Eugène Ionesco
Die Nashörner Vier Erzählungen
s&c by anybody "Ein frei umherlaufendes Nashorn in der Stadt! Überrascht...
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Eugène Ionesco
Die Nashörner Vier Erzählungen
s&c by anybody "Ein frei umherlaufendes Nashorn in der Stadt! Überrascht Sie das nicht? Das müßte verboten werden!" Bei dem einen bleibt es nicht, und die brüllenden trampelnden Tiere stellen alles Gewohnt-Geordnete auf den Kopf. Eugène lonesco, der mit seinen "Antidramen" weltbekannt wurde, erweist sich auch in diesen vier Erzählungen als gewitzter Kritiker bürgerlicher Gemeinplätze.
Inhalt DIE NASHÖRNER .................................................................................... 3 GOLDFACKEL........................................................................................ 17 DIE PHOTOGRAPHIE DES OBERSTEN.............................................. 25 EIN OPFER DER PFLICHT .................................................................... 36 NACHWORT........................................................................................... 41
DIE NASHÖRNER WIR PLAUDERTEN über dies und jenes auf der Terrasse des Cafes, mein Freund Jean und ich, als wir auf dem gegenübergelegenen Trottoir, riesig, mächtig, laut schnaufend, vorwärtsstürmend, die Warenstände umreißend, ein Nashorn erblickten. Die Passanten stoben heftig auseinander, um ihm den Weg freizugeben. Eine Frau stieß einen Angstschrei aus, ihre Hände ließen die Einkaufstasche fallen, und Wein ergoß sich aus einer zerschellten Flasche über das Pflaster; einige Spaziergänger, unter ihnen ein Greis, traten hastig in die Läden. Das währte kürzer als die Dauer eines Blitzes. Die Fußgänger verließen wieder ihre Zuflucht, Menschengruppen bildeten sich und folgten mit Blicken dem schon weit entfernten Nashorn, besprachen das Ereignis und zerstreuten sich. Ich reagierte nur langsam. Teilnahmslos nahm ich das Bild des laufenden Tieres in mich auf, ohne ihm übertriebene Wichtigkeit beizumessen. Zudem fühlte ich mich an jenem Morgen ermüdet, ich verspürte einen bitteren Geschmack im Mund, die Folgen einer Zecherei am Abend zuvor: wir hatten den Geburtstag eines Kollegen gefeiert. Jean war nicht mit uns gewesen, deshalb rief er auch nach den ersten Augenblicken der Bestürzung aus: «Ein frei umherlaufendes Nashorn in der Stadt! Überrascht Sie das nicht? Das müßte verboten werden!» «Das ist wahr», erwiderte ich, «ich dachte nicht daran. Es ist gefährlich.» «Wir sollten bei den städtischen Behörden Einspruch erheben.» «Vielleicht ist es dem Zoo entflohen», meinte ich. «Sie träumen ja!» erwiderte er mir. «In unserer Stadt gibt es keinen zoologischen Garten mehr seit dem siebzehnten Jahrhundert, als die Tiere von der Pest dahingerafft wurden.» «Es stammt vielleicht aus dem Zirkus.» «Aus welchem Zirkus? Die Stadt hat dem reisenden Volk den Aufenthalt im Gemeindebezirk doch untersagt. So steht es seit unserer Kindheit.» «Wahrscheinlich hat es sich seit damals in den morastigen Wäldern der Umgebung verborgen gehalten», antwortete ich gähnend. «Sie stehen ganz unter dichten Alkoholdämpfen...» «Sie steigen vom Magen herauf...» «Gewiß; und sie umhüllen das Gehirn. Wo sehen Sie morastige Wälder in der Umgebung? Unsere Provinz wird auch 'Das Kleine Kastilien' genannt, so sehr ist sie versteppt.» «Es hat sich vielleicht unter Gestein verborgen gehalten? Vielleicht hat es sich ein Nest auf verdorrten Zweigen errichtet?» -3 -
«Sie öden mich an mit Ihren Ungereimtheiten. Sie sind nicht imstande, ernsthaft zu sprechen.» «Heute vor allem nicht.» «Heute nicht minder als gewöhnlich.» «Regen Sie sich nicht auf, mein lieber Jean. Wir wollen uns wegen dieses Tieres nicht streiten...» Wir wechselten das Thema der Unterhaltung und begannen wieder, vom guten Wetter und vom Regen, der so selten in dieser Gegend fiel, zu sprechen, von der Notwendigkeit, an unserem Himmel künstliche Wolken zu erzeugen, und von anderen banalen, unlösbaren Fragen mehr. Wir trennten uns. Es war Sonntag. Ich legte mich hin und schlief den ganzen Tag: wieder ein vertaner Sonntag. Am Montagmorgen ging ich ins Büro und schwor mir feierlich, mich nie wieder zu betrinken, schon gar nicht am Samstag, damit ich den folgenden Tag, Sonntag, nicht verschleudere. Nur einen Tag hatte ich frei jede Woche und drei Wochen Ferien im Sommer. Sollte ich da nicht besser, anstatt zu trinken oder krank zu sein, meine so geringe freie Zeit auf eine intelligentere Weise verbringen? Museen besuchen, Literaturzeitschriften lesen, mir Vorträge anhören? Und anstatt mein ganzes Geld in Alkohol umzusetzen, wäre es nicht besser, mir dafür Theaterkarten zu kaufen, interessanten Aufführungen beizuwohnen? Ich kannte noch immer nicht das Avantgarde-Theater, von dem man so viel sprach, immer noch hatte ich keines der Stücke von Ionesco gesehen. Jetzt oder nie war der Augenblick gekommen, sich mit diesen Dingen zu befassen. «Ich habe Wort gehalten», sagte ich ihm und gab ihm die Hand. «Welches Wort haben Sie gehalten?» fragte er mich. «Ich habe mir selber Wort gehalten. Ich schwor, nicht mehr zu trinken. Anstatt zu trinken, beschloß ich, etwas für meine Bildung zu tun. Heute habe ich einen klaren Kopf. Heute nachmittag besuche ich das städtische Museum, für heute abend habe ich einen Platz im Theater. Begleiten Sie mich?» «Wir wollen hoffen, daß Sie Ihren guten Vorsätzen treu bleiben», antwortete Jean. «Aber ich kann Sie nicht begleiten. Ich bin mit Freunden in einer Kneipe verabredet.» «Sehn Sie, mein Guter, jetzt geben aber Sie ein schlechtes Beispiel. Sie werden sich betrinken.» «Einmal ist keinmal», erwiderte Jean leicht verärgere. «Sie dagegen...» Das Gespräch nahm eine verhängnisvolle Wendung, als wir ein mächtiges Gebrüll, das überstürzte Klappern von Hufen eines Dickhäuters, Schreie, das Miauen einer Katze vernahmen; fast gleichzeitig erschien und verschwand, in Blitzeseile, auf dem gegenübergelegenen Trottoir, ein laut schnaufendes, mit voller Geschwindigkeit vorwärtsstürmendes Nashorn. Gleich darauf erschien -4 -
eine Frau, die in ihren Armen eine kleine, blutende, gestaltlose Masse trug: «Es hat meine Katze zertrampelt», jammerte sie, «es hat meine Katze zertrampelt!» Leute scharten sich um die arme, zerzauste Frau, die wie eine wahre Inkarnation der Verzweiflung anmutete, und trösteten sie. «Wie entsetzlich!» riefen sie, «das arme, kleine Tier!» Jean und ich, wir erhoben uns. Mit einem Satz überquerten wir die Straße und gesellten uns zu der Unglücklichen. «Alle Katzen sind sterblich», gab ich stupide meinen Senf hinzu, da ich nicht wußte, wie ich sie trösten sollte. «Letzte Woche kam es schon an meinem Laden vorbei!» erinnerte sich der Bäcker. «Es ist nicht dasselbe», behauptete Jean. «Es ist nicht dasselbe: jenes letzter Woche hatte zwei Hörner auf der Nase, es war ein asiatisches Nashorn; dieses hier hatte nur eines: es ist ein afrikanisches Nashorn.» «Sie erzählen Dummheiten», erregte ich mich. «Wie konnten Sie Hörner unterscheiden! Die Bestie kam hier mit einer solchen Geschwindigkeit vorbei, daß wir sie kaum gewahren konnten, geschweige Sie die Zeit hatten, die Hörner zu zählen...» «Ich bin ja auch nicht betrunken», entgegnete er heftig. «Ich habe einen klaren Kopf und rechne schnell.» «Gesenkten Kopfs stürmte es voran.» «Eben, man sah besser.» «Sie sind ein Angeber, Jean. Ein Pedant; ein Pedant, der nicht genau weiß, was er sagt. Denn, und das zuerst, es handelt sich, wenn es ein Horn auf der Nase trägt, um ein asiatisches Nashorn, während das afrikanische Nashorn zwei Hörner trägt!» «Sie täuschen sich, es ist umgekehrt.» «Wollen wir wetten?» «Ich wette nicht mit Ihnen. Sie sind es, der zwei Hörner trägt», rief er rot vor Zorn. «Sie Asiatenabkömmling Sie!» (Er gab nicht nach.) «Ich trage keine Hörner. Niemals werde ich welche tragen. Auch bin ich kein Asiate. Und außerdem sind die Asiaten Menschen wie andere auch.» «Gelb sind sie!» schrie er außer sich. Jean drehte mir den Rücken und entfernte sich schimpfend mit großen Schritten. Ich kam mir lächerlich vor. Ich hätte versöhnlicher sein und ihm nicht -5 -
widersprechen sollen: ich wußte doch, daß er das nicht vertrug. Schon der geringste Widerspruch machte ihn fuchsteufelswild. Das war sein einziger Fehler. Er hatte ein Herz aus Gold und hatte mir unzählige Dienste erwiesen. Die wenigen, die dabei gewesen waren und uns zugehört hatten, hatten darüber die totgetretene Katze und die arme Frau vergessen. Sie scharten sich um mich und stritten sich: die einen bestätigten, daß das asiatische Nashorn in der Tat einkörnig sei, und gaben mir recht; die anderen bekräftigten dagegen, daß das einkörnige Nashorn afrikanisch sei, und gaben darum meinem Vorredner recht. «Darum handelt es sich ja gar nicht», mischte sich ein Herr ein (Matrose, kleiner Schnurrbart, Augenglas, typischer Kopf eines Logikers), der sich bisher abseits gehalten und nichts gesagt hatte. «Die Auseinandersetzung betraf ein Problem, das Sie aus den Augen verloren haben. Sie fragten anfangs, ob das heutige Nashorn dasselbe vom letzten Sonntag, oder ob es ein anderes sei. Hierauf muß man eine Antwort finden. Sie können zweimal ein gleiches Nashorn, das nur ein Horn trug, gesehen haben, ebenso wie Sie zweimal ein gleiches Nashorn mit zwei Hörnern gesehen haben können. Auch können Sie ein erstes Nashorn mit einem Horn, dann ein anderes mit ebenfalls nur einem Horn gesehen haben. Dementsprechend können Sie ein erstes Nashorn mit zwei Hörnern, dann ein zweites mit zwei Hörnern gesehen haben. Hätten Sie das erstemal ein Nashorn mit zwei Hörnern, das zweitemal ein Nashorn mit einem Horn gesehen, würde das auch nichts beweisen. Es kann sein, daß während der letzten Woche das Nashorn eines seiner Hörner verloren hat, und daß das heutige dasselbe ist. Auch kann es sein, daß zwei Nashörner mit zwei Hörnern beide eines ihrer Hörner verloren haben. Wenn Sie beweisen könnten, daß Sie das erstemal ein Nashorn mit einem Horn, sei es nun afrikanisch oder asiatisch, und heute ein Nashorn mit zwei Hörnern, wie auch immer es sei, afrikanisch oder asiatisch, gesehen haben, könnten wir sogleich daraus folgern, daß wir es mit zwei verschiedenen Nashörnern zu tun haben, denn es ist kaum wahrscheinlich, daß ein zweites Horn in wenigen Tagen hinreichend sichtbar auf der Nase eines Nashorns wächst; das würde aus einem asiatischen oder afrikanischen Nashorn ein afrikanisches oder asiatisches Nashorn machen, was zufolge einer exakten Logik nicht möglich wäre, da dasselbe Geschöpf weder an zwei Orten zugleich noch nacheinander geboren sein kann.» «Das sehe ich ein», sagte ich, «es löst aber nicht das Problem.» «Natürlich nicht», entgegnete der Mann überlegen lächelnd, «die Frage ist nur auf korrekte Art gestellt.» «Das ist auch gar nicht das Problem», warf der Bäcker hitzig ein, der zweifelsohne über ein leidenschaftliches Temperament verfügte, aber sich wenig um Logik kümmerte. «Können wir zulassen, daß unsere Katzen vor -6 -
unseren Augen zertreten werden, gleichgültig ob von zwei- oder einkörnigen Nashörnern, seien sie nun asiatisch oder afrikanisch?» «Recht hat er. Ganz richtig», riefen die Leute. «Wir können nicht zulassen, daß unsere Katzen zertreten werden, von Nashörnern oder wovon auch immer!» Der Bäcker wies mit theatralischer Geste auf die arme, tränenüberströmte Frau, die in ihren Armen die blutige Masse, die ihre Katze gewesen war, hielt und wiegte. Am nächsten Morgen berichtete man in der Zeitung unter der Rubrik 'Katzenunfälle' in zwei Zeilen vom Tod des armen Tieres, «niedergetreten von einem Dickhäuter» schrieb man, ohne andere Einzelheiten zu geben. Am Sonntagnachmittag hatte ich nicht die Museen besucht, abends war ich nicht ins Theater gegangen. Ich vertrödelte unnütz die Zeit, ganz allein, bei mir zu Hause, zerknirscht darüber, mich mit Jean gestritten zu haben. «Er ist so empfindlich, ich hätte nachsichtig mit ihm sein sollen», sagte ich mir. «Es ist albern, sich über so etwas zu ärgern... über die Hörner eines Nashorns, das man nie zuvor gesehen hat... ein Tier, beheimatet in Afrika oder Asien, in weit entlegenen Gegenden, was kann das mir schon anhaben? Ganz anders Jean, er dagegen war ein Freund fürs Leben, der... dem ich so viel... und den...» Kurz, indem ich mir fest vornahm, Jean sobald wie möglich aufzusuchen und mich mit ihm zu versöhnen, trank ich eine ganze Flasche Kognak, ohne es zu merken. Am nächsten Morgen merkte ich es dann desto deutlicher: mit schmerzendem Kopf, trockenem Mund, schlechtem Gewissen fühlte ich mich wirklich sehr unbehaglich. Aber die Pflicht rief: ich kam noch gerade rechtzeitig ins Büro. Ich konnte die Anwesenheitsliste noch im letzten Augenblick abzeichnen, ehe man sie fortholen wollte. «Sie haben also auch Nashörner gesehen?» fragte mich der Chef, der zu meinem großen Erstaunen bereits da war. «O ja, ich sah sie auch», erwiderte ich und entledigte mich meiner Ausgehjacke, um eine alte mit abgeschabten Ärmeln anzuziehen, für die Arbeit gerade recht. «Ha, seht ihrs! Ich bin nicht verrückt!» rief Daisy, die Tipse, ganz erregt. (Wie schön war sie doch mit ihren geröteten Wangen, ihren blonden Haaren. Sie gefiel mir verdammt gut. Könnte ich in jemanden verliebt sein, dann in sie.)... «Ein einhörniges Nashorn!» «Mit zwei Hörnern!» verbesserte mein Kollege Emile Dudard, Assessor und blendender Jurist, befähigt zu einer großen Karriere in diesem Haus und, vielleicht, im Herzen Daisys. «Ich habe es nicht gesehen und glaub auch nicht daran!» erklärte Botard, ehemals Lehrer, der den Posten des Archivars innehatte. «Und niemand hat solche je in diesem Land gesehen, es sei denn auf Bildern in Schulatlanten. Diese Nashörner blühen nur in der Phantasie alter Weiber. Ein -7 -
Ammenmärchen, so wie die Fliegenden Untertassen.» Ich wollte Botard gerade darauf aufmerksam machen, daß mir der Ausdruck ,blühen', angewandt auf ein oder mehrere Nashörner, unangebracht erscheine, da rief der Jurist: «Immerhin gab es eine zertrampelte Katze und Zeugen!» «Massenpsychose», entgegnete Botard, der ein kluger Kopf war, «Opium fürs Volk, so wie die Religion!» «Aber ich glaube an Fliegende Untertassen», meinte Daisy. Der Chef setzte der Polemik ein schnelles Ende: «Sei es wie es sei! Genug des Geschwätzes! Nashörner oder nicht, Fliegende Untertassen oder keine, die Arbeit muß getan werden.» Die Sekretärin begann zu tippen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und vertiefte mich in meine Akten. Emile Dudard begann, die Fahnen eines Kommentars zum Gesetz über den Rückgang des Alkoholismus zu korrigieren, und der Chef zog sich, die Tür zuschlagend, in seinen Arbeitsraum zurück. «Man hält die Leute zum besten!» schimpfte Botard nochmals zu Dudard hinüber. «Ihrem Gerede ist der ganze Lärm zu verdanken.» «Das ist kein Gerede», wendete ich ein. «Ich habe es doch gesehen...» versicherte Daisy gleichzeitig. «Da muß ich aber lachen», sagte Dudard zu Botard. «Gerede? Zu welchem Zweck denn?» «Sie wissen das besser als ich! Spielen Sie nicht den Unschuldigen!» «Auf jeden Fall, ich werde nicht von den Pontenegrinern bezahlt!» «Das ist eine Verleumdung!» rief Botard und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich plötzlich, und der Kopf des Chefs tauchte auf «Herr Ochs ist heute nicht erschienen.» «Wirklich. Er ist nicht da», antwortete ich. «Ich brauchte ihn dringend. Hat er sich krank gemeldet? Wenn das so weitergeht, setze ich ihn vor die Tür.» Das war nicht das erste Mal, daß der Chef ähnliche Maßnahmen im Hinblick auf unseren Kollegen androhte. «Hat jemand von Ihnen den Schlüssel zu seinem Schreibtisch?» fragte er weiter. Gerade in diesem Augenblick kam Madame Ochs herein. Sie schien außer sich zu sein. -8 -
«Ich bitte Sie, meinen Mann zu entschuldigen. Er ist übers Wochenende zu seiner Familie gefahren. Er hat eine leichte Grippe. Hier ist sein Telegramm. Er hofft, Mittwoch zurückzukommen. Ich bitte um ein Glas Wasser... einen Stuhl bitte!» rief sie und sank auf den Sessel, den wir ihr hinschoben. «Das ist wirklich unangenehm, aber doch kein Grund, sich ganz kaputt zu machen!» bemerkte der Chef. «Ich wurde von einem Nashorn von meinem Hause bis hierher verfolgt», stammelte sie. «Mit einem oder mit zwei Hörnern?» fragte ich. «Da muß ich aber lachen!» rief Botard. «Laßt sie doch ausreden!» entrüstete sich Dudard. Madame Ochs machte alle Anstrengung, um herauszubringen: «Es ist da unten, am Eingang. Es sieht so aus, als wolle es die Treppe heraufkommen.» Im selben Augenblick vernahmen wir ein heftiges Krachen: die Treppenstufen brachen offensichtlich unter einem ungeheuren Gewicht ein. Wir stürzten auf den Flur, und wirklich, zwischen den Trümmern der Treppe, gesenkten Kopfs, ängstliches und beängstigendes Brüllen ausstoßend, gewahrte man dort unten ein Nashorn, das sich vergeblich im Kreise drehte. Ich konnte sehen, daß es zwei Hörner trug. «Das ist ein afrikanisches Nashorn,» sagte ich... «oder vielmehr ein asiatisches?» Mein Kopf war so durcheinander, daß ich nicht mehr wußte, ob die Zweihörnigkeit das Nashorn aus Asien charakterisierte oder das aus Afrika, ob die Einhörnigkeit das Nashorn aus Afrika charakterisierte oder das aus Asien, oder ob, im Gegenteil, die Zweihörnigkeit... Kurz, ich war geistig völlig durcheinander, wohingegen Botard Dudard giftige Blicke zuwarf: «Das ist eine Höllenmaschine!» und mit der Geste eines Hauptanklägers vor Gericht: «Das ist Ihre Schuld!» «Ihre Schuld!» entgegnete letzterer. «Schweigt, das ist wirklich nicht der rechte Augenblick!» versuchte Daisy vergeblich, sie zu beschwichtigen. «Immer wieder habe ich bei der Generaldirektion darum ersucht, diese alte, wurmstichige Treppe durch eine aus Zement zu ersetzen!» sagte der Chef. «Dies Unglück mußte ja passieren, es war vorauszusehen. Ich habe recht behalten!» «Wie gewöhnlich!» spottete Daisy. «Aber wie kommen wir nun hinunter?» «Ich werde Sie in meine Arme nehmen!» scherzte der Chef verliebt und streichelte seiner Sekretärin die Wange, «und wir gehen miteinander tanzen!» -9 -
«Betatschen Sie mein Gesicht nicht mit Ihren runzligen Händen, Sie Dickhäuter Sie!» Der Chef fand keine Zeit mehr, etwas darauf zu erwidern. Madame Ochs, die sich erhoben hatte und uns gefolgt war und einige Minuten lang aufmerksam das unter uns sich im Kreise drehende Nashorn angestarrt hatte, stieß plötzlich einen Schrei des Entsetzens aus: «Das ist ja mein Mann! Ochs, mein armer Ochs, was ist dir nur zugestoßen?» Das Nashorn, oder vielmehr Ochs, antwortete mit einem zugleich heftigen und zärtlichen Gebrüll, während Madame Ochs mir ohnmächtig in die Arme sank und Botard, die seinen ausstreckend, sich entrüstete: «Das ist der reinste Wahnsinn! Wohin bin ich nur geraten!» Nach den ersten Augenblicken der Verblüffung riefen wir bei der Feuerwehr an, die mit ihren Leitern kam und uns hinabließ. Madame Ochs ritt, obgleich wir ihr davon abgeraten hatten, auf dem Rücken ihres Gatten zu ihrem ehelichen Heim. Für sie wäre das ein Grund zur Scheidung gewesen (zu wessen Schaden?), doch zog sie es vor, ihren Mann in diesem Zustand nicht zu verlassen. In der kleinen Kneipe, in die wir alle (ohne die Ochs natürlich) essen gingen, vernahmen wir, daß mehrere Nashörner in den verschiedensten Winkeln der Stadt gesichtet worden waren: sieben sagten die einen, siebzehn die anderen, und dann wieder sollten es zweiunddreißig gewesen sein. Angesichts all dieser Beweise vermochte Botard nicht länger, sich der eindeutigen Existenz von Nashörnern zu widersetzen. Aber er wußte schon, versicherte er, woran er sich zu halten hätte. Er würde es uns eines Tages beweisen. Er kenne die 'Gründe' der Dinge, die 'Kehrseiten' der Geschichte, die 'Namen' der Verantwortlichen, Absicht und Bedeutung dieser Provokation. Es kam nicht in Frage, am Nachmittag wieder ins Büro zu gehen, sei's auch zum Schaden des Geschäfts. Man mußte warten, bis die Treppe wieder ausgebessert war. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um Jean aufzusuchen, in der Absicht, mich mit ihm wieder auszusöhnen. Er lag zu Bett. «Ich fühle mich nicht recht wohl!» sagte er. «Wissen Sie, Jean, wir hatten beide recht. In der Stadt gibt es sowohl Nashörner mit zwei Hörnern als auch Nashörner mit einem Horn. Woher die einen, oder woher die anderen stammen, ist im Grunde ziemlich unwesentlich. Was in meinen Augen zählt, ist die Existenz von Nashörnern an sich.» «Ich fühle mich gar nicht wohl», wiederholte mein Freund, ohne mir zuzuhören, «ich fühle mich gar nicht wohl.» «Was fehlt Ihnen denn? Es tut mir wirklich leid!» «Ein wenig Fieber. Kopfschmerzen.» Genauer genommen war es das Gesicht, das ihn schmerzte. Er müsse sich -1 0 -
wohl gestoßen haben, meinte er. Und wirklich hatte er eine Beule, die direkt auf seiner Nase hervortrat. Seine Gesichtsfarbe war grünlich. Er war heiser. «Haben Sie Halsschmerzen? Vielleicht ist es eine Angina.» Ich fühlte seinen Puls. Er schlug regelmäßig. «Es ist gewiß nicht sehr ernst. Einige Tage Ruhe, und es wird vorübergehen. Haben Sie den Arzt kommen lassen?» Bevor ich sein Handgelenk losließ, bemerkte ich, daß seine Adern ganz geschwollen waren und hervortraten. Als ich sie später betrachtete, wurde ich gewahr, daß nicht nur die Adern sich verdickt, sondern seine Haut auch überall augenmerklich die Farbe gewechselt und sich verhärtet hatte. «Wahrscheinlich ist es doch ernster, als ich glaubte», dachte ich bei mir. Laut sagte ich: «Man muß den Arzt rufen.» «Ich fühlte mich so unwohl in meiner Kleidung, und jetzt ist mir sogar mein Schlafanzug lästig», sagte er mit rauher Stimme. «Was ist mit Ihrer Haut? Aus Leder, würde man sagen...» Dann, ihn näher betrachtend: «Wissen Sie, was dem Ochs widerfahren ist? Er ist zum Nashorn geworden.» «Na und? Das ist nicht so schlimm wie dieses! Nach allem sind die Nashörner doch Geschöpfe wie wir, die auf das Leben gleichberechtigten Anspruch haben wie wir...» «Unter der Voraussetzung, daß sie das unsere nicht zerstören. Sie sind sich doch bewußt, daß wir uns von ihnen im Geiste unterscheiden?» «Glauben Sie denn, daß der unsere den Vorzug verdiene?» «Wie dem auch sei, wir haben unsere Sitten, die ich für unvereinbar mit denen der Tiere halte. Wir haben eine Philosophie, ein unvertauschbares Wertsystem...» «Der Humanismus ist veraltet! Sie sind ein alter, lächerlicher Schwärmer. Sie reden baren Unsinn.» «Ich bin erstaunt, Sie so sprechen zu hören, mein lieber Jean! Sie verlieren wohl den Kopf?» Er schien ihn wirklich zu verlieren. Eine blinde Wut hatte sein Gesicht entstellt, seine Stimme in solchem Maße verändert, daß ich kaum die Worte verstand, die seinem Munde entsprangen. «Von Ihnen solche Beteuerungen zu hören...», wollte ich fortfahren. Er ließ mir keine Zeit dazu. Er warf seine Decke von sich, zerriß seinen Schlafanzug, richtete sich auf in seinem Bett, völlig entblößt (ausgerechnet er, der sonst so schamhaft war!), grün vor Zorn von Kopf bis Fuß. Die Beule in seinem Gesicht hatte sich gelängt; sein Blick wurde starr, er -1 1 -
schien mich nicht mehr zu sehen. Oder vielmehr doch, er sah mich sehr wohl, denn er stürzte sich auf mich mit gesenktem Kopf. Ich hatte kaum Zeit, zur Seite zu springen, andernfalls hätte er mich an die Wand gespießt! «Ein Nashorn sind Sie!» schrie ich. «Ich werde dich zertrampeln! Ich werde dich zertrampeln!» konnte ich noch hören, als ich zur Tür stürzte. Ich stürmte die Treppe hinunter, vier Stufen auf einmal nehmend, während die Mauern unter den Hornstößen erbebten und ich ihn ein entsetzliches Wutgebrüll ausstoßen hörte. «Ruft die Polizei! Ruft die Polizei! Ein Nashorn befindet sich in Ihrem Hause!» schrie ich den Hausbewohnern zu, die ganz entsetzt auf den einzelnen Etagen ihre Türen öffneten, mir den Weg versperrend. Nur mit Mühe konnte ich im Erdgeschoß dem Nashorn entweichen, das, aus der Wohnung des Hausmeisters hervorbrechend, mich heftig angreifen wollte, noch bevor ich mich schließlich auf der Straße befand, in Schweiß gebadet, mit zittrigen Beinen, am Ende meiner Kräfte. Glücklicherweise stand dort eine Bank am Rande des Trottoirs, auf die ich mich setzte. Kaum hatte ich Zeit, auch nur halbwegs Atem zu schöpfen, als ich von ferne eine Herde Nashörner, den Abhang herabstürmend, gerade auf die Stelle zukommen sah, an der ich mich befand. Wenn sie doch noch die Mitte der Straße eingehalten hätten! Aber nein, sie waren so zahlreich, daß sie dort nicht genügend Platz hatten und auch das Trottoir noch einnahmen. Ich sprang von meiner Bank hoch und preßte mich flach an eine Mauer: schnaufend, brüllend, Tierwärme und Ledergeruch um sich verbreitend, streiften sie mich und hüllten mich in eine Staubwolke. Als sie fort waren, konnte ich mich nicht wieder auf die Bank niederlassen: die Tiere hatten sie zerstört, sie lag zersplittert auf dem Pflaster. Nur langsam erholte ich mich von diesem Schrecken. Einige Tage mußte ich das Haus hüten. Ich empfing Daisys Besuche, die mich über die Verwandlungen, die sich begaben, auf dem laufenden hielt. Als erster wurde der Chef des Kontors zum Nashorn, zur großen Bestürzung Botards, der seinerseits inzwischen, vierundzwanzig Stunden später, zum Nashorn wurde. «Man muß auf der Höhe seiner Zeit bleiben!» das waren seine letzten menschlichen Worte. Der Fall Botard überraschte mich wenig, trotz seiner scheinbaren Standhaftigkeit. Schwerer fiel es mir, die Verwandlung des Chefs zu begreifen. Gewiß, ihm kam die Verwandlung vielleicht ungewollt, doch konnte man sich vorstellen, daß er eine widerstandsfähigere Konstitution besaß. -1 2 -
Daisy erinnerte sich, daß sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß er runzlige Handflächen habe, am gleichen Tage, an dem Ochs als Nashorn erschien. Das muß ihn sehr bestürzt haben, er hatte es sich nicht anmerken lassen, aber gewiß hat es ihm Angst eingeflößt. «Wäre ich nicht gar so grob gewesen, hätte ich ihn rücksichtsvoller darauf aufmerksam gemacht, dann wäre das vielleicht nicht geschehen.» «Ich selber mache mir ebenfalls Vorwürfe, nicht rücksichtsvoller mit Jean umgegangen zu sein. Ich hätte ihm mehr Freundschaft zeigen sollen, hätte verständiger sein müssen», sagte ich meinerseits. Daisy berichtete, daß auch Dudard sich verwandelt habe, ebenso einer ihrer Vettern, den ich nicht kannte. Darüber hinaus noch weitere Menschen, gemeinsame Freunde und Unbekannte. «Viele sind es», meinte sie, «vielleicht ein Viertel der Einwohner der Stadt.» «Sie sind trotzdem noch in der Minderzahl.» «Wie die Dinge laufen, währt das nicht mehr lange!» seufzte sie. «Leider! Sie sind so viel mächtiger.» Die Herden von Nashörnern, die in voller Geschwindigkeit durch die Straßen preschten, wurden zu etwas, woran fast niemand mehr Anstoß nahm. Die Leute gaben ihnen den Weg frei und nahmen ihren Weg dann wieder auf, gingen ihren Geschäften nach, so als wenn nichts geschehen wäre. «Wie kann man nur ein Nashorn sein! Das ist unvorstellbar!» hatte ich gut reden. Aus Höfen kamen sie, aus Häusern, auch aus Fenstern kamen sie hervor und schlossen sich den anderen an. Zu gegebener Zeit wollten die Behörden sie in große Gehege einschließen. Dagegen aber sprach sich aus humanitären Überlegungen der Tierschutzverband aus. Zum anderen besaß jeder unter den Nashörnern einen nahen Verwandten, einen Freund, was aus leicht begreiflichen Gründen die Verwirklichung des Planes so gut wie undurchführbar machte. Man nahm Abstand davon. Die Lage wurde ernster, wie vorauszusehen war. Eines Tages brach ein Regiment Nashörner aus der Kaserne hervor, nachdem sich deren Mauern zertrümmert hatten, und ergossen sich, die Trommler voran, über die Straßen. Im Ministerium für Statistik stellten Statistiker Statistiken auf: Tierzählung, Überschlag des täglichen zahlenmäßigen Zuwachses, wieviel Prozent Einhörner, wieviel Zweihörner... Welch eine Gelegenheit für gelehrte Kontroversen! Bald gab es selbst unter den Statistikern Abtrünnige. Die wenigen, die blieben, wurden mit Gold aufgewogen. Eines Tages gewahrte ich von meinem Balkon aus ein brüllendes und -1 3 -
augenscheinlich zum Treffpunkt seiner Gefährten eilendes Nashorn, das eine Matrosenmütze auf seinen Hörnern aufgespießt trug. «Der Logiker!» rief ich aus. «Auch er, wie ist das nur möglich?» Gerade in diesem Augenblick öffnete Daisy die Tür. «Der Logiker ist ein Nashorn!» rief ich ihr zu. Sie wußte es, sie war ihm auf der Straße begegnet. Sie trug einen Korb mit Lebensmitteln. «Wollen wir nicht zusammen essen?» schlug sie vor. «Wissen Sie, nur mit Mühe konnte ich etwas zu essen auftreiben. Die Kaufhäuser sind verwüstet: sie verschlingen alles. Eine Anzahl anderer Läden sind geschlossen, 'wegen Umzugs geschlossen', steht auf den Schildern.» «Ich liebe Sie, Daisy, verlassen Sie mich nicht.» «Schließ die Fenster, Liebling. Sie machen zu viel Lärm. Und der Staub steigt bis hier herauf.» «Solange wir zusammen sind, fürchte ich nichts, ist mir alles gleich.» Als das Fenster geschlossen war: «Ich glaubte, daß ich mich nicht mehr in eine Frau verlieben könnte.» Ich schloß sie fest in meine Arme. Sie umarmte mich wieder. «Wie glücklich würde ich Sie machen! Könnten Sie mit mir leben?» «Warum nicht? Sie behaupten, nichts zu fürchten, und haben doch Angst vor allem! Was kann uns schon zustoßen?» «Meine Liebe, mein Glück!» stammelte ich und küßte ihre Lippen mit einer Leidenschaft, wie ich sie so innig und schmerzlich nicht mehr kannte. Das Klingeln des Telephons unterbrach uns. Sie löste sich aus meiner Umarmung, ging zum Apparat, nahm den Hörer auf und stieß einen Schrei aus: «Horch...» Ich hielt den Hörer ans Ohr. Wildes Brüllen konnte man hören. «Jetzt halten sie uns zum besten!» «Was kann nur passiert sein?» fragte sie erschreckt. Wir stellten das Radio an, um die neuesten Nachrichten zu hören: auch diese brachten Gebrüll. Sie zitterte. «Ruhe», sagte ich, «nur Ruhe!» Entsetzt rief sie: «Sie haben den Sender besetzt!» «Ruhe! Ruhe!» wiederholte ich, immer beunruhigter. Am nächsten Morgen wimmelte es in allen Straßen von ihnen. Stundenlang konnte man Ausschau halten, ohne Gefahr zu laufen, ein einziges -1 4 -
menschliches Wesen zu erblicken. Unser Haus zitterte unter dem Stampfen der Paarhufer, unserer Nachbarn. «Geschehe was da wolle», sagte Daisy, «was willst du, daß geschieht?» «Sie sind alle verrückt geworden. Die Welt ist krank.» «Nicht wir werden sie heilen.» «Man kann sich mit niemandem mehr verständigen. Verstehst du sie denn?» «Wir müßten versuchen, ihre Psychologie zu deuten, ihre Sprache zu erlernen.» «Sie haben keine Sprache.» «Woher weißt du das?» «Hör zu, Daisy, wir werden Kinder haben, unsere Kinder werden wieder welche haben, das besorgt die Zeit, aber was uns betrifft, wir können die Menschheit regenerieren. Nur ein wenig Mut...» «Ich will keine Kinder haben.» «Wie willst du aber die Welt erretten?» «Nach allem sind wir es vielleicht, die einer Rettung bedürfen! Vielleicht sind wir die Anomalen. Siehst du noch andere unserer Gattung?» «Daisy, ich will dich nicht so sprechen hören!» Ich schaute sie verzweifelt an. «Wir sind es, die recht haben, Daisy, das versichere ich dir.» «Wie anmaßend! Es gibt kein absolutes Recht. Es ist die Welt, die recht hat, weder du noch ich.» «Doch, Daisy, ich habe recht. Der Beweis dafür ist, daß du mich verstehst und daß ich dich so sehr liebe, wie ein Mann eine Frau nur irgend lieben kann.» «Ich schäme mich ein wenig über das, was du Liebe nennst, diese entartete Angelegenheit... Es hält keinen Vergleich aus mit der herrlichen Kraft, die jene Wesen, die uns umgeben, auszeichnet.» «Kraft? Da hast du deine Kraft», schrie ich am Ende aller Beweise und ohrfeigte sie. Und als sie dann weinte: «Ich danke nicht ab, ich danke bestimmt nicht ab.» Sie erhob sich, in Tränen, und umschloß meinen Hals mit ihren duftenden Armen: «Bis zum Ende werde ich durchhalten mit dir.» Sie vermochte nicht Wort zu halten. Sie wurde ganz traurig, welkte zusehends dahin. Eines Morgens, beim Erwachen, fand ich ihren Platz leer neben mir im Bett. Sie hatte mich ohne ein Wort verlassen. -1 5 -
Die Situation wurde buchstäblich unerträglich für mich. Mein Fehler war es, daß Daisy fortgegangen war. Wer weiß, was aus ihr geworden ist? Noch jemand auf dem Gewissen. Es gab niemand, an den ich mich wenden konnte, mir zu helfen. Ich malte mir das Schlimmste aus und fühlte mich verantwortlich. Und überall ihr Gebrüll, ihr überstürztes Galoppieren, Staubwolken. Ich tat gut daran, mich zu Hause einzuschließen, mir Watte in die Ohren zu stecken: ich sah sie des Nachts im Traum. Es gab keine andere Lösung, als sie zu überzeugen. Wovon aber? Konnten die Mutationen denn rückgängig gemacht werden? Und, um sie zu überzeugen, mußte man zu ihnen sprechen. Damit sie meine Sprache wieder lernten (die ich überdies schon zu vergessen begann), mußte ich zuvor die ihre erlernen. Kein Geräusch unterschied ich vom anderen, kein Nashorn von anderen Nashörnern. Als ich mich eines Tages im Spiegel betrachtete, fand ich mich selber häßlich mit meinem langen Gesicht: es fehlte mir ein Horn, wenn nicht gar zwei, um meine niederhängenden Züge wieder aufzurichten. Und wenn nun, wie Daisy gesagt hatte, sie es wären, die recht hätten? Ich kam zu spät, ich hatte den Boden unter den Füßen verloren, das sah man. Ich entdeckte, daß trotz allem ihr Gebrüll einen gewissen Reiz hatte, ein wenig rauh, gewiß. Ich hätte das einsehen müssen, als es noch Zeit war. Ich versuchte zu brüllen: wie kraftlos klang das, wie sehr fehlte alle Energie! Als ich mich noch mehr anstrengte, gelang mir nur ein Geheul. Geheul ist noch kein Brüllen. Natürlich soll man nicht blindlings der Masse folgen und soll sich seine Originalität bewahren. Doch soll man indessen auch den menschlichen Schwächen etwas zugute halten; sich herausheben, gewiß, aber... unter seinesgleichen. Ich ähnelte niemandem mehr, nichts mehr, es sei denn alten, unmodernen Photos, die keine Entsprechung mehr in den Lebenden fanden. Jeden Morgen untersuchte ich meine Hände, in der Hoffnung, ihre Innenflächen wären hart geworden, während ich schlief. Die Haut blieb schlaff. Meinen Leib fand ich zu weiß, zu behaart meine Beine: ach, hätte ich nur eine verhärtete Haut und jene herrliche tiefgrüne Farbe, eine sittsame Nacktheit wie sie, ganz ohne Haare! Mein Herz wurde mir immer schwerer, ich wurde immer unglücklicher. Ein Untier war ich! Nie würde ich, o weh, zum Nashorn werden: ich konnte mich nicht verwandeln. Ich wagte nicht mehr, mich anzuschauen. Ich schämte mich. Und dennoch, ich konnte nicht, ich konnte es einfach nicht.
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GOLDFACKEL «WARUM», fragte mich Madeleine, «hast du seinen Hinschied nicht rechtzeitig gemeldet? oder dann den Leichnam früher weggeschafft, als es noch leichter gewesen wäre?» Nun ja - ich bin faul, nachlässig, ohne Ordnungssinn, bin zu gelähmt von Müdigkeit, um zuzugreifen, bin blind für meine Pflichten. Ich vertrödle meine ganze Zeit, erschöpfe meine Nerven, brauche meine Kräfte aus, um sie zu suchen, um herumzuwühlen in den Schubladen, unter die Betten zu kriechen, mich einzuschließen in Dunkelkammern, zu begraben unter aufgehängter Wäsche. Vielerlei fange ich an, und nichts führe ich zu Ende, meinen Plänen werde ich untreu, alles lasse ich liegen. Keine Willenskraft, weil kein echtes Ziel... Hätten wir nicht die Mitgift meiner Frau, ihre paar magern Einkünfte «Zehn Jahre hast du verstreichen lassen. Nun beginnt es zu riechen im Haus. Die Nachbarn werden unruhig, sie fragen, woher das komme. Sie werden es noch herausbringen... Daß dir jeder Unternehmungsgeist fehlt, das allein ist schuld an alldem. Man muß es wohl dem Kommissären. Geschichten wird das geben!... Könnte man wenigstens beweisen, daß er seit zehn Jahren tot ist: nach zehn Jahren ist so etwas verjährt. Hättest du seinen Hinschied rechtzeitig gemeldet, wäre jetzt die Verjährung erwiesen. Wir könnten ruhig sein. Wir müßten uns nicht verbergen vor unsern Nachbarn, könnten Besuche empfangen wie jedermann.» «Aber Madeleine, man hätte uns verhaftet - begreif doch -, die Verjährung wäre noch nicht wirksam gewesen, man hätte uns eingesperrt oder hingerichtet, vor zehn Jahren - das ist doch klar!» wollte ich antworten. Aber, einer Frau Logik beibringen... ich ließ sie schwatzen und gab mir Mühe, nicht hinzuhören. «Seinetwegen geht alles so schief. Nichts will uns gelingen!» rief Madeleine noch aus. «Das ist ein bloßes Hirngespinst von dir.» «Und zudem belegt er den schönsten Raum unserer Wohnung: unser Eheschlafzimmer!» Wohl zum zehntausendsten Mal tat ich, als müsse ich ein stilles Örtchen aufsuchen, wandte mich dann aber im Flur nach links, um den Toten in seinem Zimmer zu betrachten. Ich öffnete die Türe. Alles Hoffen war umsonst: nie würde er sich von selbst entfernen. Er war noch größer geworden. Bald würde er ein anderes Bett -1 7 -
benötigen. Sein Bart war gewachsen; er reichte ihm nun bis zu den Knien. Was die Nägel anbelangt - das ließ sich in Ordnung bringen; Madeleine pflegte sie ihm zu schneiden. Eben hörte ich ihre Schritte. Nie kam ich dazu, mit dem Leichnam allein zu sein! Trotz all meinen unzähligen Vorkehrungen überlistete sie mich jedesmal. Sie überwachte mich, belauschte mich, ließ mir nicht die mindeste Freiheit in meinem Tun und Lassen, rief mich, verfolgte mich, war immer da. Ich leide an Schlaflosigkeit. Sie nicht. Trotz dem Pech, das auf uns lastet, schläft Madeleine ausgezeichnet. In der Hoffnung, die Dunkelheit und Madeleines gesegneter Schlaf kämen mir zu gute, verließ ich manchmal um Mitternacht mein Bett. Aber ich mochte noch so achtgeben, daß die Federn nicht quietschten, ich mochte meinen Atem anhalten bis zur Türe - kaum hatte ich die Klinke in der Hand, blinkte das Nachttischlämpchen auf, und Madeleine, einen Fuß schon aus der Decke, verhörte mich: «Wohin gehst du? Du gehst ihn sehen? Wart auf mich!» Andere Male glaubte ich sie in der Küche beschäftigt und huschte in das Zimmer des Toten, vom lebhaften Verlangen beflügelt, endlich einmal wenigstens für einige Sekunden - mit ihm allein zu sein. Da fand ich sie schon dort auf dem Bettrand sitzend; sie hatte den Entschlafenen um die Schulter gefaßt und lauerte auf mein Kommen. Nun - es konnte mich nicht mehr überraschen, auch diesmal Madeleine auf den Fersen zu haben, bereit, mich zu schelten, wie es ihre Gewohnheit war. Ich suchte ihre Aufmerksamkeit auf den schönen Blick des Seligen zu lenken, strahlend im Dämmer des Zimmers; doch sie, vollkommen stumpf für die trotz allem - ungewöhnlich reizvolle Erscheinung, schrie: «Seit zehn Jahren hast du ihm nicht einmal die Augen geschlossen!» «Stimmt», beruhigte ich, nicht eben selbstsicher. «Wie kann man», fuhr sie fort, «in diesem Punkte nachlässig sein? Sag nicht, du habest keine Zeit gehabt. Du tust ja den lieben langen Tag nichts.» «Ich kann nicht an alles denken.» «An nichts denkst du!» «Also. Ich weiß es. Du hast es mir hunderttausendmal gesagt und wiedergesagt.» «Wenn du es weißt, warum änderst du dich nicht?» «Du hättest ihm den letzten Liebesdienst auch selber erweisen können.» «Ich habe wahrlich anderes zu tun, als stets hinter dir her zu sein, einzufädeln, was du doch nicht weiterführst, zu Ende zu bringen, was du auf halbem Weg hast stecken lassen, überall Weisung zu geben. Ich habe den ganzen Haushalt auf dem Hals, samt der Küche. Ich wasche, ich stopfe Strümpfe, wische den Boden, wechsle ihm und dir die Bettwäsche, ich staube ab, mache -1 8 -
das Geschirr, ich schreibe Gedichte und verkaufe sie, um unsere magern Ersparnisse zu mehren, ich singe, trotz unserer Sorge, bei offenem Fenster, daß unsere Nachbarn nicht auf den Gedanken kommen, es stimme etwas nicht bei uns. Du weißt wohl, daß wir kein Zimmermädchen haben - ja, mit dem, was du verdienst! Wenn ich nicht da wäre!» «Ja ja ja», machte ich, niedergeschlagen, und schickte mich an, das Zimmer zu verlassen. «Wohin gehst du? Du denkst noch immer nicht daran, ihm die Augen zu schließen?» Ich tat ein paar Schritte zurück. Näherte mich dem Leichnam. Wie alt er war! wie alt! Die Toten altern schneller als die Lebenden. Wer hätte da den hübschen jungen Mann wiedererkannt, der uns eines Abends vor zehn Jahren einen Besuch machte, sich Hals über Kopf in meine Frau verliebte und meine Abwesenheit von fünf Minuten ausnützend - ihr Geliebter wurde, noch an jenem Abend? «Siehst du», sagte Madeleine, «wärst du am Morgen nach dem Totschlag aufs Kommissariat gegangen, sagen gegangen, du habest ihn umgebracht in einer Aufwallung von Jähzorn was ja auch die pure Wahrheit gewesen wäre -, aus Eifersucht, es sei kein vorsätzliches Verbrechen gewesen: du hättest nicht beunruhigt sein müssen. Man hätte dich eine kleine Erklärung unterschreiben lassen, man hätte dich gehen lassen und die Erklärung in ein Dossier eingeordnet; die ganze Geschichte wäre schubladisiert gewesen und vergessen für lange Zeit. Nur deine Nachlässigkeit hat es so weit kommen lassen. Jedesmal, wenn ich zu dir sagte: 'Mach deine Anzeige', hast du geantwortet: 'Morgen, morgen, morgen'... Und das dauert schon zehn Jahre, dein ewiges 'Morgen'. Dahin haben wir es nun gebracht, durch dein Versagen! durch dein Versagen!» «Ich gehe morgen», sagte ich, in der Hoffnung, sie lasse mich endlich in Ruhe. «O, ich kenne dich. Du wirst nicht gehen. Und zudem: was könnte das nützen, jetzt? Es ist zu spät. Man würde dir nicht glauben - nach zehn Jahren -, daß du ihn in einer Aufwallung von Jähzorn getötet hast. Wenn man zehn Jahre wartet, sieht das sehr nach Vorsatz aus. Ich frage mich, was du ihnen wohl erzählen könntest, wenn man die Sache einmal in Ordnung bringen will, früher oder später... Wie alt er geworden ist! -du könntest vielleicht sagen, es sei dein Vater, du habest ihn gestern umgebracht. Doch vielleicht wäre das keine gute Ausrede.» «Man würde es uns nicht glauben. Man würde es uns nicht glauben», murmelte ich. Ich sehe die Dinge, wie sie sind. Wenn mir auch die Willenskraft mangelt, ich überlege doch klar. Madeleines Mangel an Logik, ihre Urteile ohne Hand und -1 9 -
Fuß waren mir denn auch stets unerträglich. «Gehn wir da weg», sagte ich und machte zwei Schritte. «Du bist schon wieder drauf und dran, den letzten Liebesdienst zu vergessen! Beherzige doch ein bißchen, was man dir sagt!» schrie Madeleine. Wieder verstrichen vierzehn Tage. Er wurde älter und größer; immer schneller ging das. Wir waren erschrocken. Ohne Zweifel litt er an Wachstumsbeschleunigung im Quadrat - dieser unheilbaren Krankheit der Toten. Wie hatte er sie sich bei uns zuziehen können? Das Bett reichte nicht mehr. Wir waren genötigt, den Körper auf den Boden zu breiten. Derart kamen wir wieder zu unserm Möbelstück, und wir stellten es im Eßzimmer auf. Ich hatte mich - erstmals seit zehn Jahren - nach dem Mittagessen ausstrecken können, eindösen -bis Madeleines Schreie mich jählings weckten. «Bist du taub?» sagte sie wütend. «Du machst dir nichts draus, du Nichtsnutz verschläfst den ganzen Tag!» «Weil ich eben in der Nacht nicht schlafe.» «- als ob in unserm Hause nichts los wäre! Hör doch!» Aus dem Zimmer des Toten vernahm man ein Knacken. Gips mochte von der Decke bröckeln. Unter dem Druck eines gewaltigen Stoßes ächzten die Wände. Auch der Eßzimmerboden, ja die ganze Wohnung erzitterte, wankte wie ein Schiff. Ein Fenster klirrte. Die Scheiben sprangen in Stücke. Glücklicherweise ging dieses Fenster nur auf den Innenhof. «Was werden die Nachbarn denken!» Madeleine war am Verzweifeln. «Gehn wir nachsehn!» Wir hatten kaum zwei Schritte getan auf das Zimmer des Toten zu, da gab die Türe nach, stürzte mit Krachen, zersplitterte, und in der Öffnung erschien der Kopf des Alten, übergroß, auf dem Boden liegend, den Blick gegen die Decke gerichtet. «Immer noch hat er offene Augen», bemerkte Madeleine. Tatsächlich, sie waren offen. Sie waren sehr groß geworden, waren jetzt zwei runde Scheinwerfer, den ganzen Flur mit ihrem kalten weißen Licht erhellend. «Glücklicherweise hat die Türe nachgegeben», sagte ich, um Madeleine zu beruhigen. «So wird er Platz haben; der Flur ist lang.» «Du unverbesserlicher Optimist! Sieh doch!» Während sie die Schultern zuckte, blickte ich hin. Es war sehr beunruhigend: man sah von bloßem Auge, wie er wuchs. Ich machte mit Kreide ein Zeichen, einige Zentimeter vor seinem Kopf. In wenigen Minuten war dieses Zeichen erreicht, dann überholt. -2 0 -
«Man muß handeln», erklärte ich. «Man kann wirklich nicht mehr warten.» «Endlich», sagte Madeleine, «bist du aufgewacht! Du hast sogar begriffen. Es ist lange her, mein Guter, daß du zu handeln geruht hast.» «Vielleicht ist es nicht zu spät.» Ich hatte meinen Fehler eingesehen. Am ganzen Körper zitternd, suchte ich mich zu entschuldigen. «Quatschkopf!» antwortete Madeleine, wie um mir Mut zu machen. Bevor es Nacht war, konnte ich nichts unternehmen. Es war Juni: noch Stunden mußten wir warten. Etliche Stunden. Das war viel. Ich hätte Zeit gehabt mich auszuruhen, an anderes zu denken oder zu schlafen, wenn nicht Madeleine dagewesen wäre mit ihrer dummen Angst. Man denke: Keine Möglichkeit, auch nur eine Minute Ruhe zu haben, bei ihren Predigten, ihrem ewigen «Ich habe es dir längst gesagt», ihrer Rechthaberei. Unterdessen rückte der Kopf des Toten immer weiter vor durch den Vorraum; näher und näher kam er dem Eßzimmer. Alsbald mußte ich die Tür öffnen. Eben leuchteten die ersten Sterne am Himmel auf, als sich der Kopf in der Türöffnung zeigte. Noch mußten wir warten; es hatte noch zu viel Leute auf der Straße. Es war Nachtessenszeit. Wir verspürten keinen Hunger. Durst - ja; doch um in der Küche ein Glas zu holen, hätte man über den Leichnam klettern müssen. Selbst diese geringe Anstrengung überstieg unsere Kräfte. Wir hatten kein Licht angezündet. Seine Augen erhellten die Wohnung vollauf. «Schließ die Läden!» befahl mir Madeleine. Dann, mit dem Finger auf den Kopf des Toten zeigend: «Bald ist bei uns alles drunter und drüber.» Der Kopf hatte die Borte des Teppichs erreicht; er schob ihn vor sich her und warf Falten auf. Ich hob den Kopf und legte ihn auf den Teppich. «Sola, so wird der Teppich nicht zugrunde gerichtet.» Ich war am Ende meines Lateins und fühlte mich sehr niedergeschlagen. O diese Geschichte, die nun schon Jahre dauerte!... Zudem, an diesem Abend hatte ich Lampenfieber: es stand mir bevor, zu «handeln»! An den Schläfen spürte ich schon Schweiß. Ich schlotterte. Madeleine schrie voller Auflehnung: «Grauenvoll ist das! Genug! So etwas kann nur uns passieren!» Ich beobachtete ihr armes, gequältes Gesicht. Ich empfand Mitleid, ging zu ihr hin und sagte herzlich: «Wenn wir uns wirklich liebhaben, ist das alles gar nicht mehr so schwerwiegend.» Ich schloß meine Hände um die ihren: «Seien wir lieb zueinander, Madeleine, ich fleh dich an. Du weißt, die Liebe überwindet alles, sie verändert das Leben. Verstehst du mich?» Ich wollte sie küssen. Sie machte sich frei, trockenen Augs und harten Munds. «Ich glaube fest daran», stammelte ich. Dann, mich zusammenreißend: «Du -2 1 -
erinnerst dich: einst, jedes Morgenrot war für uns ein Triumphzeichen. Die Welt lag zu unsern Füßen. Weißt du noch? weißt du noch? Das Weltall war und war nicht mehr, oder es war nur ein durchsichtiger Schleier, durch den ein helles Licht strömte, ein Licht der Gnade, von allen Seiten her, ein Licht von vielfachen Sonnen. Das Licht durchdrang uns und gab uns wohlig warm. Wir fühlten uns leicht, fühlten uns in einer Welt, die ihre Schwerkraft verloren hatte, staunend, zu existieren, glücklich, dazusein. Das ist die Liebe. Das ist die Kraft des jungen Herzens. Wenn wir nur wollten, ganz von Herzen wollten, hätte nichts mehr für uns Gewicht und Wichtigkeit, würden wir Preislieder der Lebensfreude anstimmen!» «Erzähl keinen Blödsinn!» antwortete Madeleine. «Nicht die Liebe kann uns von dem Leichnam erlösen. Der Haß allerdings noch weniger. Das ist kein Geschäft, das mit Gefühlen bewältigt werden kann.» «Ich werde dich von ihm befreien», sagte ich und ließ meine Hände sinken. Ich zog mich in meine Ecke zurück. Verkroch mich in meinen Lehnsessel. Schwieg. Madeleine, auf ihrem Stuhl, nahm mit verdrießlicher Miene ihre Näharbeit vor. Ich betrachtete den Kopf des Toten, der nur noch etwa einen halben Meter von der Wand, die der Türe gegenüberliegt, entfernt war. Verglichen mit vorhin, hatte er noch sehr gealtert. So wunderlich es tönt, wir hatten uns - trotz allem an ihn gewöhnt. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich es aufrichtig bedauerte, mich von ihm trennen zu müssen. Hätte er sich ruhig verhalten, so wäre er bei uns gut aufgehoben gewesen noch für lange, vielleicht für immer. Schließlich war er in unserm Haus, mit uns groß geworden, älter geworden; das zählt. Warum nicht? Man hängt sein Herz an alles - so ist der Mensch... Das Haus wird uns sehr leer vorkommen, wenn er nicht mehr da ist! dachte ich. Wieviel Erinnerungen hat er in uns wachgerufen! Er war der stumme Zeuge dieser ganzen vergangenen Zeit; und war sie auch nicht immer angenehm - man kann sagen: seinetwegen nicht immer angenehm -, was will man: das Leben ist ernst... Kaum vermag ich mir zu vergegenwärtigen, daß ja ich ihn getötet hatte oder vielmehr - um einen Ausdruck zu verwenden, der kein so schiefes Licht auf mich wirft - «hingerichtet» in einer Aufwallung von Jähzorn, in ehrlicher Entrüstung... Man hatte es sich verziehen, lange schon, stillschweigend. Wenn man über alles Rechenschaft ablegen müßte, wäre die Schuld geteilt... Aber er? hatte er tatsächlich vergessen? Madeleine unterbrach mich in meinem Sinnen: «Seine Stirne berührt die Wand! Es ist höchste Zeit!» «Ja», entschloß ich mich. Ich stand auf. öffnete die Läden. Äugte aus dem Fenster. Die Sommernacht war sehr schön. Es wußte zwei Stunden über Mitternacht sein. Niemand auf -2 2 -
der Straße. Die Fenster überall dunkel. Die blühenden Akazien dufteten betörend. Droben am klaren Himmel der Mond, rund, voll, ein lebendes Gestirn. Die Milchstraße. Nebelflecken, Nebelflecken ohne Zahl, Kometenschweife, Straßen durch den Himmel, Bäche von flüssigem Silber, von greifbarem Licht, Schnee von Samt. Weiße Blumen, Sträuße und wieder Sträuße, Himmelsgärten, funkelnde Wälder, Auen. Und Raum, überall Raum, ein unendlicher Raum... «Gehn wir», sagte Madeleine. «Was träumst du? Man darf uns nicht sehen. Ich werde Wache stehn.» Sie kletterte aus dem Fenster. Lief bis zur Straßenecke. Hielt Ausschau nach links, nach rechts, gab mir ein Zeichen: «Komm nur!» Der Fluß befand sich dreihundert Meter vom Hause entfernt. Um zum Fluß zu gelangen, mußte man zwei Straßen überqueren und den kleinen Platz T.; dort bestand Gefahr, daß man den uniformierten amerikanischen Festbrüdern in die Hände lief, welche die Bar und das Freudenhaus besuchten, das der Eigentümer unseres Hauses dort unterhielt. Dann den Frachtkähnen ausweichen, die längs des Steilufers angetäut waren! Dazu mußte man einen kleinen Umweg nehmen, was das Abenteuer noch halsbrecherischer machte... Ich hatte keine Wahl. Ich mußte nun auf alles setzen. Nachdem ich einen letzten spähenden Blick auf die Straße geworfen, nahm ich den Toten bei den Haaren, hob ihn mit Mühe empor, stützte seinen Kopf auf das Sims und sprang aufs Trottoir. («Wenn er nur nicht die Blumentöpfe hinunterstößt!» dachte ich.) Ich zog von außen. Das war, als würde ich das Schlafzimmer, den langen Flur, das Eßzimmer, die ganze Wohnung, ja das ganze Haus nachschleppen; dann als ob ich mich selber zerreiße, als würden durch Mund meine eigenen Eingeweide hinausgedrängt, Lunge, Magen und Herz, ein Haufen von dunkeln Gefühlen, von unauflöslichen Sehnsüchten, von übelriechenden Gedanken, von schimmligen, fauligen Bildern, eine abgewirtschaftete Ideologie, eine aufgelöste Moral, eine verdorbene Phantasie, giftige Gase, die sich an den Organen wie Parasiten festgekrallt hatten. Ich litt tausend Qualen. Ich konnte nicht mehr. Ich schwitzte Blut. Ich mußte mich festhalten; aber wie beschwerlich war das! Und dazu die Furcht, erwischt zu werden, mit dem da! Ich hatte seinen Kopf zum Fenster hinausgebracht, seinen langen Bart, seinen Hals, den Rumpf, befand mich vor dem Torweg des Nachbarhauses - und immer noch waren seine Füße im Flur. Madeleine, die wieder zu mir gekommen war, zitterte vor Schrecken. Ich zog und zog, mit allen meinen Kräften; nur mit Mühe konnte ich es verbeißen, vor Schmerz zu schreien. Immer ziehend, schritt ich rücklings voran («Es ist niemand da», sagte Madeleine, «alle Fenster sind zu.»), kam ich zur Straßenecke. Ich bog ab, überquerte die Straße, bog wieder ab, überquerte die zweite Straße. Ein Ruck: der ganze Körper war draußen. Wir befanden -2 3 -
uns gerade mitten auf dem kleinen Platz T., und es war hell hier wie am lichten Tag. Ich verschnaufte. Ein Lastwagen rollte in der Ferne. Ein Hund jaulte. Madeleine hielt es nicht mehr aus. «Laß ihn liegen! Komm, wir gehn heim!» meinte sie. «Das wäre unvorsichtig: Geh du heim, wenn du willst. Ich nehme mich seiner an.» Ich blieb allein. Ich mußte staunen, wie leicht der Körper des Toten geworden war. Er war noch ein Erkleckliches größer geworden, ohne Zweifel, doch dabei dünner; er wurde ja auch nie ernährt. Ich wandte mich auf dem Platze um. Da rollte sich der Entschlafene um meinen Leib wie eine Schärpe. «So geht es leichter, ihn zum Fluß zu tragen», dachte ich. Aber nun - als sein Kopf meine Hüfte erreichte, gab er plötzlich jenes spitze, langhingezogene Pfeifen von sich, das den Toten eigen ist. Man konnte es nicht überhören. Auf dieses Pfeifen antwortete anderes Pfeifen, von allen Seiten. Die Polizei! Hunde gaben an, Züge rollten, die Fenster um den Platz wurden hell. Gesichter zeigten sich. Die Amerikaner in Uniform traten mit ihren Mädchen aus der Bar. An der Straßenecke tauchten zwei Polizisten auf, ihre Pfeifen in der Hand. Sie kamen im Laufschritt auf mich zu. Sie waren nur noch zwei Schritte weg. Ich war verloren. Da: auf einmal entfaltete sich der Bart des Toten wie ein Fallschirm und hob mich vom Boden. Einer der Polizisten machte einen Riesensprung - zu spät. Er konnte nur noch meinen linken Schuh ergreifen. Den andern warf ich ihm nach. Die amerikanischen Soldaten waren begeistert und machten Fotos. Ich gewann sehr schnell Höhe, während die Polizisten, mit dem Finger drohend, schrien: «Gauner! Kleiner Gauner!» Alle Fenster klatschten Beifall. Einzig Madeleine, an ihrem Fenster, hob die Augen zu mir auf und stichelte voll Verachtung: «Du kannst doch nie ernsthaft sein! Du steigst empor, aber du steigst nicht in meiner Achtung!» Noch hörte ich die Amerikaner - im Glauben, es handle sich um einen sportlichen Wettstreit - mir ihr «Hello boy!» zurufen. Meine Kleider, meine Zigaretten ließ ich fallen; die Polizisten teilten sie unter sich. Dann nur noch Milchstraßen um mich her. Ich durcheilte sie, Goldfackel, immer schneller, immer schneller -
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DIE PHOTOGRAPHIE DES OBERSTEN ICH WOLLTE mir das schöne Viertel ansehen, mit seinen weißen, von blühenden Gärten umgebenen Häusern. Die Straßen waren breit, von Bäumen beschattet. Neue, gut gepflegte Wagen parkten vor den Türen, vor den Auffahrtsalleen. Ich zog meinen Überzieher aus und nahm ihn über den Arm. «Das ist in dieser Gegend üblich», sagte mir mein Begleiter, der Gemeindearchitekt. «Das Wetter ist immer schön hier. Und die Grundstücke werden sehr teuer verkauft, die Villen sind aus bestem Material gebaut, es ist das Viertel der wohlhabenden, gesunden, liebenswürdigen Leute. «Tatsächlich... Ich bemerke, daß die Blätter der Bäume hier schon gewachsen sind, ausreichend, um das Licht zu filtrieren, nicht so sehr, daß sie die Fassaden verdunkeln, während in der ganzen übrigen Stadt der Himmel grau ist wie die Haare einer alten Frau, an den Straßenrändern noch verharschter Schnee liegt, und der Wind bläst. Heute morgen beim Erwachen habe ich gefroren. Sonderbar, plötzlich ist man mitten im Frühling; es ist, als ob ich mich tausend Kilometer weit im Süden befände. Im Flugzeug hat man dieses Gefühl, der Verwandlung der Welt beizuwohnen, und dabei muß man immerhin zum Flugplatz fahren, zwei Stunden oder mehr fliegen, um zu sehen, wie sich die Welt zum Beispiel in die Cote d'Azur verwandelt. hingegen habe ich kaum die Straßenbahn genommen. Man reist, ohne vom Fleck zu kommen, man reist ohne Reise, wenn Sie dieses ungeschickte kleine Wortspiel entschuldigen wollen, das übrigens unfreiwillig ist», sagte ich mit einem zugleich geistreichen und gezwungenen Lächeln. «Wie erklären Sie das? Ist diese Lage besonders geschützt? Aber es gibt doch ringsherum keine Hügel, die gegen das schlechte Wetter abschirmen. Übrigens verjagen Hügel keine Wolken, beschirmen nicht vor dem Regen, das weiß jeder... Gibt es warme Strahlenströmungen von oben oder von unten? Das wußte man doch. Es geht kein Wind, obschon die Luft angenehm duftet. Sonderbar.» «Es ist ganz einfach eine Insel, antwortete der Stadtarchitekt, «eine Oase, wie es sie fast überall gibt, in den Wüsten, wo man inmitten unfruchtbaren Sandes überraschend Städte aufsteigen sieht, mit frischen Rosen bewachsen, von Quellen und Flüssen umgeben.» «Ach ja, das stimmt. Sie sprechen von den Städten, die man auch Luftspiegelungen nennt», sagte ich, um zu zeigen, daß ich nicht vollkommen unwissend sei. -2 5 -
Wir gingen eine Zeitlang an einem Wiesenpark entlang, in dessen Mitte ein Teich lag. Dann wieder Villen, große Besitzungen, Gärten, Blumen. So gingen wir etwa zwei Kilometer weit. Die Ruhe war vollkommen, ausruhend: vielleicht etwas zu sehr. Es fing an, beängstigend zu werden. «Warum sieht man niemanden auf der Straße?» fragte ich. «Wir sind die einzigen Spaziergänger. Wahrscheinlich ist es Mittagszeit, die Einwohner sind zu Hause. Und doch, warum hört man nicht das Lachen der Tafelrunde, das Klingen des Kristalles? Kein Laut. Alle Fenster sind geschlossen!» Wir waren gerade bei zwei kürzlich verlassenen Bauplätzen angekommen. Die halbfertigen Gebäude standen da, weiß, inmitten des Grün, und warteten auf den Erbauer. «Das ist recht hübsch!» bemerkte ich. «Wenn ich Geld hätte - leider verdiene ich sehr wenig -, würde ich einen dieser Plätze kaufen; in ein paar Tagen wäre das Haus gebaut, ich würde nicht mehr mit den Unglücklichen in dieser schmutzigen Vorstadt wohnen, in diesen dunklen Straßen des Winters, des Schlammes oder des Staubes, in diesen Fabrikstraßen. Hier riecht es so gut!» sagte ich und atmete tief die kräftige, würzige Luft ein, die die Lungen berauschte. Mein Begleiter runzelte die Stirne: «Die Polizei hat das Bauen verboten. Überflüssige Maßnahme, denn kein Mensch kauft mehr Grundstücke. Die Einwohner des Viertels möchten am liebsten wegziehen. Aber sie wissen nicht wohin. 'Sonst hätten sie alle schon ihre Koffer gepackt. Vielleicht machen sie auch eine Ehrensache daraus, nicht zu fliehen. Sie ziehen es vor, zu bleiben, in ihren schönen Wohnungen versteckt. Sie gehen nur aus, wenn es unbedingt nötig ist, in Gruppen zu zehn oder fünfzehn. Und selbst dann ist die Gefahr nicht gebannt. «Sie scherzen! Warum machen Sie so ein ernstes Gesicht? Sie verdunkeln die Landschaft; wollen Sie mir Angst einjagen?» «Ich versichere Ihnen, ich scherze nicht.» Ich spürte einen Stich im Herzen. Nacht überflutete mich innerlich. Das strahlende Land, in welchem ich schon Wurzeln geschlagen hatte, das sofort zu einem Teil meiner selbst oder dessen ich ein Teil geworden war, wurde mir plötzlich fremd, war nur noch ein Bild in einem Rahmen, ein unbelebter Gegenstand. Ich fühlte mich allein, außerhalb von allem, in einer toten Helle. «Erklären Sie!» flehte ich. «Und ich hatte gehofft, einen schönen Tag zu verleben!... Noch vor wenigen Augenblicken war ich so glücklich!» Wir gingen zum Teich zurück. «Hier», sagte der Gemeindearchitekt, «findet man sie jeden Tag, einen oder zwei Ertränkte.» «Ertränkte?» -2 6 -
«Kommen Sie, überzeugen Sie sich selbst, ich übertreibe nicht.» Ich folgte ihm. Am Rand des Teiches gewahrte ich tatsächlich die aufgequollene Leicht eines Offiziers der technischen Truppen auf dem Wasser er treiben und die Leiche eines kleinen Jungen von fünf oder sechs Jahren. Er war in seinen Spielreifen eingerollt und hielt ein Stöckchen in der verkrampften Hand. «Heute sind es sogar drei», murmelte mein Begleiter. «Dort», sagte er und zeigte mit dem Finger. Ein roter Haarschopf, den ich einen Augenblick lang für eine Wasserpflanze gehalten hatte, stieg vom Grund hoch und blieb am Marmor hängen, der das Wasserbecken einfaßte. «Wie entsetzlich! Das ist sicher eine Frau?» «Offensichtlich», sagte er und zuckte die Achseln. «Und das dort ist ein Mann, das dort ein Kind. Mehr wissen wir nicht.» «Vielleicht ist es die Mutter des Kleinen... Die Armen! Wer hat das getan?» «Der Mörder. Immer derselbe. Unfaßbar.» «Unser Leben ist bedroht! Kommen Sie, wir gehen!» rief ich aus. «Mit mir laufen Sie keine Gefahr. Ich bin Stadtarchitekt, Beamter; er greift die Verwaltung nicht an. Wenn ich pensioniert bin, wird sich das ändern, aber im Augenblick...» «Gehen wir», sagte ich. Wir entfernten uns mit großen Schritten. Ich hatte es eilig, das schöne Viertel zu verlassen. «Die Reichen sind nicht immer glücklich», dachte ich. Ich empfand eine namenlose Verzweiflung. Ich fühlte mich ermattet, zerschlagen, unnütz auf der Welt. «Was soll das alles», sagte ich mir, «wenn es am Ende nur dahin führt?» «Sie hoffen sicher, ihn zu verhaften, bevor Sie sich zur Ruhe setzen?» fragte ich. «Das ist nicht leicht!... Sie können sich denken, daß wir tun, was wir können...» antwortete er düster. Dann: «Nicht dorthin, Sie werden sich verirren, Sie gehen immer im Kreise, Sie kommen immer wieder zurück.» «Führen Sie mich... Ach! der Tag hatte so gut begonnen. Ich werde immer diese Ertränkten vor mir sehen, dieses Bild wird nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden!» «Ich hätte es Ihnen nicht zeigen sollen...» «Macht nichts. Besser, man kennt alles, besser, man kennt alles...» In wenigen Augenblicken waren wir am Ausgang des Viertels, am Ende Allee, am Rande des äußeren Boulevards, an der Haltestelle Straßenbahn, die zur Stadt führt. Dort standen Leute und warteten. Himmel war dunkel. Mir war eiskalt. Ich zog meinen Überzieher wieder -2 7 -
der der Der an,
band mein Halstuch um. Es regnete ein wenig. Das Wasser war mit Schnee vermischt, der Boden war naß. «Sie wollen doch nicht gleich nach Hause gehen?» sagte der Kommissar (auf diese Weise erfuhr ich, daß er auch Kommissar war). «Sie haben doch Zeit, noch ein Gläschen zu trinken...» Der Kommissar schien seine Fröhlichkeit wiedergefunden zu haben. «Neben der Haltestelle ist eine Kneipe, zwei Schritte vom Friedhof, sie verkaufen auch Kränze dort.» «Ich habe eigentlich keine Lust, wissen Sie...» «Machen Sie sich nichts daraus. Wenn man an alles Unglück der Menschheit denken würde, könnte man nicht leben. Immer gibt es erwürgte Kinder, verhungerte Greise, Witwen, Waisen, Sterbende.» «Ja, Herr Kommissar, aber wenn man das von nahem sieht, mit eigenen Augen... ich kann nicht mehr gleichgültig bleiben.» «Sie sind zu empfindsam», antwortete mein Begleiter und gab mir einen wohlwollenden Schlag auf die Schulter. Wir gingen in die Kneipe. «Wir wollen versuchen, Sie zu trösten!... Zwei Halbe!» bestellte er. Wir setzten uns neben das Fenster. Der dicke Wirt mit Weste und aufgekrempelten Hemdsärmeln, die seine riesigen, behaarten Arme sehen ließen, bediente uns. «Für Sie habe ich richtiges Bier!» Ich schickte mich an zu bezahlen. «Lassen Sie nur», sagte der Kommissar, «es ist meine Runde!» Ich war immer noch ganz niedergeschlagen. «Wenn Sie wenigstens seine Personalbeschreibung hätten!»sagte ich. «Die haben wir doch. Wenigsten die, mit der er arbeitet. Sein Bild hängt an allen Mauern!» «Wie haben Sie es bekommen?» «Man hat es bei den Ertränkten gefunden. Einige seiner Opfer, die im Sterben lagen und noch für einige Augenblicke bei Bewußtsein waren, konnten uns sogar noch mehr Einzelheiten angeben. Wir wissen auch, wie er es macht. Das weiß übrigens jeder im Viertel.» «Aber warum sind sie dann nicht vorsichtiger? Sie brauchen ihn doch nur zu meiden.» «Es ist nicht so einfach. Ich sage Ihnen ja, es gibt immer, jeden Abend, zwei oder drei, die ihm in die Falle gehen. Aber er läßt sich nie erwischen.» «Das kann ich nicht verstehen.» -2 8 -
Ich war erstaunt zu merken, daß das den Architekten eher zu belustigen schien. «Sehen Sie», sagte er, «dort an der Straßenbahnhaltestelle beginnt er seinen Anschlag. Wenn die Fahrgäste aussteigen, um nach Hause zu gehen, kommt er ihnen entgegen, als Bettler verkleidet. Er jammert, verlangt ein Almosen, versucht ihr Mitleid zu erregen. Es ist der übliche Trick; er kommt aus dem Krankenhaus, hat keine Arbeit, sucht welche, weiß nicht, wo er die Nacht zubringen soll. Aber nicht das wirkt, es ist nur der Anknüpfungspunkt. Er sucht, wählt die gute Seele, verwickelt sie in ein Gespräch, hängt sich an sie, weicht nicht von ihren Fersen. Er bietet ihr Kleinigkeiten zum Verkauf an, die er aus seinem Korb zieht, künstliche Blumen, Scheren, obszöne Miniaturen, irgend etwas. Im allgemeinen werden seine Angebote abgelehnt, die gute Seele beeilt sich, sie hat keine Zeit. Immer weiter handelnd, kommt er mit ihr bis zum Teich, den Sie gesehen haben. Dann greift er zu seinem gröbsten Mittel. Er bietet der guten Seele an, ihr die Photographie des Obersten zu zeigen. Das ist unwiderstehlich. Da es nicht mehr sehr hell ist, beugt sich die gute Seele vor, um besser zu sehen. In diesem Augenblick ist sie verloren. Er nutzt es aus, daß sie in die Betrachtung des Bildes versunken ist, und stößt sie. Sie stürzt in den Teich, sie ertrinkt. Der Streich ist gelungen. Er braucht sich nur noch nach einem neuen Opfer umzusehen.» «Das Seltsame ist, daß man es weiß und daß man sich trotzdem überraschen läßt.» «Es ist eine Falle, was wollen Sie. Es ist hinterlistig. Er wurde nie auf frischer Tat ertappt.» Mechanisch beobachtete ich, wie die Leute aus der Straßenbahn stiegen, die gerade angekommen war. Ich sah keinen Bettler. «Sie werden ihn nicht sehen», sagte der Kommissar, der meine Gedanken erriet. «Er wird sich nicht zeigen. Er weiß, daß wir hier sind.» «Vielleicht sollten Sie an diesem Platz ständig einen Inspektor in Zivil aufstellen.» «Das ist unmöglich. Unsere Inspektoren sind überlastet, sie haben anderes zu tun. Übrigens würden auch sie die Photographie des Obersten sehen wollen. Es sind schon fünf auf diese Weise ertrunken. Ach! Wenn wir die Beweise hätten, dann wüßten wir, wo wir ihn finden könnten!» Ich verließ meinen Begleiter, nicht ohne ihm dafür zu danken, daß er so freundlich gewesen war, mir das schöne Viertel zu zeigen, und daß er sich so bereitwillig über alle diese unverzeihlichen Verbrechen hatte ausfragen lassen. Ach, seine aufschlußreichen Eröffnungen werden in keiner Tageszeitung erscheinen: ich bin kein Journalist, ich habe mich nie gerühmt, einer zu sein. Die Auskünfte des Architekten-Kommissars waren rein privat gewesen. Sie hatten mich umsonst mit Angst erfüllt. Von einem -2 9 -
undefinierbaren Unbehagen erfüllt, kam ich nach Hause. Eduard erwartete mich im Salon des ewigen Herbstes, der eine niedrige Decke hat und düster ist (tagsüber funktioniert die Elektrizität nicht). Er war da, saß auf der Truhe neben dem Fenster, ganz mager, mit bleichem, traurigem Gesicht und brennenden Augen. Zweifellos hatte er noch etwas Fieber. Er merkte, daß ich bedrückt war, und fragte mich nach dem Grund. Als ich ihm die Sache darlegen wollte, unterbrach er mich nach den ersten Worten. r kenne die Geschichte, teilte er mir mit seiner zitternden, er kenne kindlichen Stimme mit, er war sogar erstaunt, daß ich nicht schon eher davon gehört hatte. Die ganze Stadt wußte es. Deshalb hatte er nie mit mir darüber gesprochen. Es war eine längst bekannte Sache, mit der man sich abgefunden hatte. Bedauerlich. Gewiß. «Sehr bedauerlich!» sagte ich. Ich meinerseits verbarg ihm nicht meine Überraschung darüber, daß er nicht bestürzter war. War ich vielleicht ungerecht? Vielleicht war dies das Übel, das an ihm zehrte, denn er war tuberkulös. Man kennt das menschliche Herz nicht. «Wollen wir ein wenig spazieren gehen?» sagte er. «Ich warte seit einer Stunde auf Sie. Ich erfriere bei Ihnen. Draußen ist es sicher viel wärmer.» Obschon ich niedergeschlagen, müde war (ich hätte es vorgezogen, zu Bett zu gehen), willigte ich ein, ihn zu begleiten. Er stand auf, setzte seinen mit einem schwarzen Band verzierten Hut auf, zog seinen eisengrauen Überzieher an, nahm seine schwere Aktenmappe und ließ sie fallen, bevor er einen Schritt gegangen war. Sie öffnete sich beim Fallen. Wir stürzten gleichzeitig darauf zu. Aus einer Seitentasche der Aktenmappe waren Photographien geglitten, die einen Obersten in voller Uniform darstellten, mit einem Schnurrbart, irgendeinen Obersten, mit einem guten, eher rührenden Gesicht. Wir legten die Aktentasche auf den Tisch, um sie besser untersuchen zu können: wir zogen noch Hunderte von Photographien mit demselben Gesicht hervor. «Was soll das heißen?» fragte ich. «Das ist die Photographie, die berühmte Photographie des Obersten! Sie haben sie bei sich gehabt und mir nie etwas davon erzählt!» «Ich sehe nicht die ganze Zeit in meiner Aktentasche nach», gab er zurück. «Immerhin ist es Ihre Aktentasche, von der Sie sich nie trennen.» «Das ist kein Grund.» «Kurz und gut, nützen wir die Gelegenheit, suchen wir weiter.» Er tauchte seine ungesund weiße Hand mit den gekrümmten Fingern in die anderen Taschen seiner riesigen, schwarzen Aktenmappe. Er zog (wie konnte das alles nur darin Platz haben?) unvorstellbare Mengen von künstlichen Blumen, -3 0 -
obszönen Bildern, Bonbons, Trillerpfeifchen, Kinderuhren, Nägeln, Federhaltern, Kartonschachteln und was weiß ich sonst noch alles heraus, einen ganzen Krimskrams, Zigaretten. («Die gehören mir!» sagte er.) Es hatte keinen Platz mehr auf dem Tisch. «Das sind die Sachen des, Ungeheuers!» rief ich aus. «Sie haben sie!» «Ich wußte nichts davon.» «Leeren Sie alles aus», ermunterte ich ihn. «Los!» Er wühlte weiter. Visitenkarten tauchten auf, mit dem Namen, der Adresse des Verbrechers, sein Personalausweis mit Photo, dann in einem kleinen Kästchen die Zettel mit den Namen aller Opfer; ein intimes Tagebuch, in dem wir blätterten, mit seinen detaillierten Geständnissen, seinen Vorhaben, seinem minutiösen Aktionsplan, seinem Glaubensbekenntnis, seiner Doktrin. «Sie haben alle Beweise in der Hand. Jetzt können wir ihn verhaften lassen.» «Ich wußte es nicht», stammelte er, «ich wußte es nicht.» «Sie hätten viele Menschenleben retten können!» warf ich ihm vor. «Ich bin entsetzt. Ich wußte es nicht, ich weiß nie, was ich bei mir habe, ich sehe nie in meiner Aktenmappe nach.» «Das ist eine unverzeihliche Nachlässigkeit», sagte ich. «Ich bitte um Verzeihung. Ich bin bestürzt.» «Nun, Eduard, immerhin sind diese Sachen nicht von alleine da hineingekommen. Sie haben sie gefunden, Sie haben sie bekommen!» Ich hatte Mitleid. Er war ganz rot geworden, schämte sich wirklich. Er strengte sein Gedächtnis an. «Ach ja!» rief er nach ein paar Sekunden aus. «Jetzt erinnere ich mich. Der Verbrecher hatte mir sein intimes Tagebuch, seine Notizen, seine Zettel vor langer Zeit geschickt und mich gebeten, sie in einer literarischen Zeitschrift zu veröffentlichen, das war, bevor die Verbrechen begangen wurden; ich hatte das alles ganz vergessen. Ich glaube, er hat selbst gar nicht daran gedacht, die Verbrechen zu begehen; wahrscheinlich hat er erst später daran gedacht, seine Pläne in die Tat umzusetzen; ich aber hatte das für Träumereien ohne Folgen, für Erfindungen gehalten. Ich bedaure, daß ich nicht über die Frage nachgedacht, all diese Dokumente nicht mit den Ereignissen in Verbindung gebracht habe.» «Es handelt sich immerhin um die Verbindung zwischen Absicht und Verwirklichung, nicht mehr, nicht weniger, das ist sonnenklar.» Aus der Aktenmappe zog er noch einen großen Briefumschlag, den wir öffneten: es war eine Karte, ein sehr genauer Plan, in dem alle Orte genau angegeben waren, wo sich der Mörder aufhielt, und ein genauer Stundenplan, -3 1 -
Minute für Minute. «Ganz einfach», sagte ich. «Wir müssen der Polizei Bescheid sagen, dann brauchen sie ihn nur noch zu pflücken. Beeilen wir uns, die Polizeibüros machen bei Anbruch der Nacht zu. Nachher ist niemand mehr da. Bis morgen könnte er seine Pläne ändern. Wir gehen zum Architekten und zeigen ihm die Beweise.» «Gut», sagte Eduard eher gleichgültig. Wir liefen hinaus. Im Hausflur stießen wir mit der Concierge zusammen, die vorbeiging. «Man macht sich keinen Begriff...» schrie sie. Der Rest ihres Satzes verlor sich im Wind. Atemlos mußten wir auf der großen Straße unsere Schritte verlangsamen. Rechts erstreckten sich die gepflügten Felder, soweit das Auge reichte. Links die ersten Häuser der Stadt. Auf beiden Seiten ein paar Bäume, entblättert. Wenige Passanten. Plötzlich versperrten drei oder vier schwere Militärlastwagen, die ich weiß nicht woher kamen, die Straße. Sie standen am Rand des Bürgersteiges, der hier tiefer lag als die Straße, die dadurch erhöht schien. Eduard und ich mußten einen Augenblick stehen bleiben, glücklicherweise, denn dadurch bemerkte ich, daß mein Freund die Aktenmappe nicht dabei hatte. «Was haben Sie damit gemacht? Ich dachte doch, Sie hätten sie bei sich?» sagte ich zu ihm. Der Dummkopf! Er hatte sie zu Hause vergessen. «Es nützt nichts, wenn wir ohne unsere Beweise zum Kommissar kommen! Woran denken Sie eigentlich? Sie sind unglaublich! Laufen Sie schnell zurück und holen Sie sie. Ich gehe weiter, denn ich muß dem Kommissar wenigstens rechtzeitig Bescheid sagen, damit er wartet. Beeilen Sie sich, laufen Sie zurück, sehen Sie zu, daß Sie mich so bald wie möglich einholen. Das Polizeipräsidium ist ganz dort hinten. Bei so einer Sache bin ich nicht gerne alleine, das ist unangenehm, verstehen Sie!» Eduard verschwand. Ich hatte ziemlich Angst. Der Bürgersteig sank immer mehr, so daß man Stufen hatte bauen müssen, genau drei Stufen, damit die Fußgänger auf die Straße gelangen konnten. Ich war ganz nahe bei einem der schweren Lastwagen (die anderen waren weiter vorn, weiter hinten). Dieser hier war offen, mit einigen Bankreihen, auf denen zusammengepfercht etwa vierzig Soldaten in dunklen Uniformen saßen. Einer davon hielt einen dicken Strauß roter Nelken in der Hand. Er benutzte ihn als Fächer. Einige Polizisten kamen, um mit Pfiffen den Verkehr zu regeln. Sie taten gut daran, denn dieses Gedränge hielt mich auf. Sie waren ungewöhnlich groß. Einer stand neben einem Baum und überragte ihn, wenn er seinen Stab hob. Ein kleiner Herr, mit weißem Haar, bescheiden gekleidet und neben dem Polizisten noch kleiner erscheinend, bat ihn sehr höflich, zu höflich, um eine Auskunft. Ohne seine Zeichen zu unterbrechen, gab der Polizist dem Rentner -3 2 -
(der dem Altersunterschied nach immerhin sein Vater hätte sein können, wenn auch nicht der Größe nach, die zu Ungunsten des alten Herrn sprach) in schroffem Ton eine kurze Antwort. Der alte Herr war schwerhörig oder hatte vielleicht nicht verstanden und wiederholte seine Frage. Der Polizist jagte ihn mit groben Worten davon, wandte den Kopf und setzte seine Arbeit fort. Das Verhalten des Polizist hatte mich entsetzt. Er hatte immerhin die Pflicht, mit den Leuten höflich zu sein; das muß bestimmt in der Dienstvorschrift stehen... «Wenn ich seinen Vorgesetzten sehe, werde ich nicht vergessen, mit ihm darüber zu sprechen!» dachte ich. Was uns angeht, wir sind zu höflich, zu schüchtern mit den Polizisten, wir haben ihnen schlechte Gewohnheiten beigebracht, es ist unsere Schuld. Ein zweiter Polizist, ebenso groß wie der erste, kam ganz nahe zu mir auf den Bürgersteig. Die Lastwagen, die Verkehrsstauung ärgerten ihn sichtlich, darin hatte er nicht unrecht, das muß man zugeben. Ohne daß er die Stufen hinaufsteigen wußte, die den Bürgersteig mit der Straße verbanden, ging er ganz nahe zu dem Lastwagen voller Soldaten. Sein Kopf überragte die ihren ein wenig, obschon seine Füße auf gleicher Höhe standen wie meine. Indem er ihnen vorwarf, sie hinderten den Verkehr, schalt er die Soldaten heftig, die doch nichts dafür konnten, und besonders den mit dem Nelkenstrauß, der noch weniger dafür konnte. «Haben Sie nichts Besseres zu tun, als sich damit zu vergnügen?» sagte er zu ihm. «Ich tue nichts Böses, Herr Polizist», antwortete der Soldat sehr sanft, mit schüchterner Stimme, «nicht das hindert den Lastwagen daran, loszufahren.» «Unverschämter Kerl, das blockiert doch den Motor!» schrie der Polizist und ohrfeigte den Soldaten. Dieser sagte kein Wort. Daraufhin riß ihm der Polizist die Blumen aus der Hand und warf sie weg. Sie waren verschwunden. Ich war empört. Ich glaube, ein Land, in dem die Polizei den Vorrang vor der Armee hat, ist verloren. «Was mischen Sie sich ein, was geht Sie das an?» sagte der Polizist und wandte sich an mich. Dabei hatte ich meine Gedanken gar nicht laut ausgesprochen, sie mußten leicht zu erraten sein. «Was machen Sie überhaupt hier?» Ich benutzte die Frage, um ihm mein Anliegen zu erklären, vielleicht seinen Rat, seine Hilfe zu erbitten. «Ich habe alle Beweise», sagte ich, «man kann den Mörder verhaften. Ich will zum Polizeipräsidium gehen. Es ist ziemlich weit. Könnte mich vielleicht jemand begleiten? Ich bin ein Freund des Kommissars, des Architekten.» -3 3 -
«Das ist nicht mein Gebiet, ich bin Verkehrspolizist.» «Immerhin...» «Das ist nicht meine Aufgabe, verstehen Sie! Ihre Geschichte interessiert mich nicht. Wenn Sie mit dem Chef befreundet sind, dann gehen Sie doch zu ihm und lassen Sie mich in Ruhe. Sie kennen die Richtung, machen Sie sich auf die Beine, der Weg ist frei.» «Gut, Herr Polizist», sagte ich, ohne zu wollen ebenso höflich wie der Soldat. «Gut, Herr Polizist!» Der Polizist wandte sich an seinen Kollegen, der neben dem Baum stand, und sagte hart und ironisch: «Laß den Herrn durch!» Dieser - ich konnte sein Gesicht durch die Zweige sehen gab mir ein Zeichen, ich solle mich aus dem Staube machen. Als ich an ihm vorbeiging: Ich hasse Sie!» schleuderte er mir wütend ins Gesicht, dabei hätte ich ein Recht gehabt, ihm das zu sagen. Ich war allein, mitten auf der Straße, die Lastwagen fuhren schon weit hinter mir. Ich ging eilig geradeaus auf das Polizeipräsidium zu. Der Tag ging zur Neige, die Bise wehte scharf, ich war besorgt. Würde Eduard mich rechtzeitig einholen? Und ich war immer noch wütend auf die Polizei: diese Leute sind nur dazu da, einen anzuöden, einem die Leviten zu lesen, aber wenn man sie wirklich braucht, wenn sie einen verteidigen sollten... Irrtum!... dann lassen sie einen im Stich. Zu meiner Linken standen keine Häuser mehr. Auf beiden Seiten graue Felder. Diese Straße nahm kein Ende mit ihren Straßenbahnschienen. Ich ging, ging: «Wenn es nur nicht zu spät ist, wenn es nur nicht zu spät ist!» Plötzlich stand er vor mir. Kein Zweifel, es war der Mörder; um uns nichts als die dunkle Weite. Der Wind wehte ein altes Zeitungsblatt, gegen einen Baumstamm, wo es kleben blieb. Hinter dem Mann, in der Ferne, ein paar hundert Meter weit, erhob sich in der untergehenden Sonne das Gebäude des Polizeipräsidiums, neben der Haltestelle der Straßenbahn, die man ankommen sah; Leute stiegen aus, winzig klein aus dieser Entfernung. Keine Hilfe war möglich, sie waren viel zu weit weg, sie hätten mich nicht gehört. Ich blieb mit einem Ruck stehen, auf die Stelle gebannt. «Diese dreckigen Polizisten», dachte ich, «sie haben mich extra mit ihm allein gelassen; sie wollten, daß man glaubt, es hätte sich nur um eine Abrechnung gehandelt!» Wir standen einander gegenüber, zwei Schritte voneinander entfernt. Ich sah ihn schweigend, aufmerksam an. Auch er musterte mich, leise hohnlächelnd. Es war ein Mann mittleren Alters, hager, schmächtig, sehr klein gewachsen, schlecht rasiert, und schien weniger stark zu sein als ich. Er trug einen abgetragenen, schmutzigen Regenmantel, dessen Taschen zerrissen waren, -3 4 -
durchlöcherte Schuhe, aus denen seine großen Zehen heraussahen. Auf dem Kopf hatte er einen ganz zerschlissenen, unförmigen Hut; eine Hand steckte in der Tasche, mit der anderen umklammerte er ein Messer mit großer Klinge, die einen fahlen Glanz warf. Er fixierte mich mit seinem einen, eiskalten Auge, das aus dem gleichen Material war wie die Schneide seiner Waffe. Ich hatte noch nie einen so grausamen Blick gesehen, einen Blick von einer solchen Härte - und warum? - von einer solchen Wildheit. Ein unerbittliches Auge, vielleicht das einer Schlange oder eines Tigers, eines Mörders ohne Grund. Kein freundliches oder herrisches Wort, keine Vernunftgründe hätten ihn überzeugen können, alle Glücksversprechen, alle Liebe der Welt hätten ihn nicht erreichen können, weder hätte die Schönheit ihn beugen noch der Spott ihn beschämen, noch alle Weisen der Welt ihm die Vergeblichkeit des Verbrechens wie der Barmherzigkeit verständlich machen können. Die Tränen der Heiligen wären, ohne es zu netzen, über dieses wimpernlose Auge, diesen eisernen Blick geflossen, Bataillone von Christussen wären einander, vergeblich für ihn, auf den Kalvarienberg gefolgt. Langsam zog ich meine beiden Pistolen aus den Taschen, richtete sie zwei Sekunden lang schweigend auf ihn, der sich nicht rührte. Dann ließ ich sie sinken, ließ meine Arme am Körper herabfallen. Ich kam mir entwaffnet, hoffnungslos vor: denn was vermögen Kugeln oder meine schwache Kraft gegen den kalten Haß und Eigensinn, gegen die unendliche Energie dieser absoluten Grausamkeit ohne Grund, ohne Gnade.
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EIN OPFER DER PFLICHT AN JENEM Abend hörte ich um sieben Uhr ein heftiges Klopfen an der Türe der Concierge, gegenüber von unserer Türe, denn wir wohnen im Erdgeschoß, und nach einer Weile wieder ein Klopfen, diesmal schwächer, bei uns. Ich öffnete. Es war der Polizist, in Zivil. Ohne ihn je gesehen zu haben, erkannte ich ihn sofort an seinem übertrieben freundlichen Gehabe. Er trug eine Aktentasche unter dem Arm, einen hellbraunen Überzieher, keinen Hut. Er wirkte sehr schüchtern. «Entschuldigen Sie», sagte er, «ich wollte die Concierge um eine Auskunft bitten, die Concierge ist nicht da, wissen Sie wo sie ist, ob sie bald zurückkommt? Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie bitte, ich hätte nicht an Ihre Türe geklopft, wenn die Concierge dagewesen wäre, ich hätte nicht gewagt, Sie zu stören, und übrigens gehe ich gleich wieder!» Madeleine kam hinzu, sah den Polizisten, sagte: «Was für ein wohlerzogener junger Mann!» Dann zu mir: «Frag ihn, was er wissen will. Vielleicht kannst du ihm Auskunft geben!» «Es ist mir sehr unangenehm, Sie zu stören», sagte der Polizist, «es ist ganz einfach...» «Laß ihn doch hereinkommen», drängte mich Madeleine. «Wollen Sie bitte hereinkommen!» sagte ich zum Polizisten. «Es dauert nur fünf Minuten», antwortete dieser und sah auf seine Armbanduhr. «Ich könnte nicht...» («Er hat eine goldene Uhr», bemerkte Madeleine schweigend, ich konnte ihre Gedanken erraten) - «aber wenn Sie darauf bestehen... ich komme herein, unter der Bedingung, daß Sie mich gleich wieder gehen lassen!» «Selbstverständlich», beruhigte ihn Madeleine, «kommen Sie herein und wärmen Sie sich wenigstens einen Augenblick.» Der junge Mann trat ein, öffnete seinen Überzieher. Er hatte einen ganz neuen braunen Anzug. Er hatte auch sehr schöne Schuhe. Blondes Haar. «Es tut mir leid, Ihnen Ihre Zeit zu stehlen», sagte er, «ich wollte nur wissen, ob die Mieter, die vor Ihnen hier wohnten, Malloud mit d am Schluß oder Malloux mit x geheißen haben. Das ist alles.» «Malloud mit d», sagte ich. «Das habe ich mir gedacht», sagte der Polizist. Er ging geradewegs in den Salon, setzte sich an einen Tisch, stellte die Tasche ab, öffnete sie, nahm ein Perlmutteretui heraus, zündete sich eine Zigarette an, ohne uns welche anzubieten, steckte das Etui wieder in die Tasche, schlug die Beine -3 6 -
übereinander. «Sie haben die Mallouds also gekannt», sagte er und hob die Augen zu Madeleine, dann zu mir, denn wir standen zu beiden Seiten seines Stuhles. «Nein, ich habe sie nicht gekannt», antwortete ich. «Woher wissen Sie dann, daß ihr Name am Schluß ein d hat?» Diese Frage verwirrte mich sehr. Von wem hatte ich dieses Detail erfahren? Hatte ich die Mallouds nun gekannt oder nicht? Ich strengte krampfhaft mein Gedächtnis an. Ich konnte mich nicht erinnern. «Würden Sie mir vielleicht eine Tasse Kaffee geben?» sagte der Polizist und wippte mit seinem Stuhl. «Selbstverständlich», sagte Madeleine. «Ich mache Ihnen welchen. Aber Vorsicht, schaukeln Sie nicht, Sie könnten fallen.» «Machen Sie sich keine Sorgen, Madeleine!... So heißt sie doch?» sagte er und sah mich mit zweideutigem Lächeln an. «Machen Sie sich keine Sorgen, Madeleine, ich bin es gewohnt.» Madeleine verließ das Zimmer, wir hörten eine Zeitlang das Geräusch der Kaffeemühle, das immer schwächer wurde, dann nichts mehr. Madeleine war für immer verschwunden. Der Polizist hielt mir ein Photo vor. «Versuch dein Gedächtnis aufzufrischen. Ist das Malloud?» Es war das Bild eines etwa fünfzigjährigen Mannes, sein Bart war seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert, und auf der Brust trug er ein Schild mit einer fünfstelligen Zahl. Ich betrachtete das Photo eine Zeitlang. «Wissen Sie, Herr Inspektor, das kann ich nicht sagen. So, mit diesem Bart, ohne Krawatte, mit zerschlagenem, geschwollenem Gesicht, wie soll ich ihn da erkennen? Mir scheint immerhin, ja mir scheint doch, daß er es sein könnte... er muß es sein...» «Seit wann kennst du ihn?» fragte der Polizist. «Und was hat er dir erzählt?» Ich ließ mich in einen Sessel fallen, ich nahm meinen Kopf in meine Hände. Ich schloß die Augen und versuchte, mich zu erinnern. «Der Strand!» hörte ich die Stimme des Polizisten. Ich durcheilte in Gedanken alle Strände der Erde in einem Augenblick. Keine Spur von Montbeliard. «Stimmt», bemerkte der Polizist, ohne die Worte auszusprechen, «er trug auch den Beinamen Montbeliard. Such anderswo!...» Ich schloß wieder die Augen und durcheilte alle Orte am Wasser, alle Berge. Auf einem steilen, völlig verlassenen Gipfel steht plötzlich der Polizist neben mir. «Da, jetzt sind wir mitten drin in meinen Erinnerungen!» -3 7 -
«Kein Wunder», sagte er, «und der Mann?» Ich öffnete die Augen wieder. Der Polizist war immer noch da auf dem Stuhl, schaukelte, rauchte. «Sie haben es doch gesehen, Sie waren hinter mir, ich habe ihn überall gesucht, ich habe ihn nicht gefunden; sie haben mich überwacht, ich habe nicht gemogelt... Der Name Montbeliard sagt mir etwas, aber was nur?» «Das ist eine andere Geschichte. Wir dürfen vor allem die Spur nicht verlieren. Ich werde dich führen.» In diesem Augenblick trat durch die Glastüre aus dem Hinterzimmer, struppig, mit wirrem Haar, ganz zerdrückten Kleidern, vom Schlaf noch verquollenen Augen, Nicolas ein, den ich ganz vergessen hatte. Der Polizist fuhr auf. Ängstlich, mit weitaufgerissenen Augen starrte er Nicolas an. «Nur weiter», sagte Nicolas und gestikulierte in seiner gewohnten Art, «lassen Sie sich durch mich nicht stören.» Und er setzte sich abseits auf das rote Sofa. Das beruhigte den Polizisten. Er lächelte wieder, klappte seine Tasche auf und zu, zerknüllte ein Blatt Papier und warf es zu Boden. Ich machte eine Bewegung. «Laß nur», sagte er, «du brauchst es nicht aufzuheben, es liegt sehr gut dort.» Dann forschte er mich in seiner stummen Sprache aus: «Dein Gedächtnis hat Lücken!» Nicolas hüstelte in seiner Ecke. «Entschuldigung!» sagte er. «Macht nichts!» sagte der Polizist mit einem freundlichen Augenzwinkern, einem Salonzwinkern, zu Nicolas. Dann wandte er sich zu mir und reichte mir eine riesige Brotrinde. «Iß!» «Ich habe keinen Hunger.» «Iß, das wird dir dein Gedächtnis zurückbringen.» Ich mußte wohl oder übel das Brot nehmen. Langsam, mit angeekelter Miene führte ich diese Nahrung zum Munde. «Schneller», sagten mir die kalten, unendlich feindseligen Augen des Polizisten, «ich habe keine Zeit zu verlieren, los, schneller!...» Ich biß in die runzlige Rinde. Es war Baumrinde, Eiche wahrscheinlich. «Das ist gut», sagten mir die Augen des Polizisten, «es ist sehr gesund!» «Es ist so hart!» jammerte ich. «Los, mach keine Geschichten, schnell, kau!» Von seinem Platz aus dirigierte er mit den Blicken das Kauen und ließ unbarmherzig meine Kinnbacken arbeiten. Die Zähne taten mir weh, brachen ab, mein Zahnfleisch blutete. -3 8 -
«Schneller, los, beeil dich, kau, kau, schluck.» Mein Gaumen, meine Zunge waren aufgerissen. «Schnell, schnell. Noch ein Stück. Los, kau, schluck!» Ich biß von neuem in die Rinde, steckte sie ganz in den Mund. «Schluck!» «Ich versuche es. Ich kann nicht.» «Du kannst nicht! Jeder kann, man muß nur wollen!» «Ich schlucke es in kleinen Brocken.» «Gut, aber schneller», befahlen seine Augen. Ich schwitzte. Kalter Schweiß. Mir drehte sich der Magen um. Seine Stimme wurde wieder laut, und wie sie kreischte, mir in den Ohren dröhnte! «Paß auf, erbrich dich nicht, das nützt gar nichts, ich lasse es dich noch einmal schlucken! Vor allem hör zu, was ich dir sage, halt dir nicht die Ohren zu!» Es ging nicht hinunter. Dabei machte ich verzweifelte Anstrengungen. Es blieb mir im Mund, im Hals stecken, dieses Holz, dieses Eisen. Grausame Pein. Erstickt konnte ich nicht mehr schreien. «Schneller, schneller, sage ich dir, mach schon, schluck sofort, alles!»... Und er tauchte seinen Daumen in Öl steckte ihn mir in den Hals und drückte es hinunter. Plötzlich stand Nicolas auf, ging drohend auf den Polizisten zu. Erschreckt, mit zitternder Stimme sagte dieser (ich höre ihn noch) «Ich tue nur meine Pflicht. Ich bin nicht da, um ihn zu ärgern. Aber ich muß doch wissen, wo sich Malloud mit d versteckt. Was Ihren Freund angeht, ich achte ihn sehr.» Nicolas gab sich nicht damit zufrieden. Er lachte dem Polizisten verächtlich ins Gesicht: «Merken Sie nicht, daß Sie verrückt sind?» Aufs höchste entrüstet, erschrocken, verwirrt setzte sich der Inspektor, stand wieder auf und warf den Stuhl um, der zusammenbrach: «Ich?» «Es tut nicht mehr weh», rief ich aus, «ich habe alles heruntergeschluckt.» Man schenkte mir keine Beachtung. «Ja, Sie, ganz richtig!» wiederholte Nicolas. «Oh!» sagte der Polizist und brach in Tränen aus. «Ich wollte Ihren Freund nicht ärgern, das schwöre ich Ihnen. Er hat mich gezwungen, hier hereinzukommen!» «Ich bin Ihnen nicht deswegen böse.» Nie hätte ich geglaubt, daß Nicolas eines solchen Hasses fähig sein könnte. Der Polizist riß die Augen weit auf, in -3 9 -
denen sich der Schrecken der ganzen Erde entflammte. Armer Kerl! Sein Gesicht hingegen war bleich, seine Züge verstört. «Warum nur, warum denn nur, mein Gott?» vermochte er herauszubringen. «Ich bin zwanzig Jahre alt», fügte er mühsam hinzu. «Das ist mir gleich!» entschied Nicolas nachdrücklich, «ich bin fünfundvierzig.» «Mehr als das Doppelte», rechnete ich in Gedanken. Nicolas zog ein riesiges Messer hervor. Der Polizist faltete die Hände. Er klapperte mit den Zähnen. Dabei funktionierte die Heizung doch wunderbar. Nicolas schwang die Waffe. Der Polizist gab schwache Töne von sich und roch schlecht. «Es ist nicht fein, in die Hose zu machen», sagte ich ganz laut, ohne über die Situation nachzudenken. Mit wildem Blick, verzerrtem Mund, hochrotem Nacken (Vorsicht, Nicolas, nicht daß dich der Schlag trifft!... Aber Nicolas, du hättest sein Vater sein können!) stieß Nicolas sein Messer dreimal in das Herz dieses armen Polizisten, der sich blutüberströmt am Boden wälzte, ein Opfer der Pflicht.
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NACHWORT «... Es gelingt uns nicht, dem Wunsche zu widerstehen, auf einer Bühne lebendige Figuren erscheinen zu lassen, die gleichzeitig wirklich und erfunden sind. Man kann sich dem Bedürfnis, sie vor uns zum Sprechen, zum Leben zu bringen, nicht entziehen...» DIE ÜBERRASCHUNG war nicht gering, als mir Eugene Ionesco bei einem Spaziergang auf dem Zürichberg im Juni 1959 plötzlich von seinen Erzählungen zu berichten begann. Wir waren durch Jarry daraufgekommen, dessen «König Ubu» kurz vorher in der Arche erstmals in deutscher Sprache erschienen war, was verschiedene Kritiker zum Anlaß genommen hatten, sich einmal mehr über Ionescos Abhängigkeit von Jarry zu verbreiten. «Dabei hat mich Jarry eigentlich nie sehr beschäftigt. Aber ich kann mir vorstellen, daß er, der seine Stücke ursprünglich oft auch in Prosa skizzierte, eine ähnliche Lust wie ich verspürt hat, die Figuren seiner Erzählungen sprechen zu hören und auf der Bühne zum Leben zu bringen... Ohne diese Lust wären wir wohl beide nie zum Theater gekommen, sondern bei der Prosa geblieben...» Wenn verschiedene Stücke Ionescos in deutscher Sprache ihre Uraufführung erlebt haben, bevor die französische Originalaufführung folgte, so ist es vor allem den Bemühungen des Bühnenverlegers Hans Rudolf Stauffacher in Zürich zu verdanken. Er hat dem Autor den Weg auf die deutschsprachigen Bühnen geöffnet und der Arche auch ermöglicht, die Erzählungen, welche bisher nur zerstreut in Zeitschriften erschienen sind («Die Nashörner» in «Die Neue Rundschau», Heft 3, 1957. «Goldfackel» in «Hortulus», Februar 1958. «Ein Opfer der Pflicht» in «Medium», Januar 1955. «Die Photographie des Obersten» in «Nouvelle Revue Française» November 1955), erstmals in Buchform herauszubringen. Der Verleger
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