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Seewölfe 222 1
Kelly Kevin 1.
Die „Isabella VIII.“ lief mit halbem Wind über Steuerbordbug durch die Nacht. Fahl leuchteten die Segel im Licht des vollen Mondes. Das Knarren der Rahen und Blöcke mischte sich mit dem leisen Plätschern an den Bordwänden und dem Singen straff gespannter Wanten und Pardunen. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und spähte zu der Mangrovenküste hinüber, die sich schwarz und undurchdringlich an Steuerbord hinzog. Eine fremde Küste, unwirtlich und menschenleer, doch das mochte täuschen. Im letzten Licht der untergehenden Sonne hatten sie die düsteren Mündungsarme eines Flusses gesehen, schiffbare Wasserläufe, wenn man ihrem schillernden, auf eine gewisse Tiefe deutenden Schwarz glauben wollte. In Urwäldern wie diesem waren Flüsse Lebensadern. Bisher hatten die Männer der „Isabella“ nichts entdecken können, weder Mann noch Boot. Aber der Seewolf wurde das Gefühl nicht los, daß unsichtbare Augen die ranke Galeone beobachteten und ihren Weg verfolgten. Ein Lächeln flog über sein hartes, sonnenverbranntes Gesicht, als sein Blick auf die beiden kleinen Gestalten fiel, die auf den Webleinen der Luvwanten schaukelten. Philip und Hasard, die Zwillinge, saßen eisern ihre Wache ab, obwohl es ganz so aussah, als hätten sich die Elemente vorgenommen, zur Abwechslung einmal mit endloser Langeweile zuzuschlagen. Selbst Arwenack, der Bordschimpanse, ließ sein übliches Temperament vermissen. Er leistete den beiden Jungen Gesellschaft, kraulte träge seine behaarte Brust und duldete sogar, daß der Papagei Sir John in seiner unmittelbaren Nähe das Gefieder plusterte. Im Großmars war Bill dazu übergegangen, die Ballade von der schwarzen Lou nicht
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mehr zu pfeifen, sondern vor sich hin zu singen. Er fing in der Mitte an. Bei der Strophe, in der die legendäre Lou den ebenso legendären Haifisch-Jimmy in ihre Gemächer abschleppt, um das mit ihm zu tun, was im Text diplomatisch als „Ho-hoho-tirallala“ umschrieben wurde. Na ja, dachte der Seewolf. Bill war schließlich erwachsen geworden. Edwin Carberry, der Profos mit dem wüsten Narbengesicht, hegte weniger Nachsicht „Bist du von allen guten Geistern verlassen, du Hering?“ brüllte er mit Donnerstimme. „Liederliche Frauenzimmer besingen, was, wie? Dir werd ich dein dämliches Ho-ho-hotirallala gleich einbläuen. du ...“ „Was ist ein liederliches Frauenzimmer?“ fragte Hasard Junior interessiert. „Und was ist Ho-ho-ho-tirallala?“ wollte Philip junior wissen. Der Profos stöhnte, als werde er lebendigen Leibes am Spieß gebraten. Hinter ihm kicherte Jemand belustigt. Der Betreffende - Luke Morgan - ging nicht schnell genug in Deckung, als Carberry herumfuhr. Der Profos holte tief Luft, um das heilige Donnerwetter in die neue Richtung zu lenken, doch er kam nicht mehr dazu. „Deck!“ rief Bill aus dem Großmars. „Zwei Boote Steuerbord voraus! Sie laufen aus der Flußmündung!“ Die legendäre schwarze Lou samt Tirallala waren vergessen. Gespannt spähten die Männer nach Steuerbord, wo sich die Mangrovenküste als unregelmäßiges Schattenband abzeichnete. Wie der Blitz enterten die Zwillinge höher in die Wanten. Ihr Vater suchte aus zusammengekniffenen Augen das Wasser ab, das im Mondlicht wie mit Quecksilber betupft glänzte. Die schimmernden Reflexe verrieten ihm, wo der Mündungsarm des Flusses in das Mangrovendickicht schnitt. Neben ihm beugte sich Donegal Daniel O’Flynn junior aufmerksam vor. Dan war berühmt für seinen Adlerblick. Doch diesmal entdeckte
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der Seewolf die schwarzen Umrisse auf dem Wasser als erster. Zwei Boote. Flache, schwerfällige Fahrzeuge, dafür gebaut, durch seichte Wasserarme und Mangrovensümpfe gestakt zu werden. Jetzt hatten sie ein paar Fetzen als Notsegel gesetzt und strebten in unbezweifelbarer Hast dem offenen Meer zu. Deutlich konnte der Seewolf die Menschen an Bord erkennen. Männer, Frauen und Kinder, dicht gedrängt, krampfhaft aneinander geklammert. Turbane und Tücher leuchteten im Mondlicht. Unverhüllte Angst verzerrte die dunklen Gesichter. Nur wenige Bewaffnete befanden sich in den Booten: stolze, kriegerische Gestalten, die Befehle in einer fremden Sprache schrien und die Fäuste um die Griffe der Krummschwerter klammerten, die sie an breiten, schärpenartigen Gürteln trugen. „Deck!“ tönte Bills aufgeregte Stimme. „Drittes Boot Steuerbord voraus! Ich glaube, es verfolgt die beiden anderen.“ „Du sollst nicht glauben, du sollst gefälligst genau beobachten!“ schrie der Profos. „Himmelarsch, wie oft muß ich dir grünem Hering noch erzählen ...“ Das gellende Triumphgeheul, das jäh über das Wasser trug, ließ keinen Zweifel daran, daß Bill genau richtig vermutet hatte. Das dritte Boot, das er gesichtet hatte, war schnittig und rank gebaut - ein Schiffstyp, der an eine kleine Dschunke erinnerte. Wie ein Pfeil schoß es aus dem Schatten der Flußmündung. schnell, unheimlich schnell. Binnen Sekunden hatte es das letzte der beiden fliehenden Boote eingeholt und schor längsseits. Wieder stieg das Triumphgeheul in den nächtlichen Himmel - und jetzt mischten sich die ersten Entsetzensschreie dazwischen. „Gerechter Himmel“, flüsterte Dan O’Flynn auf dem Achterkastell. Philip Hasard Killigrew biß die Zähne zusammen, daß es knirschte. Wut packte ihn. Eiskalte, würgende Wut. Denn was die Kerle, die jetzt das Boot der Flüchtlinge enterten, dort drüben anrichteten, war nichts anderes als ein gnadenloses Massaker.
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„Diese -Teufel!“ stieß der sonst so beherrschte Ben Brighton hervor. „Da sind Frauen und Kinder dabei! Verdammt, Sir, wollen wir etwa ...“ „Abfallen!“ befahl der Seewolf. „Alle Mann an Deck! Klar bei Bug- und Heckdrehbassen! Handfeuerwaffen ausgeben! Pete, herum mit dem Kahn!“ Pete Ballies mächtige Fäuste griffen in die Speichen des Rades. Raumschots rauschte die „Isabella“ auf das dschunkenartige Schiff zu, das jetzt wieder Fahrt aufnahm, um das zweite fliehende Boot zu erreichen. In dem ersten Fahrzeug war ein halbes Dutzend kriegerischer Gestalten zurückgeblieben. Lachend und johlend durchsuchten sie ihre Opfer. Leblose Opfer, die klatschend im Wasser landeten, sobald sie ausgeplündert waren. Helfen konnte ihnen niemand mehr. „Rammkurs auf die Dschunke!“ knirschte der Seewolf. „Und jagt diese Leichenfledderer von dem Boot!“ Der letzte Befehl war für die Männer bestimmt, die mit schußbereiten Musketen am Steuerbord-Schanzkleid standen. Zorn loderte in ihnen. Der gleiche ohnmächtige Zorn, den auch Hasard empfand. Ed Carberry riß den Arm hoch, stieß ihn nach unten, und in der nächsten Sekunde spuckten die Waffen Feuer. Jäh schlug das Triumphgeschrei der Mörder in schrilles Schreckensgeheul um. Die Kugeln fauchten über ihre Köpfe - so dicht, daß sie den Luftzug spürten und einem der Kerle der Turban weggerissen wurde. Das extrem flache Boot mit den niedrigen Bordwänden bot so gut wie keine Deckung. Die Kerle, denen bei ihrem widerlichen Gemetzel und der anschließenden Plünderung die herannahende „Isabella“ völlig entgangen war, konnten von Glück sagen. Ihr Leben verdankten sie nur dem tief verwurzelten Widerwillen, den die Seewölfe dagegen hegten, einen schlechter bewaffneten Gegner ohne Warnung niederzuschießen. Die nächsten Kugeln würden treffen -und das schienen die Burschen im Boot sehr genau zu wissen. Schreiend sprangen sie ins Wasser.
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Geschrei ertönte jetzt auch an Bord der kleinen Dschunke. „Rammkurs“, hatte Hasard befohlen. Das hieß zwar nicht, daß er wirklich rammen wollte, aber es war ein höchst eindrucksvolles Manöver, das zudem die Bugdrehbassen in die richtige Schußposition brachte. Die wüsten Kerle dort drüben mochten zwar mutig sein, wenn es galt, über Frauen und Kinder herzufallen, doch beim Anblick des riesigen, drohenden Schattens. der da auf sie zustieß, verließ sie jegliche Kampflust. Befehle gellten. Überstürzt fiel die Dschunke ab, schwang herum und legte sich platt vor den Wind. Die Kerle strebten blindlings der Küste zu. Kaum daß sie sich noch die Zeit nahmen, den Rest der schreienden, verzweifelt im Wasser paddelnden Turbanträger an Bord zu nehmen_ Ihr Glück, daß sie es taten. Der Seewolf hatte schon Atem geholt, um den Befehl zu geben, das Schiff dieser brutalen Mörderbande in die Tiefe zu schicken. Jetzt zögerte er - nicht zuletzt weil er den jähen, schäumenden Wirbel sah zu dem das Wasser rings um das leere Boot in diesen Sekunden aufkochte. Haie, vom Blutgeruch anglockt. Schwarze, freßgierige Bestien, die den Überlebenden eines sinkenden Schiffs keine Chance lassen würden. Im Grunde hatten die Kerle da drüben nichts Besseres verdient Aber Hasard wußte. daß er es ohnehin nicht fertigbringen würde sie einem solchen Schicksal auszuliefern. „Bugdrehbassen Feuer!“ befahl er knapp. „Schießt Ihrem das Rigg in Fetzen! Aber so gründlich, daß sie in nächster Zeit nicht einmal einen abgetakelten Waschzuber verfolgen können.“ „Aye, aye, Sir!“ knurrte Al Conroy grimmig. Dabei beugte er sich über seine Drehbasse - und mit dieser Waffe, behauptete die Crew. konnte der schwarzhaarige Stückmeister notfalls einer Fliege das Auge ausschießen. Das Rigg der fliehenden Dschunke bot ein wesentlich besseres Ziel als das Auge einer Fliege.
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Al Conroy drückte die Lunte in die Zündpfanne. Donnernd entlud sich das schwere Geschütz. Der Vormast des feindlichen Schiffes schien plötzlich eine Verbeugung zu vollführen, knickte um und krachte mitsamt dem Segel auf das Steuerbord-Schanzkleid. Im selben Augenblick feuerte der blonde Schwede Stenmark die zweite Drehbasse ab. Die Dschunke lief aus dem Ruder. Beide Masten hingen wie gebrochene Arme an Deck. Schwer krängte das Schiff nach Steuerbord über, Männer mit Beilen und Entermessern stürzten sich in verzweifelter Hast auf die Trümmer und begannen. auf das Gewirr von Wanten, Stagen und Pardunen einzuhacken. Al Conroy und Stenmark feuerten noch zweimal, damit auch ja nichts übrigblieb, das sich vielleicht notdürftig wieder aufriggen ließ. Daß der Stückmeister die Chance nutzte, auch die Ruderanlage der Gegner in Kleinholz zu verwandeln, verstand sich von selbst. Steuerlos, ohne Masten und Segel, wie eine gerupfte Ente, trieb die Dschunke wenig später im Wasser. Wind und Seegang drückten sie auf die Küste zu. Dorthin wollte sie sich zweifellos auch verdrücken. Die Männer an Bord waren so geschockt, daß sie nicht einmal mehr die Kraft für ein Wutgeheul aufbrachten. „Die haben fürs erste genug mit sich selbst zu tun“, sagte Ben Brighton zufrieden. „Hm“, knurrte Dan O’Flynn. „Trotzdem wäre es besser gewesen, wir hätten die Dreckskerle mit ihrem Kahn auf Tiefe geschickt.“ „Um sie an die Haie zu verfüttern?“ fragte Hasard scharf. Dan zuckte mit den Schultern. Aus schmalen Augen suchte er das Wasser nach dem zweiten Boot ab. Das war inzwischen nach Nordwesten abgelaufen und hielt im Bogen auf die Küste zu. Dank des Eingreifens der „Isabella“ waren die Menschen an Bord knapp mit dem Leben davongekommen. Dennoch schienen sie dem ranken Segler mit den überlangen
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Masten nicht zu trauen. Sie mußten schlimme Erfahrungen gesammelt haben. Jedenfalls zogen sie es vor, so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und die Fremden zu bringen. Ein paar Minuten später verschwand das Boot im Schatten eines Mündungsarms. Hasard hatte beidrehen lassen. Die Segel hingen schlaff im Gei, an Steuerbord wurde die Pinasse abgefiert. Der Seewolf glaubte zwar nicht, daß sie noch Überlebende finden würden, aber sie wollten es wenigstens versuchen. Sinnlos, wie sich schon nach kurzer Zeit herausstellte. Die Haie hatten ganze Arbeit geleistet. Nur noch das flache Boot trieb leer in den Wellen. Die Männer waren schweigsam, während die Pinasse wieder hochgehievt wurde. Hasard trat zu den Zwillingen, die stumm und blaß am Schanzkleid standen und aufs Wasser starrten. „Diese gemeinen Schufte!“ stieß der kleine Philip hervor. „Sie sind einfach über sie hergefallen! Warum? Wer waren sie?“ „Das weiß ich nicht“, sagte der Seewolf ruhig. „Verfeindete Stämme vielleicht. Oder Piraten, die ein Dorf überfallen hatten. Die Flüchtlinge in den Booten sahen nach einfachen Reisbauern aus.“ Philip nickte nur. Der kleine Hasard grub die Zähne in die Unterlippe und blickte zur Küste hinüber. Beide waren erschüttert von dem grausamen Geschehen. Aber beide hatten in ihrem jungen Leben schon oft genug gesehen, zu welch sinnloser Brutalität Haß und Fanatismus führen konnten. Sie hatten gelernt, die Zähne zusammenzubeißen, die harte Wirklichkeit zu akzeptieren und dabei doch nicht an Gut und Böse irre zu werden. Der Seewolf wollte noch etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu. „Himmel, Arsch und Kabelgarn!“ fluchte Ed Carberry hinter ihm plötzlich los. „Wo steckt eigentlich Gary Andrews, dieser abgemagerte Stockfisch? Glaubt dieses Klappergerippe vielleicht, hier wird gepennt, wenn ,Alle Mann an Deck’ befohlen ist, was, wie?“
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Die Männer sahen sich um. Von Gary Andrews, dem langen blonden Fockgast, war tatsächlich nichts zu sehen. Jeff Bowie kratzte sich mit seiner scharfgeschliffenen Hakenprothese hinter dem Ohr. „Also vorhin hat er noch neben mir im Logis an der Hängematte gehorcht“, stellte er fest. „Ha! An der Hängematte gehorcht! Der glaubt wohl, heute sei Weihnächten? Na, dem werd ich ein paar Gaben bringen, dem zieh ich die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch ...“ Die Donnerstimme verlor sich in einem dumpfen Grollen, weil der Profos bereits im Niedergang verschwunden war. Hasard runzelte verständnislos die Stirn. Keinem seiner. Männer sah es ähnlich, als Freiwächter das „Alle Mann an Deck“ zu verschlafen – dem schweigsamen, zuverlässigen Gary Andrews schon gar nicht, Im Schiffsbauch schienen die Verbände zu erbeben, als der Profos das Schott auframmte. Ein paar Sekunden vergingen, dann ertönte Wieder Ed Carberrys Donnerstimme. Nur ein einziges Wort dröhnte aus dem Schatten des Niedergangs: „Kutscher!“ Und damit war klar. daß etwas anlag, das sich nicht mit Gebrüll bereinigen ließ und auch nicht mit einem Guß Wasser über den Kopf eines widerwilligen Schläfers. * Ein paar Meilen entfernt dümpelte das flache Flußboot im tiefen Schatten zwischen Lianen und schenkeldicken Mangrovenwurzeln. Das Gelände stieg hier leicht an. Frauen, Kinder und die meisten Männer hatten sich auf die trockene Insel gerettet. wo Palmen. Sumpfzypressen und Schlinggewächse ein fast undurchdringliches Dickicht bildeten. Nur die wenigen Bewaffneten standen noch Heck des Bootes und versuchten, durch das Gewirr der Luftwurzeln aufs offene Meer zu spähen.
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Die muskulösen braunhäutigen Gestalten regten sich nicht. Schwarze Augen glänzten im ungewissen Licht, die Haltung der halbnackten Körper verriet Spannung und sprungbereite Wachsamkeit. Sie waren Kämpfer: stolze Mon-Krieger, Söhne eines alten Volkes, das sich erbittert gegen seine übermächtigen Feinde wehrte. Der schlanke, drahtige Anführer preßte die Lippen zusammen, als er hinter sich in die finstere Wildnis lauschte. Die Gefahr drohte aus dem Norden. Von dort tauchten die Fremden auf, schwärmten aus ihren Bergen in das Tiefland, eroberten die blühenden Städte der Mon und überfielen selbst noch die ärmlichen Dörfer des Deltas. Mit dem Irawadi erschienen sie. Mit dem großen Strom, der Nahrung und Leben bedeutete und manchmal auch Tod und Verderben brachte. „Glaubst du, daß sie uns verfolgen, Kyan Ki?“ fragte einer der Krieger. Der junge Anführer der Gruppe straffte die nackten Schultern. Unter dem roten Turban glich sein Gesicht fast noch dem eines Jünglings. Seine Kleidung unterschied sich von den einfachen Lendentüchern der Reisbauern, aber sie war schmutzig und zerrissen und zeigte nur noch wenig von der Pracht, die einem reinblütigen MonPrinzen zugestanden hätte. Kyans Faust schloß sich um den Griff des Krummschwertes. Seine Augen wurden schmal. „Die Fremden haben sie vertrieben“, murmelte er. „Ich glaube nicht, daß sie noch in der Lage sind, irgendjemanden zu verfolgen.“ „Und was tun wir? Ziehen wir uns zu Yannays Stützpunkt zurück?“ Der junge Mann antwortete nicht sofort. Sekundenlang zerfaserte sein Blick, und er schien zu lauschen. Er glaubte wieder, das Gebrüll der Piraten zu hören, die das Dorf überfielen, das Entsetzen der Fliehenden zu sehen, den Feuerschein, dann die Verfolger und das grausame Massaker. Tief in ihm weckte dies alles das Echo längst vergangener Schlachten und ließ die zukünftige Bedrohung zu lebendiger
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Wirklichkeit werden. „Habt ihr die Waffen der Fremden gesehen?“ fragte er leise. Stummes Nicken antwortete ihm. Sie hatten es gesehen. Aber was nutzte es ihnen, Waffen zu bewundern, die ihnen nicht gehörten? Müdigkeit und Resignation zeichneten die dunklen Gesichter. Nur Kyan Ki preßte die Zähne aufeinander und ballte in einer Geste wilder Auflehnung die Hände. „Mit diesen Waffen könnten wir die verdammten Birmanen-Hunde dorthin zurückjagen, wo sie hergekommen sind!“ stieß er hervor. „Mit diesen Waffen könnten wir das Volk der Mon befreien.“ „Wenn wir sie hätten“, murmelte jemand. Kyan wandte sich mit einer heftigen Bewegung dem Sprecher zu. Das Gesicht des jungen Mon-Kriegers glich einer entschlossenen Maske. „Wenn wir sie hätten“, wiederholte er hart. „Wer sagt, daß wir sie nicht kriegen können, Mahrad? Wir müssen nur wollen.“ 2. „Verdammter Mist!“ Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, fluchte im allgemeinen nur selten. Das lag daran, daß er - daher auch sein Name - früher einmal Kutscher bei dem Arzt Sir Freemont in Plymouth gewesen war und sich die Ausdrucksweise besserer Herrschaften angeeignet hatte. Heute erschien ihm eine Welt ohne Decksplanken wie ein ferner Traum. Daß er sich einst mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, von einer Preßgang zwangsweise auf Kapitän Francis Drakes „Marygold“ verfrachtet zu werden, mochte er nicht mehr recht glauben. Inzwischen waren ihm Seebeine gewachsen und dazu Muskeln genug, um seine gußeisernen Bratpfannen notfalls auf feindliche Köpfe zu schmettern. Nur die leicht gehobene Ausdrucksweise war ihm geblieben. Vor allem, wenn er in die Rolle des „Doc“ schlüpfte und Patienten zu verarzten hatte. Wenn er fluchte, wurde es ernst. So wie jetzt, als er sich über den hageren blonden Mann in der Hängematte beugte.
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Keiner der anderen hatte bemerkt, daß Gary Andrews im Logis zurückgeblieben war, weil niemand mit so etwas rechnete. Und der hagere Fockgast schlief ja auch nicht, jedenfalls keinen normalen Schlaf, sondern atmete schwer, bewegte unruhig den Kopf hin und her und glühte vor Fieber. Der Seewolf stemmte die Fäuste in die Hüften. In seinen eisblauen Augen lag jener harte Glanz, der signalisierte, daß er sich sorgte. „Was kann das sein, Kutscher?“ fragte er gepreßt. Der Feldscher zögerte und benagte heftig seine Unterlippe. „Keine Ahnung, Sir“, gab er schließlich zu. „Irgendein verdammtes tropisches Fieber ist es, soviel dürfte feststehen. Aber was genau, kann ich auch nicht sagen.“ „Und was wirst du dagegen tun, du Kombüsenwanze?“ grollte der Profos. „Das Übliche. Ich hoffe ...“ „Kannst du Kakerlakenjäger dich nicht klarer ausdrücken?“ „Halt mal die Luft an, Ed“, sagte Hasard sanft. „Der Kutscher ist der Doc an Bord. Also?„Ich kann nur versuchen, das Fieber herunterzudrücken, Sir“, sagte der Kutscher mit einem giftigen Seitenblick auf den Profos. „Das müßte mit dem Rest von dem Pulver aus der getrockneten Baumrinde gehen.“ „Meinst du dieses Zeug aus der neuen Welt?“ fragte Dan O’Flynn, der zusammen mit seinem alten Väter ebenfalls im Logis erschienen war. „Genau das. Damit habe ich mich nämlich damals eingedeckt. Frag mich nicht, wie schwierig es war, das Pulver immer schön trocken zu halten, damit es nicht verschimmelte.“ Der Kutscher atmete tief durch. „Vielleicht geht es ihm ja schnell wieder besser“, meinte er hoffnungsvoll. „Aber wenn es ehre von den verdammten Dschungelkrankheiten ist ...“ Er sprach nicht weiter. Das brauchte er auch nicht. Was es mit den „verdammten Dschungelkrankheiten auf sich hatte, das wußten die Seewölfe, auch
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wenn sie bisher in dieser Hinsicht von eigenen Erfahrungen verschont geblieben waren. Und Gary Andrews, halb bewußtlos und im Fieber wirr vor sich hin murmelnd, sah gar nicht gut aus. Das erkannte nicht nur der Kutscher, sondern auch jeder andere. „Bringt ihn in die Mannschaftsmesse in eine der Kojen“, ordnete Hasard an. „Bill wird dem Kutscher helfen: Dann möchte daß sich jeder meldet, dem es irgendwie nicht gut geht, damit wir wissen, woran wir sind. Märtyrer können wir nicht gebrauchen – damit das klar ist.“ „Werde ich den Rübenschweinen schon beibiegen“, versprach der Profos grimmig. „Wer auch nur ein Ohr hängen läßt, wandert in die Koje. Und wenn ich ihm vorher eigenhändig die Gräten richten muß.“ Hasard lächelte matt. Es war ein flüchtiges Lächeln, das sofort wieder verschwand. Er wußte, was so ein tropisches Fieber bedeuten konnte. Als er durch den Niedergang an Deck marschierte, um die beigedrehte Galeone wieder an den Wind bringen zu lassen. hatte sich sein Gesicht zur Maske verhärtet. * Wie Schatten tauchten die drahtigen MonKrieger aus dem Dickicht. Lautlose braunhäutige Gestalten schwangen sich auf die dicken Mangrovenäste, turnten durch das Gewirr von Luftwurzeln und Schlinggewächsen und blieben dann wartend stehen. Leises Plätschern mischte sich in das stete unruhige Blubbern der Sumpfgase. Ober den schwarz schillernden Wasserarm schob sich ein kleines Boot. das zwei Männer mit langen Stangen vorwärts stakten. „Weiter“, murmelte Kyan Ki, während er eine der Lianen packte, um sich auf die nächste knorrige Wurzel hinüberzuziehen. Die kleine Gruppe folgte ihm. Minuten später hatten sie den Rand des Mangrovendickichts erreicht. Vor ihnen dehnte sich das Meer silbern im Mondlicht.
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Kyan kniff die Augen zusammen vor der plötzlichen, fahlen Helligkeit. Ohne hinzusehen, öffnete er Waffengürtel und Schärpe, nahm den Turban ab und schüttelte das lange dunkle Haar. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. als er an die Stunden dachte, die sie gewonnen hatten. Der große Strom hatte viele und schnelle Wege. Und für die Mon hatte das Delta keine Geheimnisse. Es war nicht schwer, den unregelmäßigen Verlauf der Küste abzuschneiden und sogar ein Schiff zu überholen. Ein wenig Glück, dachte der junge Krieger. Wenn die Geister es gut meinten, würde das Volk der Mon schon bald seine Gegner schlagen. Schweigend sah Kyan zu, wie seine Gefährten das winzige Boot mit Mast und Segel bestückten. Es würde schnell sein, schnell wie der Strom, wenn er zürnte. Kyans Blick glitt zu dem funkelnden Sternenhimmel hinauf, um sich ein letztes Mal zu orientieren. Rasch kletterte er ins Boot und kauerte sich auf die Ducht. Mit ein paar Riemenschlägen trieb er das Fahrzeug ins offene Wasser, dann trimmte er das kleine Segel. Hart am Wind ließ er sich nach Westen tragen - dorthin, wo er im spitzen Winkel den Kurs der „Isabella“ kreuzen mußte. Die Küste versank hinter ihm. Reglos wie eine Statue saß der junge Mann auf der Ducht. Seine Augen suchten die Kimm ab und wanderten von Zeit zu Zeit nach Osten, wo die Sterne verblaßten und der Himmel bereits einen leichten Grauschimmer zeigte. Die ersten Sonnenstrahlen verwandelten den dünnen Morgendunst in einen spinnwebfeinen goldenen Schleier, als Kyan Ki die Mastspitzen erspähte. Seine Schultern strafften sich, die dunklen Augen leuchteten triumphierend. Seine Faust schloß sich um das kurze Handbeil, das er mitgenommen hätte. Mit drei, vier wuchtigen Schlägen kappte er den Mast und ließ ihn samt Segel über Bord gehen; Den Stumpf bearbeitete er mit dem Beilschaft, bis es aussah, als sei der Mast von selbst gebrochen. Mit den Fingern
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zerrte Kyan den Holzkeil aus dem kleinen Leck. das sorgfältig in die Beplankung getrieben worden war. Gurgelnd sickerte Wasser ins Boot. Gerade so viel, daß es genügte, mit einer zerbeulten Muck zu lenzen, um das Boot nicht absacken zu lassen. Als letztes griff Kyan Ki nach dem kurzen Dolch. Sein Gesicht blieb unbewegt, als er mit der Spitze die eigene Schulter berührte und sich eine lange Schnittwunde beibrächte. Blut rann über seine Brust. In kurzer Zeit würde es trocknen und ihm zusammen mit seiner zerfetzten Kleidung und dem wirren Haar das Aussehen eines Mannes geben, der. knapp einem Kampf entronnen war. Kyan Ki warf Beil und Dolch über Bord und begann, das eindringende Wasser aus dem Boot zu schöpfen. * Der Wind war fast eingeschlafen. Hasard stand auf dem Achterkastell, beobachtete die Segel, die sich nur träge blähten, und fluchte in sich hinein. Die Mangrovenküste war ein grüner Strich Steuerbord querab. Der Seewolf hatte das Gefühl, den fauligen Pesthauch des Dschungels zu spüren, doch das war natürlich Einbildung. Mochte der Wind auch seinen Namen nicht verdienen, er säuselte immer noch auflandig. Gary Andrews Zustand war unverändert. Zwei weitere Männer hatte es ebenfalls erwischt: Bob Grey und Will Thorne, den weißhaarigen Segelmacher. Ein paar andere liefen mit wütenden, verbiesterten Gesichtern herum. Das mochte daran liegen, daß sie sich Särgen bereiteten, konnte aber genauso gut von dem Kampf herrühren, den, sie gegen die ersten Anzeichen von Schwäche Krankheit führten. Der Kutscher und Bill entfalteten eifrige Tätigkeit, doch vorerst sah es nicht so aus, als ließe sich das Fieber eindämmen. Diesmal nutzte auch das Pulver aus der Rinde des Baums nichts, den die Spanier einem sprachlichen Mißverständnis
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zufolge „China-Baum“ nannten, obwohl er in Peru beheimatet war. Vermutlich hatten die lange Lagerung oder die feuchte Hitze den Vorräten des Kutschers zu sehr zugesetzt. Jedenfalls zeigte sich nur eine geringfügige Wirkung, und das Gesicht des hageren, etwas schmalbrüstigen Feldschers verriet, daß er der Resignation nahe war. Sir John, der Papagei hockte in den Toppen und krähte ausdauernd „Alle Mann an Deck!“ - vielleicht, weil er sich in seinem Vogelhirn zurechtlegte, daß er dadurch die gedrückte Stimmung an Bord etwas heben könne. Es war vergebliche Mühe. Ed Carberry raffte sich nicht einmal dazu auf, den Vogel wie üblich als Blindhuhn“ oder „Nebelkrähe“ zu beschimpfen. Donegal Daniel O’Flynn senior, dieser Kerl aus Granit und Eisen, stützte sich auf seine Krücken und scharrte unruhig mit dem Holzbein. „Willst du ein Loch in die Planken bohren, du dämlicher Rochen?“ raunzte ihn Carberry an. „Du Großmaul solltest lieber mal am Mast kratzen, damit wir mehr Wind kriegen“, entgegnete Old O’Flynn. „Ich sage euch, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Oder kann mir vielleicht jemand verraten, wo wir uns das verdammte Fieber geholt haben, he? Das haben uns die Dschungelgeister herübergeschickt, jawohl!“ „Selber Dschungelgeist“, sagte O’Flynn junior respektlos. „Mißratener Bengel! Willst du deinem alten Vater vielleicht erzählen...“ „Wir waren oft genug an Land. um dieses Fieber irgendwo einzufangen, Donegal“, sagte der Seewolf. „Also hör auf mit deiner Geisterseherei, verstanden?“ „Und wenn du es nicht verstanden hast, nagele ich dir dein Holzbein gleich an der Galion fest“, fügte Big Old Shane hinzu. „Da kannst du dann schmoren, bis du nicht nur die Dschungelgeister, sondern auch noch sämtliche Engelchen im Himmel singen hörst.“
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Old Donegal warf dem graubärtigen Riesen einen erbitterten Blick zu. Der furchte drohend die buschigen Brauen. Schwarzmalereien gingen dem ehemaligen Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack nämlich mächtig gegen den Strich. Das hatte schon in Cornwall angefangen, wo die Leute die Köpfe voller keltischer Mythen hatten und hinter jedem Findling der Geist eines Druiden hervorlugte. Diese Abneigung gegen abergläubischen Unsinn hatte er damals auch dem jungen Hasard eingeprägt. um den er sich kümmerte. weil der alte Sir John Killigrew ein biestiges Ekel war, der den Namen Vater auch nicht verdient hätte, wenn er tatsächlich Hasards Erzeuger gewesen wäre. Big Old Shane wollte seiner Drohung noch ein paar weitere Freundlichkeiten hinzufügen, wurde aber davon abgehalten. „Treibendes Boot genau voraus!“ meldete Luke Morgan aus dem Großmars. Der Seewolf schnappte sich das Spektiv. Mit dem Kieker brauchte er nur wenige Sekunden, um die treibende Nußschale im leichten Wellengang zu entdecken. Deutlich sah er den einzelnen Riemen, der im Wasser nachschleifte, den zerfetzten Maststumpf – und die halbnackte Gestalt, die über der Ducht zusammengebrochen war. Ein Schiffbrüchiger! Keine Frage. daß sie ihn auffischen würden. Die „Isabella- luvte etwas an, um das Boot in Lee zu haben. Unendlich langsam trug der schwache Wind sie darauf zu. Gespannt starrten die Männer zu der Nußschale, die jetzt Steuerbord voraus trieb. Für eine Weile wurden ihre Sorgen in den Hintergrund gedrängt. Minuten später konnten sie den Unbekannten schon mit bloßem Auge erkennen. Sein Oberkörper war blutverschmiert. Einmal bewegte er sich matt, doch es schien klar, daß er nicht dazu in der Lage war, aus eigener Kraft an der Jakobsleiter aufzuentern. Hasard ließ ein Beiboot abfieren.
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Nach ein paar weiteren Minuten trieben Ed Carberry, Ferris Tucker und der schwarze Herkules Batuti die Jolle mit kräftigen Riemenschlägen auf das fremde Boot zu und gingen längsseits. Der Profos runzelte die Stirn, als er das eindringende Wasser glucksen hörte und die zerbeulte Muck sah. die den Fingern des Unbekannten entglitten war. Offenbar hatte er bis zum Umfallen gelenzt, um sein leckes Fahrzeug vor dem Sinken zu bewahren.’ Die Seewölfe waren buchstäblich in letzter Minute erschienen. Edwin Carberry langte nur mal eben mit seiner mächtigen Pranke hinüber und hievte die schlaffe Gestalt mühelos in die Jolle. Das Boot konnten sie getrost absaufen lassen, das war so oder so nicht mehr zu gebrauchen. Der Unbekannte stöhnte leise, als er auf die Planken gebettet wurde, schlug die Augen auf und blickte verwirrt um sich. Carberry grinste beruhigend. Jedenfalls sollte das, was er produzierte, ein beruhigendes Grinsen darstellen. Leute mit schwachen Nerven pflegten allerdings eher vor Schreck in den Boden zu kriechen, wenn der Profos sein wüstes Narbengesicht verzog und die Zähne fletschte. Aber der Schiffbrüchige hatte offenbar keine schwachen Nerven. Er lächelte, wenn auch mühsam, zurück. Damit hatte er sich in den Augen von Ferris Tucker und Batuti bereits als harter Bursche bewährt. Einen weiteren Beweis lieferte er, als er sich aufrappelte und höchst eigenhändig an der Jakobsleiter aufenterte. Auf der Kuhl mußte er sich dann allerdings ans Schanzkleid lehnen. Der Seewolf, der vom Achterkastell hinuntergestiegen war, betrachtete ihn prüfend. Getrocknetes Blut aus einer Schnittwunde an der Schulter bedeckte seine Brust. Er war nur mittelgroß und schlank, aber muskulös und geschmeidig wie ein Panther. Außer einem zerfetzten Lendentuch trug er nichts am Körper. In Statur, Hautfarbe und Gesichtsschnitt glich er den Menschen, die die Seewölfe in den
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beiden Flachbooten gesehen hatten. Aber seine Haltung spiegelte keine Furcht, sondern einen wilden, fast anmaßenden Stolz, der nicht recht zu seinem Zustand paßte. Mit einer zeremoniell anmutenden Gebärde legte er die Hand auf seine blutverschmierte Brust. „Kyan Ki“, sagte er laut und deutlich. Der Seewolf erwiderte die Geste. „Philip Hasard Killigrew. Wir sind Engländer.“ Und als keine Reaktion erfolgte: „Sprechen Sie Spanisch?“ Offenbar nicht. Auch nicht Türkisch, wie ein Versuch mit den Zwillingen erbrachte. Der junge Eingeborene hörte unbewegt zu, dann wies er wieder auf sich. „Kyan Ki“, wiederholte er. „Mon!“ Und noch einmal, jetzt mit einer umfassenden Handbewegung in Richtung Küste: „Mon!“ Hasard nickte. So ungefähr hatte er begriffen. Blieb nur noch, die Gesten des Friedens und des Willkommens zu vollführen, die offenbar auch dieser Fremde verstand, der Kyan Ki hieß und zu einem Volk namens Mon gehörte oder jedenfalls in einer Gegend dieses Namens zu Hause war. Er lächelte, verneigte sieh und murmelte etwas in seiner Heimatsprache, das vermutlich ein Dank sein sollte. 3. Gegen Mittag schlief der Wind vollends ein. Die See wurde bleiern. Schwer und stickig drückte die Hitze auf die „Isabella“ die Sonne starrte vom Himmel herunter wie ein böses Auge. An den Rahen hingen die Segel nutzlos herab, klatschten nur ab und zu träge gegen die Mästen und sahen nach einhelliger Meinung der Crew wie nasse Bettsäcke aus. Der Fremde mit dem Namen Kyan Ki schien die Hitze nicht zu spüren. Er hatte sich schnell erholt. Wäre der Kutscher nicht schon mit den Fieberkranken beschäftigt genug gewesen,
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hätte er vermutlich bemerkt, daß zwischen dem körperlichen Zustand des Mon und der Geschichte, die er erzählte, gewisse Unstimmigkeiten bestanden. „Erzählen“ tat Kyan Ki mit vielen Gesten und Zeichen, und wo das nicht reichte, warf er mit ein paar Strichen sprechende Bilder auf ein Stück Pergament. Ein Fischerboot und das Wort Mon. Ein Schwarm dschunkenartiger Schiffe, dazu das Zeiten der Faust, was wohl Feindschaft ausdrücken Das Fischerboot der Mon war offenbar überfallen und versenkt worden - ob von Piraten oder einem feindlichen Stamm, ließ sich nicht genau feststellen. Kyan Ki hatte sich mit dem winzigen Beiboot gerettet. Was er sonst noch zeichnete - die unregelmäßige Linie des riesigen Flußdeltas und ein paar Boote, die aus einem Mündungsarm ins offene Meer ausschwärmten sollte wohl bedeuten, daß die übrigen Mon nach den Verschollenen suchten. Eine Suche, der sicher kein Erfolg beschieden sein würde, solange die Flaute anhielt. Der Seewolf starrte zum Himmel und knirschte mit den Zähnen. Auf der Kuhl trat gerade der Kutscher aus dem Schott des Niedergangs, mit aufgekrempelten Ärmeln und besorgtem Gesicht. Er fuhr leicht zusammen, als Hasards eisblauen Augen ihn anfunkelten, und zog den Kopf zwischen die Schultern. „Ich wollte vorschlagen, die Kranken an Deck in den zu bringen, Sir“, sagte er. „Im Logis ist die Hitze nicht zum Aushalten.“ „Gute Idee. Wie steht es?“ „Nicht gut“, sagte der Kutscher beklommen. „Gary ist bewußtlos, Will und Bob phantasieren schon ...“ Er verstummte und starrte an Hasard vorbei. Der Seewolf runzelte die Stirn, wandte sich um und folgte der Blickrichtung des Kutschers. Dan O’Flynn lehnte am Backbordschanzkleid des Achterkastells. Er fühlte sich unbeachtet, und deshalb ließ sich nicht übersehen, daß er durchaus nicht lässig dort lehnte, sondern sich schwer aufstützen mußte.
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„Dan?“ rief der Seewolf halblaut. Der junge Mann straffte sich sofort wieder. Aber sein blasses, schweißnasses Gesicht und die unnatürlich glänzenden Augen redeten eine deutliche Sprache. Er hatte Fieber, fühlte sich sichtlich elend und hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Zwei Stunden später mußte sich Smoky, dieser Bulle von Kerl, plötzlich auf die Nagelbank setzen. Darüber war er so verblüfft, daß es ihm erst einmal die Sprache verschlug, als ihn der Profos anfauchte, ob er sich vielleicht einbilde. die Nagelbank sei ein Betstuhl und er ein Klosterschüler. Und falls er den Ehrgeiz¬ habe, sich die Haut vorn Hintern zu wetzen, dann könne er. der Profos. das bitte sehr viel wirksamer besorgen. Smoky schnaufte und raffte sich zu einem matten „blöder Hammel“ auf. Womit dann auch Carberry klar wurde, daß der Decksälteste der nächste Kandidat für die Koje war. Fünf Kranke! Flaute und bleierne Hitze, in der die Nahrungsmittel schneller verdarben und die an der Widerstandskraft zehrte. Noch war die Lage erträglich. Aber wenn die Krankheit weiter um sich griff, wenn dann noch ein Sturm losbrach ... Der Seewolf verzichtete darauf, den Gedanken weiter zu spinnen. Aber sein hartes, sonnenverbranntes Gesicht glich mehr und mehr einer Maske. * Die Nacht senkte sich herab wie ein erstickender Mantel. Niemand ging unter Deck, denn die Hitze klang nicht ab, und im Logis ließ sich die Luft kaum atmen. Die Männer standen oder hockten an den Schanzkleidern, dösten vor sich hin, soweit sie keine Wache hatten, und fielen gelegentlich in einen kurzen, unruhigen Schlaf, aus dem sie rasch wieder hochschreckten. Kyan Ki lehnte in der Nähe des Schotts zum Vorschiff. Auch er schien vor sich hin zu dämmern, doch das war ein Eindruck, den er mit voller Absicht hervorrief. In Wahrheit
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beobachtete er scharf die Kuhl. Niemand beachtete ihn. Auch nicht der schwarzhaarige Riese mit den eisblauen Augen, dessen sich oben auf dem Achterkastell bewegte. Kyan hatte in diese Augen gesehen, hatte ihren forschenden, durchdringenden Blick gespürt, und seitdem fühlte er jedesmal einen kalten Schauer auf der Haut, wenn er an seine Pläne dachte. Der fremde Kapitän war ein gefährlicher Gegner. Und ein Gegner, der Achtung verdiente, das spürte der junge Mon instinktiv. Manchmal haßte er sich selbst für seinen heimtückischen Plan. Aber um seinem Volk im Kampf für die Freiheit beizustehen, hätte Kyan auch sein Leben geopfert und seine Seele den schwarzen Dämonen verschrieben. Vorsichtig richtete er sich auf. Seine Hand tastete nach rechts, während die dunklen Augen unter halb gesenkten Lidern aufmerksam in die Runde glitten. Er atmete langsam, mit leicht geöffneten Lippen, bewegte sich mit lockeren Muskeln und versuchte, die Spannung in seinem Innern zu beherrschen. Flüchtig dachte er an seinen Bruder: Yannay Ki, der mit den Schiffen der Mon bis ins Land des großen Chan gesegelt war und von irgendwoher die geheimnisvolle Kunst mitgebracht hatte, mitten im Blickfeld von Beobachtern fast unsichtbar zu werden. Er beherrschte diese Kunst nur im beschränktem Maße, und ihm stand sein jugendliches Temperament im Wege. Aber er hatte genug gelernt, um sich ruhig, gelassen und unauffällig zu bewegen. Lautlos schwang das Schott auf. Kyan schloß es hinter sich, nachdem er in den Niedergang geschlüpft war. Sekundenlang blieb er mit geschlossenen Augen stehen und lauschte. Nichts rührte sich, niemand schien sein Verschwinden bemerkt zu haben. Der junge Mon atmete tief durch und begann, sich im Dunkeln vorwärts zu tasten. Er hatte keine Lampe, doch er wußte, wie das Innere einer Galeone beschaffen war. Einmal, vor Jahren, war eine spanische Galeone ins Delta des Irawadi gelaufen,
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auf der Suche nach jenem legendären Palast, den die Legenden „Haus der träumenden Seelen“ nannten. Das Schiff geriet in den Würgegriff des Sumpfs. doch bevor es versank, konnten die Mon es untersuchen. Die Spanier waren damals mit ihren Beibooten im Labyrinth des Deltas verschollen. Ein paar von ihnen mußten sich nach Norden durchgeschlagen und dort Hilfe erkauft haben. Denn unter den Birmanen, mit denen die Mon erbittert Krieg führten, gab es seitdem einige, die die Sprache der „weißen Teufel“ verstanden und deren Waffen benutzten. Kyan Ki gelang es, den Laderaum der Isabella“ auch ohne Licht zu finden. Hier unten war die Finsternis weniger total, obwohl sich der Ursprung des schwach einsickernden Lichtschimmers nicht genau orten ließ. Kyan Ki wartete einen Moment, bis sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, dann ging er ein paar Schritte weiter und sah sich um. Sekunden später hatte er entdeckt, was er suchte. Der junge Mon-Krieger atmete tief durch und lächelte triumphierend. * Kyan Ki ahnte nicht, daß er seine Rechnung ohne einen Faktor gemacht hatte, den er zwar nicht voraussehen konnte, der aber nicht ohne Bedeutung war: den unverwüstlichen Appetit zweier zehnjähriger Jungen. Der Kutscher hatte keine Zeit gehabt. Da zudem bei der schwülen Hitze ohnehin niemandem der Sinn nach einer warmen Mahlzeit stand, galt vorerst die Devise, daß sich jeder in der Kombüse selbst mit Schiffszwieback. Pökelfleisch und Zitronensaft versorgte. Die Zwillinge hatten das ebenfalls getan und weidlich die Tatsache ausgenutzt, daß ihnen niemand die Rationen zuteilte. Da jedoch zehnjährige Jungen bekanntlich über Mägen von verblüffender Aufnahmefähigkeit verfügen, waren Philip junior und Hasard junior nach
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verhältnismäßig kurzer Zeit schon wieder hungrig. Und da sie die Devise Selbstbedienung sehr weitherzig auslegten,. enterten sie in die Kombüse, um mal so richtig zu schlemmen. Dem Vergnügen waren allerdings Grenzen gesetzt. Der Kutscher ließ grundsätzlich nichts herumstehen, was die beiden „Rübenschweinchen“, wie Carberry sie nannte, in Versuchung führen konnte. Philip und Hasard beratschlagten kurz. Sie gelangten zu dem Ergebnis, daß erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten war. Und es war nicht ausdrücklich verboten worden, sich auch im Laderaum zu bedienen, wo alle möglichen Herrlichkeiten mit köstlichen Düften lockten. Günstigerweise gab es von der Kombüse aus einen direkten Zugang. Die Zwillinge hatten keinen Grund, auf Licht zu verzichten_ Hasard junior trug die Lampe. Philip junior folgte seinem Bruder dicht auf. Beide lauschten angespannt. Falls gerade jetzt noch jemand anders auf die Idee verfallen sollte. in den Laderaum zu gehen, wollten sie demjenigen lieber nicht begegnen. Dann brauchten sie nämlich auch keine Fragen zu beantworten und sich am Ende gar darüber aufklären zu lassen, daß ihr Streifzug doch verboten sei. „Psst!“ flüsterte Philip nach ein paar Schritten. Sein Bruder ließ die Lampe sinken. Der Lichtschein hatte ihn geblendet. Jetzt sah er, was auch Philip aufgefallen war: das Schott am Ende des Niedergangs stand offen. „Verdammt!“ zischelte Hasard junior. „Und zugenäht!“ folgte die geflüsterte Bekräftigung. „Der Kutscher! Hol’s der Scheitan!“ Die beiden Jungen waren längst dazu übergegangen, auch untereinander Englisch, statt Türkisch zu sprechen. Aber der Scheitan blieb der Scheitan, da biß keine Bilgenratte das Bändsel ab. „Der Kutscher?“ fragte Hasard junior gedehnt. „Der wäre durch die Kombüse marschiert. Und bevor wir abgetaucht sind, hab ich ihn noch an Deck gesehen.“
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Philip kratzte sich am Kopf. „Und von den anderen hat niemand was im Laderaum zu suchen“, stellte er fest. Womit er gleichzeitig die ganze sorgsam zusammengebastelte Begründung ins Wanken brachte, die ihren nächtlichen Raubzug zum legalen Unternehmen stempeln sollte. Die beiden Jungen sahen sich an. Es war der gleiche Gedanke, der ihnen durch die Köpfe zuckte: Kyan Ki! Der Bursche war fremd, undurchschaubar, vielleicht gefährlich. Und mit Schiffbrüchigen, die den Kurs der „Isabella“ kreuzten, hatte man schließlich schon mehr als einmal böse Überraschungen erlebt. Die Zwillinge zögerten ein paar Sekunden. Sie konnten nicht ahnen, daß es entscheidende Sekunden waren. Hasard junior löschte hastig die Lampe. / „Warte hier!“ wisperte er, und dabei huschte er auch schon durch die Dunkelheit auf das etwas hellere Viereck des Schotts zu. Zwei Minuten später kehrte er auf Zehenspitzen zurück. Seine kleine Hand hatte sich geballt, die eisblauen Augen funkelten in der Dunkelheit. „Der Fremde!“ zischte er. „Was er getan hat, konnte ich nicht sehen, aber es taugt bestimmt nichts. Ich bleibe hier, du gehst und sagst Dad Bescheid, klar?“ * Philip Hasard Killigrews Augen wurden sehr schmal, als er Philip juniors geflüsterten Bericht hörte. Kyan Ki trieb sich heimlich in den Laderäumen herum? Der Seewolf furchte die Brauen. Er hatte bereits erlebt, daß Männer, die als Gäste der „Isabella“ weilten, plötzlich vom Schatzfieber gepackt wurden und versuchten, sich etwas von den legendären Reichtümern des Seewolfs unter den Nagel zu reißen. Aber für den Schiffbrüchigen bestand nicht der leiseste Grund, versteckte Schätze im Bauch der Galeone zu vermuten. Und dann war da etwas in Blick und Haltung des
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jungen Mannes gewesen, das es Hasard unmöglich machte, zu glauben, er habe einen gemeinen Dieb vor sich. Wie auch immer, er mußte nach dem Rechten sehen. Mit zusammengepreßten Lippen enterte er auf die Kuhl. Er wollte auf das Schott zugehen, doch das wurde im selben Augenblick vorsichtig von innen geöffnet. Hasard junior schlüpfte heraus, entdeckte seinen Vater und atmete auf. „Er kommt!“ zischte er. Und dann erschien er tatsächlich. Ruhig. Nicht im mindesten wie ein ertappter Missetäter. Entweder hatte er ein reines Gewissen, oder er mußte die Zwillinge im Niedergang gehört haben. Selbst dann wäre die Ruhe, mit der er dem Seewolf entgegentrat, erstaunlich gewesen. Hasard ahnte nicht, daß diese Ruhe in Kyans ganz persönlicher Art von reinem Gewissen wurzelte: dem Bewußtsein, für sein unterdrücktes Volk zu kämpfen. Mit erhobenem Kopf blieb der junge Mon stehen und begegnete Hasards Blick, unter dem jeder andere die Augen niedergeschlagen hätte. Kyan Ki hielt ihm stand. Er schien nicht zu merken, daß sich die Männer ringsum nach und nach erhoben und gebannt das stumme Duell beobachteten. Stumm, ja. Aber die Beteiligten verstanden sich dennoch. Der Seewolf hob fragend die Brauen. Kyans Blick wanderte zu dem offenen Schott und wieder zu Hasard zurück. Der junge Mon lächelte, als er auf seine Augen wies und dann eine ausholende Geste vollführte, die die ganze Galeone umfaßte. „Will der verlauste Hering vielleicht behaupten, er hätte unsere alte Lady besichtigt?“ murmelte der Profos. Genau das wollte Kyan offenbar ausdrücken. Seine nächste Handbewegung zielte auf den Halbkreis der Männer. Die Schnarchgeräusche, die er von sich gab, hätten vielleicht komisch gewirkt, wäre die Situation nicht so gespannt gewesen.
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„Du hast dich allein umgesehen, weil du niemanden stören wolltest?“ fragte Hasard gedehnt. Kyan verstand die Worte nicht, aber er hörte den zweifelnden Unterton. Sein Rücken straffte sich. Daß die Zweifel nur zu berechtigt waren, spielte im Moment keine Rolle. Kyan Ki kämpfte für sein Volk. Er war zutiefst überzeugt davon,- ehrenhaft zu handeln. Deshalb lag in seinen Augen ein Ausdruck, den er unmöglich hätte spielen können: der leidenschaftliche Zorn eines Mannes, der zu Unrecht in seiner Ehre verletzt wird. Niemand zweifelte in diesen Sekunden an seiner Aufrichtigkeit. Der Seewolf lächelte und hob beschwichtigend die Hand. Es war diese Geste die dem jungen Mon plötzlich wieder die Heimtücke seiner eigenen Handlungsweise bewußt werden ließ. Aber bevor sich Skrupel und Scham in seinen Augen spiegeln konnte, wurde die Aufmerksamkeit des Seewolfs abgelenkt. „Deck!“ erklang Luke Morgans Stimme aus dem Großmars. „Boot Steuerbord querab. Es nähert sich von der Küste her und hält genau auf uns zu!“ Hasard wandte sich ab. Wenig später erkannte auch er das Fahrzeug: ein großes, plumpes Boot mit zwei Auslegern, an denen offenbar Netze nachgeschleppt wurden. Ein halbes Dutzend Männer holte lange, merkwürdig geformte Riemen durch, da sie in der Flaute anders nicket vorwärts kamen. Fischer zweifellos. Daß sich die Mon nicht nur auf ihre Flüsse beschränkten, hatte ja schon Kyan Kis Schiffbruch bewiesen. Der junge Mann war ebenfalls ans Schanzkleid getreten. Ein paar Sekunden starrte er zu dem Boot hinüber, dann riß er jäh die Arme hoch und begann zu winken und zu rufen. Die Männer in dem plumpen Fahrzeug bemerkten ihn und winkten zurück. Es war offensichtlich, daß es sich um Mon handelte, Kyans Leute. Der Seewolf atmete auf, weil sich damit das Problem erledigte, den Schiffbrüchigen an Land zu schaffen.
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Minuten später enterte ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in Turban und Lendentuch an Bord, kreuzte die Arme über der Brust und verneigte sich höflich. Der Seewolf erwiderte den Gruß. Dabei schoß ihm durch den Kopf, daß an diesem Fremden sofort ins Auge sprang, was er schon bei Kyan Ki bemerkt zu haben glaubte: der Widerspruch zwischen der äußeren Aufmachung und der stolzen, hochmütigen Haltung. Ein einfacher Fischer? Hasard zweifelte daran. Aber er fand keinen konkreten Anhaltspunkt für sein Jäh erwachtes Mißtrauen. Der Fremde verneigte sich noch einmal, wies auf Kyan Ki und lächelte. ,,Hermano“, sagte er auf Spanisch. „Bruder ...“ Dann verfiel er in seine Heimatsprache und warf seinem Bruder -denn das war Kyan offenbar - mit schneidend scharfer Stimme einiges an den Kopf, das ganz und gar nicht freundlich klang_ Unbewegten Gesichts hörte sich Kyan an, daß er ein kindischer Narr sei, der sein Leben für einen Wahnsinnsplan riskier: habe_ Die Seewölfe vermuteten, daß es um den Schiffbruch ging. Der hochgewachsene Fremde mit dem dunklen, kühn geschnittenen Gesicht schwieg schließlich_ Er vollführte die dritte zeremonielle Verneigung und kratzte seine wenigen spanischen Brocken zusammen, die er wer weiß“ wo aufgeschnappt haben mochte. „Gracias. Vamos, por favor!“ „Hasta luego“, sagte Hasard trocken. Ein paar Minuten später löste sich das Boot von der Bordwand der „Isabella“ und strebte mit Kyan Ki und seinem Bruder, der sich nicht vorgestellt hatte, der Küste zu. Nachdenklich verfolgte der Seewolf das Fahrzeug mit den Augen. Keiner der Fischer schien sich mehr für die Netze zu interessieren. Sie hatten offenbar nichts anderes im Sinn, als möglichst rasch zu verschwinden. Und waren sie nicht auch
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ziemlich rasch aufgetaucht? Rasch und vor allem äußerst zielstrebig? Eine steile Falte stand auf Hasards Stirn, als er sich umwandte. „Ed, Ferris!“ sagte er knapp. _Schaut euch im Laderaum um. Aber gründlich.“ Der Profos und der rothaarige Schiffszimmermann ließen sich das nicht zweimal sagen. Gemeinsam durchstöberten sie die Laderäume. Lange, gründlich - und vergebens. Zusammen mit dem Stückmeister kontrollierten sie anschließend Pulver- und Waffenkammer, sahen sich überall um. wo sich der geheimnisvolle Schiffbrüchige sonst noch herumgetrieben haben konnte, aber sie fanden nichts, das ungewöhnlich gewesen wäre. Erst am nächsten Morgen platzte die Bombe. Kurz vor Sonnenaufgang war wieder Wind aufgesprungen. Die Segel blähten sich, die Männer atmeten auf_ Neben dem Kombüsenschott rank Sam Roskill eine Muck Wasser aus dem Fäßchen, das der Kutscher gerade nachgefüllt hatte. Ein jäher, erstickter Schrei ließ die Männer auf ihren Stationen herumfahren. Sam Roskill war die Muck aus der Hand gefallen. Er krümmte sich, preßte beide Hände gegen den Leib und erbrach würgend das Wasser. Ed Carberry und Stenmark sprangen auf ihn zu und packten ihn bei den Armen. Sams Gesicht war weiß und verzerrt. Minutenlang wand er sich in Krämpfen, dann sank er schlaff gegen die Kombüsenwand zurück und rang nach Atem. „Das Wasser!“ keuchte er. „Verdammt, mit dem Wasser stimmt was nicht.“ „Gestern abend war es noch in Ordnung!“ protestierte der Kutscher. „Jetzt haben wir heute morgen!“ knurrte .Carberry. „Schau nach, du Kochlöffelakrobat! Oder soll ich dir erst das Flitzen beibringen, was, wie?“ Der Kutscher verschwand wie ein Geist im Niedergang. Minuten später kehrte er zurück. Grün im Gesicht, verkrümmt, ein Bild des Jammers.
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Seine Verantwortung für die Vorräte der „Isabella“ nahm er sehr ernst. Da er an dem Trinkwasser weder etwas Verdächtiges hatte sehen noch riechen können, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als einen winzigen Schluck aus jedem Faß zu probieren. „Das Zeug ist verdorben“, sagte er schwach. „Vergiftet, mit irgendwelchen Drogen versetzt - was weiß ich. Jedenfalls haben wir keinen einzigen Tropfen trinkbares Wasser.“ 4. „Dieser Dreckskerl!“ knirschte Ben Brighton. „Dieser verdammte Misthund! Hätten wir ihn doch in seiner Nußschale absaufen lassen!“ Das Gesicht des sonst so ruhigen, beherrschten Bootsmanns war rot angelaufen. Zusammen mit Hasard, Ed Carberry, Big Old Shane und Old O’Flynn stand er auf dem Achterkastell. Der Seewolf furchte die Brauen und schüttelte den Kopf. „Kannst du mir verraten, was er damit hätte bezwecken wollen, Ben?“ fragte er. „Keine Ahnung. Aber fest steht doch wohl, daß nur dieser Kyan Ki als Schuldiger in Frage kommt, oder?“ „Möglich.“ Hasards eisblauen Augen wanderten nachdenklich zur Küste. „Aber wir haben keinen Beweis, wir haben keine halbwegs vernünftige Erklärung - und vor allem haben wir den Mann nicht.“ „Weshalb es auch ziemlich sinnlos ist, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er gekielholt gehört oder nicht“, bekräftigte Carberry. „Wir brauchen Wasser.“ „Stimmt“, sagte Ben Brighton ernüchtert. „Wollen wir etwa diese verfluchte Küste anlaufen?“ fragte Old O’Flynn. „Ich sage euch, die ist nicht geheuer, die ...“ „Willst du vielleicht Rum ‘saufen, bis wir Indien erreichen, Donegal?“ Old O’Flynn hatte plötzlich einen merkwürdigen Glanz in den Augen. Der Seewolf seufzte abgrundtief. „Spätestens nach einem Tag ohne Wasser spuckst du in den Rum“, sagte er.
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„Immerhin können wir uns für eine Weile mit Kokosmilch behelfen. Das wird auch nötig sein. Mangrovensümpfe bestehen bekanntlich aus Salzwasser. Wir müssen in das Flußdelta laufen. Bis wir da auf Süßwasser stoßen, kann es eine Weile dauern.“ „Scheiße!“ sagte Ben Brighton mit Inbrunst. Die anderen stimmten ihm zu. Sie kannten die Tücken solcher Mangrovensümpfe zur Genüge. Aber es half alles nichts. Hasard ließ abfallen, legte die „Isabella“ platt vor den Wind und nahm Kurs auf die Küste. Leichter Dunst verschleierte das grüne Dickicht. Der Urwald schien zu dampfen, über den dunklen, tief eingeschnittenen Mündungsarmen des Stroms kochte die Luft. Die Seewölfe wussten, was sie erwartete. Ein Dampfbad, das jeden Atemzug zur Qual werden ließ. Mückenschwärme, zahllose verschiedenartige Plagegeister, Schlangen, giftige Pflanzen -von Kleinigkeiten wie ausgewachsenen Tigern und ähnlichem ganz abgesehen. Schon konnten sie den schrillen Lärm der Vögel hören. Der Flußarm, den sie ansteuerten, wirkte wie ein schwarzer, gähnender Höllenrachen. „Bist du sicher, daß wir nicht genau das tun, was dieser Kyan Ki bezweckt hat, Sir?“ fragte Ben Brighton in seiner bedächtigen Art. Der Seewolf schoß ihm einen Blick zu. „Na und? Haben wir eine andere Wahl?“ „Nein“, gab Ben zu. „Nur sollten wir vielleicht vorsichtshalber gefechtsklar machen. Das heißt, die Kanonen werden uns in dieser verdammten Wildnis wohl nicht viel nutzen. Aber es könnte ganz gut sein, Musketen und ein paar Flaschenbomben griffbereit zu haben.“ Da hatte er recht. Hasard gab die entsprechende Anweisung an Al Conroy weiter. Außerdem ordnete er an, daß sich die Männer mit Jacken oder langärmligen Hemden und Kopftüchern versorgten. Das war zwar nicht gerade angenehm in der Hitze, aber es bot
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wenigstens einen gewissen Schutz gegen die geflügelten Plagegeister, deren Stiche zu bösen Entzündungen führen konnten. „Gei auf Blinde, Groß- und Marssegel!“ klang die Stimme des Seewolfs über Deck. „Blacky — auf die Galion und Tiefe loten!“ „Aye, aye, Sir!“ Blacky flitzte, die Zwillinge folgten ihm, weil sie vorn auf der Galion die beste Sicht hatten. Unter Fock und Besan glitt die „Isabella“ in eine düstere Bucht, die sich trichterförmig verengte. Schwarzes, schillerndes Wasser gurgelte gegen die Bordwände. Blacky sang die Tiefe aus. Links und rechts schienen sich die grünen Wände des Dickichts wie in einem erbarmungslosen Würgegriff zusammenzuschließen, doch der Mündungsarm des Stroms war schiffbar, genau wie Hasard es vermutet hatte. Minuten später mußten sie die Marssegel wieder setzen, weil das dichte Gestrüpp das Großsegel gegen den Wind abdeckte. Vor ihnen gabelte sich der Strom. Nur ein paar träge dahintreibende Blätter verrieten, daß es sich bei der faulig stinkenden Brühe tatsächlich um fließendes, nicht um stehendes Wasser handelte. Ringsum kreischten Vögel, lärmte das unsichtbare Heer der Affen, und über allem lag das Summen, Sirren und Zirpen, mit dem Myriaden von Insekten die stickige Luft erfüllten. Hasard entschied sich für den wasserarm an Backbord, weil er augenscheinlich breiter und tiefer war. Schwerfällig glitt die „Isabella“ weiter, hinein in die grüne Hölle, aus deren dämmrigen Tiefen ihnen der Pesthauch von Unheil und Verderben entgegenzuwehen schien. * Die beiden Männer kauerten reglos in einer mächtigen Astgabel. Kyan Ki hatte sich verändert und glich mit goldfarbenem Turban, Pluderhosen und kostbarem rotem Seidenmantel jetzt wieder dem jungen Mon-Prinzen, obwohl Hitze
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und Schmutz seine Kleidung in Mitleidenschaft gezogen hatten. Ab und zu glitt sein Blick zu seinem Bruder hinüber. Yannay Ki hatte die Hand am Griff des Krummschwerts, das er an der breiten Schärpe trug. Auch er war kostbar gekleidet, wie es einem Prinzen und Heerführer der stolzen Mon zustand. Seine dunklen Falkenaugen spähten ins grüne Halbdämmer des Dickichts. Kyan suchte nach dem Ausdruck der Zustimmung in dem scharfgeschnittenen Gesicht, nach Zeichen dafür. daß auch Yannay den Plan jetzt akzeptierte. Ein Vogelschrei erklang — täuschend echt nachgeahmt. Yannay Ki legte die Hände an den Mund und antwortete. Ein paar Minuten verstrichen, dann verrieten die Geräusche, daß sich die Galeone näherte. Über den grünen Wipfeln konnten die beiden Mon Mastspitzen und einen Teil der Segel sehen. Kyan lächelte triumphierend. Yannay wandte sich um und nickte. „Du hattest recht“, sagte er ruhig. „Ich hoffe, daß du auch weiter recht behälst.“ „Das werde ich, Bruder. Das tote Wasser nach Osten ist ihnen versperrt. Sie werden zu den Tausend Tümpeln ausweichen müssen, und sie werden in die Falle gehen.“ Yannay starrte den entschwindenden Mastspitzen nach. Er wartete eine Weile, dann stieß er wieder einen Vogelschrei aus. Vor ihnen, in der Nähe des Wasserarms. wurde es von einer Sekunde zur anderen lebendig. Braunhäutige Gestalten tauchten aus ihren Verstecken, sammelten sich und erreichten wie huschende Scharten die Flußgabelung. In der nächsten Stunde herrschte fieberhafte Tätigkeit Drei Dutzend Mon-Krieger schwitzten und schufteten. zerrten gefällte, zugespitzte Baumstämme aus dem Dickicht und rammten sie tief in den Schlamm des trägen Mündungsarms. Geflochtene Matten verbanden die stabilen Rundhölzer untereinander. Flinke Hände befestigten Buschwerk daran, verkleideten das Holz
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mit üppigen Schlinggewächsen, rammten junge Bäume tief in die kunstvolle Konstruktion. Nichts verriet mehr, daß hier Menschen am Werk gewesen waren, daß ein Damm den Weg versperrte und keine natürliche Barriere. Es gab keinen abzweigenden Wasserarm mehr. Nur die glätte, grüne Wand des Dickichts, gleichmäßig und undurchdringlich. Kyans Augen funkelten. Er sah die Opfer schon hoffnungslos in der Falle. Daß diese Opfer bereit gewesen waren, ihn, den vermeintlich Schiffbrüchigen, zu retten und aufzunehmen, hatte er vergessen. * „Land ho!“ schrie Hasard junior. „Zweieinhalb-Faden!“ sang Blacky aus. „Fier weg Marssegel und Besan! Fallen Anker!“ Der Seewolf stand auf dem Achterkastell und starrte nach vorn. Das „Land ho!“ war gar nicht so unberechtigt gewesen. Bisher hatte sich links und rechts von dem Wasserarm der Sumpf gedehnt: Mangroven, tropische Baumriesen, von denen Lianen herabhingen, Gebiete übermannshoher Riedgräser und überall dazwischen Schlammlöcher und schwarz schillerndes Wasser. Jetzt dagegen stieg das Gelände an. Auch hier war die Wildnis fast undurchdringlich, aber es gab keine Mangroven mehr, die nur dort gedeihen konnten, wo das Land regelmäßig von Salzwasser überflutet wurde. Die Ankertrosse rauschte aus. Vorn auf der Galion traten die Zwillinge aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, obwohl sie wußten, daß sie an dem bevorstehenden Landunternehmen nicht teilhaben werden. Protestiert hatten sie schon ausgiebig. Irgendwann, überlegte Hasard, würde er die beiden Helden mal durch die Wildnis scheuchen, bis sie es knüppeldick hatten und ein spannendes Abenteuer von einer gefährlichen Höllenstrapaze zu Unterscheiden lernten. Aber nicht jetzt. Und vor allen nicht hier, wo sich
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möglicherweise Kyan Ki mit seinen Mon herumtrieb, von denen niemand wußte, was sie vorhatten. Wasser mußte es in einer Gegend mit so üppiger Vegetation in Hülle und Fülle geben. Sauberes Wasser, nicht die verseuchte Brühe, die in großen und kleinen Tümpeln durch das Blattwerk schillerte. Wenn er angestrengt lauschte, glaubte der Seewolf sogar, schon das ferne Rauschen und Plätschern zu hören. Deshalb verzichtete er darauf, zuerst einen Spähtrupp loszuschicken, und ließ sofort leere Wasserfässer und Tragegestelle in die beiden Jollen mannen. Ben Brighton übernahm das Kommando an Bord. Hasard setzte sich an die Spitze der Gruppe, die wenig später die Boote aufs trockene Land zog. Die Muskete hatte er sich über die Schulter gehängt, das Entermesser mußte er schon nach wenigen Schritten aus dem Gürtel ziehen. Immer wieder versperrten Lianen und Schlinggewächse den Weg, manchmal zu dichten Matten verflochten, bei denen nur brutale Gewalt half. Neben dem Seewolf schwang Ferris Tucker seine riesige Axt. Selbst die würde von dem zähen Zeug wohl mit der Zeit stumpf werden. Der rothaarige Schiffszimmermann wußte das und schnitt ein Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. „Hörst du was, Sir?“ fragte Matt Davies von hinten. Hasard verharrte einen Moment und lauschte. Das Rauschen und Plätschern, das er vorhin schon wahrgenommen hatte, war deutlicher geworden. Auch das Gelände stieg steiler an. Irgendwo in unmittelbarer Nähe gab es zweifellos eine Quelle. „Weiter“, sagte der Seewolf. „Etwas mehr rechts halten.“ Mühsam kämpften sie sich vorwärts. Für die Tragegestelle mit den Fässern mußte eine ziemlich breite Schneise in das Dickicht gehaben werden. Matt Davies half mit seiner Hakenhand nach, wenn sich die durchgehackten, oft armdicken
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Schlinggewächse wieder in den Weg schnellen wollten. Yard um Yard drangen die Männer durch das Dickicht. und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie die Quelle unmittelbar vor sich hatten. Felsen unterbrachen an dieser Stelle aas flache Schwemmland des Deltas. Ranken mit fahlweißen, betäubend duftenden Blüten wucherten in den Gesteinsfalten und hingen als Vorhang über dem kleinen natürlichen Becken, in dem sich das Wasser sammelte. Frisches, köstlich kühles Wasser, wie der Seewolf feststellte. Genußvoll trank er ein paar Schlucke aus der hohlen Hand und wischte sich das schweißnasse Gesicht ab. „Na, dann wollen wir mal“, meinte Ferris Tucker tatendurstig. Hasard nickte. „Fangt schon an, die Fässer zu füllen. Ich werde mich ein bißchen umsehen.“ „Sei vorsichtig, Sir!“ Hasard warf seinem rothaarigen Zimmermann einen Blick zu und schüttelte den Kopf. . „Was denn sonst?“ knurrte er nur. Dabei klomm er schon über die stufenförmigen Felsen aufwärts, erreichte eine Art Plateau und nahm die Muskete von der Schulter. Vogelschreie, das,. Plätschern des Wassers und das stete Rascheln und Singen des Windes hoch oben in den Baumkronen verhinderten, irgendwelche verdächtigen Geräusche zu erlauschen. Den MonKriegern, die hier zu Hause waren, würde es vermutlich nicht schwerfallen, sich unbemerkt anzuschleichen. Aber warum sollten sie? Hasard wußte aus Erfahrung, daß sich in dichten, undurchdringlichen Wäldern oft und leicht das Gefühl einstellte, nicht allein zu sein und von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden_ Auf die Wasserfässer waren die Mon bestimmt nicht scharf. Allenfalls auf die Musketen und Pistolen. Aber nur deswegen hatten sie bestimmt nicht einen komplizierten. riskanten Plan ausgeheckt, um die _Isabella- hierher zu locken - falls Kyan Ki tatsächlich für das verseuchte
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Wasser verantwortlich war, was erst noch bewiesen werden mußte. Hasard ging langsam weiter. Ein Stück weiter vor ihm fiel das Gelände wieder ab. Sein Blick wanderte über das grüne, verfilzte Dach der Baumwipfel, über das Gewirr dicker, teilweise abgestorbener Äste, auf denen Schlingpflanzen und andere Schmarotzer zu Hunderten wucherten. Ein Schwarm rötlicher Insekten umschwirrte mit bösartigem Summen einen Baumstamm. Irgendwo ertönte ein Vogelruf, der fast menschlich klang. Hasard wandte suchend den Kopf -und in derselben Sekunde geschah es. Der Boden gab unter ihm nach. Ob ein Felsstück wegbrach, ob er einem trügerischen Pflanzennetz zum Opfer gefallen war - er wußte es nicht. Er spürte nur, daß er ins Leere trat. Blindlings versuchte er, sich einen Halt zu verschaffen, verlor dabei die Muskete aus dem Griff und rutschte ein Stück den schrägen Hang hinunter. Ehe er sich wieder fangen konnte, wurde er über die Felskante hinausgetragen. Zwei, drei Yards! Instinktiv zog Hasard seinen Körper zusammen, riß den angewinkelten Arm über den Kopf und rollte geschickt ab, als er am Boden landete. Benommen richtete er sich zwischen wuchernden Schößlingen und ein paar Felsen auf. Wo, zum Teufel, war die Muskete geblieben? Einigermaßen gelassen wollte der Seewolf auf die kurze Steilwand zugehen, da hörte er plötzlich das leise, drohende Fauchen. Fast gleichzeitig spürte er die scharfe Ausdünstung von Raubkatzen, sah den Höhleneingang in einiger Entfernung - und den schwarzen, geschmeidigen Schatten, der sich daneben duckte. Ein Panther! Ein prachtvolles Tier, eisenharte Muskeln unter glänzendem Fell, klare grüne Lichter, die wie kleine Lampen glühten. Hasard wich langsam zurück und tastete nach dem Griff des Entermessers - seiner einzigen Waffe. Waren die anderen in Hörweite? Konnten sie eingreifen? Müßige
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Überlegungen! Der Seewolf hatte rechts von sich das tiefe, drohende Fauchen einer zweiten Raubkatze gehört und begriff, daß er schleunigst einen der Felsen im Rücken haben mußte. Zwei Schritte. Alles ging so schnell, daß der Seewolf kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Er wußte, daß Panther meist nur angriffen, wenn man ihnen zu nahe geriet. Aber dem Prachtexemplar dort drüben war er offenbar zu nahe geraten. Deutlich sah er, wie sich das schöne, geschmeidige Tier zum Sprung duckte. Gleich einem schwarzen Pfeil flog der schlanke Leib durch die Luft. Hasard wich aus, blitzschnell_ Dicht an dem Felsblock setzte der Panther auf, fauchte wütend und drehte sich mit einer weichen und dennoch unglaublich kraftvollen Bewegung auf der Stelle. Wieder duckte er sich, wieder spannten sich die Muskeln, und Hasard kam dem tödlichen Sprung mit einer verzweifelten Aktion zuvor. Er warf sich nach vorn. Instinktiv wollte das Tier zurückweichen, fand keinen Raum und explodierte in einer wilden, ziellosen Bewegung. Die Pranken schlugen, scharfe Krallen zerfetzten Hasards Hemd, er spürte den heißen, fauligen Atem der Katze. Sein herabsausender Unterarm traf die empfindlichen Nüstern, und zugleich stieß die Klinge des Entermessers tief in die pulsierende Kehle hinein. Der fauchende Schrei klang fast menschlich. Der Panther bäumte sich auf: Scharfer Stahl zerfetzte seine Kehle. Der Seewolf wurde wie eine Stoffpuppe beiseite geschleudert, versuchte verzweifelt, das Messer zu halten, und schaffte es. Benommen rollte er über den Boden. Blutgeruch hing in der Luft, die `suchenden Klagelaute verebbten. er Körper der verendenden Raubkatze zuckte nur noch. Hasard rang auf die Füße und sah sich um. Keine Sekunde hatte er den zweiten Panther vergessen.
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Eben noch war das Tier dort drüben zwischen den niedrigen Schößlingen gewesen. Und jetzt? Ein Instinkt ließ ihn den Kopf hochreißen. Schräg von oben flog der schwarze, stählerne Leib auf ihn zu. Der zweite Panther hatte einen der Felsen erklommen. Wieder versuchte Hasard, sich in letzter Sekunde zur Seite zu werfen, doch diesmal war er nicht schnell genug. Der Anprall des großen Körpers warf ihn zu Boden. Messerscharfe Krallen bohrten sich in sein Fleisch, das Fauchen klang wie ein ausgewachsener Taifun in seinen Ohren. Hasard sah den aufgerissenen Rachen der Bestie, die gelben Fangzähne, und drückte dem Tier in verzweifelter Abwehr den Unterarm gegen die Kehle. Er kriegte die rechte Hand nicht hoch. Blindlings stieß er mit dem Entermesser zu, jagte die lange Klinge irgendwo in den Leib des Tieres. Der mächtige Körper zuckte. Pranken schlugen, glutheißer Schmerz zuckte durch Hasards Bein. Aber auch der Panther spürte die Verletzung, bäumte sich auf, und dem Mann gelang es, sich blitzartig zur Seite zu rollen. Er kam auf die Knie. Der Panther schnellte hoch, verharrte sekundenlang steil aufgerichtet auf den Hinterpranken. Wütendes, schmerzerfülltes Fauchen ließ die Luft erzittern. Irgendwo schrien Stimmen, trampelten Schritte. Zu spät, schoß es Hasard durch den Kopf. Er begriff, daß er verloren war, wenn der Panther noch einmal sprang, und alle seine Muskeln explodierten in einer letzten Anstrengung. Wieder schnellte er vor. Der abwehrende Prankenhieb streifte seine Schulter, sein Schädel rammte den Leib der Bestie. Gleichzeitig stieß er mit dem Entermesser zu und riß die Klinge nach oben. Heißes Blut rann über seine Hände, der Tierkörper zuckte und fiel zur Seite. Hasard warf sich mit seinem ganzen Gewicht über ihn. Die Raubkatze brüllte. Ihre Pranken peitschten durch die Luft, der Kopf schlug wild hin und- her. Hasard wurde fast abgeschüttelt, spürte mit jeder
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Faser die tobende, urwelthafte Kraft unter sich und hob den Arm mit dem Messer. Diesmal traf er genau die Kehle des Panthers. Noch einmal bäumte das Tier sich auf, raste im Todeskampf, schleuderte den Menschen wie ein Stoffbündel von sich. Hasard krachte gegen einen Felsen und verlor fast das Bewußtsein. Sekundenlang wurde es dunkel um ihn. Als der Schleier vor seinen Augen wich, regte sich der schwarze Panther nicht mehr. Der Seewolf blieb sitzen, wo er saß, und ließ den Rücken gegen den Felsen sinken. Undeutlich hörte er Zweige knacken und Steine poltern. Pete Ballie rollte ihm direkt vor die Füße. Ferris Tucker, Matt Davies, Blacky, und Stenmark sprangen oder rutschten ebenfalls den Steilhang hinunter. Die Schrammen, die sie sich dabei holten, hätten sie sich auch ersparen können. Es gab nichts mehr zu tun. Entgeistert wanderten ihre Blicke zwischen den toten Raubkatzen und ihrem Kapitän hin und her. Hasard grinste und zeigte sein weißes Prachtgebiß, dessen Anblick einst bei der denkwürdigen Schlacht vor der „Bloody Mary“ den dicken Kneipenwirt Nathaniel Plymson dazu inspiriert hatte, den Namen „Seewolf“ aus der Taufe zu heben. „Bist du noch ganz, Sir?“ fragte Ferris Tucker erschüttert. Hasard bewies es, indem er aufstand. Dabei tat ihm ziemlich viel ziemlich scheußlich weh. Aber das waren alles nur Fleischwunden, mit denen der Kutscher schon fertig werden würde. „Abmarsch“, sagte der Seewolf trocken. „Ich habe keine Lust, hier auch noch einem Tiger zu begegnen.“ 5. Die „Isabella“ segelte sich frei und ging an den Wind, um wieder das offene Meer zu erreichen. Das Kommando hatte vorerst immer noch Ben Brighton. Hasard saß in seiner Kammer und ließ die Behandlung des Kutschers über sich ergehen - schließlich
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hatte er ja oft genug gepredigt, daß der Feldscher über Schrammen jeder Art zu entscheiden habe und nicht etwa der Angeschrammte. Ein paar von den Blessuren sahen nicht sehr schön aus, vor allem die Krallenspuren an Brust und Bein. Zur Desinfektion verwendete der Kutscher, was zur Hand war: Salzwasser satt und anschließend eine Buddel Rum. Bill, der ihm zur Hand ging, wirkte etwas blaß um die Nase. Ed Carberry und die Zwillinge waren ebenfalls da. Letztere, weil sie beim Anblick ihres Vaters einen tödlichen Schrecken bekommen hatten und sich schneller beruhigen würden, wenn sie sahen, daß trotz des vielen Blutes noch reichlich heile Haut vorhanden war. Grünliche Salbe und jede Menge Verbandsstoff vollendeten die Behandlung. Hasard fühlte sich etwas steif, aber alles in allem fand er. daß er von Glück sagen konnte. Nachdem er die blutverschmierte Kleidung gewechselt hatte, sah er wieder einigermaßen menschlich aus. Er lächelte matt, als der Kutscher zu einem längeren Vortrag Luft holte. „Spar deinen Atem, ich lege mich freiwillig flach, sobald wir aus dieser „Wildnis heraus sind. Was ist mit den Kranken?“ „Unverändert.“ Der Kutscher biß sich auf die Lippen. „Neue Fälle gibt es bis jetzt nicht. Nur Luke Morgan sieht etwas verdächtig aus. Aber er behauptet, er sei völlig auf der Höhe.“ „Ist Gary wieder bei Bewußtsein?“ „Nur kurz. Ihn hat’s am schlimmsten erwischt. Wenn ich bloß wüßte, was das ist, ob es dabei eine Krise gibt, ob vielleicht das dicke Ende noch folgt....“ Er verstummte ratlos. Hasard preßte die Lippen zusammen, als er wieder an Deck enterte. Die „Isabella“ lief nur langsame Fahrt. Links und rechts glitten die düsteren Wände des Dickichts vorbei, der faulige Geruch nach Wasser und vermodernden Pflanzen sättigte die Luft, grün-goldene Sonnenflecken tanzten über die Planken.
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Die Kranken hatten im Schatten der Back den angenehmsten Platz, sofern davon überhaupt die Rede sein konnte. Gary Andrews lag in tiefer Bewußtlosigkeit. Bob Grey und Will Thorne dämmerten vor sich hin, glühend vor Fieber, während Dan O’Flynn sich unruhig hin und her warf und wirres Zeug murmelte. Einzig Smoky schien noch halbwegs klar zu sein. Zwar war er sichtlich zu schwach, um sich auch nur aufzusetzen, aber was er ausdauernd und hingebungsvoll durch die Zähne murmelte, klang sehr nach wüsten Flüchen. Hasard enterte aufs Achterkastell und nahm das Spektiv zur Hand. Seiner Rechnung nach mußten sie jetzt jeden Augenblick auf die Gabelung stoßen, an die Stelle, wo zwei der Mündungsarme im rechten Winkel zusammenliefen. Aber dem war nicht so. Stattdessen zielte der Bugspriet der Galeone plötzlich auf eine undurchdringliche grüne Wand. Der Seewolf wollte schon Anker werfen lassen, als er im letzten Moment bemerkte, daß der Wasserarm in einer scharfen Biegung nach Backbord weiterführte. „Abfallen!“ befahl er. „Herum mit dem Kahn! Frage Tiefe?“ „Drei Faden!“ sang Blacky aus. „Jetzt noch zweieinhalb -wieder drei -drei ...“ Das Segelmanöver klappte wie am Schnürchen. Mißtrauisch starrten die Männer auf ihren Stationen nach vorn in den grünen, schattigen Tunnel. Hasard wandte sich langsam um und durchbohrte seinen Bootsmann mit den Augen. „Dir ist doch klar, daß wir hier vorher nicht vorbeigesegelt sind, Mister Brighton?“ Das Gesicht des untersetzten, breitschultrigen Mannes färbte sich dunkel. „Glaube ich auch nicht, Sir“, sagte er steif. „Dann haben wir den richtigen Abzweig verpaßt, ja?“ Ben Brightons Schultern wurden kantig. Big Old Shane, Ed Carberry und Old O’Flynn verfolgten stumm den Dialog, alle drei mit einem leicht mulmigen Gefühl in den Knochen_
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„Wir sind an keinem Abzweig vorbeigesegelt, Sir“, sagte der Bootsmann und erste Offizier entschieden. „Nur an ein paar toten Armen, die erstens zu schmal waren und zweitens in die falsche Richtung führten: Hasard mußte tief Luft holen, um nicht aus der Haut zu fahren. Wenn Ben Brighton so etwas sagte, dann stand es normalerweise so fest wie der Tower in London. Nur konnte es in diesem Fall nicht stimmen. Sie segelten nicht zum offenen Meer, sondern ins Delta zurück, also mußte dem Bootsmann ein Fehler unterlaufen sein. Ein Fehler, den er nicht einsah. „Sir, ich habe mich garantiert nicht versegelt. Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist, aber ich bin völlig sicher ...“ „Verdammt, Ben, jetzt halt mal die Luft an! Wir sind alle nicht mehr ganz auf der Höhe. Wahrscheinlich hat dir dieses Fieber den Blick vernebelt und ...“ „Ich habe kein Fieber. Wenn ich auch nur im geringsten angeknackst gewesen wäre, hätte ich mich gemeldet und das Kommando abgegeben. Ich bin nämlich kein Idiot, Sir. Und blind schon gar nicht.“ „Ich auch nicht“, sagte Hasard gereizt. „Hier sind wir falsch, das steht fest. Deshalb werden wir die nächste Gelegenheit zum Wenden nutzen, zurücksegeln und den verdammten Mündungsarm suchen, klar?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ben - mit der. Betonung auf Sir. Ed Carberry kratzte unbehaglich sein Rammkinn, weil er den Bootsmann selten mit einem so rebellisch entschlossenen Ausdruck in den Augen gesehen hatte. Hasard hätte sich am liebsten die Haare gerauft, weil er Ben Brightons Versicherung und den unleugbaren Tatsachen gleichermaßen glaubte, was ein Unding war, da das eine das andere ausschloß. Die Wendemöglichkeit ließ auch auf sich warten. Die stellte sich erst eine halbe Stunde später ein, als der Seewolf allmählich in die Stimmung geriet, Masten
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aus dem Kielschwein zu rupfen oder mit Kanonenkugeln Ball zu spielen. Die „Isabella“ segelte den Weg zurück, den sie gekommen war, mit dem Erfolg, daß sie am Ende wieder dort landete, wo sie schon einmal Anker geworfen hatte. Die Männer schwiegen, starrten auf ihre eigenen Fußspuren im weichen Boden und benahmen sich allesamt etwas lahm, als der Seewolf „Klar zur Wende“ befahl. Fast wären sie zu dicht unter Land geraten. Ed Carberry brüllte und fluchte, als wolle er die schwarze Brühe zum Kochen bringen. Old O’Flynn bekreuzigte sich und murmelte etwas von „Hexerei“. Ben Brighton, der sich bis jetzt in Schweigen gehüllt hatte, benagte heftig seine Unterlippe. „Ich versteh das nicht“, murmelte er. „Ich auch nicht“, knurrte Hasard. „Tut mir leid, Ben ...“ „Geht schon klar. Ist ja auch wie verhext.“ Er zögerte und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dunkelblonde Haar. „Ich kann mir die Sache nur so erklären, daß der Tidenhub diesen ganzen Scheiß-Sumpf umkrempelt. Vielleicht habe ich mich von irgendwelchem hochgeschwemmten Zeugs täuschen lassen. Da war so ein komisches Rinnsal, durch das wir uns vielleicht gerade noch weitermogeln könnten.“ „Nur daß die Richtung nicht stimmt“, sagte Hasard erbittert. „Aye, Sir. Aber die stimmt ja sowieso nirgends.“ „Hexerei“, murmelte Old O’Flynn. „Ich sag’s ja, das ist Hexerei! Wir werden nie mehr aus diesem Labyrinth hinausfinden. Wir werden bis in alle Ewigkeit im Kreis herumirren und ...“ „Donegal“, sagte der Seewolf gefährlich leise. „Noch einmal das Wort Hexerei, und du wirst bis in alle Ewigkeit in der Vorpiek schmoren, verstanden?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Old O’Flynn ebenfalls mit der Betonung auf Sir. Seinem verwitterten Gesicht war anzusehen, daß ihn nichts und niemand von seiner Meinung abbringen würde - basta.
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Und die Blicke einiger anderer verrieten, daß sie sich zu fragen begannen, ob der Alte möglicherweise recht hatte. Drei Stunden später stand fest, dass die „Isabella“ hoffnungslos im Labyrinth des Deltas verirrt war. Der Seewolf stand auf dem Achterkastell, die Zähne so hart aufeinandergepreßt. daß die Kiefermuskeln hervortraten. Er hatte durchaus nicht die Orientierung verloren. Er wußte, wo sie sich befanden, er wußte, in welche Richtung sie mußten, er konnte manchmal sogar das offene Meer sehen, wenn sie Gebiete niedrigen, von Tümpeln durchzogenen Sumpfgrases durchsegelten. Nur wie sie dorthin gelangen sollten, wußte er beim besten Willen nicht. Die „Isabella“ hatte keine Flügel. Sie mußte sich an die Wasserarme halten, und die führten aller Logik zum Trotz immer wieder tiefer in das Schwemmland. Dann, als nach stundenlanger Odyssee die Dämmerung einsetzte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Sam Roskill hatte Blacky als Lotgast abgelöst. Mit schöner Regelmäßigkeit Banger drei oder dreieinhalb Faden aus, manchmal zweieinhalb, was schon kritisch war, aber jedesmal schnell vorbeiging. Bis zu jener Stelle, wo am Ufer eine gewaltige Sumpfzypresse ihre parasitenbehangenen Äste reckte_ Nichts verriet die Untiefe, nicht der kleinste Schaumwirbel. Aber sie war da, und die „Isabella“ segelte in die weit offene Falle. „Wahrschau! Zwei Faden!“ schrie Sam mit überschnappender Stimme. „Backbrassen! Fallen Anker!“ brüllte Hasard sofort. Aber diesmal waren auch die Seewölfe nicht schnell genug, um das Verhängnis abzuwenden. Es knirschte unter dem Kiel. Die Segel killten, der Anker klatschte ins Wasser — zu spät. Unaufhaltsam bohrte sich der Bug in den Grund, Sekundenspäter saß die Galeone fest und rührte sich nicht mehr. „Prächtig“, sagte der Seewolf durch die Zähne.
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Aber er sagte es so, daß seine Männer die Köpfe einzogen und sogar das Fluchen vergaßen. * Ein paar Minuten später kenterte die Tide. Hasard starrte in das ablaufende Wasser. Nach einer endlosen Zeit, so schien es wenigstens, wandte er sieh den Männern auf dem Achterkastell zu. „Das ist eine Falle“, sagte er lakonisch. „Waaas?“ fragte Ed Carberry. „Es ist eine Falle“, wiederholte der Seewolf. „Die Mon haben uns in dieses verdammte Delta gelockt und uns irgendwie den Rückweg abgeschnitten. Sie wußten, daß wir nur in eine bestimmte Richtung ausweichen konnten und über kurz oder lang aufbrummen würden.“ „Kyan Ki“, murmelte Ben Brighton. „Genau.“ Hasard nickte. „Er hat irgendetwas in unser Wasser gemischt, um uns zu zwingen, die Küste anzulaufen.“ „Aber woher konnte er wissen ...“ „Die Boote mit den Flüchtlingen, Ben.“ „Du meinst, der Kerl gehört zu dem Piratengesindel?“ „Glaube ich nicht. Das waren keine Mon. Außerdem traue ich diesem Kyan Ki alles mögliche zu, aber kein so brutales Massaker unter Frauen und Kindern. Nein, Ben, da muß etwas anderes im Spiel sein, etwas, das wir noch nicht wissen.“ Der Bootsmann nickte nur. Auf der Kuhl griffen die Männer zu den Waffen, die schon vorher ausgegeben worden waren. Ben Brighton hatte als erster den Verdacht geäußert, daß sie das Spiel ihrer Gegner spielten, wenn sie in das Delta segelten. Inzwischen war der Verdacht fast zur Gewißheit geworden. Die „Isabella“ saß fest. Die einsetzende Ebbe machte jeden Befreiungsversuch sinnlos. Die Tatsache, daß sie Kranke an Bord hatten und sich das Fieber möglicherweise noch mehr ausbreiten würde, trug auch nicht dazu bei, die Lage zu verbessern. Der Seewolf musterte aus schmalen Augen das Gelände.
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Ein paar flache Tümpel, die wahrscheinlich bald von der Ebbe trockengelegt werden würden. Wucherndes Sumpfgras, blubbernde Schlammlöcher, in einiger Entfernung die grünen Wände des Urwalds. Ein paar schmale Wasserarme fächerten in verschiedene Richtungen auseinander. Die Gegner konnten praktisch überall stecken. Aber wenigstens wuchsen die nächsten Urwaldriesen nicht in unmittelbarer Nähe, also bestand keine Gefahr, daß Angreifer aus den Baumkronen auf die Decksplanken sprangen. Nein, bevor sie enterten, mußten sie sich zunächst einmal zeigen. Die Falle war raffiniert, aber nicht perfekt. Nicht für die Seewölfe, die ihre Lady notfalls in eine feuerspeiende Festung verwandeln konnten und wie die Teufel zu kämpfen verstanden. Sie brauchten keinen Befehl, um die „Isabella“ gefechtsklar zu machen. Ein paar Flaschenbomben befanden sich ohnehin schon an Deck. Und zwar bis knapp unter den Korken mit der Zündschnur im kühlen Wasser einer Pütz — darauf achteten Ferris Tucker und Al Conroy mit Argusaugen. Die „Höllenflaschen“, die der rothaarige Schiffszimmermann schon vor Jahren erfunden hatte, waren nämlich mit Pulver, gehacktem Blei und Nägeln gefüllt. Schwarzpulver konnte sich bei großer Hitze von selbst entzünden, vor allem in Flaschen, die wie ein Brennglas wirkten. Deshalb hütete Ferris die Dinger sorgfältiger als rohe Eier. Früher hatten sie die Flaschen im Handbetrieb geworfen, wenn es galt, einer Übermacht zu trotzen. Inzwischen gab es Abschuß-Gestelle, die ihre tödliche Last wesentlich weiter beförderten, als es menschliche Arme vermochten. Das Prinzip war das gleiche wie bei den chinesischen Brandsätzen. Aber die verwendeten die Seewölfe nur im äußersten Notfall. Einmal, weil sie nicht unbegrenzt zur Verfügung standen, zum anderen, weil es die „Isabella“-Crew meist
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auch ohne diese Waffen schaffte, ihre Gegner das Fürchten zu lehren. Die Mon waren sicher ernsthafte, aber ebenso sicher in ihren Mitteln beschränkte Gegner. Hasards Blick glitt aufmerksam in die Runde. Er rechnete mit einem schnellen Angriff. Die Mon würden vermutlich den Überraschungseffekt nutzen wollen. Ringsum schien die Luft zu kochen, Sumpfgras und Dickicht verschwammen hinter einem opalisierenden Schleier. Hasard glaubte, an Steuerbord eine Bewegung zwischen Urwaldriesen und baumelnden Lianen wahrzunehmen. Er kniff die Augen zusammen — und da sah er sie. Boote! Schnelle, flache Flußkähne, mindestens zwei Dutzend an der Zahl. Aus allen Richtungen näherten sie sich und schossen aus ihren Verstecken zwischen Lianen, Schlinggewächsen und den übermannshohen Gräsern. Die Mon mußten sehr genau gewußt haben, wo die „Isabella“ auflaufen würde. Sie hatten einen unsichtbaren Ring gezogen — einen Ring, der sich jetzt schloß und wie eine Falle zuschnappte. „Musketenfeuer auf die Boote!“ befahl Hasard mit ruhiger Stimme. „Durchlöchert ihnen die Bordwände!“ „Feuer, ihr Himmelhunde!“ brüllte Ed Carberry — und im nächsten Augenblick begannen die Musketen zu krachen. Der Seewolf nahm das Boot aufs Korn, in dem er die hochaufgerichtete Gestalt Kyan Kis erkannte. Ein verwandelter Kyan Ki! Glitzernde Juwelen schmückten seinen Turban. Mantel, Schärpe und Pluderhosen verrieten trotz der Spuren von Hitze und Schmutz noch exotische Pracht. Das blankgezogene Krummschwert funkelte in der Sonne. Kyan war zu stolz, um sich wie die anderen möglichst tief zu ducken. Hasard hätte den Burschen ohne weiteres abschießen können, aber er zielte auf die Außenbeplankung des Bootes. Jäh klaffte dort ein Loch in der Wasserlinie.
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Das Krachen der Musketen erfüllte die Luft, ein halbes Dutzend von den flachen, schnellen Fahrzeugen wurde getroffen. Körper klatschten ins Wasser, zwei Boote sackten in Sekundenschnelle ab. Aus den Augenwinkeln sah Hasard, daß die Zwillinge zum Schanzkleid gekrochen waren und Musketen nachluden. Notwendig genug! Die Seewölfe mußten sich nach allen Seiten verteidigen, waren hoffnungslos in der Minderzahl - und die Mon griffen entschlossen und massiert an, weil sie wußten, daß sie ohne Feuerwaffen nur im Enterkampf eine Chance hatten. Ein Enterkampf aber wäre bei dieser erdrückenden Übermacht für die „Isabella“ das Ende gewesen_ Jeder Mann der Crew hätte es vorgezogen, sich mit gleichen Waffen zu wehren, doch sie waren keine Selbstmörder. Hier ging es um das Schiff. ums nackte Überleben, um alles. Schon stießen weitere Boote aus den schmalen Wasserarmen und den Lücken zwischen dem Sumpfgras. Wenn die Mon es schafften, auch nur ein Drittel ihrer Fahrzeuge durchzubringen, würden sie die Seewölfe überrennen. „Gezielt feuern!“ peitschte Hasards Stimme. „Ferris! Flaschenbomben nach Backbord und Steuerbord!“ „Aye, aye. Sir!“ Der rothaarige Riese biß die Zähne zusammen. Auf einen Wink ließen Luke Morgan, Blacky und Stenmark die Musketen fallen. Immer noch krachten Schüsse; und jetzt mischten sich gellende Schreie in das teuflische Stakkato. Je zwei von den Höllenflaschen trudelten an Backbord und Steuerbord mit brennenden Lunten durch die Luft. Dicht über dem Wasser explodierten sie mit ohrenbetäubendem Krachen. Eine landete genau im Bug eines Bootes. Hasard schloß sekundenlang die Augen und verfluchte die Umstände, die ihnen diesen höllischen Kampf aufgezwungen hatten. Im nächsten Moment zeigte ihm Ed Carberrys Donnerstimme, daß sie wahrlich
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Grund genug hatten, sich mit allen Mitteln zu wehren. „Wahrschau! Drei Boote sind durch!“ Dabei packte der Profos auch schon die Muskete am Lauf und beugte sich weit über das Schanzkleid, um die Waffe als Keule zu benutzen. Hasard biß die Zähne zusammen, warf sich herum und landete mit einem Satz auf der Kuhl. Der wilde Angriff konzentrierte sich inzwischen auf die Flanken der „Isabella“. Vorn und achtern nämlich spuckten die Drehbassen gehacktes Blei. Mit den schweren Culverinen dagegen war bei dem Gewimmel der Boote wenig auszurichten. Das mußten inzwischen auch die Mon bemerkt haben. Klatschende Geräusche verrieten, daß die ersten Enterversuche kläglich scheiterten. Aber die Seewölfe steckten in einer Zwickmühle. Sie waren zu wenige um gleichzeitig auf feindliche Köpfe zu hauen und sich mit gezieltem Musketenfeuer die restlichen Boote vom Leib zu halten. Hasard fing einen Blick von Ferris Tucker auf und nickte knapp. „Raus mit den Höllenflaschen!“ brüllte der rothaarige Riese. „Schmeißt, was ihr könnt! Diese Affenärsche sind selbst schuld, wenn ihnen die Klamotten um die Ohren fliegen!“ Wieder sausten mörderische Geschosse. Hasard kam nicht dazu, auf die Wirkung zu warten, denn im selben Augenblick gelang es einem halben Dutzend Angreifern, sich über die Schanzkleider zu schwingen und zu entern. Gutturales Geschrei durchzitterte die Luft, Krummschwerter blitzten, und den Seewölfen blieb nichts übrig, als ihrerseits nach Säbeln, Handspaken und Entermessern zu greifen. Die Mon hatten keine Chance. Sie waren zu wenige, und die Flaschenbomben hatten inzwischen die restlichen Boote zurückgetrieben und das Wasser freigefegt. Kyan Ki war der letzte, dem es gelang, an Bord zu klettern. Und er war der erste, der wieder im Wasser landete. Drei, vier der Seewölfe fuhren zu ihm herum, jeder bestrebt, persönlich mit
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dem heimtückischen Halunken abzurechnen. Aber inzwischen waren auch die Zwillinge auf ihre „Gefechtsstation“ gegangen. Die befand sich im offenen Kombüsenschott, und da ihnen keine Zeit geblieben war, Kokosnüsse zu mannen, benutzten sie die gußeisernen Topfdeckel des Kutschers als Wurfgeschosse. Kyan Ki wurde am Kopf getroffen, taumelte gegen das Schanzkleid zurück und kippte außenbords. Zwei von den Mon sprangen freiwillig, als der schwarze Herkules Batuti mit gefletschten Zähnen, rollenden Augen und kreisendem Morgenstern auf sie losging. Hasard duckte sich unter einem Krummschwert weg und rammte dem Besitzer die Faust unter das Kinn. Der vorletzte Mann schloß Bekanntschaft mit Jeff Bowies Hakenprothese, den letzten beförderte Ed Carberry außenbords. Schreie gellten, Pulverdampf verhüllte in dichten Schwaden die Szenerie, und Sekunden später begann wieder das Musketenfeuer. Die Angreifer wandten sich zur Flucht. Sie hatten sich blutige Köpfe geholt und begriffen, daß sie die „Isabella“ nicht so einfach einsacken konnten. Irgendwo schrie Kyan Ki Befehle in seiner Heimatsprache. Er war in eins der Boote geklettert, triefend naß, aber immer noch stolz und aufrecht, und bemühte sich, einen halbwegs geordneten Rückzug zustande zu bringen. Hasard ließ das Feuer einstellen, als en sah, daß die Mon verzweifelt versuchten, ihre Toten und Verwundeten in die Boote zu ziehen. Eine fast gespenstische Stille senkte sich über den Kampfplatz. Nur die Riemen klatschten, trieben die Boote rauschend über das Wasser. Der Seewolf stand am Schanzkleid, und für Sekunden konnte er deutlich den Blick Kyan Kis spüren. Verzweiflung und Bitterkeit zeichneten das Gesicht des jungen Mannes. Immer noch wurde Hasard -den Eindruck nicht los, daß es im Grunde ein ehrliches Gesicht war. Warum? fragte er sich.
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Was versprachen sich diese Menschen davon, die „Isabella“ zu entern? Was trieb sie dazu, es so wild und verzweifelt zu versuchen? Fragen, auf die er im Augenblick keine Antwort wußte. 6. Stille, lastend, lähmend - unheilschwanger wie die grüne, schattige Tiefe des :Dickichts. Die „Isabella“ lag inzwischen völlig trocken. Ringsum durchzogen nur noch wenige dünne Rinnsale den von Bootstrümmern bedeckten Boden. Die Seewölfe warteten. Vor der nächsten Flut konnten sie nichts zu ihrer Befreiung unternehmen. Da sie mit einem weiteren Angriff rechnen mußten, war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als die Galeone in eine Festung zu verwandeln. Jetzt standen auch die Bronzegestelle bereit, mit denen die chinesischen Brandsätze abgefeuert wurden. Alle möglichen Behältnisse. von leeren Ölkruken bis zu ausgehöhlten Kokosnüssen, wären zu Flaschenbomben umfunktioniert worden. Musketen und Tromblons lehnten griffbereit an den Schanzkleidern, die Culverinen waren ausgerannt, die Drehbassen konnten binnen Sekunden besetzt werden.’ Alles in allem bot die „Isabella“ einen wahrhaft bedrohlichen Anblick. Aber schließlich war ja auch anzunehmen, daß die Mon bei ihrem nächsten Angriff gewarnt waren und sich etwas einfallen ließen, zumal sie jetzt nicht einmal mehr ihre Boote benutzen konnten. Die Kranken hatte Hasard vorsichtshalber unter Deck bringen lassen. Inzwischen waren es schon sechs. Das Fieber hatte auch Jeff Bowie gepackt. Da nutzte es gar nichts, daß der stämmige grauäugige Mann mit der Hakenprothese eisern gegen die Schwäche anzugehen versuchte. Er hatte sich so lange zusammengerissen. bis er einfach umkippte. Zwei Mann trugen ihn in die Mannschaftsmesse. und der Kutscher
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fluchte das Blaue vom Himmel, um zu verbergen, daß er sich immer hilfloser fühlte. Die Zwillinge wurden als Krankenwachen eingeteilt. Möglich, daß sie sich ansteckten, aber in Gefahr befanden sie sich so oder so, das ließ sich nun einmal nicht ändern. Die Stimmung war gedrückt. Den Männern spukten alle möglichen Berichte über „Totenschiffe“ in den Köpfen herum, über Krankheiten, die ganze Besatzungen dahinrafften und nur Gerippe übrigließen. Dann schon lieber ein greifbarer Feind. dem man eine solide Handspake über den Schädel ziehen konnte! Wenn es- sein mußte, sogar eine Übermacht! Der würden sie dann schon zeigen, woher der Wind in der Hölle wehte. Stumm und verbissen warteten sie, und der Seewolf hatte den Eindruck, daß sie den nächsten Angriff beinahe herbeisehnten, damit endlich die Untätigkeit ein Ende hatte. Jäh ruckten die Köpfe der Männer hoch, als Bills Stimme aus dem Großmars erklang. „Wahrschau! Boot Steuerbord querab!“ Schultern wurden gestrafft, Fäuste griffen zu den Musketen. Von einer Sekunde zur anderen schien sogar der lähmende Druck der Hitze zu weichen. Doch der erwartete Angriff ließ vorerst auf sich warten. Nur das eine Boot löste sich aus dem Schatten der riesigen Sumpfzypresse. Ein einzelner Mann pullte es aus dem schützenden Dickicht. Weit gelangte er allerdings nicht. Schon nach wenigen Yards schrammte der Kiel über den schlammigen Boden, und der Bursche mußte die Riemen einholen. „Ob das eine Art Parlamentär sein soll?“ fragte Ben Brighton verblüfft. Hasard zuckte mit den Schultern. „Möglich! Vielleicht haben sie keine Lust, zu Fuß anzugreifen oder bis zur nächsten Flut zu warten.“ „Ha!“ knurrte Ed Carberry. „Und was, zum Teufel, meinen die, gibt es zu verhandeln nach der Schlappe, die sie sich geholt haben?“
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„Das möchte ich auch gern wissen.“ Hasard runzelte die Stirn. „Augenblick mal! Ich glaube nicht, daß das überhaupt ein Mon ist.“ „Stimmt“, sagte Carberry nach kurzem Zögern. „Die Mon gleichen den Malaien. Der Kerl da erinnert mich mehr an die Zopfmänner aus dem Reich des großen Chan.“ Der Seewolf lächelte matt. Seiner Meinung nach war der Unbekannte den „Zopfmännern“ ebenso wenig ähnlich wie die Mon den Malaien. Aber daß der schlanke, fast zierliche Mann, der da zögernd und sichtlich verängstigt durch den Schlick watete, einem anderen Volk entstammte als zum Beispiel Kyan Ki, das stand außer Frage. Seine Kleidung bestand aus Lumpen. Ein paar kaum vernarbte Wunden an seinem Körper ließen vermuten, daß er rauhe Zeiten hinter sich hatte. Deutlich war zu sehen, daß seine Angst immer größer wurde, je mehr er sich der „Isabella“ näherte. Aber er blieb nicht stehen, sondern wankte mit weichen Knien weiter. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß er diejenigen, die ihn geschickt hatten, noch mehr fürchtete als das, was möglicherweise vor ihm lag. Erst in Hörweite verharrte er. Seine Augen flackerten, das dunkle Gesicht sah grau aus. „Nicht töten!“ rief er heiser auf Spanisch. „Ich bin kein Mon! Ich bin nur ein Gefangener! Sie haben mich gezwungen ...“ * Ein paar Minuten später stand der Fremde an Deck – schon ein wenig beruhigt, da niemand Anstalten traf, ihn zu massakrieren. Birmane sei er, berichtete er in holprigem Spanisch Sein Volk führte Krieg gegen die Mon. Er war in die Gefangenschaft des Stammes geraten, der sich vor den nachrückenden Armeen in eine uralte Dschungelfestung am Irawadi zurückgezogen hatte. Spanisch sprach er, weil sich vor Jahr und Tag
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einmal ein paar gestrandete Dons bis ins Gebiet der Birmanen durchgeschlagen hatten. Dort schienen die Spanier dann, soweit es die Seewölfe verstanden, zusammen mit einem einheimischen Magier oder Priester ihr kleines Privatreich gegründet zu haben. Ihr Ziel war die Unterwerfung der Mon. Und vor allem die Eroberung der geheimnisvollen Dschungelfestung mit den legendären Schätzen, die man dort vermutete. Schätze, nach denen auch eine Piratenhorde, die vor der Küste räuberte, ihre gierigen Finger ausstreckte! Das alles sprudelte der kleine, schlanke Birmane hastig hervor. Danach begriffen die Seewölfe immerhin, daß sich das Volk der Mon tatsächlich in einer verzweifelten Lage befand, die sie in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade zimperlich sein ließ. Sie kämpften gegen eine Übermacht, und dazu noch nach zwei Seiten. Sie brauchten Waffen. Und genau das war vermutlich der Punkt, auf den diese ganze undurchsichtige Geschichte hinauslief. Kyan mußte den Plan gefaßt haben, als er sah, mit welcher Leichtigkeit die „Isabella“ das Piratenschiff in die Flucht schlug. Kein schlechter Plan, dachte Hasard anerkennend. Der junge Mon-Krieger hatte viel aufs Spiel gesetzt und noch nicht verloren. Er hatte das Risiko allein getragen und keinen anderen vorgeschoben. So wie er auch jetzt den gefangenen Birmanen nur seiner Sprachkenntnisse wegen geschickt hatte und sicher nicht. um sich feige hinter ihm zu verstecken. Für den Gefangenen allerdings war das kein Unterschied. Er starb fast vor Angst. Immer ausführlicher erzählte er von den letzten freien Mon in ihrer Dschungelbastion, von dem MagierPriester, von einer geheimnisvollen „Schwarzen Pagode“, von den gefährlichen Piraten - und das alles offenbar in dem Bemühen, nicht so schnell auf den eigentlichen Kern der Sache zu kommen. „Die Mon haben dich als Boten geschickt“, half ihm Hasard schließlich auf die Sprünge. „Was wollen sie?“ Der Birmane -
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er hatte sich als Pak-Sung vorgestellt senkte den Kopf. Es kostete ihn Überwindung, die nächsten Worte auszusprechen. Offenbar fürchtete er einen Wutausbruch, den er nicht überleben würde. „Die Waffen“, flüsterte er. „Sie wollen alle Waffen des Schiffs.“ Schweigen. „Das ist ja ein dicker Hund“, sagte Ben Brighton erschüttert. „Heiliger Kombüsenschlot!“ knurrte Ed Carberry. „Die haben wohl Kakerlaken im Hirn, was, wie? Denen muß mal einer die Gehirnwindungen spleißen, damit sie wieder denken können, diese quergestreiften Sumpf -Stinten, diese...“ Hasard, der etwas Ähnliches erwartet hatte und nicht sonderlich überrascht war, unterbrach den Profos mit einer knappen Geste. „So, sie wollen also unsere Waffen“, wandte er sich an den Birmanen. „Und was soll die Gegenleistung bei diesem Geschäft sein?“ „Sie können eure Kranken heilen. Und sie können euer Schiff befreien und euch den Weg ins offene Meer zeigen.“ Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. So war das also. Die Mon versuchten es mit einer Art Aushungerungstaktik. Sie vertrauten darauf, daß die unbekannte Krankheit zu ihrem Verbündeten werden würde, daß ihre Gegner nachgaben, um der teuflischen Falle zu entrinnen. Nicht gerade die fairste Art zu kämpfen, dachte Hasard erbittert. Aber die Mon würden sich täuschen. Daß sie überhaupt auf die Idee verfielen, die Seewölfe könnten ihre Waffen freiwillig ausliefern, sprach von beträchtlicher Ahnungslosigkeit. Da konnte die Crew genauso gut gleich die ganze „Isabella“ ausliefern und zu Fuß laufen. Die Chancen, irgendwann heil nach Old England oder zur Schlangen-Insel zurückzufinden, waren in beiden Fällen ungefähr gleich. Hasard atmete tief durch. „Wer ist der Anführer der Mon?“ wollte er wissen.
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„Prinz Yannay Ki“, erwiderte der Birmane heiser. „Auch das noch!“ stöhnte Ed Carberry. „Ein Prinz! Der wird sich wundern“, wenn ich ihm die Haut in Streifen von seinem hoheitlichen Hintern ...“ „Wo stecken sie?“ fragte der Seewolf. „Wo ist ihr Lager?“ Der Birmane schluckte. „Sie werden mich töten, wenn ich es verrate. Sie werden ...“ „Willst du zurück?“ unterbrach ihn Hasard. Der Birmane starrte ihn an. Jähe Hoffnung flackerte in seinen dunklen Augen. „Nein, ich will nicht zurück!“ stieß er hervor. „Laßt mich hierbleiben, Herr! Ihr seid stärker als die Mon! Rettet mich! Ich werde euch ewig danken!“ „Es genügt, wenn du uns beschreibst, wo genau das Lager der Mon liegt“, sagte Hasard trocken. „Yannay Ki kennen wir, den werden wir schon finden. Und dann wollen wir mal sehen, was den Herren die Rückgabe eines leibhaftigen Prinzen wert ist.“ * „Natürlich bist du verrückt“, sagte Big Old Shane, der hünenhafte Schmied von Arwenack, eine halbe Stunde später. „Wenn es etwas nützte, würde ich dir glatt das gleiche erzählen wie damals, als du noch ein zu lang geratener Rotzlöffel warst.“ Hasard grinste. „Wer gegen den Wind pißt, kriegt nasse Hosen, ich weiß. Aber im Ernst: Hast du eine bessere Idee?„Nein.“ Der bärtige Riese schüttelt sein graues Haupt. Er war der einzige, der sich bisweilen solche Töne herausnehmen konnte. „Nur ändert das nichts daran, daß es ein Wahnsinnsplan ist, diesen Yannay Ki mitten aus seinem Hauptquartier herausholen zu wollen.“ „Klar ist es ein Wahnsinnsplan“, sagte Hasard trocken. _Darauf beruhen ja gerade die Erfolgsaussichten. Mit einer solchen Möglichkeit werden unsere Gegner nicht einmal im Traum rechnen. Und sobald wir Yannay haben, werden wir die Bedingungen stellen.“
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„Weil wir den Affenärschen dann nämlich drohen können, die prinzliche Hoheit scheibenweise an die Krokodile zu verfüttern“, ergänzte Ed Carberry zufrieden. „Ich bin dabei. Wie wär’s, wenn wir diesem Pak-Soundso ein bißchen Feuer unter dem Allerwertesten entzünden, damit er uns führt?“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. Es widerstrebte ihm, den wehrlosen Gefangenen in die Sache hineinzuziehen. Für das Gelingen ihres Plans wäre es zweifellos günstiger gewesen, zu schweigen, auf Zeitgewinn zu spielen und den. Birmanen zurückzuschicken. Das Ausbleiben des Unterhändlers würde die Gegner mißtrauisch werden lassen und die Sache komplizieren. Aber Pak-Sung hatte vor den Mon eine so heillose Angst, daß es Hasard nicht über sich gebracht hätte, ihm das vorläufige Asyl auf der „Isabella“ zu verweigern. „Den Weg werden wir auch nach der Beschreibung finden“, sagte der Seewolf knapp. „Also wir beide, Ed, und als dritter Mann Batuti.“ „Sind drei nicht etwas wenig. Sir?“ fragte Ben Brighton besorgt. „Wir haben nicht vor, die Mon-Armee auszurotten.“ „Aber ...“ „Rechne mal nach, Ben! Wir sind zweiundzwanzig Männer an Bord. Wenn du die sechs Kranken und den Stoßtrupp abziehst, bleiben noch dreizehn. Kannst du mir verraten. wie du mit weniger als dreizehn Mann die ‚Isabella’ halten willst, wenn die Mon angreifen?“ „Wenn sie angreifen“, sagte der Bootsmann. „Das werden sie sogar sehr wahrscheinlich tun, sobald sie ihren Unterhändler vermissen. Falls die Lage hier brenzlig wird, schießt ihr einen Feuerwerkskörper ab. Nehmt die Sorte mit den roten Schlangen. die lassen sich am besten von den Brandsätzen unterscheiden. Wir brechen auf, sobald es dunkel wird. Noch Fragen?“ „Dreizehn“, murmelte Old O’Flynn.
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Das war zwar keine Frage, aber ein abgrundtiefer Stoßseufzer. Hasard verzog das Gesicht. „Rechne den Birmanen dazu, dann hast du vierzehn“, knurrte er. ..Ich halte es ohnehin für ziemlich sicher, daß der Bursche wie der Teufel kämpfen wird. Die Mon dürften ihm die Haut abziehen, wenn sie ihn kriegen.“ „Das sollten sie mal wagen!“ drohte Carberry. ..Wenn die nicht spuren, reiße ich diesem Yannay die prinzlichen Ohren ab und verfüttere sie an Sir John. He, verdammt, wo steckt die Nebelkrähe überhaupt?“ Die „Nebelkrähe“ war nirgends zu Wahrscheinlich unternahm der Papagei einen Ausflug in den Urwald, der ihn an seine heimatliche Wildnis erinnerte. Im allgemeinen kehrte er von solchen Extratouren getreulich zurück. Nur passierte es bisweilen, daß er in kritischen Situationen im ungeeignetsten Moment dort auftauchte, wo er nichts zu suchen hatte. Ändern ließ sich das leider nicht. Sir John konnte zwar auf Englisch. Spanisch und dank der Zwillinge inzwischen auch auf Türkisch fluchen, aber das hieß nicht, daß man ihm hätte verklaren können, was Borddisziplin war. Eine knappe Stunde später versank die Sonne hinter dem westlichen Horizont. Die Dunkelheit folgte rasch, fast übergangslos, wie immer in diesen Breiten. Binnen kurzem würden Mondschein und der prachtvolle südliche Sternenhimmel die Nacht erhellen. Noch lagerten tiefe malvenfarbene Schatten über dem Schwemmland. Aus Rinnsalen und wucherndem Sumpfgras stieg leichter Nebel auf, und die drei Seewölfe nutzten die Gunst der Stunde. Sie benutzten nicht die Jakobsleiter, sondern hangelten sich im Schatten des Bugspriets an einem Tampen von Bord. Lautlos wie Schlangen glitten sie vorwärts, krochen dicht über den Boden, und ihre Gestalten verschmolzen mit der Dunkelheit. Schon nach wenigen Minuten waren sie von der „Isabella“ aus nicht mehr zu sehen.
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Für die Männer an Bord schien sich die Zeit des Wartens endlos zu dehnen. Ben Brighton bewegte sich wie ein unruhiger Geist auf dem Achterkastell. Seine Augen glitten aufmerksam in die Runde, nicht die kleinste Kleinigkeit entging ihm. Er fühlte sich verantwortlich für das Debakel. Inzwischen stand zwar fest, daß die Mon sie mit irgendeinem miesen Trick hereingelegt hatten, aber das änderte nichts an Ben Brightons Überzeugung, daß es seine Aufgabe gewesen war, den miesen Trick zu bemerken, während der Seewolf seine Blessuren behandeln ließ. Überhaupt, diese Verletzungen! Es ging einfach nicht an, kurz nach einem wüsten Kampf mit zwei leibhaftigen schwarzen Panthern schon wieder im Urwald herumzukriechen. Der Kutscher hätte protestieren müssen. Hätte, hätte! Ben Brighton schüttelte den Kopf, seufzte und Wußte, daß es Augenblicke gab, in denen nicht einmal der Satan persönlich mit sämtlichen Unterteufeln als Rückendeckung gegen Philip Hasard Killigrews Beschlüsse protestieren würde. „Ja, ja“, murmelte Big Old Shane, als könne er Gedanken lesen. Der alte O’Flynn pochte rhythmisch mit seinem Holzbein an die Schmuckbalustrade und hüllte sich in Schweigen. Er wußte, es wäre gesundheitsschädlich gewesen, jetzt Schwarzsehereien loszulassen. Die Männer sahen ohnehin schwarz, das verrieten ihre grimmigen Gesichter. Unten auf der Kuhl unterhielt sich Ferris Tucker flüsternd mit dem schwarzhaarigen Stückmeister Al Conroy. Pete Ballie, der im Augenblick beschäftigungslose Rudergänger, tauchte aus dem Niedergang zum Vorschiff auf, wo er kurz nach den Kranken gesehen hatte. Sein hilfloses Achselzucken verriet, daß die Lage unverändert war. Der Kutscher, vollauf beschäftigt, hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr an Deck blicken lassen.
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Am Steuerbord-Schanzkleid stand der kleine. schlanke Birmane und ließ sich von dem gutmütigen Blacky im Musketenschießen unterweisen. Pak-Sung wollte kämpfen, daran gab es keinen Zweifel. Wenn es hart auf hart ging. würden sich vermutlich auch die Zwillinge nicht mehr halten lassen und wieder einmal die Kombüse nach Wurfgeschossen ausplündern. Sogar Arwenack, der Schimpanse, der auf einer Webleine des Steuerbord-Hauptwants schaukelte, wog spielerisch einen Belegnagel in der Pfote, als spüre er, daß etwas in der Luft lag. „Sie sind da“, murmelte Old O’Flynn. „Sie beobachten uns! Ich spür’s in den Knochen.“ „Donegal ...“ begann Ben Brighton drohend. Abrupt verstummte er. In dieser Sekunde nämlich erwies sich, daß der knorrige Alte recht hatte. Die Mon waren wirklich da. Sie steckten im Dickicht, zwischen Lianen und Urwaldriesen, tief verborgen im Sumpfgras. Jetzt brachen sie alle auf einmal aus ihren Verstecken hervor wie eine Horde heulender Dämonen. * „Verdammt!“ knirschte Ed Carberry zwischen den Zähnen. „Krach, krach, bumm!“ flüsterte Batuti. „Vieles böses Mon gegen armes kleines ,Isabella`.“ In solch schauderhaftes Englisch fiel der schwarze Mann aus Gambia nur noch zurück, wenn er sich aufregte. Daß ihn der ferne Kampflärm aufregte, war nicht weiter verwunderlich. Da krachten Musketen, donnerten Drehbassen, explodierten Flaschenbomben, und abwechselnd trug der Wind das donnernde „Arwenack“ der Seewölfe herüber und das kehlige, tremolierende Geschrei. mit dem die Angreifer sich Mut zuschrien. Hasard preßte die Lippen zusammen. Er war sicher, daß sie den Widerschein des chinesischen Feuerwerkskörpers deutlich sehen würden. Noch waren seine Männer
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nicht in die Lage geraten, das Notsignal geben zu müssen. Wahrscheinlich würde das auch nicht geschehen, Übermacht hin oder her. Vorsichtig wandte sich der Seewolf um und spähte dorthin, wo ein kleines Feuer wie ein rotglühendes Auge durch das Dickicht schimmerte. „Wir schleichen uns unmittelbar an das Lager heran und klettern auf einen der Bäume“, sagte er leise. „Vielleicht ist Yannay dort mit den Wachtposten zurückgeblieben, aber das wäre schon verdammtes Glück.“ „Glaubst du etwa, Hoheit tragen die eigene Haut zu Markte?“ fragte Carberry gallig. „Ja, das glaube ich. Denk an Kyan!“ „Dieser hinterhältige Hering!“ fauchte der Profos. „Jedenfalls ist er mutig. Haben wir etwa noch nie die Spanier geleimt?“ „He! Sind wir etwa triefäugige Dons, die ...“ „Alles eine Frage des Standpunkts, Ed. Und jetzt weiter! Vorsichtig!“ Die Mahnung erübrigte sich. Lautlos und katzenhaft geschickt schlichen die Männer durch das Dickicht, wichen wucherndem Grünzeug aus, schlängelten sich unter Schlingpflanzen hindurch, nutzten jede winzige Lücke. Binnen Minuten hatten sie fast den Rand des Lagers erreicht. In den fernen Kampflärm mischten sich die murmelnden, gutturalen Stimmen der Wachtposten. Hasard sah sich kurz um, dann wies er auf einen der mächtigen Urwaldriesen, von dessen Ästen dicke Lianen hinunterhingen. Nacheinander enterten die Männer auf. Der Seewolf als erster, Batuti und der Profos folgten ihm. Vorsichtig turnten sie durch das Gewirr breiter, knorriger Äste, und Sekunden später konnten sie die Lichtung mit dem Lager überblicken. Ein paar Dutzend einfacher Zweighütten, ein Feuer, vier Männer mit Turbanen, Lendentüchern und nackten, dunkel glänzenden Oberkörpern. „Keine prinzliche Hoheit!“ wisperte Ed Carberry erbittert. Der Seewolf nickte nur. Yannay Ki war tatsächlich nirgends zu sehen. Er mochte in einer der Hütten
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stecken, aber das ließ sich von hier aus nicht herausfinden. Im Augenblick blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. * Um dieselbe Zeit befand sich ein weiterer heimlicher Beobachter bereits auf dem Rückweg. Der kleine, ausgemergelte Birmane mit dem zernarbten Gesicht trieb sein winziges Boot über einen der Wasserarme, die sich auch bei Ebbe noch befahren ließen. Längst war das Glimmen des Feuers nicht mehr zu sehen, verebbte der rätselhafte Kampflärm. Die dunklen Augen des Birmanen funkelten. Er hatte keine Einzelheiten erkennen können, aber er war sicher, auf eine Gruppe Mon gestoßen zu sein. Krieger, die ihnen verraten würden, wo die legendären Schätze der Mon versteckt waren. Nicht für das birmanische Reich, o nein! Und schon gar nicht für Aikiba, den schwarzen Priester mit seinen SpanierFreunden, der in den westlichen Bergen die Macht an sich gerissen hatte und die letzten Bastionen der Mon für sich selbst erobern wollte. Der dürre Birmane im Boot zog die Lippen von den Zähnen. Für ihn zählte nur die eigene Haut, zählten nur klingendes Gold und lockende Reichtümer. Dafür kämpfte er — und deshalb hatte er sich dem „Mongolen“ angeschlossen, der die wüsteste Piratenhorde zwischen dem Andamanen-Meer und dem Golf von Bengalen kommandierte. Nur ein paar Meilen entfernt lag die Flotte des Mongolen in ihrem Versteck. Wieder und wieder hatten sie in den letzten Wochen die armseligen Dörfer der Reisbauern überfallen, um von ihren wahren Absichten abzulenken. So lange, bis der Mon-Fürst in seiner geheimnisvollen Dschungelfestung eine Hundertschaft Krieger schickte, um die Menschen zu schützen.
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Der Birmane im Boot runzelte die Stirn, als er an die Gefahren dachte, die dadurch heraufbeschworen worden waren. Der alte Fürst hatte Männer geschickt, die jeden Grashalm im Delta kannten. Und doch waren sie ins Hintertreffen geraten und wären schon einmal fast gefangengenommen worden, wenn sich nicht das Schiff jener fremden weißen Teufel eingemischt hätte. Jetzt war es endgültig soweit. Die Schätze der Mon würden ihnen gehören. Der kleine Birmane trieb das Boot schneller über den Wasserarm, und ein triumphierendes Lächeln verzerrte seine Lippen. * „Mann, Mann!“ hauchte Ed Carberry. „Gerupftes Mon schnattern wie Herde von Gänsen“, wisperte Batuti und ließ im Dunkeln sein Prachtgebiß blitzen. Hasard nickte nur. An eine Gänseherde erinnerten ihn die debattierenden Krieger dort unten zwar nicht, aber es bestand kein Zweifel daran, daß im Lager der Mon helle Aufregung herrschte. Vor wenigen Minuten waren Yannay und Kyan mit der Hauptstreitmacht zurückgekehrt - mit einer dezimierten Streitmacht. Auch der zweite Angriff der Mon mußte ein Fiasko gewesen sein, das ließ sich Gesichtern und Stimmen deutlich entnehmen. Da der Seewolf nicht wußte, was im einzelnen geschehen war, sah er keinen Grund, vorzeitig zu triumphieren. Gespannt beobachtete er die schlanke, hochgewachsene Gestalt Yannay Kis, der seine knappen, beherrschten Worte mit Gesten unterstrich. Der junge Kyan lehnte an einem Baumstamm, genauso erschöpft und deprimiert wie die anderen. Yannay versuchte offenbar. die Moral wieder aufzurichten. Es gelang ihm nur unzureichend. Kunststück, dachte Hasard grimmig. Angreifer, die von den Seewölfen mit blutigen Köpfen heimgeschickt wurden, pflegten meistens
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einen recht dauerhaften Schock davonzutragen. Die Männer hörten sich die Worte ihres Anführers schweigend an. nickten ohne große Überzeugung und kauerten sich schließlich erschöpft um das Feuer zusammen. Kyan war verletzt und ließ sich von einem kleinen, krummbeinigen Burschen verarzten, der offenbar die Rolle des Feldschers spielte. Yannay blieb einen Augenblick reglos stehen, unschlüssig, mit leeren Äugen. Seine Schultern waren herabgesunken. In diesen Sekunden tat er Hasard beinahe leid: ein Mann, der in einer verzweifelten Situation mit allen, selbst mit unehrenhaften Mitteln kämpfte, um sein Volk vor dem Untergang zu- bewahren, und der die Niederlage jetzt greifbar vor sich sah. Langsam wandte er dem Feuer und den murmelnden Stimmen den Rücken und ging mit schleppenden Schritten auf den Waldrand zu. Er wollte allein sein und nachdenken. Hasard kannte die Stimmung, in der sich der andere befand. Es war immer hart, eine Niederlage einzustecken. Aber besonders hart war es für denjenigen, der den Plan entworfen hatte und die Verantwortung trug. Gespannt beobachtete der Seewolf den großen, schlanken Mann in den zerfetzten Prachtgewändern. Fast sah es so aus, als wolle er die Lichtung verlassen und sich an den mächtigen Stamm des Baums. lehnen, in dessen Krone seine Gegner lauerten. Nein, doch nicht! Yannay blieb stehen, mit verschränkten Armen und zusammengepreßten Lippen. In dem scharfgeschnittenen Gesicht arbeitete es. Hasard stöhnte innerlich. Nur ein paar Schritte hätte der Bursche noch tun müssen, dann wäre er unmittelbar unter ihnen gewesen. Die Männer am Feuer konnten ihn allenfalls noch als undeutlichen Schatten erkennen.
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Der Seewolf kniff die Augen zusammen. Sie mußten es riskieren. Eine so gute Gelegenheit kriegten sie wahrscheinlich nicht wieder. Er hob die Hand, um den anderen ein Zeichen zu geben, dann hielt er inne. Ein Schatten flatterte plötzlich über die Lichtung. Der Seewolf sah genauer hin und unterdrückte einen lästerlichen Fluch. Sir John, der rote Ara-Papagei, segelte mit ausgebreiteten Schwingen auf den Urwaldriesen zu. „Deck ho!“ krähte er. „Alle Mann auf Stationen! Klar Schiff zum Gefecht!“ Damit war er auch schon im Schatten verschwunden, und Yannay Ki, der nur einen flatternden Umriß gesehen hatte, zuckte erschrocken zusammen. Am Feuer hatte niemand etwas bemerkt. Yannay versuchte, mit zusammengekniffenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Über ihm auf dem mächtigen Ast rupfte Ed Carberry blitzartig den landenden Vogel von seiner Schulter und hielt ihm den Schnabel zu. Dabei schnitt der Profos ein Gesicht, als sei er nun endgültig entschlossen, der „Nebelkrähe“ den Hals umzudrehen. Unnötigerweise - denn Sir Johns unvermuteter Auftritt brachte den Seewölfen den entscheidenden Vorteil. Yannay Ki schlug nicht Alarm, sondern trat nach kurzem Zögern tiefer in den Schatten, um selbst herauszufinden, was da an ihm vorbeigeflogen war und menschliche Laute ausgestoßen hatte. Nach ein paar Schritten verharrte er wieder. Genau unterhalb der Stelle, wo Batuti auf dem dicken Ast kauerte und den Atem anhielt. Fragend rollte der hünenhafte Gambia-Neger die Augen. Hasard nickte ihm zu, und der schwarze Herkules grinste selig. Yannay Ki hörte nur noch ein winziges Geräusch und hatte das Gefühl, daß ihm ein Felsblock auf den Kopf fiel. Dem war nicht so. Lediglich Batutis mächtige Faust traf von oben mit genau berechneter Wucht den goldfarbenen Turban. Yannay Kis Kopf schien zu explodieren. Sein Bewußtsein erlosch so
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schnell, daß er nicht einmal mehr den Schmerz fühlte. Geschmeidig landete Batuti neben ihm, fing den zusammenbrechenden Körper auf und schleifte ihn schnell und lautlos zwischen die Büsche. Die Männer am Feuer waren immer noch ahnungslos. Das Verschwinden ihres Anführers bemerkten sie erst, als es längst zu spät war, weil die Dinge für sie eine neue, völlig überraschende Wendung nahmen. 8. Lautlosen Schatten gleich glitten die Schiffe über den schwarzen Wasserarm. Dschunken, Karavellen, Fischerboote eine bunt zusammengewürfelte Flotte, genauso heruntergekommen wie die Schnapphähne und Halsabschneider aus aller Herren Länder, die darauf fuhren, genauso abenteuerlich wie das Sammelsurium verschiedenster Waffen. Der „Mongole“ stand auf dem Achterdeck der größten Dschunke: ein hochgewachsener, muskulöser Mann mit kahlem Schädel, schrägen düsteren Augen und einem schwarzen Schnauzbart, dessen dünne Enden über das Kinn hingen. Krummsäbel und Pistole hatte er an einem breiten, juwelenbesetzten Gürtel befestigt, eine rotseidene Pluderhose bauschte sich um seine Beine. Sein Oberkörper war nackt, auf der breiten Brust baumelten an einer goldenen Kette zwei große, polierte Haifischzähne. Leise, fast flüsternd gab der Mongole seine Kommandos. Die Dschunke hatte eine Stelle erreicht, wo sich der Wasserarm zu einem kleinen See erweiterte. Das Schiff fiel ab, luvte wieder an und glitt mit der letzten Fahrt im sanften Bogen auf die schwarze Wand des Dickichts zu. Segel wurden eingehe, der Anker klatschte ins Wasser. Die nachfolgende Karavelle schor längsseits, die anderen Schiffe schwangen nach Steuerbord herum. Minuten später lag die kleine Flotte sicher vor Anker.
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Noch einmal erklärte der Mongole ausführlich, was denjenigen geschehen würde¬, die das Unternehmen an Land durch ein lautes Wort oder eine Unachtsamkeit gefährdeten. lm Flüsterton wurden seine Drohungen von Schiff zu weitergegeben. Die Piraten kannten sie zur Genüge. Aber manch einem von den wüsten, hartgesottenen Kerlen lief dennoch ein Schauer über den Rücken. Taljen und Taue knirschten, als die Boote abgefiert wurden. Nur die Ankerwachen blieben zurück. Die Beiboote mußten mehrmals fahren, bis alle Männer an Land waren. Ein wilder, verwahrloster Haufen: schmutzig, zerlumpt, dabei behängtet Ketten, Ohrringen, allen möglichen erbeuteten Schmuckstücken. Sorgfältig gepflegt wirkten nur die Waffen. Denn von denen konnte das Leben abhängen, und sie waren es, die immer wieder Sieg und leichte Beute garantierten. Ein krummbeiniger, verschlagen blickender Mon, in seiner Heimat als Mörder geächtet, übernahm die Führung. Die Piraten folgten ihm - langsam, vorsichtig, verbissen gegen die Furcht kämpfend, die ihnen diese unbekannte Wildnis einflößte. Einer nach dem anderen betrat den schmalen, kaum sichtbaren Trampelpfad. Schon nach wenigen Sekunden schien der dumpfe. faulige Atem des Sumpfes sie wie ein erstickender Mantel einzuhüllen. Auch der hochgewachsene Mongole liebte den Urwald nicht besonders. Aber er dachte an den legendären Schatz der Mon, und seine schwarzen, geschlitzten Augen funkelten mit den Juwelen an seinem Gürtel um die Wette. * Yannay Ki stöhnte und begann sich zu regen. Batuti, der sich den Burschen kurzerhand auf sein breites Kreuz geladen hatte, setzte ihn rasch ab, lehnte ihn an einen
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Baumstamm und hielt ihn an dem seidig schimmernden Mantel fest. Hasard zog die sächsische Reiterpistole, so daß der erste Blick des Mon auf die beiden drohenden Läufe fallen mußte, wenn er aus der Ohnmacht erwachte. Noch befand sich das Lager in Hörweite, auch für verhältnismäßig leise Geräusche. Wenn laut genug geschrien würde, lag es sogar in Hörweite der „Isabella“. Aber die Seewölfe würden schon aufpassen. daß ihr Gefangener stumm blieb. Mühsam schlug der Mon die Augen auf. Sein Blick flackerte, klärte sich dann. Scharf holte er Luft und gurgelte erstickt, als sich Batutis Pranke auf seinen Mund preßte. Der Seewolf lächelte. Es war jenes Lächeln, von dem die Crew immer behauptete, daß der Teufel davor Reißaus nehmen und der Tod sich garantiert vor Schrecken an der eigenen Sense schneiden würde. „Ganz ruhig“, sagte Hasard gedämpft. „Tranquilo, Amigo! Wir können dich auch tragen, das macht uns gar nichts.“ Es blieb unklar, ob Yannay Ki das spanische Wort für „ruhig“ verstand. Auf jeden Fall verstand er die sprechenden Gebärden. Sehr beeindruckt wirkte er allerdings nicht: seine Schultern strafften sich, die dunklen Augen sprühten Verachtung. Aber er sagte sich wohl, daß er seine Lage nicht verbesserte, wenn er sich noch einmal bewußtlos schlagen ließ. Also blieb er stumm, als Batuti probeweise die Hand von seinem Mund löste. „Da entlang“, sagte der Seewolf mit einer Kopfbewegung. Yannays Lippen preßten sich zu einem Strich zusammen. Ed Carberry ging voran, Batuti packte den Mon beim Oberarm und schob ihn vorwärts. Der Seewolf übernahm die Nachhut. Angespannt lauschte er hinter sich in die Wildnis. Ein paar Minuten später fuhr er zusammen. Von einer Sekunde zur anderen wurde es im Lager der Mon lebendig. Waffen klirrten, Stimmen schrien durcheinander. Jäh begannen Schüsse zu krachen, und es waren diese Schüsse, die
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dem Seewolf bewiesen, daß etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen war. Auch Yannay wußte es. Stocksteif war er stehengeblieben. Jetzt fuhr er herum. Batuti hielt ihn eisern im Griff. Der schwarze Herkules hatte schon die Hand gehoben, um seinem Gefangenen nötigenfalls wieder den Mund zuzuhalten, doch der Anführer der Mon dachte nicht daran, einen Schrei auszustoßen. Seine Zähne preßten sich so hart aufeinander, daß die Kiefermuskeln wie Stränge hervortraten. Die dunklen Augen flackerten. „Corsario ...“ sagte er heiser. „Piraten?“ fragte Hasard scharf Yannay Ki wandte den Kopf ab. Seine Schultern zuckten. „Kyan ...“ flüsterte er wie ui sich selbst. Und in seiner Stimme schwangen so viel Angst, Zorn und ohnmächtige Verzweiflung mit, daß der Seewolf ein kühles Prickeln im Genick spürte. Ein Piratenüberfall auf das Lager der Mon? Dieselben brutalen Kerle, die vor der Küste in dem flachen Boot Frauen und Kinder niedergemetzelt hatten? Hasard wußte es nicht. Und da er Yannays Sprache nicht verstand, konnte er es hier und jetzt auch nicht erfahren. „Weiter!“ befahl er knapp. „Wenn wir wissen wollen, was da vorgeht, brauchen wir den Birmanen.“ * Der Mongole und seine Piratenbande fanden wenig Widerstand. Die dezimierten, erschöpften, zum Teil verwundeten Mon-Krieger wurden im ersten Ansturm überrannt. Nicht einer von ihnen hatte eine Schußwaffe, während die Angreifer über Musketen, Arkebusen und Pistolen verfügten. Ein kurzer, wilder Kampf entbrannte. Schreie gellten über die Lichtung, Schüsse krachten, Pulverdampf wölkte auf. Die Mon wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung, doch sie hatten gegen die kampferprobten, überlegen bewaffneten Gegner von Anfang an keine Chance.
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Nach zehn Minuten gab es nur noch Tote und Gefangene. Gefangene, die ihr Leben allein dem Umstand verdankten, daß die Piraten etwas von ihnen wissen wollten. Kyan Ki stand schwankend und blutüberströmt in der Reihe seiner Gefährten. Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt, im Genick spürte er die drohende Spitze eines Säbels. Langsam schritt der kahlköpfige Mongole vor seinen Opfern auf und ab und musterte die Gesichter. „Wer von euch ist Yannay Ki?“ fragte er schließlich. Der verräterische Mon übersetzte seine Worte. Schweigen senkte sich herab. Kyan biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß sein Bruder weder unter den Toten noch unter den Gefangenen war. Yannay mußte entwischt sein. Und er würde versuchen, sich zur Festung durchzuschlagen. um Hilfe zu holen. Der Mongole wartete genau eine Minute auf eine Antwort. Nichts rührte sich in seinem gelblichen Gesicht, als er die Pistole aus dem Gürtel zog. Mit einer ruhigen Bewegung hob er die Waffe, zielte auf den Gefangenen an der rechten Seite der Reihe und drückte ab. Der Schuß krachte. Mit einem erstickten Aufschrei brach der Getroffene zusammen. „Wer von euch ist Yannay Ki?“ wiederholte der Pirat seine Frage. Kyan schloß verzweifelt die Augen. Das Schweigen dehnte sich. Der Mongole lud seine Waffe nach und zielte auf die Brust des nächsten Mannes. „Halt!“ stieß Kyan hervor. Ehe ihn jemand hindern konnte, löste er sich aus der Reihe und taumelte zwei Schritte vor. Seine dunklen Augen loderten und durchbohrten den Mongolen mit einem Blick, in dem Zorn und Verachtung wie Feuer brannten. „Du bist Yannay Ki?“ fragte der Pirat zweifelnd. „Ich bin Kyan Ki. Mein Bruder ist geflohen.“ „Ah! Prinz Kyan!“ Der Mongole lächelte triumphierend. „Das ist ebenso gut,
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vielleicht noch besser. Prinz Yannay soll ein ungewöhnlich harter Mann sein, habe ich mir sagen lassen. Ob sein kleiner Bruder ebenfalls ein harter Mann ist, muß sich erst noch herausstellen.“ Kyans Mund wurde trocken. Sein Herz hämmerte, aber er riß sich Zusammen. „Was willst du?“ fragte er kalt. „Auskünfte, Hoheit! Nur ein paar kleine Auskünfte.“ Der Mongole wartete, bis der krummbeinige Mon-Verräter die Worte übersetzt hatte. „Du wirst uns den Weg zu eurer Dschungelfestung und das Versteck eurer sagenhaften Schätze verraten“, fuhr er fort. „Und denke nicht, daß du uns täuschen kannst, Hund! Einer der euren gehört zu mir. Er weiß nicht alles, aber genug, um zu merken, wenn du lügst. Also sprich lieber die Wahrheit, wenn dir dein Leben ist.“ „Nein“, sagte Kyan eisig. „Nein? Wirklich nicht? Weißt du nicht, was wir alles tun können, um dir die Zunge zu lösen? Du wirst den Tag verfluchen, an dem du geboren wurdest. Du wirst auf Knien rutschen und alles herausschreien, nur damit du endlich sterben darfst. Du wirst ...“ Kyan Ki spuckte aus. Der Pirat wurde weiß vor Wut. Sekundenlang sah es so aus. als wolle er sich mit nackten Fäusten auf den wehrlosen Gefangenen stürzen. Dann atmete er scharf ein. zog die Lippen von den Zähnen und straffte sich. „Fangt an!“ zischte er. „In spätestens einer Stunde werden wir alles wissen, was dieser Hund zu erzählen hat.“ * Aufrecht, mit stolz erhobenem Kopf und reglos wie eine Statue stand Yannay Ki dem Seewolf auf dem Achterkastell der „Isabella“ gegenüber. Hasard hatte darauf verzichtet, den Mann fesseln zu lassen — ein spontaner Entschluß, aus der Gewißheit herrührend, daß der andere kein einziges Wort sagen würde, wenn das Gespräch den Charakter eines Verhörs hatte. Dieser
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hochgewachsene, in zerfetzte Prachtgewänder gehüllte Bursche mochte ein Prinz sein, aber ganz bestimmt keiner von der Sorte arroganter, weichlicher Höflinge, wie man ihnen überall auf der Welt begegnete. In erster Linie war er ein Kämpfer. In seinen Augen lag keine Spur von Furcht. Hochmütig blickte er über die Männer hinweg, während der Birmane die Fragen übersetzte, die der Seewolf stellte. Yannays Stimme klang leise, ruhig und beherrscht. „Piraten haben das Lager überfallen“, erklärte der kleine Birmane. „Die Männer des Mongolen.“ Er schauerte zusammen. Auch er schien diese brutalen Kerle wie die Pest zu fürchten. „Warum?“ fragte der Seewolf knapp. „In dem Lager ist doch nichts zu holen.“ „Dort nicht. Aber die Piraten glauben, daß in der Dschungelfestung der Mon ein riesiger Schatz existiere. Nur eine Legende! Aber die Piraten glauben daran, genau wie die Priester der Schwarzen Pagode.“ Hasard runzelte die Stirn. „Und was wird jetzt passieren?“ Auch diese Frage wurde übersetzt. Yannay spuckte aus, murmelte etwas in seiner Heimatsprache und starrte den Seewolf kalt an. „Er sagt, daß die Piraten euch die Arbeit abnehmen“, übersetzte Pak-Sung. „Er sagt, ihr — ihr könnt stolz sein auf solche Verbündeten ...“ Selbst im angstvollen Tonfall des Birmanen klang noch etwas mit von der tiefen Bitterkeit der Worte. Yannay blickte ins Leere und schien entschlossen zu sein, kein Wort mehr von sich zu geben. „Ist er sicher, daß seine Leute den Angriff nicht zurückschlagen können?“ fragte Hasard den Birmanen. „Ganz sicher, Herr! Die Piraten haben Feuerwaffen.“ Der ehemalige Gefangene der Mon schwieg kurz, und sekundenlang glitzerte ein böser rachsüchtiger Funke in seinen Augen. „Sie werden Kyan foltern!“ zischte er. „Sie werden ihm alles heimzahlen! Und für den da wird es
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schlimmer sein, als müßte er es selbst erleiden.“ Die letzten Worte spuckte er regelrecht aus. Ein haßfunkelnder Blick streifte den schweigenden Mon-Prinzen. Verständlich: Pak-Sungs Los als Gefangener war sicher nicht leicht gewesen. Yannay sah durch den Birmanen hindurch. Das dunkle. stolze Gesicht unter dem goldfarbenen Turban wirkte ausdruckslos. Aber wenn der MonPrinz beschlossen hatte, seine Widersacher zu ignorieren und mit Verachtung zu strafen. so hielt dieser Entschluß jedenfalls nur für ein paar Minuten vor. Da nämlich hörte er den Schrei, einen langgezogenen, gellenden Schrei. Fern, dünn - und dennoch so grauenhaft, daß die Seewölfe unwillkürlich den Atem anhielten. Yannay Ki zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Sekundenlang verzerrte sich sein Gesicht in ohnmächtiger Verzweiflung. Dann straffte er sich, schien zu versteinern und rang mit geschlossenen Augen um Beherrschung. Wieder gellte der Schrei. Die dünne, ferne Stimme zitterte, überschlug sich in unerträglicher Qual. Kein Zweifel: im Lager der Mon wurde jemand unmenschlich gefoltert. Jemand, der nach Lage der Dinge nur der junge Kyan Ki sein konnte. Yannays Gesicht glich einer Marmormaske. Er glaubte immer noch, daß die Seewölfe die Piraten als unverhoffte, aber willkommene Verbündete betrachteten. Er mußte es glauben. Die Mon hatten die „Isabella“ in eine teuflische Falle gelockt. Sie hatten es aus Verzweiflung getan, nicht für sich selbst, sondern für die Freiheit ihres Volkes. Sie hatten letztlich aus ehrenvollen Motiven gehandelt, auch wenn ihre Mittel heimtückisch gewesen waren, doch Yannay konnte sich nicht vorstellen, daß das in den Augen seiner Widersacher irgendeine Rolle spielte. Er konnte ja auch nicht ahnen, daß den Seewölfen anständige Feinde immer noch lieber waren als grausame, niederträchtige
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„Verbündete“, auch wenn die ihnen unwissentlich aus der Patsche halfen. Hasard preßte die Lippen zusammen, als er von neuem den schrecklichen Schrei hörte. Ein Blick zeigte ihm, daß seine Männer ebenfalls lauschten. Ein paar von ihnen ballten bereits die Hände. Und auf den meisten Gesichtern begann sich kalte Wut abzuzeichnen - die Wut, die sie immer empfanden, wenn sich vor ihren Augen oder Ohren feige Halunken an Wehrlosen vergriffen. „Himmelarsch!“ knirschte Ed Carberry. „Das ist dieser Kyan, was, wie? Der gehört mir, verdammt noch eins! Der Teufel soll mich lotweise holen, wenn ich zulasse, daß jemand anders als ich dem Kerl die Haut abzieht.“ „Halt doch die Luft an!“ fauchte Blacky. „Die ziehen ihm wirklich die Haut ab. O Mann ...“ „Was ist, wenn die’ Burschen sich auf die „Isabella“ stürzen, sobald sie mit den Mon fertig sind?“ fragte Ben Brighton nüchtern. Der Seewolf lächelte flüchtig. Er wußte, daß Ben die Sache genauso an die Nieren ging wie allen anderen. Vermutlich hatte er gerade deshalb auf die mögliche Gefahr für das Schiff hingewiesen. Denn dadurch entzog er von vornherein der Frage den Boden, ob es nicht pure Narrheit sei, für den „hinterhältigen Halunken“ Kyan Ki in die Bresche zu springen. Hasard wandte sich wieder an den Birmanen. „Frag ihn, ob die Piraten die gleichen sind, die vor der Küste die Frauen und Kinder in dem Boot umgebracht haben“, sagte er. Der Birmane fragte. Yannay Ki nickte nur. Der Seewolf ließ einen kurzen Blick über seine Männer schweifen. Ihre Gesichter verrieten deutlich, was sie dachten: Jeder einzelne brannte darauf, sich diese gemeine Mörderbande zu kaufen. „Gut“, sagte der Seewolf, wieder an PakSung gewandt. „Dann erkläre ihm jetzt zweierlei! Erstens, daß wir in diesem Fall Angriff für die beste Verteidigung halten. Und zweitens, daß wir grundsätzlich etwas
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gegen Leute haben, die sich an Frauen, Kindern und Wehrlosen vergreifen. Wir werden diese Kerle zum Teufel jagen, und wir werden dabei seinen Bruder heraushauen. Frag ihn, ob er dabeisein will.“ Der Birmane verhaspelte sich ein paarmal bei dieser Erklärung. Yannay Ki wechselte die Farbe. Dann nickte er, einen ungläubigen Ausdruck in den Augen. „Gut“, sagte Hasard knapp. „Frag ihn, ob er sich darüber klar ist, daß er jetzt kein falsches Spiel mehr treiben kann. Ich brauche sein Wort. Was ich ihm anbiete, ist ein Bündnis, kein Kuhhandel.“ Und als der Birmane verwirrt die Stirn runzelte, fügte er hinzu: „übersetze es! Er weiß, was ich meine.“ Pak-Sung wußte es offenbar ganz und gar nicht, aber das war auch nicht nötig. Verständnislosigkeit malte sich in seinen Zügen, als er die Worte übersetzte. Yannays Augen brannten. Ein Bündnis, hatte der Seewolf gesagt. Und der Mon wußte tatsächlich, was damit gemeint war: das Angebot, einen Strich unter die vergangenen Ereignisse zu ziehen. Und das in einer Situation, in der ein „Kuhhandel“ gar nicht mehr möglich gewesen wäre, weil die Mon bereits geschlagen waren und nichts mehr anzubieten hatten. Yannay Ki begriff in diesen Sekunden mehr als nur den Sinn der letzten Worte. Er begriff, daß er hier einem Mann begegnet war, wie man ihn vielleicht auf allen sieben Meeren nur einmal fand. Einen Mann, den er als Freund hätte gewinnen können und der als Verbündeter mehr wert war als eine Streitmacht. Yannays Stimme klang tonlos und rauh, als er wieder sprach. Der Birmane blickte verwirrt von einem zum anderen. „Er sagt, er schämt sich seiner Handlungsweise“, murmelte er. „Er schwört, daß kein Mon mehr die Hand gegen euch erheben wird. Und er hofft, daß er euch eines Tages besser danken kann als nur mit Worten.“ 9.
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Schon wenige Minuten später waren die Seewölfe abmarschbereit. Sie kannten ihren Kapitän. Deshalb hatten sich die meisten schon mit Waffen, Pulverhörnern und Kugelbeuteln eingedeckt, noch bevor sich Philip Hasard Killigrew und Yannay Ki die Hand reichten. Für den kleinen Birmanen war die überraschende Wendung der Ereignisse immer noch ein Rätsel. Daß diese Fremden bereit waren, ausgerechnet dem Mann zu helfen, der sie in die Falle gelockt hatte, daß sie ihrem Gefangenen sein Schwert zurückgaben, statt sich blutig an ihm zu rächen - das konnte und wollte der Birmane nicht begreifen. Widerwillig begleitete er den Trupp, weil Hasard ihn als Dolmetscher brauchte. Auf der „Isabella“ waren nur die Kranken, der Kutscher und die Zwillinge zurückgeblieben. Die Männer schnitten grimmige Gesichter - Gesichter, die immer mehr versteinerten, je öfter aus dem Lager der Mon Kyans Schreie herüberdrangen. Sie alle hatten dem Burschen in den letzten Stunden mehr als einmal die Pest an den Hals gewünscht. Aber diese brutalen Piraten waren schlimmer als die Pest. Sie hatten skrupellos Frauen und Kinder niedergemetzelt; sie waren Mörder, der Abschaum. Für die Seewölfe, die dem Massaker hatten zusehen müssen, stand da ganz einfach noch eine Rechnung offen. Die würden sie jetzt eintreiben. Auf Heller und Pfennig! Schritt für Schritt, so lautlos wie möglich, kämpften sie sich durch das Dickicht. Hasard hatte die Spitze. Yannay Ki war dicht hinter ihm, ebenso wie der Birmane, der vor Angst fast schlotterte und sich vermutlich im entscheidenden Moment seitwärts in die Büsche schlagen würde. Vorerst jedoch wurde er noch gebraucht. Denn der Anführer der Mon legte Wert darauf zu erklären, was ihn und seine Leute in eine so verzweifelte Lage gebracht hatte, daß ihnen am Ende jedes Mittel recht gewesen war, um sich die dringend benötigten Waffen zu verschaffen.
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Einen Teil der Geschichte kannte Hasard bereits. Er hatte von dem Priester der Schwarzen Pagode gehört, der mit Hilfe einiger versprengter Spanier sein Privatreich in den Bergen errichtet hatte, und von dem Mongolen, der auf die legendären Schätze der Mon scharf war. Yannay lachte bitter, als er von diesen Schätzen sprach. Sie waren längst den regulären birmanischen Streitkräften in die Hände gefallen, vor deren Ansturm sich die Reste der Mon in den Urwald des Deltas zurückgezogen hatten. Mit diesen Schätzen wäre es den Verteidigern leicht gefallen, ihre Krieger wirksam auszurüsten. Ohne die Schätze - oder besser die Gerüchte darüber - hätte es niemand der Mühe wert gefunden, die Dschungelfestung am Irawadi zu erobern. So zog sich die Schlinge immer enger zusammen, und die letzten Mon liefen Gefahr, zwischen zwei Fronten zerrieben zu werden. Der Fürst - Marut Shai hieß er -hatte Yannay und seine Krieger ausgeschickt, um die Piraten von der Küste zu vertreiben, wo sie immer wieder Dörfer überfielen und wehrlose Menschen töteten. Ein aussichtsloses Unterfangen. Die Mon kannten zwar den Schlupfwinkel der Piraten, aber sie hatten keine Chance gegen die Übermacht. Der letzte Zusammenstoß war fast zur Katastrophe geworden. Kyan hatte versucht, den Kerlen des Mongolen eine Falle zu stellen — mit dem Ergebnis, daß die Piraten aus Wut über den zähen Widerstand auch noch diejenigen verfolgten, die mit den Flußbooten aufs offene Meer flohen. Damals hatte die „Isabella“ eingegriffen. Und es war Kyans Idee gewesen, die Galeone in die Falle zu locken und sich ihre Waffen zu verschaffen. "Er ist jung“, sagte Yannay leise. „Er muß noch lernen, daß der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Ich hätte es nicht zulassen dürfen, ich ...“ Er schwieg abrupt.
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Wieder gellte im Lager der Mon ein Schrei. Nur noch wenige Schritte trennten die Seewölfe von der Lichtung. Schon sahen sie das Feuer glimmen, und Sekunden später konnten sie den freien Platz überblicken. Hasard hielt den Atem an. Neben ihm zuckte Yannay heftig zusammen. Auch die anderen starrten stumm auf die Szene. Wenn sie noch nicht gewußt hätten, daß der sogenannte Mongole und seine Piraten zu der Sorte gehörten, die man höchstens mit der Feuerzange anfaßte, dann wäre es ihnen spätestens jetzt klargeworden. „Auf sie mit Gebrüll?“ fragte Ed Carberry flüsternd. „Was sonst?“ sagte Hasard durch die Zähne. Dabei hielt er bereits den Degen in der Faust und fegte mit einer heftigen Bewegung die letzten Zweige beiseite. * Kyan Ki sah die Umgebung wie durch einen blutroten Schleier. Das Gesicht des Mongolen verschwamm vor ihm. Eine verzerrte Fratze. Augen, in denen Wut glitzerte. Wilde, zerstörerische Wut über diesen zähen Gefangenen, der sich nicht kleinkriegen ließ, der keine Frage beantwortete, der entschlossen schien, eher langsam und qualvoll zu sterben, als zum Verräter zu werden. Die gefangenen Mon mußten hilflos zusehen. Kyan war nur halb bei Bewußtsein. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Wie aus weiter Ferne hörte er das haßerfüllte Zischen des Mongolen — und dann, als einer der Piraten plötzlich einen Warnschrei ausstieß, wußte Kyan nicht, ob er die Stimme wirklich hörte oder ob sie nur in seinem gemarterten Hirn existierte. An dem, was in der nächsten Sekunde an sein Ohr schlug, gab es allerdings keinen Zweifel. Ein vielstimmiger Schrei. Ein donnernder, rhythmischer Schlachtruf, der die Luft über der Lichtung erzittern ließ und die Piraten
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jäh von der Höhe ihres Triumphs in die rauhe Wirklichkeit zurückriß. „Arwenack!“ dröhnte es. Und noch einmal: „Arwenack! Arwenack! Ar-we-nack!“ Kyan glaubte zu träumen. Mühsam drehte er den Kopf und starrte dorthin, wo es von .einer Sekunde zur anderen im Dickicht lebendig wurde. Es war, als breche eine Horde rasender Teufel aus der dunklen Wand des Waldsaums hervor. Waffen blitzten. Ein halbes Dutzend Piraten, die nicht schnell genug reagierten, wurde wie von einer Flutwelle hinweggefegt. Blitzartig schwärmten die Angreifer auseinander, und den restlichen Männern des Mongolen blieb kaum noch die Zeit, Krummschwerter und Säbel zu ziehen. Kyan erkannte den großen schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen, der sich mit sausender Klinge auf den Piratenkapitän zukämpfte, Im ersten Moment glaubte der junge Mon, daß der Überfall ihm und seinen Gefährten gelte, nicht den Piraten, von deren Anwesenheit die Männer der „Isabella“ seiner Meinung nach gar nichts wissen konnten. Aber dann erkannte Kyan seinen Bruder, Seite an Seite mit den Fremden kämpfend. Yannay schwang das Krummschwert, hieb wild und verbissen um sich und schlug sich eine Gasse frei. In seinen dunklen, lodernden Augen lag eine so mörderische Drohung, daß der Mongole, bis dahin erstarrt vor Schrecken, unwillkürlich zurückwich. Philip Hasard Killigrew stand mit drei, vier langen Sätzen vor ihm. Waffen klirrten aufeinander. Der Mongole keuchte, versuchte mit verzerrtem Gesicht, die blitzschnellen Degenangriffe mit dem schweren Krummschwert abzuwehren. Gleichzeitig hatte Yannay seinen Bruder erreicht, und ein wuchtiger Hieb durchtrennte die Stricke, die Kyans emporgereckten Arme an einen Ast fesselten. Der junge Mann verlor das Bewußtsein, als er zusammenbrach.
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Er spürte nicht, daß sein Bruder ihn auffing und rasch ein Stück zur Seite’ schleifte. Einmal kam er halb zu sich, hörte den Kampflärm, Schüsse und wildes Geschrei, wollte heftig aufspringen, doch die schnelle Bewegung ließ ihn sofort wieder ohnmächtig werden. Als er wieder erwachte, hatten die Seewölfe die Schlacht schon fast entschieden. Kyan brauchte ein paar Atemzüge, um sich zu orientieren. Diesmal richtete er sich vorsichtig auf, verbiß den Schmerz, der ihn wie eine feurige Lohe einhüllte, und versuchte angestrengt, den Schleier vor seinen Augen zu durchdringen. Die Piraten lieferten nur noch ein Rückzugsgefecht. Eine Gruppe von Hasards Leuten war im Kampf Mann gegen Mann durch die feindliche Linie gebrochen und begann damit, den Gefangenen die Fesseln zu zerschneiden. Zwei Dutzend Männer, die hilflos hatten mit ansehen müssen, wie einer der ihren bestialisch gefoltert wurde. Jetzt sprangen sie auf, und ihr vielstimmiger Wutschrei konnte sich durchaus mit dem Schlachtruf der Seewölfe messen. Für die Piraten gab es kein Halten mehr. Den Mongolen konnte Kyan nirgends entdecken: Der Anführer der Horde hatte die erste Gelegenheit genutzt, im Getümmel unterzutauchen, als ihm klar wurde, daß gegen den Degen des Seewolfs kein Kraut gewachsen war. Hasard ließ ihn laufen, schon weil dieser feige Rückzieher auf die Kampfmoral der Piraten verheerend wirkte. Dem Mongolen blieb nichts übrig, als um sich zu schlagen, einfach weil er mitten im Zentrum des Geschehens steckte. Aber er hatte offenbar begriffen, daß hier für seine Leute kein Weizen mehr blühte, und suchte nur noch die Chance, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Daß es ein Fehler gewesen war, den Kerl aus den Augen zu lassen, begriff der Seewolf erst später. Einmal konnte sich der Mongole nur dadurch vor Batutis Morgenstern retten,
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daß er einen seiner eigenen Leute blitzschnell in die Gefahrenzone stieß. Ed Carberry. der diese Gemeinheit beobachtet hatte, schob grimmig das Kinn vor und packte die Handspake fester, um sich den feigen Halunken vorzuknöpfen. Den jedoch kostete der Anblick des Riesen mit dem wüsten Narbengesicht den letzten Rest seiner Beherrschung. Er warf sich herum, zog den Kopf ein und rannte, was das Zeug hielt. Der Profos wollte ihm nachsetzen, doch er wurde von drei entnervten Piraten daran gehindert, die ihn nur angriffen, weil er ihnen den Fluchtweg versperrte. Kyan hatte sich mühsam aufgerappelt. Die Umgebung schaukelte vor ihm. Er sah einen hastenden Schatten, aber er brauchte Sekunden, um den Mongolen zu erkennen. Der Piratenkapitän prallte zurück, schlug einen Haken und wechselte die Richtung. „Halt, du feige Ratte!“ schrie eine Stimme irgendwo im Getümmel. Eine Gestalt löste sich aus dem Pulk der Kämpfenden, und Kyan begriff, daß es ausgerechnet der Moses, der jüngste Mann der „Isabella“ war, der dem Mongolen nachsetzte. Alles ging blitzschnell. Bill schwang sein Entermesser. Der Mongole wirbelte herum und griff zur Pistole. Ein paar Schritte von ihm entfernt versuchten drei weitere Piraten, das rettende Dickicht zu erreichen. Der Schuß krachte, und im selben Moment stolperte Bill und verlor das Gleichgewicht. Die Kugel fauchte über ihn weg. Ein paar von den Seewölfe, die gerade der Hauptstreitmacht der flüchtenden Piraten nachsetzen wollten, warfen sich herum. Der Mongole wußte, daß auch sie Schußwaffen hatten. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihn eiskalt niederschießen würden, und deshalb tat er das einzige, was ihm noch übrigblieb. Mit einem Sprung erreichte er den schwarzhaarigen jungen Mann, riß ihn hoch und setzte ihm das Schwert an die Kehle. Bill erstarrte. Das Entermesser hatte er bei dem Sturz verloren. Die Schwertklinge ritzte seine
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Haut, und er konnte das warme Rieseln von Blut spüren. Der Mongole keuchte. Er hatte sich einen Kugelfang verschaffen wollen, weiter nichts. Erst jetzt, als er den jähen Schrecken auf den Gesichtern seiner Gegner sah. wurde ihm klar, daß ihm der Zufall ein wirksames Druckmittel in die Hand gespielt hatte. Für ihn, der jeden seiner Leute bedenkenlos geopfert hätte, war das völlig rätselhaft, aber sein Ratteninstinkt ließ ihn sofort nach dem Strohhalm greifen. Was er schrie, konnten die Seewölfe nicht verstehen. Aber am Sinn der Worte gab es keinen Zweifel: Der Pirat würde Bill umbringen, wenn er angegriffen wurde. Hasard ließ den Degen sinken. Der Rest der Piratenhorde nutzte die Atempause, um wie ein Spuk in alle Richtungen zu verschwinden. Nur die drei Kerle in der Nähe des Mongolen blieben unschlüssig stehen. Auch die Mon verharrten. Sie brannten darauf, ihre verhaßten Feinde ins Meer zu jagen, doch ein knappes Zeichen ihres Anführers hielt sie zurück. Der Seewolf atmete langsam aus. Sein Gesicht wirkte steinern. „Pak-Sung?“ rief er halblaut. Sekunden knisternder Spannung vergingen, bis der kleine Birmane aus dem Loch auftauchte, in das er sich verkrochen hatte. Hasard ließ den Mongolen nicht aus den Augen. „Sag ihm, daß wir ihm freien Abzug garantieren, wenn er den Mann losläßt.“ Stotternd und stammelnd übersetzte PakSung die Worte. Der Pirat spuckte aus und zischte etwas. „Er sagt nein“, flüsterte der Birmane. „Er will den Jungen als Geisel mitnehmen und ...“ „Laßt sie nicht entwischen!“ rief Bill. „Mir ist es egal, wenn ...“ Seine Stimme erstickte, als sich der Druck der Schwertspitze verstärkte. Hasard biß die Zähne zusammen, eiskalt vor Zorn. Sein Blick bohrte sich in die schrägen schwarzen Augen des
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Piratenkapitäns. Ein Blick, der den Burschen erbleichen ließ und dicke Schweißperlen auf seine Stirn trieb. „Mongole!“ Es war Kyans Stimme, die den Bann brach. Eine schwache, zitternde und doch entschlossene Stimme. Der junge Mon schwankte und hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Langsam ging er auf den Piratenkapitän zu. Als er stehenblieb, hatte er die leeren Handflächen leicht erhoben, und es bedurfte keiner Worte, um die Geste zu verstehen. Kyan bot sich selbst als Geisel an. Er stand in der Schuld der Seewölfe. Jetzt wollte er diese Schuld bezahlen. Yannays Gesicht versteinerte, doch er unternahm nichts, um einzugreifen. Auch Hasard hatte sofort begriffen, um was es ging. Aber er begriff auch, schneller als die anderen, daß Kyan einen Fehler beging, weil er vergaß, daß sie es mit einem skrupellosen Verbrecher zu tun hatten. Hasards beschwörende Handbewegung erfolgte zu spät. Der Mongole zischte etwas. Die letzten drei Halunken, die noch nicht blindlings geflohen waren, handelten blitzschnell. Ehe Kyan die Gefahr erfaßte, stürzten sie sich schon auf ihn. Ihr Opfer war verletzt, geschwächt, am Ende seiner Kräfte. Es dauerte nur Sekunden, bis auch der junge Mon-Prinz eine Schwertspitze an der Kehle hatte. Die Stimme des Mongolen war ein triumphierendes Fauchen. Der Tonfall sagte genug. Die Übersetzung des kleinen Birmanen bestätigte nur noch, was ohnehin klar war. Die Piraten verlangten freien Abzug. Sie wollten zu ihren Schiffen zurückkehren, und sie drohten, ihre Geiseln eiskalt umzubringen, falls es
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jemand wagen sollte, sie zu verfolgen. * Minuten später waren die vier Kerle mit Bill und Kyan im Dickicht verschwunden. Yannay Ki starrte sekundenlang ins Leere. Als er sich wieder umdrehte, hatte er sich gestrafft. Seine Stimme klirrte wie brechender Stahl, als er sich an den kleinen Birmanen wandte. Er sprach lange. Pak-Sung schwitzte, während er sich bemühte, alles genau wiederzugeben. „Euer Schiff wird mit der nächsten Flut von der Untiefe freikommen. Yannay schlägt vor, eure Kranken mit den Flußbooten in die Festung zu bringen. Man wird ihnen dort helfen, und man wird Verstärkung schicken. Die Krieger der Mon kennen den Schlupfwinkel der Piraten. Sie wollen auf der „Isabella“ an eurer Seite kämpfen. Und Yannay sagt, daß er sich selbst in die Hand des Mongolen geben wird, damit er euren Freund freiläßt.“ Der Seewolf lächelte matt. „Das wäre sinnlos“, sagte er trocken. „Weil wir nämlich weder ihn noch seinen Bruder in den Fängen dieser Dreckskerle lassen würden. Sonst nehmen wir sein Angebot an. Der Mongole wird sich noch wünschen, diese Küste nie gesehen zu haben.“ Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Yannay Ki hörte schweigend zu, mit flackernden Augen. „Danke“, sagte er auf Spanisch. Nur das eine Wort. Dabei schob er das Krummschwert in die Scheide, streckte die Hand aus, und der Seewolf schlug ein. Die Männer wußten, daß dieser Händedruck endgültig ein Bündnis besiegelte.
ENDE