und Weise Zwiesprache mit ihm zu halten. Irgendwie half ihr das. Sie fühlte sich ihm nahe, obwohl er doch so unerreichbar fern war von ihr. Sie waren erst seit vier Monaten verheiratet gewesen, als der Un fall passierte. In einer regnerischen Nacht war Larrys Wagen von der Straße abgekommen, hatte sich mehrmals überschlagen. Larry war sofort tot gewesen. Und mit ihm war auch ein Teil von ihr gestorben. Sie hatte sich in ihr großes Haus zurückgezogen, niemand ließ sie zu sich. Aus der lebenslustigen 26jährigen Millionenerbin war eine einsa me, trauernde Frau geworden, die mit dem Schicksal haderte. Drei Wochen waren seit Larrys Beerdigung vergangen. Drei Wo chen quälender Einsamkeit und Trauer. Mary biss sich auf die Lippen, bis sie den salzigen Blutgeschmack wahrnahm. Schließlich erhob sie sich mit einer müden Bewegung. Es war schon spät. Sie wollte zu Bett gehen. Schlafen... Vergessen... In Gedanken versunken öffnete sie die Schlafzimmertür... Und erstarrte! In der Dunkelheit vor ihr stand - Larry, ihr toter Mann! Feines silb riges Nebelgespinst umgab ihn. Geisterhaft bleich war sein markantes Gesicht... Er lächelte und breitete seine Arme aus, wie er es immer getan hatte, als er noch lebte. »Hallo, mein Kleines!«, flüsterte er liebevoll. Wie betäubt wich sie zurück. Das ist nicht möglich! Er kann es nicht sein! Meine überreizten Nerven gaukeln mir ein Trugbild vor!, versuchte sie sich einzureden. »Fürchtest du dich vor mir? Aber warum denn? Liebst du mich et wa nicht mehr?« Seine Stimme war angenehm, sanft, verlockend. Er kam näher. Aber - er ging nicht! Er schwebte! Wie ein Geist! 4
Jetzt spürte sie die Kälte, die von ihm ausstrahlte. Sie schien gleichsam in ihren Körper einzudringen, schien ihr Herz zu umkramp fen... »Ich bin gekommen, um dich zu holen, Liebes!«, sagte er. Sein Lächeln vertiefte sich. Und dann hatte er sie erreicht. Seine Arme legten sich um sie, zo gen sie an seine Brust. Widerstandslos und starr, wie eine Schaufens terpuppe, ließ sie es geschehen. Er atmete nicht!, dachte sie noch. Sie hob ihren Kopf, blickte zu ihm auf und sah, dass sich sein Gesicht verändert hatte. Es war eine grässliche rotgeschuppte Fratze geworden. Grausame Augen starrten sie triumphierend an. »Du - du bist nicht Larry!«, stöhnte sie. Dann erlosch ihr Bewusst sein. * »Ich hasse dich!«, schrie Angela Peters wie von Sinnen. Mit einem splitternden Klirren zerbarst das Whisky-Glas, das sie geworfen hatte, an der Wand hinter ihrem Mann. Gerade noch recht zeitig hatte er sich zur Seite werfen und dem Geschoß entgehen kön nen. Die Splitter regneten auf den wertvollen Teppichboden nieder. Robert Peters richtete sich langsam wieder auf: Sein Gesicht war eine starre. Maske, keine Spur von Gefühl war mehr darin zu erken nen. Seine sorgfältig manikürten Finger tasteten - ohne dass er sich dessen richtig bewusst wurde - an den Krawattenknoten und rückten ihn zurecht. »Liebling, bitte, lass uns vernünftig miteinander reden...« Mit schriller Stimme unterbrach sie ihn. »Reden... Wir haben nichts mehr, worüber wir reden könnten. Was gesagt werden musste, ist gesagt. Du wirst dieses Haus verlassen! Hier ist kein Platz mehr für einen Schmarotzer wie dich! - James ist von mir angewiesen worden, dir tausend Pfund zu geben. Das wird wohl genügen...« Peters zuckte zusammen. Wie eine Stichflamme zuckte der Hass in ihm hoch und nur mühsam gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er 5
unterdrückte ein Zittern. Dieses Mal meinte sie es also ernst. Oh, er hatte gewusst, dass es eines Tages so kommen würde. Mit einer Art sechstem Sinn hatte er es geahnt. Angela war keine Frau für die Ewig keit... Früher einmal hatte er sie geliebt, aber da hatte er ihr wahres Ich, ihre Grausamkeit noch nicht gekannt. Da hatte sie ihm noch die lie bende Ehefrau vorgespielt und er war darauf hereingefallen. Alles hat te er ihr zuliebe getan. Sogar seinen Beruf hatte er an den Nagel ge hängt, um nur noch für sie da zu sein. Aber die Ernüchterung war sehr bald gekommen. Er hatte herausgefunden, dass sie ihn betrog und er hatte es hin genommen, hatte ihr verziehen. Es war sinnlos gewesen. Sie hatte ihn nur ausgelacht - und immer skrupelloser über sämtliche Stränge ge schlagen. In den letzten drei Jahren war er darüber zerbrochen, sein Selbstbewusstsein hatte zu sehr unter ihrem eiskalten Verhalten gelit ten. Er hatte sich damit getröstet, dass er an ihrem schier unermessli chen Reichtum teilhaben konnte. Ja und dann schließlich hatte er nur noch zu Angelas Geld eine innige Beziehung gehabt. Das hatte ihm genügt, denn mit diesem Geld war es ihm möglich, sich alles leisten zu können: teure Autos, ein sorgenfreies Leben - und die Liebe der schönsten Frauen der Welt. O ja, er hatte es Angela auf die gleiche Art und Weise heimgezahlt... Eine Rache, die allerdings immer einen scha len Beigeschmack gehabt hatte. Eine Rache, die er sich nur dank An gelas Geld leisten konnte. Und jetzt - jetzt sollte all dies aus und vorbei sein? O nein, dachte er. »Du hast getrunken und weißt nicht mehr, was du sagst und tust«, versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Bisher hatte es immer genützt, ihren Launen nachzugeben. Aber dieses Mal ließ sie sich nicht beeindrucken. »Du brauchst nicht zu winseln, Robert! Mein Entschluss steht fest. Du gehst! Ich ich kann dich nicht mehr sehen. Und - ich will frei sein für einen richti gen Mann!« »Offenbar vergisst du, dass wir verheiratet sind! Ich lasse mich von dir nicht einfach abschieben!« Beinahe geschrieen hätte er dies. 6
Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er seine Beherrschung verlor. »Na und?«, höhnte sie. »Du wirst es dir gefallen lassen müssen! Oder willst du mich daran hindern? Wie solltest du das wohl schaffen können? Du kannst mir nichts anhaben, du Schwächling!« Robert starrte sie an. Angela war schön, viel zu schön. Ihr Gesicht war fein geschnitten, ihre Haut so zart wie die eines Pfirsichs. Duftiges honigfarbenes Haar umgab dieses Gesicht, fiel in weichen Wellen bis auf die schmalen Schultern nieder. O ja, sie war eine schöne Frau - aber dennoch würde sie sterben müssen. Nicht durch seine Hand, nein, natürlich nicht. Er war nicht der Typ Mann, der sich die Hände schmutzig machte, insofern schätzte sie ihn richtig ein. Aber da er gewusst hatte, dass dieser Abend, diese Szene, irgendwann einmal kommen würde, hatte er entsprechende Vorarbeit geleistet. Er merkte, wie er plötzlich ganz kalt und gefühllos wurde. Es schien so, als wäre in diesem Moment etwas in ihm zerbrochen. Sie hat ihren Tod selbst verschuldet, spann er seine Gedanken weiter. Ich
wollte ihn nicht, obwohl sie ihn hundertfach verdient hat. Aber ich las se nicht zu, dass sie mich wegwirft wie ein Stück Dreck!
»Du wirst es bereuen!«, stieß er hervor. »Du Angeber! Du armseliger Angeber! Drohen, das ist alles, was du kannst!« Sie läutete nach James. Der Butler und Leibwächter erschien umgehend. Es war offen sichtlich, dass er längst schon Bescheid wusste. Angela betrachtete James als ihren engsten Vertrauten. So war es schon immer gewesen. »Darf ich bitten, Sir?« Wortlos wandte sich Robert Peters ab. Das Banknotenbündel, das ihm der Diener reichte, beachtete er nicht. Mit großen Schritten durch querte er die verschwenderisch ausgestattete Halle. Peters Schritte hallten auf dem gemaserten Marmorboden unna türlich laut. Er achtete nicht darauf. Auch von dem übertrieben zur Schau gestellten Reichtum nahm er in diesem Moment nichts wahr. In seinen Gedanken herrschte Chaos. An nichts anderes als Ange las Tod konnte er mehr denken... 7
Er erreichte die gewundene Treppe, die in die oberen Stockwerke führte und hastete die Stufen empor. Die Aufregung ließ sein Blut wild und hart in seinen Schläfen klopfen. Die Zornesader auf seiner Stirn war dick angeschwollen. Er betrat sein Arbeitszimmer im ersten Stock und warf die Tür hin ter sich ins Schloss. Immer hatte er es geliebt, sich vor seinen zahlrei chen Playboy-Freunden als tagsüber hart arbeitender Geschäftsmann zu produzieren. Das war - wie so vieles - eine Notwehrreaktion seines angeknackten Bewusstseins gewesen. Aber daran dachte Peters jetzt nicht. Ohne zu zögern ging er an den großen Schreibtisch, auf dem das Telefon stand. Er umkrampfte den Hörer, verharrte kurz, dann hob er ihn auf. Er wählte eine Nummer, die er schon lange auswendig kannte. Der Meister verlangte von seinen Kunden größte Sorgfalt. Keine Spur durfte zu ihm führen, denn sonst... Peters verjagte diesen Gedanken. Er lauschte. Das Freizeichen tu tete. Ausgerechnet jetzt kamen Zweifel in ihm auf. War das, was er jetzt tat, richtig?
Wer mit bösen Geistern einen Pakt eingeht, der wird durch die bö sen Geister umkommen... Plötzlich und mit der Wucht eines Fausthiebes stand dieser Ge danke in seinem Geist. Peters krümmte sich zusammen. Die Angst wurde übermächtig, drohte, ihn zu verschlingen. Die Zeit an Angelas Seite hatte ihn zu ei nem Feigling gemacht... Er erkannte es in diesem Moment und er schämte sich dessen. Trotz wallte auf... »Ja?«, meldete sich in diesem Augenblick eine dumpfe, seltsam emotionslos klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich... Mein Name ist Robert Peters. Wir haben uns vor einem halben Jahr getroffen... Äh - geschäftlich«, sagte Robert und war be müht, seiner Stimme einen unverbindlichen Tonfall zu geben. Es ge lang ihm nicht ganz. »Mr. Peters, ich wusste, dass ich wieder von Ihnen hören würde«, erwiderte sein Gesprächspartner. »Ihre Frau?« 8
»Ja, - ich... Es muss sein, Meister... Ich brauche Ihre Hilfe. Und ich werde bezahlen... Geld spielt keine Rolle, denn wenn Sie den Auf trag erledigen, wie wir das besprochen haben, dann...« Der Unbekannte, den Peters lediglich als den Meister kennen ge lernt hatte, lachte. »Sie wissen, dass unser Preis sehr hoch ist. Fünf undzwanzig Prozent des Vermögens, das Sie Dank unserer Bemühun gen erben werden - und zehn Jahre Ihres Lebens...« »Ich - ich werde Ihren Preis bezahlen, das wissen Sie. Mir bleibt keine andere Wahl. Sie - sie will mich mit tausend Pfund abspeisen und davonjagen... Das lasse ich mir nicht gefallen! Sie haben mir Ihre Hilfe angeboten... Sie haben gesagt, dass...« Wieder lachte der Unbekannte sein freudloses, fast böses Lachen. »Ich weiß genau, was ich zu Ihnen gesagt habe, Mr. Peters. Sie brau chen mich nicht daran zu erinnern. Und natürlich werden wir Ihnen helfen. Wir haben schon vielen Menschen geholfen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden wie Sie... Und alle waren sie zufrieden mit unserer Arbeit. Auch Sie werden zufrieden sein. Da Sie mich be reits bei unserer ersten Zusammenkunft genau informiert und in struiert haben, wird es keinerlei Schwierigkeiten geben. Ich werde meiner - Geschäftspartnerin eine entsprechende Anweisung geben...« »Und wann - wann wird es geschehen? Ich - ich meine... Ich muss es schließlich wissen, damit ich mir ein Alibi...« »Ihr Auftrag wird bevorzugt bearbeitet«, entgegnete der Meister. »Morgen Abend wird es geschehen...« »So schnell?«, staunte Peters. »Ja, so schnell. Wir arbeiten prompt und zuverlässig. Ich darf Ih nen nahe legen, Ihrerseits ebenso zuverlässig zu sein...« Die Warnung, die in diesen Worten mitschwang, war unüberhörbar. Ein eisiger Schauer rann über Peters Rücken. * Stunden später. Wenige Minuten vor Mitternacht... 9
Robert Peters wusste, was er zu tun hatte. Der Meister hatte ihm in seiner kalten, unpersönlichen Art genau eingeschärft, wie die Zere monie abzuhalten war. Nichts würde schief gehen. Noch einmal vergewisserte sich Peters, dass es im Haus ruhig war. Dann verriegelte er die Schlafzimmertür. In seiner rechten Hand hielt er ein Stilett. Auf einem niederen Tischchen hatte er eine schwarze Kerze entzündet. Ihr flackernder Lichtschein warf huschende Schatten gegen die Wände. Die Klinge des Stiletts funkelte sekundenlang auf. Peters entblößte seinen Oberkörper. Ein Kloß steckte in seinem Hals, aber er versuchte mannhaft, ihn nicht zu beachten. Gleichsam wusste er, dass er jetzt nicht mehr zurück konnte. Er hatte den Auf trag gegeben. Der Meister würde die Prinzessin beschwören... Und er, Robert Peters, er musste seinen Teil dazu beizutragen, um den Pakt wirksam werden zu lassen. Er räusperte sich, versuchte, sich zu kon zentrieren. Ein schneller Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr. Noch zwei Minuten bis Mitternacht. Er trat dicht ans Fenster, schob den Vor hang beiseite und sah hinaus. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Die großen, schweren Tropfen trommelten ein wildes Stakkato gegen die Fensterscheiben. Nebel wallte dicht über dem Asphalt der Straße und sorgte dafür, dass die Geschichten von der Nebelstadt London stets aktuell und zeit los blieben. Die Neonreklamen kamen gegen diese Milchsuppe nicht mehr an. Nur hin und wieder waren sie als unscheinbare Lichtfünkchen zu sehen. Peters ließ den schweren Brokatstoff wieder vor das Fenster glei ten und ging zu der schwarzen Kerze. Tief holte er Atem, dann kniete er nieder. Im gleichen Augenblick schlug Big Ben Mitternacht. Dumpf und scheinbar weit entfernt hallten die Schläge nach. Jetzt war sie gekommen - die Stunde der Geister! Ein Eissplitter schien in sein Herz zu fahren. Mechanisch, wie in Trance, handelte Robert Peters. Seine Finger umklammerten den Griff des Stiletts. Langsam hob er die Hand... 10
Die blitzende Klinge schwebte über seiner linken Brust. Überlaut hallten die Herzschläge in seinen Ohren. Er schluckte, versuchte, die Furcht abzuschütteln. Dann tat er das, was er tun musste. Mit einer raschen Bewegung setzte er einen Schnitt direkt über seinem Herzen. Es war keine ge fährliche Wunde, genau genommen war es nur ein Kratzer. »Ich gebe dir das, wonach du verlangst und dürstest, Prinzessin der bösen Geister«, flüsterte er. Jetzt war seine Stimme fest und ent schlossen. Robert Peters hatte seine Entscheidung endgültig getroffen. Achtlos legte er das Stilett beiseite. Sekundenlang starrte er in die zuckende Flamme der schwarzen Kerze. Dann glaubte er, einen kalten Luftzug zu spüren... Täuschte er sich? Er wusste es nicht. Er senkte den Kopf. Ganz ruhig und beherrscht war er jetzt. Er sah das Blut, das aus der Schnittwunde über seinem Herzen quoll... Und plötzlich spürte er die Berührung! Irgend etwas Unsichtbares presste sich auf die blutende Wunde. Die Blutstropfen, die aus der Wunde gequollen waren, verschwan den, schienen voll unsichtbaren Lippen aufgenommen zu werden. Peters brach der kalte Schweiß aus sämtlichen Poren. Er wusste, dass Parashthaar, die Prinzessin der bösen Geister, gekommen war und sich den Lohn für ihre Dienste holte: zehn Jahre seines Lebens. * Zur gleichen Zeit, irgendwo in London... Der Mann in der schwarzen, bodenlangen Kapuzenkutte neigte sich vornüber und breitete die Arme in einer beschwörenden Geste aus. Die Flammen der fünf schwarzen Kerzen, die an jeder Spitze des Pentagramms aufgestellt waren, flackerten höher. Der Geruch von Wachs mischte sich mit dem Geruch von Schwefel... Für einen Sekundenbruchteil wurde das harte Narbengesicht des Kuttenträgers hell erleuchtet. Die grünen Augen funkelten auf. Wieder murmelte der Mann die magische Formel, die das Erschei nen Parashthaars bewirkte. Unheimliche Kräfte wurden aktiviert und 11
griffen in eine Dimension hinein, die jenseits aller menschlichen Vor stellungen lag. Die jenseitige Sphäre... Die Dimension der bösen Geis ter... »Du bist gesättigt, Prinzessin«, sagte der Mann mit fester, energi scher Stimme. »Du bist gesättigt und bereit. Erscheine mir.... Erschei ne, Parashthaar - und höre, was es zu tun gibt!« Ein eisiger Windhauch schien durch den dunklen Raum zu wehen. Wie aus unendlicher Feme war ein hoher Singsang zu hören. Der Chor Parashthaars... Die Flammen zuckten und tanzten. Dunkle Schatten huschten über die roh verputzten Wände des Raumes. Schatten, die ein eigenes Le ben zu leben schienen. Der Mann bemerkte es und er wusste, dass seine Beschwörung wieder einmal erfolgreich verlaufen war. Parashthaar, die Prinzessin der bösen Geister, würde ihm erscheinen. Das war vorauszusehen gewesen. Er hatte mit der unfassbaren Wesenheit aus der jenseitigen Sphäre einen Pakt geschlossen. Er hatte ihr sein Leben geweiht und sich verpflichtet, ihren Hunger nach der Lebensenergie böser Menschen zu stillen. Seit vielen Jahren schon erfüllte er diese Verpflichtung und er war nicht schlecht dabei gefah ren. Parashthaar war mit ihrem menschlichen Partner zufrieden und als Zeichen ihrer Dankbarkeit hatte sie ihm die Unsterblichkeit ge schenkt. Dementsprechend war er noch eifriger bemüht, der schier uner sättlichen Geisterprinzessin zu Gefallen zu sein. Das Wie war denkbar einfach. Er vermittelte jenen Menschen, die einen anderen, ihnen un bequemen Menschen beseitigt haben wollten, einen Pakt mit Pa rashthaar. Für das Zustandekommen dieses Paktes verlangte er für sich selbst harte Währung - und für seine Verbündete Lebensenergie, die zehn Jahre menschlichen Lebens entsprach. Willigte der Auftrag geber ein, so kam der Pakt zustande, nachdem sich Parashthaar ihren Lohn geholt hatte. Und war dies geschehen, so war das entsprechende Opfer schon so gut wie tot. Sämtliche Beteiligten profitierten von dieser Verbindung, natürlich auch der Auftraggeber. Er war nicht gezwungen, selbst in Erscheinung 12
zu treten, schuldig zu werden und somit würde ihm nie etwas nachzu weisen sein. Das Tätigwerden von Mordgeistern war nicht nachzuwei sen... Viel zu viele Menschen gab es, die einem anderen Menschen et was Böses wünschten. Es gab viele Arten von tödlichem Hass. Konkur renzneid, Missgunst, Eifersucht, Enttäuschung. Das waren nur einige wenige davon - aber die wesentlichen. Das Geschäft mit dem Tode florierte... Der Kuttenträger kicherte. Ja, er war der Makler des Todes. Vor ihm, in der diffusen Finsternis tat sich etwas... Ein grünliches Leuchten war entstanden. Der Singsang war deutlicher zu hören. »Parashthaar!«, flüsterte er liebevoll. »Ich bin hier, Freund!«, erwiderte eine sanfte und doch gefährli che Stimme. Die Erscheinung war nun schemenhaft zu sehen. Wa bernde Linien verflossen miteinander... Mehr und mehr festigten sich die Konturen... Aus den wallenden Nebelschleiern schälte sich ein weiblicher Körper von atemberaubender Schönheit hervor. Der Blick des Mannes saugte sich an diesem Körper fest. Unwill kürlich leckte seine Zunge über seine spröden Lippen. »Ich grüße dich, Prinzessin! Willkommen in der diesseitigen Welt!« Parashthaar stand nun vor ihm, im Zentrum des Pentagramms. Sie lächelte. Ihr langes schwarzes Haar bewegte sich unter einem Wind stoß, der in der diesseitigen Welt nicht zu spüren war - dennoch war es beinahe unerträglich kalt im Raum. Der Kuttenträger spürte diese Kälte nicht. »Du hast wieder einen Auftrag für mich?« Das war keine Frage mehr eine Feststellung. Erregung zitterte in ihrer Stimme. »Deinen Lohn hast du dir ja bereits geholt«, erwiderte er. Sie nickte. »Wer soll sterben, Freund!« Mit teuflischer Knappheit und völlig gefühllos kam diese Frage. »Eine Frau namens Angela Peters. Sie wird kein Testament hinter lassen und so wird ihr Mann, Robert Peters, zum Haupterben...« Die Geistererscheinung lächelte jetzt. In den unnatürlich großen Augen glitzerte Belustigung. »Angela Peters«, murmelte sie dann. »Sie 13
wird sterben. Alles wird so ausgeführt werden, wie es der Auftragge ber wünscht...« Parashthaar lachte und dieses Lachen gellte in den Ohren des Kut tenträgers und es hallte von den Wänden wider. Und übergangslos war Parashthaar wieder verschwunden... Der Kuttenträger flüsterte wieder einige ehrfurchtsvolle Formeln, dann unterstrich er die Wirkung der Formeln durch entsprechende Gesten. Das grüne Leuchten, das Parashthaar im Zentrum des Drudenstei nes zurückgelassen hatte, erlosch. Der Spuk war vorbei. Das Schicksal eines ahnungslosen Menschen besiegelt. * Der nächste Tag war ein Dienstag und die Sonne schien den ganzen Tag über, als wolle sie sich für das miese Wetter der vergangenen Tage revanchieren. Erst gegen 18 Uhr zogen hier und da ein paar Wolken auf. Der große, schlanke Mann mit dem sympathischen braungebrann ten Gesicht nahm das zur Kenntnis, störte sich aber nicht daran. Er war erst vor einer Viertelstunde von Florida kommend auf dem Londo ner Flughafen Heathrow gelandet und heilfroh, dem stickig-heißen Klima entkommen zu sein. Er liebte London - mit sämtlichen Vor- und Nachteilen, die das hiesige Wetter nun mal mit sich brachte. Er lümmelte sich auf der Wohnlandschaft zurück, platzierte beide Füße auf der Tischplatte und schloss die Augen. Ein nervenaufreibender Kidnapping-Fall lag hinter ihm. Er war gestresst und auch ein biss chen müde. In den vergangenen Tagen hatte er nur sehr wenig ge schlafen. Das Schicksal des entführten achtjährigen Marty hatte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Aber jetzt war alles gut. Der Kerl, der den Kleinen entführt hatte, um eine Million Pfund zu erpressen, saß hinter Gittern und Marty war wieder bei seinen überglücklichen Eltern. Und der Privatdetektiv Mike Logan ist fest entschlossen, für heute Feierabend zu machen, sagte er sich. Yes, er würde sich heute Abend um Ingar kümmern, sie zum Abendessen einladen - und später viel 14
leicht - noch ins Kino. Schon seit über einem Jahr waren sie nicht mehr im Kino gewesen und seltsamerweise verspürte er nicht wenig Lust, endlich mal wieder einen Krimi anzusehen, in dem der Detektiv mühe los und auf Anhieb alles gelang. Das war der Augenblick, in dem sich der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte, die Tür geräuschlos aufschwang und geschmei dige Schritte näher kamen. Mike hätte diese Schritte selbst im Schlaf erkannt. Das war Ingar, unverkennbar. Nur sie bewegte sich auf diese Art und Weise. Er schnupperte ihr dezentes Parfüm und hielt die Augen geschlos sen. Jetzt musste sie ihn sehen. »Aha«, sagte sie da auch schon. »In der Stellung wirst du es in deinem Beruf nie zu Ruhm und Reichtum bringen!« Er grinste, öffnete ein Auge und sah sie an. »Was ist schon Ruhm und Reichtum gegen ein Girl wie dich!«, konterte er dann. Sie drohte ihm kameradschaftlich mit der Faust und kam näher. Ingar war Fotoreporterin für mehrere große Magazine und es war ein harter Job. Dennoch sah sie immer aus, als wäre sie soeben einem Modejournal entstiegen. Und heute übertraf sie sich sogar noch selbst. Ihr langes blauschwarzes Haar schimmerte und umrahmte das re gelmäßige Oval ihres Gesichts. Die Backenknochen waren hoch ange setzt, die großen Augen leicht schräg gestellt, unergründlich und grün... Ihre Figur war schlank und aufreizend - und dementsprechend kleidete sie sich lässig. Ein T-Shirt spannte sich über ihren kleinen, festen Brüsten, die Jeans waren verwaschen und saßen wie eine zwei te Haut. »Zufrieden, du Patriarch?«, erkundigte sie sich lächelnd. »Und wie!«, gab er zurück. »Na - und wo bleibt die Begrüßung? Immerhin warst du jetzt drei Wochen lang in Florida auf Gangsterjagd und ich habe hier im nebel verhangenen London ein tristes Dasein gefristet...« »Du Ärmste!«, sagte er, ohne die Miene zu verziehen. Und dann kam er mit einer geschmeidigen, gleitenden Bewegung auf die Füße und hielt sie im nächsten Moment in den Armen. Dies war so blitz 15
schnell gegangen, dass ihr keine Zeit geblieben war, noch irgend et was zu sagen. Er zog sie an sich, strich sanft über ihr seidig schimmerndes Haar und dann küsste er sie. Sie erwiderte seinen Kuss und schmiegte sich noch enger an ihn. Als sie sich voneinander lösten und sich in die Augen sahen, war der Funke, der übergesprungen war, deutlich zu spüren. Sie brauchten keine Worte, um sich miteinander zu verständigen. Nein, sie brauchten wirklich keine Worte... »Erfolgreich gewesen in Florida?«, wisperte eine zarte Stimme di rekt in Mikes Gehirn. Das war Ingars Stimme. Ingar war Telepathin. Bei äußerster Konzentration konnte sie die Gedanken anderer Men schen lesen - und sich mit ihren eigenen Gedanken verständlich ma chen. Es war eine phantastische Gabe und sie hatte sie lange geheim gehalten, obwohl sie sie schon seit frühester Jugend kannte - und nutzte. Selbst ihm, Mike, hatte sie sie lange Zeit verschwiegen... Ir gend etwas hatte sie zögern lassen, ihre Fähigkeit preiszugeben... Mike hatte Verständnis dafür. Nur zu gut wusste er, dass sich sämtliche Supermächte dieser Welt für Menschen mit außergewöhnli chen Fähigkeiten interessierten und danach trachteten, sie für ihre Zwecke einzuspannen. Ein Telepath, beispielsweise, wäre der Garant für perfekte Spiona ge, für Spionage, wie sie bisher nur in Science-Fiction-Romanen dar gestellt wurde... Nein, Ingars Geheimnis war bei ihm, Mike, in guten Händen. Er wusste, dass sie seine Gedanken mitverfolgt hatte, denn sie lä chelte zärtlich. »Danke, Patriarch«, flüsterte sie leise. Er nickte. »Schon gut, Mädchen. Schon gut.« »Verlegen?« »Klar!«, erwiderte er im Brustton der Überzeugung. »Du kennst mich doch: Ich bin ein ziemlich schüchterner Privatdetektiv.« »Natürlich, Mr. Logan«, sagte sie. Dann kam sie wieder auf ihre Frage zurück: »Du bist mir noch eine Antwort schuldig...« 16
Sie hätte diese Frage ebenso gut noch einmal telepathisch stellen können und Mike wäre in der Lage gewesen, auf die gleiche Art und Weise zu antworten. In den vergangenen Monaten hatten sie die Fähigkeit entwickelt, sich gedanklich miteinander zu ›unterhalten‹ - obwohl Mike nur mäßig telepathisch begabt war. Aber es genügte schon, wenn er seine Gedanken knapp und präzi se formulierte. Es war einfach, wenn man es einmal beherrschte. Und interessant war es dazu, denn man nahm unmittelbar am Gefühlsleben des Partners teil. Neben dem formulierten Wort wurden auch die ent sprechenden Gefühlsmuster gesendet und empfangen. Kein normaler Mensch konnte ›Ich liebe dich!‹ so wunderschön formulieren wie ein Telepath, der wirklich liebte... Erwartungsvoll sah ihn Ingar an. »Träumer!«, sagte sie und gab ihm einen verliebten Knuff. »Ach ja - Florida. Da ist alles in bester Ordnung. Ich werde dir Re de und Antwort stehen - aber erst dann, wenn wir das Abendessen hinter uns gebracht haben.« »Ist das eine Einladung, Großer?« Mike räusperte sich und machte eine großartige Geste, bevor er gut gelaunt antwortete: »Genau das, Mädchen!« * Jonnies Restaurant war klein und gemütlich, mit typischer Cockney Atmosphäre. Nicht von ungefähr wirkte es wie ein Pub: Die Decke war nicht sonderlich hoch, dafür aber mit dunklem Holz getäfelt, die Tische standen in kleinen Nischen. Hier fühlte man sich unbeobachtet - fast wie zu Hause. Aus verborgen angebrachten Lautsprechern tröpfelte leise, nicht zu kitschige Musik. Ingar schob den leeren Teller von sich, rieb sich über den flachen Bauch und seufzte. »Liebe Güte, soviel habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Noch ein Bissen und ich wäre geplatzt!« Mikes Blick wurde anzüglich. »Ich kann dich trösten«, sagte er grinsend. »Die nächsten zwei Wochen gibt es nur noch Wasser und 17
Brot. Mehr können wir uns nämlich nach dem Abendessen nicht mehr leisten. Finanziell, meine ich.« »Pah, damit kannst du mich nicht erschrecken. Ich wollte schon lange mal eine richtige Fastenkur machen. Weil ich nämlich schon wie der zwei Kilogramm zugenommen habe.« Sie sagte das völlig ernst. »Deine Sorgen möchte ich haben, Darling!« Auch Mike lehnte sich nun zurück. Nach einem derart ausgiebigen Dinner blieb einem einfach nichts anderes übrig. Jetzt eine Zigarette, dachte er. »Du wolltest doch damit aufhören! Denk an deine Kondition! Als privater Schnüffler und als Mann muss man fit bleiben... Mit Teer in der Lunge klappt das nicht mehr...« »Auch die Lunge will heutzutage geteert sein«, gab er ebenfalls gedanklich zurück. Dann blockte er seine Gedanken vor Ingars Zugriff ab und seufzte. Laut sagte er: »Vergiss es. Okay?« Zufrieden nickte sie. »Okay. - Was unternehmen wir jetzt?« Un ternehmungslustig sah sie ihm in die Augen. »Wir könnten...« Er unterbrach sich, als er den Mann erblickte, der in diesem Au genblick Jonnies Restaurant betrat. Der Mann war untersetzt und neigte zur Dickleibigkeit - das konn te auch der Trenchcoat nicht mehr tarnen. Sein Gesicht war demge mäß rundlich, die Augen dunkel. Sie wirkten hart und kalt, aber Mike wusste, dass dieser erste Eindruck täuschte. Er kannte den Mann. Das war Ben Murray, Inspektor Ben Murray von Scotland Yard. Sie hatten einige Male dienstlich miteinander zu tun gehabt und im Laufe der Zeit war daraus so etwas wie eine Freund schaft entstanden. Jetzt war der Inspektor auf ihn aufmerksam geworden. Er änderte seinen Kurs und kam durch den schmalen Mittelgang direkt auf Mikes und Ingars Tisch zu. »Hallo, Ben!« »Hallo!«, grüßte er brummig zurück. Das hörte sich schlimmer an, als es in Wirklichkeit war. Bei Murray war das stinknormaler Umgangs 18
ton. Aber da ist auch noch etwas anderes, schränkte Mike insgeheim ein. Heute wirkt er mächtig überarbeitet, müde und ausgelaugt. Ingar hatte es auch bemerkt, das wusste er. Sie warf ihm einen Blick zu. Er hat Sorgen, bedeutete das. Das hatte sie festgestellt, ohne ihre Fähigkeit einzusetzen. In den Gedanken von Freunden esperte sie normalerweise nicht, das hatte sie sich abgewöhnt... »Du siehst aus, als könntest du einen guten Schluck vertragen«, begrüßte er ihn. Murray winkte ab. »Geht nicht. Bin im Dienst. - Darf ich mich für ein paar Minuten zu euch setzen?« Ingar nickte. »Klar. Warum so förmlich heute, Ben?« »Ja, warum eigentlich? Keine Ahnung, ehrlich. Muss wohl am Wet ter liegen.« Er verzog sein Gesicht, schob den unvermeidlichen Kau gummi in die andere Mundseite und zog einen Stuhl zurück. »Gehörst du immer noch ins Lager der Nichtraucher?«, versuchte Mike wieder abzulenken. Murray brummte etwas Unverständliches, dann bequemte er sich, allgemeinverständlich zu antworten: »Würde ich wohl sonst dieses ekelhafte Zeug kauen? Irgendwie muss man sich ja mit einer Ersatz handlung über Wasser halten.« »Was darf ich Ihnen bringen, Inspektor?«, erkundigte sie sich. Sie kannte den schweigsamen Mann gut. Er kam zwei-, dreimal die Woche hierher, um zu Abend zu essen. »Ein Mineralwasser und einen Salatteller. Ich halte zur Zeit Diät.« Das Mädchen nickte und notierte die Bestellung. Dann verschwand es. Murray starrte vor sich hin. Mike und Ingar wechselten einen Blick. »Was ist los, Ben?« Mike war es, der schließlich das bedrückende Schweigen brach, das Murray um sich herum verbreitete. »Ich komme gerade von einem Tatort. Die dritte Leiche innerhalb von drei Tagen... Unschöne Sache. Mehr als genug Leute, die ein Mo tiv - aber auch ein Alibi haben. Es sieht so aus, als ob...« Er hüstelte und sprach nicht mehr weiter. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Es kratzte, denn da stand ein zwei Tage alter Stoppelbart. 19
In Mike machte sich der Detektiv bemerkbar. »Wie sind die Leute gestorben?«, erkundigte er sich. Murray hob seinen Blick. »Eine Frau, Glenda Merrigans, hat sich von der Tower-Bridge gestürzt. Ein Mann, Tom Hastings, hat Schlaf tabletten geschluckt. Und Mary Podgrim, ein 26jähriges Mädchen, eine Konzernerbin, erlitt einen - Herzschlag. Weißt du - ich sollte ja nicht darüber reden, aber...« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und beugte sich vor. »Es wären ganz normale Todesfälle, wenn sie nicht allesamt einige Gemeinsamkeiten aufweisen würden. Bei jedem dieser drei Opfer trat der Tod kurz nach Mitternacht ein. Und: Jedes Opfer war vermögend und bei Verwandten, Bekannten und Freunden im Grunde genommen unbeliebt. Tom Hastings, beispielsweise, war Generalbevollmächtigter im Haggerten-Konzern. Wie aus eingeweihten Kreisen verlautete, wollte ihn der alte Haggerten gegen den Willen seiner Kinder zu seinem Uni versalerben ernennen. Trotzdem hat er sich - wie es den Anschein hat - selbst vom Leben zum Tode befördert. Und dazu hin noch mit Schlaf tabletten... Nein, ich sage dir, da stimmt etwas nicht...« »Mord?« Murray nickte. »Ja und zwar auf eine ganz spezielle Art und Wei se.« »Wie meinst du denn das?«, erkundigte sich Ingar, die bis jetzt nur schweigend zugehört hatte. Murray wandte ihr seinen massigen Schädel zu. »Weißt du, vor nicht allzu langer Zeit hatte ich einen Fall, bei dem ich ein ähnlich un gutes Gefühl verspürt habe, wie bei diesem. Einem Anwalt war es ge lungen, einen - Geist zu beschwören, der auf den hübschen Namen Ghulgor hörte...« »Einen Geist?«, erkundigten sich Mike und Ingar wie aus einem Munde. Murray nickte und sein Gesicht wurde noch mürrischer. »Einen waschechten Geist, wenn ich es euch doch sage. Nun und diese We senheit machte für den Anwalt die Dreckarbeit... Sie sorgte dafür, dass einige Menschen auf unnatürlich natürliche Art und Weise starben. Offiziell war es dann Herzversagen. Nur durch einen Zufall bin ich dem 20
Kerl auf die Spur gekommen. Damals konnte ich Schlimmeres verhin dern...« »Ich habe von einem Fall Lambert gelesen«, versetzte Mike ge dehnt. Man sah ihm an, dass seine Nerven vibrierten. »Yes, so hieß der Anwalt«, bestätigte Murray. »Wenige Tage vor seiner Hauptverhandlung ist er gestorben. Die Todesursache ist bis heute ungeklärt geblieben...« Ein eisiger Hauch schien durch das Lokal zu wehen. Mike wischte sein dunkelbraunes Haar, das ihm widerspenstig in die Stirn fiel, zu rück. Jetzt war er es, der nachdenklich vor sich hin starrte. Die Bedienung kam und brachte Murrays Mineralwasser sowie den Salatteller. Schweigend begann der Inspektor zu essen. Fast hatte es den An schein, dass er sich über sich selbst ärgerte, weil er zuviel geredet hatte. Ingar legte ihm ihre schmale Hand auf die seine. »Und jetzt bist du der Ansicht, dass wieder Geister ihre Hand im Spiel haben...«, kombinierte sie. Ihre Stimme klang seltsam heiser und zaghaft. Mit einem Ruck legte Murray sein Besteck auf den Teller und sah Ingar an. »Ja, genau das glaube ich. Aber ich kann es nicht beweisen. Niemand würde mir Glauben schenken... Im Gegenteil. Sie würden mich auslachen - und für wahnsinnig erklären. Es kann nicht sein, was nicht sein darf!« Das klang bitter. »Du verkohlst uns also tatsächlich nicht!«, stellte Mike gelassen fest. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, Späßchen zu reißen!« Ingar schloss ihre Augen. Sie wirkte geistesabwesend - und genau das war sie auch... Sekunden später machte sie sich bemerkbar. Er sagt die Wahrheit, Mike, wisperte ihre Gedankenstimme. Das Abenteuer mit dem Geist
Ghulgor hat stattgefunden... Mike, ich habe Angst... Nur ruhig, Mädchen, dachte Mike zurück.
Murray merkte nichts von der stummen Konversation. Er verzehrte ruhig und bedächtig seinen Salat. Mit seinen Gedanken schien er ganz woanders zu sein. 21
Mike räusperte sich. »Ben«, sagte er dann ganz ruhig. »Was hältst du davon, wenn wir beide uns um diesen Fall kümmern?« Murrays Mund klappte auf. »Ihr?« »Du hast schon richtig gehört. Ingar ist zur Zeit frei und ich habe auch nichts Besseres vorgehabt. Außerdem, ich wollte schon immer mal einen richtigen Geist kennen lernen.« »Ihr glaubt mir also?«, fragte Murray in einer Mischung aus Skep sis und Erstaunen. »Hätten wir dir sonst unser Angebot gemacht?« »Euer Angebot? - Bis jetzt hast nur du...« »Ich bin auch dabei, Ben«, warf Ingar ein. »Na ja...« Ben Murray kratzte sich wieder an seinem stoppeligen Kinn. »Nachdem der Superintendent sämtliche Männer von den ge nannten Fällen mit der lapidaren Bemerkung abgezogen hat, dass bei Selbstmord nichts mehr aufzuklären sei... Und dabei steht noch nicht einmal fest, ob die drei Todesfälle die einzigen sind. Das muss erst noch überprüft werden und ich glaube, dass wir da noch auf einige unangenehme Tatsachen stoßen werden...« Er unterbrach sein Selbstgespräch, sah Ingar an, dann Mike. Dann erst fuhr er fort: »Ich weiß wirklich nicht, ob ich euch da mit hineinzie hen soll...« »Liebe Güte, Ben! Überleg nicht mehr lange! - Schlag schon ein!«, verlangte Ingar eindringlich. Wenn sie wollte, dann konnte sie sehr resolut sein... »Also gut«, knurrte der Inspektor. »Hier ist meine Hand. Ich wer de euch mit der ganzen Sache vertraut machen und dann werden wir schon sehen, wie es weitergeht. Aber wenn meine Befürchtungen ins Schwarze treffen, dann... Nun, dann fürchte ich, dass deinem Mike der Sarkasmus noch vergehen wird. Mit bösen Geistern ist nicht zu spa ßen...« Mike spürte, wie ernst es Murray mit seinen Worten war. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Jemand schien ihm mit einem Eiszap fen über den nackten Rücken zu streichen. 22
In diesem Augenblick ahnten die drei Freunde noch nicht, wie schnell Ben Murrays Worte in Erfüllung gehen sollten... Das Grauen war unterwegs. * »Ist er weg?«, erkundigte sie sich. James nickte bedächtig. »Vor einer Stunde hat er Ihr Haus verlas sen, Madam. Nur seine persönliche Habe hat er mitgenommen. Die tausend Pfund, die ich ihm in Ihrem Auftrag aushändigen sollte, hat er - mir geschenkt!« »Geschenkt? - Ihnen?« Angela Peters war verblüfft. James nickte. »Es ist die Wahrheit, Madam.« Sie schüttelte den Kopf. »Das sieht ihm aber überhaupt nicht ähn lich. Außerdem braucht er das Geld jetzt ziemlich dringend...« Sekundenlang grübelte sie noch über Roberts seltsames Verhalten nach, dann winkte sie ab. Mochte er tun und lassen, was er wollte. Sie hatte genug eigene Sorgen... Mit einer fahrigen Bewegung strich sie über ihr erhitztes Gesicht. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl. Seit der gestrigen Auseinander setzung mit Robert ging es ihr schon so. Bohrende Kopfschmerzen quälten sie, ihre Augen brannten. Und gestern Nacht war sie plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt. Sie hatte sich beobachtet, belauert ge fühlt... Aber da war niemand gewesen. Sie musste sich das eingebildet haben. Und doch... Es war schrecklich gewesen. Dabei hatte sie ziemlich viele Gründe, sich ihres Lebens zu erfreu en und zufrieden zu sein. Endlich war sie ihren Mann, diesen widerlichen, stinknormalen Kerl los! Diesen Schmarotzer, der nur mit ihrem Geld etwas darzustellen imstande war. Oh, sie hatte seine Anwesenheit nicht mehr ertragen können. Und dann war da ja auch noch Jeff Hawkins. Ihre Gedanken wurden rosarot und schwärmerisch. Jeff, das war ein richtiger Mann, ein Mann nach ihrem Geschmack. Er war groß und stark, mit Muskeln, die einem Germanen zur Ehre gereicht hätten. Sie 23
liebt animalisch starke Männer. Männer, die sich von ihr nichts gefallen ließen. Jeff war so ein Mann. Nur mühsam gelang es ihr, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie bemerkte, dass James noch immer vor ihr stand. In seinen Augen war ein seltsamer, undefinierbarer Ausdruck. Angela Peters wollte allein sein. Aus einem ihr selbst unerfindli chen Grunde zerrte die Gegenwart ihres Bediensteten und Vertrauten an ihren Nerven. »Ist noch etwas, James?«, erkundigte sie sich kühl. »Wenn ich mir etwas zu bemerken erlauben darf, Madam«, be gann er steif. »Ich - ich mache mir um Mr. Peters Sorgen. Er sah so so seltsam aus, irgendwie anders, fremdartig. Es schien mir, als wäre er über Nacht um Jahre gealtert...« Angela Peters lachte nur. »Sie machen sich Sorgen - um ihn? Das ist ein schlechter Witz, James. Lassen Sie sich gesagt sein: Um meinen ehemaligen Ehemann brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Um den nicht. Selbst dann nicht, wenn er tatsächlich krank wäre. Er ist es nicht wert. Und jetzt gehen Sie, James. Wenn ich Sie heute noch einmal brauchen sollte, so werde ich läuten.« »Sehr wohl, Madam!« James verneigte sich und verließ das große Wohnzimmer. Behutsam schloss er die lederbezogene Tür hinter sich. Angela atmete auf. Sie griff nach dem Whisky-Glas, führte es an ihre Lippen und leerte es in einem Zug. Jetzt fühlte sie sich wieder besser. Sie ließ sich auf der bequemen Ledercouch zurücksinken und schloss die Augen. Ihre Atemzüge wurden regelmäßig. Ohne dies beabsichtigt zu ha ben, war sie eingeschlafen. Die Zeit verstrich. Langsam bewegten sich die Zeiger der großen goldenen Barockuhr, die auf dem Kaminsims stand, voran. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. * 24
Plötzlich schreckte sie zusammen. Ruckartig setzte sie sich auf. Da war es wieder - dieses Gefühl, beobachtet zu werden... Schweiß brach ihr aus allen Poren. Gehetzt blickte sie sich um. Nichts. Sie war allein. Ganz allein... Eine Gänsehaut bildete sich. Sie fröstelte. Instinktiv legte sie ihre Arme um ihren Körper. Draußen klapperte ein Fensterladen. Ein dumpfes, monotones, hässliches Geräusch. Angela erhob sich und ging zum Fenster hinüber. Sie presste ihr glühendes Gesicht gegen die Scheibe und starrte in die Dunkelheit hinaus. Von der Themse her wogten dichte Nebelschleier. In der Ferne war ein verlorenes Tuten zu hören. Und dann schlug Big Ben. Zwölf mal. Dumpf hallten die Schläge nach. Angela begann zu zittern. »Mittemacht!« Dieses eine Wort kam wie ein Hauch über ihre tro ckenen Lippen. Ihre Gedanken hämmerten. Mitternacht. Die Stunde der Geister. Ein Eissplitter fuhr in ihr Herz, namenlose Angst griff nach ihr. Sie zog die Vorhänge zu und drehte sich um. Wie von selbst fan den ihre Finger den Weg, pressten sich auf die Klingel, die James her beirief. Aber niemand kam. Nirgendwo wurden eilige Schritte laut, die sich rasch näherten... Das Licht begann zu flackern... Angela schrie gellend! Es war wie in einem Fieberwahn. Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Im nächsten Au genblick erlosch das Licht. Samtige, undurchdringliche Dunkelheit las tete um sie herum. Eisschauer krochen über ihren Rücken. Panik wall te höher und höher in ihr. Sie biss sich auf die Lippen und fetzte die wertvollen Vorhänge wieder zur Seite. Sie erstarrte. Das Mondlicht, das in das Zimmer flutete... Das gibt es doch nicht!, dachte sie entsetzt. Das ist doch nicht mein Zimmer! Ich - ich muss träumen... Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, bis der Schmerz durch ihren Körper raste. Die gespenstische, fremde Umgebung verschwand nicht. 25
Angela Peters Augen hatten sich inzwischen an die diffuse Dun kelheit gewöhnt. Ganz deutlich konnte sie die wenigen Einrichtungsge genstände wahrnehmen. Das war nicht mehr ihr Zimmer! Und das war auch kein Traum! Sie befand ich in einer mittelalterlichen Folterkam mer! Überall lag eine dicke Staubschicht. In den Ecken glitzerten riesi ge Spinnengewebe. Mit verheerender Wucht traf sie die Erkenntnis, dass irgend je mand die Macht besessen hatte, sie hierher zu versetzen... Aber - wie war das nur möglich? Das ging doch nicht mit realen Dingen zu! Und wo war sie hier? Sie starrte aus dem vergitterten, schießschartenähnlichen Fenster. Dunkelheit lag über dem Land. Dennoch vermochte sie in der Tiefe eine halbzerfallene, zinnenbewehrte Mauer, einen Turm, mehrere Ge bäude zu erkennen. In der Ferne erhoben sich einige verkrüppelte Bäume, dahinter dichter Wald. Hier und da waren Lichter in der Dun kelheit - möglicherweise lag dort unten ein Dorf... Sekundenlang schloss sie die Augen, bemühte sie sich, ruhiger zu werden. Ich bin nicht mehr in London in meiner Wohnung... Himmel,
steh mir bei! Ich werde wahnsinnig. Wahnsinnig!
Draußen schob sich eine mächtige Wolkenbank vor die bleiche Si chel des Mondes. Es wurde dunkel in ihrem Gefängnis. Minutenlang lauschte sie ihrem eigenen keuchenden Atem, dann setzte sie sich wieder in Bewegung. Mit ausgestreckten Händen tastete sie sich an der Wand entlang. Die roh behauenen Steinquadern waren feucht und hier und da so glitschig, dass es den Anschein hatte, sie würden aus einer schleimi gen, nachgiebigen Masse bestehen. Ekel würgte Angela Peters. Endlich erreichte sie die Tür. Mit fahrigen, zitternden Fingern suchte sie nach der Klinke, fand sie - und rüttelte daran. Vergeblich. Sie stieß die Luft aus ihren Lungen und lehnte sich mit dem Rü cken gegen das harte, rissige Holz. Und jetzt erst sah sie die Erschei nung! An der Wand zu ihrer Linken, keine zwei Schritte von ihr entfernt, war ein Flimmern zu sehen... Das Flimmern wurde intensiver, wandelte sich zu einem düsteren Rot. Angela Peters erkannte sekundenlang 26
große, funkelnde Raubtieraugen... Dann verschwanden die Augen und ein Körper formte sich... »Nein! Nein!«, wimmerte sie und versuchte, zurückzuweichen. Aber das ging nicht. Die unheimliche Erscheinung war nun deutlich zu sehen - und sie trat aus der Wand heraus! Eine unheimliche Drohung strahlte von ihr aus. Angelas Blicke saugten sich an der langen schwarzroten Kutte des Unheimlichen fest. Gleichsam versuchte sie, den Kloß, der in ihrer Keh le festsaß und sie würgen ließ, zu schlucken. »Was - was willst du von mir? Was hast du mit mir vor?« Ihre Stimme war schrill vor Angst. Der Unheimliche setzte sich in Bewegung. Geschmeidig und völlig lautlos, so, als würde er schweben, kam er heran. »Dein armseliges Leben will ich holen, Sterbliche«, sagte er mit düsterer Stimme. »Parashthaar, meine Herrin, will es so... Und ich gehorche...« »Nein! Nicht! Ich - ich werde alles tun, was man von mir verlangt! Alles! Aber...« Der Unheimliche kicherte böse. »Ein Pakt ist geschlossen und er muss erfüllt werden!« »Ich verstehe nicht«, keuchte Angela Peters. »Das ist auch nicht notwendig, Sterbliche! Dein Tod ist beschlos sen, der Preis bezahlt. Du wirst sterben!« Die Hände des Unheimlichen glitten aus den weiten Ärmeln der Kapuzenkutte hervor, beschrieben seltsame, kreisende Gesten. Wie gebannt starrte Angela auf die knochigen schneeweißen Hän de mit den langen, klauenartigen Fingern. Der Unheimliche machte einen weiteren Schritt. Und jetzt reagier te Angela. Sie wich seitwärts aus, hetzte an dem Wesen, das gekom men war, sie zu töten, vorbei. Aber sie kam nicht weit. In der Dunkel heit stieß sie gegen etwas Hartes... Den Schmerz spürte sie überhaupt nicht. Sie fiel... Hart schlug sie auf schroffem Steinboden auf. »Es ist sinnlos, Sterbliche!«, hallte die Stimme des Unheimlichen. Von überall her schien diese Stimme jetzt zu kommen. Und Angela 27
Peters wusste in diesem Augenblick, dass es wirklich sinnlos war. Sie war verloren. Seltsam, ausgerechnet jetzt musste sie an Robert denken. Ob er...? Sie wusste es nicht und sie wollte es auch gar nicht mehr wis sen. Alles war ihr gleichgültig. Der Unheimliche stand nun über ihr. Im gleichen Moment brach das Mondlicht wieder durch die Wolkenbank... Schlagartig wurde es heller in dem Raum. Und jetzt sah sie es. Eine eiskalte Krallenhand schien ihr Herz zusammenzupressen! Dort, wo unter der Kapuze das Gesicht des Unheimlichen hätte sein sollen, war nur eine schwarz und rot flirrende, spiegelglatte Flä che. Ihr Gesicht spiegelte sich darin. Es war ein uraltes Gesicht... Das war zuviel für Angela Peters. Ihr Herzschlag setzte aus. * Sechs Stunden später... Ingar zitterte am ganzen Körper. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Ihr Mund formte zusammenhanglose Worte. Dann wälzte sie sich stöhnend auf die andere Seite. Da begann es erneut... Übergangslos veränderte sich die Umgebung. Sie stand auf einem teilweise zerfallenen Turm, heftiger Wind bauschte ihren weiten weißen Morgenrock. In der Ferne war leises Donnergrollen zu hören. Fahlgelbe Blitze spalteten die Dunkelheit und kündigten ein herannahendes Gewitter an. Mit den Blitzen kamen auch riesige Vögelkrähen. Laut und hässlich kreischend flatterten sie heran. In wildem Aufruhr umkreisten sie den Turm, auf dem sie stand. »Nein!«, hauchte sie entsetzt. Sie wollte sich abwenden und flie hen, aber das war unmöglich. Unsichtbare Geisterhände hielten sie mit eisernem Griff fest. Es begann zu regnen. Große Tropfen klatschten in ihr Gesicht. Die Donnerschläge wurden lauter, drohender und sie übertönten das Ge kreische der Vögel. Und dann wurde sie von den unsichtbaren Händen vorwärts ge schoben... Direkt auf das in der Brüstung klaffende Loch zu! Der Ab 28
grund!, dachte sie voller Grauen. Ich werde in die Tiefe stürzen! Ich darf nicht weitergehen! Nur noch zwei Schritte trennten sie vom sicheren Tod. Dann - nur noch ein Schritt... Nein! Ich will nicht sterben, schrie eine verzweifelte Stimme in ihr. Sie versuchte, sich gegen den unheimlichen Bann zur Wehr zu setzen, sie stemmte sich dem Druck der unsichtbaren Hände entgegen... Das Kreischen der Krähen wurde jetzt wieder lauter, es dröhnte in ihren Ohren. Die Vögel schienen sie zu verspotten. Sie presste die Lip pen zusammen. Tränen der Verzweiflung rannen über ihre Wangen. Dann machte sie den letzten Schritt. Sie sah die scheinbar bodenlose Tiefe unter sich... Erneut zuckte ein Blitz auf und für wenige Sekunden war die Szenerie mit grellem Licht erhellt. Die hin und her zuckenden, bisher nur schemenhaft er kennbaren Körper der Krähen nahmen plötzlich fest umrissene Gestalt an. Tief unten sah sie den felsigen Boden. Hier und da einige verkrüp pelte Bäume. Linker Hand ragten zinnenbewehrte, zum Teil zerfallene Mauern auf... Sie fiel, beide Arme weit von sich gestreckt, so, als versuche sie, zu fliegen... Plötzlich zerriss ein wilder, kreischender Schrei, der in schrille Hö hen kletterte - und dann abbrach, die schreckliche Monotonie des Stürzens. Eine Geisterstimme rief ihr etwas zu. Ingar riss sich zusammen. Sie versuchte, jedes der verzerrt aus gesprochenen Worte zu verstehen... »Ich... Angela Peters... Tot... Ro bert... Böse Geister... Böse Geister!« Instinktiv spürte Ingar, dass ihr die Geisterstimme noch etwas sa gen wollte, aber dazu blieb keine Zeit mehr. Ingars Traum zerriss, zer faserte... Einen winzigen Moment lang war sie benommen und es fiel ihr schwer, wieder in die Realität zurückzufinden. Jemand hielt sie in den Armen, eine Hand strich sanft über ihr Haar und sie hörte eine beruhi gende Stimme. »Ruhig, Ingar, ganz ruhig. Du hast nur geträumt, hörst du? Alles ist gut.« 29
Erst jetzt kehrte ihre Erinnerung zurück. Das war Mikes Stimme. Ingar atmete auf und öffnete ihre Augen. »Hallo«, flüsterte sie zaghaft. Mike sah sie besorgt an. »Alles wieder okay?«, erkundigte er sich dann. Ingar furchte ihre Stirn und das machte sie noch hübscher, als sie ohnehin schon war. »Ich hatte einen Traum, Mike«, flüsterte sie nach denklich, halb zu sich selbst. »Das habe ich gemerkt, Liebling«, versetzte er grinsend. »Du hast gestöhnt und dich hin und her gewälzt und um dich geschlagen. Und dann hast du immer wieder einen Namen gemurmelt.« »Angela Peters!«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. Mike nickte. »Ja, genau das war der Name«, sagte er gedehnt. Sie räusperte sich. »Es - es war ein seltsamer Traum. Ich hatte Angst, denn er war so - so real... Weißt du, ich habe noch nie auf die se Art und Weise geträumt.« Sie verstummte und sah ihm offen in die Augen. Er versuchte, sie aufzumuntern. »Du weißt doch: Träume sind Schäume. Mach dir nichts draus. Nachher werden wir...« Er hatte bewusst flapsig und unbekümmert gesprochen, aber na türlich durchschaute sie seine Taktik. Ein schwaches Lächeln lag um ihre Mundwinkel und sie schüttelte den Kopf. »Mike - bitte...« Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den Seelendoktor zu spielen. Komm, erzähle mir deinen Traum! Und dann werde ich Frühstück für uns bei de machen. Kaffeekochen habe ich in Florida gelernt. Das Leben eines Junggesellen - brrr!« Er schüttelte sich. Jetzt war es ihm doch gelungen, sie ein bisschen aufzumuntern. Für ein paar Sekunden funkelte der Schalk in ihren Augen, aber dann wurde sie wieder ernst. Ihr Gesicht verdunkelte sich. Sie setzte sich auf und lehnte sich gegen ihn. Ein sanftes Prickeln durchrieselte ihn, als er ihre warme, samtige Haut auf der seinen spürte. Er legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern und zog sie in die Federn zurück. 30
»So früh am Morgen kann ich das Wachsein nur liegend ertra gen«, kommentierte er. Und dann wurde auch er ernst. »Also - was hast du geträumt? kannst du dich noch daran erinnern?« »Nicht an jede Einzelheit«, gab sie zu. »Dann erzähle mir das, woran du dich erinnerst.« »Ich stand auf dem Turm einer Burgruine«, begann sie leise. »Es regnete und donnerte und blitzte. Ich fiel in eine schreckliche Tiefe. Der Aufschlag blieb aus. Ich wunderte mich nicht einmal darüber. Und dann - dann hörte ich plötzlich diesen Schrei und die Stimme... Irgend jemand rief mir etwas zu...« »Was? Versuche, dich zu erinnern, Ingar!« Unwillkürlich hatte er sich angespannt, während sie sprach. Ingar überlegte. »Warte... Die Stimme sagte: ›Angela Peters... Tot... Robert‹ und dann: ›Böse Geister...‹ Sie wollte noch mehr sagen, das weiß ich auch noch ganz genau. Aber da war es schon zu spät. Ich bin aufgewacht.« Ingar löste sich aus seinem Arm und richtete sich wieder auf. Eine Gänsehaut überzog ihren schlanken Körper. Er machte sich Sorgen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, denn Ingars Traum gab ihm einiges zu denken. Sein berufsmäßig vor handener und in zahlreichen Gefahren geschulter Instinkt sprach an und brachte eine ganze Batterie von Alarmsirenen zum Jaulen. Gestern Abend hatten sie mit Murray noch bis spät in die Nacht hinein getagt und jeden der drei geheimnisvollen Todesfälle haarklein auseinander genommen. Ingar war parabegabt und dementsprechend sensibel. Hatte ihr Unterbewusstsein deshalb mit diesem Traum reagiert? Aber wie passten dann die Namen Angela Peters und Robert zu dieser Theorie? - Nicht sonderlich gut, beantwortete er sich seine rhetorische Frage im gleichen Atemzug selbst. Also steckte mehr dahinter...? War es eine Art Wahrtraum gewe sen? Ein Traum, der irgendwann zur Wirklichkeit werden würde - oder schon geworden war? Ingar sah ihn an, als erwarte sie von ihm irgendeine Erklärung. Er erwiderte ihren Blick und verzog die Lippen zu einem gequälten Lä 31
cheln. »Ich denke, dass ich dir jetzt erst einmal meine Kochkunst stückchen vorführe...«, sagte er dann lahm. »Du weichst aus, Mike Logan«, versetzte sie streng. »Erraten, Miss Thorssen! Und weißt du auch, warum? - Weil ich mit vollem Magen weit besser Probleme wälzen kann.« »Aha!« Diese Bemerkung war so spitz wie eine Nadel. Er verschloss seinen Geist, weil er ihre tastenden Gedanken be merkte, lächelte, strich ihr über die zerzausten Haare und glitt aus dem Bett. Knöcheltief sanken seine Füße in dem flauschigen Teppich ein, als er zum Fenster hinüberging. Er ließ die Jalousien hoch und goldenes Licht vertrieb die Dämmerung aus dem Schlafzimmer. Alles wirkte jetzt hell und freundlich. Mike sah in den Morgen hinaus. In der Ferne lag leichter Dunst über den Dächern der City und in den Straßen brodelte der RushHour-Verkehr. »Großartig«, versetzte er ohne echte Begeisterung. Und da klingelte das Telefon. Ingar schrak zusammen. Und in Mike verdichtete sich eine unan genehme Spannung. Dieses Symptom kannte er. Er hatte es schon einige Male bei sich registriert. Und zwar immer dann, wenn er vor ausgeahnt hatte, dass Unheil in der Luft lag... Mit drei großen Schritten war er beim Telefon und nahm ab. »Hal lo, Murray«, sagte er gemütlich, noch bevor sich der Anrufer gemeldet hatte. Mikes Ruhe täuschte. Innerlich war er alles andere als ruhig und gelassen. Seine Nerven vibrierten. Es war tatsächlich Ben Murray, der angerufen hatte. Er stieß die Luft aus. Ein asthmatisches Pfeifen sirrte durch die Leitung. »Kannst du neuerdings hellsehen?«, fragte er aufgebracht. »Kein Kommentar! - Rufst du mich wegen einer gewissen - Angela Peters an?« »Zum Teufel, ja! Mike - würdest du mir jetzt endlich verraten, wie...« Murray unterbrach sich, aber die darauf folgende Stille in der Leitung schrie förmlich nach Informationen. »Zug um Zug, Ben. Was ist passiert?« 32
»Meinetwegen«, brummte Murray mit immer noch ziemlich unru higer Stimme. »Angela Peters - ihr Butler James hat sie heute morgen gefunden. Sie ist tot. Herzversagen. Nach einer oberflächlichen Unter suchung würde ich sagen, dass der Tod kurz nach Mitternacht einge treten ist. Die ganze Sache war bis vor drei Minuten topsecret - und trotzdem weißt du bereits davon. Also erklär mir jetzt endlich...« »Das werde ich tun, Ben. Aber nicht am Telefon. - Wo bist du jetzt?« »Im Haus der Toten.« »Das sagt mir viel!«, versetzte Mike. »Du weißt nicht, wo sie wohnt? - Ah, wohnte?« Deutlich war das Misstrauen aus Murrays Stimme herauszuhören. »Würde ich dich sonst so dumm fragen?« Murray seufzte. »Na schön. Die Adresse ist Courentry Road 13. Das ist ganz in der Nähe von Old Scotland Yard... Ich warte hier auf dich.« »Bin schon unterwegs. Dir zuliebe lasse ich heute sogar das Zäh neputzen ausfallen.« Murray stieß wieder einen gequälten Seufzer aus und legte dann auf, ohne noch etwas zu sagen. »Angela Peters... Sie - sie ist tot, nicht wahr«, stellte Ingar fest. Sie stand direkt hinter ihm und ihr Gesicht war bleich. Behutsam legte Mike den Hörer auf die Gabel zurück, dann erst nickte er. »Ja, Mädchen, sie ist tot. - Hast du gespürt?« Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht notwendig«, erwiderte sie ernst. »Mike, was hat das alles zu bedeuten? Wie wird es weiterge hen?« Er beugte sich vor und küsste sie sanft. »Das weiß ich nicht, Ingar. Wirklich nicht. Aber ich werde mich um diese Sache kümmern. Nur keine Panik!« * Mike hatte sich tatsächlich beeilt und deshalb war er bereits 19 Minu ten später am Ziel. Courentry Road 13 lag in einer einigermaßen vor 33
nehmen Wohngegend. St. James Park und Birdcage Walk waren ganz in der Nähe, ebenso - wie Murray überflüssigerweise schon angedeutet hatte - Old Scotland Yard. Mike hielt seinen Lotus Eclat vor Nr. 13 an und stieg aus. Vor der Nr. 13 standen bereits mehrere Dienstfahrzeuge der Mordkommission, ein Krankenwagen - und natürlich hatte sich auch bereits eine ansehn liche Menschenmenge gebildet. Einer der uniformierten Bobbys erblick te Mike und winkte ihm. »Hallo, Mr. Logan«, sagte er freundlich. »Der Chef erwartet Sie bereits sehnsüchtig.« »Hallo! Und woher wissen Sie so genau, dass er mich erwartet? Kennen wir uns?« Der Beamte grinste jungenhaft. »No, Sir, noch nicht. Aber Murray hat mir Ihren Flitzer beschrieben - und mir Ihre Ankunft avanciert. Der Rest war einfach.« »Ihnen merkt man den Kriminalisten an, Mann!« Der Beamte lächelte. »Kommen Sie, gehen wir. Ich bringe Sie zu Murray. Wie gesagt, er ist schon mächtig ungeduldig. Und schlechter Laune sowieso«, setzte er schulterzuckend hinzu. »Kann ich verstehen«, räumte Mike ein. Er folgte dem Bobby. Sie kämpften sich durch die Menge der Schaulustigen und betraten das Grundstück. Am Ende der geteerten Zufahrt lag das Haus. Es war ein riesiger Kasten mit vier spitz zulau fenden Türmchen, unzähligen Giebeln und Erkern. Eine breite Treppe führte zu einem Doppelflügelportal empor, das von zwei steinernen Löwen flankiert wurde. Die ersten Lichtbündel des Tages zauberten Reflexe auf die Butzenscheiben der Fenster. Der Park, welcher Haus und Parkplatz umgab, war ebenfalls riesig. Das Gras schimmerte saftig-grün und war streichholzkurz geschnitten. Schmale, mit grauen Steinplatten belegte Wegchen führten in alle Himmelsrichtungen davon, zu blühenden Blumenbeeten, einem zierli chen Glashaus, in dem Gartenmöbel aufgestellt waren und zu einem ovalen Swimming-pool. Hier atmete einfach alles Wohlstand und pe netranten Reichtum aus. 34
Mike stieß einen Pfiff aus, sagte aber nichts. Der Beamte stellte keine überflüssigen Fragen. Er hielt Mike die Tür auf, dann trat auch er in das stille, kühle Foyer des Riesenhauses. »Ah, da bist du ja endlich!«, empfing ihn Murray. Es hatte ganz den Anschein, als hätte er hier auf ihn gelauert. Dieser Anschein täuschte natürlich, denn Murray pflegte sich voll auf seine Arbeit zu konzentrieren. Und wenn es eine Leiche gab, erst recht. Mike reichte dem Freund die Hand. Murray ergriff sie und schüttel te sie kurz. »Schieß los!«, verlangte er dann in seiner schroffen Art. Der Bobby, der Mike begleitet hatte, zog wieder ab, sichtlich froh darüber, seinem bärbeißigen Chef mit heiler Haut entronnen zu sein. Manchmal konnte Murray aber auch wirklich so viel Charme versprü hen wie eine rostige Gießkanne. Mike räusperte sich, dann erzählte er dem Inspektor von Ingars Traum. Er fasste sich kurz, dennoch verschwieg er nichts. Seine Ver mutungen und Befürchtungen ersparte er Murray. Der Inspektor konn te zwei und zwei schließlich selbst zusammenzählen. Nachdem Mike geendet hatte, sah er den Inspektor an. Der schwieg und begutachtete seine Schuhspitzen. Nach einer Minute hob er seinen Kopf und erwiderte Mikes Blick. »Also gut. Wir wissen, dass es Geister gibt. Warum soll es dann nicht auch so etwas wie - Wahr träume geben... Verdammt, die Sache gefällt mir immer weniger.« Er unterbrach sich, wischte mit der Rechten über seine Stirn. »Wo hast du Ingar eigentlich gelassen? Ich dachte, ihr bearbeitet diesen Fall gemeinsam?« »Sie hat freiwillig darauf verzichtet, mitzukommen. Der Traum und noch mehr die Tatsache, dass er Wirklichkeit geworden ist, hat sie doch ziemlich mitgenommen.« »Verstehe. Wenn es der Kleinen wieder besser geht, würde ich mich gern mal mit ihr unterhalten - okay?« Mike nickte und kam zur Sache. »Kann ich mich hier mal umse hen?« »Geht klar«, erwiderte der Inspektor. »Und wenn du Fragen hast dann stelle sie.« »Hast du die Tote schon wegbringen lassen?« 35
»Noch nicht. Wir haben extra auf dich gewartet.« »Wo liegt sie?« Mike fasste sich jetzt genauso knapp wie der In spektor. Und das gefiel dem brummigen Burschen natürlich. Vielleicht fand er diesen Logan deshalb so sympathisch... Leute, die zuviel redeten und doch nichts zu sagen hatten, waren ihm ein Gräuel. »Im Wohnzimmer. Komm mit!« Murray schien sich hier auszukennen. Zielstrebig und so selbstver ständlich, als wäre er der Hauseigentümer höchstpersönlich, führte er Mike in ein großes Zimmer. Im Zentrum dieses Zimmers stand eine Couch. Darauf saß ein Mann in Butlerlivree. Er machte einen niedergeschlagenen, verbitterten Eindruck. Im Hintergrund waren die Spezialisten der Mordkommission an der Arbeit. Amos Spencer, der Doc, richtete sich soeben auf und klappte dabei seine Arzttasche zu. Ein Fotograf knipste. Zwei Männer von der Spurensicherung knieten vor und neben der Toten und unterhielten sich leise. Auch hier wirkte der zur Schau gestellte Reichtum eher protzig und aufdringlich. Die anheimelnde Gemütlichkeit, die Mike an seinem Wohnzimmer so schätzte, fehlte hier völlig. Na ja, dachte er. Geld al lein ist eben doch nicht alles... Kurz ließ er den Blick schweifen. Le dermöbel, Gobelins und Ölgemälde an den Wänden. Im Hintergrund eine gut bestückte Bar. Fernsehapparat, Stereoanlage. Alles, was das Herz begehrte, war in dieses Zimmer hineingestopft. Er trat ein. Murray war schon drei Schritte voraus und jetzt sah er sich nach Mike um. Wo bleibst du denn?, fragte sein Blick. »Amos, das ist Mike Logan. Mike, das ist Amos Spencer«, stellte Murray vor. »Wir kennen uns schon«, bemerkte Mike und schüttelte die Hand des Arztes. Spencer nickte bekräftigend. »Auch gut«, brummte Murray. »Hat sich noch etwas ergeben, Amos?« 36
»Das Ergebnis der ersten Untersuchung kennst du. Jetzt musst du dich schon gedulden, bis das Ergebnis der Obduktion vorliegt.« »Und bis wann wird das vorliegen?« »Morgen, frühestens.« Murray nickte. Er vergrub seine großen Hände in den Taschen sei ner Garbadin-Hose und sein harter, sezierender Blick richtete sich auf Spencer. »Sag mal, Amos, erinnert dich dieser Fall nicht an einen ganz bestimmten anderen Fall?« Bedächtig nickte der Doc. »Doch, das tut er, Ben«, murmelte er. »Und du kannst mir glauben, dass mir das Ganze überhaupt nicht ge fällt. Trotzdem: Wie damals kann ich dir auch heute nur bestätigen, dass Mrs. Peters an Herzversagen gestorben ist. Und das, obwohl sie eine kräftige, gesunde Frau war. Sie hätte uralt werden können... Dar an hätte nicht mal der Whisky, den sie anscheinend recht gerne moch te, so schnell etwas geändert.« Der Arzt zuckte die Achseln. »Okay, Amos. Ich erwarte dann den Obduktionsbefund.« Mike wandte sich an den Inspektor. »Sie war verheiratet?«, fragte er erstaunt. »Bis zu ihrem Tod, ja, ihr Mann heißt Robert.« »Robert...«, murmelte Mike. »Das war der andere Name, den Ingar genannt hat.« »Ja.« »Und wo ist der Bursche? Immerhin ist seine Frau tot und...« Ben Murrays Assistent, Inspektor Porter, war unbemerkt zu ihnen getreten und antwortete jetzt für seinen Chef. »Wie wir vom Butler erfahren haben, gab es am Montagabend einen Streit zwischen Mr. und Mrs. Peters. Daraufhin verließ Mr. Peters gestern Abend das Haus.« »Wann genau?« »Einige Stunden vor Mrs. Peters Tod. Das kann der Butler bezeu gen.« »Mit dem kannst du dich später noch eingehend unterhalten«, er klärte Murray. »Habt ihr in der Zwischenzeit noch irgend etwas finden können?« 37
Porter schüttelte den Kopf. »Nichts, Chef. Keine Spuren... Nichts. Tut mir leid.« »Und wie hat sich der Butler zu Mrs. Peters' Ableben geäußert?«, wandte sich Mike an Inspektor Porter. Murray warf ihm aus schmalen Augen einen Blick zu, der Bände sprach. Porter fuhr sich durch den Haarschopf. »Er ist nicht sehr gesprä chig, Sir.« Mike nickte. Bevor er zu James ging, warf er noch einen Blick auf die tote Mrs. Peters. Sie war noch nicht sehr alt gewesen, höchstens 27. Ihr Körper wies - abgesehen von einer unbedeutenden Schürfwun de an der Taille - keinerlei Verletzung auf. Ihr Gesicht war wachsbleich und grauenhaft verzerrt. »Sie muss etwas Entsetzliches gesehen haben«, murmelte Mike leise. * Mit einem Ruck kam er wieder hoch und nickte den beiden Männern zu, die neben dem Zinksarg standen. Murray nickte ebenfalls. In die Männer kam Leben, sie taten ihre traurige Pflicht. James, der Butler, war nervös. In seinem Gesicht zuckte es verrä terisch. Mit Inspektor Murray im Schlepptau ging Mike zu ihm. Der Mann sah aus brennenden Augen zu ihm auf. »Es - es tut mir leid«, sagte er leise. »Was tut Ihnen leid?« Murrays Stimme war metallisch hart. »Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen. Sie - sie hat in letzter Zeit viel getrunken. Ich hätte versuchen müssen, es ihr auszureden. Jetzt ist es zu spät. Sie ist tot.« »Es tut mir leid, aber wir müssen Ihnen noch ein paar Fragen stel len«, sagte Murray hart. James nickte. »Ja, Sir.« »Mrs. Peters war sehr vermögend«, deutete Murray an. 38
»Wie ich Ihnen bereits sagte«, räumte James ein. »Ihr gehörte al les.« »Und Mr. Peters?« Der Butler zögerte mit der Antwort. »Mr. Peters war arm wie eine Kirchenmaus, bevor Mrs. Peters ihn geheiratet hat.« »Wissen Sie, ob Mrs. Peters ein Testament hinterlassen hat?«, schoss Mike die nächste Frage ab. »Nein.« »Was - nein?«, hakte Murray sofort nach. »Es - es gibt kein Testament. Wenn es eines gäbe, so müsste ich es wissen. Mrs. Peters hat mir voll vertraut.« »Dann wird Mr. Peters also erben«, resümierte Mike. »Gibt es außer Mr. Peters noch Verwandte, James?«, erkundigte sich Murray. »Ja. Mrs. Peters hatte noch eine Schwester. Sie heißt Carolin McCallum und wohnt in Chelsea, Kings Road 429.« Mike notierte die Adresse. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich Mr. Peters momentan aufhält?« »Tut mir leid, Sir - nein.« »Um noch einmal auf diesen Streit zwischen Mr. und Mrs. Peters zurückzukommen: Um was ging es dabei?« »Ich weiß es nicht, Sir.« Mike seufzte. »Okay.« Murray übernahm: »Sie halten sich zu unserer Verfügung. Sollte Mr. Peters hier auftauchen, so benachrichtigen Sie uns.« Er gab seinen Männern einen knappen Wink. »Fertig?« »Ja, Chef!«, kam es einstimmig zurück. »Gut. Abmarsch!« Murray nickte dem Butler noch einmal zu, dann ging er zur Tür. Mike folgte ihm. »Noch irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich der Inspektor. »Momentan nicht. - Scheint ein ganz normaler Todesfall zu sein...« Nachdenklich wiegte Mike den Kopf. Als sie aus dem Haus traten, brach Mike das Schweigen. »Und jetzt, Ben?« 39
Bevor Murray antworten konnte, kam einer der Beamten und rief schon von weitem: »Gerade kam eine Anweisung von Superintendent Rüssel durch, Sir. Er erwartet sie im Yard. Es sei wichtig, hat er ge sagt.« Murray verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Bestätigen Sie«, erwiderte er, an den Bobby gewandt. »Und lassen Sie ihm ausrichten, dass ich in fünfzehn Minuten bei ihm bin. - Damit erledigt sich wohl deine Frage, Mike...« »Schon kapiert. Ich werde mich also um Mrs. Peters' Schwester lein Carolin kümmern. Irgendwo müssen wir ja anfangen.« Murrays düstere Miene hellte sich auf. »Das ist ein Wort!«, sagte er erleichtert. Und dann, nach einem kaum merklichen Zögern: »Dan ke, Junge. Schön, dass du mich nicht im Stich lässt!« »Hör schon auf, Ben! Ich habe keine Papiertaschentücher dabei«, wehrte Mike ab. »Sag mir lieber, warum es dein Chef so eilig hat, mit dir zu sprechen. Da steckt doch irgend etwas dahinter.« »Als ich die Nachricht von Mrs. Peters' Tod durch Herzversagen auf meinen Schreibtisch bekam, habe ich die Maschinerie der Mord kommission in Bewegung gesetzt. Auf meine Verantwortung.« »Und?« »Superintendent Rüssel hat etwas gegen Eigeninitiative, weißt du. Besonders in Mordfällen, die keine Mordfälle zu sein scheinen.« Verstehend nickte Mike. Es gab sie überall, die pedantischen Schreibtischdiktatoren, das war Schicksal - und einer der Gründe, wa rum er bei Scotland Yard gekündigt und sich selbständig gemacht hat te. Murray tat ihm leid. »Halt die Ohren steif, Ben!«, wünschte er ihm. Der Inspektor grinste wölfisch. »Ich habe ein dickes Fell, Mike.« »Gut für dich. Wir bleiben in Kontakt, okay?« Murray nickte zustimmend und dann ging er zu seinem Dienstwa gen, den er auf dem Parkplatz vor dem großen Haus der toten Mrs. Peters geparkt hatte. * 40
Die Riesenstadt London war längst schon erwacht, aber Mike kam trotzdem recht zügig voran. Die erwartete Blechlawine hatte sich be reits aufgelöst. Ein kleines Wunder, das er dankbar akzeptierte. Er reihte sich in den locker fließenden Verkehr der Buckingham Palace Road ein, ließ den Palace rechter Hand liegen und fuhr Rich tung Belgravia, Chelsea und Kings Road. Das Wetter präsentierte sich noch immer von seiner schönsten Seite, dennoch fühlte er sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Eine nagende Unruhe war in ihm. Unwillkürlich wandten sich seine Gedan ken dem Fall zu, in den er dank seiner Gutmütigkeit und berufsmäßi gen Neugier hineingeschlittert war. Vier Menschen waren durch Herz versagen oder Selbstmord gestorben. Murray war felsenfest davon überzeugt, dass Geister im Spiele waren und das einzige Indiz, das er zur Erhärtung dieser abenteuerlichen These anzuführen hatte, war die Tatzeit... Das war im Grunde genommen herzlich wenig. Viel zuwenig. Und durch Selbstmord starben in London - und überall auf der Welt - jedes Jahr Tausende von Menschen. Mike seufzte. Zweifel wollten in ihm aufkeimen, aber er unter drückte sie. Er kannte Murray. Der war ein mit allen Wassern gewa schener Fuchs, ein Kriminalist, der sich so leicht nicht ins Bockshorn jagen ließ. Und wenn dieser Mann die Existenz von Geistern akzeptiert hatte, dann hatte er imponierende Gründe gehabt. Einen davon hatte er preisgegeben: Das Abenteuer mit dem bösen Geist Ghulgor. Es war Realität, Ingar hatte dies definitiv festgestellt. Eine Telepathin zu belü gen, war nahezu unmöglich... Trotzig schob Mike sein Kinn vor. Trotzdem beharrte er. Bisher hatte er weder an die traditionsreichen englischen Schlossgespenster noch an Nessie vom Loch Ness geglaubt - und jetzt sollte er dies plötz lich unbesehen tun? Nein, das war einfach zuviel verlangt. Er konnte und wollte die Existenz von Geistern nicht einfach als gegeben hin nehmen. Er war Skeptiker und Realist. Er brauchte Beweise. Dann, erst dann war er bereit, sich restlos überzeugen zu lassen. Das Böse musste bekämpft werden - wo und ganz gleich, in welcher Maske es sich präsentierte, darin stimmte er mit Murray voll und ganz überein. 41
Aber solange es keine Beweise gab, war er nur Murray zuliebe un terwegs... So war das. Einige hundert Meter voraus trennte die Sloane Street die Stadttei le Brompton und Chelsea von Belgravia. Die Kings Road, auf der er schon eine ganze Weile dahinrollte, kreuzte die Sloane Street. Mike sah, dass die Ampeln auf Rot sprangen und verlangsamte. Mit der Rechten tastete er nach dem Päckchen Zigaretten. Da geschah es! Plötzlich breitete sich ein scharfer, stechender Schmerz in seinem Schädel aus... Dennoch handelte Mike irrsinnig schnell. Er kuppelte aus, blinkte, fuhr links ran. Tränen quollen in seine Augen, blendeten ihn. Mit einem Keuchen griff er sich an die Stirn. Vor seinen Augen zuckten jetzt feurige Blitze. Hell und Dunkel wechselte sich in rasender Folge... Du solltest an die Existenz von Geistern glauben, Mike Logan, sag te in diesem Moment eine Stimme direkt in seinem Gehirn. Und bevor Mike einen klaren Gedanken fassen konnte, fuhr die Stimme fort: Ja,
du solltest uns nicht verleugnen. Denn solange du das tust, kann ich dir nicht helfen... »Ingar? Ingar, bist du das?«, stieß Mike hervor. Belustigtes Lachen explodierte in seinem Kopf. Nein, Mike, ich bin
nicht deine Ingar... Ich bin ein - Geist. Ein richtiger, echter Geist... Und du tätest gut daran, meinen Rat zu beherzigen...
»Aber warum?«, schrie Mike aufgebracht. »Wer bist du? Wobei willst du mir helfen?«
Hast du denn noch immer nicht begriffen?
»Dann stimmt es also... Ich meine, Murray irrt sich nicht?«
Nein, Murray irrt sich nicht.
»Wer bist du?«, fragte Mike noch einmal.
Ich werde mich formvollendet vorstellen, wenn wir irgendwann mal ein Bier zusammen trinken..., kam es zurück.
»Ein Geist mit Sinn für englischen Humor«, murmelte Mike und schüttelte entgeistert den Kopf. Dann beschloss er, seine Chance zu nutzen. »Wer - wer steckt hinter diesen Morden? Wenn du mir schon helfen willst, dann kannst du mir das wohl sagen...«
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Stille. Keine Antwort, so sehr er auch in sich hinein lauschte. Die Kopfschmerzen waren verschwunden... Hatte er sich die Geisterstim me nur eingebildet? Bedächtig schüttelte er seinen Kopf. Nein, das war keine Einbil dung gewesen. Das nicht... Die Konsequenzen, die sich daraus erga ben, waren schlicht phantastisch. Er atmete tief durch und hob seinen Kopf. Erst jetzt registrierte er das Klopfen an der Frontscheibe. Ein Bobby sah ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck an. Mike lächelte, so gut es ging und kurbelte das Fenster herunter. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«, erkundigte sich der Bobby freundlich. Mike nickte. »Alles klar, thank you«, erwiderte er. »Sie sind ziemlich bleich!« »Mir ist gerade eingefallen, dass ich Marys und meinen Hoch zeitstag vergessen habe... Ich habe ihn völlig verschwitzt. Und heute morgen hat sie mich immer so seltsam angesehen, so erwartungs voll... Oh, ich Idiot! Wissen Sie, wir sind nämlich erst seit einem Jahr verheiratet...« Jetzt lächelte der Bobby und dabei entblößte er zwei Reihen prächtiger Zähne. »Na, dann kann ich verstehen, warum Sie bleich sind, Sir!« Er tippte an seinen Helm und ging weiter. Mike nickte ihm noch einmal zu, dann legte er den ersten Gang ein. Rasch ließ er die Kupplung kommen. Und jetzt? Wie soll es jetzt
weitergehen? Ich weiß, dass ich einen Geist zum Verbündeten habe -, aber dieser Verbündete schweigt sich aus.
Sekundenlang versuchte er, noch einmal Kontakt mit seinem un heimlichen Gesprächspartner von vorhin zu bekommen, aber es gelang ihm nicht. »Sei's drum«, murmelte er kopfschüttelnd. Dann besann er sich darauf, dass er ein waschechter Brite war und dass er als solcher auch in außergewöhnlichen Situationen die Fassung zu wahren wusste. Das wirkte. Er wurde ruhiger. »Wäre ja noch schöner, wenn ich mich von einem Geist beeindru cken lassen würde!«, sinnierte er halblaut vor sich hin. »Jetzt steht 43
erst einmal der Besuch bei Miss McCallum auf der Tagesordnung!« Er atmete tief durch. Er war wieder okay. Grinsend trat er das Gaspedal tiefer durch. Die 150 Pferdestärken des Vierzylinder-Zweiliter-Motors machten sich nachdrücklich bemerk bar. Der Lotus machte einen Panthersatz nach vorn. Nach zehnminütiger Fahrt war Mike an Ort und Stelle. King's Road 429 war ein mehrstöckiges Appartementhaus, das sich wohltuend von den benachbarten Appartements und Geschäftspa lästen unterschied. Es stand in einem kleinen Garten. Eine hohe, dichte Hecke und massige Tannen schützten es vor all zu neugierigen Blicken und dem Schmutz und Lärm der belebten Ge schäftsstraße. Mike stieg aus. An dem verschnörkelten Gittertor, das ihm den Zu tritt zum Grundstück verwehrte, drückte er eine Klingel. Offenbar wur de das Haus nur von einer einzigen Person bewohnt: von Miss McCal lum. »Wer sind Sie - und was wollen Sie?«, knarrte eine unfreundliche Männerstimme aus der Sprechanlage. »Mein Name ist Logan. Mike Logan. Ich möchte mit Miss McCallum sprechen. Es betrifft ihre Schwester Angela.« Nach kurzem Schweigen kam die Antwort: »Kommen Sie!« Ein kaum hörbares Summen ertönte und das Gittertor schwang nach innen. Mike setzte sich in Bewegung. Er wusste, dass er jetzt vom Haus aus beobachtet wurde, aber das war ihm gleichgültig. Als er die Haustür erreichte, wurde er bereits von einem unter setzten Muskelmann erwartet, an dem alles gewaltig und grobschläch tig wirkte. Bis auf das Gesicht. Das war lang gezogen und knochig, die Augen klein und wässrig. Augenbrauen und Wimpern fehlten völlig. Das Haar war kurz geschoren und schmutzigbraun und stumpf. Er er innerte Mike auf fatale Weise an Mrs. Peters' Butler... Mike versuchte es auf die freundliche Tour, obwohl er diesen Menschentyp kannte. Der reagierte nicht auf Freundlichkeit. »Hallo!« 44
Der Massige zeigte sich unbeeindruckt, wie erwartet. Zumindest darin unterschied er sich von James. Noch immer bemühte er sich, wie ein stilechter hochherrschaftlicher Butler zu wirken. »Das, was Sie zu sagen haben, können Sie mir sagen, Sir!«, sagte er mit unfreundlicher Stimme. »Hören Sie, Meister«, erwiderte Mike immer noch freundlich. »Ich bin gekommen, weil ich Carolin McCallum sprechen möchte. Und das möchte ich immer noch. Melden Sie mich, bitte!« »Hören Sie schlecht? Sie können sich mit all Ihren Anliegen ver trauensvoll an mich wenden! Miss McCallum wünscht nicht gestört zu werden.« Mike sah ihn nur an und in seinem Blick lag eine stumme War nung. Der Massige verstand sie. Hinzu kam, dass er seine Anweisun gen zu haben schien: kein Aufsehen, keinen Streit. Er verneigte sich also leicht und sagte: »Okay, ich werde Sie anmelden, Mr. Logan.« Der Butler ging Mike voran und führte ihn durch eine Halle. Von der holzgetäfelten Decke hingen große Kristallkronleuchter. Auf dem Boden lagen die Orientteppiche übereinander. Auch hier hatte der In nenarchitekt Prunk mit Geschmack verwechselt und die Hausherrin hatte dies akzeptiert. Mike stellte fest, dass sich die Schwestern in ei nigen Punkten sehr ähnlich sein mussten. Carolin McCallum hielt sich in einem verhältnismäßig kleinen, mit antiken Kostbarkeiten überfüllten Zimmer auf. Sie saß in einem Roll stuhl und obwohl es in dem Zimmer viel zu warm war, lag eine Fellde cke über ihren Beinen. Sie hob ihren Kopf, sah von dem Buch auf, in dem sie gerade noch gelesen hatte und musterte Mike von Kopf bis Fuß. Mike fand, dass sie ihrer Schwester ähnlich sah, obwohl sie mindestens fünfzehn Jahre älter war. Sie war hübsch, schlank. Ihr Gesicht war schmal und diesen Eindruck vermittelten besonders die großen Rehaugen - aus drucksstark. Jetzt allerdings blickten diese Augen nicht sanft, sondern hart. Die ganze Haltung der Frau signalisierte Ablehnung. »Treten Sie näher, Mr. Logan«, sagte sie anstelle einer Begrü ßung, nachdem sie ihre Musterung beendet hatte. Mike kam der Aufforderung nach. 45
»Wie ich sehe, haben Sie sich von George nicht sonderlich beein drucken lassen.« »Ich bin nicht schreckhaft, Madam. Außerdem: Er ist ein zuvor kommender Butler«, erwiderte er nicht ohne Sarkasmus in der Stim me. Carolin McCallum lächelte schmal und freudlos. Lautlos, wie auf Samtpfoten, verließ George den Raum. Carolin McCallum richtete sich in ihrem Rollstuhl halb auf. Ihr Blick war unverwandt auf Mike gerichtet. »Sie sind nicht von der Polizei«, stellte sie unvermittelt fest. Er hielt ihren harten, forschenden Blick stand. »Nicht direkt, Miss McCallum. Ich bin Privatdetektiv, aber zur Zeit arbeite ich mit Scotland Yard eng zusammen. Inspektor Ben Murray wird Ihnen das jederzeit bestätigen.« Er zeigte ihr seinen Ausweis. »Ich glaube Ihnen, Mr. Logan.« Sie ließ sich wieder in den Roll stuhl zurücksinken. Jetzt wurde ihr Gesicht um eine Spur weicher, ob gleich der bittere Zug um ihre Mundwinkel blieb. »Sie wissen, weshalb ich gekommen bin, nicht wahr, Miss?«, stell te Mike fest. Langsam, bedächtig nickte sie. Ihre Finger glitten über die Fellde cke und nestelten daran. »Ja, ich weiß es«, gab sie dann mit brüchiger Stimme zu. »Sie ist tot. Angela ist tot.« Mike ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Er hatte mit seiner Frage einen Schuss ins Blaue abgegeben - und prompt ins Schwarze getroffen. Seine Nerven spannten sich an. »Wie - wie ist sie gestorben?«, wollte Carolin McCallum wissen. Sie schien sich bereits wieder voll unter Kontrolle zu haben, denn jetzt klang ihre Stimme wieder ruhig und unbeteiligt. »Herzversagen«, sagte er nur. Er beobachtete jede Regung in ih rem Gesicht, jede Bewegung ihrer Hände. Aber ihr Erstaunen war echt. »Herzversagen«, wiederholte sie langsam. Mike ging nicht darauf ein. »Woher wissen Sie vom Tode Ihrer Schwester?« »Von Angelas Mann.« 46
»Von Mr. Peters?« »Ja.« »Er war hier - hier bei ihnen?« »Ja.« »Darauf werde ich noch zurückkommen. Aber sagen Sie mir: Wo her wusste Mr. Peters vom Tode seiner Frau? Der Leichnam ihrer Schwester wurde erst vor knapp drei Stunden entdeckt...« »Sie sagten, dass Angie an Herzversagen gestorben sei. Aber mir scheint, dass Sie dennoch nach einem Täter suchen...« »Vielleicht stimmt das tatsächlich, Miss McCallum. Wollen Sie mir jetzt bitte meine Frage beantworten?« Sie lachte bitter auf. »Ich weiß zwar nicht, was ich von Ihrer selt samen Andeutung zu halten habe, aber ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, Mr. Logan.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte er sanft. Jetzt wich sie seinem Blick aus. »Ich werde reden«, sagte sie noch einmal, wie um sich selbst Mut zu machen. Mit einem seidenen Ta schentuch tupfte sie zwei große Schweißperlen von ihrer Stirn. »Robert... Mr. Peters und ich - wir waren befreundet. Nach dem Streit mit Angie kam er zu mir. Er wollte sich aussprechen. Er brauchte Trost. Er sah schrecklich aus, um Jahre gealtert. Robert liebte Angie über alles und sie - sie trat seine Liebe mit Füßen. Sie hatte zahlreiche Verehrer... Nun, vorgestern eröffnete Angie ihm, dass er seine Koffer packen könne. Das hat er einfach nicht verkraftet. Er kam zu mir, völlig be trunken. Ich bat ihn, die Nacht hier zu verbringen, schließlich ist mein Haus groß genug. Er blieb. Gegen vier Uhr brachte George ihn in eines der Gästezimmer. Vorhin, während wir frühstückten, wurde Robert angerufen - angeblich von einem seiner Nachbarn. Der Mann erzählte ihm, dass die Polizei bei ihm zu Hause sei und dass Angela...« Carolin McCallums Stimme war immer leiser geworden und jetzt verstummte sie ganz. »Wann genau ist Mr. Peters gestern Abend zu Ihnen gekommen?« »Kurz nach 21 Uhr.« »Und er war die ganze Nacht über hier?« 47
»Ja. Das kann ich bezeugen.« »Und wo ist er jetzt?« »Nach diesem Anruf ist er gegangen. Er - er hat mir nicht gesagt, wohin...« Sie brach ab und musterte ihn. »Wollen Sie mir jetzt nicht endlich sagen, warum Sie mir all diese Fragen gestellt haben? Schließ lich habe ich ein Recht darauf, dies zu erfahren! Wird Robert etwa verdächtigt, Angie umgebracht zu haben...? Aber - aber sie ist doch an Herzversagen gestorben...« »Das ist richtig. Und Mr. Peters hat Stunden vor Eintritt ihres To des das Haus verlassen. Das hat James, der Butler Ihrer Schwester, bestätigt. Und Sie bestätigen, dass er die ganze Nacht in Ihrem Haus gewesen sei. Somit hat Mr. Peters glaubhafte Entlastungszeugen und Alibis. Hinzu kommt, dass Ihre Schwester eines natürlichen Todes ge storben ist. Weshalb also sollte ich Mr. Peters verdächtigen?« Sie schien den Doppelsinn seiner Worte überhört zu haben. »Dann - dann waren es also nur Routinefragen?«, vermutete sie. »Genau das, Miss McCallum.« »Da all Ihre Fragen beantwortet sind, nehme ich an, dass Sie jetzt gehen wollen, Mr. Logan...« »Erlauben Sie mir noch eine Frage. Ihre Schwester - Sie haben sich nicht sonderlich gut mit ihr verstanden... Habe ich recht?« »Sie sind unverschämt, Mr. Logan. Ich - ich werde Ihnen diese Routinefrage nicht beantworten! Gehen Sie! Verlassen Sie mein Haus!« »Sorry, Miss McCallum. Die Frage war wirklich unverschämt.« Und überflüssig, setzte er in Gedanken hinzu. Durch Ihr Verhalten
haben Sie mir die Antwort ja schon längst gegeben...
»George wird Sie hinausbegleiten!«, sagte sie steif. »Zu liebenswürdig, Miss!« *
Angst und ein entsetzlicher Ekel vor sich selbst trieben Clark Ashley vorwärts. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn, aber er beachtete dies nicht. 48
Mit großen Schritten hetzte er die knarrenden Stufen empor.
Ich muss es verhindern! Sie darf nicht sterben! Es darf nicht ge schehen! Wie Donnerschläge hallten diese Worte immer wieder in sei
nem Gehirn. Keuchend und mit schmerzenden Lungen kam er im ersten Stock an. Der dunkle Korridor, in dem es muffig roch, jagte ihm noch mehr Angst ein. Überall glaubte er lauernde Gestalten zu erkennen... Aber da war niemand. Die Gestalten existierten nur in seiner aufgepeitsch ten Phantasie. Endlich - da war seine Wohnung. Er kramte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und sperrte die Tür auf. Er trat ein. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss und in fliegender Hast drehte er den Schlüssel zweimal herum. Mit einigen hastigen Schritten war er beim Telefon, das auf einer einfachen Kommode im Wohnzimmer stand. Überhaupt war in dieser Wohnung alles einfach und ärmlich - so, wie es eben in der Regel in billigen und möblierten Wohnungen aussah. Clark Ashley war nicht gerade das, was man vermögend nennt. Erst vor drei Wochen war er aus dem Gefängnis entlassen worden, in dem er ein halbes Jahr gesessen hatte. Voller Zuversicht und Hoffnung und guter Vorsätze hatte er sich in das zurück gewonnene Leben ge stürzt. Er war einmal gestrauchelt, okay. Dafür hatte er sechs Monate lang bezahlt. Ein zweites Mal würde ihm das nicht mehr passieren. Er würde ein ordentliches Leben beginnen. Und Margaret, seine Stiefmut ter, musste ihm dabei behilflich sein. Er würde das tun, was er noch nie zuvor getan hatte: Er würde sie darum bitten, ihm zu helfen. Margaret war reich, sie besaß mehr Geld als Haare auf dem Kopf. Nun, er hatte seine Stiefmutter um Hilfe gebeten. Auf Knien hatte er sie angefleht, ihm eine Chance zu geben. Oh, er hatte nichts ge schenkt haben wollen... Bis auf den letzten Penny hätte er ihr alles zurückgezahlt, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Er war jung und stark und er konnte und wollte arbeiten, ehrlich arbeiten. Aber sie hatte ihn nur ausgelacht und ihm in ihrer arroganten Art erklärt, dass er es ohnehin nie schaffen würde, ein vollwertiges 49
Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Und dann hatte sie ihn aufgefordert, zu verschwinden. Er war gegangen. Wortlos, verbittert und verzweifelt war er in die Regennacht hinausgegangen... Und das Verhängnis hatte seinen Lauf genommen. Wie in Trance war er durch die einsamen Straßen Lon dons geirrt - so lange, bis er die Stimme vernommen hatte. Diese un heimliche Stimme, die seinen Hass hoch gepeitscht - und ihm gleich sam versprochen hatte, ihm zu seiner Rache zu verhelfen. Er hatte sich der Stimme unterworfen, bedingungslos, ohne zu fragen. Er hatte die Augen geschlossen, hatte sich führen lassen. Und dann war er dem Mann gegenübergestanden, der sich Meister nannte. Nur wenige Minuten hatte es gedauert, dann war der Handel perfekt gewesen. Er hatte einen Pakt mit dem Makler des Todes geschlossen. Einen Pakt, der seiner reichen, arroganten Stiefmutter den Tod bringen wür de. Seither waren drei Wochen vergangen. Morgen würde der Todes bote zu Margaret kommen... Clark Ashley zuckte zusammen. Die Erinnerung, diese schreckliche Erinnerung, hatte ihn wieder eingeholt. Bitter lachte er auf, während sich seine Finger um den Telefonhörer krampften. Er hatte versucht, den Meister ausfindig zu machen, noch einmal persönlich mit ihm sprechen zu können. Es war ihm nicht gelungen. Also blieb ihm jetzt nur noch diese Möglichkeit. Er musste ihn anru fen... Er hatte Margarets Tod gewollt, ja, so sehr hatte er sie gehasst. Aber jetzt war alles anders. Der Hass war verschwunden, hatte der Vernunft Platz gemacht. Jetzt wollte er nicht mehr, dass sie starb. Er wollte sein Gewissen nicht mit einem Mord belasten. Sie durfte nicht sterben. Er musste es verhindern! Um jeden Preis! Er hatte sich vor genommen, ein ehrliches Leben zu leben und diesen Vorsatz würde er irgendwie in die Tat umsetzen. Auch ohne das Geld seiner hartherzi gen Stiefmutter. Er hatte seinen Entschluss gefasst und jetzt gab es nichts mehr zu überlegen. Er musste handeln und zwar jetzt sofort. Mit einem Ruck nahm er den Hörer ab und wählte. 50
Es dauerte nicht lange, bis der Meister sich meldete. Und jetzt war Clark Ashley ganz ruhig. »Ich ziehe meinen Auftrag zurück! Ich - ich löse den Pakt! Hören Sie, Meister?« Kurzes Schweigen. »Sind Sie das, Mr. Ashley?« »J-ja, Meister.« »Und Sie wollen den Pakt tatsächlich lösen? Obwohl Sie Ihren Tri but bereits entrichtet haben? Obwohl Sie zehn Jahre Ihres Lebens ge geben haben, um Ihrer Rache willen?« »Mein Entschluss steht fest, Meister!«, erwiderte Ashley, obwohl es ihm schwer fiel, dies zu sagen. »Wenn - wenn sie stirbt, dann wer de ich reden, Meister! Ich werde mich der Polizei stellen!« »Niemand wird Ihnen glauben, Sie Narr!« »Dennoch, ich werde es darauf ankommen lassen!« Ashley blieb hart! »Es war töricht von Ihnen, mich herauszufordern! Bisher hat es noch kein Sterblicher gewagt, mir zu drohen! Sie sind ein Dummkopf, Ashley!« Böse lachend legte der Meister auf. Verdutzt starrte Ashley den Hörer in seiner Hand an. Noch immer gellten die höhnischen Worte und das grausame, böse Lachen in sei nen Ohren. Die Angst - plötzlich war sie wieder allgegenwärtig. Clark Ashley begriff, dass er einen Fehler, einen tödlichen Fehler begangen hatte. Das nackte Grauen griff nach ihm... Ein Geräusch! Gehetzt fuhr er herum -, aber da war nichts und niemand zu se hen. Dennoch wusste er instinktiv, dass er in Lebensgefahr schwebte. Flucht war sinnlos. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er brauchte Hilfe... Clark Ashleys Kehle war pulvertrocken. Er schluckte, aber das än derte nichts daran. Dann begann er wieder zu wählen - dieses Mal die Nummer von New Scotland Yard. * Wenn die Situation nicht so todernst gewesen wäre, hätte Inspektor
Ben Murray bester Laune sein können. Er hatte die nervtötende Ausei
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nandersetzung mit Superintendent Rüssel nach Punkten haushoch ge wonnen. Ja, irgendwie war es ihm doch noch gelungen, den neunmal klugen Chef zu überzeugen. Rüssel hatte grünes Licht für weitere Er mittlungen in der Sache der Mitternachts-Toten gegeben. Das war immerhin ein mittelprächtiges Wunder. Murray war sich dessen vollauf bewusst. Mit Schwung betrat er das kleine, helle Büro, das im vierten Stockwerk des neuen Yard-Gebäudes in der Victoria Street lag. Assis tent-Inspektor Porter, mit dem er sich dieses Büro teilte, sah auf. »Gibt's irgend etwas Neues?«, erkundigte sich Murray in seiner schrulligen Art. Porter zuckte die Schultern. Er blieb unbeeindruckt, sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, wie immer. »Ich denke, dass ich das Sie fra gen müsste, Chef!« »Na ja, wie man's nimmt. Wir bleiben am Ball. Rüssel gibt uns Rü ckendeckung!« Porters Augenbrauen hoben sich leicht. »Sie haben es also wieder einmal geschafft, Sir. Gratuliere!« »Nun werden Sie mal nicht feierlich, Porter! Wir haben uns mit dieser Angelegenheit eine Menge Arbeit aufgeladen...«, wehrte Murray ab und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Er ließ sich auf den har ten Stuhl fallen, zog das Telefon heran und hob ab. Mrs. Courry, seine Sekretärin, meldete sich augenblicklich. »Sir?« »Ich habe eine Fleißaufgabe für Sie, Mrs. Courry und zwar eine mit der Dringlichkeitsstufe l. Stellen Sie fest, wer in den vergangenen drei Monaten kurz nach Mitternacht eines natürlichen Todes gestorben ist. Wenn Sie fündig werden, die Akte jeweils umgehend auf meinen Schreibtisch.« Mrs. Courry war seit fünfundzwanzig Jahren beim Yard tätig. Sie mochte sich über Murrays Auftrag wundern, aber sie stellte keine un nötigen und zeitraubenden Fragen. Hinzu kam, dass sie Murray kann te. Wenn der so redete, dann hatte er es mächtig eilig. »Okay, Sir«, sagte sie zackig und legte auf. 52
Murray brummte zufrieden. Er war gerade im Begriff, aufzustehen, aber dazu kam er nicht mehr. Das Telefon klingelte. Unwillig nahm er ab und meldete sich. »Zentrale, Sir. Ich lege Ihnen ein Gespräch hoch. Ein junger Mann. Hört sich mächtig nervös an.« »Okay!« Ein Knacken in der Leitung zeigte an, dass verbunden wurde. Dann waren keuchende Atemzüge zu hören. »Hier Inspektor Murray, Scotland Yard«, meldete sich Murray. »Ashley«, sagte der Anrufer. »Mein Name ist Clark Ashley. Sie Sie müssen mir helfen, Inspektor! Er will mich umbringen, weil ich ihm gedroht habe... Ich habe Angst! Ich weiß, dass er mich töten lassen kann! Er praktiziert mit - Geistern! Er...« »Mit Geistern?« Murray fuhr wie elektrisiert von seinem Sessel hoch. »Bitte, Sir, bitte glauben Sie mir! Ich bin nicht besoffen und ich er laube mir auch keinen Scherz! Helfen Sie mir!« Seine Stimme über schlug sich. Die Angst dieses Mannes war echt. Der erlaubte sich keinen schlechten Scherz mit Scotland Yard, das war Murray klar. »Natürlich helfe ich Ihnen, Junge«, sagte er so ruhig wie möglich. »Wo wohnen Sie?« »Royal Hospital Road 463, erster Stock! - Und Sie kommen wirk lich? Sie glauben mir?« »Natürlich glaube ich Ihnen. Oder glauben Sie, ich reiße hier auf Ihre Kosten dumme Witze?«, versetzte Murray eine Spur schroffer als beabsichtigt. An Porter gewandt, zischte er: »Sofort einen Wagen in die Royal Hospital Road 463, erster Stock! Beeilung, Mann!« Porter sprang auf und rannte los. »Alles klar, Mr. Ashley, ein Wagen ist bereits unterwegs. Nutzen wir die Zeit: Reden Sie. Wer will Sie umbringen? Und warum? Wie pas sen die Geister in dieses Puzzle?« »Ich will Ihnen das alles sagen, Inspektor! Er - er nennt sich Meis ter und er ist es, der die Aufträge entgegennimmt. Man schließt einen Pakt... Die Geisterprinzessin verlangt Tribut, man muss ihr...« 53
Plötzlich war ein schrilles Kreischen zu hören, Glas splitterte. Dumpfe, verzerrte Stimmen sangen... Dann Ashleys überschnappende Stimme: »Hilfe! Inspektor, helfen Sie mir... Sie sind gekommen! Sie sind da! Ahhh...« »Ashley! Ashley - verdammt!« Im gleichen Moment war die Leitung tot. Ashleys Apparat musste zerstört worden sein! In Murray kam Bewegung. Er knallte den Hörer auf die Gabel und rannte zur Tür. In Gedanken überschlug er die Strecke Victoria Street Royal Hospital Street. Das Resultat war niederschmetternd! Sowohl Porter als auch er selbst mussten diesen Wettlauf verlieren. Clark Ash ley stand seinem Mörder gegenüber und der Yard war machtlos! Es war zum aus-der-Haut-fahren! Murray zerbiss einen kernigen Fluch zwischen den Zähnen und rannte noch schneller. * Mike fuhr über die Chelsea Bridge Richtung Pimlico und Victoria Street. Ein Kriegsrat mit Murray schien ihm jetzt mehr als angebracht. Nach seinem Besuch bei Carolin McCallum hatte er die trauernden Angehörigen der anderen drei Opfer aufgesucht. Erwartungsgemäß hatte sich niemand als potentieller Mörder und Geisterbeschwörer zu erkennen gegeben. Das Resultat stand also vorerst fest: Die Ermittlun gen steckten in einer verflixten Sackgasse. Daran war nicht zu kneten. Mittagszeit. Die Sonne knallte unbarmherzig vom Himmel. Der As phalt wurde weich. Die Passanten schimpften über die Hitze und such ten den Schatten. Die Autofahrer hatten verbissene, schweißüber strömte Gesichter. Auch in Mikes Lotus war es stickig heiß. Er hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt, aber das brachte kaum Linde rung. Die Hitze war allgegenwärtig. Noch während er das Wetter verfluchte, das von einem Extrem ins andere fiel, spürte er den ziehenden Schmerz in seinem Kopf. Dieses Mal war es nicht so schlimm... Mehr wie eine unsichtbare, sanfte Be rührung. 54
Mike hielt den Atem an und entspannte sich. Er öffnete seinen Geist... Und der Schmerz verklang. An seine Stelle trat die Stimme, die er heute morgen schon einmal gehört hatte...
Dir bleibt nicht viel Zeit, Mike Logan... Schnell... Royal Hospital Road 463, erstes Stockwerk... Clark Ashley... Die Prinzessin der bösen Geister tötet ihn... Schnell!
Dieses Mal stellte Mike keine einzige Frage. Er handelte. Die Royal Hospital Road war nur einen Katzensprung von hier entfernt. Mike trat das Gaspedal tief durch. Der Lotus zog an. Mike überholte. Hinter ihm hupten ein paar der sonst so disziplinierten englischen Gentlemen. Er hörte gar nicht hin. »Wahnsinn«, murmelte er. Trotzdem die geheimnisvolle Botschaft hatte ihn ganz schön aus seiner gewohnten Gelassenheit gerissen. Mit kreischenden Pneus bog er von der Chelsea Bridge Road in die Royal Hospital ein. Sein Blick suchte nach den Hausnummern. Dort drüben 356. Also: weiter! Dann endlich sah er die Hausnummer 463. Trotz des hektischen Mittagsverkehrs fand er einen Parkplatz. Er stellte den Lotus hin, zog die Handbremse an und stieg aus. Dann hetzte er los. Einige Passanten sahen ihm verwundert nach. Kein Wunder, trös tete sich Mike. Sprint-Rekorde werden in good old London nicht jeden Tag gebrochen... Sein Sarkasmus war wieder da. Ein gutes Zeichen. Was würde ihn oben, im ersten Stock, erwarten? Unwillkürlich sah er an dem Wohnblock hoch. Es war ein alter Bau, die Fassade war schmutzig-grau, hier und da bröckelte sie bereits ab. In diesem Menschensilo wohnte gewiss nicht die Creme der Cre me. Mike erreichte die Halle. Da - die Treppe. Er rannte los, nahm im mer drei Stufen auf einmal. Und dann war er im ersten Stock oben. Stille - Dunkelheit. In diesem Korridor gab es keine Fenster. Mikes Rechte tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn. Mit ei nem überlauten Klacken flackerte die Deckenbeleuchtung auf. In diesem Moment spürte er die Kälte! Weiter, Mike, weiter!, drängte die Gedankenstimme in seinem Kopf. Die dritte Tür links... Vielleicht ist es noch nicht zu spät! 55
Mike erreichte die Tür. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihm aus. Ein Unsichtbarer schien Eiswasser in seinen Nacken zu träufeln. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Und er wusste, warum. Weil er sich plötzlich mächtig hilflos und dumm vorkam. Wie kämpfte man gegen böse Geister? Er hatte keine Ahnung! Trotzdem zögerte er nicht mehr länger. Er klopfte. Keine Antwort. Schweigen. Und dann - ein verhaltenes Stöhnen. Mike rüttelte an der Tür. - Sie war verschlossen! »Mr. Ashley!«, brüllte Mike. Auf eine Antwort wartete er erst gar nicht mehr. Er warf sich mit voller Kraft gegen die Tür. Sie ächzte und knirschte in den Angeln aber sie gab nicht nach. Mike ignorierte seine schmerzende Schulter und nahm einen zwei ten Anlauf. Dieses Mal schaffte er es! Das Holz splitterte aus den Angeln und Mike krachte mit der Tür in den Raum hinein. Geschmeidig rollte er sich seitwärts ab und kam wieder hoch. Dunkelheit umgab ihn! Doch da - keine drei Meter von ihm entfernt... Wie eine Präzisi onskamera nahm Mike die grauenvolle Szene in sich auf. Eine flim mernde Frauengestalt beugte sich über den Hals eines uralten Man nes... Achtlos ließ die Wesenheit von ihrem Opfer ab und schwebte her an... Die feingliedrigen Hände waren jetzt zu übergroßen Klauen ge formt. Rings um dieses Wesen wurde die Finsternis lebendig. Augen, unzählige mandelförmige Tieraugen flackerten auf... Ein animalisches Grollen war zu hören. Mike wich zurück, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Blick suchte nach Clark Ashley... Irgendwo in der Dunkelheit hinter der Geisterfrau musste er zusammengebrochen sein. Der rasselnde Atem des Mannes war deutlich zu hören. »Wer Parashthaar stört, ist des Todes«, zischte die Wesenheit hasserfüllt. »Ich werde dich meinen Lieblingen überlassen! Du wirst diesen Raum nicht mehr lebendig verlassen. Sterblicher!« 56
Die Gestalt der Frau wurde durchscheinig, milchig - und zerfloss. Zurück blieben nur diese schrecklichen Augen... Sie waren überall. Er war eingekreist! Und dann griffen die Geisterkreaturen, denen die Augen gehörten, an! * Seit Mike den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich als Schnüffler selbständig gemacht hatte, hatte er schon eine ganze Menge erlebt. Aber bisher hatte er es immer mit realen Gegnern zu tun gehabt. Dass unheimliche Wesen scheinbar aus dem Nichts heraus angriffen, das war neu! Und tödlich dazu! Er grübelte nicht darüber nach, ob und wie das möglich sein konn te. Zuviel war geschehen in den hinter ihm liegenden Stunden. Er ak zeptierte die Situation, wusste, dass das, was er sah, keine Ausgeburt seiner Phantasie war. Wusste, dass es jetzt, in diesem Moment, um sein Leben ging und das war nun einmal sein kostbarstes Hab und Gut. Er reagierte so, wie es diese Situation erforderte: eiskalt und ra send schnell. Er federte zur Seite und entging in letzter Sekunde dem Angriff des ersten Schattenwesens! Vor seinem Gesicht blitzten sekun denlang messerscharfe Krallenhände auf... Mehr war von dem Angrei fer nicht zu erkennen. Er war und blieb: ein Schatten, nur die tödlichen Klauen waren materiell! Jetzt hätte er seinen Colt-Spezial ziehen können, aber er ließ ihn dort, wo er war. In dem Schulterhalfter. Mit herkömmlichen Kugeln konnte er hier auch nichts ausrichten. Andererseits aber bestand die Gefahr, dass ein Querschläger den unglücklichen Clark Ashley treffen könnte. Mit einem wilden, zischenden Fauchen warf sich das Wesen, das ihn vor Sekundenfrist um Haaresbreite verfehlt hatte, herum... Mike konnte es nicht mehr länger im Auge behalten, denn jetzt waren auch die anderen unsichtbaren Monster heran. Etwas traf ihn an der Stirn und ein stechender Schmerz pflanzte sich durch seinen 57
Körper fort. Ein anderer Schlag ließ ihn rückwärts torkeln. Weitere Hiebe... Scharfe, blitzende Krallen zuckten vor und wieder zurück... Der Stoff seines Hemdes zerriss mit einem hässlichen Ratschen. Etwas zerrte an Mikes Haaren, riss ihn zurück... Zwei, drei, vier krallenbe wehrte Klauen versuchten, ihn festzuhalten... Ein verzweifelter Schrei brach von Mikes Lippen. Er riss und zerrte, mobilisierte seine letzten Energien und er schaffte es! Er kam frei! Keuchend schlug er um sich, während er sich aus der unmittelba ren Gefahrenzone brachte. Seine Fäuste trafen nichts. Und doch waren die unheimlichen Gegner da! Wieder prasselten Schläge auf ihn nieder! Verzweifelt deckte Mike ab. In diesen Sekunden hatte er das Ge fühl, dass dieser unwirkliche Kampf schon Stunden dauerte. Aus der Stirnwunde sickerte Blut. Rings um ihn herum wuchs die Erregung und Gier -, ganz deutlich spürte er das. Mike biss die Zähne zusammen, bis seine Kiefern schmerzten. Vor sich sah er blitzende Raubtierfänge... Wieder gelang es ihm, auszuwei chen. Aber dann schien seine Glückssträhne endgültig vorbei zu sein! Er stolperte - und fiel. Geistesgegenwärtig warf er sich herum! Dort, wo er soeben noch gelegen hatte, schlug etwas Spitzes in den Fußboden! Mike rollte weiter seitwärts weg. Er durchbrach den Kreis der Geis ter und schlug gegen die Wand. Er verbiss einen schmerzerfüllten Schrei. Fauchend und kreischend setzten die bösen Geister nach. Mikes Hände tasteten verzweifelt über den Boden. Eine Waffe - ir gendeine Waffe! Sonst war er verloren! Lange hielt er das nicht mehr durch... Seine Finger schlossen sich um einen länglichen, glatten Gegens tand... Ein Kruzifix! Es war ein Kruzifix! Vorhin, als die Geister Clark Ashley angegriffen hatten, musste es von der Wand geschlagen wor den sein! Noch zögerte Mike. Aber nur einen winzigen Augenblick lang! Dann hielt er das Kreuz hoch! Schlagartig kam der Angriff der Geister zum Stillstand. Mit inferna lischem Heulen und Jaulen, in dem die Enttäuschung deutlich mit 58
klang, zogen sich die Wesen aus dem Schattenreich zurück, bildeten eine unsichtbare Mauer, lauerten... »Mein Gott, es wirkt!«, keuchte Mike. Seine Stimme war heiser. Die Unheimlichen sollten keine Chance mehr bekommen! Mike sprang auf und ging ihnen entgegen! Das Kreuz hielt er mit beiden Händen ausgestreckt vor sich. Damit war der ungleiche Kampf entschieden! Die Finsternis zer riss! Tageslicht flutete wieder in Clark Ashleys Wohnung. Die Geister waren verschwunden und mit ihnen die undurchdringliche Dunkelheit. Das Tageslicht war wie eine Erlösung. Mike stieß den Atem aus seinen Lungen und sah sich um. Chaos umgab ihn. Das gesamte Mobi liar war zerschmettert. Und inmitten der Trümmer lag der Mann, der vermutlich Clark Ashley war. Mike machte einen Schritt vorwärts. Erst jetzt fühlte er, wie schwach er war. Seine Knie waren so weich wie Pudding. Er schüttelte den Kopf, als wolle er damit die Erschöpfung ab schütteln. Irgendwie gelang ihm dies sogar. Er kniete neben Ashley nieder und prallte zurück! Vor ihm lag der ausgemergelte Körper eines Greises. Das Gesicht des Mannes war völlig eingefallen, die unnatürlich bleiche Haut spann te sich wie Pergament über den Knochen. Langes schlohweißes Haar fiel strähnig bis auf die knochigen Schultern nieder. Behutsam bettete Mike den Kopf des Mannes auf seinen Schoß. »Mr. Ashley! - Mr. Ashley, können Sie mich hören?« Ein leichtes Zittern durchlief den Körper des Mannes. In die stumpfen Augen kam wieder Leben, ein Funke glomm darin auf. »Ist ist sie weg?«, fragte er leise. »Die Geisterfrau? - Ja, sie hat es vorgezogen, zu verschwinden!« »Sie haben sie verjagt...« »Anfängerglück!« Ashley lächelte schwach. »Ich - ich weiß, dass ich bald sterben werde. Ich... Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, flüsterte er kaum hörbar. Mike beugte sich vor. Beruhigend strich er Clark Ashley über die schweißnasse Stirn. »Ganz ruhig, Mr. Ashley. Ganz ruhig.« 59
Ashley nickte. Gleich darauf schüttelte ein Hustenanfall seinen Körper. »Wie konnte das geschehen?« Ganz ruhig und sanft stellte Mike diese Frage. Er wollte nicht, dass sich der alte Mann unnötig auf regte. »So - so viel ist noch zu sagen. So viel... Keine Zeit mehr... Ich wollte Margaret Ashley ermorden lassen... Gab dem Meister einen Auf trag, schloss einen Pakt. Zehn Jahre meines Lebens...« Ashley brach ab. Sein Atem ging rasselnd und schwer. Seine rechte Hand umkrampfte Mikes Arm. »Zehn Jahre...«, sagte er dann noch einmal. »Die Geister... Ich wollte den Mordauftrag zu rückziehen... Drohte dem Meister. Das - das war mein Fehler. Ich hät te ihm nicht drohen dürfen!« Wieder musste er husten. Dann, plötzlich, richtete sich der Sterbende mit letzter Kraft auf und sah Mike fest in die Augen. »Erfüllen Sie mir eine Bitte...«, bat er und jetzt war seine Stimme fast jugendlich und fest. »Sagen Sie das alles Mrs. Ashley. Und - und sagen Sie ihr, dass ich doch ein gutes Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden sei. Ich - ich hatte keine echte Chance... Aber ich hätte es geschafft... Sagen Sie es ihr, denn ich...« »Ich werde es ihr sagen«, versprach Mike. Seine Stimme war be legt. »Dann ist alles gut, Danke, Mister...« Ein letztes Mal bäumte sich Clark Ashleys Körper auf, dann erschlaffte er. Er war tot, aber auf sei nem uralten, weisen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Vorsichtig ließ Mike den zerbrechlich wirkenden Körper niedersin ken. Er fühlte sich leer und ausgebrannt und er war unzufrieden mit sich selbst. Obwohl er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, dem alten Mann zu helfen. Während er sich aufrichtete, wirbelten Ashleys Worte in seinem Gehirn. Aber er fand jetzt keine Zeit, sie in Ruhe zu überdenken. Draußen, im Korridor, wurden Schritte laut, sie kamen rasch nä her. Mike wandte sich um und sah zur Türöffnung hinüber. Sekunden später erschienen dort Murrays Assistent-Inspektor Porter und zwei uniformierte Beamte. Die Gesichter der Yard-Männer wurden aschfahl, als sie das Chaos erblickten. 60
»Um Himmels willen - was ist denn hier passiert?«, keuchte Porter fassungslos. Während die beiden Beamten wachsam, lauernd an der Tür ste hen blieben, betrat Porter die Wohnung. Er ging neben dem reglos liegenden Clark Ashley in die Hocke und fühlte nach dessen Herz schlag. »Er ist tot«, sagte Mike rau. »Und wie ist er gestorben? So, wie es hier aussieht, kann ich wohl schlecht auf Altersschwäche tippen!« Porter richtete sich wieder auf. In seinen dunklen Augen flammte Misstrauen. »Es wird wohl besser sein, wenn Sie Ihren Chef rufen«, schlug Mi ke ausweichend vor. Mit einem Ausdruck kühler Missbilligung hob Porter seinen Kopf. Überraschenderweise protestierte er jedoch nicht. Im Gegenteil, er meinte mit einiger Gelassenheit: »Wie ich den kenne, ist er bereits mit Blaulicht und einem Affenzahn hierher unterwegs. Wir werden uns also nicht allzu lange gedulden müssen.« »Aber woher weiß er denn überhaupt, dass wir hier sind?« »Mr. Ashley hat ihn vor wenigen Minuten angerufen und um Hilfe gebeten«, erwiderte der Inspektor knapp. »Aber erlauben Sie mir eine ähnliche Frage, Mr. Logan. Wie kommt es, dass wir Sie hier antreffen? Sie konnten doch unmöglich wissen, dass...« Mike unterbrach ihn sanft, aber bestimmt. »Das werde ich nach her erzählen, wenn Murray da ist. Ich will, dass er dabei ist. Bitte, ha ben Sie dafür Verständnis!« * Sechs Minuten später traf Murray am Tatort ein. Keuchend und mit krebsrotem Gesicht stürmte er in die demolierte Wohnung - und blieb stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hin dernis gerannt. Mit einem Male wirkte er müde, kraftlos und verbittert. Er war zu spät gekommen, er hatte einem Mann, der ihn um Hilfe angefleht hat te, nicht helfen können. Wahrscheinlich war es das, was ihm jetzt zu 61
setzte. Mike konnte den älteren Freund verstehen, denn er selbst hatte dieses scheußliche Gefühl vorhin ja ebenfalls gehabt. »Ihr seid also auch zu spät gekommen«, stellte Murray leiden schaftslos fest und starrte mit brennenden Augen auf den Leichnam Clark Ashleys. »Yeah, Chef«, bestätigte Porter gedehnt. Murray sah Mike jetzt erst. »Was machst du denn hier?«, entfuhr es ihm. Unwillkürlich kaute er hastiger auf seinem unvermeidlichen Kau gummi herum und das tat er nur, wenn er besonders erregt war. »Was hältst du davon: Ein guter Geist hat mir einen heißen Tipp gegeben...« »Lass die Witze!« »Das war kein Witz, Ben.« Murray musterte Mikes ernstes Gesicht und wurde nachdenklich. »Donnerwetter!«, brummte er endlich. Porters Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Man sah ihm an, dass er überhaupt nichts mehr verstand. »Chef, glauben Sie ihm etwa die Geschichte? Der verulkt Sie doch...« »Okay, okay, Porter, lassen Sie das meine Sorge sein.« Er drehte sich zu seinem Assistent-Inspektor um. »Setzen Sie die Maschinerie in Trab. Rodgers soll die Leute von der Mordkommission und den Doc benachrichtigen. Warrenfield, Sie bauen sich draußen vor der Tür auf. Ich will hier keinen einzigen neugierigen Gaffer sehen. Und Sie, Porter, Sie bringen mir die Papiere des Toten«, setzte er noch hinzu. Murray nahm Mike beim Arm und bugsierte ihn in die Küche. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sagte er: »Okay. Du bist mir schon wieder um Nasenlängen voraus. Du wirst mir jetzt also erzählen, wie du hierher gekommen bist - und was hier geschehen ist!« Mike informierte den Inspektor über die unheimlichen Geschehnis se. Ohne die Miene zu verziehen, hörte Murray zu. Offenbar hatte er sich insgeheim schon auf eine derart phantastische Geschichte vorbe reitet. Oder er war einfach schon so abgebrüht, dass ihn nichts mehr erschüttern konnte. Bei Murray konnte man nie wissen... 62
»Du kannst mir das jetzt glauben - oder mich zum Psychiater schi cken, Ben. Aber genauso hat es sich zugetragen«, schloss Mike seine präzise Schilderung. Murray kniff seine Froschaugen zusammen. »Seit wann hast du denn Komplexe?« »Komplexe - ich? Wie meinst du denn das?« »Du scheinst das, was du mit eigenen Augen gesehen hast, immer noch nicht ganz fassen zu können«, räumte Murray ein. Mike seufzte. »Zugegeben, das Ganze hat mein Weltbild umge krempelt.« »Kann ich mir vorstellen.« Murray lächelte niederträchtig. »Aber ich habe dich gewarnt. Du hast gewusst, worauf du dich einlässt, wenn du bei diesem Fall mitmischst. Und außerdem...« Jetzt wurde Murrays Lächeln ausgesprochen gemein. »Und außer dem wolltest du doch unbedingt einen Geist kennen lernen. Jetzt kennst du sogar schon eine ganze Horde...« »Ich habe mich nicht beklagt, Ben«, unterbrach ihn Mike ruhig. Murray wurde wieder ernst. »Sorry. Ich weiß, dass du eine harte Bewährungsprobe hinter dir hast. Ich - ich war wohl ein bisschen un fair...« »Einsicht ist der beste Weg zur Besserung!«, versetzte Mike tro cken. »Hmmm!«, brummte Murray. »Also gut. Fassen wir die Tatsachen zusammen. Wir haben einen guten Geist, der dir einen heißen Tipp gegeben hat. Weiterhin haben wir vier Leichen, einen Unbekannten, der sich Meister nennt, eine Geisterfrau namens Parashthaar, die höchstwahrscheinlich diese ominöse Geisterprinzessin ist, von der Ash ley am Telefon gesprochen hat. Und wir haben eine Menge böser Gei ster, die ihrer Prinzessin treu ergeben sind: Der Meister vermittelt den Tod durch böse Geister. Er sorgt dafür, dass der potentielle Auftragge ber einen Pakt mit der Geisterprinzessin schließt. Dann kassiert er. Parashthaar ihrerseits bekommt vom jeweiligen Auftraggeber Tribut. Die bösen Geister erledigen den Rest. Eine hüb sche These, die nur einen Nachteil hat: Sie kann durch nichts und niemand erhärtet werden. Unser einziger Zeuge ist tot...« 63
»Vorerst ist es meiner Ansicht nach wichtiger, weitere Morde zu verhindern, als irgend jemandem irgend etwas zu beweisen«, erwider te Mike hart. »Logisch. Aber wie sollen wir dieses Wunder vollbringen?« »Wir müssen den Meister finden!« »Natürlich. So einfach ist das«, polterte Murray ärgerlich. »Ist es im Grunde genommen auch. Pass auf, Ben: Du hast etwas sehr Wichtiges übersehen...« Murray sah ihn skeptisch und unsicher an. »Lass schon hören...«, bat er dann. »Ashley hat etwas von zehn Jahren gesagt. ›Zehn Jahre meines Lebens...‹, genau das waren seine Worte. Könnte er damit nicht Pa rashthaars Tribut gemeint haben?« »Du meinst, dass sich die Geisterprinzessin quasi mit Lebensener gie bezahlen lässt?« »Genau das meine ich!« »Uff!« Murray, der bis jetzt unruhig auf und ab gegangen war, ließ sich in einem Sessel fallen. »Wenn das stimmt, dann...« »... dann müsste es theoretisch recht einfach sein, den jeweiligen Auftraggeber zu ermitteln. Und über den Auftraggeber kommen wir an den Meister heran«, vollendete Mike. Sprachlos starrte Murray ihn an. »Robert Peters!«, stieß er plötz lich hervor und fuhr hoch, wie von der Tarantel gebissen. »Hast du mir vorhin nicht erzählt, dass diese Carolin McCallum ausgesagt hat, Peters habe schrecklich ausgesehen...?« »Doch. Und sie hat sich sogar noch deutlicher ausgedrückt: Er sei um Jahre gealtert gewesen...« »Dann haben wir unseren Mann!«, räumte Murray ein. »Ich werde sofort...« Es klopfte an der Tür. »Herein!«, brüllte Murray. Er hasste es, beim Kombinieren gestört zu werden. Roy Porter trat ein. Sein Gesicht war grau, er wirkte völlig ver stört. »Sorry, Chef, aber ich habe hier etwas entdeckt...« Er hob Murray schweigend einen Ausweis hin. 64
»Das ist ein Ausweis. Na und?« Murray nahm ihn an sich und blät terte darin. Und erstarrte. Auch sein Gesicht verfärbte sich. »Er - er war achtundzwanzig Jahre alt«, flüsterte er nach einer Sekunde. »Ashley?«, fragte Mike schnell und ungläubig. »Ja, Ashley!« Porter schluckte. »Chef, wie kann das möglich sein? Ich verstehe das nicht!« »Möglicherweise werde ich es Ihnen irgendwann einmal erklären, Porter. Okay, halten Sie hier die Stellung, bis unsere Kollegen kom men. Sie finden mich dann im Yard. Die Untersuchungsergebnisse und so weiter gehen wir dann morgen durch. - Kommst du, Mike?« Mike zuckte stumm die Schultern, als er Porters verzweifelten Blick auf sich gerichtet sah. Dann beeilte er sich, Murray einzuholen. »Nach dem Tempo zu urteilen, das du vorlegst, willst du wohl nach Peters fahnden lassen«, nahm Mike das Thema wieder auf, als sie nebeneinander die Treppe hinuntereilten. »Genau das will ich tun, wenn er sich in der Zwischenzeit noch nicht beim Yard gemeldet hat«, antwortete Murray. Zwei Sekunden später setzte er noch hinzu: »Es bleibt uns ja keine andere Wahl mehr. Peters muss her!« »Okay, dann bin ich also momentan entbehrlich.« »Hast du irgend etwas Bestimmtes vor? Ich meine, weil du so komisch fragst...« »Ich werde Margaret Ashley aufsuchen. Das habe ich Clark Ashley versprochen.« »Und dann?« »Dann werde ich meinen knurrenden Magen mit einem saftigen Steak versöhnen, Pflegedienst in eigener Sache machen - und morgen wieder topfit sein. Morgen werde ich mir die Angehörigen, Bekannten, Verwandten und Freunde von Glenda Merrigans, Tom Hastings und Mary Podgrim noch einmal vorknöpfen. Ich bin ziemlich sicher, dass es auch unter denen einen lieben Menschen gibt, der quasi über Nacht um zehn Jahre gealtert ist.« 65
*
Parashthaar stieß einen wilden, fauchenden Laut aus. Beißende Schwefeldämpfe wallten um sie herum im Zentrum des Drudenfußes, bläuliche Funken stoben auf. Einen Herzschlag lang zerfloss die Gestalt der Prinzessin der bösen Geister. Der Mann in der schwarzen Kapuzenkutte musste all seinen Mut zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen. Noch nie hatte er Pa rashthaar derart zornig erlebt. Aber er wusste, dass sie in diesem Zu stand unberechenbar war. Möglicherweise vergaß sie völlig, dass er ihr Partner war... Er hütete sich, diesen Gedanken weiterzuführen. Zu schrecklich war die Konsequenz, die sich daraus für ihn ergab. »Parashthaar, Prinzessin«, sagte er einschmeichelnd, als sich ihre Gestalt wieder manifestiert hatte. »Sage mir, was geschehen ist. Was hat dich verärgert? Sage es mir, bitte. Du weißt doch, dass ich dein treuer Diener bin. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um...« Mit einem schrillen, gellenden Lachen unterbrach sie ihn. »Du wirst alles in deiner Macht Stehende tun, soso. Hast du vergessen, dass du nur ein schwächlicher Erdenwurm bist? Ein Nichts, würde ich dich nicht Anteil haben lassen an meiner Macht!« »Das habe ich nie vergessen, Prinzessin«, beteuerte er eindring lich. »Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Bitte, sprich nicht so mit mir! Ich habe es nicht verdient...« »Ich hasse euch Erdenwürmer! Elendes Gezücht, das ihr seid!«, zischte sie. Wie ein bösartiges Tier sprang ihn die Angst an und tief in seinem Innersten zitterte er um sein Leben. Er hatte sich der Finsternis ver schrieben, hatte sein Leben und seine Seele dieser schrecklichen We senheit verkauft. Er war unsterblich - weder Alter noch Krankheit konnten ihm etwas anhaben. Doch gegen Gewalt war er nicht gefeit... Parashthaar schien zu fühlen, was in ihrem menschlichen Gehilfen vor sich ging. Ein hässliches Lächeln verzerrte ihr überirdisch schönes Gesicht. »So wie du jetzt zitterst, so soll der Sterbliche zittern, der 66
Parashthaars Mahl gestört hat. Der sich Parashthaars Lieblingen in den Weg gestellt und ihnen mit dem Symbol Schmerzen zugefügt hat... Er soll zittern - und dann sterben!« Der Meister begann zu verstehen, aber er hütete sich, auch nur eine Silbe zu sagen. Ganz langsam löste sich die Anspannung in ihm, ganz langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass er gerettet war. Diesmal war er noch davongekommen... »Du wirst den Frevler ausfindig machen, Prinzessin! Und du wirst dich an ihm rächen.« »Meine Lieblinge haben bereits herausgefunden, wer er ist. Er nennt sich Mike Logan...« »So steht deiner Rache nichts im Wege, Prinzessin!«, stieß der Meister hervor. »Du hast recht, mein Freund. Die Rache wird mein sein. Dieser e lende Sterbliche wird seinen Preis bezahlen müssen! Einen fürchterli chen Preis...« * »Schluss mit der Warterei!«, sagte Ingar entschlossen und erhob sich. Sie ging zur Garderobe, warf sich die Jeans-Jacke über die Schultern und deponierte eine kurze Nachricht im Kühlschrank. Das machte sie immer so, wenn sie berechtigten Grund zum Schmollen hatte. Und den hatte sie heute. Seit Stunden hatte sich Mike nicht gemeldet. Sie machte sich Sorgen... Wusste er das denn nicht? »Männer!«, knirschte sie. Noch einmal warf sie dem Telefon einen beinahe flehenden Blick zu, aber der verflixte Apparat blieb so stumm wie ein Fisch im Wasser. Also gut, Mike Logan!, dachte sie. Sie warf ihr blauschwarzes Haar in den Nacken und ging Richtung Wohnungstür. Der Schock, den die Nachricht von Angela Peters' Tod ausgelöst hatte, war ziemlich rasch wieder abgeklungen. Nachdem sie ausgiebig geduscht und gefrühstückt hatte, hatte sie sich bereits wieder besser gefühlt und bereut, Mike nicht begleitet zu haben. Sie hatte sich in Geduld gehüllt. Aber was zuviel war... 67
Jedenfalls: Sie hielt es jetzt in dieser Wohnung nicht mehr aus. Die Neugier plagte sie. Sie musste irgend etwas unternehmen. Und sie wusste auch schon, was sie unternehmen würde. Vorher war ihr eine phantastische Idee gekommen... Bei diesem ehernen Entschluss angekommen, hörte sie, dass sich draußen die Lifttür öffnete. Schritte näherten sich der Wohnung... Und noch bevor Ingar die Wohnungstür öffnen konnte, wurde sie von draußen aufgeschlossen. »Mike!«, seufzte sie, als sie ihn sah. Er sah übel zugerichtet aus, dennoch lächelte er. »Da komme ich ja gerade noch rechtzeitig. Wie ich sehe, wollte mich meine gute Fee soeben verlassen.« Keine Spur von Schuldbewusstsein! Ingar schob angriffslustig ihr reizendes Kinn vor. »Du - du... Wenn du nicht schon angeschlagen wärst, dann würde ich...« »Was immer du auch tun würdest, tu's nicht! Bitte! Denke daran, dass du etwas Unersetzliches zerstören könntest...« Abwehrend streckte er beide Hände vor. Sie sah ihn an und musste lächeln. Gleichsam aktivierte sie ihren Parasinn und las seine Gedanken. So erfuhr sie von dem, was gesche hen war. »Oh, Mike«, flüsterte sie unglücklich. Er zog die Tür vollends ins Schloss und nahm sie in die Arme. »Es war dumm von mir, nicht anzurufen«, sagte er dann. »Ich hätte mir denken können, dass du dir Sorgen machst.« »Typisch Mann! Die Einsicht kommt immer - aber meistens zu spät!« Sie lächelte und entspannte sich. »Vielleicht sollten wir es noch einmal darauf ankommen lassen«, schlug er nun ebenfalls lächelnd vor. »Ich gelobe nämlich Besserung. Großes Ehrenwort!« »Hm!« »Burgfriede?« Sie runzelte ihre Stirn und sah sehr, sehr nachdenklich aus. Aber dann nickte sie. Sie war jetzt einfach nicht in der Stimmung, Bedin gungen zu stellen. 68
*
Gefahr! Mike kannte die Gedankenstimme inzwischen und wusste, dass ir gend etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen. Noch halb im Schlaf zuckte er hoch. Keine Sekunde zu spät! Ein geheimnisvolles Wispern und Raunen war in der Dunkelheit um ihn und jetzt konnte er auch hier und da Schatten erkennen. Seine ruckartige Bewegung hatte sie zurückweichen lassen. Das - das waren die Geister-Kreaturen Parashthaars! Jene Kreatu ren, gegen die er heute schon einmal gekämpft hatte! Die Erkenntnis ließ ihn erzittern. »Ingar!« Mike drehte sich seiner Lebensgefährtin, die bäuchlings neben ihm lag, zu. Sie hatte nichts bemerkt. Sie schlief, rührte sich nicht. »Ingar!«, schrie er noch einmal. Er wollte sie wachrütteln, hoch reißen... Aber er konnte sie nicht berühren. Seine Hände stießen auf eine unsichtbare Barriere... Eiskalt überlief ihn das Grauen. Mit aller Kraft versuchte er, das Hindernis zu durchstoßen... Er musste Ingar wecken. Sie mussten ver suchen... Ein höhnisches Kichern zerschnitt seine fiebernden Gedanken. Mike ruckte herum. So ging es nicht. Also musste er etwas ande res tun... Das Kreuz! Vorhin, bevor sie zu Bett gegangen waren, hatten sie noch das uralte Kruzifix herausgesucht, das Mike vor vielen Jahren von seiner Großmutter vermacht bekommen hatte. Er glitt aus dem Bett. Wieder das Wispern um ihn. Gänsehaut ü berzog seinen Rücken. Im Grunde genommen war er nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Aber diese Situation... Mike biss die Zähne zusammen und ging weiter. Einen Schritt. Zwei Schritte: Drei Schritte. Er wusste, dass sie da waren, dass sie jeden seiner Schritte belauerten... Dennoch geschah nichts. Das zerrte noch mehr an seinen Nerven! 69
Und dann, plötzlich wurde die Dunkelheit lebendig! Etwas zischte ganz dicht an seinem Kopf vorbei... Mike federte vorwärts. Dort, auf der kleinen Kommode, musste das Kreuz liegen! Seine Hände fuhren nach vorn und - nichts! Das Kreuz war ver schwunden! Dieses Mal hatten die bösen Geister keinen Fehler ge macht! Schritte hinter ihm! Wie schon so oft handelte Mike wieder rein reflexartig, ohne zu überlegen. Gedankenschnell duckte er sich, warf sich nach vorn - und entging so den zupackenden Klauen der Kreatur! Seine Gedanken hämmerten - suchten nach einem Ausweg, nach einer rettenden Idee! Die Geister zogen sich wieder zurück. Warum? Was war gesche hen? Er sah sich gehetzt um. Nichts geschah. Doch! Da! Ein giftgrünes Leuchten... Direkt über dem Bett! Direkt über Ingar! »Nein!«, keuchte Mike entsetzt. Er wollte zum Bett hinüber rennen, aber das ging nicht. Er war ge fangen - in einer unsichtbaren Röhre! Er konnte sich kaum rühren! Hilflos musste er das unheimliche Geschehen mit ansehen! Seine Zäh ne knirschten! Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht! Das Leuchten senkte sich wie eine überdimensionale Käseglocke auf Ingar herab. Millimeter um Millimeter... Sie merkte es nicht. Nach wie vor schlief sie. Mike konzentrierte sich... Bündelte seine Gedanken zu einem einzigen warnenden Schrei!
INGAR! GEFAHR!
Das unsichtbare Hindernis mochte Schall abwehren - Mikes kon zentrierten Gedanken konnte es nichts entgegensetzen! Ingars Schlaf wurde unruhig und dann war sie wach. Sie fuhr hoch, sah sich um. Ihre Hand tastete nach ihm. Mike sah, dass ihre Lippen Worte form ten. Worte, die er nicht verstand. Doch! Ihre Worte materialisierten in seinem Gehirn.
Mike? Wo bist du? Was...
Namenloses Entsetzen zitterte in ihren Gedanken, ließ Mike zu sammenfahren. Schmerz zuckte durch seinen Schädel. 70
Jetzt musste Ingar das grüne Leuchten bemerkt haben! Erst jetzt! Es war zu spät! Nur noch wenige Zentimeter... Wieder das Kichern und Hohngelächter der Geister! »Sie hat euch doch nichts getan!«, schrie Mike verzweifelt und warf sich gegen das ihn umgebende Hindernis. »Warum holt ihr nicht mich! Hört ihr? Holt mich!« Das Leuchten intensivierte sich. Rote Linien zuckten. Flammen zischten empor. Dann war es vorbei. Die Leuchterscheinung erlosch. Mike kniff die Augen zusammen. Das Bett... Es war leer! Ingar war mit dem Leuchten verschwunden! Ein Würgen war in seinem Hals. Seine Hände fuhren fahrig an sei ne Kehle. Er spürte, dass er wieder frei war. Langsam setzte er sich in Bewegung. Kein Angriff! Nichts! Die bösen Geister schienen sich zurückgezo gen zu haben! Er fuhr sich durch die Haare. Ihm war übel. Mit drei, vier Schritten war er beim Fenster. Er öffnete es, sog die kühle Nachtluft in seine Lungen. Die Hitze verschwand. Er fühlte sich wieder besser, aber seine nüchterne Überlegung kehrte nicht zurück. Klebrige Gespinste schie nen seine Gedanken zu umgarnen... Er schluckte und wandte sich vom Fenster ab. Und prallte wieder gegen ein unsichtbares Hindernis. Ihm gegen über - höchstens fünf Meter entfernt - war Parashthaar erschienen! Sie starrte ihn verächtlich an. »Ich könnte dich jetzt zertreten wie ein lästiges Ungeziefer, Mike Logan!«, zischte sie voller Hass. »Und warum tust du es nicht?«, fragte er. Er war ruhiger geworden, hatte den Eisgriff des Entsetztens abge schüttelt. Er versuchte, trotz der miesen Situation, in der er sich be fand, nüchtern zu denken. Aber seine Gedanken brandeten stets zu den beiden primären Fragen zurück. Was konnte er, ein Mensch, dazu auch noch waffenlos, gegen dieses Geisterwesen ausrichten? Wie konnte er es bekämpfen? Er fand keine Antwort. Noch nicht. Hilflosigkeit, sagte er sich, kann demütigen. Er ballte seine Hände zu Fäusten. 71
»Vielleicht will ich mit dir - spielen...«, versetzte sie, nachdem sie ihn eine Weile aufmerksam beobachtet hatte. »Darum hast du dir also auch mein Mädchen geholt!« »Gut kombiniert!« »Was hast du mit ihr vor?« »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte sie mit einem seltsamen Un terton in der Stimme. »Vielleicht werde ich sie zu meiner unsterblichen Gefährtin machen... Oder mir ihren Körper aneignen. Ich könnte sie auch meinen Lieblingen überlassen. Sie würden sich freuen... Mögli cherweise werde ich dir deine Frage definitiv beantworten. Wenn du zum Friedhof kommst...« »Welcher Friedhof?«, fragte Mike knapp. »Das herauszufinden, ist deine Angelegenheit!« »Wie viel Zeit habe ich?« »Eine Stunde!« »Eine Stunde - aber...« Parashthaar kicherte amüsiert. Ihre Gestalt wurde durchschei nend, zerfaserte wie Rauch unter einem heftigen Windstoß. »Wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann...« Mike sah ein, dass es sinnlos war, zu drohen. Parashthaar konnte ihn schon längst nicht mehr hören. * Panik drohte ihn zu übermannen. Die Sorge um Ingar ließ ihn schier durchdrehen. Gut, er hatte geahnt, dass sein Kampf gegen Pa rashthaars böse Geister und Clark Ashleys Tod die Geschehnisse in Gang bringen würden. Aber jetzt hatten sie sich überstürzt! Noch fünf undfünfzig Minuten hatte er Zeit, einen Friedhof zu finden, von dem er nicht einmal wusste, ob er überhaupt in London lag. Theoretisch hatte er bereits verloren. Ingars Leben war verwirkt. Er konnte den Friedhof nicht ausfindig machen. Nicht in fünfundfünfzig Minuten...
Vielleicht kannst du es doch... 72
Die Geisterstimme, die wie immer direkt in seinem Gehirn erklang, ließ ihn zusammenfahren. Wilde Hoffnung erfüllte ihn plötzlich und er klammerte sich daran, wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. »Kannst du mir wirklich helfen?« Mike formulierte die Frage laut, um seine Gedanken zu präzisieren.
Na ja, ich kann zwar keine Wunder vollbringen... Aber ich will es zumindest versuchen... »Dann versuch es schon!«, stieß Mike ungeduldig hervor. Gleich sam schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seinen geheimnis vollen Freund.
Ich dachte immer, ihr Brüten seid diszipliniert... Ich muss sagen, dass ich enttäuscht bin!, kam es seelenruhig zurück. Mike wurde nervös.
Schon gut, schon gut, lenkte die Geisterstimme ein. Der Friedhof, den du suchst, liegt am Stadtrand, ziemlich weit weg vom Zentrum Londons. Wenn du über Islington, Tottenham Richtung Cambridge fährst, müsstest du ihn in etwa fünfzig Minuten eurer Zeitrechnung erreichen... Mike hetzte los. Während er mit dem Lift in die Tiefgarage fuhr, wirbelten seine Gedanken. Noch zweiundfünfzig Minuten... Würde er noch rechtzeitig kommen...?
Es könnte eine Fälle sein, Mike. Sei vorsichtig! »Ich habe keine Waffe!«
Ich werde dafür sorgen, dass du eine bekommst. Rechtzeitig. »Danke!«
Keine Ursache, Viel Glück! Fauchend schwang die Lifttür zurück. Mike stürmte hinaus, er reichte seinen Lotus und schwang sich hinein. Ein schneller Blick zum Chronometer. Es war kurz nach ein Uhr morgens. Die Straßen waren leer. Jetzt konnte sein Flitzer zeigen, was unter seiner Motorhaube steckte. * 73
Siebenundvierzig Minuten später ließ Mike den Lotus geräuschlos aus rollen. Das Abblendlicht hatte er schon vor einer Minute ausgeschaltet. Dunkelheit umgab ihn. Er zog den Zündschlüssel ab, stieg jedoch nicht sofort aus. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zum Friedhof hin über. Wolkenfetzen jagten am düsteren Himmel und verhinderten, dass der Mond sein trübes Licht zur Erde herunterschicken konnte. Nebel schwebte wie riesige lebende Wesen über dem Boden. Vom Friedhof selbst war so gut wie nichts zu sehen. Dunkel und schroff ragte eine Mauer auf. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. Mike atmete tief durch und stieg aus. Mit einem satten ›Blaff‹ fiel die Wagentür ins Schloss. Mike setzte sich in Bewegung. Der Nebel zerriss wie ein feines Ge spinst, als er sich durch ihn hindurch bewegte. Seine Schritte waren kaum zu hören. Linker Hand führte ein schmaler Kiesweg zum Friedhof. Mike dachte aber nicht daran, diesen Weg zu nehmen. Immer schön vor sichtig bleiben. Das garantierte einen geruhsamen Lebensabend. Mög licherweise gelang es ihm, Parashthaar zu überraschen... Wahrschein lich rechnete sie nicht mit seinem Kommen. Er hatte sich jetzt bis auf knapp zwanzig Meter dem Friedhof ge nähert. Ein schmiedeeisernes Gitterportal war auszumachen. Rechts und links war dieses Portal von mächtigen steinernen Engeln mit Flammenschwertern flankiert. Seltsam, bei ihrem Anblick rieselte ein ziemlich eigentümlicher Schauer über Mikes Rücken. Leicht vorn übergebeugt ging er weiter. Seine Nerven spannten sich an... Er lauschte in sich hinein. Aber er hörte weder die Gedan kenstimme von Ingar, noch die seines geheimnisvollen Verbündeten. Plötzlich zerriss ein schrilles Kreischen die Stille! Er stoppte, hielt den Atem an. Kies knirschte unter vorsichtigen Schritten! - Wessen Schritte? Geister gingen nicht, die schwebten... Das Gitterportal bewegte sich in seinen rostigen Scharnieren - fiel wieder ins Schloss. Irgend jemand hatte soeben den Friedhof betre ten... Mike nickte und ging weiter. 74
Irgendwo schrie krächzend ein Nachtvogel. Sekunden später flat terte ein schwarzes Etwas unweit von ihm in die Dunkelheit empor. Mike erreichte die raue, mit Moos überwachsene Mauer und presste sich dagegen. Er wartete genau drei Sekunden, dann sagte er sich, dass es nichts brachte, noch länger zu zögern. Er warf einen letzten Blick in die Richtung, in der die Riesenstadt London liegen musste. Zu sehen war sie nicht. Eine Barriere aus Nebel und Finsternis hatte sich zwischen ihn und die Stadt geschoben. Mike begann, die Mauer aus Feldsteinen zu erklettern. Das war nicht besonders schwierig, obwohl der Tau die Steine nass und glit schig machte. Wenig später ließ er sich innerhalb des Friedhofs zu Boden fallen. Geschmeidig federte er unten auf - und verharrte bewe gungslos. Alles war still. Unnatürlich still. Vielleicht war es tatsächlich eine Falle. Aber wenn Parashthaar ihn hätte töten wollen, so hätte sie dies schon vorhin tun können. Mike richtete sich auf, sicherte nach rechts und nach links. Der Friedhof lag einsam unter der Dunkelheit und dem Nebel begraben. Die verwitterten, hier und da seitwärts geneigten Grabsteine atmeten Wehmut, Trauer und einen Hauch von endgültigem Abschied aus. Gras und Unkraut faulte zwischen den ungepflegten, verkomme nen Gräbern. Etwa einhundert Meter voraus war ein trutziger, quadratischer Bau zu sehen. Vermutlich war das die Leichenhalle. Ob Parashthaar dort auf ihn wartete? Wahrscheinlich. Mike ging zwischen den Grabreihen hindurch, den Blick unablässig in das grau-schwarze, wabernde Nichts vor ihm ge richtet. Seine Sinne waren angespannt. Er umrundete die Leichenhalle. Niemand war zu sehen. Mike be gann, ungeduldig zu werden. Ihm kamen Zweifel. Hatte sich sein Geis terfreund geirrt...? Plötzlich warnte ihn sein Instinkt. Ganz deutlich spürte er die Nähe eines anderen in seinem Rücken... Irgend jemand - irgend etwas bedrohte ihn... 75
Gedankenschnell kreiselte er herum. Seine Rechte flog zum Schul terhalfter, aber sie erstarrte mitten in der Bewegung. Mike glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können! Hinter ihm stand ein steinerner Engel und holte mit seinem Flam menschwert aus! Also doch eine Falle! Mike warf sich zur Seite. Das Flammenschwert des Steinengels zischte Millimeter entfernt über seinen Schädel hinweg. Gewandt rollte sich Mike über beide Schultern ab - und stand wie der auf den Füßen. Mit steifen Schritten setzte die gut und gerne drei Meter hohe Statue nach. Ihre Augen glühten in einem düsteren Rot. Wieder schwangen die mächtigen Fäuste das Schwert... Wo bleibt die Waffe, die mir versprochen wurde?, schoss es Mike durch den Kopf. Mike wartete bis zur letzten Sekunde... Gleich musste der Schwertarm herunterzucken... Jetzt! Mike stieß sich ab. Er flog direkt auf die Statue zu. Das Schwert verfehlte ihn, schrammte mit einem hässlichen Geräusch gegen die Mauer der Leichenhalle. Blaue Funken stoben auf. Mike knallte gegen die Statue. Greller Schmerz raste durch seine Schulter. Sein rechter Arm wurde schwer wie Blei. Wie durch dichten Nebel hindurch sah er das poröse, von Wind und Wetter zerfressene Gestein der Statue direkt vor sich... Der Engel wankte - und fiel! Mike brachte sich mit einem blitzschnellen Sprung aus der Gefah renzone. Gerade noch rechtzeitig. Noch im Fallen hatte die Statue zu geschlagen... Mit einem dumpfen Laut krachte sie jetzt zu Boden. Das Flammen schwert entfiel der Titanenfaust. Mike wich zurück. Er wusste, dass er lediglich Zeit gewonnen hatte. Der Kampf war noch lange nicht ent schieden. Sein Schädel dröhnte. Fieberhaft suchte er nach einem Aus weg... Der Engel richtete sich wieder auf... Langsam, wie in Zeitlupe, so, als hätte er alle Zeit der Welt auf seiner Seite. Die rot glühenden Augen richteten sich auf Mike... 76
Und dann sprach die Statue mit Parashthaars Stimme: »Du bist tapfer, Sterblicher! Das ist interessant!« Parashthaars böser Geist beseelte den toten Stein! Wie eine rot glühende Nadel zuckte diese Erkenntnis durch seinen Geist. Es war zu phantastisch... Die Macht der Geisterprinzessin schien unermesslich zu sein. Die Statue kam näher. Mike rührte sich nicht. Aber er war bereit... »Kämpfe, Mike Logan!«, forderte sie ihn auf. »Kämpfe und versu che, mich zu besiegen. Vielleicht schenke ich dir dann dein Leben und das Leben deiner Gefährtin...« »Du weißt, dass ich keine Chance habe!«, versetzte er. Schreckliches Hohngelächter gellte auf. »So stirb, Mike Logan!« Die Statue machte einen Riesenschritt vorwärts. Mike hatte damit gerechnet. Gedankenschnell handelte er. Warf sich zur Seite. Und da sah er das Glitzern. Mondlicht brach sich auf Metall – auf Silber. Zehn Meter entfernt, in einem struppigen, windzer zausten Gestrüpp, das hinter einem hohen Steinkreuz wucherte, muss te der Gegenstand liegen. War das die versprochene Waffe? Er wusste es nicht. Aber ein Versuch war in dieser Situation so gut wie der andere. Er musste es darauf ankommen lassen! Mike hetzte los. Der drohende Schatten der Statue folgte ihm. Die wummernden, schweren Schritte hallten wie Donnerschläge in seinen Ohren. Er erreichte das Gestrüpp, seine Rechte fuhr vor, ergriff den Ge genstand... Es war ein Schwert aus purem Silber! Das Mondlicht schien von der Klinge geradezu magisch angezogen zu werden, denn es glit zerte und gleißte darauf, dass Mikes Augen schmerzten.
Da hast du deine Waffe, Mike... Nutze sie.... Parashthaars böse Aura schwächt mich... Muss mich zurückziehen... Mike hörte nicht mehr hin. Parashthaar griff an! Ein Schatten zuckte heran... Die steinerne Riesenhand! Und dieses Mal reagierte Mike zu spät. Die Finger schlossen sich um seine Brust. Eine unbeschreibliche Kälte fraß sich in seinen Körper hinein, schwächte ihn... Er fühlte, dass er nicht mehr lange durchhal 77
ten würde. Gleich würde es vorbei sein! Er hatte den Kampf gegen die lebendige Statue verloren... Nein! Er durfte nicht, aufgeben! Ein Ruck ging durch seinen schmerzenden Körper. Mit letzter Kraft hielt Mike das Silberschwert. Zentimeter für Zentimeter brachte er es hoch... Und dann schlug er zu! Die Klinge bohrte sich in den Körper der Statue hinein. Ein grässli cher Schrei gellte auf! Der Griff um Mikes Brust lockerte sich. Mike taumelte zwei, drei Schritte zurück und blieb weiterhin auf das Schlimmste gefasst. Keuchend atmete er. Schweiß perlte auf sei ner Stirn. Der rechte Arm und die Schulter schmerzten höllisch, aber er achtete nicht darauf. Er wog das Schwert in der Faust. Die Statue machte einen tapsenden Schritt vorwärts! Parashthaar gab immer noch nicht auf. »Also gut! Du hast es so gewollt!«, knurrte Mike. Mit beiden Hän den umfasste er den Schwertgriff und schlug zu. Die Statue konnte nicht mehr ausweichen. Der Hieb saß. Im gleichen Augenblick erlosch das rote Glühen in den Augen. Pa rashthaar zog sich zurück! Ein weißlicher, sonnenhell strahlender Ne belstreifen löste sich aus dem Schädel der Statue. Höher und höher stieg der Nebel, um schließlich eins zu werden mit der Finsternis. Eini ge Herzschläge lang war aus weiter Ferne Parashthaars wildes, schreckliches Lachen zu hören, dann herrschte wieder Stille. Leichter Wind raschelte im Geäst der Bäume und in den Büschen. Mike ließ das Silberschwert sinken und sah zu der leblos vor ihm stehenden Statue und dann zum Himmel hinauf und wieder zurück. Die Augen des Engels waren jetzt leblos und grau... Es waren wieder steinerne Augen. Mike grübelte. War es ihm tatsächlich gelungen, Parashthaar in die Flucht zu schlagen? - Oder war ihr Rückzug lediglich eine Taktik, eine neue Variante ihres Spiels? Wahrscheinlich. Mike machte sich kei ne falschen Hoffnungen. So leicht war die Prinzessin der bösen Geister nicht zu besiegen... Sicher hatte sie noch eine Menge Trümpfe in der Hand. Und einer ihrer größten Trümpfe war Ingar... 78
Schweiß rann ihm in dicken Tropfen das Rückgrat hinunter. Er hatte eine Schlacht geschlagen - aber den Krieg nach Punkten verlo ren. Bisher wenigstens. Noch immer war Ingar in der Gewalt der bö sen Geister. Lebte sie noch? Und wenn sie noch lebte, was hatte Pa rashthaar mit ihr vor? Die Ungewissheit war das Schlimmste. Ein ekel hafter Schmerz rumorte in seinem Innersten. Wie konnte er Ingar hel fen? Er gab sich einen energischen Ruck. Ruhig, Junge, sagte er sich.
Denke nach! Es muss eine Möglichkeit geben!
Hinter ihm räusperte sich jemand. »Natürlich gibt es eine Möglich keit, alter Junge und wir beide werden sie nutzen.« Eine krächzende, nicht unsympathische Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam, hatte das gesagt. Bedächtig drehte sich Mike um. Er sah eine kleine, untersetzte Gestalt, die sich im gleichen Moment, da er sie sah, aufzulösen be gann... »Du siehst müde aus, Mike«, sagte die Stimme mitfühlend. »Weißt du, ich denke, dass uns noch ein bisschen Zeit bleibt. Es wird gut sein, wenn du erst einmal ein paar Takte schläfst. Für das bevorstehende Unternehmen musst du nämlich topfit sein...« Eine unsichtbare Macht verhinderte, dass Mike sich bewegte, dass er Fragen stellte. Dann eine sanfte Berührung an seiner Stirn... Sein Bewusstsein wurde von einer wohligen Wärme umhüllt. Der Friedhof, die kleine Gestalt, seine Ängste und seine Fragen - alles löste sich auf in einem sanften Nichts. * Als das giftgrüne Leuchten verschwand, konnte Ingar wieder denken und sich bewegen. Eine Schmerzwelle raste durch ihren Körper. Sie stöhnte. Und dann brach die Erinnerung über sie herein. Mike hatte noch versucht, sie zu warnen... Aber es war zu spät gewesen. Das grüne Leuchten hatte sie umhüllt und dann... Ihr war, als hätte irgend je mand ihr Denken einfach - ausgeschaltet. Sie konnte nicht sagen, was 79
in der Zwischenzeit geschehen war. Aber - war überhaupt Zeit vergan gen? Sie wusste es nicht. Zitternd erhob sie sich von dem eiskalten, feuchten Steinfußbo den, auf dem sie lag. Jetzt ging es ihr wieder besser, der Schmerz war verklungen. Der physische Schmerz schränkte sie ein. Der andere, der psychische Schmerz, der tobte unvermindert in ihr. Sie war von den bösen Geistern, gegen die Mike kämpfte, entführt worden. Und sie wusste, was das bedeutete... Schwankend stand Ingar in der Dunkelheit und wartete darauf, dass sich ihre Augen daran gewöhnten. Durch eine schmale, vergitter te Fensteröffnung sickerte spärlich Mondlicht herein und warf ein paar Lichttupfer auf den Boden. Schemenhaft konnte sie jetzt ihre Umgebung erkennen. Ein klei ner, höchstens drei mal drei Meter großer Raum ohne jegliches Mobili ar... Der Fensteröffnung genau gegenüber gab es eine Tür, die natür lich verschlossen war. In der Ecke neben der Tür entdeckte Ingar ein dürftiges Strohlager. Das Stroh war feucht und roch muffig. Auf Mike zu warten und zu hoffen, dass er sie hier - wo immer dieses ›hier‹ auch sein mochte - rechtzeitig fand und herausholte, war Zeitverschwendung. Wahrscheinlich versuchte diese Parashthaar, Mike mit ihr, Ingar, zu erpressen... Ingar schüttelte den Kopf. Sie musste versuchen, sich selbst zu helfen. Und zwar jetzt sofort. Über ihren Überlegungen vergaß sie fast ihre aussichtslose Situa tion. Und das war vielleicht ganz gut so. Nachdem sie ihren Entschluss erst einmal gefasst hatte, machte sie sich auch sofort daran, ihn in die Tat umzusetzen. Sie handelte. Ihr Parasinn erwachte... Zuerst die Lage sondieren, dachte Ingar mit vibrierenden Nerven. Ihre Gedankenfühler tasteten sich vorwärts... Und bekamen Kontakt! Es war wie eine leichte Berührung... Dennoch bemerkte sie der fremde Geist im gleichen Augenblick. Er kapselte sich ab. Und schlug zurück. Ingar konnte ihre Gedankenfühler nicht mehr rechtzeitig zurück ziehen, konnte ihren Geist nicht mehr rechtzeitig verschließen. Wie 80
eine schwarze Titanfaust zuckten die Gedanken des Wesens, das sie hatte ›belauschen‹ wollen, heran... Dämonische Mächte tobten in ihrem Kopf... Ingar schrie. Dann konnte sie nicht einmal mehr schreien. Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Der fremde, böse Geist hatte sie freigegeben. Minutenlang blieb Ingar liegen, die Augen geschlossen. Sie war am Ende ihrer Kräfte, das wusste sie. Aber sie wusste auch, dass sie verloren war, wenn sie jetzt auf gab. Stöhnend rappelte sie sich auf. Du überraschst mich, Sterbliche!, dröhnte da eine schrille Gedan kenstimme in ihrem Kopf auf. Ingar erkannte diese ›Stimme‹ sofort: Es war die Stimme des Wesens, das sie soeben nach allen Regeln der Kunst fertiggemacht hatte... Aber wer war dieses Wesen...? Etwa Parashthaar selbst? Hast du dies nicht aus meinen Gedanken ersehen?, höhnte die Stimme. Ja, ich bin Parashthaar, die Prinzessin der bösen Geister! Her
rin über den Tod! Und du wagtest es, zu versuchen, mich zu belau schen! Es ist unglaublich! Noch nie war ein sterbliches Wesen so dreist! Ingar wusste, dass es sinnlos war, sich vor Parashthaar zu recht fertigen. Dennoch versuchte sie es. »Der... der Kontakt kam zufällig zustande«, versetzte sie schwach. Vor Ingar erschien ein rot glühendes Augenpaar, das sie boshaft anstarrte. Dann sprach Parashthaar zu ihr: »Es gibt keine Zufälle! Du weißt um deine Begabung und du hast sie gegen mich eingesetzt! Du warst neugierig, wolltest erfahren, was mit dir geschehen wird. Gut, du sollst es erfahren, Sterbliche. Ich werde Besitz ergreifen von dei nem hübschen Körper. In deiner Gestalt werde ich deinem Gefährten Mike Logan eine tödliche Falle stellen. Er wird nichts merken - bis es zu spät ist! Ein reizendes Spiel. Ganz nach meinem Geschmack!« »Ich - ich werde mich zur Wehr setzen!«, erklärte Ingar mit fester Stimme. 81
»Ich werde schon dafür sorgen, dass du das nicht mehr kannst«, erwiderte Parashthaar genüsslich. Ingar war wieder allein. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen an. Halb blind taumelte sie zum Fenster hinüber. Wie viel Zeit bleibt mir noch?, fragte sie sich immer wieder. Wann wird es geschehen?
Wann wird sie mir meinen Körper nehmen?
Wie ein Mühlrad drehten sich ihre Gedanken um diese Fragen. Immer wieder. Immer wieder. Als sie ihre Augen wieder öffnete, erwartete sie ein neuer Schock! Obwohl der Mond hinter tief hängenden Wolkenbänken versteckt war, erkannte sie genug Einzelheiten. Tief unten die verkrüppelten Bäume, den felsigen Boden... Eine halb zerfallene, zinnenbewehrte Mauer. Und dort drüben - das war der Turm, auf dem sie in ihrem Alp traum gestanden war... * Punkt sieben Uhr saß Murray wieder an seinem Schreibtisch, auf dem sich ein ansehnlicher Aktenberg stapelte. Mrs. Courry hatte die Fleiß aufgabe, die er ihr gestern gegeben hatte, in gewohnter Schnelligkeit und Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Siebenundvierzig Fälle hatte sie ausgegraben. Siebenundvierzig Menschen, die in den letzten drei Mo naten jeweils kurz nach Mitternacht eines natürlichen Todes gestorben waren. Er hatte also den richtigen Riecher gehabt. Parashthaars Mord geister waren schon seit längerer Zeit aktiv und niemand hatte etwas gemerkt. Niemand war aufmerksam geworden. Murray wischte sich über seine Stirn. Er war bleich. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und zeigten, wie sehr ihn dieser Fall be schäftigte. Er war Polizist mit Leib und Seele und er verbiss sich in seine Fälle. Einem übermächtigen Gegner gegenüberzustehen - so wie diesmal - machte ihn ganz krank. Er nahm den Hörer ab. »Mrs. Courry?« 82
Natürlich war sie auch schon an ihrem Arbeitsplatz. Unwillkürlich musste Murray grinsen. Seine Sekretärin war ihm gar nicht so unähn lich. Auch sie schien mit ihrem Beruf verheiratet zu sein. »Good morning, Sir!«, meldete sie sich. Frische und Tatendurst sprachen aus ihrer Stimme. »Morning«, erwiderte er ausnahmsweise einmal nicht so brummig, wie er das sonst zu tun pflegte. »Gibt es in der Fahndungssache Ro bert Peters schon eine Erfolgsmeldung?« »Ich habe vor drei Minuten nachgefragt, Sir. Mr. Peters ist wie vom Erdboden verschluckt. Sein Butler hat angerufen und mitgeteilt, dass er sich Sorgen macht.« »Der Bursche ist flexibel, das muss man ihm lassen«, versetzte Murray säuerlich. »Wie bitte?« »Nichts von Bedeutung, Mrs. Courry.« Ben Murray spielte kurz mit dem Gedanken, Mike anzurufen und ihn über den neuen Stand der Dinge zu informieren, aber dann entschloss er sich dagegen. Das konnte er auch später noch tun. Jetzt wollte er sich erst einmal um die Akten kümmern. * Neun Stunden später hatte Murray seine Pflichtlektüre hinter sich ge bracht und seine Stimmung war auf dem absoluten Nullpunkt ange langt. Vergeblich versuchte er, die Unruhe in sich zu bekämpfen. Im Laufe des Tages hatte er mehrmals versucht, Mike Logan zu erreichen. Bisher ohne Erfolg. Mike und Ingar waren - ebenso wie die ser Peters - verschwunden. Murray kannte Mike. Der war nicht der Typ, der sich ohne Voranmeldung einfach absetzte. Da war etwas pas siert... Porter, den er zu Mikes Wohnung geschickt hatte, um dort nach dem Rechten zu sehen, war unverrichteterdinge zurückgekommen. In Murray machten sich düstere Ahnungen breit. Mit einer ruckar tigen Bewegung schloss er die letzte Akte. Es klopfte und nachdem er sein »Come in!« gebrüllt hatte, er schien Mrs. Courry. 83
»Da ist eine Miss McCallum, Sir. Sie möchte mit Ihnen sprechen. Sagt, dass sie eine wichtige Aussage im Fall Peters machen möchte!« »Herein mit ihr!« Mrs. Courry rauschte ab und gleich darauf schob ein kräftiger Mann Carolin McCallum in ihrem Rollstuhl herein. Sie nickte dem In spektor zu. »Weshalb sind Sie gekommen, Miss?«, erkundigte er sich höflich. »Weil ich mich der Polizei stellen will. Ich habe Robert Peters um gebracht.« * Eine bucklige Alte mit struppigen, zerzausten Haaren und einer riesi gen Nase hockte auf Mike Logans Brust und keifte und spuckte ihn an. Unter ihrem enormen Gewicht konnte er kaum atmen. Er versuchte, sie loszuwerden, indem er sich auf die andere Seite wälzte. Übergangslos war Mike wach. Er hob seine Lider und blinzelte in eine sanfte, warme Helligkeit. Die Alte existierte plötzlich nicht mehr. Beiläufig registrierte er, dass er in einem Bett lag. Die Bezüge rochen nach Maiglöckchen und Frische. Im gleichen Augenblick kehrten seine Erinnerungen zurück. Ingar in der Gewalt der bösen Geister... Sein Kampf mit dem Steinengel... Dann der Moment des Blackouts. Er fragte sich, wo er überhaupt war. Auf dem Friedhof jedenfalls nicht mehr, denn da gab es wohl kaum so bequeme Betten. Und im Paradies konnte er auch nicht sein. So bequem war das Bett dort nun auch wieder nicht. Mike stieß einen unwilligen Laut aus und richtete sich vorsichtig auf. In seinem Kopf schienen hundert Kosaken einen wilden DiscoTanz aufzuführen und das tat mächtig weh. Endlich hörte die Umgebung auf, sich um ihn herum zu drehen. Er lag in einem einfach, fast ärmlich eingerichteten Zimmer. Alles strahlte eine nahezu penible Sauberkeit aus. »Na, gut geschlafen?« 84
Mike drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme ge kommen war. Dort saß ein Zwerg. Mike schloss die Augen und öffnete sie wieder. Aber der Zwerg saß immer noch da und jetzt grinste er sogar noch ziemlich unver schämt. »Keine Angst, alter Junge, du träumst nicht«, sagte er und mach te eine beruhigende Handbewegung. »Mich gibt's mehr oder weniger wirklich. Damit musst du dich abfinden!« Diese Stimme kannte er. Und jetzt wusste er auch, woher. Er hat te sie in den letzten Tagen immer wieder gehört. In seinem Kopf. »Dann bist du also dieser...« »... dieser Geist. Richtig!« Mike schluckte, wischte seine Fragen beiseite und musterte sein Gegenüber. Das Kerlchen, das knapp zwei Meter von ihm entfernt auf einem harten, unbequemen Stuhl saß und ihn erwartungsvoll ansah, wirkte sympathisch, wie eine gelungene Mischung zwischen Jean Paul Belmondo und Louis de Funes. Sein rundliches Gesicht mit der Leder haut war offen, ehrlich - und hintergründig. Die großen Augen blickten freundlich und listig und der schlohweiße Rauschebart stellte unwillkür lich eine Assoziation zum Nikolaus her. Ansonsten wirkte der nur knapp einszwanzig große Mann un scheinbar und harmlos. Sein Alter war unmöglich zu schätzen. Er konnte zwanzig - aber auch zweihundert oder zweitausend Jahre alt sein. Seine Kleidung war unauffällig. Jeans, ein weißes Baumwollhemd. »Na, wie findest du mich?«, erkundigte sich der Zwerg, als er sah, dass Mike seine Musterung beendet hatte. Mike seufzte. »Umwerfend!«, antwortete er dann. »Gut. Dann darf ich mich jetzt vorstellen. Ich bin Balthasar Rufus Schwarzschwert, der vierzehnte uneheliche Sohn des großen Magiers Merlin!« »Merlins unehelicher Sohn. Soso. Und ein echter Geist bist du auch noch!« »Klar!«, kam es im Brustton der Überzeugung zurück. »Du glaubst mir doch, oder?« 85
»Muss ich wohl oder übel. Schließlich hast du mir auf dem Fried hof das Leben gerettet. Ohne das Silberschwert wäre ich verloren ge wesen!« Schwarzschwert nickte. »Selig die, die nicht sehen und doch glau ben«, rezitierte er dann schulmeisterhaft. Mike brummte etwas Unverständliches und richtete sich auf. Er fi xierte den Zwerg. »Also gut, Balthasar Rufus Schwarzschwert. Da du ein Geist bist, wirst du mir sicher sagen können, was deine Kollegen mit Ingar vorhaben?« »Meine Kollegen?«, ächzte der Kleine entrüstet. »Du sprichst im Zusammenhang mit den bösen Geistern von meinen - Kollegen? Hör mal, das sind meine Todfeinde! So wie es gute und böse Menschen gibt, so gibt es gute und böse Geister. Ich gehöre zu den guten. Das siehst du ja schon daran, dass ich nicht inmitten einer Dunkelwolke auftrete...« »Ich wollte dich nicht kränken, Balthasar!« »Dein Glück...« »Also - was ist nun mit Ingar?« »Ich weiß nur, dass sie noch lebt«, gestand Schwarzschwert ein. »Und, dass es nicht sonderlich gut um sie steht...« »Balthasar, wir müssen ihr helfen, hörst du! Was können wir tun?« »Ruhe bewahren und Parashthaar zeigen, was eine Harke ist«, entgegnete er lakonisch. »Aber - wie?« »Wir werden keine Zeit mehr verlieren und so schnell wie möglich nach Achnashbeen fahren. Das ist ein winziges Dorf ganz in der Nähe von Loch Ness. Dort werden wir weitersehen...« »Moment mal!«, warf Mike hitzig ein. »Deine Intuition in allen Eh ren, Balthasar! Aber Loch Ness, das liegt am anderen Ende von Eng land!« »Aber das weiß ich doch, alter Junge«, räumte der Zwerg gelas sen ein. »Ah, habe ich dir nicht gesagt, dass ich die Zeit, in der du deinen Schönheitsschlaf gehalten hast, genutzt habe? Ich habe dich und mich in dein hübsches Gefährt gepackt und bin - dein Ein 86
verständnis vorausgesetzt - losgefahren. Ja und jetzt befinden wir uns in Invernerry. Und bis Achnashbeen sind's nur noch knapp zehn Kilo meter.« »Wie lange habe ich geschlafen?« »Fast dreizehn Stunden lang. Aber dafür siehst du jetzt auch wie der prächtig aus.« Mike verdaute diese Information. Dann räusperte er sich. »Du weißt hoffentlich, dass man das, was du getan hast, als Kidnapping bezeichnen könnte, mein Guter?« »Ich - äh... Ich muss zugeben, dass ich mich in der irdischen Ge richtsbarkeit nicht sehr gut auskenne«, erklärte Balthasar wenig wür devoll. »Aber ihr Menschen habt ja manchmal eine recht komische Auffassung von Recht und Gerechtigkeit. Ist es nicht so?« »Schon gut, Balthasar! Begraben wir unser Kriegsbeil. Einverstan den.« »Klar!« »Wirst du mir eine letzte Frage beantworten?« »Ehrensache!« »Warum hilfst du mir? Ausgerechnet mir? Ich bin ein stinknorma ler Mensch, kein Supermann. Du kannst es also nicht machen, weil du darauf hoffst, dass ich mich revanchiere...« »Oh, du bist zu bescheiden, Mike«, erwiderte Schwarzschwert ernst. Er rückte mit seinem Stuhl näher zu Mike heran, zog eine Ver schwörermiene und fuhr fort: »Denke mal an den Kampf mit der le benden Statue. Du hättest davonlaufen können. Dazu hast du noch gewisse Fähigkeiten, die dich für einen Kampf gegen die bösen Geister geradezu prädestinieren... Aber davon später. Ich will nicht, dass du größenwahnsinnig wirst!« »Traust du mir das zu?« Irritiert sah Schwarzschwert ihn an. »Äh - nein. Eigentlich nicht... Aber jetzt bring mich nicht aus dem Konzept. Äh - was wollte ich sa gen? Ach ja. Vorhin habe ich die guten und die bösen Geister erwähnt. Beide leben auf der diesseitigen Welt und versuchen ständig, ihre Stel lung auszubauen. Das Gleichgewicht der Kräfte hat bisher jedoch dafür gesorgt, dass weder die einen noch die anderen absolut herrschen 87
können. Es gab keine Prioritäten. Gewisse Gesetzmäßigkeiten, denen auch wir unterworfen sind, haben dies verhindert. Nun, in letzter Zeit hat sich einiges geändert. Die bösen Geister haben mächtig an Boden gewonnen... Es war Zeit, etwas zu unter nehmen. Meine Freunde vertreten diese Ansicht zwar ebenfalls, aber sie ziehen es immer noch vor, nach den veralteten Methoden vorzuge hen... Tja und ich habe mich für die direkte Art entschlossen. Partner schaft mit einem Sterblichen... Mit dir.« »Aber ich habe dir doch schon gesagt, dass...« Ungerührt sprach Schwarzschwert weiter. »Du hast bisher schon ziemlich konsequent gegen das Böse gekämpft, Mike. Jetzt gilt es, genau dasselbe an der Basis zu tun. Der Einfluss der bösen Geister auf viele Menschen -, das ist die Wurzel allen Übels auf Erden. Also muss dieser Einfluss geschwächt werden.« »Hört sich einfacher an, als es ist!«, versetzte Mike sarkastisch. »Ganz recht«, räumte Schwarzschwert ein. »Einfach ist es beileibe nicht. Es wird nie einfach sein. - Aber es ist notwendig.« Ein verwege ner Zug lag plötzlich auf seinem alterslosen Gesicht. Die Äuglein blitz ten. »Wir beide zusammen, wir würden ein gutes Gespann abgeben. Ich meine...« Er brach ab. »Du scheinst ja mächtig viel von uns zu halten«, stellte Mike fest. »Versteht sich doch, oder?«, erklärte Schwarzschwert und in sei nen Äuglein lag eine Frage. Schließlich, als Mike immer noch nicht rea gierte, sprach er sie aus. »Wirst du mitmachen...?« Mikes Gedanken kreisten und wirbelten. Hin und wieder mal hatte er einen Geister-Krimi gelesen. Besonders am Anfang, als seine Auf träge noch auf sich hatten warten lassen. Die Storys von mutigen Männern, die gegen Geister und andere überirdische Mächte kämpften und regelmäßig siegten, hatten ihm gefallen und ihn zugleich amü siert. Und jetzt - jetzt sollte der Kampf gegen böse Geister und finstere Mächte für ihn zur rauen Wirklichkeit werden? Das war schon ein mächtiger Hammer! Aber er wusste, dass er sich längst entschieden hatte. »Okay«, sagte er rau. »Vielleicht bin ich verrückt. Aber ich werde mitmachen, Partner!« 88
»Ja, endlich!«, stöhnte Schwarzschwert ungeduldig. »Ich dachte schon, das wird heute nichts mehr!« Wenig später brachen sie auf nach Achnashbeen. * Mühsam zwang sich Ben Murray zur Ruhe. Instinkt, das war es, was einen guten Polizeibeamten auszeichnete. Und genau dieser Instinkt war es, der ihm jetzt das Adrenalin in die Nervenenden jagte. Sekundenlang war es mucksmäuschenstill in dem Büro: Er starrte die hübsche Frau im Rollstuhl an, versuchte zu erraten, was in diesem Augenblick hinter ihrer hohen Stirn vor sich ging. Es gelang ihm nicht. Sie hatte sich vorzüglich in der Gewalt. Das, was sie bewegte, spiegel te sich nicht in ihrem Gesicht. Mit mildem Interesse erwiderte sie seinen Blick, so, als ginge sie das, was nun kommen musste, gar nichts mehr an. Murray räusperte sich. »Warum haben Sie es getan?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Carolin McCallum lächelte schmal, gedankenabwesend. »Weil er meine Schwester Angela auf dem Gewissen hat«, antwortete sie nach einem kaum merklichen Zögern. Murray stieß den Atem aus. Das Puzzle begann, sich zusammen zusetzen! Er beugte sich vor. »Woher wollen Sie das wissen?«, knurrte er ungehalten. »Vor einigen Jahren waren Robert und ich verlobt«, begann Caro lin McCallum. »Dann passierte der Unfall. Ich stürzte die Kellertreppe hinunter. Nachdem feststand, dass ich nie mehr würde gehen können, entdeckte Robert plötzlich seine Liebe für meine Schwester Angela. Die beiden heirateten. Seit diesem Tage hasste ich ihn, aber ich ließ es ihn nicht merken. Er sollte ruhig weiterhin glauben, dass ich stets für ihn da sein würde... Ich ließ ihn von George beschatten und bald schon stellte sich heraus, dass meine Schwester hervorragend zu Robert passte. Sie betrog ihn. Er betrog sie. So ging das jahrelang. Ich habe es genos 89
sen.« Sie unterbrach sich kurz und warf Murray einen knappen Blick zu. Murray schwieg. Er stellte keine Fragen. Er wusste, dass es nicht notwendig war. Carolin McCallum redete weiter. »Schließlich berichtete mir George, dass sich Robert ziemlich seltsam benommen hatte. Spät abends suchte er einen gewissen Elliot Conolly auf... Vor etwa vier Wochen war das. George hörte, dass Robert diesen Conolly mit Meis ter anredete... Ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Damals noch nicht. Aber dann starb Angela, angeblich an Herzversagen. Am Tag zuvor hatte sie Robert den Laufpass gegeben. Ich begann, nachdenklich zu werden. Ich sagte Mr. Logan, dass Robert bei mir war, als Angela starb. Das war die Wahrheit. Er kam tatsächlich völlig betrunken zu mir und wollte mich sprechen. Er war zu betrunken. Er redete zuviel. Er sagte mir alles. Dass er dem Meister den Auftrag gegeben habe, Angela zu töten...« »Und dann haben Sie ihn getötet«, stellte Murray überflüssiger weise fest. »Ja«, erwiderte sie einfach und sah auf ihre gepflegten Fingernä gel nieder. Er nickte. »Gut. Das genügt mir vorerst. Wir werden uns später noch eingehend miteinander unterhalten, Miss. Wo wohnt dieser Mr. Conolly?« Carolin McCallum lächelte wieder. »Southwark Road 25l.« »Thanks. Zwei Kollegen werden Ihre Aussage zu Protokoll neh men«, erklärte Murray, während er den Hörer abnahm. Mrs. Courry meldete sich wie gewohnt im gleichen Augenblick. »Die Constabler Rosefarmer und Beckett in mein Büro - aber im Laufschritt! - Ist Porter draußen?« »Yes, Sir. Ich habe ihm gerade einen Tee gemacht, weil er...« »Interessiert mich nicht! Er soll sich bereithalten. Einsatzbespre chung in drei Minuten!« Murray war in Fahrt - und wenn er das war, 90
dann konnte ihn nicht einmal mehr der Teufel höchstpersönlich stop pen... * Die Straße verdiente die Bezeichnung ›Straße‹ nun wirklich nicht mehr. Es war ein besserer Trampelpfad, schmal und übersät mit heim tückischen Schlaglöchern. Unweit voraus wuchtete sich eine dunkle Wand auf: Wald. Per Knopfdruck holte Mike die Schlafaugen des Lotus Eclat aus der Versenkung. Das Abblendlicht blitzte auf. Tief stachen die Lichtfinger in die vor ihnen liegende Dunkelheit. Sie war genauso plötzlich über sie hereingebrochen wie die Erkenntnis, dass sie schon seit geraumer Zeit vom Weg nach Achnashbeen abgekommen waren. Ein wilder Schlag traf die Kunststoffkarosserie des Flitzers und Mi ke unterdrückte einen Fluch. Er schaltete in den zweiten Gang und warf seinem Geisterpartner einen bezeichnenden Blick zu. Immerhin war Balthasar Rufus Schwarzschwert schuld an der Misere. Er hatte behauptet, den kürzesten Weg nach Achnashbeen im Schlafe zu fin den. Schwarzschwert zuckte die Schultern. »Scheint so, als hätten wir uns verfahren. Verflixt und zugenäht!« »Und, vierzehnter, unehelicher Sohn Merlins - wie soll es nun wei tergehen?« »Äh, nun, ich würde sagen, noch ein paar Minuten lang immer der Nase nach. Wenn Achnashbeen dann immer noch nicht zu sehen ist, drehen wir eben um. Wir haben schon mehr als genug Zeit verloren, da kommt es wohl auf die paar Minuten auch nicht mehr an!« »Es geht um Ingars Leben!«, sagte Mike eindringlich. »Nicht nur um Ingars Leben...«, versetzte Schwarzschwert düster. Dann fügte er hinzu: »Irren ist eben nicht nur menschlich!« Mike blieb eine Antwort schuldig. Er konzentrierte sich wieder voll aufs Fahren. 91
Endlich lag die Steigung hinter ihnen. Der Wald nahm sie auf. Und dann wurde der Weg beinahe übergangslos besser. So etwas wie eine Fahrrinne zeichnete sich ab. »Na bitte!«, triumphierte Schwarzschwert. Mike sagte immer noch nichts. Sein Kiefer schmerzte, so fest presste er die Zähne zusammen. Wieder und wieder fragte er sich, ob es nicht schon längst zu spät war... Lebte Ingar überhaupt noch? Dann wanderten seine Gedanken zu Murray. Er hatte keine Nachricht hinter lassen. Der Freund würde sich Sorgen machen. Der Wald lichtete sich. Nur noch vereinzelt standen jetzt ein paar windzerzauste Bäume rechts und links des Weges. Fünfzehn Minuten später erreichten sie eine Hügelkuppe. Der Mond war aufgegangen und sein bleiches Licht ergoss sich wie flüssi ges Silber über das schottische Highland. Mike hielt den Wagen an. Voraus führte der Weg in sanften Serpentinen in ein weites Tal hinun ter. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales ragten bizarr und unwirklich die Mauern einer Burgruine auf. Einer der Türme schien noch überraschend gut erhalten zu sein... »Dort unten, das ist Achnashbeen«, kommentierte Schwarz schwert und deutete zu den zusammengedrängt gebauten Häusern und Schuppen hinunter. Hier und da war eines der Fenster erleuchtet. Ansonsten schien Achnashbeen ausgestorben zu sein. Nichts regte sich in dem Dorf. »Da, sieh mal!«, stieß Mike plötzlich hervor. Ganz in der Nähe der Burgruine war ein giftgrün leuchtender Punkt zu sehen... Das Leuchten stabilisierte sich, wuchs an, wurde intensiver... Was ging dort drüben vor sich? Mike ließ seine Frage unbeantwortet und gab Gas. Mit durchdre henden Pneus ruckte der Lotus an und beschleunigte. In einem Höllen tempo raste Mike den Serpentinenweg entlang. * 92
Im Schutze der Dunkelheit näherten sie sich Elliot Conollys Villa, die in einem großen, völlig verwilderten Grundstück ohne Umzäunung lag. Durch Büsche und Bäume schimmerte Licht. Murray nickte grimmig, dann sah er sich kurz nach Porter um. Er sah ihn nicht, obwohl er irgendwo hinter ihm sein musste. Auch die anderen Männer des Einsatzkommandos pirschten sich völlig lautlos voran. Ein Ring schloss sich um die Villa. Nicht einmal eine Maus hatte sich unbemerkt davonschleichen können. Die Falle schloss sich... Hoffentlich ist er ahnungslos, dachte Murray und ballte die Fäuste. Der Weg, der zu der Villa führte, war ziemlich zugewachsen. Das mochte tagsüber romantisch wirken, nachts und vor allem in der Mis sion, in der Murray jetzt unterwegs war, wurde es zum Ärgernis. Zwei ge peitschten in sein Gesicht, Dornenranken zerkratzten seine Haut, zerrten an Trenchcoat und Hose. Ohne in seiner Vorsicht und Konzentration nachzulassen, ließ er seine Gedanken wandern. Er rekapitulierte das, was er über Conolly herausgefunden hatte. Bevor er in diesen Einsatz gegangen war, hatte er entsprechende Erkundungen eingezogen. Das war blitzschnell gegangen. Dafür war der Yard ja auch berühmt. Conolly firmierte - Sarkasmus oder Ironie? - als Grundstücksmak ler. Er hatte gut verdient. Sein Unternehmen war eines der umsatz stärksten im Kingdom. Vor fünf Jahren hatte sich Conolly schließlich wie es hieß, aus Altersgründen - aus dem aktiven Geschäftsleben zu rückgezogen. Die Zügel des Unternehmens hatte er seinem Partner überlassen. Dafür kassierte der 52jährige Monat für Monat eine an sehnliche Summe. Niemand wäre auf die Idee gekommen, in diesem seriösen Geschäftsmann einen skrupellosen Verbrecher zu vermuten, der mit den bösen Geistern paktierte. Jetzt konnte er die Villa schemenhaft vor sich in der Düsternis se hen. Im ersten Stock waren zwei Fenster erleuchtet. »Ein richtiges Geisterhaus...«, murmelte Murray zu sich selbst. Die Villa war flach gebaut, mit einem schrägen Dachgeschoß. An den Wänden rankte Efeu. 93
Murray rannte die paar Meter zu dem Haus hinüber und presste sich so eng wie möglich gegen die Mauer. Zwei Meter von ihm entfernt löste sich ein Schatten aus der Finsternis. Das musste Porter sein. Sekunden später war der Assistent-Inspektor an Murrays Seite. »Alles klar, Sir. Gleich kann es losgehen!« »All right!«, brummte Murray zufrieden. Automatisch griff er in seine Brusttasche. Der Haussuchungsbefehl war da. Dann kamen über Funk die Klarmeldungen. Die Männer waren in Position. »Bestätigt«, wisperte Porter in das Funkgerät. »Es geht los!« Murray zog seine Dienstpistole und fegte dann mit einer Ge schmeidigkeit, die man ihm gar nicht zutraute, um die Ecke zum Ein gang der Villa. Er benutzte den mächtigen Klopfer in Form eines Lö wenschädels. Im Haus blieb es still. Dann erlosch oben im ersten Stock das Licht. Schlagartig lag der Garten in völliger Dunkelheit. Murray zögerte nicht mehr länger. Er zerschoss das Türschloss, die Tür schwang auf. Murray warf sich dagegen, auf das Schlimmste gefasst. Er wurde nicht unter Feuer genommen. Dunkel lag der Haus flur vor ihm. »Porter - sind Sie da?«, vergewisserte er sich. »Klar, Chef!«, kam es zurück. »Okay! Dann mal los!« Er hetzte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Und noch wäh rend er rannte, roch er es... Schwefelgestank! Da! Rechter Hand! Ein schreckliches Stöhnen! Murray warf sich herum. Seine Hand senkte sich auf die Klinke, fetzte die Tür zurück... Er sah das grüne Leuchten! Ohne zu überlegen, kniff er die Augen zusammen. Ein Trick!, hämmerte es in seinem Kopf. Aber es war kein Trick. Es erfolgte kein Angriff. Im Gegenteil. Mur rays Augen hatten sich im gleichen Moment an die Helligkeit ge wöhnt... Er sah, dass inmitten des grünen Waberns ein dunkler Körper stand, hoch aufgerichtet... Das Leuchten wurde intensiver... Konvulsivisch flackerte das Grün. 94
»Der Kerl setzt sich ab!«, schrie Murray aufgebracht. Seine Revol verhand zuckte hoch. »Conolly! - Hier spricht die Polizei! Geben Sie auf! Kommen Sie da raus!« Er kam sich lächerlich vor, als er das her unterrasselte, dennoch tat er es. Keine Antwort. Das Leuchten wandelte sich in ein Flimmern... Der Körper Elliot Conollys wurde durchscheinend... Gleich musste er völlig verschwin den! Da feuerte Murray! In einer lauten Detonation entlud sich der Re volver in seiner Hand. Aber die Kugel konnte dem Meister nichts mehr anhaben. Sie fauchte durch ihn hindurch, wie durch eine Nebelwand. Das Flimmern erlosch. Dunkelheit lastete in dem Zimmer. Noch immer roch es intensiv nach Schwefel. Porter drehte das Licht an. Er war bleich, aber da Murray ihm vor her erklärt hatte, auf wen sie dieses Mal Jagd machten, stellte er keine Fragen. Das Funkgerät sprach an. »Bannister hier«, meldete sich der Einsatzleiter mit knarrender Stimme. »Wir haben einen Schuss gehört. Ist bei euch oben alles klar?« »Alles klar«, versetzte Murray an Porters Stelle. »Einsatz beendet. Spurensicherung ins Haus. Ich will, dass hier alles auf den Kopf ge stellt wird.« »Okay, Sir!« Porter schwieg noch immer und Murray war ihm dankbar dafür. Er ließ sich in einen Ledersessel fallen und grübelte nach. Er hatte seine Chance vertan. Der Himmel mochte wissen, wer Conolly gewarnt hatte. Parashthaar? Wahrscheinlich. Dank ihrer Hilfe hatte er es ja auch geschafft, zu verschwinden... Murray schnaufte. Nur die Ruhe, Alter! Wir werden das Kind schon schaukeln!, wis perte da eine sympathische Krächzstimme in seinem Kopf. Murray zuckte zusammen. Aber zugleich begriff er. Ob das der komische Geist gewesen war, von dem Mike erzählt hatte...? 95
Komischer Geist? Ich? Mann, ich bin einer von Merlins Söhnen! Mehr Respekt also, wenn ich bitten darf!, tönte es auch schon entrüs
tet zurück. Jetzt musste Murray lächeln. Vergessen war die Schlappe, die er hatte einstecken müssen. »Ich wollte dir nicht auf die Zehen treten, Sohn des Merlin«, sagte er laut, um seine Gedanken zu konzentrieren. »Sag mal, ist Mike bei dir?«
Klar, Murray! Jetzt aber genug geplaudert! Hier geht es ziemlich hektisch zu. Mike braucht mich... Der Gedankenkontakt brach ab. Mur ray brummte etwas vor sich hin. Dann erst bemerkte er Porters Blicke. Der Assistent-Inspektor starrte ihn fassungslos an. Murray erhob sich. »Haben Sie nichts anderes zu tun, als mich an zustarren?« * Ingar hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Hunger wühlte in ihren Ein geweiden. Sie fror. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Die Ungewiss heit, dieses tatenlose Warten, all das zerrte an ihren Nerven. Verzweif lung drohte, sich in ihr breitzumachen. Im nächsten Augenblick erschrak sie bis in ihr Innerstes. Aber zugleich wusste sie auch, dass die Zeit des Wartens vorbei war. Parashthaar war gekommen, um sie zu vernichten! »Wie recht du hast, Kindchen!«, kicherte die Wesenheit, die vor Ingar aus dem Nichts heraus erschienen war. Glitzernder Nebel wallte um sie herum. Aus den schrecklichen Augen leuchtete Mordlust und diabolischer Triumph. Ingar wusste, dass sie Parashthaar nicht entkommen konnte. Aber sie wollte sich auch nicht so einfach ergeben. Das widersprach einfach ihrer Lebensauffassung. Parashthaar schwebte näher. Das Lächeln auf ihrem Gesicht ver tiefte sich. Ingars Haltung verkrampfte sich. Aus schreckgeweiteten Augen starrte sie die Prinzessin der Mordgeister an. 96
Jetzt hob Parashthaar ihre Hände. Beinahe theatralisch wirkte die se Bewegung. Aber Ingar war jetzt nicht zum Lachen zumute. Das Grauen schnürte ihre Kehle zu. Mit einer fahrigen Geste wischte sie sich über die Stirn. Obwohl ihr kalt war, war sie schweißüberströmt. Parashthaar schwebte jetzt ganz dicht vor ihr. Der Blick ihrer Au gen wurde zwingend... Vor Ingar drehte sich alles... Weiße Wirbel wie in einem Schneegestöber... Ihr eigener Wille erlosch. Mit einem zufriedenen Kichern öffnete Parashthaar ihren Mund. Kalt leuchteten ihre spitzen Zähne auf... * Die schlichten, schiefer gedeckten Häuser von Achnashbeen blieben hinter Mike und Balthasar zurück. Ein schmaler, staubiger Weg wand sich den Berg empor zu der Burgruine. Dort oben flackerte noch immer das grüne Leuchten... Jetzt glühte es so hell wie die Sonne! Und in seinem Zentrum... Mike kniff die Augen zusammen, um genauer hin sehen zu können. Aber er wusste auch so, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Inmitten der Leuchterscheinung war ein Schat ten! Eine menschliche Gestalt! Was das zu bedeuten hatte, wusste Mike. Ingar war in einem der artigen grünen Leuchten verschwunden... Also war es nur logisch, dass dort oben in den nächsten Sekunden jemand erscheinen musste! Oder - es war eine neue Falle Parashthaars! Möglicherweise hatte sie ihre Annäherung beobachtet! »Jetzt ist es erloschen!«, stellte Schwarzschwert lakonisch fest. »Du weißt auch, was das bedeutet?« Schwarzschwert nickte stumm. Eine Staubwolke wirbelte auf, als Mike den Lotus in die letzte Kur ve zog. Jetzt lag eine mondbeschienene Ebene vor ihnen. Zweihundert Meter voraus reckten sich die schwarzen, von Wind und Wetter zer fressenen Mauerreste der Ruine in den Nachthimmel. Der ziemlich gut erhaltene Turm zog Mikes Aufmerksamkeit besonders an. Ingars Traum fiel ihm wieder ein. 97
»Das ist der Turm, von dem sie geträumt hat«, murmelte er fas sungslos. Schwarzschwert lenkte ab. »Da vorne hat es jemand mächtig ei lig!«, sagte er nur. Er hatte recht. Noch knapp achtzig Meter von der Ruine entfernt, zwischen den großen Felsblöcken, die überall auf der Ebene vor der Burgruine verstreut lagen, rannte ein Mann, als ginge es um sein Le ben. Scharf und klar war er im Licht des Mondes zu erkennen. Jetzt war er auf die Verfolger aufmerksam geworden. Er ruckte herum und seine rechte Hand hob sich... »Der ist bewaffnet! Vorsicht!«, brüllte Schwarzschwert warnend. Aber Mike hatte schon reagiert. Er riss das Lenkrad hart und doch nicht unkontrolliert nach links, steuerte gegen... fing den schlingernden Wagen ab. Der Flüchtige hatte die Burgruine inzwischen beinahe erreicht. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von einem mächtigen, weit offen stehenden Portal... »Nun tu doch was!«, brüllte Mike seinen Geisterpartner an. Aber Schwarzschwert war - verschwunden! Gleichzeitig materialisierte direkt vor dem Flüchtenden ein Silber streifen... Der Mann rannte dagegen - und brach mit einem Schmer zenslaut zusammen. Er wand sich auf dem Boden, raffte sich wieder auf. Mike bremste. Der Lotus kam zum Stillstand. Mike riss die Tür auf und warf sich hinaus. Der Mann feuerte. Hässlich zirpend fauchte die Kugel an Mikes rechtem Ohr vorbei. Dann hatte er den heimtückischen Kerl erreicht. Darf ich vorstellen? Elliot Conolly, genannt der Meister!, tönte Bal thasar in seinen Gedanken. Keine Zeit!, erwiderte Mike. Mit einem beinahe animalischen Knur ren griff Conolly an. Er schlug mit der revolverbewehrten Faust zu. Ein gemeiner Trick! Aber Mike war darauf gefasst gewesen. Gedanken schnell tauchte er zur Seite und schoss zugleich eine stahlharte Rechte ab. Er traf voll. Conolly torkelte rückwärts - und landete vor dem Por tal. 98
Er erkannte seine Chance! Blitzschnell warf er sich herum - direkt in die Dunkelheit hinein. »Helft mir, Kreaturen Parashthaars, Kreaturen der Finsternis! Helft mir! Und auch du, Parashthaar, meine Herrin, komm und steh mir bei! Parashthaaaaaar!« Schaurig gellte der Name der Geisterprinzessin aus dem dunklen Portal. Mike zögerte nicht mehr länger. Seine Muskeln spannten sich... Er hetzte dem Meister nach. Das war ein Fehler! Er erkannte es in dem Augenblick, in dem er in der finsteren, kalten Gewölbehalle anhielt. Hinter ihm schlossen sich mit einem dumpf hallenden Laut die überraschend gut erhaltenen Flü geltüren des Portals. Und dann erwachte die Dunkelheit um ihn herum zu einem grauenvollen Leben. Parashthaars Mordgeister brausten her an... * Plötzlich ging ein Ruck durch Parashthaars Nebelkörper. Sie hielt in der Bewegung inne. Das unfassbare Wesen schien in sich hinein zu lau schen... Dann weiteten sich Parashthaars Augen, ein Ausdruck maßlo ser Verblüffung trat in sie. Der geheimnisvolle Bann fiel von Ingar ab. Sie war wieder sie selbst, konnte wieder denken und fühlen. Obwohl ihr noch immer das Grauen im Nacken saß, schrie sie nicht. Sie begriff, dass sie im Augenblick nicht in direkter Gefahr war. Irgend etwas war geschehen, das Parashthaars Aufmerksamkeit voll auf sich zog. »Freue dich nicht zu früh«, sagte Parashthaar zynisch. »Ich habe zwar keine Zeit mehr, mich deiner anzunehmen. So wirst du mein Werk selbst vollbringen müssen!« Und in Ingars Bewusstsein flammte ein tödlicher Befehl auf.
Töte dich selbst. Stürze dich vom Turm!
Sie versuchte, sich dagegen aufzulehnen. Schweiß brach ihr aus.
Tu es! Jetzt! Sofort!
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Immer wieder explodierte Parashthaars Befehl in ihr. Immer drän gender wurde er. Ingar musste gehorchen. Sie setzte sich in Bewegung. Wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich die Tür ihres Gefängnisses. * Dieses Mal hatte Mike keine Chance! Eiskalte Klauen krallten sich in seinen Hals, würgten ihn. Mike versuchte sich loszureißen, vergeblich. Wie ein Schraubstock hielten ihn die Klauen fest - und drückten zu... Der Schmerz war höllisch. Seine Lungen keuchten. Sein Blick ver schwamm, wurde unklar... Wo war Balthasar? Warum half er ihm jetzt nicht? »Haltet ein, meine Lieblinge!«, gellte da plötzlich Parashthaars ge bieterische Stimme durch das Dunkel. Der Griff um Mikes Hals lockerte sich. Mike nutzte die Gelegenheit. Mit letzter Kraft riss er sich los, torkelte ein paar Schritte weit und blieb dann stehen. Die Geister-Kreaturen hatten sich zurückgezogen, er konnte es spüren. Das Wispern, Hecheln, Keuchen und Rascheln hatte sich entfernt... Vor Mike bildete sich eine rötlich glühende Aura. Die Luft begann zu flimmern und zu gleißen... Schwefeldämpfe wallten... Eine Gestalt bildete sich... Parashthaar! Die Prinzessin der bösen Geister! »Ich habe dich unterschätzt«, sagte sie mit schmeichelnder Stim me, während sie heranschwebte. »Aber das ist jetzt bedeutungslos. Du bist hier... Und du bist waffenlos. Du wirst sterben...« »Ja, vernichte ihn, Herrin!«, kreischte Elliot Conolly, der jetzt ne ben seine nichtirdische Verbündete getreten war. »Ich werde ihn vernichten!«, lachte Parashthaar. Sie breitete ihre Arme aus und warf sich vorwärts... Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Plötzlich erschien Balthasar neben dem Meister. »Es geht los, Mi ke! Hier hast du das Silberschwert! Mach ihm keine Schande!« 100
Geschickt fing Mike die Waffe auf und stellte sich der vor Zorn kreischenden Parashthaar. Zur gleichen Zeit handelte Conolly. Er feuerte seinen Revolver auf Balthasar ab. Das war sinnlos. Einen Geist konnte man mit normalen Kugeln nicht töten. Das hätte der Meister eigentlich wissen müssen. Balthasar lachte belustigt und berührte den verbrecherischen An walt mit seiner ausgestreckten Rechten. Und jetzt zeigte sich, wie ge fährlich das unscheinbare Kerlchen war. In allen Regenbogenfarben gleißende Punkte sprühten auf... Conolly zuckte wie vom Blitz getroffen zurück... In rasender Schnelle zerfiel sein Fleisch, wurde zu Staub... Dann klapperte ein blei ches Skelett auf den schmutzigen Boden... Der Meister existierte nicht mehr. Parashthaar schrie gellend auf. Mike, der aus den Augenwinkeln heraus Conollys Ende miterlebt hatte, war bereit. Leicht geduckt, mit gespreizten Beinen erwartete er den Angriff... * Die Wendeltreppe, die auf den Turm hinaufführte, war altersschwach, die Stufen glitschig. Ingar wusste das, aber sie musste weitergehen, immer weiter, immer höher hinauf... Der teuflische Befehl Pa rashthaars zwang sie unerbittlich dazu. Und dann trat sie ins Freie. Wind bauschte ihren Morgenrock. Mächtige Wolkenberge türmten sich bleich und regenschwer am dunklen Firmament und wurden vom Wind nach Osten getrieben. In der Ferne grollte leiser Donner. Alles war so, wie sie es vor Tagen geträumt hatte. Langsam, Schritt für Schritt näherte sie sich dem Loch in der Brüs tung... Ein Blitz zuckte auf. Grellgelbes Licht erhellte die Szene - und er losch sogleich wieder. Violett glühte der Himmel... Und jetzt kamen die Krähen, laut flatternd und hässlich kreischend. »Nein!«, hauchte Ingar. Sie wollte sich gegen Parashthaars Befehl auflehnen. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen... Es war sinnlos. Noch zwei Schritte... Dann noch ein Schritt... 101
Beiläufig registrierte sie Gedanken... Mikes Gedanken! Diese Er kenntnis trieb ihr die Tränen in die Augen. Er ist hier, dachte sie. Er
kämpft gegen Parashthaar. Aber es ist zu spät... Zu spät! Mike!
Sie schloss die Augen. Und dann machte sie den letzten Schritt. Aus!, Schoss es ihr durch den Sinn. * Wie eine Furie griff die Geisterprinzessin an! Ihre riesigen Krallenhände waren vorgestreckt, zielten auf Mikes Augen. Mike warf sich zur Seite. Parashthaar verfehlte ihn. Mit einem schrillen Wutschrei brauste sie vorbei. Mike kreiselte herum. Das Silberschwert blitzte auf. Mit einem hohen Singen zischte die scharfe Klinge durch die schwefelgeschwän gerte Luft. Und fraß sich in die Parashthaars Nebelkörper hinein! Parashthaar taumelte... Ihr Nebelkörper wurde plötzlich durch scheinend... »Sie will fliehen, Mike! Sie versucht, durch das Bildnis in die jen seitige Sphäre zu entkommen!« Schwarzschwerts Stimme kippte bei nahe über vor Aufregung. Mike federte herum. Schwarzschwert hatte eine Fackel aufgetrie ben und entzündet. Das blakende Licht ließ Einzelheiten erkennen. Nur wenige Meter von Mike entfernt hing ein überlebensgroßes Bildnis an der modrig-feuchten Wand. Ein Bildnis, das eine wunderschöne Frau mit diabolischen rot glühenden Augen zeigte... Parashthaar! Mike begriff. Er rannte los. Aber zugleich musste er erkennen, dass er zu spät kommen würde. Schon lachte Parashthaar höhnisch auf. Ihr Körper begann, in das Bildnis hineinzutauchen... Mike schleuderte das magische Schwert! Mit einem knirschenden Laut krachte das Schwert in das Bildnis der Geisterprinzessin. Violett-rote Funken gleißten auf. Die Leinwand fing Feuer. Parashthaars Todesschrei gellte in der Gewölbehalle - und erstarb abrupt, wie abgeschnitten. Mike taumelte benommen zurück. Ein Zittern durchlief den Fußbo den. Die Burgruine bebte in ihren Grundfesten! Das Feuer breitete sich 102
aus! Gierig fraßen sich die Flammen in die Höhe.... Das Böse war ver nichtend geschlagen, denn mit Parashthaar waren auch ihre Mordgeis ter gestorben. Dennoch konnte sich Mike nicht darüber freuen. Er hat te seine Pflicht getan... Und er hatte Ingar verloren. Jetzt, da Pa rashthaar nicht mehr existierte, würde er nie erfahren, was mit seinem Mädchen geschehen war. Vielleicht lebte sie noch... Wurde irgendwo an einem schrecklichen Ort gefangen gehalten... Ein bitterer Ge schmack war in seinem Mund. Nun hör schon auf, Trübsal zu blasen!, sagte Balthasars Gedan kenstimme. Ich habe nämlich zwei Nachrichten für dich. Die erste:
Murray hat im Haus des Meisters brisante Unterlagen gefunden. Somit ist sichergestellt, dass auch die Auftraggeber des Meisters ihrer ge rechten Strafe nicht entgehen. So und hier ist die zweite gute Nach richt: Draußen wartet ein bezauberndes Mädchen auf dich. Ingar heißt es...
Mike sagte gar nichts. Er rannte los, so schnell, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Und dann stand er vor ihr. Sie lächelte zaghaft. »Mike«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war geisterhaft bleich. Tiefe dunkle Ringe lagen um ih re Augen. Mike nahm sie in die Arme. »Es ist alles vorbei, Mädchen!«, sagte er rau. Sie nickte. »Ich weiß es.« Sie schwieg kurz. »Mir zittern die Knie. Du - du musst mich tragen!« Sein Gesicht wurde weich. »Nichts lieber als das«, erwiderte er sanft. Mühelos hob er sie hoch. Ihre Arme legten sich um seinen Hals. Mit seiner süßen Last auf den Armen ging er zu seinem Lotus hinüber. Dann erst fiel ihm Balthasar ein. »He - Balthasar - wo steckst du? Komm schon, lass dich sehen.« Schwarzschwerts Kichern klang in Mikes Gedanken auf. Wieso denn?, erkundigte er sich harmlos. Momentan brauchst du meine Hilfe
doch nicht. Oder?
Mike seufzte und sah Ingar an. Sie hatte die gedankliche Unterhal tung mitverfolgt und lächelte. Jetzt glitzerte sogar schon wieder der Schalk in ihren Augen. 103
Mike zuckte die Schultern - und lächelte auch. Was blieb ihm schon anderes übrig? Ein Geist wie Balthasar Rufus Schwarzschwert musste nun einmal immer das letzte Wort haben. Ende
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