MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 112
Die Nacht der Rache von Michael M. Thurner
»Dämonenzauber!«, geiferte de...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 112
Die Nacht der Rache von Michael M. Thurner
»Dämonenzauber!«, geiferte der zahnlose Greis. Er schwang einen knorpeligen Gehstock über seinem Haupt und drohte damit dem mageren Händler, der inmitten der belebten Piazza auf einer kleinen Kiste stand. »Haust du endlich ab, oder sollen wir nachhelfen?!«, ereiferte sich eine weitere Stimme, doch Lenardo blieb tapfer auf seinem behelfsmäßigen Podest stehen. Immer mehr Besucher des kleinen nordittalyanischen Marktes liefen neugierig zusammen. Der Handlungsreisende hielt das Gerät noch einmal hoch, das die Leute so entsetzte: eine kleine Bürste, die aus einem weißen Griff ragte und selbsttätig vibrierte. »Das ist ein Akuvolt-Helfer!«,rief er. »Damit kann man jede noch so kleine Ritze im Haushalt säubern!« »Das ist böse Magie!«, beharrte der Greis.
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WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet » Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Körperlose Wesen, die Daa'muren, kamen damals mit dem Kometen zur Erde und veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Europas zu einen. Auf den Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Aikos Gehirn wurde geschädigt, und er muss in 3
Amarillo operiert werden. Auch der Neo-Barbar Rulfan, Sohn des Prime der Community Salisbury, ist für die Allianz unterwegs. In der Nähe von Köln stößt er dabei auf eine Gruppe Amazonen, nicht ahnend, dass Daa'muren deren Gestalt angenommen haben und ihn mit einem Virus infizieren, der ihn zu ihren Sklaven macht. Das Ziel der Außerirdischen: Matthew Drax zu eliminieren, den sie als ihren Primärfeind ansehen. Rulfan kann ihnen dabei behilflich sein... Von Europa unbemerkt, lässt eine Atom-Explosion den Kratersee erbeben! Aus den Tiefen des Alls kam eine japanische Rakete, die damals »Christopher-Floyd« treffen sollte, zur Erde zurück. Die Detonation auf der Meeresoberfläche kann den Daa'muren zwar kaum schaden, offenbart aber einen überraschenden Effekt: Der Antrieb des Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert!
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Lenardo versuchte es erneut: »Glaubt mir, dieses Gerät ist von unschätzbarem Wert, Freunde. Für wenige Münzen gehört es euch. Es erleichtert das Leben!« »Teufelszeug!«, kreischte eine vollbusige Bäuerin, und die Menschen auf der Piazza murmelten zustimmend. »Aber nein! Ich kenne jede Menge Kunden, die es nicht mehr missen möchten!« »Dann hast du sie verhext!« In der vordersten Reihe spuckte jemand verächtlich aus. Ein Wurfgeschoss klatschte hinter Lenardo gegen die fleckige Plane seines Wakuda-Karrens. Er schaute kurz hin; ein fauliger, stinkender Fisch glitt zu Boden. Langsam wurde es gefährlich für ihn. Trotzdem hob er die Bürste unbeirrt wieder empor. Sie wackelte auf dem Stiel und summte leise. Lenardo kannte die Frage, die sich die Leute stellten: Warum bewegt sich das Ding von alleine? Und sie kamen aus Unwissenheit nur zu einem Schluss: Es muss Zauberei sein! »Habt keine Angst«, versuchte er die Menge zu beruhigen. »Das ist Akuvolt! Ich erkläre es euch gern!« »Verschwinde, Hexenmeister!«, schrie die feiste Bäuerin. »Verschwinde ganz schnell, sonst...« Die weiteren Worte gingen im wütenden Geschrei und Gebrüll der Menge unter. Kräftige, schwielige Fäuste wurden wütend geschüttelt, manch hölzerne Heugabel zeigte bereits bedrohlich in seine Richtung. »In Ordnung, in Ordnung!«, rief Lenardo beschwichtigend und hielt die Arme in einer beruhigenden Geste weit von sich gestreckt. »Ich packe zusammen und verlasse euer schönes Dorf!« Er hüpfte von seinem Podium und ging langsam zu seinem Planwagen zurück. Das war's also. Mal wieder! Lenardo ließ die Arme und die schmalen Schultern sinken. Manch 5
gemurmelter Fluch oder beißender Spott drang noch an sein Ohr. Er hatte Glück, dass die Menge sich rasch zerstreute. In anderen Dörfern war er nur mit blauen Flecken und Beulen davongekommen. Der Greis, der die Menschen aufgehetzt hatte, trat näher. Er schob seinen Kiefer vor und spuckte braunen Tabaksud auf die abgetragenen Schuhe des Handlungsreisenden. Dann verzog auch er sich, und nur noch ein paar Kinder rissen im hiesigen Akzent derbe Witze über Lenardo. Der seufzte. Hier würde er keines seiner kostbaren Relikte an den Mann oder die Frau bringen. Lenardo schlurfte zur Rückseite des Wagens und öffnete die Plane, um seine Waren und Habseligkeiten wegzuräumen und festzuzurren. Er bemerkte nicht die Gestalt in der schwarzen Kutte, die seinen kläglichen Auftritt von der Deckung des Schankhauses aus beobachtet hatte. Ein, zwei Minuten vergingen, dann setzte sich der Vermummte in Bewegung. Mit seltsam schleppenden Schritten näherte er sich dem Wagen des Händlers. Lenardo schob zwei Päckchen mit voltronischen Uhren zurecht. Dann befreite er den angerosteten Aku-Lader von herunter gerutschtem Sackleinen, als ein Schatten über ihn fiel und er rasselndes Atmen hörte. Lenardo sträubten sich die Haare. Wollte ihn einer der Dörfler doch noch vom Platz prügeln? Er fuhr herum – und erstarrte. Vor ihm stand eine gebeugte Kreatur in schwarzer, zerlumpter Kutte. Gelblich trübe Augen funkelten ihn aus dem Schatten der Kapuze an. »Wer... wer bist du? Was willst du?«, fragte Lenardo. Sein Herz schlug rasend schnell. Die Bedrohung, die von dem Kuttenträger ausging, war deutlich spürbar. Der antwortete nicht, sondern streckte plötzlich die rechte, merkwürdig verdrehte Hand aus und öffnete sie langsam. Das war... dieses 6
Ding, das er hielt, war... konnte das möglich sein?! So etwas hatte er doch schon einmal gesehen, vor einigen Jahren. Lenardo trat vor, um das Gerät genauer in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich: die metallene Hülle, die voltronischen Spitzen, der Auslöser... das war ein Schokker! Er hatte dieses gefährliche Relikt in Millan gesehen; damals, vor vier Jahren. Ein Tyrann namens Jacobo war mit Hilfe dieser Waffe zum Herrscher der Stadt aufgestiegen! »Die Festung...«, flüsterte Lenardo und sah von der Hand des Vermummten auf. Dessen Atem rasselte angestrengt. Mit einer raschen Bewegung schlug er die Kapuze zurück und legte sein Gesicht frei. Ein Nosfera! Oder doch nicht? Der Handlungsreisende schauderte. Das Gesicht des Fremden war in sich verschoben. Ein Auge starrte ihn böse von links her an, das rechte glotzte – stark verkleinert – von unten herauf. Die Gesichtshaut war gerötet und von eiterschwärenden Pusteln übersät. Der kahle Schädel trug nur hier und da noch Inseln von verfilztem Haar. Am abstoßendsten aber war der Mund: eine einzige schwarze Falte, vor Speichel triefend. Mehrere krumme, spitz zugefeilte Zähne ragten daraus hervor. Jeder pfeifende Atemstoß des Wesens erzeugte Übelkeit in Lenardo, und er hielt sich schützend eine Hand vor sein Gesicht. Es roch nach Kupfer und es roch nach Kälte, alles verschlingender Kälte. Es handelte sich tatsächlich um einen Nosfera. Aber Wudan allein mochte wissen, was mit ihm geschehen war. »Mach es wieder mächtig!«, zischte der deformierte Blutsauger und hielt dem Händler den Schokker hin. Als Lenardo zögerte, packte ihn der Entstellte mit eisernem, unglaublich kräftigen Griff an der Kehle und zog ihn zu sich 7
heran. »Repariere es!«, verlangte er. »Vielleicht lasse ich dich dann am Leben!« * Der Palisadenzaun, der Millan eingrenzte, ragte düster vor Saandro hoch. Er hörte den Jäger bereits hinter sich. Lautstark klagte das Ungetüm. Sagte ihm, der Beute, dass es näher kam. Es war Vollmond. Die Bestie hatte seine Witterung vor Stunden aufgenommen und verfolgte verbissen die Spur. Wenn ihn kein Wunder rettete, war er verloren. Aber Wunder, so hatte ihn bittere Erfahrung gelehrt, waren äußerst selten in diesen schlechten Zeiten. Er rannte die letzten paar Dutzend Meter, was seine Lungen noch hergaben, und warf sich schließlich im Windschatten des Zaunes erschöpft zu Boden. Das tiefe Jaulen und Heulen wurde lauter. Es war nur eine einzige Bestie. Obwohl Saandro irgendwo in den flachen Hügeln eine Kamauler-Suhle durchquert hatte, um seinen Eigengeruch zu überdecken, hatte sie seine Spur nicht verloren. Eigentlich hätte er liegen bleiben und sich seinem Schicksal ergeben können. Helis Totenreich war ihm so gut wie gewiss. Doch dann dachte er an sein Weib und die beiden kleinen Kinder, die zu Hause auf ihn warteten, und er schöpfte neue Kraft. Er musste das Dorf Sansiiro vor der Gefahr warnen, die den Bewohnern drohte; vor den wilden, waffenstarrenden Männern aus dem Norden und den Bestien, die sie mit sich führten. Er musste! Saandro hatte Respekt – und auch ein wenig Angst – vor dem, was hinter den Palisaden lag. Doch was war 8
abergläubische Furcht vor den Überbleibseln der damaligen Schreckensherrschaft im Vergleich zur realen Bedrohung durch die Bestie? Nichts! Hastig blickte er sich um, tastete die breiten Bohlen des mächtigen Holzzaunes ab. War hier irgendwo ein Durchkommen? Nein. Die Hölzer steckten fest in der lehmigen Erde, ließen sich keinen Millimeter verrücken, so sehr er auch daran zog und zerrte. Saandro fluchte leise und wandte sich verzweifelt nach links und rechts. Das Jaulen und Japsen wurde lauter. Die Bestie konnte nur noch wenige hundert Meter entfernt sein! Er nahm einen kurzen Anlauf und sprang, so hoch er konnte. Er klammerte sich mit Beinen und Armen an einer breiten Bohle fest – und rutschte ab. Das Holz war mit einer dicken Schicht Wisaau-Fett beschmiert und gab keinen Halt. Saandro ließ sich entmutigt zu Boden fallen. Was war das? Zwischen seinen schweren Atemzügen und dem näherkommenden Jaulen des Ungetüms hörte er ein... Rauschen? Ein ruhiges Plätschern wie von Wasser? Die Abwasserkanäle der Stadt! War er bereits so weit nach Süden gekommen? Nur noch wenige Kilometer, und er hatte Sansiiro erreicht. Er durfte jetzt nicht aufgeben! Saandro sprang hoch und wandte sich nach links, dem Geräusch des Wassers zu. Er lief einen kleinen Hügel hoch. Tatsächlich: Mehrere übermannshohe Röhren aus dem merkwürdigen Material namens Plastikk präsentierten sich unter ihm wie Schlünde zur Hölle. Ein morastiger, dreigeteilter Strom brackigen Wassers quoll aus ihnen hervor und wälzte sich träge landeinwärts. 9
Es war dies der eitrige Ausfluss jener schwärenden Wunde namens Millan... nahezu ungenießbares Nass, seit jeher kaum trinkbar. Angeblich ein Überbleibsel der Alten, über die vor zwanzig oder mehr Generationen das Kristofluu gekommen war. Hier war der Palisadenzaun unterbrochen. Doch der senkrecht hochragende Erd- und Schlickhaufen oberhalb der Röhren war ein unüberwindbares Hindernis, selbst für geübte Kletterer. Ein Jaulen, ganz nahe. Saandro zuckte zusammen. Es blieb keine Zeit mehr, um nachzudenken. Er gab sich einen Ruck und rutschte den steilen Abhang zum Wasser hinab. Der angespülte Unrat mehrerer Jahrhunderte bremste ihn. Plastikk, Metallteile jeder Größe, Knochen zuhauf; Saandro kletterte mühselig darüber hinweg und stemmte sich gleichzeitig gegen den stärker werdenden Druck des Flusses. Sollte er sich abwärts treiben lassen? Nein. Das Ungetüm würde ihn mit seinem kräftigen, raumgreifenden Schritt am Ufer entlang verfolgen. Er musste in eine der Röhren kriechen, und dann weiter in die Stadt! Das Wasser wurde tiefer und reichte ihm schließlich bis zur Hüfte. An der Oberfläche schimmerten feine Schlieren. Saandro wusste, dass sich dieser bei Tageslicht regenbogenfarbene Schlick an seinem Körper festsetzen und einen juckenden Ausschlag mit sich bringen würde. Sollte er überleben, war das wohl seine geringste Sorge... Saandro holte das Letzte aus seinem mageren Körper heraus. Er warf sich gegen die Fluten, begann mit kurzen, abgehackten Zügen zu schwimmen. Er musste zur Rückseite einer der drei Röhren gelangen. Dorthin, wo das Wasser ruhig war. Ein Platschen übertönte das Rauschen. Kurz blickte er sich 10
um. Dort war sie, die Bestie! Sie war ihm in den Fluss gefolgt. Breite Fontänen spritzten zur Seite. Kurz verschwand das Monster, dann tauchten seine rotglühenden Augen auf und blickten ihn direkt an. »Weiter!«, feuerte sich Saandro verzweifelt an. Noch ein paar Schwimmzüge gegen die bleiernen Gewichte, die an seinen Armen zu hängen schienen. Endlich! Er war durch die letzten Wirbel, die das herabströmende Wasser hier erzeugte, hindurch. Einen Moment lang Atem holen. Zurück zum Ausfluss. Welche Röhre sollte er nehmen? Egal. Die nächstgelegene, die rechte. Konnte er stehen? Nein. Wahrscheinlich war das Bassin hier mehrere Körperlängen tief, ausgewaschen von Jahrzehnten und Jahrhunderten stetigen Fließens. Nochmals Luft holen. Alle Kraft in die Beine. Nur nicht an die Bestie denken, die wenige Meter entfernt stand. Ruckartig hochkommen, nach oben stoßen, aus dem Wasser empor schnellen, bis zur Hüfte hinauf. Da! Er spürte den Rand der Röhre mit seinen Fingern, eineinhalb Meter oberhalb des Wassers – und rutschte ab. Shiit! Kurz blickte Saandro nach hinten. Die Bestie war heran, noch sieben, acht Meter; ihre Augen waren zu riesigen Kohleklumpen geworden. Ein zweiter, ein letzter Versuch. Nach unten wegtauchen und wieder hochdrücken. Ja! Er erwischte den Rand erneut. Endlich ein bisschen Glück! Ein feiner Riss im Plastikk gab ihm jenen Halt für die rechte Hand, den er benötigte, um sich aus dem Wasser zu hieven. Beine anziehen, einmal nach hinten weg Schwung holen; und dann mit allem, was der Körper noch hergab, in die Höhe katapultieren. Saandro landete unsanft in der Röhre. Gleichzeitig spürte 11
und hörte er, wie alle Finger der rechten Hand außer dem Daumen brachen. Er hatte sie nicht rechtzeitig aus dem Riss des Plastikks herausziehen können. Doch er war in Sicherheit! Umspült von schaumigem Wasser, musste er gegen den Fluten ankämpfen – aber er hatte es tatsächlich geschafft. Und die Bestie? Mit einem mächtigen letzten Sprung war sie herangekommen. Saandro war sicher, ihre Schnauze noch unter seinen Sandalen gespürt zu haben, als er sich hochgezogen hatte. Er stand auf und blickte auf das Monstrum hinab, das immer wieder hochsprang und ihn zu erreichen versuchte. Umsonst. Es war zu schwer, um sich hochzuziehen. »Fafaculo!«, höhnte er und spuckte aus. »Ich bin einfach schlauer als du, einfältiges Geschöpf. Ich, Saandro von Sansiiro! Ja, zieh nur eine hässliche Grimasse. Bei Orguudoo, hast du einen Mundgeruch! Warte, da hab ich was für dich...« Saandro öffnete seinen Hosenstall und urinierte in die Dunkelheit hinab. Ein wütendes Knurren bewies ihm, dass er punktgenau traf. »Und wie lange willst du jetzt warten? Geht es nicht in deinen hässlichen Schädel hinein, dass ich in Sicherheit bin? Du...« Ein schleifendes Geräusch ertönte hinter ihm. Ein Zischen, ein Geifern. »O ihr Götter«, stöhnte er, als er sich umdrehte und die neue Gefahr erblickte. Orguudoo war ungerecht. Orguudoo strafte ihn für diesen einen, winzig kleinen Moment des Hochmuts. Die Pforten Helis öffneten sich erneut. Diesmal nicht nur einen Spalt, sondern sperrangelweit. Denn hinter ihm, aus der Dunkelheit der Röhre, kam eine bleiche, unförmige Snäkke herangewalzt. Das übelste Raubtier, das in Millans Umgebung sein Unwesen trieb, hatte ihn als Beute auserkoren. Sie würde ihn schlucken 12
und bei lebendigem Leibe verdauen... »Wudan, hilf! Was tun, was tun?« Doch es blieb keine Zeit zum Jammern, keine Zeit zum Überlegen. Mit einem verzweifelten Schrei auf den Lippen stürzte er sich in die Tiefe, der wartenden Bestie entgegen... * Matthew Drax war lange genug in dieser postapokalyptischen Welt umhergewandert, um sich an die drastisch geänderten Lebensumstände gewöhnt zu haben. Doch sein Kopf, sein Denken zog immer wieder Vergleiche mit »früher«. Mit dem Leben und den Menschen des Jahres 2012. Auf ihrem Flug mit dem EWAT nach Rom näherten sie sich einer der ehemals großen italienischen Städte. Mailand war neben Turin der Industriemotor Norditaliens gewesen. Eine kulturelle und sportliche Metropole, zweitgrößte Stadt des Landes, Dreh- und Angelpunkt florierender Wirtschaft. Nicht nur einmal war er darüber hinweg geflogen und hatte sich gewünscht, in der Mailänder Scala sitzen und berühmten Opernchören zu lauschen. Doch sein erster Besuch in Millan, wie die Stadt heutzutage hieß, war so gar nicht nach seinen Wünschen ausgefallen. Statt Tenören und Operndiven hatten ihn Barbaren empfangen. Barbaren und Nosfera. Hoch- und Wohnhäuser waren großteils zerstört und boten ein Bild, das er seit nunmehr vier Jahren in allen Teilen der Welt zu Gesicht bekam: zerfallene Ruinen, ungezügelt wachsendes Grünzeug, dazwischen einzelne Stahlbeton-Steher, die wie Mahnmale in den Himmel ragten. »Christopher-Floyd«, murmelte Matt leise, »ich verfluche dich bis in alle Ewigkeit!« 13
»Wie bitte?«, fragte Aruula schläfrig. Sie hielt den Kopf an seine Schulter gelehnt und döste entspannt vor sich hin. Das Schwert lag lose über ihren Schenkeln. »Es ist nichts«, antwortete Matt, »schlaf ruhig weiter.« Die Barbarin, die mit so viel mehr Problemen als er selbst fertig werden musste, fand viel leichter zu innerer Ruhe. Und konnte somit rascher als er neue Kraftreserven tanken. Matt seufzte leise. Aruula war nun mal ein Kind dieser Zeit – und dieser Welt. Einer Welt, die stetig im Wandel begriffen war. Sie nahm Katastrophen und Schicksalsschläge mit stoischer Gelassenheit hin. So sehr sich Matt auch bemühte – an diese Welt, die scheinbar ohne Werte wie Ethik, Moral und Rechtschaffenheit auskam, würde er sich nie ganz gewöhnen. Das Abenteuer kürzlich in Paris hatte ihm das wieder deutlich vor Augen geführt. »Du denkst an früher«, sagte die Barbarin unvermittelt. »An Jacobos Schreckensherrschaft über Millan.« Sie war von einem Moment zum nächsten hellwach. Ihre Oberschenkelmuskulatur spannte sich an, die mit einer Art Henna aufgemalten, grünen und blauen Streifen zuckten unruhig. Hatte sie in seinen Gedanken geforscht? Wohl nicht; es war einfach zu offensichtlich. Matt nickte. »Du erinnerst dich an unsere erste Begegnung mit Jacob Smythe?«, fragte er und spähte durch eine Seitenluke hinab, suchte Gebäudestrukturen, die ihm bekannt vorkamen. »Wie könnte ich das je vergessen?«, entgegnete Aruula. Eine Gänsehaut bildete sich an ihren Armen und Beinen. »Dein liebster Feind wollte mich schließlich zur Zuchtkönigin seiner Nosfera-Brut machen.« »Die Nosfera sind keine Monster«, warf Matt ein. »Sie sind kranke, benachteiligte Geschöpfe, die...« »Diese Nosfera waren böse – unter Smythes Einfluss!«, warf Aruula vehement ein. »Beschönige das nicht, nur weil du 14
seitdem ein paar vernünftige Vertreter ihrer Rasse getroffen hast.« Aruula war halb aufgestanden, jeder Zentimeter eine Kriegerin. Körper und Geist waren abwehrbereit, als ob ein unsichtbarer Gegner an Bord des EWATs lauerte. Matt grinste unwillkürlich. So liebte er seine Barbarin! Und so – er musste es sich eingestehen – erregte sie ihn auch. Wären die anderen Besatzungsmitglieder des EWATs – Captain Selina McDuncan, Lieutenant Peter Shaw und Corporal Andrew Farmer von der Londoner Community – nicht gewesen, hätte er das Fahrzeug glatt gelandet und mit Aruula ein Stündlein fegaashaa gepflegt. »Das Zentrum Millans ist in Sichtweite, Commander«, unterbrach Selina seine Gedanken. Sie fuhr sich dabei in einer unbewussten Geste durch den allmählich sprießenden Haarflaum. Fast alle der ehemals unter den Ruinen Londons lebenden Community-Mitglieder hatten sich diese Eigenheit angewöhnt. Kein Wunder, wenn einem nach dem bisher kahlen Dasein unter dem Einfluss des Immunserums plötzlich Haare wuchsen... »Wir drehen eine Ehrenrunde«, wies Matt seine Leute an. Peter Shaw, der Pilot, reagierte augenblicklich. Er ging mit dem schweren Flugpanzer tiefer hinab und schwenkte gleichzeitig in eine weitgezogene Rechtskurve ein. »Der Mailänder Dom«, murmelte Matt, als er sich zum Seitenfenster hin beugte. »Selbst in seinem jetzigen Zustand wirkt er noch beeindruckend.« Die fünf Schiffe der einstmals drittgrößten Kirche Europas waren in Form eines lateinischen Kreuzes angeordnet. Ein Teil war in sich zusammengestürzt, bei den anderen fehlten große Teile der Dächer aus Carrara-Marmor. »Warum haben die Alten derart riesige Gebäude zum Beten gebraucht?«, fragte Aruula. »Wenn ich mit Wudan sprechen will, denke ich einfach an ihn. Ist er gut gelaunt, so hört er mir 15
zu. Egal wo ich gerade bin.« Matt seufzte. Diese Diskussionen waren müßig, und Glaubensfragen ohnehin ein äußerst schlüpfriges Terrain. Aruula hatte zudem das Talent, mit naiver und entwaffnender Logik all seine Verteidigungslinien binnen weniger Sekunden ins Wanken zu bringen. »Da, schau – die Scala!«, wechselte er rasch das Thema. »Das große Sangeshaus, von dem du mir erzählt hast? Wo früher Männer mit Stimmen wie Eunuchen gequietscht und vollbusige Weiber wie brünstige Wakudas geröhrt haben? Kein Wunder, dass euch Orguudoo einen Felsen auf die Köpfe geschmissen hat...« »Ich unterbreche nur ungern«, sagte Selina McDuncan und grinste unverblümt nach hinten, »aber haben Sie den Zaun rund um das Stadtzentrum bemerkt? Davon haben Sie uns nichts erzählt, Commander.« Tatsächlich! Mindestens vier Meter hohe Bohlen bildeten rund um den Stadtkern einen Palisadenzaun. Er umgrenzte einen Raum von ungefähr einem Quadratkilometer und umfasste die historisch älteste Substanz der Stadt – und eine schwarze Ruine. Die Nosfera-Festung Jacob Smythes... »Bei unserem ersten Besuch gab es den noch nicht«, antwortete Matt auf Selinas Frage. »Ich kann keine Bewohner da unten entdecken, auch nicht bei stärkster Vergrößerung«, meldete Andrew Farmer, der Aufklärer des Teams. »Aber außerhalb Mailands gibt es etliche Dörfer.« Seit Paris war Matt Drax geneigt, behutsamer vorzugehen, als mitten in einer Ansiedlung zu landen und den Ärger geradezu auf sich zu ziehen. »Wir landen in der Nähe eines dieser Dörfer. Langsame Annäherung mit entsicherten Waffen, Peter.« »Jawohl, Sir!« 16
*
Luigi Cravelli strich sich zitternd über den dünnen weißen Bart. Sein Vater hatte ihm vor Ewigkeiten gesagt, dass lange Barte würdevoll wirkten und den Respekt der anderen Menschen erheischten. Doch er hatte kein Wort über das elendige Jucken und die verfluchten Läuse verloren, die Luigi seit Jahr und Tag quälten. Gar nicht zu reden von den schrecklichen Momenten, wenn er sein Gewächs in Schubladen einzwickte – oder gar in AkuvoltGeräten. Mit Schaudern dachte er an jenes merkwürdige Gerät, das sich laut Überlieferung Schneebesen nannte. Es eignete sich keinesfalls dazu, den winterlichen Schnee von den Straßen zu räumen; eine Vorführung beim hiesigen Calciatore war kläglich gescheitert. Tagelang hatte er das Ding nicht aus seinem verzwirbelten Bart gebracht. Oh, diese Schande – er durfte gar nicht daran denken... »Jetzt mach schon, du elender Lump!«, schimpfte er und gab Angeloo einen aufmunternden Tritt in den Allerwertesten. »Soll ich auf meine alten Tage alles selbst machen? Schäm dich!« »Nein, Meister! Ich meine: ja, Meister!« Angeloo schleppte eines der schweren, übermannsgroßen Relikte auf seinem Buckel die ausgetretenen Stufen zur Werkstatt hinauf. »Sub-Woofer« stand in verblassten, merkwürdig glatten Buchstaben darauf. Bis dato hatte Cravelli zu seinem Bedauern noch nicht herausgefunden, was das Relikt für einen Zweck erfüllte. Denn der Erfindungsreichtum der Alten war unergründlich – und manchmal auch unverständlich. Was ihn wiederum an den Schneebesen denken ließ... »Nicht so lahm«, forderte er zornig den nutzlosen Gesellen auf, und ließ ihn erneut Bekanntschaft mit seinem genagelten 17
Schuhwerk machen. »Ja, Meister! Ich meine: nein, Meister!« Angeloo stolperte die letzten Schritte hinauf und ließ das Gerät am Treppenabsatz erschöpft fallen. Dieser unnütze Bursche, am liebsten hätte er ihn... »Meister Cravelli!«, hörte er die Stimme eines Jungen. »Ja? Was gibt's, Petro?« Der Bursche keuchte. Er war wohl vom bevorzugten Spielplatz außerhalb des kleinen Dorfes bis hierher gelaufen. »Giovane Scharfauge«, sagte er und musste erneut Luft holen, »hat ein schwebendes Ding über dem Palisadenzaun Millans entdeckt. »Es kommt hierher, meint er.« Hm. Giovane hatte in der Tat scharfe Augen, und er log höchst selten, zumindest für einen Jungen seines Alters. Wenn er etwas Besonderes gesehen hatte, musste sich Luigi Cravelli darum kümmern. »Bist ein braver Junge, hast deine Sache gut gemacht«, lobte Luigi, und streichelte Petro über den Kopf. »Angeloo, gib ihm einen Streifen vom Dörrfleisch. Auch Giovane soll einen erhalten.« Im nächsten Moment hatte er den Burschen vergessen und hüpfte mit wehendem Bart die wurmzerfressene Treppe zum Obergeschoss hinauf. Überall lagen Relikte aus der alten Zeit. Viele zerstört, die meisten unbrauchbar oder vom großen Feind der Retrologen, dem Halbgott Roost und vom Heer seiner unsichtbaren Zerstörungsgeister befallen. Luigi Cravelli achtete nicht weiter auf das Durcheinander. Längst schon war es zum fixen Bestandteil seines Lebens geworden. Als ihn Anamaria, sein Weib, dazumal vor die Wahl gestellt hatte: »Entweder die Relikte oder ich«, hatte er sich – Wudan sei Dank – wohlweislich richtig entschieden. Die Frau wärmte heute das Bett des Dorfschmieds und war zwischenzeitlich um mehr als das Doppelte in die Breite gewachsen. 18
Luigi klappte die Luke zum Dach hoch und kletterte emsig die Leiter empor. Er zog sich nach oben und sog die frische kühle Luft ein, die von den Bergen her wehte. Konnte er hier etwas von jenem Schwebeding erkennen? Nein. Er musste noch weiter hinauf, in das Observatorium. Verdammt, warum war dieser nichtsnutzige Bursche Angeloo nicht da, um ihm beim mühseligen Aufstieg zu helfen? Am liebsten hätte er ihn hochkant bei der Türe hinausgeworfen. Doch die Zeiten waren hart. Es schien nahezu unmöglich, Helfer zu finden, die gegen Unterkunft und Verpflegung ein paar kleine Arbeiten für ihn erledigten. Die unterstützenden Fußtritte waren zudem völlig gratis... »Ich muss mal wieder alles alleine machen«, murmelte Luigi in seinen Bart. »Bestimmt hatten es die Alten viel leichter mit ihren Gesellen...« Er kletterte zwischen den Trägern des Gerüstes durch. Es war mit mehreren schweren Seilen an allen vier Seiten seines Hauses abgespannt. »Liebherr« hieß dieses Ding, offensichtlich der alte Name für eine Aussichtswarte. Unter großen Mühen und den argwöhnischen Augen vieler Dorfbewohner hatte er es von einem Wakuda-Gespann hierher schleppen lassen. Die roostzerfressene Leiter bot nur noch mangelnde Unterstützung beim Hochklettern. Luigi verließ sich mehr auf ein Holzgestell, das Angeloo in seiner Freizeit hatte anfertigen dürfen. Völlig atemlos erreichte er das kleine Kabäuschen nahezu zwanzig Meter über dem Grund. Er blickte nach Norden. Nichts zu sehen, alles blieb verschwommen. Kein Wunder, dieser nichtsnutzige Angeloo hatte wieder einmal vergessen, ihm die Gläser zu reichen. »Der Visor«, murmelte Luigi, »er muss doch irgendwo sein!« Er hatte ihn gestern hier liegen lassen, als er die 19
schneebedeckten Berge beobachtet hatte. Mit Schaudern dachte er daran zurück; über einen der altbekannten Passwege war eine größere Horde Menschen geströmt. Der Visor, dieses mysteriöse, von Akuvolt gespeiste Instrument der Alten, war nicht gut genug gewesen, um ihn Details erkennen zu lassen. Doch die Form mancher Gestalten, die nahezu ebenso breit wie hoch waren, hatte ihn das Fürchten gelehrt. Immer wieder waren Sansiiro und die anderen Dörfer des »Ringes« Ziel marodierender Banden aus dem Norden gewesen. Luigi glaubte fest daran, dass die Macht und Kraft Akuvolts ihnen helfen konnte, mit diesen primitiven Horden fertig zu werden. Doch der Calciatore war schwach geworden. Auch hörte er nur zu gerne auf Schmeichler und Einflüsterer. »Meister!«, schallte es von unten. »Du hast deine Brille im Laboratorium vergessen!« Vergessen! Ha! »Bring sie mir, du Nichtsnutz, aber rasch!« Mit gerulartiger Geschicklichkeit kam Angelo zu ihm herauf und drückte ihm die wertvollen geschliffenen Gläser in die Hand. »Hmph!«, sagte Luigi zum Dank. Dann: »Siehst du das schwebende Ding über der Verbotenen Stadt?« »Natürlich Meister, klar und deutlich! Es macht mir Angst! Willst du nicht den Calciatore verständigen?« Der Kerl log! Auf diese Entfernung konnte man nichts erkennen. Nur einen verschwommenen dunklen Fleck... ach ja, die Brille! Luigi setzte sie auf und sah gleich klarer. Jetzt noch den Visor anstellen... Er aktivierte den Akuvolt-Schalter und setzte das Gerät an seine Augen. Ein leises Surren ertönte im Gerät. Wäre er nicht Retrologe gewesen – sogar der Anführer jener honorigen Männer und Frauen, die die Relikte der Alten erforschten! –, das Geräusch hätte ihn wohl beunruhigt. So 20
aber spürte er lediglich leises Unbehagen vor den unbekannten Kräften. Jene Menschen, die vor Kristofluu in Ittalya gesiedelt hatten, waren Beherrscher unglaublich mächtiger Werkzeuge gewesen. »Was siehst du, Meister?«, fragte ihn Angeloo ängstlich. Er schlug mit den Fingern pausenlos Kreuze an Stirn, Brust und beide Schultern. Ein Zeichen alten Aberglaubens, das hier in der Gegend weit verbreitet war. Der Blick durch den Visor war noch dunkel und verschwommen. Das Akuvolt-Gerät benötigte einige Zeit, um vollends zum Leben zu erwachen. Doch dann ging es schnell. Gleißendes Licht brach durch die künstlichen Linsen, und die Berge schienen mit einem Mal bis auf wenige Meter an ihn heran zu springen. »Bei Wudan!« Jedes Mal wurde Luigi wieder von der Kraft Akuvolts überrascht. »Alles in Ordnung, Meister?« »Natürlich!« Er blickte erneut durch die Gläser und suchte das Schwebeding. Da war es! Es war aus... aus... Metall! Dunkelgrün, beinahe schwarz. Nur schwach reflektierte es das Licht der Sonne. Luigi glaubte an die Macht des Akuvolt, doch welch ungeheure Kraft musste aufgebracht werden, um diesen Koloss in der Luft zu halten? Moment! Er kannte den Anblick dieser... dieser macchina! Wo hatte er so etwas schon einmal gesehen? In alten, nicht mehr entzifferbaren Büchern? In den Zeichnungen seiner Vorfahren, die sich seit Jahrhunderten der Forschung verschrieben hatten? Oder gar in dem... natürlich! Flink kletterte er vom Liebherr-Turm hinab. Vergessen waren die Schmerzen, die seine alten Glieder plagten. Wie ein kleiner Junge sprang er von der drittletzten Holzsprosse auf das Dach seines Hauses, schlängelte sich durch das Metallgerüst und schwang sich hinab in das Obergeschoss. 21
Mit fahrigen Fingern kramte er in seinen Unterlagen, fluchte dabei heftig auf Angeloo, der einfach keine Ordnung halten konnte – und fand schließlich, was er suchte: die Mappe mit den Wissenskristallen! Hoffentlich hatte Angeloo das AkuvoltLesegerät auch aufgeladen! Er hatte! Das Relikt reagierte sofort, sirrte und summte, und ein helles Bild bildete sich auf der flachen gläsernen Platte. Ungeduldig, fast mit Gewalt, schob Luigi den gerade mal daumennagelgroßen Zauberkristall in das Akuvolt-Lesegerät. Bei Wudan, wie lange dauerte das denn? Der Schweber kam direkt auf ihre Ansiedlung zugeflogen, und wenn er sich nicht täuschte, dann... »Wellkam tu ze Ensiklopidia of mode-an tektikl ea-bäsd feittenks«, sagte eine unbekannte Stimme. Luigi verstand kein Wort, doch das war momentan nicht wichtig. Er hatte die Funktionen begriffen, mit deren Hilfe er durch das Wunderwerk aus bewegten Bildern blättern konnte. Mit fahrigen Fingern tippte er auf Tasten herum, die unbekannte Buchstabensymbole, Pfeile und merkwürdige Zeichen zeigten, bis er dorthin fand, wo ihn sein Gedächtnis fuhren wollte. »E.W.T. 2010«, sagte die sonore Stimme, dann noch »Pansser« und »Bamber«. Weiter hörte der Retrologe nicht zu. Denn die Bilder, die vor seinen Augen erschaffen wurden, ließen ihn blind und taub für alles andere werden. Sie zeigten fürchterliche Waffen an Bord des Flugobjekts. Waffen, die aus rot glühenden Öffnungen abgeschossen wurden und tiefe Narben in ihr Ziel rissen. Mit einem einzigen Treffer zerstörten sie ganze Häuserfronten, durchschlugen mächtige Mauern aus »Konkrit«, rissen tiefe Gruben in die Erde. »Angeloo«, sagte er, blass geworden, zum mittlerweile herbeigeeilten Helfershelfer, »das ist ein Instrument des Bösen. Wir müssen die Menschen warnen. Du gehst und läutest die Glocken. Ich muss mit den anderen Retrologen sprechen und 22
den Calciatore überzeugen.« Ohne sich weiter um den Gehilfen zu kümmern, stieg er in seine Wohnstube hinab und lief ins Freie. Jegliche künstlich aufrecht erhaltene Erhabenheit fiel endgültig von Luigi ab. Er raffte den löchrigen, verdreckten Talar hoch. Mit zur Seite wehendem Bart lief er über die Piazza und kümmerte sich nicht weiter um die spöttischen Kommentare der wenigen Leute auf der Straße. Der »Pansser« stellte sicherlich eine Gefährdung der Siedlung dar. Doch der Retrologe war seit langer Zeit vorbereitet. Im Fundus seines Kellers lagerten Relikte; Waffen, die Angeloo in mühevoller Kleinstarbeit von Roost befreit und er selbst funktionstüchtig gemacht hatte. Er kannte ihre Kraft und war überzeugt, dass sie den Feinden Einhalt gebieten konnten. Mit einer Machtdemonstration konnte er zudem die Calciatores des »Rings der Dörfer« davon überzeugen, dass es nützlich war, die Relikte der Alten verstärkt zu erforschen. Luigi war sicher, dass vor allem im vom Palisadenzaun umgebenen Millan unermessliche Schätze zu bergen waren. Er musste nur diesen »Pansser« aus der Luft holen. * Cortan rülpste laut und warf den Wisaau-Knochen achtlos beiseite. »Mehr Wein!«, brüllte er. »Und holt mir endlich das Klappergestell herbei!« Einer der Männer sprang auf. Es war nicht klug, den Anführer der Kriegstatter lange warten zu lassen. Vor allem nicht, wenn dieser schlechte Laune hatte. Und Cortan hatte immer schlechte Laune. Zwei Minuten später stand das »Klappergestell« vor ihm. Eine elendiglich stinkende, vermummte Gestalt, deren Augen in der untergehenden Sonne bösartig funkelten. 23
»Das ist also Millan, alter Mann«, sagte der Anführer der Kriegstatter und deutete auf die Ebene hinab, die sich unter ihnen ausbreitete. »Du sagst, dort finden wir noch mehr von diesen wertvollen Waffen, wie du eine hast?« »Ja, Cortan. Mehr Waffen, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst, edler Kriegsfürst.« »Spar dir deine Schmeicheleien, Mann! Sie werden dir nichts nützen, wenn du lügst. Vergiss nicht, dass wir den Umweg über die Berge nur genommen haben, weil du uns fette Beute versprochen hast. Wenn ich daran denke, dass gute Geschäfte in Weean auf uns und die Kleinen warten...« Er deutete auf die Rotte monströser Hunde, die knurrend und zähnefletschend an kurz gehaltenen geschmiedeten Fesseln hingen. Die Hüter hatten sie, wie jeden Abend, an breite, in den Waldboden gerammte Pflöcke gekettet. Dennoch waren sie kaum zu halten und wollten übereinander herfallen. So wie immer. Es mussten an die hundert Tiere sein. Nahezu zwei Meter groß waren sie, bei einer Schulterbreite von weit mehr als einem Meter. Doggars. Auch »Reißer« genannt. Wilde Bestien, gezüchtet in entlegenen Alpentälern Suizzas. Bei Herrschern – und solchen, die es werden wollten – äußerst beliebt. Einer der kräftigsten Rüden begehrte laut auf und schnappte nach seinem Hüter. Doch der war geübt genug, rasch aus der Reichweite des Doggar zu springen. Das Gebiss der Doggars konnte mit einem einzigen Schnapper einen Menschen zerteilen. Bei einer Masse von mehr als fünfhundert Kilogramm fürchteten sie keinen Gegner. Wen sie einmal gefasst hatten, ließen sie nicht mehr los. Ihre Kiefer verkrampften im Fleisch der Beute. Selbst wenn man sie durch massive Schwerthiebe auf den wulstigen, muskulösen 24
Hinterkopf tötete, lösten sie sich nicht mehr von ihren Opfern. Der dürre alte Mann schnaufte leise und zog Cortans Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Siehst du die Rauchfahnen im Süden?«, fragte er. Cortan grunzte zustimmend. »Das sind kleine Ansiedlungen, ›Ring der Dörfer‹ genannt. Weiler mit jeweils um die zwei-, dreihundert Einwohner. Menschen, wohl genährt von Früchten und Getreide, die sie in der fruchtbaren Krume der Ebene anpflanzen. Sie sind weich, verstehen wenig vom Kriegshandwerk; ihre Verteidigungslinien sind schwach.« »Sehr ungeschickt in Zeiten wie diesen«, sagte Cortan und trank aus seinem tönernen Humpen. »Eben. Würden sich nicht auch deine... Kleinen über eine fette Mahlzeit freuen?« Bei Wudan, das Klappergestell hatte Recht! Er sprach zwar mit einer lügnerischen, schmeichelnden Zunge, doch die Doggars waren so unruhig wie schon lange nicht mehr. Eines der stärksten Weibchen hatte sich gestern Nacht sogar losgerissen und war nicht mehr zurückgekehrt. Der lange Weg über die Berge war anstrengend gewesen, die Fleischportionen streng rationiert. Da kam ein Festmahl gerade recht. Auch die Schwerter seiner Männer dürsteten nach Blut. Zu lange schon waren sie in ihren Scheiden geblieben; der letzte große Raubzug lag bereits mehr als ein Monat zurück. »Also gut«, sagte Cortan nach langem, dumpfen Brüten. Er stand auf und grölte so laut, dass sich alle Männer zu ihm umdrehten. Selbst die Tiere schienen aus Ehrfurcht zu verstummen. »Die Menschen der Ebene haben es nicht besser verdient«, rief Cortan. »Seht hin, Leute, sie wollen uns verhöhnen, indem sie ihre Dörfer ohne Befestigung und ohne Schutz wie auf einem Fleischteller präsentieren.« Lautes, zustimmendes Knurren aus mehreren Dutzend 25
Kehlen antwortete ihm. »Es wird Zeit, diesen verweichlichten Kreaturen zu beweisen, dass sich die Männer aus Suizzas Bergen nicht lächerlich machen lassen. Die Dörfler lachen über uns, Männer, sie lachen uns aus!« Das Knurren wurde heftiger. Einer der Krieger stieß tiefe, animalische Laute aus, in die sofort andere Stimmen einfielen. Schwerter wurden gezogen und gegen lederne oder hölzerne Schilder geschlagen. Zwei der Krieger, rot im Gesicht vor Kampfeswut, fielen übereinander her und konnten nur mühsam getrennt werden. Sie schrien und johlten, sie stampften und tobten und waren kaum mehr zu halten. Auch die Doggars, die die Erregung der Männer sofort spürten, fielen mit lautem Geheule in die Kriegsstimmen der Männer ein, sodass schließlich eine einzige gewaltige Stimme weit über die Ausläufer des Waldes hallte. »In der Morgendämmerung werden wir sie uns vorknöpfen, diese Spötter in ihren zivilisierten Dörfern. Wir werden sie zum Schweigen bringen! Und jetzt sauft, Männer!«, heizte sie Cortan nochmals an. »Eine doppelte Ration Biir für alle!« Das Gebrüll erreichte einen neuerlichen Höhepunkt. Cortan war zufrieden. Er hatte die Krieger fest im Griff. Ja, er war mächtig schlau! Mit seinen klug gewählten Worten konnte er sie manu... manipel... ach was, steuern, wie er wollte. Er, Cortan, war nur zu Recht der Häuptling dieser Kriegstatter! Der dürre Mann, das Klappergestell, hatte sich längst seitwärts entfernt. Hätte Cortan sein Gesicht im Schatten der Kapuze sehen können, hätte er ein zufriedenes, bösartiges Lächeln erkannt... * Peter Shaw war ein erfahrener Pilot. Einer der besten der 26
Londoner Community. Außerdem ein gewiefter Taktiker, der selbständig handeln konnte, wenn es darauf ankam. Ein Mann also ganz nach Matthew Drax' Geschmack. »Die Bioscans zeigen ungefähr zweihundertfünfzig Lebewesen«, sagte der Pilot. »Allesamt Menschen, so weit ich es erkennen kann. Keine Taratzen, keine Nosfera, keine Bestien irgendeiner Ausprägung. Eine Landung ist unbedenklich; das ist ein einfaches Bauernnest.« »Die größte Bestie ist immer noch der Mensch selbst«, sagte Matt. »Denken Sie nur an unser Abenteuer in Paris, als Sie und Andrew fast in Kochtöpfen gelandet wären.« Lieutenant Shaw schwieg. Die unangenehme Erinnerung war sichtlich noch sehr frisch. »Gehen Sie am Rand der Siedlung nieder«, befahl Matt. »Langsam, ohne mehr Aufsehen zu erregen als wir es sicherlich schon tun.« Er wandte sich an Aruula, die das Schwert in die Rückenkralle schob und ihr Fellkostüm mit wenigen Handgriffen ordnete. »Alles klar bei dir?« »Wie sieht es denn aus?«, fragte sie schnippisch zurück. »Als wollte ich mich zur Nachtruhe fertigmachen?« »Schon gut«, sagte Matt beschwichtigend. Aruula war in letzter Zeit zunehmend gereizt. Das lag zum einen an den Dingen, die sie in den vergangenen Monaten hatte erleiden müssen und die andere Menschen vermutlich in den Wahnsinn oder den Selbstmord getrieben hätten: Der zeitweise Verlust ihrer telepathischen Fähigkeiten. Dass man ihr das ungeborene Kind auf mysteriöse Art und Weise – wie sollte man es nennen? – weggenommen hatte. Gefangenschaft, Bedrohungen ungeahnten Ausmaßes, die Begegnung mit Außerirdischen – und wohl nicht zuletzt die Angst über mehrere Tage hinweg, dass er, Matt, ums Leben gekommen wäre. Zum anderen drückte die gegenwärtige Situation, in der sie beide sich befanden, Aruulas Laune. Als sie noch unter 27
primitiven Bedingungen durch die Lande gezogen waren, hatte sie Erfahrung, Kampfgeschick und Naturverbundenheit in ihre Beziehung einbringen können. Seitdem sie für die Community London unterwegs waren und Technik und Routine ihrer beider Leben bestimmte, fühlte sie sich zunehmend unwohl. Matt wusste, dass sie sich das alte Leben mit ihm sehnsüchtig zurückwünschte – aber momentan gab es dafür keinen Raum. »Wir sind fast unten, Commander«, unterbrach Selina McDuncan seine Gedanken mit ungewohnter Steifheit. Auch sie schien angespannt. Ihre weibliche Intuition bestätigte sich eine Sekunde später. »Alarm«, quäkte die mechanische Stimme der EWATSprachausgabe, und Peter Shaw ergänzte: »Wir werden vom Dorf her angegriffen! Das sind keine Speere oder Katapultwaffen, sondern runde, silberne Flugobjekte mit einer... Tellurlegierung.« »Hochziehen!«, befahl Matt. Rund, silbern und mit einer Tellurbeschichtung überzogen...? Eine längst verschüttet geglaubte Erinnerung drängte in ihm hoch. »Das sind MagnoFrisbees! Vollschub und weg von hier! Schnallt euch an!« »Magno-was?«, fragte Selina, während Shaw bereits eine bemerkenswert enge Kurve zog. »Magnetfeld-Frisbees«, antwortete Matt knapp, während er sein Gurtschloss einschnappen ließ und gleichzeitig das knappe Dutzend der Flugwaffen auf dem Monitor im Auge behielt. Sie kamen bedrohlich rasch näher, mit mehr als einhundert Stundenkilometern. »Erstmals eingesetzt in den Glaubenskriegen 2005 bis 2007. Reagieren auf bestimmte Metalllegierungen, auf Flugbewegungen und Erschütterungen.« Ihm schauderte. »Eine bösartige Weiterentwicklung der Tellerminen. Verboten, aber dennoch angewandt, selbst von alliierten Streitkräften. – Schneller, Peter! Holen sie alles aus unserer Mühle raus!« »Was glauben Sie, was ich mache?« 28
Die Hände des Mannes umkrampften die Steuerung des EWATs und steuerten das tonnenschwere Ding dennoch mit spielerischer Leichtigkeit. Trotzdem waren sie zu langsam. Viel zu langsam. Die knapp einen halben Meter breiten Flugminen kamen rasch näher. Wer, in Dreiteufelsnamen, hatte die Frisbees abgeschossen? »Ausweichmanöver fehlgeschlagen«, sagte Corporal Farmer. »Die Scheiben folgen unserem Kurs.« »Erreichen ihr Ziel in sechzehn Sekunden, fünfzehn, vierzehn...«, zählte Selina. »Das Wäldchen dort unten halb links!«, rief Matt dem Piloten zu. » Gehen Sie runter! Rasch!« »Aye, Sir!« Augenblicklich spürte Matt seinen Mageninhalt hochsteigen. Der Wahnsinnige ließ den EWAT einfach fallen! »Elf Sekunden, zehn...« Bei Wudan, dachte Matt, und wunderte sich gleichzeitig, dass ausgerechnet er den Gott dieser neuen Weltordnung anrief. Noch bevor uns die Frisbees erreichen, wird uns Shaw in den Erdboden rammen! Die Wipfel der Bäume kamen rasant näher... »Peter!«, schrie Matt... ... und endlich betätigte der Pilot die Höhensteuerung. Sie fielen weiter hinein ins Grün. Matt hörte das Kratzen der Äste, spürte, wie sie hin und her gerüttelt wurden, sich im stärker werdenden Widerstand des Baumdickichts zu verfangen drohten – und plötzlich gewannen sie wieder an Höhe. Ein Meistermanöver! Zwei der Frisbees, nein, drei, fuhren wenige Meter hinter ihnen in den Wald, durchschnitten das Astwerk und bohrten sich hinab in den Grund. Eine explodierte, die anderen rotierten immer tiefer in den Erdboden, scheinbar durch nichts aufzuhalten. 29
»Uns sind noch immer acht auf den Fersen«, sagte Selina McDuncan leise. »Wir haben ein paar Sekunden gewonnen.« »Steuern Sie auf diese Lichtung hinab!« Matt deutete nach links, wo sich eine kleine Ebene scharf vom sonst allgegenwärtigen Grün abgrenzte. »Aye.« Lieutenant Shaw reagierte rasch und präzise wie eine Maschine. Mit einem weiteren waghalsigen Manöver tauchte er in den Wald hinab, noch tiefer diesmal als zuvor. Der EWAT köpfte einen einzeln stehenden Ahornbaum und krachte in flachem Winkel auf die Erdoberfläche, zog mit einem hässlichen Geräusch eine lange Furche, um dann wieder leicht hochzusteigen und in wenigen Zentimetern Höhe dahin zu schweben, auf den Rand der kleinen Lichtung zu. Explosionsgeräusche. Eine gelbliche, seltsam flache Stichflamme hinter ihnen, ausgelöst durch einen explodierenden Frisbee, sichtbar gemacht durch die Heckkameras. Eine Druckwelle, die den EWAT bocken ließ. Lose Ausrüstungsgegenstände wie Funkgeräte, Messinstrumente, Karten und Schreibmaterial flogen umher. Ein Krachen, ein Lärmen, ein Kippen des EWATs nach links, ein hässliches, enervierend schrilles Geräusch, als ob eine Gabel über einen Teller kratzt. Eine weitere Explosion, rechts vor ihnen. Shaw ächzte und zog das Fahrzeug in Schräglage, quetschte es irgendwie zwischen zwei Baumriesen durch. »Achtung!«, schrie der Pilot und bremste abrupt ab. Matt wurde in den Doppelgurt gequetscht, alle Luft entwich aus seinen Lungen. Auch Aruula neben ihm keuchte atemlos und wurde wie ein Crashtest-Dummie nach vorne geworfen. Ein kantiger Gegenstand traf Matt an der Stirn, bohrte sich in einem kurzen Moment des Schmerzes durch die Haut an den Schläfen. Sie standen. Es war still. 30
Fast. Das hässliche Schrillen war noch zu hören, verebbte nur langsam. Keiner der fünf Menschen wagte sich zu rühren, bevor es endgültig ruhig war. »Alles in Ordnung bei euch?«, wollte Matt fragen, doch nur ein kaum verständliches Krächzen drang aus seinem Mund. Seine Brust schmerzte höllisch, dort wo die Gurte sich kreuzten, und in seinem Nacken machte sich unangenehme Taubheit breit. Vier ebenso erstickte »Ja« antworteten ihm. Gut. Sie alle lebten, und die Frisbee-Scheiben waren explodiert oder hatten sich in das Unterholz gebohrt, ohne am Fahrzeug größeren Schaden angerichtet zu haben. Unangenehmer, ozonhaltiger Geruch verbreitete sich. Matt blickte sich um. Woher kam der Gestank? Dort hinten! Im zweiten Fahrzeugsegment, zwischen Kochnische und Geschützstand, stoben Funken aus der rechten Bordverkleidung, tropften grell leuchtend zu Boden. Matt wischte sich Schweiß von der Stirn, löste die Gurtsicherung, riss den Feuerlöscher aus der Wandhalterung und erstickte mit gezielten Stößen des Stickstoffgemisches das Feuer. »Alles unter Kontrolle!«, rief er nach vorne, wo Aruula und die drei Community-Mitglieder nur langsam auf die Beine kamen. Erst jetzt leistete er sich den Luxus, auf die Beschwerden seines Körpers zu hören. Die Brust schmerzte höllisch, ein jeder Atemzug tat weh. Und die Taubheit im Nacken breitete sich weiter aus. »Maddrax, bist du in Ord... bei Wudan!« Aruula starrte ihn erschrocken an. Dann griff sie zu einem am Haken hängenden Küchentuch und rief gleichzeitig nach vorne: »Er ist verletzt!« Verletzt? Ja, gut, die Brust tat ihm weh, aber sonst...« Ich bin in Ordnung«, sagte er protestierend, als Aruula auf ihn 31
zukam. Sie wischte seine abwehrenden Hände beiseite und presste ihm das Tuch an die Stirn. »Und was ist das hier? Brabeelensaft?«, sagte sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Zorn und Besorgtheit in der Stimme. Sie zeigte ihm das Handtuch. Es war rot. Blutgetränkt. Matt sah auf seine Hände hinab. Er hatte sich keinen Schweiß von der Stirn gewischt, sondern... Blut. Der scharfe kurze Schmerz beim Aufprall, das leichte Ritzen der Haut... »Bleib endlich ruhig stehen!«, sagte Aruula. Sie presste das Handtuch erneut gegen seine Stirn, tupfte sie ab. Selina McDuncan kam herbei geeilt, mit einem breiten weißen Erste-Hilfe-Koffer in der Hand. Hinter ihr die beiden anderen Männer. »Es ist nicht weiter schlimm«, konstatierte Aruula erleichtert. »Eine Platzwunde über dem rechten Auge, einen halben Finger lang. Es sah weit schlimmer aus, als es tatsächlich ist.« »Lasst mich mal sehen«, sagte Selina McDuncan, drehte eine Handlampe in Matts Richtung und blendete ihn damit unangenehm. »Hm, ja, tatsächlich nichts Dramatisches.« Ihre kühlen Finger tasteten vorsichtig an seiner Stirn entlang. »Ein wenig Jod, drei Klammern und Sie sind wieder in Ordnung, Matt.« »Klammern? Jod? Auf keinen Fall!« Aruula wich einen Schritt zurück. »Beernis-Kraut, gut durchgekaut, ein paar Rotfarnblätter daraufgelegt, und in wenigen Stunden ist nichts mehr zu sehen.« »Aruula, wir haben Heilsalben, Präparate und chirurgisches Werkzeug an Bord«, sagte Selina mit einem Tonfall, den Matt schon oft bei den Technos bemerkt hatte. Sie neigten instinktiv dazu, die Barbaren – und Aruula war in ihren Augen schließlich eine – zu unterschätzen. Die beiden Frauen starrten sich an. 32
Das war wieder einer dieser Momente der Spannung, die Matt einfach nicht verstand. War Aruula wieder eifersüchtig? Aber warum? Weil Selina ihn versorgen wollte? Oder stieß sie sich an deren schulmeisterlicher Bemerkung? Frauen! »Ähhh, wir sichern dann mal die Umgebung und überprüfen die Außenverschalung des EWAT«, sagte Peter Shaw in die Stille. Er und Andrew Farmer verließen das Fahrzeug fluchtartig durch die Heckschleuse. Matt wäre am liebsten mit ihnen ausgestiegen, doch er stand zwischen den beiden Frauen. Und wusste eigentlich nicht, was hier passierte. Die Fronten waren doch eigentlich klar. Aruula war seine Begleiterin, seine Geliebte, seine Gefährtin. Und Selina war eine Kollegin mit technisch-militärischer Ausbildung und Flugerfahrung. Eine Frau, die mit ihrem Wissen und dem Verständnis der Welt noch ein wenig dessen repräsentierte, was Matt aus einem versunkenen Zeitalter kannte. Deshalb fachsimpelte er oft und gerne mit ihr – na und? Aruula drehte sich abrupt um und verließ den EWAT. Sie ging einer Konfrontation aus dem Wege? Sie? Einerseits war Matt erleichtert, andererseits überrascht. Noch vor ein paar Monaten hätte Aruula ganz anders reagiert. Selina McDuncan widmete sich nun seiner Verletzung, die wieder zu bluten begonnen hatte. »Selina«, begann Matt zögernd, »ich hoffe, Sie missinterpretieren die Situation nicht. Aruula ist meine... meine Freundin, und ich liebe sie.« »Ich weiß, Commander«, entgegnete die Bunkerfrau, während sie sorgfältig seine Stirn abtupfte. Sie vermied dabei, ihm in die Augen zu sehen. »Auch wenn ich es, ehrlich gesagt, manchmal nicht verstehe. Doch das tut nichts zur Sache. Ich bestreite ja gar nicht, dass ich mich zu Ihnen hingezogen fühle.« Sie lachte unsicher. »Kein Wunder – wenn man sein ganzes Leben lang dieses Bunkerdasein ertragen musste, ist 33
jede neue Bekanntschaft exotisch und interessant. Aber mehr ist es nicht. Wirklich nicht.« Sie schlug den Blick nieder. »Dann ist es gut«, entgegnete Matt erleichtert. »Wir erfüllen hier eine wichtige Mission. Ich kann keine Streitigkeiten an Bord des EWAT brauchen.« Aruula kam schweren Schrittes hereingestürmt und schubste Selina McDuncan achtlos beiseite. Die Britin hatte kaum Zeit zu protestieren, da hatte Aruula auch schon die Jodtinktur mit dem Handrücken weggewischt. Sie ging nicht gerade zärtlich mit ihm um, seine Barbarin, doch Matthew sah an ihrem Blick, dass es besser war, in diesem Moment zu schweigen. Aruula spuckte einen großen Knollen einer widerlich stinkenden, rötlichbraunen Masse aus. Sie klebte zäh an ihren Händen. Mit geübten Griffen knetete Aruula sie durch, formte die Masse zu einer länglichen, schmalen Wurst – und presste sie schließlich fest an seine Stirn. »Das brennt, verdammt noch mal!«, begehrte Matt auf. »Bist du ein kleines Kind, dass du keinen Schmerz erträgst?«, fuhr ihn Aruula an. Und er verstand endlich. Die Barbarin musste sich behaupten. Sie musste zeigen, dass sie mit ihren ungleich anders gelagerten Fähigkeiten für ihn, Matt, genau so wichtig war wie die Bunkerfrau. Aruula wollte ihr Selbstwertgefühl zurückgewinnen. Wollte zeigen, dass sie trotz ihres Unverstandes gegenüber moderner Technik oder, wie in diesem Fall, moderner Medizin genau so gut für ihn sorgen konnte. Oder noch besser. Matt ignorierte das Ziehen und Brennen, das sich über seine Stirn hinweg ausbreitete und langsam zur Nasenwurzel hin wanderte. Er sah die Barbarin an, als sie ihm ein breites, dunkelgrünes Farnblatt um den Kopf wickelte, sah sie zum ersten Mal seit langem richtig an und dachte: Gott, wie ich sie 34
liebe! Und die Schmerzen vergingen. »Commander, wir haben ein Problem«, sagte Farmer, als er in den EWAT zurückkehrte. »Etwas Schwerwiegendes?« Matt seufzte. Murphy's Gesetz hatte auch fünfhundert Jahre nach dem Untergang der alten Welt seine Gültigkeit behalten. »Nichts, was sich nicht beseitigen ließe. Es ist – nun, es ist unangenehm. Ich möchte es Ihnen gerne zeigen.« Aruula ließ Matt nicht aus den Augen, als er den Tank verließ. Schweigsam trabte sie hinterher. Selina war, nachdem die Barbarin sie so rüde verdrängt hatte, mit zusammengepressten Lippen in das Steuersegment des Fahrzeugs geflüchtet und überprüfte dort seitdem die wichtigsten Funktionen. Farmer griff sich immer wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust. Die Wucht des Bremsmanövers war doch beträchtlich gewesen. Als Matt die tiefe Furche erblickte, die der EWAT durch das Unterholz gezogen hatte, wurden ihm die Prellungen, Schnittwunden und Schleudertraumatas, die sie alle erlitten hatten, um so verständlicher. Der Panzer war von der Lichtung weg zirka dreißig Meter tief in den Wald hineingeschlittert, hatte meterhohe Bäume und Büsche geknickt und zur Seite geschoben. Hinter ihnen glommen da und dort kleine Feuernester. Sie würden bald erlöschen; der Untergrund war morastig und feucht. Eine Tanne, mindestens zwanzig Meter hoch und mit einem Durchmesser, dass es zwei Menschen benötigte, sie zu umfassen, lag geknickt hinter dem EWAT. Eine der letzten Frisbee-Scheiben musste sie durchschlagen haben. »Hier lang, Sir«, sagte Corporal Farmer und stieg an der rechten Seite des EWAT über aufgehäuftes Erd- und Buschwerk. Mühsam kletterten sie wenige Meter nach vorne, zum zweiten Segment. Lieutenant Shaw wartete dort. Er zeigte 35
wortlos auf das Ding. Eine der silberglänzenden Frisbee-Scheiben hatte sich in die Flanke des Expeditionsfahrzeuges gebohrt. Sie musste mindestens zwanzig Zentimeter tief im Stahlmantel stecken. »Eine rotierende Titan-Diamant-Schneide« , murmelte Matt. Er rief sich Details der Frisbee-Technologie in Erinnerung. Manche Modelle waren dafür gebaut worden, größtmöglichen Schaden auf eng konzentriertem Raum anzurichten. Die beiden Explosionen, die sie erlebt hatten, bewiesen, dass die Zündmassen selbst nach über fünfhundert Jahren noch reaktionsfähig waren. Andere Modelle, so wie dieses hier, besaßen die Beschaffenheit chirurgischer Instrumente. Sie durchschnitten normalen Stahl wie Butter, fraßen sich mit Drehbewegungen immer tiefer in ihr Ziel. »Wir hatten mehr Glück als Verstand«, murmelte Matt. »Die Tanne muss den Frisbee abgebremst haben, bevor er sich in den EWAT bohrte.« Mit Schaudern dachte er an das metallene Kreischen, das noch lange nachgehallt hatte, als der Panzer schon längst stand. Nun wusste er, woher das Geräusch gekommen war. »Ein wenig Glück vielleicht«, entgegnete Shaw, »aber nicht allzu viel. Der Frisbee hat zwei Hydraulikleitungen beschädigt. Besser gesagt: gekappt. Selina hat mir mittlerweile bestätigt, dass die Vertikalstabilisatoren des Fahrzeugs hinüber sind. Auch die Elektronik hat einiges abbekommen; der Frisbee hat sich durch einen Knotenpunkt gefräst.« »Ist der Schaden mit Bordmitteln zu beheben?« Das war alles, was Matt derzeit wichtig erschien. Zeit war zum bedeutenden Faktor geworden im Kampf gegen den unheimlichen Gegner. Niemand konnte abschätzen, wann die Daa'muren in die Offensive übergehen würden. »Ich denke schon«, antwortete Lieutenant Shaw. »Wir müssen zuerst das Unterholz beiseite schaffen, damit wir den 36
Schaden genauer begutachten können. Die Deckplatte lösen, ein paar Schweißarbeiten ausführen, den eingedrungenen Frisbee entfernen, den Elektronikknoten ersetzen, die Hydraulikflüssigkeit neu durchpumpen, Messarbeiten...« »Danke, das reicht schon.« So genau hatte es Matt gar nicht wissen wollen. »Wie lange wird das dauern?« »Wenn Andrew bei den Außenbordarbeiten mit anpackt und Captain McDuncan die Steuerungs- und Prüfaufgaben im Inneren übernimmt – nun, in zehn, zwölf Stunden wird es zu schaffen sein.« Verlorene Stunden... »Wenn Aruula und ich helfen – werden Sie dann schneller fertig?« »Mit Verlaub, Sir: Ich glaube, dass Sie uns eher im Weg sein würden. Wir sind für diese Reparaturaufgaben bestens geschult.« »Okay.« Matt nickte. Dann rief Matt nach vorne: »Selina?« Ein Seitenluk öffnete sich, der strubbelige Haarschopf des Captains schob sich hervor. »Aruula und ich erkunden das Dorf, aus dem die Frisbees abgeschossen wurden«, fuhr Matt fort. »Solange wir nicht wissen, woher diese Dorfbewohner ein Arsenal mit Hochleistungswaffen haben, sollten wir umsichtig vorgehen.« »Und Ihre Kopfwunde?« Zweifelnd blickte ihn die Bunkerfrau an. »Möglicherweise haben Sie eine Gehirnerschütterung. Sollten Sie sich nicht ein wenig schonen?« Die Wunde hatte er glatt vergessen! Doch sie tat nicht mehr weh, kein bisschen mehr... »Halb so schlimm, Captain. Keine Sorge, ich habe einen harten Schädel.« Selina McDuncan zuckte mit den Achseln und verzog sich wieder ins Innere des EWAT. Sie war sichtlich nicht einverstanden mit seiner Entscheidung – aber sie widersprach nicht. 37
Matt wandte sich Aruula zu, die währenddessen wachsam um sich geblickt hatte. Ein Wald war ein Platz mit vielen Schatten. Und viele Schatten bedeuteten in ihren Augen viele mögliche Gefahrenquellen. »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«, fragte er sie. »Wir beide allein gegen alle Gefahr...?« Aruula erwiderte nichts, doch ihre Augen leuchteten auf und bewiesen, dass er ihr zu diesem Zeitpunkt kein schöneres Angebot hätte machen können. * Am Kratersee (1) Est'sil'bowaan spürte etwas mit seinem Wirtskörper vorgehen. Etwas Ungewöhnliches und Unbekanntes. Er verglich dieses... dieses Gefühl mit mentalen Aufzeichnungen, die er irgendwann einmal an Primärrassenvertretern durchgeführt hatte, und nannte es folgerichtig Erregung. Es war dies eine Aufwallung in Körper und Geist seines Wirtes, gesteuert durch die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Drüsen spielten eine Rolle, der Hirnstamm des Wirts und sein Hypothalamus. Est'sil'bowaan stieß heiße Dämpfe aus und verwandelte sich unwillkürlich in das Ebenbild eines buckligen Primärrassenvertreters. Sein Hauptherz pumpte rascher, schlug kräftiger. Die Bedeutung des mysteriösen Raketeneinschlags direkt über dem Wandler vor ein paar Tag- und Nachtwechseln geriet im Vergleich zur neuen Botschaft fast zur Nebensächlichkeit. Vergessen war die Explosion ungeheuren Ausmaßes, die den Kratersee aufgewirbelt, einen unterseeischen Vulkanausbruch bewirkt und bis tief hinab Leben zerstört hatte. Vergessen waren sogar die Tausende zersplitterter Kristalle, die 38
daa'murisches Leben in sich geborgen hatten. Denn ein Trägerorganismus für den Sol war gefunden worden! In einer der vielen neu angelegten Bruthöhlen am Rande des neuen Meeres entwickelte sich ein Körper, dessen Qualität bemerkenswert erschien. Höhere Schuppendichte und somit größere Robustheit; prächtig ausgebildete Hirnsubstanz, genügend groß, um das geistige Potenzial des Sol aufnehmen zu können; stetig wachsende Masse des Körpers, die weit über den Durchschnitt hinaus zuzunehmen schien. Endlich! Est'sil'bowaan gab rasche, präzise Befehle. Der Leib, das Gefäß, bedurfte besonderer Behandlung. (Mehr Nahrung für den Trägerorganismus! Ich will in dieser Phase keine Modelle, sondern reine Primärrassenvertreter für ihn), ordnete er an. (Ein zweites Fütterungsmodell soll herbeigeschafft werden und sich nur um die Aufzucht dieser einen Hülle kümmern.) Liob'lan'taraasis lauschte intensiv seinen Geboten, er konnte es spüren. (Was ist mit Jeecob'smeis und Lin'croo?), fragte er gezielt in Richtung der Daa'murin, mit der er nun schon geraume Zeit kooperierte. (Der Professor hat die Arbeit in seinem neuen Labor aufgenommen. Er forscht in unserem Sinne. Langsame Fortschritte sind zu beobachten. Sein Leistungsvermögen scheint tatsächlich zu steigen, wenn der mentale Kontakt auf ein notwendiges Minimum reduziert wird. Die Frau hingegen ist nach wie vor als unfunktionell zu betrachten.) (Weder Jeecob'smeis noch wir sind auf sie angewiesen. Wenn sie sich selbst neutralisieren will, so werden wir sie nicht daran hindern.) Est'sil'bowaan wollte sich bereits zurückziehen und einer deduktiven Analyse des neuentdeckten Gefühls namens »Erregung« widmen, als ihm noch ein Gedanke kam: (Was gibt es Neues bezüglich der Minderung schädlicher 39
Sekundärstrahlung?) (Jeecob'smeis meint, dass der Gehalt an sogenanntem Radiocäsium und Radiostrontium mindestens fünfzig Jahresumläufe lang das Wasser verseuchen wird, wenn man keine gezielte Dekontamination durchführt.) (Wie soll die Entgiftung seiner Meinung nach stattfinden?) (Jeecob'smeis empfiehlt sogenannte Phytostabilisation. Die Sedimentschichten des Kratersees, speziell die Tonmineralien, werden relativ rasch den Großteil der gefährlichen Strahlung aufnehmen, diese aber in einem Umkehreffekt und nach einer gewissen Übersättigung rasch wieder freigeben. Um dies zu verhindern, sollte man großflächig Pflanzenbewuchs am Seeboden forcieren. Die Pflanzen würden die radioaktiven Stoffe langfristig speichern. Solange, bis schädliche Spaltungsprozesse aufhören.) Es gab kein Nachdenken, und Est'sil'bowaan hatte keine Zeit, sich weiter um dieses sekundäre Problem zu kümmern. (Er soll einen Plan ausarbeiten. Stellt ihm Dienstmodelle in ausreichender Zahl für die Arbeiten zur Verfügung. Junge Daa'muren werden Jeecob'smeis bei der Ausführung unterstützen und können gleichzeitig die Funktionen ihrer Wirtskörper austesten.) Damit war die kurze gedankliche Unterhaltung beendet. Est'sil'bowaan kümmerte sich wieder um die zukünftige Körperhülle des Sol. In dieser kritischen Phase durfte nichts mehr passieren. * »... die Flugscheiben, ehrwürdiger Calciatore, schlugen den Pansser, dieses monströse, metallene Schwebeding, in die Flucht! Beim ersten Anblick unserer Akuvolt-Waffen wendete er und zog sich wie eine feige Shasse zurück. Dies war ein Sieg für die Szienzia, ein Triumph für den Fortschritt!« 40
Meister Luigi Cravelli erstattete dem Häuptling wort- und gestenreich Bericht. Natürlich schmückte er ihn da und dort farbenfroh aus und verschwieg die fünf versagenden Waffenrelikte, die nur ein schwächliches Brummen von sich gegeben hatten und schließlich vor ihm liegen geblieben waren. Der Häuptling schmatzte vernehmlich und wischte sich die feisten Finger an einem bereitgelegten Putzfell ab. »Ich weiß nicht so recht, Meister Cravelli. Mein Berater Juuna ist gänzlich anderer Ansicht, was die sogenannte Tekknik betrifft. Er...« »Der Häuptling will sagen, dass ihr, die ihr euch Retrologen nennt, den Zorn der Götter herauf beschwört.« Ein hagerer Mann, in einen grob gewebten Kuttenmantel gehüllt, trat aus dem Schatten hinter dem hölzernen Thron des Calciatores. Sein Gesichtsausdruck wirkte verschlossen, feindselig. Die Augen blickten starr auf Meister Cravelli hinab. Er stank erbärmlich nach jenem tranigen Fett, mit dem er sich rituell jeden Tag das schüttere Haupthaar einschmierte. Juuna! Der Bewahrer. Der Hinderer jeden Fortschritts. Der Gejagudoo an der Seite des Häuptlings. Mit listiger Zunge umschmeichelte er den Calciatore ein ums andere Mal, hetzte ihn auf oder beschwichtigte ihn dort, wo er es für notwendig hielt. Der Häuptling war schwach geworden; dies war ein offenes Geheimnis. Vor mehr als vier Jahren, als er sich im Kampf um die Festung Jacobos hervorgetan hatte, war er beliebt gewesen und auf den Thron gehievt worden. Doch zu viel gegorener Brabeelensaft und Bier, zu viel Fett, Selbstzufriedenheit und ganze Heerscharen von willigen Weibern hatten ihn weich werden lassen. Der stetig gestiegene Einfluss Juunas hatte das seinige beigetragen, dass er sich heute als vollgefressener Jammerlappen ohne viel Willenskraft präsentierte. Doch es half nichts. Meister Cravelli musste den Calciatore 41
überzeugen. Dies war die Chance, den Bewohnern Sansiiros die Wichtigkeit der Retrologie endgültig zu beweisen. »Höre nicht auf Juuna, Herr! Alle Dorfbewohner, die Augen im Kopf haben, können bezeugen, dass meine Akuvolt-Geräte den Feind in die Flucht schlugen.« »Zu schade, dass der Calciatore gerade in diesen Stunden seinen wohlverdienten Erholungsschlaf abhielt, nicht wahr?«, höhnte Juuna. »Soll der Häuptling denn Wert auf Berichte geben, die vom gemeinen Volk ausgehen, womöglich von Kindern – oder gar von Frauen?« Es war ein seltsames Zwiegespräch. Beide blickten sie aneinander vorbei und konzentrierten sich vielmehr auf den Häuptling, der träge nachzudenken schien. »Auch die tapferen Krieger, die Besten der Besten vor der Hütte des Calciatores konnten miterleben, wie die Waffen der Retrologen den Gegner verjagten, nicht wahr?« Cravelli blickte auf die vierköpfige Ehrengarde des Häuptlings; verlauste und zersauste Kamauler-Hirten, die sich auf krumme Speere stützten. Das Unbehagen war den Männern anzusehen. Sie kamen ihrer turnusmäßigen Pflicht ohnehin nur widerwillig nach. Viel lieber wären sie bei ihren Herden gewesen oder hätten ihren Weibern auf den Feldern geholfen. Vor allem jetzt, da sie zwischen die Fronten zu geraten schienen. »Nun«, sagte Juuna bedächtig, als würde er große Gedanken wälzen, »ich will gar nicht abstreiten, dass Meister Cravelli diesen sogenannten Pansser mit seinen Geräten verjagt haben könnte.« Er begann im Halbdunkel des Raumes auf und ab zu gehen, mit der einen Hand nachdenklich über das Kinn schabend. »Entscheidend ist aber, mit welchen Mitteln er arbeitet. Bei allem Wohlwollen für die hehren Ziele der Retrologen« – Juuna grinste boshaft – »dürfen wir nicht außer Augen lassen, dass er bei seiner Arbeit unheilige Magie verwendet.« 42
»Akuvolt ist keinesfalls unheilig«, warf Cravelli zornig ein. »Es treibt die macchinas der Alten an, und ich bin überzeugt davon, dass wir enorm profitieren könnten, wenn der Ring der Dörfer die Retrologen intensiv in den Ruinen Millans forschen lassen würde.« Viele der Männer und Frauen des engsten Beraterkreises des Caltiatores stöhnten auf. Manch einer zischte entsetzt oder schlug mit den Händen seltsame Zeichen in die Luft. Nun war es heraus! Lange hatte der Meister den Wunsch, der ihm schon so lange auf der Zunge brannte, bei sich behalten können. Cravelli verwünschte sich und sein vorlautes Mundwerk. Schuld war selbstverständlich Angeloo, der gebückt neben ihm stand und ihn nicht rechtzeitig gebremst hatte. Das würde er büßen müssen, dieser Nichtsnutz! »Du willst also in Millan forschen?« Triumph loderte in Juunas Augen, als er weiter redete. »In der Stadt, die vor mehr als vier Jahren großteils einem reinigenden Feuer zum Opfer fiel? Nachdem dieser Wahnsinnige namens Jacobo mit Hilfe der Nosfera eine Schreckensherrschaft errichtet hatte, die mehr als der Hälfte der Bürgerschaft unserer Dörfer das Leben gekostet hat? Meister Cravelli, ich zweifle an deinem Verstand! Das ist, ich muss es erschüttert aussprechen, schwerste Blasphemie. Die Relikte, die dort lagern, sind dunkelstes Akuvolt!« Juuna hatte den letzten Satz geschrien. Die versammelten Männer waren allesamt aufgesprungen und sandten wütende Drohgebärden und Flüche in Cravellis Richtung. Offene Ablehnung schlug ihm und Angeloo entgegen. »Schwarzes Akuvolt ist es, jawohl!«, setzte der Bewahrer fort. »Nicht nur, dass es einstmals die Städte der Alten zerstört hat. Denkt an die mündlichen Überlieferungen, die vom sorglosen und unwürdigen Leben künden. Erinnert euch an die Geschichten über das Rote Montsaa-Treiben, an die Zeichen 43
des verfluchten springenden Cavaalo, die man noch heute mancherorts sehen kann. Kennt ihr noch die Erzählungen von der Hölle von Sansiiro! Von den fürchterlichen Tifoosi, die unsere Stadt dazumal unsicher machten? Haben wir denn all diese Schrecken vergessen, die uns die Altvorderen nahe brachten? Die Festivals kranken Lichts, die Exzesse Voltas, jene widerwärtige Krankheit namens Berlusconia? Waren es nicht diese Dekadenzen, die Kristofluu heraufbeschworen, sodass sich der Zorn der Götter über die Häupter der Alten ergoss? War es nicht Schwarzes Akuvolt, das Jacobo in die Stadt brachte und den Nosfera als Geschenk übergab? Die widerwärtig stinkenden, knatternden Baiiks und seine unheimliche Waffe, die mit grellen Blitzen tötete? Es war gut und rechtens, sage ich euch, all diese fremden Dinge in den Ruinen Millans dem Vergessen zu überantworten und einen gewaltigen Zaun als Mahnmal, als Warnung zu errichten. Nie wieder, so schworen wir damals, wollten wir mit den ketzerischen Gerätschaften zu tun haben.« Juuna schnaufte verächtlich. »Doch bald kamen Menschen, die sich heutzutage Retrologen nennen, aus ihren Löchern und Häusern gekrochen. Sie wurden und werden von der alten Stadt angelockt wie Fleggen vom Dung, und sie sind zu schwach, um dem Bösen zu widerstehen. Ihre Namen mögen heute anders klingen als dazumal, doch ihr Ziel ist dasselbe geblieben: die Beherrschung dessen, was nicht zu beherrschen ist. Denn Akuvolt ist böse, Akuvolt ist schwarz!« »Schluss jetzt, Juuna!«, donnerte der Häuptling plötzlich. Er trank aus seinem riesigen Humpen und winkte mit der Hand. »Du vergisst dich. Erinnere dich, dass ich selbst dabei war, als die Festung des Blutes erobert wurde. Wir kennen deinen Standpunkt nun zur Genüge. Jetzt lass gefälligst den Meister ausreden.« Wütend schwang der Bewahrer herum und wollte eine heftige Entgegnung anbringen. Dann besann er sich auf seine 44
Rolle. »Ihr seid der Häuptling«, murmelte Juuna und zog sich langsam in die Dunkelheit hinter dem Thron zurück. Nur sein nahezu kahles Haupt, die scharf geschnittene Nase und der dünne Mund blieben im Licht sichtbar. Der Häuptling mochte schwach sein, doch er bemühte sich um Gerechtigkeit. Er gab Cravelli eine Chance. »Calciatore«, fing der Meister behutsam an, »ihr wart selbst Zeuge und Beteiligter, als jener Mann namens Maddrax die Festung des Blutes stürmte. Ihr wart doch an seiner Seite, habt euch tapfer geschlagen und die entarteten Nosfera des Jacobo getötet, wo immer sie sich versteckten!« Der Häuptling nickte. Zaghaft zuerst, dann immer bestimmter. Es war, als ob er sich allmählich an jene Heldentaten erinnerte, die er damals vollbracht hatte. »Habt ihr nicht ebenfalls Akuvolt-Waffen verwendet?«, setzte Cravelli fort. »Ist nicht Maddrax selbst auf einem Baiik gefahren? Hat er nicht das Böse damit bekämpft? Ist es denn möglich, dass angeblich Schwarzes Akuvolt auch zum Guten verwendet werden kann? Oder ist es gar der Benutzer, der darüber entscheidet, wie Akuvolt eingesetzt wird?« Der Calciatore legte nachdenklich den Kopf schief. »Da magst du Recht haben, Meister Cravelli, ich achte deine Ansicht.« Dann seufzte er. »Aber mein treuer Diener Juuna weiß ebenfalls, wovon er redet. Alleine die Versuchung ist es, die den Keim des Bösen in sich trägt. Sollten wir die Dinge aus einer längst vergangenen Zeit nicht vergessen? Aus unseren Köpfen verbannen. Damit wir uns endlich auf unsere eigenen Stärken besinnen können.« »Aber was ist mit den Angreifern, die ich heute in die Flucht schlagen konnte?«, fragte Cravelli verzweifelt. »Was, wenn sie wiederkommen? Oder wenn dies nur die Vorhut eines eroberungswütigen Gegners war? Ich weiß aus alten Bildern, dass dieser Pansser unglaublich mächtige Waffen besitzt und nur mit Akuvolts Hilfe besiegt werden kann.« 45
»Wir haben die Festung des Blutes und einen Feind, der um so viel stärker schien, letztendlich mit der Kraft unseres Willens besiegt. Es waren nicht die Waffen, die den Ausschlag gaben. Es waren die Arme, die sie führten. Und so werden wir auch wieder siegen«, sagte der Calciatore. Er blickte fragend zu Juuna, und der nickte zufrieden. Der Häuptling hatte sich entschieden. Luigi Cravelli resignierte. Er ließ den Kopf gesenkt, als er langsam rückwärts schritt und Angeloo mit sich zog. Er wollte dem Bewahrer nicht in die Augen sehen müssen. Der Calciatore und dieser selbstsüchtige Verräter würden Sansiiro und den Ring der Dörfer in den Untergang treiben. Wenn nicht heute, dann morgen. »Sie kommen, Calciatore! Schlagt Alarm!«, rief eine brüchige Stimme von draußen, und gleich darauf taumelte eine zerfetzte, zerlumpte Gestalt in die Hütte. Saandro! Der junge Lehrling des Zeremonienmeisters von Sansiiro. Er war verdreckt, kaum zu erkennen unter all den Blättern, Erdklumpen und Schlammbatzen, die an ihm klebten. Und er stank fürchterlich. »Ruhe!«, hallte die volle Stimme des Häuptlings durch den Raum. »Wer kommt, Mann? Und warum schlägst du Alarm?« Ein junges Mädchen reichte Saandro einen Becher reinen Wassers. Der stürzte das Nass gierig hinab, goss sich einen zweiten Schöpfer über sein geschwollenes und gerötetes Gesicht und antwortete erst dann stockend: »Kriegstatter! Sie sind auf dem Weg hierher! Ich konnte sie beobachten, zwei Tagesmärsche von hier, als sie die Berge beim alten Pass überquerten.« Der Calciatore war bleich geworden, und wie von unsichtbaren Fäden gezogen stand er auf. »Hatten sie... hatten sie Doggars bei sich?« Saandro hustete und griff dankbar nach einem Stofftuch, mit dem er sich die Schlammkruste aus dem Gesicht wischte. »Um 46
die hundert müssen es sein«, sagte er leise. »Ich habe noch nie so viele dieser Bestien auf einem Haufen gesehen.« Einhundert Doggars! Luigi Cravellis Geist konnte mit dieser ungeheuren Zahl einfach nichts mehr anfangen. Eine einzige dieser Bestie, die von Zeit zu Zeit aus den Bergen ins Tiefland kam und entlegene Gehöfte heimsuchte, war im Normalfall ein gefährlicher Gegner für ein Dutzend erfahrener Jäger und Krieger. Wie, bei Wudan, sollten sie mit einer derartig großen Rotte fertig werden? Dazu kamen noch die Kriegstatter. Die Menschen Sansiiros kannten diese kompromisslosen Handelskrieger aus den Bergen nicht nur vom Hörensagen. Normalerweise scherten sich die wilden Männer nicht um kleine Dörfer und Ansiedlungen. Sie suchten die Städte, um ihre Waffenarme und Dienste an den Meistbietenden zu verkaufen. Nur ab und zu, wenn sie Nahrung oder Vergnügen suchten, fielen sie über die Dörfer der Ebene her. »Bist du sicher, dass sie hierher kommen werden?«, fragte Juuna, nachdem sich der ärgste Lärm gelegt hatte. Er stand nach wie vor tief im Schatten. Nur das dürre Rascheln seiner Stimme war zu hören. »Ich konnte die Pläne ihres Anführers erlauschen«, sagte Saandro und blickte sich suchend um. Er sah den Bewahrer nicht und fühlte sich sichtlich unwohl dabei. »Sie wollen die alte Festung Millans niederreißen und alle dort gelagerten Relikte an sich bringen.« »Dann ist es gut!«, zischte Juuna. »So werden wir das Böse los, ohne uns weiter darum kümmern zu müssen.« Er trat hervor, schlich um den Häuptling herum. »Calciatore, wir sollten sie gewähren lassen. Wir sollten uns für den Notfall rüsten, aber keinesfalls eine drohende Position beziehen, findest du nicht? Ich denke, es ist in deinem Sinn, wenn ich die notwendigen Maßnahmen treffe. Ich lasse einige wenige Waffen verteilen und die kampffähigen Männer alarmieren. 47
Das sollte reichen.« »Du verstehst nicht, Bewahrer«, mischte sich Saandro ein. »Du willst an meinem Verstand zweifeln, Unwürdiger?«, fragte Juuna und deutete mit spitzem Finger auf den jungen Mann. »Achte auf deine Worte, sonst erstickst du daran!« Saandro schluckte. Man sah ihm an, dass er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, um dem Bewahrer zu widersprechen: »Ich kenne die Doggars! Sie sind nicht zu halten, wenn sie einmal Blut und Fleisch gerochen haben, auch nicht von ihren Hütern. Ich glaube auch nicht, dass die Kriegstatter vorhaben, ihre Tiere daran zu hindern, über die Dörfer herzufallen. Ich selbst bin einer dieser Bestie nur um Haaresbreite entkommen.« »Wie willst du das geschafft haben?«, fragte Juuna misstrauisch. »Einem Monstrum, größer als ein Mensch, das ungleich ausdauernder und kräftiger ist, willst du davongelaufen sein?« Saandro schob trotzig den Unterkiefer nach vorn. »Bei der Ehre Meazzas schwöre ich, dass ich die Wahrheit sage. Ich flüchtete vor dem Doggar in den Schatten des Palisadenzauns, der Millan umgibt. Ich konnte mich in eine der großen Röhren retten, die schmutziges Wasser aus der alten Stadt leiten. Ich glaubte mich bereits in Sicherheit, als eine Snäkke in der Öffnung hinter mir auftauchte. Sie war jung, noch nicht ausgewachsen, doch sie hätte mich verschlungen, wenn nicht...« »Ja? Wenn nicht was?« Es war ruhig geworden. Saandro hatte einen heiligen Schwur geleistet, der ungleich schrecklicher als alle anderen war. Hätte er gelogen, wäre er auf der Stelle von einem schwarzen Blitz geröstet worden, dessen war sich Meister Cravelli sicher. Er war ein aufgeklärter Mann seiner Zeit, ein Retrologe – doch kein Mensch forderte das Schicksal in Form von Meazza, der düsteren Dorfgottheit, ungestraft heraus. 48
»... wenn sich Snäkke und Doggar nicht gegenseitig zerfleischt hätten«, vollendete Saandro endlich den Satz. »Ich hatte keine Muße zu beobachten, wer schließlich als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorging. Ich bin auf schnellstem Wege hierher gelaufen, um euch zu warnen. Uns bleiben vielleicht noch zwölf Stunden, um uns auf den Angriff der Kriegstatter vorzubereiten...« Seine Beine knickten weg. Er fiel kraftlos zu Boden. Die Strapazen mussten ungeheuer gewesen sein. »Häuptling«, sagte Luigi Cravelli laut, bevor der zu erwartende Wirbel ausbrach, »ich würde es für vernünftig halten, unter diesen Umständen alle Möglichkeiten zur Verteidigung auszuschöpfen. Erlaube mir und meinen Kollegen im Ring der Dörfer, uns mit Akuvolt-Waffen auf den Ansturm der Kriegstatter vorzubereiten.« »Nein!«, schrie Juuna außer sich vor Wut. »Dies ist nur eine weitere Versuchung der Götter! Seht ihr denn nicht, dass sie uns prüfen wollen? Orguudoo und Wudan schicken die schrecklichen macchinas aus der Vergangenheit und gleichzeitig die wilden Männer aus den Bergen. Warum wohl? Sie möchten unsere Standhaftigkeit gegenüber der verlockenden Magie des schwarzen Akuvolt testen. Hört auf mich, Herr! Wir müssen aufrecht bleiben. Wir müssen...« »Wie hätte Maddrax reagiert, Calciatore?«, unterbrach Cravelli mit sanfter Stimme die Litanei des Bewahrers. »Hätte er nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Und ihr, der stolze Krieger an seiner Seite, hättet ihr nicht ebenso, wie damals in der Festung des Blutes, mit allen Mitteln gegen das Böse gekämpft?« »Ich weiß es nicht«, seufzte der Häuptling unsicher und ließ sich schwer auf seinen Thron zurückfallen. »Bringt dem Häuptling mehr Wein, damit er seine Entscheidungsfreudigkeit wiederfindet«, forderte Juuna. »Nein! Kein Wein mehr!« Luigi Cravelli fand keine Zeit, 49
sich über seinen Mut zu wundern; er sprach einfach weiter: »Wir brauchen einen nüchternen Calciatore, der die richtigen Entscheidungen treffen kann – und uns im Kampf anführen wird!« Da und dort war zustimmendes Gemurmel zu hören, und der Meister fuhr mit immer lauter werdender Stimme fort: »Dies ist die wahre Stunde der Bewährung für uns! Wir benötigen einen Helden, Calciatore! Einen wahren Helden!« Hochrufe wurden laut, und die plumpe Gestalt des Häuptlings straffte sich unter dem aufputschenden, rhythmischen Geklatsche der Männer. »Du hast Recht, Meister Cravelli!«, sagte er schließlich und schien selbst an die Worte zu glauben. »Warnt die anderen Dörfer, versammelt alle Retrologen und überlegt euch die Verteidigungsmaßnahmen. Du, Bewahrer, wirst mit deinen Gefolgsleuten ebenfalls alles Notwendige tun, damit den Kriegstattern ein heißer Empfang bereitet wird. Dies ist ein Befehl!« Juuna nickte widerwillig und zog sich erneut in den Schatten zurück. Der Calciatore hingegen riss unter dem Jubel der Anwesenden sein schartiges, rostiges Schwert aus der Scheide und hielt es wie zum feierlichen Schwur erhoben Richtung Dach. Lautes, enthusiastisches Gebrüll verfolgte Luigi Cravelli, als er den Versammlungsort verließ. »Ein wenig Pathos, die Erinnerungen an vergangene, bessere Tage, und die Menschen folgen einem wie gut dressierte Andronen«, murmelte er. Seine gute Laune nahm trotz der dunklen Bedrohung zu. Er würde für dieses Mal sogar darauf verzichten, Angeloo zu bestrafen. Der Meister konnte nicht mehr sehen, dass sich Juuna, der Bewahrer, wenig später verschlagen grinsend aus dem Versammlungsraum schlich. * 50
»Mächtig unbequem, das Zeugs«, murmelte Matt und kratzte sich am Hals. Er hatte einen langen weiten Mantel aus grobem Leinen von der Wäscheleine eines einsamen Gehöftes genommen. Er würde ihn auf dem Rückweg wieder hier deponieren. Helle Haare waren selten in dieser Gegend und würden schon genügend Aufsehen erregen. Doch die olivgrüne Uniform aus Spinnenseide, die er trug – ein Geschenk der Community London, das an seine alte Air-Force-Kluft erinnerte, dabei aber leichter und bequemer geschnitten war –, würde den Dörflern endgültig verraten, dass er nicht aus der Lombardia stammte. Matt musterte den Zugang zur kleinen Ansiedlung. Er war nur mäßig geschützt. Ein niedriger Erdwall umgab das Dorf in einem halbherzigen Versuch, Wehrhaftigkeit zu demonstrieren. Da und dort unterbrachen strohgedeckte Häuser die Aufschüttung und bildeten einen Teil der Außenfront. Ein paar angespitzte, kaum zwei Meter hohe Palisadenbündel längs der Dorfstraße wirkten wie Spielzeug. Zwei wackelige Wachttürme hätten einen erfahrenen Krieger zum Lachen gebracht. »Kann ich den Verband abnehmen, bevor wir das Dorf betreten?«, fragte Matt. Die klebrigen Heilblätter über dem rechten Auge störten ihn. »Lass mal sehen.« Aruula lupfte das Blatt über der Wunde, zog es dann vorsichtig ab und musterte die Stirn mit prüfendem Blick. »Es ist gut«, sagte sie nüchtern. Mit ein wenig Wasser aus einem kleinen Trinksack wischte sie die Reste des mittlerweile getrockneten Pflanzensuds beiseite. »Wird eine Narbe bleiben?«, fragte Matt. »Narbe? Das war doch bloß eine kleine Platzwunde. Es ist kaum mehr was zu sehen.« Ein kleiner Weiher lag direkt neben dem Weg, der zum Dorf 51
führte. Schlanke Lischetten brummten lautstark über die Oberfläche. Sie ergriffen die Flucht, als Matt das Schilf beiseite bog und auf die Spiegelung des Wassers hinab blickte. Tatsächlich! Matt betastete die Stelle, wo sich die Narbe befinden sollte. Aber dort war... nichts! Die Haut war sauber verwachsen. »Das ist Zauberei!«, sagte er verblüfft. »Freut mich, dieses Wort aus deinem Mund zu hören«, entgegnete Aruula und lächelte verschmitzt. »Doch es hat nichts mit Wudans Willen zu tun. Dieses Pflanzenheilmittel ist von alters her bekannt. Die Kumaama-Pflanze, gemischt mit Brabeelenfleisch und etwas Spucke, kuriert Wunden in wenigen Stunden.« Sie sah Matt streng an. »Du musst dich allerdings bei den Göttern bedanken, sonst...« »... sonst was?« »... sonst fallen dir binnen weniger Tage alle Haare aus.« Instinktiv fuhr sich Matt über seinen Blondschopf und grinste innerlich. »Na, das will ich nicht riskieren.« Er hob den Kopf zum Himmel. »Dank dir, Wudan – für die rasche Genesung und meine tadellose Frisur!« Dann, bevor Aruula gegen den flapsigen Ton protestieren konnte, beugte er sich vor und küsste sie. Aruula blickte ihn anfänglich überrascht an, erwiderte dann aber nur allzu bereitwillig seine Zärtlichkeiten. »Danke«, sagte er. »Wofür, Maddrax?« Ihre Augen schienen zu leuchten. »Dafür, dass du mir ab und an den Kopf zurecht rückst. Und mich mit deinen Fähigkeiten immer wieder überraschst.« Der zweite Kuss war länger und noch heftiger, und wäre er nicht vom Johlen einer Horde Kinder begleitet gewesen, die vor dem Erdwall spielten und sie beobachteten, wer weiß... *
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Keiner kümmerte sich um sie, als sie das Dorf betraten. Leicht bewaffnete Wächter hielten auf kleinen Wehren Ausschau. Sie ignorierten Aruula und Matt völlig, als passten sie nicht in das Suchmuster der Männer. Matt schloss aus ihrem Verhalten, dass sich die Dörfler auf die Ankunft eines bestimmten Gegners vorbereiteten. Dazu passte auch die helle Aufregung, die im Dorf herrschte. Schwerter, Äxte und Lanzen wurden verteilt, Boten eilten umher. Ein Schamane war in Trance gefallen und lag flach der Straße. Er stammelte kaum verständliche Worte und schlug den kahlen Kopf immer wieder in den fest gepressten Lehm. Hektische Kommandos schallten über den einzig größeren Platz, in dessen Mitte sich ein Brunnen befand, aus dem eifrig Wasser geschöpft wurde. Kinder, für die alles nur ein aufregendes Abenteuer zu sein schien, fochten mit Holzschwertern gegeneinander. »Macht Platz!«, schrie ein beleibter Mann und peitschte zwei pferdeähnliche Kreaturen vor sich her. Sie waren kleinwüchsig, wirkten aber zäh. Wahrscheinlich stammten sie von den in den Alpen lange Zeit als Arbeitstiere gebräuchlichen Haflingern ab. Doch ihre Schädel waren größer und seltsam verwachsen; zwei lange, vorstehende Reißzähne kennzeichneten sie als Fleischfresser. Aruula sprang zur Seite. Sie zeigte Respekt vor den beiden bulligen Tieren. Matt folgte ihr rasch. Auf den Instinkt der Kriegerin war Verlass. Das Gespann zog weitere Palisadenhölzer hinter sich her. Sie waren hastig geschlagen worden, man erkannte es an der groben Bearbeitung. Galten diese Vorbereitungen etwa ihnen? Hatte das Erscheinen des EWATs eine derartige Hysterie ausgelöst? »Das passt nicht zusammen«, murmelte Matt. »Die Menschen hier bewaffnen sich mit Schwertern, Mistgabeln und 53
Lanzen. Vor wenigen Stunden hingegen haben sie uns mit HiTech-Waffen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert beschossen.« »Du hast Recht«, stimmte Aruula zu. »Irgendetwas ist hier faul. Wir müssen herausfinden, was.« Und damit zog sie Matt mit sich in eine kleine Seitengasse. Es war dies nur ein zwei Schultern breiter Verbindungssteg zwischen größeren Straßen, der von der Bevölkerung, wie man unschwer riechen konnte, großteils zur Entsorgung aller möglichen Abfälle verwendet wurde. Das Zielobjekt von Aruulas schnell gefasstem Plan kam heran getorkelt: ein einzelner Mann, eigentlich noch ein Jüngling. Er trug ein Reisigbündel auf den Schultern und quetschte sich fluchend durch die schmale Gasse. Aruula stellte sich dem Entgegenkommenden in den Weg. »Comdo? Wie geht's!«, fragte sie in der Sprache der Wandernden Völker. »Meerdu!«, antwortete der Jüngling: »Beschissen!« Er sagte dies, ohne aus seiner gebeugten Haltung hochzusehen, und spuckte achtlos vor der Barbarin aus. Er wollte sich an ihr vorbei drängen, doch dann gerieten sein Blick an Aruula nackten Oberschenkel, verfing sich dort und wanderte ganz langsam nach oben. Als er die beiden gewichtigen Argumenten für einen Zwischenstopp erreichte, hing längst ein dümmliches Grinsen auf dem Gesicht des Jünglings. Es schien fast so, als wolle er den Reisig Reisig sein lassen und die Hände begierig nach Aruula ausstrecken. Doch die musste lediglich kurz auf das Schwert an ihrer Hüfte klopfen, und schon war die notwendige Distanz wieder hergestellt. »Como si nomoo?«, fragte sie ihn um den Namen, und binnen weniger Minuten hatte sie alles, was sie hören wollte, von Angeloo erfahren. * 54
Das Reisigbündel war kurzerhand – und mit sichtlicher Erleichterung – in der dunklen Gasse gelandet. Angeloo brachte sie schnurstracks zur Hütte seines Meisters. Aruulas Überzeugungskraft war in manchen Situation einfach unbezahlbar. »Retrologen sind Menschen, die sich mit den Überbleibseln der Menschen vor Kristofluu beschäftigen«, fasste Aruula ihren bisherigen Kenntnisstand zusammen. Matt nickte. »Ich hab 's gehört. Die Frisbees, die den EWAT beschädigt haben, stammen vom Meister dieses Jungen. Er sah eine Bedrohung in uns, weil er Filme über Panzer in einem Lesegerät gesehen hatte. Das muss ich Selina durchgeben. Wartet bitte dort vorne auf mich.« Matt blieb stehen und suchte sich eine ruhige Ecke. Im Schatten eines Strohdachs hockte er sich nieder, als ob er etwas am Boden suchen würde. Die Dorfbewohner hasteten an ihm vorbei, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Die einsetzende Dämmerung tat ihr Übriges; niemand sah, dass er sein Funkgerät aktivierte. »Selina, können Sie mich hören?«, fragte er leise. Wenige Sekunden vergingen. Dann: »Laut und deutlich, Commander. Also sind Sie noch nicht weiter als fünf Kilometer entfernt.« Das war die übliche Begrenzung aufgrund der CFStrahlung, die seit dem Absturz des Kometen längere Funkstrecken unmöglich machte. »Ich schätze eher, es sind acht Kilometer«, entgegnete Matt. »Die Strahlung scheint hier nicht allzu hoch zu sein. Wie gehen die Arbeiten voran?« »Schleppend. Dass es jetzt dunkel wird, ist auch nicht gerade hilfreich.« »Passen Sie auf, Selina...« Mit kurzen Worten gab Matt seinen Wissensstand weiter. Dann deaktivierte er das 55
Funkgerät wieder und kehrte zu der ungeduldig wartenden Aruula zurück. Der Junge redete pausenlos auf sie ein, informierte sie über den hiesigen Dorfklatsch und wollte ihr soeben einen sogenannten »Akuvolt-Schneebesen« aufschwatzen. »Weiter geht's, Angeloo«, sagte die Barbarin, nachdem ihr Matt knapp zugenickt hatte. Sie klatschte ihm mit der flachen Hand kräftig auf den Rücken. Der Junge sah sie begeistert an und würde sich wohl dieses Jahr an dieser Stelle nicht mehr waschen. Wenn er das überhaupt schon einmal getan hatte. Der große Platz, das Zentrum des Dorfes, lag längst hinter ihnen. Sie gingen eine der breiteren Seitengassen entlang, als sich plötzlich ein monumental hässliches Gebäude aus dem Zwielicht der untergehenden Sonne in ihr Gesichtsfeld schob. »Das hat Meister Luigi Cravelli alles mit eigenen Händen gebaut«, sagte Angeloo begeistert. »Ein Meisterwerk, findet ihr nicht?« Matt nickte und schluckte dabei. Statiker, Zivilingenieure, Architekten und Straßenbaubeamte hätten den Erbauer dieses... dieses Monstrums gevierteilt und anschließend gehäckselt. Es war ein Wunder, dass die Ansammlung aus wertlosem Plunder, Schrott, vermoderten Reifen, schiefen Wellblechwänden und vielerlei unidentifizierbaren Gegenständen nicht augenblicklich aus Protest in sich zusammenbrach. Zu allem Unglück thronte auf dem Flachdach, das zudem eine ungeheure Schieflage aufwies, der oberste Teil eines Baukrans samt Kabine, wahrscheinlich eine Tonne schwer oder mehr. Nicht für alles Geld dieser Welt würde er dieses Haus betreten. »Meister!«, rief Angeloo und öffnete die Eingangstüre. Es handelte sich um die seitlich festgeschraubte Heckklappe eines Kombiautos. »Autsch! Musst du mich so erschrecken? Verdammt, ich 56
brenne! Jetzt lösch mich doch endlich!«, hallte ihnen eine zornige, unwillige Stimme entgegen. Wasser wurde geschüttet, dann war kurze Zeit Ruhe. Schließlich: »Was willst du, Mörder meiner Würde? Hatte ich dir nicht Auftrag erteilt...« »Es sind Fremde in der Stadt, Meister! Ein Pilger aus dem Norden, ebenfalls ein Retrologe, mit seinem Weib!« Matt und Aruula hatten sich rasch eine Erklärung für Matts Aussehen und Akzent zurechtgezimmert. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Zumal sie kaum ohne langwierige Erklärung glaubhaft machen konnten, dass sie in dem fliegenden Pansser gesessen hatten und dennoch in Frieden kämen. Cravelli würde um einiges umgänglicher sein, wenn er sozusagen von Kollege zu Kollege sprach. Ein älterer Mann mit finsterem Gesicht und wachen Augen trat aus dem abenteuerlichen Gebäude. Fackeln wurden soeben entzündet und warfen wilde Schatten in das etwas missmutig wirkende Gesicht. Er besaß eine durchaus imposante Gestalt – wenn nur nicht der angekokelte weiße Bart gewesen wäre... »Meister Cravelli?«, begann Matt und verbeugte sich knapp. »Ich bin...« »Maddrax, mein Freund!«, ertönte eine dröhnende Stimme schräg hinter ihnen. »Und die schöne Aruula, zweifelsfrei an ihren Körperzeichnungen erkennbar! Lasst euch umarmen!« Alles im Dorf schien den Atem anzuhalten; alle Köpfe wandten sich ihnen zu. Ein Koloss von einem Mann, ein wahrer Fettklops, kam wie eine Dampfwalze auf Matt und seine Begleiterin zu und nahm sie zugleich in seine unförmigen Arme. Matt kam das Gesicht des Dicken bekannt vor, doch er wusste nicht, wo er es einordnen sollte. »Sag bloß, du erkennst mich nicht, Mann?«, redete der Dicke weiter, ohne seine gute Laune zu verlieren. »Ich bin's – Gholan!« Gholan! Langsam schälte sich die Erinnerung an einen 57
schlanken jungen Mann aus Matts Unterbewusstsein. Gholan, der Sklavenhändler aus Suizza, der mitgeholfen hatte, die Nosfera-Festung Jacob Smythes' zu stürmen. Ihre Wege hatten sich kurz danach wieder getrennt, und Matt hatte keinen Gedanken mehr an den Jüngling verloren, der einem seiner Meinung nach äußerst zweifelhaftem Beruf nachging. »Ich erinnere mich«, sagte er zögernd. »Aber der Gholan, den ich kannte, benötigte weitaus weniger Stoff für seine Hosen.« Der Mann lachte. »Da magst du Recht haben – aber als Calciatore ist man geradezu verpflichtet, repräsentativ auszusehen.« Vergnügt und sichtlich ohne schlechtes Gewissen rieb er sich über die enorme Wampe. »Calciatore?«, fragte Matt. »Erster Mann im Dorfe, Häuptling, Capodicapo oder wie auch immer du mich nennen willst. Nach dem Ende Jacobos war es ein Leichtes, den erworbenen Ruhm in eine angesehene Stellung umzumünzen. Die Bewohner Sansiiros haben mich mit offenen Armen empfangen.« Gholan drehte sich zu Cravelli um, der demütig und doch auch ein wenig ungeduldig neben ihnen wartete. »Meister Cravelli, Ihr entschuldigt, wenn ich Euch Eure Besucher kurzerhand entführe, doch Maddrax, Aruula und ich müssen unser Wiedersehen bei ein paar Humpen Wein feiern. Beschäftigt Ihr Euch mittlerweile mit den Verteidigungsmaßnahmen.« »Wenn wirklich Kriegstatter mit Doggars auf dem Weg hierher sind – solltest du dich nicht selbst um das Dorf kümmern?« , fragte Matt, während ihn der Fette mit sich zog. »Ach was! Bei meinem starken Waffenarm und der Hilfe zweier Kämpfer namens Maddrax und Aruula hätten nicht einmal die Kohorten Orguudoos eine Chance.« »Versündige dich nicht an den Göttern, Sklavenhalter«, sagte Aruula unwirsch und schob den Arm des Dicken von ihrer Schulter. 58
Matt verstand den Unmut seiner Begleiterin. Sie war lange genug in Sklaverei gewesen, um unbändigen Zorn auf all jene zu empfinden, die ihr Geld auf diese menschenverachtende Art verdienten. Die Erlebnisse vor vier Jahren an der Südküste Englands waren etwas, das sie wohl beide nie mehr vergessen würden. Gholan ließ sich seine gute Laune nicht verderben. Er schob Matt und Aruula weiter, vorbei an einem unglaublichen Warenlager an der Rückseite von Meister Cravellis Behausung. Gerüste mit Dutzenden von Flutlichtscheinwerfern lagerten dort, riesige Lautsprecher auf hölzernen Kufen, verrottete Generatoren und Teile davon sowie drei in unglaublichem Pink gefärbte Geländewagen amerikanischer Fertigung. Sie ruhten auf Plastiflex-Reifen, die die fünfhundert Jahre mehr oder weniger intakt überstanden hatten. Im Heck der Fahrzeuge standen überdimensionale Akkumulatoren. Konnte es sein, dass dieser Retrologe und seine Helfer aus Abfällen funktionstüchtige Fahrzeuge gebastelt hatten? »Seht her, ihr Leute!«, rief Gholan ein ums andere Mal, »dies hier ist Maddrax; jener Mann, mit dessen Hilfe ich die Festung des Blutes von den Nosfera und Jacobo dem Unheimlichen gereinigt habe. Die Götter sind mit uns, sage ich euch; sollen die Kriegstatter nur kommen! Wir werden sie in die Flucht schlagen!« Leiser Jubel klang da und dort auf, und man winkte ihnen freundlich zu. Matt fühlte sich nicht wohl dabei. Einmal mehr wurde er in eine Erwartungshaltung gedrängt, die er möglicherweise nicht erfüllen konnte. Er sah aber auch die verächtlichen Blicke, die den Calciatore trafen. Gholan war nicht nur fett geworden, sondern auch blind. Man vertraute ihm nicht mehr. Der Bonus vergangener Heldentaten war aufgebraucht, und ein Häuptling, der außer Saufen und Fressen nichts im Kopf hatte, genoss in 59
den seltensten Fällen die Achtung seiner Untertanen. »Kommt herein in meine bescheidene Stube!«, rief der Calciatore und drängte sie vor sich in das größte Haus am Platz. »Bier, Brot und Fleisch für meine Freunde!«, rief er in Richtung eines mürrisch dreinblickenden Mädchens. »Es gibt einen Grund zum Feiern.« »Bei dir gibt es wohl immer Grund zum Feiern?«, fragte Aruula verächtlich. »Du solltest bei deinen Männern stehen, an den Palisaden, und sie befehligen.« »Ach was! Der Feind ist noch weit entfernt. Die Kriegstatter werden heute nicht mehr auftauchen. Jetzt wollen wir uns vergnügen – das ist ein Befehl!« * Überall war Feuer, alles brannte. Es roch nach schwärendem Fleisch. Seine Brüder stießen schrille Schreie aus, während er durch die Gänge hastete. Weg, nur weg von diesem Ort, durch die Kanäle, über Berge von Exkrementen und Abfällen, schließlich hinab in die Tiefen der Stadt, bis das Geschrei hinter ihm zurück blieb... Er hatte alles verloren, alles. Doch er schwor sich, dass er zurückkommen würde, eines Tages, um schreckliche Rache an jenen zu üben, die ihm seine Existenz gestohlen hatten. »Wach auf, Klappergestell!« Eine brummige Stimme zerbrach den Alptraum, den er seit Jahren immer wieder durchlebte. Er spürte eine schwielige Hand an seiner Schulter, und er schmeckte das Blut des anderen. Oh, wie gut es doch roch... »Cortan will dich sehen«, fuhr die Stimme fort. »Wir haben Besuch.« Er öffnete die Augen, richtete sich auf. Er saß im Inneren eines einfachen Planwagens, der mit Arbeitsmaterial der Kriegstatter beladen war. Rüstungen, Schwerter, Bögen, Geschirre für die Doggars und Folterinstrumente lagen wild 60
durcheinander. Hastig sprang der Dürre hinab auf den kaum erkennbaren Pfad und eilte nach vorn, an die Spitze des Zuges. Cortan befand sich wie immer, wenn er auf Reisen war, in seinem Wagen. Rundum mit Eisenverschlägen verstärkt war sein Kriegssitz, breit und wuchtig gebaut. Die beiden grimmig dreinblickenden Wachen ließen ihn anstandslos ins Innere des Wagens. »Stell dir vor, Klappergestell: Wir haben einen Gast – einen äußerst mutigen noch dazu«, sagte Cortan spöttisch, als er ihn erblickte. Der Kriegstatter deutete auf ein vermummtes, zitterndes Häufchen Elend, das sich in eine Ecke des Fahrzeugs drückte. »Was will er?«, fragte der Nosfera. »Uns einen Handel im Namen seines Herrn Juuna vorschlagen. Wenn wir alle sogenannten Bewahrer in Ruhe ließen, würden er und seine Glaubensbrüder die Waffen der Retrologen sabotieren. Wir hätten dann leichtes Spiel bei der Einnahme der südlichen Dörfer, meint er.« Cortan schwang ein beidseitig scharf geschliffenes Beil in weiten Schwüngen, sodass es laut durch die Luft pfiff. »Kannst du mit diesen Begriffen etwas anfangen, Klappergestell? Können uns diese Retrologen tatsächlich gefährlich werden?« »Nein!«, antwortete er schrill. Nein, ein Pakt darf auf keinen Fall geschlossen werden. Alle sollen sie sterben; Millan und der Ring der Dörfer sollen brennen! Er hatte so laut aufgeschrien, dass Cortan von seinen Kampfübungen abließ und ihn misstrauisch musterte. »Die Retrologen sind ein kleines Häuflein größenwahnsinniger Spinner, die sich einbilden, mit ein paar zusammengestohlenen Relikten die Zeit der Alten wieder erstehen lassen zu können«, sagte der Dürre hastig. »Harmlose Narren, die deinen Männer kaum Widerstand bieten werden.« Er warf einen Blick auf den Boten, der nach wie vor zitternd in 61
der Ecke kniete. »Hat es der mächtige Kriegstatter Cortan nötig, die Hilfe von Kriechern wie diesem hier anzunehmen? Was sind die Dienste von Leuten wert, die bereit sind, ihre Heimat und ihr Volk zu verraten? Hältst du Menschen dieses Schlages nicht auch für Abschaum, der es bestenfalls wert ist, als Doggarfutter zu dienen?« Cortan folgte seinem Blick. Nachdenklich musterte er den Boten. »Es ist zwar nicht viel dran an ihm – aber du hast Recht. Er hat nichts Besseres verdient für seine verräterischen Absichten. Wachen! Bringt diese Kreatur zu den Zwingern!« »Nein! Habt Erbarmen!«, rief der Bewahrer mit sich überschlagender Stimme. Er wehrte sich mit Leibeskräften gegen die beiden muskelbepackten Wachposten. Es war ein ungleiches Kräftemessen, das nur kurz dauerte. Die Männer schleppten ihn wie einen nassen Sacken mit sich. Minuten später, der Dürre hatte längst wieder seinen Platz im Planwagen eingenommen, war das blutgierige Heulen zweier Doggar-Bestien am Ende des langen Kriegszuges zu hören. Sie stritten sich lautstark um das unerwartete Stück Frischfleisch. Der Nosfera schlief zufrieden ein. * Am Kratersee (2) Est'sil'bowaan ließ die Dienstmodelle keinen Moment aus den Augen. Das Konzept des Sehens und Erkennens war faszinierend genug nach all diesen Äonen, die er in einem kristallinen Körper verbracht hatte; um so mehr war er mit all seinen neugewonnenen Sinnen beim Transport einer Speichereinheit. Der Speichereinheit. Denn es handelte sich um den Kristall des Sol. Die abkommandierten Lesh'iye bewegten sich mit 62
gleichmütiger Vorsicht, tauchten nahezu in Zeitlupentempo aus dem Wasser. Sie taten alles, um Gefahren jeglicher Art zu minimieren. Für diese wenigen Stunden war die hektische Betriebsamkeit am Kratersee einem Atemanhalten alles Kreatürlichen gewichen. Die Aufmerksamkeit der Daa'muren, der Dienstmodelle und der versklavten Primärrassenvertreter galt einzig und allein diesem einen Kristall, der unter allen Umständen sicher in die Bruthöhle zu seinem zukünftigen Trägerorganismus gelangen musste. Der Körper war weiter gewachsen und entwickelte sich prächtig. Est'sil'bowaan war sogar dazu übergegangen, in regelmäßigen Abständen Fütterungsmodelle als Nahrung an den Trägerorganismus weiterzugeben. Alles musste der körperlichen Wiedergeburt Ora'sol'guudos untergeordnet werden. Die Bruthöhle war nahezu erreicht. Sie lag knapp oberhalb eines sandigen Strandes, für Est'sil'bowaan leicht zu Fuß erreichbar. Die Dienstmodelle flogen selbstverständlich. Zehn von ihnen trugen den Sol in ihrer Mitte. Der Lesh'iye Thgáan koordinierte die Aktion zudem vom Orbit aus. Der Wasserspiegel war leicht gesunken seit der Explosion. Seltsam, dass Est'sil'bowaan ausgerechnet jetzt daran denken musste. Die Dinge gerieten in Bewegung. Nach all diesen Gestirnumkreisungen, nach all dem endlosen Warten schien sich nun so vieles gleichzeitig zu entwickeln. Er eilte mit weiten, kräftigen Sprüngen in die Bruthöhle. Die Dienstmodelle legten die Speichereinheit soeben zu Boden. Sie glitt perfekt in eine bereitgestellte Fassung und verbreitete augenblicklich grelles grünes Licht. Alles hatte vorzüglich geklappt. Ein weiterer kleiner, aber wichtiger Schritt war getan.
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Gholan war in sich zusammengesunken; ein dünner Faden roten Weins rann aus seinem rechten Mundwinkel. Der Humpen war ihm aus der Hand geglitten, und zwei zahme Kamauler zu seinen Füßen stritten sich lautstark um die Lache Brabeelensaft, die sich immer weiter ausbreitete. Die Bediensteten waren längst verschwunden. Alle hatten sie nur widerwillig den Anweisungen ihres Häuptlings gehorcht. Der Calciatore war ein schwacher Mann. Auch wenn die Dorfschaft Sansiiros dem Ansturm der Kriegstatter standhalten würde – Gholan, der Häuptling, war ein Auslaufmodell. »Lass uns rasch verschwinden«, sagte Matt und zog Aruula mit sich. »Unser ›Freund‹ braucht uns jetzt nicht mehr.« Aruula sah den Dicken nicht einmal an, als sie das Haus verließen. Die Verachtung für den ehemals so starken Krieger war ihr ins Gesicht geschrieben. »Wohin jetzt, Maddrax?«, fragte sie. »Zurück zu Meister Cravelli. Auch wenn ich einige Zweifel an seinen baumeisterlichen Fähigkeiten hege, so scheint er mir doch ein vernünftiger Mann zu sein. Und die Verteidigung Sansiiros obliegt ohnehin ihm.« »Warum mischen wir uns in diese Scharmützel ein? Sollten wir nicht auf rasch nach Rooma Weiterreisen?« »Nein, auf gar keinen Fall!« Matt schüttelte energisch den Kopf. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Dörfler nicht im Stich lassen will, sollten wir uns diese Retrologen genauer ansehen.« »Was meinst du?« »Ich erkenne Fortschritte hier. Wenn auch nur langsam, so sind sie doch erkennbar. Die Retrologen kommen mit den Relikten besser zurecht, als man annehmen dürfte. Es könnte damit zu tun haben, dass die CF-Strahlung in dieser Ebene 64
nicht so stark ist wie anderswo. Ich kann problemlos Funkkontakt mit dem EWAT halten. Auch das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Neuerungen ist nicht stark ausgeprägt.« »Aber Gholan hat uns doch von diesen Bewahrern erzählt...« »Natürlich. Ein paar pseudoreligiöse Narren, die ihren Einfluss schwinden sehen, sollten sich die Retrologen mit ihren Ideen durchsetzen.« »Unterschätze die Macht dieser Menschen nicht, Maddrax.« »Das tue ich keineswegs. Ah, da ist ja Meister Cravelli...« Der bärtige Mann stand vor seinem mit Fackellicht hell ausgeleuchteten Haus und dirigierte eine Gruppe von zwanzig oder mehr Menschen. Junge, wissbegierige Leute, die ohne falsche Scham sogenannte Relikte mit sich nahmen und zu den Verteidigungsstellungen schleppten. Aluminiumleitern, rostzerfressene Stahlträger, die Masten zweier Segelboote, Halbachsen schwerer Fahrzeuge – und auch ein Dutzend altertümlicher Gewehre mit aufgeschraubten Bajonetten, die aus einem ehemaligen Museum stammen mussten. Trotz der späten Stunde herrschte ein reges Treiben; niemand wagte an Schlaf auch nur zu denken. »Nun, habt ihr euer Wiedersehen ausgiebig gefeiert?«, fragte Cravelli misstrauisch. Seine Begeisterung für die wiederaufgetauchten Fremden hielt sich in Grenzen. »Der Calciatore ist in seiner Hütte und träumt von vergangenen Heldentaten«, antwortete Aruula rasch, bevor Matt den Mund aufmachen konnte. »Wir möchten uns allerdings lieber an den zukünftigen beteiligen.« So etwas wie freudige Überraschung zeigte sich in den markanten Gesichtszügen des Retrologen. »Maddrax hier«, fuhr Aruula fort, »ist auch eine Art... Retrologe. Er möchte sich gerne eure Schätze ansehen. Vielleicht kann er sogar helfen, das eine oder andere nützliche 65
Ding zum Funktionieren zu bringen.« Sofort wurde das Gesicht des Mannes wieder finster. »Es tut mir Leid, aber nicht alles, was ich und meine Kollegen besitzen, ist frei zugänglich. Manche Relikte sind einfach zu machtvoll, zu gefährlich. Und, um ehrlich zu sein, sehe ich keinen Anlass, euren Fähigkeiten einfach so zu vertrauen. Ihr mögt euch bei der Eroberung der Festung des Blutes eure Meriten geholt haben – doch die Retrologie ist ein ehrenwertes und ernsthaftes Handwerk, das nicht jedermann beherrscht.« »Könnte euch eine Demonstration meiner Fähigkeiten umstimmen?«, fragte Matt. »Wenn sie angemessen ist – ja«, antwortete Meister Cravelli und strich sich argwöhnisch über den rußigen Bart. »Bitte sehr.« Matt holte das kleine Funkgerät hervor, drehte sich einmal im Kreis, sodass es alle Menschen um ihn her sehen konnten, und hielt es demonstrativ an den Mund: »Captain McDuncan, bitte kommen!« Er sprach Englisch. Die Bewohner Sansiiros würden ihn nicht verstehen können. Doch das war auch nicht ausschlaggebend. Eine Pause entstand, während der Lärm rings um Matt und Aruula immer mehr verstummte und sich alle Aufmerksamkeit auf das Pärchen richtete. Schließlich erklang eine müde Stimme: »Was gibt es, Commander Drax? Neuigkeiten?« Flüstern erklang ringsherum, hastige Worte wurden gewechselt, Finger deuteten auf ihn. Der Mann besaß mächtiges, friedliches Akuvolt. »Nein, Captain!«, erwiderte Matt. »Ich wollte Sie nur darauf vorbereiten, dass wir möglicherweise bald Ihre Hilfe benötigen. Wie sieht's mit dem EWAT aus?« »Beschissen, wenn ich es milde ausdrücken darf. Es fehlen...« »Ist schon gut, Selina. Ich werde mich bald wieder bei Ihnen melden.« 66
Erwandte sich an Meister Cravelli. »War es eine Demonstration in deinem Sinne?«, fragte er und grinste. Der alte Mann betrachtete ihn mit gekräuselten Stirnfalten, fuhr sich erneut über den gekürzten Bart und sagte schließlich: »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, Maddrax!« Dann erwiderte er das Grinsen. Offen und ehrlich. Hurra-Rufe klangen auf, und leise Stimmen trugen nun gewiss das Erlebte weiter, bis es der letzte Bewohner Sansiiros wissen würde: Fremde waren im Dorf. Fremde, die ihnen helfen würden und die mächtiges Akuvolt beherrschten. * Matt konnte sich schließlich doch überwinden, das Haus des Retrologen zu betreten. Kurz klärte er das Missverständnis um den sogenannten Pansser auf und tat die wortreichen Entschuldigungen mit einem Winken ab. Er skizzierte seine Ambitionen, allerorts Stätten des Widerstandes gegen eine unheimliche Bedrohung aus dem All zu gründen, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Denn die primäre Aufgabe war jetzt, die näher rückenden Kriegstatter aufzuhalten. Sonst waren alle schönen Worte, wie man den Daa'muren Einhalt gebieten musste, Makulatur. Der Retrologe erzählte ihnen schließlich von seinem ganz besonderen Haus. Angeblich beheimatete es seit mehreren Generationen die Cravellis, und bei den wenigen Zusammenbrüchen war noch nie jemand zu Schaden gekommen. »... schon meine Vorfahren forschten in der Umgebung, gruben in den Ruinen alter Städte und bargen manch außerordentlichen Fund. Noch einen Schluck Biir, Aruula?« Sie verneinte. Der Becher vergorenen Brabeelensafts im Haus des Calciatores und das halbe Glas Bier waren mehr als genug für die Barbarin, die kaum Alkohol vertrug. 67
»Die Zeit drängt, meine Freunde«, fuhr der Alte fort. »Ich kann euch leider nicht alle meine Schätze zeigen. Aber hier – kommt mit und stoßt euch nicht die Köpfe – sind die wichtigsten Dinge verborgen.« Cravelli führte sie in einen großen Nebenraum, dessen Regale ebenso wie die in den anderen Zimmern mit unnützem Zeugs vollgeräumt waren. Doch in der Mitte lagen Generatoren! Darunter einige, die blank poliert waren und sich in äußerlich gutem Zustand befanden. Zwei Hometrainer standen ebenfalls im Raum, und auf einem saß Angeloo. Stark schwitzend und dennoch unermüdlich trat er in die Pedale, kämpfte dabei sichtlich gegen starken Widerstand. »Ein bisschen mehr Begeisterung bei der Arbeit«, fauchte Meister Cravelli in seine Richtung und deutete dann stolz auf eine Reihe von Kabeln, die vom Schwungrad des Trainers wegführten. Sie mündeten in einem Dutzend Ladestationen, die allesamt aktiviert waren. »Selbst erzeugtes Akuvolt«, sagte er. »Und wie betreibt ihr die großen... Dinger hier?«, fragte Matt. Er zeigte auf die Generatoren. »Die macchinas? Mit übelriechendem Zeug namens petroleo, das fahrende Händler ab und zu vorbeibringen. Sie kommen aus Montsaa unweit von hier. Die Vorräte dort sind angeblich unerschöpflich. Bislang hat außer dem dottore noch niemand einen Verwendungszweck dafür gefunden. Er verwendet es als Warzentinktur und als Einreibmittel, doch ich habe das wahre Geheimnis des petroleos entdeckt.« Stolz warf er sich in die Brust. »Mach brav weiter, mein Junge!«, sagte er zu Angeloo und zog Aruula und Matt wieder mit sich, zurück in den Wohnraum. »Meister Cravelli«, sagte Matt und setzte sich, »in aller Ehrlichkeit: Ich glaube nicht, dass ihr gegen die wilden Kriegstatter aus den Bergen mit euren Mitteln bestehen könnt. 68
Das Akuvolt, das ihr besitzt, mag zwar mächtig erscheinen, aber gegen die Meute, die hierher unterwegs sind, wird es nicht reichen.« Der Retrologe sah mit einem Mal noch älter aus. »Ich weiß«, murmelte er schließlich. Man sah ihm die Verantwortung an, die schwer auf seinen Schultern lastete. »Es fehlt uns an kampferprobten Männern, an gewieften Taktikern. An einem Calciatore, der in der ersten Reihe steht und seine Leute anfeuert. Auch die anderen Häuptlinge des Rings der Dörfer sind nicht Manns genug, die Verantwortung für ein geeintes Vorgehen zu übernehmen. Zudem bereitet sich jede der sechzehn Gemeinden gesondert auf den Ansturm der Kriegstatter vor.« »Warum zieht man die Kräfte nicht zusammen?«, fragte Aruula. »Wohin? Welches Dorf wäre bereit, den Zorn der Gegner und der Doggars auf sich zu ziehen? Auch fürchten alle anderen, dass die Kriegstatter in den entblößten Gemeinden marodieren und plündern könnten.« »Bringt alle Leute der Dörfer hinter den Palisadenzaun«, schlug Aruula vor. »Die Doggars werden, wenn man sie loslässt, sofort Witterung aufnehmen und auf Millan zustürmen. Und die Kämpfer werden ihnen folgen. Dort könnt ihr sie gemeinsam bekämpfen.« Matthew war verblüfft von Aruulas strategischem Geschick. Ihr Plan war einfach – und genial. Die Gesichtszüge des alten Mannes erhellten sich. »Das... das könnte funktionieren !«, sagte er. »Allerdings«, seine Miene verfinsterte sich gleich wieder, »müssen wir mit dem Widerstand der Bewahrer rechnen, für die hinter dem Zaun das wahrhaft Böse lauert.« »Wenn ich mich recht entsinne«, warf Matt ein, »hat der Häuptling euch doch den Oberbefehl übertragen, oder? Obliegt es nicht eurer Entscheidung, wo ihr die Verteidigungslinien 69
Sansiiros beginnen lasst?« »Hm, das ist eine recht freie Auslegung meiner Vollmacht, aber... bei Wudan, Ihr seid ein ganz schönes Schlitzohr, Maddrax! Es muss mir nur noch gelingen, die Menschen in den anderen Dörfern zu überzeugen. Es ist nicht ungefährlich hinter den Palisaden. Riesige Snäkken leben in der Kanalisation der Stadt!« »Snäkken? Ach ja...« Matt erinnerte sich an die gewaltigen amorphen Lebewesen, die einen Menschen verschlingen und dann bei lebendigem Leib verdauen konnten. Er hatte damals geglaubt, Smythe wäre auf diese Weise gestorben. Er überlegte kurz. »Könnte es helfen«, fragte er dann, »wenn ihr Gerüchte über eine unerwartete Hilfe ausstreut, die hinter dem Palisadenzaun wartet?« »Was meint Ihr damit?« »Nun, ich habe da so eine Idee. Ich muss allerdings zurück zu meinen Leuten. Aruula wird währenddessen mit euch gemeinsam den Aufbruch nach Millan organisieren. Sie ist die Beste, die ihr euch für eine solche Aufgabe wünschen könnt.« Er wandte sich ihr zu. »Würdest du das tun?« »Sicher... aber was hast du vor, Maddrax?«, fragte Aruula. »Mir ist etwas eingefallen, das ich früher mal in einem Buch gelesen habe. Hör gut zu: Ich möchte, dass ihr Folgendes mit nach Millan nehmt...« * »Selina«, sprach Matt leise in das Funkgerät, »ich nähere mich jetzt dem Wald. Geben Sie mir bitte Lichtsignale zur besseren Orientierung.« Matt fluchte, als er erneut stolperte. Zwar stand der zunehmende Mond hell am Himmel, doch ohne Taschenlampe war der Weg ein einziger Hindernislauf. Lichterschein flackerte rechts von ihm auf. Drei Mal. Gut. Es waren höchstens noch zweihundert Meter. 70
»Ist alles in Ordnung, Commander?«, fragte Selina McDuncan besorgt, als er den EWAT erreichte. »Alles bestens«, antwortete Matt und schnappte nach Luft. Er hatte kaum mehr als eine dreiviertel Stunde im Trab durch das unwegsame Gelände benötigt. Doch das Tempo war notwendig gewesen; die Zeit lief ihnen davon. Es war bereits kurz vor Mitternacht. Er rechnete mit einem Angriff der Kriegstatter bei Morgengrauen. »Wie weit sind die Arbeiten gediehen?« »Peter und Andrew tun ihr Bestes. Schwer abzuschätzen, wann sie fertig sind.« Matt rang mit sich und traf eine Entscheidung. »Dann brauche ich Sie in Mailand – alle drei.« »Wollen wir nicht lieber doch zuerst den EWAT in Gang bringen?«, warf Captain McDuncan ein. »Die Kriegstatter und die Doggars, von denen Sie mir über Funk erzählt haben, wären durch den Flugpanzer sicherlich zu beeindrucken.« Matthew schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, wann ihr Angriff erfolgt. Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass der EWAT bis dahin nicht einsatzbereit ist.« »Aber haben wir ohne ihn überhaupt eine Chance?« »Mit etwas Glück – und wenn mein Plan funktioniert. Außerdem: Wenn die Retrologen selbst zum Sieg beitragen, wird das ihren Rückhalt in der Bevölkerung stärken. Es sind zwar keine Technos, aber im Kampf gegen die Daa'muren können wir jede –« »Bei allem Respekt, Sir«, unterbrach ihn Selina. »Es handelt sich um einfache Bauern, die mit globalen Konflikten kaum etwas werden anfangen können.« »Darf ich Sie daran erinnern, dass die einfachen Bauern unseren EWAT zur Landung gezwungen haben? Hier gibt es ein großes Potenzial, glauben Sie mir!« Sie starrten sich lange an, die Gesichter lediglich vom trüben Notlicht beleuchtet, das aus dem Inneren des EWATs 71
drang. »Sie sind der verdammt noch mal störrischste Optimist, der mir jemals untergekommen ist«, sagte Selina McDuncan schließlich. »Und ich danke Ihnen dafür.« Sie drehte sich um und stieg in das Fahrzeug. Matt blieb stehen und dachte darüber nach, ob ihn die Frau nun beleidigt oder tatsächlich komplimentiert hatte. Dann folgte er ihr und griff sich das schwere Bündel, das für ihn bereit lag. Der Weg nach Millan zurück würde ziemlich anstrengend werden... * Juuna ging in seiner spartanisch eingerichteten Kemenate im Bewahrer-Bau nervös auf und ab. Der Bote, den er vor Stunden mit einem der wenigen Frekkeuscher des Dorfes ausgesandt hatte, war längst überfällig. Konnte es sein, dass der Anführer der Kriegstatter sein Angebot abgelehnt hatte? Waren die Vorteile für beide Seiten nicht deutlich ersichtlich gewesen, selbst für den starrköpfigsten Barbaren? Oder hatten ihn die Retrologen, deren lästerliche Anhänger weiter verbreitet schienen als ihm lieb war, abgefangen? Die beiden Fremden, die nichts Besseres zu tun gehabt hatten, als sich mit den Retrologen zu verbrüdern, bereiteten ihm zusätzliche Kopfschmerzen. Sie hatten den Calciatore, dem er normalerweise die Worte in den Mund legen konnte, auf besonders perfide Weise außer Gefecht gesetzt. Er schnarchte in seiner Hütte und würde kaum vor Anbruch des neuen Tages erwachen. Auch die Fremden waren infiziert von diesem völlig irrsinnigen Glauben an das Gute im Akuvolt. Er musste ihnen allen Einhalt bieten! Eine Gemeinde, frei von Frevlern, mit Strenge regiert und im absoluten Glauben an den Willen der Götter – das war das hehre Ziel, das es unter 72
Einsatz aller Mittel zu erreichen galt. Juuna wischte sich Schweiß von der Stirn. Er wusste, wo er den Hebel anzusetzen hatte, um das Blatt doch noch zu wenden. Es galt den ärgsten Widersacher auszuschalten. Die Kriegstatter, dessen war er sicher, würden sich von seinen Argumenten überzeugen lassen. Zumal er vorhatte, ihnen alle Gegner seiner Bewahrungslehre ohne Wenn und Aber auszuliefern. »Krii und Chaap!«, rief er nach seinen treuesten Jüngern, »macht euch fertig! Wir haben einen göttlichen Auftrag zu erfüllen!« * Die Kühle der Nacht hatte die Schlepperei erträglich gemacht. Trotzdem hatten sie für die Strecke über zwei Stunden gebraucht. Gegen halb drei Uhr morgens erreichten sie die Palisadenwand rund um den inneren Kern der Stadt, die Ehrfurcht gebietend mehr als vier Meter hoch vor ihnen aufragte. »Der Eingang befindet sich links von uns«, sagte Andrew Farmer. Er hielt einen kleinen Plasmabildschirm vor sich, mit dessen Hilfe er den Flug seiner dressierten Kolkraben verfolgte. Die Kameras waren auf Nachtsicht geschaltet und präsentierten ihr Bild in strahlendem Grün. Der junge Mann war hoch konzentriert bei der Arbeit, trotz des schweren Rucksacks, den er zu schleppen hatte. »Die Übertragung von Digger 3 zeigt, dass aus allen Gemeinden der Umgebung Menschen hierher strömen.« »Und Digger 4?«, fragte Matt und schlug die angegebene Richtung ein. »Die Kriegstatter lassen sich Zeit. Eine Vorhut streift sieben Kilometer von hier herum; der Haupttross mit den Doggars ist 73
weitere fünf Kilometer dahinter, gerade noch in Reichweite der Übertragung. Sie hatten ein provisorisches Lager aufgeschlagen und bereiten sich auf den Weitermarsch vor.« »Wie viele sind es?« »Zehn beim Vortrupp, etwa fünfzig im Lager, so weit ich es erkennen kann. Das Bild ist ziemlich körnig.« »Was glauben Sie – wie lange noch, bis sie hier sind?« »Das Gelände ist schwierig, die Wege überwuchert. Ich schätze, dass sie mit ihrem schweren Gepäck mindestens drei Stunden brauchen werden.« »Also Angriff bei Morgengrauen. Gut – das sollte reichen.« Sie stießen nun immer wieder auf kleine Gruppen von Menschen, die, mit wenigen Habseligkeiten bepackt, stumm dahin marschierten. Meist waren es Familien. Die Väter blickten grimmig, die Frauen hatten angstvoll verzerrte Gesichter, kleine Kinder greinten übermüdet, und die wenigen Alten stolperten gebückt nebenher. Wie sehr sich die Bilder doch glichen! Schon in der »alten Welt«, mehr als fünfhundert Jahre entfernt, hatte Matt Leidenszüge wie diese gesehen. Würde es jemals ein Ende nehmen? Konnte er die Verantwortung, die er auf sich genommen hatte, auf Dauer ertragen? »Selbstzweifel, Commander?«, fragte Selina McDuncan, die zu Matt aufgeschlossen und seine Blicke richtig gedeutet hatte. »Manchmal«, gab er zu. »Doch dann brauche ich bloß an meine Freunde und Kameraden denken – und es geht schon wieder.« Er klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter – und erblickte im selben Moment Aruula vor dem großen Tor, das von Fackeln erleuchtet wurde. Sie sah mit undeutbarem Blick zu ihnen herüber – dann drehte sie sich um und verschwand mit einer Gefolgschaft schnatternder Männer, die sich Rat und Hilfe von ihr erhofften. Matt blickte ihr nach, unschlüssig, was er tun sollte. 74
»Ihr habt mächtiges Akuvolt bei euch?«, fragte Angeloo und lenkte ihn ab. Zwei ergeben blickende Augen starrten Matt erwartungsvoll an. »Ja, du hast Recht. Zeig uns bitte, wo meine Leute ihre Kabel verlegen können. Siehst du die Kästen auf unseren Rücken?« Er deutete auf die acht transportablen EWATEnergiespeicher, an denen sie schwer zu tragen hatten. »Da ist mehr Akuvolt drin, als du je auf deinem Fahrrad erzeugen kannst. Zeig bitte meiner Begleiterin Selina, wo es hinkommt. Ich möchte zuerst mit Meister Cravelli sprechen.« Als sich der Lehrling des Retrologen mit der EWAT-Crew entfernen wollte, fiel Matt noch etwas ein: »Angeloo? Anschließend habe ich einen wichtigen Auftrag für dich.« Der Jüngling drehte sich um und grinste glücklich. »Ja, Maddrax?« »Ich möchte, dass du und ein paar kräftige Männer mit einem Gespann Biir aus den Dörfern holt. So viel Biir, wie ihr nur auftreiben könnt. Ich will es fassweise hier haben. Ihr habt zwei Stunden Zeit dafür.« Angeloo blickte ihn zweifelnd an. »Ist es gut, dass sich die Männer vor dem Kampf betrinken? Das Biir ist stark, und es steigt rasch zu Kopf...« »Frag nicht, Junge – tu es einfach. Okay?« »Ja, Meister... ich meine: ja, Maddrax!« »Ach ja, eine letzte Frage: Seid ihr schon auf Snäkken gestoßen?« »Nein, Wudan sei Dank! Lediglich ihre Schleimspuren haben wir gefunden, am anderen Ende der Stadt.« »Gut. Dann beeil dich jetzt!« Angeloo drehte sich um und zog Selina, Andrew Farmer und Peter Shaw mit sich. Matthew nickte zufrieden. Der Junge mochte keine Geistesleuchte sein, doch er war redlich und treu. So, und nun zu Meister Cravelli. Es galt die Taktik zu 75
besprechen und mithilfe der Kolks den weiteren Zeitplan zu erstellen. Gott, war er müde! In dieser Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden, und auch der Tag wurde lange werden. Vollkommen zerschlagen schlurfte Matt eine kleine Seitengasse des alten, untergegangenen Mailand entlang. Dabei hatte er kaum Augen für die verfallenen Relikte einer glücklicheren Zeit. Nur einmal stoppte er kurz. Links von ihm ragten im hellen Mondlicht die kläglichen Reste der ehemaligen Festung des Blutes empor. Ein Mahnmal, das ihn wieder an seinen Widersacher Jacob Smythe erinnerte. Was war aus dem durchgedrehten Professor geworden? Quart'ol hatte ihn und Lynne Crow als Gefangene im Kometen gesehen. Was mochten die außerirdischen Invasoren mit den beiden anstellen? Die Daa'muren und Smythe – eine äußerst unheilvolle Kombination, dachte Matt und marschierte weiter. Dann blieb er doch noch einmal stehen. Eine breite, nahezu fensterlose Häuserfront, die wie durch ein Wunder das letzte halbe Jahrtausend fast unbeschadet überstanden hatte, befand sich rechts von ihm. Ein Dominikanerkloster. »Santa Maria delle Grazie«, murmelte er und stieß morsches Holz beiseite. Er kletterte über Bohlen, Mauerwerk und Gerumpel hinweg, magisch angezogen von einer bestimmten Stelle. Er hatte das Innere des Klosters bereits dutzendfach gesehen, im Fernsehen, in Büchern, auf Bildern. Im Licht der Taschenlampe, mit der er sich im EWAT ausgerüstet hatte, fand er auf Anhieb den richtigen Weg. Ein paar marmorne Stufen hinauf, nach rechts – und da war es. Mehr als tausend Jahre alt. Ein faszinierender Anblick, obwohl das Bild verblasst und verwittert war, da und dort Teile weggebrochen waren. Matt war weit davon entfernt, religiös zu sein. Dennoch 76
sammelte er für ein paar Sekunden seine Gedanken und ging in sich. Dann warf er einen letzten Blick auf das Meisterwerk Leonardo da Vincis, »Das letzte Abendmahl«, und verließ das Kloster auf demselben Weg, den er gekommen war. Die Nachtluft war frisch, und sie klärte seine trüben Gedanken, als er weiterging. Die Vergangenheit war endgültig vorbei. Was vor ihm lag, zählte. Eine riesige Piazza tat sich vor ihm auf. Eine Menge Leute mit Fackeln und Laternen hatten sich am anderen Ende versammelt, zweihundert Meter entfernt; sie alle umlagerten einen umgestürzten Heuwagen, auf dem eine hoch aufgerichtete Gestalt gestenreich artikulierte. Meister Cravelli. Er ging vollends in seiner Bestimmung auf, trug die Verantwortung für die Bürger des Rings der Dörfer mit Erhabenheit und viel Mut. Bislang hatte er bei den Meisten als etwas versponnener, trotteliger Alter gegolten – doch er hatte in diesen wenigen Stunden enorm an Selbstbewusstsein und Würde gewonnen. Was war das? Wer waren diese Männer in ihren braunen Kutten, die soeben auf den Wagen kletterten? Matts Beine setzten sich automatisch in Bewegung; er roch die Gefahr. »Cravelli – Achtung!«, schrie er und rannte schneller, wohl wissend, dass er zu spät kommen würde. Denn eine Hand hob sich im Rücken des Meisters, eine Hand, die ein glänzendes Etwas hielt, spitz und scharf. Eine Hand, die mit voller Wucht nach unten stieß... »Nein!«, schrie Matt, »Nein!« * Am Kratersee (3) Der entscheidende Moment stand unmittelbar bevor. Der 77
Sol sammelte seine Lebensenergie. (Die Zeit der Entscheidung naht!), dachte er, so intensiv und kraftvoll, dass alle Artgenossen im Umkreis seine mentale Stimme hören und verstehen konnten. (Es mag nicht heute und nicht morgen auf dieser unserer neuen Heimatwelt sein, doch der Tag wird kommen. Wenn ich jetzt in den besten und stärksten Trägerorganismus überwechsle, bedeutet dies eine weitere Phase im Projekt Daa'mur. Niemand wird uns mehr aufhalten.) Es war keine mangelnde Bescheidenheit, die aus Ora'sol'guudo sprach. Der Sol formulierte schlichtweg die Tatsachen. Dabei wunderte er sich selbst über die gar nicht geplante Ansprache. Es mochte von dem Gefühl der Beunruhigung herrühren, das ihn ergriffen hatte. Der Wechsel seiner ontologisch-mentalen Substanz aus dem Oqualun-Kristall in den lebenden Organismus barg ein gewisses Restrisiko. Wenn er scheiterte, beraubte er sein Volk seiner Führung. Denn er war der Sol. Ora'sol'guudo schickte alle Lebensenergie an den spitzen Pol seiner Speichereinheit, konzentrierte alles, was ihn ausmachte, auf eine winzig kleine, hellgrün leuchtende Fläche an der obersten Kuppe des kristallinen Körpers. Unruhe war zu spüren. Die anderen Daa'muren waren ebenso angespannt wie er, und seine Unsicherheit übertrug sich auf sie. Behutsam löste der Sol seine Energien aus dem Speicherkristall. Vorsichtig tastete er umher, suchte den jungfräulichen Geist des Trägerorganismus, um ihn zu übernehmen und zu beherrschen. Doch da war nichts! Kein Behälter für seine Substanz; nur schwarze, gierige Leere. Zurück!, dachte er erschrocken und wollte wieder in den 78
Speicherkristall drängen – aber der Rückweg war ihm versperrt! Der Prozess des Wechselns war nicht mehr zu stoppen! Ora'sol'guudo rann förmlich aus seiner bisherigen Form heraus, fand keinen Halt, glitt an allem ab, was er geistig zu fassen bekam, und er fiel endlos, er fiel... »Schmerz«, sagte, schrie, brüllte, weinte er. Ihm war kalt und warm zugleich, er hörte qualvoll laute Töne, unterschied Licht und Dunkelheit, roch Süßes und Widerliches, seine beiden Herzen schlugen wie verrückt, sein Kopf dröhnte, ein Blitz fuhr in seinen Körper... Er war in einem Körper! »Aaah!«, schrie er und füllte seine Lungen. Der Sol atmete. * Der Arm, der in einer braunen, verlotterten Kutte steckte, stieß zu, ohne dass Matt etwas unternehmen konnte. Sein Schrei verhallte ungehört; zu laut war das Treiben um Meister Cravelli. Das Messer fuhr herab, Lichtreflexe der Fackeln blitzten auf der Klinge – sieht denn niemand, was da vor sich geht? –, dann drang sie ins Fleisch... Nein! Der Arm, der das Messer hielt, wirbelte mit einem Mal hoch in der Luft, losgetrennt vom Körper. Ein Schwert schwang aufwärts, ein bekanntes Schwert! Die beiden anderen braun gekleideten Gestalten drängten unbeirrt nach vorne, ebenfalls mit Stichwaffen in der Hand. Doch nun war die Chance für die heimtückischen Attentäter vertan. Aruula schlug erneut zu, fand ihr zweites Ziel, und ein Körper stürzte zu Boden. Endlich waren die Menschen rund um den Heuwagen auf die Geschehnisse hinter Meister Cravellis Rücken aufmerksam 79
geworden. Entsetzte Schreie wurden laut. Matt war endlich heran, schob die gaffenden Menschen beiseite, bahnte sich seinen Weg. »Lass ihn leben!«, rief er Aruula zu, als diese zum Hieb gegen den dritten Attentäter ausholte. Aruula drehte die Klinge leicht, sodass lediglich die Breitseite auf den Kopf des vermummten Mannes niederfuhr. So rasch, dass dieser nicht mehr ausweichen konnte, und so gefühlvoll geführt, dass ihm die Wucht nicht den Schädel spaltete. Er sackte vornüber und fiel benommen auf seine Knie. Matt drängte auf das improvisierte Podest. Er schob den verblüfft dreinblickenden Cravelli endgültig aus dem Gefahrenbereich. »Warum sollte ich ihn schonen?«, fragte Aruula und sah sich aufmerksam um, konnte jedoch keinen weiteren Attentäter ausmachen. »Weil er uns lebendig mehr nutzt«, entgegnete Matt. Er trat zu dem Meuchelmörder, riss ihn hoch und drehte ihm einen Arm auf den Rücken. Dann schob ihn vor sich her zum Rande des Podestes, an Cravelli vorbei. »Ein Bewahrer!«, rief jemand aus der Menge, und rasch machte das Wort die Runde. Dreihundert oder mehr Menschen waren nun versammelt, und immer noch strömten weitere heran. »Ein Bewahrer, ja!«, übertönte Matt das Stimmengewirr in der Sprache der Wandernden Völker. »Einer von denen, die nicht wollen, dass ihr euer Schicksal selbst in die Hand nehmt, und die zu Heimtücke und Meuchelmord greifen, um ihre Ziele zu erreichen!« Er riss dem Vermummten die Kapuze vom Kopf, zeigte den Versammelten das Antlitz des Attentäters. »Juuna!«, ertönte ein Entsetzensschrei. »Das ist Juuna!« Das wurde ja immer besser! Matt hatte den Anführer der Bewahrer in Sansiiro bislang nicht zu Gesicht bekommen. 80
Doch der Mann hatte ihnen einen großen Gefallen getan: Er hatte in aller Öffentlichkeit seine wahre Gesinnung offenbart. Damit war das Schicksal dieser pseudoreligiösen und konservativen Gruppe wohl besiegelt. Die Menschen blickten wütend zu Juuna hinauf. Irgendjemand in der ersten Reihe spuckte ihn an, und schon flogen die ersten faulen Früchte. Offensichtlich war es ein Naturgesetz, dass zu jeder großen Versammlung zumindest ein Korb verfaultes Obst mitgeschleppt wurde... »Hört auf damit, verdammt!«, brüllte Matt. Aruula gesellte sich zu ihm, stellte sich breitbeinig hin und putzte demonstrativ ihr blutiges Schwert an der Kutte des Bewahrers sauber. Die Menge verstummte, auch der Hagel an Geschossen endete abrupt. »Ich übergebe Juuna an Meister Cravelli, euren Oberbefehlshaber!«, fuhr Matt fort. »Er soll bestimmen, was zu geschehen hat.« Ein kurzer Moment der Ruhe trat ein. Schließlich kam Cravelli nach vorne und verkündete lautstark: »Sperrt Juuna ein! Wir werden später über ihn richten. Denn jetzt muss alle Kraft der Verteidigung unserer geliebten Heimat gelten!« Pathetische Worte – doch sie halfen. Jubel wurde laut und lauter, und schließlich brandete das Geschrei, das Stampfen und Klatschen der Menschenmenge von den Gebäuden am Rande der Piazza wieder, dass man glauben konnte, eine kampfgestählte Armee würde sich auf die entscheidende Schlacht vorbereiten. * Er stand dicht vor seinem Triumph, endlich! So lange hatte er darauf warten müssen, doch nun war der Moment gekommen. Wieder packten ihn die Erinnerungen an jenen Tag, als er den Untergang der Festung hatte miterleben müssen. Ein 81
Kaleidoskop an Eindrücken huschte an seinem inneren Auge vorbei, packte ihn, führte ihn neuerlich zurück in der Zeit... ... er taumelt durch die explodierende Festung des Blutes... jemand schlägt auf ihn ein, verletzt ihn an Brustkorb, Oberarmen und Beinen... er schleppt sich weiter, findet im Labor seines Herrn Jacobo den Schokker... irgendwie gelangt er ins Freie... Menschen hetzen vorbei, gefüllt mit jenem Blut, nach dem er giert... manche schlagen ihn, manche spucken ihn an... nirgendwo findet er Deckung... überall Feuer, überall Rauch... Schreie ertönen, man entdeckt ihn im Schatten einer Tonne, schlägt auf ihn ein, will ihn töten... instinktiv fährt er mit dem Schokker dem mutigsten Angreifer ins Gesicht und ein Wunder geschieht: Ein letztes Aufflackern heiliger Magie entfährt dem Gerät, wirft den Feind zurück... auch die anderen Menschen lassen von ihm ab... er kann fliehen, hinaus in die Wildnis... versteckt sich... »Sieh zu, Klappergestell«, unterbrach Cortan seine Erinnerungen. »Ist es das, was du wolltest?« Er winkte den Hütern zu. Mit wenigen Handgriffen öffneten sie die Käfige. Die Krieger standen gegen den Wind und hatten sich mit Doggar-Speichel eingeschmiert. Sie hielten dennoch Armbrüste und Schwerter bereit, denn die Tiere reagierten oftmals völlig unberechenbar. Die Bestien trugen Kampfhalsbänder, so schwer, dass die Hüter nicht mehr als drei von ihnen heben konnten. Sie waren mit eisernen Spitzen versehen, unterarmlang, liebevoll poliert – für sich allein schon schreckliche Waffen. Die Doggars blieben kurz stehen, witterten. Ein Rüde drehte sich um und blickte herauf zu ihnen, fletschte die Zähne. Die Kriegstatter umklammerten ihre Schwerter noch fester und setzten die Armbrüste an... doch plötzlich jaulte eines der Weibchen laut auf und hetzte mit meterweiten Sprüngen davon. Den Hügel hinab, auf die Palisaden zu. Eine Bestie nach der anderen sprang los, bis die ganze Rotte ihr folgte, 82
aufgestachelt durch Blutgier und Hunger. Die Hüter hetzten hinterher. Der Sonnenaufgang war noch fern; am Horizont war noch keine Spur von Helligkeit zu sehen. Jetzt schon anzugreifen gehörte zu Cortans bewährter Taktik. Den Doggars machte die Dunkelheit nichts aus, aber sie verbarg die Truppenstärke der Kriegstatter. Die Gegner, die mit einer Attacke bei Sonnenaufgang rechneten, wurden in den allermeisten Fällen überrascht, gerieten in Konfusion und leisteten nur wenig Widerstand. »Sie laufen zur Stadt«, sagte Cortan mit leisem Erstaunen in der Stimme. »Diese Bauern haben ihre Dörfer aufgegeben. Sie glauben sich hinter diesem lächerlichen Zaun verschanzen zu können.« Er lachte. »Um so besser. Dann sind sie wenigstens alle an einem Platz versammelt und wir müssen sie nicht zusammentreiben. Hinterher, ihr stinkenden Kamauler!«, feuerte er seine Leute an. »Oder wollt ihr den Doggars das ganze Vergnügen überlassen?« Mit einem wilden Schrei setzte er sich selbst in Bewegung. »Dies ist meine Nacht,« murmelte der Dürre und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. »Die Nacht der Rache!« Er folgte den Kriegstattern. * Gholan erwachte. Draußen war es noch dunkel; wie lange hatte er geschlafen? Er spürte einen brandigen Geschmack im Mund. Es gab nur ein Mittel, das Gefühl der Säuerlichkeit in seiner Kehle zu bekämpfen, wie er aus Erfahrung wusste. »Mehr Wein!«, brüllte er gegen die bohrenden Kopfschmerzen an. »Eilt euch, mir geht es schlecht!« Keine Antwort. Es war überhaupt verdächtig ruhig. Ächzend stemmte er seinen Körper hoch. Beinahe rutschte 83
er in einer noch nicht ganz eingetrockneten Weinlache aus. Ärgerlich stieß er ein widerwärtig fettes Kamauler-Weibchen beiseite und taumelte ins Freie. Die Straße lag dunkel und verlassen vor ihm. »Bei Orguudoo, wo seid ihr?!«, schrie er nochmals. »Ich verdurste!« »Alle weg!«, murmelte eine dünne Stimme. Gholan blickte sich um. Ach ja – Oliva, die Bettlerin! Sie saß unter einer einsamen flackernden Laterne direkt neben dem Hauseingang und streckte reflexartig die Hand aus. »Hab ich was verpasst?«, fragte er die alte, vertrocknete Zwiebel und warf ihr eine Kupfermünze zu. »Findet irgendwo eine Feier statt oder so was?« »Keine Feier, nein. Kämpfen wollen die Narren! Wollten auch mich mitschleppen hinter die Palisaden, aber nein, die alte Oliva geht keinen Schritt mehr aus dem Dorf, nein, nein!« »Kämpfen? Hm...« Richtig, da war doch was gewesen am vergangenen Abend. Verdammt, wenn er sich nur konzentrieren könnte! Er brauchte unbedingt einen Schluck Wein, dann würde es ihm besser gehen. Aber klar doch! Maddrax und Aruula waren aufgetaucht, und sie hatten den einen oder anderen Becher gemeinsam gekippt! Und war da nicht auch eine Versammlung gewesen, wegen der... wegen der... Die Kriegstatter! Sie waren auf dem Weg hierher! Und keiner hatte ihn geweckt, ihn, den Beschützer Sansiiros, den mächtigen Gholan! »Warum, in Wudans Namen, sind sie in die Stadt geflüchtet?«, fragte er Oliva und warf ihr noch eine Münze zu. »Meister Cravelli und die beiden Fremden haben es so angeordnet«, antwortete die Frau und biss misstrauisch auf das Kupfer. Meinetwegen, sollten sie halt ohne ihn kämpfen, er fühlte sich momentan eh nicht so wohl. Ein paar Stunden Schlaf, und 84
dann... »Vor kurzem war dieser nichtsnutzige Angeloo mit ein paar Männern hier und hat alle Biir-Vorräte aus deinem Hinterhof an sich genommen«, sagte die Alte und lachte meckernd. »Sagte, sie würden es dringend benötigen.« »Mein Biir?! Gestohlen?«, brüllte Gholan. Das ging zu weit! »Na wartet, Burschen, jetzt könnt ihr was erleben!« Gholan hastete zurück in sein Haus und bewaffnete sich. Na ja, der Schwertgurt war ein bisschen eng geworden, und die Schnürung des ledernen Brustpanzers schnitt tief in die Haut – doch er war von der Zehe bis zum Scheitel ein stolzer Krieger. Er würde den Sansiiri schon zeigen, was sein Schwertarm zu leisten vermochte. Und wenn jemand bei der anschließenden Siegesfeier das Biir trinken durfte, dann war nur er das! Mit diesem grimmigen Gedanken stürmte er davon, der Festung Millan entgegen. * Die Doggars liefen vorneweg und warfen sich mit der bloßen Wucht ihrer Körper gegen den Palisadenzaun. Vereinzelt kamen Pfeile aus der Dunkelheit herab geschossen, trafen da und dort die Bestien, konnten sie aber kaum ernsthaft verletzen. Die Haut der Doggars war wie steifes Leder, und darunter lagen Muskeln über Muskeln. Sie verwendeten ihre Köpfe wie Rammböcke, liefen immer wieder gegen die Palisaden an, verbissen sich in losgelöste Hölzer, zermahlten sie zu einer breiigen Masse. Die Verteidiger brauchten einige Minuten, um auf den Angriff zu reagieren, und weitere kostbare Zeit, um die Kessel, unter denen seit Stunden Feuer brannte, über wacklige, eilig gezimmerte Konstruktionen nach oben zu schaffen. Als endlich heißes, brennendes Fett von den Palisaden herab gekippt wurde 85
und mehrere Doggars in Brand setzte, hatten der Schutzwall schon unübersehbaren Schaden genommen. Einige der Tiere brannten lichterloh, doch sie hielten nicht inne, rannten weiter gegen den Zaun an. So lange, bis sich das Feuer durch Haut und Muskeln gebrannt hatte und die lebenswichtigen Organe versagten. »Acht gute, mühselig abgerichtete Doggars!«, flüsterte Cortan, der das erste Mal, seitdem der Dürre ihn kannte, so etwas wie Mitgefühl zeigte. »Bestien aus wertvollster Abstammung! Diese Bauern töten meine Doggars!« Er umklammerte seine Axt, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich wollte ihnen die Gnade eines raschen Todes schenken – aber nun...« Cortan erklomm mit hastigen Sprüngen einen kleinen Hügel, richtete sich zu voller Größe auf und schrie in Richtung der Hüter: »Benutzt die Pfeifen! Macht die Doggars scharf!« Sein Befehl wurde gehört und weitergegeben. Die Hüter bliesen mit aller Kraft in mundgroße hölzerne Pfeifen. Kein Ton drang hervor – doch die Doggars schüttelten sich, knurrten, bellten und jaulten – und warfen sich nunmehr mit doppeltem Elan gegen die Reste des Palisadenzauns! Nur Minuten dauerte es, dann brachen sie durch. Jegliche Gegenwehr war erloschen; als der Nosfera an Cortans Seite durch das Loch in die Stadt eindrang, war kein Verteidiger mehr zu sehen. Die Doggars waren längst vorausgestürmt. Die Hüter eilten hinterher, immer wieder in ihre Pfeifen blasend. Sie dirigierten die Tiere gezielt durch die Straßen, ebenso aufgestachelt und in Wut verfangen wie die Bestien. »Hinterher, Klappergestell!«, sagte Cortan, und zog den Vermummten mit sich. »Sonst bekommst du nichts mehr vom großen Schlachten mit!« Die Wege und Straßen waren dunkel; nur da und dort brannten ein paar rußige Fackeln. Wohin hatten sich diese 86
Bauern bloß zurückgezogen? Da flammte Licht vor ihnen auf, weit voraus zwar, aber dennoch so stark wie tausend Sonnen! Weiße runde Flecken, deren greller Schein sich schmerzhaft in die Netzhaut des Dürren brannte. Unruhe kam in die Rotte der Doggars; auch die Hüter wirkten unentschlossen. Jetzt waren auch noch ungewohnte Geräusche zu hören; tiefes Brummen, das von den Wänden der eng stehenden Häuser widerhallte. Es erinnerte den Dürren an etwas, das er seit langer Zeit nicht mehr vernommen hatte: an die Baiiks, jene zweirädrigen Fahrzeuge Jacobos, die sich ohne sichtbares Zutun bewegen konnten! Die Doggars schienen mit einem Mal unentschlossen. Sie waren von dem grellen Schein geblendet und orientierungslos. Ein Zischen ertönte – und eine der Bestien winselte unerwartet auf. Ein winselnder Doggar! Unmöglich! »Was geht dort vorne vor sich, Klappergestell?« Cortan packte den Dürren am Hals. »Hast du vielleicht vergessen, mir etwas mitzuteilen?« »N...nein«, ächzte der Nosfera. »Vielleicht... haben die Verteidiger ja... das geheime Waffenlager entdeckt?« »Die Waffen...« Cortan blickte hin und her zwischen dem Gesicht des Dürren und der engen, hell beleuchteten Straße, an deren Ende die Krieger und Doggars auf unerwartete Gegenwehr trafen. Schließlich siegte Gier über Verantwortungsbewusstsein. »Dann zeige mir, wo sich das Versteck mit den Wunderwaffen befindet.« Er stieß den dürren Mann vor sich her. »Los, beweg dich!« Der Nosfera sah sich um, tat so, als ob er sich orientieren müsse. Natürlich wusste er genau, wo er sich befand. Oft genug war er nachts durch diese Straßen geschlichen, auf der 87
Suche nach Nahrung, nach Blut... »Hier entlang, Herr!«, rief er Cortan zu und betrat eine Seitengasse, so schmal, dass die Häuserfronten über ihnen zusammenzuwachsen schienen. »Das ist der richtige Weg?« Der Kriegstatter folgte misstrauisch. »Eine Abkürzung. Rasch jetzt, Herr!« Der Nosfera fiel in leichten Trab, sodass auch Cortan weiter ausgreifen musste, und bog unversehens um eine Ecke... Jetzt! Er zog den Schokker aus dem Gürtel, aktivierte ihn und fuhr dem Kriegstatter damit an die Kehle, als dieser um die Ecke gestürmt kam. Der riesige, mächtige Mann fiel um wie ein Felsblock, erstarrt, hilflos. Konvulsivische Zuckungen erfassten ihn und wurden stärker, je länger der Nosfera die Waffe an seinen Körper presste. »Habgier ist ein schlechter Ratgeber, edler Kriegstatter!«, sagte er höhnisch. »Die Suche nach dem Schatz hat nun ein Ende für dich. Dein Lohn ist der Tod, denn ihr habt mich nicht gut behandelt. Mich, den Vertreter einer neuen Rasse!« Er hielt den Schokker so lange gegen Cortans Hals gedrückt, bis die letzten Zuckungen abgeklungen waren. Schaum stand im Mund des Toten, und ein süßlicher Geruch breitete sich aus. »Solltest du auf dem Weg zu deinen Göttern sein und mich hören können, Kriegstatter«, sagte der Nosfera, »du hättest keinen Schatz gefunden. Denn es gibt ihn gar nicht. Und jetzt werden deine Männer für mich Rache üben!« * Cravelli hatte seine Leute gut postiert, das musste man ihm lassen. Sie verschmolzen mit der Dunkelheit, nutzten die engen Häuserfluchten und legten mit blutgetränkten Stofffetzen eine 88
Fährte für die Doggars. Der erste Teil des Plans ging auf – die Mehrzahl der hundeähnlichen Monstren blieb dicht beisammen, anstatt sich zu zerstreuen und in den Häusern nach Beute zu jagen. »Aruula«, sagte Matt leise in sein Funkgerät, »die Bestien nähern sich eurer Position. Macht euch bereit!« »Okee!«, antwortete die Barbarin knapp, die sich nur schwer mit seinem Plan hatte anfreunden können. Der offene Kampf – das war ihr Ding. Eine Falle zu stellen behagte ihr nicht. Trotzdem hatte sie es sich nicht nehmen lassen, den gefährlichsten Part der Aktion zu übernehmen. Von seinem Standort aus, einem der noch halbwegs intakten Türme des Mailänder Doms, überblickte Matt mehr als die Hälfte der verfallenen Stadt. Mit der Infrarot-Sicht des Community-Feldstechers konnte er die Doggars klar erkennen. »Jetzt! Lauft!«, brüllte Matt in das Gerät. Aruulas Leute, mehr als einhundert, setzten sich in Bewegung. Die Barbarin und eine handverlesene Schar mutiger Sansiiri liefen aus gutem Grund vorneweg. Da kamen sie angehechelt, die Hundemonster. Sie witterten die Menschen! Grundgütiger, waren die Viecher hässlich! Eine Mischung aus Bulldogge und Pitbull-Terrier, mit gut und gerne der zwanzigfachen Masse. Jeder ihrer weit ausgreifenden Laufschritte brachte sie drei Meter voran. Der Vorsprung von Aruulas Gruppe schmolz beängstigend rasch. »Schneller!«, rief Matt ins Funkgerät, »sie haben euch gleich!« Die Menschen rannten, was ihre Lungen hergaben. Jetzt rechts um die Ecke, dachte Matt ihren vorgezeichneten Weg mit, rein in die Sackgasse. Zwanzig Meter, dann links und rechts wegtauchen, unter den Drahtzäunen hindurch. Beeilt euch! Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Es hing viel von ihm ab. Davon, dass er beobachtete und den richtigen Moment 89
abpasste. Die letzten Menschen hechteten zwischen den eng gespannten Kabeln hindurch, als der erste Doggar nur noch eine Sprungweite entfernt war... »Einschalten, Selina!«, rief Matt. »Jetzt!« Sekundenbruchteile später beleuchtete grelles Licht die Straße. Gleichzeitig fuhr Strom in die Zäune links und rechts, gespeist von den EWAT-Energiespeichern. Zwanzigtausend Volt waren es, die die ersten Doggars zurückwarfen. Jaulen und Winseln erklang. Gut zwanzig der Bestien blieben zuckend liegen. Immer noch waren es mehr als sechzig, die sich in der Mitte der Straße sammelten. Instinktiv mussten sie wissen, woher die Gefahr drohte. Sie machten keine Anstalten, die Menschen weiter zu verfolgen, die hinter den Zäunen in Sicherheit waren. Sekundenlang zögerten sie, der Straße weiter zu folgen, und Matt fürchtete schon, sein Plan käme ins Wanken, aber dann trieben die Hüter ihre Tiere vorwärts. Es blieb ihnen keine Wahl, denn der Trupp der Kriegstatter drängte nach, und man wollte nicht riskieren, dass die Bestien sich andere Opfer aus den eigenen Reihen suchten. Matt drückte die Sendetaste des Funkgeräts. »Aruula? Sie kommen jetzt! Mach euch bereit!« »Wir sind in Position«, gab die Kriegerin zurück. Ihre Stimme klang heiser – oder lag das nur an dem kleinen Lautsprecher? Matt fluchte innerlich, jetzt nicht bei ihr sein zu können. Aber auch er hatte noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen... »Seid vorsichtig! Und... Wudan beschütze euch!« Er verließ seine Stellung, schaltete im Laufen das Funkgerät auf eine andere Frequenz um. »Peter, bitte melden!« Der Pilot befand sich zusammen mit Andrew Farmer, Cravelli und einigen Dutzend Männern auf dem Vorplatz der Kathedrale. 90
»Ich höre!«, kam die Rückmeldung. »Es ist so weit: Wir stoßen vor! Bin gleich bei euch!« Er eilte die Treppen des Doms hinab und sprang über einige Trümmer nach draußen. Um die Doggars würden sich Aruula und ihre Leute kümmern. Sie mussten den Feinden den Rückweg versperren, bevor diese merkten, dass sie in eine Falle getappt waren und umkehrten. * Die Barbarin holte tief Luft. Die Doggars, kaum mehr als fünfzig Meter entfernt, boten einen Furcht erregenden Anblick. Die hochgezogenen Lefzen entblößten spitze gelbliche Zahnreihen. Langsam pirschten sie näher, der sicher scheinenden Beute entgegen. Aruula hatte noch vier Männer um sich, die Stärksten und Besten unter den Sansiiri. Und Angeloo, der es sich nicht hatte nehmen lassen, »die Barbarin zu beschützen«. Sie alle hatten die Schwerter abgelegt und standen da, nur mit meterlangen Stangen bewaffnet. »Ruhig bleiben«, mahnte Aruula. »Sie sind noch nicht nahe genug. Verdammt, da muss mehr Bewegung rein, sonst funktioniert es nicht!« Es stank bestialisch. Die Straße brach wenige Meter hinter ihnen auf ganzer Breite und einer Länge von bis zu fünf Metern ab. Die Betondecke war einst unterspült worden und weggesackt. Jetzt klaffte dort ein großes schwarzes Loch zur Kanalisation, in das vor kurzem der Inhalt aller verfügbaren Biirfässer geschüttet worden war. Und aus dem unheimliche schmatzende Geräusche hervordrangen. Witterten die Bestien die Falle? Stürmten sie deshalb nicht los, um sie die scheinbar leichte Beute zu holen? 91
Nun – auch falls es so war, die Hüter hinter ihnen besaßen dieses Feingefühl nicht. Vom Anfang der Straße drängten die Kriegstatter nach, und wenn man nicht zwischen ihnen und den Doggars eingepfercht werden wollte, mussten die Hundebestien voran getrieben werden. Mit unhörbaren Pfiffen peitschten die Hüter, die sich tunlichst von den mit Stromdrähten versperrten Seitengassen fern hielten, ihre Tiere vorwärts. Die fielen in einen raschen Trab, hetzten schließlich auf Aruula und die fünf Männer zu. »So ist es gut, meine Kleinen!«, rief die Barbarin. »Kommt her und holt euch euer Fressen!« Immer mehr Doggars gerieten in Bewegung. Noch dreißig Meter... noch zwanzig... Sie näherten sich dem letzten Scheinwerfer, der sie blendete und blind machte für den Abriss der Straße. Wenn sie schnell genug waren, würden sie das Loch nicht mehr rechtzeitig entdeckten. »Jetzt!«, schrie Aruula. Die Männer fuhren herum, rissen ihre Stangen hoch und nahmen Anlauf. Gleichzeitig sprachen die Jagdinstinkte der Doggars an. Die Beute versuchte zu entkommen! Die Bestien wuchteten ihre schweren Körper noch schneller vorwärts. Die Enden der Stangen verschwanden in der dunklen Tiefe der Grube, fanden mit schmatzenden Geräuschen Halt, und der Schwung katapultierte die sechs Menschen über die Schwärze hinweg auf die andere Seite. Dort befand sich ein Erdwall, für den Fall aufgeschüttet, dass die Angreifer Pfeile und Speere einsetzten. Auch Aruula kam sicher auf, rollte sich ab und wollte hinter dem Wall in Deckung gehen – als ein gellender Schrei sie förmlich zurück riss. Angeloo! Der Junge hatte den Stab zu nah am jenseitigen Rand aufgesetzt und war zu kurz gesprungen. Die Barbarin sah seine Hand noch über die Bruchkante gekrallt, bevor sie abrutschte und in dem Loch verschwand. Meerdu!, fluchte Aruula in Gedanken, als sie zurück zum 92
Abriss hechtete und sich flach auf den Bauch warf. Unter ihr klammerte sich Angeloo an einige dürre Wurzelstrünke, die aus der Wand ragten. Er wimmerte vor Angst. Und das war kein Wunder – Aruula überkam selbst eine Woge des Schreckens, als sie die Wesen knapp unter seinen baumelnden Beinen sah. Die Snäkken waren vom Biir angelockt worden – Maddrax' Idee, von der Aruula nicht gedacht hätte, dass sie funktionieren würde. Nun tummelten sich vier, fünf der monströsen Wesen in der dunklen Grube – und eines davon streckte bereits seine Tentakel nach Angeloo aus! »Hier – greif zu!« Aruula reckte ihm die Hand entgegen. Ein wütendes Knurren von der anderen Seite der Grube her! Aruula sah hoch. Dort hatte der erste der Doggars erkannt, was da vor ihm im Zwielicht gähnte, und versuchte seinen Lauf abzubremsen. Vergeblich – er verlor den Boden unter den Pfoten und stürzte ab. Die zweite Bestie folgte ihm in die Tiefe, dann die dritte und vierte. Von hinten schob die Meute; es gab keine Chance, sich auf dem Asphalt zu halten. Aruula löste ihren Blick von dem unfassbaren Geschehen, als Angeloos Hand die ihre umkrallte. Sie packte zu und zerrte ihn hoch – einen Sekundenbruchteil bevor der peitschende Tentakel sein Bein getroffen hätte. Mit einem Ruck zog die Barbarin den jungen Burschen über den Rand. Dann wälzte sie sich wieder herum und blickte abwechselnd zur anderen Seite der Grube und in die Tiefe. Es war ein Gemetzel, das Aruula zu sehen bekam. Weitere Snäkken schoben sich durch die Kanalröhre. Die breite Grube war mit ihren schleimigen Körpern angefüllt. Die Doggars bissen wild um sich, aber auf diese Weise konnte man eine Snäkke nicht verletzen. Die gut zwei Meter breiten Mäuler der gallertartigen Kreaturen verschlangen einen nach dem anderen oder zerrten sie in die ewige Nacht jenseits der 93
Röhrenbrüche. Sie würden lebendig in ihren Bälgern verdaut werden... Immer noch trieben die Hüter ihre Tiere an; von den Scheinwerfern geblendet sahen sie nicht, was jenseits des Lichtes vorging. Als die ersten Doggars trotz der schmerzhaften Pfeiftöne den Rückzug antraten, war es zu spät, die Katastrophe zu verhindern. Vielleicht hätte Cortan sie mit taktischem Geschick und gezielten Befehlen noch abwenden können, doch der Kriegsherr war wie vom Erdboden verschluckt und seine Truppe führerlos. Doggars wandten sich gegen Hüter, Hüter gegen Kriegstatter – und hinter diesen griffen in diesem Augenblick Meister Cravellis Männer an, unter ihnen Maddrax, Peter und Andrew. Die Retrologen hatten ihre Lager geplündert und alles mit Akuvolt oder petroleo aufgeladen und gefüllt, was sich als Waffe einsetzen ließ: rostige Motorsägen, Mixer, die man mit scharfen Messern bestückt hatte, Viehstäbe, große Ventilatoren... und auch drei übrig gebliebene Magno-Frisbees. »Ergebt euch!«, dröhnte die Stimme des Meisters. Er sprach über ein batteriebetriebenes Megaphon und übertönte jeden Lärm. Trotzdem dauerte es schreckliche, blutige Minuten, bis Ruhe in das Kampfgetümmel kam. Am Ende waren sämtliche Doggars tot, von den Kriegstatter selbst erlegt. Lediglich zwei Hüter hatten überlebt, und die restlichen Krieger waren in einem derart desolaten Zustand, dass sie angesichts der nachrückenden Dorfbewohner mit ihren seltsamen, lärmenden Geräten die Waffen streckten und sich ergaben. Aruula und ihre Männer – auch der junge Angeloo, dessen Glieder noch immer zitterten, aber dessen Augen leuchteten – kehrten über einen schmalen Steg an einer der Hauswände auf diese Seite der Grube zurück. Der Kampf war vorbei.
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*
Mein Name hat einmal Kranam gelautet, vor langer Zeit. Ich lebte in Millan, gemeinsam mit meinen Nosfera-Brüdern, als Bodensatz, als Ausgestoßener der Gesellschaft. Das änderte sich, als jener gottgleiche Jacobo auftauchte. Er hatte eine mächtige Waffe bei sich, die tödliche Blitze schleudern konnte, und er besaß ein Wissen, das an Gelehrtheit, Scharfsinn und Weitsicht nicht zu überbieten war. Er versprach uns Macht, stillte unseren Hunger, gab uns Feuerräder, wollte unser Volk zu neuer Blüte führen. Er vollzog Experimente an uns, schmerzhafte Versuche, die uns dem verheißenen Ziel näher bringen sollten, zu – wie er es nannte – echten Vampiren zu werden. Gern nahm ich nach all den Jahren der Demütigung diese Pein auf mich und stellte mich – so wie wir alle – in den Dienst einer guten und gerechten Sache. Dann tauchte jene fremde Barbarin auf, die Jacobo zur Stammmutter des neuen Geschlechtes der Vampire machen wollte. Ein wunderbares Weib, so weich, so rein, und so voll köstlichen Blutes. Ich durfte sie einmal berühren, über ihre samtene Haut streichen, und ich glaubte mich im Reich der Götter. Doch das Glück währte nur kurz. Ein Mann zerbrach es. Maddrax riefen sie ihn, und er brachte die Stammmutter an sich. Er vertrieb oder tötete Jacobo, er zerstörte die Festung, er vernichtete mein Glück. Ich überlebte die Wirren nach jener Schlacht, in denen die Bewohner Millans Rache übten für Jacobos Herrschaft, und viele von uns erschlugen. Ich entkam und zog orientierungslos umher, immer in Schatten und Zwielicht versteckt, und klammerte mich an Jacobos Schokker – die göttliche Waffe, die ich in den Trümmern gefunden hatte. Doch sie hatte ihre Macht verloren und schleuderte keinen einzigen Blitz mehr. 95
Bis zu dem Tag, an dem ich jenen Narren auf dem Markt traf, der mir mit seinem Akuvolt die vernichtende Wirkung des Schokkers zurückgab. Und da wusste ich: Die Zeit der Rache war nah... Die Tagträume vergingen und die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Aber was für eine Wirklichkeit: Die Kriegstatter verloren soeben die Schlacht gegen ein paar Bauerntölpel! Es war... nicht gerecht! Der Zorn, den er in sich spürte, kannte keine Grenzen. Er brannte lichterloh, verzehrte sein Innerstes. Greifbar nah war der Moment der Rache gewesen, und nun ließen sich die ach so tapferen Krieger von den Dorfbewohnern überwältigen?! Nun gut; er hatte vier Jahre gewartet, er würde auch länger warten können. Rachedurst war ein Gefühl, das ein Leben lang in jemandem gären konnte, um irgendwann einmal Erfüllung zu finden... Gerade wollte Kranam sich umwenden und durch die nächste Gasse verschwinden, da fiel sein Blick auf einen Mann, der ihm seltsam bekannt vorkam. Als ihm bewusst wurde, wo er ihn schon einmal gesehen hatte, durchfuhr es ihn wie ein Schlag mit dem Schokker. Das war... Maddrax! Jedes vernünftige Denken in dem Nosfera, der einmal Kranam geheißen hatte, setzte aus. * Der Jubel kannte keine Grenzen; er füllte die Gassen, Straßen und Wege der Stadt. Die einfachen Bauern aus dem Ring der Dörfer hatten die mächtigen Kriegstatter mit einer List besiegt! Die überlebenden Feinde war gefesselt und abgeführt worden; was mit ihnen geschah, würde ein Rat entscheiden, der sich aus den Ältesten aller Dörfer zusammen setzte. 96
Maddrax hob den Arm und winkte. Die jubelnde Menge hatte ihn, Aruula und Meister Cravelli auf die Schultern genommen und marschierte im Triumphzug zum Tor, der einsetzenden Dämmerung entgegen. Selina McDuncan, Andrew Farmer und Peter Shaw liefen neben ihnen her. Auch ihnen wurden immer wieder Ehrungen zuteil; man herzte sie, schüttelte ihre Hände und schlug ihnen auf die Schultern. Plötzlich glaubte Matt inmitten des Jubels erboste Rufe zu hören. Er blickte sich um und gewahrte eine Kapuzengestalt, die sich rücksichtslos durch die Menge wühlte, genau auf ihn zu. Noch ein Attentäter in Juunas Auftrag? »Lasst mich runter! He, hört ihr nicht?!« Vergeblich versuchte sich Matt durchzusetzen; die Männer, die ihn trugen, waren trunken vor Begeisterung und reagierten nicht. Der Kapuzenmann kam näher. Matt sah, wie drei oder vier Dörfler ihn nacheinander aufzuhalten versuchten – und einer nach dem anderen wie vom Blitz getroffen zu Boden sank. Nun hatte er keinen Zweifel mehr: Gefahr war im Anzug! Energisch trat er nach unten aus und schaffte es, dass seine Träger ihn losließen. Im Fallen sah er noch, wie nun auch Peter Shaw auf den Vermummten aufmerksam wurde und sich ihm in den Weg stellte. Dann verdeckten immer wieder Körper sein Sichtfeld. Ein Schatten kam herangeflogen, mit einem irrlichternden Ding in der Hand. Ein greller Widerschein fuhr über Shaws Gesicht, und der Schrei, den der Techno ausstieß, riss die Menschen endgültig aus ihrem Freudentaumel. Shaw brach zusammen. Matt kam auf die Beine. Ringsum brach nun Panik aus. Jemand rempelte ihn an. Er hörte, wie Selina nach Peter Shaw rief. Dann war der Vermummte heran. Eine weitere, rasche Bewegung mit dem Ding in seiner Hand, bevor Matt sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ein schrecklicher Schlag, 97
der ihm durch Mark und Bein ging, und sein Körper war wie gelähmt. Schwer fiel er zurück, verkrampft, wehrlos, voll Agonie. Die Menschen um ihn her starrten nur, starrten entgeistert auf ihn und den Vermummten, der mit einem grässlichen, irren Lachen den Elektroschocker erneut auf Matthew Drax richtete... * »Ein unglaublicher Affront, eine Missachtung meiner Würde«, murmelte Gholan, als er durch die leeren Straßen der alten Stadt stapfte. Laute Jubelschreie ertönten vor ihm, auf der großen Piazza vor dem verfallenen Riesenbau. Cravellis Stimme hörte er heraus. Sie war unnatürlich verstärkt, aber unverkennbar die Stimme des Meisters. Gholan war müde vom langen Marsch, fand kaum noch Luft. »Wenn sie schon... alleine siegen, so sollen sie... wenigstens mit dem Feiern auf mich... warten. Na wartet, ihr liederlichen... Gesellen. Mein Biir habt ihr... gestohlen!« Die Piazza war voll von Menschen. Eine besonders große Traube hatte sich um drei Gestalten versammelt, die auf den Schultern der anderen getragen wurden. Gholan stürmte darauf zu. Dann erkannte er Maddrax, der sich feiern ließ und die Arme hoch riss. Typisch, wieder musste der Blondschopf im Vordergrund stehen, so wie schon dazumal... Aber was war das? Diese vermummte Gestalt von links – sie wühlte sich durch die Menge auf Maddrax zu. Was hatte sie da in der Hand? Und warum schrie der Mann neben Maddrax plötzlich schmerzerfüllt auf? *
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Matt konnte alles sehen, doch es war ihm unmöglich, sich zu bewegen. Wie in Zeitlupe registrierte er, was sich um ihn herum abspielte. Dabei waren seit der Attacke des Vermummten nicht mehr als zehn Sekunden vergangen. »Endlich Rache!«, brüllte der Angreifer und riss die Kutte von seinem Körper. Ein verunstalteter hagerer Mann kam zum Vorschein, verkrüppelt und voller schwärender Blasen. Ein Nosfera! In der Rechten hielt er einen Elektro-Schocker, aus dessen Kontakten flackernde Blitze sprangen. Die Menge wich erschrocken zurück. Wie durch Watte hörte Matt Andrew Farmer brüllen: »Verdammt, lasst mich durch!«, dann Aruula: »Retore! Retore, damne!« Der Nosfera beugte sich zu ihm herab. Ein Grinsen kerbte sein Gesicht wie eine schwärende Wunde. »Ich bin Kranam!«, verkündete der Blutsäufer. Matts Gehirn war wie leergefegt. Er hatte diese Schreckensgestalt nie zuvor gesehen. Aber der Schocker kam ihm bekannt vor. Und im nächsten Moment wusste er auch, woher. »Dies ist für meinen Herrn Jacobo, den du vernichtet hast – und mit ihm die Zukunft der Nosfera von Millan!« Der Schocker fuhr herab zum tödlichen Schlag. Da spritzte die Wand der zurückgewichenen Dörfler auseinander wie von einer riesigen Faust getroffen. Eine voluminöse Gestalt brauste wie eine Dampflok heran, das Schwert über den Kopf erhoben, und schlug dem Widersacher mit voller Wucht die Klinge auf den Arm, der den Schocker hielt. Kein Schmerzensschrei drang über die vertrockneten Lippen des Nosfera! Er blickte auf seinen abgetrennten Arm hinab, dann griff er mit der anderen Hand zu und nahm den Schocker wieder an sich. Ein Raunen des Entsetzens ging durch die Menge, und auch der Schwertkämpfer erstarrte. 99
Der Nosfera presste ihm den Schocker an den Hals und drückte ab. Doch er hatte seinen Gegner unterschätzt. Noch bevor dessen Körper verkrampfte, brachte er einen rostigen Dolch hoch und durchbohrte das Herz des Blutsäufers. Beide gingen gleichzeitig zu Boden. Der Barbar, der nach Wein und Schweiß und verbranntem Fleisch stank, näherte sein Gesicht dem von Matt. »Siehst du, Maddrax... ich muss dich... schon wieder... retten«, keuchte Gholan noch, bevor er endgültig zusammenbrach. »Der Calciatore ist tot«, hörte Matt Meister Cravelli wenige Momente später sagen, und es wurde ruhig auf der Piazza. * Zwei Stunden später Das Gefühl war in Matts Körper zurückgekehrt. Da und dort kribbelte es noch ein wenig und sein Herz schlug schneller als gewohnt, aber er lebte. Aruula stand neben ihm und behandelte die Brandwunde an seinem Hals mit einer Heilsalbe, die nach Kamille roch. Sie schwieg die meiste Zeit. Offensichtlich plagte sie auf eine merkwürdige Art und Weise ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht rechtzeitig in seiner Nähe gewesen war. Sie befanden sich im Inneren der Mailänder Scala – dort, wo einmal die Bühne gewesen war. Meister Cravelli hatte ein provisorisches Quartier für die vielen Leicht- und wenigen Schwerverletzten aufschlagen lassen. Gholan, der Mann, dem Matt sein Leben verdankte, war tot. Gestorben an Herzversagen. Zu viel Alkohol, der Dauerlauf von Sansiiro hierher und schließlich der Elektroschock waren zu viel gewesen für den angegriffenen Kreislauf des verfetteten Calciatores. Auch Lieutenant Peter Shaw hatte es schwer erwischt. Der Nosfera war ihm mit dem Schocker quer über das Gesicht 100
gefahren. Eine blutrote, nässende Narbe zog sich von der Stirn über sein rechtes Auge bis hinab zum Nasenflügel. Das Auge selbst – es war wohl nicht mehr zu retten. Selina kümmerte sich rührend um den jungen Piloten. Sie hatte ihn anästhesiert und pflegte seine fürchterliche Wunde. Corporal Farmer war nicht hier; Matt hatte ihn mit einem Universal-Translator zu den Verhören der überlebenden Kriegstatter geschickt. Er wollte wissen, in welcher Verbindung sie zu Kranam gestanden hatten und ob es noch mehr Nosfera da draußen gab, die ihm nach dem Leben trachteten. Plötzlich drehte Captain McDuncan sich abrupt um und trat zu Matthew Drax' Liegestatt. »Commander? Ich habe eine Bitte...« »Ja? Nur nicht so förmlich, Selina!« Er wusste, was nun kommen würde. »Lieutenant Shaw, ich meine Peter, wird diese Verletzung nicht überleben, wenn wir...« »Sprechen Sie's ruhig aus, Captain. Sie wollen die Mission abbrechen.« »Nicht abbrechen, Sir!«, sagte Selina McDuncan hastig. »Nur unterbrechen, damit wir ihn auf schnellstem Wege zurück zur Community London transportieren können. Er hat Fieber, Herzrhythmusstörungen und katatonische Anfälle. Ich bin kein Arzt, und hier werden wir auch so rasch keinen finden. Wenn wir ihn retten wollen...« »Sie haben Recht, Selina«, unterbrach Matt sie. »Wir werden nach London zurückkehren. Sobald der EWAT repariert ist. Ich werde dabei helfen, so gut ich kann.« Selina McDuncan nickte knapp und ging wieder zu Shaw hinüber. Corporal Farmer betrat den Raum, orientierte sich kurz und kam dann zu Matt und Aruula. »Was haben Sie erfahren, Andrew?«, erkundigte sich 101
Matthew. »Der Angriff diente wohl nur dazu, ein angebliches Waffenlager in Mailand zu plündern«, berichtete der junge Aufklärer. »Der Nosfera hatte den Anführer dazu überredet. Wir wissen jetzt, dass ihm in Wahrheit nur die Rache an den Dörflern wichtig war – Rache für die Vertreibung nach den Sturz von Smythes Schreckensherrschaft. Dass Sie hier waren, Commander, war nur ein verrückter Zufall.« »Also keine weiteren Nosfera?«, hakte Matt nach. »Das nicht...« Farmer zögerte. »Aber...?« »Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, fuhr Andrew fort. »Die Kriegstatter waren eigentlich auf dem Weg nach Wien – oder Weean, wie es jetzt genannt wird –, und was dort im Gange ist, könnte mit den Daa'muren zusammenhängen.« Mit einem Ruck richtete sich Matt auf die Ellbogen auf. »Was?! Erzählen Sie!« »Es ist nur eine persönliche Vermutung, Sir«, wiegelte Farmer ab. »Die Gefangenen berichteten von ständigen Kämpfen, großen Schlachten und unheimlichen Dinge, die sich dort ereignen sollen. Es war auch die Rede von einem grünlichen Leuchten über der Stadt.« »Ein grünliches Leuchten...«, echote Matthew. »Sind Sie sicher?« »So hat es der Translator übersetzt.« Matt überlegte. »Zuerst geht es nach London«, entschied er dann. »Peter muss schnellstens in medizinische Behandlung. Dann werde ich mich darum bemühen, dass ein anderes Team den Job in Rom übernimmt und wir dafür nach Wien fliegen.« »Okay«, antwortete Farmer. »Captain McDuncan und ich werden alles daransetzen, den EWAT so rasch wie möglich wieder in die Luft zu bekommen. Wann können wir die 102
Reparatur fortsetzen?« »Wir marschieren in einer halben Stunde ab. Ich bin mir sicher, dass man uns ein paar Leute als Träger und Eskorte mitgeben wird. Es tut mir allerdings Leid, diese Menschen so rasch verlassen zu müssen...« »Mach dir nur keine Sorgen«, sagte Aruula. »Sie haben bereits einen neuen Häuptling gewählt, der den Ring der Dörfer einen soll...« Matt setzte sich weiter auf. »Das ging aber rasch! Und wer ist der Glückliche?« »Der Held des Kampfes gegen die Kriegstatter: der große Retrologe Cravelli. Mir scheint, wir haben seinem Clan ganz schön unter die Arme gegriffen.« »Und das ist auch gut so«, fügte Matt hinzu, »Wer weiß, vielleicht erwächst aus diesen Reliktsammlern noch eine brauchbare Hilfe gegen die Daa'muren. Wir sollten sie im Auge behalten.« Selina McDuncan, die das Gespräch von Shaws Krankenlager aus verfolgt hatte, seufzte. »Sie hatten mal wieder Recht, Commander. Ich glaube, vor allem anderen brauchen wir Optimisten wie Sie in dieser verrückten, aus den Fugen geratenen Welt.« Niemand widersprach ihr. Epilog Am Kratersee (4) Ora'sol'guudo saß im Sand, die Füße im Wasser, und er sahroch-hörte-spürte-schmeckte den Kratersee. Er besaß einen Körper – und was für einen! Unglaubliche Kräfte steckten in dieser fleischlichen Hülle, und ein unglaubliches Potenzial. Nunmehr standen ihm Möglichkeiten offen, an die er noch gar nicht zu denken wagte. Und dennoch – der Rest eines Zweifels blieb. Warum war der Übergang in den Trägerorganismus so... 103
ungewöhnlich vonstatten gegangen? Warum hatte er eine große, schwarze Leere gespürt? War da etwas nicht so, wie es sein sollte? War ein Fehler passiert? Er lauschte in sein Inneres und fand – nichts.
Alles war in Ordnung.
Es musste alles in Ordnung sein.
Ora'sol'guudo stand auf, blickte in die untergehende Sonne
und sprach die ersten Worte seines neuen Lebens: »Nun kann Projekt Daa'mur in die nächste Phase gehen. Der Wandler muss reaktiviert werden!« ENDE
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Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Auszeit von Claudia Kern Jeder Mensch definiert sich über seine Erfahrungen, seine Vorlieben, Gelüste, Abneigungen, Interessen, seine Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und viele weitere Faktoren. Was aber passiert, wenn all diese Eigenschaften von einem Moment auf den anderen gelöscht werden? Wenn nur das Wissen um die eigene Existenz bleibt, aber die Identität – alles, was einen Menschen als eigenständiges Individuum festlegt – wie ein leeres Blatt erscheint? Eine interessante Frage. Matthew Drax und seine Gefährten werden sie sich bald stellen müssen...
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