Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 635 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Die Nabelwelt von Hubert Haensel
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 635 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Die Nabelwelt von Hubert Haensel
In der Gewalt von Anti‐ES
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher‐Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden‐X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrages entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer Spur, die in die Galaxis Xiinx‐Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Schließlich, gegen Ende des Jahres 3607 Terrazeit, muß die SOL den Sturz ins Nichts wagen, und sie gelangt dabei nach Bars‐2‐Bars, die aus zwei ineinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend, wie die Solaner bald erkennen müssen. Da sind die Völker der künstlich geschaffenen Doppelgalaxis, die einander erbittert bekämpfen. Da sind die Manifestationen der Zentralintelligenzen der Galaxien, verkörpert in Atlans Freundin Tyari und Mjailam, dem Hünen – und da ist das verderbliche Wirken von Anti‐ES, dem Erzfeind der Solaner. Die in der Namenlosen Zone gefangene negative Superintelligenz arbeitet über DIE NABELWELT …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide hört einen wichtigen Bericht. Porter ‐ Ein Sendbote Wöbbekings. Pork und Tega ‐ Zwei Multis. Sanny und Kik ‐ Atlans alte Freunde in der Gewalt von Anti‐ES. Mjailam ‐ Der von Prezzar Geschaffene greift ein.
1. Innerhalb weniger Minuten verschwand die Morgensonne hinter den dichten Staubwolken, die der jäh losbrechende Sturm vor sich herpeitschte. Die Außenmikrophone übertrugen ein rasch anschwellendes Knistern, hin und wieder von fernem, dumpfem Grollen überlagert. Aber während die sich zusammenballenden Gewitterwolken die »unteren« Sektionen des gelandeten Fernraumschiffs verdunkelten, während Blitze die mächtigen Landestützen umflossen, lag der weitaus größte Teil der Außenhülle nach wie vor im gleißenden Licht der Sonne Barsanter. Seit einigen Tagen herrschte Ruhe – es mochte die sprichwörtlich trügerische Ruhe vor dem Sturm sein, doch sie ermöglichte es den Solanern, abschließende Arbeiten durchzuführen und sich im übrigen mit den jüngst gewonnenen Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Längst nicht jeder sah die Zukunft rosig; die Gewitterwolken, die jetzt die SOL umspielten, schienen zugleich symbolhaften Charakter zu besitzen. Denn während man mehr oder weniger zum Abwarten verurteilt war, mochten sich an anderer Stelle von Bars‐2‐Bars, sehr wahrscheinlich aber in der Namenlosen Zone, Gefahren zusammenbrauen, die eindeutig gegen Atlan und seine Helfer gerichtet sein würden. Die SOL war der drohenden Vernichtung nur dank dem schnellen und konsequenten Handeln von Breckcrown Hayes entgangen. Ohne den Einsatz sämtlicher Waffensysteme wäre sie vermutlich beim Aufprall des Mondes
Lootyndol atomisiert worden – selbst die aktivierten Paratronschirme hätten dieser Katastrophe nicht standgehalten. Und was kam nun? Lootyndol hatte in seinem Innern eine technische Anlage beherbergt, die zweifellos Teil des vielfältigen Nabels gewesen war, der Bars‐2‐Bars, die künstlich herbeigeführte Konstellation zweier einander ähnlicher Spiralgalaxien, mit der Namenlosen Zone verband, wo Anti‐ES bislang nicht einmal eine von zehn Relativ‐ Einheiten seiner Verbannung hinter sich gebracht hatte. Vermutlich würde es auch nie über diese erste Einheit hinausgelangen, denn sein ganzes Handeln widersprach dem Läuterungsprozeß, den die Kosmokraten von ihm erwarteten. Anti‐ES wollte die Freiheit und würde alles daransetzen, um diese Freiheit zu erlangen. Auf seine Weise. »Unser Gegner hat nichts zu verlieren.« Atlan schreckte aus seinen Überlegungen auf und wandte sich von dem kleinen Monitor der Außenbeobachtung um. Sein Blick huschte über die spärliche, überwiegend technische Einrichtung der Kabine, die dennoch unverkennbar die Handschrift ihres Bewohners trug, und blieb schließlich an der Frau hängen, die ihm so ähnlich sah. Tyari war 1,76 Meter groß und wirkte trotz ihrer betont weiblichen Formen kräftig. Das schlohweiße, lockige Haar trug sie zurückgekämmt, es fiel ihr bis fast zur Hüfte. Mühelos hielt sie Atlans forschendem Blick stand. Sie spürte die Gefühle, die er ihr gegenüber empfand und manchmal unter einer Mauer aus Unsicherheit zu verbergen suchte. Atlan war irritiert. Alles, was er tat und sagte, schien irgendwie ein unbewußtes, gefühlsmäßiges Abtasten. Als würde er noch mehr für mich empfinden, als er jemals zugegeben hat, schoß es Tyari durch den Sinn. Das spöttische Aufblitzen in ihren roten Albinoaugen veranlaßte den Arkoniden, sich abrupt wieder dem Monitor zuzuwenden. Zwischen ihnen bestand viel mehr als Loyalität. Sie arbeiteten eng
zusammen, und sie lebten in einer Kabine. »Für Anti‐ES sind wir ein Faktor, den es nur schwer berechnen kann«, fuhr Tyari fort. »Wir gefährden die Übergangsstellen, auf die es angewiesen ist.« Atlan schüttelte den Kopf, zögerte, zuckte dann mit den Schultern. »Wenn es sich vermeiden läßt, werde ich die SOL künftig von kämpferischen Auseinandersetzungen fernhalten. Lootyndol hat mir wieder einmal vor Augen geführt, wie groß das Risiko ist.« »Bleibt dir überhaupt eine Wahl?« »Anterf scheint ein sicherer Ort zu sein, sonst hätte Anti‐ES längst erneut zugeschlagen. Warten wir ab, was geschieht.« »Ich habe dich bisher nicht als einen Mann kennengelernt, der das Unangenehme vor sich herschiebt.« Ein unwilliger Zug lag um die Mundwinkel des Arkoniden. »Die Situation ist festgefahren, was die eigentliche Problematik von Bars‐2‐Bars betrifft. Abgesehen von unseren Bemühungen, dauerhaften Frieden zu stiften, werden die Völker von Bars und Farynt es selbst gemeinsam kaum schaffen, ihre Galaxien voneinander zu lösen. Dazu fehlen noch die Ansatzpunkte.« »Ist es nichts, daß wir inzwischen von der Existenz der Nabel wissen? Und irgendwann, Atlan, ob du willst oder nicht, wirst du in Zugzwang geraten. Dann nämlich, wenn Anti‐ES auf den einzig logischen Gedanken verfällt, die SOL in die Namenlose Zone zu entführen, um so jede weitere Gefährdung seiner technischen Einrichtungen zu vermeiden.« Der Arkonide nickte schwer. »Ich werde mit Breck darüber reden.« Durch einen Blickkontakt zur Sensorschaltung desaktivierte er den Monitor der Außenbeobachtung. Das Gewitter, das über dem Landefeld und der nahe gelegenen Stadt Karn‐Ant niederging, war heftiger geworden. In ununterbrochener Folge zuckten grelle Blitze aus der schwarzen Wolkenfront hervor, während große Hagelkörner die Ebene mit einer weißen Decke überzogen.
Interessiert betrachtete Tyari eine Reihe farbenprächtiger Aufnahmen, jede kaum zehn mal zehn Zentimeter messend. Durch die dünnen Plastikblöcke, in die sie eingeschmolzen waren, wirkten sie um ein Vielfaches größer. »Deine Heimat?« Atlan zögerte mit der Antwort. Die. Bilder zeigten einen blau leuchtenden Planeten, eingebettet in die samtene Schwärze der Unendlichkeit. Und diese Welt besaß einen kleinen, zerklüfteten Begleiter. »Fast wie Seleterf«, bemerkte Tyari. »Ein schöner Planet, eines der Juwelen der Schöpfung. Und dieser braun‐grüne Kontinent gleicht Palland …« »Das ist Afrika«, sagte Atlan. »Was du als Juwel bezeichnest, war nicht immer so. Das Leben, das diese Welt hervorgebracht hat, führte sie an den Rand der Vernichtung …« »Die Solaner stammen von dort?« vermutete Tyari spontan. »Ich sehe es dir an.« »Zumindest die Vorfahren vieler von ihnen«, nickte der Arkonide. »Die Erde ist meine zweite Heimat; SENECA hat diese Bilder für mich angefertigt.« »Du würdest um sie kämpfen?« »Ja«, sagte Atlan, obwohl er genau wußte, worauf Tyari abzielte. »Dann wirst du verstehen, daß ich alles tun muß, um Bars zu erhalten.« Die Frau lächelte. Ihr Blick, ihre ganze Haltung war herausfordernd. Atlan sah sie an, sein Gesicht nahm einen erstaunten, beinahe abweisenden Ausdruck an. »Geh da weg, schnell!« Sie zögerte, weil sie nicht verstand. Auf einer Konsole neben ihr stand ein kleines Kästchen. In dem Augenblick in dem es seine Form veränderte, begriff Tyari, daß es keineswegs zum Mobiliar gehörte. Zur Kugel geworden, rollte dieses Ding provozierend langsam
über die Konsole und fiel dann zu Boden, wo es sich hüpfend fortbewegte. Ungläubig blickte Tyari ihm hinterher, während sie zugleich ihren Kombistrahler zog und entsicherte. Atlan fiel ihr in den Arm. Immerhin, das sah er erst jetzt, hatte sie die Waffe nur auf Paralysestrahlen geschaltet. »Du weißt, was das ist?« »Nein.« Die Kugel wurde zur Walze, deren Oberfläche in ständiger, fließender Bewegung begriffen schien. Immer neue Muster und Formen bildeten sich, als sie in der Mitte des Raumes verharrte. »Das Ding könnte von Anti‐ES geschickt worden sein«, vermutete Tyari. »Wie sonst sollte es sämtliche Sicherheitssperren um die SOL überwunden haben.« Aus der Walze entstand wieder das Kästchen, wie es sich auf der Konsole befunden hatte. Es wirkte ungefährlich. Trotzdem blieb die Frage, wie es nach SOL‐City gelangt und vor allem, seit wann es an Bord war. Es muß nicht unbedingt ein Gegner sein, wisperte der Extrasinn. Das Ding sah technisch aus. Vielleicht bestand es aus beliebig veränderbarer Formenergie. Kurz entschlossen bückte Atlan sich, doch ehe seine Finger das Kästchen berührten, bildete es eine Vielzahl winziger Auswüchse, auf denen es blitzschnell unter den nächststehenden Sessel flüchtete. Tyari rief überrascht aus: »Das könnte sogar ein Lebewesen sein. Kein Roboter besäße den Instinkt, sich unter dem Sessel zu verbergen.« Atlan nickte knapp. Einem Schrankfach entnahm er ein doppelt faustgroßes Steuergerät, mit dem sich ein kleiner Prallschirm erzeugen und steuern ließ. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er das Ding, das nun die Form einer plumpen Spindel besaß, aus dessen Versteck hervortrieb. Seltsame Geräusche, die sich wie verhaltenes menschliches Lachen anhörten, erfüllten plötzlich den Raum. Im nächsten Moment war
die Spindel verschwunden, als hätte sie nie existiert. * »Es denkt«, erklärte Tyari spontan. »Kannst du seine Anwesenheit noch wahrnehmen?« »Es ist irgendwo in der Nähe, ohne daß ich allerdings seine Absichten zu erkennen vermag. Zu viel Verschiedenes geht von diesem Geschöpf aus.« Atlan wandte sich zum Interkom um. »Das ist eine Aufgabe für Blödel. Wenn jemand herausfinden kann, was …« Offensichtlich erstaunt unterbrach er sich und führte rasch hintereinander eine Reihe von Schaltungen durch. »Der Interkom ist tot.« Aus der Verkleidung des Geräts schob sich ein helles Flimmern hervor, das rasch materielle Konturen annahm. Innerhalb weniger Sekunden schwebte ein etwa vierzig mal vierzig Zentimeter messender Würfel in Augenhöhe. Seine Oberfläche war wie ein Spiegel. Atlan spürte ein leichtes, sich ausweitendes Ziehen in den Schläfen. »Da ist es wieder«, stellte Tyari völlig überflüssig fest. Auch sie schien verunsichert. »Es denkt, aber noch kann ich seine Gedankenströme nicht richtig erfassen. – Warte!« rief sie schnell, als Atlan nach dem Würfel greifen wollte, der erneut seine Form zu verändern begann. »Es – ich habe keinen anderen Ausdruck dafür – es versucht, deine Sprache zu erlernen.« Porter ist harmlos, behauptete der Extrasinn. Porter? gab Atlan zurück. So nennt er sich. Ein Freund, sagt er, hat ihn geschickt. Der Arkonide seufzte. Was weißt du außerdem? Nichts.
Allmählich verschwand das Ziehen unter der Schädeldecke wieder. Atlan glaubte, einen Hauch von Einsamkeit und Sehnsucht wahrzunehmen, war sich dessen aber keineswegs sicher. Porter hatte abermals Kugelform angenommen; die stilisierten Umrisse eines menschlichen Gesichts zeigten sich auf seiner Oberfläche. Schließlich begann er zu reden, abgehackt zwar und zunächst schwer verständlich, doch mit jedem Wort deutlicher werdend, ganz so, als müsse er sich an die Lautfolge des Interkosmo erst gewöhnen. »Ich habe lange nach dir gesucht, Atlan, und auch nach dir, Tyari, die du der Galaxis Bars entstammst. Euer Mißtrauen mir gegenüber ist ungerechtfertigt.« »Wer bist du?« »Dein zweites Ich nannte meinen Namen, den unser gemeinsamer Freund mir gab.« »Wer schickt dich?« »Wöbbeking‐NarʹBon.« Überrascht zog Atlan die Brauen hoch. Ein nachdenklicher Zug umspielte seine Mundwinkel. Fragend blickte er Tyari an, aber die Frau zuckte nur mit den Schultern. Entweder konnte sie Porters Gedanken nach wie vor nicht klar erfassen, oder es gab etwas, was sie nicht zu deuten vermochte. »Wöbbeking hat nie von dir gesprochen.« »Weshalb sollte er«, erwiderte Porter ausweichend. »Ich verdanke ihm viel. Ohne ihn wäre ich längst in jenem Raum ohne Sterne gefangen.« Das Geschöpf verformte sich erneut. Nur seine unfertig wirkenden Gesichtszüge blieben erhalten. Kaum merklich schüttelte Tyari den Kopf. Ihr Blick bedeutete dem Arkoniden, vorsichtig zu sein. »Wie bist du in die SOL gelangt?« »Wöbbeking‐NarʹBon gab mir die Kraft dazu.« »Warum kommt er nicht selbst?« Atlan kannte die Antwort auf
diese Frage im voraus, nur wollte er sie von Porter hören. Das Wesen bildete zwei Tentakel aus und fuchtelte damit in der Luft herum. »Wöbbeking ist nicht bereit, in Bars‐2‐Bars zu erscheinen. Das ist eines, was er dir durch mich sagen läßt.« »Ich kann nicht erkennen, ob Porter lügt«, ließ Tyari endlich vernehmen. »Jedenfalls denkt er ständig etwas anderes, als er sagt. Es scheint, als würde eine mentale Sperre sein Gedächtnis zumindest teilweise blockieren. Seine Gedanken kreisen nur um seine Heimat, ohne daß ich wirklich erfahre, was damit gemeint ist.« »Du hast gehört, was Tyari sagt«, wandte Atlan sich wieder dem merkwürdigen Geschöpf zu. »Du brauchst schon eine plausible Erklärung, wenn wir dir vertrauen sollen.« Er hielt jetzt seinen Strahler in der Rechten. »Wöbbeking‐NarʹBon hat vorausgesehen, daß du mir mißtrauen würdest. Er gab mir den Rat, dich an Cara Doz zu erinnern, was sie für ihn getan hat, indem sie die SOL in den galaktozentrischen Transmitter von Xiinx‐Markant lenkte. Vertrauen, Atlan, ist manchmal mehr wert als jeder noch so berechtigt erscheinende Zweifel.« Womit er gar nicht unrecht hat, stimmte der Extrasinn zu. Es ließen sich viele Beispiele dafür anführen. »Deine Waffe schüchtert Porter nicht ein«, sagte Tyari in dem Moment. »Er ist einsam und sehnt sich nach einem Leben, wie es früher war, bevor ARCHITEKT nach seiner Welt griff. Er denkt durchaus menschlich und glaubt manchmal, nur der Tod könnte ihn von seiner Sehnsucht erlösen.« »Weißt du, woher er kommt?« »Nein. Es ist, als würde er seine Erinnerung absichtlich verdrängen. Sie quält ihn.« »Wöbbeking‐NarʹBon hat allen Solanern von dem galaktischen Epos berichtet, von Bars und Farynt, die heute Bars‐2‐Bars sind«, sagte Porter. »Er hat mich gesandt, um euch eine andere Geschichte
zu erzählen – die von Sanny, Kik und Asgard. Ich weiß, Atlan, daß du an ihrem Schicksal interessiert bist, darum höre mir zu.« 2. TYAR Vieles war geschehen – fast alles davon unbegreiflich, doch nichts so sinnlos wie das Vergehen ganzer Völker, die vor wenigen kosmischen Augenblicken noch in der Blüte ihrer Entwicklung standen. Warum? Tyar schrie seine Gedanken hinaus. Indes, da war niemand, der sie hören konnte, der vor allem verstand, was es für diese unbegreifliche Intelligenz bedeutete, gefangen zu sein. Prezzar hatte sich zurückgezogen, aber seine Anwesenheit war nach wie vor spürbar. Der Instinkt von Farynt plante etwas, das Tyar nicht wissen durfte. Dabei war beider Schicksal untrennbar miteinander verbunden, auch wenn Prezzar das oft genug zu vergessen schien. Er war unberechenbar und launisch. Tyar vermißte die Freiheit, die Sonnen Planeten und Monde, die für ihn Körper und Erfüllung zugleich gewesen waren. Die Unendlichkeit hatte ihn begleitet, seit mit dem Licht der ersten aus Dunkelheit geborenen Sonne von Bars ein winziger Teil von ihm sich seiner Existenz bewußt geworden war. Er hatte zu spät reagiert, damals, als die Galaxis KJ‐41 begonnen hatte, sich Bars zu nähern, und er hatte für sein Zögern mit der qualvollen Enge eines planetaren Gefängnisses bezahlt. Das Volk der Vlahreser ging unter bei dem verzweifelten Versuch, das letztlich doch Unvermeidliche abzuwenden. Aber war nicht der Tod gnädiger als das ihm zugedachte Schicksal? Tyar ahnte, und diese Ahnung gewann zunehmend an Realität, daß in nicht mehr ferner Zukunft sein Geist sich verwirren und damit blind werden würde für die Schönheiten der Schöpfung. In einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung hatte er ein Wesen erzeugt, von dem er
sich Hilfe versprach: Tyari. Die Intelligenz von Bars schrie ihre Furcht hinaus. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie so Sonnen in Nova verwandeln können. Jetzt war sie schwach. Niemand hörte sie – niemand außer Prezzar, und der verstand nicht, was wirklich geschah. Dabei wären sie gemeinsam vielleicht stark genug gewesen, dem Gegner zu widerstehen. Doch das war längst Vergangenheit … * Selbst in der Zentrumsregion von Bars‐2‐Bars standen die Sonnen nicht so dicht wie im Kern mancher anderen Galaxis. Das war einer der Gründe, weshalb Bars und Farynt zusammengeführt worden waren. Auch hatte die Population überraschend wenig alte Sterne aufzuweisen, deren hyperenergetische Strahlungspegel besonderen Störfaktoren unterworfen gewesen wären. Angeregt durch die Beobachtungen im Prezzar‐Mydonium hatte Sanny immer neue paramathematische Berechnungen erstellt und wieder verworfen, war aber mit der ihr eigenen Unermüdlichkeit zu dem Schluß gelangt, daß es nicht nur möglich war, von bestimmten Orten der Doppelgalaxis aus Einblick in die Namenlose Zone zu nehmen, sondern daß es Übergänge gab, die ein Hinüberwechseln von einem Raum in den anderen ermöglichten. Sanny errechnete weiter, daß genau dies der Anlaß für HIDDEN‐X, der sich damals noch ARCHITEKT oder ALLMACHT nannte, gewesen war, Bars und Farynt ineinander zu verankern. Die energetischen Verhältnisse beider Galaxien waren geradezu ideal; die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sonnen und vorgelagerten Kugelsternhaufen mußten eine Vielzahl hypothetischer Aufrißfronten erzeugt haben. Infolge der beibehaltenen Eigenrotation der Sternsysteme mochte sich jedoch mancher
Übergang als instabil oder zeitlich begrenzt erweisen. Allein daraus resultierte die Erfordernis, auf technischer Basis für eine Stabilisierung zu sorgen. »Du willst nach einem solchen – äh – Übergang suchen, nicht wahr«, bemerkte Kik, richtete sich auf zwei seiner fünf Beine auf und fuchtelte mit den anderen interessiert vor seinem Körper herum. »Es wäre logisch, diese Orte als Nabel zu bezeichnen«, nickte Sanny. »Immerhin hegt die Namenlose Zone entgegen der Krümmung unserer Raum‐Zeit‐Struktur …« »Hör auf damit«, wehrte der Vlahreser ab. »Ehrlich gesagt, verstehe ich nur die Hälfte von dem, was du von dir gibst.« Er zog die Molaatin an sich und strich vorsichtig über ihren dichten lindgrünen Pelz. Wenn er sich aufrichtete, konnte er Sanny mühelos unter seinem Körper verbergen. »Laß das«, schimpfte sie. »Du bringst mich völlig durcheinander.« Kik vollführte eine heftige Bewegung, und die schlagartig einsetzende Schwerelosigkeit ließ ihn sich unkontrolliert überschlagen. Zum Glück durchmaß der Hohlraum in Asgards Innerem nur drei Meter, so daß der Vlahreser rasch wieder Halt fand. Kopfüber richtete er sein großes Augenpaar auf die Molaatin. »Hast du das etwa auch berechnet?« »Natürlich. Asgard wollte dir nur zu verstehen geben, daß du mich nicht behindern sollst.« »Langsam wirst du mir unheimlich«, gestand Kik, stieß sich sanft ab und kam unmittelbar neben Sanny auf. Mit zwei seiner Gliedmaßen, die für ihn Arme und Beine zugleich waren, fuhr er sich durch die wirren, roten Haare, die seinen Kopf fast völlig bedeckten. »Haben wir nun einen Nabel gefunden oder nicht?« wollte er wissen. »Ich denke schon«, nickte die Paramathematikerin. »Dieser Sektor nahe der Überlappungszone von Bars und Farynt weist mehrere
energetische Besonderheiten auf.« »Sollen wir Atlan von unserer Entdeckung informieren?« »Nicht solange die endgültige Gewißheit fehlt. Wir beschränken uns ohnehin nur aufs Beobachten.« * Doppelsonnen, die einen gemeinsamen Schwerpunkt umkreisten, waren zwar eine astrophysikalische Seltenheit, keinesfalls aber so ungewöhnlich, daß allein schon ihre Existenz den gewagtesten Vermutungen Vorschub geleistet hätte. Daß eine von beiden ein roter Riese war, die andere hingegen ein völlig normaler gelber Stern mit Oberflächentemperaturen nur wenig über 5 000 Grad, war ebenfalls kaum dazu angetan, Verdacht zu erregen. Erst als Sanny den einzigen Begleiter dieser beiden Sonnen entdeckte, wußte sie, daß sie ihr Ziel erreicht hatte. Diese Welt, deren Durchmesser knapp zweitausend Kilometer betrug, war eigentlich kaum als Planet zu bezeichnen, eher als Mond, der irgendwann von den ungewöhnlichen Schwerkraftverhältnissen eingefangen worden war. Er umkreiste die Sonnen auf der Bahn einer langgestreckten, elliptischen Acht, deren Schnittpunkt identisch war mit dem gemeinsamen Schwerpunkt des Systems. »Jede größere Masse«, stellte Sanny fest, »würde unter der Einwirkung der unterschiedlichen Kräfte zerbrechen.« »Du meinst, daß es sich lohnt, dieser Welt einen Besuch abzustatten?« fragte Kik zögernd. Irgendwie kam er sich überflüssig vor. Weder konnte er erkennen, was draußen, im Weltraum geschah, noch war er in der Lage, an Sannys Berechnungen teilzuhaben. »Sage Asgard, daß er landen soll.« »Unser Freund fliegt den Mond bereits an«, nickte die Molaatin. »Wenn deine Berechnungen stimmen, ist seine Masse zu gering, um eine Atmosphäre festzuhalten«, gab Kik zu bedenken. »Wir
werden Asgard nicht verlassen können.« Sie merkten nichts davon, ob ihr organisches Raumschiff beschleunigte oder abbremste. Die fünf Meter durchmessende Kugel war nach dem Willen von Anti‐ES und seinem früheren Helfer Anti‐ Homunk geformt, durch das Einwirken von Atlans Extrasinn jedoch mit einer positiven Mentalität ausgestattet worden. Eigentlich bestand Asgard aus einer einen Meter dicken Kugelschale, die seine Haut, seine Organe, der Sitz seiner Intelligenz war. In dem Hohlraum in seinem Innern konnte er beliebige Atmosphären erzeugen und auch erhalten. Weniger als eine Stunde mochte vergangen sein, als sich unvermittelt die Kugelhülle öffnete. Noch ehe Sanny Anstalten traf, Asgard zu verlassen, war Kik bereits auf seinen fünf Beinen an ihr vorbeigestakt. »Die Luft ist atembar«, rief er von draußen und begann, in der weichen, blauen Grasnarbe herumzuwühlen. Augenblicke später hielt er abrupt inne, kratzte sich seine Haare. »Richtig. Asgard hätte uns wohl kaum den Weg freigegeben, wenn dem nicht so wäre.« Sie warfen zwei Schatten – einen langen, weichen, der an den Rändern fast mit der Helligkeit des Tages verschmolz, und einen weitaus kürzeren, jedoch scharf abgegrenzten. Der rote Riese stieg soeben als Glutball über den Horizont herauf. Die Lichtbrechung der Atmosphäre mochte das ihre dazu beitragen, daß er nahezu die halbe Hemisphäre ausfüllte. Die gelbe Sonne stand um knapp 180 Grad entgegengesetzt und neigte sich dem Abend zu. In ihrem Widerschein erstrahlte ein ferner Gebirgszug, als bestünde er aus reinem Glas. Das Gleißen und Funkeln von dort schmerzte in den Augen. »Morgen um diese Zeit werden die Sonnen einander genau gegenüberstehen«, sagte Sanny. »Dann tritt der Planet in den Schnittpunkt ihrer Anziehungskräfte ein.« »Wir nennen ihn Zwielicht, nicht wahr«, schlug Kik vor. Sanny hatte nichts dagegen einzuwenden, und Asgard
signalisierte sein Einverständnis durch einen raschen Farbwechsel seiner Oberfläche. »Diese Welt ist etwas Besonderes«, behauptete die Molaatin. »Ich kann es nun deutlicher berechnen als zuvor. Sie birgt ein Geheimnis, das für uns von Interesse ist.« Asgard hatte als Landeplatz eine nicht sonderlich ausgedehnte Hochebene gewählt, deren Vegetation überwiegend aus niedrigem Gras bestand. Erst zu den steil abfallenden Rändern hin wuchsen blühende Sträucher und vereinzelt sogar kegelförmige Bäume, deren Laub schon unmittelbar über dem Boden überaus dicht war. Je höher die rote Sonne stieg, desto deutlicher veränderten sich die Farben bis hin zu einem kräftigen Blau. Bestandteile von Edelgasen in der Atmosphäre mochten für den Effekt verantwortlich sein. Sanny stellte fest, daß die Schwerkraft für diese kleine Welt viel zu hoch war. Aber vielleicht bestand das Innere des Planeten aus Elementen von ungewöhnlich hoher Dichte. Damit wäre das Vorhandensein der Atmosphäre zu erklären gewesen. Blutrot schlängelte sich das Band eines Flusses durch die tiefer gelegene Landschaft. Ausgedehnte Wälder beherrschten das Bild, aber auch steppenähnliche Regionen und dazwischen vereinzelt kahle Flecken, an denen nackter Fels zutage trat. Keine Spur von Besiedlung oder dem Wirken intelligenten Lebens. Urwüchsigkeit war vorherrschend. Kik entdeckte den dunklen Punkt am Horizont, der sich langsam zu bewegen schien, als erster. Auf die Entfernung hin blieb unklar, um was es sich handelte. »Ich hatte ohnehin vor, Zwielicht näher zu erforschen«, sagte Sanny. »Weshalb sollten wir nicht in dieser Richtung anfangen.« * Asgard ließ eine Lücke in seiner Hülle, so daß seine beiden
Passagiere bequem Ausschau halten konnten. Der Punkt am Horizont entpuppte sich schon bald als Herde monströser Tiere, die sich durch die Uferauen eines Flusses wälzten. Etwa fünfzig Exemplare waren es, deren großflächige Panzerplatten eine nicht zu überhörende Geräuschkulisse erzeugten. Sie waren Pflanzenfresser. Mit ihren breiten Schädeln schien es ihnen ein leichtes, selbst starke Bäume zu entwurzeln. »Sie folgen dem Lauf der roten Sonne«, stellte Sanny fest. »Aber sie sind viel zu langsam. Vermutlich verfallen sie in Inaktivität, sobald das Muttergestirn wieder hinter dem Horizont versinkt.« Asgard ging tiefer. Eines der Tiere hob ruckartig den Schädel und spähte aus seinen sechs großen, hervorquellenden Augen zu ihnen herauf, während die anderen sich nicht im geringsten stören ließen. Träge zogen sie durch die schlammige Uferregion. Nur das eine Tier starrte Asgard noch eine Weile hinterher, bis es sich scheinbar unwillig wieder in Bewegung setzte. Zwielicht bestand aus einer umfassenden Landfläche, die hin und wieder von ausgedehnten Seenplatten unterbrochen wurde. Es gab keine ausgesprochenen Vegetationszonen. Waldgebiete und Steppen wechselten einander in lockerer Folge ab, woran nicht zuletzt die gleichmäßige Einstrahlung beider Sonnen Schuld hatte. Es war warm auf dieser Welt. Feuchtigkeit hing über den Flüssen und Seen wie ein dünner Nebel. Nach der dritten Umrundung stand für Kik fest, daß kein Stützpunkt raumfahrender Rassen auf Zwielicht existierte. Die Wildnis war unberührt. Mit Ausnahme der gepanzerten Tiere schien es auch keine größeren Lebewesen zu geben. »Ich weiß nicht«, sagte Sanny. »Diese Welt liegt so nahe an der Überlappungszone von Bars und Farynt, daß zumindest im Zug der kämpferischen Auseinandersetzungen Raumschiffe den Weg hierher gefunden haben müssen. Einen idealeren Vorposten kann ich mir kaum vorstellen, zumal im Umkreis von einigen Lichtjahren keine weiteren Sonnensysteme stehen.« Sie bat Asgard, am Rand
einer der kahlen Felsflächen zu landen, die nur durch einen schmalen Buschstreifen vom umgebenden Hochwald getrennt war. »Mag sein, daß Anterferranter oder Beneterlogen sich aus Furcht vor Entdeckung ins Planeteninnere begeben haben. Ihre Technik ist weit genug entwickelt.« »Dann müßten sie uns längst bemerkt haben und angreifen, nicht wahr.« Unschlüssig wedelte Kik mit zwei Armen. »Jeder würde uns für die Gegner halten, die seine mißliche Lage verschuldet haben. Und wenn sie schon von Atlans Friedensbemühungen vernommen haben …« »Zwielicht haftet etwas Besonderes an«, unterbrach die Molaatin. »Vielleicht täusche ich mich, und es gibt tatsächlich keine Station hier, aber ganz sicher wird die morgige Konstellation zwischen beiden Sonnen und dem Planeten zu außergewöhnlichen Ereignissen führen.« Nicht ein Grashalm ragte zwischen den Felsen auf. Knapp hundert Meter durchmaß die kahle Fläche, deren Umrisse so unregelmäßig waren, daß sie nur zufällig entstanden sein konnten. Das Gelände senkte sich zur Mitte hin ab. Zögernd streckte Kik zwei Arme aus, um einen Stein an sich zu nehmen, den er dann abschätzend vor seinen Augen drehte. Unvermittelt brach der Stein auseinander und gab eine Vielzahl winziger Hohlräume frei. »He«, machte Kik überrascht und griff nach einem weiteren Brocken, der ihm ebenfalls zu leicht erschien. Sanny schürzte die Lippen. »Als wäre ein bestimmtes Mineral herausgelöst worden«, sagte sie. »Mich interessiert, ob die großen Felsen ebenfalls brüchig sind.« Ehe Kik sie zurückhalten konnte, hastete sie vorwärts. Ihr Eifer, endlich etwas gefunden zu haben, war ihre Vermutung bestätigen konnte, ließ sie jede Vorsicht vergessen. Kik dachte da anders. »Was hälst du davon?« wandte er sich an Asgard. »Mir ist Zwielicht unheimlich.«
Auf der Außenhülle der Kugel entstand das Abbild der beiden Sonnen. Die vielfach gewundenen, zum Teil ineinander verschlungenen Linien sollten wohl die Strahlungsverhältnisse darstellen. »Du meinst, die Sonnen verunsichern mich?« Asgard bestätigte das. Sanny war stehengeblieben, hatte zwei oder drei größere Steine zerbrochen und wandte sich nun um. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es ist wie ich angenommen habe«, rief sie. »Ein äußerer Einfluß hat die Steine verändert. Vielleicht sind vor gar nicht allzu langer Zeit Raumschiffe hier gelandet.« »… und wieder gestartet, nicht wahr«, fügte Kik hinzu. Ein leises schabendes Geräusch erklang. Kik glaubte, daß der Boden unter seinen fünf Beinen vibrierte. Das Geräusch veränderte sich zum anschwellenden Fauchen, mit dem kubikmeterweise Sand und Geröll in die Luft geschleudert wurden. Sanny stand nur wenige Schritte von der Fontäne entfernt, sie schaffte es nicht, sich in Sicherheit zu bringen. Jäh brach unter ihr das Erdreich ein. Sie befand sich plötzlich im oberen Drittel eines gut zwanzig Meter tiefen, steil abfallenden Trichters. Verzweifelt versuchte sie, in die Höhe zu gelangen, rutschte aber nur noch tiefer ab. Kik hörte sie schreien, ohne daß er erkennen konnte, was geschah. Stoßweise wurde jetzt Sand emporgeschleudert. Sanny fand nirgendwo festen Halt. Unaufhaltsam glitt sie in die Tiefe, wo sich unter einem Haufen von Geröll ruckartige Bewegungen abzeichneten. Ein eckiger Schädel wurde sichtbar, zwei kräftige Kieferzangen, jede gut doppelt so groß wie die Molaatin, zuckten heran. Entsetzt warf sie sich herum. Es gelang ihr tatsächlich, zu klettern, aber schon wurde sie von dem Tier, das seine sicher geglaubte Beute entkommen sah, mit Steinen beworfen. Inmitten einer sich rasch
ausdehnenden Lawine aus Geröll, Sand und Erde rutschte sie ab, dem Zentrum des Trichters entgegen. Die Falle war perfekt. Die lockeren brüchigen Steine verhinderten, daß die Opfer flohen. Nach allem, was Sanny bislang gesehen hatte, gab es Dutzende dieser Geschöpfe auf Zwielicht. Existierte demnach doch eine reichhaltigere Tierwelt als angenommen? Auf allen vieren versuchte die Molaatin, Höhe zu gewinnen, blindlings, stolpernd, vor Furcht und Entsetzen halb gelähmt. Eine der Zangen traf sie schmerzhaft an den Beinen, sie überschlug sich, prallte hart auf und rutschte erneut abwärts. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie das Tier an, das nun auf sie zukam, unfähig, sich zu bewegen. Schlagartig verdunkelte sich der Trichter. Ein Schatten fiel von oben herab. Sanny nahm es nur unbewußt wahr. In dem Moment, in dem das Tier nach ihr schnappte, fühlte sie sich angehoben. Asgard hatte einen dünnen Tentakel um ihren Leib gewickelt und hielt sie fest umschlungen. Kik winkte ihr von unten her aufgeregt zu, als sie dann über ihm schwebte, und Asgard setzte sie sanft im Gras ab. Sanny benötigte eine ganze Weile, um sich von dem erlittenen Schock zu erholen. Immer wieder, während sie ihren Pelz säuberte, ertappte sie sich dabei, daß sie ängstlich zu dem Trichter hinüberblickte. Innerhalb weniger Minuten erinnerte kaum noch etwas an die dort lauernde Gefahr. Das war knapp, gab Asgard zu verstehen. Zwielicht ist tückischer, als wir dachten. »Was nur beweist, daß meine Berechnungen stimmen«, nickte Sanny. »Wir werden eben vorsichtiger sein müssen.« Nicht weit entfernt erscholl ein dumpfes, langgezogenes Brüllen. »Das sind die gepanzerten Tiere, die wir gesehen haben, nicht wahr«, sagte Kik. Die Molaatin warf einen flüchtigen Blick zum Firmament empor, wo das rote Gestirn noch immer im frühen Vormittag stand. Ein Tag
auf Zwielicht währte mindestens vierzig Stunden. »Ich denke, sie wandern mit der Sonne. Sie dürften nicht in unsere Richtung kommen.« Das Brüllen wiederholte sich, diesmal aus größerer Nähe und begleitet vom Splittern und Krachen stürzender Bäume. Zumindest eines der Geschöpfe bahnte sich unbeirrbar seinen Weg. Ein ohrenbetäubender Knall zerriß die Atmosphäre und fegte als rollender Donner über das Land. Im selben Moment gewahrte Sanny mehrere Dunststreifen, die scheinbar aus der Sonne gekommen waren und am Horizont verschwanden. Drei silbern glitzernde Punkte kehrten in einer weiten Schleife zurück. Jäger! »Ob sie uns suchen?« »Ich glaube nicht. Auf jeden Fall dürfen wir kaum wagen, jetzt aufzusteigen. Wir müssen uns im Wald verbergen.« Dort waren sie zumindest vor direkter Sicht von oben her geschützt. Stille hielt Einzug – eine beklemmende, unwirkliche Stille. Selbst die Geräusche der Panzerechse waren verstummt. Entweder hielt das Tier erschrocken inne, oder … Sanny spürte die nahe Gefahr, obwohl sie sie nicht in voller Konsequenz zu berechnen vermochte. Es war nur eine Ahnung, die jedoch mit jeder verstreichenden Sekunde mehr zur Gewißheit wurde. Auch Kik zeigte sich unruhig, als sie hintereinander tiefer in den Wald eindrangen. Asgard hatte ein Dutzend kurzer Auswüchse geformt, auf denen er sich ebenso rasch fortbewegen konnte. Augenblicke später starrten sie in die flimmernden Mündungen aktivierter Strahler. »Solaner«, stieß Kik erleichtert hervor. »Ihr habt mir einen schönen Schreck eingejagt, nicht wahr.« Die Männer blieben stumm. Sie kamen näher, ohne daß in ihren Mienen die geringste Regung zu erkennen war. »He«, machte Kik. »Sagt Atlan, daß wir es sind.« Er vergaß sogar auch sein Lieblingswort »nicht wahr«.
Im selben Moment, in dem er feststellte, daß Asgard verschwunden war, rissen die Solaner ihre Waffen hoch und feuerten in die Baumwipfel. Flüchtig glaubte Kik die Umrisse der Kugel zu sehen, dann versperrte die rasch um sie greifende Glut jegliche Sicht. Das Fauchen verdrängter Luft, gefolgt von dem Donnern der Triebwerke, bewies, daß die Jäger wieder heran waren. »Was soll das?« wandte Kik sich an die Molaatin. »Betrachten die uns etwa als Gefangene?« »Es sieht leider so aus.« »Aber … sie sind doch Solaner, nicht wahr.« Einige hastig hervorgestoßene Worte in einer völlig fremdartigen Sprache überzeugten Kik davon, daß er sich irrte. Obwohl diese Wesen wie Solaner wirkten – sie waren Fremde. Und daß sie keineswegs zögerten, von ihren Strahlern Gebrauch zu machen, hatte er eben erlebt. Hoffentlich war Asgard davongekommen. Der Gedanke an die Flugzeuge ließ Kik zittern. Ihnen blieb keine andere Wahl, als sich der Übermacht zu fügen. Man sprang nicht gerade sanft mit ihnen um. »Sie bringen uns in ihre Station, nicht wahr?« Sanny nickte nur. Ihre Berechnungen bewahrheiteten sich, wenn auch auf gänzlich andere Weise, als sie es sich erhofft hatte. Zwischen umgestürzten, zersplitterten Bäumen verharrte regungslos eine Panzerechse. Kik zuckte bei ihrem Anblick zusammen, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. »Das war zu erwarten«, flüsterte Sanny neben ihm. »Die Fremden haben eine perfekte Art gefunden, Zwielicht unauffällig zu überwachen.« Sie wurden ins Innere des Tierroboters gestoßen, der sich schwankend in Bewegung setzte. Energetische Fesselfelder hinderten sie von vornherein an jedem Fluchtversuch. Die Paramathematikerin glaubte nicht, daß alle Panzerechsen getarnte Maschinen waren. Sie mußte daran denken, daß nur eines der Tiere in der Herde ihnen nachgeschaut hatte. Vielleicht war es
sogar gerade dieses gewesen, in dem man sich nun befand. Eine Stunde verging, ohne daß etwas geschah. Sanny hätte viel dafür gegeben, zu wissen, was sie am Ziel ihrer unfreiwilligen Reise erwartete. Aber ihr fehlten die Ansatzpunkte für eine Berechnung. 3. PREZZAR Das Geschehene zu begreifen, fiel schwer. Vielleicht wollte er auch nicht verstehen. Was es bedeutete, gefangen zu sein, konnte er erst ermessen, seit er seine Freiheit verloren hatte. Es gab Zeiten, da wäre er lieber tot gewesen, als dumpf vor sich hin zu vegetieren. Dann wieder bäumte alles in ihm sich auf, dann wollte er die Fesseln sprengen, die ihn hielten und Rache nehmen an jenen, die ihm das angetan hatten. Aber er war zu schwach dazu. Und er wurde schwächer, je länger seine Gefangenschaft dauerte. Er gab Tyar die Schuld an seinem Schicksal, weil er jemanden brauchte, dem er die Schuld zuschieben konnte, um nicht in Selbstvorwürfen zu versinken. Manchmal haßte er Tyar. Die Intelligenz von Bars erschien ihm vollkommen. Doch gab es auch Momente, in denen er einsah, daß ganze Entwicklungsstufen sie voneinander trennten, in denen er sein Schicksal sogar Tyar anvertraut hätte, um alles Belastende von sich abzustreifen wie eine alte Haut, die für den wachsenden Körper zu eng geworden ist. Eine eigenartige Beziehung bestand zwischen ihnen, eine Art Haßliebe. Jeder wollte allein sein, wollte endlich wieder frei sein, aber beide wußten, daß einer ohne den anderen endgültig verloren war. Sie mußten sich zusammentun und konnten es doch nicht. Eine unsichtbare Macht sorgte dafür, daß sie ihren anfänglichen Haß nie vergaßen. Nun fürchtete Prezzar um seine Existenz. Er glaubte, allen Grund dafür zu haben, denn ihm war nicht entgangen, daß Tyar nach langer Zeit
vergeblicher Bemühungen ein Wesen aus sich abgesondert hatte, dem die Hoffnungen von Bars galten. Tyari lebte nur aus dem einen Grund, um ihn, Prezzar zu vernichten. Er durfte nicht warten, bis ihm keine eigene Entscheidung mehr blieb. Instinktiv spürte er, daß er gezwungen war, die Intelligenz von Bars mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. * Zuerst wollte Pork es nicht glauben, daß seine frischen Triebe sich einrollten, doch als der Schmerz sich durch die Nervenbahnen fortpflanzte, krallte er die Wurzeln in das lockere Erdreich. Kam der trockene Wind zu zeitig in dieser Wachstumsperiode? Vergeblich suchte er nach Wasser, das eben noch seine Wurzeln umspült hatte. Es war versickert. Er erinnerte sich daran, daß die Lauscher großes Unheil voraussagten. Sie, die jede Schwankung im kosmischen Gefüge wahrnahmen, warnten schon seit vielen Perioden davor, daß der Himmel sich spalten würde, die Erde sich auftun und die Wasser verdunsten. Auch Pork war einer jener, die darüber lachten. »Die silbernen Gespinste der Wächter werden aus der Schwärze verschwinden«, hatten die Lauscher prophezeit. Allein das war unvorstellbar. Die Wächter existierten seit dem Anbeginn der Zeit, und es würde sie selbst dann noch gehen, wenn die Schwärze der Unendlichkeit jedes Leben verschlungen hatte. Unwillig stieß Pork die Wurzeln tiefer in den Boden, hob seinen Sehast und ließ den Blick schweifen. Die anderen Multis, die wie er dieses Nahrungsfeld aufgesucht hatten, weil es als das mineralreichste galt, wurden allmählich unruhig. Einige stelzten davon, um auf den minderwertigeren Nachbarfeldern ihren Bedarf
an Flüssigkeit zu decken, während andere sinnlose Diskussionen begannen. Um den Grund der Veränderung herauszufinden, mußte man den Boden aufgraben – eine Arbeit, die Tage in Anspruch nehmen würde. Rein instinktiv richtete Pork seinen Blick in die Unendliche Schwärze, die nur von den silbernen Gespinsten durchzogen wurde. Nichts hatte sich seit jener Zeit verändert, als sein erster Trieb die Samenkapseln durchbrach. Aber war da nicht ein winziger, heller Punkt? Pork sah genauer hin. Der Punkt war nun fast schon so groß wie eine Blütenknospe. Er pulsierte. Hatten die Lauscher doch recht? Geschahen Dinge in der Unendlichkeit, die sich den Sinnen der Multis entzogen? Für einen Moment ließ Pork sich ablenken. Als er wieder aufsah, war der helle Fleck verschwunden, und nichts deutete darauf hin, daß er überhaupt existiert hatte. Pork schüttelte sich, daß seine Äste raschelnd aneinander rieben. Vertrocknete Rindenstückchen fielen ab, deutliches Zeichen dafür, daß die Wachstumsperiode nahezu abgeschlossen war. Langsam und nachdenklich bewegte er sich auf die terrassenförmig am Fuß eines Berges errichtete Stadt zu. Er blieb nicht lange allein, andere Multis gesellten sich zu ihm, aber er beantwortete ihre Fragen und Feststellungen recht einsilbig. Das einzige Thema, das alle Unterhaltungen beherrschte, war das Versiegen des unterirdischen Stromes. Pork spürte, daß viele den Warnungen der Lauscher plötzlich größeres Gewicht beimaßen. Es interessierte ihn nicht. Mit seinen Gedanken war er längst wieder bei Tega, seiner Gefährtin während dieser Blütezeit. Der Duft ihrer Knospen war betörender als alles, was er jemals gerochen hatte. Pork ertappte sich dabei, daß er mit dem Gedanken spielte, Tega auch bei der nächsten Blüte zu sich zu holen. Sein Wurzelplatz befand sich hoch oben, auf einer der letzten
Terrassen. Es fiel ihm schwerer als sonst, die schrägen Rampen emporzusteigen. Oft blieb er stehen und musterte die Schwärze, die sanft wie verwelkendes Lauf die Welt der Multis bedeckte. Hoffte er, den hellen Punkt wiederzusehen, oder fürchtete er sich davor? Er vermochte es nicht zu sagen. Die Mauern aus aufgeschichteten, durch Lehm miteinander verbundenen Steinen wurden zum Irrgarten. Überall wucherten Flechten und leuchtende Moose, in deren spärlichem Schein sich weißhäutige Tiere tummelten. Ärgerlich peitschte Pork mit den Ästen, als eines der flinken Geschöpfe sich zwischen seinen Wurzeln verfing. Schrille Laute ausstoßend, raste er eine Mauer hinauf und warf aus sicherer Höhe mit Steinen nach ihm. Pork verspürte keine Lust auf eine Kraftprobe, sondern bewegte seine Wurzeln schneller. Endlich nahm er den Duft von Tegas Blüten wahr und wenig später das leuchtende Rot ihrer weit geöffneten Kelche. Aber er sah auch etwas anderes: der helle Punkt im Zenit war wieder da. Und er war größer als zuvor. * Die Multis besaßen keine natürlichen Feinde. Vielleicht hatte es jedoch in grauer Vorzeit größere Tiere auf ihrer Welt gegeben, denn eine Art der Fortpflanzung, nämlich die durch schnell wachsende Ableger, die dem Hauptstamm bis aufs Blatt glichen, ließ darauf schließen. Pork hatte noch keine Ableger gebildet. Dazu, glaubte er, war später genügend Zeit, wenn er die Fähigkeit, Blütenknospen zu erzeugen, verloren hatte. Es beeindruckte ihn immer wieder, das Wachstum der aus Samen entstehenden Keimlinge zu beobachten, weil diese stets veränderte Eigenschaften besaßen. Auch er war aus einem solchen Sämling hervorgegangen. Tega erwartete ihn auf dem Wurzelplatz. Ihr Sehast war
ungeduldig in die Höhe gereckt. »Erschütterungen durchlaufen die Stadt«, rief sie. »Was ist geschehen?« Pork zögerte, während seine Augen sich erneut auf den Punkt im Zenit richteten, der inzwischen etliche helle Fortsätze ausgebildet hatte, die sich wie tastende Wurzelstränge bewegten. Irgend etwas an diesem Gebilde faszinierte ihn, stieß ihn zugleich auch ab. Tegas Blüten wirkten verlockend. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Sie wiederholte die Frage. »Das Wasser im Nahrungsfeld ist versickert«, sagte er schließlich und fügte rasch hinzu, als er ihr Erschrecken bemerkte: »Vermutlich eine Verschiebung im Erdreich. Ich bin sicher, es steigt bald anderswo an die Oberfläche. Wir hatten nie Schwierigkeiten.« »Die Lauscher …«, begann sie, verstummte aber, als Pork ihr spontan die Sprechöffnung über dem Wurzelansatz verschloß. Er wollte jetzt weder davon hören noch daran denken; ihre Blütenpracht raubte ihm schier den Atem. Während beider Äste einander umfingen, während ihre Blätter raschelnd aneinander rieben, öffneten seine Knospen sich und tauchten in den Honigduft ihrer Blüten ein. Aber vieles war anders als sonst. Das Erdreich des Wurzelplatzes erschien trocken und spröde, und aus der Tiefe stieg eine unerklärliche Wärme herauf, die den Wurzelenden schmerzte. Schon bald verließen Pork und Tega, wie Hunderte andere Multis auch, für kurze Zeit die Stadt. Erst im spärlichen Tau auf den Wiesen der näheren Umgebung fühlten sie sich wieder wohl. * Jeder Tag brachte ein wenig Wärme, und mit jedem Tag wuchs die Helligkeit im Zenit, die mit gierigen Fängen nach der Welt der
Multis zu greifen schien. Auf weiteren Nahrungsfeldern versickerte das Wasser. Grabungen selbst bis zur fünffachen Wurzeltiefe förderten nur trockenes, feinkörniges Erdreich zu Tage. Der Lehmboden der Wiesen war von unzähligen Rissen durchzogen, die zusehends tiefer und breiter wurden. Vor den wenigen Feldern, die noch Flüssigkeit bargen, drängten sich die Multis. Doch war abzusehen, wann auch hier die unterirdischen Ströme versiegten. Immer häufiger bebte der Boden, begleitet von einem dumpfen Grollen, das aus dem Berg selbst kam, an dessen Hang die Stadt errichtet war. Der Lehm, der die Mauern zusammenhielt, schwand in der steigenden Hitze. Tegas Blütenblätter hatten sich geschlossen und waren zu Samenkapseln zusammengewachsen. Zwei oder drei Tage noch, dann benötigten die Stecklinge feuchten Boden. »Sie werden verdorren«, befürchtete Pork. »Schließlich haben wir nicht einmal mehr für uns selbst genug Wasser.« Widerwillig betrachtete er die gelben Spitzen, die den Verfall seiner frischen Triebe anzeigten. Vorerst waren nur wenige davon betroffen, aber er wußte, daß die Dürre rasch voranschreiten würde – er brauchte nur Tega anzusehen, die inzwischen etliche kahle Zweige besaß. Immerhin beanspruchten die heranreifenden Samenkapseln viel von ihrem Lebenssaft. Die Helligkeit stand wie ein gieriger, alles verschlingender Moloch am Firmament. Pork fürchtete sich vor dem Anblick, in dem die zuckenden Auswüchse den Berg berühren würden. »Wir müssen fort von hier!« Ohne daß er es bewußt wollte, formte er die Worte, über die er selbst erschrak. Fort – das bedeutete, alles Vertraute aufzugeben, vielleicht in den weiten Wüsten zu verdorren. Viele Multis hatten schon versucht, die Welt hinter den Dünen zu erforschen, hatten sogar Wasservorräte mit sich geschleppt, waren aber nie zurückgekehrt. »Uns bleibt keine andere Wahl, wollen wir nicht, daß unsere Stecklinge verkümmern«, stimmte Tega zu seiner Überraschung zu.
Durch die dünner werdende Schale der Samenkapseln hindurch sah er kleine Wurzelfäden sich erstmals bewegen. Als sie die längst von Steinen übersäten, staubigen Rampen der Stadt hinabstiegen, bebte wieder der Berg. Niemand machte sich mehr die Mühe, den Weg von Geröll freizuhalten – es wäre ein sinnloses Unterfangen gewesen. Das Beben war stärker und hielt länger an als alle vorangegangenen. An vielen Stellen brach die Stadt auf; Mauern stürzten in sich zusammen und begruben Multis unter sich. Entsetzt stellte Pork fest, daß die Risse diesmal auch vor dem gewachsenen Fels nicht haltmachten. Mächtige Brocken brachen aus der nahen Steilwand aus und verschwanden donnernd in der Tiefe. Im Nu waren Pork und Tega zwischen schreienden Multis eingekeilt, die ihr Heil in der Flucht suchten. Zu spät streckte Pork seine Äste nach der Gefährtin aus. Hie und da versuchten beherzte Stämme, das Durcheinander in geordnete Bahnen zu lenken. Leider vergeblich. Und dann – als sie die unterste Ebene der Stadt erreichten – überzog der Himmel sich mit einem flackernden, düster roten Leuchten, das die gewohnte Schwärze nahezu völlig verdrängte. Am Horizont wuchs eine drohende Wolkenwand auf, von der aus sich windende Fortsätze nach der Erde griffen. Noch immer rief Pork nach Tega, die er aus den Augen verloren hatte. Der Himmel war nun ein einziges, waberndes Feuermeer. Obwohl niemand wußte, was geschehen war, spürte doch jeder die ungeheuerliche Bedrohung, die davon ausging. Der Sturm brach mit unwiderstehlicher Gewalt über die Stadt herein. Heiße, stickige Luft ließ die Multis gequält aufstöhnen und etliche, deren Laub bereits verdorrt war, zusammenbrechen. Die entfesselten Gewalten peitschten Wolken von Sand vor sich her. Die Beben kamen nun in kürzesten Abständen, der Berg ächzte und stöhnte. In allernächster Nähe ging donnernd eine Geröllawine zu Tal.
Ein Teil der Rampe brach ab. Pork wurde durch die Luft gewirbelt, überschlug sich und prallte unsanft irgendwo auf, wobei zwei seiner unteren Äste splitterten. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung, doch mit letzter Kraft schleppte er sich weiter. Er wußte, daß er fort mußte, wollte er nicht von den herabbrechenden Felsen erschlagen werden. Nur mehr gedämpft vernahm er die vielfältigen Geräusche um sich her. Schwankend kam er hoch, stemmte sich gegen den an Heftigkeit weiter zunehmenden Sturm. Das Land erstrahlte in einem düsteren roten Licht, das seltsame Schatten zeichnete – Schatten, wie man sie auf der Welt der Multis nie zuvor gekannt hatte. Pork erstarrte förmlich, als er seinen Sehast zum Himmel emporreckte. Mitten im Zenit stand ein riesiges, glühendes Auge, dessen Hitze unbarmherzig herabbrannte. Tiefer, von dem Berggipfel fast schon verdeckt, gab es einen zweiten, helleren Glutball. Und zwischen beiden stand der sich heftig windende Schlauch, der unüberschaubare Dimensionen angenommen hatte. Pork taumelte weiter, blindlings, nur vorwärts getrieben von dem Willen, am Leben zu bleiben. Mit ihm strömten Hunderte von Multis in das weite Land, das sich um ihre Stadt erstreckte. Irgendwann wurde es Pork schwarz vor Augen. Er stürzte und blieb regungslos liegen. * Der leichte Nieselregen, der über der ausgedörrten, vernarbten Ebene niederging, versickerte viel zu rasch, als daß er Labsal bringen konnte. Winzige Staubkrater zeigten, wo die Tropfen den Boden berührt hatten, um von dem verbrannten Erdreich gierig aufgesogen zu werden. Es war kühler geworden, nachdem der Sturm sich verlaufen hatte. Aber wo noch vor kurzem hohes, blühendes Gras die Erde bedeckt
hatte, erstreckten sich nun sanft gewellte Sanddünen, unter deren Last jegliches Leben erstickte. Übelkeit durchflutete Pork. Sein erster Versuch, sich aufzurichten, mißlang, weil er zur Hälfte mit Sand verschüttet lag. Nur einige der empfindlichen Wurzeln und seine obersten Äste mit dem Sehast ragten daraus hervor. Am Himmel war die gewohnte Schwärze wieder vorherrschend. Scheinbar unendlich weit entfernt, pulsierten die beiden leuchtenden Augen, das eine groß und rot, das andere wesentlich kleiner und von gelber Färbung. Dann sah Pork die Stadt, oder vielmehr das, was von ihr übrig war. Er erschrak. Der Berg hatte sich gespalten. Ein tiefer Einschnitt erstreckte sich von unmittelbar unterhalb des schroffen Gipfels quer über seine ganze Flanke. Die Ruinen der Stadt waren von Gesteinslawinen halb verschüttet worden. Wer immer sich noch dort befunden hatte, konnte den alles zermalmenden Gewalten nicht entkommen sein. Pork dachte an Tega, und die Verbitterung ließ Lebenssaft aus seinen verharzten Wunden tropfen. Ob sie ebenfalls davongekommen war? Schwankend richtete er sich auf. Daß er allein war, wurde ihm erst jetzt richtig bewußt. Wahrscheinlich hatten die anderen ihn für tot gehalten und in ihrer Panik liegengelassen. Wohin mochten sie sich gewandt haben? Pork entschied sich dafür, mit der zerstörten Stadt im Rücken weiterzugehen. Tief sanken seine Wurzeln im Sand ein, der ein rasches Vorwärtskommen erschwerte. Pork hatte Hunger, fühlte sich schwach und elend. Flüchtig spielte er mit dem Gedanken, umzukehren. Aber alle Nahrungsfelder mußten unter dem feinkörnigen Sand begraben sein. Das Gehen strengte ihn an. Immer wieder blieb er stehen, weil er kaum Luft bekam. Er hatte einige Äste verloren und besaß nur noch wenige Blätter. Obwohl er Knospen zum Wachstum anregte, würde es ohne Wasser lange dauern, bis sie sich entfalteten.
In der Ferne erstreckte sich eine langgezogene Hügelkette. Pork war nie zuvor hier gewesen, wußte aber aus Berichten, daß dahinter die Wüste begann. Er fragte sich, ob es sinnvoll war, den Weg fortzusetzen. Daß der Sand spärlicher wurde, ließ ihn hoffen. Später entdeckte er die ersten braunen Gewächse – Unkraut, das auch die Stadt von Zeit zu Zeit heimgesucht hatte und mit seinem weitverzweigten Wurzelwerk selbst auf nacktem Fels Halt fand. Pork unterdrückte die Regung, das Gestrüpp mit Strunk und Stiel auszureißen. Immerhin konnte er froh sein, daß überhaupt etwas in dieser Einöde wuchs. Von der Anhöhe eines Hügels aus bot sich ihm ein weitaus besserer Rundblick. Das Land ringsum war unfruchtbar, lediglich am Horizont zeichnete sich ein großflächiger dunkler Schatten ab: ein Wald von Riesen, die starr an ihren Platz gebunden waren. Sie wuchsen überaus langsam und besaßen weder die Fähigkeit, sich mitzuteilen, noch durch Ableger zu vermehren. Pork hielt sie für dumm, trotz ihres Äußeren kaum auf einer höheren Stufe stehend als die vielen Tiere, die sich in ihrem Laubwerk verbargen. Die Multis hingegen duldeten keine Schmarotzer, die sich von ihren Lebenssäften ernährten. Pork war müde. Von der ehemaligen Stadt war längst nichts mehr zu sehen. Aber er wußte, wenn er jetzt ruhte, würde ihm das Weitergehen später um so schwerer fallen. Das wäre einem Aufgeben gleichgekommen. Er mußte den Wald erreichen. Wo die Riesen waren, sagte er sich, gab es auch Wasser. Das Unkraut wuchs höher. Die scharfkantigen, von einer dicken Haut überzogenen Blätter welkten selbst in Zeiten größter Trockenheit nicht. Im Dickicht der Halme fand Pork die erste Spur, daß vor ihm jemand in diese Richtung gegangen war und Pflanzen rücksichtslos ausgerissen hatte. Vermutlich, um nach Wasser zu suchen, denn der Boden war an vielen Stellen aufgewühlt. Aber nicht einmal mehr Würmer und anderes Getier hielten sich in der ausgedörrten Krume.
Vereinzelt standen die ersten Riesen. Pork brauchte nur ihr verfärbtes Laub anzusehen, um zu wissen, daß auch ihre Wurzeln kein Wasser mehr fanden. Ein breiter Graben zog sich durch das Land; die Erde hatte sich regelrecht abgesenkt und nacktes Gestein bloßgelegt. Der Multi erschrak. Er hätte nicht geglaubt, so weit von der Stadt entfernt noch Spuren der Zerstörung zu finden. Um auf die andere Seite hinüberzugelangen, war er gezwungen, auf den Grund der Schlucht hinabzuklettern. Mehrmals fürchtete er, den Halt zu verlieren, aber er schaffte es. Je tiefer er kam, desto frischer wurde die Luft. Seine Knospen brachen nun schneller auf. Die Schlucht war von Felsblöcken übersät. Zwischen ihnen fand sich sogar Erdreich – feuchtes Erdreich, wie Pork überrascht feststellte. Moose und Flechten wucherten hier. Er nahm keinerlei Rücksicht, als er gierig das bißchen Nässe in sich aufsog. Zweifellos waren vor ihm schon andere Multis hier gewesen. Die Abdrücke ihrer Wurzeln führten die Schlucht entlang. Er folgte ihnen. Wenig später stand er vor dem ersten toten Stamm, der noch mindestens die Hälfte seiner Blätter besaß, also nicht erstickt sein konnte. Pork begann, ihn näher zu untersuchen, im nächsten Moment zuckte er entsetzt zurück. An vielen Stellen wies die Borke winzige Löcher auf. Als er vorsichtig ein Stück davon abbrach, wimmelte es darunter von kleinen braunen Käfern. Holzkäfer! Pork stieß einen Laut des Entsetzens aus und warf sich herum. So schnell ihn seine Wurzeln trugen, hetzte er davon. Gegen diese Insekten gab es kein Mittel, wenn sie erst ihre Eier unter der Rinde abgelegt hatten. Er stieß auf zwei weitere tote Multis und schlug einen weiten Bogen um sie. Die Schlucht verengte sich allmählich. Wenn er den Sehast hob, konnte er die Riesen erkennen, die zu beiden Seiten aufragten. Zum Teil reichten ihre Wurzeln bis zu ihm herab.
Täuschte er sich, oder wurden die bislang steil abfallenden Wände flacher? Der Boden stieg an. Aber noch war genügend Feuchtigkeit vorhanden, um die Wurzeln zu kühlen. Erschöpft erreichte Pork schließlich den Waldrand. Dichtes Gehölz wuchs hier, dazwischen weitläufige Moospolster und immer wieder aus der Höhe herabhängende Luftwurzeln der Riesen. Ein auffrischender Wind trug ihm das Geräusch ferner Stimmen zu. Von einer plötzlichen Sehnsucht erfüllt, hastete er weiter. »Tega!« rief er. Nichts. Nur das Lärmen aufgescheuchter Tiere antwortete ihm. Eine Lichtung … von Gras überwuchert und dichten Büschen begrenzt. Pork blieb stehen. Unmittelbar vor ihm hatte jemand das Gras entfernt und drei kleine Stecklinge eingepflanzt. Die frischen Triebe bewiesen, daß sie günstige Wachstumsbedingungen vorfanden. Dann erst gewahrte er die Multis, die auf ihn zukamen. Allen voran Tega. Nur mehr die Überreste der Samenkapseln hingen zwischen ihren Ästen. Pork begriff, daß die Stecklinge seine und Tegas Nachkommen waren. »Pork«, rief sie und streckte ihre Greifäste nach ihm aus. »Du hast es geschafft. Ich wußte, daß du kommen würdest.« * Etliche Perioden des Wachens und Schlafens wechselten einander ab, während das Leben sich weiter normalisierte. Obwohl sie im Wald günstige Lebensbedingungen vorfanden, vermißten die Multis die Geborgenheit ihrer Stadt. Nur wenig mehr als fünfzig hatten überlebt. Die ersten von ihnen begannen bereits, Ableger zu bilden, Pork dachte noch nicht daran;
er beobachtete das Wachstum der Stecklinge, deren Blätter zwar winzig waren, dafür aber um so eifriger sprossen. Das dichte Laubdach des Waldes verhinderte den Blick auf die Endlose Schwärze. Einerseits war Pork froh darüber, andererseits fürchtete er, die beiden glühenden Augen würden wieder erscheinen, ohne daß die Multis rechtzeitig davor gewarnt wurden. Mit jeder Periode, die verging, fühlte er eine stärker werdende Anspannung. Dann, während er schlief, kam das erste schwache Beben. Er nahm es nicht einmal wahr, aber die anderen berichteten ihm davon. Von nun an war Pork ständig auf neues Unheil gefaßt. Seine Warnungen fanden nur bei wenigen Gehör. Sie wollten nicht zurück – und sie konnten nicht weiter, weil vor ihnen die Wüste lag, die den sicheren Tod verhieß. Das Laub der Riesen begann zu verdorren. Die Multis bemerkten es, als die ersten welken Blätter fielen. Bald schon schimmerte die Schwärze zwischen kahlen Ästen hindurch, wurde ein Schlauch sich windender Helligkeit sichtbar. Schwache Beben kamen in immer kürzeren Abständen, und selbst das von Moosen überwucherte Erdreich begann aufzubrechen. »Wohin sollen wir noch fliehen?« wandte Tega sich an Pork. »Überall wartet der Tod auf uns.« »Wenn wir hierbleiben«, erwiderte er heftig, »werden wir früher oder später sterben. Sobald das rote Auge wieder am Himmel steht, ist es für uns Zeit aufzubrechen.« Die Stunde kam schneller, als er befürchtet hatte. Während die Erde stärker zitterte als je zuvor, während die Riesen ächzend und stöhnend schwankten, senkte sich eine düstere Röte auf das Land herab. Scheinbar zum Greifen nahe stand das glühende Auge; seine Strahlen mußten die Welt verdorren lassen. Panik brach aus. In die verzweifelten Schreie der Multis mischte sich das Bersten und Krachen der ersten entwurzelten Bäume. »Die Stecklinge«, schrie Tega. »Wir müssen sie mitnehmen.«
Pork hastete neben ihr her. Gemeinsam versuchten sie, die inzwischen zu beachtlicher Größe gewachsenen jungen Stämme, die sich noch nicht aus eigener Kraft bewegen konnten, zusammen mit einem Ballen Nährboden auszugraben. Der Lärm ringsum wurde ohrenbetäubend. Sie hatten den ersten Stamm ausgestochen, als Pork zufällig in die Höhe blickte. Im nächsten Moment warf er sich auf Tega und rollte mit ihr und dem Steckling zusammen einen kleinen Abhang hinunter. Wo sie eben noch gestanden hatten, schlug einer der Riesen auf. Wenn sie nicht schon vom Aufprall getötet worden wären, hätten zumindest seine weit ausladenden Äste sie durchbohrt. Tega wollte zurück, aber Pork hielt sie fest an sich gedrückt. »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Wir müssen uns selbst in Sicherheit bringen.« So schnell sie konnten, rannten die Multis auf ihren Wurzeln davon, während hinter ihnen immer mehr Bäume splitterten. Die Wüste erwartete sie: vom Sturm aufgewirbelter feinkörniger Sand, der in dichten Schwaden dahintrieb und die Sicht auf ein Minimum begrenzte. Sie wußten, dies war die Hölle, aber ihnen blieb keine andere Wahl. Pork versammelte die wenigen Überlebenden um sich. »Wir müssen dicht beieinander bleiben«, sagte er. »Allein hat keiner eine Chance.« Ohne daß sich Widerspruch regte, übernahm er die Führung. Der warme Sand schmerzte den Wurzeln, trocknete sie aus und zerstörte die vielen feinen Härchen, die den Multis einen ausgezeichneten Tastsinn verliehen, er zerfetzte die Blätter und Blüten und schmirgelte selbst die dicke Rinde von den Stämmen, bis das nackte Holz hervortrat. Zudem verband er sich mit dem aus den Wunden austretenden Harz zu harten, schmerzenden Krusten. Stumm schleppten sich die Multis durch die Wüste – zersauste Silhouetten inmitten einer ihnen feindlichen Umgebung. Das Heulen des Sturmes übertönte jedes Wort. Wer stürzte, besaß selbst
nicht mehr die Kraft, sich zu erheben, jede verzweifelte Anstrengung ließ ihn nur noch tiefer einsinken – er war auf die Hilfe der anderen angewiesen. Die Beben waren stärker geworden, sie kamen nun in ununterbrochener Folge. Pork begann allmählich zu begreifen, daß sein Aufbäumen gegen das Schicksal vergebens sein mußte. Die Welt der Multis schien zum Untergang verurteilt. Er verfluchte das rote Auge, dessen Feuerschein selbst den Sandsturm durchdrang und die Wüste mit flackernden Schatten erfüllte. Der Zeitpunkt, an dem alle so geschwächt waren, daß sie nicht mehr weiter konnten, kam schnell. Pork gab zu verstehen, daß sie sich eng aneinander drängen sollten. So blieben wenigstens einige vom Sand verschont. Irgendwann flaute der Sturm ab. Aber es mochte nur ein Atemholen der aufgepeitschten Natur sein, bevor diese endgültig zuschlug. * Ein Meer sich ständig verändernder Farben überzog das Firmament. Obwohl von überwältigender Schönheit, barg es zugleich den Keim des beginnenden Untergangs in sich. Pork glaubte nun den Aussagen der Lauscher, die das Ende der Welt prophezeit hatten. Existierten in den Weiten der Unendlichkeit wirklich Strömungen, aus denen man die Zukunft erfahren konnte? Vieles, über das er noch vor kurzem mitleidig gelacht hatte, war inzwischen eingetroffen. Pork schüttelte den Sand aus seinen Ästen. Jede Bewegung schmerzte. Aber es gab kein Zurück mehr. Die anderen setzten ihr Vertrauen in ihn. Mit einem raschen Blick stellte er fest, daß drei Multis fehlten. Vermutlich hatten sie sich in dem Sandsturm, der inzwischen völlig zum Erliegen gekommen war, verirrt.
Es gab nichts, woran man sich orientieren konnte. Nichts als sanft gewellte Dünen, die sich in alle Richtungen bis zum nahen Horizont erstreckten. »Wir müssen weiter!« hörte Pork sich krächzen. »Je länger wir verweilen, desto schlimmer wird es für uns.« Niemand widersprach. Sie waren noch zwanzig. Vielleicht die letzten ihres Volkes? Pork wußte es nicht, wollte es auch nicht wissen, denn das hätte seine selbst übernommene Verantwortung nur noch unerträglicher werden lassen. In langer Reihe schleppten sie sich durch die Wüste. Niemand konnte sagen, wann sie fruchtbare Gebiete erreichen würden. Tega trug den Steckling, der mittlerweile ein Achtel ihrer Größe besaß. Obwohl es ihr schwerfiel, ließ sie sich nicht einmal von Pork helfen. Ein Lichtblitz zuckte auf, gefolgt von grollendem Donner, der sich rasch über den ganzen Himmel auszubreiten schien. Zwei große Streifen, dünn wie verwehender Nebel, zeichneten sich vor dem roten Leuchten ab. Pork hielt den Sehast in die Höhe gerichtet, während seine Wurzeln monoton durch den Sand stapften. Deshalb entdeckte er die silbern glitzernden Punkte sofort, die wenig später dicht über dem Horizont erschienen, sich rasch näherten und dabei größer wurden. Sie sahen aus wie riesige Vögel, und wie diese kreisten sie eine Weile über den Multis, ehe sie in Wolken von aufgewirbeltem Sand niedergingen. »Das sind keine richtigen Vögel«, behauptete Tega spontan. Die seltsamen Tiere maßen gut fünfzig Wurzellängen. Sie besaßen kein Gefieder, sondern eine völlig glatte Haut. Dort, wo eigentlich ihre Schwänze sein sollten, flimmerte die Luft vor Hitze. Pork zuckte kurz zusammen, als die Haut beider »Vögel« sich öffneten und Wesen daraus hervorkletterten, die nur wenig größer als Multis waren. »Sie kommen aus der Unendlichkeit«, stellte er fest. Erst Tegas überraschter Blick ließ ihn das Ungeheuerliche an
seiner Behauptung erkennen. »Woher weißt du das?« fragte sie verblüfft. Er hatte keine Ahnung. Entwickelte er gar die Fähigkeiten eines Lauschers? Erschreckt über sich selbst, wandte er sich wieder den seltsamen Fremden zu, die auf nur zwei langen und übermäßig dicken Wurzelstrünken näher kamen. Auch ihre Äste waren verkümmert und zu unförmigen Fortsätzen geworden, die in jeweils fünf kurzen, blattlosen Zweigen endeten. Oben auf ihrem allem Anschein nach überaus biegsamen Stämmen befanden sich kugelförmige, von grasähnlichen Gewächsen überzogene Gebilde, in deren Mitte lediglich zwei kleine Augen angeordnet waren. In ihren verkümmerten Ästen trugen sie glatte Rohre mit bedrohlich flimmernden Öffnungen an einem Ende. Die Fremden sagten etwas in einer Sprache, die keiner der Multis verstand. In einer Geste, die Freundschaft bedeutete, streckte er seine Äste von sich. Sofort ruckten die seltsamen Rohre herum, richteten ihre Öffnungen auf ihn. Pork hatte das untrügliche Gefühl, daß es besser war, auf der Stelle zu verharren. Aber noch ehe er Tega eine Warnung zurufen konnte, hielt sie den Fremden ihren gemeinsamen Steckling entgegen und ging auf sie zu. »Wir brauchen eure Hilfe«, sagte sie. »Gebt uns Wasser, sonst verdorren …« Ein greller, blendender Blitz zuckte auf. Tegas gellender Schrei brach abrupt ab. Lichterloh brennend, machte sie noch zwei Schritte auf die Fremden zu, bevor sie zusammenbrach. Ihr ausgetrockneter Körper setzte dem Feuer keinerlei Widerstand entgegen. »Ihr habt sie getötet!« schrie Pork außer sich vor Zorn und Entsetzen. Mit ansehen zu müssen, wie Tega verbrannte, und nicht helfen zu können, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Haßerfüllt wollte er sich auf die Angreifer stürzen, als ihn jäh ein heftiger Schlag traf und einknicken ließ. Er blieb zwar bei Besinnung, aber er vermochte nicht einmal mehr die kleinste Wurzel zu bewegen. Hilflos mußte er
mit ansehen, wie die Multis der Reihe nach zusammenbrachen. Die Fremden hoben sie auf und schleppten sie in ihren silbernen Vogel, wo sie die Stämme achtlos übereinander warfen. Mancher dürre Ast brach dabei ab. Mitten im Raum war ein Stück Wüste, und einige der Fremden standen darum herum und taten so, als müsse jeden Augenblick etwas geschehen. Pork besaß einen recht guten Überblick. Er konnte alles wahrnehmen, nur war er nicht in der Lage, sich aufzurichten. Er erschrak, als die Wüste sich veränderte, kleiner wurde, und als gleich darauf auch der Wald, von einer Vielzahl von Erdspalten durchzogen, wie aus dem Nichts heraus entstand. Zudem machte sich ein seltsames, gleichmäßiges Vibrieren bemerkbar, das den nackten, kalten Boden durchzog, auf dem er lag. Pork begann zu begreifen, daß der Vogel sich wieder in die Lüfte erhoben hatte. Und er sah durch dessen Augen. Wie, das begriff er nicht, doch es mußte so sein. Der Berg wurde sichtbar, an dessen Flanke sich die Stadt befunden hatte. Ein nicht enden wollender Glutstrom wälzte sich über die Hänge in die Tiefe, und dichte Wolken von Rauch und Asche verhüllten den Gipfel. Das Land ringsum brannte. Es war ein weites Land, das von den Lichtfluten der zuckenden Helligkeit umspielt wurde. Pork erschrak zutiefst. Seine Welt, seine Heimat, war dem Ende nahe. Er ahnte, daß es keine Rettung geben konnte, aber er weigerte sich, zu begreifen, daß die Oberfläche sich aufwölbte und in tausend Stücke barst, die aufflammend aus seinem Blickfeld verschwanden. Er wollte schreien und konnte es nicht, weil die seltsame Lähmung noch immer nicht von ihm gewichen war. Zweifellos trugen die Fremden die Verantwortung dafür, denn ihr Vogel stürzte sich in die alles verschlingende Helligkeit. Das letzte, das Pork empfand, war grenzenloser Haß. Er würde kämpfen …
* »Was hat diese Geschichte mit Sanny, Kik und Asgard zu tun?« unterbrach Atlan Porters Erzählung. Erneut hatte das eigenartige Wesen sein Aussehen verändert, als könne es sich nicht entscheiden, welche Form es letztlich annehmen sollte. Irgendwie erinnerte es nun an einen von abstehenden Schuppen umgebenen Kegel. »Sehr viel, Atlan«, erwiderte Porter. »Wöbbeking‐NarʹBon will dir sagen, daß die Existenz der Nabel nicht nur die Völker von Bars und Farynt gefährdet, sondern sie sogar in der Namenlosen Zone Unheil stiften können. Die Welt der Multis stand zufällig an einem der Übergangspunkte und mußte weichen, damit der Nabel sich stabilisieren konnte.« »Was weißt du über sie?« fragte Tyari. Porter zögerte. »Nichts, was ich nicht schon erzählt hätte«, gestand er dann. So klar wie jetzt waren seine Gedanken bisher nicht zu erfassen gewesen. Tyari las Trauer und Sehnsucht in ihnen – und eine schier grenzenlose Einsamkeit. Unbewußt suchte Porter nach etwas, von dem er weder wußte, was er war, noch wo er es finden konnte. Es schien beinahe, als suche er ein Stück seiner selbst oder den Sinn seines Daseins, das sich nicht allein darin erschöpfen konnte, Wöbbekings Bote zu sein. Tyari erkannte, daß Porter tatsächlich nichts über sich selbst wußte. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dir zu helfen, dachte sie bei sich, dann werde ich es tun. Sie vermutete, daß Wöbbeking‐NarʹBon ganz bestimmte Ziele verfolgte. War Porter nicht nur gekommen, um ihnen von unwiderruflich Vergangenem zu berichten? Sollten sie und Atlan weit wichtigere Hinweise erhalten? War Porter der Schlüssel für einige der Geheimnisse von Bars‐2‐ Bars?
4. PREZZAR Tyars Anwesenheit war so deutlich wie nie zuvor zu spüren, beider Umklammerung hatte etwas Eisiges an sich. Verzweifelt versuchte der Instinkt von Farynt, seine Gedanken und Empfindungen vor Tyar zu verbergen. Prezzar hatte Angst – vor der Entscheidung, die er so lange schon herbeisehnte. Vielleicht war er zu schwach, um siegen zu können. Zweifel nagten an seiner Existent. Aber er hatte es tun müssen, obwohl er damit viel von seiner eigenen Substanz opferte – er hatte ein Wesen formen müssen, das sich außerhalb des Gefängnisses bewegen konnte, so wie Tyar aus sich selbst heraus Tyari erzeugt hatte. Mjailams Erschaffung hatte ihm viel Kraft abverlangt Zugleich war er stolz darauf, es geschafft zu haben. Mjailam – das bedeutete nicht nur »der letzte Versuch«, das hieß auch: »Friß Tyar!« * Als Asgard die Falle erkannte, war es zu spät, um Sanny und Kik noch zu warnen. Es ging um Sekunden. Wenn er zögerte, vertat er damit jede Chance, den beiden später helfen zu können. Die dichtstehenden Bäume hinderten ihn daran, mit Höchstwerten aufzusteigen. Glutstrahlen fraßen sich hinter ihm ins Geäst, erreichten ihn aber nicht mehr. Asgard ahnte, daß die Fremden, die er beinahe für Solaner gehalten hätte, einen Stützpunkt unter der Oberfläche von Zwielicht besaßen. Und irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie weder zu Bars noch zu Farynt gehörten. Das waren
Neuigkeiten, die Atlan und seine Solaner zweifellos interessieren mußten. Asgard schwebte dicht über den Wipfeln der brennenden Bäume; der Beschuß hatte aufgehört. Die beiden Jäger bemerkte er erst, als sie bereits das Feuer aus ihren starr eingebauten Bugkanonen eröffneten. Vor und neben ihm schlugen armdicke Glutstrahlen ein und zerfetzten die Baumkronen. Asgard reagierte, ohne zu zögern. Innerhalb von Sekunden fiel die Oberfläche von Zwielicht unter ihm zurück. Vorübergehend ließen die Verfolger Verwirrung erkennen, dann versuchten sie, ihn in die Zange zu nehmen. Blitzschnell hintereinander wechselte er mehrmals den Kurs. Asgard war nicht sicher, ob sie ihn in der Ortung hatten oder nur optisch ausmachen konnten. Trotzdem versuchte er, die Blendwirkung des roten Riesen für sich auszunutzen, und hielt auf die Sonne zu. Die Jäger blieben hinter ihm. Sie holten auf, ließen sich nicht abschütteln. Rein instinktiv verfiel Asgard in einen kräftezehrenden Zickzack‐Kurs, den seine Verfolger nicht durchhalten konnten. Tatsächlich vergrößerte sich die Distanz zwischen ihnen wieder. Zwielicht war schon nicht viel mehr als ein winziger, strahlender Punkt in der Schwärze des Alls – ein Stern von unzähligen. Aber einige andere Sterne wuchsen scheinbar an. Raumschiffe! Sie kamen dicht gestaffelt aus dem Linearraum und riegelten mehrere Sektoren völlig ab. Vorübergehend verspürte Asgard Belustigung. Wenn der Aufwand ihm galt, mußten die Fremden ihn für sehr wichtig halten. Ihre Absicht, ihn einzukreisen, war offensichtlich. In einer engen Kreisbahn schoß er auf die rote Sonne zu, innerhalb deren Korona er zumindest vorübergehend sicher sein würde. Zwei Raumschiffe materialisierten vor ihm. Asgard tat das in dieser Situation vermeintlich Richtige. Anstatt zur Seite hin auszuweichen, raste er weiter auf sie zu, und er war zwischen ihnen
hindurch, ehe die großen Geschütztürme feuern konnten. Dann trennten ihn nur noch wenige Lichtsekunden von der Riesensonne. In dem Moment, in dem er bemerkte, daß die Schiffe ihm nicht folgten, begriff er seinen Fehler. Aber es war bereits zu spät, um erneut zu fliehen. Aus dem Ortungsschatten der Sonne heraus griffen starke Traktorstrahlen nach ihm. Asgard versuchte vergeblich, ihnen zu entkommen. Unaufhaltsam wurde er auf die geöffnete Hangarschleuse einer erst jetzt sichtbar werdenden Station zu gezogen … * Der Raum, in den die Fremden sie gebracht hatten, war kahl und bar jeder technischen Einrichtung. Er besaß die Form eines exakten geometrischen Würfels mit einer Kantenlänge von etwa fünf Metern. Finsternis herrschte. Nur hin und wieder blitzten in unregelmäßiger Folge grelle, blendende Lichter auf, die den Augen schmerzten und selbst die geschlossenen Lider durchdrangen. »Wir haben uns schön dumm angestellt, nicht wahr«, bemerkte Kik trotzig. Sanny antwortete nicht. »Du hättest es berechnen können, nicht wahr?« Die Molaatin schüttelte den Kopf. Wieder flammte es kurz hintereinander in mehreren Wänden auf. Für die Dauer von Sekundenbruchteilen schien Kiks Seesternkörper durchsichtig zu werden; Sanny sah die Organe in seinem Innern pulsieren. Aufstöhnend preßte sie die Hände auf ihre Schläfen – ihr Schädel schien zerspringen zu wollen. Das Pochen unter der Kopfhaut machte es unmöglich, Berechnungen anzustellen. Zweifellos war dieses alles durchdringende Licht dafür verantwortlich. Es lähmte
die Psyche und ließ sie mehr und mehr in einem Wust wirr durcheinanderwirbelnder Gedanken versinken. Kiks Verhalten bewies der Molaatin, daß auch er davon betroffen war. Der liebenswerte Bursche redete viel, plapperte einfach drauflos, als wolle er seine Angst und Unsicherheit dahinter verbergen. Schon die Finsternis wirkte zermürbend, das Licht aber noch weitaus mehr – keine körperliche Folter hätte schlimmer sein können als dieses in den Wahnsinn treibende Wechselspiel. Sanny hatte jeden Zeitbegriff verloren, sie wußte nicht zu sagen, ob sie schon seit Stunden in diesem Gefängnis saßen oder erst wenige Minuten. Nur eines war ihr klar: Über kurz oder lang mußten Kik und sie zu seelischen Wracks werden, die vorbehaltlos ihr Wissen ausplauderten. Sie würden es allein schon deshalb tun, um den grellen Blitzen wenigstens für kurze Zeit zu entgehen. Bäuchlings auf dem glatten, fugenlosen Boden liegend, die fünf Gliedmaßen über dem Kopf ineinander verhakt und seine Augen damit dürftig bedenkt, schien Kik seiner Einbildung freien Lauf zu lassen. Sanny wertete das als erstes Zeichen einer rasch voranschreitenden Verwirrung. Der Seestern murmelte etwas von einer Prezzarleserin namens Djerbsch, von einem Planeten Vlahbheyn – was immer das bedeuten mochte, denn Sanny erkannte, daß dieses Wort eine Synthese aus den Begriffen Vlahreser und Bheynder war – und von Annymon. Als sie ihn sanft berührte, rollte er sich wimmernd zusammen. Trotzdem war ihr, als sei in seiner Nähe der äußere Einfluß nicht mehr ganz so stark. Zögernd ließ sie sich nieder, überkreuzte die Beine und verbarg ihren haarlosen Kopf in den Handflächen. Sie schreckte jäh auf, als vor ihr eine Öffnung in der Wand entstand. Obwohl Kik und sie anfangs den Raum genau untersucht hatten, hatten sie nicht einmal die Spur eines Zugangs gefunden. Roboter schwebten herein. Sie besaßen die ideale Kugelform. Ein Kranz von Sehzellen im oberen Drittel des Rumpfes erlaubte ihnen Rundumsicht, und die langen, biegsamen Tentakel, die jeweils in
drei Greifklauen endeten, machten sie zweifellos zu ernst zu nehmenden Gegnern. Sanny unternahm nicht den geringsten Versuch einer Gegenwehr, lediglich Kik schlug mit seinen fünf Gliedmaßen heftig um sich, erreichte damit aber nur, daß die Roboter härter zupackten. Die Molaatin war überzeugt davon, daß sie sich in einer Station unter der Oberfläche von Zwielicht befanden. Das Wenige, was sie zu sehen bekam, bestätigte sie in ihrer Meinung. Aus verborgenen Lichtquellen drang gedämpfte Helligkeit, die keine Schatten warf. Alles wirkte steril. In einem Antigravschacht, groß genug für die Aufnahme sperriger Lasten, schwebten sie in die Höhe. Sanny versuchte abzuschätzen, wie weit, gab ihren Versuch aber nach der dreißigsten Etage verwirrt auf. Neunhundert Meter – und alles war noch riesiger. Wenn sie den Kopf hob, schien es über ihr kein Ende zu geben. Hatten die Fremden den halben Planeten ausgehöhlt? Instinktiv ahnte sie, daß sie einem Geheimnis auf der Spur war, doch fiel es ihr schwer, Berechnungen in gewohnter Weise anzustellen. Irgendein äußerer Einfluß hinderte sie daran. Vielleicht die ungewöhnlichen Strahlungsverhältnisse der Doppelsonne, die sich selbst in dieser Tiefe noch bemerkbar machten. Einen Moment lang dachte Sanny daran, daß Zwielicht bald den Schnittpunkt aller Schwerkraftlinien erreicht haben mußte. Die Roboter verließen den Antigravschacht. Hatte es bislang so ausgesehen, als gäbe es innerhalb der Station keine lebenden Wesen, so gelangte man nun in belebtere Bereiche. Die vorüberhastenden Fremden sahen tatsächlich wie Solaner aus. Sanny begann sich vorzustellen, welches Unheil sie stiften konnten, falls sie versuchten, die Friedensbemühungen zwischen den Völkern von Bars und Farynt zu hintergehen. Steckte Anti‐ES hinter alldem? Ein Schott schwang auf. Im ersten Erschrecken glaubte die Molaatin, in den leeren Weltraum hinauszublicken, dann erkannte sie, daß es sich lediglich um ein perfektes Hologramm handelte,
aufgenommen von einem mit Unterlichtgeschwindigkeit fliegenden Raumschiff. Da standen zwei Sessel, für die Körpermaße von Kik und Sanny viel zu groß. Dennoch ließen die Roboter beide hineinfallen. Fesselfelder hielten sie auf den weichen Polstern fest. Die gleich darauf von irgendwoher erklingende Stimme bediente sich des unverständlichen Idioms der Fremden. Leise stöhnend rollte Kik mit den Augen. Er versuchte vergeblich, freizukommen. Die Stimme nahm einen drängenden Klang an. Sie hatte etwas Suggestives an sich. Noch unterdrückte Sanny den Zwang, reden zu müssen; sie kämpfte gegen sich selbst – einen letztlich aussichtslosen Kampf. Schon hörte sie Kik losplappern. Wie ein Wasserfall sprudelten all die belanglosen Dinge aus ihm hervor, die ihm gerade in den Sinn kamen. »Das genügt!« erklang es schroff. »Ich will wissen, wer euch geschickt hat.« Kiks Wortschwall hatte die Translatoren der Fremden mit dem erforderlichen Wortschatz versehen. »Niemand, nicht wahr«, sagte er. »Du lügst. Euer Erscheinen zu diesem Zeitpunkt kann kein Zufall sein.« Kein Wort von Asgard. Sollte ihm die Flucht gelungen sein? Das ließ Sanny hoffen. »Welchen Grund hätte ich, zu lügen?« meinte Kik. »Viele. Aber du wirst nicht lange schweigen.« Der unmenschliche Klang der Stimme ließ Sanny erschaudern. Täuschte sie sich, oder zeichnete sich ein Schatten inmitten des Hologramms ab? Tatsächlich kam einer der Fremden auf sie zu. Auf seinen befehlenden Wink hin brach die dreidimensionale Bildwiedergabe zusammen und ließ erkennen, daß der Raum, in dem man sich befand, in Wirklichkeit doppelt so groß war. Es mochte sich um eine Art Zentrale handeln, denn im Hintergrund herrschte rege
Geschäftigkeit. Der Mann blieb unmittelbar vor Sanny stehen. »Wir haben euch lange genug beobachtet, bevor wir uns zum Eingreifen entschlossen. Was sucht ihr auf unserer Welt?« Brennend rann ihr der Schweiß in die Augen, aber die Molaatin konnte die Arme nicht heben, um sich über die Stirn zu wischen. Der Fremde grinste sie herausfordernd an. Für einen flüchtigen Moment glaubte sie, Atlan vor sich zu sehen. Sie stand unter einem Schock, den die noch immer in ihr verwurzelte Finsternis und die zuckenden grellen Blitze ausgelöst hatten, obwohl sie verzweifelt versuchte, dagegen anzukämpfen. »Was?« drängte der Fremde. Blitzschnell packte er zu und zwang sie, ihn anzusehen. Ein harter, erbarmungsloser Zug umspielte seine Mundwinkel. Die stechenden, tief in den Höhlen liegenden Augen schienen Sanny durchbohren zu wollen. »Anti‐ES …«, murmelte sie. Wie von selbst kamen die Worte über ihre Lippen. »Wir suchen einen Übergang in die Namen …« Kiks verzweifeltes Ächzen unterbrach sie. Sanny bemerkte, daß er sie anstarrte. Der Griff des Fremden wurde härter. Trotzdem brachte die Molaatin nun ein Lächeln zustande. Instinktiv fragte sie sich, was mit ihr geschah, Kiks Blick ruhte noch immer auf ihr. In ihren Gedanken wirbelte alles haltlos durcheinander. »Ich werde nichts sagen«, erklärte sie. In einem Winkel ihres Bewußtseins keimte die Ahnung, daß der Vlahreser für ihre plötzliche Empfindungslosigkeit verantwortlich war. Alles um sie her versank in Bedeutungslosigkeit. Die Schmerzen waren wie weggewischt. Unbeteiligt nahm Sanny wahr, daß der Fremde sie schlug. Er verlor zusehends die Fassung und wurde wütender. Der normale Arbeitsablauf innerhalb der Zentrale geriet ins Stocken. Immer mehr fragende Gesichter wandten sich ihnen zu. Sanny war es, als schwebe sie über den Dingen. Kiks Nähe übte einen beruhigenden Einfluß aus.
»Bringt sie weg!« schrie der Mann vor ihr. »Laßt sie so lange schmoren, bis sie reden!« Die Tentakel eines Roboters zerrten Sanny aus dem Sessel. Flüchtig empfand sie Furcht davor, zurückgebracht zu werden. Soweit wird es nicht kommen, schien Kiks Winken zu bedeuten. Mit vier seiner Gliedmaßen klammerte der Seestern sich an den Kugelkörper des Roboters. Im nächsten Moment riß die Maschine ihre Waffenarme hoch. Fauchend brachen Glutbahnen aus den Abstrahlmündungen hervor. Entsetzte Schreie wurden laut. Im Hintergrund implodierten Bildschirme mit lautem Knall. An verschiedenen Stellen begann der Bodenbelag blasenwerfend aufzuglühen. Dunkler, schwerer Qualm behinderte die Sicht, es roch nach Ozon und verschmortem Kunststoff. Der Roboter schwebte zur Decke empor und begann von oben her alles, was sich bewegte, unter Beschuß zu nehmen. Kik hing wie eine dicke rote Klette an ihm. Sanny zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, daß der Vlahreser für das entstandene Durcheinander die Verantwortung trug, auch wenn ihr unverständlich war, wie er das Programm der Maschine beeinflußte. Noch immer regte sich keine Gegenwehr. Die Fremden schienen sich innerhalb ihrer Station zu sicher gefühlt zu haben. Erstaunlich auch, daß keiner verletzt wurde, obwohl die Maschine ununterbrochen feuerte. Meterhohe Stichflammen verwüsteten einen Aggregatblock und schwärzten die Decke. Deutlich konnte Sanny erkennen, daß ein Mann von glühenden Trümmerstücken getroffen wurde. Den Bruchteil eines Augenblicks zuvor verschwammen jedoch seine Umrisse schattenhaft. Der Roboter schoß auf ihn, konnte ihn aber ebenfalls nicht aufhalten. Die Luft war kaum mehr atembar, sie brannte wie Feuer in den Lungen. Sanny fühlte, daß ihre Sinne sich allmählich wieder verwirrten. Der Roboter, der sie nach wie vor fest umklammert hielt, hatte bislang regungslos verharrt. Nun mochte er neue Befehle
erhalten haben, denn er entfernte sich schneller werdend in Richtung auf das große Schott. Schlagartig herrschte Ruhe, nur unterbrochen vom Knistern und Knacken abkühlenden Metalls. Der andere Roboter, in dessen Tentakeln Kik hing, hatte das Feuer eingestellt. Wie durch einen trüben Schleier hindurch konnte Sanny erkennen, daß der Vlahreser offenbar die Besinnung verloren hatte. Das bestärkte sie in ihrer Annahme, er könne der Urheber des Zwischenfalls gewesen sein. Sie mußte sich eingestehen, daß sie längst nicht genug über den rothaarigen Burschen wußte. Auch wenn er unscheinbar wirkte und mitunter sogar leicht einfältig – schien er Fähigkeiten zu besitzen, von denen niemand etwas ahnte. Die Roboter brachten sie in den Gefängnisraum zurück. * Schwärze – beängstigend und vollkommen, angefüllt mit allen Schrecken menschlichen Denkens. Dann wieder Licht – ein kurzer, gleißender Blitz, sich gierig hineinfressend in jede einzelne Nervenzelle, schmerzhaft und zerstörerisch. Nachdem die Roboter sie achtlos abgeladen hatten, hatte Sanny sich zu Kik vorgetastet, der noch immer ohne Bewußtsein war. Nur manchmal durchliefen Zuckungen seinen weichen Körper. Zum erstenmal seit langem spürte die Molaatin wieder, wie beklemmend Hoffnungslosigkeit sein kann. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Unter diesen Umständen auch nur eine einzige Berechnung aufzustellen, war unmöglich. Sanny schluchzte leise. Sie war sich ihrer Sache so sicher gewesen – zu sicher, wie sie sich nun eingestand. Jeder grelle Blitz fraß ein Stück ihrer selbst. Die absolute Stille war zermürbend. Innerlich wehrte die Paramathematikerin sich gegen
jedes neue Aufleuchten, verkrampfte sich, verbarg sich schließlich sogar hinter selbstzerstörerischen Gedanken. Konnte es eine schlimmere Art der Folter geben? Endlich begann Kik sich zu regen. Als suche er Hilfe bei der Molaatin, umklammerten seine fünf Arme ihren zierlichen Körper und zogen sie zu sich heran. Sanny genoß seine Nähe, die ihr wie ein ruhender Pol erschien, sie ließ es zu, daß er sich sanft über sie schob. »Gut so, nicht wahr.« Seine geflüsterten Worte drangen nur langsam in ihr bewußtes Denken vor. »Kik ist gut, nicht?« »Ja«, nickte Sanny monoton. »Du …« Sie unterbrach sich. Die Finsternis war plötzlich nicht mehr so kalt, das Aufblitzen weit weniger schmerzhaft als eben noch. Kik ließ ein leises Kichern vernehmen. »Ich beschütze dich, Kleines, nicht wahr. Genauso wie ich Atlan beschützt habe, damals, auf der Basis des Ersten Zählers.« »Wie machst du das?« »Ich weiß nicht, nicht wahr.« »Spare dir deine komischen Zusätze. Ich denke, du bist intelligenter, als du dich gibst.« Kik schwieg für eine Weile. »Ich weiß es wirklich nicht«, beteuerte er dann. »Vielleicht kannst du berechnen, was mit mir los ist.« »Glaubst du, das hätte ich nicht längst versucht?« Liebkosend strich der einem Seestern ähnliche Vlahreser über Sannys lindgrünen Pelz. »Wir beide gehören zusammen«, sagte er. »Weil ich seit den Geschehnissen in der Namenlosen Zone ein Leben von dir in mir trage?« »Das ist nicht ausschlaggebend.« »Du glaubst daran, daß unser Schicksal vorherbestimmt ist, nicht
wahr«, vermutete Sanny. »Hä«, machte Kik überrascht. »Ich meine, du …« »Nein, nicht das«, wehrte er schnell ab. »Du hast nur gerade ›nicht wahr‹ gesagt.« Kik bewegte sich so ungeschickt, daß er Sanny einfach umstieß. Recht unsanft landete sie auf ihrem verlängerten Rückgrat. »Manchmal ist es sinnlos, mit dir diskutieren zu wollen«, seufzte sie. »Ich stelle nur die Tatsachen fest. Vor einigen Stunden warst du ebenso hilflos wie ich, nun beschützt du mich vor der psychischen Folter und scheinst selbst nahezu immun zu sein. Du konntest einen Roboter der Fremden beeinflussen, der daraufhin ein nicht zu unterschätzendes Feuerwerk veranstaltete.« »Habe ich das? Und seit wann bedienst du dich dieser seltsamen Ausdrucksweise? Du machst sie den Solanern nach, nicht wahr?« »Versuche nicht, mich abzulenken.« Sanny stieß von unten her ihre Faust in Kiks Weichteile, was er durchaus als freundschaftlichen Klaps aufnahm. »Ich kann dich nicht berechnen.« »Dann will ich dir etwas sagen, du kleines Rechengenie: Möglich, daß die Strahlung der beiden Sonnen daran schuld ist, vielleicht auch der vermutete Übergang zur Namenlosen Zone, den du als Nabel bezeichnest, oder sonst was. Ich weiß es nicht, ich will es nicht wissen, ich … Warum ereifere ich mich überhaupt so? Wir sollten lieber zusehen, daß wir einen Ausweg finden. Ich habe nämlich das dumme Gefühl, daß wir uns beinahe schon in der Gewalt von Anti‐ES befinden, nicht wahr.« Unter Kiks aufgewölbtem Körper fühlte Sanny sich geborgen. Die von Lichtblitzen durchzuckte Finsternis war geblieben, dennoch schwand der Alptraum massiver Beeinflussung mehr und mehr. Im gleichen Ausmaß gewann die Molaatin ihr Können zurück, aus den vorhandenen Fakten eindeutige Schlüsse zu ziehen. Demnach befand man sich noch auf Zwielicht, und die gigantische technische Anlage war Teil des Nabels, der Verbindung zur
Namenlosen Zone. Durch die Überlappung der Galaxien Bars und Farynt mußten mehrere solcher Übergänge entstanden sein, die meisten davon wohl instabil oder zumindest Schwankungen unterworfen. Die Maschinen im Innern des Planeten waren imstande, in einem eng begrenzten Umfeld den Übergang sowohl künstlich hervorzurufen als auch beliebig zu erhalten oder zu stabilisieren. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis Zwielicht den Schwerpunkt zwischen den Sonnen passiert«, gab Kik zu bedenken. »Wir werden uns darauf vorbereiten, nicht wahr.« Sanny hatte errechnet, daß der Planet nur etwa alle zwölf Jahre diesen Stand erreichte, und daß die sich gegenseitig aufhebende Schwerkraft der beiden Sonnen Einfluß auf die Raumkrümmung nahm. Dabei mochte es zu Effekten kommen, die die Aufmerksamkeit der Fremden voll in Anspruch nahmen, daß diese sich nicht außerdem mit ihren Gefangenen befassen konnten. * Die ersten Veränderungen traten schneller auf, als Kik und Sanny vermutet hatten. Rötliche Lichtschleier durchdrangen die Wände ihres Gefängnisses, verteilten sich wie feiner Nebel und verschwanden innerhalb von Sekunden wieder, nur um jedesmal an anderer Stelle erneut aufzutauchen – länger und ein wenig intensiver. Die Finsternis wich dem fahlen Leuchten. Die Schwerkraft, ebenso hoch wie an Bord der SOL, wurde Schwankungen unterworfen. Wenn Kik sich sanft abstieß, konnte er meterweite Sprünge vollführen. »Laß den Blödsinn«, tadelte Sanny. »Wenn die Auswirkungen ins Gegenteil umschlagen, brichst du dir das Genick.« Sie konnten plötzlich den Gang sehen, der vor ihrem Gefängnis verlief. Aber noch ehe sie die Stelle erreichten, verlor die Wand ihre
Transparenz wieder. Leichte Erschütterungen durchliefen den Boden, begleitet von den Geräuschen auf Vollast arbeitender Energieerzeuger. Kik reckte sich auf drei seiner Gliedmaßen zu voller Größe auf und verschränkte die beiden anderen Arme herausfordernd. »He«, rief er. »Wann brechen wir endlich aus?« »Noch hat der Planet die optimale Position nicht erreicht.« »Woher willst du das wissen?« »Ich habe es berechnet.« »Hm«, brummte Kik. »Deine Berechnungen basieren lediglich auf Vermutungen, nicht wahr?« Im nächsten Moment zog Sanny ihn einfach hinter sich her, auf die erneut transparent gewordene Wand zu. Ein flüchtiger Windhauch schien sie zu streifen, dann waren beide hindurch und wurden von der kurzfristig ansteigenden Schwerkraft in die Knie gezwungen. Kik wollte etwas sagen, brachte aber nur ein heiseres Stöhnen hervor. Sannys Griff lockerte sich. »He«, erklang es hinter ihnen. »Wann brechen wir endlich aus?« Der Vlahreser, der sah, wie die Molaatin ungläubig die Augen aufriß, wirbelte herum. Bis er begriff, weshalb die Stimme ihm so eigenartig vertraut vorkam, war es bereits zu spät. Der Schreck ließ ihn taumeln. »Das, das … bin ich selbst …«, stammelte er. Sanny nickte schwer. »A‐aber wieso? Und weshalb ausgerechnet ich?« Kik starrte sein Ebenbild an, als stünde er einem Geist gegenüber. Der andere hingegen schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. »Tut, als wäre ich Luft für ihn. Wer ist das überhaupt, he? Eine neue Teufelei von Anti‐ES?« Zögernd machte Kik einen Schritt vorwärts, dann einen zweiten. Sanny hielt ihn rechtzeitig zurück, ehe er die Wand zum zweitenmal durchdringen konnte. Das war sein Glück, denn gleich darauf wurde diese wieder so materiell wie zuvor. Ungläubig klatschte Kik
einen seiner Arme dagegen. Mit einem anderen kratzte er sich am Kopf. »Komm schon«, drängte Sanny. »Hier können wir nicht bleiben.« »Du willst ein Raumschiff, nicht wahr?« »… oder eine Hyperfunkanlage. Auf jeden Fall müssen wir möglichst schnell weit weg von hier.« Kiks Augen weiteten sich in offensichtlichem Erstaunen. Sie fixierten jenen Teil des Ganges, der hinter Sanny lag. Zögernd wandte die Molaatin sich um. Auch über ihre Züge huschte ein Schatten der Verwunderung. »Was wollt ihr von uns?« stieß sie hervor. »Ja, genau das möchte ich auch wissen, nicht wahr«, bekräftigte Kik eifrig. Keine fünf Meter entfernt standen ihre Ebenbilder und blickten sich suchend um. Der andere Kik schien überrascht und verwirrt zugleich, während die Sanny an seiner Seite überaus nachdenklich in ihre Richtung sah. »Eine Waffe …«, jammerte der »richtige« Kik. »Wozu?« »Um diese … diese Geschöpfe von Anti‐ES zu verjagen, ehe sie über uns herfallen.« »Uns droht keine Gefahr«, erwiderte Sanny sanft. Sie schwieg, als ihr Ebenbild einen Arm ausstreckte und in ihre Richtung deutete. »Siehst du«, klang es auf. »Da ist niemand.« »Aber«, erwiderte der andere Kik. »Sie waren da, nicht wahr.« »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« »Ich glaube«, erklärte Sanny, »die Zeit spielt uns einen Streich. Die veränderte Raumkrümmung scheint nicht ohne Folgen geblieben zu sein. Was wir sehen, ist die Zukunft.« »Zeit?« wiederholte Kik ungläubig. Unwillkürlich machte er einige hastige Schritte vorwärts. Wie beim Blick in einen Spiegel, der von einem veränderten Standpunkt aus ein gänzlich anderes Bild wiedergibt, verschwanden ihre Ebenbilder von einem Moment zum anderen spurlos. »Du meinst, das waren wir selbst, nicht wahr?
Zweimal existent zur selben Zeit?« »Nicht zur selben Zeit. In Gegenwart und Zukunft.« Sanny hatte Kik eingeholt und zwang ihn dazu, sich ebenfalls umzuwenden. Der Gang vor ihnen war leer und verlassen. Sanny streckte einen Arm aus. »Siehst du«, sagte sie. »Da ist niemand.« »Aber«, entgegnete Kik verwirrt. »Sie waren da, nicht wahr.« »Nicht sie – wir, das ist der Unterschied.« »Ich weiß nicht.« Zögernd fuhr Kik sich durch die Haare. »Sehen wir zu, daß wir von hier verschwinden.« * Sich einem Antigravschacht anzuvertrauen, wagten sie aus Furcht vor Entdeckung nicht. Allerdings gelang es Sanny relativ schnell, den Aufbau der Station zu berechnen und dadurch aufwärts führende Treppenschächte zu finden, nach denen sie andernfalls wesentlich länger hätten suchen müssen. Außerdem konnten sie hier sicher sein, weder Robotern noch den Fremden selbst zu begegnen. »Die Hangars für die Raumschiffe liegen dicht unter der Oberfläche von Zwielicht«, sagte Sanny. »Wir sollten uns beeilen, denn nach Entdeckung unserer Flucht wird man entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen.« »Ich kann nicht schneller«, ächzte Kik. »Das sind vielleicht tausend Meter, nicht wahr.« »Vermutlich sogar noch mehr. Willst du dich lieber wieder einfangen lassen?« Die Stufen, immerhin waren sie für Wesen gebaut, die mehr als dreimal so groß wie Sanny waren, wurden zum kräftezehrenden Hindernis. Und Kik hatte Schwierigkeiten mit seinen Extremitäten. Auf jedem Absatz blieb er stehen und streckte sich.
Über ihnen erklangen Geräusche. »Still!« raunte Sanny. »Was …?« Mit einer zornigen Handbewegung bedeutete sie dem Vlahreser, den Mund zu halten. Da war es wieder, als bewege sich etwas raschelnd über den Metallplastbelag der Stufen. Kik sah Sanny fragend an. »Auf jeden Fall sind es weder Roboter noch welche der Fremden«, stellte sie ohne zu zögern fest. »Du glaubst, es könnte uns gefährlich werden, nicht wahr?« Sanny zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Andererseits – wer sich im Treppenschacht verbirgt, kann kein wirklicher Gegner sein.« Das Rascheln kam näher. Immer wieder verstummte es für eine Weile, als lausche jenes Wesen, das es erzeugte, in die durch die Notbeleuchtung nur spärlich erhellte Finsternis. Etwas Braunes schob sich aus der Höhe herab. Dünn und lang, tastete es schlangengleich über den Boden. Ein gut dreißig Zentimeter durchmessender Stamm folgte, aus dem in gleichbleibenden Abständen eine Vielzahl laubbedeckter Äste sprossen. Das merkwürdige Geschöpf war ungefähr 1,50 Meter groß. Als es die untersten Stufen erreicht hatte, blieb es stehen und richtete einen Ast, der mit einer Vielzahl kugelförmiger Auswüchse bedeckt war, auf die Molaatin. »Das müssen Sehorgane sein«, durchzuckte es Sanny. »Ein Baum«, ächzte Kik. Abwehrend streckte er die Arme aus, als das Wesen sich auf seinen langen Wurzeln weiter auf ihn zu schob. »Es tut dir nichts«, behauptete Sanny. »Das glaube ich kaum, nicht wahr.« Wäre das umlaufende Geländer nicht gewesen, Kik wäre vermutlich noch weiter zurückgewichen und dabei abgestürzt. So mußte er innehalten. Der einzige Fluchtweg war der nach vorne – geradewegs in die ausgebreiteten Äste hinein, die sich ihm entgegenreckten.
»Bleib mir bloß vom Leib!« schimpfte er. »Ich bin Pork.« »Na und?« überrascht schüttelte Kik sich. »Hast du das eben gesagt?« wollte er dann wissen. »Ich bin Pork«, wiederholte der Baum in klarem, einwandfrei verständlichen Interkosmo. »Du kannst tatsächlich sprechen, nicht wahr?« »Ich bin ein entkommener Multi.« Resignierend ließ Kik seine Gliedmaßen hängen. Sein Blick zeigte nur zu deutlich, daß er mit dem wandelnden Baum nichts anzufangen wußte. Sanny hingegen schien bereits Vertrauen gefaßt zu haben. »Wieso sprichst du unsere Sprache?« fragte sie. Pork zog ein kleines, würfelförmiges Gerät zwischen den Ästen hervor – einen Translator. »Die Gyranter«, sagte er, »haben eure Sprache analysiert, gespeichert und in jeden Übersetzer überspielt. Da ich ein solches Gerät an mich bringen konnte, fällt es mir leicht, euch zu verstehen.« Mit dem Begriff »Gyranter« waren zweifellos die Fremden gemeint. Daß Pork sich als entkommenen Multi bezeichnete, bewies, daß er ebenfalls vor ihnen floh. »Wie hast du uns gefunden? Zufällig?« »Durch den Duft, den der Rothaarige absondert. Er riecht wie Tegas Blütenknospen.« »Komm mir nicht zu nahe«, wetterte Kik, als der Multi abermals die Äste nach ihm ausstreckte. »Wer ist Tega?« »Meine Gefährtin der letzten Blüteperiode. Aber«, Pork stockte, »das ist lange her. Viel zu lange, als daß ich mich an mehr erinnern könnte.« »Woher kommst du?« Pork wandte seinen Sehast wieder Sanny zu. »Von irgendwo, wo Dunkelheit herrschte. Die Gyranter haben mir viel von meinem Wissen genommen.«
»Warst du ihr Gefangener?« »Ich …« Pork verstummte, als der Boden unter seinen Wurzeln jäh zu vibrieren begann. »Das ist Alarm«, erschrak Sanny. »Jetzt kommt es darauf an.« Kik deutete auf den wie erstarrt wirkenden Baum. »Nehmen wir den mit?« »Vielleicht kann er uns helfen. Ich glaube, er kennt die Station besser als wir.« Aber Pork reagierte nicht. Erst als Kik ihn ungehalten anstieß, fiel die Starre von ihm ab. Er schien verwirrt. »Manchmal glaube ich, daß meine Erinnerung allmählich zurückkehrt«, erklang es aus dem Translator. »Erschütterungen wie diese durchliefen meine Welt, bevor sie … zerstört wurde.« So schnell sie konnten, kletterten sie die Treppe hinauf. Zwei Hauptetagen brachten sie in kürzester Zeit hinter sich, bevor weit über ihnen grelles Licht aufflammte. »Die Gyranter suchen nach uns, nicht wahr?« »Hier sitzen wir in der Falle«, nickte Sanny. »Wir müssen uns zumindest vorübergehend ein anderes Versteck suchen.« »Hilft dir das weiter?« Pork brachte zwischen seinen Ästen einen handlichen Kombistrahler hervor und reichte ihn Sanny. * Die Etage, auf der die drei den Treppenschacht verließen, schien von untergeordneter Bedeutung zu sein und diente wohl der Lagerung von Ersatzteilen und verschiedenen Gerätschaften, wie die selbst in den Gängen gestapelten Container erkennen ließen. Es gab große, geräumige Hallen, die von langen Regalreihen durchzogen wurden. Vermutlich hätte man sich hier für längere Zeit verbergen können, wären nicht die mit dem Verteilen von Gütern beschäftigten Roboter gewesen. Jeden Augenblick rechnete Sanny
damit, daß die kugelförmigen Maschinen sie entdeckten. Den Strahler hielt sie entsichert in der Rechten. Sie mochten etwa einen Kilometer zurückgelegt haben, als der Korridor vor einem mächtigen Tor endete. »Wir müssen da hinein, nicht wahr«, stellte Kik unumwunden fest. Ehe Sanny oder Pork antworten konnten, glitten beide Torhälften vor ihnen zur Seite. Sie hatten den Eindruck, in eine andere Welt zu gelangen. Ein monotones Summen lag in der Luft. Es ging von den Maschinenblöcken aus, die zum Teil die Größe einer Space‐Jet erreichten, und von denen Antennenbündel wie die Stacheln eines Igels nach allen Seiten ragten. Hin und wieder huschten glitzernde Entladungen von einem Aggregat zum anderen. Dies alles wirkte so fremdartig, als sei es einem bizarren Alptraum entsprungen. »Das ist unheimlich«, behauptete Kik. »Ich gehe nicht einen einzigen Schritt weiter.« »Willst du allein zurückbleiben?« Er mußte sich fügen. Aber niemand konnte ihn daran hindern, sich winzig und unbedeutend zu fühlen, wenn er zu den schroffen Maschinenblöcken aufblickte, die jeder von spiralförmigen Kühlrohren umlaufen wurden. Urplötzlich stieß Sanny ihn zur Seite. Kik taumelte, ohne zu verstehen, was geschah, er spürte nur eine Woge von Hitze über sich zusammenschlagen. Ein greller Blitz blendete ihn. Ein Roboter hatte das Feuer eröffnet. Wo Kik eben noch gestanden hatte, glühte der Boden. Die Molaatin schoß zurück. Es kostete sie Mühe, ihr Zittern zu unterdrücken, und sie hielt ihre Finger noch um den Feuerknopf der Waffe verkrampft, als der Angreifer schon in einer dumpfen Detonation vergangen war. Endlich ließ sie den Strahler sinken. Sie vermied es, ihre Begleiter anzusehen.
»Wenn der Roboter Zeit hatte, eine Nachricht abzusetzen, werden die Gyranter uns bald aufspüren.« »Willst du aufgeben?« fragte Pork. Sie sah den Multi überrascht an. »Ich glaube, das habe ich nie getan«, fuhr er fort. »Und du konntest immerhin einen kleinen Sieg erringen; ich mußte immer nur Niederlagen hinnehmen.« Sie hasteten weiter, blindlings, ohne zu wissen, wohin. »Diese Maschinen«, sagte Sanny im Laufen, »sind wichtig. Ich vermute, daß sie den Nabel stabilisieren. Der gesamte Komplex ist so ausgedehnt, daß sogar die Gyranter bestimmt zehn Minuten benötigen, um von einem Ende zum anderen zu gelangen.« »Du meinst, daß sie uns deshab noch nicht entdeckt haben, nicht wahr.« »Unsinn.« Sanny winkte schroff ab. »Ich meine, daß es hier Transmitter geben muß, die es dem Wartungspersonal im Notfall erlauben, in Sekundenschnelle von einem Ort zum anderen zu gelangen.« Kik schwieg. Auch als Sanny unvermittelt stehenblieb und sich umsah, sagte er kein Wort. »Wir müssen dort hinüber!« Die Molaatin deutete nach links, wo zwei Aggregatblöcke in die Höhe pilzförmig ausgebildet waren und einander fast berührten. »Dem Aussehen nach gibt es drei Kategorien von Maschinen, von denen die größten vermutlich auch die wichtigsten Aufgaben zu erfüllen haben. Es wäre nur logisch, die Transmitter nahe den Kreuzungspunkten der Verbindungsgänge anzuordnen.« Wenig später fanden sie ein torbogenförmiges Gebilde, das aus nichts anderem bestand als zwei glänzenden Metallsäulen. Kik nickte anerkennend. Dann verschränkte er fragend die Arme ineinander. »Wenn wir hindurchgehen, wissen wir noch lange nicht, wo wir herauskommen, nicht wahr.«
Sanny blickte sich suchend um. »Dort drüben, das sollten die Kontrollen sein. Egal, was geschieht, sobald ich die erforderlichen Schaltungen ausgeführt habe, geht durch den Bogen.« »Nein«, erwiderte Kik heftig. »Entweder du kommst mit uns, oder wir warten.« Noch konnte man zwischen den Transmittersäulen hindurch diesen Teil der Halle überblicken. Minuten später entstand jedoch ein Flimmern, das jede Sicht versperrte. Sanny hastete heran. »Schnell!« rief sie. »Ich habe die Energiezufuhr so geschaltet, daß in spätestens einer halben Minute die gesamte Koordinatenprogrammierung zusammenbricht.« Gemeinsam wurden sie entstofflicht und als hochfrequenter Impuls abgestrahlt. 5. Weder machte sich der erwartete Schmerz eines Transmittersprungs über größere Entfernungen hinweg bemerkbar, noch veränderte sich ihre Umgebung. »Mißglückt«, stellte Kik fest. »Nicht wahr. Was machen wir nun?« In der Ferne zeichnete sich eine flüchtige Bewegung zwischen den Aggregaten ab. Zu weit weg, um erkennen zu lassen, ob es sich um Roboter oder Gyranter handelte. »Wir sind nicht mehr auf Zwielicht«, behauptete Sanny. Pork stimmte ihr zu: »Die Anlage ähnelt zwar der anderen, aber alles ist viel gewaltiger.« »Du weißt, wo wir sind, nicht wahr?« wandte Kik sich an die Molaatin. Sanny schüttelte den Kopf. »Ich kann nur erkennen, daß dies ebenfalls die technische Komponente eines Nabels sein muß. Ob wir uns wiederum im Innern eines Planeten befinden, läßt sich nicht
sagen.« Die Maschinen und Antennensysteme, die auf Zwielicht bis zu dreißig Meter hoch aufragten, maßen hier gut das Dreifache. Die Halle selbst war unüberschaubar in ihren Dimensionen; die Decke blieb hinter wabernden Energieentladungen verborgen. »Ich spüre etwas«, flüsterte Pork. »Und zwar erst, seit wir durch den Transmitter gekommen sind. Als könnte ich Stimmen hören …« »Verstehst du, was sie sagen?« »Nein. Manchmal, scheint es, sind sie unendlich weit weg, dann wieder ganz nahe, fast so, als stünde jemand neben mir.« Gerade noch rechtzeitig zog Sanny ihre beiden Begleiter in die Deckung eines der mächtigen Aggregate. In einer seitlichen Nische, durch die man vermutlich ins Innere gelangen konnte, fanden sie ausreichend Platz. Roboter näherten sich ihrem Versteck. Sie gehörten nicht dem kugelförmigen Typ an, sondern bewegten sich auf zwei Beinen. Mehrere Gyranter waren bei ihnen. Damit wurde endgültig klar, daß es sich um ein Hilfsvolk von Anti‐ES handelte, das vermutlich sämtliche Nabelstationen besetzt hielt. Sanny fragte sich unwillkürlich, ob die zumindest äußerliche Ähnlichkeit mit den Solanern wirklich zufällig war, oder ob mehr dahintersteckte, als sie jetzt noch vermuten konnte. Immerhin war Anti‐ES ein ernstzunehmender Gegner, der sogar seine Verbannung in die Namenlose Zone geschickt zu überspielen wußte. Wenige Meter entfernt verhielten die Roboter. Sanny erschrak, als ihre Linsensysteme langsam zu rotieren begannen. Erfolgten ihre Wahrnehmungen im Infrarotbereich? Einer der Gyranter sagte etwas in seiner fremdartig klingenden, unverständlichen Sprache, woraufhin alle in eine andere Richtung weitergingen. »Das war knapp, nicht wahr«, seufzte Kik. »Ich dachte schon, sie haben uns. He, was ist mit Pork los?« Der Multi stand erneut regungslos da, nur sein Sehast zitterte leicht. Als Kik sanft einen seiner Äste berührte, rollten die Blätter
sich schlagartig ein. »Hoffentlich wird er nicht welk, nicht wahr.« Die Bemerkung sollte wohl die deutliche Anspannung lösen, doch Sanny fand sie beim besten Willen nicht komisch. Sie warf Kik einen verweisenden Blick zu. Pork war zu fremdartig. Selbst die Molaatin konnte nur annehmen, daß sein Zustand mit den seltsamen Stimmen zu tun hatte, von denen er gesprochen hatte. Da weder der Vlahreser noch sie selbst etwas hörten, schien es sich um eine Wahrnehmung im mentalen Bereich zu handeln. Endlich wachte der Multi aus seiner Starre auf. Was er sagte, bestätigte Sannys Vermutungen. »Ich spüre sie deutlicher. Irgendwo in dieser riesigen Anlage werden zwei Wesen gefangengehalten. Sie haben die Hoffnung, eines Tages befreit zu werden, schon fast aufgegeben.« »Dann sind sie Gegner der Gyranter …« »Sie scheinen auch selbst verfeindet zu sein. Soweit ich erkennen kann, ringen sie miteinander und versuchen, jeder für sich, die Oberhand zu gewinnen. Zumindest einer von ihnen will nicht kämpfen, aber sie werden dazu gezwungen.« »Von Anti‐ES?« entfuhr es Kik. »Ja, ich glaube. Jeder hält den anderen für einen Helfer dieses Anti‐ES, aber wirklich siegen kann keiner.« Sanny war blaß geworden. »Was du sagst, spiegelt haargenau die Situation in Bars‐2‐Bars wider, deren Völker sich seit Jahrhunderten im Krieg befinden. Zumindest bis vor kurzem glaubte jede Seite, in dem anderen den Aggressor zu sehen.« »Wie sollten zwei Einzelwesen derart Einfluß auf die Geschicke einer Galaxis nehmen …?« »Wenn meine Vermutung zutrifft, handelt es sich nicht um Geschöpfe wie dich oder mich oder die Gyranter. Dann ist die Bezeichnung Wesenheit am ehesten zu akzeptieren. Tyar und
Prezzar sind galaxienumspannende Intelligenzen.« »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Pork. »Es ist auch schwer zu verstehen. Die Völker von Bars‐2‐Bars glauben, daß ihre Götter oder Beschützer tot sind, seit vor langer Zeit die Sterneninseln kollidierten. Die Verzahnung von Bars und Farynt ist gleichbedeutend mit der Umschlingung von Tyar und Prezzar, aus der keiner sich lösen kann. Denn vor allem dadurch werden die Nabel erhalten, die Übergänge von unserem Raum zur Namenlosen Zone.« »Übergänge?« »Wie immer sie geartet sein mögen«, sagte Sanny. Leise raschelnd rieb Pork seine Äste aneinander. »Ich entsinne mich dumpf, daß ich von meiner Welt entführt wurde, in eine Umgebung, die gänzlich anders war. Ich kannte keine Sterne, aber ich weiß, daß es in meinem Volk ›Lauscher‹ gab, die Beben in der Unendlichkeit voraussagten.« »Dann ist die Namenlose Zone deine Heimat, nicht wahr«, folgerte Kik. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, daß der Multi seine Nähe suchte und hin und wieder mit einem Greifast beinahe zärtlich über seinen Körper strich. Wenn er sich nicht täuschte, entwickelte Pork sogar kleine Blütenknospen. »Haben die Lauscher die Annäherung von Bars und Farynt wahrgenommen?« fragte Sanny. »Wenn du Tyars und Prezzars Anwesenheit spürst, besitzt du vielleicht ebenfalls solche Fähigkeiten.« Der Multi schwieg. Wahrscheinlich suchte er in seiner verschütteten Erinnerung nach entsprechenden Hinweisen. * Pork besaß keine Möglichkeit, herauszufinden, wo die Intelligenz von Bars und der Instinkt von Farynt festgehalten wurden. Dazu
waren die Ausmaße der Station zu riesig. Er spürte nur ihre Anwesenheit – und die Gegenwart von einem weiteren Wesen,, das scheinbar hilflos umherirrte. »Es gehört zu Prezzar«, behauptete er. »Von Furcht und Unsicherheit getrieben, ist es auf dem Weg, sich selbst zu vervollkommnen.« Sie hatten Stunden gebraucht, um die Halle zu verlassen, waren der Gefahr des Entdecktwerdens mehrmals nur knapp entronnen, hatten es schließlich aber doch geschafft. Im Gegensatz zur Station auf Zwielicht stießen sie immer wieder auf Gyranter. Für Sanny gewann alles dadurch noch mehr an Bedeutung. Es war nicht schwer zu berechnen, daß man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe der wichtigsten aller Verbindungsstellen, dem Hauptnabel, befand. Ihre Hoffnungen, außerhalb der Maschinenhalle in weniger belebte Sektionen zu gelangen, erfüllten sich zumindest vorerst nicht. Manchmal sagte Pork, daß er die »Stimmen« von Tyar und Prezzar nun deutlicher vernehmen könne, doch ließ sich keine einheitliche Richtung feststellen. Über endlose Korridore und breite Rampen drangen sie tiefer in die Station ein. Auf jeder Ebene gab es Hunderte von kleinen Kabinen, in die die Gyranter sich während ihrer Ruheperioden zurückziehen konnten. Und dazwischen immer wieder Räume vollgestopft mit fremdartiger Technik und von Robotern gewartet, die von den drei ungebetenen Eindringlingen keinerlei Notiz nahmen. Es waren einfache Arbeitsmaschinen, deren Programm sich in der Erledigung anfallender Routinearbeiten erschöpfte – bis zu dem Augenblick, in dem Kik unachtsam eine elektronische Sperre passierte. Aus den Veränderungen erkannte Sanny zum Glück rechtzeitig, daß für sie unangenehme Dinge geschahen. Wahrscheinlich ging es um Sekunden. »Dort, in den Lüftungsschacht!« Das quadratische Gitter unmittelbar über dem Boden ließ sich leicht abheben. Hinter Pork
und Sanny schlüpfte Kik in den glattwandigen, waagrecht verlaufenden Schacht und zog das Gitter von innen her wieder zu. Keinen Augenblick zu früh, denn schon betraten Gyranter den Raum. »Wir müssen weiter«, wisperte Sanny. »Wenn wir hier bleiben, werden sie uns früher oder später aufspüren.« Langsam krochen sie vorwärts. Begleitete sie anfangs noch ein fahler Lichtschimmer, so wurde die Finsternis allmählich undurchdringlich. Als sich herausstellte, daß Pork in der absoluten Dunkelheit ebensogut sah wie im Licht greller Scheinwerfer, bestärkte das Sannys Verdacht, der Multi stamme aus der Namenlosen Zone. Mit großer Wahrscheinlichkeit war seine Heimat eine Dunkelwelt. Mehrmals verzweigte sich der Schacht, aber Pork behielt die einmal eingeschlagene Richtung unbeirrt bei. Er behauptete, wieder die »Stimmen« zu hören, und ihr Ausgangspunkt mußte in der Nähe sein. Unvermittelt verlief der Lüftungsschacht steil abwärts. Sein Durchmesser weitete sich etwas, aber Kik und der Multi konnten noch einigermaßen sicher in die Tiefe klettern, indem sie sich an den Wänden abstützten. »Ich werde dich tragen, Sanny, nicht wahr«, bot der Vlahreser an. Sie befanden sich höchstens noch drei Meter über dem Ende des Schachtes, als schlagartig ein heftiger Luftzug einsetzte. Kik verlor als erster den Halt, prallte auf den Multi und riß ihn mit sich. Nur ein engmaschiges Gitter verhinderte, daß sie von den Schaufeln einer Turbine erfaßt und zermalmt wurden. Zehn Minuten hielt der künstlich erzeugte Sturm an, dann war alles wieder ruhig wie zuvor. Es gab keinen Ausweg. Wer den Schacht verlassen wollte, mußte entweder zurück oder versuchen, über die Turbine ins Freie zu gelangen. Sanny stellte ihren Strahler auf minimalste Energieabgabe. Mit
dem kaum fingerdicken Strahl begann sie, das Gitter zu bearbeiten. Es beanspruchte viel Zeit, aber das Material begann an dieser Stelle tatsächlich zu schmelzen. Als Sanny nach einer Weile aufsah, zuckte sie regelrecht zusammen. Im fahlen Widerschein der Waffe sah sie sich unvermittelt einem zweiten Multi gegenüber. Allerdings war dieser kaum ein Viertel so groß wie Pork, der stolz verkündete, daß es sich um seinen Ableger handelte. »Innerhalb weniger Tage könnte er mir zum Verwechseln ähnlich sein und darüber hinaus mein ganzes Wissen besitzen.« Der Molaatin entging die seltsame Betonung nicht. »Ich habe mich entschlossen, den Ableger zu opfern«, erklärte Pork. »Die Gyranter brauchen einen Gefangenen, sonst werden sie nicht aufhören, nach uns zu suchen. Auf dieselbe Weise gelang es mir, auszubrechen und den Übersetzer zu bekommen, und …« er stockte. »Ich glaube, ich habe viel früher schon einmal einen Ableger gebildet.« * Während Sanny weiter damit beschäftigt war, das Gitter aufzuschweißen, erzählte Pork. Tegas Tod, seine zerstörte Heimat, die Ankunft in einem erschreckend fremden Raum, Gefangenschaft, Verhöre, Versuche, die die Gyranter mit ihm anstellten, all das wirbelte in seinen Gedanken wirr durcheinander. Er berichtete, was ihm in den Sinn kam, und verstand Kik auch herzlich wenig. Sanny zumindest fand die Zusammenhänge und wußte vieles, was unverständlich schien, zu erklären. Pork hatte demnach schon gelebt, als die Galaxien Bars und Farynt, von unerklärlichen Kräften gelenkt, ineinanderglitten und zum Stillstand kamen. Es war kein Wunder, daß im Lauf seiner Gefangenschaft die Erinnerungen mehr und mehr verblaßt waren. Er mußte sich stets auf Zwielicht aufgehalten haben – also war zumindest die dortige Station schon
früher in der Geschichte von Bars‐2‐Bars errichtet worden. Ob die Gyranter damals bereits die beherrschende Macht gewesen, oder ob sie erst später in Erscheinung getreten waren, blieb dahingestellt. Für Pork sah ein zweibeiniges Fremdwesen aus wie das andere. Irgendwann hatte er einen Ableger gebildet, um mit seiner Hilfe einen Fluchtversuch zu wagen. Aber er war entdeckt worden, und die Gyranter hatten mit ihm und dem ihm bis aufs Blatt ähnlichen zweiten Multi experimentiert. Offenbar war ihnen daran gelegen gewesen, das rasche Wachstum des Ablegers zu erklären, der dabei mit wichtigen Geheimnissen konfrontiert wurde, wie er Pork in einem unbeobachteten Moment zuflüstern konnte. Wenig später verschwand er jedoch während eines Transmittersprungs spurlos. Die nächsten Monate hatte Pork dazu benutzt, um zu lernen. Mittlerweile kannte er die Gewohnheiten der Gyranter, und so klappte sein zweiter Versuch, mit Hilfe eines Ablegers die Freiheit wiederzuerlangen. Allerdings hätte er Zwielicht trotzdem nicht verlassen können, wäre er nicht Sanny und Kik begegnet. Eng drängte der Multi sich an den Seestern. Seine Blüten hatten sich zu roter Farbenpracht entfaltet. Er zitterte leicht. »Dein Geruch«, gestand er Kik, »hat mich auf eure Spur gebracht. In deiner Nähe wird die Zeit mit Tega wieder in mir lebendig. Nur deshalb bin ich bei euch geblieben.« Die unstillbare Sehnsucht eines einsamen Wesens, das vielleicht das letzte seines Volkes war, schwang in diesen Worten mit. Dann machte der erneut einsetzende Sturm jede Verständigung unmöglich. Regelmäßig alle halbe Stunde wurde die Turbine für zehn Minuten aktiviert. Über mehrere Perioden hinweg konnte Sanny die Genauigkeit ihrer Berechnungen überprüfen. Sie durchtrennte das Gitter bis auf wenige Stäbe, um so der Gefahr eines ungewollten Absturzes zuvorzukommen. Die zehn Minuten schienen sich diesmal endlos auszudehnen. Aber als die Sogwirkung abfiel, hieß es, schnell zu handeln. Während Sanny das Abdeckgitter vollends löste, sorgte Kik mit
seinen Greifarmen dafür, daß das herausgetrennte Stück nicht polternd in der Tiefe verschwand. Vorsichtig schob er es zur Seite. Knapp drei Meter unter ihnen befand sich die Turbine. Sie mußten springen. Sanny landete als erster auf einem der großen Schaufelblätter, die sich leicht zu drehen begannen. Dann kamen Pork, sein Ableger, der beinahe den sicheren Halt verfehlt hätte und ins Innere des Aggregats gestürzt wäre, und Kik. Noch knapp zehn Minuten blieben ihnen. Der Weg über das Gestänge in die düstere Tiefe gestaltete sich schwieriger als angenommen. Und weitaus zeitraubender. Notfalls konnte Sanny zwar versuchen, die Energiezufuhr zu unterbrechen, doch hätte das zweifellos die Gyranter auf den Plan gerufen. Geräusche von allen Seiten verrieten die beginnenden Schaltvorgänge. Schon lief die Turbine langsam wieder an. Im allerletzten Moment ließ auch Kik sich fallen, kam zwischen Regelelementen auf und hastete weiter, auf die Peripherie des Aggregats zu. Der aufbrandende Lärm steigerte sich zum ohrenbetäubenden Dröhnen. Durch Handzeichen machte Sanny sich verständlich. Ihre Berechnungen hinsichtlich vorhandener Sicherungseinrichtungen waren zutreffend, sie konnten die Sensoren gefahrlos umgehen. Erst als der herrschende Lärm abklang, bemerkte die Molaatin das Verschwinden des Ablegers. »Er ist zurückgeblieben«, sagte Pork. »Wenn wir weit genug entfernt sind, wird er die Gyranter auf sich aufmerksam machen.« Der Multi hatte die Entscheidung eigenmächtig gefällt. Sanny ahnte, daß dies den Tod des Ablegers bedeuten mußte, aber um jetzt noch zu versuchen, Pork in ihrem Sinn umzustimmen, war es zu spät. »Folgt mir!« raunte er. »Ich spüre die Ausstrahlung des dritten Wesens ganz in der Nähe. Es ist verwirrt, scheint sich aber mittlerweile weiter vervollkommnet zu haben – in seinen Gedanken wird es sich selbst bewußter.« Mehrmals mußten sie sich vor Gyrantern verbergen, dann wurden
Erschütterungen spürbar. »Sie haben den Ableger entdeckt, nicht wahr«, sagte Kik. Pork hielt nicht einen Augenblick lang inne. Nur als weit hinter ihnen Detonationen erfolgten, zuckte er kurz zusammen. Sannys Ahnung wurde zur Gewißheit. Hoffentlich hatte der zweite Multi sich nicht umsonst geopfert. Ein Kabelschacht … Zwischen den einzelnen Strängen kletterten sie in die Tiefe und gelangten in einen im Halbdunkel liegenden Kontrollraum. Zweifarbige Anzeigen huschten über Dutzende von Skalen und verbreiteten ein eigentümliches Flackern. Aber nicht das fesselte Sannys Aufmerksamkeit, sondern das humanoide Wesen, das sich sprungbereit an die gegenüberliegende Wand duckte. Ein dumpfes, drohendes Knurren drang aus seiner Kehle. * Porter machte eine Pause in seinem Redefluß. Ununterbrochen hatte er die Gestalt gewechselt, nun besaß er wieder Kegelform, und die seitlichen Schuppen spreizten sich wie Äste ab. Es ist dir also auch aufgefallen, wisperte Atlans Extrasinn. Zumindest liegt dieser Schluß auf der Hand, erwiderte der Arkonide lautlos. Dann muß Wöbbeking mehr beabsichtigt haben, als er Porter zur SOL schickte. »Wer bist du wirklich?« fragte Tyari. Ihr Verdacht schien ebenfalls in eine ganz bestimmte Richtung zu zielen. Porter antwortete nicht, sondern dachte angestrengt nach. Flüchtig wurden die Bilder seiner Heimat deutlicher, doch verblaßten sie ebenso schnell wieder unter einer Vielzahl bruchstückhafter Erinnerungen. Einsamkeit quälte ihn. »Er scheint es nicht zu wissen«, sagte Tyari.
Atlan nickte schwer. »Wenn er tatsächlich Porks Ableger ist …? Mag sein, daß Wöbbeking ihn geschickt hat, damit er sich seiner Herkunft erinnert.« »Falls Porter wirklich der ist, für den wir ihn halten, weiß er um das Geheimnis der Gyranter und der Nabel zur Namenlosen Zone. Dann bedarf es vielleicht nur eines äußeren Anstoßes, dieses Wissen ans Licht zu fördern.« »Sprich weiter!« forderte Atlan Wöbbekings Boten auf. »Wir hören dir zu.« 6. Das Wesen war mehr als doppelt so groß wie Kik und von einem dichten, dunkelbraunen, zum Teil sogar fast schwarzen Fell eingehüllt. Es besaß zwei Arme, zwei Beine und einen kantigen Schädel mit stark ausgeprägten Gesichtszügen. In seinen Augen funkelte Angriffslust. »Nicht bewegen«, raunte Sanny ihren Begleitern zu. »Er zögert, weil so fremdartige Geschöpfe wie wir ihm bisher nicht begegnet sind. Wären wir Gyranter, hätte er uns wahrscheinlich sofort angegriffen.« Der Behaarte starrte sie herausfordernd an. Als Sanny ihre Waffe auf Lähmstrahlen umstellte, sprang er. Sie fand gerade noch Zeit, sich auf die Seite zu werfen und den Auslöser zu betätigen. Der Angreifer schrie auf und taumelte. Entsetzt starrte er seinen linken Arm an, der plötzlich taub war. »Du wolltest es nicht anders.« Sanny bemühte sich, ihrer Stimme einen festen und dennoch warmen Klang zu verleihen. Als sie erneut die Waffe auf ihn richtete, zeigte sich, daß er schnell gelernt hatte. Respektvoll zog er sich vor der flimmernden Mündung einige Schritte weiter zurück, blieb aber sprungbereit, um jede Unachtsamkeit zu seinen Gunsten zu nutzen.
»Er ist ein Ableger von Prezzar«, behauptete Pork. »Bist du dir sicher?« Sanny schien zumindest im Gegensatz zu Kik, keineswegs überrascht. »Ich fühle es.« »Dann muß er das Gegenstück zu Tyari sein«, folgerte die Molaatin. »Von Prezzar geschaffen, um ihm und Farynt endlich zur Freiheit zu verhelfen.« Der Behaarte stieß ein gereiztes Knurren aus. Seine Bewegungen wirkten plump, beinahe unbeholfen, doch seine Muskeln verrieten den guten Kämpfer. Wenn er auch nur halbwegs intelligent war, mußte er die Geste verstehen, mit der Sanny die Waffe hinter ihren Gürtel steckte. Brennend ruhte sein Blick auf ihr. Um seine Mundwinkel zuckte es verhalten, als er erst den Strahler anstarrte und dann ihre leere Hand, die sie langsam ausstreckte. »Sage Prezzar, daß wir Freunde sind. Wir wollen helfen.« Sie bediente sich des Idioms der Beneterlogen, das in der Galaxis Farynt offenbar weit verbreitet war, weil sie annahm, er würde diese Sprache am ehesten verstehen. Seine Reaktion ließ nicht erkennen, ob er den Sinn ihrer Worte begriffen hatte. »Prezzar«, wiederholte sie. »Wir sind Freunde.« »Weiß nicht«, kam es grollend aus seiner Kehle. Sanny deutete auf sich selbst und nannte ihren Namen. Er wiederholte die Geste zögernd: »Mjailam.« »Gut«, nickte die Molaatin. »Mjailam – heißt ›Friß Tyar!‹«. Er zog die Lippen zu dröhnendem Lachen hoch und fletschte die Zähne, daß Kik jammernd zurückwich. »Mjailam bedeutet ›der letzte Versuch‹«, berichtigte Sanny. »Friß Tyar!« herrschte er sie an. Seine Haltung drückte angespannte Wachsamkeit aus. Jeden Moment konnte er sich entschließen, erneut anzugreifen. Erst als die Molaatin gezwungenermaßen nickte und ebenfalls »Friß Tyar« sagte, huschte
e
in Aufleuchten über seine Züge. »Wir … Freunde«, knurrte Mjailam. »Gyranter jagen – sie böse.« * Sannys Paramathematik war es zu verdanken, daß sie allmählich Mjailams Vertrauen gewann. Mit der Zeit fiel es ihr leichter, sein Verhalten zu berechnen, das dem eines lediglich instinktgeleiteten Geschöpfs glich. In gewisser Weise ähnelte Mjailam einem Kind, das trotzig sein konnte und unbeherrscht, das gleichermaßen Zuspruch wie auch einer führenden Hand bedurfte. Er kannte Prezzar wirklich nicht und wußte nur, daß er irgendwann in dieser Umgebung zu sich gekommen war und sich seitdem auf der Flucht vor den Gyrantern befand. Seltsamerweise war ihm die Station bis in viele Einzelheiten bekannt – aber daß der Instinkt von Farynt ihm diese Daten bei seiner Erschaffung mitgegeben hatte, wollte er nicht anerkennen. Überhaupt weigerte er sich, einzusehen, daß er nicht schon immer innerhalb dieser Umgebung lebte. Auf unerklärliche Weise fühlte Sanny sich zu Mjailam hingezogen. Kik erging es ähnlich. Die Molaatin errechnete, daß etwas von den unbekannten Kräften, die in ihnen beiden steckten, auf den Geschaffenen überströmte. Das deckte sich mit Porks Aussage, der fühlte, daß Mjailam sich zunehmend seiner Vollendung näherte. »Die Gefangenen der Gyranter werden unruhig«, bemerkte der Multi schließlich. »Vor allem Prezzar. Aus irgendeinem Grund sieht er sein Werk in Gefahr.« »Wir müssen einen Hangar erreichen«, wandte Sanny sich an Mjailam. »Kannst du uns führen?« Er verstand offenbar nicht, was sie meinte. Aber als sie ihm klarzumachen versuchte, daß die Gyranter jeden Moment den Kontrollraum stürmen konnten, sprang er vor ihnen her in den
Kabelschacht, der von hier aus weiter in die Tiefe führte. Zugleich wurden die typischen Geräusche von Strahlwaffen vernehmbar. Noch während Sanny in den Schacht einstieg, sah sie einen Teil des verriegelten Schottes rotglühend werden. Mit einer Hand hangelte sie sich nach unten, mit der anderen hielt sie den entsicherten Strahler. Wenn sie abglitt, würde sie zerschmettern. Zehn Meter … zwanzig … Die Öffnung über ihr, durch die fahler Lichtschein hereinfiel, wurde zunehmend kleiner. Plötzlich schob sich der Rumpf eines kugelförmigen Roboters über den Rand. Sanny feuerte, ohne zu zielen. Der Widerhall einer heftigen Explosion machte sie fast taub; glühende Trümmerstücke regneten herab. Oben brannte es. Zumindest bis das Feuer gelöscht war, konnte niemand ihnen folgen. Mjailam schien begriffen zu haben, worauf es ankam. Mit einer Gewandtheit, die niemand ihm zugetraut hätte, kletterte er tiefer. Der Schacht wurde breiter, an den Wänden zogen sich schmale Plattformen entlang – indem er einen Kabelstrang in leicht schwingende Bewegung versetzte, konnte der Geschaffene die nächste erreichen. Ein Schott glitt vor ihm auf, als er mit den Fäusten dagegenschlug. In der entstandenen Öffnung wandte er sich flüchtig um. »Hierher!« grollte er. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Es roch nach Metall und Verwesung. Tatsächlich war der kleine Raum die Vorkammer einer Abfallverwertungsanlage. In großen Behältern mündende, an der Decke verlaufende Rohre mochten zur Vorsortierung dienen. »Es stinkt abscheulich, nicht wahr«, jammerte Kik. Aufschreiend rannte Mjailam los und verschwand hinter einem der Behälter. Eine zweite Stimme wurde laut. Sanny achtete nicht länger auf Kik, sondern folgte dem Geschaffenen. Der hatte zwar einen Gyranter gestellt, war aber von diesem mit einem Werkzeug
niedergeschlagen worden. Als der Mann die Molaatin und den Strahler in ihrer Hand sah, wandte er sich zur Flucht. »Schieß!« fauchte Mjailam. Sanny hob die Waffe, brachte es jedoch nicht fertig, den Fliehenden rücklings niederzustrecken. Bis Mjailam ihr den Strahler entriß, war der Gyranter bereits verschwunden. Wütend warf der Geschaffene ihr die Waffe vor die Füße und wandte sich abrupt um. Jeder wußte, daß sie nun endgültig in der Falle saßen. Sie konnten weder vor noch zurück, während draußen sicherlich schon Roboter aufmarschierten. Kik verriegelte den Zugang, indem er die elektronische Schaltung zerstörte. »Du solltest das Schott mit dem Rahmen verschweißen, nicht wahr.« »Das würde uns nur einige Minuten länger Luft verschaffen. Wir haben ohnehin verloren.« »Ich gehe nicht wieder in die Gefangenschaft«, verkündete Pork. Mjailam zerrte an einem knapp einen Meter langen Rohrstück. Als er es endlich aus der Verankerung gerissen hatte, quoll eine trübe, ölige Flüssigkeit daraus hervor. Es störte ihn nicht, daß die stinkende Brühe über seine Hände und seinen Oberkörper lief. Laute der Verzückung ausstoßend, schwang er das Metall wie eine Keule. Von der anderen Seite her wurde versucht, das Schott zu öffnen. Lautlos fraß sich ein Desintegrationsstrahl durch die dicke Wandung. Mjailam starrte auf das größer werdende Loch. Sanny fröstelte. Sie mußte einsehen, daß sie noch viel zu wenig über den Geschaffenen wußten. Eine Aura des Unheimlichen haftete ihm an – er wirkte auf seine Art überlegen und doch zugleich hilflos und unbeholfen. »Komm schon!« Kik zerrte Sanny einfach mit sich. »Wir müssen in Deckung.« Das Schott brach auf. Ein Roboter schwebte herein – hinter ihm
wurden Gyranter sichtbar. Mjailam stürzte sich auf die Maschine. Obwohl diese von einem Energieschirm umgeben wurde, traf das Rohrstück krachend und funkensprühend auf die Kugelhülle. Der Roboter verlor an Höhe, taumelte. Ziellos peitschten seine gelenklosen Arme durch die Luft. Abermals schlug Mjailam zu. Eine grelle Stichflamme wirbelte ihm das Rohr aus den Händen. Der Roboter stürzte endgültig ab und brach auseinander. Mjailam wurde von einem Trümmerstück getroffen und zu Boden gerissen. Durch das Schott strömten Gyranter herein. »Schieß endlich!« rief Kik neben Sanny. »Mjailam darf ihnen nicht in die Hände fallen.« Wie in Trance betätigte die Molaatin den Auslöser. Gleichzeitig wurden die Gyranter zu schattenhaften Wesen, an deren Umrissen die tödlichen Glutstrahlen auseinanderflossen, ohne sie zu gefährden. Sanny stellte den sinnlosen Beschuß ein. »Ich wußte es«, sagte sie. »Wir haben keine Chance.« Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Schläfen und ließ sie aufstöhnen. Auch Kik rieb sich ächzend den Kopf. Für einen flüchtigen Augenblick war es beiden, als hörten sie Mjailam reden, aber der Geschaffene lag regungslos am Boden. Roboter griffen nach ihm, um ihn hochzuheben. Sekundenbruchteile später war er verschwunden. »Wo ist er hin?« stieß Kik tonlos hervor. »Fort«, sagte Pork. »Ich konnte nur wahrnehmen, daß eine Kraft von euch auf ihn überströmte.« Die Gyranter umringten sie. Sanny ließ den Strahler fallen. * »Ein zweitesmal werden wir ihnen nicht entkommen, nicht wahr?«
Die flimmernden Abstrahlmündungen der gyrantischen Waffen machten ihnen unmißverständlich klar, was sie erwartete. Während Kik sich offenbar vor der erneuten Gefangenschaft fürchtete, machte Sanny sich mehr Gedanken über die ihnen bevorstehenden Verhöre. »Immerhin scheinen sie uns für wichtig zu halten, nicht wahr. Fünf Mann und zwei Roboter als Wachen …« »Schweig!« wurde Kik angeherrscht. Sie hatten die Abfallsammelstelle verlassen und befanden sich vermutlich auf dem Weg zum nächsten Antigravschacht. Die Station besaß tatsächlich riesige Ausmaße. Alles, was die drei zu Gesicht bekamen, wirkte fremd und bedrohlich. Plötzlich machte sich Aufregung breit. »Wo ist der Roboter hin?« hörte Sanny fragen. »Eben war er noch neben mir«, kam die überraschte Antwort. »Er kann nicht einfach verschwinden, ohne sich abzumelden.« »Keine Wahrnehmung«, schnarrte der zweite Roboter. »Vermutlich ein Defekt in der Elektronik. Wir werden uns später darum kümmern.« Der Gang mündete in eine Halle. Im Hintergrund entdeckte Sanny das Rund eines Antigravschachts. Die sperrigen Teile, die dort verladen wurden, gehörten zweifellos zu einem Raumschiff. Barg die Station demnach gar Produktionsstätten größeren Umfangs? »Bleibt stehen!« Sanny und die anderen wurden recht unsanft zurückgehalten. Auch der zweite Roboter war nun verschwunden. »Damit habt ihr zu tun, oder?« Der Gyranter, dessen Finger gefährlich nahe am Auslöser seiner Waffe lag, funkelte die Gefangenen wütend an. »Womit?« wollte die Molaatin wissen. »Tu nicht, als hättest du keine Ahnung. Grundlos verschwinden keine Roboter.« Mjailam! durchzuckte es Sanny. Der Mann schien ähnliche Gedanken zu hegen. »Wenn euer
Freund wieder zuschlägt, werdet ihr sterben«, warnte er. Die Molaatin zuckte mit den Schultern. »Wir können es nicht verhindern«, meinte sie. Aber obwohl sie sich Mühe gab, konnte sie ein leichtes Zittern ihrer Stimme nicht verbergen. Ihr Gegenüber stieß ein abfälliges Lachen aus, doch das fauchende Geräusch eines Strahlschusses ließ es ihm auf den Lippen gefrieren. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Sanny an, ehe er zusammenbrach. Wieder wurde geschossen. Bevor sie überhaupt Zeit fanden zu begreifen, starben zwei weitere Gyranter einen schnellen Tod. Die anderen wurden zu unsteten Schatten. Aber ihre Impulsstrahlen trafen lediglich die nächste Wand und rissen glühende Furchen hinein. Das Ziel, das sie eben deutlich vor sich gesehen hatten, gab es nicht mehr. Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, war Mjailam erneut zwischen ihnen. Mit bloßen Händen packte er zu, wirbelte einen Mann hoch und schmetterte ihn gegen den zweiten. Beide rutschten meterweit über den Boden, wobei das Schattenhafte überraschend wieder von ihnen abfiel. Mjailam setzte nach, beförderte ihre Strahler mit Fußtritten in die entgegengesetzte Richtung, und ließ nochmals seine Fäuste sprechen. Wahrscheinlich hätte er die Gyranter erschlagen, hätte ihn nicht Sannys scharfer Ausruf zur Einsicht gebracht. »Sie haben den Tod verdient«, brummte er. »Sie sind wehrlos«, schüttelte die Molaatin den Kopf. »Willst du dich an ihnen vergreifen?« Mjailam mußte erst lernen, seine Gefühle zu beherrschen. Das begriff er zumindest, als er zornig aufstampfte und Sanny sich daraufhin schroff von ihm abwandte. Als könne er nicht verstehen, was an seinem Handeln schlecht sein sollte, starrte er ihr hinterher. Die Paramathematikerin spürte seine Blicke. Auf dem Absatz fuhr sie herum. »Die Gyranter sind nicht deine eigentlichen Feinde, obwohl sie
dich angreifen. Der wahre Gegner ist Anti‐ES.« Eben war Mjailam fünf Meter entfernt gewesen, unvermittelt stand er neben ihr, berührte sie und … es war wie ein Schritt durch das Nichts. Ohne erkennbaren Übergang fand Sanny sich in einer völlig anderen Umgebung wieder. Sekunden später waren auch Kik und der Multi neben ihr. So weit das Auge reichte, standen Behälter aus transparentem Material aneinandergereiht. Pflanzenkulturen schwammen in trüben Nährlösungen, von Atomsonnen verschiedener Spektren zu üppigem Wachstum angeregt. Hier lagen auch die Überreste der beiden Roboter. Eine ihrer Waffen hatte Mjailam an sich genommen. »Zerstören!« fauchte er. »Alles!« Ehe Sanny ihn daran hindern konnte, zerbarsten Dutzende von Behältern in einer wahren Kettenreaktion. Der Geschaffene verschwand, erschien im selben Sekundenbruchteil gut fünfhundert Meter entfernt und ließ nichts als einen glühenden Trümmerhaufen zurück. Roboter schwebten heran. Zwei vergingen in grellen Explosionen, bevor sie ihre Schutzschirme aktivieren konnten. Mjailams Strahler war jedoch zu schwach, um die Abwehrfelder der anderen zu durchschlagen. Die Roboter machten Jagd auf ihn. Aber immer dann, wenn sie ihn eingekreist hatten, verschwand er spurlos, um irgendwo in der Nähe wieder aufzutauchen. Sanny und die anderen konnten sich nicht mehr unbemerkt zurückziehen. »Den Schlamassel hat das haarige Monstrum uns eingebrockt«, schimpfte Kik aufgebracht. »Warum muß er seine Kräfte beweisen? Wir … wo sind wir?« Die letzten Worte stieß er bereits in einer erneut veränderten Umgebung hervor, in einer engen Kammer, die nicht erkennen ließ, welchen Zwecken sie diente oder gedient hatte. Zumindest die Beleuchtung funktionierte noch einwandfrei und hatte sich selbsttätig aktiviert.
Mjailam fletschte die Zähne. »Hier … Sicherheit!« stieß er hervor. Aufgebracht wedelte Kik mit zwei Armen. »Das nächstemal frage vorher, ob du uns entführen darfst. Und erschrecke mich nicht wieder, nicht wahr.« Mjailam brummte nur. »Ist schon gut«, beschwichtigte Sanny, die spürte, das der Geschaffene im Begriff war, sich von ihnen abzukapseln. »Kik meint es nicht so, er hat Angst.« Überraschenderweise verhielt der Vlahreser sich trotz dieser Bemerkung ruhig. »Kenne Angst«, grollte Mjailam. »Jetzt nicht mehr. Jetzt überall zugleich und stark.« Sanny nickte zufrieden. Nichts anderes hatte sie erwartet. »Wir müssen die Station verlassen«, sagte sie. »Willst du uns dabei helfen?« »Hierbleiben!« Mjailam gab es so inbrünstig von sich, daß die Molaatin zusammenzuckte. »Bevor wir fliehen, müssen wir kämpfen. Das ist es doch, was du willst?« Der Geschaffene nickte eifrig. »Dann höre mir zu. Du kennst die Station, weil dein Schöpfer, Prezzar, sie kennt. Als erstes brauchen wir Waffen. Aber keine einfachen Strahler, damit kämen wir nicht weit. Die Gyranter sind nur dann zu besiegen, wenn wir sie überraschen …« * Die Art und Weise, wie Mjailam selbst größere Entfernungen überwand, war nur schwer zu beschreiben. Ein wenig erinnerte sie an Teleportation. Sanny vermutete jedoch, daß vor allem Mjailams Natur dazu beitrug. Als Prezzars Geschöpf war er ein Teil der
Galaxis Farynt. Weshalb sollte er dann nicht zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort sein können? Jede Sonne, jeder Planet und jeder Nebel waren Prezzars Körper. Aber selbst ein solcher Vergleich konnte den Tatsachen nur annähernd gerecht werden. Mjailam lernte schnell, seine neuen Kräfte einzuteilen. Hatte er anfangs mit einem Schritt nur wenige Kilometer überwinden können, so wurden die Entfernungen bald größer. Endlich bekam Sanny einen genaueren Eindruck von der ungeheuerlichen Ausdehnung der Station. Es konnte kaum mehr Zweifel daran geben, daß man tatsächlich im Innern eines zum größten Teil ausgehöhlten Planeten weilte. Mjailam und Sanny suchten drei Waffenlager auf, ehe die Molaatin das Richtige fand: Sprengkörper von nur wenigen Zentimeter Durchmesser aber vermutlich mit enormer Explosivkraft. Zwanzig Stück brachte sie in den Lederbeuteln unter, die um ihre Taille befestigt waren. Mjailam schien den winzigen Dingern zu mißtrauen. Die Wirkungskreise von Strahlern hingegen kannte er, deshalb war eine solche Waffe das erste, was er an sich nahm. »Sobald ein Gyranter Zeit findet, zum Schatten zu werden, ist er damit unbesiegbar«, wehrte Sanny ab. »Trotzdem gut.« »Wir wollen Verwirrung stiften und, wenn möglich, die Station nachhaltig lahmlegen. Glaube mir, dein Strahler wäre nicht viel mehr als ein Spielzeug.« Brummend schleuderte Mjailam die Waffe beiseite. Ihn beeindruckte die Ruhe und Überlegenheit, die Sanny ihm gegenüber herauskehrte. »Ich beweise es dir«, sagte sie. »Bringe mich in die Zentrale.« Er griff nach ihrer Hand, im selben Moment standen beide auf einer Galerie, von der aus sich ein hervorragender Rundblick bot. Auf unzähligen Bildschirmen waren Ausschnitte des Weltraums zu sehen, manche zeigten Bars‐2‐Bars in einer Perspektive, wie diese
sich aus einer Entfernung von mehreren hunderttausend Lichtjahren aus gesehen ergeben mußte. »Roboter!« rief Mjailam. Gleichzeitig schlug unmittelbar über ihnen ein Thermostrahl ein. Daß sie unverletzt blieben, hatten sie nur dem Umstand zu verdanken, daß der Schußwinkel wegen der umlaufenden Balustrade zu steil war. Bis die Wandung im konzentrierten Feuer aus mehreren Waffen schmolz, hatten Mjailam und Sanny längst ihren Standort gewechselt. Sie wußten nun, daß die Gyranter mit ihnen rechneten und entsprechend vorbereitet waren. An allen neuralgischen Punkten waren Roboter verteilt, und vermutlich sah es außerhalb der Zentrale ähnlich aus. Die in starke Energieschirme gehüllten Maschinen waren nur schwer angreifbar. Mjailam hatte sich das entgegengesetzte Ende des mehrere hundert Meter durchmessenden Raumes als Endpunkt seines Ortswechsels ausgesucht. Aber obwohl die Aufmerksamkeit aller sich noch auf die Galerie konzentrierte, dauerte es nur Sekunden, bis man Sanny und ihn erneut entdeckte – für die Molaatin nicht einmal Zeit genug, um einige der Sprengkörper loszuwerden. Abermals mußten sie fliehen und materialisierten unmittelbar vor dem Hauptschott, keine zwanzig Meter von einem Pulk Roboter entfernt. Blindlings schleuderte Sanny zwei Mikrobomben. Alles, was sie noch wahrnahm, war ein greller Blitz, dann fand sie sich in einem modrigen, engen Gang wieder, in den sich vermutlich schon seit langem niemand mehr verirrte. Die Luft war schal und stickig, und eine unangenehme Wärme strahlte von den in nackten Fels gehauenen Wänden aus. Mjailam verschwand, um gleich darauf mit Pork und Kik zusammen zurückzukehren. »Hier besser sicher«, brummte er. »Ich will nicht tatenlos zusehen«, protestierte Pork. »Immerhin haben die Gyranter meine Ableger getötet.« »Vergiß deine Rache«, wehrte Sanny ab. »Wir müssen die Freiheit erlangen, um den wahren Urheber bestrafen zu können. Emotionen,
wie du sie heraufbeschwörst, schaden uns nur.« Abschätzend wog sie zwei weitere Sprengkörper in ihrer Rechten. »Mjailam, bringe mich noch einmal in die Zentrale. Ich will ihre Wirkung sehen.« Abermals materialisierten sie auf der Galerie. Ein mehrere Meter durchmessender Krater gähnte im Boden. Stahlträger und Versorgungsleitungen bildeten ein wirres Durcheinander, in dem sich die zerfetzten Überreste von Robotern verfangen hatten. Die Gyranter waren nur als Schatten erkennbar. Ob es sich dabei um spezielle Schutzschirme handelte, die durch Gedankenkraft aktiviert wurden, wußte Sanny nicht, nahm dies aber nach allem, was sie bislang gesehen hatte, als gegeben an. Erneut wurden sie angegriffen, doch Mjailam reagierte schnell. In dieser Lage erwies sich sein Instinkt als von unschätzbarem Vorteil. Sie veränderten ihren Standort nur um wenig mehr als hundert Meter. Als Sanny eine Speicherbank unter sich sah, ließ sie beide Bomben einfach fallen. * Innerhalb weniger Stunden steigerte sich die Verwirrung der Gyranter bis fast zur Panik. Von den Schäden in der Zentrale ganz zu schweigen, war eine Lufterneuerungsanlage ausgefallen, die gerade diesen Sektor versorgte. Dem Grad der Zerstörung nach zu schließen, würden die Reparaturarbeiten etliche Wochen in Anspruch nehmen. Ein Kraftwerk brannte. Die Explosion dort hatten die gesamte Umgebung in Mitleidenschaft gezogen. Vermutlich war sogar harte Strahlung freigeworden. Sanny suchte nach Raumschiffhangars, von denen auch Mjailam nicht wußte, wo sie zu finden waren. Allmählich besaß sie genügend Anhaltspunkte, um zutreffende Berechnungen anzustellen. Das einzige Problem dabei war, dem Geschaffenen die Ergebnisse so zu erklären, daß er sie wirklich verstand und nicht im
luftleeren Raum materialisierte. Immerhin mußte Sanny diese Gefahr einkalkulieren, je näher sie den vermutlichen Außenbezirken kamen. Sie fanden nicht nur einen Hangar, sondern mehrere. Auch hier patrouillierten Roboter, doch gab es genügend Verstecke, von denen aus man beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Bei den meisten Raumschiffen, handelte es sich wohl um Beiboote. Ihre Größe betrug kaum mehr als dreißig Meter. Aber gerade sie mochten vollpositronisch gesteuert sein. »Da hinein?« Sanny schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Mjailam. Wir sollten zu unseren Freunden zurück, bevor sie uns ernsthaft vermissen.« In der Tat zeigten Pork und Kik sich ziemlich aufgeregt. Aber nicht, weil sie befürchtet hätten, der Geschaffene und Sanny könnten von den Gyrantern überwältigt worden sein. Porks Blüten hingen halb vertrocknet von den Zweigen. »Ich spüre eine große Gefahr«, warnte er. »Die Emotionen von Tyar und Prezzar können nur bedeuten, daß Anti‐ES sich nähert.« »Für einen Kampf mit ihm sind wir nicht vorbereitet«, erschrak Sanny. »Mjailam du mußt uns sofort an Bord eines der kleinen Raumschiffe bringen.« 7. Es ging alles glatt – zu glatt, wie Kik beiläufig bemerkte. Obwohl der Hangar überwacht wurde. Niemand schien es für nötig zu erachten, auch die Schiffe in die Kontrollen mit einzubeziehen. Die Schaltungen, die Sanny vorfand, waren keineswegs fremdartig. Rasch hintereinander aktivierte sie eine Reihe von Bildschirmen, die Ausschnitte der Umgebung wiedergaben. Nur ein einziger Pilotensessel war vorhanden. Die Molaatin mußte sich auf die Sitzfläche stellen, um die Kontrollen überhaupt zu
erreichen. Nach einigen Minuten intensiver Betrachtung nickte sie zufrieden. »Wir können starten und sogar in den Linearraum übertreten, ohne daß es zu Komplikationen kommen wird. Die Positronik überwacht sämtliche Flugmanöver.« »Mjailam bleibt hier«, brummte der Geschaffene mißmutig. Ein wissendes Lächeln huschte über Sannys Züge. »Dann will ich dir etwas zeigen, was dich vielleicht umstimmen wird.« Sie aktivierte den Kartentank und projizierte die astronomischen Aufnahmen über ein großes Hologramm, das die gesamte Stirnwand einnahm. Mjailams Augen wurden größer, je länger er die vielfältigen Sternbilder betrachtete. Bewußt zeigte Sanny ihm nur Aufnahmen der Galaxis Farynt. »Das«, sagte sie, »ist deine Heimat. Du wurdest geschaffen, um sie dir zurückzuholen.« Sichtlich berührt, machte Mjailam einige Schritte vorwärts. Unmittelbar vor dem Hologramm blieb er stehen und streckte dann blitzschnell die Arme aus. Seine Hände schlossen sich um einen kleinen Kugelsternhaufen, der in demselben Moment aus der Projektion verschwand. Mjailam knurrte gereizt. »Ich bereite den Start vor«, rief Sanny. »Je eher wir ver …« Eine dröhnende Stimme unterbrach sie. Hinterher wußte niemand zu sagen, ob er die Worte wirklich vernommen hatte, oder ob sie nur in seinen Gedanken gegenwärtig gewesen waren. Niemand fordert mich ungestraft heraus. »Anti‐ES?« Die Gyranter haben mich gerufen. Sie sahen die Existenz des Nabels bedroht. »Wir starten!« Sannys zierliche Finger huschten über die Kontrollen. Hoch über dem Schiff flimmerte die Öffnung einer energetischen Startrampe; die Molaatin konnte nur hoffen, daß sich die Außenschleuse rechtzeitig öffnete. Doch schlagartig erstarb das Wimmern der Antriebsaggregate. Geisterhafte Lichterscheinungen brachen aus den Wänden hervor,
während die Roboter bereits begannen, sich mit Waffengewalt Zugang zum Schiff zu verschaffen. Das gleißende Leuchten verdichtete sich zu den Umrissen einer humanoiden Gestalt, die selbst die Schaltpulte ungehindert durchdrang. Mentales Gelächter brandete auf. Sanny spürte eine flüchtige Berührung im Nacken, im nächsten Moment fand sie sich mit den anderen zusammen in dem alten, stickigen Stollen wieder. * »Warum bringst du uns ausgerechnet hierher?« wandte sie sich an Mjailam, dessen Züge neben tiefempfundenem Zorn eine gehörige Portion Neugierde widerspiegelten. »Wir dürfen uns nicht verkriechen.« Der Geschaffene antwortete nicht. Warum versucht ihr zu fliehen? Diesmal klang die mentale Stimme lauter als zuvor. Ich werde euch nicht töten, denn ich habe Besseres mit euch vor. »Da ist etwas völlig Fremdes«, stöhnte Pork. »Es ist da und doch wieder nicht.« Ein Ächzen drang aus dem Fels. In Sekundenschnelle entstanden sich ausweitende Risse. Pork schrie auf. Anstatt den nötigen körperlichen Kontakt zu Mjailam herzustellen, taumelte er von den Freunden fort. In seinen Gedanken formten sich längst vergessen geglaubte Bilder, er sah einen Berg aufbrechen und eine ganze Stadt unter sich begraben. Seine Stadt, in der er und Tega gelebt hatten. »Pork!« rief Sanny. Er hörte sie nicht, aber sie sah einen Felsblock sich aus der Decke lösen. Als sie noch einmal seinen Namen rief, drehte er sich langsam zu ihr um. Sein Sehast richtete sich in die Höhe. Staub und lockeres Geröll rieselten herab, und jeden Moment konnte der tonnenschwere Fels ihn zerschmettern, »Komm zurück!«
brüllte die Molaatin. Pork wandte sich wieder ab. »Mjailam, du mußt ihn …« Es war zu spät. Erschüttert schloß Sanny die Augen. In der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, war der Multi ihr ans Herz gewachsen. Die Erschütterungen nahmen an Stärke zu. Ein dumpfes Grollen durchlief den Gang, in dessen Wänden sich immer mehr Risse bildeten. Ihr könnt mir nicht entkommen, dröhnte die Stimme von Anti‐ES in ihren Gedanken. »Komm her und kämpfe – zeige dich, du Feigling!« Mjailam ergriff Sannys Hand und einen von Kiks Tentakeln und versetzte sich mit ihnen in irgendeinen Raum, der wohl zu den Unterkünften der Gyranter gehörte. Vielleicht hätten sie sich eine Zeitlang hier verbergen können, aber Mjailam schien endlich eingesehen zu haben, worauf es ankam. Sekunden später standen sie nämlich wieder in einem der Hangars. Zumindest in der unmittelbaren Nähe befanden sich keine Roboter. »Welches Schiff?« wollte der Geschaffene wissen. Sanny deutete auf das ihnen am nächsten stehende. »Sie sind alle gleich.« Bevor Mjailam erneut eine Ortsveränderung vornehmen konnte, flammte ein starker Energieschirm auf, der den halben Hangar abriegelte. Ein unwirkliches Lachen ertönte. Warum seht ihr nicht ein, daß ihr das Spiel verloren habt? Roboter schwebten heran. Ihre Waffen waren aktiviert, aber sie schossen nicht. Wollte Anti‐ES Sanny, Kik und Mjailam als Gefangene haben? Die Moolatin erkannte ihre einzige Chance. »Bringe uns ins Waffenlager!« forderte sie den Geschaffenen auf. Der Hangar verschwand vor ihren Augen. Sekundenbruchteile später materialisierte sie an genau derselben Stelle wieder. Sanny
empfand keine Schmerzen, nur ein Gefühl grenzenloser Enttäuschung. Die Gyranter hatten Sperren errichtet, gegen die Mjailam zumindest vorerst noch machtlos war. Oder war auch dies das Werk von Anti‐ES? »Allein kannst du dich in Sicherheit brringen«, gab die Molaatin dem Geschaffenen zu verstehen. »Ich bleibe bei euch.« »Du mußt gehen!« »Ich kann nirgendwohin. Hier ist meine Heimat.« »Deine Heimat ist Farynt«, fuhr Sanny auf. »Du bist ein Teil dieser Galaxis. Begib dich auf ihre Welten, sieh dich um, nun, da du deinen wirklichen Feind kennst. Nur wenn du ins Bars‐2‐Bars Informationen sammelst, kannst du eines Tages gegen ihn antreten.« »Ich verstehe nicht …« »Geh!« schrie die Molaatin ihn an. »Geh, wenn du deinem Schöpfer Prezzar beistehen willst.« Die Tentakel zweier Roboter umschlangen ihre Arme und wickelten sich so eng um ihren Brustkorb, daß sie glaubte, ersticken zu müssen. Auch Kik und Mjailam erging es nicht besser. Sehnsuchtsvoll blickte Sanny zu dem Raumschiff hinüber, das für sie nun unerreichbar geworden war. Als sie den Blick wieder senkte, war Mjailam verschwunden. Und mit ihm die Roboter, die ihn festgehalten hatten. * Die Ungewißheit war das Schlimmste in dieser Situation. Die Roboter verharrten auf der Stelle, weil sie offenbar keine Befehle für ihr weiteres Vorgehen besaßen. »Warum bringt ihr uns nicht gleich um?« stöhnte Kik unter dem unbarmherzigen Griff der Maschinen. »Dann hätten wir es wenigstens hinter uns.«
Ich will euch nicht töten, erklang es spöttisch. Weshalb also diese Ungeduld! Vergeblich bäumte Kik sich auf. Erst als er Sannys mitleidigen Blick auf sich ruhen fühlte, beruhigte er sich etwas. In Zukunft werdet ihr meine Diener sein! »Nein!« schrie Kik. »Niemals werden wir das …« In seinem Schädel schien eine grelle Sonne zu explodieren, und er verlor vorübergehend die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, waren die Roboter verschwunden. Wie ein böser Traum lastete das Geschehen auf dem Vlahreser; plötzlich war er sich nicht einmal mehr sicher, was Wirklichkeit war. Jäh richtete er sich auf, im selben Moment, in dem auch Sanny sich erhob. »Wo sind sie hin?« fragte die Molaatin. Seltsam, durchzuckte es Kik. Genau dasselbe wollte ich auch eben wissen. Er hob zwei Arme und kratzte sich am Kopf. Sanny vollführte dieselbe Bewegung. »Was ist geschehen?« sagten beide wie aus einem Mund und starrten sich entsetzt an. Spöttisches Gelächter hallte von allen Seiten wider. Ihr seid nun meine Diener, seid zwar äußerlich die alten, doch innerlich eins und könnt nur mehr eng zusammen handeln. Ich habe euch den eigenen Willen genommen – dafür gebe ich euch einen Auftrag: Verhindert, daß es zwischen Beneterlogen und Anterferrantern zum Friedensschluß kommt! Ich denke, ich kann mich auf euch verlassen. »Das kannst du, Anti‐ES«, sagte Kik. Sanny nickte stumm. 8. Porter schwieg. Er hatte alles berichtet. Tyari erkannte allerdings,
womit er sich in seinen Gedanken beschäftigte. Die Erzählung hatte Wunden in ihm aufbrechen lassen, von denen er bislang selbst nichts wußte. Allmählich begann er sich zu entsinnen, was sein Leben bestimmt hatte, bevor Wöbbeking‐NarʹBon sich seiner annahm. Tyari warf Atlan einen bedeutungsvollen Blick zu. Seit Minuten hatte Porter seine Gestalt schon nicht mehr verändert. »Noch gibt es keinen schlüssigen Beweis, aber ich bin überzeugt davon, daß er Porks erster Ableger ist.« Der Arkonide nickte zögernd. Sein Extrasinn signalisierte Gefahr. Er bemerkte, daß Tyari sich plötzlich versteifte und einen Punkt fixierte, der unmittelbar hinter ihm lag. Porter wollte von seinem Platz aufsteigen, doch ein flimmerndes Energiefeld hinderte ihn daran. Instinktiv zuckte Atlans Rechte zum Strahler. »Laß die Waffe!« erklang es scharf. »Wir sind nicht wegen dir gekommen – noch nicht.« Er kannte die Stimme. Ruckartig herumfahrend, riß er seinen Strahler hoch und drückte ab. Er wußte, nur wenn er Sanny und Kik lähmte, würde er sie an der Rückkehr zu Anti‐ES hindern können. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Überrascht war er nur davon, daß beide lediglich als Schatten vor ihm standen. Ebenso wie die Gyranter waren auch sie unverwundbar geworden. Sanny und Kik lachten heiser. »Du kannst uns nichts anhaben. Glaubst du, ein so mächtiges Wesen wie Anti‐ES läßt seine Freunde ohne Schutz?« »Was wollt ihr?« »Kannst du dir das nicht denken?« »Porter?« stieß Tyari hervor. Zugleich schoß sie, aber auch der Glutstrahl aus ihrer Waffe konnte die geistig aneinandergeketteten Sannykik nicht verletzen. »Ihr seid Narren. Zieht euch mit der SOL aus Bars‐2‐Bars zurück, oder ihr werdet allesamt umkommen. Anti‐ES läßt sich nicht in die
Enge treiben.« Porter schrie gellend auf. Das Energiefeld, in dem er gefangen war, verdichtete sich. Atlan stürzte sich auf Kik, der das betreffende Steuergerät bediente, doch rannte er gegen eine unsichtbare Mauer, die ihm die Füße unter dem Leib wegriß und ihn stürzen ließ. Halb benommen sah er, wie Porter sich aufzulösen begann. Was von ihm blieb, war nur eine sich träge ausdehnende Rauchwolke. »Wir haben dich gewarnt«, sagte Sanny. »Verlaßt Bars‐2‐Bars!« So unverhofft wie sie und Kik erschienen waren, verschwanden sie auch wieder. * Du kennst jetzt die Gefahr, raunte der Extrasinn. Was gedenkst du zu unternehmen? »Die Nabelstationen bilden den Schlüssel zur Namenlosen Zone.« Unwillkürlich sprach Atlan seine Überlegungen laut aus. »Wir werden uns umgehend auf die Suche machen.« »Du wirst also nicht tun, was Anti‐ES durch Sannykik von dir verlangt hat?« wollte Tyari wissen. Atlan blickte sie überrascht an. »Wie kommst du darauf? Hast du wirklich geglaubt, ich könnte jemanden im Stich lassen, der meine Hilfe benötigt?« Die Frau schürzte die Lippen. »Ich«, sagte sie mit eigenartiger Betonung, »brauche deine Hilfe.« Flüchtig fanden sich ihre Blicke. Während Tyari ihn beinahe herausfordernd, anstarrte, wandte er sich verwirrt ab. Der Extrasinn ließ ein leises, amüsiertes Lachen vernehmen. Warum gestehst du es nicht endlich ein, Arkonide? Was? erwiderte Atlan heftig. Barbar. »Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da«, gab er der Frau zu
verstehen. »Ich will dich nicht von deinem Vorhaben abbringen. Die Nabelstationen sind für uns alle von großer Bedeutung.« Ihre Stimme vibrierte kaum merklich. »Aber ich werde meinen eigenen Weg gehen.« Zögernd wandte Atlan sich ihr zu. Sein Gesicht blieb unbewegt. »Was hast du vor?« wollte er wissen. »Ich weiß nun eindeutig, daß Tyar und Prezzar noch existieren. Für mich ist das wichtiger als vieles andere.« Ohne eine weitere Erklärung verließ sie Atlans Kabine. Der Arkonide blickte ihr hinterher, bis das Schott sich wieder geschlossen hatte. Erst dann ging er zum Interkom, aber er zögerte, die Verbindung zu Breckcrown Hayes herzustellen. Eine Weile rang er mit sich selbst, schließlich ließ er sich auf sein Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte die Decke an. Zu vieles wirbelte in seinen Gedanken durcheinander. Er würde Tyari weder beobachten noch verfolgen lassen, wie er es vorgehabt hatte. Ihm war erst jetzt klar geworden, daß sie ihm mehr bedeutete. Du liebst sie, stellte der Logiksektor amüsiert fest. * Atlan mußte wohl eine halbe Stunde allein gewesen sein, als er jäh aufsprang. Die kurze Ruhe hatte ihm gut getan, er fühlte sich frisch und ausgeruht. Und irgendwie erleichtert. Tyari, so glaubte er nun zu wissen, teilte seine Gefühle. Die neu gewonnenen Erkenntnisse wurden in SENECA gespeichert. Der High Sideryt ließ Startvorbereitungen treffen und informierte sowohl die Wissenschaftler als auch das Ortungspersonal. Es galt, unbekannte Stationen im Innern von Monden und Planeten ausfindig zu machen, was durchaus mit der
berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen vergleichbar war. Atlans Vorhaben, die SOL in ihrer Gesamtheit weitgehend aus dem Geschehen herauszuhalten, erwies sich einmal mehr als undurchführbar. * Tyari hatte die SOL mit einem Gleiter verlassen. Ihre Absicht war es, Tyar und Prezzar zu befreien. Aber dazu war sie auf die Hilfe von Mjailam angewiesen. Sie suchte eine einsame Wüste in der Äquatorgegend von Anterf auf. Dort, wo nichts anderes war als die unbelebte Natur des Planeten, rief sie den Geschaffenen. Ihre Gedanken griffen hinaus in die endlose Schwärze des Alls. Stunden vergingen. Tyari sah Raumschiffe, winzigen Sternen gleich, hoch über sich dahinziehen. »Friß Tyar!« erklang es plötzlich hinter ihr. Sie warf sich herum, konnte Mjailams Angriff jedoch nicht mehr ausweichen. Gemeinsam stürzten sie in den aufwirbelnden heißen Wüstensand. Tyari sah Mjailams verzerrtes Gesicht dicht über sich, seine Hände tasteten nach ihrem Hals. »Wir sind keine Feinde«, stieß sie entsetzt hervor. Der Geschaffene grunzte. Irgendwie gelang es ihr, seinem Griff zu entkommen. Mit aller Wucht riß sie ihre Knie hoch, aber Mjailam taumelte nur. Sie wälzte sich herum, und sich aufrichtend, riß sie ihren Strahler hoch. Ihr Gegner hielt mitten in der Bewegung inne. »Kik und Sanny sind in der Gewalt von Anti‐ES«, stieß sie hastig hervor. »Willst du, daß es uns ebenso ergeht?« »Woher weißt du …?« »Wir müssen zusammenhalten, Mjailam. Erinnere dich daran, was Sanny gesagt hat. Dein wirklicher Feind ist Anti‐ES, nicht Tyar, und du solltest die Bedeutung deines Namens nur als ›der letzte
Versuch‹ sehen. Enttäusche Prezzar nicht.« Es dauerte lange, aber mit Hilfe ihres von Porter erhaltenen Wissens konnte sie Mjailam überzeugen. Dann rief sie nach Asgard, der über der Wüste erschien, als die Sonne bereits hinter den Dünen versank. Seine Oberfläche war von einem eintönigen Grau, fast ohne Muster und Zeichnungen. Tyari spürte plötzlich auch die Nähe denkender Wesen. »Gyranter!« raunte sie Mjailam zu. Das konnte nur bedeuten, daß Asgard ebenfalls keinen eigenen Willen mehr besaß, und daß Anti‐ES ihre Absichten zumindest ahnte. Mjailam verstand auch ohne Worte, warum sie ihre Waffe auf Lähmstrahlen umschaltete. Er nahm ihre Hand, als das organische Raumschiff sich anschickte, einige Meter entfernt niederzugehen. Im selben Augenblick standen sie im Innern der Hohlkugel, und Tyari schoß blindlings um sich. Die Gyranter wurden davon völlig überrascht. »Gut«, lachte Mjailam, als die fünf Männer zusammenbrachen. »Das war unser erster Sieg.« »Hoffentlich nicht auch unser letzter«, erwiderte die Frau bitter. Asgard regte sich nicht. Doch schon nach kurzer Suche spürte Mjailam ein kaum faustgroßes Gerät auf, das dicht unter der Haut eingepflanzt war. Nachdem sie es mit aller gebotenen Vorsicht entfernt hatten, wurde Asgard schnell wieder der Alte. Auf Tyaris Fragen behauptete er, den Ort, an dem Sanny und Kik in Gefangenschaft geraten waren, jederzeit wiederfinden zu können. »Wenn du dich stark genug fühlst, brechen wir sofort auf«, schlug die Frau vor. »Ehe Anti‐ES erfährt, daß seine Helfer versagt haben.« Sie benötigten einen halben Tag, um die Doppelsonne zu erreichen. Aber noch bevor sie Zwielicht nahe kamen, zerbarst der Planet in einer gewaltigen Explosion, die für kurze Zeit eine dritte Sonne entstehen ließ. Damit war die einzige brauchbare Spur, der Tyari hatte nachgehen wollen, zerstört. Mjailam und ihr blieb nun nichts anderes übrig, als nach anderen Orten zu suchen, an denen Nabel zur Namenlosen
Zone wirkten. Der Frau war klar, daß sie damit letztlich das gleiche Ziel verfolgten wie Atlan. Nun würde sie versuchen, andere Wege einzuschlagen. ENDE Anti‐ES ist über die jüngsten Aktivitäten der Solaner in Bars‐2‐Bars informiert. Die in der Namenlosen Zone festgehaltene Superintelligenz beschließt daher Gegenmaßnahmen. Eine davon ist DER VASALL … DER VASALL – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐Bandes. Der Roman wurde von Falk‐Ingo Klee geschrieben.