Marlis Gielen
Die Passionserzählung in den vier Evangelien Literarische ,Gestaltung - theologische Schwerpunkte
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Marlis Gielen
Die Passionserzählung in den vier Evangelien Literarische ,Gestaltung - theologische Schwerpunkte
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-020434-8
Inhalt Vorwort
9
1.
Einführung............................................................................
1.1.
Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention der urchristlichen Passionsüberlieferung ................................ Das Verhältnis zwischen den synoptischen Passionserzählungen und der Passionserzählung nach Johannes .............................
16
Die Passionserzählungen der Evangelien ein erster Überblick über Bestand und Abfolge der einzelnen Szenen ..................................................................
19
Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu im Spiegel der vier Evangelien ..........................................
25
Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus ... Die markinische Darstellung Mk 14,1-2 ................................
25 25
Exkurs 1: Jesu Tempelaktion und seine Hinrichtung als politischer Rebell im Horizont der politischen und rechtlichen Verhältnisse Judäas im 1. Jahrhundert n.ehr. ...................
27
3.1.2. 3.1.3. 3.1.4.
Die matthäische Bearbeitung Mt 26,1-5 ................................ Die lukanische Bearbeitung Lk 22,1-2 .................................. DiejohanneischeVersionJoh 11,47-53 ................................
36 38 39
3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4.
Die Salbung Jesu in Betanien ................................................. Die markinische Darstellung Mk 14,3-9 ................................ Die matthäische Bearbeitung Mt 26,6-13 .............................. Die lukanische Version Lk 7,36-50 ....................................... Diejohanneische Version Joh 12,1-8 ....................................
43 43 44 45 47
Exkurs 2: Maria Magdalena - die Frau, die Jesus salbte? .................
50
3.3. 3.3.1.
53 53
1.2.
2.
3.
3.1. 3.1.1.
Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten ............ Die markinische Darstellung Mk 14,10-11 ............................
13
13
Inhalt
6
3.3.2. 3.3.3.
Die matthäische Bearbeitung Mt 26,14-16 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,3-6 ................................ ..
54 56
3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3.
Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern Die markinische Darstellung Mk 14,12-16 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,17-19 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,7-13 .............................. ..
57 57 59 60
3.5. 3.5.1. 3.5.2. 3.5.3.
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern .............................. .. Die markinische Darstellung Mk 14,17-25 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,20-29 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,14-38 ............................ ..
60 62 67 70
Exkurs 3: Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung ..............
74
3.5.4.
Die johanneische Version J oh 13,1-17,26 ............................ . 3.5.4.1. Die Mahlszene Joh 13,1-30 .................................... .. 3.5.4.2. Die johanneischen Abschiedsreden 13,31-17,26 .... ..
86 86 90
3.6. 3.6.1. 3.6.2.
Der Gang zum Ölberg und die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus ........................................................................... . Die markinische Darstellung Mk 14,26-31 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,30-35 .......................... ..
98 98 100
3.7. 3.7.1. 3.7.2. 3.7.3.
Jesus im Garten Getsemane ................................................... . Die markinische Darstellung Mk 14,32--42 ........................ , .. . Die matthäische Bearbeitung Mt 26,36--46 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,39.40--46 ........................ .
101 101 104 105
3.8. 3.8.1. 3.8.2. 3.8.3. 3.8.4.
Die Verhaftung Jesu .............................................................. . Die markinische Darstellung Mk 14,43-52 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,47-56 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,47-53 ............................ .. Die johanneische Version Joh 18,1.2-12 .............................. .
108 108 111 114 117
3.9. 3.9.1. 3.9.2. 3.9.3. 3.9.4.
Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten und seine Verleugnung durch Petrus ............................................ . Die markinische Darstellung Mk 14,53-15,1 ........................ . Die matthäische Bearbeitung Mt 26,57-27,2 ........................ . Die lukanische Bearbeitung Lk 22,54-23,1 .......................... . Diejohanneische Version Joh 18,13-28a .............................. .
119 121 128 133 138
3.10.
Der Tod des Judas Mt 27,3-10 .............................................. .
144
Inhalt 3.11. 3.11.1. 3.11.2. 3.11.3. 3.11.4.
7
Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus ............... Die markinische Darstellung Mk 15,2-15 .............................. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,11-25 ............................ Die lukanische Bearbeitung Lk 23,2-25 ................................ Diejohanneische VersionJoh 18,28b-19,16a ........................
148 148 154 161 170
3.12. Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten ............. 3.12.1. Die markinische Darstellung Mk 15,16-20a .......................... 3.12.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,27-31a ..........................
181 181 183
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz .............................................. 3.13.1. Die markinische Darstellung Mk 15,20b-32 ..........................
185 189
Exkurs 4: Der Kreuzestod in der antiken Welt ..................................
192
3.13.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,31b-44 .......................... 3.13.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,26-43 .............................. 3.13.4. Die johanneische Version Joh 19,16b-27 ..............................
199 202 209
3.14. 3.14.1. 3.14.2. 3.14.3. 3.14.4.
Der Tod Jesu .......................................................................... . Die markinische Darstellung Mk 15,33-41 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,45-56 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,44-49 ............................ .. Die johanneische Version Joh 19,28-37 .............................. ..
214 214 220 221 224
3.15. 3.15.1. 3.15.2. 3.15.3. 3.15.4.
Die Grablegung Jesu .............................................................. . Die markinische Darstellung Mk 15,42-47 .......................... .. Die matthäische Bearbeitung Mt 27,57-61 .......................... .. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,50-56 ............................ .. Die johanneische Version Joh 19,38-42 .............................. ..
226 226 228 230 231
3.16.
Die Sicherung des Grabes Mt 27,62-66 ................................ .
233
4.
Literaturhinweise ................................................................ .
237
Vorwort Seit vielen Jahren schon zieht die Überlieferung der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien immer wieder mein besonderes Interesse auf sich. So war es schon längst überfällig, diesem Interesse endlich einmal auch mit einer Publikation Ausdruck zu verleihen. Doch sind die Forschungsbeiträge innerhalb der exegetischen Fachdiskussion zur Passionsthematik Legion, ohne dass sich - insbesondere bei den bevorzugt erörterten Fragen des Überlieferungsprozesses und des historischen Informationswertes der Passionserzählunge en) - konsensfähige Antworten abzeichnen. Daher war für mich die Vorstellung wenig verlockend, die ohnehin ausufernde Literatur um einen weiteren fachexegetischen Beitrag zu bereichern. Zudem beunruhigt mich seit geraumer Zeit die Erkenntnis, dass die Ergebnisse exegetischer Forschung fast ausschließlich im Elfenbeinturm des wissenschaftlichen Fachdiskurses wahrgenommen werden, jedoch kaum an die gesellschaftliche und vor allem kirchliche Basis gelangen. So wuchs also die Idee, die Passionsüberlieferung so, wie sie konkret in den vier Evangelien begegnet, bewusst für einen weiteren Kreis interessierter Leser und Leserinnen zu erschließen. Primär denke ich dabei an solche, die in Gemeinde oder Schule mit der Verkündigung bzw. mit der Vermittlung biblischer Überlieferung beauftragt sind. Als Pfarrer und Pfarrerinnen, als Gemeindereferenten und -referentinnen oder als Religionslehrer und -lehrerinnen haben sie zwar alle einmal eine theologische Ausbildung absolviert. In der Mühe der Alltagsarbeit aber werden sie sich in aller Regel überfordert fühlen, exegetische Fachliteratur zu konsultieren und die detaillierten - und oft auch detailverliebten - Argumente gegeneinander abzuwägen. Über diesen Kreis von Personen hinaus, die sich unter pastoralem oder religionspädagogischem Vorzeichen mit biblischen Themen befassen, möchte die hier vorgelegte Darstellung der Passionserzählung im Spiegel der vier Evangelien aber auch interessierte theologische Laien erreichen. Daher habe ich möglichst weitgehend auf eine Dokumentation der wissenschaftlichen Diskussion in Fußnoten verzichtet, die - wie Fachkundige ohnehin leicht erkennen werden - die Grundlage meiner Ausführungen bildet. Für solche, die nach der Lektüre dieses Buches neugierig geworden sind und weiterlesen wollen, habe ich am Schluss einige ausgewählte Literaturhinweise zusammengestellt. Für diejenigen, die der altgriechischen Sprache kundig sind, finden sich wichtige Begriffe oder Wendungen bisweilen umschriftlich in Klammern hinzugesetzt. Für die große Mehrheit derer, die Altgriechisch nicht gelernt haben, finden sich alle diese Begriffe und Wendungen selbstverständlich zuvor in deutscher Übersetzung. Zudem rückt das hier vorgelegte Buch die historische und vor allem die überlieferungsgeschichtliche Fragestellung, die die exegetische Forschung zu den Passionserzählungen dominiert, in den Hintergrund. Stattdessen will es
10
VorwOli
bewusst einen anderen Schwerpunkt setzen, der in besonderer Weise den Verkündigungs- und Erzählcharakter der Evangelien würdigt: Einerseits nämlich wollen die Evangelien weder vom öffentlichen Wirken Jesu noch von seinem Leiden und Sterben ein historisches Protokoll bieten. Andererseits - und dies ist in den letzten Jahren in der Evangelienforschung immer überzeugender nachgewiesen worden - wollen sie als Gesamterzählung ernst genommen, und nicht als "Zusammenstückelung" einzelner, ursprünglich eigenständiger Überlieferungs- bzw. Texteinheiten betrachtet werden. Im Rahmen der Evangelien als eines erzählerisches Gesamtwerks aber bildet die Passionserzählung einen integralen Bestandteil und nimmt zugleich breiten Raum ein. Dieser breite Raum entspricht der Bedeutung, die der Pass ionsüberlieferung in der urchristlichen Traditionsbildung von Anfang an zugemessen wurde. Angesichts dessen gilt es, die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Passionserzählungen der vier Evangelien unter primär literarischer wie theologischer Perspektive herauszuarbeiten: Was kennzeichnet die literarische Gestaltung der markinischen Passionserzählung? Was übernehmen Matthäus und Lukas davon? Wo gehen dagegen sie und in besonderer Weise auch Johannes eigene Wege? Welche theologischen Aussageabsichten verfolgen die jeweiligen Evangelisten? Wie konturieren sie entsprechend die handelnden Personen? Wenn ich daher zum Beispiel vom markinischen oder matthäischen Jesus spreche, so meine ich damit die rur Markus bzw. Matthäus kennzeichnende literarische und theologische Ausgestaltung der Person Jesu innerhalb ihrer jeweiligen Passionserzählung. Meine Darstellung konzentriert sich also im Wesentlichen auf die vier verschiedenen Passionstexte, wie sie uns in den Evangelien vorliegen, und vergleicht sie miteinander. Dieser Vergleich wird um der Übersichtlichkeit willen nach Erzähleinheiten durchgeführt. Da ich bei den synoptischen Evangelien (Mk - Mt - Lk) die Zweiquellentheorie voraussetze (~ 1.2.), beginne ich stets mit der mk Darstellung einer Erzähleinheit, stelle dann die matthäische und lukanische Bearbeitung vor und präsentiere abschließend die johanneische Version. Trotz dieses Ansatzes der Texterschließung unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten erhält auch eine (bisweilen exkursartige) Erörterung historischer und überlieferungsgeschichtlicher Rückfragen ihr Recht da, wo sie wertvolle Hintergrundinformationen beizusteuern hat. Dieses hier präsentierte Konzept der Erschließung der Passionstexte hat verschiedene "Probeläufe" bestanden. Dabei sind zunächst zu nennen ein Seminar im Sommersemester 2006 und eine V orlesung im Sommersemester 2007 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Darüber hinaus habe ich aber auch mit den Mitgliedern des Bibelkreises der Pfarrei St. Rupert in Freilassing die Passionstexte in der beschriebenen Weise erarbeitet. Bei ihnen handelt es sich fast ausschließlich um theologische Laien. Gleichwohl zeigten sie sich offen für das ihnen nicht vertraute
Vorwort
11
Lesen der Texte anband einer Evangeliensynopse - das sich begleitend auch bei der Lektüre dieses Buches empfiehlt - und blieben interessiert und engagiert bei der Sache. Den Studierenden in Salzburg wie auch den Mitgliedern des Bibelkeises in Freilassing danke ich rür alle Anregungen durch ihre Fragen, aber auch durch eigene Beobachtungen und Ideen. Ihnen allen sei daher dieses Buch gewidmet. Freilassing, 17. September 2007
Marlis Gielen
1. Einführung
1.1. Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention der urchristlichen Passionsüberlieferung Die in der Ostererfahrung wurzelnde Botschaft, dass Jesl1s von Nazaret durch Gottes Macht von den Toten auferweckt worden war, konnte nicht unter Ausblendung seines gewaltsamen Todes verkündet werden. Dies bestätigt nicht zuletzt eine sehr alte Verkündigungsformel, die den Kontrast zwischen dem Handeln der Menschen und dem Handeln Gottes an Jesus herausstellt: "Jesus, den ihr gekreuzigt habt, den Gott auferweckt hat von den Toten" (Apg 4,1 Ob; vgl. Mk 16,6; Röm 8,34a). Die Entstehung dieser so genannten Kontrastformel dürfte zurückreichen in die Anfange der Jerusalemer Urgemeinde, genauer: in die Phase ihrer frühen nachösterlichen Umkehrpredigt an die Adresse Israels. So fmden sich deutliche Rückgriffe auf diese Kontrastformel wiederholt in der Apg (vgl. 2,2224.36; 3,13-15; 5,30; 10,39f; 13,28-30), und zwar mit Ausnahme von 1O,39f stets im Kontext der (Missions-) Verkündigung an jüdische Adressaten. Die Verwendung der Kontrastformel durch Lukas in der Apostelgeschichte spiegelt also noch deutlich ihren ursprünglichen Sitz im Leben, nämlich die Umkehrpredigt an die Adresse Israels, wider.
Nun hielt allerdings die Kontrastformel nur knapp und prägnant das Faktum des Gegens,atzes zwischen menschlichem und göttlichem Handeln an Jesus fest. Doch sahen sich die Jünger und Jüngerinnen Jesu schon bald auch vor die Aufgabe gestellt, die Erfahrung und Bedeutung seiner Auferweckung im Licht der Passionsereignisse theologisch zu reflektieren. Die Passionserzählung darf daher berechtigterweise zum Urbestand der Jesusüberlieferung gerechnet werden. Dagegen hat sich die bisweilen vertretene These, Markus, den Erfinder der literarischen Gattung Evangelium, auch als Schöpfer der Passionserzählung zu betrachten, mit guten Gründen nicht durchgesetzt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Markus bei der Abfassung seines Evangeliums die Passionsüberlieferung bereits in einer schriftlichen Version vorlag. Diese vormarkinische Passionserzählung dürfte aber ihrerseits das Ergebnis eines allmählichen Wachstumsprozesses darstellen, der schon in frühester nachösterlicher Zeit einsetzte. Denn die Erfahrung der Auferweckung Jesu nötigte und ermutigte seine Anhänger gleichermaßen, den in der heidnischen Gesellschaft als Sklaven- und Rebellenschicksal verachteten und in jüdischen Kreisen als Schicksal eines von Gott verfluchten Menschen (Dtn 21,22f; vgl. Gal 3,13) verpönten Kreuzestod (~ 3.13.1. Exkurs 4) in völlig neuem Licht zu sehen. So begann man etwa, anhand der Heiligen Schriften Israels - vor allem anhand der Leidenspsalmen
14
1. Einführung
22 und 69 - die Passion Jesu als Schicksal des leidenden Gerechten zu deuten, der von den Menschen verfolgt wird, dem von Gott aber Rechtfertigung zuteil wird. Den Kern der Passionserzählung bildete daher mit ho her Wahrscheinlichkeit die Kreuzigungsszene selbst. Doch wurde sie wohl kaum jemals isoliert überliefert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie von Beginn an durch weitere Erzähleinheiten gerahmt wurde. So dürfte die Kreuzigungsszene schon immer mit der abschließenden Szene der Grablegung durch Josef von Arimathäa verbunden gewesen sein. Ihr unmittelbar vorgeschaltet war wohl ebenfalls von Anfang an die Überlieferung vom Verhör Jesu durch Pilatus und seine anschließende Geißelung und Verspottung durch das römische Exekutionskommando. Dies war wichtig. Denn der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte Jesus als Messias bzw. König der Juden und damit als politischen Rebell verurteilt. Darauf deutet die Schuldtafel am Kreuz hin, deren Aufschrift im Grundbestand mit erstaunlicher Konstanz in allen vier Evangelien gleich lautend überliefert ist mit: der König der Juden (ho basileus tön Iudaiön) (Mk 15,26 paff. Mt 27,37; Lk 23,38; vgl. loh 19,19). Daher musste einer theologischen Reflexion der Passionsereignisse nicht zuletzt daran gelegen sein aufzuzeigen, dass die Messianität Jesu durch seine Auferweckung bestätigt worden war. Zugleich aber galt es klarzustellen, dass diese Messianität Jesu sich nicht in politischen Kategorien erfassen ließ, sondern von endzeitlicher Qualität war: Durch seine Auferweckung von den Toten war Jesus in seine endzeitlich gültige Machtstellung zur Rechten Gottes eingesetzt worden (vgl. Röm 1,3f)! Dies wurde - auch außerhalb der Passionstradition - vor allem durch eine intensive Bezugnahme auf Ps 110,1 1 als schriftgemäß ausgewiesen (Mk 14,62 paff. Mt 26,64; Lk 22,.69; vgl. Mk 12,36 paff. Mt 22,44; Lk 20,42f; Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Röm 8,34; Hebr 1,13 u.ö.). Die übrigen Bestandteile der Passionserzählung lagerten sich erst nach und nach an diesen inneren Kern an. Zum Teil existierten sie bereits als eigenständige mündliche Tradition. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie (Mk 14,22-24 parr.). Sie hatte ihren ursprünglichen Sitz im Leben in der Liturgie (Feier des Herrenmahls) (vgl. 1Kor 11,23-25) und fehlt etwa in der johanneischen Erzählung vom letzten Mahl lesu mit seinen Jüngern. Ein weiteres Beispiel ist die Erzählung von der Salbung Jesu durch eine Frau, die sich etwa im Lukasevangelium außerhalb der Passionserzählung findet (vgl. Lk 7,36-50). Auch Johannes, der diese Salbung in Übereinstimmung mit Mk 14,3-9 par. Mt 26,6-13 als vorweggenommene Totensalbung versteht, überliefert sie in 12,1-8 und damit zwar in zeitlicher und sachlicher Nähe zu den Passionsereignissen, aber denPs 110,1 (EÜ): SO spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße.
1.1. Traditionsgeschichtliche Wurzeln und theologische Intention
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noch außerhalb seiner Passionserzählung, die mit 13,1 beginnt. Zum Teil aber dürften die später hinzu gekommenen Erzähleinheiten auch bewusst zur Erweiterung der bereits kursierenden Passionstradition komponiert worden sein. Mit ihnen verband sich die Absicht, die intendierte christliche Leserschaft zu erbauen oder auch zu ermahnen. Als Beispiel hierfür lässt sich etwa die Getsemaneszene (Mk 14,32-42 parr. Mt 26,36-46; Lk 22,39.40-46) anführen. So dient in dieser Erzählszene einerseits Jesu Verhalten als Vorbild der Ergebung in Gottes Willen, andererseits aber das Jüngerverhalten als Warnung vor den Gefahren drohender Versuchung. Verschiedentlich wird auch die Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus (Mk 14,6672 parr. Mt 26,69-75; Lk 22,56-61) in diesem Zusammenhang genannt. Doch ist hier meines Erachtens Vorsicht geboten. Denn es ist doch eher zu bezweifeln, dass diese Episode, die das wohl prominenteste Mitglied des vorösterlichen Jüngerkreises Jesu und zugleich eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten des Urchristentums in ein solch ungünstiges Licht rückt, allein aus Gründen der mahnenden Unterweisung der Gemeinden nachösterlich konzipiert worden sein sollte. Plausibler dürfte dagegen sein, dass die Erinnerung an die tatsächlich erfolgte Verleugnung des gefangengenommenen J esus durch Petrus in den ersten Gemeinden zunächst durch mündliche Weitergabe wachgehalten wurde und ähnlich wie die Herrenmahltradition erst später an den ältesten Kern der Passionserzählung angelagert wurde.
Eine grundlegende Übereinstimmung zwischen der Passionsüberlieferung und den später entstandenen Evangelien besteht also darin, dass sie von Beginn an kein historisches Protokoll der (Leidens-)Geschichte Jesu sein wollten. Vielmehr war es von Beginn an Absicht der entstehenden und sich weiter entwickelnden Passionstradition, das geschichtliche Faktum der Hinrichtung Jesu von Nazaret am Kreuz durch die Römer im Lichte des Osterglaubens und mit Hilfe der religiösen Traditionen Israels theologisch zu deuten. Für die Überlieferung vom Leiden und Sterben Jesu wählten die nachösterlichen Trägerkreise und ihnen folgend die Verfasser der Evangelien also nicht die Gattung des Berichts oder der Chronik, sondern der Geschichtserzählung. Eine solche Geschichtserzählung kennzeichnet es aber, dass ihr zwar wirkliche Geschehnisse zugrunde liegen. Diese werden jedoch nicht nur als bloß geschichtliche Fakten notiert, sondern sie werden aus der Perspektive des Glaubens interpretierend erzählt. Damit also leistet eine solche Geschichtserzählung sehr viel mehr als ein Bericht oder eine Chronik, denn sie gibt den Lesern und Leserinnen einen Interpretationsschlüssel zum Verständnis der Geschehnisse an die Hand. Dieser Vorzug aber kann nur dann zur Geltung kommen, wenn man die urchristliche Passionserzählung, wie sie uns in den vier kanonischen Evangelien vorliegt, gattungsgerecht liest und nicht unsachgemäß und intentionswidrig zu einem historischen Protokoll degradiert. Davor aber kann auch und gerade eine sorgfältige synoptische Lektüre der Passionstexte bewahren. Denn sie lässt nicht nur ihre Gemeinsamkeiten erkennen, sondern macht eben auch ihre Unterschiede bewusst, die sich nicht einfach historisch einebnen und harmonisieren lassen.
16
1. Einführung
Vielmehr fordern diese Unterschiede dazu auf, den jeweiligen Besonderheiten in der literarischen Gestaltung und der theologischen Akzentuierung nachzuspüren, um so die je eigenen Aussageabsichten und -schwerpunkte der Passionserzählungen nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes zu entdecken.
1.2. Das Verhältnis zwischen den synoptischen Passionserzählungen und der Passionserzählung nach Johannes Die drei Evangelien nach Mk, Mt und Lk weisen - bei allen eigenen Akzenten, die sie setzen - so große Übereinstimmungen auf, dass man sie in Spalten nebeneinander drucken und zusammenschauen, eben syn-optisch lesen kann. Als Erklärungsmodell für die unverkennbar engen Beziehungen zwischen diesen drei ersten Evangelien, die daher auch als synoptische Evangelien bezeichnet werden, hat sich in der exegetischen Forschung seit über hundertfünfzig Jahren die so genannte Zweiquellentheorie bewährt. Sie geht von folgenden Grundannahmen aus: Mk ist das älteste Evangelium. Es stand Mt und Lk gleichermaßen als Quelle zur Verfügung. Beide legten es ihren Evangelienschriften zugrunde und arbeiteten - abgesehen von ihrem jeweiligen Sondergut - eine weitere Quelle in den von Mk vorgebenen und von ihnen übernommenen Erzählrahmen ein. Diese Quelle enthielt überwiegend Jesusworte und wird daher als Spruch-, Reden- oder Logienquelle bezeichnet. Als eigenständiges Werk ist sie nicht erhalten, sondern kann nur aus dem Vergleich zwischen den zahlreichen Passagen, die Mt und Lk zusätzlich zum Markusstoff gemeinsam aufweisen, rekonstruiert werden. Dieser Vergleich bringt eine so hohe Übereinstimmung im Wortlaut dieser Passagen zutage, dass die Logienquelle Mt und Lk in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Für eine Unabhängigkeit zwischen Mt und Lk spricht aber ebenso zwingend die unterschiedliche Art, wie sie die Logienquelle in die Konzeption des Mk einbauen: Während Lk die Logienquelle in zwei Blöcken in die mk Erzählabfolge einschaltet (Lk 6,20-8,3; 9,51-18,14), verteilt Mt ihr Material über die gesamte Phase des bei Mk geschilderten öffentlichen Wirkens Jesu. Der synoptische Vergleich zeigt im Übrigen auch, dass die Logienquelle offenbar keine Passionsüberlieferung enthielt.
Das Johannesevangelium dagegen weicht von den synoptischen Evangelien doch erheblich ab. Zwar ist es vor dem Hintergrund von Mk, Mt und Lk unschwer als weiteres Beispiel der literarischen Gattung "Evangelium" zu identifizieren. Vor allem weist es einen mit den Synoptikern übereinstimmenden Gesamtrahmen der Erzählung auf, die einsetzt mit dem Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu, und zwar in Verbindung mit dem Auftreten Johannes des Täufers, und die sich erstreckt bis zu den Passions- und Osterereignissen. Doch im Unterschied etwa zum synoptischen Jesus verkündet der johanneische Jesus nicht den Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes. Entsprechend fehlen auch die synoptischen Gleichnisse als typische Sprachform rur die jesuanische Verkündigung der Gottesherrschaft. Bei Joh verkündet Jesus vielmehr sich selbst und zwar in seinem Verhältnis zum himmlischen Vater. Als charakteristische Sprachform hierfür finden sich im
1.2. Das Verhältnis zwischen den Passionserzählungen
17
vierten Evangelium die Offenbarungsreden Jesu. Auch im Bereich der Wundererzählungen, die bei Joh "Zeichen" heißen, gibt es nur wenige Überschneidungen zur synoptischen Überlieferung. Zu nennen ist hier allenfalls die Heilung des Knechtes (synoptisch) bzw. Sohnes Goh) des Hauptmanns von Kafarnaum (Lk 7,1-10 par. Mt 8,5-13; vgl. Joh 4,46b-54) und die große Speisung mit anschließendem Seewandel Jesu (Mk 6,32--44.45-52 parr. Lk 9,10b-17; Mt 14,13-21.22-33; vgl. Joh 6,1-15.16-21). Mit Beginn der Passionserzählung Joh 13,1 allerdings ändeli sich das Bild. Hier geht nun Joh plötzlich vor allem in der Abfolge und im Inhalt der Erzählabschnitte, teilweise aber sogar auch bis in den Wortlaut hinein, mit den synoptischen Evangelien so weitgehend parallel, dass man seinen Text sinnvoll in einen synoptischen Vergleich einbeziehen kann. Dies gilt ungeachtet der joh Eigenheiten in der jeweiligen Ausgestaltung, wie sie etwa besonders deutlich in den Abschiedsreden (Joh 13,31-17,26) zutage treten. Eine allgemein akzeptierte Erklärung für das Phänomen der deutlichen Annäherung zwischen den Synoptikern und Joh im Rahmen der Passionserzählung gibt es bis heute noch nicht. Zwei Erklärungsmodelle erweisen sich als besonders einflussreich. Das eine Modell geht davon aus, dass Joh eine vorjoh Passionserzählung verarbeitete, die zusammen mit der Passionserzählung, die Mk vorfand, auf einen gemeinsamen Grundbestand zurückgefümi werden könne. Vor der Übernahme in das MkEv bzw. JohEv sei noch eine Phase zu postulieren, in der sich aus diesem Grundbestand unabhängig voneinander die vormk und die vorjoh Passionserzählung weiter entwickelten. Dieses Modell setzt eine Kenntnis des Mk (bzw. der Synoptiker) durch den Verfasser des JohEv nicht voraus. Das andere wichtige Erklärungsmodell nimmt dagegen an, dass Joh zumindest das MkEv kannte, eine These, die in der jüngeren Johannesforschung - wie ich meine zu Recht - zunehmend an Gewicht gewinnt. Für diese These sprechen folgende Überlegungen: Ist es wirklich realistisch anzunehmen, dass Joh geraume Zeit nach Mk und ohne Kenntnis des von ihm verfassten Evangeliums die Gattung neu erfunden haben sollte? Und warum sollte ausgerechnet in der joh Gemeinde das MkEv unbekannt geblieben sein, obwohl es im Urchristentum offenbar rasch weite Verbreitung fand?
Ausgehend von der Annahme einer Kenntnis des MkEv durch Joh (und seine Gemeinde) sei es aber nahe liegend - so die logische Schlussfolgerung des zweiten Erklärungsmodells -, dass die joh Passionserzählung auf der mk Passionserzählung fuße und von ihr abhängig sei. Vielleicht ist der Überlieferungsprozess sogar noch vielschichtiger. So müssen sich die beiden Erklärungsmodelle keineswegs ausschließen, sondern können sich durchaus ergänzen. Das heißt, der Verfasser des Joh könnte etwa ungeachtet seiner Kenntnis des Mk und damit der mk Passionserzählung eine vorjoh Passionsüberlieferung zur Verfügung gehabt haben. Noch komplexer stellt sich die Problematik dar, wenn man die lk Passions-
18
1. Einführung
erzählung in die Überlegungen einbezieht. So fällt der hohe Anteil an Sondergut in Lk 22f auf. Zu nennen sind hier etwa folgende Szenen: Jesus bei Herodes (23,6-12), Begegnung mit den weinenden Frauen auf dem Kreuzweg (23,27-31) sowie das Gespräch zwischen den beiden Schächern und Jesus am Kreuz (23,39-43). Eine Besonderheit innerhalb der synoptischen Evangelien stellen in der lk Passionserzählung auch die Abschiedsreden Jesu im Anschluss an das letzte Mahl mit seinen Jüngern dar (22,24-38). Sie besitzen eine formale - wenngleich inhaltlich sehr unterschiedlich gestaltete und umfangmäßig erheblich erweiterte - Parallele in den joh Abschiedsreden (Joh 13,31-17,26). Zugleich gibt es weitere auffällige Berührungen zwischen der lk und joh Passionserzählung: l. Satan spielt eine aktive Rolle beim Verrat des Judas (Lk 22,3; Joh 13,27); 2. dem Knecht des Hohenpriesters wird das rechte Ohr abgehauen (Lk 22,50; Joh 18,10); 3. Pilatus erklärt dreimal Jesu Unschuld (Lk 23,4.14.22; Joh 18,38; 19,4.6); 4. der Kreuzigungsrufdes Volkes wird verdoppelt (Lk 23,21; Joh 19,6); 5. die Information, dass das Grab Jesu neu war (Lk 23,53; Joh 19,41). All diese Beobachtungen werfen die Frage nach einer eigenen vorlk Passionserzählung auf, die verbunden ist mit der Frage nach möglichen überlieferungsgeschichtlichen Querverbindungen zwischen einer vorlk und einer vorjoh Passionserzählung. Auch Mt weist einen gewissen Sondergutanteil in seiner Passionserzählung auf. So erzählt nur er im Kontext des Leidens und Sterbens Jesu vom Tod des Judas Iskariot (27,3-10). Doch findet sich diese Thematik - allerdings in deutlich anderer Akzentuierung - auch in Apg 1,15-20. Dies legt die Vermutung nahe, dass es eine eigenständige Überlieferung vom Schicksal des Judas gab, die wahrscheinlich außerhalb der Passionstradition kursierte und erst von Mt in den Passionskontext eingefügt wurde. Eine weityre Besonderheit innerhalb der mt Passionserzählung, die eine eigene Erzähleinheit bildet, stellt die Bitte der Hohenpriester und Pharisäer um die Sicherung des Grabes Jesu dar (27,62-66). Sie findet im Rahmen der mt Osterüberlieferungen ihre abschließende Fortsetzung mit der Sonderguterzählung von der Bestechung der Grabwächter durch die Hohenpriester (28,11-15). Erwähnung verdienen darüber hinaus noch zwei mt Sondergutnotizen, die sich innerhalb von Erzählabschnitten finden, die Mt von Mk übernommen hat. Bei der ersten Notiz in 27,19 (Pilatusverhör) handelt es sich um die Warnung vor einer Verurteilung Jesu, die die Frau des Pilatus dem Statthalter aufgrund eines Traumes zukommen lässt. Die zweite Notiz in 27,52f (Kreuzigungs szene) hält die Öffnung der Gräber und die Auferstehung der Heiligen beim Tod Jesu fest. Doch ungeachtet seines Sondergutes weist Mt die engste Beziehung zur mk Passionserzählung sowohl im konzeptionellen Aufbau wie auch in der Gestaltung der einzelnen Erzähleinheiten auf. Eine eigenständige vormt Tradition der Passionserzählung wird daher nicht diskutiert. Das mt Sondergut im Rahmen der mt Passionserzählung dürfte sich am ehesten mündlicher Gemeindeüberlieferung und/oder mt Redaktion verdanken.
2. Die Passionserzählungen der Evangelienein erster Überblick über Bestand und Abfolge der einzelnen Szenen
Bestand und Abfolge der Szenen in den Passionserzählungen der vier Evangelien Die Szenen und ihre Themen
Joh
Mt
Mk
Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten
26,1-5
14,1-2
22,1-2
[11,47-53]
Salbung Jesu
26,6-13
14,3-9
[7,36-50]
[12,1-8]
Judas bei den jüdischen Autoritäten
26,14-16
14,10-11
22,3-6
xxxxxxx
Vorbereitung zum letzten Mahl
26,17-19
14,12-16
22,7-13
xxxxxxx
Letztes Mahl Jesu mit den Zwölfen
26,20-29
14,17-25
22,14-23
13,1-30
Abschiedsreden Jesu nach dem Mahl
xxxxxxx
xxxxxxx
22,24-38
13,31-17,26
Gang zum Ölberg und Ansage der Verleugnung des Petrus
26,30-35
14,26-31
22,39 [22,31-34]
18,1 [13,36-38]
Getsemane
26,36-46
14,32-42
22,40-46
xxxxxxx
Lk
[12,27; 18,llb] Verhaftung Jesu
26,47-56
14,43-52
22,47-53
18,2-12
Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
26,57-68
14,53-65
22,54f. 22,63-71
18,13f. 18,19-24
Verleugnung des Petrus und ÜbersteIlung Jesu an Pilatus
26,6927,2
14,6615,1
22,56-62; 23,1
18,15-18.2528a
Tod des Judas
27,3-10
xxxxxxx
[Apg 1,15-20] xxxxxxx
Verhör Jesu durch Pilatus
23,11-25
15,2-15
23,2-5.13-25
18,28b-19,16a
Jesus vor Herodes
xxxxxxx
xxxxxxx
23,6-12
xxxxxxx
Kreuzigung Jesu
27,26-44
15,16-32
23,26-43
19,16b-27
Tod Jesu
27,45-56
15,33-41
23,44-49
19,28-37
Grablegung Jesu
27,57-61
15,42-47
23,50-56
19,38-42
Sicherung des Grabes
27,62-66
xxxxxxx
xxxxxxx
xxxxxxx
Bevor wir uns den einzelnen Szenen bzw. Erzählabschnitien der Leidensgeschichte widmen und sie auf ihre spezifische literarische Gestaltung und
20
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
theologische Akzentuierung in den vier Evangelien befragen, ist es hilfreich, sich eine erste, grundlegende Orientierung über Bestand und Abfolge der Szenen in den jeweiligen Passionserzählungen nach Mk, Mt, Lk und Joh zu verschaffen. Dabei dient Mk als Leitfaden der Orientierung, weil es sich bei diesem Evangelium einem breiten Forschungskonsens nach um das älteste Evangelium handelt und weil es unter Voraussetzung der Zweiquellentheorie zumindest von Mt und Lk als literarische Vorlage genutzt wurde. Doch darf auch mit einiger Berechtigung eine Kenntnis des Mk und damit der mk Passionserzählung bei Joh angenommen werden, ungeachtet der Möglichkeit, dass ihm eine von Mk unabhängige Tradition zur Verfügung stand (---) 1.2.). Die mk Passionserzählung setzt in 14,1 f. mit der knappen Notiz vom Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus ein. Diese Anfangsszene übernehmen auch Mt in 26,1-5 und Lk in 22,1 f für ihre Darstellung des Leidens und Sterbens Jesu. Auch Joh kennt die Szene vom Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten. Anders als Mk und seine Seitenreferenten verwendet er sie jedoch nicht, um mit ihr die Schilderung der Passionsereignisse zu eröffnen. Er arbeitet sie vielmehr bereits in 11,47-53 im Anschluss an die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus durch Jesus ein. Auf den Todesbeschluss folgt bei Mk als nächste Szene in 14,3-9 die Salbung Jesu durch eine anonyme Frau, die als vorweggenommene Totensalbung gedeutet wird (14,8). Mt übernimmt in 26,6-13 diese mk Vorgabe. Erneut im Vorfeld der Leidensgeschichte, jedoch aufgrund der mit Mk übereinstimmenden Deutung in sachlichem Bezug zu den Passionsereignissen erzählt auch Joh in 12,1-8 von einer Salbung Jesu, die in joh Darstellung von Maria, der Schwester des Lazarus vorgenommen wird. Ganz eigene Wege geht dagegen Lk. Bei ihm sucht man im Kontext der Passion Jesu vergeblich nach einer Salbungserzählung. Stattdessen wird man in einem viel früheren Stadium seiner Jesusgeschichte fündig. Schon in 7,36-50 erzählt Lk nämlich, dass Jesus noch während seines Wirkens in Galiläa von einer ebenfalls namenlos bleibenden - Sünderin als Zeichen ihrer Reue und Ehrerbietung gesalbt wird. In der mk Passionserzählung folgt auf die Salbung Jesu zunächst die Szene, die den zum Verrat entschlossenen Judas bei den jüdischen Autoritäten zeigt (14,10-11). Die anschließende Szene (14,12-16) lenkt den Blick dann auf die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit den Zwölfen. Beide Szenen werden sowohl von Mt (26,14-16.17-19) als auch von Lk (22,36.7-13) übernommen. Bei Joh dagegen fehlen sie. In 14,17-25 erzählt Mk vom letzten Mahl Jesu mit seinem engsten Jüngerkreis. Zentrale Themen dieser Erzähleinheit sind zum einen die Ansage Jesu, dass einer aus diesem Kreis ihn verraten werde, und zum anderen die Einsetzung der Eucharistie. Mt schließt sich in 26,20-29 einmal mehr eng an seine mk Vorlage an. Lk erweitert die Szene vom letzten Mahl (22,14-38), indem
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
21
er über die mk Vorlage hinausgehend in 22,24-38 Abschiedsreden einfügt, in die er auch die jesuanische Vorhersage von der Verleugnung durch Petrus (22,31-34) integriert. Mit der Szene vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen setzt nun auch die joh Passionserzählung in 13,1-30 ein. Im Unterschied zur synoptischen Abendmahlsüberlieferung fehlt bei Joh die Erzählung von der Einsetzung der Eucharistie. Stattdessen bietet er eine Erzählung von der Übernahme des Sklavendienstes der Fußwaschung an den Jüngern durch Jesus, wobei diese Handlung eigens gedeutet wird (13,3-20). In Übereinstimmung mit den Synoptikern erzählt auch Joh im Kontext der Abendmahlsszene von der jesuanischen Ankündigung des Verrats aus dem Jüngerkreis (13,21-30). Strukturell besonders enge Berührungen zeigen sich darüber hinaus zwischen der lk und der joh Abendmahlsszene. Wie Lk fügt auch Joh der Erzählung vom letzten Mahl Abschiedsreden Jesu an, allerdings in erheblich größerem Umfang (13,31-17,26), und wie Lk integriert auch Joh die Ansage der Petrusverleugnung in diese Abschiedsreden (13,36-38). Auf die Abendmahlsszene folgt in der mk Passionserzählung in 14,26-31 der Gang zum Ölberg. Erst auf dem Weg dorthin sagt der mk Jesus seine Verleugnung durch Petrus voraus. Mt rezipiert Mk 14,26-31 in 26,30-35. Entsprechend der in die Abschiedsreden vorgezogenen Verleugnungsankündigung können sich Lk in 22,39 und Joh in 18,1 auf eine kurze Notiz des Orts wechsels beschränken. Die Szene des Ringens Jesu mit Gott im Gebet um Abwendung oder Annahme seines drohenden Leidens im Garten Getsemane schließt sich in Mk 14,32-42 an und wird von bei den Seitenreferenten übernommen (Mt 26,3646; Lk 22,40-46). Die joh Passionserzählung weist die Getsemaneszene nicht auf. Aus 12,27 und 18,llb geht aber untrüglich hervor, dass Joh diese Szene bekannt war. Die in Mk 14,43-52 unmittelbar auf die Getsemaneszene folgende Erzähleinheit von der Verhaftung Jesu findet in Mt 26,47-56 sowie in Lk 22,47-53 ihre Entsprechung. Auch der vierte Evangelist erzählt in 18,2-12 von dieser Aktion der Gefangennahme, die in der joh Regie des Geschehens allerdings aufgrund der fehlenden Getsemanepassage unmittelbar mit der Notiz des Ortswechsels in 18,1 verbunden ist. Die beiden nächsten Szenen, nämlich das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten (Mk 14,53-65) sowie Jesu Verleugnung durch Petrus samt der abschließenden Notiz der ÜbersteIlung Jesu an Pilatus (Mk 14,66-15,1), müssen gemeinsam betrachtet werden.
22
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick Joh 18,13-28a
Mk 14,53-15,1
Lk 22,54-23,1
57 Überstellung in hp Palast
53 Überstellung in hp Palast
54 Überstellung in hp Palast
58 Notiz über Aufenthalt des Petrus
54 Notiz über Aufent- 55 Notiz über Aufent- 15-18: Notiz über Aufenthalt des Petrus halt des Petrus halt des Petrus
59-66 Verhör vor HR (nachts)
55-64 Vel'hör vor HR (nachts)
56-62 Verleugnung durch Petrus
19-23 Befragung durch Hannas
67-68 Misshandlungsszene
65 Misshandlungsszene
63-65 Misshandlungsszene
22 Misshandlungsszene
Mt 26,57-27,2
12-14: Überstellung an Hannas
24 Überstellung an Kaiaphas 69-75 Verleugnung durch Petrus
66-72 Verleugnung durch Petrus
66-71 Verhör vor HR (tagsüber)
25-27 Verleugnung durch Petrus
27,1 f Überstellung anPilatus
15,1 Überstellung an Pilatus
23,1 Überstellung an Pilatus
28a Überstellung von Kaiaphas an Pilatus
Die mk Ereignisfolge, die Mt exakt übernimmt, beginnt mit einer kurzen Notiz der ÜbersteIlung Jesu zum Hohenpriester Kaiaphas (14,53 par. Mt 26,57), der sich eine ebenso knappe Erwähnung über den Aufenthaltsort des Petrus anschließt (14,54 par. Mt 26,58). In 14,54-64 par. Mt 26,59-66 folgt darauf die Schilderung des nächtlichen Verhörs Jesu vor dem Hohen Rat, das vom Hohenpriester Kaiphas geführt wird und in ein einstimmiges Todesurteil mündet. Die Szene endet mit einer Misshandlung Jesu durch die Ratsmitglieder (14,65 par. Mt 26,67f), bevor dann in der nächsten Szene der Blick auf Petrus gelenkt wird, der - vom Gesinde des Hohenpriesters mehrfach auf seine Bekanntschaft mit Jesus angesprochen - diesen beharrlich verleugnet (14,66-72 par. Mt 26,69-75). Die Notiz von der ÜbersteIlung Jesu an Pilatus (15,1 par. Mt 27,1f) leitet schließlich zur nachfolgenden Szene des Verhörs Jesu durch den römischen Statthalter über. Die lk wie die joh Passionserzählung stimmen nun mit der mk Darstellung in der Szenenfolge grundsätzlich überein. In der konkreten Ausgestaltung aber gehen sie je eigene Wege. Zunächst noch parallel zu Mk erzählt auch Lk von der Überstellung Jesu zum Hohenpriester Kaiaphas unmittelbar nach seiner Verhaftung (22,54; vgl. Mk 14,53) und erwähnt darauf den Aufenthalt des Petrus (22,55; vgl. Mk 14,54). Dann aber zieht er die Verleugnung Jesu durch Petrus vor, indem er sie unmittelbar an die Aufenthaltsnotiz anschließt (22,5662). Erst danach lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse um Jesus selbst. Erneut kehrt er dabei die Handlungsfolge um. Denn die Misshandlung Jesu geht in 22,63-65 seinem Verhör vor dem Hohen Rat (22,66-71) voraus, das der lk Darstellung nach in Abweichung der mk/mt Chronologie nicht bereits während der Nacht, sondern erst bei Tagesanbruch stattfindet. Entsprechend zeichnen rür die Misshandlung Jesu bei Lk auch nicht die Ratsmit-
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
23
glieder, sondern die Bewacher lesu verantwortlich. Nochmals eigene Akzente setzt loh. Auch bei ihm setzt die Szene des Verhörs lesu durch jüdische Autoritäten mit einer kurzen Überstellungsnotiz ein (18,12-14). Doch wird Jesus zunächst nicht zum amtierenden Hohenpriester Kaiaphas geführt, sondern zu dessen Schwiegervater Hannas. In Übereinstimmung mit der Abfolge bei Mk und seinen Seitenreferenten folgt dann auch bei Joh eine Notiz über den Aufenthalt des Petrus (18,15-18). Strukturell vergleichbar mit dem nächtlichen Verhör lesu durch Kaiaphas in mk/mt Darstellung ist der Erzählabschnitt Joh 18,19':"-23. Doch statt eines offiziellen Verhörs durch einen Amtsträger in Anwesenheit des Hohen Rates erfolgt in joh Darstellung nur eine eher informelle Befragung Jesu durch Hannas. In die Darstellung dieser Befragung ist bei Joh in 18,22 die Misshandlung Jesu integriert, die freilich gegenüber der synoptischen Version reduziert ist auf eine Ohrfeige, die Jesus von einem dabeistehenden Diener erhält. Die Befragung schließt joh mit einer Notiz von der Überstellung Jesu an den Hohenpriester Kaiaphas (18,24). Sie wird in 18,28a ergänzt durch eine weitere Notiz von der Überstellung Jesu von Kaiaphas zu Pilatus, die sachlich wie strukturell der synoptischen Darstellung entspricht. Zwischen diese beiden Überstellungsnotizen fUgt Joh in 18,25-27 die Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus ein. Durch diese geschickte Erzählanordnung lenkt er davon ab, dass er sich über die Begegnung zwischen Jesus und Kaiaphas in Schweigen hüllt. In deutlicher Abweichung von den synoptischen Pass ions erzählungen findet sich in joh Darstellung auch kein Hinweis auf eine wie auch immer geartete Einbindung des Hohen Rates in die Passionsereignisse. Eine erste deutliche Abweichung von der Szenenfolge der mk Leidensgeschichte erlaubt sich Mt in 27,3-10, indem er hier eine Überlieferung vom Ende des Judas vor die Szene des Verhörs Jesu durch Pilatus einschaltet. Innerhalb der Passionstradition handelt es sich bei dieser Episode um mt Sondergut. Doch kennt auch Lk eine Überlieferung vom Tod des Judas, die er jedoch in Apg 1,15-20 im Kontext der Nachwahl des Matthias verarbeitet. Vorbereitet durch die Überstellungsnotiz in 15,1 schließt sich bei Mk in 15,2-15 nahtlos der Erzählabschnitt vom Verhör Jesu durch den römischen Statthalter an. In 27,11-25 greift Mt diesen Markusfaden wieder auf. Auch Lk folgt seiner Vorlage in 23,2-5.13-25, fügt allerdings als Sondergut in 23,6-12 die Episode von der Begegnung Jesu mit dem für Galiläa zuständigen römischen Vasallenkönig Herodes ein. Schließlich fährt loh nach der vorbereitenden Notiz in 18,28a in 18,28b-19,16a erwartungsgemäß ebenfalls mit dem Pilatusverhör fort. Auch im Anschluss an das Pilatusverhör ist unter der Perspektive der Makrostruktur eine Übereinstimmung zwischen den Passionserzählungen aller vier Evangelien zu verzeichnen. Gleichermaßen kulminieren sie in den beiden Szenen der Kreuzigung lesu (Mk 15,16-32 parr. Mt 27,26-44; Lk 23,26-43; loh 19,16b-27) sowie seines Todes mit anschließender Grab-
24
2. Die Passionserzählungen der Evangelien - ein erster Überblick
legung (Mk 15,33-47 parr. Mt 27,45-61; Lk 23,44-56; Joh 19.28-42). Mt fugt der Grablegung in 27,62-66 noch eine Sondergutpassage an, die von der Sicherung des Grabes Jesu erzählt und die ihr narratives Widerlager in der mt Osterüberlieferung mit der Erzählung von der Bestechung der Grabwächter durch die Hohenpriester (28,11-15) findet. Im Ergebnis lassen sich die Beobachtungen, die zum Bestand und zur Abfolge der Szenen in den Passionserzählungen der vier Evangelien gesammelt werden konnten, wie folgt würdigen: Anders als Mt, der alle Szenen der mk Passionserzählung übernimmt, allerdings mit dem Tod des Judas (27,3-10) und der Sicherung des Grabes (27,62-66) auch zwei Sondergutszenen in den Markusfaden einfugt, ist bei der lk wie der joh Passionserzählung eine größere Variabilität zu verzeichnen. Von den ersten sieben bei Mk vorgegebenen Szenen (Todesbeschluss bis Getsemane) übernimmt Lk alle mit Ausnahme der Salbungsszene, die er in einem ganz anderen Kontext bereits in 7,36-50 erzählt hat. Über Mk hinausgehend fugt er an die Mahlszene noch Abschiedsreden Jesu an (22,24-38), in die er die Ansage der Petrusverleugnung integriert. Entsprechend reduziert sich die Szene des Weges zum ÖIberg auf eine kurze Notiz des Ortswechsels (22,39). Joh hat bezogen auf die mk Vorgaben zwischen Todesbeschluss und Getsemane einzig die Mahlszene mit Mk gemeinsam. Die beiden ersten Szenen des Todesbeschlusses (11,47-53) und der Salbung Jesu (12,1-8) überliefert er zwar im näheren Kontext, aber eben außerhalb seiner Passionserzählung, die erst in 13,1 beginnt. Deutliche Parallelen zu Lk zeigen sich bei den - allerdings erheblich umfangreicheren - Abschiedsreden (13,31-17,26), die ebenfalls die Ansage der Petrusverleugnung einschließen, und - damit zusammenhängend - bei . der Beschränkung auf die Ortswechselnotiz in 18,1. Blickt man auf die folgenden sechs Szenen der mk Passionserzählung (Verhaftung bis Tod und Grablegung Jesu), so übernimmt Lk alle, fugt jedoch in das Pilatusverhör eine eigene Szene der Begegnung Jesu mit Herodes ein (23,6-12). Und auch Joh stimmt in diesem Teil der Passionserzählung in Bestand und Abfolge der Szenen lückenlos mit dem Markusfaden überein. Es gilt also, eine gewisse Zweiteilung festzuhalten: Orientiert an Bestand und Abfolge der Szenen im Mk lässt sich bis einschließlich der Getsemaneerzählung anhand des lk und vor allem des joh Befundes eine relativ große Variabilität beobachten. Von der Verhaftung Jesu an bis zu Tod und Grablegung dagegen weisen Bestand und Abfolge der Szenen eine große Übereinstimmung zwischen allen vier Evangelien auf. Möglicherweise spiegelt sich in diesem Befund noch der traditions geschichtliche Wachstumsprozess der Passionserzählung wider (~ 1.1.).
3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu im Spiegel der vier Evangelien 3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus 3.1.1. Die markinische Darstellung Mk 14,1-2 Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus, mit dem Mk in 14,1 f seine Passionserzählung eröffnet, trifft seine Leser nicht unvorbereitet. Wiederholt nämlich sind sie in den vorausgehenden 13 Kapiteln auf das vom religiös-politischen Establishment betriebene gewaltsame Ende Jesu hingewiesen worden. So beraten Pharisäer und Herodianer schon zu einem frühen Zeitpunkt des galiläischen Wirkens Jesu, wie sie ihn umbringen könnten, nachdem er zuvor am Sabbat eine Heilung vorgenommen hat (3,6). In Mk 3,19 tritt zum ersten Mal im Kontext der Einsetzung des Zwölferkreises Judas Iskariot als die Person in den Blick, die Jesus an die jüdischen Autoritäten ausliefern wird. Doch auch Jesus selbst weiß um das Leidensgeschick, das ihn erwartet. Dreimal - in Caesarea Philippi, auf einer Wanderung in Galiläa und schließlich bereits auf dem Weg nach Jerusalem - kündigt er seinen Jüngern sein bevorstehendes Leiden und Sterben an, stets freilich bereits mit der Perspektive seiner Auferstehung nach drei Tagen (8,31; 9,31; 10,32-34). Die jesuanischen Leidensankündigungen haben für die theologische Konzeption der mk Jesusgeschichte eine geradezu konstitutive Bedeutung. 2 Um Einsicht in diese Konzeption zu gewinnen, will beachtet sein, dass auf alle Leidensansagen unmittelbar ein Beleg für das Unverständnis der Jünger folgt (8,32; 9,32.33f; 10,35-37), dem sich jeweils wieder eine Zurechtweisung der Jünger durch Jesus bzw. ihre Einweisung in seine (Leidens-)Nachfolge lmd in seinen Dienst der (Lebens-)Hingabe anfügt (8,33.34-9,1; 9,35-37; 10,38-40.41-45). Den Schlüssel zum Verständnis seines theologischen Konzepts liefert Mk dadurch, dass er die erste Leidensankündigung auf das Christus bekenntnis des Petrus (8,29) folgen lässt. Auf dieses zutreffende Bekenntnis, das er also auch keineswegs korrigiert, reagiert der mk J esus zunächst mit einem nachdrücklichen Schweigegebot an die Adresse seiner Jünger (8,30). Wie zuvor schon die Dämonen (1,25; 3,12) fährt er sie an (im Griechischen findet sich jeweils das Verb epitimaö), mit niemanden über seine messianische Identität zu sprechen. Die Funktion dieses Schweigegebots aber wird durch die Leidensankündigung (8,31) offen gelegt. Denn diese Ankündigung stellt das formal korrekte petrinische Christus bekenntnis in den notwendigen Interpretationsrahmen: Dass Jesus der Christus ist, kann und darf nur im Kontext seines Leidens, das er erdulden muss, bekannt werden. Seine christologische Hoheit bewahrt oder immunisiert ihn nicht vor dem Leiden, sondern impliziert seine Souveränität zur Lebenshingabe. Die Leidensankündigung des mk Jesus erschöpft sich also nicht darin, die Jünger nur auf sein künftiges Geschick vorzubereiten. Sie will vielmehr den Zusammenhang von Leiden und Hoheit herausstellen. Eben diesen Zusammenhang aber will Petrus nicht akzeptieren. Sein Vgl. zum Folgenden H. Merklein, Jesusgeschichte 142-147.
26
3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
heftiger Protest gegen die gerade eröffnete Perspektive des Leidens dokumentieli das Unverständnis der Jünger (8,32). Dies trägt Petrus eine scharfe Zurückweisung von Jesus ein: "Geh hinter mich zurück, Satan!" (8,33). Mit dieser Zurückweisung stellt der mk Jesus klar: Sofem Petrus nicht bereit ist, sein Christus bekenntnis in den Horizont des Leidens zu stellen, bleibt es ein zwar formal korrektes, aber gleichwohl satanisches Bekenntnis. Als Jünger Jesu muss er lemen, dass die christologische Hoheit seines Meisters das Leiden nicht aus-, sondern gerade einschließt. Daher wird Petrus von Jesus auf die Position hinter ihm verwiesen, von wo es für die Jünger Jesu Leidens- und Kreuzesnachfolge zu praktizieren gilt, um dadurch zu einem angemessenen Verständnis ilu"es Christusbekenntnisses zu gelangen (8,34-37). Auch für die nachästerlichen Jünger und Jüngerinnen ist dies der angemessene Platz, wo sie immer wieder erfahren werden, dass das Bekenntnis zu Christus gerade nicht vor dem Leiden bewahrt oder gegen das Leiden unempfindlich macht. Freilich zeigt die unverständige Reaktion der mk Jünger auf die beiden nachfolgenden Leidensankündigungen, dass es für sie ein schwieriger Lemprozess ist: Sie definieren Hoheit stattdessen weiterhin nach irdischen Maßstäben als "der Größte sein" (vgl. 9,32-34) bzw. als "Herrschen" (10,35-37) und müssen von Jesus immer wieder darauf verwiesen werden, dass Hoheit gerade auf dem letzten Platz (9,35-37) und in der dienenden (Lebens-)Hingabe (10,38--45) zu sich selbst kommt. Dennoch haben die Jünger und Jüngerinnen Jesu auch nach Ostern, wenn die Erfahrungen auf allen Ebenen innerhalb und außerhalb der Kirchen nicht täuschen, diese sperrige Lektion in ihrer überwältigenden Mehrheit wohl bis heute nicht gelernt.
Ein weiteres Mal noch vor Beginn der mk Passionserzählung deutet sich die Entschlossenheit der jüdischen Autoritäten an, Jesus in ihre Gewalt zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt der mk Jesusgeschichte befindet sich Jesus bereits in Jerusalem. Seine Tempelaktion (11,15-17) ruft die Hohenpriester und Schriftgelehrten auf den Plan, die jetzt ihrerseits die Möglichkeit ausloten, Jesus umzubringen. Jedoch zaudern sie noch wegen seines großen Ansehens beim ganzen Volk, konkrete Maßnahmen einzuleiten (11,18). Stattdessen stellen sie ihn einen Tag später, als er sich wieder im Tempelbezirk befindet, zur Rede und verlangen Rechenschaft, was bzw. wer ihn zu sein~m Handeln ermächtigt (11,27f). Die indirekte Antwort, die Jesus ihnen mit der Gegenfrage nach der Legitimation der Johannestaufe (11,29-33) erteilt, und die indirekte Entlarvung ihrer mörderischen Pläne durch die Parabel von den bösen Weinbergspächtern (12,1-11) bestärken die Mitglieder der religiöspolitischen Oberschicht Jerusalems nur in ihrem Wunsch, Jesus verhaften zu lassen. Doch sie fürchten weiterhin das mit Jesus sympathisierende Volk (12,12). Daher schicken sie eine Gruppe von Pharisäern und Herodianem (vgl. 3,6) vor, um Jesus mit der Frage "Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen? Sollen wir sie zahlen oder nicht zahlen?" (12,14b) in die Falle zu locken. Denn beantwortete er diese Frage mit einem Ja, verscherzte er sich endgültig die Sympathien des Volkes, beantwortete er sie mit einem Nein, stellte er sich gegen die römische Hegemonialmacht und lieferte seinen Gegnern einen trefflichen Grund zur Verhaftung als politischer Rebell. Doch führt auch diese Finte nicht zum gewünschten Erfolg. Denn Jesus durchschaut ihre Absichten und entzieht sich souverän der Schlinge, die sie ihm gelegt haben (12,13-17). Die auf Jesu Tod zielende Agitation der jüdischen Autoritäten in Jerusalem
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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wird also in der mk Jesusgeschichte bereits im Vorfeld der Passionserzählung in einern größeren Erzählabschnitt entfaltet, der sich von 11,15 bis 12,17 erstreckt. Beachtung verdient dabei, dass nach mk Darstellung ein Kausalzusammenhang hergestellt wird zwischen der Tempelaktion Jesu (11,15-17) und der Absicht des Jerusalemer Tempelestablishments, seinen Tod zu betreiben (11,18). Es sprechen nun gute Gründe dafür, dass Mk mit diesem Zusammenhang eine zutreffende Erinnerung an die historischen Ereignisse bewahrt hat. Da es nicht zuletzt für ein besseres Verständnis der literarischen Gestaltung und der theologischen Akzentuierung der Geschehnisse in den Evangelien hilfreich ist, die geschichtlichen Hintergründe zu kennen, die die Passionsereignisse ins Rollen gebracht haben dürften, sollen sie daher in einem ersten Exkurs entfaltet werden.
Exkurs 1 Jesu Tempelaktion und seine Hinrichtung als politischer Rebell im Horizont der politischen und rechtlichen Verhältnisse Judäas im 1. Jahrhundert n.Chr. Mit seiner Botschaft von der in seinem Wirken bereits anbrechenden Herrschaft Gottes spricht Jesus Israel ein neues, unableitbares Heilshandeln Gottes zu. Sachlich zutreffend fasst Mk in 1,15 diese Botschaft so zusammen: "Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt an die Frohbotschaft!" Umkehr bedeutet also im Verständnis Jesu nichts anderes, als dass Israel sich auf seine Botschaft einlässt, dass es sich offen zeigt zu einem Neuanfang in seinem Verhältnis zu Gott, ein Neuanfang, der von Gott gleichsam in Vorleistung ermöglicht wurde, der aber auch die Bereitschaft des Abschieds von alten Heilsstrukturen einschließt. In Galiläa stieß Jesu Wirken offensichtlich auf große Zustimmung. Dennoch zeichnete sich wohl schon bald ab, dass Israel in seiner Gesamtheit sich auf seine Verkündigung nicht einlassen wollte. Als entscheidend dürfte Jesus dabei die Verweigerungshaltung der religiösen Autoritäten erkannt haben. Vor allem der im Umfeld des Jerusalemer Tempels etablierte und seit jeher theologisch konservative sadduzäische Priesteradel verspürte wohl kaum ein Interesse an einer Veränderung des Status quo. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Tempelaktion Jesu (vgl. Mk 11,15-17 parr. Mt 21,12f; Lk 19,45f; Joh 2,13-17) gleichsam als letzter Versuch dar, das Jerusalemer Tempelestablishment aufzurütteln und zu einer Änderung seiner Einstellung zu bewegen. Ersteres ist ihm gelungen, bedeutete freilich - historisch betrachtet - den Anfang vom Ende seines irdischen Daseins. Letzteres misslang: Der konservative sadduzäische Priesteradel verschloss sich dem von Jesus geforderten religiösen Neuanfang. Worauf aber wollte nun Jesus mit seiner Tempelaktion aufmerksam
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machen? Und noch viel grundsätzlicher: Besitzt sie überhaupt historische Plausibilität? Beginnen wir bei dieser letzten Frage. Es ist vor allem ein Argument, das immer wieder gegen die Historizität der Tempelaktion Jesu eingebracht wird: Eine solche Aktion hätte die jüdische Tempelpolizei, aber auch die an der Nordwest-Ecke des Tempelbergs in der Burg Antonia stationierte römische Kohorte zu sofortigem Einschreiten veranlasst und zur unmittelbaren Festnahme Jesu geführt. Stattdessen kann Jesus das Tempelareal ungehindert verlassen (Mk 11,19 par Mt 21,17), ja es wird weder eine Reakti on der unmittelbar Betroffenen noch der Augenzeugen berichtet. Am nächsten Tag kann Jesus ebenso ungehindert den Tempelbezirk wieder betreten und dort lehren (Mk 11,20.27 par Mt 21,18.23). Selbst Mk, der als einziger Evangelist zwischen der Tempelaktion J esu (11,15-17) und der Tötungsabsicht des jüdischen Tempelestablishments (11,18) einen Kausalzusammenhang sieht, weiß nichts von einer unmittelbaren jüdischen oder gar römischen Reaktion auf J esu provokatives Handeln. Der Einwand gegen die Historizität einer Tempelaktion Jesu setzt nun freilich voraus, dass sie mit einem spektakulären Auftritt verbunden war. Und in der Tat unterstützt die Darstellung in den Evangelien diesen Eindruck: Pauschal wird vermerkt, dass Jesus die Verkäufer und Käufer hinaustreibt, die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler umwirft. Mt präzisiert nur das, was auch bei Mk und Lk impliziert ist: Jesus treibt alle Verkäufer und Käufer hinaus (Mt 21,12). Und in joh Schilderung verfährt Jesus noch radikaler, indem er sich eine Geißel aus Stricken macht und sie damit - wiederum alle - hinaustreibt (J oh 2,15). Erstaunlicherweise lassen die Evangelisten aber nichts verlauten über einen Tumult, den ein solcher Auftritt Jesu doch wohl provoziert hätte. So empfiehlt, es sich zu unterscheiden zwischen der Tempelaktion Jesu selbst und ihrer Darstellung in den Evangelien. Die Stilisierung des Geschehens zu einem spektakulären Auftritt, von dem alle Geldwechsler und alle Händler und Käufer betroffen waren, dürfte auf das Konto der nachösterlichen Überlieferung oder ihrer mk Bearbeitung gehen. Das Geschehen selbst hat aber wohl durchaus einen historischen Haftpunkt. Ein erster Hinweis darauf ist, dass Jesu provokantes Verhalten im Tempel dem Kriterium der Unableitbarkeit entspricht. Denn zum einen steht es im Widerspruch zur Wertschätzung, den der Tempel in allen frühjüdischen Gruppierungen genoss. Dies gilt selbst rür die Qumran-Essener, die keine Vorbehalte gegen Tempel und Tempelkult an sich hegten, sondern die Legitimität der amtierenden Hohenpriester und die Legitimität des in J erusalem praktizierten kultischen Festkalenders in Zweifel zogen. Zum anderen steht es auch quer zur positiven Einstellung zum Tempel, die die ältesten urchristlichen Gemeinden erkennen lassen (vgl. etwa Apg 2,46; 3,1). Für die Historizität der Tempelaktion spricht ferner, dass das Mk 11,15 parr geschilderte Milieu historisch zutreffend ist: Innerhalb des riesigen Tempelareals gingen
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Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben (Trankopferwein, kleinere Opfertiere wie z.B. Tauben) ihren Geschäften nach, und zwar unter Billigung und Aufsicht der Tempelverwaltung. Ihre Tische und Stände befanden sich nicht mitten auf dem Tempelvorhof, sondern in einer der seitlichen Säulenhallen, möglicherweise in der sog. königlichen Halle an der Tempelsüdseite. Die Geldwechsler hatten vor allem die Aufgabe, die verschiedenen, im Umlauf befindlichen Währungen in die tyrische Währung umzutauschen. Nur in dieser einzig am Tempel akzeptierten Währung konnten rituell korrekt Opfergaben erstanden werden. Diese Opfergaben aber boten die Händler feil. Die Aufsicht durch die Tempelverwaltung garantierte dabei, dass nur kultisch einwandfreie Gaben verkauft wurden. Geldwechsler und Händler waren also für einen geordneten Kultbetrieb unverzichtbar. Aber nicht nur das geschilderte Milieu ist historisch stimmig. Darüber hinaus fügt sich die Tempelaktion Jesu auch integral in seine Verkündigung von der schon jetzt hereinbrechenden Herrschaft Gottes ein. Damit kommen wir schon zur zweiten Frage nach der Intention der Tempelaktion Jesu. Er versteht sie gewiss nicht als Protest gegen Devotionalienhandel und Geschäftemacherei mit der Frömmigkeit der Menschen, wie dies vor allem Joh 2,16 nahelegt. Auch geht es ihm nicht um eine Wiederherstellung von verlorener kultischer Reinheit. Insofern ist die gängige Bezeichnung seiner Aktion als Tempelreinigung unzutreffend. Indem Jesus die Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben im Tempelbereich angreift, entzieht er symbolisch dem Vollzug des Tempelkultes die Basis. Denn ohne Geldwechsler, die die gängigen Währungen in die Tempelwährung (tyrische Silberschekel) tauschen, keine Möglichkeit des Erwerbs von Opfergaben, ohne Verkäufer von Opfergaben keine Opfer! Jesus stellt also ganz grundsätzlich den Tempel und den dort praktizierten Kult in Frage. Diese Deutung wird im Übrigen auch durch die zunächst etwas seltsam anmutende Notiz Mk 11,16 unterstützt, die Mt und Lk bezeichnenderweise getilgt haben. Dort heißt es: "Und er ließ nicht zu, dass jemand ein Gefäß durch den Tempel trug." Diese Aussage könnte sich nun durchaus gegen eine Profanisierung des Tempels richten. Denn es ist belegt, dass der Tempelbezirk als Abkürzungsweg zwischen Ölberg und Weststadt benutzt wurde. Allerdings lässt aufhorchen, dass Mk 11,16 dezidiert von einem Gefäß (griechisch: skeuos) spricht. Diese Wortwahl [mdet sich aber gerade in der Septuaginta, wenn von Kultgeräten die Rede ist. Dies deutet doch darauf hin, dass auch diese Notiz Jesu Tun als gegen den Tempelkult gerichtet betrachtet.
Mit seiner Tempelaktion wollte Jesus also offenbar zeichenhaft Folgendes verdeutlichen: Angesichts des religiösen Scheiterns Israels und des aufgrund dessen von Gott ermöglichten Neuanfangs kann der Tempelkult als Mittel der Versöhnung mit Gott nicht mehr in Anspruch genommen werden. Damit aber hat der Tempel seine einstmalige Bedeutung und Funktion eingebüßt. In dieser heilsgeschichtlichen Situation muss Israel sich auf die von Gott neu gesetzten Heilsbedingungen einlassen! Eine solche Zeichenhandlung be-
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durfte aber keiner Aufsehen erregenden äußeren Dimensionen. Sie war auch so rur die Augen- und Ohrenzeugen verständlich. Dies gilt umso mehr, wenn die Zeichenhandlung von einem deutenden Wort begleitet war. Ein solches Wort überliefern nun alle Evangelien im Kontext der Tempelaktion Jesu: Ist nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden (für alle Völker [bei MtiLk getilgt]), ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17 palT Mt 21,13; Lk 19,46). Und: Macht nicht das Haus meines Vaters zum Handelshaus (Joh 2,16).
Doch stimmen die Stoßrichtung der überlieferten Zeichenhandlung (gegen Tempel und Tempelkult) und die Stoßrichtung des überlieferten Deutewortes (Depravierung des Tempelsbetriebes aufgrund des moralischen Versagens der Verantwortlichen) nicht überein. Denn dieses Wort impliziert eine grundsätzlich positive Bewertung des Tempels und kann damit seinen angestammten Ort nicht im Zusammenhang der Tempelaktion Jesu haben. Andererseits ist in wechselnden Kontexten und vielfach bezeugt ein tempelkritisches Wort Jesu überliefert. Es lässt sich nicht mehr zuverlässig in seiner wohl ursplünglichen Gestalt rekonstruieren. Doch kehren Schlüsselbegriffe wie der/dieser Tempel, zerstören und aufbauen immer wieder. Es begegnet bei Mk und Mt an zwei Stellen der Passionserzählung, zunächst im Rahmen des Verhörs Jesu durch den Hohenpriester, und zwar bezeiclmenderweise im Mund von Falschzeugen (Mk 14,57f par. Mt 26,60f), sodann bei der Lästerung des Gekreuzigten durch Passanten (Mk 15,29f parr. Mt 27,39f). Lk verarbeitet das tempelkritische WO1i nicht in seiner Passionserzählung, sondern stellt es - ebenfalls unter dem Vorzeichen eines Falschzeugnisses - in einen Zusammenhang mit dem Martyrium des Stephanus (Apg 6,13f). Joh überliefert als einziger das tempelkritische Wort im unmittelbaren Kontext der Tempelaktion Jesu (2,19), die er freilich an den Beginn des jesuanischen Wirkens platziert. Allerdings deutet Joh die Aussage explizit auf Jesu Tod ("Brecht diesen Tempel ab") und Auferstehung ("und in drei Tagen will ich ihn aufrichten"), indem er diese Aussage in 2,21 kommentiert: "Er aber redete von dem Tempel seines Leibes." Schließlich findet sich zu Beginn der synoptischen Endzeitrede noch eine deutliche Anspielung auf das tempelkritische Wort Jesu (Mk 13,lfpan". Mt 24,lf; Lk 21,5f).
Die vielfache Bezeugung in sehr unterschiedlichen Kontexten sowie die offenkundige Tendenz zu Umdeutungen bzw. Entschärfungen des Wortes machen es historisch plausibel, dass Jesus sich zur Zukunft des Jerusalemer Tempels kritisch geäußert hat. Seine provokante Aktion im Tempel bildet zu dieser kritischen Äußerung den ebenso historisch plausiblen Rahmen. Jesu Äußerung ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, war aber rur die Tradenten der Jesusüberlieferung aus mehreren Gründen sperrig: Es entsprach keineswegs der Einstellung der Jerusalemer Urgemeinde zum Tempel (vgl. Apg 2,46; 3,1), seine Prognose der Zerstörung erfüllte sich erst im Jahr 70, vor allem aber war es politisch heikel. Sofern also die Tempelaktion Jesu den Auslöser für seine Verhaftung und Hinrichtung bildete, lässt sich im Übrigen berechtigterweise vermuten, dass auch sein gegen den Tempel gerichtetes Wort im Verfahren gegen ihn eine Rolle spielte. Daher könnte es
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durchaus ursprünglich in der Passionsüberlieferung verankert gewesen sein. Dafür spricht noch der Beleg in der mk/mt Version des Hohenpriesterverhörs (Mk 14,57f par. Mt 26,60f), auch wenn er im jetzigen Kontext durch das Motiv der Falschzeugen entschärft ist. Historisch ist demnach von folgendem Sachverhalt auszugehen: Mit einer prophetischen Zeichenhandlung gegen Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben und mit einem begleitenden tempelkritischen Wort erklärte Jesus Tempel und Tempelkult von Gott her für außer Kraft gesetzt. Die Provokation lag dabei nicht in einem furiosen Auftritt, sondern in der Aussage der zeichenhaften Handlung und des begleitenden Wortes. Die einflussreiche sadduzäische Priesterschaft erfuhr von der Aktion Jesu und durchschaute ihre Brisanz. Dooh war sie nicht bereit, sich Jesu Botschaft vom endzeitlichen Heilsangebot Gottes zu neuen Bedingungen zu öffnen. So sah sie sich zum Handeln gezwungen. Denn Jesu Tempelaktion besaß nicht nur eine theologisch-religiöse Dimension, die sein ureigenes Anliegen war, sondern auch eine eminent politische Dimension. Der Tempel nämlich bildete die sensible Schaltstelle im Zusammenspiel zwischen der römischen Zentralmacht und der jüdischen Selbstverwaltung. Er war eben nicht nur religiös-kultisches Zentrum der Juden in aller Welt. Er war auch Sitz des obersten jüdischen Gerichtshofes. Dem Hohenpriester als Vorsitzendem des Hohen Rates oblag die Aufsicht über die Rechtssprechung in Zivil- und Strafrechtsangelegenheiten an allen lokalen Gerichten des Landes. Die Römer hatten diese Aufgabe - mit Ausnahme der Kapitalgerichtsbarkeit - an den Hohenpriester delegiert. Denn für sie waren die religionsgesetzlichen Grundlagen des jüdischen Rechtes völlig fremd und undurchschaubar. Hinzu kam die ökonomische Bedeutung des Tempels als Nationalbank Israels und als Eigner zahlreicher Latifundien im gesamten Land. Allein aus Gründen des inneren Rechtsfriedens und ihrer wirtschaftlichen Interessen musste also den Römern an stabilen Verhältnissen am Tempel gelegen sein. Gerade weil sich hier aber immer wieder religiös motivierte Unruhen gegen die heidnischen Fremdherrscher entzündeten, übten die Römer in diesem Bereich eine besonders strenge Kontrolle. So setzten sie die Hohenpriester ein und - meist nach relativ kurzer Amtszeit (~ 3.9.4.) - auch wieder ab. Sie hielten die hohenpriesterlichen Kultgewänder unter Verschluss, so dass sie auf diese Weise den Hohenpriester an seiner Amtsausübung während der religiösen Hauptfeste hindern konnten, sofern sie Unruhen fürchteten. Zudem war - wie bereits erwähnt - eine Kohorte römischer Soldaten in der Burg Antonia stationiert und hatte von dort aus direkten Zugang zum Tempelbezirk. So war also auch die Möglichkeit für ein unverzügliches militärisches Eingreifen im Bedarfsfall gegeben. Andererseits bedarf es kaum der Erklärung, dass auch den Mitgliedern des sadduzäischen Priester- und Laienadels daran gelegen war, den Status quo am Tempel zu erhalten. Denn sie waren auf jüdischer Seite die eigentlichen Nutznießer in
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machtpolitischer und ökonomischer Hinsicht. Angesichts dessen musste sie die Tempelaktion Jesu und sein tempelkritisches Wort aufs höchste alarmieren und zum Einschreiten veranlassen. Auf welcher Rechtsgrundlage aber konnten sie handeln? Judäa stand seit der direkten Machtübernahme durch die Römer im Jahr 6 n.Chr. als kaiserliche Provinz 3. Klasse mit einem militärischen Präfekten aus dem Ritterstand faktisch unter Kriegsrecht. Der Präfekt befand sich gleichsam an der Front und war mit entsprechend umfassenden militärischen und rechtlichen Kompetenzen ausgestattet. Zwar hatten die Römer aus pragmatischen Gründen die Rechtssprechung in Zivil- und Strafrechtsangelegenheiten weitgehend an die jüdische Obrigkeit delegiert. Doch war die Kapitalgerichtsbarkeit, also das Recht, Todesurteile zu fällen und zu vollstrecken, angesichts der "Frontsituation" in einer als potentiell aufrührerisch eingeschätzten Provinz allein dem Präfekten vorbehalten. Genau diese Rechtssituation spiegelt auch der Kommentar zur Einsetzung des ersten römischen Statthalters Coponius nach Einrichtung der Provinz Judäa im Jahr 6 n.Chr. wieder, der sich beim jüdisch-römischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus findet: ... ein Mann aus dem römischen Ritterstand, und er hatte vom Kaiser obrigkeitliche Gewalt empfangen, bis hin zu dem Recht, die Todesstrafe zu verhängen (Jos. Bell. 2,117).
Allerdings finden sich nun bei Josephus ebenfalls Hinweise, dass die Römer in zwei eng umgrenzten Tatbeständen der jüdischen Selbstverwaltungsbehörde das Recht einer Mitwirkung in Kapitalgerichtsangelegenheiten zugestanden. Bezeichnenderweise stehen beide Tatbestände in engstem Zusammenhang mit dem Tempel. Dies bestätigt noch einmal, dass gera~e der Tempel von höchster Bedeutung für das politische Zusammenspiel zwischen römischer Zentralmacht und jüdischer Selbstverwaltung war. Der erste Tatbestand betrifft das Überschreiten der Tempelschranken, die den Vorhof der Heiden vom inneren Tempelbezirk abgrenzten, durch Nichtjuden, und der zweite Tatbestand betrifft die Prophetie gegen den Tempel. In seiner Darstellung des ersten Jüdischen Krieges lässt Josephus den römischen Feldherrn Titus in einer Rede an die in Jerusalem belagerten Juden auch folgende Aussage machen: Haben wir euch nicht gestattet, diejenigen zu töten, die dennoch [über die Schranken] hinüberstiegen, selbst wenn der Betreffende ein Römer wäre? (Jos. Bell. 6,126)
Gerade die Schlussbemerkung stellt hierbei sicher, dass das Zugeständnis nicht soweit ging, die Todesstrafe an der römischen Instanz vorbei auszuüben. Denn die Verurteilung eines römischen Bürgers zum Tod war in aller Regel sogar dem kaiserlichen Gericht vorbehalten (vgl. etwa Plin. ep. 10,96,4) und wurde nur in Ausnahmefällen an einen Statthalter delegiert. So implizierte das Privilegrecht im Fall eines Überschreitens der Tempelschran-
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ken durch einen Heiden für die jüdische Instanz wohl nur: Sie durfte das Todesurteil aussprechen. Für die Vollstreckung aber bedurfte es der ausdrücklichen Bestätigung durch die zuständige römische Instanz. Der zweite Tatbestand, für den die Römer offenkundig eine Mitwirkung der Juden in einer Kapitalgerichtssache vorsahen, war die Prophetie gegen den Tempel. Hierzu überliefert wiederum Josephus eine Episode, die in das Jahr 62 n.Chr. datiert: Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch in höchstem Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen: ,Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!' So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß behaITlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Machthabenden, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übelmenschliche Macht treibe und führten ihn zu dem Prokurator, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ,Wehe dir, Jerusalem!' Als aber Albinus - denn das war der Prokurator - fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ." (Bell. 6,300-305)
Verschiedene Aspekte verdienen hier Beachtung: 1. Bei Jesus Ben Ananias handelt es sich um einen Unglückspropheten, der den Untergang Jerusalems und des Tempels voraussagt. 2. Die angesehenen Bürger, deren Einschreiten Josephus erwähnt, sind identisch mit den wenig später genannten Machthabenden, es handelt sich also bei ihnen offensichtlich um führende Mitglieder des Hohen Rates, möglicherweise unter Einschluss des Hohenpriesters selbst. Nur so erklärt sich, dass sie ihn festnehmen können. 3. An die Festnahme schließt sich ein Verhör an, dem durch Schläge Nachdruck verliehen werden soll, allerdings ohne eine brauchbare Aussage des Festgenommenen zu erbringen. 4. Es erfolgt die Übergabe an den römischen Prokurator Albinus, der Jesus Ben Ananias zuerst einmal geißeln lässt. Dies macht hinreichend deutlich, dass der Fall als Kapitalgerichtsverfahren behandelt wird. Denn in einem solchen Verfahren hatte die Geißelung ihren angestammten Platz. 5. Im Gegensatz zu den Vertretern der jüdischen Selbstverwaltung, die wohl für die Hinrichtung des Ananias plädieren, spricht der römische Prokurator "den Gefangenen frei. Damit belegt der Fall des Unglückspropheten Jesus Ben Ananias: 1. Unter der Voraussetzung einer Prophetie gegen den Tempel ermöglicht ein festgelegtes Verfahren der jüdischen Selbstverwaltung, selbst initiativ zu werden, konkret: eine Verhaftung vorzunehmen, eine Befragung durchzuführen und schließlich sich beim römischen Statthalter
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um Verhängung der Todesstrafe zu bemühen. 2. Trotz Mitwirkung der jüdischen Instanz behält sich die römische Instanz aber die letzte Entscheidung über eine Him'ichtung selbst vor. Es ist nun historisch plausibel und nahe liegend, dass die Mitglieder des Hohen Rates gegen Jesus aufgrund seiner Tempelaktion und seines tempelkritischen Wortes auf dem gerade dargelegten Instanzenweg das Todesurteil anstrengten. Dies bestätigt im Übrigen indirekt auch das sog. Testimonium Flavianum (Jos. Ant. 18,63f), eine Passage, in der Josephus über Jesus von Nazaret, sein Wirken und seine Anhängerschaft berichtet. In der heutigen Fassung ist das Testimonium Flavianum sicher christlich bearbeitet. Doch steht die hier interessierende Aussage nicht unter dem Verdacht, sekundär zu sein. Sie lautet: "Und obwohl ihn Pi/atus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, ... "
Im Unterschied zum späteren Fall des Jesus Ben Ananias gelangte also der römische Prokurator im Fall Jesu von Nazaret zur gleichen Einschätzung eines todeswürdigen Tatbestandes wie die jüdische Instanz und ließ Jesus als politischen Rebell kreuzigen. Dies fand seinen Niederschlag im Kreuzestitulus "König der Juden". Denn Jesus hatte aus der Perspektive des jüdischen Tempelestablishments wie aus römischer Perspektive mit seiner Tempelaktion und seinem tempelkritischen Wort deutlich gezeigt, dass er der tempelstaatlichen Ordnung in der Provinz Judäa feindlich gegenüberstand. Diese Ordnung aber war von den Römern eingesetzt und legitimiert worden. Zudem hatte J esus Anhänger um sich gesammelt. Angesichts dessen fiel er für seine jüdischen und römischen Gegenspieler in die Kategorie, die einmal mehr Josephus in typisch römischer Sichtweise so beschreibt: Judäa war voller Räuberbanden. Und überall dort, wo sich eine Schar von Aufrührern zusammenfand, wählten sie einen König (basileus), der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. (Jos. Ant. 17,285)
Damit aber traf auf Jesus der Tatbestand der perduellio, des Hochverrats zu. Zu dieser Einsicht gelangte offenkundig jedenfalls Pilatus durch seine eigene gerichtliche Untersuchung und verurteilte Jesus zum Tod durch Kreuzigung und damit zu der rur Rebellen vorgesehenen Him·ichtungsart.
Wenden wir uns nach diesem Exkurs nun wieder der mk Darstellung der Ereignisse zu. Die erste Szene seiner Pass ions erzählung (14,1 f) eröffnet Mk in 14,la mit einer Zeitangabe: "Es war aber zwei Tage später das Passa und das Fest der ungesäuerten Brote." Der Verweis auf das kurz bevorstehende höchste jüdische Fest ist für den von Mk angezielten Adressatenkreis das Signal, dass die mk Jesusgeschichte sich jetzt dramatisch zuspitzt. Denn eine
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Kenntnis um die zeitliche Nähe der Hinrichtung Jesu zum Passafest konnte vorausgesetzt werden. Dass Mk selbst im Übrigen mit dem jüdischen Festkalender nicht sehr vertraut war, zeigt sich an seiner Formulierung. Denn sie suggeriert, dass es sich beim Passafest und beim Fest der ungesäuerten Brote um zwei verschiedene Feste handelt, die nur (zufällig?) zusammenfallen. In 14,lb-2 greift Mk dann auf 11,18; 12,12f(11,27) zurück. Beharrlich sind die Jerusalemer Autoritäten weiterhin bestrebt, ultimativ gegen Jesus vorzugehen. Wie schon in 11,18 agieren auch jetzt die Oberpriester - also die Inhaber der obersten Tempelämter mit dem Hohenpriester an der Spitze - gemeinsam mit den Schriftgelehrten. Bei diesen dürfte es sich übrigens nicht um die pharisäische Fraktion im Hohen Rat handeln, sondern um die Tempelschriftgelehrten, die als Experten in allen theologische, juristischen und ökonomischen Fragen den Oberpriestern mit Rat und Tat zur Seite standen. Dagegen bleiben die Ältesten, die in 11,27 neben den Oberpriestern und Schriftgelehrten genannt sind, in 14,1 unerwähnt. Mit den Ältesten sind die - wohl mehrheitlich sadduzäischen, zum Teil jedoch auch pharisäischen - Mitglieder des Hohen Rates bezeichnet. Im Hohen Rat, der als oberstes Selbstverwaltungsorgan das jüdische Volk gegenüber den Römern als den eigentlichen Machthabern repräsentierte, waren Priester- und Laienadel gleichermaßen vertreten. Allein aus den Reihen des Priesteradels rekrutierten sich aber die Inhaber der obersten Tempelämter.
Die Jerusalemer Autoritäten zeigen sich also in 14,1 b weiterhin fest entschlossen, Jesus zu vernichten. Mit einem konkreten Plan, ihren Entschluss in die Tat umzusetzen, können sie allerdings zu Beginn der mk Passionserzählung noch nicht aufwarten Doch bleiben sie ihrer Strategie treu, nicht offen gegen J esus vorzugehen, sondern ihn mit einer List in ihre Gewalt zu bringen (vgl. 12,12.13), um ihn dann zu töten (vgl. 11,18). Angesichts der herrschenden Rechtslage können sie dabei allerdings weder an den Vollzug eines Todesurteils in eigener Regie noch an Lynchjustiz denken. Vielmehr bleibt ihnen nur die Möglichkeit, Jesus den Römern als Rebell gegen die bestehende, fragile (tempel-)staatliche Ordnung zu präsentieren und ein römisches Todesurteil gegen ihn anzustrengen. Dies kann freilich in 14,1 unausgesprochen bleiben, denn die Erstadressaten der mk J esusgeschichte wussten wohl noch um die in Judäa im Jahre 30 herrschenden Rechtsverhältnisse. In Mk 14,2 wird dann ein Motiv aufgenommen, das ebenfalls bereits in 11,18 und 12,12 vorbereitet wurde, nämlich die Furcht des Tempelestablishments vor der Reaktion des Volkes auf ein gewaltsames Vorgehen gegen Jesus. Wird diese Furcht aber in 11,18; 12,12 von Mk nur kommentierend erwähnt, so lässt er jetzt in Steigerung der Dramatik die Autoritäten selbst zu Wort kommen: "Ja nicht während des Festes, damit es zu keinem Aufruhr des Volkes kommt." Diese Äußerung spielt zutreffend auf die besondere Atmosphäre in Jerusalem während der großen Wallfahrtsfeste an, die stets eine große Herausforderung für die jüdische Obrigkeit wie für die römischen Machthaber bei der Wahrung der öffentlichen Ordnung bildete. Nicht zufällig waren während dieser Feste die Römer in Jerusalem und insbesondere im
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Tempelbereich verstärkt militärisch präsent und in höchster Alarmbereitschaft (~ Exkurs 1). Denn die Pilger vermehrten die Zahl der in der Stadt anwesenden Menschen um ein Vielfaches, und zudem war die herrschende religiöse Feststimmung geeignet, angesichts der ungeliebten heidnischen Fremdherrscher messianische Erwartungen zu schüren. Vor diesem Hintergrund werden die Bedenken verständlich, die die Hohenpriester und Schriftgelehrten in Mk 14,2 äußern: Angesichts der Sympathien, die Jesus aufgrund seines Wirkens im Volk genießt (11,18), befürchten sie einen Aufruhr des Volkes, sofern sie während des Passafestes gegen Jesus vorgehen. So schließt die erste Szene der mk Passionserzählung trotz aller grundsätzlichen Entschlossenheit mit einer gewissen Ratlosigkeit der Jerusalemer Autoritäten im Blick auf ihr konkretes Handeln.
3.1.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,1-5 Ebensowenig wie Mk konfrontiert Mt seine Leser und Leserinnen unvermittelt mit dem Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus, mit dem er im Anschluss an Mk seine Passionserzählung in 26,1-5 eröffnet. In enger Rückbindung an seine Vorlage übernimmt er ,gleichermaßen den ersten Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus noch während seines galiläischen Wirkens (12,14 par. Mk 3,6), den Hinweis auf die spätere Auslieferung Jesu durch Judas Iskariot (10,4 par. Mk 3,19), die drei Leidensankündigungen Jesu selbst (16,21 par. Mk 8,31; 17,22fpar. Mk 9,31; 20,1719 par. Mk 10,32-34), den Verhaftungswunsch der Jerusalemer Autoritäten als Reaktion auf die Parabel von den bösen Weinbergspächtern .(21,45 par. Mk 12,12) sowie den Versuch der Pharisäer, zusmmnen mit den Herodianern Jesus mit der Steuerfrage eine Falle zu stellen (22,15fpar. Mk 12,13). Gegen Mk 11,15-17.18 stellt Mt jedoch keinen Bezug her zwischen der Tempelaktion Jesu und der - daraus erwachsenden - Tötungsabsicht der Jerusalemer Autoritäten. Eine weitere Abweichung von der mk Vorlage ergibt sich daraus, dass Mt die mk Parabel von den bösen Weinbergspächtern (Mk 12,1-11 par. Mt 21,33-44) zu einer Parabeltrilogie ausbaut. So schaltet er der bei Mk vorgegebenen Parabel die Parabel von den beiden ungleichen Söhnen (Mt 21,28-32) vor und schließt ihr in 22,1-14 die Parabel vom königlichen Hochzeitsmahl an. Dadurch lockert er den Zusammenhang zwischen dem Verhaftungswunsch der Jerusalemer Autoritäten (21,45 par. Mk 12,12) und der Falle, die Pharisäer und Herodianer Jesus stellen (22,15 parr. Mk 12,13). Denn sie werden nun nicht von den Jerusalemer Autoritäten vorgeschickt, sondern arbeiten sozusagen auf eigene Rechnung. Damit verhalten sich die Jerusalemer Autoritäten in mt Darstellung außerhalb der mit Kapitel 26 beginnenden Passionserzählung etwas zurückhaltender als bei Mk. Die erste Szene seiner Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu erweitert
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Mt im Vergleich zu seiner mk Vorlage deutlich. Eingeleitet wird sie in 26,1 a durch eine für ihn charakteristische Formulierung, die sich stets an der Nahtstelle zwischen dem Ende der fünf großen mt Jesusreden und dem Fortgang der Erzählhandlung findet: "Und es geschah, als Jesus alle diese Reden beendet hatte" (vgl. Mt 7,28; 19,1 und mit geringfugiger Variation Mt 11,1; 13,53). In 26,la bildet diese Formulierung die Brücke zwischen der letzten großen Rede des mt Jesus (Mt 23-25) und dem Beginn seiner Passion. Sachgemäß fugt Mt daher hier ein "alle" ein und ruft dadurch noch einmal kurz alle flinf Redekompositionen seiner J esusgeschichte in Erinnerung. Sofort anschließend lenkt er dann aber die Aufmerksamkeit auf die unmittelbar bevorstehenden Passionsereignisse. Dazu integriert Mt die mk Zeitangabe (l4,la), deren missverständliche Formulierung er durch Streichung von "und das Fest der ungesäuerten Brote" korrigiert, in eine letztmalige Leidensankündigung Jesu an die Adresse seiner Jünger (26,1 b-2). Durch diese über die mk Vorgaben hinaus zusätzliche Leidensankündigung hebt Mt in der erzählstrategisch wichtigen Anfangsszene seiner Passionserzählung in besonderer Weise die Souveränität hervor, mit welcher Jesus sich seinem bevorstehenden Leiden und Sterben stellt. In 26,3-5 wird dann der Blick weg von Jesus und seinen Jüngern hin auf die Aktivitäten seiner Jerusalemer Gegenspieler gelenl(t. Durch den temporalen Anschluss mit da/dann (griechisch: tote) in V. 3 entsteht geradezu der Eindruck, dass erst Jesu Worte die Oberpriester und Ältesten des Volkes initiativ werden lassen und damit die Passionsereignisse ins Rollen bringen. Beschränkt sich die Initiative der Jerusalemer Autoritäten Mk 14,1 b folgend auf ein eher informelles Bemühen um eine passende Gelegenheit zur Verhaftung und Tötung Jesu, so gewinnt sie in mt Bearbeitung einen offiziellen Charakter. So fällt zunächst auf, dass neben den Oberpriestern bei Mt nicht die Schriftgelehrten, sondern die Ältesten des Volkes agieren. Damit nennt er genau die beiden konstitutiven Gruppen des Hohen Rates, der sich zusammensetzte aus den Oberpriestern als der Gruppe der amtierenden Inhaber der obersten Tempelämter und den Ältesten als den übrigen Ratsmitgliedern aus dem Priester- und Laienadel. Damit tritt also nach Mt 26,3f das oberste Selbstverwaltungsgremium des jüdischen Volkes in Aktion, dessen Repräsentanzfunl(tion durch den Zusatz "die Ältesten des Volkes" (so auch jeweils in Ergänzung der mk Vorlage: Mt 21,23; 26,47; 27,1) noch betont wird. Diese Aktion wird präzise in ihrem Ablauf geschildert: Zunächst (V. 3) versammeln sich die Oberpriester und Ältesten im Palast des amtierenden Hohenpriesters, der eigens namentlich erwähnt wird: Kaiaphas. Sodann (V. 4) fassen sie gemeinsam einen formellen Beschluss (griechisch: §J!!1ebouleusanto, hina ... ) gegen Jesus. Inhaltlich geht dieser Beschluss parallel mit den Plänen der Jerusalemer Autoritäten in Mk 14,lb. Auch in V. 5 schließt Mt sich im Wesentlichen eng seiner Vorlage Mk 14,2 an. Bemerkenswert ist allenfalls, dass in mt Diktion nicht ein Aufruhr des Volkes, sondern ein Aufruhr im Volk befürchtet wird. Damit
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
also schätzen die jüdischen Offiziellen bei Mt die Situation ein wenig optimistischer als bei Mk ein. Denn ihrer Einschätzung nach drohen kein Generalaufstand, sondern "nur" partielle Unruhen als mögliche Folge eines gewaltsamen Vorgehens gegen Jesus während des Passafestes. Doch auch diese gilt es zu vermeiden. Im Vergleich zu seiner mk Vorlage setzt Mt also in der ersten Szene seiner Passionserzählung deutlich eigene Akzente: Die zusätzliche Leidensankündigung betont die Souveränität Jesu, die ihn angesichts seines drohenden Leidens nicht ausweichen, sondern standhalten lässt. Die offizielle Vorgehensweise des offiziellen Gremiums "Hoher Rat" unterstreicht die Bedeutung, die die politischen und religiösen Autoritäten Jerusalems dem Fall Jesus von Nazaret beimessen. Und schließlich deutet der zeitliche Konnex, der zwischen den beiden Teilszenen V. Ifund V. 3-5 zu Beginn von V. 3 hergestellt wird, vorsichtig eine Abhängigkeit der Initiative der Jerusalemer Offiziellen von der Bereitschaft Jesu zur Übernahme seines Leidens an.
3.1.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,1-2 Auch Lk greift die mk Vorgaben auf, durch die die Leser und Leserinnen der Jesusgeschichte schon vor Beginn der Passionserzählung kontinuierlich auf das von den jüdischen Autoritäten betriebene gewaltsame Ende Jesu vorbereitet werden. Den ersten, bereits in Galiläa erfolgenden Todesbeschluss Mk 3,6 schwächt er allerdings etwas ab, indem er die Reaktion der Schriftgelehrten und Pharisäer (6,7) auf die von Jesus vorgenommene Sabbatheilung so zusammenfasst: "Sie aber wurden von sinnloser Wut. erfüllt und besprachen sich miteinander, was sie gegen Jesus unternehmen könnten" (6,11). In 6,16 übernimmt Lk von Mk 3,19 im Rahmen der Zwölferliste den Hinweis auf die Rolle des Judas Iskariot im Passionsgeschehen. In 9,22 (par. Mk 8,31), 9,44 (par. Mk 9,31) und 18,31-34 (par. Mk 10,32-34) folgen dann die drei jesuanischen Leidensankündigungen. In 19,47 übernimmt Lk anders als Mt aus Mk 11,18 die im Anschluss an die Tempelaktion Jesu erstmals geäußerte Tötungsabsicht der Jerusalemer Autoritäten. Allerdings lockert er den Bezug zwischen Tempelaktion und Tötungsabsicht, indem er einfügt: "Und er lehrte täglich im Tempel." Damit also bezieht sich in lk Interpretation die Tötungsabsicht auf Jesu Lehre bzw. ist eine Folge dieser Lehre. Das ist durchaus sachgerecht. Denn Jesu Tempelaktion ist untrennbar mit seiner Verkündigung von der mit seinem Wirken anbrechenden endzeitlichen Herrschaft Gottes verbunden (3.1.1. -) Exkurs 1). Auch den mk vorgegebenen Zusammenhang zwischen dem Verhaftungswunsch der Jerusalemer Oberen im Anschluss an die Vollmachtsfrage und an die Parabel von den bösen Weinbergspächtern (20,19 par. Mk 12,12) sowie der von ihnen durch "Mittelsmänner" initiierten und als Falle gedachten Steuerfrage (20,20 par. Mk
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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12,13) übernimmt Lk. Interessanterweise formuliert Lk aber in 20,20b die Absicht der Fragesteller und ihrer Auftraggeber gegen Mk ausdrücklich: " ... so dass sie ihn der Herrschaft und Gewalt des Statthalters ausliefern könnten." Damit bringt Lk die rechtshistorische Situation in Judäa zur Zeit Jesu exakt auf den Punkt, die es der jüdischen Obrigkeit nicht ermöglichte, ein rechtskräftiges Todesurteil auszusprechen und zu vollstrecken (~ 3.1.l. Exkurs 1). Lk gestaltet den Beginn seiner Passionserzählung mit dem Todesbeschluss der Hohenpriester und Schriftgelehrten gegen Jesus in 22,lf ähnlich komprimiert wie Mk 14,1 f, formuliert allerdings sehr eigenständig. Bei der Zeitangabe in V. 1 stößt auch er sich - wie schon bei Mt beobachtet (~3.1.2.) an der ungeschickten rnk "Festkombination". Daher korrigiert er zutreffend durch "das Fest der ungesäuerten Brote, das Passa genannt wird". Gegen Mk streicht er "nach zwei Tagen" und ersetzt diesen präzisen Zeitrahmen durch die offenere Angabe "es näherte sich". Diese Angabe bildet das erste Wort der lk Passionserzählung und signalisiert daher an erzählstrategisch zentraler Position einprägsam die Zuspitzung der Ereignisse. In 22,2 gelingt es Lk sogar, seine schon knapp formulierte rnk Vorlage noch zu straffen. So fasst er das in Mk 14,1 b zweischrittig beschriebene Vorgehen der Hohenpriester und Schriftgelehrten gegen Jesus (ergreifen und töten) durch "beseitigen" zusammen und streicht darüber hinaus das Motiv der List ersatzlos. Das Motiv für das geplante Vorgehen, die "Furcht vor dem Volk" übernimmt Lk zwar aus Mk 14,2. Doch tauscht er die direkte Rede der Jerusalemer Autoritäten gegen einen zusammenfassenden Erzählerkommentar aus. Durch diese Eingriffe in seine mk Vorlage gelingt ihm ein stilistisch eleganter Einstieg in seine Passionserzählung, doch büßt die lk Eröffnungsszene gegenüber der mk deutlich an erzählerischer Dramatik ein.
3.1.4. Die johanneische Version Joh 11,47-53 Im Vergleich zu den synoptischen Evangelien weist das Joh vor Beginn der Passionserzählung in seinen ersten zwölf Kapiteln ein noch erheblich engeres Netz an Vorverweisen auf Jesu gewaltsames Ende auf. Ein lückenloser Überblick über alle diese Vorverweise führte hier zu weit. Stattdessen sollen die rür die joh Interpretation der Passion Jesu wichtigsten Aspekte und Motive kurz in den Blick genommen werden. Eine Schlüsselaussage hierzu findet sich in 10, 17f am Ende der Bildreden vorn Hirten und seinen Schafen. Dort heißt es: 17 Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. 18 Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Mit diesen Worten bringt der joh Jesus unmissverständlich zum Ausdruck, dass er selbst der souveräne Herr über die Passionsereignisse ist. Sie widerfahren ihm nicht nur noch nimmt er sie nur ergeben hin, sondern er hat vom Vater die Macht über sein Leben erhalten. Entsprechend weiß er um seine Stunde, mehr noch: er bestimmt diese Stunde - den Zeitpunkt seiner Lebenshingabe - selbst (2,4; 12,23.27). Deshalb schlagen auch alle vorzeitigen Versuche aus dem Volk oder aus den Reihen der jüdischen Autoritäten fehl, Jesus zu verhaften (7,30.32.43f.45-47; 8,20; 10,39) oder zu steinigen (8,59; 10,31). Typisch johanneisch sind auch die Vorverweise auf Jesu Kreuzestod als Erhöhungs- (3,14; 8,28; 12,32.34) und Verherrlichungsgeschehen (7,39; 11,4; 12,16.23 [in Kombination mit dem Motiv der Stunde].28), in welchem sich paradoxerweise gegen den vordergründigen Augenschein einer schmachvollen Himichtung seine göttliche Hoheit zu erkennen gibt. Innerhalb der joh Passionserzählung übernimmt die Deutung des Todes Jesu als Verherrlichungsgeschehen eine Art Rahmenfunktion für die Abschiedsreden des joh Jesus (13,3lf; 17, I [in Kombination mit dem Motiv der Stunde]. 4f).
Die Rolle Jesu als von Gott bevollmächtigter Regisseur des Passionsgeschehens bringt es mit sich, dass in der joh Darstellung die Initialzündung für dieses Geschehen nicht von Jesu Gegnern ausgehen kann. Entsprechend wird die Passionserzählung nach Johannes auch nicht mit dem Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus eröffnet. Vielmehr zieht Joh diese Szene (11,47-53) in die letzte Phase des öffentlichen Wirkens Jesu vor. In seiner Erzählkonzeption bildet sie somit den Schluss- und Höhepunkt der vielen erfolglosen Versuche, die die Widersacher Jesu in ihrem Unglauben verhaftet bereits unternommen haben, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Zugleich kommt dem Todesbeschluss des Hohen Rates unter diesen Versuchen von Jesus her ein besonderer Stellenwert zu. Denn er hält die Handlungsfäden in Händen und initiiert gleichsam diesen Beschluss, um ihn sich zunutze zu machen und mit seiner Hilfe die Passionsereignisse in Gang zu setzen, natürlich zu der für ihn und von ihm bestimmten Stunde. So fällt auf, dass die Auferweckung des Lazarus (11,1-44) - das letzte Zeichen, das der joh Jesus wirkt - in einem direkten Begründungszusammenhang mit dem Todesbeschluss des Hohen Rates (11,47-53) steht. Getrennt sind die beiden Erzähleinheiten nur durch die kurze Notiz über die gegensätzlichen Reaktionen, die dieses Zeichen Jesu hervorruft: 45 Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn. 46 Aber einige von ihnen gingen zu den Pharisäern und berichteten ihnen, was er getan hatte. Aufgrund dieser Information aber kommt es zur Einberufung einer Sitzung des Hohen Rates (V. 47), die mit der endgültigen Entschlossenheit endet, Jesu Tod zu betreiben (V. 53). Ein aufmerksamer Blick zurück auf den Beginn der Lazaruserzählung entdeckt nun bald eine rätselhaft wirkende Äußerung Jesu. Auf die Nachricht von der Erkrankung seines Freundes Lazarus (V. 3) reagiert Jesus nämlich mit den Worten (V. 4):
3.1. Der Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten gegen Jesus
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Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. Damit findet sich in dieser Antwort mit dem Motiv der Verherrlichung des Gottessohnes ein typisch johanneischer Hinweis auf den Tod Jesu. Nicht Lazarus selbst also wird die Erkrankung zu Tode bringen, sondern seinen Freund Jesus! Doch warum? In diesem Zusammenhang fällt ein weiterer merkwürdiger Erzählzug auf. Denn statt sofort zu Lazarus aufzubrechen, wartet Jesus im Bewusstsein, dass sein erkrankter Freund stirbt (V. 11-15), noch zwei volle Tage (V. 6). Erst dann bricht er mit seinen Jüngern nach Judäa auf (V. 7), nicht ohne dass diese ihn zuvor noch daran erinnern, dass die Juden ihn dort erst kürzlich steinigen wollten (V. 8; vgl. 10,31.39). Als Jesus in Betanien, dem nahe bei Jerusalem (nach 11,18: 15 Stadien = ca. 3 km) gelegenen Wohnort des Lazarus und seiner Schwestern Marta und Maria, ankommt, ist Lazarus bereits vier Tage tot (V. 17). Den ersten Satz, den beide Schwestern übereinstimmend an Jesus richten, lautet: "Herr, wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben." (V. 21.32). Ihr berechtigtes Vertrauen, das sie Jesus zuvor hatte benachrichtigen lassen, kOlmte sich auf die zuvor schon gewirkten Zeichen Jesu an Kranken stützen (vgl. 4,46-54; 5,29; 9,1-7). Doch hat sich der joh Jesus eben deshalb nicht unverzüglich auf den Weg nach Betanien gemacht, damit Lazarus starb. Denn so kann er an dem zweifelsfrei Toten - der Verwesungsprozess hat bereits erkennbar eingesetzt (V. 39) - mit der Auferweckung sein letztes und größtes Zeichen wirken. Die Totenauferweckung des Lazarus bildet also den Schluss- und Höhepunkt der Zeichen des joh Jesus. Sie führt nicht nur noch einmal viele zum Glauben an Jesus (V. 42.45), sondern bildet auch den Anlass für den Todesbeschluss des Hohen Rates als den Schluss- und Höhepunkt der gegnerischen Versuche, Jesus aus dem Weg zu räumen. Weil Jesus es jetzt so will, führt die Krankheit, obwohl sein Freund stirbt, durch sein auferweckendes Handeln nicht zum Tod des Lazarus, sondern zu seiner Verherrlichung, das heißt zu seinem eigenen Tod (vgl. V. 6). Denn erst die von Jesus bestimmte Ereignisfolge entlässt aus sich den Ratsbeschluss, dessen Umsetzung freilich wiederum von Jesu Willen abhängt. So führt die Anordnung der Jerusalemer Autoritäten, den Aufenthaltsort Jesu zu melden, um ihn verhaften zu können (11,57) zunächst zu keinem Erfolg. Vielmehr wird Jesus von der Volksmenge unter Jubelrufen nach Jerusalem hinein begleitet (12,12-19), so dass die am Todesbeschluss beteiligten Pharisäer (11,46f) geradezu resignieren (12,19). Auch bestimmt Jesus selbst darüber, öffentlich in Jerusalem zu reden (12,20-36a.44-50) oder sich zu verbergen (12,36b). Erst beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern - der Eröffnungsszene der joh Passionserzählung - gibt er im Wissen darum, dass seine Stunde gekommen ist (13,1), und ausgestattet mit der Bevollmächtigung des Vaters (13,3) Judas das entscheidende Signal: "Was du tun willst, das tue bald!" (13,27). Damit kann Judas der Anordnung der Hohenpriester und Pharisäer (11,57) nachkommen und ihnen den Aufenthaltsort Jesu melden (18,2f).
Obwohl nun die Szene des Todesbeschlusses der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus - ungeachtet ihrer Einbettung in die spezifisch joh Erzählkonzeption - eine dreifach synoptische Parallele besitzt, gestaltet Joh sie auch im Einzelnen ganz eigenständig. Infolge einer Information, die die Pharisäer von einigen Augenzeugen der Totenerweckung des Lazarus erhalten haben, wird eine Sitzung des Hohen Rates anberaumt (11,46-47a). Zu Beginn dieser Sitzung lassen die Ratsmitglieder eine gewisse Ratlosigkeit erkennen, die nach den vielen fehlgeschlagenen Versuchen, Jesus auszuschalten, nur zu verständlich ist. Doch angesichts des Wirkens Jesu und des daraus resultierenden Zulaufs des Volkes ist ihnen bewusst, dass sie aus Gründen politischer Klugheit etwas gegen Jesus unternehmen müssen. Denn wenn sie ihn gewäh-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ren lassen, "werden die Römer kommen und uns sowohl den Ort als auch das Volk wegnehmen" (11,4 71r48). Nur allzu deutlich spiegelt sich in dieser Befürchtung die Situation wieder, die im Jahr 70 mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels eintrat. Doch ist die Vorstellung dieses Szenarios auch vier Jahrzehnte zuvor für die mit dem Tempel eng verbundenen jüdischen Autoritäten in Jerusalem keineswegs abwegig. Denn am Tempel liefen alle Fäden der innerjüdischen Selbstverwaltung unter römischer Oberherrschaft zusammen. Sie wurde von den Mitgliedern des Hohen Rates einschließlich der 0 berpriesterlichen Amtsträger sowie von den Schriftgelehrten als ihren sachverständigen Beratern wahrgenommen. Diese tempelstaatliche Ordnung lag gleichermaßen im Interesse der römischen Oberherren, solange ihnen die jüdischen Autoritäten als Garanten innenpolitischer und wirtschaftlicher Stabilität nützlich waren, wie im Interesse der jüdischen Autoritäten selbst, insofern ihnen diese Ordnung Macht über das Volk und Wohlstand garantierte (~ 3.1.1. Exkurs 1). Jede Erschütterung des fragilen Machtgefüges musste also verhindert werden, wollten die Autoritäten nicht Gefahr laufen, ihre Privilegien zu verlieren. Eine solche Erschütterung aber konnte von einem charismatischen Menschen hervorgerufen werden, der es verstand, Anhänger um sich zu scharen und so im Urteil der Römer als politischer Rädelsführer galt. Die politischen Erwägungen, die auch noch in der synoptischen Darstellung hinter den Aktionen der Jerusalemer Autoritäten im unmittelbaren Vorfeld und zu Beginn der Passionsereignisse aufscheinen (vgl. Mk 11,18; 14,lf parr.), bringt Joh 11,47b--48 somit auf den Punkt. In 11,49f ergreift nun der amtierende Hohepriester Kaiaphas das Wort und weist einen Ausweg aus der schwierigen Situation: Angesichts der Alternative, den Tod eines einzelnen Menschen zu betreiben oder mit dem Ende der tempelstaatlichen Ordnung auch den Untergang des ganzen Volkes zu riskieren, kann die Entscheidungshilfe für die Ratsmitglieder - zumal als Nutznießer dieser Ordnung - nur lauten, "dass es besser für euch ist, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt" (V. 50). Dieses Votum des Hohenpriesters, das mit der Formulierung "sterben für" bereits die Leser und Leserinnen des Joh an ihnen vertraute Bekenntnissprache erinnern dürfte, wird in V. 51f durch einen Kommentar des Evangelisten auch entsprechend interpretiert. Erwähnenswert sind dabei drei Aspekte: 1. dem Hohenpriester wird kraft seines Amtes eine prophetische Gabe zugeschrieben (vgl. Philo, spec.leg. 4,192); 2. Jesus stirbt für das Volk, das heißt für Israel; 3. der Heil bringende Tod Jesu ist aber nicht auf Israel begrenzt, sondern kommt auch der Sammlung der versprengten Gotteskinder zugute, also allen, die innerhalb und außerhalb Israels an Jesus als den Sohn Gottes glauben (vgl. 1,12; 3,16.18; 10,14-16). V. 53 blendet zurück auf die Erzählebene: Das Votum des Kaiaphas hat seine Wirkung nicht verfehlt. Von jetzt an sind die Ratsmitglieder entschlossen, Jesus zu töten. Ihre Entschlossenheit wird durch die in V. 57
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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nachgetragene Anordnung der Pharisäer unterstrichen, den Aufenthaltsort Jesu, falls bekannt, zu melden, um ihn verhaften zu können. Abschließend seien im Vergleich zur synoptischen Überlieferung noch zwei bemerkenswerte Bezüge zwischen der mt und der joh Darstellung genannt. So setzen zum einen Joh 11,47 wie Mt 26,3 gleichermaßen eine gezielte Versammlung der Jerusalemer Autoritäten voraus. Und zum anderen stimmen Mt 26,3 und Joh 11,49 in dieser Szene darin überein, dass sie den amtierenden Hohenpriester ausdrücklich namentlich als Kaiaphas bezeichnen.
3.2. Die Sa1bung Jesu in Betanien 3.2.1. Die markinische Darstellung Mk 14,3-9
Ohne jedes erkennbare Bemühen um einen erzählerischen Übergang lenkt die zweite Szene der mk Passionserzählung unvermittelt den Blick von den zum Tod Jesu fest entschlossenen Jerusalemer Autoritäten auf Jesus selbst. Nach Auskunft von V. 3a findet die im Folgenden erzählte Begebenheit in dem nahe Jerusalem gelegenen Ort Betanien statt. Näherhin weilt Jesus als Tischgast im Hause eines Mannes namens Simon, der zudem den Beinamen "der Aussätzige" (der "Lepröse") trägt. Nicht thematisiert wird, ob Simon noch aktuell an Lepra leidet und warum Jesus bei ihm zu Gast ist. Da Simon aber als Gastgeber eines Mahles nicht nur Jesus, sondern auch andere Gäste (vgl. V. 4a) bewirtet, muss er offenkundig nicht mehr ausgesondert leben und hat damit als geheilt zu gelten. Vermutlich setzt Mk unausgesprochen voraus, dass Simon - wie auch ein Aussätziger in Galiläa (vgl. Mk 1,40-42) - seine Heilung Jesus verdankt und daher zu seiner Ehre ein Gastmahl veranstaltet. Während dieses Mahles kommt eine anonym bleibende Frau, die ein Gefäß mit Nardenöl bei sich trägt, das eigens als echt und kostbar qualifiziert wird. Sie zerbricht das Gefäß und salbt mit dem Öl Jesu Haupt (V. 3b). Statt einer Reaktion Jesu wird in den V. 4f die Reaktion einiger (griechisch: tines), nicht näher identifizierter Augenzeugen der Salbungshandlung geschildert. Diese nehmen Anstoß am Tun der Frau. Denn sie betrachten die Salbung Jesu mit dem teuren Öl, dessen Verkaufswert sie mit mehr als 300 Denare beziffern, als Vergeudung und wissen auch sogleich einen geeigneteren Verwendungszweck, nämlich die Unterstützung der Armen. So tun sie zunächst untereinander ihren Unwillen kund und machen dann der Frau heftige Vorwürfe. Da schaltet sich Jesus selbst in die Kontroverse ein und ergreift Partei für die Frau (V. 6-9). Zunächst unterbindet er ihre Bloßstellung: "Lasst sie! Warum bereitet ihr ihr Unannehmlichkeiten?" (V. 6b). Sodann interpretiert er das, was die Kritiker der Frau Vergeudung genannt haben (V.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
4b), als ein gutes Werk an ihm (V. 6c). Bevor er dies näher erläutert, entkräftet er das Argument der Armenfursorge. In Entsprechung zu seiner Antwort auf die Fastenfrage (vgl. 2,18-20) weist der mk Jesus auch jetzt auf den Kairos seiner Anwesenheit hin, angesichts dessen die Armenfursorge kurzfristig in den Hintergrund rücken muss. Ob ihr Wohltätigkeits argument ernst gemeint und nicht nur vorgeschoben war, dies zu beweisen werden die Kritiker der Frau Gelegenheit genug haben, wenn Jesus nicht mehr unter ihnen weilt, denn "Arme habt ihr allezeit unter euch" (V. 7). V. 8 schließt an V. 6 an und setzt damit die Verteidigung der Frau fort. Die Unannehmlichkeiten, die die Kritiker der Frau bereiten (V. 6b), stehen in krassem Widerspruch zu ihrem Einsatz: "Sie hat getan, was in ihren Möglichkeiten stand" (V. 8a). Diese Feststellung erinnert fast ein wenig an den Kommentar des mk Jesus zur Opfergabe der armen Witwe: "Sie hat aus ihrem Mangel heraus alles, was sie hatte, hineingeworfen" (12,44). Und so klingt auch hier in 14,8a gewiss die finanzielle Belastung an, die die Frau zum Erwerb des echten und kostbaren Nardenöls (V. 3b) auf sich genommen hat, um Jesus ihre Wertschätzung zu bezeugen. Dies ist freilich nur der zutage liegende Aspekt ihres HandeIns. Erst die Erläuterung Jesu, worin das gute Werk der Frau an ihm (V. 6c) konkret besteht, legt den entscheidenden Aspekt ihrer Tat offen: "Sie hat es vorweggenommen, meinen Leib fur das Begräbnis zu salben" (V. 8b). Im weiteren Verlauf der mk Jesusgeschichte wird Josefvon Arimathäa unter dem Zeitdruck des bald beginnenden Sabbats Jesus ohne Totensalbung bestatten (15,42--46). Und die Frauen um Maria von Magdala kommen am Ostermorgen angesichts des leeren Grabes und der Auferweckungsbotschaft (16,1.5f) nicht mehr dazu, ihre Absicht der nachträglichen Totensalbung in die Tat umzusetzen. In ihren Möglichkeiten also stand es nicht, .Jesus diese Ehre zu erweisen, wohl aber in den Möglichkeiten der anonym bleibenden Frau. Sie hat - in Unkenntnis der über den Augenblick hinausgehenden Bedeutung - diese Möglichkeiten in die Tat umgesetzt. Denn im Gegensatz zu ihren selbstgerechten Kritikern hat sie den Kairos der Gegenwart Jesu gespürt und genutzt. Daher müssen diese abschließend aus Jesu Mund die Verheißung eines bleibenden Andenkens an die Frau und ihr Tun vernehmen: "Amen, ich sage euch, wo immer das Evangelium auf der ganzen Welt verkündigt wird, wird auch gesagt werden, was diese Frau getan hat zu ihrem Gedächtnis" (V. 9).
3.2.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,6-13 Mt folgt in 26,6-13 im Wesentlichen seiner Vorlage Mk 14,3-9. So platziel1 auch er die Salbungserzählung als zweite Szene seiner Passionserzählung hinter den Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten. Zudem verzichtet er, abgesehen von einigen stilistischen Glättungen und erzähltechnischen Straf-
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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fungen, die nicht eigens erörtert werden müssen, inhaltlich weitgehend auf eigene Akzentuierungen. Umso bemerkenswerter ist angesichts dessen, dass die Kritik am Tun der Frau in der mt Bearbeitung nicht von einigen, nicht näher identifizierten Leuten erhoben wird, sondern dass die Jünger unisono dagegen protestieren (26,8 diff Mk 14,4).
3.2.3. Die lukanische Version Lk 7,36-50
Die Erzählung von einer Salbung Jesu sucht man innerhalb der lk Passionserzählung vergeblich. Denn Lk hat die Vorlage Mk 14,3-9 nicht übernommen. Allerdings findet sich auch in seiner Jesusgeschichte eine Salbungsüberlieferung, und zwar in der galiläischen Phase des Wirkens Jesu (7,3650). Sie wird traditionsgeschichtlich durchweg als unabhängig von Mk 14,39 beurteilt, zugleich aber gilt eine Annäherung beider Salbungsüberlieferungen noch auf der Ebene der mündlichen Tradierung als wahrscheinlich. Unverkennbar weisen beide Überlieferungen große Ähnlichkeiten im Aufbau des Erzählgerüstes auf: 1. Jesus weilt als Tischgast in einem Haus (Mk 14,3a; Lk 7,36); 2. eine anonym bleibende Frau verschafft sich Zugang zu ihm und salbt ihn (Mk 14,3b-4; Lk 7,37f); 3. das Auftreten der Frau stößt auf Vorbehalte (Mk 14,4f; Lk 7,39); 4. Jesus nimmt sie gegenüber ihren Kritikern in Schutz und heißt ihr Verhalten gut (Mk 14,6-8; Lk 7,40-46); 5. er legt die positiven Folgen für die Frau offen (Mk 14,9; Lk 7,47f). Lk fand die Parallelüberlieferung zu Mk 14,3-9 wohl in seinem Sondergut und verzichtete, um eine Erzähldubletie zu vermeiden, auf die Übernahme der mk Version. Welche Gründe ihn bei seiner Entscheidung gegen die mk Version und damit auch gegen eine Verortung der Salbungsüberlieferung innerhalb der Passionserzählung bewegten, wird sich nicht endgültig klären lassen. Doch darf vermutet werden, dass Lk als begabter Schriftsteller einen größeren Gestaltungsspielraum sah, sofern er die passionsunabhängige Salbungstradition aus seinem Sondergut aufgriff und in der ga1iläischen Phase des Wirkens Jesu verankerte. Es rührte angesichts der hier auf die Passionserzählungen ausgerichteten Perspektive zu weit, den redaktionellen Anteil an der jetzigen Gestalt der lk Salbungserzählung 7,36-50 im Einzelnen herauszuarbeiten. So mag der Hinweis auf narrative Querverbindungen genügen, die Lk zu anderen Erzähleinheiten seiner Jesusgeschichte herstellt, die ebenfalls in Galiläa situiert sind und die er von Mk übernommen hat. Eine Querverbindung besteht zur Erzählung von der Heilung des Gelähmten (5,17-26 par. Mk 2;1-12), und sie verläuft über das Motiv der Sündenvergebung, und zwar in Kombination mit der gegnerischen Infragestellung der Vollmacht Jesu dazu. Eine andere Querverbindung besteht zur Erzählung von der Heilung der blutflüssigen Frau (8,43-48 par. Mk 5,25-34), und sie verläuft über das Motiv des helfenden Glaubens und der Entlassung in Frieden.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Handlungsort der lk Salbungserzählung ist das Haus eines Pharisäers (7,36) in einer Stadt (vgl. 7,37). Von 7,11 her ist an NaYn zu denken, da zwischen 7,11 und 7,36 jeder Hinweis auf einen Ortswechsel fehlt und die in 7,37 erwähnte Stadt zudem mit einem bestimmten Artikel versehen ist. Den situativen Rahmen der Salbungshandlung bildet wiederum ein Essen (7,36 parr. Mk 14,3; Mt 26,6f), zu dem der Pharisäer Jesus eingeladen hatte. Die Frau, die die Salbung an Jesus vornimmt, bleibt auch bei Lk namenlos. Allerdings wird sie über Mk und Mt hinausgehend ausdrücklich als Sünderin qualifiziert (V. 37), freilich - wie ihre Tränen, die sie vergießt, zeigen - als reuige Sünderin (V. 38). Über die Art ihrer Sünde(n) schweigt sich die Geschichte aus. Diese Frau nun, die von Jesu Besuch im Haus des Pharisäers erfahren hat, nähert sich Jesus weinend, so dass ihre Tränen seine Füße benetzen. Daher trocknet sie sie mit ihren Haaren, bevor sie anschließend Jesu Füße mit dem mitgebrachten Öl salbt (V. 38). Mit ihrer Handlung ruft nun die Frau beim Gastgeber Jesu Kritik hervor, die er jedoch nicht ausspricht. Diese Kritik zielt freilich im Unterschied zur mk/mt Version der Erzählung nicht auf eine unnötige Verschwendung des Salböls. Entsprechend fehlt auch bei Lk gegen Mk 14,3b und - etwas abgeschwächt - auch Mt 26,7 jeglicher Hinweis auf die Kostbarkeit des Öls. Vielmehr richtet sich die Kritik gegen die Person Jesu. Denn nach Überzeugung des Pharisäers diskreditiert sich Jesus selbst als Prophet, indem er sich von einer sündigen Frau berühren lässt (V. 39). Die Reaktion Jesu auf diese unausgesprochene Kritik (vgl. 5,21f!) erweist ihn aber als Prophet, denn sie belegt, dass ihm die Gedanken des Pharisäers offenbar sind (V. 40-47). In der Einleitung des Gesprächs zwischen Jesus und seinem Gastgeber (V. 40) wird zum ersten Mal der Eigenname des Pharisäers erwähnt: Simon. Dieser Eigenname dürfte von Lk aus der mk Salbungsüberlieferung eingetragen worden sein. Wahrscheinlich war nämlich Lk überzeugt, dass die beiden ihm bekannten Salbungstraditionen auf ein und dieselbe Begebenheit im Leben Jesu zurückzufiihren seien. Der lk Jesus konfrontiert nun seinen Gastgeber in V. 41f mit einer Beispielerzählung aus dem Bereich des Geldverleihs, deren rür den gesunden Menschenverstand einzig mögliche Quintessenz er Simon selbst ziehen lässt; Wer mehr Schulden erlassen bekommt, der liebt auch mehr (V. 43). In den V. 4446 nun vergleicht Jesus Schritt rür Schritt die Versäumnisse Simons gegenüber seinem Gast mit dem Verhalten der Frau und folgert daraus abschließend (V. 47): Deshalb sage ich dir, ihre zahlreichen Sünden sind ihr vergeben, ebendeshalb hat sie so viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der erweist (auch nur) wenig Liebe.
An die Frau gerichtet bestätigt Jesus noch eimnal explizit die ihr zuteil gewordene Sündenvergebung, die sich implizit bereits in ihrem Handeln an ihm gezeigt hatte (V. 48). Auf die inneren Vorbehalte der anderen Gäste gegen seine Vollmacht zur Sündenvergebung (V. 49; vgl. 5,21), reagiert der lk
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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Jesus nicht mehr. Stattdessen bestätigt er der Frau die hilfreiche Kraft ihres Glaubens und entlässt sie mit dem Friedenswunsch (V. 50; vgl. 8,48). Sprachlich hat die lk mit der mkImt Variante der Salbungserzählung nur rudimentäre Gemeinsamkeiten. Sie beschränken sich in Lk 7,37 (parr. Mk 14,3; Mt 27,7) auf die Begriffe Frau (griechisch: gyne) und Alabaster(-gefäß) mit Salböl (griechisch: alabastron myrou) und in Lk 7,40.43 auf den übereinstimmend mit Mk 14,3 par. Mt 26,3 angegebenen Namen des Gastgebers: Simon.
Inhaltlich unterscheidet sich d'ie lk von der mklmt Version vor allem dadurch, dass nicht so sehr Jesus selbst und sein künftiges Geschick im Blickpunkt stehen, sondern die Frau und ihre existentielle Situation, die durch Sünde und Vergebung gekennzeichnet ist. Entsprechend wird die Salbung auch nicht als vorweggenommene Totensalbung interpretiert, sondern als liebende Antwort auf erfahrene Vergebung.
3.2.4. Diejohanneische Version Joh 12,1-8 Im Joh findet sich die Überlieferung einer Salbung Jesu wie im Lk außerhalb der Leidenserzählung. Doch im Unterschied zu Lk platziert Joh sie in zeitliche und sachliche Nähe zu den Passionsereignissen. Eine gewisse Parallele zur mklmt Version besteht in der Geschehensabfolge. So schließt die joh Salbungserzählung zwar nicht unmittelbar an den Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus an. Doch wird zwischen die beiden Szenen nur in 11,54 die Notiz vom Rückzug Jesu aus der Öffentlichkeit und in den V. 55f die Überlegungen der Jerusalemer Festpilger, ob Jesus zum Passafest in die Stadt komme, eingeschoben. V. 57 mit der Anordnung der Hohenpriester und Schriftgelehrten, den Aufenthaltsort Jesu, falls bekannt, zu melden, um ihn verhaften zu können, stellt die direkte erzählerische Verbindung zwischen Todesbeschluss (11,47-53) und Salbung (12,1-8) her. Auch die joh Variante der Salbungserzählung selbst lässt keinen Zweifel an ihren Bezug auf die Passion Jesu. Bereits die einführende Zeitangabe in 12,1 (sechs Tage vor dem Passafest) stellt die nachfolgend erzählten Ereignisse in den Kontext des Todespassa und damit der jetzt anbrechenden letzten Lebenswoche Jesu. Entsprechend deutet auch der joh Jesus in Übereinstimmung mit der mklmt Version die Salbung als vorweggenommene Totensalbung (12,7; vgl. Mk 14,8 par. Mt 26,12). Mit Mk und Mt verbindet diejoh Salbungserzählung darüber hinaus Betanien als Ort des Geschehens (12,1; vgl. Mk 14,3 par. Mt 26,6) sowie die Betonung der Kostbarkeit des verwendeten Salböls (12,3; vgl. Mk 14,3 par. Mt 26,7). Besonders enge - auch sprachliche - Berührungen bestehen dabei zwischen Mk 14,3b (ein Alabastergefäß mit echtem, kostbarem Nardenöl [griechisch: alabastron myrou nardou pistikes polytelousD und Joh 12,3 (ein Pfund von echtem, kostbaren Nardenöl (griechisch:
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
litran myrou nardou pistikes polytimou]). Indem loh statt des Gefäßes (alabastron) die Menge (litra) - ein Pfund - des Salböls erwähnt, unterstreicht er noch den Kostenaufwand für die Salbung lesu. Für Salböl der angegebenen Qualität ist ein Pfund (= 327,45 g) eine ungeheuer große Menge, die etwa zehn Monatsverdienste verschlang.
Sachlich eng mit der Kostbarkeit des Salböls verbunden wird bei Mk/Mt und Joh ebenfalls übereinstimmend der Vorwurf einer unangemessenen Verwendung der darur aufgewendeten Kosten (12,5; vgl. Mk 14,4f par. Mt 26,8f) erhoben. Allerdings ist von Mk (14,4: einige) über Mt (26,8: die Jünger) zu Joh (12,4: Judas Iskariot, einer von seinen Jüngern) eine zunehmende Präzisierung des Urheber(kreises) dieses Vorwurfs zu beobachten. In der joh Version der Salbungserzählung zeichnet nur noch Judas Iskariot allein dafiir verantwortlich. Sein Bild wird zudem zusätzlich dadurch verdunkelt, dass der Hinweis seiner Zugehörigkeit zum Jüngerkreis in V. 4 noch ergänzt wird durch den Zusatz "der ihn später auslieferte/verriet" und durch V. 6, der ohne synoptische Parallele - den Einwand des Judas (V. 5) kommentiert: "Er sagte dies aber nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und, da er die Kasse führte, ihren Inhalt veruntreute" (loh 12,6).
Die Reaktion des joh Jesus auf den Einwand des Judas entspricht weitgehend der mk/mt Version. Mit Mk 14,6 verbindet Joh 12,7 die Einleitung "lass(t) sie!", die Joh aufgrund ihres direkten Bezuges auf Judas allein entsprechend singularisch formuliert. Mit Mt 26,11 verbindet Joh 12,8 gegen Mk 14,7 die Zuspitzung auf den Gegensatz "Arme allezeit - mich nicht allezeit". Gegen Mk 14,9 par. Mt 26,13 gibt der joh Jesus keine Zusage eines dauernden Andenkens an die Frau und ihr Handeln. Mit allen drei synoptischen Salbungserzählungen ist die joh Version durch die Rahmensituation eines Gastmahls verbunden. Speziell mit der lk Variante stimmt sie darin überein, dass nicht Jesu Haupt, sondern Jesu Füße gesalbt werden und dass die Haare der salbenden Frau zum Abwischen der Füße dienen (12,3; vgl. Lk 7,38). Die entscheidende Besonderheit der joh Salbungserzählung im Vergleich zu den synoptischen Varianten gründet in ihrer narrativen Verzahnung mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (11,1-44) (~ 3.1.4.). Dadurch wird zwar der bei Mk 14,3-9 par. Mt 26,6-13 vorgegebene Bezug des Salbungsgeschehens auf Jesu Tod nicht aufgehoben, doch wird zugleich der Blick auf Jesu Auferstehung gelenkt. Denn das Zeichen der Totenauferweckung, das Jesus an Lazarus wirkt, weist voraus auf seine eigene, eschatologisch-endgültige Überwindung des Todes. Durch sie erweist er sich den an ihn Glaubenden als die Auferstehung und das Leben (11,25). Die erzählerischen Verbindungen zwischen 11,1-44 und 12,1-8 sind zahlreich. Zunächst einmal wird die joh Salbungserzählung gerahmt durch die zweifache Erwähnung des Lazarus der jeweils pointiert charakterisiert wird durch den Relativsatz "den er (= Jesus) von den Toten auferweckt hatte" (V. 1.9).
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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Während des Mahles, das für Jesus in Betanien ausgerichtet wird, ist zudem Lazarus sein Tischgenosse (V. 2). Aber auch die beiden Schwestern des Lazarus sind wie in Kapitel 11 anwesend. Marta übernimmt den Tischdienst (V. 2), Maria dagegen vollzieht, wie schon in 11,2 durch einen erzählerischen Vorverweis angekündigt, an Jesus die Salbung (V. 3). Damit ist in der joh Version die salbende Frau aus ihrer synoptisch vorgegebenen Anonymität entlassen. Interessant ist nun, dass allein J oh den durchdringenden Duft erwähnt, der vom Salböl ausgeht (V. 3f: ,;Das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls."). Angesichts des von Joh unverkennbar hergestellten Bezugs zwischen Lazarus- und Salbungserzählung bildet dieser Duft das Widerlager zum Leichengestank, auf den in 11,39 angespielt wird. Ist dieser Gestank aber das Kennzeichen der beginnenden Verwesung, d.h. des unwiderruflich eingetretenen Todes, so hat der in 12,3 eigens erwähnte Duft gleichsam als das Gegenzeichen zu gelten. Er steht für das unvergängliche Leben, konkret für Jesu Auferstehung, in der dieses Leben schon Wirklichkeit geworden ist. In diesem Zusammenhang verdient noch ein anderer, bemerkenswerter Erzählzug Beachtung: Joh 12,3 stimmt zwar mit Lk 7,38 darin überein, dass Jesu Füße gesalbt werden. Allerdings wäscht die lk Sünderin Jesu Füße zunächst mit ihren Tränen, trocknet sie dann mit ihren Haaren und trägt abschließend das Öl auf. Anders die joh Lazarusschwester: Sie salbt zunächst Jesu Füße und wischt sie dann mit ihrem Haar ab. Sie nimmt also etwas von dem duftenden Öl, das sie auf Jesu Füße gegossen hat, mit ihren Haaren auf. Dies ist nun alles andere als eine ungeschickte oder unbedachte Adaption des lk Motivs. Vielmehr symbolisiert die Anteilhabe Marias am duftenden Öl ihre Anteilhabe am Auferstehungsleben Jesu, wie die Salbung selbst für ihre Anteilhabe am Tod Jesu steht. Diese Anteilhabe aber wird durch den Glauben vermittelt (11,25f), der sich im Handeln Marias an Jesus dokumentiert (12,3). Die joh Salbungserzählung verknüpft also - gerade durch ihre Rückkoppelung an die Lazarusperikope - Tod und Auferstehung Jesu ganz eng miteinander. Dies entspricht der paradoxen Einheit von Kreuz und Erhöhung, Tod und Verherrlichung Jesu, die das Evangelium wie ein roter Faden durchzieht. Der an irdischen Kriterien vermessene Gipfel der Erniedrigung des Menschen Jesus von Nazaret ist zugleich die Inthronisation des Gottessohnes als König durch die göttliche Machttat. Das Kreuz ist damit der nach menschlichen Kriterien paradoxe Thron des joh Christuskönigs. Gerade das Königsmotiv wird immer stärker ins Blickfeld gerückt, je näher der Tod Jesu kommt. Es nimmt im Verhör vor Pilatus eine zentrale Stellung ein (18,33-40) und wird noch einmal durch den Kreuzestitulus (19,19-22) eindrücklich herausgestellt. Das Königsmotiv dürfte auch den Hintergrund der Salbungserzählung bilden. Denn zum einen wird der Duft der Narde biblisch außer in Joh 12 nur im Hld 1,12 erwähnt und steht dort im explizit königlichen Kontext:
I
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Solange der König zu Tisch lag, gab meine Narde ihren Duft.
Zum anderen gestaltet Joh die nachfolgende Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem (12,12-19) als feierliche Einholung des Königs. Der Ruf der Volksmenge, die Jesus entgegen zieht und ihn als König Israels feiert (V. 13), wird vom Evangelisten gerade nicht als Fehlinterpretation des Vollces korrigiert. Vielmehr wird er durch Berufung auf die Schrift (Leitzitat: Sach 9,9) ausdrücklich bestätigt (V. 15). Freilich lässt Joh auch hier keinen Zweifel daran, dass die volle Einsicht in das besondere Königtum Jesu erst durch seine Verherrlichung am Kreuz eröffnet wird (V. 16).
Exkurs 2 Maria Magdalena - die Frau, die Jesus salbte? Auch heute in einer Zeit schwindender kirchlicher Prägung verbindet sich im Bewusstsein vieler Menschen mit der Salbung Jesu eine schillernde Frauengestalt: Maria Magdalena - die frühere Dirne, die durch ihre Begegnung mit Jesus zur reuigen Sünderin (vgl. Lk 7,38) und schließlich zur Heiligen avancierte. In jüngerer Zeit machte Maria Magdalena durch Literatur und Effekt heischenden Wissenschaftsjoumalismus sogar noch eine späte Kan-iere als Partnerin Jesu und Mutter seiner Kinder. Doch lässt sich diese Variante getrost dem weiten Feld der Phantasie zuordnen und mag hier auf sich beruhen.
Das bis heute fortwirkende populär-Iegendarische Bild von Maria Magdalena verdankt sich dagegen einem bemerkenswerten Verknüpfungsprozess der neutestamentlichen Gestalt der Maria von Magdala mit anderen im Neuen Testament begegnenden Frauengestalten. Die Einzelfäden dieses Verknüpfungsprozesses, der auf einer historisierend-harmonisierenden Lektüre der vierfachen Evangelienüberlieferung basiert, lassen sich unter dem Vorzeichen historisch-kritischer Zugangsweise zu den Texten verlässlich aufzeigen. Die Gestalt der Maria von Magdala begegnet in der neutestamentlichen Überlieferung ausschließlich in den Evangelien. In allen vier Evangelien aber ist ihr Auftreten eng mit der Kreuzigung Jesu und mit den Osterereignissen verbunden. Die älteste Erwähnung der Maria von Magdala fmdet sich Mk 15,40: Es waren aber auch Frauen, die von weitem zusahen, unter ihnen auch Maria von Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus dem Kleinen [= dem Jüngeren] und Joses sowie Salome.
Als Augenzeuginnen der Kreuzigung Jesu werden hier Frauen genannt, unter denen drei namentlich identifiziert und damit aus der anonymen Gruppe hervorgehoben werden. Genau diese drei Frauen machen sich auch am Os-
3.2. Die Salbung Jesu in Betanien
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termorgen auf dem Weg zum Grab Jesu (Mk 16,1), nachdem zuvor Maria von Magdala sowie Maria, die Mutter des Joses, die Grablegung Jesu beobachtet hatten (Mk 15,47). Es gibt nun einen deutlichen Hinweis, dass die dreimalige namentliche Erwähnung dieser Frauen in Mk 15,40.47 und 16,1 und zwar jeweils mit Maria von Magdala als der Erstgenannten - zur vormk Passionsüberlieferung gehört. Ihr Auftreten nämlich beschränkt sich auf den Schluss der Passionserzählung und wird im vorausgehenden Teil des Evangeliums mit keiner Silbe vorbereitet. Vielmehr erweckt Mk durch 15,41 den Eindruck, als wolle er nachträglich eine Verklammerung mit den Kapiteln 1-13 herstellen. Denn er fügt hinzu: Diese [= die drei zuvor genannten Frauen] waren ihm nachgefolgt, als er in Galiläa war, und hatten ihm gedient, und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren."
Wenngleich also 15,41 sich der Redaktion des Mk verdanken dürfte, so zieht er nur den logischen Schluss aus der dem vormk Passionsbericht entstammenden Notiz in 15,40: Wenn die Frauen als Zeuginnen der Kreuzigung genannt sind, setzt ihre durchaus für sie nicht ungefährliche Anwesenheit eine persönliche Beziehung zum Gekreuzigten voraus. Da Jesus aber nur wenige Tage in Jerusalem wirkte, kann diese Beziehung in dieser kurzen Zeit kaum entstanden sein. Die mk Erklärung, dass die Frauen also schon in Galiläa zur Anhängerschaft Jesu zählten, ist damit historisch glaubwürdig. Dies gilt umso mehr von der allen voran namentlich genannten Maria von Magdala. Denn ihre Herkunftsbezeichnung erweist sie als Galiläerin. Sie stammte aus Magdala, einem kleinen Fischerdorf am Westufer des Sees Genesaret, das 8km von Kafarnaum und etwa 30km von Nazaret entfernt gelegen war. Außerhalb des Zusammenhangs von Karfreitag und Ostern wird Maria von Magdala nur ein einziges Mal in Lk 8,2 und damit im Kontext einer lk Sondergutnotiz (8,1-3) erwähnt. Dort heißt es: 1 Und es geschah in der folgenden Zeit, dass er umherzog von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, wobei er das Evangelium von der Gottesherrschaft verkündigte, und die Zwölf [zogen] mit ihm [umher], 2 und einige Frauen, die geheilt worden waren von bösen Geistern und Krankheiten, Maria, genannt die aus Magdala, aus welcher sieben Dämonen ausgefahren waren, 3 und Johanna, die Frau des Chuzas, eines Verwaltungsbeamten des Herodes, und Susanna und viele andere [Frauen], welche ihnen [= Jesus und den Zwölfen] dienten mit ihrem Vermögen.
Lk greift hier deutlich erkennbar zwei ihm vorliegende Überlieferungen auf, die er miteinander kombiniert. Mk 15,40f entnimmt er, dass Frauen, unter ihnen Maria von Magdala als Erstgenannte, Zeuginnen der Kreuzigung Jesu waren und dass sie Jesus darüber hinaus schon zuvor in Galiläa nachgefolgt waren. Lk nun präzisiert und profanisiert gleichzeitig diesen bei Mk allgemein gehaltenen und doch durch den Kontext seines Evangeliums theologisch qualifizierten Dienst der (Kreuzes-)Nachfolge (Mk 8,34; 10,45!) als
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
materielle Unterstützung. Darüber hinaus zieht er die von Mk erst im Kontext der Passion nachgelieferte Information über Frauen im Gefolge Jesu während der galiläischen Phase an eine dazu passende Stelle innerhalb seines Evangeliums vor und erweist sich so einmal mehr als begabter Erzähler. Zudem weiß Lk in 8,2 zu berichten, dass diesen Frauen Jesu exorzistisches und therapeutisches Wirken zuteil geworden war. Dabei erwies sich seine heilende Kraft in besonders eindrücklicher Weise an Maria von Magdala, aus der er - so Lukas - sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Damit kommt die zweite Überlieferung ins Spiel, die Lk in sein Sondergut 8,1-3 einbaut. Denn mit Vers 8,1, der erzählerisch an 4,43 anknüpft, greift er auf eine traditionelle Vorgabe zurück, wie sie sich Mk 1,39 par Mt 4,23 (vgl. Mt 9,35) findet. Demnach aber ist Jesu Verkündigungstätigkeit untrennbar verbunden mit seinen Dämonenbannungen bzw. Krankenheilungen, die nach frühjüdischer Weltsicht eng aufeinander bezogen sind. Lk beschränkt sich nun in 8,1 allein auf die Predigttätigkeit Jesu und fügt erst in 8,2 das dazu gehörende heilende Wirken an. Und zwar bezieht er dies konkret auf die Frauen in seinem Gefolge. Auf diese Weise erscheinen Nachfolge und Dienst der Frauen als Ausdruck ihrer Dankbarkeit für die erfahrenen Heilungen. Die deutlich redaktionelle Gestaltung von Lk 8,1-3 rät dazu, die Aussage über die völlige Besessenheit (sieben! Dämonen) bzw. schwere Erkrankung der Maria von Magdala sehr zurückhaltend zu bewerten. Es ist denkbar, dass Maria von Magdala Jesu heilendes Wirken an sich selbst erfahren hat, nachweisen lässt es sich nicht. Historisch glaubwürdig ist nur, dass sie bereits. in Galiläa zu Jesu Jüngerschaft gehörte. Warum sie dazu stieß, muss letztlich offen bleiben. Fest verankert ist in der urchristlichen Erinnerung auch der herausragende Platz, der Maria von Magdala bei den Passions- und Osterereignissen zukommt. Aufgrund ihrer unverbrüchlichen Treue zu Jesus kann sie von ihm bezeugen, was schließlich zu den unverrückbaren Grunddaten des christlichen Bekenntnisses wird: gestorben, begraben und auferweckt (vgl. lKor 15,3-5). Doch wie wurde nun diese Maria von Magdala, von der wir zuverlässig überliefert nur wenig wissen, zur legendarischen Maria Magdalena, der Dirne, Büßerin und Heiligen? Als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für diese unfreiwillige "Karriere" dürfte wohl die redaktionell gestaltete lk Erzählabfolge zu betrachten sein. Denn die einzige Erwähnung der Maria von Magdala außerhalb des Passions- und Osterkontextes schließt in 8,1-3 unmittelbar an die lk Salbungserzählung 7,36-50 an. Sodann liefert die joh Salbungserzählung über die synoptischen Varianten hinaus dankenswerterweise mit Maria auch noch einen Namen der salbenden Frau, der mit dem Namen der Jesusjüngerin aus Magdala identisch ist. Und schließlich kam noch hinzu, dass die Gestalt der Maria von Magdala in der mk/lk Erzähltradition vom Grabbesuch am Ostermorgen ebenfalls untrennbar mit dem Salbungsmotiv verbunden ist (vgl. Mk 16,1; Lk 24,1.10). So kam es, wie es
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten
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kommen musste: Im Licht einer historisierend-harmonisierenden Lektüre der vier kanonischen Evangelien wurde Maria von Magdala mit der reuigen Sünderin der lk Salbungserzählung identifiziert. Denn diese hieß ja auch Maria, wie man aus dem JohEv zu wissen glaubte. Obwohl nun Lk offen lässt, worin die Sünde der salbenden Frau bestand, wurde diese Sünde im Laufe der Zeit sexuell konnotiert und die Frau zur Dirne abgestempelt. Entsprechend wurde auch die Information über die Besessenheit der Maria von Magdala in Lk 8,2 sexuell gedeutet. Damit war die Legende der Maria Magdalena geboren: Als stadtbekaimte Dirne, die reumütig zu Jesus kommt, wird sie von ihm von ihrer sexuellen Besessenheit geheilt. Fürderhin folgt sie ihm als Bekehrte auf seinen Wegen und sitzt als Hörende zu seinen Füßen. 3
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten 3.3.1. Die mk Darstellung Mk 14,10-11 Die nächste Szene der mk Passionserzählung, die nur von den synoptischen Seitenreferenten übernommen wird und ohne joh Parallele bleibt, knüpft über die Salbungsszene hinweg sachlich an die Eröffnungsszene mit dem Todesbeschluss der Jerusalemer Autoritäten gegen Jesus (l4,1f) an. Am Ende dieser ersten Szene sind diese Autoritäten zwar unverrückbar und endgültig entschieden, den Tod Jesu zu betreiben. Doch fehlt ihnen noch jeder konkrete Plan zur Umsetzung ihrer Absicht. Genau hier knüpft nun 14,1 Of an. In der Situation ihrer Ratlosigkeit nimmt Judas Iskariot Kontakt mit den Hohenpriestern auf. Eigens wird Judas als "einer von den Zwölfen" (V. 10a) bezeichnet. Damit erinnert Mk daran, dass Judas Mitglied des engsten Jüngerkreis ist, den J esus in einer frühen Phase seines galiläischen Wirkens konstituiert hat (3,13-19). Kaum zufällig spricht Mk in V. lOa auch davon, dass Judas "wegging (griechisch: f!J2-elthen) zu den Hohenpriestern. Denn Judas geht nicht nur zu den Hohenpriestern, sondern er verlässt damit aus mk Sicht den Zwölferkreis und wendet sich den Feinden Jesu zu. Dass Judas gleichsam das Lager wechselt, bestätigt Mk dann auch unmittelbar in V. lOb. Judas sucht die Hohenpriester auf, um ihn (Jesus) ihnen auszuliefern (griechisch: paradidömi) - so, wie Mk es schon in 3,19 im Vorgriff auf die späteren Ereignisse erwähnt. Das Verb, das Mk in V. lOb (vgl. 3,19) wählt, um die Absicht des Judas auszudrücken, besitzt ursprüJ?glich nicht die ethisch negativ wertende Konnotation verraten. Diese Konnotation
In diesem Zusammenhang ist noch aufLk 10,38-42 zu verweisen, wo ein mit Joh ll,lfnamens-
gleiches Schwesternpaar Jesus gastlich aufnimmt und schließlich eine vergleichbare "Arbeitsteilung" wie in Joh 12,2f zu beobachten ist: Marta sorgt sich um die hausfraulichen Dinge, während Maria sich ganz auf Jesus konzentriert.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
erhält es erst allmählich im Kontext des urchristlichen Nachsinnens über die Judastat. Es stammt vielmehr aus der Gerichts- und Prozesssprache und ist ein ethisch neutraler juristischer Terminus. Als solcher beschreibt er den Vorgang des Überstellens an eine behördliche Instanz, etwa an ein Gericht. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass die urchristliche Überliefemng im Zusammenhang mit der Passion Jesu das Verb paradidömi nicht nur zur Bezeichnung der Judastat, sondern gleichermaßen - in den sog. Dahingabeformeln - zur Bezeiclmung des Handelns Gottes verwendet. Beide - Gott wie Judas - sind also Subjekte des Auslieferns: Gott, der durch die Dahingabe seines Sohnes seinen Heilswillen für die Menschen dokumentiert, und Judas, der als Werkzeug Gottes und gleichwohl in freier Entscheidung diesen göttlichen Heilswillen umsetzt.
Wenngleich nun in 14,1 Ob nichts gegen das Verständnis einer juristischneutralen Beschreibung der Judastat als "Ausliefern" spricht, werden schon in der mk Darstellung der Kontaktaufnahme des Judas mit den Hohenpriestern subtil die Weichen rur eine Bedeutungsverschiebung in Richtung "Verrat" gestellt. Denn mit Judas leitet eben ein Mitglied des engsten Jüngerkreises Schritte gegen Jesus ein. Die Reaktion der Hohenpriester auf das Angebot des Judas ist angesichts ihrer vorherigen Ratlosigkeit, wie sie Jesus in ihre Gewalt bringen sollten, nur allzu verständlich: Sie freuen sich (V. 11a). Und so machen sie ihrerseits Judas ein Gegenangebot, indem sie ihm Geld in Aussicht stellen (V. 11 b). Die Abschlussbemerkung der Szene (V. llc) lenkt den Blick noch einmal kurz zurück auf Judas, von dem Mk geradezu nüchtern konstatiert: "Und er sann darüber nach, wie er ihn (J esus) zu einem günstigen Zeitpunkt ausliefern könne." Diese Schlussbemerkung schließt sachlich an V. lOb an. War die Auslieferungsabsicht der Anlass rur die Kontaktaufnahme mit den Hohenpriestern, so trachtet Judas nun, nachdem er in den Hohenpriestern Gleichgesinnte gefunden hat, danach, diese Absicht in die Tat umzusetzen. In der mk Darstellung steht somit das Auslieferungsbemühen des Judas im Mittelpunkt. Welche Motivation dahinter steht, lässt Mk offen. Doch spielt das Motiv des Geldes bei ihm rur das Handeln des Judas noch keine Rolle. Das Geldangebot ist vielmehr konkreter Ausdruck der Freude, die die Hohenpriester angesichts der unverhofften Unterstützung ihrer eigenen Ziele empfinden.
3.3.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,14-16 Mt setzt in seiner Bearbeitung von Mk 14,1 Of einige bemerkenswerte eigene Akzente. So nimmt er sofort in den Eröffnungsworten (V. 14) eine Umstellung vor, indem er die Apposition in Mk 14,1 Oa "einer von den Zwölfen" vorzieht und zum Subjekt macht und die namentliche Identifizierung dieses Einen relativisch anrugt ("der Judas Iskariot genannt wird). Auf diese Weise ruhrt Mt noch eindrücklicher die Ungeheuerlichkeit vor Augen, dass ein Mitglied des engsten Jüngerzirkels Jesus den Jerusalemer Autoritäten ausge-
3.3. Judas sucht Kontakt mit den Jerusalemer Autoritäten
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liefert hat. Eine zweite Umstellung ist vielleicht noch bedeutsamer. So ordnet Mt die mk Hauptaussage ("Und Judas Iskariot [ ... ] ging zu den Hohenpriestern ... " [14,10]) als partizipiale Formulierung syntaktisch unter (26,10: "nachdem er ... aufgebrochen war ... "). Dadurch lenkt er das Hauptaugenmerk auf den bei Mk in einem finalen Nebensatz thematisierten Zweck der Kontaktaufnahme mit den Hohenpriestern. Dabei unterstreicht er noch das Gewicht dieser Zweckangabe, indem er sie in direkter Rede des Judas gestaltet: "Was wollt ihr mir geben? Und ich werde ihn euch ausliefern!" (V. 15a). Durch die einleitende Frage liefert Mt gleich noch die Motivation des Judas fiir sein Auslieferungsangebot mit, die bei Mk ungeklärt bleibt: Geldgier! Eine besonders pikante Note erhält dieses von Mt in die Szene eingefiihrte Motiv der Geldgier noch durch die enge temporale Verschränkung mit der Salbungserzählung (V. 6-13): Da(nn) (V. 14a: tote), nachdem Jesus die Frau, die ihn gesalbt hat, gegen den von den Jüngern erhobenen Vorwurf der Geldverschwendung auf Kosten der Armen in Schutz genommen hat, da(nn) geht einer aus diesem Jüngerkreis zu den Feinden Jesu und will ihn gegen eine Geldzahlung ausliefern! Subtil und gleichwohl unmissverständlich wird also der mt Judas der Heuchelei bezichtigt. Sodann gibt seine Frage ("Was wollt ihr mir geben?") den Hohenpriestern zudem Gelegenheit, einen exakten Betrag zu nennen: 30 Silberstücke (V. 15b). Genau dieser Betrag findet sich auch in Sach 11,12 (LXX): Ich sagte zu ihnen (= den Schafhändlem: V. 11): Wenn es euch recht scheint, so bringt mir meinen Lohn; wenn nicht, so lasst es! Doch sie wogen mir meinen Lohn ab, dreißig Silberstücke.
Mit dieser deutlichen Anspielung auf Sach 11,12 bereitet Mt schon hier das Reflexionszitat in 27 ,9f vor, das dort dazu dient, die komplementäre und auf 26,14-16 rückbezogene Szene von der Reue des Judas (27,3-10) (~ 3.10.) abzuschließen. Es ist also Mt ein wichtiges Anliegen aufzuzeigen, dass das Geschick Jesu kein blinder Zufall ist, durch den er den Jerusalemer Autoritäten in die Hand gespielt wurde. Vielmehr entsprechen die Ereignisse dem Plan Gottes, der bereits in den Prophetenbüchern niedergelegt ist und nachgelesen werden kann. Dies entbindet nach mt Überzeugung aber weder Judas von seiner Schuld, an der er letztlich zerbricht (27,5b), noch die Jerusalemer Autoritäten. Denn erst ihre Ablehnung zwingt Jesus das Todesschicksal auf, um sein Volk von seinen Sünden zu erlösen (vgl. 1,21; 26,28fin). In Abweichung von seiner mk Vorlage verzichtet Mt schließlich darauf, die Freude der Hohenpriester angesichts der sich ihnen durch Judas bietenden Chance zur Verhaftung Jesu zu erwähnen. Die mt Hohenpriester nutzen vielmehr völlig emotionslos die erste sich ergebende Möglichkeit, den Beschluss des Hohen Rates (26,4) umzusetzen, und gehen daher ohne Zaudern auf die Geldforderung des Judas ein. Dies entspricht der Bedeutung, die sie dem Fall Jesus von Nazaret zumessen (~ 3.1.2.).
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
3.3.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,3-6 In der lk Erzählabfolge schließt sich die Szene von der Kontaktaufnahme des Judas mit den Jerusalemer Autoritäten unmittelbar an deren Beschluss an, Jesus zu töten (22,1 f). Doch nicht nur in der Erzählabfolge geht Lk hier erstmals im Rahmen der Passionserzählung eigene Wege. Auch im unmittelbaren Vergleich akzentuiert er seine Vorlage Mk 14,1 Of sehr spezifisch. Die vielleicht auffälligste Veränderung besteht in der Einführung des Satansmotivs, das den Auftakt des Erzählabschnitts bildet: "Es ergriff aber Satan Besitz von Judas" (V. 3a). Wenig wahrscheinlich ist, dass Lk mit diesem Motiv Judas entlasten will. Eher schon will er damit die Ungeheuerlichkeit erklären, dass jemand aus dem engsten Kreis der Zwölf Jesus an die jüdischen Oberen ausliefert. Dafür könnte auch sprechen, dass Lk die mk Wendung "einer der Zwölf' (14,10a par. Mt 26,14: heis tön dödeka) abändert in "der zu der Zahl der Zwölf gehörte" (V. 3: onta ek tou arithmou tön dödeka) und so die Mitgliedschaft des Judas im Zwölferkreis noch ein wenig stärker hervorhebt. Wichtig ist für Lk aber wohl besonders, dass Satan als versucherische Kraft ernst zu nehmen ist (vgl. Lk 22,31 ~ 3.5.3.), der Judas hier erliegt. In 22,4 fallen zwei Abweichungen gegen Mk 14,1 Ob auf. Zum einen steht nicht die Aussage im Zentrum, dass Judas (aus dem Jüngerkreis) zu den Jerusalemer Autoritäten weggeht, sondern dass er sich mit ihnen bespricht bzw. berät. Dadurch erscheint Judas sozusagen auf gleicher Augenhöhe mit den Jerusalemer Autoritäten, mit denen ihn die Zielstrebigkeit im Vorgehen gegen Jesus verbindet. Zum anderen nennt Lk an dieser Stelle nicht nur die Hohenpriester, sondern auch die Hauptleute der Tempelpolizei .(strategoi). Offenbar erschien es ihm passend, diese rür die Durchführung einer Festnahme zuständige Gruppe, die er entsprechend auch bei der Verhaftung J esu anwesend sein lässt (Lk 22,52 ~ 3.8.3.) schon zu diesem frühen Zeitpunkt der ersten Planung erzählerisch in das Geschehen einzubinden. Wenngleich auch Lk in 22,4.6 par. Mk 14,10.11 das juristisch einschlägige Verb "ausliefern" (paradidömi) verwendet, hat es in lk Darstellung die eindeutig moralisch abwertende Konnotation von "verraten". Denn gleich bei der Konstituierung des Zwölferkreises charakterisiert Lk in 6,16 Judas eindeutig negativ durch "der zum Verräter wurde" (griechisch: hos egeneto prodotes). Die aus 22,4 gewonnene Einsicht, dass der lk Judas mit den Jerusalemer Autoritäten auf gleicher Augenhöhe agiert, bestätigt sich noch einmal in den beiden nachfolgenden Versen. So versprechen die Autoritäten Judas kein Geld nach ihrem eigenen Ermessen (Mk 14,11), sondern sie vereinbaren mit ihm eine Geldzahlung (22,5). Und dieser Vereinbarung stimmt der lk Judas ausdrücklich zu (22,6). Damit kommt auch bei Lk das Motiv der Geldgier ins Spiel, allerdings im Vergleich zur mt Version in deutlich abgemilderter Form. Denn im Unterschied zum mt Judas kommt der lk Judas nicht in der
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern
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Primärabsicht, Jesus gegen Geld auszuliefern, zu den Jerusalemer Autoritäten. Dennoch handelt er später gemeinsam mit ihnen wie mit Geschäftspartnern eine Geldzahlung aus und erklärt sich mit dem Ergebnis ausdrücklich einverstanden. Lk schließt in 22,6b den Erzählabschnitt in engem Anschluss an Mk 14,l1c. Auch in seiner Darstellung sucht Judas nun, nachdem man handelseinig geworden ist, nach einer günstigen Gelegenheit, Jesus an die jüdischen Oberen auszuliefern. Allerdings greift Lk gegen Mk mit den letzten Worten noch einmal das Motiv der Furcht vor dem Volk auf. Die Gunst der Stunde erweist sich also gerade darin, dass sie einen Zugriff unbemerkt vom Volk ermöglicht.
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern 3.4.1. Die markinische Darstellung Mk 14,12-16
Die nächste Szene der mk Passionserzählung, die sich der Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern widmet, dürfte bei allen aufmerksamen Lesern und Leserinnen des Mk einen gewissen Deja-vu-Effekt hervorrufen. Denn sie entspricht im narrativen Aufbau und teilweise sogar bis in den WOlilaut (14,13a = 11,1b-2a; vgl. auch 11,4 mit 14,16) der Szene von der Auffindung des Reittieres für Jesu Einzug nach Jerusalem (11,1-6). In beiden Erzählszenen geht es um die Vorbereitung eines Ereignisses: in Mk 11 um die Beschaffung eines Reittieres, auf dem Jesus dann seinen Einzug in Jerusalem halten kann, in Mk 14 um die Bereitstellung und Ausstattung des Raumes, in dem das Passamahl für Jesus und seine Jünger hergerichtet werden soll. In beiden Fällen schickt Jesus zwei seiner Jünger mit dem entsprechenden Auftrag in das vor ihnen liegende Dorf (11,2) bzw. in die Stadt (= nach Jerusalem) (14,13). Dabei sagt er ihnen exakt voraus, was sie dort erwartet und was sie unternehmen sollen, um ihren Auftrag auszuführen (11,2b-3; 14,13b-15). Die Szenen schließen jeweils mit der Notiz, dass die Jünger losgehen, alles entsprechend der Ankündigung Jesu vorfinden und ihren Auftrag ausführen (11,6; 14,16). Pragmatische Absicht der beiden parallel gestalteten Erzähleinheiten ist es, jeweils durch das wundersame Vorherwissen Jesu die göttliche Legitimation seines Handelns herauszustellen. Die mk Erzähleinheit von der Vorbereitung des letzten Mahles Jesu beginnt in 14, 12a mit einer Zeitangabe, die sehr präzise wirkt und doch genauerer Betrachtung bedarf: Und am ersten Tag [des Festes] der ungesäuerten [Brote], als man das Passalamm zu schlachten pflegte ...
Bisweilen wird diese Zeitangabe als in sich unstimmig bezeichnet. Denn der biblisch-jüdischen Überlieferung nach galt der 15. Nisan als Passafest und
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
zugleich als erster Tag des siebentägigen Festes der ungesäuerten Brote. Am Tag zuvor jedoch - am so genannten Rüsttag - wurden traditionellerweise die Lämmer für das Passamahl geschlachtet. Diese Schlachtung fand um die Mittagszeit im Jerusalemer Tempel statt. Das Passamahl selbst wurde dann am Abend nach Sonnenuntergang - und damit nach jüdischer Zeitrechnung bereits am nächsten Tag, das heißt zu Beginn des ersten Festtages - gehalten. Unter dieser Voraussetzung liefert Mk in 14,12a also eine unstimmige Zeitangabe, weil der erste Tag der ungesäuerten Brote nicht identisch sein kann mit dem Schlachttag der Passalämmer. Allerdings gehörte zum Rüsttag des Passafestes nicht nur das Schlachten der Passalämmer, sondern auch das Entfernen jeglichen Sauerteigs aus den Häusern (Ex 12,18-20). Daher wurde bisweilen in volkstümlicher Zählung bereits der Rüsttag zum Fest der ungesäuerten Brote hinzu gerechnet (vgl. Jos. Bell. 5,99; ant. 2,317). Nach dieser Rechnung wird die mk Zeitangabe wieder in sich stimmig. Gewisse Probleme bereitet sie jedoch unter anderer Rücksicht. Denn die mk Datierung des letzten Mahles Jesu mit den Jüngern auf den abendlichen Beginn des ersten Passafesttages hat natürlich Konsequenzen für die Bestimmung des Todestages Jesu im ältesten Evangelium. Feiert nämlich Jesus sein letztes Mahl als Passamahl und wird im Anschluss an dieses Mahl verhaftet, so bedeutet dies, dass er noch am ersten Tag des Passafestes hingerichtet wird. Eine Hinrichtung Jesu am höchsten Feiertag im jüdischen Festkalender hat aber berechtigterweise historisch als höchst zweifelhaft zu gelten, wenngleich es nicht an freilich wenig überzeugenden Versuchen gefehlt hat, aus den rabbinischen Schriften Parallelbeispiele für Ausnahmefälle ~ etwa im Fall des Volksverrats - zu gewinnen. Daher ist der joh Datierung unter historischem Gesichtspunkt der Vorzug zu geben. Denn nach Joh wird Jesus am Rüsttag des Passafestes gegen Mittag (6. Stunde = 12h) von Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt (Joh 19,14). Das Urteil wird sofort vollstreckt, so dass Jesus noch vor Anbruch des Passafestes, das zudem auf einen Sabbat fällt, stirbt, sein Leichnam vom Kreuz genommen und begraben wird (Joh 19,31.42). .
Nach mk Lesart aber feiert Jesus mit seinen Jüngern noch das Passamahl, bevor er stirbt. Entsprechend schildert Mk im Anschluss an die Zeitangabe in 14,12b, wie die Jünger die Initiative ergreifen und Jesus fragen, wo sie nach seinem Willen das Passamahl vorbereiten sollen. Daraufhin schickt Jesus zwei aus der Jüngergruppe in die Stadt - das heißt nach Jerusalem (14,13a), freilich nicht ohne ihnen zuvor mitzuteilen, was sie dort erwarten wird und wie sie sich verhalten sollen: In Jerusalem wird ihnen ein Mensch begegnen, der einen Tonkrug mit Wasser trägt und diesem sollen sie folgen (14,13b). Und wo auch immer er hineingeht,4 sollen sie dem Hausherrn im Auftrag und unter Berufung auf Jesus, der sich hier selbst absolut als der Lehrer bezeichnet, die Frage stellen (14, 14a): Wo ist mein Raum, wo ich das Passa mit meinen Jüngern essen soll? (l4,14b)
Offenbar setzt Mk unausgesprochen das Betreten eines Hauses voraus. Dies legt jedenfalls die unmittelbar folgende Erwähnung des Hausherrn nahe.
3.4. Die Vorbereitung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern
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Als Antwort wird der Hausherr Jesu Jüngern ein geräumiges Zimmer im Obergeschoss zeigen, das bereits mit Polstern ausgestattet und für das Festmahl vorbereitet ist (14,15a). Dort sollen sie das Passa (vgl. 14, 12b.16) herrichten (14, 15b). 14,16 fasst die Durchführung des Auftrags an die Jünger abschließend zusammen, nicht ohne eigens zu betonen, dass sie alles so vorfanden, wie es Jesus ihnen gesagt hatte. Entsprechend der mk Erzählintention bildet die detailfreudige Jüngerinstruktion durch Jesus (14,13b-15) das Zentrum der Szene von der Vorbereitung des letzten Mahles (14,12-16). Denn gerade durch die Fülle' der Details erweist sich Jesu Vorherwissen, in dem sich seine christologische Hoheit dokumentiert, als umso frappierender. Eine gewisse Parallele bildet über 11,1-6 hinaus auch die letzte Leidensankündigung Mk 10,32-34, die sich ebenfalls durch eine präzise Vorhersage der Ereignisabfolge auszeichnet. Damit unterstreicht die Szene 14,12-16 also noch einmal, dass der mk Jesus souverän und bewusst im vollen Wissen um das Kommende seinen letzten Stunden entgegengeht. 3.4.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,17-19 Die mt Bearbeitung von Mk 14,12-16 zeichnet sich vor allem durch eine massive Kürzung der Jüngerinstruktion Jesu aus (26,18 parr. Mk 14,13b-15), der gerade die Detailfreudigkeit des mk Jesus zum Opfer fällt. So übernimmt Mt von seiner Vorlage weder den unbekannten Wasserträger, der die Jünger, ohne es selbst zu ahnen, zu dem von Jesus auserkorenen Ort der Passamahlfeier führt (Mk 14,13b-14a). Noch weiß Mt zu berichten, dass ein großer Raum schon entsprechend hergerichtet auf Jesus und seine Jünger wartet (Mk 14,15a). Weil der mt Jesus in dieser Szene konkret auf die Mahlvorbereitungen bezogen kein spezifisches Vorherwissen erkennen lässt, fehlt auch die Notiz Mk 14,16, dass die Jünger alles so vorfanden, wie Jesus es ihnen gesagt hatte. Bei Mt beschränkt sich die Instruktion Jesu allein darauf, dass er die Jünger - und zwar alle, nicht nur zwei (26,17b-18a diff Mk 14,13b-14a) - in die Stadt schickt. Dort sollen sie einen bestimmten Menschen aufsuchen, an dessen Identität Mt sich nicht interessiert zeigt und über die er wohl auch keine über Mk hinausgehende Information besaß ("Geht in die Stadt zum Sowieso [griechisch: pros ton deina] ... "). Aufgrund der deutlichen Straffung der Mk-Vorlage liegt der Schwerpunkt der mt Jüngerinstruktion auf der Botschaft Jesu, die sie dem nicht namentlich identifizierten Mann ausrichten sollen (26, 18b): Der Lehrer lässt ausrichten: Meine Zeit (griechisch: kairos) ist nahe. Bei dir will ich das Passa feiern mit meinen Jüngern.
Damit knüpft Mt unverkennbar an seine Eröffnung der Passionserzählung, genauer an die von ihm redaktionell eingefügte letzte Leidensankündigung
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Jesu (26,2) an, durch die explizit ein enger Zusammenhang zwischen dem nahenden Passafest und der Kreuzigung Jesu hergestellt wird. Daran erinnert Mt in 26, 18b: Nun steht das Passafest unmittelbar bevor und damit auch die Zeit des Leidens und Sterbens Jesu. Im Unterschied zu Mk konzentriert Mt also das Vorherwissen Jesu auf dessen Passion und vermeidet jegliche Ablenkung seiner Leserinnen und Leser durch eine Vorhersage wundersamer und gleichwohl marginaler Begleitumstände. Die Rahmenhandlung übernimmt Mt, abgesehen von einigen Formulierungsnuancen, im Wesentlichen von seiner Mk-Vorlage (vgl. 26,17. 19 par. Mk 14,12.16). Eigene Erwähnung verdient allenfalls die Zeitangabe. Hier streicht Mt die mk Zusatzinformation zum ersten Tag der ungesäuerten Brote, nämlich "als man das Passalamm zu schlachten pflegte" (26,17a diff MkI4,12a). Offenbar hielt er diese Zusatzinformation angesichts seines judenchristlichen Adressatenkreises für entbehrlich.
3.4.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,7-13 Abgesehen von stilistischen Verbesserungen schließt sich Lk in 22,7-13 in für ihn innerhalb der Passionserzählung ungewöhnlich enger Weise seiner Vorlage Mk 14,12-16 an. Bemerkenswert ist allerdings, dass in der lk Rezeption der Szene nicht die Jünger die Initiative ergreifen (diff. Mk 14,13b par. Mt 26, 17b). Vielmehr hält Jesus von Beginn an das Heft des Handeins in der Hand und erteilt von sich aus den Auftrag: Macht euch auf den Weg und bereitet für uns das Passa, damit wir es essen können (22,8b).
Wie bei Mk richtet sich dieser Auftrag an zwei Jünger, die bei Lk allerdings namentlich als Petrus und Johannes identifiziert werden (22,8a). Weil nun der lk Jesus diesen Auftrag ohne jede weitere Erläuterung erteilt, schließt sich die aus Mk 14,12b übernommene Frage der "Festbeauftragten" nach dem Ort an, wo Jesus das Passamahl feiern will (22,9). Damit sind auch bei Lk die Weichen gestellt für die ausführliche Jüngerinstruktion Jesu in engem Anschluss an die mk Darstellung (22,10-12 par. Mk 14,13b-15).
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern Bevor die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen in der jeweiligen Darstellung bzw. Bearbeitung durch die vier Evangelisten einzeln zu würdigen ist, soll zunächst zwecks besserer Orientierung ein Überblick über die Abfolge der einzelnen Erzählschritte gegeben werden.
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Das letzte Mahl Jesu und der Gang zum Ölberg Abweichende Erzählabfolge Mt26
Mk14
Lk22
20 Einleitung
17 Einleitung
14 Einleitung
21-25 Auslieferungsansage
18-21 Auslieferungsansage
Joh 13 (-17);18,1 1f Einleitung
15f 1. eschatolog. Ausblick: Passa 17f 2. eschatolog. Ausblick: Wein 26-28 Einsetzung der Eucharistie
22-24 Einsetzung der Eucharistie
29 eschatolog. Ausblick: Wein
25 eschatolog. Ausblick: Wein
30-35 Gang zum Ölberg mit Ansage von Jüngerversagen und Verleugrrung
26-31 Gang zum Ölberg mit Ansage von Jüngerversagen und Verleugnung
19-20 Einsetzung der Eucharistie
3-5 Fußwaschung 6-11 1. Deutung: soteriologisch 12-172. Deutung: ethisch
21-23 Auslieferungsansage
18-30 Auslieferungsansage
24-38 Abschiedsreden
13,31-17,26 Abschiedsreden
darin: 31-34 Verleugnungsansage
darin: 13,36-38 Verleugnungsansage
39 Gang zum Ölberg
18,1 Aufsuchen eines Gartens jenseits des Kidronbaches
Die Szene vom letzten Mahl Jesu mit den Zwölfen findet sich in der mk Passionserzählung in 14,17-25. In der Abfolge der Erzählschritle schließt sich Mt in 26,20-29 exakt seiner Mk-Vorlage an. Mk 14,17 par. Mt 26,20 bildet die erzählerische Brücke von der Mahlvorbereitungsszene zur Mahlszene, die dieser Brückenvers zugleich einleitet. In Mk 14,18-21 par. Mt 26,21-25 schließt sich die Auslieferungsansage an. Das Zentrum der Mahlszene findet sich in Mk 14,22-24 par. Mt 26,26-28 mit der Brot- und Kelchhandlung und den zugeordneten Deuteworten Jesu. Abgerundet wer~den diese eucharistischen Handlungen in Mk 14,25 par. Mt 26,29 mit dem so genannten eschatologischen Ausblick, der in der mk/mt Version auf den Wein bezogen ist. Erst in die nächste Erzählszene, die den Gang Jesu mit den Zwölfen zum Ölberg thematisiert, ist dann in Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35 die jesuanische Ankündigung des Jüngerversagens und der Verleugnung durch Petrus eingebettet. Von diesem mkImt Aufbau der Mahlszene unterscheidet sich Lk deutlich. Auf den noch zu Mk 14,171Mt 26,20 parallelen Einleitungsvers 22,14 lässt
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Lk bereits vor den eucharistischen Handlungen in 22, 15f.17f einen doppelten eschatologischen Ausblick folgen, der bei ihm zunächst auf das Passa(lamm) und dann auf den Wein bezogen ist. In 22,19-20 schließen sich dann Brotund Ke1chhandlung mit den entsprechenden Deuteworten an. Erst danach fügt Lk in 22,21-23 die Auslieferungsansage ein, die damit gleichsam die Brücke zu den Abschiedsreden in 22,24-38 bildet. Diese Abschiedsreden sind eine lk Besonderheit im Vergleich zur mk/mt Version der Mahlszene. Integriert in die Abschiedsreden findet sich in 22,31-34 die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus. Die Wegszene zwischen Abendmahlssaal und Ölberg (Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35) reduziert sich bei Lk in 22,39 auf eine kurze Notiz des Ortswechsels. Die joh Version des letzten Mahles Jesu mit den Zwölfen weist strukturell - ungeachtet der sehr eigenen inhaltlichen Gestaltung - auffallende Berührungen mit Lk auf. Zunächst ist festzuhalten: Es fehlt bei Joh eine Entsprechung zum eschatologischen Ausblick, der allen Synoptikern gemeinsam ist. Die auf die Einleitung 13,lf folgende Fußwaschung (13,3-5) mit der soterio logischen und ethischen Deutung dieser Handlung (13,6-11.12-17) steht bei Joh anstelle der synoptischen Brot- und Kelchhandlung mit den dazugehörigen Deuteworten (Mk 14,22-24 parr. Mt 26,26-28; Lk 22,19-20). Im Anschluss daran gehen Joh und Lk im Aufbau weitgehend parallel: So folgt bei Joh in 13,18-30 in Übereinstimmung mit Lk 22,21-23 auf die Jesu Lebenshingabe symbolisierende und eigens gedeutete Handlung die Auslieferungsansage. Wie bei Lk bildet auch bei Joh diese Ansage die Brücke zu den Abschiedsreden, die freilich in der joh Version ungleich umfangreicher ausfallen (13,31-17,26). Eine weitere Übereinstimmung mit Lk besteht darin, dass auch Joh die Ankündigung der Verleugnung Jesu durch P~trus in die Abschiedsreden integriert (13,36-38). Und schließlich bietet auch Joh (diff. Mk 14,26-31 par. Mt 26,30-35) kein Gespräch mehr zwischen Jesus und Jüngern auf dem Weg zum Verhaftungs ort, sondern beschränkt sich in 18,1 wie Lk 22,39 auf eine kurze Notiz des Ortswechsels. '
3.5.1. Die markinische Darstellung Mk 14,17-25
Die mk Darstellung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern gliedert sich im Anschluss an den Überleitungsvers 17 in zwei Teile: die Ansage der Auslieferung Jesu durch ein Mitglied des Zwölferkreises (V. 18-21) und die Erschließung des unmittelbar bevorstehenden gewaltsamen Endes Jesu als Selbsthingabe durch die Brot- und Ke1chhandlung, die in den eschatologischen Ausblick mündet (V. 22-25). Der Überleitungsvers impliziert eine für Mk nicht untypische erzählerische Ungenauigkeit. Denn obwohl Jesus nach Auskunft von 14,13 zwei seiner Jünger zur Vorbereitung des Mahles bereits nach Jerusalem vorausgeschickt hat, heißt es in V. 17, dass Jesus nach An-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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bruch des Abends mit den Zwölfen kommt. Nun dürfte Mk kaum andeuten wollen, dass Jesus zwei Männer aus dem weiteren Jüngerkreis mit der Vorbereitung des Mahles beauftragt, an dem später nur der Zwölferkreis teilnimmt. Vielmehr setzt er wohl unausgesprochen voraus, dass die beiden Jünger nach Erledigung ihres Auftrags noch einmal zu Jesus und den übrigen Mitgliedern des Zwölferkreises zurückgekehrt sind, um sich am Abend gemeinsam mit ihnen zum Mahl zu begeben. Eine vergleichbare Ungenauigkeit bietet die mk Passionserzählung im Übrigen auch im Zusammenhang mit den Ortswechseln des Judas. Dieser begibt sich nämlich nach 14,10 zu den jüdischen Oberen und betritt erst wieder in 14,43 unter namentlicher Erwälmung bei der Verhaftung Jesu die Bühne des Geschehens. In 14,18 aber setzt Mk die Anwesenheit des Judas beim letzten Mahl selbstverständlich voraus: "Amen, ich sage euch: Einer, der mit mir isst, wird mich ausliefern."
Dieses Mahl, zu dem sich J esus also nach Mk 14,17 zusammen mit den Zwölfen einfindet, ist nun bereits durch 14,12.16 von Mk ausdrücklich als Passamahl ausgewiesen. Doch fehlt in der Mahlerzählung selbst jeder Hinweis auf diesen Passamahlcharakter, insbesondere auf das Essen des Passalammes. Vermutlich wurde also der ursprünglich selbständigen Herrenmahltradition (~ 1.1. und 3.5.3.) dieser Charakter durch die sekundäre narrative Einbettung in die Passionserzählung verliehen, sei es nun bereits vormk oder erst durch Mk selbst. Auf die Überleitung in V. 17 folgt in V. 18-21 der erste Teil der Mahlerzählung, welcher sich der Ansage der Auslieferung Jesu durch einen der Mahlteilnehmer aus dem Zwölferkreis widmet. Die Leserinnen und Leser des Mk sind bereits durch 3,19 und 14,1 Of darüber informiert, dass es sich dabei um Judas handelt. Auf der Ebene der erzählten Welt dagegen waren die Jünger durch die Leidensankündigungen Jesu bisher nur darauf vorbereitet worden, dass Jesus ausgeliefert würde (9,31; 10,33: unpersönliches Passiv). Jetzt werden sie - mit Ausnahme des Judas, dessen Entschluss seit 14,1 Of feststeht - erstmals damit konfrontiert, dass einer von ihnen diese Tat begehen wird (V. 18.20). Damit unterstreicht dieser Teil der mk Mahlszene einmal mehr Jesu wundersames Vorherwissen, das seine göttliche Legitimation dokumentiert. Dabei verzichtet der mk Jesus allerdings darauf, Judas zu entlarven. Vielmehr liegt ihm daran, durch die beiden steigernd gestalteten Ankündigungen (V. 18b.20) zwei Aspekte zu betonen: 1. Derjenige, der ihn ausliefern wird, stammt aus dem Kreis seiner engsten Vertrauten (V. 18b: "einer von euch"; V. 20: "einer der Zwölf" [vgl. 3,14: "und er setzte die Zwölf ein, damit sie mit ihm seien ... "). 2. Noch unmittelbar vor der Auslieferung findet diese Vertrautheit ihren sinnenfälligen Ausdruck in der Tischgemeinschaft zwischen ihnen (V. 18b: "der mit mir isst"; V. 20: "der mit mir [den Bissen] in die Schüssel eintunkt"). Indem der mk Jesus aber keine konkrete Identifizierung der ihn ausliefernden Person vornimmt, macht er zugleich auch
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
deutlich, dass jeder der Zwölf das Potential zu dieser Handlung besitzt. Entsprechend besteht die Reaktion der mk Jünger auf die erste Ankündigung (V. 18b) auch darin, dass sie traurig werden und Jesus einer nach dem anderen fragen: "Doch nicht etwa ich?" (V. 19). Damit will Mk wohl weniger Judas der Heuchelei bezichtigen. Denn im Vergleich mit den drei anderen Evangelien bemüht gerade er sich in der Darstellung des Judas um die größte Neutralität. Stattdessen dürfte ihm daran liegen, die erschreckende Erkenntnis der übrigen Jünger zu unterstreichen, dass jeder von ihnen prinzipiell zur Auslieferung Jesu fähig ist. Doch nicht nur Jesu Kundgabe seines Wissens um die ihm bevorstehende Auslieferung prägt den ersten Teil der mk Mahlszene. Vielmehr ergänzt er diese Kundgabe in V. 21 um den Aspekt der Schriftgemäßheit und damit der göttlichen Vorherbestimmung des Geschehens. Dabei fällt auf, dass der mk Jesus hier nicht mehr die Ich-Form verwendet, sondern von sich als vom Menschensohn spricht. Dies verbindet V. 21 vor allem mit den mk Leidensankündigungen (8,31; 9,31; 10,33). Charakteristisch für die Theologie des Mk ist nämlich, dass er gerade im Kontext des Leidens Jesus als Menschensohn bezeichnet. Damit will er freilich keineswegs den Blick für die christologische Hoheit Jesu auch und gerade im Leiden versperren. Im Gegenteil! Traditionsgeschichtlich bezeichnet Menschensohn nämlich eine eschatologische himmlische Herrschergestalt (Dan 7), die eine Heilsfunktion für die Gerechten und eine Richterfunktion für die Ungerechten ausübt (äthHen 3771 [BilderredenD. Gerade in der Hoheit des Menschensohnes stellt sich also der mk Jesus dem ilun von Gott bestimmten Leidensgeschick. Damit durchlaeuzt die Hoheit des himmlischen Menschensohnes alle irdischen Maßstäbe, indem sie sich paradoxerweise in der Übernahme des Leid~ns bekundet. Zugleich klingt im Weheruf V. 21 b über "jenen Menschen", der die Auslieferung Jesu betreibt, allerdings auch die Funktion des Menschensohnes als Richter an, vor dem er sich dereinst verantworten muss (vgl. 14,61f!). Mit V. 22 beginnt der zweite Teil der mk Mahlszene (V. 22-25). V. 22a "Und als sie aßen" greift dabei V. 18a auf und zeigt an, dass das Mahl inzwischen fortgeschritten ist. Im Zentrum dieses zweiten Teils steht nun Jesu Deutung seines bevorstehenden gewaltsamen Todes als stellvertretende Lebenshingabe. Dafür wählt Jesus zwei Handlungen aus, deren Vollzug bei einer festlichen Mahlzeit dem Hausvater bzw. dem Gastgeber vorbehalten war. Entsprechend nimmt er zu Beginn der Hauptmahlzeit Brot, konkret wohl den üblichen Brotfladen, spricht darüber das traditionelle Segensgebet (Berakah), bricht das Brot und verteilt die heraus gebrochenen Stücke an die Zwölf (V. 22b). Verbleibt Jesus mit dieser Handlungsfolge noch ganz im vorgegebenen Rahmen des jüdischen Festmahles, so sprengt er ihn durch die Deutung, mit der er das ausgeteilte Brot versieht: "Dies ist mein Leib" (V. 22c). Da nun Leib (griechisch: söma) im alttestamentlich-frühjüdischen Verständnis den Menschen als ganzheitlich-personale Existenz bezeichnet, be-
3.5. Das letzte Mahl J esu mit seinen Jüngern
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sagt diese Deutung also: Jesus gibt sich den Jüngern in dem ihnen dargereichten Brot selbst. Oder anders: In der Brothandlung manifestiert sich die Lebenshingabe Jesu. Sich dieser Lebenshingabe zu öffnen, sie fiir sich anzunehmen, dazu fordert Jesus seine Jünger mit dem einleitenden "Nehmt" auf. Auch die Kelchhandlung (V. 23f) greift eine Gepflogenheit des jüdischen Festmahles auf. Üblicherweise schloss der Hausvater bzw. Gastgeber die Mahlzeit, indem er über einen Becher Wein wiederum ein Segensgebet sprach. Im Unterschied allerdings zur Brothandlung (V. 22b.c), die erst durch die Deuteworte vom Ritus des jüdischen Festmahles abweicht, fallen in der mk Darstellung der Kelchhandlung selbst bereits Besonderheiten auf. So schließt sich die Kelchhandlung unmittelbar an die Brothandlung an, ist also nicht durch die Hauptmahlzeit von ihr getrennt. Ferner spricht der mk Jesus über den Weinbecher kein Segens- (griechisch: eulogesas), sondern ein Dankgebet (griechisch: eucharistesas). Und schließlich ist der Weingenuss aus einem gemeinsamen Weinbecher für ein jüdisches Festmahl ungewöhnlich. Andererseits erklären sich diese Besonderheiten der Kelchhandlung in Mk 14,23 aber einleuchtend durch eine gemeindlich geprägte liturgische Sprache und Praxis. Darauf wird im Zusammenhang mit der lk Version der Abendmahlsüberlieferung noch zurückzukommen sein (---) 3.5.3 .). Auch die Kelchhandlung wird in Entsprechung zur Brothandlung (V. 22c) mit einer Deutung versehen (V. 24), die keine Analogie im jüdischen Festmahlritus besitzt. Erneut und ausdrücklicher noch auf den gewaltsamen Tod bezogen wird das dargereichte Lebensmittel - jetzt der Wein - in Beziehung gesetzt zur Lebenshingabe Jesu: "Dies ist mein Blut des Bundes, das für Viele vergossene." Das Blut als der Sitz bzw. Träger des Lebens (vgl. Lev 17,11) entspricht dabei in seiner ganzheitlichen Bedeutung dem Leib im Deutewort der Brothandlung (V. 22c). Im Unterschied zum Deutewort der Brothandlung besitzt aber das Deutewort der Kelchhandlung unverkennbare Anspielungen auf biblische Traditionen. Mit der Formulierung "Blut des Bundes" ist der Bezug zum Bundesschluss am Sinai hergestellt (Ex 24,8). Wie der durch das Blut von Opfertieren geschlossene Sinaibund dem Volk Israel die Lebensgemeinschaft mit Gott ermöglichte, so eröffnet in typologischer Überbietung der durch Jesu Lebenshingabe geschlossene Bund eine neue, eschatologisch gültige Lebensgemeinschaft mit Gott. Dieser Bund bleibt freilich nicht auf Israel eingegrenzt. Dies legt jedenfalls die zweite Anspielung auf biblische Tradition nahe, die sich in V. 24 findet. Insofern nämlich das Blut eigens qualifiziert wird als "das für Viele vergossene", wird an die Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod erinnert, die im vierten deuterojesajanischen Gottesknechtslied begegnet: Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von Vielen und trat für die Schuldigen ein (Jes 53,12).
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Diese stellvertretende Sühne des deuterojesajanischen Gottesknechtes fur die Vielen besitzt aber eine universale Dimension. Zum einen entspricht es hebräisch-aramäischer Sprachkonvention, mit "Viele" eine Gesamtheit zu bezeichnen. Und zum anderen ist die Aussage Jes 53,12 nicht nur im Kontext des vierten Gottesknechtsliedes, sondern aller vier Gottesknechtslieder zu lesen. Vor diesem Hintergrund hat der Gottesknecht freilich einen Israel und die Völkerwelt umfassenden Auftrag von Gott: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht (Jes 49,6; vgl. 42,6).
Damit deutet Jesus in der mk Darstellung des letzten Mahles seinen bevorstehenden Tod als Lebenshingabe im Licht der deuterojesajanischen Gottesknechtstheologie, die in Beziehung gesetzt wird zu einer eschatologisch interpretierten Bundestheologie. Als Gottesknecht stirbt Jesus stellvertretend fur die Sünden der Vielen, das heißt: fur die Sünden der gesamten Menschheit aus Juden und Heiden. Zugleich erfolgt durch diese Lebenshingabe in eschatologischer Überbietung des Bundesschlusses am Sinai ein Bundesschluss, der den Menschen eine neue, end-gültige Lebensgemeinschaft mit Gott ermöglicht. Im Rahmen seines letzten Mahles gewährt Jesus selbst den Zwölf als den Repräsentanten des eschatologischen Gottesvolkes durch Brot und Wein sinnenfällig Anteil an der stellvertretenden Kraft seiner Lebenshingabe und an dem dadurch geschlossenen Bund. Die Brot- und die Kelchhandlung samt den Deuteworten lassen bereits erkennen, dass Jesus den ihn unmittelbar bedrohenden gewaltsamen Tod nicht als Scheitern seines Wirkens oder gar als Beweis fur dessen göttliche Ablehnung versteht. Auch der so genannte eschatologische Ausblick in V. 25 bestätigt noch einmal in aller Deutlichkeit, dass Jesus bis zuletzt unverbrüchlich am Kern seiner Botschaft - also am Kommen der Gottesherrschaft, das er in seiner Person und seinem Wirken repräsentiert - festhält: Amen, ich sage euch, ich werde nicht mehr trinken von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich von neuem davon trinken werde in der Herrschaft Gottes.
In diesem eschatologischen Ausblick drückt sich also die Gewissheit Jesu aus, dass die Herrschaft Gottes ungeachtet seines gewaltsamen Endes kommen wird und dass er als Lebender Anteil daran haben wird. Als bemerkenswert ist für den zweiten Teil der mk Mahlszene (V. 22-25) abschließend festzuhalten: 1. Eingebettet in die Passionserzählung bietet sie keinen expliziten Hinweis auf ein Vermächtnis Jesu, die eucharistischen Handlungen nach seinem Tod zum Gedenken an ihn immer wieder neu zu vollziehen. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass implizit hinter der Gestaltung der V. 22-24 bereits liturgische Sprache und Praxis der urchristli-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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chen Gemeinden durchschimmert. 2. Ebenso wenig wie die Schilderung des Mahlablaufs auf ein Passamahl hinweist, stellen die Deuteworte einen unmittelbaren theologischen Bezug zur Passaerzählung Ex 12 her. Dies bestärkt nur die Vermutung, dass der ursprünglich selbständigen Herrenmahlüberlieferung erst durch die Einbettung in die Passionserzählung der Charakter eines Passamahles übergestülpt wurde.
3.5.2. Die matthäisehe Bearbeitung: Mt 26,20-29 Mt übernimmt in seiner Bearbeitung der Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern exakt die mk Gliederung (-) 3.5.). Ähnlich eng schließt er sich auch inhaltlich seiner Mk-Vorlage an. Umso bemerkenswerter sind die wenigen eigenen Akzente, die er zusätzlich zu einigen sprachlich-stilistischen Glättungen setzt. Gleich in der Überleitung V. 20 tilgt Mt die erzählerische Nachlässigkeit des Mk (-) 3.5.1.), indem er sich geschickt nicht schon beim Kommen Jesu in das Geschehen einblendet, sondern erst in dem Moment, als Jesus bereits mit den Zwölfen zu Tisch liegt. So umgeht er die logische Schwierigkeit, wieso Jesus mit den Zwölfen kommen konnte, obwohl sie doch (und zwar mt alle, nicht nur zwei, vgl. Mt 26,17f diff Mk 14,12f) bereits zur Vorbereitung des Passamahles vorausgeschickt worden waren. Im ersten Teil der Mahlszene betont Mt in V. 22 stärker als Mk 14,19 die Traurigkeit der Jünger angesichts der Auslieferungsansage Jesu ("Und sie wurden sehr traurig .. ,"). Zudem fügt er im selben Vers zur Jüngerfrage noch die ehrfurchtsvolle Anrede mit dem Titel Kyrios (Herr) hinzu: "Ich bin es doch nicht etwa, Herr?" Dieser Titel, der in der Septuaginta - also in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, auf die die urchristlichen 5 Gemeinden vornehmlich zurückgriffen - zur Bezeichnung Gottes dient, ist bei Mt denen vorbehalten, die sich der Person und dem Wirken Jesu öffnen, vor allem also seinen JÜngern. 6 Die Zwölf als der innerste Zirkel dieser Jünger sehen sich nun in 26,22 mit der erschreckenden Möglichkeit konfrontiert, nicht nur ihren Freund oder Anführer, sondern ihren mit göttlicher Autorität ausgestatteten Herrn auszuliefern. Sehr eigenständig gestaltet Mt V. 23. Gegen Mk 14,20 streicht er "einer der Zwölf" und erweitert gleichzeitig seine Vorlage durch zwei Einfügungen: 1. "die Hand" und 2. "dieser wird mich In dieser Tradition stehend verwendet auch Mt selbst Kyrios als Gottes bezeichnung, vgl. 1,20.22.24; 2,13.15.19; 28,2; im Munde Jesu: 11,25; in alttestamentlichen Zitaten: 4,7.10; 5,33; 21;9.42; 22,37.44; 23,39; 27,10 Vgl. Mt 8,21.25: 14,28.30; 16,22; 17,4; 18,21; ferner als Anrede Jesu durch Hilfesuchende: 8,2.6.8; 9,28; 15,22.25.27; 17,15; 20,30.31.33. Dagegen verwenden die mt Gegner Jesu stets die Bezeichnung "Meister" bzw. "Lehrer" (griechisch: didaskalos): 9,11; 12,38; 17,24; 22,16.24.36. Damit wird in der Kyriosanrede des mt Jesus durch seine Jünger das Bekenntnis der urchristlichen Gemeinden zu Jesu gottgleicher eschatologischer HerrschersteIlung erzählerisch in die vorösterliche Situation transponiert.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
verraten". Schließlich wechselt er beim partizipial formulierten Subjekt vom Verhältnis der Gleichzeitigkeit (Part. Präsens) zum Verhältnis der Vorzeitigkeit (Part. Aorist): Wer mit mir die Hand in die Schüssel getaucht hat, dieser wird mich ausliefern. Offenkundig will Mt, indem er "die Hand" einfügt, eine weitere erzählerische Nachlässigkeit in der mk: Vorlage beseitigen. Denn natürlich taucht nicht - so wörtlich bei Mk (l) - jemand mit Jesus in die Schüssel. Vielmehr nutzt dieser Jemand zusammen mit Jesus dieselbe Schüssel, um etwas - einen Bissen Brot oder eben die Hand, die diesen Bissen hält - darin einzutunken.
Doch abgesehen von dieser sinnvollen Textpräzisierung stehen die übrigen mt Eingriffe in Mk 14,20 im Dienst ein und derselben inhaltlichen Neuakzentuierung. Im Unterschied nämlich zur mk Auslieferungsankündigung (V. 18-22) liegt Mt nicht an dem Hinweis auf das alle Mitglieder des Zwölferkreises verbindende Potential zur Auslieferung Jesu. Vielmehr läuft die mt Gestaltung des ersten Teils der Mahlszene (V. 21-25) auf eine klare Identifizierung des Auslieferers zu. Wichtige Weichenstellungen hierzu erfolgen in V. 23. Indem Mt "einer der Zwölf' streicht, nimmt er auf der Ebene des erzählten Geschehens die Gesamtgruppe aus dem Spiel. Stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine Einzelperson ("dieser wird mich ausliefern"), die der mt Jesus zwar nicht beim Namen nennt, die er aber indirekt durch die Anspielung auf eine situative Momentaufnahme beim Mahl identifiziert. "Wer mit mir die Hand in die Schüssel getaucht hat" ist hier nicht als Erinnerung an die enge Gemeinschaft zu verstehen, die Jesus auch mit dem Jünger, der ihn nun ausliefern wird, gepflegt hat. Vielmehr ist es ein konkreter Rückverweis innerhalb der aktuellen Mahlsituation. Die Aussageabsicht des mt Jesus lässt sich daher sachgerecht so verdeutlichen: Der, bei dem es sich gerade, wie ihr vielleicht bemerkt habt, ergeben hat, dass er im selben Augenblick wie ich seine Hand in die Schüssel getaucht hat, der ist es, der mich verraten wird. Mit dieser situativ unmissverständlichen Antwort J esu (V. 23) auf die Jüngerfrage (V. 22) und seinem anschließenden Weheruf über "jenen Menschen" (V. 24 par. Mk 14,21) wird nun der mt Judas gleichsam aus der Reserve gelockt. Mit V. 25, den Mt redaktionell in die Mk-Vorlage einfügt, meldet Judas sich nochmals zu Wort, und zwar mit eben derselben Frage, die er bereits im Fragenchor der Zwölf gestellt hatte: "Ich bin es doch nicht etwa?" Bezeichnenderweise setzt er jetzt aber nicht "Herr" hinzu, sondern "Rabbi". In der mt Jesusgeschichte spricht im Übrigen allein Judas Jesus als Rabbi an, und zwar außer in 26,25 noch in 26,49 bei der Begrüßung Jesu, mit welcher er das Signal zur Verhaftung gibt.
Der mt Judas verzichtet also auf die jüngeliypische Anrede, in der sich der ehrfurchtsvolle Respekt vor der göttlichen Autorität Jesu ausspricht. Statt-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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dessen degradiert er Jesus zum Schriftgelehrten und damit paradoxerweise zum Mitglied eines Berufsstandes, der sich auch und gerade bei Mt auf der Seite der Gegner Jesu exponiert und an dem sich die Jünger Jesu gerade kein Beispiel nehmen sollen (23,7f). So dokumentiert der mt Judas durch die Rabbianrede Jesu, dass er sich bereits aus dem Jüngerkreis innerlich verabschiedet hat. Angesichts dessen erhält anders als bei Mk in mt Darstellung bereits das Einstimmen des Judas in den Fragenchor der Jünger (V. 22: "ein jeder") eine heuchlerische Note, erst recht aber die herausfordernde Wiederholung der Frage in V. 25. Die Antwort Jesu "Du hast es gesagt" kann vor dem Hintergrund der gerade erfolgten (V. 23) indirekten Identifizierung dessen, der ihn ausliefern wird, nur als direkte Bestätigung verstanden werden. Damit ist Judas für jeden im Raum unmissverständlich als die Person identifiziert, von welcher Jesus seit V. 21 gesprochen hat. Und wie der mt Judas durch die Anrede Rabbi eine Distanz zu Jesus aufbaut, so bestätigt der mt Jesus seinerseits diese Distanz zu Judas ausdrücklich durch das betonte Du (griechisch: sy). So setzt sich in der Auslieferungsansage (26,21-25) unverkennbar die bereits in der Erzählung von der Kontaktaufnahme des Judas mit den Jerusalemer Autoritäten (26,14-16) beobachtete mt Tendenz f01i, im Unterschied zur vergleichsweise neutralen mk Darstellung die Person des Judas deutlich negativer zu präsentieren (~ 3.3.2.). Dazu passt auch, dass es Mt nicht versäumt, in der Einleitung des redaktionellen V. 25 Judas einmal mehr ausdrücklich bei seiner Tat zu behaften ("Judas, der ihn ausgeliefert hat [griechisch: ho paradidous auton] ... "). Im zweiten Teil der Mahlszene, die sich der Brot- und Kelchhandlung Jesu mit den dazugehörigen Deuteworten widmet (26,26-29), schließt sich Mt enger noch als im ersten Teil seiner mk Vorlage an. In V. 26 ergänzt er die sich der Brothandlung anschließende Aufforderung Jesu an die Jünger "nehmt" (Mk 14,22) durch "und esst". Vielleicht will er herausstellen, dass erst der Verzehr des von Jesus dargereichten und als sein Leib gedeuteten Brotes Anteil an Jesu stellveliretender Lebenshingabe gibt. Was hätte Mt angesichts dessen wohl zu einer eucharistischen Frömmigkeit gesagt, in deren Mittelpunkt das Schauen und Anbeten steht? Möglicherweise aber hat er die Einfügung auch vorgenommen, weil ihm die Formulierung so aus der Herrenmahlfeier seiner Gemeinde vertraut war. In V. 27 ändert Mt den mk Aussagesatz "und sie tranken alle daraus" (14,23) in eine Aufforderung Jesu: trinkt alle daraus!" Damit stellt er eine Parallelität zwischen Brot- und Kelchhandlung bzw. genauer eine Parallelität in der Einleitung zu den beiden Deutew01ien her. Gerade diese Parallelität aber dürfte sich der Prägung durch die liturgische Sprache der Herrenmahlfeier in der mt Gemeinde verdanken. In V. 28 ergänzt Mt das von Mk übernommene Deutewort zur Kelchhandlung am Ende durch den Zusatz "zur Vergebung der Sünden". Damit stellt Mt stärker als Mk das Motiv der stellvertretenden Sühnekraft des Todes Jesu heraus.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Die Ergänzung ist vor dem Hintergrund der Gesamtkonzeption der mt Jesusgeschichte zu sehen. Bereits in der Vorgeschichte erhält Josef von einem Engel des Herrn im Traum die Weisung, dem Sohn, den Maria erwartet, den Namen Jesus ("Gott hilft", "Gott ist Rettung") zu geben, und zwar mit der Begründung: "er selbst wird sein Volk von seinen Sünden erlösen" (1,21). Diese Aufgabe aber ist dem mt Jesus allein vorbehalten. So streicht Mt in 3,1 denn auch gegen Mk 1,4 den Sünden vergebenden Charakter der Johannestaufe. Im Dienst dieser von Sünden befreienden Aufgabe steht das gesamte Wirken des mt Jesus, das jedoch zunehmend auf den entschiedenen Widerstand der politischen und religiösen Autoritäten stößt. Sie hindern das Volk daran, sich vorbehaltlos auf die Botschaft Jesu einzulassen, so dass ihm schließlich nur durch Jesu stellvertretenden Tod die Sündenvergebung zuteil werden kann. Kaum zufällig taucht daher die Formulierung, die Mt von Mk im Zusammenhang mit der Täuferpredigt nicht übernimmt, exakt im mt Deutewort der Kelchhandlung wieder auf: "zur Vergebung der Sünden" (griechisch: eis aphesin hamartiön, Mk 1,4; Mt 26,28).
Beim eschatologischen Ausblick (26,29 par. Mk 14,25) fällt besonders auf, dass der mt Jesus seine Jünger einbezieht: "bis ich von neuem davon trinken werde mit euch (griechisch: meth' hymon) im Reich meines Vaters". Abweichend von Mk 14,25 spricht der mt Jesus hier nicht vom Reich Gottes, sondern vom Reich meines Vaters. Dies dürfte primär der seiner jüdischen Identität geschuldeten Scheu des Mt vor dem Gebrauch des Gottesnamens zu verdanken sein, die ihn auch sonst anders als Mk vom Himmelreich sprechen lässt (vgl. 3,2; 4,17; 5,3.10.19.20; 7,21; 8,11; 10,7; 11,11.12; 13,11.24.31.33.34.45.47.52; 16,19; 18,1.3.4.23; 19,12.14.23.24; 20,1; 22,2; 23,14; 25,1). Dass der mt Jesus aber gerade angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Todes beim eschatologischen Ausblick eben nicht vom "Reich der Himmel" (griechisch: basileia tön ouranön), sondern vom "Reich meines Vaters" (griechisch: basileia tau patros mau) spricht, deutet darauf hin, dass hier seine emotionale Nähe und sein ungebrochenes Vertrauen zu Gott besonders betont werden sollen.
In mt Darstellung werden also Jesu Jünger zusammen mit ihm am eschatologischen Festmahl teilhaben. Darin erweist er sich als Immanuel, als Gott mit uns (1,23). So wie Jesus in der Zeit seines irdischen Wirkens mit seinen Jüngern war und wie er in der vollendeten Gottesherrschaft mit ihnen sein wird, so lässt er sie auch nicht im Stich in der Zeit zwischen seiner Auferweckung UJid seiner Wiederkunft. Dies verbürgt das Schlusswort des Auferstandenen, mit dem die mt Jesusgeschichte endet und in dem das Immanuel-Motiv ein letztes Mal anklingt: "Und siehe, ich bin mit euch (meth' hymon) alle Tage bis zur Vollendung der Welt" (28,20). Dieses gegenwärtige "mit-ihnen-Sein" J esu werden Mt und seine Gemeinde auch und in besonderer Weise in der Feier des Herrenmahls erfahren haben.
3.5.3. Die lukanische Bearbeitung: Lk 22,14-38 Bereits der erste Überblick über den Aufbau der Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (~ 3.5.) ließ erkennen, dass Lk bei der Bearbeitung seiner mk Vorlage deutlich umgestaltet und ausweitet. Diese lk Konzeption gilt es nun, genauer zu betrachten. Der Überleitungsvers 22,14 entspricht
3.5. Das letzte Mahl J esu mit seinen Jüngern
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strukturell Mk 14,17 par. Mt 26,20. Doch deutet sich bereits in der konkreten Formulierung das hohe Maß an Eigenständigkeit an, das die Gestaltung der lk Mahlszene im Vergleich zur mk Vorlage auszeichnet. So ersetzt Lk die mk Zeitangabe "als es Abend geworden war" durch "als die Stunde gekommen war". Damit wählt er aber eine Formulierung, die sich nicht auf eine reine Information über den Zeitpunkt des nachfolgend erzählten Geschehens beschränkt, sondern offen ist rur die heilsgeschichtliche Dimension dieses Geschehens. Das Mahl Jesu im engsten Jüngerkreis beginnt zu der für das Passamahl festgesetzten Stunde nach Sonnenuntergang. Zugleich ist diese Stunde im lk Verständnis aber mehr: Sie ist die im göttlichen Heilsplan vorgesehene Stunde des Abschieds Jesu von den Seinen, in der er ihnen sein Vermächtnis hinterlässt für die Zeit zwischen seinem Tod und ihrer eschatologisch-endgültigen Gemeinschaft in der vollendeten Gottesherrschaft (22,16.18.30). Ebenfalls in Abweichung von Mk 14,17 bezeichnet Lk in 22,14 den engsten Jüngerkreis Jesu nicht als "die Zwölf', sondern als "die Apostel". Darin dokumentiert sich eine typisch lk und wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzende Einengung des Apostelbegriffs. Die Bezeichnung "Apostel" wird in den neutestamentlichen Schriften in sehr unterschiedlicher Weise verwendet. In dem am wenigsten theologisch qualifizierten Verständnis kann als Apostel (aus dem Griechischen übersetzt: Gesandter) geIten, wer von einer christlichen Gemeinde und in ihrem Dienst mit einem Auftrag ausgesandt wird. Solche Gemeindeabgesandte erwähnt etwa Paulus in 2Kor 8,23 und Phil 2,25. Eine solche Beauftragung kann sich freilich auch auf die Evangeliumsverkündigung beziehen. In diesem Verständnis bezeichnet auch Lk - wohl in Abhängigkeit von einer Quelle - im Zusammenhang mit der 1. Missionsreise Barnabas und Paulus in 14,4f.14 als Apostel. Darur sprechen jedenfalls Einleitung und Abschluss der Erzählung von dieser 1. Missionsreise in Apg 13,3 und 14,26f. Für Paulus selbst ist dagegen eine Offenbarung des auferweckten Christus und eine Beauftragung mit der Evangeliumsverkündigung durch Gott bzw. Christus rur den Apostelstatus konstitutiv (vgl. lKor 9,1; 15,3-11; vgl. lKor 1,1; 2Kor 1,1; Gall,1.11f.15f; Röm 1,1 u.ö.). Lk schließlich greift eine schon traditionell vorgegebene Bezeichnung der Mitglieder des Zwölferkreises als Apostel (lKor 15,5 im Kontext von 15,3-11; Mk 6,30; vgl. auch Mt 10,2) auf. Mit Ausnahme von Apg 14,4f.14 (s.o.) reserviert er in seinem Doppelwerk den Apostelbegriff konsequent rur die Zwölfergruppe. Aufschlussreich sind dabei die qualifizierenden Kriterien, die er Petrus rur die Kandidaten bei der Nachwahl zur Komplettierung des Zwölferkreises nach Ausscheiden des Judas aufzählen lässt (Apg 1,21f). Apostel sind rur Lk mehr als "nur" die nachösterlichen Zeugen des auferstandenen Jesus, die von ihm zur Evangeliumsverkündigung beauftragt werden. Sie sind zugleich die authentischen Zeugen des gesamten öffentlichen Wirkens Jesu sowie seines Leidens und Sterbens. Auf diese Weise sind sie die Garanten der Kontinuität zwischen der Zeit des irdischen Jesus und der Zeit der nachösterlich entstehenden Kirche. Daher müssen die Zwölf auch in der lk Abendmahlsüberlieferung dezidiert als Apostel bezeichnet werden, weil gerade hier durch die Einsetzung des Herrenmahls eine ganz entscheidende Weiche rur die Verbindung zwischen dem irdischen Jesus und der nachösterlichen Zeit gestellt wird (vgl. Wiederholungsbefehl in 22,19c!).
Nach der Überleitung in 22,14 präsentiert Lk in 22,15-20 eine ganz eigene Mahlszene. Sie beginnt in V. 15-18 mit einer Eröffnungsrede Jesu. Durch diese wird zunächst der Charakter des nachfolgenden Mahles (V. 19f) als
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Passamahl noch einmal nachdrücklich hervorgehoben, der bei Mk allein aus der Vorbereitungs szene 14, 12-17 (par. Lk 22,7-13) erkenntlich wird (~ 3.4.1.). Allerdings geht aus der Eröffnungsrede des lk Jesus zugleich auch hervor, dass es sich bei diesem Passa um ein Passa ganz eigener Prägung handelt. Denn es ist das Todespassa Jesu, das letzte Passa, das er in seinem irdischen Leben feiern wird. Damit kommt im Übrigen an dieser Stelle der 1k Jesusgeschichte ein Erzählbogen an sein Ende, der in 2,41-52 eröffnet wurde. Das erste öffentliche Auftreten Jesu erfolgt bei Lk nämlich im Unterschied zu den drei anderen Evangelien nicht als bereits erwachsener Mann im Zusammenhang mit dem Wirken des Täufers, sondern als Zwölfjähriger auf einer Pilgerreise mit seinen Eltern nach Jerusalem, und zwar aus Anlass des Passafestes.
Ist also lk Jesus von früher Jugend an mit der religiösen Tradition und Bedeutung des Passafestes vertraut, so erklärt dies, warum er seine Eröffnungsrede vor Mahlbeginn mit den Worten einleitet: Sehnlichst habe ich danach verlangt, dieses Passa zu essen mit euch vor meinem Leiden (22,15).
Das, was ihm so vertraut ist, feiert Jesus nun also mit dem engsten Kreis seiner Vertrauten zum letzten Mal vor seinem Leiden. Nur am griechischen Text lässt sich in V. 15 im Übrigen ein lk Wortspiel erkennen, das sich der volkstümlichen Herleitung des Sinns von Passa (griechisch: pas-cha) von leiden (griechisch: pas-chein) bedient. Die Eröffnungsrede Jesu vor dem Mahl besteht aus einer zweifachen Todesprophetie (V. 15f.17f). Doch blickt diese Prophetie jeweils über den Tod hinweg voraus auf die eschatologische Zukunft, an welcher teilzuhaben der lk Jesus gewiss ist. Das Passalamm, das er jetzt ein letztes Mal verzehrt, wird er erneut essen in der vollendeten Gottesherrschaft (V. 16). Den Wein, den er von jetzt an nicht mehr trinkt, wird er erneut trinken in der vollendeten Gottesherrschaft (V. 18). Besteht die Einleitung zur ersten Todesprophetie aus einer Mitteilung Jesu an die Jünger (V. 15), so die zweite aus einer Kelchhandlung, an die sich eine Aufforderung an die Jünger anschließt (V. 17): Und er nahm einen Kelch, sprach das Dankgebet und sagte: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch auf!
Diese Kelchhandlung entspricht in der lk Konzeption der Mahlszene nicht Mk 14,23. Denn sie wird im Unterschied zu Mk 14,24 durch V. 18 begründet, nicht gedeutet. Vermutlich aber kannte Lk die Passamahlbräuche seiner Zeit und wusste, dass gerade dieses Mahl durch einen mit Wein gefüllten Kelch eröffnet wurde, über den der Tischherr einen traditionellen Segen sprach:
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
73
Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der du die Frucht des Weinstocks geschaffen hast (vgl.bPes 103a,20; 106a,15.l8).
Auch dieser Segensspruch dürfte Lk vertraut gewesen sein. Zwar zitiert er ihn in V. 17 nicht. Doch ist es wohl kaum ein Zufall, dass Lk den bei Mk 14,25 vorgegebenen eschatologischen Ausblick, der gerade von der Frucht des Weinstocks spricht, in V. 18 dem Eröffnungsritus des Passamahles als Begründung anfügt. Dienen die V. 15-18 der Hinflihrung zum eigentlichen Passamahl, so widmen sich die V. 19f diesem Mahl selbst, genauer seinem Beginn mit der Brothandlung (V. 19) und seinem Abschluss mit der Kelchhandlung (V. 20). Dass Lk den Akzent auf die Rahmenhandlungen des Mahls legt, stellt in V. 20a der ausdrückliche Hinweis "nach dem Speisen" bzw. "nach Einnahme der Mahlzeit" (griechisch: meta to deipnesai) sicher. Den Präpositional ausdruck meta to deipnesai dagegen auf den Verzehr des eben dargereichten Brotes (V. 19) zu beziehen, widerrät die lk Wortwahl. Hätte Lk zum Ausdruck bringen wollen, dass Jesus unmittelbar, nachdem seine Jünger das ihnen ausgeteilte Brot gegessen hatten, die Kelchhandlung angeschlossen habe, wäre meta to phagein zu erwarten. Denn im Unterschied zu esthiein/phagein, Verben, die den Verzehr eines konkreten Nahrungsmittels bezeichnen (vgl. 22,15, wo phagein bezogen ist auf den Verzehr des Passalammes [22,7!]), leitet sich deipnein/deipnesai von to deipnon = das (Gast-)Mahl ab. Es bezieht sich daher auf die Gesamtheit der Speisen, die die Teilnehmer im Verlauf eines Gastmahls zu sich nehmen. Unter dieser Rücksicht überzeugt dann aber ebenso wenig die Variante, die den verkürzt formulierten V. 20a verdeutlichend wiedergibt mit "und den Becher (wie das Brot) nach dem Mahl". Denn zweifellos bemüht sich Lk anders als Mk, das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern nicht nur im Vorfeld als Passamahl zu deklarieren, sondern es auch als ein solches darzustellen. So dürfte er auch darum gewusst haben, dass beim Passamahl im Unterschied zum Kelchritus ein Brotritus wohl zur Eröffnung, nicht aber zum Abschluss des Mahles einen Platz hatte. So scheint sich die Interpretation von V. 20a, die Brot- und Kelchritus als unmittelbar aufeinander folgend versteht, von der mk Fassung der Abendmahlsüberlieferung (l4,22.23f) leiten zu lassen statt die lk Eigenheiten als solche auch ernst zu nehmen und zu würdigen.
Während Lk also die Aufmerksamkeit auf die das Mahl rahmende Brot- und Kelchhandlung lenkt, lässt er den dazwischen liegenden Mahlverlauf (so vor allem den Verzehr des Passalammes) außer Acht. Dies mag einerseits durch die konkrete Überlieferungslage bedingt sein. Denn weder die mk noch die literarisch früher bezeugte paulinische Herrenmahlstradition (lKor 11,2325.26), die Lk beide gekannt und in 22,18.19-20 verarbeitet hat (~ Exkurs 3), legen Wert auf eine Schilderung des Mahlverlaufs, sondern konzentrieren sich auf die eucharistische Brot- und Kelchhandlung. Andererseits aber betont Lk, indem er in V. 19f seine Darstellung auf die spezifisch jesuanisch gedeuteten Rahmenhandlungen konzentriert, dass das Passamahl dadurch und von nun an neu durch die stellvertretende Lebenshingabe Jesu qualifiziert ist. Festzuhalten bleibt: Die lk Gestaltung der Mahlszene als Passamahl, dem Jesus im Angesicht seines drohenden Todes eine ganz eigene Akzentuierung
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
verleiht, ist in sich stimmig. Auf eine Eröffnungsrede Jesu mit doppelter Todesprophetie (V. 15-18) folgt das eigentliche Passamahl, das freilich nur mit seinen Rahmenhandlungen zu Beginn am Brot (V. 18) und zum Abschluss am Wein (V. 19) unter Ausblendung des Mahlverlauft in den Blick gefasst wird. Die Brot- und die Kelchhandlung mit ihrer jeweiligen Deutung (22,18-19) lassen einerseits die Markusvorlage (14,22-24) deutlich erkennen, berühren sich andererseits aber unverkennbar und stärker noch mit der Überlieferung, die Paulus in 11,23-25 zitiert. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Varianten der Herrenmahlüberlieferung sollen nachfolgend in einem Exkurs in traditionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet werden.
Exkurs 3: Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung7 Mt26
Mk14
26 Als sie aber aßen,
22 Und als sie aßen,
19 Und
nahm Jesus Brot
nahm er Brot,
er nahm Brot,
und sprach das Lobgebet, brach es und, nachdem er es den Jüngern gegeben hatte, sagte er: Nehmt, esst! Dies ist mein Leib
sprach das Lobgebet, brach es und gab es ihnen
sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen,
und sagte: Nehmt! Dies ist mein Leib.
indem er sagte: Dies ist mein Leib,
27 Und er nahm einen Becher
23 Und er nahm einen Becher,
und sprach das Dankgebet, ga b ihn ihnen,
sprach das Dankgebet, gab ihn ihnen, und sie tranken alle daraus. 24 Und er sagte zu ihnen:
indem er sagte: Trinkt alle daraus!
Legende: pln/lk gegen mk/mt ~ kursiv.
~
Lk22
der fur euch gegebene. Dies tut zu meinem Gedächtnis! 20 Und den Becher auf dieselbe Weise nach dem Mahl,
indem er sagte:
Paulus (lKor 11) 23b In der Nacht, als er ausgeliefert wurde, nahm der Herr Jesus Brot, 24 und sprach das Dankgebet, brach es
und sagte: Dies ist mein Leib, der fur euch. Dies tut zu meinem Gedächtnis! 25 Auf dieselbe Weise auch den Becher nach dem Mahl,
indem er sagte:
unterstrichen; mk/mt gegen pln/lk ~ halbfett; mk/lk gegen pln
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern 28 Dies nämlich ist mein Blut des Bundes,
Dies ist mein Blut des Bundes,
Dieser Becher [ist] der neue Bund in meinem Blut,
das für Viele vergossene
das für Viele vergossene.
das für euch vergossene
zur Vergebung der Sünden.
29 Ich sage euch aber, ich werde nicht mehr trinken ab jetzt von dieser Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich mit euch neu davon trinke in der Herrschaft meines Vaters.
25 Amen, ich sage euch, ich werde nicht mehr trinken von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, weilli ich neu davon trinke in der Herrschaft Gottes.
(18) Ich sage euch nämlich, ich werde nicht mehr trinken von jetzt an von der Frucht des Weinstocks, bis die Herrschaft Gottes kommt.
75 Dieser Becher [ist] der neu~ Bund in meinem Blut.
Dies tut, sooft ihr [daraus] trinkt, zu meinem Gedächtnis! 26 Sooft ihr nämlich dieses Brot esst und diesen Becher trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Die neutestamentliche Herrenmahlüberlieferung ist nicht nur in den drei synoptischen Passionserzählungen (Mk 14,22-24.25 parr. Mt 26,26-28.29; Lk 22,18.19-20) literarisch belegt. Das älteste schriftliche Zeugnis, das rund anderthalb Jahrzehnte vor Abfassung des Mk (um 70) niedergeschrieben wurde, stammt aus dem 1. Korintherbrief (um 55). Paulus zitiert in diesem Brief im Zusammenhang seiner Stellungnahme zu Missständen bei der korinthischen Herrenmahlfeier in 11,23b-25.26 die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie. Von dieser Überlieferung sagt er einleitend in 11,23a, dass er sie selbst bereits empfangen hat, was auf ihr hohes Alter verweist. Ein synoptischer Vergleich des Textbestandes unter Einschluss der paulinischen Version ergibt, dass sich zwei Traditionsstränge unterscheiden lassen. Den einen Traditionsstrang repräsentiert lKor 11,23b-25.26, den anderen Mk 14,22-24.25. Mt 26,26-28.29 schließt sich, abgesehen von kleineren redaktionellen Eingriffen (~ 3.5.2.) eng an die mk Vorgaben an. Dagegen kennt Lk neben Mk 14,22::-24.25 zweifelsfrei auch den paulinischen Traditionsstrang. Denn worin er von seiner Markusvorlage abweicht, darin stammt er größtenteils mit der von Paulus in lKor 11,23b-25.26 zitierten Überlieferungsvariante überein. So findet sich in Lk 1l,19a und lKor 1l,24a bei der Brothandlung gleichermaßen das Verb eucharistein (= das Dankgebet sprechen} Die Version Mk 14,22a par. Mt 26,26a weist dagegen eulogein (= das Lobgebet/den Lobpreis sprechen) auf. Lk 22,19b und lKor 1l,24b bieten ferner bereits beim Brotwort den auf "Leib" (soma) bezogenen Zusatz "der fur euch", durch den die Lebenshingabe Jesu im Licht des stellvertretenden Sühnetodes erscheint. Über den bei Paulus tradierten Wortlaut hinaus fügt
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Lk noch das Partizip "der für euch gegebene" hinzu. Auf diese Weise schafft er eine formale Parallele zum soteriologischen Zusatz des BecherwOlies, der auf das Blut bezogen ist: "das für euch vergossene" (Lk 22,20b). Dieser Zusatz beim Becherwort findet sich im Unterschied zur paulinischen Version auch in Mk 14,24 par. Mt 26,28: "das für Viele vergossene". Mit der Formulierung "für Viele" schließt sich allerdings der mk Traditionsstrang enger an den Wortlaut Jes 53,12 an (~ 3.5.1.). Dagegen müht Lk sich weiterhin um Parallelität zwischen Brot- und Becherwort, indem er mit "für euch" dem paulinischen Traditionsstrang (vgl. 1Kor 11 ,24b) folgt. Die Variante "für euch" könnte sich bereits dem liturgischen Sitz im Leben der Herrenmahlüberlieferung verdanken, insofern sie die im Licht der Gottesknechtstheologie prinzipiell universal verstandene Lebenshingabe Jesu (~ 3.5.1.) auf die jeweils Herrenmahl feiernde Gemeinde hin konkretisiert. Anders als Mk 14,22 par. Mt 26,26 beschließen Paulus und Lk die Brothandlung jeweils mit dem Wiederholungsbefehl "Dies tut zu meinem Gedächtnis!" ab (lKor 11,24b par. Lk 22,19b). Dieser Wiederholungsbefehl, der eine Kult begründende Funktion hat und daher auf einen ursprünglich liturgischen Sitz im Leben der Herrenmahlüberlieferung verweist, findet sich bei Paulus (1Kor 11,25b) in Abweichung von Lk auch noch einmal am Ende der Ke1chhandlung ("Dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis!"). Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Lk besteht in der übereinstimmenden Notiz, wonach Brot- und Kelchhandlung durch eine Sättigungsmahlzeit getrennt sind (lKor 11,25a par. Lk 22,20a: "nach dem Mahl"). Schließlich bietet das pln/lk Ke1chwort in Anlehnung an Jer 31,31 eine Deutung des Bechers: "Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut" (lKor 11,25b par. Lk 22,20b). Dagegen deklariert Mk und ihm folgend Mt unter unmissverständlicher Anspielung auf den Bundesschluss am Sinai (Ex 24,8) den Ke1chinhalt als Jesu Bundesblut: "Dies ist mein Blut des Bundes" (Mk 14,24 par. Mt 26,28). Hinter der pln/lk Version steht eine Interpretation des Todes Jesu als eschatologische Erfüllung prophetischer Verheißung. In der mk/mt Fassung wird dagegen der durch die Lebenshingabe Jesu geschlossene eschatologische Bund in ein Verhältnis typologischer Überbietung zu dem durch das Blut von Opfeliieren geschlossenen Sinaibund gebracht (~ 3.5.1.). Dass sich Lk beim Deutewort zur Ke1chhandlung der bei Paulus bezeugten Traditionsvariante anschließt statt Mk 14,24 zu übernehmen, steht möglicherweise im Zusammenhang mit seiner HervOl'hebung des Passamah1charakters von Jesu Abschiedsmahl. Denn im Unterschied zum mk Deutewort, das keinen unmittelbaren Bezug zur Passathematik aufweist, lässt sich dieser Bezug bei Jer 31,31 durch den nachfolgenden Vers jedenfalls leicht herstellen: 31 Seht, es werden Tage kommen - Spruch des HelTn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, 32 nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüng~rn
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herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter warSpruch des Herrn."
Allerdings bleibt festzuhalten, dass dieser Passabezug im ältesten erhaltenen Beleg der Herrenmahltradition 1Kor 11,23-25.26 keine erkennbare Rolle spielt. Auch Lk spricht ihn nicht dezidiert an. Doch erwartet er wohl, dass seine Leserinnnen und Leser beim Becherwort V. 20 noch V. 16 im Ohr haben. Dort nämlich hatte der lk Jesus gerade darauf verwiesen, dass er in der vollendeten Gottesherrschaft erneut das Passalamm essen werde. Wie aber dem Bund, den Gott mit den Vätern bei der Herausführung aus Ägypten geschlossen hatte (Jer 31,32), das Passamahl zugeordnet ist, das Jesus jetzt zum letzten Mahl feiert (Lk 22,15), so ist das endzeitliche Passamahl (22,16) dem neuen Bund (Jer 31,31) zugeordnet, der durch die Lebenshingabe Jesu konstituiert wird (22,20). Der eschatologische Ausblick schließt sich bei Mk und Mt übereinstimmend an die Becherhandlung samt Deutewort an (Mk 14,25 par. Mt 26,29). Bei Lk ist er im Dienst der Verstärkung der Passamahlthematik redaktionell vorgezogen und in doppelter Ausführung (22,16.18) in die Eröffnungsrede Jesu vor dem eigentlichen Mahlbeginn integriert. Bei Paulus dagegen ist davon nur noch eine spärliche Reminiszenz in 11,26 übrig geblieben: "Sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt." Aus den beiden aufgrund des synoptischen Vergleichs klar unterscheidbaren Traditionssträngen der Herremnahlüberlieferung die literarische Ursprungs/arm (nicht zu verwechseln mit der historischen Ur/arm!) zu rekonstruieren, ist sehr kompliziert. Entsprechende Versuche haben noch keine konsensfähigen Ergebnisse erbracht. Allerdings herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass der von Paulus in lKor 1l,23b-25.26 dokumentierte Traditionsstrang nicht nur literarisch, sondern auch traditions geschichtlich älter ist als die Version in Mk 14,22-24.25. Dafür lässt sich zum einen die Notiz der zwischen Brot- und Kelchhandlung geschobenen Sättigungsmahlzeit anführen (lKor 11,25a; vgl. Lk 22,20a). Zum anderen deutet die bei Mk erkennbare Tendenz der Angleichung von Brot- und Kelchwort auf ein jüngeres Überlieferungsstadium hin. Hier macht sich der liturgische Sitz im Leben bemerkbar: Die an das Ende der Sättigungsmahlzeit zusammengerückte zweiteilige eucharistische Handlung musste die Angleichung von Brot- und Becherwort schon aus nahe liegenden äußeren Gründen forcieren. Nun wurde also nicht mehr der von Jesus herumgereichte Becher, der die Jünger mit Gott und untereinander verbindet, als neuer Bund in Jesu Blut bezeichnet. Vielmehr wurde der Becherinhalt selbst mit dem von Jesus als Bundesopfer vergossenen Blut identifiziert - ebenso wie das Brot zuvor schon als Jesu Leib. Die Angleichung von Brot- und Becherwort auf der von Mk repräsentierten jüngeren Stufe der Herrenmahlüberlieferung ist sachlich zugleich mit der Tendenz in Zusammenhang zu sehen, aus der sich ent-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wickelnden sakramentalen Sichtweise heraus jetzt stärker die Elemente der eucharistischen Handlung, Brot und Wein, in den Mittelpunkt zu stellen. Als Referenztext des traditionsgeschichtlich älteren Deutewortes zur Becherhandlung ermöglichte es Jer 31,31- gelesen im Kontext von 31,31-34 - einen Bezug zur Passaerzählung in Ex 12 herzustellen, der über 31,32 verläuft. Dieser Bezug regte wohl wesentlich die spezifisch lk Gestaltung der Mahlszene in 22,15-20 mit an. Aufgrund desselben Kontextes konnten aber ebenso Verbindungslinien zum Bundesschluss am Sinai gezogen werden. Denn die in das Herz geschriebenen Bundesbestimmungen Jer 31,33 (vgl. 2Kor 3!) lassen sich gleichsam als antitypische Überbietung der auf Steintafeln geschriebenen Bestimmungen des Sinaibundes verstehen (vgl. Ex 24,12). Dieser Sinaibund aber wurde mit dem Blut von Opfertieren besiegelt. Eben dies hält mit Ex 24,8 der Referenztext des traditionsgeschichtlich jüngeren Deutewortes zur Becherhandlung (Mk 14,24 par Mt 26,28) fest. Das lk Deutewort zur Becherhandlung nutzt schließlich beide vom jeremianischen Kontext 31,31-34 her möglichen Anknüpfungspunkte, indem Lk die beiden Becherworte aus pln wie mk Tradition miteinander kombiniert.
Es ist also nicht auszuschließen, dass die frühe Verankerung der Herrenmahlüberlieferung in der gemeindlichen Liturgie und ihre dadurch bedingte Anpassung an liturgische Bedürfnisse zur Ausbildung des erstmals Mk 14,24 bezeugten jüngeren Becherwortes führte. Anhaltspunkte hierfür waren allerdings im traditionsgeschichtlich älteren Becherwort grundgelegt. Unmittelbar und unvermittelt (V. 21: Nur seht ... ) auf das Becherwort (V. 20) lässt Lk in 22,21-23 die Ankündigung Jesu folgen, dass einer seiner Tischgenossen ihn ausliefern wird. Da Judas bereits in Lk 6,16 in Abweichung von der mk Vorlage (3,19) ausdrücklich als Verräter (prodotes) charakterisiert wurde, ist der juristische Begriff des Ausliefems (paradidonai) auch jetzt wieder (~ 3.3.3.) eindeutig moralisch negativ besetzt. Dies sowie die im Vergleich zu Mk umgekehrte Erzählfolge (Lk 22,15-20 par. Mk 14,22-25; Lk 22,21-23 par. Mk 14,18-21) lassen erkennen: Die Ankündigung der Auslieferung bzw. des Verrats Jesu durch einen seiner Jünger bildet bei Lk gleichsam den finsteren Kontrast zur vorausgehenden Deutung des Todes Jesu als Lebenshingabe, kommt doch diese Lebenshingabe in ihrer endzeitliches Heil eröffnenden Kraft den Jüngern (V. 19.20: für euch) zugute. Doch scheinen die lk Jünger diesen Kontrast gar nicht zu registrieren. Im Unterschied zu Mk 14, 19 par. Mt 26,22 erfasst sie weder Trauer noch fragen sie bei Jesus verunsichert nach: Doch nicht etwa ich? Stattdessen erhebt sich unter ihnen ein fast akademischer Disput darüber, wer von ihnen das tun werde. Das sich darin dokumentierende Unverständnis der Situation und ihrer Bedeutung findet seine Bestätigung im gleich darauf entbrennenden Rangstreit unter den Jüngern. Bildet die Verratsankündigung Jesu mit der befremdlichen Reaktion seiner Jünger die Brücke zwischen dem Mahl (22,15-20) und den an das Mahl anschließenden Tischreden (22,24-38), so werden diese Tischreden als der obligatorische zweite Teil des antiken Gastmahls (Symposion) eröffnet durch den Rangsstreit der Jünger und ihre Zurechtweisung durch Jesus (22,24-27). Dieser Rangstreit war bereits in Lk
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9,46 im Anschluss an die 2. Leidensansage aufgebrochen. Übernimmt Lk in 9,47f im Wesentlichen die Reaktion Jesu darauf aus seiner Vorlage Mk 9,36f, so verzichtet er im Anschluss an die 3. Leidensansage (Lk 18,31-33 par. Mk 10,32-34) auf eine Demonstration des Jüngerunverständnis, sondern stellt es nur fest (Lk 18,34 diffMk 10,35-41). Entsprechend findet sich hier auch keine korrigierende Jüngerunterweisung durch den lk Jesus (diff Mk 10,42-45). Erst in 22,25-27 greift Lk diese bei Mk vorgegebene Jüngerunterweisung auf. Allerdings passt er sie in V. 26f der konkreten Mahlsituation an. Denn der lk Jesus demonstriert sein Verständnis vom Dienen am Beispiel des Tischdienstes. Dabei werden Rangunterschiede unter den Jüngern als ebenso selbstverständlich vorausgesetzt, wie es sie bei jeder Tischgemeinschaft und - eng damit verbunden - in jeder Familie gibt. Doch hat gerade der Größte und Vornehmste unter ihnen Maß zu nehmen am Jüngsten (in der Familie) und am Diener (bei Tisch) (V. 26). Dazu verweist der lk Jesus die Jünger auf sein eigenes Beispiel (22,27): Wer nämlich ist größer, der zu Tisch liegt oder der [bei Tisch] dient? Ist es nicht der, der zu Tisch liegt? Ich aber bin unter euch wie einer, der dient.
Doch zunächst scheint in dem eben beendeten Mahl nirgendwo ein dienendes Handeln J esu sichtbar zu werden. Vielmehr zeigte die Mahlerzählung ihn durchweg in der Rolle des Tischvorsitzenden. Nach einer vergleichbar eindrucksvollen Demonstration seines Dienstes, wie sie der joh Jesus beim letzten Mahl durch die Fußwaschung der Jünger bietet, sucht man beim lk Jesus vergeblich. Doch ist als letzte Konsequenz seines gesamten Wirkens rur die Menschen (pro existenz) sein Dienst der stellvertretenden und Heil schaffenden Lebenshingabe in der Brot- und Becherhandlung (22,19f) präsent. Angesichts dessen erweist sich Lk 22,27 als durchaus sachgerechte Interpretation von Mk 10,45: Auch der Menschensohn ist nämlich nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für Viele.
Dieses mk Lösegeldwort übernimmt Lk bezeichnenderweise nämlich nicht beim Transfer der Jüngerunterweisung über Herrschen und Dienen (Mk 10,42-44 par. Lk 22,25f) in den Kontext der Tischgespräche beim letzten Mahl Jesu. Möglicherweise empfand er es als unpassende "Konkurrenz" zu den Deuteworten (V. 19f). Startdessen ersetzt Lk das Lösegeldwort durch 22,27. Mit diesem Vers aber integriert er die Jüngerunterweisung nicht nur semantisch in den Rahmen der letzten Tischgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern vor seinem Tod. Vielmehr weist er damit zugleich zurück auf die Brot- und Becherhandlung (22,19f). Ohne das mk Lösegeldwort direkt aufzugreifen, bestätigt er somit gleichwohl dessen Aussageabsicht: Dass Jesus ungeachtet seiner Hoheit den Weg des Dienstes bis zum letzten
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Schritt der Lebenshingabe geht, muss Konsequenzen haben. Es muss zum verbindlichen Maßstab des Umgangs der Jünger untereinander werden, an dem sich vor allem das Verhalten der "Größen" in der Gemeinde messen lassen muss. Die Erfahrungen durch die Jahrhunderte hindurch lehren freilich, dass dieser scheinbar so einfache wie einleuchtende Maßstab zumeist am menschlichen Willen zur Macht scheitert. Und so haben sich bald schon auch in der Kirche genau die weltlichen Herrschaftsstrukturen etabliert, vor denen Jesus seine Jünger warnt (Lk 22,25; vgl. Mk 10,42; Mt 20,25). Stehen die V. 24-27 unter dem Vorzeichen der Unterweisung, die die Jünger vor eitler Herrschsucht warnt und auf das Vorbild des selbstlosen Dienstes Jesu verpflichtet, so stehen die V. 28-30 unter dem Vorzeichen der Verheißung, die den Jüngern die Teilhabe am endzeitlichen Reich (V. 29), konkret am darin stattfindenden Festmahl (V. 30a) und am darin ausgeübten Richteramt (V. 30b) in Aussicht stellt. V. 28 nennt vorab den Grund dieser Verheißung: Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Anfechtungen.
Anfechtungen bezeichnen hier die Bedrängnisse und Schwierigkeiten, in denen die Gefährdungen der letzten Phase der vergehenden Weltzeit individuell erfahrbar werden. Hinter diesen Anfechtungen sieht Lk Satan am Werk. Vor ihnen bleibt auch Jesus nach lk Darstellung nicht verschont. Zwar weiß Jesus, dass Satan seine Anklägerfunktion bei Gott im Himmel verloren hat (10,18). Er weiß auch, dass damit die Weichen unumkehrbar in Richtung auf die endzeitliche Gottesherrschaft gestellt sind, die in seinem Wirken schon anbricht (11,20). Doch bis zur Vollendung der Gottesherrschaft bleibt Satan noch ein Handlungsspielraum. Auf der Ebene der erzählten. Welt der lk Jesusgeschichte versucht Satan schon früh, diesen Spielraum an Jesus, während dieser in der Wüste vierzig Tage fastet, auszutesten (4,1-13). Als er in drei Anläufen kläglich scheitert, lässt er bis zu gelegener Zeit (achri kairou) von Jesus ab (4,13). Während seines öffentlichen Wirkens sieht sich Jesus dann immer wieder mit Schwierigkeiten (vgl. 9,57f), Anfeindungen (vgl. 7,34; 11,15f; 16,14) und Nachstellungen konfrontiert (vgl. 11,53f; 20,20f; 13,31; 19,47; 22,1f), ohne dass freilich ausdrücklich der Urheber all dessen genannt wird. Diese negativen Erfahrungen aber teilen seine Jünger, die ihn begleiten. Darauf dürfte der lk Jesus in 22,28 primär anspielen. Doch erschöpft sich die Aussage kaum darin. Gerade in der lk Passionserzählung zeigt sich nämlich Satan noch einmal explizit am Werk. Er macht sich Judas, der der Anfechtung nicht standhält, zum Werkzeug, mit dem er die Auslieferung Jesu betreibt (22,3f). Er begehrt auch den Zugriff auf die übrigen Apostel (22,31). Und schließlich kann die Gefangennahme Jesu gelingen, weil mit der "Macht der Finsternis" Satan am Werk ist, mit dem die Jerusalemer Autoritäten über Judas gemeinsame Sache machen (22,52f). Im Unterschied aber zur mk und mt Darstellung (Mk 14,50; vgl. 14,26-28 par. Mt
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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26,56; vgl. 26,30-32) fliehen die lk Jünger in dieser Situation nicht. So werden sie schließlich mit der vollständigen Gruppe der Bekannten Jesu auch Zeugen seines Kreuzestodes, wenngleich von ferne (23,49). Und auch nach dem Begräbnis Jesu bleiben sie in der Stadt Jerusalem, wo ihnen am Ostertag der Auferstandene erscheint (24,9-12.33-35.36-50). So blickt also die Aussage in 22,28 nicht nur auf das Ausharren der Jünger mit Jesus im bisherigen Verlauf der lk Jesusgeschichte zurück. Sie hat zugleich eine die Zukunft voraus nehmende Funktion. Aber diese beschränkt sich nicht auf die Ebene der er'zählten Welt. Vielmehr gilt die Aussage auch in Bezug auf die nachösterlich folgenden Generationen von Jüngern und Jüngerinnen: Ihre eigenen Anfechtungen sollen sie verstehen lernen als Bedingung der Nachfolge Jesu und als Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu ihm, um ihnen so zu widerstehen. Gerade die unmittelbar vorausgehende Passage der Tischgespräche (V. 24-27) lässt vermuten, dass Lk zu diesen Anfechtungen nicht zuletzt auch Geltungssucht, Machtwillen und das Streben nach Herrschaft zählt. Damit die Jünger und Jüngerinnen Jesu diesen Anfechtungen nicht erliegen, bietet Lk ihnen in seiner Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Teufel (4,1-13) die entscheidende Orientierungshilfe. In V. 29fschließt sich die Verheißung selbst an. Mit den Stichworten HerrschaftlReich (basileia) sowie Essen und Trinken greift Lk in V. 29.30a unverkennbar auf die Eröffnungsrede Jesu vor Mahlbeginn (22,16.18) zurück. Wie Jesus dOli vorausblickt auf seine Teilhabe am eschatologischen Festmahl in der vollendeten Herrschaft Gottes, so wird nun den Jüngern die Teilhabe an diesem Festmahl in Aussicht gestellt (V. 30a). Die Möglichkeit dazu eröffnet ihnen Jesus, ebenso wie ihm zuvor diese Möglichkeit von seinem Vater eröffnet worden war (V. 29). Der Wechsel von einer theologischen (V. 16.18: Reich Gattes [basileia tau theau)] zu einer christologischen (V. 30a: mein Reich [basileia mau]) Perspektive, der mit V. 29 vollzogen wird, spiegelt deutlich den Wechsel von einer varösterlichen zu einer nachösterlichen Perspektive wieder. Dies bestätigt noch einmal, dass eine auf die Ebene der erzählten Welt eingeschränkte Lektüre der Passage zu kurz greift. Die Verheißung des lk Jesus im Abendmahlsaal an die dort mit ihm versammelten Jünger gilt allen Menschen - Männern wie Frauen -, die sich zwischen der Auferweckung Jesu und seiner Wiederkunft in seine Nachfolge stellen. Kriterium für die Erfiillung der Verheißung ist dabei, dass sie wie Jesus zum Verzicht auf Herrschaftsausübung und zu dienender Selbsthingabe bereit sind. Unter dieser Voraussetzung freilich werden sie nicht nur endzeitlichendgültige Tischgemeinschaft mit Jesus pflegen (V. 30a), die im Herrenmahl in vergegenwärtigender Erinnerung an die Lebenshingabe Jesu zeichenhaft vorweggenommen wird. Sie werden zugleich auch Anteil gewinnen an der endzeitlichen Herrscherfunktion Jesu (V. 30b), die gerade aus seinem Verzicht auf Machtausübung nach irdischem Maßstab erwächst. Den Aspekt der
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Anteilhabe an der eschatologischen Herrschaft Jesu bringt Lk in 22,30b mit einem Wort aus der Logienquelle zum Ausdruck: ... und ihr werdet sitzen auf Thronen und die zwölf Stämme Israels richten.
Auch Mt rezipiert dieses Wort, allerdings außerhalb seiner Passionsgeschichte, und zwar in 19,28 ebenfalls als verheißenen Lohn für die Jüngernachfolge. Interessant ist freilich, dass Mt dabei nicht nur von den zwölf Stämmen Israels, sondern auch von zwölf Thronen spricht. .Für ihn ist also nur der Zwölferkreis, der das endzeitliche Israel repräsentiert, das Jesus mit seiner Verkündigung sammeln will, der Anwärterkreis auf die endzeitliche Herrscherfunktion. Die fehlende Zahlenangabe zu den Herrschersesseln bei Lk darf hingegen als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass er diesen Anwärterkreis bewusst erweitert auf alle Menschen, die in der Nachfolge Jesu stehen und ihren Kriterien des Dienstes und des Herrschaftsverzichts entsprechen. Den beiden letzten Abschnitten der lk Abschiedsreden (22,31-34.35-38) fehlt im Unterschied zu den beiden ersten (22,24-27.28-30) jeder thematische Bezug zum Mahl. Stattdessen nimmt nun der Ausblick auf die Passion mit der Petrusverleugnung und dem Verbrechertod Jesu konkrete Konturen an. Dieser Ausblick dient nicht zuletzt einer Vorbereitung der Jünger auf künftige Gefährdungen ihres Glaubens von innen und außen. Über V. 28 ist damit zugleich eine thematische Brücke zur ersten Hälfte der Abschiedsreden gegeben. Mit V. 31 richtet der lk Jesus ausdrücklich sein Wort an Petrus. Nur an dieser einzigen Stelle im LkEv redet er ihn mit seinem Eigennamen Simon an. Die verdoppelte Anrede ,,sirnon, Simon" zusammen mit dem Aufmerksamkeitshinweis "siehe" weist dabei auf den Ernst dessen hin, was Jesus ihm nun zu sagen hat. Dies betrifft aber nicht allein ihn, sondern alle Jünger. Gleichwohl kommt Petrus dabei einmal mehr eine besondere Aufgabe zu. Nachdem der lk Jesus sich also der Aufmerksamkeit des Simon gewiss sein darf, berichtet er von einer Auseinandersetzung mit Satan um den Zugriff auf seine Jünger. Diese Auseinandersetzung wurde vor einer nicht näher genannten, jedoch wohl himmlischen Instanz ausgetragen. Dabei hat Satan sich ausgebeten, die Jünger wie Weizen zu sieben, das heißt, ihren Glauben auf eine harte Probe zu stellen (V. 31 b). Unausgesprochen wird dabei vorausgesetzt, dass seiner Bitte stattgegeben wurde. Denn nur so erscheint die Gegenbitte Jesu sinnvoll, dass sich wenigstens der Glaube Simons bewähre (V. 32a). Die vom lk Jesus referierte Szene erinnert an die Rahmenhandlung des Buches Ijob (vgl. Ijob 1,6-12; 2,1-6). Allerdings geht es hier nicht um das individuelle Schicksal eines gottesfürchtigen Weisen. Es geht vielmehr um einen Entscheidungskampf von endzeitlicher Qualität, dem die Jünger Jesu ausgeliefert werden. V. 32b lässt erkennen, dass auch der Bitte Jesu vor der himmlischen Instanz entsprochen wurde. Zwar wird Simon ein Straucheln
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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nicht erspart bleiben. Doch er wird umkehren und auf den richtigen Weg zurückfinden. Wenn es soweit ist, dann gilt ihm der Auftrag Jesu, seine Brüder zu stärken, damit auch sie die satanische Glaubensprobe bestehen können. Auch die Wortwahl Brüder geht hier über den engsten Kreis der Zwölf hinaus und umfasst die Jüngerschaft Jesu - Männer und Frauen - als solche. Für sie alle soll sich Petrus als Fels erweisen, der ihnen Halt gibt gegen die von Satan beabsichtigten Glaubensgefährdungen. Die lk Sondergutverse 31 f bilden nun in der erzählerischen Konzeption des Lk den Auftakt der Ankündigung von der Verleugnung Jesu durch Petrus (V. 33f). Diese erscheint dadurch im Vergleich mit den anderen Evangelien abgemildert. Denn zum einen wird sie - gemessen an der gewaltigen Dimension des endzeitlichen Entscheidungskampfes, in dem die Jünger mit Satan stehen - in ihrer Tragweite relativiert. Und zum anderen steht die Verleugnung J esu durch den lk Petrus bereits im Licht seines dennoch nicht versiegenden Glaubens, den Jesus für ihn erbeten hat. Lk schließt seine Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit den Jüngern in 22,35-38 mit einer Sondergutpassage, die wohl nicht ursprünglich im Passionskontext beheimatet war. Vielmehr dürfte sich ihre Entstehung der feindseligen Einstellung verdanken, mit der sich die Anhänger Jesu bei ihrer nachösterlichen Verkündigungstätigkeit immer wieder konfrontiert sahen. Lk bettet nun die ihm bekannte Tradition in die Abschiedsreden ein, so dass in diesem neuen Kontext der lk Jesus unmittelbar vor seiner Passion auf die nachösterlich schwierige Situation seiner Jünger vorausblickt. Nach dem Dialog mit Petrus wendet sich Jesus in V. 35 noch einmal allen bei ihm versammelten Jüngern zu. Was er ihnen abschließend zu sagen hat, dient ihrer Vorbereitung auf den gewaltigen Einschnitt, den seine Hinrichtung als Verbrecher (V. 37) für ihre Lebensbedingungen als Verkündigel' bedeutet. Dazu erinnert er sie zunächst an ihre positiven Erfahrungen, die sie als seine Gesandten gemacht haben (22,35): Und er sagte zu ihnen: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel und Vorratstasche und Sandalen, habt ihr da etwa Mangel gelitten? Sie aber sagten: Nein, an nichts.
Diese Frage Jesu, die sich im Abendmahlskontext unmittelbar an die Mitglieder des Zwölferkreises richtet, verweist also zurück ihre Aussendung in Lk 9,1-6. Bemerkenswert ist allerdings, dass die drei Stichworte Geldbeutel (ballantion), Vorratstasche (pera) und Sandalen (hypodemata) sich so exakt bereits bei der Aussendung des erweiterten Jüngerkreises der Zweiundsiebzig (Lk 10,1-12) finden (V. 4).8 Das deutet daraufhin, dass der lk Jesus, wie
Im Unterschied dazu wird bei der Aussendung der Zwölf aufgelistet (Y. 3): Wanderstab (rhabdos), Vorratstasche (Pera), Geld (argyrion). Zudem wird hinzugefügt, dass keiner zwei Hemden haben soll.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
schon mehrfach zuvor in seinen Abschiedsreden beobachtet, auch jetzt noch einmal über die Zwölf hinaus die Jüngerschaft in ihrer Gesamtheit anredet. Dies entspricht im Übrigen der Eigenart und der Funktion von Reden Jesu in den Evangelienerzählungen überhaupt. Denn gerade die Redekompositionen unterbrechenden Geschehensablauf auf der Ebene der erzählten Welt, so dass Jesu Worte sich nicht nur und nicht einmal primär an Personen der erzählten Welt richten. Vielmehr überschreiten sie die Grenzen dieser Welt und richten sich unmittelbar an die konkrete nachösterliche Adressatenschaft der Evangelien.
In scharfem Kontrast zu den in V. 35 aufgerufenen Erfahrungen wendet sich der lk Jesus in V. 36 den neuen Erfahrungen zu, die seine Jünger von jetzt an machen müssen: Er aber sagte ihnen: Aber jetzt soll der, der einen Geldbeutel besitzt, ihn mitnehmen, ebenso auch eine VOlTatstasche, und wer es nicht besitzt, soll seinen Mantel verkaufen und sich ein Schwert kaufen.
Von Stund an dürfen sich die Jünger also nicht mehr vertrauensvoll darauf verlassen, bei ihrer Verkündigungstätigkeit freundlich aufgenommen und mit allem Lebensnotwendigen versorgt zu werden. Sie müssen rur sich selbst sorgen und sich wappnen gegen Angriffe. Den Grund für diesen krassen Verhaltenswandel gegenüber seinen Boten legt der lk Jesus in V. 37 mit einem Zitat aus dem vierten Gottesknechtslied (Jes 53,12b) offen: "Er wurde unter die Verbrecher gerechnet." Der Verbrechertod, den Jesus am Kreuz stirbt, ist freilich nur die Außenseite seiner stellvertretenden Lebenshingabe rur die Sünden der Vielen (Jes 53,12c; vgl. Lk 22,20 par. Mk 14,24). Damit erfüllt sich am Gottesknecht Jesus das Wort der Schrift. Dies ist die Glaubensüberzeugung der Jesusboten, die sie weiter tragen wollen. Die Adressaten ihrer Botschaft sahen allerdings oft genug nur die Außenseite des Verbrechertodes Jesu. So distanzierten sie sich von Jesus (vgl. Jes 53,4b) und seinen Boten, wobei diese Distanzierung bisweilen gewiss auch in Aggression umschlagen konnte. Die vorlk Tradition, die diese Erfahrungen der nachösterlichen Verkündiger aufgreift, hat offenbar das Recht auf Selbstverteidigung dem jesuanischen Gebot des Gewaltverzichts (vgl. Lk 6,29) übergeordnet. Lk rezipiert das eine wie das andere in seiner Jesusgeschichte. Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Doch ist es das wirklich? Der lk Jesus selbst verzichtet auf jede Gewaltanwendung. Er lässt sich widerstandslos festnehmen, er weist den Jünger zurecht, der in dieser Situation zum Schwert greift und einen hohenpriesterlichen Knecht verletzt, und er heilt den angerichteten Schaden (Lk 22,50f ~ 3.8.3.). Dies entscheidet der lk Jesus so rur sich im Wissen um die Heilsnotwendigkeit seiner Lebenshingabe. Seine Jünger mag er allerdings für die kommende Zeit nicht auf einen bedingungslosen Gewaltverzicht verpflichten. Denn das jesuanische Gebot, auch die andere Wange hinzuhalten, ist kein Selbstzweck, son-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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dern soll dem Abbau von Aggression dienen. Doch kann sich diese Zielsetzung in ihr Gegenteil verkehren. Gerade die Wehrlosigkeit der Jesusboten kann eine Steigerung der Aggression provozieren. Deshalb rät ihnen der lk Jesus, rur den Fall der Fälle verteidigungsbereit zu sein. So legitimiert Lk gleichsam durch die Einarbeitung der ihm vorgegebenen Sonderguttradition in die Abschiedsreden Jesu das Recht der nachösterlichen Jesusboten auf Selbstverteidigung. Die Einsicht in ihre Notwendigkeit dürfte dabei sehr schmerzlichen Erfahrungen erwachsen sein. Die Berechtigung einer solchen Legitimierung durch Jesus selbst dürfte Lk nicht zuletzt aus der ihm vorgegebenen Passionsüberlieferung gewonnen haben, bezeugt sie doch unmissverständlich, dass Jesu Begleiter bei dessen Verhaftung jedenfalls auch nicht gänzlich unbewaffnet warten. Als unwahrscheinlich muss dabei wohl gelten, dass der Erzählzug vom Versuch eines Jüngers, mit dem Schwert Widerstand gegen Jesu Verhaftung zu leisten (Mk 14,47 parr. Mt 26,51; Lk 22,50; vgl. Joh 18,10), sich nachösterlicher Legendenbildung verdankt. Jesus war als Messiasprätendent und das heißt als politischer Rebell von den Römern hingerichtet worden. Bis in die ältesten Traditionsschichten hinein lässt sich nun verfolgen, dass die Anhänger Jesu angesichts der Erfahrung seiner Auferweckung von Beginn an alles daran setzten, seine Messianität mit Hilfe der Schrift theologisch zu reflektieren und gezielt zu entpolitisieren (---+ 1.1.). In erster Linie dürfte sich dies der Tatsache verdanken, dass es das Trauma der schändlichen Hinrichtung Jesu zu verarbeiten galt. Doch war es auch sachlich gerechtfertigt, da Jesus seine Botschaft von der Gottesherrschaft stets eschatologisch und nicht politisch verstanden hat. Nicht zuletzt aber war es auch für Leib und Leben seiner Anhänger entscheidend, nicht in den Verdacht zu geraten, Sympathisanten eines politischen Aufrührers zu sein. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu kontraproduktiv gewesen, den bewaffneten Widerstandsversuch aus dem Jüngerkreis zu "erfinden". Andererseits aber war das Faktum wohl bekannt und konnte nicht verschwiegen werden. Daher versuchte man es zu entschärfen, indem man Jesus selbstzwar noch nicht bei Mk, wohl aber bei seinen Seitenreferenten und bei Joh - den Angreifer aus den eigenen Reihen energisch zurückweisen ließ (Mt 26,52-54; Lk 22,51 [hier heilt Jesus den Verletzen sogar!]; Joh 18,11).
Die Tatsache, dass die Gruppe um Jesus nicht gänzlich unbewaffnet war, ist im Übrigen nicht erstaunlich. Denn auf der langen Wanderung von Galiläa nach Jerusalem mussten Pilger mit räuberischen Übergriffen rechnen. Dafür Sorge zu tragen, solchen Übergriffen nicht völlig wehrlos ausgeliefert zu sein, war nur zu vernünftig. Entsprechend erzählerisch plausibel ist die Reaktion der lk Jünger in 22,38a auf die Perspektive, die Jesus ihnen unmittelbar zuvor eröffnet hat: Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter.
Die Antwort Jesu "Es ist genug!" (V. 38b) bleibt ein wenig rätselhaft. Gemeint sein kann wohl kaum, dass er diese bei den Schwerter als ausreichend für eine Verteidigung beurteilt. Doch betrachtet er ihren Besitz gewiss als hinreichend, um seine Gegner in ihrer Überzeugung zu bestärken, dass er ein Verbrecher (vgl. V. 37) ist. Auf jeden Fall aber signalisiert diese Antwort
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Jesu den Abbruch des Gesprächs und gibt das Signal zum Aufbruch. Somit beendet sie auch die lk Mahlszene.
3.5.4. Diejohanneische Version Joh 13,1-17,26 Die Szene vom letzten Mahl mit seinem engsten Jüngerkreis nimmt eine Schlüsselfunktion im Aufbau der joh Jesusgeschichte ein. Mit dieser Szene eröffnet ihr Verfasser seine Darstellung der Passion Jesu, die im Vergleich mit den synoptischen Passionserzählungen ein noch größeres Gewicht innerhalb der Evangeliumserzählung als ganzer besitzt. Eben dieses Gewicht aber verdankt sich nicht zuletzt der joh Gestaltung der Eröffnungsszene vom letzten Mahl Jesu. Denn mit seiner Gestaltung setzt der Evangelist im Vergleich zur synoptischen Darstellung nicht nur sehr spezifische Akzente bei der Mahlszene im engeren Sinn (Fußwaschung mit zweifacher Deutung anstelle der eucharistischen Handlungen). Es sind vielmehr die Abschiedsreden des joh Jesus im Anschluss an das Mahl (13,31-17,26), die die joh Mahlszene (wie die joh Passionserzählung insgesamt) dominieren und ihr einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken.
3.5.4.1. Die Mahlszene Joh 13,1-30 Bereits in V. la wird einmal mehr das bevorstehende Passafest erwähnt. Eine solche Erwähnung ist im JohEv stets auf den Tod Jesu bezogen. Dies gilt etwa für 2,13 im Kontext der Tempelaktion Jesu. Es gilt aber ebepso für 6,4 im Kontext des Mahlwunders Jesu und der joh Brotrede. Zum al am Ende der Brotrede wird durch 6,51c-58 die stellvertretende Lebenshingabe Jesu in unverkennbarer Anspielung auf die in der joh Gemeinde praktizierten eucharistischen Handlungen thematisiert. Das nach Auskunft von 13,la jetzt aber nah bevorstehende Passafest ist bereits seit 11,55 - im unmittelbaren Anschluss an den Todesbeschluss der jüdischen Autoritäten! (~ 3.1.4.) - als Todespassa Jesu ausgewiesen. Dass 13, la tatsächlich als Hinweis auf dieses Todespassa verstanden werden will, bestätigt sich sofort anschließend in 13,1 b. Denn hier wird festgestellt, dass die Stunde Jesu gekommen sei. Auf diese Stunde aber hat der Verfasser des JohEv seine Leser und Leserinnen schon seit 2,4 geradezu leitmotivartig immer wieder verwiesen. Dabei hat er sie ihnen erschlossen als Stunde des Todes und zugleich der Verherrlichung Jesu. Das Wissen des joh Jesus um das Gekommensein seiner Stunde und um ihre Bedeutung belegt seine göttliche Souveränität und Allwissenheit. Jesus nimmt nicht nur bewusst sein bevorstehendes Leiden an. Von Gott dazu bevollmächtigt, liegt es sogar in seiner Hand, die Ereignisse zu initiieren (13,3a; ~ 3.1.4.). Damit zieht Joh am Beginn seiner Passionserzählung
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kräftig die Linien eines Jesusbildes aus, die in der Eingangsszene der mt Passionserzählung erst vorsichtig skizziert werden (~ 3.1.2.). Und so geht der joh Jesus seinem Leiden ohne Furcht, ja geradezu emotionslos entgegen, denn er versteht es als Weg zum Vater, von dem er ausgegangen ist und zu dem er zurückkehrt(13,3b). Es ist daher im Übrigen kein Zufall. dass in der joh Passionsdarstellung die Getsemaneszene fehlt. Denn eine Darstellung der Anfechtung Jesu und seines Ringens mit dem Vater um sein Schicksal widerspricht den hoheitsvoll-souveränen Zügen des joh Jesusbildes. Agiert Jesus in der joh Darstellung gleichsam als Regisseur der Passionsereignisse (l0,17f; 13,3a ~ 3.1.4.), kann er hier nicht wie in der synoptischen Darstellung seinen Vater anflehen: "Nimm diesen Kelch von mir!" (Mk 14,36a parr. Mt 26,39b; Lk 22,42a). Und sagt der joh Jesus von sich: "Ich und der Vater, wir sind eins" (10,30), so ist auch sein Wille mit dem des Vaters identisch. Entsprechend ist das Gebet "Nicht wie ich will, sondern wie du willst" (Mk 14,36b parr. Mt 26,39b; Lk 22,42b) im Mund des joh Jesus undenkbar, signalisiert es doch "nur" Gehorsam gegenüber dem von seinem Willen abweichenden göttlichen Willen. Aufgrund des für seine Evangeliumserzählung charakteristischen Jesusbildes kann Joh also die Getsemaneüberlieferung nicht in seine Passionsdarstellung aufnehmen. Dass er sie freilich gekannt hat, schimmert noch in 12,27-33 sowie 18,11 durch. Doch werden die Anklänge an die Getsemanetradition auch hier überlagert vom göttlichen Selbst- und Sendungsbewusstsein des joh Jesus.
V. 2 verankert das nachfolgend erzählte Geschehen in den Rahmen eines Mahles. Dieses Mahl dürften die Adressaten des JohEv aufgrund des in V. I hergestellten Passionsbezuges sogleich als das ihnen aus dem MkEv bekannte letzte Abendmahl identifizieren. In diese mk Überlieferung gehört auch das Motiv der Kennzeichnung des Verräters Jesu (~ 3.5.1.). Im Unterschied zu Mk und seinen Seitenreferenten baut Joh aber dieses Motiv in 13,21-30 allein schon umfangmäßig deutlich aus. Die Erzählung von der Fußwaschung 13,1-20 ist mit dieser unmittelbar nachfolgenden Szene von der Kennzeichnung des Verräters durch mehrere V orverweise eng verzahnt (V. 2.1 Ofin.l1.18f). Die joh Erzählung vom letzten Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern, das ab 13,31 ganz im Zeichen seiner Abschiedsreden steht, beginnt im Unterschied zur Darstellung in den synoptischen Evangelien gerade nicht mit Worten. Sie wird vielmehr eröffnet durch eine außergewöhnliche und - wie die Reaktion des Petrus in den V. 6.8 zeigt - durchaus auch Anstoß erregende Handlung Jesu: Er wäscht seinen Jüngern die staubigen Füße. Damit leistet er ihnen einen Dienst, der ansonsten nur von Sklaven (und zwar ausschließlich von nichtjüdischen Sklaven) ausgefuhrt wurde. Nachdem nun der Evangelist in den V. 3-5 die Vorbereitung und den Beginn der Fußwaschung durch Jesus erzählt hat, fügt er in den V. 6-11 und 12-17 zwei Deutungen dieser Handlung an. Die erste Deutung der Fußwaschung entfaltet der joh Jesus im Dialog mit dem widerstrebenden Petrus. Sie ist soteriologisch orientiert, das heißt: Sie fasst die Heilsbedeutung von Jesu Tun in den Blick. Denn der Sklavendienst der Fußwaschung, den Jesus an seinen Jüngern vollzieht, symbolisiert seinen bevorstehenden Sklaventod am Kreuz. Dieser
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Kreuzestod besitzt aber Heil bringende Wirkung für alle, die an Jesus glauben (3,14; 12,32; vgl. 10,11.15.17). Somit eröffnet der Vollzug der Fußwaschung an den Jüngern ihnen die Anteilhabe an Jesus und seinem Heil wirkenden Tod (13,9). Anders ausgedrückt: Die Fußwaschung, die die liebende Selbsthingabe Jesu symbolisiert, macht rein von Schuldverstrickung und Sünde. Dabei muss der joh Jesus gegen den begriffsstutzigen Petrus festhalten, dass der symbolische Akt der Fußwaschung die Gesamtexistenz der Glaubenden umfasst (V. 10). Genau dies nun - die bleibende Verbundenheit mit Jesus und die Anteilhabe an seinem Sühne wirkenden und Heil bringenden Tod - gewährleistet aber auch das eucharistische Mahl. Es dürfte daher kaum Zufall sein, dass sich im JohEv die Fußwaschung dort findet, wo bei den Synoptikern die Einsetzung der Eucharistie überliefert wird. Schon die Kenntnis des MkEv, die das JohEv durchgehend voraussetzt, rechtfertigt folgende Annahme: Die joh Gemeinde wusste um die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie im Horizont des drohenden Todes Jesu, konkret: im Rahmen eines letzten Mahles mit den Jüngern. Joh 6,51c-58 bestätigt den Vollzug des eucharistischen Mahles in der joh Gemeinde auf der Grundlage dieser Überlieferung. Ebenso bestätigt diese Textpassage das Wissen um die in der Eucharistie konstituierte Verbundenheit zwischen Jesus und den Glaubenden (6,56!). Tritt also im JohEv die Fußwaschung an die prominente Stelle des eucharistischen Einsetzungsberichtes bei den Synoptikern, so soll sie offensichtlich die Tragweite des eucharistischen Geschehens verdeutlichen. Der Grund hierfür könnte durch die zweite Deutung der Fußwaschung in den V. 12-17 ersichtlich werden, die ethisch orientiert ist. Hier nämlich stellt der joh Jesus den Jüngern sein Handeln als Beispiel und verpflichtende~ Maßstab für ihr eigenes Handeln vor Augen. Dies könnte darauf hindeuten, dass es in der joh Gemeinde z. zt. der Abfassung des Evangeliums Defizite im Umgang der Gemeindemitglieder untereinander gibt. Dies vorausgesetzt, hat die Szene der Fußwaschung in Joh 13,1-20 einen primär mahnenden Charakter. Sie zielt darauf ab, die Erfahrung des liebenden Handeins und der liebenden Hingabe Jesu, die durch die Teilhabe am eucharistischen Mahl geschenkt wird, zum Maßstab zu machen für ein liebendes Handeln der Jünger untereinander (V. 16f). Die Deutung von Jesu Lebenshingabe als (Heil bringender) Dienst, der zugleich zur Richtschnur für das Jüngerverhalten erklärt wird, rückt die joh Erzählung von der Fußwaschung in eine unverkennbar sachliche Nähe zur Jüngerunterweisung Mk 10,42--45. Eine vergleichbare Nähe zu dieser mk Jüngerunterweisung ist - wie gesehen - auch in Lk 22,24-27 vor dem Hintergrund der eucharistischen Handlungen und ihrer Deuteworte (20,19f) gegeben (~ 3.5.3.). Damit verdient also als bemerkenswert festgehalten zu werden: Für Joh und Lk stellt sich gleichermaßen das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seinem Leiden und Sterben als die angemes-
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sene Situation dar, um die bei Mk überlieferte Jüngerunterweisung von Jesus selbst veranschaulichen zu lassen, bevor der von ihm den Jüngern vorgelebte Dienst in den nachfolgenden Passionsereignissen seine letzte, blutige Konsequenz fordert.
Die Identifizierung des Verräters (13,21-30) Die Adressaten des JohEv wissen natürlich um die Identität des Verräters. Zudem ist im bisherigen Ablauf der Evangelienerzählung bereits wiederholt Judas Iskariot als Verräter explizit benannt worden (6,71; 12,4). Allerdings geschah diese Enttarnung bisher nur durch einen KOlmnentar des Evangelisten, nicht durch J esus selbst. In Entsprechung zur synoptischen Tradition nimmt auch der joh Jesus die Identifizierung des Judas als Verräter erst im Rahmen des letzten Mahles mit seinen Jüngern vor. Doch erfolgt sie hier nicht offen im Jüngerkreis. Vielmehr antwortet Jesus ausschließlich dem Jünger, der in seiner umnittelbaren Nähe zu Tisch liegt und der die Frage nach der Identität des Verräters gestellt hat (V. 25-26a). Entsprechend missdeuten die übrigen Jünger auch die sich anschließende Aufforderung Jesu an Judas: "Was du tun willst, tue bald!" (V. 27fin; vgl. V. 28t). Den Jünger nun, der sich vetiraulich an Jesus wendet, charakterisiert der Evangelist eigens als den "Jünger, den Jesus liebte". So begegnet in 13,23 erstmals im JohEv die Gestalt des geliebten Jüngers. Bei dieser Gestalt handelt es sich wohl kaum um eine historische Person aus dem Zwölferkreis oder gar speziell um den Zebedäussohn Johannes. Dagegen spricht vor allem die Aussage in 13,lc. Nur kurz vor dem ersten Auftreten des "Jüngers, den Jesus liebte" ist hier die unterschiedslose Liebe Jesu zu all den Seinen in der Welt festgehalten. _Der geliebte Jünger ist daher in der Konzeption der joh Jesusgeschichte wohl keine individuelle, sondern eine prototypische Gestalt, eine Symbolfigur, die auf der Ebene der erzählten Welt im Kreis der beim letzten Mahl um Jesus versammelten Zwölf bereits die nachösterliche Jüngerschaft repräsentiert. Als dieser nachösterliche Repräsentant tritt der geliebte Jünger im JohEv kaum zufällig erstmals auf, als die "Stunde Jesu" gekommen ist und die Vollendung der Liebe Jesu zu den Seinen durch seine Lebenshingabe unmittelbar bevorsteht. Denn aus der durch Kreuz und Auferstehung vollendeten Liebe Jesu, also aus der nachösterlichen Perspektive erwächst die besondere Vertrautheit des geliebten Jüngers, die ihn von den anderen Jüngern im Abendmahlssaal unterscheidet. Dieser Vorsprung an Vertrautheit verdankt sich aber dem Wirken des Geistparakleten, der die Jünger nach Ostern in die volle Wahrheit einführen, ihnen also volle Erkenntnis schenken wird (vgl. 14,25t). Die darin gründende Vertrautheit wird in 13,23 durch die Nähe des geliebten Jüngers zu Jesus ausgedrückt. Er liegt an der Brust Jesu, also ebenda, wo der präexistente Sohn beim Vater ruht Cl,18). Wie dieser Präexistente durch seine Fleischwerdung zum authentischen Exegeten Gottes für die Menschen wird Cl, 18), so wird auch der Jün-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ger par excellence zum authentischen Exegeten und Zeugen Jesu (vgl. 19,35 im Kontext von 19,26). Dies ist von großer ekklesiologischer Bedeutung. Denn fur den Verfasser des JohEv besteht kein Zweifel daran, dass nur die Gemeinschaft der Glaubenden die authentische Kunde von Jesus garantiert. Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, dass im Laufe der Zeiten aus dieser Gemeinschaft auch immer wieder eine Verdichtung des geliebten Jüngers in Gestalt einer historischen Person hervorgehen kann. Beachtung verdient schließlich auch, wie in der joh Jesusgeschichte die Verantwortlichkeit fur den Verrat Jesu bestimmt wird. Durch 13,27b wird jeder Zweifel daran ausgeschlossen, dass es sich bei diesem Verrat um eine Tat des Judas handelt. Möglicherweise schwingt bei dem Futur des Verbs "tun" im Griechischen auch der Aspekt des Wollens mit ("Was du tun willst, das tue bald!"). Dies würde die Verantwortung und Schuld des Judas nur noch unterstreichen. Auf jeden Fall aber deutet die Schlussbemerkung in V. 30 ("Es war aber Nacht.") darauf hin, dass Judas die Konsequenzen seines Handeins zu tragen hat: Mit dem Verlassen Jesu und des Jüngerkreises begibt er sich unwiderruflich in die Sphäre der Finsternis und damit der Gottferne. Andererseits wird aber auch Satan verschiedentlich als Urheber des Verrats genannt. So lässt er nach 13,2 die Idee eines Verrats Jesu in Judas gedeihen. In 13,27a leitet er die Ausfiihrung des Verrats ein, indem er ganz Besitz von Judas ergreift. Doch gemäß der Tradition alttestamentlich-frühjüdischen Denkens hat Satan nur den Handlungsspielraum, den Gott (und Jesus) ihm einräumen. So entspricht der Verrat Jesu durch Judas dem Wort der Schrift, in dem sich Gottes Willen manifestiert (13,18). Diesen Verrat sagt Jesus seinen Jüngern voraus und offenbart sich ihnen in diesem Kontext mit dem absoluten "Ich bin es" noch einmal in seiner göttlichen So~veränität (13,19). Schließlich ist auch an Folgendes zu erinnern: Das Motiv der Stunde Jesu zieht sich wie ein roter Faden durch den ersten Hauptteil des JohEv. Dabei entspricht diese Stunde als die Stunde seines Todes und seiner Verherrlichung dem wechselseitigen, identischen Willen von Vater und Sohn. Daraus folgt: Das von Satan initiierte verräterische Handeln des Judas ist zwar gegen den Sohn Gottes gerichtet. Doch ist es in geheimnisvoller Weise umfangen und getragen vom Heil schaffenden Handeln Gottes, das der von ihm gesandte Sohn mit seinem Leben und Sterben bezeugt.
3.5.4.2. Die johanneischen Abschiedsreden (13,31-17,26) Die Reden Jesu in den Evangelien, die ja keine protokollarische Wiedergabe von Reden des irdischen Jesus darstellen, sondern durchweg von den Evangelisten unter mehr (z.B. Bergpredigt [Mt 5-7] bzw. Feldrede [Lk 6,17-49]) oder weniger (z.B. Brotrede [loh 6,22-59]) intensiver Verwendung von Jesusüberlieferungen komponiert wurden, halten auf der Ebene der erzählten
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Welt den Fortgang des Geschehens an. Sie sprechen stattdessen vor allem und unmittelbarer als die erzählenden Passagen den jeweils intendierten Adressatenkreis an. Diese Besonderheit trifft nun in besonderem Maße auf die joh Abschiedsreden zu. Denn sie richten in der Situation des bevorstehenden Sterbens Jesu ihren Blick bewusst auf die Zeit nach Ostern und damit auf die Zeit der Gemeinden. Thematisch kreisen die Abschiedsreden um das Fortgehen J esu, das als Verherrlichungsgeschehen erschlossen wird, und um sein Wiederkommen. Alle anderen Themen sind diesen Zentralthemen zugeordnet.
Die Bedeutung der Verherrlichung Jesujür seine Jünger (13,31-38) V or dem Hintergrund des gerade Gesagten lässt sich nun die Verschmelzung der Zeitebenen in 13,31 verstehen: Zum einen schaut 13,31 - aus der Perspektive der erzählten Welt - auf den in der Stunde des Abschieds erreichten Abschluss des irdischen Wirkens Jesu. Schon das irdische Wirken Jesu ist joh als wechselseitiges Verherrlichungsgeschehen von Vater und Sohn zu begreifen. Sodann bringt 13,31 die Perspektive der nachösterlichen Gemeinde zum Ausdruck, die bereits auf das Verherrlichungsgeschehen am Kreuz zurückblickt und es im Glauben überhaupt erst als solches erfassen kann. Eben dieses Verherrlichungsgeschehen tritt aber in 13,32-33a auf der Erzählebene als unmittelbar bevorstehend in den Blick. Die Jünger in ihrer vorösterlichen Situation können Jesus auf seinem Weg (ans Kreuz), also auf seinem Weg zum Vater nicht folgen (13,33c.36f). Für dieses Jüngerunvermögen und das daraus resultierende Unverständnis steht exemplarisch Petrus bzw. seine von Jesus vorausgesagte Verleugnung (13,37f). Erst das Verherrlichungsgeschehen am Kreuz, das die nachösterliche Phase einleitet, eröffnet ein wirkliches Verstehen Jesu, das Nachfolge ermöglicht. In diese (nachösterliche) Phase hinein zielt auch das Liebesgebot Jesu (13,34f), das als neues Gebot bezeichnet wird. Dies darf freilich nicht als Abwertung des alttestamentlichen Liebesgebotes missverstanden werden. Als neu gilt dieses Gebot in joh Perspektive vielmehr, weil es in Jesu Lebenshingabe seinen verpflichtenden Maßstab hat. Genau dies sollte ja die kurz zuvor erzählte Szene der Fußwaschung symbolisch erschließen. Bemerkenswert ist, dass das Liebesgebot joh eingeschränkt wird auf den innergemeindlichen Raum. Von einer Nächsten- oder gar Feindesliebe über diesen Raum hinaus ist keine Rede. Gegenüber der Welt, also rür die Menschen jenseits der Gemeindegrenze soll freilich diese an Jesu Verhalten Maß nehmende Liebe der Glaubenden untereinander Zeichen- und Überzeugungs charakter besitzen (13,35). Diese Gedanken werden in 15,1-16,4a noch vertieft. Die Verheißung der Wiederkehr Jesu und der Gegenwart des Geistes (14,1-31) Kapitel 14 bildet innerhalb der Abschiedsreden eine deutlich nach vorn und hinten abgrenzbare Einheit. Nach dem kurzen Dialog mit Petrus (13,36-38)
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wendet sich Jesus in 14,1 mit einem Trostwort wieder an die Gesamtgruppe der Jünger. In 14,31 b fordert Jesus die Jünger dazu auf, den Ort des letzten Mahles zusammen mit ihm zu verlassen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass er sich den Ereignissen der Passion stellen kann. Kapitel 14 weist zwei Gliederungskriterien auf: Im Mittelpunkt der V. 414 steht der Weggang Jesu von den Seinen. Zugleich sind diese Verse geprägt durch das Motiv des Glaubens an Gott und an Jesus in ihrer Verbundenheit und Einheit. Thematisches Zentrum der V. 15-26 ist dagegen das Wiederkommen Jesu zu den Seinen. Korrespondierend wird das Motiv der Liebe zu Jesus und des Geliebtwerdens vom Vater entfaltet. Folge und Ausdruck dieser Liebe ist die Sendung des Geist-Beistandes durch den Vater, der nach dem Fortgang Jesu an dessen Stelle treten und dessen Funktion übernehmen wird (l4,16f.25f). Fortgang und Wiederkommen Jesu sind aber bereits in der Einleitung (V. 1-3) aufeinander bezogen. Kapitel 14 schließt in V. 27-31 mit der Zusage eines Friedens, der alle menschlichen Vorstellungen von Frieden übersteigt. Es ist der göttliche Shalom, der auf das umfassende und letztlich endzeitliche Heil der Menschen zielt. Eben diesen Frieden wird der Auferstandene und Verherrlichte dann am Ostertag seinen verängstigten Jüngern nochmals zusprechen (20,19.21). Er ist die einzig tragfähige Grundlage für Ruhe und Unverzagtheit innerhalb der feindlichen und ungläubigen Welt, mit der nicht nur die Jünger durch die hereinbrechenden Passionsereignisse konfrontiert werden, sondern der sich auch die joh Gemeinde nach Ostern weiterhin ausgesetzt sieht (15,18-16,4a). In 14,2f verarbeitet Joh offensichtlich eine ihm bekannte Tradition. Dafür sprechen zum einen die singuläre Wortwahl bzw. die singulären Metaphern (Haus des Vaters; viele Wohnungen; einen Platz bereiten u.a.). ZU1;ll anderen wird diese Vermutung dadurch gestützt, dass joh sonst nicht die Vorstellung von der endzeitlichen Wiederkunft Christi vom Himmel her (vgl. etwa 1Thess 4,16f; Mk 13,26fparr.) bemüht wird. Allerdings kennt der Verfasser des JohEv durchaus eine futurische Eschatologie im Sinne eines künftigen Gerichts (3,18; 5,24.26-29 [hier: durch den Menschensohn]). Daher wirkt die Aufnahme der Tradition nicht wie ein Fremdkörper. In 14,23 wird allerdings geradezu seitenverkehrt - das Motiv der himmlischen Wohnungen aus 14,2f wieder aufgegriffen. Während nämlich nach 14,2f Jesus die Seinen zu sich in den himmlischen Bereich holt, nachdem er dort für sie Wohnungen vorbereitet hat, kommen nach 14,23 Vater und Sohn vom himmlischen Bereich hinab, um bei den Glaubenden Wohnung zu nehmen. Die Metapher in 14,23 gründet in der alttestamentlichen Vorstellung des Wohnens Gottes bei seinem Volk, die in Ex 25,8 kultisch verstanden ist: "Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen" (vgl. 29,45; Lev 26,11). In prophetischer Tradition wird diese Vorstellung dann auf die Endzeit bezogen: "Ich schließe mit ihnen einen Friedensbund; es soll ein ewiger Bund sein. Ich werde sie zahlreich machen. Ich werde mitten unter ihnen fur immer
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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mein Heiligtum errichten, und bei ihnen wird meine Wohnung sein. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein" (Ez 37 ,26f; vgl. Sach 2,14; Offb 21,3.22f [das himmlische Jerusalem, das auf die Erde herabkommt, als Wohnstatt Gottes!]). Angesichts dieses traditionsgeschichtlichen Hintergrundes und angesichts des Rückbezuges auf 14,3 dürfte auch 14,23 auf die noch ausstehende endzeitliehe Vollendung zielen. Von der endzeitlichen Wiederkunft des Verherrlichten zu unterscheiden ist das Kommen des Geistes der Wahrheit (14,17) bzw. des Heiligen Geistes (14,26). In 14,16.26 wird er jeweils in seiner Funktion als Beistand (Paraklet) bezeichnet. Das griechische Wort Paraklet (parakletos) bedeutet wörtlich übersetzt der Herbeigerufene. Verwendet wird es im profanen Bereich vor allem im juristischen Kontext. Hier bezeichnet es den Anwalt, der vom Angeklagten als Rechtsbeistand zur Verteidigung herbeigemfen wird (vgl. im Lateinischen: advocatus). Doch kann es auch außerhalb rechtlicher Zusammenhänge im weiteren Sinn verwendet werden für jemanden, der für jemand Anderen Fürsprache einlegt bzw. sich helfend an die Seite eines Schutzbedürftigen stellt. Im Frühjudentum erfolgt eine Übernahme des Begriffs Paraklet als LehnwOli ins Hebräische bzw. Aramäische, wo er vor allem im religiösen Kontext begegnet. Näherhin bezeichnet er hier personale (etwa Propheten, Gerechte oder Engel) wie auch nichtpersonale (etwa gute Werke oder Buße) Fürsprecher vor Gort. Erst sekundär erfolgte dann die Erweitemng um die aktivischen Bedeutungsnuancen des Tröstens, Ermutigens oder Mahnens.
Dieser Geistparaklet soll nun Joh 14,16b zufolge bis in die Ewigkeit mit (V. 16) bzw. bei und in (V. 17) den Gläubigen sein. Er ist für sie also gleichermaßen schützender und stärkender Beistand sowie ihnen innewohnender und vertrauter Wegbegleiter. Beachtung verdient, dass in 14,16 ausdrücklich von einem anderen Beistand die Rede ist, um den Jesus den Vater bitten will. Das heißt also: Dieser andere Beistand soll die Funktion des von Gott gesandten Sohnes in der Zeit zwischen der Verherrlichung J esu am Kreuz und seiner Wiederkunft erfüllen. Daher erfolgt also im JohEv sofort am Ostertag die von Jesus in den Abschiedsreden zugesagte Geistsendung (20,22), und mit dieser Geistsendung beginnt eine Zeitphase, die auf die noch ausstehende Parusie ausgerichtet ist (vgl. auch 14,3.23). Auf die Geistsendung durch den Auferstandenen, die in 20,19-23 auf der Ebene der erzählten Welt szenisch ausgestaltet wird, dürfte auch die Aussage von 14,18-20 zielen, die unmittelbar an den 1. Parakletspruch anschließt: Vor dem Waisenstatus in der Zeit zwischen seiner Auferstehung und Wiederkunft bewahrt Jesus selbst seine Jünger, indem er ihnen den anderen Beistand zueignet, der an seine Stelle tritt. Denn die Begegnung mit dem Auferstandenen am Ostertag begründet gerade noch kein dauerhaftes Zusammensein mit ihm. Dieses wird in 14,3.23 erst für die Zeit der endzeitlichen Vollendung in Aussicht stellen. Andererseits bricht mit Jesu Auferstehung bereits die Endzeit anfanghaft in diese Welt ein, so dass 14,20 durchaus zutreffend auf den Ostertag mit der endzeitlich gefärbten Formulierung "an jenem Tag" vorausblickt.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
14,26 konkretisieli nun noch die Funktion des Geistparakleten, der die Glaubenden in der Zeit bis zur Wiederkunft Jesu Christi an seiner Statt begleiten soll: Es ist ein Lehren und Erinnern an alles, was Jesus gesagt hat. Gemeint ist damit keineswegs die Gewährleistung eines bloß rückblickenden, konservierenden Wissens um das Wirken Jesu. Vielmehr geht es um eine vertiefende und zugleich aktualisierende Erschließung seiner Person und Botschaft, die die Glaubenden zu neuen, vom Geist gewirkten Erkenntnissen fuhren soll. Mit der Aufforderung zum Aufbruch ("Steht auf, wir wollen weggehen von hier!") in 14,31b scheinen die joh Abschiedsreden an ihr Ende gekommen zu sein. Entsprechend unvermittelt und hart wirkt der unmittelbare Anschluss der Bildreden vom Weinstock und den Reben, die mit 15,1 einsetzen. Dies zusammen mit der Beobachtung, dass 18,1 nahtlos an 14,31b anschließt, ließ die joh Abschiedsreden zu einer beliebten literarkritischen Spielwiese werden. Die einflussreichsten Erklärungsmodelle seien kurz genannt und bewertet: 1. Die uns überlieferte Gestalt der joh Abschiedsreden ist nicht ursprünglich, sondern Ergebnis späterer Textumstellung (etwa R. Bultmann). Jeder Rekonstruktionsversuch der "ursprünglichen" Textfolge muss Joh 14,1-31 an das Ende der joh Abschiedsreden stellen. Dies nötigt aber dazu, das Gebet Jesu in Joh 17 als den klar erkennbaren Höhepunkt der Komposition der Abschiedsreden von seiner exponierten Stellung zu verdrängen. Zudem ist zu fragen, warum man überhaupt eine Umstellung vorgenommen haben sollte, mit der man sich die Schwierigkeit der Trennung von 14,31b und 18,1 durch einen größeren Redenkomplex einhandelte. 2. Joh 15-17 sind Nachtrag einer späteren Redaktion, die bewusst Korrekturen an der Vorlage vornehmen wollte (etwa R. Schnackenburg, J. Becker). Dieses Erklärungsmodell muss freilich dem Redaktor ein höchst ungeschicktes Vorgehen unterstellen. Warum sollte er es versäumt haben, 14,31 b einfach zu streichen oder alternativ unmittelbar vor 18,1 zu platzieren? Zudem ist es schwierig, den redaktionellen Charakter der Kapitel 15-17 auch inhaltlich überzeugend nachzuweisen. 3. Der jetzige Text Joh 13,31-17,26 ist Ergebnis eines Relecture-Prozesses (etwa 1. Zumstein; U. Wilckens). Dies bedeutet, dass ein Grundtext durch Ergänzungen weiter geschrieben wurde, die bedingt waren durch eine veränderte Situation oder durch eine vertiefte theologische Reflexion. Im Unterschied zu These 2 betrachtet das Relecturemodell Joh 15-17 also nicht als bewusste Korrektur von Joh 13,31-14,31. Zudem wird die Fortschreibung auch eher einer Gruppe (joh Schule) als einer Einzelperson zugewiesen. Grundsätzlich gelten aber auch hier die gleichen kritischen Einwände wie gegen These 2. Eine plausible und auch am Textbefund verifizierbare Erklärung des Problems bietet sich dagegen an, wenn - wie in der neueren Johannesforschung immer öfter vertreten - eine Kenntnis der MkEv bei Verfasser und Adressaten des JohEv vorausgesetzt werden darf. Zunächst einmal entnahm Joh dem MkEv, dass Jesus auf dem Weg zum Ölberg mit den Jüngern ein Gespräch über ihr bevorstehendes Versagen und ihre nachösterlichen Perspektiven geführt hatte (Mk 14,26-31 ~ 3.6.1.). Insbesondere die nachösterlichen Perspektiven bilden aber einen Themenschwerpunkt der joh Abschiedsreden. Hinzu kommt, dass die von Joh nicht rezipierte Getsemaneszene in Mk 14,42 mit den Worten schließt: Steht auf, lasst uns gehen! (vgl. Joh 14,31b) Siehe, der mich verrät, ist nahe (vgl. Joh 14,30b)." Die unmittelbar anschließende Szene der Gefangennahme wird aber bei Mk eingeleitet mit den Worten "Und alsbald, während er noch redete ... " (Mk 14,43). Dem Markustext konnte der Verfasser des JohEv also entnelunen, dass Jesus in der Phase zwischen dem Ende des eigentlichen Mahles und der Begegnung mit dem Verhaftungstrupp mit seinen Jüngern wiederholt gesprochen hatte. Die Getsemaneszene konnte und wollte er aufgnmd seines sem' spezifischen Jesusbildes nicht übernehmen (~ 3.5.4.1.). Den Aufbruchsbefehl Mk 14,42, der damit neben 12,27 und 18,11 als weiteres Indiz für die joh Kenntnis der mk Getsemaneszene gewertet werden darf, aber be-
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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trachtete Joh offensichtlich angesichts der Fortfiiluung in Mk: 14,43 als geeigneten Anknüpfungspunkt, um noch weitere Abschiedsworte hinzuzufiigen. Im Unterschied zu Mk: verlagert er diese Abschiedsworte allerdings in den Abendmahlssaal hinein. Erzählerisch geschickter wäre es zweifellos gewesen, wenn er sie als Unterweisung auf dem Weg zum Verhaftungsort gestaltet hätte.
Das Bleiben in der Liebe Jesu (15,1-17) Der Abschnitt 15,1-17 ist zweigeteilt: 15,1-8 entwickeln aus dem Offenbarungswort Jesu "Ich bin der Weinstock" (V. la) eine Bildrede, die das Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern thematisiert. Im Unterschied zum vorausgehenden Teil der Abschiedsreden (13,31-14,31) und im Unterschied zu 16,4b-17,26 steht jetzt bis 16,4a nicht die vorösterliche Perspektive des Abschieds und der Verheißung im Zentrum. Vielmehr liegt der Akzent nun auf der nachösterlichen Perspektive der bleibenden Verbundenheit und (ab 15,18) auf der Schicksalsgemeinschaft zwischen Christus und den Seinen. Die Bildrede in 15,1-8 steht motivgeschichtlich ganz in alttestamentlich-frühjüdischer Tradition, in der Israel als der von Gott gepflanzte Weinberg gilt, den dieser hegt und pflegt, ohne dass der Weinberg jedoch immer die erwarteten Früchte bringt (vgl. Jes 5,1-7; 27,2-6; Jer 2,21; 5,10; 6,9; Ez 15,1-8 u.ö.). Dominiert wird diese Bildrede durch die Begriffe "bleiben" (V. 4 [3x], V. 5.6.7 [2x]) und "Frucht bringen" (V. 2 [3x] 4.5.8): Im verherrlichten Christus zu bleiben, ist die Voraussetzung fruchtbarer und damit wahrer Jüngerschaft. 15,9-17 führt die Thematik des Fruchtbringens vertiefend fort, verzichtet aber auf die zuvor bemühte Metaphorik. Nun wird deutlich, dass die Liebe der Jünger untereinander die entscheidende Frucht ist, die aus der Verbundenheit mit dem verherrlichten Christus erwächst. Sie konkretisiert sich im Gehorsam gegenüber Jesu Auftrag (V. 14). Ihren verpflichtenden Maßstab hat sie in der hingebenden Liebe Jesu für die Seinen (V. 12f), die schon in der Fußwaschung symbolisch vorweggenommen wurde. Der Hass der Welt in der Verfolgung der Jünger (15,18-16, 4a) 15,18-16,4a sind antithetisch auf 15,1-8 bezogen: Der Erfahrung, die aus der innigen Glaubens- und Lebensgemeinschaft zwischen Christus und der Jüngerschaft erwächst, tritt nun die Erfahrung des Widerstandes und des Hasses der (ungläubigen) Welt gegenüber. Hier dürfte sich sehr konkret die aktuelle Gemeindesituation als eine Situation der Bedrängnis und auch der Ausgrenzung aus Sicherheit gewährenden religiösen und sozialen Bindungen (Synagogenausschluss 16,2!) widerspiegeln. Dem widerspricht nicht die Beobachtung, dass sich der Verfasser des JohEv in 15,18-16,4a der bereits ausgebildeten und in den synoptischen Evangelien breit bezeugten Topik von Verfolgungsaussagen bedient (vgl. etwa 15,18fmit Mk 13,13 paff; Mt 10,22; 15,20 mit Mt 10,24f; Lk 6,40; 15,21 mit Lk 21,12, ähnlich: Mk 13,9; Mt 10,18; 15,26f mit Mk 13,11; Mt 10,19f; Lk 12,11f). Sowenig zu bezweifeln
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
ist, dass hinter dieser Verfolgungstopik reale Erfahrungen stehen, die ihre Ausbildung veranlasst haben, sowenig dürfte der Verfasser des JohEv sie ohne reale Erfahrungen rezipiert haben. Vielmehr betrachtet er sie als angemessene Ausdrucksform, die Situation seiner Gemeinde zu benennen. Diese seine Gemeinde versteht er als Schicksalsgemeinschaft mit Christus, die aus der zuvor dargelegten Verbundenheit mit ihm erwächst. Zugleich aber ist es diese liebende Verbundenheit mit Christus und untereinander, die den Hass der Welt ertragen lässt. Der Beistand des Geistes als Ankläger der Welt und die Rückkehr Jesu (16,4b-33) In 16,4b-33 dominiert wieder die Abschiedssituation, die in Kapitel 15 etwas in den Hintergrund gerückt war. Zentrales Thema ist wie schon in 13,3114,31 der Fortgang Jesu, und zwar im Blick auf die daraus für die Jünger erwachsenden Konsequenzen. 16,4b-15 wird der Fortgang Jesu als Voraussetzung für die Sendung des Geistparakleten herausgestellt. Der Geistparaklet erfüllt eine zweifache Funktion: Die Welt gilt es zu überführen und zu richten (V. 8-11); den Jüngern gilt es, Wegführer in der umfassenden Wahrheit zu sein. Dieser Vorgang zielt auf eine Änderung der subjektiven Aufnahmefähigkeit der Jünger, nicht auf eine objektive Vervollständigung der Wahrheit, er bewirkt keinen Offenbarungszuwachs, sondern einen Erkenntniszuwachs. Die Passage 16,16-28 knüpft deutlich an 14,18-20 an. Sie blickt voraus auf die durch das Osterereignis veränderte Situation der Jünger. Allerdings wird zwischen den - auf der Ebene der erzählten Welt unmittelbar bevorstehenden - Passionsereignissen und der österlichen Erfahrung des Auferstandenen eine (kurze) Phase der Trauer liegen (V. 16-24). V. 25-28 fassen die ~ituation der dank des Geistparakleten veränderten Erkenntnisfähigkeit der Jünger nach Ostern ins Auge. Sie präzisieren die V. 16-24, und zwar insofern, als die veränderte Situation durch die veränderte Erkenntnisfähigkeit erklärt wird. Ein beredtes Zeugnis für diese veränderte Erkenntnisfähigkeit ist das JohEv selbst. "An jenem Tag" (V. 26) zielt somit auf den Beginn einer Zeitphase, die mit dem Ostertag beginnt und sich bis zur Wiederkunft erstreckt. Es ist die Phase, in der die joh Gemeinde (und alle Glaubenden bis heute) leben. 16,29-33 beenden den direkt an die Jünger gerichteten Teil der Abschiedsreden. Die Verse lassen noch einmal sehr prägnant das Verwobensein von nachösterlicher Perspektive und der erzählten Situation aufscheinen, das die joh Abschiedsreden insgesamt kennzeichnet. Das Votum der Jünger ist aus nachösterlicher Perspektive gesprochen Die Antwort Jesu (V. 31-33) führt zurück in die konkrete Situation der bevorstehenden Passion. Diese Situation wird gerade nicht durch das Verständnis der Jünger, sondern durch ihre Flucht und Zerstreuung (V. 32; vgl. Mk 14,27 par. Mt 26,31) gekennzeichnet sein.
3.5. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
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Jesu Fürbittefür die Seinen (17,1-26) Kapitel 17 markiert den Höhepunkt der Abschiedsreden, indem Jesus sich nun direkt im Gebet an seinen Vater wendet. Die V. 1-8 bieten eine rückblickende Zusammenfassung des Wirkens Jesu im Gehorsam gegenüber Gottes Willen und können sachgerecht als eine Art "Rechenschaftsbericht" bezeichnet werden. Die V. 9-19 umfassen eine Bitte Jesu für die Jünger, die ihn - auf der Ebene der erzählten Welt - als engste Gefährten begleitet haben. Diese Bitte zielt auf Beistand und Schutz angesichts ihres Gegenübers zur (ungläubigen) Welt. Die V. 20-23 schließen eine Bitte an für die, die durch das Zeugnis der Jünger künftig an Jesus glauben werden. Damit zielt diese Bitte Jesu direkt in die Gegenwart der joh Gemeinde und kann als "Herzstück" des Gebetes Jesu an den Vater bezeichnet werden. Im Zentrum dieser Bitte steht der Gedanke der Einheit. Diese Einheit dürfte in der joh Gemeinde durch innergemeindliche Kontroversen (Eucharistieverständnis, vgl. 6,51-60!) und durch die Abwanderungsbewegung hin zum sich formierenden Mehrheitsjudentum (vgl. 6,66-69) aktuell gefährdet sein. Die V. 2023 haben vor diesem Hintergrund auch eine sehr emotionsgeladene Pragmatik: Der Gemeinde soll bewusst werden, dass diese Kontroversen gegen das Vermächtnis Jesu im Angesicht seines Todes verstoßen. Dass diese Pragmatik von bleibender Relevanz ist, braucht angesichts der Kirchenspaltungen im Laufe der Geschichte wohl nicht eigens betont zu werden. Die V. 24-26 markieren den Abschluss der Fürbitte Jesu für die Seinen. V. 24 blickt voraus auf die endzeitliche Vollendung und greift damit der Sache nach 14,3.23 auf. V. 25 untermauert noch einmal den Gegensatz zwischen Jesus und seinen Jüngern einerseits sowie dem Kosmos andererseits. Dieser Gegensatz entzündet sich an der Erkenntnisfähigkeit bzw. -bereitschaft, was Gott und sein Handeln in Jesus von Nazaret betrifft. Die Jünger bilden mit Jesus gleichsam eine Erkenntnisgemeinschaft, die in V. 26 in Verbindung gestellt wird zu der Liebesgemeinschaft der Jünger, die sie mit der Liebe zwischen Vater und Sohn und untereinander zusammenschließt (15,9-17! vgl. 13,34f; 14,21). Das Motiv der Liebe setzt also den entscheidenden Schlusspunkt hinter das Gebet Jesu zum Vater und hinter die Abschiedsreden insgesamt, damit aber auch hinter das gesamte Wirken des joh Jesus, das im letzten Mahl mit den Seinen noch einmal wie in einem Brennglas gebündelt wird.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
3.6. Der Gang zum Ölberg und die Ansage der Verleugnung Jesu durch Petrus 3.6.1. Die markinische Darstellung: Mk 14,26-31
Im Anschluss an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern erfolgt ein Ortswechsel der Mahlteilnehmer zum Ölberg. In der mk Passionserzählung steht dieser Ortswechsel ganz im Zeichen eines Weggesprächs zwischen Jesus und seinen Jüngern, bei welchem sich freilich Petrus in den Vordergrund drängt. V. 26 weist Mk eine Brückenfunktion zu. Einerseits blickt dieser Vers auf den Abschluss des Mahles zurück. Denn er erwähnt, dass die Mahlteilnehmer vor ihrem Aufbruch Lobgesänge angestimmt haben, die bereits im 1. Jh. n.ehr. - wie Philo bezeugt (Specleg 2,148) - zusammen mit Gebeten zu den traditionellen Gepflogenheiten der Passamahlfeier gehörten. Andererseits blickt V. 26 mit der Erwähnung des Ölbergs voraus auf das Ziel des Weges, den Jesus und seine Jünger nun antreten. Das Weggespräch selbst wird dann in V. 27a von Jesus eröffnet, der seine Jünger zunächst mit zwei Voraussagen konfrontiert. Die erste Voraussage betrifft das Jüngerversagen beim unmittelbar bevorstehenden Passionsgeschehen (V. 27b). Wie die Jünger im gesamten Verlauf der mk Jesusgeschichte unverständig geblieben sind gegenüber dem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Leiden und der Hoheit Jesu genauso wie zwischen dem Leiden Jesu und ihrer Leidensnachfolge (~ 3.1.1.), so wird eben dieses jetzt beginnende Leiden Jesu für sie zum anstößigen Ärgernis werden. Nicht nur, dass es gewiss so kommen wird, sondern auch, wie sich das Anstoßnehmen der Jünger konkret zeigt, leitet der mk Jesus in V. 27c aus der Schrift ab. Genauer beruft e.r sich auf Sach 13,7, und zwar in einer auch in Qumran belegten Textversion der Septuaginta: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen.
Mit diesem Prophetenwort wird also das bevorstehende Jüngerversagen
3.6. Der Gang zum Ölberg und die Ansage der Verleugnung Jesu
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gung "des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes" (1,1) ihren Ausgang in Galiläa, wo auch Jesus selbst seine Botschaft von der mit seiner Person und seinem Wirken hereinbrechenden Gottesherrschaft auszurichten begann (1,14f). Auf der Ebene der erzählten Welt der mk Jesusgeschichte wird die Zusage Jesu, die er seinen Jüngern auf dem Weg zum Ölberg gegeben hat, in 16,7 noch einmal wiederholt. Wenngleich die mk Jesusgeschichte nicht mehr eigens eine Begegnung des Auferweckten mit seinen Jüngern erzählt und im gewissen Sinn offen endet (16,8!), lässt die eingetroffene Ansage der Auferweckung (V. 28a; 16,6) doch keinen Zweifel, dass sich auch die Ansage von der nachösterlichen Neukonstituierung des Jüngerkreises in der Nachfolge Jesu (V. 28b; 16,7) erfüllen wird. Dieser Erfüllung verdankt die mk Gemeinde ihre Existenz und verbürgt sie damit zugleich. Doch auf dem Weg zum Ölberg blendet Petrus die zweite, unter österlichem Vorzeichen stehende Voraussage Jesu völlig aus und legt gegen die erste Voraussage des unmittelbar bevorstehenden Jüngerversagens energischen Protest ein (V. 29). Wie schon nach der dritten Leidensankündigung die Zebedäussöhne eine Sonderrolle im Jüngerkreis für sich anstrebten (10,35-37), so versucht nun auch Petrus, sich von den anderen Jüngern abzusetzen und sich auf ihre Kosten zu profilieren: Wenn auch alle Anstoß nehmen werden, so doch ich nicht!
Nichts ahnend liefert er mit seiner Reaktion nach den Zebedäussöhnen und nach Judas (14,1 Of; vgl. 14,18-21) nur einen weiteren Beweis, dass der Prozess der von Jesus vorausgesagten Auflösung des engsten Jüngerkreises bereits eingesetzt hat. Entsprechend erteilt Jesus einmal mehr kraft seines wunderbaren Vorherwissens, das schon bald durch den Fortgang der Ereignisse bestätigt wird (14,66-72 ~ 3.9.1.), Petrus eine ernüchternde Antwort (V. 30): Amen, ich sage dir, du wirst mich heute in dieser Nacht, bevor der Hahn zweimal kräht, dreimal verleugnen.
Gerade Petrus also, der soeben in ungetrübtem Selbstbewusstsein versucht hat, sich positiv auf Kosten seiner Mitjünger in Szene zu setzen, wird schonungslos mit der Aussicht konfrontiert, dass er sich schon bald (dreimalige Zeitangabe!) nachdrücklich (dreimal!) von Jesus lossagen wird. In allen vier kanonischen Evangelien findet sich innerhalb der Passionserzählung die jesuanische Ankündigung von der Verleugnung des Petrus. In der szenischen Platzierung dieser Ankündigung wie in ihrer erzählerischen Gestaltung schließt sich einmal mehr Mt eng seiner mk Vorlage an (~ 3.6.2.). Lk (22,31-34 ~ 3.5.3.) und Joh (13,36-38 ~ 3.5.4.) integrieren dagegen die Verleugnungsansage in die jeweiligen Abschiedsreden nach dem Mahl, gestalten die Szene im Einzelnen allerdings sehr individuell. Umso bemerkenswerter ist daher, dass alle vier Evangelien zwei enge sprachliche Übereinstimmungen in dem an Petrus gerichteten Wort Jesu aufweisen: das Krähen des Hahnes sowie die Ankündigung der dreimaligen Verleugnung (Mk
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu
14,30 par. Mt 26,34; vgl. Lk 22,34; Joh 13,38). Dies deutet auf eine feste Verankerung der Petrusverleugnung in der Tradition hin (~ 1.1.), die hier vielleicht sogar bis in die Fonnulierung hinein eine historische Erinnerung bewahrt haben könnte.
Doch Petrus bleibt von der Ankündigung Jesu unbeeindruckt (V. 31a). Im Gegenteil: Überschwänglich (ekperissös) beteuert er: Wenn ich mit dir sterben müsste, würde ich dich gewiss nicht (ou nung]) verleugnen.
me [verstärkte Vernei-
Subjektiv ist er in diesem Moment also überzeugt, dass er die Kraft besitzt, Leidensnachfolge tatsächlich zu praktizieren und zusammen mit Jesus in den Tod zu gehen. Die übrigen Jünger wollen dahinter nicht zurückstehen und beteuern ohne Ausnahme ebenso wie Petrus ihre Bereitschaft zur Lebenshingabe mit Jesus (V. 31 b). Doch das gerade von Mk so betonte, sich vorösterlich durchhaltende Jüngerunverständnis angesichts der Perspektive des schmachvollen Leidens und der dienenden Selbsthingabe des Menschensohnes J esus (~ 3.1.1. und 3.5.1.) lässt keinen Zweifel zu: Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Jünger wird sich die jesuanische Vorhersage ihres Vers agens angesichts der Realisierung der Leidensankündigungen erfüllen. Erst jenseits der Erfahrung von Kreuzestod und Auferweckung Jesu werden die Jünger gemäß seiner Zusage (V. 28) vom Auferweckten selbst von neuem auf den Weg seiner Nachfolge gestellt werden. Erst im Licht der Auferweckung werden sie den heilsbedeutsamen Zusammenhang von Leiden und Hoheit des Menschensohnes erkennen und auf diese Weise zur wirklichen Kreuzesnachfolge befähigt werden.
3.6.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,30-35 Bei der Erzählszene des Gesprächs Jesu mit den Jüngern auf dem Weg zum Ölberg schließt sich Mt einmal mehr eng an seine Markusvorlage an. Die verschiedenen kleineren sprachlich-stilistischen Verbesserungen, die er vornimmt, bedürfen keiner eigenen Würdigung. Interessant sind die drei Einfügungen, die er in V. 31a gegen Mk 14,27a vornimmt: ,Jhr (hymeis) alle werdet Anstoß nehmen an mir (en emoi) in dieser Nacht (en te nykti taute)." Im Unterschied zu Mk, bei dem der Anstoß auf die Passionsereignisse (Misshandlung/Tötung Jesu, vgl. V. 27b) bezogen sein dürfte, personalisiert Mt: "an mir Anstoß nehmen". Konsequent ergänzt Mt auch die Reaktion des Petrus in V. 33 gegen Mk 14,29: "Wenn alle an dir Anstoß nehmen, ... ". Diese Tendenz zur Personalisierung bestätigt auch das hinzugefügte, betonte Personalpronomen "ihr": Die mt Jünger nehmen also nicht so sehr Anstoß am Passionsgeschehen als vielmehr an Jesus, der dieses Passionsgeschehen widerstandslos hinnimmt (vgl. 26,52-54 [~ 3.8.2.]: von Mt in die mk Verhaftungsszene eingefügt!). Ebenfalls rugt Mt in V. 31 a gegen die mk Vorlage
3.7. Jesus im Garten Getsemane
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"in dieser Nacht" ein. Diese Zeitangabe findet sich so auch in V. 34 par. Mk 14,30. Über die identische Zeitangabe schafft Mt also eine Brücke zwischen V. 31 und V. 34. Somit unterstreicht er nur, dass er die Verleugnung Jesu durch Petrus als Ausdruck des Anstoßes wertet, den auch dieser Jünger an Jesus nimmt. In V. 33 fügt Mt darüber hinaus gegen Mk 14,29 mit "niemals" (oudepote) noch eine weitere Zeitangabe ein, während er aus Mk 14,30 das betonte Personalpronomen "du" (sy) streicht (V. 34). Damit verschiebt er den Akzent der Antithese zwischen den beiden Versen. Lautet die Antithese bei Mk "ich nicht" (14,29) vs "gerade du" (14,30), so verlagert Mt sie zu "niemals" (26,33) vs "in dieser Nacht" (26,4). Die Situation des Anstoßnehmens an Jesus steht allen Jüngern unmittelbar bevor. Davon ist auch Petrus nicht ausgenommen, der sich dies nicht einmal in fernster Zukunft vorstellen kann.
3.7. Jesus im Garten Getsemane 3.7.1. Die markinische Darstellung Mk 14,32-42 Die mk Passionserzählung schließt an das Gespräch Jesu mit seinen Jüngern auf dem Weg zum Ölberg die Szene des Ringens Jesu mit Gott um sein drohendes Geschick im Gebet an. Ort dieses Geschehens ist nach Auskunft von 14,32a ein Grundstück mit Namen Getsemane ("Ölkelter"). Dieses Grundstück markiert zugleich das Ziel des in 14,26 begonnenen Weges zum ÖIberg. Die mk Getsemaneerzählung zeigt Jesus ganz von seiner menschlichen Seite. Sein drohendes Leiden und Sterben unmittelbar vor Augen wird er bewegt von Emotionen wie Angst und Traurigkeit (V. 33f). Einerseits ist er erfüllt vom Wunsch nach menschlicher Nähe und Wachsamkeit seiner engsten Gefährten (V. 34b.37f.41). Andererseits sucht er durch das Gebet Beistand und Hilfe von seinem göttlichen Vater (V. 35f.39). All dies erzählt Mk in großer Eindringlichkeit durch einen mehrfachen Wechsel zwischen einem Rückzug Jesu zum Gebet und dem Aufsuchen seiner Jünger. Nachdem also Jesus und seine Jünger das Ziel des Weges erreicht haben, zu dem sie vom Ort des letzten Mahles aufgebrochen waren (14,26), teilt er den Kreis der Jünger, die an diesem Mahl teilgenommen haben, auf. Die größere Gruppe fordert er auf, sich hinzusetzen, während er sich zum Gebet zurückziehen will (V. 32b). Petrus, Jakobus und Johannes nimmt er dagegen mit sich (V. 33a). Erneut holt er also diese Drei - wie schon bei der Verklärungsszene (9,2-10) - in eine besondere Nähe zu sich. Jetzt, in der Situation umnittelbar vor Beginn seines Leidens, gewährt er ihnen Einsicht in seine aufgewühlte und angsterfüllte Stimmung. Das Entsetzen und die angsterfüllte Unruhe, die ihn ergreifen (V. 33b), äußert Jesus nämlich in mk Darstellung ausdrücklich seinen drei vertrautesten Jüngern gegenüber (V. 34a):
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Und er sagt zu ihnen: Tiefbetrübt ist meine Seele bis zum Tod.
Dabei lehnt der mk Jesus sich unverkennbar an die Gebetssprache der Psalmenan: Meine Seele, warum bist du so betrübt und bist so unruhig in mir? (Ps 42,6a.12a; 43,5a).
Mit dieser Anspielung dürfte Mk aber die Leser und Leserinnen seiner Jesusgeschichte zugleich ermuntern wollen, die Fortsetzung dieser beiden Psalmverse mit zu hören: Harre auf Gott, dellli ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue (Ps 42,6b.12a; 43,5b).
Eingebettet in diesen Kontext zeigt sich nämlich: Trotz oder gerade wegen seines Entsetzens und seiner angsterfüllten Unruhe angesichts des ihm drohenden Geschicks setzt Jesus sein ungebrochenes Vertrauen auf Gott. Nach der an Petrus, Jakobus und Johannes gerichteten Aufforderung zu bleiben und zu wachen (V. 34b) zieht Jesus sich dann auch von diesen drei Jüngern noch einmal ein kleines Stück zurück (V. 35a). Einen solchen Rückzug von seinen Jüngern zum ungestörten Gebet hatte Jesus nach mk Darstellung auch während seines öffentlichen Wirkens immer wieder einmal praktiziert (vg1.1,35; 6,46). Beschränkte sich Mk aber bisher darauf, nur das Faktum des einsamen Gebets Jesu zu erwähnen, so gewälui er jetzt im Garten Getsemane den Adressaten seines Evangeliums Einblick in die Gebetssituation selbst. Diese wird dadurch eröffnet, dass sich Jesus auf die Erde niederwirft (V. 35a). In diesem Gestus des Niederwerfens dokumentieli sich zum einen seine Demut und Ergebenheit Gott gegenüber, zum anderen zeigt sich darin aber auch seine emotionale Aufgewühltheit. Dem Niederwerfungsgestus korrespondiert die Eindringlichkeit des Gebetes selbst. Diese Eindringlichkeit arbeitet Mk dadurch heraus, dass er Jesu Gebet gleich zwei Mal präsentiert, und zwar zunächst in indirekter Rede (V. 35b) und sofort anschließend mit unverkennbar steigernder Wirkung noch einmal in direkter Rede (V. 36). Im Zentrum dieses Gebetes steht die Bitte Jesu, er möge vor dem ihm drohenden Leiden verschont werden. Dabei umschreibt Mk das bevorstehende Passionsgeschehen zum einen in fast johanneisch anmutender Diktion als "Stunde" (~ 3.1.4.) (V. 35b), zum anderen aber als "Kelch" (V. 36). Doch lässt der mk Jesus ungeachtet dieser Bitte keinen Zweifel daran, dass er seinen eigenen Willen dem Willen seines göttlichen Vaters unterordnet ("nicht wie ich will, sondern wie du"), dem er bedingungslos vertraut ("Abba, Vater, alles ist dir möglich") (V. 36). Nach diesem Gebet kehrt Jesus zur Dreiergruppe seiner Jünger zurück und findet sie - entgegen seiner ausdrücklichen Aufforderung zu wachen (V. 34b) - schlafend vor (V. 37a). Damit geben sie zu erkennen, dass sie kein Gespür für Jesu Gemütsverfassung besitzen und dass sie zudem die Bedroh-
3.7. Jesus im Garten Getsemane
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lichkeit der Situation verkennen. So beginnt sich schon hier Jesu Voraussage des Jüngerversagens bei seiner Passion (14,27) zu erfüllen. Kaum zufällig spricht der mk Jesus nun ausdrücklich Petrus auf sein unangemessenes Verhalten an. Denn gerade er war es ja, der kurz zuvor als erster vollmundig seine unverbrüchliche Treue zu Jesus und seine Bereitschaft, mit ihm zu sterben, beteuert hatte (14,29.31). Diese Beteuerung aber steht in denkbar krassem Gegensatz zu seinem Verhalten im Garten Getsemane. Kaum zufällig spricht der mk J esus daher Petrus hier auch nachdrücklich mit seinem eigentlichen Namen Simon an. Denn mit seiner bedenkenlosen Hingabe an den Schlaf erweist sich Simon in dieser Situation weder für Jesus noch für die anderen Jünger als Fels (griechisch: petros). Entsprechend erfolgt anschließend die erneute und in ihrer Dringlichkeit gesteigerte Aufforderung des mk Jesus an die Dreiergruppe der Jünger insgesamt (V. 38): Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach.
Über die konkrete Situation in Getsemane hinaus sollen sich auch die Leser und Leserinnen der mk J esusgeschichte als Mitglieder der nachösterlichen Jüngerschar diese Mahnung zu Herzen nehmen. Die Versuchung, die es im wachen Gebet abzuwenden gilt, besteht vor allem darin, in existentiell schwierigen Lebenssituation das Vertrauen auf Gott zu verlieren. Mag dazu die Jünger die natürliche menschliche Verfassung (das "schwache Fleisch") drängen, so steht dieser Neigung der "willige Geist" entgegen, der nach Ps 51,14 Gabe Gottes ist. Das Gebet, der Versuchung nicht zu erliegen, impliziert damit zugleich auch die Bitte um Stärkung dieser Gabe des willigen Geistes. Denn nur so kann den Wirkungen des "schwachen Fleisches" Einhalt geboten werden. In V. 39-40 wiederholt sich die Abfolge von Jesu Gebet und dem Versagen der Jünger. Das Gebet Jesu wird unter Rückverweis auf den ersten Gebetsgang (V. 35f) nur kurz zusammengefasst mit "wobei er dasselbe Wort/Gebet sprach" (V. 39). Die Aufmerksamkeit wird dagegen auf das Versagen der Jünger gelenkt: Erneut findet Jesus sie schlafend vor, ihre Augen sind schwer vor Müdigkeit, und sie können J esus gegenüber nichts zu ihrer Entschuldigung vorbringen (V. 40). Verkürzend setzt schließlich V. 41 voraus, dass sich Jesus noch einmal zum Gebet zurückgezogen hat. Ausdrücklich erwähnt Mk freilich nur, dass er sich zum dritten Mal der Jüngergruppe zuwendet, die weiterhin dem Schlaf frönt. Das Jüngerversagen ist offenkundig. Dagegen hat Jesus am Ende der mk Getsemaneerzählung im Gebet seine Verzweiflung überwunden und stellt sich nun aktiv den kommenden Ereignissen. Die Stunde, um deren Vorübergehen er noch kurz zuvor den Vater gebeten hat (V. 35b), ist jetzt gekommen. Es ist die Stunde, in der sich die Leidensansagen (8,31; 9,31; 10,33) erfüllen, die Stunde, in welcher der Menschensohn ausgeliefert wird, und zwar in die Hände der Sünder,
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wie es Mk jetzt in Steigerung zu 9,31 (Menschen) und 10,33 (Hohepriester und Schriftgelehrte) formuliert. Angesichts des Gekommenseins dieser Stunde fordert Jesus zwei Mal ausdrücklich die Aufmerksamkeit seiner schläfrigen Jünger (V. 41b.42b: siehe) ein: Es soll ihnen bewusst werden, dass der Menschensohn in dieser Stunde ausgeliefert wird (V. 41 b) und dass der, der ihn ausliefert, bereits auf dem Weg ist (V. 42b). Jetzt gilt es nicht, untätig sitzen zu bleiben. Entsprechend fordert Jesus von seinen Jüngern aufzustehen und mit ihm dem Verräter entgegen zu gehen (V. 42).
3.7.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,36-46
Die Übernahme der mk Getsemaneszene durch Mt zeichnet sich erneut aus durch eine enge Anlehnung an die Vorlage einerseits sowie durch die Tilgung erzählerischer Ungeschicklichkeiten und einige wenige eigene Akzentsetzungen andererseits. Die markantesten Eingriffe in den Markustext seien kurz skizziert. So beschreibt Mt 26,33 wie Mk 14,33 die starken Emotionen Jesu mit einer Kombination von zwei Verben, betont dabei aber im Unterschied zu Mk stärker den Aspekt der Trauer statt der Angst. Denn er übernimmt zwar aus der Mk-Vorlage das Verb ademonein, das ein Bedeutungsspektrum von "betrübt/traurig sein" bis "beunruhigt/ängstlich sein" umfasst. Doch ersetzt er das mk ekthambeisthai (in große Erregung geraten, sich entsetzen) durch lypeisthai (betrübt/traurig sein). So schafft er eine engere Verbindung zwischen der Beschreibung der Emotionen Jesu (V. 37b) und dem Wort Jesu (V. 38a). Beim ersten Gebetsgang 26,39 par Mk 14,35fverzichtet Mt darauf, das Gebet Jesu in indirekter Rede (Mk 14,35) zu übernehmen. Die mt Version des Gebets Jesu in V. 39b lehnt sich zwar teilweise in Formulierung (wenn es möglich ist) und Wortwahl (vorübergehen) an Mk 14,35 an. Doch ermöglicht die Straffung es Mt vor allem, den etwas ungeschickten mk Metaphernwechsel zwischen "Stunde" (14,35) und "Kelch" (14,36) zu vermeiden. Beim zweiten Gebetsgang fugt Mt in V. 42b gegen Mk eine Wiedergabe des Gebets Jesu in direkter Rede ein. Erstes und zweites Gebet ergänzen sich dabei antithetisch: "wenn es möglich ist ... " (V. 39b) - " ... wenn es nicht möglich ist ... " (V. 42b). Jeweils wird dabei Jesu Bitte dem Willen Gottes unterstellt. Dabei greift Mt am Ende von V. 42 wortgenau die dritte Vaterunser-Bitte (vgl. 6,10b) auf: "es geschehe dein Wille". Zusammen mit der Beobachtung, dass Mt in 26,39 die Einleitung des ersten Gebets Jesu von "Abba, Vater" (M 14,36a) zu "mein Vater" verändert und mit dieser Anrede auch das zweite Gebet Jesu in 26,42a eröffnet, lässt berechtigterweise darauf schließen: Mt stellt eine bewusste Beziehung her zwischen dem Gebet Jesu in Getsemane und dem Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat (6,9-13). Ein Impuls dazu könnte nicht zuletzt auch von der Mahnung Jesu an die schläfrigen Jünger in der mk Getsemaneszene ausgegangen sein:
3.7. Jesus im Garten Getsemane
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"Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet" (Mk 14,38a). Denn diese Mahnung, die sich sachlich eng mit der sechsten VaterunserBitte (Mt 6,13a) berührt, übernimmt Mt von seiner Vorlage. So lehrt also der mt Jesus nicht nur seine Jünger, wie sie sich auf richtige Weise im Gebet an Gott als ihren Vater wenden sollen (vgl. 6,9a). Vielmehr schöpft er selbst Kraft aus dieser Art des Gebets in seiner existentiellen Bedrängnis unmittelbar vor Beginn seiner Passion. So wird er auch durch das Gebet vor der Versuchung bewahrt, sich dem Willen des Vaters zu entziehen. Seine schläfrigen Jünger dagegen, die seine Mahnung nicht beherzigen, bleiben von der Versuchung bedroht, der sie schließlich durch Flucht (26,56b) und Verleugnung (26,69-75) erliegen. Schließlich beseitigt Mt in 26,44-45a noch eine weitere mk Ungeschicklichkeit im erzählerischen Aufbau der Getsemaneszene. Gegen Mk (14,41), der verkürzend gleich von der dritten Rückkehr Jesu zu den drei schlafenden Jüngern erzählt, erwähnt Mt ausdrücklich einen dritten Gebetsgang, zu dem sich Jesus noch einmal von den Jüngern zurückzieht. Nachdem Mt gegen Mk auch das zweite Gebet Jesu in direkter Rede gestaltet hat, kann er nun in 26,44 beim dritten Gebet auf die zusammenfassende Formulierung aus dem zweiten mk Gebetsgang zurückgreifen: Und er ging wieder weg und betete zum dritten Mal, wobei er dasselbe Wort/Gebet sprach (Mk 14,39b).
Erst danach lässt Mt Jesus zum dritten und letzten Mal zu seinen Jüngern zurückkehren (26,45a). 3.7.3. Die lukanische Bearbeitung: Lk 22,39.40-46 Im Unterschied zu Mt strafft Lk die mk Vorlage der Getsemaneerzählung sehr stark. Hauptmotiv für diese Straffung ist dabei offenkundig sein Bemühen, Jesu Emotionen im Angesicht seines bevorstehenden Leidens und Sterbens in den Hintergrund treten zu lassen. Zudem gestaltet er seine Getsemaneerzählung auch sprachlich-stilistisch sehr eigenständig im Vergleich zum Mk-Text. Der Einleitungsvers 22,39 hält den Ortswechsel vom Abendmahlssaal zum Ölberg fest und entspricht damit Mk 14,26. Lk vermerkt dabei gegen Mk jedoch eigens, dass der Rückzug aus der Stadt Jerusalem zum Ölberg einer Gewohnheit J esu entspricht. Vielleicht will er damit eine Erklärung anbieten, wiesO" die Aktion des Judas erfolgreich verlaufen konnte: Judas wusste, wohin sich Jesus mit seinen Jüngern nach dem Mahl zurückziehen würde, und Jesus hielt an dieser Gewohnheit fest, ungeachtet seines Wissens um das ihm drohende Geschick. Ebenfalls im Unterschied zu mk Vorlage, die einfach vom Gang der gesamten Gruppe (sie = Jesus und seine Jünger) zum Ölberg
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
spricht, betont Lk, dass Jesus zum Ölberg geht, dass seine Jünger ihm aber folgten. Damit signalisiert er zum einen, dass Jesus bis zu seiner Gefangennahme seine Führungsrolle wahrnimmt, und zum anderen, dass auch die Jünger in seiner Nachfolge verharren. Kaum zufällig verzichtet Lk dann auch gegen Mk 14,50 auf die Notiz der allgemeinen Jüngerflucht bei Jesu Verhaftung. Und ebenso wenig zufällig dürfte er am Ende der Kreuzigungsszene im Anschluss an Mk 15,40 nicht nur die Frauen als Zeuginnen des Geschehens nennen. Vielmehr leitet er in 23,49 die Notiz der Augenzeugenschaft so ein: Es standen aber alle seine Bekannten von feme ...
Zwar spricht Lk hier nicht von den Jüngern. Doch dürfte der Begriff "Bekannte" (gnostoi) nach lk Aussageabsicht sachlich an die Stelle des Begriffs "Jünger" treten und damit auch den Zwölferkreis (lk identisch mit den Aposteln ---) 3.5.3.) einschließen. Denn zumindest das Kriterium für die Nachwahl des Matthias in das um Judas reduzierte Zwölfergremium (Apg 1,21 f) setzt voraus, dass die Jünger Jesu einschließlich der Mitglieder des Zwölferkreises seine Kreuzigung bezeugen können. Im Unterschied zu mk und auch mt Darstellung ist also bei Lk das Jüngerversagen deutlich abgemildert. Es sind nun vor allem zwei Eingriffe in die Mk-Vorlage, die die lk Gestaltung der Getsemaneerzählung in besonderer Weise prägen. Zunächst einmal differenziert Lk hier - anders als in seiner Bearbeitung der Verklärungsszene (vgl. 9,28 parr. Mk 9,2; Mt 17,1) - nicht zwischen dem Zwölferkreis und einer "Kerngruppe" von Jüngern, die Jesus am Ölberg noch einmal in eine besondere Nähe zu sich holt. Vielmehr ergeht an alle anwesenden Jünger gleichermaßen eine Aufforderung zum Gebet, um nicht in Versuchung zu fallen. Diese Aufforderung ergeht zwei Mal (22,40b.46b) und rahmt das Gebet Jesu. Dieses Gebet fasst Lk - und dies ist der zweite prägende Eingriff in die mk Getsemaneszene - zu einem einzigen Gebetsgang zusammen. Der lk Jesus "pendelt" also nicht hin und her zwischen der Suche nach menschlicher Nähe und Beistand durch seine engsten Gefährten und der Suche nach Einsamkeit, um im Gebet mit Gott um sein Geschick zu ringen. Eine im Vergleich zur mk Darstellung auffallende Emotionslosigkeit kennzeichnet den lk Jesus in seiner "Ölbergstunde". Weder gewährt er seinen Jüngern einen Einblick in seine seelische Verfassung noch fordert er sie eigens auf zu wachen. Die entsprechenden Verse (Mk 14,33f) übernimmt Lk nicht. Die innere Ruhe und Abgeklärtheit des lk Jesus dokumentiert sich nicht zuletzt auch darin, dass er sich zum Gebet gerade nicht auf die Erde wirft. Vielmehr kniet er nieder. Beide - der Gestus des Niederwerfens wie der Gestus des Niederkniens - bringen die demutsvolle Haltung des Betenden zum Ausdruck. Doch im Unterschied zum emotionsgeladenen Gestus des Niederwerfens ist mit dem Gestus des Niederkniens das Moment innerer Sammlung und Andacht verbunden.
3.7. J esus im Garten Getsemane
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Der unverkennbaren Tendenz der lk Getsemaneerzählung, die bei Mk und ihm folgend Mt deutlich herausgestellten situations bedingten Emotionen Jesu zurückzudrängen, stehen die V. 43f scheinbar entgegen: (43) Es erschie~ ihm aber ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte. (44) Und in Angst geraten betete er noch angespannter. Und sein Schweiß wurde wie Tropfen von Blut, die auf die Erde fielen.
In die von Lk insgesamt völlig undramatisch geschildelie Ölbergszene (V. 39-42.45f) tritt unvermittelt ein himmlischer Bote, der Jesus stärkt (V. 43). Einen Anhaltspunkt, dass Jesus dieser Stärkung bedurfte, bietet der vorausgehende Text allerdings keineswegs. Erstaunlicher ist aber noch, dass diese himmlische Stärkung nach V. 44 ihre Wirkung zu verfehlen scheint. Denn erst jetzt zeigt Jesus Emotionen (Angst, Anspannung), die sich sogar körperlich in der Reaktion starken Schwitzens auswirken. Allerdings darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass die V. 43f zum ursprünglichen Bestand der lk Ölbergszene gehören. Denn nicht nur unter inhaltlichem Gesichtspunkt wirken sie im Kontext von 22,39-46 wie ein Fremdkörper. Darüber hinaus fehlen die beiden Verse gerade auch in den wichtigsten und ältesten Zeugen der handschriftlichen Überlieferung (so etwa in ~75, ~ [1. Korr.], A oder B). Damit sind V. 43f offenbar erst nachträglich in den Lk-Text eingefügt worden. Ein Grund für diesen späteren Nachschub könnte in der Lehre der so genannten Doketisten liegen. Denn gemäß dieser Lehre hat Jesus nur einen Scheinleib besessen. Entsprechend könne er also auch nur scheinbar gelitten haben. Sein göttlicher Personenkern jedenfalls sei vom Leiden unberührt geblieben. Gerade die lk Gestaltung der Ölbergszene mit ihrer im Unterschied zur mk und mt Version betont emotionslosen Jesusdarstellung kam aber der doketistischen Auffassung sehr entgegen. Entsprechend sollte wohl die lk Ölbergszene durch die Einfügung der V. 43fvor einem doketistischen Missverständnis bzw. vor einer doketistischen Fehlinterpretation geschützt werden. Im Dienst dieses Ziels werden daher mit dem Texteinschub Jesu Angst und körperliche Angstreaktion in den Blickpunkt gerückt. In der ursprünglich lk Fassung der Ölbergerzählung zeigen dagegen nur die Jünger Gefühle. Denn ihr Schlaf wird in V. 45 geradezu entschuldigend mit ihrer durch Traurigkeit bedingten Erschöpfung erklärt. Gerade im Blick auf die Jünger stellt aber Lk auch deutlicher als Mk und Mt die Gefahr der Versuchung bzw. Anfechtung (peirasmos) heraus. Denn die zweifache Aufforderung Jesu an die Jünger zum Gebet ist jeweils mit der Zweckangabe versehen "damit ihr nicht in Versuchung geratet" (V. 40b.46b). Diese Betonung der Versuchungsgefahr für die Jünger dürfte sich vor dem Hintergrund der lk Abschiedsreden erklären. In 22,31f nämlich spielt der lk Jesus auf seine Auseinandersetzung mit Satan um die Erlaubnis zu einem versucherischen Angriff auf die Jünger an, die vor einer himmlischen Instanz ausgetragen wird (~ 3.5.3.). Dem Gebet Jesu, durch das er das Schlimmste von sei-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
nen Jüngern abwenden konnte (V. 32b), muss jetzt in der Ölbergstunde das Gebet seiner Jünger entsprechen.
3.8. Die Verhaftung Jesu 3.8.1. Die markinische Darstellung Mk 14,43-52 In zeitlich denkbar engstem Bezug ("Und sofort während er noch redete ... ")
schließt Mk in 14,43 an die Getsemaneerzählung seine Darstellung der Verhaftung Jesu an. Die Szene wird eröffnet durch das Auftreten des Judas. Dieser war zuletzt in 14,1 Of als Handlungsträger namentlich erwähnt worden, wenngleich seine Anwesenheit beim letzten Mahl Jesu unausgesprochen vorausgesetzt ist (14,18-21). In 14,43 wird er nun letztmalig als "einer von den Zwölf' und damit als Mitglied des engsten Jüngerkreises Jesu bezeichnet. Umso krasser wirkt der Kontrast, der durch die Schilderung seiner Begleitung erzielt wird. Denn mit Judas kommt eine Schar, die mit Schwertern und Holzknüppeln bewaffnet ist. Als Auftraggeber dieser Schar wird ausdrücklich die Dreiergruppe der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten genannt, obwohl Judas nach 14,1 Of nur mit den Hohenpriestern verhandelt hatte. Damit stehen nach mk Darstellung ausnahmslos alle Gruppen der Jerusalemer Autoritäten als Drahtzieher hinter der Aktion der Verhaftung Jesu. In dieser "Gesamtkonstellation" waren sie bereits einmal Jesus im Tempel entgegengetreten und hatten ihn nach seiner Vollmacht gefragt (11,27). Am Ende des sich daraus entwickelnden Disputs hatten sie ihren Verhaftungswunsch aus Angst vor der Volksmenge nicht verwirklichen können (12,12). Jetzt aber stehen sie dank der Mithilfe des Judas kurz vor dem Erreichen ihres Ziels. Auf Judas wird in den V. 44f die Aufmerksamkeit gelenkt. Jetzt allerdings wird er nicht mehr bei seinem Namen genannt, sondern wird nur noch gleichsam durch seine Tat definiert: "der ihn verriet': (V. 44). Ließ sich bisher in mk Darstellung das rür das Tun des Judas verwendete Verb paradidomi im juristischen Verständnis mit "ausliefern" wiedergeben, so erhält es spätestens in der Verhaftungs szene die ethisch negative Färbung "verraten". Denn Judas nennt seinen Begleitern als Erkennungsmerkmal rür den ihnen offenbar persönlich unbekannten Jesus einen Kuss. Mit einer Geste also, die ein vertrautes Zeichen von Freundschaft und menschlicher Nähe ist, gibt Judas Jesus seinen Häschern preis. Doch damit nicht genug: Zudem gibt er der bewaffneten Schar auch noch die Anweisung: " ... ergreift ihn und ftiIni ihn sicher ab"(V. 44b). So beschwöti er das Bild eines Schwerverbrechers herauf, mit dessen heftigem Widerstand zu rechnen ist. Blendete Mk mit V. 44 zurück in Situation der Verhaftungsvorbereitung, so kehrt er mit V. 45 in die Gegenwart der Verhaftungs szene selbst zurück. Nun erzählt er, wie Judas
3.8. Die Verhaftung Jesu
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ohne Zaudern ("und er kam, und sofort trat er zu ihm heran ... ") seinen Part zur Verhaftung Jesu beiträgt. In nur als heuchlerisch zu verstehender Weise redet er Jesus als Rabbi an und küsst ihn dann, wie vereinbart. Nur aus dem griechischen Text ist ersichtlich, dass Mk in V. 45 für die Handlung des Küssens nicht mehr wie in V. 44 die einfache Verbform (phi/ein), sondern die Intensivform (kataphi/ein) wählt. Mk will damit wohl andeuten, dass Judas im konkreten Akt seines Verrats Jesus in besonders inniger Weise begrüßt und so die mit dem Begrüßungskuss verbundene Heuchelei noch steigert. Damit malt Mk - weoogleich subtil - in der Verhaftungs szene im Vergleich zu allen vorausgehenden Szenen seiner Passionserzählung die Person des Judas in den dunkelsten Farben. V. 46 tritt ergänzend zu V. 45: Nachdem Judas seinen Beitrag zur Verhaftung Jesu geleistet hat, erfüllt nun auch die bewaffnete Schar ihren Part im Verhaftungsplan und bemächtigt sich Jesu: Mit V. 47 beginnt der zweite Teil der mk Verhaftungs szene. Konzentrierte sich der erste Teil ganz auf die Aktionen der Gegner Jesu, so treten nun auch die Reaktionen Jesu (V. 48f) und seiner Jünger (V. 47.50.51f) in den Blick. Dabei fällt allerdings auf, dass Mk die Jünger jetzt - in der Situation ihres Versagens - nicht mehr als solche bezeichnet. In V. 47 spricht er von "denen, die dabeistanden". In V. 50 hält er nur knapp fest, dass alle ihn verließen und flohen. Aus der Gruppe der Dabeistehenden zückt nun einer sein Schwert und schlägt dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr ab (V. 47). Bei dem Verstümmelten handelt es sich wahrscheinlich um den Anführer des Trupps, der das Vertrauen des Hohenpriesters genoss. Denn die Bezeichnung "Knecht" kann im alttestamentlich geprägten Sprachgebrauch als Ehrentitel verwendet werden (vgl. etwa 1Sam 29,3; 2Kön 5,6). Dass ihm ein Ohr abgehauen wird, aber bedeutet für ihn eine Schändung, ist doch das Abtrennen eines Ohres in der Antike als entehrende Strafe bekannt. Jedenfalls steht dieser Versuch eines gewaltsamen Widerstandes im Gegensatz zum Verhalten Jesu, der um das ihm drohende Leiden und Sterben weiß und sich gerade zuvor im Getsemanegebet noch einmal bewusst dem Willen des göttlichen Vaters unterstellt hat. Angesichts dessen wirkt der aussichtslose Widerstandsversuch wie eine letzte, hilflose Manifestation des Jüngerunverständnisses, insofern sich darin noch einmal dokumentiert: Die Jünger sind weder bereit noch willens, das Leiden Jesu gerade in seiner Hoheit als Menschensohn als notwendig zu akzeptieren (~3.1.1.). In der mk Verhaftungs szene kommentiert Jesus diesen letzten Beleg des Jüngerunverständnisses nicht mehr. Seit Cäsarea Philippi (8,27.31) bis in die letzten Stunden ihres Zusammenseins hinein (14,18-21.22-25) hat er seine begriffsstutzigen Jünger auf sein bevorstehendes Leiden und Sterben vorzubereiten versucht. Ihre Äußerungen auf dem Weg zum Ölberg (14,29.31), ihr Verhalten in Getsemane (14,37.40.41) und nun die sinnlose Attacke auf den Anführer des Verhaftungstrupps (14,47) offenbaren jedoch, dass sie immer
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
noch nicht verstanden haben. So muss also die mit der Verhaftung beginnende Passion Jesu für die Jünger zu dem anstößigen Ärgernis werden, das zu ihrer Abkehr von Jesus und zu ihrer Zerstreuung führt (14,27). Erst jenseits von Golgota wird Jesus als Auferweckter sich ihrer wieder annehmen und sie hinter sich in seine Nachfolge versammeln (14,28), eine Nachfolge freilich, die unwiderruflich vom Kreuz geprägt bleibt. Statt also die Schwertaktion gegen den Knecht des Hohenpriesters zu kommentieren, wendet sich Jesus in V. 48b-49a direkt an den Verhaftungstrupp, den er auf die Unangemessenheit der Vorgehensweise gegen ihn anspricht: (48a) Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Holzknüppel ausgegangen, um mich zu ergreifen. (49a) Täglich war ich bei euch im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht festgenommen.
V. 49a blickt dabei zurück auf die Passage 11,15-12,44, die von wiederholten Aufenthalten Jesu im Jerusalemer Tempel erzählt, von seiner lehrenden Tätigkeit dort (11,17; 12,35.38), von seinen Streitgesprächen mit Vertretern der führenden religiösen Gruppen (11,13-17.18-27.28-34) und nicht zuletzt von seiner Konfrontation mit den Jerusalemer Autoritäten (11,27-12,12). Sie hatten bei dieser Gelegenheit Jesus aus Furcht vor der Volksmenge nicht verhaften lassen (12,12a). Stattdessen haben sie jetzt im Schutz der Nacht ihre Helfershelfer schwer bewaffnet ausgeschickt, um den Mann, den sie nur als theologischen Lehrer kennen gelernt haben, wie einen Schwerverbrecher festnehmen zu lassen. Mit den Worten, die Jesus umnittelbar an den Verhaftungstrupp richtet (V. 48b-49a), zielt er also mittelbar auch auf die Jerusalemer Autoritäten. Sie nämlich sind die eigentlichen Drahtzieher der nächtlichen Aktion und dokumentieren ihre Feigheit einmal mehr darin, dass sie selbst nicht anwesend sind. Für Jesus steht freilich fest, dass nicht ihre Verschlagenheit und List (vgl. 14,1!) sie zu ihrem Ziel führt. Vielmehr ist es der von den Schriften bezeugte Wille Gottes, der die Passionsereignisse jetzt ins Rollen bringt (V. 49b). Diesem Willen Gottes aber hatte sich Jesus in Getsemane noch einmal ausdrücklich unterstellt (14,36b). Wenngleich der Verweis auf die Schrifterfüllung in V. 49b keine besondere Schriftstelle ins Auge fasst, liegt von der mk Erzählkonzeption her wohl ein Bezug zum Sacharjazitat in 14,27 vor: Erfüllt sich die Voraussage vom Geschlagenwerden des Hirten in der Verhaftung Jesu, so die Zerstreuung der Schafe in der allgemeinen Jüngerflucht, die Mk in V. 50 unmittelbar an den Hinweis Jesu auf die Schrifterfüllung notiert. In den V. 51f schließt Mk noch die Schilderung einer Episode am Rande der Verhaftungsaktion an, die zu viel Rätselraten Anlass gegeben hat: Ein nicht näher identifizierter junger Mann, der nur ein Leinengewand auf dem bloßen Leib trägt, folgt Jesus zunächst noch. Als aber die Häscher ihn zu fassen bekommen, lässt er das Gewand in ihren Händen zurück und entflieht nackt. Verbirgt sich hinter dieser kleinen Episode eine historische, vielleicht
3.8. Die Verhaftung' J esu
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sogar autobiographische Erinnerung des Markusevangelisten? Oder wird hier eine versteckte Anspielung auf die Schrift (Am 2,16: "Selbst der Tapferste unter den Kämpfern, nackt muss er fliehen an jenem Tag - Spruch des Herrn. ") erzählerisch umgesetzt? Oder sollen die beiden Abschlussverse der mk Verhaftungsszene nur den Tumult und die Panik der allgemeinen Jüngerflucht schlaglichtartig illustrieren? Eine verlässliche Antwort auf diese Fragen wird kaum mehr möglich sein.
3.8.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 26,47-56 Bei der Übernahme der mk Verhaftungs szene beschränkt sich Mt nicht allein auf verschiedene sprachlich-stilistische Eingriffe, sondern setzt auch einige bemerkenswerte inhaltliche Akzente. Letzteren soll die Aufmerksamkeit gelten. Als Drahtzieher der nächtlichen Verhaftungs aktion nennt Mt in 26,47 die Hohenpriester und Ältesten des Volkes. Gegen Mk 14,43 streicht er also die Gruppe der Schriftgelehrten und konzentriert sich ganz auf die beiden konstitutiven Gruppen des Hohen Rates (~ 3.1.1.). Außerdem betont er durch den Zusatz "des Volkes" einmal mehr (~ 3.1.2.) die Repräsentanzfunktion, die den Mitgliedern dieses obersten Selbstverwaltungsgremiums der Juden gegenüber der römischen Oberherrschaft zukommt. Es sind eben diese Jerusalemer Offiziellen, die den mt Jesus im Tempelbereich wegen seines dortigen Wirkens zur Rede stellen (21,23). Sie sind es auch, die in 26,3-5 einen formellen Todesbeschluss gegen Jesus fassen (~ 3.2.1.) und die nun mit seiner Verhaftung, die sie veranlassen, den ersten Schritt zur Umsetzung dieses Beschlusses tun. Die "verräterische" Begegnung zwischen Judas und Jesus (26,49f) erhält gegenüber der mk Vorlage in der mt Verhaftungsszene eine ganz eigene Note. Mk 14,45 übernimmt Mt zwar in 26,49 weitgehend unverändert, sieht man einmal ab von ein paar sachlich unerheblichen Formulierungsvarianten in der ersten Vershälfte und der Einfügung von "sei gegrüßt" (chaire) in der zweiten Vershälfte. Doch besitzt die Anrede Jesu als Rabbi durch Judas in der Jesusgeschichte des Mt einen ganz anderen Klang als in der des Mk. Denn bei Mt besitzt die Bezeichnung Rabbi eine negative Färbung und ist daher gerade keine jüngertypische Anrede Jesu (~ 3.5.2.). Indem also der mt Judas Jesus als Rabbi begrüßt, zeigt er damit - wie schon bei der Auslieferungsansage während des letzten Mahles (26,25) - unmissverständlich an: Er hat die Seiten gewechselt. Er hat sich aus der Gruppe der Jünger verabschiedet und sich der Gruppe der Gegner Jesu angeschlossen. Im Unterschied zu Mk 14,45 besitzt damit die Rabbianrede Jesu durch Judas in Mt 26,49 keine heuchlerische Note (~ 3.8.1.). Das Schweigen Jesu angesichts des Verratsaktes des Judas in der mk Ver-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
haftungsszene empfand Mt offenbar als unbefriedigend. Und so fügt er in 26,50a über seine Mk-Vorlage hinaus eine Reaktion Jesu an, die aufgrund ihrer sprachlichen Kürze in ihrer Interpretation umstritten ist. Am ehesten wird man sie wohl als Feststellung zu verstehen haben, mit welcher Jesus in seinem souverän-hoheitlichen Wissen Judas entlarvt, noch bevor die Häscher sich blicken lassen: Mein lieber Freund, dazu [d.h. um mich zu verraten] bist du [also] gekommen!
Dafür spricht nicht zuletzt, dass Mt in 26,50b gegen Mk 14,46 im Blick auf die Mitglieder des Verhaftungstrupps eigens hinzufügt "da traten sie herbei ... ". Mit der Anrede "mein lieber Freund" (hetaire), die hier keineswegs vertraute Herzlichkeit signalisiert (vgl. auch 20,13; 22,12), distanziert sich der mt Jesus ebenso von Judas, wie Judas seinerseits von Jesus durch die Anrede "Rabbi" (vgl. 26,25 ~ 3.5.2.). Auch die fehlende Reaktion des mk Jesus auf den Versuch eines gewaltsamen Widerstandsversuches aus dem Jüngerkreis empfand Mt wohl als Mangel. Entsprechend fügt er im Anschluss an 26,51 par Mk 14,47 eine Zurückweisung dieser Aktion (26,52a) und eine ausführliche, dreifache Begründung (26,52b.53.54) ein: (52a) Stecke dein Schwert an seinen Ort. (52b) Alle nämlich, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. (53) Oder meinst du, dass ich meinen Vater nicht bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als 12 Legionen Engel zur Verfügung stellen? (54) Wie aber würden dann die Schriften erfüllt werden, nach denen es so geschehen muss?
Das erste Argument gegen den Waffengebrauch (V. 52b) lehnt sich deutlich an Mahnungen der mt Bergpredigt an. Der Aspekt, dass Gewalt Gegengewalt hervorruft, erinnert einerseits an das Gebot des Gewaltverzichts (5,38f). Andererseits ruft er den Gedanken wach an den Taliogrundsatz in 7,2 (" ... und mit dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden."). Das zweite Argument (V. 53) arbeitet mit der Wirkung des vertrauensvollen Gebets und spielt auf das Motiv des bergeversetzenden Glaubens an (17,20; 21,21 f). Gleichzeitig aber weist es auch unverkennbare Bezüge zur mt Versuchungserzählung auf, lautet doch die zweite Versuchung, mit welcher der Teufel Jesus konfrontiert (4,6): Wenn du Gottes Sohn bist, stürz dich hinab [von der Zinne des Tempels: V. 5], denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.
Hier wie dort geht es also um eine von Gott bereitzustellende himmlische "Eingreiftruppe". Die Antwort Jesu auf diese Versuchung (4,7) bietet nun zugleich auch den Schlüssel zum Verständnis von 26,53:
3.8. Die Verhaftung Jesu
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In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.
Würde Jesus also nun in der Situation seines beginnenden Leidens von der "bergeversetzenden" Kraft seines Gebetes Gebrauch machen, so würde sein himmlischer Vater seiner Bitte entsprechen. Doch hätte er damit Gott auf die Probe gestellt! Dessen Willen aber hat er sich vorn Empfang der Johannestaufe (3,15) bis zum Gebet in Getsemane (26,39b.42b) ganz unterstellt und bleibt sich darin bis zur letzten, bitteren Konsequenz des Todes treu. Das dritte Argument gegen den gewaltsamen Widerstandsversuch aus dem Jüngerkreis (V. 54) bezieht sich auf die Notwendigkeit der Schrifterflillung, die in der mt Jesusgeschichte mit den zahlreichen Erflillungs- bzw. Reflexionszitaten eine besonders gewichtige Rolle spielt. Auch in der Verhaftungsszene stellt Mt im Vergleich zu Mk das Motiv der Schrifterflillung stärker heraus. Denn er übernimmt es nicht nur in 26,26 aus Mk 14,49b, sondern baut es zudem zusätzlich in die ablehnende Reaktion Jesu auf den Widerstandsversuch ein. Gestaltet Mt aber in 26,53 das Motiv der Schrifterflillung in Entsprechung zu Mk 14,49b als direkte Rede im Munde Jesu, so begegnet es an der eigentlichen ParalleIstelle 26,56a als Erzählerkommentar: Dies alles aber ist geschehen, damit sich die Schriften der Propheten erfüllten.
Mit dem so formulierten Hinweis auf die Schriftgemäßheit des Geschehens schlägt Mt den Bogen zurück zum ersten Erflillungszitat seiner Jesusgeschichte in 1,22, dessen Einflihrungsworte wortwörtlich mit 26,56a übereinstimmen. Durch den somit geschaffenen Rahmen von der Vorgeschichte bis zur Passion will Mt offenkundig deutlich machen, dass die gesamte Lebensgeschichte Jesu als schriftgemäß zu verstehen ist. Dass er dabei in 26,56a ausdrücklich von den Schriften der Propheten spricht, erklärt sich am ehesten dadurch, dass er das Motiv der Schrifterflillung in seiner Jesusgeschichte durchweg durch Prophetenzitate belegt. Eine Kürzung nimmt Mt an seiner Mk-Vorlage am Schluss vor. Denn er streicht die Episode von dem jungen Mann, der sich unter Preisgabe seines Gewandes der eigenen Verhaftung entzieht (Mk 14,51 f), ersatzlos. Vielleicht war Mt diese Episode peinlich, vielleicht konnten er und seine Gemeinde damit einfach nichts mehr anfangen. Auf jeden Fall schließt die mt Verhaftungsszene in 26,56b (par. Mk 14,50) mit der Notiz von der allgemeinen Jüngerflucht. Verglichen mit der mk Verhaftungs szene, in der J esus - abgesehen von seiner' Kommentierung des Geschehens gegenüber dem Verhaftungstrupp (Mk 14,48f) - völlig passiv bleibt, spielt Jesus in der mt Parallelszene eine deutlich aktivere Rolle. Vor allem in der ausführlichen Stellungnahme gegen den gewaltsamen Widerstandsversuch aus dem Jüngerkreis (Mt 26,52b-54) wird seine christologische Hoheit greifbar, und zwar nicht zuletzt durch sei-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
nen Verzicht auf die Demonstration seiner Anteilhabe an der göttlichen Macht. 3.8.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 22,47-53
Auch bei der Verhaftungs szene gestaltet Lk einmal mehr seine Mk-Vorlage erheblich tiefgreifender um als Mt. Bemerkenswert ist allerdings, dass Lk und Mt sich offenbar übereinstimmend an der mk Abschlussnotiz von der Flucht des jungen Mannes (Mk 14,51 f) gestoßen und sie entsprechend gestrichen haben. Ebenso übereinstimmend empfanden sie wohl auch die fehlenden Reaktionen des mk Jesus auf die verräterische Begegnung mit Judas wie auf die Schwertaktion gegen den Knecht des Hohenpriesters als Mangel. In den konkreten Reaktionen selbst aber unterscheidet sich der lk Jesus deutlich vom mt Jesus (vgl. Lk 22,48 mit Mt 26,50; Lk 22,51 mit Mt 26,52-54). Im Übrigen strafft Lk im Vergleich mit Mt die mk Vorlage stark und akzentuiert erneut sehr eigenständig. So streicht Lk die Notiz von der Bewaffnung der Schar wie von ihren Auftraggebern (Mk 14,43b) ebenso ersatzlos wie die Rückblende auf das zwischen Judas und dem Verhaftungstrupp vereinbarte Vorgehen bei der Gefangennahme Jesu (Mk 14,44). In der Notiz von der Bewaffnung der Schar sah Lk wohl eine unnötige Doppelung zur Stellungnahme Jesu (22,52b par. Mk 14,48b), der die Unangemessenheit dieser Bewaffnung gegen ihn ohnehin eigens thematisiert. Die Jerusalemer Autoritäten als Auftraggeber der Verhaftung Jesu kann Lk deswegen zu Beginn der Erzählung unerwähnt lassen, weil er ihnen nicht nur die Rolle der im Hintergrund verbleibenden Drahtzieher der Aktion zuweist. Vielmehr sind sie nach seiner Darstelll:lng bei der Verhaftung Jesu selbst anwesend (22,52a). Die Absprache über die konkrete Vorgehensweise bei dieser Aktion erübrigt sich für Lk, weil der Schwerpunkt seines Interesses nicht beim Handeln der Gegner Jesu, sondern beim Handeln Jesu (22,48.51.52-53) und seiner Jünger (22,49f) liegt. Entsprechend rückt auch der eigentliche Akt der Festnahme in der lk Verhaftungsszene deutlich in den Hintergrund. So streicht Lk die mk Notiz (14,46) über die formelle Festnahme im Anschluss an die Begegnung zwischen Jesus und Judas. Stattdessen integriert er den Verhaftungsakt selbst eher wortkarg in den Überleitungsvers zur Verleugnungserzählung (22,55-62), die Lk in unmittelbarem Anschluss an die Überführung Jesu in das Haus des Hohenpriesters platziert: Nachdem sie ihn aber ergriffen hatte, führten sie ihn ab und führten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von weitem (22,54).
Die inhaltlich vielleicht markanteste Straffung nimmt Lk gegen die mk Vorlage vor, indem er die Notiz der allgemeinen Jüngerflucht Mk 14,50 nicht übernimmt. Dies entspricht zum einen seiner Tendenz, das Jüngerversagen
3.8. Die Verhaftung Jesu
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nicht so drastisch wie Mk darzustellen. Zum anderen aber müssen die Apostel - und sie bilden die Gruppe, die J esus von 22,14 an ausschließlich umgibt - nach lk Konzeption (vgl. Apg 1,21 f) Augenzeugen auch des Passionsgeschehens sein (~3.7.3.). Zudem werden sie in Jerusalem der Begegnung mit dem Auferweckten gewürdigt, nicht in Galiläa wie die mk Jünger. Die Einleitung der Verhaftungs szene in 22,47a zeigt Judas im Unterschied zu Mk 14,43a nun nicht gleichsam inmitten der Schar, sondern ausdrücklich als ihr Wegweiser und Anführer ("und ... Judas ... ging ihnen voran"). Dabei nähert er sich Jesus in dei Absicht, ihm den Begrüßungskuss zu geben (22,4 7b). Doch ehe er noch sein Vorhaben in die Tat umsetzen kann, fährt Jesus ihm mit einer entlarvenden Frage in die Parade (22,48): Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn?
Diese Frage lehnt sich in ihrer Wortwahl (Menschensohn [hyios tou anthröpou]; ausliefern/verraten [paradidömi]) eng an die vorausgegangenen Leidensansagen Jesu an (Lk 9,44; 18,31f; 22,21f) an. Diese Leidensansagen aber beginnen sich in diesem Moment der Begegnung zwischen Jesus und Judas zu erfüllen. Zugleich dokumentiert sich in der Frage die Hoheit des Menschensohnes Jesus, der um die Pläne seiner Gegner weiß und sich damit als souveräner Herr über die Ereignisse erweist. Als solcher vereitelt er durch seine Reaktion auf das Kommen des Judas zu diesem Zeitpunkt des Geschehens in lk Darstellung seine Festnahme. Daher stellt sich die anschließend erzählte Reaktion aus dem Jüngerkreis im Unterschied zur Mk-Vorlage auch nicht als Befreiungs-, sondern als Verteidigungsversuch dar (22,49f). Gegenläufig zu seiner Tendenz, die Verhaftungserzählung zu straffen, widmet Lk der Jüngerreaktion breiteren Raum als Mk. Denn dem aus Mk 14,47 übernommenen gewaltsamen Angriff eines einzelnen, namentlich nicht identifizierten Jüngers auf den Knecht des Hohenpriesters (22,50) schaltet Lk in 22,49 eine Frage der Jüngergruppe angesichts der sich ihnen bietenden Szenerie vor: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?
Innerhalb der lk Jesusgeschichte weist diese Frage unmittelbar zurück auf den Schlussabschnitt der Abschiedsreden nach dem letzten Mahl J esu mit seinen Jüngern (22,35-38) (~ 3.5.3.). Dort hatte der lk Jesus seinen Jüngern im Ausblick auf die schwierigen Bedingungen ihrer nachösterlichen Verkündigung das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung eingeräumt. Sie aber beziehen seine Worte auf ihre unmittelbare Situation und verweisen auf die beiden Schwerter, die sie bei sich führen (22,38a). Erzählerisch knüpft die Jüngerfrage in 22,49b daran an. Die Jünger erinnern Jesus noch einmal an ihre mitgeführten Waffen und wollen sich gleichzeitig bei ihm rückversichern, ob sie jetzt davon Gebrauch machen sollen. Einer aus der Gruppe
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wartet freilich die Antwort Jesu nicht ab und schafft Fakten, indem er dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr abschlägt, und zwar das rechte, wie Lk gegenüber Mk präzisiert (22,50). Die Antwort des lk Jesus auf diese übereilte Aktion ist denkbar knapp: "Hört auf damit!" (22,51a). In dieser Kürze entspricht sie der Antwort Jesu in 22,38b: "Genug!" In ihrer eindeutigen Ablehnung des gewaltsamen Widerstandes klärt sie zugleich auch unmissverständlich, dass dieses "Genug!" nicht als Ermunterung zum Waffengebrauch verstanden werden darf. Anders als der mt Jesus, der eine ausführliche theologische Begründung seiner Ablehnung des gewaltsamen Widerstandes aus dem Jüngerkreis bietet (Mt 26,52-54 ~ 3.8.2.), verzichtet der lk Jesus auf jede Begründung. Stattdessen fügt Lk in 22,51 b eine kurze Heilungsnotiz ein: Indem Jesus die Verletzung des hohenpriesterlichen Knechtes heilt, erweist er sich noch einmal als von Gott gesandter Repräsentant der endzeitlichen Gottesherrschaft. Denn diese künftige Zeit des Heils wird gleichsam in den Heilungen, die Jesus wirkt, bereits gegenwärtig. Von dieser heilenden und heilsamen Erfahrung schließt Jesus entsprechend dem Maßstab der Feindesliebe (Lk 6,27-36) selbst seine Gegner nicht aus. In 22,52f wendet Jesus sich abschließend dem Verhaftungstrupp zu, genauer den Jerusalemer Offiziellen als den Verantwortlichen für die Verhaftungsaktion, die in lk Darstellung selbst am Ort des Geschehens sind. Neben den Hohenpriestern und Ältesten als den konstitutiven Gruppen des Hohen Rates erwähnt Lk wie schon in 22,4 (~ 3.3.3.) zusätzlich die Hauptleute der Tempelwache, die die ausführende Polizeigewalt innehatten. Die Worte, die der lk Jesus an die Jerusalemer Offiziellen richtet (22,52b-53), entsprechen im Wesentlichen der Mk-Vorlage (14,48b--49). Allerdings ist eine bemerkenswerte Abweichung zu verzeichnen. Denn die kurze Rede Je~u mündet nicht in einen Hinweis auf die Schriftgemäßheit des Geschehens (Mk 14,49b). Sie steht zwar für Lk keineswegs zur Debatte (vgl. 24,25-27!). Doch setzt er zum Abschluss der Verhaftungs szene einen anderen Akzent (22,53b): ... doch das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis (= jetzt übt die Finsternis ihre Macht aus).
Offen gegen Jesus vorzugehen, haben die Jerusalemer Offiziellen nicht gewagt (20,19f; 22,1.6). Nun versuchen sie, Jesus im Schutz der Dunkelheit in ihre Gewalt zu bringen. Damit aber geben sie sich in einem tieferen Verständnis als Handlanger der Macht der Finsternis zu erkennen. Dies entspricht der lk Sichtweise, nach welcher Satan als Herr über diesen Machtbereich der Finsternis einen aktiven Part bei den Passionsereignissen spielt (22,3.31). Allerdings zeigt die szenische Abfolge in unaufdringlich-subtiler Weise, dass die Finsternis sich erst da im konkreten Verhaftungs akt als wirkmächtig zeigen kann, nachdem Jesus mit seinem Schlusswort gleichsam den "Startschuss" gegeben hat.
3.8. Die Verhaftung Jesu
117
3.8.4. Diejohanneische Version Joh 18,1.2-12 Die Verhaftungs szene in der dreifach synoptischen Darstellung lässt eine deutliche Tendenz erkennen. Der mk Jesus verharrt noch überwiegend in der ergebenen Haltung des Opfers und lässt das Geschehen, abgesehen von seinem Kommentar in 14,48b--49, passiv und schweigend über sich ergehen. Der mt Jesus dagegen verhält sich schon weitaus aktiver, indem er verbal nicht nur Stellung bezieht gegenüber dem Verhaftungstrupp (26,55 par. Mk 14,48b--49), sondern auch gegenüber Judas (26,50) sowie gegenüber dem "Heißsporn", der den Knecht des Hohenpriesters mit dem Schwert angreift (26,52-54). Vor allem in dem zuletzt genannten, ausführlichsten Kommentar blitzt die christologische Hoheit des mt Jesus unverkennbar hervor (~ 3.8.2.). Der lk Jesus kommentieli das Geschehen nicht nur an denselben Stellen wie der mt Jesus. Er lenkt das Geschehen auch selbst. So weiß er den Vollzug des "Judaskusses" zu verhindern (22,4 7b-48); er heilt den durch den Schwerthieb verletzten hohenpriesterlichen Knecht; vor allem aber drängt er seine Gegner durch die Art seines Agierens in eine völlig passive Rolle. Erst nachdem er in 22,53 selbst den Schlusspunkt setzt, wird seinen Gegnern der Zugriff auf ihn möglich (22,54a). Diese Tendenz der Darstellung Jesu in der Verhaftungs szene von der Rolle des Opfers hin zur Rolle des souveränen Herrn über die Ereignisse findet in der joh Version ihren unbestreitbaren Höhepunkt. Dies entspricht der spezifischen Konturierung der Jesusdarstellung beim Johannesevangelisten: Der joh Jesus ist der von Gott bevollmächtigte Regisseur des Passionsgeschehens, der zu jedem Zeitpunkt alle Fäden der Ereignisse in Händen hält und sie zur gegebenen Zeit zu ziehen weiß (~ 3.1.4.). Davon ist auch die joh Version der Verhaftung Jesu durchgehend geprägt. Durch 18,1-2 wird die joh Verhaftungs szene situativ eingeleitet. Schon hier zeichnet sich der aktive Part ab, den Jesus selbst bei seiner bevorstehenden Gefangennahme ausüben wird. Denn mit dem Garten jenseits des Baches Kidron sucht er gezielt den Ort auf, wo Judas ihn wegen der ihm bekannten Gewohnheit Jesu am ehesten vermuten wird. Statt also sein Vorauswissen zu nutzen und die Häscher in die Irre zu fuhren, arrangiert der joh Jesus sozusagen die Begegnung mit dem Verhaftungstrupp an eben dem bekannten Ort. Dieser Verhaftungstrupp, den Judas mitbringt (18,3), umfasst nun über die synoptische Darstellung hinaus nicht nur Gefolgsleute der jüdischen Autoritäten, sondern auch die in Jerusalem stationierte Kohorte (speira) römischer Soldaten. Die Mannstärke einer solchen Kohorte konnte variieren. Der römisch-jüdische Geschichtschreiber Flavius Josephus bemerkt bei der Beschreibung des Heeres, das Titus zur Beendigung des 1. Jüdischen Krieges in Alexandria übernahm, zu der Größe der Kohorten Folgendes: "Von den Kohorten hatten 10 eine Stärke von je 1000 Fußsoldaten, die übrigen 13 Kohorten je 600 und dazu 120 Reiter" (bell. 3,67). Wenn Joh in 18,3 also eine Kohorte er-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
wähnt, so muss ihm sowie seinen Lesern und Leserinnen jedenfalls ein mehrere hundert Mann umfassender Soldatentrupp vor Augen gestanden haben.
Damit also kommt es ihm zunächst einmal wohl darauf an, das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen Jesus und seinen elf Jüngern einerseits und der geballten Übermacht der römischen Soldaten und der Gefolgschaft der jüdi~ schen Autoritäten andererseits bewusst zu machen. Darüber hinaus aber repräsentiert der aus Juden und heidnischen Römern zusammengesetzte Verhaftungstrupp nach joh Sichtweise die gottfeindliche Welt, die in ihrer Gesamtheit gegen Jesus auszieht. Umso stärker wirkt angesichts dessen der Kontrast der nachfolgenden Verse. Jesus ist schon vor seinen Gegnern am Ort ihrer Begegnung eingetroffen, tritt nun hervor und empfängt sie gleichsam (18,4). In dieser Situation aber erweist sich das beeindruckende Aufgebot an Bewaffneten ihm gegenüber als handlungsunfähig, und dies, obwohl er ihnen unbewaffnet gegenübertritt. Genau genommen, spielt der joh Jesus geradezu Katz und Maus mit seinen Gegnern. Im bezeichnenden Unterschied zur synoptischen Darstellung leitet nicht Judas die Verhaftung Jesu ein, indem er ihm gegenübertritt und ihn küsst (bzw. - lk - küssen will). Vielmehr tritt J esus seinen Gegnern entgegen und zwingt sie zunächst auszusprechen, wen sie suchen (18,4). Auf ihre Antwort "Jesus von Nazaret" gibt er sich ihnen mit der göttlichen Selbstoffenbarungsformel "Ich bin es" (egö eimi) (vgl. Ex 3,14 [LXX]) zu erkennen (18,5; vgl. 6,20; 13,19). Vor der sich in dieser Offenbarungsformel dokumentierenden gottgleichen Hoheit und Autorität Jesu aber müssen seine Gegner zurückweichen. Sie fallen zu Boden (18,6). Damit nehmen sie freilich die Haltung ein, die dem Menschen in der Begegnung mit Gott allein angemessen ist. Die in dieser demütig-ehrfürchtigen Position Verharrenden fragt Jesus noch ein zweites Mal "Wen sucht ihr?" (18,7a), noch einmal antworten sie mit "Jesus von Nazaret" (18,7b). Doch nur Jesus selbst kann den Bann, den seine göttliche Hoheit auf seine Gegner ausübt, lösen. Dies geschieht mit seinen nachfolgenden Worten (18,8): Ich habe euch gesagt: ,Ich bin es!'. Wenn ihr nun mich sucht, lasst diese gehen!
Zugleich erweist er sich mit dieser Antwort seinen Jüngern gegenüber noch einmal als der Gute Hirt (10,1-8), indem er sie vor der Mitverhaftung bewahrt. Das Motiv der Schrifterfüllung, das sich auch bei Mk (14,49b) und Mt (26,56) im Kontext der Verhaftungsszene findet, modifiziert Joh bezeichnenderweise christologisch. Denn das Reflexionszitat in 18,9 bezieht sich nicht auf ein Wort der Schrift, sondern auf ein Wort des joh Jesus (6,39; vgl. 17,12). Damit also steht das Wort J esu auf einer Stufe mit dem Wort Gottes selbst, das die Schrift bezeugt (vgl. ähnlich 2,19.22). Dieses fürsorgliche Wort Jesu im Blick auf seine Jünger bildet in joh Darstellung nun geradezu die Initialzündung für den gewaltsamen Widerstands-
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
119
versuch aus dem Jüngerkreis (18,10). In zunehmender Detailfreudigkeit identifiziert Joh den synoptisch namenlos gebliebenen Jünger mit Simon Petrus. Dieser stellt nun also seine beim letzten Mahl ausgedrückte Bereitschaft, mit Jesus in den Tod zu gehen (13,37), spontan unter Beweis. Zu dieser wachsenden Detailfreudigkeit gehört im Übrigen auch, dass Joh den Namen des verletzten hohenpriesterlichen Knechtes mit Malchus angibt. Die Reaktion Jesu auf den Schwerthieb des Petrus weist in ihrem ersten Teil (18,l1a) eine erstaunliche Übereinstimmung mit Mt 26,52a auf: "Stecke das Schwert in die Scheide!" Die Begründung im zweiten Teil (18,l1b) berührt sich sachlich insofern mit der Begründung des mt Jesus (26,54), als es hier wie dort um die Erfüllung des Heilswillens Gottes im Leiden und Sterben Jesu geht. Die Worte des joh Jesus lassen dabei eine Kenntnis der Getsemaneüberlieferung durch den Evangelisten erkennen: Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich ihn nicht trinken?
Allerdings soll die Form der rhetorischen Frage, die Joh hier wählt, dokumentieren, dass es keine Differenz zwischen dem Willen Gottes und dem Willen Jesu gibt (~ 3.5.4.1.). Weil also Jesus mit Gott im Willen übereinstimmt, dass jetzt die Stunde seines Leidens und Sterbens - joh: seiner Verherrlichung (~ 3.1.4.) - gekommen ist, nur deshalb kann schließlich das Großaufgebot des jüdisch-heidnischen Verhaftungstrupps ihn ergreifen und fesseln (18,12).
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten und seine Verleugnung durch Petrus Ähnlich wie bei der Erzählszene vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (~ 3.5.) empfiehlt sich hier erneut zur besseren Orientierung ein erster Überblick über den Aufbau dieser Erzählszene. Denn einmal mehr stellt Lk gegenüber seiner Mk-Vorlage um, und auch die joh Version folgt einer eigenen Erzähllogik.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten / Verleugnung des Petrus und ÜbersteIlung Jesu an Pi/atus Abweichende ErzählabJolge Mt26f
Mk14f
Lk22f
Job 18
57 Überstellung in hp Palast
53 Überstellung in hp Palast
54 Überstellung in hp Palast
12-14 Überstellung an Hannas
58 Notiz über Aufenthalt des Petrus
54 Notiz über Aufenthalt des Petrus
55 Notiz über Aufenthalt des Petrus
15-18 Notiz über Aufenthalt des Petrus + 1. Verleugnung
59--66 Verhör vor HR (nachts)
55--64 Verhöl' VOI' HR (nachts)
56--62 Verleug)J,ung durch Petrus
19-23 Befragung durch Hannas
67--68 Misshandlungsszene
65 Misshandlungsszene
63--65 Misshandlungsszene
22 Misshandlungsszene 24 Überstellung an Kaiaphas
69-75 Verlellgnllog durch Petrus
66-72 Yerleugmmg durch Petrus
66-71 Verhör dUI'ch HR (tagsübel')
25-272. + 3. Verleug)J,ung durch Petrus
27,1 f Überstellung an Pilatus
15,1 Überstellung an Pilatus
23,1 Überstellung an Pilatus
28 Überstellung von Kaiaphas zu Pilatus
Die Erzählszene jüdisches Verhör/Petrusverleugnung eröffnet Mk mit der Information von der Überstellung Jesu an den Hohenpriester (14,53). Dieser Information fugt er in 14,54 eine Notiz über den Aufenthalt des J?etrus an. Mt (26,57f) und Lk (22,54f) übernehmen gleichermaßen diesen Beginn der Erzählszene. Joh gestaltet den Auftakt seiner Verhör-Nerleugnungserzählung (18,12-14.15-18) zwar wesentlich detailfreudiger, sachlich jedoch weitgehend parallel zum synoptischen Befund. Allerdings wird der joh Jesus nicht sofort an den amtierenden Hohenpriester Kaiaphas überstellt, sondern an dessen Schwiegervater Hannas. An die beiden einleitenden Informationen schließt sich bei Mk in 14,55-64 das Verhör Jesu vor dem Hohen Rat an, das nach mk Chronologie somit in der Nacht stattfindet. Dieses Verhör Jesu mündet in 14,65 in eine Misshandlung Jesu durch die Ratsmitglieder, bevor Mk in 14,66-72 zurückblendet zum Aufenthaltsort des Petrus (14,54) und nun dessen Verleugnung Jesu erzählt. Die mk Verhör-/Verleugnungserzählung schließt in 15,1 mit der Notiz von der ÜbersteIlung Jesu an Pilatus, so dass also die beiden ÜbersteIlungsnotizen in 14,53 und 15,1 die gesamte Erzählszene rahmen. Mt folgt exakt dieser mk vorgegebenen Abfolge der Erzählschritte (26,59-66.67f.69-75; 27,1f). Anders dagegen Lk: Er fugt in 22,56-62 an die Notiz vom Aufenthaltsort des Petrus nahtlos die Verleugnungsszene an. Im Anschluss daran findet sich die Schilderung der Miss-
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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handlung Jesu (22,63-65), für die in lk Darstellung allerdings die Bewacher Jesu verantwortlich zeichnen. Erst mit Anbruch des Tages (22,66a!) findet dann nach Lk das Verhör Jesu vor dem Hohen Rat statt (22,66-71). In Entsprechung zu Mk und Mt mündet schließlich auch die lk Verhör-/Verleugnungserzählung in 23,1 in die Notiz von der Überstellung Jesu an Pilatus. In der joh Version sucht man vergeblich nach einem Verhör Jesu vor dem Gremium des Hohen Rates. Stattdessen erzählt Joh im Anschluss an die Notiz vom Aufenthaltsort des Petrus und dessen erster Verleugnung Jesu (18,1518) in 18,19-23 von einer Befragung Jesu durch den Alt-Hohenpriester Hannas. In diese Befragung integriert ist in 18,22 eine im Vergleich zur synoptischen Darstellung als rudimentär zu bezeichnende Misshandlungsszene. Denn die Misshandlung Jesu beschränkt sich joh auf eine Ohrfeige, die er von einem der dabeistehenden hohenpriesterlichen Knechte aufgrund einer missliebigen Antwort erhält. An die Befragung Jesu durch Hannas schließt sich eine kurze Notiz der Überstellung Jesu an den amtierenden Hohenpriester Kaiaphas an (18,24). Die Begegnung zwischen Kaiaphas und Jesus schildert Joh jedoch nicht eigens. Vielmehr folgt in 18,25-27 analog zur mklmt Erzählabfolge die Verleugnungsszene, bevor auch die joh Darstellung in 18,28 mit einer abermaligen Notiz einer Überstellung Jesu, dieses Mal von Kaiaphas zu Pilatus, schließt.
3.9.1. Die markinische Darstellung Mk 14,53-15,1
Mk eröffnet seine Darstellung der miteinander kombinierten Szenen des jüdischen Verfahrens gegen Jesus und seiner Verleugnung durch Petrus in 14,53 mit einer Überstellungsnotiz. Von den Mitgliedern des Verhaftungstrupps (14,43) - nur sie können hier als handelnde Subjekte gemeint sein wird Jesus zum Hohenpriester abgeführt. Doch treffen bei diesem nicht nur der Gefangene und seine Bewacher ein, sondern auch alle Mitglieder des Hohen Rates. Dieses Gremium setzt sich nach Mk zusammen aus den Gruppen der Hohenpriester (ehemalige, amtierende sowie potentielle Inhaber der obersten Tempelämter aus dem Priesteradel), der Ältesten (Vertreter des Laienadels) sowie der Schriftgelehrten (Experten für die Auslegung der Tora in ökonomischen, rechtlichen und theologischen Fragen, die nicht durch adlige Herkunft, sondern über ihre berufliche Qualifikation ausgewiesen waren) (vgl. 14,53 mit 14,55 und 15,1). Damit also sind die Hauptbeteiligten am jüdischen Verfahren gegen Jesus am Ort des Geschehens versammelt. Mit 14,54 lenkt Mk den Blick auf Petrus. Hat dieser nach 14,50 als in die allgemeine Jüngerflucht einbezogen zu gelten ("Da verließen ihn alle und flohen"), so scheint er sich jetzt eines Besseren zu besinnen (14,54a). Doch ist seine vollmundige Bereitschaftserklärung, mit Jesus in den Tod zu gehen (14,29.31 (~ 3.6.1.), offenbar der Vorsicht gewichen. Zwar folgt er Jesus
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
bis in den Hof des hohenpriesterlichen Wohnsitzes, allerdings wahrt er gebührenden Abstand ("von weitem" [apo makrothen]). Von einer von den Jüngern geforderten Kreuzesnachfolge (9,34-37!) ist Petrus daher in dieser Situation ebenso weit entfernt wie von seinem gefangenen Herrn. Im Hof setzt Petrus sich zu den Dienern und wärmt sich am Feuer (l4,54b). Mit dieser Schlussbemerkung sind auch alle Hauptbeteiligten an der Situation, die zur Verleugnung Jesu durch Petrus führt, szenisch eingeführt. Zunächst jedoch wendet sich Mk in 14,55-65 dem jüdischen Verfahren gegen Jesus zu. Dabei stellt er gleich zu Beginn in V. 55 heraus, dass es sich hierbei um kein ergebnisoffenes und damit faires Verfahren handelt. Vielmehr ist es - entsprechend dem Todesbeschluss 14,lf - von Vornherein darauf angelegt, Jesus zum Tode zu verurteilen. Daher wird auch nur Jesus belastendes, nicht aber entlastendes Zeugnis gesucht. Die nachösterliche Überlieferung stellt Jesus daher aus gläubiger Sicht in der Rolle des leidenden Gerechten (Weisheits literatur) bzw. in der Rolle des leidenden Gottesknechtes (Deuterojesaja) dar. Anspielungen auf entsprechende Schriftstellen ziehen sich geradezu leitmotivartig durch die Schilderung des Verfahrens, das in drei Schritten verläuft: Zeugenbefragung (V. 56-59), Befragung Jesu durch den Hohenpriester (V. 60-62) und Verurteilung Jesu (V. 63f). Eher als Nachtrag zum eigentlichen Verfahren schließt sich in V. 65 die Szene der Misshandlung Jesu an. Die erzählerische Einleitung zum jüdischen Verfahren in 14,55 qualifiziert dieses nicht nur vorab als unfair, sondern nimmt gleich eingangs auch das Scheitern der Strategie der Zeugenbefragung vorweg. Die Begründung folgt in 14,56: Viele nämlich legten falsches Zeugnis gegen ihn ab, aber ihre Zeugenaussagen waren nicht gleichlautend.
Da sich offenbar kein verwertbares Belastungszeugnis gegen Jesus findet, treten zwar zahlreiche Falschzeugen auf, die somit dem Dekaloggebot "Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen" (Ex 20,16; Dtn 5,20; vgl. das Zitat in Mk 10,19) zuwider handeln. Doch sind auch diese Falschzeugnisse juristisch nicht verwertbar, weil sie nicht übereinstimmen und daher nach Dtn 17,6 (vgl. Dtn 19,15; Num 35,30) auch nicht einem Todesurteil zugrunde gelegt werden dürfen. Allerdings ist die Konfrontation mit Falschaussagen ein in den Psalmen immer wieder thematisiertes Schicksal des leidenden Gerechten (vgl. etwa Ps 27,12; 35,11; 109,1f). In den V. 57f greift Mk nun eine konkrete Falschaussage (V. 58) auf, die von einigen, nicht näher identifizierten Falschzeugen gegen Jesus vorgebracht wird (V. 57). Sie lautet: Ich werde diesen von Händen gemachten Tempel zerstören und nach drei Tagen einen anderen, nicht von Händen gemachten erbauen.
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
123
Damit findet sich hier eine der verschiedenen Versionen eines tempelkritischen Wortes, das ursprünglich wohl im Kontext der Tempelaktion Jesu verankert war, das aber nicht mehr verlässlich rekonstruiert werden kann (~ 3.1.1. Exkurs 1). In der mk Darbietung des jüdischen Verfahrens gegen Jesus wird dieses tempelkritische Wort, das zumindest rür das palästinische Judenchristentum sperrig gewesen sein dürfte, "entschärft" zu einer F alsehaussage. Den Leserinnen und Lesern des MkEv musste diese Etikettierung plausibel erscheinen, bezieht der mk Jesus doch in 11,17 Stellung gegen einen depravierten Tempelkult, nicht aber gegen den Tempel selbst. Zudem sagt er in einem Jüngergespräch zum Auftakt der mk Endzeitrede in 13,2 zwar voraus, dass der Tempel zerstört wird, nicht aber, dass er ihn zerstören und an seine Stelle einen neuen errichten will. Diese Version eines tempelkritischen Wortes Jesu musste dem mk Adressatenkreis umso plausibler erscheinen, da er mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits um die noch nicht lange zurückliegende Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer wusste. Das zweiteilige, antithetisch strukturierte Tempellogion in Mk 14,58 kündigt dagegen die Zerstörung des Tempels und damit die Aufhebung des Tempelkultes durch Jesus an, an dessen Stelle er selbst als auferweckter ("nach drei Tagen"!) und erhöhter Herr treten wird. Damit hat das mk Tempelwort in 14,58 eine deutlich nachösterliche Perspektive und verdankt sich möglicherweise in der vorliegenden Fassung dem tora- und tempelkritisch eingestellten hellenistischen Judenchristentum, das damit jedoch wohl tempelkritische Tendenzen der Jesusüberlieferung aufgriff. In der Konzeption der mk Jesusgeschichte freilich, in der sich dieses Wort nirgendwo auch nur annähernd vergleichbar im Mund Jesu findet, gilt es als Falschzeugnis im Munde seiner Gegner. Doch bringt auch dieses Falschzeugnis die Jerusalemer Autoritäten ihrem Ziel, eine Handhabe rur ein Todesurteil gegen Jesus zu gewinnen, nicht weiter. Denn auch in diesem Fall gilt nach 14,59, dass die Aussagen der ungenannten Zeugen nicht übereinstimmen. Nachdem also die Zeugenbefragung im Sinne der Ankläger Jesu gescheitert ist, geht der Hohepriester in V. 60a zur Befragung Jesu über. Auf seine Frage (V. 60b): Antwortest du nichts [darauf], was diese gegen dich bezeugen?,
schweigt sich der mk Jesus - wiederum in Entsprechung zu dem in der Schrift bezeugten Verhalten des leidenden Gerechten (Ps 38,9t) bzw. Gottesknechtes (Jes 53,7) - aus (V. 6Ia). Damit sieht sich der Hohpriester gezwungen, seine Strategie zu ändern. Er spricht nun Jesus direkt auf seinen messianischen Anspruch an, indem er ihn fragt (V. 61c): Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?
Mit der Bezeichnung Gottes als "Hochgelobter" (eulogetos) wählt der Hohe-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
priester eine jüdisch geläufige Umschreibung des Gottesnamens, den direkt auszusprechen ihm allein - und zwar ausschließlich am Großen Versöhnungstag (Jom Kippur) - gestattet war. Dass er aber mit dieser Frage die christologische Identität Jesu auf den Punkt bringt, wissen die Leser und Leserinnen bereits aus den Eröffnungsworten der mk Jesusgeschichte (1,1). In der Tauf- und in der Verklärungsszene wurde Jesus von der Himmelsstimme als "geliebter Sohn" proklamiert (1,11; 9,7). Als Sohn Gottes er- und bekannten ihn auch die Dämonen, die ihm weichen mussten (3,11; 5,7; vgl. 1,24). Und schließlich legte Petrus stellvertretend für die Jünger in 8,29 das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ab. Allerdings reagiert der mk Jesus sowohl auf das Bekenntnis des Petrus (8,30) wie auch auf das Bekenntnis der Dämonen (3,12; 1,25) mit einem nachdrücklichen Schweigegebot. Der Grund dafür wird aus der Abfolge zwischen Petrusbekenntnis (8,29) und 1. Leidensansage (8,31) ersichtlich (~ 3.1.1.): Dass Jesus der Christus (und der Sohn Gottes) ist, darf nicht unabhängig von seinem Leiden bekannt werden! Vor dem Hohen Rat aber, wo Jesus seinen Todfeinden ausgeliefert ist (V. 55 !), hat sein Leiden bereits begonnen. Daher bejaht er die Hohepriesterfrage auch uneingeschränkt, und zwar mit der göttlichen Offenbarungsformel "Ich bin es" (egö eimi) (V. 62a; vgl. Ex 3,14). Damit aber ist jeder Zweifel am unaufhebbaren Zusammenhang zwischen seiner Hoheit und seinem Leiden ausgeschlossen. Diesen Zusammenhang stellten im Übrigen schon die mk Leidensansagen her, in denen Jesus von sich durchweg als "Menschensohn" spricht (8,31; 9,31; 10,33). Seiner traditionsgeschichtlichen Herkunft nach steht "Menschensohn" nämlich für eine himmlische Herrschergestalt, die im endzeitlichen Gericht über Heil und Verdammnis entscheidet (~ 3.5.1.). Auf diese Funktion des Menschensohnes, die bereits in 8,38 und 14,21 b .im Blick stand, verweist nun der mk Jesus die Jerusalemer Autoritäten durch die Fortsetzung seiner Antwort (V. 62b): ... und ilu- werdet sehen den Menschensohn, wie er zur Rechten der Kraft sitzt und mit den Wolken des Himmels kommt.
Die Gestaltung dieser Antwort macht gleichermaßen Anleihen bei dem für die nachösterliche Erhöhungschristologie so zentralen Psalmvers 110,1 wie auch bei Dan 7,13. Beachtung verdient, dass der mk Jesus wie zuvor der Hohepriester die Verwendung des Gottesnamens meidet und stattdessen die Umschreibung mit "Kraft" (dynamis) wählt. Im Kontext der erzählten Situation stellt Jesus als Angeklagter denen, die jetzt über ihn zu richten sich anmaßen, die eschatologische Umkehr der Rollen in Aussicht. Denn dann werden sie sich mit dem vom Himmel kommenden Menschensohn-Richter konfrontiert sehen. Auf die Worte Jesu reagiert der Hohepriester zunächst mit einer rituellen Handlung - dem Zerreißen seiner Kleidung - (V. 63a), durch die er signalisiert, dass er Jesu Antwort als Gotteslästerung wertet. Dies bestätigt sich
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
125
durch sein anschließendes Votum (V. 63b-64a), in dessen Zentrum die Feststellung des Tatbestandes Blasphemie steht. Worin der Hohepriester allerdings diesen Tatbestand begründet sieht, lässt er bezeichnenderweise offen. Denn die Antwort Jesu bietet hierfür keinen Anhaltspunkt. Einer Gotteslästerung im eigentlichen Sinn (unerlaubtes Aussprechen des Gottesnamens) macht Jesus sich nicht schuldig, und ein messianischer Anspruch galt im Frühjudentum keineswegs als strafbar. Selbst mit der hoheitlich-himmlischen Gestalt des Menschensohnes identifiziert er sich nicht ausdrücklich. Und so dokumentiert das hohepriestefliche Votum nur einmal mehr, dass das Verfahren des Hohen Rates gegen Jesus eine juristische Farce ist und das Urteil gegen ihn von Beginn an (V. 55!) feststeht. Und so sprechen sich erwartungsgemäß auch alle Anwesenden, vom Hohenpriester nach ihrer Meinung gefragt, dafür aus, dass er des Todes schuldig sei (V. 64b). Das Verfahren der jüdischen Autoritäten gegen Jesus mündet in eine Misshandlungsszene (V. 65). Einige von denen, die gerade für den Tod Jesu votiert haben, beginnen nun damit, ihren Mutwillen mit ihrem Gefangenen zu treiben, indem sie ihn anspucken, sein Gesicht verhüllen, ihn schlagen und zu prophetischem Reden auffordern. Und auch die anwesenden Diener bedenken ihn mit Ohrfeigen. Dass Jesus diese entehrende Behandlung ohne Reaktion über sich ergehen lässt, weist ihn einmal mehr als den leidenden Gottesknecht aus (Jes 50,6; 53,7a). Ungeachtet der nachösterlichen Stilisierung der Erzählszene, die Jesus vor dem Hohen Rat zeigt, lassen sich doch interessante Analogien zum Fall des Jesus Ben Ananias aus dem Jahr 62 n.ehr. (Jos. Bell. 6,300-305) erkennen (---+ 3.1.1. Exkurs 1). Diese weisen auf ein festgelegtes Vorgehen für den Fall hin, dass der Hohe Rat ein Kapitalgerichtsverfahren gegen eine Person wegen tempelkritischer Äußerungen vor dem römischen Statthalter anstrengen wollte. Demnach erfolgt nach der Verhaftung eine Befragung des Gefangenen durch die Jerusalemer Autoritäten, die die Grundlage für seine Präsentation als Hinrichtungskandidat vor dem römischen Statthalter schaffen soll. Sowohl im Fall Jesu von Nazaret wie im Fall des Jesus Ben Ananias kommt es jeweils im Zusammenhang mit dieser Befragung auch zu einer Misshandlung des Delinquenten durch die Mitglieder der Jerusalemer Führungsschicht.
Mit 14,66 nimmt Mk den in 14,54 begonnenen Erzählfaden von der Verleugnung Jesu durch Petrus wieder auf und entwickelt ihn zu einem eigenen Erzählabschnitt. Ähnlich wie das zuvor geschilderte jüdische Verfahren gegen Jesus gliedert sich auch dieser Abschnitt in drei Teile. Genauer: Es handelt sich um drei kurze Dialogszenen, an deren Ende jeweils ein verleugnerischer Akt des Petrus steht (V. 66-68. 69-70a. 70b-71). Formal analog zur Misshandlung Jesu als Schlusspunkt des Verfahrens gegen ihn (14,65) findet die Verleugnungsszene in 14,72 ihr Ende mit der Reue des Petrus, die durch die Erinnerung an Jesu Vorhersage des Geschehens ausgelöst wird. Hatte Mk in 14,54b abschließend erwähnt, dass Petrus sich im Hof des hohenpriesterlichen Domizils zur Dienerschaft ans Feuer gesetzt hatte, so knüpft er in 14,66a genau an diese Information an: Petrus befindet sich unten
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
im Hof, als eine der Mägde des Hohenpriesters ihn entdeckt, während er sich wärmt, und ihn anspricht (V. 67b): Auch du warst bei dem Jesus aus Nazaret.
Diese Feststellung bezieht sich vordergründig zunächst einmal auf die Tatsache, dass Petrus zur Begleitung Jesu gehörte. Offen bleibt, wieso die Magd, die sich Mk wohl kaum als Mitglied des Verhaftungstrupps vorstellt, zu diesem Wissen gelangte. Denn Petrus war ja gerade nicht in umittelbarer Nähe Jesu zum hohenpriesterlichen Anwesen gekommen, sondern war ihm von weitem gefolgt (14,54a). Doch dürfte es Mk nicht auf diese erzählerischen Feinheiten ankommen. Wichtiger ist ihm anscheinend die Tiefendimension, die die Aussage der Magd ohne ihr Wissen auszeichnet. Denn ihre Formulierung berührt sich eng mit 3,14, wo es im Zusammenhang mit der Konstituielung des Zwölferkreises heißt: Und er machte Zwölf, damit sie bei ihm seien ...
In der Stunde der Verhaftung Jesu haben die Mitglieder seines engsten Jün-
gerkreises diese ihre Funktion, bei ihm zu sein, durch ihre Flucht (14,50) aufgegeben. Selbst Petrus wagte es nicht, in seiner Nähe zu bleiben (14,54a). Und so blickt die Feststellung der Magd zurück (Imperfekt!) auf die von Jesus ge stiftete Gemeinschaft zwischen ihm und den Zwölfen, die in diesem Augenblick bereits der Vergangenheit angehört. Erst durch die Begegnung der Jünger mit dem Auferweckten in Galiläa wird sie durch ihn neu konstituiert werden (14,28; 16,7). Die Antwort des Petrus, der sich gänzlich unwissend gibt, bestätigt nur auf ihre Weise die von den Jüngern her irreparable Zerstörung ihrer Gemeinschaft mit Jesus (14,68a): Er aber leugnete, indem er sagte: Weder weiß noch verstehe ich, was du sagst.
Offenbar um nicht weiter mit Fragen bedrängt zu werden, geht Petrus dann hinaus in den Vorhof (14,68b). Die anschließende Notiz "Und ein Hahn krähte" (14,68c) ist textkritisch unsicher. Der Befund in den Handschriften, die diese Notiz enthalten bzw. in denen sie fehlt, hält sich in etwa die Waage, jedoch mit einem leichten Übergewicht der Langfassung. Eine sichere Entscheidung lässt sich daher aufgrund der äußeren Textbezeugung nicht treffen. Allerdings bieten 14,30 und 14,72 textinteme Hinweise dafür, dass der Mk-Text in 14,68c ursprünglich die Notiz vom Hahnenschrei enthielt. So enthält schon die Vorhersage Jesu in 14,30 den Hinweis auf den zweifachen Hahnenschrei (" ... bevor der Hahn zweimal kräht, ... "). Diese Vorllersage aber wird in 14,72b rückblickend noch einmal exakt - also einschließlich der Präzisienmg "zweimal" aufgegriffen. Hinzu kommt, dass in 14,72a in Entsprechung zur Langfassung in 14,68c vermerkt wird: "Und sofort krähte zum zweiten Mal ein Hahn." Wenngleich die handschriftliche Bezeugung von "zweimal" (dis) (14,30.72b) und "Zl1ll1 zweiten Mal" (ek deuterou) (14,72a) ebenfalls nicht einhellig ist, ist ihr jedoch aus quantitativen wie qualitativen Gründen ein klarer Vorzug einzuräumen. Die Notiz vom Hahnenschrei in 14,68c dürfte also in der mk Erzählstrategie als Element zum Spannungsaufbau dienen. Die Textzeugen, in denen diese Notiz fehlt, dürften sich dagegen an den beiden Seitenreferenten Mt und Lk orientiert haben,
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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die übereinstimmend nur einen Halmenschrei erwähnen (Mt 26,34 par. Lk 22,34 diff Mk 14,30; Mt 26,74.75a par. Lk 22,60b.61b diffMk 14,72a.b).
Für die Leser und Leserinnen des Mk-Evangeliums signalisiert die Notiz vom Krähen des Hahnes (14,68c) nach der ersten Verleugnung Jesu durch Petrus, dass die Voraussage Jesu in 14,30 sich bereits teilweise erfüllt hat und sich schon bald ganz erfüllen wird. Auf der Ebene der erzählten Welt dagegen soll dieser erste Hahnenschrei Petrus davor warnen, in seinem verleugnerischen Handeln fortzufahren. Doch vermag er es nicht, die Erinnerung an die Voraussage Jesu in Petrus wachzurufen. Die Magd nun, die Petrus in 14,67 auf dessen "Bei-Jesus-Sein" angesprochen hat, lässt nicht locker. Es zeigt sich: Sein Rückzug in den Vorhof hat ihm nichts genützt. Allerdings wendet sich die Magd in 14,69 jetzt nicht an ihn selbst, sondern an die umher stehenden Leute, und zwar mit den Worten: Dieser ist (einer) von ihnen.
Mit dieser Feststellung beschränkt sich die Magd nicht mehr allein auf die Beziehung zwischen Jesus und Petrus. Vielmehr weitet sie den Blick für den Jüngerkreis Jesu, dem sie Petrus zuordnet. Die darauf folgende prompte Reaktion des Petrus, der abermals die Wahrheit der Aussage leugnet, fasst Mk in 14,70a nur kurz zusammen. Denn den Schwerpunkt der Verleugnungserzählung legt er - geschickt erzählerisch steigernd - auf die dritte Dialogszene (14, 70b-71). Bald schon schalten sich die umherstehenden Leute selbst in das Geschehen ein und sprechen Petrus an. Dabei bekräftigen sie die Feststellung der Magd eindrücklich und begründen sie noch zusätzlich (14, 70b): Wahrhaftig, du bist (einer) von ihnen, du bist nämlich auch ein Galiläer.
Damit wird die Situation für Petrus endgültig brenzlig. Es ist den Leuten, die ihn bedrängen, bekannt, dass der verhaftete Jesus aus Nazaret und damit aus Galiläa stammt (14,67b). Es ist ihnen ebenso bekannt, dass Jesus eine Anhängerschaft besitzt (14,69b). Galiläa aber galt den Jerusalemern seit Menschengedenken als aufrührerisches Gebiet und als Heimat der Zeloten, deren Bewegung der Galiläer Judas 6 n.ehr. zum bewaffneten Widerstand gegen die Fremdherrschaft der Römer ins Leben gerufen hatte. Wenn Petrus daher in 14,70b von den Umherstehenden dezidiert als einer der galiläischen Anhänger des Jesus von Nazaret angesprochen wird, so kommt dies einer Identifizierung als Mitglied einer Gruppe militanter Widerstandskämpfer bedenklich nahe. Dies aber konnte lebensgefährlich für ihn werden. Spätestens in dieser Situation ist sein kühnes Versprechen, mit Jesus in den Tod gehen zu wollen (14,29.31) (~ 3.6.1.) endgültig vergessen. Stattdessen reagiert er mit unverkennbarem Schrecken und deutlicher Abwehr (14,71):
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Und er begann zu fluchen und zu schwären: Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr sprecht.
Petrus zieht also sämtliche Register, um glaubhaft zu machen, dass er mit Jesus und daher auch mit dessen Anhängern nichts zu tun hat. Unterstützt wohl durch eine Selbstverfluchung fur den Fall, dass er die Unwahrheit spricht (vgl. 2Sam 3,9), schwört er, diesen Menschen nicht zu kennen. Nicht einmal Jesu Namen nimmt er mehr in den Mund. Damit aber hat er sich endgültig von Jesus losgesagt. Erst der unmittelbar folgende zweite Hahnenschrei rüttelt ihn, als es schon zu spät ist, wach (14,72a). Er erinnert sich an die Voraussage Jesu (14,30), die jetzt uneingeschränkt eingetroffen ist (14,72b). Und er bricht in Tränen aus (14, 72c). Diese Tränen zeigen, dass er sich zwar vor der Öffentlichkeit, jedoch nicht in seinem Innern von Jesus losgesagt hat. Sein Tun lässt ihn nicht unberührt. Vielmehr ruft die Erinnerung an Jesu Wort Scham und Reue bei ihm hervor. Doch steht es nicht mehr in seinem Ermessen und seiner Macht, sein Versagen wiedergutzumachen. Die Möglichkeit, die Jüngerbeziehung des Petrus zu Jesus erneut herzustellen, besitzt nur der Auferweckte. Und er wird diese Möglichkeit nutzen (16,7: "Sagt seinen Jüngern und vor allem Petrus: Er geht euch voran nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat." [14,28] ----* 3.6.l.). Die mk Verhör-/Verleugnungsszene schließt in 15,1 b, wie sie in 14,53a begann, nämlich mit einer Notiz der Überstellung Jesu an eine weitere Instanz im Verfahren gegen ihn. Am Ende der nächtlichen Befragung Jesu durch den Hohenpriester waren sich alle Mitglieder des Hohen Rates mit diesem im Urteil der todeswürdigen Schuld ihres Gefangenen einig (14,64). Nun fassen sie sofort am frühen Morgen einen Beschluss (15,la). Der Sache nach kann sich dieser Beschluss nach mk Verständnis nur auf den fur die Vollstreckung des Todesurteils entscheidenden nächsten Schritt beziehen. Da nämlich die Kapitalgerichtsbarkeit im Judäa des 1. Jahrhunderts den Vertretern der römischen Oberherrschaft vorbehalten war (----* 3.1.1. Exkurs 1), mussten die Jerusalemer Autoritäten beim Statthalter ein römisches Todesurteil gegen Jesus erwirken. Somit dürfte also der in 15,1 a erwähnte Beschluss die Auslieferung Jesu an Pilatus zum Inhalt gehabt haben. Dies bestätigt 15,1 b, wo eben diese Auslieferung minutiös durch den Dreischritt binden - abfuhren - übergeben festgehalten ist.
3.9.2. Die matthäische Bearbeitung Mt 26,57-27,2 Mt hält sich bei seiner Übernahme der mk Verhör-N erleugnungsszene strikt an die vorgegebene Abfolge der Erzählschritte. Doch setzt er im Einzelnen immer wieder eigene Akzente. So benennt er gleich eingangs in 26,57 über Mk 14,53 hinaus den Hohenpriester bei seinem Namen Kaiaphas, worin er
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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mit Joh 18,13 übereinstimmt (vgl. ebenso Mt 26,3 mit Joh 11,49). Ebenfalls im Eröffnungsvers streicht Mt gegen Mk 14,53 "alle Hohenpriester". Anders als die Schriftgelehrten und Ältesten müssen sich also in mt Darstellung die hochpriesterlichen Amtsträger nicht eigens am Wohnsitz des Kaiaphas versammeln. Vielmehr sind sie, wie 26,59 zeigt, bereits dort anwesend. Offenbar betrachtet Mt also diese obersten Tempelinstanzen als die verantwortlichen Organisatoren der Aktion gegen Jesus. Als solche harren sie zusammen mit Kaiaphas der kommenden Ereignisse in dessen Domizil, das ihnen in dieser Nacht sozusagen als "Schaltzentrale" dient. Bei der anschließenden Notiz über den Aufenthalt des Petrus (Mt 26,58 par. Mk 14,54) lässt Mt unerwähnt, dass Petrus sich in Gesellschaft der hochpriesterlichen Dienerschaft am Feuer wärmt. Stattdessen verfolgt der mt Petrus, indem er sich zu den Dienern setzt, eine bestimmte Absicht, nämlich "um zu sehen, wie die Sache ausging". Petrus scheint sich also noch eine kleine Hoffnung auf einen guten Ausgang des Geschehens bewahrt zu haben. Doch schon Mk lässt von Beginn an keinen Zweifel aufkommen, dass es sich beim jüdischen Verfahren gegen Jesus um ein unfaires Verfahren handelt. Denn sein Ziel, Jesus zu Tode zu bringen, steht von Vornherein fest (14,55). Diesen Aspekt der Rechtsbeugung arbeitet Mt in 26,59 jedoch noch wesentlich schärfer heraus und deckt somit zugleich jeden etwaigen Hoffnungsschimmer des Petrus als illusorisch auf. Bezeichnenderweise nämlich suchen die Jerusalemer Autoritäten bei Mt nicht nur wie bei Mk nach einem Zeugnis, sondern nach einem Falschzeugnis (pseudomartyria) gegen Jesus. Sie verweigern Jesus also nicht nur ein ergebnis offenes und damit faires Verfahren. Sie verfolgen ihr Ziel, ihn zu Tode zu bringen, sogar bewusst und gezielt mit illegalen Mitteln. Dem entspricht auch eine weitere Abweichung, die sich in Mt 26,60 gegen Mk 14,55b-56 findet: Während nämlich das Bemühen des mk Hohen Rates scheitert, weil viele Falschzeugen auftreten, deren Aussagen voneinander abweichen, scheitert das Bemühen des mt Hohen Rates, obwohl viele Falschzeugen auftreten. So wird also in mt Darstellung ein grelles Licht darauf geworfen, zu welch unlauteren Methoden die Jerusalemer Offiziellen greifen. Dass selbst diese Methoden sie nicht zum Ziel führen, stellt umso nachdrücklicher Jesu Unschuld heraus. Das Motiv der Unstimmigkeit zwischen den Zeugenaussagen, das Mk in 14,56b.57.59 so herausstellt, wird angesichts der Vorgehensweise des Hohen Rates in der mt Darstellung entbehrlich. Denn sofern er sich gezielt um Falschzeugen bemüht, gerät die fehlende Übereinstimmung der Zeugenaussagen zu einer Randerscheinung. Allenfalls indirekt klingt das Motiv noch in 26,60b an. Denn hier lässt Mt gegen Mk 14,57 ausdrücklich zwei Zeugen auftreten, deren Aussage er in 26,61 gleichlautend referiert: Ihr Zeugnis stimmt also überein. Allerdings sind auch sie durch den Kontext als Falschzeugen ausgewiesen, so dass schon dadurch die Bestimmung "Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen" (Dtn 19,15) auf den Kopf gestellt wird.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Die Aussage dieser beiden Zeugen (26,61) - der Sache nach das tempelkritische Wort Jesu - übernimmt Mt nicht unverändert aus Mk 14,57. Kündigt der mk Jesus ein bestimmtes Handeln an ("Ich werde abreißen ... ich werde errichten"), so weist der mt Jesus nur auf die Möglichkeit zu einem solchen Handeln hin, das ihm aufgrund seiner Vollmacht offen steht ("Iph kann abbrechen ... ich kann errichten"). Damit aber hat er noch nichts über seine tatsächliche Absicht verlauten lassen. Zudem streicht Mt das bei Mk vorgegebene Gegensatzpaar "von Händen gemacht - nicht von Händen gemacht". Insofern der nicht von Händen gemachte Tempel bei Mk auf den Auferstehungsleib Jesu zu beziehen ist, ist der Begriff Tempel hier also auf zwei verschiedenen Ebenen (Kultgebäude und Leib) verwendet. Dagegen bezeichnet er in der mt Version nur das Kultgebäude. Die mt Zeugenaussage beschränkt sich also auf den Jerusalemer Tempel und hat somit ein bloßes Schauwunder im Blick. Allein dadurch aber ist sie schon als Falschaussage entlarvt, hat der mt Jesus doch bereits in 4,5-7 ein Schauwunder kategorisch abgelehnt. Die zentrale Hohepriesterfrage leitet Mt in 26,63 über Mk 14,61 hinaus eigens mit einer feierlichen Beschwörungsformel (,Jch beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob ... ") ein. Statt der Umschreibung des Gottesnamens mit "der Hochgelobte" bedient sich der mt Hohepriester des Gottesnamens selbst. Dadurch aber gleicht Mt die Hohepriesterfrage (26,63b) unverkennbar dem Petrusbekenntnis (16,16) an: ,,(ob) du bist der Christus, der Sohn Gottes, des Lebendigen". Nur die Qualifizierung Gottes als "Lebendiger" zieht Mt bei der Hohenpriesterfrage in die einleitende Beschwörungsformel vor. Gerade aber durch die große sprachliche Überein:· stimmung tritt der Gegensatz zwischen der feindlichen Hohenpri~sterfrage und dem gläubigen Petrusbekenntnis nur umso deutlicher zutage. Auch die Antwort Jesu auf die Hohepriesterfrage verändert Mt in 26,64 gegenüber Mk 14,62 in charakteristischer Weise. Statt mit einer uneingeschränkten Bej ahung durch die göttliche Offenbarungsformel lenkt der mt Jesus mit dem betonten "du sagst es" die Aufmerksamkeit zurück auf den Hohenpriester und stellt ihn zugleich bloß. Denn durch seine Frage hat er ja zu erkennen gegeben, dass er um den mit Jesu Person verbundenen christologischen Anspruch weiß. Das aus Mk 14,62 nahezu unverändert übernommene Menschensohnwort versieht Mt - im Einklang übrigens mit Lk 22,69gegen Mk noch mit einem Zeitaspekt "von jetzt an". Wie an seinen redaktionellen Eingriffen schon zu sehen war, geht es Mt beim Dialog zwischen Kaiaphas und Jesus weniger als Mk um die christologische Würde Jesu selbst als vielmehr um die schuldhafte Ablehnung dieser Würde wider besseres Wissen durch den Hohenpriester. Daher dürfte auch der Hinweis "von jetzt an" weniger die himmlische Hoheitsstellung Jesu im Gegensatz zu seiner konkreten Situation als Gefangener des Hohen Rates betonen wollen. Vielmehr dürfte Mt vor allem die Gerichtsfunktion hervorheben wollen, die
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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mit dieser Hoheitsstellung verbunden ist und der Jesu Richter in einer noch verborgenen Umkehr der Rollen von diesem Zeitpunkt an unwiderruflich ausgesetzt sind. Bei der Reaktion des Hohenpriesters auf Jesu Stellungnahme hebt Mt in 26,65 im Vergleich zu Mk 14,63 stärker den Vorwurf der Gotteslästerung heraus. Denn er rahmt das hohepriesterliche Votum durch die eröffnende, redaktionell eingefügte Behauptung "er hat Gott gelästert" und die abschließende, aus der Mk-Vorlage übernommene Feststellung "ihr habt die Gotteslästerung gehört". Die Stellungnahme der Ratsmitglieder gestaltet Mt 26,66b abweichend von Mk 14,64b in direkter Rede und lässt so seine Leser und Leserinnen zu unmittelbaren Zeugen ihres Schuldspruches werden. Anders als Mk 14,64b.65a differenziert er in 26,66b.67a auch nicht zwischen den von allen Ratsmitgliedern gefällten Schuldspruch und der von einigen initiierten Misshandlung Jesu. Angesichts der Eimnütigkeit, die auch in der mt Gestaltung der Szene unter den Ratsmitgliedern in der Zielsetzung herrscht, Jesus zu Tode zu bringen (26,59; vgl. 26,3-5 !), will Mt damit kaum andeuten, dass der Schuldspruch nicht einhellig erfolgt sei. Vielmehr weitet er durch die fehlende Differenzierung den Kreis derer, die sich aktiv an der Misshandlung Jesu beteiligen, auf alle Ratsmitglieder auf, die sich umnittelbar zuvor für die todeswürdige Schuld Jesu ausgesprochen haben. Es sind sie und nur sie allein, die Jesus misshandeln. Von einer Beteiligung der Knechte weiß Mt dagegen im Unterschied zu Mk 14,65b nicht zu erzählen. Die Misshandlung selbst konzentriert sich in mt Darstellung (26,67) vor allem auf das Angesicht Jesu, das gezielt bespuckt und geohrfeigt wird. Damit gleicht Mt das Geschick Jesu in dieser Situation noch enger dem des jesajanischen Gottesknechtes an (vgl. Jes 50,6 in der Septuaginta-Version). Zugleich wird so die Verachtung, die die Ratsmitglieder Jesus entgegenbringen, noch stärker betont. Dazu passt auch, dass sie ihn lächerlich machen wollen, indem sie ihn nicht nur wie bei Mk zu prophetischem Reden auffordern, sondern die Prophetengabe zu hellseherischer Fähigkeit herabwürdigen (26,67b): Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich geschlagen hat?
Die zahlreichen redaktionellen Eingriffe, die Mt an seiner Mk-Vorlage vornimmt, zeugen von seinem systematischen Bemühen, die Jerusalemer Offiziellen in ein noch schlechteres Licht zu stellen. Der gezielte Einsatz von Falschzeugen, das missbräuchlich verwendete Wissen des Hohenpriesters über Jesu messianische Würde und die Einmütigkeit, mit der die Ratsmitglieder Jesus schuldig sprechen, misshandeln und verspotten: All dies lädt dem Hohen Rat in der mt Gestaltung des jüdischen Verfahrens gegen Jesus die Hauptverantwortung für dessen Hinrichtung auf, die mit unfairen Mitteln, wider besseres Wissen und mit aller Energie betrieben wird. Mit 26,69 setzt die mt Erzählung von der Verleugnung Jesu durch Petrus ein. Die wichtigsten redaktionellen Veränderungen dieser Passage gilt es
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
jetzt in den Blick zu nehmen. In 26,70 hebt Mt in Ergänzung zu Mk 14,68 ausdrücklich den Öffentlichkeitscharakter der ersten Verleugnung hervor: Nicht nur gegenüber der Magd, sondern gegenüber allen (emprosthen pan ton) gibt Petrus vor, nicht zu wissen, wovon sie redet, als sie ihn auf seine Zugehörigkeit zu Jesus anspricht. Nach dem bereits mk vorgegebenen Ortswechsel des Petrus (Mt 26,71a par. Mk 14,68b) greift eine andere Magd gegenüber den Anwesenden die Feststellung der ersten fast wortgleich auf (26,71b): Dieser war bei Jesus aus Nazaret. (vgl. 26,69c: Auch du warst bei Jesus aus Galiläa.)
Damit wird der mt Petrus zweimal ausdrücklich in eine unmittelbare Verbindung mit Jesus gebracht, während die mk Magd die dabei stehenden Leute auf seine Zugehörigkeit zur Gefolgschaft Jesu aufmerksam macht (Mk 14,69). Die Feststellung beider Mägde enthält in mt Gestaltung jeweils auch einen Verweis auf die Herkunft Jesu (26,69c: Galiläa und - zugespitzt auf den Heimatort - 26,71 b: Nazaret), der ihn implizit als potentiellen Aufrührer qualifiziert (~ 3.9.1.). Entsprechend heftig fällt dann auch die Reaktion des mt Petrus in 26,72 aus. Während Mk nur knapp kommentiert: "Er aber leugnete abermals" (14,70a), referiert Mt die zweite Verleugnung Petri in direkter Rede (26,72b): Ich kenne den Menschen nicht.
Bereits sie zielt somit direkt gegen die Person Jesu, dessen Namen Petrus hier ebenso wenig in den Mund nimmt wie in der dritten mk Verleugnung (14,71 b). Zudem verweist Mt noch eigens darauf, dass Petrus schon diese zweite Verleugnung Init einem Eid versieht (26,72a). Die Steigerung in der Erzähldramatik ist unverkennbar. Wie schon bei Mk, so greifen auch in der Darstellung des Mt die umherstehenden Leute den Hinweis der Magd bestätigend auf (Mt 26,73 par. Mk 14, 70b.c). Allerdings präzisieren sie bei Mt, nach welchem Kriterium sie Petrus zweifelsfrei als Galiläer identifizieren: Wahrhaftig, auch du bist (einer) von ihnen, schon dein Dialekt verrät dich nämlich.
Nun wird also auch der mt Petrus auf seine Zugehörigkeit zur galiläischen Gefolgschaft Jesu angesprochen, und das Indiz seiner Sprachfarbung lässt sich nicht widerlegen. Seine Reaktion (26,74a) entspricht im Wesentlichen der Mk-Vorlage (14,71), jedoch verzichtet Mt auf das Demonstrativum "diesen (Menschen)" und auf den kurzen Relativsatz "von dem ihr sprecht". Dadurch gleicht er die Petrusaussage in V. 74a exakt der in V. 72b an. Eine Steigerung zwischen der zweiten und der dritten Verleugnung erzielt Mt dadurch, dass zum Eid nun noch die (Selbst-)Verfluchung hinzukommt. Wie schon erwähnt (~ 3.9.1.) weiß Mt in Übereinstimmung mit Lk gegen
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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Mk nur von einem einzigen Hahnenschrei. Entsprechend streicht er in 26,74b aus Mk 14,72a "zum zweiten Mal" (ek deuterau). Die Erinnerung an Jesu Voraussage (Mt 26,75a par. Mk 14,72b) löst auch beim mt Petrus Reue aus, die sich allerdings in einer heftigeren Weise Bahn bricht. Denn bei Mt weint Petrus nicht nur (Mk 14, 72c), sondern er weint bitterlich (pikras ) (26,75b). Zudem wird hier gegen Mk noch eigens festgehalten, dass Petrus zuvor hinausgeht, den Bereich des hohenpriesterlichen Domizils also verlässt. Die Dienerschaft des Hohenpriesters wird somit nicht Zeuge seiner bitteren Tränen, die seine Worte Lügen straft. Im Vergleich zu Mk weist die mt Verleugnungsszene also eine kontinuierliche Steigerung der Erzähldramatik auf, die besonders an den Reaktionen Petri greifbar wird. Beachtung verdient auch, dass der mt Petrus zweimal direkt bestreitet, Jesus zu kennen. Die Abschlussnotiz der gesamten Verhör-/Verleugnungsszene gestaltet Mt in 27,lf in engem Anschluss an Mk 15,1. Abgesehen davon, dass er in 27,2 über Mk hinaus Pilatus eigens als Statthalter tituliert, ist allenfalls dies erwähnenswert: In 27,1 erwähnt Mt ausdrücklich im Unterschied zu Mk, dass der Beschluss der Jerusalemer Offiziellen auf den Tod Jesu zielt. Damit ruft er das von ihnen verfolgte Ziel einmal mehr schonungslos in Erinnerung.
3.9.3. Die lukanische Bearbeitung: Lk 22,54-23,1 Abgesehen von der Umstellung der Erzählfolge (~ 3.9.) gestaltet Lk die Verleugnungs-Nerhörszene im Vergleich zu Mk auch wesentlich straffer. In die Überstellungsnotiz 22,54a integriert er mit einer einleitenden Partizipialwendung knapp den Verhaftungs akt selbst, den er zuvor unerwähnt gelassen hatte (~ 3.8.3.). Da die Jerusalemer Offiziellen nach lk Darstellung erst bei Tagesanbruch zusammenkommen (22,66), streicht Lk den Versammlungsvermerk Mk 14,53b. Dass Petrus Jesus "bis in den Hof des Hohenpriesters hinein" (Mk 14,54a) von weitem folgt, glaubt Lk offenbar aufgrund der Zielangabe in 22,54a ("sie fiihrten ihn [Jesus] in das Haus des Hohenpriesters") voraussetzen zu dürfen. 22,55 entspricht der Sache nach Mk 14,54b. An die Beschreibung der nächtlichen Szenerie schließt Lk in 22,56-62 unmittelbar die Verleugnungserzählung selbst an. Ihre von Mk vorgegebene Dreigliedrigkeit behält er bei. Bei der Gestaltung der drei Teilszenen (22,56f - 22,5822,59f) akzentuiert er freilich anders als seine mk Vorlage. Der Anstoß zur ersten Verleugnung geht noch parallel zu Mk von einer Magd aus, die Petrus am Feuer sitzend entdeckt (22,56 par. Mk 14,66b-67a). Allerdings spricht sie nicht Petrus direkt an, sondern stellt über ihn fest (22,56b): Auch dieser war bei ihm.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Im Unterschied zu Mk 14,67a nennt die lk Magd also weder Jesus beim Namen noch verweist sie auf seine Herkunft aus Nazaret. Auf diese Feststellung reagiert der lk Petrus jedenfalls mit den Worten (22,57b): Ich keime ilm nicht, Frau.
Damit verleugnet er bereits in dieser ersten Teilszene direkt und unmittelbar seine persönliche Verbindung zu Jesus (22,57b). Eine solch direkte Verleugnung findet sich bei Mk erst in der dritten Teilszene (Mk 14,71b). Die zweite Teilszene (22,58) setzt Lk von der ersten nicht durch einen Oliswechsel des Petrus (Mk 14,68b) ab, sondern durch eine Zeitnotiz (kurz daratif [V. 58a]). Nur in dieser zweiten Teilszene der lk Verleugnungerzählung wird Petrus direkt angesprochen, und zwar von einem nicht näher identifizierten Anderen (heferas). Dieser sieht ihn und spricht ihn auf seine Zugehörigkeit zur Gefolgschaft Jesu an (22,58a): Auch du bist (einer) von ihnen.
Die Antwort des lk Petrus ist vordergründig eine bloße Verneinung dieser Zuordnung (22,58b): Mensch, ich bin es nicht.
Doch dürfte dieses petrinische "ich bin es nicht" (auk eimi) von Lk in bewusstem Kontrast zum späteren Bekenntnis Jesu vor dem Hohen Rat (22,70b: "Ihr habt es gesagt: Ich bin es [egö eimi]") gestaltet sein. Während Jesus sich im Wissen um den ihm drohenden Tod- vor seinen Ge~nern mit der hoheitsvollen Offenbarungsformel "Ich bin es" zu seiner Gottessohnschaft bekennt, verleugnet Petrus seine Jüngerschaft in der Furcht vor den Konsequenzen durch ein verzagtes "Ich bin es nicht". Seine Bereitschaftserklärung, mit Jesus Gefangenschaft und Tod zu teilen (22,33), ist vergessen. Die dritte Teilszene der lk Verleugnungserzählung (22,59f) ist von der zweiten wiederum durch eine Zeitangabe abgesetzt ("und nach ungefähr einer Stunde ... " [V. 59a]). Erneut stellt "irgendein Anderer" (alias fis) über Petrus fest (22,59b): Wahrhaftig, auch dieser war bei ihm, er ist nämlich auch ein Galiläer.
Dieses Votum hat Lk unverkennbar aus der ersten und dritten mk Teilszene (14,67b.70b) komponiert. Es spielt auf das Bei-Jesus-Sein Petri als Mitglied des engsten Jüngerkreises an (vgl. Mk 14,67b ~ 3.9.1.), einmal mehr jedoch ohne Jesu Namen oder Herkunft zu nennen, die in der gesamten lk Verleugnungserzählung unerwähnt bleiben. Entsprechend unvorbereitet wirkt daher die aus Mk 14,70b übernommene Begründung, Petrus sei auch Galiläer. Zu dieser überraschend kontextlosen Begründung passt dann freilich erzähle-
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risch gut die Ahnungslosigkeit vortäuschende Antwort des lk Petrus, die sich an der ersten Reaktion des mk Petrus (Mk 14,68a par. Mt 26,70b!) orientiert (22,60a): Mensch, ich weiß nicht, was du sagst.
Im Vergleich zu mk Verleugnungserzählung und mehr noch zu ihrer mt Bearbeitung fällt auf, dass der lk Petrus wesentlich gefasster und ruhiger reagiert. Zwar leugnet auch er seine Verbindung zu Jesus und seine Zugehörigkeit zum Jüngerkreis. Doch lässt er sich - im Unterschied zu Mk 14,71a par. Mt 26,74a; Mt 26,72 - weder zu einem Schwur noch gar zu einer (Selbst-) Verfluchung hinreißen. Darin dürfte sich erneut die lk Tendenz zeigen, das Versagen der Jünger und zumal des Petrus abzumildern. In denkbar engstem zeitlichen Zusammenhang zu dritten Reaktion Petri (22,60a) ("und sogleich während er noch redete ... ") lässt Lk den Hahnenschrei folgen. Doch ist dieser Hahnenschrei in lk Darstellung nicht unmittelbarer Auslöser der Erinnerung Petri an Jesu Voraussage. Vielmehr nimmt hier Jesus gleich darauf Blickkontakt mit Petrus auf und ruft erst so die Erinnerung wach (22,61): Und der Herr drehte sich um und sah Petrus an, und Petrus erinnerte sich des Wortes des Herrn ... Dieses szenische Zusammentreffen von Petrus und Jesus ist in der lk Darstellung der Verleugnungs-/Verhörerzählung im Unterschied zur mk/mt Version nur deshalb möglich, weil nach Lk das Verhör Jesu vor dem Hohen Rat nicht sofort des Nachts - und damit zeitgleich zur Petrusverleugnung -, sondern erst bei Tagesanbruch stattfIndet (22,66). Lk, der im unmittelbaren Anschluss an das Ende der Verleugnungsszene die Misshandlung Jesu durch seine Bewacher erzählt (22,63--65), setzt also voraus, dass sich Jesus mit seinem Bewachertrupp ebenso im Hof aufhält wie Petrus (vgl. 22,55) lmd damit Ohren- und Augenzeuge seiner Verleugnung wird. Die vorausgesetzte szenische Anwesenheit Jesu erklärt im Übrigen auch, warum in der lk Verleugnungserzählung von Jesus nur in pronominaler Form ("mit ihm" [V. 56b.59b]) geredet wird.
Bei der Zusammenfassung der Erinnerung an Jesu Voraussage (22,61b) ebenso wie bei der Notiz der reuevollen Reaktion des Petrus (22,62) lehnt sich Lk wie auch Mt recht eng an seine mk Vorlage an. Bemerkenswert sind hier allerdings die gemeinsamen Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen den Mk-Text. Erwähnt sei nur, dass beide Seitenreferenten die Angabe "zweimal" (dis) beim Hahnenschrei streichen, vor allem aber die wörtliche Übereinstimmung beim Abschlussvers (Lk 22,62 par. Mt 26,75b) (~ 3.9.2,): Und er ging hinaus und weinte bitterlich.
Liegt der Schwerpunkt der mk wie der mt Verleugnungserzählung allerdings auf der dritten Teilszene mit ihrer auch emotional aufgewühlten, von Selbst-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
verfluchung und Schwur begleiteten direkten Verleugnung Jesu (Mk 14,71 par. Mt 26,74a), so hat die lk Verleugnungserzählung ihr Zentrum in der zweiten Teilszene (22,58). Nur hier wird Petrus direkt angesprochen. Vor allem aber: Seine Verleugnung ("Mensch, ich bin es nicht. ") bildet den krassen Gegenpol zum späteren Bekenntnis Jesu vor dem Hohen Rat ("Ihr habt es gesagt, ich bin es." [22,70b]). Die sich anschließende Misshandlungsszene (22,63-65) löst Lk aus dem Kontext des Verhörs Jesu vor dem Hohen Rat. In lk Darstellung zeichnen also nur die Bewacher Jesu für seine körperliche und seelische Misshandlung verantwortlich. Im Unterschied dazu ergreifen bei Mk (~ 3.9.1.) wie ihm folgend bei Mt (~ 3.9.2.) die Ratsmitglieder die Initiative zur Misshandlung Jesu und beteiligen sich aktiv und federführend daran. Bei der Schilderung der Misshandlungen im Einzelnen betont Lk gegenüber Mk stärker die verbalen Angriffe (verspotten V. 63; vieles andere lästernd gegen ihn sagen V. 65) neben den körperlichen Attacken (schlagen V. 63). Eine weitere Übereinstimmung zwischen Mt 26,68 und Lk 22,64 gegen die Mk-Vorlage besteht in der Erweiterung der Aufforderung "Weissage!" (Mk 14,65b) um "wer ist es, wer dich schlug?" Damit wird also die mk Aufforderung zum prophetischen Reden bei Mt und Lk degradiert zur Aufforderung, ein hellseherisches Kunststück zu zeigen und wird so in stärkerem Maß zum Bestandteil der Verspottung. Vor allem die Verhörszene (22,66-23,1) strafft Lk gegenüber seiner MkVorlage deutlich. Nach der einleitenden Notiz von der erst bei Tagesanbruch stattfindenden Versammlung der Mitglieder des Hohen Rates (22,66a) folgt unmittelbar, nachdem sie Jesus haben hereinbringen lassen (22,66b), ihre gezielte Frage nach dem Messiasanspruch Jesu (22,67): Wenn du der Christus bist, sage es uns!
Lk streicht somit die Zeugenbefragung, die Mk in 14,55-61 als ersten Teil des jüdischen Verfahrens gegen Jesus ausführlich darstellt, ersatzlos. Während der mk Hohe Rat zumindest den äußeren Schein wahrt und die in der Tora vorgegebenen Prozessregeln im Fall eines Todesurteils beachtet (Dtn 17,6; Num 35,30; vgl. Dtn 19,15), scheinen sich die Ratsmitglieder in lk Darstellung ungeniert darüber hinweg zu setzen. Stattdessen befragen sie nicht der Hohepriester (diff Mk 14,61 b; Mt 26,63b) - Jesus nach seinem messianischen Anspruch. Ein solcher Anspruch stellte zwar keinen Straftatbestand im Frühjudentum dar (~ 3.9.1.). Doch ließ er sich beim römischen Statthalter gegen Jesus verwenden, bei dem zu dieser Zeit die alleinige Kompetenz lag, ein Todesurteil rechtswirksam auszusprechen und zu vollstrecken (~ 3.1.1. Exkurs 1). Lk berücksichtigt bei seiner Gestaltung des jüdischen Verfahrens gegen Jesus offenkundig diese Rechtsgrundlage. So streicht er die Passage der Zeugenbefragung, die den Anschein eines jüdischen Prozesses gegen Jesus erwecken könnte, und schildert die Vorgehensweise der
3.9. Das Verhör J esu durch die jüdischen Autoritäten
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jüdischen Autoritäten historisch plausibel als Befragung Jesu mit dem Ziel, ihn Pilatus als todeswürdigen Kandidaten präsentieren zu können. Die Antwort Jesu gestaltet Lk in ihrem ersten Teil (22,67b-68a) in deutlich struktureller Anlehnung an Jer 38,15. Als König Zidkija den inhaftierten Propheten zu sich rufen lässt und ihn nach einem Gotteswort befragen will, antw0l1et Jeremias ihm: "Wenn ich es dir verkünde, lässt du mich bestimmt umbringen, und wenn ich dir einen Rat gebe, hörst du nicht auf mich."
Der lk Jesus hält den Ratsmitgliedern, die ihn drängen, sich zur Frage eines messianischen Anspruchs zu äußern, formal vergleichbar entgegen: Wenn ich es euch sage, glaubt ihr (mir) nicht. Wenn ich (euch) aber frage, antwortet ihr nicht.
Mit dieser Antwort aber stellt Jesus die Absichten der Fragesteller bloß. Sie fragen weder aus aufrichtigem Interesse noch werden sie aus einer bejahenden Antwort die richtigen Konsequenzen ziehen. Sie fragen vielmehr, um eine Handhabe gegen ihn zu gewinnen. Genau darauf deutet aber schon ihre ausweichende oder ausbleibende Antwort auf Jesu Fragen hin (vgl. etwa 20,1-8.41-44). Jesus aber verweigert sich den Fragestellern nicht, denn er fährt mit der Ankündigung von der Erhöhung des Menschensohnes zur Rechten von Gottes Kraft fort (22,69). Lk rezipiert das bereits in Mk 14,62 vorgegebene Menschensohnwort allerdings nur in seiner ersten Hälfte und lässt den Aspekt des zum Gericht wiederkommenden Menschensohnes beiseite. Damit tritt auch die endzeitliche Umkehr der Rollen Jesu und der jüdischen Autoritäten in den Hintergrund. Lk konzentriert sich vielmehr auf die himmlische Hoheitsstellung an der Seite Gottes, die dem Menschensohn Jesus als Kehrseite aus seiner Erniedrigung im Leiden und Sterben von jetzt an erwächst. Die Zeitangabe "von jetzt an" verbindet Lk 22,69 im Übrigen mit Mt 26,64 gegen Mk 14,62. Allerdings dient diese Zeitangabe bei Mt im Unterschied zu Lk nicht so sehr zur Profilienmg des Gegensatzes zwischen Jesu himmlischer Hoheitsstellung und seiner Erniedrigung im Leiden und Sterben. Mt übernimmt nämlich von Mk auch die zweite Hälfte des Menschensohnwortes mit dem Aspekt der richtenden Funktion des Menschensohnes. Dass diese richtende Funktion die Perspektive ist, die sich für die Jerusalemer Autoritäten aufgrund ihres Vorgehens gegen Jesus "von jetzt an" unwidenuflich eröffnet hat, darauf liegt der Akzent der mt Darstellung (---+ 3.9.2.).
Rücken somit bei Lk Erniedrigung und Erhöhung Jesu eng zusammen, so werden sie bei Joh schließlich miteinander identifiziert. Denn dem Johannesevangelisten gelten Jesu Leiden und Sterben als Verherrlichungsgeschehen (~ 3.1.4.), der Kreuzestod J esu aber als Erhöhung. In 22,70 reagieren die Ratsmitglieder auf Jesu Votum, indem sie ihn nun direkt auf seine Gottessohnschaft hin befragen. Die auch traditionsge-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
schichtlich eng zusammengehörigen christologischen Hoheitstitel (Gesalbter [= Messias/Christus] und Sohn Gottes als Titel des Königs, vgl. Ps 2,6 mit 2,2.7) sind in der mk/mt Hohenpriesterfrage (Mk 14,61 par. Mt 26,63) unmittelbar miteinander verknüpft. Lk trennt sie wohl aus erzählstrategischen Gründen, um so die Befragung Jesu steigernd zu gestalten. In seiner ersten Antwort (22,67b-69) hat der lk Jesus zunächst noch mit dem in der dritten Person formulierten Menschensohnwort ein eher implizites Zeugnis seiner hoheitlichen Stellung abgelegt. Jetzt in seiner zweiten Antwort (22, 70b) bekennt er sich mit der Offenbarungsformel "ich bin es" (egö eimi) direkt und unmissverständlich zu seiner messianischen Würde als Gottessohn. Dies tut er freilich nicht ohne den ironischen Seitenhieb auf die Jelusalemer Offiziellen. Diese insistieren mit ihrer Frage nach seiner Gottessohnschaft (22,70a) darauf, dass er sich dazu äußern soll, ob er einen messianischen Anspruch erhebt (22,67a). Nun dreht Jesus den Spieß um und verweist sie eigens darauf, dass sie mit ihren Fragen selbst die Antwort schon geben (22,70b): Ihr selbst (hymeis) sagt es, ich bin es.
Zugleich gestaltet Lk dieses Bekenntnis Jesu, wie bereits erwähnt, in bewusstem Gegensatz zur Verleugnung Petri in 22,58b. Damit aber haben die Mitglieder des Hohen Rates ihr Ziel erreicht, das sie mit der Befragung Jesu verfolgten. Sie haben eine klare Aussage von ihm, dass er einen messianischen Anspruch erhebt (22,71). Dass dieser Anspruch keinerlei politische Implikationen enthält, interessiert sie nicht. Das Bekenntnis Jesu lässt sich trefflich gegen ihn bei Pilatus verwenden. So verschwenden die Ratsmitglieder auch keine Zeit mehr. In ihrer rhetorischen Frage "Was haben wir noch Zeugenaussagen nötig?" (22,70a) klingt noch die mk/mt Zeugenbefragung nach. Damit aber halten sich die Ratsmitglieder in lk Darstellung gar nicht erst auf. Unverzüglich beenden sie ihre Sitzung, indem sie sich erheben, und ruhren Jesus zu Pilatus (23,1).
3.9.4. Diejohanneische Version Joh 18,13-28a Die joh Version der Verhör-Nerleugnungsszene weist verschiedene Eigenheiten gegenüber der synoptischen Überlieferung auf. So führt das in 18,12 genannte Groß aufgebot des heidnisch-jüdischen Verhaftungstrupps - bestehend aus der römischen Kohorte samt ihrem Befehlshaber und den Dienern der Juden (konkret der jüdischen Offiziellen) - nach Auskunft von 18,13a Jesus zunächst zu Hannas. Zumeist wird hier eine unter historischer Rücksicht irritierende Besonderheit der joh Erzählung überlesen, nämlich dass ein römischer Tribun einen mit Hilfe seiner Soldaten verhafteten Mann zu einem Vertreter der jüdischen Instanz, nicht aber zu seinem eigenen Vorgesetzten bringt. Doch dürfte sich dieser Erzählzug einmal mehr dem joh Bemühen
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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verdanken, die gottfeindliche Welt ungeachtet ihrer internen Differenzen als geeint in ihrem Vorgehen gegen Jesus darzustellen (~3.8.4.). Hannas betritt in 18,13 zum ersten Mal die Bühne des Geschehens in der joh Jesusgeschichte. Sein Auftritt dürfte denjoh Adressatenkreis überraschen und seinen wohl von der Kenntnis des MkEv geprägten Erwarturigshorizont - ähnlich der Fußwaschung in der Erzählung vom letzten Mahl - durchkreuzen. Daher stellt Joh in 18,13b Hannas erst eirunal als Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters Kaiaphas vor. Mit dieser verwandtschaftlichen Beziehung begründet Joh zugleich auch, warum die Überstellung Jesu zunächst an Hannas erfolgte. Hannas amtierte von 6-15 n.Chr. selbst als Hoherpriester, kurze Zeit später bekleidete sein Solm Eleazar rur ein Jahr das oberste Priesteramt. 18 n.Chr. wurde schließlich sein Schwiegersolm Kaiaphas zum Hohenpriester ernannt und übte diese Funktion bis 37 n.Clrr. aus. In den 64 Jahren zwischen der Übernahme der direkten römischen Oberherrschaft über Judäa 6 n.Chr. und der Tempelzerstörung 70 n.Chr. hatten also Hannas und Kaiaphas insgesamt 28 Jahre (!) als Hohepriester nicht nur das höchste kultische Amt inne, sondern waren damit zugleich auch oberste politische Vertreter des jüdischen Volkes gegenüber den römischen Oberherren. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil die Römer im Allgemeinen mit der Absetzung und Neuernennung von Hohenpriestern rasch bei der Hand waren, so dass die lange Amtszeit von Hannas und die noch längere von Kaiaphas als außergewöhnlich bezeichnet werden müssen. Sie geben daher Anlass zur Vermutlmg, dass sowohl Hannas als auch Kaiaphas politisch geschiela zu talaieren verstanden. Das Vorgehen gegen den religiös unliebsamen Wanderprediger aus Nazaret darf durchaus als konkreter Beweis rur solch politisch geschicktes Talaieren gewertet werden. Durch seine Tempelaktion (~ 3.1.1. Exkurs 1) hatte Jesus die Priesteraristokratie mit dem Hohenpriester an der Spitze in ihrer theologisch-religiösen Funktion herausgefordert und in Frage gestellt. Diesen Angriff auf ihre Autorität konnten und wollten sie nicht hinnehmen. Daher bot es sich an, ihn den Römern als politischen Rebell und Messiasprätendenten zu präsentieren. Dies war umso glaubwürdiger, als Jesus Anhänger um sich gesammelt hatte und seine religiös motivierte Aktion im Tempel ihm auch als politische Aktion gegen den Tempel als sensible Schaltstelle im Machtgeruge zwischen der römischen Oberherrschaft und der jüdischen Selbstverwaltung ausgelegt werden konnte. Zum al rur den Hohenpriester Kaiaphas dürfte der Fall Jesu von Nazaret eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, sich dem römischen Statthalter gegenüber einmal mehr als zuverlässig und loyal darzustellen. Seine Position als Hoherpriester, die ganz von den Römern abhing, konnte er dadurch nur festigen.
In der joh Version des jüdischen Verfahrens gegen Jesus erscheint nun Hannas als der eigentliche Drahtzieher und als der starke Mann hinter dem amtierenden Hohenpriester Kaiaphas, dessen eigene Rolle völlig blass bleibt. Historisch plausibel an der joh Darstellung ist zumindest, dass Hannas auch nach seiner Amtszeit als Hoherpriester noch Einfluss besessen und dass er seinen Schwiegersohn mit Rat und Tat unterstützt haben dürfte. Daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass das Wort des Hannas auch in der Sache Jesu von Nazaret unter den jüdischen Entscheidungsträgern und zumal bei Kaiaphas einiges Gewicht besaß. Als eher unwahrscheinlich hat dagegen zu gelten, dass Kaiaphas seinem Schwiegervater die Fäden des Geschehens überlassen haben sollte.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Mit 18,14 blendet Joh zurück zur Szene des Todesbeschlusses gegen Jesus 3.1.4.). Er erinneti an das in dieser Szene von Kaiaphas abgegebene Votum (11,50), das unbeabsichtigt und allein kraft der dem Hohenpriester mit dem Amt gegebenen prophetischen Kompetenz die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu offen legte (11,51). Ruft Joh also in 18,14 die Erinnerung an dieses Votum auf, so geht es ihm tiefgründiger um diese Heilsbedeutung. Sie nämlich durchkreuzt alle feindlichen Absichten, Jesus ein für allemal aus dem Weg zu räumen, ja sie verkehrt diese Absichten geradezu in ihr Gegenteil! Mit 18,15 wendet sich Joh dann Petrus zu. Im Unterschied zur synoptischen Darstellung folgt er aber Jesus nicht allein, sondern ist in Begleitung eines anderen Jüngers (V. 15a). Dieser andere Jünger bleibt anonym, wird aber näher charakterisiert als "mit dem Hohenpriester bekannt". (~
Verbreitet ist unter Berufung auf 20,2 die Identifizierung dieses anderen Jüngers in 18,15 mit dem sog. Lieblingsjünger (---+ 3.1.5.). Doch ist hier Vorsicht geboten. Zwar tritt "der andere Jünger" auch in 20,2(-10) an der Seite Petri auf. Doch zum einen wird in der Erzählszene vom Wettlauf der beiden Jünger zum leeren Grab am Ostermorgen wiederholt vom anonym bleibenden Jünger als von dem anderen Jünger (mit bestimmten Artikel!) gesprochen (20,2.3.4.8). Und zum anderen wird dieser andere Jünger sofort in 20,2 identifiziert als der, "den Jesus liebte" (vgl. 13,23; 19,26). Dagegen ist der anonyme Jünger, der zusammen mit Petrus in 18,15 Jesus folgt, nicht ein bestimmter anderer Jünger, sondern (ohne Artikel!) ein anderer Jünger. Und bezeichnenderweise wird er auch nicht als der Jünger, "den Jesus liebte" identifiziert. Vielmehr wird er näher charakterisiert im Blick auf seine Bekanntschaft mit dem Hohenpriester.
Diese Charakterisierung will dabei wohl weniger etwas über eine freundschaftliche Beziehung dieses Jüngers zum Hohenpriester aussagen als vielmehr darüber, dass er im hohenpriesterlichen Haushalt kein Unbekannter war. Wodurch er bekannt war, interessiert dabei überhaupt nicht. Erzählstrategisch wichtig ist allein, dass er als Bekannter wie selbstverständlich Zutritt zum hohenpriesterlichen Domizil erhält (18, 15b) und dass er auch Petrus diesen Zutritt verschaffen kann (18, 16b). Nachdem er diese erzählstrategisch wichtige Funktion erfüllt hat, verschwindet er sang- und klanglos von der Bühne des Geschehens. Auf Vermittlung dieses anderen Jüngers darf Petrus also in den Bereich des hohenpriesterlichen Hauses eintreten. Dabei spricht ihn - wie schon in der synoptischen Darstellung der Szene - zunächst eine zum Haushalt gehörige Magd (18,17; vgl. Mk 14,66 parr. Mt 26,69; Lk 22,56) an, die bei Joh allerdings ausdrücklich die Funktion der Türhüterin versieht (18,17a; vgl. 18, 16b). Sie fragt nun Petrus (18, 17b): Du bist doch nicht etwa auch einer von den Jüngern dieses Menschen?
Im Unterschied zu ihrer "synoptischen Kollegin" (Mk 14,67b parr. Mt 26,69b; Lk 22,56b) ist sich die joh Magd also keineswegs sicher, ob Petrus zur Gefolgschaft Jesu gehört. Sie fragt ihn vielmehr und formuliert dabei ihre
3.9. Das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
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Frage so ("doch nicht etwa" [me]), dass sie eher eine verneinende Antwort erwartet. Die Antwort des Petrus entspricht dieser Erwartung (18,17c): Ich bin es nicht (ouk eimi)!
In ihrer Formulierung bildet diese Antwort die exakt negative Entsprechung zur göttlichen Selbstoffenbarungsformel "ich bin es (ego eimi)", mit der der joh Jesus sich dem Verhaftungstrupp offen zu erkennen gibt und ihn zugleich handlungsunfähig macht (18,4--:-8 ~ 3.8.4.). Ähnlich wie Lk (vgl. 22,58b mit 22,70b ~ 3.9.3.) kontrastiert also auch Joh die kleinmütig-ängstliche Verleugnung Petri mit dem souverän-hoheitsvollen Bekenntnis Jesu. Doch wiegt dieser Kontrast im Gesamt der joh Jesusgeschichte ungleich schwerer und entlastet damit Petrus zugleich stärker. Denn ungeachtet des christologischen Anspruchs, den Jesus in synoptischer Darstellung erhebt, steht im Mittelpunkt seiner Verkündigung Gottes neues Heilshandeln an Israel, genauer: die hereinbrechende Herrschaft Gottes. Im JohEv tritt dieses Zentralthema dagegen völlig in den Hintergrund. Stattdessen dominiert hier die Selbstoffenbarung Jesu in seinem Verhältnis zum göttlichen Vater (v gl. 8,18f). In den Kontext dieser Selbstoffenbarung gehören auch die zahlreichen, für das JohEv charakteristischen Ich-bin-Worte. Diese werden zumeist mit (wechselnden) Metaphern verbunden, die das vom Vater bestimmte Sein Jesu in seiner Heilsbedeutung aus stets wechselnder Perspektive veranschaulichen: Ich bin das Brot des Lebens (6,35.48) - Ich bin das lebendige Brot (6,51) - Ich bin das Licht der Welt (8,12) - Ich bin der gute Hili (10,11.14) - Ich bin die Auferstehung und das Leben (11,25); (vgl. ferner 10,7.9; 14,6; 15,1.5). Stärker noch als die metaphorischen Ich-bin-Worte stellen die absoluten Ich-bin-es-Worte des joh Jesus seine göttliche Identität heraus, handelt es sich bei ihnen doch um die göttliche Selbstoffenbarungsformel (vgl. Ex 3,14 LXX). Dieser Selbstoffenbarungsfonnel bedient sich der joh Jesus jedoch nicht erst gegenüber dem Verhaftungstrupp in 18,5.6.8. Vielmehr zieht sich der Gebrauch dieser göttlichen Offenbarungsformel dmch Jesus wie ein roter Faden dmch das JohEv hindmch (4,26 [als Messiasbekenntnis gegenüber der samaritanischen Frau]; 6,20; 8,24.28.58; 13,19). Den Lesern und Leserinnen des JohEv wird also immer wieder - nicht nm, aber eben auch - durch die Ich-bin-es-Worte die göttliche Identität Jesu ins Bewusstsein gerufen. Im Vergleich zm joh Jesusdarstellung arbeiten die Synoptiker dagegen stärker die menschliche Seite Jesu heraus, ohne dabei freilich etwa seine Gottessohnschaft, sein Herrsein oder seine hoheitliche Funktion als endzeitlich richtender Menschensohn zu vernachlässigen. Gleichwohl: Wenn der lk Jesus in 22,70b vor dem Hohen Rat auf die Frage nach seiner Gottessohnschaft antwortet: "Ihr habt es gesagt: Ich bin es", so benutzt er hier erstmal im LkEv auf sich selbst bezogen die göttliche Selbstoffenbarungsforme1. 9 Das Jesusbild, das der Verfasser der lk Jesusgeschichte seinen Lesern und Leserinnen bisher vermittelt hat, ist aber - wie gesagt - anders akzentuiert als das joh Jesusbild. Daher dürfte Jesus von ihnen in dieser Szene vor dem Hohen Rat zugleich auch in seiner Situation des menschlichen Ausgeliefertseins wahrgenOlmnen werden. Ungeachtet dieser aussichtslosen Situation und den drohenden Tod vor Augen, bekennt sich der lk Jesus vor seinen Gegnern zu seiner Würde als Gottessohn, ein Bekenntnis, dem die äußeren Umstände Hohn zu sprechen scheinen. Gerade aber das unerschrockene Bekenntnis Jesu in seiner menschlich prekären Situation macht es überhaupt vergleichbar mit der Verleugnung Petri, der sich offenbar aus Fmcht vor möglichen Konsequenzen nicht unerschrocken zu seiner Jüngerschaft bekennt. Dagegen ist die Verleugnung des joh Petrus (18,17c.25c) auf einer anderen Ebene angesiedelt Zuvor nur in 21,8 als von Jesus vorausgesagter, falscher Anspruch von Pseudo-Christussen in den Endzeitwirren; danach nur in 24,39 als Wort des Auferstandenen.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
als das Bekenntnis des joh Jesus (18,5.6.8). Hier nämlich treffen in dem Kontrast zwischen "Ich bin es" und "Ich bin es nicht" göttliche und menschliche Sphäre einander gegenüber. An der göttlichen Situationsüberlegenheit Jesu lässt sich aber das menschliche Versagen Petri schlechterdings nicht messen.
An diese erste Verleugnung Jesu durch Petrus, die bereits beim Betreten des hohenpriesterlichen Domizils gegenüber der Türhüterin erfolgt (18,17) schließt Joh zunächst nur eine Notiz über den Aufenthalt des Petrus an (18,18). Sachlich entspricht diese Notiz im Wesentlichen Mk 14,54b parr. Mt 26,58b (ohne das Motiv des Feuers und des Wärmens); Lk 22,55. Doch geht sie in der synoptischen Darstellung der ersten Verleugnung voran.
Danach blendet Joh sich aus der Szenerie des sich zusammen mit den hohenpriesterlichen Knechten und Gerichtsdienern am Feuer wärmenden Petrus aus. Durch diese Unterbrechung der Verleugnungserzählung reizt er das erzählerische Spannungspotential stärker aus als Mk und Mt. Diese nämlich stellen mit der Aufenthaltsnotiz des Petrus nur die narrativen Weichen für seine dreifache Verleugnung, die sie dann im Anschluss an die Schilderung des jüdischen Verfahrens gegen Jesus in einem Zug erzählen. Mit 18,19 leitet Joh dann seine Darstellung der Befragung Jesu durch Hannas ein, den er erst hier unvermittelt als Hohenpriester tituliert. Offenbar setzt Joh also ein entsprechendes Hintergrundwissen bei seinen Adressaten voraus, dass es sich bei Hannas um einen ehemaligen Inhaber des obersten Tempelamtes handelt. Gegenstand dieser Befragung sind nach Joh Jesu Jünger und Jesu Lehre. Damit umreißt er äußerst lmapp und präzise die beiden Aspekte, die vor dem römischen Statthalter als justitiabel und als entscheidend für eine Hinrichtung als politischer Rebell galten: Hatte Jesus Anhänger um sich geschart, so dass die Möglichkeit zu einem bewaffneten Aufstand gegeben war? Hatte er sich kritisch zur römischen Oberherrschaft geäußert? Die Leser und Leserinnen des JohEv wissen indes, dass Jesus weder mit seinen Jüngern noch mit seiner Lehre politische Ambitionen verbindet. In seiner Antwort (18,20f) geht der joh Jesus mit keiner Silbe auf seine Jünger ein und stellt sich mit seinem Schweigen noch einmal schützend vor sie (vgl. 18,8f): Seine Gegner haben es auf ihn abgesehen, seine Jünger sollen sie daher aus dem Spiel lassen. Auch zu seiner Lehre nimmt Jesus inhaltlich nicht Stellung. Er verweist vielmehr auf ihren Öffentlichkeits charakter. Da er stets "in Freimut zur Welt" (18,20) geredet hat, ist seine Lehre allseits bekannt. Wenn er dann zusätzlich auf die Synagoge und den Tempel als Stätten seiner Lehrtätigkeit verweist, "wo alle Juden zusammenkommen" (18,20), so impliziert dies: Er unterstellt auch Hannas die entsprechende Kenntnis seiner Lehre, denn als Mitglied des Priesteradels und ehemaliger Hoherpriester darf bei Hannas wohl eine häufige Präsenz im Tempelbereich und ein Wissen um alle Vorgänge dort vorausgesetzt werden. Sofern er aber wirklich ahnungslos
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ist, empfiehlt Jesus ihm, sich bei den Ohrenzeugen kundig zu machen (18,21). In dieser Antwort, die Hannas keinerlei Handhabe gegen ihn eröffnet, dokumentiert sich einmal mehr die souveräne Situationsüberlegenheit des joh Jesus. Nicht Hannas reagiert nun auf diese Antwort J esu, sondern einer der Knechte, der dabei stand (18,22a). Und zwar schlägt er Jesus - wohl aus Ausdruck verachtungsvoller Zurechtweisung - ins Gesicht und kommentiert diese Handlung mit den Worten (18,22b): Antwortest du so dem Hohenpriester?
Doch erneut erweist sich Jesus als der eigentliche Herr der Lage. Weder lässt er sich einschüchtern noch provozieren. Vielmehr weist er dem Knecht mit ruhigen Worten die Unangemessenheit seines HandeIns nach (18,23). Sofern der Knecht aus Jesu Antwort frevlerische Worte gegen den Hohenpriester und damit einen Verstoß gegen das Gebot in Ex 22,27 (LXX) herausgehört haben sollte, soll er ihm - so Jesu Aufforderung - diese Frevelrede nachweisen. Sofern Jesu Antwort aber zutreffend war, schuldet der Knecht Jesus eine Erklärung rür die Ohrfeige. Ersteres aber kann der Knecht nicht und letzteres wird er kaum wollen. Daher entzieht er sich diesem Dilemma, in das ihn Jesus gebracht hat, durch den Verzicht auf jegliche Reaktion. Auch der Hohepriester schaltet sich in den kurzen Disput zwischen seinem Knecht und Jesus nicht ein. Vielmehr schickt er Jesus - ohne dass ihn die Befragung weiter gebracht hätte - gefesselt wie einen Schwerverbrecher zum (amtierenden) Hohenpriester Kaiaphas (18,24). Ungeachtet seiner äußeren Situation hat derjoh Jesus also auch vor Hannas die Fäden des Geschehens in der Hand behalten. Mit 18,25 greift Joh den Erzählfaden von der Verleugnung des Petrus, den er in 18,18 verlassen hat, wieder auf. Dabei entsprechen sich 18,18b und 18,25a fast wortgenau: Petrus steht - zusammen mit den hohenpriesterlichen Knechten und den Gerichtsdienern (18, 18b) - beim Feuer und wärmt sich. Da sprechen sie ihn wie zuvor die Türhüterin (18, 17b) auf seine Verbindung zu Jesus an (18,25b): Du bist doch nicht etwa auch einer von seinen Jüngern?
Und der joh Petrus antwortet ein zweites Mal mit der Negation eines "Ichbin-Wortes" (18,25c; vgl. 18,17c). Diese zweite petrinische Antwort leitet Joh jedoch im Unterschied zur ersten ("Jener sagt [legei ekeinos] ... ") mit der eindeutigen Qualifizierung als Leugnung ein ("Jener leugnete und sprach [ernesato ekeinos kai eipen] .. ,"). Jetzt hakt freilich einer von den Knechten des Hohenpriesters nach, der eigens als Verwandter des von Petrus verletzten Malchus (18,10) vorgestellt wird. Denn er ist überzeugt, Petrus während der Verhaftunsaktion in Jesu Nähe gesehen zu haben (18,26). Entsprechend
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formuliert er seine Frage (eingeleitet mit ou[k}) auch so, dass er Zustimmung erwartet: Habe ich dich denn nicht im Garten mit ihm zusammen gesehen?
Damit spitzt sich die Situation ftir den joh Petrus zu. Denn offenbar will loh dies signalisieren: Der Verwandte des Malchus hat sich aufgrund der Schwertaktion das Gesicht des Petrus eingeprägt. Zugleich ruft die Erinnerung an diese Schwertaktion aber auch den Mut der Verzweiflung in Erinnerung, mit der sie ausgeftihrt wurde. Dieser Mut aber hat Petrus jetzt im Hof des hohenpriester lichen Domizils völlig verlassen. So leugnet er also nochmals, wie Joh kommentierend festhält (l8,27a). Die Szene schließt in joh Darstellung in 18,27b mit der Notiz vom Hahnenschrei. Im Unterschied zu den synoptischen Versionen verzichtet Joh darauf, die Tränen der Reue, die Petrus angesichts der durch den Hahnenschrei wach gerufenen Erinnerung an Jesu Voraussage vergießt, zu vermerken. Durch diesen Verzicht wird die Notiz vom Hahnenschrei bei ihm ausschließlich zum Erinnerungssignal für die Leser und Leserinnen seines Evangeliums. Diese sollen sich dadurch einmal mehr des göttlichen Vorherwissens Jesu bewusst werden. Die joh Verhör-N erleugnungserzählung schließt in 18,28a mit dem knappen Vermerk, dass Jesus von Kaiaphas aus zum Prätorium, das heißt zum Amtssitz des römischen Statthalters, gebracht wurde. Die Begegnung Jesu mit dem amtierenden Hohenpriester Kaiaphas gestaltet Joh erzählerisch also nicht aus, sondern überblendet sie gleichsam mit dem zweiten Teil der Verleugnungsszene (l8,24.25-27.28a).
3.10. Der Tod des Judas Mt 27,3-10 Zum ersten Mal seit Beginn der Passionserzählung in 26,1 weicht Mt in 27,3-10 mit der Szene vom Tod des Judas von der mk Erzählfolge ab u.nd schiebt einen Sondergutabschnitt ein. Doch auch Lk bietet in Apg 1,16-20 eine Erzählung vom Ende des abtrünnigen Zwölferkreismitglieds. Mt 27,3-10 3 Als nun Judas, der ihn verraten [besser: ausgeliefert] hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohenpriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück 4 und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert. Sie antworteten: Was geht das uns an? Das ist deine Sache. 5 Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich.
20 15 In diesen Tagen erhob sich Petrus im Kreis der Brüder - etwa hundertzwanzig waren zusammengekommen - und sagte: 16 Brüder! Es musste sich das Schriftwort erfüllen, das der Heilige Geist durch den Mund Davids im Voraus über Judas gesprochen hat. Judas wurde zum Anführer derer, die Jesus gefangen nahmen. 17 Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst. 18 Mit dem Lohn für seine Untat kaufte er
3.10. Der Tod des Judas Mt 27,3-10 6 Die Hohenpriester nahmen die Silberstücke und sagten: Man darf das Geld nicht in den Tempelschatz tun; denn es klebt Blut daran. 7 Und sie beschlossen, von dem Geld den Töpferacker zu kaufen als Begräbnisplatz für die Fremden. 8 Deshalb heißt dieser Acker bis heute Blutacker. 9 So erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Sie nahmen die dreißig Silberstücke - das ist der Preis, den er den Israeliten wert war 10 und kauften für das Geld den Töpferacker, wie mir der Herr befohlen hatte. (Einheitsübersetzung)
145 sich ein Grundstück. Dann aber stürzte er vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus. 19 Das wurde allen Einwohnern von Jerusalem bekannt; deshalb nannten sie jenes Grundstück in ihrer Sprache Hakeldamach, das heißt Blutacker. 20 Denn es steht geschrieben im Buch der Psalmen: Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen! Und: Sein Amt soll ein Anderer erhalten! (Einheitsübersetzung)
Daher darf mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass Mt das Sondergut in 27,3-10 nicht völlig selbständig kreierte, sondern auf traditionelle Vorgaben zurückgreifen konnte. Denn die mt wie die lk Erzählvariante weisen bei aller Unterschiedlichkeit doch bemerkenswetie Motivübereinstimmungen bzw. -ähnlichkeiten auf. So wissen beide Varianten vom Erwerb eines Ackers für den Verräterlohn. Allerdings tätigt nach Apg 1, 18a Judas selbst diesen Kauf. Nach mt Lesart dagegen erwerben die Hohenpriester nach dem Tod des Judas das Grundstück (Mt 27,7). Beide neutestamentlich bezeugten Versionen vom Ende des Judas stimmen auch in der Bezeichnung des erworbenen Grundstücks als Blutacker (Mt 27,8: agros haimatos; Apg 1,19: chörion haimatos) überein. Dabei erklärt freilich Lk diese Bezeichnung, die er zudem noch in aramäischer Version (Hakeldamach) bietet, damit, dass Judas auf diesem Grundstück den Tod fand (Apg 1,18.19). Mt dagegen leitet sie in 27,6.8 davon ab, dass der Acker mit dem Verräterlohn erworben wurde und somit das Blut Jesu an ihm haftet. Sowohl Mt als auch Lk schildern ferner den Tod des Judas als nicht natürliches, sondern als spektakuläres Ende. Nach Auskunft von Mt 27,5 erhängt Judas sich, nach Apg 1,18b stirbt er dagegen durch einen Unfall, der deutlich die Kennzeichen eines Gottesgerichtes besitzt. Schließlich beurteilen Mt wie Lk gleichermaßen das Geschehen unter dem Aspekt der Schrifterfullung (Mt 27,9f; Apg 1,20). Allerdings bemühen beide entsprechend ihrer unterschiedlichen Akzentuierungen je andere Schriftbelege. Lk greift auf Ps 69,26 10 und Ps 109,8 11 zurück. Der mt Schriftbeleg dagegen stützt sich vornehmlich auf Sach 11,13 12 (zu Sach 11,12 ~ 3.3.2.). Das Töpfermotiv verdankt sich je-
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II
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Ps 69,26 (EÜ): Ihr Lagerplatz soll veröden, in ihren Zelten soll niemand mehr wohnen. Ps 109,8 (EÜ): Nur gering sei die Zahl seiner Tage, sein Amt soll ein anderer erhalten. Sach 11,13 (EÜ): Da sagte der Herr zu mir: Wirf ihn (den dreißig Silberstücke betragenden Lohn, V. 12) dem Schmelzer hin! Hoch ist der Preis, den ich ihnen wert bin. Und ich nahm die dreißig Silberstücke und warf sie im Haus des Herrn dem Schmelzer hin.
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doch wohl Jer 18,2f13, während das Ackerkaufmotiv an Jer 32,7-9 erinnert. Die mt Schlusswendung ("wie mir der Herr aufgetragen hat") ist verschiedentlich in alttestamentlichen Schriften belegt (Ex 40,16; Num 8,3 u.ö.) und besitzt einen fast formelhaften Klang. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Erzählungen sich historisch nicht harmonisieren lassen, will man sich nicht in das Reich der Spekulation und Phantasie flüchten. Nicht nur der antike Brauch, Bösewichtern literarisch ein böses Ende zu bereiten, sondern auch die - besonders bei Mt ausgeprägte - Anlehnung der gesamten Erzählstruktur an alttestamentliche Motive raten zudem dringend davon ab, die beiden Erzählungen als Bericht zu verstehen. Vielmehr ist das mt und lk Sondergut vom Ende des Judas der sich rasch ausbildenden Judaslegende zuzuweisen, die das Bild dieses Mitglieds der Zwölferkreises - im doppelten Sinn des Wortes - zunehmend verdunkelte, ja schwärzte. Der einzige historische Haftpunkt, der das mt und lk Sondergut verbindet, dürfte im Wissen um ein Grundstück nahe bei Jerusalem bestehen, das den Namen "Blutacker" trug. Bei der Ausbildung der Judaslegende, zu der auch ein angemessen schreckliches Ende gehörte, bot sich dieses unheimliche Gelände wohl als geeignete Kulisse an. Zugleich war damit nachträglich sein schon lange bekannter Name erklärt. Wie Judas wirklich an sein Ende gekommen ist, dmüber wissen wir - historisch geurteilt - nichts. Es verdankt sich primär der Legendenbildung, dass die Gestalt des Judas Iskariot in späterer Zeit auf die Menschen eine solche Faszination ausübte, wie es zumeist nur Bösewichtem gelingt. Diese Faszination hat ihren Niederschlag nicht zuletzt in der breiten literarischen wie künstlerischen Rezeption der Judasgestalt gefunden. Dennoch wird man dem Mensch Judas nicht gerecht, wenn man ihn nur durch die legendarische Brille betrachtet. Als Mitglied des Zwölferkreises genoss er das Vertrauen Jesu und der anderen elf Jünger dieser Gruppe. Und es gibt keinen Hinweis darauf, dass Judas vor den Passionsereignissen dieses Vertrauen je missbraucht hätte. Er selbst hat wohl nicht weniger als die anderen Mitglieder des Zwölferkreises seine Hoffuungen auf Jesus und dessen Verkündigung gesetzt und ist ihm nicht weniger begeistert gefolgt. Einen Grund, warum Judas schließlich Jesus den jüdischen Autoritäten in die Hände spielte, geben die Evangelien nicht an. Sie halten nur das Faktum als solches fest. Das lässt noch am ehesten vermuten, dass Judas aus sachlichen und nicht persönlichen Erwä~ngen zu seinem Handeln bewogen wurde. Vielleicht war er enttäuscht, dass Jesus die politischen Implikationen seiner Gottesreichsbotschaft nicht deutlich nach außen hin gegenüber der verhassten römischen Besatzungsmacht geltend machte. Möglicherweise wollte Judas daher die Erfüllung seiner eigenen messianischen Erwartungen, die er mit Jesu Wirken verband, forcieren. Oder anders gesagt: Er wollte Jesus durch dessen Auslieferung gleichsam aus der Reserve locken und zum Handeln zwingen. Dass er mit dieser Strategie scheiterte, weil er einer Fehlinterpretation von Jesu Person und Wirken erlag, rechtfertigt jedoch keineswegs, ihn gleichsam als Inkarnation des Bösen in Grund und Boden zu verdammen. Dies wird weder ihm als einstmals begeisterten Jünger Jesu gerecht noch dem Kem der Botschaft Jesu von der Barmherzigkeit Gottes.
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Jer 18,2f (EÜ): Mach dich auf und geh zum Haus des Töpfers hinab. Dort will ich dir meine Worte mitteilen. / So ging ich zum Haus des Töpfers hinab. Er arbeitete gerade mit der Töpferscheibe. Jer 32,7-9 (EÜ): Hanamel, der Sohn deines Onkels Schallum, wird zu dir kommen und sagen: Kauf dir meinen Acker in Anatot; denn dir steht es nach dem Einlösungsrecht zu, ihn zu kaufen. / Tatsächlich kam Hanmnel, der Sohn meines Onkels, dem Wort des Herrn gemäß zu mir in den Wachhof und sagte zu mir: Kauf doch meinen Acker in Anatot (im Land Benjmnin); denn du hast das Erwerbs- und Einlösungsrecht. Kauf ihn dir! Da erkannte ich, dass es das Wort des Herrn war. / So kaufte ich von Hanamel, dem Sohn meines Onkels, den Acker in Anatot und wog ihm das Geld ab; siebzehn Silberschekel betrug die Summe.
3.10. Der Tod des Judas Mt 27,3-10
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Das mt Sondergut in 27,3-10 bietet rur eine solch differenzierte Betrachtung des Judas - im Unterschied zur lk Version in Apg 1 - durchaus Ansatzpunkte. Denn bei Mt erkennt Judas sein Versagen und versucht im allerletzten Augenblick noch zu retten, was zu retten ist. So ruft bei ihm die Verurteilung Jesu Reue hervor, die ihn handeln lässt (27,3). Er sucht die Jerusalerner Offiziellen auf, an die er Jesus um 30 Silberstücke verraten hatte (26,14-16 --+ 3.3.2.) und die rur Jesu Verurteilung verantwortlich zeichnen (26,59.65f; 27,1 --+ 3.9.2.). Bei ihnen nun bemüht er sich, die Folgen seines Verrates rückgängig zu machen. Er gibt ihnen den Verräterlohn zurück (27,3b) und bekennt dabei (27,4a): Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut verraten habe.
Doch die Hohenpriester und Ältesten reagieren nun nicht in der von Judas wohl erwünschten und erhofften Weise, indem sie aus seinem Bekenntnis die einzig angemessene Schlussfolgerung zögen: Wenn das so ist, dann haben wir unschuldiges Blut verurteilt.
Ihre Reaktion entspricht vielmehr einer Haltung, die Mt bereits in der Verhörszene durch das von ihm eingebrachte Motiv der bewussten Suche nach Falschzeugen betont hatte (--+ 3.9.2.). Die Jerusalemer Offiziellen interessiert nicht die Frage von Schuld oder Unschuld. Sie verfolgen vielmehr skrupellos ihr Ziel, Jesus zu töten. So kurz vor dem Erreichen dieses Ziels sind sie daher keineswegs bereit, sich durch Judas aufhalten zu lassen. Damit aber lassen sie die ihnen durch die Reue und das Schuldbekenntnis des Judas eröffnete letzte Chance verstreichen, ihr Willkürurteil gegen Jesus zu revidieren. Stattdessen weisen sie jede Zuständigkeit und Verantwortung von sich und wälzen sie gleichzeitig auf Judas ab (27,4b): Was geht das uns an? Sieh du zu!
Hohepriester und Älteste bleiben also unberührt von den Gewissensqualen des Judas. Wenn Mt dann sofort im nachfolgenden Vers vom Selbstmord des Judas erzählt, der somit in der Erzählkonzeption als Verzweiflungstat angesichts der abweisenden Haltung der Jerusalemer Offiziellen erscheint, dann weist er ihnen unverkennbar eine Mitverantwortung am Tod des Judas zu. Mt lenkt also die Aufmerksamkeit, die in der lk Version vom Ende des Judas (Apg 1,18-20) sich ganz auf Judas selbst konzentriert, auf die Hohenpriester und Ältesten, genauer: auf das deutlich höhere Maß ihrer Schuld im Verhältnis zur Schuld des Judas. Ohne Judas aus seiner Verantwortung zu entlassen - er selbst bekennt sich ja in mt Darstellung durch sein Schuldeingeständnis dazu (27,4a) - entlastet Mt diesen unglücklichen Jünger Jesu durch die Schilderung der buchstäblich letzten Minuten seines Lebens und belastet zugleich die Jerusalemer Offiziellen. Unmittelbar vor seinem Selbstmord aber hatte der mt Judas noch die Sil-
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berstücke seines Verräterlohnes in den Tempel geworfen (27,5). So hatte er sich also entsprechend seiner Erkenntnis der Unschuld Jesu noch vor seinem Sterben von dem mit den Hohenpriestern ausgemachten Handel (26,14-16 ~ 3.3.2.) distanziert. Nach 27,6 sehen sich nun die Hohenpriester vor das Problem gestellt, was sie mit dem Geld anfangen sollen: Es ist nicht erlaubt, es zum Tempelschatz hinzuzulegen, denn es ist Blutgeld.
Dass sie es als "Blutgeld" bezeichnen, ist ein indirektes Eingeständnis ihrer Schuld. Angesichts ihrer sonstigen Skrupellosigkeit wirkt die skrupulöse Beachtung des Toragebotes (Dtn 23,19) schon fast grotesk. Als Ausweg entscheiden sich die Hohenpriester schließlich dafür, mit dem Verräterlohn einen Töpferacker als Begräbnisstätte für Fremde zu erwerben (27,7). Dieser Acker, so hält Mt für seine Leser und Leserinnen dann in 27,8 eigens fest, ist deshalb bis in seine Zeit unter dem Namen Blutacker bekannt. Durch das Erfüllungszitat (27,9f) erklärt er abschließend das erzählte Geschehen für schriftgemaß und somit im Heilsplan Gottes vorgesehen.
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus 3.11.1. Die markinische Darstellung Mk 15,2-15 Die mk Pilatusszene gliedert sich in zwei sehr unterschiedlich große Abschnitte. Der erste Abschnitt umfasst die Verse 2-5 und erzählt vom Verhör Jesu durch den römischen Statthalter auf der Grundlage der von den Jerusalerner Offiziellen gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Der zweite, erheblich umfangreichere Abschnitt umfasst die Verse 6-15. Er widmet sich den vergeblichen Bemühungen des Pilatus, Jesus unter Zuhilfenahme der Passaamnestie vor der Verurteilung und Hinrichtung zu bewahren. Pontius Pilatus ist durch den ersten Bestandteil seines Namens (Gentilname/nomen gentilicium) als Mitglied des samnitisch-römischen Geschlechts der Pontier ausgewiesen. Der zweite Bestandteil seines Namens (Beiname/cognomen) könnte allerdings darauf hinweisen, dass er ein freigelassener Sklave war (Pilatus: der mit dem pileus [traditionelle Filzkappe der Römer, die Sklaven bei ihrer Freilassung als Zeichen ihrer neu gewonnenen Freiheit trugen] Ausgezeichnete). Trifft dies zu, dann dürfte sein ehemaliger Herr dem Geschlecht der Pontier angehört haben. Denn es war üblich, dass Freigelassene den Gentilnamen ihres früheren Besitzers annahmen. Auf jeden Fall gehörte Pilatus dem römischen Ritterstand an, sei es nun, dass er hineingeboren wurde, sei es dass er sich hochgearbeitet hatte. Der Rang eines militärischen Präfekten nämlich, den er von 26/27-36/37 n.Chr. in Judäa innehatte und der auch durch eine Inschrift aus Cäsarea belegt ist, war Mitgliedern des Ritterstandes vorbehalten. Als potentieller Unruheherd war Judäa 6 n.Chr. als kaiserliche Provinz 3. Klasse eingestuft worden und unterstand seither faktisch dem Kriegsrecht (~ 3.1.1. Exkurs 1). Es wurde von erfahrenen und zuverlässigen Militärs verwaltet, die die Interessen der römischen Hegemonialmacht vertraten. Dass Pontius Pilatus unter Tiberius 26/27 n.Chr. also zum Praefectus Iudaeae ernannt wurde, zeugt davon, dass er dem Kaiser und seinen Beratern als militärisch versiert, zuverlässig und durchsetzungsfähig galt. Er übte das ihm übertragene Amt ein volles
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Jahrzehnt aus und hat damit nach seinem unmittelbaren Amtsvorgänger Valerius Gratus (15-26 n.Chr.) die zweitlängste Amtszeit aller römischen Statthalter zwischen 6 und 66 n.Chr. aufzuweisen, von denen die meisten nur zwischen einem und vier Jahren amtierten. Diese überdurchschnittlich lange Phase seiner Statthalterschaft deutet darauf hin, dass Pilatus die in ihn gesetzten Erwartungen aus römischer Sicht auch tatsächlich errullte. Anders als es die frühjüdischen Quellen (Philo von Alexandrien; Flavius Josephus) nahe legen, dürfte dies Pilatus nicht allein auf dem Weg der bracchialen, sondern auch der diplomatischen Durchsetzung grundlegender römischer Interessen gelungen sein. Möglicherweise fand er dabei im Hohenpriester Kaiaphas einen kongenialen Mitstreiter auf jüdischer Seite. Denn auch die ungewöhnlich lange Amtszeit des Kaiaphas (18--:-37 n.Chr.), die fast zwei Jahrzehnte betrug und dabei die Statthalterzeit des Pilatus in Judäa vollständig einschloss, zeugt von politischem und diplomatischem Geschick (~ 3.9.4.). Gerade der Fall Jesu von Nazaret darf wohl als Beispiel rur die im Allgemeinen gute Zusammenarbeit zwischen Kaiaphas und Pilatus gelten. Allerdings sah Pilatus hier wohl kaum einen Anlass zu diplomatischer Intervention zugunsten Jesu, wie dies die Darstellung in allen vier Evangelien gleichermaßen nahe legt. Vielmehr dürfte angesichts der von Kaiaphas und den übrigen Jerusalemer Offiziellen gegen Jesus erhobenen Anschuldigung die unbedingte Loyalität gegenüber dem Kaiser und die Wahrung römischer Machtinteressen bei Pilatus den Ausschlag zuungunsten des Geschicks eines Einzelnen gegeben haben. Oder anders gesagt: Es ist berechtigterweise zu vermuten, dass Pilatus mit Jesus "kurzen Prozess" gemacht und die Todesstrafe gegen ihn bedenkenlos verhängt hat. Die Pilatus entlastende Prozessversion in den Evangelien verdankt sich wohl zwei Motiven: Zum einen wuchs mit fortschreitender Zeit die Enttäuschung darüber, dass sich die überwiegende Mehrheit unter den Juden der Evangeliumsverkündigung verschloss. Nicht zuletzt diese Enttäuschung brachte es mit sich, die jüdische Seite zunehmend als die Hauptschuldigen am Tod Jesu zu belasten. Zum anderen waren die urchristlichen Gemeinden auf das Wohlwollen der römischen Instanzen angewiesen, und zwar nicht zuletzt, weil im Zentrum ihres Glaubens das Bekenntnis zu einem als politischen Rebell Gekreuzigten stand. Angesichts dessen empfahl es sich, Pilatus nicht nur weitgehend von der Verantwortung rur Jesu Tod zu entlasten, sondern mehr noch: ihn die Schuld Jesu sogar anzweifeln zu lassen. Nach Auskunft von Jos.ant. 18,85-89 soll Pilatus im Jahr 36 n.Chr. aufgrund einer brutalen Aktion gegen Samaritaner am Berg Garizim von Vitellius, dem ihm übergeordneten Statthalter von Syrien, abgesetzt und nach Rom geschickt worden sein, um sich dort vor dem Kaiser zu verantworten. Eine Bestätigung hierrur aus einer anderen Quelle gibt es allerdings nicht. Angesichts der deutlich kritischen, wenn nicht feindlichen Tendenz des Josephus Pontius Pilatus gegenüber ist seiner Darstellung allerdings mit Vorsicht zu begegnen. Letztlich ist nicht ausgeschlossen, dass Pilatus mit dem Tod des Tiberius 37 n.Chr. auch regulär aus dem Amt schied. Das Ende des Pilatus wurde zwar ähnlich wie das des Judas legendarisch entfaltet (Selbstmord, Märtyrertod), doch eine historisch glaubwürdige Information darüber besitzen wir - ebenfalls mit Judas vergleichbar - nicht.
Die erste Teilszene des Verhörs Jesu beginnt nun bei Mk in 15,2a im übergangslosen Anschluss an die Überstellungsnotiz in 15,1 b mit einer ersten Frage des Pilatus: Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden?
Diese Frage greift aus römischer Perspektive und damit zugleich unter politischem Vorzeichen die Hohepriesterfrage nach der Messiaswürde und Gottessohnschaft Jesu aus 14,61c auf(~ 3.9.1.): Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Nur unter diesem römischen Blickwinkel und angesichts seiner politischen Bedeutung - der Infragestellung der römischen Oberherrschaft - ist der Anspruch auf die Messiaswürde für den Vertreter Roms interessant und justitiabel. Mit der präzisen und scheinbar unvermittelten Pilatusfrage will Mk offenbar andeuten, dass die Jerusalemer Offiziellen dem römischen Präfekten Jesus zuvor als genau solch politisch motivierten Messiasanwärter präsentiert hatten. Auf die theologisch-religiös orientierte Hohepriesterfrage hatte der mk Jesus uneingeschränkt bejahend mit der göttlichen Offenbarungsformel "Ich bin es" geantwortet (14,62a). Denn in der Situation seines Ausgeliefertseins an seine Todfeinde konnte es kein Missverständnis mehr geben: Die messianische Hoheit und Würde Jesu dokumentiert sich paradoxerweise gerade in seiner Erniedrigung und seinem Leiden. Dagegen reagiert der mk Jesus auf die Pilatusfrage deutlich zurückhaltender (15,2b): Das sagst du
(~
legeis).
Die politischen Implikationen, mit denen Pilatus den von Jesus vor dem Hohen Rat bestätigten Messiasanspruch versieht, kann und will dieser sich nicht zu eigen machen. So widerruft er zwar mit seiner Antwort in 15,2b keineswegs seinen theologisch fundierten Messiasanspruch. Doch macht er zugleich deutlich, dass die politische Variante "König der Juden" nicht seinem Verständnis entspricht, sondern die "Lesart" des Pilatus ist. Allerdings ist es die für den römischen Präfekten allein nachvollziehbare Lesart, die ihm nach mk Erzählstrategie nur die Jerusalemer Offiziellen nahegelegt haben können. Entsprechend lenkt Mk in 15,3 dann auch die Aufmerksamkeit auf die Hohenpriester. Nur sie als die Inhaber der obersten Tempelämter, nicht aber alle übrigen, bisher auch am Verfahren gegen Jesus beteiligten Mitglieder des Hohen Rates (vgl. 14,55.64b; 15,1) vertreten also nach mk Darstellung die Anklage gegen Jesus vor dem römischen Präfekten. Nun also sehen sie sich offenkundig genötigt, angesichts der taktisch klugen Antwort Jesu ihre Hauptbeschuldigung durch zahlreiche weitere Beschuldigungen zu untermauern. Unausgesprochen setzt Mk voraus, dass Jesus auf diese Beschuldigungen nicht reagiert. Daher schaltet sich Pilatus in 15,4 wieder in das Geschehen ein und fordeli Jesus mit einer Frage auf, zu diesen Beschuldigungen Stellung zu nehmen. Allerdings vergeblich! Denn Jesus verliert kein einziges Wort mehr und versetzt Pilatus dadurch in Erstaunen (15,5). Das Verhör Jesu durch Pilatus gliedert sich somit in zwei Phasen: die Phase des Redens und die Phase des Schweigens Jesu. Die erste Phase ist zweistufig: Auf die Frage des Pilatus nach der Messianität Jesu (V. 2a) antwortet dieser knapp und bündig (V. 2b). Die zweite Phase ist dagegen dreistufig. Sie wird eingeleitet durch die Beschuldigungen, die die Hohenpriester vor Pilatus gegen Jesus vorbringen (V. 3). Darauf folgt eine Aufforderung Jesu zur Stellungnahme durch Pilatus (V. 4), auf die Jesus jedoch mit beharrlichem Schweigen reagiert (V. 5). Diese zwei Phasen finden sich so be-
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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reits auch beim Verhör Jesu durch den Hohenpriester, allerdings in umgekehrter Abfolge. Denn dieses Verhör wird eröffnet durch die dreistufige Phase des Schweigens Jesu: Auf die Beschuldigungen, die die Falschzeugen gegen ihn erheben (14,56-59), folgt die Aufforderung Jesu durch den Hohenpriester, dazu Stellung zu beziehen (14,60). Doch Jesus schweigt (14,61a). Jetzt schließt sich die zweistufige Phase des Redens Jesu an. Denn auf die Frage des Hohenpriesters nach seiner Messianität (14,61 b) antwortet Jesus mit der göttlichen Offenbarungsformel und mit der Aussicht auf das endzeitliche Gericht, das vom Menschensohn vollzogen werden wird (14,62). Die Abfolge der beiden Phasen in den beiden mk Verhörszenen ist also chiastisch angeordnet. Dabei liegt der Schwerpunkt entsprechend der mk Erzählkonzeption, durch die die zwei Verhörszenen deutlich aufeinander hin komponiert sind, unverkennbar bei der Phase des Redens Jesu, das jeweils durch die Frage nach seiner Messianität hervorgerufen wird (14,61 b62 / 15,2a.b). Durch den parallelen Aufbau der beiden drei stufigen Phasen des Schweigens Jesu, die jeweils durch die Beschuldigungen gegen ihn eingeleitet werden, finden sich zudem die Falschzeugen und die Hohenpriester auf einer Stufe wieder. Mit 15,6f wird der zweite Abschnitt der mk Pilatusszene eingeleitet. Die beiden Verse stellen die notwendigen Hintergrundinformationen zum Verständnis der anschließend geschildelien Kommunikation zwischen Pilatus, der Volksmenge und den Hohenpriestern bereit. Zunächst erwähnt Mk in V. 6, dass Pilatus jeweils an einem Fest - konkret hier also zum Passafest ihnen - gemeint sind die Bewohner Judäas und wohl speziell Jerusalems einen Gefangenen freizulassen pflegte, den sie sich ausbaten. Außerhalb der Evangelien gibt es keinerlei Quellenbeleg für den Brauch solch einer Festamnestie. Allerdings stand den römischen Statthaltern prinzipiell das Recht der Begnadigung zu, sei es im Einzelfall, sei es im Rahmen einer größer angelegten Amnestie. Im Fall eines bereits gefällten Todesm1eils aber lag das Gnadenrecht allein beim Kaiser in Rom. Für das Ende der Amtszeit des Statthalters Albinus (62-64 n.ehr.) bezeugt Jos.ant. 20,15 eine Generalamnestie für alle wegen leichterer Vergehen Verurteilten. Dagegen ließ Albinus noch vor Eintreffen seines Nachfolgers Gessius Florus alle Gefangenen, die wegen eines todeswürdigen Verbrechens inhaftiert waren, hinrichten. Inwieweit hinter Mk 15,6 ein tatsächlich geübter lokaler Festbrauch aus Jerusalem aufscheint, muss angesichts bestätigender Belege außerhalb der Evangelientradition letztlich offen bleiben. Jedenfalls handelt es sich nach mk Darstellung sowohl bei Barabbas (15,7) als auch bei Jesus - die Freigabe zur Kreuzigung erfolgt erst in 15,15b - mTI noch nicht rechtskräftig zum Tode verurteilte Personen. Damit stand es also grundsätzlich in der Kompetenz des Pilatus, den einen oder anderen freizulassen. Denkbar ist also durchaus, dass in einem frühen Stadium die Passionsüberlieferung im Zusammenhang mit dem Prozess Jesu vor Pilatus von einem Bemühen des römischen Präfekten um eine Einzelfallamnestie erzählte. 15 Demnach hätte Pilatus also dem Volk vorgeschlagen, angesichts des Festes ihnen einen Gefangenen freizugeben. Während er dabei an Jesus dachte, hätte das Volk dage15
Die in Mk 15,6 verwendete imperfektische Verbform apelyen kann sowohl den Aspekt des Versuches der Handlung (er bemühte sich freizulassen ~ Imperf. de conatu) als auch den Aspekt der Wiederholung (er pflegte freizulassen ~ iteratives Imperfekt) anzeigen.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
gen Barabbas gefordert. Aus diesem überlieferungsgeschichtlich frühen Motiv einer Einzeljallamnestie im Dienst der Entlastung des Pilatus könnte daml in einem überlieferungsgeschichtlch späteren Stadium der Brauch einer Festtagsamnestie geworden sein. Von diesem Brauch geht Mk zweifellos aus, wie auch 15,8 umnissverständlich bestätigt.
Nachdem Mk also in 15,6 auf die übliche Festtagsamnestie verwiesen hat, führt er mit 15,7 eine neue Person ein, deren Namen er mit Barabbas angibt. Bei diesem Namen, der übersetzt "Sohn des Vaters" heißt, handelt es sich um einen verbreiteten jüdischen Eigennamen. Daher sollte man sich vielleicht doch vor der Überinterpretation hüten, dass Mk mit der Formulierung "der Barabbas genannte" (ho legomenos Barabbas) anzeigen wolle, dass dieser Name eigentlich nur Jesus zusteht. Wichtiger ist ihm offenbar der Verweis darauf, warum Barabbas inhaftiert ist: Es war aber der mit dem Namen Barabbas zusmmnen mit Aufständischen gefangen, die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten.
Wenngleich Mk Barabbas nicht als Rädelsführer der Aufständischen präsentiert, so rechnet er ihn doch zweifellos zu ihren Reihen und macht ihn dadurch mitverantwortlich für ein bei diesem Aufstand begangenes Tötungsdelikt. Bei Barabbas handelt es sich also in mk Darstellung im Unterschied zur falschen Beschuldigung gegen Jesus tatsächlich um einen politisch motivierten Straftäter. Mit 15,8 blendet Mk zurück in die aktuelle Situation: Die Volksmenge zieht zum Jerusalemer Amtssitz des Pilatus und erbittet von ihm die Einhaltung der traditionellen Festtagsamnestie. Dabei bietet V. 8 jedoch keinerlei Hinweis, dass das Volk sich schon für einen bestimmten Kandidaten eptschieden hätte. Der mk Pilatus lenkt die Aufmerksamkeit der Menge daher von sich aus auf die Person Jesu von Nazaret, indem er sie fragt (15,9): Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freilasse?
Mit 15,10 liefert Mk sogleich die Erklärung für diese Taktik des Römers nach: Pilatus hat bereits durchschaut, dass die bei ihm gegen Jesus vorgebrachte Anklage der Hohenpriester gegenstandslos ist und nur als Vorwand dient, sich seiner zu entledigen. Ihr eigentliches Motiv ist kein politisches, sondern ein persönliches: Neid! 15,11 lenkt den Blick von Pilatus weg auf eben diese hochpriesterliche Gruppe und bestätigt dabei die Einschätzung des Statthalters. Denn der Vers erzählt von der Manipulation des Volkes durch die Hohenpriester, das diese aufwiegeln, sich statt für die Freilassung Jesu für die Freilassung des Barabbas einzusetzen. Da nämlich die Hohenpriester - wie schon das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten ergab (~ 3.9.1.) - ihre Vorwürfe gegen Jesus nicht rational begründen können, müssen sie das Volk emotional gegen ihn vereinnahmen. Diese Strategie erweist sich als zielführend. Denn 15,12 setzt stillschweigend voraus, dass
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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die Volksmenge bereits im Sinn der Hohenpriester zugunsten des Barabbas bei Pilatus interveniert hat. Entsprechend fährt die Erzählung hier fort mit einer erneuten (vgI. 15,9) Rückfrage des römischen Statthalters: Was wollt ihr? Was soll ich denn mit dem machen, den ihr den König der Juden nennt?
In dieser erstaunten Frage schwingt gleichermaßen Unverständnis wie Ironie des mk Pilatus angesichts der Haltung des Jerusalemer Volkes mit, dem er gleichsam unterstellt, gegen die eigenen Interessen zu handeln. 15,13 richtet sodann die Aufmerksamkeit auf die Reaktion der Volksmenge, wobei der substantivisch verwendete bestimmte Artikel "die" (Mask. PI. hai) die zahlreichen einzelnen Glieder dieser Menge in den Blick fasst. Gerade diese Vielen aber schreien unisono: "Kreuzige ihn!" Eine für Mk nicht untypische erzählerische Nachlässigkeit zeigt sich in der Verwendung des Adverbs "wiederum" (palin). Denn im bisherigen Verlauf der Pilatusszene hat das Volk weder geschrien noch Jesu Kreuzigung gefordert. Möglicherweise ist dieses Adverb Mk aus V. 12 wieder in die Feder gerutscht, zumal dieser Vers ja bereits ein von den Hohenpriestern beeinflusstes Votum der Menge gegen Jesus voraussetzt. Die letzte Rückfrage des mk Pilatus "Was hat er denn Böses getan?" (15,14a) ist seine erste und einzige ausdrückliche Unschuldserklärung Jesu. Das Volk bleibt hierauf erwartungsgemäß die allein mögliche Antwort "Nichts!" schuldig. Stattdessen reagiert die aufgehetzte Menge geradezu irrational mit einer intensivierten Wiederholung ihrer Forderung (15, 14b): Sie aber schrieen über die Maßen (bzw. noch mern"): Kreuzige ihn!
15,15 schließt die Szene vor Pilatus ab. Auf die nachdrückliche Intervention der Volksmenge reagiert er, indem er letztlich Barabbas freilässt, Jesus aber zur Geißeiung 16 und anschließenden Kreuzigung an die Soldaten (vgI. 15,16) übergibt. Ausdrücklich nennt Mk hier auch das Motiv des römischen Statthalters: Er wollte das Volk zufrieden stellen. Der mk Pilatus wird also als willfährig, ja beinahe ängstlich angesichts des tobenden Mobs gezeichnet: Obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt ist (V. 14) und das eigentliche Motiv erkennt, das Jesus vor sein Tribunal gebracht hat (V. 10), fehlt ihm doch letztendlich der Mut, entsprechend seiner Überzeugung zu handeln. Stattdessen lässt er mit Barabbas einen gewaltbereiten Aufrührer frei und handelt dabei gegen die eigenen römischen Interessen. Historisch betrachtet hätte ein Mann mit solch geringem Durchsetzungsvermögen wohl erst gar nicht den Statthalterposten im unruhigen Judäa erhalten, geschweige denn 10 Jahre lang innegehabt. Doch ist diese Charakterisierung des Pilatus in der mk
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Die Geißelung war nicht nur eine eigenständige Form der Bestrafung. Sie war auch integraler Bestandteil der römischen Kreuzesstrafe.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Passionserzählung der Preis dafür, dass er von der Hauptschuld am Tode Jesu entlastet wird. Zu dieser Entlastung trägt auch bei, dass Mk im Kontext der Pilatusszene kein ausdrückliches Todesurteil aus dem Mund des Statthalters überliefert. Es ist vielmehr der Hohe Rat, der in 14,64 dieses Todesurteil spricht. Pilatus dagegen ist der Vollstrecker wider besseres Wissen und wider Willen. Damit stellt Mk freilich die historischen Gegebenheiten auf den Kopf(~ 3.1.1. Exkurs 1). 3.11.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 27,11-25 Die mt Pilatusszene weist mit der Untergliederung in die beiden Teile 1. Verhör Jesu durch den römischen Statthalter aufgrund der von den jüdischen Autoritäten erhobenen Anklage (27,11-14 par. Mk 15,2-5) und 2. Scheitern der Intervention des Pilatus zugunsten Jesu (Mt 27,15-26 par. Mk 15,6-15) dieselbe Makrostruktur wie die mk Pilatusszene auf. Allerdings setzt Mt vor allem im zweiten Teil zahlreiche eigene Akzente, die sich integral in seine Gestaltung der Jesusgeschichte einfügen. Mit der Notiz 27,l1a ("Jesus aber stand vor dem Statthalter"), die keine Entsprechung in der Mk-Vorlage besitzt, Imüpft Mt über seine Sonderguteinlage vom Tod des Judas (27,3-10 (~ 3.10) hinweggreifend an den Überstellungsvermerk 27,2 par. Mk 15,1 an. Die Pilatusfrage wie auch die knappe Antwort Jesu in 27,l1b übernimmt er dann wortgetreu aus Mk 15,2. Allerdings nennt er Pilatus, wie schon in 27,2, auch hier nicht bei seinem Namen, sondern bezeichnet ihn mit dem Amtstitel Statthalter bzw. Präfekt (hegemön). In 27,12 präzisiert Mt die Mk-Vorlage, indem er das Schweigen Jesu angesichts der Anschuldigungen der jüdischen Autoritäten v~)fab ausdrücklich erwähnt, während es sich in Mk 15,4 nur aus der zweiten, an Jesus gerichteten Frage des Pilatus erschließt. Darüber hinaus fügt er in 27,12 (par. Mk 15,3) ebenso wie dann auch in 27,20 (par. Mk 15,11) zu den bei Mk als Vertreter der Anklage genannten Hohenpriestern noch die Ältesten hinzu. Aus mt Perspektive verklagen also nicht nur die Hohenpriester als die Inhaber der obersten Tempelämter Jesus vor der römischen Instanz. Vielmehr agieren die Hohenpriester zusammen mit den Ältesten, konkret also der Hohe Rat in seiner Gesamtheit (vgl. zu Mt 26,3f ~ 3.1.2.). So bestätigt sich hier einmal mehr die von Beginn der mt Passionserzählung an zu beobachtende Tendenz, das oberste jüdische Selbstverwaltungsgremium in toto und nicht nur die hochpriesterlichen Amtsträger als treibende Kraft der Hinrichtung Jesu zu präsentieren (vgl. 26,59; 27,1 ~ 3.9.2.). In 27,13 verdient vor allem ein Verbwechsel Beachtung. Die gegen Jesus vorgebrachten Beschuldigungen der Ratsmitglieder bringt Mt 27,12 in Übereinstimmung mit Mk 15,3 durch das Verb kategorein zum Ausdruck. Während Mk in 15,4 aber dieses Verb in den an Jesus gerichteten Worten des Pilatus aufgreift, fragt der mt Pilatus stattdessen den Angeklagten:
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Hörst du nicht, was sie alles gegen dich bezeugen (griechisch: katamartyrein)?
Mit diesem Verbwechsel von "beschuldigen" zu "bezeugen gegen" will Mt offenkundig die Erinnerung seiner Leserinnen und Leser an die Rechtsbeugung wachrufen, deren die Ratsmitglieder sich bei ihrer Befragung Jesu bereits schuldig gemacht hatten. Denn in Ermangelung einer justitiabIen Handhabe gegen Jesus hatten sie sich nach Auskunft von 26,59f gezielt, wenngleich vergeblich um ein Falschzeugnis (griechisch: pseudomartyria) gegen Jesus bemüht (~ 3.9.2.). Vor diesem Hintergrund kann aber auch das Zeugnis, das sie jetzt gegen Jesus in ihrer Anklage vor Pilatus vorbringen, nur ein Falschzeugnis sein. Das sich schon in 27,12 abzeichnende mt Bemühen, das Schweigen Jesu vor dem römischen Statthalter angesichts der zu Unrecht gegen ihn erhobenen Beschuldigungen mehr als Mk zu akzentuieren, bestätigt sich schließlich in 27,14. Schon Mk 15,5 hatte das Schweigen Jesu durch eine doppelte Negation kräftig unterstrichen ("Jesus aber antwOliete gar nichts mehr" [griechisch: ... ouketi ouden apekrithe]). Dies steigert Mt noch einmal, indem er schreibt (27, 14a): Er (Jesus) aber antwortete ihm (Pilatus) nicht, auch nicht auf ein einziges Wort ...
Entsprechend dieser gesteigelien Betonung des Schweigens Jesu hebt Mt auch das Staunen des Statthalters - erneut gegen Mk 15,5 mit seinem Amtstitel bezeichnet - stärker hervor (27, 14b) . .. , so dass sich der Statthalter sehr (lian) wunderte.
Mit 27,15 beginnt der zweite Teil der mt Pilatusszene. Wie seine Mk-Vorlage (15,6) eröffnet auch Mt diesen Teil mit einer erklärenden Notiz zur sog. Passafestamnestie. Allerdings hebt er dabei stärker den Aspekt des festen Brauches hervor ("Jeweils zum Fest pflegte der Statthalter dem Volk einen Gefangenen freizulassen ... "). In 27,16 führt Mt parallel zu Mk 15,7 die Person des Barabbas ein. Anders jedoch als Mk, bei dem Barabbas immerhin als ein politisch motivierter Straftäter vorgestellt wird (Teilnahme an einem Aufstand in Verbindung mit einem Tötungsdelikt ~ 3.11.1.), charakterisiert Mt ihn nur knapp als "berüchtigten Gefangenen" und ruft damit die Vorstellung eines gemeinen Verbrechers hervor. Allein beim mt Text bieten einige Handsclrriften zum Namen Barabbas noch den Vornamen Jesus. Allerdings ist diese Langform textkritisch eher schwach bezeugt. Dies könnte freilich auch damit begründet sein, dass viele Kopisten der Handschriften wohl Vorbehalte empfanden: Der Sünder Barabbas durfte eben nicht denselben Namen tragen wie Christus. Möglicherweise eliminierten sie daher bei Barabbas den Vornamen Jesus.
In 27,17-26 betreffen die wichtigsten mt Abweichungen von der mk Vorlage vor allem die Darstellung der Person und Vorgehensweise des Pilatus. In
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
27,17a vermerkt Mt nur knapp, dass sie - gemeint sein können nur die zahlreichen Menschen, die die in 27,15 genannte Volksmenge bilden - sich versammeln, nicht aber, warum sie sich versammeln. Während nämlich das Volk sich nach Mk 15,8 zu Pilatus begibt, um sein Recht auf die Passaamnestie einzufordern, kommt das Volk bei Mt scheinbar ohne eine feste Absicht beim Statthalter zusammen. Dies ermöglicht es aber, die Aufmerksamkeit in 27, 17b auf die taktisch kluge Vorgehensweise des Pilatus zu lenken. Der mk Pilatus nämlich wird vom Volk an die Passaamnestie erinnert und reagiert darauf mit dem Vorschlag, Jesus freizulassen, den er aus römischem Blickwinkel als "König der Juden" bezeichnet (Mk 15,8f). Der mt Pilatus bringt dagegen von sich aus das Thema der Gefangenenfreilassung zur Sprache. Dabei bietet er dem Volk die Alternative an, Barabbas oder Jesus freizulassen. Aus der Perspektive des Statthalters, die der mt Perspektive entspricht, ist dies freilich nur eine Scheinalternative. Denn bei Barabbas handelt es sich eben um einen "berüchtigten Gefangenen" (vgl. 27,16). Bei Jesus dagegen verweist Pilatus ausdrücklich darauf hin, dass dieser Christus/Messias genannt wird. Anders als in Mk 15,9 bedient sich der römische Statthalter in mt Darstellung also bewusst der theologisch gefüllten jüdischen Terminologie. Das aber bedeutet nicht anderes, als dass er die Entscheidung des Volkes zugunsten Jesu beeinflussen will. Das Motiv dieser Strategie wird in 27,18 genannt, nämlich die mit Mk 15,10 übereinstimmende Erkenntnis des Pilatus, dass die Anklage Jesu durch die jüdischen Autoritäten vor der römischen Instanz auf Neid beruht. 27,19 ist mt Sondergut. Der Vers erzählt von der Ehefrau des Pilatus. Diese lässt ihrem Mann, während er zu Gericht sitzt, die Nachricht von einem Albtraum übermitteln, der sie in der Nacht zuvor Jesu wege!) heimgesucht hatte. Daher lässt sie jetzt ihrem Mann die Warnung zukommen, sich nicht zu Maßnahmen gegen "diesen Gerechten" bewegen zu lassen. Dieser Sondergutvers ist über mehrere Motive mit der mt Jesusgeschichte als ganzer verwoben. So spielt das Traummotiv in der mt Vorgeschichte (Mt1f) eine zentrale Rolle, insofern sowohl Josef (1,20f; 2,13.19f.22b) als auch die heidnischen Magier (2,12) vom Engel des Herrn im Traum (kat' onar) wichtige Handlungsanweisungen bekommen. Auch das Motiv der Gerechtigkeit besitzt einen hohen Stellenwert im MtEv. Gerechtigkeit besteht nach mt Verständnis im Tun des Willens Gottes. Dies entfaltet er exemplarisch ebenfalls schon in der Vorgeschichte an der Person Josefs, der in 1,19 einführend als gerecht vorgestellt wird. Diese Charaktereigenschaft wird dann im Folgenden gleichsam dadurch illustriert, dass Josef die göttlichen Anweisungen, die er erhält, sofort und konsequent in die Tat umsetzt (vgl. Mt 1,20f. 24f; 2,13f. 20-22). Im Zentrum der ersten Aussage, die der mt Jesus am Beginn seines öffentlichen Auftretens macht, steht ebenfalls die Gerechtigkeit. Als er zu Johannes an den Jordan kommt, um sich von ihm taufen zu lassen, wehrt Johannes dieses Ansinnen zunächst zurück mit der Begründung (3,14):
3.11. J esus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Ich habe es nötig, von dir getauft zu werden. Und du kommst zu mir?
Darauf antwortet ihm J esus (3,15): Lass es jetzt zu. So nämlich gehört es sich für uns, die ganze Gerechtigkeit zu erfüllen.
Dieses erste Wort des mt J esus hat eine programmatische Bedeutung. Indem er sich nämlich der Wassertaufe des J ohannes unterzieht und dies als Erfüllung der ganzen Gerechtigkeit,bezeichnet, wird bereits erkennbar, dass er der ihm von Gott aufgetragenen heilsgeschichtlichen Aufgabe (l ,21) nachkommen wird, und zwar bis zur letzten Konsequenz der Lebenshingabe (26,28). Denn im Empfang der Johanne staufe , die im Horizont des göttlichen Gerichts steht (3,7-12), wird der Tod Jesu zu Beginn der mt Jesusgeschichte schon symbolisch vorweggenommen. Diesen Tod aber nimmt Jesus im Gehorsam gegenüber Gottes Willen stellvertretend auf sich "zur Vergebung der Sünden" (26,28) (~ 3.5.2.). So erweist er sich als der Gerechte par excellence. Als "jenen Gerechten" aber erkennt ihn auch die heidnische Ehefrau des römischen Statthalters. Wie die heidnischen Magier (2,1-12) ist sie damit den jüdischen Autoritäten voraus, die sich wider besseres Wissen (~ 3.9.2.) der Erkenntnis der Person Jesu verschließen und "aus Neid" (27,18), das heißt aus Sorge um den Erhalt ihres religiös-theologischen Führungsanspruches, seinen Tod betreiben. Unabhängig voneinander sind also in mt Darstellung Pilatus und seine Frau von Jesu Unschuld überzeugt. Die Nachricht seiner Frau bestätigt also den römischen Statthalter nur in seiner Zielsetzung, J esus mit Hilfe der Passaamnestie vor einer Verurteilung zu bewahren. Erzählstrategisch schafft die Intervention der Ehefrau des Pilatus den jüdischen Autoritäten den Freiraum, die Volksmenge in ihrem Sinn zu manipulieren. Denn der Statthalter ist für eine kurze Zeit abgelenkt. Sie nutzen diesen Freiraum (27,20). Allerdings schüren sie nicht so sehr, wie in der MkVorlage (15,11), die Emotionen des Volkes. Vielmehr werfen sie ihre Überredungskunst in die Waagschale. Indem Mt also das bei Mk verwendete Verb "aufwiegeln" (anaseiein) gegen "überreden" (peithein) austauscht, betont er stärker das argumentative Element. Bemerkenswert ist auch eine weitere mt Abänderung der Mk-Vorlage. Hebt Mk nämlich darauf ab, dass die Manipulation des Volkes die Forderung nach Freilassung des Barabbas zum Ziel hat, so formuliert Mt diese Zielsetzung antithetisch: ... dass sie Barabbas erbitten, Jesus aber in den Tod schicken lassen sollten (27,20b).
Diese Antithese hat ihre formale Entsprechung in der alternativ gestellten Frage, mit der zuvor Pilatus die Volksmenge in seinem Sinn zu lenken versucht hatte (27,18). Damit also erweisen sich der römische Statthalter einerseits und die jüdischen Autoritäten andererseits in der mt Bearbeitung der
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Pilatusszene als direkte Gegenspieler. Im Blick auf ihr diametral entgegengesetztes Handlungsziel- Freilassung Jesu bzw. Verurteilung Jesu zum Todeversuchen sie sich dabei jeweils der Volksmenge als Werkzeug zu bedienen. 27,21a schließt über die V. 19fan 27,18 an und wiederholt die an das Volk gerichtete Frage des Pilatus in leicht variierter Form: Welchen von den beiden wollt ihr, dass ich ihn euch freigebe?
Nachdem Pilatus durch die Nachricht seiner Frau kurzzeitig das Verfahren gegen Jesus unterbrechen musste, wendet er sich jetzt also wieder der Volksmenge zu und erinnert sie an die Entscheidung, vor die er sie bereits gestellt hatte. Die Antwort der Menge "Barabbas!" (27,21 b) zeigt freilich, dass die Manipulation der jüdischen Autoritäten erfolgreich war, die Strategie des Pilatus aber ins Leere zu laufen droht. Mit V. 21, der bei Mk ohne Parallele ist, beweist Mt im Übrigen einmal mehr seine Erzählkunst. Denn er rullt die etwas ungeschickte Verkürzung der mk Version auf, die stillschweigend das Votum des Volkes für Barabbas voraussetzt (~3.11.1.). 27,22 läuft mit der Anschlussfrage des Pilatus und der Reaktion des Volkes wieder weitgehend parallel mit der Mk-Vorlage (15,12). Allerdings verdienen zwei mt Änderungen eine Erwähnung. Zum einen wird Jesus vom mt Pilatus erneut nicht als "König der Juden", sondern als "der Christus/Messias genannt wird" tituliert (vgl. 27,17 diffMk 15,9). Zum anderen unterstreicht Mt die Einmütigkeit des Volksvotums, indem er gegen Mk eigens hinzufügt, dass alle (pantes) die Kreuzigung Jesu fordern. Damit hebt Mt also durch 27,22 hervor: Pilatus akzeptiert nicht einfach das Votum des Volkes gegen Jesus. Vielmehr hält er an seiner Strategie fest und konfrontiert als.Römer (1) die bei ihm zusammengeströmte jüdische Volksmenge mit dem messianischen Anspruch, der mit der Person Jesu verbunden ist. Dieser Anspruch müsste Jesus eigentlich die Sympathien der Menge sichern. Auf jeden Fall aber zwingt der mt Pilatus sie mit der wiederholten Erwähnung dieses Anspruchs, über die Konsequenzen ihrer Wahl nachzudenken. Freilich ohne Erfolg! Vielmehr fordert die Menge ausnahmslos Jesu Kreuzigung. In 27,23 folgt Mt enger noch als im vorausgehenden Vers seiner Mk-Vorlage (15,14). Nun unternimmt Pilatus noch einen dritten und letzten Versuch, das Volk zu einer Entscheidungsänderung zu bewegen. Er, der von Jesu Unschuld überzeugt ist (27,18 par. Mk 15,10), will mit der Frage "Was hat er denn Böses getan?" die Menge in ihrer Forderung schwankend machen. Denn er ist überzeugt, dass sie nichts gegen Jesus vorzubringen hat. Doch die Beharrlichkeit, mit welcher sich der römische Statthalter rur den angeklagten Jesus einsetzt, stößt auf die noch größere Beharrlichkeit, mit welcher die Volksmenge sich zur Vertreter in der Interessen des jüdischen Hohen Rates machen lässt. Die Schuldfrage spielt weder rur die Jerusalemer Offiziellen (~3.9.2.) noch rur das Volk irgendeine Rolle.
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten pontius Pilatus
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Mit 27,24f fügt Mt noch einmal zwei Sondergutverse in die ihm bei Mk vorgegebene Pilatusszene ein. V. 24a legt zunächst das Motiv offen, das den mt Pilatus schließlich doch dazu bewegt, Barabbas freizugeben, Jesus aber der Geißelung und Kreuzigung zu überantworten (27,26 par. Mk 15,15). Im Kräftemessen zwischen ihm und der Volksmenge muss er letztlich die Fruchtlosigkeit seines Bemühens einsehen und gibt daher angesichts des sich steigernden Tumults dem Druck der Straße nach, da er offenbar eine Eskalation der Situation befürchtet. Allerdings spricht er sein Urteil nicht, ohne sich zuvor persönlich in der symbolischen Handlung des Händewaschens davon zu distanzieren und diese Symbolhandlung zu kommentieren mit den Worten (27,24b): Ich bin unschuldig am Blut dieses [Mannes]. Seht ihr zu!
Die überwiegend judenchristlichen Leser und Leserinnen des MtEv dürften leicht die Anspielungen auf die Heiligen Schriften Israels decodiert haben, die die symbolische Geste des Händewaschens enthält. So ist in Dtn 21,1-9 ein Ritus überliefert, der im Fall eines Mordes durch einen unbekannten Täter die Bewolmer der umliegenden Städte von der unheilvollen Wirkung des ungesühnten Blutes bewahren soll. Zu diesem Ritus gehört, dass alle Ältesten der dem Tatort am nächsten gelegenen Stadt über einer geopferten Kuh ihre Hände waschen (V. 6) und dabei sprechen: "Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben nichts gesehen. Deck es zu zum Schutz deines Volkes Israel, das du freigekauft hast, Herr, und lass kein unschuldig vergossenes Blut in der Mitte deines Volkes Israel bleiben" (V. 7-8a). Auch in den Psalmen begegnet verschiedentlich die Formulierung "seine Hände in Unschuld waschen" (Ps 26,6; 73,13). Doch wohl erst über die mt Pilatusszene hat diese Formulierung bis heute eine sprichwörtliche Qualität erhalten.
Der Kommentar des Pilatus (V. 24b) weist dagegen unverkennbare Bezüge zu der ebenfalls zum mt Sondergut gehörenden Szene vom Tod des Judas auf(~ 3.10.). So bekennt der mt Judas in 27,4a: Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut verraten habe.
Der mt Pilatus hingegen meint mit der Symbolhandlung des Händewaschens sich seiner Verantwortung für das unschuldig vergossene Blut Jesu entziehen zu können. Durch den Zusatz "Seht ihr zu!" ist eine weitere Brücke zu 27,4 gegeben, lautete doch die Antwort der Ratsmitglieder auf das Schuldbekenntnis des Judas (V. 4b): Was geht das uns an? Sieh du zu!
Wie also die Hohenpriester und Ältesten Judas mit seiner Schuld allein lassen wollen, ohne ihre eigene Schuldverstrickung zu akzeptieren, so behaftet jetzt auch Pilatus das Volk und die für das Vollesvotum verantwortlichen jüdischen Autoritäten bei ihrer Schuld im Bestreben, sich die eigenen Hände
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nicht schmutzig zu machen. Doch lässt die mt Darstellung keinen Zweifel zu, dass weder die Jerusalemer Offiziellen noch Pilatus sich von ihrer Schuld am Tod Jesu entbinden können. Freilich besteht rür Mt hinsichtlich des Grades der Schuld ein deutlicher Unterschied. Die Schuld des Pilatus erschöpft sich darin, dass er - trotz seiner Überzeugung von Jesu Unschuld - seine Amtsbefugnisse nicht konsequent nutzt und unter dem Druck der Straße Jesus zum Tode verurteilt. Dagegen gelten die Hohenpriester und Ältesten Mt als die eigentlichen Drahtzieher dieses Todesurteils gegen Jesus, die in der konsequenten und kompromisslosen Verfolgung ihres Ziels Pilatus und das Volk vor den Karren ihrer eigenen Interessen spannen. Und ebenso wie Pilatus (V. 24.26) lässt sich auch die vor dem römischen Statthalter versammelte Jerusalemer Volksmenge von den Mitgliedern des Hohen Rates instrumentalisieren (V. 20.21b.22b.23b). Die Auswirkung dieser Vereinnahmung erreicht in der mt Pilatusszene schließlich ihren traurigen Höhepunkt in V. 25. Denn nun reagiert die Volksmenge auf die Weigerung des Pilatus, die Verantwortung rür das Todesurteil gegen Jesus zu übernehmen (V. 24), mit dem trotzigen Ruf: Sein Blut kOlrune über uns und unsere Kinder!
Sie signalisiert damit ihre geradezu blinde Bereitschaft, die Folgen dieses Todesurteils zu tragen, sofern nur Pilatus ihrer Forderung nachkommt. Auch in V. 25 setzt Mt offenbar wieder voraus, dass seine Adressatenschaft die Anspielung auf die Heiligen Schriften Israels versteht, die der sog. Blutruf des Volkes enthält. Denn er greift auf eine sakralrechtliche Formel zurück, die sich etwa in 2Sam 1,16; lKön 2,33 und Jer 26,15 findet. Obwohl sich alttestamentlich keine Parallele darur findet, dass jemandfi-emdes Blut auf sich selbst herabruft, berührt sich vor allem lKön 2,33 eng mit Mt 27,25, weil hier ebenfalls die Nachkommenschaft mit einbezogen wird: Ihr Blut kommefiir immer auf das Haupt Joabs und seiner Nachkommen.
Gemeint ist hier das Blut von Abner und Amasa, zwei Männer, die Joab, der Feldherr Davids, einst getötet hatte (2Sam 3,22-27; 20,8-10). Im Streit um die Nachfolge Davids hatte sich Joab später dann nicht auf die Seite Salomos, sondern auf die Seite Adonijas gestellt (lKön 5-7). Dies trug ihm den Hass Salomos ein, der nun seinerseits die Tötung Joabs befahl. In diesem Zusammenhang steht IKön 2,33a. Bezeichnenderweise verzichtet Mt in 27,25 aber auf die Verwendung der sog. Ewigkeitsfloskel ("rur immer"), obwohl er diese Floskel in anderem Zusammenhang durchaus verwendet (21,19 par. Mk 11,14). Dies muss als umnissverständliches Indiz darur verstanden werden, dass Mt tatsächlich nur die Kindergeneration des vor Pilatus schreienden Volkes ins Auge fasst.
Selbst Mitglied dieser Kindergeneration erlebte er als Zeitzeuge die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. Und er interpretiert als Jude, der sich zum Messias Jesus von Nazaret bekennt, dieses Schicksal Jerusalems und seiner Bewohner als Folge des Kreuzestodes, den Jesus Christus eine Generation zuvor in Jerusalem erlitt (vgl. etwa auch
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22,7; 23,37-39). Innerhalb der mt Bearbeitung der Pilatusszene verweist also der Blutruf, der der Jerusalemer Volksmenge vom Evangelisten in den Mund gelegt wird, voraus auf die Zerstörung Jerusalems. Er besitzt somit die Qualität einer nachträglichen Vorhersage nach Eintritt dieses gravierenden Ereignisses ("vaticinium ex eventu"), das damit eine Erklärung finden soll. Dieses Ereignis betraf unmittelbar und blutig die Bewohner Jerusalems. Mittelbar aber betraf es durch das damit verbundene Ende des Tempelkultes, das aufgrund der Kultzentralisation in J erusalem die Gefahr eines Identitätsverlustes in sich barg, alle Mitglieder des Volkes Israel. Wirkungsgeschichtlich hat der sog. Blutruf des Volkes in Mt 27,25 für die Juden in aller Welt verheerende Folgen gezeitigt. Sie lagen gewiss nicht in der Absicht des Mt, wie nicht zuletzt der Verzicht auf die Ewigkeitsfloskel nahe legt. Doch in der bald schon gänzlich heidenchristlich geprägten Kirche gerieten die bleibenden jüdischen Wurzeln rasch in Vergessenheit. Und so wähnten sich im Verlauf der Jahrhunderte Christen immer wieder beschämenderweise berechtigt, durch Pogrome der Erfüllung des Blutrufs in ihrer Generation nachzuhelfen. Aus mt Sicht dürfen sie sich freilich nicht zu dem Volk zählen, das sich unabhängig von der jüdischen oder heidnischen Herkunft seiner Mitglieder durch das Erbringen der erwarteten Früchte - die konkrete Umsetzung des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe (22,34-40) - konstituiert. Nur diesem Volk aber ist das Reich Gottes bei Mt zugesagt (21,43). Eine arrogante (heiden-)christliche Heilsgewissheit auf Kosten der Juden findet in seinem Evangelium sicher keinen Anhaltspunkt. Die mt Pilatusszene schließt in 27,26 in engem Anschluss an Mk 15,15 mit der Schlussnotiz von der Freilassung des Barabbas und der Verurteilung Jesu.
3.11.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,2-25 Mit seiner Bearbeitung der mk Pilatusszene (~ 3.11.1.) zeigt Lk einmal mehr, wie eigenständig und souverän er seine Vorlage erzählerisch gestaltet. Allein schon umfangmäßig weitet er den parallelen mk Erzählabschnitt deutlich aus (Mk: 14 V. [vgl. Mt: 15 V.]; Lk: 24 V.). Strukturell weist die lk Pilatusszene im Unterschied zu Mk (Zweigliedrigkeit ~ 3.11.1.) eine Dreiteilung auf. Ungeachtet der dezidierten redaktionellen Akzente, die Lk im Einzelnen setzt, lehnt er sich mit 23,2-5 gleichwohl unverkennbar an den ersten Abschnitt der mk Pilatusszene (Mk 15,2-5) an. Hier wie dort finden sich die beiden konstitutiven Elemente 1. der von den jüdischen Autoritäten gegen Jesus vor dem römischen Statthalter erhobenen Vorwürfe und 2. der Befragung Jesu nach seinem Königtum durch Pilatus. Ebenso deutlich greift Lk in 23,13-25 auf den zweiten Abschnitt der mk Pilatusszene (Mk 15,6-15) zurück, indem er vom Ringen um die Freilassung bzw. Verurteilung Jesu
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durch den römischen Statthalter auf der einen und den jüdischen Vertretern auf der anderen Seite erzählt. Der Mittelteil der lk Pilatusszene (23,6-12) ist dagegen Sondergut. Genau genommen bildet er ein Intermezzo. Denn die Verse unterbrechen die Pilatusszene im engeren Sinn, indem Jesus von Pilatus zu Herodes gesandt (V. 7: Ortswechsel), nun von diesem befragt und verspottet und schließlich wieder zu Pilatus zurück geschickt (V. 11: erneuter Ortswechsel) wird. Nach diesem ersten Überblick über die Makrostruktur der lk Pilatusszene gilt es jetzt, die Aufmerksamkeit auf die lk Gestaltung der einzelnen Abschnitte zu richten. Obwohl er selbstverständlich die in Mk 15,2-5 vorgebene Thematik beibehält, bearbeitet Lk seine Vorlage grundlegend neu. Das leitende Kriterium dürfte dabei für ihn gewesen sein, Ungereimtheiten in der mk Darstellung des römischen Verfahrens gegen Jesus zu beseitigen. So streicht er Mk 15,3-5 vollständig. Die mk Erzählfolge: Befragung Jesu durch Pilatus nach seinem Anspruch auf die jüdische Königswürde (V. 2) - unspezifische Anklagen der jüdischen Autoritäten gegen Jesus (V. 3) - Aufforderung Jesu zur Stellungnahme (V. 4) - Erstaunen auslösendes Schweigen Jesu (V. 5) erschien Lk offenbar nicht stimmig. Stattdessen findet sich bei ihm folgender Verfahrensablauf (23,2-5): Anklageerhebung durch die jüdischen Autoritäten (V. 2) - Befragung Jesu durch Pilatus nach seinem Anspruch auf die jüdische Königswürde (V. 3 par. Mk 15,2) - Feststellung der Schuldlosigkeit Jesu durch Pilatus gegenüber Hohenpriestern und Volksmenge (V. 4) - Insistieren der Ankläger auf ihren Beschuldigungen (V. 5). Während Mk in 15,2 seine Pilatusszene mit der an Jesus gerichteten Frage des römischen Statthalters "Bist du der König der Juden" gänzlich unvermittelt eröffnet und erst in 15,3 die wenig konkrete Notiz von den zahlreichen Ank,lagen oer Hohenpriester gegen Jesus nachschiebt, stellt Lk also an den Beginn seiner bearbeiteten Fassung eine präzise Anklageerhebung durch die Mitglieder des Hohen Rates, die zuvor Jesus befragt und dann zu Pilatus geführt hatten (vgL 22,66-23,1). Von diesen heißt es Lk 23,2: Sie aber begannen mit ihrer Anklage gegen ihn, indem sie sagten: Wir haben herausgefunden, dass dieser lIDS er Volk aufwiegelt, dass er sowohl versucht, es davon abzuhalten, dem Kaiser Steuern zu zahlen, als auch dass er sagt, er sei Messias und König.
Die schwerwiegende Beschuldigung der Volksverhetzung konkretisieren die jüdischen Autoritäten also durch zwei Vorwürfe, die diese Volksverhetzung als Tatbestand belegen sollen. Jedoch hat Lk im vorausgehenden Teil seiner Jesusgeschichte seine Leserinnen und Leser hinreichend instruiert zu erkennen, dass diese beiden Vorwürfe haltlos sind. So hat auch der lk Jesus entsprechend der mk Vorlage auf die Fangfrage seiner Gegner keinen Spielraum dafür gelassen, sich unter Berufung auf ihn der Steuerpflicht zu entziehen (20,24fpar. Mk 12,16-17a). Interessant sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die redaktionellen lk Eingriffe in die Rahmenverse der sog.
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Steuergroschenperikope. So hält Lk im Eingangsvers über seine Mk-Vorlage hinaus ausdrücklich als Ziel der Befragung Jesu fest (20,20b): ... auf dass man ihn der Obrigkeit und Gewalt des Statthalters ausliefern könnte.
Und den Schlussvers erweitert Lk im Vergleich zur mk Vorgabe der Verwunderung der Gegner über Jesus bzw. über Jesu Antwort (20,26b par. Mk 12, 17b) um die Aspekte des Scheiterns ihrer Strategie (20,26a, vgl. 20,20b) und ihres Stillschweigens (20,20c): Und sie konnten ihn nicht bei einem Wort ertappen vor dem Volk (a) und sie wunderten sich über seine Antwort (b) und schwiegen (c).
Obwohl also die jüdischen Autoritäten in lk Darstellung Jesus bewusst mit der Steuerfrage konfrontieren lassen, um einen geeigneten Anklagepunkt gegen ihn beim Statthalter in der Hand zu haben, scheitert ihre Strategie. Jesus lässt sich gerade nicht vor dem Volk zu einer Aussage hinreißen, die sie gegen ihn verwenden könnten. Dennoch klagen sie ihn schließlich vor Pilatus genau des Tatbestandes an, dessen er sich trotz ihrer gezielten Provokation nicht schuldig gemacht hat. Der zweite Vorwurf, der die Anklage der Volksverhetzung untermauern soll, ist ebenso konstruiert. Denn nirgendwo in der lk Jesusgeschichte hat Jesus selbst sich vor dem Volk als Messias und König präsentiert. Allerdings haben ihm seine Jünger bei seinem Einzug in Jerusalem einen königlichen Empfang bereitet (19,36-38). Indem sie ihn freilich als "König im Namen des Herrn" proklamieren und dieses Königtum mit dem Frieden und der Herrlichkeit des Himmels in Verbindung bringen (V. 38), wird deutlich: Jesu Königtum steht nicht in Konkurrenz zu irgend einer irdischen Herrschaft, sondern ist auf die eschatologische Heilszeit bezogen, die Gott mit der Person und dem Wirken Jesu (vgl. V. 37 der Verweis auf die Wunder) bereits anbrechen lässt. Insofern ist Jesu Königtum die endzeitliche Erfüllung des davidischen Königtums, wie es der Engel bei der Verheißung seiner Geburt bereits verkündet hatte (1,32f). Entsprechend reagiert auch der lk Jesus auf die Frage der Ratsmitglieder nach seiner Messiaswürde. Nur scheinbar weicht er einer Antwort aus (22,67b-68). Denn sein Menschensohnwort (22,69) hebt auf die himmlische HerrschersteIlung an der Seite Gottes ab. Damit aber hat er klargestellt: Seine Messiaswürde besitzt keine irdisch-politischen Implikationen. Doch auch über diese KlarsteIlung setzen sich seine Ankläger hinweg, indem sie Jesus Pilatus gegenüber als politischen Messiasanwärter und damit als potentielle Gefahr rur die unangefochtene Machtstellung Roms in Palästina präsentieren. Nach dieser detaillierten Anklageerhebung wendet sich Pilatus dem angeklagten Jesus zu, den er (in Übereinstimmung mit Mk 15,2) ausschließlich fragt:
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Bist du der König der Juden? (23,3a)
Und ebenso wie bei Mk antwortet Jesus in der lk Bearbeitung der Stelle mit Das sagst du! (23,3b)
Damit distanziert sich also auch der lk Jesus von der politischen Interpretation seiner Messiaswürde, die die Mitglieder des Hohen Rates Pilatus nahe gelegt haben. Paraphrasiert ließe sich seine Antwort zutreffend wiedergeben mit "Das ist deine Lesart!" (~ 3.11.1.). Und der lk Pilatus versteht ganz offenkundig diese Distanzierung Jesu von jeder ihm unterstellten politischen Ambition und wertet dessen Antwort als Verneinung des für ihn als Gerichtsherrn allein justiablen Tatbestandes. Entsprechend gibt er gegenüber den Hohenpriestern und der Volksmenge eine unmissverständliche Unschuldserklärung für Jesus ab, die einer Abweisung der Anklage gleichkommt (23,4): Ich finde keine Schuld an diesem Menschen!
Eine vergleichbar deutliche Unschuldserklärung in Formulierung und Inhalt findet sich so nur noch Joh 18,38b (~ 3.11.4.). Dass im Übrigen in Lk 23,4 als Adressaten dieser Unschuldserklärung neben den Hohenpriestern a,uch die Volksmenge genannt ist, verdankt sich wohl dem Umstand, dass Lk in seiner Pilatuserzählung den Öffentlichkeitscharakter römischer Gerichtsverhandlungen berücksichtigt. Doch geben sich die Ankläger mit diesem Bescheid keineswegs zufrieden (23,5). Vielmehr insistieren sie weiterhin auf ihrer Beschuldigung- der Volksaufwiegelung und unterstreichen noch die vermeintliche Gefährlichkeit Jesu, indem sie jetzt zusätzlich auf den großen geographischen Einflussbereich seines lehrenden Wirkens (vgl. 23,2) "im ganzen jüdischen Land, und zwar angefangen von Galiläa bis hierher" verweisen. Mit der Erwähnung Galiläas hat Lk nun das entscheidende Stichwort' genannt, um nachfolgend sein Sondergut anzuschließen. Als nämlich der lk Pilatus vom Beginn des Wirkens Jesu in Galiläa hört, erkundigt er sich, ob dieser ein Galiläer sei (23,6). Nachdem er aber erfahren hat, dass Jesus somit aus dem Herrschaftsbereich des Herodes stammt, schickt er ihn zu diesem, der ebenfalls während der Festtage in Jerusalem weilt (23,7). Herodes Antipas, ein Sohn Herodes des Großen aus dessen Verbindung mit der Samaritanerin Malthake, erhält nach dem Tod seines Vaters 4 v.ehr. Galiläa und Peräa - das Gebiet östlich des Jordans im Bereich des heutigen Jordaniens - als Herrschaftsgebiet im Range eines Klientelflirsten von Roms Gnaden. Sein offizieller Titel ist Tetrarch (Vierflirst). Über vier Jahrzelmte regiert Herodes Antipas über Galiläa und Peräa, und diese Zeit kann insgesamt als ruhige und friedliche Epoche bezeichnet werden. Denn mit diplomatischem Geschick versteht es Herodes, die unterschiedlichen Interessen zwischen Rom sowie der religiösen Opposition auszugleichen und jede Eskalation zu vermeiden. Seine Ergebenheit und Loyalität gilt allerdings - wie schon
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bei seinem Vater - in erster Linie Rom und dessen Kaiser. Ein beredtes Zeugnis dafür bietet die Benennung der am (Süd-)West-Ufer des Sees Genesaret zwischen 17-22 n.Chr. neu errichteten und zur Residenz erhobenen Stadt Tiberias nach dem römischen Herrscher Tiberius. Im Unterschied zu seinem Vater regiert Herodes Antipas weniger gewalttätig und grausam. Dennoch ist er ein Machtpolitiker und duldet keine öffentliche Kritik, wie nicht zuletzt das Schicksal des Täufers belegt. Als Herodes schließlich auf Betreiben seiner ehrgeizigen zweiten Frau Herodias sich im Jahr 39 n.Chr. in Rom um die Verleihung der Königswürde - entsprechend dem Status seines Vaters - bemüht, wird er von Kaiser Caligula kurzerhand nach Gallien verbannt. Den Leserinnen und Lesern der lk Jesusgeschichte ist Herodes bei seinem Auftritt im Prozess Jesu kein Unbekannter mehr. Erstmals erwähnt ihn Lk bereits bei der zeitgeschichtlichen Einordnung des Beginns der Verkündigungs- und Tauftätigkeit des Johannes, und zwar an dritter Stelle nach Kaiser Tiberius und Pontius Pilatus (3,1). Die mk Erzählung von den spektakulären Umständen der Hinrichtung des Täufers anlässlich einer GebUlistagsfeier des Herodes (Mk 6,17-29 par. Mt 14,3-12) übernimmt Lk nicht. Vielmehr beschränkt er sich darauf, in 3, 19f die mk Eingangsnotiz zu dieser Erzählung zu rezipieren (Mk 6, 17f par. Mt 14,3f), die von der Gefangennahme des Täufers aufgrund seiner Kritik an der Verbindung des Herodes mit Herodias, der Frau seines Bruders, berichtet. Die nächste lk Erwähnung des Herodes in 9,7-9 (par. Mk 6,14-16; Mt 14,1f) setzt die Enthauptung des Täufers als bereits geschehen voraus. In Anlehnung an seine mk Vorlage erzählt Lk hier, dass Gerüchte über Jesu Wirken und über dessen Interpretation durch das Volk zu Herodes dringen. Während sich aber Herodes in mk Darstellung eine dieser Interpretationen zu eigen macht (Jesus ist der von ihm enthauptete und jetzt von den Toten auferstandene Täufer: Mk 6,16), differiert seine Stellungnahme in der lk Version (9,9): Herodes aber sprach: Johannes habe ich selbst enthaupten lassen. Wer aber ist dieser, von dem ich solche Dinge höre? Und er wünschte sich, ihn zu sehen. Schließlich erzählt Lk in einer Sondergutpassage (13,31-33) noch von einer Warnung, die Jesus von den Pharisäern erhält. Sie raten ihm, das Herrschaftsgebiet des Herodes zu verlassen, da dieser Jesus nach dem Leben trachte. Jesus schlägt diese Warnung in den Wind. Herodes soll wissen, dass nicht er über Jesu Leben verfügt. Vielmehr wird Jesus nach Gottes Ratschluss in Jerusalem das den Propheten gemäße Schicksal erleiden. In 13,32 tituliert der lk Jesus dabei Herodes ausdrücklich als Fuchs (alöpex), das heißt als einen gerissenen, schlauen Menschen. Im Unterschied also zu Herodes, der Jesus nicht einzuschätzen vermag und ilm persönlich kennenzulernen wünscht (9,9), steht umgekehrt Jesu Urteil über Herodes fest. Ungeachtet seiner Schläue hat er aber weder Verfügungsgewalt über Jesu Leben noch vermag er ihn vor seinem Leiden zu bewahren. Mit 9,9 und 13,32f sind also die erzählerischen Weichen für das Zusammentreffen zwischen Herodes und Jesus im Prozessgeschehen gestellt.
Mit einem ausdrücklichen Rückbezug auf den Wunsch des Herodes nach einer persönlichen Begegnung mit Jesus (9,9) beginnt die Erzählung von dieser Begegnung in 23,8a.b: Als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr. Er wollte ihn nämlich schon seit langer Zeit sehen aufgrund dessen, was er über ihn gehört hatte ...
Das, was Herodes zu Ohren gekommen ist, betrifft aber nicht nur Jesu Verkündigung, sondern auch seine Machttaten, und so hofft der galiläische Landesherr bei seinem unverhofften Zusammentreffen mit Jesus auf eine Kostprobe von dessen Wunderwirken (23,8c). Doch nimmt das Zusammentreffen
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einen rur Herodes enttäuschenden Verlauf. Denn auf die Neugier seines Landesrursten, die sich in vielen Fragen Bahn bricht, reagiert Jesus mit beharrlichem Schweigen (23,9). Das Motiv des Schweigens Jesu, das Lk gegen Mk 15,4 im Zusammenhang der Befragung durch Pilatus gestrichen hat, verarbeitet er also jetzt im Herodes-Intermezzo. Ebenso verfährt er mit den inhaltlich nicht näher spezifizierten Anklagen der jüdischen Autoritäten gegen Jesus aus Mk 15,3. Denn nach 23,10 belasten die jüdischen Autoritäten Jesus nun vor Herodes mit heftigen Beschuldigungen. Dabei dürften ihre Beschuldigungen im Sinne des Lk inhaltlich ihren Anldagepunkten vor Pilatus entsprechen. Das Intermezzo der Begegnung zwischen Jesus und Herodes mündet in 23,11 in eine Verspottungsszene. Angesichts der Vergeblichkeit seines Bemühens, Antworten von Jesus auf seine neugierigen Fragen zu bekommen, zeigt Herodes zusatmnen mit seinen Soldaten Jesus seine Verachtung, indem er ihn verspottet und ihn in ein strahlend weißes Prachtgewand ldeidet. Solchermaßen "ausstaffiert" schickt Herodes Jesus zu Pilatus zurück. Damit transponiert Lk gleichsam auf engstem Raum (V. 11; vgl. V. 9.10) einen dritten mk Erzählzug in sein Sondergut. Denn die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten nach seiner Verurteilung zur Kreuzigung (Mk 15,1620a) rezipiert Lk an dieser Stelle der Passionserzählung - im Unterschied zu Mt (27,27-31a; vgl. auch Joh 19,2f) - gerade nicht. Dies passt zu einer Grundtendenz seiner Passionserzählung, nämlich die römische Seite möglichst weitgehend von der Verantwortung rür das Geschick Jesu zu entlasten. Das leuchtend-weiße Prachtgewand (esthes lampra) (23,11), das Herodes Jesus anlegt, soll wohl vordergründig die Anklage der jüdischen Oberen, Jesus strebe nach dem messianischen Königtum, persiflieren. Denn in römischer Tradition ist die strahlend-weiße Toga (toga candida) das Gewand eines jeden Amtsbewerbers auf den verschiedenen Sprossen der Ämterlaufbahn. Damit entspricht die Ausstaffierung Jesu mit einem solchen Prachtgewand durch Herodes und seine Soldaten (23,11) wohl der Königspersiflage bei der von römischer Seite zu verantwortenden Verspottung Jesu in den Passionserzählungen der drei anderen Evangelien (Mk 15,16.20a par. Mt 27,27-31a; vgl. Joh 19,2f). Doch dürfte Lk mit dem von Herodes gewählten Verspottungszeichen noch einen tieferen Sinn verbinden. Darauf deutet jedenfalls seine Wortwahl hin. Denn statt des nahe liegenden Adjektivs "weiß" (leukos) beschreibt er das Gewand durch das Adjektiv lampros (schimmernd, glänzend). Wörter vom Stamm lamp- verwendet Lk in seinem Doppelwerk aber durchweg in Bezug auf die Erscheinungsweise himmlischer Gestirne und Gestalten (Lk 17,24; Apg 10,30; 12,7; 26,13). Nichtsahnend gibt somit Herodes in lk Darstellung zu erkennen, dass Jesus der himmlischen Sphäre angehört. Bewusst dagegen will er mit dem Jesus zur Verspottung angelegten Gewand wohl zum Ausdruck bringen, dass er diesen Mann, der scheinbar nichts zu sagen hat, rür politisch ungefährlich, die Anklage der jüdischen Oberen damit aber rur gegenstandslos hält.
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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In 23,12 schließt das Herodes-Intermezzo der lk Pilatusszene mit einem Kommentar des Evangelisten zu den Konsequenzen des Falls Jesu von Nazaret für das Verhältnis der beiden Politiker: Herodes und Pilatus aber wurden an diesem Tag Freunde; vorher nämlich hatten sie sich in Feindschaft gegeneinander befunden.
Warum zwischen Herodes und Pilatus Feindschaft bestanden hatte, sagt Lk nicht ausdrücklich. Allerdings könnte er in 13,1 einen Hinweis für seine Leserschaft auf die Ursache dieser Feindschaft versteckt haben. Denn er erwähnt dort einen - im Übrigen sonst nicht belegten - frevlerischen Anschlag des Pilatus auf galiläische "Landeskinder" des Herodes während eines Opfers im Jerusalemer Tempel. Dieses skrupellos brutale Vorgehen des römischen Statthalters dürfte damit nach lk Verständnis zumindest zur Feindschaft zwischen ihm und Herodes beigetragen haben. Dass der Fall Jesu von Nazaret aus diesen Feinden Freunde machte, stellt Lk ebenfalls ohne weitere Begründung nur fest. Ob er - wie bisweilen angenommen wird - daran denkt, Herodes sei aufgrund seiner Einbindung in das Verfahren durch den römischen Statthalter erfreut und geschmeichelt gewesen, bleibt spekulativ. Ein wiederum zurückhaltender Hinweis aber könnte sich in 23,14f finden. Dort nämlich hält der lk Pilatus ausdrücklich die Übereinstimmung zwischen sich und Herodes in der Beurteilung der Schuldlosigkeit Jesu im Sinne der Anklage fest. Mit 23,13 blendet Lk wieder zu Pilatus zurück und schildert im Folgenden auf der Grundlage von Mk 15,6-15 das Ringen zwischen dem römischen Statthalter sowie den jüdischen Autoritäten und dem Volk um Freilassung oder Verurteilung Jesu. Dabei gestaltet Lk einmal mehr seine mk Vorlage souverän um und aus. So verdanken sich die eröffnenden Verse 13-16, die die erzählerische Brücke zwischen dem Herodes-Intermezzo und der Wiederaufnahme des Verfahrens vor Pilatus bilden, lk Redaktion. Nach 23,13 versammelt Pilatus zunächst einmal die jüdischen Autoritäten (als Vertreter der Anklage, vgl. 23,2.5) und das Volk (zur Gewährleistung des öffentlichen Charakters des römischen Verfahrens, vgl. 23,4) bei sich. In 23,14-15a fasst er vor dieser Versammlung den bisherigen Verlauf des Prozessgeschehens zusammen (Anklage Jesu wegen des Verbrechens der Volksaufwiegelung [V. 14a]; Feststellung der Haltlosigkeit der Anklage durch Pilatus selbst [V. 14b] und durch Herodes [V. 15a]). In 23,15b folgt dann die zweite ausdrückliche Erklärung der Schuldlosigkeit Jesu aus dem Mund des Pilatus, jetzt freilich gegenüber 23,4 präzisiert durch den Hinweis, dass Jesus nichts Todeswürdiges (ouden axion thanatou) getan habe. Aus dieser präzisierten Unschuldserklärung ergibt sich schließlich in 23,16 die Bekanntgabe, wie der römische Statthalter im Folgenden mit Jesus verfahren will: Er will ihn züchtigen lassen und dann freigeben. Hinter der beschönigenden lk Wortwahl des Züchtigens (paideuein) (vgl. auch Lk 23,22), die subtil zur Entlas-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
tung der römischen Seite beiträgt, steht nichts anderes als die grausame Strafe der Geißelung (einschlägiges Verb: phragelloun [lat.: flagellare], vgl. Mk 15,15 par. Mt 27,26). Die Strafe der Geißelung war einerseits Bestandteil in Kapitalgerichtsverfahren. So ging der römischen Kreuzigung zumeist eine Geißelung des Delinquenten voraus. Zum anderen diente die Geißelung aber auch als eine Form, einen Menschen, der in die Fänge der Justiz geraten war, dem jedoch kein durch Hinrichtung oder Gefängnis sanktioniertes Verbrechen nachgewiesen werden konnte, nachdrücklich zu verwamen. Ein zeitnahes und aus Judäa stammendes Beispiel für diese römische Praxis des Verwamens bietet etwa der Fall des Unglückspropheten Ben Ananias (---+ 3.1.1. Exkurs I). Die Geißelung selbst wurde vollstreckt mit einer Peitsche, bestehend aus mehreren Lederriemen, an deren Ende spitze Knochenstücke, Bleikugeln oder andere Metallstücke angebracht waren. Mit Hilfe solcher Geißel schlugen die Folterknechte auf den nackten Delinquenten ein. Dabei waren in römischen Verfahren die Zahl der Schläge nicht begrenzt, sondem den Folterknechten überlassen. Deswegen und aufgrund der schlimmen Wunden, die die Konstruktion der Geißel mit sich brachte, starb manch einer an den Folgen der Geißelung.
Vor diesem Hintergrund erscheint Pilatus auch in lk Darstellung durchaus nicht über jeden Vorwurf erhaben. Die uneingeschränkte Unschuldserklärung Jesu aus 23,4 grenzt er in 23, 15b ein auf "keine todeswürdige Schuld", ohne dass erkennbar würde, welche neuen Erkenntnisse diese Eingrenzung begründen könnten. Doch eröffnet sie ihm eine Art Kompromissvorschlag. Sie gibt ihm nämlich die Gelegenheit, Jesus öffentlich zu verwarnen, jedoch vor einer Hinrichtung zu bewahren, und zugleich Jesu Ankläger angesichts der Härte der Geißelstrafe zufrieden zu stellen und sie so von ihrem Ansinnen der Hinrichtung abzubringen. Doch der Fortgang des Verfahrens zeigt, dass Pilatus mit seiner Kompromissabsicht scheitert. Denn auf die Bekapntgabe seines beabsichtigten Vorgehens gegen Jesus (23,16) reagieren alle miteinander (pamplethei), d.h. alle vor Pilatus versammelten Personengruppen (die Hohenpriester, die [übrigen] Führer und das Volk) (vgl. 23,13), indem sie unisono schreien (23,18): Hinweg mit diesem! Gib uns vielmehr Barabbas frei!
Diese Forderung kommt rür die Leser und Leserinnen des LkEv überraschend, und zwar umso mehr, sofern sie mit dem Mk-Ev vertraut sind. Denn zum einen wird Barabbas völlig unvermittelt ins Spiel gebracht. Und zum anderen erwähnt Lk in seiner Gestaltung der Pilatsszene weder den Brauch der Passaamnestie (vgl. Mk 15,6) noch die Vereinnahmung des Volkes gegen Jesus und rur Barabbas durch seine Führer (vgl. Mk 15,11). Diese signifikanten Abweichungen von der Mk-Vorlage haben wohl die Kopisten einiger Handschriften dazu bewogen, nach 23,16 den Hinweis auf den Brauch der Passaamnestie einzufügen (23,17):
3.11. J esus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Er war aber ihnen gegenüber an jedem [Passa-]Fest zum Freilassen (d.h. zu einer [Gefangenen-]Freilassung) verpflichtet. Da aber die ältesten und wichtigsten Textzeugen des Lk-Ev (z.B. ~75 sowie die Codices Alexandrinus und Vaticanus) diesen Vers mit der Notiz zur Passamanestie nicht enthalten, es sich zudem um einen klaren Paralleleinfluss aus Mk 15,6 par. Mt 27,15 (vgl. auch loh 18,39) handelt und schließlich die Version ohne 23,17 die kürzere und vor allem schwierigere Lesart darstellt, hat nach den grundlegenden Regeln der Textkritik die Amnestienotiz im lk Kontext als sekundär zu gelten.
Indem Lk auf die Erwähnung des Brauchs der Passaamnestie verzichtet, stellt er also die Forderung nach einer Freilassung des Barabbas als Drängen auf einen Gefangenenaustausch da. Paraphrasiert ließe sich das Votum des Volkes und seiner Führer (23,18) so wiedergeben: Wenn du schon einen Gefangenen vor der Hinrichtung bewahren willst, dann nicht Jesus, sondern Barabbas. In 23,19 liefert Lk dann die noch fehlenden Informationen zur Person des Barabbas nach. In sachlicher Entsprechung zu Mk 15,7 beschreibt auch er ihn als jemanden, der wegen der Beteiligung an einem Aufruhr und an einem Mord inhaftiert worden war. Bei Barabbas handelt es sich also tatsächlich um einen gewaltbereiten politischen Rebell. Indem gerade die Führer, die Jesus fäschlicherweise der Volksaufwiegelung bezichtigen, die Freilassung eines wirklichen politischen Unruhestifters fordern, geben sie in lk Darstellung also indirekt zu erkennen, dass sie bei ihrer Anklage Jesu von einem anderen Motiv als dem der Loyalität gegenüber der römischen Oberherrschaft geleitet sind. Im Unterschied zu Mk 15,10 (Neid) legt Lk aber dieses Motiv nicht offen. 23,20 greift sachlich mit dem unverminderten Bestreben des Pilatus, Jesus freizulassen, auf 23,16 zurück und erwähnt seinen neuerlichen Versuch, die jüdischen Führer und das Volk in seinem Sinne zu beeinflussen. Aber auch seine Kontrahenten in diesem Ringen um Jesus bleiben in der Verfolgung ihres Ziels, Jesus zu vernichten, unbeirrt. Nachdrücklich (zweifacher Ruf!) fordern sie seine Kreuzigung (23,21). Noch einmal ergreift der lk Pilatus für Jesus Partei. Dieses dritte Votum lässt Lk in 23,22b beginnen mit der aus Mk 15,14 übernommenen Frage: "Was hat er denn Böses getan?". An diese Frage schließt er dann noch eine zusammenfassende Wiederholung der Stellungnahme des Statthalters aus 23,14-16 an: Ich habe nichts Todeswürdiges bei ihm gefunden. Ich will ihn also züchtigen lassen und [dann] freilassen (23 ,22c).
Durch eine intensivierte Unschuldserklärung versucht der lk Pilatus also ein letztes Mal, Jesus vor der Hinrichtung zu bewahren. Doch seine Gegenspieler verstärken ebenfalls ihren Druck auf den Statthalter, um sich mit ihrer Forderung nach Jesu Kreuzigung durchzusetzen (23,23). Schließlich gibt Pilatus nach und entscheidet, ihrer Forderung stattzugeben (23,24). Ein Mo-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
tiv für diesen "Rückzieher" gibt Lk nicht eigens an, im Unterschied zu Mk 15,15a, wonach Pilatus das Volk zufrieden stellen wollte. Doch klingt bei ihm vor dem Hintergrund von 23,23 sehr wohl das Motiv mit, das Mt 27,24 (~ 3.11.2.) ausdrücklich nennt: Letztlich gibt Pilatus dem Druck der Straße nach, um eine Eskalation der Situation zu vermeiden. Dabei begnügt sich Lk allerdings nicht einfach damit festzustellen, dass Pilatus Barabbas freilässt (vgl. Mt 23,26a). Vielmehr verschweigt er sogar den Namen und benennt Barabbas stattdessen bei den Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat (23,25a): Er ließ aber den wegen Aufruhr und Mord ins Gefängnis Geworfenen frei, den sie gefordert hatten.
Lk erinnert mit 23,25a also nicht nur daran, dass die jüdischen Autoritäten gerade die Freilassung eines Mannes fordern, auf den genau die Anklage (Aufruhr) zutrifft, die sie als Pseudoanklage gegen Jesus erhoben haben. Er betont auch deutlicher als Mt 23,26a, dass Pilatus mit seinem letztendlichen Eingehen auf die Forderung seiner jüdischen Kontrahenten im Ringen um Jesus gegen die römischen Sicherheitsinteressen verstößt. Denn statt des politisch harmlosen Jesus lässt er einen tatsächlichen und zudem gewaltbereiten Aufrührer frei. Die Schlussnotiz aus Mk 15,15b, wonach Pilatus Jesus geißeln ließ und (den römischen Soldaten, vgl. Mk 15,16a) zur Kreuzigung übergab, übernimmt Lk nicht. Stattdessen schließt er seine Pilatusszene in 23,25b mit der Bemerkung ab: ... Jesus aber übergab er ihrem (d.h. der Ankläger) Willen.
Mit dieser erneut beschönigenden Formulierung lenkt Lk abschließend die Aufmerksamkeit von der juristischen Verantwortung des Römers Pilatus für die Hinrichtung Jesu weg und zugleich auf die moralische Verantwortung der jüdischen Ankläger Jesu hin. Doch ungeachtet der unübersehbaren Tendenz, die römische Seite zu entlasten, ist auch in lk Darstellung Pilatus keineswegs ein "Unschuldengel". Im Gegenteil! Dass er trotz dreifacher, ausdrücklicher Unschuldsbezeugung Jesu diesen letztlich aufgrund einer haltlosen Anklage zur Hinrichtung freigibt, offenbart schonungslos seine Charakterschwäche und weist ihm keine geringere moralische Verantwortung zu wie seinen jüdischen Kontrahenten.
3.11.4. Die johanneische Version Joh 18,28b-19,16a Die Pilatusszene lässt sich aufgrund ihrer meisterhaften dramaturgischen Gestaltung mit einiger Berechtigung als erzählerischer Höhepunkt der joh Passionsdarstellung bezeichnen. Weist die mklmt Erzählung vom Verfahren
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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gegen J esus vor dem römischen Präfekten eine Zweiteilung auf (~ 3.11.1. / 3.11.2.) und erweitert Lk seine Mk-Vorlage um einen weiteren Teil (Herodes-Intermezzo) (~ 3.11.3.), so bietet die joh Version nach einer kurzen Einleitung (18,28) nicht weniger als sieben Einzelszenen. Das Gliederungskriterium ist durch die Einleitung vorgegeben: Jesus wird in das Prätorium also in den J erusalemer Amtssitz des römischen Statthalters - verbracht; seine Ankläger selbst aber betreten das Gebäude nicht, um sich nicht kultisch zu verunreinigen und ihre Teilnahme am Passamahl zu gefährden. Damit befindet sich also Jesus drinnen, seine Ankläger aber draußen. Die Abfolge der Einzelszenen wird daher durch den jeweiligen Ortswechsel des Pilatus bestimmt, der gleichsam zwischen Anklägern (draußen) und Angeklagtem (drinnen) hin- und herpendelt. Die kompositorisch zentrale vierte Teilszene bildet die Geißelung und Verspottung Jesu:
Teilszene 18,28 Teilszene 1: 18,29-32
Handlungsort Prätorium Draußen
Teilszene 2: 18,33-38a
Drinnen
Teilszene 3: 18,3 8~O
Draußen
Teilszene 4: 19,1-3
Drinnen
Teilszene 5: 19,4-8
Draußen
Teilszene 6: 19,9-11
Drinnen
Teilszene 7: 19,12-16a
Draußen
Konstellation und Inhalt der Kommunikation Einleitung Pilatus - Ankläger: Anklagegrund; Prozesszuständigkeit Pilatus - J esus: Königtum J esu Pilatus - Ankläger: Passa-Amnestie Geißelung und Verspottung Jesu Pilatus - Ankläger: Präsentation des Spottkönigs; Anspruch J esu auf Gottessohnschaft Pilatus - Jesus: Machtlegitimation Pilatus - Ankläger: Verurteilung Jesu
Angesichts der sehr eigenständigen Erzählkonzeption der joh Pi latus szene verwundert es nicht, dass nur sehr wenige wörtliche Berührungen mit der mk bzw. synoptischen Pilatuszene bestehen. Bevor die joh Pilatusszene in dem ihr eigenen Aufbau und ihren spezifischen Akzenten gewürdigt werden soll, sei zunächst auf diese Berührungen verwiesen. So eröffnet Joh zunächst in 18,33 in wörtlicher Übereinstimmung mit Mk 15,2 parr. Mt 27,11; Lk 23,3 das Verhör J esu durch Pilatus mit der Frage:
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
"Bist du der König der Juden?" Die synoptische Antwort Jesu: "Du sagst es" (Mk 15,2 paff. Mt 27,11; Lk 23,3) findet sich so auch bei Joh (18,37b), allerdings erschöpft sich die Antwort des joh Jesus nicht in der synoptischen Einsilbigkeit. Vielmehr bietet die 2. Teilszene (18,33-38a) einen Dialog zwischen Pilatus und Jesus um Jesu Königtum. Dabei verarbeitet Joh das synoptische "Du sagst es" als Einleitung zur Stellungnahme des joh Jesus auf die Wiederholungsfrage des Pilatus nach Jesu Königsstatus. Das Motiv des beharrlichen Schweigens des synoptischen Jesus auf weitere Fragen (Mk 15,5 par. Mt 27,14; vgl. Lk 23,9) spielt in der joh Pilatusszene keine prägnante Rolle. Eine kurze Erinnerung daran lässt Joh allerdings in 19,9 aufblitzen, doch hält "sein" Jesus dieses Schweigen nicht durch (19,11). Die ausdrückliche Unschuldserklärung Jesu durch Pilatus Joh 18,38b besitzt eine auffällige sprachliche Parallele in Lk 23,4 (~ 3.11.3.). Das Angebot der Freilassung Jesu im Rahmen der Passamnestie Wollt ihr Goh: boulesthe; mk: thelete) nun, dass ich euch den König der Juden freilasse?
formuliert der Pilatus in Joh 18,39 nahezu wortgleich mit Mk 15,9. Schließlich berührt sich die Schlussbemerkung Joh 19,16a ("Da nun lieferte er ihn ihnen (autois) aus, damit er gekreuzigt würde.") eng mit der entsprechenden Schlussbemerkung Mk 15,15b par. Mt 27,26b. Im Unterschied zur mk/mt Formulierung entfällt bei Joh der Hinweis auf die Geißelung, da diese.in seiner Darstellung bereits erfolgt ist (vgl. 19,1). Über die mk/mt Schlussbemerkung hinaus gibt die joh Version einen wenngleich mehrdeutigen Hinweis auf die Adressaten der Auslieferung Jesu. Im unmittelbaren Kontext zu 19,15 scheint Joh zunächst seinen Leserinnen und Lesern die Assoziation "ihnen = die Hohenpriester" nahe legen zu wollen. Doch aufgrund.von 1'8,31 und 19,23 stellt er sicher, dass der Vollzug des Todesurteils durch die Römer erfolgte. Einleitung: Die Überstellung Jesu in den Jerusalemer Amtssitz des römischen Statthalters (18,28) Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die joh Version des römischen Verfahrens gegen Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus durch eine meisterhafte erzählerische Dramaturgie aus. 18,28 als einleitende Situationsschilderung erzählt zunächst von der ÜbersteIlung Jesu in das Prätorium. Im Unterschied zu allen drei Synoptikern (Mk 15,1 pan. Mt 27,2; lk 23,1) nennt Joh als Ziel dieser ÜbersteIlung Jesu nicht die Person des römischen Präfekten, sondern das Amtsgebäude . Damit stellt er bereits eine entscheidende Weiche für den Fortgang seiner Erzählung. Wer nun Jesus zum Prätorium bringt, präzisiert Joh in 18,28 nicht. Doch aufgrund der vorausgehenden Szene (18,12-14.19-24) und aufgrund der in 19,6 genannten Personengruppen dürfte Joh an die Hohenpriester - allen voran Hannas und Kaiaphas sowie an ihre Diener gedacht haben.
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Wenngleich Joh in 18,31.38b zweimal pauschal von den Juden spricht, setzt er im Unterschied zu den drei synoptischen Pilatusszenen dennoch nicht voraus, dass sich die Volksmenge bei Pilatus eingefunden hat. Aus 18,35b geht vielmehr hervor, dass die Hohenpriester Jesus in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten des Volkes an Pilatus ausgeliefert haben: "Dein eigenes Volk, und zwar (erklärendes "und"/kai) die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert." Die Juden im Verständnis der Volksmenge finden in der joh Passionserzählung erstmals in der Hinrichtungsszene in 19,20 (---+ 3.13.4.) Erwähnung.
Die Überstellung erfolgt früh am Morgen. Nach joh Chronologie ist es der Morgen des Rüsttages zum Passafest (vgl. 19,31.42). An diesem Rüsttag aber wurden um die Mittagszeit im Jerusalemer Tempel die Passalämmer geschlachtet, die dann mit Beginn des Passafestes nach Sonnenuntergang im Rahmen des Passamahles verzehrt wurden. Das Passamahl wird dann auch als Grund genannt, warum die Ankläger Jesu das Prätorium nicht betreten. Sie wollen nicht riskieren, sich in diesem von Heiden bevölkerten Gebäude zu verum'einigen und damit am Passamahl nicht teilnehmen zu dürfen. Penibel achten sie also auf ihre kultische Reinheit, um das Passalamm essen zu können. Zugleich aber betreiben sie beharrlich den Tod Jesu, der nach joh Interpretation als Lamm Gottes - das heißt als endzeitlich-endgültiges Passalamm - die Sünden der Welt hinweg nimmt (1,29.34) und stirbt (19,36; vgl. Ex 12,46). Damit ist die ganze Absurdität des Geschehens aus joh Perspektive, die eine Perspektive eines christus gläubigen Juden ist, umrissen. Weil Jesus sich also während des nachfolgend geschilderten Verfahrens im Prätorium befindet, seine Ankläger aber zur Wahrung ihrer kultischen Reinheit das Amtsgebäude nicht betreten wollen, ist die erzählerische Voraussetzung rur das beständige Pendeln des römischen Statthalters zwischen Draußen und Drinnen geschaffen. Durch diese "Pendeldiplomatie", die schlecht zur Amtswürde eines römischen Statthalters passen will, beraubt die joh Darstellung Pilatus bereits von der strukturellen Anlage der Erzählung her seiner Autorität. Die nachfolgenden Teilszenen werden bestätigen, dass Joh den Römer Pilatus gerade nicht positiv von den jüdischen Anklägern Jesu abhebt. Vielmehr offenbaren beide Seiten im Ringen um das Geschick Jesu ihre dunklen Seiten. Freilich liegt dieses Geschick nur vordergründig in ihren Händen. Auch in der joh Pilatusszene bleibt Jesus der Souverän des Geschehens. Teilszene 1.' Anklagegrund und Prozesszuständigkeit (18,29-32) Aufgrund der in 18,28 begründeten Weigerung der Ankläger Jesu, das Prätorium zu betreten, tritt Pilatus als Vertreter der römischen Weltmacht in 18,29 ein erstes Mal zu ihnen heraus und fragt sie nach dem Grund ihrer Anklage gegen "diesen Menschen". Mit ihrer Antwort wollen die Ankläger offenbar dem Eindruck vorbeugen, Pilatus ohne stichhaltigen Grund in der Sache Jesu von Nazaret zu bemühen. Dennoch bleibt das, was sie gegen Jesus vorzubringen haben, mit der Umschreibung "Übeltäter" merkwürdig unpräzise
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
(18,30). Daraufhin erklärt sich Pilatus zunächst eimnal für nicht zuständig. Abgesehen von Kapitalgerichtsverfahren hatte die römische Besatzungsmacht die Jurisdiktionsgewalt in innerjüdischen Gerichtsverfahren an den Hohen Rat als dem höchsten jüdischen Selbstverwaltungsgremium übertragen, der nach den religiösen Rechtsvorschriften der Tora urteilte (~ 3.1.1. Exkurs 1). Entsprechend verweist Pilatus die Ankläger Jesu auf diese Rechtslage, indem er sie auffordert, Jesus nach ihrem Gesetz zu richten (18,31a). Doch dürfte ihm bewusst sein, dass die zum Hohen Rat gehörenden Ankläger Jesu ihre rechtlichen Kompetenzen kennen und auszuschöpfen gewillt sind. Präsentieren sie ihm also Jesus als Übeltäter, so wollen sie ihn also eines todeswürdigen Vergehens beschuldigen, das nur durch den römischen Statthalter mit einem Todesurteil und dem Vollzug der Hinrichtung geahndet werden kann. Durch seine Erklärung, nicht zuständig zu sein, zwingt somit der joh Pilatus die jüdischen Ankläger, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Sie wollen den Fall Jesus von Nazaret als Kapitalgerichtsverfahren behandelt wissen. Dazu müssen sie sich aber vor dem Vertreter der römischen Besatzungsmacht demütigen und eingestehen, dass ihre Kompetenzen für diesen Fall beschnitten sind (18,31 b). So erscheinen sie geradezu als Bittsteller vor dem Statthalter. Die übliche Hinrichtungsart für Nichtrömer im besetzten und als aufrührerisch betrachteten Gebiet aber war die Kreuzigung. Darauf zielt der Kommentar des Evangelisten, der die erste Teilszene in 18,32 mit einem erneuten christologischen Erfüllungszitat (vgl. 18,9 ~ 3.8.4.) beschließt. Denn dass er am Kreuz sterben werde, darauf hat der joh Jesus mit der Metapher der Erhöhung zuvor wiederholt verwiesen (vgl. 3,14; 8,28; 12,32.34). Teilszene 2: Jesu Königtum (18,33-38a) Nachdem die Ankläger Jesu also klarstellen mussten, dass sie mit ihrer Anklage vor Pilatus eine Hinrichtung anstreben, geht Pilatus zurück in das Prätorium und verhört Jesus dort. Dieses Verhör eröffnet Pilatus mit der gezielten Frage (18,33b): Bist du der König der Juden?
Diese Frage erscheint zunächst völlig unvermittelt und entsprechend überraschend. Denn die Messianität Jesu und sein damit verbundenes Königtum über Israel spielte im bisherigen Verlauf der joh Passionserzählung keine Rolle - im Unterschied zur synoptischen Tradition, in welcher dem Messiasmotiv beim Verfahren gegen Jesus vor dem Hohen Rat eine Schlüsselrolle zukommt. So zeigt also die unvermittelte Frage des Pilatus in 18,33b nur, dass Joh beim Adressatenkreis seines Evangeliums die Kenntnis der synoptischen, zumindest aber mk Passionsüberlieferung voraussetzt und damit auch den Gegenstand der jüdischen Anklage vor Pilatus.
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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Statt mit einer bestätigenden Antwort, die von Pilatus zwangsläufig als Bejahung eines innerweltlich-politischen Königtums missverstanden würde, reagiert der joh Jesus zunächst mit einer Gegenfrage. Diese lässt bereits seine souveräne Situationsüberlegenheit auch im Verfahren vor dem römischen Statthalter erkennen. Ein Rollentausch deutet sich an: Der Angeklagte befragt den Gerichtsherrn (18,34): Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt?
Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der ungewöhnlichen Tatsache, mit einer Frage des Angeklagten konfrontiert zu werden, verweigert der joh Pilatus die Antwort nicht (18,35). Dass er von sich aus den ihm bislang unbekannten Mann aus Nazaret mit der Frage nach einem messianischen Königsanspruch konfrontiert, weist er mit der rhetorischen Frage "Bin etwa ich ein Jude?" (18,35a) zurück. Er will deutlich machen: Als Nichtjude mischt er sich nicht in innerjüdische Auseinandersetzungen um den religiöstheologischen Anspruch eines Juden ein. Nicht er ist gegen Jesus aktiv geworden. Vielmehr ist die Initiative zu einem römischen Verfahren gegen Jesus von dessen eigenem Volk, konkret von den Hohenpriestern als den religiösen und politischen Autoritäten dieses Volkes ausgegangen (18,35b). Diese Antwort des Pilatus ist innerhalb der joh Jesusgeschichte stimmig (vgl. etwa 7,32; 11,47-53 [~ 3.l.4.]; 18,12-14.19-24. [~ 3.9.4.]) und dürfte auch weitgehend mit den historischen Fakten übereinstimmen: Es war das Jerusalemer Tempelestablishment, das unter dem Vorwand messianischpolitischer Ambitionen Jesu dessen Todesurteil bei Pilatus angestrengt hat (~3.1.l. Exkurs 1). Mit der Frage "Was hast du getan?" (18,35c) spielt der joh Pilatus den Ball wieder zu Jesus zurück und gibt ihm Gelegenheit, aus seiner Sicht zu den Vorwürfen gegen ihn Stellung zu beziehen. Jetzt antwortet Jesus, jedoch nicht unmittelbar auf die zuletzt (l8,35c), sondern auf die zuerst (18,33b) gestellte Frage nach seinem Königtum. Es ist ein Königtum eigener Art. Denn wie Jesu Ursprung selbst (1,1-18; 6,38; 8,57; 16,27f; 17,8 u.ö.), so liegt auch der Ursprung seiner Königsherrschaft in Gott. Daher lässt sie sich nicht nach den machtpolitischen Maßstäben irdischer Herrschaft bemessen, die über staatliche und militärische Druckmittel verfügt. Dass sein Königtum anderen Maßstäben gehorcht, versucht Jesus dem Machtpolitiker Pilatus einsichtig zu machen, indem er auf die für einen irdischen König undenkbaren Umstände seiner Verhaftung verweist (18,36b): Wenn meine Königsherrschaft von dieser Welt wäre, hätten meine Diener gekämpft, damit ich nicht den Juden ausgeliefert würde.
Doch aus Jesu Antwort hört Pilatus nur eins heraus: Jesus erhebt Anspruch auf die Königswürde. Daher fragt er noch einmal ausdrücklich nach (18,37a). Diese Rückfrage zeigt deutlich, dass er ausschließlich in irdisch-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu
machtpolitischen Kategorien zu denken fähig und willens ist. Nur der Anspruch auf ein von diesen Kategorien bestimmtes Königtum ist fur ihn justitiabel und macht sein Eingreifen erforderlich. Jesus bejaht auf diese Rückfrage hin noch einmal nachdrücklich sein - allerdings spezifisches - Königtum und verweist auf seine königliche Aufgabe, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Das ist es, was er getan hat (l8,35c) und was ihn vor irdischen Instanzen zum Angeklagten werden ließ. Für die Vertreter dieser Instanzen wird das Zeugnis Jesu freilich zur Bewährungsprobe: Sind sie aus der Wahrheit - das heißt, stehen sie auf Seiten Gottes - dann nehmen sie J esu Zeugnis von der Wahrheit an oder anders formuliert, dann akzeptieren sie die Offenbarung Gottes in Jesus. Wie schon zuvor die Vertreter der jüdischen Instanz, so schottet sich jetzt auch Pilatus gegen Jesu Zeugnis ab. Mit der skeptischen Frage "Was ist Wahrheit?" (l8,38a) bricht er das Gespräch ab. Für ihn ist die Wahrheitsfrage nicht zu beantworten und daher uninteressant, allein die Machtfrage zählt.
Teilszene 3: Die Passa-Amnestie und das Angebot der Freilassung Jesu (18,38b-40) Nach Abbruch dieses ersten Gesprächs mit Jesus begibt sich Pilatuswiederum nach draußen zu den Anklägern Jesu (l8,38b). So gesellt er sich denen zu, die sich schon vor ihm gegen die Wahrheit und fur die Macht (vgl. 11,48!) entschieden haben. Immerhin ist Pilatus aus der Befragung Jesu soviel klar geworden: Dieser Mensch ist kein politischer Aufrührer, und das allein zählt fur den römischen Statthalter, dessen Machtbefugnisse im Dienst der ungefährdeten Wahrung der römischen Vorherrschaft stehen. Mit der Unschuldsbezeugung fur Jesus (l8,38c, vgl. Lk 23,4) signalisiert' er den Anklägern, dass er nicht bereit ist, sich vor ihren Karren spannen zu lassen und J esus zu verurteilen. Dennoch lässt er den Gefangenen nicht einfach frei. Als scheinbar eleganten Lösungsversuch, um das bereits eröffnete, ihm jedoch sinnlos erscheinende Verfahren zu den Akten legen zu können, bringt er stattdessen den Brauch der Passa-Amnestie ins Spiel (l8,39a). Und so macht er den Anklägern Jesu das Angebot, ihnen im Rahmen der Passa-Amnestie diesen merkwürdig unpolitischen König der Juden wieder freizulassen (l8,39b). Doch hat Pilatus anscheinend die Entschlossenheit der Ankläger, Jesus zu vernichten, unterschätzt. Diese lehnen nämlich das Angebot ab und fordern stattdessen die Amnestierung eines anderen Gefangenen: Barabbas (l8,40a). Lapidar kommentiert Joh diese Wahl mit: Barabbas aber war ein Räuber (festes) (18,40b).
Mit dem Begriff, den er im Griechischen fur "Räuber" wählt, dürfte Joh anzeigen wollen, dass Barabbas kein gemeiner Krimineller war, sondern ein politischer Rebell, wahrscheinlich ein Zelot. Jedenfalls bezeichnet der etwa
3.11. J esus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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zeitgleich mit Joh schaffende jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus die religiös motivierten Widerstandskämpfer gegen die Römerherrschaft mit eben diesem Begriff lestes. So fordern also die Ankläger in ihrer kompromisslosen Entschiedenheit, den Tod Jesu zu betreiben, die Amnestierung eines Mannes, der die römische Vorherrschaft über das jüdische Volk gewaltsam bekämpft. Dafür nehmen sie sogar in Kauf, dass Pilatus ihre Loyalität gegenüber den Römern in Zweifel ziehen könnte. Zumindest aber bestätigen sie ihm indirekt, dass ihre politisch begründete Anklage gegen Jesus vorgeschoben ist. Es gehört zu jener subtilen joh Ironie, dass gerade Barabbas fiir die Bewegung steht, deren gewaltbereiter Widerstand gegen die Römerherrschaft zu eben der Situation führt, die der Hohe Rat mit seiner Initiative gegen Jesus verhindern wollte (11,48: "Dann werden die Römer kommen und uns den Ort [= Tempel] und das Volk wegnehmen"). Doch auch Pilatus verfangt sich in den Maschen seiner eigenen Taktik. Denn indern er Jesus über den "Umweg" der Passa-Amnestie freizulassen versucht, eröffnet er dessen Anklägern erst die Möglichkeit, statt Jesus Barabbas zu fordern. Mit der Freilassung dieses Mannes aber verstieße er gegen römische Sicherheitsinteressen. Soweit freilich geht das Entgegenkommen des joh Pilatus nicht. Zwar wird er schließlich - von den Anklägern Jesu massiv unter Druck gesetzt - Jesus zur Kreuzigung verurteilen. Von einer Freilassung des Barabbas aber lässt Joh im Unterschied zu den synoptischen Varianten der Pilatusszene (vgl. Mk 15,15 parr. Mt 27,26; Lk 23,25) nichts verlauten. Teilszene 4: Geißelung und Verspottung Jesu (19,1-3) Doch zunächst versucht es Pilatus mit einern weiteren Schachzug. Statt dem Geschrei der Ankläger auf Freilassung des Barabbas nachzugeben, lässt er Jesus geißeln (19,1). Die gIundlegende Gemeinsamkeit mit der lk Pilatusszene und zugleich die Unterschiede zu ihr liegen auf der Hand. Wie in der lk Darstellung (~ 3.11.3.) so setzt auch in der joh Version Pilatus die Geißelung als taktische Maßnahme im Ringen mit den Anklägern Jesu um dessen Freilassung ein. Doch belässt es der lk Pilatus bei einer zweimaligen Absichtserklärung im Disput mit den Anklägern, und zwar einmal, bevor diese noch die Freilassung des Barabbas fordern (Lk 23,16.18) und einmal danach (23,22). Der joh Pilatus hingegen reagiert auf die Forderung nach der Amnestierung dieses Mannes (18,40) unmittelbar und diskussionslos, indem er die Geißelung an Jesus tatsächlich vollziehen lässt (19,1).
Das, was zunächst als Willkürakt des joh Pilatus erscheint, entspricht durchaus den brutalen Gepflogenheiten römischer Gerichtsbarkeit, wie etwa das von Josephus überlieferte Beispiel des Ben Ananias aus dem Jahr 62 n.Chr. zeigt (~ 3.1.1. Exkurs 1). Auch diesen Unglückspropheten gegen den Jerusalemer Tempel lässt der römische Statthalter geißeln und gibt ihn anschließend frei, indem er ihn zwar fiir wahnsinnig erklärt, aber für offenbar unschuldig im Sinne der Anklage hält. Die Geißelung hat hier die Funktion
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
einer für sich stehenden Züchtigungsmaßnahme. Als solche will sie wohl auch der joh Pilatus im Verfahren gegen Jesus verstanden wissen. Damit bleibt seine Option erhalten, Jesus freizulassen. In 19,2-3 erzählt Joh dann von einer Verspottung Jesu durch die Soldaten, die - wie er wohl als selbstverständlich voraussetzt - auch die Geißelung vollzogen haben. Nun treiben sie ihren Mutwillen mit ihrem Opfer. Entsprechend dem Jesus zur Last gelegten Vergehen persiflieren sie seinen Königsanspruch. Sie inthronisieren gleichsam den wehrlosen Jesus, dessen Königtum nicht von dieser Welt ist, als Spottkönig, indem sie ihn mit den "königlichen Insignien" seiner (vermeintlichen) Machtlosigkeit ausstatten: Dornenkrone und einen purpurroten (Soldaten-)Mantel (19,2). Nachdem er so ausgestattet ist, huldigen sie ihm mit "Heil dir, König der Juden!" wie die Untertanen eines Herrschers bei dessen Inthronisation. Schließlich verabreichen sie ihm als Pervertierung dieser Huldigung und als Ausdruck ihrer Verachtung Schläge ins Gesicht (19,3). Die Geißelungs- und Verspottungsszene bildet die kompositorische Mitte der joh Pilatuserzählung. Für Joh ist es entscheidend, den Leserinnen und Lesern seines Evangeliums nach- und eindrücklich zu versichern: Im Unterschied zu den Augen der Welt erkennen die Augen des Glaubens gerade in dieser geschundenen und verspotteten Gestalt ihren König, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Und doch: In der Annahme oder Ablehnung dieses paradoxen Königs wird offenbar, wer auf die Wahrheit oder auf die Macht setzt, wer zum Licht oder zur Finsternis gehört, wer nicht gerichtet wird oder schon gerichtet ist (vgl. 3,18-21). Teilszene 5: Die Präsentation des Spottkönigs und der Anspruch Jesu auf die Gottessohnschaft (19,4-8) Mit dem erneuten Ortswechsel des Pilatus vor das Prätorium zu den Anklägern Jesu beginnt in 19,4 die 5. Teilszene. Jetzt wird deutlich, welche Taktik der römische Statthalter mit der Geißelung Jesu verfolgte. Der Spott, den sich seine Soldaten mit ihrem Opfer erlaubten, unterstützt diese Taktik nur noch. Pilatus nämlich lässt Jesus ebenfalls nach draußen treten (19,4a.5a). Er konfrontiert also dessen Ankläger mit Jesu erbarmungswürdigen Zustand, um auf diese Weise der nochmaligen Bezeugung der Schuldlosigkeit Jesu im Sinne der Anklage (19,4b; vgl. 18,38c) Nachdruck zu verleihen. Die Ankläger sollen sich angesichts dieses Anblicks Jesu die Absurdität ihrer Anklage bewusst machen: "Seht, da ist der Mensch!" (19,5b). Wie soll solch armseliger Mensch der jüdischen Obrigkeit oder gar der Weltmacht Rom als Konkurrent gefährlich werden? Doch auf die die Anklage führenden Hohenpriester und ihre Diener wirkt die Inszenierung des Pilatus nicht in der von ihm beabsichtigten Weise. Vielmehr fordern sie jetzt unverblümt und heftig Jesu Kreuzigung (zweifacher Ruf: "Kreuzige [ihn]!" 19,6a). Sie wollen die Geißelung also nicht als Züchtigungsmaßnahme verstehen, sondern als Bestandteil der Kreuzigungs-
3.11. Jesus vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus
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strafe. Die Antwort des Pilatus entbehrt nicht der Ironie: "Nehmt ihr (im Griechischen betontes Personalpronomen) ihn und kreuzigt ihn!" (19,6b). Denn die jüdischen Autoritäten haben ja schon zu Beginn der Verhandlung zugeben müssen, dass sie in Ermangelung der Kapitalgerichtsbarkeit auf die Kooperation mit dem römischen Präfekten angewiesen sind (vgl. 18,31 b). Daran erinnert Pilatus sie hier geradezu boshaft. Er will jedenfalls das durchsichtige Spiel nicht mitspielen: Für ihn ist Jesus unschuldig, wie er jetzt zu dritten Mal mit gleichem Wortlaut feststellt (19,6c; vgl. 18,38c; 19,4b). Das freilich sehen die Juden anders. Nach ihrem Gesetz hat Jesus sein Leben verwirkt, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben und damit der Gotteslästerung schuldig gemacht hat (19,7; vgl. 5,18). Damit legen sie allerdings auch ihre Karten offen und geben zu, dass der politische Anklagegrund vorgeschoben war. Die Reaktion des Pilatus besteht nun allerdings nicht darin, dass er sich angesichts dessen erst recht als nicht zuständig erklärt. Vielmehr fängt Joh hier sehr zutreffend einen römischen Wesenszug ein, wenn er von der wachsenden Furcht des Pilatus spricht (19,8). Bei allem Machtbewusstsein und bei aller Bereitschaft, diese Macht mit allen - auch den brutalsten Mitteln - zu behaupten, waren die Römer stets penibel drauf bedacht, es sich mit keiner Gottheit - auch keiner solchen von besiegten Völkern - zu verderben. Vielmehr waren sie in religiösen Belangen geradezu skrupulös und achteten sorgfältig darauf, ihren Teil für ein gedeihliches Miteinander von Göttern und Menschen zu leisten. Vor diesem Hintergrund musste die Möglichkeit einer Gottessohnschaft Jesu, der eben auf seine Veranlassung hin gegeißelt worden war, Pilatus verständlicherweise in große Furcht versetzen. Teilszene 6: Die Frage der Machtlegitimation (19,9-11) Entsprechend sucht der Römer noch einmal das Gespräch mit Jesus, in dem er von ihm selbst Auskunft über dessen Herkunft erhalten will (19,9a). Als Jesus die Antwort verweigert (19,9b), versucht es Pilatus mit dem Hinweis auf seine Machtbefugnis, die ihm nach seinem Selbstverständnis die Entscheidung über Jesu Schicksal in die Hand gibt (19,10). Diese Einschätzung der Lage entlarvt Jesus freilich als falsch. Seine Antwort: "Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre" (19,lla) will dabei nicht die Staatsmacht als solche als von Gottes Gnaden deklarieren. Sie zielt vielmehr in seine konkrete Situation des Verhafteten und vor dem römischen Statthalter Angeklagten: Weil Jesu Kreuzigung und damit seine Erhöhung dem Heilswillen Gottes entspricht, und weil Jesus selbst es als Regisseur des Passionsgeschehens so will, darum ist Pilatus auf der Ebene irdischer Strukturen die Macht zur Verurteilung Jesu gegeben. Dies befreit ihn nicht von seiner Verantwortung und Schuld. Doch ist diese Schuld in Relation zur größeren Schuld dessen zu sehen, der Jesus dem Römer ausgeliefert hat (19,llb). Auffällig ist hier der Singular, denn auf der Ebene der erzählten Welt hat ja die Gruppe der Hohenpriester samt ihren Dienern Jesus an Pila-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
tus ausgeliefert. Möglicherweise steht hier also unausgesprochen - wie bei Judas - der Herrscher der Welt, also Satan, als eigentlicher Drahtzieher im Hintergrund. Teilszene 7: Die Verurteilung Jesu (l9,12-16a) Diese letzte Teilszene rührt drastisch vor Augen, wie Pilatus sich trotz seiner Überzeugung von Jesu Unschuld und trotz seines Entschlusses, ihn freizulassen, in den subtilen Maschen der Macht verfangen hat. Als die Ankläger erkennen, dass Pilatus zur Freilassung Jesu entschlossen ist (19, 12a), setzen sie ihn massiv unter Druck (19,12b): Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers. Jeder, der sich selbst zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser.
Konkret bezichtigen sie ihn damit der Illoyalität gegenüber dem Kaiser, wenn er einen selbsternannten Königsprätendenten freilässt. Ein solcher Vorwurf freilich konnte ihn Amt und Vermögen kosten, ihm die Verbannung oder gar die Todesstrafe eintragen. Dieser Einsatz freilich ist Pilatus zu hoch. So leitet er angesichts dieser unverhüllten Drohung unverzüglich die Urteilsverkündung ein (19,13). Eigens vermerkt Joh in 19,14a den Zeitpunkt des Geschehens: Es war aber Rüsttag des Passafestes und ungefähr die sechste Stunde.
Diese Zeitangabe entspricht kaum zufällig der Zeit, zu der üblicherweise im Tempel die Passalämmer geschlachtet wurden. So präsentiert Joh hier einmal mehr auf subtile Weise, doch für kundige Ohren unüberhörhar Jesus in typologischer Überbietung der alljährlich in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten geschlachteten Passalämmer (Ex 12) als das endzeitliche Passalarnm. Gezwungen durch den massiven politischen Druck der jüdischen Autoritäten macht Pilatus schließlich den Weg frei für die Kreuzigung Jesu. Doch rächt er sich auf seine Weise. Denn sie müssen ihr Ziel, Jesus zu vernichten, teuer erkaufen. So zwingt Pilatus sie, indem er sie wiederholt auf Jesus als ihren König verweist (19,14b.15b), ihre Ideale und religiösen Überzeugungen preiszugeben. Wie er müssen nun auch die jüdischen Autoritäten ihre Loyalität gegenüber dem römischen Kaiser bezeugen, indem sie ihn als einzigen Herrscher anerkennen (19,15c). Erst daraufhin gibt Pilatus Jesus zur Kreuzigung frei (19,16a). Wenngleich Joh sehr genau um das historische Faktum der Kreuzigung Jesu durch ein römisches Exekutionskommando weiß (vgl. 18,31; 19,23), lässt er in 19,16a doch wohl bewusst offen, wem konkret Pi latus Jesus zur Kreuzigung auslieferte. Mehr noch: Mit "ihnen" (autois) scheint er im unmittelbaren Kontext auf die zuvor in 19,15 erwähnten Hohenpriester verweisen zu wollen. Gegenüber der lk Schlussbemerkung
3.12. Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten
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(Lk 23 ,25b ~ 3.11.3.) belastet damit J oh in seinem Schlusswort zur Pilatusszene noch stärker die jüdischen Autoritäten. Offenbar soll sich den Adressaten seines Evangeliums zunächst der Eindruck der unmittelbaren Verantwortung der Hohenpriester an der Hinrichtung Jesu aufdrängen. Wenngleich Joh Textsignale eingebaut hat, die diesen Eindruck korrigieren helfen, bestätigt sich doch in 19,16a seine Tendenz, die Frage der Schuld am Tod Jesu zu einseitig auf Kosten der jüdischen Seite zu beantworten. Dies dürfte nicht zuletzt mit aktuell bedrängenden Erfahrungen der judenchristlichen joh Gemeinde durch das sich formierende Mehrheitsjudentum am Ausgang des 1. Jh.s n.ehr. zusammenhängen. Wirkungsgeschichtlich hat sich diese Darstellungstendenz freilich für jüdische Minderheiten in christlich dominierter Gesellschaft als fatal erwiesen.
3.12. Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten 3.12.1. Die markinische Darstellung Mk 15, 16-20a Als Brückenszene zwischen der schlussendlichen Freigabe Jesu zur Kreuzigung (15,15) und ihrer Vollstreckung (15,20b-32) fügt Mk in 15,16-20a eine Erzähleinheit von der Verspottung und Misshandlung Jesu durch die Soldaten des Exekutionskommandos ein. Abgegrenzt ist diese kurze Erzähleinheit durch zwei Ortswechselnotizen. Die erste Ortswechselnotiz, die voraussetzt, dass das Verfahren gegen Jesus vor Pilatus im Freien stattfand, fmdet sich in 15,16a: Die Soldaten führen Jesus ins Innere des Prätoriums also des Amtssitzes des römischen Statthalters - um mit ihm ihren Spott zu treiben; mit einer erneuten Ortswechselnotiz beginnt in 15,20a die Erzählszene von der Vollstreckung der Kreuzigung. Dazu wird Jesus erneut nach draußen geführt. Mit 15,16 skizziert Mk also einleitend die Situation: Die Soldaten aber führten ihn ab in das Innere des Palastes, das heißt in das Prätorium, und riefen die ganze Kohorte zusammen.
Nach 15,15 war der Freigabe Jesu zur Kreuzigung bereits seine Geißelung vorausgegangen, wie Mk in denkbar sparsamer Formulierung vermerkt (phragellosas: und nachdem er gegeißelt worden war ... "). Ebenso wie Mk 15,15 verzichten im Übrigen auch Mt 27,26 und Joh 19,1 darauf, den Vorgang der grausamen Geißelung (---+ 3.11.3.) erzählerisch auszugestalten. Sie halten nur das Faktum selbst durch eine knappe Notiz fest. Lk schwächt im Vergleich dazu sogar noch ab, indem er nicht den Vollzug der Geißelung erwähnt, sondern es bei der zweifachen Absichtserklärung des Pilatus belässt, Jesus geißeln (zudem verwendet er das beschönigende Verb "züchtigen" ---+ 3,11.3.) zu lassen.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Nachdem Jesus also bereits physisch schwer misshandelt worden ist, entziehen ihn die Soldaten des Exekutionskommandos nun den Augen der Öffenf· lichkeit, um ihn im Kreis ihrer Kameraden psychisch zu quälen (15,17-19). Die nachfolgend erzählte Verspottung Jesu findet nach mk Angabe statt im "Innern des Palastes (griechisch: aule), wobei Palast sogleich präzisiert wird durch Prätorium. Dahinter dürfte sich folgender Sachverhalt verbergen: Die römischen Statthalter in Judäa hatten ihren Hauptamtssitz in Cäsarea Maritima. Nur zu den hohen Wallfahrtsfesten bezogen sie in Jerusalem Quartier, weil die große Schar der Pilger mit ihrer religiös motivierten Feststimmung immer eine erhöhte Gefahr des Aufbegehrens gegen die verhasste heidnische Fremdherrschaft in sich barg (~ 3.l.l.). Durch ihre Präsenz und die verstärkte Präsenz ihrer Soldaten wollten die römischen Statthalter dieser Gefahr vorbeugen. Als Jerusalemer Amtssitz (Prätorium) diente ihnen dabei wohl der alte hasmonäische Königspalast gegenüber der Südwestecke des Tempelberges. Damit wird die mk Formulierung unmittelbar einsichtig.
Als Publikum der Verspottungsszene gibt Mk im Einleitungsvers "die ganze Kohorte" an. Dies erscheint angesichts der Mannstärke einer Kohorte (bis zu 1000 Mann ~ 3.8.4.) zunächst übelirieben. Doch relativiert sich die Höhe dieser Angabe, bedenkt man die üblicherweise angespannte Situation in Jerusalem am höchsten Wallfahrtsfest des Jahres und die eine Kohortenstärke um ein Vielfaches übertreffende Zahl von Pilgern. Vor diesem Hintergrund entbehrt die Stationierung einer ganzen Kohorte im Prätorium durchaus nicht einer gewissen Plausibilität. Als erzählerische Übertreibung mag dagegen gelten, dass Mk alle Mitglieder dieser KohOlie als Zuschauer der Verspottung Jesu bemüht. Die Verspottung selbst erzählt Mk in 15,17-19. Wie die in das Pilatusverhör integrierte joh Verspottungsszene (19,2f ~ 3.11.4.) stellt auch die mk Verspottungsszene eine Persiflage auf Jesu messianischen Königsanspruch dar (vgl. Mk 14,61f; 15,2) dar. Wenngleich die joh Version gegenüber der mk Darstellung gestraffter gestaltet ist, bestehen doch in den einzelnen Handlungsschritten wie im Gesamtablauf auffällige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Verspottungszenen. So wird auch der mk Jesus zunächst mit den "königlichen Insignien" seines ins Lächerliche gezogenen Königsanspruchs ausgestattet: Er wird bekleidet mit einem königlichen Purpurgewand, als das wohl ein roter Soldatenmantel dienen muss (15,17a; vgl. Joh 19,2b), ein aus Dornen geflochtener Kranz wird ihm als königliches Diadem um den Kopf gelegt (15,17b; vgl. Joh 19,2a). Sodann empfängt auch der mk Jesus als Spottkönig die Huldigung seiner "Untertanen", indem ihm die Soldaten die mit Joh 19,3a identischen Worte zurufen (15,18): Sei gegrüßt, König der Juden (chaire basileu tön Iudaiön)!
Statt der Schläge ins Gesicht (Joh 19,3b) erhält Jesus in mk Darstellung jedoch Schläge mit einem Stock aus Schilfrohr auf den Kopf (15,19a), was
3.12. Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten
183
angesichts der Dornenkrone, die er trägt, eine zusätzliche Quälerei bedeutet. Zudem spucken die Soldaten in der mk Verspottungsszene Jesus als Ausdruck ihrer Verachtung an (15,19a). Schließlich weist ihre Königspersiflage noch ein weiteres Element auf. Denn indem sie ihre Knie beugen, vollziehen sie den Unterwerfungsgestus der Proskynese (15, 19b). Dieser Gestus aber ist Bestandteil des hellenistischen Herrscherkultes und bringt zum Ausdruck, dass der Herrscher dem göttlichen Bereich zugehört. Obwohl aus purem Mutwillen und bewusst persiflierend, erweisen die Soldaten Jesus also gleichwohl unwissentlich eben die Reverenz, die ihm als Messias und Sohn Gottes zusteht. Die mk Verspottungsszene endet in 15,20a mit der Notiz, dass die Soldaten Jesus das purpurne (Spott-)Gewand aus- und seine eigenen Kleider wieder anziehen. Sofern es für die mk Christologie kennzeichnend ist, dass die Messiaswürde Jesu nicht losgelöst von seinem Leiden bekannt werden darf (~ 3.1.1.), erhält unter dieser Perspektive die Verspottungsszene innerhalb der mk Jesusgeschichte eine besondere Gewichtung. Gerade in der äußersten Erniedrigung und Demütigung Jesu bestätigen sich seine messianische Herrscherwürde und seine göttliche Hoheit. Seine vordergründig boshaft-mutwillige Verspottung durch die Soldaten besitzt nämlich eine Tiefendimension, in welcher sich für die Leser und Leserinnen des MkEv die vermeintliche Königspersiflage als zutreffende Königsproklamation zu erkennen gibt. So bekennen also in dieser Szene die römischen Soldaten durch ihr verächtlich machendes Handeln unbewusst und gleichsam wider Willen die messianische Herrscherwürde und göttliche Hoheit des leidenden und erniedrigten Jesus. Ihr positives Widerlager finden sie in der Person des heidnischen Hauptmanns, der schließlich unter dem Kreuz angesichts des Sterbens Jesu diesen respektvoll als "Sohn Gottes" bezeugt (Mk 15,39 ~ 3.14.1.).
3.12.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 27,27-31a
Während Lk mit der mk Erzählvorlage von der Verspottung Jesu in für ihn typischer Weise sehr frei verfährt und sie innerhalb der Pilatusszene in das zu seinem Sondergut gehörige Herodes-Intermezzo (23,6-12) transponiert (~ 3.11.3.), folgt Mt wiederum dem von Mk vorgegebenen Erzählverlauf. Im Unterschied zur joh Version, die im Vergleich mit Mk strafft (~3.12.1.), erweist sich die mt Bearbeitung detailfreudiger als die Mk-Vorlage. Zudem bemüht sich Mt einmal mehr, erzählerische Ungenauigkeiten bzw. Ungereimtheiten zu beseitigen. Der Eröffnungsvers 27,27 weist gegenüber Mk 15,16 kaum nennenswerte Abweichungen auf. Erwähnung verdient allenfalls, dass Mt die Soldaten in einen ausdrücklichen Bezug zu Pilatus stellt, den er im Übrigen - wie mehrfach in der vorausgehenden Verhörszene (27,2.11.14.15.21 ~ 3.11.2.) - mit
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu
seinem amtlichen Titel "Statthalter" (hegemon) bezeichnet. Insofern im Folgenden also "die Soldaten des Statthalters" handeln, will Mt indirekt wohl auf die Mitschuld des Pilatus als ihres militärischen Vorgesetzten an der Verspottung J esu verweisen. In Übereinstimmung mit dem mk Parallelvers führen auch nach Mt die Soldaten Jesus in das Prätorium. Allerdings streicht Mt die bei Mk vorausgehende Bezeichnung des Gebäudes als Palast. Zu Beginn der eigentlichen Verspottungshandlung in 27,28 fügt Mt zu Mk 15,17a eigens die Notiz hinzu, dass die Soldaten Jesus das Spottgewand anlegten, nachdem sie ihn zuvor entkleidet hatten (kai ekdysantes auton). Auf diese Weise rahmen die beiden Notizen vom Ent- und wieder Bekleiden Jesu mit seiner eigenen Kleidung die mt Verspottungsszene. Möglicherweise empfand Mt den fehlenden Hinweis bei Mk auf das Entkleiden Jesu als erzählerische Ungereimtheit. Bedenkt man allerdings, dass der Verspottung Jesu nach Mk 15,15 par. Mt 27,26 die Geißelung vorausging, der Delinquent bei der Geißelung aber nackt war (--» 3.1l.3.), so ist die mk Darstellung in diesem Punkt durchaus in sich stimmig. Interessant ist eine weitere kleine Änderung, die Mt in 27,28 gegen Mk 15,17a vornimmt. Während Mk nämlich von einem Purpurgewand (porphyra) spricht, das die Soldaten Jesus anlegen, spricht Mt von einem scharlachroten Mantel (chlamys kokkine), wie ihn etwa Soldaten trugen. Mt hält also - in Übereinstimmung mit dem darauf erwähnten Dornenkranz (27,29a par Mk 15,17b) - fest, was die Soldaten ganz konkret als Insignien für den Spottkönig hernehmen. Mk (vgl. Joh 19,2) dagegen hebt im Fall der Bekleidung darauf ab, was sie im Kontext der Königspersiflage bezeichnen soll, nämlich das den Herrschern vorbehaltene Gewand von kostbarer Purpurfarbe. In 27,29a fügt Mt über Mk 15,17b hinaus mit der Erwähnung de~ Stocks aus Schilfrohr, das die Soldaten als königliches Zepter Jesus in die rechte Hand drücken, eine zusätzliche Insignie des Spottkönigs ein. Die Anregung zu diesem weiteren Detail der Königspersiflage erhielt Mt wohl aus Mk 15,19a, wo es heißt, dass die Soldaten Jesus mit einem Stock aus Schilfrohr auf den Kopf schlugen. Die in Mk 15,19b nach erfolgter verbaler Huldigung (15,18) etwas nachklappend wirkende Kniebeuge der Soldaten vor dem Spottkönig zieht Mt vor diese wörtlich aus Mk übernommene Huldigung und macht dadurch den Ablauf der Szene in sich stimmiger. Anders als Mk charakterisiert Mt diese Kniebeuge nicht ausdrücklich als Vollzug der Proskynese. Dagegen qualifiziert er die Huldigung innerhalb der Verspottungsszene als solcher noch einmal eigens als Spott (27,29c): Und nachdem sie ihre Knie gebeugt hatten, spotteten sie ihm, indem sie sagten: "Sei gegrüßt, König der Juden!"
In 27,30 tauscht Mt die Abfolge von Anspucken und Schlagen gegen Mk 15,19a (Schlagen, Anspucken) um. Auch bei ihm dient ein Stock aus Schilfrohr, um Jesus Schläge auf den Kopf zu geben. Allerdings handelt es sich in
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
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mt Darstellung dabei um denselben Stock, den die Soldaten Jesus zuvor in die Hand gegeben hatten (27,29a diff Mk 15,17b). Entsprechend genau versäumt er es nicht darauf hinzuweisen, dass sie ihm zunächst den Stock wegnahmen, um ilm anschließend damit zu schlagen. Als Schlussvers (27,31a) übernimmt Mt dann in exakter Entsprechung Mk 15,20a. Dabei erweist ihn die einzige Abweichung noch einmal als detailgenauen Bearbeiter seiner Mk-Vorlage. Denn in Übereinstimmung mit seiner Abänderung in 27,28 (scharlachroter Mantel diff Mk 15,17a: Purpurgewand) setzt Mt auch in 27,31a gegen Mk 15,20a "Mantel" statt "Purpurgewand". Die Bearbeitung der mk Verspottungsszene durch Mt lässt insgesamt eine gewisse Detailverliebtheit, aber auch das Bemühen um eine größere erzählerische Stimmigkeit erkennen. Doch ändern die zahlreichen kleineren Eingriffe in den Mk-Text insgesamt nichts an dessen theologischer bzw. christologischer Aussagekraft. Auch für Mt gilt: Durch das vordergründige Geschehen der Königspersiflage hindurch, mit welcher die Soldaten Jesus der Lächerlichkeit preisgeben wollen, eröffnet die Tiefendimension der Verspottungsszene den Glaubenden den Blick für die endzeitlich-messianische Königswürde und die göttliche Hoheit des erniedrigten und leidenden Jesu. Und so werden auch in mt Darstellung die Soldaten unfreiwillig zu Zeugen dieser Jesus eigenen christologischen Hoheit und Würde.
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz Wegen der dichten Abfolge der einzelnen Erzählschritte, die die mk Fassung der Hinrichtungsszene vorgibt, und wegen der zahlreichen Besonderheiten, die es in der lk und joh Gestaltung der Him'ichtungsszene wahrzunehmen gilt, empfiehlt sich vor der Würdigung der je eigenen Textfassungen einmal mehr ein erster vergleichender Überblick über ihren Aufbau mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden:
186
3 ° Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu
Aufbau der Hinrichtungsszene und Abfolge der einzelnen Erzählschritte Mt27 31b-32 Auf dem Weg zum Kreuz 32 Simon von Kyrene
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Mk15 20b-2l Auf dem Weg zum Kreuz 21 Simon von Kyrene -----
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33-38 Vollzug der Kreuzigung 33 Ort der Kreuzigung 34 Angebot des Betäubungstrunks 35a Kreuzigungsnotiz
22-27 Vollzug der Kreuzigung 22 Ort der Kreuziglmg 23 Angebot des Betäubungstrunks 24a Kreuzigungsnotiz
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35b Verlosung der Kleider Jesu 36 Bewachungsnotiz 37 Aufschrift der Schuldtafel
24b Verlosung der Kleider Jesu 25 Zeitangabe 26 Aufschrift der Schuldtafel
38 flankierende Kreuzigung der zwei Verbrecher 39-44 Jesus am Kreuz 39-40 Verhöhnung des Gekreuzigten durch Passanten 41-43 Verhöhnung des Gekreuzigten durch jüdische Autoritäten
27 flankierende Kreuzigung der zwei Verbrecher 29-32 Jesus am Kreuz 29-30 Verhöhnung des Gekreuzigten durch Passanten 31-32a Verhöhnung des Gekreuzigten durch jüdische Autoritäten
17
Lk23 26-32 Auf dem Weg zum K.oeuz 26 Simon von Kyrene 27-31 Wehklage der Frauen/Reaktion Jesu 32 zwei Verbrecher mit Jesus auf dem Kreuzweg 33-34 Vollzug der Kreuzigung 33a Ort der Kreuzigung
Joh 19 16b-17a Auf dem Weg zum Kreuz -----------
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33 b Kreuzigungsnotiz (Jesus + flankierend die zwei Verbrecher) 34a Jesu Gebet um Vergebung für seine Henker 34b Verlosung der Kleider Jesu
18 Kreuzigungsnotiz (Jesus + flankierend die zwei Verbrecher)
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17b-24 Vollzug der Kreuzigung 17b Ort der Kreuzigung
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(---+ Vo 23-24)
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(---+ V. 38)
(---+ V. 33b)
19-22 Aufschrift der Schuldtafel Disput Pi/atus Hohepriester 23-24 Verlosung der Kleider Jesu (---+ V. 18)
35-43 Jesus am Kreuz 35a Volk in der Zuschauerrolle
25-27 Jesus am Kreuz -------
35b Verhöhnung des Gekreuzigten durch jüdische Autoritäten
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Kursiv = Sondergut; Unterstreichung: Übereinstimmung zwischen Lk/Joh gegen Mk/Mt
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
187 36-37 Verhöhnung des Gekreuzigten durch Soldaten
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38 Aufschrift der Schuldtafel 39-43 Die zwei mitgekreuzigten Verbrecher in ihrer differierenden Einstellung Jesus gegenüber
(~V.
44 Verhöhnung des Gekreuzigten durch die zwei mitgekreuzigten Verbrecher (~V. 37)
32b Verhöhnung des Gekreuzigten durch die zwei mitgekreuzigten Verbrecher (~V. 26)
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19-22)
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25 Frauen unter dem Kreuz Jesu 26-27 Vermächtnis JeSli für Mutter und geliebten Jünger
Die mk Hinrichtungsszene, die als älteste uns zugängliche schriftliche Erzählung von den Geschehnissen auf Golgota zu gelten hat, weist eine dreigliedrige Grundstruktur auf: Auf dem Weg zur Kreuzigung (15,20b-21) Vollzug der Kreuzigung (15,22-27) - Jesus am Kreuz (15,29-32).18 Diesen dreigliedrigen Aufbau übernehmen nicht nur die beiden synoptischen Seitenreferenten Mt und Lk. Er liegt auch der joh Hinrichtungsszene zugrunde. In Bestand und Abfolge der einzelnen Erzählschritte innerhalb der jeweiligen Abschnitte weisen jedoch vor allem die lk Bearbeitung wie die joh Version der Hinrichtungsszene zum Teil erhebliche Abweichungen von der MkFassung auf. Diese Mk-Fassung gilt es zunächst zu betrachten. Der erste Teilabschnitt (Auf dem Weg zum Kreuz) ist zugleich der kürzeste. Abgesehen von der kurzen Notiz in 15,20b, wonach sie (= die Soldaten, vgl. 15,16) Jesus herausführten, um ihn zu kreuzigen, bietet 15,21 nur eine knappe Schilderung der Zwangsverpflichtung des Simon von Kyrene, das Kreuz Jesu zu tragen. Der zweite Teilabschnitt (Vollzug der Kreuzigung) weist eine fast stakkatohaft wirkende Reihung von sechs kleinen Erzählschritten auf: 15,22 benennt den Ort, wo die Kreuzigung Jesu stattfindet; 15,23 erwähnt das Angebot eines Betäubungstrunks rür Jesus unmittelbar vor der Kreuzigung, das dieser jedoch ablehnt; in 15,24a schließt sich in geradezu dürren Worten die Notiz vom Kreuzigungsvorgang im engeren Sinn an; 15,24b erzählt von der Verlosung der Kleidung Jesu unter den Mitgliedern des Exekutionskommandos; 15,25 hält als Zeit des Geschehens die dritte Stunde des Tages (ca. 9h) fest; 15,26 vermerkt, dass die Angabe der Schuld Jesu mit "der König der Juden"
18
Zur nachträglichen Einfügung von 15,28 (Zitat Jes 53,12; vgl. Lk 22,37 ~ 3.5.3.) vgl. 3.l3.1.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
durch eine Aufschrift (auf einer Tafel) festgehalten war. Der Mittelteil der mk Hinrichtungsszene schließt in 15,27 mit einer weiteren Kreuzigungsnotiz.' Sie bezieht sich auf zwei Verbrecher, deren Kreuze rechts und links neben Jesus errichtet werden. Der dritte und letzte Teilabschnitt (Jesus am Kreuz) lenkt den Blick dann auf die Geschehnisse während der Zeitphase, die Jesus am Kreuz hängt. Im Zentrum der mk Darstellung stehen dabei die Verhöhnung, die der Gekreuzigte von verschiedenen Personengruppen über sich ergehen lassen muss: von Passanten (15,29f), von den jüdischen Autoritäten (15,31-32a) und schließlich von den beiden mit Jesus gekreuzigten Verbrechern (15,32b). Fast schon erwartungsgemäß schließt sich Mt einmal mehr denkbar eng an seine Mk-Vorlage an. Sowohl im Bestand als auch in der Abfolge der einzelnen Erzählschritte folgt er exakt den mk Vorgaben. Nur eine einzige Abweichung "erlaubt" er sich: Die Zeitangabe in Mk 15,25 ersetzt er in 27,36 durch eine knappe Notiz der Bewachung des Gekreuzigten durch seine Henker. Ebenfalls schon erwartungsgemäß nimmt Lk sich die Freiheit, die mk V orlage der Hinrichtungsszene großzügig um- und auszugestalten. So fügt er bereits im ersten Teilabschnitt der Episode vom Kreuztragen des Simon von Kyrene (23,26) in 23,27-31 eine Sondergutpassage an, die von der Wehklage der Jerusalemer Frauen über Jesu Geschick und von der Erwiderung Jesu erzählt. Auch 23,32 ist eine redaktionelle Einfügung von lk Hand. Schon hier auf dem Weg zum Kreuz führt Lk erzählerisch die beiden mit Jesus gekreuzigten Verbrecher ein. Den zweiten Teilabschnitt eröffnet Lk in Anlehnung an Mk 15,22 mit der Benennung des Hinrichtungsortes (23,33a). Das in Mk 15,23 folgende Angebot eines Betäubungstrunks für Je~us streicht Lk ersatzlos. Die Kreuzigungsnotiz aus Mk 15,24a übernimmt Lk zwar, kombiniert sie aber mit der zweiten mk Kreuzigungsnotiz aus 15,27, die sich auf die beiden mit Jesus gekreuzigten Verbrecher bezieht (23,33b). Das Gebet Jesu um Vergebung für seine Henker (23,34a) hat keine mk Entsprechung, wohl aber der anschließende Vermerk von der Verlosung der Kleidung Jesu (23,34b par. Mk 15,24b). Die Zeitangabe Mk 15,25 rezipiert Lk nicht. Der Hinweis auf die schriftlich festgehaltene Angabe der Schuld Jesu (Mk 15,26) findet sich bei Lk erst im dritten Teilabschnitt der Hinrichtungsszene (23,38). Auch hier (23,35-43) greift Lk massiv in seine Mk-Vorlage gestalterisch ein. So übernimmt er gleich eingangs nicht die Erwähnung, dass der Gekreuzigte von Passanten gelästert wird (Mk 15,29f), sondern hält offenkundig in Vorbereitung auf 23,48 - nur die Zuschauerrolle des Volkes fest (23,35a). In Entsprechung zu Mk 15,31-32a erzählt Lk dann in 23,35b von der Verhöhnung des Gekreuzigten durch die jüdischen Autoritäten und schließt in 23,36f eine bei Mk nicht vorgegebene weitere Verhöhnung durch die Soldaten an. Damit stellt Lk in 23,36fDetails aus Mk 15,23.36 zu einem neuen Akzent innerhalb seiner Passionserzählung zusammen. Es folgt in
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23,38 die aus Mk 15,26 transponierte Notiz zur Aufschrift mit der Schuldangabe. Die lk Bearbeitung der Hinrichtungsszene schließt in 23,39-43 mit einer weiteren Sondergutpassage, die durch Mk 15,32b angeregt worden sein dürfte. Anders als die knappe mk Erwähnung von der Verhöhnung Jesu auch durch die beiden mit ihm gekreuzigten Verbrecher widmet Lk diesen beiden Männern mit der bekannten Erzählung vom "bösen und vom guten Schächer" besondere Aufmerksamkeit. Die joh Version der Hinrichtungsszene setzt noch einmal ganz eigene Akzente. Ohne die Erzählung über Simon von Kyrene ist der erste Teilabschnitt gegenüber dem synoptischen und zumal dem lk Befund beinahe als rudimentär zu bezeichnen. Allerdings hält J oh in 19,17 a ausdrücklich fest, dass Jesus selbst sein Kreuz trug. Der zweite Teilabschnitt beginnt analog zum synoptischen Befund in 19,17b mit der Benennung des Hinrichtungsortes. Das fehlende Angebot des Betäubungstrunks (diff Mk 15,23 par Mt 27,34) und die kombinierte Notiz von der Kreuzigung Jesu und der flankierenden Kreuzigung der beiden Verbrecher (Joh 19,18 par Lk 23,33b) verbindet die joh Version mit Lk. Die Abfolge der Erwähnung von Schuldtafel (19,19-22) und Kleiderverlosung (19,23f) ist gegenüber Mk vertauscht. An die Erwähnung von der Aufschrift der Schuldtafel (19,19f) schließt Joh noch einen Disput zwischen Pilatus und den Hohenpriestern um den korrekten Wortlaut dieser Aufschrift an (19,21f). Den dritten Teilabschnitt der Hinrichtungsszene gestaltet Joh in ganz eigener Weise. Von einer Verhöhnung des Gekreuzigten weiß er nichts zu erzählen. Statt den Blick auf die Gegner Jesu zu lenken, richtet er die Aufmerksamkeit auf die Getreuen Jesu. So erwähnt er namentlich vier Frauen, die unter dem Kreuz Jesu stehen, allen voran seine Mutter (19,25). Die joh Hinrichtungsszene schließt in 19,26fmit dem wechselseitigen Vermächtnis Jesu für seine Mutter und den geliebten Jünger.
3.13.1. Die markinische Darstellung Mk 15,20b-32 In direktem Anschluss an die Verspottungsszene eröffnet Mk in 15,20b mit einer erneuten Ortswechselnotiz die Erzählung von der Hinrichtung Jesu am Kreuz. Die Soldaten, die Jesus zunächst in das Prätorium hineingeführt haben (15,16), um dort mit ihm ihren Spott zu treiben, führen ihn jetzt hinaus, um ihn zu kreuzigen. Doch wird Jesus nicht nur aus dem Amtssitz des Statthalters geführt, sondern zugleich weiter hinaus vor die Tore der Stadt. Hinrichtungen wurden stets außerhalb der Stadtmauern vollstreckt. Das Hinausfuhren des Hinrichtungskandidaten zur Richtstätte symbolisierte dabei auch, dass er sich durch sein Verbrechen gegen die Normen der menschlichen Gesellschaft gestellt hatte und daher aus dieser Gemeinschaft ausgegrenzt wurde.
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Auf dem Weg zur Richtstätte machen die Soldaten als Vertreter der römischen Besatzungsmacht von ihrem Recht Gebrauch, jederzeit Menschen im besetzten Gebiet zur sofortigen Verrichtung von Aufgaben zwangsverpflichten zu können (vgl. auch Mt 5,41). So nötigen sie nach 15,21 einen Mann, der zufällig des Wegs kommt, Jesu Kreuz - konkret wohl den Querbalken desselben (~ Exkurs 4) - zu tragen. Mit keiner Silbe deutet Mk dabei an, dass die Soldaten diese Maßnahme der Zwangsrekrutierung eines Passanten anordneten, weil Jesus selbst die Kräfte schwanden. Daher dürfte er sie eher als einen Willkürakt der Soldaten werten, die - wie schon bei der Verspottung Jesu - Menschen aus Mutwillen das Recht des Stärkeren spüren lassen. Dies legt nicht zuletzt auch die allgemeine gesellschaftliche Aversion gegenüber der grausamen und schimpflichen Kreuzesstrafe sowie gegenüber den dazu Verurteilten nahe, umso mehr als diese Aversion im jüdischen Bereich aufgrund von Dtn 21 ,22f zudem auch eine theologische Begründung in der Tora besaß (~ Exkurs 4). Vor diesem Hintergrund aber musste der Mann das Tragen des Kreuzes für einen gesellschaftlich und religiös Geächteten als Zumutung empfinden. Den Namen des Mannes gibt Mk mit Simon von Kyrene an. Durch den Vornamen ist er als Jude ausgewiesen, durch die Herkunftsangabe näherhin als wohl griechischsprachiger Diasporajude. Denn bei Kyrene handelt es sich um eine von Griechen gegründete hellenistische Stadt in der nordafrikanischen Landschaft Kyrenaika, in der es auch einen nicht geringen jüdischen Bevölkerungsanteil gab. Dieser Simon trifft nun auf den Hinrichtungstrupp aus Soldaten und Delinquenten, als er vom Land (ap' agrou) wohl in Richtung Jerusalem unterwegs ist. Ap' agrou dagegen mit "vom Feld" zu übersetzen und im Sinne "von der Feldarbeit" zu interpretieren (so etwa die Einheitsübersetzlmg, die revidierte Ltltherübersetzung und die Zürcher Bibel 2007), dürfte der Aussageabsicht des mk Textes nicht gerecht werden. Gegen dieses Verständnis spricht zum einen die frühe Stunde: Wenn Mk in 15,25 als Zeit für die Kreuzigung Jesu die dritte Stunde - also ca. 9h morgens - angibt, dann ist die Begegnung zwischen Simon und dem Hinrichtungstrupp nach seinem Zeitplan sogar noch ein wenig früher anzusetzen. So früh am Tag aber be endet man nicht bereits die Feldarbeit. Zum anderen ist ein solches Verständnis auch nicht mit der mk Datierung in Einklang zu bringen, wonach Jesus am ersten Tag des Passafestes stirbt (---+ 3.4.1.). Denn Mk dürfte kaum andeuten wollen, dass der Jude Simon von Kyrene den ersten Festtag des höchsten jüdischen Festes mit Feldarbeit zugebracht habe!
Entweder also war Simon aus Anlass des Passafestes als Pilger nach Jerusalern gekommen und hatte in einem Dorf nahe bei Jerusalem Quartier gefunden (so wie Jesus und seine Jünger in Betanien, vgl. Mk 11,11f.19). Oder er hatte sich - wie viele andere Diasporajuden auch - dauerhaft in Jerusalem (bzw. in der Nähe der Tempelstadt) niedergelassen. Für Jerusalem bezeugt Apg 2,10 eine größere Gruppe von Menschen, die aus der Kyrenaika stammten. Nach Apg 6,9 bildete diese Gruppe - wie andere landsmannschaftliche Gruppen auch - eine eigene Synagogengemeinde.
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In 15,21 stellt Mk Simon nun nicht nur seiner Herkunft nach vor, sondern verweist auch ausdrücklich darauf, dass er der Vater des Alexander und des Rufus sei. Diese beiden Männer dürften damit wohl den Adressaten der mk Jesusgeschichte noch bekannt sein. Ihre Namen sagen freilich auch etwas über ihren Vater aus. Denn er hatte ihnen keine traditionell jüdischen Namen gegeben. Vielmehr trägt Alexander einen griechischen und Rufus einen römischen Namen. Dies jedenfalls deutet auf eine liberal-weltoffene Einstellung des Simon hin. Vielleicht gehörte er später zur Gruppe der hellenistischen Judenchristen Jerusalems um Stephanus. Jedenfalls zählt Mk ihn nicht zum Kreis der vorösterlichen Jünger Jesu, die nach 14,50 ausnahmslos flohen. Dennoch leistet er - unbewusst und wohl wider Willen - in einem sehr buchstäblichen Sinn die Kreuzesnachfolge, die Jesus von seinen Jüngern fordert (vgl. 8,34). Mit 15,22 beginnt der zweite Teilabschnitt der mk Hinrichtungsszene (Vollzug der Kreuzigung 15,22-27 ---+ 3.13.1). Zunächst benennt Mk das Ziel des Hinrichtungstrupps, die Richtstätte mit dem aramäischen Namen Golgota, den er mit "Ort des Schädels" ins Griechische übersetzt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen kleinen Hügel, dessen Kuppe - bei Hügeln oftmals als "Kopf' bezeichnet - eine schädelartig kahle Beschaffenheit besaß. Jedenfalls passt der makaber klingende Name zu der Funktion, die man dem Ort als Richtstätte zugewiesen hatte. Dort angekommen, reichen die Soldaten Jesus einen mit Myrrhe versetzten Wein als Betäubungstrunk, wie es bei Kreuzigungen durchaus üblich war. Doch Jesus verweigert diesen Trunk. Dass Mk in 15,23 diese winzige Einzelheit im Gesamtgeschehen überhaupt einer Erwähnung würdigt, belegt, wie wichtig es ihm ist zu zeigen: Jesus hat den Kelch seines Leidens (14,36), nachdem er ihn im Gebetsringen mit dem Vater angenommen hat (---+ 3.7.1.), wirklich bis zur Neige, und das heißt auch bei vollein Bewusstsein geleert. Anders als die Begleitumstände der Kreuzigung (15,23.24b.26), schildert Mk den eigentlichen Kreuzigungsvorgang nicht, sondern er beschränkt sich auf die in knappster Formulierung gehaltene Feststellung (15,24a): Und sie kreuzigten ihn (kai staurousin auton).
Diese Zurückhaltung, die sich auch alle anderen Evangelisten auferlegen, entspricht der generellen Scheu antiker Menschen vor der Kreuzigung als der wohl grausamsten, jedenfalls gesellschaftlich geächteten und im jüdischen Verständnis zudem den so Hingerichteten auch religiös vernichtenden Form der Todesstrafe.
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Exkurs 4: Der Kreuzestod in der antiken Weh Von keinem anderen Verfasser der neutestamentlichen Schriften ist diese Bewertung der Kreuzesstrafe so prägnant und zutreffend auf den Punkt gebracht worden wie von Paulus in 1Kor 1,23. Den Mitgliedern der korinthischen Gemeinde, die sich offenbar des Kreuzes Jesu Clu-isti schämen und es daher theologisch an den Rand drängen wollen, ruft er in 1Kor 1,10-4,21 die zentrale und unverzichtbare Heilsbedeutung gerade des Kreuzestodes Christi in Erinnerung. In diesem Zusammenhang umreißt er die Beurteilung der Evangeliumsverkündigung durch Juden und Heiden kurz und bündig so (lKor 1,23): Wir aber verkündigen Christus als Gekreuzigten, für Juden ein Skandal, für Heiden aber eine Torheit.
Der Kreuzestod galt im Urteil der Menschen als die schimpflichste Himoichtungsart. Es war der Tod, der nach römischem Recht fur Sklaven oder Aufrührer vorgesehen war. Im Allgemeinen war es verboten, diese Form der Todesstrafe an einem Menschen, der im Besitz des römischen Bürgerrechts war, zu vollziehen. Der römische Jurist und Staatsmann Cicero gibt im Jahr 63 v.Chr. in einer Verteidigungsrede vor Gericht anschaulich die Empfindungen wider, die bei einem Römer in Verbindung mit einer Kreuzigung ausgelöst wurden: Wenn schließlich der Tod angedroht wird, so wollen wir in Freiheit sterben, doch der Henker, die Verhüllung des Kopfes und schon das bloße Wort Kreuz sei ferne nicht nur vom Leib der römischen Bürger, sondern auch von ihrem Denken, ihren Augen und Ohren. Denn von all diesen Dingen ist ja nicht nur der Vollzug und das Erleiden, sQndern schon die Möglichkeit, die Erwartung, ja die Erwähnung selbst eines römischen Bürgers unwürdig (Pro Rabirio 16).
Entsprechend fällt dann auch die heidnisch-römische Beurteilung des christlichen Bekenntnisses aus, in dessen Zentrum ein von den Römern Gekreuzigter steht: ein "verderblicher" bzw. ein "verdrehter, maßloser Aberglaube", wie Tacitus oder Plinius der Jüngere festhalten (Tac. ann.15,44; Plin. ep. 10,96,8). Diese beiden Vertreter des Heidentums bestätigen damit das Urteil der Torheit, das die Heiden nach Auskunft von 1Kor 1,23 über die Botschaft vom Kreuz fällen. Noch problematischer aber war der Kreuzestod aufgrund der zeitgenössischen Auslegungstradition von Dtn 21,22f fur einen Juden. Dort nämlich heißt es: Wenn jemand ein Vebrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben. Denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter. Du sollst das Land nicht unrein werden lassen, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gegeben hat.
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Diese Stelle, die ursprünglich eine Bestimmung über die nachträgliche Schändung eines bereits Hingerichteten darstellte, wurde nun in frühjüdischer (und damit auch in urchristlicher) Zeit auf die Hinrichtungsart der Kreuzigung bezogen. Belege dafür finden sich etwa in der Tempelrolle von Qumran (IlQ TR 64,7-13), bei Paulus selbst in Gal 3,13 und im Dialog Justins mit dem Juden Tryphon (89,2). Galt aber einer, der den Kreuzestod erlitten hatte, als ein von Gott Verfluchter, dann musste die Verkündigung eines gekreuzigten Messias in den Ohren eines Juden geradezu wie eine Gotteslästerung klingen und wahrhaft ein Skandal sein. So kann es kaum verwundern, dass der Jüngerkreis Jesu sich angesichts der Ereignisse des Karfreitags auflöste und seine engsten Vertrauten wohl in ihre Heimat Galiläa flohen. Diese Flucht diente ihnen nicht nur dazu, sich selbst in Sicherheit zu bringen, drohte ihnen doch als Anhänger eines aufgrund messianischer Ambitionen Gekreuzigten das gleiche Schicksal wie ihrem Meister. Schlimmer noch: Die engsten Vertrauten Jesu dürften als gläubige Juden seinen Kreuzestod auch als religiöse Katastrophe empfunden haben, war er doch dadurch nach Ausweis der Tora als von Gott Verfluchter stigmatisiert. Unter dem Eindruck des Ostergeschehens sahen sich die Mitglieder des Jüngerkreises Jesu freilich genötigt, dieses Urteil zu revidieren. Nun galt es nicht nur aufzuzeigen, dass Jesus durch die Auferweckung von Gott her tatsächlich als Messias ausgewiesen worden war, freilich nicht als geschichtlich-politischer, sondern als endzeitlich qualifizierter Messias (~ 1.1.). Es galt darüber hinaus auch, den schimpflichen Kreuzestod theologisch zu reflektieren und zu bewältigen. Innerhalb der Passionstradition erfolgte dies vor allem durch eine intensive Rezeption der Leidenspsalmen 22 und 69. Eine Schilderung des Kreuzigungsgeschehens im engeren Sinne lag dagegen keineswegs im Interesse der urchristlichen Traditionsträger und ihres Adressatenkreises. Denn zum einen war die Strafe der Kreuzigung ein Bestandteil ihrer Erfahrungswelt. Oder anders formuliert: Sie wussten, was hier geschah. Unter römischer Herrschaft wurden allein in dem unter Kriegsrecht stehenden Palästina unzählige Menschen gekreuzigt. Und zum anderen teilten die Mitglieder der jungen christlichen Gemeinden mit ihren nichtchristusgläubigen Zeitgenossen heidnischer oder jüdischer Herkunft die Scheu vor der Kreuzesstrafe. Daher beschränken sich auch die außerchristlichen heidnischen (z.B. Tacitus, Sueton, Seneca) wie jüdischen (Philo; Josephus) Quellen - beim Thema Kreuzigung weitgehend auf Andeutungen. Eine Rekonstruktion des Vollzugs der Kreuzigungsstrafe ist daher schwierig, zumal sowohl Seneca (de consolatione 20,3) als auch Josephus (bell. 5,451) bezeugen, dass es das stereotype Verfahren nicht gab. Denn dem Sadismus der jeweiligen Exekutionskommandos war grundsätzlich keine Schranke auferlegt. So bietet auch der sensationelle archäologische Fund von 1968, bei dem in Giv'at ha-Mivtardas ist im Nordosten von Jerusalem - in einem Ossuar Knochenüberreste von den Füßen eines
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im 1. Jh. n.Chr. (l) gekreuzigten Mannes namens Jochanan Ben Hagkol entdeckt wurden, eben auch nur ein konkretes Beispiel einer Kreuzigung. Diesen Gekreuzigten von Giv'at ha-Mivtar hatte man mit einem Nagel von 11,5 cm Länge, der durch beide nach links übereinandergelegten Fersenbeine zusammen getrieben worden war, an einen Kreuzesstamm geheftet.
Hinsichtlich der Kreuzesform ist von zwei Haupttypen auszugehen, ungeachtet der Varianten, die auch hierbei möglich waren. Entweder wurde der Querbalken oben auf den Längsbalken aufgesetzt, so dass ein dreiarmiges Kreuz entstand, die sogenannte Crux commissa (T), oder der Querbalken wurde etwas unterhalb des oberen Endes des Längsbalken angebracht, so dass eine vierarmige Kreuzform, die sogenannte Crux immissa (t) gegeben war. Bei aller gebotenen Vorsicht angesichts der Quellenlage wird man gleichwohl für den Vorgang des Kreuzigens soviel als historisch plausibel festhalten dürfen: Der zum Kreuzestod Verurteilte trug in aller Regel den Querbalken des Kreuzes selbst zur Richtstätte, während der Längsbalken dort fest in der Erde verankert war. Am Hinrichtungsort wurde er entkleidet und nackt auf die Erde geworfen. Der Lendenschurz zur Verhüllung der Genitalien, den Jesus als Crucifixus in der christlichen Tradition der Kreuzesdarstellungen erhielt, hat als unhistorisch zu gelten. Vielmehr trug die Entwürdigung des Hinrichtungskandidaten durch die Missachtung seines Schamempfindens und seine öffentliche Zurschaustellung als Entblößter mit zur Schimpflichkeit der Kreuzesstrafe bei.
Am Boden liegend musste der Delinquent seine Arme ausstrecken, die dann am Querbalken entweder angebunden oder angenagelt wurden. Im Fall der Annagelung wurden im Übrigen nicht die Handteller durchbohrt, wie dies ebenfalls kennzeichnend für die christlichen Kreuzesdarstellungen ist. Denn diese Fixierung hätte das Körpergewicht eines Gekreuzigten gar nicht aushalten können. Vielmehr wurden die Nägel durch die Handgelenke getrieben. Anschließend wurde der Querbalken am Längsbalken hochgezogen und die Füße des Todeskandidaten nun am Längsbalken ebenfalls durch Stricke oder Nägel fixiert. Im Fall Jesu von Nazaret ist von einer Annagelung auszugehen. So bezeugt es jedenfalls die urchristliche Tradition. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, dass Lk in 24,39 den Auferstandenen seine Jünger auf seine Hände und Füße als Erkennungsmerkmal verweisen lässt. Und in joh Darstellung macht Thomas seinen Glauben an die Auferweckung davon abhängig, die Male der Nägel in Jesu Händen zu sehen und zu berühren (loh 20,25). Die Grausamkeit der Kreuzesstrafe bestand unter anderem darin, dass sie aufgrund der unnatürlichen Körperhaltung des Gekreuzigten zu einem qualvollen Erstickungstod führte, dem unter Umständen eine tagelange Agonie vorausgehen konnte. Der am Längsbalken in Gesäßhöhe angebrachte schmale Sitzpflock trug dabei zur Verlängerung der Qual bei. Sofern nämlich der
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Delinquent kräftig war, konnte er seinen Oberkörper mit Hilfe dieses Sitzpflocks und unterstützt durch die Beine immer wieder kurzfristig entlasten, so dass sich sein Leiden dadurch nur noch länger hinzog. Allerdings stand den Henkern mit dem sog. Crurifragium ein Mittel zur Verfügung, nach einer gewissen Zeit den Todeskampf zu verkürzen. Indem sie nämlich die Unterschenkel des Gekreuzigten zerschlugen, war eine Unterstützung durch die Beine nicht mehr möglich, so dass der Tod alsbald eintrat. Innerhalb der vier neutestamentlichen Passionserzählungen erwähnt nur Joh 19,31-33 ein solches Zerschlagen der Unterschenkel, und zwar bei den beiden mit Jesus Gekreuzigten (~3.14.4.). Doch auch die Form der Fixierung des Delinquenten durch Annagelung der Hände und Füße konnte - je nachdem, welche Gefäße verletzt wurden - aufgrund des damit verbundenen Blutverlustes und der daraus resultierenden zusätzlichen Schwächung den Todeskampf verkürzen. Möglicherweise wurde Jesus sogar aus eben diesen Grund ans Kreuz genagelt. Denn seine Hinrichtung fand nach der historisch plausiblen joh Datierung (~ 3.4.1.) am Rüsttag des Passafestes statt, der zugleich Rüsttag zum Sabbat war (19,31). Insofern musste allen für die Hinrichtung Verantwortlichen daran gelegen sein, die Delinquenten möglichst rasch zu Tode zu bringen, um keine Unruhen wegen der Entweihung des Festtages zu riskieren. Joh jedenfalls begründet in 19,31 die Bitte der jüdischen Autoritäten um Vollzug des Crurifragiums, die Pilatus auch unverzüglich erfüllt (19,32), mit eben dieser Festkonstellation. Nach der kurzen Kreuzigungsnotiz 15,24a verbleibt Mk beim weiteren Tun der Soldaten, das mit Ausnahme von V. 26 den zweiten Teilabschnitt der mk Hinrichtungsszene dominiert. Üblicherweise stand den Mitgliedern des Exekutionskommandos die Kleidung des Hingerichteten zu. Auf diesen Brauch spielt Mk in 15,24b nun an, und zwar indem er ihn in unverkennbarer Anlehnung an Ps 22,19 19 schildert: Und sie verteilten seine Kleider, indem sie das Los darüber warfen, wer was erhalte.
Der Rückgriff auf diesen Leidenspsalm, dem in der Hinrichtungs- und Todesszene (~ 3.14.1) noch weitere folgen werden, taucht das nach menschlichen Maßstäben schändliche Sterben Jesu am Kreuz in das Licht des leidenden Gerechten. In diametralem Unterschied zu den geltenden gesellschaftlichen und religiösen Maßstäben hat Jesus sein furchtbares Geschick gerade nicht "verdient" und kann auch vor Gott nicht als "erledigt" gelten. Diese Gewissheit, die den Jüngern und Jüngerinnen Jesu gegen allen vordergründigen Anschein aus der Ostererfahrung zugewachsen ist, müssen sie theologisch reflektieren. In der Hinrichtungs- und. Todesszene als Kern-
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Ps 22,19 (EÜ): Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand.
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bestand der Passionsüberlieferung (--+ 1.1.) geschieht dies unter Rückgriff auf die frühjüdisch-weisheitliche Tradition vom leidenden Gerechten. In 15,25 trägt Mk die Zeitangabe der Kreuzigung Jesu nach: Es war aber die dritte Stunde, und sie kreuzigten ihn.
Diese Zeitangabe, die die beiden synoptischen Seitenreferenten nicht übernehmen, steht in Widerspruch zu Joh 19,14, wonach Jesus erst um die sechste Stunde von Pilatus verurteilt wurde. Im Zusammenhang mit der Hinrichtungs- und Todesszene bietet Joh im Unterschied zu Mk (15,33.34 --+ 3.14.1.) keine weiteren Zeitangaben mehr. Wie gesehen (--+ 3.11.4.) will die joh Zeitangabe in 19,14 mehr sein als ein bloß chronologisches Datum. Vielmehr weist die Übereinstimmung mit der üblichen Zeit rur die Schlachtung der Passalämmer im Jerusalemer Tempel Jesus als das endzeitliche Passalamm aus und steht damit im Kontext eines wiederholt im JohEv begegnenden Motivs (vgl.l,29.34; 19,33.36). Daher ist Vorsicht geboten, aus der joh Zeitangabe Rückschlüsse auf den tatsächlichen zeitlichen Ablauf der Geschehnisse am Karfreitag zu ziehen. Dieselbe Vorsicht empfiehlt sich allerdings auch rur die mk Chronologie. Denn der letzte Tag Jesu verläuft in mk Darstellung nach einem genau eingeteilten zeitlichen Raster. Dieses Raster beginnt in 14,17 ("und als es Abend wurde"), setzt sich fort mit 15,1 ("und sofort in der Frühe") und gewinnt durch das Dreistundenschema (15,25: dritte Stunde; 15,33: sechste Stunde; 15,34: neunte Stunde) einen geradezu stakkatohaften Charakter, bis in der neunten Stunde als der Todesstunde Jesu schließlich der Höhe- und Schlusspunkt erreicht ist. Unverkennbar ist damit der letzte Tag Jesu in einen apokalyptischen Interpretationsrahmen gestellt. Dafür spricht das Dreistunden-Schema (vgl. 4Esr 6,23f) ebenso wie die geschilderten kosmischen Ereignisse in 14,33 (vgl. 13,24 das Motiv der Finsternis in der mk Endzeitrede). Es soll also deutlich werden: Jesu Leiden und Sterben sind ein nach göttlichem (Zeit-)Plan verlaufendes Geschehen von eschatologischem Charakter, in dem gleichermaßen sich das Gericht über die Welt vollzieht und das endzeitliche Heil eröffnet wird. Sowohl die mk wie die joh Chronologie der Karfreitagsereignisse ist also mit einer theologischen Aussageabsicht verknüpft, die es verbietet, die eine oder die andere unkritisch als geschichtlich korrekte Zeitangabe zu akzeptieren. Zudem schließen die mk und die joh Chronologie unter dieser Rücksicht ohnehin einander aus. Bei kritischer Abwägung erscheint freilich im Blick auf den Zeitpunkt (nicht Tag! ---+ 3.4.1.) der Kreuzigung Jesu die mk Angabe der dritten Stunde (= 9h) als plausibler. In aller Regel begannen die öffentlichen Gerichtsverhandlungen der Römer nämlich kurz nach Tagesanbruch. Zu dieser frühen Stunde erfolgt auch nach 15,1 die Überstellung Jesu an Pilatus. Dieser dürfte aber aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Mann, der ihm von den jüdischen Autoritäten als potentieller Messiasanwälier aus Galiläa präsentiert wurde, "kurzen Prozess" gemacht haben, umso mehr, als er angesichts des bevorstehenden Passafestes wohl kaum das Risiko von Un-
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ruhen eingehen wollte. Da nun die Hinrichtung bis zum Anbruch des Festes mit Sonnenuntergang abgeschlossen sein musste, die Kreuzigung aber keine schnelle Hinrichtungsart war (~ Exkurs 4), ist zu vennuten, dass das Urteil unverzüglich vollstreckt wurde, um nicht in Zeitnot zu geraten. Die joh Chronologie, nach welcher Jesus erst gegen Mittag verurteilt wurde, lässt unter dieser Rücksicht aber zu wenig Spielraum.
Nach der Erwähnung des Betäubungstrunks (15,23) und der Verlosung der Kleider Jesu (15,24b) erwähnt Mk in 15,26 noch ein weiteres Detail, das zu den Gepflogenheiten im Kontext einer Kreuzigung (bzw. allgemein einer Hinrichtung) gehört, nämlich die öffentliche Bekanntgabe des Hinrichtungsgrundes: Und es war [da] die Insclu'ift, die seine Schuld verzeichnet hatte: Der König der Juden.
Mk geht hier also offenkundig von einer Tafel aus, auf der die Schuld Jesu schriftlich festgehalten war. Solche Schuldtafeln fanden bei Hinrichtungen durch die Römer Verwendung. Sie wurden den Hinrichtungskandidaten auf dem Weg zur Richtstätte entweder vorangetragen oder um den Hals gehängt. Mk allerdings erwähnt die Schuldtafel nicht im Zusammenhang mit dem Weg Jesu zum Kreuz, sondern mit dem Vollzug der Kreuzigung. Wo sich die Schuldtafel dabei befindet, lässt die Formulierung in der Schwebe. Die synoptischen Seitenreferenten und Joh bemühen sich hier um eine Präzisierung. Für Mk ist diese Einzelheit anscheinend nicht so wichtig. Ihm kommt es wohl mehr auf die Inschrift selbst an: "König der Juden". Dies ist die römische Formulierung des messianischen Anspruchs, deren sich schon Pilatus im Verhör Jesu bedient hatte (15,2a). Die zurückhaltende Antwort Jesu "Das hast du gesagt" (= das ist deine "Lesmi") (15 ,2b) ließ den mk Pilatus zur Überzeugung der Schuldlosigkeit Jesu im Sinne eines politisch relevanten Tatbestandes kommen (~ 3.11.1.). Da er jedoch unter dem Druck der jüdischen Autoritäten und der Volksmenge Jesus zur Geißelung und Kreuzigung freigegeben hat (15,15), muss dieser politisch unzutreffende Vorwurf jetzt dennoch als Schuldangabe dienen. Mk und die Adressaten seiner Jesusgeschichte wissen freilich, dass diese Angabe gleichwohl unter theologischeschatologischen Vorzeichen zutreffend ist: Dass Jesus der endzeitliche Messias (und keineswegs als Gekreuzigter der von Gott Verlassene und Verfluchte) ist, hat Gott durch seine Auferweckung von den Toten eindrucksvoll bestätigt. In 15,27 liefert Mk noch eine interessante Information nach: Jesus wird nicht allein gekreuzigt, sondern zusammen mit zwei Räubern (lestai). Mk verwendet hier dasselbe Wort wie Joh 19,40 für Barabbas und charakterisiert dadurch die beiden Mitgekreuzigten als Widerstandskämpfer gegen die römische Besatzungsmacht (Zeloten) (~ 3.11.4.). Diese beiden Widerstandskämpfer kreuzigen die Soldaten rechts und links von Jesus und setzen damit seine Verspottung fort (~ 3.12.1). Als "König der Juden" gebührt Jesus - neben den königlichen Insignien und der Huldigung (~ 3.12.1.) -
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auch eine entsprechend ehrenvolle Eskorte. Sie wird nun von den beiden politisch motivierten Straftätern gebildet, indern die Soldaten deren Kreuze so errichten, dass sie das Kreuz Jesu flankieren. Wenngleich ohne wörtliche Bezüge, so bietet Mk 15,27 doch eine versteckte Anspielung auf Jes 53,12, wo es heißt, dass der Gottesknecht "sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ". Lk zitierte diesen Vers arn Ende seiner Abendmahlserzählung in 22,37 (----+ 3.5.3.). Angeregt durch dieses lk Zitat und den Anknüpfungspunkt, den Mk 15,27 bot, fügen einige jüngere Textzeugen als V. 28 sekundär ein Reflexionszitat in den Mk-Text ein: "Und es erftillte sich die Schrift, die gesagt hat: Und er wurde zu den Verbrechern gerechnet." Der dritte und letzte Abschnitt der mk Hinrichtungsszene ist in sich noch einmal dreigeteilt (V. 29-30 - 31-32a - 32b). Nach dem Vollzug der Kreuzigung ist Jesus nun am Kreuz hängend dem Hohn verschiedener Personengruppen ausgesetzt. Zunächst fasst Mk die Passanten ins Auge, die an den drei Gekreuzigten (V. 29) vorbeiflanieren, jedoch nur einen von ihnen Jesus - verhöhnen. Diese Verhöhnung schildert er in wiederum (vgl. V. 24b) deutlicher Anlehnung an den Leidenspsalm 22: Das Schütteln ihrer Köpfe (vgl. Ps 22,8) ist gleichermaßen eine Geste des Hohns wie der eigenen Abgrenzung vorn Verhöhnten (V. 29a). Die zynische Aufforderung an Jesus, sich selbst zu retten und vorn Kreuz herabzusteigen (V. 30) ist eine überbietende Anleihe bei Ps 22,9, wo dem leidenden Gerechten nahegelegt wird: Er wälze die Last auf den Herrn, der soll ihn befreien! Der reiße ilm heraus, welm er an ihm Gefallen hat!
Statt auf die Hilfe Gottes zu vertrauen, wie es dem leidenden Gerechten von seinen Feinden empfohlen wird, drängen die spottenden Passanten Jesus dazu, seine Rettung selbst zu bewerkstelligen. Sie tun dies, indern sie ihn in der Anrede noch einmal mit dem Tempelwort konfrontieren (V. 29b): Ha, der du den Tempel zerstörst und in drei Tagen aufbaust ...
Dieses Tempelwort spielte bereits im mk Verhör Jesu vor dem Hohen Rat eine Rolle (14,58f), entpuppte sich dort aber schon im Gesamtkontext der mk Jesusgeschichte als Falschzeugnis der Gegner Jesu und konnte wegen der mangelnden Übereinstimmung der Zeugenaussagen auch nicht juristisch gegen Jesus verwendet werden (----+ 3.9.1.). So versuchen also die Passanten, Jesus zu provozieren. Freilich vergeblich! Denn gerade in der Annahme des Leidens gibt sich paradoxerweise seine Hoheit als himmlischer Menschensohn zu erkennen und unterliegt sein Messiasanspruch keinem Missverständnis mehr (----+ 3.1.1. und 3.5.1.). Weil Jesus sich aber im Leiden als Messias und Menschensohn erweist, deswegen erfüllt die Verhöhnung dieses Gekreuzigten den Tatbestand der Gotteslästerung. Und so ist es kein Zufall,
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dass Mk die höhnischen Worte der Passanten durch das einschlägige Verb "blasphemisch reden" (blasphemein) qualifiziert (V. 29a). Damit machen sie sich also tatsächlich der Sünde schuldig, die die jüdischen Autoritäten Jesus fälschlich unterstellt haben, um ihn verurteilen zu können. Genau diese jüdischen Autoritäten - und zwar die Gruppen der Hohenpriester und Schriftgelehrten, die nach Auskunft von 14,1 den Tod Jesu beschlossen hatten - verhöhnen nun ebenfalls den Gekreuzigten (V. 31-32a). Allerdings würdigen sie ihn nicht einmal mehr einer direkten Anrede, sondern sie spotten untereinander'(V. 31a). Dass er durch Heilungstaten andere gerettet hat, können sie nicht in Abrede stellen. Doch jetzt stellen sie - wohl zu ihrer Zufriedenheit und wahrscheinlich auch zu ihrer Erleichterung - fest, dass er sich selbst nicht zu retten vermag (V. 31b). Wie die Passanten fordern auch die jüdischen Autoritäten von Jesus das Schauwunder seines Hinabstiegs vom Kreuz (V. 32a). Doch anders als zuvor diese verbinden sie die Forderung nicht mit dem Tempelwort, das sich in ihrem Verfahren gegen Jesus als nicht hilfreich erwiesen hatte (~ 3.9.1.). Stattdessen bezeichnen sie Jesus jetzt als "Messias und König Israels". Damit greifen sie - aus jüdischer Perspektive formuliert (also nicht "der König der Juden", vgl. 15,2.26) eben die Anschuldigung eines politisch motivierten Messiasanspruches Jesu auf, mit der sie ihn an das Kreuz gebracht haben. Als dieser Messias und König Israels soll er sich nun erweisen, indem er vom Kreuz hinabsteigt. Die Perfidität ihres Spottes wird schließlich auf die Spitze getrieben, indem sie ihren Glauben an Jesus vom Sehen dieses Schauwunders abhängig machen. Kann er ihnen dieses Wunder nicht bieten, so kann von ihnen kein Glaube erwartet werden! Die mk Hinrichtungsszene schließt in 15,32b mit der kurzen Notiz, dass auch die beiden mit ihm Gekreuzigten Jesus schmähen. Sie, die nach mk Darstellung als politische Widerstandskämpfer (15,27) wohl für ihren gewaltsamen Einsatz gegen die römische Besatzungmacht gekreuzigt werden, wollen mit diesem merkwürdigen Messiasanwärter nichts zu tun haben. Nachdem zuerst sein engster Kreis von Vertrauten Jesus verraten, verlassen und verleugnet hat (14,43-45; 14,50 ~ 3.8.1; 14,66-72 ~ 3.9.1.), schlagen sich jetzt also auch unbeteiligte Passanten auf die Seite seiner Gegner, ja selbst seine beiden Leidensgenossen wenden sich von ihm ab. So sieht sich in mk Darstellung Jesus am Kreuz schließlich von allen Menschen verlassen.
3.13.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 27,31 b-44 Bei der Übernahme der Hinrichtungsszene bearbeitet Mt seine Mk-Vorlage sehr zurückhaltend. Schon beim Überblick über den Aufbau dieser innerhalb der Passionserzählung zentralen Szene zeigte sich bei der Abfolge der Erzählschritte nur eine einzige Abweichung: An die Stelle der Zeitangabe Mk
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15,25 setzt Mt in 27,26 eine Notiz über die Bewachung des gekreuzigten Jesus durch die Soldaten des Exekutionskommandos (~ 3.13.). Doch nicht nur in der erzählerischen Gesamtstruktur, auch in der Ausformulierung der einzelnen Erzählschritte schließt sich Mt - abgesehen von stilistischen Verfeinerungen, die hier unberücksichtigt bleiben können - eng an die mk Vorgaben an. Die wenigen Abweichungen, die gleichwohl einige bemerkenswerte Akzente aufweisen, sind rasch aufgelistet: So kürzt Mt in 27,32 die Simon-von-Kyrene-Episode Mk 15,21 zum einen um die Angabe, das Simon ap , agrou, das heißt vom Land (~ 3.13.1.), kam, zum anderen streicht er die Information, dass es sich bei Simon um den Vater von Alexander und Rufus handelte. Auf diese Weise konzentriert er die Aussage des Verses ganz auf den Dienst des Simon, den dieser Jesus - wenngleich gezwungenerweise - leistet. Zudem erübrigte sich für Mt wohl auch deshalb die Information über die beiden Söhne des Simon, weil für· ihn und/oder seine Gemeinde Alexander und Rufus keine bekannten Personen mehr waren, mit denen sich Erinnerungen verbanden. Gegen Mk 15,23 ist der Jesus unmittelbar vor der Kreuzigung angebotene Trank nicht mit der betäubenden Myrrhe, sondern mit Galle (chole), also einem sehr bitter schmeckenden Stoff, versetzt. Zudem lehnt der mt Jesus den Trank nicht von vornherein ab. Vielmehr kostet er zunächst davon, weigert sich dann jedoch zu trinken (Mt 27,34). Dass Mt die betäubend wirkende Myrrhe gegen den gallig schmeckenden Bitterstoff austauscht, zeigt, dass er den Jesus von den Soldaten gereichten Trank nicht als Akt des Mit-: . leids wertet. Vielmehr betrachtet er ihn als ein weiteres Glied in der Kette sadistischer Verspottung des leidenden Gerechten (~ 3.12.2.). Dafür spricht nicht zuletzt, dass die Galle eine Anspielung auf einen weiteren Leidenspsalm sein dürfte. In Ps 69,22 nämlich ist (in der Septuagintaversion) zu lesen: Und sie gaben mir zu meiner Speise Galle / und gegen meinen Durst gaben sie mir Essig zu trinken.
Die zweite Hälfte dieses Psalmverses aber bildet innerhalb der mk Todesszene den Hintergrund von 15,36 (~ 3.14.1.). So dürfte Mt also von diesem Mk-Vers, den er in 27,48 auch übernimmt, angeregt worden sein, mit dem Stichwort "Galle" bereits erstmals in 27,34 auf Ps 69,22 anzuspielen. Dass der mt Jesus den angebotenen Trank erst verschmäht, nachdem er gekostet hat, zeigt, dass der Grund der Verweigerung - anders wie in der mk Darstellung - nicht in seiner Entscheidung zu suchen ist, den Leidenske1ch bei vollem Bewusstsein zu leeren (~ 3.13.1.). Vielmehr lehnt der mt Jesus den Trank wegen seines bitteren Geschmacks ab: Sein Leiden ist auch so bitter genug! Wenngleich Mt in der Todesszene die mk Zeitangaben der sechsten und der neunten Stunde übernehmen wird (Mk 15,33fpar. Mt 27,45f), streicht er
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das erste Element der bei Mk vorgegebenen chronologischen Trias. Zu welcher Stunde Jesus gekreuzigt wurde, lässt Mt offen. Anstelle der mk Zeitangabe (15,25) findet sich bei Mt in umittelbarem Anschluss an das Motiv der Kleiderverlosung (27,35b) eine kurze Bewachungsnotiz (27,36): Und dasitzend bewachten sie ihn.
Wie später die jüdischen Autoritäten aus Argwohn, die Jünger könnten die Leiche Jesu stehlen und dann dessen Auferstehung dem Volk verkündigen, Pilatus um eine Bewachung des Grabes bitten (27,64 ~ 3.16.), so ist es in mt Darstellung offenbar Aufgabe des Exekutionskommandos, dafür zu sorgen, dass Jesus nicht als noch Lebender vom Kreuz befreit wird. Zugleich stellt er auf diese Weise sicher, dass die Soldaten Zeugen des gesamten Sterbeprozesses Jesu, seines Todes und der damit verbundenen außergewöhnlichen Ereignisse werden (27,54a). So legen schließlich die, die Jesus verspottet und gequält haben, zusammen mit ihrem Hauptmann als erste Heiden das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu ab (27,54 ~ 3.14.3.). Das Motiv der Bewachung Jesu vor und nach seinem Tod bietet nur die mt Passionserzählung. Es hat eine apologetische Tendenz: Wehrt es in 27,36.54 der Scheintodhypothese, so in 27,62-66 (~ 3.16.) (vgl. 28,11-15) der Leichendiebstahlhypothese. Im Vergleich zu Mk 15,26 präzisiert Mt 27,37 die Befestigung der Schuldtafel, die nach seiner Interpretation oben über Jesu Haupt angebracht ist. Damit setzt er offenkundig bei der Kreuzigung Jesu die Verwendung einer (vierarmigen) Crux immissa (t) voraus (~ 3.13.1. Exkurs 4). Bei der Lästerung des Gekreuzigten durch die Passanten fügt Mt zu der von Mk 15,29 übernommenen Forderung "rette dich selbst" hinzu: "wenn du Gottes Sohn bist" (27,40). Mit diesen Worten hatte auch der Teufel zweimal seine versucherischen Absichten Jesus gegenüber eingeleitet (4,3.5.). Damit spielt Mt nach 26,53 (~ 3.8.3.) ein weiteres Mal im Passionszusammenhang auf die Versuchungserzählung zu Beginn seiner Jesusgeschichte (4,1-11) an. Bei seiner Verhaftung hatte der mt Jesus darauf verzichtet, Gott durch die Bitte um den Beistand von Engeln auf die Probe zu stellen, wie er dies auch angesichts der Versuchung durch den Teufel bereits getan hatte (4,5-7). Nun übernehmen kurz vor dem Ende des irdischen Lebens Jesu die Passanten noch einmal die Rolle des Versuchers. Doch auch sie provozieren ihn vergeblich, der Versuchung nachzugeben, der er jetzt zum dritten und letzten Mal widersteht. Bei der Lästerung des Gekreuzigten durch die jüdischen Autoritäten lässt Mt zusätzlich zu den mk Hohenpriestern und Schriftgelehrten (Mk 15,31) auch die Ältesten mit auftreten (27,41). Dies entspricht der mt Sichtweise, wonach die Ältesten zusammen mit den Hohenpriestern als Mitglieder des Hohen Rates die treibende Kraft bei der Gefangennahme und Verurteilung Jesu sind (26,3-5 ~ 3.1.2. - 26,47 ~ 3.8.2. - 27,59; 27,lf ~ 3.9.2. -
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
27,12.20 ~ 3.11.2.). Dagegen lässt Mt überall dort die Schriftgelehrten in den Hintergrund treten, wo im Verlauf der Passionsereignisse der Hohe Rat als Gremium agiert. Denn aus mt Perspektive, die historisch zutreffend sein dürfte (~ 3.1.1.) bilden die Schriftgelehrten keine eigene (pharisäische) Fraktion im Hohen Rat, sondern sind den Hohenpriestern als Fachleute für alle den Tempel betreffenden Aufgaben zugeordnet. Jetzt jedoch vor dem Kreuz Jesu versammeln sich die Mitglieder des Hohen Rates nicht mehr in offizieller Funktion. Daher kann Mt die Schriftgelehrten als Teil des theologischen Establishments von Jerusalem aus der Mle-Vorlage übernehmen. Erwähnenswert ist auch, dass in mt Bearbeitung die Jerusalemer Autoritäten ihre Verhöhnung Jesu nicht nur in der eigenen Gruppe austauschen (Mt streicht das mk "spotteten untereinander" [pros allelous] 15,31). Vielmehr äußern sie sich öffentlich zum Erfolg ihrer Bemühungen, Jesus aus dem Weg zu räumen, indem sie den Gekreuzigten verspotten und zu provozieren suchen. 27,43 schließlich ist insgesamt redaktionelle Hinzuftigung durch die Hand des Mt: Er hat auf Gott vertraut. Der soll ihn nun erlösen, wenn er will. Er hat nämlich gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Die erste Vershälfte (43a) wird durch ein Mischzitat von Ps 22,9 und Jes 36,7 gebildet; die zweite Vershälfte (V. 43b) fügt als Begründung das Bekenntnis Jesu zu seiner Gottessohnschaft an und greift damit auf das Verhör Jesu durch den Hohenpriester zurück (26,64 ~ 3.9.2.). Durch die Einfügung dieses Verses steigert Mt gegenüber Mk den frevlerischen Charakter, den die Verhöhnung des Gekreuzigten durch das theologische Establishment Jerusalems besitzt. Denn die jüdischen Autoritäten versuchen Gott selbst und bemühen dafür sogar noch die Schrift! Sie begründen dies unter Anspielung auf das Verhör Jesu durch den Hohenpriester. Dabei ändern sie freilich die Antwort Jesu von ,~du sagst es" (26,64) zu "ich bin Gottes Sohn" und verdrängen so, dass ja der Hohepriester selbst zuvor durch seine Frage bereits sein Wissen um Jesu Gotlessohnschaft zu erke~n gegeben hatte (26,63) (~ 3.9.2.). Mt will also offenbar herausstellen, dass die Verhöhnung des Gekreuzigten und die darin enthaltene Versuchung Gottes durch die Jerusalemer Offiziellen im vollen Bewusstsein um den wahren Sachverhalt erfolgen. Im Vergleich zu mk Darstellung spielen die jüdischen Autoritäten damit in der mt Bearbeitung eine noch unrühmlichere Rolle. 3.13.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,26-43 Die lk Bearbeitung der mk Hinrichtungsszene soll schwerpunktmäßig im Blick auf das lk Sondergut betrachtet werden. Somit treten im ersten Teil-
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
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abschnitt (Auf dem Weg zum Kreuz) zunächst die Verse 23,27-31 in den Blick, die rezeptionsgeschichtlich einen festen Platz in der Tradition der Kreuzwegdarstellung und -meditation errungen haben. Die kleine Erzähleinheit wird in 23,27 mit einer kurzen Situationsschilderung eingeleitet: Auf seinem Weg zum Kreuz wird Jesus nicht nur von den Mitgliedern des Exekutionskommandos und von Simon von Kyrene begleitet (23,26), sondern auch von einer großen Volksmenge. Dass es sich bei den Mitgliedern des Exekutionskomandos angesichts der damals geltenden Rechtslage (---+ 3.1.1. Exkurs 1) nur um römische Soldaten handeln kann, überspielt Lk geschielct. In der Mk-Vorlage ist durch die Verspottungsszene (l5,16-20a ---+ 3.12.1.), genauer durch den Einleitungsvers 16 eindeutig sichergestellt, dass in dieser Szene und in der nachfolgenden Hinrichtungsszene bis 15,27 die römischen Soldaten die Handlungssubjekte sind. Doch übernimmt Lk diese Szene gerade nicht, sondern verarbeitet das Motiv der Verspottung Jesu innerhalb der Pilatusszene im Rahmen des Herodes-Intermezzos und lässt für die Verspottung Herodes und dessen Soldaten verantwortlich zeichnen. Die lk Pilatusszene schließt aber in 23,25 mit der von der juristischen Verantwortung des Statthalters für das Todesurteil ablenkenden Fonnulierung, dass er Jesus ihrem Willen, d.h. dem Willen der jüdischen Autoritäten und des Volkes, überließ (---+ 3.11.3.). Wenn Lk aber dann in 23,26 unmittelbar anschließend die Hinrichtungsszene mit den WOlien eröffnet "Und als sie ihn abführten ... ", so legt er zwar subtil, doch bar jeder historischen Plausibilität den Leserinnen und Lesern seiner Jesusgeschichte die Assoziation nahe, die Hinrichtung Jesu sei in jüdischer VerantwOliung durchgeführt worden. Erst in 23,36 nennt er erstmals bei der Verhöhnung des gekreuzigten Jesus ausdrücklich die Soldaten, die hier völlig unvermittelt eingeführt werden. Doch durch die Erwähnung des Hauptmanns in der Todesszene 23,47 hält auch Lk schließlich zwar spät, aber eindeutig fest, dass Jesus durch ein von römischen Soldaten gebildetes Exekutionskommando hingerichtet wurde.
Das Volk also, das sich zusammen mit seinen Führern vor Pilatus lautstark für die Kreuzigung Jesu ausgesprochen hatte (23,13.18-23), begleitet den Verurteilten nun in großer Zahl zur Richtstätte, wohl um Zeuge der Vollstreckung seines Begehrens zu werden. Darunter befinden sich auch Frauen, die in der Funktion von Klageweibern bereits die Totenklage rur Jesus anstimmen, insofern er als zum Tode Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung schon als gesellschaftlich Ausgestoßener und damit sozial Toter gilt (vgl. zu Mk 15,20b ~ 3.13.1.). Auf diese einleitende Situationsschilderung (23,27) folgt in 27,28-31 die Reaktion des lk Jesus. Er wendet sich nur an die weinenden Frauen, die er als "Töchter Jerusalems" anspricht (23,28) und damit deutlich macht, dass er sie als Repräsentantinnen der Stadt bzw. ihrer Einwohnerschaft betrachtet, die sich ihm verweigert hat (13,34). Innerhalb der lk Jesusgeschichte stellt diese Szene eine spiegelbildliche Entsprechung zu 19,41-44 dar. Hier nämlich hatte Lk erzählt, dass Jesus, als er Jerusalems ansichtig wurde, über diese Stadt und das ihr bevor stehende Schicksal weinte. Dieses Schicksal steht auch im Zentrum der Reaktion Jesu auf seine Beweinung durch die Jerusalemer Frauen. Deren Totenklage weist er brüsk zurück und macht sie darauf aufmerksam, dass nicht er als zur Kreuzigung Verurteilter, sondern vielmehr sie und ihre Kinder die eigentlich Beklagens-
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
werten sind (23,28). Die Begründung dafür folgt in 23,29f in einem zweiteiligen prophetischen Drohwort. Das Schicksal, das Jerusalem und damit die dort lebenden Menschen treffen wird, wird so schrecklich sein, dass es zu einer Umkehrung geltender Maßstäbe kommt. Auf diese Umkehrung blickt der erste Teil des Drohwortes (23,29): Gerade die Frauen, denen die Mutterschaft verwehrt blieb und die deshalb gesellschaftliche Missachtung erfahren, sind dann die, auf die man neidvoll schauen wird. Diesen Kinderlosen stellt der lk Jesus eine geradezu paradox anmutende Seligpreisung in Aussicht, die in antithetischer Entsprechung zum Weheruf über die Schwangeren und Stillenden aus der lk Endzeitrede (21,23) steht. Das furchtbare Schickal Jerusalems wird zudem seine Einwohnerschaft in eine solche Verzweiflung stürzen, dass sie sich nur noch einen schnellen Tod durch eine Naturkatastrophe wünscht. So kündigt es der lk Jesus im zweiten Teil seines Drohwortes in 23,30 unter Rückgriff auf Hos 10,8b an. Seine Reaktion auf die sein Schicksal beklagenden Jerusalemer Frauen mündet in 23,31 schließlich in eine rhetorische Frage, die inhaltlich die Begründung für die bevor stehende Katastrophe Jerusalems liefert. Diese Frage bedient sich der Bildsprache, die auf der Erfahrung aufbaut, dass trockenes (= dürres) Holz ungleich leichter brennt als noch feuchtes (= grünes). Die Leser und Leserinnen der lk Jesusgeschichte dürften dieses Bild problemlos decodiert haben: Das grüne Holz steht für J esus, der als von Gott autorisierter Verkünder der Gottesherrschaft und messianischer Gottessohn die schmachvolle Kreuzigung auf sich nehmen muss. Um wie viel furchtbarer muss angesichts dessen das Schicksal Jerusalems und seiner Einwohner sein (= dürres Holz), dayin der Tradition der Prophetenmörder (vgl. Lk 13,34) Jesus ans Kreuz gebracht hat. Lk und seine Erstadressatenschaft sehen freilich das in diesem Drohwort angekündigte Schicksal Jerusalems mit der Eroberung und Zerstörung der Stadt und des Tempels im Jahre 70 bereits eingetroffen. Wie schon der Blutruf des Volkes in der mt Pilatusszene (Mt 27,25) (-+ 3.11.2.) besitzt also auch das Drohwort, das der lk Jesus auf seinem Kreuzweg an die ihn beweinenden Jerusalemer Frauen richtet, formal die Qualität eines vaticinium ex eventu. Aber auch der sachlichen Intention nach, nämlich den Untergang Jerusalems und das tragische Schicksal seiner Bewohner im Jahr 70 mit der Verantwortung für die Kreuzigung Jesu vier Jahrzehnte zuvor zu erklären, berühren sich die mt (27,25) und die lk (23,27-31) Sondergutpassage. Durch die redaktionelle Einfügung von 23,32 erweist sich Lk zunächst wiederum als begabter und aufmerksamer Erzähler. Denn anders als Mk in 15,27 trägt Lk die Information, dass mit Jesus zusammen zwei Verbrecher gekreuzigt wurden, nicht unvorbereitet und als bloße Anhangsnotiz nach. Vielmehr bindet er diese beiden Personen, denen er zum Abschluss der von ihm bearbeiteten Hinrichtungsszene sogar noch eine eigene Sondergutpassage widmet (23,39--43), vom Kreuzweg an in den Erzählablauf ein. Darüberhinaus setzt Lk durch seine redaktionellen Eingriffe geschickt die Aus-
3.13. Die Hinrichtung J esu am Kreuz
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sage von Jes 53,12b, wonach der leidende Gottesknecht unter die Verbrecher gerechnet wird, in Erzählung um. Innerhalb seiner Passionserzählung ist damit zugleich ein Rückverweis auf 22,37 gegeben (~ 3.5.3.). Dort nämlich hatte der lk Jesus zum Abschluss seiner Tischreden im Rahmen des letzten Mahles seine Jünger aufgefordert, künftig damit zu rechnen, bei ihrer Verkündigungsarbeit für sich selbst sorgen und gegen Angriffe wappnen zu müssen (22,36). Begründet aber hatte er dies mit einem expliziten Zitat von Jes 53,12 ("Er wurde unter die Verbrecher gerechnet.") (22,37). Ebenfalls zum lk Sondergut gehört in 23,34a im unmittelbaren Anschluss an die Kreuzigungsnotiz (23,33b) Jesu Bitte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Der Erzählzusammenhang, in den diese Bitte gestellt ist, lässt berechtigterweise vermuten, dass J esus für die bittet, die ihn kreuzigen, also für die Mitglieder des Exekutionskommandos. Da sie aber nur das Urteil vollstrecken, das andere zu verantworten haben, dürfte die Vergebungsbitte Jesu auch diesen Personenkreis einschließen. Allerdings ist nun diese Vergebungsbitte textkritisch umstritten. So fehlt sie in einigen frühen und auch qualitativ hochwertigen Handschriften wie etwa in ~75 (aus dem 2./3. Jh.), im Codex Sinaiticus (in der 1. Korrektur) oder im Codex Vaticanus (beide 4. Jh.). Andererseits aber kann sie auch wichtige Textzeugen für sich aufweisen, wie den Codex Sinaiticus (in der Erstfassung und in der 2. Korrektur [4. Jh.]) oder den Codex Alexandrinus (5. Jh.).
Vor allem aber sprechen innere Gründe dafür, Jesu Vergebungsbitte am Kreuz als ursprünglichen Bestandteil der lk Passionserzählung zu bewerten. Vor allem fallen die strukturellen und inhaltlichen Querbezüge zum Vater Unser (Lk 11,2-4) auf. So bestehen Übereinstimmungen zwischen der Bitte Jesu am Kreuz (23,34a) und dem Herrengebet in der Vateram'ede (vgl. Lk 11,2b), in der Bitte um Vergebung (vgl. Lk 11,4a) und in der daraufbezogenen Begründung (vgl. Lk ll,4b). Indern Jesus aber Gott um Vergebung für die bittet, die ihn ans Kreuz gebracht haben, setzt er seine eigene Gebetslehre in die Praxis um. Wer nämlich Gott so bittet, hat selbst bereits denen vergeben, die an ihm schuldig geworden sind (Lk 1l,4b: " ... Denn auch wir selbst vergeben jedem, der an uns schuldig wird." [vgl. Lk 6,37b]). Zugleich lässt sich die Vergebungsbitte als Akt konkreter Feindesliebe verstehen, die Jesus die Menschen im Kontext seiner Gottesreichsbotschaft als adäquate Antwort auf das zuvorkommende Heilshandeln Gottes gelehrt hatte (Lk 6,27f.36). Einen solchen Akt der Feindesliebe aber hatte der lk Jesus auch schon bei seiner Gefangennahme gesetzt, als er den durch den Schwertstreich eines Jüngers verletzten Diener des Hohenpriesters geheilt hatte (Lk 22,51). Blickt man über das LkEv hinaus auf das lk Doppelwerk, dann feHlt die analoge Vergebungsbitte des Stephanus für seine Feinde, die ihn steinigen, unmittelbar vor seinem Tod auf (Apg 7,60):
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Er aber fiel auf die Knie und rief mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und nachdem er dies gesagt hat, starb er.
Angesichts des literarischen Gestaltungswillens und der schriftstellerischen Sorgfalt des Lk darf vermutet werden, dass das Gebet des Stephanus sein Vorbild in der Vergebungsbitte des lk Jesus am Kreuz besitzt. Diese Vermutung ist jedenfalls plausibler als umgekehrt anzunehmen, bei der Textüberlieferung sei ein Kopist von der Bitte des Stephanus angeregt worden, eine analoge Bitte Jesu am Kreuz einzufügen. Dass Lk 23,34a in einigen frühen und qualitativ wertvollen Handschriften fehlt, könnte seinen Grund in schon früh vorhandenen antijudaistischen Tendenzen haben. In erster Linie wurden die Juden bzw. die Jerusalemer samt ihren Führern für den Tod Jesu verantwortlich gemacht. Dies bezeugt schon die deutliche "Entlastung des Pilatus in den Passionserzählungen der Evangelien (~ 3.11.1.), die im Widerspruch zur rechtshistorischen Situation steht (~ 3.1.1. Exkurs 1). Zudem wurde möglicherweise die Vergebungsbitte Jesu als sachlich unvereinbar mit seinem Drohwort über Jerusalem (23,28-31; vgl. 13,34f; 19,41--44; 21,2024) betrachtet. Kurzum: Es sprechen gewichtigere Argumente fiir die Annahme, dass die Vergebungsbitte Jesu (23,34a) auf lk Redaktion zurückgeht und nicht erst sekundär im Laufe der Textüberlieferung in den Lk-Text eingedrungen ist. Zwar erzählt Lk wie seine Mk-Vorlage von einer dreifachen Verhöhnung des gekreuzigten Jesus (23,35b.36f.39). Allerdings beteiligt sich bei Lk das Volk (23,35a diff Mk 15,29f: die Passanten) nicht an dieser Verhöhnung, sondern beschränkt sich auf die Rolle der schweigenden Zuschauer. Im lk Erzählkonzept ist 23,35a im Kontext von 23,27 und 23,48 zu sehen. Die Abfolge der Aussagen, die diese drei Verse bieten, lässt eine Entwicklung in der Einstellung des Volkes erkennen: Zieht das Volk in 23,27 mit nach Golgota hinaus, um Zeuge des Spektakels der Kreuzigung Jesu zu werden, die es selbst lautstark gefordert hatte (~ 3.11.3.), so steht es in 23,35a stumm vor dem Gekreuzigten und nimmt kommentarlos das Geschehen auf, das sich ihm darbietet. Nachdem aber J esus verstorben ist, brechen sich die Eindrücke des Geschehens bei der Volksmenge in einem Gestus der Trauer und der Reue Bahn. Im Unterschied zu ihren Führern, die auch angesichts seines Leidens für den Gekreuzigten nur Hohn übrig haben und in ihrer feindseligen Haltung verharren (23,35b), kündigt sich beim Volk bereits in 23,35a ein Sinneswandel an, der sich in 23,48 schließlich durch den Ausdruck von Trauer und Reue über das Geschehene und über den eigenen Anteil daran sichtbaren Ausdruck verschafft. Statt des Volkes, das sich also in lk Darstellung nicht an der Verhöhnung des gekreuzigten Jesus beteiligt, übernehmen hier die (römischen) Soldaten diesen Part (23,36f). Dass die Soldaten mit Jesus ihren Spott getrieben haben, hat Lk in Mk 15,16-20a gelesen (~ 3.12.1.). Allerdings hat er diese
3.13. Die Himichtung Jesu am Kreuz
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Szene im Anschluss an Jesu Übergabe zur Kreuzigung an der entsprechenden Stelle seiner Passionserzählung nicht rezipiert, sondern sie vorgezogen in die Sondergutpassage innerhalb der Pilatusszene: So sind es bei Lk also Herodes und seine Soldaten, die Jesus verspotten (23, 11 ~ 3.11.3.). Wenngleich in rudimentärer Form greift Lk dann in 23,36f doch noch das Motiv der Verhöhnung Jesu durch römische Soldaten auf, allerdings weiß er nichts von einer Königspersiflage zu berichten. In 23,37 fordern die Soldaten Jesus nur unter Anspielung auf den Kreuzestitulus "König der Juden" auf, sich selbst zu helfen und greifen mit dieser Aufforderung, jedoch unter anderer Voraussetzung, die Aufforderung der jüdischen Oberen auf (23,35b). In 23,36 haben sie zuvor Jesus Essig gereicht. Damit gibt sich dieser Vers als eine lk Kombination aus Mk 15,23 (Soldaten reichen Jesus als Betäubungstrunk einen mit Myrrhe versetzten Wein ~ 3.12.1.) und Mk 15,36 (eine anonym bleibende Person [irgendjemand / fis] reicht Jesus unmittelbar vor Eintritt seines Todes in Anspielung auf Ps 69,22b Essig) zu erkennen. Wie der leidende Gerechte muss also auch Jesus Spott erdulden, indem ihm ein ungenießbares Getränk gereicht wird. In lk Darstellung aber erfolgt diese Darreichung im Unterschied zu Mk durch die römischen Soldaten. Damit gesteht Lk ihnen ebenfalls im Unterschied zu Mk, jedoch in gewisser Nähe zu Mt (27,34 diff Mk 15,23 ~ 3.13.2.) - keine Geste des Mitleids mit Jesus zu. Trotz aller Zurückhaltung, die sich Lk in der Kritik an den römischen Instanzen auferlegt, bricht sich diese Kritik also gleichwohl verhalten Bahn (~ 3.11.3.). Lk schließt seine Bearbeitung der Himichtungsszene in 23,39--43 mit einer Sondergutpassage ab, die er wohl selbst gestaltet haben dürfte. Dafiir sprechen verschiedene motivische Querverbindungen zum vorausgehenden Teil seiner Jesusgeschichte. Angeregt zu dieser kleinen Erzähleinheit, die allgemein unter dem Titel "Der böse und der gute Schächer" bekannt ist, wurde Lk wohl durch die kurze Notiz in Mk 15,32b. In mk Darstellung nämlich fugen sich die bei den mit Jesus gekreuzigten . Verbrecher in die Reihe der Passanten (15,29f) und jüdischen Führer (15,31-32a) ein, die Jesus verhöhnen. Allerdings schweigt sich Mk anders als bei den beiden vorausgehenden Gruppen darüber aus, auf welche Weise die beiden Mitgekreuzigten Jesus schmähen. An dieser Leerstelle setzt nun Lk mit seiner erzählerischen Ausgestaltung an. Diese ist bestimmt von der Antithese zwischen dem einen Übeltäter, der sich auf die Seite der Gegner Jesu stellt, und dem anderen Übeltäter, der sich auf die Seite Jesu stellt. So bestätigt sich also noch einmal in den letzten Stunden Jesu, was in der lk Vorgeschichte der greise Simeon der Mutter Jesu über ihren Sohn geweissagt hat (2,34): Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird (EÜ).
Der kurze Abschnitt besteht aus zwei Kommunikationseinheiten (V. 39--41 und V. 42--43). Die erste Kommunikationseinheit wird eröffnet durch den
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens J esu
Verbrecher, der in die vorausgehenden Verhöhnungen fesu einstimmt (V. 39). Wie die jüdischen Autoritäten (23,35b), spricht er J~sus auf seine Messianität an und macht sich darüber lustig. Denn die daraus abgeleitete Aufforderung, Jesus solle sich selbst (vgl. 23,35b.37), aber auch seine beiden Leidensgenossen retten, ist selbstverständlich nicht ernst gemeint, sondern ironisch zu verstehen. Während J esus wie schon zuvor auch diese Verhöhnung schweigend hinnimmt, reagiert der andere Verbrecher, indem er an Jesu statt antwortet und seinen Kumpan anherrscht (V. 40a). Seine Zurechtweisung spricht zwei Aspekte an: Mit Jesus sind er selbst und der lästernde Verbrecher durch das Erleiden derselben entwürdigenden Kreuzesstrafe verbunden und haben den Tod vor Augen. Sollte also sein lästernder Kumpan noch nicht einmal in dieser aussichtslosen Situation Gott fürchten? (V. 40b) Durch diese Frage dürften sich die Leserinnen und Leser der lk Jesusgeschichte daran erinnert fühlen, dass Jesus einmal seine Jünger gemahnt hatte, Gott mehr zu fürchten als die Menschen, da er nicht nur die Macht habe, die physische Existenz zu vernichten, sondern die ewige Strafe der Hölle zu verhängen (12,4 f). Durch die Zurechtweisung des ersten gibt also der zweite Verbrecher zu erkennen, dass er, der von den Menschen nichts Schlimmeres mehr zu erwarten hat, als was er gerade erleidet, die Gottesfurcht nicht zusammen mit der Menschenfurcht verloren hat. Sodann verweist der zweite Verbrecher seinen lästernden Kumpan darauf hin, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen bei den und J esus gibt. Denn er erkennt an, dass sie beide die Strafe, die sie erleiden, zu Recht getroffen hat. Dagegen bescheinigt er Jesus, nichts Unrechtes getan zu haben (V. 41) und wird somit - nach Pilatus (23,4.14.22) und Herodes Antipas (23,15) - zum dritten Zeugen der Schuldlosigkeit Jesu innerhalb ,der lk Passionserzählung. Während die fehlende Reaktion des ersten Verbrechers auf die Zurechtweisung seine bleibende Verstockung anzeigt, deuteten sich schon in eben dieser Zurechtweisung die Einsicht und Reue des zweiten Verbrechers an. Sie manifestieren sich nun dadurch, dass er sich zu Beginn der zweiten Kommunikationseinheit ausdrücklich mit einer Bitte an Jesus wendet (23,42): Jesus, gedenke meiner, wenn du in deiner Königsmacht (en te basileia sou) [bzw. als abweichende Lesart] in dein Königreich (eis ten basileian sou) kommst. Die Überlieferung von Lk 23,42 birgt einmal mehr ein textkritisches Problem, das eine eigene Erwähnung verdient. Die überwiegende Mehrheit der Handschriften bietet eine zukünjtigfunktionale Lesart, die sich auf die endzeitliche Wiederkunft des Christuskönigs zum Gericht bezieht. Einige wenige, jedoch qualitativ hochwertige Handschriften nl~V\ und die Codices Vaticanus und Regius [2./3.-8. Jh.]) bezeugen eine gegenwärtig-räumlich zu verstehende Textvariante, die sich auf den Einzug Jesu in sein himmlisches Reich unmittelbar nach seinem Tod bezieht. Eine Entscheidung ist in diesem Fall schwierig. Der äußeren Bezeugung nach verdient aus quantitativen Erwägungen die zukünftig-funktionale Lesart zweifellos den Vorzug, zumal sie sich auch in qualitativ hochwertigen Textzeugen findet (so etwa im Codex Sinaiticus [4. Jh.] und im Codex Alexandrinus [5. Jh.]). Für die gegenwärtig-räumliche Text-
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
209
variante sprechen vor allem zwei textinteme, inhaltliche Kriterien. Zum einen begegnet ein vergleichbar gegenwärtig-räumliches Verständnis auch in der lk Emmauserzählung. So heißt es in 24,26: "Musste nicht der Messias dieses erleiden und [so] in seine Herrlichkeit eingehen?" Zum anderen enthält die Antwort des lk Jesus auf die Bitte des reuigen Verbrechers ein pointiertes "Heute", das den Gegenwartsaspekt aufgreift, sowie die räumliche Angabe "im Paradies" (23,43). Entsprechen sich also bei der gegenwärtig-räumlichen Textvariante die Bitte des reuigen Verbrechers und die Antwort Jesu, so stehen sie bei der zukünftig-funktionalen Textvariante in einem gewissen Kontrast. Bei der zuletzt genannten Variante setzt der Verbrecher nämlich für sich alle Hoffuung auf Rettung in das künftige Kommen Jesu in seiner Funktion als endzeitlicher Richter. Jesus aber korrigiert in seiner Antwort diese Perspektive, indem er dem Bittsteller das unmittelbar bevorstehende Heil (heute ... im Paradies) zusichert. Unter dieser Rücksicht aber stellt die zukünftig-funktionale Textvariante die schwierigere Lesart dar, die in aller Regel als die ursprünglichere anzusehen ist.
Im Unterschied zur Aufforderung des ersten Verbrechers (23,39b) ist die Bitte des zweiten Verbrechers aufrichtig gemeint. Er erkennt die Chance zur Umkehr, die sich ihm noch in seinen letzten Lebensstunden eröffnet, indem ihm Jesus als Schicksalsgenosse an die Seite gestellt wurde. Und er nutzt diese Chance im Unterschied zu seinem verstockten Kumpan, der sie verstreichen lässt und dem daher zu dem menschlichen nun auch das göttliche Strafgericht droht (vgl. Lk 13,3.5). Der reuige Verbrecher also erkennt in Jesus, obwohl er ihm in einer schmachvollen und aussichtslosen Situation begegnet, allen menschlichen Maßstäben zum Trotz tatsächlich den messianischen Herrscher. Von ihm erhofft er jenseits des ihnen beiden unmittelbar bevorstehenden Todes endzeitliehe Rettung. Und so würdigt Jesus die Bitte dieses Mitgekreuzigten auch einer Antwort (23,43). Sie besteht in einer Heilsverheißung, auf deren Erfüllung der Bittsteller jedoch nicht bis zur endzeitlichen Wiederkunft des Christus warten muss. Noch heute, so sichert Jesus seinem einsichtigen Schicksalsgenossen zu, wird dieser teilhaben an der ihm selbst von Gott eröffneten Zukunft. Der Verbrecher, der Einsicht und Reue gezeigt hat, wird Anteil gewinnen am Leben des messianischen Herrschers im Paradies - dem himmlischen Ort für die Gerechten, die des Lebens in der unmittelbaren Nähe Gottes gewürdigt werden. So zeigt also Lk Jesus - ebenfalls in den letzten Stunden seines irdischen Lebens - noch einmal als den Menschensohn, der "gekommen ist, um zu suchen und zu retten, was verloren ist" (Lk 19,10). 3.13.4. Die johanneische Version Joh 19, 16b-2 7
Wie schon der erste vergleichende Überblick über die Hinrichtungsszene in den vier Evangelien zeigte (~ 3.13.), setzt Joh erneut sehr eigene Akzente. Beim ersten Teilabschnitt (Auf dem Weg zum Kreuz) fällt vor allem auf, dass er nichts über Simon von Kyrene und dessen Dienst des Kreuztragens für Jesus verlauten lässt (Mk 15,21 parr. Mt 27,32; Lk 23,26). Stattdessen liest man in der joh Version (19,17a):
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Und er trug (für) sich selbst (heautö) das Kreuz und ging hinaus ...
Dass ein zur Kreuzigung verurteilter Delinquent den Querbalken des Kreuzes zur Richtstätte tragen musste, entsprach den üblichen Gepflogenheiten (~ 3.13.l. Exkurs 4). Ohne die Kenntnis der synoptischen Tradition zöge Joh 19,17a wohl kaum Aufmerksamkeit auf sich. Dagegen ist die bei Mk und seinen Seitenreferenten einhellig bezeugte Dienstverpflichtung des Simon durch die römischen Soldaten, für den verurteilten Jesus das Kreuz zu tragen, als außergewöhnlich zu bezeichnen. Gerade weil sie aber so außergewöhnlich ist, besitzt sie - als Ausnahme von der Regel, näherhin als spontane Willkürmaßnahme von Soldaten der Besatzungsmacht (~ 3.13.l.) - schon wieder eine gewisse historische Plausibilität. Es hat zudem den Anschein, als seien Simon von Kyrene und - zumindest noch zur Zeit der Abfassung des Mk-Ev - auch seine bei den Söhne Alexander und Rufus in den urchristlichen Gemeinden bekannte Persönlichkeiten gewesen. Haben aber Joh und seine Adressaten zumindest das Mk-Ev gekannt - und viele Beobachtungen, die hier im Kontext einer vergleichenden Auslegung der Passionserzählungen gemacht werden konnten, sprechen dafür - dann hat Joh in 19,17 einmal mehr die Erzählvorgabe des Mk-Ev gezielt verändert. Dies legt auch die sprachliche Gestaltung des Verses nahe. Denn Joh sagt nicht nur, dass Jesus das (oder sein) Kreuz trug, sondern er formuliert betont: " ... er trug (für) sich selbst das Kreuz ... " Dies aber fügt sich nahtlos ein in das spezifisch joh Jesusbild. Denn hier ist Jesus der situationsüberlegene Regisseur seiner Passion, der bewusst und zielstrebig auf das Kreuz als Instrument seiner Erhöhung und seiner Rückkehr zum Vater zugeht (~ 3.2.4.). Diese christologische Souveränität aber darf nicht durch eine Willkürmaßnahme römischer Soldaten beeinträchtigt werden. Im zweiten Teilabschnitt der joh Hinrichtungsszene (Vollzug der Kreuzigung) verdient vor allem das Thema der Schuldtafel Beachtung. Im Vergleich zur synoptischen Darstellung, die diesem Thema nur eine kurze Notiz widmet (Mk 15,26 parr. Mt 27,37; Lk 23,38), arbeitet Joh es zu einer kleinen Erzähleinheit vom Disput zwischen den Hohenpriestern und Pilatus um die korrekte Aufschrift der Schuldtafel aus (19,19-22). Die entscheidende Information dieser Schuldtafel, in der Joh wortwörtlich mit Mk und seinen Seitenreferenten übereinstimmt, lautet "der König der Juden" (l9,19b). Indem Joh also dem Thema der Schuldtafel innerhalb seiner Version der Hinrichtungsszene ein im Vergleich zu den Synoptikern deutlich größeres erzählerisches Gewicht verleiht, stellt er erneut das Motiv des Königtums Jesu in den Blickpunkt, das bereits seine Pilatusszene beherrschte (~ 3.11.4.). Die zentrale Bedeutung, die Joh in 19,19-22 diesem Königsmotiv verleiht, wird im Übrigen schon durch den unmittelbar vorausgehenden Vers 18 vorbereitet. Denn Joh begnügt sich nicht damit, in Übereinstimmung mit der synoptischen Darstellung festzuhalten, dass zwei weitere Delinquenten rechts und links von Jesus gekreuzigt werden (Mk 15,27 parr. Mt 27,38; Lk 23,33b). Vielmehr betont er zusätzlich: "in der Mitte aber Jesus". Im Licht von 19,19-22
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
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gelesen, präsentiert also Joh schon in 19,18 Jesus als in der Mitte zwischen zwei eskortierenden Begleitern arn Kreuz thronenden König. Diese Darstellungsabsicht wird noch unterstützt durch die Beobachtung, dass Joh - abweichend von den Synoptikern - darauf verzichtet, die beiden mit Jesus gekreuzigten Männer als Kriminelle zu bezeichnen. Mk (~ 3.13.1), Mt (~ 3.13.2.) und am deutlichsten Lk (~ 3.l3.3.) spielen mit der Art ihrer erzählerischen Einbindung der beiden anderen Delinquenten in die Hinrichtungsszene auf Jesus als den leidenden Gottesknecht an, der sich unter die Verbecher rechnen ließ (Jes 53,12). Joh dagegen zeigt Jesus erhöht arn paradoxen Kreuzesthron. Damit aber hat der joh Jesus das Ziel seines Weges erreicht, das er in der Identität seines Willens mit dem des göttlichen Vaters bewusst angestrebt hat.
Die kleine Erzähleinheit 19,19-22 ist zweigeteilt: In den V. 19-20 wird die Situation geschildert, die dann zu dem Disput zwischen den jüdischen Hohenpriestern und dem römischen Statthalter fUhrt, der in den V. 21-22 erzählt wird. V. 19 entspricht dem Informationswert nach im Wesentlichen der synoptischen Notiz zur Schuldtafel. Allerdings erwähnt Joh schon hier im Blick auf den Fortgang seiner Erzählung ausdrücklich Pilatus als Auftraggeber rür die Anfertigung und Beschriftung der Schuldtafel. In V. 20a betreten erstmals in der joh Passionserzählung "viele Juden" im Verständnis der Volksmenge die Bühne des Geschehens. Diese lesen nun angesichts der nahe der Stadt errichteten Kreuze und der gut sichtbar am Kreuz Jesu befestigten Schuldtafel, dass hier ihr König hingerichtet wird. Diese Information aber kommt rür sie völlig überraschend. Denn in joh Darstellung weiß die Volksmenge bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von der Anklage Jesu vor Pilatus durch ihre religiösen und politischen Autoritäten und hat auch nicht die Kreuzigung Jesu gefordert. Die Schilderung der Szene erweckt nun den Eindruck, als läge dem joh Pilatus gerade an dieser Information des Volkes. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch V. 20b. Hier nämlich ist eigens notiert, dass Pilatus die Aufschrift dreisprachig anbringen ließ: in Hebräisch, d.h. genauer wohl in der Landessprache Aramäisch, in Latein, der offiziellen Verwaltungs sprache und in Griechisch, der allgemeinen Umgangssprache, mit der man sich - ähnlich wie mit Englisch in heutiger Zeit - im gesamten römischen Weltreich verständigen konnte. Dies lässt freilich nur den Schluss zu, dass der joh Pilatus auf einen möglichst großen Publicity-Effekt setzt. Wenn er damit eine Provokation des Jerusalemer Tempelestablishment bezwecken wollte, so hat er dieses Ziel jedenfalls, wie die V. 21f zeigen, erreicht. Nach V. 21 nämlich wenden sich die Hohenpriester an Pilatus und fordern von ihm eine Änderung der Aufschrift. Diese soll nicht den Eindruck erwecken, als sei Jesus tatsächlich der König der Juden, sondern soll deutlich machen, dass es sich nur um einen angemaßten Anspruch handelt. Die Reaktion des joh Pilatus in V. 22 lässt seinen aufgestauten Ärger wegen der ihm abgetrotzten Verurteilung Jesu erahnen. Jedenfalls macht er den Hohenpriestern ebenso unmissverständlich wie barsch klar, dass er sich nicht ein weiteres Mal ihren Willen aufzwingen lässt. So gibt er ihnen den berühmten Bescheid (V. 22b):
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens lesu
Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben!
Die Szene entbehrt nicht der typisch joh Hintergründigkeit: Pilatus lehnt das Ansinnen nach einer Änderung der Schuldtafelaufschrift ab und verhilft gerade dadurch der Wahrheit zum Ausdruck - er, der sich wenig zuvor um die Entscheidung rur die Wahrheit gedrückt hat (18,38 ---+ 3.11.4.). In 19,23f schließt loh noch die ebenfalls bei Mk (15,24b) und seinen Seitenreferenten (Mt 27,35b; Lk 23,34b) vorhandene Notiz von der Verlosung der Kleidung lesu unter den Mitgliedern des Exekutionskommandos an (---+ 3.13.). Spielen die Synoptiker jedoch nur durch die Art ihrer Formulierung auf den im Hintergrund dieser Notiz stehenden Leidenspsalm (22,19) an, so setzt loh die Aussage des Psalmverses Zug und Zug erzählerisch um und zitiert als Beleg für die Schrifterfullung abschließend Ps 22,19 noch im Wortlaut (V. 24b): ... damit sich die Schrift erfüllte: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt (vgl. 19,23a) und über mein Gewand haben sie das Los geworfen (vgl. 19,23b-24a).
Damit es nicht nur zur Verteilung der Kleidung lesu kommt, sondern um das Losverfahren zu begründen, fuhrt loh in V. 23b das nahtlos in einem Stück gewebte Untergewand ein. Dieses aber wollen die Soldaten nicht zerteilen, um es nicht nutz- und wertlos zu machen und entscheiden sich daher, es unter sich zu verlosen (V. 24a). Ist diese Funktion des nahtlosen Untergewandes innerhalb der Erzählung offensichtlich, so schwingt möglicherweise implizit noch eine weitere Aussageintention mit. Berücksichtigt man, dass das hohepriesterliche Untergewand ebenfalls nahtlos aus ei,nem Stück gewebt zu werden pflegte (vgl. los. ant. 3,161), dann könnte loh lesus hier unausgesprochen eine hochpriesterliche Funktion zuweisen. Diese dürfte er vor allem im Versöhnung wirkenden Sterben lesu erkannt haben (vgl. 11,5254 ---+ 3.1.4.). Innerhalb des neutestamentlichen Kanons stellt im Übrigen der Hebräerbrief dieses Motiv des endzeitlichen Hohenpriesters lesus in das Zentrum seines theologischen Nachdenkens. Der dritte Teilabschnitt der joh Version der Hinrichtungsszene (Jesus am Kreuz) besitzt keinerlei thematische Überschneidung zu den synoptischen Darstellungen. Ist bei Mk, Mt und Lk dieser letzte Teilabschnitt jeweils bestimmt von einer dreifachen Verhöhnung 1esu durch verschiedene, ihm gegenüber ablehnend eingestellte Personen(-gruppen), so sind nach joh Lesart im Gegenteil gerade die engsten Vertrauten 1esu an seinem Kreuz versammelt (19,25-27). Unter der Voraussetzung einer Kenntnis wenigstens des Mk-Ev empfand loh wohl angesichts seiner königlich-hoheitsvollen Darstellung lesu am Kreuz eine Verhöhnung des Gekreuzigten als unpassend. In 19,25 leitet loh den letzten Teil seiner Version der Hinrichtungsszene ein mit einer Liste von vier Frauen, die sich beim Kreuz lesu aufhalten:
3.13. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz
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Es standen aber beim Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas und Maria von Magdala.
Als Frauenliste im Rahmen der Passionserzählung erinnert Joh 19,25 an den mk Abschluss der Todesszene (~ 3.14.1.). Denn Mk erwähnt in 15,40 Frauen, die von ferne Zeuginnen des Geschehens werden, und zählt aus dieser Gruppe drei namentlich auf: Maria von Magdala, Maria, die Mutter des jüngeren Jakobus und des Joses sowie Salome. Genau diese drei namentlich identifizierten Frauen, die damit aus der anonymen Frauengruppe herausgehoben werden, machen sich auch am Ostermorgen auf dem Weg zum Grab Jesu (Mk: 16,1), nachdem zuvor Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Joses noch die Grablegung Jesu beobachtet hatten (Mk: 15,47 ---)- 3.15.1.). Es gibt nun einen deutlichen Hinweis darauf, dass die dreifache namentliche Erwähnung dieser Frauen - und zwar jeweils mit Maria von Magdala als Erstgenannter - (Mk: 15,40.47; 16,1) zur vormk Passionsüberlieferung gehört. Ihr Auftreten beschränkt sich nämlich auf den Schluss der Passionserzählung und wird im vorausgehenden Teil des Evangeliums mit keiner Silbe vorbereitet. Vielmehr erweckt Mk: den Eindruck, als wolle er nachträglich eine Verklammerung mit den Kapiteln 1-13 herstellen. Denn er fügt hinzu (15,41): Diese (= die drei zuvor genannten Frauen) waren ihm nachgefolgt, als er in Galiläa war, und hatten ihm gedient, und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren. Damit ist festzuhalten: Die vormk Passionsüberlieferung weiß nichts von einer Anwesenheit der Mutter Jesu in Jerusalem während der Passionsereignisse. Entsprechend fehlt sie auch unter den eigens genannten Augenzeuginnen der Geschehnisse. Hat hier die ältest zugängliche Überlieferung die Namen anderer Frauen - allen voran den der Maria von Magdala - bewahrt, so ist gerade das Schweigen über Maria, die Mutter Jesu, umso beredter und muss als historisch zuverlässiges Indiz gelten. Denn dass eine Erwähnung der Mutter J esu in irgendeinem frühen, uns nicht mehr zugänglichen Überlieferungsstadium getilgt worden sein sollte, ist angesichts ihrer "Prominenz" traditionsgeschichtlich höchst unwahrscheinlich. Zudem folgen alle drei synoptischen Evangelien hier der ältest zugänglichen Überlieferung und setzen die Abwesenheit Marias bei der Kreuzigung ihres Sohnes in Jerusalem voraus.
Die Präsenz der Mutter Jesu beim Kreuz in joh Darstellung verdankt sich daher wohl der literarischen Gestaltungslaaft und der theologischen Aussageabsicht des für diese Darstellung verantwortlichen Autors. So fällt auf, dass in 19,25-27 ein Erzählbogen zu Ende geführt wird, den Joh bereits mit der Erzählung vom ersten Zeichen Jesu zu Kana 2,1-10 (V. 1.3-5) eröffnet hatte. Sprach Jesus zu seiner Mutter in 2,4 zum ersten Mal im JohEv von seiner (künftigen) Stunde - als dem Zeitpunkt seiner Lebenshingabe (~ 3.1.4.) - so ist diese Stunde in 19,25-27 da, und auch seine Mutter ist wiedermn präsent. Gegen eine historische und für eine theologische Aussageabsicht des Joh spricht aber auch, dass in 19,26 der geliebte Jünger als Begleiter Marias eingeführt wird. Dieser geliebte Jünger aber, der erstmals im JohEv im Kontext des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern auftritt, ist keine historische Gestalt. Er ist vielmehr eine Symbolfigur, die den idealen
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Vertreter der nachösterlichen Jüngerschaft repräsentiert, der durch das Wirken des Geistparakleten volle Einsicht gewonnen hat in das Persongeheimnis und das Werk Jesu (~ 3.5.4.). Daher geht es in 19,26f wohl kaum nur vordergründig um eine letztwillige Verfügung des sterbenden Jesus aus Fürsorge für seine Mutter. Vielmehr hat diese Vermächtnisszene eine auf die nachösterliche Zukunft gerichtete Bedeutung rür die Gemeinde bzw. Kirche: Maria als Repräsentantin aller, die das Heil in Jesus suchen und im Vertrauen auf ihn empfangen (vgl. 2,1-5!) und der geliebte Jünger als Repräsentant des herausragenden Glaubenszeugen und -vermittlers werden aufeinander verwiesen. So repräsentieren Maria und der geliebte Jünger unter dem Kreuz die bei den sich ergänzenden Seiten vollkommener christlicher Existenz.
3.14. Der Tod Jesu 3.14.1. Die markinische Darstellung Mk 15,33-41
Die Szene vom Eintritt des Todes Jesu leitet Mk in 15,33 mit einer dem Ereignis angemessenen Steigerung der erzählerischen Dramatik ein: Und als die sechste Stunde gekommen war, breitete sich Finsternis über das ganze Land aus bis zur neunten Stunde.
Dass eine solche Finsternis astronomisch unmöglich ist, ist völlig unerheblich. Denn die Erzählintention zielt nicht vordergründig auf die Schilderung eines Naturphänomens. Vielmehr wird mit Hilfe dieses Naturphänömens die endzeitliehe Qualität, die der Tod Jesu besitzt, symbolisch zur Sprache gebracht. Dies geschieht in unverkennbarer Anlehnung an Am 8,9: An jenem Tag - Spruch Gottes des Herrn - lasse ich am Mittag die Sonne untergehen und breite am he111ichten Tag über die Erde Finsternis aus.
Wichtiger im Gesamtkontext der mk Jesusgeschichte ist jedoch der deutliche Bezug zur Endzeitrede. Nach 13,24f gehen dem endzeitlichen Kommen des Menschensohnes vom Himmel her umstürzende kosmische Ereignisse voraus. Sonne und Mond verlieren ihre Licht spendende Funktion, die Sterne fallen vom Himmel, kurzum: die Ordnung des Himmels wird zusammenbrechen - der Kosmos versinkt im Chaos. Wenn dies geschehen ist, dann wird der Menschensohn in seiner Hoheit Gericht halten, vor dem er freilich seine Auserwählten bewahrt, indem er sie durch seine himmlischen Helfer von überall her sammeln lässt (13,26f). Eben dieser Menschensohn, der einst in seiner Hoheit vom Himmel her kommen und das endzeitliehe Gericht vollziehen wird, er hängt jetzt leidend und sterbend am Kreuz. Wie künftig bei
3.14. Der Tod Jesu
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seiner endzeitlichen Wiederkunft, so geht jetzt schon dem Eintritt seines Todes mit einer dreistündigen Finsternis am helllichten Tag beim höchsten Sonnenstand ein kosmisches Ereignis voraus, das auf die endzeitliche Qualität des Geschehens verweist. Die Finsternis dient zugleich als Beglaubigungszeichen, dass in dem geschundenen und dem schändlichen Verbrechertod preisgegebenen Jesus von Nazaret niemand geringerer als der himmlische Menschensohn gemäß dem göttlichen Heilsplan leidet (~ 3.1.1. und 3.5.1.). So bringt Mk also in der Todesszene noch einmal den zentralen Faktor seiner Christologie zur Sprache. Freilich lässt seine Darstellung gerade im Vergleich mit 13,24f auch keinen Zweifel aufkommen, dass die auf drei Stunden begrenzte Finsternis am Todestag Jesu nur ein Vorgeschmack des Chaos ist, das der Wiederkunft des Menschensohnes zum Gericht vorausgehen wird. In der neunten Stunde schließlich erreicht die Dramatik des Geschehens ihren Höhepunkt. Das letzte Wort Jesu, das Mk in aramäischer Sprache und in griechischer Übersetzung überliefert, lautet (15,34): EIol, Elol, lema sabachtani, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Dieses Wort schreit Jesus heraus, und so wird es zum Ausdruck äußerster Einsamkeit und Ohnmacht. Dass Jesus dennoch in dieser Situation größter seelischer Not zu Gott schreit, macht seinen Schrei zum Gebet. Und dies umso mehr, als es sich bei dem letzten Wort Jesu in mk Darstellung um den Beginn von Ps 22 handelt (Ps 22,2a). Dieser Leidenspsalm aber bildet in der mk Passionserzählung die entscheidende Interpretationshilfe, um den gesellschaftlich verachteten und für Juden nach Ausweis der Tora (Dtn 21,22f ~ 3.13.1. Exkurs 4) als fluchbeladen geltenden Kreuzestod Jesu theologisch zu bewältigen und als Erfüllung des göttlichen Heilsplans verstehen zu können. Wenn daher Jesus als Sterbender nach Mk 15,34 den Beginn von Ps 22 betet, ist also der Spannungsbogen des gesamten Psalms zu berücksichtigen. Dieser Spannungsbogen erstreckt sich aber von der gegenwärtigen Erfahrung der Gottverlassenheit des leidenden Gerechten (V. 2-22) zur Gewissheit künftigen Heils (V. 23-32). Diese Heilsgewissheit gipfelt dabei in der Erwartung der kommenden Königsherrschaft Gottes (Ps 22,28-30): Alle Enden der Erde sollen daran denken und werden umkehren zum Herrn: Vor ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder. (29) Denn der Herr regiert als König; er herrscht über die Völker. (30) Vor ihm allein sollen niederfallen die Mächtigen der Erde, vor ihm sich alle niederwerfen, die in der Erde ruhen.
So bringt also in mk Darstellung der Schrei der Gottverlassenheit des am Kreuz sterbenden Jesus mit den Worten von Ps 22,2a im Licht des gesamten Psalms betrachtet zugleich auch Jesu vertrauensvolle Gewissheit zum Ausdruck, dass trotz allem die Gottesherrschaft sich endgültig Bahn brechen wird.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Ob Mk 15,34 mit Ps 22,2a nun tatsächlich das authentische letzte Wort Jesu am Kreuz überliefert, wird sich wohl kaum zuverlässig beweisen oder widerlegen lassen. Unter der Voraussetzung seiner Authentizität könnte sich die Bedeutung erklären, die gerade Ps 22 in der theologischen Interpretation der Passionsereignisse gewonnen hat. Andererseits könnte ebenso umgekehrt der unter dem Eindruck des Osterergeschehens angestoßene theologische Reflexionsprozess für die Rezeption von Ps 22 im Kontext der Passsionsüberlieferung insgesamt und speziell für die Rezeption von V. 2a als letztes Wort Jesu verantwortlich zeichnen. Letzteres einmal vorausgesetzt, dürfte Ps 22,2a gerade im Licht des Gesamtpsalms gleichwohl sachgemäß die Überzeugung widerspiegeln, in der Jesus seinen letzten Atemzug getan hat. Denn dass er das Vertrauen auf den endgültigen Durchbruch der Gotlesherrschaft auch angesichts des ihm drohenden Todes nicht verloren hat, spiegelt hinreichend der als authentischjesuanisch zu betrachtende eschatologische Ausblick im Rahmen der synoptischen Abendmahlsüberlieferung wider (vgl. Mk 14,25 parr. Mt 26,29; Lk 22,18 ~ 3.5.1.).
Mit 15,35f wendet sich Mk den Reaktionen auf Jesu Schrei zu. Bei einigen, die dabeistehen, löst er zunächst eine Fehldeutung aus, indem sie ihn als einen Ruf nach Elia interpretieren (V. 35). Welcher Gruppe diese Gaffer zugehören, lässt die mk Darstellung offen. Am nächstliegenden ist an Schaulustige aus der Jerusalemer Bevölkerung zu denken. Auf jeden Fall aber müssen sie mit Vorstellungen der jüdischen Volksfrömmigkeit vertraut sein, der Elia nach seiner Auffahrt in den Himmel als Nothelfer und Tröster der Gerechten in ihrer Todesstunde galt. Da für Menschen mit aramäischer Muttersprache nun Ela! und Elia phonetisch kaum zu verwechseln ist, wird die Reaktion der Gaffer erzähl intern verschiedentlich als bewusste oder gar böswillige Fehlinterpretation von Jesu Schrei ausgelegt. Bedenkenswert ist aber auch die Überlegung, ob sich die Merkwürdigkeit dieser phonetischen Verwechslung von Ela! und Elia nicht dem traditionsgeschichtlichen Wachstumsprozess der Passionserzählung noch vor Aufnahme in das MkEv verdankt. So könnte Mk 15,35f eine Einfügung durch griechischsprachige Judenchristen darstellen, fiir die eine solche Verwechslung durchaus nicht ungewöhnlich erscheinen musste. Dann aber lässt sich die in 15,35 erzählte Reaktion vielleicht angemessener als Ausdruck der Sensationsgier verstehen, die für schaulustige Gaffer durchaus erzählerisch plausibel ist. Mk 15,36 bietet Anhaltspunkte, die diese Deutung stützen. So läuft zunächst ein anonym bleibender Jemand (gr. fis) - vor dem Hintergund von 15,35 ist wohl jemand aus der Gruppe der Schaulustigen gemeint - herbei und reicht Jesus einen an einem Rohr befestigten und mit Essig vollgesaugten Schwamm herauf (V. 36a). Ohne ausdrücklichen Schriftverweis steht hinter dieser Schilderung dennoch eine unverkennbare Anspielung auf Ps 69,22b (" ... fiir den Durst reichten sie mir Essig."). Wie bei Ps 22 handelt es sich auch bei Ps 69 um einen Klagepsalm, der das unverschuldete Leiden des Gerechten zum Thema hat. Dass mit 15,36a also zwar wie schon zuvor Jesus im Licht des leidenden Gerechten dargestellt wird, dass dafiir jetzt aber ein anderer Klagepsalm als bisher bemüht wird, mag als ein weiteres Indiz fiir eine traditionsgeschichtlich spätere Einfügung der V. 35f in eine vormk Pas-
3.14. Der Tod Jesu
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sionserzählung gewertet werden. 15,36b folgt der Kommentar des Jemand, der Jesus zuvor den Essig gereicht hat: Halt, wir wollen sehen, ob Elia kommt, um ihn herabzunehmen!
Dieser Kommentar bestätigt nun die Vermutung, dass hinter den Reaktionen der Schaulustigen in 15,35f Sensationsgier steht. Dies entspricht der Realität in antiken Gesellschaften, in denen Hinrichtungen als öffentliches Spektakel "zelebriert" wurden. Sollte also durch das Darreichen des Essigs der Durst des Gekreuzigten gestillt und dadurch der Eintritt seines Todes auch herausgezögert werden, so ist dies im Sinne der Erzählintention wohl nicht so sehr als böswillige Verlängerung des Leidens um des Quälens willen zu verstehen. Vielmehr handelt es sich eher um eine egoistisch motivierte Verlängerung des Leidens, um die eigene Sensationsgier zu befriedigen. Vielleicht geschieht ja noch etwas Außergewöhnliches, man will schließlich auf seine Kosten kommen! Mitleid ist von den Gaffern jedenfalls nicht zu erwarten (vgl. Ps 69,21b). Im Kontext der mk Todesszene freilich wird dann auch deutlich, dass sie nicht anders denn als "abgebrüht" bezeichnet werden können. Offenbar hat nämlich die drei Stunden währende bedrohliche Finsternis am helllichten Tag sie völlig kalt gelassen. Noch immer haben sie nicht genug! Doch sie werden in ihrer unersättlichen Sensationslüsternheit entäuscht. Mit 15,37 lenkt Mk nämlich den Blick zurück auf Jesus und notiert nur knapp: Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und verstarb (wölilich: hauchte [sein Leben] aus [exepneusen D.
Damit gestaltet Mk die Todesnotiz ähnlich wortkarg wie die Kreuzigungsnotiz (15,24a ~ 3.13.1.). Im Unterschied zu 15,34 ist der Schrei Jesu jetzt wohl nicht mehr als Gebetsschrei zu verstehen, sondern als letzte, nonverbale Äußerung seiner Qual vor dem letzten Atemzug. Sofort nachdem er vom Eintritt des Todes Jesu erzählt hat, wendet Mk in 15,38 die Aufmerksamkeit seiner Leserinnen und Leser weg von der vor den Toren Jerusalems gelegenen Hinrichtungsstätte Golgota hin zu dem im Zentrum der Stadt gelegenen Tempel. In Entsprechung zum kosmischen Ereignis der Finsternis, das in mk Darstellung als Vorbote des Todes Jesu fungiert (15,33), tritt jetzt die Auswirkung des Todes Jesu in den Blick: Und der Vorhang des Tempels riss entzwei (wörtlich: wurde gespalten [es-chistheD von oben bis unten.
Mk präzisiert nicht, welcher der beiden Vorhänge im Tempelbereich gemeint ist: der (äußere) Vorhang, der das Tempelgebäude vom Vorhof trennt (vgl.
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Ex 26,36f; 40,33) oder der (innere) Vorhang, der das Allerheiligste - den Ort der Gegenwart (Schechina) Gottes - abschirmt und den allein der Hohepriester ein einziges Mal im Jahr am Jom Kippur betreten darf, um das Sündopfer für sich, seine Familie und das ganze Volk darzubringen (vgl. Lev 16). Das Argument der Sichtbarkeit des Geschehens, das nur im Fall des äußeren Vorhanges gegeben ist, verfängt nicht. Denn es verkennt die literarischen Möglichkeiten im Rahmen einer Erzählung. Als allwissender Erzähler, der nicht an Zeit und Ort gebunden ist und die Ereignisse von einer höheren Warte aus betrachtet, kann Mk nämlich die Adressatenschaft seiner Jesusgeschichte gleichsam bei der Hand nehmen und sie unproblematisch von Golgota in das Innerste des Tempels (und wieder zurück, vgl. 15,39!) führen. Verbleibt man dagegen auf der Ebene der erzählten Welt und der hier agierenden Personen, so ist nüchtern festzuhalten: Die Augenzeugen des Sterbens Jesu hätten von Golgota aus weder das Zerreißen des inneren noch des äußeren Tempelvorhangs als unmittelbare Folge des eingetretenen Todes Jesu wahrnehmen können. Für die Vermutung, dass in Mk 15,38 der innere Tempelvorhang, der das Allerheiligste abschirmt, gemeint ist, spricht vor allem die bereits erwähnte Entsprechung zu 15,33. Wie nämlich die Finsternis den Tod des Menschensohnes Jesus als endzeitliches Geschehen qualifiziert, so symbolisiert der zerrissene Vorhang vor dem Ort der Sühne gewährenden Gottesgegenwart das endzeitliche Ende des Tempelkultes, das von Gott selbst (vgl. die verhüllende passivische Formulierung: der Vorhang wurde gespalten) als Folge von Jesu Tod herbeigeführt wird. Die mk Darstellung entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie: Hatte nämlich die tempelkritische Aktion Jesu (Mk 11,15-17) die Jerusalemer Priesteraristokratie bewogen, seinen, Tod zu betreiben (Mk 1l,18a) (~ 3.1.1.), so bringt nun gerade dieser Tod das Ende der Institution, die sie vor der Infragestellung durch Jesu Wirken zu bewahren suchte. Bei Leserinnen und Lesern der mk Jesusgeschichte, die bereits auf die von Jesus vorhergesagte (13,2) Zerstörung des Tempels im Jahr 70 und damit auf das Ende des Tempelkultes zurückblickten, musste der in Mk 15,37.38 hergestellte Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und dem Zerreißen des Tempelvorhanges verständlicherweise einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen. Nachdem Mk also in 15,38 seine Adressatenschaft von Golgota in den Tempel mitgenommen hatte, führt er sie mit 15,39 erneut zum Kreuz Jesu. In dessen unmittelbarer Nähe steht auch der römische Hauptmann, den Mk wohl als Chef des Exekutionskommandos verstanden wissen will. Allein von ihm - nicht von den zuvor erwähnten Schaulustigen (15,35f) - weiß Mk nun eine Reaktion nach Eintritt des Todes Jesu zu erzählen: Als aber der Hauptmann, der ihm gegenüber dabei stand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Sohn Gottes.
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Der Hauptmann wird also Zeuge, in welcher Haltung und unter welch außergewöhnlichen Begleitumständen Jesus stirbt. Dies führt ihn, den heidnischen Römer, dazu, ein Bekenntnis zur Gottessolmschaft Jesu abzulegen. Dieses Bekenntnis ist zwar für alle, die nach Ostern zum Glauben an Jesus Christus gelangen, noch defizitär. Denn es ist im Rückblick auf etwas Vergangenes formuliert und ordnet Jesus entsprechend heidnischen Vorstellungen ein als einen Gottessohn (bzw. Göttersohn) unter anderen. Dennoch ist es das erste öffentliche Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu, das im Mk-Ev nicht mit einem Schweigegebot belegt ist. Das resultiert im Horizont mk Christologie allenfalls vordergründig daraus, dass Jesus nun tot ist und also kein Schweigegebot mehr aussprechen kann. Denn kurz zuvor hatte ja schon Jesus selbst sich vor dem Hohen Rat zu seiner Gottessohnschaft bekannt (14,62a ~ 3.9.1.). Der tiefere und eigentliche Grund liegt vielmehr darin, dass Jesu Gottessohnschaft keinen Missverständnissen ausgesetzt sein und der untrennbare Zusammenhang mit seinem Leiden nicht verdrängt werden darf. Diese Voraussetzungen sind aber in der Situation des gefangenen Jesus vor dem Hohen Rat, erst recht aber unter dem Kreuz erfüllt. Gleichwohl verdient es Beachtung, dass in der mk Jesusgeschichte ein solch öffentliches Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu erstmals von einem Heiden gesprochen wird und nicht von einem der Jünger, die bis zuletzt unverständig geblieben sind und schließlich alle ihr Heil in der Flucht gesucht haben (14,50 ~ 3.8.1.). Sie kommen erst durch die Intervention des Auferstandenen zur vollen Einsicht in die Gottessohnschaft Jesu und in die Bedingungen der Nachfolge (~ 3.6.1.), die mk immer nur eine Nachfolge auf dem Weg zum Kreuz sein kann (Mk 8,34f). Allein die Frauen aus der Anhängerschaft Jesu scheinen dies schon in der Situation des Karfreitags wenigstens zu erahnen. Auf sie lenkt Mk in 15,40f zum Abschluss der Erzählszene vom Tod Jesu die Aufmerksamkeit. Diese Jüngerinnen, die Jesus von Galiläa aus auf dem Weg nach Jerusalem gefolgt waren (15,41), sind im Unterschied zu den Jüngern nicht geflohen. Sie folgen Jesus auf seinem Kreuzweg, jedoch trauen auch sie sich schließlich nicht bis an das Kreuz heran, sondern schauen dem Geschehen nur von ferne (gr.: apo makrothen) zu (15,40a). Dabei bleiben sie stumm. Was sie sehen, fuhrt sie im Unterschied zum römischen Hauptmann noch nicht zur Erkenntnis und damit auch nicht zum Bekenntnis. Drei Frauen aus der Gruppe galiläischer Jüngerinnen Jesu werden in 15,40b eigens namentlich erwähnt: Maria von Magdala, Maria, die Mutter Jakobus des Jüngeren und des Joses sowie Salome (~ 3.13.4.). Sie sind es, die in der mk Jesusgeschichte durch ihre Funktion als Zeuginnen des Geschehens gleichsam die personale Brücke zwischen dem Tod Jesu am Kreuz und der Botschaft von seiner Auferweckung, mit der sie im leeren Grab konfrontiert werden (16,1.6), bilden.
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3.14.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 27,45-56 Im Blick auf die mt Bearbeitung der mk Todesszene gilt das Interesse primär den Versen 27,51b-53. Denn vor allem hier weicht Mt durch eine redaktionell eingefügte Erweiterung von seiner mk Vorlage in bemerkenswerter Weise ab, der er sich ansonsten auf das Engste anschließt. In 27,51a übernimmt Mt zunächst aus Mk 15,38 die Notiz, dass als unmittelbare Folge des Todes Jesu der Vorhang des Tempels (von Gott: Passivum divinum) in zwei Teile gespalten wird (---+ 3.14.1.). Doch begnügt er sich in seiner Bearbeitung der mk Todeszene nicht mit diesem Hinweis auf das endzeitliche Ende des Tempelkultes, das durch den Tod Jesu eingeläutet wird. Vielmehr fügt er in V. 51 b-52 zunächst weitere Aufsehen erregende Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod Jesu an: Erdbeben, Felsspaltungen, Öffnung der Gräber und Auferweckung vieler Leiber entschlafener Heiliger (V. 51 b-52). Durchweg ist wieder passivisch formuliert und damit angezeigt, dass Gott selbst diese Ereignisse bewirkt. Erdbeben werden in biblischer Tradition immer wieder als Begleiterscheinung der Offenbarung Gottes genannt (vgl. etwa Ri 5,4f; 2Sam 22,8.10; Ps 68,8f; Jes 24,18-21 [im Kontext des endzeitlichen Gerichtshandelns Gottes] u.ö.). Mt selbst nennt Erdbeben als Zeichen für den Beginn der endzeitlichen Wehen (Mt 24,7). In der mt Todesszene hat das Erdbeben primär die erzählerische Funktion, die Spaltung der Felsen zu bewirken. So sind die Voraussetzungen geschaffen, dass die Gräber geöffnet und die Leiber vieler Heiligen auferweckt werden. Die Schilderung dieses Szenarios dürfte beeinflusst sein durch die Vision Ezechiels von der Wiederbelebung der Totengebeine (Ez 37). Diese Visionserzählung, die sich bei Ezechiel auf die Restitution Israels nach dem Exil bezieht, wurde in frühjüdischer Auslegungstradition auf die endzeitliche Totenauferweckung bezogen. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Auslegungstradition bietet etwa die bildliche Umsetzung des Ezechieltextes auf dem unteren Fries der Nordwand in der Synagoge von Dura-Europos in Syrien. Bemerkenswerterweise tauchen auch hier die Motive des Erdbebens (bildlich umgesetzt durch ein umstürzendes Haus) und der Felsspaltung (bewirkt durch die aus dem Himmel ragende Hand Gottes) im Zusammenhang mit der Freigabe der auferweckten Toten aus ihren Gräbern auf. Die Berührungen mit Mt 27,51b-52 sind frappierend und erklären sich am ehesten damit, dass Mt und der Maler des Synagogenzyklus von Dura-Europos in derselben Auslegungstradition von Ez 37 stehen. Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied: Mt nämlich zielt mit 27,51b-52 nicht auf die allgemeine Totenauferweckung am Ende der Zeiten. Dass diese noch nicht stattgefunden hat, lehrt die Erfahrung ihn und seine Gemeinde. Als Folge des Todes Jesu, der wie bei Mk als endzeitliches Geschehen verstanden wird (vgl. Mt 27,45.51a par. Mk 15,33.38 ---+ 3.14.1.), werden exemplarisch nur viele Leiber der Heiligen a:uferweckt. Weil Totenauferweckung aber endzeitliches Geschehen ist, wird dadurch der endzeitli-
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che Charakter des Todes Jesu noch stärker als bei Mk betont. Die Erwartung der allgemeinen Totenauferweckung verbindet auch Mt mit der Wiederkunft des Menschensohns Jesus zum Gericht (Mt 16,27f; 24,29-31). Der Gerichtsgedanke spielt jedoch verhalten auch schon in 27,53 eine Rolle. Denn die Heiligen - am ehesten ist bei ihnen zu denken an die Gerechten von Abel bis Zacharias (Mt 23,35) - werden nicht auferweckt in ihre end zeitliche Existenz bei Gott hinein, sondern um in Jerusalem einen Auftrag zu erfüllen. In dieser Stadt, der der mt J esus sein Kommen als endzeitlicher Gerichtsherr angekündigt hat, weil sie Propheten tötet und die zu ihr geschickten Boten steinigt (23,37-39), erscheinen sie nach Jesu Auferstehung vielen Menschen. Da Jerusalem - in mt Darstellung nicht zuletzt durch die Einflussnahme des Hohen Rates (28,11-15) - in seiner überwiegenden Mehrheit der Botschaft von der Auferstehung Jesu keinen Glauben schenkt, beglaubigen die Erscheinungen der auferweckten Heiligen diese Botschaft und erinnern Jerusalem zugleich an das Gericht, das der auferweckte Jesus bei seiner Wiederkunft vollziehen wird (23,39; vgl. 26,64 ---+ 3.9.2.). Abschließend zur mt Bearbeitung der mk Todesszene sei noch auf eine kleinere redaktionelle Abweichung in 27,54 verwiesen. Im Unterschied nämlich zu Mk 15,39 legt nicht nur der römische Hauptmann ein - auch bei Mt noch defizitäres - Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu ab, sondern mit ihm auch die ihm unterstellten Soldaten, die Wache bei dem Gekreuzigten gehalten haben. Damit greift Mt an dieser Stelle seiner Passionserzählung das Bewachungsmotiv wieder auf, das er kurz nach der Kreuzigungsnotiz (27,35a) in 27,36 eingeführt hatte (---+ 3.13.2.). Durch diesen redaktionellen Eingriff stellt Mt also sicher, dass die Soldaten Zeugen des gesamten Sterbeprozesses Jesu wie der außergewöhnlichen Begleiterscheinungen beim Eintritt seines Todes werden, die - wie er zudem über Mk hinaus eigens festhält - bei ihnen große Furcht auslösen. Aus dieser Augenzeugenschaft der Mitglieder des Exekutionskommandos, die den tatsächlichen Tod Jesu sicherstellt, erwächst sodann deren einhelliges Bekenntnis zu seiner Gottessohnschaft. Dieses gewinnt damit gegenüber der mk Fassung noch einmal ein ungleich stärkeres Gewicht.
3.14.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,44-49 In gewohnt souveräner Weise gestaltet Lk die mk Todesszene um und strafft sie dabei deutlich. Auch in seiner Bearbeitung wird die Todesszene eröffnet durch die Erwähnung der Finsternis, die als drei Stunden währendes kosmisches Ereignis dem Eintritt des Todes Jesu vorausgeht (23,44 par. Mk 15,33). Über Mk hinaus präzisiert Lk in 23,45a, dass es sich bei dieser Finsternis um eine Sonnenfinsternis handelt. In 23,45b zieht Lk dann die Notiz vom Zerreißen des Tempelvorhangs aus Mk 15,38 vor. Der Vorfall im Tem-
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pel bildet also bei Lk im Unterschied zur mk Darstellung (--) 3.14.1.) nicht mehr die göttliche Antwort auf den Eintritt des Todes Jesu, sondern ist wie die (Sonnen-)Finsternis sein Gott verdankter Vorbote. Diesem finalen Geschehen des Versterbens Jesu wendet sich Lk unmittelbar anschließend in 23,46 zu, wobei er Mk 15,34 (Gebetsschrei Jesu) und Mk 15,37 (Todesnotiz) kombiniert, gleichzeitig aber in die mk Vorgaben straffend und verändernd eingreift. So streicht er den zweiten, unartikulierten Schrei Jesu aus Mk 15,37, indem er den Eintritt des Todes unmittelbar nach dem Gebetsschrei notiert. Die wohl tiefgreifendste Veränderung gegenüber seiner mk Vorlage nimmt Lk dadurch vor, dass er den Gebetsschrei Jesu gegen Mk 15,37 nicht als Zitat von Ps 22,2 gestaltet. Stattdessen ruft der lk Jesus (23,46a): Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.
Auf den ersten Blick scheint damit das letzte Wort des lk Jesus von gänzlich anderem Charakter zu sein wie das bei Mk vorgegebene. Statt des verzweifelten Schreis der Gottverlassenheit in Mk 15,34 (par. Mt 27,46) steht in Lk 23,46 das unerschütterliche Vertrauen auf Gott im Mittelpunkt. Auch Lk greift dazu auf ein Psalmwort zurück. So lautet Ps 31,6: In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.
Unverkennbar gestaltet Lk also das letzte Wort Jesu in Anlehnung an die erste Hälfte dieses Psalmverses. Dabei verleiht er dem Aspekt des Vertrauens, den er im Unterschied zum Psalmvers nicht ausdrücklich nennt, durch die Vateranrede Gottes Ausdruck. Bei genauerer Betrachtung ist n.un allerdings die Differenz zwischen dem letzten Wort Jesu in mklmt und in lk Version in der Sache gar nicht so gravierend. Denn auch bei Lk gilt: Die Rezitation des einzelnen Psalmverses ist im Kontext des gesamten Psalms zu würdigen. Ps 31 aber thematisiert das Vertrauen auf Gott gerade in der Situation der Verfolgung und Not. Und nicht zuletzt mündet er ganz ähnlich wie Ps 22 mit dem Ausblick auf das Kommen des Herrn. Dieses Kommen des Herrn umschreibt aber in alttestamentlich-frühjüdischer Sprachkonvention den Erweis der königlichen Herrschermacht Gottes oder anders formuliert: Es steht im Kontext der endzeitlichen Gottesherrschaft. Akzentuiert Lk also beim letzten Wort Jesu auch anders, ist gleichwohl eine hohe Übereinstimmung mit Mk 15,34 par Mt 27,46 in der Aussageintention als solcher festzuhalten. Aufgrund der redaktionellen Veränderung des letzten Wortes Jesu gegenüber der Mk-Vorlage kann Lk nun Mk 15,35f in seiner Bearbeitung der Todesszene nicht berücksichtigen. Denn Lk 23,46a (Ps 31,6a) bietet im Unterschied zu Mk 15,34 (Ps 22,2) keinen Anhaltspunkt, um daraus eine Verwechslung mit einem Ruf nach Elia abzuleiten. Allerdings hat Lk das Motiv
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des Darreichens von Essig in Anlehnung an Ps 69,22b (Mk 15,36) nicht ersatzlos gestrichen, sondern in seine Bearbeitung der Hinrichtungsszene (Lk 23,36 ~ 3.13.3.) integriert. Das Bekenntnis des römischen Hauptmannes erlangt in lk Darstellung nicht die Qualität eines Bekenntnisses zur Gottessohnschaft Jesu. Vielmehr beschränkt sich der Römer bei Lk darauf, dass er als Reaktion auf das Geschehen Gott preist und Jesus als "Gerechten" proklamiert. Ohne mk Parallele ist die Reaktion der zur Hinrichtung Jesu herbeigeströmten Menschen Lk 23,48, die angesichts der Ereignisse sich im Gestus der Reue und Trauer an die Brust schlagen und kommentarlos den Ort des Geschehens verlassen. So hat sich mit dem Tod Jesu beim Volk in lk Darstellung endgültig der Sinneswandel vollzogen, der sich bereits in 23,35a ankündigte (~ 3.13.3.), indem das Volk anders als seine Führer (23,35b) darauf verzichtete, den Gekreuzigten zu verhöhnen. War die Volksmenge in 23,27 hinausgezogen, um sich das Spektakel der Hinrichtung Jesu nicht entgehen zu lassen, so sind nun die, die deshalb herbeigeströmt waren, tatsächlich Zeugen eines öffentlichen Schauspiels (23,48: theoria) geworden. Allerdings hat ihnen diese "Aufführung" bewusst gemacht, dass Gott auf der Seite Jesu stand, für dessen Hinrichtung sie sich mit eingesetzt hatten (~ 3.11.3.). So verlassen sie betroffen und reumütig den Ort seiner Kreuzigung. Die lk Todesszene schließt entsprechend der mk Vorgabe mit einer Notiz zu Zeugen des Geschehens auch aus dem Jüngerkreis Jesu, die die Ereignisse von ferne verfolgen (23,49 par Mk 15,40f). Im Unterschied zu Mk übernehmen diese Zeugenfunktion bei Lk allerdings nicht nur die galiläischen Frauen. Vielmehr sind alle Bekannten Jesu ausnahmslos anwesend, unter ihnen dann auch die Frauen, von denen Lkjedoch abweichend von Mk keine namentlich vorstellt. Wenngleich Lk hier nicht ausdrücklich von den Aposteln spricht, so gehören sie für ihn selbstverständlich zur Gruppe der Bekannten Jesu. Denn es kennzeichnet die Erzählkonzeption seines Doppelwerkes (Evangelium und Apostelgeschichte), dass die zwölf Apostel die Brückenfunktion übernehmen zwischen der Zeit des irdischen Jesus und der nachösterlichen Zeit der ersten Gemeindebildungen und dass sie daher alle Geschehnisse, die Jesu Wirken, Leiden und Sterben betreffen, ebenso wie die Erscheinungen des Auferstandenen bezeugen können müssen. Daher haben auch die bei den Kandidaten, von denen nach Ostern einer anstelle von Judas Iskariot in das Apostelgremium nachrücken soll, das Kriterium der lückenlosen Augenzeugenschaft vom Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu bis zu seiner Himmelfahrt zu erfüllen (Apg 1,21f). So müssen also Josef Barsabbas und Matthias (Apg 1,23) in lk Perspektive ebenso Zeugen der Kreuzigung und des Todes Jesu sein wie die Apostel. Sie alle fasst Lk in 23,49 unter den Begriff der Bekannten (gnostoi) Jesu zusammen.
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3.14.4. Diejohanneische Version Joh 19,28-37 Joh setzt in seiner Gestaltung der Todesszene wiederum sehr eigene Akzente. Vor allem aber erreicht die spezifisch joh Konturierung der Person Jesu in dieser Szene ihren Höhepunkt: Von Beginn an weiß der joh Jesus um seine Stunde - die Stunde seiner Lebenshingabe - und den Zeitpunkt ihres Gekommenseins (2,4). So bestimmt er auch in der joh Passionserzählung souverän in jeder Phase den Gang der Ereignisse und betreibt konsequent seine Erhöhung und Verherrlichung durch den Kreuzestod. Jetzt zu Beginn der Todesszene ist es soweit. Ein letztes Mal ergreift der joh Jesus vom Kreuz aus die Initiative (19,28f): Danach im Wissen darum, dass schon alles zum Ziel gebracht war (tetelestai), sprach Jesus, damit die Schrift erfüllt würde: Ich habe Dmst. (29) Ein Gefäß stand da, gefüllt mit Essig. Sie steckten nun einen Schwamm mit Essig getränkt auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.
Der Motivbezug zu Mk 15,36 mit der Anspielung auf Ps 69,22b ist unverkennbar. Charakteristisch für die joh Darstellungsweise aber ist nun, dass niemand aus dem Kreis der beim Kreuz Anwesenden (V. 23f: Soldaten; V. 25-27: Jesu Verwandte und Vertraute) von sich aus Jesus - sei es zum Spott, sei es aus Mitleid - den Essig reicht. Es ist vielmehr Jesus selbst, der im Wissen darum, am Ziel seiner Sendung angekommen zu sein, nun bewusst den Anstoß zur Darreichung des Essigs gibt und dadurch aktiv dem Schriftwort zur Erfüllung verhilft. Offen bleibt in 19,29, ob der Essig Jesus von den Soldaten (V. 23f) oder von seinen Vertrauten (V. 25-27) dargeboten wird. Für die joh Erzählkonzeption ist dieses Detail unwichtig, da sie ~lle Aufmerksamkeit auf die Initiative Jesu lenkt. Dass der Schwamm jedoch gerade auf einen Ysopzweig gesteckt wird, darf möglicherweise als dezenter Hinweis auf die Passalammtypologie verstanden werden (1,29; 19,14 ~ 3.11.4.), die in 19,31-37 noch einmal nachhaltig in das Bewusstsein der Leser und Leserinnen der joh Jesusgeschichte gerückt wird. Denn nach Ex 12,22 soll das Blut des Passalammes mit einem Ysopzweig an Türsturz und Türpfosten der von Israeliten bewohnten Häuser in Ägypten gestrichen werden, damit sie vor dem Gericht Gottes über die Ägypter verschont bleiben. In 19,30 schließt Joh die eigentliche Todesnotiz an: Als Jesus nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist ans Ziel gebracht (tetelestai). Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.
Zur Schrifterfüllung gehört für Joh nicht nur, dass Jesus der Essig gereicht wird, sondern auch, dass er davon trinkt. Erst nachdem alles "ordnungsgemäß" erfolgt ist, spricht der joh Jesus seine letzten Worte: "Es ist ans Ziel gebracht!" Dieser hoheitsvolle, fast ein wenig triumphierend wirkende Ausspruch besitzt im Unterschied zum letzten Wort Jesu in mk/mt sowie in lk
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Darstellung keinen Schriftbezug. Doch fügt er sich nahtlos der spezifischjoh Sichtweise des Todes Jesu ein, die sich als roter Faden durch das gesamte Evangelium hindurch zieht. Für Joh nämlich ist der Tod Jesu die Stunde seiner Verherrlichung und seiner Rückkehr zum Vater, mit der sein Auftrag auf Erden erfüllt ist. So hängt der joh Jesus auch nicht am schändlichen Kreuzespfahl. Das Kreuz ist vielmehr der Thron seines Königtums, das sich mit den Kriterien dieser Welt nicht fassen lässt (18,3 6f ~ 3.11.4.). Diese joh Perspektive auf das Kreuz hat kunstgeschichtlich ihren Ausdruck vor allem in den romanischen Kreuzesdarstellungen gefunden. Im Unterschied schließlich zu Mk 15,37 par. Lk 23,46 tut der johJesus nicht einfach seinen letzten Atemzug noch gibt er - so Mt 27,50 - seinen Geist auf, sondern er übergibt seinen Geist (paredöken to pneuma) (19,30b). Das Objekt dieser Aussage kann nur Gott sein: Jesus übergibt seinen Geist an Gott. Gott aber wird nach Jesu Tod eben diesen göttlichen Geist als Beistand den Jüngern entsprechend der Bitte Jesu senden (vgl. Joh 14,16.26; 16,7 [Jesus als Sendender]. 13). Die joh Todesszene schließt mit einer Sondergutpassage in 19,31-37, mit der Joh einen Erzählbogen zu Ende führt, der bereits in 1,29 begann. Dort hatte Johannes der Täufer gleich beim ersten Auftreten Jesu in der Öffentlichkeit auf ihn hingewiesen mit den Worten: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt." Damit wird also gleich anfangs der joh Jesusgeschichte die Perspektive des Todes Jesu eröffnet. Zugleich aber wird dieser Tod als ein Sühnetod gedeutet, der als solcher die Welt von ihrer Sünde befreit. Denn die Welt anerkennt Jesus nicht als den fleischgewordenen Schöpfungsmittler und Sohn Gottes, der in sein Eigentum kommt (vgl. 1,11). Das Motiv vom Lamm Gottes, mit dem Joh dies zum Ausdruck bringt, ist sehr komplex. Hier genügt es, sich auf den Bezug zum Passalamm zu konzentrieren, da es dieser Bezug ist, der in der joh Passionserzählung wiederholt aufgegriffen wird. Nicht zufällig nämlich notiert der Joh ausdrücklich die Zeit, zu der Pilatus das Todesurteil über Jesus spricht und die Hinrichtung beginnt: "Es war aber Rüsttag des Passafestes, um die sechste Stunde" (19,14). Genau dies aber war die Zeit, zu der die Passalämmer im Tempel geschlachtet wurden (~ 3.11.3.). Der Ysopzweig in 19,29 ist eine versteckte Anspielung auf die Passaüberlieferung in Ex 12 (s.o.). Und in diese joh Darstellung Jesu als des eschatologischen Passalammes fügt sich nun auch 19,31-37 nahtlos ein. Das JohEv erzählt nämlich in 19,32 davon, dass den beiden mit J esus gekreuzigten Männern die Schenkelknochen zerschlagen wurden. Zweck dieses sog. Crurifragiums, das als Praxis bei Kreuzigungen historisch belegt ist, war die Beschleunigung des Sterbeprozesses (~ 3.13.1. Exkurs 4). Unter dieser Maßgabe führt auch Joh in 19,31 das Motiv des Crurifragiums in seine Passionserzählung ein, das in den synoptischen Parallelerzählungen nicht begegnet: Weil der Anbruch des Sabbats und zudem des ersten Passafestages kurz bevor steht, sollen die Hinrichtungen rasch zu Ende geführt werden. Der weitere Erzählverlauf legt freilich offen, dass Joh
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mit der Erwähnung des Crurifragiums weniger eine historische als vielmehr eine theologische Aussageabsicht verbindet. 19,33 lenkt nämlich den Blick der Leser von den beiden Mitgekreuzigten weg und Jesus zu. Bei ihm verzichten die Soldaten darauf, die Schenkelknochen zu brechen, weil er bereits tot ist. Dies und den darauf erzählten Lanzenstich (19, 34) deutet der Evangelist wenig später einmal mehr durch Reflexionszitate als Erfiillung der Schrift (19,36f). Dabei zitiert er in 19,36 mit Ex 12,46 eine Stelle, die sich auf das Schlachten des Passalammes bezieht: "Man soll kein Bein von ihm brechen." So spannt sich also ein großer Bogen vom Wort des Täufers in 1,29 bis zum Passionsgeschehen: Jesus gilt joh als endzeitliches Passalamm und damit als Überbietung der alljährlich geschlachteten Passalämmer. Blut und Wasser dagegen, die aus der durch den Lanzenstich geöffneten Seite Jesu fließen, symbolisieren nach joh Verständnis wohl die Skaramente der Taufe und der Eucharistie. Dass gerade das Sakrament der Eucharistie wieder in unmittelbarem Bezug zum Tod Jesu steht, ist eine Selbstverständlichkeit (vgl. Joh 6,51-58).
3.15. Die Grablegung Jesu 3.15.1. Die markinische Darstellung Mk 15,42-47 Die mk Passionserzählung findet in 15,42-47 ihren Abschluss mit der Szene der Grablegung Jesu. Mk eröffnet in 15,42 diese letzte Erzählszene mit einer nochmaligen Zeitangabe (vgl. 15,25 ~ 3.13.1. sowie 15,33.34 ~ 3.14.1.): Und als es schon Abend wurde, denn es war Rüsttag, das heißt der Tag vor dem Sabbat ...
Diese Zeitangabe hat die erzählerische Funktion, die Dringlichkeit der nachfolgend geschilderten Initiative des Josef von Arimathäa zur Bestattung Jesu bewusst zu machen. Der Anbruch des Sabbats, an dem alle Arbeit ruhen muss, steht kurz bevor. Zudem soll der Leichnam eines Gekreuzigten nach einem Gebot der Tora über Nacht nicht am Pfahl hängen bleiben (Dtn 21,22 ~ 3.13.1. Exkurs 4). Es ist also Eile geboten zu handeln. Dass Mk eigens den Begriff des Rüsttages (paraskeue) erklärt durch "das heißt der Tag vor dem Sabbat" deutet auf seine überwiegend heidenchristliche Adressatenschaft: Offenbar geht er nämlich davon aus, die Kenntnis des Begriffs nicht einfach voraussetzen zu können. Eine andere Schwierigkeit scheint ihm selbst nicht bewusst zu sein: Da er das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern als Passamahl versteht (zur Problematik dieser Datierung ~ 3.4.1.), ist der Tag der Hinrichtung Jesu, den er als Rüsttag zum Sabbat deklariert, nach seiner Datierung zugleich der erste Tag des höchsten jüdischen Festes. Abgesehen davon, dass eine Hinrichtung an diesem ersten Passafesttag weder von den jüdischen Autoritäten angestrebt noch von Pilatus angesichts der Gefahr von Unruhen veranlasst worden sein dürfte, wäre das Argument des bevorstehenden Sabbats unter dieser Voraussetzung entkräftet worden. Denn als frommer Jude
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hätte Josef wohl ebenso wenig wie am Sabbat am ersten Passafesttag die Bestattung Jesu vorgenommen. Historisch plausibler ist dagegen die joh Datierung, wonach Jesus am Rüsttag hingerichtet wurde, der in diesem Jahr (30 n.Chr.) gleichsam ein "doppelter" Rüsttag war, da der erste Passafesttag auf einen Sabbat fiel (19,31.42).
In 15,43 führt Mk Josef von Arimathäa in die Erzählhandlung ein und stellt ihn zunächst als angesehenes Mitglied des Hohen Rates vor. Liest man diese Information im Horizont der mk Erzählszene vom Verhör Jesu vor dem Hohen Rat (~ 3.9.1.), so muss sich zuvor auch Josef in seiner Eigenschaft als Ratsmitglied für die Hinrichtung Jesu ausgesprochen haben. Denn bei der Befragung Jesu durch den Hohenpriester war nach Mk der gesamte Hohe Rat versammelt (14,53) und suchte nach einer Handhabe gegen Jesus (14,55). Schließlich votierten ausnahmslos alle Anwesenden, dass Jesus des Todes schuldig sei (14,64). Dass Josefnun nach dem Tod Jesu die Initiative für dessen Bestattung ergreift, setzt also einen Sinneswandel voraus, den Mk allerdings nicht ausdrücklich thematisiert. Eine Erklärung für diesen Sinneswandel könnte allenfalls implizit in der Information anklingen, dass auch Josef selbst in Erwartung der kommenden Gottesherrschaft lebte. Diese Gottesherrschaft aber hatte Jesus mit seinem Wirken bereits als angebrochen proklamiert (1,14 f), und so könnten die außergewöhnlichen Ereignisse vor und nach seinem Tod (15,33.38 ~ 3.14.1.) von Josefals göttliche Beglaubigungszeichen interpetiert worden sein und zu seinem Sinneswandel geführt haben. Doch bleibt nüchtern festzuhalten, dass Mk dies jedenfalls nicht explizit ausspricht. Dass Josef nun nach dem Tod Jesu Pilatus aufsucht und ihn um die Freigabe des Leichnams bittet, qualifiziert Mk ausdrücklich als Wagnis (15,43b). Diese Kennzeichnung des Unternehmens ist vor dem machtpolitischen Hintergrund der Zeit durchaus als stimmig zu bezeichnen. Denn immerhin bekundete Josef - wenngleich sehr spät - mit seiner Bitte doch anscheinend eine gewisse Sympathie mit Jesus, der soeben von den Römern als politischer Rebell hingerichtet worden war. Solche Sympathiebekundung aber konnte ihn selbst - ungeachtet seiner Position als angesehener Ratsherr - in den Verdacht politischer Unzuverlässigkeit bringen. Diese Gefahr war umso größer, sofern seine Hoffnung auf die Gottesherrschaft bekannt war, die zugleich die Hoffnung auf das Ende der Römerherrschaft bedeutete. Doch erweisen sich entsprechende Befürchtungen als unbegründet, denn der mk Pilatus zeigt sich ausgesprochen kooperativ. Im Kontext der mk Passionserzählung liegt der Grund für diese Kooperationsbereitschaft wohl darin, dass Pilatus selbst von der Unschuld Jesu überzeugt ist (15,14), als Motiv für seine Auslieferung durch die jüdischen Autoritäten Neid konstatiert (15,10) und ihn nur widerwillig und auf Druck der Straße verurteilt hat (15,15) (~ 3.11.1.). Zunächst reagiert er zwar erstaunt, dass Jesus schon gestorben sein soll (15,44a). Hinter dieser Reaktion steht offenkundig das Wissen darum, dass eine Kreuzigung in aller Regel nicht zu einem schnellen
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Tod fiihrte, sondern oft einen langen und qualvollen Sterbeprozess bedeutete (~ 3.13.1. Exkurs 4). Doch nachdem sich Pilatus beim Hauptmann (15,39 ~ 3.14.1.) als dem Leiter des Exekutionskommandos abgesichert hat, dass der Tod Jesu schon eingetreten ist (15,44b-45a), überlässt er Josef den Leichnam (15,45b). Darauf hin geht Josef von Arimathäa unverzüglich und zielstrebig ans Werk, um die Grablegung Jesu in der verbleibenden kurzen Zeitspanne bis zum Anbruch des Sabbats noch abzuschließen. Die gebotene Eile spiegelt sich in der mk Schilderung seines Tuns wider, die sich auf die wesentlichen Handlungsschritte konzentriert (15,46): ein Leinentuch kaufen, Jesus (vom Kreuz) abnehmen, ihn mit dem Leinentuch einwickeln und in ein Grab legen sowie schließlich einen Stein vor den Grabeingang wälzen. Die einzige Zusatzinformation, die sich die fast stakkatohafte mk Schilderung des Tuns Josefs erlaubt, betrifft die Beschaffenheit des Grabes: Es handelt sich um ein Felsengrab, dessen Grabkammer aus dem Fels herausgeschlagen worden war. Wie es Josef gelingt, kurz vor Anbruch des Sabbats noch ein Leinentuch zu erstehen und vor allem ein geeignetes Grab ausfindig zu machen, wie er es bewerkstelligt, den Leichnam Jesu ohne Hilfe vom Kreuz herunterzuholen und zu bestatten, all diese Fragen berücksichtigt die mk Darstellung dagegen nicht. Die mk Grablegungsszene schließt in 15,47, indem die Aufmerksamkeit noch einmal auf zwei der drei in 15,40 namentlich genannten Frauen - Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Joses - gelenkt wird. Wie schon bei der Kreuzigung Jesu, so werden sie auch bei seiner Grablegung Zeuginnen des Geschehens. Indem sie beobachten, wohin der tote Jesus gelegt wird, ist die erzählerische Voraussetzung geschaffen, dass sie sich am Ost~rmorgen auf den Weg zum Grab machen und im Grab mit der Botschaft von der Auferweckung J esu konfrontiert werden können (Mk 16,1-8).
3.15.2. Die matthäisehe Bearbeitung Mt 27,57-61 Mt strafft die mk Vorlage der Grablegungsszene und versieht sie teilweise auch mit neuen Akzenten. So streicht er in 27,57a eingangs bereits bei der Zeitangabe vom hereinbrechenden Abend gegen Mk 15,42 den zusätzlichen Hinweis auf den Rüsttag, den er - erzählerisch ein wenig ungeschickt - erst zu Beginn seiner Sondergutszene von der Grabwache in 27,62 erwähnt. Inhaltlich bedeutsamer sind die Änderungen, die Mt gegen Mk bei der Vorstellung des Josef von Arimathäa vornimmt. Nach mt Lesart ist Josef kein angesehenes Mitglied des Hohen Rates, sondern schlicht ein reicher Mann. Zudem bezeichnet Mt ihn ausdrücklich als Jünger Jesu statt ihn im Anschluss an Mk durch seine Erwartung der Gottesherrschaft zu charakterisieren (27,53b gegen Mk 15,43a). Insofern nun im Zentrum der Verkündigung
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Jesu auch nach mt Verständnis die anbrechende Herrschaft Gottes steht (vgl. Mt 4,17.23; 9,35), lässt sich die mt Charakterisierung Josefs als Jünger Jesu durchaus als sich anbietende Präzisierung der mk Vorlage verstehen. Anders ist die zweite Änderung gegenüber Mk zu bewerten. Offenbar erkannte Mt die Unstimmigkeit der mk Darstellung: In der mk Grablegungsszene wird Josefvon Arimathäa als Ratsmitglied vorgestellt, der durch sein nachfolgend erzähltes Tun eine positive Einstellung Jesus gegenüber erkennen lässt. In der mk Szene des Verhörs Jesu vor dem Hohen Rat aber haben zuvor alle Ratsmitglieder für Jesu Tod gestimmt (~ 3.15.1.). Da Mt nun dieses einstimmige Votum in seiner Bearbeitung der Verhörszene übernommen hat (vgl. 26,59; 27,1), erschien es ihm wohl unmöglich, an der bei Mk vorgegebenen Funktion Josefs als Ratsmitglied festzuhalten. Indem er ihn stattdessen "neutraler" als reichen Mann bezeichnet, spricht er zugleich die ökonomische Voraussetzung rur die Initiative der Grablegung Jesu an, die Josefmitbringt. Reichtum bedeutet aber auch Einfluss. Und so geht Josef von Arimathäa in mt Darstellung dann auch ohne Hinweis auf ein mit seinem Tun verbundenes Risiko (so Mk 15,43b) zu Pilatus und erbittet den Leichnam Jesu (27,58a). Die Passage Mk 15,44-45a, die von der Verwunderung des Pilatus über den raschen Tod Jesu und der dadurch veranlassten Nachforschung des Statthalters beim Hauptmann erzählt, streicht Mt ersatzlos. Der mt Pilatus entspricht der Bitte Josefs unverzüglich. Doch überlässt er Jesu Leichnam nicht einfach dem Bittsteller (Mk 15,45b), sondern veranlasst dessen Freigabe, die also von römischer Seite erfolgt (Mt 27,58b). Somit stellt auch der mt Pilatus den eingetreteten Tod Jesu sicher. Auch bei den nachfolgend erzählten Handlungsschritten des Josef setzt Mt in 27,59f andere Akzente als Mk 15,46. Da der Leichnam Jesu von den Römern übergeben wird, muss Josef ihn in mt Darstellung nicht selbst vom Kreuz herabholen, sondern ihn nur entgegennehmen. Aber auch den Kauf des Leinentuchs erwähnt Mt nicht. Stattdessen vermerkt er jedoch ausdrücklich, dass Josef den Leichnam Jesu in ein reines und das heißt wohl noch unbenutztes Leinentuch wickelt. Auch das Grab kennzeichnet Mt gegen Mk eigens als neu und zudem als Josef selbst gehörend. Damit füllt er eine erzählerische Leerstelle der mk Vorlage. Denn dort bleibt offen, wieso Josef so kurzfristig ein freies Grab rur Jesus beschaffen kann. Dass Josef aber Besitzer eines neuen Felsengrabes ist, fügt sich wiederum erzählerisch passend zu seinem eingangs von Mt erwähnten Reichtum. Schließlich versperrt Josef über die mk Vorlage hinausgehend bei Mt das Grab mit einem eigens als groß deklarierten Stein. Die Größe des Steins ist in der mt Darstellung wohl in einer erzählerischen Linie mit seiner nachträglichen Versiegelung durch die jüdischen Autoritäten und mit der Bewachung des Grabes durch römische Soldaten zu sehen (27,66). Die einzelnen Erzählelemente stützen sich wechselweise und sollen bewusst machen, dass ein Leichendiebstahl keine plausible Erklärung für die Auferstehungsbotschaft bietet (28,11-15). Die
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Öffnung des mehrfach gesicherten Grabes verdankt sich vielmehr dem unmittelbaren Eingreifen himmlischer Mächte (28,2). Die mt Grablegungsszene schließt wie die mk mit einem letzten Blick auf die beiden Frauen - Maria von Magdala und "die andere Maria" - als den beiden Zeuginnen des Geschehens. Wenngleich Mt 27,61 anders als Mk 15,47 nicht darauf abhebt, was die beiden Frauen beobachten (wohin der Leichnam gelegt wird), sondern wo sie sich befinden (sie sitzen gegenüber dem Grab), so impliziert letzteres doch ersteres. Und so sind auch in mt Darstellung die Weichen rur den Gang der Frauen zum Grab am Ostermorgen gestellt (28,1).
3.15.3. Die lukanische Bearbeitung Lk 23,50-56 Auch die lk Bearbeitung der mk Grablegungszene lässt sich durch die Stichworte Straffung und Neuakzentuierung skizzieren. Am Beginn der Erzähleinheit verzichtet Lk gegen Mk 15,42 gänzlich auf eine Zeitangabe, die er jedoch in 23,54 nachträgt. In Entsprechung zu Mk 15,43 kennzeichnet Lk in 23,50 Josef zwar als Ratsherrn. Doch hat er wohl ähnlich wie Mt die dadurch bedingte erzählinterne Spannung zwischen der mk Grablegungsszene und der mk Verhörszene vor dem Hohen Rat empfunden. Daher qualifiziert er Josef zunächst ausdrücklich als "guten und gerechten Mann" (23,50) und fugt erklärend noch die folgende Bemerkung in 23,51a hinzu: - dieser hatte ihren Beschluss und ihr Tun nicht gebilligt -
Lk räumt Josef also innerhalb des eigentlich einmütigen Vorgehens der Ratsmitglieder gegen Jesus (22,70f; 23,1) mit dieser Zwischenbemerkung eine Sonderrolle ein. Die Passage Mk 15,43b--45 strafft Lk in 23,52 noch stärker als Mt. Er erwähnt nicht einmal mehr die Freigabe des Leichnams Jesu durch Pilatus, sondern setzt sie als selbstverständliche Konsequenz der Bitte des Josef voraus. Dies entspricht einerseits den zumindest an der Textoberfläche sympathischen Zügen des lk Pilatus, der mehrfach Jesu Unschuld bezeugt (~ 3.11.3.). Andererseits drückt sich darin indirekt aber auch der Einfluss aus, den Lk der Person Josefs von Arimathäa auf Pilatus offenbar zuschreibt. Ebensowenig wie Mt 27,59 erwähnt Lk 23,53 gegen Mk 15,46 den Kauf eines Leinentuches durch Josef. Durch die Bemerkung, dass in dem Grab noch niemand gelegen hatte, qualifiziert Lk es sachlich übereinstimmend mit Mt 27,60 und über die Mk-Vorlage hinaus als neu. Doch schweigt er sich Mk folgend, jedoch im Unterschied zu Mt über den Besitzer dieses Grabes aus. Gegen Mk 15,46 lässt Lk in 23,53 schließlich auch über den Verschluss des Grabes durch einen Stein nichts verlauten.
3.15. Die Grablegung Jesu
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In 23,54 fügt Lk nun eine Zeitangabe ein: Und es war Rüsttag, und der Sabbat brach an.
Diese Zeitangabe besitzt eine Brückenfunktion. Einerseits schließt sie die Erzählung von der Grablegung Jesu im engeren Sinn ab. Josef von Arimathäa gelang es also, gerade noch rechtzeitig die Bestattungsaktion zu beenden, ohne die Sabbatruhe verletzen zu müssen. Andererseits aber lenkt die Zeitangabe die Aufmerksamkeit auf eine redaktionelle Bemerkung des Lk im Zusammenhang mit den Frauen als Beobachterinnen dieser Bestattungsaktion. Im Unterschied nämlich zu Mk 15,47 beobachten in lk Darstellung nicht nur zwei namentlich identifizierte Frauen das Geschehen, sondern die gesamte Gruppe der Frauen, die Jesus aus Galiläa begleitet hatten (23,55). In Lk 23,56 wird das Motiv der beabsichtigten nachträglichen Salbung des Leichnams, das Mk erst zu Beginn seiner Ostererzählung in 16,1 erwähnt, bereits am Ende der Grablegungsszene eingeführt. Die Frauen bereiten gleich nach ihrer Rückkehr vom Grab die benötigten Essenzen vor, wahren dann aber die von der Tora vorgeschriebene Sabbatruhe, bevor sie am ersten Tag der Woche in der Absicht der Totensalbung zum Grab gehen (24,1) und dort mit der Auferstehungsbotschaft konfrontiert werden (24,5-7).
3.15.4. Diejohanneische Version Joh 19,38-42 Erwartungsgemäß gestaltet Joh auch die Bestattung Jesu als letzte Szene seiner Passionserzählung in sehr eigenständiger Weise und stellt noch einmal verschiedene motivische Bezüge zu vorausgehenden Erzähleinheiten seiner Jesusgeschichte her. Mit "danach aber" schließt er in 19,38 über den Erzählerkommentar in 19,35-37 szenisch unmittelbar an den Lanzenstich des Soldaten in Jesu Seite und an den dadurch geführten Todesbeweis an (19,34). Nachdem also feststeht, dass Jesus verstorben ist, bittet Josef von Arimathäa Pilatus (angesichts des in der Zeit schon fortgeschrittenen Rüsttages, vgl. 19,3 1) unverzüglich darum, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erteilt ihm die Erlaubnis dafür. Bemerkenswert sind die Übereinstimmungen zwischen Joh und Mt bei der Vorstellung des Josef. Beide weisen ihn - im Unterschied zu Mk 15,43 par. Lk 23,50 - nicht als Mitglied des Hohen Rates aus, beide aber bezeichnen ihn anders als Mk und Lk ausdrücklich als Jünger Jesu (Joh 19,38; vgl. Mt 27,57). Allerdings fügt Joh in für ihn typischer Weise hinzu, dass Josef aus Angst vor den Juden nur ein "verborgener" Jünger Jesu ist. Bis zu seiner Initiative, Jesus zu bestatten, hat Josef also geheimgehalten, dass er ein Anhänger Jesu ist.
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Dieses Motiv der verheimlichten Jüngerschaft begegnet in der joh Jesusgeschichte mehrfach (vgl. etwa 3,1f; 7,13; 9,22f; 12,42). In 9,22 und 12,42 wird zudem wie in 19,38 als Begründung dieser "Jüngerschaft im Geheimen" ausdrücklich die Angst vor den Juden (9,22) bzw. vor den Pharisäern (12,42) angeführt. Mit "die Juden" bezeichnet Joh, wie auch schon seine Gestaltung der Pilatusszene zeigte (~ 3.11.4.), nicht das jüdische Volk als ganzes, sondern dessen religiöse und politische Führer. Er hat also die Gruppe der Juden vor Augen, die die Autorität und die Macht besitzt, gegen andere Juden Sanktionen verhängen zu können. Dass dieses Sanktionsrecht der entscheidende Faktor für die Furcht der geheimen Anhänger Jesu ist, geht in aller wünschenwerten Deutlichkeit aus der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9 hervor (V. 22.34: Synagogenausschluss!). Diese Erzählung zeigt zugleich, dass in der konkreten Erfahrungswelt des Joh und seiner Adressaten die Pharisäer diese Führungspositionen eingenommen haben. Denn der wiederholte Wechsel zwischen "den Juden" und "den Pharisäern" in Joh 9,13-17.18.22.24 macht deutlich, dass Joh "die Juden" als Synonym für "die Pharisäer" verwendet.
Nachdem Pilatus also den Leichnam Jesu freigegeben hat, geht Josefhin und holt ihn vom Kreuz (19,38). Im Unterschied zur synoptischen Grablegungsszene bleibt Josef von Arimathäa bei Joh jedoch kein Einzelakteur. Bei der Bestattung kommt ihm vielmehr Nikodemus zu Hilfe, der in 19,39 die Szene der Grablegung Jesu betritt. Indem Joh ihn dabei mit der Bemerkung einfuhrt "der früher einmal des Nachts zu ihm (J esus) gekommen war", stellt er einen ausdrücklichen Rückbezug zum Nikodemusgespräch her (vgl. 3,2). Wenngleich Nikodemus also selbst zur Gruppe der fuhrenden Juden gehört (vgl. 3,1; 7,47.50) und seine "Kollegen" zu einem toragemäßen Umgang mit Jesus ermahnt hatte (7,51), suchte er dennoch den Schutz der Nacht, um mit Jesus zu sprechen. Mit Josef und Nikodemus treffen also bei Jesu Bestattung zwei Männer zusammen, die eine heimliche Jüngerschaft mit Jesus und untereinander verbindet und die nun nach Jesu Tod ihre Angst überwinden und ihm die letzte Ehre erweisen. Nikodemus steuert nun zu dieser Bestattung eine geradezu verschwenderisch große Menge an wertvollen Duftstoffen (aromata) bei: eine Mischung von rund 100 Pfund (umgerechnet in heutige Maßeinheiten ca. 33kg) an Myrrhe (ein harziger Stoff) und Aloe (eine wohlriechende Holzart) (19,39). Dadurch lässt Joh hier fur die Schriftkundigen noch einmal das fur seine Jesusdarstellung charakteristische Königsmotiv anklingen. Denn in Ps 45,9 heißt es vom König, dass seine Gewänder nach Myrrhe, Aloe und Kassia duften. In joh Darstellung dienen nun diese Duftstoffe nicht in flüssiger Form (Öl) zur Salbung des Leichnams Jesu, sondern Josef und Nikodemus geben sie in pulverisierter Form auf die Leinenbinden, in die sie den toten Jesus wie in ein königliches Gewand einwickeln (19,40). Damit unterscheidet sich die joh Verarbeitung des Aromatamotivs in zwei Punkten deutlich von der mk/lk Verwendung. Denn bei Mk und Lk spielen die Duftstoffe bei der Grablegung Jesu keinerlei Rolle. Sie sollen vielmehr am Ostermorgen zur nachträglichen Salbung des Leichnams Jesu dienen (Mk 16,1; Lk 23,56 ~ 3.15.3.), nicht aber um die Totenbinden mit königlichem Duft auszustatten. Angesichts der klimatischen Verhältnisse in Israel und der dadurch bedingten Beschleunigung des Verwesungsprozesses entbehrt die von Mk und Lk
3.16. Die Sicherung des Grabes Mt 27,62-66
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erzählte Absicht einer nachträglichen Totensalbung jeder historischen Plausibilität. Mt hat das Salbungsmotiv vielleicht auch deshalb ersatzlos gestrichen. Joh dagegen eliminiert nur den unwahrscheinlichen Erzählzug der nachträglichen Salbung und verändert das Aromatamotiv in der beschriebenen Weise.
Der erklärende Zusatz "wie es dem Bestattungsbrauch bei den Juden entspricht" will wohl kaum die enorm große Menge kostbarster (eben königlicher) Duftstoffe als Standard jüdischer Bestattungen bezeichnen. Vielmehr steht hier wohl nur ganz allgemein das Einwickeln des Leichnams in mit Duftessenzen parfümierten Leinenstoff im Blick. In 19,41 erzählt J oh die eigentliche Grablegung. Im Unterschied zur synoptischen Tradition handelt es sich bei Joh nicht um ein Felsengrab (Mk 15,46 parr. Mt 27,60; Lk 23,53), sondern um ein Gartengrab. Dieses Grab bezeichnet er mit Mt 27,60 als neu und fügt in großer Nähe zu Lk 23,53 hinzu: "in dem noch niemals jemand gelegen hatte". Eigens vermerkt Joh in 19,41 auch die Nähe des Gartens zur Hinrichtungsstätte und bereitet dadurch den Schlussvers der Grablegungsszene wie seiner gesamten Passionserzählung vor. Denn 19,42 macht deutlich: Das nahe gelegene Gartengrab bot sich zur Beisetzung Jesu an, weil es keinen längeren Transportweg mit dem Leichnam erforderlich machte. Dies aber war wichtig, weil Rüsttag war. Auch der joh Darstellung kommt es also darauf an zu betonen, dass die Bestattung Jesu ohne einen Verstoß gegen das Sabbatgebot ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Anders als die synoptische Tradition fehlt am Ende der joh Grablegungserzählung allerdings jede erzähltechnische Verzahnung mit der Auffindung des leeren Grabes am Ostermorgen durch die Frauen, die in Mk 15,47 parr. Mt 27,61 und Lk 23,55 durch ihre Augenzeugenschaft der Bestattung Jesu gesichert ist. Maria von Magdala, die J oh als eine der drei Frauen unter dem Kreuz namentlich erwähnt hatte (19,25), ist bei der Grablegung Jesu nach Joh nicht anwesend. Gleichwohl wird sie es sein, die am Ostermorgen als Erste das offen stehende Grab entdeckt (20,1).
3.16. Die Sicherung des Grabes Mt 27,62-66 Ungeachtet der Tatsache, dass Mt sich sehr viel enger als Lk an seine mk Vorlage anschließt, mündet seine Bearbeitung der Passionserzählung in eine nach 27,3-10 (Tod des Judas ~ 3.10.) zweite und letzte Sondergutpassage, die er durch das Bewachungsmotiv in 27,36 (~ 3.13.2.) und 27,54 (~ 3.14.3.) bereits vorbereitet hat. Die die mt Passionserzählung abschließende Szene von der Sicherung des Grabes Jesu durch die jüdischen Autoritäten (27,62-66) besitzt im Rahmen der mt Ostererzählung ihr erzählerisches Widerlager in der Szene der Bestechung der Grabwächter durch die Hohenpriester (28,11-15).
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
Die Szene von der Grabsicherung wird in 27,62 durch eine Zeitangabe eröffnet, die die aus Mk 15,42 zunächst nicht übernommene Erwähnung des Rüsttages als Todes- und Begräbnistag Jesu nachträgt. Entsprechend dieser Zeitangabe erfolgt die anschließend erzählte Initiative der Hohenpriester und Pharisäer "am nächsten Tag aber, welcher der nach dem Rüsttag ist". Am Sabbat also begeben sich die jüdischen Autoritäten zu Pilatus. Damit aber brechen sie nach mt Überzeugung das Sabbatgebot, das Jesus gemäß Mt 12,1-8.9-13 gerade nicht aufgelöst, sondern nur dem Gebot der Barmherzigkeit nachgeordnet hat, und dem sich auch die mt Gemeinde offenkundig noch verpflichtet fühlt (Mt 24,20 ergänzt das Gebet Mk 13,18 um den Sabbataspekt!). Ein klares Indiz, dass Mt das Tun der Hohenpriester und Pharisäer als Verstoß gegen das Sabbatgebot gewertet wissen will, bietet zudem der Beginn der unmittelbar nachfolgenden Erzähleinheit vom Gang der Frauen zum Grab Jesu am Ostermorgen. Denn ihr Grabbesuch wird durch die ebenfalls am Anfang stehende Zeitangabe 28,la betont nach dem Ende des Sabbats angesetzt. Gerade die Pharisäer also, die Jesus und seinen Jüngern aus mt Perspektive ungerechtfertigt Sabbatbruch vorgeworfen hatten und daraus einen ersten Todesbeschluss ableiteten (12,2.10.14), sie machen sich zusammen mit den Hohenpriestern, die diesen Todesbeschluss federfiihrend zur Umsetzung verhalfen, selbst eines tatsächlichen, und zwar gleich mehrfachen Sabbatbruchs schuldig. Denn sie legen nicht nur den Weg zu Pilatus zurück (27,62), sondern suchen später auch Jesu Grab auf, um es zu sichern (27,66). Dass in dieser letzten Szene der mt Passionserzählung die Pharisäer - als Vertreter einer religiösen Gruppierung - neben den Hohenpriestern - als Amtsträgern - agieren, fällt auf. Denn in den vorausgehenden Sze1!en der Leidensgeschichte handelten stets die Hohenpriester zusammen mit den Ältesten des Volkes und damit die beiden konstitutiven Gruppen des Hohen Rates. Abgesehen von dem Mt wohl willkommenen Nebeneffekt, gerade die Pharisäer in der Szene von der Grabsicherung als Sabbatbrecher bloßstellen zu können, garantiert ihr Auftreten hier auch eine erzählerisch sinnvolle personale Kontinuität. Denn in 27,63 begründen die Bittsteller bei Pilatus ihr Anliegen so: Herr, wir haben uns daran erinnert, dass jener Betrüger, als er noch lebte, sagte: Ich werde nach drei Tagen auferstehen.
Diese Erinnerung aber geht erzählintern zurück auf die beiden Zeichenforderungen, mit welcher die Pharisäer an der Seite der Schriftgelehrten (12,38) bzw. Sadduzäer (16,1) an Jesus herantraten. Die Antwort, die Jesus ihnen auf diese Zeichenforderungen jeweils gab, war der Hinweis auf das Geschick des Propheten Jona, der drei Tage und Nächte im Bauch des Fisches war (12,39f; 16,4). Die Pharisäer, die beide Zeichenforderungen mit gestellt hatten und Zeugen der Antwort Jesu geworden waren, geben also jetzt nach seinem Tod
3.16. Die Sicherung des Grabes Mt 27,62-66
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zu erkennen, dass sie die verhüllte Ankündigung seiner Auferstehung nach drei Tagen durchaus richtig verstanden haben. Die Charakterisierung Jesu als Betrüger (pIanos) (27,63) dient Hohenpriestern und Pharisäern in mt Darstellung nun als Argumentationsgrundlage ihrer Bitte an Pilatus, das Grab Jesu drei Tage lang zu sichern. Denn sie furchten einen fortgesetzten Betrug durch die Jünger Jesu, die - so ihre Überlegung - den Leichnam stehlen und dann Jesu Auferstehung verkünden könnten (27,64). Ihre Schlussbemerkung in V. 64 "und damit nicht der letzte Betrug schlimmer ist als dei erste" lässt dabei erkennen, dass die jüdischen Autoritäten in mt Darstellung offenkundig furchten, die Früchte ihrer erfolgreichen Bemühungen um Jesu Tod am Ende doch nicht ernten zu können. Die Reaktion des Pilatus auf die ihm vorgetragene Bitte (27,65) können die Hohepriester und Pharisäer indes nur als Teilerfolg verbuchen. Pilatus selbst nämlich erteilt nicht den Befehl zur gewünschten Sicherung des Grabes. Er stellt den Bittstellern nur eine Wachmannschaft zur Verfügung und überlässt es ihnen dann selbst, die als notwendig erachteten Maßnahmen zu ergreifen. Noch einmal nach 27,24 entzieht sich der mt Pilatus also der Verantwortung, die ihm die jüdischen Autoritäten im Fall Jesu aufbürden wollen. In der Sache selbst gibt er ihnen jedoch erneut nach. Die Empfehlung, mit der er sie entlässt (27,65: Geht und sichert es, so gut ihr könnt!"), lässt Skepsis bei Pilatus gegenüber einer erfolgreichen Grabessicherung anklingen. In 27,66 erzählt Mt abschließend, dass die Bittsteller sich auf den Weg machen, um die an sie zurückgewiesene Aufgabe sorgfältig zu erfüllen. Für ihre Sorgfalt spricht, dass sie sich nicht allein mit der Aufstellung einer Wachmannschaft am Grab zufrieden geben, sondern zudem den Stein, mit dem das Grab verschlossen ist, mit einem Siegel versehen. Nicht nur in ihrer Bitte, sondern auch in diesen Maßnahmen dokumentiert sich in der mt Darstellung noch einmal die Sorge der jüdischen Autoritäten um ein Scheitern all ihrer Bemühungen gegen Jesus und seine Botschaft. Diese Sorge aber erscheint angesichts ihres Wissens um die wahre Identität Jesu, das nicht zuletzt durch die in die Nähe des Petrusbekenntnis gerückte Hohepriesterfrage offen gelegt wird (26,63 ~ 3.9.2.), nur allzu berechtigt: Jesus als der geliebte Sohn, an dem Gott sein Wohlgefallen hat (3,17; 17,5), wird von seinem Vater nicht im Tod gelassen werden (12,40; 16,4.21; 17,23; 20,18f). Obwohl also die jüdischen Autoritäten vordergründig erfolgreich Jesu Tod betrieben haben, werden sie Gottes rettendes Eingreifen ebenso wenig verhindern können wie König Herodes (Mt 2). Angesichts dessen erweist sich die Skepsis, die die Reaktion des mt Pilatus auf die Bitte um eine Sicherung des Grabes Jesu kennzeichnet, als allzu berechtigt. Seine Einschränkung "so gut ihr könnt" aber wird zur gleichsam prophetischen Vorahnung der Vergeblichkeit aller Bemühungen, Jesu von Gott gewirkte Auferstehung durch menschliche Vorsichtsmaßnahmen verhindern zu wollen. Ein altes Osterlied
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3. Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu
hat dies im Anschluss an die mt Grabsicherungsszene trefflich so in Worte gekleidet: "Ihm kann kein Siegel, Grab noch Stein, kein Felsen widerstehn. Schließt ihn der Unglaub selber ein, er wird ihn siegreich sehn. ,,20
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Gotteslob, Diözesananhang des Bistmlls Aachen Nr. 869 (Text: Franz Seraph von Kohlbrenner, Landshut 1777).
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