Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 12
Die Obsidian-Kluft erwacht von Uwe Anton
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitre...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 12
Die Obsidian-Kluft erwacht von Uwe Anton
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet: Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der Zweite Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden in Zwistigkeiten der Afal-
haro verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt. Sie können fliehen und erreichen die Taneran-Schlucht am Rand von Mertras, dem Land der Silbersäulen. Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen sie ihre beschwerliche Reise zur Gebirgsfestung Grataar fort. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und befreit Litrak aus seinem Gefängnis. Auf der Flucht aktiviert der Kristallene verborgene Aggregate, die die Stadt im Eis zum Leben erwecken. Ein Ruck geht durch den Eisboden. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechenden Eisbrocken erschlagen zu werden. Eine Transition versetzt Atlan und Tamiljon in eine unbekannte Gegend und nicht, wie erhofft, in den »Canyon der Visionen«. Lethem da Vokoban und seine Begleiter trauen ihren Augen nicht, als die totgeglaubte Li da Zoltral plötzlich auftaucht. Viel Zeit, um sich von dem Schock zu erholen, bleibt ihnen nicht. Gemeinsam versuchen sie, die Oberfläche der Technostadt zu erreichen. Der Zweite Pilot der TOSOMA wird mit seinen Gefährten von der alles umfassenden Schwärze verschlungen. Vinara Zwei löst sich auf, der Weltuntergang ist nicht mehr aufzuhalten. Währenddessen scheint Atlans Kampf gegen die Braune Pest auf Vinara Fünf aussichtslos. Die Stadt Yandan steht kurz vor der Zerstörung, überall breiten sich braune Flecken aus. Der Unsterbliche steuert ein Obsidiantor an, die einzige Rettung … Mit Xyban-K'hir finden Atlan und Tamiljon einen Verbündeten beim Kampf gegen den Untoten Gott Litrak. Das Pflanzenwesen hat wichtige Informationen für den unsterblichen Arkoniden. Die Spiegelwelten gehen endgültig unter – in der Obsidian-Kluft gibt es neben der Sonne Verdran nur noch die Hauptwelt Vinara und Vadolon. Und der Kristallmond droht endgültig die Macht zu übernehmen, um der Backup-Funktion nachzukommen …
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Uwe Anton
Prolog Dort stand er. Und lachte. Sardaengar. Der Uralte, der Herr der Welten. In einer blendenden Flut aus fließendem Licht reckte er die Arme in die vor Energie knisternde Lichtsäule, die sich über der Plattform senkrecht in den Himmel erhob. Bläuliche Blitze zuckten aus der Säule und schlugen in das brusthohe Geländer, das die Plattform umgab. Das verwinkelte, 70 Meter hohe Stahlgerüst des Turms schwankte bedrohlich unter dem Ansturm der Einschläge. Funken stoben. Sardaengar stieg der Geruch verbrannten und verschmorten Metalls in die Nase. An einigen Stellen war die Brüstung bereits geschmolzen, doch Sardaengar achtete nicht darauf. Er trat näher an den Rand der schmalen Plattform, blickte in den Abgrund hinab, dann wieder hoch in den Himmel. Das Firmament hatte sich verdunkelt, als wolle es der Lichtsäule eine passende Bühne bereiten. Sardaengar lachte erneut. Er spürte die Macht. Die Aura schier grenzenloser Macht, die ihn einhüllte und zu der seinen wurde.
1. Sardaengars Niederlage 1. Mai 1225 NGZ Endlich!, dachte ein Teil von ihm, während ein anderer nacktes Entsetzen empfand. Endlich ist es so weit! Sein Geist glitt die Lichtsäule entlang – immer höher, immer weiter, ins All hinaus, immer weiter, hin zu dem Kristallmond, der Vinara I umkreiste. Und weiter, in den Mond hinein. Unfassbare Eindrücke überfluteten Sardaengars Verstand. Psi-Materie… Selbst für ihn kaum begreiflich, obwohl er über Möglichkeiten verfügte, um die ihn die meisten anderen Lebewesen beneideten. Ein Teil von ihm wollte sich dem wider-
setzen, was nun geschehen würde, doch der andere, weitaus größere verzehrte sich danach vor Sehnsucht. Wie lange hatte er darauf gewartet? Aber es war unausweichlich, es würde geschehen, ob er es wollte oder nicht. Sardaengar erreichte den Kristallmond.
* Er sah, was der Mond sah. Myriaden Eindrücke strömten über ihn hinweg, rissen ihn mit. Immer tiefer drang er in den Kristallmond ein, ertastete ihn mit seinen Sinnen. Das meiste, was er nun wahrnahm, blieb ihm unverständlich. Doch dann flackerten hier Bilder auf, dort flossen Datenströme an ihm vorbei, an wieder einer anderen Stelle wurden sie verarbeitet. Sardaengar wurde klar, dass er auf die Ortungssysteme zugreifen konnte. Die Hypertronik schien den inneren Aufruhr, das Chaos, das in ihm herrschte, zu bemerken. Immer deutlicher spürte er ihren Einfluss in seinem Geist. Zuerst langsam, dann immer schneller blendete sie einzelne Informationen aus, so dass die, die sie ihm zur Verfügung stellte, für ihn greifbarer wurden. Nur der Teil von ihm, der sich gegen die Verschmelzung wehrte, bemerkte, dass ein Teil seiner paramodulativen Kräfte eine »Holoprojektion« erstellt hatte, die alles, was er wahrnahm, optisch widerspiegelte. Allmählich ordneten sich die Informationen so weit, dass Sardaengar sie erfassen konnte. Er sah mit einem Teil seines Geistes Verdran, die Sonne im Zentrum der Obsidian-Kluft, umgeben von fünf Planeten auf ein und derselben Umlaufbahn. Doch unvermittelt kräuselten sich die als Eckpunkte eines Fünfecks auf der gemeinsamen Umlaufbahn aufgereihten Welten in der Darstellung, als würden sie ihre Konsistenz, ihre Substanz verlieren. Einen Moment lang waberten Schlieren, dann lösten sie sich auf. Übrig blieb ein Planet. Vinara I, die Originalwelt, von Vadolon umkreist, dem Kristallmond.
Die Obsidian-Kluft erwacht Was sah er da in dieser Darstellung? War es eine Simulation, wie zahlreiche in der Hypertronik durchgeführt wurden? Der Kristallmond gab ihm die Antwort, doch der Herr der Welten verdrängte sie, beachtete sie nicht weiter. Andere Simulationen interessierten ihn mehr. Nein … es waren zwar Simulationen, doch sie extrapolierten Programmschritte, die die Hypertronik eingeleitet hatte. Sardaengar gelang es nun, immer mehr Informationen auszublenden, bis er lediglich die aufnahm, die er registrieren wollte. Der eine Teil von ihm resignierte, der andere wurde von einer verzweifelten Hoffnung erfüllt. Er bemerkte, dass er die Darstellung des von der Hypertronik eingeleiteten und unmittelbar bevorstehenden Prozesses auf die Holokugel überspielte, die er geschaffen hatte. Warum?, fragte er sich. Die Holokugel speicherte die Bilder. Befürchtete er etwa, irgendwann vergessen zu können, was er hier sah? Er lachte erneut. Sobald die Transformation vollzogen, er endgültig eins mit der Hypertronik war, würde er nie wieder etwas vergessen. Oder hatte er Angst, dass die Verschmelzung im letzten Augenblick scheitern und er diesen Fehlschlag nicht überleben würde? Dann würde die gespeicherte Darstellung ihm auch nichts nützen. Oder aber … Wollte er das, was nun geschehen würde, für die Nachwelt festhalten? Ja! Das war es! Das musste es sein. Noch in einer Million Jahren sollte objektiv verfolgt werden können, mit eigenen Augen, was hier und in diesem Augenblick geschah; nicht beeinflusst durch Deutungen und Interpretationen, sondern so, wie es sich wirklich abgespielt hatte. Und eine Million Jahre waren gar keine so lange Zeit … Sardaengar richtete seine volle Konzentration auf den Rand der Obsidian-Kluft, und tiefe Ehrfurcht erfüllte ihn. Zumindest den größeren Teil, der den kleineren weit
5 zurückgedrängt hatte. Dieser kleinere empfand nur Entsetzen und wachsende Verzweiflung.
* Der Herr der Welten tauchte ein in ein Chaos, wie er es in seinem Leben bisher noch nicht gesehen hatte. Und er konnte ohne Übertreibung von sich behaupten, schon viel gesehen zu haben. Raum und Zeit schienen am Rand der Obsidian-Kluft aufgerissen zu sein. Brodelnde Energie schien aus dem Nichts zu entstehen und in die blauen Riesensonnen am Rand der Obsidianhülle zu fließen. Vor Sardaengars Augen gewannen sie mehr und mehr an Gestalt, verdichteten sich zusehends. Überschlagblitze rissen das Kontinuum weiter auf, ließen neue Energien einfließen. Doch immer wieder sah Sardaengar Zonen der Ruhe in dem Aufruhr, schwarze Flecke unterschiedlichster Größe, manche vom Durchmesser einer Sonne, manche scheinbar nur groß wie ein Stecknadelkopf. Verbindungen zu benachbarten Miniaturuniversen, vermutete er, oder Dimensionstunnel, die entstanden, weil Raum und Zeit löchrig geworden sind und keinen Zusammenhalt mehr haben. Er suchte nach einer Möglichkeit, die Phänomene zu stabilisieren, doch die Daten, die die Hypertronik ihm daraufhin zur Verfügung stellte, waren so kompliziert, dass er sie in der Kürze der Zeit nicht verstand. Später, dachte er, später, wenn alles seinen Lauf genommen hat. Fasziniert beobachtete er, wie die tobenden Energien schwächer wurden, wie ein Sturm, der sich erschöpft hatte. Gleichzeitig leuchteten die blauen Riesensonnen immer heller, als hätten sie aufgenommen, was das Chaos freigesetzt hatte, sich daran gelabt. Die Dunkelheit kehrte zurück, füllte die Obsidian-Kluft aus. Doch sie hatte nicht lange Bestand. Die Schwärze riss auf, und es ward Licht. Zuerst nur ein zögerlicher, schwacher
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Schimmer, der dann jedoch zu einem Funkeln wurde, zu einem hellen Glitzern. Das ist die Zukunft, dachte er. Die Hülle des Miniaturuniversums, das die ObsidianKluft bildet, ist löchriger geworden, und die Sternenfülle des Kugelsternhaufens schimmert durch … Nun wurde ihm vollends klar, dass es sich bei dieser Darstellung um eine Simulation der Hypertronik handelte, um einen weiteren extrapolierten Programmschritt, den sie aber jetzt, in diesem Augenblick, bereits vorbereitete oder sogar einleitete. Denn noch konnte es nicht so weit sein. Die Hülle der Obsidian-Kluft löste sich weiterhin auf, das Funkeln der Sterne wurde so grell, dass es in seinen Augen schmerzte. Dann entstanden teilweise miteinander überlappende Blasen rings um die blauen Riesensonnen, formten eine schimmernde Hülle, flossen wie Schaum ineinander, verbanden sich und erstarrten. Umgaben die Sonnen. Transitionsenergie-Sonnen! Und der winzige Teil Sardaengars, der noch Sardaengar war und nicht der Kristallmond, schrie in unermesslichem Entsetzen auf, weil er nun wusste, dass die Galaxis, die über eine Million Jahre lang seine Heimat gewesen war, damit unwiderruflich zum Untergang verurteilt war.
2. Atlans Erkenntnis Tamiljons Schrei schien noch in meinen Ohren zu hallen. Der Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag, mit dem Tamiljon wohl gegen den Nordturm der Bergfestung geprallt war. Es war eben erst geschehen, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Ich habe schon wieder jemanden verloren. Ich konnte, ich wollte nicht glauben, dass Tamiljon wirklich tot war. Er war ein Mutant, ein Telekinet, der seinen Sturz problemlos hätte aufhalten können – wäre da nicht sein Handicap gewesen. Um seine parapsychischen Kräfte einzusetzen, musste er
die Lebenskraft intelligenter Wesen anzapfen. Und eine Flugechse war wohl kaum als intelligent zu bezeichnen. Warum also hatten wir keine Leiche entdeckt? Du machst dir unsinnige Hoffnungen!, tadelte der Extrasinn. Die Echse wird ihre Beute mitgenommen haben, zu ihrem Horst, um ihre Jungen damit zu füttern! Schweig!, herrschte ich den Logiksektor an. Ich war der Verluste überdrüssig. Zuerst drei Besatzungsmitglieder der TOSOMA, der Raumsoldat Horgald Massarem, der Historiker Veloz da Metztat und der Archivar Jorge Javales, die es mit mir nach Vinara verschlagen hatte … alle tot. Mir war es nicht gelungen, sie vor den Gefahren dieser Welt zu schützen. Dann unzählige Bewohner von Yandan, die von der Braunen Pest befallen worden waren. Die Braune Pest, diese … Oder der junge Mutant Akanara, den wir kurz nach dem Einflug in den Kugelsternhaufen Omega Centauri auf der Handelswelt Yarn aufgelesen und an Bord genommen hatten … Auch er hatte die Begegnung mit mir nicht lange überlebt. Hatte Tamiljon das gleiche Schicksal erlitten wie er? War es die Bestimmung all jener, die sich mir anschlossen, diese Entscheidung bald mit ihrem Leben zu bezahlen? Ich wollte nicht mehr. Warum war ich hier? Warum stand ich splitterfasernackt neben der genauso wenig bekleideten Li da Zoltral? Einer Beauftragten, einer Agentin des Kosmokratenroboters Samkar! Die Li, die ich gekannt und geliebt hatte, war unwiederbringlich tot. Die rothaarige Frau neben mir war eine andere. Du wirst noch gebraucht, schlichen Samkars Worte durch meinen Geist. Wofür? Wofür wurde ich noch gebraucht? Um zu verhindern, dass aus der ObsidianKluft ein Schwarm entstand? So einfach dachten Erfüllungsgehilfen der Kosmokraten nicht. Ob sie nun Roboter waren oder organische Lebewesen wie die Sieben Mächtigen, die bis 3587 im Dienst der
Die Obsidian-Kluft erwacht Kosmokraten tätig gewesen waren. Ich wollte nicht mehr in ihrem Dienst tätig sein. Deshalb hatte ich die Würde eines Ritters der Tiefe »zurückgegeben«. Nur um zu erfahren, dass das nicht so einfach war. Ich war kein Ritter mehr, aber die Aura der Ritter der Tiefe hatte ich behalten. Ich hatte erfahren müssen, dass die Kosmokraten nicht so einfach gewillt waren, mich aus ihren Diensten zu entlassen. Ich hatte eingesehen, dass es sinnlos war. Tamiljon war tot und würde tot bleiben. Einen Moment lang fragte ich mich, warum ich das alles auf mich nahm. Um zu verhindern, dass der Schwarm neu entsteht, rief der Extrasinn. Um zu verhindern, dass die Milchstraße auseinander gerissen wird oder – noch schlimmer! – Biophoren unkontrolliert freigesetzt werden! Als wir die Plattform erreichten, standen uns die Haare buchstäblich zu Berge. Die Luft war mit Elektrizität förmlich überladen. Bläuliche Blitze zuckten aus der Lichtsäule, die sich unmittelbar über der Plattform durch den dunklen Himmel grell zum Kristallmond erhob. Inmitten der blendenden Flut sah ich die nur in Umrissen wahrnehmbare Gestalt. Umgeben von einer Aura grenzenlos wirkender Macht, hatte sie die Hände ekstatisch zum Himmel gehoben, dem weißen Licht entgegen. Sardaengar, der Uralte, der Herr der Welten. Erst jetzt bemerkte ich eine schimmernde Kugel aus einem mir unbekannten Material, die neben der breitbeinig stehenden Silhouette schwebte. Gestochen scharfe Bilder erschienen in ihr wie in einer Holokugel. Was waren das für Bilder, und spielte Sardaengar sie ein? Ich kniff die Augen zusammen, erkannte zuerst jedoch nur ein brodelndes Durcheinander Abertausender sich teilweise überlappender Blasen, die sich um blaue Kugeln spannten und eine schimmernde Hülle formten. Als hätte die Holokugel bemerkt, dass sie einen neuen Zuschauer hatte, wurden die Bilder allmählich größer. Und plötzlich ver-
7 stand ich, was ich dort sah. Die blauen Kugeln waren Sonnen, Transitionsenergie-Sonnen! Immer neue Blasen hüllten sie ein, durchdrangen einander, reihten sich zu großen Ballungen aneinander, umgaben die blauen Sterne, verschoben sich kaum merklich, gewannen neue Konfiguration, gruppierten sich erneut um. Die Darstellung gab keinerlei Hinweise auf die Größenordnung, doch die war mir klar. Mein Logiksektor konnte die optischen Informationen der Holokugel problemlos zuordnen. Ein Gebilde von vielen tausend Lichtjahren Länge entstand dort, umgeben von einem kristallinen Schimmer, der sich aus ungezählten gerundeten Formen zusammensetzte. Ein Schmiegschirm, wie er für einen Schwarm typisch war! Ein Schwarm, ausgeschickt von Dienern und Helfern der Kosmokraten, um im Universum Leben und Intelligenz zu verbreiten und zu fördern! »Ein Darstellungsabschnitt kommender Ereignisse«, murmelte Li zu meiner Überraschung. Ihre Stimme klang nüchtern und sachlich, frei von jeglicher Emotion. Fremd. Nicht wie die Stimme der Li, die ich gekannt und geliebt hatte. »Ereignisse, die die Hypertronik im Kristallmond einleiten wird. Weitere Sonnen sollen aus der Milchstraße gerissen und in den Schwarm eingegliedert werden. Er soll wachsen. Und dann …« Ich drängte den Anflug von Panik zurück, die sich meiner bemächtigen wollte. Ein Kugelsternhaufen, der den Kern eines neuen Schwarms bilden würde und dann, gespeist von der Energie der blauen Sonnen, mit einer gigantischen Transition seine Position verlassen würde! Der sich Millionen weitere Sterne samt ihrer Planeten einverleiben sollte. Aber noch blieb uns Zeit. Solch ein Vorgang würde sich nicht in Tagen oder Wochen bewerkstelligen lassen. Bist du dir da sicher?, wandte der Extrasinn ein. Wenn die Hypertronik tatsächlich ein Backup-System ist, wird sie alle nötigen Informationen gespeichert haben! Und mit ihrer Psi-Materie kann sie die notwendige Hardware praktisch in Gedankenschnelle
8 erschaffen! »Auch Psi-Materie ist nicht unerschöpflich! Sie kann nicht Tausende Sonnen bilden.« Du weißt, was der Supermutant Ribald Corello mit zehn Gramm Psi-Materie anrichten konnte. Und wir sprechen hier über eine Menge, die in ein Volumen von 1126 Kilometer Durchmesser gepackt wurde! Von der Gefahr der Biophoren ganz zu schweigen – sie würden vermutlich unkontrolliert freigesetzt, sobald die Obsidian-Kluft ins Standarduniversum zurückgefallen ist! Ich erwiderte nichts darauf, bemerkte, dass Li mit zusammengekniffenen Augen die Lichtsäule betrachtete. »Die Vergessene Positronik ist mit dem Kristallmond kollidiert.« Ihre Stimme klang noch immer ziemlich unbeteiligt, wenn nun auch etwas nachdenklich. »Sie versucht weiterhin, per Transition zu entkommen.« Mir war klar, was sie sagen wollte. Zwischen Grataar und dem Mond erstreckte sich weiterhin die weiße Lichtsäule. Aber half uns das in irgendeiner Hinsicht weiter? Mir nicht, aber Li vielleicht. Ich sah sie an. Sie nickte. »Eventuell kann ich die Lichtsäule benutzen, um endlich den Kristallmond zu erreichen.« Ich musterte sie eindringlich. Schlank, durchtrainiert, rothaarig. Sie war genau wie ich völlig nackt; beim Versuch, zur Bergfestung vorzustoßen, hatten wir alle Kleidung und Ausrüstungsgegenstände verloren. »Auch wenn dein Herr und Meister dich mit außergewöhnlichen Machtmitteln ausgestattet hat«, sagte ich verächtlich, um ihr zu zeigen, dass sich an meiner Einstellung zu Samkar nicht das Geringste verändert hatte, »wirst du wohl kaum auf sie zurückgreifen können. Oder hat er sie direkt in deinen Körper eingebaut?« »Das lass meine Sorge sein.« Ich hatte versucht, sie zu provozieren, doch sie blieb unverändert nüchtern und sachlich, benahm sich, als sei ich für sie ein völlig Fremder. Der du für sie auch bist, mahnte der Ex-
Uwe Anton trasinn. Es ist nicht die Li, die du kanntest. Deine Li ist tot. Diese hier hat mit ihr nur den wiederbelebten, von den Toten auferstandenen Körper. Ich tat den Hinweis mit einem lautlosen Lachen ab. Du schätzt mich völlig falsch ein. Daran habe ich nun wirklich nicht gedacht. Der Logiksektor würdigte mich nicht einmal einer Antwort. In diesem Augenblick ertönte hinter uns ein Donnerschlag, der das energetische Knistern und Prasseln vor uns mühelos überlagerte. Ich fuhr herum. Und glaubte meinen Augen nicht zu trauen.
3. Tamiljons Glück Das Raum-Zeit-Gefüge schien sich aufzulösen. Die Luft zwischen den Türmen war verwandelt, hatte an Substanz gewonnen, war zu irgendetwas geworden. Etwas, das ich nicht erfassen konnte. Ein Nichts war materiell geworden. Atome und Moleküle verdichteten sich. Und es stank. Aus dem Gestalt gewordenen Nichts schälten sich Umrisse heraus, ein nur schemenhaft ausgebildeter humanoider Körper, der auf einer Ansammlung von Kristallen kniete. Sie ballten sich zu einer Kugel zusammen, deren Oberfläche sich ständig veränderte. Mit einem leisen, knirschenden Geräusch verschoben sich kopfgroße Brocken, rieben aneinander. Sie schienen zu dem Humanoiden zu streben, der sich torkelnd zu bemühen schien, sich zu erheben. Die Erscheinung verdichtete sich, nahm dreidimensionale Konturen an und verschwand wieder. Ich hielt den Atem an. Ich glaubte, die Gestalt auf dem Kristall erkannt zu haben, auch wenn ich sie nur verschwommen gesehen hatte. Im nächsten Augenblick wurde mein Verdacht bestätigt. Ein abscheulicher Gestank schlug mir entgegen, eine Ausdünstung, die nicht von dieser Welt stammte. Zehn Meter unter uns materialisierte der große blauweiße Kristall erneut, stieg lang-
Die Obsidian-Kluft erwacht sam höher. Die Mondsplitter des Innenhofes! Nun konnte ich den schemenhaften Umriss darauf deutlicher erkennen. Ich sah die pechschwarze, auffallend glatte Haut eines haarlosen, humanoiden Gesichts. Der Körper war von einem harten Schimmern überzogen – eine zweite Haut, ein kristallines Exoskelett, das als stachliger Panzer die schwarze Haut bedeckte. Mit einem hohen Zischen, das in den Ohren schmerzte, löste sich die Erscheinung wieder auf … und bildete sich eine Sekunde später erneut. Diesmal blieb sie länger körperlich. Tamiljon hatte sich aufgerichtet, kniete auf der Oberfläche des riesigen Kristalls, der sich offensichtlich aus zahlreichen kleineren zusammensetzte. Er hatte die Arme gehoben, drehte den Kopf, schien nach etwas zu suchen. »Tamiljon!«, rief ich laut und winkte. Er schien mich nicht zu hören, schwankte, wurde von den heftigen Bewegungen des Kristalls wieder auf die Knie gezwungen. Der Kristall – ein Ableger des Kristallmondes? – stieg weiterhin empor, befand sich nur noch einige Meter unter der Plattform: Er schien wieder an Konsistenz zu verlieren, wurde durchsichtiger. Ich konnte die Umrisse anderer Türme der Bergfestung erkennen. Doch im nächsten Augenblick schien der Prozess aufgehalten, dann sogar umgekehrt zu werden. Der Kristall und sein Passagier verdichteten sich wieder, wurden zusehends körperlich. »Tamiljon!«, rief ich erneut. Langsam drehte er den Kopf in meine Richtung. Aber ganz offensichtlich sah er mich nicht. Was geschah dort? Wechselte der Mondsplitter zwischen den Kontinua? Hatte es etwas mit der Lichtsäule zu tun, die offenbar sein Ziel war? War er nur noch halb materiell, weil die Säule ihn schon irgendwie erfasst hatte? Das war vielleicht die Erklärung dafür, dass wir den riesigen Kristall nicht entdeckt hatten, als wir nach Tamiljon suchten. Wenn er in diesen Momenten entmaterialisiert gewesen war …
9 Als wir in Sardaengars Bergfeste eingedrungen waren, hatten wir einen Blick in den Innenhof zwischen den fünf Türmen werfen können. In seinem Zentrum hatte sich eine vielleicht 65 Meter durchmessende und etwa 50 Meter hohe, grob kuppelförmige Nebelwolke erhoben. Zuerst waren die grauweiß wallenden Schwaden optisch nicht zu durchdringen gewesen, dann hatte ich jedoch gesehen, wie in seinem Inneren ein blauweißes Licht aufgeblitzt war. Ganz kurz hatte ich einen mindestens 40 Meter durchmessenden, reich facettierten Kristall gesehen. Und genau dieser Kristall musste Tamiljon aufgefangen haben. Ich musste daran denken, dass Li davon gesprochen hatte, den Kristallmond vielleicht mit Hilfe der Lichtsäule erreichen zu können … »Tamiljon, hörst du mich nicht?« Er sah nun genau zu der Plattform hinüber, die sich mittlerweile auf gleicher Höhe mit der Oberseite des Mondsplitters befand. Jetzt schien er uns endlich wahrzunehmen. Langsam senkte er die Arme und streckte sie mir oder der Plattform entgegen. Und dann spürte ich, wie etwas nach mir griff. Ganz schwach nur, kaum wahrnehmbar, ein fast unmerkliches Ziehen unter meinem linken Schlüsselbein, dort, wo der Zellaktivatorchip implantiert war. Tamiljon! Er setzte seine paranormale Kraft ein. Vielleicht hatte er mich gar nicht gesehen, sondern nur die in dem Chip gespeicherte Lebensenergie gespürt, die er schon so oft angezapft hatte. Die Luft um den Mondsplitter brodelte, verfärbte sich rötlich, waberte in Schlieren. Mein Zellaktivator pochte immer heftiger, ein Zeichen dafür, dass Tamiljon ihm weiter Lebensenergie entzog, um seine telekinetischen Kräfte einsetzen zu können. Hätte mich dieser Vorgang zuvor instinktiv mit Widerwillen erfüllt, weil er mir irgendwie vampirhaft vorgekommen war, erzeugte er nun eine gewisse Zuversicht. Tamiljon versuchte zumindest, von dem aufsteigenden Mondsplitter zu entkommen. Und eine ande-
10 re Wahl hatte er wohl auch kaum: Es kam mir ganz und gar nicht ratsam vor, gemeinsam mit dem riesigen Kristall in die Lichtsäule zu fliegen. Sardaengar und Litrak dürfen nicht gemeinsam den Kristallmond erreichen! Und Tamiljon hat Litraks Kristalle in seinem Körper … Das Zerren an meinem Innersten wurde immer heftiger, bis ich mich vor Schmerz krümmte. So schlimm war es noch nie gewesen, wenn Tamiljon mir Lebenskraft abgezogen hatte. Offensichtlich musste er eine ungeheure Kraft aufbringen, um sich vom Bann des Mondsplitters zu befreien. Der riesige Kristall stieg höher und höher, den Ausläufern der Lichtsäule entgegen; seine Oberseite befand sich nun schon zwei Meter über uns. Ich musste den Kopf zurücklegen, um Tamiljon noch sehen zu können. Schwankend rutschte er auf den Knien über die Facetten und sich verschiebenden Brocken des 40 Meter durchmessenden Riesenkristalls. Er hielt beide Hände weiterhin ausgestreckt, sprang … Und stürzte in die Tiefe. Das alles geschah völlig geräuschlos, als spielte es sich tatsächlich in einer anderen Dimension ab, in einem anderen Kontinuum, das dicht neben dem unseren lag, sich aber dennoch eine Spur von ihm unterschied. Ich glaubte, das Herz würde mir aus dem Leib gerissen, so brutal griff Tamiljon in mich hinein, um mit meiner Lebenskraft seinen Sturz zu bremsen. Und tatsächlich, während der Mondsplitter langsam in die weiße Lichtsäule eintauchte, schwebte der Telekinet schon knapp unterhalb der Plattform, ohne weiterhin in die Tiefe zu sacken. Langsam, ganz langsam stieg er dann höher, kam näher. Nun konnte ich Tamiljons Gesicht genau ausmachen. Es war schmerzverzerrt. Offenbar forderte ihm die Anstrengung alles ab. Höher, unendlich langsam, Zentimeter um Zentimeter. Dann riss er die Augen auf, als nehme er mich jetzt zum ersten Mal wahr. Unsere Fingerspitzen berührten sich … und
Uwe Anton die meinen glitten einfach durch die seinen hindurch. Erneut spürte ich, wie Tamiljon Lebensenergie aus dem Zellaktivator sog. Das Gerät pochte so heftig, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Die Knie drohten unter mir nachzugeben, vor meinen Augen wurde es schwarz. Ich riss die Hand zurück … und spürte im nächsten Augenblick eine Berührung. Tamiljons Finger schlossen sich schmerzhaft um mein Handgelenk. Sein Körper war wieder materiell geworden! Offensichtlich hatte die geballte Ladung Lebenskraft, die er mir geraubt hatte, ausgereicht, um die Rückverwandlung einzuleiten. Sofort griff ich mit der zweiten Hand zu, zerrte das tote Gewicht hoch, bemerkte, dass Li mich mit ihrer gesamten Kraft nach hinten zog. Tamiljon war geschwächt, hatte sich völlig verausgabt. Seine Finger verloren den Halt, rutschten an meiner schweißnassen Hand hinab, öffneten sich. Verzweifelt schrie ich auf, beugte mich wieder tiefer hinab, griff jedoch nur ins Leere. Das Pochen meines Zellaktivators endete abrupt – und wurde von einem sanften Kräuseln ersetzt, das eine geradezu wohltuende Linderung war im Vergleich zu dem, was ich noch vor wenigen Sekunden durchgemacht hatte. Tamiljon griff wieder auf die Energie des Chips zurück – aber jetzt benötigte er nur einen Bruchteil der Kraft, die anscheinend nötig gewesen war, um ihn in unsere Welt zurückkehren zu lassen. Sanft wie eine Feder schwebte er über das Geländer, landete – und brach sofort zusammen. Ich war zu schwach, um ihn aufzufangen. Besinnungslos blieb er liegen. Schwer atmend sank ich an dem Geländer hinab und blieb neben ihm sitzen.
* Wagemutig, Arkonide, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du Sardaengar völlig vergessen zu haben scheinst!
Die Obsidian-Kluft erwacht Ich verzichtete auf einen Kommentar. Der Logiksektor hatte selbstverständlich Recht. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Tamiljon einfach sterben lassen? Ich spürte dankbar die belebenden Impulse des Zellaktivators, der im Moment allerdings noch vergeblich gegen meine tief sitzende Erschöpfung ankämpfte, wälzte mich herum und legte den Kopf zurück. Der Mondsplitter war Teil der Lichtsäule geworden, die Kristallbrocken verwandelten sich in weißes Licht. Und Sardaengar stand noch immer wie eine Statue da, die Beine gespreizt, die Arme gehoben. Er schien auf etwas zu warten. Worauf? Weiterhin umgab ihn die beeindruckende mentale Ausstrahlung. Fast greifbar war das Fluidum von gewaltiger Macht. Mir wurde endgültig klar, dass dieses Fluidum durch die Psi-Materie und die Biophoren des Kristallmondes verkörpert wurde. Die Macht des Kristallmondes strömte auf Sardaengar über, erfüllte ihn. Und das würde nur geschehen, wenn er zum willfährigen Sklaven des Mondes geworden war. Zum Diener der Hypertronik. Die Bilder in der Holokugel veränderten sich rasend schnell. Es musste sich um einen Informationsaustausch handeln oder besser gesagt: eine Informationsvermittlung. Spürst du es nicht?, meldete sich der Logiksektor. Die Informationen, die hier vermittelt werden, sind nicht auf Bilder beschränkt! Konzentriere dich! Ich lauschte in mich hinein, vernahm ein stimmloses Wispern tief in meinem Inneren. Nachdem ich es erst einmal bemerkt hatte, war es plötzlich allgegenwärtig. Es drang aus der Holokugel, es sickerte aus Sardaengar, es durchdrang mich und Li gleichermaßen. Ich sah sie an, und sie nickte. »Ich spüre es auch. Die vom Mond auf Sardaengar überspringenden Informationen sind förmlich greifbar. Ich kann sie problemlos erfassen und deuten.« Dann schloss ich die Augen und gab mich der Informationsflut hin. Und erfuhr die Ge-
11 schichte des Urschwarms Litrakduurn.
4. Litraks Platz Litrak drehte seinen über vier Meter langen Körper langsam um seine Achse, damit er die Bilder des Panorama-Betrachters nacheinander und in Ruhe aufnehmen konnte. Litrakduurn, der Platz des Litrak, hatte soeben mit der ersten Welle eine weitere Galaxis erreicht. Bereits jetzt wurden mit den ersten gezielt ausgestreuten Biophoren die Voraussetzungen von Leben und Intelligenz geschaffen – ein Jahrhunderttausende beanspruchender Prozess, später begleitet und forciert von der Intelligenz steigernden Wirkung des Schwarms an sich. Wenn alles glatt verlief. Aber Litrak konnte nicht davon ausgehen, dass seine Mission auf Dauer ungestört verlaufen würde. Das Universum mit Leben und Intelligenz zu erfüllen … so oder so, über kürzere oder längere Zeiträume hinweg. Denn selbst wenn jetzt noch etwas schief gehen sollte, würde das Leben in wenigen Millionen Jahren auf vielen Planeten geradezu explodieren und es zu einer schlagartigen Ausbreitung kommen. Innerhalb von rund 30 bis 40 Millionen Jahren würden sich überall komplexe Vielzeller entwickeln, die Artenvielfalt würde dramatisch ansteigen. Selbst bei einem Ausfall Litrakduurns waren die Voraussetzungen geschaffen: die Erzeugung und Verbreitung von Leben, das einst, in vielen weiteren Millionen, vielleicht sogar Hunderten von Millionen von Jahren, fast zwangsläufig Intelligenz entwickeln würde. Litrak war sich bewusst, dass er das Ende dieser langsamen Entwicklung nicht mehr erleben würde, obwohl er zu den wenigen gehörte, denen seine Auftraggeber, die Kosmokraten, die Gnade einer langen Existenz geschenkt hatten. Eines langen Schaffens in ihren Diensten. »Herr!«, riss ihn die knarrende Stimme Emions, seines persönlichen Adjutanten, aus seinen Gedanken. Das Saqsurmaa schlängel-
12 te sich mit raschen Bewegungen seines segmentierten, schlauchförmigen Körpers in den Saal der Betrachtung. Drei der vier Augen auf den biegsamen Fühlern richteten sich zur Panoramawand, mit dem vierten musterte es Litrak. »Mir wurden einige seltsame Anomalien gemeldet.« »Jetzt nicht, Emion!«, erwiderte Litrak geistesabwesend. »Es ist jeden Moment wieder so weit.« »Gerade deshalb, Herr! Ihr wollt doch einen regulären Ablauf der Ereignisse gewährleistet haben.« Litrak rieb die beiden rechten Beine der beiden dünnen Beinpaare an seinem Hinterleib. Er wusste, dass das dabei entstehende surrende Geräusch in Emions Ohrmembranen schmerzte. Aber das Saqsurmaa hatte natürlich Recht. Mochte Litrakduurn schon allein von seiner Größe her unangreifbar erscheinen – die Mission des Schwarms war stets in Gefahr, von Mächten behindert zu werden, die ein Interesse daran hatten, dass sie scheiterte. Und denen Mittel zur Verfügung standen, die durchaus mit denen der Auftraggeber vergleichbar waren. Wie die Kosmokraten Leben und Intelligenz förderten, um das Universum mit Ordnung zu erfüllen, versuchten die Chaotarchen unentwegt, diese Pläne zu durchkreuzen und das Chaos als universelle Triebfeder zu stärken. Die beiden Mächte waren zwar antagonistisch, aber Litrak hütete sich davor, sie mit Gut und Böse gleichzusetzen. Ohne ein gewisses Maß an Ordnung würde das Universum im Chaos untergehen, und ohne ein gewisses Maß an Chaos würde es in der Ordnung erstarren. Eine Sirene ertönte. Ihr Klang war dem Rasseln nachempfunden, das entstand, wenn Litrak das vordere, zu kräftigen Fangbeinen ausgebildete, verlängerte Beinpaar aneinander rieb und sich die Dornen und Zähne, mit denen die Schienen versehen waren, dabei berührten. Auch dieses Geräusch war für Emions Ohrmembranen unangenehm. Das Saqsurmaa stülpte Vorsprünge über die Git-
Uwe Anton termembranen. Litrak reckte den im Verhältnis zum Körper kleinen, aber sehr beweglichen dreieckigen Kopf vor und betrachtete mit den seitlich sitzenden großen Facettenaugen die kreisförmige Panoramawand. Es war so weit! Die zweite Welle Litrakduurns erreichte ihr Ziel, die abgelegene und eigentlich völlig unbedeutende Spiralgalaxis.
* Das Raum-Zeit-Gefüge schien aufzureißen, jeglichen Zusammenhalt zu verlieren. Gewaltige Stöße immer neuer Strukturerschütterungen erzeugten an zahlreichen Stellen der Sterneninsel Gravobeben, die innerhalb von kürzester Zeit zusammenliefen und sich zu einem einzigen zu vereinigen schienen, das das Kontinuum in seinen Grundfesten erschütterte. Die zweite Welle war angekommen. Millionen Sonnen, Planeten und Raumschiffe stürzten aus dem Hyperraum in das Standarduniversum und gewannen Stofflichkeit. Sie bildeten einen Schweif von fast tausend Lichtjahren Länge, augenblicklich umgeben von einem kristallinen Schimmer. Wie Schaum wuchsen die Wölbungen des hellen, kalten Flimmerns; Halb-, Viertel-, Achtelkugeln verbanden sich zu einer zusammenhängenden Hülle und reihten sich in lichtjahregroßen Ballungen aneinander. Der Schmiegschirm, dachte Litrak, der ganz Litrakduurn schützt und erst ermöglicht, dass wir Transitionen durchführen können. Während die Transitionsbeben der zweiten Welle abflauten, drohte das RaumZeit-Kontinuum erneut aufzubrechen. Die dritte Welle traf ein, und es war noch längst nicht die letzte. Litrakduurn war einer der größten Schwärme, die die Kosmokraten auf den Weg geschickt hatten. Rund 7000 Lichtjahre lang war dieses Gebilde in seiner Gesamtheit; seine Konstrukteure hatten sich einer vollständigen Kleingalaxis bedient, ihre Sonnensysteme umgruppiert und umgestellt,
Die Obsidian-Kluft erwacht um den Schwarm nach ihren Zwecken zu gestalten. Das Schauspiel setzte sich fort. Die dritte Welle erschien, dann die vierte. Jedes Mal wurden dabei etwa 100 Millionen Sonnen und Planeten ohne Zeitverlust von einem Ort an den anderen versetzt. Mit der zehnten Welle würde der Vorgang dann abgeschlossen sein, Litrakduurn mit einer Milliarde Sonnen vollständig in dieser Galaxis eingetroffen sein. Die Schmiegschirmblasen blieben unablässig in Bewegung. Vor allem an den Enden der Schwarmteile verschoben sie sich unablässig und gruppierten sich um, um so schnell wie möglich einen vollständigen Schutz zu gewährleisten und die Voraussetzungen für eine eventuell notwendige Nottransition zu schaffen. Darüber hinaus oblagen dem Schmiegschirm noch weitere Funktionen. Da die Mission des Schwarms und der Aufenthalt in den verschiedenen Galaxien, die er besuchte, in Jahrhunderttausenden zu rechnen waren, musste der Schmiegschirm neben der normalen Kokoneinlagerung von im Weg liegenden Sonnen eine weitere Abschirmfunktion übernehmen. Er sorgte dafür, dass die Gravitations-Wechselwirkung zwischen Litrakduurn und der jeweiligen Sterneninsel, in der der Schwarm sich gerade aufhielt, möglichst gering ausfiel und im Ideal ganz kompensiert wurde. Ohne diese Abschirmung wäre mit Litrakduurn nach einer gewissen Zeit zwangsläufig das passiert, was jeder Kleingalaxis drohte, kam sie einer wesentlich größeren zu nahe: Sie wurde von den Gravitationskräften Zug um Zug zerrissen und schließlich ganz geschluckt. Der Schmiegschirm war natürlich eine der Schwachstellen Litrakduurns. Könnten die Chaotarchen irgendwie bewerkstelligen, dass diese zusätzliche Abschirmung geschwächt wurde oder ganz ausfiel, wäre die Mission aufs Höchste gefährdet. Denn blieb Litrakduurn zu lange in einer Galaxis, war er deren Gravitationskräften ausgesetzt, so dass selbst der Schmiegschirm im Verlauf von ei-
13 nigen Jahrmillionen nicht mehr das Abtreiben von Schwarmsonnen verhindern konnte. Irgendwann würde der Schmiegschirm dann zwangsläufig ausfallen und geradezu platzen – genau wie eine Ballonhülle, an der von allen Seiten gezerrt wurde. Litrak richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bilder. Einen Augenblick lang genoss er geradezu den Anblick des Schwarms. Er verharrte keineswegs an Ort und Stelle, sondern bewegte sich als Ganzes mit geringer Geschwindigkeit knapp oberhalb der galaktischen Hauptebene. Litrak öffnete den kräftigen Mund mit seinen Beiß- und Greifwerkzeugen. Ein wenig erinnerte ihn der Schwarm an seinen Adjutanten: Als überdimensionierte Kristallraupe zog er voran, umgeben von einem grünlichen Flirren, erfüllt und durchdrungen vom Leuchten der integrierten Sonnen. Weitere starke Raumbeben und Strukturerschütterungen kündigten die nächste Welle von Sonnen und Planeten an. Dann erschienen sie, materialisierten mit höchster Präzision am bisherigen Ende des Schwarms und bildeten sein neues. Bis zur nächsten Welle, dachte Litrak, und zur nächsten, bis dann die zehnte sein tatsächliches Ende bilden wird. Er empfand Stolz auf das, was sich vor seinen Facettenaugen abspielte, genoss die erhabene Schönheit des Gebildes, das nach ihm Litrakduurn, der Platz des Litrak, genannt worden war, und erfreute sich an seiner Aufgabe: der Schöpfung, Verbreitung und Förderung von Leben und Intelligenz. Sein Hochgefühl verging, als erneut ein Sirenenton erklang, lauter und durchdringender als der vorherige. Litrak identifizierte ihn sofort: Er sollte vor der größten nur denkbaren Katastrophe warnen. »Ich habe es Euch gesagt, Herr«, murmelte das Saqsurmaa, »aber Ihr wolltet ja nicht auf mich hören!«
* Es dauerte einen Moment, bis Litrak seine
14 Erstarrung abschütteln konnte. Er reckte den auffällig verlängerten Oberkörper vor, hob die gestreckte Vorderbrust, nur um seine Bewegungsfähigkeit zurückzuerlangen. Ihm fiel ein, dass er nicht auf des Saqsurmaas Worte geachtet hatte, sondern sich, wie schon so oft, in der Erhabenheit verloren hatte, mit der Litrakduurn in dieser unbedeutenden Galaxis erschienen war. Erhabenheit … Stolz, Hochmut, Hybris. Nervös bewegte er seine Flügelpaare. Das vordere war wesentlich größer als das hintere und verdeckte es in der Ruhestellung normalerweise, doch in seiner Erregung schlug er so wild mit ihnen, dass sie sich nicht im Einklang, sondern gegeneinander bewegten und das hintere das vordere hochdrückte. »Xöraft«, wandte er sich an den Bordrechner seines Schiffes, der in einer permanenten Verbindung mit den Steuerund Zentralwelten Litrakduurns stand. »Was ist geschehen?« Aber die Antwort musste er nicht abwarten; er erhielt sie, als sich die Bilder auf dem Panorama-Betrachter auf eine Art und Weise veränderten, die er niemals für möglich gehalten hätte. In die Schmiegschirmblasen war Unordnung gekommen. Sie veränderten zwar noch ihre Positionen, aber nicht mehr mit den präzisen Manövern, die sie bislang ausgezeichnet hatten. Sie fügten sich nicht mehr zusammen, sondern brachen voneinander weg! Sie schienen geradezu zu explodieren, schossen auseinander, entfernten sich voneinander, jagten Hunderttausende von Entfernungseinheiten in den Raum hinaus, kollidierten mit Sonnen und Planeten der unbedeutenden Spiralgalaxis, verloren die Verbindung mit Litrakduurn und brachen schließlich zusammen, lösten sich auf, als hätten sie nie existiert. Doch damit nahm das Chaos nur seinen Anfang. Die blauen Riesensonnen des Schwarms, denen die Ingenieure die Energie abzogen und für die Transitionen des gigantischen Gebildes zur Verfügung stellten, heizten sich plötzlich aus ungeklärten Grün-
Uwe Anton den auf, als flossen all die Energien, die ihnen entzogen wurden, augenblicklich wieder auf einen Schlag in sie zurück. Die Daten, die das Xöraft auf die Panoramawände einspielte, waren eindeutig und ließen nicht den geringsten Zweifel übrig. »Nah- und Fernortung!«, befahl Litrak dem Rechner. »Suche nach außergewöhnlichen Energiequellen oder -vorkommen!« »Jawohl, Herr«, bestätigte das Xöraft, meldete unmittelbar darauf: »Eine ungewöhnliche Messung in dreihundertsiebzehn Lichtjahren Entfernung, über Litrakduurn senkrecht zur Hauptebene.« Auf den Panoramawänden erschienen Darstellungen des Objekts in unterschiedlichen Vergrößerungen. Die erste zeigte ein Gebilde aus reiner, brodelnder Energie von einem unglaublichen Durchmesser von über einem Lichtjahr. Weitere, detailliertere Vergrößerungen zeigten im Zentrum der Energiekonzentration ein künstliches Gebilde, das Litrak an einen Ring erinnerte und einen Durchmesser von über zwei Milliarden Kilometern hatte. »Analyse!« »Eine unbekannte Macht hat einen künstlichen Aufriss geschaffen oder einen natürlichen extrem vergrößert. Die aus einem übergeordneten Kontinuum fließende Energie wird durch das ringförmige Konstrukt gebündelt und in unsere Transitionssonnen geleitet.« »Nottransition!« »Nicht durchführbar, Herr.« Das Xöraft spielte andere Bilder ein. Sie zeigten Ausschnitte von Litrakduurn. Ohne den zerfetzten Schmiegschirm konnten die Gravitationskräfte der unbedeutenden Galaxis ungehindert an dem Schwarm zerren. »Es handelt sich eindeutig um einen Angriff«, stellte der Rechner fest. »Er beschränkt sich nicht nur auf die Zerstörung des Schmiegschirms. Rätselhafte Kräfte beschleunigen die Zersetzung des Gravitationsgleichgewichts von Litrakduurn.« Ein Angriff, dachte Litrak entsetzt. Wir sind in einen Hinterhalt geraten! Unser
Die Obsidian-Kluft erwacht Feind schlägt zu, während wir am verletzlichsten sind … während der Transitionswellen. Wer konnte solch einen Angriff durchführen? Wer konnte wissen, wo Litrakduurn erscheinen würde? Nicht nur in welcher Galaxis, sondern auch wo in dieser Sterneninsel? Und wer hatte die technologischen Fähigkeiten, so gezielt und vernichtend zuzuschlagen? Litrak konnte es nicht beweisen, würde es wohl nie beweisen können, doch seine Vermutung war mehr als begründet: Nur die Antagonisten der Kosmokraten sind dazu imstande. »Deine Einschätzung, Xöraft?« »Litrakduurn wird havarieren. Der Schwarm ist nicht zu retten.« »Startbefehl an alle Raumschiffe! Sie sollen Litrakduurn verlassen und ausschwärmen …« Der Schwarmkommandant hielt inne, als das Xöraft kommentarlos weitere Ortungsbilder auf die Panoramawände projizierte. Sie zeigten Raumschiffe, Hunderttausende, Millionen. Unterschiedlich geformte Riesen, die größten darunter mit Durchmessern von mehreren hundert Kilometern, die in diesem Augenblick Milliarden von kleineren Einheiten ausschleusten. Ihr Aufmarsch war so präzise wie die Transitionen des Schwarms: Sie bildeten eine Hohlkugel um Litrakduurn. »Wir sind von ihnen vollständig eingeschlossen!« Starke Raumbeben kündigten die nächste Transitionswelle an und verstärkten das Chaos. Das Xöraft würde Recht behalten: Litrakduurn begann in diesem Augenblick auseinander zu brechen. Aber auch Litrak standen Machtmittel zur Verfügung. »Sende einen Notruf!«, befahl er. »Die Kosmokraten müssen über das informiert werden, was hier geschieht.« »Notruf ausgeschickt, Herr.« Litrak schlug mit den Flügeln. Er war fest davon überzeugt, dass die Kosmokraten darauf reagieren und Hilfe schicken würden. Die Frage war nur … wann? Ihre Reaktions-
15 zeit ließ sich nicht mit den Begriffen messen, die für ihn und das Schwarmpersonal gültig waren. Aber Hilfe würden, Hilfe mussten sie schicken … »Ich empfehle die Aktivierung des Notfallsystems, Herr.« Litrak zögerte. Nicht nur, weil er damit seine Niederlage eingestehen würde. Das Notfallsystem… Es erfüllte ihn mit einer gewissen Scheu. Ehrfurcht war vielleicht der falsche Begriff dafür; das Wort Angst kam dem schon näher. Diese letzte Sicherung für alle Fälle, die gleichzeitig eine komplette Rekonstruktion des Schwarms ermöglichte, bestand aus kristallisierter Psi-Materie, die von jeher, seit der Zusammenfügung Litrakduurns, als Backup-System in eine zeitlose Hyperraumblase eingelagert war und einen Durchmesser von 1126 Kilometern hatte! Ihren Kern bildete eine kobaltblaue Walze, ein Raumschiff, das die Kosmokraten ihnen zur Verfügung gestellt hatten und das über eine Hypertronik verfügte, deren Leistungsfähigkeit sämtliche Rechner Litrakduurns zu primitiven Werkzeugen degradierte. Litrak kannte den Sinn und Zweck dieser Lösung, doch er behagte ihm nicht. Aus diesem immensen Energiepotenzial von PsiMaterie in verfestigter Form ließen sich alle maßgeblichen Schwarm-Komponenten rekonstruieren, selbst wenn der Schwarm – wie es nun zu geschehen drohte – komplett aufgerieben wurde. Einige dieser Komponenten waren in weiteren Hyperblasen eingelagert, darunter blaue Riesensonnen, die Litrakduurn nach der Wiederherstellung mit der nötigen Transitionsenergie versorgen sollten. Nicht nur das Potenzial der Psi-Materie machte ihm Angst, auch ihre Fremdartigkeit. Wobei Gedanken über das Potenzial an sich seine Greifzangen erzittern lassen konnten. Schon geringste Mengen entsprachen der Energiefreisetzung einer Supernova! Teil der mit der Psi-Materie verbundenen Backup-Funktion waren die ReserveHyperblasen mit Biophoren. Denn Litrakdu-
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Uwe Anton
urn war schließlich ebenso als BiophorenVerteiler wie auch als Intelligenzsteigerer unterwegs. Wurden die On- und NoonQuanten unkontrolliert freigesetzt …
* Aus einer kreatürlichen Besorgnis heraus widerstrebte ihm die Aktivierung des Notfallsystems zutiefst, doch hatte er eine andere Wahl? Aufgabe des Schwarms war, Leben und Intelligenz zu fördern, und nicht, Leben zu vernichten, bevor es überhaupt Intelligenz entwickeln konnte. »Was wird geschehen, wenn ich das Notfallsystem nicht aktiviere?«, fragte er. Oder wenn die Aktivierung des Notfallsystems nicht möglich ist, fügte er in Gedanken hinzu, wagte es aber nicht, sie auszusprechen. Das Xöraft spielte eine Simulation auf Teilen der Panoramawand ein. Sie war niederschmetternd. Litrakduurn wurde auseinander gerissen. Der größte Teil wurde im Verlauf von Hunderten von Millionen Jahren von der unbedeutenden Galaxis absorbiert, nur der Kern verblieb als Kugelsternhaufen von etwa 180 Lichtjahren Durchmesser mit etwa drei bis vier Millionen Sternen – immer vorausgesetzt, dass Litrakduurn nicht vollständig transitiert war und weitere Wellen ausblieben, wonach es derzeit aussah. Die nächste Welle war schon lange überfällig. Eine andere Simulation zeigte, wie der psimaterielle Kristall in seiner in den Hyperraum ausgelagerten Stasisblase beschädigt wurde und die Biophoren-Ladung freisetzte. Die Konsequenzen überschritten Litraks Begriffsvermögen leider nicht. Er schloss die Augen. »Leben erhalten, nicht vernichten«, murmelte er. »Das Notfallsystem aktivieren!« Er wusste, dass dieser Schritt unumkehrbar war.
fehlgeschlagen, Kommandant«, meldete das Xöraft. »Ein unbekannter Einfluss beeinträchtigt die Hypertronik.« Die Stimme des Rechners klang unbeteiligt wie immer, doch Kommandant Litrak stöhnte gequält auf. Damit war sein Versagen perfekt. Er war endgültig gescheitert. »Es gibt noch eine Möglichkeit«, fuhr das Xöraft fort. »Ihr persönlich müsst Euer Bewusstsein in die Stasisblase versetzen. Mit Eurer direkten Hochrang-Berechtigung könnt Ihr sämtliche Funktionen steuern und beherrschen. Dann könnt Ihr den BackupVorgang einleiten.« »Mein Bewusstsein transferieren sie …«, murmelte Litrak. Ihm war klar, dass dabei sein Körper zurückbleiben musste. Aber was bedeutete schon ein Körper, ein Leben? Mit einer schwerfälligen Bewegung drehte er sich zum Schott des Betrachter-Saals um. Mit noch schwerfälligeren, schleppenden Schritten ging er weiter. Am Schott blieb er stehen, drehte sich langsam um. »Emion.« Das Saqsurmaa richtete alle vier Stielaugen auf ihn. Litrak bemerkte, dass es am ganzen Röhrenleib zitterte. Er seufzte schwer. »Ich kann dich nicht mitnehmen, nicht deinen Körper, nicht deinen Geist. Aber solch ein Ende hast du nicht verdient.« Plötzlich bedauerte er zutiefst, dass er Emion gequält hatte, indem er Geräusche erzeugt hatte, die ihm unangenehm waren. Litrak achtete nicht mehr auf die Bilder der Panoramawände. Die feindlichen Einheiten flogen unablässig Angriffe auf die Welten und Raumschiffe des Schwarms; Letztere hatten sich zusammengezogen, doch abwenden konnten sie die Niederlage nicht. Es blieb nicht mehr viel Zeit; bald würde der Widerstand Litrakduurns endgültig gebrochen sein. »Folge mir«, sagte er zu dem Saqsurmaa. »Vertraue mir. Ich weiß eine Möglichkeit, wie du überleben kannst …«
* »Die Aktivierung des Notfallsystems ist
*
Die Obsidian-Kluft erwacht Litrak fragte sich, wie es sein würde. Das Bewusstsein vom Körper zu trennen … Würde er dabei Schmerzen empfinden? Angst? Er konnte es sich nicht vorstellen. Solch eine Option hatte er bis zu diesem schicksalhaften Tag mit keinem Gedanken in Erwägung gezogen. Es war ganz sanft. Litrak spürte nicht einmal, dass er etwas zurückließ, auf etwas verzichtete. Vielmehr hatte er den Eindruck, dass eine Last von ihm abfiel, er nur noch aus der reinen Essenz dessen bestand, was ihn wirklich ausmachte. Ein warmes, weiches, helles, aber nicht blendendes Licht erfüllte ihn. Er trieb dahin, wie eine Feder über einen See. Vor ihm erschien ein anderes Licht, ein strahlenderes, stärkeres. Die Psi-Materie und das Walzenschiff. Bald würde er es geschafft haben. Sein Geist würde mit der Hypertronik verschmelzen. Sie würde seine HochrangBevollmächtigung anerkennen, dann konnte er sämtliche notwendigen Schritte zur Wiederauferstehung Litrakduurns treffen. Noch während er diesem Gedanken nachhing, kam der schwarze Schatten, und Litrak wurde klar, dass er den Feind erneut unterschätzt hatte. Rasend schnell näherte sich die Finsternis, viel schneller, als Litrak zu dem hellen Licht strebte. Schon im nächsten Augenblick hatte ihn die Schwärze erreicht. Sie verdunkelte das Licht, das ihn erfüllte, grub sich in seinen Geist, zerrte an ihm … fraß an ihm. Litrak spürte, wie er immer schwächer wurde, Stück für Stück seiner Essenz verlor. Er schrie auf. Der Schmerz war unerträglich. Er wurde bei lebendigem Leib gefressen. Er lachte auf. Er hatte keinen Leib mehr. Den hatte er zurückgelassen. Gefressen wurde seine Essenz, seine Seele, sein Geist. Er selbst. Als er endlich das blendende Licht der Hypertronik erreichte, war er nur noch ein kleiner Teil seiner selbst. Und dieser Teil war nicht einmal ganz und gar er selbst.
17 Sein letzter Gedanke galt den Kosmokraten. Und dem Zweifel, ob sie jemals kommen würden, um ihn aus seinem Gefängnis zu befreien. Dem Gefängnis, das aufgrund der Zeitlosigkeit mit der Ewigkeit identisch war. Ewig leiden … nur noch ein Bruchstück seiner selbst sein … Nein. Nein, das hatte er nicht verdient. Aber die Kosmokraten würden …
5. Lis Plan Ein bloßer Gedanke, und ich konnte die Informationsflut so mühelos zurückdrängen, wie ich sie herbeigeholt hatte. Der Rest war mir bekannt; ich konnte ihn mir zumindest zusammenreimen. Und ich hatte nicht ewig Zeit … Die Erstarrung fiel von mir ab. Ich sah mich auf der Plattform um. Sardaengar stand im Licht, starr wie eine Säule, die Beine gespreizt, die Arme gehoben und ausgestreckt. Wartete er tatsächlich auf etwas, oder geschah etwas ganz anderes mit ihm, was sich noch unserem Begriffsvermögen entzog? Führte er vielleicht noch immer einen inneren Kampf gegen den Kristallmond? Gegen die Hypertronik? Li schlug in diesem Moment ebenfalls die Augen auf. War sie zum selben Schluss wie ich gekommen – dass wir auf den Rest der Informationen verzichten konnten und uns um die Gegenwart kümmern mussten –, oder hatte sie lediglich gewartet, bis ich in Erfahrung gebracht hatte, was ich wissen musste? War ihr das alles schon längst bekannt gewesen? Ich rappelte mich auf, drehte mich zu Li um, beobachtete Sardaengar aber aus einem Augenwinkel, um sofort reagieren zu können, wenn er wieder zu sich kam. Und was willst du dann gegen ihn unternehmen, du Narr?, meldete sich der Extrasinn. Nutze deine Chance! Vielleicht ist es deine letzte! Töte ihn sofort! Jetzt! Ich blickte zu der Lichtsäule hinauf. Skru-
18 pel hätte ich keine gehabt, hätte ich damit die Milchstraße retten können, aber irgendwie bezweifelte ich, dass die Hypertronik das zulassen würde. »Nun weißt du es«, sagte Li. »Hast du es schon längst gewusst?« Sie zuckte nur die Achseln. »Litrakduurn wurde zerstört. In gewisser Weise starb der echte Litrak … und das im Wissen, einerseits versagt zu haben und andererseits von den Kosmokraten im Stich gelassen worden zu sein.« »Vor etwa 546 Millionen Jahren«, murmelte ich. »Die so genannte Kambrische Explosion. Auf der Erde und vielen anderen Planeten kam es zu einer schlagartigen Ausbreitung des Lebens.« Li atmete seufzend aus. »Das Miniaturuniversum verharrte Ewigkeiten in Zeitlosigkeit. Litraks Restbewusstsein wurde von der Hypertronik nicht anerkannt.« »Das änderte sich erst, als Sardaengar auf irgendeine Art und Weise in die ObsidianKluft verschlagen wurde.« »Mit der Zeit baute sich die unbewusste Verbindung zwischen Litrak und Sardaengar auf. Litraks Restbewusstsein benötigte eine Person wie Sardaengar als Medium«, sagte sie. »Die Kombination aus den beiden würde der Hypertronik genügen und als Ergebnis die fehlende Hochrang-Berechtigung ergeben.« »Aber Sardaengar wehrte sich, bekämpfte den irgendwann materialisierten KristallLitrak, wovon heute noch auf den VinaraPlaneten die Legenden erzählen, und konnte ihn schließlich sogar für lange Zeit an die Eisgruft fesseln … als Untoten Gott im Eis …« Ich runzelte die Stirn. »Der BackupProzess lässt sich letzten Endes nur dadurch verhindern, dass die Verbindung zwischen Sardaengar und dem Kristallmond gekappt wird! Deshalb wolltest du Sardaengar auch töten, als du ihn aufgespürt hattest. Du hast es mir erzählt … Damit wäre das Problem ein für alle Mal gelöst gewesen. Ohne Sardaengar keine Hochrang-Berechtigung … Das war einfacher, als zu versuchen, ihn vor
Uwe Anton dem Einfluss des Kristallmondes abzuschirmen.« Li nickte. »Die Hochrang-Berechtigung darf nicht zustande kommen. Eine Transition des Schwarmkerns hätte katastrophale Auswirkungen auf die Milchstraße, weil die Vergessene Positronik als Störfaktor keine sanfte Form des Prozesses ermöglicht. Viel wichtiger ist jedoch die noch größere Gefahr – die mit der Auflösung des Miniaturuniversums zweifellos verbundene, ebenso unkontrollierte wie ungezielte Freisetzung der Onund Noon-Quanten!« Ich grinste kühl. »Das klingt nicht nach der Sprache der Li, die ich kannte. Das klingt wie vorgekaut und nachgeplappert. Hat Samkar dir diese Sätze eingeflüstert? Werde ich deshalb noch gebraucht? Um die Freisetzung der Quanten und Biophoren zu verhindern?« »Ich weiß nicht, weshalb du noch gebraucht wirst«, erwiderte sie. »Vielleicht deshalb, vielleicht wegen irgendeiner anderen Sache, die noch weit in der Zukunft liegt. Samkar pflegt mich nicht in seine Überlegungen einzubeziehen.« »Das glaube ich dir gern«, sagte ich spöttisch. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um nicht nur den Backup-Prozess zu verhindern, sondern auch die Gefahr der Biophoren zu beseitigen. Und sei es durch eine gewaltige Psi-Materie-Detonation des Kristallmondes insgesamt …« »Was schlägst du also vor?«, fragte ich. »Du hast davon gesprochen, dass du die Vergessene Positronik über die Lichtsäule erreichen willst. Hast du das immer noch vor, oder hast du mittlerweile einen anständigen Plan?«
* Auch diese Spitze ignorierte Li, als hätte sie sie gar nicht gehört. Doch ich kannte mich aus mit diesen kleinen Psychospielchen, wusste, dass steter Tropfen den Stein unweigerlich höhlte. Und ich hatte nicht vor,
Die Obsidian-Kluft erwacht Li einfach so davonkommen zu lassen. Irgendwann würde ich sie mit diesen kleinen Provokationen treffen. Irgendwann würde sie darauf reagieren. »Natürlich habe ich einen Plan«, sagte sie, »und du kennst ihn bereits.« »Du hast also tatsächlich vor, über die Lichtsäule zur Vergessenen Positronik vorzustoßen?« Sie warf mir einen Blick zu, der mir fast mitleidig vorkam. »Wir müssen an getrennten Orten, aber trotzdem gemeinsam handeln.« Ich schüttelte den Kopf. »Ohne mich. Ich bin nicht bereit, mich weiterhin vor den Karren des Kosmokraten spannen zu lassen. Ich lasse mich nicht mehr mit Auskünften wie Samkars ›Du wirst noch gebraucht!‹ abspeisen.« Sie lachte schrill auf. »Dann siehst du lieber zu, wie die Milchstraße von einem neu entstehenden und dann transitierenden Schwarm zerrissen wird? Dass die Biophoren alles überschwemmen und das Leben … pervertieren? Das kannst du deiner Kristallimperatrice erzählen, Atlan. Vielleicht kauft sie es dir ja ab. Aber den meisten Berichten zufolge soll sie ja eine vernünftig denkende Arkonidin sein.« Ich schloss die Augen. »Verstehst du mich nicht? Du bist nicht die Li, die ich gekannt und geliebt habe. Ich muss endlich Gewissheit haben, was mir ihr geschehen ist … und wie es zu alledem kommen konnte.« Sie zögerte, schien über meine Worte nachzudenken. Lange und ausführlich. Was durfte sie sagen, was nicht? Oder gaben schließlich ganz andere Dinge den Ausschlag? Ich wusste nicht, wer die Frau vor mir wirklich war – ein Roboter aus einer Kosmokratenschmiede, ein Androide, ein fremdes Bewusstsein in Lis Körper? Oder was auch immer. Aber zumindest schien sich eine Spur von Menschlichkeit in diesem Körper zu befinden, denn schließlich seufzte sie laut. Und nickte. »Samkar hat mich von Anfang an beauftragt, eine mögliche Neuentste-
19 hung des Schwarms zu verhindern. Als der Historikerin Li da Zoltral … der Li, die du im Epetran-Museum kennen und dann lieben gelernt hast … mein Bewusstsein aufgepfropft wurde, hatte Samkar schon geplant, dich auf Omega Centauri aufmerksam zu machen. Samkar waren die Aktivitäten Sardaengars nicht unbemerkt geblieben. Es bestand die akute Gefahr einer Reaktivierung des Urschwarms, zumindest aber einer dauerhaften Öffnung der Obsidian-Kluft. CrestTharo da Zoltrals Aktion war nicht vorauszusehen gewesen. Wir gingen davon aus, dass du Epetrans Krish'un als solchen erkennen und Nachforschungen anstellen würdest. Du solltest zum Sonnendodekaeder gelangen. Eins wäre zum anderen gekommen – die Lebenserinnerungen von Nevus Mercova-Ban, die lemurischen Erkenntnisse, der Hinweis auf Sardaengar …« »Dann war von Anfang an alles ein abgekartetes Spiel?« »Dass durch die zufällige Verkettung der Verletzung von Li und der später durchgehenden Bewusstseinstransfer-Maschine die Vergessene Positronik angelockt wurde und damit den Zugang zur Obsidian-Kluft geöffnet hat, war in dieser Form weder geplant noch beabsichtigt. Es hat den Prozess beschleunigt. Samkar musste reagieren und hat nach nur zwei Tagen seine Li wieder in den Einsatz geschickt … mich!« »Er hat Lis Leiche geborgen und wiederbelebt …« »Kosmokratentechnik«, sagte Li nur. »… und deinem Bewusstsein die alleinige Herrschaft über ihren Körper gegeben.« »Ich kannte ihn. Ich steckte schon lange genug in ihm. Ich war die nahe liegende Alternative.« »Warum ist Samkar nicht selbst gekommen? Warum ist er nicht mit seinem Raumschiff aus der Kosmokratenschmiede in die Obsidian-Kluft eingeflogen und hat die Kastanien selbst aus dem Feuer geholt?« Li antwortete nicht. »Wollte er nicht, oder konnte er nicht?« Zuerst schwieg sie. Dann sagte sie:
20 »Beides.« Ich forschte nicht nach. Weitere Erklärungen würde sie mir nicht geben. »Und wer bist du?« Sie sah mich an. »Willst du jetzt einen Namen hören? Wissen, welchem Volk ich entstamme? Ob du diese Spezies kennst? Ob ich überhaupt aus dieser Galaxis stamme? Wieso Samkar ausgerechnet auf mich gekommen ist? Wieso mein Bewusstsein gerade frei war?« Sie lachte. »Glaub mir, Atlan, das willst du gar nicht wissen. Ich bin nicht die Li, die du gekannt hast, das sollte dir genügen.« Es genügte mir nicht, aber das sagte ich nicht. Ich hatte noch so viele Fragen, doch vielleicht war es tatsächlich besser, wenn sie ungestellt blieben. »Also gut. Du versuchst dein Glück in der Vergessenen Positronik, während ich versuche, zu Sardaengar durchzudringen, und gleichzeitig verhindere, dass ihm Tamiljon als Litrak-Ersatz zu nahe kommt. Was hast du genau vor?« Li nickte ernst. »Ich stehe noch in einer Verbindung zur Positronik, das werde ich ausnutzen. Denn nur ich bin in der Lage, direkt im Kristallmond zu agieren. Die Positronik versucht weiterhin, per Transition zu entkommen. Diesen Prozess werde ich verstärken. Die Strukturschocks der Mikrotransitionen müssen einander aufschaukeln …« »Bis zur Resonanzkatastrophe?« Ich zuckte die Achseln. »Könnte funktionieren.« »Es muss! Die Hauptentladung der schlagartig freigesetzten Psi-Materie wird zweifellos im Hyperraum verpuffen; dabei werden hoffentlich auch alle Biophoren ›entsorgt‹. Wie stark die Nebenwirkungen und Randeffekte sein werden, lässt sich nur schwer abschätzen. Du solltest dich auf einen extrem starken Psi-Sturm einstellen …« Sie drehte sich zu Sardaengar und der Lichtsäule um. Dann zögerte sie kurz, überlegte es sich anders, trat zu mir … und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ein Abschiedskuss! Ohne sich noch einmal umzudrehen, nä-
Uwe Anton herte sie sich Sardaengar. Sie betrachtete ihn nicht im Geringsten, sondern trat mitten unter den hellen Schein. Und entmaterialisierte abrupt, aufgenommen von der weißen Lichtsäule. Ich sog scharf die Luft ein. Vielleicht hatte ich sie unterschätzt. Vielleicht war ihr Plan doch nicht so unmöglich, wie ich vermutet hatte.
6. Sardaengars Kampf Leises Stöhnen ließ mich herumfahren. Tamiljon hatte die Augen geöffnet. Er sah mich an, doch sein Blick starrte ins Leere. Ich kniete neben ihm nieder, half ihm, sich auf die Ellbogen aufzurichten. Verwirrt sah er sich um. »Wo … wo bin ich?« Ich lächelte schwach. Die übliche Frage, die man stellte, wenn man aus einer Ohnmacht erwachte. »Auf der Plattform des Nordturms. Du bist abgestürzt. Eine Flugechse hat dich angegriffen, als du hinübergeklettert bist …« »Ja …« Sein Blick bewölkte sich, doch dann schüttelte er sich und richtete sich allein in eine sitzende Position auf. »Ja … die Flugechse … Sie riss mich in die Tiefe, wir stürzten beide ab … Ich versuchte verzweifelt, nach dir zu greifen, um mich zu retten, doch du warst schon zu weit entfernt …« »Und dann?«, fragte ich gespannt. »Dann … war plötzlich der Mondsplitter da … Er tastete nach mir, streckte seine Fühler nach mir aus, als wäre er … als wäre er … ein Lebewesen, ein …« »Ein intelligentes Lebewesen?« Tamiljon nickte schwach. »Plötzlich war es da, ich konnte auf seine Lebensenergie zurückgreifen. Ich befreite mich telekinetisch von dem Flugsaurier und schleuderte ihn gegen die Turmwand. Benommen flog er davon. Dann bremste ich meinen Sturz, und … und … der Mondsplitter holte mich zu sich. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, ich flog langsam auf ihn zu, beseelt von seiner Kraft … und dann landete ich auf
Die Obsidian-Kluft erwacht ihm, und er stieg empor …« Hatte der Mondsplitter Tamiljon bewusst von sich aus gerettet? Nahe liegend, behauptete der Logiksektor. Ich nickte. Tamiljons Körper enthielt Splitter Litraks, sein Exoskelett bestand aus der Körpersubstanz des ehemaligen Schwarmkommandanten. Durch diese Kristallumhüllung war Tamiljon nach Litraks »Ende« zu einem Ersatz-Litrak geworden. Da war es durchaus vorstellbar, dass der Mondsplitter ihn zum Kristallmond bringen wollte. Genau wie der Kristallmond Sardaengar beeinflusste, hatte der Mondsplitter die zweite Komponente gerettet. Inwieweit hier von einem bewussten Vorgang gesprochen werden konnte, war ein anderes Thema. Die Hypertronik im Kristallmond folgte letztlich nur ihrer Programmierung. Aber Tamiljon war auf die Lebensenergie intelligenter Wesen angewiesen, wollte er seine telekinetischen Fähigkeiten einsetzen. Und eine Hypertronik war wohl kaum ein intelligentes Lebewesen. Das wäre eine Erklärung für Sardaengars Erstarren, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Vielleicht hat der Mondsplitter, der zweifellos ein Ableger des Kristallmondes ist, über die Lichtsäule oder auf andere Art und Weise Lebenskraft von Sardaengar abgesogen, um Tamiljon zu retten. Oder ein Teil der Psi-Materie wurde »verdampft« und auf diese Weise freigesetzt. Das klang logisch, doch ich bezweifelte, dass wir jemals eine eindeutige Bestätigung für diese Vermutung bekommen würden. Ein dumpfes, aber gellendes Geräusch ließ mich aufblicken. Ich hatte es trotz des Knisterns und Prasselns der Energien gehört, die die Lichtsäule entfesselte. Es drang mir geradezu durch Mark und Bein. In Sardaengar war das Leben zurückgekehrt, die Starre von ihm abgefallen. Er hatte die Arme gesenkt, den Kopf zurückgelegt, als sehe er die Lichtsäule zum ersten Mal – und er lachte.
*
21 Das Geräusch war so unheimlich, dass ich es trotz der überwältigenden Hintergrundkulisse nicht überhören konnte. Langsam drehte der Herr der Welten sich zu uns um. Er war nicht mehr der Sardaengar, wie ich ihn gerade noch gesehen hatte. Sein Körper war nun der eines groß gewachsenen, athletischen Humanoiden mit einer hellen Haarmähne … ein Vargane? Wie bereits bei der Projektionsgestalt in der Silbersäule der Eisgruft fiel mir das markante Kinngrübchen auf; es kam mir bekannt vor. Sehr bekannt … Dann nahm Sardaengar den eines sehr schlanken, fast schon spindeldürren Terraners an oder zumindest eines Terranerabkömmlings, mit 1,60 Metern nicht besonders groß gewachsen, mit dunkelbraunem, dünnem Haar und ebenfalls braunen, abnormal groß wirkenden Augen. Der Extrasinn konnte ihn anhand einer auffälligen Behaarung der Handrücken sowie der dichten Nackenbehaarung identifizieren. Ein Yornamer. Und schon wieder wechselte Sardaengar die Gestalt. Ich sah einen braunhäutigen, mandeläugigen Lemurer, dann einen Akonen … Immer schneller veränderte sich Sardaengars Äußeres, immer schwieriger fiel es mir, die Spezies zu erkennen, die er nachbildete. Einen Blue, einen Haluter, einen Maahk, dann Wesen, die ich noch nie gesehen hatte oder auf die Schnelle nicht erkannte. Das war die endgültige Bestätigung. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass mein Gegenüber ein Cyno war. Mein fotografisches Gedächtnis reproduzierte das Bild eines hageren, aristokratisch wirkenden Arkoniden mit den typischen roten Augen und weißen Haaren – und dem markanten Kinngrübchen. Trento! Chefmathematiker auf Larsa! Nun wusste ich, woher ich ihn kannte – und er mich. Aber das ist nicht alles! Das Kinngrübchen lieferte den letzten Hinweis, nun, nachdem ich in Trento eine von Sardaengars paramodulierten Gestalten erkannt hatte. Innerlich stöhnte ich auf. Cagliostro! Er war der echte Cagliostro!
22
Uwe Anton
Cagliostro, der Cyno!
* Unterdessen hatte die Geschwindigkeit der Verwandlungen wieder abgenommen, Sardaengar verharrte in der Gestalt des Varganen, mit der das Kaleidoskop begonnen hatte. »Atlan! Ich kenne dich. Sogar persönlich. Du erinnerst dich?« Ich versuchte, seinen Blick so gelassen wie möglich zu erwidern. »Ja. Jetzt weiß ich es. Du bist mir – unter anderem – als Cagliostro begegnet. Im Januar 1756. Der Funkanruf eines leistungsschwachen Geräts hatte mich zu einem maroden Schlösschen südlich von Paris gelockt. Es war die Falle einer deiner Schüler …« Ich brach ab, während am Rand meines Wachbewusstseins die vom fotografischen Gedächtnis heraufbeschworene Szene lebendig wurde. Januar 1756. Vom Loch in der Kellerdecke schaukelte eine Strickleiter. Ich leuchtete die Gestalt an, die langsam herunterkletterte, einen Mann mittleren Alters in reich verzierter Kleidung. »Kommt herauf, Chevalier«, sagte er ruhig. Sein Gesicht drückte Lebenserfahrung und Selbstsicherheit aus. »Der Übeltäter ist unschädlich gemacht.« Ich ließ die Waffen fallen und folgte ihm. Am Ende der Leiter zog er mich an der Hand hinauf. Ich begriff, dass dies nicht mein Gegner war, glaubte aber auch zu wissen, keinen einfachen Franzosen vor mir zu haben. Ich sprach zuerst. »Mein Name ist Atlan d'Arcon. Wem verdanke ich meine Rettung?« »In der Tat Rettung kurz vor der Entscheidung, cher ami«, sagte mein Gegenüber mit weicher Stimme. »Wenig fehlte, und Ihr wärt getötet worden. Euer Gegner war gefährlich; ein Segen, dass er nicht mehr lebt.« »Tot? Und, mit Verlaub, wer seid Ihr?« »Ich lehrte ihn vor vielen Jahren manche Geheimnisse der Natur. Im Grunde seines Herzens war er schlecht, böse … aber dass
er so weit gehen würde … Er konnte die Vergangenheit so sehen wie wir die Gegenwart und konnte den Menschen Dinge vorspiegeln, die es vielleicht nur in ihren Erinnerungen gab. Statt zum eigenen Wohl und dem Wohl anderer zu wirken, verschrieb er sich den Mächten der Finsternis.« »Also seid Ihr ein Magier?« Ich desaktivierte das Schutzfeld und tastete, diesmal erfolgreich, nach meinen Waffen. Er betrachtete mich mit schwer deutbarem Lächeln. »So könnte man's nennen. Ich habe viele Namen, darin ähnle ich Euch. Vor jener Riesenwelle, die man Sintflut nennt, kam ich auf diesen Planeten. Ich diskutierte mit Sokrates und lehrte Salomon die Klugheit. Ich komme und gehe, bin alterslos, bin ein Pendler zwischen den Zeiten. Nennt mich Cagliostro.« Ich war einen Schritt zurückgewichen und starrte ihn an. »Euren Namen hörte ich ein paar Mal. Ein Zeitreisender also?« »Nicht mit Maschinen, über die ich nicht verfüge. Ihr würdet es vielleicht bewusste Wiederkehr nennen.« »Unmöglich. Das gibt es nicht.« Ich sah, dass er sich zum Gehen wandte. Sein Lächeln war das eines uralten Weisen. »Ausgerechnet Ihr sprecht von Unmöglichkeit? Nur wenige Menschen haben die Gabe, sich zu erinnern, wann und wo sie gelebt haben. Ich bin einer von ihnen – ein bekannter Mann in dieser Zeit. Eines Tages sterbe ich, eines anderen Tages werde ich wieder erscheinen und leben. Vielleicht auf einer anderen Welt? Ich warte auf ein Ereignis, das einen Teil der Sterne verändern wird, aber dies mag weit in der Zukunft liegen. Es ist möglich, dass wir einander noch einmal begegnen.« Wir standen in der Mitte der Halle. In drei Wandhalterungen steckten hell lodernde Fackeln. Ich prägte mir Cagliostros Aussehen ein und überdachte schweigend, was ich gehört hatte. »Vielleicht werdet Ihr dann mehr über mich zu wissen glauben. Denkt daran, dass nicht einmal Ihr und ich die volle Wahrheit
Die Obsidian-Kluft erwacht kennen. Werdet Ihr mir glauben, wenn wir uns in hundert oder tausend Jahren wieder begegnen?« Ich nickte stumm. Er deutete auf die offene Eingangstür. »Verlasst das Haus und reitet zur Taverne zurück. Keiner meiner Schüler wird Euch jemals mehr belästigen.«
* »Dein Leben währt ja fast schon so lange wie das meine. Fast!« Er lachte wieder. Abrupt veränderte sich seine Stimme, wurde tiefer. Er riss die Augen auf, als würde er mich zum ersten Mal sehen. »Wo kommt ihr her?« Er zeigte auf Tamiljon. »Und halte den da von mir fern! Er soll mir ja nicht zu nahe kommen! Sonst werde ich ihn sofort töten! Ich spüre, dass er Litraks Essenz in sich aufgenommen hat.« Ich kniff die Augen zusammen, schob Tamiljon ein Stück zurück und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich keinesfalls von der Stelle zu bewegen. »Tamiljon, nicht wahr?« Sardaengars Stimme hatte sich wieder verändert. »Ich kenne dich. Ich weiß alles über dich! Mein Körper ist dein Körper!« Er lachte wieder. »Zumindest sind Teile meines Körpers zu Teilen deines Körpers geworden!« Sei auf der Hut, warnte der Extrasinn. Sardaengar zeigt schizophrene Züge. Einerseits spricht der Cyno aus ihm, andererseits aber der Kristallmond … oder besser gesagt, die dahinter stehende Hypertronik und ihre Programmierung! Achte genau auf seine Worte und seine Stimmlage! Die Hypertronik versucht weiterhin, ihn zu unterwerfen, erwiderte ich lautlos. Bislang hat er sich dagegen gewehrt, doch nun scheint seine Kraft erschöpft zu sein. Aber das bedeutete auch … Genau, bestätigte der Logiksektor. Das ist deine Chance. Wenn der Cyno Sardaengar gegen den Einfluss des Kristallmondes kämpfte, war zumindest noch ein Rest von ihm vorhanden. Und diesen Rest konnte ich eventuell
23 erreichen … Erneut sprach Sardaengar mich an, doch seine Stimme wechselte die Oktave mitten im Satz. Ich schrie auf; mir war klar, dass er sich nicht vom Einfluss des Kristallmondes befreien konnte. Das Backup-System gewann in diesem Augenblick die Oberhand und unterwarf den Cyno. Du musst es verhindern, drängte der Extrasinn. Sonst ist alles verloren! »Ratschläge?«, murmelte ich. Der Logiksektor schwieg. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sich in der HoloKugel immer größere Spalten in der Obsidianhülle öffneten. Die hyperkristallartigen Obsidian-Bruchstücke verwandelten sich in aufleuchtende grellweiße Funken. Die Obsidianhülle ist letzten Endes auch nichts anderes als ein psimaterieller Teil des Kristallmond-Backup-Systems, führte der Extrasinn aus. Mir war klar, was er damit sagen wollte: Der Weltuntergang stand unmittelbar bevor. Die Hypertronik braucht beide für die Hochrang-Bevollmächtigung. Litrak und Sardaengar! Du musst handeln, Atlan! So oder so! Wenn es dir nicht gelingt, Sardaengar auf deine Seite zu ziehen, musst du ihn beseitigen! Die Hypertronik darf ihn nicht unterwerfen! Ich setzte mich in Bewegung … das hieß, ich versuchte es zumindest. Ich hatte noch keine drei Schritte getan, als ich spürte, wie etwas nach mir griff. Mit einem Mal schien ich wie gelähmt zu sein. Ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Gleichzeitig verspürte ich den Wunsch, all das hier zu vergessen, Sardaengar, Litrak, die ObsidianKluft … Sardaengar versucht, dich mit seinen Suggestivkräften zu beeinflussen, warnte der Extrasinn. Ich war zwar mentalstabilisiert und verfügte über einen Monoschirm, doch die Parakräfte des Cynos waren gewaltig. Ich bezweifelte, dass ich ihnen lange widerstehen konnte. Dann spürte ich tief in mir einen Gegen-
24 pol, der die Essenz meines freien Willens enthielt. Zuerst war er nur ganz schwach, doch er weitete sich langsam, aber stetig aus und drängte den fremden Einfluss zurück. Der Extrasinn griff zu meiner Unterstützung ein! Vermutlich verhinderte allein er, dass Sardaengar mich übernehmen konnte! Allmählich gehorchte mein Körper wieder den Befehlen, die mein Verstand ihm erteilte. Ich konnte wieder sprechen. »Sardaengar, du bist noch da. Der Kristallmond hat noch nicht gewonnen! Hörst du mich?« Ich musste versuchen, zu dem Cyno vorzudringen und die Beeinflussung durch den Kristallmond zu beseitigen. »Ich soll dir Grüße ausrichten. Grüße von Imago Eins und Zwei! Du erinnerst dich an sie?« Der wilde Blick in Sardaengars Augen wurde eine Spur ruhiger. War es Sardaengar gelungen, den Einfluss des Kristallmondes zurückzudrängen? Hatte er zu sich selbst zurückgefunden, nur weil ich die Namen einiger anderer Cynos genannt hatte? Sardaengar runzelte die Stirn. Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Imago? Ja, genau, du …« Er hielt mitten im Satz inne und schrie auf. Ich sah es aus dem Augenwinkel: Tamiljon, der die ganze Zeit angespannt neben mir gestanden hatte, schnellte vor. Gleichzeitig verzerrte sich das Gesicht des Telekineten; wahrscheinlich versuchte er, mit seiner paranormalen Kraft auf Sardaengar zuzugreifen, um ihn zusätzlich zu schwächen. Ein Telekinet mit einer eingeschränkten Begabung gegen einen Cyno! Mir war klar, wie dieser Kampf ausgehen würde. »Nein, Tamiljon!«, rief ich, doch es war schon längst zu spät. Sardaengar riss eine Hand hoch und richtete sie auf Tamiljon. Ein weißer Lichtstrahl, der mich an die Lichtsäule erinnerte, schoss aus seinen Fingerspitzen und traf den Telekineten mitten im Sprung. Tamiljon prallte zurück, als wäre er gegen eine Wand geflogen. Doch diese kurze Ablenkung genügte mir, um Sardaengars Unaufmerksamkeit auszu-
Uwe Anton nutzen. Ich verspannte mich in der Befürchtung, ebenfalls von solch einem Lichtstrahl außer Gefecht gesetzt zu werden. Während Tamiljon noch durch die Luft geschleudert wurde, mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug und stöhnend liegen blieb, holte ich aus und versetzte Sardaengar einen Dagor-Tritt gegen die Leiste. Zu meiner Überraschung blieb eine Gegenwehr aus – sowohl auf paranormaler als auch auf physischer Ebene. Der Cyno riss die Augen auf und wich zurück. Verwirrt musterte er mich. Ich setzte nach, holte zu weiteren Dagor-Schlägen und -Tritten aus. Nur allmählich baute Sardaengar so etwas wie eine Verteidigung auf. Er beschränkte sich aber darauf, meine Angriffe abzuwehren. Er zeigt Unsicherheit, sobald er mit dir in direkten Kontakt kommt, stellte der Extrasinn fest. Vielleicht liegt es an deiner Ritteraura? Eine mögliche Erklärung. Als Cyno hatte Sardaengar letzten Endes im Auftrag der Kosmokraten gehandelt, und die Kosmokraten hatten mir die Würde eines Ritters der Tiefe verliehen. Ich täuschte einen Tritt an, verzichtete auf den Schlag, der eigentlich hätte folgen müssen und den Sardaengar erwartete, wirbelte herum und stand plötzlich hinter ihm. Es gelang mir, Sardaengar in einen Klammergriff zu nehmen. »Atlan …«, stöhnte er schwer. »Atlan, ich …« Er erschlaffte in meinen Armen, schien jeden Widerstand aufzugeben. Trug der intensive direkte Körperkontakt mit mir dazu bei, Sardaengar Kraft für seinen inneren Kampf zu geben? Half er ihm, die Beeinflussung durch den Kristallmond abzuschütteln? Wenn Sardaengar wieder er selbst war, sich der Hypertronik verweigerte, würde der Backup des Schwarms nicht eingeleitet werden können, die Obsidian-Kluft nicht aufbrechen, würden die On- und Noon-Quanten nicht unkontrolliert davon treiben. »Wer spricht aus dir?«, fragte ich schwer atmend. »Der Cyno oder der Kristallmond?«
Die Obsidian-Kluft erwacht »Ich bin …« Sardaengar riss den Kopf herum und schrie auf. Ich blickte ebenfalls zur Seite und sah einen dunklen Schatten, der auf uns zustürzte. Tamiljon! Ausgerechnet jetzt, als Sardaengar wieder er selbst wurde. Ich warf mich zur Seite und riss den Cyno mit, doch der Telekinet war schneller. Mit weit ausgebreiteten Armen prallte er gegen uns, als wolle er uns beide umfassen. Ich erwartete, von seinem Schwung zu Boden geworfen zu werden, doch es kam ganz anders. Blendende Helligkeit nahm mir jede Sicht. Direkt vor mir schien eine neue Sonne aufgegangen zu sein. Ich schrie auf und spürte, wie mich die Lichtexplosion zurückwarf. Etwas landete schwer auf mir. Tamiljon! Auch er war zurückgeschleudert worden. Vor meinen Augen flimmerten nur weiße Sterne, doch ich hörte einen wilden Aufschrei. Sardaengar! Langsam wurde meine Sicht wieder klar. Ich sah, dass Sardaengar am Rand der Plattform stand. Er schwankte; die Lichtsäule über ihm loderte hell, hatte sich aber am unteren Ende verfärbt, leuchtete nun in blutigem Rot. Um Sardaengars Körper zuckten Blitze. Schneller, als ein arkonidisches Auge es verfolgen konnte, flossen Tausende verschiedener Gestalten über seinen Körper hinweg, ohne sich jedoch festigen zu können. Und dann … dann verwandelte er sich … mitten in der Bewegung in eine Säule, die im grellen Schein der Lichtsäule keinen Schatten warf. Ich wusste, was das bedeutete. Wenn Cynos starben, wurden sie zu eben jenen Obelisken, die keine Schatten warfen. Sardaengar … tot? Was war geschehen, was hatte das zu bedeuten? Hatte ihn der Kontakt mit Litraks Körpersubstanz umgebracht? Hatte er sich vielleicht dem Zugriff des Kristallmondes bewusst endgültig entzogen, Selbstmord begangen, damit die BackupVorrichtung niemals die notwendige Hoch-
25 rang-Berechtigung erhalten würde? Oder hatte der Kristallmond den Cyno endgültig unterworfen und würde jetzt seiner Programmierung folgen … was das Ende der Milchstraße bedeuten konnte? Doch in seinem Todeskampf schien Sardaengar seine Kräfte ein letztes Mal gebündelt zu haben. Genau auf mich … Mein Geist wurde von Eindrücken überschwemmt, von fremden Impressionen, von Gedanken, die nicht die meinen waren. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, doch die Visionen waren zu stark. Sie packten meinen Geist, nahmen Besitz von ihm und wirbelten mich davon. Ich konnte ihnen keinen Widerstand leisten, war ihnen hilflos ausgeliefert …
Zwischenspiel I Lis Licht Zeitlosigkeit. Weißes, warmes Leuchten. Dann erfolgte die Materialisation. Genau dort, wohin sie wollte. In der Zentrale der Vergessenen Positronik. Sie machte sich an die Arbeit. Als sie von der Lichtsäule aufgenommen worden war, hatte sie noch nicht gewusst, wie sie vorgehen würde. Jetzt flossen ihr die Kenntnisse zu, als wären es fremde, nicht ihre eigenen. Kosmokratenwissen? Informationen Samkars? Ihre Hände arbeiteten ohne ihr Dazutun. Ihre Gedanken waren frei für anderes. Sie dachte an Atlan, verspürte so etwas wie Bedauern. Die Qual, die aus seinen Worten sprach, als er sie gefragt hatte, wer sie wirklich sei. Ihre Antwort war ausweichend gewesen. Atlan hatte vermutlich angenommen, dass sie ihm die Wahrheit nicht sagen wollte oder durfte. Das war nicht richtig so. Sie konnte sie ihm nicht sagen. Sie kannte sie selbst nicht. Li wusste nicht, wer sie war. Ob eine künstliche oder echte, lebende Intelligenz diesen wiederbelebten Körper beseelte. Die-
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se Erinnerungen fehlten ihr. Sie arbeitete schnell und geschickt, und diesmal gelang es ihr, Einfluss auf die Entmaterialisationsversuche der Plattform zu nehmen. Die rothaaarige Frau ließ sich Ortungsdaten einspielen und stellte fest, dass die Psi-Materie des Kristallmondes durch den Strukturschock der immer schnelleren Mikrotransitionen der Plattform in sich aufschaukelnde Schwingungen versetzt wurde, die letzten Endes auf eine Resonanzkatastrophe hinauslaufen würden. Li dachte wieder an Atlan. Der Kristallmond erstrahlte in immer grellerem Licht. Erste Fehlfunktionen machten sich bemerkbar, die blauweißen Sonnen am Rand der Obsidian-Kluft wurden instabil. Lichtbahnen erstreckten sich von den noch vorhandenen Resten der Obsidianhülle zum Kristallmond. Und das Licht wurde immer greller … Greller und greller und …
7. Sardaengars Leben … von Anfang … Die Bilder stürmten unablässig auf mich ein, zu viele, als dass ich sie alle deuten oder auch nur aufnehmen konnte. Selbst der Extrasinn musste unter der Flut der Impressionen kapitulieren und beschränkte sich darauf, meinen Geist zu stützen, damit er nicht unter den überwältigenden Eindrücken zusammenbrach. Seine Kommentare blieben Mangelware. Unter die Bilder mischten sich Stimmen, kommentierten sie. Eine Stimme, wurde mir schließlich klar. Auch wenn sie in verschiedenen Tonhöhen und Modulationen sprach, ihr innerer Klang ihr Rhythmus blieben immer gleich. Ob sie nun männlich oder weiblich war, hoch oder tief, alt oder jung … es sprach immer ein und dieselbe Person. Sardaengar … in verschiedenen Körpern. Deren Stimmbänder mochten sich voneinander unterscheiden, der Geist, der Intellekt dahinter blieb gleich. Allmählich ordneten sich die Bilder, wur-
den von einer gewissen Struktur durchsetzt. Wahrscheinlich hatte der Logiksektor sie chronologisch geordnet, um mir zumindest den Versuch zu ermöglichen, ihnen einen gewissen Sinn zu entnehmen. Und ich sah … … einen glutäugigen Hünen mit langen, wallenden Haaren. BARDIOC, wisperte der Extrasinn – vielleicht voller Ehrfurcht –, obwohl ich den Mächtigen schon längst erkannt hatte. »BARDIOC«, bestätigte Sardaengars Stimme, »einer der Sieben Mächtigen, die von den Kosmokraten damit beauftragt wurden, in bestimmten Regionen des Universums Leben zu verbreiten und dieses Leben intelligent werden zu lassen. Vor langer Zeit beauftragten die Mächtigen ihrerseits das Volk der Cynos damit, den Schwarm zu lenken. Du kennst die Geschehnisse, erinnere dich, Arkonide! Auch ich erfuhr erst durch euch von diesen Hintergründen, durch Perry Rhodan, dich und die anderen damals Beteiligten. Denn sogar die führenden Cynos rings um Imago Eins und Zwei kannten sie nicht. Vermutlich sogar nicht einmal die Neun Imaginären. Du weißt, dass BARDIOC andere Pläne als seine Weggefährten verfolgte. Er wollte die ihm verliehenen Mittel zum Aufbau eines eigenen Machtbereichs verwenden. Er versteckte sein Sporenschiff, die PANTHAU-RA, und versuchte, den zuletzt geschaffenen Schwarm in seinem Sinn zu manipulieren …« Das ist Ewigkeiten her, vernahm ich wie aus weiter Ferne die Stimme des Extrasinns, geschah etwa 1,3 Millionen Jahre vor Christus. Das alles wissen wir doch schon, dachte ich gequält. Das alles haben Perry und ich schon damals herausgefunden, vor fast 1500 Jahren … Was willst du mir damit sagen, Sardaengar? »Um den Karduuhls die Machtübernahme zu ermöglichen, veranlasste BARDIOC schließlich den Verräter Hesze Goort dazu, den Neun Imaginären als den eigentlichen
Die Obsidian-Kluft erwacht Lenkern und Herrschern des gewaltigen Gebildes den Paradimschlüssel mit dem Tabora zu stehlen. Zur Sicherung seiner Manipulation raubte BARDIOC schließlich dem Mächtigen Ganerc den Anzug der Vernichtung und verdammte ihn dadurch zu einem Leben in der Verbannung. Den Anzug verbarg BARDIOC auf Stato Zwei, einer der beiden Hauptschaltwelten des Schwarms. Über 20.000 Jahre später« – 997.063 vor Christus – »erreichten erste ManipRochenschiffe als Vorhut des Schwarms die Milchstraße und begannen behutsam mit einer Reduzierung der FünfD-Feldlinien-Gravitationskonstante, ohne jedoch den Schwellenwert zur Verdummung zu überschreiten. 45 Jahre später traf dann der Schwarm in der Milchstraße ein, wo die Karduuhls mit Hilfe des Tabora die Cynos entmachteten und die Herrschaft über den Schwarm errangen. Die Neun Imaginären, Cynos einer höheren Existenzstufe und dank ihrer energetischen Zustandsform in der Lage, beim Eintritt des Todes eine Versteinerung zu vermeiden, mussten sich in ihre Energiegrüfte auf Stato Zwei zurückziehen, wurden in die Enge getrieben und durch Parafallen an einer Flucht gehindert, während die Steuerwelt durch eine Notschaltung in den Hyperraum versetzt wurde. Millionen Cynos dagegen versteinerten zu schattenlosen Obelisken. Der Paradimschlüssel blieb auf Stato Eins zurück, doch das Tabora konnte die Flucht ergreifen. Imago Eins und Zwei, die Ewigen Brüder, flüchteten und gelangten mit fünf weiteren Cynos, ihren engsten Vertrauten, zur Erde. Zu ihrem Ziel lockten sie diverse ungewöhnliche Phänomene, etwa die Ausstrahlung eines Zeitbrunnens und dergleichen mehr. Noch hatten sie die Hoffnung, dass die Herrschaft der Karduuhls nicht allzu lange dauern würde. Unfähig zur Fortpflanzung und deshalb auf gentechnische Methoden zur Arterhaltung angewiesen, die nur den Cynos zur Verfügung standen, betrug die natürliche Lebenserwartung der Insektoiden
27 etwa 2000 Jahre. Sie waren das Ergebnis eines 20.000-jährigen Aufbauprogramms, das aus der in den Schwarm aufgenommenen ursprünglichen Insektenrasse die eigentlichen Karduuhls hatte entstehen lassen. Die Ewigen Brüder hegten also die berechtigte Hoffnung, dass es zu einem vergleichsweise schnellen Aussterben der Rebellen kam und ihre Herrschaft zeitlich eng begrenzt blieb. Meldungen anderer Cynos, die sich bei ihrer Flucht über die gesamte Galaxis verteilt hatten, trafen nach und nach ein und vervollständigten das erschreckende Bild: Als eine der ersten Maßnahmen hatten die insektoiden Rebellen – vermutlich auch das ein Verrat Hesze Goorts! – die rochenförmigen Manip-Raumer umprogrammiert! Diese gingen nun daran, die schon reduzierte Gravitationskonstante über jene Gradschwelle abzusenken, die eine Verdummung für alle intelligenten Lebensformen innerhalb der Sterneninsel bedeutete! Das führte zum Untergang der meisten Kulturen der Milchstraße … Somit war sogar die heimliche Hoffnung hinfällig, sich der Unterstützung der in dieser Galaxis lebenden Zivilisationen bei der schnellen Rückeroberung des Schwarms zu versichern. Es würde unter Umständen Jahrtausende oder länger dauern, bis sich die betroffenen Völker, von einem Augenblick zum anderen in totales Chaos gestürzt, von diesem zivilisatorischen Rückschlag erholten. Ungezählte Lebewesen starben infolge fehlgeschalteter Anlagen, weil die Ver- und Entsorgung zusammenbrachen und selbst die einfachsten Lebensbedürfnisse nur mir Mühe befriedigt werden konnten. Millionen Raumschiffe trieben hilflos durch das All, verwandelten sich in metallene Särge oder explodierten. Da der Schwarm einen festen Rundkurs von rund einer Million Jahren hatte, konnte es ein vorheriges Eingreifen nicht geben, sobald der Schwarm erst einmal diese Galaxis verlassen hatte. Doch die Cynos hatten keine Möglichkeit, wirkungsvoll gegen die Karduuhls vorzugehen. Von größter Verzweiflung
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heimgesucht, ihrem bisherigen Leben entrissen, entwurzelt und ohne Heimat, zwangen sich Imago Eins und Zwei zur Einrichtung einer Überdauerungsstation, in der sie abwarten und sich auf die Wiederkunft des Schwarms vorbereiten konnten. Und ich«, sagte die Stimme in meinem Kopf, während der Extrasinn leise auflachte, »ich, Sardaengar, der Herr der Welten, der Uralte Sardaengar … ich bin einer der Cynos, die damals zur Erde flohen!«
* War ich überrascht? Nein. Nicht mehr, seit er sich in einen Obelisken verwandelt hatte, der keinen Schatten warf. Doch schon zuvor hatte ich es geahnt, nein gewusst, war davon überzeugt gewesen, ohne es endgültig beweisen zu können. Die Cynos … ein uraltes Intelligenzvolk, dessen Angehörige in der Galaxis erstmals im Jahre 3441 auf dem Planeten Dessopato offen aufgetreten waren. Hunderttausende von Jahren hatten sie im Verborgenen in der Milchstraße gelebt, begünstigt durch den Umstand, dass sie durch ihre besondere Gabe der Para-Modulation in der Lage waren, die Gestalt eines jeden denkbaren Wesens in der Form eines paraphysikalischen Spiegelbilds darzustellen. Gesichter, Stimmklang und andere ganz spezielle individuelle Eigenschaften konnten sie dabei vollkommen echt und überzeugend ausbilden. Die »Spiegelbilder« waren in jeder Weise sinnlich wahrnehmbar; sie waren sogar zeugungsfähig. Soweit ich wusste, nahmen die ParaModulatoren ausnahmslos Fremdformen an, denn ihre eigene Ursprungsform war ihnen selbst nicht mehr bekannt. Wir hatten erfahren, dass für die Cynos ihre Urform irgendwie geisterhaft unwirklich sei und man sich davor hütete, an sie zu denken. Nostradamus' Worte zu Perry Rhodan hallten durch meinen Kopf: »Dieses Rätsel versuche ich seit vielen Zeitaltern zu lösen, Terraner. Eines Tages werde ich herausbekommen, wer
uns auserwählte und zu den Herren des Schwarms und den Intelligenzverteilern des Universums machte.« Die Rolle, die sie seit Jahrtausenden in der Milchstraße gespielt hatten, war im Jahr 3442 auf dem Planeten Redmare offenbar geworden; durch Einsickern in andere Völker und geschicktes Taktieren hatten sie ein Heimliches Imperium gebildet. Nachdem ich einiges über Sardaengar erfahren hatte, hatte ich ihn für einen Varganen gehalten … zuvor für einen lemurischen Tamrat … für den arkonidischen Mathematiker Trento … und das alles war er wohl gewesen, all diese Identitäten hatte er angenommen, im Verlauf der eine Million Jahre, die er in der Milchstraße verbracht hatte. Das war das Offensichtliche, die Erklärung, die alle Fragen beantworten konnte. Aber gleichzeitig warf sie mehr neue Fragen auf …
* »Genauer gesagt, ein Mago«, fuhr Sardaengars Stimme fort, und ich sah Bilder, die die Worte untermalten. Worte und Bilder verschwammen zu einer Einheit in meinem Geist, die mich auch weiterhin völlig vereinnahmte. »Ich gehörte jener Siebenergruppe an, die gemeinsam mit Imago Eins und Zwei seinerzeit zur Erde flüchtete, als die Karduuhls die Schwarmherrschaft übernahmen.« Schmitt, dachte ich, und Nostradamus … Der Cyno Schmitt hatte 3442 als Generaldirektor der Randul-Company, eines der größten Chemiekonzerne mit Hauptsitz in Rio, auf der Erde gelebt und sich in dieser Maske Tordo Yanteff genannt. Und Nostradamus war auch als Michel de Notre-Dame bekannt gewesen, Leibarzt des französischen Königs Karl IX. und ein berühmter Astrologe. Ich war ihm persönlich begegnet, im 16. Jahrhundert wie auch 3443. Er war mittelgroß und etwas untersetzt gewesen und hatte einen dunklen Vollbart und lange dunkle, leicht gelockte Haare gehabt. Die klugen, dunklen Augen mit einem
Die Obsidian-Kluft erwacht zwingenden Blick und die volltönende, tiefe Stimme vervollständigen das Bild einer beeindruckenden Persönlichkeit. Und abermals eine Erinnerung. Er hatte die Energiegruft im Südpolargebiet der Erde verlassen – es war der 14. April 3443 gewesen, als von einer der zahlreichen Satellitenstationen heftige Energieentfaltungen auf paraphysikalischer Ebene nahe dem Südpol gemeldet wurden. Der Satellit übertrug schließlich das Originalbild nach Imperium-Alpha: Aus einer goldfarben leuchtenden Energiesäule wurde ein strahlender Ball, der zum Zylinder emporwuchs und dann spiralförmig zu Boden sank. Während Gleiter, Shifts, Roboter und Bewaffnete das Gebiet abzuriegeln begannen, rührte sich der Mann nicht, der anstelle des Leuchtens auf dem Eis stand. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Seine Kleidung war ebenso merkwürdig wie der Mann und sein Erscheinen; ein kurzer Mantel mit aufgerüschten Ärmeln, enge Kniehose mit kurzer, aufgebauschter Hose darüber, Schnallenschuhe, im reich verzierten Gürtel ein Dolch. »Sie werden entschuldigen«, sagte der Fremde zu den Soldaten hinter der Absperrung. »Aber eine andere Kleidung stand mir nicht zur Verfügung. Mein Name ist Michel de Notre-Dame, man nannte mich auch Nostradamus. Aber auch das ist nicht mein richtiger Name.« Kurz darauf landete mein Gleiter mit dem USO-Emblem, in den die Worte übertragen worden waren. Ich stieg aus und merkte, dass ein Ruck durch meinen Körper ging. »Dieser Schwindler! Schon damals ahnte ich, dass er nicht der war, der zu sein er vorgab.« Ich stürmte los und blieb unmittelbar vor ihm stehen. »Michel de NotreDame! Nostradamus!« »Ich ahnte, dass Sie mich sofort wieder erkennen würden.« Er blieb ungerührt. »In welcher Rolle traten Sie doch damals auf? Soweit ich mich erinnere, spielten Sie ein paar Monate den Berater des Königs. Aller-
29 dings war Ihr Erfolg bei den Hofdamen wesentlich größer.« »Sie waren es damals, der alle meine Versuche zunichte machte, den König vernünftig zu beraten!« Ich ging nicht auf die Unverschämtheit ein, sondern wandte mich an den Truppkommandanten. »Das ist Nostradamus, der berühmte Astrologe und Leibarzt des französischen Königs Karl der Neunter. Er lebte von fünfzehnhundertdrei bis fünfzehnhundertsechsundsechzig. Bekannt wurde er vor allem durch seine dunklen Prophezeiungen, die er in zehn Centuries herausgab. Es handelte sich um gereimte Vierzeiler, die so genannten Quatrains.« »Ihr Gedächtnis ist verblüffend«, sagte Nostradamus. »Aber in einer Beziehung täuschen Sie sich. Ich lebte nicht nur bis fünfzehnhundertsechsundsechzig, sondern ich lebe noch immer, wovon Sie sich mit Ihren eigenen Augen überzeugen können.« »Und wer sind Sie wirklich?« »Wissen Sie das wirklich nicht?« »Ich ahne es.« »Dann sprechen Sie Ihre Ahnung aus.« »Sie sind ein Cyno.« Nostradamus lächelte. »Das ist richtig. Ich bin Schmitts Bruder. Imago Zwei …«
* Von den übrigen Mago waren nur noch Nahith Nonfarmale und Cagliostro namentlich bekannt, mit denen ich es ebenfalls mehrmals zu tun bekommen hatte. Über das Schicksal und Leben der anderen Cynos gab es keine Informationen; dennoch konnte es sehr gut sein, dass ich ihnen schon begegnet war, ohne sie als Cynos zu erkennen. »Zunächst hatte ich mit den anderen Cynos im Exil auf der Erde gelebt, während die übrigen aus dem Schwarm vertriebenen Cynos in der Milchstraße in den typischen Kleingruppen zu Heimlichen Herrschern wurden«, sagte Sardaengar. »Unerkannt lebten sie in Gruppen von drei, fünf, sieben oder neun Individuen inmitten anderer Völ-
30 ker und nahmen Einfluss auf deren Entwicklung. Zweihunderttausend Jahre vergingen … für mich Jahre des Friedens, aber auch der Langeweile. Jahre der Sicherheit, aber auch der Primitivität. Jahre der Untätigkeit, die schließlich zur Qual wurden. Aber dann hatte diese Qual ein Ende. Dann drangen die Varganen in das Standarduniversum vor …« »Im Jahr 806.366 vor Christus«, flüsterte ich. Ich kannte dieses Datum genau. »Hängt denn alles zusammen …?« In dreizehntausend Jahren erlebt man eben so einiges, kommentierte der Logiksektor süffisant. Die Varganen … durchweg große, athletisch-schlanke Humanoiden mit schulterlangen Goldlockenmähnen, schimmernder Bronzehaut, goldenen Augen. Und die weiblichen Angehörigen dieses Volkes … Ischtar, dachte ich und verdrängte den Gedanken sofort wieder, um mich auf das konzentrieren zu können, was mir Sardaengar offenbarte, der Obelisk, der keinen Schatten warf … In meiner Jugend, vor 13.000 Jahren, war ich den Varganen begegnet; ich hatte ihre Geschichte erfahren. Mehr noch, ich hatte mich bemüht, sie zu enthüllen, dem Dunkel der Vergangenheit zu entreißen. Die Varganen waren aus dem »Mikrokosmos« in das Standarduniversum gekommen. Durch den Wechsel waren sie unsterblich, aber auch untereinander unfruchtbar geworden. Sie hatten in der Milchstraße ein großes Reich errichtet, zahlreiche Stützpunkte hinterlassen und unter anderem den Dreißigplanetenwall entdeckt, den ich als »Ring des Schreckens« bei der Suche nach dem »Stein der Weisen« erreicht hatte. Und später nochmals … Miracle … Der Gedanke brach ab, weil Sardaengar weitersprach: »Ich erkannte schon bald, dass die Varganen etwas ganz Besonderes waren. Sie strahlten Größe aus, Bedeutung. Und sie waren von einem Geheimnis umgeben, zumindest für mich. Ich verließ die jungfräuliche Erde und mischte mich mit Hilfe meines paramodulierten Varganenkörper unter diese Wesen.
Uwe Anton Während ich bei ihnen lebte, wurde die Faszination, die sie auf mich ausübten, immer größer. Immer deutlicher spürte ich, dass ihre gesamte Existenz von Geheimnissen durchsetzt war, die ich allerdings niemals ergründen konnte. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie diese Geheimnisse verdrängt hatten, nicht zur Kenntnis nehmen wollten oder selbst vergessen oder sogar niemals gekannt hatten. Jedenfalls ging ich schließlich an Bord eines ihrer oktaedischen Doppelpyramidenschiffe, das den Kugelsternhaufen untersuchen sollte, der heute als Omega Centauri bekannt ist. Der Flug stand unter keinem guten Stern. Die Bedingungen in dem Sternhaufen waren schwierig … die Navigation forderte uns alles ab, fast ununterbrochen tobten Hyperstürme …« Das alles hatten wir mit der ATLANTIS und der TOSOMA am eigenen Leib erfahren müssen, als wir auf der Spur Crest-Tharo da Zoltrals in den Kugelsternhaufen eingeflogen waren. Dicht stehende Sterne und mit ihnen verbundene extreme Hyperstürme waren zwar weder für das galaktische Zentrum noch für Kugelsternhaufen etwas Besonderes; bei Omega Centauri kam es darüber hinaus aber zu dem unangenehmen Effekt, dass sich nicht nur in eben mal 178 Lichtjahren Durchmesser fast vier Millionen Sonnen drängten, sondern deren hyperenergetische Ausstrahlung in einer Weise interferierten und zum Teil gegenseitig verstärkten, dass der Kugelsternhaufen zu einem scheinbaren Hyperschwall-Generator von immenser Stärke wurde. Tatsächlich waren die Hyperschwallfronten eine auf die Lemurer zurückgehende Abwehrfunktion, die noch heute aktiviert war. Deshalb galt Omega Centauri in der Milchstraße bis zum heutigen Tag als terra incognita, obwohl sich der Sternhaufen in relativer Nähe zum Solsystem befand. Nicht einmal die neuen Erkenntnisse, die unsere Expedition in jüngster Zeit gewonnen hatte, würden daran etwas ändern – ich hatte dafür gesorgt, dass sich die Völker von Omega
Die Obsidian-Kluft erwacht Centauri auch weiterhin ungestört entwickeln konnten. »Einer dieser Hyperstürme verschlug unser Schiff dann in die ObsidianKluft. Das Innere sah damals jedoch noch ganz anders aus …«
* Ich sah wieder Bilder, kreisende Splitter, die sich zusammenfügten zu einem … schwarzen Nichts. Musste man sich so ein Schwarzes Loch vorstellen? Aber es war etwas anderes, was sich nicht in Worte fassen ließ. Ich erhaschte einen Eindruck von undurchdringlicher Finsternis und Zeitlosigkeit, dann von wirbelnder Energie und einem in sich geschlossenen Chaos. Nur langsam bildeten sich Strukturen darin, ein Kern … ein kugelförmiges Gebilde in der Mitte, das das Chaos zusammenhielt. »Der spätere Kristallmond Vadolon«, bestätigte Sardaengar. »Außer ihm gab es hier zunächst keine weiteren Himmelskörper. Erst durch das erste Eindringen von Fremdmaterie und Lebewesen erlosch die Zeitlosigkeit in der Hyperblase, erst von diesem Augenblick an gab es in diesem Miniaturuniversum einen eigenen Zeitablauf. Zunächst war er noch verlangsamt, so dass im Inneren wenige Jahrtausende vergehen, im Standarduniversum dagegen Jahrhunderttausende. Eine Folge dieses ersten Durchbruchs, dieses Einsickerns von belebter und unbelebter Materie war aber auch, dass die in den Hyperraum eingebettete Blase langsam löchrig wurde und ihre ursprüngliche Schutzfunktion verlor. Die hyperphysikalischen Ausstrahlungen allerdings, die alle Technik unbrauchbar machen, waren schon damals vorhanden und verwandelten die Raumschiffe in energielos dahintreibende Wracks. Im Gegensatz zu den Varganen, die relativ schnell am Mangel an Energie, Sauerstoff und Nahrung starben, überlebte ich dank meiner besonderen Natur. Mit meinen Parasinnen untersuchte ich in den folgenden Jahrhunderten die Umge-
31 bung, vor allem den Kristallkörper, der sich einerseits als riesige Ansammlung von PsiMaterie entpuppte, andererseits aber im Kern offenbar ein immenser Datenspeicher war ohne dass es mir jedoch gelang, diese Daten in irgendeiner Form zu entschlüsseln.« Wieder Bilder … rasend schnell aufeinander folgend, so schnell, dass ich sie nicht mehr einzeln wahrnehmen konnte; sie strömten wie ein Holo-Trivid im Schnelldurchgang an mir vorbei, bis sie schließlich zu farbigen, konturlosen Streifen wurden, die sich meiner Auffassung völlig entzogen. »Im Laufe der Zeit – Jahrzehntausende vergingen! – stellte sich zwischen mir und dem Kristall eine eher unbewusste Verbindung ein«, erklärte Sardaengar. »Vereinzelt materialisierten während dieser Äonen weitere Raumer, doch auch deren Besatzungen starben, ohne dass ich ihnen helfen konnte. Doch irgendwann reagierte der Kristall: Psi-Materie wurde freigesetzt und in normale Materie transformiert. Und plötzlich entfaltete sich nicht nur eine orangefarbene Sonne, sondern auch ein Planet, den der Kristall als Mond zu umkreisen begann. Erst jetzt weiß ich, dass der Kristallmond ein Backup-System darstellt, das zahlreiche Daten gespeichert hatte. Als wolle es Leben erhalten, setzte es die Sonne und den Planeten wieder frei, die es zuvor in aufgelöster Form enthalten hatte. Sie waren in Psi-Materie transformiert und im Backup-System gespeichert. Fortan gab es für die Gestrandeten eine Lebenszone – aber noch keine Möglichkeit, diesem Gefängnis zu entkommen. Ich begann zu forschen, bediente mich meiner Parakräfte, nutzte auch die Kräfte und Vitalenergien der hierher verschlagenen Intelligenzen – und stellte irgendwann erstaunt fest, dass sich die unbewusste Verbindung zum Kristallmond intensivierte, die Psi-Materie auf mich reagierte. Aber nicht nur auf mich, sondern auch auf die Vorstellungen, Phantasien und Träume der Verbannten. Irgendwann entstand auf diese Weise die erste Spiegelwelt als zweiter Pla-
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net auf gleicher Umlaufbahn, eine exakte Kopie der ersten Welt, später dann eine zweite …« »Vinara Zwei und Drei«, flüsterte ich. Auch die Silbersäulen, die Goldenen Technostädte und alles andere in der Obsidian-Kluft waren Materialisationen des Kristallmondes, die zunächst aus Programmen und Speicherdaten geschaffen, später aber bis zu einem gewissen Grad eigenständig geworden waren, weil mit dem, was von außen eingesickert war, eine Interaktion stattfand, die die Teile zu etwas Neuem vereinte! »Und dann …« Ich sah wieder ein Bild, das einer über vier Meter großen Gottesanbeterin mit einem kristallindurchsichtigen, blau schimmernden Leib. »Dann materialisierte Litrak …«
* »Der Kristallmond hatte gemeinsam mit der Hypertronik, die den Kern bildete, im Lauf der Zeit durch Einsatz von Psi-Materie, On- und Noon-Quanten einen neuen Litrak erschaffen, ein Kristallwesen, das von der Idee beseelt war, den Schwarm zu rekonstruieren und wieder auszuschicken. Sowohl der Mond als auch der neue Litrak standen dabei völlig unter dem Einfluss des BackupSystems, das seiner Programmierung zufolge den ursprünglichen Zustand wieder herstellen wollte … wenn nicht sogar musste. Es ist die reinste Ironie, aber wahrscheinlich habe ich Litrak in gewisser Weise erschaffen. Seine Schöpfung wurde wohl, zumindest zum Teil, durch die sich langsam intensivierende Verbindung mit mir angeregt. – Eine fatale Entwicklung, denn parallel dazu begann mich der Kristallmond zu beeinflussen, veränderte anfangs nur unbewusst mein Denken und Handeln, band schließlich einen Großteil meiner Kräfte.« Diese Verbindung hat auf die Hypertronik dann die Wirkung gehabt, konstatierte der Extrasinn, dass der seinerzeit von Litrak nur halbwegs eingeleitete Backup-Vorgang aufgerufen wurde. Aber es fehlte die notwendi-
ge Hochrang-Berechtigung, um sie konkret einzuleiten! Litrak und Sardaengar mussten die Schaltung gemeinsam vornehmen. Einer allein genügte nicht. Das war die letzte Hoffnung und Chance. Hatte sich Sardaengar deshalb in die schattenlose Säule verwandelt? War er auf diese Weise dem Einfluss entronnen? »Dieser Kristall-Litrak«, fuhr Sardaengar fort, ohne auf meine Gedanken zu reagieren, »war jedoch nur eine minderwertige Reinkarnation des alten Schwarmkommandanten, ein Schatten, ein Abklatsch, der ganz im Sinne der Backup-Programmierung handelte und dachte. Er war im Prinzip nur ein Restbewusstsein, verfügte nur noch über einen Bruchteil seines ursprünglichen Wissens. Er versuchte wiederholt, mich in die Enge zu treiben, um mit mir zum Kristallmond überzuwechseln. Doch ich setzte mich zur Wehr, flüchtete auf die Spiegelwelten, entkam immer wieder seinen Nachstellungen.« Der Kampf der Götter, dachte ich. »Ich stellte Litrak auf Vinara Drei eine Falle, indem ich mich unter anderem der Möglichkeiten bediente, die die Silbersäulen mir boten. Ich konnte Litrak besiegen und in der Eisgruft einkerkern. Als Untoter Gott war er fortan zwar konserviert, aber alles andere als tot …« Mir fielen wieder Sardaengars Worte ein oder die Überlieferungen, die auf ihnen basierten. Der Cyno hatte schon vor Urzeiten davor gewarnt, dass der Kristallkörper des Eingekerkerten die Kristallansammlung im Canyon der Visionen erreichte. Sollte er jemals der Falle entkommen können, wird dieser Bereich der Taneran-Schlucht sein erstes Ziel sein!, beschwor mein fotografisches Gedächtnis die Worte der Holoprojektion Sardaengars herauf, die ich in der Eisgruft auf Vinara III aktiviert hatte. Genau das ist passiert – und jetzt ist Tamiljon der Träger von Litraks Essenz. »Die Hypertronik hat den Kristallmond angezapft und aus den in den Hyperblasen gelagerten Biophoren Spiegelwesen geschaffen und ausgeschickt, die in ihrem Sin-
Die Obsidian-Kluft erwacht ne agierten …« Die Fossilien beim Basislager II an der Eisgruft. Die Krakenwesen … »Doch meine Vorbereitungen waren sehr gründlich gewesen. Die Biophoren-Spiegelwesen waren nicht in der Lage, das Gefängnis zu öffnen, und andere dieser Geschöpfe, die Litrak bereits als Helfer geschaffen hatte und die ihn zu befreien versuchten, wurden wie er in der Eisgruft gefangen. Mit der Zeit entwickelten sie aber ein Eigenbewusstsein. Und nahe der Eisgruft entstand sehr viel später der Wächterorden des Litrak. Entgegen der Überlieferung des Ordens erfolgte die Weihe der ersten echten Wächter durch Aufnahme eines Mondsplitters in ihren Körper erst sehr lange nach dem Kampf der Götter …« Wieder rasten Bilder an meinem inneren Auge vorbei, diesmal noch schneller als zuvor. Wie bei einem Stroboskop sah ich keine Streifen mehr, sondern kurze Ausschnitte, eingebettet in Schwärze, Einzelimpressionen, die zeitlich aber so weit voneinander entfernt waren, dass sie für mich nicht den geringsten inhaltlichen Zusammenhang ergaben. Doch mir wurde klar, dass Zeit verging, viel Zeit …
Zwischenspiel II Lethems Entscheidung Die TOSOMA erzitterte unter Sturmböen, die nicht natürlichen Ursprungs sein konnten. Die Ergebnisse der Ortung waren purer Wahnsinn. Vinara schien auseinander zu brechen. Während in Gebirgsregionen Vulkane Feuer und Glut spuckten, rasten Tsunamis über die Meere hinweg und jagten Orkane über die gesamte Welt. Und die Fernortung drohte unter der Überlastung auszufallen. Strukturerschütterungen tobten an der Hülle der ObsidianKluft, Aufrisse schienen sie zu zerfetzen, sie geradezu aufzulösen. Es juckte Lethem da Vokoban in den Fingern, einen Notstart zu versuchen, um von
33 dem zum Untergang verurteilten Planeten zu fliehen … Doch wohin? Im freien All der Obsidian-Kluft hatte das kleine Schiff noch weniger Chancen, wäre wohl schon längst von Raumbeben zerquetscht oder von Gravitationsanomalien zertrümmert worden. Lethem schloss mit dem Leben ab. Und wie sehr hatte er sich darauf gefreut, wieder hinter dem Pult des Piloten zu sitzen, mit fliegenden Fingern Parameter zu verändern, gleichzeitig den Panoramaschirm im Auge zu behalten, die für den unerfahrenen Betrachter verwirrend anmutenden Symbole zu deuten … Wie sehr hatte er sich das gewünscht! Doch als es nun endlich eingetroffen war, als er die TOSOMA betreten und der Weltuntergang sich noch nicht abgezeichnet hatte, empfand er eine seltsame Leere. Es lag nicht daran, dass er seinen Beruf nicht mehr beherrschte oder es ihm keine Freude mehr bereitete, ein Raumschiff zu fliegen. Nein, es lag an dem, was mit ihm geschehen war. »Status!«, drang Kommandant KhemoMassais Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm. Er riss sich zusammen. »Unverändert. Start unmöglich«, antwortete er und warf einen Blick auf die Panoramagalerie. Sie zeigte eine unwirkliche Schwärze – den Rand der Obsidian-Kluft, über den Überschlagblitze zuckten und Energiegewitter tobten. Die Hülle wurde immer durchlässiger. Die hyperenergetische Ortung maß bereits die Emissionen der Sterne des Normalraums an; deren Licht würde noch eine Weile brauchen, bis es von der optischen Ortung aufgefangen werden konnte. »Wir können nicht das Geringste tun!« Er schaute zu January Khemo-Massai hinüber und glaubte einen Moment lang, den Kommandanten der ATLANTIS vor sich zu sehen, den Überschweren Aktet Pfest, kompakt wie ein Panzerschrank, deutlich kleiner als Lethem. Und er glaubte deutlich Pfests Standpauke zu hören, die ihn auf Siganesengröße zusammenschrumpfen ließ.
34 Wieder einmal ging es um einen Einsatz, bei dem Lethem etwas zu risikofreudig gewesen war. Er ging nach wie vor davon aus, exakt kalkuliert und keineswegs übermütig gehandelt zu haben, doch Pfest war da ganz anderer Meinung. Energisch hatte er ihn auf die Verantwortung hingewiesen, die nicht nur die eigene Person, sondern auch das Schiff und die gesamte Mannschaft umfasste … Lethem hatte sich die Worte zu Herzen genommen. Hatte er zumindest geglaubt. Und dann, auf den Vinara-Welten … Er hatte sich nicht danach gerissen, die Expedition zu führen, die Atlan suchen sollte. Er war zufällig der ranghöchste, noch einsatzfähige Offizier gewesen. Oder doch? Wenn er ehrlich zu sich selbst war … Und es war allmählich an der Zeit, ehrlich zu sich selbst zu sein. Doch, er hatte sich darum gerissen. Er hatte alles darangesetzt, zu dieser Rettungsmission aufzubrechen. Er hatte sogar ein Schiff stehlen wollen. Und dann … »Lethem, Statusmeldung! Hast du mich nicht gehört?« Er räusperte sich. »Status unverändert. Start weiterhin unmöglich. Wir würden keine tausend Kilometer weit kommen.« Und obwohl January es auf der Panoramagalerie selbst sehen konnte und alle relevanten Daten eingespielt wurden, fügte er hinzu: »Die Obsidian-Kluft scheint sich aufzulösen. Ich vermute, dass Verdran und Vinara jeden Augenblick ins Standarduniversum zurückstürzen werden.« Und ich bezweifle, dass wir das überleben werden. Khemo-Massai brummte etwas Unverständliches. Und dann … Dann war alles schief gegangen. Er war nicht schuld daran, aber er trug die Verantwortung für seine Leute. Der Sturm … der Schiffbruch vor der Küste des Hauptkontinents Viina … Tasia Oduriams zerschmetterte Leiche auf den Klippen … Abermals glaubte Lethem, den Kommandanten der ATLANTIS zu hören. Überlaut dröhnte das Wort Verantwortung in seinen Ohren, wieder und wieder und wieder …
Uwe Anton Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war diese Situation für ihn zum Knackpunkt geworden, an dem er tüchtig zu knabbern gehabt, der ihn zwar motiviert hatte, noch besser zu werden, der aber auch auf seinem Gewissen lastete und ihn bedrückte. Die Erfahrung, fast ertrunken zu sein, sich aber gerettet zu haben – beziehungsweise von Enaa gerettet worden zu sein, so genau konnte er sich nicht mehr daran erinnern –, während Tasia umkam, war für ihn zu einem Trauma geworden, mit dem er fortan zu kämpfen gehabt hatte. Und dann … Helmdor. Wo er nicht davon abzubringen gewesen war, in die Schwarze Perle einzudringen, weil Kythara etwas von Karten und Informationen gemurmelt hatte. Wo er mit ansehen musste, wie die Akonin Enaa von Amenonter enthauptet wurde. Als er sich in rasender Wut auf die Wächter der Schwarzen Perle gestürzt, als er getötet hatte. Irgendwie natürlich in Selbstverteidigung, denn die Wächter hätten sonst ihn, sie alle, getötet. Aber sie waren die Eindringlinge gewesen. Die Einbrecher, die auf frischer Tat ertappt worden waren. Er hatte sich oft gefragt, inwieweit diese Vorgehensweise moralisch zu vertreten war. Und irgendwann war er zu dem Schluss gekommen, dass er schon mit dem Befehl zum Eindringen in die Schwarze Perle einen Fehler gemacht hatte. Er hatte versucht, das Kommando über ihre kleine Gruppe an Kythara abzugeben, doch sie hatte es nicht annehmen wollen. Er hatte weitergemacht, ganz einfach, weil sie zu Ende bringen mussten, was sie angefangen hatten, wollten sie sich nicht damit abfinden, auf ewig auf den Vinara-Welten gestrandet zu sein … Und irgendwann hatte er eine Entscheidung getroffen. Er würde weiterhin Raumschiffe fliegen, falls er irgendwie aus diesem Chaos herauskommen sollte, das war sein Beruf, seine Berufung, und er war gut darin, aber … »Lethem da Vokoban!«, dröhnte Kommandant January Khemo-Massais Stimme
Die Obsidian-Kluft erwacht durch die Zentrale der TOSOMA. »Verdammt, was ist nur los mit dir?« Ich lebe noch, dachte Lethem. Aber er empfand nichts bei dem Gedanken. Keine Erleichterung, keine Freude. Gar nichts. Er war schon einmal gestorben. Hatte es zumindest geglaubt, als die Schwärze die Spiegelwelt aufgelöst, die Dunkelheit auch seinen Kopf verschlungen hatte. Als er nicht mehr existiert hatte, nur um dann auf Vinara I, der ursprünglichen der Vinara-Welten, neu zu erstehen. Der Zweite Pilot der TOSOMA schaute auf. Von einem Augenblick zum anderen schien der Spuk ein Ende genommen zu haben. Die Obsidian-Kluft hatte sich vollständig aufgelöst; die Sonne Verdran war mit ihrem einzigen Planeten Vinara in das Standarduniversum zurückgefallen. Es wurde Zeit; der Entschluss stand fest. Lethem schwang sich aus dem Pilotensessel. »Kommandant.« January sah ihn verwundert an. »Ich bitte darum, mich abzulösen!« Ich habe eine endgültige Entscheidung getroffen … »Ich fühle mich den Ansprüchen, die an einen Zweiten Piloten gestellt werden, nicht gewachsen«, fuhr er fort. »Ich habe während unseres Aufenthalts auf Vinara mehrere Entscheidungen getroffen, die im Nachhinein als falsch anzusehen sind und zum Tod mehrerer Besatzungsmitglieder und anderer Wesen geführt haben. Ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen. Hiermit quittiere ich meinen Dienst.« January Khemo-Massai räusperte sich unbehaglich. »Meine Entscheidung steht fest«, bekräftigte Lethem da Vokoban und wusste, dass es die einzig richtige Entscheidung war.
8. Sardaengars Leben … bis zum Ende Sardaengars Mitteilungen waren für eine Weile weniger Worte als Gedankenfetzen, Eindrücke, Visionen, bis sie plötzlich wieder klarer und verständlicher wurden.
35 »Als vor gut 200.000 Jahren wieder einmal ein Schub Neuankömmlinge eintraf, gelang es mir, die kurzfristig offene Passage zur Flucht zu nutzen. Ich glitt hinaus, wähnte mich frei, musste jedoch mit der Zeit feststellen, dass weiterhin eine rätselhafte Verbindung zur Obsidian-Kluft bestand. Traumhaft-unwirklich konnte ich erkennen, was auf den dortigen Welten geschah. Eine gewaltige Verlockung ging von ihnen aus, und ich konnte ihr nur mit Mühe widerstehen.« Vor gut 200.000 Jahren, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Ich nickte. Damals hatten sich die Cappins auf der Erde befunden, humanoide Intelligenzen aus der Galaxis Gruelfin. Sie hatten dort genetische Experimente durchgeführt, die angeblich dazu dienten, einer ungeheuren Gefahr zu begegnen, die im Universum aufgetaucht sei. War das ein reiner Zufall? Ich glaubte schon längst nicht mehr an Zufälle, sah Zusammenhänge, die sonst kaum einer sah … wenn er nicht gerade einen Zellaktivatorchip trug. Waren bei Sardaengars Flucht etwa Biophoren ins Standarduniversum entkommen? Sie entsprachen hyperenergetisch dem, was man als Lebensenergie bezeichnen konnte, traten als On- und Noon-Quanten auf. Dabei war das On-Quant die hyperenergetische Entsprechung der Lebensenergie, das Noon-Quant das fünfdimensionale Äquivalent der Intelligentifizierbarkeit. Während das On-Quant Leben erzeugen konnte, vermochte das Noon-Quant den Grundstock organischer Intelligenz zu legen. Biophoren waren das Mittel, mit dem die Mächtigen den Auftrag der Kosmokraten erfüllten, Leben zu säen und ihm im Zusammenwirken mit den Schwärmen Intelligenz zu verleihen. An Bord der Sporenschiffe waren die Biophoren in Hyperblasen untergebracht gewesen. Ihre Neigung, mit jeder Art von Materie zu reagieren, machte sie zu einer existentiellen Bedrohung für alles Leben. Lebewesen, die ihre direkte Entstehung oder Intelligenzentwicklung dem Kontakt mit On- oder Noon-Quanten verdankten,
36 wurden Biophoren-Wesen genannt. War das die Gefahr, auf die die Cappins reagiert hatten? Zwar behauptete Ovaron später, diese Information sei nicht zutreffend gewesen, doch hatten wir niemals ausschließen können, dass es diese Gefahr doch gab. War diese Gefahr damals zutage getreten? Aber nein … Wären damals Biophoren freigesetzt worden, würde es heute wohl keine Milchstraße mehr geben, zumindest keine intelligenten Wesen in ihr. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um einen reinen Zufall … »Ich kehrte im Lauf der Zeit oftmals in den Kugelsternhaufen zurück, getrieben wie ein Süchtiger zu seinem Stoff, doch sosehr ich mich auch bemühte, eine Versetzung in die Obsidian-Kluft gelang mir nicht.« Sardaengars Stimme überlagerte die nun wieder langsamer an meinem Geist vorbeifließenden Bilder oder Visionen. »Genauere Untersuchungen des Kugelsternhaufens lieferten mit der Zeit die Bestätigung, dass es sich um den Rest einer ehemaligen, von der Milchstraße vor langer Zeit eingefangenen Kleingalaxis handeln musste. Und als früherem leitenden Mitglied eines Schwarmlenkvolks hatte ich eine Ahnung, worum es sich gehandelt haben könnte – aber zu diesem Zeitpunkt begann der Kristallmond bereits stark mein Denken zu beeinflussen …« Ich schrie auf, als die Bilder, die Eindrücke, die Visionen sich mit weiteren Erinnerungen überlagerten und meinen Verstand endgültig in den Wahnsinn zu treiben drohten. Ohne den stabilisierenden Einfluss des Extrasinns hätte ich mein geistiges Gleichgewicht schon längst verloren, wäre zusammengebrochen unter dieser unglaublichen Flut, die noch intensiver war als jene, die mir Nevus Mercova-Bans Leben geschildert hatte. Nun geriet die wacklige Balance ins Schwanken, nun drohte ich mich endgültig in diesen Eindrücken zu verlieren. Die Visionen erreichten eine neue Qualität, als sie nicht mehr nur auf mein Innerstes einstürmten, sondern sich mit ihm vermischten. Ich
Uwe Anton verstand Sardaengars Worte kaum mehr. »In der Milchstraße hatte sich mittlerweile eine neue Macht etabliert. Die Lemurer griffen nach der Herrschaft über die Galaxis, errichteten vom Planeten Lemur aus ein riesiges Imperium …« Lemur … die Welt, die von ihren Bewohnern über 50.000 Jahre später Terra genannt wurde. Von Wesen, die erneut ein Reich in der Milchstraße errichteten … das Solare Imperium … die Menschheit! »Ich lebte unter ihnen, gewann dank meiner Fähigkeiten an Einfluss, machte mir einen Namen als Wissenschaftler, wurde 6150 dT schließlich Hoher Tamrat, ein Mitglied der Regierung …« 6150 dT, dha-Tamar, »seit der Reichsgründung«… Der Extrasinn lieferte mir umgehend die Umrechnung: 50.250 vor Christus. In der Tat, viel Zeit war vergangen. Über 150.000 Jahre hatte Sardaengar außerhalb der Obsidian-Kluft verbracht! »Auch die Lemurer«, fuhr Sardaengar fort, »vermuteten in dem Kugelsternhaufen etwas Besonderes und sahen in ihm den Überrest einer von der Milchstraße teilweise aufgefressenen Zwerggalaxis. Sie hatten hier in Hol Annasuntha, der Insel der Geborgenheit, im Jahr 5700 dha-Tamar Kharagtam gegründet, das 38. Tamanium. Ausgiebige Vermessungen lieferten in der Folge eine Reihe von sonderbaren Ergebnissen, die auf eine Art zweite Ebene hindeuteten. Vielleicht auf Sterne und Planeten, die ähnlich der Stahlwelt im Halbraum in Miniaturuniversen ausgelagert und in den Hyperraum eingebettet waren. Das war unter anderem der Grund, im Jahr 6150 dT mit Hilfe der Sonneningenieure mit dem Bau der besonderen Konstellation des KharagSonnendodekaeders zu beginnen!« Das Sonnendodekaeder … der lemurische Sonnentransmitter, den wir in Omega Centauri entdeckt hatten! Durch die Erinnerungen des Lemurers Nevus Mercova-Ban, die ich bei der Anerkennung der HochrangBerechtigung in der Stahlwelt aufgenommen hatte, hatte ich erfahren, was es mit ihm auf
Die Obsidian-Kluft erwacht sich hatte. »Als lemurischer Tamrat-Wissenschaftler Sardaengar waren meine Bemühungen schließlich 6204 dT von Erfolg gekrönt.« 50.196 vor Christus! »Unter Ausnutzung der Kräfte des inzwischen fertigen Sonnendodekaeders gelang es mir, ein zweites Mal in die Obsidian-Kluft einzudringen. Die Transmitterfunktionen war so geschaltet und variiert worden, dass ein Eindringen in diese ausgelagerten Enklaven möglich wurde. Die Lemurer hatten mit der Zeit Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Versuche unternommen, doch wirklich erfolgreich schien keiner zu sein. Jedenfalls kehrte keine einzige der abgestrahlten Expeditionen zurück. Über ihr Schicksal konnte niemals Genaueres herausgefunden werden … Vereinzelt materialisierten in der Transmitterzone zwar Materieansammlungen, doch damit ließ sich auch nicht viel anfangen. Es handelte sich um Obsidian …« Der lemurische Begriff lautete natürlich anders, doch ich blieb bei der gewohnten Übersetzung. »Seine Herkunft konnte nie geklärt werden. Allerdings war es kein normaler Obsidian, der im Transmitter erschien, sondern einer, der bis zu einem gewissen Grad hyperphysikalische Aktivität in der Art von Hyperkristallen entfaltete.« Nevus Mercova-Ban, dessen Erinnerungen mir zugeflossen waren, kannte diese Daten nur aus Altberichten. Doch er hatte sie gekannt, und seine Erinnerungen waren auch die meinen … Die entsprechenden Versuche stammten allesamt aus einer Zeit lange vor seiner Geburt; die Aufzeichnungen, auf die Nevus hatte zugreifen können, waren nur unvollständig gewesen. Nach jenem Versuch im Jahr 6204 dT wurde der Name des Hohen Tamrats Sardaengar jedenfalls an keiner Stelle mehr erwähnt. Dann begann der Krieg gegen die Haluter, man hatte ohnehin anderes zu tun, als solche Forschungen zu betreiben. In den positronischen Akten Kharags waren die Ergebnisse unter dem Oberbegriff Obsidian-Kluft abge-
37 speichert. Einmal, im Jahr 6411 dT -49.989 vor Christus, dem 91. Kriegsjahr –, hatte Nevus einen Versuch mit dem Prototyp der gerade fertig gestellten Bewusstseinstransfer-Anlage unternommen, doch auch auf diesem Weg wenig Konkretes erfahren. Es gab da draußen wirklich etwas, doch ein Zugriff darauf war nicht möglich. Für wenige Augenblicke stellte sich zwar ein Kontakt ein, sonderbare Impressionen sprangen auf Nevus über, aber damit hatte es sich dann auch. Die Bilder und die dabei vermittelten Namen und Begriffe entsprachen weitgehend jenen, die ich während der Transition in die Obisidian-Kluft erlebt hatte und Nevus-Erinnerungen gewesen waren. »Das Innere der Obsidian-Kluft hatte sich inzwischen verändert. Nun gab es drei Spiegelwelten. Weitere Jahrtausende vergingen. Ich konnte dem Kristallmond immer mehr Informationsbruchstücke entreißen. In unregelmäßigen Abständen verschlug es Raumfahrer in die Kluft, deren Schiffe auf Viingh, der Insel der Verdammten, geparkt wurden. Neben Vinara wurden auch die Spiegelwelten – untereinander erreichbar über die Obsidiantore – nach und nach besiedelt. Kulturen entstanden, entwickelten sich, gingen unter, wurden durch Nachfolger ersetzt. Schließlich gab es insgesamt vier Spiegelwelten … Irgendwann reagierte die Obsidianbarriere dann erstmals massiv: Brocken lösten sich, stürzten mit Urgewalt auf die Welten, richteten zum Teil verheerende Katastrophen an. Und genau bei einem solchen Höhepunkt wurde ich ohne mein Zutun wieder hinausgeschleudert. Unvermittelt fand ich mich auf einem Planeten knapp außerhalb des Kugelsternhaufens wieder, ohne eine Möglichkeit, zurückzukehren oder die Welt auch nur zu verlassen. Wie ich erst später herausfand, geschah dies zur Zeit der Archaischen Perioden, als galaxisweite Hyperstürme wüteten …« Die bei uns Arkoniden als Zarakhgoth-Votanii umschriebene Epoche zwischen etwa 3000 und 3760 da Ark, dachte ich. Fast eintausend Jahre lang hatten damals die Hyper-
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stürme in der Galaxis getobt, von 16.884 bis 15.986 vor Christus. Abrupt wechselte der Cyno das Thema. »Die Varganin Kythara hatte zu den Rebellen gehört, die nicht in den ›Mikrokosmos‹ zurückkehren wollten und im Standarduniversum geblieben waren. Sie wurde von Magantilliken verfolgt, dem Henker der Varganen. Kythara suchte im Jahr 16.558 vor Christus, zur Zeit der Hyperstürme der Archaischen Perioden, in Omega Centauri Schutz vor ihm. Ihr Oktaederraumer wurde jedoch von einer der Hyperschwallfronten getroffen, teilentstofflicht und in die Obsidian-Kluft versetzt … genau zu dem Zeitpunkt, als ich nach draußen geschleudert wurde! Jahrtausende musste ich warten, innerlich geplagt vom Drang, in die Obsidian-Kluft zurückzukehren, ohne jedoch eine Möglichkeit zu finden, bis es einen Springerraumer auf die Welt am Rand des Kugelsternhaufens verschlug. Ich tarnte mich entsprechend, gelangte ins Große Imperium, konnte Kontakt zu anderen Cynos herstellen und kehrte schließlich zur Erde zurück, um mich mit Imago Eins und Zwei zu besprechen. Und ich war dabei, als eine Gruppe von Arkoniden auf einer Insel eine Kolonie gründete – später bekannt als Atlantis…«
* Wieder verschwammen Visionen und Erinnerungen. Ein urtümlicher Planet, Sitz eines großen Positronikgehirns. Larsa alias Larsaf II, wie damals die Venus genannt worden war … Ich war damals Admiral. Ein verzweifelter Funkspruch eines Kolonisten namens Tonth, der von maßlosen Übergriffen und unnötigen Härten des System-Administrators Amonar aus der unbedeutenden Familie der Cicol berichtet hatte, hatte mich in das Larsaf-System gerufen. Vier Pragos nach meiner Ankunft fand am 15. Prago des Messon 10.512 da Ark, was dem 3. November 8006 vor Christus entsprach, ein Pro-
vinzempfang statt, zu dem ich geladen war. Dank meines fotografischen Gedächtnisses erinnerte ich mich wortwörtlich an das Gespräch, in dem ich erstmals von Trento erfuhr … »Wir sehen uns morgen Larsaf Drei an«, sagte ich. »Was gibt es heute sonst noch?« »Ein Provinzempfang im Haus des Trento. Das dürfte heiter werden. Trento ist Chefmathematiker der hiesigen Forschungszentrale. Man sagt, er zähle zu den besten Köpfen des Imperiums. Früher soll er dem Rat angehört haben.« »Auch das noch«, nörgelte ich … Wie ich jetzt wusste, war Trento ein 1,89 Meter großer, sehnig-schlanker Arkonide, angeblich 75 Arkonjahre alt – eine Tarnung. Hellrote Augen, silbrig weiße, schulterlange Haare, markantes Kinngrübchen. Seit einem Arkonjahr war er Chefmathematiker im Forschungszentrum der von Tato Amonar da Cicol aufgebauten Kolonie gewesen. Eine Tarnung … Die Para-Modulation eines Cynos. Damals waren wir uns erstmals persönlich begegnet, ohne dass ich ahnen konnte, dass Trento nicht derjenige war, für den er sich ausgab.
* Ich stöhnte auf, als meine Erinnerungen und Sardaengars Visionen sich einen harten Kampf in meinem Kopf lieferten. Sie schienen um jeden Gedanken zu ringen, den sie für sich einnehmen konnten. Sardaengar behielt die Oberhand. »Als Trento blieb ich im Larsaf-System«, zwang er mir mit seinem Bericht gleichzeitig seinen Willen auf. »Ich kam nach Larsaf Drei, überlebte den Untergang von Atlantis und durchwanderte dann ähnlich wie du, Atlan, in immer wieder wechselnden Tarnungen die irdischen Jahrtausende …« Lakehurst und andere Details, meldete sich der Extrasinn. »Zu meinen Tarngestalten gehörte auch jene des echten Cagliostro. Während du in jener Zeit häufig im Auftrag der Superintel-
Die Obsidian-Kluft erwacht ligenz ES handeltest, galt Vergleichbares für Nahith Nonfarmale und mich. Wir waren für den Inneren Widerpart der Superintelligenz aktiv, für Anti-ES …« Ich dachte unwillkürlich an meine Kämpfe gegen den Psychovampir Nahith Nonfarmale, wurde von Bildern meines fotografischen Gedächtnisses überwältigt. … ich will Nonfarmale in die Brust schießen, doch mein Finger gleitet vom Auslöser. Es ist keine Illusion, kein Spiegelbild: Es ist NeTefnacht, die ich beinahe getötet hätte. Noch während ich mein staunendes Entsetzen niederzukämpfen versuche, zerfließt das Bild – an NeTefnachts Stelle steht Ullana Amiralis Thornerose in der eiskalten Landschaft. »Verfluchter … Bastard!« Ich versuche, die Wirklichkeit zu erkennen. Ullana verschwindet, macht Monique Platz; nackt, begehrenswert und schutzlos. Ihr Lächeln ist schmerzlich, auffordernd. Monique verwandelt sich in Lisa Gioconda, meine Geliebte im Florenz des Leonardo da Vinci. Nahith Nonfarmale hat aufgegeben oder wendet eine besondere List an. Er will mich übertölpeln, während er mir zeigt, wie gut er mich kennt. Wieder zerfließt das Bild, an Monas Stelle steht Amoustrella Gramont mit langem Haar und leuchtenden Augen. Nonfarmale will mich mit dieser Modulation seines Körpers in den Wahnsinn treiben. Töte ihn!, sagt der Extrasinn. Ich hebe den Lauf der Waffe und schieße Amou in den Kopf. Sie verwandelt sich in Nonfarmale, dessen Schädel zerrissen ist. Aber auch dieser Körper verwandelt sich, wird zur zylindrischen Säule, höher als eineinhalb Meter. Mir zittern die Knie, als ich näher gehe und die Waffe auf den Obelisken richte. Von links strahlen die Fackeln, und als Amir aus der Luft herunter schwebt und sich der Säule nähert, schaltet er die Helmlampe und den Gürtelscheinwerfer ein. Ich starre fassungslos die Säule an. Amir geht um den versteinerten Körper herum, der jegliche Kontur verloren hat. Ich stehe schweigend da und erwarte, dass der Obe-
39 lisk im starken Licht beider Scheinwerfer einen wuchtigen Schatten wirft, aber der Boden bleibt hell, schattenlos, wie immer sich Amir auch bewegt. Die Säule wirft nicht einmal einen grauen Schatten … Mühsam drängte ich diese Erinnerungen zurück, doch sie machten nur anderen Platz. Cagliostros Gestalt überlappte mit der von Nahith Nonfarmale. Ich erinnerte mich, dass Rico und ich uns nach dem albtraumhaften Erlebnis mit dem zeitenpendelnden Magister kundig gemacht hatten; Gerüchte, Erzählungen, Flugblätter und Zeitungen boten einiges Erhellendes. Wer war dieser Caglistro wirklich? 1743 war er als Giuseppe Balsamo in Palermo geboren und im Kloster der Barmherzigen Brüder zu Caltagirone mit fragwürdigem Erfolg zum Novizen erzogen worden; er wurde zum hochbegabten Diener der Klosterapotheke und half bei Mischungen und Experimenten mit Tinkturen, Essenzen und Pulvern, eignete sich medizinische Kenntnisse an. Er sollte ein Zeichner und Schönschreiber von höchsten Gnaden sein, sagte man. Rico und ich erfuhren mehr aus seinem Leben: Dieberei, Zuhälterei, Teufelsaustreibungen und Geisterbeschwörungen – alles ohne großen Erfolg. Er trug verschiedene Namen: Alessandro di Cagliostro, Graf Harat, Graf Fenix, Marquis von Anna. Man war von ihm fasziniert, denn er, der Wunderheiler, stammte, 300 Jahre alt, von einer weißen ägyptischen Maurerfamilie ab; viele Zeitungen hatten über den Scharlatan geschrieben. In Rom hatte er ein auffallend schönes Mädchen geheiratet, Lorenza Feliciani. Begehrenswert und völlig ruchlos, also die richtige Partnerin, diese »Gräfin Seranna«. Das Glücksjäger-Pärchen betrog, zauberte, täuschte, nahm viel Geld und Geschenke ein und gab noch mehr aus – dieser Cagliostro hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit jenem Magister, der mich gerettet hatte. Unterdessen sprach Sardaengar weiter. »Nachdem die Menschheit schließlich den
40 Weg ins All gefunden hatte, versuchte ich zwar mehrfach, in die Obsidian-Kluft einzudringen, scheiterte jedoch jedes Mal schon an den lemurischen Hinterlassenschaften, an den Hyperschwallfronten, die ein Eindringen in den Kugelsternhaufen nahezu unmöglich machten. Und als dann am 29. November 3440 der Schwarm die Milchstraße erreichte, mit Verdummung heimsuchte und 3443 die Macht der Götzen gebrochen wurde, gehörte ich zu jenen, die nicht in ihn zurückkehrten, sondern in der Milchstraße blieben. Nur wenige Jahre später, Anfang Mai 3458, endete dann das Kosmische Schachspiel zwischen ES und Anti-ES mit der Verbannung des Inneren Widerparts wegen zahlreicher Regelverstöße für zehn RelativEinheiten in die Namenlose Zone. Erst zu diesem Zeitpunkt fiel der Einfluss von mir ab, den Anti-ES auf mich ausgeübt hatte. Aber auch die nachfolgenden Jahrhunderte bescherten mir keine Rückkehr in die Obsidian-Kluft, obwohl ich zahlreiche verzweifelte Versuche unternahm. In der Zeit der Monos-Herrschaft trat ich dann als Trimotheus Ackaren auf und zeugte aus lauter Frust sogar einige Nachkommen mit NichtCynos. 618 NGZ schließlich war es so weit. Durch Zufall geriet ich fernab des Kugelsternhaufens Omega Centauri in einen gewaltigen Hypersturm … und wurde unvermittelt in die Obsidian-Kluft versetzt, die ich seither nicht mehr verlassen habe. Aufbauend auf meinen früheren Erlebnissen und Erkenntnissen, wurde ich zum Herrn der Welt, dem Heimlichen Herrscher von Vinara und den vier Spiegelwelten. Und ich konnte von den inzwischen vor allem von Perry Rhodan gewonnenen kosmologischen Kenntnissen profitieren, die mir in früheren Zeiten in dieser Form nicht zur Verfügung gestanden hatten. Ich wusste nun von Superintelligenzen, dem Zwiebelschalenmodell, den Sieben Mächtigen, den Sporenschiffen und anderen Schwärmen. Endgültig beweisen konnte ich es zwar in je-
Uwe Anton nen Jahren immer noch nicht, aber mehr denn je war ich davon überzeugt, dass der Kugelsternhaufen letztlich nichts anders war als der Rest eines in Urzeiten in der Milchstraße gestrandeten Schwarms! Mein anfangs noch unbewusster Traum, den der Kristallmond initiiert hatte, war es, diesen gestrandeten Schwarm wieder zu aktivieren …« Dazu fehlte allerdings die notwendige Hochrang-Berechtigung, dachte ich mit einem letzten Aufbäumen, einem schalen Triumph, einem verzweifelten Versuch, meine Identität zu wahren. Und die gibt es nur gemeinsam mit Litrak! »Genau!« Sardaengar lachte gellend, ein fast irres Geräusch. »Ich habe sie nun! Dank Tamiljon … Aber all die Mühe, die Kämpfe, die Verzweiflung – ich hätte mir Jahrzehntausende ersparen können! Dabei lag die Lösung doch auf der Hand.« »Lösung?«, murmelte ich. Der Extrasinn raunte spöttisch: Statt den Kontakt zwischen Tamiljon und Sardaengar zu verhindern, hättest du ihn herbeiführen müssen! »Herbeiführen?«, murmelte ich begriffsstutzig. Der Kristallmond hat nicht bedacht, dass sich der Status der Hochrang-Berechtigung nicht mit geistiger Beeinflussung des Berechtigten vereinbart! Ich stöhnte leise, während der Logiksektor scharf fortfuhr: Seit dem Augenblick des Kontakts mit Litraks Essenz ist Sardaengar wieder völlig er selbst und frei! Dann war es vorbei. Und ich wusste trotz des Extrasinns nicht, ob es Sekunden oder Ewigkeiten gedauert hatte. Ich öffnete die Augen …
9. Atlans Visionen … und sah hoch über mir eine absolut blendende Lichtflut. Der Kristallmond musste explodiert sein! Er hatte schlagartig die in ihm gespeicherte Energie der Psi-Materie
Die Obsidian-Kluft erwacht freigesetzt! Li! Und Sardaengar …? Das Gros der nun dort tobenden Energien – und mit ihnen auch die Biophoren! – musste im Hyperraum verpufft sein, denn sonst wäre ich, wären alle Bewohner Vinaras bereits tot, wäre der Planet schon von den entfesselten Gewalten zerrissen worden … Eine unsichtbare Faust schien mich zu treffen, zwang mich auf die Knie. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, wie die fünf mehrere hundert Meter hohen Türme der Bergfestung sich zu biegen schienen. Wie Schilfhalme im Sturm krümmten sie sich auf der schroffen Klippe von 400 Metern Höhe zusammen, bis ihre Spitzen sich berührten – obwohl ich, auf der Plattform stehend, von dieser Bewegung nichts bemerkte, sondern sie nur sah. Oder zu sehen glaubte. Über die vormals silbernen, nun an vielen Stellen dunkel angelaufenen Fassaden floss ein warmer Schimmer hinweg, der ihre Scharten und Risse glättete. Dann peitschten die Eckpunkte des gleichseitigen Fünfecks wieder zurück, und ihre Ornamente und Reliefs schossen in die Höhe, als wären sie aus den Wänden gerissen und in den Himmel katapultiert wurden. Aus den schmalen, schießschartenähnlichen Öffnungen der Türme und den ovalen Fenstern der Kuppeln quollen silberne Wolken, die sich aber nicht auflösten, als sie mit der Luft in Berührung kamen, sondern sich im Gegenteil verdichteten und ausdehnten, als wollten sie die gesamte Atmosphäre Vinaras vereinnahmen oder verdrängen. Die Reste der freigesetzten Psi-Materie haben einen fürchterlichen Psi-Sturm entfesselt, warnte der Extrasinn. Flucht ist sinnlos! Überall deformieren Raum und Zeit! Ein Zittern lief durch den Boden, wie von einem schweren Erdbeben, und ich spürte, wie die Luft sich aufheizte. War das das Ende? Eine planetenweite Katastrophe, die Vinara zerreißen würde? Eine unsichtbare Hand schien nach mir zu greifen; ich fühlte einen innigen, warmen Kontakt, fast ein Streicheln. Für einen Augenblick glaubte ich
41 meinen Körper in ein leuchtendes Feld gehüllt. Die Ritteraura? Was geschieht? In diesem Moment leuchtete die schattenlose Säule grell auf, saugte die tobenden Kräfte mit aller Kraft ein und verwandelte sich abrupt in ein vielfarbig leuchtendes Energiefeld. Sardaengar hat sich in einen Imaginären verwandelt!
* Ein ungeheurer Sog ging von ihm aus, zerrte meinen Geist aus meinem Körper. Ich sah mich auf der Plattform des Nordturms liegen, neben mir Tamiljon, schoss dann auf das irrlichternde Feld zu. Ich wollte schreien, hatte aber keine Stimmbänder mehr, keinen Mund, keine Lungen. Hilflos drang ich in das Feld ein, verschmolz mit ihm. Und sah mit Sardaengars Augen. Sah Vinara. Den gesamten Planeten. Die Welt lag unter mir. Ich musste nur nach dem Kontinent, einem Landstrich, einer Ansiedlung greifen und würde sie ohne Zeitverlust erreichen. Es war gleichzeitig der Blick aufs Ganze wie auf das kleinste Detail. Ich wusste, dass sich die Obsidian-Kluft aufgelöst hatte, dass Vinara mit der Sonne Verdran im Standarduniversum angekommen war. Am Himmel glaubte ich, das Kharag-Sonnendodekaeder grell leuchten zu sehen, wusste plötzlich, dass sich Vinara im Standarduniversum befand, nur rund ein viertel Lichtjahr entfernt. Eine Vision?, fragte ich mich. Der Kristallmond war spurlos verschwunden. Mit ihm die Psi-Materie, die Walze mit der Hypertronik. Und auch die beschädigten Hyperblasen mit den gespeicherten Biophoren. Zumindest diese Gefahr war beseitigt. Es drohte auch keine Rekonstruktion des Schwarms mehr, keine Gewalttransitionen mit fürchterlichen Auswirkungen auf die Struktur der Milchstraße. Aber damit war es noch nicht getan. Ich
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wusste es genau. Noch immer tobten die Katastrophen rings um Vinara, beutelten die Welt in einem Maß, dass mir übel wurde. Abermillionen Wesen drohten zu sterben oder starben genau in diesen Augenblicken, die sich für mich zu einer Ewigkeiten dehnten. Aber ich war nicht allein. Sardaengar war ebenfalls da. Auf eine Weise, die ich nicht definieren konnte, wurden wir eins. Einen Augenblick – oder eine Ewigkeit – lang war ich Sardaengar, ohne jedoch seine CynoFähigkeiten auch nur ansatzweise zu verstehen. Und ich, der ehemalige Ritter der Tiefe, griff gemeinsam mit Sardaengar, dem zum Imaginären gewordenen Cyno, nach der von Naturkatastrophen heimgesuchten Welt. Mit unseren gewaltigen Kräften rissen wir die Kontrolle über die verbliebenen Goldenen Technostädte und Silbersäulen an uns und ließen sie gegen die Naturkatastrophen vorgehen. Wir griffen danach, Wunsch wurde Wirklichkeit. Die Wirkung war, obwohl genau so erwartet, dennoch verblüffend: Tobende Vulkane beruhigten sich schlagartig, brodelnde Tsunamis sanken in sich zusammen, gewaltige Sturmböen verebbten. Fast überall auf Vinara trat mit einem Mal Stille ein – ein Frieden, der auch auf alle Bewohner übergriff.
* Für wenige Augenblicke glaubte ich einen großen, dunklen Schatten zu sehen, einen schwarzen Quader, 6000 Meter lang, 2000 Meter breit, 1000 Meter hoch, in ein diffuses, unwirkliches Leuchten gehüllt. Die Vergessene Positronik!, durchzuckte es mich. Sie materialisierte kurz, entstofflichte im nächsten Augenblick schon wieder und verschwand. Sie scheint ihre ewige Reise als Kosmischer Holländer mit unbekanntem Ziel fortzusetzen. Und durch meine Gedanken huschte ein Beitrag von Cunnard Rezkladides für die
Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse, eine Arbeit des Historischen Korps der USO, die als Sonderdruck in Pounder City auf dem Mars im Jahr 3435 veröffentlicht worden war. Er war mehr als treffend – zumal ich mich unwillkürlich fragte, wann ich diesen Quader wieder zu sehen bekam. Denn dass das der Fall sein würde, dessen war ich mir sicher. Jedem, der sich die Größe unserer Sterneninsel bewusst macht, wird mehr als deutlich vor Augen geführt, dass die Rätsel und Geheimnisse selbst dann wohl noch überwiegen werden, sollte es einmal gelingen, die Basisdaten mit größter Exaktheit und Detaildichte zu ermitteln. Denn sogar die komplette kartografische Erfassung bliebe nur eine Momentaufnahme – ein Nichts gegenüber dem bisherigen Alter von zehn bis zwölf Milliarden Jahren und einer Sonnenanzahl, die mehrere hundert Milliarden erreicht. In den rund zwanzigtausend Jahren ihrer Geschichte haben die Arkoniden Immenses geleistet. Sogar heute, nach dem Niedergang dieses Volkes und der Zersplitterung ihres ehemaligen Großen Imperiums in einen Flickenteppich rivalisierender Kleinreiche, Fürstentümer, System-Republiken, ständig wechselnden Allianzen und Koalitionen und Duodez-Monarchien, gilt der Nordwestquadrant der Milchstraße als der datentechnisch besterfasste. Und doch: Selbst wenn wir die natürlichen Phänomene einmal ausklammern, die uns bis heute unverständlich bleiben, zwingen die weißen Flecke und verbliebenen Fragezeichen den unvoreingenommenen Betrachter zur Demut. Eins der größten Rätsel ist und bleibt seit Jahrtausenden das als »Vergessene Positronik« umschriebene Objekt. Einem kosmischen Fliegenden Holländer gleich taucht es weiterhin nach einem nicht nachvollziehbaren, vermutlich völlig zufälligen Muster an den verschiedensten Orten auf, gewinnt für eine kurze Zeit Stofflichkeit und verschwindet dann ebenso plötzlich, wie es erschienen ist. Die mit diesem Prozess verbundenen, auch heute noch nicht erforschten Randbe-
Die Obsidian-Kluft erwacht dingungen und hyperphysikalischen Grundlagen machen eine gezielte Erforschung illusorisch, da jede Beobachtung ebenfalls rein zufällig bleibt. So darf es nicht verwundern, dass sogar in unserer Zeit das Erlebnis aus der Jugendzeit von Lordadmiral Atlan vor inzwischen fast elfeinhalb Jahrtausenden nach wie vor die beste Dokumentation darstellt. Im Gegensatz zu allen Analysten war er höchstpersönlich an Bord und ist überdies einer der wenigen, die die Plattform auch wieder lebend verließen. Dennoch wirft sein Bericht letztlich mehr Fragen auf, als er beantwortet. Als gesichert kann festgehalten werden, dass der schwarze Quader in der Zeit um 10.500 da Ark in der Tat als einer der Hinweisgeber und auch als eine der Prüfungsstellen bei der Suche nach dem ominösen »Stein der Weisen« fungierte. Als ebenso sicher gilt allerdings auch, dass das keineswegs die ursprüngliche Aufgabe war. Vieles deutet darauf hin, dass die Plattform selbst ein Produkt lemurischer Technologie war. Anderes wiederum muss unzweifelhaft als varganisch eingeordnet werden. Unklar bleibt, ob eventuell schon die Lemurer auf varganische Hinterlassenschaften stießen und diese in die Plattform integrierten oder ob es Varganen waren, die dieses Objekt nach dem Untergang des Großen Tamaniums »nur« für ihre Zwecke nutzten. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass beides seine Richtigkeit hat und es darüber hinaus vielleicht in eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit weist, in jene, die uns zu den Cyén, den Barkoniden und den als Galaktische Ingenieure umschriebenen Petroniern führt – Letztere auch als so genannte Oldtimer bekannt …
* Dann war es vorbei. Die Kraft, die mich in das Energiefeld gezogen hatte, stieß mich wieder hinaus. Ich sah wieder meinen Körper unter mir, dann sah ich mit meinem Körper, mit meinen weit
43 aufgerissenen Augen. Über Grataar öffneten sich die Wolken. Sonnenlicht fiel durch die Lücken, beleuchtete die wilde Gebirgslandschaft mit einem unwirklich erscheinenden, pastellfarbenen Schein. Ich versuchte zu verarbeiten, was soeben geschehen war, doch es gelang mir nicht auf Anhieb. Aber in einem war ich mir sicher: Ich war Sardaengar gewesen, wenn auch nur für Sekundenbruchteile – oder eine Ewigkeit –, und hatte seine Gedanken gedacht. Die Gedanken eines Imaginären! Sardaengar würde auch weiterhin als Uralter die nun freien Bewohner von Vinara betreuen, als gütiger Herr der Welt – nun allerdings als Imaginärer! Ich schaute zur Seite, sah Tamiljon, der mit verklärtem Gesicht in das vielfarbige Energiefeld des Imaginären starrte und dann zu lächeln begann. Die Kristalle seines Exoskeletts leuchteten auf, als er lauschend den Kopf zur Seite legte und schließlich nickte. Die Kristalle, die früher Litraks Körper gebildet hatten, durchdrangen noch immer seinen Körper und umgaben ihn mit dem Exoskelett. »Ja, ich schwöre meinen Ränkespielen ab und werde mich mit meinem Leben für deine Ziele einsetzen!«, flüsterte er. »Ich werde dein neuer Erster Wächter sein und in die Welt hinausziehen und Ausschau halten nach weiteren ethisch hoch stehenden Wesen, die in deinem Sinne tätig werden können, Sardaengar. Und ich werde diesen Wesen Splitter der Kristalle meines Exoskeletts einpflanzen, die ihnen dann eine innige Verbindung mit dir ermöglichen!« Unwillkürlich musste ich lächeln. Tamiljon, der Dieb, der Hochstapler, den ein Traum getrieben hatte, als ich ihn kennen gelernt hatte. Der ein echter Wächter werden wollte. Der irgendwann den Kristallstab mit voller Berechtigung tragen wollte, nicht wie ein Dieb. Er hatte mich benutzt. Ich hatte ihm helfen sollen, diese Position zu erreichen, und gleichzeitig hatte er mich als potenziellen Gegner betrachtet und mir seine Ziele nicht verraten.
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Tamiljon, der über sich hinausgewachsen war, der seine Angst, Unsicherheit und Zweifel überwunden und schließlich die Entscheidung herbeigeführt hatte. Tamiljons Traum hatte sich erfüllt! Dank meiner unbewussten Hilfe hatte er sein Ziel nun erreicht. Er hatte es verdient. Ohne ihn würde niemand auf Vinara mehr leben. Und vielleicht die Milchstraße nicht mehr so aussehen wie gestern. Er würde Wort halten. Ich hatte als Sardaengar auch in ihn hineingesehen und wusste, dass er aus dieser Entwicklung geläutert hervorgegangen war. Ich stand langsam auf, sah mich noch einmal um und machte mich an den Abstieg, umgeben von dem herrlichen Sonnenschein über Grataar.
10. Kytharas Geheimnisse 5. Mai 1225 NGZ »Ich war tot«, sagte Cisoph Tonk. »Kannst du dir das vorstellen, Atlan? Nicht bewusstlos, nicht scheintot, sondern tot! Gekentert vor der Küste Viinas, jämmerlich ertrunken, während ich versuchte, Hurakin zu retten! Wir sind Biophoren-Spiegelwesen!« Er drückte die Hand der Seherin Anee, die uns von Yandan in den Canyon der Visionen begleitet hatte. Auch sie war vor der Küste Viinas gestorben – oder besser gesagt: Enaa von Amenonter, die Akonin und Kytharas Vertraute aus Viinghodor, mit der er sich im Verlauf von Lethem da Vokobans Expedition ins Land der Silbersäulen angefreundet hatte. Ich erwiderte ernst und aufrichtig seinen Blick. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« Die Bevölkerung der Vinara-Welten hatte zu fast neunzig Prozent aus Spiegelwesen bestanden. So, wie die Spiegelwelten letzten Endes Projektionen der Gedanken, Wünsche, Vorstellungen und Träume der Bewohner der Obsidian-Kluft gewesen waren, die die Hypertronik in die Realität umgesetzt
hatte, hatte es in der Kluft auch zahlreiche Spiegelwesen gegeben – ebenfalls materielle Projektionen. Biophoren-Spiegelwesen hatte Litrak ursprünglich als Helfer geschaffen, doch dann hatten sie ein Eigenbewusstsein entwickelt und waren ebenfalls auf den Vinara-Welten gefangen gewesen. Allerdings waren sie nicht die einzigen dieser Wesen. Die anderen waren zufällig entstanden, und genau solch einem Zufall hatten Cisoph und Anee die Rückkehr ins Leben zu verdanken. Die Hyperspeicher der Biophoren des Kristallmondes waren nach all den Jahrmillionen undicht geworden. Sie hatten immer wieder minimalste Spuren ihres Inhalts freigegeben; traf zufällig solch ein winziges Biophoren-Quant mit einem gerade Sterbenden oder einem Spiegelwesen zusammen, hatte es ein Biophoren-Spiegelwesen erzeugt. Die meisten dieser Geschöpfe hatten die Erinnerungen an ihr vorheriges oder paralleles Leben vollständig oder zum größten Teil verloren, nur einige wenige hatten Rudimente davon behalten. So hatte die Seherin Anee verschwommene Kenntnis von ihrem anderen Leben als Enaa von Amenonter behalten, hatte gewusst, dass Cisoph Tonk Enaas Freund gewesen war. Ein »Auswahlprinzip« hatte es dabei nicht gegeben. Der reine Zufall hatte bestimmt, wer als eines der wenigen BiophorenSpiegelwesen ein neues Leben geschenkt bekam und wer endgültig dem Tod anheim fiel. Cisoph Tonk und Enaa-Anee hatten Glück gehabt; andere Mitglieder von Lethems Expedition waren tot. Hurakin war für uns endgültig verloren. Ich räusperte mich und musterte den Terraner, mit dem ich 695 Jahre im Stasisfeld des Tarkan-Verbands verbracht hatte. Cisoph hatte also schon einiges erlebt, doch die Ereignisse auf Vinara übertrafen das Vorhergehende bei weitem. Im Gegensatz zu den anderen Spiegelungen hatte sich Cisoph Tonks Biophoren-Doppel nicht aufgelöst, sondern die vollständigen Erinnerungen
Die Obsidian-Kluft erwacht seines toten Originals »zurückbekommen«. Lediglich etwa ein Dutzend Spiegelwesen hatten die Auflösung der Spiegelwelten überlebt. Da Biophoren ihre Körper stabilisierten, würden sie sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge auch später nicht auflösen, sondern bestehen bleiben. Das Prinzip dahinter war fast banal. Als in sich geschlossenes Miniaturuniversum war in der Obsidian-Kluft nichts verloren gegangen, sondern wandelte sich nur um, vollzog Transformationen. Immerhin war das Backup-System ein gewaltiges Reservoir an Psi-Materie sowie von On- und NoonQuanten gewesen, das zunächst einmal nur ein unglaubliches Potenzial darstellte und erst durch die jeweilige Kodierung eine konkrete Ist-Gestalt annahm – als Personen, Welten, Silbersäulen oder Goldene Technostädte. Der muskulöse Terraner strich sich über die rückenlangen, glatten schwarzen Haare, die im Nacken mit einem schillernden Lederband zusammengebunden waren. Er seufzte und schaute auf das Meer hinaus. Wir standen auf einem Kai am Fuß Viinghodors, der riesigen Stufenkegel-Stadt. Die frische Brise vom Meer wehte salzig durch meine Haare. Ich wusste nicht, was ich sagen, wie ich seinen Schmerz lindern sollte. Was er erlebt oder durchgemacht hatte, überstieg das Begriffsvermögen bei weitem. »Hast du dich entschieden?«, fragte ich schließlich. Er zögerte und sah erneut die Seherin an, und als sie dann nickte, räusperte er sich. »Ja. Ich werde auf die ATLANTIS zurückkehren, und Enaa wird mich begleiten.« »Du bist dir über die Konsequenzen im Klaren?« Cisoph nickte. »Ja, das bin ich.« Ich lächelte schwach. »Deine Entscheidung freut mich natürlich. Und wer weiß …« Ein Biophoren-Wesen, versuchte der Extrasinn mir sämtliche Illusionen zu nehmen. Die On- und Noon-Quanten zählten noch immer zu den größten Rätseln, die sich der
45 Menschheit – und den Arkoniden – je gestellt hatten. Wer ihre Geheimnisse entschlüsselte, gewann vielleicht umwälzende Erkenntnisse über die Kosmokraten und die Schöpfung, die sie mit den Sporenschiffen eingeleitet hatten – und lange zuvor bereits mit den Urschwärmen. Eine unkontrollierte Freisetzung von Onund Noon-Quanten stellte eine ungeheure Bedrohung dar – eine Gefahr, die seinerzeit auch von der PAN-THAU-RA ausgegangen war. Ich bezweifelte nicht, dass sich arkonidische wie auch terranische Wissenschaftler begierig auf ein Biophoren-Wesen stürzen und versuchen würden, ihm all seine Geheimnisse zu entreißen, wenngleich es sich dabei um einen so verdienten Raumfahrer wie Cisoph Tonk handelte. »Und wer weiß«, wiederholte ich, hauptsächlich, um dem Extrasinn ein Schnippchen zu schlagen, »eigentlich muss ja niemand erfahren, was dir zugestoßen ist. Das sollte unser kleines Geheimnis bleiben …« Cisoph seufzte erneut. Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, doch es gelang ihm nicht so richtig. »Warten wir ab. Vielleicht erfährt es ja wirklich niemand.« Aber er klang nicht sehr zuversichtlich. Er nickte zum Abschied und nahm Anee – oder Enaa? – an der Hand. Die beiden verließen den Kai, wohl für einen letzten Rundgang durch Viinghodor oder um sich zur Landestelle der TOSOMA zu begeben. Ich drehte mich wieder um, sah aufs Meer hinaus und gönnte mir den seltenen Luxus, die Gedanken schweifen zu lassen.
* Ich dachte an die Kosmokraten. Sie waren in meiner Achtung nicht gerade gestiegen. Es kam mir typisch für sie vor, dass sie sich 550 Millionen Jahre nicht um Litrak gekümmert und erst eingegriffen hatten, als die Biophoren freigesetzt zu werden drohten. Immerhin: Sie hatten eingegriffen, als die Milchstraße vernichtet zu werden drohte,
46 und einen ihrer Diener ausgeschickt. Der mich dann die Kastanien aus dem Feuer holen ließ! War das wirklich die Gefahr gewesen, wegen der ich noch gebraucht wurde? Weshalb Samkar mich in der Stahlwelt gerettet hatte? Li hatte es mir nicht sagen können, und ich glaubte ihr, dass sie es nicht wusste. Li … Ich fragte mich, was aus ihr geworden war. War sie bei der Explosion des Kristallmondes ums Leben gekommen? Begleitete sie nun die ewige Reise der Vergessenen Positronik? Oder war sie zu Samkar zurückgekehrt? Eine Antwort würde ich wohl nicht so schnell, vielleicht sogar niemals erhalten. Doch die Erlebnisse in der Obsidian-Kluft hatten mir geholfen, die Trauer um meine Li zu überwinden. Jetzt war mir klar, dass ich über ihren Tod hinwegkommen würde. Die echte Li hatte ihren Frieden gefunden; was mit ihrem Körper geschah, interessierte mich eigentlich nicht. Sollte das aufgepfropfte Bewusstsein über ihn verfügen. Die Lethargie, die mich nach ihrem Tod fast in die Knie gezwungen hatte, war von mir abgefallen. Ich nahm meine Umgebung wieder aufmerksam wahr. Ich war gespannt, welche weiteren Geheimnisse die lemurischen Hinterlassenschaften und Omega Centauri selbst bereithalten würden – der Rest eines Urschwarms! Leider war es extrem unwahrscheinlich, dass nach rund einer halben Milliarde Jahren noch Hinterlassenschaften des in der Milchstraße gestrandeten Litrakduurns aufzufinden waren. Diese Zeitspanne war selbst für Kosmokratentechnik zu lang. Doch vielleicht würden wir einige Antworten finden. Zum Beispiel auf die Frage, warum der Durchmesser des Kristallmondes, Litrakduurns Backup-System, mit seinen 1126 Kilometern exakt jenem der späteren reinen Sporenschiffe der Sieben Mächtigen entsprach. Dieser Umstand ließ darauf schließen, dass die Größe der späteren Sporenschiffe von der Größe der früheren »Kristallmonde« der Urschwärme abgeleitet
Uwe Anton worden war. Warum? Vielleicht, weil ein Durchmesser von 1126 Kilometern den größten dauerhaft stabilen Zustand von kristallin-verfestigter PsiMaterie darstellte? War das eine »Basisgröße«, die später dann in die reinen Sporenschiffe eingeflossen war, ähnlich wie »Pferdestärke« als »historische Maßeinheit« bei Kraftfahrzeugen auch nichts mehr mit »Pferden« zu tun hatte? Und ich fragte mich, was aus Vinara werden würde. Aber Omega Centauri war weiterhin für den normalen Raumflug unzugänglich. Ich bezweifelte darüber hinaus nicht, dass es Sardaengar gelingen würde, seine Welt vor dem Zugriff Fremder zu schützen. Interessant war natürlich auch die Spekulation, wie lange der Imaginäre Sardaengar Interesse an seiner Rolle als gütiger Herr der Welt haben würde. Wann würde es ihn in die Weiten des Universums hinausziehen? Aber das war eine müßige Frage, auf die ich erst eine Antwort bekommen würde, sobald es so weit war. Müßig war natürlich auch die Frage, welche Entwicklung das Leben und die Intelligenzwerdung in der Milchstraße genommen hätten, wäre Litrakduurn nicht zerstört worden. Hätte der Urschwarm seine Aufgabe vollständig erfüllt, würde es weder Arkoniden noch Terraner geben. Aber er war vernichtet worden, und was für Litrak eine Tragödie gewesen war, hatte erst unsere Existenz herbeigeführt. Ich glaubte nicht an die Determination der Zeit. Wir waren Wesen mit freiem Willen und mit unseren Entscheidungen jederzeit imstande, die Zukunft zu verändern – irgendwo, irgendwann in der unendlichen Zahl der Universen, die den Kosmos des Multiversums darstellten und letztlich alle Möglichkeiten, Alternativen und Entwicklungen in sich bargen. Die schlimmsten Albträume ebenso wie die schönsten Augenblicke …
*
Die Obsidian-Kluft erwacht Als ich Schritte hörte, ahnte ich bereits ohne einen Hinweis des Extrasinns, wer sich mir näherte. Langsam drehte ich mich um. Ja, sie war es. Sie musste es sein. Obwohl ich sie noch nie gesehen hatte, hegte ich nicht den geringsten Zweifel daran. Sie war groß, fast einen Meter und achtzig, dabei schlank und an den richtigen Stellen kurvenreich. Sie wirkte sportlich, körperlich völlig fit und leistungsfähig. Ihrem extrem robusten varganischen Naturell entsprechend musste sie sehr unempfindlich gegenüber Hitze, Kälte, Schmerz und ähnlichen Unbilden des Kosmos sein. Und sie war umwerfend schön. Eine seidige Goldlockenmähne fiel ihr bis zu den Hüften; ihre Haut schimmerte in einem warmen Bronzeton, ihre Züge waren ebenmäßig, und in ihren goldenen Augen, die das schmale Gesicht beherrschten, funkelte eine wache Intelligenz. »Atlan«, sagte sie mit rauchiger Stimme. »Kythara!« Mich überraschte es nicht, dass sie sich auf eine Verständigung auf verbaler Basis beschränkte. Wie alle Varganen war sie sicher zur Kommunikation auf telepathischer Übermittlungsbasis fähig; die Varganen konnten einerseits ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen übertragen und andererseits bis zu einem gewissen Grad deren gedankliche Formulierungen erfassen, auch schon in Ansätzen. Das war allerdings nicht mit echter Telepathie im Sinne von Gedankenlesen zu verwechseln. Sie trug ein knielanges weißes Kleid mit einem Rollkragenabschluss am Hals; ein handbreiter schwarzer Gürtel mit großer Schnalle auf der Taille war mit etlichen Taschen und Etuis besetzt. Unter dem Gewand ragten kniehohe schwarze Stiefel hervor. Sie sah aus wie aus dem Ei gepellt, als hätte sie gerade ein ausgiebiges Bad genossen und danach frische Kleidung angelegt. Ich schluckte. Ihr war gelungen, was mir nicht oft widerfahren war. Von einem Augenblick zum anderen hatte sie mich mit ihrer knisternd erotischen Ausstrahlung in den Bann geschlagen. Aber nicht nur diese Aus-
47 druckskraft faszinierte mich. Sie verfügte über ein beeindruckendes Charisma, eine Aura der Weisheit, Abgeklärtheit und Überlegenheit, die mich trotz oder gerade wegen der sparsamen Gestik, der leisen Diktion und der kühl-gelassenen Mimik fast körperlich traf. Sie wirkte keineswegs arrogant, doch es wurde sofort ersichtlich, dass sie weise, abgeklärt und überlegen war. Von den Viin wurde sie als Ehrwürdige Heilige angesprochen, als Maghalata. Das war ein Begriff aus der lemurischen Sprache, zusammengesetzt aus halaton, also gesegnet, heilig, und Maghan, was Erhabener, Hoher Herr oder Ehrwürdige bedeutete. Maghan ist auch die lemurisch-tefrodische Anrede der Meister der Insel gewesen, warnte mich der Extrasinn. Ihr zweiter, seltener verwendeter Titel lautete Lahamu – Herrin der Schlachten, die Bezeichnung der Lemurer für den Planeten Venus, die später ins Sumerische eingeflossen war. Ihr Blick erwiderte den meinen geradeheraus, gelassen und kühl. Täuschte ich mich, oder lag ein leicht spöttisches Lächeln um ihre Lippen? »Nimmst du mich mit, Unsterblicher?«, fragte sie schlicht. Ihre Bitte kam mir keineswegs aufdringlich vor. Sie hatte lediglich etwas Unvermeidliches konstatiert und es der Höflichkeit halber nicht als Aufforderung ausgesprochen oder auch nur als Tatsache, sondern als Wunsch. Ich blieb ihr die Antwort lange schuldig, dachte unwillkürlich an Ischtar, die Varganin, die ich in meiner Jugend kennen gelernt hatte, als Kristallprinz, dem der Oheim den Anspruch auf den Thron geraubt hatte. Ich dachte an Chapat, unseren gemeinsamen Sohn, und dessen Ungewisses Schicksal. Ich verdrängte diese Gedanken, um mich nicht in ihnen zu verlieren, sah wieder Kythara an. Sag etwas, drängte der Extrasinn, sonst hält sie dich noch für einen Volltrottel oder ungehobelten Klotz. »Wo warst du?« Ich rang nach Worten.
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Uwe Anton
»Lethem hat dich vermisst. Als die Spiegelwelten sich auflösten, bist du plötzlich verschwunden. Lethem hatte erwartet, dass du beim Show-down mitwirkst. Er hat es dir zugetraut.« Kythara lächelte nur. Auf eine charmante, freundliche Art teilte sie mir mit, dass sie für sich in Anspruch nahm, sich über ihre Vergangenheit ausschweigen zu dürfen – überdies kannte ich sie erst seit wenigen Minuten. Kythara ist eine geheimnisvolle Frau, die sehr viel weiß, raunte der Extrasinn. »Also?«, sagte sie. »Und lass mir doch meine Geheimnisse.« Nimmst du mich mit, Unsterblicher?, hallte ihre Frage in mir nach. »Selbstverständlich«, stimmte ich zu. »Aber möchtest du nicht wissen, wohin ich fliegen werde?« »Ich weiß es, Atlan. Weder nach Arkon noch nach Terra. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, wirst du dir eingestehen, dass du gar nicht dorthin zurückkehren willst.« Überrascht sah ich sie an. Hatte sie wider Erwarten, gegen den Eindruck, den ich gewonnen hatte, doch auf ihre Fähigkeit zurückgegriffen? Oder wusste sie ganz einfach mehr, als ich wusste? Und wenn ja … woher? Atlan!, drängte der Extrasinn. Ich lächelte. »Bei Gelegenheit«, murmelte ich, »solltest du mir deine Geschichte erzählen. Sicher hast du Ischtar gekannt, die ›Letzte Königin‹ eures Volkes?« Damit hatte ich gepunktet. Zum ersten Mal schien so etwas wie Verblüffung die selbstsichere Aura der Varganin aufzubrechen. »Du …?« Ich lachte. »Ich bin ihr begegnet, vor langer Zeit. Aber das ist eine andere Geschichte …« Ihre Verblüffung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Sie fragte grinsend: »Nehmen wir dein Schiff oder meins?«
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Wir nahmen das ihre. Während die noch immer ziemlich lädierte TOSOMA Kurs auf das Kharag-Sonnendodekaeder nahm, gingen wir an Bord der AMENSOON. Ich bemühte mich, Höflichkeit zu zeigen und meine Neugier zu verbergen. Es war schon lange her, dass ich mich in einem varganischen Raumschiff befunden hatte; es würde keinen guten Eindruck auf Kythara machen, wenn ich neugierig wie ein kleines Kind die Anzeigen von gravomechanischen Emittern oder Hypertraktor-Projektoren betrachtete oder sogar vorwitzig auf einige Knöpfe drückte. Ein fotografisches Gedächtnis war gut und schön, aber es hatte seine Vorteile, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen. »Die AMENSOON hat lange auf der Insel der Verdammten gestanden«, sagte Kythara. »Und die Landung damals war nicht gerade sanft. Wundere dich nicht, wenn es beim Start etwas ruckt.« Ich lächelte. »Der TOSOMA ist es auch nicht besser ergangen, und sie hat keine Jahrtausende auf der Insel der Verdammten ausharren müssen.« »Als die Technik wieder funktionierte, haben sich sofort die automatischen Reparaturroutinen aktiviert. Aber wir müssen davon ausgehen, dass bei weitem nicht alle Systeme funktionieren.« »Hauptsache, die wichtigen arbeiten wieder. Triebwerke und Ortung und dergleichen.« Ein leises Zittern und ein Blick auf die wenigen funktionierenden Holos in der Zentrale des Oktaeder-Raumers verrieten mir, dass die AMENSOON soeben gestartet war. »Nun ja … Der Funk scheint zu funktionieren.« Kythara lächelte ebenfalls, allerdings viel entwaffnender als ich. »Glaube ich zumindest.« Sie will dich nur auf die Probe stellen, behauptete der Extrasinn. Sie würde das Raumschiff niemals starten, wenn sie nicht überzeugt wäre, ihr Ziel auch zu erreichen. Dann wäre sie mit dir an Bord der TOSOMA gegangen. Und mit einem lautlosen La-
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chen fügte er hinzu: Glaube ich zumindest. Ich verdrehte die Augen. Sehr lustig. Ich musste unbedingt an meiner Schlagfertigkeit arbeiten. Der Logiksektor behielt seit geraumer Weile zu oft das letzte Wort. Kythara hatte jedenfalls bewiesen, dass sie wusste, wovon sie sprach. Ein Knistern durchdrang die Zentrale der AMENSOON und verwandelte sich dann in eine kaum zu verstehende Stimme, die immer wieder von Interferenzen unterbrochen wurde. Eine Holodarstellung wurde allerdings nicht eingeblendet. Aber Kythara hatte auch nur vom Funk und nicht von Hologrammen gesprochen. »Hier Stahlwelt … Alarmstufe … Bewusstseins-Transfermaschine energetische Emissionen … hat sich soeben aktiviert …
reagiert auf irgendetwas …« Ich schnappte unwillkürlich nach Luft. Das war völlig unmöglich. Die Bewusstseins-Transfermaschine war irreparabel beschädigt. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie noch einmal zum Einsatz kam. Dennoch beschlich mich ein ungutes Gefühl. In der Stahlwelt arbeiteten Spezialisten, keine Phantasten. Ich musste davon ausgehen, dass ihre Beobachtungen der Wahrheit entsprachen. Was war dort geschehen? »Kythara«, fragte ich, »verfügt die AMENSOON zufällig über einen Autopiloten und einen funktionierenden Transmitter?«
ENDE
Zug um Zug weiht Sardaengar den Arkoniden Atlan in die Geheimnisse der Obsidian-Kluft ein, er gibt dem Unsterblichen seine wahre Identität preis. Vinara, die Hauptwelt, ist gerettet und mit ihr die meisten Lebewesen. Atlan und Kythara verlassen die Obsidian-Kluft mit der AMENSOON, als ein Hilferuf eingeht. Das Abenteuer geht weiter! In vierzehn Tagen erscheint überall im Zeitschriftenhandel Uwe Antons Roman KYTHARAS ERBE Dieser ATLAN-Roman ist der Auftakt der neuen, zwölfbändigen Miniserie »Die Lordrichter«.