Manfred Weinland
Die Negaperle Bad Earth Band 16
ZAUBERMOND VERLAG
Yaels imaginärer Freund Charly auf besonderer Mi...
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Manfred Weinland
Die Negaperle Bad Earth Band 16
ZAUBERMOND VERLAG
Yaels imaginärer Freund Charly auf besonderer Mission … kann das gut gehen? Als Vorbote der RUBIKON begibt sich die physische Projektion ins Angksystem. Sie soll die Bractonen auf das vorbereiten, was John Cloud und seine Crew in der Großen Magellanschen Wolke entdeckt haben. Zeitgleich bahnen sich an Bord der RUBIKON Veränderungen mit weitreichenden Folgen an. Zeigen die »Angks«, wie die Neucrewmitglieder aus dem Angksystem genannt werden, jetzt ihr wahres Gesicht? Mysteriöses geht vor in dem »Dorf«, das sie sich auf der RUBIKON eingerichtet haben. Was hat es mit den sonderbaren Skulpturen auf sich, die Aylea und Jarvis entdecken – und mit der VISION, in der Jarvis die RUBIKON als entvölkertes Schiff sieht? Die Lage spitzt sich immer mehr zu, bis Cloud nicht mehr anders kann als einzuschreiten …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir. wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Sie erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Schon im Leerraum zwischen
den Galaxien kommt es zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac und den Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, wird Scobee über ein Wurmloch in die heimatliche Milchstraße geschleust, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf
dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Er wird gefangen genommen, kann in der Folge aber die RUBIKON samt Sesha in seine Gewalt bringen und die reguläre Besatzung gefangen nehmen. Zusammen mit seiner alten Gefährtin Siroona lenkt er die ehemalige Foronenarche nach Samragh, wo er den selbsternannten Mecchit in einem Duell besiegt, um sich anschließend selbst an die Spitze des dort erblühenden neuen Foronenreichs setzen können. Doch der Plan endet im persönlichen Fiasko für Sobek. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – wirkt sich offenbar auch auf die Fremdtechnik aus der Anomalie aus, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte. Jarvis gelingt es schließlich, den »ewigen« Widersacher zu töten. Die RUBIKON wechselt wieder in die Hand von John Cloud und seiner Crew. Sirona rechnet mit dem Ärgsten für sich selbst, aber Cloud überrascht sie damit, dass er sie frei lässt, damit sie den verwaisten Thron ihres Volkes einnimmt und es in eine bessere Zukunft führen soll als Mecchit oder Sobek es getan hätten. Siroona scheint guten Willens, dies tatsächlich zu tun. Die RUBIKON aber nimmt Kurs auf die Milchstraße, weil Cloud indem Phänomen verschwindender Sterne nicht nur eine Gefahr für Samragh, sondern weit darüber hinaus sieht …
Prolog Jiim erwachte durch das Wimmern seines Sprösslings. Yael hing in seinem Nachtgeschirr, und in unregelmäßigen Abständen zuckte sein Körper so heftig, dass die Vorrichtung, in der er schlief, leise klirrte. Die Schwingen fächelten Luft, der Balken, an dem das Geschirr verankert war, knarzte. Von draußen schien Marons eitrig gelbes Licht in die Baumhütte. Es reichte aus, um Yaels Gesicht einigermaßen klar erkennen zu lassen. Es war verzerrt, aber die Augen waren geschlossen. Aus dem Mund drang abermals ein Wimmern. Jiim rutschte aus der Schlafvorrichtung, die den Bedürfnissen eines Nargen Rechnung trug. Mit drei Schritten war er bei Yael, um ihn zu wecken. Dabei bemerkte er, dass das Gefieder seines Sprosses wie mit flüssigem Gold bestrichen aussah. Jiim schaute an sich herab … und stöhnte auf. Im ersten Moment glaubte er an eine optische Täuschung, aber als er sich berührte, bekam er Gewissheit: Das Nabiss war verschwunden! Mehr noch: Es sah so aus, als hätte es seinen Träger gewechselt und kleide jetzt den schlafenden Yael … Jiim wusste nicht, was er tun sollte. Yael war mit einem goldenen Gefieder auf die Welt gekommen. Für Nargen völlig untypisch. So untypisch wie das, was Jiims Körper schon lange vor Yaels Zeugung golden gefärbt hatte: die von einem Ganf hergestellte Nabiss-Rüstung, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr von Jiim hatte abgelegt werden können – weil sie begonnen hatte, mit seinem Körper zu verwachsen, regelrecht zu verschmelzen. Und nun … sollte sie weg sein? Beziehungsweise auf Yael »übergesprungen«? Jiim erzitterte. Die Art und Weise, wie Yael sich wand, hin- und herwarf, wie er die feingliedrigen Hände um die Gurte legte und so fest schloss, dass sie fast weiß wurden, das alles ließ das Verhalten
des Jungnargen plötzlich in ganz anderem Licht erscheinen. Anfangs hatte Jiim geglaubt, sein Sprössling würde lediglich albträumen. Doch nun hatte es mit einem Mal den Anschein, als wehre er sich in Wirklichkeit – gegen eine handfeste Gefahr, die nach ihm griff. Das Nabiss. Das Nabiss umhüllte ihn und musste die Ursache aller Qual sein. Bei Maron, dem Vernichter!, dachte Jiim, von dem der letzte Rest Schlaftrunkenheit abfiel. Und laut rief er: »Yael! Hörst du mich? Wenn du mich hören kannst – wach auf! Wach auf, aber erschrick nicht. Ich bin bei dir. Ich helfe dir. Wir werden …« Seine Stimme versagte, weil etwas Unerwartetes geschah. Wie eine alte Haut löste sich der Goldmantel von Yaels Gefieder und flog Jiim mit einer solchen Geschwindigkeit entgegen, dass dieser nicht mehr hätte ausweichen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Im nächsten Moment schien die Normalität zurückzukehren: Halb von seinem Körper absorbiert, strahlte die Rüstung an Jiims Leib. Und schwach nur reflektierte Yaels goldfarbenes Gefieder den auftreffenden Schein. Alles war wieder beim Alten. Yael schlug die Augen auf. Schwer atmend starrte er zu seinem Elter, den er nur zögerlich zu erkennen schien. »Ich …«, setzte er an. »Schon gut, schon gut, beruhige dich erst einmal.« Jiim trat mit wackligen Beinen zu ihm und wünschte sich, er hätte jemanden gehabt, der beruhigend auf ihn einwirkte. »Du hattest einen Albtraum.« Yael schälte sich aus dem Geschirr. »Ein Albtraum, ja.« »Kannst du dich noch erinnern, wovon du geträumt hast?« »Von Portas. Ich war auf Portas und stand vor dem Tor.« Jiim schauderte unwillkürlich, denn Yael war wahrhaftig auf der Versiegelten Welt der Bractonen gewesen – die RUBIKON hatte ihn in einem halsbrecherischen Unternehmen von dort bewusstlos bergen können. Bis heute war nicht restlos geklärt, wie es Yael nach Portas verschlagen konnte, aber dass er dort gewesen war, war Fakt.
»Was für ein Tor?« »Durch das Kargors Perle flog. Das Tor in die Welt, aus der er und die Seinen einst verbannt wurden. Vor Jahrmilliarden.«
Jiim war erschüttert. Weniger von Yaels Aussage selbst als von der Art und Weise, wie er sprach. In diesem Moment begriff er, dass sein Spross noch immer wie im Schlaf redete – als wäre er noch gar nicht ganz aufgewacht, auch wenn die Augen offen waren und er nun aufrecht vor ihm stand. »Rede«, sagte Jiim. »Rede dir alles von der Seele! Nutze die Gelegenheit, mit dem fertig zu werden, was schon seit Portas in dir rumort. Die Erinnerung war verschüttet, das fraß dich auf. Nun scheint sie zurückzukehren. Wenn du willst, holen wir uns Beistand. Sesha als psychologische Instanz, John und vielleicht Scobee als Freunde …« Durch Yael lief ein Ruck. Danach hörte das Zittern auf, aber sein Gesicht drückte immer noch namenlosen Schrecken aus. »Es … ist keine Erinnerung. Nicht einmal … ein Traum …«, kam es gequält aus seinem Mund. Jiim war ratlos. »Aber du sagtest gerade –« »Ich sagte, ich war auf Portas. Vor den Säulen, die einen Durchgang ins Ursprungskontinuum der Bractonen ermöglichen. Oder ermöglichen sollten. Aber es war kein Traum, keine Erinnerung …« »Sondern?« »Ich war dort. Gerade eben, bevor du zu mir sprachst. Ich stand inmitten schrecklicher Gewalten, und alles war absolut real, dessen bin ich mir ganz sicher!«
1. Die RUBIKON ritt auf den Wellen dunkler Materie und Energie. Samragh, wie die Foronen ihre Urheimat, die Große Magellansche Wolke nannten, lag bereits Lichtjahrzehntausende hinter dem rochenförmigen Schiff. Aber noch immer war die Kernbesatzung aufgewühlt von den Ereignissen, von den Dramen und Tragödien, die sich dort abgespielt hatten. John Cloud konnte immer noch nicht ganz glauben, dass Sobek – ihr Intimfeind, seit sie in den Strudel kosmischer Gewalten geraten waren – nun wahrhaftig tot sein sollte. Umgebracht von Kräften, die sich jedem Versuch einer Analyse entzogen. Sobek war lange verschollen gewesen – unverhofft wiederbegegnet waren sie ihm dann in einem Milchstraßenplaneten, auf dem sich eine unheimliche Macht etabliert hatte. Eine SESHA-Kopie, ein HAKAR, war darin in einer Anomalie eingebettet gewesen und an Bord dieses Raumschiffs, das nach dem Abbild der RUBIKON erschaffen worden war, hatte Jarvis aus dem dortigen Kommandositz den Anführer des früheren foronischen Septemvirats geborgen und an Bord der RUBIKON gebracht. Er war sofort unter Gewahrsam gestellt worden, aber mithilfe unbekannter technischer Mittel, die offenbar auf die Schöpfer der Anomalie zurückgingen, war es ihm gelungen, das Archenschiff seines Volkes zurückzuerobern. Doch dann waren sie in der GMW auf jenes andere Phänomen getroffen – auf ganze Sternensektoren, die von einem Moment zum anderen aufhörten zu existieren, aufhörten zu sein. Die unmittelbare Nähe zu diesem Vorgang schien die Technologie, mit der Sobeks Körper seit dem Anomalieaufenthalt gespickt war, jäh funktionsuntüchtig zu machen – eine Gelegenheit, die seine Gefangenen genutzt und ihn getötet hatten. Vielleicht hätte es die Möglichkeit gegeben, ihn lebend zu neutrali-
sieren, aber wie oft hatten sie schon geglaubt, das zu können und waren jedes Mal eines Besseren belehrt worden? Nein, dachte Cloud, während sein Blick den Gefährten so vieler Abenteuer streifte, der ihm gegenüber auf einem der anderen sieben Kommandositze Platz genommen hatte, Jarvis ist kein Vorwurf zu machen. Er hat einfach nur konsequent jedes Risiko ausschalten wollen. Auf der RUBIKON leben inzwischen mehrere tausend Menschen – sie alle schwebten seit Sobeks Rückkehr an die Macht unter permanenter Lebensgefahr – vorrangig wir von der Kerncrew. Nein, ihm ist absolut kein Vorwurf zu machen, und Samragh hat nun endlich eine reelle Chance, sich zu erholen. Die Foronen haben eine Chance. Wenn Sobek die Pest war, war Mecchit zumindest die Cholera. Siroona hingegen … Er beendete seinen Gedankenflug. Weil er selbst nicht klar hätte benennen können, worauf seine Hoffnung fußte, dass ausgerechnet Siroona, einst Sobeks Geliebte und die Foronenfrau, die alle Eskapaden und Gräuel ihres Gefährten duldete, wenn nicht gar unterstützte, die richtige Person sein sollte, um Samragh oder das foronische Volk zu neuer friedlicher Blüte zu führen. Er erinnerte sich noch gut an Siroonas eigene Überraschung, als Cloud ihr eröffnete, dass sie diese Chance erhalten sollte – obwohl sie eher mit der Verbannung auf eine unbewohnte Randwelt hätte rechnen können. Aber mit ihr waren die Chancen, dass das gerade erst wieder neu heranwachsende foronische Volk nicht in Bürgerkrieg und Chaos versank – was langfristig auch wieder andere Spezies gefährdet hätte – deutlich größer als ohne sie. So war es zu dieser Entscheidung gekommen, die Cloud bestimmt nicht leicht fiel. »Bereust du es schon?« Scobee, die die Dritte in der Runde war, schien seine Gedanken wie ein aufgeschlagenes Buch lesen zu können. Wie Jarvis zählte sie zu Clouds ältesten Freunden. Mit beiden war er 2041 zum Mars aufgebrochen, um das unbekannte Schicksal des ersten bemannten Fluges zum roten Planeten zu klären. Es war ihnen gelungen – aber erst viel, viel später. Nachdem sie ins kalte Wasser galaktischer Intrigen und kosmischer Wunder geworfen
worden waren. Seither war nichts mehr, wie es einst gewesen war. Seither gehörte eine Reise von Galaxie zu Galaxie fast zum Alltag. Das wird es nie. Es wird immer ein unglaublicher Nervenkitzel bleiben. Ich jedenfalls habe nicht vor, mich daran zu gewöhnen. Die Gefahr ist allgegenwärtig. Ein Versagen der Schiffssysteme, und das All wird zu unserem Grab. Niemand wird uns jemals finden oder helfen, wenn wir hier draußen in der dunklen, scheinbaren Leere stranden. Obwohl diese Katastrophe nur theoretischer Natur war, verursachte sie ihm einen Schauder. »Nein«, beantwortete er Scobees Frage. »Ich bereue es nicht. Siroona ist ein Risiko – aber jeder andere, unbekannte Forone, der sich an die Spitze dieses Volkes gesetzt hätte und künftig das Zepter schwingen würde, wäre ein mindestens ebenso großes. Nein, Siroona ist eine Chance – du kennst sie. Sie hat einen Vorteil: Sie hat ›andere Luft‹ schnuppern können – soll heißen, sie hat uns Menschen, aber auch viele andere Spezies aus nächster Nähe kennengelernt. Nicht zuletzt die Jay'nac, Intelligenzen, wie sie fremdartiger kaum vorstellbar sind. Das gibt mir Hoffnung, dass in ihr ein Nachdenken begonnen hat, ein Prozess, der vielleicht in der Einsicht gipfelt, dass ein Volk keinen Tyrannen braucht, keinen uneingeschränkten Alleinherrscher und Egomanen, sondern jemanden, der sich für den Einzelnen, dessen Wohl und Wehe interessiert. – Aber zu allzu großem Optimismus ist sicherlich auch kein Anlass. Vielleicht werden wir irgendwann in Zukunft sehen, was aus diesem ›Experiment‹ geworden ist.« »Schön, dass du es ähnlich siehst wie ich.« Jarvis verzog sein täuschend echt wirkendes Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bereue es übrigens auch nicht – ihr wisst schon, was. Es war Notwehr. So sehe ich es. Und zwar Notwehr im Sinne der präventiven Vereitelung von Morden, die Sobek, wäre er am Leben geblieben, mit Sicherheit künftig verübt hätte – und angefangen hätte er bei uns.« Cloud ließ es unkommentiert. Weil er wusste, dass Jarvis viel redete, wenn der Tag lang war – insgeheim, daran gab es nicht den lei-
sesten Zweifel, hatte er sehr wohl daran zu knabbern, dass er Sobek ins Jenseits befördert hatte. In diesem Moment betrat eine ebenso ungewöhnliche wie vertraute Gestalt die Bordzentrale. Jiim. Der Narge hatte das äußere Erscheinungsbild eines etwas missglückten Cherubim, insbesondere seine goldene Rüstung verstärkte diesen Eindruck des »Engelhaften«. Dabei wirkte er von seiner Physiognomie her absolut friedlich, und alles andere als kriegerisch kam er jetzt auf die Freunde zu. Vielmehr wirkte er so, wie schon häufig, seit er private Probleme zu meistern hatte. Das Leben eines alleinerziehenden Elters war kein Zuckerschlecken. »Jiim …« Jarvis wurde als Erster auf den Weggefährten aufmerksam. Sofort winkte er ihn herbei, obwohl der Narge ohnehin den schnurgeraden Weg zum Kommandopodest eingeschlagen hatte. Auch Cloud und Scobee drehten ihm die Gesichter zu. »Gab es Streit?«, begrüßte ihn Cloud. »Hattet ihr euch mal wieder in der Wolle, du und dein Spross?« Jeder an Bord wusste zwischenzeitlich, dass das Verhältnis der beiden Nargen nur noch in den seltensten Fällen entspannt genannt werden konnte. Yael wuchs und reifte dramatisch schnell heran – entsprechend waren mitunter seine Allüren und pubertären Anwandlungen. »Sieht man mir das so deutlich an?« Jiim durchquerte den hohen Raum, dessen Helligkeit stark herabgedimmt war. Den über das Rund verteilten Instrumentenkonsolen und Anzeigefeldern war das zu eigen, was der Holosäule momentan abging: blinkende Lichter, leuchtende, nebelartige Illuminationselemente … All das eben, was eine Galaxie normalerweise ihrem Bewohner zu bieten hatte, wenn er sich ins Weltall begab und der Blick von keiner Wolke getrübt wurde. Momentan gähnte tiefes Dunkel in der dreidimensionalen Wiedergabe der Außenwelt. Selbst die heimatliche Milchstraße war noch so weit entfernt, dass sie nur mit hohem technischem Aufwand hätte herangezoomt werden können.
Cloud verzichtete zum gegenwärtigen Zeitraum darauf. Das Dunkel war ihm willkommen. Es half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Es half, Gespräche mit seinen engsten Vertrauten besser zu strukturieren, seine Gedanken auf das Wesentliche zu strukturieren. Und das Wesentliche war … Jiim. Spätestens ab dem Moment, da er sich zu ihnen setzte – zwischen Scobee und Jarvis – war er in den Mittelpunkt gerückt. Beiseite geschoben war die Diskussion über mögliche Ursachen des Sternenverschwindens im Sektor GMW. »Erzähl«, forderte Cloud den Geflügelten auf. »Hat es mit unserer Reise nach Kalser zu tun? Hat Yael die Begegnung mit den ›neuen‹ Nargen und der dort herrschenden Situation doch nicht so gut weggesteckt, wie wir es hofften?« Jiim suchte flügelringend nach Worten. »Kalser? Nein. Es geht nicht um Kalser. Ich … mache mir Sorgen, um seine … geistige Gesundheit. Möglicherweise hatte der Abstecher nach Portas schwerwiegendere Folgen als wir noch vor Wochen absehen konnten … Ihr wisst, wovon ich spreche.« »Er machte nach seiner Rettung einen recht stabilen Eindruck auf mich«, warf Scobee ein. »Wenn das täuschte …« »… dann täuschte es auch mich«, fiel ihr Jiim ins Wort. »Aber die Frage, die immer noch unbeantwortet ist, lautet: Was versetzte ihn nach Portas? Und warum? Wenn ich darauf eine Antwort hätte, könnte ich vielleicht besser gegen das wirken, was ihn jetzt ganz aktuell quält.« Er gab einen resignierten, kehligen Laut von sich. Seine Schultern sanken ebenso ein wie seine Schwingen. »Was ist passiert?«, drängte Cloud. »Du redest viel, sagst aber nichts – wenig jedenfalls. Was hat dich so aufgelöst, dass du zu nachtschlafender Zeit in die Zentrale flüchtest? Du weißt, dass es laut Bordzeit gerade kurz nach Mitternacht ist und nur diejenigen aktiv sind, die in den unumgänglichen Betrieb eingebunden sind …« »… oder von ihrem Commander zu einem Gespräch unter zehn Millionen Augen gebeten wurden«, ergänzte Scobee mit Seitenblick
auf Jarvis, dem die Anspielung galt. Denn mochte seine Optik auch noch so glaubwürdig vorgaukeln, einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, wussten die Freunde es doch besser. Der wahre Körper des ehemaligen GenTec verbarg sich unter einer perfekten Maske, die von Kargors Kristall erzeugt wurde, mit dem Jarvis virtuos umzugehen gelernt hatte. Dieser Kristall täuschte beliebiges Aussehen seines Besitzers vor – und dass Jarvis sich in neunundneunzig Prozent aller Fälle für sein originales Erscheinungsbild vor seinem gewaltsamen Tod entschied, war naheliegend. Im Grunde, ging es Cloud genau in diesem Moment durch den Kopf, war Sobeks Tötung eine späte Genugtuung … Er mied das Wort Rache … für den Mord, den dieser an Jarvis verübte, damals über dem Mars, als die uralte Station der Foronen geborgen wurde, die einst schon meinem Vater zum Verhängnis wurde. Jedenfalls war der momentane Körper von Jarvis hinter einer perfekten Täuschung verborgen. Eine Hülle aus unzähligen Nanopartikeln, die dem Freund eine ganze neue Art des Sehens ermöglichte – bei Bedarf über jedes einzelne »Pigment« seiner künstlichen Außenhaut. Jiim gab sich einen sichtbaren Ruck. Und dann erzählte er von Yaels angeblich noch ganz frischem Ausflug nach Portas. »Der Kleine spinnt!«, platzte es aus Jarvis heraus. Behutsames Herantasten an ein Problem sah anders aus. Dementsprechend finster war der Blick, mit dem Cloud und Scobee ihn unisono bedachten. »Aber wenn's doch so ist?« Jiim seufzte. »Genau das war auch meine erste Reaktion. Aber Yael beteuert, dass er weder träumte noch es sich sonst wie einbildete. Er war dort – sagt er. Sein Gefühl täusche ihn nicht.« »Du hast es echt nicht leicht, alter Kumpel«, unternahm Jarvis einen neuen Vorstoß in Sachen Diplomatie und Mitgefühl. »Mit dir«, versetzte Scobee. Viel freundlicher klang ihre Stimme, als sie sich an Jiim wandte. »Wie kommt er nur auf so eine Idee? Er weiß doch, wie weit wir vom Angksystem entfernt sind. Zu glau-
ben, er könnte mal eben kurz auf eine der Welten gebeamt sein …« »Gebeamt?«, unterbrach Jiim. Scobee machte eine wegwerfende Handbewegung. »Verstehst du nicht. Geht auf eine uralte Fernsehserie auf der Erde zurück. Ist eine Art Teleportation mittels Technik …« »Also das, was ich beherrsche«, warf Jarvis in aller Bescheidenheit ein. »Hör gar nicht hin«, bat Scobee den Nargen. »Also: Zu glauben, er könne sich mal eben auf eine so weit entfernte Welt versetzt haben – selbst wenn wir ihm diese Gabe grundsätzlich unterstellen, wofür wir aber bis heute keinen eindeutigen Beweis haben –, müsste doch auch ihm zu denken geben.« »Er ist da sehr verstockt.« »Soll ich mal mit ihm reden?« Jiims Miene hellte sich auf. »Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir genau diese Art der Hilfe insgeheim erhofft …« »Na dann.« »Danke.« »Abwarten«, sagte Scobee und drohte scherzhaft: »Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass es, wenn ich mit ihm fertig bin, einen Grund gibt, mir zu danken.«
2. Sie fand ihn am Rand des Abgrunds, auf einer waagerechten Felsnadel, die weit in den Schrund hineinragte. Yael saß an der Spitze, seine Füße baumelten im Nichts, und in unregelmäßigen Abständen ließ er Federn, die er sich aus den Flügeln rupfte, nach unten segeln. Obwohl ganz Kalser an Bord der RUBIKON eine Illusion war, beeindruckte dieses ursprünglich von Jiim initiierte Projekt Scobee immer wieder aufs Neue. Es fühlte sich echt an, und das zählte. Selbst der Wind schmeckte nach Planetenluft, und das allein zählte. Mit ein Grund dafür, weshalb sie gerne auch ohne triftigen Grund mal einen Abstecher hierher machte. Yael bemerkte sie erst, als sie sich neben ihm hinsetzte und es ihm – was die Beine anging, Federn hatte sie ja nicht – gleich tat. »Hallo, Großer«, begrüßte sie ihn. Sein Gesichtsausdruck war voller Misstrauen, als er zu ihr aufsah. Sie überragte ihn um einen guten Kopf. »Schickt er dich?« »Wer?«, tat sie arglos. »Du weißt schon, mein Elter.« Yaels Stimmfarbe ähnelte bereits der seines Erzeugers. Aber das wusste Scobee längst. Sie hatte Jiim seit jeher ins Herz geschlossen, und irgendwie empfand sie für Yael vom ersten Tag an so etwas wie die Gefühle einer Patentante. Was Yael im Allgemeinen durchaus zu schätzen wusste und erwiderte. Nein, sie verstanden sich eigentlich blendend. Und deshalb wusste sie, dass sie eine harte Nuss zu knacken haben würde. »Warum sollte er mich denn schicken?«, fragte sie. »Weil er mir mal wieder nicht glaubt!« Die nächste Feder verließ Haut und Hand und segelte in die Tiefe. »Weil seine Vorstellungskraft noch beschränkter als sein Vertrauen in mich ist!« »Harte Worte …«
Yael sah sie finster an. »Er macht mich so wütend!« »Er ist nur besorgt. Wärst du das an seiner Stelle nicht?« »Er hat also mit dir gesprochen!« Sie hatte nicht vor zu lügen und nickte deshalb. »Und wozu hat er dich geschickt? Konkret?« Sie zuckte die Schultern. »Ehrlich gesagt glaube ich, das weiß er selbst nicht – und ich auch nicht. Aber er wirkte verzweifelt, ziemlich ratlos. Könnte es sein, dass du es ihm manchmal unnötig schwer machst?« Zuerst schien er aufbrausen zu wollen, doch am Ende kam nur eine matte Geste heraus. »Er kann nicht zuhören. Er hat immer schon die seiner Meinung nach passende Antwort auf eine Frage, die er mir stellt, im Kopf. Und wenn meine davon abweicht, akzeptiert er es nicht. So kann man nicht reden. Zuhören allein bringt es nicht, wenn man nicht auch bereit ist, auf das Gehörte einzugehen, gegebenenfalls die eigene Sichtweise zu revidieren oder zu korrigieren.« »Hey«, flachste Scobee. »Kann es sein, dass ich mich gerade vertue und mit Jiim, nicht mit Yael spreche?« Sie lachte. »Im Moment klingst nämlich du für mich eindeutig wie der Erwachsenere von euch beiden.« »Ja, ja …«, tat er ihre Behauptung ab. »Veralbere du mich jetzt auch noch. Dabei ist es gar nicht nötig. Ich habe längst allein herausgefunden, was heute Nacht passiert ist. – Na ja, vielleicht nicht ganz alleine. Aber ohne ihn …« Er meinte unzweifelhaft seinen Elter. »… ganz bestimmt!« »Wie meinst du das?«, fragte Scobee mit ehrlichem Interesse. »Was ist denn heute Nacht passiert? Jiim sprach von Portas … Du bleibst dabei, dass du aktuell auf der Schwellenwelt der Bractonen warst? Vor … wenigen Stunden?« »Du glaubst es auch nicht, oder?« »Vielleicht glaube ich dir, wenn du mir erklärst, wie du das zustande gebracht hast.« Sie wusste nicht, was sie denken sollte, wartete einfach Yaels weitere Äußerungen ab. Außerdem war sie gespannt, wie er sich aus
dieser Sackgasse wieder herauslavieren wollte. Neben Scobee, zu ihrer Linken (Yael hockte zu ihrer Rechten), materialisierte eine höchst merkwürdige Gestalt. »Darf ich vorstellen?«, krähte Yael. »Charly. Mein imaginärer Kumpel. Du hast sicher schon von ihm gehört. Na ja, er sieht ein bisschen verändert aus, aber das kann er dir selbst erklären. Durch ihn war ich auf Portas. Durch ihn … kann ich nach überallhin.«
Natürlich kannte sie Charly. Jeder aus der Führungsriege der RUBIKON-Crew hatte zwischenzeitlich zumindest von ihm gehört. Zuletzt war er mit Yael auf Kalser unterwegs gewesen – aber irgendwie hatte sich Scobee bis zu diesem Moment stets geweigert, sich allzu tiefschürfende Gedanken über Wesen und Beschaffenheit dieses … Dings zu machen. Früher, ganz zu Anfang, hatte er wie ein Mensch ausgesehen – was vielleicht den Verhältnissen an Bord geschuldet war, denn die flügellosen Mannschaftsmitglieder waren klar in der Minderzahl. Aber je öfter Yael ihn »materialisierte«, desto ähnlicher war er einem Nargen geworden. Und nun … saß eine Gestalt neben Scobee, die absolut mit einem der holografischen Bewohner des Baumdorfes am Schrund zu verwechseln war. »Charly«, echote sie. »Sei mir gegrüßt.« Charly grinste breit, sagte aber nichts. Soweit Scobee es verstanden hatte, vermochte selbst Sesha den imaginären oder »unsichtbaren« Freund von Yael nur dann wahrzunehmen, wenn dessen Schöpfer es – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst – zuließ. Und Charly, das merkte sie, als sie vorsichtig die Hand ausstreckte, war alles andere als »holografisch«. Er war so greifbar wie ein reales Lebewesen … oder Ding eben. »Wie formst du ihn?«, fragte sie Yael, zu dem sie sich schnell wieder umdrehte, obwohl Charly faszinierend war. »Wenn ich das wüsste.« »Aber du formst ihn?« »Es ist die einzige Erklärung, auf die ich bisher gekommen bin –
zumal Charly sie unterstützt.« »Er sagt, dass er … aus dir heraus kommt?« »Klar tu ich das!«, meldete sich Charly erstmals mit Reibeisenstimme zu Wort. »Der Knabe ist der Hit! Wenn er wüsste, was er alles kann, würde er den ollen Kahn hier auf den Kopf stellen!« Scobees Miene wurde säuerlich. »Na, dann bin ich ja froh, dass er es nicht weiß.« Sie überlegte, ob sie sich unbehaglich fühlte zwischen einem echten und einem beinahe echten Nargen, fand aber keine Antwort, die sie selbst überzeugt hätte. Ganz wohl fühlte sie sich aber wohl auch nicht, denn sie ertappte sich dabei, nervös hin- und herzurutschen. »Er meint es nicht so«, sagte Yael seinerseits unbehaglich. »Ich meine, ich meine es nicht so. Keine Ahnung, warum er immer so frech und neunmalklug tut. Ich bin doch ganz anders …« »Ganz anders«, beeilte sich Scobee zu versichern. »Aber zurück zum Kern deiner Aussage: Was hat Charly mit Portas zu tun?« Als Yael schwieg, wandte sie den Kopf. »Charly?« »Na ja …« Er schaute in den Abgrund, als gäbe es dort etwas elementar Wichtiges zu sehen. »Eigentlich war ich dort, nicht mein Chef. Aber ich hab ihn mal wieder aufklären müssen, wozu er alles imstande ist. Ganz schön anstrengend auf Dauer, das kann ich dir flüstern. Normal wäre, dass er mir was beibringt, oder? Seit wann erziehen Kinder ihre Eltern?« »Du … siehst dich als sein Kind?« »Im Geiste natürlich.« Er nickte in menschlicher Manier und bewies einmal mehr, wie ambivalent sein Innenleben gestaltet sein musste. Nargen bejahten mit Gesten der Hände. »Und du warst also auf Portas. Vor ein paar Stunden.« »So ist es.« »Kannst du mir das beweisen?« Sie lächelte Charly freundlich an. »Die ist gefährlich«, wandte der sich an Yael. »Bei der musste aufpassen! Die hat Grips und Krallen.« »Ich weiß«, sagte Yael kleinlaut.
Manchmal träumte er von der Spore. Es war kein menschliches Träumen, sondern eher vergleichbar mit einem heftigen nächtlichen Gewitter, bei dem es unaufhörlich blitzte und jeder Lichtzacken, der die Dunkelheit spaltete, für einen flüchtigen Moment eine Szene beleuchtete, die vor langer Zeit stattfand. Ein ständiges Hin und Her von Geschehnissen, die dennoch und trotz der Geschwindigkeit ihres Auftauchens und Verlöschens im Geist des Schläfers haften blieben, ihn beschäftigten und drangsalierten, lange über die Dauer des eigentlichen Aufkeimens hinaus. Erinnerungsblitze, nannte Cy es für sich. Bilder, die sein Unterbewusstsein im Schlaf hochspülte und denen er sich hilflos ausgesetzt sah. Dieses Leben, das einem völlig anderen zu gehören schien. Dieses Dasein, bevor CLARON seine Sucher entsandte – zu denen Algorian gehörte; so weit reichte ihre Freundschaft zurück, die ersten zarten Wurzeln und Verästelungen –, die ihn Cy zum »Auserwählten« erklärten und mitnahmen, fortbrachten zu einer schrecklichen Welt mit Wesen, die nie geatmet hatten, nie atmen würden und alt wie die Steine wurden … weil sie genau das waren, irgendwie. Anorganische. Jay'nac. Damals hatten alle noch geglaubt, die Jay'nac – oder Dex, wie die Satoga sie nannten – wären abgrundtief böse; dabei waren sie selbst nur Geschundene, ewig Gejagte, die ihren Frieden nicht fanden. Das alles war so lange her. Und dennoch war Cy immer noch verstrickt und gefangen in dem Reigen der persönlichen Sehnsüchte und Enttäuschungen, die ihn vorzugsweise im Schlaf, in seinen Träumen, heimsuchten. Wenn es eben nicht genügte, sie bei vollem Bewusstsein und im Vollbesitz seiner Willenskraft mit einem harschen Gedanken in die Schranken zu verweisen und in ferne Winkel seines Gedächtnisses zu verbannen. Nein, sie kamen wie scheues Wild aus ihren Verstecken, tasteten sich Schritt um Schritt näher an ihn heran … und verschwanden erst, wenn er aus dem Schlaf schreckte. Es war jedes Mal ein Kampf, zurück ins Jetzt, zurück in die Reali-
tät zu finden. Seit geraumer Zeit half Sesha ihm dabei. Auf seinen Wunsch hin umhüllte sie ihn beim Einschlafen mit einem Diagnosefeld, das anhand seiner körperlichen Veränderungen registrierte, wenn er sich in Traumgespinsten verfing, die ihm zusetzten. Dann startete ein sanftes Weckprogramm. Wie jetzt, glaubte Cy. »Danke«, wisperte er, als er die Sinnesknospen ausreichend durchfeuchtet hatte. Die Säfte, die seinen Pflanzenkörper durchströmten, transportierten Enzyme und Informationen in alle relevanten Bereiche. Allmählich erhöhte sich die Intensität des indirekten Lichtes in der Kabine des Aurigen. Und dennoch … … blieb Schwärze zurück. Schwärze, die humanoide Umrisse hatte. »Nicht erschrecken«, bat das faszinierende Geschöpf, das Cy nicht gänzlich unbekannt war, auch wenn er nicht erwartet hatte, es hier zu sehen. Dies war seine Privatsphäre. Niemand durfte unerlaubt – »Ich weiß, dass ich nicht eingeladen war …« Es klang so schuldbewusst, dass Cy sich außerstande sah, seinen Ärger aufrecht zu erhalten. »Wer bist du? Ein Angkbewohner, schon klar. Ihr nennt euch Sternlinge, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Aber du hast sicher einen Eigennamen.« »Ich bin Varx.« »Cy«, sagte Cy. »Aber das dürfte dir bekannt sein, oder?« Es war leichter, sich Aussehen und Namen eines halben Dutzends Mitglieder der RUBIKON-Kernmannschaft zu merken, als für besagte Kernmannschaft, Erscheinungsbild und Namen der Vielzahl von Neu-Crewmitgliedern aus dem Angksystem zu behalten. »Durchaus. Du bist eine faszinierende Erscheinungsform.« »Da hätten wir ja schon mal was gemeinsam.« Cy raschelte, während er sich aus seiner sandigen Schlafmulde löste und seine Nährwurzeln aus dem Untergrund zurückzog.
»Ich finde mich nicht faszinierend«, behauptete der lackschwarze Humanoide, unter dessen »Haut« Sternballungen und kosmische Nebel vorbeizogen. »Ich mich auch nicht«, erwiderte Cy. »Vielleicht einzigartig – aber ansonsten nicht weiter herausragend.« »Du bist einsam?«, fragte Varx in ebenso verständnisvollem wie mitfühlendem Ton. »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich habe es so verstanden.« »Lenk nicht ab. Du bist hier eingedrungen – über das Wie will ich mir gar keine Gedanken machen –, und jetzt tust du, als wären wir dickste Freunde, mit denen man vermeintliche Probleme bespricht. Ich muss zugeben, ich stehe kurz davor, dich rauszuschmeißen.« »Du willst, dass ich gehe?« »Das weiß ich noch nicht.« Cy rückte etwas näher auf den Sternling zu. »Hängt von dir ab. Vielleicht fangen wir noch mal von vorne an, und du sagst mir als Erstes, warum du gekommen bist.« »Ich suche ihn. Er ist schon wieder abgehauen!« »Wer?« Varx wirkte verunsichert. Irgendwie erweckte er den Anschein eines Wesens, das ohne groß nachzudenken in eine Situation hineingestolpert war und allmählich merkte, dass es vielleicht doch besser zuerst nachgedacht hätte. »Sahbu. Mein Venloc. Er ist ausgebüchst.« »Und dann suchst du ihn ausgerechnet hier?« Der Sternling senkte den Kopf. »Nein, das war gelogen. Nicht das mit Sahbu, der ist wirklich weg. Streunt mal wieder rum. Aber gekommen bin ich, weil ich jemanden zum Reden suche. Ich hab ja nicht viele Freunde. Außer Sahbu.« »Und worüber willst du … reden?« Varx straffte sich. »Über das Phänomen.« Cy überlegte kurz, dann fragte er: »Du meinst die verlöschenden Sterne? Die uns in Samragh Rätsel aufgaben?« Der Sternling machte eine Geste, die als Zustimmung zu verstehen sein mochte.
»Ich fürchte, da hast du dir den denkbar ungeeignetsten Gesprächspartner ausgesucht«, sagte Cy. »Ich bin von allen aus der Stammcrew wahrscheinlich derjenige mit dem geringsten astrophysikalischen Wissen. Selbst Aylea … du kennst Aylea? … schlägt mich diesbezüglich um Längen.« »Nach diesem Kriterium habe ich nicht ausgewählt.« »Ach? Sondern?« »Ich sehne mich nach jemandem, der mir …« Er zögerte. »Ja? Red schon. Ich beiße nicht.« Ein rollendes Lachen löste sich aus Varx. »Womit auch?«, gluckste er. Cy überlegte kurz, ob er dem Sternling eine Lektion erteilen sollte – eine, die er so schnell nicht vergaß und die es ihm vielleicht auch ein für alle Mal austreiben würde, in fremde Kabine einzudringen. Doch dann gestand er Varx mildernde Umstände zu. Wobei er nicht einmal hätte sagen können, warum. »Du sehnst dich also nach jemandem, der …?« »… mir ähnlich ist«, seufzte Varx. »Ich bin dir ähnlich?« »Es geht nicht um Äußerlichkeiten.« »Du kennst mich gar nicht.« Varx gab einen seltsamen, wehmütigen Ton von sich. »Ich habe eine Gabe.« »Und sie hat damit zu tun, dass du … mich zu kennen glaubst?« »Ich sehe jemanden und kann ihn spüren.« Cy rückte wieder ein Stück weit von ihm ab. »Geht's genauer?« »Ich empfange das, was du ausstrahlst.« »Ich wusste gar nicht, dass ich ›strahle‹.« »Du weißt schon, wie ich es meine.« »Aber ich müsste lügen, würde ich sagen, dass mir gefällt, in welche Richtung dieses Gespräch läuft.« »Ich will nichts Böses. Menschen sagen ›Wellenlänge‹ zu dem, was ich zu erspüren vermag.« »Ich kenne diesen Ausdruck. Und du meinst, wir beide lägen … auf einer Wellenlänge?«
Varx bejahte mit großem Eifer. Er ging nervös auf und ab. »Du bist mir ähnlich. Wir sind beide Suchende. Einzigartig. Und … einsam.« »Von deiner Sorte gibt es einige. Ich sah, wie ihr an Bord kamt«, hielt Cy dagegen. »Wir sehen uns ähnlich, aber wir unterscheiden uns völlig. Kein Sternling ist wie der andere. Kein Sternling findet in einem anderen Sternling einen Freund oder …« »Oder?« »… Seelenverwandten.« »Du bist seltsam. Aber am meisten wohl deshalb, weil du so seltsame Dinge redest.« »Mag sein. Findest du mich abstoßend?« Cy zögerte mit seiner Antwort. Nicht, weil ihm keine passende Erwiderung einfallen wollte, sondern vielmehr, weil er den Besucher bewusst erst eine Weile auf sich wirken lassen wollte. Schließlich sagte er. »Nicht einmal ansatzweise. Du bist wunderschön. Du siehst aus, als würdest du das ganze Universum in dir beherbergen … oder widerspiegeln.« »Danke«, sagte Varx. »Aber genau darum geht es.« »Worum?« »Seit Samragh …« Er verwendete den foronischen Namen für die Große Magellansche Wolke. »… fühle ich mich leerer. Beraubt.« »Beraubt?« Varx bekräftigte: »Seit das Phänomen auftauchte, dessentwegen wir unterwegs zurück zur Großgalaxie sind …« »Die Milchstraße«, sagte Cy, »Die Milchstraße«, bestätigte Varx. »Seit wir heim ins Angksystem fliegen, wächst das Verlustgefühl von Stunde zu Stunde. Es ist, als verlöre ich immer mehr an … Substanz.« »Äußerlich ist davon nichts zu bemerken – zumindest sehe ich nichts Verdächtiges.« »Es ist nicht zu sehen. Niemand außer mir vermag es zu bemerken. Aber ich bin sicher, dass andere meiner Art genauso darunter leiden.« »Aber wäre das nicht Grund genug, dich doch mit eben deinen
Artgenossen darüber auszutauschen?« »Sie könnten mir nicht weiterhelfen.« »Du bist seltsam. Auch ein bisschen stur, oder?« »Vielleicht. Aber es tut gut, mit dir zu reden.« »Ich kann dir nicht helfen.« Varx wandte sich zur Tür. »Du hast mir bereits geholfen.« »Warte. Bleib. Du willst doch jetzt nicht gehen? Wir haben gerade erst begonnen –« Varx trat durch die Tür. Durch die geschlossene Tür. Cy fluchte. Er eilte zur Tür, öffnete sie und wuselte auf den Gang hinaus. So weit er blicken konnte, lag der Korridor verlassen. »Sesha?« Die KI schwieg. »Sesha!« Endlich erfolgte eine Reaktion. »Ja?« »Eben war ein Angkbewohner bei mir. Einer dieser … Sternlinge.« »Und?« »Ich möchte, dass du ihn für mich ausfindig machst. Und zurückrufst.« »Das kann ich nicht.« »Wie bitte? Erkläre das.« »Sie bestehen aus keiner von mir messbaren Substanz. Ähnlich wie die Gloriden.« »Ist das dein Ernst?« »Habe ich jemals gescherzt?« Cy gab es auf. Aber statt zurück in seine Kabine, begab er sich auf direktestem Weg in die Bordzentrale der RUBIKON. Er brauchte normale Gesellschaft, normale Gespräche. Seltsamerweise hatte er seine Begegnung mit Varx aber schon vergessen, als er dort ankam. An Sesha gewandt, fragte er nur, ohne zu wissen, warum: »Was ist eigentlich ein Venloc?«
3. Auch ein Commander wurde müde, brauchte Schlaf. Cloud trug dem Rechnung, indem er seinem Körper genau die Dosis zuführte, die dieser brauchte, um voll leistungsfähig zu bleiben. Wie von jedem Besatzungsmitglied auf Wunsch, hatte Sesha seinen individuellen Schlafbedarf anhand unbestechlicher Parameter ermittelt. Demnach benötigte Cloud im Schnitt sechs Stunden und vierundvierzig Minuten, um optimal zu regenerieren. Ein wenig variierte diese Zeit in Abhängigkeit von REM-Phase und anderen Indikatoren. Aber im Allgemeinen stellte er den »Wecker« auf sieben Stunden, die Einschlafphase dazu addiert. Knapp die Hälfte dieser Spanne mochte vergangen sein, als er unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde. »Hey, aufwachen, Schlafmütze!« Verwirrt kam er zu sich und stellte fest, dass jemand bei ihm war. Jemand, den er nicht kannte und der somit – wie im Übrigen auch die meisten anderen – keinen Zutritt zu seiner Kabine hätte finden dürfen. Zuletzt hatte er ein solches Erlebnis, als ihn ein Gloride unaufgefordert in seiner privaten Umgebung überfiel … Daran wurde er jetzt grob erinnert. Wobei ihm schlagartig klar wurde, dass der Eindringling gar nicht hätte existieren dürfen – es sei denn auf Kalser hatte sich ein bislang unentdeckt gebliebener blinder Passagier an Bord geschlichen. Es gab nur zwei Nargen an Bord: Jiim und sein Spross. Dieser hier sah keinem von beiden ähnlich, war aber auch keine Holografie, sonst hätte er Cloud nicht wachrütteln können. »Wer …?« »Charly! Für Freunde immer nur Charly! Endlich bist du wach. Ich dachte schon, ich müsste handgreiflich werden.« »Warst du das nicht?«, konnte sich Cloud eine sarkastische Bemer-
kung nicht verkneifen. Seine nächsten Worte, als er sich schon aus der Koje schwang, waren an die KI gerichtet. »Sesha? Sofort dingfest machen, den Knaben!« Charly … den Namen hatte er schon mal gehört. In Zusammenhang mit Yael. Aber verdammt, Jiims Sprössling würde niemals … »Sesha!« »Commander?« »Warum zögerst du?« »Womit?« »Ich sagte: dingfest machen!« »Wen?« »Diesen Charly! Der bei mir eingebrochen ist!« »Sie sind allein, Commander.« »Du siehst ihn nicht?« »Sehen Sie ihn?« »Ja, verdammt!« »Ich bin besorgt.« Charly lachte schallend, verstummte aber abrupt, als Cloud sich ihm mit geballten Fäusten zuwandte. »Wahren Sie Ihre Contenance, Commander, ich bitte sie«, krähte der unmögliche Narge. »Das kommt ganz auf dich an.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte den Kopf schief und musterte den Eindringling aus zusammengekniffenen Augen. »Jarvis …? Bist du das? Steckst du dahinter? Missbrauchst du den Kristall, um mir einen Nargen vorzugaukeln? Wenn das ein Ulk werden soll … Ich sag dir, ich dreh dir deinen Nanohals um, wenn du dich nicht sofort zu erkennen gibst!« Charly blieb ungerührt. »Sie verwechseln mich Commander, bestimmt. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Mission erfüllt – man sieht sich. Schlafen Sie bitte weiter. Ihre Zeit ist kostbar, und es tut mir unendlich –« Falls er »leid« hatte sagen wollen, so erklang dieses Wort nicht mehr in John Clouds Kabine. Der vermeintliche Narge war wie eine Fata Morgana verschwun-
den. Was aber nicht hieß, dass die Sache damit für Cloud ausgestanden war. Im Gegenteil. Irgendjemand würde es büßen müssen, dass er so brutal aus seinen Träumen gerissen worden war. Und er war entschlossen, den Schuldigen zu finden. Die Spur war klar. Sie wies nach Kalser. Dem Kalser, das sich hier an Bord befand …
»Wir dachten uns, dass du kommen würdest«, empfing ihn Scobee unmittelbar hinter dem Schott, das ins Innere der Pseudoweit führte. Clouds Schwung, mit dem er sich durch Gänge und Türtransmitter bewegt hatte, verpuffte jäh. »Du steckst dahinter?«, fragte er, halb vorwurfsvoll, halb entgeistert. »Nicht ganz. Ich bin nicht die Initiatorin, wenn du das meinst.« »Du weißt, was passiert ist?« Er trat näher auf sie zu, unverhohlen grimmig nun. »Ich habe es in dem Moment erfahren, als sich Yael als Simultansprecher betätigte.« Clouds Blick wechselte zu Jiims Spross, der nur wenige Schritte von Scobee zusammen mit demjenigen stand, nach dem Cloud fahndete. Was Scobee ihm sagen wollte, verstand er nicht einmal ansatzweise. Darum würde er sich später kümmern. Zunächst einmal musste er sich die Täter vorknöpfen. Beide. Er stapfte an Scobee vorbei auf Yael zu. »Weiß dein Elter, was du treibst?«, fuhr er ihn in ehrlichem Ärger an. »N-nein.« »Dann wird er es von mir erfahren. Das …« Er zeigte auf Charly. »… ist doch auf deinem Mist gewachsen, oder?« Yael schwieg. Scobee näherte sich von hinten und mischte sich ein. »Beruhig
dich, es ist doch nichts weiter passiert. Wenn ich es richtig überblicke, fehlt dir im äußersten Fall ein bisschen Schlaf – wohlverdienter Schlaf, natürlich, wer würde daran zweifeln?« Der Spott stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen funkelten. Sie sah zauberhaft aus, aber Cloud wollte den Teufel tun und das zugeben. Halb war sein Zorn schon wieder verraucht. »Du weißt, was dahinter steckt?«, wandte er sich an Scobee. »Ich fürchte, ja.« »Und was?« »Es war eine … Beweisführung. Ich hätte sie verhindert, hätte ich vorher gewusst, wie sie ablaufen soll. Aber andererseits … jetzt stell dich nicht so an. Wir haben beide schon Dinge verkraftet, die ein klein wenig brenzliger und tragischer waren, oder?« »Ich möchte dich mal hören, wenn bei dir einer nachts in die Kabine einbricht.« »Vielleicht wünsche ich mir das manchmal sogar?« Darauf fiel ihm keine Erwiderung ein, die die Grenzen nicht gesprengt hätte. Er seufzte. Sein Blick strich nacheinander über jeden Einzelnen des Trios, das ihn in Empfang genommen hatte. »Also? Was war los? Was steckt dahinter? Um welche ›Beweisführung‹ geht es, verdammt noch mal?« »Das sag ich dir, sobald der Beweis erbracht wurde. Und auch, wenn er ad absurdum geführt wird.« Cloud blinzelte ungeduldig. »Ich bin ein Mann mit einer Engelsgeduld, aber –« »Sesha?«, wandte sich Scobee an die KI im Off. »Ja?« »Du hast alles auf Yaels Wunsch hin aufgezeichnet. Spiel es bitte für uns alle hörbar ab. Audio genügt.« Keine Sekunde später erklang Yaels Stimme: »Jarvis …? Bist du das? Steckst du dahinter? Missbrauchst du den Kristall, um mir einen Nargen vorzugaukeln? Wenn das ein Ulk werden soll … Ich sag dir, ich dreh dir deinen Nanohals um, wenn du dich nicht sofort
zu erkennen gibst!« »Stopp!«, rief Cloud ungehalten. »Ich weiß nicht, was das soll, aber das hat nicht Yael gesagt – das habe ich gesagt. Zu ihm.« Er deutete auf Charly. Scobee sah ihn eine Weile schweigend an. Schließlich sagte sie, den Blick auf Yael gerichtet: »Okay, du hast mich überzeugt, dass es geht. Aber es ist immer noch etwas anderes, dir zu glauben, dass es über eine begrenzte Entfernung hier an Bord funktioniert, als dir abzukaufen, dass du auf diese Weise aktuell wieder auf Portas warst.« »Entfernung spielt keine Rolle.« »Sagt wer?« »Sagt Charly.« Scobee verzog das Gesicht. Als sie Clouds Blicke auf sich spürte, seufzte nun sie. »Okay, es geht darum, dass Yael offenbar eine neue Fähigkeit entdeckt hat. Im Zusammenspiel mit … nun, mit seinem speziellen Kumpel dort.« Cloud war vage informiert, was es mit Charly auf sich hatte. Momentan verfluchte er sich allerdings, dass er nicht längst genauere Nachforschungen hinsichtlich dieses Unwesens betrieben hatte. »Was für eine Fähigkeit? Arglose Menschen zu erschrecken?« »Auch. Als kleines Beiwerk sozusagen.« Sie lächelte. »Aber vorrangig wohl die: Er kann Charly überall – sagt er jedenfalls, du hast ihn ja gehört: Entfernung spielt keine Rolle – hinschicken und dabei über Charlys Augen sehen und über Charlys Ohren hören, was immer vor Ort geschieht.« »Gut erklärt«, krähte es aus dem Hintergrund. »Ich sagte ja, die Kleine hat Grips. Davon könnte sich so mancher …« Charlys Blick suchte und fand Cloud. »… eine Scheibe abschneiden.« Vielleicht glaubte er, sein ultrabreites Grinsen könnte ihn retten. Er irrte. Mit einem hörbaren Geräusch verpuffte er. »Tut mir leid«, murmelte Yael. »Ehrlich. Er kann einfach nicht die Klappe halten, das bin nicht ich. Das macht er aus eigenem Antrieb. Ich schwöre!«
4. »Na, komm schon. Gib dir 'nen Ruck. Bitteeee.« Sie wusste um die Wirkung ihres Augenaufschlags – selbst bei einem Außerirdischen wie Algorian. Der Aorii-Zweitling seufzte fast in menschlicher Manier, schloss die Hololektüre, in die er sich im Schatten eines knorrigen Olivenbaumes innerhalb des von Jelto angelegten Hains vertieft hatte, und erhob seinen spindeldürren Körper aus der sitzenden Position. Aylea grinste. »Danke. Du bist ein Schatz. Außerdem muss dir doch auch langweilig sein. Die Fahrt ins Angksystem dauert noch gut zwei Tage. Und Däumchendrehen ist nicht mein Ding. Mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Ich habe Sesha schon um eine Sternenmeersimulation innerhalb meiner Kabine gebeten, weil ich den Leerraum einfach nicht mehr ertrage. Das ist einfach zuviel Leere, wenn du mich fragst … Übrigens, hast du kapiert, warum John nicht transitieren will? Wir wären doch viel schneller am Ziel!« Algorian hatte sich längst an menschlichen Umgang gewöhnt und adaptierte fast schon unterbewusst deren Verhaltsmaßregeln. Jetzt schüttelte er den Kopf. Er wollte gar nicht mehr aufhören damit. »Aylea, Aylea … dir kann doch nicht ernsthaft langweilig sein! Dieses Schiff bietet alles für den Zeitvertreib. Und wenn du nicht in der Zentrale sein willst, um dir die Überlichtfahrt durch die Ödnis des intergalaktischen Leerraums anzutun, die von der dortigen Holosäule vermittelt wird, dann beschäftige dich doch einfach, wie ich es tue.« »Mit Lesen?« »So wie du es betonst, könnte man meinen, es sei eine ansteckende Krankheit.« »Quatsch. Aber Lesen ist Zeitverschwendung. Wenn man sich Wissen aneignen will, gibt es doch viel, viel effizientere Methoden. Das sollte sich selbst bis zu den Aorii rumgesprochen haben.«
Algorians Gesichtsausdruck wurde zunehmend verzweifelter. »Wissensaneignung ist das eine – aber es gibt ja auch noch so etwas wie Poesie … Schon mal davon gehört?« »Ach du Scheiße, die Klassiker.« Sie rollte mit den Augen. »Die aoriianischen Klassiker, um genau zu sein.« Nun nickte er, wobei das Nicken übergangslos aus dem letzten Kopfschütteln heraus erfolgte. Und auch nicht mehr aufhören wollte. »Äh, hast du einen neuen Tick?«, fragte Aylea mit säuerlicher Miene. Das Nicken hörte abrupt auf. Stattdessen verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, von der er zu glauben schien, es sei das Äquivalent eines menschlichen Grinsens. »Eher eine Allergie. Und nur in deiner Nähe, solange du Penetranz versprühst.« »Uuuh!« Sie wich einen Schritt zurück. »Dafür hast du aber lange geübt – um mir das verbrezeln zu können.« »Kam ganz spontan«, wehrte er in aller aoriianischen Bescheidenheit ab. »Na klasse. Können wir dann trotzdem langsam mal aufbrechen?« »Ich bin schon die ganze Zeit soweit.« Algorian klopfte sich den Schmutz vom Gesäß. Ein laues Lüftchen ging, hoch über ihnen hing eine der Kunstsonnen, von denen es in Jeltos hydroponischem Garten mehrere gab; jede beschien einen anderen Sektor und war genau an die Bedürfnisse der dortigen Gewächse angepasst. Ebenso verhielt es sich mit Trockenheit und Nässe. Es gab durchaus subtropische Szenarien, wo es den lieben langen Tag fast ohne Unterbrechung regnete, manchmal sogar stürmte. Ohne den Garten wäre die RUBIKON um einiges ärmer gewesen. Hier konnte jedes Besatzungsmitglied, wann immer es sich nach purer Natur sehnte, Ruhe und Entspannung finden – solange es pfleglich mit den Anlagen umging, denn darauf legte der Florenhüter allergrößten Wert. »Langeweile«, seufzte Algorian, während sie sich dem Rand des Gartens und dem dortigen Schleusenschott näherten. »Ich fasse es wirklich nicht, wie man sich auf der RUBIKON langweilen kann.
Erst recht nicht unter den gegebenen Umständen. Du weißt schon, was ich meine.« »Die ausgepusteten Sterne?« »So kann es auch nur jemand wie du formulieren. Aber ja, ich meine die GMW-Sektoren, die einfach aufgehört haben zu existieren, als wir uns mit Siroona in sicherem Abstand bewegten.« »Und wen juckt das jetzt? Oder besser gesagt: Wieso sollte es irgendetwas an meiner persönlichen Langeweile ändern?« »Du bist doch ein kluges Mädchen. Du hättest selbst versuchen können, die gespeicherten Daten durchzugehen und dir einen Reim auf das Phänomen zu machen, dessentwegen John so überstürzt zurück ins Angksystem will.« »Ich mag manchmal die Klappe ein bisschen weit aufreißen – aber ich leide nicht an Selbstüberschätzung«, sagte sie, ohne stehen zu bleiben. »Sesha beißt sich an dem Phänomen ihre imaginären Zähnchen aus – wie sollte jemand wie ich da glänzen können?« Sie erreichten das Schott. Algorian berührte das Sensorfeld, das die Tür aufgleiten ließ. »John scheint an eine Verbindung zwischen jenen Kräften zu glauben, die Sobek beeinflusst und es ihm ermöglich hatten, die RUBIKON vorübergehend wieder in seine Gewalt zu bekommen, und denen, die in der GMW ganze Sternbilder zum Verlöschen brachten.« »Eine gewagte Spekulation, oder?« Sie traten auf den Gang hinaus, hinter ihnen schloss sich das Schott, und die ganze Nüchternheit eines Raumschiffes hatte sie wieder. »Wir werden sehen. Eigentlich müssten die Bractonen das tatsächlich am ehesten beantworten können. Immerhin haben sie ja angeblich alles im Kosmos erschaffen.« Aylea blieb stehen, drehte sich Algorian zu und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften. Sie trug ein luftiges Sommerkleid. Ihr blondes, schulterlanges Haar war an den Seiten zu Zöpfen gebunden. Ihr sommersprossiges Gesicht leuchtete. »Siehst du, so gefällst du mir!« Algorian sah sie verständnislos an.
»Ich meine dein ›angeblich‹! Ich hab mir auch schon meine Gedanken gemacht, und wir alle haben Kargor nun wahrhaftig mehr als einmal als den Kotzbrocken schlechthin erlebt. Deshalb finde ich es erfrischend, wenn auch andere – in dem Fall du! – nicht alles, was uns die Bractonen als angeblich feststehende Tatsache hinwerfen, vorbehaltlos schlucken. Die Typen sind mir nicht ganz geheuer. Erfinder des Universums … ja, geht's vielleicht auch 'ne Nummer kleiner?« Algorians Verwirrung verabschiedete sich aus seinen Zügen. Er legte seine Hand auf Ayleas Schulter und drückte sie sanft. »In Ordnung. Ich geb's zu: Meistens finde ich dich sehr herzerfrischend. Du bist eine willkommene Alternative zum Ernst des Alltags, nur …« »Nur?«, grinste Aylea zu ihm hoch. »… verstehe ich immer noch nicht, warum du nicht allein ins Dorf gehen kannst. Du bist doch sonst nicht so schüchtern.« »Lies es in meinen Gedanken«, sagte sie. »Ich espere keine Freunde.« »Aber ich erlaube es dir.« Er schüttelte den Kopf. »Versuch's mal mit Worten. Also?« »Ich fühle mich nicht sonderlich wohl in Gegenwart der Neuen. Die haben irgendwas an sich, das bei mir Beklemmungen auslöst.« »Du magst sie nicht?« »Das habe ich nicht gesagt!« »Dann misstraust du ihnen?« »Viel … leicht.« »Tja, immerhin wurden sie von Kargor geschickt. Es war seine ›gute Gabe‹ zum Abschied, bevor er nach Portas verschwand und wir nichts mehr von ihm hörten. Was wohl aus ihm geworden ist?« »Mir egal«, maulte Aylea. »Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!« Offenbar war dies für Algorian keine geläufige Redensart. Verwirrt sah er sie an. »Lass uns weitergehen. Du interessierst dich doch bestimmt auch für die Neuen, die sich angeblich immer noch einleben müssen und mit denen man sonst wo auf der RUBIKON kaum in Kontakt
kommt.« »Willst du das denn – in Kontakt mit ihnen kommen?« Aylea nickte. »Dann frag mal Cy. Der wuselt schon die ganze Zeit wie Falschgeld durch die Gegend und braucht dringend Ablenkung. Äh … weißt du vielleicht, was ein Venloc ist? Damit löchert er neuerdings jeden …«
»Boah!« und »Wow!« waren noch die harmloseren Ausrufe, die Ayleas Mund entwichen, als sie, Cy an der Hand, durch das Schott ins Freie trat. Ins Freie … Hey, genauso sah es aus: Als würde sie aus einem Gebäude heraus in eine weite, offene Landschaft treten – ähnlich wie wenn sie Jeltos Garten betrat, nur viel – viel! – eindrucksvoller. »Wusstest du das?«, wandte sie sich an den einstigen Sporenbewohner. Aylea hatte den Aurigen vom ersten Tag auf der RUBIKON an gemocht. Ähnlich, wie es ihr bei Jelto gegangen war – und idealerweise hatten auch die beiden ein Faible füreinander. Aber es kam häufig vor, dass Cy und sie einfach so durch das Schiff streunten. Sie beide empfanden es wie eine Schatztruhe mit zahllosen Schubladen, doppelten Böden und anderen Geheimverstecken. Und was sollte man auch schon den lieben langen Tag tun, wenn man einerseits selten bis überhaupt nicht auf Außeneinsätze mitgenommen wurde (»viel zu gefährlich, später mal, Aylea, später – vielleicht; wir werden sehen, werd erst mal erwachsen«), aber andererseits eben genauso viele Stunden am Tag zur Verfügung hatte wie die ollen Obermotze, die sich auf jeden fremden Planeten, der ihnen in die Quere kam, und auf jedes fremde Raumschiff versetzen ließen, um dort tüchtig aufzuräumen? Genau: Man konnte nur spazieren gehen und ein paar Dinge anfassen, ein paar Räume betreten, von denen es hieß, dass man besser die Finger davon lassen solle … Pah! »Nein«, raschelte es aus den Tiefen des »Gestrüpps«, wie Jarvis
den Aurigen mitunter despektierlich nannte. »Ich war noch nicht hier, seit sie eingezogen sind.« Sie – die neuen Besatzungsmitglieder von unterschiedlichen Welten des Angksystems, Nachfahren (ja, so unglaublich es klang, wenn man die Urzelle dieser neuen Menschheitspopulation gekannt hatte) von Prosper Mérimées Zirkus, dem sich auch Sarah Cuthbert angeschlossen hatte, unfreiwillig, denn auch sie hatte zu den von Kargor Entführten gehört. »Wieso haben die keine Kabinen wie wir?«, maulte Aylea und machte zunächst einmal keine Anstalten, weiterzugehen. »Wieso haben die …so was??« Offenbar wusste auch Cy darauf keine Antwort. Aber es schien auch keinerlei Neid – von dem Aylea sich nicht ganz frei machen konnte – in ihm hervorzurufen. Er war schon immer sehr genügsam gewesen. »Das gibt eine saftige Beschwerde an die Schiffsführung, darauf kannst du wetten!« Obwohl sie weiterhin die Beleidigte mimte, hatte sie sich innerlich längst beruhigt. Die erste Überraschung klang ab. Vor ihr lag also … das Dorf. Oder wie sollte sie es nennen? John musste seine Zustimmung dazu gegeben haben, sonst hätten sie nicht in dieser Weise schalten und walten und kreativ tätig werden können. »Ich plädiere für ein internes Nachrichtensystem. Ein paar von den Spinnenbots könnten die Rolle rasender Reporter übernehmen – du weißt, was ich damit meine?« Ihr Blick streifte Cy, der sich diesmal auf ein von keinem Wort getrübtes Rascheln beschränkte. »Mit ihren Dokumentationen über die Geschehnisse an den verschiedenen Brennpunkten an Bord könnte man ein wunderbares Programm für all diejenigen gestalten, die nicht den lieben langen Tag auf Exkursionen gehen können – die Herren und Damen Außendienstler beispielsweise.« So, das Thema war damit auch abgehakt. »Wollen wir hier Wurzeln schlagen?«, fragte Cy. »Ich meine, nicht dass ich damit Probleme hätte, wenn der Boden ein klein wenig aufbereitet würde …«
»Manchmal könnte ich dich knutschen«, lachte Aylea. »Eine Pflanze mit Humor – wo im Universum gibt's das denn bitteschön noch mal?« Sie schlenderten hinab ins Tal. Ja, es gab ein Tal. Ein wunderschönes, (kunst-)sonnen-verwöhntes Tal mit einem idyllisch darauf abgestimmten Paartausendseelendorf, in dessen Straßen und Gassen sich so viele Menschen tummelten, als wäre es gesetzlich verboten, sich in den Häusern aufzuhalten.
Je näher sie kamen, desto mehr fühlten sie sich in den falschen »Film« versetzt. »Kneif mich mal«, bat Aylea den Aurigen. »Das ist mir alles ein bisschen zu märchenhaft, was meinst du?« »Ich kann dich pieksen, darin bin ich besser«, erwiderte Cy unschuldsvoll. »Ansonsten: Es ist doch nett hier.« »Nett bin ich – beispielsweise. Aber eigentlich hatte ich eher an pragmatische Unterkünfte für unsere Lieben von Angk gedacht. Hieß es nicht, die wären als Ergänzung zur Besatzung gedacht? Als Crewaufstockung? Ich meine, eingewöhnen müssen ist eine Sache, aber das hier sieht für mich eher aus wie … Urlaub.« »Du bist mit dem Konzept von Urlaub vertraut?«, fragte Cy in einer Weise, als wäre er es auf jeden Fall – was genauso abstrus war wie es von Aylea zu erwarten, die einfach gerne mal einstreute, was sie im Fundus der Datensysteme fand. Auf der Erde, auf der sie aufgewachsen war, der Erde hinter dem Schattenschirm, war »Urlaub« nicht mehr erforderlich gewesen. Die Menschheitselite in den Metrops hatte es nicht nötig gehabt, sich physisch oder psychisch zu verausgaben. So gesehen hatte sie immer Urlaub gehabt. »Ach, lass mich in Ruhe. Ich glaube, ich bekomme meine Tage.« Irgendwie war sie erleichtert, ihm nicht auch noch »das Konzept ihrer Tage« erklären zu müssen. Es reichte, wenn sie sich selbst damit herumärgern musste. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf ein Mädchen, das ihnen
winkend entgegengelaufen kam, nachdem es sie offenbar gesichtet hatte. Es mochte in Ayleas Alter sein, elf oder zwölf. Aylea war sofort von dem hübschen Springinsfeld eingenommen, der da heranrauschte. Das Angkmädchen hatte kastanienbraunes Haar und ein schmales, fein geschnittenes, vielleicht ein bisschen zu blasses Gesicht. Die Figur war sehnig, und genau wie bei Aylea war auch bei ihr kein großartiger Brustansatz zu erkennen. Das machte sie ihr noch sympathischer. »Hey«, sagte die Fremde, als sie atemlos vor ihnen stehen blieb. Sie lachte. Trotz der relativ kurzen Strecke, die sie rennend zurückgelegt hatte, wirkte sie verschwitzt. Das enge Shirt zitterte in Brusthöhe. Ihr Herz schien mächtig schnell und heftig zu schlagen. Die Kette, die um ihren Hals hing, rutschte bei jeder noch so kleinen Bewegung hin und her. Ihre Perlen schimmerten in allen Regenbogenfarben. »Hey«, erwiderte Aylea. Sie räusperte sich. »Schön habt ihr's hier.« »Ich kenn dich«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Winoa.« »Winoa. Ein merkwürdiger Name.« »Findest du?« Sie grinste noch breiter. »Aylea ist auch … merkwürdig. Aber es gefällt mir auch. Auf Myron kam er nicht vor. Aber du kommst ja auch nicht von dort.« »Du kennst mich?« »Jeder hier kennt die Stammbesatzung der RUBIKON.« »Ach?« »Ihr seid so was wie … wie Idole. Für viele von uns.« »Oh.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, entschied sich dann aber für ein: »Schön.« Für eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Cy hielt sich bedeckt. Wer ihn nicht kannte, hätte ohne weiteres tatsächlich ein Gebüsch in ihm sehen können. »Myron«, ergriff Aylea wieder das Wort, als ihr die Stille unangenehm wurde. »Das ist Angk fünf, nicht wahr?« »Sechs«, erwiderte Winoa. »Fünf ist Arrankor.« »Oh. Schwer auseinander zu halten, für mich jedenfalls. Tut mir
leid.« »Quatsch«, wehrte Winoa ab. »Ich kann mir dafür andere Sachen nicht merken. – Ich seh euch hier zum ersten Mal. Von den anderen waren schon welche hier. Der Commander zum Beispiel.« »John?« Sie nickte. »Weiß er, was ihr hier … gebaut habt?« »Wir hätten es nicht bauen können, ohne dass er es weiß«, sagte Winoa, aber irgendwie – Aylea wusste selbst nicht, warum – klang es eher fadenscheinig. Fast so, als wüsste Winoa, was Aylea hören wollte – und würde sie gezielt zufrieden stellen. Ihr nach dem Mund reden. Du spinnst, maßregelte sich Aylea selbst. »Und das ist Cy«, sagte Winoa. Die Reaktion des Aurigen war beinahe schon ein Gefühlssturm. Irgendwie fühlte sich Aylea davon beleidigt. Bei ihr freute er sich nie auch nur annähernd so stark. Und dabei hatten sie schon so viel Zeit miteinander gebracht. Als das Zittern der Zweige aufhörte, seufzte der Aurige: »Du bist eine große Künstlerin.« Aylea verstand nicht, was er meinte. »Die Kette«, half ihr Cy auf die Sprünge. »Die hast du doch gemacht, oder?« Woher, verdammt, wollte er das wissen? »Ja. Vorhin erst. Willst du auch eine? Es dauert nicht lange. – Aylea? Was ist mit dir? Nein, du darfst es mir nicht abschlagen. Es wäre mir eine echte Freude und … Ehre.« Allmählich fragte sich Aylea, ob Winoa das, was sie sagte, wirklich alles ernst meinte. Natürlich schmeichelte es ihr, wie das Mädchen sie behandelte. Aber andererseits – wollte sie keine Verehrung. Sie wollte … Schon gut. Krieg dich ein. Das klappt sowieso nicht. Du bist viel zu schwierig. … einfach nur eine Freundin. Ja, eine Freundin. Das wäre das Größte für sie gewesen. Eine Gleichaltrige – bloß keinen Jungen! –,
mit dem sie auch mal hemmungslos ablästern konnte. Sie hatte Freunde – aber die waren alle in einem anderen Alter. Sie sehnte sich nach jemand, mit dem sie sich auf Augenhöhe unterhalten konnte. Winoa? Sie wollte nicht enttäuscht werden. Winoa wirkte vom ersten Augenblick an … zu perfekt. »Ich weiß nicht, Cy. Haben wir überhaupt Zeit? Müssen wir nicht –« »Zeit?« Der Aurige kapierte nicht, dass sie flüchten wollte. »Wenn wir etwas in rauen Mengen haben, dann wohl Zeit.« Er kapierte es wirklich nicht. Und so kam es, dass Aylea und Cy dem Angkmädchen in sein Dorf und zu dessen Zuhause folgten.
Die Bauten waren allesamt einstöckig gehalten und hatten etwas Malerisches. Einiges erinnerte an die auf den Angkwelten gebräuchliche Architektur, aber vieles schien auch ganz spontan neu kreiert worden zu sein – entweder im Zusammenspiel mit Sesha, die für die Umstrukturierung der Räumlichkeiten verantwortlich zeichnete, oder aus ganz eigenem Bestreben heraus. Vielleicht wollten sich die neuen Crewmitglieder vom Altbekannten lösen, das Althergebrachte zwar nicht ganz ablehnen, aber es in seinem Stellenwert doch deutlich zurücksetzen. Aylea hätte dies als begrüßenswert empfunden, war sich aber nicht sicher, ob sie das, was sie sah, auch wirklich richtig interpretierte. Das Treiben in den Straßen war, wenn man sich erst mitten drin bewegte, noch bemerkenswerter als aus der Ferne beobachtet. Aylea fühlte sich davon regelrecht – sie suchte nach dem richtigen Ausdruck – vitalisiert. Stimuliert. Denn es waren ausschließlich positive Schwingungen, die sie auffing. Sie hatte sich die neue Crew, ihr Leben an Bord, bislang immer völlig falsch vorgestellt: Men-
schen, die sich erst eingewöhnen, einwohnen und in ihren Kabinen einrichten mussten. Die zwar den Kontakt mit anderen Angkbewohnern pflegten, aber sonst eher gedämpft auf die neue Umgebung reagierten. Das absolute Gegenteil war der Fall. Im Vorbeischlendern – natürlich blieben sie nicht unbeachtet, jeder schien sie zu kennen, aber niemand »überfiel« sie in einer Weise, dass es unangenehm geworden wäre – schnappte sie immer mal wieder Fetzen der Gespräche auf, in die kleinere und größere Gruppen vertieft waren. Dabei zeigte sich, wie sehr sie Anteil am aktuellen Geschehen nahmen. Sie schienen auch bestens informiert zu sein. Diskutierten über die Situation in Samragh vor und nach Siroonas Machtübernahme. Über die Gefahr, die möglicherweise von dem beobachteten Sternentodphänomen ausging und was dahinter stecken könnte. Aber auch sehr viel Alltägliches. Probleme der Einzelnen, sich mit dem Abschied von ihrer Angkwelt abzufinden, dem Verlassen von Familie und Freunden. Wobei auch die Freude herauszuhören war, dass die RUBIKON wieder Kurs auf das Siebenplanetensystem der Bractonen genommen hatte. Viele erhofften sich davon Kontakt zu ihren Angehörigen. Aylea hatte dafür größtes Verständnis. Als sie zuletzt zur Erde zurückgekehrt war, hatte niemand auf sie gewartet … Vor ihnen tauchte ein schnörkelreiches Haus auf, das Winoa zielstrebig ansteuerte. »Das ist Rotak«, stellte Winoa den knapp Dreißigjährigen vor, der ihnen die Tür öffnete, als habe er sie schon von weitem kommen sehen. Hinter ihm tauchte eine grazile Frau auf, die ein Regenbogenkleid trug, das aussah, als wäre es aus unzähligen jener Perlen zusammengesetzt, wie Winoa sie lediglich als Schmuck um den Hals trug. »Und das Assur. Meine Eltern.« Irgendetwas verkrampfte in Aylea. Eltern. Dieses Mädchen hatte Eltern! Ohne dass sie es wollte, wurde ihr schmerzlich bewusst, was sie noch mehr vermisste als eine Busenfreundin – das was Winoa ihr
gerade wie selbstverständlich präsentierte nämlich: eine heile Welt! Mutter und Vater. Sie war drauf und dran, sich umzudrehen und einfach wegzulaufen. Sei nicht kindisch! Was können andere für deine Defizite? Benimm dich normal! »Ich wusste gar nicht … dass komplette Familien von den Angkwelten auf die RUBIKON übersiedelten«, sagte sie beherrscht. »Für mich klang es immer, als hätten die Bractonen, als hätte Kargor, eine spezielle Auswahl getroffen. Solche, die dem Schiff besonders dienlich sein können. Auch wenn, glaube ich, nicht mal der Commander bislang so richtig weiß, worin eure Talente eigentlich genau bestehen. Dazu hat Kargor leider vergessen, eine Auflistung mitzugeben. – Aber hallo erst mal. Ich bin Aylea, das ist Cy. Eure Tochter hat uns eingeladen, sie –« »Ihr seid willkommen.« Assur trat vor. Sie war keine klassische Schönheit. Ihr Gesicht wirkte leicht asymmetrisch. Aber zugleich machte sie gerade dieser offensichtliche Mangel an äußerlicher Perfektion Aylea – selbst nicht perfekt – auf Anhieb sympathisch. Wenn sie Mutter und Tochter miteinander verglich, fiel sofort auf, dass auch Winoa diese Asymmetrie vererbt bekommen hatte. Wie auch die Augenfarbe, die bei beiden ein leuchtendes Schwarz war. Was Aylea aber noch mehr faszinierte als die Eltern von Winoa, war, was ihr aus der offenen Tür des Hauses entgegenwehte. Meeresgeruch. Frisch und salzig. Und … hörte sie nicht auch ferne krächzende Schreie von Wasservögeln? Du spinnst, dachte sie. In diesem Augenblick summte es in ihrem Kopf. Ein langgezogener Ton. Schmerzhaft fast. Sie erstarrte. Winoa. Assur und Rotak erstarrten. Für einen kurzen Moment. Dann schob sich Winoa an Aylea vorbei und verschwand mit ihren Eltern im Haus. Die Tür fiel zu. Hörbar verunsichert fragte Cy: »Äh – ist das jetzt eine Einladung in alter Angktradition?« Der Ton war immer noch da. Aylea erkannte, dass er ohne Umweg über ihr Gehör in ihrem Kopf materialisierte.
»Du hörst es nicht«, vergewisserte sie sich. »Was?« »Diesen langgezogenen hellen Ton. Als er erklang – und ich höre ihn immer noch –, begannen sich die drei so merkwürdig zu verhalten.« Cy raschelte. »Nein. Ich höre nichts. Gar nichts. Aber …« Er streckte ein paar Zweigarme in verschiedene Richtungen aus. »Sieh nur. Wir scheinen sie verjagt zu haben.« Überall zogen sich Menschen plötzlich wie auf eine geheime Verabredung hin in ihre Häuser zurück. Überall schlugen Türen. Binnen weniger Sekunden war die Straße wie leergefegt. »Da stimmt was nicht«, sagte Aylea leise. »Lass uns verschwinden«, pflichtete Cy ihr indirekt bei. Aber sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand hatte sich schon um den altmodischen Türöffner gelegt. »Nein. Ich will jetzt wissen, was los ist.« »Das kann gefährlich werden. Wenn sie wollten, dass wir ihnen folgen, hätten sie die Tür nicht vor unserer Nase zugeworfen.« »Vielleicht war es nur ein Versehen.« Cy bewegte sich unruhig hin und her. »Ich höre auch diesen ominösen Ton nicht, von dem du sprichst«, erinnerte er sie. »Du willst doch kein Angsthase sein …« »Natürlich nicht. Ich weiß nicht mal, was das ist!« »Dann komm …« Die Tür gab unter Ayleas Druck nach. Seltsam war immer noch, dass sie die Personen hinter der Schwelle hatte erkennen können, sonst aber nichts. »Wir sollten John informieren. Für alle Fälle«, sagte Cy. »Dann bleib halt hier. Als ›Absicherung‹.« Sie machte kein Hehl aus ihrer Enttäuschung, erst recht, als Cy sofort darauf einging. »Okay. Geh du – aber lass mich hier nicht so lange warten. Was ist mit dem Ton, den du hörst? Immer noch da?« »Immer noch da«, brummelte sie. »Im Gegensatz zu mir. Tschüs, Feigling!« Sie übertrat die Schwelle.
»Willkommen auf Myron«, sagte das Haus. Und fassungslos lenkte Aylea ihre Schritte über den Strand eines fernen Planeten.
Algorian krümmte sich.
5. »Leg los«, sagte Cloud, an Sesha adressiert. »Du hast den Vorschlag einer Zusammenkunft und Anhörung gemacht. Nun, wir haben uns versammelt …« Er nickte Jarvis, Jelto, Scobee und Jiim zu. Algorian hatte sich entschuldigt. Er fühlte sich nicht ganz wohl. »Du kannst also beginnen.« »Danke, Commander.« Es klang weder spöttisch noch spitzfindig, das war einfach nur die feminin ausgeprägte Stimme der Bord-KI, wie jedermann sie kannte. »Wie ich schon sagte, geht es mir um die möglichst frühe Eingrenzung von Risiken sowie um das rechtzeitige Gegensteuern – falls der Commander dies für nötig erachtet.« »Worum genau geht es bei dieser Besprechung?«, fragte Scobee, die erst vor wenigen Minuten eingetroffen war, zusammen mit Jiim. Zuvor hatten beide sich noch einmal Yael wegen seiner jüngsten Eskapaden zur Brust genommen. Aber alle Versuche, von ihm mehr über seinen immer noch nicht restlos geklärten »Blick« auf Portas zu erfahren, waren bislang gescheitert. Er schien den geistigen Ausflug, so er denn stattgefunden hatte, nicht vorsätzlich vollzogen zu haben, sondern davon ebenso überrascht worden zu sein wie sein »Werkzeug« Charly. »Um mehrere Punkte«, erwiderte Sesha bereitwillig. »Ich beginne jetzt mit Punkt eins.« »Ich bitte darum«, sagte Cloud. Die Holosäule wurde von der Milchstraße dominiert. Zwei Drittel des »Abgrunds«, der zwischen ihren nächstgelegenen Sonnen und denen der Großen Magellanschen Wolke klaffte, waren überwunden. Störungsfrei. Entsprechend überrascht worden war auch Cloud von Seshas Eigeninitiative, eine Konferenz anzuberaumen. Dennoch hatte er zugestimmt. Die KI musste schwerwiegende Gründe haben, um in dieser Weise in den Bordalltag einzugreifen.
»Punkt eins betrifft unsere Schiffsbewegung im grenznahen Gebiet jener Anomalie, die ganze Sternenbereiche Samraghs verschwinden ließ.« »Was ist damit?«, drängte Cloud. »Nun«, erwiderte die Stimme aus dem Off, »nach Durchsicht aller über die Ortungssensoren gewonnenen Daten machte ich eine überraschende Entdeckung.« »Welche?«, drängte Jarvis. »Es hat den Anschein, als wären wir nicht permanent außerhalb des Wirkungsfeldes des Phänomens geblieben, wie bislang angenommen, sondern wären kurzzeitig von ihm vereinnahmt worden.« »Und das heißt im Klartext?«, ließ sich auch Jelto nicht lumpen, die KI zu etwas mehr Eile in ihrer Erklärung anzutreiben. »Wenn wir tatsächlich von der Anomalie gefressen worden wären, würde es uns jetzt wohl kaum noch geben, sodass wir hier unser Kaffeekränzchen halten könnten.« »Genau das ist der Punkt«, erwiderte Sesha. »Der Einwand ist logisch. Die Anomalie verhielt sich demnach unlogisch, indem sie uns nicht vernichtete. Es könnte natürlich auch an der Kürze der Dauer liegen, während der wir uns innerhalb des Phänomens aufhielten.« »Wie kurz?«, fragte Cloud, dem ebenso klar war wie den anderen Zuhörern, dass sie, falls Sesha recht hatte, ein geradezu unverschämtes Glück hatten, noch am Leben zu sein. »Eine Millisekunde«, sagte Sesha. »Ich blende die Daten in ein Holofenster ein. Für ein nicht kybernetisches Gehirn sind sie schwierig zu lesen, aber ich will sie nicht vorenthalten.« »Das erklärt, warum wir es nicht wahrnahmen. Eine tausendstel Sekunde ist ein verdammt kurzer Moment. Muss ich mir das so vorstellen, dass das Phänomen überlichtschnell über uns hinwegschwappte, sich dann aber wieder zurückzog?« »Besser hätte ich es auch nicht erklären können, Commander.« »Danke. Aber das war noch nicht alles, oder?« »Natürlich nicht. Von einiger Bedeutung dürfte sein, dass jene Millisekunde genau mit dem Verfall von Sobeks Fremdtechnologie zusammenfiel – mit deren Hilfe er sich die RUBIKON Untertan mach-
te.« »Dich eingeschlossen«, merkte Jiim an. Sesha ging nicht darauf ein. »Weiter«, sagte Cloud. »Oder war's das jetzt?« »Nein«, erwidere die KI. »Eine Wahrnehmung sollte noch Erwähnung finden.« »Welche?« »In jener Millisekunde verlor ich auch die Kontrolle über einen ganz bestimmten Bereich des Schiffes.« »Was heißt das genau? Was verstehst du unter Kontrolle verlieren? Und welchen Bereich meinst du?« »Man könnte auch sagen: Für eine Millisekunde hörte ein Teil der RUBIKON auf zu existieren – so fühlte es sich für mich als oberste Kontrollinstanz aller Funktionen und Bereiche an Bord an.« »Das klingt etwas sonderbar.« »Es ist nach wie vor unerklärlich – aber auch seither nicht mehr vorgekommen. Ich habe wieder und wieder einen Datenabgleich durchgeführt, bin aber immer zu dem einen Ergebnis gekommen: dass keine Fehlfunktion meiner Instrumente und Sensoren vorlag. Demnach war für eine Millesekunde eine Sektion verschwunden.« »Die aber jetzt wieder da ist?« »Ja.« »Welche?«, wiederholte er die Frage, auf die er noch keine Antwort erhalten hatte. »Der Bereich, der den neuen Crewmitgliedern zur Verfügung gestellt wurde. Das Dorf, wie sie es nennen.«
Hatte sie das eben wirklich gehört? Willkommen auf Myron? Myron war Angk VI, und Winoa stammte erklärtermaßen von dort, ihre Eltern folglich auch. Aber wieso konnte ein Haus dann ein Planet sein? Aylea sah sich verwirrt um. War hier ähnlich gewirkt worden wie in Jiims und Yaels Pseudokalser? Sah sie das Ergebnis einer Mischung aus Holotechnik und der Arbeit von Dimensatoren?
Verrückt blieb es allemal. Sie hatte wirklich das Gefühl, an der Küste eines fremden Ozeans zu stehen. Einem Ozean auf Myron. Wind zerzauste ihr Haar. Salzgeruch haftete der steifen Brise an. Und dort, meereinwärts, sah sie auch die Vögel, die sie vorhin, draußen vor dem Haus, gehört zu haben meinte. Immer noch gegenwärtig war der tonlose Ton. Aber er schien nun etwas entrückt, nicht mehr so vordergründig präsent und dadurch erträglicher. Aylea drehte sich um ihre eigene Achse und suchte die Tür, durch die sie gekommen war, suchte nach Winoa und ihrer Familie. Nichts von alledem war zu sehen. »Tür«, sagte sie aus einem spontanen Impuls heraus. Die Tür erschien einen Schritt hinter ihr. Erleichterung legte sich auf Ayleas Züge. Okay, dachte sie. Es ist also wohl eher keine Falle. Nach diesem Teilerfolg rief sie laut die Namen von Winoa, Assur und Rotak. Nacheinander materialisierten drei faustgroße, regenbogenfarbene Kugeln drei Meter von Aylea entfernt in Kopfhöhe. Sie setzten sich in Schritttempo in Bewegung. Wegweiser. Aylea folgte ihnen spontan. Die Tür wurde wieder unsichtbar. Insgeheim war Aylea froh, dass Cy als Absicherung draußen geblieben war. Obwohl sie sich auch hier mit einem Begleiter wohler gefühlt hätte. Langsam ging sie den Kugeln nach. Landeinwärts. Nach ein paar Minuten sah sie von weitem einen Wald. Die Kugeln führten sie hinein, und sie gelangte auf eine riesige, grasbewachsene Lichtung voller Skulpturen … und Menschen. Verwirrt stellte Aylea fest, dass es Tausende sein mussten, Tausende, die sich dort im Schatten zwischen den Monumenten versammelt hatten – und die Wegweiser führten sie genau auf Winoa, As-
sur und Rotak zu. Sie standen da wie Statuen, völlig erstarrt. Es hatte etwas Gespenstisches, und verstärkt wurde dieses Gefühl durch die gewaltige Zahl derer, die hier in vollkommene Starre verfallen waren. Als Aylea sich umsah, glaubte sie ein paar Gesichter wiederzuerkennen, die ihnen auf dem Weg durch das Dorf begegnet waren. Hieß das, dass sich alle Bewohner im Haus von Winoas Familie getroffen hatten, obwohl sie durch andere Türen in anderen Häusern verschwunden waren? Das Ganze wurde zunehmend bizarrer. »Winoa?« Das Angkmädchen reagierte nicht. Aylea überwand ihre Scheu und berührte das etwa gleichaltrige Mädchen. Warm und weich, keine Statue – den Bractonen sei Dank! Weniger unheimlich wurde es dadurch nicht. Erst jetzt merkte sie, dass der Ton verstummt war. Aylea beschloss, umzukehren. Es war wohl doch besser, erst einmal zu Cy zurückzugehen und sich mit ihm zu besprechen. In Windeseile legte sie den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Je näher sie der Küste kam, wo die Tür existierte (hoffentlich immer noch existierte!), desto ängstlicher wurde sie. Immer wieder überlief sie eine Gänsehaut. Endlich erreichte sie die Stelle, wo ihre Fußabdrücke im weichen Sand begonnen hatten. »Tür«, sagte sie rau. Die Tür bildete sich aus dem Nichts heraus. Widerstandslos ließ sie sich öffnen. Aylea stürzte regelrecht hindurch. »Hoppla«, sagte Cy. Die Straße füllte sich gerade wieder mit Menschen, die ebenfalls aus den Türen ihrer Häuser traten. »Hast du es dir doch anders überlegt? Darüber bin ich froh. Ich wusste nicht –«
Sie sah ihn verständnislos an. »Wie meinst du das? Anders überlegt? Ich war …« »… nur ein, zwei Minuten drinnen. Und ehrlich gesagt, sah es gerade aus, als hätte dich das Haus wieder ausgespuckt.« Hinter Aylea sagte Winoa: »Was ist? Wollt ihr nicht reinkommen? Ich zeig euch meine Werkstatt, meine Eltern haben nichts dagegen. Aylea, du warst doch an dem Schmuck interessiert, den ich mache. Komm. Was ist mit euch beiden?« Hinter Winoa war die Einrichtung des Hauses durch die offene Tür zu sehen. Geschmackvoll. Aber nicht atemberaubend. Nicht so wie Myron. »Später. Ein anderes Mal, trotzdem danke …«, sagte Aylea mit zittriger Stimme. »Ich hatte ganz vergessen, dass wir eine Verabredung haben. Mit dem Commander. Bis dann …« Sie schnappte sich einen von Cys Zweigarmen und zerrte ihn förmlich hinter sich her. »Was ist los?«, fragte der Aurige, als sie das Dorf hinter sich gelassen und durch das Schott zurück in einen ganz normalen Gang der RUBIKON getreten waren. »Das«, erwiderte Aylea, »wüsste ich auch gern.« Und dann berichtete sie ihm, was sie erlebt hatte. Es beruhigte sie, dass er ihr zu glauben schien. »Wir sollten das nicht auf den leichten Ast nehmen«, entschied er. »Ich glaube, wir haben wirklich eine Verabredung mit John – auch wenn er das selbst noch nicht wissen mag.«
Sesha hatte noch eine »Bombe« in petto. »Zu guter Letzt geht es um eine Datei, auf die ich bei Routinechecks stieß.« »Eine Datei – von der du nichts wusstest?«, fragte Cloud, während er noch damit beschäftigt war, die anderen Aussagen der KI zu verdauen. »Eine Datei, von der ich nichts wusste, ja. Als ich sie mir vornahm,
entpackte sie sich.« »Sie war komprimiert?« »In einem mir unbekannten Verfahren, das nichtsdestotrotz fehlerfrei funktionierte.« »Ein Virus!«, rief Jarvis in düsterer Vorahnung dazwischen. »Konntest du ihn isolieren, unschädlich machen?« »Es war kein Virus. Es war offenbar ein Informationspaket, das zusammen mit den Angk-Neucrewmitgliedern auf das Schiff geschleust wurde. Unbemerkt.« »Und nur zufällig von dir entdeckt – was sollte das für einen Sinn machen?«, fragte Cloud. Und Scobee fügte hinzu: »Was enthält das Paket? Von welchen Informationen sprechen wir?« »Es handelt sich um Kartenmaterial der Angkplaneten. Portas ausgenommen sind wir nunmehr im Besitz sämtlicher topographischer Daten zu sechs von sieben Systemplaneten.« »Wow«, entfleuchte es Jeltos Lippen. »Hört sich interessant an«, pflichtete Cloud ihm bei. »Ich werd's mir bei Gelegenheit ansehen. Hast du schon eine Erstsichtung vorgenommen?« »Habe ich«, sagte Sesha. »Und?« »Ich habe dabei etwas entdeckt, für das ich keine Erklärung habe – aber es muss eine Bedeutung haben, denn es existiert absolut identisch auf jedem der sechs Planeten.« In die Holosäule kam Bewegung. Sechs kleine Fenster öffneten sich. Sie zeigten Gismo, Nomad, Schaggrom, Arrankor, Myron und Voosteyn. Auf Veranlassung Seshas zoomten alle Aufnahmen rasend schnell heran und vergrößerten einen Flecken der Oberfläche, der sich tatsächlich als sechsmal identisch erwies, selbst beim reinen Draufschauen. »Eine Lichtung. Sportrasenkurzes Gras. Verstreut stehende Steinfiguren … oder sind sie aus Metall?«, sagte Cloud. »Wenn ich die Aufnahmen unter Makrobedingungen analysiere«, sagte Sesha aus dem Off, »offenbart sich etwas, was eigentlich un-
möglich sein müsste.« »Was?«, fragte Jelto, den die Aufnahme einer parkähnlichen Fläche offenbar auch auf einer Ebene ansprach, die sich den anderen Betrachtern entzog. »Die Pflanzen – jeder kleinste Grashalm – ist absolut identisch zu dem, was diese Fläche auf allen sechs Welten optisch hergibt. Es ist, als hätte jemand eine Fläche kopiert und auf sechs – vielleicht sogar sieben, falls Portas nicht aus der Rolle tanzt, was ich nicht überprüfen kann – Welten verpflanzt.« Cloud und seine Gefährten sahen einander an, als zweifelten sie am Verstand ihrer KI. »Bist du sicher?«, fragte Cloud, nachdem er sich geräuspert hatte. »Absolut.« »Klingt zwar verrückt, passt aber irgendwie zu den Bractonen, meint ihr nicht?«, fragte Scobee, als wollte sie die Entdeckung damit abtun. »Genaue Karten zu den Planeten, auf denen nunmehr Menschen siedeln, können jedenfalls nicht schaden«, sagte Cloud. »Sesha, analysiere weiter. Vielleicht stößt du ja noch auf andere versteckte Dateien. Ich empfehle einen Intensivscan des gesamten Systems.« »Läuft bereits, Commander.« In diesem Augenblick stürmten Aylea und Cy die Zentrale.
6. Ungläubiges Staunen hatte sich auf die Gesichter der Zuhören gelegt, obwohl Aylea längst noch nicht jedes Detail berichtet hatte. »Aylea, du fantasierst«, verlieh Scobee nichtsdestotrotz schon jetzt ihrer Sorge Ausdruck. »Oder kannst du bestätigen, was sie sagt?«, wandte sie sich an Cy. Der Aurige erklärte würdevoll: »Ich war nicht in dem Haus. Aber ich glaube ihr trotzdem. Immerhin konnte ich beobachten, wie seltsam sich die Leute in der Straße benahmen. Und ich meine auch, Vogelschreie gehört zu haben, als Assur und Rotak in der offenen Tür standen – merkwürdigerweise war es unmöglich, etwas vom Innern des Hauses zu sehen. Bis sie das zweite Mal die Tür öffneten.« »Das ist wohl kein Beweis«, mischte sich Jarvis ein. »Aber es passt irgendwie zu dem«, sagte Cloud, »was wir von Sesha erfahren haben.« »Was meinst du?« »Die Geschichte mit der Millisekunde – in der das ›Dorf‹ aus seiner Wahrnehmung herausfiel.« Jarvis schien etwas dagegen halten zu wollen, aber in diesem Moment wanderte Ayleas Blick zur Holosäule, der sie bis dahin keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Noch immer waren die sechs Fenster geöffnet, die allesamt ein identisches Bild wiedergaben. »Da! Das … das ist sie!«, rief Aylea mit sich überschlagender Stimme. Die Blicke der anderen folgten ihrer ausgestreckten Hand. »Das ist was?«, fragte Scobee. Von der Lichtung mit den Figuren hatte Aylea noch gar nichts erzählt. Nur Cy wusste bereits davon, sie hatte es ihm auf dem Herweg beschrieben. »Der Platz, auf dem sich alle Angkleute trafen, versammelt hatten und wie erstarrt waren – auf Myron.« Sie wies auf ein beliebiges der
Fenster. »Dort! Dort sah es genauso auf wie auf den Einblendungen!« »Das sind Plätze auf Myron, Schaggrom und den anderen Systemwelten«, sagte Cloud. »Plätze, wie sie offenbar absolut identisch auf jedem der Angkplaneten vorkommen – und dort willst du gewesen sein?« »Ich war da, ich lüge nicht!« »Das behauptet auch niemand«, entgegnete Jelto. »O doch, indirekt schon!« Sie war kaum zu beruhigen. »Ich kann bestätigen, dass sie mir einen Ort wie den, der in sechsfacher Ausführung in der Holosäule prangt, beschrieben hat, noch bevor wir die Zentrale betraten«, sprang Cy für sie in die Bresche. »Ich habe auch kein Problem damit, mich von Algorian überprüfen zu lassen«, zischte Aylea. »Er darf mich mit seinen telepathischen Kräften durchleuchten – spätestens danach werdet ihr mir hoffentlich glauben.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Cloud. »Ich glaube dir. Was allerdings nicht heißt, dass ich eine Erklärung für euer … speziell für dein Erlebnis habe, Aylea.« »Was ist mit Sesha?«, warf Jarvis ein. »Die KI könnte uns Bildmaterial zur Verfügung stellen, aus dem vielleicht mehr Details hervorgehen.« Cloud überlegte. Prinzipiell nahm Sesha permanent jeden Winkel des Schiffes unter die Lupe. Auch rückwirkend konnten Vorgänge in bestimmten Räumlichkeiten visuell abgerufen werden. Trotzdem zögerte er. Etwas in ihm hatte Sorge, dass sich Ayleas und Cys Behauptungen auch wirklich bestätigten – andererseits: Durfte er darauf Rücksicht nehmen? Was für ein Mysterium etablierte sich gerade an Bord? Eine Gefahr? Eine Bedrohung, die möglicherweise sogar auf Kargor zurückging? Hatte er die Angkmenschen gar nicht selbstlos für den Dienst auf der RUBIKON abgestellt? Stellten sie in Wahrheit eine Art fünfte Kolonne dar, die das Schiff vielleicht sogar unter ihre Kontrolle bringen sollte? Er rief sich zur Räson. Dafür gab es noch nicht den kleinsten Beweis. Mindestens ebenso wahrscheinlich war es, dass die Angkmen-
schen selbst bedroht wurden – von etwas Unbekanntem. Hatte Sobek innerhalb des Schiffes etwa Manipulationen vorgenommen, die noch gar nicht aufgedeckt waren? »Bist du einverstanden?«, wandte er sich an Aylea. »Und du, Cy?« Beiden bejahten ohne Zögern. Sesha leitete die Aufzeichnung des Dorfes in die Holosäule. Selbständig hatte sie die vakante Zeitspanne herausgesucht. Als Cy und Aylea erfasst waren, zoomte ein Bildausschnitt heran. Sie standen vor dem Haus von Winoas Familie. Und dann geschah das, was der Aurige und das Mädchen den anderen geschildert hatten. Aylea verschwand … um eine knappe Minute später wieder aus der Tür zu stürmen, völlig aufgelöst. Auch die Angkleute, die gerade hinter den Türen ihrer Häuser verschwunden waren, tauchten unversehens wieder auf. »Okay, tut mir leid, Aylea, Cy … ich nehme alles zurück«, räumte Scobee ein. »Nach Fantasieren sieht das nicht aus. Schon eher nach einem gehörigen Problem, dessen wir uns schnellstens annehmen sollten.«
Algorian wankte in die Zentrale. Der Aorii sah schlimm aus. Cloud konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor in einem solchen Zustand erblickt zu haben – abgesehen von damals vielleicht, als sein Hassbruder Rofasch gestorben war. »Al!« Es war Cy, der schrill aufschrie. Es klang wie ein Pfiff. Sofort war Jarvis aufgesprungen und hatte die Distanz zu Algorian mit einem einzigen Satz überwunden. Er kam gerade rechtzeitig, um den Aorii aufzufangen, sonst wäre er gestürzt. »Auf die Krankenstation, sofort!«, ordnete Cloud ohne langes Überlegen an. »Übernimm du das bitte, Jarvis.« Jarvis hob den Aorii auf seine Arme und eilte hinaus. Minuten später kam die Entwarnung aus dem bordinternen Sprechsystem. »Es geht ihm besser als befürchtet. Er steht nur unter einem enormen psychischen Stress. Für Sekunden war er bei Be-
wusstsein und sagte etwas von einem Ton. Einem Ton, der ihm permanent durchs Gehirn sticht. Es muss ein psionisches Problem sein. Etwas, vor dem er sich von allein nicht abschotten kann, obwohl er das offenbar versuchte. Inzwischen steht er unter Medikamenten, die offenbar anschlagen. Er braucht jetzt erst mal Ruhe …« Cloud bedankte sich und wandte sich wieder den Gefährten auf dem Kommandostand zu, speziell Aylea. Hatte nicht auch sie … von einem Ton gesprochen, den Cy nicht in der Lage gewesen war, wahrzunehmen? Sie hatte mitgehört und erriet seinen Gedanken. Betroffenheit breitete sich über ihre Züge. »Hörst du diesen Ton momentan?«, fragte Cloud. Sie schüttelte den Kopf. »Hm.« Offenbar quälte die Störung Algorian nachhaltig. Was ging nur vor an Bord? War es ein Fehler, Kurs auf die Milchstraße, Kurs auf Angk zu nehmen? Hätten sie stattdessen erst einmal weiter vor Ort ermitteln sollen? Nein, entschied er. Angk war richtig. Nur die Bractonen konnten bei einem Phänomen und einer Gefahr solchen Ausmaßes helfen. Und wenn sie nicht – wahrscheinlich überhaupt niemand …
7. Näher und näher rückte die Milchstraße mit ihren Spiralarmen und einem Zentrumsgebiet mit einem Sternenaufkommen von enormer Dichte. Dort im Zentrum lag irgendwo das vergessene Reich der Treymor, die sich der natürlichen Fähigkeiten des Saskanenvolkes bedienten, um sich für andere Spezies unauffindbar zu machen. Cloud musste an sie denken, an Saskanen und Treymor, als die RUBIKON in den Halo der heimatlichen Galaxie eindrang. Wie bei manch anderer Gelegenheit auch fühlte er sich an vergangene Zeiten erinnert – von denen es solche gab, die er nicht wieder aufwärmen wollte, unter gar keinen Umständen, aber auch solche, die er in sentimentalen Stunden vermisste. Personen, die im Strom der Zeit verloren gegangen waren. Boreguir. Oder Nathan Cloud, der Mann, der fast nie zu Hause gewesen war – den er von früher Kindheit an meist vermisst hatte, statt ihn zu erleben … Resnick, der GenTec, der weniger Glück gehabt hatte als Jarvis. Darnok (er wunderte sich selbst, dass er ihn zu den Verlorenen zählte, immerhin war er ja noch »da«, unter ihnen). »Von hier aus werden wir die Reststrecke per Transition überwinden«, kündigte Cloud seinen Gefährten an – Scobee, Jelto, Cy und Algorian befanden sich mit ihm auf dem Kommandostand. Letzterem ging es wieder besser. Der Ton war verstummt, ohne dass seine genaue Ursache hatte bestimmt werden können, und der Aorii hatte darauf bestanden, schnellstmöglich wieder am normalen Bordalltag teilzunehmen. Jarvis war in »geheimer Mission« unterwegs. »In einer Stunde springen wir – und zwar bis hart an die Grenze des Angksystems. Hast du das verstanden, Sesha? Entsprechende Berechnungen anstellen und innerhalb der nächsten halben Stunde
abschließen – ich warte auf Vollzugsbestätigung …«
Und plötzlich das Dorf. Jarvis blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Er hatte das irrationale Gefühl, seine Überraschung müsse sich auf seinem Gesicht widerspiegeln. Schlimmer noch: brächte die Maske zu Fall. Das Dorf … das Viertel … oder wie immer man es nennen wollte, lag im strahlenden Licht der holografischen Sonne, und das Programm, das sie beinhaltete, vermochte selbst Häuser- und Menschenschatten auf dem Boden zu imitieren. Das Schott schloss sich leise zischend hinter Jarvis. Niemand schien ihn weiter zu beachten und seiner Ankunft Aufmerksamkeit zu schenken. Mithilfe von Kargors Kristall war es ihm inzwischen möglich, beliebige Erscheinungsbilder zu generieren. In der Regel entschied er sich für sein früheres Äußeres, für Jarvis eben, wie er vor der Verbannung aus seinem biologischen Körper ausgesehen hatte: ein junger Mann Anfang zwanzig mit streichholzkurzem Haar, das ihm ein pfiffiges Auftreten verlieh. Dass auch schon sein Ursprungskörper in gewisser Weise künstlich gewesen war, hatte ihm bei der Eingewöhnung in die Nanohülle der Foronen, die seither den verlorenen Körper ersetzen musste, nicht wirklich geholfen. Es war schwer, sich an etwas zu gewöhnen, das ihn mehr oder weniger zum Kastraten abgestempelt hatte. Die Nanobestandteile seines »Ersatzkörpers«, so hochentwickelt sie auch sein mochten (immerhin erlaubten sie ihm die Fortbewegung, Sehen, Hören und Sprechen; beim Tasten und Riechen wurde es schon schwieriger, und an ein Schmecken im originalen Sinn war gar nicht zu denken), waren nicht in der Lage, auch seine Libido zu unterstützen. Ein Kastrat, dachte er, während er sich wieder in Bewegung setzte, das bin ich tatsächlich, und zwar einer übelsten Sorte. Werde ich mich daran jemals gewöhnen? Er glaubte es nicht. Er sei denn, er lernte eines Tages eine Frau kennen, die das Schicksal ähnlich gestraft und in eine robotische Hülle verbannt hatte –
wenn die dann auch noch mit seiner kompatibel wäre … Ein abseitiges Lächeln breitete sich über sein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht. Aber er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Das Dorf – er war wegen der Bewohner gekommen. Um sie ging es, nicht um ihn … Wie so oft rettete er sich in die Pflicht, wenn die Verzweiflung überhand zu nehmen drohte. In schnellem Tempo erreichte er die ersten Häuser, tauchte ein in den Schmelztiegel der Quartiere, die Sesha den Neumannschaftsmitgliedern nach deren Entwürfen gebaut hatte. Oberflächlich betrachtet zumindest. Doch wenn Ayleas Erfahrung nicht nur einer Sinnestäuschung entsprang, dann hatten die früheren Angkbewohner den Konstruktionen noch etwas beigefügt, was nicht auf der Zutatenliste gestanden hatte. Warum trieben sie solch falsches Spiel? Im Grunde konnte nach Jarvis' ganzen Erfahrungswerten nur eine Teufelei dahinterstecken. Die Rückkehr ins Angksystem eröffnete neben der Klärung des Sternentodphänomens damit vielleicht sogar noch eine zweite Option: Sie würden sich der Neucrew, so er Beweise für ein falsches Spiel fand, dort wieder entledigen können. Zumindest war das Jarvis' insgeheime Hoffnung. Blieb abzuwarten, was John entscheiden würde. Aber vielleicht löste sich ja auch alles in Wohlgefallen auf. Vielleicht klärte sich alles auf ganz harmlose Weise. Er wusste nicht, was ihm lieber wäre – die plötzlich reich bevölkerte RUBIKON war ihm noch so fremd, dass er selbst nicht zu sagen vermocht hätte, ob er dies nun als Verbesserung oder Verschlechterung seiner persönlichen Lage einschätzen sollte. Das Misstrauen war ihm in die Wiege gelegt. Von links näherte sich eine Gestalt und fragte: »Hast du meinen Venloc gesehen? Sahbu? Ich suche das Biest überall. Wenn ich es finde, absorbier ich es, das kannst du mir glauben! Das hat es zum letzten Mal getan!« Jarvis versuchte sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
Kargors Kristall spiegelte einen vielleicht sechzehn- oder siebzehnjährigen Jungen vor, der typische Angkkleidung trug: eine leichte, knapp über die Knie reichende Hose, dazu ein weit fallendes Hemd mit bis zu den Ellbogen reichenden Ärmeln und flache, mokassinähnliche Schuhe. Entlang des Hemdausschnitts waren Löcher gestanzt, durch die sich überkreuzende Lederriemen verliefen. Das Outfit hatte etwas leicht Verwegenes und hätte gut und gern zu einem Waldläufer des 18. Jahrhunderts gehören können. Ganz anders die Gestalt, die ihn angesprochen hatte. Sie trug überhaupt keine Kleidung, war … nackt. Aber Anstoß nahm daran offenbar niemand, auch Jarvis nicht. Es war ein Sternling. Rein äußerlich eine Art Gloride in Weltraumschwarz. Ob Gloriden und Sternlinge miteinander verwandt waren, wusste Jarvis nicht. Scobee hatte ihnen jüngst erklärt, wie Gloriden erschaffen wurden – auf Angk II, Nomad. Mortuas hießen sie in der Begriffswelt der Bractonen. »Sahbu? Ich … kannte mal einen Sahbu.« Der Sternling hielt inne. Hinter seiner Haut huschten Sternennebel und Pulsare vorbei. »Ich auch. Ein feiner Kerl – wie ihr Menschen sagt. Aber das ist lange her.« »Wie heißt du?« »Varx.« »Und du suchst deinen Venloc … Was ist ein Venloc?« »Von welcher Angkwelt stammst du?« »Voosteyn«, log Jarvis, dabei das wenige Wissen nutzend, das er über die Angkwelten besaß. »Welche Zone?« Voosteyn war die Welt der geheimnisvollen Kartei. Niemand von der Stammcrew wusste, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Nur dass die Oberfläche des Planeten in Zonen unterteilt war, deren Grenzen von den Bewohnern nicht überschritten werden durften – dafür konnten sie sich ins Energiestraßennetz einloggen und zu fünf anderen Planeten bewegen, problemlos. Jarvis hatte Voosteyn gewählt, weil er sich erhoffte, dass sein Gegenüber die wenigsten eigenen Kenntnisse dazu besaß. Aber offen-
bar hatte er gerade dadurch die Neugier des Sternlings geweckt. »Und du?«, wich er aus. »Von wo stammst du?« »Arrankor«, sagte Varx. Er wollte wohl noch weiter ausholen, doch in diesem Moment erspähte er offenbar seinen verlorenen Venloc, denn er rief: »Sahbu! Warte! Bleib stehen, oder ich drehe dir den Hals um!« Es handelte sich augenscheinlich um ein Haustier, das wie eine Mischung aus kniehohem Hund und stachelbewehrtem Igel aussah. Eingeschüchtert blieb das Tier zwischen den vielen Passanten stehen, die die Straße bevölkerten. Armes Vieh, dachte Jarvis. Andererseits war er froh, dass Varx abgelenkt worden war. Bevor der Sternling zurückkehren konnte, tauchte Jarvis in die Menge ein und machte sich davon.
»Du … wolltest mich sprechen, Guma Tschonk.« »Danke, dass du gekommen bist. Nimm Platz, Yael.« Cloud zeigte auf einen der sechs Kommandositze, die noch frei waren. Den siebten belegte er selbst. Der Jungnarge, dessen Gefieder und Flaum selbst im fast weißen Licht der Bordzentrale wie frisch darüber gegossenes Gold strahlten und das ockerfarbene Gesicht umrahmten, wählte den offenen Sarkophagsitz unmittelbar neben Cloud. Er rutschte ein paar Mal hin und her, bis er eine einigermaßen bequeme Position gefunden hatte – was für einen Geflügelten nicht leicht war. Cloud staunte bei jedem Wiedersehen, wie schnell das dem Ei entsprungene »Küken« gewachsen und gereift war. Niemand wusste, worauf Yaels genetische Besonderheit zurückzuführen war, selbst entsprechende medizinische Scans, von Sesha durchgeführt, hatten kein verwertbares Ergebnis erbracht. »Könntest du Charly dazurufen?« »Charly?« Yael begann erneut, hin- und herzurutschen. Das Thema behagte ihm nicht. Wahrscheinlich erwartete er eine neuerliche Rüge, diesmal durch die oberste Instanz des Schiffes höchstpersön-
lich. »Ja. Hol ihn bitte dazu. Er hat nichts zu fürchten – und du auch nicht.« Für einen Moment flackerte Yaels Blick, als müsste er sich erst in Erinnerung rufen, dass dem Wort des Commanders zu vertrauen war – ohne jede Einschränkung. Im nächsten Moment flegelte sich Charly auf dem anderen freien Sitz neben Cloud. »Hallo Meister!« Yael stöhnte auf. »Das bin nicht –« »Ich weiß«, beruhigte Cloud ihn. Das Feixen der Materieprojektion, die den Anschein eines dritten Nargen an Bord erweckte, störte ihn nicht. Und die despektierliche Art Charlys überhörte er geflissentlich. »Ich habe eine Aufgabe für … euch.« »Ein Job, echt?« Charly klatschte in die Hände. »Endlich Action! Junge, du weißt nicht, wie ich das vermisst hab. Und wie ich das brauche. Der kurze Ausflug nach Portas – Mann, ey, der hätte was werden können. Wenn ich nicht gleich wieder zurückgepfiffen worden war!« Er schnaubte empört. »Er ist furchtbar«, seufzte Yael beschämt. Er wagte es kaum, Cloud in die Augen zu schauen. »Aber wenn wir allein sind …« »… ist er ein duftes Kerlchen – das dachte ich mir schon«, lächelte Cloud. »Wie?« »Schon gut. Kommen wir zur Sache. Charly …« Er nickte dem sonderbaren Ding zu, das Yael mithilfe seiner noch unerforschten besonderen Kräfte erschuf. »… hat es ja schon angesprochen. Portas. Er war offenbar dort. Obwohl Portas … verflixt weit von hier weg ist. Das ganze Angksystem ist verflixt weit weg. Aber genau darum geht es auch bei dem, worum ich euch … dich, Yael … bitten möchte.« »Was … kann ich tun, Commander?« Cloud lächelte. »Du kannst den ultimativen Beweis erbringen, wie gut du deinen Charly inzwischen unter Kontrolle hast. Mir wäre es lieb, wenn wir nicht ganz unangemeldet im Angksystem auftauchen
würden, sondern die Bractonen schon ein wenig auf unsere Rückkehr vorbereiten könnten … Denkst du, das ließe sich machen? Mit … ihm?« »Machen schon, Commander, aber …«, kam es wie aus der Pistole geschossen, doch dann zögerte Yael. »Ja?« »Ich fürchte, das wird für die ERBAUER der Schock ihres Lebens.« Cloud lachte schallend, und Yael fiel darin ein. Nur Charly machte ein sauertöpfisches Gesicht, das sich erst wieder aufhellte, als er seine genauen Instruktionen erhielt … und binnen eines Lidschlags auf die Reise geschickt wurde. Im nächsten Moment schrie Yael gellend auf.
Jarvis spazierte seit einer geschlagenen Stunde maskiert zwischen den Angkmenschen, die nunmehr an Bord lebten. Er hatte bewusst jene Schiffszeit für seine Mission gewählt, die in etwa der entsprach, zu der sich Aylea und Cy hierher aufgemacht hatten. Doch passiert war noch nicht das Geringste. Obwohl weiter zurückreichende Aufzeichnungen Seshas belegten, dass der von Aylea wahrgenommene Ton sich jeden Tag zu wiederholen schien. Tagtäglich verschwanden die Angkmenschen wie auf ein geheimes Kommando hin einmal in ihren Häusern … um nur eine Minute später wieder aus ihnen herauszutreten. Wenn Aylea recht hatte, verging im Inneren der Unterkünfte sehr viel mehr Zeit. Aber es war noch grotesker: Sämtliche Häuser des Dorfes schienen an einen übereinstimmenden Ort zu führen – auf eine große Lichtung voller Skulpturen, wo die Neucrew sich versammelte … Verrückt, dachte Jarvis. So recht glauben konnte er Ayleas Erlebnis nicht; vielmehr schien sie kurzzeitig unter geistiger Beeinflussung gestanden und die Bilder, an die sie sich erinnerte, aufoktroyiert bekommen zu haben. Aber wer tat so etwas? Hatten sie sich am Ende tatsächlich statt mittelfristiger Unterstüt-
zung eine Gefahr an Bord geholt? Jarvis hatte von Beginn an ein gespaltenes Verhältnis zu Kargor aufgebaut. Zu grob, zu unmenschlich mitunter war die Bractonen-Entität anfänglich aufgetreten. Inzwischen wusste er zwar, dass Kargor kein Individuum, sondern die Summe von Abermilliarden ERBAUERN war, die sich inzwischen wieder materialisiert hatten *. Aber großartig verzeihen konnte Jarvis dem und den Bractonen trotzdem nicht. Mochten die angkgeborenen Menschen mit ihnen auskommen – das wünschte er sich natürlich –, aber er und die ERBAUER würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden. In diesem Augenblick geschah es: Ohne dass Jarvis auch nur den Anflug eines wie von Aylea geschilderten »Tons« aufgefangen hätte, zogen sich die Bewohner des RUBIKON-internen Dorfes in ihre Häuser zurück. Da Jarvis wusste, dass ihm hier draußen vor den Türen kaum eine Minute blieb, ehe sie wieder heraustraten, beeilte er sich. Ein kurzes Signal an die, die in die Mission eingeweiht waren, läutete sein energisches Handeln ein. Mit raumgreifenden Schritten eilte er auf die nächste Tür zu und betätigte den Öffnungsmechanismus. Sofort schwang die Tür auf. Jarvis prägte sich mittels seiner Nanorezeptoren die verlassene Straßenzeile ein und trat dann über die Schwelle. Nach Myron. Oder Gismo? Oder …?
Yael hing schwer atmend im Kommandositz. Jiim war auf Clouds Nachricht hin herbeigeeilt und bemühte sich um seinen Sprössling. *ein Teil war mit Kargor – dem Individuum – in einer Tridentischen Kugel nach Portas gereist und seither verschwunden; die anderen wieder stofflich gewordenen Bractonen bevölkerten seither die unproblematischen Angkplaneten und teilten sie sich mit den menschlichen Bewohnern
Sesha hatte, was die Biosignale des Nargen anging, Entwarnung gegeben. Seine beiden Herzen schlugen viel zu schnell, aber nicht in bedrohlicher Frequenz. So wie es aussah, hatte er sich lediglich vor etwas erschrocken – ungeheuer erschrocken. Er rang immer noch um Fassung. Cloud war es nicht gelungen, ein vernünftiges Wort mit ihm zu wechseln. Nur Gestammel hatte die Lippen des goldenen Nargen verlassen. Jiim hatte mehr Erfolg. Nach und nach beruhigte Yael sich. Sein Zittern ebbte ab, der Puls normalisierte sich, und in die Augen kehrte ein Glanz zurück, der nicht mehr ganz so nah am Irrsinn geparkt war. Cloud hielt sich weiterhin im Hintergrund, ließ Jiim machen. Auch als Scobee auftauchte, signalisierte er ihr, sich in Zurückhaltung zu üben. Leise informierte er sie über das Geschehen. Ihre Bestürzung machte ihm klar, dass er mit dem Feuer gespielt hatte. Ohne Not. Wenn Yael bleibender Schaden zugefügt worden wäre, hätte er sich das nicht verziehen. Endlich löste sich Jiim ein wenig von seinem Spross, drehte sich halb um, sodass er Cloud und Scobee ansehen konnte, und sagte: »Etwas ist passiert. Mit diesem … Charly. Normalerweise, sagte Yael, hätte in dem Moment, da Charly ›gegangen‹ war, der Sinneskontakt hergestellt werden sollen – so war es von seiner Seite aus mit Charly verabredet. Yael wollte durch dessen Augen und Ohren mitverfolgen, wie die Mission auf Angk verläuft. Aber dazu kam es erst gar nicht. Statt des harmlosen Gleichschaltens ihrer Sinne, wie Yael es schon mehrfach ohne jedes Problem praktiziert hat, erfolgte eine Art Aufprall – so beschreibt er es. Als wäre Charly irgendwo auf dem Weg ins Angksystem gegen eine Mauer geprallt und dabei …« Er verstummte. In seinen Augen war jedoch deutlich zu lesen, was Yael und er befürchteten: dass Charly, woraus immer er bestehen mochte, bei diesem Geschehen »getötet« worden war. »Vielleicht«, sprang Scobee Cloud zur Seite, »ist die Entfernung einfach zu groß, zu unüberwindlich. Es war ein Versuch, wenn ich es richtig verstanden hatte. Aber eigentlich war doch abzusehen, dass Charly nicht über Zehntausende von Lichtjahren gehen kann. Wahr-
scheinlich ist er einfach noch ›unterwegs‹ – durch ein Medium, das sich unserem Verständnis bislang ohnehin nicht erschließt. Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen.« An Yael gewandt, der sie lethargisch ansah, fragte sie: »Kannst du ihn nicht einfach zurückbefehlen?« »Das … habe ich längst … versucht.« »Aber es ist nicht gelungen?« »Nein.« »Setzt dir der eventuelle Verlust so zu, oder leidest du an irgendwelchen physischen oder psychischen Qualen?« »Ich bin einfach … geschockt. Dieser Moment, als sich die Verbindung aufbauen sollte … und stattdessen dieses … Dunkel über mich kam … das hat mich bis ins Mark getroffen.« Seine äußerliche Verfassung sprach Bände und unterstrich seine Aussage. Cloud wollte sich gar nicht ausmalen, wie es erst in der Seele des Jungnargen aussehen musste. Er schürzte die Lippen, zögerte, fragte dann doch: »Kannst du nicht einfach einen … neuen Charly erschaffen?« Yaels Pupillen, in denen ständige Bewegung war, wie auf einer Wasseroberfläche, auf die permanent Steinchen geworfen wurden, gerieten ins Stocken. Es sah aus, als gerinne der Flüssigkeitsfilm auf der Iris. Lahm machte er Gesten der Verzweiflung. »Ich will keinen neuen Charly – ich will ihn zurück.« Vielleicht verstand Cloud in diesem kurzen, allzu flüchtigen Moment, was Yael damit ausdrücken wollte – doch gerade, als er einen Zipfel von Verstehen in sich zu erkennen meinte … entfleuchte er ihm auch schon wieder. Erschüttert ließ er zu, dass Jiim seinen Sprössling aus der Zentrale führte. Für Worte des Trostes war kein Raum. Aber Yael und Charly, so stellte sich schon wenig später heraus, waren nicht die einzigen Gründe zur Betroffenheit. Es gab da ja auch noch den »Agenten in geheimer Mission« …
»Der Kontakt zu ihm ist abgerissen«, sagte Sesha auf Clouds Anfrage hin. »Jarvis meldet sich nicht – der letzte Kontakt mit ihm kam zustande, bevor er ins Hausinnere trat. Das ist jetzt eine Viertelstunde her. Alle anderen, die sich in ihre Gebäude zurückzogen, sind nach der bekannten Minute wieder herausgetreten. Nur Jarvis nicht. Von ihm fehlt jede Spur.« »Ich war gleich dagegen«, sagte Scobee. »Viel zu gefährlich, solange wir nicht wissen, was im Dorf vor sich geht.« »Jarvis wollte es versuchen. Es war seine Entscheidung.« »Du bist der Commander.« »Danke, dass du mich daran erinnerst.« »Ich bin in Sorge.« »Denkst du, ich nicht?« »Wir hätten diesen Charly statt nach Angk ins Dorf schicken sollen. Das wäre ungefährlicher gewesen – übrigens auch für Yael.« »Woher willst du das so genau wissen?« Sie schwieg. »Ich warte noch ein paar Minuten«, sagte Cloud. »Und dann?« »Werde ich mir die Dorfbewohner vorknöpfen.« »Harte Bandagen?«, fragte Scobee eher spöttisch. »Harte Bandagen«, bestätigte Cloud todernst. »Darauf kannst du Gift nehmen …«
Jarvis bewegte sich definitiv über die Oberfläche eines Planeten – es sei denn die technischen Mittel seines Körpers versagten auf ganzer Linie, ließen ihn im Stich. Seine Sensoren tasteten in endlose Weite, wenn er die Fühler nach oben richtete, zum Himmel. Es war egal, ob er glaubte, lediglich durch eine Tür ins Innere eines Gebäudes getreten zu sein, die Fakten sprachen eine eindeutige Sprache: Nein, er war nicht mehr auf der RUBIKON. Die Umgebung, durch die er sich bewegte, lag auf dem Umläufer einer Sonne, die von dort oben zu ihm herabbrannte, Millionen Kilometer entfernt. Irgendwie – auch dafür sprachen Indizien – war er mit einem ein-
zigen Schritt nach Angk I, II … oder welche der sieben Welten auch immer gelangt. Sechs, korrigierte er sich. Allenfalls sechs kommen infrage. Portas schied aus. Auf Portas herrschten Bedingungen, die sich mit dem, was er um sich herum wahrnahm, nicht einmal grob deckten. Dafür deckte sich seine Beobachtung mit dem, was Aylea ihm berichtet hatte. Aber war das möglich? War es denkbar, dass das von den angkstämmigen Neucrewmitgliedern errichtete »Dorf« Zugänge in ihre Heimat enthielt? Nein, entschied er. Und warum nicht?, meldete sich sofort die kritische Stimme seines Verstands zu Wort. Hey, wir haben es hier mit Bractonenzauber zu tun. Die Burschen können viel, wenn nicht sogar alles – bis auf dorthin heimkehren vielleicht, woher sie einst kamen. In dieses unvorstellbare Kontinuum, in das unser Universum eingebettet zu sein scheint. Wobei … vielleicht ist Kargor mit seiner Perle inzwischen dort. Vielleicht ist es ihm gelungen, Portas als Sprungbrett zurück ins andere Kontinuum zu nutzen. Was über Jahrmilliarden scheiterte, könnte irgendwann eben doch gelingen – vielleicht sogar mit tatkräftiger Unterstützung von »drüben« … Vergeblich versuchte er, die Tür zu orten, die für Aylea offenbar immer erkennbar geblieben war. Er scheiterte. Noch nicht übermäßig besorgt, entschied er sich zu einem Test. Obwohl sich so manches in ihm sträubte, ausgerechnet diesen Weg zu versuchen. Er funkte auf allen geläufigen Frequenzen – mit seinem Kunstkörper kein Problem. Es war ein simpler Spruch, der wieder und immer wieder die in das Nanokonstrukt integrierten Antennen verließ: Bractonen! Wenn ihr mich hören könnt, nehmt Kontakt zu mir auf! Ich gehöre zur Besatzung der RUBIKON. Und ich befinde mich … möglicherweise … auf einem eurer Planeten des Angksystems! Falls ich mich irre, könnte dieser Ruf auch die RUBIKON selbst erreichen. Ich hätte nichts dagegen. Hilfreich für mich wäre schon, wenn sich überhaupt jemand melden würde … Während er sendete, blieb er nicht wie erstarrt stehen, sondern be-
wegte sich in die Richtung, die schon Aylea nach eigenem Bekunden genommen hatte. Weg von der Küste, Richtung Wald. Und schon bald erreichte er die sonderbare Lichtung, die Sesha ihnen erst jüngst in der Holosäule präsentiert hatte. Sie war menschenverlassen, aber nicht verwaist. Skulpturen ragten auf, wie zufällig hingepflanzt – genau wie auf den Aufnahmen, die die Bord-KI für sie aufbereitet hatte. Jarvis trat langsam näher. Es verwirrte ihn, hier niemanden anzutreffen. Bei Aylea war es anders gewesen. Sie hatte hier die angkgeborenen Besatzungsmitglieder vorgefunden, wie in eine Meditation vertieft. So hatte das Mädchen es geschildert. Die Skulpturen stellten keine Lebewesen dar, zumindest keine als solche erkennbare, sondern waren einfach nur abstrakte Formen. Das bractonische Verständnis von Kunst? Oder das der Menschen, die die Angkwelten der Gegenwart bewohnten, mit den ERBAUERN gemeinsam? Jarvis ging zu einer Plastik, die wie die ineinander verschlungenen Tentakel von Tiefseebewohnern aussahen. Das Werk erreichte an seiner höchsten Stelle sieben Meter bei einem ungefähren Durchmesser von vier Metern. Das Material, aus dem es gefertigt war, kam Jarvis weder rein optisch bekannt vor, noch vermochten seine Sensoren es zu analysieren. Er trat noch ein Stück näher, hob die nur vermeintlich organische Hand und berührte damit eine beliebige Stelle der Skulptur … … berührte damit eine beliebige … … berührte damit … … be …
Eine hochnotpeinliche Befragung … Cloud kam sich vor wie ein Inquisitor bei mittelalterlichen Hexenprozessen. Diese Vorgehensweise war ihm peinlich; er hätte nie geglaubt, dass er einmal so weit gehen musste. Aber die angkstämmige Besatzung hatte mehr als nur Argwohn erregt. Ihr Verhalten war zu einem Risiko für das gesamte Schiff
und dessen ursprüngliche Stammcrew geworden. Und beinahe noch peinlicher als das beschämende Gefühl, gegen die eigenen Leute vorgehen zu müssen, war die Art und Weise, wie die Betroffenen darauf reagierten: Das plötzliche Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wurde, beschämte und enttäuschte sie. Zumindest vermittelten sie diesen Eindruck nachhaltig, und wenn dies Teil ihres bislang unergründeten Plans war, dann beherrschten sie ihr schauspielerisches Vermögen jedenfalls virtuos. Zusammen mit Scobee, Algorian und einer kleinen Armee von Spinnenbots war Cloud warnungslos im »Dorf« erschienen. Die Bots verteilten sich in Windeseile zwischen den Häusern, in allen Straßen und Gassen und fungierten als Clouds Sprachrohr. Aus ihren Lautsprechern wurde zeitgleich das übertragen, was Cloud der Menge, die sich rasch um ihn scharte, mitzuteilen hatte. Mit knappen Worten umriss er den Angkmenschen die Situation – er verschwieg nicht, dass Jarvis mit seiner ausdrücklichen Weisung in eines der Häuser eingedrungen war … und wies dabei auf das betreffende Gebäude, vor dem er Aufstellung genommen hatte. Die Bewohner sahen ihn befremdet an. Aber Cloud blieb seiner angekündigten Linie treu, blieb hart. Schon Ayleas Erlebnis hatte alle Alarmglocken bei ihm schrillen lassen, aber dass Jarvis nun schon eine geschlagene Stunde verschollen war, obwohl dies völlig gegen die Norm des Mysteriums war, das er hatte ergründen wollen, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Aktion, die er nun leitete, hätte er auch für jedes andere Besatzungsmitglied, das unter vergleichbar haarsträubenden Begleiterscheinungen als vermisst gegolten hätte, durchgezogen – dass es um Jarvis ging, machte es nur um noch eine Nuance prekärer. »Ich weiß, dass ich euch allen damit Misstrauen entgegenbringe und demonstriere, aber die Umstände von Jarvis' Verschwinden sind zu obskur, um es auf die leichte Schulter zu nehmen. Eine Stunde?, werden sich viele fragen. Eine Stunde ist er verschwunden, und es wird so ein Zinnober veranstaltet? Das mag überzogen klingen, ist es aber in Anbetracht der Situation, wie sie sich sonst darstellt, nicht. Die Bots werden euch jetzt via Holoprojektionen vorführen, was
Sesha seit Tagen aufzeichnet, aber erst aktuell erkannt und bewertet wurde. Es zeigt euch alle hier, wie ihr da steht und mir zuhört – wie ihr einmal am Tag gemeinsam, wie auf ein geheimes Kommando hin, in den Häusern verschwindet, die ihr gebaut habt … und ebenso gemeinsam wieder nach ungefähr einer Minute ins Freie tretet. Aylea – ihr kennt sie zumindest dem Namen nach – war kürzlich mit Cy – auch er ist sicher kein Unbekannter – hier und folgte euch bei einer solchen Aktion. Sie erzählte hinterher, was sie erlebte … und dass die Zeit in euren Häusern, wenn nicht alles nur einer Verwirrung der Sinne zugeschrieben werden muss, eventuell langsamer abläuft als außerhalb. Das klingt verrückt?« Er ließ seinen Blick über die Versammelten streifen. »O ja, das tut es. Und verrückt ist auch, dass hinter den Türen eurer Quartiere offenbar eine Angkwelt wartet – jedenfalls für die Dauer, die ihr dem unhörbaren Ruf Folge leistet. Danach sind eure Quartiere wieder eure Quartiere. – Soweit die Fakten, wie sie mir momentan bekannt sind. Als Commander dieses Schiffes sehe ich mich nach Jarvis einstündigem Verschwinden nunmehr genötigt, diese Befragung – manche werden sagen: dieses Verhör – zu vollziehen. Jeder einzelne Neuling an Bord … ihr wisst, was ich damit meine … muss sich meinen, Scobees, Algorians oder den Fragen der Bots stellen. Eure Antworten werden zentral von mir und Sesha ausgewertet. Und beginnen werde ich mit den Bewohnern des Hauses, in dem Jarvis verschwand. Ach ja, ein kleines Detail noch: Er sah sich hier maskiert um. Er sollte wie einer von euch wirken. Deshalb will ich auch niemanden hören, der behauptet, Jarvis sei gar nicht hier gewesen. Sesha?« Die KI wusste, was er von ihr erwartete, es war abgesprochen. Knisternd baute sich ein Hologramm auf. Es zeigte die Körpermaske, derer sich Jarvis bedient hatte: einen freundlich dreinblickenden jungen Mann mit strohblondem langem Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Erste Rufe, die Unverständnis dokumentierten, wurden laut. Als das Geschrei immer lauter wurde, winkte Cloud einen der Störer zu sich heran. Es war eine Frau Mitte Dreißig. »Was ist? Ich habe nicht verstanden, was du einwirfst? Wenn alle durcheinander schreien
…« Die Frau stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Allmählich wird mir das hier zu bunt – das ist los! Warum werden wir behandelt wie … wie Verbrecher? Und warum diese Lüge?« »Lüge?«, fragte Cloud. Algorian stieß ihn an und raunte ihm zu. »Ich weiß, was sie meint. Ich lese es nicht nur in ihren Gedanken, sondern auch in denen anderer, die Jarvis gesehen haben, als er hier herumlief – vor seinem Verschwinden.« Cloud forderte die Frau auf, sich zu erklären. Sie zögerte, weil sie offenbar eine neue Schikane witterte, doch dann presste sie ärgerlich hervor: »Er war mit Sicherheit nicht maskiert, was soll dieses Bild? Er bewegte sich so zwischen uns, wie wir ihn seit unserer Ankunft an Bord kennen.« »Und wie?«, fragte Cloud. »In seinem Kunstkörper.« »Er bedient sich schon seit einer Weile fast permanent der ›kosmetischen Möglichkeiten‹, die Kargor ihm eröffnet hat – in seinem Kunstkörper ist er so gut wie nie zu sehen. Die meiste Zeit täuscht er sein ehemaliges Aussehen vor, das –« »Warum lügst du uns an?« Die Augen der Frau blitzten in heller Wut. Cloud blickte zu Algorian, der ihm bedeutete, dass sie das, was sie vorbrachte, auch genauso dachte. Sie hatte Jarvis ohne jede Maske, ohne Hightechschminke gesehen. Was nur bedeuten konnte, dass sie die Täuschung durchschaute beziehungsweise immun dagegen war. Sie – und offenbar noch viele andere Angkmenschen hier an Bord. Alle? Cloud war kurz sprachlos. Algorian bestätigte seinen Verdacht wispernd. Kurz darauf löste sich eine Gestalt aus der Menge und kam heran. Kein Mensch, sondern ein Sternling. »Ich heiße Varx«, stellte er sich vor. Hinter ihm bewegte sich ein igelartiges Tier von der Größe eines Hundes. »Und das ist Sahbu, ein Venloc.« Cloud musste an sich halten, um nicht grob zu werden. »Ich wuss-
te nicht, dass Haustiere mit an Bord gekommen sind, als ihr –« »Mir war nicht bekannt, dass es verboten ist. Dort, wo ich mich in die Energiestraße einloggte, um an Bord geschickt zu werden, erhob niemand Einspruch.« Cloud befand, dass es momentan dringlichere Probleme gab und fragte: »Was willst du? Kannst du etwas zur Aufklärung beitragen?« »Ich sprach mit Jarvis.« »Und du hast ihn auch … erkannt?« »Natürlich.« »Hat er es gemerkt?« »Wir sprachen nicht darüber.« »Und dann?« »Musste ich Sahbu hinterher. Er ist schlecht erzogen. Er läuft ständig weg, sodass ich ihn immer wieder suchen muss.« »Du weißt, wen ich suche.« »Wir alle hier«, sagte Varx im Brustton der Überzeugung, »bedauern, was du uns geschildert hast. Aber wir sind an Jarvis' Verschwinden absolut schuldlos. Wir wissen nicht einmal … Ich korrigiere mich: Wir wussten nicht einmal, dass wir das, was du uns vorwirfst, tun – dieses einminütige kollektive Verschwinden – bis du es uns vorgeführt hast.« Er sagte es in einer Art und Weise, die Cloud ihm eigentlich abkaufte. Andererseits war es beinahe unmöglich, dass hier alle ihre Hände zu Recht in Unschuld wuschen. Viel größer war die Wahrscheinlichkeit eines gezielten Betrugs – den, darüber war er sich im Klaren, dann aber sämtliche Angkgeborenen gemeinschaftlich begehen mussten …
8. Die RUBIKON hatte sich verändert, war zu einem düsteren Totenschiff verkommen. Die Stille an Bord hatte etwas Bleiernes, so als hielten selbst die Maschinen den Atem an. Langsam durchschritt er den Gang. Überall war Licht, aber es hatte sich seiner Stimmung angepasst, war gedämpft, beinahe pervertiert, zumindest empfand er es so. Wo sind sie alle hin?, dachte er. Und wieso bin ich noch da? Wer hatte ihm gesagt, dass kein Mensch und kein Außerirdischer mehr an Bord war? Warum glaubte er das zu wissen und suchte dennoch wie besessen nach dem Gegenbeweis? »Sesha?«, rief er verzweifelt. Aber die KI schwieg, als wäre auch sie gegangen – oder gestorben. Er erreichte eine Gangbiegung und sah vor sich den Eingang zur Zentrale. Das Schiff hatte aufgehört zu atmen, und die Luft an Bord schien sich in ein geleeartiges Medium verwandelt zu haben, durch das er sich fast schwimmend bewegen musste. Es trübte seinen Blick, aber es konnte ihn nicht aufhalten. Er brauchte keine Luft. Er lebte schon lange nicht mehr. Das Totenschiff war wie für ihn gemacht. Früher war er einsam unter den Lebenden gewesen. Jetzt fühlte er sich allein – allein (und im Stich!) gelassen. Wohin waren sie gegangen? Und wo kam er jetzt gerade her? »Sesha!« Nichts. Nur die stumme Präsenz gestohlener Technik. (Gestohlen? Er hatte es nie so empfunden, aber … vielleicht war es tatsächlich so, die Erbauer der RUBIKON waren keine Menschen, und es waren auch nicht Menschen gewesen, die sie in der Ewigen Stätte des Aqua kubus »hinterlegt« hatten. Foronen hatten dieses rochenförmige Meisterwerk erschaffen. Menschen hatten es ihnen nur … da war es, das verstörende Wort … GESTOHLEN.) In einem anderen Dasein hatte er Argumente gehabt, die die Crew im
Gerichtsfall entlastet hätten. Jetzt fielen sie ihm nicht ein. Aber war das noch wichtig? Die RUBIKON war wieder zu haben. Für jeden, der zufällig ihre Bahn kreuzte. Führungslos trieb sie im All. Alle waren gegangen oder tot. Nur warum? Und wer mochte sie getötet haben? Sie sich selbst? Die surreale Stimmung nahm Überhand. Ein Schritt über dreißig Meter – und er stand in der Zentrale. Leer. Verwaist. Die Sarkophagsitze geschlossen. Geschlossen? Alle? Hoffnung keimte in ihm auf. Ein weiterer Schritt – und er stand auf dem Kommandopodest. Keine Holosäule spannte sich vom Boden bis zur Decke. Kein Bildschirm, keine Konsole, keine Anzeige arbeitete. Düsternis lag auch hier wie dunkler, feiner Nebel über allem. Die Wände waren kahl und kalt – Er stutzte. Zum ersten Mal fand er eine Veränderung, die seine Blicke (die aus Milliarden winziger Augen) anzog und ihm klar machte, dass vielleicht doch nicht alle … gegangen waren. Gestorben ja – aber nicht gegangen … Die stählernen Wände waren voller Gesichter und anderer Umrisse. Abdrücke von Gestalten beulten sie aus, so als drückten die Betreffenden von innen dagegen. Mit immenser Kraft, aber nicht stark genug, um aus der Wand hervorbrechen zu können. Mancherorts bewegte sich der Stahl jedoch, als würde genau das versucht … In diesem Augenblick glitten die Gehäuseabdeckungen der Sarkophagsitze zurück. Sie waren alle besetzt. Mit John Cloud. Mit Scobee. Mit Jelto. Algorian. Aylea.
Cy. Nur der siebte war noch halb verschlossen, öffnete sich zeitlupenartig zäh. Die Freunde starrten ihn aus blicklosen Augen an. Augen, die zugleich Fenster in ein fernes Fand waren. Eine Landschaft voller Skulpturen … Er zuckte zurück. Tot. Sie waren alle – Endlich war auch der letzte Sitz offen. In ihm lag er selbst. Und lachte. Und sprang heraus wie ein riesiger, dämonischer Kistenteufel. Sprang ihn an und schleuderte ihn zu Boden … … den er nie erreichte … … nie erreichte … … reichte …
Jarvis kam zu sich. Alles war anders. Verändert. Vertraut und doch … fremd. Falsch! Falsch? Er hatte Mühe, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden. Der Raum war gemütlich eingerichtet. Ein Zimmer in einer Wohnung, einem Haus … Langsam drehte er sich um seine eigene Achse. Von draußen drang Lärm zu ihm herein. Stimmengewirr. Darunter eine Stimme, die alle dominierte und die er kannte, gut kannte, nur die Schärfe war ungewohnt. So hatte er diesen Mann nur in Extremsituationen sprechen gehört. Extremsituationen. Das war es, was er gerade hinter sich hatte. Vorsichtig ging er zur Tür, die sich widerstandslos öffnete.
Draußen war die Illusion eines Planeten. Einer warm vom Himmel herabscheinenden Sonne. Und reale Gestalten. Angkmenschen. Die Gefährten vieler Abenteuer. John … Alle Blicke richteten sich auf ihn. Blicke voller Überraschung, Erleichterung … und Unverständnis. Jarvis sammelte und ordnete seine aufgerührten Gedanken. In diesem Moment wurde ihm klar – anhand der Blicke und sonstigen Reaktionen der Versammelten –, dass dies alles seinetwegen passierte. Betroffen stellte er sich den Fragen, antwortete, so gut es ging, während die VISION immer noch wie ein fernes Echo in ihm widerhallte. Die Vision einer toten und verlassenen RUBIKON. Mit Gesichtern, die in Wänden spukten, sich quälten und bemühten, um dem stählernen Grab zu entkommen …
»Das hast du erlebt? Oder … geträumt?«, fragte Scobee. »Vielleicht war es ein Traum«, sagte Jarvis. Sie hatten sich aus dem Dorf zurückgezogen und waren in die Zentrale gegangen, obwohl den ehemaligen GenTec gerade hier ein beklemmendes Gefühl – Schatten von Traum oder Erinnerung – überkam. »Aber es fühlte sich an wie die Wirklichkeit.« Cloud war immer noch gefangen in der Schilderung des Freundes. Eine entvölkerte, wie in Stasis versetzte RUBIKON. Dazu gespenstische Bewegungen in den Wänden, als wären Menschen darin gefangen, die verzweifelt nach einem Ausweg suchten … »Ich habe nicht vor, das, was du ›gesehen‹ hast, mit ein paar halbgaren Erklärungsversuchen abzutun«, sagt er. »Irgendetwas geht im ›Dorf‹ der Neubesatzung vor. Es hat den Anschein, als hätte uns Kargor mit dem eigentlich willkommenen Crewzuwachs ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Nur – warum sollte er uns schaden wollen? Waren wir nicht zuletzt wenigstens soweit, dass wir einander
gegenseitig vertrauen konnten?« »Konnten schon«, knurrte Jarvis. »Aber wer sagt uns, dass die Bractonen das auch wollen? Vielleicht ist es von Anfang bis Ende erstunken und erlogen, dass sie einzig und allein ein friedliches Leben in der Zurückgezogenheit ihres Reiches suchen. Vielleicht waren uns Kargor und die Fraktion, die mit der Tridentischen Kugel verschwunden sind, ja tatsächlich gewogen. Aber das muss nicht für diejenigen ERBAUER gelten, die sich entschieden, im Angksystem zu bleiben. Sie könnten insgesamt Böses im Schilde führen. Und in dem Zusammenhang wäre es ein Klacks, Menschen, die zeitlebens unter ihrer Fuchtel heranwuchsen, so zu präparieren, dass sie bei erstbester Gelegenheit die Kontrolle über die RUBIKON an sich reißen könnten.« Cloud schüttelte entschieden den Kopf, verwarf die Idee des Freundes. »Du weißt, warum das jeglicher Wahrscheinlichkeit entbehrt.« Jarvis schüttelte den Kopf. »Sag's mir.« »Weil sie das alles doch auch viel simpler hätten haben können«, mischte sich Scobee mit genervt klingender Stimme ein. »Hey, wir alle waren unter ihrer Fuchtel. Ein Fingerschnipsen … Quatsch: ein Gedanke von ihnen hätte genügt, uns platt zu machen. Sie hatten und haben die Macht dazu. Die RUBIKON könnte ihnen nicht eine Minute Widerstand leisten. Sie hätten uns zu jeder gewünschten Zeit ausschalten können, es hätte ja nicht gleich umbringen sein müssen. Aber wenn es ihnen um das Schiff gegangen wäre … Grundgütiger, was sollte ihnen daran liegen? Sie haben Perlen, die das X-fache an Größe und Schlagkraft besitzen. Kein Bractone braucht die RUBIKON, wenn er Allmachtsträume hat!« Das Schweigen, das ihrem Statement folgte, war beredt genug. Natürlich hatte sie recht. Natürlich war das, was sie hier taten, nur ein von Anfang an zum Scheitern verurteilter Versuch, aus den Geschehnissen im Dorf und der dort auf Jarvis hereingestürzten Vision schlau zu werden. »Was wir tun könnten, wäre, ein paar Bots in diese seltsame Sphäre zu schicken, die sich in bestimmten Abständen in den Häusern
auftut. Vielleicht wären sie in der Lage …«, setzte Scobee an. »Was sollten Bots schaffen, was ich nicht vermochte?«, warf Jarvis eisig ein. »Meine Möglichkeiten dürften deutlich größer sein als die dieser primitiven Arbeitsroboter!« »Vielleicht ist gerade ihr – ich nenn es mal so – robotischer Stumpfsinn der Schlüssel, der das Geheimnis lüften könnte«, konterte Scobee. »Du bist, Nanokörper hin oder her, immer noch ein Mensch. Genau wie die Angkgeborenen. Folglich warst und bist du offenbar anfällig für das, was hinter den Türen des Dorfes geschieht. Reine Maschinen, die lediglich einem fest umrissenen Programm folgen, könnten alles viel nüchterner und neutraler beobachten und bewerten …« »Einen Versuch wäre es wert, oder?«, wandte sich Cloud an Jarvis. »Von mir aus.« »Aber warten wir noch die Transition zum Angksystem ab. Konzentrieren wir uns voll darauf – bevor wir uns mit – durchaus wichtigen – anderen Dingen beschäftigen«, sagte Cloud. »Hast du noch mal was von Yael gehört?«, fragte Scobee nickend. »Charly betreffend?« »Mein letzter Stand, bevor wir ins Dorf gingen, war der, dass Charly nach wie vor vermisst wird.« Scobee nickte. »Dann gibt es ja einige Punkte, die wir nach unserer Ankunft mit den Bractonen abarbeiten müssen. Das Phänomen in Samragh. Das Phänomen im ›Dorf‹. Und Charly als Phänomen an sich, dessen Schicksal nicht nur Yael interessiert, sondern auch mich.« »Dito«, sagte Cloud. »Sesha?« Anders als in Jarvis' Vision meldete die KI sich auf Anhieb. »Commander?« »Sind wir transitionsbereit?« »Bereit, Commander.« Ein letzter Blick in die Holosäule, deren Wiedergabe sich gleich drastisch verändern würde. »Na dann – Sprung.«
9. Der Schmetterling war menschengroß und wahrscheinlich Milliarden Jahre alt – zumindest die Quintessenz dessen, was ihn beseelte. Cloud fühlte einen Hauch von Unendlichkeit, als er dem Wesen, das sich Bractone nannte, ins Gesicht schaute. Es war nur eine Bildübertragung, aber sie war so lebensecht und überlebensgroß, dass er sich für einen Moment ganz verloren fühlte unter den Blicken des uralten Schöpferwesens. Doch dann überwand er diese Anwandlung. Es war nicht die erste Begegnung mit einem ERBAUER, und es half nichts, sich unbedeutender zu machen, als man es tatsächlich war. Die Bractonen mochten in ihrem angestammten Kontinuum gottgleichen Status besitzen – aber hier, in den Niederungen des von ihnen geschaffenen Universums, waren auch ihrer Macht Grenzen gesetzt. Schlagendes Beispiel dafür war, dass sie ebenso verzweifelt wie vergeblich seit Äonen versuchten, in ihre Heimatsphäre zurückzugelangen. »Ich bin Naldor, der aktuelle Sprecher des Neuen Zirkels. Ihr sucht den Kontakt, wir fingen euren Funkspruch auf. Wir hatten auch noch nicht so schnell zurückerwartet. Gab es Schwierigkeiten, Probleme?« Der Gesang des Schmetterlings berührte verschüttet geglaubte Empfindungen; ein simpler Satz, eine simple Frage war in der Lage, einen Menschen, der die melodiöse Stimme hörte, grundlos zu Tränen zu rühren. Woher diese Affinität zur Stimme eines Überwesens kam, wusste Cloud nicht, und wahrscheinlich wussten es nicht einmal die ERBAUER – oder interessierten sich zumindest nicht dafür. »Probleme … so könnte man es nennen«, sagte Cloud. Er war heilfroh, dass die Bractonen sie nicht hatten schmoren lassen. Im Prinzip ein gutes Zeichen, das dafür sprach, dass sie die Menschen ernst nahmen – nicht nur die auf den Angkwelten lebenden und gebore-
nen. »Aber wenn, dann sind es schwerwiegende Probleme für weite Teile des milchstraßennahen Gebiets.« »Kosmische Gefahren?« »Das trifft es ebenso gut – oder schlecht. Lasst uns zusammen reden. Ich habe eine große Datenfülle mitgebracht, die ich euch zu sichten bitte – noch vor der von mir erbetenen Zusammenkunft.« »Du kannst sie uns jederzeit senden, John Cloud von der RUBIKON, aber es wird keine sonderlich lange Zeit beanspruchen, Einblick in die Daten zu nehmen – ihr könnt genauso gut sofort kommen und alles Relevante mitbringen. Wäre das in eurem Sinne?« Cloud spürte erneut das tiefgreifende Verlangen, dem Tränendruck nachzugeben, der sich in ihm aufbaute. Aber er wehrte sich dagegen. Er weinte, wenn es offensichtliche Gründe dafür gab – es allein auf den Klang einer extraterrestrischen Stimme hin zu tun, erschien ihm mehr als übertrieben. Aus den Augenwinkeln sah er zu Scobee, deren Mienenspiel verriet, dass sie ebenfalls gegen die Gefühlsduselei ankämpfte. Das wiederum half ihm, standhaft zu bleiben. »Es sind immense Datenmengen«, erlaubte er sich den Hinweis an Naldor. »Wir haben immense Geisteskapazitäten«, erwiderte der ERBAUER beinahe spöttisch. »Gut«, sagte Cloud. »Dann bringen wir die vakanten Daten mit. Wo treffen wir uns?« »Ich werde veranlassen, dass sich eine Energiestraße eurem Schiff so weit nähert, dass sie für euch begehbar wird.« »Ihr – werdet uns dabei helfen müssen. Wie du sicher weißt …« »Es ist ein automatischer Vorgang. Die Straße wird auf diejenigen programmiert, die sie benutzen sollen – der Rest geschieht von allein. Wen willst du mitbringen zu uns?« Cloud hatte sich schon vor der Kontaktaufnahme für Jarvis und Scobee entschieden. Mit Jarvis hatte er noch einmal eingehend Rücksprache genommen, aber offenbar fühlte der Freund sich wieder stabil genug, ihn zu den Bractonen zu begleiten. Zumindest wollte er es sich unter keinen Umständen nehmen lassen.
Cloud benannte Naldor sein Team. »Drei Personen«, schloss er. »Wann werden wir abgeholt?« »Wann seid ihr bereit?« »In fünf Minuten unserer Zeit.« »Dann bis in fünf Minuten.« Das Abbild des Bractonen in der Holosäule verblasste. Cloud befahl, die Daten, die sie den ERBAUERN präsentieren wollten, in seine Nanospeichermodule überspielen zu lassen. Danach erteilte er dem während seiner Abwesenheit stellvertretenden Kommandanten noch ein paar Instruktionen – Cy. »Ich?«, staunte der Aurige und raschelte, als würde eine Böe durch seine herbstbraunen Blätter fahren. »Traust du es dir nicht zu?«, fragte Cloud. »D-doch.« »Na dann … Sesha wird dir unter die Zweige greifen, falls es notwendig werden sollte. Sei also ganz beruhigt.« Sekundengenau schlängelte sich der RUBIKON eine der Energielinien entgegen, die das Angksystem durchwoben. Das Einsatztrio fühlte sich von einer gepackt und eingesogen … und schon im nächsten Moment jagten sie mit Lichtgeschwindigkeit – oder noch schneller? – durch das Straßennetz. Das nächste, was Cloud sah, hörte und spürte, lag schon nicht mehr auf der RUBIKON, sondern auf Angk I, Gismo, der Steuerwelt der Bractonen, von der aus sie sämtliche Planeten auf ihrer gemeinsamen Bahn synchronisierten.
Von hier aus, so hatte Scobee ihnen erzählt, waren vor langer, langer Zeit (Jahrtausenden!) Prosper Mérimée und die anderen Entführten aufgebrochen, um sämtliche Welten des Systems – ausgenommen der Verbotenen Welt, Portas – zu besiedeln und Kargors Order (»Seid fruchtbar und mehret euch!«) Folge zu leisten. Sicher hatte es Widerstand gegen diese Form der Fremdbestimmung und Fremdsteuerung gegeben, aber letztlich hatten die meisten sich gefügt, und so war Kargors irrwitziger Plan gelungen.
Heute »brummte« das Planetennetzwerk vor Leben, erst recht, seit sich auch Millionen – oder waren es Milliarden? – Bractonen dazu gesellt hatten. Daneben gab es noch die Tavner. Und die Mortuas, die Sternlinge, die – Cloud schwirrte der Kopf, als er am Fuße des kobaltblauen Turms, einer Sende- und Empfangsstation für die Reisen im Netz, in die von Düften schwere Luft Gismos trat. Er wusste, dass es Gismo war, weil der Bractone, der ihnen anmutig tänzelnd entgegentrat, sie mit den Worten begrüßte: »Gismo heißt euch willkommen, RUBIKONianer. Wir haben miteinander gesprochen, ich bin Naldor. Darf ich euch ohne viel Aufhebens zum Zirkel bringen? Ich hatte den Eindruck, dass es eilig ist …« Erneut war Cloud angenehm überrascht. Er bedankte sich für den freundlichen Empfang, auch im Namen seiner Begleiter, und folgte Naldor zu einer kreisrunden Schwebeplattform, die kniehoch über dem Boden hing. Nacheinader betraten sie die Plattform, Naldor machte den Anfang. Als Cloud, Scobee und Jarvis ebenfalls ihre Füße darauf gesetzt hatten, nahm sie nicht, wie erwartet, Fahrt auf, sondern strahlte einen Lichtblitz aus, der nur eine Begleiterscheinung des Weitertransports war. Schon einen Atemzug später waren sie in der Stadt, die sie zuvor weit entfernt gesehen hatten. Ein Transmitter hatte sie dorthin versetzt, mitten hinein in den Tagungssaal des Neuen Zirkels, der sich aus einem Dutzend Bractonen zusammensetzte, Naldor mitgerechnet. Die ERBAUER hingen in kokonartigen Gebilden, die ihre empfindlichen Flügel stützten und vor Schaden bewahrten. Ringförmig umgaben die zwölf Kokons – einer war zunächst leer, doch in ihn flog sogleich Naldor – einen wie mit Moos bedeckten Bereich, auf dem Cloud und seine Begleiter materialisiert waren. Der Kreis hatte einen ungefähren Durchmesser von sieben Metern. Und darüber hing das Angksystem in absolut real wirkender Darstellung. Schon beim ersten Anblick wusste Cloud, dass es das Angksystem war – wie auch immer die Bractonen dieses Kunststück bewerkstelligen mochten –, kein simples Bild davon, auch keine Simulation.
Und so standen sie da, unter Sternen und doch im Innern eines Gebäudes, wie es den Bractonen zur Ehre gereichte. »Fangt an. Was führt euch zu uns? Worauf seid ihr gestoßen?«, erklang Naldors Gesang aus seinem silbernen Kokon heraus. »Eine Frage vorweg, wenn ihr erlaubt«, sagte Cloud. »Sprich.« »Wurdet ihr nicht auf unsere Ankunft … vorbereitet?« »Hattet ihr uns über Funk zu erreichen versucht?« »Nein«, erwiderte Cloud. »Wir versuchten es aufgrund zu großer Distanz mit einer eher unkonventionellen Methode.« »Genauer bitte!« Cloud schilderte, was sie mit Yael – und dessen Boten Charly – probiert hatten … und dass Charly seither als vermisst galt. Naldor besprach sich kurz mit seinen Zirkelkollegen. Der Gesang wurde so fein und Sphärenhaft, dass er völlig unverständlich war. Wahrscheinlich vermochte kein Wesen, das nicht bractonischer Herkunft war, ihn zu entschlüsseln. »Wir müssen uns entschuldigen«, sang Naldor schließlich wieder klar verständlich. »Wofür?« Eine verschwommene Befürchtung stieg in Cloud auf. »Wir hielten es für einen Angriff. Unsere Welten sind – auch wenn nicht für jeden ersichtlich – auf unterschiedlichste Weise geschützt. Auch gegen Metaattacken.« »Metaattacken?«, fragte Jarvis. »Die gute Nachricht ist, euer Gesandter existiert noch. Die schlechte«, fuhr Naldor im bedauernden Mollton fort, »es gibt keine Möglichkeit, ihn von dort, wo er ist, jemals wieder zurückzuholen. Er wird bis in alle Ewigkeit Bestandteil der Nonzone bleiben. Es … tut uns leid.«
»Was ist die Nonzone?« Cloud versuchte sich seine Erschütterung nicht anmerken zu lassen. Auch wenn Charly kein Wesen aus Fleisch und Blut war, so hörte sich das Wenige, was Naldor dazu zu sagen hatte, doch unendlich grausam für jedes Individuum an.
»Eine Art Schild, der um das Angksystem liegt. Unsichtbar. Mit euren Instrumenten nicht ortbar. Und er wird auch nicht von irgendwelchen Energien projiziert. Er ist. Sein Vorhandensein wurde von uns in den Gesetzmäßigkeiten dieses Kosmos verankert und auf unser Reich beschränkt. Wir sind hier absolut sicher vor jeglichen Attacken, die sich sogenannter ›übersinnlicher‹ oder ›metaphysischer‹ Mittel bedienen. Der Versuch eines Teleporters beispielsweise, sich von außerhalb des Systems auf einen der Planeten zu versetzen, würde ein ähnliches Ergebnis zeitigen wie das, was eurem Charly zustieß. Er wäre für alle Zeit gefangen.« »Aber was ist die Nonzone? Woraus besteht sie? Wenn etwas hinein kann, muss es doch auch – irgendwie – wieder herausgeholt werden können.« »Die Vorstellung eines Bewohners der niederen Ebenen.« Es klang nicht einmal abfällig, sondern wie eine wertfreie Feststellung. »Genau das sind wir, wahrhaftig: Bewohner dieser Ebene, dieses Universums. Aber das ist okay, für uns zumindest. Ihr Bractonen scheint mit eurem Aufenthalt in den ›Niederungen‹ mehr Probleme zu haben. – Aber lassen wir das. Meine Frage lautet: Gibt es wirklich keinen Weg, Charly zurückzuholen? Ich betone noch einmal: Es war kein Angriff. Er wurde von uns als Bote gesandt. Es war meine Idee – ich wusste ja nichts von irgendwelchen Absicherungen.« »Wir wären Narren, hätten wir unsere Zuflucht nicht in jedweder Hinsicht geschützt. Aber zu deiner klaren Frage eine ganz entschiedene und klare Antwort: Nein. Es gibt keinen Weg, wie ich schon sagte. Wir selbst haben keinen Zugriff auf die Nonzone. Sie wurde initiiert, schon vor Jahrmillionen eurer Zeitrechnung. Und sie dient nur einem einzigen Zweck, den ich euch nannte. Sie gefährdet niemanden, der sich lauterer Mittel bedient.« »Hättet ihr … uns das nicht ein bisschen eher sagen können?« »Seid ihr Teleporter?« Cloud dachte an Yael und dessen ungeklärte Versetzung nach Portas. »Ich weiß es nicht. Es gibt da jemanden an Bord, über dessen Palette von Fähigkeiten wir uns nicht restlos klar sind – es ist derselbe,
der Charly zum ›Leben‹ erweckte.« »Sollen wir ihn analysieren?« »Das könntet ihr?« »Natürlich. Soll ich dich analysieren – zur Demonstration?« »Ich glaube nicht, dass mir das bekommen würde …« »Es wäre ohne jedes Risiko.« »Das sagen alle – immer. Und dann …« »Vertrau mir.« Naldors Fühler richteten sich auf Cloud. Zum ersten Mal bemerket dieser, dass sich Ringe entlang der Fühlerstiele befanden. Kristallartige Ringe, die gewiss mehr waren als bloßer Schmuck. Cloud wollte protestieren und sich gegen jeden Eingriff verwahren, aber da »schossen« die Fühlerringe auch schon ihre Strahlen auf ihn ab. Von einem Augenblick auf den anderen war er in Prismenfarben getaucht. Und dann war er wieder wie zuvor. Er hatte weder etwas gespürt noch anderweitig an sich bemerkt. »Das war es bereits«, sagte Naldor. »Ach? Und was weißt du jetzt über mich? Bitte keine schmutzigen Gedanken offenlegen!« Der Scherz verfing nicht. Naldor war absolut humorlos – jedenfalls in diesem Moment. »Du trägst bemerkenswerte Dinge in dir.« »Herz, Lunge, Nieren …?«, flachste Jarvis, der sich bislang erstaunlich zurückgehalten hatte. »Das meine ich nicht. Es sind … Sporen … mit ganz erstaunlichen Fähigkeiten …« Sporen? Cloud war von der Diagnose nicht erfreut – bis ihm dämmerte, was der Bractone meinte: die Protopartikel, die ihm vor langer Zeit im Aquakubus von den Vaaren und deren Helfern implantiert worden waren. Er hatte sie fast vergessen. Sie störten ihn nicht. Aber einen Nutzen hatte er auch noch nicht mit ihnen verbinden können – wie es der ERBAUER andeutete. Scobee gab ihm ein Zeichen und wisperte ihm zu. »Er meint die
Protopartikel …« Ich weiß, signalisierte ihr Cloud. Daraufhin wurde sie energischer: »Vergiss nicht, warum wir eigentlich hier sind. Samragh. Das dortige Phänomen … Es sei denn, du willst Naldor dazu bewegen, dich endgültig von den Souvenirs aus Tovah'Zara zu befreien.« Cloud schüttelte den Kopf. »Auf dein Angebot, Yael betreffend, komme ich vielleicht zurück. Doch jetzt – lasst mich berichten, was wir entdeckten – und was mich höchst besorgt hierher zurückkehren ließ …« Jarvis transferierte die mitgebrachten Daten und machte sie allen Zirkelmitgliedern zugänglich. Sie brauchten nur Sekunden, um die Informationsberge zu sichten. Und plötzlich wurde im Saal alles anders. Wie eine Schockwelle raste die Furcht durch die Kokons und ihre Insassen. Bractonen stöhnten scharf fauchend auf vor Angst – so etwas hatte Cloud bislang weder erlebt noch hatte er es erwartet …
»Ihr wisst etwas – also sagt es uns. Bitte. Euch auf eine Gefahr aufmerksam zu machen, die ihr offenbar zu deuten wisst, sollte uns doch wohl wenigstens mit lückenloser Aufklärung belohnen!« Cloud ließ nicht länger an sich heran, wem er und seine beiden Freunde hier gegenüberstanden. Sich in Ehrfurcht zu ergeben, war nicht seine Natur. Und auch nicht die seiner Begleiter. »Er hat recht – sprecht mit uns«, stieß Scobee ins selbe Horn. »Oder«, fühlte sich als letzter des Trios auch Jarvis bemüßigt, etwas beizusteuern, »habt ihr was zu verbergen?« Cloud warf ihm einen schnellen Blick zu. Er konnte sich denken, dass Jarvis mit seiner Frage auch auf die rätselhaften Vorkommnisse an Bord der RUBIKON im Zusammenhang mit den Angkstämmigen anspielte. Die Ruhe kehrte nicht vollständig in den Zirkel zurück. Aber die Bestürzung, die die erhaltene Datenflut aus den Randregionen der
Großen Magellanschen Wolken ausgelöst hatte, wich ganz allmählich wieder einer erträglichen und handhabbaren Spannung. Erneut war es Naldor als Sprecher des Zirkels, der sich an sie wandte. »Ich bin mir – wir sind uns – nicht sicher, ob ihr wirklich erfahren wollt, was vermutlich hinter eurer Beobachtung steckt.« »Du willst sagen, es ist sooo furchtbar, dass wir uns hinterher flennend in einer Ecke verkriechen?« Er sah sich in dem kreisrunden Saal um. »Wird schwierig werden. Außerdem stecke ich für meinen Teil relativ viel weg, und dasselbe kann ich mit Fug und Recht von meinen Leuten hier sagen.« Er liebte es, flapsige Reden zu schwingen, wenn er sich den Blicken höherer Autoritäten ausgesetzt sah. Und höher als hier ging es kaum. Cloud bekräftigte dies. »Sprecht. Wir haben manches ertragen, und ihr wisst das sehr genau. Und wir haben euch in der ein oder anderen Weise schon helfen können – diese Hilfe bieten wir euch auch jetzt an. Egal wie brisant oder gefährlich die Ursache des entdeckten Phänomens ist. Es geht hier nicht um einzelne Leben. Sollte das, was wir beobachten mussten, fortschreiten, werden davon mit Sicherheit auch bewohnte und bevölkerte Welten erfasst. Und nach allem, was wir gesehen haben, bedeutet das den unbedingten Tod derjenigen, die auf diese Weise ›verschluckt‹ werden. Dort, wo vorher Sterne waren, fanden unsere Sensoren hinterher nichts mehr. Und das meine ich durchaus wörtlich. Nichts ist alles, was blieb. Dagegen ist eure Nonzone vermutlich ein paradiesischer Ort!« Auf die letzte Bemerkung ging Naldor nicht ein. Aber er erklärte in seinem melodischen Sprechgesang: »Geht auf im All. Und schaut, was uns Sorge bereitet. Fürchterliche Sorge.« Einen Atemzug später fanden sich Cloud und seine Begleiter im Weltraum wieder. In einem sternenüberfüllten Weltraum. »Die Milchstraße«, moderierte Naldor, ohne dass er zu sehen war. Cloud konnte sich selbst nicht mehr sehen, ganz zu schweigen von Scobee und Jarvis. »Warte!«, rief er. »Ich wollte noch über einen eigenen Verdacht sprechen, was hinter dem Sternenverlust stecken könnte …«
Inmitten von Sternen zu stehen, jedoch ohne den Atem der Kälte, die zerreißende Kraft des Vakuums oder die Winde naher Sonnen zu spüren, weiteratmen zu können, war schon ein seltsames Gefühl. Die Illusion war perfekt. »Sprich.« Cloud schluckte. Sein Körpergefühl war noch vorhanden. Er merkte, wie schnell sein Herz schlug, wie trocken sein Rachen geworden war. Mühsam konzentrierte er sich und legte seine Vermutung dar, dass die Kräfte, die in der Großen Magellanschen Wolke zur Entfaltung gekommen waren, etwas mit den Vorkommnissen auf der Anomaliewelt zu tun haben könnten – wo man Sobek gefunden hatte. Er lieferte eine knappe, aber möglichst präzise Beschreibung des dortigen planetaren Phänomens, auf das sie auch schon anderenorts gestoßen waren. Die Erwähnung der fremden Hightech, mit der Sobek offenbar präpariert gewesen war, sparte er ebenfalls nicht aus. Danach wisperte es zwischen den Sternen. Der Zirkel beriet sich. Schließlich meldete sich Naldor. »Zum jetzigen Moment können wir deine These weder widerlegen noch untermauern. Lass uns deshalb unsere These behandeln. Sie wird euch schockieren, seid darauf gefasst.« »Schon gut«, knurrte Jarvis von irgendwoher. »Fang endlich an. Mir knurrt schon der Magen.« Das war eine typische Jarvis-Übertreibung. Beziehungsweise seine Art mit den eigenen Handicaps umzugehen. Die Bractonen konnte er damit nicht aus der Reserve locken. Als Naldor fortfuhr, war klar, dass er dies auch ohne Einwurf getan hätte. Die Sterne nahmen Fahrt auf … nein, Cloud (und sicher auch die anderen Beteiligten) taten dies. Zumindest waren sie die Fixpunkte, die sich tiefer in das Sternengewimmel vorwagten. Rasend schnell. Und dann tauchte das Monstrum auf, das Cloud schon erwartet hatte. Die Region, in der sie sich bewegten, war einfach unverwechselbar. Das Zentrumsgebiet.
Und vor ihnen … das Super Black Hole, hinter dessen Ereignishorizont sie bereits vorgedrungen waren. Wo die CHARDHIN-Perle lag. Oder gelegen hatte. Bis Kargor sie mobil gemacht und damit letztlich nach Portas aufgebrochen war. Seither gab es von ihm und den anderen Bractonen an Bord kein Lebenszeichen mehr. Sie stießen in das Schwarze Loch hinein … … und gelangten in jenen fantastischen Raum, in dem keine bekannten Naturgesetze Bestand hatten. Die Tridentische Kugel tauchte auf – und spätestens jetzt akzeptierte Clouds Verstand, dass alles nur eine Simulation war, nicht die Wirklichkeit. Natürlich hatte er nie geglaubt, ohne Raumschiff oder anderen Schutz real ins Milchstraßenzentrum vorzustoßen, aber die Bilder, die seine Augen einfingen, waren einfach zu wirklichkeitsgetreu, zu erschlagend. Mit der Zeit glaubte das Gehirn einfach, dass es sich auf einer realen Reise befand. Aber in der Realität war der Raum hinter dem Ereignishorizont verwaist. Hier nicht. Hier schimmerte der goldene Gigant, von dem die Bractonen beim letzten Besuch im Angksystem behauptet hatten, auf Schaggrom – Angk IV – belaufe sich der aktuelle Bestand fertig gestellter CHARDHIN-Perlen auf die ungeheuerliche Zahl von 309. 309 Tridentische Kugel, eine jede hundert Kilometer im Durchmesser … Das war jenseits aller Vorstellungskraft. Genau wie die Behauptung, dass die Bractonen das Universum »erbaut« hätten – mithilfe solcher Kolosse. Nein, manchmal war es besser, den Verstand zu entlasten, indem man Behauptungen hinnahm, statt sie zu hinterfragen. Cloud war, was die ERBAUER und ihr Umfeld anging, längst soweit, dies zu tun. »Warum zeigst du mir die Vergangenheit?«, fragte er, an Naldor gerichtet. »Zur visuellen Untermalung dessen, was du und deine Begleiter nun erfahren sollt. Es ist eine These, ich sagte es eingangs, aber nach
Auswertung eurer Daten, die ihr uns mitbrachtet, hegen wir nur noch geringe Zweifel, dass sie sich auf schaurige Weise bewahrheiten und bestätigen wird.« Zum ersten Mal, seit Naldor zu ihnen sang, überkam ihn ein tiefer Schauder. »Weiter«, drängte er dennoch. »Erläutere eure These. Wir werden es ertragen, ganz gleich, was es ist. Also?« »Ihr habt Mut.« Zumindest versuche ich es gerade vorzutäuschen, dachte Cloud. Insgeheim hielt er die Spannung kaum noch aus. »Ihr erinnert euch noch, womit Kargor – oder soll ich besser sagen, wir alle, alle Bractonen, die sich in der Gestalt Kargors manifestiert hatten und ihr innewohnten? – beschäftigt war, als ihr ihm/uns zum ersten Mal begegnet seid?« Cloud überlegte kurz. Aber Scobees Stimme kam ihm zuvor. »Nach eigener Aussage schottete er die Milchstraßen-Perle vom Gesamtnetzwerk des Universums ab – um den Rest des Universums, die anderen Perlen vor möglichen Negativen Auswirkungen zu schützen, die von der Milchstraße auf sie überschwappen könnten. Die hiesige Perle war aus offenbar unerfindlichen Gründen pervertiert. Es blieb nur die Abschottung, um eine Art Dominoeffekt zu verhindern, der weite Bereiche des Kosmos in Mitleidenschaft gezogen hätte … Aber ich plappere hier nur nach. Kapieren tue ich es nicht. Zumal uns bis heute niemand wirklich gesagt hat, wie Tridentische Kugeln arbeiten. Was genau sie bewirken und initiieren.« Scobee verstummte. »Ihr würdet es nicht verstehen. Begnügt euch mit groben Erklärungen, die auch hier und heute herhalten müssen. Ja, es stimmt. Kargor/Wir schottete/n die Perle vom Rest der Stationen ab. Und glaubten, dies zur Zufriedenheit geschafft zu haben, um in aller Ruhe mit den Vorbereitungen beginnen zu können, Ersatz zu etablieren.« »Eine neue Tridentische Kugel anstelle der alten?« »Exakt.« »Kommt das öfter vor?«, fragte Jarvis. »Dass es den Gloriden nicht gelingt, die Stationen intakt zu halten und ein Komplettaustausch
her muss?« »Es kam noch nie vor«, erwiderte Naldor. »Noch nie.«
Naldor schien sich der Bedeutung seiner Worte bewusst zu sein. Deshalb legte er eine Kunstpause ein, bevor er fortfuhr. »Es ist für uns ebenfalls völliges Neuland. Das Netzwerk war so lange stabil, mit einem derartigen Ausfall war nie zu rechnen.« »Jede Maschine geht mal über den Jordan«, brummte Jarvis, noch immer unsichtbar, weil das Bild der Verhältnisse jenseits des Ereignishorizonts dominierte. »Ihr werdet es nie verstehen«, kanzelte Naldor ihn melodisch, aber nichtsdestotrotz in vollem Ernst ab. »Die Tridentischen Kugeln sind keine bloßen … Maschinen. Doch euch das zu vermitteln, ist jetzt nicht die Zeit und nicht der Ort.« »Wenn ihr nicht glaubtet, dass jemals ein Ersatz für eine Kugel nötig sein würde«, warf Scobee ein, »wozu dann überhaupt die über dreihundert auf Lager liegenden Perlen auf Schaggrom?« »Sie sollten nie ersetzen, sondern Garant sein, dass dieses Universum ständig weiter wächst und immer wieder neue Galaxien gebiert. Die Kugeln sollen bereichern, nicht den Status Quo halten.« »Das heißt, ihr pfuscht immer noch in eurer Schöpfung rum?«, fragte Jarvis. »Ihr bringt weiterhin Kugeln aus und ›zündet‹ neue Materie, neue Sonnen – wie auch immer ihr das bewerkstelligt?« »Sehr, sehr grob ausgedrückt, tun wir das. Es ist die einzige Bestimmung, die uns blieb.« »Ihr seid verrückt!« Naldor ignorierte den Vorwurf. »Jedenfalls«, erklärte er, »scheint es so, als wäre mehr, viel mehr Eile geboten, den Perlenersatz ins Zentrum dieser Galaxie zu bringen, als wir bislang glaubten. Denn ganz offenbar haben Zeit und Raum bereits Ausfallerscheinungen.« »Ausfallerscheinungen«, wiederholte Cloud und wunderte sich selbst über die Ruhe, die er bewahrte. »Heißt das, der Wegfall der hiesigen CHARDHIN-Station bewirkt, was wir in Samragh mit ansehen mussten?«
»Ich sagte schon, ihr werdet die Natur der Tridentischen Kugeln nie begreifen. Ihre Funktionsweise ist extrem vielschichtig. Einst generierten sie das Universum, in dem wir uns befinden. Doch damit hörte ihre Tätigkeit nicht auf. Sie halten den Kosmos stabil. Senden alle Impulse aus, die die Natur braucht, um in Gang zu bleiben. Permanent.« Permanent … Die Permanenz war etwas, was Cloud von Beginn an im Magen gelegen hatte. Schon sie war in ihrer Bedeutung kaum realisierbar für ein menschliches Gehirn. »Wenn das wirklich wahr ist«, seufzte Scobee, »müssen wir unverzüglich mit einer neuen Perle ins Black Hole. Und diese auch anschließen – darum geht es doch, wenn ich es wenigstens annähernd verstehe.« »Du hast vollkommen recht, sie muss ans Netz angeschlossen werden, sowohl Input erhalten, als auch Output produzieren. Seine Impulse, sobald dies geschehen ist, werden die unmittelbare Umgebung, das Einzugsgebiet der Perle, wieder stabilisieren und vitalisieren.« »Aber sie bringt Verlorenes nicht wieder zurück.« Cloud traf eine Feststellung, die keiner Erwiderung bedurfte. Dennoch sah sich Naldor veranlasst, es zu bestätigen. »Das kann sie nicht. Sie kann Neues erschaffen, aber nicht das, was zerfiel, zurückzaubern. Ich wünschte manchmal, wir wären es.« »Was?« »Zauberer.« »Ihr habt auch so schon viel zu viel Macht über das All«, erwiderte er. »Allmacht – ein Wort, das aus meiner Sicht eher negativ denn positiv belegt ist. Aber darüber will ich jetzt nicht urteilen. Was genau habt ihr vor? Wann wollt ihr es tun? Und … eigentlich meine momentan wichtigste Frage … können wir euch dabei begleiten?« »Das ist vorgesehen«, beantwortete der Bractone Clouds letzte Frage offenbar zuerst. »Und aufbrechen – mit der neuen Tridentischen Kugel – werden wir in wenigen Tagen. Während wir hier singen, wird sie bereits letzten Tests unterzogen.« »Wie genau wird unser Mitkommen funktionieren?«, fragte Sco-
bee. »Ich möchte ungern die RUBIKON –« »Euer Schiff wird die Fahrt an Bord der Kugel mitmachen«, sagte Naldor. »Dies birgt die wenigsten Risiken und ist für die Perle kein Problem. Seid ihr damit einverstanden?« Scobee und Jarvis schwiegen. Cloud war der Commander. »Das klingt perfekt. Wie lange wird es dauern, die Perle vor Ort anzuschließen?« »Das wird längere Zeit in Anspruch nehmen. Ihr seid aber nicht gezwungen, solange auszuharren.« »Wir sind leider nicht ohne Weiteres in der Lage, hinter dem Horizont eines Schwarzen Loches zu manövrieren und zu navigieren«, erinnerte Cloud. »Aber vielleicht können uns Gloriden als Lotsen begleiten …« »Wir werden eine bessere Lösung finden«, versprach Naldor. Ringsum formten sich wieder die Umrisse des Saales. Die Simulation war beendet. Cloud starrte zu dem Kokon, in dem Naldor steckte. »Es gäbe noch etwas zu klären, bevor wir … an Bord zurückgehen.« »Etwas Wichtiges?«, säuselte Naldor, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass es für ihn und seine Artgenossen momentan keine höhere Priorität gab, als die neue Tridentische Kugel zu ihrem Bestimmungsort zu bringen – bevor sich der Kosmos im Bereich der Magellanschen Wolken weiter destabilisierte. »Für uns schon«, sagte Cloud. »Es geht um die Männer und Frauen, die wir an Bord unseres Schiffes nahmen, um unsere Besatzung aufzustocken. Kargor scheint es initiiert zu haben. Ich denke, ihr wisst darüber Bescheid.« »Ja. Der Zirkel hat diese Entscheidung mit getragen.« »Dann bin ich bei euch richtig, um ein Problem vorzutragen, das sich aus der neuen Crew ergeben hat.« »Sie entsprechen nicht euren Erwartungen?« »Das ist eine treffende Formulierung.« »Wollt ihr sie zurückgeben?« Die Art und Weise, wie Naldor über die Angkmenschen sprach, verblüffte ihn. Aus seinem Mund klang es eher, als sprächen sie
über Gegenstände. »Ich möchte, dass ihr mit offenen Karten spielt«, sagte er. »Was heißt das?« »Gibt es Details, die man uns zu den Angkmenschen, die an Bord kamen, schlichtweg ›vergessen‹ hat zu sagen?« »Viele«, erwiderte Naldor. »Doch sie sind selbsterklärend.« »Wer?« »Die Menschen, die für euch ausgewählt wurden.« Cloud runzelte die Stirn. »Eben wollte ich es noch nicht wahrhaben – aber du sprichst über sie wie über Dinge, Automaten …« »Du bist empfindlich.« »Mag sein, aber das möchte ich mir eigentlich bewahren. Bei uns nennt man es auch Sensibilität. Und ohne kommt niemand aus, der Verantwortung für andere trägt – es sei denn, es ist ihm egal, was aus ihnen wird.« »Das klingt nach Vorwurf.« »Gut erkannt«, warf Jarvis sarkastisch ein. Naldor zeigte mit einem Flügel auf Jarvis. »Und wie definierst du ihn? Mensch oder Ding?« »Da gibt es nichts zu überlegen, und wenn du so klug bist, wie deine Art vorgibt zu sein, weißt du, wie die Antwort lautet.« Über Naldors insektoides Gesicht huschte ein Ausdruck, den kein Nichtbractone zu deuten vermochte. Vielleicht war es Verachtung, vielleicht auch ein Hauch von Respekt. »Gut«, sang er schließlich. »Noch etwas?« Cloud schüttelte den Kopf. »Wir waren mit der einen Sache noch nicht durch.« »Die angkstämmigen Besatzungsmitglieder?« »Genau die.« »Was soll ich dazu sagen? Haben sie sich illoyal verhalten?« »Nicht ›offiziell‹.« Cloud erzählte, was vorgefallen war – und sich tagtäglich wiederholte, ohne dass sie eine Möglichkeit hatten, dem Mysterium auf die Spur zu kommen. »Ich kann dir so viel sagen«, erklang Naldors melodische Stimme. Und die Strahlkraft der Farben seiner Flügel schien darauf abzufär-
ben, »was ihr bemerkt habt – und dafür mein Kompliment, denn niemand ging davon aus, dass es euch auffallen würde – stellt keine Gefahr dar. Im Gegenteil. Es wird euch zu Gute kommen. Sehr bald.« »Naldor«, beschwor Cloud ihn, »warum? Warum dieser Weg? Wenn ihr uns wirklich Gutes tun wollt, warum tut ihr dies nicht offen, sondern versteckt? Ihr wisst, was Misstrauen ist. Wie könnt ihr erwarten, dass wir euch nicht misstrauen, wenn ihr solche Aktionen startet?« »Es ist ein Geschenk. Es wurde lange vorbereitet. Weil wir euch achten. Das magst du glauben oder nicht, und wenn du unbedingt eine Erklärung für unser Handeln willst, dann nimm diese: Wir möchten die Überraschung nicht verderben.« Mit diesen Worten verabschiedete Naldor die drei von der RUBIKON – oder sollte man sagen: Er warf sie hinaus? Jedenfalls taten Cloud und Scobee ihren nächsten Atemzug bereits auf dem Rochenraumer. Jarvis folgte ihnen atemlos.
»Das können wir uns nicht gefallen lassen!« Scobees Augen funkelten wild. »Welche Alternative haben wir?« Cloud versuchte die Fassung zu wahren. »Ihnen eine vor den Bug feuern?«, fragte Jarvis hoffnungsfroh. »Spinner!«, lehnte Cloud freundlich, aber bestimmt ab. »Du willst nicht ernsthaft einen Krieg gegen die ERBAUER anzetteln, oder?« »Einheizen ist nicht gleich Krieg führen – es gibt da durchaus Nuancen«, verteidigte sich der Ex-GenTec. Cloud winkte müde ab. Sie hatten sich in seiner Privatkabine eingefunden, waren aber jederzeit für den Stellvertretenden Commander – Cy – erreichbar. Cloud und Scobee nippten an einem Wasser, Jarvis stand einfach nur da und tat so, als gelte sein Hauptaugenmerk dem Bild, das über einer Kommode hing. Es zeigte Nathan Cloud, Johns Vater. »Wie soll ich mich – und jetzt ernsthaft, bitte – eurer Meinung nach verhalten?«, fragte Cloud.
»Ganz ernsthaft«, erwiderte Jarvis. »Rausschmeißen, die ganze Bande! Wenn du dich wohlfühlst mit mehreren tausend Leutchen, die keinen klaren Loyalitätsbeweis antreten können, bitte schön – ich tue es nicht. Die sind wie eine tickende Zeitbombe. Je eher wir sie entschärfen, sprich: loswerden, desto besser.« Clouds Blick wanderte zu Scobee. »Scob?« »Ernsthaft, ja, ja, ich weiß. Aber ernsthaft heißt auch, die Risiken sehen – und was das angeht, stimme ich mit Jarvis überein.« Jarvis grinste erfreut. »Allerdings«, fügte Scobee sofort hinzu, »sehe ich auch Chancen, die ein Risiko wert sein könnten. Vielleicht haltet ihr mich für verrückt, aber allein schon, dass Naldor mehr oder weniger zugegeben hat, dass mit den Angks an Bord etwas nicht stimmt, nicht so ist, wie es zunächst den Anschein hatte, beruhigt mich bereits. Etwas anderes wäre, wenn die Bractonen rundweg geleugnet hätten, mit den Angks könnte etwas im Argen liegen. Das ist nicht der Fall, das verbuche ich positiv.« »Also nicht raus schmeißen?«, fragte Cloud. »Dein Votum, meine ich.« »Nicht rausschmeißen. Noch nicht, jedenfalls. Erst mal noch abwarten und Tee trinken.« Sie nippte an ihrem Glas. »Tee wäre übrigens auch eine gute Idee gewesen. Jelto hat mir da letztens ein Kraut zum Probieren gegeben …« »Kraut?«, ergriff Jarvis sofort die Chance beim Schopf, ihr eins auszuwischen. »Hoffentlich keins, das ›bewusstseinserweiternde Wirkung‹ auf dem Etikett stehen hatte?« »Es war kein Etikett dran«, beruhigte sie ihn in einem Tonfall, als müsse sie sich dreimal überlegen, ob sie auf so einen Unsinn überhaupt eingehen sollte. »Dann war's wenigstens kein Etikettenschwindel«, flachste Jarvis munter weiter. Mit noch breiterem Grinsen fragte er: »Und du, was ist deine Meinung, Chef?« »Ich sehe es ähnlich wie Scob. Abwarten und … meinetwegen auch Tee trinken. Wir haben offenbar ein paar Tage, bevor wir mit der Perle Richtung Milchstraßenzentrum aufbrechen. Bis dahin kön-
nen wir noch den Test mit den Spinnenbots machen. Vielleicht sind sie in der Lage, auf diese mysteriöse Ebene zu wechseln, die hinter den Türschwellen des Dorfes beginnt, und sie einer objektiven Analyse zu unterziehen. – Sesha? Hast du gehört? Bereite schon mal alles Nötige vor.« Scobee erhob sich. »Ich leite das Kommando, wenn's recht ist. Vielleicht sehe ich ja mehr als Aylea oder du, Jarvis.« »Weil du die schöneren Augen hast?«, fragte Jarvis. »Weil ich eine Frau bin.« »Das ist Aylea auch.« Scobee lachte glockenhell auf und strich sich in einer anmutigen Geste erst durch das Haar und dann, ohne abzusetzen, über die Brüste, die von der hautengen Bordkombination in Szene gesetzt wurden. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Ein Mädchen, ja. Aber … das hier ist eine Frau!« Jarvis machte ein trauriges Gesicht. »Richtig. Das hatte ich schon vergessen …«
10. Die Mission der Spinnenbots erbrachte nichts – nicht das leiseste Resultat, als der unhörbare RUF – oder TON – erklang, folgten sie den Angks, die sich seit dem offenen Misstrauensvotum der Schiffsführung noch mehr zurückgezogen hatten, in deren Häuser. Scobee vernahm das »mentale Geräusch« auch, allerdings diffus und nichtssagend wie einen beginnenden Tinitus. Auf Clouds Bitten hin, mit dem sie in permanentem Kontakt stand, verzichtete sie darauf, sich ebenfalls hinter die Schwelle zu begeben. Und als die Roboter ein paar Minuten nach den Angks zurückkehrten, konnten sie nur eines berichten: Für sie hatte sich die Einrichtung der verschiedenen Häuser nicht im geringsten verändert. Sie waren in keine planetare Kulisse versetzt worden, sondern hatten die ganze Zeit über nur in den Räumlichkeiten der Quartiere zugebracht. Allerdings … »Allerdings verschwanden die Menschen, denen sie in die Häuser folgten, für eine knappe Minute aus dem Erfassungsbereich ihrer Sensoren«, berichtete Scobee aufgeregt, als sie in die Zentrale zurückkam, wo Cloud bereits in eine angeregte Diskussion mit Algorian, Jarvis und Jelto vertieft war. Cloud war darüber bereits informiert – genau wie die anderen Anwesenden. »Aber sie konnten keine Erklärung liefern«, erinnerte Jarvis. »Damit sind wir keinen wesentlichen Schritt weitergekommen.« »Wie man's nimmt«, widersprach Scobee. »Immerhin bestätigt sich, dass es offenbar Geist braucht, um die Schwelle in diese planetare Kulisse übertreten zu können. Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, auch organisch zu sein. Der Geist genügt, wie Freund Jarvis uns eindrucksvoll demonstrierte. Er ist sogar der Einzige, der eine Art Vision auf der anderen Seite erlebte. Aylea blieb davon verschont.«
»Hatte sie die Figuren angefasst?«, fragte Jelto. »Soweit wir wissen und sie sich erinnert – nein«, antwortete Cloud. »Dann könnte es auch damit zu tun haben«, sagte der Florenhüter. Sein glattes, bartloses Gesicht war das eines Asketen, schmal und scharf geschnitten, wodurch die schockgrünen Augen noch präsenter wirkten. Cloud nickte. »Ich fürchte, die Situation ist auf Dauer unhaltbar. Die Stimmung zwischen Altbesatzung und Neulingen ist durch mein rigoroses Vorgehen, als Jarvis im Dorf vermisst wurde, vergiftet. Wenn mir nicht bald eine Lösung einfällt, muss ich vielleicht sogar auf Naldors Angebot zurückkommen.« »Sie … zurückzugeben?«, fragte Algorian betroffen. Cloud zuckte die Achseln. »Wir –« In diesem Augenblick veränderte sich die Darstellung der Holosäule auf dem Kommandopodest. Nicht länger nur das Angksystem mit seinen laserartigen Straßenverknüpfungen war darin abgebildet, sondern … »Naldor!«, entfuhr es Jarvis. Es war tatsächlich der Bractone, der lebensgroß seine Schmetterlingsflügel innerhalb des steten Stroms aus Holopixeln schüttelte. »Es ist soweit«, eröffnete er den Versammelten. »Die vorgesehene Tridentische Kugel ist startbereit. Ich muss euch nun bitten, mich als Lotsen an Bord zu nehmen, um euer Schiff in die Perle zu navigieren. Ich werde an Bord verbleiben und den Flug ins Milchstraßenzentrum mit euch gemeinsam erleben. Gibt es diesbezüglich Einwände?« Cloud musste nicht lange überlegen. Der Bractone an Bord war ihm sogar höchst willkommen – immerhin bot sich so vielleicht die Möglichkeit, ihn endlich zu einer klaren Aussage, die Angks betreffend, zu bewegen. »Du bist willkommen.« »Dann sei es so.« Der ERBAUER schwang sich aus dem Datenstrom des Hologramms und stellte sich zwischen die Sitze von Cloud und Scobee.
Sie hatten ein ähnliches Vorgehen auch schon bei Kargor beobachtet. Offenbar waren Bractonen in der Lage, jeglichen Energiefluss als Transportmedium zu nutzen, ohne dass sie daran Schaden nahmen. »Ich schließe mich jetzt mit eurer KI kurz«, kündigte Naldor an. »Und nehme Kurs auf Schaggrom.« »Den Liegeplatz der Tridentischen Kugeln«, sagte Cloud. »So ist es.« In der Holosäule fand sich die Bewegung wieder, die die RUBIKON unverzüglich vollzog. Ohne Eingewöhnungsschwierigkeiten lenkte der Bractone das Schiff zum Werftplaneten seines in der eigenen Schöpfung gefangenen und gestrandeten Volkes.
Schaggrom sah selbst aus wie eine gigantische Perle – nicht golden, wie die CHARDHIN-Variante, aber fast ebenso perfekt … Nein, korrigierte sich Cloud beim Anblick des größer werdenden Planeten in der Holoübertragung, nicht fast ebenso, sondern … perfekter. Das ganze Angksystem, Reich der Bractonen, war ein kosmisches Wunder – und das spiegelte sich insbesondere in Schaggrom wider. Die RUBIKON ging in einen Orbit um den Planeten, der in der Katalogisierung der ERBAUER die Nummer vier war. Die Kontinente und Ozeane verteilten sich auf den sechs bekannten Angkwelten absolut identisch, nur die Nutzung von Land- und Meeresflächen differierte. Das Seltsame an Schaggrom war, dass er so gar keine Ähnlichkeit mit einer Industriewelt hatte. Er war von Menschen und Bractonen besiedelt, die Städte und kleineren Ansiedlungen unterschieden sich nur marginal von urbanen Komplexen auf anderen Angkplaneten. Cloud sprach Naldor darauf an, der in keinem Kommandositz Platz genommen hatte, sondern immer noch zwischen Cloud und Scobee stand. Offenbar brauchte er die in den Sitzen befindlichen Schnittstellen nicht, um sich mit Sesha zu vernetzen. »Wir haben kartographische Daten von allen sechs betretbaren Angkplaneten«, sagte der Commander, »aber auch auf ihnen ist nir-
gends ein Verweis auf Werftanlagen einer Größenordnung, wie sie für Kugeln, die einen Durchmesser von einhundert Kilometern haben, nötig wären – nach meinem Dafürhalten nötig wären.« »Mein Volk hat sich bereits im Urkontinuum von rein pragmatischer Denkweise verabschiedet«, erwiderte Naldor singend. Seine liebreizende Stimme erfüllte die gesamte Zentrale, und man hatte das Gefühl, dass sie bis in den hintersten Winkel nicht an Kraft verlor. »Großartige Künstler begleiteten seinerzeit das EXPERIMENT. Und nach dem teilweisen Scheitern waren sie ebenso dazu verdammt, hier auszuharren, wie jeder Bractone, der sich in den Dienst dieses Projekts gestellt hatte.« Cloud nickte, unterbrach aber: »Du beziehst das Scheitern auf die Crux, dass ihr in der eigenen Schöpfung gefangen bliebt, das verstehe ich doch richtig?« Naldors Gesang veränderte sich in schwachen Nuancen der Tonlage. »Nicht nur«, erwiderte er. »Was soll das heißen?«, fragte Scobee, während die RUBIKON Gismo in schnellem Tempo umrundete. »Ist das ein Geheimnis, oder …?« Naldor zirpte: »Kein Geheimnis unter Freunden, wie wir es längst geworden sind.« Die Aussage überraschte nicht nur Cloud und Scobee. Jelto zupfte sich leicht unbehaglich an seinem Shirt, und Algorian war die Verwirrung auf die Stirn geschrieben. »Das EXPERIMENT, wie mein Volk es bis heute nennt, war auch nicht fehlerfrei, als wir die herrschenden Naturgesetze generierten und festschrieben.« Algorians Gesicht wurde immer länger. Jelto räusperte sich. Scobee lächelte unsicher. Und Cloud fragte: »Was genau ging dabei schief?« »Sie ließen und lassen sich bis heute nicht so konfigurieren, wie wir sie gerne hätten.« »Das heißt?« »Die Konstanten wie Gravitation, Lichtgeschwindigkeit, Anteil von Dunkler und Heller Materie und so weiter entsprechen nicht
unbedingt dem, was unsere Theoretiker vor dem Start des EXPERIMENTS erreichen wollten und auch prognostizierten.« »Ah«, entfleuchte es Jarvis. »Auch Bractonen sind fehlbar. Schön zu hören. Vielleicht wird aus euch doch noch was, jetzt, wo ihr eng mit Menschen zusammenlebt. Das färbt hoffentlich irgendwann soweit ab, dass man verträgliche Charaktere in euch sehen kann …« »Jarvis!« Cloud war selbst von der Schärfe überrascht, mit der er den Freund zurechtwies. Allerdings fand er es tatsächlich unangebracht, ihren Gast an Bord dermaßen anzufeinden. Naldor hingegen quittierte es mit keiner Entgegnung. Er schien auf weitere Fragen zu warten. Damit konnte Cloud dienen. »Wie …« Er stockte kurz. »Wie hätte das Universum denn ausgesehen, wenn ihr es völlig nach euren Wunschvorstellungen hättet modellieren können?« »Zunächst einmal hätte es keine Eigenbewegung der stellaren Objekte gegeben, mit Ausnahme der kleineren Gebilde wie Planeten, Monde, Asteroiden, Kometen und dergleichen natürlich.« »Du meinst, ihr wolltet Sterne, ja ganze Galaxien fixieren?« »Das klingt vielleicht abstrus für jemanden, der nicht das Gesamtbild im Kopf hat, aber ungefähr so wäre es geworden, ja.« »Keine Bewegungen der Sternensysteme zu anderen?«, hakte Scobee ungläubig, nein sogar erschüttert, nach. »Aber das widerspricht –« »– den geltenden Naturgesetzen«, fiel ihr Naldor ins Wort. »Es ist schwierig – und müßig, überhaupt darüber zu singen. Es ging uns schlicht darum, alle Voraussetzungen zu schaffen, um die Entfernung zwischen den Sternen und ihren Ballungen so gering wie möglich zu bekommen. Und es für die Wesen, die in der nächsten Stufe generiert wurden – Wesen wie euch Menschen oder Aorii – ab einem gewissen Entwicklungsstand leichter zu befähigen, in den Kosmos aufzubrechen und sich dadurch fortzuentwickeln. Deshalb war im ursprünglichen Plan auch keine so radikale Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit vorgesehen. Um Zivilisationen, die es in die Weite des Alls zieht, nicht unnötig zu desillusionieren und in ihrer
Entwicklung zu bremsen, statt zu fördern. Im realen Kosmos, den wir bauten, ist es von unendlich vielen Zu- und Glücksfällen abhängig, dass hier beheimatete Spezies den Sprung hin zum interstellaren Reisen schaffen.« Davon wusste Cloud ein Lied zu singen. Auch die Menschheit, dessen war er sich bewusst, wäre entweder an der physikalischen Barriere, die das Sonnensystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts – vor den Keelon – mehr oder weniger isoliert hatte, gescheitert. Es hatte erst zu einer Invasion von Intelligenzen, die den Sprung geschafft hatten, kommen müssen, um über vielerlei Umwege auch die Erdbewohner Zugang zum »Outer Space« finden zu lassen. Im Nachhinein konnte Cloud aber auch darüber nicht sonderlich froh sein. Zu gegenwärtig war ihm, was nach Darnoks Wüten aus der Erde und der Menschheit geworden war. Sie litt schon wieder unter einer Tyrannei – und diesmal war sie noch perfider als jemals zuvor in der Geschichte. Reuben Cronenberg befahl über die heutige Menschheit, der selbst die Sterne gestohlen worden waren. »Inwieweit habt ihr auf das Leben an sich Einfluss genommen?«, fragte Algorian zurückhaltend. »Das zu erklären führte zu weit – und wäre Geschöpfen eurer Klassifizierung auch nicht angemessen.« Es klang herablassend, aber Cloud spürte, dass Naldor einfach aussprach, was für ihn das Normalste der Welt war. Er selbst stammte ja aus einem ganz anderen Kontinuum, das sich auszumalen den Verstand eines Bewohners der »Niederungen« weit überstieg. »Was ich ausgangs sagte, dürfte momentan wichtiger sein«, nahm der Bractone wieder den Faden auf. »Wir sind keine puren Pragmatiker, und so stellt sich auch Schaggrom dem Betrachter dar. Die Anlagen zum Bau und zur Lagerung allein schon einer Tridentischen Kugel nähmen so viel Platz auf der Oberfläche weg, dass wir sie ins Innere des Planeten verlegten. Und den wiederum – den Planeten – legten wir schon bei der Planung so aus, dass ein Rädchen ins andere übergreift.«
»Dann dürfen wir uns Schaggrom wohl auch nicht als normale Welt mit Magmakern vorstellen?«, fragte Cloud. Naldor verneinte fast amüsiert. »Keine der Angkwelten ist auf diesem primitiven Standard.« »Primitiver Standard …« Es bedurfte keiner großen Fantasie, um Jarvis im Geiste schon wieder aus der Haut fahren zu sehen. »Das sind wir also für die!« »Er redet von Planeten. Von Angkwelten. Wann hörst du eigentlich mal genau zu?«, fuhr Scobee ihn gereizt an. »Aber die Art, wie er es sagt, impliziert –« Naldor wandte sich ihm zu. Widmete ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Und das – weil die Blicke fast greifbar waren – ließ Jarvis verstummen. »Er ist alles andere als perfekt«, sang Naldor an die anderen gewandt, aber Jarvis nicht aus den Augen lassend. »Er könnte ohne große Mühe optimiert und neu justiert werden, sodass er künftig –« »Nein, nein«, beeilte sich Cloud, abzulehnen. »Er ist genauso wie wir ihn nun mal kennen und … äh … mögen.« Jarvis war so baff, dass es ihm die Sprache verschlug. »Wie ihr wollt«, erwiderte Naldor. »Dann also zurück zu Schaggrom. Unserem Ziel. Ich werde die RUBIKON jetzt ins Innere der Werft steuern.« »Die RUBIKON ist nicht für planetare Exkursionen ausgelegt«, wagte Jelto zart einzuwenden. »Zumindest müssten die Schilde …« »Nicht nötig«, behauptete Naldor. »Es besteht, dank der Modifikation, kein Grund zur Sorge. Euer Schiff wurde bereits – im Gegensatz zu diesem Individuum …« Er meinte zweifellos Jarvis. »… optimiert.« »Wann und – von wem? Von dir?«, fragte Cloud. Naldor schwieg, aber offenbar stand er bereits wieder in. Verbindung mit den Schiffsaggregaten. In dem Moment, als die RUBIKON den Orbit verließ und die ersten Atmosphäreausläufer streifte, meldete sich unvermittelt Sesha zu Wort. »Es gibt eine beunruhigende Entwicklung«, sagte die KI.
»Dass wir hier arbeitslos sitzen und Däumchen drehen dürfen?«, knurrte Jarvis. »Meine Aussage bezieht sich auf zentrale Bereiche des Schiffes – die sich verändert haben.« Cloud spürte, wie es ihm kalt über den Rücken rieselte. »Genauer!«, verlangte er. »Das Dorf der Angks …« Heilige Galaxis, dachte er. »… ist verschwunden. Mitsamt seinen Bewohnern.«
»Was ist eine … Nonzone?«, fragte Chex. Er saß auf einem der stärkeren Äste, die das Baumhaus trugen, und ließ die Beine in die Tiefe baumeln. Unten gingen die holografischen Bewohner von Pseudokalser – zu denen auch Chex gehörte – ihren üblichen Beschäftigungen nach. Yael seufzte. Er saß auf einem anderen, etwas höher gelegenen Ast. Im Haus rumorte Jiim. Er gab sich geschäftig, bereitete ein Mahl vor, aber der Art, wie er die Geräusche verursachte, nach zu schließen, war ihm einfach das Gesprächsthema unangenehm und er wollte sich nach Kräften heraushalten. Das hatte er Yael schon vor Stunden deutlich zu verstehen gegeben. Also hatte Yael seine Fragen hin zu Chex verlagert, um überhaupt mit jemandem reden zu können, der ihn nicht gleich wieder mit tausend anderen Sachen löcherte. Nonzone – damit hatte Jiim ihn konfrontiert, nachdem der Commander ihn als Yaels Elter über die Aussagen der Bractonen in Kenntnis gesetzt hatte. Schlimmer noch als dieser Name war jedoch die Feststellung, nichts und niemand könne Charly von dort zurückholen. Daran hatte Yael zu knabbern. Und wie! Erstaunlicherweise fiel ihm erst nach Charlys Verschwinden auf, wie sehr er sich an diese seltsame stoffliche Projektion bereits gewöhnt hatte. »Weiß nicht genau. Ich stell's mir wie eine Schutzblase rund um
das Angksystem vor – nur dass davon angeblich vor meinem Versuch keiner was wusste.« »Du hättest Charly dann nicht losgeschickt?« »Natürlich nicht!« »Klar.« Chex kratzte sich am Gefieder. »Und jetzt?« »Und jetzt was?« »Baust du dir einen neuen?« »Ich kann Charly nicht einfach ›nachbauen‹ – ich will auch gar keinen anderen. Das wär doch nicht mehr derselbe. Ich will ihn!« »Schon versucht, ihn zurückzukriegen?« »Natürlich.« »Was ist passiert?« »Nichts. Jedenfalls kam er nicht.« Offenbar hielt Jiim seine Taktik nicht länger durch. Die Geräusche in der Hütte verstummten. Kurz darauf hockte ein dritter Narge im Geäst und ließ die Beine baumeln. »Es tut mir leid«, sagte Jiim. Yael blickte finster. »Eigentlich müsste es ihm leid tun, oder?« »Wem?« »Na, dem Commander! Der hat mich doch erst auf die Idee gebracht …« »Er konnte es ja auch nicht wissen. Außerdem dachte er, glaube ich, Charly wäre leicht ersetzbar, wenn ihm etwas zustößt. Dachte ich übrigens auch, jetzt nicht falsch verstehen.« Jiim machte eine beschwichtigende Geste. »Ich hatte es so verstanden, dass du ihn projizierst. Und wenn ihm etwas zustößt … könntest du einfach noch einmal denselben projizieren.« »Geht nicht«, mischte sich Chex ein. »Das Thema hatten wir gerade. Hast deine Lauscher wohl doch nicht richtig aufgemacht.« Jiim blickte seinen Freund verdrießlich an. »Ich war beschäftigt. Ich konnte euch nicht zuhören.« »Wer's glaubt.« Chex griente. »Es geht wirklich nicht«, versicherte Yael. »Ich bekäme einen neuen – aber der würde sich nie mehr so entwickeln, wie Charly es tat. Über Wochen, Monate. Er hat seine ganz eigenen Züge. Manchmal
dachte ich, alles sei gelogen. Alles, was man mir einzureden versuchte, sei nur euer verfluchter Versuch, alles und jeden erklären zu wollen. Aber wer weiß, vielleicht ist es mit Charly gar nicht so, wie ihr alle glaubt. Vielleicht habe ich ihn gar nicht erschaffen. Er könnte sonst woher stammen. Und –« »Hast du's schon mal versucht?«, fragte Chex. »Was?« »Einen neuen zu bauen.« »Nein!« »Dann versuch's jetzt.« »Ich sagte doch …« »Versuch macht kluch«, witzelte Chex. »Ich glaube«, sagte Jiim, »ich weiß, was er meint. Wenn du irgendeinen Charlyersatz – nur mal so zur Probe – erschaffst, erschaffen kannst, dann beweist das ziemlich sicher, dass auch Charly aus dir stammte.« Daran hatte Yael tatsächlich noch nicht gedacht. Er entfaltete als Zeichen seiner Nervosität kurz die Flügel, die aber rasch gegen Zweige stießen, sodass er sie wieder zusammenzog. »Will ich nicht!« »Musst du auch nicht«, versicherte Jiim. »Das ist ganz allein deine Entscheidung. Aber …« »Ja?« »Versuch, über den Verlust hinwegzukommen. Die Bractonen ließen offenbar nicht den geringsten Zweifel, dass die Nonzone Charly niemals wieder hergeben wird. Was einmal drin ist, bleibt drin. Aber immerhin besteht die Hoffnung, dass es da drinnen für Charly gar nicht so schlimm ist.« »Es ist die Hölle.« »Woher willst du das wissen?« »Weil ich von ihm geträumt hab – es könnte auch ein ultrakurzer Kontakt gewesen sein, der mir reale Verhältnisse veranschaulichte. Und dann steckt er in der Hölle. Da drin ist es übler als auf Portas!« Dazu sagte Jiim nichts mehr. Nach einer Weile des Schweigens verschwand er wieder in der Hütte. Kurz darauf ließ sich Chex mit
einem Gruß in die Tiefe fallen, entfaltete seine Schwingen und segelte zur Mitte der Baumhaussiedlung. Yael hielt ihn nicht auf. »Ich mach noch einen kleinen Ausflug vor dem Essen«, rief er ins Hütteninnere. »Bleib nicht so lange.« »Ja, ja.« »Und pass auf das Eis auf – Sesha übertreibt es manchmal mit seiner originalgetreuen Rekonstruktion von Schrund und Umgebung.« Yael hörte schon nicht mehr zu. Mit Eiswolken, die einem das Gefieder ramponierten, hatte er längst genügend Erfahrung, um ihnen rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Nach einer zögernden Runde über dem Dorf nahm er Kurs auf fernere Gefilde. Auf die Tote Stadt. Möglicherweise würde er – und wollte er auch gar nicht! – bis zum Essen nicht zurück sein. Aber das war ihm jetzt auch schon egal. Er litt. Keine Seele bemerkte, wie stark, bei Maron, er litt! Kraftvoll peitschte er die Thermik, und bald schon war der Schrund, waren die Baumhäuser hinter ihm verschwunden.
11. Verschwunden. Mitsamt seinen Bewohnern. Der Einzige, der keine Reaktion auf diese Nachricht zeigte, war Naldor. Der Bractone gab vor, in das angekündigte Landemanöver vertieft zu sein. Draußen bauten sich an der Spitze des Rochenschiffs Schockfronten der gemarterten Atmosphäre auf. Der aktivierte Schmiegschirm leitete alles an der Hülle vorbei. Dennoch sah es aus, als bohre sich die RUBIKON in eine tiefschwarze Gewitterfront. »Bild!«, schnappte Cloud, an die KI adressiert. Die Holosäule wurde blitzschnell fragmentiert und segmentiert. In einem Fenster tauchte der Bordbereich auf, wo Sesha in enger Zusammenarbeit mit den Angkgeborenen das Dorf erschaffen hatte … … das jetzt nicht mehr zu sehen war. »Was, bei den Sternen meiner Heimat«, keuchte Algorian, »ist das?« Es war eine Wolke. Ein Nebel. Mitten im Schiff. Es war alles und nichts zugleich. Wabernde Struktur, als schaue man in das Hitzeflimmern über dem Boden einer Wüste, nur dass weder Boden noch irgendetwas entlang des »Saums« dieses Phänomens zu sehen war. »Das ist die Stelle, wo die Quartiere waren?«, fragte Cloud sicherheitshalber. »Definitiv.« »Und was ist das, was wir sehen?« »Ich weiß es nicht. Ich messe psionische Felder, kann sie aber keiner bekannten Quelle und Ursache zuordnen.« »Naldor?« Scharf erklang Clouds Stimme. Der Bractone reagierte sofort. »Keine Gefahr«, sagte er. Nur diesen Satz. Keine Gefahr. Cloud entschied sich trotz skeptischer Blicke seiner Freunde, es zu glauben. Letztlich bestätigte Naldors Reaktion nur, was sich längst andeutete: Etwas von den Bractonen Initiiertes ging an Bord vor
sich. Und die Angks waren offenbar eng in dieses Geschehen, das noch keiner überblickte, eingebunden. Will ich das, überlegte Cloud, Menschen auf unserem Schiff, die ihr eigenes Süppchen kochen? Die Antwort war ein klares Nein. Allerdings wollte er abwarten, ob die Fragestellung so überhaupt stimmte.
Die Tote Stadt. Das Replikat einer eisüberwucherten Ruinenlandschaft. Pyramiden, von Alter, Zerstörung und Witterungseinflüssen angenagt. Die Tote Stadt existierte auf dem neuen, realen Kalser nicht mehr, das die RUBIKON jüngst besucht hatte. Dort gedieh wieder allerorten Leben, und als Kontrapunkt war der Schrund zerstört. Sonderbarerweise fühlte sich Yael hier, in dieser dem alten Kalser nachempfundenen Kulisse, aber wohler als auf dem fremden, wiedererweckten Original, auf dem sein Elter zur Welt gekommen war. Und gerade die wie mit dem Eis verwachsen aussehenden Ruinen hatten es ihm angetan. Sie waren nach Jiims Gedächtnisprotokollen entstanden. Details waren somit frei erfunden, aber das änderte nichts daran, dass Yael hier den Geist seiner Ahnen zu spüren meinte. Und die Gegenwart jenes letzten Ganf, der seinen Elter mit dem goldenen Nabiss beschenkt hatte. Jener Rüstung, die prägend nicht nur für Jiim war, sondern auch für … … mich! Vom Tag seines Schlüpfens an hatte auch Yael es in sich pochen gefühlt. Diese andere und doch so einnehmende Kraft, die sein Vater ausstrahlte und in stillen Stunden auch aus ihm selbst, seinem Innersten, zu strömen schien. Das Nabiss, dessen war Yael längst überzeugt, hatte nicht nur seinen Träger Jiim beeinflusst und verändert, sondern hatte auch auf die im Leib des Elters entstehende Frucht, das Ei, eingewirkt. Yael hatte keine Rüstung, ihm war der Glanz des goldenen Lichts vererbt worden. Es leuchtete in seinen Genen, seiner Helix. Anfangs hatte er sich davor gefürchtet, denn offenbar war es auch die trei-
bende Kraft, die hinter seiner rapiden Reife, seinem eigentlich viel zu schnellen Wachstum steckte. Doch damit war er versöhnt. Er fürchtete das Gold in und an sich nicht mehr, sondern trug es inzwischen wie eine Auszeichnung. Er war froh, etwas Besonderes zu sein. Meistens jedenfalls. Was er sich aber dringend gewünscht hätte, wäre jemand, der alles über dieses Anderssein und die erfahrene Prägung wusste. Sehr oft, in seinen grüblerischen Stunden, wünschte er sich die Gesellschaft eines echten Ganf. Eines dieser machtvollen Wesen, über die so wenig bekannt und überliefert war. Sie schienen ihm das fehlende Bindeglied zu der Kraft, zu all den Talenten zu sein, die noch in ihm schlummerten. Einen Ganf hatte er sich von Sesha gewünscht. Und Sesha hatte diesen Ganf aus den Teilen des Jiim'schen Gedächtnisprotokolls, die bislang keine Verwendung gefunden hatten, generiert. Yael hatte die KI um Stillschweigen gegenüber seinem Elter oder anderen Crewmitgliedern gebeten, und sie hatte es ihm versprochen. Weil der Ganf, der jetzt zwischen Eis und Ruinen herankroch, für niemanden eine Gefahr darstellte. Nein, dieses Hologramm sicher nicht – da gab es ganz andere, aktuelle und akute Gefahren … »Ich grüße dich.« War es eine Stimme oder etwas, das Sesha nach Manier der echten Ganf mental in Yael übertrug? »Ich grüße dich auch.« Ein kalter Wind prallte von Gefieder und der Fettschicht unter Yaels Haut ab, dennoch drängte es ihn, mit dem Ganf ins Innere einer Ruine zu flüchten. Kurz darauf entfachte das erstaunliche Wesen mit dem riesigen, gewundenen Gehäuse auf dem winzigen, schneckenartigen Körper allein kraft seines Willens ein wärmendes Feuer – so zumindest sah es für Yael aus. »Hilf mir«, kam der Jungnarge ohne Umschweife zur Sache. »Wobei?« »Einen Freund zu retten.« »Um wen handelt es sich?«
Yael berichtete von Charly. Der erst wie ein Mensch ausgesehen hatte, inzwischen aber kaum mehr von einem Nargen zu unterscheiden war. Und der frech war, übermütig und mutig bis zur Grenze des Erträglichen, der sich all das traute, was Yael unterließ, weil er die Folgen fürchtete. Und der ihn zum Lachen brachte. Gebracht hatte. »Verschwunden in der Nonzone?«, fragte der Ganf am Ende. »So wurde mir gesagt.« »Und du weißt, was diese Zone ist?« »Nein!« »Das ist gut.« »Gut?« »Nur die, die alles über etwas Schreckliches wissen, werden ihm nicht entkommen können. Wenn du sagst, du weißt nicht viel oder gar nichts darüber, dann gibt es Hoffnung. Du musst deine Unwissenheit nur auf Charly übertragen. Wenn er so schlau ist, wie du sagst, wird er daraus seine Schlüsse ziehen – und den Pfad finden, den du ihm gewiesen hast.« »Das hört sich schwierig an.« »Was im Leben ist schon leicht?« Da musste Yael ihm recht geben. »Ich danke dir. Ich werde es versuchen, sobald ich wieder zuhause bin.« »Fang jetzt schon damit an. Das Band zwischen dir und ihm ist noch vorhanden, aber je länger du selbst glaubst, dass es kein Wiedersehen gibt, desto fadenscheiniger wird es, bis es irgendwann tatsächlich zerreißt. Und dann ist wirklich jede Hoffnung dahin. Für ihn und für dich.« »Für mich?« »Du würdest ihn, kehrte er nicht zurück, niemals ersetzen können.« Yael dachte über die Worte nach und wusste, dass es stimmte. »Ich muss dir noch viel mehr danken, als ich eben noch meinte.« »Du musst mir gar nicht danken. Es kommt alles aus dir selbst. Du bist der Schlüssel. Denke immer daran, denn es wird noch mehr Situationen wie diese geben. Glaube an dich, an dein Können – und alles wird gut.«
»Du bist ein Heiler«, murmelte Yael. »Du hast gerade ein Loch in mir geheilt, das mich –« »Verarztet vielleicht«, unterbrach ihn der Ganf, »aber noch nicht geheilt. Kümmere dich um die Wunde. Kümmere dich um den, den du nicht verlieren willst. Dein Wille ist Macht. Entfalte sie.« Das Feuer war eine Illusion, aber es wärmte. Der Ganf war eine Illusion, aber er half. Charly …, dachte Yael sehnsüchtig. »Eine letzte Bitte«, wandte er sich an den Ganf. »Wenn ich sie erfüllen kann …« »Das weiß ich nicht.« »Wie lautet sie?« Yael schluckte, überwand die Scheu, die er selbst vor der holografischen Aufbereitung eines Ganf empfand. »Dürfte ich … Ich meine, ich bin so neugierig … dürfte ich eventuell einmal …« »Ja?« »… hinein?« Der Ganf verstand ohne weitere Erklärung und öffnete das Gehäuse an der Seite. »Natürlich. Du bist stets willkommen, mein Kind. Tritt ein.«
Die Oberfläche kam immer näher. Strukturen zeichneten sich ab. Landwirtschaftliche Parzellen von Menschen, die es sich nicht hatten nehmen lassen wollen, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Eine sympathische Einstellung, fand Cloud. Obwohl er selbst auch in keinem herkömmlichen Sinn schuftete, um sein täglich Brot zu erlangen. Es sei denn, man wertete das Führen eines Schiffes wie die RUBIKON als Arbeit. Was er aber nicht tat. Für ihn war es … Bestimmung. Und ein unglaublicher Glücksfall. Mit dem Flug zum Mars hatte es begonnen. Als einfacher Astronaut war er gestartet *. *die Wissensimplantate fremder Personen waren inzwischen passé, daran erinnerte er sich kaum noch; falls es noch Reste gab, waren sie einfach mit seinem eigenen Wissen verschmolzen
Und dann war er »über drei Ecken« in den Aquakubus zur Ewigen Stätte, zum Jahrzehntausende alten Versteck der Foronenarche gekommen. SESHA hatten sie das technische Meisterwerk genannt. Erst einmal in irdischen Besitz übergegangen, hatte Cloud es sofort umgetauft: auf RUBIKON II. Die I war jenes »primitive« Gefährt gewesen, mit dem sie zum Mars gelangten. Kein Vergleich – aber eine Herausforderung. Gerade weil die erste RUBIKON ein so anfälliges Vehikel menschlicher Raumfahrttechnik gewesen war, hatte sie einem Astronauten viel Können abverlangt. Es hatte keine KI gegeben, mit der man mal eben in verbalen oder mentalen Kontakt hatte treten können. Alles war noch handgemacht gewesen und die Probleme auch recht handfester Natur. Bis die Fremden kamen … Zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit war Cloud an die Vergangenheit erinnert worden, die – milchstraßenbegrenzt gesehen – schon rund dreißigtausend Jahre zurücklag. Weil in der Milchstraße die Zeit im Verhältnis zum restlichen Universum viel schneller abgelaufen war. Deshalb gab es die Erde heute nicht mehr, wie sie sie kannten. Deshalb war aus einem einstigen Freund eine Persona non grata geworden: Darnok. Und deshalb zweifelte Cloud manchmal daran, sich überhaupt noch in der Realität zu befinden, in die er einst geboren worden war. Ein seltsamer Gedanke überrollte ihn von Zeit zu Zeit: die Idee, Darnok könnte sie damals durch das Jupiter-Wurmloch nicht nur in die Zukunft, sondern gleich in ein paralleles Universum versetzt haben. Aber wie passten parallele Universen zu dem, was Kargor und Naldor ihm bislang über die Entstehung des Kosmos im Rahmen ihres EXPERIMENTS vermittelt hatten? Waren die anderen Universen ebenso unabsichtlich entstanden, wie es zu den »falschen« Parametern in Bezug auf die Naturgesetze gekommen war? Er stöhnte leise auf. »Der Wahnsinn, oder?« Das war Jarvis. Von Cloud kurz unbeachtet, weil in Erinnerungen verstrickt, war
die Oberfläche noch näher gekommen. Und dort, auf einem weiten Hochplateau löste sich der Boden plötzlich auf, als hätte jemand einen Bildschirm abgeschaltet, der nacktes, von wenigen verkrüppelten Pflanzen bewachsenes Gestein vorgegaukelt hatte. Darunter zum Vorschein kam … ein Schacht. Der absonderlicherweise die exakten Umrisse der RUBIKON hatte, nur etwas größer als das Schiff war. Naldor manövrierte die RUBIKON über die Öffnung und deaktivierte die Antigravitation des Schiffes, kaum dass der Einfluss aus der Tiefe messbar wurde. Schaggrom hatte übernommen … und zog die RUBIKON hinab in den Bauch der Werft. Eine Welt in der Welt. Zehn-, hundert-, vielleicht tausendfach so groß wie der Planet von außen vorgab zu sein.
Im Innern des Ganf herrschte ein Pixelchaos, das Yael schlagartig ernüchterte, weil es ihm vor Augen führte, wo er wirklich war: in einer Simulation, der an dieser Stelle eindeutig Informationen fehlten, um etwas täuschend Echtes auf die Beine zu stellen. Bevor die Enttäuschung überhand nahm, verließ er den Ganf wieder und verabschiedete sich von ihm. Er kam doch noch einigermaßen rechtzeitig zum Essen nach Hause. »Du siehst so … gelöst aus«, empfing ihn Jiim freudig. »Ist etwas passiert? Etwas Gutes, meine ich.« Yael zögerte kurz, doch dann berichtete er von seinem Ausflug und der Begegnung mit einem Ganf, wie es ihn real nicht gab. »Dennoch«, betonte er, »hat er mir geholfen. Aber das verstehst du sicher nicht.« »Sei nicht so widerspenstig«, erwiderte sein Elter. »Warum sollte ich es nicht verstehen? Ich hatte es im Leben auch nicht immer leicht. Wenn du zugehört hast und dich erinnerst, weißt du, wie es mir damals auf Kalser erging. Auf abenteuerlichen Umwegen verschlug es mich nach meiner Begegnung mit einem Ganf in den Virghstock und anschließend auf die RUBIKON. Ich habe einem realen
Ganf gegenübergestanden, damals in der Toten Stadt, dem letzten, wie er selbst betonte. Und damit meinte er den Letzten auf dieser Ebene. Dem, was wir Realität nennen. Und ich erinnere mich genau an das Charisma dieses Wesens. Es war atemberaubend. Und inspirierend. Und …« Er geriet ins Träumen. Zog damit Yael in seinen Bann. »… auch erschreckend.« »Erschreckend?« »Weil ich bis heute nicht wirklich begriffen habe, mit was für einer Art von Geschöpf ich es zu tun hatte. Mit was für einer Art von Geschöpf unsere Vorfahren einst zusammenlebten. In Harmonie zusammenlebten. Oft habe ich sie darum beneidet, wenn ich in stillen Stunden über das Kalser vor dem Maronfragmenteinschlag nachdachte.« »Er … er kam selbst mir, obwohl mir klar sein musste, dass er eine Täuschung war, unfassbar fremd vor«, bekräftigte Yael zögernd. »Dann hat Sesha ganze Arbeit geleistet.« Yael kaute die Rohkost, die Jiim vorbereitet und mit würziger Soße aufgepeppt hatte. Nach einer Weile sagte er: »Als ich mit ihm über Charly sprach, hatte ich mehr als einmal das Gefühl, dass eine reine von Sesha gespeiste Holografie das, was der Ganf an Weisheiten von sich gab, gar nicht hätte ersinnen können.« »Du unterschätzt die KI.« »Ganz im Gegenteil. Ich respektiere und achte sie hoch.« »Das ist gut. Wir haben ihr viel zu verdanken.« Yael machte eine Geste der Zustimmung. »Irgendwie gehört sie zu uns beiden, nicht wahr, Elter? Vielleicht mehr als zu irgendjemandem sonst auf der RUBIKON – John natürlich ausgenommen.« »Seltsam, dass du das sagst. Ich habe es oft ebenso empfunden.« Ihre Blicke trafen sich und vertieften sich lange ineinander. Selten zuvor hatte eine solche Innigkeit und Übereinstimmung zwischen ihnen bestanden. Das Leben zwischen Elter und Nachwuchs war im Alltag oftmals schwierig.
»Es ist wie mit der RUBIKON«, erzählte Naldor freimütig, während
sie Etage um Etage tiefer sanken, jedes Stockwerk so hoch, dass selbst eine Tridentische Kugel darin Platz gefunden hätte. Flirrende höherdimensionale Felder bildeten Gerüste und Montagesysteme, auf denen unzählige Baukräfte zu sehen waren. Und auch die Arbeiter selbst verblüfften, denn es handelte sich dem Anschein nach ausschließlich um jene Wesen, die man Sternlinge nannte und von denen sich auch der eine oder andere an Bord der RUBIKON verirrt hatte. Ein gewisser Varx etwa … »Nur sehr viel perfekter«, fuhr der Bractone fort, während es die RUBIKON Kilometer um Kilometer hinab zog. »Ihr dürft es euch nicht wie bei eurem Schiff vorstellen, mit den hiesigen Dimensatoren, wie ihr es nennt. Wir arbeiten mit anderen Mitteln. Das Resultat ist vergleichbar, aber es kann niemals zu Ausfällen kommen, die Schaggrom aus den Nähten platzen lassen würden.« »Das könnte bei der RUBIKON geschehen?«, fragte Cloud alarmiert. »Es gibt für jede Hochtechnik der Niederen das, was ihr den Super-GAU nennt.« »Und für die ERBAUER nicht? Haben wir den … äh, hüstel … nicht gerade?«, warf Jarvis freundlich ein. Freundlich für seine Verhältnisse und auf einer Freundlichkeitsskala, die bei 1 anfing und bei hundert endete, etwa auf der drei angesiedelt. »Du meinst wegen der Auflösungserscheinungen im Sektor Samragh/GMW?« »Das meint er, ja«, meinte Cloud beschwichtigend eingreifen zu müssen. »Und hat damit so unrecht wohl nicht.« Naldor überlegte. Dann sang er kristallklar: »Wir arbeiten bereits mit Hochdruck an der Lösung. Wir haben keinen Zweifel, dass diese Lösung greifen wird. Die Ersatz-Perle wird von uns an den verwaisten Platz gebracht, und dann ist es an unseren Ingenieuren, die Wiederanbindung ans Netz herbeizuführen.« »Was aber dauern kann.« »Nicht so lange, wie ihr offenbar fürchtet. Die erforderlichen Grundeinstellungen sind bereits vorgenommen. Kargor konnte sie uns übergeben. Ich sagte ja, wir bereiteten die Lückenschließung ohne-
hin vor, wurden nun aber …« »… von der Dramatik der Auswirkungen einer entfernten Station überrascht«, vollendete Jarvis für ihn. Naldor bedachte ihn mit einem Schweigen, das die Temperatur in der Zentrale zum Absturz brachte. Cloud hielt die permanenten Einwürfe seines Freundes eher für kontraproduktiv. Er war entschlossen, ihn bei passender Gelegenheit zurechtzustutzen. Sie waren auf die Kooperation der Bractonen angewiesen – jedenfalls, wenn sie Wert darauf legten, in die bevorstehende Reise zum Schwarzen Loch eingebunden zu sein. Er persönlich brannte darauf, sein Scherflein zur Raumzeit-Stabilisierung an der Auflösungsfront beizutragen. Und er war sich sicher, dass auch Jarvis dies wollte. Er war nur nachtragender als Cloud, verband mit den Bractonen immer noch das Übel, als das Kargor sich lange Zeit an Bord unbeliebt gemacht hatte. Damals, als es gegen Darnok ging. In diesem Moment erhob Naldor wieder seine Stimme. »Wir sind gleich da.« Vor ihnen tauchte eine goldene Sonne auf. Zumindest hatte es auf den ersten Blick den Anschein, dass sie einem Stern entgegenstrebten. Tatsächlich war es natürlich ein sehr viel kleineres Objekt, allenfalls dazu in der Lage, Sterne zu erzeugen …
12. »Dorf zurückgekehrt«, meldete Sesha, kaum dass die RUBIKON in die Tridentische Kugel eingeflogen war, Anker geworfen und Naldor seine persönliche Verbindung zur KI gelöst hatte. Dorf zurückgekehrt. Wie lapidar das klang. »Bild!«, verlangte Cloud. Naldor schwieg. In der Holosäule erschien wieder ein Segment, in dem die Quartiere der Angks von bordinternen Kamerasystemen eingefangen wurden – diesmal mit Erfolg. Alles wirkte beschaulich, keine alarmierenden Anzeichen bis hin zum kompletten Verschwinden des Komplexes. Scobee seufzte. »Und wenn irgendwann das ganze Schiff verschwindet – und nicht mehr auftaucht?« »Dann sind wir geliefert«, witzelte Jarvis, obwohl ihm wahrscheinlich nicht zum Scherzen zumute war. Nicht einmal ihm. »Ihr macht euch unnötig Sorgen, ich betone es noch einmal«, sang der ERBAUER. Cloud ballte die Hände zu Fäusten. Dann sagte er: »Manches Entgegenkommen, manche Geschenke sollte man gar nicht erst annehmen. Ich schätze, es war tatsächlich ein Fehler, die Angkstämmigen an Bord zu lassen. Ich hätte gerne eine bewohnte RUBIKON – dieses Schiff war schon immer zu groß für die Wenigen, die in meiner Gefolgschaft um ihre Zukunft und oft auch ums nackte Überleben kämpfen. Aber: Der Preis des Nichtwissens, was an Bord geschieht, wann immer der Bereich des ›Dorfs‹ sich abkapselt, isoliert und damit unzugänglich für uns wird, ist mir schlicht zu hoch. Ich glaube, ich möchte sie nun doch ›zurückgeben‹ – hier und jetzt.« Auf den Gesichtern der Freunde las er einhellige Zustimmung. Und Naldor sang: »Das geht nun nicht mehr. Sie sind jetzt endgül-
tig Teil dieses Schiffes geworden. Sie herauszubrechen, würde bedeuten, das Schiff zu zerstören.« Cloud öffnete seine Fäuste so abrupt, als wäre eine Sprungfeder in jeden einzelnen Finger eingebaut. Die Hände erhoben, wäre er Naldor für diese Aussage am liebsten an die Gurgel gegangen. Zum ersten Mal spürte er selbst einen Anflug jenes elementaren Zorns, den Jarvis den Bractonen schon von Beginn an entgegenbrachte und den er auch nicht verrauchen lassen wollte. Aus gutem Grund, wie sich gerade herausstellte! »Ihr habt uns hintergangen!«, warf er Naldor an den Kopf. Das zarte Schmetterlingswesen schien sich unter seiner Ankündigung zu krümmen. Doch es schwieg. Und immer noch schweigend tänzelte es nach vorne, trat in die Holosäule … und war verschwunden. »Dieser kleine Bastard!«, schnappte Jarvis. »Bildet er sich wirklich ein, so mit uns umspringen zu können?« Cloud sah von Gefährte zu Gefährte und suchte darin einen Vorwurf gegen ihn. Immerhin hatte er es zu verantworten, dass sie viel zu lange damit gewartet hatten, die Konsequenzen aus den rätselhaften Vorkommnissen an Bord zu ziehen. Aber hätten die Angks sich ein wenig früher leichter entfernen lassen? Daran zweifelte er inzwischen. Und er musste sich hüten, die Angkstämmigen im Dorf als Feinde zu betrachten. Wahrscheinlich waren sie ebensolche Opfer wie die Stammcrew der RUBIKON, benutzt von den wahren Drahtziehern dieses Komplotts. Den Bractonen.
Abgeschnitten von der Außenwelt, machte sich Frustration in der Mannschaft breit. Dem Teil der Mannschaft jedenfalls, dem Cloud nach wie vor blind vertraute. Naldor oder andere Bractonen hatten sich seit dem unrühmlichen Abgang des ERBAUERS nicht mehr gemeldet. Die RUBIKON hing an unsichtbaren Seilen in einem Riesenhangar der Tridentischen Ku-
gel und war damit völlig isoliert von allem, was sich jenseits der eigenen Bordwände abspielte. Cloud hatte Sesha angewiesen, verschärft auf jede Aktivität im ›Dorf‹ zu achten, und es den Angkstämmigen verboten, ihren Bereich vorläufig zu verlassen. Sie hatten, wie stets, mit Unverständnis reagiert, und er war gewillt, es ihnen abzukaufen. Allerdings änderte das nichts daran, dass er sie als Risikopotenzial betrachtete. Ohne es selbst zu merken und zu wissen, waren sie von den Bractonen offenbar für ihren Übertritt auf die RUBIKON präpariert worden. Nur – warum? Es stand immer noch außer Frage, dass die ERBAUER das Schiff im Handstreich für sich hätten ein- und übernehmen können, wenn sie dies denn gewollt hätten! »Die machen mich völlig fertig«, gestand Cloud gegenüber Scobee und Jarvis ein, mit denen er alleine »Wacht« auf dem Kommandostand hielt. Seit Naldors Verschwinden waren Stunden vergangen, in denen sich nichts Merkliches getan hatte. Die Holosäule war in ihrer Wiedergabefähigkeit stark eingeschränkt. Sie vermochte nur die unmittelbare Umgebung des Schiffes aufzuzeigen – und die war wenig aussagekräftig. Was ging draußen vor, in den anderen Bereichen der CHARDHIN-Perle, in der Werft, auf Schaggrom und den anderen Angkwelten? Womit waren die ERBAUER gerade beschäftigt? Hatten sie den Ernst der Lage, wie Cloud ihn empfand, überhaupt begriffen und wussten sie tatsächlich um die Dringlichkeit des Unternehmens, von dem die Existenz zahlloser Lebewesen auf Welten abhing, die innerhalb der nächsten Auflösungszone lagen, die sich irgendwo draußen im All etablierte? Samragh war gefährdet, aber auch alle anderen Gebiete, für die die von Kargor entfernte Perle »zuständig« war. Es konnte nach Clouds Dafürhalten jeden beliebigen Sektor auch der Milchstraße treffen – jederzeit. Das Angksystem vielleicht ausgenommen. Er traute den Bractonen zu, für sich selbst auch dagegen wirksame Vorkehrungen treffen zu können.
Obwohl … Ein bizarrer Gedanke nistete sich in seinem Gehirn ein. Er musste ihm anzusehen sein, denn Scobee fragte sofort alarmiert. »Was ist? Du bist plötzlich so blass geworden – nachdem du die ganze Zeit vor Ärger eher rot wie vor dem Platzen ausgesehen hast …« Er lächelte gequält. »Ich frage mich nur gerade, ob …« »Ja?«, ermutigte sie ihn, nachdem ihm die Idee selbst schon wieder zu abwegig erschien. »Nun, ob den Bractonen nicht am Ende sogar daran gelegen sein könnte, dass die Zersetzung des Alls, wie wir es kennen, fortschreitet.« Jarvis signalisierte Verständnislosigkeit, sagte aber nichts. Scobee dachte eine Weile über seine Bemerkung nach, dann sagte sie: »Ich glaube, ich ahne, worauf du hinaus willst.« Er sah sie an. »Du denkst, es könnte für die Bractonen der ultimative Versuch sein, vielleicht doch wieder dorthin zu gelangen, woher sie einst kamen?« Er grinste entschuldigend. »Verrückt, ich weiß. Nehmt mich nicht ernst.« »Tun wir doch nie«, lästerte Jarvis. »Außerdem finde ich den Gedanken zwar absolut erschreckend, aber auch durchaus ins Denkmuster dieser Hirnis passend. Denen sind doch alle anderen völlig egal. Die wollen immer nur das Beste für sich selbst herausschlagen.« »Allerdings war ihr Entsetzen, als wir sie mit den Daten aus Samragh konfrontierten, absolut echt, finde ich«, gab Scobee zu bedenken. Cloud nickte, erleichtert, dass sich die erhofften Gegenargumente zu seiner These fanden. »Sie könnten allerdings auch selbst erst nach dem Abklingen des ersten Schreckens auf die Idee gekommen sein, die Auflösungserscheinungen ›ihres‹ Kosmos für sich zu nutzen«, gab Jarvis zu bedenken.
»Aber wäre das nicht viel zu einfach? Haben sie uns nicht ganz zu Anfang mal erklärt, dass es eben nicht damit getan wäre, die Perlen abzuschalten – um so wieder ins Urkontinuum zurückzugelangen?« Mehr und mehr Details ihrer damaligen Unterhaltung tauchten wieder aus Clouds Gedächtnis auf. Und so war er es, der seine eigene These am nachhaltigsten infrage stellte. »Wir können es nur hoffen. Denn sonst …« Scobee ließ unausgesprochen, was dann sein würde. Aber alle, die sie hörten, wussten, worüber sie gerade nachdachte. »Wenn ich das richtig überblicke, gibt es also zwei Möglichkeiten«, dozierte Jarvis in Oberlehrermanier. »Erstens: Die Bractonen meinen es ernst, dann kriegen wir das auch irgendwann mit, weil sie mit uns nämlich zum Milchstraßenzentrum aufbrechen, um dieses Perlen-Dings, in dem wir stecken, dorthin zu verfrachten. Oder zweitens: Sie lassen nichts mehr von sich hören, nie mehr, und wir stecken für alle Zeiten in diesem Kerker fest, in den sie uns unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gelockt haben. Wenn sich Naldor oder ein anderer Falter nicht bald mal wieder bei uns sehen oder hören lassen, können wir die ganze Chose knicken. Dann müssen wir uns sehr bald selbst was einfallen lassen, wie wir diese überheblichen Heinis vielleicht doch noch knacken. Und wenn das ganze Angksystem dabei hopps geht!« So weit wollte Cloud nicht gehen – und er wusste, dass auch Jarvis es nicht ganz so ernst meinte. Aber prinzipiell hatte der Freund recht. Es lag jetzt an den Bractonen – sie selbst waren zum Abwarten verdammt.
Es vergingen Tage. Tage ohne jedes Feedback von Seiten der Bractonen. Und so wurde Möglichkeit zwei – dass sie hier bis in alle Ewigkeit schmoren sollten – allmählich immer wahrscheinlicher. Im ›Dorf‹ war es zu keinen weiteren Unregelmäßigkeiten gekommen. Inzwischen konnte Sesha nicht einmal mehr jene einminütigen Rückzüge in die Häuser beobachten, die sonst an der Tagesordnung
gewesen waren. Waren die Angks vorsichtiger geworden? Wollten sie die Stammcrew lediglich in Sicherheit wiegen? »Die Zeit arbeitet gegen uns – und das Universum«, brachte es Aylea auf den Punkt, als sie mit Jelto durch dessen hydroponischen Garten streunte. Sie war seit Tagen traurig. Anfangs hatte sie nicht verstanden, warum. Inzwischen glaubte sie es zumindest zu ahnen. Und wem anders als Jelto hätte sie sich anvertrauen können? Der Klon war wie ein großer Bruder für sie. »Du bist viel zu pessimistisch für dein Alter«, warf der Florenhüter ihr, rundheraus wie immer, vor. »Du bist zwölf … wirst du nicht bald dreizehn? Hey, den Geburtstag müssen wir aber groß feiern!« Sie lächelte, zeigte aber klar, dass sie sich von seinem Ablenkungsversuch nicht ködern lassen wollte. »Was würdest du tun?« »Wegen Winoa?« »Natürlich wegen Winoa!« Sie hatte ihm von dem Mädchen aus dem ›Dorf‹ erzählt. Und dass sie sie vermisste – obwohl sie sich bislang nur einmal flüchtig begegnet waren. Doch da war, meinte sie, etwas zwischen ihnen gewesen, es hatte klick gemacht. »Die Chemie stimmte einfach«, hatte sie es Jelto zu erklären versucht, und der hatte weise genickt. »Das kommt vor. Wie bei uns beiden, oder?« Zu ihrer Verblüffung wurde ihr das erst bewusst, als er es sagte. Genauso war es tatsächlich – wie zwischen ihr und Jelto … nur noch eine Idee anders. Weil Winoa eben ein Mädchen war, wie Aylea auch, und weil sie ungefähr im gleichen Alter waren. »Ich würde«, kam Jelto auf ihre Frage zurück, »zu ihr gehen.« »Aber –« »Du meinst, weil das ›Dorf‹ unter eine Art Quarantäne gestellt wurde?« Sie nickte bekümmert. »Aber das gilt, soweit ich weiß, nur einseitig.« »Du meinst …?«
»Ich meine, jeder von uns kann jederzeit zu denen hinein. Nu die dürfen momentan nicht in andere Bereiche des Schiffes. John fürchtet irgendeine Hinterlist der Bractonen. Weniger der Angkstämmigen selbst. Die sind, wenn überhaupt, eher selbst Betroffene, keine Täter.« »Weiß man das?« Er schüttelte den Kopf. »Wissen nicht, aber einiges spricht dafür, dass sie fremdbestimmt sind, zumindest zeitweise. Du hast es ja selbst erlebt.« Sie nickte. »Aber einfach so hingehen …« »Was glaubst du, wie würde Winoa reagieren?« »Weiß nicht …« »Sie würde sich freuen!« »Sicher?« »Das glaube ich, ja. Wie würdest du dich fühlen?« »Beschissen«, sagte Aylea. »Ganz mies und beschissen. Alle schneiden die Angkstämmigen seit dem jüngsten Vorfall. Als wären es Aussätzige.« »Du hast es klar erkannt.« »Dann …« Er nickte aufmunternd. »Ja, tu das. Und wenn's schief geht … beim grünen Himmel, dann kommst du halt wieder, aber hast es wenigstens versucht!« Aylea hatte sich bereits umgedreht und lief Richtung Ausgang. Sie winkte Jelto zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Klon schaute ihr nach, bis sie zwischen all dem Grün verschwunden war. Er hoffte, sie richtig beraten zu haben. Denn wer wusste schon, was wirklich im ›Dorf‹ … und in den Angks vorging …?
Sie war überrascht. »Ich hätte nicht geglaubt …«, setzte sie an. »… dass ich noch mal vorbeischauen würde?« Sie nickte.
»Hätte ich nicht?« »Doch! Doch …« »Aber du scheinst dich nicht wirklich zu freuen.« »Ich bin … Entschuldige! Komm doch rein!« »Lieber nicht.« Aylea blickte zu Boden. »Du denkst auch, wir seien Monster, stimmt's?«, fragte Winoa. Sie stand in der Tür ihres Elternhauses. Ihr Gesicht wirkte schmaler als beim letzten Mal. Als hätte sie seither kaum etwas gegessen. Und um ihre Augen lagen dunkle Ringe; Zeichen von Schlafmangel. Was tun wir ihnen nur an?, dachte Aylea und gab sich selbst eine Mitschuld daran. »Wäre ich hier, wenn ich das glaubte?« Winoa überlegte, schüttelte dann den Kopf. Hinter ihr erklang die Stimme von Assur. »Wer ist es denn, Liebes?« Ohne sich umzudrehen, antwortete Winoa: »Aylea.« »Warum bittest du sie nicht herein?« »Sie – will nicht.« Jetzt war es Aylea peinlich. Sie gab sich einen Ruck. Setzte ihren Fuß über die Schwelle. Über Winoas Züge huschte ein Leuchten, sie trat beiseite, um Platz zu machen. Drinnen war es gemütlich eingerichtet. »Ich zeig dir mein Zimmer«, sagte Winoa. Aylea nickte und folgte ihr. In einem Nebenraum, dessen Tür offen stand, saßen Assur und Rotak und unterhielten sich miteinander. Als Ayleas Blick sich mit ihren Blicken kreuzte, winkten sie ihr freundlich zu. Nein, entschied sie endgültig, keine Monster. Aber ganz wohl war ihr trotzdem nicht. Winoas Zimmer sah aus wie eine Miniaturausführung von Jeltos Garten. Auf den ersten Blick sah man gar keine Möbel, nur Pflanzen. Der Florenhüter hätte seine helle Freude gehabt, aber auch Aylea machte der Anblick Winoa nur umso sympathischer. Sie selbst mochte Grün- und Blütenpflanzen auch über alles. »Das ist ja eine richtige Wildnis …« Winoa nickte. »Meine Eltern schimpfen jedes Mal, wenn sie rein-
kommen. Ihnen ist es zu wild. Dir gefällt es bestimmt auch nicht …« »Im Gegenteil!« »Wie wohnst du?« »Allein.« »Nein, ich meine: Wie bist du eingerichtet?« »Viel zu brav gegen das hier … Aber das wird mir jetzt erst bewusst.« Sie lachten. »Du musst mich unbedingt auch mal besuchen …« Sie stockte. Verdammt, dachte sie. »Ich meine, wenn die ganze Aufregung vorbei ist und die Dinge geklärt sind, die jetzt noch für … Misstrauen sorgen.« »Du meinst, so wird es kommen?« »Klar. John ist kein so sturer Heini wie ihr vielleicht glaubt. Er macht sich Sorgen. Würdet ihr doch auch, wenn wir zu euch gekommen wären und ihr nach und nach ein paar … Merkwürdigkeiten bemerkt hättet.« Winoa lächelte scheu. »Wahrscheinlich.« Sofort wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Wenn du wüsstest, wie gerne wir euch helfen würden!« »Wobei?« »Bei der Aufklärung!« »Ihr … wisst wirklich nicht, was vorgeht?« »Nein!« »Schon gut, ich glaub dir ja.« Winoa machte ein paar Schritte tiefer ins Zimmer, und Aylea folgte ihr. Je länger sie sich in dem Raum aufhielt, desto mehr Details wurden für sie erkennbar. Winoas Mobiliar war in die Gewächse integriert. Ein kleiner Baum war nicht nur Baum, sondern seine Zweige auch Regale. Und zwischen Gebüsch entdeckte Aylea eine Schlafhöhle, die sie sofort begeisterte. Als Winoa es bemerkte, forderte sie sie auf, ihr hinein zu folgen. Dort kuschelten sie sich in Decken und Kissen und plauderten weiter. »Das hast du unmöglich alles selbst gemacht, oder?« »Die Pflanzen gab mir Jelto.« »Ihr kennt euch?« Aylea war ehrlich überrascht. »Davon hat er mir gar nichts gesagt!«
»Vielleicht hat er es einfach vergessen.« Das bezweifelte Aylea. Wichtiges vergaß Jelto selten. Und das wäre wichtig gewesen. »Wart ihr in letzter Zeit noch mal … drüben?« Winoa wusste sofort, worauf sie anspielte. Sie schüttelte den Kopf. »Sesha sagt auch nein. Keine Ahnung, warum.« »Ich frage nur, weil …« »… du Angst hast, mit rüberzurutschen, wenn wir gehen.« Sie nickte. »Aber ihr habt selbst gar keine Erinnerung an euren Aufenthalt? Zum Beispiel auf dieser Lichtung, mit den Figuren …« Winoa schüttelte traurig den Kopf. »Wir wissen darüber nur von euch. Von dir.« »Die Bractonen müssen etwas mit euch gemacht haben.« »Aber warum?« »Weiß ich nicht. Wie wurdet ihr ausgewählt? Wie habt ihr erfahren, dass ihr … für das Schiff bestimmt seid?« »Meine Eltern wussten es von Kindesbeinen an. Und ich erfuhr es ungefähr mit acht.« »Dass du auch mitkommen wirst? Ihr habt selbst gesagt, es kommt selten vor, dass komplette Familien zu den Auserwählten bestimmt wurden.« Winoa nickte. »Und was passierte mit denen, die Familie auf Angk hatten, aber nur einer auserwählt wurde?« »Die anderen blieben zurück.« »Aber –« »Es war alles freiwillig. Wir, die wir hier sind, haben uns dafür entschieden. Weil das Abenteuer lockte. Die Weite des Alls. Das Angksystem bietet eine enorme Vielfalt, aber die Bewohner sind doch an seine Grenzen gebunden. Die RUBIKON bietet die Chance, über den Tellerrand hinauszusehen. In Bereiche vorzustoßen, die wir auf Angk bis dahin nur in der Theorie kannten.« Winoa überlegte kurz. »Aber kam es auch vor, dass Kinder, deren Eltern beide zur RUBIKON wechselten, auf Angk zurückblieben?« Winoa zuckte Achseln. »Kann sein.«
»Das ist doch furchtbar!« Das Angkmädchen schüttelte den Kopf. »Du stellst es dir völlig falsch vor. Das Kind, von dem wir gerade theoretisch sprechen, wäre nicht allein. Auf Angk wird sich gekümmert. Um jeden.« »Das klingt mir sehr …« »… utopisch?« Aylea nickte. »Genau das war der Ansatz, den Kargor uns damit mit in die Wiege – die Wiege des Neuanfangs – legte. So wird es uns überliefert. Wir wurden zu einer Gesellschaft der Toleranz und Nächstenliebe erzogen.« »Gezwungen«, sagte Aylea. »Unsinn. Leg doch mal deine verkrustete Denkweise ab, nur für einen Moment, und versuche andere Gesellschaftsideen zu akzeptieren. Wir sprechen ja nicht von Diktatur.« »Nicht?« »Du meinst, weil die Bractonen alles bestimmen?« »Zum Beispiel.« »Tun sie nicht. Wir leben gleichberechtigt neben ihnen.« »Das wisst ihr doch gar nicht. Sie sind doch noch viel zu kurz zurückgekehrt, als dass ihr das überschauen könntet. Wenn sie es euch vorgaukeln wollen …« »Misstrauen. Immer wieder Misstrauen! Scheint die Grundtriebfeder der alten Menschheit zu sein.« Aylea schwieg beschämt. Nach einer Weile blickte sie scheu zu Winoa. »Jetzt willst du mich wohl nicht mehr als Freundin?« Überraschend lachte Winoa über das ganze Gesicht. »Jetzt erst recht! Mit dir kann man so schön streiten!« Aylea blieb stundenlang bei ihrer neuen Freundin. Insgeheim dankte sie Jelto für seinen Zuspruch, ohne den sie sich vielleicht nie getraut hätte, über ihren Schatten zu springen. Und als sie schließlich ging, war klar, dass sie wiederkommen würde, wann immer sie Zeit hatte. Am liebsten wäre sie gleich im Dorf eingezogen.
13. Tag fünf. Ehrenwache. Cy nannte es so für sich selbst. Er lächelte tief in seine Knospen hinein. Angst war ihm fremd geworden. Die Tage damals auf Nar'gog, Tage, da er sich seinen Körper mit anderen Bewusstseinen hatte teilen müssen*, hatten ihn gestärkt. Er hatte es erst viel, viel später gemerkt. Aber die Feuertaufe hatte einen anderen Aurigen aus ihm gemacht. Von da an war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Er war ganz allein in der Zentrale, hatte auf dem Kommandositz Platz genommen, der eigentlich John Cloud vorbehalten war. Aber der Commander hatte es erlaubt. Früher hatte Sobek diesen Platz innegehabt. Nun war der Mächtigste der Foronenmächtigen tot. In der Großen Magellanschen Wolke hatte sein letztes Stündchen geschlagen. Cy war erleichtert darüber. Sobek war ein unberechenbarer Faktor gewesen, solange er lebte. Und als solcher hatte er die von Mecchit in Samragh aufgebauten Herrschaftsstrukturen übernehmen wollen. Welche künftige Bedrohung da für die Milchstraße herangewachsen wäre, war gar nicht abzusehen. Sobek hätte nie Frieden gegeben. Nun hatte er seinen Frieden, den hoffentlich ewigen … An Bord der RUBIKON war der Nachtmodus eingekehrt. Die meisten Besatzungsmitglieder schliefen. Verändert hatte sich seit Tagen nicht das Geringste. Die RUBIKON saß in der Tridentischen Kugel fest, ohne den leisesten Kontakt zu den Bractonen. Alle Versuche, über Funk an sie heranzutreten, waren gescheitert. Und die ER*denen der damaligen Allianz CLARON, dem Bündnis der Organischen
BAUER selbst meldeten sich nicht. Nicht mehr. Der Hangar der Perle, in dem sich die RUBIKON befand, hatte Potenzial, auch zu ihrem Grab zu werden. Trotzdem fürchtete Cy sich nicht. Er war ein grundzufriedenes Wesen. Schon Kleinigkeiten machten ihn glücklich. Ein Gespräch mit Jelto etwa, wenn dieser ihn freundlich in seine Aura einband. Oder die Nähe von Aylea. Das Mädchen kam mit jedem an Bord gut aus. Die Kinder fast jeder Spezies hatten diese Gabe. Man musste sie nur fördern, durfte das Gute in ihnen nicht unterdrücken, nicht einmal ignorieren. Kinder brauchten Bestätigung, Zuspruch, offenes Wort und offenes Ohr und auch … Pflichten, Regeln. Auf all das konnte Aylea bauen. Sie fand stets Gehör, und das war richtig so. Manchmal wünschte sich Cy, auch noch Kind zu sein. Aber er wünschte sich nie, keine Pflanze zu sein. Kein »Gestrüpp«, wie Jarvis es mitunter despektierlich nannte. Aber Jarvis genoss Narrenfreiheit, auch bei Cy. Weil der harte Typ einen blütenweichen Kern hatte. Nein, Cy war rundum zufrieden, obwohl die Situation als solche mit jedem Tag trostloser wurde. Am meisten nahm das alles John mit. Der Commander war zur Tatenlosigkeit verdammt, und in ihm brodelte es. Lange würde das nicht mehr gut gehen, und dann würden die Verzweiflungstaten beginnen. Davor hatte Cy Angst. Aber nur, weil er um diejenigen fürchtete, die dann in den Einsatz gehen würden. Jarvis natürlich. Jarvis war immer der Erste, der sich für Himmelfahrtskommandos meldete. Oder Jiim mit seiner Nabissrüstung. Allerdings hatte Jiim seit geraumer Zeit Verantwortung für ein Junges. Für Yael. Und deshalb musste auch er zweimal überlegen, bevor er sich in ein waghalsiges Unternehmen stürzte. Ich, dachte Cy und räkelte sich in seinem Sitz. Eigentlich wäre ich mal an der Reihe. Immerhin habe ich mich als Stellvertreter des Comman-
ders bewährt. Ein Außeneinsatz und sei es ein Kamikazeunternehmen, wäre jetzt genau das Richtige. Das Selbstbewusstsein durchpulste ihn bis in die letzte Kümmerwurzel. Er war wild entschlossen, sich Cloud anzutragen. Als Kämpfer. Ja, er würde kämpfen. Er würde sich mit seinen Zweigen – »Rufe John Cloud her.« Der Gesang riss Cy mit der Gewalt einer Sirene aus den Träumereien. Fassungslos starrte er auf den Bractonen, der sich in der Holosäule materialisiert hatte. »N-naldor?« »Wer sonst? Rufst du ihn jetzt?« »E-er schläft.« »Wenn das wichtiger ist …« Der ERBAUER wandte sich halb um, wie zum Gehen. Cy gefror fast der Pflanzensaft in den Blättern. »Halt! Schon gut! Ich … ich kontaktiere ihn!« Naldor drehte sich ihm wieder zu. »Gleich.« Cy aktivierte die bordinterne Sprechanlage und wählte Clouds Kabine an. »Commander? Commander, ich störe ungern, aber …«
Cloud war sofort hellwach. Als Cy erklärte, warum er ihn geweckt hatte, wusste er, dass er auf diesen Moment die ganze Zeit gewartet und gehofft hatte. »Ich komme! Eine Sekunde …« Er schwang sich aus der Koje. Komplett angekleidet. In letzter Zeit legte er sich immer in voller Montur hin – weil er bereit sein wollte, wenn sich etwas Gravierendes tat. Wie nun geschehen. Über einen Türtransmitter erreichte er die Zentrale in Rekordgeschwindigkeit. Die Zeit, sich in der Hygienezelle zu erfrischen, hatte er sich nicht genommen. Verstrubbelt und mit deutlich sichtbarem Bartschatten eilte er auf das Kommandopodest, wo Cy ihn mit raschelndem Gezweig begrüßte … und Naldor immer noch in der Ho-
losäule stand, als genieße er das Spiel der Pixel auf seiner Haut wie andere Leute wärmende Sonnenstrahlen. »Du hast nach mir rufen lassen, Naldor?« Cy war wie selbstverständlich auf einen Nachbarsitz gewechselt, und Cloud stellte sich nun vor seinen. Setzen wollte er sich nicht, noch nicht. Der ERBAUER trat aus der Holosäule. Seine Physiognomie war undeutbar. »Es ist so weit.« »Und was? Starten wir?« Naldor verneinte. »Wir müssen nicht mehr starten.« Sesha meldete: »Achtung, er vernetzt sich mit dem Schiff, nimmt Zugriff auf wichtige Funk-« Die KI verstummte wie abgeschnitten. »Du erinnerst mehr und mehr an Kargor in seiner frühen Kotzbrockenphase«, knurrte Cloud. »Ich weiß nicht, was das werden soll, aber gib die KI wieder frei. Du bist Gast an Bord, nicht der Befehlshaber – zumindest wurde mit mir über keine Abgabe des Kommandos gesprochen.« »Die KI ist frei, aber sie spricht erst wieder, wenn es Sinn macht. Wir sollten uns nicht stören lassen. Wichtiges steht bevor, wir sind in einer entscheidenden Phase.« »Und die wäre? Von welcher Phase redest du? Warum warst du über Tage unerreichbar? Warum wurde uns das Gefühl gegeben, im eigenen Schiff gefangen zu sein? Das alles habe ich mir ehrlich anders vorgestellt. Ganz zu schweigen von den Angkstämmigen an Bord, die mal verschwinden, mal da sind – und dabei neuerdings ihren ganzen Quartiertrakt mitnehmen!« Naldor ging nur auf die erste Frage ein. »Von dieser Phase«, sagte er, »ich spreche von dieser Phase – und dachte eigentlich, alles sei besprochen. Wir waren uns einig …« Cloud wollte aufbrausen, in diesem Moment veränderte sich die Darstellung in der Holosäule. Wo seit Tagen die Ödnis eines golden schimmernden Hangars übertragen worden war, brach plötzlich das Weltall mit seinem Kontrastprogramm aus Samtschwarz und Sternenleuchten über die Zentrale herein. Cy zuckte zusammen und erstarrte regelrecht in seinem Sitz.
Cloud sah mit einem Blick, welche galaktische Region das Hologramm wiedergab. Das Zentrum. »Warum zeigst du mir diese Aufzeichnung schon wieder?« Das Bild zeigte keine x-beliebige Zentrumsregion, sondern das Zentrum schlechthin: das Super Black Hole, hinter dessen Ereignishorizont einmal eine CHARDHIN-Station verankert gewesen war. »Wie kommst du auf Aufzeichnung?«, sang Naldor, Täuschte sich Cloud, oder klang der Bractone tatsächlich verschmitzt? Er musste sich täuschen. ERBAUER hatten keinen Sinn für Humor. Und schon gar nicht Geschöpfen gegenüber, die sie wie Figuren hinund herzuschieben beliebten. »Weil –« »Es tut uns leid, dass es so lange dauerte, aber eine Tridentische Kugel ist zu wertvoll, um sie mit Höchstgeschwindigkeit zu bewegen. Wir wollten sie vor Aufnahme ihrer Aufgabe so wenig wie möglich strapazieren, deshalb dauerte es ein paar Tage eurer Zeitrechnung.« Cloud starrte zu Naldor, dann in die Holosäule … und schließlich wieder zu Naldor. »Was er sagen will …«, setzte Cy heiser an. »Ich weiß, was er sagen will«, unterbrach ihn Cloud tonlos. »Bei den Marswinden, ich hab's kapiert …« Kapiert, dass die RUBIKON sich immer noch in der Tridentischen Kugel befand, diese sich aber längst nicht mehr auf Schaggrom. Das da draußen war das Milchstraßenzentrum, war das Super Black Hole, zu dem sie wollten. Und Naldor machte sich einen Spaß daraus, ihn sprachlos zu erleben. Große Sternengötter, was waren das für neue Züge an den ERBAUERN?
14. Nachdem Cloud seine engsten Vertrauten in die Zentrale gerufen hatte, erfuhren sie nach und nach weitere Einzelheiten: Demnach war die Tridentische Kugel von Schaggrom aus in tagelanger Reise hierher gelangt. Der Übergang in jene Sphäre, die hinter dem Ereignishorizont des Schwerkraftmonsters lag, stand unmittelbar bevor. Die RUBIKON sollte weiterhin in der Perle verbleiben, bis diese ihre fixe Position für die kommenden Jahrmilliarden eingenommen hatte. Dann würde sie ausgeschleust werden und in den Normalraum zurückkehren. In der Tridentischen Kugel aber würden bis auf Naldor sämtliche aus dem Angksystem mitgekommenen Bractonen verbleiben, bis die volle Funktionstüchtigkeit des Ersatzglieds der Ewigen Kette hergestellt war. Naldors Angaben zufolge waren es Hunderttausende. »Und wer lotst uns aus dem heiklen Raum jenseits des Horizonts?«, fragte Cloud. »Werden uns Gloriden zur Verfügung gestellt – oder übernimmst du Steuerung und Lotsendienste?« »Keine Gloriden«, wiegelte Naldor ab. »Sie werden alle auf der Station gebraucht. Auch nur einen von ihnen zu diesem Zweck mitzunehmen, wäre Vergeudung. Und auch ich werde mich auf dem Rückflug zurückhalten. Nein, die Navigation wirst du koordinieren, John Cloud, im Zusammenspiel mit deiner neuen Besatzung, die dann erstmals ihr wahres Vermögen in die Waagschale werfen kann.« »Du sprichst von …?« »… den Angks«, bestätigte Naldor, »wie ihr sie nennt.«
Er hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Ohne allerdings wirklich konkret zu werden. Die Angkstämmigen des ›Dorfes‹ als potenzielle Lotsen in Gefil-
den wie jenseits des Ereignishorizonts Schwarzer Löcher? »Naldor …« »Später«, vertröstete der Bractone. »Die Perlenbesatzung bereitet den Einflug zum Bestimmungsort der Tridentischen Kugel vor. Das ist ein kritischer Moment. Ihr wisst um die Bedingungen hinter dem Horizont. Ihr wart bereits dort und konntet zumindest einen Hauch der Kräfte beobachten, die dort wirksam sind. Raum und Zeit, die Gesetze der Schwerkraft existieren dort nicht mehr.« »Wir haben das Gesehene nicht einmal im Ansatz begriffen«, gab Cloud freimütig zu. »Unsere Instrumente sind offenbar auch völlig ungeeignet, die wahre Natur der Sphäre zu erfassen. Eine Definition scheidet damit von vorneherein aus.« Naldor wiegte den Kopf. Er wirkte ernst und respektvoll, sodass seine Worte auch nicht falsch verstanden wurden – nicht einmal von Jarvis. »Es muss ja auch einen Unterschied geben zwischen Schöpfern und Schöpfung, oder? Würdet ihr als Kinder unseres EXPERIMENTS alles begreifen, was die Initiatoren sich erdachten, würdet ihr auf einer Stufe mit uns stehen. Das ist nicht der Fall. Ihr seid den Begrenzungen eurer Gehirne unterworfen. So wie wir es dort, woher wir kommen, auch waren. Es gibt immer ein ›höherstehend‹, ein ›darüber‹. Wir sind uns dessen bewusst, dass wir nicht die Krone jedweder Schöpfung sind. Es hat sich uns nie erschlossen, wer oder was uns dereinst schuf. Wir waren stets Suchende. Und sind es noch heute. Betrachtet das EXPERIMENT als einen weiteren Versuch, der Schöpfungskraft, die uns in unseren Kosmos pflanzte – unseren Kosmos insgesamt erst erschuf –, auf die Spur zu kommen.« Cloud wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund fand er die Worte des Bractonen tröstlich. »Das macht euch fast menschlich«, spöttelte er. Naldor lenkte sein Augenmerk auf die Holosäule. »Ich habe eure Instrumente mit ihrer Hilfe …« Meinte er die Angks? »… sensibilisiert. Zugleich habe ich Sperren, die die Tridentische Kugel für Fremdobjekte in ihrem Innern errichtet, neutralisiert. Ihr vermögt nun durch die Wände und Decks der Perle hindurchzuschauen mit den Augen eures Schiffes. Und was ihr gerade seht, wisst ihr: Die
Perle befindet sich an der Pforte zwischen Normal- und Zwischenraum. Als Zwischenraum bezeichnen wir die Sphäre, in der die Station verankert werden soll. Sie ist dort sicher vor dem Zugriff jeder bekannten Tech-Zivilisation dieses Universums.« Cloud wollte an die Vorkommnisse in der Ursprungsperle dieses Black Holes erinnern, aber Naldor machte deutlich, dass er die dortigen Vorkommnisse weder ignorierte noch vergessen hatte. »Es gibt immer noch etliche ungeklärte Fragen im Zusammenhang mit der von Kargor – der Entität Kargor – abgeschotteten CHARDHIN-Station. Die Isolation vom universellen Netz – der Ewigen Kette, wie mein Volk dazu sagt – galt als gelungen und abgeschlossen, als er die Tridentische Kugel schließlich aus der hiesigen Sphäre herausmanövrierte. Wir rechneten mit weit mehr Zeit, den Ersatz herbeizuschaffen, als es nun deutlich wurde. Allerdings gab es auch noch nie einen Präzedenzfall, wir sprachen darüber. Deshalb werden wir nun unverzüglich handeln. Sobald die Perle ersetzt wurde, ersetzt von einer über jeden Funktionszweifel erhabenen Neuperle, wird sich alles zum Guten wenden. Die bereits betroffenen Sektoren werden nicht wiederhergestellt werden können, jedenfalls nicht so, dass sie identisch mit den verlorenen wären, aber der Rest dieser kosmischen Region wird fortan geschützt sein.« »Das ist wahrscheinlich das Optimum, das wir herausholen können«, sagte Cloud. »Das siehst du richtig.« Das Super Black Hole bot ein atemberaubendes Schauspiel dort an der Grenze, wo kosmische Materie seiner unersättlichen Gier und Anziehungskraft zum Opfer fiel. Die Singularität würde auch die CHARDHIN-Perle verschlingen – allerdings würde diese sich zur Wehr setzen. Bis zu einem gewissen Maß würde sie Widerstand leisten, um nicht noch tiefer zu dem Punkt gezogen zu werden, wo sich alle Masse, aller Raum, alle Zeit zu etwas Raumzeitlosem verdichteten. Die Sphäre war eine Zwischenschicht vor dem, was kein Mensch sich wirklich vorzustellen vermochte. Bractonen schon – sonst wären sie schwerlich in der Lage gewe-
sen, ihre Stationen so auszustatten, dass diese sich permanent gegen jeden Sog behaupten konnten. Und die RUBIKON, sobald sie ausgeschleust wurde? Ohne Gloriden oder eine vergleichbare Instanz an Bord, wäre sie vermutlich dazu verdammt, dorthin zu verschwinden, wo alles verschwand, was das Schwarze Loch aufsog. Es wäre unser physisches und psychisches Ende. Mehr wusste Cloud darüber nicht. Aber das genügte, um in ihm den Ehrgeiz zu wecken, dieses Schicksal auf jeden Fall zu vermeiden. »Wie lange wird der Übergang zum Ankerplatz dauern?«, fragte Cloud. »Nicht lange«, versprach Naldor. Und das war noch untertrieben. Die Perle nahm Fahrt auf, nachdem sie zunächst in einer Art Orbit um das Monster-Black-Hole verharrt hatte. Nun raste sie geradewegs auf den Radius des Ereignishorizonts zu. Obwohl er es schon zweimal mitgemacht hatte, kam es Cloud auch diesmal wie ein selbstmörderischer Akt vor. Der Lichtkranz um das selbst unsichtbare Schwarze Loch nahm das Gold der Perle in sich auf, und dann … … begann der Albtraum.
Cloud hatte noch keinen Bractonen schreien hören. Bis zu diesem Moment. Dem Moment, als die Tridentische Kugel den Ereignishorizont überschritt … und in das raumzeitgesetzlose Gebiet dahinter wechselte. Naldors graziler Schmetterlingskörper schien von konvulsivischen Zuckungen erfasst zu werden. Und die zu bewegendstem Gesang fähige Stimme des ERBAUERS versank in schriller Disharmonie. Der Grund war offensichtlich. Der Grund war der Irrtum, dem die Bractonen offenbar aufgesessen waren. Auch Cloud hatte nicht mit dem gerechnet, was die Außenkame-
ras der RUBIKON jetzt übertrugen. Plötzlich stürmte Naldor flügelschlagend an ihm vorbei und warf sich ohne jede Erklärung in die Holosäule wie in einen Abgrund. Ein Lemming, war Clouds unbewusste Assoziation. Der Bractone wirkte in diesem Augenblick wie ein Lemming auf ihn, der keinen anderen Ausweg mehr sah als den Tod. Dass er sich dabei für außenstehende Betrachter genau in das Objekt warf, das die Wiedergabe des Hologramms dominierte, war Zufall. Aber passend. Denn ganz zweifellos hatte der Anblick dieses Objekts Naldors Überreaktion hervorgerufen. Das Objekt: rund, riesig, von perlenartiger Beschaffenheit. Nur eben … nicht golden. »Pulsierendes Schwarz … John – hast du eine Ahnung, was das bedeutet?« Auch Scobees Stimme hatte sich leicht ins Hysterische hinein verfärbt. »Hier dürfte doch keine CHARDHIN-Station mehr sein! Das war doch der Clou, oder bin ich auf dem Holzweg? Kargor hatte die Tridentische Kugel entfernt, hieß es die ganze Zeit. Er benutzte sie zuletzt doch wie ein Raumschiff … und verschwand damit auf Portas. Was ist dann aber das?« »Jedenfalls keine CHARDHIN-Perle … Sesha?« »Commander?« »Kannst du das Objekt identifizieren oder analysieren?« »Negativ.« Er hatte nichts anderes erwartet. »Dann wenigstens die Grobdetails!« »Durchmesser identisch mit einer Tridentischen Kugel. Form identisch mit einer Tridentischen Kugel …« »Geschmack identisch mit einer Tridentischen Kugel?«, fragte Jarvis scheinheilig. Vor ihnen, im diffusen Zwielicht eines raumzeit- und schwerelosen Raumes, hing das absolut schwarze Objekt, das den verwaisten Platz der CHARDHIN-Perle eingenommen hatte. Es hatte, was Sesha bestätigte, offenbar exakt dieselbe Größe wie die Station, die von Kargor aus dem Schwarzen Loch herausgelenkt worden war. Und seine lichtlose Schwärze war von einer fast lebendig wirkenden
Dichte. »Die Schwärze gibt eine Strahlung unbekannter Natur ab«, fuhr die KI fort. »Sie brandet unaufhörlich gegen die Tridentische Kugel.« »Das gefällt mir nicht«, murmelte Cloud. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Sind wir dem Strahlenschauer auch ausgesetzt?« »Bislang nicht. Das Material der Perle scheint sie zu absorbieren und zu neutralisieren. Aber genau kann ich es nicht bestimmen.« »Ein fürchterliches Ding!«, seufzte Scobee beklommen. »Mehr als das.« Er schüttelte sich. »Ob Naldor zu uns zurückkehrt – oder wir erst einmal wieder in die Warteschleife gelegt wurden?« »Letzteres ist wahrscheinlich. Wahrscheinlich haben er und die anderen Bractonen gerade alle Hände voll zu tun«, antwortete Cloud der Frau, die in den Jahren, die er sie kannte, noch attraktiver geworden zu sein schien. »Aber immerhin sind wir nicht mehr blind geschaltet.« Wenig später wünschte er sich beinahe, dem wäre so gewesen. Als die Katastrophe ihren Lauf nahm, die niemand vorhergesehen hatte – vorhersehen konnte. Nicht einmal die der Allmacht ziemlich nahen ERBAUER …
»Das sind durch und durch chaotische Strukturen«, kommentierte Jarvis, was die Holosäule ihnen zeigte. Und meinte damit die Bewegung, die über die Oberfläche des schwarzen Kugelgebildes lief, als würden sich immer wieder kleinere Protuberanzen bilden, die mit ihren Fingern hinaus in die Sphäre griffen, in der alle sonst gültigen Naturgesetze aufgehoben waren. Diese tentakelartigen Auswüchse lösten sich aber nie ganz von dem Objekt, sondern fielen immer wieder zurück. »Wenn ich den Beginn der Übertragung mit dem jetzigen Zustand vergleiche«, fuhr der ehemalige Gen-Tec fort, »gibt es eine klare Veränderung zu konstatieren: Die ›Protuberanzen‹ werden von Mal zu Mal größer.« Cloud musste ihm recht geben. Genau dasselbe war auch ihm auf-
gefallen. »Als würde die schwarze auf die Ankunft der goldenen Kugel reagieren …« »Noch präziser«, warf Scobee ein, »als würde die goldene das Schwarz … anziehen.« Sie drifteten immer näher an die Ballung aus brodelnder Finsternis heran. Gab es von Seiten der Bractonen keine Korrekturmanöver? Warum wurde die Annäherung zugelassen, solange nicht feststand, worum es sich bei dem schwarzen Objekt handelte? Oder wussten die ERBAUER es inzwischen? Cloud wusste nicht, woher er seine Überzeugung nahm, aber er war sicher, dass die Bractonen ebenso im Trüben fischten wie er und seine Crew. »Wir sollten respektvolleren Abstand halten«, sagte Jarvis, der ganz ähnliche Gedanken zu verfolgen schien. »Sie werden schon aufpassen. Es sind keine Anfänger.« Aus Scobee sprach der Wunsch, es müsse so sein. »Aber sie sollten bald etwas unternehmen, was wir hier als logische Reaktion auf das unbekannte Objekt werten könnten«, sagte Cloud. »Bislang habe ich eher den gegenteiligen Eindruck: Das alles ist verdammt undurchdacht – und wenig effektiv. Sie lassen es zu, dass wir dem Objekt immer näher kommen. Zugleich werden diese ›Ärmchen‹, die nach uns zu greifen scheinen, immer länger …« Es stimmte. Etwas Unausweichliches bahnte sich an – falls nicht unverzüglich gegengesteuert wurde: die Kollision beider Kugeln! »Sesha! Auf allen Frequenzen: Versuche, einen Kontakt zu den Bractonen herzustellen! Schnell!« Immerhin hatte Naldor vor seinem Verschwinden die Knebelung der KI zurückgenommen. »Verstanden. Alle Frequenzen.« Für ein, zwei Minuten herrschte angespanntes Schweigen. Dann sagte Sesha auf Nachfrage: »Negativ. Die Besatzung der Tridentischen Kugel reagiert auf keine Anrufe.« »Vielleicht sind sie schon alle …«, setzte Jarvis an. »Was?«, fuhr ihn Cloud gereizt an. »… außer Gefecht gesetzt.« »Oder tot?«
»Es wäre schon schlimm genug, wenn die unbekannte Strahlung sie paralysieren würde. Wer sollte dann noch Gegenmanöver einleiten, um der drohenden Kollision auszuweichen?« »Müsste die Strahlung nicht auch auf uns wirken?« »Nicht zwangsläufig. Ich denke schon, dass sich der Metabolismus von Bractone und Mensch grundlegend voneinander unterscheidet.« Cloud gab ihm im Stillen recht. »Aber wenn uns die Strahlung nicht schädigt, dann wird es dieses Ding da …« Er zeigte auf die Kugel in der Holowiedergabe. »… ganz sicher tun. Egal, was es ist: Es sollte hier nicht sein, das war allein schon an Naldors Reaktion zu erkennen. Und es hat auch nicht den Charme einer ›guten Gabe‹.« »Wo mag es herkommen?« Das war Scobee. Cloud zuckte die Achseln. Im Hologramm rückte die Schwärze unaufhaltsam näher, und erste »Ärmchen« begannen von drüben herüberzutasten. Der Moment, da es zum Kontakt kam, war absehbar. Die Folgen waren es nicht. Und dann war der befürchtete Moment – die Berührung – gekommen.
Ein schwarzer Tentakel wischte flüchtig über das Gold der Außenzelle – eine Bewegung, nur zu ahnen, und dennoch bis in die RUBIKON hinein zu spüren. Für einen Moment schienen die Systeme des Schiffes in ihrem Atem zu stocken. Bis … etwas geschah. Etwas durch Wände, Decken und Boden zu laufen begann – etwas, das seine Quelle nicht draußen im Unraum des Ereignishorizonts hatte, sondern innerhalb der RUBIKON. In einem Sektor, den man das Dorf nannte …
Algorian krümmte sich.
Der TON. Aylea hatte ihn lange nicht vernommen. Als er erklang, schlenderte sie gerade mit Winoa zwischen den Häusern herum. Das Dorf hatte mehr zu bieten als Quartiere. Die Kunstsonne beschien auch parkähnliche Flächen, auf denen Ruhezonen mit Wasserspielen und musikalischer Hintergrundberieselung eingerichtet waren. Zu einer dieser Zonen zog es die beiden Mädchen, deren Freundschaft seit ihrem Wiedersehen stark gewachsen war. Aylea hatte ihre Liebe für Angkmusik entdeckt. Die Komponisten und teilweise auch die Instrumente waren ihr völlig unbekannt, rührten aber ihre Seele an, wenn sie den Werken lauschte, die aus verborgenen Lautsprechern erklangen. Damit hatte sie eine weitere Gemeinsamkeit mit Winoa entdeckt, die selbst mehrere Angkinstrumente beherrschte und ihr versprochen hatte, sie in den Gebrauch einzuweihen. Sie hatten gerade auf einer Parkbank Platz genommen und ihre panflötenähnlichen Instrumente an den Mund gehoben, als der TON laut wurde. In ihren Köpfen. Winoa reagierte wie damals, war plötzlich unansprechbar und nur noch auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet. Mit geschmeidigen, keineswegs hölzernen Bewegungen rutschte sie von der Bank, erhob sich und entfernte sich von Aylea, die in den ersten Sekunden noch ganz mit sich selbst beschäftigt war. Als sie endlich akzeptierte, dass der ominöse TON zurückgekehrt war, hielt sie Ausschau nach der Freundin, die ein Stück weit auf die nächsten Häuser zugelaufen, aber noch vor Erreichen derselben stehen geblieben war. Aylea eilte ihr nach. »Sesha?« Die KI reagierte nicht. Etwas lag in der Luft. Etwas an der Luft selbst veränderte sich. Das Licht zog sich zurück. Überall stiegen nebelartige Schleier auf, die sich rasend schnell verdichteten. Ich muss hier weg!, war Ayleas alles überstrahlender Gedanke. Sie misstraute Winoa schon lange nicht mehr, und auch jetzt wurde kein Misstrauen in ihr wach. Nur Besorgnis. Für sie waren alle
Angks Opfer – wovon auch immer! Aylea langte bei ihrer Freundin an. Im Laufen hatte sie beobachtet, dass die Dorfbewohner ihr Verhalten geändert hatten. Sie strebten nicht mehr wie früher in ihre Häuser, wenn »es« begann, sondern suchten nur Stellen auf, wo sie ihre Hände gegen die Außenwände ihrer Behausungen oder einfach nur den nackten, blanken Schiffsboden legen konnten. So wie Winoa es getan hatte. Sie hatte sich einfach auf den Boden gesetzt und den stählernen Untergrund mit ihren Handflächen berührt. Als Aylea bei ihr ankam, hatte es schon begonnen. Etwas Grauenhaftes: Winoas Hand war in den Boden, der eigentlich hart und undurchdringlich hätte sein müssen, eingesunken. Bis zu den Handgelenken steckte sie schon drin. »Winoa, nein!« Schnelle Blicke zeigten Aylea, dass Ähnliches auch mit den anderen Angks passierte: Wo immer sie waren, was immer sie mit nackter Haut berührten … sie wurden von den Stellen, mit denen sie Kontakt hatten … ja, was? Absorbiert? Der Gedanke legte sich wie ein kalter Klumpen in Ayleas Brust. »Se-sha!« Auch jetzt blieb die KI stumm. Die Nebel verdichteten sich. Hier komm ich nicht mehr raus!, wurde Aylea klar. Aber versuchen wollte sie es – musste sie es! Sie versuchte gar nicht erst, Winoa aus ihrer Trance zu wecken. Selbst wenn es gelungen wäre: Da waren noch Hunderte, Tausende andere. Und sie musste jetzt erst einmal … … von … … hier … … weg …! Sie merkte nicht, wie sie erstarrte. Wie selbst ihr Denken gerann. Und das metaphysische Feld sie in sich aufnahm, auch ihre geistigen Ressourcen, obwohl sie gar nicht dazu gehörte, eigentlich … in das Reservoir leitete, das dem Untergang zu trotzen versuchte.
Die Tridentische Kugel, Meisterwerk der ERBAUER, eine von wenigen hundert aus ihren Arsenalen, hing an einer hauchdünnen »Kette«, die tentakelartig vom schwarzen Gegenpart der Perle herüberzüngelte. Die Kette war im Vergleich zur Größe beider Objekte tatsächlich nur hauchdünn, maximal zehn Meter im Durchmesser. Und dennoch schaffte sie es, sich zu straffen, ohne zu zerreißen, und dann auch noch spürbare Zugkraft zu entwickeln. Zugkraft, die die goldene Ersatzstation der Bractonen mit unglaublichem Tempo näher und näher an das Objekt brodelnder Finsternis heranführte. Zehn Meter im Durchmesser bei einer ersten Länge – im Moment der Berührung – von einigen hundert, wenn nicht tausend Kilometern. In dem Medium, in dem sich die Tridentische Kugel bewegte, gab es jedoch keinen natürlichen Widerstand, der ihre Bewegung gebremst hätte. Es dauerte weniger als zehn Sekunden, und die Kette verschwand – nicht, weil sie sich löste, sondern weil die Distanz zwischen beiden Objekten auf Null geschrumpft war. Und damit kam es zur … Kollision.
Keine Erschütterung – eher eine sanfte Verschmelzung. Cloud und die anderen Crewmitglieder auf dem Kommandopodest starrten in die Holosäule und wurden Zeugen des totalen Fiaskos. »Der schwarze Gigant sieht für mich aus wie eine völlig pervertierte Tridentische Kugel«, keuchte Scobee. »Wie der Antipode einer solchen. Ihr dunkles, zerstörerisches Gegenstück …« Cloud, der es hörte, hatte nicht das Gefühl, dass sie für andere sprach, eher für sich selbst. Sie versuchte, die durch ihr Hirn wirbelnden Gedanken zu kanalisieren, zu ordnen. Plötzlich setzte die Wiedergabe des äußeren Bereichs – der Sphäre jenseits der Außenhülle der Tridentischen Kugel – aus. Fortan zeigte die Holosäule nur noch interne Bereiche der RUBIKON. Cloud schaltete manuell hin und her, aber der Erfassungsbereich ließ sich
nicht mehr auf externe Bereiche erweitern. Auch nicht mit Seshas Unterstützung. Der Hangar war wieder zu sehen. Der Hangar, in dem die RUBIKON seit Schaggrom fixiert war. Die goldenen Wände verfinsterten sich. Es sah aus, als liefen Schatten darüber, in einem immer schneller werdenden Rhythmus, bis am Ende gar kein Wechsel hell/dunkel mehr stattfand, sondern nur noch Düsternis herrschte. Sie klebte wie eine licht- und glanzschluckende Patina an den Wänden – die im nächsten Stadium Blasen zu werfen begannen, als sei das Material extremer Hitze (oder Kälte) ausgesetzt. Die Holosäule flackerte kurz. Cloud glaubte schon, sie würde kollabieren, weil die Einflüsse innerhalb des Hangars nun auch auf die RUBIKON übergriffen – aber dann wurde der wahre Grund ersichtlich. Naldors Umrisse zeichneten sich darin ab. Verzerrt, überlebensgroß und von kleinen Störnestern durchdrungen, die wie Krebs an seiner Erscheinung fraßen. Ein Raunen löste sich aus den Kehlen der Betrachter. Als Cloud schon nicht mehr glaubte, dass der Bractone sich würde befreien können, trat er doch noch heraus. Nein, eigentlich sprang er, in einem wild verzweifelten Aufbäumen. »Sofort – raus!«, sang er. Und ließ keinen Zweifel daran, was er darunter verstand. »Ich habe das Hangartor entfernt. Startet durch!« Cloud wusste, was das in letzter Konsequenz bedeutete. Und handelte ohne Zögern. Das Gehäuse des Sarkophagsitzes schloss sich wie Hunderte Male davor. Anders war nur, was ihn dort im Dunkel der Abgeschiedenheit erwartete. Im Normalfall verband sich die Schnittstelle des Schiffes hier mit seinem Gehirn, und er wurde das Schiff, konnte bis in den letzten Winkel hineinspüren, konnte den Herzschlag der Maschinen und die kybernetischen Sinne der Sensorik benutzen, als gehörten sie zu seinem Körper. Was sich geändert hatte – um den Faktor hundert, vielleicht tausend – war die Intensität, die ihn förmlich in sich aufsaugte.
Er war das Schiff, ja, aber wenn er es früher mit seinem Geist vereinnahmt hatte, so vereinnahmte er es jetzt auch physisch. Er spürte zum ersten Mal seine Schwere, seine Dichte, den Geist, der es erfüllte, auch ohne dass Clouds Geist darin aufging. Es war nicht Sesha – es waren viele unterschiedliche, aber ineinander übergreifende Geister. Die Angks! Er wusste es im Moment des Erlebens. Niemand musste es ihm sagen. Und niemand musste ihm sagen, was er zu tun hatte, wollte er dieses einzigartige Kollektiv nicht von schwarzen Flammen verzehren lassen. In unmittelbarer Nähe wirkte eine negierende Kraft. Sie war unfassbar fremd und unfassbar stark. Wenn er jetzt nicht handelte – jetzt! –, würde es zu spät sein, überhaupt noch irgendetwas zu tun. Die Tridentische Kugel, in der sie geshuttelt worden war, zerbrach bereits, löste sich an mehreren Stellen auf und veränderte ihre Qualität, eignete sich die Merkmale dessen an, was sie auffraß. Cloud startete den Antrieb der RUBIKON – nicht den konventionellen Sublichtantrieb, sondern (es war eine intuitive Entscheidung) das Transitionstriebwerk. Ein Unding, das unbedingt zur sofortigen Vernichtung führen musste. Eine Transition aus der Sphäre heraus, die hinter dem Ereignishorizont eines Super Black Holes lag? Unmöglich! Aber da waren die Angks … Menschen mit ganz besonderen Fähigkeiten. Metaphysischen und PSI-Talenten. Menschen, die sich mit der RUBIKON verbunden hatten, bis hinein in ihre Zellstruktur. Sie waren im Moment des Bedarfs mit dem Schiff verschmolzen, nicht nur sinnbildlich, wie Cloud in seinem Sarkophagsitz, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Und vernetzter Geist, vernetzte Zellen bildeten einen unsichtbaren Schutzwall um die RUBIKON, der sie davor bewahrte, das Schicksal der goldenen Perle mit zigtausend Bractonen an Bord zu teilen. Die Transition schleuderte sie davon, just als einer der Kugeltenta-
kel nach ihr zu schnappen versuchte. Er ging ins Leere. Die RUBIKON sprang. Ohrenbetäubender Lärm, sinnesbetäubende visuelle Reize brachen über die Besatzung herein. Der Schmerz war wie ein wütendes Ungeheuer, das entfesselt seine Klauen in alles Leben an Bord trieb. Alles Leben schrie auf. Und alles Leben verlor das Bewusstsein … selbst der ERBAUER, der von Qual durchpflügt wurde. Aus! Es war, als würde jener ursprüngliche Stern, der vor Äonen kollabiert war und das Schwarze Loch erst erzeugt hatte, mit dröhnendem Gelächter noch im Sprung nach der RUBIKON greifen. Um sie zu zermalmen.
Sie waren noch immer in Sichtweite des gigantischen Schwarzen Loches, das die Zentrumsregion prägte. »Sichtweite« bedeutete in diesem Zusammenhang: Das Super Black Hole lag noch im Erfassungsbereich der Nahortungssysteme, konnte visuell erfasst und in der Holosäule aufgebaut werden. Allmählich kehrte das Leben an Bord zurück. Es hatte sich nie wirklich daraus verabschiedet, war aber wie in eine Todesstarre verfallen angesichts der Gewalten, die auf es eindroschen – sichtbare wie unsichtbare. Jarvis war einer der Ersten, die ins Bewusstsein zurückfanden. Und als er seinen zerflossenen, jeder Kontrolle entglittenen Nanokörper neu formte, die Umgebung aufs Korn nahm, sah er Naldor wie eine zerbrochene Puppe auf dem Kommandopodest liegen, halb in den Datenstrom der Holosäule gerutscht, halb aus ihr herauslugend. Jarvis erster Gedanke war: Der ist tot! Doch dann regte sich Scobee, schlug die Augen auf, und während er darauf wartete, sie ansprechen zu können, flatterten plötzlich auch Naldors Flügel. Erst nur wie zufällig, dann immer häufiger, und schließlich richtete sich der ERBAUER in einer fließenden Be-
wegung auf, straffte sich und fand in die Würde zurück, die ihm allzu oft als Arroganz ausgelegt wurde. Schon zuvor hatte Jarvis registriert, dass John Clouds Kommandositz immer noch geschlossen war. Er steckte immer noch drin, in dem Spezialgehäuse, das ihn vor Ablenkung schützte und ihm zugleich vollen mentalen Zugriff auf alle relevanten Schiffsbereiche ermöglichte. Aber die Gefahr, dass der Sarkophagsitz tatsächlich zu seinem Grab geworden war, war noch nie so groß gewesen. »Scob!«, knurrte Jarvis. »Soll ich?« Er zeigte zum Nebenplatz. Scobee verstand sofort, was er wollte. Sie nickte – mit Nachdruck. »Beeil dich!« Sie selbst sortierte sich noch, war noch nicht wieder ganz Herrin ihrer Sinne. Diese Transition übertraf selbst den seinerzeitigen Fehlsprung der RUBIKON nach Andromeda, als man auch die Zeit überwunden hatte, an Intensität und Nachwehen … Jarvis lenkte seinen Kunstkörper zum geschlossenen Gehäuse von Clouds Sitz und tastete nach dem Hebel zur manuellen Öffnung. Es klickte leise, als er einrastete. Gespenstisch lautlos hingegen bildete sich der Deckel in atemberaubendem Tempo zurück – wie in einer Zeitrafferaufnahme. Cloud lag zusammengesunken in der Sitzschale. »Diagnosefeld!«, orderte Jarvis bei Sesha, und die KI reagierte prompt. Aus dem Nichts entstand ein grünlicher Scanstrahl, der über Clouds Körper hinweglief. Die Daten, die Sesha einen Atemzug später in ein Hologramm fütterte, das über der Konsole des Sitzes aufflammte, gaben Anlass zur Erleichterung: Ohnmacht, ja, aber ansonsten keine erkennbaren Schädigungen, auch nicht im neuronalen Bereich. Ein Spinnenbot rauschte heran und injizierte Cloud ein Stärkungsmittel. Kurz darauf flatterten seine Lider, und er schlug die Augen auf. »Das hatte ich schon nicht mehr geglaubt«, presste er kratzig hervor, während er sich in eine geradere Haltung stemmte. »Was?«, fragte Jarvis.
»Deine hässliche Visage noch mal zu sehen – ich dachte, das wäre das Ende. Unwiderruflich!« »Das dachte selbst ich«, sang der ERBAUER, der sich bislang mit jeder Äußerung zurückgehalten hatte, »aber für viele, viele meiner Art war es das auch: das unwiderrufliche Ende. Der Tod nach Jahrmilliarden …«
Ja, ihm war Betroffenheit anzumerken. Mehr als das. Naldor wirkte wie vom Donner gerührt, und dass die RUBIKON dem dunklen, pervertierten Ebenbild einer Tridentischen Kugel entkommen war, konnte ihn nicht über die wahrscheinlich schwerste Niederlage hinwegtäuschen, die sein Volk je erlitten hatte. Der Verlust der CHARDHIN-Perle, die das angeschlagene Raumzeitgefüge – die Wirklichkeit dieses Kosmos – hatte stabilisieren sollen, war das Eine. Eine ganz andere Sache waren all die Bractonen, die mit der Perle in den Untergang gerissen worden waren. »Diese … Kugel aus Finsternis hat sie regelrecht assimiliert!« Cloud fiel kein besserer Vergleich ein. »Naldor, was war das? Ihr hattet mit keinem Wort erwähnt –« »Wie sollten wir etwas erwähnen, das uns noch viel überraschender traf?«, unterbrach ihn der ERBAUER. Trauer war das dominierende Element seines Gesangs. Aber es schwang auch Angst mit. Sorge. Und ein Hauch Hoffnungslosigkeit. Vor allem Letzteres verursachte Cloud einen Kloß im Hals. Ein ERBAUER, der am Resignieren war – viel Schlimmeres konnte nicht passieren. »Wie sind wir diesem höllischen Gebilde entkommen?«, fragte Scobee. »Ich meine: transitieren innerhalb eines schwarzen Lochs – das geht doch gar nicht?« Cloud erinnerte sich vage an seine Empfindungen und Erkenntnisse unmittelbar vor dem Sprung. »Es hat mit den Angks zu tun«, sagte er. »Sie … sie sind in der Lage, mit dem Schiff zu verschmelzen – frag mich nicht, wie. Jedenfalls geben sie dabei ihr volles Geistespotenzial an die RUBIKON ab, besondere Kräfte, die seit Geburt in ihnen schlummern müssen. Und nur mit deren Hilfe konnten wir da
wieder heil herauskommen – sonst hätte uns die schwarze Kugel auch verschlungen.« Scobees Augen waren selten so groß gewesen. »Dann … war das gar keine Transition?« »Keine, wie wir sie kennen.« Sie nickte. »Die Angks haben uns demnach gerettet. Und sie – haben sie es auch überstanden? Oder mussten sie für ihre Hilfe teuer bezahlen?« »Sesha?« »Dorf einsehbar«, meldete die KI und schickte Bilder in die Holosäule. Überall lagen Menschen auf den Straßen zwischen den Quartieren. Einige rappelten sich gerade auf, andere waren noch halb im Boden oder in Wänden versunken und noch nicht wieder aus ihrer Trance erwacht. Und irgendwo lief ein Mädchen herum. Keine Angkgeborene … »Aylea!« Das war Jarvis. »Sie scheint völlig desorientiert. Was zum Henker tut sie da?« »Sie lebt, das ist erst einmal die Hauptsache«, wiegelte Cloud ab. »Sesha, kümmere dich um sie. Kümmere dich um alle im Dorf. Bots aussenden. Ich will keine Verluste, keine! Haben wir uns verstanden?« »Ich kann nicht garantieren –« »Das ist ein Befehl. Du bist da, um Befehle zu befolgen – tu es einfach!« Er wusste, wie unlogisch er argumentierte. Aber er konnte nicht anders. Er wollte nicht, dass es neben all den Bractonen in der gescheiterten Tridentischen Kugel auch nur einen einziges Opfer hier an Bord gab. Naldor hielt einen faustgroßen Kristall in den Händchen und drehte ihn, als müsste er jede Facette inspizieren. »Was ist das?«, fragte Cloud. »Ein Kristall mit den Daten, die wir seit Beginn der Sichtung der Negaperle aufzeichneten. Ich konnte sie sichern und mit herübernehmen, als ich …«
… floh, vollendete Cloud im Geiste für den Bractonen. Der ERBAUER wurde offenbar nur schwer damit fertig, der einzige bractonische Überlebende der Mission zu sein. »Was für ein Desaster«, murmelte Jarvis. Zum ersten Mal war selbst ihm jede Lust auf Streiterei vergangen. Cloud fragte: »Was ist eine Negaperle? Ich höre den Begriff zum ersten Mal.« »Er war auch mir unbekannt«, erwiderte der ERBAUER. »Aber er bietet sich an, wenn man in Betracht zieht, was dieses Objekt darstellt und bewirkt.« »Darüber habt ihr Erkenntnisse gewinnen können?« Der Bractone bestätigte düster. »Schlimme Erkenntnisse. Der Zirkel wird entsetzt sein, wenn er damit konfrontiert wird. Die Negaperle, der wir begegneten, wirkt in vielem wie ein negatives Abbild einer Tridentischen Kugel. Woher sie kommt, vermag ich nicht zu sagen, auch wenn ich einen Verdacht hege. Während wir auf sie zugezogen wurden, orteten wir eindeutige Anzeichen dafür, dass gewaltige Aktivitäten in ihr abliefen.« »Die Angriffsvorbereitungen?« Naldor flatterte hektisch mit seinen Flügeln. »Nein. Mit uns hatte das nichts zu tun. Das, was uns widerfuhr, der Perle, mit der wir kamen, scheint nur ein Nebenprodukt der physikalischen Beschaffenheit des Objekts zu sein. Wenn unsere Kugel positiv war, war die andere negativ. Beides zog sich unaufhaltsam an. Im Moment der Kollision kam es zur Vernichtung.« »Aber«, wandte Cloud ein, »hätte dann nicht auch die ›negative Kugel‹ vernichtet werden müssen? Materie und Antimaterie – eine Kollision würde beides vernichten.« Naldor hielt den Kristall hoch. »Darin ist alles gespeichert. Im Angksystem werden wir es sichten. Fakt ist: Die Negaperle existiert weiterhin, davon müssen wir ausgehen. Und ebenfalls Fakt ist, was wir zweifelsfrei anmaßen.« »Wovon redest du?« »Davon, dass die Aktivitäten in ihr, die wir feststellten, auf die Bemühungen der Perle zurückzuführen waren, sich ins universelle
Netz einzuloggen.« Cloud starrte Naldor an wie eine Erscheinung. »Einzuloggen«, echote er. »Du willst sagen …?« »Es steht ohne Zweifel fest: Das Objekt, das uns alle überraschte und Abertausende Bractonen in den Tod riss, versucht das, was auch wir wollten: die entfernte Ursprungsperle zu ersetzen. Nur … gewiss mit einer anderen Intention, als wir es beabsichtigten.« »Was könnte das für eine Intention sein?«, fragte Cloud. »Liegt das nicht auf der Hand?« Scobee war kreidebleich. Ihre Hand zitterte als sie zur Akkreditionsscheibe des Schwarzen Lochs zeigte, die sich in der Holosäule abzeichnete. Cloud schüttelte den Kopf. »Sag, was du denkst.« »Ich denke, dass diese pervertierte Kugel sich wohl nur aus einem einzigen logischen Grund ins Netz der CHARDHIN-Perlen einloggen will – um sie ebenfalls zu pervertieren.« »Das«, sang Naldor mit kraftloser Stimme, »ist die schreckliche Wahrheit.«
15. Die Heimkehr nach Angk I hatte etwas von einer verlorenen Schlacht – und nichts anderes war es tatsächlich. Wenn dies der Krieg um das Fortbestehen des Universums war, wie seine Bewohner es kannten, dann war das, was hinter ihnen lag, tatsächlich eine erste Schlacht gewesen. Die finale wollte Naldor folgen lassen – und gemeinsam mit dem Neuen Zirkel der Bractonen, hier in deren Erstem Reich, vorbereiten. Alle erforderlichen Daten meinte er, gerettet zu haben. Cloud hoffte, dass der ERBAUER sich nicht irrte. An einem Knotenpunkt über Gismo dockte die RUBIKON an das Energiestraßennetz an. Naldor wechselte mit den Worten zur Planetenoberfläche hinunter: »Ihr sollt euch nicht noch einmal vergessen oder wie Gefangene behandelt glauben. Ich melde mich, sobald eine Entscheidung gefällt ist. Eine erste Maßnahme wird gleich bei meiner Ankunft im Sitz des Zirkels beschlossen werden: Wir entsenden Kundschafter ins Milchstraßenzentrum. Die dortige aktuelle Lage muss für uns jederzeit erfassbar sein, damit sie in unsere Strategie einfließen kann.« Cloud hatte genickt. »Das ist eine gute Entscheidung – du wirst sie noch mit dem Zirkel absprechen müssen?« »Das ist Formsache. Niemand wird dagegen stimmen. Was aber danach kommt – vermag ich noch nicht zu sagen. Der Kristall muss ausgewertet werden, von unseren fähigsten Denkern. Zudem muss ich mich den Fragen der Zirkelmitglieder stellen. Fragen zum Scheitern der Mission, zum Sterben sämtlicher beteiligter Bractonen, mit Ausnahme von mir – und wie ich mich retten konnte, sie aber nicht.« »Alles ging viel zu schnell …«, setzte Cloud an, den letzten Punkt zu kommentieren.
Naldor hatte verneint. »Die Evakuierung auf die RUBIKON wäre vielleicht noch möglich gewesen. Aber sie entschieden selbst, in der Perle zu bleiben. Bis zuletzt glaubten sie, der negierenden Kraft aus dem schwarzen Zwilling widerstehen zu können. Bis zuletzt …« Mit diesen Worten und dem Hinweis, dass Cloud sein »neues« Schiff in der Zwischenzeit kennenlernen sollte, hatte er sich in die Energiestraße eingefädelt. Und jetzt, eine Stunde später, meldete sich unversehens eine Frau in der Zentrale, mit der Cloud noch nie gesprochen hatte, auch wenn er meinte, sie bei der Aktion im Dorf gesehen zu haben. »Mein Name ist Assur, Partnerin von Rotak, Mutter von Winoa. Der weise Naldor hat mich gebeten, herzukommen. Er meinte … er meinte, ich könne Ihnen all das erklären, was ich bis vor wenigen Stunden selbst noch nicht wusste, Sir …«
Poselveyn ließ die STOLZ DER STERNE mitsamt dem Pulk der Begleitschiffe aus dem Hyperraum fallen. Die Zielkoordinaten waren erreicht. Vor ihnen weidete das Schwerkraftungeheuer die Umgebung seines Standorts ab. Nichts war vor ihm sicher. Was in seinen Strudel geriet und keinen Widerstand zu leisten vermochte, war rettungslos verloren. Poselveyns kleine Erkundungsflotte leistete Widerstand. Sie verteilte sich kreisförmig um die Kernposition des Schwarzen Lochs, das eine immense Gefahr beherbergen sollte – mehr hatte man den Gloriden, die hierher entsandt worden waren, nicht erklärt. Poselveyn verstand diese Maßnahme. Mit unverstelltem Blick sollte er seine Arbeit aufnehmen. Und das tat er. »Sonden bereit?«, fragte er einen der ihm Unterstellten an der Aufklärungskonsole. »Bereit, Lenker«, versicherte Santuyar eifrig. Für ihn war es die erste Mission dieser Art überhaupt – genau wie für Poselveyn. Ihre Heimat war das Angksystem, mehr von der Galaxie – oder anderen – hatte er bis vor diesem Flug nicht gesehen. Irgendwann würde er
zu einer Tridentischen Kugel geschickt werden, um dort für den Rest seines Lebens Dienst zu tun. In Aussicht gestellt worden war ihm von Seiten der Erhabenen Herren eine Perle in nächster Nähe – die bald in Betrieb gehen sollte. Doch mehr wusste Poselveyn auch dazu nicht. Er war nicht in der Position, mehr Details fordern zu können. Sein Leben stand im Zeichen des Dienens und unbedingten Gehorsams. Er hatte kein Problem damit. Santuyar gab zumindest vor, sie auch nicht zu haben. Seine Art, Loyalität zu bekunden, hatte fast etwas Kriecherisches. Poselveyn mochte ihn nicht. Aber die besten Resultate wurden nicht etwa erzielt, wenn zwei Gloriden sich besonders gut leiden konnten, sondern wenn Reiz- und Reibungspunkte vorhanden waren. Die Erhabenen schienen das zu wissen, ganz gewiss wussten sie das. Sie wussten … alles. Poselveyn glühte innerlich, wenn er an sie dachte. Es war mehr als eine Ehre, ihnen zu dienen. Sie hatten diesem Kosmos ihren Stempel aufgedrückt. Auch Poselveyn war letztlich eine ihrer Schöpfungen. Er verehrte sie und wünschte sich nur, sie niemals zu enttäuschen. Entsprechend konzentriert nahm er die gestellte Aufgabe in Angriff. »Dann starte sie – den besprochenen Dreierpulk.« Santuyar bestätigte. Auf den Bildflächen konnten sie verfolgen, wie die kugelförmigen Sonden, keine größer als ein Gloride, die Auswurfschächte der STOLZ DER STERNE verließen und sofort Kurs auf die Akkreditionsscheibe des Schwarzen Lochs nahmen. Sofort mit dem Start lieferten die sondeneigenen Instrumente noch gestochen scharfe Bilder der Umgebung. Das änderte sich, nachdem sie aus der Sensorenerfassung der STOLZ DER STERNE und der übrigen Einheiten verschwanden, eintauchten in den Ereignishorizont. Selbst die Wunderwerke bractonischer Technik vermochten keine Bilder aus dem chaotischen Bereich dort zu übermitteln. Aber sie würden sie speichern – und bei ihrer Rückkehr verfügbar machen. Das zentrale Schwarze Loch dieser Galaxie hatte eine Dichte von
drei Millionen Sonnen – selbst für einen Gloriden eine schier unvorstellbare Masse. Aber davon ließ Poselveyn sich nicht beirren. Er stammte aus dem Angksystem. Er wusste, was wahrhaft unvorstellbar – und doch real – war. »Wie lange werden die Sonden unterwegs sein?«, wandte er sich an den Verantwortlichen, an Santuyar. Der Gloride nannte die Zeiteinheit, die ganz zu Anfang der Mission verabredet worden war – Poselveyn hatte es nicht vergessen. Er hatte nur überprüfen wollen, ob Santuyar es noch wusste. Nach Ablauf der programmierten Frist machte sich Unmut in Poselveyn breit. »Du bist sicher, dass du die korrekten Missionsdaten in die Sonden transferiert hast?« Santuyar war empört, machte aber nicht den Fehler, dies eindeutig zu vermitteln. Er bejahte nur und suchte aus den Logeintragungen des Bordcomputers die entsprechenden Vermerke heraus, die in die Sonden übertragen worden waren. Sie stimmten. Dass die Aufklärungseinheiten nicht zurückgekommen waren, ließ nur einen Schluss zu: Sie waren auf etwas gestoßen, das sie an der Rückkehr hinderte. Vielleicht existierten sie schon nicht mehr. Poselveyn nahm Verbindung zu den Lenkern der anderen Schiffe auf und besprach sich mit ihnen. Er hörte sich jede Meinung an und entschied dann: »Wir versuchen es solange, bis wir Resultate gewonnen haben. Jedes unserer Schiffe wird Sonden ausschicken. Sie werden unterschiedlich programmiert. Von Langzeitaufklärung bis ultrakurzer. Die STOLZ DER STERNE wird ihre Einheiten so präparieren, dass wir mobile Aufzeichner installieren, die sich im Falle einer Gefahr, die nach den Sonden greift, autark aus dem Ereignishorizont herausbewegen können – und dies laut Programmierung auch tun werden. Fragen?« Die eine oder andere Rückfrage kam, aber sie waren schnell abgetan. Es war nichts von essentieller Bedeutung darunter und auch kein Vorschlag, der größere Erfolgsaussichten gehabt hätte. Poselveyn wartete geduldig, bis die entsprechenden Modifikatio-
nen ausgeführt waren. Wieder verließ ein Dreierpulk die STOLZ DER STERNE – und zeitgleich taten es ihnen die anderen Schiffe gleich. Das Warten begann von Neuem. Vielleicht bildete er es sich ein, aber das gigantische Schwarze Loch kam Poselveyn leicht verändert vor – noch unheimlicher und unheilvoller als zuvor. Die Beobachtungsinstrumente bestätigten dies allerdings nicht. Es war also Einbildung. Plötzlich meldeten die Marker, die die Umgebung scannten, Kontakte. Drei. Die drei mobilen Sondenspeicher kehrten zurück – während von den Sonden selbst und denen der anderen Schiffe keine Spur zu erkennen war. Sie blieben verschwunden. Indes barg die STOLZ DER STERNE die Objekte und las die enthaltenen Daten in den Hauptcomputer ein. Poselveyn wurde blass, als er die Bilder im Schnelldurchgang sichtete. Zum ersten Mal sah er den Grund, weshalb seine kleine Flotte hierher geschickt worden war. Er wusste nicht, was er da sah, aber es flößte ihm ein namenloses Grauen ein. Ein Teil der Mission war damit fast erfüllt. Er musste die Daten nur noch zum Angksystem übertragen … Nachdem dies geschafft war, begann Phase zwei. Phase zwei hieß: Ausharren und die Umgebung des Schwarzen Lochs im Auge behalten, in genau festgelegten Zeitabständen neue Sonden hineinschicken. Dabei würde er die zuletzt erfolgreiche Methode wiederholen. Wie schnell Theorie zu Makulatur werden konnte, erfuhr Poselveyn, als schon kurz nach dem Versenden der Daten Ereignisse eintraten, die seine passive Beobachterrolle ad absurdum führten. Bei Antritt der Mission hatte er mit keinem Gedanken in Erwägung gezogen, dass sie seine Existenz bedrohen könnte. Nun wurde er mit genau dieser Möglichkeit konfrontiert. Von einem Moment zum anderen schienen sämtliche Ortungstaster durchzubrennen. Zu viele Echos auf einmal brachen mit einem
wahren Gewitter aus Erschütterungen des Raumzeitgefüges über die sensiblen Instrumente herein. Aber die Taster waren das eine, die optischen Sensoren, die ihre Bilder in jedes Schiff der Gloridenflotte übertrugen, waren weniger anfällig. Sie zeigten mit neutraler Objektivität, was den Besatzungen, die die Bilder empfingen, den letzten Rest von Souveränität raubte. Hunderte fremde Raumschiffe materialisierten zeitgleich im Einzugsgebiet des Schwarzen Loches – und schlossen die Gloridenraumer kugelschalenförmig ein. »Notruf absetzen! Bild der Angreifer anhängen«, befahl Poselveyn und vermochte nicht mehr zu sagen, ob sein Befehl noch ausgeführt wurde … oder ob die Gegner das Feuer schon vorher eröffneten. Aus unzähligen Geschützen gleichzeitig brandeten der STOLZ DER STERNE und den anderen Einheiten der Kundschafterflotte plasmaheiße Wellen entgegen. Poselveyn starb mit einem Gefühl elenden Bedauerns. Er hätte so gerne auf einer Perle seinen Dienst versehen. Er hätte so gerne weiter den Erhabenen Erbauern gedient. Ein unbekannter Feind machte dem nun einen Strich durch die Rechnung. Ein unbekannter Feind brachte sich über dem Super Black Hole in Position …
Was ich bis vor ein paar Stunden selbst noch nicht wusste, Sir. Der Begrüßungssatz von Assur hatte etwas Magisches. Cloud war auf Anhieb auf das Gespräch mit der Angkfrau fixiert. Sie hatte eine faszinierende Ausstrahlung, die ihn für einen Moment an Dinge denken ließ, die er schon lange verdrängte. In diesem Augenblick funktionierten die anerzogenen Reflexe nicht tadellos – warum auch? Er bereute nicht zu denken, was er dachte. Aber er kannte seine Grenzen – Gefährtin von Rotak! –, sie hatte sie klar abgesteckt. Sie war fast so groß wie Scobee und damit nur unwesentlich kleiner als er selbst. Ihr Haar war mit einem irisierenden Gemisch unterschiedlicher Farben getönt. Wenn sie sprach, der Mund sich leicht
öffnete, offenbarte sie gepflegte Zähne, mit Schmucksteinen besetzt, die sich auch auf den Fingernägeln wiederfanden. Ihr Gesicht war schmal und fein geschnitten, die Wangenknochen hoch angesetzt. Sie hatte Augenbrauen – im Gegensatz zu Scobee –, auch wenn sie schmal gezupft waren. Unter dem tunikaartigen Gewand zeichneten sich zwei volle Brüste ab, die perfekt zur Gesamterscheinung passten. Cloud konnte nicht anders, beim Anblick dieser Frau sehnte er sich plötzlich und unverhofft wieder nach etwas, was er lange nicht genossen hatte: nach trauter Zweisamkeit, körperlicher Nähe und – »Wollen Sie es gar nicht hören?« Ihre Stimme riss ihn aus seiner Gedankenversunkenheit. »Hören?«, echote er. »Was ich Ihnen über uns und unsere Wirkung auf das Schiff sagen kann, Commander?« »Doch«, versicherte er hastig. »Doch, natürlich. Ich höre zu. Wollen wir … wollen wir uns setzen?« Er zeigte zum Kommandopodest. Sie zögerte. Er merkte, dass sie sich nicht wohlfühlte in dieser Umgebung. »Wir können auch in die Messe – oder in meine Kabine …« »Wenn Ihnen das nicht zu persönlich ist …« Ihm gefiel, dass sie ihn respektvoll ansprach. »Nein, nein. Kommen Sie, Assur, folgen Sie mir bitte.« Ohne auf die Freunde auf dem Kommandopodest zu achten, führte er die Frau zum Türschott und ließ ein Transmitterfeld darin entstehen. Es brachte sie auf schnellstem Weg bis unmittelbar vor seine Kabine. »Im Dorf ist es schöner, ich weiß«, sagte er. »Aber mir gefällt's ganz gut etwas konservativer. Ich mag es, wenn ich schon beim Aufstehen weiß, dass ich mich auf einem Raumschiff befinde …« »Sie sind ein außergewöhnlicher Mann, Commander.« Sie sagte es ohne Unterton. »Oh, danke, aber bestimmt weit weniger … außergewöhnlich als Sie. Ich meine, auf Ihre Fähigkeiten bezogen, mit der Sie geholfen haben, uns alle zu retten. Im Black Hole.« »Schade«, sagte sie, als er ihr die Tür öffnete und sie als Erste in
die Kabine treten ließ. »Was ist schade?« »Dass Sie es nur auf meine Fähigkeiten beziehen, Sir. Nebenbei erwähnt, ich bin auch eine Frau – und das aus Überzeugung …«
»Oha«, machte Jarvis, als Cloud mit der Angkstämmigen in den Türtransmitter ging. Das höherdimensionale Transportfeld nahm sie auf, dann erlosch es. An anderer Stelle der RUBIKON traten beide Personen in diesem Moment aus der Gegenstation. »Was heißt hier ›oha‹?«, fragte Scobee. »Hast du's nicht gesehen?« »Was gesehen?« »John! Der hatte ganz rote Ohren! Der wird doch nicht auf seine alten Tage …?« »Diese Frau ist liiert, glücklich, wie ich für sie hoffe. Und du bist nur neidisch.« »Volltreffer«, bekannte er. »Schade, dass sie kein Auge auf mich geworfen hat.« »Schwachsinn. Sie hat kein Auge geworfen. Du hast gehört, was sie sagte: Naldor hat ihr aufgetragen, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Wird auch Zeit, wenn du mich fragst.« »Hätte sie aber auch hier tun können. Wir hätten's dann gleich mit erfahren.« »John wird uns schon nicht dumm sterben lassen.« »Hoffentlich kommen sie überhaupt zum Reden …« »Du bist echt ein Schwätzer. Wenn ich – was ich ja zugebe – neidisch bin, bist du definitiv –« »Was?« »– eifersüchtig!« »Jetzt spinnst du komplett!« »Ihr hattet doch mal was miteinander, du und John …« »Das war in einem anderen Leben.« »Trauerst ihm aber schon noch nach.« »Ich schmachte jede Nacht nach ihm und weine in mein Kissen«,
sagte sie sarkastisch. »Jetzt hast du's zugegeben!« »Wenn du so weitermachst, werde ich ernsthaft sauer.« »Ich finde dich reizend, wenn du wütend bist.« Sie starrte ihn ungläubig an. »Das ist jetzt keine Anmache, oder?« »Wär das schlimm?« Sie schüttelte den Kopf. »Schlimmer!« »Weil ich kein –« »Stopp!«, bremste sie ihn. »Jetzt reicht's wirklich. Mach hier nicht auf Selbstmitleid. Ich hab auch meine Probleme. Jeder an Bord hat die. Wir alle müssen mit dem zurechtkommen, was wir sind und haben.« »Das sagt sich leicht, wenn man so ein Vollblutweib ist wie du.« »Du verarschst mich, oder?« Er nickte. »Hat aber schon ein bisschen lang gedauert, bis du's gemerkt hast, Scob, Täubchen.« »Scob-Täubchen lüftet dir gleich mal deine miefigen Nanoteilchen. Verschwinde und lass mich besser die nächsten Tage in Ruhe. Ich bin ein klein wenig angefressen!« »Wegen John und Assur?« »Heißt sie so?« »Das sagte sie doch.« »Ich hab nicht hingehört.« »Klar …« Er grinste unverschämt. Dann setzte er seine Unschuldsmiene auf. »Komm, Friede, ja?« »Wer kann dir schon böse sein?« »Fiese Außerirdische? Ich kenn da einige, die ich aber in aller Regel mit meiner Wumme …« Er tätschelte seinen Arm. »… lieb gemacht hab.« »Vielleicht haben die das bessere Los gezogen als die, die du richtig magst.« Scobee wandte sich ihrer Instrumentenkonsole zu. Akribisch ging sie die Aufzeichnungen durch, die Sesha während ihres Aufenthalts im Black Hole gemacht hatte. Und während ihrer Flucht aus ihm heraus. Dabei kam sie rasch so ins Staunen, dass sie selbst Jarvis' Gegen-
wart vergaß. Und mit wem John gerade in seine Kabine verschwunden war.
»Spartanisch«, urteilte Assur. »Wirklich?« Cloud hob die Augenbrauen. So war ihm sein kleines privates Reich nie vorgekommen. Aber sie sah es durch die Augen einer Frau. »Ein paar Pflanzen täten dem Raum gut. Sie müssten das Zimmer meiner Tochter sehen …« Sie lachte und entblößte ihre auffällig verzierten Zähne. Cloud bot ihr Platz an. »Falls es nicht zu unbequem ist …« Die Spitze konnte er sich nicht verkneifen. Er zeigte auf eine kleine Sitzecke, in der er oft mit seinen Freunden zusammensaß, sich unterhielt und etwas aß oder trank. Sie setzte sich. »Perfekt«, lächelte sie. »Etwas zu trinken?« »Haben Sie diese fantastische Teemischung, die Jelto herstellt?« Cloud nickte. »Das ist auch mein Favorit unter den Getränken.« »Wirklich?« Er nickte. Kurze Zeit später saßen sie sich gegenüber und hielten jeder einen großen Becher mit ungesüßtem Tee aus bordeigenem Anbau in den Händen. Cloud verbuchte es positiv, dass Assur offenbar schon Kontakt mit Jelto hatte. Eine Weile hatte er sich Sorgen gemacht, dass die Angks zur Grüppchenbildung unter ihresgleichen neigten – und dann war die unselige Geschichte dazwischengekommen, die erst einmal Mauern des Misstrauens aufbaute. »Schmeckt er?« Sie lächelte, während sie über den aufsteigenden Dampf hinwegblickte. »Ich freue mich übrigens sehr, Sie einmal kennenzulernen, Sir.« »Ganz meinerseits.« Er kam sich seltsam vor. Wie bei seinem ersten Rendezvous vor vielen, vielen Jahren. Dabei wusste er genau,
dass es gar kein Rendezvous war – was aber offenbar keine Veränderung in seinen Körperreaktionen bewirkte. »Sie sind verheiratet?« Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Sie lächelte unverändert. »Nicht mehr«, sagte sie. »Nicht mehr auf die Art, wie Sie wahrscheinlich meinen, Commander.« Das ließ ihn ein wenig ratlos zurück. »Ich wollte nicht indiskret sein. Diskrepanzen zwischen Ihnen und Ihrem –« »Sie verstehen es falsch. Rotak und ich waren uns einmal sehr verbunden. In dieser Phase haben wir Winoa gezeugt, die Sonne meines Lebens.« Wie sich ihr Lächeln für einen Atemzug vertiefte, als würde sie ihre Tochter gerade vor sich sehen, zeigte Cloud, wie warmherzig sie war. Schließlich löste sich der kurze verklärte Blick wieder auf, und sie sah Cloud unverwandt in die Augen. »Auf den Angkwelten werden befristete Eheverträge geschlossen. Ich hörte, dass das auf der Welt, in der Sie lebten, in die Sie geboren wurden, anders war …« »Es gab beide Möglichkeiten«, erwiderte Cloud, in Gedanken kurz in die angesprochene Zeit zurückgehend. War da nicht eine Frau gewesen, die er in 2041 zurückgelassen hatte? Er erinnerte sich schon fast nicht mehr, obwohl real erst ein paar Jahre seither für ihn vergangen waren – aber Jahre, angefüllt mit Ereignissen und Begegnungen, wie sie kaum ein anderer Mensch, und sei er noch so betagt, zu verbuchen hatte. Scobee und Jarvis waren auch darin seine Seelenverwandten. Sie hatten mitgemacht, was er mitgemacht hatte. Das schweißte zusammen. Ihre Freundschaft, davon war er inzwischen überzeigt, war unverbrüchlich. Dabei hatte es mit den GenTec einmal so schwierig begonnen … Er lächelte versonnen. »Woran denken Sie gerade?« »An ein fernes Damals. An Menschen, die ich kannte und die längst nicht mehr sind. Sie können sich sicher vorstellen, dass es schon komisch ist, Ihnen hier gegenüberzusitzen. Ich kannte Prosper Mérimée, Sahbu, Sarah Cuthbert, die Lange Paula … und wie sie alle hießen … noch persönlich. Für Sie aber sind das wahrscheinlich,
wenn überhaupt, nur noch die Namen von Legenden.« »Sie gründeten die Zivilisationen auf den Angkwelten. Wir haben sie nicht vergessen. Keinen einzigen von ihnen«, erwiderte Assur. »Die Tavner halten das Andenken hoch.« »Wieso gerade die Tavner?« »Sie waren in all den Jahrtausenden unsere Lehrer.« In all den Jahrtausenden – genau das war es, was er mit »komisch« gemeint hatte. Diese Frau an sich war schon ein Unding, mit dem sein Verstand seine Probleme hatte. Dass sie dazu noch so verflucht hübsch war, brachte ihn vollends aus dem Konzept. In diesem Augenblick wünschte er sich die Coolness eines Jarvis, der für jede Gelegenheit den passenden Spruch – manchmal allerdings auch den unpassenden – parat hatte. Andererseits glaubte und hoffte er, dass Assur auf Sprüche nicht sonderlich abfuhr. Er nickte. »Verstehe. Wissen Sie, auf welche Linie Sie zurückgehen? Wer Ihre Urururururahnen waren?« Sie nickte. »Sie haben sie erwähnt: Prosper und Sarah.« »Die beiden wurden ein Paar?« »Sogar unbefristet.« Sie zwinkerte ihm zu. »Jedenfalls, was Eheverträge angeht. Leider starb Sarah relativ früh.« »Oh. Das tut mir leid. Was wurde aus Prosper, hatte er wenigstens ein langes, erfülltes Leben?« »Erfüllt war das Leben beider. Sie hatten gemeinsame Kinder, die ihre Linie fortführten – sonst wäre ich heute nicht da. Aber was Prosper angeht: Es gibt keine schlüssigen Aufzeichnungen, was aus ihm wurde. Eines Tages tauchte jemand auf und riss ihn aus dem Schoss seiner Familie. Er kehrte nie mehr zurück. Die Datenbänke auf Gismo geben keinen Aufschluss, wie sein weiterer Werdegang verlief. Allerdings ranken sich Gerüchte, Sagen um ihn. Er soll …« »Ja?« »Er soll nach Portas aufgebrochen sein. Dorthin gerufen worden sein.« »Nach Portas? Ausgerechnet? Was sollte er dort gewollt haben? Portas war damals sicher schon eine Verbotene Welt, die gemieden wurde.«
Assur nickte. »Gerüchte, wie ich schon sagte.« Cloud dachte eine Weile darüber nach. Das Gespräch über die verlorenen Freunde hatte ihn aufgewühlt. Für ihn war es, als wären sie bereits mit ihrer Entführung von der RUBIKON gestorben. Dass ihnen im Angksystem wenigstens noch ein – überwiegend – wohl erfülltes Leben beschieden gewesen war, war einerseits tröstlich, andererseits aber auch nicht wirklich. »Wir wollten eigentlich über etwas anderes sprechen«, erinnerte er sich und Assur. »Über die neue RUBIKON«, bestätigte sie. »Ich bin gespannt, was daran neu ist«, sagte er. »Fangen Sie an.« »Neu sind vor allem wir, die Angks.« Sie lächelte wieder, vielleicht weil sie den Namen verwendete, der sich bei der Stammbesatzung für die angkstämmigen Neulinge eingebürgert hatte – und weil sie demonstrieren wollte, dass er sie nicht störte. »Das dachte ich mir schon.« »Wir haben gewisse Fähigkeiten, die sich im Verbund zu einer gewaltigen Macht mit vielfältigen Fähigkeiten summieren.« »PSI-Fähigkeiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat mehr mit Metaphysik zu tun.« »Haben Sie und die anderen mich belogen, als Sie behaupteten, nichts von den Vorgängen zu wissen, die uns auf den Plan riefen? Das, was Aylea und Jarvis beobachteten …« »Belogen? Nein!« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Bevor Naldor von Bord ging, löste er eine Art Sperre in unseren Bewusstseinen – ich weiß nicht, wie er es tat, aber von einem Augenblick zum anderen wussten wir alle, warum wir zur RUBIKON gekommen waren. Mit welchem Talent wir etwas zu ihrer Sicherheit beisteuern können …« »Was war mit der Lichtung? Den Welten hinter den Türschwellen der Quartiere?« »Als wir an Bord kamen, begann die für uns unbewusste und allmähliche Annäherung an das Schiff.« »Annäherung?« »Wir … wie soll ich es sagen? Wir pegelten uns darauf ein. Geistig
und körperlich. Und das Schiff nahm uns an. Inzwischen ist es soweit, dass wir jederzeit eins damit werden können, in physischer, wie auch in psychischer Hinsicht.« Cloud dachte an die Vision von Jarvis, die dieser als bedrohlich empfunden hatte. Offenbar war dem nicht so. Die Angks gingen bei Bedarf im Schiff auf und stellten ihm ihre Kräfte zur Verfügung. Das war das ganze Geheimnis. Was aber noch nicht ausdrückte, worin diese Kräfte und Vorteile für die RUBIKON bestanden. Assur verriet es ihm, und so fügte sich Stein um Stein in das Puzzle, das Cloud staunend, skeptisch, begeistert, aber auch verunsichert zurückließ. »Wiederholen sie das noch mal«, forderte er die Angkgeborene an einer Stelle auf. »Die Ghostableger?« »Ja. Das erinnert mich stark an die Satoga mit ihren Magnetschiffen. Artas verfügte über solche Projektoren …« »Wir erzeugen die Trugbilder mithilfe unseres Geistes. Und sie sind auch mehr als Trugbilder. Sie gaukeln Masse vor, sprechen auf Ortungsgeräte an …« »Ghostableger«, wiederholte Cloud noch einmal für sich, was Assur gerade als eine der neuen Verteidigungsmöglichkeiten der RUBIKON deklariert hatte. Zur Feindablenkung konnte sie beliebige Kopien des Schiffs erzeugen, sodass es aussah, als flöge die RUBIKON in einem ganzen Verband. Im Ernstfall – bei Angriffen fremder Schiffe – hatten diese somit Mühe, sich auf das einzig wahre Rochenschiff zu konzentrieren. Ein enormer strategischer Vorteil. Darüber hinaus waren die Angks in der Lage, die Schilde zu verstärken oder das Schiff selbst in absurden Sphären wie den Gefilden eines Schwarzen Lochs sicher zu manövrieren. »Soll ich fortfahren?«, fragte Assur nach zwei Stunden. Cloud fühlte sich wie erschlagen. »Später«, sagte er. »Das genügt mir vorerst. Nur eine Frage noch: Wie wissen die Angks … Entschuldigung, ich weiß nicht …«
»Das ist kein Problem. Wir sind die Angks. Das ist eher Auszeichnung als Diskriminierung.« Sie lachte glockenhell. Da war es wieder: Das Gefühl, diese Frau mehr als nur sympathisch zu finden. »Also.« Er räusperte sich. »Wie wissen die Angks, dass sie gebraucht werden? Ich nehme an, dass Naldor bislang lenkend eingriff …« Sie nickte. »Wir werden ohne Naldor einfache Besatzungsmitglieder sein, die auf Befehle hören und angewiesen sind – Ihre Befehle, Commander.« Das klang alles noch so fremd und ungewohnt. »Ich werde lernen müssen, damit umzugehen.« »Wenn wir nicht gerade unsere Körper und Geister in den Dienst des Schiffes stellen«, sagte sie weich, »sind wir übrigens ganz normale Menschen.« Er nickte, glaubte den Hinweis zu verstehen. »Ich weiß. Das habe ich, glaube ich, bereits begriffen. Dank Ihrer Hilfe, Assur.« »Uns stehen sicher noch schwere Zeiten und Aufgaben bevor. Aber wenn es Amt und Pflichten zulassen, melden Sie sich doch mal, Sir. Ich würde mich auf einen weiteren Tee mit Ihnen sehr freuen.«
16. Amt und Pflichten holten ihn ein, kaum dass er in die Zentrale zurückkehrte, um seinen Gefährten Bericht zu erstatten. Das Wissen um die Optimierungen der RUBIKON wollte weitergegeben werden. Das Staunen derer, die seinem Ruf folgten – auch Jiim und Yael waren mit von der Partie, darüber hinaus Scobee, Jarvis, Jelto, Algorian und Cy –, war so groß wie sein eigenes kurz zuvor. »Ghostableger«, wiederholte Jarvis speziell bei diesem Punkt fast andächtig. »Das hört sich gut an. Mehr als das. Aber über die Lichtung hat sie sich nicht näher ausgelassen, die attraktive Lady?« Cloud musterte ihn eindringlich. »Du findest sie attraktiv?« »Du nicht?« Cloud begnügte sich mit einem Schulterzucken. »Wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren.« »Das hast du ja bereits getan«, grinste Jarvis anzüglich. Cloud blickte zu Scobee, doch sie machte keine Anstalten, sich einzumischen. In diesem Moment materialisierte eine Lotsenkugel in der Holosäule und sprang heraus. »Der Zirkel erwartet John Cloud«, sagte sie. »Berühre mich, und ich logge uns ins Straßennetz ein.« Cloud erhob sich und ging auf die Kugel zu. »Worum geht es?« »Berühre mich.« »Hat diese Assur das auch zu dir gesagt?«, frotzelte Jarvis aus dem Hintergrund. Das gab den Ausschlag. Ohne sich auch nur mit einem Wort von den Freunden zu verabschieden, streckte Cloud die Hand aus und legte sie auf die kühle Oberfläche der Kugel. Sofort fühlte er sich bewegt. Als er das nächste Mal blinzelte, stand er bereits am Fuß des kobaltblauen Turms, und die Kugel dirigierte ihn zu der transmitterar-
tigen Fläche in der Nähe. Das Ambiente Gismos zog ihn in seinen Bann. Es erinnerte ihn mit Macht daran, dass Raumschiffe nicht unbedingt der natürliche Lebensraum von Menschen sein sollten – wie es bei ihm mittlerweile zur Gewohnheit geworden war. Umso mehr genoss er die kleinen Fluchten.
Sämtliche Kokons waren besetzt, als Cloud in den Ratssaal trat. Der Zirkel war vollzählig versammelt, und Naldor begrüßte den Menschen freundlich, aber merklich angespannt. »Habt ihr das Objekt im Black Hole identifizieren können?«, fragte Cloud. »Dank der geretteten Daten konnten wir seine Beschaffenheit bestimmen – und so hat mein Überleben wenigstens diesen Sinn«, sang Naldor, der offenbar immer noch darunter litt, die Katastrophe als einziger beteiligter Bractone überstanden zu haben. »Worum handelt es sich? Wie kommt es dorthin – wo eigentlich nichts sein dürfte?« »Geschehnisse von weitreichender Konsequenz bahnen sich an«, erwiderte Naldor. »Es gibt unmissverständliche Hinweise darauf, dass die Dinge nach all der Zeit der Stagnation in Fluss geraten sind.« »Wovon redest du?« »Von der anderen Seite – unserer Heimat. Offenbar hat man uns doch nicht vergessen, zumindest nicht unsere Schöpfung, das EXPERIMENT.« »Du meinst …« Cloud zögerte. »Willst du damit sagen, euresgleichen, die nach wie vor in dem für euch unerreichbar gewordenen Kontinuum leben, hätten mit einer Rettungsmission begonnen? Versuchen sie mit dem Ding, das uns fast allen zum Verhängnis wurde, ein Loch in unseren Kosmos zu brennen? Sollt ihr dadurch entkommen können?« »Dazu ist die Negaperle nicht geeignet«, verwarf Naldor Clouds Gedanken.
»Aber du sagtest doch gerade –« »Ich sagte, man hat sich unser offenbar erinnert.« »Ist das nicht dasselbe? Wenn die Negaperle von drüben geschickt, geschaffen oder was auch immer wurde, dann –« »Du missverstehst Sinn und Zweck dieses Objekts. Es ist nicht ›gut‹. Es verfolgt einen einzigen Zweck.« »Welchen?« »Dieses ganze Universum zu negieren, zunichte zu machen.« Cloud schwieg betroffen. Er erinnerte sich daran, dass Naldor davon gesprochen hatte, die schwarze Kugel versuche, sich im Netz der CHARDHIN-Perlen einzuloggen und es zu pervertieren. Legte man diese Aussage zugrunde, war klar, wozu die Negaperle dienen sollte. »Das Ding ist eine Art Virus«, flüsterte er, »nur geschaffen, um die anderen Perlen der Ewigen Kette mit einem pervertierten Code zu infizieren … Habe ich recht?« Naldor und der Chor der anderen Zirkelmitglieder bestätigten dies. »Aber dann«, seufzte Cloud, »muss dieses Ding vernichtet werden – bevor es sich wie eine ansteckende Krankheit über den Rest des Universums fortpflanzt! Es muss sowieso vernichtet werden – sonst hält nichts die Destabilisierung von Raum und Zeit in diesem Sektor auf!« »Das ist der Stand der Dinge«, sang Naldor. »Und was unternehmt ihr dagegen? Gibt es überhaupt ein Mittel, um diesem Monstrum beizukommen?« Er fürchtete sich vor der Antwort, hatte Angst, dass Naldor verneinen könnte. »Es gibt ein Mittel – aber auch ein Problem. Im Grunde sind es mehrere.« Cloud wartete, dass Naldor weitersang. »Um die Gefahr im Milchstraßen-Black-Hole sicher beseitigen zu können, werden wir nach Auswertung sämtlicher Daten, die ich mitbrachte, fast sämtliche existierenden Tridentischen Kugeln, die auf Schaggrom lagern, aufbieten und opfern müssen …«
Ein Schlag in die Magengrube hätte Cloud nicht empfindlicher treffen können als diese Erklärung. »Dreihundert …?« »… wobei die größte Schwierigkeit sein könnte«, fuhr Naldor ungerührt fort, »sie überhaupt ins Ziel zu bringen.« Cloud wusste nicht, worauf der Zirkelsprecher hinaus wollte. Naldor schien sich dessen sehr wohl bewusst zu sein, denn wieder, wie schon beim ersten Besuch, entstand für Cloud der Eindruck, sich unvermittelt im All zu befinden, im zentrumsnahen Gebiet der Milchstraße mit seinem geballten Sternenaufkommen. Und dem wütenden Gravitationsmoloch. Aber nicht nur. Da waren auch Raumschiffe. Hunderte, vielleicht Tausende Raumschiffe, die einen Verteidigungsring um das gigantische Schwarze Loch herum aufgebaut hatten …
»X-Schiffe …«, rann es über Clouds Lippen. »Woher habt ihr diese Bilder?« »Von einem Erkundungsschiff – sie sind brandaktuell. Als wir in dem Gebiet unterwegs waren, waren sie noch nicht da. Aber als wir jetzt eine Erkundungsflotte dorthin entsandten, wurde sie komplett von diesen Schiffen aufgerieben.« »X-Schiffe«, wiederholte Cloud. »Treymor.« »Du kennst sie?« »Ihr dürft jederzeit Zugriff auf die Datenbänke der RUBIKON nehmen – falls ihr das nicht schon getan habt –, darin findet ihr alles, was wir über die Käferartigen wissen. Es ist nicht viel, aber sie tauchen seit geraumer Zeit überall dort auf, wo es brennt.« »Aber nicht, um Brände zu löschen?« Cloud schüttelte energisch den Kopf. »Eher um sie zu schüren.« »Das scheint auch hier der Fall zu sein. Sie reagierten absolut feindselig auf unseren Gloridenflotte. Und sie verfügen über beachtliche Waffensysteme.« Gloriden schienen nur besseres Kanonenfutter für die Treymor zu sein. Cloud erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Fontarayn. Schon da war dessen Schiff den Treymor zum Opfer gefallen.
»Wenn das aktuelle Bilder sind«, kam Cloud auf die Darstellung zurück, die für ihn aufgeboten wurde, »sieht es tatsächlich so aus, als hätten sie eine Verteidigungsfront um das Black Hole herum gelegt …« »Um den Zugang zu versperren«, bestätigte Naldor seinen Eindruck. »Ich sagte es schon, wir stehen vor mehreren Problemen. Das eine ist, so viele Tridentische Kugeln nur zur Vernichtung der Negaperle aufzubieten. Ein Aufwand dieser Größenordnung schmerzt uns Bractonen unvorstellbar – allerdings sehen wir auch keine Alternative.« »Was sollen die Kugeln bewirken? Die, mit der wir hinter den Horizont gingen, wurde von ihrem schwarzen Zwilling einfach zerstört. Ihr könnt dreihundert Kugeln hineinschicken und es könnten im ungünstigsten Fall dreihundert Perlen zerstört werden! Was gibt euch Hoffnung, ein solches Aufgebot könnte dieses Monstrum gefährden?« »Die Auswertung aller mitgebrachten Daten ergibt das. Es mag so ausgesehen haben, als wäre die Tridentische Kugel, die als Ersatz ins Schwarze Loch sollte, zerstört worden, ohne selbst Schaden am Verursacher anrichten zu können – doch dem ist nicht so. Die letzten Messungen, die wir aus der Perle heraus anstellen konnten, wiesen Schädigungen der Negaperle nach – nur waren sie bei weitem nicht ausreichend und nachhaltig genug, um auch sie zu zerstören. Bei dreihundert Tridentischen Kugeln sähe das Ergebnis nach unseren Berechnungen anders aus.« »Falls ihr euch nicht irrt.« »Falls wir uns nicht irren – und das dürfen wir nicht.« »Wie schnell könnt ihr die erforderliche Armada mobil machen?« »Sie ist bereits mobil gemacht.« »Aber nun ist ein neuer Faktor aufgetaucht, der eure Planung durchkreuzt – die X-Schiffe.« »So ist es.« »Ihr seid die Bractonen. Habt ihr keine eigene Flotte für solche Fälle in der Hinterhand? Könnt ihr sie nicht vorausschicken und die Treymor entweder vertreiben oder von der Bühne fegen?«
»Du hast gehört, was mit den goldenen Schiffen der Gloriden passierte. Andere Fahrzeuge haben wir nicht kurzfristig verfügbar. Und die, die wir haben, scheinen keine ernsthaften Gegner für die Treymor zu sein.« »Dann sieht es übel aus«, sagte Cloud. »Du sprichst uns aus der Seele.« »Aber ihr wollt nicht aufgeben?« »Das können wir nicht. Wir müssen handeln. Zuerst muss die Negaperle eliminiert werden, vorher kann keine Ersatzperle installiert werden.« »Und wenn ihr mit den Tridentischen Kugeln selbst die Treymor angreift und … hinwegfegt? Dazu sind sie doch in der Lage? Sie wenigstens müssen doch auch ausreichend bewaffnet sein …« »Genau das werden wir versuchen müssen. Obwohl uns vor dem Risiko graut, dass die Treymor genau das herausfordern wollen. Weil …« »Weil?« »… sie vielleicht auch für unsere stärksten Einheiten die passende Waffe haben. Das wäre das totale Chaos und Verhängnis.« Cloud nickte zuerst, dann schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe es nicht. Was für ein Motiv haben die Treymor für dieses Verhalten? Wenn sie euch an der Neuinstallation einer intakten Perle hindern, gefährden sie letztlich sich selbst. Wenn sich weitere Bereiche des Alls auflösen, kann es auch sie jederzeit treffen …« »Das gibt auch uns Rätsel auf.« Sie redeten noch eine Weile, dann kehrte Cloud zur RUBIKON zurück. »Gute oder schlechte Nachrichten?«, empfing ihn Jarvis.
17. »Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell geht …« »Ich war zu schnell?« »Ich meine damit, dass ich dachte, es würde viel zäher mit uns vorangehen – falls es überhaupt zu einer weiteren Begegnung käme, einem näheren Kennenlernen.« »Und jetzt bist du enttäuscht.« »Ich glaube, es heißt überrascht. Mehr als angenehm überrascht.« »Und du bist sicher, dass Rotak nicht schon die Messerchen wetzt?« »Sagte ich nicht, dass wir kein Liebespaar mehr sind?« »Ihr lebt immer noch unter einem Dach.« »In verschiedenen Räumen. Das ist so, als würde ich dir unterstellen, dass du etwas mit Scobee hast – nur weil eure Kabinen auf demselben Schiff liegen.« Cloud konnte ein verräterisches Zucken um die Augen nicht vermeiden. »Sag nicht, dass du etwas mit ihr hast!« »Hatte. Ist das ein Problem?« »Wenn hatte passé bedeutet, nicht.« »Es bedeutet passé. Aber wir werden immer Freunde bleiben.« »Sagen das Männer nicht immer?« »Auf den Angkwelten auch?« Sie lachte, und er schmunzelte. Dann küssten sie sich und tollten eine Weile ausgelassen wie Kinder auf Assurs großem Bett herum. Nun, nicht ganz, wie Kinder es getan hätten. Es fand sich immer wieder Gelegenheit, die Haut des anderen zu kosen und zu berühren. Wie lange hatte er das vermisst? Und wie selbstverständlich war es zwischen ihnen passiert? Er konnte es immer noch kaum glauben.
Eigentlich hatte er nur einen Gegenbesuch im Dorf machen wollen. Dringliche Dinge lagen nicht an, solange die Bractonen nicht das Signal zum Aufbruch gaben. Und die rätselten offenbar immer noch, wie sie den Stier bei den Hörnern packen sollten. Assur hatte ihn jedenfalls freudig empfangen und hereingebeten. Und schon nach wenigen Wortwechseln war die Anziehungskraft zwischen ihnen so groß gewesen, dass sie beide nicht mehr widerstehen konnten – und wollten. Von sich selbst konnte Cloud mit Fug und Recht sagen, dass sein Verstand für einen entscheidenden Moment ausgesetzt hatte. Und nachdem sich ihre Lippen gefunden hatten, hatte es auch kein Zurück mehr gegeben. »Sie gehen ja ganz schön ran, Commander«, hatte Assur anfangs noch atemlos kommentiert. Dann war erst einmal Sprechpause gewesen. Bis Cloud irgendwann eingefallen war: »Und wenn deine Tochter plötzlich in der Tür steht. Oder dein … Exmann?« »Die haben beide Manieren«, erwiderte sie. »Außerdem ist Winoa mit Aylea unterwegs, das kann dauern. Du wirst es also im äußersten Fall mit deinem Vorgänger zu tun bekommen.« Normalerweise hätte spätestens diese Aussicht ihn ernüchtern müssen. Dass es nicht dazu kam, lag allein an Assur. Und dem Rausch, in dem sie ihn versinken ließ. Er hätte nicht erwartet, die Treymor- und Negaperlen-Thematik für fast zwei Stunden komplett ausblenden zu können. Aber er dachte tatsächlich erst wieder daran, als sie glücklich erschöpft nebeneinander lagen und zur Decke starrten, wo sie sich in der spiegelnden Fläche sehen konnten. Sehen konnten, wie gut das passte: der Commander und die Frau aus dem Angksystem. Die Frau mit den wunderbaren Talenten, die sich, das wusste Cloud nun definitiv, nicht nur aufs Metaphysische erstreckten. Plötzlich aber kreisten seine Gedanken doch wieder um die immense Gefahr, in der alles – alles und jeder! – schwebte. Assur bemerkte die Veränderung an ihm sofort. Natürlich wusste sie, wie jedes Besatzungsmitglied, inzwischen Bescheid, mit welcher Bedrohung sie es zu tun hatten. Und was die Bractonen, noch etwas un-
ausgegoren, planten, um ihr zu begegnen. »Sie werden es schaffen.« Er nickte wenig überzeugt. »Sie setzen dabei die Perlen aufs Spiel, bevor die überhaupt dort anlangen können, wo sie gebraucht werden! Wenn ich nur wüsste, was die Treymor mit all dem zu tun haben. Anfangs unterschätzten wir sie völlig. Aber seit sie auch über der Erde und dem Super Black Hole auftauchen … Sie sind mehr, als wir glaubten, das steht fest. Sie hatten Darnok damals fast aufgespürt und gestellt, das war schon eine Meisterleistung angesichts der Verhältnisse, die in der Milchstraße herrschten. Aber seither scheinen sie einen regelrechten Evolutionssprung vollzogen zu haben. Das sind nicht mehr die Schiffe von einst, mit denen sie auf einem sehr begrenzten Gebiet operierten. Inzwischen sind sie galaxienweit aktiv. Und den Grund ihrer Aktivitäten, ihre wahren Motive, würde ich allzu gerne kennen. Das würde uns weiterhelfen, ganz bestimmt würde es das!« »Du glaubst an eine Verbindung zwischen Negaperle und Treymor?« Er zuckte die Schultern. Ihr Spiegelbild, das zu ihm herabsah, lenkte seine Gedanken plötzlich in eine ganz bestimmte Richtung. Und zündete eine Idee. Er sprang im Bett auf. »Was ist?«, fragte sie halb erschrocken. »Ich muss gehen. Gleich. Es tut mir unendlich leid, dich jetzt so zurückzulassen, aber –« »Wenn es wichtig ist – und wehe, das ist es nicht –, geh. Ich weiß ja, dass wir uns wiedersehen. – Wir sehen uns doch wieder?« Da war sie: dieselbe Angst in ihren Augen, die auch in seinem Herzen nistete. Dass das alles nur ein schönes Intermezzo gewesen sein könnte, nichts von Bestand, nichts, was dem Alltag auf einem Raumschiff standhalten konnte … Noch einmal beugte er sich über sie, küsste sie innig, fuhr mit der Rückseite seiner Hand zart über ihren vollen Busen. »Du bist eine wunderbare Frau. Wir sehen uns wieder. Bald. Hoffentlich bald …« Mit diesen Worten schlüpfte er im Rekordtempo in seine Kleidung
und verließ den Raum. Draußen prallte er fast mit Rotak zusammen. »Commander …« Er lächelte gequält. Winkte – und war aus der Tür. Sechs Stunden später verließ der Tross, der das Universum retten sollte, Angk IV und nahm Kurs auf das Zentrum der Milchstraße. Wenn die Treymor den Kampf wollten – sollten sie ihn bekommen. Einen, den sie nie vergessen würden.
18. Mehr als dreihundert Tridentische Kugeln hatten die RUBIKON in ihre Mitte genommen und kehrten einen Lichtmonat vom Super Black Hole entfernt synchron in den Normalraum zurück. Cloud wusste, dass ein Lichtmonat keine Entfernung für hochwertige Fernortungssysteme war, wie sie zweifellos auch die Treymor besaßen. Mit Jarvis und Scobee, die das Unternehmen mit ihm leiteten, war alles besprochen. Ganz groß vor Staunen waren ihre Augen gewesen, als er ihnen seine Absicht unterbreitet hatte – dieselbe, die er kurz zuvor dem Neuen Zirkel der Bractonen schmackhaft machen konnte. Naldor hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er verblüfft über Clouds Initiative war – verblüfft und beeindruckt von der Idee, die er an den Rat der ERBAUER herangetragen hatte. Während die Ergebnisse der eigenen Fernstreckensensoren eingingen, wanderten Clouds Gedanken zu Assur. Er bedauerte, sie nicht bei sich zu haben. Aber sie war unabkömmlich. Sie würden sich später in die Arme fallen. Wenn alles gut ging. Wenn das Manöver die erhofften Früchte trug. »Wie viele?«, wandte er sich an Sesha. »Mehr als die Bractonenaufklärer es gemeldet haben – meine Zahl, auf die ich komme, liegt bei viertausendneunhundertvierundzwanzig.« Fast fünftausend X-Schiffe! »Offenbar haben sie noch Verstärkung dazu bekommen.« »Sie haben das Black Hole eingekesselt«, sagte Jarvis. »Ist eigentlich schon mal jemand auf den Gedanken gekommen, dass auch die Treymor nur hier sein könnten, weil sie die Negaperle bemerkt haben und bekämpfen wollen?« »Und warum griffen sie dann die Gloriden ohne Vorwarnung an?
Hätten sie dann nicht erst einmal kommuniziert?« »Kommunizieren Treymor neuerdings?« Damit hatte er allerdings auch recht. »Ihre Formation gibt keinerlei Hinweis darauf, dass sie gegen das vorgehen wollen, was hinter dem Ereignishorizont verborgen liegt«, sagte Cloud. »Für mich sieht es ganz klar nach einer Abschirmungstaktik aus. Entweder aus eigenem Antrieb oder weil sie gerufen wurden, bilden sie einen Verteidigungswall um das Schwarze Loch.« Jarvis widersprach nicht länger. Wäre er nicht ohnehin Clouds Meinung gewesen, hätte er es getan. Er liebte solche Geplänkel. Die Treymor waren rein zahlenmäßig in mehr als zehnfacher Übermacht. Aber Zahlen konnten täuschen. Cloud baute darauf. »Okay«, sagte er. »Jeder weiß, was passieren wird, passieren soll. Jetzt liegt es an uns, die spröde Theorie mit Leben zu füllen. Und vor allen Dingen nicht nur zu ködern, sondern auch zu überleben!« Nach diesen Worten und einem letzten Blickwechsel mit den Getreuen, gab er das vereinbarte Zeichen, auch noch die letzte Distanz, die sie von der Treymor-Front trennte, zu überbrücken. Die Konverter lieferten die erforderlichen Energien, das Dorf erledigte den Rest. »Kontakt!«, warnte die KI. »Sie fahren ihre Geschütze hoch. Schilde sind aktiviert und optimiert. Feuer wird soeben eröffnet …« Da vollführte der Tross aus rund dreihundert CHARDHIN-Perlen und einem Rochenraumschiff bereits die im Vorfeld choreographierten Ausweichmanöver. Die Maschinen der RUBIKON liefen auf Volllast. Kaum vor den Fühlern der Treymor aufgetaucht, beschleunigte die Rettungsarmada auch schon wieder und brachte sich mit Höchstwerten und haken schlagend außer Reichweite der Feindgeschütze. Plasmawellen und Hochenergiestrahlen brandeten ins Leere. Aber die Treymor dachte nicht daran, ihre Beute entkommen zu lassen. Beinahe ebenso synchron, wie sich die Tridentischen Kugeln
zusammen mit der RUBIKON bewegten, lösten sich sämtliche XSchiffe von ihren Positionen um das Super Black Hole. Mit Fabelwerten beschleunigten sie und holten unaufhaltsam zu den Flüchtenden auf. Spätestens jetzt gab es keinen Zweifel mehr, worin ihre Aufgabe bestand: Sie hatten die Tridentischen Kugeln erwartet. Um sie ausnahmslos daran zu hindern, jemals wieder in einen Ereignishorizont – speziell diesen – eintauchen zu können. Sie wussten um die Gefahr, die der Negaperle drohte, wenn das Gros der CHARDHIN-Perlen durchkam und sich auf Kollisionskurs mit dem schwarzen Zwilling einer Tridentischen Kugel begeben konnte. Doch sie wähnten sich stark genug, das zu verhindern. X-Schiff-Zwerge gegen goldene Giganten! Cloud wusste nicht, wie lange diese Farce aufrechterhalten werden konnte. Sie kostete Kraft. Ungeheuer viel Kraft. Die ersten X-Raumer eröffneten gerade wieder das Feuer, als die KI meldete: »Entfernung zum Schwarzen Loch acht Lichtstunden – Tendenz steigend.« Das musste genügend – so hatten es die Vorabberechnungen jedenfalls ergeben. »Jetzt müssten sie kommen, sonst wird es kritisch«, sagte Jarvis. Cloud pflichtete ihm bei. Kurz darauf – die ersten Treffer schlugen in die Tridentischen Kugeln ein – rief Scobee erleichtert: »Sie kommen! Gewaltige Gefügeerschütterungen im Halo des Black Holes. Sie materialisieren – das ist Maßarbeit!« Den Treymor würde das perfekte Manöver weniger munden. Und am wenigsten – so hofften alle an Bord der RUBIKON – der Negaperle selbst.
Von einem Moment zum anderen stellten die Treymor Verfolgung und Feuer ein. Weil sie die List erkannten. Notgedrungen erkennen mussten. Es war der Moment, da die letzte von dreihundert Tridentischen Kugeln aus der Transition kam und sich scheinbar dem Sog
des Schwarzen Lochs ergab, sich von ihm verschlingen ließ. »Sie sind im Inneren. Hoffentlich folgen ihnen die X-Schiffe nicht hinein«, stellte Scobee fest. Niemand konnte das mit Sicherheit sagen, solange keine eindeutigen Hinweise darauf vorlagen. Die Treymor schwärmten zu ihren Ausgangspositionen um das Black Hole zurück. Kein einziges wagte den Schritt ins Innere. »Offenbar können sie es nicht«, murmelte Cloud. Er schloss seinen Sarkophagsitz und nahm Kontakt mit den Angks auf. Augenblicklich erloschen die Projektionen, die dem Gegner dreihundert gewaltige goldene Kugeln vorgegaukelt hatten. Der Verbund der Angks blieb jedoch weiterhin erhalten. Die RUBIKON brauchte sie weiterhin. Cloud hatte nicht vor, sich mit dem Ablenkungsmanöver zu begnügen. Er wollte wissen, was hinter der Akkreditionsscheibe geschah. Nur eine von rund dreihundert Tridentischen Kugeln war bemannt. Der Rest wurde von rechnergestützten Programmen bewegt. Cloud hatte darum gebeten, auch keine Gloriden an Bord zu geben. Für ihn waren das echte Lebewesen mit individuellen Charakteren. Er hatte einige herausragende kennengelernt: Fontarayn, Ovayran … Dem war entsprochen worden. An Bord der einzigen bemannten Perle war erneut Naldor mit von der Partie. Und wie es ihm erging, ob die Strategie, die Bractonen und Menschen gemeinsam ersonnen hatten, letztlich aufging, wollte Cloud auf die einzig mögliche Weise zeitnah klären – indem er die RUBIKON erneut auf den Schwarm von Treymor-Schiffen zusteuerte. Diesmal jedoch in einem Tarnfeld, das die Angks erzeugten – und das sich jetzt bewähren konnte. Die Anspannung ließ jede Stimme an Bord verstummen. Erst als die RUBIKON unbehelligt durch eine der Maschen der X-SchiffSchale geschlüpft war, machten die Freunde den angestauten Emotionen Luft. Und noch immer arbeiteten die Angks Hand in Hand mit jedem einzelnen Baustein der RUBIKON. Sicherer denn je drang das Schiff in die Sphäre vor, die einst nur
eine Tridentische Kugel beherbergt hatte. Jetzt waren es Hunderte. Und dazu eine Perle, die es sich zum Ziel gemacht hatte, das Universum der Bractonen aus den Angeln zu heben, zu negieren. Als die RUBIKON in Sichtweite der Materialschlacht kam, war bereits die Hälfte der großartigen CHARDHIN-Perlen von dem Monstrum aus lebendig wirkender Schwärze absorbiert worden. Ein Monstrum, das keine Anzeichen von Sättigung oder Schädigung zeigte.
»Naldor!« Cloud ließ die Bractonen-Perle anfunken. Wieder und immer wieder. »Naldor, melde dich!« Er tat es schließlich auf die ihm eigene Weise – indem er in der Holosäule materialisierte. Aber diesmal trat er nicht aus ihr heraus, sondern wandte sich nur verbal an Cloud. Vielleicht aus der kreatürlichen Sorge heraus, schon wieder irgendwohin zu flüchten, wo er sich später als einzigen Überlebenden seiner Art wiederfinden würde. »Ohne euch wären wir nie so weit gekommen! Die ERBAUER danken euch!« »Ist das nicht verfrüht? Wir hier auf der RUBIKON erkennen keinerlei Anzeichen für einen Erfolg dieses aberwitzigen Anrennens …« »Da irrt ihr auf der RUBIKON euch«, erwiderte Naldor fast spöttisch. »Unsere Messungen ergeben, dass die Struktur der Negaperle bereits stark angegriffen ist und fluktuiert. Vielleicht müssen wir nicht einmal alle vorgesehenen Perlen opfern … Das wäre wünschenswert.« »Welches ist die Kugel, in der die Bractonen sich aufhalten, die als Ersatz für die ehemalige Milchstraßenperle vorgesehen ist, sobald der Weg frei geräumt wurde?« Naldor drehte sich leicht in der Säule und zeigte dann auf eine von anderthalb Hundert CHARDHIN-Perlen. Sie hielt sich am stärksten abseits des Gefahrenherds, während die zur Vernichtung des schwarzen Zwillings vorgesehenen Kontingente sich ohne jedes Zö-
gern auf die pervertierte Ballung aus Dunkelheit warfen. Nicht geordnet nacheinander, sondern geordnet chaotisch. Manchmal zwei, manchmal drei gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen. Und als nicht einmal mehr hundert verblieben waren, bemerkte selbst Cloud die Veränderung an dem Klumpen, der aussah wie das geronnene Böse. »Es … wirkt?« »Ja, es wirkt.« Noch etwa zwei Dutzend Perlen waren nicht der Selbstvernichtung anheim gefallen, als die Werte, die Cloud von seinen Anzeigen ablas und die, die Naldor permanent empfing, eine radikale Verschärfung der Situation verrieten. Naldors Reaktion bestand darin, dass er die verbliebenen Tridentischen Kugeln via codiertem Befehl von ihrem Kollisionskurs zurückrief. Gemeinsam mit der Hauptperle zogen sich die CHARDHIN-Stationen in einen respektvollen Abstand zum schwarzen Perlenzwilling zurück. Die RUBIKON folgte ohne Rückfrage. Und dann blähte die Ballung aus Finsternis sich in der Bildwiedergabe auch schon zum Hundertfachen ihrer ursprünglichen Größe auf. Im Kollaps wurde sie zu einem wahren Giganten – aber nur, um gleich darauf in sich zusammenzustürzen, als wollte sie ein Schwarzes Loch im Schwarzen Loch erzeugen. Unter schwarzen Blitzen verschwand die Negaperle wie in einer Implosion, die einer alten – hier allerdings rückwärts laufenden – Theorie vom Ursprung des Universums ähnelte: dem Urknall. Und dann war dort, wo die Negaperle ihre unheilvolle Aura verbreitet hatte, nichts mehr. Nicht einmal etwas mikroskopisch Kleines, wie Naldor versicherte, als er neuerlich eine Verbindung zur RUBIKON herstellte. »Das war es also«, sagte Cloud, und in seiner Stimme schwang vorsichtige Zuversicht mit. »Das war erst der Anfang«, erinnerte ihn der Bractone. »Nun beginnt das, was wir eigentlich vorhatten. Bevor wir auf diesen Boten stießen.«
»Bote?« »Wir sind inzwischen sicher, dass er von dort geschickt oder generiert wurde, woher wir selbst einst kamen.« »Aber – heißt das nicht, er könnte jederzeit neu entstehen?« Naldor verneinte entschieden. »Nicht, wenn wir unsere Hausaufgaben machen und unverzüglich den verwaisten Platz im Netz mit sauberer Technologie füllen.« »Du meinst, die Negaperle konnte nur manifestiert werden, weil hier eine Lücke klafft?« »Dafür spricht unser ganzes Verständnis dieses Kosmos.« Cloud hoffte, dass die Bractonen sich nicht täuschten – dass sie nicht fehlerfrei waren, hatten sie mehrfach eindrücklich bewiesen. »Wirst du hier bleiben und die Arbeiten zur Neuanbindung einer Perle an die Ewige Kette überwachen?« Naldor verneinte. »Werdet ihr ins Angksystem zurückkehren?« »Wenn es die Situation erlaubt, nicht.« Was er damit meinte, war Naldor klar. »Wir alle müssen abwarten, wie sich die Situation außerhalb des Black Holes darstellt. Offenbar gelang es euch, unentdeckt durch die Reihen der Treymor zu schlüpfen. Würdet ihr das noch einmal riskieren, um die Lage zu prüfen?« »Natürlich. Aber bevor wir nach dem Rechten sehen, will ich es noch aus deinem Mund hören – in berückendstem Gesang.« »Was?« »Dass mein Einfall mit den Ghostablegern in Form Tridentischer Kugeln genial war.« »Das war er tatsächlich, John Cloud, genial einfach, aber nichtsdestoweniger genau das: ge-ni-al.« Mit einem Gruß seiner Flügel verabschiedete sich Naldor aus der Holosäule. Cloud nahm noch einmal Rücksprache mit den Angks – was ihm nur aus dem geschlossenen Sarkophagsitz möglich war, solange die neue Besatzung der RUBIKON aktiv war. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass deren Kräfte für weitere Manöver ausreichten, befahl er den Rücksturz in den Normalraum – wiederum unter Volltarnung.
Doch zu ihrer Überraschung war der Sektor rund um das Schwarze Loch völlig frei von Einheiten der Treymor. Sie waren verschwunden, hatten – wenn die Abtastung nicht täuschte – nicht einmal Equipment hinterlassen, um Aufzeichnungen dieses Gebiets vorzunehmen. »Eine neue Teufelei?«, sinnierte Jarvis. Cloud brachte optimalen Abstand zwischen die RUBIKON und die vormaligen Positionen der X-Schiffe, dass er auf normaloptischem Weg im Flug rekonstruieren konnte, wie die Flotte der Käferartigen sich verhalten hatte: Sie tauchten auf den Teleskopeinblendungen auf, und klar war zu sehen, wie sie plötzlich Fahrt aufnahmen und geschlossen in den Hyperraum abrückten. Offenbar hatte jemand die Entscheidung getroffen, diesen Sektor zu verlassen. Jemand, der wusste, was sich hinter der Akkreditionsscheibe abgespielt hatte? Trotz der eigentlich erfreulichen Situation hatte Cloud ein mulmiges Gefühl, das ihm auch noch eine Weile treu blieb. Sie verständigten Naldor, indem sie abermals auf seine Ebene abtauchten, und wenig später verließen sämtliche Tridentischen Kugeln – bis auf die eine, die fest stationiert und verankert werden würde – die Sphäre hinter dem Ereignishorizont. »Vielleicht wollten sie uns nur herauslocken«, spekulierte Jarvis düster. Aber seine Schwarzmalerei bewahrheitete sich nicht. Die Treymor blieben weiterhin verschwunden. »Ihr seid jederzeit im Angksystem willkommen – diese Einladung, schon von Kargor gegeben, kann ich nur mit Nachdruck erneuern«, sagte Naldor, als sich ihre Wege nun wohl für längere Zeit trennten. »Wir werden die Neuanbindung an die Kette nicht ohne permanente Überwachung vonstatten gehen lassen. Eine weitere Entwicklung wie die geschehene werden wir nicht dulden und schon im Ansatz bekämpfen.« »Die Magellanschen Wolken und jede von der hiesigen Perle betreute Region werden es euch danken.« »Natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte Cloud lachend. »Lebwohl, Naldor, und grüß mir die Kollegen! Habt ein väterliches Auge auf die Menschen, die es zu euch verschlagen hat. Es sind inzwischen ja ein paar mehr geworden als die, die Kargor euch einst brachte …« »Sie sind ein immerwährender Quell der Inspiration«, versicherte der ERBAUER. »So frisch und wagemutig wie sie sind nur wenige Spezies der Niederungen …« »Tu mir einen Gefallen.« »Welchen?« »Streicht dieses Wort aus eurem Vokabular. Es ist schrecklich.« »Welches Wort?« »Du weißt schon.« Naldor sang ein letztes Mal. »Wohin geht ihr?« »Ich weiß es noch nicht.« Daraufhin beendete der Bractone wortlos die Verbindung. Die Tridentischen Kugeln, die das beispiellose Inferno überstanden hatten, nahmen Fahrt auf und gingen in die Transition. Auch die RUBIKON beschleunigte, entfernte sich vom Ort der gerade noch einmal abgewendeten Apokalypse. Wenig später lösten die Angks den Verbund mit dem Schiff. »Sehen wir uns?«, fragte Assur für alle in der Zentrale hörbar aus der Bordsprechanlage.
»Wie hast du es erlebt?«, fragte Cloud, als er mit ihr allein war. »Nicht bewusst. Wir verschmelzen zu einem Kollektiv. Ich gebe meine Individualität für die Dauer der Fusion auf.« »Ist das nicht schrecklich?« »Im Gegenteil. Es beinhaltet eine besondere Form von Glücksgefühl.« Er nickte, ohne es wirklich zu verstehen. »Ich bin froh«, sagte er nur, »dass du dich so schnell wieder gemeldet hast. Ich dachte schon …« »… es wäre eine Eintagsfliege gewesen? Unsere Liaison?« Er nickte.
»Komisch, das dachte ich auch. Nein, ich fürchtete es. Ich wusste nicht, was ich denken soll. Du hast mich komplett durcheinander gebracht.« Solche Worte aus dem Mund einer so starken Frau zu hören, schmeichelte ihm. »Gibt es eine Zukunft für uns?«, fragte sie. »Als Paar, meine ich.« Er wollte nicht lügen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Möchtest du das denn?« »Ja. O ja.« »Ich bin neulich Rotak begegnet. In eurem Haus. Er wirkte überrascht, mich zu sehen.« »Wie sollte er sonst reagieren?« »Ja«, erwiderte Cloud, »wie sollte er sonst reagieren.« In Assurs Nähe fiel es ihm leicht, belastende Gedanken abzulegen wie eine lästig gewordene Kleidung. Arm in Arm gingen sie dorthin, wo sie sich am nächsten waren. Die RUBIKON kreuzte in Bereichen der Milchstraße, wo ihre Besatzung so rasch nicht wieder mit Treymor zusammenzutreffen hoffte. Sie alle sehnten sich nach etwas Ruhe und Erholung. Cloud hatte die Losung ausgegeben, nach einer paradiesischen Sauerstoffwelt Ausschau zu halten, die absolut sicher keine eigene intelligente Spezies beherbergte. Darauf verwendeten Scobee und die anderen gerade all ihre Energie. »Mit dir würde ich gern an einem Sandstrand liegen«, seufzte Assur. »Hast du schon mal Liebe, umspült von salzigem Wasser, gemacht?« »Ich bin für alles offen«, versicherte er. Bevor er sich endgültig in ihren Armen verlor, stellte er noch einmal von seiner Kabine aus eine reine Sprechverbindung zu Scobee her. Sie wirkte überrascht, von ihm zu hören. Aber er hatte ohnehin nur eine Weisung für sie: »Beeilt euch, bitte. Du weißt schon: Wir alle sehnen uns nach einer Welt, auf der wir ein wenig die Seele baumeln lassen können – bevorzugt mit viel Meer …«
Epilog Nachdem die Schlacht im Black Hole geschlagen war, eilte Aylea sofort zu ihrer Freundin Winoa. Das Angkmädchen saß ermattet auf dem Rand des Dorfbrunnens. Anders als die meisten Erwachsenen, denen Aylea auf dem Weg hierher begegnet war, wirkte Winoa mitgenommen von dem, was sie zusammen mit dem Rest des Kollektivs geleistet hatte. »Geht's dir gut?« Aylea rutschte eng an die Freundin und legte ihr den Arm um die Schultern. Winoa nickte. »Wird schon wieder. Etwas wacklig auf den Beinen bin ich. Und wenn ich zu schnell aufstehe, wird's mir kurz schwarz vor den Augen, aber sonst.« »Willst du dich nicht durchchecken lassen? Bevor du mir hier noch umkippst …« »So schlimm ist es nicht.« »Du musst hier nicht die Heldin spielen.« »Aber eigentlich bin ich's ja schon – wir alle hier sind doch Helden.« Obwohl Winoa es scherzhaft sagte, nickte Aylea ernst. »Für mich auf jeden Fall! Worüber ich aber am frohesten bin, ist, dass euch niemand mehr schief anschaut. Was es mit euch auf sich hat, ist geklärt. Nun seid ihr vollwertige Mannschaftsmitglieder!« Winoa blickte immer noch etwas skeptisch zu Ayleas enthusiastischen Aussagen, schwieg aber. Eine Weile schauten sie dem Treiben im Dorf zu, wo die Angks in kleinen Gruppen standen und sich angeregt unterhielten. Hauptthema war natürlich das, was hinter ihnen lag. Ihnen allen war erst kürzlich – und das schlagartig – bewusst geworden, welche Fähigkeit sie besaßen. Ein Gedächtnisblock war abgefallen. Die Aufgabe, der sie auch künftig nachgehen würden, lag nun offen vor ihren Augen.
Von Winoa erfuhr Aylea, dass sie auf Angk von Geburt an auf ihre Einsätze vorbereitet worden waren; gezielt hatten die Tavner im Auftrag der Bractonen ihre metaphysischen Talente gefördert – nur hatte man ihnen vor dem Übertritt in die RUBIKON die Erinnerungen daran blockiert. »Warum?«, fragte Aylea, immer noch verwundert. »Ich weiß es nicht«, antwortete Winoa. »Vielleicht glaubten sie, wir würden sofort wieder zurückgeschickt, wenn euch schlagartig bewusst geworden wäre, welche Geistesriesen da an Bord kamen.« Aylea grinste. »Geistesriesen, dass ich nicht lache!« »Sind wir doch, oder?« »Ein Riesenego hast zumindest du. Aber sag mal …« »Ja?« »Ich hab da was läuten hören …« Geistesriesin Winoa tat, als wüsste sie nicht, worauf Aylea hinaus wollte. »Stimmt es …?« Aylea räusperte sich. »… dass da was läuft? Zwischen John und deiner Mutter?« Winoa zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber einmal haben sie sich geküsst, als ich um die Ecke kam.« »Geküsst? Ehrlich?« Jetzt grinste Winoa breit. »Ich glaub, das ist noch nicht alles, was sie tun. Hast du nicht aufgepasst vor deinem Heimlehrer?« Sie unterhielten sich noch eine Weile angeregt über das, was sie selbst noch nie erlebt hatten … dachte zumindest Aylea. Bis Winoa mit der Sprache herausrückte, dass sie auf ihrem Heimatplaneten schon mal einen Freund hatte – und sich mit dem auch küsste. Aylea spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, ohne zu wissen, woher es rührte. Plötzlich sah sie sich mit anderen Augen um. »Gibt's hier eigentlich auch Jungs in unserem Alter?« »Den einen oder anderen hab ich schon mal gesehen.« »Echt?« Aylea war noch keiner aufgefallen. Plötzlich entstand Unruhe. Irgendwo am Dorfrand. Aufgeregte Stimmen wurden laut. Etwas schien vorgefallen zu sein.
»Komm.« Winoa zog ihre Freundin am Arm hoch. »Lass uns mal schauen.« Gemeinsam eilten sie auf die Menschenansammlung zu, die sich gebildet hatte. Unter Ellbogeneinsatz – allerdings ohne wirklich grob zu werden – arbeiteten sich die beiden Mädchen durch die lebende Wand hindurch. Endlich hatten sie freie Sicht. »Ein – Narge!«, rief Winoa überrascht. »Vielleicht dieser Jiim – oder Yael, so heißt, glaub ich, der andere …« »Wo?«, fragte Aylea irritiert und sah sich auf der freien Fläche um, die von den Angks umstanden wurde. »Na … da!« Winoa zeigte geradeaus auf den leeren Boden. Für einen Moment dachte Aylea, ihre Freundin wollte sie veralbern. Aber auch alle anderen Versammelten starrten auf die Stelle, die Winoa gewiesen hatte. »Da ist –«, setzte Aylea an. In diesem Moment schrie Winoa erschrocken auf. »Er bricht zusammen!« Ohne nachzudenken, rannte sie in die Mitte des Kreises und kniete sich nieder. »Sesha!«, rief sie. »Medizinische Hilfe! Sofort!« Die KI meldete sich aus dem Off. »Für wen?« Aylea trat neben Winoa. Seshas Frage bestärkte sie in der Erkenntnis, die ihr längst gedämmert war. »Nur ihr könnt ihn sehen – ich und Sesha sehen niemanden, wo du kniest.« Winoa blickte zu ihr auf, während ihre Hände pantomimisch über eine für Aylea unsichtbare Gestalt strichen. »Es ist ein Narge! Er sieht furchtbar aus. Als wäre er tagelang durch dichten Dschungel geirrt. Da sind Wunden, aus denen er blutet. Er hat überall blaue Flecken. Aber jetzt hat er die Besinnung verloren. Er braucht dringend Hilfe!« sie winkte andere Angks herbei. »Wir bringen ihn zu mir nach Hause. Kommt, helft mir! Vielleicht stirbt er, wenn wir nichts tun …« Andere eilten herbei, hoben etwas auf, das Aylea immer noch nicht sah, und »trugen« es davon. Aylea überlegte, ob sie mitgehen sollte. Dann entschied sie anders.
»Sesha?« »Ja?« »Wo sind Jiim und Yael?« »Am Schrund.« »Beide?« »Ja.« »Sicher?« Die KI blieb geduldig. »Ganz sicher.« »Dann … ruf sie bitte her. Schnell. Und verständige besser auch den Commander …«
Als Yael das Haus betrat, wurde ihm kurz schwindlig. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, weil er plötzlich mit seinen und mit fremden Augen gleichzeitig sah. Zwei Perspektiven überlagerten sich. Er taumelte, aber Jiim, der ihn begleitete, hielt ihn fest und stützte ihn. Seine Miene war besorgt. »Yael?« Doch Yael hörte und sah nur noch eins – einen … Völlig außer sich streifte er die Hand seines Elters ab und eilte auf den Nargen zu, der von einem Antigravfeld in liegender Position in der Luft gehalten wurde. Bei ihm stand ein Mädchen, das Yael zum ersten Mal sah. »Charly!« Mit drei raumgreifenden Schritten war er bei seinem imaginären Freund. Wie hatte der Ganf gesagt? »Es kommt alles aus dir selbst. Du bist der Schlüssel. Denke immer daran, denn es wird noch mehr Situationen wie diese geben. Glaube an dich, an dein Können – und alles wird gut. Kümmere dich um die Wunde. Kümmere dich um den, den du nicht verlieren willst. Dein Wille ist Macht.« Aber hatten nicht die Bractonen behauptet, nichts und niemand entkomme der Nonzone? »Charlie …« Die Nickhäute lagen über den Augen, aber als Yael neben ihn trat, seine Stimme erhob, öffneten sie sich plötzlich.
Neben ihnen fragte das fremde Mädchen, an Jiim gewandt: »Siehst du ihn?« Jiim verneinte. »Aber das kann schon mal vorkommen – bei Yael und seinem Freund …« Das Mädchen lächelte scheu. »Ich seh ihn.« Mehr bekam Yael nicht von dem Zwiegespräch mit. Er betrachtete Charlys Wunden und wünschte sich, dass sie verheilten. Sofort huschte schattenhafter Zauber über die Blessuren. Binnen weniger Augenblicke war nichts mehr davon zu sehen. Auch psychisch wirkte Charly gestärkt. Er schwang sich von dem Antigravtisch. »Hast mich vermisst, stimmt's?«, lachte er Yael zu. »Weiß nicht …«, mimte Yael Teilnahmslosigkeit – aber nur, um ihm nächsten Moment zu »explodieren«, auf Charly zuzuspringen und ihn mit seinen Flügeln zu umschlingen. »Hey! Aufhören! Du schnürst mir ja die Luft ab!« »Seit wann brauchst du die?« »Auch wieder wahr.« Charly feixte und schien wieder ganz der Alte. »Ich glaube, wir verschwinden jetzt von hier. Wir haben viel zu reden«, sagte Yael. Dann wandte er sich aber noch an das Mädchen. »Hast du ihm geholfen?« Sie nickte, machte dazu aber eine Geste, als wäre es selbstverständlich gewesen und nicht der Rede wert. Von hinten näherte sich ein weiteres Mädchen. Aylea. »Ich seh ihn immer noch nicht«, klagte sie, den Blick neben Yael gerichtet. »Tröste dich, ich auch nicht. Aber die Angks scheinen damit kein Problem zu haben«, sagte Jiim. Yael formulierte einen neuen Wunsch in seinen Gedanken und projizierte ihn auf Charly. Aylea jauchzte auf. »Wie machst du das? Hey, ich will auch einen imaginären Freund – können wir uns demnächst mal treffen und bereden, wie er idealerweise auszusehen hat?« »Es kommt doch auf die inneren Werte an«, tadelte das andere Mädchen sie. »Aber wenn du schon dabei bist, ich hätte da auch ein paar Wunschvorstellungen …«
Yael verabschiedete sich winkend. Er kannte den Humor der Menschen. Allerdings irrte er sich in dieser Situation. Aylea hatte es durchaus ernst gemeint …
Den Rest des Tages verbrachte Yael nur mit Charly. Sie flogen weit hinaus zu den Eisebenen Kalsers. Die Kälte machte ihnen nichts aus. Im Gegenteil, Yael fühlte sich seit Tagen zum ersten Mal wieder ganz lebendig und … vollständig. »Es tut mir leid, was ich dir angetan habe«, sagte er, als sie in einer natürlich gewachsenen Höhle Rast machten. Sie lag auf halber Höhe eines hohen Bergs, den Sesha aus echter Materie geformt und dann mit Holoschminke übertüncht hatte. Alles wirkte – wie überall auf Pseudokalser – täuschend echt. »Du hast mir nichts angetan.« »Du warst gefangen. Alle dachten, ich würde dich nie mehr wiedersehen. Aber dann hatte ich eine traumhafte Begegnung mit einem Ganf – lach nicht, es war alles so unglaublich arrangiert von Sesha …« »Ich lache nicht.« Charly wirkte ernster als früher. Wenn er etwas herausposaunte, kam es nicht ganz so natürlich, sondern eher, als würde dieses Verhalten von ihm erwartet und als wollte er niemanden enttäuschen. »Jedenfalls«, fuhr Yael fort, »half dieser ›Ganf‹ mir, wieder an mich und meine Fähigkeiten zu glauben – seither habe ich jede freie wache Minute darauf verwendet, dich herbeizuwünschen. Aber als es dann wirklich klappte, war ich selbst wohl am meisten davon überrascht.« Charly grinste. »Und ich – ich war's auch, das kannste glauben.« »Wie war es … dort?« »Schön«, sagte Charly. »Schön?« Yael hatte es sich wie die schlimmste Hölle vorgestellt. »Natürlich nicht!«, rief Charly. »Hey, du lässt dich immer noch so leicht reinlegen wie früher. Natürlich war es furchtbar. Obwohl …« »Ja?«
»… ich gar keine rechte Erinnerung mehr dran hab.« »Wirklich nicht? Ich dachte, du könntest mir mehr erzählen. Ich bin furchtbar neugierig, ich weiß. Aber alle sprachen von dieser Zone, und niemand wusste, was es damit auf sich hat. Die, die es wissen, haben es nie genauer erklärt.« »Die Bractonen.« »Genau.« »Sie haben vieles geschaffen, von dem sie nicht immer selbst wissen, wie es sich damit verhält. Die Nonzone gehört dazu.« Die Art, wie Charly gerade sprach, machte Yael hellhörig. »Meinst du wirklich? Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es, weil man es mir gesagt hat.« »Gesagt? Wer? Und … wann?« »Drüben«, erwiderte Charly. »In der Nonzone? Eben sagtest du noch, du hättest kaum eine Erinnerung –« »Sie leben dort.« Irgendetwas Fremdes, nie zuvor Bemerktes haftete Charly plötzlich an. Yael schauderte. »W-wer?« Charlys Züge schienen sich zu verschieben, als wollte eine andere Gestalt aus ihnen hervorbrechen. Aber dann war alles wieder wie sonst. Nur nicht die Stimme. Die Stimme, die nie so dunkel und prophetisch geklungen hatte wie in diesem Moment. »Die Ganf.« ENDE
Vorschau Die verpuppte Kolonie von Manfred Weinland Im Orionarm der Milchstraße, wo auch die Erde beheimatet ist, stößt die RUBIKON auf eine Welt voller böser Überraschungen. Was hat es mit dem »verpuppten« Planeten auf sich? Wem gehört der gigantische Diskus, der offenbar vor langer Zeit hier strandete? Und wieso kämpfen plötzlich X-Schiffe gegen X-Schiffe? Fragen, auf die John Cloud ebenso beängstigende wie verblüffende Antworten erhält … Und da ist ja auch noch Charly, der aus der Nonzone Zurückgekehrte. Yael sieht sich mit der brisanten Frage konfrontiert, ob sein imaginärer Freund überhaupt noch der ist, der er zu sein vorgibt …