WIENER VORLESUNGEN IM RATHAUS Band 46 Herausgegeben von der Kulturabteilung der Stadt Wien Redaktion Hubert Christian Eh...
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WIENER VORLESUNGEN IM RATHAUS Band 46 Herausgegeben von der Kulturabteilung der Stadt Wien Redaktion Hubert Christian Ehalt
Vortrag im Wiener Rathaus am 25. Mai 1995
NIKLAS LUHMANN
DIE NEUZEITLICHEN WISSENSCHAFTEN UND DIE PHÄNOMENOLOGIE
PICUS VERLAG WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Luhmann, Nildas: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie: [Vortrag im Wiener Rathaus am 25. Mai 1995]1 Niklas Luhmann.- Wien: Picus Verl., 1996 (WieDer Vorlesungen im Rathaus; Bd. 46) ISBN 3-85452-345-9 NE:GT
Copyright © 1996 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Graphische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Druck und Verarbeitung: Tbeiss Druck, Wolfsberg ISBN 3-85452-345-9
Die im Frühjahr 1987 gegründeten Wiener Vorlesungen haben sich zu einem internationalen Forum für bedeutende Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Politik entwickelt. Die Vorlesungen haben das Wiener Rathaus für eine engagierte Diskussion über die Alltagsfragen der kommunalpolitischen Willensbildung hinaus geöffnet. Es ist meine Auffassung, daß Wissenschaft und ihre Vermittlung an eine größere Öffentlichkeit eine untrennbare Einheit bilden sollten. Bei den Wiener Vorlesungen ist dies immer wieder ausgezeichnet gelungen. Das Reizvolle an den Vorlesungen, die mittlerweile zu einem intellektuellen Jour fixe im Rathaus geworden sind, besteht für mich vor allem darin, visionäre Persönlichkeiten zu gewinnen, die über die manchmal sehr engen Grenzen der einzelnen Disziplinen hinauszugehen vermögen. Es ist immer wieder gelungen, »Querdenker« im Rathaus zu Wort kommen zu lassen, die Anstöße dazu geben, vertraute Probleme in einem neuen Licht zu sehen, Anstöße, damit - was in vielen Bereichen sehr notwendig ist - das Denken die Richtung wechseln 7
kann. Denn die kritische Analyse der Verhältnisse in emanzipatorischer und aufklärerischer Absicht ist für mich immer eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft gewesen. In diesem Sinne freue ich mich über die Publikation der Wiener Vorlesungen, die die Impulse der Vorträge und Diskussionen in eine größere Öffentlichkeit trägt und dem gesprochenen Wort die Dauer der geschriebenen Worte verleiht. URSULA PASTERK,
STADTRÄTIN FÜR KULTUR
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I Seit Husserls Wiener an die heute zu erinnern ist, sind 60 Jahre' verstrichen - eine lange Zeit, selbst für philosophische Reflexionen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Art, wie sie beobachtet und beschrieben werden, haben sich in wichtigen Hinsichten geändert. Soziologisch gesehen fällt diese Zeitdistanz so sehr ins Gewicht, daß mit einer Textexegese nach hermeneutischen Direktiven nicht viel auszurichten ist. Statt dessen soll der Text zunächst in die kommunikative Situation seiner Zeit zurückversetzt werden, damit man erkennen kann, wogegen er, ohne es im Text selbst zu sagen, gerichtet war!. Zum Zeitpunkt der Wiener Vorträge Husserls schienen diktatoriale Regimes, die man im Rückblick faschistisch nennt, in unaufhaltsamem Vormarsch zu sein. Die bürgerlichen Intellektuellen blickten mit Sorge auf die wenigen noch funktionierenden Demokratien, die, eingeklemmt zwischen kommunistischen und faschistischen Diktaturen, einen Restbestand an Freiheit zu bewahren schienen. Aber mit welchen Aussichten - vor allem im jederzeit möglichen Kriegsfall? Die Aufmerksamkeit war in dieser Lage auf Politik gerichtet, und dies auf der Grundlage eines spezifisch europäischen Erwartungshorizontes. Einer der aufmerksamsten soziologischen Beobachter des nationalsozialistischen DeutscWands, der Amerikaner Talcott Parsons, hatte bis zum Ende des Zwei9
ten Weltkrieges ein sehr skeptisches Bild der Auswirkungen typischer Strukturen der Modeme vertreten, vor allem ihrer Tendenzen zur Rationalisierung und Differenzierung. Die Diagnose lautete: Destabilisierung, ökonomische Krisen, politische Polarisierungen, antidemokratische Regimes 2• Nach dem zweiten Weltkrieg ist nicht mehr Deutschland, sondern die USA das Leitmodell, und die Farben werden heller und freundlicher. Die optimistischen Variablen heißen bei Parsons schließlich: adaptive upgrading, differentiation, inclusion, value generalization.3 Intellektuelle, die den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, neigten zunächst zu einer positiveren Einschätzung der Lage. Zugleich verlagerten sich die Probleme auf die Konfrontation des »kalten Krieges« und damit auf Mächte, die nicht mehr als europäisch wahrgenommen wurden, wenngleich ihre Ideologien ihren europäischen Ursprung nicht leugnen konnten. Nach dem Zusammenbruch dieser Frontstellung ist eine neue internationale Unordnung entstanden, die mit ihren Konflikten eher auf weltgesellschaftliche Probleme verweist, etwa auf die Frage, ob der Staat, eine europäische Erfindung, überhaupt ein geeignetes Ordnungsmodell ist für Territorien, die von ethnischen, tribalen oder von religiösen Konflikten geprägt sind, welche sich nicht durch unterschiedliche, aber wählbare politische Parteien repräsentieren lassen. Außerdem treten die ökonomischen und die ökolo10
gischen Probleme mehr als bisher ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit. Sie erscheinen vor unseren Augen mit einer Eigendynamik und auch mit einer Eige~ynari::rik eigenen zeitlichen Fatalität, die die Staaten und damit die Politik offensichtlich überfordert. Zu den vielleicht auffälligsten Veränderungen gehört das Verschwinden der bäuerlich-handwerklichen Familienökonomie überall in Europa, selbst in rasantem Tempo im Süden, ohne daß auf struktureller Ebene eine adäquate Nachfolgeinstitution in Sicht wäre. 4 Weltweit sind ähnliche Veränderungen zu beobachten und in weniger reichen Ländern ohne funktionierenden »Wohlfahrtsstaat« mit sehr viel katastrophaleren Folgen. Das Leben mag sich noch in »Familien« oder ähnlichen Lebensgemeinschaften vollziehen, aber es ist jetzt bis in die Details hinein vom Markt und von Organisationen der Berufsarbeit, der Produktion und der Dienstleistung abhängig, also von Veränderungen abhängig, die vom einzelnen als extern und als unbeeinflußbar empfunden werden. Die Integration von Individuum und Gesellschaft wird zur Angelegenheit von Konjunkturen und Karrieren - K.u.K., wenn man will. Auf Makroebene sind ebenso spektakuläre Veränderungen zu nennen. Die rasante Entwicklung der internationalen Finanzmärkte, das Entstehen immer neuer Finanzinstrumente und die damit verbundene Volatilität aller Geldanlagen haben mehr oder weniger tiefgreifende Versuche einer sozialethisch moti11
vierten sozialistischen Politik buchstäblich, vom Markt gefegt und sie, in der Politik selbst, auf Restbestände rhetorischer Kontroversen reduziert. Weder sieht man, wie die offensichtlich vorhandenen riesigen Mengen anlagebereiten Geldes zu Investitionen motiviert werden können, noch gelingt es, die entstandene Divergenz von Betriebserhaltung und Vermögenserhaltung politisch zu kontrollieren. Die Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländer einerseits und massenhafte demographische Bewegungen andererseits sind zum Thema politischer Ratlosigkeit geworden und werden dies trotz einer Vielzahl von Interventionsversuchen bleiben. Allein schon die Tatsache, daß »Regulierung« und »Intervention« prominente Politikbegriffe geworden sind, verrät eine neue Art von Problembewußtsein. Mit all dem sind die Auswirkungen der Wissenschaft auf Politik und WIrtschaft noch gar nicht erwähnt. Man denke an die Konsequenzen der Freisetzung von atomarer Energie für Kriegsführung und Energieproduktion. Man denke an die unübersehbaren Folgen von Eingriffen in die genetischen Strukturen, die das Leben auf der Erde bisher bestimmt haben. Man denke an die Herausforderungen, die sowohl im Bereich der Medizin als auch in anderen ökologischen Fragen auf die Wissenschaft zukommen, heute bereits weitgehend im Wettlauf mit den durch die Wissenschaft selbst ausgelösten Veränderungen. Zieht man all dies in Betracht, dann verschie12
ben sich auch die Probleme, die Husserl in seiner Kritik der neuzeitlichen Wissenschaften vor Augen hatte. Die Klage über die mangelnde humanethische Orientierung ist nicht 'verstummt; aber hinzukommt das vielleicht gravierendere Problem, daß die Wissenschaften mit jedem Wissensgewinn noch mehr Unwissen erzeugen, und dies vor allem in den praktisch drängenden Fragen einer Kontrolle der Kausalität von Veränderungen, also etwa im Bereich von präventiver Medizin, bei Therapien jeder Art oder in der Voraussicht von ökologischen Konsequenzen einer bereits praktizierten im Vergleich zu einer geänderten Technologie. Schließlich ein Wort zum Stellenwert von Technik. Während Husserl sich in der Haupttendenz auf einen alteuropäischen Begriff von Vernunft beruft, ist Technik für ihn ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. Es geht nicht mehr um Logos und List5, nicht mehr um das listige Einfädeln mechanischer Ursachen in eine komplexe, Formen, Materien und Endzustände umfassende Ursachenkonstellation. Die Tradition der Rationalität wird also sehr verkürzt rezipiert. Ebenso einseitig ist das auf die Neuzeit bezogene Urteil. Gewiß ist es gut, sich daran zu erinnern, wie erstaunlich - admirabile - die Art und Weise ist, in der Newton mit Sonne, Mond und Sternen umgeht. Aber das kann doch wohl kaum dazu führen, daß man die Sache vom Gegenbegriff der »Lebenswelt« aus negativ beurteilt. Für Husserl besteht ein enger Zusammenhang 13
zwischen Technik und neuzeitlicher Wissenschaft als einer Fehlentwicklung vernünftiger Rationalität. Technik wäre danach angewandte Wissenschaft, und im Vorausblick auf Möglichkeiten ihrer technischen Realisierung läge dann der Sündenfall eines sich verirrenden Rationalismus. 6 Heute sehen wir das anders. Die historische Technikforschung hat gezeigt, daß die Technikentwicklung sich bei der Lösung ihrer eigenen Probleme in der Regel nicht auf eine bereits vorhandene wissenschaftliche Erkenntnis stützen konnte; das gilt zum Beispiel für die Entwicklung kontrollierbarer Dampfmaschinen. Es gilt für die Erfindung von Computern bis hin zur Minimisierung ihrer operativen Bestandteile, wobei das Problem ja nahezu ausschließlich in der Produktionstechnologie gelegen hatte. Erst recht zeigen heutige Probleme der technischen Bekämpfung von Folgeproblemen der Technik (Sicherheitstechnologien, Abgasreinigung, Mülldeponien usw.), daß man auf Experimentieren mit Modellversuchen angewiesen ist und nicht in Büchern nachlesen kann, wie es zu machen ist. Damit ist nicht bestritten, daß grundlegende wissenschaftliche Entdeckungen, etwa die der Quantenphysik oder die der Biogenetik im Laufe der Zeit auch weitreichende technologische Konsequenzen hatten; aber sie waren als Theorie nicht patentfähig. Auch die Naturwissenschaften selbst haben sich grundlegend verändert; und zwar in genau dem Punkt, in dem sich die Geisteswissenschaften von ih14
nen unterscheiden konnten. Die Naturwissenschaften sind, von der Physik bis zur Biologie, selbstreflexiv geworden. Sie handeln von sich selbst beobachtenden Gegenständen. Kognition setzt ein quantenphysikalisch funktionierendes Gedächtnis voraus. Die Mikrophysik verändert durch ihr Beobachten den Gegenstand, den sie beobachtet. Die Biologie verdankt sich lebenden Biologen. Die Fiktion einer kognitionsfrei existierenden Realität mußte schon mit Heisenberg aufgegeben werden; und wenn eine solche Realität denn existiert, zeigt sie keine Eigenschaften, an die eine Beschreibung anknüpfen könnte. Ich werde darauf zurückkommen. Zunächst ist nur festzuhalten, daß für solche Erkenntnisse nicht, wie Husserl meinte, »Geist« erforderlich sei. Sie ergeben sich vielmehr aus der Universalisierung der Erkenntnisprojekte der Naturwissenschaften, also aus einem Programm, das Autologien, das Anwendung auf sich selbst erzwingt - oder in seiner Weltintention unvollständig bleibt. Und nicht zuletzt reagieren auch die Intellektuellen heute skeptischer. Im sogenannten »postmodernen« Diskurs gelten grundlegende Annahmen der Modeme als durch Fakten widerlegt: die Vernünftigkeit des Wirklichen durch Auschwitz, die sozialistischen Hoffnungen durch Stalin, die Prinzipien der Marktwirtschaft durch riesige Finanzspekulationen und die auf Demokratie bezogenen Erwartungen durch die 68er Bewegung und ihre Folgen.7 Die jetzt geltende 15
Losung, der jetzt geltende »métarécit« lautet: es gibt keine konsensfähigen métarécits mehr. Viele der Selbstverständlichkeiten in Husserls eigener Lebenswelt und besonders die Voraussetzungen, die es ihm ermöglicht hatten, das neuzeitliche Projekt einer wissenschaftlich orientierten Technik in seine Schranken zu weisen, erscheinen heute als überholt. Erst recht dürfte dies für die positive Seite dieser Kritik, für das Vertrauen in die Heilungskräfte des abendländischen Vernunft-Telos gelten. Wie Joachim Ritter eindrucksvoll gezeigt hat, lassen Philosophien sich durch die gesellschaftlichen Probleme ihrer Zeit inspirieren, ohne daß dies in den Theoriefiguren und in den Argumenten unmittelbar zum Ausdruck kommt. 8 Was für Aristoteles und für Hegel nachweisbar ist, mag auch für Husserl gelten. Eine Wiederbegegnung mit Husserls transzendentaler Phänomenologie und mit den Ausformungen, die sie im Spätwerk gefunden hat, wird dem Rechnung tragen müssen. Das sollte weder als Kritik verstanden werden noch, wie unter Philosophen weithin üblich, als Obduktion und als sachgemäße Textverwaltung. Vielmehr geht es um die Suche nach einer Form, in der das unter dem Namen Philosophie akzeptierte unbedingte Theorieinteresse angesichts veränderter Bedingungen fortgesetzt werden kann. Schließlich hat die Philosophie selbst Husserls Wegweiser nicht beachtet, auch wohl: nicht beachten können. Sie hat gleichzeitig verschiedene Wege be16
schnitten. Manche Philosophen sind nur noch an der Textgeschichte des Faches interessiert, andere an Modethemen wie Postmoderne oder Ethik; wieder andere präsentieren die Verlegenheiten einer Gesamtsicht literarisch oder feuilletonistisch; und am schlimmsten vielleicht: die an Pedanterie grenzende Bemühung um mehr Präzision. Für einen externen Beobachter jedenfalls ist das nicht erkennbar, was Husserl vorgezeichnet hatte: eine Entelechie der selbstkritischen Vernunft. Kritik - das heißt nur noch: Beobachtung von Beobachtungen, Beschreibung von Beschreibungen von einem ebenfalls beobachtbaren Standpunkt aus.
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Die erste Aufgabe wird deshalb sein, e1lllge Eigentümlichkeiten des Husserl-Textes herauszuarbeiten, bei denen zweifelhaft sein kann, ob und wie Kontinuität möglich ist. Ich halte mich dabei im wesentlichen an die Wiener Vorträge, gelegentlich aber auch an die in Buchform ausgearbeitete Vorlage, also an »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie«. Am auffälligsten ist vielleicht der Eurozentrismus, wie man ihn sonst im 20. Jahrhundert kaum noch findet. Das europäische Menschentum befindet sich in einer Krise, das europäische Menschentum muß ge17
rettet werden - und zwar durch sich selbst. Das hat sicher nichts mit Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung zu tun, wohl aber mit einem geistigen Überlegenheitsbewußtsein, das nicht nur »die Zigeuner« ausschließt, »die dauernd in Europa herumvagabundieren«, sondern auch eine Europäisierung aller anderen Menschheitsgruppen in Betracht zieht, »während wir, wenn wir uns recht verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden.«9 Kein Blick auf die politischen und ökonomischen Verhältnisse auf dem Erdball, kein Gedanke an die Möglichkeit, daß europäische Traditionen allmählich in anders strukturierten weltgesellschaftlichen Verhältnissen aufgehen könnten. Die Emphase von Krisis und Rettung durch sich selbst verdankt sich diesen Ausblendungen, die schon unglaubwürdig sind und es jedenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich sein werden. Ein weiteres Problem liegt in der Berufung auf Kultur. Daß eine universell orientierte Philosophie sich unter anderem auch mit Kultur befaßt, ist verständlich. In einer am Ende des 18. Jahrhunderts üblich gewordenen Ausdrucksweise spricht man von Philosophie der Kunst, Philosophie des Rechts, Philosophie der Geschichte, sogar Philosophie der Religion usw.; warum dann nicht auch Philosophie der Kultur? Daß Philosophie sich selbst für Kultur hält, muß dagegen erstaunen. Philosophie sei ein Resultat einer spezifisch europäischen Kulturentwicklung? Es gibt also eine Eßkultur, eine Kultur der Manieren, ei18
ne Wohnkultur - und dann auch noch eine Kultur des Philosophierens. Was kann das heißen? Jetzt ist daran zu erinnern daß der heute gebräuchliche Begriff der Kulture ine Erfindung, eine europäische Erfmdung des späten 18. Jahrhunderts gewesen ist. Damals ging es anscheinend darum, die immensen, in regionaler und historischer Hinsicht expandierenden Vergleichshorizonte der modemen Gesellschaft unter eine begriffliche Kontrolle zu bringen. Es wurde keineswegs bestritten, daß die Dinge, die Texte, die Praktiken ihren unmittelbaren Gebrauchssinn haben und behalten; aber alle menschlichen Artefakte und schließlich sogar die Art, wie »Natur« gesehen oder empfunden wird, wurden dupliziert und zusätzlich noch als Zeugnisse von Kultur beschrieben. Jetzt erst wird alles, was vorher schon da war, und alles, was in anderen Regionen des Erdballs existiert, zur Kultur erklärt und als Kultur erklärt. Jetzt erst gibt es überhaupt Kultur, weil man erst jetzt in dieser Begrifflichkeit denken, darüber reden, darüber schreiben kann. Kybernetisch gesprochen wird damit eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, ein Beobachten von Beobachtern über die Dinge gelegt. Daß damit die, wie Schiller sagen würde: »naive«, wie Husserl dann sagt: »natürliche« oder »lebensweltliche« Einstellung nicht beseitigt wird, ist immer unbestritten geblieben. Aber was kommt hinzu? Oder: welche neuen Beschränkungen ergeben sich daraus, daß jetzt 19
die naiv praktizierte Religion damit rechnen muß, daß sie als Kulturerscheinung beobachtet, verglichen, zensiert wird? Und muß man diese Frage nicht auch an die Philosophie richten? Muß sie jetzt im Namen von Authentizität, Echtheit, Eigentlichkeit einen Widerstand gegen Kultur organisieren? Aber wenn, bleibt auch dies bloße Reaktion ohne Begriff für die Einheit der Differenz von vergleichbar und unvergleichbar. Die Attitüde kennt man seit Rousseau: »Si je ne vaux pas mieux, au moins je suis autre«, heißt es am Anfang der Confessions. 10 Aber wenn diese Auffassung gedruckt, zitiert und kopiert wird, läßt die Faszination rasch nach. Die Kultur saugt auch das noch auf. Husserl entkommt dieser Frage durch die Unterstellung eines historisch einmaligen Vorgangs der, wie er sagt: »Umstellung« einer natürlichen auf eine theoretische Einstellung. Selbst wenn man das konzediert, kommt man aber nicht um die Frage herum, welchen Bedingungen die Philosophie zu genügen hat, wenn sie Kultur sein will oder zu sein hat. Wenn unter diesem Etikett alle ihre Annahmen der Vergleichbarkeit ausgesetzt sind und wenn in den Endloshorizonten der Vergleichbarkeit immer die Frage nach dem Standort auftaucht, von dem aus verglichen wird: muß die Philosophie dann nicht die Suche nach einer Abschlußformel - sie mag »Geist« lauten oder »transzendentales Subjekt« - aufgeben und Formen finden, die sie mit ihrer eigenen Kontingenz versöhnen? 20
Husserl löst, und das ist meine dritte Bemerkung, dieses Problem mit Hilfe einer bestimmten Unterscheidungstechnik auf; oder er verdrängt es damit zumindest. Es handelt sich um Unterscheidungen mit eingebauter Asymmetrie, so daß die eine Seite der Unterscheidung zugleich die Unterscheidung selbst dominiert. So halten Moralisten die Unterscheidung von gut und böse selbst für gut, und Juristen zweifeln nicht daran, daß Gerichte berechtigt sind, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sofern es nur rechtmäßig geschieht. Mit etwas Scharfblick kann man in dieser Form des Unterscheidens eine hierarchische Herrschaftstechnik erkennen, mit der derjenige, der über die positive Seite der Unterscheidung verfügt, sich zugleich zum Herrn über beide Seiten aufschwingt. Louis Dumont hat diese Form von Hierarchie als »englobement du contraire« bezeichnet. Bei Husserl ist die Hierarchie nicht mehr zu erkennen, wohl aber die Form des Unterscheidens, die, wenn man nicht aufpaßt, hierarchische Prätentionen reproduziert. So ist bei der Unterscheidung von natürlicher und theoretischer Einstellung die letztgenannte berufen, die Unterscheidung selbst zu formulieren (so wie bei Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung nur die sentimentalische Dichtung weiß, daß die naive Dichtung naiv ist). Und ebenso dominieren die Geisteswissenschaften die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften; denn nur die Geisteswissenschaften können 21
(nach Husserl) die Frage stellen, in welchem Geiste die Naturwissenschaften ihre Forschungen betreiben. Logisch honoriert diese Unterscheidungstechnik die Regel des ausgescWossenen Dritten und bezahlt dafür mit der ambivalenten Stellung des Positivwertes. Aber sie bietet keine Ersatzlogik, keine strukturreichere Logik an, wie sie zum Beispiel Gotthard Günther mit dem Konzept der transjunktionalen (weder konjunktionalen noch disjunktionalen) Operationen - zumindest anvisiert hatte.11 Der Beobachter, der die Unterscheidung macht und schon deshalb in ihr nicht vorkommen kann, sichert sich selbst einen Platz auf der von ihm bevorzugten Seite. Dieses Manöver kann man heute durchschauen. Das aber führt die Philosophie vor die Frage, was sie verdeckt, wenn sie diese Ambivalenz, ohne sie zu benennen, produziert und akzeptiert. Gibt uns das einen ScWüsseI für die Antwort auf die Frage, wie die eigentümliche Leitfigur der europäischen Modeme durch Husserl in Stellung gebracht wird? Und wie es dann überzeugend so aussehen kann, als ob die Lösung des Krisenproblems nur im Wege der europäischen Selbsthilfe gefunden werden kann? Ein vierter und letzter Gesichtspunkt betrifft Husserls Verhältnis zur Tradition. Auch hier entdeckt man leicht eine theoriestrategisch plazierte Ambivalenz, wenn nicht ein Paradox. Kernstück der europäischen Vernunftrationalität ist »die eigentümliche Universalität der kritischen Haltung, die entscWossen ist, 22
keine vorgegebene Meinung, keine Tradition fraglos hinzunehmen, um sogleich für das ganze traditionell vorgegebene Universum nach dem an sich Wahren, einer Idealität, zu fragen.«12 Genau diese theoretische Einstellung wird aber selbst als Tradition eingeführt und durch Tradition legitimiert. Wie käme man sonst dazu, es am 7. und 10. Mai 1935 in Wien einfach zu behaupten. Eine solche Tradition des Antitraditionalismus kann man im übrigen auch für die neuzeitlichen Wissenschaften insgesamt feststellen. 13 Von der Philosophie aber wäre zu erwarten, daß sie auch dies noch reflektiert. Einem späteren, externen Beobachter, uns also, fällt auf, daß Husserl von einer eigentümlichen Gegenwärtigkeit der Tradition ebenso wie von der Entelechie der europäischen Philosophie ausgeht, von einer Gegenwärtigkeit des Ursprungs als immer noch mögliches, ja zu forderndes Motiv und einer Gegenwärtigkeit der Idee eines im Unendlichen liegenden Zieles. Ursprung und Ziel sind als Gegenwart dasselbe. Das sind, wie Analysen einer historischen Semantik nachweisen könnten, Temporalstrukturen einer Adelsgesellschaft, die aus dem Ursprung einer Stadt oder eines AdelsgescWechtes Anforderungen an die Tugend der gegenwärtig Lebenden ableitete' und deshalb die Vergangenheit nicht als entschwunden und die Zukunft nicht als offen behandeln konnte. Es ging um Perfektion und Korruption, um normative Idealität und Devianz. Die Erfindung von Kultur, die die historische Zeit nur noch als Ver23
gleichshorizont und den Zeitgeist als prekäre Position eines Beobachters etabliert hatte, hatte aber einen Bruch zwischen Erfahrung und Erwartung (Koselleck) eingeführt, und das hatte Unterscheidungen wie die von naiver und sentimentalischer Dichtung (Schiller) oder Christenheit und Europa (Novalis) ermöglicht. Husserl mutet der Philosophie zu, für sich selbst jene Einheit von Vergangenheit und Zukunft, jene traditionsbegründete Entelechie wiederherzustellen, um Europa zu retten - aber dies in einer Gesellschaft, die aus vielerlei Gründen sich selbst in dieser Zeitformation nicht mehr unterbringen, nicht mehr wiedererkennen kann. Wie soll das gehen? Mit Hilfe der verzweifelten These: »Ideen sind stärker als alle empirischen Mächte«14? Wenn man nicht nur einem psychologischen Motivverdacht oder einem soziologischen Ideologieverdacht nachgeht, sondern die Frage stellt, was unbeleuchtet bleibt oder ausgeschlossen wird, wenn man selbstkritische Vernunft als historisches Erbe und als Verpflichtung des »europäischen Menschentums« proklamiert, endet man bei der Frage, ob (und wie) auch dies durch selbstkritische Reflexion wieder eingeholt werden könne. Es könnte ja sein. Aber wenn, dann würde das ganz andere Theoriefiguren erfordern als die, die mit dem Begriff des transzendentalen Subjekts, Husserls Leitfigur, bereitgehalten werden. Zunächst aber ermöglicht das Beiseitelassen dieser Frage nach der anderen Seite der behaupteten Form 24
einen Appell an Vernunft in einer historisch-politischen Situation, die dies bitter nötig hatte. Die Alternative wäre gewesen, auch dies noch zu »dekonstruieren« und sich dem Paradox einer unkritisch-selbstkritischen Vernunft zu stellen.
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Diese hier nur knapp angedeuteten Überlegungen könnten uns dazu bringen, in Husserls Wiener Vorträgen nur noch ein historisches Ereignis zu sehen, das aus seiner Zeit heraus verständlich ist, aber für uns und nach unseren Zeitvörstellungen in einer Vergangenheit liegt, die in immer weitere Femen rückt und schon heute nur noch Philosophiehistoriker interessieren kann. Dem kämen die Neigungen der Philosophie zur Selbstmusealisierung entgegen; oder die Art, wie in Frankfurt Kritik als emphatische Ablehnung des Gegenstandes der Kritik verstanden wird; oder die Nachlässigkeiten, die unterlaufen, wenn Soziologen noch heute von »phänomenologischer« Soziologie sprechen und damit in die von Husserl sorgfältig vermiedene Falle des Objektivismus laufen, der zu all dem noch an den Unbegriff der »Intersubjektivität« gebunden wird, so als ob es einen Kompromiß zwischen Objektivismus und Subjektivismus geben könne, einen halben, sozialen Konstruktivismus, der den Soziologen ins Geschäft bringt. 25
Die Soziologie der Nachkriegszeit hatte ihrerseits nicht an die Wissenschafts- und Technikkritik: Husserls angescWossen. Sie hatte, ganz im Gegenteil, ein Projekt der Modernisierung verfolgt, das auf einem Zusammenwirken von technisch-industriellen Entwicklungen, WoWstandsvermehrung, Verbesserung individueller Lebenschancen und politischen Verfahren der Konsensfindung (Stichwort »Demokratie) aufbaute. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft wurde so beschrieben, als ob alle Funktionssysteme letztlich an einem Strang zögen, um die globalen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Mehr WoWstand, mehr Freiheit, weniger Zwang, mehr Chancen für individuelle Selbstverwirklichung seien teils durch eine evolutionäre Entwicklung, teils durch eine wissenschaftlich beratene Politik: zu erwarten. Dieses Doppelvertrauen auf Evolution und Politik: konnte die Überzeugung tragen, daß die Idee der Modeme eine immanente Rationalität enthalte und daß die Modernisierung der Gesellschaft als eine Leistung der Gesellschaft selbst zu erwarten sei. Neben der Unterscheidung EvolutionIPolitik:, die den Umfang der nötigen Interventionen offen ließ, lag das Problem nur noch in den politisch-ideologischen Meinungsverschiedenheiten über einen liberaldemokratischen oder einen sozialistischen Weg. Dieses Vertrauen in das Projekt Modeme ist uns in den letzten zwanzig Jahren, zunächst sukzessive, dann so gut wie vollständig abhanden gekommen. 26
Nach dem Zusammenbruch sozialistischer Staatssysteme und selbst sozialistischer Politikideen im Westen läge es nahe, jetzt alle Hoffnungen auf »Freiheit« zu setzen - sei es im Sinne von liberaler Marktwirtschaft, sei es im Sinne freier Meinungsbildung, sei es im Sinne der WaWdemokratie oder sei es im Sinne freier, allein an eigenen Erfolgsaussichten orientierten Forschung. Und so äußert sich in der Tat die politische Rhetorik - zu ihrem eigenen Schaden. Denn dieses Konzept des im großen und ganzen erfolgreichen Wegs zur immer moderneren Modeme vermag angesichts schon sichtbarer Folgen kaum mehr zu überzeugen. Um so näher könnte es liegen, sich auf die Wiener Vorträge Husserls zurückzubesinnen und insbesondere den Grundgedanken einer selbstkritischen Vernunft abzustauben und neu, wie man so schön sagt, »ins Gespräch zu bringen«. Wenn es nicht Schwierigkeiten mit den Texten gäbe, die weder hermeneutisch noch analytisch so einfach übersprungen werden können! Das, was man hier liest, und erst recht die vielen Mißverständnisse, die, inzwischen am Markennamen »Phänomenologie« angewachsen sind wie Algen an einem schon länger zur See fahrenden Schiff - all das erschwert den unvoreingenommenen Zugriff auf die Grundidee der Theorie. Die inzwischen entstandenen Zweit- und Drittkopien, aber auch die von Husserl selbst gewäWten Formen des Ausdrucks reichen nicht im entferntesten an die rigorose Konsequenz heran, mit der Hus27
serl ein Interesse an Theorie vorstellt und gegen Bezweiflungen und Verzweiflungen aller Art, auch in den Wissenschaften selbst, verteidigt. Es muß uns ja nicht um Rettung des europäischen Menschentums gehen und vielleicht nicht einmal um Markentreue, was die Namen des transzendentalen Subjekts und der Transzendentalen Phänomenologie angeht. Selbst auf Vernunft könnte man gern verzichten, wenn man wüßte, wie das Interesse an theoretischer Reflexivität zu retten sei. Denn es gibt in diesem Jahrhundert nur wenige Beispiele eines so entschiedenen Interesses an Theorie. In der Soziologie wäre Talcott Parsons ein weiterer Fall (der aber mit Phänomenologie, so wie sie ihm vorgetragen wurde, aus nachvollziehbaren Gründen nichts anfangen konnte 15). Es sollte sich daher lohnen, genauer hinzuschauen und herauszufinden, wie Theorien in dieser Anspruchslage gearbeitet waren - gleichviel ob man daran erkennt, wie man weiterarbeiten kann, oder ob man sich gewarnt sieht angesichts der Folgelasten bestimmter Theorieentscheidungen. Das heißt für den vorliegenden Fall: W ir müssen die eigentümliche Fusion von historischer und transzendentaler Argumentation, von Genesis und Geltung, die Husserls Spätwerk auszeichnet, wiederauflösen. Sie ist nur durch die Zeitumstände erklärbar, also durch Husserls Versuch, eine Antwort auf die Selbstgefährdung des neuzeitlichen Europa zu fmden. Es heißt aber auch, daß man es sich offen halten muß, 28
auch die theoretischen Grundlagen des transzendentalen Subjektivismus zu überprüfen und sie eventuell einer Neubeschreibung auszusetzen
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Soviel ist unzweifelhaft festzustellen: die Theorieentscheidung Husserls liegt in der Konzentration auf das transzendentale Subjekt. Gegenüber allem Abdriften von »Phänomenologen« einer ersten Generation, die die Aufforderung, zu den Sachen selbst zu kommen, wörtlich und sozusagen theoriefrei befolgt hatten, hat Husserl auf einer transzendentalen Fundierung der Phänomenologie bestanden. Klar ist auch, wogegen diese Entscheidung gerichtet war, nämlich gegen den Psychologismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts. Husserl hat das, noch in den Wiener Vorträgen, als Ablehnung einer objektivistischen, sozusagen geistlosen Wissenschaftsauffassung formuliert. Es mag aber sein - ich habe das nicht nachgeprüft -, daß auch die Einsicht eine Rolle spielte, daß in der empirischen Forschung eher die Unterschiede zwischen Individuen in die Form von testbaren Variablen gebracht würden und die eigentümliche Operativität des Bewußtseins, und zwar eines jeden Bewußtseins, darüber vernacWässigt werde. Und gerade diesen Grundstrukturen der Operationen des Bewußtseins galt Husserls Interesse. 29
Ob Husserl in der Wahl des Titels »transzendental«, der ihn von aller Empirie abkoppelte, gut beraten war, können wir dahingestellt sein lassen. Es interessiert vornehmlich, wie seine Analyse die Operationen des Bewußtseins und, um es nochmals zu sagen: jeden Bewußtseins vorstellt. Was nicht unter diese Beschreibung fällt, wäre demnach kein Bewußtsein, zumindest nicht unter dem Vorzeichen der Transzendentalität, das den Universalitätsanspruch der Theorie repräsentiert, also den Anspruch, für jedes Bewußtsein zu gelten. Die Form, in der das Bewußtsein seine Operationen vollzieht, wird von Husserl (im Anschluß an Brentano) als Intention bezeichnet. Das setzt nach heutiger Vorstellung eine Kausalattribution, eine Zurechnung auf eine Absicht voraus. Wollte man dies mitberücksichtigen, würde sich jedoch die Eindeutigkeit des Begriffs auflösen; denn es käme dann darauf an, wer zurechnet und im weiteren: welche psychischen und welche sozialen Systeme (zum Beispiel Gerichte). Für Husserl, der das Bewußtseinsleben aus sich selbst heraus und als allgemeine Form erklären will, muß dies jedoch außer Acht bleiben. Man könnte daran denken, ausschließlich Selbstzurechnung in Betracht zu ziehen. Aber auch dies würde nicht in den Theorierahmen Husserls passen; denn Selbst- und Fremdzurechnungen variieren, wie eine umfangreiche psychologische Forschung zeigt, mit anderen Personenmerkmalen, also von Person zu Person. Es bleibt uns 30
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also nur die Möglichkeit, in der Art einer Husserlschen Epoché von Zurechnungsfragen abzusehen. Aber was bleibt dann zurück? Vielleicht könnte man sagen: Intention ist nichts weiter als das Setzen einer Differenz, das Treffen einer Unterscheidung, mit der das Bewußtsein sich selbst motiviert, etwas Bestimmtes (und nichts anderes) zu bezeichnen, zu denken, zu wollen. Das würde zu einer mathematischen Theorie passen, die George Spencer Brown als Indikationenkalkül oder als Theorie operativ produzierter Formen ausgearbeitet hat. 16 Das erste und unausweichliche Gebot des Bewußtseins wäre danach: draw a distinction, und dies in bewußter Form: als Eigenleistung der Selbstreproduktion des Bewußtseins. Auch Husserls Weltbegriff würde damit harmonieren. »Welt« ist nach Husserl ein Endloshorizont immer weiterer Möglichkeiten, in dem aber alles, was überhaupt intendiert wird, Bestimmtheit annehmen muß. »Die Unbestimmtheit (des Horizontes, N.L.) bedeutet ja notwendig Bestimmbarkeit eines fest vorgeschriebenen Stils«, heißt es in Husserls »Ideen.« Bei George Spencer Brown würde die gleiche Aussage lauten, daß jede Unterscheidung das Kreuzen einer (durch sie selbst gesetzten) Grenze zwischen unmarked space und marked space erfordert. Im Anschluß daran könnte man fragen: wie ermöglicht diese intendierende Füllung unbestimmbarer Horizonte sich selbst? Oder noch schärfer: Wie kom31
pensiert sie das Risiko, das darin liegen muß, daß man Unbestimmtheiten als Bestimmbarkeiten behandelt und im seriellen Vollzug von intendierten Bestimmungen eine Geschichte erzeugt, die man dann selber ist? Dies Problem taucht bei Husserl nicht auf, weil es als immer schon gelöst behandelt wird, und zwar als gelöst durch die Doppelstruktur von Noesis und Noema. Die Unterscheidung wird eingeführt als Befund der Selbstreflexion, unabhängig von allen empirischen Nachweisen - sozusagen per transzendentaler Evidenz. Jeder kann sie in sich selbst vorfinden - und niemand hat dem bisher widersprochen. Eben deshalb ist das Phänomene-erscheinen-Lassen eine unabdingbare Komponente des Bewußtseins. Die Theorie, die das beschreibt und sich dabei auf ihre eigenen Evidenzen stützt, heißt dann »Transzendentale Phänomenologie«. Sie macht sich unabhängig von kosmologischen Vorgaben, unabhängig auch von der ontologischen Unterscheidung von Sein und Schein. Phänomenologie ist jetzt nicht mehr eine Lehre von der Welt, wie sie erscheint, nicht mehr eine vorläufige Wissenschaft, der die Aufgabe noch bevorsteht, den Schein zu durchstoßen, um eine Erkenntnis des wirklichen Seins zu erreichen. Sondern Phänomene, das sind die Sachen selbst, »Realien«, die zum Operieren des Bewußtseins gehören so wie auf der anderen Seite das Bewußtsein des Bewußtseins, also das Bewußtsein, daß das Bewußtsein bewußt operiert. Es 32
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hat demnach keinen Sinn, mehr zu verlangen oder Wissen in anderer Form zu verlangen, jedenfalls nicht vom Bewußtsein. Das wird in sehr detaillierten Analysen ausgeführt - zum Beispiel in den Analysen von Wahrnehmung mit Hilfe des Begriffs der »Abschattung« in § 41 der Ideen.18 Abschattung ist eine Leistung des Bewußtseins, die es erbringt, um Phänomene als Dinge identifizieren zu können: »Jede Bestimmtheit hat ihr Abschattungssystem«.l9 Die kontinuierliche Erscheinungs- und Abschattungsmannigfaltigkeit sei erforderlich, um das zu konstituieren, was in ihr identisch bleibt. Aber das Erlebnis selber schaltet sich nicht ab. »Die Abschattung, obschon gleich benannt, ist prinzipiell nicht von derselben Gattung wie Abgeschattetes. Abschattung ist Erlebnis. Erlebnis ist aber nur als Erlebnis möglich und nicht als Räumliches.«2o Auf die Frage, wie denn Erlebnis als Erlebnis möglich sei, hätte Husserl vermutlich mit Hinweis auf die transzendentale Faktizität und Selbstzugänglichkeit des Erlebens geantwortet. Von hier aus (und ohne Widerspruch dazu) ist es kein weiter Schritt zu einer systemtheoretischen Reformulierung. Sie würde lauten: Erleben ist dadurch möglich, daß eine rekursive Erzeugung und Reproduktion dieser Innen/Außen-Differenz gelingt. Es ist, anders gesagt, die Differenz von Noesis und Noema, von Vorstellen und Vorgestelltem, die die Beschreibbarkeit der Welt gewährleistet und bestimmbare »Gegenstände« konstituiert. 21 Es hat deshalb auch 33
keinen Sinn, und hier sind wir bei Husserls Einwand gegen die neuzeitlichen Wissenschaften, die subjektiv sinnstiftenden Leistungen des Bewußtseins durch methodische Vorkehrungen zu neutralisieren. Denn mit ihnen würde auch die Objektwelt verschwinden. Daß das vergessen wurde, war nach Husserl der Irrweg der galileüsch-cartesischen Wissenschaftsidee. Es ist nur eine leichte, im Ergebnis dann aber folgenreiche Reformulierung, wenn man die Unterscheidung von Noesis und Noema durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ersetzt. Das ist, wie mir scheint, ohne Sinnverlust möglich und bringt deutlicher heraus, daß die beiden Referenzen einander bedingen. Das Bewußtsein kann sich nicht selbst bezeichnen, wenn es sich nicht von etwas anderem unterscheiden kann; und ebensowenig kann es für das Bewußtsein Phänomene geben, wenn es nicht in der Lage wäre, fremdreferentielle Bezeichnungen von der Selbstbezeichnung zu unterscheiden. Die sich durch Intentionen steuernde Operationsweise des Bewußtseins ist nur auf Grund dieser Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz möglich. Die Unterscheidung hält es für das Bewußtsein offen, ob im weiteren Verlauf des Operierens Probleme mit den Phänomenen oder Probleme mit dem Bewußtsein selbst auftauchen. Was kann man mit diesem Ding anfangen, könnte man fragen. Oder: habe ich mich geirrt? Und formaler ausgedrückt: Das intentionale Operieren ist ein ständiges Oszillieren 34
zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz und verhindert auf diese Weise, daß das Bewußtsein jemals sich in der Welt verliert oder in sich selbst zur Ruhe kommt. Damit ist schon angedeutet, daß Zeit eine Rolle spielt; und dies nicht einfach nur so, sondern aus Gründen, die theoretisch rekonstruiert werden, also verstanden werden können. Husserl selbst hat umfangreiche, introspektiv gewonnene Analysen des »inneren Zeitbewußtseins« vorgelegt.22 Dabei ist das Entscheidende als Befund der Introspektion vorausgesetzt: daß dem Bewußtsein die eigene Zeitlichkeit stets nur im Moment des aktuellen Operierens (Husserl: des Bewußtseinslebens) zugänglich ist - weder vorher noch nachher. Das Bewußtsein existiert selbstzugänglich nur in den eigenen Operationen; und von da her kann Zeit nur in der Form momenthaft-aktueller Retention bzw. Protention gegeben sein. Alles weitere ist horizontförmige Rekonstruktion von nicht mehr aktueller Vergangenheit und noch nicht aktueller Zukunft, womit eine Gegenwart entsteht, die als Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft eingesetzt wird und es erlaubt, Differenzen und Übereinstimmungen (Diskontinuitäten und Kontinuitäten) in einer »objektiv« erscheinenden Welt - wiederum: zu unterscheiden. 23 Wenn das im Bewußtsein so vorgefunden wird, kann man aber immer noch fragen: Warum ist das so? Und wie hängt diese eigentümliche Temporalität des 35
Bewußtseins mit den anderen Bewußtseinsmerkmalen zusammen? Und vor allem: Weshalb verdeckt sich das Bewußtsein seine eigene, radikal innerliche, »subjektive« Zeit durch die Annahme einer objektiven, einer chronologischen Zeit, in der es sich als sich-bewegend, als Bewußtseinsstrom rekonstruieren muß, so daß es erst einer phänomenologischen Analysetechnik bedarf, um die Wahrheit (wenn es denn das ist) herauszubekommen? So zu fragen, so nach Erklärung zu fragen, überschreitet die deskriptiven Befunde einer introspektiv vorgehenden Phänomenologie. Wir kehren aber auch nicht zu den Prämissen einer ontologischen Metaphysik zurück, die nur fragen konnte, ob die Zeit überhaupt »ist« und nicht vielmehr »nicht ist«.24 Wir geraten auf ein merkwürdig ungesichertes Gelände, auf dem selbst Heidegger nur Holzwege ausmachen konnte. Stellt man zunächst einmal die abstrakte Frage: wer unterscheidet überhaupt Zeit?, und wer unterscheidet die Zeit in der Zeit nach dem Schema vorher (Retention) und nachher (Protention)?, dann sieht man, daß Husserl hier noch der Metapher des Flusses oder der Bewegung und damit einer langen europäischen Tradition verhaftet bleibt. Diese hatte seit Aristoteles und dann wieder seit der Einführung der mechanischen Uhren im 14. Jahrhundert die Frage der Unterscheidung als Frage der Zahl, des Maßes, der Chronologie behandelt und als Substrat der Chronologie, 36
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als das zu Messende, Bewegung vorausgesetzt. Das genügte einstweilen, um den Beobachter in Distanz zur Zeit zu bringen, als einen Beobachter, der die Zeit richtig oder falsch abliest, mißt, berechnet. Auf dieser Grundlage ist jedoch, da Zeitmessung selbst schon Technik ist (denn sie muß exakte Wiederholbarkeit garantieren) die von Husserl intendierte Technik-Kritik nicht mit letzter Radikalität durchführbar. Wenn man dagegen davon absieht, die Unterscheidung der Zeit in der Zeit als Messung oder als Zahl zu begreifen: welche Gründe gäbe es dann, an einem ontologischen bzw. phänomenologischen Substratbegriff der Bewegung, des Fließens, des Strömens festzuhalten ? Es fällt sicher schwer, darauf zu verzichten und gleichsam augustinisch zu argumentieren: wir wissen nicht, was Zeit ist. Immerhin gibt es zwei wichtige Anhaltspunkte. Einerseits impliziert die Operationsweise des Intendierens immer schon Zeit, jedenfalls im Sinne eines Transzendierens der im Moment aktualisierten Befindlichkeit. Vor allem aber kann ein laufendes Oszillieren zwischen Fremdreferenz (phänomenen) und Selbstreferenz (Bewußtsein) nur eingerichtet werden, wenn Zeit für das Umdirigieren der Schwerpunktsetzungen zur Verfügung steht und wenn man bei jeder Faszination durch Phänomene schon weiß, daß man im nächsten Moment gerade dies leid sein wird und sich fragen wird: Warum interessiert mich das überhaupt? Läßt man Zeit außer Acht oder verläßt man sich auf eine ontologisch orientierte Lo37
gik, die Zeit nicht einbeziehen kann, bekommt man es, wie Techniker der formalen Kalkulationen wissen, mit Paradoxien zu tun. Man muß dann entweder »gödelisieren«, also die durch die Prämissen des Kalküls gezogenen Grenzen transzendieren, oder »temporalisieren«, also dem kalkulierenden System Zeit geben. Es geht dann nicht mehr um wahr/falsch sondern um flip/flop.25 Husserl hatte wohl gemeint, die Einheit seiner Transzendentalen Phänomenologie durch die Einheit ihres Objekts »Subjekt« garantieren zu können. Wrr können jetzt bereits ahnen, daß man darauf verzichten kann. Der aufgedeckte Zusammenhang von Operation, Bistabilität (SelbstreferenzlFremdreferenz), Zeit und Oszillation trägt sich selbst - und ist deshalb möglicherweise auch an ganz anderen Objekten nachzuweisen. 26 Die gesuchte Einheit könnte demnach die Oszillation selbst sein, nämlich die Notwendigkeit, bei der Besetzung der einen Seite einer Form (also Fremdreferenz und nicht Selbstreferenz, Objekt und nicht Subjekt, Beobachtetes und nicht Beobachtendes oder umgekehrt) die andere Seite für Wiederbesetzung freizugeben. Das würde unter anderem voraussetzen, daß das System über ein Gedächtnis verfügt, das das Freigegebene als wiederbesetzbar festhält und dadurch die Illusion zeitbeständiger Objekte (oder Phänomene) erzeugt. Das Gedächtnis objektiviert, es kontrahiert, es errechnet die Beziehung Identität zwischen den Bezeichnungen von Beobach38
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tungen, die als Operationen nur nacheinander vollzogen werden können. Diese stark abstrahierte Reformulierung des Husserlschen Theorieentwurfs ließe sich deshalb vor allem für Theorievergleiche einsetzen. So fällt um nur dies zu nennen, die Isomorphie mit Strukturen auf, die die kybernetische Systemtheorie seit ihren Anfängen bestimmt haben. Die Kybernetik übt zwar keine Urteilsenthaltung im Sinne von Husserls »Epoché«. Aber auch sie traut der Welt nicht und interessiert sich deshalb für Kontrolle. Auch jene merkwürdige Bistabilität von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Anschlußmöglichkeiten wird vorausgesetzt. In der Kybernetik ist Selbstreferenz durch die bekannte (zumeist kausale interpretierte) feedback-Schleife vertreten. Fremdreferenz findet man als zielgerichtetes Verhalten wieder. Die Operationsweise selbst besteht in der Transmission von Signalen, also ebenfalls in einer Sequenz, die Zeit braucht und mit immer neuen Informationen fortgesetzt werden muß, wenn das System nicht aufhören soll zu operieren; und Operieren heißt Existieren. Erst im Formenkalkül von George Spencer Brown kommt jedoch Zeit in einem ganz anderen Sinne ins Spiel. Im Übergang zu Gleichungen zweiter Ordnung, zu rekursiven Funktionen, zu einem re-entry der Formen in sich selber ergibt sich die Notwendigkeit, das operierende System mit zwei zusätzlichen Funktionen auszustatten: mit Gedächtnis und mit der Fähigkeit, innerhalb der benutz39
ten Unterscheidungen zu oszillieren. Diese Funktionen lassen sich aber nur trennen, wenn man sie (ohne über einen dimensionalen Zeitbegriff zu verfügen!) nach Maßgabe von Vergangenheit (Gedächtnis) und Zukunft (Oszilliermöglichkeit) auseinanderzieht. Es sieht danach so aus, als ob die Unterscheidung der Zeit in der Zeit weder eine Messung ist, noch ein prozessuales Substrat voraussetzt, woW aber notwendig ist, um Systeme mit der Möglichkeit auszustatten, sinnhaft-selbstreferentiell zu operieren. Wir können dem hier nicht weiter nachgehen, halten aber fest, daß es offenbar zu einer Mehrfach-Entdeckung derselben Theorieform in geisteswissenschaftlichen, in technischen und in mathematischen Forschungsbereichen gekommen ist.
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V Wenn wir die Unterscheidung BewußtseinIPhänomen in die Unterscheidung SelbstreferenzlFremdreferenz übersetzen, scheint das ohne Sinnverlust möglich zu sein. Es eröffnet aber zugleich den Zugang zu neueren Bemühungen um eine empirische Epistemologie, um eine an empirischen Systemen orientierte cognitive science. Wenn es überhaupt kognitionsfähige Systeme gibt, stößt man auf das Problem, daß diese Systeme mit der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdre40
ferenz operieren und nur über Fremdreferenz (also nur »phänomenologisch«) eine Vorstellung von Umwelt errechnen können. Operativ bleibt die Umwelt unzugänglich, da das System nicht in seiner Umwelt operieren kann. Andererseits können die Systeme selbst nicht unterscheiden zwischen der Umwelt, wie sie wirklich ist, und der Umwelt, wie sie sie bezeichnen. »We can never be quite dear whether we are referring to the world as it is or to the world as we see Diese Schwierigkeit wird durch einen ambivalenten Gebrauch der Vorstellung von »Realität« verdeckt. Irgendwie, meint man nicht ohne Grund, müsse die »Realität« doch kognitiv zugänglich sein. Denn anderenfalls würde die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz selbst kollabieren. Fremdreferenz (phänomenbewußtsein) wäre letztlich auch nur Selbstreferenz, eben Bewußtsein. Diese Überlegung dürfte Konsequenzen haben für das, was man unter Rationalität verstehen kann und damit Konsequenzen für das, was Husserl als selbstkritische abendländische Vernunft »projektiert« hatte. 28 Will man die Realitätsillusion autheben, endet man bei der Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus. Die Umwelt ist operativ und damit auch für Erkenntnis scWechterdings unzugänglich; und gerade darauf beruht die Fähigkeit der Kognition, sie mit Hilfe selbstgewäWter Unterscheidungen (für die es keinerlei Umweltkorrelat gibt) zu beobachten und sich, wie man sagt, ein Bild von ihr zu machen. Da 41
jedoch der Radikale Konstruktivismus als sich selbst markierende Theorie die Unterscheidung von Fremdreferenz- und Selbstreferenz in Selbstreferenz auflöst, gibt das allein keinen Hinweis auf erreichbare Systemrationalität. Dennoch mag es sinnvoll sein, mit dieser Grenzvorstellung einer Paradoxie und mit ihrem Korrelat einer Realitätsillusion zu arbeiten, und zwar gerade dann, wenn es um die Frage eines für heutige Verhältnisse adäquaten Begriffs von Rationalität geht. In der Tradition der logisch-ontologischen Metaphysik, die Husserl durch eine Epoche genannte Operation ausschalten will, hatte man bereits Selbstkorrekturen der Erkenntnis vorgesehen. Die Logik kannte zwei Werte, sie konnte also wahre und unwahre Aussagen markieren. Alle Erkenntnis war damit einer Überprüfung auf Irrtum hin unterworfen (soweit die Religion das erlaubte). Im 19. Jahrhundert war dies durch eine neue Art von Sophistik erweitert worden, durch eine Theorie der latenten, unbewußten Projektion, die Interessen, verdrängte Bedürfnisse oder einfach Inkonsistenzen im Aufbau des Erkenntnisapparates nach außen projektiert. Im 20. Jahrhundert kamen Analysen der sprachabhängigen Realitätssicht hinzu. Marx, Freud, Whorf, Sapir wären die Namen, an die man hier zu denken hätte. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nahm dann die Tendenz zu, von solchen Theorien Reflexivität, das heißt Anwendung auf sich selbst zu verlangen. 29 In schwer abzugren42
zendem Umfang wurden damit Selbstberichtigungsinstrumente durch Selbstbezichtigungsinstrumente ergänzt; und dies nicht iinr mit Bezug auf die psychische, sondern auch UIid erst recht mit Bezug auf die soziale Strukturierung von Kognition. Damit wird der Projektionsverdacht universalisiert - so zum Beispiel im »strong programme« der Wissenschaftsforscher in Edinburgh30 - und macht sich schließlich in der Firma »Radikaler Konstruktivismus« selbständig. Andererseits kann man sich nicht darauf verständigen, daß die Realität als Welt, wie sie ist, damit jede Bedeutung verliert, denn das würde dem Radikalen Konstruktivismus dasjenige Ende bereiten, daß schon der antiken Skepsis vorhergesagt war: in einen Widerspruch zu sich selbst zu geraten und nur noch als folgenloses Paradox auftreten zu können. Jetzt scheinen die beiden Komponenten der Husserl-Projektion, die Epoche und die selbstkritische Vernunft, in eine neuartige empirische Problemlage überzugehen. Wie kann man, wäre zu fragen, die Realitätsillusion retten, wenn man doch weiß, daß alles, was als Kognition errechnet wird, intern produziert wird und damit abhängig ist von den Strukturen, die die Identifikation und Unterscheidungen des Systems und ihren rekursiven Gebrauch sichern? Wenn man den Erfahrungen der Therapeuten trauen darf, liegt die Funktion der Realitätsillusion darin, den Übergang von einer Konstruktion in eine andere zu ermöglichen. Soweit noch mit dem Therapie43
schema pathologisch/normal gearbeitet wird, heißt dies, daß »Normalität« nicht als bessere Anpassung an eine externe Realität defIniert werden kann, wohl aber als eine weniger schmerzhafte, besser erträgliche Konstruktion. Aber auch wenn es nicht um Therapie geht, bietet die Realitätsillusion die Möglichkeit, von einer Konstruktion in eine andere überzugehen. Die modeme Gesellschaft ist ein polyzentrisches, polykontexturales System. Sie verwendet ganz verschiedene Codes, ganz verschiedene »frames«, ganz verschiedene Leitunterscheidungen je nach dem, ob sie die Welt und sich selbst vom Standpunkt einer Religion oder vom Standpunkt der Wissenschaft, vom Standpunkt des Rechts oder vom Standpunkt der Politik, vom Standpunkt der Erziehung oder vom Standpunkt der Wirtschaft aus beschreibt. Es muß also, mit Begriffen von Gotthard Günther formuliert, transjunktionale Operationen geben, die es ermöglichen, von einer Kontextur (einer positiv/negativ-Unterscheidung) in eine andere überzuwechseln und jeweils zu markieren, welche Unterscheidung man für bestimmte Operationen akzeptiert bzw. rejiziert.3 1 Würde man dabei an einer zweiwertigen Logik und an einer Methodologie der Irrtumsprüfung festhalten, würde das die Unterscheidung einer kognitionsfesten Realität ruinieren. Man würde mit Heisenberg nur feststellen können, daß die Realität an sich als ein von Erkenntnis völlig isolierter Gegenstand keine beschreibbaren Eigenschaften hat. Man braucht Rea44
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litätsunterstellungen aber nur, um eine Mehrheit von inkommensurablen Konstruktionen akzeptieren und bei Bedarf von einer zt; einer anderen übergehen zu können. Genau das kann der Radikale Konstruktivismus akzeptieren. Denn Realität ist dann nichts weiter als das Korrelat der Paradoxie der selbstreferentiellen Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz (oder: von Subjekt und Objekt, oder: von Bewußtsein und Phänomen). Und damit ist zugleich gesagt, daß man bei Realität an sich nicht verweilen kann. Sie ist wie ein Paradox auf »Entfaltung« angewiesen. Sie ist nur ein Hilfsmittel, um von einer Konstruktion zu einer anderen zu kommen. Die als Paradox gegebene Realität ist demnach das einzige Wissen, das unbedingt gegeben ist, das im System nicht konditioniert werden kann - und deshalb unfruchtbar bleibt. Man kann jetzt besser einsehen, welche Perspektiven Husserl eröffnet und zugleich verstellt hatte. Selbstkritisch ist die Vernunft nicht auf Grund ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn und nur insofern, als sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln kann, also nicht an sich selber zu glauben beginnt. Die Bewährungsproben liegen in der Therapie, die weniger schmerzhafte Lösungen zu erreichen versucht und selbst ein Desengagement in Sachen Realität pflegt. Und sie liegen in Ansprüchen an Kommunikation, in Ansprüchen an eine subtilere Sprache (um einen Buchtitel zu zitieren32), die auch unter po45
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lykontexturalen Bedingungen noch funktioniert. Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft. Sie ist die Vernunft der »Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren.«
VI Haben wir uns verirrt? Wir wollten ja eigentlich herausbekommen, was an der Transzendentalen Phänomenologie und ihrer europageschichtlichen Wendung zeitgebunden ist und was uns nach 60 Jahren noch interessieren kann. Wie soll uns angesichts der zahllosen Probleme, die uns unsere Gesellsch~ beschert und die wir mehr und mehr als Folge ihrer eigenen Strukturen erkennen - wie soll uns dabei eine extrem formale Theoriekonstellation helfen? Man wird sich an Schiller erinnern: »In den heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen, rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr«.3 3 Um Distanz zu der möglicherweise zeitgebundenen, auf historische Lagen und Besorgnisse reagierenden Terminologie der Spätphilosophie Husserls zu gewinnen, hatten wir jedoch nach der Form gefragt, die bei ihm ein betont theoretisches Interesse annimmt. Dabei hatte sich eine Variante von operativem Konstruktivismus herausgeschält, wie sie heute unter verschiedenen Markennamen - etwa: Formenkalkül, Kybernetik zweiter Ordnung, Theorie operativ geschlossener »au46
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topoietischer« Systeme oder Radikaler Konstruktivismus - vertreten wird.34 Die fachliche Provenienz ist sehr heterogen, sie rei~ht von der Mathematik über Biologie und Neuropliysiologie bis zur Automatentheorie und zur Linguistik. Die Argumentationsweise klingt in den Ohren von gelehrten Philosophen oft reichlich unbedarft (so vor allem bei Maturana und von Glasersfeld). Offensichtlich ist die Philosophie bei der Entstehung dieser Begriffswelt nicht gefragt worden; und es ist nur allzu verständlich, wenn sie jetzt wie die böse Fee auftritt, um sich zu rächen. Aber auch die Fachwissenschaften selbst sind im allgemeinen wenig geneigt, Überlegungen dieser Radikalität ernst zu nehmen und eigene Forschungen daran zu orientieren. Es scheint sich, im derzeitigen Wissenschaftskontext gesehen (um von Philosophie gar nicht zu sprechen), um heimatlose Konstrukte zu handeln, die, wie Husserls Zigeuner, herumvagabundieren. Aber wie, wenn es gelänge, zu zeigen, daß Husserl diese Theorie bereits benutzt und sie nur mit Begriffen wie »Subjekt«, »Geist« oder »transzendentale Phänomenologie« einer Tradition zuordnet, die schon zu seiner Zeit wenig Zukunftschancen hatte? Zu Husserls Zeiten hatte bereits Freud die Vorstellung einer quasi-substanzhaften Subjektität des Subjekts aufgegeben und sie durch die Annahme einer konstanten Menge psychischer Energie ersetzt, die je nach Belastung mit Sublimierungsanforderungen verschiedene Formen annehmen könne. Diesen damals modischen 47
jetzt drängenden Probleme eben dadurch bedingt sind, daß· man auf die Einheitsleistungen verzichtet, die die Figur des tran~endentalen Subjektes geboten hatte. Andererseits sind die Absetzbewegungen durch Unterscheidungen vermittelt, die dieser Figur verpflichtet bleiben - sei es die Unterscheidung subjektiv/objektiv bzw. ursprungsabhängig/zirkulär; sei es die Unterscheidung subjektiv (monologisch) und intersubjektiv (dialogisch). Innerhalb dieser Unterscheidungen verschiebt sich das Verständnis von Geschichte und von Vernunft. Aber: Muß man so unterscheiden? Oder liegt in der Transzendentalen Phänomenologie eine Theoriekonstruktion vor, die, wenn man so paradox formulieren darf, sich von sich selbst ablösen, von sich selbst unabhängig werden kann? Die Notwendigkeit einer transzendentalen (transempirischen) Begründung mochte einleuchten, solange kein Ersatz dafür in Sicht war35 und vor allem: solange das Wissen auf eine asymmetrische, nichtzirkuläre Begründung angewiesen zu sein schien. Aber dies ist in der Philos6phie selbst durch Heidegger in Frage gestellt worden; und in vielen Formalwissenschaften wird heute die Notwendigkeit eines »Symmetriebruchs«, einer »Enttautologisierung« einer »Entfaltung« von primordialen Paradoxien oder ganz allgemein: die Notwendigkeit, mit der Operation des Unterscheidens zu beginnen, offen diskutiert. Es geht dabei nicht mehr nur um unbedingte Voraussetzungen, sondern um Erfordernisse des Aufbaus von
Energiebegriff können wir durch den heute modischen Begriff der Autopoiesis ersetzen; denn auch hier gilt, frei nach Maturana, daß die Autopoiesis erhalten bleiben muß, solange das System sich selbst reproduziert, aber daß sie verschiedene Formen annehmen kann, je nachdem, auf welche strukturellen Kopplungen das System reagiert. Das leitet zu einer Begrifflichkeit über, die nicht mehr an einen bestimmten Operationstypus - seien es biochemische Synthesen, seien es neurophysiologische Energiequantenänderungen, seien es Aufmerksamkeit dirigierende Bewußtseinsprozesse, seien es Kommunikationen - gebunden sind, sondern auf diesen verschiedenen Grundlagen die Reproduktion einer Differenz von System und Umwelt und, davon abhängig, Kognition zu organisieren vermögen. Aber auch sonst sind in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts prominente Bemühungen um eine theoretische Neuorientierung gerade durch eine Abkehr von der Figur des transzendentalen Subjektes gekennzeichnet - seien es die Bemühungen Hans-Georg Gadamers um eine objektive Hermeneutik; sei es der »linguistic turn« der analytischen Philosophie oder die Berufung auf Erkenntnisse der Sprachphilosophie in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Auch die durch Husserl selbst schon begonnene, durch Merleau-Ponty ausgebaute Zentrierung der Theorie auf den menschlichen Leib wäre zu erwähnen. Man hat den Eindruck, daß die 48
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Komplexität (der Kalküle, der Systeme usw.), die auf die eine oder andere Weise erfüllt werden müssen, wenn man überhaupt zu etwas kommen will. Und vor allem: es geht dabei nicht mehr nur um Eigenarten des Bewußtseins, sondern um die Emergenz von Ordnung schlechthin. Die Härte dieses Abschieds vom transzendentalen Subjekt kann man erkennen, wenn man überlegt, ob es möglich ist, das Bewußtsein als Medium der Bildung von Formen wegzulassen und trotzdem die von Husserl entdeckte Struktur beizubehalten, nämlich die Einsicht in den Bedingungszusammenhang von Operationsfähigkeit, Trennung und Simultanprozessieren von Fremdreferenz und Selbstreferenz sowie Zeitlichkeit vom Standpunkt der jeweiligen Operation aus. Ich halte das für möglich, wenn man sich entschließt, von Sinn als allgemeinem Medium für Formenbildung auszugehen und dann zu unterscheiden, ob sich Systeme aufgrund von intentionalen Bewußtseinsleistungen oder aufgrund von Kommunikation bilden. Für den Fall von Bewußtseinsleistungen könnte man Husserls Analysen wiederholen; aber man brauchte sie nicht mehr als »transzendental« zu charakterisieren. Für den Fall von Kommunikation müßte man eine Parallelkonstruktion finden, die auch hier das nachweist, was, und es so nachweist, wie es im Falle des Bewußtseins funktioniert. Also als nur im Moment aktuelle Operation, Grenzziehung, Simultanprozessieren von Fremdreferenz und Selbstre50
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ferenz (also »Bistabilität«), ferner rekursive Rückund Vorgriffe auf zur Zeit inaktuelle, aber aktuell faßbare Zeithorizonte de~ Vergangenheit und der Zukunft und alles in allein: Einschluß des Ausgeschlossenen als Modus des Prozessierens von Sinn. Ich meine, daß ein solches Theorieprogramm, das radikal unterscheidet zwischen psychischen und sozialen Systemen, durchführbar ist, aber es geht an dieser Stelle nicht darum, den Beweis zu führen.3 6 Die Frage ist nur: Wie würde die Theorielandschaft aussehen, wenn ein solches Theorieprogramm durchführbar wäre? Wir hätten einen Typus von Theoriedesign, der weder auf Naturgesetze alten Stils, noch auf ihre statistischen Derivate, noch auf das Leitmotiv technisch bewährter Kopplungen aufbaut. Husserls Kritik der Einseitigkeit der galileiisch-cartesischen Idealisierungen und der für sie verbindlichen Form von Mathematik wäre bestätigt. Wir hätten aber auch keine dialektische Theorie, die auf ein erreichbares Ende zuläuft (wie immer positiv oder negativ man das dann bewertet). Es wäre natürlich keine Kreuztabellierung im Sinne des Parsonsschen, aus dem Begriff der Handlung abgeleiteten Theoriedesigns. Es wäre keine Logik, die Konsistenz durch Ausschließung von Paradoxien zu gewährleisten sucht, sondern eher eine Theorie, die sich das Paradoxieren und Entparadoxieren ihrer Leitunterscheidungen offen hält für den Fall, daß die Formen, die sie anbieten kann, nicht mehr 51
überzeugen. Es wäre eine Theorie selbstreferentieller, nicht-trivialer, also unzuverlässiger, unberechenbarer Systeme, die sich von einer Umwelt abgrenzen müssen, um Eigenzeit und Eigenwerte zu gewinnen, die ihre Möglichkeiten einschränken. Es wäre eine Theorie, die der Kybernetik die Aufgabe stellte, die im System selbst erzeugten Unbestimmbarkeiten37 zu kontrollieren. Keine Frage, daß man das gute alte Subjekt so rekonstruieren kann. Entscheidend ist jedoch, daß auch soziale Systeme, auch die Gesellschaft mit diesem Konzept beschrieben werden können.
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vn Mit der Unterscheidung der sinnkonstituierenden Operationen je nachdem, ob sie in ihrer rekursiven Selbstreproduktion psychische oder soziale Systeme erzeugen, sind wir unserem Ziel, die Theorieintuition Husserls einer ganz anderen »Lebenswelt« einzufügen, ein gutes Stück nähergekommen. Man könnte sich vorstellen, daß sich auf den skizzierten Grundlagen eine Theorie der Gesellschaft ausarbeiten ließe, in der Kommunikation als basale Operation, Information als Fremdreferenz, Mitteilung als Selbstreferenz und Verstehen als Voraussetzung der Überführung des kommunikativ kondensierten Sinnes in weitere Kommunikationen aufzufassen wäre mit der 52
sie stets wieder öffnenden und wieder zu entscheidenden Option, den Schwerpunkt der AnscWußkommunikation entweder ~ der Fremdreferenz oder in der Selbstreferenz zu imchen.38 So wenig wie das Bewußtsein kann auch die Kommunikation operativ in ihre Umwelt durchgreifen, denn das würde heißen: außerhalb des Systems in dessen Umwelt operieren. Im einen wie im anderen Falle kann das jedoch - mit einem verbleibenden evolutionären Restrisiko - dadurch kompensiert werden, daß die Systeme zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz unterscheiden und entsprechend bistabil und zukunftsoffen beobachten können. Noch scheint niemand auf die Idee gekommen zu sein, diesen so vielversprechenden Theorietypus vom »Subjekt« auf das »Sozialsystem Gesellschaft« zu übertragen. Angesichts der gegenwärtigen, zum Beispiel als »Postmoderne« deklarierten, Ratlosigkeit in der Beurteilung der Weltlage würde sich der Versuch lohnen. Er würde Zeitstimmungen aufnehmen können, etwa die Faszination durch selbstreferentielle Zirkel und Paradoxien39 , den notwendigen Einbau von Nichtwissen ins Wissen4o, das Wechselspiel von Konstruktion und Dekonstruktion auf der Grundlage von sich abgrenzenden Systemoperationen41 oder auch, was die ontologische Metaphysik betrifft, nicht mehr nur Epoche, also Verzicht auf Seinsaussagen, sondern die resolute Vorordnung der Unterscheidung von »innen« und »außen« vor die Unterscheidung 53
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von »Sein« und »Nichtsein«.42 Man könnte mit diesem Theorieapparat die in der Gesellschaftstheorie der Soziologen immer noch übliche Faszination durch Probleme des Konsenses, der Integration oder der einsichtsvollen Zivilgesellschaft weitgehend ersetzen durch Problem der Zeitdimension, des Gedächtnisses und der Einstellung auf eine in allen Unterscheidungen oszillierende Zukunft. Sicher ist die Soziologie im Moment auf eine solche Lektüre nicht vorbereitet. Im Rückblick fällt außerdem auf, daß Husserl, ebenso übrigens wie Heidegger, Soziologie unbeachtet gelassen hatte. Anscheinend hatte die Unterscheidung von Naturund Geisteswissenschaften den ~ereich der Erkenntnismöglichkeiten so stark strukturiert, daß ein dritter Kandidat keine Chancen hatte. Das ist um so erstaunlicher, als Alfred Schütz versucht hatte, auf diese Sichtbeschränkung aufmerksam zu machen und die Phänomenologie (was immer das dann für Schütz war) durch Einarbeitung der Handlungstheorie Max Webers anzureichem. 43 Es war aber vermutlich kein glücklicher Einfall, dies vom Begriff der Handlung aus zu tun, dessen Rationalität mit Weber gerade fragwürdig geworden war und dessen Sozialität wiederum nur durch Rückgriff auf subjektiv gemeinten Sinn bestimmt werden konnte. Der Versuch konnte also nur bis zum Problem der Subjektivität von Intersubjektivität führen, einem Problem, an dem Husserl bereits gescheitert war; oder er mußte in einen wissen54
schaftlichen Objektivismus ausarten, der nur noch den Namen »Phänomenologie« führte, ohne das damit verbundene ProblembeWußtsein fortzusetzen. Es ist sicher müßig darüber zu spekulieren, was unter anderen Umständen oder mit Hilfe von Autoren, die der Theorieintuition Husserls näher gekommen wären, anders hätte laufen können. Die Entwicklung von Wissenschaft ist kein gradliniger, durch Geniestöße angetriebener Prozeß. Wie komplexe selbstreferentielle Systeme überhaupt muß auch die Wissenschaft von einem gegebenen historischen Sachstand des Wissens ausgehen, der ihre Anregbarkeit definiert und einschränkt. Es ist also eher ein Evolutionsprozeß, der gewisse Zufallsanstöße aufnehmen, aber andere gar nicht registrieren kann. Dabei liegt die Bewegungsmöglichkeit in den Unterscheidungen, die an einer gegebenen Formuliertheit des Wissens angebracht werden können - also etwa sachorientierte Objektivität versus Subjekt oder Geschichte versus Vernunft oder Handeln versus Wissen oder Geist versus Materie. Wer gegen alle diese Unterscheidungen optieren will, hat kaum Chancen, verstanden zu werden. Andererseits kann es gut sein, und gerade am Fall Husserl kann man es zeigen, daß das Optieren innerhalb dieser »frames« sich genötigt findet, bereits verbrauchtes Gedankengut zu reformulieren und damit die bereits sichtbare Theorieintuition verdeckt. Krasser als in den Wiener Vorträgen Husserls kann man dieses Theoriegeschick kaum miterleben. Am Ende 55
einer lebenslangen, an Ernsthaftigkeit und Strenge kaum zu überbietenden Reflexion findet die Theorie ihre Abschlußformel und in ihr sich selbst - in einem Eigennamen: Europa.
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Die hier vorgetragene Analyse der Wiener Vorträge und der sie ursprünglich motivierenden transzendentalen Phänomenologie Husserls war nicht als »Kritik« gemeint, also nicht als Sortierung des Haltbaren und Unhaltbaren in dieser Philosophie. Sie war auch nicht als Philosophie gemeint. Für einen Soziologen liegen die Fenster in den philosophischen Auditorien zu hoch. 44 Wenn er auf einem theoretisch vergleichbaren Terrain operiert, dann without the attitude. WIr können Husserls Texte aber auch als Kommunikationen lesen, die in einer bestimmten Zeit formuliert worden waren und die mit ihren Beschreibungen auf die Gesellschaft ihrer Zeit reagiert hatten. Es geht uns also um eine Neubeschreibung dieser Beschreibungen, um ein »redescription« im Sinne von Mary Hesse. 45 Solche Wiederbeschreibungen von Beschreibungen gehören zu den charakteristischen Merkmalen moderner Weltbeschreibungen. Man denke an die Wiederbeschreibung der politischen Ökonomie seiner Zeit durch Karl Marx oder an die Wiederbeschreibung der Phänomenologie von Bewußt56
seinsinhalten durch Sigmund Freud, an die Wiederbeschreibung der tonalen Musik durch die atonale Musik46 oder an die \\5.ederbeschreibung der Ambitionen der 68er Bewegung durch die Postmoderne. Angesichts der Geläufigkeit dieser Sorte von Textproduktionen kann man heute auch sie wiederbeschreiben und dabei über das Selbstverständnis ihrer Autoren hinausgehen. Es handelt sich nicht um ein Bemühen um Fortschritt, nicht um eine Vermehrung oder Verbesserung des Wissens, nicht um ein hermeneutisches Ausgraben des eigentlichen Sinnes und auch nicht, wie schon gesagt, um Kritik. Was auf diese Weise geschieht, kann vielmehr nur als ein laufendes Transformieren von Notwendigkeit in Kontingenz, von natürlichen in artifizielle Rahrnenbedingungen des Wissens und Handelns begriffen werden. Was vor dem selbstverständlich war und gleichsam »lebensweltlich« akzeptiert wurde, wird nun als Besonderheit einer bestimmten Beobachtungsweise sichtbar gemacht. Sofern es nur gelingt, zu anderen Formen überzugehen, also zum Beispiel atonale Musik wirklich zu produzieren, wird das, was vorher galt, als Selektion eines bestimmten Beobachters kenntlich. Daß die Herstellung anderer Formen des Beobachtens gelingt, ist eine wichtige und eine stark einschränkende Voraussetzung für diese Transformation. Es geht also keineswegs, wie die Verteidiger von Traditionen immer wieder behaupten, um »Dezisionismus« oder um 57
die Freigabe von Beliebigkeit im Sinne des »anything goes«. Die Bedingungen erfolgreicher Substitution sind oft schwer und oft nur durch weitere Wiederbeschreibungen zu erkennen. Es sind in jedem Fall sehr strenge Bedingungen. Der Versuch, Transzendentalphilosophie mit den modernen Mitteln der Theorie selbstreferentieller Systeme oder den Mitteln der Kybernetik zweiter Ordnung neu zu beschreiben, muß sich daher der Frage stellen, ob er diesen Anforderungen genügen kann. Die theoretische Wiederbeschreibung der Wiederbeschreibung von Beschreibungen ist ein autologisches Konzept. Sie ist auf sich selbst anwendbar. Sie beansprucht nicht, eine Begründung, geschweige denn: eine bessere Begründung zu geben. Sie setzt sich daher auch keinem infiniten Regreß aus. Sie tut, was sie tut, und stellt sich auf diese Weise dar. Sie operiert selbst autopoietisch, ohne auf eine beruhigend wirkende Abschlußformel zu zielen. Es könnte sein, daß dieser Denkstil im Vergleich zu dem Husserls ein radikal anderes Verhältnis zur Zeit voraussetzt. Husserl hatte die Intentionen des transzendentalen Bewußtseins in der Zeit verortet, die vom Bewußtsein gleichsam aus den Augenwinkeln mitbeobachtet wird. Und er hatte dementsprechend die Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften in der historischen Zeit der abendländischen Vernunftgeschichte lokalisiert. Bei all dem war Zeit als Strom, als Bewegung, als Prozeß gedacht. Die Theorie des 58
Wiederbeschreibens muß sich dagegen auf ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit einlassen, da sie die beschriebenen Beschreit)imgen als ihre Vergangenheit und die Aussicht auf'weitere Neubeschreibungen ihrer eigenen Konzepte als ihre Zukunft ins Auge faßt. Sie versteht ihre Gegenwart als Differenz ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Sie artikuliert ihre Position nicht mehr nur in der Zeit, sondern mit Hilfe von Zeit. Zeit kann dann .nicht mehr, gleichsam spätontologisch, als historischer Prozeß gedacht werden oder als Hineinkopieren des Maßes der Bewegung in das erkennende System, sondern Zeit ist jetzt eine bestimmte Form des Beobachtens, eine Weltkonstruktion mit Hilfe der Differenz der Endloshorizonte Vergangenheit und Zukunft. Die Begründung für das ständige Neubeschreiben von Wiederbeschreibungen liegt dann nur noch darin, daß unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht keine Wahl läßt. Unsere Zukunft kann nie wieder so sein wie unsere Vergangenheit. Deshalb müssen wir, was Handeln betrifft, entscheiden und, was Erkennen betrifft, beschreiben. Wie schwer dies zu akzeptieren ist, kann man an dem Entstehen fundamentalistischer Gegenbewegungen erkennen, an dem verzweifelten Verlangen nach Sinn und nach Selbstverwirklichung. Solche Konzepte gewinnen ihre Energie aus der Differenz, und dasselbe gilt offenbar auch von dem heute modischen Begriff der Zivilgesellschaft, mit dem einige Intellektuelle dem Publikum Nachricht davon geben, daß es 59
sie, die Intellektuellen, gibt. Auch diese Erklärung von Zeiterscheinungen ist aber nichts anderes als eine Wiederbeschreibung des schon Beschriebenen. Offenbar kommt die Diagnostik unserer Zeit von dieser Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung nicht mehr los, obwohl, und gerade weil, immer auch eine Beobachtung erster Ordnung mitproduziert wird. Man wird kaum bereit sein, dies noch als »Krise« im Kontinuieren der selbstkritischen Vernunft des Abendlandes aufzufassen. Aber vielleicht ist es eine theoretische Beschreibung, die dem, was wir am Ende dieses Jahrhunderts tatsächlich beobachten können, besser gerecht wird.
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ANMERKUNGEN 1 Siehe dazu unter methodischen Gesichtspunkten Henk de Berg, Kontext und Ko~tingenz: Kommunikationstheoretische Überlegungen zur Literaturhistoriographie mit einer Fallstudie zur Goethe-Rezeption des Jungen Deutschland, Diss. Leiden 1994. Vgl. auch Henk de BerglMatthias Prangel (Hg.), Kommunikation und Differenz: Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993. 2 Vgl. nur Talcott Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, The Review of Politics 4 (1942), S. 61-76, 155-172; ders., Democracy and the Social Structure in Pre-Nazi Germany, Journal of Legal and Political Sociology 1 (1942), S. 96-114; ders., Some Sociological Aspects of the Fascist Movements, Social Forces 21 (1942), S. 138-147. Vgl. ferner Uta Gerhardt, Die soziologische Erklärung des nationalsozialistischen Antisemitismus in den USA während des Zweiten Weltkriegs: Zur Faschismustheorie Talcott Parsons', Jahrbuch für Antisemitismusforschung I (1992), S. 253-273; dies. (Hg.), Talcott Parsons on National Socialism, New York 1993. 3 Siehe Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs N.J. 1971, S. 11. 4 Siehe dazu Burkhart Lutz, Das >Projekt Moderne< liegt noch vor uns! Zur Notwendigkeit einer neuen Makrotheorie moderner Gesellschaften, in: Festschrift Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 513-526. 5 Um einen Buchtitel zu zitieren, nämlich Gerhart Schröder, Logos und List: Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit, Königsteinffs. 1985. 6 Anders als im Krisisbuch wird das in den Wiener Vorträgen nur angedeutet. Siehe: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, zit. nach Husserliana 61
Bd. VI, Den Haag 1954, S. 314-348: »Die Folge der konsequenten Ausbildung der exakten Wissenschaften in der Neuzeit war eine wahre Revolution in der technischen Naturbeherrschung« (315 f.). 7 Ähnlich Lyotards Antworten auf seine eigene Frage: »Pouvons nous aujourd'hui continuer a organiser la foule des evenements qui nous viennent du monde, humain et nonhumains, en les subsumant sous l'Idee d'une histoire universelle de l'humanite?, in: Jean-Fran!j:ois Lyotard, Histoire universelle et differences culturelles, Critique 456 (1985), S. 559-568. Vgl. auch Gianni Vattimo, The End of (Hi)story, in: Ingeborg Hoesterey (Hg.), Zeitgeist in Babel: The Postmodernist Controversy, Bloomington 1991, S. 132-141 (132). 8 Siehe vor allem: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969. 9 Zitate a.a.O., S. 319 und 320. Die Drastik dieser Formulierungen wird durch die Beiläufigkeit, mit der sie vorgetragen werden, nur noch gesteigert. 10 Zit. nach (Euvres completes (M. de la Pleiade) Bd. 1, Paris 1959, S. 5. 11 So in: Cybemetic Ontology and Transjunctional Operations, in: Gottbard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsflihigen Dialektik Bd. 1, Hamburg 1976, S. 249328. 12 Husserl a.a.O., S. 333. 13 Hierzu Terry WinogradlFemando Flores, Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Reading Mass. 1987, S. 7 14 Husserl a.a.O., S. 335. 15 Siehe dazu die von Richard Grathoff herausgegebene Korrespondenz: The Theory of Sodal Action: The Correspondence of Alfred Schutz und Talcott Parsons, Bloomington 1978. 62
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16 Siehe George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979. 17 Siehe Edmund Husserl,::Ween zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolQ~schen Philosophie Bd. 1 (1913), zit. nach Husserliana Bd. m, Den Haag 1950, S. 100. Hervorhebung durch Husserl. 18 Zitiert nach: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Bd. 1, Husserliana Bd. m, Den Haag 1950, S. 91 ff. Vgl. auch die Fortführung dieser Analysen in Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1948, sowie Maurice Merleau-Ponty, Phenomenologie de la Perception, Paris 1945. 19 A.a.O. S. 93. 20 A.a.O. S. 94 f. 21 Einen ähnlichen Sachverhalt meint Derrida schon bei Kant finden zu können, und zwar nicht zufällig in der dritten, das transzendentale System abschließenden Kritik. Die Figur des interesselosen WoWgefallens wird zerlegt in: Ausklammerung von Existenzfragen (Epoche), auto-affection, hetero-affection und, um dieser Differenz willen, jugement. Siehe Jacques Derrida, La verite en peinture, Paris 1978, S. 54ff. 22 Siehe: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin Heidegger, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 367-496.. 23 Dies ist nicht so neu, wie es hier scheinen mag. Auch in der augustinischen Spekulation entsteht die Gegenwart erst in der Reflexion der Differenz von Vergangenheit und Zukunft als etwas, das erst gesucht werden muß und dann in Gott gefunden werden kann. Siehe vor allem das 11. Buch der Confessiones. 24 Siehe die berühmte Fußnote 2 zu Aristoteles und Hegel in 63
Martin Heidegger, Sein und Zeit S. 432, zit. nach der 6. Aufl. Tübingen 1949. 25 Siehe dazu die George Spencer Brown-Rezension von Heinz von Foerster, Die Gesetze der Form, dt. Übers. in: Dirk Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt 1993, S. 9-11. 26 Oder an Objekten überhaupt, wie Ranulph Glanville nachzuweisen versucht in: Objekte, Berlin 1988, insb. S. 24 ff. 27 So Jürgen RueschlGregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951. 2. Aufl. 1968, S. 238. 28 Es wird sich zeigen, daß und warum dieser Begriff schon hier im Sinne der Psychiatrie benutzt wird. 29 Siehe als ein Beispiel für viele: RueschlBateson a.a.O., S. 253 ff. 30 Siehe nur David Bloor, Knowledge and Social Imagery, London 1976; Barry Barnes, Interests and the Growth of Knowledge, London 1977. 31 Siehe Gotthard Günther a.a.O. 32 Nämlich Earl R. Wasserman, The Subtler Language: Critical Readings of Neoclassic and Romantic Poems, Baltimore 1959. Die Analysen behandeln die Umstellung von einem noch kosmologisch gebundenen Leitfaden der MirnesislImitation auf eine Form, die nur noch an der Differenz von Selbstreferenz und Fremrlreferenz orientiert ist, in der Zeit von Dryden bis Shelley. 33 Zitiert aus: Das Ideal und das Leben. 34 Siehe George Spencer Brown a.a.O.; Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981; Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, dt. Übers. Braunschweig 1982; Ernst von Glasersfeld, Wissen, Sprache und Wirklichkeit, dt. Übers. Braunschweig 1987, Ranulph Glanville, Objekte, dt. Übers. Berlin 1988. Inzwischen eine Fülle von Sekundärliteratur. 64
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35 Schon Parsons hatte im übrigen an einem Ersatz gebastelt, um das personale System als eine notwendige, aber nicht ausreichende KomponeJl1e des Zustandekommens von Handlung vorsehen zu:iCönnen. Allerdings ist sein VorscWag, statt von »Tatsachen des Bewußtseins« vom sachgerecht gebildeten Begriff der Handlung auszugehen, seinerseits problematisch. Das rechtfertigt es aber kaum, von Parsons zu Weber oder gar zu Kant, also zum Subjekt zurückzukehren. Denn damit gerät man nur in woWbekannte, längst überwunden geglaubte Schwierigkeiten. 36 Vgl. für einen solchen Versuch Niklas Luhrnann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984. Siehe auch Heinz von Foerster, Für Niklas Luhrnann: Wie rekursiv ist Kommunikation? Teoria Sociologica 1/2 (1993), S. 61-85, mit der alles weitere entscheidenden Feststellung: Kommunikation ist Rekursivität. 37 George Spencer Brown a.a.O., S. 57, spricht mit Bezug auf die zuverlässig rechenbaren Operationen der Arithmetik und der Algebra von »unresolvable indeterminacy«. 38 Vgl. als Anwendung auf ein aktuelles Problem Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die modeme Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986. Vgl. auch Niklas LuhrnannlRaffaele De Giorgi, Teoria della Societa, Milano 1992. 39 Vgl. Hilary Lawson, Reflexivity: The Post-Modem Predicament, London 1985. Siehe auch Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, der die Einheit des transzendentalen Subjekts durch die Paradoxie der Einheit von zwei (oder mehr) Reihen ersetzt, wobei dann die Reihe »Subjekt« und die Reihe »Objekt« nur ein Beispiel unter vielen wäre. 40 Vgl. Michael Smithson, Iguorance and Uncertainty: Emerging Paradigms, New York 1989. 41 Vgl. Niklas Luhmann, Deconstruction as Second-Order Observing, New Literary History 24 (1993), S. 763-782.
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42 Vgl. Philip G. Herbst, Alternatives to Hierarchies, Leiden 1976, S. 88 mit der Annahme wechselseitiger Implikation von Primärunterscheidungen dieser Art. 43 Siehe Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932. 44 Um eine Formulierung aus dem »Kampanertal« von Jean Paul zu übernehmen. Siehe: Das Kampanertal oder über die Unsterblichkeit der Seele, zit. nach Jean Pauls Werke: Auswahl in zwei Bänden, Stuttgart 1924, Bd. 2, S. 170-229 (183). 45 Siehe die Ausführung zur Metaphorik theoretischer Erklärungen in: Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966, S. 157 ff. 46 Dies Beispiel mit anderen aus dem Bereich der modemen Kunst bei Michael BaldwiniCharles HarrisonlMel Ramsden, On Conceptual Art und Painting and Speaking and Seeing: Three Corrected Transcripts, Art-Language N.S. 1 (1994), S. 30-69.
DER AUTOR \
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Niklas Luhmann, gebor~ 1927 in Lüneburg, Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg, ab 1954 Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung des Landes Niedersachsen, 1960/61 Studium an der Harvard Universität bei Talcott Parsons. 1964 erscheint seine erste Buchveröffentlichung »Funktionen und Folgen formaler Organisation«, 1966 Promotion und Habilitation in Soziologie an der Universität Münster, ab 1968 Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bielefeld, 1993 emeritiert. Hauptinteressensgebiet: Theorie der modemen Gesellschaft. Bisheriges Hauptwerk: »Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie« (1984); neueste Publikationen: »Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch« (1995), »Gesellschaftsstruktur und Semantik«, Band 4 (1995), »Die Kunst der Gesellschaft« (1995)
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