Helmut Geiselhart Die neuen Grundlagen der Führung
Helmut Geiselhart
Die neuen Grundlagen der Führung Auf dem Weg zu...
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Helmut Geiselhart Die neuen Grundlagen der Führung
Helmut Geiselhart
Die neuen Grundlagen der Führung Auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild im lernenden Unternehmen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Ulrike M. Vetter Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-0922-0
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Für Christina Catharina Daniel Emmanuel
Inhaltsverzeichnis 7
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Einführung ___________________________________ 9 2. Menschenbilder, die beschädigen ____________________ 15 Was verstehen wir unter „Menschenbild“?_________________ 15 Welche Menschenbilder prägen unsere Gesellschaft? ________ 19 Wie wirken sich diese Bilder auf den einzelnen Menschen aus?________________________ 22 3. Wir suchen nach einem anderen Menschenbild ________ 43 Die Neurologie, das Gehirn und seine nahezu grenzenlosen Möglichkeiten _____________ 43 Symbole gebrauchen, Identität entwickeln, Instabilität erfahren___________________________________ 63 Die Moderne entwirft ein düsteres Bild vom Menschen, weist aber auf seinen Freiheitsspielraum hin _______________ 84 Die Psychoanalyse beschreibt den Menschen als lernbereit und integrierbar und doch immer ganz anders __ 100 4. Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein _________________ 121 Die systemische Managementtheorie ____________________ Das lernende Unternehmen in der Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft_______________________________ Wie das andere Menschenbild institutionell abgerichtet werden kann ___________________ Das alternative Assessmentcenter_______________________ Menschenkenntnis __________________________________ Führung im lernenden Unternehmen ____________________
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8 Inhaltsverzeichnis Vor allem Selbsterneuerung ___________________________ 174 Texte _____________________________________________ 176 5. Auf dem Weg zu einem anderen Menschenbild _______ 189 Wiederholen und vertiefen, um sich selbst zu erneuern ______ 189 Sich auf die eigene Kultur besinnen _____________________ 192 In fremden Kulturen das andere Menschenbild ausfindig machen ___________________________________ 195 Literatur _________________________________________ 197 Der Autor_________________________________________ 201 Stichwortverzeichnis________________________________ 203
Zur Einführung 9
1. Zur Einführung
In Führungsetagen von Unternehmen zirkulieren Begriffe, die abgenutzt sind bis zur Worthülse: Kosten und Gewinn, Rentabilität und Nachhaltigkeit, Vision und Strategie, zweites Standbein und Kernkompetenz, Projekt und Synergie. Es ist als handle es sich um Plastikwörter, die zu einer Schaumsprache gehören und es ermöglichen, über alles zu reden, ohne viel zu sagen. Ein Begriff wird selten erwähnt. Dabei reicht er bis in die tiefen Schichten neurologischer Netzwerke und wirkt in unbewussten Bereichen unseres psychischen Lebens. Gleichzeitig umfasst er die ganze Breite unserer abendländischen Kultur und prägt unser Denken und Empfinden seit vielen Generationen: unser Menschenbild. Es reicht vom neuronalen Körperbild über das mentale Selbstbild bis zur Botschaft der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Sie erfahren in diesem Buch, was mit Menschenbild gemeint ist, welche kraftvolle Wirkung von ihm ausgeht, welche Grenzen es uns ziehen und welche Chancen es uns eröffnen kann. Sie erfahren auch, wie fatal sich ein falsches Menschenbild auf das persönliche Leben des Einzelnen und auf das Zusammenleben in der Gesellschaft auswirkt. Schließlich erfahren Sie, welche Ansätze und Perspektiven sich andeuten, um ein neues und dabei doch ganz altes Selbstbild zu entwerfen, das auch neue Qualitäten des gemeinsamen Handelns ermöglicht, vielleicht sogar fremde Kulturen einbeziehend. Dieses andere Menschenbild verlangt nach neuen Methoden und Praktiken, die die Würde des Menschen achten und den Respekt vor ihm ausdrücken. Solche Praktiken bestehen aus der Organisationstheorie des Lernenden Unternehmens und seinem systemi-
10 Zur Einführung schen Führungsstil, aus dem konstruktivistischen Assessmentcenter und aus dem Weiterbildungstagebuch mit seinem autonomieund integrationsfördernden Grundplan. Angesichts einer unaufhaltsam kommenden anderen Welt und einem notwendigen neuen Denken vermittelt Ihnen dieses Buch durch Ihre Auseinandersetzung mit seinen Alternativen ein Hintergrundwissen, das Sie befähigt, sich von zahlreichen Managementmoden kritisch zu distanzieren und auf Grund theoretischer Überlegenheit auch in der Praxis neue Wege zu beschreiten. Es gibt einen weiteren Grund, warum es sich für Sie lohnen könnte, sich mit den Überlegungen dieses Buches auseinander zu setzen. Es ist die Entdeckung von Sinn. Es könnte Sie dazu anregen, Ihrer Arbeit und Anstrengung einen neuen Sinn zu geben. Nichts bewegt uns ja so sehr, neue Werke zu schaffen, keine Mühe zu scheuen, Kräfte und Ideen zu wecken, wie Sinn. Dieses Buch wendet sich an alle, die Führungsaufgaben wahrnehmen, sich darauf vorbereiten oder dafür vorgesehen sind und die nach etwas anderem suchen, als zu zentralisieren und autoritär zu führen und die nicht einverstanden sind, wie mit unprofessionellen Selektionsverfahren Führungskräfte in geeignet und nicht geeignet unterschieden werden. Es wendet sich an alle, die nach mehr suchen als nach Fakten, Zahlen und Programmen. Allerdings finden Sie in diesem Buch auch praktische Anregungen, die sich abheben von den Methoden, die das beschädigte Menschenbild begleiten. Damit meine ich Folgendes: Ein Managementtrainer bekommt den Auftrag, eine Veranstaltung zu leiten, bei der es um die Auswahl von Führungskräften geht, die sich für höhere Aufgaben eignen. Bei dieser Veranstaltung wird den Kandidaten die Aufgabe gestellt, die Posten eines vorgegebenen Organigramms unter sich zu verteilen. Das Problem dabei ist, dass es einen Posten weniger gibt, als es Teilnehmer sind. Die Aufgabe ist also, einen auszuwählen, der ausscheidet.
Zur Einführung 11
Was kann eine solche Inszenierung verdeutlichen und was soll hier geübt werden? Ob jemand brutal genug ist, schnell eine Entscheidung zu finden und den Betroffenen vor die „Tatsachen“ stellt? Ob es der Gruppe gelingt, den Entscheidungsprozess so „mitarbeiterzentriert“ zu gestalten, dass sich schließlich einer freiwillig meldet? Ob jemand geschickt genug ist, um mit List und Tücke die eigene Haut zu retten? Was vermutlich nicht kritisch reflektiert wird, das ist die Brutalität der Inszenierung selber. Es wird nicht gefragt, welche Personalentscheidung falsch war, ob ein Strategiefehler vorliegt oder ob latente Rivalitäten dazu geführt haben, dass jetzt ein Opfer gebraucht wird. Eines könnte allerdings gelernt werden, nämlich wie es kommt, dass solche Situationen entstehen und was zu tun ist, um sie vorausschauend zu vermeiden. Dies ist aber nicht vorgesehen. So verlassen alle als Beschädigte die Szene. Dazu möchten wir im Zusammenhang mit dem anderen Menschenbild auch andere Methoden vorstellen. Wir gehen dabei von einem wissens- und lernorientierten Unternehmensverständnis aus, beschreiben das Weiterbildungstagebuch und das alternative Assessmentcenter. Wir versuchen Führungsinstrumente zu vermitteln, die aus der neueren Systemtheorie abgeleitet sind und Methoden der Selbsterneuerung, die aus der Philosophie der Lebenskunst stammen. Welchem Gedankengang folgen diese Überlegungen? Es gibt Phänomene, die wir nicht mit den üblichen Deutungsmustern erklären können. Da gibt es Managementmethoden, die mit viel Aufwand an Zeit und Geld eingeführt werden und die nach und nach wieder verschwinden, so ganz sang- und klanglos und dies in einer Zeit der Effizienzsteigerung und der aufeinanderfolgenden Kostensenkungsmaßnahmen. Corporate Identity: übrig geblieben ist Graphik; Reengineering: ganze Unternehmen sind dadurch in die Knie gegangen; TQM: manche wissen schon nicht mehr, was die drei Buchstaben bedeu-
12 Zur Einführung ten. ISO 9000 erstickt in Bürokratie; auch die Balanced Scorecard soll ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Ist die nächste Modewelle schon im Anrollen? Es ist schon länger her, da hieß es, ein Unternehmen sollte auf mehreren Standbeinen stehen, wie z. B. General Electric, das wohl erfolgreichste Unternehmen der Welt. Dann kam die Parole von der Konzentration auf das Kerngeschäft. Es begann die Zeit der großen Fusionen. Es gibt Topmanager, die sich als „Manager des Jahres“ feiern ließen, ein Weltunternehmen konzipierten, aber wegen gigantischer Verluste das Unternehmen schließlich durch den Hintereingang verlassen mussten. Es gibt in einem weltbekannten Unternehmen Manager, die sich aufwendige Privatreisen, berufsferne Besuche aus Südamerika oder einen Urlaub in Indien von der Firma, die ihnen nicht gehört, bezahlen lassen. Wie ist dies möglich, obwohl an solchen Praktiken schon manche hoffnungsvolle Karriere gescheitert ist? Es gibt ein Ritual, das sich herausbildet und das darin besteht, bei der Hauptversammlung nicht nur die neuesten Gewinnsteigerungsquoten bekannt zu geben, sondern auch gleichzeitig die Zahl der zigtausend Arbeitsplätze, die abgebaut werden. Es wird argumentiert, dass die Zwänge des Weltmarktes eine andere Entscheidung nicht zuließen, was falsch ist. Denn wir wissen aus der Philosophie des kritischen Rationalismus, dass es für ein Problem immer mehrere Lösungen gibt, und wenn wir nur eine sehen, dann ist dies eine Frage unserer Phantasie und nicht der Fakten. Aber könnte man denn nicht wenigstens den Betroffenen diese Stillosigkeit ersparen? Bei diesen Ereignissen handelt es sich nicht um Organisationsversagen, falsche Investitionsentscheidungen sind nicht ausschlaggebend, Strategiefehler liegen nicht vor. Immer übersehen wir etwas. Was übersehen wir hier? Vielleicht machen wir uns ein falsches Bild vom Menschen.
Zur Einführung 13
In unserer Gesellschaft werden die Lebensbedingungen des modernen Menschen beschrieben als Verlust an Orientierung, als Einschmelzen von Tradition und Norm, als Ende des Bisherigen ohne das Neue zu erkennen. Diese Umbruchsituation wirkt sich auch auf die Bilder aus, die wir vom Menschen entwerfen. Sie lassen sich zusammenfassen als das Bild vom beschädigten Menschen, der nicht mehr mithalten kann, als das Bild vom getriebenen Menschen, der es allen recht machen will, und als das Bild vom analysierten Menschen, transparent und manipulierbar, der in seiner Persönlichkeit bedroht ist. Um den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen zu sein, brauchen wir ein intaktes Menschenbild. Wo können wir es finden? Wir fragen nach: bei den Soziologen, Neurologen und Psychoanalytikern. Die Soziologen zeichnen zunächst ein düsteres Bild vom Menschen in der modernen Gesellschaft als „stahlhartem Gehäuse“ und „Panoptikum“. Sie zeigen allerdings auch einen neuen Freiheitsspielraum auf, den es zu nutzen gilt. Die Neurologie ist wohl die modernste Wissenschaft vom Menschen. Sie beschreibt ihn als einmalig und autonom, selbstkritisch und lernfähig, einfühlsam und auf der Suche nach Sinn. Die Psychoanalyse kommt dem Menschen wohl am nächsten. Sie beschreibt ihn als ein Ich, das über eine unversiegbare Quelle von Energie verfügt, unbezähmbar und unkontrollierbar, aber auch lernend, sich anpassend, auf den anderen ausgerichtet. Sie zeichnet ein Bild vom Menschen, der durch die Wüste geht, den Verzicht kennt und bereit ist, den Anderen in seiner Würde, weil immer ganz anders, zu respektieren. Statt vom Bild des beschädigten und getriebenen Menschen auszugehen, müssen wir dieses neue Bild vom Menschen verinnerlichen und zur Grundlage unseres Handelns machen. Aber seine
14 Zur Einführung Wirkung kann es erst entfalten, wenn es auch eine institutionalisierte Form findet. Eine institutionalisierte Form findet dieses neue Menschenbild X X X X X
im Begriff des lernenden Unternehmens, im Weiterbildungstagebuch, im alternativen Assessmentcenter, im veränderten Personalauswahlverfahren, im veränderten Führungsstil.
Um diesen hohen Anspruch zu erfüllen, muss der Einzelne eine „Arbeit an sich selbst“ leisten, indem er Übungen aufgreift, die aus der „Philosophie der Lebenskunst“ stammen und die seiner Selbsterneuerung dienen. Weil wir aber heutzutage weltweit unterwegs sind und oft mit fremden Kulturen zu tun haben, müssen wir versuchen, das neue Menschenbild auch dort ausfindig zu machen, statt es anderen aufzuzwingen oder es resigniert beiseite zu legen.
Menschenbilder, die beschädigen 15
2. Menschenbilder, die beschädigen
Was verstehen wir unter „Menschenbild“? Seit einiger Zeit hat sich in Unternehmen eine Praxis eingebürgert, Mitarbeiter zu beurteilen, zu bewerten, einzuteilen und auszusondern. Diese Methoden bestehen aus Test, Assessmentcenter, Appraisal, Audit, Potenzialbeurteilung oder wie sie auch immer bezeichnet werden. Als Folge dieser Beurteilungen werden die Mitarbeiter in Kategorien eingeteilt gemäß einer Bewertungsskala, die von „sehr geeignet“ bis „ungeeignet“ reicht. Die Folgen sind also einschneidend. Warum können sich diese Methoden so verbreiten? Schließlich bedeuten sie einen Eingriff in die Intimsphäre eines Menschen, der untersucht und anschließend kategorisiert wird. Das Ganze findet dann auch noch mit dem Anspruch statt, objektiv zu sein. Wie kommt es, dass ein solches Verfahren sich so widerspruchslos durchsetzen kann? Haben wir ein falsches Menschenbild? Es gibt Fehlleistungen, Misserfolge und Störungen, die sich trotz gründlicher Analyse nicht auf organisatorische, strategische oder führungsmäßige Ursachen zurückführen lassen, auch nicht auf fehlende Qualifikation der beteiligten Manager. Dennoch muss es eine Ursache geben, und sie muss mit den beteiligten Menschen zu tun haben. Sie kann nicht aus den Quellen stammen, die üblicherweise herangezogen werden, und sie muss nicht auf der Hand liegen, also bewusst sein, sonst wüssten wir längst um sie. Dieser Beschreibung entspricht der Begriff des Bildes, das wir uns von uns selbst und auch von anderen Menschen entwerfen. Dieses Menschenbild ist eine mentale Wirklichkeit, die tief im Körper
16 Menschenbilder, die beschädigen verwurzelt ist und nur gelegentlich in unserem Bewusstsein auftaucht. Sie beeinflusst unser Verhalten zu uns selbst und prägt unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Wenige Wochen vor ihrem Tod schreibt Romy Schneider an ihre Freundin: „Ich kann meine Fresse nicht mehr sehen.“ Eine Mutter ist bei der Geburt ihres Sohnes enttäuscht. Sie hat sich ein Mädchen gewünscht. Sie zieht ihm Mädchenkleider an und lässt seine Haare wachsen, bis er in die Grundschule kommt. Noch mit zehn Jahren zeichnet sich der Junge in Mädchenkleidern. Eine Bekannte fragt die Mutter, wie es ihrem inzwischen fünfjährigen Sohn erginge. Sie antwortet, er entwickle sich eher rückwärts. Der Junge hört dies und geht von da an an der Hand seiner Mutter nur noch rückwärts. Es ist, als würde er die Aussagen seiner Mutter direkt in seinem Körper abbilden. Als er mit zwölf Jahren stirbt, ohne organisch krank zu sein, war es, als ob sein Körper erschöpft zusammengesunken wäre. Nicht immer so fatal, aber immer so tief greifend wirken Menschenbilder und bestimmen uns bei unseren Entscheidungen und in unseren Beziehungen zu anderen. Wir unterscheiden zwischen Körperbild, Selbstbild und Menschenbild. Damit wollen wir aufzeigen, dass es eine mentale Wirklichkeit gibt, die unser Verhalten und unsere Interaktionen bestimmt, ohne dass es uns deutlich bewusst ist, und die zu Fehlleistungen führen kann, für die wir sonst keine einleuchtenden Erklärungen haben. Körperbild Das Körperbild ist tief im Körper verwurzelt und mitten im Gehirn lokalisiert. Es handelt sich um Hirnstammkerne, also um neuronale Strukturen, die sich damit befassen, das innere Milieu des Körpers zu regulieren und die inneren Prozesse aufeinander abzustimmen. Sie verfügen über eine umfassende Sicht des Körperzustandes und erzeugen somit das Gefühl für den eigenen Körper.
Menschenbilder, die beschädigen 17
Diese Strukturen schaffen auch das Wissen um den Bauplan des Körpers und um die Funktionen der Organe. Obwohl der Körper und seine Teile ständig ausgewechselt werden, obwohl die Körperzellen im Verlauf des Lebens immer wieder ersetzt werden, so wird doch alles nach demselben Plan rekonstruiert. Diesen Plan nennen wir Körperbild. Es gibt den Zustand des Körpers wieder und bildet die neuronale Grundlage für das Selbstbild. Selbstbild Das Selbstbild gründet auf dem Körperbild als seiner neuronalen Basis und ist, wie erwähnt, über die Hirnstammzellen tief im Körper verwurzelt. Diese sind aber nicht nur körperbezogen, sondern reichen auch ins Bewusstsein hinein und lösen dort mentale Vorgänge aus, die das Gefühl erzeugen, dass ich es bin, der etwas sieht, hört, berührt oder riecht. Mit Selbstbild ist die Erfahrung gemeint, dieselbe Person zu sein, obwohl wir uns im Laufe des Lebens ändern. Das Selbstbild sorgt dafür, dass ein Mensch sich als Urheber seiner Handlungen sieht, dass er fähig ist, sich als zuständig und verantwortlich zu empfinden, und fähig, Zusagen über lange Zeit einzuhalten. Die mentalen Repräsentationen des Selbstbildes werden angereichert durch die Erfahrungen, die der Einzelne bei Schlüsselereignissen im Verlauf seines Lebens macht, und die Bedeutungen, die er seinen Erfahrungen zuschreibt. Menschenbild Das Körperbild hat seine Wurzeln tief in den gleichbleibenden biologischen Prozessen des Körpers, die es steuert und aufeinander abstimmt. Das Abbild davon reicht bis ins Bewusstsein des Menschen, für den der eigene Körper letztlich den verlässlichsten Bezugspunkt bildet. Das Selbstbild baut auf dieser Basis auf und erweitert sie durch mentale Repräsentationen, die sich auf persönliche Erfahrungen und Erlebnisse eines jeden Einzelnen beziehen.
18 Menschenbilder, die beschädigen Jeder Mensch mit seinem Körper- und Selbstbild ist in ein soziales Umfeld eingebettet. Jedes soziale Umfeld enthält Werte und Normen, Regeln und Rituale. In ihnen kommt auch ein bestimmtes Bild vom Menschen zum Ausdruck, das in der jeweiligen Gesellschaft durch Traditionen über Generationen hinweg überliefert wird. Dieses Bild vom Menschen gilt es mit Hilfe der Erziehung zu verinnerlichen, wenn jemand der Kultur dieser Gesellschaft angehören will. Dadurch entwickelt er seine persönliche Identität, die es ihm dann ermöglicht, mit sich selbst und mit seinen Erfahrungen in Übereinstimmung zu leben. In dieser Meinung wird er dann von den Menschen bestätigt, die ihm viel bedeuten. Identität entsteht dann, wenn die Erfahrungen mit sich selbst und die Botschaften aus dem sozialen Umfeld einigermaßen übereinstimmen. Das Menschenbild beruht folglich auf ziemlich gleichbleibenden biologischen Prozessen und auf der konstanten Arbeitsweise des Organismus, auf Repräsentationen des Körpers im Bewusstsein und der Stabilität, die sie vermitteln. Es beruht auf den Erfahrungen mit wichtigen Ereignissen in der Lebensgeschichte des Einzelnen und den Bedeutungen, die ihnen dieser verleiht, und dem Eingebundensein in ein Wertesystem, das als Tradition über Generationen weitergegeben und über Erziehung dem Einzelnen vermittelt wird. Das Menschenbild stellt den Einzelnen nicht nur in den Kontext einer Gesellschaft, sondern auch in den einer Tradition, die Generationen überdauern wird. Es ist geprägt von Erfahrungen, die der Einzelne mit sich selbst macht, und von den Bedeutungen, mit denen er wichtige Ereignisse in seinem Leben versieht. Es bleibt verwurzelt in neuronalen Strukturen und in Verbindung mit körperlichen, biologischen Prozessen. Im Menschenbild sind die starken Kräfte gebündelt, die bewusst und unbewusst Macht über uns ausüben. Menschenbilder können wir erschließen über die Selbstaussagen einer Gesellschaft, über die Analyse von Texten, Reden, Filmen, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigen.
Menschenbilder, die beschädigen 19
Weil Menschenbilder einen so machtvollen Einfluss auch auf den einzelnen Menschen in unserer Zeit ausüben, fragen wir danach, welches Bild von ihm heutzutage entworfen und vermittelt wird.
Welche Menschenbilder prägen unsere Gesellschaft? Wenn wir uns Texte vornehmen, in denen sich die jeweiligen Autoren grundsätzlich zu unserer Gesellschaft äußern, dann wollen wir drei Schwerpunkte herausgreifen, die Hinweise auf das in ihnen enthaltene Menschenbild geben: das Ende der großen Metaerzählungen (Lyotard), der Schmelzofen (Baumann), die große Wegscheidung (Prigogine). Das Ende der großen Metaerzählungen Gemeint sind die großen Entwürfe zur Erklärung der Welt, wie Religionen, Ideologien und Weltanschauungen. Sie liefern umfassende Entwürfe der Welterklärung und verbinden sie mit dem Anspruch, wahr zu sein. Deshalb fordern sie auch dazu auf, sich ihnen zu unterwerfen und ihnen zu gehorchen. Wir haben uns von solchen Ansprüchen befreit, weil wir inzwischen wissen, dass kein gedanklicher Entwurf im Besitz der Wahrheit ist, weil wir immer etwas nicht wissen und weil unser Aussagen falsifizierbar sind. Wir haben uns von ihnen befreit, weil wir ihre Niederlagen kennen und die Katastrophen, die sie nicht verhindern konnten, und das Elend, das sie mitverursacht haben. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, uns selbst Orientierung zu erarbeiten und Welterklärungen zu suchen, die Sinn in unser Leben bringen. Vorgegeben sind sie uns nicht mehr.
20 Menschenbilder, die beschädigen Wir haben uns bemüht, auf Metaerzählungen zu verzichten und ohne sie zurechtzukommen. Wir haben versucht, unsere Konflikte gewaltfrei zu lösen. Wir haben auch darauf verzichtet, Gewalt anzudrohen, um unsere Interessen durchzusetzen. Wir haben danach gestrebt, eine demokratisch verfasste Gesellschaft autonomer Individuen zu schaffen, welche die Formen ihres Zusammenlebens selbst bestimmen (Kurnitzky, 2002, 10). Inzwischen scheint sich unsere Gesellschaft wieder von diesem Ziel abzuwenden. Immer häufiger gilt wieder das Recht des Stärkeren. Es entstehen immer rücksichtslosere Konkurrenzkämpfe, die zunehmend das persönliche Verhältnis der Menschen zueinander bestimmen. Aus der Verunsicherung und der Sorge um die Zukunft sind die Menschen wieder bereit, Unterordnung unter autoritäre Organisationsformen zu ertragen. Sie sind in Gefahr, Konformisten ohne Eigenwillen zu werden. Der Schmelzofen Flüssigkeit, Flüchtigkeit und Verdampfen sind Metaphern, die Zygmunt Baumann verwendet, um die moderne Gesellschaft zu beschreiben, und fragt, ob das Verdampfen nicht ihre Hauptbeschäftigung war. Sie fand ja eine träge Gesellschaft vor, zu beständig zum Verändern und eingerastet in gewohnter Routine. Um sie „von der toten Hand ihrer eigenen Geschichte zu befreien, war es erforderlich, die Vergangenheit zu entmachten, vor allem die Tradition mit ihrem Bodensatz vergangener Zeiten“ (Baumann, 2003, 9 ff.). Die nicht funktionierenden Strukturen sollten beseitigt werden. In den Schmelzofen kamen Gewohnheitsrechte, Pflichten und Loyalitäten. Eingeschmolzen wurden auch die traditionellen, politischen und ethischen Verpflichtungen der Ökonomie. Übrig blieben Netzwerke sozialer Beziehungen ohne Anbindung und eine Ökonomie allein der Effizienz und Rentabilität verpflichtet.
Menschenbilder, die beschädigen 21
Jetzt werden die Ziele persönlicher Entfaltung immer mehr von außen bestimmt. Keiner kennt das Ziel – es ist beweglich geworden. Man muss mehrmals die Richtung wechseln, bevor man ans Ende kommt, und das Ende ist vielleicht das Ende des individuellen Lebens. Die große Wegscheidung Die flüchtige Moderne, das bedeutet auch eine neue Lebensweise. Wir erleben heute eine Rückkehr der nomadischen Lebensweise. Das Kleinere, Leichtere, Beweglichere steht heute für Fortschritt. Mit leichtem Marschgepäck reisen zu können, ist wichtiger, als an Dingen festzuhalten. Der Zerfall des sozialen Zusammenhalts wird als Folge der neuen Leichtigkeit einer immer weniger greifbaren, hochmobilen Macht registriert. Brüchige und fragile menschliche Beziehungen sind die Folge. Andere Beschreibungen schildern unsere Zeit als die einer Gesellschaft im Umbruch, in der etwas zu Ende geht, aber auch etwas Neues beginnt. Prigogine spricht von einer „großen Wegscheidung“, einer Revolution, viel radikaler als die Aufklärung oder die Renaissance oder das Ende des römischen Reiches. Denn diesmal lösen sich unsere Ideen, Begriffe und Überzeugungen in Rauch auf. Prigogine vergleicht diese große Wegscheidung mit der vor 12.000 Jahren, die uns vom Paläolithikum zum Neolithikum geführt hat. Im Neolithikum wurde das Nomadenzelt durch die Stadt ersetzt, das Sammlertum durch die Landwirtschaft, die Jagd durch die Tierzucht, die mündliche Überlieferung durch die Schrift. Erleben wir heute einen Umsturz von ähnlicher Tiefe? In unserer Gesellschaft besteht die Tendenz, den Menschen als neuen Nomaden zu sehen, der sich von den alten Metaerzählungen befreit hat, der jetzt aber als Regisseur und nicht mehr als Statist sein eigenes Leben inszenieren muss. Er ist verunsichert und desorientiert, denn die Zwänge der alten Wahrheiten haben ihm auch
22 Menschenbilder, die beschädigen Halt gegeben. Seine Gefahr ist, die Unsicherheit nicht auszuhalten und sich autoritären Strukturen wieder unterzuordnen. Ein anderes Bild zeigt den Menschen an einem Schmelzofen, im Begriff, Privilegien, Routinen und nicht funktionierende, überholte Strukturen einzuschmelzen. Er schafft Platz für Neues, ist aber in Gefahr, in ein Netzwerk von Beziehungen zu geraten ohne ethische Verpflichtung. Ein drittes Bild beschreibt den Menschen, wie er an einer Wegscheidung steht, die bedeutet, dass für ihn etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Es handelt sich um eine Umbruchsituation von einer solchen Tiefe, dass dafür noch die Worte fehlen, um sie zu beschreiben. Die Gefahr für den Menschen an der Wegscheidung ist, dass er die falsche Richtung einschlägt und das Übliche weitermacht oder dass er das Neue wählt, aber von seiner Radikalität überwältigt wird. Der neue Nomade, am Schmelzofen und an der großen Wegscheidung: Menschenbilder unserer Zeit.
Wie wirken sich diese Bilder auf den einzelnen Menschen aus? Jede Epoche in der Geschichte einer Gesellschaft zeichnet ihr eigenes Bild vom Menschen. Augustinus schreibt: „Gott, du hast uns auf dich hin geschaffen und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“ Er sieht den Menschen als ganz auf das Jenseits hin ausgerichtet. René Descartes versteht den Menschen auf ganz andere Weise. Ausgehend von seiner These: „Ich denke, deshalb bin ich“, teilt er den Menschen ein in die res cogitans und die res extensa, in einen geistigen und einen körperlichen Bereich. Er legt damit die Grundlagen für die modernen Naturwissenschaften.
Menschenbilder, die beschädigen 23
In seiner Erzählung vom Jäger Gracchus schildert Franz Kafka den Menschen unserer Zeit als jemanden, der, nachdem er die Orientierung im Jenseits verloren hat, weder richtig leben noch richtig sterben kann. Dies ist bezeichnend für die Entwürfe vom Menschen in unserer Zeit. Sie drücken diese fehlende Orientierung aus, die wir auch bei den Menschenbildern beschrieben haben. Ihnen fehlen klare Konturen. Sie sind in einem Bereich „dazwischen“ angesiedelt. So heißt es, dass die Hysterie, eine für erloschen gehaltene Form der Neurose, wiederkehrt und sich ausbreitet. Eine wachsende Verbreitung depressiver Verstimmung wird festgestellt, auch latente Depression genannt, aber eben nur latent. Das Ich wird als eine Sammlung von Beliebigem oder als multiples Selbst geschildert; es ist nicht mehr mit einer fest umrissenen Identität versehen. Wenn wir aktuelle Managementbücher unter dem Kriterium „Menschenbilder“ durchlesen, dann lassen sich folgende Persönlichkeitsbeschreibungen erkennen: der beschädigte Mensch, der getriebene Mensch, der analysierte Mensch. Der beschädigte Mensch Die hysterische Persönlichkeit Immer mehr Menschen sind immer häufiger und immer länger unterwegs, Manager zu Verhandlungen mit Kunden, Monteure zur Inbetriebnahme von Anlagen, Forscher zur Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen, als Mitglieder von internationalen Projektgruppen í und viele andere auch. Manche haben Freunde auf einem anderen Kontinent, kennen aber ihre Nachbarn nicht. Zur Instabilität des Ortes kommt die Instabilität des Berufes. Aus einem habilitierten Kinderarzt wird der Leiter des internationalen Projektmanagements in einem Pharmaunternehmen.
24 Menschenbilder, die beschädigen Die Instabilität der Beziehungen bedeutet, dass Beziehungen zunehmend gefährdet sind, weil sie ihre institutionelle Absicherung verlieren. So gibt es inzwischen Schulklassen, in denen die meisten Kinder getrennt lebende oder geschiedene Eltern haben. Die Instabilität der geistigen Orientierung bedeutet, dass viele Menschen in einem Umfeld groß werden ohne Werte und geistige Ziele, ohne Ideen und klare Pflichten. Die Werte bleiben unverbindlich und die Pflichten sind lästig. Unter diesen Umständen bildet sich keine stabile Identität. Identität besitzt jemand, der mit sich im Großen und Ganzen in Übereinstimmung lebt und darin durch Menschen bestätigt wird, die ihm viel bedeuten. Alles ist eingebettet in ein soziales Umfeld, das Werte vertritt, die durch Tradition vermittelt werden. Menschen, denen es gelingt, Identität in diesem Sinne zu entwickeln, handeln verantwortlich, halten ihre Zusagen ein und betrachten vereinbarte Ziele als verbindlich. Weil es immer schwerer wird, diese Form von Identität auszubilden, deshalb sind Menschen immer mehr außengeleitet, immer mehr den Stimmen von außen ausgeliefert, die sich aber schließlich aus dem eigenen Innern zu Wort melden. (Gergen, 1991, S. 124) Dadurch wird man sich fremd im eigenen Haus, das bevölkert ist von fremden Stimmen, die fremde Werte und Ziele ins eigene Leben bringen. Es heißt, man muss entspannen und das Leben genießen; man muss sich kulturell und sozial engagieren; man muss auf seine äußere Erscheinung achten. Ein Schwall neuer Selbsteinschätzungskriterien bricht über uns herein: Ist man ausreichend veränderungsbereit, weit gereist, belesen, niedrig im Cholesterinspiegel, ausgeglichen und freundlich, gut frisiert, sparsam, familienorientiert? Immer ist man etwas nicht und wird deswegen kritisiert, auch von sich selbst. Immer mehr tragen wir die Lebensmuster von anderen in uns herum, als ob sie die Leere füllen könnten, die die moderne Gesellschaft gerissen hat.
Menschenbilder, die beschädigen 25
Elisabeth Bronfen vertritt die Meinung, dass die Hysterie, eine erloschen geglaubte Form der Neurose, wiederkehrt. Die Hysterie beruht auf Spannungen, Konflikten und Sinnkrisen. Diese können durch Gespräche und Reflexionen nicht mehr bewusst gemacht und aufgearbeitet werden. Der hysterische Patient verstummt; von da an drückt sein Körper aus, was über Sprache nicht mehr mitgeteilt werden kann. (Geiselhart, 2001, S. 112) Hysterischen Menschen fehlt die innere Übereinstimmung mit sich selbst, die sich über die wohlwollenden Beziehungen zu anderen Menschen bildet, die einem viel bedeuten. Sie orientieren sich deshalb ganz an anderen, denen sie sich anpassen, und denen sie es recht machen wollen. Manchmal passen sie sich so sehr an, dass sie nur noch Rollen spielen und dass von ihnen selbst immer weniger übrig bleibt. Die narzisstische Persönlichkeit Schriften, die dieses Menschenbild vertreten, versteigen sich zu folgenden Thesen: „Menschen wollen mit sich selbst zufrieden sein. Deshalb fragen sie sich: Kann ich in der Arbeit etwas für mich selbst gewinnen?“ Es gilt die Maxime: „Alles Wichtige gibt es nur in der Einzahl.“ Oder: „Die einzige Organisation, für die wir alle arbeiten, heißt Ich.“ Aber es gibt noch Schlimmeres: „Nicht mehr Anpassung und Pflichterfüllung in Beruf und Familie sind der Sinn des Lebens, sondern selbstbestimmter Lebensgenuss.“ Oder: „Nur wer etwas für sich tut, lässt sich von der Erotik des Gegenstandes anstecken.“ Hier wird ein Menschenbild beschrieben, wo der Mensch nur um sein Ego kreist, das nach Selbstbestätigung sucht und darin Lust erfährt. Weil das eigene Selbstwertgefühl so schwach oder so beschädigt ist, deshalb ist jemand so gierig auf Bestätigung von außen. Er muss im Mittelpunkt stehen, kann keine Kritik ertragen und ist in seinem Selbstwertgefühl abhängig von der Wertschätzung durch andere. Oskar Schindler hätte mit dieser Einstellung keinen einzigen Juden gerettet.
26 Menschenbilder, die beschädigen Die operative Persönlichkeit Diese Art von Persönlichkeit wird dort gesucht, wo es nur um Leistung und Ergebnis geht. „Es zählt nur, was am Ende dabei herauskommt.“ In Managementbüchern heißt es immer wieder, es sei unmenschlich, seine Schwächen beseitigen zu wollen, denn die Fähigkeit zur kritischen Selbstbeurteilung sei miserabel entwickelt und die Persönlichkeitsstrukturen seien so gefestigt, dass charakterliche Veränderungen unmöglich seien. Daraus folgern sie, dass es nicht darum gehen könne zu fragen, was Menschen sind, sondern wie sie handeln. Sicher gibt es solche Menschen, die in ihrer Veränderungsfähigkeit sehr eingeschränkt sind, weil sie nicht mehr selbstkritisch über sich nachdenken können und weil ihre neuronalen Verschaltungen wegen traumatischer Erfahrungen fest eingerastet sind. Aber sie sind selten. Wir können uns aber nicht darauf beschränken, zu fragen, wie Menschen handeln, denn wir wissen, dass Handeln auf Verhalten beruht, das durch Bewertungen bestimmt wird, welche auf einem Wertesystem gründen. Über Psychotherapie und Psychoanalyse nachzudenken, um menschliches Handeln zu verstehen, wird als Tiefenschwindel, Amalgam aus Halbwissen, Metaphysik und Aberglauben disqualifiziert. Es gilt nur, was sich messen, zählen oder in Zahlen ausdrücken lässt. Inzwischen findet die Psychoanalyse eine aktuelle Bestätigung durch eine der modernsten Wissenschaften, die Neurologie. Arroganz ist kein guter Lehrer. Es gibt in der Psychopathologie ein Krankheitsbild, das als operatives Denken bezeichnet wird. Es zwingt das Phantasieleben des Patienten unter einen eisernen Panzer, sodass in seinen sprachlichen Äußerungen nur Fakten und Sachen auftauchen, auf keinen Fall Gefühle oder Phantasien. Diese Menschen sind besonders anfällig für psychosomatische Erkrankungen.
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Die depressive Persönlichkeit Die depressive Verstimmtheit ist eine Grundstimmung, die sich immer mehr verbreitet. Sie ist durch das Gefühl gekennzeichnet, man verliere an persönlichem Wert, das eigene Ansehen sinke und man sei minderwertig. Sie äußert sich in Traurigkeit, Müdigkeit, Hemmungen oder Verlangsamung von Bewegungsabläufen. Der depressive Mensch sieht keine Zukunft mehr; es fehlt ihm an innerer Energie. Manchmal wird Depression durch eine Verlusterfahrung ausgelöst. Das Ich fühlt sich dann leer, verurteilenswert und als Verlierer. Sie entsteht auch als Folge der Überforderung, aus sich selbst heraus initiativ zu sein, sich steigenden Anforderungen gewachsen zu zeigen und dabei ständig aus eigenen Ressourcen zu schöpfen. Die depressive Verstimmtheit ist insofern eine Krankheit unserer Zeit, als sie mit dem Verlust an verbindlicher normativer Orientierung zu tun hat und dem Gefühl, nicht mehr mithalten und nur noch mit Mühe die Fassade aufrecht halten zu können, mit dem Bewusstsein, ständig auf dem Prüfstand zu stehen. Depression drückt das Unvermögen aus, das der Einzelne empfindet, wenn er trotz fehlender äußerer und innerer Orientierung ständig Spitzenleistung erbringen soll. (Geiselhart, 2001, S. 53 ff.) Der Desorientierung der Menschen, den Verflüssigungen von Werten, dem Einschmelzen von Traditionen entspricht ein diffuses Menschenbild, das wir in vier Ausprägungen als flexibel bis zur Selbstauflösung, als narzisstisch oder ichhaft, als funktionierend oder phantasielos, als depressiv und ohne Antrieb beschrieben haben. Aber diesen Beschreibungen beschädigter Menschenbilder stehen als Reaktion rigide Gegenentwürfe gegenüber, gleichsam als die andere, die strenge Seite der Medaille.
28 Menschenbilder, die beschädigen Der getriebene Mensch Diese Gegenentwürfe sehen wir in der Persönlichkeitsstruktur des effizienten und flexiblen Menschen, in der Frage nach der Wiederkehr des Verdrängten und in der Kritik an der weit verbreiteten Praxis, Menschen zu beurteilen, auszuwählen und einzuteilen. Der effiziente Mensch Kurbjuweit entwirft in seinem Buch über die McKinsey-Gesellschaft (Kurbjuweit, 2003) das Bild des Hochleistungsmenschen, der zu der zunehmenden Gestaltung aller Lebensbereiche nach ökonomischen Gesichtspunkten passt. Effizienz ist das große Wort unserer Gesellschaft und die Suche danach das Kriterium, an dem sich alle messen lassen müssen. Dieser Hochleistungsmensch ist mobil, flexibel, innovativ und vor allem effizient. Er funktioniert wie eine intelligente Maschine, die sich unermüdlich, schonungslos und perfekt ihrer Aufgabe hingibt. In unserer „athletischen“ Gesellschaft ist der Hochleistungsmensch ganz seiner Aufgabe gemäß optimiert und so konditioniert, dass er vor allem im Konsum sein Glück sucht. Insgesamt geht es darum, eine bessere Welt zu schaffen durch die Erziehung besserer Menschen. Effizienz und Leistung, messbar durch Umsatz und Gewinn, sind die Wege dorthin (Kurbjuweit, 2003, S. 10 ff.). Der flexible Mensch „Flexibilität ist das Zauberwort des globalen Kapitalismus“, schreibt Richard Sennett (2003, Berlin) und zeigt, wie tief diese Wirtschaftsordnung auf bedrohliche Weise in unser persönliches und privates Leben eingreift. Die moderne Wirtschaft und das flexible Unternehmen richten sich ursprünglich gegen starre Formen der Bürokratie, gegen blinde Routine und verlangen Offenheit für kurzfristige Veränderungen, für Risikobereitschaft und wollen nichts Langfristiges mehr.
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Wie wirkt sich dies nun auf den Charakter eines Menschen aus, wenn mit Charakter der Wert gemeint ist, den wir den eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen? Charakter ist ja langfristig ausgerichtet. Er drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen. Aus einer Vielfalt von Empfindungen wählen wir einige aus, die dann zu unserem Charakter werden. Es sind die Merkmale, die wir an uns selbst schätzen und für die wir den Beifall und die Zuwendung der anderen suchen (Sennett, 2003, S. 11 ff.). „Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt?“ (Sennett, 2003, 12) Dauerhafte soziale Beziehungen lassen sich nur schwer aufrechterhalten. In einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, ist es anstrengend, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung zu bündeln. Es sind also die Charaktereigenschaften bedroht, die Menschen aneinander binden und ein stabiles Selbstgefühl vermitteln. „Nichts Langfristiges“ ist ein Prinzip und eine Praxis, die auf lange Sicht jedes Handeln desorientiert, Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung löst und die wichtigsten Elemente der Selbstachtung untergräbt. (Sennett, 2003, S. 38) Es entwickelt sich eher das Bild des „getriebenen Menschen“, wie es Max Weber beschrieben hat. Dieser getriebene Mensch will seine Lebensgeschichte mittels harter Arbeit gestalten, weiß aber, was auch immer er leistet, ist nicht gut genug. Er konkurriert ständig mit anderen, kann aber seinen Gewinn nicht genießen. Seine Lebensgeschichte wird eine endlose Suche nach Anerkennung und nach Selbstachtung. Aber gleichzeitig ist ihm alles Gegenwärtige nur Mittel zu einem fernen Zweck. Nichts Jetziges ist ihm wichtig. Diese Grundeinstellung des getriebenen Menschen ist keine Quelle menschlichen Glücks, auch nicht Grundlage psychischer Stärke.
30 Menschenbilder, die beschädigen In dieser flexiblen Ökonomie gibt es auch die Erfahrung des Scheiterns, und zwar nicht nur durch Verlust des Arbeitsplatzes oder wegen des enttäuschenden Endes einer Karriere. Das Gefühl des Scheiterns kann auch aus tieferen Motiven aufsteigen. Dann, wenn es nicht gelingt, das eigene Leben vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, etwas Wertvolles in sich selbst zu entdecken, zu leben, statt einfach nur zu existieren. (Sennett, 2003, S. 160 f.) Es ist ein Scheitern, das aus dem Gefühl stammt, dass man aus seinem Leben zu wenig macht. Eine andere Schilderung des modernen Ichs in der flexiblen Ökonomie liefert Salman Rushdie: Das moderne Ich sei „ein schwankendes Bauwerk, das wir aus Fetzen, Dogmen, Kindheitsverletzungen, Zeitungsartikeln, Zufallsbemerkungen, alten Filmen, kleinen Siegen, Menschen, die wir hassen, und Menschen, die wir lieben, zusammensetzten“ (Salman Rushdie, in: Sennett, 2003, S. 181). Für Rushdie ist das Ich wie eine Collage, die eine Sammlung von Beliebigem darstellt. Es ist ein Ich im Zustand endlosen Werdens, ohne zusammenhängende Lebensgeschichte, „keinen klärenden Moment, der das Ganze erleuchtet“. Selbstwert bildet sich über die Erfahrung, dass andere sich auf einen verlassen können und dadurch, dass man anderen Menschen verantwortlich ist. „Weil jemand auf mich zählt, bin ich vor einem anderen für meine Handlungen verantwortlich.“ Eine zusammenhängende Lebensgeschichte, Selbstwert und Verantwortung für andere benötigen einen gesellschaftlichen Rahmen, der ihr Entstehen ermöglicht. „Nichts Langfristiges“ bietet einen solchen Rahmen nicht. Unser Menschenbild ist im Kern bedroht. Wir haben dargelegt, welch mächtigen Einfluss Menschenbilder auf jeden von uns ausüben. Deshalb dürfen wir uns diesen beschädigten Bildern nicht überlassen oder gar an ihnen festhalten. Sie befähigen uns ja nicht, auf spielerische Weise und mit ganzer Energie die Aufgaben zu bewältigen, die vor uns liegen.
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Der gläserne Mensch Es ist nicht leicht, sich dem Einfluss beschädigter Menschenbilder zu entziehen, obwohl sie uns Grenzen ziehen und Energie kosten. Es kommt dazu, dass Hochleistungsmenschen mit Effizienz als höchstem Wert und flexible Menschen mit „nichts Langfristiges“ als Grundregel zu einer Praxis passen, die immer mehr Unternehmen erfasst und deren Begründung oft lautet, dass es ja alle machen. Gemeint sind die immer ausgefeilteren Methoden der Personalbeurteilung und der Auswahlverfahren bei Stellenbesetzungen. Anerkennenswert ist es ja ohne Zweifel, wenn sich Personalleiter bemühen, Entscheidungen über Mitarbeiter aus dem Bereich des subjektiven und irrationalen Vorgehens herauszulösen. Personalentscheidungen sollen argumentierbar werden, jedenfalls nicht dem „Nasenfaktor“, wie es heißt, unterliegen oder über „Vitamin B“ zustande kommen. Anerkennenswert ist auch das Bemühen, sich mit Mitarbeitern oder Bewerbern intensiv zu beschäftigen und sich ein Urteil zu bilden und dabei zu versuchen, seine persönlichen Gefühle und Motive kritisch zu überprüfen. Verständlich ist auch, bei einer großen Zahl von Kandidaten ein Verfahren anzuwenden, das den Aufwand in Grenzen hält. Diese Überlegungen sind einleuchtend. Eindrucksvoll ist es, zu sehen, wie sorgfältig und gewissenhaft Personalleute solche Veranstaltungen wie Assessmentcenter, Appraisal und Mitarbeiterbefragungen vorbereiten. Es soll doch gerecht zugehen, und das Risiko, eine Stelle falsch zu besetzen, soll deutlich gesenkt werden. Auch Vorgesetzte, die sich der Verantwortung für ihre Mitarbeiter bewusst sind, suchen in diesen Methoden zusätzliche Bestätigung für ihre Entscheidungen, die oft sehr einschneidend und folgenreich sein können. Aber da ist etwas, das darüber hinausgeht und auf die andere Seite der Medaille hinweist. Was ist damit gemeint? Je ausgeprägter die Desorientierung in der Gesellschaft ist, und je beliebiger das sich
32 Menschenbilder, die beschädigen daraus ableitende Selbstverständnis des Menschen wird, umso rigoroser wird das Menschenbild, das sich als Gegenreaktion herausbildet. Seit wenigen Jahren ist es plötzlich üblich geworden, Führungskräfte in Kategorien einzuteilen. Es wird unterschieden in High Potentials, Potentials, Leistungsträger, Experten und Nachwuchsführungskräfte. Es gibt ein Beurteilungssystem, das in Stars, Leistungsträger mit Potenzial und Leistungsträger einteilt, oder in geeignet, eingeschränkt geeignet, nicht geeignet. Um diese Einteilung vorzunehmen gibt es die entsprechenden Methoden: die psychometrischen Tests und die Persönlichkeitstests. Es gibt das Beurteilungs- oder Bewerbungsgespräch, das Assessmentcenter, die Audits, das Appraisal, die Gutachten. Danach kommen die Mitarbeitergespräche, die Zielvereinbarungen, die Kompetenzanalysen und das Entwicklungs- oder Fördergespräch. Die letzteren bestehen aus einer persönlichen Begegnung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter. Sie denken gemeinsam über ihre Zusammenarbeit nach und suchen danach, was sie künftig verbessern können. Beide können Vorurteile abbauen und Missverständnisse ausräumen. Diese Praktiken sind deshalb wertvoll, weil sie dem Vorgesetzten seine Verantwortung für den Mitarbeiter auf konzentrierte Weise verdeutlichen und für beide die Gelegenheit bieten, voneinander zu lernen. Das Management Appraisal verdient allerdings besondere Beachtung. Dazu beziehen wir uns auf „Management Appraisal“ von Tilman Gerhardt und Jörg Ritter, als grundlegenden Text. Aber andere Veröffentlichungen zu diesem Thema unterscheiden sich nicht wesentlich (Gerhardt/Ritter, 2004). Zunächst fällt die Sprache auf, in der dieser Text abgefasst ist. Es heißt dort: „Damit konnten wir schnell und punktgenau identifizieren, welche Stärken und Schwächen unsere Führungsmannschaft ... hatte“ (S. 11). An anderer Stelle heißt es über Führungskräfte, dass sie die Feedback-Gespräche nutzen, „um sich so objektiv wie möglich einschätzen zu lassen“ (S. 21). Die Bewertungscharakte-
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ristika seien „eindeutig beschrieben und festgelegt“. Sie erlauben eine „punktgenaue Einordnung“. Damit ist gewährleistet, „dass Urteile ebenso objektiv wie fair gefällt werden“... (S. 35). Schnell und punktgenau, eindeutig beschrieben, objektiv und fair – als ob dies möglich wäre. Es ist, als ob die Autoren nichts von Karl Poppers Philosophie des kritischen Rationalismus wüssten. Nichts davon wüssten, dass wir bestenfalls über Vermutungswissen verfügen, weil es kein Thema gibt, bei dem wir über alle Informationen verfügen, weil wir immer etwas nicht wissen. Und das, was wir nicht wissen, kann gegebenenfalls unsere Meinung widerlegen. Daraus folgert Popper, dass niemand im Besitz der Wahrheit ist, dass wir außer in der Mathematik nicht über objektives Wissen verfügen. Also können wir auch über Menschen keine objektiven Aussagen machen, sie nicht eindeutig beschreiben und erst recht keine „punktgenaue Einschätzung“ vornehmen. Die Philosophie des Konstruktivismus erläutert, dass wir über unsere Sinnesorgane keinen direkten Zugang zur objektiven, d. h. zu einer von uns unabhängig existierenden Wirklichkeit haben, und dass wir nur über Bedeutungszuschreibungen verfügen. Wenn wir also über andere Menschen etwas aussagen und Urteile über sie fällen, so sind diese weder punktgenau noch objektiv, sondern Ausdruck unserer Bedeutungszuschreibung. Wie der andere „objektiv“ ist, dazu haben wir keinen Zugang. Zugänglich ist nur die Art und Weise wie wir über ihn sprechen, dies hat aber mit uns zu tun, darin sind wir mit im Spiel, dafür tragen wir die Verantwortung. Solche Urteile sind deshalb weder objektiv noch fair, denn dies hieße, dass sie dem Beurteilten sagen könnten: „Schau, so bist du!“ Dies können sie nicht – und das ist gut so! Was den Berater angeht, so heißt es bei Gerhardt und Ritter, dass er einen „neutralen Blick von außen“ auf die Führungskräfte wirft. Er entwirft „eine faire, weil unparteiische und von jeglicher Firmenpolitik unbelastete Bewertung“ (S. 20).
34 Menschenbilder, die beschädigen „Ein neutraler Dritter kann eben frei von der Firmenhistorie, unbelastet von persönlichen Sympathien oder Antipathien und unbefangen im Hinblick auf eine zukünftige Zusammenarbeit in ein Feedback-Gespräch hineingehen.“ (S. 20) „Im Feedback halten die Berater als neutrale, unbefangene Dritte der Führungskraft einen Spiegel vor ...“ Und Michael Löhner sagt: „Wir leben alle in unserem Wahrnehmungsgefängnis, und die Tür lässt sich nur von außen öffnen!“ (S. 77) Neutral und unbelastet, frei von Sympathien oder Antipathien – wie soll dies gelingen? Der Berater hat Vorgespräche geführt. Er hat sich mit dem Unternehmen beschäftigt. Er hat auch den eigenen Erfolg im Sinn, der in einem Anschlussauftrag besteht. Bei einem Interview kann er gar nicht anders als seinem Gesprächspartner gegenüber Sympathie oder Antipathie zu empfinden, sonst müsste er sein Gehirn abschalten. Er hat also seine vorgefasste Meinung, seine Vorurteile und seine Gefühle, eines ist er jedenfalls nicht: neutral. Es gibt aber einen Weg, möglichst unbeeinflusst von oder in Distanz zu den eigenen Bedeutungszuschreibungen dem zu Beurteilenden gegenüber zu begegnen, nämlich indem der Berater versucht, sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden und sie kritisch zu reflektieren, statt sie zu leugnen. Denn sonst nehmen sie unerkannt Einfluss auf seine Urteilsbildung, und die ist dann eben gerade nicht neutral, unparteiisch oder unbelastet, geschweige denn fair. Gerhardt und Ritter ziehen den statistisch „gesicherten“ Schluss, wie sie schreiben: „Das Verhalten einer Führungskraft in unterschiedlichen beruflichen Situationen und daraus resultierende Erfolge in der Vergangenheit sind ein valider Gradmesser dafür, wie der betreffende Manager mit ähnlichen Situationen in der Zukunft umgehen wird – und eben wieder erfolgreich sein wird.“ (S. 25) Die Methode, die sie anwenden, ist die Methode der Critical Incidents, die es erlaubt, „die Spreu vom Weizen“ zu trennen.
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Was muss das für eine Methode sein, die den Schluss erlaubt: Weil etwas in der Vergangenheit so war, deshalb wird es auch in der Zukunft so sein! Wie soll das gehen, in einer Zeit der sich ständig beschleunigenden Veränderungsprozesse? Verhalten, das in der Vergangenheit erfolgreich war, kann künftig, in neuen und unbekannten Kontexten, unangemessen und hinderlich sein. Der Berater wirft einen neutralen Blick von außen auf die Führungskräfte. Wie soll dies gelingen – von außen? Menschen, Führungskräfte sind lebende Systeme. Lebende Systeme definiert Luhmann als „geschlossene Systeme“, offen nur für Energiezufuhr und Informationen. Sie sind autonome Systeme, die durch interne Vorgänge bestimmen, was sie aus Informationen von außen machen. Nur Systemmitglieder können über Kommunikation auf diese internen und autonomen Vorgänge einwirken. Der Berater bleibt immer außerhalb. Deshalb ist seine Tätigkeit immer zu hinterfragen. Wird er Systemmitglied, dann passt er sich notwendigerweise den Systemprozessen an, bleibt er außerhalb, dann ist sein Einfluss gering. Ein Berater, der von außen kommt, hat deswegen keinen unbefangeneren Blick, sondern begibt sich in eine paradoxe Situation, entweder er integriert sich und ist den Machtspielen und Ablehnungsstrategien ausgesetzt, oder er steht außerhalb und bewirkt wenig. Sich dieser paradoxen Situation bewusst zu sein, heißt eher damit konstruktiv umgehen zu können. Nicht um sie zu wissen bedeutet, sich als Berater in Widersprüchen zu verstricken. Es heißt, der Berater muss sich bei den Führungskräften als kompetenter Gesprächspartner qualifizieren und mit ihnen „ein Gespräch auf Augenhöhe“ führen, damit diese sich im Interview öffnen. Um ein vertrauensvolles Gespräch auf Augenhöhe zu führen, muss der Einzelne einen Bedarf danach empfinden, und es muss die Freiheit der Wahl gegeben sein. Oft bestimmt der Vorstand, ein solches Appraisal für die Führungskräfte durchzuführen, und nimmt sich selbst davon aus. Ein solches Gespräch auf Augenhöhe
36 Menschenbilder, die beschädigen beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, d. h., der Beurteilte muss auch Beurteiler sein dürfen und der Beurteiler zum Beurteilten werden können. Dies ist aber nicht vorgesehen. Der Beurteilte soll das Ergebnis des Appraisals möglichst „als fundiert und richtig“ anerkennen (S. 88). Im Übrigen, wie soll denn gleiche Augenhöhe im Gespräch eintreten, wenn der eine über den anderen die Macht hat, ein Urteil zu fällen, das auf jeden Fall einen entscheidenden Einfluss auf seine berufliche Zukunft haben wird? Gerhardt und Ritter schreiben über die Beurteilten, dass diese in einem Wahrnehmungsgefängnis leben, und zitieren Michael Löhner, der meint, die Tür dazu lasse sich nur von außen öffnen (S. 77). Wenn wir die Luhmannsche Systemtheorie akzeptieren, dann sind auch die Beurteilten lebende Systeme, die über die Impulse von außen, wie zum Beispiel den Versuch, die Tür zu ihnen von außen zu öffnen, ganz autonom befinden, was sie aus diesem Impuls machen: hereinlassen, abwehren oder oberflächlich mitspielen. Darauf hat niemand mehr Einfluss. Die Tür zu ihrem Wahrnehmungsgefängnis lässt sich deshalb letztlich nur von innen öffnen, durch Einsicht, Bedarf und Interesse. Es heißt, die Führungskraft muss bereit sein, sich zu öffnen, in den Spiegel zu schauen und sich darin zu erkennen (S. 77). Gemeint ist wohl der Spiegel, den der Berater der Führungskraft vorhält, in dem dieser auf objektive Weise das Bild von sich erkennt und sieht, wie er wirklich ist. Aber, um im Bild zu bleiben, gerade im Spiegel sehen wir uns nicht, wie wir wirklich sind, sondern seitenverkehrt und zweidimensional beispielsweise, und es braucht am Anfang des Lebens eine geistige Arbeit, um sich im Spiegel überhaupt zu erkennen. Auch hier begegnen wir dem Anspruch, über andere Menschen objektive Aussagen machen zu können. Deshalb ist es nicht überraschend, dass das Appraisal bei Führungskräften auch auf Vorbehalte stößt. Die Autoren erwähnen dies mehrfach. Sie halten es schon für einen Erfolg, wenn die Führungskräfte sich auf die Ergebnisse des Appraisals einlassen und
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sie die identifizierten Stärken und Defizite annehmen (S. 77 ff.). Es braucht aber die „rückhaltlose Unterstützung“ (S. 84) des Vorstandes, der dieser Maßnahme Gewicht verleihen muss, damit ihr die Führungskräfte Bedeutung beimessen und sie nicht grundsätzlich in Frage stellen oder gar boykottieren (S. 88). Ausdrücklich heißt es: „Entscheidend ist, dass er sich den Erkenntnissen des Appraisals nicht völlig verschließt und abschwenkt in Diskussionen darüber, ob das Feedback gut oder schlecht, zutreffend oder abwegig sei. Sie führen in die falsche Richtung.“ (S. 99) Warum eigentlich? Im Appraisal ist demnach eine kritische Diskussion der präsentierten Ergebnisse nicht vorgesehen. Dem Beurteilten bleibt nur die Wahl, die Ergebnisse anzunehmen, sich dem Urteil zu unterwerfen und sich anzupassen. Sie zu hinterfragen, sich zu verweigern oder sie abzulehnen, ist nicht erwünscht. Wo gibt es denn so etwas noch? Es gibt Führungskräfte, die haben kein Problem mit dem Appraisal. Sie interessieren sich dafür, etwas über sich zu erfahren und sind an kritischen Rückmeldungen interessiert. Manche lehnen sich offen dagegen auf und viele nur in ihrem Inneren. Wer gut bewertet ist, fühlt sich bestätigt oder aufgewertet. Bei wem Defizite aufgezeigt wurden, der fühlt sich in seiner beruflichen Situation eher in Frage gestellt und in seinem Selbstbild bedroht. Es ist ein Bild, das jeder von sich selbst im Verlauf seines Lebens entwirft, das seiner Persönlichkeit einen gewissen Zusammenhang gibt und in dem er sich in Übereinstimmung weiß mit den Personen seiner Umgebung, die ihm viel bedeuten. Dieses Selbstbild wird durch ein Feedback-Gespräch im Rahmen eines Appraisals, in dem es um Defizite geht, manchmal sogar beschädigt. Wahrscheinlich hat noch niemand gemessen, wie viel psychische Energie Mitarbeiter aufbringen müssen, um ihr Selbstbild wieder herzustellen und wie viel Zeit sie das kostet, nach einer solchen Beurteilungserfahrung.
38 Menschenbilder, die beschädigen Gerhardt und Ritter begründen die Durchführung eines Appraisals unter anderem mit einem Defizit der Vorgesetzten, wenn es darum geht, Führungskräfte zu beurteilen. Diese seien „unter die Lupe“ zu nehmen, damit sich die „Spreu vom Weizen“ trenne. Führungskräftebeurteilungen seien „lange unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit und hinter verschlossenen Türen“ (S. 13) erledigt worden. „Intransparenz und fehlende Systematik“ (S. 18) seien dabei billigend in Kauf genommen worden. Zufälligkeiten hätten die Besetzungsentscheidungen beeinflusst. Bei internen Beurteilungen würden verschiedene Motive eine Rolle spielen: Der am besten Angepasste wird befördert; der wird befördert, dem der Vorgesetzte sich verpflichtet fühlt; jener mit dem besseren Netzwerk zu einflussreichen Personen; weniger qualifizierte Vorgesetzte würden Talente blockieren; Vorgesetzte würden eine kurzfristige Verträglichkeit mit einer Führungskraft einem Gespräch über Defizite vorziehen (S. 31). Diese Schwächen gibt es. Ob es sie häufig gibt, ist unwahrscheinlich, denn viele Vorgesetzte leisten hervorragende Arbeit. Aber die Folgerung wäre ja nicht, diese wesentliche Aufgabe eines Vorgesetzten, seine Mitarbeiter auszuwählen, zu fördern und zu befördern, einem externen Berater zu übertragen, weil er selbst es nicht professionell genug macht. Die Folgerung wäre ja vielmehr, ihn so auszubilden und seine Fähigkeiten so zu entwickeln, dass er dieser Aufgabe eher gerecht wird. Appraisals sind erforderlich, heißt es, weil Vorgesetzte sich schwer tun, ihre Mitarbeiter zu beurteilen und über ihren weiteren Weg im Unternehmen zu entscheiden. Wenn aber die Führung der Mitarbeiter die entscheidende Aufgabe eines Vorgesetzten ist, und wenn die Zusammenarbeit des Vorgesetzten mit seinem Mitarbeiter immer ein persönliches und subjektives Verhältnis ist, dann kommt es doch fast einer Entmündigung gleich, wenn in dieses gegenseitige Engagement ein Verfahren zwischengeschaltet wird, unpersönlich, ohne Verantwortung und pseudoobjektiv.
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Gerhardt und Ritter beschreiben den Prozessschritt „Auswertung erstellen/kalibrieren“(S. 96 ff.) als einen Vorgang, bei dem sich die Berater zurückziehen, „um alle Ergebnisse zu erarbeiten und diese untereinander zu kalibrieren“. Nach einem Interview erstellen die Berater „einen provisorischen Individualbericht“ und nach Einarbeitung der Referenzen eine Endversion. Es ist also die Phase, in welcher die Informationen und Meinungen zusammengefasst und interpretiert werden. Über diesen Vorgang steht nichts in dem Buch. Anhand welcher Kriterien und welcher Theorie erarbeiten die Berater eine Interpretation, die ja dann für den Betroffenen folgenschwer sein kann? Was geschieht, wenn der Beurteiler vom Informationsteil zum Beurteilungsteil übergeht, von den gesammelten Eindrücken zur Einschätzung? Was geschieht mit den Vorurteilen, vorgefassten Meinungen, mit Sympathie und Antipathie, mit Rivalitätsgefühlen, Machtfragen und Ängsten? Wer sagt, er sei frei davon, weiß nicht, wie sein Gehirn funktioniert. Wer sich darüber nicht kritisch befragt, bleibt ihnen ausgeliefert, aber nicht nur er, sondern auch diejenigen, die mit ihm zu tun haben. Nicht die Rede ist von einer Phase, in der sich die Berater zurückziehen, um ihre eigenen Theorien kritisch zu reflektieren und sich die persönlichen Projektionen bewusst zu machen, die bei dem Beurteilungsvorgang im Spiel sind. Aber von kritischer Selbstreflexion war in diesem Text nicht die Rede. Was hier über das Appraisal ausgeführt wurde, das gilt ähnlich für das Assessmentcenter und ähnliche Methoden zur Auswahl von Bewerbern. Das Appraisal ist die Methode, die den flexiblen Hochleistungsmenschen ausfindig machen soll, der das Gegenprogramm zu dem desorientierten Menschen in der „Ja-nichts-Langfristiges“-Gesellschaft darstellt.
40 Menschenbilder, die beschädigen Die Wiederkehr des Verdrängten Desorientierung und Sinnverlust einerseits und hohe Anforderungen andererseits führen dazu, viele innere Bedürfnisse unter Kontrolle zu bringen und zu verdrängen. In der Psychoanalyse gibt es den Begriff von der Wiederkehr des Verdrängten. Je mehr etwas aus dem Bewusstsein weggeschoben und verdrängt wird, und je häufiger dies geschieht, um so eher kommt das Verdrängte wieder, in anderer Form, an anderer Stelle, mit anderem Inhalt. Das massiv und beständig Verdrängte strebt also nach Wiederkehr. Diese Wiederkehr äußert sich oft in absurden Formen. So kann es doch normalerweise nicht sein, dass verdiente und erfahrene Manager sich vom Unternehmen, das ihnen nicht gehört, teure Urlaubsreisen bezahlen lassen. Sie wissen, dass dies unerlaubt und riskant ist und allen ein schlechtes Vorbild abgibt. So kann es doch nicht sein, dass Spitzenmanager oder erfolgreichste Manager des Jahres gigantische Unternehmensgewinne bekannt geben und anschließend einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen verkünden. Es kann doch nicht sein, dass ein in Wirtschaft und Politik hochangesehener Topmanager zurücktreten muss, weil man ihm offenbar glaubhaft vorhalten konnte, sich auf Firmenkosten berufsfremde Beziehungen gegönnt zu haben. Es kann doch nicht sein, dass traumhafte Millionenbeträge an Manager für Fusionen bezahlt werden, von Unternehmen, die ihnen nicht gehören, für Leistungen, die zumindest fragwürdig sind. Gehälter ohne Leistungen bei einigen Politikern, gigantische Abfindungszahlungen bei Unternehmensverkäufen, Selbstdarstellung und Selbstsorge in einer Weise, die jedes Maß vermissen lassen.
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Einerseits flexibler Hochleistungsmensch und andererseits die Wiederkehr des Verdrängten in Form von Streben nach Lusterfahrung jenseits rationaler Überlegung. Wir müssten einen Weg finden, heraus aus der „Ja-nichts-Langfristiges“-Gesellschaft und aus dem verworrenen Menschenbild, heraus aus der Effizienzgesellschaft mit dem flexiblen Hochleistungsmenschen und dazu passenden Methoden wie Appraisal und Assessmentcenter, die versuchen, die Menschen auszusondern, zu kategorisieren und zu konditionieren. Wir müssten einen Weg finden, der zu der Würde des ursprünglichen Menschenbildes zurückführt, und uns wieder an den Auftrag vom Anfang erinnern, wo von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Rede war. Vielleicht finden wir diesen Weg eher, wenn wir uns mit unserem Gehirn beschäftigen, wie es funktioniert, wie wir wahrnehmen und erkennen, uns ein Bild der Welt erarbeiten, wie wir uns erinnern und wie wir lernen. Die in unserer Gesellschaft kursierenden Menschenbilder tragen nicht dazu bei, die Fehlleistungen zu verhindern, die ohne einleuchtende Erklärung bleiben. Wir müssen uns von ihnen befreien und suchen deshalb nach Alternativen.
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3. Wir suchen nach einem anderen Menschenbild
Die Neurologie, das Gehirn und seine nahezu grenzenlosen Möglichkeiten Unsere bisherigen Überlegungen haben verdeutlicht, dass die moderne Gesellschaft ein Bild vom Menschen zeichnet, das ihn als ziemlich beschädigt aufzeigt, ihn als einen Getriebenen schildert, der ständig Hochleistungen zu erbringen hat und sich Methoden unterziehen muss, die ihn als transparent ausweisen. Wir suchen nach einem anderen Menschenbild, nach einem, das den Weg zurückfindet zu einem Bild, das den Menschen in seiner Würde zeigt, mit seiner Vielfalt an Möglichkeiten und seinem Streben nach dem „mehr“ und „besser“. Auf dieser Suche fragen wir bei der Neurologie an. Sie ist die modernste Wissenschaft vom Menschen. Was wir dort entdecken, löst pures Staunen aus. Die neurologischen Strukturen und Prozesse schaffen die Basis dafür, dass Menschen einmalig und autonom sein können, selbstkritisch und lernfähig, einfühlsam und auf der Suche nach Sinn. Das Gehirn funktioniert ganz anders Der Hochleistungsmensch ist ein Mensch, der genau das nicht bringt, was ihn bezeichnet, nämlich Hochleistung. Er leistet zu wenig, weil er und diejenigen, die ihn mit Hilfe ihrer begrenzten Kriterien auswählen, und denen er es recht machen will, zu sehr
44 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild auf Zahlen und Fakten getrimmt sind, und weil sie alle zu wenig vom menschlichen Gehirn wissen, das nämlich ganz anders funktioniert. Um dies zu erläutern, müssen wir etwas mehr von der Neurologie wissen. Die Neurologie erklärt uns nicht, welche Auswirkungen dieses oder jenes Menschenbild auf unser Leben hat, aber ohne Neuronen gibt es ganz einfach keine Erklärungen. Lassen wir uns faszinieren von den Vorgängen in unserem Gehirn! Dann verstehen wir uns selbst und andere besser. So erfahren wir, dass das menschliche Gehirn etwa eineinhalb Kilogramm wiegt, zwei Prozent des Körpergewichtes ausmacht, aber zwanzig Prozent des Energiebedarfs des ganzen Körpers in Anspruch nimmt. Von jeder Nahrung, die wir aufnehmen, geht ein Fünftel ins Gehirn. Das Gehirn ist ein vibrierendes Netz aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen. Jede Zelle ist mit tausend anderen Nervenzellen verbunden. Dies ergibt insgesamt hunderttausend Milliarden Verbindungen. Damit gibt es mehr neuronale Kontaktstellen im menschlichen Gehirn als Sterne in unsere Galaxie. (Spitzer, 2002, S. 13 f.) Die Großhirnrinde, die äußere Hülle des menschlichen Gehirns, enthält über dreißig Milliarden Neuronen und eine Milliarde neuronale Verknüpfungen oder Synapsen. Wollten wir pro Sekunde eine Synapse zählen, so wären wir erst in zweiunddreißig Millionen Jahren mit dem Zählen fertig. (Edelman/Tononi, 2002, S. 58) Eine Nervenzelle gleicht einer Zwiebel mit einem rundlichen Mittelstück, einem langen Spross an einem Ende und einer Vielzahl dünner, wurzelförmiger Fasern an dem anderen. Die dünnen Fasern, die in der Nervenzelle zusammenlaufen, sind die Dendriten. Diese nehmen elektrochemische Impulse von anderen Nervenzellen auf, die sich über die Axone (Fasern) an die Oberfläche einer Nervenzelle heften und sie zu aktivieren suchen.
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Jede Zelle hat nur ein Axon. Es ist ihr einziger Kommunikationskanal mit dem übrigen Gehirn. Ein Axon ist zwischen einem Millimeter und zwei Meter lang.
Nervenzelle Dendriten Zellkörper Synapse Axon
Die Zelle und ihre Umgebung Wenn die Nervenzelle ein Signal über ihr Axon weiterleitet, tut sie dies in Form eines einzigen starken elektrischen Impulsstoßes. Dieser Impuls dauert etwa eine tausendstel Sekunde und pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit zwischen drei und dreihundertzwanzig Kilometern pro Stunde fort. Am Ende des Axons löst der Impuls eine Entladung aus. Dort besteht ein Kontakt zu Dendriten einer anderen Nervenzelle. Diese Kontaktstelle heißt Synapse. Die Entladung löst eine Reaktion aus, die sich durch das vibrierende Netz von Neuronen fortsetzt, die durch die Synapsen Schaltkreise bilden und zu Kettenreaktionen führen, bei denen sich Hunderte, Tausende oder gar Millionen von Zellen entladen.
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Die Übertragung eines Nervenimpulses von einem Neuron zum anderen geschieht an einer Synapse.
Von der Stärke der synaptischen Verbindung hängt es ab, ob ein Impuls einen großen oder kleinen Effekt auf die Erregung des nachfolgenden Neurons hat. Wenn ein Impuls eintrifft, dann löst er kleine Bläschen aus, die Botenstoffe enthalten, die Neurotransmitter, und die mit der Wand der Synapse verschmelzen. Dort wird der Neurotransmitter freigesetzt und erregt jetzt seinerseits die nachfolgende Zelle. Spitzer nimmt an, dass, großzügig eingeschätzt, etwa zehn Millionen Nervenfasern das Gehirn verlassen oder zu ihm hinführen, also 107 ausgehende oder eingehende Nervenfasern zusammen. Die Zahl der internen Verbindungen der Nervenzellen miteinander beträgt 1014, sie sind also zehn Millionen Mal zahlreicher. Daraus folgt, dass von zehn Millionen Nervenfasern nur eine Verbindung in das Gehirn hinein oder aus ihm herausführt. Nur eine Faser von zehn Millionen verbindet das Gehirn mit der Welt. Die anderen verbinden das Gehirn mit sich selbst. Dies bedeutet, dass wir vor allem mit uns selbst beschäftigt sind (Spitzer, 2002, S. 54). Dies ergibt, dass unsere Sinnesorgane nur Schnittstellen sind, welche Licht- und Schallwellen, die die Augen und Ohren aufnehmen, in elektrische Impulse umsetzen, nämlich in die Sprache des Ge-
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hirns. Die Augen sehen nicht, die Ohren hören nicht, sie senden nur die elektrischen Impulse ins Gehirn, das selbst aber von der Umwelt völlig isoliert ist. So entstehen zwei Welten, die physikalische Welt draußen und die Welt im Kopf. Dies ist die Wirklichkeit, die wir erleben. Die Welt, in der wir leben, ist die Rekonstruktion der Realität in unserem Kopf, sie ist niemals die Realität selbst. Damit bestätigt die Neuroanatomie die These der Philosophie des kritischen Rationalismus, nach der wir keinen Zugang zur objektiven Wirklichkeit haben und deshalb nicht im Besitz der Wahrheit sind, sondern nur über Vermutungswissen und Bedeutungszuschreibungen verfügen (Kast, 2003, S. 15). Dies gilt ebenfalls für Appraisal, Assessmentcenter und 360-GradFeedback. Alle diese Instrumente erfordern, dass Beurteiler sich eine Meinung von den zu Beurteilenden bilden. Wenn die Gehirne der Beurteiler aber keinen Zugang zur äußeren Wirklichkeit des zu Beurteilenden haben, wenn die Impulse von außen über die Schnittstellen der Sinnesorgane erst in die Sprache des Gehirns übersetzt werden müssen, und ihr Gehirn fast nur mit eigenen Zuständen zu tun hat, wie soll es da gelingen, zu einem einigermaßen objektiven Urteil über einen anderen Menschen zu kommen, abgesehen von dessen Gehirn, das ja eine ähnliche Komplexität mit einbringt. Dies kann ja vor allem dann nicht gelingen, wenn die eigenen Zustände nicht zum Thema einer kritischen Selbstreflexion werden, was ja bei den Beurteilern nicht vorgesehen ist. Ein Gehirn, das vor allem mit den eigenen Zuständen zu tun hat, bedeutet, dass es autonom denken kann, weil es nicht auf Reize aus seinem Umfeld direkt antworten muss, weil es auf diese Weise über einen inneren Freiheitsspielraum verfügt, der die Voraussetzung für Lernen ist. Ein Gehirn, das autonom ist und die Welt hervorbringt, in der es handelt, trägt auch Verantwortung für diese Welt. Wenn es bei Entscheidungen und Handlungen nicht mehr möglich ist, sich auf objektive Fakten zu beziehen, sondern man in ihnen das Werk der
48 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild eigenen Bedeutungszuschreibungen erkennen muss, dann ist jeder auch für dieses Werk verantwortlich. Wir sind dann nicht nur Opfer von Fakten, sondern auch Verantwortliche der Bedeutung, die wir ihnen verleihen. Dies gilt auch für die Menschenbilder, die wir uns und anderen zuschreiben. Etwas mehr um die Weise zu wissen, wie das Gehirn funktioniert, lässt uns eher erkennen, dass wir anders sind, nicht die Karikatur, als die uns Assessment und Appraisal beschreiben. Sich in den anderen hineinversetzen – die Spiegelzellen Als den letzten Schrei der Hirnforschung bezeichnet Bas Kast die Spiegelzellen. Sie sollen fähig sein, unser Gegenüber zu spiegeln und die Grundlage zu bilden für Mitgefühl (Kast, 2003, S. 131 ff.). Sie können beides: Bewegung steuern und die Welt wahrnehmen, und sie können beides gleichzeitig. Spiegelzellen gibt es für so gut wie alles – ein regelrechtes Spiegelsystem in unserem Gehirn. „Jedes Mal, wenn wir etwas sehen, wird unser Hirn so aktiviert, als würden wir die wahrgenommene Handlung selbst ausführen. Das Hirn spiegelt so unser Gegenüber. Und zwar immer. Wenn wir sehen, wie jemand greift oder loslässt, wenn wir sehen, wie jemand gähnt oder lacht. Ohne dass wir uns dagegen wehren können, werden, sobald wir einen anderen Menschen sehen oder hören, nicht nur Hirnzellen für das Sehen oder Hören aktiv, sondern auch solche, die unsere Muskeln steuern. Schon sind wir versucht, selbst zu greifen, selbst zu gähnen, selbst zu lachen. Wir nehmen unsere Mitmenschen nicht nur wahr, wir simulieren sie“ (Kast, 2003, S. 137). In diesem „neuronalen Nachvollziehen“ liegt der Ursprung des Mitgefühls, der Fähigkeit, sich in den anderen hineinversetzen zu können, zu fühlen, wie er fühlt, sich von seinen Gefühlen anstecken zu lassen, wie die Zuschauer auf den Tribünen, die ein spannendes Fußballspiel verfolgen und sich kaum daran hindern können, nicht nur mitzufühlen, sondern sogar die Beinbewegungen zu imitieren.
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Deutlich wird jedenfalls, dass es für ein neutrales und objektives Verhalten eines Beraters bei einem Interview im Rahmen eines Appraisals keine neuronalen Grundlagen gibt. Unser Gehirn funktioniert anders. Immer sind Gefühle mit im Spiel, immer wird der andere zum Teil unseres Ichs. Mit Hilfe der Spiegelzellen können wir uns in andere hineinversetzen und über das Mitempfinden mit anderen größere Klarheit für eigene innere Vorgänge gewinnen. Wir funktionieren also nicht wie die Maschinen in „Matrix“, sondern werden über die Beziehung zu anderen Menschen zu Menschen. Über das eigene Denken nachdenken – das „innere Auge“. Viele Tiere können schneller laufen, besser schwimmen, größere Kälte ertragen, besser fliegen. Die Milliarden von Neuronen im Gehirn des Menschen ermöglichen es ihm, sich auf die verschiedensten Umgebungen, Aufgaben und Probleme einzustellen. Der Mensch „kann lernen, und zwar besser als alle anderen Lebewesen auf der Welt“ (Spitzer, 2003). Und das Organ, mit dem dies geschieht, ist das Gehirn. Es geschieht, indem die etwa einhundert Milliarden Neuronen sich zu neuronalen Verschaltungen zusammenfinden, Muster bilden und Netzwerke, innerhalb derer Informationen weitergeleitet und verarbeitet werden. Durch diesen Aufbau des Gehirns werden Informationen verglichen, verdichtet, in assoziative Zusammenhänge gebracht und schließlich selbst wieder reflektiert. Es ist die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich selbst zum Thema des eigenen Denkens zu machen, also über sein Denken nachdenken zu können. Folglich kann unser Gehirn nicht nur wahrnehmen und empfinden, was in der Umwelt vorhanden ist, sondern es ist sich auch bewusst, dass es wahrnimmt und empfindet. Dies gelingt nur, wenn es im Gehirn Strukturen gibt, die die vom Gehirn aufgenommenen
50 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Wahrnehmungen nochmals verarbeiten. Aus dem Wahrgenommenen werden Vorstellungen im Gehirn. Diese werden dann wieder und wieder verarbeitet. Es gibt neuronale Strukturen, die keinen Kontakt mehr zu Sinnesorganen unterhalten, sondern nur noch verarbeiten, was anderswo schon verarbeitet worden ist, die durch Reflexion von Vorstellungen zu Metareflexionen von Vorstellungen führen. Sie widmen sich nur noch hirninternen Prozessen und nicht mehr der Welt draußen. Die Fähigkeit zu Metareflexionen befähigt zu umsichtigem Handeln, erlaubt es, Gefahren aus dem Weg zu gehen und bildet die Grundlage für kreatives Handeln (Singer, 2002, S. 71). Wir haben schon erwähnt, dass die Sinnesorgane und damit auch die Signale aus der umgebenden Welt nur über eine kleine Fraktion von Verbindungen in die Großhirnrinde eingekoppelt sind, dass das Gehirn sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und 80 Prozent bis 90 Prozent der Verbindungen dem inneren Monolog gewidmet sind. Diese im Gehirn ablaufenden Prozesse beruhen demnach auf internen Wechselwirkungen. Das Gehirn arbeitet frei vom Reiz-Reaktions-Schema und bringt seine Aktivität selbst hervor. Es ist autonom. Die Strukturen, die keinen Kontakt mehr zu den Sinnesorganen haben, sondern nur noch verarbeiten, was anderswo schon verarbeitet worden ist, werden „inneres Auge“ genannt. Damit sind also hirninterne Prozesse gemeint, die Metarepräsentationen ausbilden, Vorstellungen von Vorstellungen. Das „innere Auge“ kann sich über Gestik, Mimik und Sprache auch anderen Gehirnen mitteilen. Außerdem kann es mentale Modelle von den Zuständen anderer Gehirne erstellen, kann sich vorstellen, was im anderen vorgeht, nach dem Motto: „Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, wie du fühlst.“ Dies bedeutet, dass wir voneinander und miteinander lernen können.
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Neues und Interessantes lernen – der Hippocampus Tief im Inneren des Gehirns liegt am Innenrand des unteren Schläfenlappens, rechts und links, der Hippocampus. Er erhält Inputs aus vielen verschiedenen Arealen der Großhirnrinde. Er verarbeitet sie und sendet sie an diese Areale der Großhirnrinde wieder zurück. Er ist dafür zuständig, dass neue Ereignisse gelernt werden. Wenn ein neuer Sachverhalt aufgenommen werden soll, dann muss er erst zum Hippocampus gelangen. Wann immer wir etwas Besseres oder Besonderes lernen, dann ist der Hippocampus beteiligt. Er ist geradezu auf Neuigkeiten aus. Wenn er unvollständige Informationen erhält, dann kann er sie anhand gespeicherter Informationen ergänzen. Denn der Hippocampus ist stark mit sich selbst vernetzt. Wenn der Hippocampus beansprucht wird, dann wächst er auch. Die Merkfähigkeit verbessert sich und damit auch das Lernen. Die Lernfähigkeit des Hippocampus wird allerdings beeinträchtigt, wenn jemand unter Stress steht oder belastende Erlebnisse zu verarbeiten hat. In unserem Gehirn gibt es also ein Verarbeitungsorgan, das zuständig ist für das Lernen von Ereignissen, die neu und interessant sind. Er speichert sie, damit sie als Vergleich für künftige Ereignisse zur Verfügung stehen.
Ein Bewusstsein davon, was man fühlt – die Amygdala Die Amygdala oder der Mandelkern spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung emotionaler Reize. Zunächst gilt es zu unterscheiden zwischen primären Emotionen, die bei allen Menschen und den höheren Säugetieren aufzufinden sind, wie Angst, Glück, Trauer, und den sekundären Emotionen, d. h. den erfahrungsabhängigen emotionalen Reaktionen, wie Ärger, Verliebtheit, Hoffnung. Beim Menschen kommt hinzu, dass die Emotionen bewusst empfunden werden können, dass die Verbindung wahrgenommen wird, die besteht zwischen der Gefahr, die die Reaktion auslöst,
52 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild und dem Körperzustand, der gefühlsbedingt dazu eintritt. „Das heißt, es existiert ein Bewusstsein darüber, was man fühlt“ (Welzer, 2002, S. 115 ff.). Darin liegt ein Überlebensvorteil – die eigene Reaktion kann bewertet werden, und daraus können Schlüsse gezogen werden, um künftiges Handeln anzupassen í und das heißt Lernen.
Das Gehirn. Die Amygdala verbindet Wahrnehmungen mit Emotionen. Sie steuert die Abwehrreaktionen des Körpers in gefahrvollen Situationen. „Die Amygdala empfängt Signale vom Thalamus, einer zentralen Instanz für die Weiterverarbeitung von Reizen, die von den Sinnesorganen kommen“ (Welzer, 2002, S. 117 ff.). Der Thalamus gibt seine Signale nicht nur auf direktem Weg an die Amygdala weiter, sondern schickt sie zugleich auf einer Art Umleitung auch an den sensorischen Kortex. Dort laufen die höheren Gehirnfunktionen ab. Vom sensorischen Kortex aus wird das vom Thalamus empfangene Signal dann wiederum an die Amygdala weitergegeben, die dann ein sozusagen schon geprüftes Signal über denselben
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Auslöserreiz erhält. Demnach gibt es vom Thalamus zur Amygdala den niederen, schnelleren und direkten Weg und den langsameren, indirekten Weg über den Kortex.
Vom emotionalen Reiz zur emotionalen Reaktion Die Amygdala erhält Informationen nicht nur vom Thalamus und vom sensorischen Kortex, sondern auch vom Hippocampus, zuständig für die langfristige Speicherung von Gedächtnisinhalten. Vom Hippocampus erhält die Amygdala Informationen, die, unabhängig vom aktuellen sensorischen Reiz, etwas wie allgemeines Wissen über den Kontext der Situation und ihre Bedeutung enthalten. Ein Gehirnsystem zum Lernen – Amygdala, Thalamus und Hippocampus Es gibt also ein Gehirnsystem, das dafür zuständig ist, Reize zu verarbeiten. Dabei kann es autonom die nötigen Vorgänge auslösen, um angemessen zu reagieren. Neben diesen autonomen Reaktionen gibt es durch die kortikalen Verarbeitungssysteme gleichzeitig erfahrungsabhängige Reaktionsweisen, sodass beim Menschen nicht nur emotional reagiert werden kann, sondern diese emotionale Reaktion kann auch bewusst wahrgenommen werden. Dies stellt dann wieder einen Lernvorgang dar, der es dem Hippocampus ermöglicht, sein Wissen um eine konkrete Erfahrung zu erweitern und künftig noch angemessener zu reagieren.
54 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Ein Mann sieht eine Gefahr. Ein sensorischer Reiz wird über seine Augen an den Thalamus geleitet. Dieser informiert sofort die Amygdala, welche Impulse vom Hippocampus empfängt und den Körper zu einer Reaktion veranlasst, die mit Gefühlen besetzt ist. Gleichzeitig informiert der Thalamus auch den präfrontalen Kortex, der die emotionale Reaktion mit sozialen, kulturellen und rationalen Aspekten versetzt. Dieses Gehirnsystem, das aus Amygdala, Thalamus, Hippocampus und sensorischer Gehirnrinde besteht, ermöglicht in als gefährlich erkannten Situationen eine schnelle gefühlsbesetzte Reaktion, die bewusster Überlegung vorausgeht, aber dennoch im Zusammenhang mit bisherigen Erfahrungen stattfindet, und eine bewusste, rationale Reaktion, die soziale und kulturelle Aspekte einbezieht. Weil sie bewusst ist, ermöglicht sie Lernen für künftige Situationen. Es bleibt festzuhalten, dass auch „bewusste, emotionale Empfindungen grundsätzlich und immer einen körperlichen Bezug haben. Es gibt keine emotionale Empfindung, die rein geistig und körperlos wäre“ (Welzer, 2002, S. 121). Gefühle haben aber die Funktion, Ereignisse zu bewerten und Entscheidungen zu erleichtern. Dies bedeutet, dass unsere Beurteilung von Situationen und die Handlungen, die wir daraus ableiten, keine rein rationalen Vorgänge und immer gefühlsmäßig beeinflusst sind. Von objektiv und neutral ist auch unter diesem Aspekt keine Spur. Gefühle spielen beim Lernen eine wichtige Rolle. Viele Studien zeigen, dass eine gefühlsmäßige innere Beteiligung das Lernen erheblich verbessert. Es ist ja so, dass das, was den Menschen umtreibt, nicht Daten und Fakten sind, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen (Spitzer, 2002, S. 161). Angst verhindert eher das, was Lernen eigentlich ausmacht: „Die Verknüpfung des neu zu Lernenden mit bereits bekannten Inhalten und die Anwendung des Gelernten auf viele Situationen und Beispiele“ (Spitzer, 2002, S. 161). Deshalb sind eine positive Grundstimmung und gute Laune besser für das Lernen.
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Besser als erwartet – das Dopaminsystem Auf unser Gehirn strömen pausenlos Reize und Informationen ein. Es muss daher ständig auswählen. Dazu berechnet es immer voraus, was geschehen wird. Wenn dies so eintritt, nämlich wenn die Information dem entspricht, was das Gehirn erwartet, dann verschwindet sie im „Schatten der Neuronen“. Wenn aber etwas eintritt, das besser ist als das Erwartete, weil es neu und interessant ist, dann lernt das Gehirn, indem es sein Verhalten dem neuen Impuls anpasst. Dieser Vorgang wird durch den Neurotransmitter Dopamin ausgelöst, ein Botenstoff, der zuständig ist für reibungslose Bewegungsabläufe und für Belohnung und Motivation. Ein als neu und interessant empfundener Reiz setzt in dem Gehirnareal A10 das Dopamin frei. Dieses aktiviert das Striatum, ein tief im Inneren des Gehirns gelegenes Gebiet, welches im Frontalhirn Opioide freisetzt, was als Belohnung empfunden wird. Das Dopaminsystem springt aber nur an, wenn es von dem „Besserals-erwartet-Effekt“ ausgelöst wird. Gelernt wird also nur, wenn das Gehirn positive Erfahrungen macht. Diese bestehen für Menschen vor allem aus Erfahrungen mit anderen Menschen. Menschliches Leben vollzieht sich in Gemeinschaft und in gemeinsamem Handeln. Positive Erfahrungen im Handeln mit anderen ist deshalb der bedeutendste Verstärker für Lernen. Daraus lässt sich folgern, dass die Welt, die uns umgibt, interessant und immer wieder auch neu ist, sodass wir im Grunde nicht motiviert zu werden brauchen, um zu lernen. Das menschliche Gehirn – einmalig, autonom, lernfähig Nicht einmal bei eineiigen Zwillingen soll es vorkommen, dass zwei Gehirne gleich sind. Neuronen senden Myriaden von verzweigten Fortsätzen in die unterschiedlichsten Richtungen aus. Dabei schaffen sie ein riesiges Repertoire an neuronalen Schalt-
56 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild kreisen. Die Myriaden einzelner Synapsen ändern sich mit jeder Erfahrung. So kommt es, dass das Gehirn in ständiger Veränderung begriffen ist. Es entsteht schließlich ein großes Repertoire an individuellen Reaktionsmöglichkeiten. Die Neurologie des menschlichen Gehirns schildert eindrucksvoll, wie vielfältig die Systeme angelegt sind, um die Lernfähigkeit des Menschen zu erhalten und zu stärken: Hippocampus, Thalamus, Amygdala, präfrontaler Kortex, Dopaminsystem, Spiegelzellen, Bedeutung der Gefühle beim Lernen. Sie verdeutlicht auch, wie flexibel und elastisch das Gehirn und seine neuronalen Strukturen sich verändern, jedes Mal, wenn neue Erfahrungen zu verarbeiten sind. Das Gehirn ändert sich also ständig. Jede neue Situation und Erfahrung beeinflusst Synapsenstärken und neuronale Verschaltungen. Jeder Mensch ist vom neuronalen Gesichtspunkt her einmalig, und er ist in hohem Maße lernfähig. Der Hippocampus greift alles auf, was neu und interessant ist, und das Dopamin, das gehirneigene Belohnungssystem, verstärkt es. Dadurch ist das Gehirn ständig auf Lernen aus. Das Zusammenspiel von Amygdala, Thalamus, präfrontaler Kortex und Hippocampus ermöglicht es dem Gehirn, mit Hilfe von schneller und emotionaler Reaktion sich auf unbekannte Situationen einzustellen, sie zu reflektieren und daraus zu lernen. Die Suche nach Sinn – Split Brain Bei besonders schwerer Epilepsie entschließt sich der Chirurg dazu, den Balken, das Bündel von Nervenfasern (200 Millionen Nervenfasern), das die beiden Hirnhälften verbindet, zu durchtrennen. Dadurch kann verhindert werden, dass epileptische Anfälle auf der einen Hirnhälfte sich auch auf die andere ausdehnen. Durch diese Maßnahme bleiben die geistigen Fähigkeiten des Patienten intakt, allerdings nicht alle. Bei den sogenannten Split-BrainPatienten weiß die eine Seite nicht mehr, was die andere Seite tut. Es ist, als wohnten im Kopf zwei Seelen (Kast, 2003, S. 108).
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Jede Seite scheint eine eigene Betrachtung der Welt zu haben. Weil die beiden Hirnhälften aber nicht mehr um die Beweggründe voneinander wissen, müssen sie Erklärungen erfinden. Dieses Phänomen wird Konfabulation genannt. Die linke Hemisphäre liefert Begründungen, die manchmal plausibel klingen, aber reine Erfindungen sind. Es ist, als müsste die linke Hemisphäre sich ständig einen Reim auf das Verhalten machen. Bas Kast (2003, S. 120) zitiert den Neurowissenschaftler Gazzaniga, der meint, wir hätten einen Interpretor im Kopf, der für alles nach einer Deutung sucht, solange, bis wir die Sache eingeordnet haben. „Er bringt Ordnung ins Chaos“ (Kast, 2003, S. 120 ff.). „Der Interpretor hasst es, wenn ein Ereignis ohne Grund daherkommt. Dann sucht er so lange, bis er seinen Grund gefunden hat.“ So wird die unkontrollierbare Welt um uns kontrollierbar. Dieses Interpretationsbestreben wird bei den Split-Brain-Patienten sichtbar, ist aber in jedem Gehirn am Werk. Es handelt sich hier wohl um die neuronale Basis für unser „unstillbares Verlangen nach Sinn“ (Kast, 2003, S. 120), für unser Bemühen, unserem Erleben und Handeln eine Bedeutung zu verleihen. Lernen, sich ändern, sich erneuern – reentrante Prozesse Die Neurowissenschaften verdeutlichen, dass im Gehirn viele Impulse verarbeitet werden und Prozesse ablaufen, ohne in unser Bewusstsein zu treten. Auch das Menschenbild, nach dem wir suchen, enthält unbewusste Anteile. Über die bewussten Anteile wollen wir nachdenken, denn sie können wir verändern, indem wir sie kritisch reflektieren. Aber zunächst einmal, was heißt denn „bewusst“? Was meinen wir, wenn wir von Bewusstsein sprechen? Manche meinen, mentale Zustände gelten dann als bewusst, wenn sie Bestandteil unserer Erfahrung sind, so z. B. wenn wir uns für manche unserer Entscheidungen verantwortlich fühlen. Andere sind der Ansicht, Bewusstsein sei nichts anderes als das Ergebnis der Prozesse des
58 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Nervensystems. Auch Edelmann (2002) versucht Bewusstsein biologisch zu erklären, indem er auf drei Mechanismen hinweist. Entwicklung Im Verlauf der Entwicklung entsteht eine Vielfalt von neuronalen Strukturen aus dem Zusammenspiel von genetischem Code, von Aktivität der Neuronen im Austausch mit dem jeweiligen sozialen Umfeld. Dabei ergeben sich immer komplexere neuronale Strukturen und Schaltkreise, die zu immer weitergehenderen Differenzierungen führen. Erfahrung Erfahrung und Handeln führen dazu, dass sich bestimmte synaptische Verbindungen verstärken oder abschwächen, dass bestimmte Schaltkreise aktiviert werden oder passiv bleiben. Dies führt schließlich zu einer Veränderung von neuronalen Gruppen und Schaltkreisen. Sie werden immer individueller. Sich gegenseitig beeinflussende Abbildungen zwischen Hirngebieten Die Signale aus der Umwelt treffen auf Sinnesoberflächen, wie z. B. auf das Auge. Die Sprache des Sinnesorganes wird in die Sprache des Gehirns übersetzt. Vom Auge bis zum Kortex werden die Impulse linear weitergegeben. Von dort aus werden sie dann über die Nervenfasern auf bestimmte Hirnregionen projiziert, z. B. auf das visuelle Areal im Kortex. Dort entsteht eine Abbildung, die wiederum aus sich gegenseitig beeinflussenden Verbindungen mit anderen Abbildungen in anderen Arealen besteht. Edelmann nennt diesen Vorgang „Reentry“ und versteht darunter den sich wiederholenden Austausch von Signalen zwischen verschiedenen Abbildungen auf verschiedenen, sich gegenseitig beeinflussenden Hirnregionen.
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Vom Auge zum Kortex Reentrante Prozesse ermöglichen eine Einheit von Wahrnehmung und Verhalten, obwohl im Gehirn eine zentrale Steuerung, ein sogenanntes Konvergenzzentrum, fehlt. Edelmann bezeichnet „Reentry“ als das einzige Merkmal höherer Gehirne. „Kein anderes Objekt im Universum zeichnet sich durch eine so vollständige Vernetzung über reentrante Schaltkreise aus wie das menschliche Gehirn (Edelman/Tononi, 2002, S. 73). Um zu erläutern, was mit diesen reentranten Prozessen gemeint ist, benutzt Edelmann die Metapher eines Streichquartetts, bei dem jeder Spieler seine eigenen Vorstellungen und Eindrücke in Improvisationen umsetzt. Da es keine Partitur und keinen Dirigenten gibt, spielt jeder seine eigene Melodie. Die Klangsequenzen sind nicht koordiniert. Allerdings sind die Körper der Musiker über Myriaden von Fäden miteinander verbunden, sodass jede Änderung der Fadenspannung den Musikern die Bewegung der anderen signalisiert, sodass jeder seine Bewegungen denen der anderen anpassen kann. Aus den unabhängigen Bestrebungen der Musiker gehen allmählich neue, integrierte Klänge hervor. Die Melodieführung wird immer abgestimmter. Obwohl jeder Spieler seinem eigenen Stil verpflichtet bleibt, tendiert die Gesamtleistung immer mehr zu einer kohärenten und koordinierten Musik.
60 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Diese Merkmale von reentranten Prozessen schaffen im Gehirn die Voraussetzungen für koordiniertes Verhalten, aus dem das Bewusstsein hervorgeht (Edelman/Tononi, 2002, S. 73 f.). Es ist ja so, dass wir in unserem Gehirn nicht nur abbilden können, was in der Umwelt, die uns betrifft, geschieht, sondern wir sind uns dessen auch bewusst, dass wir wahrnehmen und empfinden. Damit dies möglich ist, braucht es im Gehirn Strukturen, die das, was von draußen kommt, noch einmal reflektieren, noch einmal verarbeiten. Es entsteht die Funktion eines „inneren Auges“, wie Singer es nennt (S. 70), und wie wir es schon erwähnt haben. Dieses bildet sich als Folge der wiederholten Anwendung von Impulsen auf sich selbst, der Reentry-Prozesse. Nun gibt es Hirnrindenareale, die ihre Signale nicht mehr direkt von den Sinnesorganen beziehen, sondern von stammesgeschichtlich älteren Arealen, die aber direkt mit den Sinnesorganen verbunden sind. Durch diese wiederholte Anwendung der immer gleichen Repräsentationsprozesse auf sich selbst, lassen sich Metarepräsentationen – Abbildungen von Abbildungen – hirninterner Prozesse abbilden. (Singer, 2002, S. 70 f.). Durch diese Metarepräsentationen kann das Gehirn Reaktionen auf Reize zurückstellen. Es erlangt dadurch die Freiheit zu handeln, nicht zu handeln oder ganz anders zu handeln. Das Gehirn kann interne Modelle aufbauen und in diesen Modellen probehandeln, Auswirkungen möglichen Handelns geistig vorwegnehmen, um dann gegebenenfalls umsichtig zu handeln oder auch Gefahren vorausschauend zu vermeiden. Auf der Suche nach den neuronalen Grundlagen von Bewusstsein hat sich herausgestellt, dass es im Gehirn kein Konvergenzzentrum gibt, also keine Stelle, bei der alle Informationen zusammenfließen und wo letztlich die Entscheidungen getroffen werden. Durch ständiges Sich-Abstimmen und immer wieder NeuAufgreifen von Repräsentationen im Gehirn entsteht zusammenhängendes und zielorientiertes Handeln.
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Unser Gehirn treibt einen hohen Aufwand um intensive interne Prozesse mit Vernetzung, Parallelverschaltung und Metarepräsentationen. Es ist selbstorganisierend und selbststeuernd. Dazu gibt es sich Regeln. Es verbindet in seiner Organisation autonome Bezirke, die gleichzeitig in das Ganze integriert sind. Es erarbeitet sich ein inneres Bild der Außenwelt, durch das es zu zusammenhängendem und entschlossenem Handeln fähig ist. Der intensiven und ständigen Feinabstimmung im Gehirn entspricht in unserem praktischen Verhalten die Regel, nicht nur die eigenen Ziele zu verwirklichen, sondern auch bemüht zu sein, den anderen, Kollegen oder Mitarbeitern, ein geeignetes Umfeld zu sein, sodass auch sie ihre Ziele erreichen und ihre Aufgaben erfüllen können. Das selbstorganisierende Gehirn findet eine Nachahmung in den Regeln der Selbstorganisation des Unternehmens. Das „innere Auge“ führt zu Metarepräsentationen, d. h., das Gehirn des Menschen erlaubt es ihm, das eigene Denken zum Thema seines Denkens zu machen, über sich selbst kritisch nachzudenken. Die kritische Selbstreflexion ermöglicht es ihm, sich selbst immer wieder zu erneuern und immer wieder Neues zu lernen. Die Strukturen des „inneren Auges“ verschaffen dem Menschen eine größere Distanz zu seinem Umfeld und zu den Signalen von außen und damit einen größeren inneren Freiheitsspielraum. Dieser wiederum sorgt dafür, dass er auf kurzfristige Vorteile verzichten kann zugunsten längerfristiger Ziele. Das „innere Auge“ und die kritische Selbstreflexion sind Grundlagen dafür, dass Menschen lernen, sich ändern und sich erneuern können. Welches Bild vom Menschen ergibt sich? Zwar lässt sich die Frage danach, wie in unserem Gehirn Bewusstsein entsteht, in diesem Rahmen nicht beantworten, aber sehr wohl können wir danach fragen, was wir aus dem Beitrag der Neurologie für unsere Frage nach dem Bild des Menschen ableiten können.
62 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Die Neurologie beschreibt den Menschen in seiner Einmaligkeit. „Kein Gehirn gleicht dem anderen.“ Sein Gehirn ist in ständiger Veränderung begriffen und verfügt über eine Fülle von Verhaltensmöglichkeiten. Der Mensch ist autonom, selbstbestimmend und selbsterneuernd. Deshalb lernt er aus Einsicht und nicht aus Zwang. Das „innere Auge“ befähigt ihn, sich immer wieder auch selbst kritisch zu betrachten und sein Verhalten zu ändern. Die Spiegelzellen machen ihn einfühlend und mitempfindend. Über das Verständnis für andere Menschen lernt er auch sich selbst besser kennen. Er ist immer darauf aus, zu lernen. Hippocampus und Dopaminsystem sorgen für eine Motivation von innen. Gefühle müssen nicht verdrängt werden, sondern dienen dazu, mit Hilfe von Körperreaktionen, die sie auslösen, wie Schweiß, Zittern, Erbleichen, neue, komplexe oder gefährliche Situationen schneller und sicherer zu beurteilen und angepasster zu handeln. Einmalig und autonom, selbstkritisch und lernfähig, einfühlsam und auf der Suche nach Sinn, so lässt sich das Bild vom Menschen beschreiben, das sich einstellt, wenn wir uns mit Strukturen und Prozessen beschäftigen, wie sie die Neurologie vom menschlichen Gehirn entwirft. Unser Gehirn ist das Lernsystem par excellence; es ist das perfekteste System, das die Evolution hervorgebracht hat. Es bezeichnet den Menschen in seiner Würde, autonom, einmalig und lernfähig. Dieses Bild ist weit entfernt von den Beschreibungen des beschädigten Menschen, des angepassten Hochleistungsmenschen, des Menschen ohne Langfristigem und vor allem weit entfernt vom transparenten Menschen.
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Aber die Neurologie zeigt nur die biologische Basis für ein Menschenbild auf. Sie erklärt ja nur, was von den Neuronen her angelegt ist. Das Menschenbild selbst ist eine mentale Wirklichkeit. Es ist zwar tief im Körper verwurzelt, entsteht aber in unserem Bewusstsein und kommt durch Denken zustande. Deshalb setzen wir unsere Suche nach dem anderen Menschenbild im Bereich unseres Bewusstseins fort.
Symbole gebrauchen, Identität entwickeln, Instabilität erfahren Symbole gebrauchen lernen Mit dem beschädigten Menschenbild der Moderne wollen wir uns nicht abfinden. Die fatalen Auswirkungen sind nicht zu verantworten. Bei der Suche nach dem anderen Menschenbild hat uns die Neurologie gezeigt, für welche nahezu grenzenlosen Möglichkeiten das menschliche Gehirn die Basis bildet. Aber es ist ja nur die Basis, auf der sich menschliches Denken entwickelt. Es entwickelt sich durch eine besondere Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen weiter, befreit sich von der Welt der Fakten und betritt die neue Welt des Geistes durch Symbolbildung. Nach dem Prinzip der Epigenese, was heißt, dass zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort eine ganz bestimmte Funktion entsteht, ist es Aufgabe eines jeden, seine persönliche Identität zu entwickeln und zwar im Zusammenwirken mit dem jeweiligen sozialen Umfeld. Diese Identitätsbildung ist heute wegen den vielfachen Instabilitäten erschwert.
64 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Vor etwa 250.000 Jahren begann menschliches Denken. Es begann damit, dass zwischen unseren Vorfahren tiefere Beziehungen entstanden, dass sie sich als Wesen mit Bewusstsein verstanden, lernten, auf erworbenem Wissen aufzubauen und es von Generation zu Generation weiterzugeben. Vor sechs Millionen Jahren ergaben sich zwei Linien. Die eine führte zu den Schimpansen, die andere zum Menschen. Vor zwei Millionen Jahren traten Wesen auf mit einem größeren Gehirn. Sie werden Homo genannt. Vor 250.000 Jahren begann eine neue Entwicklungslinie, die sich der Symbole bediente, Traditionen und Kunstwerke schuf. Sechs Millionen Jahre trennen uns von dem gemeinsamen Vorfahr, einem Menschenaffen. Erst vor 250.000 Jahren kam es zu den dramatischen Änderungen, die schließlich den modernen Menschen hervorbrachten. Die Evolution mit ihren Instrumenten der Mutation und Selektion kann in dieser kurzen Zeit solche tief greifende Veränderungen nicht hervorbringen. Was ist geschehen? Der Wagenhebereffekt Der Wagenhebereffekt ist ein biologischer Mechanismus, der solche Veränderungen ermöglichen kann. Es ist ein Vorgang, der bereits vorhandenes Wissen nutzt. So imitieren Vögel den arttypischen Gesang ihrer Eltern; Rattenjunge fressen nur, was ihre Mütter fressen. Schimpansen lernen von ihren Eltern den Gebrauch von Werkzeugen. Die kulturelle Weitergabe von Wissen beim Menschen besteht darin, dass er in wenigen Tausenden von Jahren kulturelle Werke und soziale Traditionen geschaffen hat, die die Welt veränderten. Wissen wird zuverlässig weitergegeben, ein Rückfall wird verhindert. Tomasello nennt dies den Wagenhebereffekt (Tomasello, 2002, S. 15). Er besteht darin, dass Menschen ihre Ressourcen bündeln und auf mehrfache Weise lernen, durch Nachmachen, durch Unterricht und durch Erfahrung.
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Diese kumulative kulturelle Evolution, wie dieser Vorgang auch genannt wird, kommt dadurch zustande, dass Menschen fähig sind, ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, als solche, die ein bewusstes und geistiges Leben führen wie sie selbst und sich in andere Menschen hineinversetzen können. Sie können dann nicht nur von anderen, sondern auch durch andere lernen (Tomasello, 2002, S. 15). Sprachliche Symbole Die besondere Art der kulturellen Weitergabe beruht auch auf der Fähigkeit, sprachliche Symbole zu gebrauchen. Dadurch können Menschen vielfältige Perspektiven einnehmen, dadurch, dass z. B. ein Wort viele verschiedene Betrachtungsweisen eröffnen kann. So kann der Begriff „Tier“ einen Hund bezeichnen, ein Haustier oder eine Plage. Der Begriff „Ort“ lässt sich als Haus, Dorf oder Küste verstehen. Diese verschiedenen Perspektiven erlauben es dem Einzelnen aus einer Anzahl von Möglichkeiten auszuwählen. Sprachliche Symbole befreien vom Zwang zu einer notwendigen Wahrnehmung und ermöglichen es, verschiedene, gleichzeitige Vorstellungen von der Wirklichkeit zu entwerfen, ja sogar durch ihre Neubeschreibung neue Wirklichkeiten zu erfinden. Damit entsteht für den Menschen ein größerer geistiger Freiheitsspielraum. Auf dem Weg des Einzelnen zum menschlichen Denken finden ähnliche Vorgänge statt. Wie wird aus einem Baby ein Wesen, das mit Hilfe seines Denkens zum Mitglied seiner Kultur wird? Es ist der intensive Kontakt des Kindes mit seiner Mutter, die enge Beziehung zwischen dem Bewusstsein des Neugeborenen mit dem Bewusstsein der Mutter, der es zum Denken hinzieht und den Unterbau der Sprache bildet.
66 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Dieser besondere Kontakt ist dadurch bedingt, dass das neugeborene Menschenkind nur überleben kann, wenn seine Mutter eine schützende Hülle um es bildet, sodass ihre Verbundenheit tiefer reicht. Wie kommt es nun, dass ein Neugeborenes im Austausch mit anderen, eingebettet in eine Wiege zwischenmenschlicher Beziehungen, anfängt zu denken? Eine Wiege zwischenmenschlicher Beziehungen Die Beziehung des kleinen Menschenkindes zu seiner Mutter ist zunächst körperlich verankert. Es wird gewaschen, gewickelt, gestillt, und es ist von Lauten umgeben. In diesem Umfeld entwickelt das Kind das Bedürfnis, die geistige Dimension seines Gegenübers zu erfassen, die mentale Botschaft hinter der körperlichen zu verstehen. Um Denken zu lernen und um zu verstehen, was zwischen Menschen geschieht, nämlich sich in das Bewusstsein eines anderen hineinversetzen zu können, muss das Kind Symbole begreifen und benutzen. Dort liegen die Ursprünge des Denkens. Ein Symbol ist etwas, das für etwas anderes steht, ein Wort, das für ein Ding steht. Wenn jemand von einer Pfeife spricht, dann weiß auch ein anderer, was damit gemeint ist. Wenn jemand eine Vorstellung aus seinem Bewusstsein in das Bewusstsein eines anderen übermitteln will, dann muss er das Symbol aktivieren, das dieser Übermittlung dient. Wenn jemand einem anderen sagen möchte: „Ich würde gerne laufen“, dann verwendet er Symbole, die er so miteinander kombiniert, dass er Einfluss auf das Bewusstsein eines anderen nimmt. Das Verfahren, Symbole zu verwenden, eröffnet ihm nahezu unendliche Möglichkeiten, zu denken und sich mitzuteilen. Das Symbolisieren beginnt, wenn ein Kind eine Schachtel zu einem Puppenbett erklärt.
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Eine kopernikanische Wende Eine kopernikanische Wende tritt ein, wenn das Baby einen Gegenstand oder eine Handlung wahrnimmt, die weder direkt auf es selbst noch auf sein Gegenüber, sondern auf ein Drittes ausgerichtet ist. Es erkennt jetzt, dass ein Gegenstand in das Blickfeld zwischen zwei Menschen rückt, und dass sie sich darüber miteinander austauschen können. Es wird ihm bewusst, dass auch der andere mit Gegenständen und Ereignissen in der Umgebung zu tun hat, und dass er deshalb auch ein Bewusstsein hat (Hobson, 2003, S. 86 f.). Es ist die Phase, in der das Kind anderen seine Spielsachen oder seine Puppe zeigt. „Die Welt ist jetzt nicht mehr einfach eine Welt für mich“ (Hobson, 2003, S. 86 f.). Sie hat auch Bedeutung für andere, und dies kann auch die Bedeutung verändern, die die Welt für mich hat.
Perspektivenwechsel – das Kind und die Welt Perspektivenwechsel bedeutet, dass ein Kind mit zwei Jahren eine Vorstellung davon entwickelt, dass der andere eine Person ist mit eigenen Wünschen, Empfindungen und Absichten. Es kann jetzt die Welt aus der Sicht des anderen sehen und versteht, was es bedeutet, wenn eine Person jeweils ihre ganz eigene Perspektive hat. Das Kind wird sich seiner selbst bewusst, indem es Perspektiven wechselt und die Perspektiven der anderen in sein eigenes Bewusstsein hineinnimmt. Jetzt bringt das Kind seinem weinenden Freund Spielsachen, um ihn zu trösten. Aber der Freund weint
68 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild weiter. Daraufhin bringt es ihm seine Schmusedecke. Dies kann es, weil es die Perspektive des Freundes in sein eigenes Bewusstsein hineinnehmen und sein Handeln darauf abstimmen kann. Ein Kind fängt an zu sprechen, wenn es den Drang verspürt, auf das Bewusstsein anderer Menschen Einfluss zu nehmen. Mit Hilfe von kulturell üblichen Symbolen will es seine Vorstellungen in das Bewusstsein anderer übertragen. Dazu muss es ihm zunächst gelingen, im Strudel verwirrender Eindrücke symbolische Bedeutungen zu erkennen. Voraussetzungen dafür sind, dass ein Kind ein Bewusstsein von sich selbst erworben hat und darum weiß, dass auch der andere ein Wesen mit Bewusstsein ist. Es ist fähig, Vorstellungen und Perspektiven über den anderen Menschen und die Welt zu entwickeln, die Perspektiven der anderen in sein eigenes Bewusstsein hineinzunehmen und Dinge unter neuen Perspektiven zu betrachten. Es erkennt, dass seine Gedanken über die Dinge sich von den Dingen selbst abheben, und begreift den Unterschied zwischen Dingen und Gedanken über die Dinge. Dazu ist der Gebrauch von Symbolen erforderlich. Die Wurzeln der Symbole liegen im Austausch mit dem anderen und im Wechselspiel der zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein Symbol besteht aus einem Objekt und einer Beziehung des Objektes zu einem Wort. Ein Symbol ist dann gegeben, wenn ein Wort für ein Objekt oder ein Objekt für ein anderes Objekt steht. Im Spiel erklärt ein Kind, dass ein Blatt weißes Papier jetzt eine Puppendecke ist. Es muss dazu im Geiste eine Trennung vollziehen zwischen dem, was das Symbol in Wirklichkeit ist, nämlich ein Blatt Papier, und dem, was es für das Spiel bedeuten soll, nämlich eine Bettdecke. In der Vorstellung des Kindes muss das Objekt „Papier“ seine Eigenschaften verlieren und mit den Eigenschaften der Decke versehen werden (Hobson, 2003, S. 118).
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Menschliches Denken beruht auf Symbolen. Symbole liefern und verankern Bedeutungen. Bedeutungen sind etwas, das Menschen mit Dingen verbinden und mit Hilfe von Symbolen mitteilen. Durch die intensive Beziehung zu anderen Menschen wird das Kind dazu hingeführt, Dingen die kulturell gängige Bedeutung zuzuschreiben und sie mit dem sozial üblichen Symbol zu versehen. Es entdeckt dabei, dass Bedeutungen sich von Dingen ablösen und an Symbole ankoppeln lassen, sodass Wörter Bedeutungen vermitteln, Gefühle auslösen und neue Perspektiven entstehen lassen. Wir haben festgestellt, dass die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind die Wiege des menschlichen Denkens ist. Ein Kind macht viele Erfahrungen durch Vermittlung anderer Menschen. Durch andere Menschen eignet sich das Kind neue Methoden an, die Welt zu sehen und in ihr zu handeln. Sie lehren ihm, erst die eine Perspektive und dann die andere einzunehmen, Symbole zu nutzen, eine Art Außenperspektive auf sich selbst einzunehmen, sich selbst zum Gegenstand von Gedanken und Gefühlen zu machen. Wenn Beziehungen gestört sind Sollten diese Beziehungen beeinträchtigt sein, dann müsste auch die Entwicklung des Denkens und Sprechens davon betroffen sein. Dies bestätigen die Erfahrungen mit autistischen Kindern und Borderline-Müttern. Autistische Kinder können in dem Milieu, in dem sie aufwachsen, das dort vorhandene Wissen nicht nutzen, weil ihnen die erforderlichen Fertigkeiten fehlen. Tomasello beschreibt folgende Schwächen: Sie können nicht mit anderen zusammen auf Gegenstände achten; sie spielen nur selten symbolische oder Imitationsspiele, was die Übernahme der Rolle anderer erfordert; es fällt ihnen schwer, den Standpunkt einer anderen Person einzunehmen (Tomasello, 2002, S. 95). Weil autistische Kinder sich zu wenig in
70 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild andere Menschen hineindenken können, können sie die Prozesse des kulturellen Lernens nicht durchlaufen, die Perspektiven anderer Menschen nicht verinnerlichen, nicht gemeinsam mit anderen die Aufmerksamkeit einem Dritten zuwenden. Autismus Hobson zitiert einen Aufsatz, der einen autistischen Jungen mit elf Jahren beschreibt, der „L.“ genannt wird. L. leidet an einer massiven Lernbehinderung. In einem gängigen Intelligenztest erreicht er nur einen IQ von 50. Allerdings kann er, trotz seiner Denkschwäche, den Wochentag jedes beliebigen Datums zwischen 1880 und 1950 nennen. Er ist aber außerstande, eine imaginäre Situation zu verstehen oder zu ersinnen. Mit der Aufforderung: „Stellen Sie sich doch mal Folgendes vor ...“ kann er nichts anfangen. L. zeigt kein Interesse an seiner sozialen Umgebung. Die Anwesenheit von anderen Menschen bemerkt er nicht und zeigt keine Gefühlsregung. Es scheint, dass er sich auch seiner selbst nicht bewusst ist. Was andere von ihm halten, sieht er nicht. Es ist, als kämen andere Menschen in seinem Inneren nicht vor. Ein Selbst, das nicht auf andere bezogen ist, nicht in Beziehungen verankert ist, das kann auch nicht lernen, kann nicht schöpferisch sein. Ein Selbst, das von Gefühlen anderer nicht bewegt wird, ohne Kontakt mit den inneren Haltungen eines Gegenübers, bleibt, findet selbst keinen soliden Grund für eine Selbstwahrnehmung. Es bleibt fragil. L. hat zu anderen eine große Distanz. Deshalb kann er sie auch nicht imitieren, sich nicht in sie hineinversetzen, etwas von ihnen übernehmen. Ohne sich aber mit anderen zu identifizieren, kann das Kind nicht an dem kulturellen Lernprozess teilnehmen, der sein Selbst bereichert. Es bleibt oberflächlich (Hobson, 203, S. 194 ff.).
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Borderline Kinder mit Borderline-Problematik sind so spannungsgeladen in ihrem Denken und in sozialen Beziehungen so konfus, dass die inneren Konflikte den Raum besetzen, den sie eigentlich zum Denken benötigen. Immer wenn sich diese Kinder tiefer auf andere Menschen einlassen, drängen sich ihre inneren Störungen in den Vordergrund. Sowohl das Denken als auch die soziale Beziehung sind durch diese innere Zerrissenheit überfrachtet. Untersuchungen zeigen, dass Borderline-Mütter weniger Einfühlungsvermögen zeigen. Sie drängen sich ihren Kindern auf oder bevormunden sie. Tests ergeben, dass die IQ-Werte ihrer Kinder um 12 Punkte niedriger liegen als die der Kinder von „sicheren Müttern“. Mütter, die ein stimmiges Bild von ihrer eigenen Kindheit zeichnen, interagieren einfühlsamer und abgestimmter mit ihren Kindern. Beide Beispiele, Autismus und Borderline, verdeutlichen, dass die Basis für die Entwicklung von Denken und Sprechen die besondere Qualität der Beziehung zwischen dem Kind, seiner Mutter und seinem sozialen Umfeld ist. Die Qualität dieser Beziehung ist dafür verantwortlich, ob und inwieweit das Kind fähig ist, sich sein Gegenüber als Wesen vorzustellen, das über ein Bewusstsein verfügt, mit dem es Erfahrungen teilen und innere Zustände aufeinander abstimmen kann. Es lernt, sich dem anderen, einem Dritten, zuzuwenden und somit gemeinsame Erfahrungen mit der Welt auszutauschen. Es wird in das Fühlen und Denken des Gegenübers hineingezogen, mit dem es sich identifiziert, um von ihm zu lernen. Es wird fähig, Perspektiven zu wechseln und damit eine eigene Perspektive einzunehmen. Die Nähe zum anderen erschließt ihm die Welt der Symbole und der Vorstellungen und damit auch die Distanz zu den Sachverhalten. Es tritt ein in die Welt der Vielfalt des Denkens und der Phantasie.
72 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Das Menschenbild, das hier sichtbar wird, verdeutlicht die ungeahnte Vielfalt menschlicher Möglichkeit zu denken, zu phantasieren, neue Wirklichkeiten zu erfinden. Die neuronale Struktur im menschlichen Gehirn ermöglicht dieses flexible Denken, das durch den Gebrauch von Symbolen eine ungeahnte Steigerung erfährt. Außerdem geht das Menschenbild, das hier sichtbar wird, von der tiefen Angewiesenheit des Menschen auf den anderen Menschen aus, von der Beziehung zum anderen als Wiege seines Denkens und davon, dass der Weg zum Menschsein nur über den anderen Menschen führt. Dieser Gedanke von der Angewiesenheit des Menschen auf den anderen findet sich in eindrucksvoller Weise wieder in der Philosophie von Emmanuel Lévinas, die auch Philosophie des Anderen oder Philosophie der Welt genannt wird. Die Philosophie des Anderen í Emmanuel Lévinas Emmanuel Lévinas wurde 1906 in Kaunas (Litauen) als Sohn einer gläubigen jüdischen Familie geboren. 1923 begann er das Studium der Philosophie in Strasbourg, studierte bei Husserl und Heidegger und wurde 1931 französischer Staatsbürger. 1940 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. 1945 erfuhr er, dass seine ganze Familie im KZ umgebracht worden war. Ab 1964 war er als Professor in Paris tätig, wo er 1995 starb. Lévinas meint, dass die abendländische Seinsphilosophie, die ihren Ursprung bei den griechischen Philosophen nimmt, angesichts der Katastrophen des letzten Jahrhunderts gescheitert ist. Eine Philosophie aber, die sich in der Praxis des gewöhnlichen Lebens nicht bewährt, ist nichts wert. Die Seinsphilosophie geht von einem absoluten Sein aus, das alle Vollkommenheit enthält. Es besitzt das Sein aus sich selbst heraus, deshalb kann es ihm auch nicht genommen werden. Wir aber sind
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nur Seiende, denen das Sein nur eine begrenzte Zeit hindurch zukommt. Es wird uns gegeben, ohne dass wir gefragt werden. Es wird uns auch wieder genommen, ob wir wollen oder nicht. In der Zeit dazwischen versuchen wir möglichst viel Anteil am Sein zu erhalten, um unser eigenes Sein zu vermehren, uns zu entfalten, uns zu verwirklichen und nach unseren eigenen Bedürfnissen zu leben. Diese Sorge um das Selbst führt nicht nur zu ichhafter Selbstverwirklichung, sondern auch dazu, dass alles, was auf dem Weg dorthin, alles was nützlich ist, auch als legitim angesehen wird. Diese ichhafte Selbstbezogenheit begründet auch den aggressiven Egoismus, der sich gegen den anderen richtet und schließlich zu den Katastrophen führt, die wir kennen. Lévinas fordert, dass wir umdenken, weg von der Seinsphilosophie, weil diese ohnehin nicht halten kann, was sie verspricht. Denn das Sein, nach dem wir streben, wird uns unweigerlich genommen, nicht nur mit dem Tod, schon vorher, durch Misserfolge, Enttäuschungen, Krankheit, Alter. Die Seinsphilosophie ist eine Sackgasse. Wir sollen umdenken und uns entschlossen dem Anderen zuwenden und der Welt, sodass es uns gar nicht mehr um uns selbst geht. Uns selbst finden wir, ohne danach zu suchen, ohne dass es uns wichtig ist, in der entschlossenen Zuwendung zum Anderen. Lévinas fordert die Umkehrung eines nur um sich selbst besorgten Ichs in ein Ich, das sich um den Anderen sorgt, und das von sich mehr verlangt als von jedem anderen. Lévinas begründet seine Philosophie mit der Fremdheitserfahrung des Menschen, die er auf die Bibel bezieht. In einem Psalm heißt es: „Ich bin ein Fremdling auf Erden, verbirg mir nicht deine Gebote“ (Psalm 119, 19). Er bringt diese Stelle in Verbindung mit einem anderen Text, wo es heißt: „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer, denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste von mir“ (3 Moses, 25, 23). Die Fremdheitserfahrung des Menschen wird damit begründet, dass er
74 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild sich nicht als Herr und Besitzer der Welt oder als Bestimmer über seine Güter aufzuführen hat. Keine Bleibe ist für immer gebaut, keine Wurzel hält den Menschen für immer auf der Erde. Die Erde gehört einem anderen. Aus dem Gefühl, nur Gast und Fremder hier zu sein, stellt sich die Frage, wie man auf dieser Erde leben soll, die einem anderen gehört. Auf diese Frage des Menschen nach dem richtigen Leben antwortet Gott, dass er den Menschen ganz auf seinen Nächsten, seinen Mitmenschen verweist, wenn er fragt: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ Diese Philosophie des „Einer-für-den-Anderen“ meint, dass sich Identität nur in der Verantwortung für den Anderen bildet, indem sich der Einzelne in seiner Selbstvergessenheit für die Menschen, für die Welt engagiert, sich an sie verliert. Wie sich ein Mensch von völliger Selbstbezogenheit bis zur entschiedenen Hingabe an den Anderen entwickelt, können wir in Spielbergs Film „Schindlers Liste“ erleben. Schindler ist ein gescheiterter Unternehmer, der jetzt von der Kriegswirtschaft profitieren will. Er kennt dabei nur seinen Vorteil, seinen Profit und seine Geltung. So beschäftigt er Juden in seiner Fabrik, weil sie billiger sind. Sein Buchhalter wird von der SS in einen Zug nach Auschwitz gebracht. Schindler holt ihn im letzten Moment heraus, um ihm vorzuwerfen: „Wäre ich fünf Minuten später gekommen, wäre ich der Dumme gewesen.“ Eines Morgens sieht Schindler, wie das Krakauer Ghetto von der SS geräumt wird. Er setzt sich diesem Anblick aus und empfindet das Elend dieser Menschen mit. Jetzt beginnt Schindlers Wende. Er kümmert sich um die alten Eltern einer untergetauchten Jüdin, versucht die junge Haushälterin des Lagerkommandanten zu retten und den Häftlingen im Zug Erleichterung zu verschaffen.
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Er setzt sein Vermögen ein, um Häftlinge freizukaufen, bringt sich selbst in Gefahr, um am Ende zu erkennen, er habe nicht genug getan. Die Philosophie des Anderen kennt kein Genug und kein Ausruhen. Wir suchen nach dem anderen Menschenbild. Dafür gibt es eine neuronale Basis, die Spiegelzellen. Sie ermöglichen es dem Menschen, den anderen auch als ein mit Bewusstsein versehenes Wesen zu erkennen und sich in ihn hineinzuversetzen. Diese enge Beziehung, wie sie zwischen Menschen entstehen kann, bildet die Wiege für Denken und Sprechen. Auf dieser neuronalen Basis baut die Philosophie von Lévinas auf, der den Menschen versteht als ein Wesen, das nur über die entschlossene Zuwendung zum Anderen zu sich selbst finden kann. Wege zu sich selbst – Erik Erikson Nur über den Anderen kann der Mensch zu sich selbst finden und eine Identität ausbilden. Sie entsteht durch die Interaktion persönlicher Anlagen, sozialem Umfeld und einer bestimmten zeitlichen Phase, in der die Anlagen aktiviert werden müssen. Erik Erikson hat diesen Prozess der Selbstwerdung im Zusammenspiel dieser drei Faktoren dargestellt, nämlich Anlage, Umfeld, Zeitphase. Er verdeutlicht dabei wiederum die Angewiesenheit des Menschen auf seine Beziehung zu anderen Menschen, sodass er außerhalb dieser Beziehung gar nicht zu denken ist. Dazu gibt es eine Analogie im Gehirn. Der visuelle Kortex, der Ort im Gehirn, der für das Sehen zuständig ist, muss bis um das vierte Lebensjahr stimuliert werden. Wenn dies nicht stattfindet, weil z. B. das Auge beeinträchtigt ist, dann bleibt ein Kind blind, auch wenn später, nach einer Operation, das Auge voll funktionsfähig ist. Dieses Prinzip, nachdem Anlage und soziales Umfeld zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenwirken müssen, um eine bestimmte Fähigkeit zu entwickeln, nennt Erikson Epigenese. Er
76 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild beschreibt dieses Zusammenspiel von Anlage, sozialem Umfeld und bestimmtem Zeitpunkt über den ganzen Verlauf der menschlichen Entwicklung. Durch dieses Zusammenspiel und die Entwicklung des Menschen über verschiedene Phasen entwickelt sich Identität. Sie besteht aus der Erfahrung über die Zeit hinweg, der Gleichheit und der Kontinuität mit sich selbst, die durch die Wahrnehmung von anderen bestätigt wird. Diese Identität entwickelt sich über den Verlauf verschiedener Lebensphasen. Für Erikson enthält jedes Stadium der Entwicklung eine spezifische Aufgabe, die das Kind und seine Umgebung erfüllen müssen. Bei richtiger Erfüllung entwickelt das Kind bestimmte positive Grundqualitäten, die in seine Persönlichkeit integriert werden. Bei einem Versagen sind es negative Grundqualitäten, die zum Bestandteil seiner Persönlichkeit werden. Erikson schlägt für jedes Stadium ein Eigenschaftspaar vor, das das positive bzw. negative Ergebnis der wichtigsten Vorgänge darstellt (siehe Abbildung). Phase I Im ersten Stadium der Entwicklung geht es um Urvertrauen oder Urmisstrauen. Unter Urvertrauen versteht Erikson eine Einstellung zu sich selbst und zur Welt, die aus dem Gefühl besteht, sich verlassen zu dürfen, dass die anderen glaubwürdig sind und man selbst zuverlässig ist. Das Urmisstrauen bedeutet eine Schädigung dieses Urvertrauens. Es sind Menschen, die mit sich und anderen in Spannungen leben und sich in sich selbst zurückziehen. Urvertrauen entsteht eher, wenn die Eltern imstande sind, dem Kind eine tiefe, fast körperliche Überzeugung vorzuleben, dass das, was sie tun, einen Sinn hat.
Reife
Erwachsenen-Alter
Frühes Erwachsenen-Alter
Pubertät und Adoleszenz
Latenz
Lokomotorischgenital
Muskuläranal
Oralsensorisch
VIII
VII
VI
V
IV
III
II
I
1
Urvertrauen gegen Mißtrauen 2
Autonomie gegen Scham und Zweifel
3
Initiative gegen Schuldgefühl
4
Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl
5
Identität gegen Rollenkonfusion
6
Intimität gegen Isolierung
7
Zeugende Fähigkeit gegen Stagnation
8
Ich Integrität gegen Verzweiflung
9
Mutter
Eltern
Familie
Schule
Gruppe der Gleichaltrigen
Fremde, Partner
Ehe
Menschheit
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Die Entwicklung der Identität eines Menschen Quelle: Erikson, Erik, Kindheit und Gesellschaft, 1976, S. 268
78 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Phase II Jetzt lernt das Kind seine Körpervorgänge und den Schließmuskel zu kontrollieren und wird zur Sauberkeit erzogen. Es kann erstaunlich fügsam sein, wenn es tun will, was es tun soll. Ist die Sauberkeitserziehung zu früh oder zu streng, dann erfährt es diese Phase als eine Zeit der Niederlage, als Verlust der Selbstkontrolle, mit einem Gefühl von Zweifel und Scham, und daraus kann eine geheime Missachtung anderer Menschen resultieren. Wenn es lernt, seine Körperfunktionen allmählich zu beherrschen, dann erfährt es ein dauerndes Gefühl der Autonomie und des Selbstwertes. Phase III In dieser Phase setzt Erikson Initiative gegen Schuldgefühle. Das Kind erwirbt eine größere Bewegungsfreiheit, es kann sich sprachlich besser ausdrücken und verfügt über eine ausgeprägtere Vorstellungskraft. Es unterscheidet zwischen Rivalität als Ausdruck eifersüchtiger Wut und der Rivalität, die jede Initiative begleitet. Das entstehende Schuldgefühl kann überkompensiert werden, sich in einer großartigen Zurschaustellung unermüdlicher Initiativen zeigen. Dies sind später Menschen, die meinen, ihr menschlicher Wert bestehe allein in dem, was sie leisten oder in dem, was sie demnächst alles machen werden. Kinder scheinen in dieser Phase plötzlich weniger von ihren Eltern zu halten und sich anderen zuzuwenden, die Berufe ausüben, die für sie verständlicher sind, wie Feuerwehrleute, Polizisten, Schaffner u.a. Sie suchen nach Gelegenheit, wo sie initiativ sein können, ohne Konflikte und damit Schuldgefühle zu bekommen. Phase IV Es ist die Zeit der Latenz, der Ruhe vor dem Sturm der Pubertät, mit der Antithese von Werksinn gegen Minderwertigkeit. Werksinn ist das Gefühl, Dinge machen zu können, wie spielen, basteln,
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backen u. ä. Das Kind freut sich jetzt, wenn es etwas zustande bringt, auf das es auch stolz sein kann. Wenn es aber die vorausgehenden Phasen nur unzulänglich bewältigt hat, wenn es immer noch lieber bei seiner Mutter bleibt als etwas zu lernen, immer noch mit seinem Vater Rivalitätskämpfe auszutragen hat, dann resultieren daraus wieder Schuldgefühle, die es beim Lernen behindern. Phase V In dieser Phase trifft das Kind die Wahl zwischen Identität und Identitätsdiffusion. Die Kindheit geht zu Ende und die Jugendzeit beginnt. Jugendliche sind jetzt damit beschäftigt, herauszufinden, wie sie im Vergleich zu ihrem eigenen Selbstgefühl in den Augen anderer erscheinen. Erikson meint, dass jetzt alle Erfahrungen des Kindes über die verschiedenen Entwicklungsstufen hinweg und alle Erlebnisse mit Erwachsenen, mit denen sich das Kind identifiziert hat, zu einer Synthese zusammengeführt werden. Diese Synthese nennt Erikson Ich-Identität. Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, dass die Übereinstimmung mit sich selbst und die Zuverlässigkeit, die man auf andere ausstrahlt, auf der Fähigkeit beruht, beides über eine lange Zeit aufrechterhalten zu können. Identität, die in dieser Phase eintritt, lässt sich in folgender Weise zusammenfassen: Jedes Individuum ist gleichzeitig wie alle anderen Menschen, wie manche anderen Menschen und wie kein anderer Mensch. Zur Bildung von Identität muss das Individuum an einer kulturellen Einheit teilhaben, muss wie andere Menschen sein, indem es deren Maßstäbe, Ideale und Sitten teilt. Jedes Individuum muss gleichzeitig wie niemand anderes sein, indem es einen Platz unter ihnen einnimmt, den es allein einnehmen kann. Wenn das Ergebnis der Identifikationsprozesse in der Kindheit negativ ist, wenn die Identitätsbildung beeinträchtigt ist, dann nennt Erikson dies Identitätsdiffusion. Dies bedeutet, dass jemand nicht mit sich in Überein-
80 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild stimmung lebt, dass er hin- und hergerissen ist, für seine Planung und Entscheidungen keine Orientierung hat und den Meinungen anderer eher ausgeliefert ist. Phase VI Das Merkmal eines gesunden jungen Erwachsenen sieht Erikson in der Fähigkeit, mit einem anderen Menschen intime Beziehungen einzugehen. Je selbstsicherer jemand wird, desto mehr sucht er nach Freundschaft, Liebe und Inspiration. Je mehr jemand sich gefunden hat, umso eher ist er fähig, sich an jemand anders zu verlieren. Gelingt dies nicht, dann tritt das Gegenteil davon ein, nämlich Distanzierung und Selbstisolierung. Phase VII Mit „Generativität“ meint Erikson das Interesse an der Gründung und Erziehung einer neuen Generation. Wo diese Bereicherung fehlt, entsteht ein Gefühl von Stagnation und von Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Phase VIII Für die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mussten und durch keine anderen ersetzt werden konnten, bietet Erikson den Begriff „Integrität“ an. Er bedeutet eine neue, andere Liebe zu den Eltern, frei von dem Wunsch, sie möchten anders gewesen sein als sie waren, und die Bejahung der Tatsache, dass man für das eigene Leben allein verantwortlich ist. Wenn diese Integrität nicht erreicht wird, dann ist das Leben geprägt von Verzweiflung und Todesangst. Der einzig vorhandene Verlauf des eigenen Lebens wird nicht bejaht. Verzweiflung entsteht, weil die Zeit jetzt zu kurz ist für den Versuch, ein anderes Leben zu beginnen und andere Wege zur Integrität zu gehen.
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Identitätsbildung kann scheitern Auf der Suche nach dem anderen Menschenbild begegnen uns Metaphern, also bildliche Bezeichnungen vom Menschen, die auf seiner Identitätsbildung beruhen, auf seinem Selbstverständnis, das sich im Verlauf seines Lebens bildet. Es bildet sich im Zusammenspiel zwischen seiner genetischen Ausstattung, dem, was er als Anlagen mitbringt, seinem sozialen Umfeld, der Familie, in die er hineingeboren wird, und den Menschen, mit denen er zu tun hat. Außerdem kommt es darauf an, dass dieses Zusammenspiel zu einer bestimmten Zeit stattfindet, in der eine bestimmte Fähigkeit entwickelt werden kann, weder vorher noch nachher. Dieses Konzept der Identitätsbildung, wie Erikson es entworfen hat, ist im Begriff zu zerfallen. Die von ihm als gesund und mit sich und anderen in Übereinstimmung lebend geschilderte Persönlichkeit läuft Gefahr, Anpassungsprobleme zu bekommen. Schichten- und Klassenzugehörigkeit, Geschlechtsrollen und religiöse Bindungen sind als übergeordnete Muster immer weniger verbindlich. Die großen religiösen, philosophischen, kulturellen und politischen Entwürfe und Orientierungsangebote sind von einem Erosionsprozess erfasst. Persönliche Identität durch Übernahme von Traditionen, Verinnerlichung von Normen und Aneignung überlieferter Werte wird immer problematischer. Die gesellschaftlichen Prozesse der Enttraditionalisierung und Entgrenzung liefern einfach nicht mehr die nötigen Rahmenbedingungen zur Ausbildung stabiler Identität. Die an anderer Stelle beschriebenen Instabilitäten des Ortes, der Beziehungen und der geistigen Orientierung erlauben es nicht mehr, über Identifikation mit dem sozialen Umfeld, im Verlauf der psychischen Entwicklung eine stabile Identität zu entwickeln.
82 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Autismus und Borderline-Syndrom sind Zeichen des Scheiterns. Dies verdeutlicht die Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen zu seiner Menschwerdung. „Der Wolfsjunge“ in dem Film von Francois Truffaut gelangt zu spät in die menschliche Gemeinschaft, um noch sprechen zu lernen. Aber Identität ist unverzichtbar. Sie verdeutlicht, dass wir für unsere Taten in der Vergangenheit verantwortlich und unsere Versprechen für die Zukunft gültig sind. Ohne Identität gäbe es kein verlässliches Handeln mehr zwischen Menschen. Identität bedeutet auch einen Rahmen, der eine bestimmte Lebensführung ermöglicht, der dem eigenen Tun und Lassen Sinn und Bedeutung verleiht. Was folgt daraus für die Identitätsbildung unter den Bedingungen der modernen Welt? Zunächst unser Gedankengang im Überblick. Zusammenfassung Wir beobachten gigantische Fehlleistungen, die mit unseren üblichen Analyseinstrumenten nicht erklärbar sind. Wir stellen die These auf, dass ein falsches Menschenbild diese Fehlleistungen verursacht. Wir fragen nach den Menschenbildern in unserer Gesellschaft und wie sie sich auf die Menschen unserer Zeit auswirken und sind auf beschädigte Bilder gestoßen, von denen wir aber wissen, dass sie einen mächtigen Einfluss auf uns ausüben. Deshalb suchen wir nach dem anderen Menschenbild, das uns zu den ungewöhnlichen Leistungen befähigt, die unsere Zeit von uns fordert. Wir haben bei der Neurologie nachgefragt und folgende Skizzen vom Menschen gefunden. Er sei einmalig und autonom, selbstkritisch und lernbegierig, einfühlsam und emotional í und vor allem auf der Suche nach Sinn.
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Dann haben wir uns bei der Evolution des Menschen kundig gemacht und erfahren, dass sich seine Entwicklung über den „Wagenhebereffekt“ seit etwa 250.000 Jahren ungewöhnlich beschleunigt hat, was sich nur über die besondere Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen erklären lässt, die ihn zum Erwerb und Gebrauch von Symbolen befähigt. Damit befreit er sich von der Welt der Fakten und eröffnet sich einen Zugang zu der ganz neuen Welt des Geistes. Auf dem Weg seiner Entwicklung stellt sich dem Menschen, nach dem Prinzip der Epigenese, die Aufgabe, zu seiner Identität zu finden. Er soll über die verschiedenen Phasen seines Lebens, im Zusammenwirken mit dem jeweiligen sozialen Umfeld, die persönliche Ausprägung seiner eigenen Individualität entwickeln und darin von den Menschen, die ihm viel bedeuten, bestätigt werden. Diese Identitätsbildung ist durch die vielfachen Instabilitäten erschwert. Weil Identität aber auch heute unverzichtbar ist, fragen wir danach, wie es möglich sein kann, auch unter den Bedingungen der Moderne Bilder vom Menschen ausfindig zu machen, die ihm eine einmalige Identität ermöglichen. Vier Entwürfe bieten sich an, die sich in Metaphern ausdrücken: das Leben im „stahlharten Gehäuse“ von Max Weber, das „Panoptikum“ von Michel Foucault, der „Auszug aus dem Paradies“ von Niklas Luhmann und „Der Weg vom Statisten zum Regisseur“ von Ulrich Beck. Diese vier Entwürfe wollen wir überprüfen, ob sie uns weiterhelfen auf dem Weg zu dem anderen Menschenbild.
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Die Moderne entwirft ein düsteres Bild vom Menschen, weist aber auf seinen Freiheitsspielraum hin Obwohl die Autoren der Moderne ein düsteres Bild der Gesellschaft zeichnen und aufzeigen, wie bedroht das autonome Menschenbild ist, so eröffnen sie doch den Blick auf einen Freiheitsspielraum, den es zu nutzen gilt. Um ihn zu nutzen, bieten sich die Selbsttechniken an, die aus der Philosophie der Lebenskunst stammen. Es handelt sich um das Bild des Menschen, der sich aus den Zwängen der Gesellschaft und der Enge des Kapitalismus herausarbeitet und sich neue Freiheitsräume erkämpft. Auch dafür gibt es im Menschen eine Basis, die ihn vom Körperselbst über das Protoselbst bis zur Ich-Identität führt. Teilhard de Chardin beschreibt diesen Vorgang für die Evolution insgesamt, die sich vom Materiellen über das Biologische bis zum Geistigen entwickelt und deren Weiterführung von da an in die Verantwortung des Menschen gelegt ist. Das stahlharte Gehäuse í Max Weber Max Weber stellt dem Menschen in der modernen Welt eine düstere Diagnose (Schroer, 2001, S. 15 ff.). „Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ (Weber, 1971, S. 559 ff.). Dies liegt nach Weber daran, dass die Wissenschaften die Religion als sinnstiftende Instanz vom Sockel gestoßen haben, ohne das Vakuum zu füllen, das entstanden ist. Das Gefühl der Unsicherheit und Sinnlosigkeit macht sich deshalb in der modernen Gesellschaft breit. Allerdings hat die Wissenschaft den Einzelnen aus einem Zwangsverhältnis befreit, ihm zur individuellen Autonomie verholfen, indem sie ihn zum selbstständigen Denken anhält. Nachdem mit dem Anbruch der Moderne die Religion als sinnstiftende Mitte weggefallen ist, muss der Einzelne für sich seinem Leben
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einen Sinn geben. Er wird ja von keiner übergeordneten Instanz mehr vorgegeben. Weber sieht im Wegfall der reglementierenden Zwänge einen Zugewinn an individueller Freiheit (Schroer, 2001, S. 17). Diese neue Freiheit ist aber bedroht, weil die kapitalistische Wirtschaftsordnung bestrebt ist, das Leben des Einzelnen zu rationalisieren, zu bürokratisieren, zu disziplinieren und zu domestizieren. Der westliche Kapitalismus hat einen besonderen Vorteil, den er aus der Lebensweise des Puritaners schöpft, der einsam und ohne Hilfe seinen Weg zu Gott sucht und dabei immer in Ungewissheit bleibt. Am ehesten bieten beruflicher Erfolg und die entsagungsvolle Arbeit eine Hoffnung auf Erlösung. Daraus folgt der asketische Lebensstil des Puritaners. Er verlangt Aufschub von Bedürfnisbefriedigung, untersagt kurzweilige Vergnügungen, geißelt Maßlosigkeit und wendet sich gegen das unbefangene Genießen des Daseins. Im Mittelpunkt des Lebens steht die Arbeit, und zwar nicht ihr Ergebnis, sondern die Arbeit als Selbstzweck des Lebens (Schroer, 2001, S. 21). Ohne religiös-ethischen Sinn bleibt im Kapitalismus nur das nackte Erwerbsstreben. Ohne religiöse Grundlage mutiert der Kapitalismus zu einem „stahlharten Gehäuse“ (Weber, 1988, S. 203). Dieses übt auf den Menschen eine unentrinnbare Macht aus. Der Kapitalismus schafft sich den Menschen, den er braucht, als kleine, willenlose Rädchen, unfähig zur selbstbestimmten Lebensgestaltung, den vorherrschenden Bedingungen passiv und still ergeben. Die mit dem Rationalismus verbundene Bürokratie greift „mit kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen“ nach den letzten Freiräumen des Individuums. Die geforderte methodische Lebensführung macht es zum Spielball ausdifferenzierter Subsysteme. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, fordert Weber die Individuen auf, Widerstand zu leisten. Aber aus welchen Quellen sollen die Individuen diese Widerstandskraft schöpfen? Weber
86 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild fordert eine „Lebensführung von innen heraus“, eine im Individuum verankerte Motivation zur asketischen Disziplin. Dazu braucht es ein gehöriges Maß an Freiwilligkeit. Die Lebensführung von innen beruht auf der Bereitschaft, hingebungsvoll einer Sache zu dienen. Angesichts der Bedrohung des Individuums in der modernen Gesellschaft als stahlhartes Gehäuse ist für Weber die einzige Möglichkeit zu einer Persönlichkeit heranzureifen, der selbstvergessene Dienst an der Sache, also die Bestimmung des Menschen als Hingabe an die Sache, an seine Aufgabe. Der Dienst an der Sache erfordert aber eine methodisch-asketische Lebensweise, nicht einen „Fachmenschen ohne Geist“ oder einen „Genussmenschen ohne Herz“, sondern einen „Fachmenschen mit Geist“. Angesichts der Bedrohung des Menschen durch das „stahlharte Gehäuse“ erfordert es, nach Weber, „stahlharte Persönlichkeiten“, die Härte mit Härte beantworten, denen die Mühlen der Bürokratie nichts anhaben können. Diesen Widerstand zu leisten, vermag nur ein heroisches Individuum mit einer prinzipiengeleiteten Lebensweise, auf Grund einer persönlichen Wahl zwischen konkurrierenden Lebensstilen. Das heroische Individuum bildet sich im zähen Ringen mit gegensätzlichen Überzeugungen und konkurrierenden Herausforderungen. Deshalb kann es Bedrohungen mannhaft aushalten und Spannungen ausbalancieren. In diesem heroischen Individuum mit aristokratischen Zügen sieht Weber einen Weg, in der modernen verwalteten Welt als selbstverantwortliches Individuum existieren zu können (Schroer, 2001, S. 42). Das Panoptikum í Michel Foucault Foucault beobachtet, wie sich die Strafpraxis vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart verändert. Sie reicht von der Marter, der kör-
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perlichen Züchtigung bis zur Isolierung der Gefangenen in Zellen. Am Ende dieser Entwicklung steht ein vollständiges Disziplinierungs- und Überwachungssystem. Die Körper der Individuen werden auf dem Weg in die Moderne immer weniger gefoltert und hingerichtet, immer häufiger aber eingesperrt, zugerichtet und abgerichtet. Ein ausgeklügeltes System von Disziplinierung, Kontrolle, Normalisierung und Überwachung hilft mit, um ein zuverlässiges, berechenbares und effizientes Individuum hervorzubringen (Schroer, 2001, S. 90 ff.). Das Panoptikum ist dafür erfunden worden, ein solches Individuum massenhaft zu produzieren. Es besteht aus einem Turm in der Mitte einer Anlage, umgeben von einem ringförmigen Gebäude, das in einzelne Zellen unterteilt ist und die Möglichkeit bietet, dass ein einzelner Bewacher von seinem Turm aus die Vielzahl von Eingesperrten überwachen kann. Durch diese Architektur fühlt sich der Einzelne stets kontrolliert, da er nicht weiß, wann er beobachtet wird. Schließlich verinnerlicht er die Überwachung so, dass sie von außen überflüssig wird. Die Fremdkontrolle wird durch Selbstkontrolle ersetzt. Isolierung, Kontrolle und Disziplinierung sind die Methoden, um Individuen hervorzubringen, die sich selbst kontrollieren. Wenn diese Machttechniken auf alle Bereiche des sozialen Lebens ausgeweitet werden, dann entsteht eine Disziplinargesellschaft. Es ist ja so, dass das Panoptikum nicht nur die Architektur der Gefängnisse war, sondern auch der Kasernen, Spitäler, Fabriken und Schulen. Foucault folgert, dass das Individuum in das Räderwerk der panoptischen Maschine eingeschlossen ist, das es selbst in Gang hält – jeder ein Rädchen. Dadurch tritt an die Stelle des „denkwürdigen Menschen“ der Antike der „berechenbare Mensch“ der Moderne. Aber Foucault erkennt auch, dass Macht immer mit einem Rest an Freiräumen verbunden ist, wo sich Kritik und Widerstände regen können. Er erkennt, dass trotz Macht- und Herrschaftsstrukturen
88 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild die Menschen nie aufgehört haben, sich selbst immer wieder neu zu entwerfen. Er entdeckt in den Selbsttechniken eine Weise, durch die das Individuum auf sich selbst einwirken kann, jenseits von Kontrolle und Disziplin. Aus Texten der Antike entnimmt Foucault den Hinweis, man solle sich um sich selbst kümmern, mit Hilfe von Mäßigung und Selbstbeherrschung. Es geht also nicht um die Unterwerfung unter eine anonyme Norm, sondern um eine individuelle Haltung. Sie verlangt vom Individuum, eine Arbeit an sich selbst vorzunehmen, eine Askese, die darin besteht, die Herrschaft über sich zu erreichen. Ziel dieser Selbstherrschaft und Mäßigung ist es, nicht Sklave zu sein, weder der seiner Umgebung noch der seiner eigenen Leidenschaften. Unmäßig sein bedeutet dagegen, sich in einem Zustand der Schwäche und Unterwerfung zu befinden und sich zum Sklaven seiner selbst zu machen (Foucault, 1989, S. 112). Die „Ästhetik der Existenz“, die Foucault in der Antike vorfindet, ist eine Lebensweise, die die Möglichkeit des Individuums betont, „sich selbst als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstituieren, d. h. sich zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen, der das Maß und den Augenblick abschätzen kann“ (Foucault, 1991, S. 178). Unter Widerstand versteht Foucault nicht mehr nur Aufbegehren, sondern auch Verweigerung vorgegebener Identitäts- und Rollenmuster, vorgefertigter Subjektivitätsformen. Er betont, dass wir nicht nur abweisen müssen, was man uns auferlegt, sondern vielmehr ausdenken und aufbauen müssen, was wir sein könnten. Selbstsorge ist ein Begriff, der beides meint, Widerstand gegen aufgezwungene Bilder der Subjektivität und die Erfindung von anderen, selbstgewählten Subjektformen. Foucault entwickelt eine Vorstellung vom Individuum, das sich in wechselnden Beziehungen und Situationen je und je neu schafft, und das sich in einem permanenten Prozess als sich wandelndes und veränderndes Selbst immer wieder neu erfindet (Schroer, 2001, S. 117).
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Damit meint Foucault nicht einen Rückzug ins Private oder Egoistische. Er sieht in dem sich nicht gleichbleibenden, sich permanent neu hervorbringenden multiplen Selbst eine Gewähr, den Herrschaftstechnologien den Zugriff auf das Individuum zu erschweren. „Nur was sich beständig in Bewegung befindet, sich permanent selbst neu erfindet, hinter Masken und fremden Identitäten verbirgt, entkommt den zahlreichen Einschließungs- und Ausschließungsprozeduren, die das Abendland zur Disziplinierung des Individuums erfunden hat. Was sich permanent neu definiert und entwirft, verschwindet und taucht dort wieder auf, wo es niemand vermutet hätte. Es entgeht den starren Strukturen der Herrschaftstechnologien. Wer sich nicht gleich bleibt, wird schwer identifizierbar und dadurch schwer erfassbar, schwer kontrollierbar“ (Schroer, 2001, S. 118). Foucault entwirft aber kein Programm, empfiehlt keine Methoden der Selbsterneuerung, um der Disziplinargesellschaft zu entgehen. Kein einheitliches Programm, sondern eine auf Vielheit angelegte Perspektive will er. Nicht eine konkrete Lebensform empfiehlt er, sondern viele verschiedene Lebensentwürfe, die von den Individuen selbst geschaffen werden müssen. Foucault sieht das Individuum in der Disziplinargesellschaft mit ihren Herrschaftstechniken bedroht. Es ist dem Panoptikum ausgeliefert, das es kontrollierbar und formbar macht. Gleichzeitig erkennt er in der zu Herrschaftsstrukturen erstarrten Macht einen Rest an Freiheit, der Kritik und Widerstand ermöglicht. Diesen Freiheitsspielraum soll das Individuum nutzen, indem es sich um sich selbst kümmert, Herr seiner selbst wird und sich Mäßigung auferlegt. Es leistet Widerstand gegen auferlegte Lebensformen und erfindet sich in einem Prozess eines sich wandelnden und verändernden Selbst immer wieder neu. Dazu gibt es kein einheitliches Programm, sondern Entwürfe, die aber von Einzelnen selbst zu erfinden sind.
90 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Die Vertreibung aus dem Paradies í Niklas Luhmann Luhmann betrachtet den Menschen nicht mehr als Wesen, das in der Gesellschaft sein Leben lebt, sondern er siedelt ihn in der Umwelt sozialer Systeme an. Er ist nicht mehr Bestandteil der Gesellschaft, sondern steht außerhalb von ihr. Damit vollzieht Luhmann eine neue kopernikanische Wende, indem er dem Menschen seine zentrale Stellung in der Gesellschaft wegnimmt. Vom Zentrum rückt er ihn an den Rand. Aber auch am Rand wird der Mensch nicht mehr als unteilbares Ganzes angesehen. Er teilt sich weiter in Subsysteme auf. Der bisher als Ganzheit geführte Mensch wird in Systeme zerlegt: in das organische System, das Immunsystem, das neurophysiologische System und das psychische System. „Mensch“ ist nur mehr der Name für eine Kombination unterschiedlicher organischpsychischer Systeme, die je für sich selbstreferentiell operieren (Schroer, 2001, S. 226 ff.). Die den Menschen bildenden Systeme werden außerdem nicht durch ein überwölbendes System integriert und zu einer Einheit zusammengeführt. Somit gibt es keine übergeordnete Instanz „Mensch“, die alles im Griff hat. Der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Luhmann hat mit seiner Theorie den Menschen aus der Mitte der Gesellschaft vertrieben und macht ihm seine exklusive Stellung streitig. Der Mensch verschwindet „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault, 1991, S. 462). Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Aber aus der Verschiebung des Menschen aus der Gesellschaft in ihre Umwelt wird er nicht unwichtiger, sondern erfährt einen Zugewinn an Freiheit. Er steht nicht mehr „länger unter der Generalaufsicht der Gesellschaft, sondern wird aus deren Fesseln befreit“ (Schroer, 2001, S. 234). Den Menschen in der Umwelt der Gesellschaft anzusiedeln, macht ihn ungebundener und freier, denn diese ist weniger geordnet. Menschen erhalten dort soviel Bewegungsspielraum, dass sie andere Perspektiven, Betrachtungsweisen und
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Kommunikationen entwickeln können. Sie sind nicht mehr länger einem normativen Werte- und Regelsystem unterworfen. Gefordert ist eher eine „anpassungsgeschickte Flexibilität“ bei sich permanent verändernden Bedingungen und Verhältnissen“ (Schroer, 2001, S. 235). Die Bedingungen der modernen Welt, denen sich die Individuen gegenüber sehen, wechseln zu schnell und sind zu vielfältig, als dass sich die Individuen auf ein lebenslang gültiges Wertemuster verpflichten. Aus Luhmanns Sicht ist das Individuum zwar von unterdrückenden Kräften frei, aber es bezahlt dies mit größerer Unsicherheit und muss lernen, sie zu meistern. Für Luhmann steht also der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt der Gesellschaft. Soziale Systeme kommen nicht durch den Menschen zustande, sondern durch Kommunikation. Eine Firma besteht aus der Kommunikation der Menschen, die dort tätig sind, miteinander. Gebäude werden abgerissen und neugebaut. Maschinen werden aufgestellt und ausgewechselt. Menschen kündigen, neue werden eingestellt. Kommunikation bleibt immer, ohne sie funktioniert die Fabrik nicht. Das Individuum besteht aus unterschiedlichen Systemen. Was es ausmacht, ist sein Bewusstsein. Der Mensch steht nicht mehr in der Mitte, von ihm hängt nicht mehr alles ab. Er befindet sich außerhalb und gewinnt einen neuen Freiheitsspielraum. Das Individuum ist freier, ungebundener und nicht mehr auf ein festes Wertesystem verpflichtet. Es ist von unterdrückenden Kräften frei, aber dafür unsicherer und orientierungsloser. Damit umzugehen muss es lernen. Vom Statisten zum Regisseur í Ulrich Beck Die klassische Industriegesellschaft verwandelt sich in die industrielle Risikogesellschaft. Die Moderne wird abgelöst durch die
92 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild reflexive Moderne. Diese Transformation ist verbunden mit einem neuen Individualisierungsschub. Er wird ausgelöst durch einen höheren Lebensstandard, durch größere soziale und geographische Bewegungsfreiheit und durch mehr Bildung. Das Individuum wird dadurch herausgelöst aus der Zugehörigkeit zu Ständen, Schichten, Klassen und Familienverbänden. An ihre Stelle treten „individualisierte Existenzformen“ (Schroer, 2001, S. 398), die die Menschen dazu zwingen, sich selbst zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung zu machen. Aber Individualisierung bedeutet nicht nur die Befreiung des Einzelnen aus den Zwängen der Tradition. Sie ist auch verbunden mit dem Verlust von Sicherheit und Geborgenheit. Die vertrauten Auffangmechanismen, wie die Zugehörigkeit zu Ständen, zu sozialen Klassen oder zu Familien, sind selbst in Auflösung begriffen. Es könnte deshalb sein, dass der Alleinstehende, der isolierte Einzelne zu einer Grundfigur in der Gesellschaft wird. Gleichzeitig entstehen neue Integrationsmechanismen und neue soziale Beziehungsformen. Allerdings müssen diese vom Individuum selbst hergestellt werden. Der Einzelne muss es selbst in die Hand nehmen, ob er in soziale Isolation fällt oder in einem selbstgeschaffenen Netzwerk lebt, von Bekanntschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen. Der langfristige Prozess der Individualisierung und Freisetzung des Einzelnen aus traditionalen Bindungen wird in der reflexiven Moderne nicht mehr abgefedert durch Stand, Klasse oder Familie, weil diese selbst sich auflösen. Beck meint, dass das, was früher nur wenigen abverlangt wurde, nämlich ein eigenes Leben zu führen, nun fast allen Menschen abverlangt wird (Schroer, 2001, S. 409). Die Anforderung, sein eigenes Leben zu leben, erweist sich für viele als Überforderung. Dem Einzelnen werden permanent Entscheidungen abverlangt, aber es fehlen ihm Ressourcen und Kompetenzen, diese Entscheidungen tatsächlich treffen zu können.
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Dennoch ergeben sich Entscheidungsspielräume, die es zu nutzen gilt. Die Biographie, die Geschichte eines Lebens, wird herausgelöst aus vorgegebenen Fixierungen, wird offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes Einzelnen gelegt. Eine sozial vorgegebene wird in eine selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert (Beck, 1986, S. 216). Beck bezeichnet den Einzelnen als Jongleur, der die durcheinanderwirbelnden Bälle wieder „auf die Reihe“ bekommen wird, was für den Einzelnen bedeutet, in seinem eigenen Leben die Synthese wieder herzustellen, die auf gesellschaftlicher Ebene nicht mehr vorhanden ist. Es entsteht eine Selbstgestaltungsgesellschaft, in der das eigene Leben immer wieder erfunden werden muss, obwohl ein auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichteter Lebensplan immer seltener wird, weil es zunehmend schwerer wird, die Anforderungen, die innerhalb einer Lebensspanne an einen gerichtet werden, zu überblicken (Schroer, 2001, S. 419). Dennoch stellt Beck der Herauslösung des Individuums seine Wiedereinbindung entgegen. Er sieht nicht nur Verfall, sondern einen umfassenden Gestaltwandel darin, dass neue Formen der Familie, von Liebesbeziehungen und politischen Vereinigungen entstehen, auch wenn die Konturen noch nicht festliegen. So lebt „der individualisierte Mensch der Moderne nicht allein, sondern paarweise, wenn auch nicht in stabiler, sondern eher in serieller Monogamie“ (Schroer, 2001, S. 453). So tanzt gemeinsam einsam jeder für sich und doch nicht ohne den anderen. Das Individuum ist zwar nicht allein, aber einsam, als eines unter vielen, das ein inneres Leben hat, das mehr ist als nur die Nachahmung der anderen. Wie schon erwähnt, strebt dieses Individuum danach, sich auf nichts Langfristiges festzulegen und den Imperativen zu folgen: „bis auf Weiteres“ oder „fixiere dich nicht“ und sich „alle Optionen offen zu halten“.
94 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Wie kann ein Mensch unter diesen Bedingungen seine Identität entwickeln oder aufrechterhalten? Wie lassen sich langfristige Ziele in einer Gesellschaft anstreben, die nur auf Kurzfristiges angelegt ist? Wie lassen sich zwischenmenschliche Beziehungen eingehen, die aus sich heraus nach Dauer verlangen in einem Umfeld, das darauf aus ist, sich „alle Optionen offen zu halten“? Zunächst zeichnen diese vier Autoren – Weber, Foucault, Luhmann und Beck – ein düsteres Bild des Menschen in der modernen Gesellschaft. Der Verlust der sinnstiftenden Mitte liefert den Menschen dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus aus. Er wird zum berechenbaren Menschen in der Disziplinierungs- und Überwachungsgesellschaft. Als isolierter Einzelner ist er auch nicht mehr Herr in seinem eigenen Haus. Aber bei diesen düsteren Diagnosen und Entwürfen bleibt ein Bereich von Freiheit, aus dem dann das Neue hervorgehen kann. Diesen Freiheitsspielraum gilt es zu nutzen, um vorgegebene Identitätsmuster kritisch zu überprüfen und zu verweigern, statt ein berechenbarer ein denkwürdiger Mensch zu werden, durch Mäßigung und Selbstbeherrschung den Zwängen der DisziplinarGesellschaft zu entrinnen. Selbsttechniken Selbsttechniken sind die Methoden, die es ermöglichen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und die Unsicherheit zu meistern. Es geht darum, sein Leben von innen heraus zu gestalten und „ein kluger Führer seiner selbst“ zu werden. Viele verschiedene Lebensentwürfe dienen dazu, sich immer wieder neu zu erfinden, um die Standardvorgaben an Identitätsmustern zu vermeiden. Dies geht nicht ohne konsequente Arbeit an sich selbst. Was ist damit gemeint? Damit sind Selbsttechniken gemeint, die Foucault erwähnt, aber nicht beschreibt, weil er meint, dass es Aufgabe eines jeden ist, seine eigenen zu finden. Aber Foucault bezieht sich auf die Philosophie der Lebenskunst, die solche Selbsttechniken erwähnt.
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Die Freundschaft Sie ist eine Beziehung, die nicht von Interessen oder Vorteilen geprägt ist, weder materiell, noch ansehensmäßig, noch erotisch. Dennoch können Freundschaften über ein ganzes Leben dauern. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sich jemand in der Beziehung zu seinem Freund kritisch zur Sprache bringen kann und damit einverstanden ist, von ihm kritische Hinweise zu erhalten. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr Ich soll mir vorstellen, dass mich eine Fee danach fragt, ob ich das Leben, das ich jetzt führe, nach meinem Tod wieder und immer wieder leben will. Wenn nicht, dann soll ich es jetzt ändern. Denn nur die Gegenwart gehört mir. Aus seinem Leben ein Kunstwerk machen Ich soll so leben, dass andere, die mich kennen, nach meinem Tod, aus der Erinnerung an mich, einen Gewinn für ihr Leben ziehen. Und weil ich nicht weiß, wann dies ist, soll ich damit jetzt beginnen. Kritische Selbstreflexion Am Ende eines Tages lasse ich diesen wie einen Videofilm vor meinem geistigen Auge ablaufen und frage mich, wie ich heute gelebt habe, ob ich meinen Werten treu geblieben bin oder meinen eigenen Kriterien nicht entsprochen habe. Dann denke ich an den morgigen Tag und frage mich, was ich da besser machen kann. In dieser Übung liegt eine ungewöhnliche Weisheit. Man findet sie in allen Kulturen und seit wenigstens zweitausend Jahren. Diese Selbsttechniken sind Übungen der Selbstreflexion und dienen der Selbsterneuerung. Trotz der Zwänge der modernen Gesellschaft können sie dazu beitragen, den Rest an Freiheitsspielraum zu nutzen, damit etwas Neues entstehen kann. Und das Neue, das entstehen kann, soll dem „anderen Menschenbild“ entsprechen.
96 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Das andere Menschenbild Statt eines beschädigten und angepassten Menschenbildes suchen wir ein anderes, das die Autonomie und die Einmaligkeit des Menschen ausdrückt, das seine Fähigkeit sieht, zu verändern, zu lernen, zu erneuern, und die Quellen seiner unversiegbaren Energie fördert, die ihn zu ungewöhnlichen Leistungen befähigt. Das Selbst ist im Körper verwurzelt Menschliches Denken als personale Instanz beruht auf einer neuronalen Basis, auf biologischen Strukturen, die in der Tiefe des menschlichen Gehirns lokalisiert sind. Diese Strukturen befassen sich damit, das interne Milieu des Körpers zu regulieren (Goller, 2003, S. 136 f.). Es handelt sich um die Hirnstammkerne. Sie regeln die inneren Prozesse und verfügen über eine umfassende Sicht des jeweiligen Körperzustandes. Diese Hirnstammkerne sind aber nicht nur an der Regulation des inneren Milieus beteiligt, sondern auch an Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Sie sind einerseits körperbezogen und andererseits für mentale Fähigkeiten zuständig. Damasio zufolge ist in den Hirnstammkernen die biologische Grundlage des Selbstgefühls zu suchen (Damasio, 2005, S. 56). Es gibt also tief innen im Gehirn neuronale Strukturen, die die Prozesse im Inneren des Organismus regulieren und über eine zusammenfassende Sicht des derzeitigen Körperzustandes verfügen, die ununterbrochen und unbewusst für die Stabilität der Körperzustände sorgen und gleichzeitig das Gefühl des Selbst erzeugen, das ja die Basis für das bewusste Erleben ist. Tief im Körper verwurzelt und doch bis ins Geistige wirkend – dies macht menschliches Denken aus. Körperabbildungen als Protoselbst Der Körper eines Menschen wird im Gehirn ständig abgebildet. Wenn jemand wie ein Postbote oder ein Taxifahrer sich in einer
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Stadt zurechtfinden muss, dann sind im Gehirn die dafür zuständigen Areale besonders ausgeprägt. Bei einem Geigenspieler sind auf der Gehirnrinde die Finger ausgeprägter als bei anderen. Diese Körperabbildungen im Gehirn stellen einen biologischen Vorläufer des Selbst dar. Es wird Protoselbst genannt. Aus ihm entsteht dann das Selbst, das heißt das Gefühl, dass ich es bin, der etwas sieht, hört, berührt, betastet oder riecht. „Die Erfahrung, dass wir dieselbe Person sind, obwohl wir uns im Laufe des Lebens ändern, gründet in jenen Hirnstrukturen, die jeden Augenblick den Aufbau und Zustand unseres gesamten individuellen Organismus repräsentieren“ (Goller, 2003, S. 135 f.). Diese Körperrepräsentationen sorgen für Stabilität. Viele Zellen und die meisten Teile des Organismus fallen im Verlauf des Lebens aus und werden ersetzt. Der Bauplan und die Funktionen seiner Organe bleiben erhalten. Obwohl der Körper, was seine Teile angeht, ständig ausgewechselt wird, so wird er doch nach einem Plan rekonstruiert. So rekonstruiert auch das Gehirn das Gefühl des Selbst immer wieder neu. Das Selbst ermöglicht es, sich von anderen abzugrenzen und zu sagen: „Ich bin es, nicht du.“ Ausgehend von den Grenzen unseres Körpers unterscheidet es zwischen Selbst und Nicht-Selbst, indem es innere mit äußeren Signalen vergleicht. Der Körper ist der grundlegende Bezugspunkt für das Selbst. Er wird ständig im Gehirn repräsentiert. Selbstbewusstsein entsteht aus dem Wissen um das Selbst. Dafür bilden neuronale Schaltkreise die Basis. Das Wissen des Selbst um sich können sie aber nicht erklären. Ich-Identität Das Ich meint, dass ein Mensch sich als Urheber seiner Handlungen sieht, dass er fähig ist, sich als zuständig und verantwortlich zu empfinden und Zusagen über lange Zeit einzuhalten.
98 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Identität bedeutet, dass jemand als Mensch sich für sich selbst über die Zeit seines Lebens hinweg zuständig fühlt, sein Handeln in der Vergangenheit und seine Pläne für die Zukunft sich selbst zuschreibt. Eine gelungene Identitätsbildung liegt vor, wenn jemand sagen kann, dass er mit sich selbst auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen in Übereinstimmung leben kann und in dieser Meinung von den Menschen bestätigt wird, mit denen er zu tun hat. Wenn die Erfahrung mit sich selbst als auch die bestätigenden Botschaften aus dem sozialen Umfeld einigermaßen übereinstimmen, dann sprechen wir von Identität. Die ziemlich gleichbleibenden biologischen Prozesse, das heißt die unveränderliche Arbeitsweise des Organismus, und die Abbildung des Körpers im Gehirn, die Stabilität, die sie vermitteln, die Erfahrung mit persönlichen Erlebnissen und die Urrepräsentation des Körpers führen zur Bildung einer persönlichen Identität, einmalig, unverwechselbar und ständig zu Veränderungen befähigt. Vom Materiellen über das Lebendige zum Geistigen – Teilhard de Chardin Das menschliche Denken hat seine neuronalen Voraussetzungen in Hirnstrukturen, die gleichzeitig dafür zuständig sind, das interne Milieu des Körpers zu regulieren. Es gibt also biologische Strukturen, neuronale Netze die gleichzeitig für interne Prozesse des Körpers und ebenso für mentale Leistungen zuständig sind. Menschliches Denken verläuft also über Körperrepräsentationen, Protoselbst, Selbst, Ich bis zur Identitätsbildung. Der Weg führt vom Materiellen über das Biologische zum Geistigen. Der Professor für Paläontologie an der Universität in Paris und Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin hat die Evolution als einen Prozess beschrieben, der eine Masse von Materie umwandelt, und zwar nach einem Gesetz zunehmender Komplexität, bis menschlicher Geist entsteht. Die Evolution strebt vom Einfachen zum Komplexen und vom Materiellen zum Geistigen.
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Teilhard de Chardin nennt drei Stufen: die Geosphäre, die Biosphäre und die Noosphäre. Sie ist die Phase, wo der menschliche Geist auftaucht, dessen Entwicklung sich aber auf den anderen Stufen schon vorbereitet hat. Deshalb bezeichnet Teilhard de Chardin die Evolution als eine Steigerung des Geistigen und spricht von einer Achse, auf der die Evolution vorwärts drängt nach mehr Bewusstsein, Wissen und mehr Geist. Im menschlichen Gehirn wird sich die Evolution ihrer selbst bewusst, erkennt ihr Streben nach mehr Geist und dass es ihr Anliegen ist, diesen Prozess der Vergeistigung der Welt weiterzuführen. Da sie sich dessen im menschlichen Gehirn bewusst wird, ist es auch in die Verantwortung des Menschen gelegt, das Anliegen der Evolution weiterzuführen, nämlich mitzuwirken an der weiteren Vergeistigung der Welt. Dies findet dort statt, wo Menschen durch ihr Leben, Denken und Handeln mehr Geist in die Welt bringen, durch intelligentere Lösungen, die sie finden, durch Verbindungen, die sie schaffen, durch Konflikte, die sie lösen, durch Perspektiven, die sie aufzeigen, durch Entscheidungen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Nicht nur menschliches Denken und Bewusstsein haben ihre Wurzeln in biologischen Strukturen, die die Körpervorgänge regulieren, auch die Evolution löst den Prozess, der zur Noosphäre, der Sphäre des Geistigen, führt, in der Geosphäre aus, dem Bereich der Materie. Das andere Menschenbild, das hier erkennbar wird, ist eines, das von einer Dynamik beseelt ist, die immer weiterführt. Es hat ein Anliegen, das es bewegt, nämlich mehr Geist, das heißt Intelligenz statt Gewalt, Kommunikation statt sprachloser Ablehnung, Gemeinsamkeit statt egoistischem Einzelinteresse, letztlich Liebe.
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Die Psychoanalyse beschreibt den Menschen als lernbereit und integrierbar und doch immer ganz anders Das andere Menschenbild – Jacques Lacan Wir suchen nach dem anderen Menschenbild, um uns den fatalen Auswirkungen des beschädigten Menschenbildes zu entziehen. Wir haben uns deshalb an die Neurologie gewandt und erfahren, zu welch nahezu grenzenlosen Möglichkeiten das Gehirn die Voraussetzungen schafft. Die Evolutionslehre schildert die existentielle Verwiesenheit des Menschen auf den Menschen bei seinem Verlangen, sich zu einem geistigen Wesen zu entwickeln. Die Gesellschaftslehre beschreibt die Situation des Menschen als bedroht, betont aber dennoch den Freiheitsspielraum, den es zu nutzen gilt und weist auf die Methoden hin, die dazu hilfreich sind, nämlich die aus der Philosophie der Lebenskunst. Teilhard de Chardin zeigt die Entwicklung des Menschen auf, von der Geosphäre über die Biosphäre bis zur Noosphäre, wo im menschlichen Großhirn die Evolution sich ihrer selbst bewusst wird und ihre Weiterführung in die Verantwortung des Menschen gelegt ist, nämlich sie so weiterzuführen, dass immer mehr Geist entsteht. Diese Tendenz vom Materiellen zum Geistigen, vom Einfachen zum Komplexen, vom Anonymen zum Persönlichen wird im Menschenbild von Jacques Lacan noch besonders deutlich. Vom Anfang seines Lebens erhebt sich das Menschenkind über seine ungeistige Umgebung und beginnt zu phantasieren. Es konstruiert im Spiegelstadium ein zusammenhängendes Bild von sich selbst.
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Vom Imaginären zum Symbolischen, vom Bedürfnis zum Verlangen, vom anderen zum Anderen, immer führt der Weg hin zu höherer Komplexität und zu mehr Geist. Im dezentrierten Subjekt erkennen wir uns als ein Wesen, das nicht einheitlich und vereinheitlicht ist, sondern ganz und gar als kulturelles Wesen und von einer Energie erfüllt, nicht domestizierbar und nicht in den Griff zu bekommen. Jacques Lacan hat von 1901 bis 1981 gelebt. Er war Psychiater in Paris, hat an der Sorbonne Vorlesungen gehalten und die Psychoanalyse von Freud mit Hilfe der Linguistik und des Strukturalismus neu interpretiert. Jacques Lacan stand im Ruf, ein umfassender und vielseitiger Gelehrter gewesen zu sein, der seine Gedanken auf schwer zugängliche Weise ausgedrückt hat. Wir versuchen, diese Gedanken auch Lesern zu erschließen, denen die Originalität dieses Denkers sonst verschlossen bleibt. Die ungewöhnliche Fülle seines Werkes, der Tiefgang seiner Gedanken und die Mühe, die erforderlich ist, um sie zu erschließen, erfordert, sie zu vereinfachen und damit umzuinterpretieren, ja, sie möglicherweise zu verfälschen und sich kritisierbar zu machen. Schwerpunkte der Überlegungen von Lacan haben wir zu folgenden Themen zusammengefasst. Die Urphantasie Ausgangspunkt ist die Situation des Neugeborenen, das völlig hilflos in die Welt tritt. Im Gegensatz zu neugeborenen Säugetieren, die sich auf ihre Instinkte verlassen können, findet sich das Menschenkind bei seiner Geburt in einer Situation des Mangels und der Existenznot vor. So macht jeder Mensch am Anfang seines Lebens eine traumatische Erfahrung. Sowohl die Geburt als auch die anschließende Hilflosigkeit sind für ihn eine existenzielle Bedrohung. Diese Bedrohung beantwortet das Menschenkind aber nicht nur mit einem Energieausstoß, indem es schreit und strampelt, sondern mit einer geistigen Anstrengung. Es fängt an zu
102 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild phantasieren. Es wird geistig aktiv und löst sich aus seiner bis dahin geistlosen Umgebung. Es entwickelt eine Phantasie, die es als ein Wesen in der Beziehung zu seiner Mutter sieht, der es sich bedingungslos zuwendet. Diese Phantasie ist geprägt von der Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter, von dem weiteren Umfeld beider und seiner eigenen Disposition. Lacan bezeichnet dies als die Urphantasie. Diese Urphantasie ist die Geburtsstunde seiner Menschwerdung und bedeutet das Einmalige im Wesen eines Menschen. Was ihn einmalig macht, ist weder seine genetische Formel noch der Umwelteinfluss auf seine Anlagen, sondern die Art und Weise, wie er sich auf sich selbst bezieht und sich selbst wählt mit Anlage und Umwelt. Diese besondere Ausprägung seines Lebens begründet die uneinholbare Einmaligkeit eines jeden Menschen. Vom Anfang seines menschlichen Lebens an ist jeder anders, radikal anders, auch der geklonte Mensch. Dieser fundamental einmalige Mensch lässt sich nicht selektieren, kategorisieren und transparent machen. Das Wissen um diese Einmaligkeit ist in unserer Kultur vorhanden – von alter Zeit an, wenn Jesus sagt: „Der Sabbat ist für den Menschen da.“ Ein Mensch darf niemals einem anonymen Prinzip untergeordnet werden. Empfinden wir noch diesen Respekt vor der Einmaligkeit eines jeden Menschen? Können wir dann von Humankapital und von der „Ressource Mitarbeiter“ sprechen? Das Spiegelstadium Auf Grund seiner fehlenden Instinktsicherheit und seiner existenziellen Hilflosigkeit besteht für den Menschen am Anfang seines Lebens immer die Gefahr, ins anonyme Chaos zurückzusinken. Vor diesem Rückfall will sich das Menschenwesen retten, indem es ein Ich bildet, das aber eine Illusion ist. Es ist die Phase, in der
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das kleine Menschenkind sich zum ersten Mal im Spiegel und im Blick des anderen wahrnimmt und als mit sich selbst identisch erkennt. Es gewinnt über dieses Bild erstmals eine ganzheitliche Erfahrung von sich. Aber diese Spiegelbildidentität ist brüchig. Sie bleibt von einem Gegenüber abhängig. Um sich stabiler zu fühlen, möchte das Subjekt mit dem anderen zu einer illusionären Einheit verschmelzen. Menschen, die in ihrer Entwicklung an diesem Stadium festhalten, suchen im anderen immer sich selbst. Das brüchige Ich ist vom anderen fasziniert, wenn dieser seine Wünsche erfüllt. Es lehnt ihn ab, wenn er sich weigert. In dieser Art von Beziehung geschieht kein Werden. Ihr Wesen liegt in einem erstarrten und fixierten Bild, das den anderen auf die eigenen Erwartungen festlegen will. Es ist eine Beziehungsart, in der nichts Neues mehr geschieht, in der man sich in internen Auseinandersetzungen verbraucht. Der andere dient als Erfüllungsgehilfe. Da er sich widersetzt, muss dieses Projekt scheitern. Es entsteht eine endlose Serie von Konflikten und Enttäuschungen. Das Imaginäre, das Symbolische, das Reelle Lacan beschreibt die Beziehungen des Menschen zu sich, zum Du und zur Welt als Dreiheit: imaginaire, symbolique, réel. Das Imaginäre ist im Spiegelstadium begründet und bezeichnet eine Weise der Beziehung des Ich zu sich selbst und zum anderen, die ganz von der Eigenliebe beherrscht ist. Sie führt zu wesenhafter Verkennung seiner selbst und des Anderen. Das Symbolische umfasst alles, was Sprache ist oder gleich ihr strukturiert ist. Es ist das, was sich vom Geflecht imaginärer Verstrickung distanziert. Es führt von der engen Zweiheit zur mittelbaren Seinsweise zu dritt. Es bringt eine Distanz in die Beziehungen.
104 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Das Reelle ist das, was außerhalb dieser Symbolisierung bleibt, ja sogar ihr Scheitern bedeutet. Es ist das Nicht-Verdrängbare. Es ist die Vergeblichkeit, den Schritt in das Symbolische zu vollziehen. Es ist unheimlich. Die imaginäre Beziehung weigert sich, den Anderen als autonome Person zu respektieren und möchte ihn für sich haben. Das Reelle ist das Unheimliche, das nicht besprochen und aufgearbeitet werden kann, das aber dennoch unkontrollierbar immer wieder aufbricht. Es sind Ängste, die immer wieder auftauchen, Wünsche, die sich nicht beherrschen lassen, Verhalten, das sich wiederholt. Das Symbolische bedeutet Verzicht auf das Unmittelbare, Respekt vor dem Anderen und Einbindung in eine Ordnung. Sie bringt mögliche Freiheit und Autonomie im Rahmen einer Ordnung. Das Festhalten am Imaginären beeinträchtigt unsere Beziehungen, reduziert unsere Kreativität und erschöpft unsere Energie. Das Bedürfnis, das Verlangen, der Verzicht Das Bedürfnis Lacan unterscheidet zwei Arten von Beziehungen: Bedürfnis und Verlangen. Bedürfnis, das ist die Beziehung zwischen dem Neugeborenen und seiner Mutter. Es nimmt sie als Teil seines eigenen Körpers wahr. Mutterbrust und Muttermilch sollen ihm jederzeit und ohne Anstrengung zur Verfügung stehen. Das Bedürfnis nach etwas dient dazu, sich in seinem Körper als lebendes Wesen zu erfahren. Das Bedürfnis befriedigen heißt, das Objekt des Bedürfnisses aufzulösen und zu beseitigen. Das Objekt Brot und das Bedürfnis Hunger beseitigen sich gegenseitig. Wenn mein Bedürfnis befriedigt ist, dann brauche ich den Anderen nicht mehr.
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Festhalten an der Beziehungsqualität „Bedürfnis“ bedeutet: der Andere muss ganz für mich da sein. Ich muss etwas von ihm haben. Er muss mir etwas bieten. Die Ehefrau entdeckt, dass ihr Mann eine Freundin hat und stellt ihn zur Rede. Er antwortet: „Versteh das bitte, ich brauche das. Du musst das jetzt einfach mal akzeptieren.“ „Ich brauche das.“ Da gibt es Prämien, Tantiemen, Incentives und Sondervergütungen als Leistungsanreize, als Belohnung für Zielerreichung. Sicher, man kann nie genug Geld verdienen. Aber oft sagen Führungskräfte: „Gerne nehmen wir das Geld mit, aber die Leistung haben wir der Aufgabe oder der Sache oder der Kollegen wegen erbracht.“ Steht denn nicht hinter mancher Tantiemeregelung die Meinung, dass der Mensch bedürfnisgetrieben ist und Leistung erbringt durch die Aussicht auf Bedürfnisbefriedigung? Wäre es so, dann hätten wir ein Bild vom Menschen, das dem pawlowschen Hund ähnlich wäre. „Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Es reicht dem Menschen nicht, um als Mensch zu leben, sich zu ernähren und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das Verlangen Im Bedürfnis nach etwas taucht das Verlangen nach jemandem auf. Das Bedürfnis des Menschen trägt das Zeichen des Geistes, des Verlangens nach etwas im Anderen, nach etwas, das er ist und ich nicht bin. Deshalb wird das Essen zur Kommunikation, das Geschäft zum Werk, die Begierde zur Liebe. Das Bedürfnis nach dem anderen Auto, Job, Auszeichnung, Erfolg ist beim Menschen immer auch Verlangen nach dem anderen Menschen.
106 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Nach dem Anderen verlangen, d. h. ihn zu wollen für das, was er ist und ich nicht bin. Es heißt, darauf zu verzichten, ihn zum Objekt meiner Bedürfnisse zu machen. Je größer mein Verlangen nach dem Anderen ist, um so größer ist die Freiheit, die ich ihm lasse. Da wird jemand zum Vorstandsvorsitzenden ernannt. Warum trifft ihn die Wahl? Nicht weil er alle Auswahlinstrumente überstanden und sich als der geeignetere erwiesen hat, sondern weil sein Vorgänger ihn erwählt, ihn gefördert, in ihn seine Hoffnung gesetzt hat. Seinetwegen. Viele Gespräche und Meetings sind von der Qualität der Bedürfnisbefriedigung wenig ergiebig, manchmal ärgerlich, selten neue Erkenntnisse auslösend. Die inzwischen vielfach verordneten Mitarbeitergespräche: Wie oft führen sie zu neuem Einsatz, besserem Verständnis und intensiverer Zusammenarbeit? Bedürfnis, das heißt festhalten an sterilen Abläufen und erstarrten Forderungen. Verlangen, das heißt erkennen, dass es dem Menschen möglich ist, nach dem Unmöglichen zu streben; das heißt zu ungewöhnlichen Ideen und Leistungen fähig zu sein durch Energien, die im Menschen des Verlangens aufbrechen. Röntgen war ein Mensch des Verlangens. Er hat seine Strahlen an seiner Hand ausprobiert und wusste um ihre fatale Wirkung. Es war ihm egal. Die Vorstellung, Krankheiten durch bessere Diagnosen heilen zu können, war ihm wichtiger, ohne Prämien und Tantiemen. Magellan kannte nur Hindernisse und Enttäuschungen, Intrigen und Heimtücke. Aber seine Idee, einen Weg um die Erde zu finden, war stärker als aller Verdruss.
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Unerbittlich suchte Schliemann sich selbst besser zu verstehen und Hass und Ängste in sich aufzuarbeiten, um schließlich einer alten Sehnsucht nachzugehen. Oskar Schindler, ein Versager, Selbstdarsteller und Profitgeier, setzt sich schonungslos einer Erfahrung aus, die ihn zwingt, seine bisherigen Interessen aufzugeben, seine Werte umzudeuten und sein Leben zu riskieren – für andere. Menschen des Verlangens, das hört sich anders an als das, was wir so an Wertvorstellungen hören: Gier ist gut; Neid macht reich; Geiz ist geil; Hass ist stark. Diese vier gehören in der mittelalterlichen Theologie zu den sieben Todsünden. Der Verzicht In der persönlichen Entwicklung führt der Weg vom Bedürfnis zum Verlangen durch die Wüste, über den Mangel und den Verzicht. Das vorsprachliche Kleinkind muss schreien und strampeln, um seine Bedürfnisse auszudrücken. Um sich besser erklären zu können, lernt es die Erwachsenensprache, die Sprache der Zeichen. Es lernt seine Bedürfnisse einem verbindlichen System, der Sprache, anzuvertrauen. Statt der Milch, der Sache, bekommt das Kind ein Wort, ein Symbol. Das Wort bezeichnet die Sache, ist sie aber nicht, das Symbol Milch bezeichnet Milch, ist sie aber nicht. Weil es ein Bedürfnis nach Milch hat, fügt sich das Kind in die Ordnung der Sprache ein, unterwirft sich ihren Gesetzmäßigkeiten und wendet ihre Regeln an. Es erfährt, dass die Sprache nur Ersatz ist und eben nicht die Erfüllung des Bedürfnisses bietet. Wegen dieser Lücke erfährt das Kind einen Mangel. Es geht durch die Wüste der Unerfülltheit. Aber diese Leere, dieser Verzicht auf unmittelbare Befriedigung bringt das Neue hervor, Symbole, Sprache, Technik, Kultur.
108 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Es hört sich altmodisch an, zu sagen, dass es ohne Verzicht, ohne Mangel und Leere nichts Neues mehr gibt, geniale Leistung nicht zustande kommt und noch nie zustande gekommen ist. Bedingungen zu schaffen, wo die Wüste nicht mehr erfahren wird, wo Bedürfnisse erfüllt sind, bedeutet, der Entwicklung ein Ende zu setzen. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Die Bewegung vom Bedürfnis zum Verlangen führt über den Verzicht. Der Mensch ist auf etwas anderes als nur auf Dinge ausgerichtet. Die Wüste und der Mangel sind es, die uns für anderes öffnen als für Dinge. Wir weigern uns manchmal, vom Bedürfnis zum Mangel zu gehen, indem wir uns an Dinge klammern. Der Mensch des Verlangens ist jener, für den das nicht befriedigte Bedürfnis und der Verzicht damit zusammenfallen, dass etwas Neues auftaucht, etwas anderes als Dinge. Von da an heißt, nach jemandem zu verlangen, ihn zu lieben, akzeptieren, dass seine Existenz in mir sichtbar macht, was mir fehlt um vollkommener zu sein, und wahrzunehmen, was in mir abwesend ist. Wenn ein Mensch im Stadium des Bedürfnisses hängen bleibt, dann vermeidet er, zu bitten, dann fühlt er sich nicht wohl in seiner Haut, dann nagt es an ihm, dann erschöpft er sich, dann verdaut und zerstört er alles, was ihm in die Hände fällt, zwischen die Zähne kommt. Wenn das Bedürfnis sich zum Verlangen wandelt, dann wird Essen zur Kommunikation. Nach jemandem verlangen, seinetwegen, ihn lieben, das ist dann, wenn wir nicht das Bedürfnis haben, ihn für uns zu brauchen, wenn es uns unmöglich ist, ihn auszunutzen. Das imaginäre Bedürfnis richtet sich nach dem Rhythmus der Verdauung. Wenn das Bedürfnis gestillt ist, dann ist auch der andere nicht mehr interessant. Aber der Mangel lässt sich nicht füllen, nicht durch die Aufeinanderfolge von Funktionen, Karriere, nicht durch Anhäufen von Objekten.
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Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, d. h. wie das, was dir in dir entgeht, was aber im anderen ist. Es geht also darum, lernend nach den anderen zu verlangen, nach Menschen und nach Dingen, für das, was sie sind, und nicht wegen dem Nutzen, den sie bieten. Darauf verzichten, Wissen anzuhäufen, wenn es ein Bedürfnis ist, zu kommunizieren; Karriere zu machen, wenn es ein Bedürfnis ist, zu gelten; Besitz anzuhäufen, wenn es ein Bedürfnis ist, den Mangel zu verschleiern. Für jeden besteht die Gefahr, sich in der Sackgasse der Befriedigung seiner Bedürfnisse einzuschließen.
Der Weg vom Bedürfnis zum Verlangen, vom anderen zum Anderen (nach Lacan): Im A entgeht mir immer etwas. Ich verstehe den Anderen nie ganz. Ich täusche mich in ihm immer wieder. Wie führt der Weg vom Bedürfnis zum Verlangen, vom anderen zum Anderen? Der Weg führt durch die Wüste des Verzichtes und über das Gesetz. Es ist die Instanz, welche die exklusive Beziehung zu zweit zwischen der Mutter und dem Kleinkind auflöst und verhindert, dass sich eine solche Beziehung der Bedürfnisbefriedigung fest
110 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild einrichtet. Dies geschieht dadurch, dass die Mutter gar nicht immer da sein kann, wenn das Kind es will, weil sie schließlich wieder eigenen Interessen nachgeht, wenn das Kind „aus dem Gröbsten“ raus ist. Gegen diese Leere wehrt sich das Kind zunächst durch Schreien und Strampeln. Schließlich lernt es, diese Leere zu füllen, indem es anfängt, selbst aktiv zu werden. Es beginnt zu spielen und zu sprechen. Aber ein Unterschied bleibt. Das Bedürfnis nach Milch wird nicht mehr unmittelbar gestillt. Es muss lernen, „Milch“ zu sagen und „bitte“ und „danke“, und erfährt, dass es erfolgreicher ist, ein Wort zu verwenden, statt zu schreien. Aber es bleibt, das Wort ist nicht die Sache. „Milch“ ist noch nicht die Milch. Im Alter von drei Jahren etwa stellt das Kind fest, dass die Mutter nicht allein für es da ist, sondern sich einem Dritten zuwendet, dem Vater. Es begreift, dass zwischen den Eltern eine besonders liebevolle Beziehung besteht. In Folge dazu entwickelt sich vom Kind zum Vater eine gewisse Rivalität. Sobald es aber versteht, dass dies chancenlos ist, löst es die enge Beziehung zur Mutter und wendet sich dem Vater zu. Es verzichtet auf die exklusive Nähe zur Mutter. Durch diesen Verzicht und die Identifikation mit dem Vater tritt es ein in die Kulturgemeinschaft, der auch seine Eltern angehören. Das Gesetz Es ist das Gesetz, das die Leere schafft und den Verzicht, um den Raum zu eröffnen, in welchem sich das Verlangen entwickelt. Das Verlangen befähigt zu Neuem, zum Lernen, zur größeren Freiheit. Das Gesetz zeigt die destruktiven Kräfte auf, die den Menschen antreiben, und zieht diesen gleichzeitig eine Grenze. Es heißt in dem Bericht der Bibel über die zehn Gebote: „Ich bin der Herr, dein Gott... Du sollst keinen anderen Gott gleich Mir haben!“
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Dieses Gesetz bedeutet, dass wir nicht in egoistischer Selbstbezogenheit verharren und uns einer Norm unterordnen sollen, die ihre Quelle nicht in uns selbst hat, und wir uns in unserer Selbsteinschätzung nicht aufblasen sollen. „Du sollst nicht töten.“ Dies bedeutet, dass wir das Leben anderer nicht beeinträchtigen sollen oder gar auf nichts reduzieren. Denn wenn wir den Anderen in seinem Anderssein, das sein Leben unserem gegenüber darstellt, beeinträchtigen, dann wird auch unser Leben reduziert. Dieses Gesetz zieht den destruktiven Tendenzen in uns Grenzen. Gleichzeitig macht es sie auch sichtbar, sonst bräuchte es ja das Gesetz nicht. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“. Dieses Gesetz geht davon aus, dass in uns ein blindes, triebhaftes Begehren ist, das den anderen zum Objekt unserer Begierde macht. Dieses Gesetz erlaubt Lusterfahrung dort, wo sie in einer Beziehung sprachlich-symbolhafter Kommunikation zu mehr wird, inniger, tiefer, hingabevoller. Dadurch wird diese Beziehung zum Eigentum der beiden Sprechenden. Außerhalb dieser Beziehung der beiden Sprechenden zueinander ist diese Dimension nicht erfahrbar. Im Alten Testament wird die Geschichte vom König Salomon erzählt, der wegen eines weisen Urteils verehrt wurde: „Damals kamen zwei Frauen zum König und traten vor ihn. Die eine Frau sprach: ‚Herr! Ich und diese Frau wohnen im gleichen Hause. Ich bekam ein Kind. Drei Tage später bekam diese Frau auch ein Kind. Wir waren beieinander und sonst war niemand bei uns im Hause; nur wir beide waren da. Da starb das Kind dieser Frau in der Nacht. Sie stand mitten in der Nacht auf, nahm mein Kind von meiner Seite, während ich schlief, und legte es in ihre Arme. Ihr totes Kind aber legte sie in meine Arme. Als ich aufwachte, um mein Kind zu stillen, siehe, da war es tot. Als ich es
112 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild am Morgen genau ansah, da war es gar nicht mein Sohn.’ Die andere Frau sprach: ‚Nein, mein Kind ist das lebende, und dein Kind ist das tote.’ Die erste Frau sprach: ‚Nein, dein Kind ist das tote, und mein Kind ist das lebende.’ So redeten sie vor dem König. Der König sprach: ‚Holt mir ein Schwert!’ Man brachte das Schwert. Nun sprach er: ‚Schneidet das lebende Kind entzwei und gebt dieser die eine Hälfte und jener die andere Hälfte.’ Da sprach die Frau, deren Kind das lebende war, zum König, denn sie liebte ihr Kind sehr: ‚Ach Herr, gebt ihr das lebende Kind, nur tötet es nicht!’ Die andere aber sprach: ‚Es sei weder mein noch dein, schneidet zu!’ Da entschied der König: ‚Gebt der ersten Frau das lebende Kind und tötet es nicht, sie ist die Mutter.’ (1. Könige 3. Kap. Vers 16-28) Diese Geschichte fasst wesentliche Gedanken zusammen von dem, was Lacan mit seinem Menschenbild meint. Die beiden Frauen leben im selben Haus zusammen. Die beiden Kinder dieser Frauen werden in ein Umfeld hineingeboren, das durch die Abwesenheit eines Dritten in der Beziehung Mutter-Kind gekennzeichnet ist. Wir vertreten hier nicht die Ansicht, dass eine Mutter ihr Kind nicht allein erziehen könnte, wohl aber dass die Anwesenheit eines Dritten erforderlich ist, wie z. B. der Vater in der Erinnerung der Mutter, der Großvater oder Onkel, ein Dritter in der Phantasie der Mutter. Diese Frauen leben allein im Haus. So wie niemand die Zeugung oder die Geburt bezeugen kann, so auch niemand den Tod des Kindes. Die Abwesenheit des Vaters, eines Dritten, ist offensichtlich, sodass es sich zwischen Mutter und Kind nur um eine imaginäre Beziehung handeln würde, wo das Kind Objekt der Befriedigung der Mutter wäre, die sich ein sichtbares Zeichen ihrer Mutterschaft wünscht, wo das Kind aber nur ein Objekt klein a ist, nicht als ein eigenständiges Subjekt anerkannt wird. Es hat die Funktion, die Frau als Mutter erscheinen zu lassen. Um das Kind selbst geht es nicht.
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Der Streit der beiden Frauen ist nicht lösbar. Sie können sich nicht einigen, aber wegen des Kindes auch nicht trennen, weil jede es als ihren Besitz betrachtet. In dieser Situation greift das Gesetz ein, in der Person des König Salomons, der selbst auch unter dem Gesetz steht. Er befiehlt das Kind zu töten. Der einen Frau ist dieses Urteil recht, es ist ihr ja nie um das Kind selbst gegangen. Die andere Frau verzichtet auf das Kind, will es der anderen Frau lassen, denn ihr geht es darum, dass das Kind lebt. In dem Augenblick, da sie bereit ist, den Verzicht zu leisten, durch die Wüste zu gehen und das Kind als eigenes, von ihr getrennt lebendes Wesen zu verstehen, als das große A zu respektieren, da erhält sie das Kind und wird zur wirklichen Mutter. Der Frau des Bedürfnisses mit ihrer destruktiven Gewalt kann nur die Sprache des Gesetzes Grenzen setzen und ihr über den Verzicht einen neuen Sinn geben. Bringen wir das Neue und Bessere in uns und bei anderen zum Leben oder lassen wir es sterben in der verkrampften Selbstbezogenheit und Eifersucht? Vom anderen zum Anderen Das Kleinkind sieht sich von früh an anderen Menschen gegenüber. Dieses Gegenüber unterscheidet Lacan in klein a und groß A. Der andere ist der, der mir ähnlich ist, meinesgleichen, ist der, den ich kenne, mein Nächster, den ich verstehe, der ist, wie ich bin. Aber dieses Gegenüber ist auch der Andere. Es ist das, was mir in der Nähe zum Anderen entgeht. A ist das, was außerhalb meiner Kenntnis von ihm liegt, was mir unbekannt bleibt, und wenn ich noch so viel von ihm weiß.
114 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Der Andere ist Träger einer unbegreiflichen und radikalen Andersheit. „Ich kann ohne dich nicht leben“, ist deshalb nicht Liebe, sondern eine Verwechslung. Den Anderen zu lieben heißt in ihm zu lieben, was er ist und was mir fehlt. Der Andere bleibt außerhalb meines Kenntnisbereiches. Ich kann ihn nicht in den Griff bekommen. Kein Audit, kein Assessment und kein Gutachten erlauben mir zu wissen, wie der andere ist. Wer diesen Anspruch erhebt, der ist ein Scharlatan. Am ehesten kann ich um den anderen wissen, wenn ich mich in einer persönlichen Beziehung zu ihm frage, was mir fehlt und ich in ihm suche, was es sein könnte, was mir in ihm unbekannt bleibt. Das dezentrierte Subjekt Nach Lacan gibt es im Menschen zwei Subjekte, das Moi und das Je, wie es die französische Sprache ermöglicht zu unterscheiden. Das Moi ist das herkömmliche Ich, das wir kennen, das, was wir von uns wissen, wenn wir von uns sprechen, wie wir uns bei einem Appraisal schildern. Es ist das auf sich selbst bezogene Ich. Es steht zu sich in einem Reflexionsverhältnis wie Narziss, der ins Wasser schaut und sich in sein Spiegelbild verliebt. Das Moi nimmt den anderen wahr, aber nicht als ein unabhängiges, selbstständiges Wesen, sondern als das andere seiner selbst. Aber Selbstgewissheit bringt dieses Ich nicht, denn seine Übereinstimmung beruht auf einer Illusion. Das andere Ich, das Je, ist unverfügbar und unzugänglich. Es ist das Subjekt, das als Bedingung bezeichnet wird für das Neue, das Unerwartete, die Grenzüberschreitungen.
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So kommt es, dass durch das geistige Leben des Menschen ein Riss geht, und wir uns immer wieder als gespalten erfahren. Es sind Kräfte in uns am Werk, die wir nicht endgültig in den Griff bekommen. Dies erinnert an die Geschichte, „Ein Landarzt“ von Franz Kafka: Ein Arzt wird in einer kalten Nacht zu einem unheilbar kranken Patienten gerufen. Er hat aber keine Pferde. Die brechen jedoch unversehens aus dem Schweinestall hervor. Es heißt dann: „Man weiß nie, was man im eigenen Haus vorrätig hat.“ (Kafka) Auch der sich selbst reflektierende Mensch, der fähig zur Metakommunikation ist, erfährt, dass seine Autonomie untergraben ist. Sein Ich ist ein dezentriertes Ich, nie endgültig bei sich selbst, immer wieder nicht authentisch, letztlich nicht erfassbar und nicht verfügbar. Selbsterkenntnis bedeutet daher immer auch eine Art, sich zu verkennen. Deshalb wirken Managementinstrumente wie Appraisal mit objektivem Anspruch vielfach nur an der Oberfläche. Sie erfassen nicht, dass in uns immer noch etwas anderes mit im Spiel ist. Liegt denn hinter Klassifizierungen in High Potentials, Performancerunden oder Förderkreise, hinter Assessments und 360Grad-Beurteilungen nicht die Absicht, menschliches Verhalten doch noch in den Griff zu bekommen? Es ist jedenfalls nur das Moi, das bewusste Subjekt, das an unseren Weiterbildungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen teilnimmt. Das Je, das wahre Subjekt, entzieht sich uns. Manchmal lässt es sich erahnen, wenn jemand zu einer anderen Firma wechselt und plötzlich Leistungen vollbringt, die ihm bis dahin niemand zugetraut hat. Manchmal taucht es auf, wenn jemand für ein schwieriges Problem ohne Ausweg bleibt und plötzlich die Lösung vor sich sieht.
116 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild Manchmal spürt man es, wenn man bei größter Anstrengung in einen Zustand gerät, wo dennoch alles leicht fällt. Flow. Vielleicht ist es die große Herausforderung an die Weiterbildung, dafür zu sorgen, dass im Unternehmen Bedingungen entstehen, die es fördern, dass die unbezähmbare Energie des Je öfter auftaucht. Was jedenfalls deutlich wird, ist, dass wir niemanden gegen seine Überzeugung, ohne seine Zustimmung und mit fehlender Einsicht zu einer Veränderung gewinnen können. Aber denken wir an all die Maßnahmen, an denen viele nur teilnehmen, weil es Pflichtveranstaltungen sind, weil sie Karrierepläne haben, weil es Mode ist, weil sie jemanden vertreten müssen oder aus anderen unternehmenspolitischen Überlegungen. Zusammenfassung Ausgehend von der grundsätzlichen Andersartigkeit des Menschen, verbunden mit dem Auftrag, verantwortlich zu sein für die Weiterführung der Evolution nach mehr Geist, gefährdet durch beschädigte Menschenbilder, begründet durch Erkenntnisse der Neurologie, vorbereitet durch Foucault und Luhmann, die den Menschen befreien aus dem Panoptikum und von der Last der Systeme, erkennen wir in dem anspruchsvollen Menschenbild von Lacan, beschrieben als dezentriertes Subjekt als Je, ein Feuer, das nicht erlischt, als Quelle von Energie, die nicht versiegt, unbezähmbar und unkontrollierbar und als Moi, lernend, sich anpassend, auf den anderen ausgerichtet, selbsterneuernd ein Bild vom Menschen, der durch die Wüste geht, den Verzicht kennt und bereit ist, den Anderen in seiner Würde, weil immer ganz anders, zu respektieren und zu lieben, mit dem Auftrag, eine neue Wirklichkeit zu erfinden.
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Was also ist das neue Menschenbild? Auf der Suche nach dem anderen Menschenbild haben wir einen Weg zurückgelegt, der uns an verschiedenen Stationen vorbei und jetzt zum Ziel geführt hat. Versuchen wir, das Ganze im Zusammenhang zu sehen. Die erste Station war die Neurologie. Sie zeigte uns die Basis, die neurologischen Voraussetzungen für die nahezu grenzenlosen Möglichkeiten menschlichen Lebens. Sie beschreibt den Menschen in seiner Einmaligkeit: „Kein Gehirn gleicht dem anderen“. Sein Gehirn ist in ständiger Veränderung begriffen und verfügt über eine Fülle von Verhaltensmöglichkeiten. Der Mensch ist autonom, selbstbestimmt und selbsterneuernd. Deshalb lernt er aus Einsicht und nicht aus Zwang. Das „innere Auge“ befähigt ihn, sich immer wieder auch selbst kritisch zu betrachten und sein Verhalten zu ändern. Die Spiegelzellen machen ihn einfühlend und mitempfindend. Über das Verständnis für andere Menschen lernt er auch sich selbst besser kennen. Er ist immer darauf aus, zu lernen. Hippocampus und Dopaminsystem sorgen für eine Motivation von innen. Gefühle müssen nicht verdrängt werden, sondern dienen dazu, mit Hilfe von Körperreaktionen, die sie auslösen, wie Schweiß, Zittern, Erbleichen, neue, komplexe oder gefährliche Situationen schneller und sicherer zu beurteilen und angepasster zu handeln. Unser Gehirn ist das Lernsystem par excellence; es ist das perfekteste System, das die Evolution hervorgebracht hat. Es bestimmt den Menschen in seiner Würde, weil es nahezu grenzenlos lernfähig ist. Wir haben bei der Neurologie nachgefragt und folgende Skizzen vom Menschen gefunden: Er sei einmalig und autonom, selbstkritisch und lernbegierig, einfühlsam und emotional und vor allem auf der Suche nach Sinn.
118 Wir suchen nach einem anderen Menschenbild An der zweiten Station informiert uns die Evolutionslehre darüber, dass seit etwa 250.000 Jahren die Evolution des Menschen sich ungewöhnlich beschleunigt hat und dass sich dieses Tempo durch Mutation und Selektion nicht mehr erklären lässt. Es ist die Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen, die ihn Symbole erwerben und gebrauchen lässt, was zu dieser tiefgreifenden Veränderung führt. Mit ihr befreit sich der Mensch von der Welt der Fakten und eröffnet sich einen Zugang zu der ganz neuen Welt der Symbole, des Geistes und seiner Freiheit. An der dritten Station zeichnen die Autoren der Moderne das Bild des Menschen als Leben im „stahlharten Gehäuse“, im „Panoptikum“, als „Auszug aus dem Paradies“ und als auf dem Weg „vom Statisten zum Regisseur“. Es ist ein düsteres Bild des Menschen in der modernen Gesellschaft: Der Verlust der sinnstiftenden Mitte liefert den Menschen dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus aus; er wird zum berechenbaren Menschen in der Disziplinierungs- und Überwachungsgesellschaft; als isolierter Einzelner ist er auch nicht mehr Herr in seinem eigenen Haus. Aber bei diesen düsteren Diagnosen bleibt ein Bereich von Freiheit, aus dem das Neue hervorgehen kann. Diesen Freiheitsspielraum gilt es zu nutzen, um vorgegebene Identitätsmuster kritisch zu überprüfen und zu verweigern, statt ein berechenbarer, ein denkwürdiger Mensch zu werden, durch Mäßigung und Selbstbeherrschung den Zwängen der Disziplinar-Gesellschaft zu entrinnen, mit Hilfe der Methoden aus der Philosophie der Lebenskunst „anders anders zu sein“. Die vierte Station ist die Psychoanalyse, die den Menschen der Moderne als dezentriertes Subjekt beschreibt: X
als Je, ein Feuer, das nicht erlischt, als Quelle von Energie, die nicht versiegt, unbezähmbar und nicht kontrollierbar;
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X X
als Moi, lernend, sich anpassend, auf den anderen ausgerichtet, selbsterneuernd; ein Bild vom Menschen, der durch die Wüste geht, den Verzicht kennt und bereit ist, den Anderen in seiner Würde, weil immer ganz anders, zu respektieren und zu lieben.
Diese Bilder sind eindrucksvoll genug, um uns an eine alte Beschreibung des Menschen zu erinnern, wo er mit seiner Gottähnlichkeit Königen gleich an der Gestaltung der Schöpfung mitwirken soll.
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4. Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein
Das andere Menschenbild muss in unserem alltäglichen Leben verankert sein, damit es seine Wirkung nicht verliert. Es braucht eine institutionelle Absicherung, damit wir immer wieder damit zu tun haben und uns mit ihm auseinandersetzen müssen. Eine solche institutionelle Absicherung kann das Lernende Unternehmen leisten, das auf den Überlegungen der neueren Systemtheorie beruht. Auch das Weiterbildungstagebuch, das alternative Assessmentcenter und die andere Weise, sich eine Meinung über andere Menschen zu bilden und Personal auszuwählen, dient dazu dem anderen Menschenbild einen institutionellen Rahmen zu schaffen, damit es sich nicht verflüchtigt. Ganz wichtig sind vor allem die Methoden, die dazu dienen, das andere Menschenbild für das eigene Leben nutzbar zu machen mit Hilfe der anderen Führungsinstrumente und den Methoden der Selbsterneuerung. In den letzten Jahren sind viele Managementmethoden an uns vorübergezogen, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen, obwohl der Aufwand an Zeit und Geld beträchtlich war, auch der Schaden, den manche angerichtet haben. Es ist schon eindrucksvoll zu sehen, welche enormen Erwartungen sich mit diesen Methoden verbinden, die dann doch immer wieder von Neuem enttäuschen. Es bestand eine große Übereinstimmung darin, ein Unternehmen als komplexes System zu verstehen, das über Hierarchie allein
122 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein nicht mehr geführt werden kann. Inzwischen wird wieder zentralisiert, was nur geht. Autoritäre Verhaltensmuster werden wieder salonfähig. Dies findet statt, obwohl einst gefeierte Topmanager des Jahres ihr Unternehmen verlassen müssen, nachdem sie gigantische Verluste angesammelt haben. Auch dies geschieht immer wieder von Neuem. Wie lässt sich dies erklären? Statt vorwiegend auf Methoden und Instrumente zu setzen, möchten wir uns auf das Menschenbild besinnen, das Instrumenten und Organisationsformen zugrunde liegt; statt uns vom Bild des desorientierten und reduzierten Menschen leiten zu lassen, möchten wir von dem „anderen Menschenbild“ ausgehen. Damit sich dieses in unserem Alltag und beruflichen Leben durchsetzt, braucht es Rituale, durch die es immer wieder bewusst und erfahrbar wird. Andernfalls bleibt es eine blasse Skizze. Einen großen Teil unserer Lebenszeit verbringen wir mit unserem Beruf und meistens in einem Unternehmen. Demnach wäre ein Unternehmen Ort und Gelegenheit, über Tradition und Ritualisierung dieses „andere Menschenbild“ aufzunehmen und zu verstärken. Ein Unternehmenskonzept, das dies in besonderer Weise leisten könnte, ist das „lernende Unternehmen“. Darunter ist ein Unternehmen zu verstehen, das auf der neueren Systemtheorie beruht, wie sie von Niklas Luhmann beschrieben worden ist. Er bezieht sich seinerseits auf die chilenischen Biologen Maturana und Varela, die lebende Systeme als selbststeuernd, selbstorganisierend und selbsterneuernd bezeichnet haben. Sie haben dafür den Begriff der Autopoiese geschaffen, den sie aus dem Griechischen hergeleitet haben und der direkt übersetzt „selbst machen“ heißt, aber selbstorganisierend, selbststeuernd, selbsterneuernd bedeutet. Was ist mit der neueren Systemtheorie gemeint?
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Die systemische Managementtheorie Über Systemtheorie nachzudenken ist deshalb wichtig, weil wir immer mit Systemen zu tun haben, sei es als Individuum, in der Familie, im Unternehmen oder in der Gesellschaft. Immer begegnen wir Systemen, sogar in uns selbst. Wir sprechen von einem Herz-Kreislauf-System, vom Immunsystem oder vom Nervensystem. Eine übliche Definition von System beginnt mit seinen Elementen, die so miteinander vernetzt sind, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Inzwischen ist es schwierig geworden zu erklären, was mit dem Ganzen gemeint ist und worin das Mehr besteht. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen Für Niklas Luhmann sind die Elemente eines sozialen Systems nicht mehr die Menschen, sondern die Kommunikationen. Dies heißt praktisch, dass ein Unternehmen nicht mehr durch die Menschen zustande kommt, die dort arbeiten, nicht durch Gebäude und Maschinen. Mitarbeiter kündigen und andere kommen, Gebäude werden abgerissen und neue gebaut, Maschinen werden verkauft und neue werden angeschafft. Das Unternehmen aber besteht weiter, denn es besteht aus dem, was dort besprochen wird, aus den Gesprächen, die dort geführt werden, wie entschieden wird, und welche Handlungen sich daraus ergeben. Kommunikation findet jedenfalls immer statt. Der Mensch oder die Mitarbeiter stehen am Rande des Systems. Sie sind davon befreit, die Last des Ganzen zu tragen. Dennoch geht es nicht ohne Personen, von denen die Kommunikationen ausgehen.
124 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Soziale Systeme konstruieren die Welt, in der sie leben Wir haben über unsere Sinnesorgane keinen Zugang zur unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit. Die Welt in der wir leben ist eine von unserem Gehirn konstruierte Welt. Allerdings ist das Gehirn in der Lage, eine Wirklichkeit so zu konstruieren, dass Anschlusshandlungen stattfinden, die es ermöglichen, das eigene Leben weiterzuführen. Nicht um objektive Wirklichkeitserkenntnis geht es dem Gehirn, sondern um Bedeutungszuschreibungen, die die Lebensfähigkeit sicherstellen. Bei dieser Wirklichkeitskonstruktion oder Bedeutungszuschreibung übernehmen wir die Rolle eines Beobachters mit seinem persönlichen Beobachtungsschema. Dabei übersehen wir immer etwas, weil wir nicht vieles gleichzeitig wahrnehmen können. So kommt es, dass jeder Beobachter und jedes zu beobachtende System einen blinden Fleck hat. Außerdem kann kein Beobachter beim Beobachten sich gleichzeitig selbst beobachten. Um den blinden Fleck zu überwinden, was ja für die Qualität von Entscheidungen wichtig ist, wird eine Beobachtung zweiter Ordnung erforderlich. In der Praxis handelt es sich um die Beobachtung von Beobachtung, um die Kommunikation über Kommunikation, um die kritische Reflexion von Entscheidungsprozessen. Aber auch dadurch lässt sich der blinde Fleck nicht auflösen, nur verkleinern. Durch Kommunikation und Metakommunikation entsteht schließlich ein Wissen um sich selbst, ein Bild von sich und seiner Welt, aber nie ein umfassendes. Soziale Systeme sind autopoietisch Nach Luhmann existieren Systeme in einer Umwelt, von der sie sich unterscheiden. Über die jeweilige Umwelt bilden wir uns immer eine Meinung: „Gefällt es mir hier oder nicht?“ Oder: „Ist dieses Unternehmen wirtschaftlich geführt oder nicht?“ Oder; „Passt dieser Bewerber zu uns oder nicht?“ Wir ziehen also eine Grenze zwischen uns und dem Umfeld, das uns umgibt. Wir legen
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eine Unterscheidung an das Umfeld an und geben ihm dadurch eine neue Bedeutung, indem wir z. B. sagen: „Nein, hier gefällt es mir nicht.“ Dies bedeutet, dass ein System sich zwar bestimmend in einem Umfeld befindet, welches aber auch seinerseits das System bestimmt. Aber wie das System auf diese Einflüsse reagiert, wie es sie verarbeitet, das kann nicht mehr durch das Umfeld bestimmt werden. So kommt es eindrucksvollerweise vor, dass viele Unternehmen einer Branche die fehlenden Aufträge beklagen, aber doch nicht alle. Einige können sich auch in einer solchen Zeit der Aufträge nicht erwehren. Wie ein System auf sein Umfeld reagiert, hängt vor allem von seinen internen Prozessen ab, von seinen Strukturen und seinen Möglichkeiten, Informationen zu verarbeiten, Entscheidungen zu treffen und in Handlungen umzusetzen. In seiner Reaktion auf Impulse aus seinem Umfeld ist ein System autonom. Es bestimmt selbst, wie und ob es auf Impulse antwortet. Dieser Gedanke führt Luhmann zu seiner Definition von sozialen Systemen als autopoietische Systeme. Wie schon erwähnt, haben Maturana und Varela festgestellt, dass Zellen Energie aufnehmen und nach ihren eigenen Regeln transformieren. Außerdem erzeugt eine Zelle ständig die Bestandteile, die sie zu ihrer Weiterexistenz benötigt. Das, was sie zur ihrer Erhaltung braucht, das stellt sie selbst her. Deshalb ist sie ein geschlossenes System. Eine Zelle oder ein lebendes System ist aber auch offen, insofern als sie/es mit ihrem/seinem Umfeld Energie austauscht. Diesen Austausch regelt sie aber selbst. Sie nimmt nur das auf, was sie zur ihrer Selbsterhaltung benötigt. (Mayer, 2003, S. 96) Unter Autopoiese verstehen wir also einen Prozess, durch den lebende Systeme sich selbst hervorbringen. Sie erzeugen die Bestandteile, aus denen sie bestehen, selbst. Sie bringen die eigene Organisation immer wieder selbst hervor.
126 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Aber lebende Systeme sind nicht völlig geschlossen und umweltunabhängig. Luhmann spricht von einer operationalen Geschlossenheit, d. h., dass sie offen sind für Informationen und Energiezufuhr von außen, aber dennoch bestimmt nicht die Umwelt über sie, sondern sie selbst bestimmen über das, was sie an Impulsen von außen intern verarbeiten. Es ist wie in der Erziehung. Ein Kind ist offen für Informationen aus seinem erzieherischen Umfeld wie Familie, Freunde, Schule. Wie es sie verarbeitet, darin ist es autonom. Durch Zwang und Strafen unterwirft es sich, aber diese könnten seine autopoietischen Prozesse beeinträchtigen. Ziel der Erziehung ist es allerdings, diese selbststeuernden und autonomen Vorgänge im Kind zu stärken, statt sie zu gefährden. Lebende Systeme stehen mit ihrer Umwelt in einer existenzsichernden Beziehung. Luhmann nennt die Art dieser Beziehung strukturelle Koppelung. Sie bedeutet, dass das System selbst bestimmt, welche Umweltereignisse systemintern von Bedeutung sind und welche ignoriert werden. Dadurch sichert das System seine Autonomie, weil es verhindert, durch zu viele Umwelteinflüsse in Alarmzustand versetzt zu werden oder durch Dauerirritationen überflutet zu werden. Soziale Systeme erfordern eine neue Art der Führung Die Steuerung sozialer Systeme ist nicht möglich wie bei einer Trivialmaschine, bei der bei einem bestimmten Input auch der beabsichtigte Output erfolgt, und zwar so, dass der Input den Output verursacht. Diese Denkweise setzt voraus, dass es möglich ist, über diese Maschine ein vollständiges Wissen zu erwerben, und dass deshalb Steuerung kein Problem ist. Lebende Systeme unterliegen einem solchen Modell nicht. Sie sind, wie schon beschrieben, autopoietisch geschlossen, was heißt, sie können von außen nicht gesteuert werden. Steuerung muss also von innen heraus geschehen. Wenn von außen versucht wird, ein
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solches System zu beeinflussen, dann gibt es selbst die Regeln vor, nach denen es sich steuern lässt. Wie die Einflussnahme sich auswirkt, hängt davon ab, ob sie die Regeln respektiert und nicht zu sehr von ihnen abweicht oder ob sie die Regeln missversteht und nur Widerstand auslöst. Das Eigenleben des Systems führt dazu, dass es sich bei demselben Input zu unterschiedlichen Zeiten nicht immer gleich verhält. Jedes soziale System „spielt seine eigene Melodie und kann nur seine eigene Musik hören“ (Willke, 1992, S. 36 ff.), sodass es bei der Führung von Unternehmen um die Kunst geht, „in einem grundsätzlich nicht beherrschbaren Feld kalkulierbare Wirkungen zu erzielen“ (Willke, 1992, S. 39 in: Mayer, 2002, S. 98). Deshalb empfiehlt Karl Popper im Umgang mit komplexen Systemen gleichsam als Stückwerksingenieur vorzugehen, der Veränderungen in kleinen Schritten vornimmt, um ihre Auswirkungen rechtzeitig erkennen zu können. Wenn soziale Systeme durch Kommunikation zustande kommen, dann ist es Aufgabe der Führung, Kommunikation zu ermöglichen und zu gestalten. Es geht dann nicht um die Suche nach Fehlern und Abweichungen vom gewünschten Zustand oder um die Suche nach dem Schuldigen. Führung muss vor allem das System beobachten, es verstehen und die Reaktionen des Systems als Rückmeldungen aufnehmen, um anschließend Handlungen zu planen. Weil aber jeder Beobachter eine eigene Brille und einen blinden Fleck hat und seinen Denkmustern zum Opfer fallen kann, deshalb sind Selbstbeobachtung und kritische Selbstreflexion so entscheidend. Sie sind ein Verstehensprozess, bei dem Rückkoppelungen verarbeitet und beobachtete Phänomene verständlicher werden. Aufgabe der Führung ist es, Möglichkeiten der Selbstreflexion bereitzustellen. Solche Möglichkeiten sind Klausurtagungen, gemeinsame Projektarbeit, Mitarbeitergespräche.
128 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Wenn Systeme aus Personen bestehen, dann sind Mängel immer Mängel von Personen, und konsequenterweise werden nicht Strukturen verändert, sondern Führungskräfte ausgewählt oder entwickelt. Wenn Systeme aus Kommunikationen und Entscheidungen bestehen, dann richtet sich die Aufmerksamkeit der Führung auf Kommunikationsmuster und Entscheidungsstrukturen. Der Austausch von Personen hilft dann nicht weiter. Die Maßnahmen richten sich an diese Strukturen und Prozesse, an Beziehungen in den Abteilungen und in den Teams und zwischen ihnen. Sie richten sich an Beziehungen der Beziehungen. Führung besteht dann darin, Möglichkeiten bereit zu stellen, die Qualität dieser Beziehungen zu reflektieren und über Metakommunikation nach weiteren Verbesserungen zu suchen. Die Beziehungen eines Systems mit seiner Umwelt sind abhängig von den Regeln, die das System sich selbst gegeben hat, nach denen es intern funktioniert. Diese interne Struktur gibt vor, wie ein System von der Umwelt angesprochen werden möchte, welche Impulse von außen es aufgreift und welche nicht. Führung besteht darin, die Rahmenbedingungen zu schaffen für Selbststeuerung und Selbstorganisation. Sie besteht aus Kontextsteuerung, d. h., sie versucht bei der Erfüllung ihrer Aufgaben auch anderen ein geeignetes Umfeld zu sein. Und sie besteht aus der Fähigkeit, auf kurzfristige Vorteile verzichten zu können zugunsten langfristiger Erfolge und aus der Fähigkeit, eher lösungsorientiert statt problemorientiert zu sein. Führung bemüht sich um grundsätzliche Entscheidungen, die es erleichtern, konkretere Entscheidungen zu treffen. Sie fördert das Bemühen, durch Reflexionen ein gemeinsames Bild der Außenwelt zu erarbeiten und Schlüsse zu ziehen auf ein gemeinsames Bild einer künftigen Außenwelt.
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Zusammenfassung Die neuere Systemtheorie verdeutlicht:
die Bedeutung von Kommunikation, durch die soziale Systeme erst zustande kommen. Von der Qualität dieser Kommunikation hängt ihre Lebensfähigkeit ab. Auch Unternehmen bestehen aus Kommunikationen. Wenn aus diesen Kommunikationen qualifizierte Entscheidungen hervorgehen, dann sichern sie den Bestand des Unternehmens für die Zukunft;
dass soziale Systeme keinen Zugang zur objektiven Wirklichkeit haben, dass wir die Welt, in der wir leben, konstruieren, und dass diese Konstruktion von den internen Vorgängen abhängig ist, die auch die Reaktion des Systems nach außen bestimmen. Dies erklärt, warum jedes System nur „seine eigene Melodie singt“;
die Autonomie sozialer Systeme, die nach außen offen sind für Information und Energiezufuhr, aber geschlossen für die Art und Weise, wie sie sie verarbeiten. Darin sind sie autonom;
dass soziale Systeme autopoietische Systeme sind, also selbstorganisierend, selbststeuernd, selbsterneuernd, von außen nicht zu beeinflussen, es sei denn dadurch, dass Einsicht entsteht;
dass Einsicht eher aufkommt durch „strukturelle Koppelung“, also dadurch, dass die Kommunikation mit anderen Systemen anschlussfähig ist, d. h. an Bekanntem anknüpft und mit etwas Neuem verbindet;
dass jedes System auch einen blinden Fleck hat, der sich nur über Metareflexion verkleinern lässt, was zu systeminternen Lernprozessen führt;
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dass soziale Systeme wegen ihrer Autonomie schwer zu beeinflussen sind, und es nie sicher ist, wie sie Impulse von außen intern verarbeiten. Deshalb ist es besser, Veränderungen in kleinen Schritten vorzunehmen, weil sie eher kontrollierbar und korrigierbar sind. Den Betreiber von Veränderungen nennt Popper deshalb einen Stückwerksingenieur;
dass Führung vor allem als Kontextsteuerung zu verstehen ist. Sie schafft die Bedingungen für Kommunikation, fördert autopoietische Prozesse und ermöglicht kritische Metakommunikation.
Gibt es Übereinstimmung von dem anderen Menschenbild mit der neueren Systemtheorie? Systeme bestehen aus Kommunikationen. Über das Gespräch mit der Mutter tritt das Kind in die sprachliche Welt seines kulturellen Umfeldes ein und begegnet in der Grammatik einem ersten Gesetz, an dem es sich orientieren kann. Die Kommunikation löst diese Entwicklung aus. Der Mensch steht nicht mehr im Zentrum der Systeme. Er selbst gehört mehreren Systemen an. Er ist ein dezentriertes Subjekt, erziehbar und angepasst, gleichzeitig unfassbar und jenseits von Kontrolle. Der Mensch ist mit einem einmaligen Gehirn begabt, es gibt kein zweites dieser Art. Durch die Interaktion von Genetik, Umfeld und Phantasie ist jeder Mensch einzigartig. Über die Fähigkeit zur Metakommunikation sind Systeme lernfähig. Der Weg von klein a zu groß A, vom Bedürfnis zum Verlangen, ist eine Lernleistung ungewöhnlicher Art.
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Das lernende Unternehmen in der Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft Wir haben nach dem Menschenbild gefragt, das uns beeinflusst, um Fehlleistungen zu erklären, die wir nicht verstehen können. Dabei sind wir zahlreichen Ausprägungen reduzierter Menschenbilder begegnet. Wir haben gesehen, dass die Neurologie Hinweise auf das ursprünglichere Menschenbild sendet. Dieses finden wir in eindrucksvoller Weise in der Theorie von Jacques Lacan dargelegt. Sein Bild vom Menschen wird gerade in der modernen Neurologie und durch die neuere Systemtheorie bestätigt. Dieses Menschenbild gilt es im gewöhnlichen Alltag zu verankern, über Tradition und Rituale abzusichern. Unternehmen sind solche Orte, an denen dieses Menschenbild verankert werden kann, wo Traditionen entstehen und Rituale, die sie vertiefen. Allerdings können diese nicht mehr aus Wiederholungen von Bildern vergangener Zeiten bestehen, denn vieles ist anders geworden. Wir leben heute in einer Weltgesellschaft. Dies klingt zwar inzwischen banal, ist aber doch ganz neu. Wir haben weltweit miteinander zu tun, sind aufeinander angewiesen. Wenn ein Unternehmen in Südkorea Zahlungsschwierigkeiten bekommt, dann muss ein anderes in Pliezhausen Kurzarbeit anmelden. Wir schauen weltweit die gleichen Filme an, singen die gleichen Lieder, und fast jeder kennt Harry Potter. Die neuesten Ereignisse erfahren wir fast gleichzeitig. Diese Weltgesellschaft unterscheidet sich von bisherigen Gesellschaften dadurch, dass sie kein Machtzentrum besitzt, das bei Streitfällen über genügend Macht verfügt, um den Streit zu beenden. Sie verfügt nicht über eine verbindende Idee, die bei Entscheidungen als Orientierung dienen könnte.
132 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Es heißt, dass es gegenwärtig an die vierzig kriegerische Auseinandersetzungen weltweit gibt. Mit militärischer Macht, trotz gewaltiger Überlegenheit, lassen sie sich nicht mehr lösen. Beispiele sind Irak, Palästina, Afghanistan und Tschetschenien. Nicht mal Demokratie oder Menschenrechte bilden eine verbindende Idee. China versteht die Menschenrechte anders. Südostasiatische Staaten lehnen das westliche Demokratieverständnis als dekadent ab. Für die Weltgesellschaft brauchen wir aber etwas Verbindendes, auf das sich alle beziehen können. Dies kann jedoch nicht mehr etwas Normatives sein, das von Grundannahmen ausgeht, sich in Normen und Regeln äußert und mit Wahrheitsanspruch auftritt. Sie werden in einer sich schnell ändernden Welt zum Lernhindernis, denn sie bestehen darauf, dass bei einem Konflikt zwischen Norm und Wirklichkeit auf jeden Fall die Norm unverändert bleibt. Kognitiv bedeutet, dass in einem Konfliktfall mit der Wirklichkeit die Norm überprüft, weitergedacht und gegebenenfalls geändert wird. Lernen oder nicht lernen, das ist der Unterschied. Wir leben also in einer Weltgesellschaft, in der bisherige Leitideen wie Macht, Geld oder Ideologien nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen, wo es aber in zunehmender Weise darum geht, sich an die sich beschleunigenden Veränderungen anzupassen. Dazu ist Wissen erforderlich. Weltweit wird in Forschung investiert, in Gentechnik, in Kernforschung und Eroberung des Weltraumes. Ständig finden wissenschaftliche Kongresse statt. In kürzester Zeit steht neues Wissen überall fast gleichzeitig zur Verfügung. Es wird ausgetauscht, verdichtet und für neue Fragen genutzt. Daraus folgt, dass wir heute in einer Weltgesellschaft leben, die im Begriff ist, sich als Wissensgesellschaft zu konstituieren mit Lernen als neuer Leitidee. Für Unternehmen bedeutet dies, wenn sie in dieser Weltgesellschaft erfolgreich tätig sein wollen, dass sie selbst „anschlussfähig“ sein müssen. Wenn es in der Weltgesellschaft die Leitidee „Lernen“ gibt, dann müssen Unternehmen dieses Prinzip „Lernen“ auch in der eigenen Organisation institutionalisieren.
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Ein solches Unternehmen nennen wir Lernunternehmen. Es müsste der neueren Systemtheorie entsprechen, das „andere Menschenbild“ darstellen und eine kognitive Unternehmensphilosophie beinhalten, die eine Tradition begründet, sowie Methoden, die das Ganze mit Ritualen verstärken. Was ist mit einem lernenden Unternehmen genauer gemeint? Es ist ein Unternehmen, das mit Hilfe von Prozessen funktioniert, wie wir sie für autopoietische Systeme beschrieben haben. Es besteht außerdem aus vier Dimensionen: der Organisation, der Unternehmensphilosophie, der Praxis und den Menschen, die in ihm tätig sind. Diese Dimensionen sollen sich gegenseitig unterstützen und verstärken. Sie sind über Metakommunikation miteinander verbunden. Die Organisation des lernenden Unternehmens Hierarchie und laterale Vernetzung Die Organisation des lernenden Unternehmens ist dem Aufbau des menschlichen Gehirns, dem Lernsystem par excellence, nachgebaut. Es besteht aus Hierarchie und lateraler Vernetzung. Auch im Gehirn gibt es eine Art hierarchischen Aufbaus, aber vor allem gibt es laterale Vernetzungen. Im Unternehmen gibt es die hierarchische Führung und laterale Vernetzungen in Form von Taskforces, Projektgruppen und bereichs- und fachübergreifenden Tagungen. Zwischen Führung und lateraler Vernetzung sollte ein kreatives Spannungsverhältnis herrschen, in dem Sinne, dass weder Hierarchie noch laterale Vernetzungen allein oder gegen den anderen entscheiden, sondern dass aus der gemeinsamen Diskussion etwas Neues entsteht, sodass aus einer vielleicht kontroversen Diskussion beide etwas lernen. Autonomie und Integration Das menschliche Gehirn verbindet beides, Autonomie und Integration. In ihm gibt es genau abgegrenzte Bereiche, die für ganz be-
134 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein stimmte Funktionen zuständig sind, z. B. das Sprachzentrum. Wahrnehmungen von außen oder von innen werden dort in Sprechen umgewandelt. Es ist hochgradig spezialisiert, und dennoch können andere Bereiche seine Funktion übernehmen, wenn es durch eine Verletzung zerstört wird. Benachbarte Bereiche übernehmen seine Funktion, sodass der Patient schließlich wieder sprechen kann. Dies ist möglich, weil im Gehirn ständig Abstimmungsprozesse ablaufen, Tag und Nacht. Im Unternehmen gibt es ebenfalls die Aufteilung nach Funktionen, die über die nötige Kompetenz verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Was zu Reibungsverlusten führt, das ist die ungenaue Abstimmung untereinander, das unzureichende Wissen umeinander und die sachfremden Bestrebungen, zu dominieren, sich mit Methoden durchzusetzen, die das Licht des Tages scheuen, sowie Willkürentscheidungen, die aus ganz irrationalen Quellen stammen. In Unternehmen ist eher die Autonomie der Bereiche oder der Tochtergesellschaften gegeben. Oft ist die Energie, die aufgewendet wird, um die Subsysteme zu integrieren, zu schwach, sodass diese feinen Abstimmungsprozesse fehlen, die die Integration bewirken. Ohne Konvergenzzentrum Im Gehirn gibt es keine zentrale Stelle, bei welcher alle Informationen zusammenfließen und die letztlich die Entscheidungen trifft. Die Neurologen haben dieses sogenannte Konvergenzzentrum bisher nicht gefunden. Ohne eine übergeordnete zentrale Führungsinstanz funktionieren die Bereiche dezentral und autonom. Die Feinabstimmung untereinander ermöglicht es ihnen aber, eher zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dies ist nicht selbstlos, sondern erwächst aus der Erfahrung, dass das Handeln im Sinne des Ganzen eher das Überleben sichert. Auf Unternehmen übertragen bedeutet dies, dass die Unternehmensführung eben auch eine Funktion unter anderen ist, dass sie nicht über das Wissen um das Ganze verfügt, dass die besondere
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Leistung, die sie zu erbringen hat, darin besteht, die autonomen Subsysteme, Bereiche, Gesellschaften, zusammenzuführen, dass sie mehr umeinander wissen und eher voneinander lernen, dass sie im Spannungsfeld der eigenen regionalen oder funktionalen Interessen und des Ganzen, eher zum Wohl und im Sinne des Ganzen handeln. Unser Gehirn hat das Anliegen, unser Überleben zu sichern und dies mit einem gewissen Wohlbefinden zu versehen. Diese Leistung erbringt das Gehirn dadurch, dass seine Funktionen autonom und dezentral agieren und dennoch in das Ganze integriert sind und zu seinem Wohl und in seinem Sinne handeln. Anderen ein geeignetes Umfeld sein Ein weiteres Prinzip lenkt sie dabei, nämlich, bei dem Streben danach, die eigenen Ziele zu erreichen und seine Aufgaben zu erfüllen, auch den anderen, mit denen sie zu tun haben, ein geeignetes Umfeld zu sein. Demnach reicht es nicht, sich im eigenen Aufgabenbereich zu qualifizieren, es gehört ebenso dazu, sich zu bemühen, dass auch die anderen erfolgreich handeln können. Äußerungen wie „das ist nicht mein Bier“, oder „das sind die Grenzen meiner Zuständigkeit“, oder die Unterscheidung von Hol- und Bringschuld, oder „dies steht aber nicht in meinen Zielvereinbarungen“, wären demnach nicht im Sinne dieses Prinzips. „Zusätzlich zur Erfüllung meiner Aufgaben, will ich bestrebt sein, dazu beizutragen, dass auch die anderen ihre Aufgaben erfüllen können.“ In diesem Prinzip finden wir die Voraussetzungen für Vorgänge der Selbstorganisation und der Selbststeuerung. Eine Idee vom Ganzen Unser Gehirn entwickelt eine Idee vom Ganzen, entwirft eine Vorstellung, die dazu führt, dass der Einzelne sich mit sich selbst identisch fühlt í und dies über die Zeit seines Lebens hinweg, trotz aller Veränderungen, die sich bei ihm vollziehen. Diese Vorstellungen von sich selbst, die manche im Rahmen ihrer Biographie
136 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein ausdrücken, sind Werte, die im bisherigen Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Um solche Wertvorstellungen zu entwickeln, gibt es im menschlichen Gehirn eine eigene Instanz, nämlich den frontalen Kortex. Der frontale Kortex ist dafür zuständig, aus Impulsen, die ihm von innen oder außen zugeleitet werden, Repräsentationen auszubilden, aus ihnen Regeln zu abstrahieren und Werte abzuleiten. Jede einzelne Bewertung von Impulsen hinterlässt im Frontalhirn Spuren, umso stärker, je häufiger sie auftreten. Dies führt schließlich zum Aufbau langfristiger innerer Repräsentationen von Bewertungen und einem verinnerlichten Wertesystem, vor allem wenn über die Repräsentationen selbst auch reflektiert wird. Diese Wertesysteme dienen dazu, immer komplexere Situationen zu beurteilen und Entscheidungen rascher und zielsicherer zu treffen. Außerdem helfen sie, Entscheidungen aus der Erfahrung heraus zu treffen und nicht in Abhängigkeit von Lust und Unlust oder modischen Einflüssen von außen. Auch Unternehmen verarbeiten Impulse von außen und von innen zu Repräsentationen, zu „shared mental models“. Aus ihnen abstrahieren sie Regeln und leiten Werte daraus ab. Sie führen zu einer „Idee des Ganzen“ des Unternehmens. Es sind Ideen und Werte der Einzelnen, die einfließen und diese geistige Welt im Unternehmen hervorbringen. Diese wiederum wirkt auf die Wertvorstellungen der Einzelnen zurück. Die „Idee vom Ganzen“ des Unternehmens beeinflusst Verhalten, Entscheidungen und Handeln. Sie eröffnet Möglichkeiten und Chancen oder zieht Grenzen und macht blind. Selbstthematisierung Das zentrale Geschehen im lernenden Unternehmen besteht aber aus der „Selbstthematisierung als kritische Bestandsaufnahme des eigenen Zustandes und Quelle der Selbsterneuerung“.
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Das menschliche Gehirn ist in der Lage, das eigene Denken zum Thema des eigenen Denkens zu machen. Es kann sich selbst thematisieren, über sich selbst kritisch nachdenken. Aus dieser Metareflexion oder kritischen Selbstreflexion geht Selbsterneuerung hervor. Durch diese Qualität des menschlichen Gehirns in Form von Metareflexion kommt etwas ganz Neues in die Welt: Maschinen und Technik, Handwerk und Kunst, Gedichte und Literatur. Obwohl diese neue Errungenschaft des Menschen die Erde grundlegend verändert hat, wird sie in Unternehmen wenig genutzt. Bei Krisen oder enttäuschenden Erfahrungen suchen viele Menschen die Lösung eher in Medikamenten statt in Metareflexion, in Hektik statt in Meditation oder assoziativem Denken. Durch Metareflexion findet aber Selbsterneuerung statt. Auch in Unternehmen, wo viele Meetings abgehalten werden, wird die Tagesordnung mit Themen angehäuft, die aus Informationen oder anderen Präsentationen bestehen. Selten geht es um gemeinsame kritische Reflexion, um die Frage nach Verbesserungsmöglichkeiten in der Zusammenarbeit, in der Organisation, bei strategischen Themen. Noch seltener ergibt sich eine offene Diskussion mit gemeinsamer kritischer Reflexion. Schade, denn ein grundlegender Prozess der Selbsterneuerung wird zu wenig genutzt. Die Philosophie des lernenden Unternehmens Die Philosophie des lernenden Unternehmens sollte aus Ideen bestehen, die ein geistiges Klima schaffen, welches Lernen erstrebenswert macht, wo das Verlangen nach neuen Lösungen groß wird. Die Philosophie des Kritischen Rationalismus ist eine solche Philosophie. Sie geht davon aus, dass niemand im Besitz der Wahrheit ist, dass wir uns der Wahrheit annähern können durch Kommuni-
138 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein kation mit anderen. Ohne sie würden wir vom Weg zur Wahrheit abweichen. Der Wahrheit näher zu kommen, dies geht nur, wo es möglich ist, Fehler einzugestehen, um aus ihnen zu lernen, wo Kritikfähigkeit gefragt ist, weil kritische Rückmeldungen eine unersetzliche Gelegenheit zum Lernen bedeuten, und wo es vor allem darum geht, die bessere Lösung zu suchen. Die Praxis des lernenden Unternehmens Die Praxis des lernenden Unternehmens besteht aus Methoden und Instrumenten, die so beschaffen sind, dass mit ihrer Hilfe ständige Verbesserungen im Unternehmen stattfinden. Die wichtigste davon ist die Kommunikation miteinander. Durch sie kommt das Unternehmen zustande. Wenn sie gelingt, dann gelingt die Zusammenarbeit, wenn sie leicht fällt, dann hat das Unternehmen viel Energie frei nach außen, zum Markt, für Kunden. Dazu gehört die Kompetenz, mit Konflikten konstruktiv umzugehen, Teams und Besprechungen so zu führen, dass Entscheidungen zustande kommen. All die anderen Methoden, die dazu anregen, zu reflektieren, zu verbessern und weiterzulernen, gehören hier her. Die Gefahr, dass sie verflachen, ist geringer, weil sie in einen geistigen Zusammenhang eingebettet sind. Hierher gehört auch die unablässige Suche nach der jeweils besseren Praxis.
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Politische und gesellschaftliche Veränderungen
Meta-
Menschenbild
re-
Lernunternehmen fle-
Technische Entwicklungen
Weltmarkt, Kunden, Wettbewerb
Organisation
Philosophie
xion
Praxis
Kulturelle Strömungen
Das lernende Unternehmen mit seinen vier Dimensionen, die sich gegenseitig verstärken
Die Menschen in einem lernendem Unternehmen Welche Menschen braucht das lernende Unternehmen? Ausgehend von der These, dass wir in einer Weltgesellschaft leben und dass diese Weltgesellschaft sich zunehmend als Wissensgesellschaft herausbildet mit Lernen als neuer Leitidee, fragen wir danach, wie die Menschen sein müssen, die aus einem Unternehmen ein im hohen Maße lernfähiges System schaffen können. Klar ist, dass sie selbst ausgesprochen lernfähig sein müssen und deshalb nicht mehr ihre Energie darauf verwenden müssen, ihre internen Probleme zu bewältigen; sie sollten nicht unter die Rubrik der beschädigten Persönlichkeiten fallen, keinesfalls aber „Konformisten ohne Eigenwillen“ darstellen.
140 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Einmalig Ausgehend von unseren bisherigen Überlegungen beziehen wir uns wieder auf die Neurologie, die jedes Gehirn als einmalig beschreibt. Mit jeder neuen Erfahrung verändern sich neuronale Strukturen, und sie tun dies auf ganz individuelle Weise. Jedes Gehirn ist anders. Wie schon beschrieben befindet sich am Anfang seines Lebens das Neugeborene in einem Zustand völliger Hilflosigkeit, aus der es sich rettet, indem es anfängt zu phantasieren. In seiner Phantasiewelt sieht es sich, seine Mutter und sein weiteres Umfeld in Interaktion. Was es einmalig macht, ist die Art und Weise, wie es sich selbst wählt. Weil dies ein geistiger Vorgang ist, ist jeder Mensch anders, auch der geklonte, denn dieser konstituiert sich als Mensch ebenfalls durch diese Urphantasie. Ein lernendes Unternehmen benötigt Menschen, die aufgrund ihrer Vielfalt miteinander lernen und ungewöhnliche Leistungen erbringen können. Autonom Die Neurologie beschreibt unser Gehirn als ein System, das vorwiegend mit inneren Zuständen zu tun hat. Seine Kontakte zur Außenwelt sind erstaunlich schwach. Dadurch ist es den Impulsen aus der Außenwelt wenig ausgesetzt, muss nicht auf sie reagieren, kann sie intern verarbeiten, ihnen eine eigene Bedeutung verleihen. Dies heißt , dass wir die Welt konstruieren, in der wir leben, in der wir uns mit einem Freiheitsspielraum bewegen und für die wir Verantwortung tragen. Das lernende Unternehmen braucht Menschen, die die Voraussetzungen mitbringen, zu gestalten und zu verändern, freie Menschen, die Verantwortung übernehmen. Diesen Weg zu Freiheit und Verantwortung können sie nur gehen, wenn sie auch den Weg vom Bedürfnis zum Verlangen auf sich nehmen, der allerdings durch die Wüste des Verzichtes führt.
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Lernfähig Das Gehirn verfügt über ein System, das aus Amygdala, Thalamus, dem Hippocampus und dem präfrontalen Kortex besteht, das es befähigt, ständig aus neuen Erfahrungen für künftige Situationen zu lernen. Es wird durch das Dopaminsystem verstärkt, das aus neuen und interessanten Erfahrungen lernen will. Hier liegen die Quellen der Suche nach besseren Lösungen, ja, der Suche nach einer besseren Welt. Es ist die zweite Steigerungsform, die kein Ende findet, so wie das Verlangen keine Erfüllung erfährt. Das lernende Unternehmen lebt von dieser Dynamik. Einfühlsam Die Spiegelzellen sorgen dafür, dass wir uns in den anderen hineinversetzen können, uns vorstellen können, was in ihm vorgeht, und mit ihm empfinden. Wir haben an anderer Stelle festgestellt, dass der Weg zum Menschsein nur über den Menschen führt. Wir haben es als existenzielle Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen bezeichnet. In der entschlossenen Zuwendung des Menschen zum anderen Menschen sieht Lévinas das Wesen des Menschen. Als Sackgasse der Entwicklung sieht er die Selbstbezogenheit und Beschäftigung mit sich selbst, weil er meint, dass dies als Grundeinstellung zu den Katastrophen der Menschheit geführt hat. Die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn als Wesen mit Bewusstsein zu erfahren, löst Denken aus und ermöglicht Lernen. Nach Sinn suchen Ausgehend von den Split-Brain-Patienten, dem Phänomen der Konfabulation und dem inneren Interpretator schließen wir auf das dem Gehirn innewohnenden Verlangen nach Sinn.
142 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Dieses Verlangen nach Sinn greift Teilhard de Chardin auf mit seiner These von der sich entfaltenden Evolution, die vom Materiellen über das Lebendige zum Geistigen führt. Dort erkennt sie sich im menschlichen Großhirn wieder. Ihre Weiterführung nach mehr Geist ist von da an in die Hände menschlicher Verantwortung gelegt. An dieser Weiterführung mitzuwirken, bringt Sinn in menschliches Leben. Da dies nicht ohne Lernen gelingt, ist hier der Zusammenhang mit dem lernenden Unternehmen gegeben, mit Menschen, die die Verantwortung für die Weiterführung der Evolution spüren, das heißt: mehr Geist, mehr Gerechtigkeit, bessere Lösungen, schnelleren technischen Fortschritt, bessere Zusammenarbeit, Frieden, letztlich mehr Liebe. Einmalig und autonom, selbstkritisch und lernfähig, einfühlsam und emotional, getrieben von der Suche nach Sinn – Menschen, die aus einem Unternehmen ein lernendes machen. Zusammenfassung Um Ideen und Ideale über Generationen weiterzugeben, müssen sie eine Tradition ausbilden, Rituale entwickeln und Rückhalt in einer Organisation finden. Tradition ist nichts anderes als eine Nachricht, die entlang einer Generationenfolge weitergegeben wird (Assmann, 2000, S. 15). Diese Nachricht besteht aus einem bestimmten Wissen, das in konkreten Formen vermittelt wird und schließlich zu Gewohnheiten und zu Ritualen führt, deren Ursprung mit der Zeit nicht mehr bewusst ist. In unserem Fall soll das Wissen über „das andere Menschenbild“ aus Neurologie, Evolution und Psychoanalyse mit Hilfe einer generationenübergreifenden Tradition gefestigt werden, vor allem auch durch Rituale, die sich dazu ausbilden. Wir halten es für wichtig, dieses andere Menschenbild zu erhalten, weil sich andernfalls die Bilder von den beschädigten
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Persönlichkeiten wieder durchsetzen, deren Auswirkungen wir schon beschrieben haben. Es ist auch wichtig, dieses „andere Menschenbild“ zu verbreiten, weil es in der Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft gebraucht wird. Es definiert den Menschen als in hohem Maße lernfähig und veränderungsbereit. Die These vom lernenden Unternehmen verbindet die Idee von der Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft mit Lernen als Leitidee mit der Idee des anderen Menschenbildes insofern, als die Weltgesellschaft von den Unternehmen fordert, sich als Lernsystem zu konstituieren, was nur möglich ist mit Menschen, die sich selbst in hohem Maße als lernfähig verstehen. Die Idee des lernenden Unternehmens könnte eine Tradition begründen, die dem anderen Menschenbild Dauer verleiht, weil es Werte vermittelt, die dazu geeignet sind, und über Rituale verfügt, an denen diese Werte sichtbar werden.
Wie das andere Menschenbild institutionell abgesichert werden kann Das andere Menschenbild entspricht der neueren Systemtheorie und verwandelt ein Unternehmen in ein lernendes System. Damit es aber nicht unverbindlich bleibt oder sich verflüchtigt, muss es institutionell abgesichert werden. Die neuere Systemtheorie begründet das lernende Unternehmen Weil wir heute immer mehr umeinander wissen, weil wir immer mehr miteinander zu tun haben und weil wir immer mehr von einander abhängig sind, deshalb sieht Niklas Luhmann (1975) eine
144 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Weltgesellschaft entstehen, die künftig das Umfeld bilden soll, in dem ein Unternehmen erfolgreich tätig sein muss, wenn es seinen Bestand sichern will. Diese Weltgesellschaft kann weder durch eine zentrale Macht noch durch eine gemeinsame verbindliche Idee gesteuert werden, weil es dafür keinen Konsens mehr gibt und weil dies Imperialismus im repressiven Sinn bedeuten würde. Was aber verbindende Idee in einer Weltgesellschaft bilden könnte, das ist das gemeinsame Lernen, von einander und für einander. Dies ist ohnehin unerlässlich angesichts der zunehmenden Probleme, die uns alle betreffen, wie Klimawandel, Seuchen und Weltbevölkerung. Die Organisationsform wäre ein „kooperatives Imperium“ wie es Posener (2007) beschreibt. Unternehmen, die sich in dieser Weltgesellschaft behaupten wollen, müssen selber in hohem Maße lernfähig sein. Dazu müssen sie sich eine Organisation schaffen, die Lernprozesse fördert. Die neuere Systemtheorie beschreibt soziale Systeme als solche, dass sie nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen bestehen, die Entscheidungen produzieren, das heißt, lernen können. Systeme und lernendes Unternehmen Ein Unternehmen als lernendes System benötigt offene Kommunikation, kritische Rückmeldungen, möglichst wenig Tabuthemen, durchlässige Hierarchien. Wenn die Kommunikation blockiert ist, dann bedeutet dies Schwachstellen im System, Krankheitsherde, Stellen, wo nicht mehr gelernt werden kann. Die neuere Systemtheorie definiert soziale Systeme, die lernfähig sein sollen, als autopoietische Systeme, das heißt selbststeuernd, selbstorganisierend, selbsterneuernd. Auf das Unternehmen übertragen heißt dies, dass bei Maßnahmen von außen nicht vorausgesehen werden kann, was sie im Unter-
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nehmen schließlich auslösen. Der Verkauf einer Tochterfirma kann zunächst als sehr trickreich angesehen werden. Angesichts der späteren Folgen wirkt er dann eher stümperhaft. Auch ein Unternehmen erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, selbst. Es bringt die Organisation, aus der es besteht, immer wieder hervor und erneuert sie. Bei einer von außen auferlegten neuen Organisation ist davon auszugehen, dass die Widerstandskräfte massiv sind. Die Philosophie ist die des kritischen Rationalismus und des Konstruktivismus. Es ist der Abschied von der Annahme, über die Wirklichkeit objektive Aussagen machen zu können. So gibt ein Unternehmen sich selbst die Regeln, nach denen es Informationen von außen intern verarbeitet und welche es einfach ignoriert. Ein Unternehmen schafft sich selbst ein inneres Bild der Außenwelt. Die Schwenninger Uhrenfabrikanten waren der Überzeugung, dass sich die Quarzuhren nie durchsetzen werden. Heute gibt es keine Schwenninger Uhrenfabrikanten mehr. Ein lernendes Unternehmen zu führen bedeutet: dafür sorgen, dass gut kommuniziert wird, sich darum bemühen, das System zu verstehen, zu erkennen, welche Prozesse ablaufen, die zu Entscheidungen führen. Reaktionen und Störungen als Rückmeldungen aus dem Unternehmen betrachten, um daraus zu lernen; bei Veränderungen in kleinen Schritten vorzugehen, weil die unerwünschten Nebenwirkungen korrigierbar bleiben; vor allem aber dafür zu sorgen, dass Raum für Metareflexionen ist, bei denen das Unternehmen sich selber kritisch zur Sprache bringt und Gelegenheit zu kritischer Selbstreflexion schaffen. Es sind ja diese Methoden, die den blinden Fleck verkleinern und der Selbsterneuerung dienen. Das lernende Unternehmen vermittelt Werte Analog zum menschlichen Gehirn besteht die Organisation des lernenden Unternehmens aus Hierarchie und lateraler Vernetzung.
146 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Sie verbindet Autonomie und Integration; sie betont die Idee, im Sinne des Ganzen zu handeln; sie verlangt die Bereitschaft, anderen ein geeignetes Umfeld zu sein und in kritischer Selbstreflexion den Weg der Selbsterneuerung zu sehen. Diese Strukturelemente enthalten Werte wie Lernen, d. h., das Zusammenwirken der Menschen in der Weltgesellschaft soll zunehmend durch die Leitidee Lernen geprägt sein. Oder die Autonomie des Einzelnen und von Subsystemen soll respektiert werden, gleichzeitig wird aber ihre Integrationsbereitschaft in das Ganze gefordert. Mit einer gewissen Selbstlosigkeit soll jeder nicht nur die eigenen Ziele verfolgen, sondern dazu beitragen, dass auch die anderen ihre Aufgaben erfüllen können. Wissend um eingeschränkte Wahrnehmung und blinden Fleck soll jeder bereit sein, sich selbst immer wieder kritisch zu überprüfen, statt narzisstischer Selbstbezogenheit zu verfallen. Auch die Philosophie des lernenden Unternehmens vermittelt grundlegende Werte: X X X
Niemand ist im Besitz der Wahrheit – Bescheidenheit. Durch Kommunikation mit anderen können wir uns der Wahrheit annähern – die Angewiesenheit auf den anderen. Die Suche nach der besseren Lösung – die Bereitschaft, auf die großen Entwürfe, deren Auswirkungen nicht abzusehen sind, zu verzichten –, der Mut, das Erreichte immer wieder in Frage zu stellen.
Diese Werte passen deshalb in die Weltgesellschaft, weil sie sich an alle Menschen richten und für alle Menschen akzeptierbar sind, weil sie über inhaltliche Anforderungen keinen Zwang ausüben und nur zum Lernen auffordern. Gerade weil sie nicht auf Inhalte verpflichten, sondern nur einen Prozess beschreiben, nämlich Lernen, deshalb können sie eine Tradition begründen, die kulturübergreifend und generationenüberdauernd gilt.
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Eine Tradition benötigt Rituale Welche Rituale sind geeignet, die beschriebenen Werte in einer Weise darzustellen, dass sie eine Tradition bilden, und verfügt das lernende Unternehmen über diese Werte? Als Rituale geeignet sind alle Veranstaltungen, die nicht nur Informationen vermitteln wollen, sei es über lange Reden oder über ein „Foliengewitter“, sondern die zu Metakommunikation einladen oder zur kritischen Selbstreflexion anregen. Dazu gehören Mitarbeitergespräche und Zielvereinbarungen, wenn es sich tatsächlich um Vereinbarungen handelt. Geeignete Rituale sind auch alle Arten von lateraler Vernetzung, bei denen sich auf verschiedene Weise Mitarbeiter in den Unternehmensprozess einbeziehen und gemeinsam mit der Hierarchie nach besseren Lösungen suchen. Formen dazu sind die Methoden kontinuierlicher Verbesserungsprozesse (KVP, ISO und andere), Projektgruppen, vorausgesetzt, dass sie kritische Rückmeldungen in ihre Zusammenarbeit einbauen. Auch Führungskräfte-, und Strategietagungen können geeignete Rituale sein, unter der Bedingung, dass sie Werte vermitteln, Traditionen begründen, indem sie die Rituale von Metakommunikation und Selbstreflexion praktizieren. Coaching kann als Ritual angesehen werden, wenn der Coach sich weder als Lehrer noch als Erzieher sieht, sondern als jemand, der seinem Gesprächspartner als Gelegenheit dient, seinen Blick auf etwas zu richten, das er bisher so nicht gesehen hat, das er bisher so nicht verstanden hat, das bisher ein blinder Fleck war. Die Idee des lernenden Unternehmens ist demnach geeignet, eine Tradition zu begründen, die dieses „andere Menschenbild“ weitergeben kann, weil ein solches Unternehmen auf Grund seiner Lernfähigkeit, seiner Philosophie und seiner Kultur eher Generationen überdauern kann, weil es als selbsterneuerndes und selbststeuerndes System von Menschen ausgeht, die als autonome, einmalige
148 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein und auf andere ausgerichtete Wesen das Wissen um das andere Menschenbild weitergeben können. Besondere Rituale können das Weiterbildungstagebuch, das Seminar „Menschenkenntnis, Personalauswahl und Mitarbeiterförderung“ darstellen, ebenso wie Übungen zur Selbsterneuerung. Das Weiterbildungstagebuch Eine Tradition besteht aus einer Nachricht, die über Generationen weitergegeben wird. Sie benötigt dazu Rituale, die diese Nachricht im Bewusstsein halten, indem sie immer wieder auf sie hinweisen. Die Nachricht bei unserem Thema, die über eine zu begründende Tradition weitergegeben werden soll, ist das „andere Menschenbild“. Dies kann über die generationenübergreifende Institution des lernenden Unternehmens geschehen. Eines der Rituale könnte das Weiterbildungstagebuch darstellen. Es ist dann ein Ritual, wenn es praktiziert wird, weil es ein implizites Wissen mit einer konkreten Handlung verbindet. Das implizite Wissen, das mit dem Weiterbildungstagebuch weitergegeben wird, besteht eben aus dem „anderen Menschenbild“. Damit ist eine Vorstellung vom Menschen gemeint, die ihn als autonom und lernfähig behandelt, als einmalig, als selbsterneuernd, als bestrebt, anderen ein geeignetes Umfeld zu sein, und als auf der Suche nach Sinn. Die konkrete Handlung besteht aus dem Tagebuch, das jeder Mitarbeiter anlegen kann, das er in den Zusammenhang mit der Unternehmensstrategie stellt, wo er Maßnahmen plant und solche Ergebnisse festhält, die seiner Selbsterneuerung dienen. Selbstbeobachtungen bilden die Basis des Weiterbildungstagebuches (WBT). Sie werden erarbeitet in Auseinandersetzungen des Einzelnen mit seinem Umfeld, seinen Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern und mit den Leistungen, die von ihm in seiner jeweiligen Tätigkeit erwartet werden.
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Dies geschieht mit Hilfe der Methoden kritischer Selbstreflexion und gemeinsamer Metareflexion. Sie erfordern Offenheit, Kritikfähigkeit und soziale Verantwortung. Verwendung finden außerdem Methoden der Selbsteinschätzung, deren subjektiver Aspekt unbestritten ist, die aber als Diskussionsgrundlage dem Vergleich von Selbst- und Fremdbild dienen. Fremdbeurteilungen durch Assessmentcenter und psychologische Gutachten beurteilen wir kritisch. Sie beruhen meist auf einem Menschenbild, das zu wenig von Respekt und Diskretion geprägt ist. Sie beziehen sich auf die Eigenschaftstheorie, die längst den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verloren hat. Angesichts der Vielfalt menschlicher Persönlichkeit muss der Versuch, sie messbar und kategorisierbar zu machen, notwendigerweise scheitern. Insofern ist eine subjektive Vorgehensweise die objektivere. Das Weiterbildungstagebuch (WBT) beginnt mit der Vision und der Strategie des Unternehmens. Die grundlegenden Texte werden in einem Notizbuch an den Anfang gestellt. Dies gilt ebenfalls für die Führungsleitlinien und die Texte zur Unternehmenskultur. – Bestandsaufnahme – Es folgt die Bestandsaufnahme des Mitarbeiters. Sie enthält den Lebenslauf, die Zeugnisse und Beurteilungen, seine Teilnahme an Projekten und an Weiterbildungsmaßnahmen. – Biographischer Werdegang – Den nächsten Schritt bildet die Besinnung auf diese Daten, Zeugnisse, Beurteilungen, Lebenslauf. Der Mitarbeiter versucht aus dieser Reflexion einen biographischen Werdegang zu verfassen.
150 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Er schildert diesen Werdegang und die kritischen Phasen, denen er begegnet ist. Welche Entscheidungen hat er getroffen? Welche Misserfolge hat er erlebt? Was hat ihn weitergebracht? Welches sind jetzt die Ziele und Wünsche, die Vorstellungen und Erwartungen, die ihn bewegen? Zukunft Die Bestandsaufnahme wird nun mit Visionen, Zielen und Strategien des Unternehmens verglichen, mit seinen Leitlinien und seiner Kultur. Dann fragt sich der Mitarbeiter, welchen Beitrag er bringen kann, mit seinen Kompetenzen und seinen Erfahrungen, auf Grund seines Werdeganges und den Erwartungen des Unternehmens. Der Blick in die Zukunft besteht aus dem Vergleich der Situation des Unternehmens und dem Werdegang des Mitarbeiters. Die Synthese von beidem wird konkretisiert durch Zielvereinbarungen und Mitarbeitergespräche, die der Einzelne mit seinem Vorgesetzten führt. Maßnahmen Aus dem Werdegang, den Unternehmenszielen und den Gesprächen mit dem jeweiligen Vorgesetzten werden Maßnahmen vereinbart, die auch mit der Personalabteilung abgestimmt werden. Solche Maßnahmen bestehen darin, dass der Mitarbeiter sich verpflichtet, bestimmte Bücher zu lesen oder Seminare zu besuchen, an Tagungen und Konferenzen teilzunehmen oder auch sich für Coaching-Gespräche zu entscheiden. Die Teilnahme an Assessmentcenter, Appraisal und Audit wird hier aus erwähnten Gründen nicht empfohlen. Diesen Methoden mangelt es bekanntermaßen an Diskretion und Respekt. Sie treten mit einem Anspruch an Wissenschaftlichkeit auf, den sie nicht einlösen. Im Übrigen ist „ihre Treffsicherheit“ erwiesenermaßen nicht größer als die bei einem gut geführten Einstellungs- oder Beurteilungsgespräch.
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Tests Um aber mehr Klarheit über sich selbst zu gewinnen, empfehlen wir drei Persönlichkeitstests: das Genogramm, das Enneagramm und den Gießen-Test. Bei diesen Tests liegen Auswertung und Interpretation in Händen der Testperson. Das Geheimwissen eines Experten ist nicht gefragt. Diese Testverfahren sind ganz subjektiv, und darin liegt ihre Objektivität. Projektarbeit Eine Maßnahme ist auch die Teilnahme an Projekten, die für das Unternehmen von Bedeutung sind. Entscheidend ist dabei, dass die Projektarbeit immer wieder durch eine kritische Bestandsaufnahme unterbrochen wird, die versucht, auf folgende Fragen zu antworten: X X X
Was ist erfolgreich an unserer Zusammenarbeit? Was sollten wir verbessern? Woran sollte jeder an sich arbeiten?
Jede dieser Maßnahmen wird in dem Weiterbildungstagebuch festgehalten und nach ihrer Durchführung kritisch überprüft: X X X
Was habe ich erkannt? Was hat mich besonders angesprochen? Was will ich ändern?
Kritische Selbstreflexion Die wichtigste Maßnahme ist die kritische Selbstreflexion. Sie besteht darin, dass der Mitarbeiter von Zeit zu Zeit innehält, um sich selbst kritisch zu befragen. X X X X
Bin ich anderen ein geeignetes Umfeld? Handle ich autonom und im Sinne des Ganzen? Bin ich bereit zur kritischen Selbstreflexion? Verhalte ich mich so, als sei ich im Besitz der Wahrheit oder geht es mir um die bessere Lösung?
152 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein X X
X X
X X X
Gelingt es mir, neue Perspektiven aufzuzeigen und neue Möglichkeiten zu erfinden? Sehe ich meine Aufgabe darin, an der weiteren „Vergeistigung der Welt“ mitzuwirken als Auftrag zur Weiterführung der Evolution? Wie steht es um meine Fähigkeit, durch Kommunikation andere Menschen für Veränderungen zu gewinnen? Gelingt es mir, mit Gruppen so zu arbeiten, dass Entscheidungen getroffen werden, bei denen Interessengegensätze überwunden und konsensorientiert gehandelt werden kann, und die das Unternehmen voran bringen? Wie sehe ich meine eigene Selbsterneuerungsfähigkeit? Welche Methoden der Selbsterneuerung wende ich persönlich an und welche Erfahrungen mache ich damit? Wie unterscheide ich mich von anderen?
Das Weiterbildungstagebuch dokumentiert einen Prozess, der sich lebenslang weiterführen lässt, vor allem wenn sich immer wieder neue Ziele und neue Aufgaben ergeben. Inhaltliche Schwerpunkte X Fachliche, inhaltliche, wissensmäßige Themen X Verhaltensmäßige Themen, die sich auf Führung und Zusammenarbeit beziehen wie Kommunikation, Team- und Projektarbeit, Konfliktbewältigung, Entscheidungsfindung X Unternehmensphilosophische Themen wie das tiefere Verständnis der Philosophie des Unternehmens, ihr Zusammenhang mit den Grundtendenzen der zeitgenössischen Philosophie, ihr Verhältnis zur Gesellschaftslehre und zu gesellschaftspolitischen Strömungen X Beschäftigung mit der eigenen Kultur und den Kulturen, in denen das Unternehmen tätig ist, mit deren Geschichte, Kultur und Religion, sowie mit der jeweiligen geopolitischen Situation X die Hauptwerke der deutschen Literatur (Reich-Ranitzki), die Pflichtlektüre sein sollten
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Methoden der Vermittlung X Selbststudium und kritische Selbstreflexion X Kommunikation X Führungswerkstätten X Projektgruppen X Seminare X Meditative Übungen als Methoden der Selbsterneuerung, die tiefe Schichten der Persönlichkeit ansprechen, um den persönlichen Verhaltensspielraum zu erweitern Das Weiterbildungstagebuch überträgt die Verantwortung für seine künftige Entwicklung dem Mitarbeiter. Darin ist er autonom. Die Maßnahmen kann er auf seine persönliche Situation hin auswählen und anpassen. Darin ist er „einmalig“. Er entscheidet darüber im Gespräch mit seinen Vorgesetzten und bezogen auf die Unternehmensziele. Darin ist er bestrebt, den anderen im Unternehmen ein geeignetes Umfeld zu sein. Er meidet „charismatische“ Seminarleiter und entmündigende Methoden; er entscheidet sich für Maßnahmen, die seine Selbsterneuerungsprozesse fördern. Damit handelt es sich beim Weiterbildungstagebuch (WBT) um ein Ritual, das sich in die Tradition einfügt, die das „andere Menschenbild“ weitergeben möchte. Auch ein Seminar, das sich mit dem Thema „Menschenkenntnis“ beschäftigt und sich an alle Führungskräfte mit Personalverantwortung wendet, könnte sich als Ritual in diese Tradition mit dem „anderen Menschenbild“ integrieren.
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Das alternative Assessmentcenter Der Kritik am Assessmentcenter wollen wir eine Alternative folgen lassen und eine andere Vorgehensweise vorschlagen. Sie sollte eher dem „anderen Menschenbild“ entsprechen. Dies bedeutet vor allem die Einsicht, dass wir nicht wissen können, wie der andere ist, welche Eigenschaften er hat, welches sein Verhalten in der Zukunft sein wird. Am ehesten können wir aber etwas über ihn erfahren, wenn wir ihn in Interaktion mit uns selbst erleben. Dies erfordert allerdings ein Wissen um sich selbst, das vor allem über kritische Rückmeldungen zustandekommt und eine gewisse Kritikfähigkeit voraussetzt. Vorbereitende Veranstaltung Daran können Beurteiler und zu Beurteilende teilnehmen. Hier werden Hinweise gegeben auf Themen, die bei einer Führungsaufgabe wichtig sind. Sie bestehen aus kurzen Referaten und kleinen Übungen. Solche Themen sind: X
Wie bilde ich mir ein Urteil über andere Menschen? Auf welche typischen Beurteilungsfehler gilt es zu achten? Wie führt man ein Bewerbungs- oder Vorstellungsgespräch?
X
Wie kann ich interessant und gewinnend vortragen? Welches sind die Regeln für überzeugendes Argumentieren?
X
Welche Methoden der Entscheidungsfindung gibt es und wie sind sie anzuwenden?
Das alternative Assessment findet einige Wochen nach der vorbereitenden Veranstaltung statt, um den Teilnehmern Gelegenheit zu bieten, sich mit Hinweisen von damals näher zu beschäftigen. Das Prinzip beruht darauf, dass die Beobachter sich ebenfalls an den Aktivitäten beteiligen, statt nur passiv dabei zu sein.
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Erste Übung Ein Beobachter wendet sich mit der Schilderung eines Problems der Zusammenarbeit an seinen Vorgesetzten. Es kommt zu einem Problemlösungsgespräch. Anschließend findet ein Feedbackgespräch statt, an dem sich alle beteiligen können. Die Kriterien sind: X X
Gesprächsergebnis – was war zu tun? Gesprächsverlauf, Gesprächshaltungen – was gilt es zu verbessern?
Diese Übung kann an wechselnden Beispielen mehrfach durchgeführt werden. Zweite Übung Ein Teilnehmer bewirbt sich bei einem Beurteiler in der Rolle des Vorgesetzten um eine ausgeschriebene Stelle. In dem Bewerbungsgespräch wird die fachliche Qualifikation als gegeben vorausgesetzt. In dem anschließenden Feedbackgespräch gelten wieder die oben angeführten Kriterien. Dritte Übung Mehrere Teilnehmer und auch Beobachter schildern aus ihrem persönlichen Erleben ein denkwürdiges Ereignis. Diese Beiträge werden dann anhand folgender Kriterien reflektiert: Kontakt mit den Hörern, Sprache und Satzbau, Vortragstechnik. Vierte Übung Ein Teilnehmer hält einen Kurzvortrag, mit dem Ziel, seine Zuhörer für ein Thema zu gewinnen. Anschließend muss er sich einer kritischen Diskussion stellen und versuchen, inhaltliche Einwände und emotionale Vorbehalte abzubauen. Das Feedbackgespräch überprüft, ob die Überzeugungsarbeit gelungen ist. Warum oder warum nicht? Was gilt es zu verbessern?
156 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Fünfte Übung Beobachter schildern eine Entscheidungssituation, wobei sie sich Rat suchend an die Teilnehmer wenden mit der Frage: Wie sollen wir jetzt weiter vorgehen? Die Feedbackrunde fragt danach, wie die Entscheidung zustande gekommen ist oder woran sie gescheitert ist. Kriterien sind das Rollenverständnis der Teilnehmer: beziehungsbezogen, inhaltsbezogen, dysfunktional. Sechste Übung Ein Beobachter trägt eine strategische Fragestellung aus dem Unternehmen vor und diskutiert mit den Teilnehmern eine mögliche Vorgehensweise. Die anderen beobachten dabei Diskussionsverhalten, Argumentationsfähigkeit und Rollenverhalten. Die Feedbackrunde fragt: X X X
Was hat die Diskussion vorangebracht? Was hat sie erschwert? Was hat gestört?
Ergeben sich aus diesen strategischen Überlegungen Projektthemen, die die Teilnehmer nach dieser Veranstaltung aufgreifen könnten, um dabei die erhaltenen kritischen Hinweise weiter zu bearbeiten? Siebte Übung Sie besteht in der Erarbeitung von Fremdbild und Selbstbild und ihrer gemeinsamen Diskussion. Hier gilt es zu lernen, so zu kritisieren, dass der andere die kritischen Hinweise gern aufnimmt, und bereit zu sein, sich kritisieren zu lassen und daraus zu lernen. Jeder schildert, welche Erkenntnisse er bei der Veranstaltung gewonnen hat und woran er weiter an sich arbeiten möchte. Dies kann von den anderen ergänzt werden.
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Beobachter und Teilnehmer sprechen darüber, welche drei Teilnehmer ihrer Meinung nach schon jetzt für besondere Aufgaben und höhere Führungsaufgaben in Frage kämen. Die Veranstaltung endet mit der Frage, wie es weitergeht, nach der persönlichen Weiterarbeit, Seminarbesuch, Coaching, Supervision, Projektarbeit mit Feedback, Wiederholungstreffen.
Menschenkenntnis Vorgesetzte, zu deren Aufgaben es gehört, Mitarbeiter auszuwählen, sie zu beurteilen und zu fördern, sollten diese Verantwortung nicht an andere abgeben, sondern selbst Experten werden, mit einem hohen Maß an Menschenkenntnis. Menschenkenntnis meint aber nicht, dass jemand „objektive“ Aussagen mit „über 90 Prozent Trefferquote“ über andere Menschen liefern kann. Wir haben gesehen, dass dies erkenntnistheoretisch nicht möglich ist. Es ist allerdings unvermeidlich, dass wir uns Meinungen bilden über andere Menschen, dass wir uns Bilder machen und über andere urteilen. Diese Meinungen sollten aber möglichst zuverlässig sein, weil davon viel abhängt, privat und im Beruf. Menschenkenntnis bedeutet Selbsterkenntnis. Je größer die Selbsterkenntnis ist, je mehr jemand Erfahrungen mit sich selbst macht und um die Vorgänge in seinem Inneren weiß, seine Vorlieben, seine Vorurteile und seine Beurteilungskriterien kennt und an seinem blinden Fleck arbeitet, desto weniger ist seine Meinung, die er sich von einem anderen bildet, durch seine persönliche Problematik deformiert. Der andere ist dann nicht mehr so sehr Projektionsfläche eigener verdrängter Erfahrungen, sondern kann eher als derjenige beurteilt werden, der er ist, wenngleich uns der Zugang zu dem, was den anderen ausmacht, für immer unzugänglich bleibt.
158 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Dennoch gibt es einen Weg zum Anderen. Wir haben ihn als den Weg von a zu A bezeichnet, vom Bedürfnis zum Verlangen, der durch die Wüste des Selbstverzichts führt, heraus aus der Selbstbezogenheit. Wir haben es „anschlussfähig sein“ genannt, das heißt, dass ich herausfinden will, wie der andere denkt, wie er argumentiert, um was es ihm geht, wo seine Interessen liegen und seine Ängste, welche Beweggründe hinter seinen Argumenten liegen. Anschlussfähig sein heißt, dass ich jetzt nur mal verstehen will, was mir der andere mitzuteilen vorhat, ohne dass ich schon darüber urteilen, dagegen argumentieren, es kritisieren oder abwerten möchte. Diesen fast selbstlosen Weg zum Anderen zu gehen, sich besser in ihn hineindenken zu können, ist leichter, je mehr jemand Klarheit gewinnt über sich selbst. Methoden dazu sind das Genogramm, das Enneagramm und der Gießen-Test. Das Genogramm Es besteht darin, dass die Testperson über mehrere Generationen hinweg die Geschichte ihrer Familie mit bestimmten Zeichen graphisch darstellt und darin Verhaltensmuster erkennt, die aus frühen Zeiten stammen und ihr Leben bis auf den heutigen Tag beeinflussen (Roedel, 1992). Das Enneagramm Die Testperson wählt aus der Beschreibung von neun Basistypen einen aus. Dieser Basistypus wird dann mit mehreren anderen Beschreibungen nach einer bestimmten Methode in Verbindung gesetzt, sodass es zu immer weiteren Ausdifferenzierungen kommt. Dabei will das Enneagramm mit seinen Aussagen nur zur Selbstreflexion und zu der Frage anregen: Was hat diese Testaussage mit mir zu tun? Worüber will ich nachdenken? Welche Arbeit kann ich an mir selbst leisten?
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Das Enneagramm fördert Menschenkenntnis. Auf Grund der Aussagen über einen selbst und der Anleitung zur Meinungsbildung über andere, verdeutlicht es auch, welche Verhaltensmuster die Kommunikation mit dem anderen erleichtern oder erschweren (Rohr u.a., Das Enneagramm, 2001). Auch das Enneagramm erhebt nicht den Anspruch, aufzeigen zu können, wie Menschen sind. Aber es stellt Begriffe zur Verfügung, die es erlauben, Meinungsbilder zu argumentieren, sodass sie aus dem Bereich des „Bauchgefühls“ herausgenommen und kritisierbar werden. – Die Transaktionsanalyse – Eine weitere Hilfe, um Selbsterkenntnis mit Menschenkenntnis zu verbinden, ist die Beschäftigung mit verschiedenen Persönlichkeitstheorien. Es gibt die Persönlichkeitstheorie der Transaktionsanalyse, die die menschliche Persönlichkeit in Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kindheits-Ich einteilt. Die Ausprägung der jeweiligen Ich-Instanzen spiegelt Verhalten, Entscheidungen und Handlungsweisen des Einzelnen. Der Gießen-Test Er beruht auf der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie und ist deshalb von der Testperson nicht leicht zu interpretieren. Aber alle angeführten Tests haben gemeinsam, dass sie ganz subjektiv sind, dass sie zwar Einführung und Erläuterung durch einen Experten benötigen, dass aber die Testperson sie selber durchführen, auswerten und interpretieren kann und das „Geheimwissen“ eines Psychologen nicht erforderlich ist (Beckmann u. a., 1979). Ein weiterer Weg zu mehr Selbsterkenntnis besteht in der Beschäftigung mit der psychoanalytischen Charakterlehre, wie sie von Friedrich Seibt beschrieben wird (Seibt, 1977, S. 34 ff.). Er schildert die verschiedenen Charakterstrukturen und teilt sie ein in schizoide, depressive, zwangsneurotische und hysterische. Die Beschäftigung damit führt nicht gleich zu einer besseren Men-
160 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein schenkenntnis, aber sie bietet eine neue Begriffswelt an, die es ermöglicht, über sich selbst besser nachzudenken und auch das eigene Verhalten im Umgang mit anderen umfassender zu reflektieren. Manche wenden ein, es handele sich dabei um Halbwissen, das nur verwirre oder verunsichere. Dies ist nicht auszuschließen. Aber wir müssen uns ständig eine Meinung über andere Menschen bilden. Dazu brauchen wir auf jeden Fall eine Persönlichkeitstheorie, meistens eine implizite oder unbewusste, die geprägt ist von verdrängten Vorurteilen, Sprüchen oder Ängsten. Eine explizite oder bewusste Persönlichkeitstheorie ermöglicht es, eine Meinung über einen anderen Menschen argumentierbar, kritisierbar und damit auch veränderbar zu machen. Fritz Riemann entwickelt auf der Grundlage der Psychoanalyse eine Persönlichkeitstheorie, bei der er ebenfalls von den vier Grundstrukturen ausgeht: die schizoide, die depressive, die zwanghafte und die hysterische Persönlichkeit. An diese Grundstrukturen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten richtet er vier Forderungen: X X X X
dass wir ein einmaliges Individuum werden sollen, dass wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, dass wir die Dauer anstreben sollen, dass wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln (Riemann, 2003, S. 13 ff.).
In diesen Persönlichkeitstheorien tauchen wieder Elemente des „anderen Menschenbildes“ auf, das dadurch im Rahmen einer solchen Veranstaltung weitervermittelt wird. Die Autonomie des Individuums ist gewahrt. Jeder wertet seinen Test selbst aus und interpretiert ihn. Das Verfahren ist respektvoll und diskret. Niemand ist dem Geheimwissen eines Psychologen und auch nicht dem Machtwort eines Beraters in Form eines Gutachtens ausgeliefert.
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Diese Tests erheben keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, die ohnehin nicht aufrechtzuerhalten ist. Sie sind ganz subjektiv und damit am ehesten objektiv. Darin zeigt sich die Einmaligkeit des Menschen. Um zu einer brauchbaren Meinung über andere Menschen zu kommen, ist es unerlässlich, um die Fehlerquellen zu wissen, die dabei unweigerlich eine Rolle spielen. Wir haben schon festgestellt, dass wir bei diesem Meinungsbildungsprozess vor allem mit uns selbst zu tun haben. Diese Subjektivität der Beurteilung führt zu folgenden Fehlerquellen: Der Halo-Effekt Dieser Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet Hof, Aura, Umgebung. Ein Merkmal oder eine Eigenschaft bei einem Menschen wird als zentrales Phänomen überbewertet und überstrahlt alle anderen Merkmale (Küchle, 1977, S. 30 ff.). Die Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen Gemeint ist die Tendenz, Einzelbeobachtungen so zu verallgemeinern, dass die Dinge ganz einfach werden, überschaubar, verständlich – und falsch. Daraus folgt, dass Einzelmerkmale nie als repräsentativ für die Gesamtperson genommen werden dürfen, denn eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Das Faszinosum der subjektiven Nähe Ein Fakt, der subjektiv naheliegt oder spektakulär erlebt wird, kann den Meinungsbildungsprozess stark beeinflussen. So löst der beobachtete Absturz einer Bergbahn in einem Skigebiet mehr Angst aus als die gefährlichere Anfahrt mit dem Auto. Gesehen wird vor allem das nahe und unmittelbar erlebte Problem. Es ist das Beispiel des schuftenden Holzfällers, der keine Zeit hat, seine stumpfe Säge zu schärfen.
162 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Falsche Analogieschlüsse Wir neigen dazu, Ursachen miteinander zu verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben, oder Wirkungen nicht der richtigen Ursache zuzuordnen, und dies vor allem, wenn dies zu unseren Wunschbildern passt. Die Bedeutung der Reihenfolge von aufgenommenen Informationen Die ersten oder letzten Eindrücke in einer Kette von Informationen sind stärker als die in der Mitte angesiedelten. Erst- und Letzteindrücke gehen also stärker in die Urteilsbildung über einen Menschen ein. Im Volksmund heißt dies: „Bei dem hat immer recht, wer zuletzt die Türklinke in der Hand hatte.“ Die Neigung, sich Vor-Schriften machen zu lassen Was frühere Beurteiler schriftlich hinterlassen haben, beeinflusst das heutige Urteil erheblich. Vor allem, wenn es Bestätigung signalisiert, wird es verstärkt wahrgenommen, anderes weniger oder gar nicht. Es ist deshalb wichtig, das eigene Urteil durch Vor-Schriften nicht vorformen zu lassen. Vorurteile Sie sind Denkschablonen, die unreflektiert weitergegeben werden und in das eigene Verhalten eingehen. Dabei wird die Vielfalt der Wahrnehmungen grob vereinfacht und zu einer Schablone verdichtet. Das Vorurteil ist eine hydra-ähnliche Erscheinung, die sich fortzeugend selbst gebärt und vererbt. Seminar Menschenkenntnis Dieses Thema, das sich mit Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis, Personalauswahl und Mitarbeiterförderung beschäftigt, lässt sich auch als Seminar anbieten, das wiederum eine Tradition zu be-
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gründen hilft. Die Inhalte können wir folgendermaßen zusammenfassen: Vorgesetzte, deren Aufgabe es ist, Mitarbeiter auszuwählen, zu beurteilen und zu fördern, sollten diese Aufgabe nicht an andere abgeben, sondern selbst Experten werden, mit einem hohen Maß an Menschenkenntnis. Obwohl objektive Aussagen über andere Menschen nicht möglich sind, bilden wir uns dennoch Meinungen über sie, machen uns Bilder von ihnen. Diese sollten auch möglichst zuverlässig sein, da viel von ihnen abhängt. Zuverlässig sind sie eher, wenn jemand um die Vorgänge in seinem Innern weiß, erfahren ist im Umgang mit sich selbst, seine Beurteilungskriterien und seinen blinden Fleck kennt. Die Meinung, die er sich von einem anderen bildet, ist dann weniger durch seine eigene Problematik deformiert. Menschenkenntnis bedeutet deshalb vor allem Selbsterkenntnis. X
Methoden der Selbsterkenntnis: der Gießen-Test das Genogramm das Enneagramm
X
Methoden der Meinungsbildung: Persönlichkeitstheorien Menschenbilder Wissen um Beurteilungsfehler
X
X
Methoden der Gesprächsführung: Übungen zur Kommunikation mit Bewerbern und zur Meinungsbildung über sie Ziel: Die Teilnehmer sollen sich befähigen, auf Grund eines Grundlagenwissens und einer Methodensicherheit Bewerbungsgespräche so zu führen, dass ihre Zuverlässigkeit über derjenigen anderer Verfahren liegt
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Zielgruppe: Führungskräfte mit Verantwortung für Mitarbeiter und solche, die sich auf diese Aufgabe vorbereiten
Führung im lernenden Unternehmen Obwohl unsere Kultur seit alters her von einem Menschenbild geprägt ist, das dem Menschen eine Bedeutung zuschreibt, die weit über ihn hinausweist, indem es seine Gottebenbildlichkeit betont, so sind wir dennoch in Gefahr, einem beschädigten Menschenbild zu verfallen oder uns einem rigorosen Menschenbild auszuliefern, das uns im Wesen bedroht. Wir haben uns an die Neurologie gewandt, um zu fragen, welche Grundlagen unser Menschenbild hat. Zu unserem Erstaunen hat sie uns eher das Bild von alter Zeit bestätigt: einmalig, autonom, auf den anderen Menschen ausgerichtet, nach Sinn suchend. Wir haben auch bei den Autoren der Moderne nachgefragt. Diese betonen zwar die Bedrohung, die von der Desorientierung der modernen Gesellschaft für den Menschen ausgeht, weisen aber gleichzeitig auf den Freiheitsspielraum hin, der sich für den modernen Menschen eröffnet, und den es zu nutzen gilt. Wie können wir diesen neuen Freiheitsspielraum besser nutzen, um zu dem ursprünglichen Menschenbild zurückzukehren? Wir haben wohl zu sehr auf Führungsinstrumente und Methoden gesetzt, die ohne geistigen Kontext sehr schnell verflachen und dann durch neue ersetzt werden müssen. Wir haben wohl zu sehr auf Machen und Ergebnis gesetzt, was ohne die Macht des Geistigen doch nicht den Erfolg gebracht hat. Immer wieder geht es in der Führung zu sehr um die Darstellung der eigenen Person, um Strategien, die beweisen sollen, dass man doch kann, was einem früher nicht zugetraut wurde. Immer wieder
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geht es um Strategien planetarischen Ausmaßes, deren Auswirkungen und Langfristfolgen nicht absehbar sind und die immer wieder in gigantischen Verlusten enden. Wir suchen nach dem anderen Weg zwischen dem beschädigten und dem rigorosen Menschenbild. Wir wollen aus der Botschaft der Neurologie mit dem Hinweis auf das fehlende Konvergenzzentrum und der Moderne mit dem Hinweis auf den bleibenden Freiheitsspielraum Nutzen ziehen, um einen dritten Weg zu suchen. Wir meinen, diesen Weg gefunden zu haben in dem Menschenbild von Jacques Lacan, in dem Konzept des lernenden Unternehmens, in der Methode des Weiterbildungstagebuches und des Seminars zum Thema „Menschenkenntnis“. An diese Überlegungen richten wir die Erwartungen, dass sie eine Tradition begründen und entsprechende Rituale schaffen. Ein besonderes Thema bildet die Frage nach der Art der Führung. Auf dieses Thema sind wir immer wieder gestoßen, sei es im Zusammenhang mit der Neurologie, die keine zentrale oder hierarchische Steuerungsinstanz kennt, oder bei der Systemtheorie, die die Geschlossenheit lebender Systeme betont und nur Selbststeuerung zulässt, oder die These, dass Mitarbeiterführung und Mitarbeiterbeurteilung nicht delegierbar sind, weil sie zutiefst subjektiv und mit persönlicher Verantwortung versehen sind. Was ist mit diesem anderen Führungsverständnis gemeint? Um Systeme wissen Kommunikation Wenn Führung in lernenden Systemen gelingen soll, dann ist das Wissen um Systeme eine Voraussetzung. Dazu gehört die These, dass solche Systeme durch Kommunikation zustande kommen und Führung darin besteht, solche Kommunikationsstrukturen zu erkennen, zu fördern und Rahmenbedingungen zu schaffen.
166 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Autonomie Es gehört dazu, um die Autonomie solcher Systeme zu wissen, die ihren inneren Regeln gehorchen und vor allem „ihre eigene Melodie spielen“. Veränderbar sind sie, wenn ihre interne Funktionsweise in den Dienst neuer Ziele gestellt werden kann. Führung bedeutet daher die Kunst, Autonomie mit Veränderung zu verbinden, was nur mit Hilfe einer intimen Systemkenntnis möglich ist. Blinder Fleck Da jedes lernende System nach einer Bemerkung Luhmanns immer auch etwas nicht sieht und nicht sieht, dass es etwas nicht sieht, deshalb ist es wichtig, diesen sogenannten blinden Fleck zu verkleinern mit Hilfe von Metareflexion und Metakommunikation, das heißt kritisch nachdenken und kommunizieren über die eigene Funktionsweise in dem jeweiligen Systemumfeld. Führung heißt, die Gelegenheiten für diese Selbstreflexion herbeizuführen und so zu gestalten, dass daraus etwas Neues hervorgeht. Eine Philosophie des Lernens erarbeiten Seit einiger Zeit weisen die einschlägigen Managementzeitschriften immer häufiger darauf hin, wie wichtig Philosophie für die Führung in Wirtschaftsunternehmen sein kann (Bittelmeyer, 2005, S. 27-52). Hintergrundwissen In einer Zeit der fehlenden übergeordneten Orientierung ist es Aufgabe eines jeden, selbst zu definieren, was richtig und falsch ist, und sich selbst Leitlinien zu erarbeiten, an denen er sein Handeln ausrichtet. Ohne ein solches Hintergrundwissen sind wir modischen Trends ausgeliefert, die als Führungsinstrumente von sich reden machen, viel Zeit und Geld kosten, manchmal Schaden anrichten, oft wenig bewirken, um dann wieder zu verschwinden.
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Philosophie „Philosophie ist eine vernunftbegabte Auseinandersetzung mit den wichtigsten Fragen der menschlichen Lebensführung, also auch des wirtschaftlichen Lebens“ (Bittelmeyer, 2005, S. 48 f.). „Sie ist eine Denkbewegung, die zu einer Sprache führt, die dazu befähigt, zu erfassen und auszudrücken, was jemand wirklich will. Sie erlaubt es auch, Begriffe, Einstellungen, Überzeugungen und Traditionen kritisch zu prüfen und zu hinterfragen.“ Kritikfähigkeit Eine Philosophie des Lernens weist darauf hin, dass niemand von uns im Besitz der Wahrheit ist, sondern wir darauf angewiesen sind, miteinander nach der jeweils besseren Lösung zu suchen und dass deshalb Besserwisser und Selbstdarsteller eher nicht auf dem Weg zur besseren Lösung sind, weil sie über eine Voraussetzung nicht verfügen, nämlich Kritikfähigkeit. Neue Perspektiven Die Philosophie des Lernens betont, dass wir keinen Zugang zur objektiven Wirklichkeit haben, sondern in der Welt leben, die wir selbst konstruieren. Wir sind also nicht auf Fakten festgelegt, sondern können sie umdefinieren, neu erfinden, den Mitarbeitern neue Perspektiven aufzeigen. Wir sind demnach nie nur passives Opfer objektiver Umstände, nie nur hilflos dem Marktgeschehen ausgeliefert. Eine bessere Welt schaffen Wenn wir mit Teilhard de Chardin davon ausgehen, dass die Evolution darauf ausgerichtet ist, mehr Geist hervorzubringen, dann weist die Philosophie des Lernens darauf hin, dass wir für die Weiterführung des Anliegens der Evolution verantwortlich sind, nämlich eine bessere Welt zu schaffen mit mehr Geist, mit Frieden und Wohlstand, mit mehr Wissen und Lernen als neuer Leitidee.
168 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Sinn bieten Führen heißt Sinn bieten. Nichts motiviert uns Menschen so sehr wie die Überzeugung, an einer sinnvollen Aufgabe mitzuwirken, also an einem Werk, das zusätzlichen Sinn in das eigene Leben bringt. Dann kennen wir keine Müdigkeit und keine Rücksicht auf unsere Gesundheit. Zuwendung zum Anderen Die Philosophie des Anderen verdeutlicht, dass es in eine Sackgasse führt, sich um sich selbst zu kümmern, um seine Karriere, seine Selbstdarstellung, nach mehr Einfluss und Geltung zu streben. Nur die entschlossene Zuwendung zum anderen, zum Kunden, zum Markt, zur Welt dient auch der Entfaltung der eigenen Person. Wer zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, kann den vollen Einsatz für die Führung eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter nicht erbringen. Führungsinstrumente erlernen Zusammenwirken der drei Welten In seiner Drei-Welten-Lehre zeigt Karl Popper den Zusammenhang auf zwischen der Welt der Ideen, der Welt der psychischen Zustände und der Welt der Produkte, die aus dem Zusammenspiel der drei Welten hervorgehen, und betont, dass die Qualität der Produkte abhängig ist von den beiden anderen Welten und ihrem Zusammenspiel, nämlich der psychischen Verfassung der Mitarbeiter und der Qualität der Ideen oder Philosophien. Daraus erkennen wir, wie wichtig dieses Zusammenwirken der drei Welten ist, und dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Hier wird auch ersichtlich, dass Führung eher als Stückwerksreform zu verstehen ist, als Veränderung in kleinen Schritten, weil dadurch die Folgen der Nebenwirkungen überschaubar bleiben.
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Metareflexion Entscheidende Führungsinstrumente sind Metareflexion und Metakommunikation, alle Arten von Rückmeldungen und kritischen Selbstreflexionen. Sie sind die entscheidenden Gelegenheiten, bei denen Systeme sich selbst erneuern. Ganz praktisch gemeint sind hier KVP, ISO, selbstreflektierende Projektgruppen, Mitarbeitergespräche, Zielvereinbarungen, wenn sie in dem Geist der gegenseitigen Erneuerung geführt werden. Gruppenleistung Dieses Führungsverständnis stellt hohe Anforderungen an den einzelnen Vorgesetzten. Es ist ja so, dass die entscheidenden Leistungen in komplexen Strukturen nur noch von gut zusammenarbeitenden Gruppen erbracht werden. Diese wiederum leben von dem Einfallsreichtum, der Initiative und dem Mut der Einzelnen. Denken Sie nur an den Film „Die 12 Geschworenen“. Nur die gesamte Gruppe konnte die Entscheidung treffen, und zwar einstimmig: „nicht schuldig“. Aber ohne den einzelnen Geschworenen Miller, ohne seinen Mut und seine Initiative wäre der ganze Umdenkungsprozess gar nicht in Gang gekommen. Die Praxis der Lebenskunst einüben Immer bleiben wir angewiesen auf die Leistung des einzelnen Vorgesetzten. Um dieser Leistungserwartung zu entsprechen, ist es unerlässlich, dass er auch seine eigenen Erneuerungsprozesse nicht vergisst. Dazu gibt es die Selbsttechniken. Sie bestehen aus der Arbeit an sich selbst, die sich bestimmte Schwerpunkte sucht: Mäßigung und Selbstbeherrschung, sich zum weisen Führer seiner selbst ernennen, sein eigenes Leben selbst in die Hand nehmen; selbst zum Autor der eigenen Lebensplanung werden. Dazu dienen auch die Praktiken der Lebenskunst, wie an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Es handelt sich um die abendliche
170 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein kritische Selbstreflexion, bei der der abgelaufene Tag betrachtet und mit dem eigenen Wertesystem und seinen Vorsätzen verglichen wird. Die kritische Selbsterkenntnis führt zu einer Arbeit an sich selbst und der konkreten Absicht, am nächsten Tag etwas zu verbessern. Die Freundschaft ist eine Beziehung, die deshalb besonders zu pflegen ist, weil sie die nahezu einzige Gelegenheit bietet, sich selbst in Offenheit zur Sprache zu bringen und bereit zu sein, kritische Hinweise entgegenzunehmen. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr bedeutet, ich soll mir vorstellen, dass ich das Leben, das ich jetzt führe, nach meinem Tod wieder und wieder führen muss. Sollte ich dies nicht wünschen können, dann muss ich es jetzt ändern. Ich soll aus meinem Leben ein Kunstwerk machen, damit diejenigen, die mich kennen, nach meinem Tod, aus der Erinnerung an mich, einen Gewinn für ihr eigenes Leben ziehen. Weil ich aber nicht weiß, wann dies sein wird, soll ich damit sofort beginnen. Alle diese Praktiken, die von Foucault der griechischen Philosophie der Lebenskunst entnommen sind, regen zur Selbsterneuerung an, eine Praxis, die den Führungskräften dient, damit sie die Energie entwickeln, die sie für ihre anspruchsvollen Aufgaben brauchen. Max Weber fordert vom Einzelnen, dass er die Bedrohungen aushält und in dem stahlharten Gehäuse der modernen Gesellschaft nicht erstarrt. Besonders von Führungskräften verlangt er, eine „Lebensführung von innen heraus“ und dass sie hingebungsvoll einer Sache dienen. Foucault erwähnt Selbsttechniken, die dazu dienen, eine solche Lebensführung zu ermöglichen. In seiner Ästhetik der Existenz empfiehlt er, sich als klugen Führer seiner selbst zu verstehen, Mäßigung und Selbstbeherrschung zu praktizieren, nicht Sklave seiner Umgebung und auch nicht seiner selbst zu werden, immer wieder selbstgewählte Daseinsformen zu erfinden und zum Mittelpunkt der eigenen Lebensplanung zu werden.
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Von ungewöhnlicher Selbsterneuerungskraft sind die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, dem Begründer des Jesuitenordens. Vermutlich beruht der erfolgreiche Bestand des Ordens über fünf Jahrhunderte auf der Praxis dieser Übungen. Da sie in ihrem Inhalt ganz religiös geprägt sind, fühlen sich viele Menschen außerhalb der Kirche wenig angesprochen. Aber auch wenn die religiösen Inhalte ersetzt werden durch entsprechende Texte aus Literatur, Philosophie und Psychologie, enthalten diese Übungen noch soviel Weisheit, dass sie die Aufmerksamkeit vieler verdienen (Geiselhart, 1999). Den Weg des Ignatius von Loyola gehen Die erste Phase bildet das Fundament. Hier stellt sich der Übende die Frage nach dem, um was es ihm in seinem Leben geht, nach dem, was Sinn in sein Leben bringt. Das kann aber nur etwas sein, bei dem es um mehr als nur um den eigenen Vorteil geht, etwas, das über den Einzelnen hinausweist. Für Ignatius liegt der Sinn des Menschen in seiner Hinwendung zu Gott und in der Bereitschaft, gemäß seinem Willen an der Gestaltung der Welt mitzuwirken. Alles andere sei dieser grundlegenden Ausrichtung unterzuordnen. Gelassen und konsequent sollte der Übende aus dieser Phase hervorgehen. Die zweite Phase bezieht sich auf die Erfahrung, dass wir bei allen hehren Zielen und selbstlosen Vorsätzen, doch immer wieder mit gewöhnlicher Eigensucht, Bequemlichkeit und Bosheit zu tun haben. Immer wieder leben wir unter unserem Niveau. Wir verweigern den Abschied, wehren uns gegen die Veränderung, halten fest an dem, was uns ohnehin nicht gehört. Ignatius nennt diese Erfahrung Sünde und will, dass sie uns bewusst wird, und dass wir sie erkennen, um uns von ihr loszusagen. Es ist etwas in uns, das uns schwächt und klein macht. Die Befreiung vollzieht sich über die Selbsterkenntnis.
172 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Selbstkritisch und bescheiden sein ist hier das Übungsziel. Die dritte Phase soll uns ermutigen, mehr aus unserem Leben zu machen, angesichts der Herausforderungen, die sich uns stellen. Dazu sollen wir uns nach gewöhnlichen Menschen umsehen, die Ungewöhnliches geleistet haben, mit denen wir uns identifizieren können, die uns als Vorbild dienen. Die Identifikation mit einer solchen Person soll auch Mut machen und helfen, schwierige Situationen zu bewältigen. Ignatius leitet dazu an, sich in die Texte über Jesus von Nazareth hineinzuversetzen, mitzufühlen und mitzuerleben. Mut und Entschlossenheit soll der Übende aus dieser Phase mitnehmen. Die vierte Phase führt in die ignatianische Methode der Entscheidungsfindung ein. Es handelt sich um eine Methode, die auf nahezu alle Entscheidungssituationen anwendbar ist. Sie ist deshalb so wichtig, weil von der Qualität der Entscheidung die Zukunft eines Unternehmens abhängen kann, aber auch die eines Einzelnen. Diese Methode der Entscheidungsfindung hat sich bereits über fünfhundert Jahre bewährt, denn immerhin hat sie zum Bestand des „Unternehmens“ Jesuitenorden über diesen Zeitraum hinweg beigetragen. Im Wesentlichen besteht die Methode darin, dass bei einer zu treffenden Entscheidung die Beteiligten sich auf ihre Grundanliegen besinnen, also auf das, worauf es ihnen im Leben ankommt. Vor dem Hintergrund dieser Basisüberzeugung suchen sie nach Gründen für die eine Entscheidung oder für die andere. Hier handelt es sich um ein rationales Abwägen von rationalen Gründen. Ignatius betont ausdrücklich, dass wir niemals gegen die Stimme der Vernunft entscheiden sollen. Bei diesem Vorgang spielen Gefühle allerdings schon eine bedeutende Rolle. Sie werden ausgelöst, indem die Gründe mit bisherigen Erfahrungen verglichen werden und sich über psychosomatische Markierungen ausdrücken.
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Eine gute Entscheidung liegt dann vor, wenn Vernunft und Gefühl übereinstimmen und sie bejahen oder ablehnen. Wenn dies nicht vorliegt, dann empfiehlt Ignatius, mit der Entscheidung zu warten. Die fünfte Phase wendet sich dem Gefühl der Dankbarkeit zu. Oft haben wir mit enttäuschenden Erfahrungen zu tun, werden mit unerfreulichen Nachrichten konfrontiert, sodass man selbst in Gefahr ist, in eine verdrießliche Stimmung zu geraten. Ignatius betont, wie wichtig es ist, sich auf die erfreulichen Erfahrungen zu konzentrieren. Er legt Wert darauf, sich auf „Wohltaten“ und Erfahrungen zu besinnen, die uns zugute- kommen, ohne dass sie durch unsere Leistungen oder Verdienste herbeigeführt worden wären. Wir sollten uns auf sie besinnen und dabei in uns das Gefühl tiefer Dankbarkeit entstehen lassen. X X X
X X
Wir sollten uns auf unsere Grundüberzeugung besinnen und uns erarbeiten, was Sinn in das eigene Leben bringt; erkennen, dass etwas in uns ist, das schwächt, herunterzieht und zerstörerisch wirkt, um es aufzuarbeiten; uns auf Menschen beziehen, die ermutigen und beweisen, dass es möglich ist, Ungewöhnliches zustande zu bringen, und uns an ihnen orientieren; über eine Methode der Entscheidungsfindung verfügen, die von besonderer Qualität ist; und schließlich in der Lage sein, durch Aufmerksamkeit auf die erfreulichen Erfahrungen, die uns so einfach entgegenkommen, ohne durch eigene Leistungen erzwungen worden zu sein, das Gefühl der Dankbarkeit entstehen zu lassen, das seinerseits wieder zu großer Güte führt.
Dies ist der Weg des Ignatius von Loyola, Begründer eines Unternehmens, das schon seit über fünfhundert Jahren erfolgreich tätig ist.
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Vor allem Selbsterneuerung Wir wollen uns an dem „anderen Menschenbild“ orientieren und es in einer Tradition verankern. Wir wollen dies, weil uns weder das beschädigte noch das rigorose Menschenbild weiterhelfen kann, und weil wir die Auswirkungen von Menschenbildern auf unser persönliches Leben und auf Unternehmensprozesse bisher eher übersehen haben. Um eine solche Tradition zu begründen, haben wir uns nach institutionellen Maßnahmen umgesehen, wie dem „lernenden Unternehmen“, dem Weiterbildungstagebuch und Seminarveranstaltungen wie „Menschenkenntnis“ und „Führung“. Als Methoden haben wir auf die Praktiken der Philosophie der Lebenskunst hingewiesen, auf den Weg des Ignatius von Loyola und auf die Betrachtung von Texten, der Lesekunst. Sie alle dienen der persönlichen Selbsterneuerung, die gerade für Führungskräfte in hohem Ausmaß erforderlich ist. Zu einem lernenden Unternehmen mit dem „anderen Menschenbild“ gehört es, einen neuen Führungsstil zu praktizieren, nicht mehr hierarchiebetont, autoritär und zentralistisch. Dies gilt es zu verlernen. Führung ist nicht mehr die Stelle, wo alle Informationen zusammenlaufen, wo Entscheidungen getroffen werden und Macht sich konzentriert. Das andere Führungsverständnis hält Führung für die Stelle, wo Rahmenbedingungen definiert werden, wie: Niemand ist im Besitz der Wahrheit, wir suchen nach der besseren Lösung und sind bereit, zu kritisieren und sich kritisieren zu lassen. Sie ist die Stelle, wo Kommunikation von hoher Qualität eingefordert wird, wissend um ihrer Bedeutung für das Zusammenwirken im System, von wo aus ständig an der Verbesserung der internen Prozesse gearbeitet wird, überzeugt davon, dass je besser ein System nach innen funktioniert, desto effizienter es nach außen wirken kann. Eine Tradition zu begründen bedeutet, ihren Inhalt so zu verinnerlichen, dass über die Form das vorgelebte Verhalten, das, was damit gemeint ist, sichtbar wird, sodass andere erkennen, was die
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Botschaft der Tradition ist. Dies erfordert jedenfalls eine besondere Anstrengung. Lesekunst Dies geht nicht ohne die Übungen der Selbsterneuerung. Textbetrachtung ist eine Methode, die eher zugänglich ist, nicht so viel Vorbereitung erfordert und gleichzeitig interessant ist, aber auch Tiefenschichten in uns anspricht, von denen Veränderungen ausgehen. Die Textbetrachtung verläuft nach folgenden Schritten. X
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Auswahl des Textes Es eignen sich vor allem Geschichten mit handelnden Personen, wo man sich Szenen vorstellen kann und mit einer Abfolge von Ereignissen. Vorbereitung der Betrachtung Sie beginnt mit der Interpretation des Textes, indem ich mich frage, warum ich ihn ausgewählt habe und was mich an ihm anspricht. Dazu gehört es, einen Raum auszuwählen, in dem man nicht abgelenkt wird, eine Zeit, in der man nicht unterbrochen wird, mit einer Körperhaltung, die nicht unbequem ist. Eine vorbereitende Lektüre des Textes dient dazu, dass Inhalt und Verlauf im Bewusstsein sind. Betrachtung des Textes Der Betrachter stellt sich die Geschichte so vor, als würde sie jetzt stattfinden. Er sieht die handelnden Personen, hört sie sprechen, spürt die Atmosphäre und riecht die Ambiance. Mit allen seinen Sinnesorganen versucht der Betrachter sich in die Geschichte hineinzubegeben und darauf zu achten, was sie bei ihm auslöst. Schließlich fragt er sich: Was will sie mir sagen? Was hat mich besonders angesprochen? Was will ich in meinem Leben ändern?
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Nachbereitung Die Erkenntnisse der Betrachtung werden in ein dazu vorgesehenes Notizbuch eingetragen. Nach einer gewissen Zeit kann der Betrachtende seine Notizen durchlesen und darauf achten, ob sich aus ihnen nicht auch eine besondere Botschaft ergibt.
Folgende Texte könnten sich für die beschriebene Art von Betrachtung eignen. Allerdings ist jeder selbst Urheber seiner Textauswahl.
Texte Der barmherzige Samariter Jesus trat damals als eindrucksvolle Persönlichkeit auf, gleichzeitig empfindsam und fähig, sich in andere Menschen hinein zu denken. Bekannt war er als faszinierender Geschichtenerzähler. Auswahl des Textes (Lukas 10, 25-37) 10,30b Ein Mensch zog von Jerusalem nach Jericho hinunter und fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon, ihn halbtot liegen lassend. 31 Zufällig aber zog ein Priester auf jenem Weg hinunter, als er ihn sah, ging er vorbei. 32 Gleichermaßen kam auch ein Levit an den Ort, und als er ihn sah, ging er vorbei. 33 Ein Samariter aber, der seines Weges ging, kam dort hin, und als er ihn sah, erbarmte er sich. 34 Er lief hinzu, verband seine Wunden, goss Öl und Wein darauf, setzte ihn auf sein eigenes Reittier und führte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sprach: Sorge für ihn, und wenn du etwas mehr brauchst, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme.
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Vorbereitung der Betrachtung „Ein Mensch ist auf dem Weg vom hochgelegenen Jerusalem nach unten, nach Jericho. Ein gefährlicher Abstieg, der ihm den aufrechten Gang kostet. Überall Kleiderraub, Geldraub und schwere Körperverletzung. Weniger als die nackte Existenz bleibt zurück. Sich krümmend vor Schmerzen liegt der Mensch im Staub.“ (Huizing, 2000, S. 214) Ein Levit naht. Der Verwundete hofft auf Hilfe. Er wird enttäuscht. Ein Priester kommt. Wieder hofft der Ausgeraubte. Dann kommt ein Samariter. Auf ihn setzt der Hilfe Suchende wenig Hoffnung. Doch dieser handelt anders. Wir sollen in dem Geschundenen einen Menschen erkennen, der unsere Hilfe braucht, und handeln wie der Samariter gehandelt hat. Priester und Levit sind vorübergegangen, weil sie als Kultdiener aufwendige Reinigungsprozeduren über sich hätten ergehen lassen müssen. Sie nehmen die Situation mit der Brille ihrer Konventionen wahr, und diese Konventionen können unsere Wahrnehmung stark entstellen. Ein Fremder, der Samariter, kann, frei von diesen Konventionen, in dem am Boden Liegenden den Menschen wieder erkennen. Betrachtung des Textes Der Betrachter versucht sich in die Geschichte hineinzuversetzen, sei es in die Rolle des Verletzten, sei es als Beobachter der Ereignisse. Er versucht, sich die Szene auszumalen. Wie ist das Wetter, wie sieht die Landschaft aus, wie ist die Atmosphäre? Was fühlt der Verletzte, der Priester, der Levit? Was ist geschehen, damit es zu den Gesten der Zuwendung kommt, der Transport in ein Gasthaus und die Bezahlung der Kosten? Schließlich fragt sich der Betrachter: X X
Was will die Geschichte mir sagen? Was hat mich besonders angesprochen?
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Was will ich in meinem Leben ändern?
Nachbereitung Die Erkenntnisse und Empfindungen werden in einem Notizbuch festgehalten. Zachäus – der Oberzöllner In den Geschichten, die Jesus erzählt, geht es um Befreiung aus der Gefangenschaft in Weltbildern, Menschenbildern und Selbstbildern, und zwar vor allem aus solchen, die keinen Zugang zum anderen und keine Solidarität mit den leidenden anderen erlauben. Auswahl des Textes (Lukas, 19/1-10) 19,1 Und er ging hinein und zog durch Jericho. 2 Und sieh, ein Mann, Zachäus mit Namen genannt, und er war Oberzöllner und er war sehr reich. 3 Und er trachtete danach, Jesus zu sehen, wer er sei, und konnte nicht vor der Menge, weil er klein von Wuchs war. 4 Und er lief voraus, (allen) voran, und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen, weil er dort durchziehen sollte. 5 Und als er an den Ort kam, sah Jesus auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig schleunigst herab; heute muss ich in deinem Haus bleiben. 6 Und schleunigst stieg er herab und nahm ihn mit Freude auf 7 Und alle sahen es und murrten und sagten: Bei einem sündigen Mann ist er eingekehrt, um Gast zu sein. 8 Zachäus aber trat hin und sprach zum Herrn: Siehe, die Hälfte meines Vermögens, Herr, gebe ich den Armen, und wenn ich etwas von jemandem erpresst habe, gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach, auf ihn gemünzt: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, weil auch er Sohn Abrahams ist; 10 denn der Menschensohn ist gekommen, dass er das Verlorene suche und rette. Vorbereitung der Betrachtung Der Hauptcharakter ist Zachäus, der Oberzöllner. Oberzöllner = Obergauner. Er war schwerreich, mit ehrlicher Arbeit in vorbörsli-
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chen Zeiten kaum zu schaffen. Nur die Methode unterscheidet ihn von den Räubern vor den Toren der Stadt. Hier, innerhalb oder an den Grenzen der Stadt, sind die Methoden des Beutelschneidens viel urbaner. Kein Blut. Keine hässliche Gewalt. Wegelagerei auf höchstkultivierte Weise. Und für diese Art der Bereicherung muss man weder besonders muskulös sein, noch besonders groß. Es reicht die Funktion, die man ausübt. Kassieren können auch die anderen. Die gesellschaftliche Außenseiterstellung wird im Text pointiert durch das Prädikat der Kleinwüchsigkeit angedeutet. Dieser Herr Zachäus wird – das muss man kaum erwähnen – nicht gerade hoch angesehen. Er ist eine Art notwendiges, von den Besatzern geschütztes Übel. Außerhalb seiner beruflichen Hochburg gilt dieser Mensch nichts (Huizing, S.236-239). Dieser Text enthält viele Verben. Jesus läuft durch die Talstadt Jericho. An einem bestimmten Ort stoppt er, schaut nach oben zu Zachäus, bittet ihn herabzusteigen und geht mit ihm nach Hause. Das zentrale Verb lautet anablepó – hochschauen. Dieses Hochschauen hat für Zachäus eine besonders beeindruckende Wirkung. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben schaut jemand zu ihm hoch. Es ist wie ein Wunder. Jemand schaut zu ihm hoch und will mit ihm feiern. Zum ersten Mal fühlt Zachäus sich als Mensch verstanden. Das Verb anablepó hat noch eine Nebenbedeutung: ein Gesicht erlangen, sehend werden. Durch die Geste des Hochschauens gibt Jesus dem Zachäus ein Gesicht. Er wird wieder anerkannt und kann mit den anderen wieder auf Augenhöhe kommunizieren. Jesus will nicht, dass wir Knechte, sondern Freunde sind. Er befreit aus der Gebundenheit an Weltbilder, die den Menschen nicht als Menschen sichtbar werden lassen. Dieser Befreiung entspricht eine Umkehr. Zachäus will vierfach zurückzahlen und die Hälfte seines Besitzes den Armen geben. Die Tat Jesu wird somit zu einer Neuschöpfung des Menschen Zachäus. Er redet ihm nicht ins Ge-
180 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein wissen, sondern ruft ihn bei seinem Namen, meint ihn ganz persönlich. Durch die Geste des Hochschauens ereignet sich die Neuschöpfung. Zachäus fühlt, dass er ein ganz neuer Mensch ist. Betrachtung des Textes Der Betrachter sieht wie Jesus durch Jericho zieht. Das Gedränge ist groß. Alle wollen ihn sehen. Da sieht er den Zachäus auf dem Baum. Was geht in ihm vor? Was empfindet Zachäus? Was spielt sich in dem Gespräch ab zwischen Jesus und Zachäus? Der Betrachter schaut mit Jesus zu Zachäus auf den Baum hoch. Er hört das Gespräch zwischen beiden. Er empfindet die Neuschöpfung des Menschen Zachäus mit. Zu dieser Betrachtung gehört es, zu sehen, zu hören, zu denken und zu fühlen, was in den handelnden Personen geschieht, und dabei auch auf die eigenen Gefühle zu achten. Wiederum fragt sich der Betrachter: X X X
Was will die Geschichte mir sagen? Was spricht mich besonders an? Was will ich in meinem Leben ändern?
Nachbereitung des Textes Wieder wird notiert, was einem zu den jeweiligen Fragen eingefallen ist. Elija am Berge Horeb 1 Könige,19. Kapitel 3-16 Auswahl des Textes 3 Elija geriet in Angst, machte sich auf und ging weg, um sein Leben zu retten. Er kam nach Beerscheba in Juda und ließ dort seinen Diener zurück. 4 Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod.
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Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. 5 Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! 6 Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder hin. 7 Doch der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. 8 Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb. 9 Dort ging er in eine Höhle, um darin zu übernachten. Doch das Wort des Herrn erging an ihn: Was willst du hier, Elija? 10 Er sagte: Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben. 11 Der Herr antwortete: Komm heraus, und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. 12 Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Wehen. 13 Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. 14 Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief: Was willst du hier, Elija? Er antwortete: Mit Leidenschaft bin ich für den Herrn, den
182 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Gott der Heere, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben. 15 Der Herr antwortete ihm: Geh deinen Weg durch die Wüste zurück, und begib dich nach Damaskus! Bist du dort angekommen, salbe Hasaël zum König über Aram! 16 Jehu, den Sohn Nimschis, sollst du zum König von Israel salben, und Elischa, den Sohn Schafats aus Abel-Mehola, salbe zum Propheten an deiner Stelle. Vorbereitung der Betrachtung Zur historischen Situation: Israel ist im Begriff zu zerfallen. Die Königin Isebel aus Babylon will nicht nur Israels politische Einheit vernichten, sondern auch das, was die Identität Israels bildet, nämlich den Monotheismus, indem sie die Propheten tötet und die Tempel zerstört. Elija ist der letzte überlebende Prophet, der jetzt verzweifelt die Flucht ergreift. Er kommt nach Beerscheba. Dort endet die äußere Reise. Es beginnt dann die Reise nach innen. Wüste, die Zahl vierzig, Höhle sind symbolische Begriffe. „Sonst ist der Weg für dich zu weit“, die Reise nach innen ist beschwerlich und lang. Elija ist verzweifelt und enttäuscht. Aber dennoch setzt er immer wieder auf die falschen Zeichen: Sturm, Erdbeben, Feuer. Erst danach beginnt seine Umkehr und Rückkehr: „Er trat hinaus und stellt sich an den Eingang der Höhle.“ Erst jetzt ist er bereit zur Gottesbegegnung. Wieder brechen Verzweiflung und Enttäuschung aus ihm heraus. Aber die tiefe innere Erfahrung und die Begegnung mit dem Gott Israel haben Elija verändert. Er kehrt dorthin zurück, von wo er geflohen ist, aber als ein anderer.
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Elija gibt Israel eine neue politische und religiöse Struktur. Betrachtung des Textes Der Betrachter sieht den fliehenden Elija mit seiner Angst vor den Häschern der Königin Isebel; er empfindet mit ihm seine Enttäuschung, denn er sieht sein Lebenswerk zerstört; er teilt mit ihm seine Verzweiflung, denn er kennt keinen Ausweg mehr. Er beginnt mit Elija den Weg nach innen. Es ist ein aus Märchen wohl bekanntes Motiv: Im Zustand äußerster Bedrohung geht der Held in die Wüste oder in den Schlaf. Immer wieder bricht es aus ihm heraus, wie verängstigt, verzweifelt und enttäuscht er ist. Aber noch ist er nicht tief genug eingedrungen, noch ist seine innere Erfahrung nicht existenziell genug, noch hält er die oberflächlichen Zeichen für entscheidend. Über mehrere Phasen ist Elija den mühsamen Weg nach innen konsequent gegangen. Dort kommt es zu einer tiefen Erfahrung. Aus dieser Erfahrung gewinnt er so viel innere Energie, dass er dazu fähig ist, dorthin zurückzukehren, von wo er vorhin angstvoll geflohen ist. Der Betrachter begleitet ihn durch die Wüste und in die Höhle. er hört den Donner, spürt das Beben und sieht das Feuer. Dann vernimmt er das andere in seinem Inneren. Er nimmt wahr, dass in ihm etwas Neues entsteht. Der Betrachter fragt sich: X X X
Was hat diese Geschichte mit mir zu tun? Was berührt mich daran? Was bedeutet sie für mein Leben?
Nachbereitung des Textes Der Betrachter notiert in das vorbereitete Heft, was er an Erfahrung und Erkenntnis festhalten möchte.
184 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Vor dem Gesetz, Franz Kafka Auswahl des Texte Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfter kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem anderem, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:
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„Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“, fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
186 Dieses andere Menschenbild muss institutionell abgesichert sein Vorbereitung der Betrachtung Diese Erzählung soll Kafka am liebsten vorgelesen haben. Im wörtlichen Sinne ist sie unverständlich, nur im übertragenen Sinne erschließt sie sich uns. Betrachten wir einige Schlüsselbegriffe. Das Gesetz ist etwas Höchstes, Absolutes, wonach wir alle streben. Der Mann vom Lande, der Mann aus der Erde, Adam – von uns ist die Rede. Der Türhüter symbolisiert ein Hindernis, zunächst ein nichtssagendes, das aber immer entscheidender wird. Diese Bedeutung wird ihm aber von dem Mann vom Lande zunehmend verliehen. Er wird kindisch. Sein Augenlicht wird schwach und sein Horizont verengt sich. Den Glanz, der aus der Türe des Gesetzes bricht, kann er nicht mehr wahrnehmen. „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten ...“ Betrachtung des Textes Zunächst geht es wieder darum, sich die Szene vorzustellen, die Dialoge zu vernehmen und die Gefühle der handelnden Personen nachzuempfinden. Schließlich kann der Betrachter die Schlüsselbegriffe auf sich wirken lassen. X X
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Das Gesetz – was ist es für mich? Der Türhüter – welches sind meine Türhüter? Welche Bedeutung verleihe ich ihnen? Bin ich in Gefahr, mich auf Hindernisse zu fixieren und das Ziel aus den Augen zu verlieren? Wo werde ich kindisch und lasse es zu, dass sich ein Größenunterschied zu meinen Ungunsten verändert?
Vielleicht möchte Kafka uns ganz bewusst machen, dass X X X
wenn du dich auf Hindernisse konzentrierst, wenn du dein Ziel aus den Augen verlierst, wenn du dich klein machst und dich der Macht beugst,
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X
wenn du deinen Horizont verkleinerst, dann kann es sein, dass du die Grenze nicht überschreitest, und dass man dir sagt, „... dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn“.
Nachbereitung Gedanken, Gefühle und Erkenntnisse werden in einem Notizbuch festgehalten í und vor allem Vorsätze, um etwas in seinem Leben zu ändern.
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5. Auf dem Weg zu einem anderen Menschenbild
Dem Menschenbild, das wir verinnerlicht haben und das in unserer Gesellschaft unausgesprochen wirkt, schreiben wir eine besondere Bedeutung zu. Das jeweilige Menschenbild kann in unserem Leben persönliche Kräfte freisetzen oder einschränken, es kann unser Zusammenleben und -arbeiten verstärken oder austrocknen.
Wiederholen und vertiefen, um sich selbst zu erneuern Wir haben in unserer Zeit das Bild des beschädigten und des getriebenen Menschen ausfindig gemacht und die dazu passende Praxis beschrieben, zu beurteilen, auszuwählen und einzuteilen. Solche reduzierten Menschenbilder kosten zu viel Energie, sie schränken uns ein und verarmen unseren Einfallsreichtum. Sie helfen uns nicht, mit großem Einsatz die Aufgabe der Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft anzupacken und die Unternehmen darauf vorzubereiten. Wir könnten uns fragen, inwieweit das Bild, das wir uns von uns selbst machen, davon schon betroffen ist und inwieweit es unsere Sicht des anderen Menschen schon entstellt. Um ein anderes Menschenbild zu suchen, haben wir uns an die Neurologie als die modernste Wissenschaft vom Menschen ge-
190 Auf dem Weg zu einem anderen Menschenbild wandt. Sie beschreibt den Menschen als einmalig und autonom, selbstkritisch und lernfähig, einfühlsam und emotional í und auf der Suche nach Sinn. Wir haben bei den Philosophen nachgefragt. Karl Popper schildert uns den Menschen als bescheiden, weil nicht im Besitz der Wahrheit, als kritikfähig, weil um die Gefahr wissend, Fehler zu machen, als angewiesen auf den anderen, um auf dem Weg zur Wahrheit voranzukommen, als unruhig, weil von dem Anliegen bewegt, nach einer „besseren“ Welt zu suchen. Die Philosophie des Konstruktivismus entwirft ein Bild vom Menschen, der verantwortlich ist für die Welt, die er selbst durch sein Denken und Sprechen hervorbringt. Da er nicht auf Fakten festgelegt ist, kann er auch neue Wirklichkeiten erfinden und neue Perspektiven eröffnen. Teilhard de Chardin versteht die Evolution als Weg vom Materiellen über das Lebendige zum Geistigen. Den Menschen überträgt er die Verantwortung für die Weiterführung dessen, was er für das Anliegen der Evolution hält, nämlich mehr Geist hervorzubringen, d. h. mehr Wohlstand, mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden, letztlich mehr Liebe. Emmanuel Lévinas geht darüber hinaus und verdeutlicht unsere persönliche Verantwortung für den anderen Menschen, der wir nur gerecht werden durch eine radikale Abwendung von aller Selbstbezogenheit und entschlossene Zuwendung zum anderen. Sie drückt sich in der ständig an uns gerichteten Frage aus: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Was lösen diese Skizzen von Menschenbildern bei uns aus? Wo müssten wir umdenken, was sollten wir nicht mehr tun und was sollten wir anders oder häufiger tun? Wir haben uns auch an die Soziologen der Moderne gewandt, die die Gefahren für das Menschenbild verdeutlichen: das stahlharte Gebäude, das Panoptikum, die Vertreibung aus dem Paradies, aber
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auch der Weg vom Statisten zum Regisseur, d. h. es gibt einen Freiheitsspielraum, den es zu nutzen gilt. Nutzen wir ihn, diesen Zuwachs an Freiheit, aus dem das Neue entstehen kann? Erkennen wir die Möglichkeiten zu gestalten und zu erneuern? Auch bei der Psychoanalyse haben wir nachgefragt und bei Jacques Lacan einen Entwurf gefunden, der am ehesten das andere Menschenbild in unserem modernen Kontext formuliert. Er sieht im Menschen kein einheitliches Wesen mit einer festen Identität, sondern ein Subjekt, in dem unterschiedliche Kräfte am Werk sind, das Je als ein Feuer, das nicht erlöscht, eine nicht versiegende Quelle von Energie, unbezähmbar und unkontrollierbar, und das Moi, als lernend, sich anpassend, auf den anderen ausgerichtet und selbsterneuernd. Es ist ein Bild vom Menschen, der durch die Wüste geht und den Verzicht kennt, der bereit ist, den anderen in seiner Würde, weil immer ganz anders, zu respektieren und zu lieben. Was löst dieser Entwurf in uns aus? Wissen wir um die unterschiedlichen Kräfte, die in uns am Werk sind? Kennen wir die Wüste und den Verzicht? Kennen wir ihn als Weg der zu ungewöhnlichen Erfahrungen und Leistungen befähigt? Dieses „andere Menschenbild“ gilt es wieder in einer Tradition zu verankern und über Rituale zu aktivieren. Als Gelegenheiten dazu haben wir das lernende Unternehmen beschrieben, das Weiterbildungstagebuch, die Seminare zu Menschenkenntnis und Führung. Wir haben darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, an sich selbst zu arbeiten und Selbsterneuerung zu üben. Welchen Beitrag bringen wir, um diese Tradition zu verstärken und weiterzuführen?
192 Auf dem Weg zu einem anderen Menschenbild
Sich auf die eigene Kultur besinnen Wir leben immer mehr in einer Weltgesellschaft. Dort kommt es darauf an, dass auch sie sich in Richtung lernendes System entwickelt und auch dort das „andere Menschenbild“ Respekt erfährt. Dazu ist es aber erforderlich, dass wir um es wissen, es erläutern und in kritischen Diskussionen auch vertreten können. Als vor einigen Jahren das Buch von Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, erschien, gab es viele Veranstaltungen, um dieses Thema zu diskutieren. Bei einer solchen Gelegenheit vertrat ein muslimischer Professor aus Kairo die Ansicht, dass ein solcher Kampf deswegen nicht stattfinden könne, weil die Muslime nicht auf eine Gegenposition stoßen würden, denn wir im Westen hätten die Wahrheit abgeschafft und würden keine Überzeugungen mehr vertreten. So würden wir unser Sonntagsgebot nicht einhalten, unsere Gebete nicht verrichten und unsere Fastenzeit nicht beachten. Wir würden unsere Frauen nicht ehren und unsere Familien nicht schützen und keinen Glauben mehr haben. Es fällt nicht schwer, uns solchen kritischen Bemerkungen gegenüber zu rechtfertigen, aber weisen sie uns nicht doch darauf hin, wie wichtig es ist, uns auf unsere eigenen Quellen und Grundüberzeugungen zu besinnen? Einige dieser Grundüberzeugungen tauchen in Form von Geschichten, Texten und Ritualen auf. Der mächtige König David begehrt die Frau eines seiner Heerführer. Er lässt diesen beseitigen, um dessen Frau zu besitzen. Aber seine Freude ist von kurzer Dauer. Ein Prophet weist ihn auf sein Unrecht hin, sodass er Buße tut. Ist uns denn bewusst, dass es auch solche Geschichten sind, die es ermöglichen, dass wir heute in einem demokratisch verfassten Land leben?
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Ist uns denn bewusst, dass es der Glaube an einen Gott ist, der mit den Menschen von Anfang an einen Bund geschlossen hat mit gegenseitigen Verpflichtungen, der dazu geführt hat, dass wir uns nie mit imperialen Verhältnissen abfinden konnten? Wissen wir denn noch, dass im Schöpfungsbericht unser Menschenbild mit Gottebenbildlichkeit und königsgleicher Gestaltungsmacht versehen worden ist? Weihnachten – die Menschwerdung Gottes als letztlich endgültige Zusage, dass es mit dieser Welt nicht mehr schief- gehen kann. Sünde – ein Hinweis darauf, dass in der Geschichte der Menschen sich eine Katastrophe ereignet hat, die dem Ganzen eine Richtung gibt, die nicht geplant war und die nicht ohne unsere Mitwirkung geschieht, und dass wir Schuld auf uns geladen haben. Das Kreuz – ein Zeichen der Erfahrung des Absurden, der Enttäuschung und der Verzweiflung. Die Auferstehung – die Erfahrung, dass das Absurde nicht das letzte Wort ist, dass jeder, der sein Leben auf die Werte der Bergpredigt setzt, letztlich nicht scheitern kann, selbst wenn er dem Absurden begegnet. Die Menschenbilder in den Schriften des Neuen Testamentes prägen nach wie vor unser Denken. Es sind vor allem drei Autoren, die wir herausgreifen können (Klumbies, 2003): Paulus, Markus und Lukas. Paulus setzt sich mit Leidenschaft für die Freiheit des Menschen ein. Eine solche Vehemenz setzt die Erfahrung der Unfreiheit voraus. Paulus sieht den Menschen in seiner Vergänglichkeit und in seiner Verwundbarkeit begrenzt. Er selbst hat Folterungen erlitten und Behinderungen ertragen. Als Völkermissionar hat er auf Grund mangelnder Fähigkeiten Spott ausgehalten. Auch soziale Defizite gehören dazu. Er ist nicht verheiratet und hat keine Familie. Aber der Sexualität sieht er sich
194 Auf dem Weg zu einem anderen Menschenbild ausgeliefert. Gier, Neid, Ruhm- und Habsucht, Prahlerei machen Paulus zu schaffen. Die Einrichtungen der Gesellschaft dämmen nur den rohen Egoismus ein. Das Geflecht aus Regeln und Ordnungen führt zu einem Normenkorsett, das zu kraftlos ist, um den Gewaltzustand im Menschen und zwischen Menschen zu beenden. Es kommt auf den Geist an, der die Beziehungen mit Leben füllt. Glaube bedeutet, sich auf die gelebte Stunde seines Lebens zu konzentrieren und aufzuhören, sich an vergangene Verdienste und zukünftige Projekte zu hängen. Dieser Glaube, der den Menschen nur noch in einer einzigen Abhängigkeit von Gott sieht, der erlebt die Befreiung von anderen Zwängen, der erfährt die Erleichterung, wenn der Druck auf seine persönliche Lebensführung weicht. Markus geht es um die Qualität der Beziehungen der Menschen untereinander. Er schildert Jesus als jemanden, der gegen die Fremdbestimmung des Menschen kämpft, nämlich in Form von Ausgrenzung und Statusstreben. Vier Männer bringen einen Gelähmten zu Jesus, müssen aber durch das Dach steigen, weil die Menge sie nicht durchlässt. Wo Krankheit herrscht, muss Schuld vorliegen, sodass der Kranke auch ein gestörtes Gottesverhältnis hat. Er erlebt den Ausschluss von Lebenschancen. Jesus setzt sich mit einem Zöllner, einem Kollaborateur mit der römischen Besatzungsmacht, an einen Tisch, ein skandalöses Verhalten. Ausgrenzung als Zeichen des unsauberen Geistes. Die Sorge um den eigenen Status – ein weiteres Kennzeichen des unsauberen Geistes. Diese Sorge äußert sich im Rangstreit der Jünger darum, wer von ihnen der Größte ist, wer Jesus am nächsten sitzen darf. Statusbedürfnis als Geltungswunsch und Erhöhungsphantasie. Jesus geht es um Integration und Sozialisation. Der Gelähmte wird seines intakten Gottesverhältnisses vergewissert. Die physische Heilung ist nur ein äußeres Zeichen dafür.
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Der Zöllner und die anderen Sünder erfahren die Zuwendung Jesu als heile Gottesbeziehung, die sich in gelingender menschlicher Gemeinschaft widerspiegelt. Statusbedürfnisse will Jesus nicht befriedigen, mit äußeren Zeichen der Macht will Jesus weder sich noch seine Anhänger ausstatten. Ausgrenzungen will er beheben und Menschen zusammenführen. Lukas wendet sich dem einzelnen Menschen zu, den es zu verbessern gilt, den er als Mängelwesen sieht. Aber er kann etwas daran ändern, indem er sich auf sich selbst bezieht und versucht, die Botschaft des Geistes Jesu in sich selbst zu entdecken, um sich daran orientierend an sich selbst zu arbeiten.
In fremden Kulturen das andere Menschenbild ausfindig machen Diese Überlegungen zeigen uns, wie vielgestaltig das Menschenbild in diesen Texten ist. Es reicht von der Betonung menschlicher Freiheit, über seine Angewiesenheit auf die Beziehung zu anderen, bis zur Einsamkeit des Menschen vor Gott, von wo her er an seiner weiteren Entwicklung arbeitet. Dieser Arbeit an uns selbst können wir uns nicht entziehen. Denn es geht darum, auch die Weltgesellschaft zu einem lernenden System zu machen, damit, ähnlich wie zwischen den Nationen Europas, Grenzen überwunden und Verständigung erzielt werden kann, sodass keine Waffen mehr erhoben werden. Die Besinnung auf die alte Tradition seines Menschenbildes ist Voraussetzung, um auch von anderen lernen zu können, und Ziel ist es, in der Begegnung mit fremden Kulturen das „andere Menschenbild“ auch bei ihnen ausfindig zu machen.
Literatur 197
Literatur
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Der Autor 201
Der Autor
Dr. Helmut Geiselhart verheiratet, Vater von drei Kindern, wohnhaft in Paris. Er studierte Philosophie und Theologie in München und Innsbruck sowie klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Universität René-Descartes-Sorbonne und promovierte in klinischer Psychologie an der Universität Paris VII, Sorbonne-Nouvelle. Geiselhart leitet sein eigenes Institut für Managementberatung und Trainings mit dem „Lernenden Unternehmen“ als Leitidee. Außerdem ist er als Top-Management-Coach tätig. Seine Bücher „Wie Unternehmen sich selbst erneuern“ (1995); „Das Managementmodell der Jesuiten“ (1999) und „Das lernende Unternehmen im 21. Jahrhundert“ (2001) sind ebenfalls bei Gabler erschienen.
Stichwortverzeichnis 203
Stichwortverzeichnis
A Amygdala 51, 53, 141 Angewiesenheit 146 Assessmentcenter, alternatives 154 Augustinus 22 Autismus 70 Autonomie 133, 140, 166 Autopoiese 125 Axon 45
B Baumann, Zygmunt 19 f. Beck, Ulrich 83, 91 ff. Bedürfnis 104 Bescheidenheit 146 Besser-als-erwartetEffekt 55 Bestandsaufnahme 149 Biographischer Werdegang 149 Bittelmeyer, Andrea 166 Blinder Fleck 124, 166 Borderline 69, 71 Bronfen, Elisabeth 25
C Chardin, Teilhard de 98, 142, 190 Coaching 147 Critical Incidents 34
D Dankbarkeit 173 Dendrit 44 Depression 23, 27 Descartes, René 22 Dopamin 55, 141 Drei-Welten-Lehre 168
E Edelman, Gerald M. 60 Einfühlsamkeit 141 Einmaligkeit 140 Emotion 51 Enneagramm 158, 159 Epigenese 63 Erikson, Erik 75 ff.
F Feedback 37 Foucault, Michel 83, 86 ff., 170
204 Stichwortverzeichnis Freundschaft 95, 170 Führung 164 Führungsinstrument 168
G Gehirn 43 f., 47, 55, 141 Geistliche Übung 171 Generativität 80 Genogramm 158 Gesetz 110 Gießen-Test 159 Goller, Hans 97 Gruppenleistung 169
H Halo-Effekt 161 Hierarchie 133 Hintergrundwissen 166 Hippocampus 51 ff., 141 Hobson, Peter 67 f., 70 Hysterie 23, 25
I Ich-Identität 97 Identität 24, 79 Identitätsbildung 81 Identitätsdiffusion 79 Ignatius von Loyola 171, 174 inneres Auge 49, 62 Integration 133
K Kafka, Franz 23 Klumbies, Paul-Gerhard 193 Kommunikation 165 Konfabulation 57 Konstruktivismus 33, 145, 190 Konvergenzzentrum 134 Körperabbildung 96 Körperbild 16 Kortex 52, 141 Kritikfähigkeit 167
L Lacan, Jacques 100 ff., 191 Lebenskunst 169 Lernfähigkeit 141 Lesekunst 175 Lévinas, Emmanuel 72 ff., 141, 190 Luhmann, Niklas 83, 90 ff. Lyotard 19
M Management Appraisal 32 Maturana, Humberto 125 Mensch 35 beschädigter 23 effizienter 28 flexibler 28 getriebener 28 gläserner 31 Menschenbild 15, 17, 28
Stichwortverzeichnis 205
Menschenkenntnis 157, 162 Metaerzählung 19 Metakommunikation 169 Metareflexion 169 Metarepräsentation 61
N Nervenzelle 46 Neurologie 13, 43, 62 f. Noosphäre 100
P Panoptikum 86, 87 Persönlichkeit depressive 27 hysterische 23 narzisstische 25 operative 26 Philosophie 167 Popper, Karl 33, 127, 168, 190 Prigogine, Ilya 19, 21 pseudoobjektiv 38 Psychoanalyse 13, 100, 191
R Rationalismus, kritischer 33, 47, 145 Reentry 57 f., 60 Riemann, Fritz 160 Ritual 147 Röntgen 106
S Schmelzofen 20, 22 Schroer, Markus 85 ff., 92 f. Schuldgefühl 78 Seibt, Friedrich 159 Selbstbild 17 Selbsterneuerung 137, 174 Selbstreflexion 151 Selbsttechnik 94 Selbstthematisierung 136 Sennett, Richard 28 ff. Singer, Wolf 50, 60 Sinn 13, 56, 141, 168 Spiegelstadium 102 Spiegelzelle 48 Spitzer, Manfred 49, 54 Split Brain 56 stahlharte Gehäuse 84 Symbol 65 Synapse 44, 46 Systemtheorie 123, 143
T Test 151 Textbetrachtung 175 Thalamus 52 f., 141 Tomasello 64, 69
U Unternehmen, lernendes 131, 139 Urphantasie 101 Urvertrauen 76
206 Stichwortverzeichnis
V Varela, Francisco 125 Verallgemeinerung 161 Verlangen 105 Vermutungswissen 33, 47 Vernetzung, laterale 133 Verzicht 107 Vorurteil 162
Wahrheit 146 Weber, Max 83 ff., 170 Wegscheidung 21 Weiterbildungstagebuch (WBT) 148 Weltgesellschaft 192 Weltgesellschaft ff. 131 Wende, kopernikanische 67 Wissensgesellschaft 131
W Wagenhebereffekt 64
Z Zukunft 150